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German Pages 144 Year 2010
Einführungen Germanistik Herausgegeben von Gunter E. Grimm und Klaus-Michael Bogdal
Arnd Beise
Einführung in das Werk Georg Büchners
Wissenschaftliche Buchgesellschaft
Für Katja
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. i 2010 by WGB (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe dieses Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Satz: Lichtsatz Michael Glaese GmbH, Hemsbach Einbandgestaltung: schreiberVIS, Seeheim Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de
ISBN 978-3-534-21611-6
Inhalt I. Unzeitgemäßer Klassiker. Wandlungen des Büchner-Bilds im Spiegel der Forschungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Ein kurzes Leben. Biografischer Abriss
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III. Grenzüberschreitungen. Übergreifende Aspekte . . . . . . . . .
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IV. Schriften. Einzelanalysen . . . . . 1. Der Hessische Landbote . . . . 2. Danton’s Tod . . . . . . . . . . 3. Übersetzungen . . . . . . . . . 4. Lenz . . . . . . . . . . . . . . . 5. Philosophische Studien . . . . 6. Naturwissenschaftliche Schriften 7. Leonce und Lena . . . . . . . . 8. Woyzeck . . . . . . . . . . . .
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V. Revolutionär und Romantiker. Literarische Rezeption Zeittafel
Bibliografie
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Abbildungsnachweis
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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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„Büchner, von mehr als mittlerer Größe, von schlankem und feinem, aber nicht unkräftigem Wuchse, in manchen Leibesübungen wohl erfahren, hatte doch etwas eigenthümlich Zartes und Weiches […]; und er, der bittere Hasser jeder Art von Aristocratie, mit einer Haut, so fein und so durchsichtig, daß sie das altadeligste Fräulein auf jedem Hofballe gern noch bis über die äußersten Grenzen des Anstands hinaus zur Schau getragen hätte, hatte doch etwas Vornehmes und Aristocratisches in seinem Ansehen. Hätte nicht die mächtige, breite Stirne den außerordentlichen Geist verkündet, so hätte er für einen deutschen Prinzen passieren können, der im gerechten Ueberdrusse an seiner höchst überflüssigen prinzlichen Existenz aus Verzweiflung unter die Demokraten gegangen ist. Aeußerst mäßig in all’ seinen Genüssen hatte er doch mehr Sinn für die feineren; und bei aller Freundschaft für das Volk würde er es kaum so leicht wie [Shakespeares] Prinz Heinrich gelernt haben, ,mit jedem Kesselflicker in seiner eigenen Sprache zu trinken‘. Der eine und andere deutsche Flüchtling seiner Zeit mochte ihn darum kaum für demokratisch vollwichtig gelten lassen, da er nicht eben so viel Bier und Tabaksdampf als Andere vertrug; ja sogar des entfernten volksverrätherischen Versuchs, Glacéhandschuhe tragen zu wollen, konnte er wohl für verdächtig gehalten werden“ (Wilhelm Schulz 1851). „Offen gestanden, dieser Georg Büchner war uns nicht sympathisch. Er trug einen hohen Zylinderhut, der ihm immer tief unten im Nacken saß, machte beständig ein Gesicht wie eine Katze, wenn’s donnert, hielt sich gänzlich abseits“ (Carl Vogt 1896). „Ein junger, sensibler Künstler von erlesenem Geschmack, kräftig, urwüchsig, wild: ein Feind der Phrase und ein raffinierter Beherrscher der Sprache“ (Wilhelm Herzog 1910). „Dieser Büchner war ein toller Hund. Nach kaum 23 oder 24 Jahren verzichtete er auf weitere Existenz und starb. Es scheint, die Sache war ihm zu dumm. […] Büchner, das war ein Revolutionär vom reinsten Wasser“ (Alfred Döblin 1921).
Zur Zitierweise: Alle Nachweise mit römischer Band- und arabischer Seitenzahl beziehen sich auf die historisch-kritische ,Marburger Ausgabe‘ (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2000ff.). Die Siglen sind im Literaturverzeichnis aufgelöst; andere Titel werden mit dem Namen des Autors oder des alphabetisch ersten Herausgebers sowie Jahres- und Seitenzahl nachgewiesen.
I. Unzeitgemäßer Klassiker. Wandlungen des Büchner-Bilds im Spiegel der Forschungsgeschichte „Die Kritik ist immer verlegen, wenn sie prüfend an die Werke des Genies herantritt.“ So beginnt Karl Gutzkows Artikel vom 11. Juli 1835 über Danton’s Tod, der zwischen dem 26. März und dem 7. April 1835 in der Zeitung Phönix auszugsweise vorabgedruckt worden war (vgl. Gesammelte Werke 1987, Bd. 3). „Die Kritik kann hier nicht mehr sein, als der Kammerdiener, der die Tür des Salons öffnet und in die versammelte Menge laut des Eintretenden Namen hineinruft; das übrige wird das Genie selbst vollbringen. […] Das Genie bedarf keiner Empfehlung. Das fühlen wir, wenn wir von Georg Büchner reden.“ Und Gutzkow schloss seine kritische Empfehlung des Debüts eines bis dahin völlig Unbekannten: „Ich bin stolz darauf, der erste gewesen zu sein, der im literarischen Verkehr und Gespräch den Namen Georg Büchners genannt hat“ (Gutzkow 1974, 177f., 180). Es mag überraschend sein, wie sicher der gerade 24 Jahre alt gewordene Jungredakteur Karl Gutzkow (1811–1878) war, ein „Genie“ entdeckt zu haben. Sein Artikel zeigt aber auch, dass der Schriftsteller Georg Büchner von Anfang an als Ausnahmeerscheinung anerkannt war. Es gehört zu den längere Zeit gepflegten Mythen einer sich selbst als kritisch verstehenden Literaturwissenschaft, Büchner zu „einem der flagranten Beispiele der Verdrängung“ (Knapp 2000, 41) zu stilisieren. Er sei „spät und immer wieder anders entdeckt worden“, schrieb Paul Rilla (1950, 139): „Entdeckt als ein Nachfahr der Sturm und Drang-Epoche und als ein Vorläufer des Naturalismus. Entdeckt als ein Nachfahr der Romantik und als ein Vorläufer des Expressionismus“, aber immer erst frühestens ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod entdeckt und nie richtig gewürdigt als gerade durch einen selbst. Noch in Heinz Schlaffers Kurzer Geschichte der deutschen Literatur (München 2002, 130f.) paradiert Büchner als „das intellektuelle Zentrum des 19. Jahrhunderts“, vor dem jedoch die Zeitgenossen „wie vor einem Abgrund zurückschreckten“, weil die „schweren Kränkungen, welche die revolutionären Geister des 19. Jahrhunderts der Menschheit nicht ersparen konnten“ – gemeint ist „die Erkenntnis, daß der Mensch vom Tier abstammt (Darwin), daß die Ökonomie das Bewußtsein bestimmt (Marx) und daß das Ich vom Trieb regiert wird (Freud)“ –, allesamt „in Büchners Werk vorgebildet“ seien. Das zu erkennen sei freilich dem 20. Jahrhundert vorbehalten geblieben. Etwas genauer besehen war Büchner zu keinem Zeitpunkt ein verkanntes Genie. Selbst der seinerzeit schärfste Kritiker Büchners, der unter dem Pseudonym „Felix Frei“ Gutzkows überschwängliches Lob des Revolutionsdramas im Oktober 1835 im Namen „des Classischen“ zurückwies, meinte, das „Schlimmste von alle dem aber“ sei „dieses, daß […] ein Talent aus dem Werke hervorblickt“, das seinesgleichen suche (vgl. Hauschild 1985,
Büchners Debüt 1835: Karl Gutzkows Präsentation eines Genies
Mythos: Verdrängter Autor
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I. Unzeitgemäßer Klassiker Büchners Talent von Freunden und Gegnern anerkannt
Georg Herwegh
Hermann Marggraff
Büchner seit 1848 ein „Classiker“
Julian Schmidts Abrechnung mit Büchner
188). Auch Hermann Marggraff (1809–1864) anerkannte, obwohl er das Drama „gar zu wild, wüst und cynisch“ fand, die „wahre Genialität“ des Autors (III.2, 325). Mochten manche also die ästhetischen Zumutungen Büchners nicht goutieren, so war doch allen klar, dass es sich bei ihm um einen bedeutenden Autor handelte. Es enthalten daher „fast alle Konversationslexika und Enzyklopädien bereits ab 1838“ einen Büchner-Artikel, und seit 1840 wird Büchner in den Literaturgeschichten seiner Zeit behandelt (Hauschild 1985, 194). Angesichts des Totalausfalls bedeutender Dramatik auf der Buchmesse desselben Jahrs 1840 fragte Georg Herwegh (1817–1875) öffentlich, „wann“ denn „endlich“ die angekündigte „Sammlung der Georg Büchner’schen Productionen“ erscheine (Deutsche Volkshalle, Nr. 102, 26. Mai 1840, 404; Hauschild 1985, 196). Allerdings hatte er wie viele andere Publizisten offenbar übersehen, dass immerhin Leonce und Lena und das ErzählFragment Lenz schon erschienen waren. Es blieb also nur das „beinahe vollendete Drama“ zu erwarten, von dem Wilhelm Schulz in seinem Nachruf von 1837 gesprochen hatte (Grab 1985, 140). Der schon erwähnte Hermann Marggraff vermutete 1838 auf Grund der mitgeteilten Partien von Leonce und Lena, dass Büchner vermutlich bald schon „der versöhnenden Kunstform mächtig geworden“ wäre, hätte ihn „nicht der Tod mitten in der Blüte seiner stürmenden Jugendkraft überrascht“ (VI, 333), dass Büchner also auf dem besten Weg zum Klassiker war. 1843 wiederholte Marggraff noch einmal das positive Urteil über Leonce und Lena und schloss eine eindrückliche Charakteristik der Erzählung Lenz an, die etwas „wüst Träumerisches“ habe: „sie wälzt und wühlt und kugelt sich so unheimlich durch seltsame bald knapp abgebrochene, bald traumhaft verlängerte Wortwindungen und Satzverschlingungen, […] daß es dem Leser fast erscheint, als lese er hier nicht die Novelle eines Zweiten über einen Wahnsinnigen, sondern habe es mit diesem selbst zu tun“ (VI, 334). Kurz vor der Märzrevolution pries ein pseudonymer Autor als quasi einzige deutsche Lustspiele Grabbes Scherz, Ironie, Satire und tiefere Bedeutung und Büchners Leonce und Lena an (vgl. Beise 2005/08, 90f.). Büchner war also seit seinem ersten Auftreten mit seinen dichterischen Werken präsent und anerkannt. So muss es nicht verwundern, dass bereits 1848 eine Szene aus Danton’s Tod (IV/3) Aufnahme in die Anthologie Bildersaal der Weltliteratur (hg. v. Johannes Scherr. Stuttgart 1848, 935f.) fand; 1863 nahm dann Carl Arnold Schloenbach den I. Act, die letzte Szene des II. Acts und den III. Act von Danton’s Tod in die Bibliothek der Deutschen Klassiker auf (Bd. 22: Die Dramatiker der Neuzeit. Hildburghausen 1863, 21870, 149–186). Es war Büchners Präsenz, Prominenz und Ausstrahlung besonders auf jüngere Autoren, die Julian Schmidt (1818–1886) veranlassten, die Abrechnung mit den vormärzlichen Literaturkonzepten am Beispiel Büchners zu exekutieren, der vor Gutzkow, Hebbel und Lassalle zum Feindbild Nr. 1 für den Cheftheoretiker des sogenannten ,bürgerlichen‘ Realismus wurde. Schmidts Aufsatz erschien 1851 in den Grenzboten, dem von ihm und Gustav Freytag herausgegebenen Zentralorgan des programmatischen Realismus, und wurde jeweils mit geringen Veränderungen in die verschiedenen Auflagen seiner Geschichte der Deutschen Literatur im neunzehnten Jahr-
Wandlungen des Büchner-Bilds im Spiegel der Forschungsgeschichte
hundert (1853; 51866) übernommen. „Altkluge Ironie“ und „verfrühte Blasirtheit“ charakterisierten Büchner, der das „alle Poeten seiner Schule“ überragende „Talent“ aber „unkünstlerisch“ einsetzte, ja „an einen unglückseligen Gegenstand verschwendet“ hätte, zum Beispiel bei der literarischen Darstellung des Wahnsinns, wobei Lenz beweise, dass sich offenbar dem „Dichter […] selber die Welt im Fiebertraum“ drehte. Die Figur sei „Spiegelbild der eigenen Stimmung, welche zugleich die der Zeit war“: Weltschmerz und Nihilismus, gepaart mit einem krankhaften Interesse an den „Nachtseiten der Natur“. Leonce und Lena sei da nicht besser: „frostige Späße“ des „Spleens und der Blasirtheit“, „glaubenlos“, „hochmüthig“, „sophistisch“, „unheimlich“, „gefährlich“: „Denn wie die Realität sich in Visionen verliert, so bemächtigen sich die Visionen der Wirklichkeit.“ Noch „unheimlicher“ werde die Sache in Danton’s Tod, „denn wir fühlen Leben und Zusammenhang heraus“. Obwohl Büchner die Quellen weniger geschickt ausgebeutet habe als Goethe im Götz von Berlichingen, mache das Drama auf „jeden Unbefangenen“ immerhin einen durchaus wünschenswerten Eindruck, nämlich „daß die Revolution etwas Entsetzliches und Verabscheuungswürdiges sei“. Umso schlimmer, dass Büchner selbst sich an die „Spitze einer ziemlich weit verbreiteten geheimen Gesellschaft“ gestellt habe, „welche Brandpamphlete in die Hütten des Volks schleuderte, um einen Krieg der Armen gegen die Reichen zu erregen“. Der Landbote sei eine einzige „Lüge“, ja er sei der Versuch, eine „Revolution herauf[zu]beschwören aus Langeweile und Blasirtheit!“ Dies sei „die Consequenz jener skeptischen Selbstbeschauung, die uns die Romantik gelehrt; jenes Pessimismus, der aus aristokratisch frühreifer Ueberbildung hervorgeht, und der nachher in unserer äußersten Demokratie seinen Bodensatz gelassen hat“ (Schmidt 1856, 49–56). Büchner vertrat gegenüber der propagierten bürgerlich-realistischen Mittelstraße für Schmidt zugleich den aristokratisch-romantischen und sozialistisch-naturalistischen Irrweg. Damit ist auch gesagt, wo Büchner weiterhin Wirkung entfaltete, während die programmatischen Realisten von Gustav Freytag (1816–1895) bis Karl Frenzel (1827–1914) den Ton angaben: Bei Spät- und Neoromantikern oder den Naturalisten, bei den Décadents und den Sozialdemokraten, wo sich sogar ein regelrechter „Büchnercultus“ entfaltete, wie Adolf Stern 1880 festhielt (Goltschnigg 2001/04, 1,143), auch wenn Franz Mehring 1897 insistierte, dass Büchner bei aller politischen Klarsicht, die ihn weit über seine Zeitgenossen heraushebe, kein Sozialist „im heutigen Sinn des Wortes“ gewesen sei (Mehring 1976, 78), was Georgs Bruder Ludwig Büchner gerade behauptet hatte (Goltschnigg 2001/04, 1,154–156). Dass Büchner in der Arbeiterbewegung ohne Abstriche verehrt wurde, lässt sich nicht sagen. Als der Chefredakteur der Magdeburger Volksstimme, damals noch eine linke Zeitung, 1891 Szenen aus Danton’s Tod in der Feuilletonbeilage abdruckte, protestierten die Genossen heftig, weil man die Zeitung „ängstlich vor den Frauen und Kindern wegschließen“ müsse, „die durch solches ,Schmutzwerk‘ nur verdorben würden“ (Hauschild 1985, 286). Es müsste noch genauer erforscht werden, wie Büchner an die 1848 und später geborenen ,Romantizisten‘ vermittelt wurde. Einer von ihnen, der sich einen „romantischen Realisten“ nannte (ebd., 236), Karl Emil Franzos
Wirkung bei Naturalisten und Neoromantikern
Karl Emil Franzos
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I. Unzeitgemäßer Klassiker
Wedekind, Hofmannsthal und die Münchner Bohème
Paul Landau
(1848–1904) nämlich, entfaltete ab 1875, als in Zürich die von Adolf Calmberg (1837–1887) initiierte burschenschaftliche Büchner-Feier stattfand (ebd., 427–442), von Wien aus eine regelrechte Kampagne zugunsten des angeblich inzwischen eher „ungelesenen“ Darmstädter Schriftstellers (ebd., 109f.). Einer der Vermittler war zum Beispiel der seit 1864 als Professor für Literatur an der Wiener Handelsakademie lehrende Kritiker Emil Kuh (1828–1876), der Büchner für ein „Mittelglied“ zwischen Grabbe, Hebbel und Otto Ludwig hielt (ebd., 110); Kuckhoff meinte noch 1927, dass Büchner in Schopenhauers romantischem Pessimismus „die philosophisch durchgebildete Darstellung seines eigenen Gefühls“ gefunden hätte (WK 436). Franzos brachte jedenfalls 1879 eine neue Gesammt-Ausgabe von Büchners Schriften heraus, die zur Grundlage der ,modernen‘ Büchner- Rezeption seit Ende des 19. Jahrhunderts wurde. Durch sie lernten Autoren wie Frank Wedekind (1864–1918) oder Hugo von Hofmannsthal (1874–1929) den Autor kennen und schätzen; so wie die Münchner Bohème um Oskar Panizza (1853–1921), Ernst von Wolzogen (1855–1934), Franz Held (1862–1908), Otto Erich Hartleben (1864–1905) und Max Halbe (1865–1944), die 1895 Leonce und Lena in einem elitären Zirkel uraufführten (vgl. Goltschnigg 2001/04, 1,234–237). Um 1900 hatte sich Büchners Werk im literarischen Bewusstsein der Zeit in voller Breite durchgesetzt. Es schien den Neoromantikern ebenso nahezustehen wie den Avantgardisten. Es „führt in gerader Linie hin zu der naturalistischen Tragödie“, zu „der modernen Romantik“, zur balladesken Moritat, zur „psychologischen Analyse“ und zum „Impressionismus“ der Jahrhundertwende, so Paul Landau (1880–1951) in einem Artikel zum 100. Geburtstag des Dichters (Goltschnigg 2001/04, 1,193–195). Landau hatte nicht lange vorher mit der Studie „Georg Büchners Leben und Werke“, publiziert als Einleitung zu seiner zweibändigen Ausgabe der Gesammelten Schriften (1909) die erste moderne literaturwissenschaftliche Gesamtdarstellung Büchners geliefert (WK 237–351, Ausschnitte auch in Martens 1973, 16–81). Er entwarf hier gewissermaßen das Gegenbild zu Julian Schmidts Büchner-Porträt. In biografischen Details der romanesken Einleitung von Franzos in dessen Gesammt-Ausgabe (WK 137–233, ergänzt durch WK 120–134) verpflichtet, organisierte er die äußeren Fakten zunächst nach dem um 1900 üblichen, heute durch die Erzählungen von Thomas Mann noch vertrauten Muster von „Genie und Krankheit auf der einen, Gesundheit und philiströser Dummheit auf der anderen Seite“ (Dedner 1988, 207). Gesund und krank konnten bei Landau nicht nur Individuen, sondern auch Epochen sein; so war die Zeit Shakespeares ebenso krank wie die Romantik. Anders als Schmidt deutete Landau nun aber Büchner nicht als Repräsentanten der kranken Zeit, sondern im Gegenteil als von „Lebensdurst und Lebensmut“ strotzenden „Kämpfer gegen seine Zeit“, die eine „welke Epoche“ war. Der „Jüngling“ überwand „in den stagnierenden, dumpfen Jahren der Restauration […] alle Krisen, die ihn mit unerhörter Gewalt ergreifen und durchwühlen, ringt sich aus ihnen heraus zur Gesundung, zum festen klaren Eingreifen und Begreifen der Welt“ (WK 237f.). Anders als in der „modernen Dekadence“ (ebd., 349) war bei Landau das Genie also nicht notwendig krank, sondern konnte in vitalistischer Manier auch als einsamer Gesunder der allgemeinen Morbidität trotzen. Während der Expressionist Wilhelm
Wandlungen des Büchner-Bilds im Spiegel der Forschungsgeschichte
Hausenstein (1882–1957) ein paar Jahre später den frühen Tod Büchners gewissermaßen als Erfüllung der „Vereinsamung“ eines unzeitgemäßen Genies („Die Spannung seiner Jugend war zu groß, die Zeit zu miserabel gewesen“) glorifizierte (WK 372f., 364), empfand ihn Landau als tragische Katastrophe, die „eine Entwicklung […] jäh abgebrochen“ habe, „den Jüngling fällte wie einen jungen starken Baum die Axt“ (WK 351, 237). Obwohl Landau gegen Schmidts Bild von Büchner als Repräsentant seiner Zeit das des Widersachers seiner Zeit profilierte, entwickelte sein Text unter der Hand ein vermittelndes, weil differenzierteres Porträt, das er in dem Geburtstagsartikel noch bestimmter formulierte: In jeder von Büchners Arbeiten flamme „etwas Neues auf“, woran „die moderne Literatur angeknüpft“ habe, doch zugleich stünden sie alle „auf dem Boden der Tradition, wachsen organisch hervor aus den literarischen Voraussetzungen ihrer Zeit“ (Goltschnigg 2001/04, 1,193). Landau konnte in seiner umfangreichen Einleitung auf Grund seiner profunden Kenntnis der Literaturgeschichte die inzwischen von der Forschung bestätigten unterschiedlichsten Bezugspunkte Büchners benennen: Aufklärung und Romantik, materialistischer Spinozismus und idealistische Naturphilosophie. Widerspruchsvolle Büchner-Bilder waren in der Zwischenkriegszeit gängig. Arnold Zweig (1887–1968) konstatierte „vitalistische Lebensbejahung und melancholische Todesnähe“, Adam Kuckhoff (1887–1943) modellierte Büchner als Kreuzung aus „Schopenhauer und Lenin“ (Goltschnigg 2001/ 04, 1,56, 58; vgl. WK 377–411 bzw. 415–474). In der akademischen Literaturwissenschaft wurden diese eher dichterischen Synthesen in den folgenden Jahrzehnten wieder auseinandergenommen. Karl Viëtor (1892–1951), der seit 1925 zu Büchner publizierte, summierte in dem Buch Georg Büchner. Politik, Dichtung, Wissenschaft (Bern 1949) seine Forschungen, die Büchner als „Heros der Desillusion“ (1925) oder Vertreter eines „ausweglosen Pessimismus“ (1934) darstellten (vgl. auch Zelle 2005/08). Gleichzeitig entwarf der damalige Sozialist Hans Mayer (1907–2001) ein Büchner-Porträt, das in der Germanistik sehr lange von großem Einfluss war. In dem Buch Georg Büchner und seine Zeit (Wiesbaden 1946), das in ergänzter Fassung 1972 (41980) als Taschenbuch neu publiziert wurde, stellte er Büchner in die Tradition des französischen Materialismus des 18. Jahrhunderts, der aber leider Hegels Dialektik nicht kannte und daher vom „Fels des Atheismus“ (III.2, 49) aus – anders als Karl Marx – nicht „ein gelobtes Land“, sondern „nur das Grau in Grau hoffnungslosen Elends“ sah (Mayer 1946, 356). In scharfer Wendung gegen Mayers atheistischen Materialisten Georg Büchner baute Wolfgang Wittkowski (* 1925) den Dichter als religiösen Revolutionär auf, dessen Denken zwischen Pascal und Kierkegaard anzusiedeln und dessen Dichtung als pietistisch motivierte Gewissenserforschung zu verstehen wäre, bei der es darum gehe, „die Adamsnatur“ zu überwinden, „um sich anzunähern an Moses, den Volkserlöser, und an Christus, den Welterlöser durch Ärgernis, Gericht, Verblenden“ (Wittkowski 1978, 369). Mit Wittkowskis christlicher Deutung ließen sich die zeitgleich entstandenen Büchner-Bilder von Gerhard Jancke (1938–2005) auf der linken und
Repräsentant oder Widersacher seiner Zeit
Arnold Zweig Adam Kuckhoff
Karl Viëtor
Hans Mayer
Wolfgang Wittkowski
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I. Unzeitgemäßer Klassiker Gerhard Jancke, Henri Poschmann, Thomas Michael Mayer
Ältere geisteswisseschaftliche Urteile
Büchner-Symposien 1981 und 1987
Ausstellungen 1985 und 1987
Editionen
Biografie
Neue Forschungen um 2000
Henri Poschmann (* 1932) bzw. Thomas Michael Mayer (1946–2010) auf einer anderen linken Seite schwerlich vereinbaren; ersterer stellte Büchner als neojakobinischen Aktivisten dar (Jancke 1975; 31979), die beiden anderen als frühkommunistischen Sozial-Revolutionär (Mayer 1979; Poschmann 1983; 31988). In gewisser Weise reflektierten diese Positionen und Streitigkeiten auch den Zeitgeist der APO-Ära und verraten oft mehr über die jeweiligen Interpreten als über Büchner, obwohl sie nicht unwesentlich zur Schärfung des zuvor nur verschwommenen und stets im Ungefähren geisteswissenschaftlicher Generalisierungen bleibenden Bildes beitrugen (Friedrich Sengle beobachtete 1952/69 die Auflösung des Historischen durch einen erotischen Nihilismus; Gerhart Baumann parallelisierte 1961/76 fragmentarisches Werk und unabgeschlossene Persönlichkeitsbildung; Walter Müller-Seidel entdeckte 1968 im Gegenteil Büchners szientifisches Totalitätsdenken; Walter Hinck stellte 1969 wieder eine unüberwindliche Dichotomie von Dichtung und Politik fest; Maurice Benn entdeckte 1976 in Büchner einen engagierten Existentialisten usw.). Die 1980er Jahre waren in der Büchner-Forschung das Jahrzehnt der Sammlung vorliegender Spezialuntersuchungen und Formulierung literaturwissenschaftlicher Desiderata – zum größten Teil nachlesbar in den Akten des ersten (1981) und zweiten (1987) Internationalen Georg-Büchner-Symposiums (GBJb 2 u. 3; Dedner/Oesterle 1990) – und der Beginn einer neuen, textkritisch und neopositivistisch abgesicherten Forschung zu speziellen Fragen und übergreifenden Aspekten (vgl. in den Büchner-Studien: Grab 1985; Hauschild 1985; Dedner 1987; Wender 1988). Wichtige Ausstellungen präsentierten Büchners Werk und seine Zeit der Öffentlichkeit (Marburg 1985: KatM; Darmstadt 1987: KatD; Düsseldorf 1987). Die Büchner-Forschung der DDR wurde in zwei Sammelbänden der internationalen Öffentlichkeit vorgelegt (Werner 1988; Poschmann 1992). Zugleich wurden die beiden gegenwärtig wichtigsten Editionen vorbereitet, die 1992–1999 von Henri Poschmann im Deutschen Klassiker Verlag herausgegebene „Frankfurter Ausgabe“ der Sämtlichen Werke, Briefe und Dokumente (2 Bde.; hier zitiert mit Sigle FA nach der 2006 publizierten Taschenbuch-Ausgabe) sowie die von Thomas Michael Mayer mitbegründete und von Burghard Dedner (* 1942) herausgegebene „Marburger Ausgabe“ der Sämtlichen Werke und Schriften (Historisch-kritische Ausgabe mit Quellendokumentation und Kommentar), die seit 2000 im Verlag der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft erscheint (hier zitiert mit römischer Bandund arabischer Seitenzahl). 1993 erschien die „erste großangelegte Biographie Georg Büchners mit wissenschaftlichem Anspruch“ (Knapp 2000, 46) aus der Feder von JanChristoph Hauschild (verbesserte Fassung 1997 als Taschenbuch). Trotz verschiedener Einwände gegen Details (vgl. Mayer 1995/99) wird sie auf noch nicht absehbare Zeit die Grundlage für jede Beschäftigung mit dem Leben des Autors bleiben; Hauschild selbst besorgte eine Kurzfassung seiner Biografie in der Reihe rowohlts monographien (1992; überarb. u. erw. 2004). Seit den 1990er Jahren und verstärkt seit der Jahrtausendwende werden auch bislang vernachlässigte Bereiche des Œuvres untersucht, zum Beispiel die Schülerschriften (Lehmann 2005), die Übersetzungen (Hübner-Bopp 1990; Bremer 1998; Beise 2008), die philosophischen Schriften (Vollhardt
Wandlungen des Büchner-Bilds im Spiegel der Forschungsgeschichte
1991, Osawa 1999; Stiening 2005) oder die naturwissenschaftlichen Schriften (Stiening 1999, Roth 2004), wobei der Zusammenhang von Naturwissenschaft und Dichtung generell, wenn auch zum Teil eher dekonstruktiv als konkret, in den letzten Jahren häufiger in den Blick gerät (Kubik 1991, Ludwig 1998, Müller Nielaba 2001, Müller-Sievers 2003, Borgards 2007). Auch die intermedialen Aspekte des Werks und der Rezeption (Hoff/Martin 2008; Neuhuber: 2009) geraten in einer sich kulturwissenschaftlich ausrichtenden Germanistik neuerdings stärker in den Blick. Seit der Jahrtausendwende mehren sich auch die einführenden Monografien (Knapp 2000, Martin 2007; Neuhuber 2009; das vorliegende Buch), die aber wie inzwischen üblich nicht mehr nur die vorliegende Forschung resümieren, sondern auch neue und eigene Akzente setzen, die den Literatur-Unterricht und die Forschung inspirieren können.
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II. Ein kurzes Leben. Biografischer Abriss
Ein Frühvollendeter?
Geboren am 17.10.1813
Kindheit und Jugend
„Pensionopolis“
Die Herausforderung einer Lebensbeschreibung Georg Büchners liegt vor allem in dem Kontrast zwischen der eminenten Bedeutung seines Werks und der unglaublich kurzen Zeit von dessen Entstehung. Büchner hinterließ mit dem Hessischen Landboten die meist zitierte und nachgeahmte politische Flugschrift Deutschlands, mit den Dramen Danton’s Tod, Leonce und Lena und Woyzeck drei der meist bewunderten Bühnenstücke deutscher Sprache, mit denen nach Heiner Müller (Goltschnigg 2001/04, 3,441) „eigentlich die moderne Dramatik“ anfange, und mit Lenz eine Erzählung, mit der nach Arnold Zweig „die moderne europäische Prosa“ (WK 401) begann; neben diesen fünf ,klassischen‘ Werken entstanden noch Übersetzungen von zwei Dramen Victor Hugos, eine zoologische Doktorarbeit und der Anfang einer philosophiegeschichtlichen Vorlesung, deren Bedeutung erst noch zu entdecken ist – und das alles in nur drei Jahren. Wie auf kaum einen anderen Schriftsteller passt auf Büchner, der nur 23 Jahre, 4 Monate und 2 Tage alt wurde, die Rede vom „Frühvollendeten“ (Loch 1988; vgl. Gutzkow 1837, 346; Georg Hermann: Die Frühverstorbenen, in: Das litterarische Echo 18 (1915/16), 1, 20–31). Kann man diesen ,Ausbruch an Genialität‘ aus seinen Lebensumständen, aus seinen ersten zwanzig Jahren erklären? Carl Georg Büchner, wie sein vollständiger Taufname lautet (vgl. das Taufprotokoll vom 28. Okt. 1817 in: KatM 19), wurde am 17. Oktober 1813 morgens um halb sechs Uhr als erstes Kind des Distriktarztes Ernst Büchner und seiner Frau Caroline in der großherzoglich-hessischen Ortschaft Goddelau geboren. An seinen Geburtsort, ein Bauerndorf mit etwa 80 Häusern und rund 550 Einwohnern (Hauschild 1993, 22), wird er allerdings nicht viele Erinnerungen behalten haben; schon 1816 übersiedelte die Familie nach Darmstadt, wo der Vater Assessor des Großherzoglichen MedicinalCollegiums geworden war, dessen ordentliches Mitglied er 1832 und dessen Vorsitzender er 1854 als Obermedizinalrat wurde. In Darmstadt verbrachte Georg Büchner seine bewussten Kinder- und Jugendjahre bis zum Beginn seines Studiums im Herbst 1831. Die Hauptstadt des Großherzogtums Hessen galt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als außerordentlich „still, langweilig, zopfig, altväterisch, philisterhaft“, wie sich Wilhelm Hamm (1820–1880) erinnerte (KatM 31). Als der Komponist Carl Maria von Weber 1810 einmal in Darmstadt gastierte, begann er einen Brief mit dem Griff „nach einem langweiligen Gänsekiel, um Dir in dem langweiligen Darmstadt langweilig zu erzählen, daß ich Langeweile habe“ (Beise/Funk 2005, 109). Auch Georgs Bruder Ludwig Büchner berichtete in einem Brief an Wilhelmine Jaeglé aus dem Jahr 1844, es sehe in seiner Heimatstadt „aus, just so, wie früher: breit, weit, leer, todt“ (KatM 31). Das Bild der Residenzstadt wurde in der Biedermeierzeit bestimmt durch einen besonders hohen Anteil an Militär-, Hof- und Regierungsbeamten und durch eine Quote von nicht erwerbstätigen Rentnern und Pensionären, die „von
Biografischer Abriss
Abb. 1 und Abb. 2: Von Büchner gibt es nur zwei zu Lebzeiten entstandene Porträts: eine Bleistiftskizze von Alexis Muston (1810–1888), die auf einer gemeinsamen Wanderung im Odenwälder Felsenmeer 1833 entstand; und das sozusagen offizielle Porträt, das Heinrich Adolf Valentin Hoffmann (1814–1896) für die Familie anfertigte (verbrannt 1944). Sie zeigen vor allem den primären Eindruck: die im Steckbrief 1835 erwähnte hohe, „sehr gewölbte“ Stirn und den Gesichtsausdruck einer „Katze, wenn’s donnert“ (so die Erinnerung des Kommilitonen Carl Vogt).
wenigen anderen deutschen Städten überhaupt erreicht worden sein“ dürfte, wie sich Ekkehard Wiest ausdrückte (KatM 26). Der jüngste Spross der Familie, Alexander Büchner, nannte daher in seinen „Erinnerungen“ (Das „tolle“ Jahr vor, während und nach. Von einem, der nicht mehr toll ist. Gießen 1900, 13) die Stadt „Pensionopolis“. Mit seinen Schulfreunden machte sich auch Georg Büchner weidlich lustig über die „residenzlichen […] Zustände“ (MA 373), wovon auch noch der Brief an Edouard Reuß vom 20. August 1832 Zeugnis ablegt: Aus Darmstadt lasse sich nichts „Vernünftiges“ schreiben, „ist auch noch nie geschehen“, man könne hier allenfalls als „so ein anständiger, so ein rechtlicher, so ein zivilisierter junger Mann […] bei einem Minister den Tee einnehmen, bei seiner Frau auf dem Kanapee sitzen und mit seiner Tochter eine Françoise tanzen“, kurz: „ich kann einmal diese Luft nicht vertragen, sie ist mir eben so zuwider, als zur Zeit, da ich fortging“ (FA 2,359f.). Bei einem Autor, dessen Werk von weltliterarischer Bedeutung während des Studiums in nur drei Jahren und in einem Alter entstand, in denen andere überhaupt erst „zu leben anfangen“, ist „die Frage nach dem, womit er sich als Schüler beschäftigt und auseinander gesetzt hat“, von besonderer Relevanz (Hauschild 2004, 8 u. 23). Über die Anfänge von Büchners Bildung wissen wir indes nur sehr wenig. Bis 1821 wurde er im Wesentlichen durch seine Mutter Caroline Büchner unterrichtet. Diese war 1791 in Pirmasens als dritte Tochter eines hohen pfälzischen Beamten geboren worden und hatte am 28. Oktober 1812 den damaligen Hofheimer Amts-Chirurgus
Büchners Mutter
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II. Ein kurzes Leben
Primarschule 1821–1824
Ernst Büchner geheiratet. Sie war, so nannte sie Ludwig Wilhelm Luck 1878 rückblickend, „eine ehrenwerte, charakterfeste deutsche Hausfrau“, die „ohne alle Prätension auf außergewöhnliche Bildung“ nicht „sich selbst genießen und geltend machen“ wollte (MA 375), sondern für ihre Familie da war. Ihre zweite Tochter Luise schilderte sie in einem Romanfragment als „vernünftig und gerecht […] der Jugend und besonders ihren Kindern gegenüber“, womit sie diese „zur Mäßigung und Besonnenheit“ lenkte. „Dadurch, daß sie auf ihre Kinder einging, sie als urtheilsfähige Menschen betrachtet und mit ihnen discutirte, nicht disputirte, erwarb sie sich deren unbedingtes Vertrauen“ (KatM 14). Der Freund Eugène Boeckel, der sie 1836 kennen lernte, schrieb an Georg Büchner: „Deine Mutter ist übrigens eine der angenehmsten und unterhaltensten Personen welche ich jemalen gesehn habe“ (FA 2,425). Wie sie ihre Kinder unterrichtete und was sie ihnen speziell beibrachte, ist jedoch nicht bekannt. Immerhin wurde bei den Büchners nach dem Zeugnis der Tochter Luise stets darauf geachtet, dass es „bei den Kindern nie ein faules Herumschlendern“ gab, sondern dass diese immer mit „einer nützlichen Arbeit“ beschäftigt waren, wenigstens bis zum Abendessen. Georg Büchner soll sogar noch danach anstatt mit Freunden auszugehen „in seinem Zimmer […] angestrengt“ und „oft zu lange“ gearbeitet haben, „was der Mutter“ dann doch „oft bange Sorge bereitete“ (IA 34). Der Vater Ernst Büchner, der nach Karl Emil Franzos in seiner Jugend „von einem rein der Wissenschaft gewidmeten Leben“ geträumt habe (WK 141) und auch als praktischer Arzt noch gelegentlich Forschungsbeiträge publizierte (vgl. KatM 20–25; KatD 66–71), mochte den Studieneifer seines ältesten Sohns mit Genugtuung gesehen haben, so wie er sich 1836 freute, dass sein jüngster Sohn Alexander gute Anlagen zeigte, „ein ruhiger Gelehrter [zu] werden“, wie er in seinem letzten Brief an Georg schrieb (FA 2,460). Im Herbst 1821 trat Georg Büchner in die „Privat Erziehungs- und Unterrichts-Anstalt für Knaben“ ein, die Carl Weitershausen (1790–1837) in Darmstadt gerade neu eröffnet hatte. Wie der Name seines Instituts schon zeigte, legte Weitershausen programmatisch Wert darauf, dass „Schule […] nicht nur Unterrichts- sondern auch Erziehungs-Anstalt seyn“ sollte (KatD 22). So wurden die Schüler nicht nur sechs Tage die Woche von morgens bis nachmittags in Geometrie, Geschichte, Physik, Latein, Griechisch und Französisch unterrichtet, sondern auch auf Exkursionen wie Wanderungen und Museumsbesuche geschickt und körperlich trainiert. „Gehorsam“, „Selbstüberwindung“, „strenge Ordnung und Pünktlichkeit“ waren nicht nur Sekundärtugenden, sondern bei Weitershausen „oberste Erziehungsziele“ (Hauschild 2004, 22). Nichtsdestoweniger bescheinigte Wilhelm Hamm (Jugenderinnerungen. Hg. v. Karl Esselborn. Darmstadt 1926, 76) dieser Schule einen „freigeistigen, demagogischen Anstrich“. In einem Programm dieser Schule wird Georg Büchner 1822 das erste Mal öffentlich erwähnt: als Deklamator eines lateinischen Texts über die „Vorsicht beim Genusse des Obstes“ (KatD 22). Aus dieser Zeit haben sich zwei Schulhefte Büchners erhalten, und zwar eines zur „Pflanzenkunde“ und eines zur „Geometrie“ (vgl. Lehmann 2005, 29–42). Letzterem Heft ist im Übrigen anzumerken, warum der Direktor des im Folgenden besuchten Gymnasiums dem Schüler Georg Büchner noch auf dem Abgangszeugnis bescheinigte, er habe „man-
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gelnde Vorkenntnisse“ in „der Mathematik“ gehabt (FA 2,639): „Der Vergleich mit zeitgenössischen Lehrbüchern und möglichen Quellen zeigt, daß nicht nur bei Büchner […], sondern auch und vor allem auf seiten des Lehrers eine große Unsicherheit und Unkenntnis bestand“ (Lehmann 2005, 39). Entgegen früheren Annahmen wechselte Büchner wohl schon im Herbst 1824 (vgl. ebd. 14–16) auf das Großherzoglich-Hessische Gymnasium in Darmstadt, das sogenannte „Pädagog“. Hier wurde den Schülern eine humanistisch ausgerichtete Bildung gegeben, die sie zu einem universitären Studium befähigen sollte. Gerhard Schaub zufolge war das Pädagog zu Büchners Zeit „nicht nur die bedeutendste Gelehrtenschule des Großherzogtums Hessen, sondern auch ,eines der wichtigsten teutschen Gymnasien‘ überhaupt“ (KatM 45). Später berühmt gewordene Schüler waren neben den Brüdern Georg und Ludwig Büchner zum Beispiel Justus Liebig (1803–1873) oder Georg Gottfried Gervinus (1805–1871). Die „Instruction für den Unterricht“ von 1827 unterteilte die Fächer in: „I. Sprachen: 1) Hebräisch. 2) Griechisch. 3) Lateinisch. 4) Französisch. 5) Deutsch. II. Wissenschaften: 6) Encyclopädie der Wissenschaften und Literärgeschichte. 7) Religion. 8) Geographie und Geschichte. 9) Mathematik. 10) Naturkunde. III. Künste: 11) Zeichnen. 12) Kalligraphie. 13) Singen.“ (Ebd.. Aus der Gymnasialzeit Büchners sind immerhin 22 Hefte überliefert, bei denen es sich aber überwiegend „nicht um eigenständige Arbeiten, sondern vor allem um Übersetzungen, um ,gebundene Aufsätze‘ sowie um Mitschriften nach diktatähnlichen Vorträgen“ handelt. „Die vielen umfangreichen und ausgeprägt quellenabhängigen Diktatmitschriften belegen anschaulich, wie der Unterricht mit vermutlich nur wenigen Ausnahmen verlief: Die Lehrer hielten Vorträge, die sie anhand von Lehrbüchern u.Ä. vollständig ausformuliert hatten. Die Schüler mussten diese wörtlich mitschreiben und als Grundlage für das häusliche Lernen sowie für Ausarbeitungen benutzen, d.h. schriftliche Aufsätze, Reden und Vorträge, die vor allem von den Schülern der oberen Klassen (Prima und Selecta) regelmäßig gefordert wurden. Besonders gelungene Abhandlungen und Reden wurden während des öffentlichen Redeactus vorgetragen, der den Hauptteil der jedes Semester beschließenden Schulfeierlichkeiten bildete“ (BHb 2). Büchner trat wegen „seiner bemerkenswerten rhetorischen Leistungen“ (Hauschild 2004, 25) sogar zwei Mal bei einer solchen Gelegenheit auf, nämlich am Ende des Sommersemester 1830 mit einer „teutschen Rede“ zur Rechtfertigung der Selbsttötung des Cato von Utica (FA 2,30–38) und die bei seiner eigenen Abiturfeier am Ende des Wintersemesters 1830/31 vorgetragenen „Rede des Menenius Agrippa an das römische Volk auf dem heiligen Berge“, die er allerdings schon ein Jahr zuvor verfasst hatte (nicht erhalten). Unter den überlieferten Schülerschriften stellt die Cato-Rede das ausgereifteste Zeugnis von Büchners rednerischem bzw. schriftstellerischem Talent dar“, meinte Susanne Lehmann (BHb 5), die den Text in ihrer Dissertation über „ausgewählte Schülerschriften und ihre Quellen“ bisher auch am ausführlichsten analysierte (Lehmann 2005, 107–165). Bemerkenswert ist darin die starke Betonung der unbedingten Prinzipientreue, der Ehrliebe und des Pflichtbewusstseins, des Patriotismus und der Freiheitsbegeisterung des antiken Stoikers, gegen dessen Freitod alle christlichen Einwände beiseite gewischt werden, da es absurd sei, „einen alten Römer nach dem Ka-
Gymnasium 1824–1831
Schulischer Unterricht
Öffentliche Rede-Actus
Rede über Cato von Utica
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II. Ein kurzes Leben
Aufsatz über den Helden-Tod der vierhundert Pforzheimer
„Liebe zu der Freiheit“
„Bon jour, citoyen“
techismus kritisieren zu wollen“ (FA 2,31). Vielmehr werde seine Tat, nämlich „sich lieber den Tod geben, als den Sturz der römischen Republik und Freiheit erleben“ (Luise Büchner; IA 30), „ein Denkmal im Herzen aller Edlen“ behalten, „so lange das große Urgefühl für Vaterland und Freiheit in der Brust des Menschen glüht!“ (FA 2,38). Auffällig ist jedoch, dass der Anfang, den Büchner aus seinem eigenen Aufsatz über den Helden-Tod der vierhundert Pforzheimer (Wintersemester 1829/30) nahezu wörtlich abschreibt, einen Satz nicht enthält, den wir in dem früheren Text noch finden: „Solche Männer waren es, die ganze Nationen in ihrem Fluge mit sich fortrissen und aus ihrem Schlafe rüttelten, zu deren Füßen die Welt zitterte, vor welchen die Tyrannen bebten“ (FA 2,18). Vermutlich auf Wunsch Carl Diltheys, „welcher natürlich die Rede vorher geprüft“, so Luise Büchner (IA 30), sollte dieser Satz knapp acht Wochen nach der Pariser Juli-Revolution und wenige Tage nach dem Ausbruch einer Bauernrevolte im Norden des Großherzogtums Hessen nicht öffentlich ausgesprochen werden, auch wenn die Rede insgesamt trotzdem noch unüberhörbar die „hingebendste Liebe zu der Freiheit“ und den „unversöhnlichsten Haß gegen die Unterdrückung“ (Luise Büchner) atmete (vgl. Hauschild 2004, 26f.). Seit 1826 war der angesehene Pädagoge Carl Dilthey (1797–1857) Direktor der Schule. Bei Abiturfeiern oder anderen öffentlichen Anlässen warnte er wiederholt vor den aufrührerischen Tendenzen an den Universitäten und suchte an seiner Schule ein konservatives Klima zu halten. Doch konnte er nicht verhindern, dass seine Schüler von einer „Freiheit“ träumten, die nicht nur „Geist und Herz“ betraf, sondern auf die Abschaffung von „Tyrannei und Knechtschaft“ auch in Staat und Gesellschaft zielte (vgl. KatM 50 u. 58f.). In dem erwähnten Aufsatz über den „Heldentod der vierhundert Pforzheimer“, der insgesamt allerdings wenig originell ist (vgl. Hauschild 2004, 24), hatte Büchner in der Tradition von Kant und Fichte die Französische Revolution gefeiert, welche bewiesen habe, dass nicht nur die Antike vorbildliche „Freiheits-Kämpfe“ kenne: „Ich brauche mein Augenmerk nur auf den Kampf zu richten, der noch vor wenig Jahren die Welt erschütterte, der die [Welt] in ihrer Entwicklung um mehr denn ein Jahrhundert in gewaltigem Schwunge vorwärtsbrachte, der in blutigem aber gerechtem Vertilgungs-Kampfe die Greuel rächte, die Jahrhunderte hindurch schändliche Despoten an der leidenden Menschheit verübte[n], der mit dem SonnenBlicke der Freiheit den Nebel erhellte, der schwer über Europas Völkern lag und ihnen zeigte, daß die Vorsehung sie nicht zum Spiel der Willkühr von Despoten bestimmt habe. Ich meine den Freiheits-Kampf der Franken; Tugenden entwickelten sich in ihm, wie sie Rom und Sparta kaum aufzuweisen haben und Thaten geschahen, die nach Jahrhunderten noch Tausende zur Nachahmung begeistern können“ (FA 2,19). Zusammen mit dem Klassenkameraden Karl Minnigerode (1814–1894), der „sich sehr an politischen Angelegenheiten beteiligte und noch radikaler erschien als Georg Büchner“, träumte der Schüler von der Revolution. Beide begrüßten „sich in der letzten Gymnasialzeit nur mit den Worten […]: Bon jour, citoyen“ (MA 373f.). Überhaupt schienen die von Dilthey so gefürchteten „revolutionären Umtriebe“ auf den Darmstädter Schüler-Zirkel eine erhebliche Anziehung auszuüben: „Allein von Büchners Klassenkameraden, ihn selbst nicht mitgerechnet, wurden acht“ der späteren „Teilnahme an staatsverräterischen
Biografischer Abriss
Handlungen“ bezichtigt (Hauschild 2004, 29); viele mussten in den 1830er Jahren polizeiliche Verfolgung erleiden und konnten sich zum Teil wenigstens ins Exil retten. „Übrigens sind wir Flüchtigen und Verhafteten gerade nicht die Unwissendsten, Einfältigsten und Liederlichsten! Ich sage nicht zuviel, daß bis jetzt die besten Schüler des Gymnasiums und die fleißigsten und unterrichtetsten Studenten dies Schicksal getroffen hat“, schrieb Georg Büchner in einem Brief an seine Eltern (15. März 1836); dagegen sei es „doch im Ganzen ein armseliges, junges Geschlecht, was eben in [Darmstadt] herumläuft und sich ein Ämtchen zu erkriechen sucht!“ (FA 2,431). Kriechertum und Duckmäuserei war Büchners Sache nicht. Ihm konnte „keine äußerliche Autorität noch nichtiger Schein […] imponieren“ (MA 374). „Es fällt mir nicht mehr ein, vor den Paradegäulen und Eckstehern der Geschichte mich zu bücken“, schrieb Büchner im Januar 1834 an seine Verlobte Wilhelmine Jaeglé, kurz bevor er sich anschickte, als revolutionärer Aktivist tätig zu werden. Während der Darmstädter Schulzeit übten die Gymnasiasten die Opposition noch mehr oder weniger spielerisch und vor allem rhetorisch ein (vgl. FA 2,40: „Dieses subjektive ist aber das einzig richtige, widerspricht diesem das objektive, so ist dasselbe falsch“). Das trug der Schule bei Einigen allerdings trotzdem schon den Ruf ein, „eine Vorschule verbotener Verbindungen und Umtriebe“ zu sein (Hauschild 2004, 29). In der Hauptsache schien sich das Aufbegehren aber noch im Rahmen des „jugendlichen Übermuts“ zu bewegen, der im Gottesdienst „statt des jedesmal zu singenden Liederverses halblaut die Worte des Totengräbers im Hamlet sang“ (MA 375), oder in seinem Encyclopädieheft über seinen Lehrer herzog: „O du gelehrte Bestie lambe me in podice. ’s ist scheußlich“, „Dung-Kaute von Gelehrsamkeit“, „wenn ich mir all das Zeug in den Hirnkasten jagen wollt“, „s’ist gar so wichtig, wenn’s nur nicht so langweilig wär“, „Hilf Teufel, mir die Zeit der Angst verkürzen […] will denn die Zeit nicht verrinnen? Die Welt ist stehn geblieben“, „schaudervoll! Gott sei gelobt, es ist das letztemal“ (vgl. Sämtliche Werke und Briefe 1922, 763f., KatM 53, FA 2,48f., Lehmann 2005, 295–300). Das Hauptinteresse der Heranwachsenden galt damals noch der gemeinsamen „Geistesbildung“, wozu zwar auch die Aufmerksamkeit für politische und gesellschaftliche Entwicklungen gehörte, noch mehr aber die „philosophierenden Gespräche auf Spaziergängen“ und die „Lektüre großer Dichterwerke“. Der Freund und Klassenkamerad Friedrich Zimmermann (1814–1884) erinnerte sich später besonders der Vorliebe für „Shakespeare, Homer, Goethe, alle Volkspoesie, die wir auftreiben konnten, Äschylos und Sophokles; Jean Paul und die Hauptromantiker wurden fleißig gelesen“. Bei aller altersüblichen „Verehrung Schillers hatte Büchner doch vieles gegen das Rhetorische in seinem Dichten einzuwenden. Übrigens erstreckte sich der Bereich des Schönliterarischen, das er las, sehr weit; auch Calderón war dabei. Für Unterhaltungslektüre hatte er keinen Sinn; er mußte beim Lesen zu denken haben. Sein Geschmack war elastisch. Während er Herders ,Stimmen der Völker‘ und ,Des Knaben Wunderhorn‘ verschlang, schätzte er auch Werke der französischen Literatur. Er warf sich frühzeitig auf religiöse Fragen, auf metaphysische und ethische Probleme […]. Für die Antike und das Seelenbezwingende in der Dichtung neuerer Zeiten hatte er die gleiche Empfänglichkeit, übrigens so, daß er sich dem einfach Menschlichen mit Vorliebe
Opposition als Haltung
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II. Ein kurzes Leben
Jugendgedicht
„ein gründlicher Beobachter“
„Büchner war uns nicht sympathisch“
Vorbereitung auf ein Medizinstudium
zuwandte. Sein mächtig strebender Geist machte sich eigne Wege […]; nur für edlere Genüsse des Geistes und Gemütes hatte er Sinn, das Gemeine stieß er unwillig von sich. Die Natur liebte er mit Schwärmerei, die oft in Andacht gesammelt war. Kein Werk der deutschen Poesie machte darum auf ihn einen so mächtigen Eindruck wie der Faust“ (MA 371). Eigene literarische Versuche – sieht man einmal ab von den wenigen kindlichen und kaum bemerkenswerten Texten wie beispielsweise dem 1828 verfassten poetischen Weihnachtsgeschenk von G. Büchner für seine guten Eltern (FA 2,15f.); Karl Emil Franzos meinte 1879, „daß sich in dem Knaben noch kein Hauch origineller Dichterkraft geregt“ habe (WK 149) – scheint Büchner in seiner Jugend nicht unternommen zu haben. 1833 schrieb er einem Freund ins Stammbuch: „Verse kann ich keine machen“ (FA 2,467); und auch der enge Freund Friedrich Zimmermann meinte: „Gedichtet hat er, meines Wissens, damals nicht“ (MA 371). Vielmehr zeichnete er sich – so ein anderer Klassenkamerad – als „ein ruhiger, gründlicher, mehr zurückhaltender Beobachter“ aus, der „das Bedürfnis“ hatte, „in das Wesen der Dinge einzudringen“, um „das Lebensbrot der Wahrheit zu erwerben und es andern zu geben“. Triviale Geselligkeit war ihm zuwider. „Er lebte zurückgezogen […] und schien mit der Philosophie, mit sich und der Welt zerfallen.“ Durch sein „Streben nach Wesenhaftigkeit und Wahrhaftigkeit“ war Büchner „frühe“ in „seinem Denken und Tun […] durchaus selbständig“ geworden: „Das Bewußtsein des erworbenen geistigen Fonds drängte ihn fortwährend zu einer unerbittlichen Kritik dessen, was in der menschlichen Gesellschaft oder Philosophie und Kunst Alleinberechtigung beanspruchte oder erlistete“ (MA 373f.). Diese Haltung trug ihm später noch gelegentlich den Vorwurf ein, arrogant oder „hochmütig“ zu sein (FA 2,378f.), und der Gießener Kommilitone Carl Vogt (1817–1895), der an den gewöhnlichen studentischen „Vergnügungen“ mehr „Geschmack“ fand (ebd.), schrieb in seinen Lebenserinnerungen: „Offen gestanden, dieser Georg Büchner war uns nicht sympathisch. Er […] hielt sich gänzlich abseits, verkehrte nur mit einem etwas verlotterten und verlumpten Genie, August Becker, gewöhnlich nur der ,rote August‘ genannt. Seine Zurückgezogenheit wurde für Hochmut ausgelegt, und da er offenbar mit politischen Umtrieben zu tun hatte, ein- oder zweimal auch revolutionäre Äußerungen hatte fallen lassen, so geschah es nicht selten, daß man abends, von der Kneipe kommend, vor seiner Wohnung still hielt und ihm ein ironisches Vivat brachte […]. Er tat, als hörte er das Gejohle nicht, obgleich seine Lampe brannte und zeigte, daß er zu Hause sei.“ Eine „Annäherung“ sei unmöglich gewesen, „sein schroffes, in sich abgeschlossenes Wesen stieß uns immer wieder ab“ (MA 375f.). Sogar sein Freund Wilhelm Schulz gab zu, dass Büchner sehr ungesellig war und dass sein feineres Wesen von vornherein verhinderte, dass er jemals „mit jedem Kesselflicker in seiner eigenen Sprache zu trinken“ gelernt hätte, wie er mit einer Anspielung auf Shakespeares Henry IV.1 II/4 sagte (Grab 1985, 66). Bis zum Ende seiner Schulzeit hatte sich schon der Kreis von Freunden gebildet, aus dem später auch die „1834 gegründeten Gießener und Darmstädter Sektionen der Gesellschaft der Menschenrechte hervorging“ (Dedner 1989, 571), doch zu politischen Aktionen war es noch nicht gekommen. Vielmehr bereitete Büchner sich nach dem Abschluss der Gymnasialzeit auf
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das „academische Studium der Medicin“ (VIII, 175) vor, wie es der Wunsch seines Vaters war. In dem Abgangszeugnis hielt Carl Dilthey fest: „Bei guten Anlagen läßt sich auch in seinem künftigen Berufsstudium etwas Ausgezeichnetes von ihm erwarten, und von seinem klaren und durchdringenden Verstande hegen wir eine viel zu vortheilhafte Ansicht, als daß wir glauben könnten, er würde jemals durch Erschlaffung, Versäumniß oder voreilig absprechende Urtheile seinem eigenen Lebensglück im Wege stehen“ (MA 370; FA 2,640). Ernst Büchner, 1786 als viertes Kind eines Odenwälder Arztes geboren, hatte seine medizinische Grund-Ausbildung in Holland erhalten und als Militär-Sanitäter fünf Jahre lang in der französischen Armee gedient. Dass er 1810 bei einer Truppenparade in der Nähe von Versailles einmal von Kaiser Napoleon angesprochen wurde („Tu montes bien à cheval; quel age as-tu?“) sei ein unvergessener „Glanzpunkt“ seines Lebens gewesen, erzählte der jüngste Sohn Alexander (vgl. Hauschild 1993, 2f.). Jedenfalls hielt Büchners Vater, der seit 1811 wieder in Hessen lebte, zeitlebens an seiner NapoleonVerehrung fest und hatte eine generelle Vorliebe für alles Französische (vgl. MA 381). Da auch das wissenschaftliche Niveau der französischen Medizin zu Beginn des 19. Jahrhunderts anerkanntermaßen hoch war, war es sein „Wunsch“ (WK 107), dass der Sohn Georg in Frankreich studieren möge. Für Straßburg sprachen dabei nicht nur fachliche Gründe, sondern auch, dass dort Verwandte der Mutter lebten. Georg Büchner traf dort am 30. Oktober 1831 ein und immatrikulierte sich am 3. November 1831 als Student an der Straßburger Faculté de médecine. Er wohnte zur Untermiete bei dem verwitweten Pfarrer Johann Jakob Jaeglé (1763–1837), mit dessen Tochter Louise Wilhelmine, genannt Minna, er sich im Frühjahr 1832 heimlich verlobte, nachdem sie ihn während einer zweiwöchigen Krankheit (vgl. FA 2,465) mit liebender „Hand“ wieder „erweckt“ hatte (FA 2,380). Erst zwei Jahre später offenbarten die Beiden ihr „stilles Geheimnis“ (383) den Eltern und Verwandten. Welche Lehrveranstaltungen Büchner in seinen vier Straßburger Semestern belegte, ist nicht bekannt. Der Schulfreund Georg Zimmermann (1814–1881) schrieb später, Büchner hätte vor allem „die naturwissenschaftlichen Vorbereitungs- und Hülfsfächer der Medicin“ – Chemie, Physik, Zoologie, Anatomie, Physiologie (vgl. WK 107) – studiert und sich nur „nebenbei dem Verlangen seines Vaters entsprechend für den Beruf des Arztes“ vorbereitet. Offenbar sagte ihm der ärztliche Beruf „durchaus nicht zu“, sondern „seine Liebe zur Naturwissenschaft“ wurde immer stärker (GBJb 5,334f.). Vor allem aber radikalisierten sich in Straßburg Büchners politische Überzeugungen; er habe aus Straßburg „sehr revolutionäre Ansichten mit zurückgebracht“, erinnerte sich später Theodor Sartorius, ein Gießener Kommilitone Büchners (KatM 156). Seine eher liberal gesinnten Freunde August (1808–1884) und Adolph (1810–1892) Stöber oder Edouard Boeckel (1811–1896) provozierte er mit Auslassungen beispielsweise „über das Unnatürliche unsers gesellschaftlichen Zustandes, besonders in Beziehung auf Reich u. Arm“, oder indem er „Huß, Ravaillac u. Sand […] in eine Reihe“ stellte, wie es in dem Protokoll zur Sitzung vom 28. Juni 1832 der Studentenverbindung „Eugenia“ heißt (GBJb 6, 368). Am 5. Juli „schleuderte“ der „so feurige u so streng republicanisch gesinnte deutsche Patriot“ Büchner,
Büchners Vater
Immatrikulation in Straßburg 1831
Verlobung mit Wilhelmine Jaeglé 1832 Studium in Straßburg
Politischer Radikalismus
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II. Ein kurzes Leben
Straßburger „Gesellschaft der Volksfreunde“
Legitimität revolutionärer Gewalt
wie es das Sitzungsprotokoll festhält, „einmal wieder, alle mögliche Blitze u Donnerkeule, gegen alles was sich Fürst u König nennt; u selbst die constitutionelle Verfassung unseres Vaterlands bleibt v ihm nicht unangetastet“ (ebd.). Wie Heinrich Heine stand auch Büchner Anfang der 1830er Jahre „im Bann des republikanischen Kairos“ und wurde „bei der Begegnung mit der republikanischen Bewegung zutiefst von der politischen Programmatik der radikalen französischen Linken geprägt“ (Morawe 2010, 291). Wahrscheinlich hatte Büchner Kontakt mit der Straßburger Sektion der „Société des Amis du peuple“, der „Gesellschaft der Volksfreunde“, einer linksradikalen Vereinigung, in der sich Neojakobiner, Babouvisten und Frühkommunisten zusammengefunden hatten (KatM 94). In Büchners Briefe habe sich, so erinnerte sich Bruder Ludwig (WK 107), „das Bild der damals in Folge der Julirevolution noch tief aufgeregten Zeit“ gespiegelt. Er liebe „die französische Gewitterluft“, bekannte Büchner Anfang November 1832 (FA 2,365). Die realen politischen Zustände in Frankreich seien allerdings „eine Komödie“ und die in Deutschland glichen einer „Satyre auf die gesunde Vernunft“, heißt es in Briefen (365f.). Seiner Familie in Darmstadt gegenüber hielt er im Frühsommer 1833 mit seiner „Meinung“ nicht hinter dem Berg: „Wenn in unserer Zeit etwas helfen soll, so ist es Gewalt. Wir wissen, was wir von unseren Fürsten zu erwarten haben. Alles, was sie bewilligten, wurde ihnen durch die Notwendigkeit abgezwungen. […] Man wirft den jungen Leuten den Gebrauch der Gewalt vor. Sind wir denn aber nicht in einem ewigen Gewaltzustand? Weil wir im Kerker geboren und großgezogen sind, merken wir nicht mehr, daß wir im Loch stecken mit angeschmiedeten Händen und Füßen und einem Knebel im Munde. Was nennt Ihr denn gesetzlichen Zustand? Ein Gesetz, das die große Masse der Staatsbürger zum fronenden Vieh macht, um die unnatürlichen Bedürfnisse einer unbedeutenden und verdorbenen Minderzahl zu befriedigen? Und dies Gesetz, unterstützt durch eine rohe Militärgewalt und durch die dumme Pfiffigkeit seiner Agenten, dies Gesetz ist eine ewige, rohe Gewalt, angetan dem Recht und der gesunden Vernunft, und ich werde mit Mund und Hand dagegen kämpfen, wo ich kann. Wenn ich an dem, was geschehen, keinen Teil genommen und an dem, was vielleicht geschieht, keinen Teil nehmen werde, so geschieht es weder aus Mißbilligung, noch aus Furcht, sondern nur weil ich im gegenwärtigen Zeitpunkt jede revolutionäre Bewegung als eine vergebliche Unternehmung betrachte und nicht die Verblendung Derer teile, welche in den Deutschen ein zum Kampf für sein Recht bereites Volk sehen. Diese tolle Meinung führte die Frankfurter Vorfälle herbei, und der Irrtum büßte sich schwer. Irren ist übrigens keine Sünde, und die deutsche Indifferenz ist wirklich von der Art, daß sie alle Berechnung zu Schanden macht. Ich bedaure die Unglücklichen von Herzen. Sollte keiner von meinen Freunden in die Sache verwickelt sein? […] Ich werde zwar immer meinen Grundsätzen gemäß handeln, habe aber in neuerer Zeit gelernt, daß nur das notwendige Bedürfnis der großen Masse Umänderungen herbeiführen kann, daß alles Bewegen und Schreien der Einzelnen vergebliches Torenwerk ist. Sie schreiben, man liest sie nicht; sie schreien, man hört sie nicht; sie handeln, man hilft ihnen nicht. Ihr könnt voraussehen, daß ich mich in die Gießener Winkelpolitik und revolutionären Kinderstreiche nicht einlassen werde“ (366f. u. 369).
Biografischer Abriss
Mit den „Frankfurter Vorfällen“ war der sogenannte Frankfurter Wachensturm vom 3. April 1833 gemeint, eine groß angelegte, aber völlig fehlgeschlagene Aktion der demokratischen Opposition in Hessen. Nach der größten demokratischen Demonstration Deutschlands bis dato, dem sogenannten Hambacher Fest an der Weinstraße Ende Mai 1832 mit rund 40.000 Teilnehmern, hatten die restaurativen Mächte im Deutschen Reich mit scharfen „Maßregeln zur Aufrechterhaltung der gesetzlichen Ordnung und Ruhe in Deutschland“ (Bundestagsbeschlüsse vom 28. Juni und 5. Juli 1832) reagiert und die ohnehin schon geringe Pressefreiheit vollends eingeschränkt, das Versammlungsrecht beschnitten und alle politischen Vereine und Parteien verboten. „Eine Fortsetzung der politischen Arbeit war damit nur noch in der Illegalität, im Untergrund möglich“ (Hauschild 1993, 197). In Hessen bereitete ein konspirativer Kreis um den Butzbacher Pfarrer Friedrich Ludwig Weidig (1791–1837), zu dem auch ehemaligen Klassenkameraden Büchners aus Darmstadt gehören, seit Sommer 1832 eine bewaffnete Emeute vor, die zu einem politischen Fanal wenigstens für Südwestdeutschland werden soll. Angesichts des offenen Verfassungsbruchs durch die Regierenden schien den Oppositionellen „jedes Mittel […] zur Herstellung der Volksfreiheit erlaubt“ (Der Wächter am Rhein, Nr. 101, Mannheim, 12. Juli 1832; ebd.). Der Plan war, die Haupt- und die Konstablerwache in Frankfurt am Main zu erstürmen, um „die Soldaten sich vom Halse zu schaffen“ (ebd., 202); anschließend sollte die Delegiertenversammlung des Deutschen Bunds besetzt und die Gesandten als Geiseln genommen werden. „Dies sollte das Signal für eine gleichzeitige bewaffnete Insurrektion in Südwestdeutschland sein.“ Unterstützung würde man „durch elsässische Nationalgardisten, polnische Exiltruppen, Teile des württembergischen Heeres sowie Zehntausende hessischer Bauern“ erhalten, glaubten viele (Hauschild 2004, 40). Die Wachenstürmer hofften, „durch die Macht eines kühnen Beispiels, vielleicht durch einen momentanen kühnen Erfolg, die Trägheitskraft der Massen“ zu überwinden, reflektierte Büchners späterer Freund Wilhelm Schulz (1797–1860) die damalige Situation (Grab 1979, 136). Durch Verrat war die Obrigkeit jedoch gewarnt; außerdem war es eine „knabenhafte Einbildung“, wie man am 9. April 1833 im Frankfurter Journal lesen konnte, zu glauben, dass man eine Volksrevolution durch einen lokalen Putsch initiieren konnte. Die „Indifferenz“ – wie Büchner es nannte – der Bevölkerung war zu groß, „die Umstehenden“ blieben, wie es in einem Polizeibericht heißt, „ruhige Zuschauer“ (Görisch/Mayer 1982, 100). Binnen einer Stunde hatte das Militär mit dem Putsch aufgeräumt. „So war der Wachensturm zwar die spektakulärste Aktion der Republikaner zwischen dem Hambacher Fest und der Revolution von 1848, er blieb jedoch ohne fruchtbare Resultate und schadete der Opposition mehr als daß er ihr nutzte“ (Hauschild 1993, 203). Die Regierungen des Deutschen Bundes installierten sofort eine „Zentralbehörde“, die im nächsten Jahrzehnt sämtliche politischen Polizeiaktionen und Repressalien gegen die Opposition koordinierte und durch keine kleinstaatlichen Grenzen mehr behindert wurde. Büchner hatte die Ereignisse in Deutschland aufmerksam verfolgt, nicht zuletzt weil er ab Wintersemester 1833/34 sein Studium an der großherzoglich-hessischen Landesuniversität in Gießen fortsetzen und abschließen musste, wollte er ein in der Heimat anerkanntes Diplom erwerben. Seit Au-
Frankfurter Wachensturm am 3.4.1833
Opposition in Hessen
Indifferenz der Bevölkerung
Studium in Gießen
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II. Ein kurzes Leben
Als Rekonvaleszent im Elternhaus zum Jahreswechsel 1833/34
Studium der Philosophie sowie der Revolutionsgeschichte
Friedrich Ludwig Weidig
Kontinuität der Revolution seit 1789
Gründung eines politischen Geheimbunds in Gießen 1834
gust 1833 war er wieder zurück in Hessen, zunächst im Elternhaus, ab Oktober in Gießen. Die „Erinnerung an 2 glückliche Jahre“ in Straßburg, „und die Sehnsucht nach all dem, was sie glücklich machte“ verleidete ihm „die widrigen Verhältnisse“, unter denen er in Hessen lebe, zusätzlich. „Hier ist Alles so eng und klein“, schrieb er an den Freund August Stöber (9. Dezember 1833): „Natur und Menschen, die kleinlichsten Umgebungen, denen ich auch keinen Augenblick Interesse abgewinnen kann“ (FA 2,375). Schon Ende August hatte er an Edouard Boeckel geschrieben: „Eltern und Geschwister wiederzusehen, war eine große Freude; das entschädigt aber nicht für meine sonstigen furchtbar, kolossal, langweiligen Umgebungen. Es ist etwas großartiges in dieser Wüstenei, die Wüste Sahara in allen Köpfen und Herzen“ (371). Zudem bekam Büchner in Gießen „einen Anfall von Hirnhautentzündung“, der ihn schon im November zwang, ins Elternhaus „zurückzukehren um mich daselbst völlig zu erholen“ (376). Vielleicht war die Erkrankung mit bedingt durch die auf ihm lastende Erwartung, nunmehr auch „mit der praktischen Medizin“ (MA 394) sich befassen zu sollen. Im Freundeskreis allerdings war es wohl schon länger bekannt, dass Büchner sich für „die praktische Medizin nicht interessiert“ hat (FA 2,461). Wahrscheinlich gelang es dem „Reconvaleszenten“ (FA 2,376) zu Hause, die Eltern endgültig davon zu überzeugen, dass er nicht zum Arzt, sondern zum Naturforscher berufen sei; ein fortdauernder Konflikt wegen des Wechsels der Studienrichtung scheint in die biografische Legende zu gehören, die freilich von Ludwig Büchner (1850; WK 107–134) bis Jan-Christoph Hauschild (1993; 2004) immer wieder gern erzählt wurde (vgl. VIII, 176f.). Schon in Darmstadt hatte Büchner sich jedenfalls „mit aller Gewalt in die Philosophie“ geworfen (ebd.), zurück in Gießen studierte er im Januar 1834 außerdem „die Geschichte der Revolution“ (FA 2,377). Anders als er es den Eltern 1833 versprochen hatte, hielt er sich nicht vom politischen Untergrund fern. Er hatte Friedrich Ludwig Weidig und andere hessische Revolutionäre kennen gelernt und versuchte, durch das Studium der Geschichte der Französischen Revolution die Probleme der revolutionären Bewegungen im Europa und Deutschland der 1830er Jahre zu verstehen. Für die oppositionellen Intellektuellen stand der Zusammenhang zwischen der eigenen Gegenwart mit dem Aufbruch von 1789 außer Frage. „Der heutige Tag ist ein Resultat des gestrigen. Was dieser gewollt hat, müssen wir erforschen, wenn wir zu wissen wünschen, was jener will. Die Revolution ist eine und dieselbe“ (HSS 3,166), meinte Heinrich Heine (1797–1856). Heinrich Laube (1806–1884) fasste diese Verbindung mit dem Buchtitel Die französische Revolution. Von 1789 bis 1836 (Berlin 1836) in die denkbar kürzeste Formel. Er schäme sich, so schrieb Büchner seinen Eltern im März 1834, „ein Knecht mit Knechten“ zu sein. Er war davon überzeugt, dass „die politischen Verhältnisse“ nicht nur ihn „krank“ machten (FA 2,386). Er gründete in Gießen mit August Becker (1814–1871) einen politischen Geheimbund, der später „Gesellschaft der Menschenrechte“ genannt wurde und dem unter anderem auch die Darmstädter Schulkameraden Karl Minnigerode, Jacob Koch (1815–1852) und später Hermann Wiener (1813–1897) beitraten, dazu kamen sowohl Wachenstürmer wie Gustav Clemm (1814–1866) und Hermann Trapp (1813–1837) als auch Handwerker wie die Küfer Georg
Biografischer Abriss
Melchior Faber und David Schneider (vgl. Görisch/Mayer 1982, 331). Als erstes hatte Büchner eine Flugschrift entworfen, mit der die ausgebeutete Mehrheit der Bevölkerung, besonders die kleinen Handwerker und Bauern, für die Revolution gewonnen werden sollte, „was vor der Hand nur durch Flugschriften geschehen“ könne, so gab August Becker später die Argumentation Büchners in einem Verhör wieder: „Soll jemals die Revolution auf eine durchgreifende Art ausgeführt werden, so kann und darf das bloß durch die große Masse des Volkes geschehen, durch deren Ueberzahl und Gewicht die Soldaten gleichsam erdrückt werden müssen“ (FA 2,659). Während Weidig mit einer Flugschriften-Serie unter dem Titel Leuchter und Beleuchter für Hessen oder der Hessen Nothwehr, die zwischen Januar und Oktober 1834 in fünf je vierseitigen Blättern erschien (faksimiliert in: Weidig 1987, 85–104), „die gebildeten Stände“ (Mathis 1839, 62) der Opposition mit politischen Reflexionen und Nachrichten zu gewinnen suchte, sollte Büchner – so war es mit Weidig verabredet – ein Flugblatt entwerfen, das „die niederen Volksklassen“ (Görisch/Mayer 1982, 340) zu agitieren in der Lage war. Büchners Entwurf war Weidig dann allerdings einerseits zu radikal, weil er gegen alle, auch die politisch liberal gesinnten „Reichen“, polemisierte, andererseits schien der Text für Weidigs Geschmack noch nicht politisch genug, da er zu wenig auf die „constitutionelle“ Wirklichkeit Hessens bezogen war. Büchners Entwurf sei „eine schwärmerische, mit Beispielen belegte Predigt gegen den Mammon, wo er sich auch finde“, gewesen, urteilte Becker, der den Text aus Büchners schwer lesbarer Handschrift ins Reine geschrieben hatte, rückblickend (FA 2,662f.). Weidig überarbeitete daher den Text, damit er die „vortrefflichen Dienste“ tun könne, die man von ihm erhoffte, und organisierte den Druck bei dem Offenbacher Kleinverleger Carl Preller (1802–1877). Büchner, der sich damals sehr fundamentalistisch gebärdete und mit Weidigs kompromissbereiter Haltung (FA 2,662: man müsse „auch den kleinsten revolutionären Funken sammeln“ und „unter den Republikanern republikanisch und unter den Constitutionellen constitutionell“ sein) „sehr unzufrieden“ war, befand sich unterdessen wieder in Straßburg, wo er mit seiner Verlobten ,ein bisschen in Romantik machen wollte‘, wie er ihr brieflich ankündigte (FA 2,384: „Nous ferons un peu de romantique…“). Dass er seinen Eltern den Grund für sein „Ausbleiben“ in den Semesterferien zunächst nicht verraten habe, sei wenig lebensklug gewesen, meinte sein Onkel Georg Reuß, der den Neffen auf gut hessisch für einen wenn auch gelehrten „Schussel“ hielt (385). Büchner entschuldigte sich mit seiner „Schwermut“ (ebd.), für die er nur bei der, wie nun bekannt gegeben wurde, Verlobten hätte Heilung finden können. Ob seine Reise auch zur Tarnung konspirativer Tätigkeiten diente, ist nicht bekannt. Jedenfalls beschäftigte sich Büchner in Straßburg nicht nur mit seiner Verlobten, sondern auch mit Statut und Programm der französischen „Société des Droits de l’homme et du citoyen“, die für den eigenen Geheimbund auch in der Namensgebung vorbildlich wurde (vgl. Mayer 1979b, 376). Im April gründete er aus Straßburg kommend in Darmstadt eine eigene Sektion der „Gesellschaft der Menschenrechte“, bevor er Ende April sein Studium in Gießen wieder aufnahm und zugleich die Gießener Sektion seiner geheimen Gesellschaft reorganisierte.
Agitation für die Revolution
Weidigs Doppelstrategie
Büchners Predigt gegen den Mammon
Büchners Radikalität
Gründung einer „Gesellschaft für Menschrechte“ in Darmstadt 1834
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II. Ein kurzes Leben Geheime Versammlung der Opposition auf der Badenburg
Differenzen zwischen Liberalen und Radikalen
Erster Druck des Hessischen Landboten
Verfolgung der hessischen Opposition
Anfang Juli nimmt Büchner an der von Weidig initiierten „zentralen Versammlung der hessen-darmstädtischen und kurhessischen Demokraten zur Gründung eines geheimen ,Preßvereins‘ für die Volksagitation durch Flugschriften“ auf der Badenburg bei Gießen (ebd., 380) teil. Weidig propagierte hier sein doppelgleisiges Vorgehen und holte sich „ein verbindliches Plazet“ für die von ihm überarbeitete Flugschrift, die den Namen Der Hessische Landbote erhielt. Büchner störte sich an der Zurückhaltung der bürgerlichen Demokraten vor allem aus Marburg; er hielt sie für „undisciplinirte Liberale“, mit denen man keine Revolution machen könne. Er erzählte seinem Freund Becker hinterher äußerst „ungehalten“, dass „auch die Marburger Leute seien, welche sich durch ein Ammenmährchen, hätten erschrecken lassen, daß sie in jedem Dorf ein Paris mit einer Guillotine zu sehen fürchteten usw. (FA 2,666). Die Versammlung gab dem „Spötter“ (FA 2,379) Büchner „unerschöpflichen Stoff zur Satyre“ (Mayer 1979b, 381). Den verspotteten Marburgern dagegen kam der radikale Student aus Gießen zu unreif und „zu extravagant“ (Görisch/Mayer 1982, 341) vor, als dass man seinen Konzepten hätte bedenkenlos folgen können; der Marburger Arzt Leopold Eichelberg (1804–1879) meinte später: „Büchner schien mir die mit aller Vehemenz übersprudelnde jugendliche Kraft welche sich hier im Zerstören gefiel während sie sonst eben so leicht die ganze Welt liebend zu umarmen sucht“ (KatD 173). Dagegen schrieb der politische Publizist Wilhelm Schulz 1851: „In der Politik scheint Büchner keine Kinderjahre gehabt zu haben. Das Studium der Geschichte der französischen Revolution hatte frühe sein Urtheil gereift“ (Grab 1985, 70), was ihn vor manchen „Täuschungen“ bewahrt hätte, „welchen sich die Jugend“ sonst „willig hinzugeben pflegt“ (ebd., 141). Obwohl die Gießener ,Gesellschafter‘ mit ihren radikalen Forderungen an den Bedenklichkeiten der älteren Liberaldemokraten scheiterten, unterstützten sie weiter Weidigs Projekt einer parallelen Agitation der gebildeteren und der „niederen Volksklassen“ (FA 2,666) respektive der „mehr“ oder „weniger Intelligenten“ mittels „Blätter verschiedener Art“ (ebd., 670). Büchner und der Mitverschworene Friedrich Jakob Schütz (1813–1877) brachten selbst Weidigs Manuskript Anfang Juli in die Offenbacher Druckerei; Ende Juli konnten Schütz, Minnigerode und Carl Zeuner (1812– um 1880) die gedruckte Auflage von vermutlich rund 1.000 Exemplaren abholen. Aufgrund einer Denunziation – Verräter war der zum Weidig-Kreis gehörende, der Regierung Spitzeldienste leistende Butzbacher Kaufmann Johann Konrad Kuhl (1794–1855) – wurde Minnigerode am 1. August 1834 bei dem Versuch, 139 Exemplare an der Gießener Torwache vorbeizuschmuggeln, verhaftet. Bei der nun folgenden Verfolgung und Aushebung der illegalen hessischen Opposition hatten die Behörden „jedoch offenbar keine Eile, unmittelbar zuzufassen“. Sie sammelten „unablässig Erkenntnisse“ und zogen „das Netz immer enger“ (Mayer 1987, 185). Viele der Verschworenen wähnten sich nicht in Gefahr, so auch Büchner: „Ich gehe meinen Beschäftigungen wie gewöhnlich nach, vernommen bin ich nicht weiter geworden. […] Es geht hieraus hervor, daß ich durch nichts compromittiert bin“, schrieb er am 8. August 1834 an seine Eltern (FA 2,388f.). Zwar gab es einen behördeninternen Steckbrief und es hatte es am 4. August 1834 eine Haussuchung in seiner Studentenbude gegeben, weil die Polizei
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sehr richtig annahm, dass eine plötzliche Reise nach Offenbach und Frankfurt im „Zusammenhang mit der Verhaftung Minnigerode’s“ (FA 2,387) stehe, doch konnten die Behörden zunächst nicht genug Belastendes finden. Der Universitätsrichter Georgi verzichtete auf eine Verhaftung Büchners, obwohl er mindestens ahnte, warum Büchner „verkleidet in geheimen Aufträgen zu Offenbach war“, wie es in einer Verhöraussage heißt (Mayer 1979b, 387). Allerdings hatten die Behörden zu dem Zeitpunkt noch nichts gerichtlich Verwertbares in der Hand, da man die Quelle (den Verräter Kuhl) noch decken wollte. Soweit nicht beschlagnahmt, wurde die Auflage des Hessischen Landboten wie geplant verteilt und fand bei den Adressaten großen Anklang. Eichelberg sprach „von der guten Wirkung, die der Landbote“ beispielsweise „unter den kurhessischen Bauern der Umgegend“ von Marburg gehabt habe; auch Weidig berichtete von Bauern, „auf welche der Landbote einen ungewöhnlichen Eindruck gemacht habe“ (Mayer 1987, 180). Beide organisierten daher im November 1834 den Druck einer zweiten Auflage der Flugschrift im Marburger Verlag von Noa Gottfried Elwert. Büchner war im September von Gießen nach Darmstadt zurückgekehrt, wohin auch seine Verlobte Wilhelmine Jaeglé gekommen war. Außerdem belebte er die dortige Sektion der „Gesellschaft der Menschenrechte“ wieder. Man debattierte über Menschenrechte und politische Grundsätze, übte „sich sehr eifrig in den Waffen“, verbarg „Schießvorräthe“ (WK 117), sammelte Geld für eine Druckerpresse und bereitete die Befreiung politischer Gefangener wie Minnigerode und Zeuner in Friedberg (vgl. MA 380) sowie des „wegen fortgesetzten Versuchs des Verbrechens einer gewaltsamen Veränderung der Staatsverfassung“ (Grab 1979, 132) seit Juni 1834 inhaftierten Journalisten Friedrich Wilhelm Schulz (1797–1860) in Babenhausen vor. Inzwischen war übrigens der jüngere Bruder Wilhelm Büchner (1816–1892), damals Apothekerlehrling, mit von der Partie. Warum Georg Büchner nicht zum Wintersemester nach Gießen zurückkehrte, ist nicht völlig klar. Sein Bruder Ludwig erklärte später, Georg sei „auf Wunsch seines Vaters im elterlichen Haus in Darmstadt“ geblieben und habe in dessen privatem Institut für unbemittelte künftige Wundärzte (vgl. VIII, 188) und unter dessen Anleitung „Vorlesungen über Anatomie für junge Leute“ gehalten, „die sich für das Studium vorbereiteten“ (WK 116). Büchner sollte sich nach dem Wunsch der Eltern sowohl von den revolutionären Aktivisten fernhalten als auch seine Promotion vorbereiten, darf man wohl annehmen. Während der Vater auf Beschäftigung mit Gegenständen der vergleichenden Anatomie drang, studierte der Sohn auch und abermals die Geschichte der Revolution und stürzte sich erneut in die Philosophie, wie wir aus inzwischen verbrannten Ausleihlisten der Darmstädter Bibliothek wissen: Thiers’ Histoire de la Révolution Française und Tennemanns Geschichte der Philosophie machten im Oktober 1834 den Anfang (WK 482). Anders als zu Jahresbeginn aber versank Büchner dabei nicht in Schwermut, sondern wurde in unerwarteter Weise produktiv: Aus dem Leser wurde ein Autor. Seine Lektüre nicht nur der letzten Monate, sondern seit seiner Schulzeit verwandelte Büchner im Januar und Februar 1835 in einen „dramatischen Versuch“ über einen „Stoff der neueren Geschichte“ (FA 2, 391): Danton’s Tod.
Erfolg des Hessischen Landboten
Aufenthalt in Darmstadt ab Herbst 1834
Vorbereitung auf die Promotion; Danton’s Tod
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II. Ein kurzes Leben Geburt eines Autors
Literarische Reflexion politischer Praxis
Büchners Flucht 1835
Gelegentlich wurde spekuliert, dass Büchner zum Literaten wurde aus Enttäuschung über das Scheitern seines aktiven politisch-revolutionären Engagements. Weil „er alle seine politischen Hoffnungen in Bezug auf ein Anderswerden“ der Verhältnisse aufgegeben habe (FA 2,665), habe er dichterisch „das Sterben der gesamten Revolution“ gestaltet, nicht nur als Therapie der eigenen „Depression über den politischen Mißerfolg und quälender Furcht vor der Verhaftung“, also als Ausdruck „des Scheiterns eines einzelnen Revolutionärs“, sondern objektiviert als „Ausdruck einer ganzen gescheiterten Revolution“ (Mayer 1946, 184f.). Diese Annahme scheint mir aber in gewisser Weise Ursache und Wirkung zu vertauschen. Vielmehr wurde Büchner die literarische Bearbeitung einer bestimmten Phase der Französischen Revolution zum Medium der Reflexion über die revolutionäre Praxis seiner Gegenwart, die ihn einer schon früher gehegten Meinung versicherte. Im April 1833 schrieb Büchner, dass er „im gegenwärtigen Zeitpunkt jede revolutionäre Bewegung als eine vergebliche Unternehmung betrachte“ (FA 2, 367), nach Abschluss der Arbeit an Danton’s Tod aber war er „vollkommen überzeugt, daß Nichts zu tun ist, und daß Jeder, der im Augenblicke sich aufopfert, seine Haut wie ein Narr zu Markte trägt“; „an die Möglichkeit einer politischen Umwälzung“ sei „jetzt“ schlechterdings „nicht“ zu „glauben“, wie es in einem vermutlich Ende Juli/Anfang August 1835 geschriebenen Brief heißt: „Hoffen wir auf die Zukunft!“ (FA 2, 402 u. 458; zur Datierung vgl. Gillmann u.a. 1993, 43). Während Büchner sich dichterisch über seine Situation klarer zu werden suchte, zog sich in der Tat „das Netz der gerichtlichen Untersuchung auch über ihm zusammen“ (Mayer 1946, 183). Gegenüber Karl Gutzkow (1811–1878) soll er gesagt haben: „Für Danton sind die Darmstädtischen Polizeidiener meine Musen gewesen“ (WK 118). Er muss über die Fortgang der Untersuchungen einigermaßen informiert gewesen sein, denn noch vor dem entscheidenden Verrat ausgerechnet des bei seinen Genossen als „Revolutionair par consequence“ (KatD 173) geltenden Gustav Clemm Ende März 1835 floh Büchner am 5. oder 6. des Monats Richtung Straßburg. Am 9. März hat er die französische Grenze passiert und schrieb seinen Eltern: „Ihr könnt, was meine persönliche Sicherheit anlangt, völlig ruhig sein. […] Nur die dringendsten Gründe konnten mich zwingen, Vaterland und Vaterhaus in der Art zu verlassen… Ich konnte mich unserer politischen Inquisition stellen; von dem Resultat einer Untersuchung hatte ich nichts zu befürchten, aber Alles von der Untersuchung selbst“ (FA 2,396). Büchner hatte schon das Resultat der Untersuchung sehr wohl zu fürchten, noch mehr aber wohl tatsächlich diese selbst. Sein Freund Minnigerode widerstand „der langsamen Folter“ (399) einer „sehr langwierigen Untersuchung“ (Görisch/Mayer 1982, 346) kaum und wurde „körperlich und geistig zerrüttet“ (FA 2,396), ja fast „tödlich krank“ (412) im Mai 1837 entlassen (vgl. FA 2, 1216f.). Weidig, der wie August Becker und andere im April 1835 verhaftet worden war, trieben die Haftbedingungen und die Untersuchungsmethoden im Februar 1837 zur Selbsttötung in seiner Gefängniszelle (vgl. Wilhelm Schulz: Der Tod des Pfarreres Dr. Friedrich Ludwig Weidig. Zürich 1843). Leopold Eichelberg, der damals gleichfalls verhaftet worden war, saß von „allen Inhaftierten […] am längsten (von April 1835 bis März 1848), und zwar in Einzel-, z.T. Dunkelhaft, in verschiedenen Gefängnissen und Zucht-
Biografischer Abriss
häusern Kurhessens“ (KatM 147). „Ich danke dem Himmel, daß ich voraussah, was kommen würde“, bekannte Büchner (FA 2,412), „man würde mich auf keinen Fall verschont haben“ (402), „ich wäre in so einem Loch verrückt geworden“ (412f.). „Mich schaudert, wenn ich denke, was vielleicht mein Schicksal gewesen wäre!“ (417). Büchners Exil ließ zwar seine „Zukunft […] problematisch“ erscheinen, setzte aber auch „Kräfte“ frei (FA 2,397). Er hatte kurz vor seiner Flucht erfolgreich Kontakte zu dem Frankfurter Verlager Johann David Sauerländer und dem Publizisten Karl Gutzkow geknüpft und sein Drama Danton’s Tod untergebracht. Zugleich übernahm er von Sauerländer den Auftrag, zwei Dramen Victor Hugos für eine geplante Werkausgabe des französischen Dichters zu übersetzen (BHb 45) und von Gutzkow die Anregung, „Kritiken über neueste franz[ösische] Literatur“ (FA 2,401) und eine „Novelle Lenz“ (405) zu schreiben. Gutzkow versprach ihm „Alles“, was es auch sei, unterzubringen (401). Diese Situation schien Büchner geeignet, wenigstens seine Eltern vorerst zu beruhigen: „Jedenfalls könnte ich von meinen schriftstellerischen Arbeiten leben“, schrieb er an sie, versprach ihnen aber zugleich, seinen spätestens zum Jahreswechsel 1833/34 gemeinsam besprochenen „Studienplan nicht aufzugeben“ (402). Dieser Plan sah vor, „das Studium der medicinisch-philosophischen Wissenschaften mit der größten Anstrengung [zu] betreiben“, weil „auf dem Felde […] noch Raum genug“ sei, „um etwas Tüchtiges zu leisten und unsre Zeit ist grade dazu gemacht, dergleichen anzuerkennen“ (397). In der Tat hatte das Studium für Büchner gegenüber den literarischen Arbeiten Priorität. Gutzkow klagte schon bald, dass Büchner sich ihm gegenüber „in ein nebelhaftes Schweigen hülle“ (414) und dann sogar einen Korb wegen der Mitarbeit an seinem Zeitschriftenprojekt Deutsche Revüe gab (417). Doch das „Studium der Philosophie“ (420) und der „Medizin“ (430) beschäftigten ihn vollauf, besonders dann die zum „Diplom“ führende „Abhandlung“, über der er „Tag und Nacht“ gesessen habe, wie er nach einer Periode sehr langen Schweigens Anfang Juni 1836 an Gutzkow schrieb: Die „Leute“ seien schließlich „gar nicht geneigt“ gewesen, seinem „lieben Sohn Danton den Doktorhut aufzusetzen“ (439). Zwar hatte sich Büchner dem ursprünglichen Wunsch des Vaters entsprechend sowohl 1831 in Straßburg als auch 1833 in Gießen an der medizinischen Fakultät immatrikuliert – anfänglich vielleicht wirklich mit dem Vorhaben, „die Arzeneykunst“ (FA 2,441) zu studieren –, er bemerkte aber schon bald, dass seine Neigung mehr den „naturwissenschaftlichen Studien“ (WK 122f.), namentlich „der Zoologie und der vergleichenden Anatomie“, und der „Philosophie“ galt (MA 394). In Straßburg schon zeichnete sich dabei ein Muster ab, das sich in Gießen wiederholen sollte: Büchner besuchte Lehrveranstaltungen, die zwei konkurrierende wissenschaftliche Methoden lehrten, nämlich zum einen die empirisch-beschreibende Analyse der belebten Natur und zum anderen die naturphilosophisch-spekulative Naturbetrachtung. Mit den beiden Professoren George-Louis Duvernoy (1777–1855) und Ernest-Alexandre Lauth (1803–1837) hatte Büchner, der beide im Juni 1835 als besondere Unterstützer erwähnte (FA 2,407), exponierte Vertreter dieser Richtungen schon bei seinem ersten Straßburger Aufenthalt kennen gelernt. Duvernoy war als Schüler und späterer Nachfolger des berühmten Pariser
Debüt auf dem Buchmarkt
Priorität des Studiums
Theoretische Naturwissenschaft statt praktische Medizin
Zwei naturwissenschaftliche Schulen George-Louis Duvernoy
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II. Ein kurzes Leben
Ernest-Alexandre Lauth
Friedrich Wernekinck
Johann Bernhard Wilbrand
Joseph Hillebrand
Zoologen und Paläontologen Georges Cuvier (1769–1832) ein dezidierter Gegner jeder naturphilosophischen Spekulation und verlangte stattdessen eine jederzeit verifizierbare Beschreibung einzelner Tatsachen; Lauth dagegen vertrat als Schüler Karl-Heinrich Ehrmanns (1792–1878) die Tradition der „ächten Naturphilosophie“, welche die einzelnen Beobachtungen in einem sinnvollen Ganzen zu bündeln suchte, das „jenseits der Tatsachen“ („au-delà des faits“) nur spekulativ erschließbar, weil nicht experimentell überprüfbar sei und uns daher nur durch Wahrscheinlichkeit, niemals aber durch Gewissheit überzeugen könne („qui peut […] nous fournir des probabilités, mais la certitude, jamais“) (vgl. Roth 2004, 29). Andererseits sollte man sich die Kluft zwischen beiden Wissenschaftsrichtungen nicht als unüberbrückbar vorstellen. Duvernoys Beobachtungen bildeten kein zusammenhangsloses Aggregat, da der Zusammenhang in seinen Augen durch den göttlichen Schöpfungsplan gegeben war und weil er sie selbstverständlich auch zu systematisieren suchte, wenn auch nicht in Hinsicht auf die „unité de plan“, sondern hinsichtlich des Darstellungsmodus. Lauth hingegen betonte trotz der methodischen Orientierung an der Naturphilosophie Schellingscher Provenienz die empirische Basis jeder wissenschaftlichen Spekulation, die erst dann einsetzen dürfe, wenn gegenwärtig verfügbare wissenschaftliche Verfahren („dans l’état actuel de la science“) ein genaueres Experiment nicht mehr zuließen. Lauths handwerkliche Fähigkeiten waren berühmt, er galt als bester Anatom Straßburgs und Büchner, der darin auch eine ungemeine Fertigkeit besaß, dürfte bei ihm Präparieren gelernt haben. Überhaupt scheint Lauth anfänglich Büchner näher gestanden zu haben als Duvernoy, der persönlich allerdings auch der unangenehmere Charakter gewesen zu sein scheint (vgl. Roth 2004, 33; WK 108; FA 2,362f.). In Gießen begegnete Büchner abermals beiden Wissenschaftsrichtungen, wenn auch klarer geschieden. Bezeugt ist Büchners Teilnahme an den Kollegstunden von Friedrich Wernekinck (1798–1835), der ebenfalls eine bemerkenswerte „Geschicklichkeit und Gewandtheit im Präpariren feinerer Gegenstände“ besaß und die vergleichende Anatomie unter anderem nach Cuvier lehrte. Sein Spezialgebiet war die menschliche Neurologie, „die Anatomie des Gehirnsystems, der Sinnesorgane und ihrer Entwicklungsgeschichte“ (VIII, 186), so dass die Vermutung naheliegt, Büchner – dessen fachliche Diskussionen mit Wernekinck den Kommilitonen „Respekt einflößten“ (MA 376) – habe die „Anregung zur genaueren Beschäftigung mit der Anatomie des Zentralnervensystems“, um das es in seiner Dissertation geht, durch diesen Hochschullehrer empfangen (Döhner 1967, 45), zumal das Thema der Doktorarbeit relativ nah an das einer Lehrveranstaltung Wernekincks im Wintersemester 1833/34 anschließt (vgl. VIII, 187). Die spekulative Naturphilosophie begegnete Büchner in Person Johann Bernhard Wilbrands (1779–1846), der den Lehrstuhl für vergleichende Anatomie, Physiologie und Naturgeschichte innehatte und den Büchner in der Person des Doktors (deren Gestaltung freilich auch Züge von Selbstironie aufweist) im Woyzeck karikiert haben soll. Wichtiger für Büchner war aber wahrscheinlich die philosophische Ergänzung der empirischen Studien bei Wernekinck durch die schulphilosophischen Reflexionen in den Kollegs („Logik“, „Naturrecht“) von Heinrich Joseph Hillebrand (1788–1871), die Büchner nachweislich besuchte.
Biografischer Abriss
Schon in Gießen scheint Büchner in seinem Studium nach insgesamt sechs Semestern einen Stand erreicht zu haben, der es erlaubt, ihn nach heutigen Begriffen als Doktorand anzusprechen. Auch deshalb war es wohl nicht unbedingt nötig, dass er im Wintersemester 1834/35 wieder Lehrveranstaltungen in Gießen besuchte. Während des zweiten Straßburgers Aufenthalts konzentrierte sich Büchner dann zunehmend auf den Abschluss seiner naturwissenschaftlichen und philosophischen Studien. Anfänglich verfolgte er wohl auch noch die Option, als freier Schriftsteller seine Existenz zu sichern. Im Sommer 1835 entstanden die beiden Hugo-Übersetzungen und vielleicht auch schon einige kritische Bemerkungen zu französischen Neuerscheinungen, mit denen Gutzkow dann aber doch nicht viel anfangen konnte (FA 2,404: „Ihre Äußerungen über neure Lit. vermag ich nicht aufzunehmen, weil mir jetzt die Muße fehlt“), im Herbst das Fragment zu einer Lenz-Novelle, die Büchner nach dem Ende von Gutzkows Zeitschriftenplan nicht weiter ausarbeitete. Wissenschaftlich scheint für Büchner jetzt Duvernoy der wichtigste Lehrer geworden zu sein, der wohl auch seine Doktorarbeit hauptsächlich betreute. In seinen Leçons sur l’histoire naturelle des corps organisés (1839; VIII, 611) lobte Duvernoy die Arbeit Büchners ausdrücklich („beau travail“) und bezeichnete den Verstorbenen als seinen Schüler („mon élève“). Dieser schwankte allerdings noch im Oktober 1835, ob seine Dissertation „einen philosophischen oder naturhistorischen Gegenstand“ behandeln sollte (FA 2,419). Der am 31. Dezember 1834 aus dem Babenhausener Gefängnis entflohene Wilhelm Schulz, mit dem sich Büchner nach seiner eigenen Flucht 1835 in Straßburg anfreundete und mit dem er in Zürich, wo Schulz seit Juni 1836 lebte, bis zu seinem Tod in einem Haus wohnte, erinnerte sich 1837, dass Büchner „mit rastlosem Eifer“ gleichermaßen sich „dem Studium der neueren Philosophie“ und der „Naturwissenschaften“ widmete. Im Spätherbst war jedoch die Entscheidung zugunsten eines zoologischen Themas gefallen, da Büchner laut Schulz im „Dezember 1835“ mit „Vorarbeiten für seine Abhandlung: ,Sur le système nerveux du barbeau‘“ begonnen habe (MA 394). Initialzündung war laut der biografischen Skizze seines Bruders die „Entdeckung einer früher nicht gekannten Verbindung unter den Kopfnerven des Fisches“ (WK 123); überdies hatte sich die Aussicht ergeben, mit einer entsprechenden Abhandlung in Zürich promovieren zu können, wobei sich der ins Auge gefasste Zeitplan (FA 2,419: „Es wäre möglich, daß ich noch vor Neujahr von der Züricher Facultät den Doctorhut erhielte“) nicht halten ließ. Während der Arbeit an seiner Dissertation, die ihm im Winter 1835/36 „fast ausschließlich“ beschäftigte, wobei Büchner „meist anhaltend von Morgens früh bis um Mitternacht“ zu arbeiten pflegte (WK 123), weitete sich der ursprünglich ins Auge gefasste Plan, eine „comparative Deutung“ des „nervus recurrens des Trigeminus bei den Cyprinen“ zu geben (Johannes Müller 1837; VIII, 600), zu einer weiter angelegten Untersuchung aus, die außerdem noch das „Verhältnis der Hirnnerven zu den Spinalnerven, zu den Schädelwirbeln und zu den Anschwellungen des Gehirns“ und die Frage nach den „Gesetze[n], nach denen ihre Zahl zu- oder abnimmt, ihre Aufteilung komplexer oder einfacher wird“, klären sollte (VIII, 5). Dass all das nicht mehr im Wintersemester zu schaffen war, wurde Büchner wohl erst Ende Januar 1836 klar. „Im März 1836“ war die erste Fassung von Büchners Abhandlung fertig (WK 124), die er an drei aufeinanderfolgenden Sitzungen der
HugoÜbersetzungen
Erzählfragment Lenz
Dissertationspläne
Abhandlung Sur le système nerveux du barbeau
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II. Ein kurzes Leben Öffentlicher Vortrag der Forschungsergebnisse 1836
Neue Dramenpläne
Leonce und Lena; Woyzeck
Philosophie-Kurs
Promotion in Zürich
Straßburger Naturforschenden Gesellschaft zwischen dem 13. April und 4. Mai 1836 vortrug und anschließend für den Druck überarbeitete. „Erst gestern ist meine Abhandlung vollständig fertig geworden“, schrieb Büchner am 1. Juni 1836 an seinen Freund Eugène Boeckel, nachdem er das Manuskript für den Druck dem Redaktionskomitee der Mémoires de la Société du Muséum d’histoire naturelle de Strasbourg übergeben hatte: „Es ist mir unendlich wohl, seit ich das Ding aus dem Haus habe“, erklärt Büchner daraufhin erleichtert (FA 2,436f.). Er freute sich auf einen Besuch seiner Mutter und seiner Schwester Mathilde im Herbst, literarische Beschäftigung und mehr „Gemächlichkeit“ bei den kommenden akademischen Arbeiten (vgl. ebd. sowie WK 125). Die „Freude am Schaffen meiner poetischen Produkte“, von der Büchner in einem Brief an seine Verlobte einmal sprach (FA 2,465), musste er den ganzen Winter 1835/36 und das folgende Frühjahr entbehren: „Schreiben habe ich die Zeit nichts können“ (437). Das aber wollte er ab Juni 1836 nachholen, zumal er glaubte, damit Geld verdienen zu können. Möglicherweise wollte er seine Eltern nach Ende des verabredeten Studienplans im Frühjahr 1836 (vgl. 458) nicht mehr um Unterstützung angehen, daher schrieb er: „Wenn ich meinen Doctor bezahlt habe, so bleibt mir kein Heller mehr […]. Ich muß eine Zeitlang vom lieben Kredit leben und sehen, wie ich mir in den nächsten 6–8 Wochen Rock und Hosen aus meinen großen weißen Papierbogen, die ich vollschmieren soll, schneiden werde“ (ebd.). Gemeint war damit der Plan für zwei Dramen, eine Gattung, die ihm nach eigener Einschätzung mehr lag als die erzählende Prosa oder die literarische Kritik (vgl. 423: „Ich gehe meinen Weg für mich und bleibe auf dem Felde des Drama’s“), nämlich Leonce und Lena und Woyzeck. Das Lustspiel beschäftigte ihn noch bis in den Januar 1837 hinein, das Woyzeck-Stück wurde gar nicht mehr abgeschlossen. Ein gerüchtehalber geplantes Aretino-Drama hat es wohl nie gegeben. Wahrscheinlich kostete ihn die Vorbereitung eines „Kurs[es] über Philosophie“ (FA 2,446), den er im Wintersemester 1836/37 in Zürich halten wollte, doch mehr Zeit als veranschlagt. In Büchners Nachlass überliefert ist auch keineswegs ein „vollständiger Lehrcurs über ,die philosophischen Systeme der Deutschen seit Cartesius und Spinoza‘“ (WK 124), sondern nur zwei im Sommer bzw. Frühherbst 1836 entstandene Vorlesungsskripten, das eine (vollständige) über Descartes’ Philosophie, das andere (abgebrochene) über Spinozas Wissenschaftslehre und Metaphysik. Die Vorbereitung eines zweiten „anatomischen Cursus“ (WK 124) muss wohl in das Reich der Legende verwiesen werden. Büchners Plan, in Zürich als Privatdozent über Philosophie zu lesen, zerschlug sich erst gegen Ende Oktober 1836. Am 3. September 1836 war Büchner auf Grund der Ende Juli aus der Druckerei gekommenen Doktorarbeit, die er nach Zürich zur Einleitung des Promotionsverfahrens gesandt hatte, und des gemeinsamen Gutachtens der Professoren Lorenz Oken, Rudolf Schinz, Karl Löwig und Oswald Heer zum Doktor der Philosophie promoviert und zugleich zu einer „Probevorlesung“ eingeladen worden, die Voraussetzung war für „das Recht des Docirens“ (WK 127). Die „Zulassung zu der […] öffentlichen Probevorlesung“ beantragte Büchner am 26. September, am 28. September wurde ihm die Einreise in die Schweiz gestattet;
Biografischer Abriss
am Tag nach seinem 23. Geburtstag reiste Büchner nach Zürich ab, wo er am 24. Oktober das Zimmer in der heutigen Spiegelgasse bezog, das er bis zu seinem Tod bewohnte. Unmittelbar nach seiner Ankunft in Zürich hatte Büchner ein Gespräch mit dem Dekan der dortigen Philosophischen Fakultät, Johann Georg Baiter (1801–1877), der dem Kandidaten nahelegte, sich anders zu orientieren, da die philosophische Lehre bereits durch Eduard Bobrik (1802–1870) abgedeckt würde. Büchner berichtete darüber am 25. Oktober seinen Eltern, die Baiters Vorschlag, sich auf die vergleichende Anatomie zu konzentrieren, ausdrücklich unterstützten (FA 2,455). Büchner hatte also höchstens zwei Wochen Zeit, eine naturwissenschaftliche Probevorlesung anzufertigen, die er am 5. November 1836 „vor einem sehr zahlreichen Publikum“ – der Hörer August Lüning erinnerte sich an „circa 20 Zuhörer“ (MA 385) – mit dem „allgemeinsten Beifall“ hielt (WK 127). Bei der Ausarbeitung der Habilitations-Vorlesung ging Büchner zwar „sehr ökonomisch“ (BHb 125) vor, d.h. er referierte im Wesentlichen die Ergebnisse seiner Dissertation, ging aber stellenweise auch über das schon Vorliegende hinaus, indem er sein künftiges Lehr- und Forschungsprogramm antizipierte (VIII, 217). Da das Wintersemester bereits am 26. Oktober begonnen hatte, wurde das Verfahren extrem beschleunigt und über Büchners Probevorlesung unter Umgehung des Senats der Universität (der das Verfahren am 23. November 1836 nachträglich billigte; vgl. Hauschild 1985, 399) noch am 5. November dem ,Erziehungs-Rath‘ des Kantons positiv Bericht erstattet, worauf dieser noch am gleichen Tag Georg Büchner die Bewilligung erteilte, „als Privatdocent an der hiesigen Hochschule aufzutreten“ (VIII, 213). Büchner nahm seine Unterrichtstätigkeit im November 1836 auf. Offiziell hatten sich zwischen dem 15. November und 11. Dezember fünf Hörer für die Zootomischen Demonstrationen, die Büchner „auf seinem Zimmer hielt“ (MA 405), eingeschrieben, davon zwei nur pro forma; und von den anderen drei waren zwei „im Besuche“ des Privatissimums „sehr laessig“, so dass am Ende Johann Jakob Tschudi (1818–1889) Büchners „einziger Zuhörer“ war: „Büchner wurde aber dadurch nicht im mindesten entmuthigt, denn er hatte sich mit wahrem Feuereifer der vergleichenden Anatomie gewiedmet und fand an mir einen fleissigen und aufmerksamen Schüler. Er sagte mir oft: künftiges Semester werde ich schon mehr Zuhörer haben; ich bin der erste der an der Universitaet Zürich vergleichende Anatomie liest; der Gegenstand ist für die Studenten noch neu, aber sie werden bald erkennen wie wichtig er ist“ (Hauschild 1985, 392). Für das folgende Sommersemester 1837 hatte Büchner ein Kolleg mit dem Titel Vergleichende Anatomie der Wirbelthiere angekündigt. Wahrscheinlich plante Büchner eine größere Publikation über dieses Themengebiet. Von seinen Kollegen wurde Büchner offenbar gleich als künftige Kapazität akzeptiert. Neben dem Anatomieprofessor Friedrich Arnold (1803– 1890), der Büchner „seine Bibliothek zur Verfügung“ stellte, war es besonders Lorenz Oken (1779–1851), einer der bekanntesten Naturphilosophen und Anatomen seiner Zeit sowie Herausgeber der Fachzeitschrift Iris (1817–1848), seit 1832 Professor in Zürich und 1833–1835 erster Rektor der neu gegründeten Universität, der „sehr für Büchner eingenommen“ war und „die Vorlesungen desselben vom Katheder herab“ empfahl (WK 127). Oken äußerte sich auch auswärtigen Besuchern gegenüber äußerst lobend
Probevorlesung über Schädelnerven
Ernnenung zum Privatdozenten der Universität Zürich
Büchner als Hochschuldozent
Anerkennung als Naturforscher
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II. Ein kurzes Leben
Langeweile in Zürich
Typhus-Erkrankung
Tod am 19.2.1837
Todesanzeige; Nachrufe
Gedenkstein 1875
über Büchner, von dem er überzeugt war, dass er „mit der Zeit […] als Naturforscher Bedeutendes leisten“ werde (VIII, 215; Hauschild 1985, 192). Ob der „Züricher Erziehungsrathe“ aber deswegen schon „die Absicht“ hatte, „sehr bald für ihn eine Professur der vergleichenden Anatomie zu creiren“ oder ob aus Georg Büchner, „wenn er am Leben geblieben wäre und seine wissenschaftliche Laufbahn weiter verfolgt hätte, derselbe große Reformator der organischen Naturwissenschaften geworden sein“ würde, welchen wir jetzt in Darwin verehren, wie sein Bruder Ludwig Büchner meinte (WK 127 u. 541), darf zweifelhaft bleiben. Auch wenn Büchner in Zürich „von allen Seiten auf das zuvorkommendste aufgenommen“ wurde (WK 127) und die politischen Verhältnisse (FA 2,457: überall ein gesundes, kräftiges Volk, und […] eine einfache, gute, rein republikanische Regierung) erträglich fand, befiel ihn schon bald eine gewisse Schwermut, die allerdings auch als Beginn des Prodromalstadiums einer Typhus-Erkrankung gedeutet werden kann. „So im Anfange ging’s: neue Umgebungen, Menschen, Verhältnisse, Beschäftigungen – aber jetzt, da ich an Alles gewöhnt bin, Alles mit Regelmäßigkeit vor sich geht, man vergißt sich nicht mehr“, klagte er der Verlobten im Januar 1837: „Es wird immer öder.“ Um sich aufzuheitern, ging er abends für „eine oder zwei Stunden“ ins „Casino“ – ein Restaurationsbetrieb nicht weit von seiner Wohnung („Du kennst mein Vorliebe für schöne Säle, Lichter und Menschen um mich“) – und hoffte ansonsten auf die Osterferien, in denen er seine Verlobte in Zürich erwartete: „Du kommst bald? Mit dem Jugendmut ist’s fort, ich […] muß mich bald wieder an Deiner inneren Glückseligkeit stärken und Deiner göttlichen Unbefangenheit und Deinem lieben Leichtsinn und all Deinen bösen Eigenschaften“ (464–466). Aufgeschreckt von einem Eil-Brief, den die befreundete Caroline Schulz am 15. Februar 1837 nach Straßburg geschickt hatte, traf Wilhelmine Jaeglé schon am Vormittag des 17. Februar in Zürich ein. Büchner war seit zwei Wochen bettlägrig und fiel immer wieder in Fieberdelirien. Am 19. Februar 1837 verlor er das Bewusstsein, am Nachmittag dieses Sonntags starb er. An der Beerdigung Büchners am 21. Februar 1837 nahmen fast die ganze Universität und einige Zürcher Honoratioren teil, insgesamt „mehrere hundert Personen“, „die beiden Bürgermeister u. andere der angesehensten Einwohner der Stadt, an der Spitze“ (Hauschild 1993, 606). Seine Eltern inserierten in der Großherzoglich Hessischen Zeitung (Nr. 56, 25. Februar 1837, S. 304) eine Todesanzeige: „Unser innigst geliebter Sohn Georg, Dr. philos. und Privatdocent an der Universität Zürich, ist uns durch den Tod entrissen worden. Er starb am 19. d. Mts. an dem Orte seiner Bestimmung, nach kaum zurückgelegtem 23. Jahre seines Alters, an einem bösartigen Fieber. Ihren lieben Verwandten und Bekannten, sowie den Freunden des Verewigten widmen diese Anzeige, mit der Bitte um stille Theilnahme, die tiefgebeugten Eltern.“ Sein Hauswirt, Hans Ulrich Zehnder (1798–1877), publizierte eine kurze Notiz im Schweizerischen Republikaner: „Wer ihn kannte, schätzte ihn als Mensch und als Gelehrten“ (Hauschild 1993, 607); in derselben Zeitung erschien am 28. Februar der erste ausführliche Nachruf aus der Feder von Büchners Freund Wilhelm Schulz. Als der nahe Büchners letzter Wohnung gelegene „Krautgarten“-Friedhof Anfang der 1870er Jahre aufgelöst wurde, überführten einige deutsche Stu-
Biografischer Abriss
denten der Universität Zürich das noch fast vollständig erhaltene Skelett auf den sogenannten „Germania-Hügel“ am Zürichberg, wo sich noch heute neben der Bergstation der Seilbahn Rigiblick an der Krattenturmstraße der damals gesetzte Gedenkstein auf einem schmiedeeisern eingehegten Grab befindet.
Abb. 3 und Abb. 4: Nach der Auflösung des Krautgartenfriedhofs in Zürich, wo Büchner 1837 begraben worden war, wurden seinen Gebeine 1875 auf den Germaniahügel oberhalb Zürichs umgebettet. Um die Jahrhundertwende war sein Grab „Wallfahrtsort“ vieler „werdender Forscher und werdender Dichter“, wie sich Gerhart Hauptmann ausdrückte. Heute kann man mit der Zahnradbahn zu dem Grab fahren; seine geografischen Koordinaten sind: +47° 23' 15.58", +8° 33' 12.21" (siehe auch den „street view“ bei Google maps: 47.387662, 8.553392).
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III. Grenzüberschreitungen. Übergreifende Aspekte
Unfähigkeit, die Augen zu verschließen
Alles bei seinem Namen nennen
Den Kern der Dinge erkennen; den Abgrund menschlicher Existenz ausloten
Die Anomalie aufschlussreicher als der Normalfall
Heiner Müller (1929–1995) bezeichnete in seiner Büchner-Preisrede 1985 Woyzeck als einen „Text, der einem Dreiundzwanzigjährigen passiert ist, dem die Parzen bei der Geburt die Augenlider weggeschnitten haben“ (Müller 1994, 262). Mit der bei Heinrich von Kleist geborgten, ursprünglich auf Caspar David Friedrich gemünzten Wendung von den weggeschnittenen Augenlidern (vgl. Berliner Abendblätter, 12tes Blatt, 13. Oct. 1810, 47) sprach Müller Büchners Unfähigkeit an, sich mit dem Bestehenden zu versöhnen, wie es die nachmärzlichen Realisten taten; die Unfähigkeit die Augen vor dem permanenten „Gewaltzustand“ zu verschließen, der „die grosse Masse der Staatsbürger“ verdinglichte (FA 2,366); die Unfähigkeit darüber hinwegzusehen, dass „es in Niemands Gewalt liegt, kein Dummkopf oder kein Verbrecher zu werden“, „weil wir durch gleiche Umstände wohl Alle gleich würden, und weil die Umstände außer uns liegen“ (FA 2,378). Die Behauptung, dass der Text dem jungen Autor gleichsam ohne Absicht „passiert“ sei, verkennt jedoch dessen festen Vorsatz, „Alles, was existiert, bei seinem Namen zu nennen“ (ebd., 379), und die Tatsache, dass Büchner bis zuletzt hoch bewusst an seinen „poetischen Produkten“ (ebd., 463) feilte. Dabei war Büchner seine Kunstfertigkeit nicht in die Wiege gelegt. Seine jugendlichen ,Dichtungen‘ (FA 2,13–17) verraten kein besonderes Talent; der Klassenkamerad Friedrich Zimmermann konnte sich auch an keine literarischen Versuche des Mitschülers erinnern, dagegen sehr wohl an dessen „Beruf zum bedeutenden Naturforscher“ oder „zum Philosophen“ (MA 371f.). Tatsächlich ist Büchner auch auf dem Weg über die Theorie zur Literatur gekommen. Sein „Streben“, das „Wesen und den Kern der Dinge“ zu erkennen (MA 374), führte ihn zunächst in das Studium der „Naturwissenschaften“ und der „Philosophie“ (MA 394), bevor er das literarische Schreiben als Mittel schätzen lernte, den „Abgrund“ (VII.2, 19) der menschlichen Existenz auszuloten und -zuleuchten. Bei Spinoza hatte der Student lernen können, „daß die Menschen wohl ihrer Handlungen bewusst, aber in Unwissenheit über die Ursachen sind, die sie zum Handeln bestimmen“ (Feuerbach 1990, 355). Was das im Einzelnen heißen mochte, hat Büchner in seinen literarischen Texten untersucht, und zwar sowohl auf dramatische wie erzählerische Weise, sowohl in tragischer wie in komischer Manier. Für seine diesbezüglichen Untersuchungen war die Anomalie wesentlich aufschlussreicher als der Normalfall, so dass auch ihn, als Kind seiner Zeit zugleich ein Kind der Romantik, was die Themen der Dichtung angeht, die „Nachtseite unseres irdischen Seyns“ (Schubert 1840, 139) mehr interessierte als die vermeintlich aufgeklärte „Helle des Tages“ (III.2, 14). Um Licht in das Dunkel der menschlichen Psyche zu bringen – und darum scheint es in seinen literarischen Texten primär zu gehen –, musste Büchner sich aber der luzidesten Vorgehensweise bedienen. „Arbeiten“ war für ihn
Übergreifende Aspekte
niemals „dumpfes Brüten“, sondern bedeutete, das Denken zu erhellen (vgl. FA 2,381). Auch literarische Arbeit war ihm Forschung, Zergliederung, Sektion der Wirklichkeit. Karl Gutzkow vermutete, die analytische „Force“ von Büchners literarischen Texten verdanke sich seiner medizinischen, besser wäre wohl zu sagen: seiner naturwissenschaftlich-empirischen Ausbildung, weil so etwas wie „Autopsie“ aus „allem“ spreche, was er schriebe (FA 2,441), eine Diagnose, die zuletzt noch einmal Durs Grünbein (1995, 8f., 13) wiederholte: „Physiologie aufgegangen in Dichtung“, in der Büchner „Fragen“ stellte, „zu denen Obduktion ihn geführt haben mag“. Dieser Eindruck ergab sich aus dem realistischen Gestus von Büchners Schreiben, den er in einem Brief an seine Eltern 1835 so umschrieb: „Der Dichter ist kein Lehrer der Moral“; vielmehr habe er die „Welt“ so zu „zeigen wie sie ist“, nicht „wie sie sein solle“. Die „Leute mögen dann daraus lernen, so gut, wie aus […] der Beobachtung dessen, was im menschlichen Leben um sie herum vorgeht“. Idealisierende Dichtung sei ihm ein Gräuel, weil ihm darin keine „Menschen von Fleisch und Blut“ begegneten, sondern „fast nichts als Marionetten“, welche ihn nicht „mitempfinden“ machten (FA 2,410f.). Diese ästhetischen „Grundsätze“ (FA 2,369) sprechen auch aus den sogenannten Kunstgesprächen aus Danton’s Tod und Lenz. Camille Desmoulins klagt in dem Revolutionsdrama über die Künstler, die „hölzerne Copien“ statt wirklicher Charaktere geben: „Schnizt Einer eine Marionette, wo man den Strick hereinhängen sieht, an dem sie gezerrt wird und deren Gelenke bey jedem Schritt in fünffüßigen Jamben krachen“ (III.2, 36f.), Lenz beklagt sich in dem Erzählfragment ebenfalls über die „Dichter“, die nur „Holzpuppen“ schufen; dieser „Idealismus“ aber sei „die schmählichste Verachtung der menschlichen Natur“. Stattdessen solle man sich „in das Leben des Geringsten“ versenken; „es darf einem keiner zu gering, keiner zu häßlich seyn, erst dann“ könne man die Menschheit „verstehen.“ Noch „die prosaischsten Menschen unter der Sonne“ seien interessanter als die „idealistischen Gestalten“ der Autoren, „welche die Wirklichkeit verklären“ statt „wieder“ geben „wollten“ (V, 37f.). Büchner opponierte gegen die idealisierende Kunst der späten Aufklärung und der Weimarer Klassik. Die Hoffnung der Klassiker war, dass sich die hässliche Wirklichkeit einmal am und durch das ideale Gegenbild zur schönen Wirklichkeit läutert. Goethe schrieb 1779 an Charlotte von Stein: „Der König von Tauris [in der Iphigenie] soll reden, als wenn kein Strumpfwürcker in Apolde hungerte“ (GHA 5,403). Dem Hässlichen, Anstößigen, moralisch nicht Verantwortbaren des Hungers zum Beispiel wird in der Kunst das Ideal einer besseren, schöneren Welt, die den Hunger nicht kennt, entgegengestellt. Die Gefahr dieses Kunstprogramms allerdings ist, dass die Hässlichkeit und der Hunger von den Lesern nicht mehr als das bekämpfte Gegenbild der schönen Literatur wahrgenommen wird; dann allerdings ist die Schönheit der Kunst kein utopischer Gegenentwurf mehr, sondern verlogen. Ein Fall, der regelmäßig dann eintritt, wenn die Kunst oder Kultur überhaupt als bloße Kompensation der hässlichen Wirklichkeit verstanden wird, nicht aber als ihr Korrektiv, wie so oft in sich selbst als epigonal verstehenden Zeiten. Büchners Zeit war so eine „Zeit“. Der gallige Wilhelmi in Karl Immermanns 1836 erschienenem Roman Die Epigonen (1981, 43) hat dies auf den Punkt gebracht, dass nichts mehr authentisch, alles nur noch
Literatur als Forschung
Die Welt zeigen, wie sie ist
Idealismus als Verachtung der menschlichen Natur
Gegen Aufklärung und Klassik
Epigonales Zeitalter
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III. Grenzüberschreitungen
Entfremdetes Dasein
Wer oder was handelt: Ich oder es?
Dokumentengeleitete Fantasie
Artifizielle Naivität
Schreibmuster
„Komödie“ sei. Diesen Eindruck hatte allerdings auch Büchner, wenn er sich die Zeitläufte betrachtete: „Das Ganze ist doch nur eine Komödie“ (FA 2,365; vgl. ebd., 358). Der Witz an dieser Komödie aber ist: Die Menschen agieren nur noch wie Marionetten oder Automaten. Büchners Danton meint im Ernst: „Puppen sind wir von unbekannten Gewalten am Draht gezogen; nichts, nichts wir selbst“ (III.2, 41). Der Autor kannte das Gefühl selbst: „Ich bin ein Automat“, klagte er einmal brieflich (FA 2,378). Auch die Staatsdiener seien üblicherweise „Drahtpuppen“, an denen „die fürstliche Puppe zieht“, die wiederum von ihren Kammerdienern, Geliebten oder Günstlingen gespielt wird (HL 16) usw. Büchners komödiantischer Diener Valerio gibt zu bedenken, ob vielleicht alle Menschen „eigentlich nichts als Walzen und Windschläuche“ seien (VI, 121), nichts als „Puppen“ also, wie Leonce zusammenfasst (124). Wenn man nun die literarischen Werke mit künstlich „zusammengeschraubten“ (IX.2, 85) Idealmaschinen bevölkert, dann potenziert man nur die menschliche Entfremdung, erklärt sie aber nicht; und mit Sicherheit gelangt man nicht zum „Kern“ dessen, was interessiert, welches für Büchner nicht die Frage war, „was die Welt/Im Innersten zusammenhält“ (GHA 3,20 bzw. 367), sondern was es sei, das uns bestimmt und uns handeln macht, wie wir handeln: „Ich oder es?“ könnte man mit Danton etwas anachronistisch fragen (III.2, 39). Um dem auf die Spur zu kommen, hilft es nicht, Gestalten zu erfinden. Vielmehr muss man sich an die „Wirklichkeit“ (III.2, 37; V, 38) halten, d.h. an beglaubigte Figuren und Vorgänge. Büchners „Phantasie“, mit der er seine „poetischen Produkte“ schuf (FA 2,464), ist durchgehend dokumentengeleitet. Gutzkow (1974, 193) sprach deshalb von einer „reproduktiven Phantasie“. Der Forderung seines Lenz, sich in das Leben der Menschen hineinzuversetzen, kam Büchner nach, indem er sich in die überlieferten Dokumente zu Danton, Lenz oder Woyzeck versenkte, um die wirklichen „Triebfedern des menschlichen Herzens“ (FA 2,647), die wahren „Motive“ (FA 2,23, 31, 33) ihres Handelns zu entdecken. Der Vorgang ist im Fall des Lustspiels übrigens der gleiche, nur dass die befragten Dokumente ihrerseits schon überwiegend literarische Texte im engeren Sinn waren, die Büchner in Hinblick auf den „Mechanismus“ (VI, 121) der menschlichen Existenz spielerisch befragte: Ein wissenschaftliches – Gerhart Hauptmann (1962, 578) würde später sagen: künstlerisches – Verfahren, wie Büchner bei Johannes Kuhn über Descartes’ Methode lernen konnte: „Wer sich dieße Aufgabe stellt“, nämlich Gewissheit zu finden, „der muß offenbar in demselben Augenblick eine Person spielen, die überall noch nichts Gewisses weiß“ (IX.2, 43). Die gespielte Ignoranz also wird zum heuristischen Prinzip. Sie diente vor allem dazu zu vermeiden, dass die Untersuchung der natürlichen wie der „menschlichen Dinge“ (FA 2,376) durch a priori gesetzte „Zwecke“ ad absurdum geführt wird. Büchners ,Realismus‘, der tatsächlich wenig gemein hat mit dem sogenannten bürgerlichen oder poetischen Realismus des Nachmärz, diente vor allem dazu einen idealistischen „progressus in infinitum“ zu vermeiden (VIII, 153). Denn dieser wäre „wahrhaftig“ sehr „langweilig“ gewesen (III.2, 30f., 79). Büchners Umgang mit den Dokumenten folgte dabei stets demselben Muster, gleichgültig ob er eine agitatorische Flugschrift entwarf oder ein so-
Übergreifende Aspekte
zialkritisches Drama. Auf einer ersten Stufe notierte er sich ein argumentatives oder Handlungs-Skelett, das an einer Strukturquelle orientiert war, die eine Finanzstatistik, ein historiografisches Werk, ein Rechtfertigungsbericht, eine Komödie, eine philosophiegeschichtliche Darstellung oder eine kriminalistische Fallbeschreibung sein konnte; auf weiteren Bearbeitungsstufen wurde die ursprüngliche Skizze durch Informationen aus weiteren Quellen angereichert, mitunter neu geordnet und Unbrauchbares ausgeschieden. Über den jeweiligen Bearbeitungsstand lässt sich im Fall von Büchners Werken anhand der genauen Beobachtung von Textbrüchen Genaueres eruieren. Das gilt sowohl für weitgehend durchgearbeitete Texte wie Danton’s Tod und das Mémoire, wie für die die offensichtlichen Fragmente Lenz und Woyzeck; davon wird bei der Besprechung der einzelnen Texte bzw. Textgruppen noch ausführlicher gesprochen werden. In ästhetischer Hinsicht vermochte sich Büchner von der Erwartung eines abgerundeten Kunstwerks frei zu machen, indem er an vorklassische Muster anknüpfte, also vor allem an die Sturm und Drang-Ästhetik des jungen Goethe oder J.M.R. Lenz, sowie an die zur damaligen Zeit wieder entdeckte Volksdichtung und die gleichzeitig gepriesenen Werke William Shakespeares. In sprachlicher und thematischer Hinsicht hatte sich Büchner die wesentlichen Anregungen aber aus der romantischen Literatur der Kunstperiode geholt, angefangen bei Jean Paul und Ludwig Tieck, über E.T.A. Hoffmann und Brentano bis hin zum jungen Joseph von Eichendorff und Heinrich Heine. Hier fand Georg Büchner auch die seinem spöttisch-humoristischen Naturell (vgl. FA 2,579; MA 373) entsprechende (Selbst-)Ironie wieder, für die der Brief an seinen Bruder Wilhelm vom 2. September 1836 ein schönes Beispiel bietet: „Ich bin ganz vergnügt in mir selbst, ausgenommen, wenn wir Landregen oder Nordwestwind haben, wo ich freilich einer von denjenigen werde, die Abends vor dem Bettgehn, wenn sie den einen Strumpf vom Fuß haben, im Stande sind, sich an ihre Stubentür zu hängen, weil es ihnen der Mühe zuviel ist, den andern ebenfalls auszuziehen. […] Ich habe mich jetzt ganz auf das Studium der Naturwissenschaften und der Philosophie gelegt, und werde in Kurzem nach Zürich gehen, um in meiner Eigenschaft als überflüssiges Mitglied der Gesellschaft meinen Mitmenschen Vorlesungen über etwas ebenfalls höchst Überflüssiges, nämlich über die philosophischen Systeme der Deutschen seit Cartesius und Spinoza, zu halten. – Dabei bin ich gerade daran, sich einige Menschen auf dem Papier totschlagen oder verheiraten zu lassen, und bitte den lieben Gott um einen einfältigen Buchhändler und ein groß Publikum mit so wenig Geschmack, als möglich. Man braucht einmal zu vielerlei Dingen unter der Sonne Mut, sogar, um Privatdocent der Philosophie zu sein“ (FA 2,448). Die anfängliche Selbstbeschreibung als potenzieller Melancholiker entspricht der Charakterisierung Dantons, Leonces und des Hauptmanns aus Danton’s Tod (II/1), Leonce und Lena (I/1) und Woyzeck H4,5 u. 9 (III.2, 30f.; VI, 100; VII.2, 24f., 28). Sie bezieht sich intertextuell zugleich auf eine Bemerkung Goethes in seiner Autobiografie Aus meinem Leben (13. Buch), wo es um das ,taedium vitae‘ („das Leben als eine ekelhafte Last“) von jungen „denkenden in sich gekehrten Menschen“ zur Werther-Zeit geht (GHA
Anknüpfen an vorklassische Muster
Selbstironie im Brief vom 2.9.1836
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III. Grenzüberschreitungen
Ernst und Scherz
Komische Wissenschaft
Moralische Korruption der Epoche
9, 578). Die anschließende Rede von sich selbst als „Privatdocent der Philosophie“ und daher „als überflüssiges Mitglied der Gesellschaft“ entwertet das eigene Tun ebenso wenig wie die spöttische Rede von dem geschmacklosen Publikum, das er für seine Dichtungen brauche. Vom Wert seiner Vorlesungen über Descartes und Spinoza war Büchner ebenso überzeugt wie von dem seiner Dramen Leonce und Lena und Woyzeck, woran er gerade arbeitete. Während er ernstlich über den Status von Descartes’ ,cogito ergo sum‘ nachdachte – handelte es sich um den „Schlußsatz“ oder den „ersten Grundsatz“ bzw. „Obersatz“ (IX.2, 44f.) einer Beweiskette? – ironisierte er die Frage, ob es sich womöglich um einen „Cirkelschluß“ handle (ebd.) nach dem Vorbild einer der von Descartes selbst mitgeteilten „Objectiones“ (vgl. IX.2, 107f.) in Valerios Narrenrede über die maschinenmäßige Existenz der modernen Menschen in Leonce und Lena (VI, 121), um wenig später in der Probevorlesung die Berechtigung eines „Zirkels […] in infinitum“ ernsthaft, wenn auch nicht ganz ohne ironischen Unterton zu bestreiten (VIII, 153). Für die gleiche Probevorlesung erarbeitete Büchner ein kritisches Referat von Friedrich Arnolds Schrift über den Kopftheil des vegetativen Nervensystems (Heidelberg 1831; vgl. VIII, 157–159, 451–460 u. 216f.), die auf komische Weise auch in Woyzeck verwendet wird, nämlich als der Doctor von einem Experiment erzählt, das darin besteht, „die Nase zum Fenster hinaus“ zu strecken (VII.2, 27). Zwar ist dies kein grotesker Zug des Doctors, sondern der Reflex einer ernsthaften physiologischen These (vgl. VII., 512; VIII, 217), deren Gültigkeit der Doctor im Selbstversuch überprüft, doch steht das ,Experiment‘ gleichwohl in einem satirischen Zusammenhang, in dem ein Wissenschaftler die Wissenschaft komisch (vgl. Oesterle 1983) und der Kritiker ihre Machinationen verdächtig werden lässt (vgl. Glück 1985). Komische Typen produzierte die Wissenschaft selbst, dazu brauchte es nicht erst die karikierende Fantasie des Literaten. Büchners Gießener Lehrer Johann Bernhard Wilbrand (1779–1846) gilt als eines der Vorbilder für die grotesken Züge des Doctors; eine andere ,komische‘ Gestalt war der Lothringer Pflanzensammler Louis Cincinnatus Séverin Léon Hussenot (1809–1845), der ein botanisches Werk herausgab (Chardons Nancéiens, ou Prodrome d’un Catalogue des Plantes de la Lorraine. Nancy 1835, 21836), das seine Zeitgenossen höchst seltsam fanden wegen der darin enthaltenen „choses sans nom, ou méchamment spirituelles ou atrocement scandaleuses“, wie Frédéric Kirschleger (Flore d’Alsace et des contrées limitrophes. Bd. 2, Strasbourg 1857, LXXII) später sagte, der zu der Gesellschaft zählte, vor der Büchner 1836 sein Mémoire vortrug. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts urteilten Paul Ascherson und Paul Graebner: „Schwerlich war H[ussenot] bei Abfassung“ des Werks „noch geistig ganz normal“ (Synopsis der mitteleuropäischen Flora. Bd. 4, Leipzig 1908–1913, 658). Büchner bediente sich hier für den „Diskurs“ zwischen Hauptmann und Woyzeck über Geld und Moral (VII.2, 25; vgl. Hussenot 1835, 175: „La vertu est une belle chose“); dass er das Werk kannte, belegt das abgebrochene Zitat am Ende der Straßburger Entwürfe zum Woyzeck (H2,9; VII.1, 36), das Christian Neuhuber (2009, 152) identifiziert hat. Es lautet bei Hussenot (1835, 175) vollständig: „La corruption du siècle est parvenue à ce point, que pour maintenir la morale debout sur ses pattes, on est réduit à calom-
Übergreifende Aspekte
nier les assassins.“ Dass die allgemeine Moral so weit heruntergekommen war, dass man – um sie nicht einmal aufrecht, doch ,auf ihren Pfoten zu halten‘ – sogar die Mörder noch verleumden müsse, mochte Büchner auch empfunden haben, als er die Einlassungen von Johann Christian August Clarus und einiger anderer Autoren zum Leipziger Fall Woyzeck las. Das von dem oben zitierten Brief an den Bruder aus angeschnittene Netz textueller Bezüge kann zum einen zeigen, dass in Büchners Werk alles „so wesentlich zusammen“ gehört, „daß erst jede einzelne Schöpfung durch die anderen, daß erst der schöpferisch umfassende Geist des Dichters durch alle in’s rechte Licht gesetzt wird“, wie Wilhelm Schulz schrieb (Grab 1985, 61). Schulz empfahl auch, in Büchners Fall jedes ästhetische Philistertum beiseite zu setzen und nicht ängstlich nach Gattungsnormen zu fragen. „Wer Danton’s Tod kein Drama, wer Leonce und Lena kein Lustspiel heißen will, mag sie anders heißen. Aechte und rechte Poesie bleiben sie doch“ (ebd., 65), ebenso wie Woyzeck, in dem sich komische und tragische Elemente unauflöslich verbunden haben. Für einen Lyriker wie Durs Grünbein (* 1962) war zum Beispiel die Probevorlesung Über Schädelnerven immer „eine Art literarisches Manifest“ (Grünbein 1995, 12). Tatsächlich sind Büchners Texte als Experimente eines Schreibens teilnehmender Beobachtung zu klassifizieren, bei dem permanent Grenzen überschritten werden: Grenzen der herrschenden Ordnung, sei auf politischem, moralischem oder ästhetischem Gebiet. Dies erfordert in weit höherem Maß als konventionellere Texte eine Mitarbeit der Leser im Akt der Rezeption. Büchners Texte sind „offene“ Kunstwerke im Sinne Umberto Ecos (* 1932), weil sie bei dem immer notwendigen Balanceakt zwischen dem notwendigen Anknüpfen an Bekanntes und der experimentellen Suche nach dem Unbekannten mehr zu Letzterem tendieren und daher „für immer neue Reaktionen und Interpretationen offen“ bleiben. Ihre immanente Poetik macht den Rezipienten „zum aktiven Zentrum eines Netzwerkes von unausschöpflichen Beziehungen“, welches die interpretative Konkretion nicht in jeder Hinsicht determiniert (Eco 1990, 122, 116). Dies macht Büchners Texte zu immer wieder gern herangezogenen Vorbildern einer im Sinne Peter Bürgers (* 1936) avantgardistischen Moderne, die mit der Tradition bricht, zugleich aber die bürgerliche Trennung von Kunst und Lebenspraxis aufzuheben trachtet (Bürger 1974, 85, 72). Als modernistische Texte sind sie keinem einheitlichen Stilprinzip untergeordnet, das Werkganze ist nicht homogen, sondern heterogen zu nennen, wobei auf der Ebene der einzelnen Texte die offensichtliche Fragmentarität von Lenz und Woyzeck zum Beispiel nicht intentional, sondern durch den frühen Tod des Autors hergestellt wurde. Doch eignen auch ,fertigen‘ Werken wie Danton’s Tod Spuren der Montage als Grundprinzip des Avantgardismus (vgl. ebd., 23f. u. 97). Montiert werden im einen wie im andern Fall vorgefundene Elemente; bei Büchner lässt sich in dieser Hinsicht fast schon von einem Zitatismus sprechen, der mitunter die Kohärenz der Texte zu sprengen droht. Diese „Offenheit zum Zitat“ nun ist dasjenige, was der moderne Dichter Paul Celan (1920–1970) „als das eigentliche Poetische der Büchnerschen Dichtung“ angesehen hat und die ihn 1960 den Vormärz-Autor als Zeugen für die Möglichkeit des Gedichts nach Auschwitz in Anspruch nehmen ließ (Müller-Sievers 2003, 176, 178). Gegen den existentia-
Einheit des Werks
Schreiben als teilnehmende Beobachtung jenseits der ästhetischen Konvention
Büchners Modernität
Montage als Grundprinzip
Zitatismus
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III. Grenzüberschreitungen
Gegenwärtigkeit
Radikale Subjektivität
listischen Zeitgeist, der Heidegger folgend „das Dichterische in der Nähe zur Quelle, zum Ursprung“ verortete, suchte Celan es im Zitat bzw. in zitathaften Formen, die die Metapher entwerten und die Metonymie verflüssigen (vgl. ebd., 178f., 99). Dies geschieht sogar desto mehr, je mehr das Zitat als solches ausgestellt wird; ein Beispiel ist Leonces Frage: „Könnte ich nicht auch sagen: ,sollte nicht dies und ein Wald von Federbüschen nebst ein Paar gepufften Rosen auf meinen Schuhen?‘“ (VI, 114) – eine Frage, die Leonce nicht beantwortet und auf die eine Antwort zu finden auch versierten Lesern schwer fallen dürfte, selbst wenn sie den Kontext des Hamlet-Zitats kennen. Dies alles gilt auch von den Briefen Georg Büchners, von denen mir einer als Beispiel diente, um das Netz intertextueller Beziehungen ansatzweise zu beleuchten. Die Briefe stehen sogar noch stärker als die anderen Texte für Büchners Gegenwärtigkeit; Volker Braun (* 1939) meinte, man müsse „sich mitunter mit Gewalt erinnern, daß es nicht die eines Zeitgenossen sind“ (IA 119). In Hugo von Hofmannsthals Deutschem Lesebuch (1926, 2,162–165), einer Sammlung der „vorzüglichsten Prosa“ aus dem klassischen Jahrhundert deutscher Dichtung, das Hofmannsthal (1874–1929) auf die Jahre zwischen 1750 und 1850 terminierte, paradiert Büchner mit drei Briefen an die Verlobte (vgl. dazu Fortmann 2007). Sie sind auch innerhalb des Briefwerks exzeptionelle Zeugnisse, als sie „weitgehend spontan“ sind, d.h. relativ am geringsten „rhetorisch geformt bzw. durch Defensiv-, Präventiv oder Schutzstrategien verschleiert sind“; doch sind sie trotzdem schwierig zu analysieren und zu dechiffrieren, weil sie intertextuell so eng verflochten sind, dass „sie sich wie Fortsetzungen eines einzigen Briefs lesen“ (Knapp 2000, 52). Für Hofmannsthal repräsentierte aber gerade dieser Text, und nicht etwa der in dieser Hinsicht sonst meist angeführte Lenz, Büchners Modernität, und zu Recht, wenn wir mit Peter Gay (2009, 24) den „Hang zu bedingungsloser Selbsterforschung“ oder die radikale Subjektivierung der Literatur als eines der beiden grundlegenden Kriterien künstlerischer Modernität annehmen. Auch kann man Büchners Briefe, mit Adam Kuckhoff (1887–1943) zu sprechen, „gewissermaßen seine ersten Werke“ nennen, weil in ihnen schon alles im Ansatz enthalten ist: „Die Naturschilderungen des Lenz, die politische Formulierung des Landboten, die kleine dramatische Szene in knapp erzählten Anekdoten und schließlich die große Thematik seiner Weltanschauung“ (Büchner: Werke 1927, 223). Die Briefe sind als Zugang zu Büchners Œuvre sogar besonders geeignet, als sie quer zu allen Gattungen stehen und Büchner hier alle literarischen Register zog, so dass also die auch hier wirkenden „Fiktionalisierungsprozesse“ nicht unterschätzt werden dürfen. Büchner handelte in den Briefen von Politik und Psychologie, Wissenschaft und Literatur auf ernste und komische Weise, und meistens alles auf einmal. Daher verwundert es nicht, dass der Briefwechsel dieses Autors, so „ramponiert“ er „überliefert“ ist, „so angelegentlich zitiert, publizistisch verarbeitet und künstlerisch adaptiert“ wurde wie „kein anderer“ (BHb 151). Mit vorliegenden etwas über 70 Texten ist vielleicht ein Sechstel bis zu einem Viertel der von Büchner tatsächlichen geschriebenen Briefe überliefert; davon liegen nur 13 vollständig in Originalgestalt vor (vgl. die Faksimiles in Hauschilds Ausgabe von Büchners Briefwechsel 1994), der Rest liegt nur indirekt und fragmentarisch überliefert
Übergreifende Aspekte
vor. Die Briefe an die Eltern und Geschwister – außer einem Brief an Ludwig Büchner – sind wohl im Mai 1851 sämtlich verbrannt (vgl. Lehmann 1986/ 87); von den anderen verlorenen Briefen könnten allerdings noch welche auftauchen, wie es zuletzt 1993 auf einem Butzbacher Dachboden geschah (vgl. Gillmann u.a. 1993). Zwei Briefe an die befreundeten Brüder Adolph und August Stöber illustrieren den Übergang von dem beobachtenden zu dem eingreifenden Studenten und mögen überleiten zur eingehenderen Besprechung einzelner Werke. Straßburg, den 3ten Novb. 1832: „Lieber Adolph!/Nur wenige Zeilen bringen Dir diesmal meine Grüße. Ich komme eben aus dem Leichendunst und von der Schädelstätte, wo ich mich täglich wieder einige Stunden selbst kreuzige, und nach den kalten Brüsten und den toten Herzen, die ich da berührte, erquickte mich wieder das lebendige, warme an das Du mich drücktest über die Paar Meilen hinaus, die unsere Cadaver trennen. Wahrhaftig der Lindwurm von dem Du sprichst ist nicht so gefährlich, man müßte ein armer Tropf sein, wenn unsre Arme nicht einmal über die dreißig Stunden hinübergreifen könnten. Wenn das Frühjahr kommt hoffe ich Dich zu sehen. Seit acht Tagen bin ich wieder hier, die teutsche naßkalte Holländeratmosphäre ist mir zuwider, die französische Gewitterluft ist mir lieber.“ (FA 2,364f.). Darmstadt: d. 9. Dez. 33: „Lieber August! / […] Du erhälst am spätesten einen Brief, weil ich Dich am letzten mit einem finsteren Gesicht quälen wollte, denn wenigstens Eurer Teilnahme halte ich mich immer versichert. Ich schrieb mehrmals, vielleicht sahst Du meine Briefe; ich klagte über mich und spottete über andere; beides kann Dir zeigen, wie übel ich mich befand. Ich wollte Dich nicht auch in’s Lazarett führen und so schwieg ich. […] Manchmal fühle ich ein wahres Heimweh nach Euren Bergen. Hier ist Alles so eng und klein. […] Die politischen Verhältnisse könnten mich rasend machen. Das arme Volk schleppt geduldig den Karren, worauf die Fürsten und Liberalen ihre Affenkomödie spielen. Ich bete jeden Abend zum Hanf und zu d. Laternen“ (FA 2,375–377). Diesem „armen Volk“ eilte der junge Autor mit dem Hessischen Landboten zu Hilfe, indem er auch ihm die Augen für die „Affenkomödie“ öffnen wollte. Aber auch die anderen Werke sind von der Solidarität mit den einfachen Leuten geprägt. Mit der „Entdeckung des Geringen“ sei Büchner „der vollkommenste Umsturz in der Literatur“ gelungen, meinte Elias Canetti 1972 (Büchner-Preis-Reden 2, 1984, 30), insofern seine Werke in keinem „spitzen Verhältnis zur großen Klasse“ (FA 2,440) mehr stünden. Dass Büchner deshalb nicht die Masse der Unterprivilegierten glorifizierte, zeigen die Werke auch; das „Volk“, in dem man „die Bildung eines neuen geistigen Lebens“ suchen solle (FA 2,440), war kein soziologischer, sondern ein „ethischer Begriff“ (BHb 166). Büchner trug ein „Erbarmen“ (Canetti) mit den „Geringsten“ (V, 37), indem er seinen von „Hass“ geschärften „Spott“ gegen jene wendet, die wegen „einer lächerlichen Äußerlichkeit, die man Bildung, oder eines toten Krams, den man Gelehrsamkeit heißt“, auf „die große Masse ihrer Brüder“ mit „verachtendem Egoismus“ hinabblickten (FA 2,379).
Übergang von der Beobachtung zur eingreifenden Praxis An Stöber, 3.11.1832
An Stöber, 9.12.1833
Die Augen öffnen
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IV. Schriften. Einzelanalysen 1. Der Hessische Landbote
Kollaboration zweier Autoren
Zwei verschiedene Drucke
Die bei weitem gefährlichste und strafbarste Flugschrift
Gemeinverständlichkeit als Verbrechen
Literaturstreit Lessing/Goeze
Der Hessische Landbote ist „das flammendste deutsche revolutionäre Manifest überhaupt“ (Klabund: Deutsche Literaturgeschichte in einer Stunde. Leipzig 21921, 70), mindestens aber „die bedeutendste revolutionäre Flugschrift des deutschen Vormärz“ (Knapp 2000, 88), und brachte Georg Büchner den Ruf ein, der revolutionärste Autor der deutschen Literatur gewesen zu sein. Tatsächlich ist diese Flugschrift aber kein Werk von Büchner allein, sondern das Produkt der Zusammenarbeit des Gießener Medizinstudenten mit dem erfahrenen Organisator der hessischen Oppositionsbewegung, dem Butzbacher Pfarrer und Schulrektor Friedrich Ludwig Weidig (1791–1837), den der Gießener Hofgerichtsrat Martin Schäffer „die Seele der staatsgefährlichen Unternehmungen“ bzw. den „Mittelpunkt alles revolutionären Treibens im Großherzogtum“ nannte (Görisch/Mayer 1982, 274). Die Flugschrift entstand in der ersten Hälfte des Jahres 1834 und wurde zwei Mal in verschieden redigierten Bearbeitungen gedruckt, nämlich im Juli 1834 durch den Drucker und Kleinverleger Carl Preller in Offenbach/ Main und im November 1834 durch Ludwig August Rühle, einen Angestellten der Druckerei von Noa Gottfried Elwert in Marburg/Lahn. Für die staatlichen Behörden stand sofort fest, dass Der Hessische Landbote alle anderen „Flugschriften“ der außerparlamentarischen Opposition „an Bösartigkeit weit hinter sich“ ließ (Mathis 1839, 63; FA 2,642) und daher die „bei weitem gefährlichste und strafbarste“ war, denn sie forderte „geradezu zum Umsturz des Bestehenden“ auf, und das nicht etwa verklausuliert, sondern „gemeinverständlich“ (Schäffer 1839, 48f.). Seit jeher war für die Apologeten des Bestehenden nicht der Angriff auf das Überkommene das denkbar schlimmste Verbrechen, sondern wenn dieser Angriff auf eine Weise geführt wurde, der geeignet war, massenhaft Proselyten zu machen. In einer der berühmten literarischen Fehden der deutschen Literaturgeschichte, dem sogenannten Fragmenten-Streit zwischen Gotthold Ephraim Lessing und Johann Melchior Goeze, war weniger die Tatsache, dass Lessing die skeptizistischen Argumente von Hermann Samuel Reimarus (1694–1768) publiziert und kommentiert hatte, der hauptsächliche Stein des Anstoßes, sondern dass er die „Einwürfe gegen die christliche Religion, und selbst gegen die Bibel“, auf Deutsch, „der Landsprache“, und nicht auf Lateinisch, „der Sprache der Gelehrten“, hatte drucken lassen. Auf diese Weise könnten sich nämlich „die verderblichen Grundsätze unter dem großen Haufen verbreiten“, was ein strenges Eingreifen der „Obrigkeiten“ erforderlich mache, weil sonst die „bürgerliche Verfassung unmittelbar“ bedroht sei (LW 8,115f. u. 102). Auch im Fall des Hessischen Landboten fürchteten die obrigkeitlichen Behörden die „populäre, gemeinfaßliche Sprache“, die schon im Fall einiger Schriften des Darmstädter Journalisten Wilhelm Schulz, „ganz geeignet“
1. Der Hessische Landbote
war, „aufregend zu wirken“ (Görisch/Mayer 1982, 286). Schulz war im September 1833 wegen eines Buchs über Deutschlands Einheit durch Nationalrepräsentation wieder einmal inhaftiert worden. Das erste Mal war dies im Oktober 1819 geschehen, als man den Urheber des Frag- und Antwortbüchlein über Allerlei, was im deutschen Vaterlande besonders Not tut ermittelt hatte. Dieses Büchlein (wieder in HL 77–87) ist eine im Frühjahr 1819 anonym publizierte Flugschrift, die in einer betont einfachen Sprache, die „auch dem Niedrigsten im Volke verständlich“ war und deren Argumentation durch zahlreiche Bibelzitate gestützt wurde, für die Schaffung konstitutioneller Verhältnisse plädierte, welche die „klaffenden Klassengegensätze zwischen dem Elend der Vielen und dem Luxus der Wenigen“ mildern und die deutsche Einheitsrepublik vorbereiten sollten. Die Broschüre hatte, daran erinnerten sich die Staatsschützer noch genau, während der sogenannten Odenwälder Unruhen, einer bäuerlichen Revolte gegen die Einführung neuer Steuern, eine „nicht unbeträchtliche Wirkung“ gehabt und war „in weiten Gebieten West- und Mitteldeutschlands vertrieben“ worden (Grab 1985, 11). Sie gehörte zu den Flugschriften, die für Büchner bei dem Entwurf des Hessischen Landboten vorbildlich waren, zum Beispiel in der plastischen Gegenüberstellung von Arm und Reich und der Verwendung einer Bildlichkeit, die aus dem Alltag des angesprochenen „Bürgers- und Bauersmann“ stammte: „Da sind viele vornehme, hochadelige und hochnasige Herrn, die tragen schöne bunte Bänder, wie der Hammel auf der Kirchweih, und haben das Geld und das Silber auf dem Rock, das der Bürger und der Bauersmann sonst im Sack gehabt hat“ (HL 78). Außerdem war Schulz, der 1831 mit einer Arbeit Über das zeitgemäße Verhältnis der Statistik zur Politik an der Universität Erlangen promoviert hatte, einer der ersten Publizisten, die statistische Daten politischen Zwecken dienstbar machten. Vor allem dieses Verfahren, das im Vormärz auch von anderen Autoren (1832 von Friedrich Schüler, Philipp Jakob Siebenpfeiffer und Ludwig Börne 1977, 3,434f.) verwendet wurde, setzte Büchner auf neuartige Weise ein. Erstmals wurde die Finanzstatistik nicht nur als stützender Beleg herangezogen, sondern war der Ausgangspunkt der Agitation und strukturierte den Text. Büchner hatte von Weidig die 1831 erschienene Statistisch-topographisch-historische Beschreibung des Großherzogthums Hessen von Georg Wilhelm Justin Wagner geliehen und benutzte besonders den vierten Band (vgl. Schaub 1976, 164–175), um seiner Argumentation mit offiziellem Zahlenmaterial eine größere Autorität zu sichern. Büchners Zahlen sind fast alle korrekt oder mit geringfügigen Versehen (Zahlendreher, Additionsfehler) der Statistik Wagners entnommen; lediglich die Angabe zu den Kosten der Regierungsspitze „konnte anhand des Wagnerschen Zahlenmaterials weder aufgrund eines Rechenfehlers noch aufgrund Zahlenvertauschung oder Zahlenverwechslung erklärt werden“ (Schaub 1976, 67); sie entspricht nur ungefähr der Summe der Kosten für Staatsministerium, Staatrath, Kanzlei, Archiv und Angelegenheiten des Ministeriums für auswärtige Politik. Ausgangspunkt der Argumentation sind die aufgegliederten Einnahmen, die der Staat habe, nämlich 6.363.336 Gulden Abgaben, die von 718.373 Einwohnern geleistet würden. Davon würden auf der Ausgabenseite bezahlt
Vorbild Wilhelm Schulz
Adressatenbezogene Bildlichkeit
Statistik als politisches Argument
Voraussetzungen der Argumentation
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IV. Schriften. Einzelanalysen
– – – – – – –
Missverhältnis von Leistung und Nutzen
Beispielkette
für das Justiz- und Innenwesen rund 1.110.000 Gulden, für die Finanzverwaltung rund 1.550.000 Gulden, für das Militärwesen rund 915.000 Gulden, für das Pensionswesen rund 480.000 Gulden, für die Regierungsspitze rund 174.000 Gulden, für das Fürstenhaus und den Hof rund 825.000 Gulden, für die Landstände rund 16.000 Gulden.
Unschwer ist zu erkennen, dass Büchner rund 1.300.000 Gulden nicht in seine Rechnung einbezog; dabei handelt es sich vor allem um die nicht erwähnten Zinsen für Staatsschulden sowie um „Lasten und Abgänge“, die sich für die revolutionäre Propaganda nicht eignen – etwa Subventionen für Gemeinden, Haushaltszuschüsse für die Universität Gießen, Entschädigungen aller Art, Besoldungen von Pfarrern, Schullehrern oder Kirchendienern und dergleichen (vgl. Schaub 1976, 108f.). Büchner wollte den Bauern „zeigen und vorrechnen, daß sie einem Staate angehören, dessen Lasten sie größtentheils tragen müssen, während andere den Vortheil davon beziehen“ (nach August Becker; FA 2,660), und wie der Repressionsapparat, unter dem sie zu leiden hatten, finanziert wurde. „700.000 Menschen“ würden „6 Millionen“ zahlen, um allenfalls „10.000“ Beamten und Privilegierten zu ermöglichen, eine „Ordnung im Staat zu erhalten“, die für die Mehrheit bedeute: „hungern und geschunden werden“ (HL 8, 32, 36, 8, 10). Im Zuständigkeitsbereich des „Ministeriums des Innern und der Gerechtigkeitspflege“ werde das Geld, das „der Blutzehnte“ sei, „der von dem Leib des Volkes genommen wird“, verwandt, um „Gesetze“ und eine „Gerechtigkeit“ zu schaffen, die „das Eigenthum einer unbedeutenden Klasse von Vornehmen und Gelehrten“ sind, was nichts anderes heiße, als dass die Bauern „der Willkühr einiger Fettwänste“ ausgeliefert seien (HL 10, 8, 10, 12). Im Bereich des „Ministeriums der Finanzen“ werde das Geld verwandt, um die „Presser“ des Volks zu „mästen“, die „den Diebstahl, der von Staatswegen unter dem Namen von Abgaben und Steuern jeden Tag an eurem Eigentum begangen wird“, organisieren und durchführen (HL 12). Mit den Militärausgaben würden Soldaten bezahlt, die „in den breiten Straßen der Städte herumziehen“ und mit „ihren Trommlen“ die „Seufzer“ des gepressten Volks „übertäuben“ und mit ihren Gewehrkolben „den Schädel“ desjenigen „zerschmettern“, der „zu denken wagt“, dass die Einwohner des Landes eigentlich „freie Menschen“ sind (HL 14). Mit den Pensionen würden die „Polster“ derjenigen ausgestopft, die lange genug „dem Staate treu gedient haben“, also „Handlanger bei der regelmäßig eingerichteten Schinderei gewesen“ sind, „die man Ordnung und Gesetz heißt“ (HL 14). Im „Staatsministerium“ und „Staatsrath“ (der Regierungsspitze) versammelten sich die „größten Schurken“, nämlich die dem „Fürsten am nächsten“ stünden und dessen bevorzugte „Werkzeuge“ bei der Ausplünderung des Volks seien; „Diener“ eines Fürsten, der unter seinem „Fürstenmantel“ auch nur ein „Menschenkinde“ und „so nackt und weich in die Welt“ wie alle gekrochen sei, sich aber nun auf Kosten der Armen zusammen mit seinem „Hofstaat“ ein „lustig“ Leben mache (HL 14, 16, 18).
1. Der Hessische Landbote
Und die (relativ preiswerten) „Landstände“ endlich, die doch eigentlich die Vertretung des Volkes sein sollten, seien allenfalls „langsame Fuhrwerke, die man einmal oder zweimal wohl der Raubgier der Fürsten und ihrer Minister in den Weg schieben“ könne, die aber eigentlich machtlos sind und „kaum die elenden Fetzen einer armseligen Verfassung zu vertheidigen vermögen“ (HL 22, 24, 26). Aber das „Maas ist voll!“ (HL 30), behauptet Der Hessische Landbote und schließt den Appell zum Aufstand an: „6 Millionen bezahlt ihr im Großherzogthum einer Handvoll Leute, deren Willkühr euer Leben und Eigenthum überlassen ist, und die anderen in dem zerrissenen Deutschland gleich also. Ihr seyd nichts, ihr habt nichts! Ihr seyd rechtlos. Ihr müsset geben, was eure unersättlichen Presser fordern, und tragen, was sie euch aufbürden. […] Hebt die Augen auf und zählt das Häuflein eurer Presser, die nur stark sind durch das Blut, das sie euch aussaugen und durch eure Arme, die ihr ihnen willenlos leihet. Ihrer sind vielleicht 10.000 im Großherzogthum und Eurer sind es 700.000 und also verhält sich die Zahl des Volkes zu seinen Pressern auch im übrigen Deutschland. […] Deutschland ist jetzt ein Leichenfeld, bald wird es das Paradies seyn. Das deutsche Volk ist Ein Leib ihr seyd ein Glied dieses Leibes. Es ist einerlei, wo die Scheinleiche zu zucken anfängt. Wann der Herr euch seine Zeichen gibt durch die Männer, durch welche er die Völker aus der Dienstbarkeit zur Freiheit führt, dann erhebt euch und der ganze Leib wird mit euch aufstehen. Ihr bücktet euch lange Jahre in den Dornäckern der Knechtschaft, dann schwitzt ihr einen Sommer im Weinberge der Freiheit, und werdet frei seyn bis ins tausendste Glied.“ (HL 32, 34, 36) In diese Grundstruktur sind Exkurse eingelassen, in denen bestimmte Begriffe oder Sachverhalte erläutert werden, wie etwa gleich zu Anfang, als es heißt, das Volk werde im „Namen des Staates“ ausgepresst, „die Presser berufen sich auf die Regierung und die Regierung sagt, das sey nöthig die Ordnung im Staat zu erhalten. Was ist denn das nun für ein gewaltiges Ding: der Staat?“ (HL 8). Und nach einer Definition, was der Staat sei, wird die folgende Frage beantwortet: „Wer sind denn die, welche die Ordnung gemacht haben, und die wachen, diese Ordnung zu erhalten?“ (HL 10). Neben diese erläuternden Exkurse treten narrative Passagen, in denen die Verwendung der Geldmittel ,vorgeführt‘ wird, zum Beispiel als es um das Militär geht: „Dafür kriegen eure Söhne einen bunten Rock auf den Leib, ein Gewehr oder ein Trommel auf die Schulter und dürfen jeden Herbst einmal blind schießen, und erzählen, wie die Herren vom Hof, und die ungerathenen Buben vom Adel allen Kindern ehrlicher Leute vorgehen“ (HL 14). Besonders eindrücklich wird der Text, wenn das politisch-argumentative Skelett mit literarischem Fleisch umgeben wird. Für die von Büchner dabei eingesetzte hyperkonkrete Metaphorik ist Der Hessische Landbote vor allem berühmt geworden. Hier liegt neben der „semantischen Perversion“, den „wertenden Schlagwörtern“ und „dem apodiktischen Sprachgestus“, die zu der „gleichsam den Leser vergewaltigenden persuasiven Wucht des Textes“ beitragen (Burckhardt 2002, 397), das besondere Geheimnis seiner Wirkung:
Appell
Verheißung
Struktur
Argumentatives Skelett und literarisches Fleisch
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IV. Schriften. Einzelanalysen Hyperkonkrete Metaphorik
Vorbild Jean Paul: Hesperus
„Das Leben der Vornehmen ist ein langer Sonntag, sie wohnen in schönen Häusern, sie tragen zierliche Kleider, sie haben feiste Gesichter und reden eine eigne Sprache; das Volk aber liegt vor ihnen wie Dünger auf dem Acker. […] Das Leben des Bauern ist ein langer Werktag; Fremde verzehren seine Aecker vor seinen Augen, sein Leib ist eine Schwiele, sein Schweiß ist das Salz auf dem Tische des Vornehmen. […] Die Regierung wird gebildet von dem Großherzog und seinen obersten Beamten. Die anderen Beamten sind Männer, die von der Regierung berufen werden, um jene Ordnung in Kraft zu erhalten. […] Das Volk ist ihre Heerde, sie sind seine Hirten, Melker und Schinder; sie haben die Häute der Bauern an, der Raub der Armen ist in ihrem Hause; die Thränen der Wittwen und Waisen sind das Schmalz auf ihren Gesichtern; sie herrschen frei und ermahnen das Volk zur Knechtschaft. Ihnen gebt ihr 6.000.000 fl. Abgaben; sie haben dafür die Mühe, euch zu regieren; d.h. sich von euch füttern zu lassen und euch eure Menschen- und Bürgerrechte zu rauben. Sehet, was die Ernte eures Schweißes ist. […] Der Fürst ist der Kopf des Blutigels, der über euch hinkriecht, die Minister sind seine Zähne und die Beamten sein Schwanz. Die hungrigen Mägen aller vornehmen Herren, denen er die hohen Stellen vertheilt, sind Schröpfköpfe, die er dem Lande setzt. […] Der Fürstenmantel ist der Teppich, auf dem sich die Herren und Damen vom Adel und Hofe in ihrer Geilheit übereinander wälzen […]. Die Töchter des Volks sind ihre Mägde und Huren, die Söhne des Volks ihre Laquaien und Soldaten. Geht einmal nach Darmstadt und seht, wie die Herren sich für euer Geld dort lustig machen, und erzählt dann euren hungernden Weibern und Kindern, daß ihr Brod an fremden Bäuchen herrlich angeschlagen sey, erzählt ihnen von den schönen Kleidern, die in ihrem Schweiß gefärbt, und von den zierlichen Bändern, die aus den Schwielen ihrer Hände geschnitten sind, erzählt von den stattlichen Häusern, die aus den Knochen des Volks gebaut sind; und dann kriecht in eure rauchigen Hütten und bückt euch auf euren steinichten Aeckern, damit eure Kinder auch einmal hingehen können, wenn ein Erbprinz mit einer Erbprinzessin für einen andern Erbprinzen Rath schaffen will, und durch die geöffneten Glasthüren das Tischtuch sehen, wovon die Herren speisen und die Lampen riechen, aus denen man mit dem Fett der Bauern illuminirt.“ (HL 6–20). Für das ,literarische Fleisch‘ seiner Flugschrift griff Büchner auch auf literarische Prätexte zurück, etwa auf die Valediktionsrede Flamins, mit der dieser „Flammen unter das Volk werfen“ wollte, „die den Thron einäschern sollen“, aus Jean Pauls Roman Hesperus (1794): „Ihr könntet Blutigel, Wölfe und Schlangen und einen Lämmergeier zugleich fangen und einsperren – ihr könntet ein Leben voll Freiheit erbeuten, oder einen Tod voll Ruhm. Sind denn die tausend aufgerissenen Augen um mich alle starblind, die Arme alle gelähmt, daß keiner den langen Blutigel sehen und wegschleudern will, der über euch alle hinkriecht und dem der Schwanz abgeschnitten ist, damit wieder der Hofstaat und die Kollegien hinten daran saugen? Seht, ich war sonst mit dabei und sah, wie man euch schindet – und die Herren vom Hofe haben eure Häute an. Seht einmal in die Stadt: gehören die Paläste euch, oder die Hundshütten? Die langen Gärten, in denen sie zur Lust herumgehen, oder die steinigen Äcker, in denen ihr euch totbücken müsset? Ihr arbeitet wohl, aber ihr habt nichts, ihr seid
1. Der Hessische Landbote
nichts, ihr werdet nichts – hingegen der faulenzende tote Kammerherr da neben mir…“ (JPW I.1,1166). Neben literarischen Mitteln im engeren Sinn, die die besondere Überzeugungskraft des Textes begründen, stehen die Anspielungen auf und Zitate aus der Bibel, die den Argumenten in den Ohren bäuerlicher oder allgemein unterschichtlicher Hörer, für die das Alte und Neue Testament sowie christliche Erbauungsliteratur bis ins 19. Jahrhundert hinein oft die einzige Literaturerfahrung war, besondere Legitimität verliehen. Büchner war der Meinung, so wissen wir aus späteren Verhören Adam Kochs – eines Mitglieds der Darmstädter Sektion der 1834 von Büchner gegründeten „Gesellschaft der Menschenrechte“ –, dass man „die niederen Volksclassen“ erstens bei ihrem „materiellen Elend“ packen und zweitens „ihre Ueberzeugungsgründe aus der Religion des Volks hernehmen“ müsse, wenn man „die heiligen Rechte der Menschen“ – also Freiheit und Gleichheit – propagieren wolle (Schaub 1976, 184). In diesem Sinne begann Büchner seinen Text mit einer – nicht ganz bibelfesten (vgl. Mayer 1979a, 249) – Allusion der alttestamentarischen Schöpfungsgeschichte (HL 6: „Im Jahr 1834 sieht es aus, als würde die Bibel Lügen gestraft. Es sieht aus, als hätte Gott die Bauern und Handwerker am 5ten Tage, und die Fürsten und Vornehmen am 6ten gemacht, und als hätte der Herr zu diesen gesagt: Herrschet über alles Gethier, das auf Erden kriecht, und hätte die Bauern und Bürger zum Gewürm gezählt“), bemühte die in der Bibel gelegentlich und auch in Danton’s Tod thematisierte Angst vor der Prostituierung der „Töchter des Volks“ (vgl. AT 5. Mos. 23,17; Hos. 4,13f.), zitierte die in Luthers Bibelübersetzung häufige imperative Wendung, dass man die Augen aufheben solle (vgl. AT 1. Mos. 31,12; 5. Mos. 3,27; Jes. 49,18; 51,6; 60,4; Jer. 3,2; 13,20; Hes. 8,5; NT Joh 4,35) und schloss mit der abermals nur vage, jedenfalls „nicht textgetreu“ (Mayer 1979a, 218) auf biblische Stellen anspielenden Rede von den „Dornäckern der Knechtschaft“ und dem „Weinberge der Freiheit“ (HL 36; vgl. AT 1. Mos. 3,17f.; Jes. 32,13; NT Matt. 20), um nur ein paar Beispiele zu geben. Bei der Beschäftigung mit dem Text des Hessischen Landboten sind allerdings Behauptungen wie die eben gemachte („Büchner begann…“) mit Vorsicht zu genießen. Büchner ist ja nicht der alleinige Urheber des in zwei Drucken überlieferten Textes. Vielmehr wurde Büchners Entwurf für den Druck der Juli-Ausgabe von Friedrich Ludwig Weinig gründlich überarbeitet, und an der abermaligen Überarbeitung für die November-Ausgabe war außerdem noch mindestens Leopold Eichelberg beteiligt. Weidigs Überarbeitung des ursprünglichen Entwurfs war immerhin so eingreifend, dass Büchner die Flugschrift „nicht mehr als die seinige anerkennen“ wollte, weil jener „ihm gerade das, worauf er das meiste Gewicht gelegt habe und wodurch alles andere gleichsam legitimiert werde, durchgestrichen habe“. Außerdem habe Weidig „an die Stelle der Reichen“ immer „die Vornehmen gesetzt“ und verschiedene „biblische Stellen“ hinzugefügt. Auch der Titel, der Vorbericht „so wie überhaupt der Schluß“ sei von Weidig. Und weil er die Empfindlichkeit seiner bürgerlichen Genossen kannte, habe Weidig „das, was gegen die s[o]g[enannte] liberale Partei gesagt war, weggelassen und mit Anderem, was sich bloß auf die Wirksam-
Biblische Bilder und Sprache
Weidigs Redaktion
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IV. Schriften. Einzelanalysen
Trennung von Büchners und Weidigs Text
Kein integrales Manuskript Weidigs
Büchners Struktur dominant
keit der constitutionellen Verfassung bezieht, ersetzt“, was – so August Becker – den „Charakter der Schrift noch gehässiger“ gemacht hätte (FA 2,662f.). Obwohl Beckers Aussagen detailliert wirken, ist es nicht leicht, jedenfalls nicht mit letztendlicher Sicherheit möglich, im überlieferten Text des Hessischen Landbotens Büchners von Weidigs Worten zu trennen, obwohl diesbezüglich seit Karl Emil Franzos (1879) verschiedene Forscher schon diverse Vorschläge gemacht wurden. Die subtilste Untersuchung zu dieser Frage legte Thomas Michael Mayer (1979a, 183–287) vor, wenngleich auch ihm wohl der Vorwurf zu machen ist, dass er die Adressatenbezogenheit des Texts unterschätzte, so dass hier die persönlichsten Überzeugungen der Autoren nicht unmittelbar zu fassen sind (vgl. Schaub in HL 197). Auch wenn sich der Sozialrevolutionär Büchner und der revolutionäre Demokrat Weidig in ihrer Einschätzung, was vorderhand möglich sei, und auch in ihrer politischen Zielsetzung, unterschieden, so waren sie doch beide einig über die „Notwendigkeit einer gewaltsamen Volksrevolution“ (Mayer 1979a, 244), so dass die verschiedenen Ansichten nur punktuell oder graduell auf die Formulierung eines Texts durchgeschlagen haben dürfte, dessen primäres Ziel die Motivation wahrscheinlich ganz anders denkender, aber mit ihrer gegenwärtigen Situation unzufriedener Bauern war. Büchner wusste sich rhetorisch seiner Zielgruppe anzupassen und kannte deren seiner Meinung nach „ziemlich niederträchtige Gesinnung“ und hielt daher sicher mit seinen ,kommunistischen‘ Vorstellungen hinter dem Berg; schließlich wollte er an ihrem Eigentum hängende Bauern gewinnen, die „fast an keiner Seite mehr zugänglich“ seien „als gerade am Geldsack“ (FA 2,660). Und Weidig wusste sich bei der Überarbeitung rhetorisch der Vorlage Büchners sicher so anzupassen, dass seine Zufügungen sich in den Textfluss einigermaßen homogen einpassten. Der größte Dissens zwischen den beiden Autoren bestand ja auch über die Streichungen Weidigs, die uns in keiner Weise mehr zugänglich sind. Überdies kann man die Autorenempfindlichkeit Büchners nicht überschätzen. Im Falle des Erstdrucks von Danton’s Tod behauptete er, sein Text sei stellenweise fast bis zum „platten Unsinn“ entstellt worden (Brief an die Eltern, 28. Juli 1835; FA 2, 409f.), was doch sehr stark übertrieben ist. Wie im Fall des Dramas können wir auch beim Hessischen Landboten von einer quantitativ relativ geringfügigen Veränderung des stehengebliebenen Texts ausgehen, wobei nicht übersehen werden darf, das auch geringfügige Änderungen den Sinn empfindlich beeinflussen können, wie das Beispiel der Ersetzung von „reich“ und seinen Derivaten durch „vornehm“ zeigt. Bei aller Differenz im Einzelnen wird in der Forschung übereinstimmend davon ausgegangen, dass die erste Hälfte des Texts überwiegend von Büchner stamme, der zweite Teil dagegen überwiegend von Weidig. Ob man deshalb schon „auf ein integrales Manuskript Weidigs“ schließen kann, das der zweiten Hälfte (HL 20–36) zugrunde gelegen hätte und in das einzelne Büchner-Stellen eingeflochten worden seien (Mayer 1979a, 267), erscheint mir dennoch zweifelhaft. Auch der Exkurs zur Geschichte der französischen Revolutionen von 1789 und 1830 (HL 22, 24), große Teile der Ausführungen zu den Landständen (HL 26, 28) und auch der mit einer ,Warteklausel‘ versehene Handlungsappell gegen Ende (HL 30–36) scheinen mir mindestens strukturell von Büchner vorgegeben und stellenweise auch von ihm for-
1. Der Hessische Landbote
muliert worden zu sein. Die irdische Gegenwart als „Gottesacker voll Scheinleichen“, die der Auferstehung harren und über den „Fürsten und Reiche“ gebieten, ist zum Beispiel eine Vorstellung Jean Pauls (JPW I.6, 329: Dr. Katzenbergers Badreise, 3. Bd.; vgl. I.3, 966: Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch, 7. Fahrt), die wahrscheinlich Büchner ebenso einbrachte wie die charakteristischerweise in der Reihenfolge vertauschten Zurufe „Ihr seyd nichts, ihr habt nichts!“ aus dem oben zitierten Hesperus. Für die Rezipienten spielte die Frage nach der Textverteilung allerdings keine Rolle; der Hessische Landbote ist in sich keineswegs so brüchig, dass er nicht als homogener Text gelesen werden konnte. Nach dem im April 1833 gescheiterten Versuch, eine gesellschaftliche Umwälzung mittels eines Putsches zu initiieren, wollten Büchner und Weidig der Revolution eine Massenbasis gewinnen. Der Hessische Landbote zielte dabei auf die bäuerliche Bevölkerung, die bereits 1817–1819 widerständiges Potenzial bewiesen hatte und auch in den folgenden Jahren nicht zur Ruhe kam (vgl. die bei Keller 1987, 166 zitierte Drohung: „Zittern sollt ihr vor den Schrecknissen die wir werden anrichten wenn es nicht anders wird“), und in den 1830er Jahren wirtschaftlich immer stärker unter Druck geriet, als „die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer“ wurden (ebd., 159). In Oberhessen war es im September 1830 zu einer „Art von Bauernkrieg“ gekommen, wie Luise Büchner in ihrer Deutschen Geschichte von 1815 bis 1870 (Leipzig 1875, 215f.) schrieb. Neben der regulären Steuerlast mussten die Bauern auch noch überkommene „Feudallasten“ tragen. „Ueberall warf sich die Wuth des Volkes auf die Zoll- und Mauthstätten, in Hanau, Vilbel, Steinheim und an andern Orten wurden sie niedergebrannt. Daneben zerstörte man die Rent- und Amtshäuser, verbrannte die Steuerrollen und die Schuldbücher, wozu sich dann noch gröbere Excesse gesellten, indem man die Wohnungen von besonders mißliebigen Beamten ausräumte, die Möbel in’s Feuer warf, die Betten aufschnitt und die Federn davon fliegen ließ.“ Unter „einem steten Anschwellen ihrer Haufen und den Rufen: ,Freiheit und Gleichheit!‘ zogen die Bauerntrupps von Ort zu Ort“, bis dem Aufstand nahe Butzbachs – „während man sich in Darmstadt im Schlosse schon zur Flucht vorbereitete, und selbst der Bundestag in Frankfurt gezittert hatte“ – durch „drei Militärcolonnen“ unter dem Befehl des Prinzen Emil, einem Bruder des Großherzogs, durch ein „blutiges Zusammentreffen bei dem Dorfe Södel“ ein Ende bereitet wurde, was „aber auch eine furchtbare Erbitterung zurückließ.“ (Vgl. auch FA 2,627–638). Die Autoren machten sich diese „Erbitterung“ zunutze, indem sie an die genannten Ereignisse erinnerten (HL 14: „Denkt an Södel!“), die gegebene Ordnung als ungerechten „Gewaltzustand“ (FA 2,366) brandmarkten, den Willen zum „Widerstand“ (HL 26) anstachelten und dessen baldigen Erfolg in Aussicht stellten (HL 28: „Das ganze deutsche Volk muß sich die Freiheit erringen. Und diese Zeit […] ist nicht ferne“). Strategisch diente die Flugschrift zur Stärkung des Willens zum Widerstand, der ein erneutes Debakel wie 1833 verhindern sollte, als das Fanal des Wachensturms ohne Resonanz in der Bevölkerung blieb. Allerdings sollten die Bauern zunächst nicht selbstständig agieren, sondern auf die „Zeichen“ Gottes warten, welche dieser „durch die Männer, durch welche er die Völker aus der Dienstbarkeit zur Freiheit“ führen werde, zu geben
Zielgruppe: Hessische Bauern
Der oberhessische Bauernkrieg 1830
Strategisches Ziel
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IV. Schriften. Einzelanalysen
Materielles Elend als revolutionärer Hebel
Gefahr des Geldaristokratismus
Liberale und Radikale
wisse; alsdann aber sollten sie sich erheben, und das ganze Volk einschließlich der besseren Leute, sofern sie Demokraten seien, „wird mit euch aufstehen“, so verheißt es die Flugschrift (HL 36). Es war sowohl Weidig wie Büchner klar, dass sich die „Gesellschaft mittelst der Idee“, nicht „von der gebildeten Klasse aus“ reformieren oder revolutionieren ließ, sondern nur wenn man die Majorität der Gesellschaft, also die durch „materielles Elend“ gedrückte „große Klasse“ der Ungebildeten und Armen, hinter sich brachte (FA 2,440). Weidig nahm aber an, dass den Gebildeten, sofern sie „rechtschaffen und gutgesinnt“ seien (HL 26), die Führung der Revolution vorbehalten bleiben musste. Diese Ansicht teilte Büchner wahrscheinlich nicht; freilich blieb auch bei ihm den Gebildeten die Aufgabe, dem Volk die Augen für seine Bedürfnisse zu öffnen. Überlasse man die Sache allein den Besitzenden, werde die Revolution schnell in einem „Geldaristokratismus wie in Frankreich“ nach der Julirevolution enden, davon war Büchner überzeugt (FA 2,665), spätestens seit er aus Straßburg nach Hessen zurückgekehrt war (vgl. Hauschild 1993, 218). Besonders enttäuschend musste für Büchner sein, dass die oppositionellen Zirkel in Hessen mehrheitlich durch „Liberale“ geprägt waren, die es mehr störte, dass sie ihre „Gedanken nicht drucken lassen“ dürften, „als daß viele tausend Familien nicht im Stande wären, ihre Kartoffeln zu schmälzen u.s.w.“ (FA 2,661). Menschenrechte und Pressefreiheit seien doch viel zu abstrakte Dinge, um Leute ernsthaft zu interessieren, die vor allem „mit ihrer materiellen Noth beschäftigt sind“ (659). Die sogenannten Liberalen dagegen waren von Büchners Radikalität, seinem „Maratismus“, wie es Carl Zeuner in Anspielung auf einen radikalen Jakobiner der ersten Französischen Revolution nannte (Görisch/Mayer 1982, 332), abgestoßen und wollten seinen Grundsätzen nicht folgen. Bei dem zentralen konspirativen Treffen der Opposition Anfang Juli 1834 auf der Badenburg bei Gießen musste Büchner erleben, dass die „Häupter der Revolutionspartei“ (FA 2,650) selbst in hohem Maße uneins waren. „Die ganze Revolution hat sich schon in Liberale und Absolutisten geteilt“, schrieb Büchner zwischen März und Oktober 1835 an Gutzkow, und das meinte: in Gemäßigte und Radikale, Pragmatiker und Fundamentalisten oder wie man diese gegensätzlichen Begriffe sonst noch übersetzen könnte. Weder die einen noch die anderen seien den am meisten Unterdrückten von Nutzen und müssten daher samt der von ihnen gemachten Revolution „von der ungebildeten und armen Klasse aufgefressen werden“ (FA 2,400). In dieser Einsicht war auch eine Portion Selbstkritik enthalten; vor allem war diese Einsicht eine Folge einer erneuten intensiven Beschäftigung mit der Geschichte der Französischen Revolution, genauer gesagt mit den Auseinandersetzungen zwischen den damaligen „Häuptern der Revolutionspartei“ von 1794, den Jakobinern Georges Danton und Maximilien Robespierre in Büchners erstem Drama Danton’s Tod (1835).
2. Danton’s Tod Am 25. Februar 1835 las der Journalist und Schriftsteller Karl Gutzkow (1811–1878) bei einer literarisch-politischen Soirée in seiner Wohnung an
2. Danton’s Tod
der Eschersheimer Gasse in Frankfurt den Gästen aus einem Manuskript vor, das ihn am selben Morgen erreicht hatte: ein „lose angelegtes Drama“ mit dem Titel „Dantons Tod“. Die vorgelesenen Szenen erregten bei den Anwesenden – „obschon von diesem oder jenem mit der Bemerkung, dies oder das stände im Thiers, unterbrochen“ – einhellige „Bewunderung vor dem Talent des jugendlichen Verfassers“ aus Darmstadt (Gutzkow 1837, 332). Der ebenfalls anwesende Verleger Johann David Sauerländer (1789–1869) erbot sich sogleich, das Drama zu verlegen, allerdings unter der Bedingung, dass Büchner einen teilweisen Vorabdruck in der verlagseigenen Zeitschrift Phönix erlaube und dass diverse „Quecksilberblumen“ seiner „Phantasie“ – gemeint sind damit sexuelle Anspielungen – entfernt würden (FA 2,394). Büchner war einverstanden, auch wenn er später fand, dass seine „Erlaubnis, einige Änderungen machen zu dürfen, allzusehr benutzt worden“ sei (FA 2,409). Als der Vorabdruck im Phönix (Nr. 73–83, 26. März–7. April) und Anfang Juli 1835 die Buchausgabe von Danton’s Tod erschienen war, weilte Büchner bereits in Straßburg. Die Szene in Gutzkows Salon ist in zweifacher Hinsicht bezeichnend. Zum einen bezeugt sie, dass Büchners „geniale Auffassung und Ausführung […] des historischen Stoffs“ sofort anerkannt wurde, wenngleich es auch Bedenken wegen der „gar zu grellen Durchführung“ gab, wie das Urteil keine fünf Jahre später in der „Encyklopädie alles Wissenswerthen für Bühnenkünstler, Dilettanten und Theaterfreunde“ lautete (Allgemeines Theater-Lexikon. Hg. v. Robert Blum, Karl Herloßsohn und Hermann Marggraff. Bd. 2. Altenburg 1839, 59); zum andern wird eine bemerkenswerte Eigenschaft des Stücks zum Thema, nämlich seine bis dato unerhörte Treue zu den historischen Quellen, von denen die Hörer die wichtigste sofort erkannten und nannten, nämlich die Histoire de la Révolution française (10 Bde. Paris: Lecointe et Durey 1823–1827) von Adolphe Thiers (1797–1877), deren sechster Band, der 1825 erschienen war, die wichtigste Quelle für Büchner war. Thiers’ Revolutionsgeschichte war neben der 1824 erschienenen zweibändigen Darstellung von François Auguste Mignet die weitest verbreitete Geschichte der Französischen Revolution und begründete den liberalen Revolutionsmythos, der die Julirevolution geistig vorbereiten half. Büchner war seit seiner Kindheit mit der Geschichte der Revolution vertraut; im Elternhaus wurde „abends“, so erzählte es später der Bruder Wilhelm (MA 381), „vielfach“ aus Johann Konrad Friederichs Kompilation Unsere Zeit oder geschichtliche Uebersicht der merkwürdigsten Ereignisse 1789–1830 (120 Hefte. Stuttgart 1826–1830) „vorgelesen“, ein Lieblingswerk nicht nur des Vaters Ernst Büchner, sondern der Zeitgenossen überhaupt (vgl. III.3, 98f.). Um den Jahreswechsel 1833/34 studierte Büchner privat noch einmal gründlich „die Geschichte der Revolution“ und fühlte sich „wie zernichtet unter dem gräßlichen Fatalismus der Geschichte“ (FA 2,377), was auf eine Lektüre von Mignet oder Thiers schließen lässt, die zur sogenannten ,fatalistischen Schule‘ der französischen Geschichtsschreibung gezählt werden, in der man der objektiven Notwendigkeit des tatsächlichen Verlaufs der Revolution auf die Spur zu kommen suchte (vgl. Yvonne Knibiehler: Une révolution „nécessaire“: Thiers, Mignet et l’école fataliste. In: Romantisme 10, 1980, H. 28, 279–288). Auch Büchner schien mindestens zeitweilig davon überzeugt zu sein, dass die Revolution eine Art Selbstläu-
Die erste Lesung in Gutzkows Salon
Hohe Quellentreue Thiers: Histoire de la Révolution française
Friederich: Unsere Zeit
Fatalistische Revolutionsgeschichtsschreibung
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IV. Schriften. Einzelanalysen
Beginn der Arbeit am 1.10.1835
Konzeptionsquelle: Thiers
fer ist; jedenfalls zeugt die in dem zitierten Brief an Wilhelmine Jaeglé als auch in Danton’s Tod (II/5) gestellte Frage: „Was ist das, was in uns hurt, lügt, stiehlt und mordet“ (III.2, 41), ohne dass wir es wollen, von einem tiefen Zweifel an der Handlungsautonomie der Menschen. Zwischen dem 1. und 5. Oktober 1834 schließlich hatte Büchner für die Arbeit an Danton’s Tod aus der Darmstädter Hofbibliothek Thiers’ Revolutionsgeschichte entliehen (III.2, 216). Dies markiert zugleich den Beginn der Arbeit an dem Drama. In der historisch-kritischen Ausgabe seiner Werke lässt sich nachvollziehen, wie der Schreibprozess bei Büchner ablief – übrigens war es bei allen dichterischen Texten dasselbe Muster, das er womöglich auch schon beim Hessischen Landboten angewandt hatte. Zunächst entwarf Büchner ausgehend von einer konzeptionellen Vorlage den Handlungsablauf insgesamt (vgl. Wender 1988). Diese Konzeptionsquelle ist im Fall von Danton’s Tod besagter sechster Band aus Thiers’ Histoire de la Révolution, der auf den Seiten 166 bis 230 alle ,politischen‘ Situationen des Dramas enthielt: Desmoulins’ Plan einer publizistischen Offensive (I/1), Volksunruhen Anfang März 1794 (I/2), Robespierres Antwort auf den Lyoner Brief (I/3), Legendre und Collot (I/3 u. I/4), Interna der Dantonisten (I/5 u. II/1), Interna der Robespierristen (I/6, zweiter Teil), Legendres Antrag und Robespierres Rede (II/7), die Dantonisten im Luxembourg (Ende III/1), Manipulation der Geschworenen (III/2), Gerichtsszenen (III/3–4 u. III/8–9), Dillons Verschwörung (III/5), die Arbeit des Wohlfahrtsausschusses (III/6), die Dantonisten in der Conciergerie (IV/5), die Hinrichtung am 5. April 1794 (IV/7).
Erweiterungsquelle: Unsere Zeit
Diesen ersten Entwurf erweiterte Büchner mit Elementen aus den im Elternhaus vorhandenen ersten 13 Bänden von Unsere Zeit, besonders aus dem zwölften Band (Hefte 45–48), die er in die aus Thiers’ Darstellung gewonnene „szenische Struktur“ einfügte, wobei er bei Friederich das „für Erweiterungen und Präzisierungen nötige stoffliche und sprachliche Material“ fand (Dedner 1986/87, 122). Im Grundzug von Unsere Zeit abhängig sind die Handlungskerne von: Danton und Robespierre (I/6, erster Teil), Danton erfährt drohende Verhaftung (II/3), Danton flüchtet und kehrt um (II/4).
Zusatzquellen: Mercier, Nodier u.a.
In einem dritten Schritt ,umrahmte‘ Büchner „die so entstandenen historisch fundierten Szenenkerne“ mit Elementen „,privaten‘ Inhalts“ (ebd., 108) oder schrieb die Straßenszenen (II/2, II/6, III/10, IV/2, IV/4, IV/8–9) und die Atheismus-Gespräche (Anfang III/1 und III/7). Damit war eine erste Fassung des Dramas gegeben, die Büchner sukzessive erweiterte. Hierbei fügte er entweder Informationen ein, die er in anderen Quellen (vor allem die vom 17.–19. Dez. 1834 aus der Bibliothek entliehe-
2. Danton’s Tod
nen Werke: Merciers Le nouveau Paris und die Galerie historique des Contemporaines; sowie die zu einem unbekannten Zeitpunkt konsultierten Souvenirs, Épisodes et Portraits von Nodier und die Supplementhefte zu Unsere Zeit) fand oder veränderte diesen entsprechend den vorliegenden Entwurf punktuell. In der erhaltenen Druckvorlage ist dieser Prozess im Fall einer letzten Überarbeitung noch gut sichtbar (vgl. III.1, 16/17 u. 20/21): Büchner fügte in I/1 am Rand Äußerungen Heraults ein, die er unter dem Eindruck der Lektüre von Heinrich Heines Buch Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland (1835) formulierte, eine Neuerscheinung, die er erst nach dem 10. Februar 1835 lesen konnte, also kurz vor dem Absenden des ansonsten schon abgeschlossenen Dramas. Bemerkenswert ist Büchners Eigenart, Textelemente heterogener Herkunft nicht unbedingt miteinander zu verschmelzen, sondern hart aneinander zu montieren, was „gelegentlich mit Einbußen für die Textlogik“ (Dedner 1986/87, 108) erkauft ist, jedenfalls aber heute ,modern‘ wirkt, während es manche Zeitgenossen irritierte, so dass sie den Eindruck hatten, eine „verwilderte“ und durch „Zerrissenheit“ geprägte Szenenfolge vor sich zu haben (Felix Frei 1835; III.2, 316f., 340) bzw. einen „schnell hingeworfenen Versuch“, dessen „Gemälde […] nur scizziert“ seien (Karl Gutzkow 1835/37; III.2, 318, 343). Indem aus kontroversen Überlieferungen stammende Elemente häufig nicht integriert oder einer Perspektive angepasst werden, bleiben Situationen und Charaktere vieldeutig, was in der Rezeptionsgeschichte zu den unterschiedlichsten, mitunter diametral entgegengesetzten Interpretationen geführt hat. Zum Beispiel deutete Karl Viëtor 1934 das Stück als individualistische Tragödie, die aus der Perspektive Dantons eine Absage nicht nur an die Revolution, sondern an jedes politische Handeln ist, und einem überzeitlichen Pessimismus, was „die wahre Artung des Menschen und seine Stellung im Leben“ angeht, das Wort rede (wieder in Martens 1973, 98–137). Dagegen las Georg Lukács das Stück 1937 in der Perspektive Robespierres und SaintJusts dezidiert als Drama des politischen Engagements, das „die Aufgabe des Tages“, damals wie heute, sei (ebd., 197–224). Oder man interpretierte das Stück aus der Perspektive des Volks, das als „dritte“ Hauptfigur „der Potenz nach der mächtigste Handlungsträger“ sei, „wenn auch diese Potenz noch nicht realisiert ist“ (Poschmann 1988, 115f.), und dessen Argumente zum Beispiel in I/2 in Sache und Rhetorik auffällig denen ähneln, die im Hessischen Landboten formuliert wurden. Immerhin hatte Büchner schon im Juni 1833 an die Eltern geschrieben, er habe letztens „gelernt, daß nur das notwendige Bedürfnis der großen Masse Umänderungen herbeiführen kann“ und „daß alles Bewegen und Schreien der Einzelnen vergebliches Torenwerk“ sei (FA 2,369). Trotzdem lässt sich natürlich nicht übersehen, dass das Volk – vgl. III/10: „Es lebe Danton! […] Es lebe Robespierre!“ (III.2, 66f.) – keine konsistente Strategie hat und sich durch „Köpfe statt Brot“ und „Blut statt Wein“ (ebd.) abspeisen lässt: „Vor der Guillotine […]. Ein Weib mit Kindern. Platz! Platz! Die Kinder schreien, sie haben Hunger. Ich muß sie zusehen machen, daß sie still sind“ (III.2, 78). Tatsächlich ist der differenzierte Polyperspektivismus in dem Stück so stark, dass „keine der sozialen und politischen Gruppierungen“ von vornherein bevorzugt scheint. „Als politisches Drama praktiziert Danton’s Tod
Heine-Lektüre
Nicht kaschierte Montage
Viëtor: Ein pessimistisches Stück
Lukács: Ein engagiertes Stück Poschmann: Potenzieller Held Volk
Polyperspektivismus
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IV. Schriften. Einzelanalysen
Frauenfiguren
Vorsatz: Der Geschichte so nah als möglich kommen
Historistische Haltung
Antiaristotelischer Realismus
Ideologiekritik“ (Voges 1990, 30f.) – und zwar in jeder Richtung, alle Ideologien betreffend. Sogar die Frauenfiguren, die in diesem Spiel eines fast universellen Scheiterns mitunter als Beispiele für ein „Gelingen“ angeführt werden (vgl. Knapp 2000, 118), scheinen mir kaum eine positive Perspektive zu bieten. Marion zum Beispiel, die wegen ihres epikuräischen Panerotismus auch schon einmal „als tastender Entwurf eines neuen Menschenbildes“ (Wetzel 1992, 245) gefeiert wurde, lebt tatsächlich aber eine verdinglichte Form der Asozialität. Ariane Martin (2007, 156f.) fragte zu Recht, ob die Frauenfiguren in diesem Werk, die sozusagen ,frei‘ gestaltet wurden – im Fall von Julie und Lucile gegen die vorliegende historische Überlieferung –, nicht eher pubertäre „männliche Wunschbilder“ seien als utopische Figuren. Bei fast allen anderen historiografisch nachweisbaren Figuren hielt sich Büchner dagegen ziemlich eng an die überlieferten Fakten und Aussagen, so sehr sogar, dass sich manche Hörer und Leser – wie zitiert – durch die enge Anlehnung an die Quellen in ihrem ästhetischen Empfinden gestört fühlten. Büchners quasi dokumentarische Treue zu den ihm vorliegenden historiografischen Werken war programmatisch. Die „höchste Aufgabe“ des Historikers oder des poetischen Bearbeiters eines historischen Themas sei, „der Geschichte, wie sie sich wirklich begeben, so nahe als möglich zu kommen“. Dabei stehe der „dramatische Dichter“, so schrieb Büchner an seine Eltern (FA 2,410f.), „über“ dem „Geschichtschreiber […] dadurch, daß er uns die Geschichte zum zweiten Mal erschafft und uns gleich unmittelbar, statt eine trockne Erzählung zu geben, in das Leben einer Zeit hinein versetzt“. Auch sei der Dichter „kein Lehrer der Moral, […] er macht vergangene Zeiten wieder aufleben, und die Leute mögen dann lernen, so gut, wie aus dem Studium der Geschichte und der Beobachtung dessen, was im menschlichen Leben um sie herum vorgeht“. Um dies zu ermöglichen, dürfe man die Welt nicht „besser machen“ als sie ist, sondern müsse sie „zeigen wie sie ist“, und nicht „wie sie sein solle“. Zum Ersten scheint der berühmte Brief über Danton’s Tod (28. Juli 1835) die Paraphrase des methodischen Vorsatzes zu sein, den Leopold von Ranke (1795–1886) ein paar Jahre zuvor in der Einleitung zu seinen Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1535 (Leipzig/Berlin 1824, 1,VIf.) publiziert hatte und der zum Schlagwort des aufkommenden Historismus wurde: Er wolle über „die Vergangenheit“ nicht „richten“, sondern „bloß sagen, wie es eigentlich gewesen. […] Strenge Darstellung der Thatsache, wie bedingt und unschön sie auch sey, ist ohne Zweifel das oberste Gesetz“. Zum anderen ist es poetologisch die Leugnung der von Aristoteles (Poetik. Hg. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1982, 28/29) in die Literaturtheorie eingeführten Differenz zwischen i´rsoqi´a (handle davon, „was wirklich geschehen ist“) und poi´griy (spreche davon, „was geschehen könnte“) zugunsten eines literarischen Realismus, der Geschichtsschreibung und -dichtung identifiziert. Freilich darf man sich Büchner nicht so naiv denken, dass er die Möglichkeit eines historistischen Realismus bedenkenlos angenommen hätte. Er wusste nicht zuletzt selbst am besten, dass er sich in seinem Drama nicht in allen Details an die historische Überlieferung gehalten, sondern zum Beispiel in I/3 drei verschiedene Reden Robespierres aus unterschiedlichen
2. Danton’s Tod
Monaten des Jahres 1794 kompiliert, die Rede in III/6 vordatiert und in III/9 zwei Sitzungen des Tribunals zusammengefasst hatte. Trotzdem glaubte er durch solche dramatischen Verdichtungen nicht die historische Wahrheit verletzt, sondern trotz des ,unrealistischen‘ Verfahrens nur noch deutlicher herausgearbeitet zu haben. Die „mimische Uebersetzung“ der „Worte“, die Mercier (III/3) den inzwischen selbst gefangen gesetzten Jakobinern um Danton vorhält (III.2, 53: „Geht einmal Euren Phrasen nach, bis zu dem Punkt wo sie verkörpert werden. Blickt um Euch, das Alles habt Ihr gesprochen“), scheint die geschichtsphilosophische Grundlage der Darstellung von Thiers in Frage zu stellen, insofern die Revolution nicht fatalistisch ,abläuft‘, sondern sehr wohl durch Worte, etwa durch die gänzlich fiktive SelbstermächtigungsRede St. Justs in II/7 (45f.), angetrieben wird; zum anderen kann die „mimische Uebersetzung“ auch als metaliterarischer Kommentar zum Vorgang der Dramatisierung eben der historiografischen Quelle durch Übersetzung von „Beschreibungen“ in menschliches „Tun und Handeln“ (FA 2,410f.) verstanden werden. Die Übersetzung der historischen Erzählung in die Gegenwärtigkeit des dramatischen Spiels kommt einer Absicht entgegen, die Rankes historistischer Vorsatz nicht kennt, nämlich die aktualisierende Befragung der geschilderten historischen Vorgänge in Hinsicht auf die politischen Debatten der 1830er Jahre (vgl. BHb 22). Für die Anhänger demokratischer oder sozialistischer Ideen spielte die 1799 von Napoléon Bonaparte für „beendet“ erklärte Französische Revolution von 1789 und der folgenden Jahre eine zentrale Rolle. Hier schienen alle Debatten der Gegenwart präfiguriert; durch das Studium der Revolution konnte man versuchen zu verstehen, wie die damals gescheiterte Lösung der ,sozialen Frage‘ vielleicht doch noch gelingen könnte. „Die sociale Revolution ist noch nicht fertig“, stellt Robespierre in I/6 fest; und „wer eine
Differenzen zur historiografischen Überlieferung
Mimische Übersetzung der Wörter
Soziale Frage als Herausforderung
Abb. 5 und Abb. 6: In der Restaurationszeit wird dem Bürger seine Jakobinermütze vom Kopf geworfen und durch die Zopfperücke des Ancien Régime ersetzt: Lithografie von Georg Osterwald (1803–1884), erschienen in Hannover als satirische Glückwunschkarte zum Jahreswechsel 1836/37. Der Proletarier im Kerker dagegen träumt noch als Opfer der Klassenjustiz von dem endlichen Sieg in der kommenden Geschichte der Freiheitskämpfe: Lithografie von Honoré Daumier (1808–1879), erschienen am 6. November 1834 in der Pariser Zeitschrift La Caricature.
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IV. Schriften. Einzelanalysen
Ablehnung der Terreur
Sympathieverteilung
Epikuräismus als Haltung der Dantonisten und des Autors
Sensualismus und Spiritualismus
Revolution zur Hälfte vollendet, gräbt sich selbst sein Grab“ (III.2, 24). Demgegenüber befürchten die Dantonisten, dass eine Fortsetzung der revolutionären „Streiche“ der „Republik“ nicht mehr „nützlich“, sondern kontraproduktiv sei, und fordern daher: „Die Revolution muß aufhören“ und „in das Stadium der Reorganisation“ eintreten (25 u. 6). Beide Positionen sind Versuche, auf die Frage zu antworten, wie sich „die materiellen Interessen des Volks mit denen der Revolution“ (FA 2, 661) vereinen ließen (vgl. Funk 2002, 16f.). Daher entwickelte sich gerade nach der Julirevolution 1830, welche die genannte Frage wieder auf die politische Tagesordnung setzte, ein neues Interesse an der Begründung der sogenannten „Terreur“, also dem Programm von 1793/94, mit dem die Jakobiner die ,soziale Frage‘ ebenso gewaltsam wie ,tugendhaft‘ lösen wollten. Die im Drama von Robespierre und St. Just begründete Politik der Terreur könne aber „nicht als Mittel zur Gleichheit dienen“, schrieb Anfang 1834 Xavier Sauriac (Réforme sociale, ou Catéchisme du prolétaire. Paris 1834), ein Mitglied der von Büchner bewunderten „Société des Droits de l’homme“; vielmehr hätte sie „angesichts der monströsen und unnützen Ergebnisse“ jeden „moralischen Kredit verloren“ (zit. n. III.2, 183). Gerade weil Büchner dieser Kritik an der Terreur beipflichtete (vgl. schon FA 2,377: „Ich bin kein Guillotinenmesser“), machte er deren Verteidiger im Drama stark, so dass es manchem Interpreten so schien, als mache das Stück insgesamt „deutlich, daß die Liquidierung der Dantonisten zu Recht erfolgte“ (Hauschild 1993, 445). Trotz der ideologischen Kritik in beide Richtungen, ist die Sympathieverteilung in dem Stück nicht ganz gleichgewichtig. Zweifellos interessieren uns die Schicksale Dantons und seiner Freunde Camille und Hérault, welchen letzteren Büchner gegen seine Quellen sogar wieder aus dem Gefängnis befreit (vgl. III.4, 33), mehr als die ihrer Gegner. Den Freunden Dantons legte Büchner jenes Programm in den Mund, das er kurz nach Beendigung des Dramas bei Heine wieder fand (vgl. Teraoka 2006, 96–128; 42–60) und das seine persönlichen Ansichten zu bestätigen schien: „Es hat Keiner der Recht einem Andern seine eigenthümliche Narrheit aufzudringen. Jeder muß in seiner Art genießen können […]. Die Staatsform muß ein durchsichtiges Gewand seyn, das sich dicht an den Leib des Volkes schmiegt. […] Die Gestalt mag nun schön oder häßlich seyn, sie hat einmal das Recht zu seyn wie sie ist, wir sind nicht berechtigt ihr ein Röcklein nach Belieben zuzuschneiden. […] Wir wollen nackte Götter, Bacchantinnen, olympische Spiele und melodische Lippen […]. Wir wollen den Römern nicht verwehren sich in die Ecke zu setzen und Rüben zu kochen aber sie sollen uns keine Gladiatorspiele mehr geben wollen. Der göttliche Epicur und die Venus mit dem schönen Hintern müssen statt der Heiligen Marat und Chalier die Thürsteher der Republik werden“ (III.2, 6f.). Büchners Drama macht aber zugleich deutlich, dass die Haltung der Dantonisten unter obwaltenden Umständen tatsächlich etwas Volksfeindliches hat (67: „Euer Brot, das hat Danton gefressen“), ja ein neuer „Aristocratismus“ ist (16). Büchner nutzte die Möglichkeiten der Synthetisierung nicht, die Heines Geschichtsphilosophie ihm bot, nämlich den Spiritualismus à la Rousseau bzw. Robespierre und den Sensualismus à la Voltaire bzw. Danton zu versöhnen. Voraussetzung dafür wäre die Annahme einer teleologischen Entwicklung der gesellschaftlichen Formation gewesen, etwa in der Art, dass
2. Danton’s Tod
sich die antagonistischen Widersprüche im Fortschreiten der Geschichte aufhöben, beispielsweise in der Demokratie, wo die Menschen zu Göttern würden sowie der Sensualismus zur Religion und damit spirituell (BHb 27). Vielmehr bot ihm Heines Vorschlag der Kontrastierung zweier Denkweisen die Möglichkeit, die Perspektiven der beiden Jakobiner-Fraktionen in ihrem Antagonismus weiter zu radikalisieren. Vermutlich kam für Büchner die Übernahme der geschichtsphilosophischen Perspektive Heines nicht in Frage, weil er den aufklärerischen Vernunftglauben an den historischen Fortschritt, dem er selber noch in Schülerschriften wie dem „Helden-Tod der vierhundert Pforzheimer“ oder der Cato-Rede (1830) gehuldigt hatte, verabschiedet hatte. Büchner synchronisiert das teleologische Narrativ, könnte man sagen (BHb 300; vgl. Dedner 1992, 82f.). Er verteidigte das Recht eines Jeden auf seinen „eigenthümlichen Genuß“ (III.2, 6) des Daseins in seiner „Schönheit“ (69) wie in seinem „Schmerz“ (49). Es ist ein antisystematischer Impuls, der Büchner in seinem Drama den Schrei der Einzelnen (vgl. FA 2, 369) gegen die totalitären Systeme Gottes oder des Verstandes verteidigen lässt. Das „Gefühl“ empöre sich dagegen, meint Payne in dem Drama (III.2, 49). Vielmehr sollten wir „uns beieinandersetzen und schreien“; nichts sei „dummer als die Lippen zusammenpressen, wenn einem was weh thut. Griechen und Götter schrieen, Römer und Stoiker machten die heroische Fratze“ (76). Mit Griechenland und Rom sind zwei paradigmatische Traditionen benannt, die schon in der ersten Szene des Stücks in dem zitierten Programm der Dantonisten kontrastiert werden. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts – spätestens seit Johann Joachim Winckelmanns Gedancken über die Nachahmung der Griechen (1755) – wird in Deutschland die Orientierung an Griechenland propagiert, und zwar in Abgrenzung von der in Frankreich dominierenden Orientierung am klassischen Rom. Dabei werden Dichotomien wie Demokratie vs. Imperialismus, Eudämonismus vs. Stoizismus, Genuss vs. Askese, Geist vs. Macht, Rationalität vs. Empfindsamkeit gebildet. Lessing betonte in seinem Laokoon (1766, 21788) gleich zu Beginn, dass das „Schreien“ der „natürliche Ausdruck des körperlichen Schmerzes“ ist, der auch edlen „Seelen“ anstünde, während alle „Schmerzen verbeißen“ der Ausdruck eines barbarischen „Heroismus“ oder des militärischen Drills oder auch eines übermäßig entwickelten „Anstands“ sei. Wilde Barbaren des Nordens, verhärtete Römer oder überzivilisierte Franzosen mochten die Äußerung des Gefühls für Schwäche halten, der antike Grieche (an dem sich der empfindsame Deutsche ein Beispiel nehmen sollte) „äußerte seine Schmerzen und seinen Kummer“ und „schämte sich keiner menschlichen Schwachheiten“, so Lessing. Homers verletzte „Venus schreiet laut; nicht um sie durch dieses Geschrei als die weichliche Göttin der Wollust zu schildern, vielmehr um der leidenden Natur ihr Recht zu geben“. Dies aber sei Voraussetzung für „wahre“ Menschlichkeit, die durch das „Mitleiden“ definiert werde, das „allezeit dem Leiden“ proportional sei, „welches der interessierende Gegenstand äußert“. Inwiefern dies als ästhetische Maxime von Bedeutung ist, erläuterte Lessing so: „Sieht man“ den Leidenden „sein Elend mit großer Seele ertragen, so wird diese große Seele zwar unsere Bewunderung erwecken, aber die Bewunderung ist ein kalter Affekt“, während die Dichtkunst auf eine „wärmere Leidenschaft“ zielt, nämlich auf Mitleid oder
Verabschiedung des Fortschrittsdenkens
Antitotalitarismus
Zwei Paradigmen: Athen und Rom
Schreien aus Schmerz
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IV. Schriften. Einzelanalysen Mitleidspoetik
Gegen den Kult der Kälte
Sehen und Hören
Der babylonische Turm als Modell
Sympathie (LW 6,14–16). Dies sei die „einzige Leidenschaft“, auf die es im Trauerspiel ankomme, so Lessing schon zehn Jahre zuvor, denn dieser Affekt allein könne die Menschen bessern. „Der mitleidigste Mensch“ aber sei „der beste Mensch, zu allen gesellschaftlichen Tugenden, zu allen Arten der Großmut der aufgelegteste“; die „Bewunderung“ dagegen setze „dem Mitleiden Schranken“, ja sie sei „das entbehrlich gewordene Mitleid“ (LW 4,161–164) und daher eine asoziale ,Tugend‘, die er „recht gern entbehre“, wie Lessing es „von der Liebe des Vaterlandes“ sagte (Briefe von und an Lessing 1743–1770. Hg. v. Helmuth Kiesel. Frankfurt a.M. 1987, 312). Büchner stand in der Tradition der von Lessing begründeten Mitleidspoetik (vgl. Schings 1980) und lehnte eine Kunst ab, die den Kult der Kälte betrieb. Als Beispiel steht dafür in Danton’s Tod (II/3) der jakobinische Maler Jacques-Louis David (1748–1825), der die auf die Gasse geworfenen „Gemordeten“ des September 1792 „kaltblütig“ gezeichnet und zynisch kommentiert habe: „Ich erhasche die letzten Zuckungen des Lebens in dießen Bösewichten“ (III.2, 37; vgl. III.3, 438 u. Selge 1990). Während David also angeblich von dem Leid der von ihm gezeichneten Personen unberührt geblieben sei und mit seiner Kunst auch keine Empathie hervorrufen möchte, strebte Büchner nach einer Kunst, die vom Mitleid für die Leidenden getragen auch ebensolches beim Publikum hervorruft. Zu Büchners Zeit wurde damit in der Malerei der Wechsel vom ,kalten‘ Klassizismus der DavidSchule zur romantischen Malerei zum Beispiel eines Théodore Gericault verbunden. Der romantische Zugriff wird als synästhetischer codiert: Während David nur schaut (das Auge ist der kalte Sinn des Verstands), müsse der wirkliche Künstler „sehen“ und zum Beispiel auf das Schreien der Einzelnen „hören“ (das Ohr ist der tiefe Sinn des Gefühls und der direkte Zugang zur Seele; vgl. insgesamt Utz 1990). In Danton’s Tod heißt es wie im Lenz, es käme auf das „Leben“ in der Kunst an, nur müsse der Künstler „Aug und Ohren dafür haben“ (V, 37; vgl. III.2, 36f.). Wer aber Augen und Ohren hat für eine Wirklichkeit, die „sich jeden Augenblick neu gebiert“ (III.2, 37), kann diese nicht mehr „einfach“ irgendwelchen „Grundsätzen“ (46) unterwerfen wollen statt die Grundsätze gemäß der Mannigfaltigkeit der Realität beständig zu modifizieren. „Die Welt“ sei „das Chaos“ (77), das deren Schöpfer und Gestalter zu bannen suchen, meint Danton am Ende (IV/5). Während die Anhänger des Fortschritts glauben, die „Menschheit eilt mit Riesenschritten ihrer hohen Bestimmung entgegen“ (36), und den „Gang der Geschichte“ durch revolutionäre Maßnahmen „rascher“ machen zu können (46), wissen die desillusionierten Dantonisten, dass alles „auf eins hinaus“ (19) läuft. „Griechen“ oder „Römer“? „Die Einen waren so gut Epicuräer wie die Andern“ (77). „Die Unterschiede sind so groß nicht, wir Alle sind Schurken oder Engel, Dummköpfe oder Genie’s und zwar das Alles in Einem“ (76). Das „wirre Schwanken und Flimmern“ (77), das der Anblick der Welt den darin Lebenden bietet, gewinnt eine Struktur nur aus der Perspektive eines Gottes oder sich selbst als Propheten Gottes begreifender Führerfiguren – „hoher Menschen“, wie Jean Paul gesagt haben würde (JPW I.1, 221f.); oder aber unter den Händen eines erhabenen „Idealdichters“ (FA 2,411), der das „Gewirr von […] Gängen“ (III.2, 36) in „Consequenz“ (37) der Erwartungen seines Publikums bzw. der „perennierenden Leidenschaft“ seines Helden (JPW I.4,
2. Danton’s Tod
10) ordnet, um den verunsicherten Menschen Orientierung zu geben – oder abermals mit Jean Paul zu sprechen: um den Menschen „von Tisch und Bett der Erde“ zu scheiden und „auf den ausgebreiteten Flügeln“ einer „erhabenen“ Poesie „im langen schönen Traume von seinem idealischen Mutterland“ zu wiegen (ebd., 11). Verweigert der Künstler diese Ordnung, gleicht sein Werk einem „babylonischen Thurm“, wie es in Danton’s Tod angelehnt an den Titel eines 1834 in Paris uraufgeführten Stücks heißt; dem ,normalen‘ Leser und Theaterbesucher „schwindelt“ dabei allerdings (III.2, 36). „Eine ähnliche Wirkung scheint auch Büchner mit seinem Stück intendiert zu haben, indem er bewusst auf eindeutige Wertungen verzichtete“, meinte Ingo Breuer (2002, 12): „Eine ,angemessene‘ Widerspiegelung von Realität produziert keine idealistische Tragödie, sondern eine chaotisch anmutende ,ästhetische Ordnung‘.“ Eine solche Ordnung ist aber nicht die gewöhnliche, auf Eindeutigkeit und Gewissheit angelegte, überlieferten Regeln gehorchende Ordnung, sondern eine die normale Wahrnehmung kritisch herausfordernde, eben ästhetische Ordnung, die auf „Desorientierung“ (Müller-Sievers 2003) aus ist. Freilich unterscheidet sich diese Ästhetik von der früher gängigen. Sie entspricht vielmehr einem auf Veränderung gerichtetem Denken, das sich zuallererst von traditionellen Wahrnehmungsmustern und -weisen befreien muss, um das Neue, Noch-nicht-Existierende zu öffnen. Dies kann freilich „für diejenigen ein Schock sein, die ihr Denken von dem Prinzip leiten lassen, daß für die Zukunft nur die Regeln gelten sollen, die in der Vergangenheit befolgt wurden. Für diese Menschen ist die Vorstellung einer ,Veränderung‘ unbegreiflich, denn Veränderung ist der Prozeß, der die Regeln der Vergangenheit auslöscht“ (Foerster 1985, 10). Büchners „zersetzende“ Ästhetik polarisierte die Leserschaft. Der einflussreiche Literaturkritiker Julian Schmidt (1856, 53f.) tadelte zum Beispiel die „Mosaikarbeit“, die Danton’s Tod präge, sowie den das Stück durchwaltenden „Skepticismus“. Auch der Literaturhistoriker Adolf Bartels (1862–1945) kritisierte noch 1902, dem Jahr der Uraufführung von Danton’s Tod an den Volksbühnen in Wien und Berlin, den „auflösenden Radikalismus“ des Stücks, die „absolute Zersetzung alles Göttlichen und Menschlichen“ (Goltschnigg 2001/04, 1,165). Als einer der ersten affirmierte der Naturalist Johannes Schlaf (unter dem Pseudonym „H. Freistett“; vgl. Rüdiger Bernhardt in: arbitrium 11.1993, 347) 1886 den „echt modernen Blick“ in Büchners Danton’s Tod, der nur den Anhängern von „verbrauchten ästhetischen Formen“ ungeheuerlich erscheine. „Man könnte heute namentlich unserer dramatischen Notlage gegenüber fast nichts Besseres tun, als ein solches Chaos heraufbeschwören, empor wünschen, wie dieser ,Dantons Tod‘ eines ist“ (GBJb 10, 285f.). Gut hundert Jahre später, am Ende des 20. Jahrhunderts galt es dann gerade als Qualität des Stücks, dass „die Bewertungen von Gut und Böse durcheinander“ kommen wie viele andere vermeintliche Gewissheiten. „Das ist das Faszinierende an Büchner“, meinte Uwe Eric Laufenberg, der das Stück 1994 in Zürich inszenierte: „Alle haben recht. Aber keiner hat allein recht.“ „Vielleicht sollten Schauspieler aus unterschiedlichen Gruppen ihre Rollen bei Vorstellungen tauschen. […] Vielleicht müssen auch andere Zeiten in die historische Zeithandlung einfliessen. […] Die Zersetzung der festgefahrenen Ideologie, die Niederwerfung der gewaltsamen Diktatur der Idee
Chaos als ästhetische Ordnung
Öffnung für eine andere Zukunft
Polarisierung der Leserschaft
Modernität des Stücks
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IV. Schriften. Einzelanalysen
[…]. Der Ertrag aus Sinnlosigkeit, Gewalt, Krieg und Tod ist – neues Leben.“ („Arbeitsnotizen zu Büchners Dantons Tod.“ In: Schauspielhaus Zürich. Programmheft 2 der Spielzeit 1994/95, 17f.)
3. Übersetzungen
Angebot des Verlegers
Keine freie Stückwahl
Karl Gutzkow, dem Büchner am 21. Februar 1835 mit einem Hinweis auf seine materiell elenden Verhältnisse das Manuskript von Danton’s Tod übersandt hatte (FA 2,392f.), erkannte in dem jungen Supplikanten ein „versteckte[s] Genie“, das ihm für seine literaturpolitischen Absichten „grade recht“ kam (395). Er suchte Büchner als Mitarbeiter für den Phönix zu gewinnen und versprach, ihm bei der Etablierung seiner „Autorschaft“ (398) behilflich zu sein: „Ich bringe alles unter“ (401). Im Zusammenhang mit der Vermittlung des Revolutionsdramas hatte Gutzkow dem Frankfurter Verleger Johann David Sauerländer, der seit Februar 1835 nach Übersetzern für seine seit Längerem „projectirte deutsche Ausgabe des Victor Hugo“ (IV, 274) suchte, Büchner als möglichen Mitarbeiter empfohlen. Vermutlich Ende März oder Anfang April 1835 bot Sauerländer die Übertragung von zwei Dramen an, wovon Büchner in einem nicht erhaltenen Brief Gutzkow sofort unterrichtete. Obwohl dieser am 7. April 1835 abriet (FA 2,401), da er vor allem an literarischen „Jungfernerzeugnissen“ (417) interessiert war, insbesondere an einer geplanten „Novelle Lenz“ (405), sagte Büchner seine Mitarbeit an der Hugo-Ausgabe in der Hoffnung zu, künftig von seinen „schriftstellerischen Arbeiten leben“ (402) zu können. Sauerländer kontaktierte auf „Anraten“ Gutzkows (vgl. FA 2,404) potenzielle Übersetzer, wobei er das zu übersetzende Werk bestimmte und eine französische Ausgabe beilegte, den gewünschten Abgabetermin nannte, die Höhe des Honorars fixierte und als Hilfe ein in seinem Verlag erschienenes französisch-deutsches Wörterbuch kostenlos anbot (vgl. IV, 273–275). Büchner suchte sich also keineswegs „bewußt die beiden seinerzeit aktuellsten und politisch brisantesten Stücke Hugos“ (Bremer 1998, 250) aus, sondern bekam Lucrèce Borgia und Marie Tudor – vermutlich weil sie „als die bis dahin einzigen Prosadramen Hugos am ehesten zu Danton’s Tod paßten“ (IV, 311) – zur Übertragung angeboten, dazu ein Honorar von 10 Friedrichsd’or und das 1835 erschienene Wörterbuch von Jacques Lendroy. Anfang Mai nahm Büchner Sauerländers Angebot an – in einer Verlagsanzeige vom 16. Mai wurde er erstmals als Mitarbeiter der Ausgabe genannt – und Mitte oder Ende Juni war die „Übersetzung […] fertig“ (FA 2,407). Kurz vor oder am 10. Oktober 1835 wurde der Band mit Büchners Übersetzungen ausgeliefert, wie der Frankfurter Zeitschrift Didaskalia (Nr. 280) zu entnehmen ist: „Von der Gesammtausgabe des Victor Hugo (Frankfurt a.M. bei J.D. Sauerländer) sind der fünfte und sechste Band so eben ausgegeben worden und enthalten: Angelo, von Ed[uard] Duller, Marion de l’Orme, von O[skar] L[udwig] B[ernhard] Wolff, Lucretia Borgia und Maria Tudor, von G[eorg] B[ü]chner. Mit diesen beiden neuesten Bänden wird also die Gallerie der Hugo’schen Dramen eröffnet […]. Die gegenwärtigen neuen Uebertragungen gehören Verfassern von anerkanntem Rufe an und geben das Original eben so treu, als schön und poetisch wieder.“ (Zit. n. IV, 299f.).
3. Übersetzungen
Das „genaueste Binden an das Original“ war ein Prinzip, das Sauerländer für seine „deutsche Ausgabe der sämmtlichen Werke Victor Hugo’s […] festgesetzt“ hatte (IV, 273). Die Vorlage für die Übersetzungen, die Büchner vom Verleger erhalten hatte, ist nicht zweifelsfrei festzustellen. Von den zeitgenössischen Drucken kommen die Ausgaben von Louis Hauman (Bruxelles 1833) oder Eugène Renduel (Paris 1833) in Betracht, wobei letztere „als wahrscheinlichste Vorlage“ gilt (315). Die Renduel-Ausgaben der beiden Dramen waren bis 1835 in jeweils drei (Titel-)Auflagen verbreitet. Dass Büchner Sauerländers Angebot annahm, ihm das Dictionnaire von Lendroy zuzusenden, machen einige ungewöhnliche Übertragungen plausibel, die vermutlich durch das Wörterbuch induziert wurden, etwa „Renner“ für „coureurs“ (IV, 18/19), „Gesindel“ für „manans“ (20/21), „zutraulich“ für „confiante“ (30/31), „Knecht“ für „valet“ (36/37) oder „blinde Thüre“ für „porte bâtarde“ (86/87). Ob Büchner auch noch andere Wörterbücher zu Rate zog und wie oft er überhaupt das Wörterbuch konsultieren musste, ist nicht zu bestimmen. Immerhin kannte er die Sprache gut: Französisch hatte er in der Schule gelernt, in Straßburg lebte er in einer gemischtsprachigen Umgebung, seine Korrespondenz führte er teilweise zweisprachig, für Danton’s Tod übersetzte er französische Quellen, seine Dissertation ist in französischer Sprache verfasst. Überdies las Büchner offenbar regelmäßig die Revue des Deux Mondes, das Sprachrohr der jungen französischen Literatur, sowie die eine oder andere Neuerscheinung, so dass er es wagen konnte, Gutzkow „Kritiken über neueste franz[ösische] Literatur“ zu schicken (FA 2,401, vgl. 404). Wie jeder gewissenhafte Übersetzer konsultierte Büchner auch andere, bereits publizierte Übertragungen der beiden ihm aufgetragenen Dramen. „Es ist nicht nur nicht verwerflich, sich auf ältere Übersetzungen zu stützen, es zeugt im Gegenteil von schlampiger Arbeit, wenn man die früheren Übersetzungen nicht zur Kenntnis nimmt“ (Jörn Albrecht: Literarische Übersetzung. Geschichte – Theorie – Kulturelle Wirkung. Darmstadt 1998, 109). Die Bibliografie der Lucrèce Borgia- und Marie Tudor-Übertragungen bis einschließlich 1835 umfasst elf Titel. Der Vergleich aller Übersetzungen legt nahe, dass Büchner bei seiner Arbeit auf jeden Fall die Übersetzungen Theodor Hells (ein Pseudonym von Karl Gottfried Theodor Winkler) vor sich liegen hatte. Ob Büchner auch die ebenfalls auf Hell fußenden Texte Philipp Hedwig Külbs konsultierte, ist nicht mit Sicherheit zu bestimmen. Frappierend ist, dass Büchners unmittelbarer Konkurrent Friedrich Seybold – er übersetzte die beiden Stücke für das Konkurrenzunternehmen zu Sauerländers Hugo Ausgabe, die ebenfalls ab 1835 erscheinenden Ausgewählten Schriften bzw. Klassischen Werke des Stuttgarter Verlegers Ludwig Friedrich Rieger – in verschiedenen Fällen zu sehr ähnlichen Ergebnissen wie Büchner gelangte, ohne dass beide voneinander Kenntnis haben konnten; vermutlich erklärt sich dies durch beiderseitige Abhängigkeit von Hells Übertragungen (Beise 2008, 145f.). Das vermutlich im Mai und Juni 1835 entstandene Manuskript der Übersetzungen ist verschollen. Der im Oktober mit dem Namen des Übersetzers erschienene Erstdruck (Victor Hugo’s sämmtliche Werke. Bd. 6. Frankfurt a.M. 1835) ist der einzige Überlieferungsträger. Der Band erlebte nur eine Auflage. Einen faksimilierten Neudruck gab Thomas Michael Mayer heraus
Sauerländers Übersetzungsprinzip
Lendroys Wörterbuch als Hilfsmittel
Büchners Französischkenntnisse
Konsultation anderer Übersetzungen
Theodor Hells Übersetzung als Vorlage
Der Erstdruck 1835
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IV. Schriften. Einzelanalysen
Bedeutung Victor Hugos
Theatererfolg der Vorlagen
Hugo: Lucrèce Borgia
(Büchner: Gesammelte Werke 1987, Bd. 5). Verschiedene, „vermutlich auf Lesefehler zurückgehende Korruptelen“ machen „eine Autorkorrektur von Druckfahnen“ nicht nur „wenig wahrscheinlich“ (Dedner/Mayer 1984, 102), sondern wir wissen aus dem am besten dokumentierten Parallelfall Ferdinand Freiligraths, dass „der Verlag keine Fahnen an den Übersetzer sandte“ (IV, 340). Ob und von wem die Übersetzungen redaktionell bearbeitet wurden, ist nicht bekannt, ebenso wenig der Umfang von möglichen zensurpräventiven Eingriffen in den Text. Die nicht normierte und Büchners variierender Schreibgewohnheit entsprechende Orthografie deutet auf allenfalls geringfügige redaktionelle Bearbeitung. Über notwendige Emendationen orientiert der Editionsbericht der historisch-kritischen Ausgabe (IV, 340–346). Victor Hugo war zunächst als Lyriker bekannt gewesen, als er 1827 mit der Préface de Cromwell das wichtigste literarische Manifest der französischen Romantik vorlegte, in der das Drama zur zentralen Gattung erklärt wurde. Spätestens seit der sogenannten Hernani-Schlacht am 25. Februar 1830 war Victor Hugo „als Chef der Romantiker“ (Der Freimüthige, Nr. 66, 2. April 1830, 264; vgl. IV, 251) auch auf dem Theater anerkannt. In rascher Folge entstanden nun einige auch in Deutschland breit rezipierte Theaterstücke: Marion de Lorme (11. August 1831), Le roi s’amuse (22. November 1832), Lucrèce Borgia (2. Februar 1833), Marie Tudor (6. November 1833) und Angelo, Tyran de Padoue (28. April 1835). Die literaturkritische Aufnahme der Bühnenstücke Hugos war ambivalent. Dem Tadel des volkstümlichen Spektakelcharakters und des Mangels an historischer Genauigkeit (Hübner-Bopp 1990, 112–133) stand die Bewunderung der emotionalen Intensität der Stücke gegenüber. Es handle sich um „Dramen, die so gewaltig wirken durch das sie durchlodernde Feuer der Leidenschaften und die so mächtig ergreifen durch die energischen Schilderungen und Wahrheit der Gefühle. Es giebt wohl keinen Dichter der französischen Bühne, welcher, wie Hugo, die ganze Scala der Empfindungen durchzuspielen verstünde, von den zartesten und rührenden bis zu stürmischen und brausenden Accorden. Großartige, wenn auch mitunter etwas übertriebene Effekte, kräftige und kühne Charakteristik und eine glänzenden, an Detailschönheiten der Poesie ungemein reiche Diction zeichnen Hugos Dramen aus“ (Didaskalia Nr. 280, 10. Oktober 1835; vgl. IV, 299f.). Die beiden Büchner zur Übersetzung aufgetragenen Stücke waren für Hugo einträgliche Theatererfolge, Lucrèce Borgia noch weit mehr als Marie Tudor. Effektvoll wird in beiden Fällen tragische Geschichte zweier Herrscherinnen inszeniert, die an dem Konflikt zwischen privatem Gefühl und öffentlicher Stellung scheitern und dadurch „dem monarchischen Prinzip […] etwas auf den Fuß treten“, wie es 1833 Ludwig Börne (1977, 3,754) formulierte. Im ersten Stück versucht Lucretia Borgia die Liebe ihres Sohnes Gennaro zu gewinnen, der seinerseits nicht weiß, dass sie seine Mutter ist, alle Borgia aber als Verkörperungen der abscheulichsten Laster hasst. Als Gennaro von seinen Freunden erfährt, dass die schöne Frau, die ihn umwirbt, eine Borgia ist, stößt er sie zurück; sie schwört Rache. Am Ende fallen die venezianischen Freunde Gennaros einem Giftanschlag zum Opfer; Gennaro, der irrtümlich mitvergiftet wurde, weigert sich, ein Gegengift zu schlucken,
3. Übersetzungen
das Lucretia ihm anbietet, sondern ersticht sie, um seinerseits seine Freunde zu rächen. Sterbend enthüllt die Fürstin von Ferrara: „Gennaro, ich bin deine Mutter!“ (IV, 109). Im zweiten Stück geht es um die Beziehungen zwischen Maria I. von England und ihrem Favoriten Fabiano Fabiani und die zwischen dem „Arbeiter“ Gilbert und seiner Ziehtochter Jane, welche dadurch melodramatisiert werden, dass Fabiani aus Macht-Kalkül erfolgreich das vermeintliche Waisenkind Jane verführt, weil er weiß, dass sie in Wahrheit eine Herzogstochter ist. Die Königin will sich für die Untreue ihres Geliebten rächen und inszeniert eine Intrige, der beinahe auch Gilbert zum Opfer fällt. Die Königin liebt trotz allem Fabiano verzweifelt und versucht ihn letztlich doch noch zu retten; jedoch erzwingt das aufständische Volk die Hinrichtung. Am Ende finden sich Jane und Gilbert, der ihr den Betrug verzeiht, wieder. Jane verzichtet auf aristokratische Würden und wird das „Weib“ eines „Arbeiters“ (IV, 207). Insbesondere das zweite Drama wurde gelegentlich als „Paradebeispiel“ eines Theaterstücks bezeichnet, das „nicht nur inhaltlich Herrscher attackiert, sondern vor allem die Differenz zwischen Literatur und aktuellem Regime festschreibt“, wie Thomas Bremer (1998, 249) meinte. Auch in der romanistischen Forschung wurde davon gesprochen, dass dieses Stück das politischste Drama des jungen Hugo sei und symbolisch die Revolution von 1830 spiegle (Ubersfeld 1974, 602–604: „la pièce la plus ,politique‘ de Hugo“; „peut Þtre le miroir de la révolution de Juillet […]. Ce n’est pas une analyse, c’est une vue symbolique“). Dass hier außerdem „zum ersten Mal ein ouvrier [Arbeiter] als Handlungsträger auf der französischen Bühne“ auftauche (Martin 2007, 237) und der „Konflikt zwischen Volk und Herrscher“ ein zentrales Thema sei (Hübner-Bopp 1990, 208), könnte, so wurde vermutet, Büchner besonders interessiert haben. Allerdings schenkte die zeitgenössische Theater- und Literaturkritik diesem Punkt nur selten Beachtung, sieht man einmal von dem anonymen Rezensenten der der Allgemeinen Literatur Zeitung 1838 (Nr. 35–36, 273–288) ab, der Marie Tudor scharf kritisierte: „Hier wird in der katholischen Maria von England die königliche Würde noch frecher als im le Roi s’amuse mit Füßen getreten, denn Hr. V. Hugo gefällt sich in Gegensätzen. So wie er öffentliche Buhlerinnen apotheosirt, so strebt er die Kronenträger verächtlich darzustellen. […] Von Maria Tudor und ihrer verworfenen Liederlichkeit wendet man sich mit Schauder und Ekel ab“ (IV, 347). Gegenüber Gutzkow machte Büchner in einem nicht erhaltenen Brief andere Vorbehalte gegen Victor Hugos Dramatik geltend. Anders als bei Musset, dessen Stücke Büchner vor allem für Leonce und Lena nutzte, gäbe es bei Hugo keine „Charaktere“, sondern nur „aufspannende Situationen“ (Gutzkow 1837, 329). Kritik an der mangelnden Charakteristik der handelnden Figuren war in der zeitgenössischen Hugo-Kritik topisch. Viele Autoren – darunter Goethe, Heine und Laube – bemängelten, dass Hugo „keine Menschen mit lebendigem Fleisch und Blut, sondern elende hölzerne Puppen“ aufführe (IV, 265). Büchner polemisierte in Danton’s Tod (II/3) und Lenz bekanntlich ebenfalls gegen jede „Holzpuppen“-Ästhetik (III.2, 36f.; V, 37f.). Dass die Dramaturgie „aufspannend“ sei, erinnert an die zeitgenössische Einschätzung von Hugos Melodramen als „Effectstücke“, wobei die darin liegende Anerkennung zwiespältig blieb: Hugo habe eine „seltene Kenntniß
Hugo: Marie Tudor
Antiroyalistische Tendenz
Hugos mangelhafte Charakteristik
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IV. Schriften. Einzelanalysen
Büchners Übersetzungen kein literarisches Bekenntnis
Übersetzungstendenzen
Umstrittene Allegorisierung
der Bühneneffecte an den Tag gelegt, allein die Poesie hat darunter leiden müssen“, heißt es einmal in der Zeitung für die elegante Welt (18. März 1833); immerhin seien die Dramen, wie Immermann im April 1834 notierte, „spannend“ und „in usum der Casse“ gut zu „benutzen“ (IV, 265 u. 255). Büchners offensive Polemik gegen die „Schwächen Victor Hugos“ (Gutzkow 1837, 345) sollte zur Vorsicht bei dem Versuch mahnen, weitgehende Übereinstimmungen zwischen den ästhetischen Anschauungen Hugos und Büchners zu konstruieren oder die Übersetzungen gar als „literarisches Bekenntnis“ (Mayer 1955/72, 406) zu verstehen. Wenn überhaupt, lassen sich nur sehr allgemeine Gemeinsamkeiten zwischen bestimmten antiklassizistischen Prämissen entdecken. Die Ablehnung eines die Natur verachtenden, ästhetischen „Idealismus“ (V, 37) seitens Hugos und Büchners kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass „zwischen Lucretia Borgia sowie Maria Tudor und Büchners eigenem künstlerischen Anspruch Welten liegen“, wie Henri Poschmann anmerkte (FA 1,879; vgl. IV, 267f.). Inwieweit es Übereinstimmungen zwischen dem politischen Gehalt der Stücke Hugos und Büchners diesbezüglichen Anschauungen gibt, bleibe dahin gestellt. In der französischen Presse wurde zum Beispiel Maria Tudor 1833 sowohl als Drama aus dem Geist von 1793 hingestellt wie auch als Verrat an den Ideen der Revolution (vgl. Ubersfeld 1974, 228–230). Lese man den französischen und den deutschen Text parallel, erstaune man über Büchners viel direktere Sprache, meinte Roger Bauer (1987, 334: „l’on est immédiatement frappé par la langage plus terre-à-terre, plus concret de Büchner“). Rosemarie Hübner-Bopp (1990, 219) glaubte, die Eigentümlichkeit von Büchners Übersetzung am besten dadurch charakterisieren zu können, dass sie, wo überhaupt, stets „nach unten“ abweiche. Während seine Konkurrenten die „Prägnanz und Simplizität“ der Sprache Hugos aus Bedürfnis nach einer „höheren […] Dichtungssprache“ gewissermaßen zu überbieten suchten, seien Büchner die „euphemistischen Tendenzen der anderen Übersetzer“ fremd gewesen. Er habe sich in seinen Übertragungen am stilistischen und sprachlichen Niveau“ der Vorlagen orientiert oder sogar „umgangssprachlicher“ formuliert. Andererseits gibt es auch bei Büchner übersetzerische ,Aufwertungen‘ des Texts. So „versinnbildlicht Büchner“ (ebd., 212) gelegentlich eher banal wirkenden Text Hugos, was zu einer Vertiefung der Aussage führe (vgl. Bauer 1987, 334: „métamorphose approfondissante“). Ein Beispiel ist die von Henri Poschmann in Anlehnung an Gerda Bell (1971, 157) als Fehler klassifizierte Übersetzung von „l’assassin en selle, et le mort en croupe“ mit: „Der Mord auf dem Sattel und der Tod auf dem Kreuz“ (IV, 14/15). Büchner habe „fälschlich ,l’assassin‘ mit ,der Mord‘, statt ,der Mörder‘, und ,le mort‘ mit ,der Tod‘, statt ,der Tote‘, dazu noch ,croupe‘ irritierend mit ,Kreuz‘, statt, auf das Pferd bezogen passender ,Kruppe‘“ übersetzt (FA 1,884). Dass Büchner „assassin“ mit ,assassinat‘ und „le mort“ mit ,la mort‘ verwechselt habe, ist ein gravierender, aber wohl unberechtigter Vorwurf. Da in der von Büchner als Orientierungshilfe benutzten Übersetzung von Theodor Hell richtig „Der Mörder im Sattel und der Leichnam auf der Groppe“ (IV, 317 u. 360) steht, muss Büchner die Verwandlung des im Original vorgefundenen Satzes in ein allegorisches Bild (Bauer 1987, 334: „une véritable image ,emblematique‘ à personnages allégoriques“) mit
3. Übersetzungen
Absicht vorgenommen haben. Im Kommentar der Marburger Ausgabe (IV, 359) wird vermutet, dass dies in Erinnerung an einen Vers von Horaz (Carmina III, 1,40: „Post equitem sedet atra Cura“, ,hinter dem Reiter sitzt die schwarze Sorge‘) geschah, den Büchner 1826 im Lateinunterricht kennen lernte. Überdies kannte er dergleichen aus der Literatur der Romantik, etwa aus Hoffmanns Elixieren des Teufels, wo ein vermeintlicher Mörder angesprochen wird: „Du bist der Mord“ (Hoffmann 1984, 71). Ob die Allegorisierung des Bilds ein „Glücksgriff“ (Hübner-Bopp 1990, 214) war, ist in der Forschung umstritten und letztlich eine Geschmacksfrage. Weiterhin intensivierte Büchner den Text punktuell in der von Hugo vorgegebenen Richtung. So wird das englische Kolorit in Maria Tudor durch vermehrten Einsatz shakespearisierender Wendungen, und die religionskritische Tendenz in Lucretia Borgia durch weitere biblische Anspielungen über das von Victor Hugo vorgegebene Maß hinaus noch verstärkt (vgl. IV, 351). Dass es auch in Büchners Text unzweifelhafte Übersetzungsfehler gibt, war zu erwarten. So wusste Büchner nicht, was ein „capitaine d’aventure“ bzw. „capitaine aventurier“ (IV, 10 bzw. 60) ist – nämlich der französische Ausdruck für Condottiere –, noch dass sich „à servir la messe“ (IV, 20) auf das institutionalisierte Messdienen in der katholischen Eucharistiefeier bezieht (vgl. Beise 2008, 141 u. 114f.). Doch die wenigen „Übersetzungsfehler Büchners mindern nicht im geringsten seine sprachliche Leistung, die Hugo den Deutschen in einer dem fremden Dichter entsprechenden Weise nahebringt“. Mehr noch als die Übersetzungen seiner Konkurrenten erlaubten die Büchners, „den Lesern, die des Französischen nicht mächtig sein, sich ein Bild von Hugos Dramen zu machen, das den Originalen sehr nahe kommt. […] Selbst wenn er die Übersetzungen nur aus pekuniären Gründen übernommen hätte, zeigt das Ergebnis dennoch Büchners Fähigkeiten, die seine Übersetzungen gegenüber den zeitgenössischen Übertragungen der beiden Dramen als die besten erscheinen lassen“ (Hübner-Bopp 1990, 221 u. 226). Büchners Übersetzungen hatten zeitgenössisch so gut wie keine dokumentierbare Wirkung. Ludwig Wihl (Didaskalia Nr. 280, 10. Oktober 1835) nannte die Übertragungen von Duller, Wolff und Büchner pauschal „eben so treu, als schön und poetisch“ (IV, 300), Büchners Freund Wilhelm Schulz hielt die Übertragungen 1837 für „sehr gelungen“, Georg Herwegh etikettierte sie 1840 als „geschmackvoll“ und Karl Gutzkow pries die „ächt dichterische Verwandtschaft zu dem Originale“ (Beise 2008, 135), hielt allerdings die Originale für „wahrscheinlich sehr elende Dramen“ (FA 2,417). Der bereits erwähnte anonyme Rezensent in der Allgemeinen Literatur Zeitung (1838, Nr. 35–36, 273–288) beurteilte Büchners Übertragung von Marie Tudor als „schlechteste“ in den ersten sechs Bänden der Hugo-Edition; allerdings sei auch schon das Original „an sich selbst“ der „schlechteste“ Text in der Ausgabe. Gegen Ende des Vormärz formulierte Robert Blum im Allgemeinen Theater-Lexikon (Bd. 2, Altenburg 1846, 59) neutral: „Auch übersetzte [Büchn]er einige Stücke Victor Hugo’s.“ (IV 347f.). In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gerieten die Übertragungen in Vergessenheit. Im 20. Jahrhundert wurden sie häufig als nicht weiter relevante „Brotarbeiten“ (Hauschild 1993, 491) qualifiziert. Adam Kuckhoff
Intensivierung
Übersetzungsfehler
Kaum zeitgenössische Wirkung
Abwertung der Übersetzungen
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IV. Schriften. Einzelanalysen
Vorsichtige Aufwertung
Hochschätzung der Übersetzung
Aufführungen
Ver-Operung
Caspar Neher, Rudolf Wagner-Régeny
Forschung
schrieb 1927, die „auf Bestellung“ abgelieferten Übersetzungen „schluderte“ Büchner „hin“; seine Arbeit sei „oft in uneingeschmolzenen Französismen stecken“ geblieben (WK 430 u. 467). Auch Paul Landau meinte schon 1909, Büchner sei „nicht mit viel Lust bei der Sache“ gewesen und habe „es sich leicht“ gemacht. Immerhin aber sei die Übertragung „flott und in einem Wurf gearbeitet“, „kraftvoller“ als die seiner Konkurrenten, an manchen Stellen „anschaulicher“ und „belebter“ als das Original, dessen abstrakte Bilder Büchner mitunter „versinnlicht“ habe (WK 299f.). Versinnlichung und „Intensivierung“ (Hübner-Bopp 1990, 213 u. 219; Hauschild 1993, 497; 2004, 105) sind wiederkehrende Vokabel, wenn es um die Beschreibung der Übersetzungsleistung Büchners geht. Georg Hensel (1997, 160f., 163 u. 166) lobte den „aggressiven Elan“ von Büchners „Übersetzungsdeutsch“ und empfahl, dessen Sätze „mit den Ohren“ abzuschmecken: „Die kraftvollen Ausdrücke […]; das Herunterspielen […] der Gefühlsästhetik; […] ein versteckter Humor mit parodistischen Zügen […]. Noch dort, wo jede Silbe von Victor Hugo stammt, klingt der Satz nach Georg Büchner. Seine Übersetzungen seien Brotarbeit? Besser läßt sich französisches Brot in einem deutschen Ofen nicht backen.“ Dass Büchner in seiner Übersetzung Hugos „Pathos auf ein Minimum reduzierte und die rhetorischen Klischees in einigermaßen erträgliche Umgangssprache verwandelte“ (Hauschild 2004, 105), kommt dem modernen Publikum entgegen. Ob Büchners Übersetzungen bei Inszenierungen der betreffenden Hugo-Stücke im 19. Jahrhundert gespielt wurden, ist nicht bekannt; der Name des Übersetzers und die sprachliche Qualität seiner Arbeit – mehr als die dramatische Qualität der beiden Theaterstücke, „die ihre Hauptinspirationen der Trivialliteratur verdankten“ (ebd.) – führten jedenfalls im 20. Jahrhundert zu gelegentlichen Aufführungen im deutschsprachigen Raum (zum Beispiel Lucretia Borgia 1974 in Bochum; Maria Tudor 1977 im Burgtheater Wien). Zudem bieten Hugos Stücke, so „langweilig“ (Bremer 1998, 230) sie Lesern erscheinen mögen, postmodernen Theatermachern die dankbare Möglichkeit, melodramatische Muster auf der Bühne zu dekonstruieren, wie zuletzt etwa im „schauspielfrankfurt“ mittels Lucretia Borgia unter der Regie von Armin Petras (Premiere am 11. März 2005). Hugos Melodramen eignen sich besonders gut zur Veroperung (Lucretia Borgia wurde zum Beispiel komponiert durch Gaetano Donizetti 1833, Maria Tudor durch Carlos Gomes 1879). In Büchners Übersetzung wurde Marie Tudor zur Grundlage des von Caspar Neher geschriebenen Texts der Oper Der Günstling oder Die letzten Tage des großen Herrn Fabiano, die mit der Musik von Rudolf Wagner-Régeny am 20. Juni 1935 an der Dresdner Staatsoper unter dem Dirigat von Karl Böhm uraufgeführt und zu einem der größten Erfolge des Komponisten wurde. In der Opernbearbeitung interessierte die Autoren weniger der emotionale Konflikt der Königin, sondern der Sturz des Favoriten Fabiano Fabiani. „Die fesselnde menschliche Aussage dieses Stoffes, die Geschichte des erotischen Verführers der Königin, seine grausamen Unterdrückung des Volkes und seiner Bestrafung, konzentrierten die Autoren der Oper noch dadurch, daß sie Zitate aus Büchners revolutionären Schriften, so aus dem Hessischen Landboten […] einfügten“ (Härtwig 1960, 17). Die ernstzunehmende wissenschaftliche Beschäftigung mit Büchners Übersetzungen begann erst mit Rosemarie Hübner-Bopp (1990; vgl. dies. in
4. Lenz
KatD 282–285), die erstmals die Texte unter Berücksichtigung der konkurrierenden zeitgenössischen Übertragungen und im Kontext der seinerzeitigen Hugo-Rezeption in der Literaturkritik untersuchte. Alle früheren Arbeiten leiden daran, dass die Autoren nicht mit zeitgenössischen, sondern späteren Hugo-Ausgaben arbeiteten und nicht bedachten, „daß Hugo seine Theaterstücke (wie fast alle seine Texte) mehrfach überarbeitet, mehr oder weniger einschneidend verändert und diese Änderungen häufig nicht klar gekennzeichnet hat“ (Bremer 1998, 242f.). Mit der historisch-kritischen Edition der Übersetzungen innerhalb der Marburger Ausgabe (Bd. IV) besteht seit 2007 die Möglichkeit, ohne eigene archivalische Forschung die Übersetzungsleistung Büchners zu analysieren, da hier erstmals der Text der Übersetzung konsequent kontextualisiert und mit dem Wortlaut der Vorlagen sowie den anderen Übertragungen zusammen abgedruckt wurde und damit in seiner historischen Eigenart erkannt werden kann (vgl. Beise 2008, 139f.).
4. Lenz Obwohl Büchner seinen „Aufsatz“ über „einen unglücklichen Poeten Namens Lenz (FA 2,418f.) niemals beendete, wurde sein „einziger Erzähltext“ zu einer „der am häufigsten interpretierten und publizierten Erzählungen der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts“ (Schaub 1999, 295). Als Büchner starb, fand sich „unter seinen hinterlassenen Schriften“ lediglich die „Sammlung der Notizen“ und eine abgebrochene „Ausarbeitung“ zum „Fragment einer Novelle“ über den Sturm-und-Drang-Dichter Jakob Lenz (Grab 1985, 67 u. 140). Schon der erste Herausgeber, Karl Gutzkow, sah sich 1839 gezwungen, die vier von Büchners Verlobter Wilhelmine Jaeglé abgeschriebenen „Bruchstücke“ (Hauschild 1985, 72) zu einer „Reliquie“ zu montieren und stellte den bis heute üblicherweise gedruckten Textzusammenhang her, wobei er – anders als viele spätere Herausgeber – die Brüche nicht unbedingt zu kaschieren suchte, sondern zum Teil markierte und den Entwurfscharakter durch Stehenlassen von an sich selbst adressierten Arbeitsnotizen des Autors deutlich werden ließ (vgl. das Faksimile in Büchner: Gesammelte Werke 1987, Bd. 8). Anders als heute war Lenz Anfang des 19. Jahrhunderts kein Autor des literarischen Kanons. Er wurde nach seinem Tod – Lenz starb am 24. Mai 1792 fernab in Moskau – „von Wenigen betrauert und von Keinem vermißt“, wie es in einem Nachruf hieß (Allgemeine Litteratur-Zeitung, Intelligenz-Blatt, Nr. 99, 18. August 1792), rasch vergessen. Einer breiteren literarischen Öffentlichkeit brachte erst 1828 Ludwig Tiecks Ausgabe der Gesammelten Schriften das Werk von Lenz wieder in Erinnerung. Büchners briefliche Äußerung von „einem unglücklichen Poeten Namens Lenz“ (FA 2,418f.) rechnet nicht mit der Kenntnis des Autors bei den Empfängern, in dem Fall den Eltern, die durchaus literarisch gebildet waren. Georg Büchner lernte Lenz genauer 1831 kennen, und zwar durch seinen neuen Straßburger Freund August Stöber, mit dem er nach dessen Bekunden „oft schöne Stunden im Gespräch über deutsche Kunst und Literatur“ verbrachte (Hauschild 2004, 110). Aus Stöbers Feder erschienen gerade „Mit-
Notizensammlung und Erzählfragment
Erstdruck
Das historische Vorbild: J.M.R. Lenz
Stöbers Mitteilungen über Lenz
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72
IV. Schriften. Einzelanalysen
Plan zu einer Novelle
Oberlins Bericht 1778
Erster und zweiter Versuch: Bericht und Bulletin
Dritter Versuch: Figurale Erzählung
theilungen“ über den „Dichter Lenz“ im Morgenblatt für gebildete Stände (Nr. 250, 19. Oktober 1831–Nr. 290, 5. Dezember 1831, S. 997–1180), in denen unter anderem Fakten über Lenz’ bis dato kaum bekannte Liebe zu Friederike Brion (1752–1813) und den Aufenthalt bei Pfarrer Oberlin aus archivalischen und mündlichen Quellen bekannt gemacht wurden. Stöber nahm an, dass die unglückliche Liebe zu Brion den Dichter ab 1772 ganz „absorbirte“ und dass sein späterer, häufig als Wahnsinn klassifizierter „Gemüthszustand“ aus den „Erscheinungen jener Periode erklärlich“ sei: „Lenz trank einen vollen Kelch der süßesten Wonne, die sich leider in der Folge in den bittersten Schmerz auflöste und seinem ganzen Leben eine traurige Wendung gab, welche ihn verzehrte“ (ebd., 998; vgl. V, 247). Dass Büchner sich in der Straßburger Zeit mit dem Stürmer und Dränger beschäftigte, belegt auch der Gebrauch eines Gedichts von Lenz, in dem die Liebe zu Brion eine Rolle spielt, sowohl in der Korrespondenz zwischen Büchner und seiner Verlobten (vgl. FA 2,383) als auch in der konspirativen Kommunikation innerhalb der „Gesellschaft der Menschenrechte“, wo Die Liebe auf dem Lande als Grundlage der Verschlüsselung von Nachrichten diente (vgl. Mayer 1979b, 375; KatM 154). Über Lenz als Thema einer eigenen literarischen Arbeit dachte Büchner aber erst nach der Flucht aus Darmstadt nach, als Gutzkow ihn bestürmte, seine „Autorschaft“ zu sichern (FA 2,398; 400). Anfang Mai hatte er eine „Novelle Lenz“ (405) ins Gespräch gebracht, nachdem er sich Oberlins Bericht „Herr L….“, den Stöber 1831 auszugsweise mitgeteilt hatte, vollständig besorgt hatte. Der Ende des 18. Jahrhunderts weit über seinen engeren Wirkungskreis hinaus bekannte Steintaler Pfarrer Johann Friedrich Oberlin (1740–1826) hatte ab dem 20. Januar 1778 den psychisch labilen, kurze Zeit vorher verhaltensauffällig gewordenen Dichter Lenz beherbergt, weil dessen Freunde von dem Aufenthalt bei dem philanthropischen Pastor eine heilsame Wirkung auf seine seelische Verfassung erhofften. Allerdings verschlechterte sich der Zustand von Lenz nach einer heftigen Krise Anfang Februar so stark, dass Oberlin ihn abholen lassen musste. Unmittelbar nach Lenz’ Abtransport am 8. Februar schrieb Oberlin eine Chronik seines Aufenthalts im Steintal nieder als Rechtfertigung des eigenen Verhaltens gegenüber den Freunden und vor sich selbst. Der Bericht wurde von Daniel Ehrenfried Stoeber, der eine Biografie des Pastors verfasste (Vie de J.F. Oberlin. Strasbourg 1831), im Nachlass Oberlins gefunden und seinem Sohn August zur Auswertung überlassen; von diesem erhielt Büchner eine Abschrift. Wahrscheinlich schon im Mai begann Büchner die Arbeit an Lenz mit einer die Quelle vorsichtig umformenden, nämlich aus der ersten Person in die dritte Person übersetzenden und nur an vier Stellen punktuell erweiternden Paraphrase, ja fast noch Abschrift des sogenannten Oberlin-Texts. Etwas später ist ein anderer Entwurf entstanden, in dem Büchner sich von Oberlins Bericht entfernt und versucht, Lenz’ Zustand zusammenfassend in der Art eines differentialdiagnostischen Bulletins zu beschreiben. Beide Gestaltungsarten, die chronologische Erzählung und die quasi-wissenschaftliche Zusammenfassung verwarf Büchner aber wieder, als er zu einem dritten Versuch ansetzte. Dies geschah vermutlich nicht vor Ende September 1835. Gutzkow hatte Büchner in einem Brief vom 28. August davon in Kenntnis gesetzt, dass er das „Literaturblatt“ zum Phönix aufgege-
4. Lenz
ben habe und ein neues wöchentlich erscheinendes Journal mit dem Titel Deutsche Revue plane (FA 2,414f.), für das Büchner zunächst seiner „Studien halber“ nicht arbeiten wollte (FA 2,416), sich dann aber offenbar doch bereden ließ, die Erzählung über Lenz zu liefern (vgl. FA 2,419). Dieser dritte Versuch war eine figurale Erzählung, bei der Büchner zunächst Anfang und Ende formulierte – von einem „direkten Äquivalenzbezug“ sprach Knapp (2000, 138): die beiden Wege „durch’s Gebirg“ (V, 31 u. 48), anfänglich noch mit „Sturm“ (31), am Ende ohne „Drang“ (49). Dazwischen wollte Büchner erzählen, wie der schon „gleichgültig“ ins Waldtal stapfende Lenz, der aber „manchmal“ noch das Bedürfnis verspürte, „auf dem Kopf“ zu „gehn“ (31), „vollkommen gleichgültig“ (48) wurde. In einem 1995 erschienenen Vorschlag zur „Rekonstruktion der Textgenese“ konnte Burghard Dedner zeigen, wie sich die eben genannten Entstehungsstufen in dem von Gutzkow hergestellten integralen Fragment identifizieren lassen und zeitlich einzuordnen sind. Demnach entsprechen im emendierten Text die Strecke zwischen „Einige Tage darauf“ (V, 43,21) bis zur Arbeitsnotiz „Siehe die Briefe“ (46,12f.) sowie die Passage von „Den 8. Morgens blieb er im Bette“ (48,8) bis „Die Kindsmagd kam todtenblaß und ganz zitternd“ (48,28f.) der ersten, noch sehr eng an Oberlins Bericht orientierten Nacherzählung aus der ersten Arbeitsphase. In diesen Text montierte Gutzkow die ,psychiatrische Skizze‘ aus der zweiten Arbeitsphase ein (von 46,14: „Sein Zustand war indessen“ bis 48,6f.: „versetzte sich sonst einen heftigen psychischen Schmerz“), von der Dedner (1990/94, 68) überlegte, ob man sie nicht eigentlich ausscheiden und „unter die Paralipomena“ einordnen sollte. Der dritten Arbeitsphase entspricht der Anfang des Textes von „Den 20. ging Lenz durch’s Gebirg“ (31,1) bis „die Sünde in den heiligen Geist stand vor ihm (43,20) sowie die Schlusspassage von „Er saß mit kalter Resignation“ (48,30) bis zum letzten Satz: „So lebte er hin“ (49,8). Innerhalb der identifizierbaren Bruchstücke aus den unterschiedlichen Arbeitsphasen sind aber auch noch Passagen unterschiedlichen Ausarbeitungsgrades zu identifizieren. So finden sich in der langen Textstrecke zu Beginn, die unzweifelhaft aus der dritten Arbeitsphase stammt, auch noch Bemerkungen, die einen Plan zu einer Passage darstellen, die nicht mehr ausgeführt wurde (Dedner 1990/94, 28f.). Es sollte noch erzählt werden, wie „Oberlin ihm erzählte, wie ihn eine unaufhaltsame Hand auf der Brücke gehalten hätte, wie auf der Höhe ein Glanz seine Augen geblendet hätte, wie er eine Stimme gehört hätte, wie es in der Nacht mit ihm gesprochen, und wie Gott so ganz bei ihm eingekehrt, daß er kindlich seine Loose aus der Tasche holte, um zu wissen, was er thun sollte, dieser Glaube, dieser ewige Himmel im Leben, dies Seyn in Gott; jetzt erst ging ihm die heilige Schrift auf. Wie den Leuten die Natur so nah trat, alles in himmlischen Mysterien; aber nicht gewaltsam majestätisch, sondern noch vertraut!“ (V, 34,19–27). Alles in allem gilt Hubert Gerschs Beobachtung, dass „Büchners LenzProjekt“ sehr viel „konzeptartiger, elliptischer und bruchstückhafter“ ist, „als man bislang dachte“ (Nachwort zur „Studienausgabe“ von Büchners Lenz. Stuttgart 1984, 61). Büchner brach die Arbeit an der Erzählung offenbar sofort ab, als er hörte, dass Gutzkow am 3. Dezember 1835 verhaftet worden war (vgl. FA 2,421) und dass der Deutsche Bundestag alle Schriften
Dedners Rekonstruktion der Textgenese
Arbeitsnotizen
Abbruch der Arbeit Dezember 1835
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IV. Schriften. Einzelanalysen
Verbot der jungdeutschen Literatur
Politische Schmuggelware
Erkenntnisleistung der Literatur
Wissenschaftlicher Diskurs
des sogenannten Jungen Deutschland (also auch die geplante Deutsche Revue) am 10. Dezember verboten hatte (vgl. Hauschild/Vahl 1985, bes. 37–61); am 14. November waren bereits die Schriften des Mannheimer Löwenthal-Verlags verboten worden, wo die Deutsche Revue erscheinen sollte, womit die Möglichkeit einer schnellen und problemlosen Publikation der Erzählung wegfiel. Seinen Eltern schrieb Büchner am 1. Januar 1836: „Das Verbot der deutschen Revue schadet mir nichts. […] Ich gehe meinen Weg für mich und bleibe auf dem Felde des Drama’s, das mit all diesen Streitfragen nichts zu tun hat“ (FA 2,422f.). Die erwähnten „Streitfragen“ betrafen die operative Wirkung von Literatur und die scharfe Reaktion der Regierungen. „Nur ein völliges Mißkennen unserer gesellschaftlichen Verhältnisse konnte die Leute glauben machen, daß durch die Tagesliteratur eine völlige Umgestaltung unserer religiösen und gesellschaftlichen Ideen möglich sei“ (FA 2,423): Das galt für die oppositionellen Schriftsteller ebenso wie die verängstigten Regierungen. In der Tat hatte Gutzkow Büchner einige Monate vorher vorgeschlagen, seine revolutionären politischen Ideen gleichsam als Schmuggelware in „Novellenstroh“ verpackt ans Publikum zu bringen (FA 2,398). Ironischerweise aber war Büchners projektierte Lenz-Erzählung das einzige dichterische Werk, das gesellschaftlich-politische Themen nur indirekt thematisierte, während seine drei Dramen sehr viel direkter politisch agitierten. In dem Erzählfragment konzentrierte sich Büchner auf sein zweites großes Thema, nämlich die Darstellung und literarische Untersuchung einer psychischen Erkrankung (was man auch in den Dramen zum Beispiel an den Figuren Danton, Leonce oder Woyzeck studieren kann). Hierbei kam es darauf an, das literarische Erzählen zu einem Instrument zu machen, das Erkenntnisse vermittelt, die weder von dem chronikalischen Dokument noch vom wissenschaftlichen Bulletin zu erwarten sind. Die chronikalische Passage (V, 43–46 u. 48) hat überwiegend einen ganz äußerlichen Blick auf Lenz. Der Erzähler weiß nicht, was in seinem Protagonisten vorgeht; so kann er nur vermuten, dass er betet, als er am Grab des Mädchens in Fouday niederkniet (45: „schien betend“) und dass er etwas von der „Absicht“ seines Begleiters „erraten“ hat, als er wieder auffällig wird (ebd.). Zugleich deutet sich an dieser Stelle mit einem von Büchner nicht der Quelle nachempfundenen Satz bereits ein anderes Erzählverfahren an, für das der Chronist erklärtermaßen nicht zuständig bzw. kompetent ist: „Die Landschaft beängstigte ihn, sie war so eng, daß er an Alles zu stoßen fürchtete. Ein unbeschreibliches Gefühl des Mißbehagens befiel ihn, sein Begleiter ward ihm endlich lästig“ (ebd.). Zunächst aber versuchte es Büchner auf eine andere Weise, nämlich der des wissenschaftlichen Diskurses (V, 46–48). Während der Chronist der ersten Arbeitsphase nicht einmal eigene Vergleiche für Lenz’ nächtliches Gewinsel finden kann, sondern Zeuginnen zitieren muss (44: „Die Mägde […] sagten, sie hätten oft […] ein Brummen gehört, das sie mit nichts als dem Tone einer Haberpfeife zu vergleichen wußten“), weiß der wissenschaftliche Berichterstatter der zweiten Arbeitsphase, was Lenz tat, „wenn er allein war“, nämlich „in einem Gedanken hängen“ bleiben oder „beständig laut mit sich rede[n]“; er weiß, was Lenz sich vorstellte oder fühlte; und er liefert sogar psychiatrisch interpretierende Beschreibungen des Geschehens: „Er
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mußte dann mit den einfachsten Dingen anfangen, um wieder zu sich zu kommen. Eigentlich nicht er selbst that es, sondern ein mächtiger Selbsterhaltungstrieb“ (46f.). Bei einer Erkrankung des „Selbstbewußtseyns […] in Ansehung der Subjektivität“ und der damit häufig verbundenen „Gedankenjagd“ war dies ein probates autotherapeutisches Vorgehen, wie der Erzähler aus einem seinerzeit weit verbreiteten Lehrbuch von Johann Christian Reil (1803, 68, 132, 136) wusste (vgl. V, 474–479). Zuletzt aber verfiel Büchner auf die jede Distanz aufgebende figurale Erzählung der dritten Arbeitsphase, die sich in dem zitierten Einschub der chronikalischen Passage schon andeutete und die seinen Erzähltext weltberühmt gemacht hat. Den Einfall, dass die offene Landschaft als klaustrophobisch empfunden werden könnte, baute Büchner in der Eingangspassage in verschiedenen Richtungen aus – überhaupt sind „antithetische Setzungen“ für die Erzählung bezeichnend, wie die Forschung auffällig oft betonte (vgl. Martin 2007, 218). Landschaftsbeschreibung und Seelenzustand reflektieren sich wechselseitig (vgl. Schmidt 1994), wobei – das war neu – die Zustände nicht statisch blieben (Reuchlein 1996, 82). Ob ein Mensch wahnsinnig ist oder nicht, entscheiden meistens die anderen; in Büchners Erzählung bleibt offen, ob der konjunktivisch eingeführte „Wahnsinn“ (V, 32: „Es war, als ginge ihm was nach“) Lenz, der sich davor freilich fürchtet, erreicht oder nicht. In den Passagen aus der letzten Arbeitsstufe gibt der Text den
Abb. 7: Stammbuchblatt für Heinrich Ferber, 3. September 1835; Abbildung des 1944 verbrannten Originals (vgl. IA 115): „Die da liegen in der Erden / Von de Würm gefresse werden, / Besser hangen in der Luft, / Als verfaulen in der Gruft.“ Eine Strophe aus dem Schinderhanneslied, das Büchner von August Becker lernte und auch schon in Danton’s Tod verwendete. Eigene Verse dichtete Büchner als Erwachsener nicht mehr (eine Ausnahme scheint das Lied der Rosetta in Leonce und Lena zu sein). 1833 schrieb er: „Verse kann ich keine machen“ (FA 2,467).
Distanzlosigkeit der figuralen Erzählung
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IV. Schriften. Einzelanalysen
Julian Schmidts Aburteilung
Arnold Zweigs Begeisterung
auf dem Kopf gehen
Lenz’ Schwermut
Gegenentwurf zu Goethe
Protagonisten „von innen preis“ (Martin 2007, 223), allerdings nicht im Sinne eines inneren Monologs, sondern eher in der Art des modernen „stream of consciousness“ (vgl. Knapp 2000, 138f.), was den eigentümlichen Sog der Erzählung ausmacht, die uns das Durchlässigwerden der Grenzen zwischen Lenz’ Innen- und Außenwelt miterleben und mitempfinden lässt. Während für Literaturkritiker des mittleren 19. Jahrhunderts, etwa Julian Schmidt (1856, 50), die Eingangspassage der Erzählung zum Beleg dafür wird, dass sich dem Dichter selbst in einer Art Mimesis an seinen Protagonisten „die Welt im Fiebertraum dreht“, wurde derselbe Erzähleingang für Arnold Zweig 1923 zum Fanal der Moderne (WK 401), insbesondere der schon in seiner paradoxen syntaktischen Struktur jeder normalen Logik spottende (bei Julian Schmidt im Zitat gesperrt gesetzte) Satz: „Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, daß er nicht auf dem Kopf gehen konnte“ (V, 31). Allerdings beruht auch Zweigs emphatisches Urteil („Mit diesem Satze beginnt die moderne europäische Prosa; kein Franzose und kein Russe legt moderner einen seelischen Sachverhalt offen hin“) auf dem Unverständnis für die seinerzeitige Bedeutung der Bemerkung „auf dem Kopf gehen“. Um 1800 verstand man darunter „verkehrte, tolle, unerhörte Dinge treiben“ (Joachim Heinrich Campe: Wörterbuch der Deutschen Sprache. Braunschweig 1807–1813, 2,270). Zugleich war es in den 1770er Jahren ein gegen die „Originalsucht“ der Stürmer und Dränger gerichteter ästhetischer Kampfbegriff geworden (vgl. Schmid 1998, 14: „Nicht wenig versuchen es daher, auf dem Kopfe zu gehn, um sich nicht der Füsse mit dem gemeinen Haufen zu bedienen“). Er wurde im Vormärz auch noch von anderen Autoren genutzt, um Stimmungen zu beschreiben, so zum Beispiel von Heine bei der Schilderung der „urgesellschaftlichen“ Freiheit und Gleichheit eines Maskenballs in seinen Briefen aus Berlin (1822): „Auf der letzten Redoute war ich besonders freudig, ich hätte auf dem Kopfe gehen mögen, ein bacchantischer Geist hatte mein ganzes Wesen ergriffen“ (HSS 2,47). Büchners Lenz bedauert also lediglich, dass es „mit dem Jugendmut […] fort“ sei und das Leben „immer öder“ werde, um den Satz einmal mit Worten aus den letzten Briefen des Autors an seine Verlobte zu paraphrasieren (FA 2,464, 466). Mit dieser Zustandsbeschreibung setzte Büchner den Anfangspunkt für einen Gegenentwurf zu dem Bild von Lenz, das Goethe im dritten Teil von Dichtung und Wahrheit (1814) entworfen hatte (zum Prinzip des „Gegenentwurfs“ bei Büchner generell vgl. Dissel 2005). Lenz wurde von Goethe als ebenso „talentvoller“ wie „seltsamer“ Schelm mit einem „entschiedenen Hang […] zur Intrige an sich“ geschildert, der sich „bilderstürmerisch“ gegen alle künstlerischen und gesellschaftlichen Konventionen wandte, aus „Selbstquälerei“ sein „Inneres untergrub“ und wie „ein vorübergehendes Meteor“ bald „verschwand“. Sein Hauptproblem sei gewesen, dass er sich „dem formlosen Schweifen“ ergeben hatte, immer auf „Originalspäße“ sann und seine „Produktivität“ leichtfertig verschwendete, ohne „eine Spur“ im bürgerlich-praktischen Leben „zurückzulassen“. Seine Tage seien „aus lauter Nichts zusammengesetzt, dem er durch seine Rührigkeit“ mitunter eine allenfalls scheinbare „Bedeutung zu geben wußte“. Hinzu kamen noch diverse „Kreuz und Querbewegungen“, was die „Frauenzimmer“ betraf, wobei Lenz „die strengsten sittlichen Forderungen an sich selbst gestellt hätte
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bei zugleich der „größten Fahrlässigkeit im Tun“. Letztlich sei er nie erwachsen geworden und habe nicht begriffen, dass „die Absurditäten der Clowns“ wohl der „Jugend“ anstünden, diese Phase aber irgendwann auch einmal „abgeschlossen sein sollte“ (GHA 9,495f.; 10,7–12). Im Grunde stellte Goethe Lenz als reales Pendant zu seinem fiktiven Werther dar, den er literarisch erledigt zu haben glaubte; in seinem bekannten Brief-Roman habe er, so Goethe in einem Brief vom 1. Juni 1774, „einen jungen Menschen“ dargestellt, „der, mit einer reinen und tiefen Empfindung und wahrer Penetration begabt, sich in schwärmende Träume verliert, sich durch Speculation untergräbt, bis er zuletzt durch dazutretende unglückliche Leidenschaften, besonders eine endlose Liebe zerrüttet, sich eine Kugel vor den Kopf schießt“ (GHA 6,525). Cum grano salis schien das auch der Fall des im Wahnsinn endenden Lenz, meinte zum Beispiel Oberlin, der Lenz’ psychische Verwahrlosung in seinem Rechtfertigungs-Bericht 1778 als „Folgen seines Ungehorsams gegen seinen Vater, seiner herumschweifenden Lebensart, seiner unzweckmäßigen Beschäftigungen, seines häufigen Umgangs mit Frauenzimmern“ qualifizierte (V, 239), also als Folgen eines lasterhaften oder sündigen Lebenswandels oder kurz: eines Verstoßes gegen die Lebensregel „Bete und arbeite“ (vgl. Dedner u.a. 1999). Büchner nun schien nach Lektüre der verschiedenen Berichte über Lenz – zu Oberlins (1778) und Goethes (1814) Schilderungen kamen noch Tiecks Einleitung zur ersten Lenz-Ausgabe (1828) und Stöbers Mittheilungen (1831) – zu einer anderen Diagnose zu kommen. „Lenzens Verrückung“ (Dedner u.a. 1999) war weder die Strafe für seine Sünden noch die Folge seiner Unsittlichkeit, sondern seine Erkrankung, die man mit literarischen Mitteln genauer nachzeichnen konnte als in einem medizinischen Rapport, vor allem weil sich dabei zugleich zeigen ließ, wie unverantwortlich und gefährlich sich diejenigen verhielten, die den Kranken zum Objekt ihrer moralischen Verurteilungen machen, selbst wenn dies in bester Absicht geschah wie im Fall des philanthropischen Pfarrers Oberlin. Die Ambivalenz der Oberlin-Figur ist in zwei Grafiken (1987/89) von Alfred Hrdlicka (1928–2009) zu der Szene, wo Lenz mit ausgerenktem Arm ins Pfarrhaus tritt (V, 45; 235), eingefangen, wo der Pastor einmal als mitleidig-erschrockener Helfer, das andere Mal als obrigkeitlicher Büttel erscheint (vgl. Beise 2006, 221 u. 226). Büchners Erzählung lässt sich am überzeugendsten als literarische Rekonstruktion eines Falls von „religiöser Melancholie“ lesen (vgl. Seling-Dietz 1995/99, bes. 225f.), wobei den Ursachen der Erkrankung kaum Bedeutung beigemessen wird, sondern nur deren Verlaufsgeschichte und dem subjektiven Leidempfinden. Das Neuartige an der Bewertung der symptomal schon seit Jahrhunderten bekannten Krankheit war um 1800, dass sie von einem Teil der Ärzte nicht mehr auf moralische Verfehlungen zurückgeführt wurde, sondern als „körperliche Krankheit“ (Johann Valentin Müller: Entwurf der gerichtlichen Arzneywissenschaft. 4 Bde. Frankfurt a.M. 1796–1801, 2,173ff.) behandelt, also der Zuständigkeit der Seelsorger entzogen wurde. Noch zu Büchners Zeit war die Kontroverse zwischen ,Psychikern‘, die „unter Berufung auf das Axiom der Willensfreiheit und die Prinzipien der christlichen Lehre […] psychische Störungen als selbstverschuldet ansahen“, und ,Somatikern‘, die sich „die Einmischung von Nichtmedizinern in die Krankenbehandlung“ verbaten, nicht entschieden (Seling-Dietz 1995/99, 230).
Lenz als Pendant zu Werther
Gängige Begründung für Lenz’ Wahnsinn
Büchners abweichende Diagnose
Ein Fall von religiöser Melancholie
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IV. Schriften. Einzelanalysen Psychiatrische Sorge
Literarische Krankenstudie
Interne Fokalisierung als Folge von Büchners Realitätspostulat
Leben das einzige Kriterium in Kunstsachen
Die Sorge somatisch orientierter Ärzte wie Johannes Baptist Friedreich (Allgemeine Diagnostik der psychischen Krankheiten. Würzburg 1832, VII) war, dass „so manche pietistische und inhumane Beurtheilung“ der Leiden des „armen Wahnsinnigen“ diesen noch stärker in seinen religiösen Wahn treibe, statt ihn zu daraus zu befreien und zu heilen. Büchner führt dies in seiner Erzählung vor. Oberlins ermahnend und tröstend gemeinte Worte, die er nach Rückkehr von einer kurzen Reise als „Antworten auf abgebrochene, oft schwer zu verstehende Worte“, die der bestürzte Lenz in „Erinnerung gethaner, mir unbekannter Sünde“ geäußert hätte (V, 233), an den Patienten richtete, werden in Büchners Erzählung zum Auslöser der „heftigen Unruhe“ des eben noch „heiteren“ Lenz (V, 43). Unbeabsichtigt verstärkt Oberlin die Angst vor der „Sünde in den heiligen Geist“ – der einzigen, die nach christlicher Ansicht auch Gott nicht vergeben kann (vgl. NT Mark. 3, 28–30), hier identifiziert als „Atheismus“ (V, 43) –, indem er durch seine vermeintlichen Trostgründe die Selbstdeutung des Kranken als Sünder untermauert. „Der Pfarrer Oberlin, in der Vorstellung befangen, Lenz’ Krankheit sei eine Gottesstrafe für begangene Sünden, zeigt also in seelsorgerischer Absicht jenes Verhalten, welches die liberale Psychiatrie als potentiell pathogen einstufte und darum ablehnte“ (Seling-Dietz 1995/99, 232). Büchner deutete als wissenschaftlicher Mediziner Lenz’ Verhalten als Symptome einer vor allem somatisch bedingten Melancholie mit erotischer und religiöser Ideenfixierung, wie die zeitgenössischen Psychiater es nannten. Die bleibende Aktualität des Erzählfragments – zum Beispiel lässt es sich auch lesen als Schizophrenie-Studie oder als Beschreibung einer endogenen Depression – verdankt sich einem Erzählverfahren, das in den zuletzt entstandenen Passagen überwiegend intern fokalisiert ist, d.h. das Erleben der Hauptfigur in eine distanzlose Sprechweise übersetzt (V, 32: „Es faßte ihn eine namenlose Angst in diesem Nichts, er war im Leeren, er riß sich auf und flog den Abhang hinunter“; nicht etwa: eine unbestimmte Angst machte ihn fühlen, als befinde er sich im Leeren…). In gewisser Weise ist dies eine bis dato unerhörte Umsetzung des Realitätspostulats, das von der Kunstfigur Lenz im sogenannten ,Kunstgespräch‘ (V, 37f.), dem allein schon einmal eine ganze Habilitationsschrift gewidmet wurde (Schwann 1997), erhoben wird: Es gelte, „in das eigenthümliche Wesen jedes einzudringen“, denn „erst dann“ könne man ihn „verstehen“, d.h. man könne „Gestalten aus sich heraustreten lassen, ohne etwas vom Äußern hinein zu kopiren“ (38). „Man versuche es einmal und senke sich in das Leben des Geringsten und gebe es wieder, in den Zuckungen“ der „Muskeln“, den „Andeutungen“ des „Mienenspiel[s]“, dem Pochen des „Puls“ (37f.); „wir haben dann nicht zu fragen, ob es schön, ob es häßlich ist“, vielmehr sei „Leben […] das einzige Kriterium in Kunstsachen“ (37). Dies war das bewusste Gegenprogramm zu einem Erzählen „mehr in Resultaten als schildernd“, das Goethe erklärtermaßen für sein Lenz-Porträt verwandte (GHA 10,7). Dass Büchner seinen Text zum Teil bewusst als Kontrafaktur zu Goethe anlegte, wird durch die erkennbar als Variation des berühmten „Wenn“-Satzes aus den Leiden des jungen Werthers („am 10. May“; GHA 6,9) angelegte Periode zu Beginn des Lenz-Textes (V, 31,17–38: „Nur manchmal, wenn der Sturm […] unter ihm zog“) ebenfalls deutlich. Während Goethes Text die temporale Bestimmung in eine kausale Bezie-
5. Philosophische Studien
hung überführt („Wenn das liebe Tal um mich dampft, […] dann sehne ich mich oft und denke“), belässt es Büchners Text bei einer attributiven Ausmalung des „Augenblick[s]“, in dem das Gefühl der Enge sich plötzlich in ein Gefühl der ungeheuren Ausdehnung wandelt, ohne dass dieser Moment ursächlich vorbereitet oder durch abgeleitete Wirkungen in einen narrativen Zusammenhang gebunden würde. Die Parataxe sprengt die Syntax und erlaubt, die Augenblicklichkeit dieser „Lust, die ihm wehe that“, von der Lenz aber schon im nächsten Moment „nichts mehr“ wusste, unmittelbar mitzuerleben. Dadurch entsteht ein eigentümlich zwischen Faktualität und Fiktionalität schillernder Text (vgl. BHb 61f.). Dieses äußerst modern anmutende Erzählverfahren war durch die Erzählkunst einiger Romantiker vorgeprägt worden, die sich für Wirkungen des Unbewussten, Wunsch- und Angstvorstellungen oder zwanghafte Situationen besonders interessierten und bis heute weiterwirkende Techniken zur narrativen Vergegenwärtigung psychischer Grenzzustände ausprobiert hatten (vgl. Reuchlein 1985), bei denen unklar bleibt, ob wir Zeugen eines realen Geschehens oder subjektiver Wahrnehmungen, Empfindungen und Fantasien sind – hier ist namentlich an E.T.A. Hoffmann und besonders an Ludwig Tieck zu denken, dessen Erzählungen Der blonde Eckbert und Der Runenberg aus dem Phantasus (1812; 21818) sowie Der Aufruhr in den Cevennen (1826), den Büchner im Herbst 1834 zusammen mit der Verlobten las (WK 171), nachweislich Spuren im Lenz hinterlassen haben, besonders hinsichtlich der Analogisierung von Landschaft und Gemüt. Die romantische Technik der „Verspiegelung von innerer und äußerer Natur“ (Busch 2004, 116) konnte Büchner deswegen so gut gebrauchen, weil sie einem psychopathologischen Phänomen entsprach, das die Zeitgenossen bei „Nervenkrankheiten“ beobachteten, in denen „wir die Subjektivität und Objektivität nicht scharf und schnell mehr“ unterschieden, sondern „von ihnen so schwach afficirt“ würden, „daß wir an beiden zweifeln und uns immer fragen müssen, ob wir träumen oder Realitäten wahrnehmen, ob wir es sind, die empfinden und handeln, oder bloße Zuschauer des Empfindens und Handelns eines anderen sind“ (Reil 1803, 69). Diese Fragen erinnern von fern an die Frage Dantons und seines Autors, was das sei, was in uns handle (vgl. FA 2,377; III.2, 41), eine Frage in der skeptizistischen Tradition der Aufklärung, die Büchners Landsmann Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799) einmal zu dem Bonmot inspirierte, „daß man nicht sagen sollte, ich denke, sondern es denkt so wie man sagt: es blitzt.“ „Zu sagen cogito“ sei bereits „zu viel, so bald man es durch Ich denke übersetzt“ (LSB 2,501 u. 412). Das führt zu einem der Grundsätze Descartes’ und zu Büchners philosophischen Studien.
5. Philosophische Studien Seinem Bruder Wilhelm schrieb Büchner anlässlich von dessen zwanzigstem Geburtstag am 2. September 1836, er werde als „Privatdocent der Philosophie“ demnächst nach Zürich gehen, um an der dortigen Universität Vorlesungen über „die philosophischen Systeme der Deutschen seit Cartesius und Spinoza zu halten“ (FA 2,448). Erst in Zürich schwenkte Büchner
Faktualität und Fiktionalität
Vorbilder: E.T.A. Hoffmann, Ludwig Tieck
Problematische Autonomie des Einzelnen
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IV. Schriften. Einzelanalysen
Ein geborener Philosoph?
Schulische Vorbildung
Philosophische Sittenlehre
wieder auf sein anderes Studienfach ein, in dem er promoviert hatte, nämlich die Zoologie, speziell die vergleichende Anatomie. Bis dahin wollte er offenbar zweigleisig fahren oder erwartete sich von der Philosophiegeschichte, die sich gerade erst als akademisches Lehrfach zu etablieren begann (vgl. Lucien Braun: Geschichte der Philosophiegeschichte. Darmstadt 1990, 217–243), ein leichteres Auskommen (FA 2,376: „Futter“) als von dem noch weniger etablierten Fach der Vergleichenden Anatomie. Doch war die Philosophiegeschichte an der Zürcher Universität schon besetzt, so dass Büchner bei der Zoologie blieb. Immerhin aber sollte Büchners ernsthafter Vorsatz, sich als Dozent für Philosophie beruflich zu etablieren, dazu führen, auch diesen bislang von der Forschung völlig unterbelichteten Bereich seines Werks genauer zu untersuchen. Seit Ende 2009 gibt es mit den Bänden IX.1 und IX.2 der Marburger Ausgabe endlich auch die Möglichkeit, dies auf gesicherter Textbasis zu tun. Büchners Interesse an philosophischen Fragestellungen lässt sich bis in seine Schulzeit zurückverfolgen. „Wir arbeiteten gemeinsam an unserer Geistesbildung“, so erinnerte sich der Klassenkamerad Friedrich Zimmermann später, „besonders in philosophierenden Gesprächen auf Spaziergängen“. Schon in diesen Jahren habe man aber bemerkt, dass Büchner „religiöse“, „metaphysische“ und „ethische Probleme“ vor allem dann fesselten, wenn sie „in einem inneren Zusammenhang mit Angelegenheit der Naturwissenschaften“ standen, „für deren Studium er sich frühzeitig entschied“. Bemerkenswert ist Zimmermanns Überzeugung, dass Büchner „mehr zum Philosophen als zum Dichter geboren war“ (MA 371f.). In der Schule gehörte die Philosophie in die Fächer „Encyklopädie der Wissenschaften und Literärgeschichte“, „Latein“, „Griechisch“ sowie „Religion und Moral“. Bekannt gemacht wurden die Gymnasiasten vor allem mit den antiken Philosophen. Zum Beispiel mussten sie 1830 fast das gesamte Lehrbuch Sokrates. Oder Auszüge aus den philosophischen Schriftstellern der Griechen (Jena 41828) von Friedrich Jacobs ins Lateinische übersetzen, hörten Vorträge über die griechische Philosophiegeschichte oder schrieben Ausarbeitungen über stoische Philosophen und lasen verschiedene philosophische Schriften Ciceros. Im Ethikunterricht wurden zwar auch philosophische Fragen erörtert, aber stets in Hinsicht auf die Bestätigung der „geoffenbarten Religion“ (IX.2, 171). Die Idee vom Ursprung der gesamten abendländischen Kultur in der griechischen und römischen Antike war zu selbstverständlich, als dass deren Lehre nicht als notwendige Grundlage für jede weitere im Selbststudium anzueignende philosophische Bildung galt. Büchners Schulaufsätze über den Helden-Tod der vierhundert Pforzheimer, den Freitod des Cato von Utica und das Problem der Selbsttötung überhaupt lassen erkennen, dass sich der junge Büchner „für das Verhältnis von christlich und nichtchristlich fundierter ,Sittenlehre‘ besonders lebhaft und wohl über das schulisch geforderte Maß hinaus interessierte“ (ebd.). In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass Büchners Verteidigung der stoischen Lizenz zur Selbsttötung gegen christlich motivierte Einwände ein methodisches Argument stark machte, das auch für seine spätere Auseinandersetzung zunächst mit der Philosophie Spinozas leitend war, nämlich das Verbot, inadäquate Kriterien der Beurteilung von außen heranzutragen. So sei der Freitod eines antiken Stoikers, wie Cato einer war, an christlichen
5. Philosophische Studien
Maßstäben nicht zu messen: „Denn da man die Handlungen eines Mannes nur dann zu beurtheilen vermag, wenn man sie mit seinem Charakter, seinen Grundsätzen und seiner Zeit zusammenstellt, so ist nur ein Standpunkt und zwar der subjective zu billigen und jeder andre, zumal in diesem Falle der christliche, gänzlich zu verwerfen“ (FA 2,11f.). Allerdings verwarf Büchner nicht nur die Beurteilung antiker Handlungen nach einem modernen, christlichen Maßstab, sondern schien diesen auch für moderne „Helden“-Taten nicht mehr in Anwendung bringen zu wollen. Dass die vierhundert Pforzheimer im Dreißigjährigen Krieg sich für ihren protestantischen Glauben geopfert hätten, beeindruckte den jungen Büchner nicht besonders. Vielmehr sei „doch dies ewig wahr, daß mehr Himmel diesseits des Grabes, ein mutigeres und fröhlicheres Emporblicken von der Erde und eine freiere Regung des Geistes durch ihre Aufopferung in alles Leben der Folgezeit gekommen ist“, was die eigentliche Größe ihres Opferganges gewesen sei. „So also starben sie nicht einmal für ihren eigenen Glauben, nicht für sich selbst, sondern sie bluteten für die Nachwelt. Dies ist der erhabenste Gedanke für den man sich opfern kann dies ist der WeltErlöser-Tod“ (FA 2,25f.). Den Gedanken, besagten Helden-Tod nicht sub specie eines christlichen Jenseits, sondern einer diesseitigen Nachwelt zu sehen und als heroischen Akt zugunsten der nationalen, politischen und geistigen Freiheit zu werten, hatte Büchner allerdings wörtlich bei Johann Gottlieb Fichte (Reden an die deutsche Nation, 1808) abgeschrieben, dem ersten zeitgenössischen Philosophen, dem wir in Büchners Werk ,begegnen‘. Über weitere philosophische Studien in Büchners letzter Schul- und erster Studienzeit ist nichts bekannt. Angeblich habe er sich über Hegels dialektische „Taschenspielerkünste“ lustig gemacht (MA 374), doch besagt das nicht viel, denn Hegel und seine Schule lächerlich zu finden, war in den frühen 1830er Jahren Mode (vgl. Kuhnigk 1987, 279f.) und nicht etwa Ausweis einer gründlichen Auseinandersetzung oder auch nur eines besonderen philosophischen Interesses. Aus der ersten Studienzeit in Straßburg wissen wir von philosophischen Studien nichts. In den Gießener Semestern aber befasste er sich in Hinblick auf den angestrebten „medicinisch-philosophischen“ (FA 2,397), d.h. naturwissenschaftlichen Studienabschluss wieder intensiv mit der Philosophie und Wissenschaftstheorie. „Ich werfe mich mit aller Gewalt in die Philosophie, die Kunstsprache ist abscheulich, […] doch das stört mich nicht“, schrieb Büchner am 9. Dezember 1833 an seinen Straßburger Freund August Stöber (FA 2,376). Der Vorbehalt gegen die „abscheuliche“ Begrifflichkeit mag ein Reflex der unter Gießener Studenten verbreiteten Abneigung gegen Joseph Hillebrand (1788–1871) gewesen sein, der ein „hochgebildeter Mann von feinsten Umgangsformen“ und „ein ästhetischer Kritiker von ungewöhnlicher Begabung“ war, doch „auf dem strengphilosophischen Gebiete durch seine speculative Terminologie wohl den meisten Zuhörern unverständlich oder doch fremdartig blieb“, wie sich der Kommilitone Georg Zimmermann erinnerte (Hauschild 1993, 258). Büchner aber ließ sich nicht schrecken und besuchte nachweislich wenigstens zwei Kollegs Hillebrands, nämlich das über Logik und das über Naturrecht, und zwar „mit lobenswerthem Fleiße“, wie der Professor auf einem Hörerschein bestätigte (vgl.
Nationale oder politische statt religiöse Fundierung
Hegel-Kritik
Universitäre Philosophie-Studien
Joseph Hillebrand als philosophischer Lehrer
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IV. Schriften. Einzelanalysen
Philosophischer Eklektizismus
Hillebrands Beurteilung von Danton’s Tod
Übersicht der philosophischen Schriften
Desolate Editionslage bis 2009
KatM 124). Ansonsten unterrichtete Hillebrand in den beiden Semestern, die Büchner in Gießen studierte, noch Psychologie, das „System der philosophischen Moral und Pädagogik“ sowie Ästhetik. Hillebrand war Büchners einziger akademischer Lehrer im Fach Philosophie und beeinflusste ihn nachhaltig. Er ordnete sich selbst „zwischen Dogmatismus und Skepticismus, Idealismus und Realismus“ ein. Hillebrand nannte sein Philosophieren im besten Sinne ,eklektisch‘ und strebte nach „mathematischer Konsequenz und Gewißheit“. Als einzig vernünftigen „Selbstanfang der Philosophie“ bezeichnete er Spinozas Lehre von der „Identität des reinen Denkens […] und des Realen“ (IX.2, 178f.), weil das Denken sonst subjektivistisch oder unverbindlich bliebe wie in der Ich-Philosophie Fichtes bzw. der Gefühlsphilosophie Jacobis, die übrigens Gegenstand einer von Büchner in seiner Cartesius-Vorlesung als Kontrastfolie benutzten Monografie aus der Feder von Hillebrands Kollegen Johannes Kuhn (1806–1887) ist. Eine interessante Affinität zwischen Hillebrand und seinem früheren Schüler Büchner zeigt sich auch in der Beurteilung von Danton’s Tod, die der vielseitig interessierte Philosoph in seiner Geschichte der deutschen Nationalliteratur seit dem Anfang des achtzehnten Jahrhunderts (Hamburg 1846, 3,589) publizierte. Er lobte das Talent des Autors als „bedeutend“, das Thema als „glücklich“ gewählt, die „Conception“ als „original“, die „Anschaulichkeit“ als „virtuos“. Etwas irritierend fand er den auf geschichtsphilosophische („genetische“) Herleitungen verzichtenden Modus der „Vergegenwärtigung“ des Geschehens, weil dadurch „die niederschlagende Macht des Schicksals unerbittlich“ herrsche, oder – um es mit Büchners Worten zu sagen, die Hillebrand noch nicht kennen konnte: Weil die „unabwendbare Gewalt“ in den „menschlichen Verhältnissen“ so einem „gräßlichen Fatalismus der Geschichte“ gleichkäme (FA 2,377). Mit Danton’s Tod, genauer gesagt mit dem sogenannten ,Atheismusgespräch‘ darin (III/1), beginnt die Reihe der philosophischen ,Schriften‘ Büchners, die uns überliefert sind. Sie lassen sich in zwei Gruppen einteilen: Erstens das Atheismusgespräch, die Exzerpte zur griechischen Philosophie und der Anfang einer kommentierenden Übersetzung von Spinozas Ethik (alle 1835); zweitens die fertige Vorlesung zu Descartes und die abgebrochene Vorlesung zu Spinoza (1836). Die erste Gruppe ist insgesamt als Büchners Reflektion des bis dato geleisteten Philosophiestudiums zu verstehen; die zweite Gruppe als Beginn einer neuen Phase, nämlich der des akademischen Unterrichts als Privatdozent der Philosophie. Man kann und sollte beide Gruppen deutlich trennen. Die bisherige Forschung hat dies bedingt durch die desolate Editionslage der überlieferten philosophischen Skripten außerhalb von Danton’s Tod allerdings nicht tun können. Karl Emil Franzos publizierte 1879 in seiner Ausgabe nur kürzere, zudem verfälschte Ausschnitte aus den Exzerpten zu Thales und Epikur, der Spinoza-Übersetzung und den beiden Vorlesungen. Fritz Bergemann erkannte erstmals, um was es sich bei den Manuskripten jeweils handelte (Exzerpt, Übersetzung mit Kommentar, Vorlesung), versuchte aber das, was für die Erkenntnis des „Büchnerischen Geistes“ von „Originalwert“ war (Sämtliche Werke und Briefe 1922, 786), von den unselbstständigen Teilen zu scheiden und druckte daher lediglich eine – wenn auch „gut vertretbare“
5. Philosophische Studien
(IX.2, 197) – Auswahl aus den Vorlesungen. Werner R. Lehmann publizierte 1971 (Sämtliche Werke und Briefe 1967/71, 2,137–290, 303–409) alles außer den Herbart-Exzerpten am Schluss der Spinoza-Vorlesung, Henri Poschmann 1999 (FA 2,171–352, 613–624) alles aus den Exzerpten zur griechischen Philosophie, beide blieben allerdings ohne deutliche Erkenntnis von Status und Datierung der verschiedenen Spinoza-Skripte, die in der Sekundärliteratur denn auch meist zusammen behandelt werden, wenn sie überhaupt als eigenständige Schriften und nicht nur als Steinbruch für willkürlich ausgewählte und zusammenhanglos zitierte Bemerkungen gesehen wurden. Das in Büchners Nachlass überlieferte Skript Geschichte der griechischen Philosophie ist eine exzerpierende und kommentierende Zusammenfassung der ersten drei Bände von Wilhelm Gottlieb Tennemanns Geschichte der Philosophie (11 Bde. Leipzig 1798–1819). Büchner komprimierte hier die rund 1.500 Seiten der Vorlage, und zwar in Formulierung und Reihenfolge ziemlich getreu, auf etwa ein Zwanzigstel. Zu eigenen Akzentsetzungen oder Bemerkungen raffte sich Büchner kaum auf, allenfalls könnte man vielleicht auf ein etwas größeres Interesse schließen, wenn man sieht, dass er die Abschnitte zur materialistischen Naturphilosophie der Vorsokratiker, zu Platos Dialektik und Aristoteles’ Erkenntnistheorie und Physik relativ ausführlicher als andere Abschnitte exzerpierte, oder bei Epikur die Abfolge, Überschriften und Abgrenzungen der Kapitel veränderte. Mit Sicherheit kam das eigene Interesse durch, wenn er in dem Abschnitt über Xenophanes ohne Vorbild bei Tennemann Vergleiche zu Spinoza einführte (IX.1, 378). Dass er zwar in der vorgegebenen Struktur, aber trotzdem unabhängig dachte, zeigt sich etwa an der Beurteilung der sophistischen Philosophie, deren Abqualifizierung durch Tennemann er nicht übernahm, sondern deren historisches Verdienst – nämlich „die Möglichkeit, oder Unmöglichkeit der Erkenntniß“, was „Sinnen- und Vernunfterkenntniß“ betraf, erprobt zu haben (IX.1, 398) – Büchner herausstellte. Wozu diese im Sommer 1835 entstandenen Exzerpte dienten, ist durchaus unklar; vielleicht dienten sie „ausschließlich privatem Gebrauch“ und sollten in Vorbereitung auf die Wahl eines philosophischen Dissertationsthemas der „Fundierung des eigenen Bildungswissens“ dienen (Hauschild 1993, 528). Büchner sah sich im Sommer 1835 bekanntlich nach einem „Stoff zu einer Abhandlung über einen philosophischen oder naturhistorischen Gegenstand“ um (FA 2,419), wählte dann im Dezember aber das zoologischanatomische Thema seiner nachher auch geschriebenen Dissertation. Noch im November 1835 aber hieß es in einem Brief an Gutzkow: „Ich werde ganz dumm in dem Studium der Philosophie“ (FA 2,420). Damit war womöglich seine Arbeit an einer Übersetzung von Spinozas Ethik gemeint, die Büchner mit eigenen Anmerkungen versehen vielleicht als Dissertation plante. Für den Typus ,Übersetzung plus kritischer Kommentar‘ gab es im Bereich der Spinoza-Editionen auch schon ein Muster, nämlich eine Ausgabe des ehemaligen Hainbund-Dichters Schack Hermann Ewald (1745–1824) von Spinozas philosophischen Schriften (Bd. 2: Spinoza’s Ethik. Erster Theil. Gera 1790). Büchner scheint aber unter vorausgegangenen Übersetzungen nur die von Tennemann im zehnten Band seiner Philosophiegeschichte (1817,
Exzerpt zur griechischen Philosophie
Spuren eines eigenen Interesses
Übersetzung von Spinozas Ethik
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IV. Schriften. Einzelanalysen
Terminologische Selbstständigkeit
Spinoza: Ethica 1677
Spinozas Gottesbeweise
Spinoza als Pantheist, Polytheist oder Atheist
Büchners solidarische Kritik
425–438) gekannt zu haben. Er konsultierte sie nach seiner eigenen Übersetzung, um bestimmte Wendungen oder Begriffe in sein Manuskript verbessernd zu übernehmen. Er verhielt sich in terminologischen Fragen also durchaus nicht naiv, wie Stiening (2000/04, 214) nahelegen zu wollen schien, sondern wich zum Beispiel in der Frage, ob man „intellectus“ stets mit „Verstand“ zu übersetzen habe von dem Kantianer Tennemann bewusst ab und wählte achtmal die Übertragung „Vernunft“ (vgl. IX.2, 215). Auch „potentia“ wird wechselnd mit „Macht“ und „Kraft“ übersetzt und nur einmal nach Tennemann in das kantische „Vermögen“ geändert. Positiv ist über Büchners Übersetzung zu sagen, dass sie „bisweilen […] dem Original in besonderer Weise nahe“ kommt, kritisch dagegen anzumerken, dass sie öfters auch „fehlerhaft“ oder „entstellend“ ist (Stiening 2000/04, 213; vgl. IX.2, 214). Spinozas Ethica ordine geometrico demonstrata (1677 zuerst erschienen) gilt vielfach als erstes philosophisches ,System‘, vorbereitet durch Descartes, mit dessen Paraphrase ,more geometrico‘ (1663) Spinozas Philosophieren begann. Nach Hillebrand und Kuhn, deren Ansicht Büchner übernahm, war der Spinozismus die „Fortsetzung und Ausbildung“ (IX.2, 373) bzw. der „vollendete Cartesianism“ (IX.2, 411), weil erst bei Spinoza die mathematisch-logische Denk-Methode des Descartes in „ihrer völligen Consequenz“ (IX.2, 135) angewandt wurde. In dem ersten Buch der Ethica, das Spinozas metaphysische Überlegungen enthält, geht es um das Wesen Gottes, das auf der Grundlage von acht Begriffsbestimmungen (definitiones) und sieben Voraussetzungen (axiomata) in 36 Lehrsätzen (propositiones), gelegentlich ergänzt durch Beweise (demonstrationes) mit Folgerungen (corrolaria) und Erläuterungen (scholia), zu fassen versucht wird. Spinoza kommt dabei zu dem Schluss, dass Gott als die einzige unendliche, die Welt insgesamt durchdringende Substanz vorgestellt werden muss, von deren wesentlichen Eigenschaften nur zwei dem Menschen erkennbar sind, nämlich räumliche Ausdehnung und ein immaterielles Attribut, analog zum Menschen selbst, der aus einem Körper und einer geistig-seelischen Komponente besteht. Da Gott räumlich gesehen unendlich ist, sei „Alles […] in Gott“, und da auch seine geistige Komponente unbegrenzt ist, lasse sich auch „nichts […] ohne Gott“ denken (15. Lehrsatz; IX.2, 17). Daraus, dass alles ohne Gott „weder seyn, noch gedacht werden kann“ (IX.2, 33) schloss Spinoza in einer Reihe von Ableitungen, dass alles vorherbestimmt sei, und dass alles notwendig so ist, wie es ist, und auch gut so sei. Diese metaphysischen Überlegungen brachten Spinoza in den Ruf, entweder Pantheist oder Polytheist oder auch Atheist zu sein, was seine Philosophie zum Skandalon machte. Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts erlebte der Spinozismus eine Renaissance, weil er der aufklärerischen Vernunftreligion besonders kompatibel schien. Lessing meinte, es gebe „keine andre Philosophie, als die Philosophie des Spinoza“ (LW 8,564), was nach Lichtenberg jeder vorurteilsfreie Mensch einsehen müsse: „Sich selbst überlassene Vernunft führt auf nichts andres hinaus, und es ist unmöglich, daß sie auf etwas andres hinaus führe“ (LSB 2,197). Genau das zu überprüfen, war Büchners Absicht. Er stellte dabei nicht Spinozas Grundsätze in Frage (z.B. das durchaus nicht evidente 6. Axiom, dass jede „wahre Idee […] mit ihrem Gegenstande übereinstimmen“ müs-
5. Philosophische Studien
se), sondern wollte die Theorie an ihren eigenen Voraussetzungen messen. Insofern eignet seinen Übersetzungskommentaren also kein „Widerlegungsgestus“ (Stiening 2000/04, 212f.), sondern der schwächere Gestus einer sozusagen solidarischen Kritik. Sein erster Einwand war die Frage, ob sich wirklich nur eine Substanz denken lasse (5. Lehrsatz). Spinoza schien ihm hier „das unterscheiden können“ und „das sich denken können“ zu verwechseln (IX.2, 7); mag sein, dass wir zwei Substanzen nicht „unterscheiden“ können, weil sie durch gleichartige „Attribute“ bestimmt seien, so lässt sich aber doch denken, dass es mehrere Substanzen gibt, die sich gegenseitig „begränzen“ (also „endlich“ sind), gleichwohl aber ihrem Wesen nach zum Unendlichen tendieren und daher in ihrer Gesamtheit unendlich seien. Wenn es aber „ein unendliches Ganzes aus sich gegenseitig begränzenden und insofern endlichen Theilen“ gibt, müssen diese Teile „Substanzen seyn“, „denn sonst wäre dieße Behauptung so absurd, als die Gegner Spinoza’s sagen“ (21), überlegte sich Büchner, ohne die daraus notwendige Folgerung explizit zu machen: Die Natur bestünde dann nämlich aus einer virtuell unendlich großen Anzahl von Substanzen, d.h. Göttern, die aber endlich, also ungöttlich sind. An dieser Stelle brach Büchner die Prüfung ab, nachdem er schon vorher die drei Gottesbeweise Spinozas in Zweifel gezogen hatte. Dass die Welt zeitlich „ewig“ und räumlich „unendlich“ ist, berechtige mich vielleicht, analog ein ewiges und unendliches „Wesen“ zu denken (15), zwinge mich aber nicht dazu. Vor allem aber werde ich nicht gezwungen, „dießes Wesen“ als „das Absolutvollkommne“, also „Gott“, zu denken (12). Büchner meinte, dass Spinoza unzulässig „das Unendliche und das Vollkommene“ gleichsetze (14). Überdies widersprächen alle diese Annahmen der Erfahrung bzw. dem „Naturleben“, wie Büchner in der Probevorlesung sagte (VIII, 155). „Was berechtigt uns aber“ anzunehmen, dass Gott „als seyend gedacht werden“ müsse? „Der Verstand? Er kennt das Unvollkommne. Das Gefühl? Es kennt den Schmerz?“ (IX.2, 12). Es ist auffällig, dass Büchner gegen Spinozas Gottesbeweise keinen der Gründe anführt, mit denen Immanuel Kant das notwendige Scheitern aller Gottesbeweise bewiesen hatte, obwohl er die Argumente kannte (vgl. IX.2, 266–267), sondern sich gleichsam selbst zitierte. Auf die Einwendung des Unvollkommenen und des Schmerzes lief nämlich bereits das sogenannte Atheismusgespräch in Danton’s Tod hinaus. In der ersten Szene des dritten Akts überfallen angesichts des nahen Tods auf der Guillotine den Jakobiner Chaumette Zweifel, ob es wirklich „keinen Gott“ gäbe, worauf ihn Payne beruhigt. Aus der Zeitlichkeit der Schöpfung müsse man schließen, dass Gott als ewiges Wesen die Welt nicht geschaffen haben kann, wenn er aber die Welt nicht geschaffen hat, dann habe sie ihren Grund in sich selbst, was zeige, dass es keinen Gott gibt, „da Gott nur dadurch Gott wird, daß er den Grund alles Seyns enthält“ (III.2, 47f.). Für den Fall aber, dass das Universum nicht der Zeitlichkeit unterworfen, sondern ewig sei, gelte, dass Gott und die Welt dann „Eins“ wären, wie Spinoza behauptet hätte; dann aber sei Gott so unvollkommen wie die Welt, was der Idee von Gottes Vollkommenheit, also der traditionellen Annahme „entis perfectissimi, hoc est Dei“ (René Descartes: Meditationes de Prima Philosophia. Hg. v. Gerhart Schmidt. Stuttgart 1986, 132), widerspräche. Oder
Abbruch der Prüfung von Spinozas Gottesbeweisen
Atheismusgespräch in Danton’s Tod
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IV. Schriften. Einzelanalysen
Der Schmerz als Fels des Atheismus
Das Gefühl als Garant unmittelbarer Gewissheit
Neues Interesse an Spinoza: Philosophische Reflexion naturwissenschaftlicher Methodik Natur kennt keine Zwecke
Leben als Selbstzweck
Philosophische Methode: Ursachen statt Absichten suchen
Gott habe als vollkommenes Wesen eine unvollkommene Welt geschaffen, was der Logik insofern entspreche, als dass Ursache und Wirkung nicht identisch sein können, sondern unterschieden sein müssten; dann aber sei Gott weder der Liebste noch der Beste, was auch zu dem Begriff seiner Vollkommenheit gehöre, da er die Menschen mit Absicht einer unvollkommenen, also schlechten Welt ausgesetzt habe, was ungefähr so sei, als lasse ein Vater seinen Sohn „unter seinem Stande in Schweinställen“ aufziehen. „Schafft das Unvollkommene weg, dann allein könnt Ihr Gott demonstriren“; auch das habe Spinoza versucht. Doch: „Man kann das Böse leugnen, aber nicht den Schmerz“; vielleicht könne der „Verstand“ Gottes Existenz beweisen, „das Gefühl empört sich dagegen“ (III.1, 49). Büchners Payne argumentiert leicht anders als sein Autor, insofern er den menschlichen Schmerz (III.1, 49: „Warum leide ich? Das ist der Fels des Atheismus“) als faktische Widerlegung der höchstens theoretisch anzunehmenden Existenz Gottes begreift, während Büchner im Kommentar zur Spinoza-Übersetzung sogar die theoretische Annahme in Frage stellt. Wenngleich er streng genommen nur die „Nicht-Demonstrierbarkeit“ von Gottes Existenz durch Verstand und Schmerz für erwiesen hält (vgl. Stiening 2002, 54), so ist doch daran zu erinnern, dass Büchners „Gefühl“ als Garant einer unmittelbaren Gewissheit (vgl. Vollhardt 1991) diese logische Einschränkung zu überspringen und nicht nur Spinozas Gottesbeweise, sondern auch Gott selbst ,emotionalistisch‘ in Frage und sich in puncto „Gottlosigkeit“ den „Atheisten“ seines Stücks (FA 2,410) zur Seite zu stellen scheint. Ein Jahr später stand die Frage nach der Existenz Gottes nicht mehr im Zentrum von Büchners Interesse an Spinoza. Sein Umgang mit den Gottesbeweisen in den Vorlesungs-Skripten ist „geradezu desinteressiert“ (IX.2, 292). Viel mehr interessierte ihn, nachdem er seine zoologische Dissertation abgeschlossen und eingereicht hatte, die philosophische Reflexion naturwissenschaftlicher Methodik. Die Dissertation selbst war schon in einen „beschreibenden“ und einen „philosophischen Teil“ gegliedert; einige im zweiten Teil angesprochenen Fragestellungen, die Büchner auch in seiner Zürcher „Probevorlesung“ aufnahm, wollte er nun im Sommer 1836 noch einmal von den philosophischen Quellen her durchdenken. In der Probevorlesung brachte Büchner relativ zu Anfang ein verstecktes Spinoza-Zitat: „Die Natur handelt nicht nach Zwecken“ (VIII, 153). Dieser Überzeugung hat Spinoza wiederholt Ausdruck verliehen, am deutlichsten vielleicht in der „praefatio“ zum vierten Teil der Ethica: „Naturam propter finem non agere“ (ebd., 542). Übrigens teilte Büchner diese Überzeugung schon als Schüler, wie eine Stelle in seiner Recension des Aufsatzes eines Mitschülers über den Selbstmord zeigt: „Entwicklung ist der Zweck des Lebens, das Leben selbst ist Entwicklung, also ist das Leben selbst Zweck“ (FA 2,41). Der Begriff der „Entwicklung“ zeigt, dass Büchner keinen statischen Naturbegriff hatte; aber er wollte die Veränderungen in der Natur nicht „vom teleologischen Standpunkt aus“ betrachtet wissen, sondern von einem philosophischen Standpunkt aus, der nicht auf die „Zwecke“, oder Ziele, sondern auf die Ursachen und Ursprünge der sich in einem harmonischen Ganzen entfaltenden „Wirkungen“ sieht. Diese „philosophische Methode“ fragt „nach den einfachsten Rissen“, wie Büchner sich ausdrückte, also nach den
5. Philosophische Studien
Anlagen, aus denen sich die Mannigfaltigkeit der Natur entwickelt (VIII, 153/155). Philosophiegeschichtlich resultiert Büchners Position aus der neuzeitlichen Ablösung des Schöpfungsidee durch die Idee der Kosmogonie, die bei Descartes zunächst zu der Annahme führte, dass die Evolution der Welt „auf den gegenwärtig erreichten und uns umgebenden Zustand der Welt gerichtet gewesen und in ihm abgeschlossen“ sei, doch bald schon zu der von Kant 1755 so formulierten Einsicht führte, dass die natürliche Entwicklung der Dinge „zwar einmal angefangen“ habe, aber „niemals aufhören“ werde (Blumenberg 1996, 242). Die Frage war nur, ob das evolutionäre Ganze der Natur als Funktionszusammenhang gedacht wurde oder als „nothwendige Harmonie“ (VIII, 155) selbstzweckhafter Entitäten. Nach Funktionen fragten Büchner zufolge die empiristischen und materialistischen Wissenschaften in England und Frankreich, nach der natürlichen Harmonie (prästabiliert, notwendig oder zufällig) die Systemphilosophen aus den deutschen Ländern. Für den „Materialismus“ englischer (Hobbes, Locke) oder französischer (La Mettrie) Provenienz hatte Büchner wenig übrig (vgl. VII.2, 262); dessen Naturbeobachtung hielt er für oberflächlich, seine Theorie für tautologisch. Dagegen habe die systemische Philosophie vielleicht (noch) nicht das „Ganze“ erkannt, aber „dem Naturstudium“ doch neue und fruchtbare Wege gewiesen. Freilich konnte man auch hier übertreiben und dem „Mysticismus“ oder dem „Dogmatismus“ der Vernunft anheimfallen (VIII, 155). Demgegenüber war Büchner an einem dritten Weg interessiert, der zeitgenössisch oft mit dem Namen Spinozas verknüpft war, der die Natur in dem „Collectivbegriff Gott“ (VII.2, 17) hypostasiert hatte („Deus sive Natura“) und dessen „Naturverstand“ zum Beispiel Novalis (Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs, Bd. 2: Das philosophisch-theoretische Werk. Hg. v. Hans-Joachim Mähl. Darmstadt 1999, 711) nicht genug zu loben wusste. Heine hat diesen Zusammenhang in seiner Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland (1835) sehr schön veranschaulicht. Der „Vater der neuern Philosophie“ sei eigentlich René Descartes, behauptete er; und dieser habe drei Söhne gehabt: „Die Deutschen, nachdem sie den Lockeschen Materialismus verschmäht und den Leibnizschen Idealismus bis auf die Spitze getrieben und diesen ebenfalls unfruchtbar erfunden, gelangten endlich zu dem dritten Sohne des Descartes, zu Spinoza.“ Dessen Philosophie sei ein Vorgeschmack der „Zukunft“; sie sei vom „Leben“ selbst gebildet und „von dem Materialismus seines Bruders Locke eben so sehr entfernt wie von dem Idealismus seines Bruders Leibniz“. Er habe „Geist und Materie“ gleichermaßen nachgespürt und in eine „große Synthese“ gebunden. In dieser Hinsicht sei Spinoza der Ahnherr der gegenwärtigen Naturphilosophie, wie sie sich zum Beispiel in den Schriften des „früheren“ Schelling, als „er noch ein Philosoph“ war, zeige (HSS 3,553, 630, 564, 563, 565). Spinozas Philosophie sei nicht vom Cartesianismus hervorgebracht, aber von diesem befördert worden, meinte Heine (ebd., 561). In dieser Perspektive sind auch die Skripten Büchners angelegt, die er als Einleitungsteil seiner „Vorlesungen […] über die philosophischen Systeme der Deutschen seit Cartesius und Spinoza“ (FA 2,448) zwischen Juni und Oktober 1836 anfertigte. „In den Vorlesungsskripten stellte Büchner die cartesianische Erkennt-
Kosmogonie statt Schöpfung
Natürliche Harmonie
Ablehnung des empiristischen Materialismus
Ein dritter Weg zwischen Materialismus und Idealismus
Spinoza als Vollender und Überwinder Descartes’
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IV. Schriften. Einzelanalysen
Enthusiasmus der Mathematik
Descartes-Vorlesung zielt auf Spinoza
Büchners Spinoza braucht Descartes’ Gott nicht mehr
Abbruch der Arbeit an der PhilosophieVorlesung
nistheorie ausführlich dar, fuhr fort mit einem allgemeinen Überblick über andere Schriften von Cartesius, führte dann am Leitfaden des Tractatus de intellectus emendatione in Spinozas Wissenschaftslehre ein und gelangte erst unmittelbar vor Abbruch des Skripts zu Spinozas Metaphysik und damit zu dem Teil der Ethik, den er bereits“ ein Jahr zuvor „übersetzt und kommentiert hatte“ (IX.2, 279). Gegen zeitgenössisch verbreitete Ansichten vertrat Büchner die These, dass Spinozas Philosophie keineswegs das mystizistische Pendant zum Rationalismus Descartes’ war, sondern vielmehr dessen Vollendung; Spinozas System sei vom selben „Enthusiasmus der Mathematik“ (IX.2, 135) getragen und setze die cartesianische Begründung der menschlichen Erkenntnis („cogito ergo sum“) sowie die Ableitungen bis zum Gottesbeweis voraus (ebd., 142f.; vgl. Stiening 2000/04, 227). Die mystizistische Abweichung vom rationalistischen Weg der „intellectualen Erkenntniß“ (IX.2, 133) bei Descartes und Spinoza vertritt in Büchners Vorlesung Nicolas Malebranche (1638–1715), dessen „Occasionalismus“ die „geistige Sphäre“ von den „materiellen Objecten“ vollständig trennt (es gebe „zwischen ihnen […] keine denkbare Brücke“) und deshalb ein surreales „Verhältniß zwischen so verschiedenen Dingen“ stiften muss, dessen Funktionsweise jedenfalls nicht die übliche ist: „Es ist ein Irrthum, wenn man glaubt, dasjenige, was der Wirkung vorhergeht, sey die Ursache“, weil es immer „der Wille Gottes“ ist, der wirkt (IX.2, 124–127). Für Büchners Vorlesung gilt, dass schon die Darstellung von Descartes’ Philosophie von Anfang an in Hinblick auf dessen Weiterführung durch Spinoza konzipiert worden ist, was schon äußerlich daran zu erkennen ist, dass er gelegentlich „an die Stelle der cartesianischen Darstellung des Systems diejenige, die Spinoza in den Principia Philosophiae Cartesianae gegeben hatte“, setzt, also der Cartesius-Interpretation Spinozas folgte. Inhaltlich zeigt sich diese Perspektive in der Betonung derjenigen Aspekte in Descartes’ Philosophie, die Büchner nachher brauchte, um den Fortschritt Spinozas demonstrieren zu können. So steuerte er in der Cartesius-Vorlesung auf die zuerst von Marin Mersenne (1588–1648) herausgestellte zirkuläre Begründung sicherer Erkenntnis zu, ein argumentativer Abgrund, aus dem „herauszukriechen“ Descartes „den lieben Gott als Leiter“ brauchte (IX.2, 59), worauf Spinoza eben nicht mehr angewiesen gewesen sei, weil seine mathematisch präzise Herleitung der Ideen ihrer Wahrheit eine Sicherheit verliehen, die weder von einem betrügerischen Gott („Deus deceptor“) noch durch eigene Zweifel erschütterbar seien (IX.2, 143). „Konnte es also im Cartesius-Skript den Anschein haben, als wolle Büchner argumentieren, der rationalistische ,Dogmatismus‘ sei ohne Rekurs auf Gottes Wahrhaftigkeit erkenntnistheoretisch nicht zu begründen, so hielt Büchner im SpinozaSkript die Möglichkeit einer nicht-theologischen Begründung anscheinend für möglich“ (IX.2, 295f.), und das machte Spinozas Philosophie für den Naturwissenschaftler Büchner so wertvoll. Büchners Vorlesungs-Skripte brechen nach der Darstellung von Spinozas Erkenntnistheorie im Tractatus de intellectus emendatione ab. Es folgen nur noch wenige Bemerkungen zur Metaphysik (IX.2, 152f.) sowie Exzerpte und Paraphrasen (157–164) aus Tennemanns Philosophiegeschichte (Bd. 10, 1817) und aus Johann Friedrich Herbarts (1776–1841) Allgemeiner
6. Naturwissenschaftliche Schriften
Metaphysik (Königsberg 1828, §§ 40–54). Offensichtlich stand Büchner Oktober 1836 so sehr unter Zeitdruck, dass es zu einer weiteren Ausarbeitung auf dem Niveau der Überlegungen zu Descartes Schriften und Spinozas Erkenntnistheorie nicht mehr kam. Aber auch vorher schon lässt sich feststellen, dass Büchner zwar auf Grund von Konzepten arbeitete, aber in unterschiedlichen Phasen. So hatte Büchner zwar vor Beginn der Arbeit an der Cartesius-Vorlesung schon die These von dem folgerichtigen Zusammenhang der Systeme von Descartes und Spinoza entwickelt (vgl. IX.2, 217), aber ihm wurde im Verlauf der Ausarbeitung der Spinoza-Vorlesung – in der er sich deutlich weniger an Tennemann orientierte als im Cartesius, weil ihm Spinoza schon von früher her vertrauter war – auch manches bei Descartes noch klarer. So findet sich im Cartesius-Skript für die philosophiehistorisch übrigens relativ ungewöhnliche (aber wohl durch Hillebrand vermittelte) Einordnung des Descartes in die Schule der Identitätsphilosophie, womit nicht nur die Zeitgenossen sofort Schelling assoziierten, noch kein Hinweis, ebenso wenig wie die Bezeichnung „Wissenschaftslehre“, ein Markenzeichen Fichtes, für die erkenntnistheoretischen Überlegungen. Beides ist erst im SpinozaSkript zu finden, vermutlich als „Resultat einer allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Schreiben“ (IX.2, 298). Ein anderes Beispiel für den ,work in progress‘-Charakter der Vorlesungsskripte wäre die ablehnende Erwähnung einer Einschätzung Hegels und seines Schülers Heinrich Gustav Hotho – die er aus dritter Hand kannte – zu Beginn der Cartesius-Vorlesung (IX.2, 46), welche Büchner revidierte, nachdem er bei seiner Descartes-Lektüre vorangekommen war und die Sache selbstständig durchdacht hatte. Erst wurde er unsicher und dann wechselte er die Meinung (vgl. IX.2, 291f.): „Hotho und Hegel mögen doch Recht haben“, notierte er sich in Klammern (IX.2, 61). Wo letztlich Büchners Vorlesung insgesamt hinausgelaufen wäre, lässt sich schlechterdings nicht sagen. Im Ansatz aber war es ein Versuch, das kritische und reflexive Potenzial der romantischen Naturphilosophie und der idealistischen Systeme aufzuspüren und für die naturwissenschaftliche Forschung, in der Materialismus und Empirismus sich durchzusetzen begannen, zu retten.
Büchners Arbeitsweise
Allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Schreiben
6. Naturwissenschaftliche Schriften Aus den philosophischen Studien ergab sich für Büchner ein erkenntnistheoretischer „Dreischritt“ (IX.2, 296): Erstens ging er von Spinozas Grundsatz aus, dass die Natur „nicht nach Zwecken“ handle (VIII, 153), also nicht teleologisch organisiert sei; daraus sei zweitens eine „genetische Methode“ (VIII, 5) abzuleiten, also die Untersuchung der Natur von den Ursachen und nicht von den Wirkungen her; und drittens seien die so gewonnenen theoretischen Annahmen empirisch, also experimentell zum Beispiel durch Sektion zu überprüfen. Auf keinen Fall aber könne man sich die theoretische Fundierung sparen, wie es die Empiristen und Materialisten in England und Frankreich täten. Dies war die in der Zürcher Probevorlesung Über Schädelnerven explizit vertretene Meinung (VIII, 153–157); sie war aber implizit
Methodische Grundlagen
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IV. Schriften. Einzelanalysen
Studienabschluss 1836
Wernekincks Anregung
Erste Lesung der Dissertation Frühjahr 1836
Erster Plan
Akademiestreit 1830
auch schon Voraussetzung für Büchners Dissertation sur le système nerveux du Barbeau (1836). Mit der Dissertation schloss Büchner ein achtsemestriges „medicinischphilosophisches“ Studium ab, das er von Anfang an unter der Perspektive betrieben hatte, ein „Naturforscher“ (Oken) und nicht praktischer Arzt zu werden. Die Idee, eine Arbeit zur Anatomie des Zenralnervensystems zu schreiben, mag eine Folge des Besuchs von Lehrveranstaltungen des außerordentlichen Professors Friedrich Wernekinck (1798–1835) in Gießen gewesen sein (vgl. Döhner 1967, 45), der zwar nur wenig publizierte, doch als herausragender Lehrer und „ausgezeichneter Anatom“ galt und dessen „Privatissimum“ über „Vergleichende Anatomie“ Büchner im Sommersemester 1834 mit großer Begeisterung besuchte. Wernekinck demonstrierte „die damaligen Wirbeltheorien“, erinnerte sich ein anderer der drei Teilnehmer des Kollegs, was Büchner in seinem eigenen Zürcher Seminar über dieses Thema zweieinhalb Jahre später abermals mit großer Begeisterung wiederholte (VIII, 186f.). In Straßburg entschloss sich Büchner im Herbst 1835, nachdem er zwischenzeitlich erwogen hatte, eine philosophische Dissertation zu schreiben, über das Nervensystem der Fische zu promovieren, angeblich als ihm beim Sezieren „eine früher nicht gekannte Verbindung unter den Kopfnerven des Fisches“ (der Flussbarbe Cyprinus Barbus) aufgefallen sei, wie sein Bruder schrieb (WK 123). In drei Sitzungen der ,Société d’histoire naturelle de Strasbourg‘, in die ihn seine Mentoren Georges-Louis Duvernoy und Ernest-Alexandre Lauth eingeführt hatten, trug Büchner am 13. April, 20. April sowie am 4. Mai 1836 die Ergebnisse seiner Arbeit vor (vgl. die Protokolle in L’Institut Nr. 174, 7. Sep. 1836, 296–298; bzw. Notizen aus dem Gebiete der Natur- und Heilkunde Nr. 1092, Oct. 1836, 212–215; VIII, 589–595); er wurde daraufhin als „correspondirendes Mitglied“ angenommen und der Druck seiner Dissertation auf Kosten der Gesellschaft beschlossen (vgl. FA 2,437; WK 124). Ursprünglich war die Arbeit etwas bescheidener angelegt, als sie letztlich ausfiel. Büchner wollte einige Auffälligkeiten im Nervensystem der Barben klären, die in der Forschung bis dato dazu führten, diese Art als Ausnahme unter den niederen Vertebraten zu klassifizieren. Ernst Heinrich Weber (1795–1878), Louis-Antoine Desmoulins (1794–1828) und Theodor Bischoff (1807–1882) hatten zwischen 1820 und 1832 an Hand des Nervenverlaufs bei den Barben die Idee eines einheitlichen „Bauplans“ der Wirbeltiere überhaupt in Frage gestellt. Gegen diese Auffassung polemisierte Büchner heftig. Man kann den berühmten „Akademiestreit“, den die französischen Naturforscher Geoffroy und Cuvier im Frühjahr 1830 ausfochten, mit dem impliziten Streit, den Büchner mit seiner Dissertation ausfocht, vergleichen. In Paris wurde die Frage diskutiert, „ob alle Tiere auf einen einzigen Bauplan zurückzuführen oder ob für unterschiedliche Gruppen, z.B. die Wirbeltiere und die Weichtiere, je eigene Baupläne auszumachen seien.“ Büchner stand naturphilosophisch eindeutig auf der Seite Geoffroys, auch wenn er Cuviers Empirismus nicht rundheraus ablehnte. Büchner hielt an der Idee eines einheitlichen Bauplans für das animale Leben fest. Das Programm der Weber, Desmoulins und Bischoff widerlegenden Arbeit ist in der Einleitung beschrieben: Er wolle „die Nerven der Barbe“ ge-
6. Naturwissenschaftliche Schriften
nauer als seine Vorgänger beschreiben und mit den „Eigenheiten“ des Nervensystems „der anderen Fische“ vergleichen, schrieb Büchner (VIII, 5). Diese erste Fassung enthielt also aus dem ersten Teil der heute vorliegenden Arbeit die Beschreibungen sämtlicher Äste des Nervus trigeminus sowie aller Nerven, die von Büchners Neudeutung der Trigeminus-Äste betroffen
Abb. 8: Büchners ,Ungenirtheit‘ (Gutzkow) war eine Herausforderung nicht nur des zeitgenössischen Publikums. Gutzkow erwirkte sich vor Drucklegung von Danton’s Tod die Erlaubnis, ,die Quecksilberblumen‘ von Büchners ,Phantasie, und Alles, was zu offenbar in die Frankfurter Brunnengasse und die Berlinische Königsmauer ablenkt, halb und halb zu kastrieren‘ (FA 2,394). Büchner restituierte in einigen Exemplaren der Erstausgabe von Danton’s Tod (hier eine Seite aus dem Widmungsexemplar für den Straßburger Freund Wilhelm Baum) den ursprünglichen Text.
Verteidigung eines einheitlichen Bauplans der Tiere
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IV. Schriften. Einzelanalysen
Erweiterung der Fragestellung
Bestätigung des Bell-MagendieGesetzes im Bereich des Hirns
Gehirn eine Metamorphose des Marks, Schädel eine Metamorphose von Wirbeln Sezieren zur Bauplan-Bestätigung
Verallgemeinerung mittels Analogie
Anhänger der bis 1858 gängigen romantischen Hirnund Schädeltheorie
waren und die „philosophische“ Diskussion der Befunde zu den Trigeminus-Ästen, den Nervus vagus und seinen Seitennerv sowie die Nervi glosspharyngeus und hypoglossus, umfasste mithin knapp die Hälfte des heute vorliegenden Texts. Vermutlich im Februar 1836 beschloss Büchner, die Arbeit zu erweitern und auch die Fragen nach dem „Verhältnis der Hirnnerven zu den Spinalnerven, zu den Schädelwirbeln und zu den Anschwellungen des Gehirns“, mit denen er die Arbeit in der Druckfassung eröffnete, zu klären. Grund dafür war eine Entdeckung, die 1811 Charles Bell (1774–1842) gemacht hatte und die 1822 von François Magendie (1783–1855) bestätigt wurde, zwei Forschern aus der französischen und englischen Schule der empirischen Teleologen, die Büchner in der Probevorlesung attackierte. Sie hatten nachgewiesen, dass motorische Nerven aus dem „unteren“ (ventralen) Strang entspringen, sensible Nerven aber aus dem „oberen“ (dorsalen) Strang des Rückenmarks. Dieses sogenannte „Bell-Magendie-Gesetz“ (VIII, 249) glaubte Büchner auch im Bereich der Gehirnnerven bestätigen zu können, wobei nur die Gültigkeit der Idee eines einheitlichen Bauplans aller Tiere die Übertragbarkeit seiner Beobachtungen garantierte. Für diese zweite Fragestellung war es also notwendig, zusätzlich zu den fünf genannten Schädelnerven, die er für die erste Fassung des Mémoire analysieren musste, nun auch das Gehirn in Hinsicht auf die These, es sei eine Metamorphose zweier Doppelstränge des Rückenmarks, zu untersuchen; ebenso wie den Verlauf der fünf weiteren bisher nicht genannten Schädelnerven, die Spinalnerven und den Sympathicus. Schließlich musste er die „philosophischen“ Verallgemeinerungen über die „primitiven“ und die „abgeleiteten Nerven“ (VIII, 77/79) sowie die Thesen zur der Ausformung des Gehirns und der Konstituierung der Schädelnerven formulieren. In seinem Mémoire sur le système nerveux du barbeau versuchte Büchner daher, durch präzise Sektion und Beschreibung dem zugrunde liegenden „Bauplan“ (VIII, 51) des Nervensystems bei den Fischen auf die Spur zu kommen, um anschließend auf dessen Entwicklung bei den anderen Wirbeltieren zu schließen. Die „Analogie“ zwischen den Nerven bei Fischen und Säugetieren (77: „beim Hund, beim Rind, beim Schwein und [eben auch] einmal beim Menschen“) hielt Büchner für bewiesen. Er hatte kein Problem damit, den Menschen als Tier unter Tieren zu begreifen. Daher endeten seine Überlegungen mit einer Entwicklungstheorie des menschlichen Kopfes, der besonders beim „Fötus“, aber auch noch „bei jungen Individuen“ bis zum „zweiten oder dritten Jahr“ besonders deutlich sichtbare analoge Bildungen wie beim Fisch oder beim Frosch aufweise (97). Etwas so Besonderes ist der menschliche Kopf also nicht: „Ich glaube bewiesen zu haben“, so Büchner in der Zusammenfassung seiner Arbeit, „daß es sechs Paare primitiver Hirnnerven gibt, daß ihnen sechs Schädelwirbel entsprechen und daß die Entwicklung der Hirnmassen nach Maßgabe ihres Ursprungs erfolgt, woraus hervorgeht, daß der Kopf lediglich das Ergebnis einer Metamorphose des Marks und der Wirbel ist“ (101). Mit dieser Theorie – übrigens erst 1858 durch Thomas Henry Huxley desavouiert – ordnete sich Büchner in eine relativ junge Tradition der romantischen Naturforschung ein, die zeitgenössisch, was den Knochenbau anging, von Lorenz Oken (1779–1851) begründet und vertreten wurde, und, was
6. Naturwissenschaftliche Schriften
die Nerven betrifft, von Franz Joseph Gall (1758–1829), der gemeinsam mit seinem Schüler Gaspard Spurzheim (1776–1832) die bis heute als bahnbrechend gerühmten Recherches sur le système nerveux en général, et sur celui du cerveau en particulier (Paris 1809) publiziert hatte, in der das Gehirn erstmals als „ein nur mehr entwickeltes Rückenmark“ beschrieben wurde (vgl. Carl Gustav Carus: Grundzüge der vergleichenden Anatomie und Physiologie. Dresden 1828, 1,47; VIII, 537). Zugleich aber versuchte er, die Leistungen der empirischen Schule englischer oder französischer Provenienz für die deutsche romantische Schule nutzbar zu machen. Ende März 1836 scheint Büchner mit der Vortragsfassung seiner Dissertation fertig gewesen zu sein. Dafür hatte er in zurückliegenden fünf Monaten Barben, Karpfen, Hechte, Alsen, Barsche und Lachse präpariert. Sektionen an Fröschen, Kaulquappen und Menschen sind im Mémoire ebenfalls erwähnt (VIII, 83), werden aber wohl noch in die Übungen während des Studiums gefallen sein (vgl. den oben zitierten Brief an Stöber; FA 2,364). Nach der öffentlichen Lesung in der Naturforschenden Gesellschaft bereitete Büchner im Mai und Juni die Publikation des Mémoire vor, wobei sich die Unterschiede zur Vortragsfassung aus einem Vergleich des Drucks mit dem Protokoll der Gesellschaft erschließen lassen (vgl. VIII, 204–208); sie betrafen nicht mehr den Kern der Arbeit, wohl aber die Präzisierung einzelner Argumente und Termini, sowie Nachträge anderer Forschungsergebnisse, vor allem aber auch die Anfertigung von Tabellen und der Zeichnungen, mit denen Büchner seine Befunde nicht etwa ,illustrierte‘, sondern im analogen Bild ergänzte und untermauerte. Die Abbildungen auf der „Planche“ (VIII, 119) sind weder abstrakt noch realistisch, sondern thetisch perspektiviert und nur so detailliert, wie für Büchners Argumentation oder die Diskussion von abweichenden Forschungsmeinungen nötig. „Die Figuren sind, obwohl sie sich auf Cyprinus barbus L. beziehen, nicht dazu angelegt, die artspezifischen Verhältnisse der Barbe monographisch darzulegen, sondern sie beziehen sich auf Büchners quer durch alle Wirbeltierklassen ,genetisch‘ angelegte Analogieforschung mit dem Ziel, an einem Vertreter aus der Gattung der Cyprinen, die den ,reinsten Typus der Knochenfische darbieten‘ (5), sowohl einen einheitlichen Bauplan der Fische als auch einen ,primitiven Typus‘ (101) der Wirbeltiere nachzuweisen. Die Entscheidung darüber, welches anatomische Detail als Merkmal der einen oder anderen Hinsicht gewichtet werden kann, trifft Büchner durch Vergleich mit Beobachtungen an Arten nah verwandter Fischgattungen und an Vertretern höherer Wirbeltierklassen bis hin zum Menschen“ (VIII, 291). In der Analogieforschung geht es um Ähnlichkeiten in der Anatomie bestimmter Organismen, hier der Wirbeltiere, die evolutionär nicht direkt miteinander verwandt sein müssen (dann wären die Ähnlichkeiten homolog), welche auf eine gemeinsame Anlage der Organismen in einem früheren Entwicklungsstadium der Evolution verweisen. Zum Beispiel ist es auch heute eine opinio communis der Evolutionsbiologen, dass Vögel und Säugetiere nicht direkt verwandt sind, sondern beide reptilienartige, aber nicht dieselben Vorfahren haben; auch Knorpel- und Knochenfische sind offenbar nicht direkt verwandt, doch ist ihre evolutionäre Herkunft noch ungewisser, so dass sich über die ,Ahnen‘ gar nichts sagen lässt. ,Genetisch‘ nannte man
Vermittlung zwischen deutscher Naturphilosophie und englischfranzösischer Empirie
Druckfassung der Dissertation
Grafiken zur Dissertation: Analogieforschung im Bild
Analogie statt Homologie
Ursprünge statt Ziele
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IV. Schriften. Einzelanalysen
Einheit trotz Diversität
Typus und Variation
Evolutionäre Stufenleiter der Natur
Ablehnung jeder Teleologie
diese Forschung, wenn sie von den Ursprüngen, also von der Genesis der Tierklassen und -arten her denkt (das hat nichts mit Fach ,Genetik‘ zu tun, wo es um die biologischen Erbanlagen in Form von Genen geht). Zum Beispiel sind Barben und Menschen nicht sehr eng miteinander verwandt, aber sie gehören beide zum Stamm der Wirbeltiere, wenn auch zu den unterschiedlichen Klassen der Knochenfische und Säugetiere. Sie weisen analoge Merkmale auf – zum Beispiel haben sie jeweils ein Rückgrat und einen Schädel –, die vermuten lassen, dass sie einen gemeinsamen Ursprung haben. Je näher wir diesem Ursprung kommen, desto mehr erkennen wir die der Diversifizierung zugrunde liegenden anatomischen Gesetzmäßigkeiten. Die Barbe weise, so hatte es der von Büchner zitierte Naturforscher Carl Gustav Carus (1789–1869) gesagt, hinsichtlich der „Skeletbildung“ die relativ „reinste Form“ auf, eigne sich daher als der „Urform“ relativ nahestehender „Typus“ zum Vergleichsmaßstab, von dem aus sich die „wesentlichen Abänderungen“ bei den anderen Wirbeltieren gut beschreiben und begreifen lassen (VIII, 426: Von den Ur-Theilen des Knochen- und Schalengerüstes. Leipzig 1828, 115). Büchners Forschungen zielten, ausgehend von der Anatomie dieses Fisches, in zwei Richtungen: Zum einen wollte er dem nur noch spekulativ erschließbaren „ursprünglichen Typus“ (VIII, 77) noch näher kommen, zum anderen „bestimmen, mit welchen Teilen des Nervensystems der auf der Stufenleiter weiter oben stehenden Tiere die Nerven“ der Flussbarbe „vergleichbar sind“ (67). Mit der „Stufenleiter“ meinte Büchner eine seit der Antike gängige Vorstellung, dass alle Organismen vom Einzeller bis zum Menschen sich auf einer scala naturae einordnen ließen; bestimmte Tierarten hätten bestimmte Positionen evolutionär erobert und hielten sie seither besetzt, während andere Tierarten sich solange weiter verändern, bis sie ihre Nische gefunden haben. Das systematische Problem dieses metaphorischen Ordnungsmodells besteht darin, dass es räumliche, zeitliche und hierarchische Vorstellungen mischt und diese Mischung in unterschiedlichen Epochen jeweils anders akzentuiert wird. In der Postmoderne ist man geneigt, die Hierarchie abzuschwächen (nur weil es etwas später entstanden ist, muss es noch nicht wertvoller sein), zu Büchners Zeit war dagegen die Chronologie nicht so wichtig (unterschieden wurde zwischen „einfach“ und „komplex“, was als „niedrig“ und „hoch“ hierarchisiert wurde, nicht aber als älter/früher bzw. jünger/später eingeordnet), obwohl Büchner mit dem Begriff der „Entwicklung“ eine zeitliche Komponente einbringt. Allerdings wurde die Naturgeschichte erst in Folge von Darwins Abhandlung On the Origin of Species (1859) einer Historizität in strengem Sinn unterworfen. Die Ausrichtung auf ein historisches Telos hin – die Idee vom Menschen als Krone der Schöpfung wird in der Evolutionsbiologie durch das Theorem gerettet, der Mensch sei als zuletzt entstandene Spezies auch die höchstentwickelte und daher nicht mehr auf eine bestimmte Nische beschränkt – lehnte Büchner jedoch nicht zuletzt unter dem Eindruck seiner philosophischen Studien ab. Spinoza schrieb (in Büchners Übersetzung), es sei evident, „daß die Natur keinen bestimmten Zweck habe und daß alle Endzwecke menschliche Erdichtungen sind“. Diese „Lehre von dem Zweck“ kehre sogar „die ganze Natur“ um. „Denn das was die Ursache ist, betrach-
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tet sie als Wirkung und umgekehrt.“ Grund sei die Selbstüberschätzung der Menschen. Nachdem diese „sich einmal überzeugt hatten, Alles, was geschieht, geschehe wegen ihnen, so erklärten sie das für das Vorzüglichste, was ihnen am nützlichsten war, und das schätzten sie vor Allem am Höchsten, wodurch sie am Angenehmsten afficirt wurden. Daraus mußten sie sich nun die Begriffe bilden, wodurch sie das Wesen der Dinge bezeichneten, nämlich, gut und bös, Ordnung u. Verwirrung, kalt u. heiß, schön und häßlich: und da sie sich für frei halten, so entstanden auch daraus die Begriffe von Lob u. Tadel, Sünde und Verdienst“ usw. (IX.2, 35–37). Büchner war davon überzeugt, dass die Natur so wenig wie „die Geschichte selbst“ gut oder böse sei und dass also der Naturforscher ebenso wie der Dichter „kein Lehrer der Moral“ (FA 2,410) sein dürfe. „Alles ist in der Natur um seiner selbst willen da“, hatte 1826 beispielsweise der Bonner Professor und führende Anatom Johannes Müller (1801–1858) geschrieben, eine Haltung, der in der Kunst die klassisch-romantische Autonomieästhetik entsprach (VIII, 543). Deswegen sei es in „Kunstsachen“ (V, 37) ebenso verfehlt wie in der Naturwissenschaft, nach der „größtmöglichste[n] Zweckmäßigkeit“ zu fragen. „Alles was ist, ist um seiner selbst willen da“, wiederholte Büchner und definierte als Aufgabe des Forschers, nach dem „Gesetz dieses Seins zu suchen“ (VIII, 153), so wie es die Aufgabe des Dichters sei, „in das eigenthümliche Wesen jedes einzudringen“ ohne nach „schön“ oder „häßlich“, nach gut oder böse „zu fragen“ (V, 37f.). Ende Juli 1836 lag Büchners Dissertation gedruckt vor. Er schickte einzelne Exemplare an Freunde, an seine Eltern (FA 2,459: „Deine Abhandlung hat mir recht viel Freude gemacht“, schrieb ihm der Vater im Dezember) und nach Zürich, wo er auf Grund dieser Arbeit am 3. September zum „Doctor der Philosophie“ promoviert und seinem Habilitationsgesuch gemäß zu einer Probevorlesung am 5. November eingeladen wurde. Die „Probevorlesung“ ist in der zweiten Hälfte im Wesentlichen eine übersetzte Zusammenfassung des Mémoire. Sie geht aber zu Anfang auch über das bereits Vorgelegte hinaus. Büchner nahm die Neuroanatomie der Fische zum Ausgangspunkt für weiterreichende Überlegungen in vergleichender Anatomie und antizipierte ein Forschungs- und Lehrprogramm für die folgende Zeit. Er schrieb die Probevorlesung in relativ kurzer Frist nach dem 25. Oktober nieder. Am 5. November 1836 hielt er sie vor „circa 20 Zuhörern“ und „erntete den allgemeinsten Beifall“, wie Ludwig Büchner erzählte: „Der berühmte Oken, Professor in Zürich, war entzückt davon, und sowohl er, als Arnold, Professor der Anatomie, wurden sehr für Büchner eingenommen, nachdem sie bereits das günstigste Urtheil über die Abhandlung gefällt hatten.“ (VIII, 217). Der Beifall der Zürcher Gelehrten war Büchner aber nicht deswegen sicher, weil er ihnen nach dem Mund geredet hätte, wenngleich vermuten werden darf, dass es Lorenz Oken nicht ungern hörte, wenn seine Benennungen „sinnreich“ genannt wurden (165). Doch musste sich der ebenfalls anwesende Friedrich Arnold zum Beispiel anhören, dass es doch „wohl immer vergeblich bleiben“ dürfte, wenn man die anatomischen Untersuchungen „gerade bey der verwickeltsten Form, nämlich bey dem Menschen“ anfange (159), wie er es in seiner Schrift Der Kopftheil des vegetativen Nervensystems beim Menschen (Heidelberg 1831) getan hatte, eine Schrift, die
Amoralität der Natur und Geschichte
Promotion 1836
Probevorlesung zur Erlangung der venia legendi
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IV. Schriften. Einzelanalysen
Grundregel: Mit dem Einfachen anfangen
Gegen die teleologische Methode
Für die philosophische oder genetische Methode
Absichtslose Harmonie
Büchner aber immerhin als „bedeutendste[n] Versuch“ (157) hinsichtlich der Aufschlüsselung der Schädelnerven auch würdigte. Nicht mit den verwickeltsten, sondern „mit den einfachsten Dingen“ anzufangen war nicht nur ein probates, von Lenz in der gleichnamigen Erzählung angewandtes Mittel, um nach einer Angstattacke „wieder zu sich zu kommen“ (V, 47), sondern auch die von René Descartes im Discours de la méthode pour bien conduire sa raison et chercher la verité dans les sciences (1637, 2.16) aufgestellte dritte Grundregel des wissenschaftlichen Denkens (vgl. IX.2, 43), und eben auch die Maxime jener von Büchner empfohlenen und praktizierten „genetischen Methode“ (VIII, 5), die zu Beginn der Probevorlesung polemisch gegen die alternative teleologische Methode abgegrenzt wird. Letztere werde vornehmlich in England und Frankreich vertreten und finde „die Lösung“ immer „in dem Zweck der Wirkung, in dem Nutzen der Verrichtung eines Organs. […] Sie macht den Schädel zu einem künstlichen Gewölbe mit Strebepfeilern, bestimmt, seinen Bewohner, das Gehirn, zu schützen, – Wangen und Lippen zu einem Kau- und Respirationsapparat, – das Auge zu einem complicirten Glase, – die Augenlider und Wimpern zu dessen Vorhängen; – ja die Thräne ist nur der Wassertropfen, welcher es feucht erhält. […] Die teleologische Methode bewegt sich in einem ewigen Zirkel, indem sie die Wirkungen der Organe als Zwecke voraussetzt. Sie sagt zum Beispiel: soll das Auge seine Funktion versehen, so muß die Hornhaut feucht erhalten werden, und somit ist ein Augendrüse nöthig. Diese ist also vorhanden, damit das Auge feucht erhalten werde, und somit ist das Auftreten dieses Organs erklärt. […] Die größtmögliche Zweckmäßigkeit ist das einzige Gesetz der teleologischen Methode; nun fragt man aber natürlich nach dem Zwecke dieses Zweckes, und so macht sie auch ebenso natürlich bei jeder Frage einen progressus in infinitum“ (VIII, 153). Dieser Methode, die vor allem von den empiristischen und materialistischen Naturwissenschaften angewandt wurde und wird, setzte Büchner die „philosophische“ Grundansicht entgegen, die sich der genetischen Methode bediene. „Alles, was für jene [die Teleologen] Zweck ist, wird für diese [die Philosophen] Wirkung. Wo die teleologische Schule mit ihrer Antwort fertig ist, fängt die Frage für die philosophische an.“ Zum Beispiel sagten die Philosophen: „Die Thränendrüse ist nicht da, damit das Auge feucht werde, sondern das Auge wird feucht, weil eine Thränendrüse da ist, oder, um ein anderes Beispiel zu geben, wir haben nicht Hände, damit wir greifen können, sondern wir greifen, weil wir Hände haben“ (153–155). So würde „für die philosophische Methode das ganze körperliche Dasein des Individuums nicht zu seiner eigenen Erhaltung aufgebracht, sondern es wird die Manifestation eines Urgesetzes, eines Gesetzes der Schönheit, das nach den einfachsten Rissen und Linien die höchsten und reinsten Formen hervorbringt. Alles, Form und Stoff, ist für sie an dies Gesetz gebunden. Alle Funktionen sind Wirkungen desselben; sie werden durch keine äußeren Zwecke bestimmt, und ihr sogenanntes zweckmäßiges Aufeinander- und Zusammenwirken ist nichts weiter, als die nothwendige Harmonie in den Aeußerungen eines und desselben Gesetzes, dessen Wirkungen sich natürlich nicht gegenseitig zerstören“ (ebd.). Sein Preis der philosophischen Ansicht der Natur ließ Büchner ins Schwärmen geraten. Er sprach vom „Ent-
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hüllen der schönsten und reinsten Formen im Menschen“, von der „Vollkommenheit der edelsten Organe, in denen die Psyche fast den Stoff zu durchbrechen und sich hinter den leichtesten Schleiern zu bewegen scheint“; und es ist nur wenig Ironie in Büchners Erinnerung an Lavaters „Enthusiasmus, mit dem“ dieser „sich glücklich“ pries, „daß er von so was Göttlichem, wie den Lippen, reden dürfe“ (153). Seine Abneigung gegen jeden Utilitarismus, sei es in naturwissenschaftlicher, philosophischer oder politischer Hinsicht ließ Büchner immer dann ,poetisch‘ werden, wenn es galt, den Traum von der umfassenden Harmonie zu feiern – sei es gesellschaftlich: „Die Staatsform muß ein durchsichtiges Gewand seyn, das sich dicht an den Leib des Volkes schmiegt. Jedes Schwellen der Adern, jedes Spannen der Muskeln, jedes Zucken der Sehnen muß sich darin abdrücken. Die Gestalt mag nun schön oder häßlich seyn, sie hat einmal das Recht zu seyn wie sie ist, wir sind nicht berechtigt ihr ein Röcklein nach Belieben zuzuschneiden“ (III.2, 6); sei es philosophisch-literarisch: „Der liebe Gott hat die Welt wohl gemacht wie sie seyn soll […]; wir haben dann nicht zu fragen, ob es schön, ob es häßlich ist, das Gefühl, daß Was geschaffen sey, Leben habe, stehe über diesen Beiden […]. Die schönsten Bilder, die schwellendsten Töne, gruppiren, lösen sich auf. Nur eins bleibt, eine unendliche Schönheit, die aus einer Form in die andre tritt, ewig aufgeblättert, verändert […]. Der Dichter und Bildende ist mir der liebste, der mir die Natur am Wirklichsten giebt“ (V, 37f.); sei es naturwissenschaftlich: „Botanik und Zoologie, die Physiologie und vergleichende Anatomie“ erfreuten sich „eines bedeutenden Fortschrittes. In einem ungeheuren, durch den Fleiß von Jahrhunderten zusammengeschleppten Material, das kaum unter die Ordnung eines Kataloges gebracht war, bildeten sich einfache, natürliche Gruppen; ein Gewirr seltsamer Formen unter den abentheuerlichsten Namen, löste sich im schönsten Ebenmaaß auf; eine Masse Dinge, die sonst nur als getrennte, weit auseinanderliegende facta das Gedächtniß beschwerten, rückten zusammen, entwickelten sich auseinander oder stellten sich in Gegensätzen gegenüber“ (VIII, 155). Immer deutlicher sei so geworden, dass die Natur „groß und rein“ sei, „nicht weil sie jeden Augenblick willkürlich neue Organe für neue Funktionen schafft, sondern weil sie nach dem einfachsten Plan die höchsten und reinsten Formen hervorbringt“ (101). Diese Äußerungen wurden gelegentlich missverstanden, weil die Interpreten übersahen, dass hier von zwei Schönheiten die Rede ist. Die eine ist die äußere Schönheit der Gestalt, die eine diskursive Konvention ist und unter anderen kommunikativen Bedingungen Hässlichkeit wäre – aber danach hätten wir nicht zu fragen, meinte Büchner. Die andere Schönheit ist eine innewohnende Schönheit und bezieht sich auf die perfekte Ordnung der Dinge in der Natur; sie ist ewig, auch wenn ihre Emanation beständigen Metamorphosen unterworfen sei; Büchner sprach hier von „Metempsychose“ (VIII, 155). Der äußeren und der inneren Natur und ihren jeweiligen Gesetzen spürte Büchner nach, als Dichter, Philosoph und Naturforscher gleichermaßen. So sehr ihn aber „auch das reiche innere Leben der Menschen“ anzog, wie sein Freund Wilhelm Schulz schrieb (Grab 1985, 140), so sehr stieß ihn die „entsetzliche Gleichheit“ in der „Menschennatur“ (FA 2,377) ab, die die Leute „unter gleichen Umständen“ auch „Alle gleich“ werden ließe (ebd.,
Gegen Utilitarismen
Zwei Begriffe von Schönheit
Perfekte Ordnung der Dinge
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IV. Schriften. Einzelanalysen
Liebe zur Natur
378). Unzweideutig schien allein Büchners Liebe zur Natur, wo sich eine Harmonie finden ließ, die man in menschlichen Verhältnissen vergeblich suchte. Seinem Bruder zu Folge hegte Büchner zeitlebens „eine innige Liebe zur Natur“ (WK 107), was Karl Emil Franzos dazu brachte, eine Anekdote zu erfinden, in der sich ein Schulfreund erinnert, der 17-jährige Büchner habe die Natur als „Geliebte“ personifiziert: „Im Sommer 1831 begegnete ich Georg Büchner einmal in der Dämmerung am Jägerthor. Er sah sehr ermüdet aus, aber seine Augen glänzten. Auf meine Frage, wo er gewesen, flüsterte er mir in’s Ohr: ,Ich will’s dir verrathen: den ganzen Tag am Herzen der Geliebten!‘ ,Unmöglich!‘ rief ich. ,Doch‘, lachte er, ,vom Morgen bis zum Abend in Einsiedel und dann in der Fasanerie!‘“ (WK 155).
7. Leonce und Lena Preisausschreiben für das beste Lustspiel 1836
Mögliche ältere Entwürfe
Erste Fassung Juli 1836
Seit Anfang 1836 erschien in verschiedenen Zeitungen die Ausschreibung eines Preises „für das beste ein- oder zweiaktige Lustspiel in Prosa oder Versen“, den der Cotta-Verlag in Stuttgart ausgelobt hatte (vgl. KatM 228). Büchner sah diese Preisausschreibung vielleicht in der von Lorenz Oken herausgegebenen Isis, wo sie mit dem Einsendeschluss „1. Juli 1836“ versehen im Februar 1836 erschienen war. Wann immer er sich entschloss, sich an diesem Wettbewerb zu beteiligen – wegen der Arbeit an dem Mémoire sur le système nerveux du barbeau kam Büchner nach eigenem Bekunden im Frühjahr nicht zum Dichten. „Erst gestern“ sei seine Dissertation „vollständig fertig geworden“, berichtete er am 1. Juni 1836 dem Freund Eugène Boeckel: „Sie hat sich viel weiter ausgedehnt, als ich Anfangs dachte und ich habe viel gute Zeit [da]mit verloren; […] schreiben habe ich die Zeit nichts können“ (FA 2,436f.). Ob es „ältere Notizen und Exzerpte, vielleicht auch szenische Entwürfe“ für das Lustspiel gab (Hauschild 1993, 529), muss offen bleiben. In einem während der Arbeit an dem Stück ausgeschiedenen Entwurfsbruchstück (H1) verwendete Büchner einen Witz (VI, 14 bzw. 40: „Wer arbeitet ist ein subtiler Selbstmörder“), den er auch schon in einem Mitte März 1835 an Karl Gutzkow geschriebenen Brief (FA 2,397: „dem subtilen Selbstmord durch Arbeit“) gebrauchte. Paul Landau empfand 1909 die „Stimmung“ der ebenfalls ausgeschiedenen „Polizistenszene“ (VI, 17f. bzw. 42/44) der Komik des Brieffragments vom 2. Juli 1834 (FA 2,386f.) „ganz“ ähnlich und begriff Leonce und Lena insgesamt als Gegenstück zu Danton’s Tod (WK 319f.; vgl. ebd., 305 u. 368). Konkrete Hinweise auf die Arbeit an einem Lustspiel vor dem 1. Juni 1836 gibt es jedoch nicht. Da Büchner sich an dem Komödien-Wettbewerb beteiligen wollte, muss er eine ausschreibungsgemäß höchstens zweiaktige Fassung noch im Juni angefertigt haben, denn er sandte die Abschrift seines „Concepts“ dem Cotta-Verlag ein, erhielt die Sendung aber „uneröffnet zurück“, da sie erst „zwei Tage“ nach dem Einsendeschluss, also am 3. Juli 1836, in Stuttgart eintraf und daher „zur Concurrenz“ nicht zugelassen wurde (WK 126f.; Hauschild 1993, 529). Im Übrigen muss das Preisausschreiben keineswegs der Auslöser für den Lustspielplan gewesen sein. Anfang Juni muss Büchner in einem Brief an Gutzkow (vgl. FA 2,441) davon gesprochen haben, dass er einen Band mit
7. Leonce und Lena
zwei Dramen – also Leonce und Lena und Woyzeck – zu publizieren trachte; ein Plan, den er im September 1836 (454) noch einmal bestätigte, um gleichzeitig dessen Verzögerung zu melden. Im Januar 1837 meinte er, diesen Band bald „erscheinen lassen“ zu können (461). Wahrscheinlich betrieb Büchner die Arbeit an Leonce und Lena von Anfang an vor allem in Hinsicht auf den Dramen-Band „und betrachtete den Wettbewerb eher als zusätzlichen und nicht unbedingt erfolgversprechenden Publikationsweg“ (VI, 245), verlockt wohl durch den ausgeschriebenen Preis von 300 Gulden, was die zehnfache Summe dessen war, was er für Danton’s Tod bzw. die Hugo-Übersetzungen erhalten hatte. Generell hatte Büchner nach dem Scheitern des Zeitschriften-Projekts der Deutschen Revue im November 1835 (für das er die „Novelle“ Lenz liefern wollte) beschlossen, sich künftig ausschließlich „auf dem Feld des Drama’s“ literarisch zu profilieren, wie er am 1. Januar 1836 gegenüber seinen Eltern erklärte (FA 2,423). Nachdem er das Wettbewerbs-Manuskript von Leonce und Lena vermutlich Ende Juli 1836 zurückerhalten hatte, arbeitete Büchner neben der Vorbereitung auf die projektierten Vorlesungen „über die philosophischen Systeme der Deutschen“ an dem Lustspiel und an Woyzeck weiter. Er sei „gerade daran, sich einige Menschen auf dem Papier totschlagen oder verheiraten zu lassen“, schrieb er am 2. September seinem Bruder Wilhelm (FA 2,448). Als Georg Büchner am 18. Oktober 1836 Straßburg verließ, um nach Zürich überzusiedeln, hatte er die beiden unvollendeten Dramen-Manuskripte im Gepäck. Obwohl ihn die Arbeit an seinem im November aufgenommenen Kolleg über vergleichende Anatomie der Fische und Amphibien „vollauf“ beschäftigte, „da es damals in Zürich beinahe völlig an vergleichend anatomischen Präparaten fehlte, und er dieselben fast alle selbst anfertigen mußte“ (WK 127), feilte Büchner auch weiter an seinen „poetischen Produkte[n]“ (FA 2,465). Das Lustspiel Leonce und Lena habe er „zu Zürich vollendet“, d.h. zwischen dem 24. Oktober 1836 (Anmeldung in Zürich) und dem 2. Februar 1837 (an diesem Tag „mußte er sich zu Bette legen“) abgeschlossen, wie sich sein Zürcher Freund und Mitbewohner Wilhelm Schulz erinnerte (Grab 1985, 140f.). Büchners Lustspiel speist sich vor allem aus zwei Quellenkomplexen: Erstens der satirische Blick auf die gesellschaftliche Realität in den deutschen Duodez-Fürstentümern zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Es verstehe sich, meinte Wilhelm Schulz 1851, dass „das Reich Popo, unter der Regierung S[eine]r Maj[estät] des Königs Peter, ein specifisch deutscher Musterstaat“ sei (Grab 1985, 61). Schon als Schüler bot Büchner und seinen Freunden der Blick auf den heimatlichen „residenzlichen Kulturboden […] ergötzlichen Stoff zu allerlei kritischem und humoristischem Wetteifer in Beurteilung der Zustände“, erinnerte sich ein Klassenkamerad später (MA 373). Konkret bot die Erinnerung an die Solennitäten anlässlich der Vermählung des hessendarmstädtischen Thronfolgers Ludwig mit der bayerischen Königstochter Mathilde Anfang 1834, die Büchners Bekannte Heinrich Künzel und Friedrich Metz in einer Chronik der Feierlichkeiten (Darmstadt 1834) beschrieben hatten, Material für Büchners Lustspiel, dessen Handlungskern ja die Verheiratung eines Prinzenpaares ist (vgl. die Auszüge in VI, 401–424). Der zweite Quellenkomplex von Büchners Lustspiel ist die romantische Komödientradition, aus der zwei Stücke für Büchner besonders wichtig wur-
Ausarbeitung der zweiten Fassung
Satirischer Blick auf Realität
Romantische Komödientradition
99
100
IV. Schriften. Einzelanalysen
Alfred de Musset
Clemens Brentano
Literarische Quellen
Teildruck 1838
Vollständiger Druck 1850
den, nämlich Ponce de Leon (1804) von Clemens Brentano und Fantasio von Alfred de Musset (1834). An Musset interessierte Büchner vor allem, dass bei ihm weniger die Handlung des Stücks als die psychologischen Beziehungen zwischen den Figuren und das Lebensgefühl der Protagonisten im Vordergrund standen. Die Beziehungen sind oft von einer grausamen Gefühllosigkeit, das Lebensgefühl geprägt von Langeweile, Melancholie und Weltschmerz, wie es kennzeichnend war für die um 1830 etwa 20-jährigen „Kinder ihrer Zeit“, wie man auf Mussets Bekenntnisse (1836) anspielend sagen könnte. Bekannt war Musset auch für seinen respektlosen Umgang mit poetischen und gesellschaftlichen Normen. Von Brentano übernahm Büchner die seinem Lustspiel zugrunde liegende Handlungsstruktur der Heilung eines Melancholikers durch die Liebe und vor allem die Behandlung der Sprache. Heinrich Heine schrieb über Ponce de Leon: „Wie Harlekine rennen die verrücktesten Wortspiele durch das ganze Stück und schlagen überallhin mit ihrer glatten Pritsche“ (HSS 3,447). Dies ließe sich auch von Leonce und Lena sagen, besonders von der ersten Hälfte, in der Leonce sich mit witzelnden Wortspielen über die eigene innere Leere hinwegzutrösten versucht und sich mit dem Narren Valerio, der ihm in jeder Hinsicht gewachsen ist, anfreundet. Darüber hinaus ist, wie die quellenkritische Forschung der letzten Jahrzehnte zeigte, Leonce und Lena voll von Anspielungen auf literarische Vorlagen aller Art. Neben Brentano und Musset und nach Shakespeare und Goethe waren es offensichtlich Jean Paul, Ludwig Tieck und E.T.A. Hoffmann, die Büchner für die Arbeit an seinem romantisierenden Lustspiel ausbeutete. Es ist bekannt, dass Büchner „Jean Paul und die Hauptromantiker […] fleißig gelesen“ (MA 371) und sich an den romantischen Mustern zum Schriftsteller gebildet hatte. Wie kein anderer Text Büchners, dessen Fantasie in hohem Maß dokumentengeleitet war, ist sein Lustspiel Literatur aus Literatur. Dabei präferierte Büchner gegenüber der satirischen Verlachkomödie das Modell der romantischen „Humoreske“ (Grab 1985, 61). Gutzkow publizierte erstmals 1838 Büchners Lustspiel als Teildruck, da das Stück „nur ein schnell hingeworfener Versuch“ sei, der allenfalls „die Hoffnungen andeuten“ könne, „die man auf des jungen Dichters Zukunft setzen konnte“, wie es in der Einleitung des Zeitschriftendrucks (Telegraph für Deutschland Nr. 76, May 1838, 601) heißt. Außerdem enthalte das Stück „derbe“, nämlich ,unkeusche‘ und „politische“ Anspielungen (ebd.), „die im Druck entweder gemildert oder besser ganz übergangen werden“, wie Gutzkow am 14. September 1837 an Jaeglé schrieb (Hauschild 1985, 66). Sein Verfahren, den Gang der Handlung zu referieren und nur die „eine oder andre Scene im Zusammenhang“ wörtlich einzuflechten, wandte Gutzkow jedoch nur für den ersten Akt an; den zweiten und dritten Akt druckte er ziemlich vollständig ab (vgl. Büchner: Gesammelte Werke 1987, Bd. 7). Ludwig Büchner betonte demgegenüber in der Einleitung zu den Nachgelassenen Schriften (1850), das Stück sei „zum ersten Mal hier vollständig abgedruckt“ (WK 126). In der Tat bietet diese Ausgabe an vielen Stellen mehr, mit ziemlicher Sicherheit authentischen Text als Gutzkows Version, an manchen Stellen aber auch weniger: Kürzungen nahm Ludwig Büchner vor allem mit Rücksicht auf politische, sittliche und sprachliche Empfindlichkeiten vor (vgl. VI, 300–309). Beide Drucke korrespondieren so
7. Leonce und Lena
stark, dass sie vermutlich auf dasselbe, allerdings verlorene Manuskript Büchners zurückgehen. Den Herausgebern lag jeweils eine Abschrift vor, in Gutzkows Fall von der Hand Wilhelmine Jaeglés, in Ludwig Büchners Fall von der Hand seiner Schwester Luise. Die editorische Schwierigkeit besteht darin, dass bei gemeinsamer, aber im Detail abweichender Überlieferung keinem der beiden Drucke von vornherein der Vorzug zu geben ist, „da fallweise der eine wie der andere authentischer zu sein scheint“ (Hauschild 1985, 92). Die Differenzen sind im Wesentlichen durch unterschiedliche Deutung des Befunds durch die jeweilige Abschreiberin, durch Eingriffe des jeweiligen Herausgebers oder durch unterschiedliche Satz- und Verlagskonventionen erklärbar. Eine moderne Edition muss daher jeden Einzelfall gründlich abwägen. Außer den Erstdrucken sind drei Entwurfsbruchstücke von der Hand Georg Büchners überliefert. Erstens ein 1836 entstandener Entwurf zum Beginn des „I. Act“ (VI, 8–21), zweitens Notizen zum Schluss des I., zum Beginn des II. und zu einer Szene des III. Akts (24–27), drittens fünf durchgestrichene Zeilen im Manuskript der Cartesius-Vorlesung von 1836 (30f.). Die handschriftlichen Entwürfe sind sämtlich „durch die Drucke, die eine spätere Entstehungsstufe bezeugen, überholt und kommen für die Textgrundlegung der Werkedition nicht in Frage“ (FA 1,587). Doch enthält der erste Entwurf eine von Büchner verworfene, durch „köstliche“ Komik ausgezeichnete „Parodie auf die hasenherzigen Diener des Gesetzes“ (Landau in WK 320), die sich Theaterleute seit der Uraufführung selten entgehen lassen und daher in den Text des ersten Akts der Komödie gern einmontieren. Walter Hinderer (1977, 133) stellte zu Recht fest, dass das „literarische Zitat“ in Leonce und Lena das „entscheidende ästhetische Bauprinzip und Teil der Kommunikationsstrategie“ sei. Bereits die „Vorrede“ des Stücks (VI, 99) stellt das Verfahren aus. Es handelt sich um die kürzestmögliche Kontrastierung zweier Motive für literarische Arbeit (Ehre oder Geld), die den antagonistischen Repräsentanten des italienischen Theaters im 18. Jahrhundert in den Mund gelegt werden. Die Idee dieser Gegenüberstellung stammte von George Sand, ist also ein – verdecktes oder von Büchner seinerzeit als bekannt vorausgesetztes – Zitat. Zugleich macht die „Vorrede“ deutlich, dass in Büchners Lustspiel ernste Probleme (zum Beispiel das des „Hungers“) in spielerischer, nämlich wortspielerischer Manier verhandelt werden (vgl. Beise 2005/08, 86–98). Das in der idealistischen Ästhetik schlecht angesehene Wortspiel wird in Leonce und Lena, vor allem durch Valerio, der einmal explizit mit einem „Wortspiel“ identifiziert wird (VI, 108), als widerständiges Prinzip inszeniert. Eingeweihte konnten den Hinweis kaum missverstehen, denn Büchner ergänzte ihn mit einer Anspielung auf die „politischer Umtriebe für verdächtig“ gehaltene „geheime Gesellschaft“ revolutionärer Studenten, die Jean Paul 1820 in der Vorrede zum zweiten Band des Kometen feierte (JPW I.6, 689–710). Valerio tritt in I/1 mit einem Lied auf, das den hessischen Oppositionellen im Vormärz bei Polizeirazzien als Verschleierungslied zur Tarnung revolutionärer Aktivitäten diente (Voss 1987, 337–341). Zuvor hatte er sich dem Prinzen dadurch empfohlen, dass er sich ihm, dessen Vater parodierend – also durch komische Imitation entlarvend (VI, 101, 103: „legt den Finger an die Nase“) –, als Gleichgesinnten vorstellte, nämlich als Verächter
Textkritisches Problem
Entwurfsbruchstücke
Zitatismus
Wortspiele
101
102
IV. Schriften. Einzelanalysen
Heilung von Melancholie
Nach Italien
Liebe(r) Leben
Ernste Späße
der gegebenen Ordnung; als Jemand, der an Idealen laboriert; als Wissender; als Müßiggänger und als „wahrhaftiger Narr“ (VI, 100–106). Die Ende I/1 begründete Freundschaft bewährt sich in I/3, als Leonce und Valerio sich gegenseitig Stichwörter zu einer Kaskade von Wortspielen liefern. Zugleich ergibt sich aus dem exzessiv betriebenen Wort-Spiel dieser Szene die weitere Handlung des Stücks, die Heilung des Prinzen von seiner „sehr gegründeten Melancholie“ (VI, 100) und die Lösung aller Konflikte. „Wir müssen was Anderes treiben“ als das, was von uns erwartet wird, meint Leonce, aber nichts Ernsthaftes wie die „Wissenschaft“ oder das „Heiraten“; „Genie“, „Held“ oder „König werden“, geschweige denn „nützliche Mitglieder der menschlichen Gesellschaft“. Wenn alles das nichts sei, so könne man nur noch „zum Teufel gehen“, meint Valerio, und Leonce hat die Lösung: Nicht zu dem Teufel, sondern zu den Teufeln – nämlich zu den als „Teufel“ verschrienen Einwohnern von Kampanien – sollten sie gehen, genauer gesagt: nach Neapel, um dort als „Lazzaroni“ zu leben (VI, 109). Die Landschaft um Neapel sei ein von Teufeln bewohntes Paradies, wusste das Sprichwort, und die dort lebenden Lazzaroni waren die leibhaftige Provokation des nordeuropäischen Arbeitsethos: Denn statt um der Arbeit willen zu arbeiten, arbeiteten sie, „um zu genießen“, ja sie wollten „sogar bei der Arbeit des Lebens froh werden“, wie Goethe beobachtete (GHA 9,336–338). Neapolitanische Verhältnisse werden am Ende des Lustspiels per Dekret in Popo eingeführt, denn Leonce und Valerio kommen bekanntlich gar nicht bis „nach Italien“, weil ihnen schon vorher Lena über den so langen Weg läuft (II/2). Nicht zuletzt bewährt sich das Wortspiel, als Leonce und Lena sich im zweiten Akt begegnen und als Liebende erkennen. Zunächst scheint alles auf die Verdopplung der melancholischen (Lebens-)Müdigkeit der beiden Titelfiguren und dann auf den (Liebes-)Tod hinauszulaufen – Leonce alludiert „berühmte Prätexte der Liebes-Literatur“ (Beise 2002, 30) bis hin zu Werthers Selbstmord –, bevor Valerio diese „Stimmung“ durch seine Wortspiele zum Kippen bringt (VI, 117). Mittels einer raffinierten Anspielungs- und Zitattechnik vermochte Büchner dem „phantasievollen Spaß des Lustspiels“ (Dedner 1990, 171) einen Ernst zu implantieren, der sich nicht durch ein mimetisches Verhältnis zur Wirklichkeit herstellt, sondern durch ästhetischen Widerspruch gemäß Probsteins Maxime in Shakespeares As You Like It (III/3): „The truest poetry is the most feigning“: Am wahrhaftigsten ist die Dichtung, wenn sie am freiesten erfindet; also unrealistisch ist, d.h. sich nicht auf die Realität bezieht, sondern fiktiv ist oder die Fiktion sogar potenziert, zum Beispiel durch Anspielungen auf oder Zitate aus Dichtungen. Ein Beispiel ist der wiederholte Bezug auf Shakespeares Romeo and Juliet. Leonce ist ein anderer Romeo; wie dieser schafft er sich selbst zu Beginn der Rosetta-Szene, als er noch unglücklich liebt, eine künstliche Nacht (vgl. Romeo and Juliet I/1, V. 138f.); und wie dieser will er, als nichts mehr zu gehen scheint, sich ermorden, wird aber von einem vernünftigeren Bedienten daran gehindert (ebd., III/3, V. 108). Büchner schien von Shakespeares „virtuoser Engführung der Motive Tod-Liebe, Erwachen-Einschlafen, Geburt-Sterben“ fasziniert zu sein, so dass er sich besonders auch in der Szene „Garten. Nacht und Mondschein“ (II/4) ausführlich aus Romeo and Juliet bediente (vgl. Dedner
7. Leonce und Lena
1987, 174f.). Die Liebes-Tragödie grundiert Leonces Liebes-Lust und verleiht der Komödienhandlung einen existentiellen Ernst, der einerseits durch die komischen Brechungen nicht beeinträchtigt wird, der aber andererseits auch den „Spaß“ (VI, 123) des Lustspiels ebenso wenig beeinträchtigt. Mutatis mutandi gilt dies auch für die satirischen Elemente in der Komödie. In I/2 wird das spätabsolutistische Staatsverständnis deutscher Monarchen verspottet (VI, 102: „Ich muß für meine Unterthanen denken“), und zwar zugleich mit den Phrasen der zeitgenössischen idealistischen Philosophie (ebd.: „Die Substanz ist das an sich […]. Jetzt kommen meine Attribute, Modificationen, Affectionen und Accidenzien […]. Die Kategorien sind in der schändlichsten Verwirrung“). Am Ende der Szene kommt der König, der sich eigentlich an sein „Volk erinnern“ wollte, nach „langem Besinnen“ zu dem Schluss: „Ich bin ich“, ein auf der Ebene der Psychopathologie (Hilfe in einer Selbstbewusstseinskrise), der Philosophiesatire (Fichtes „erster schlechthin unbedingter Grundsatz“ der „gesammten Wissenschaftslehre“) und der Herrschersatire (vgl. Eichendorff: Krieg den Philistern, 1. Abenteuer: „Ich bin Ich, das heißt […] der Herr Regent dort ist der Herr Regent“) dechiffrierbarer Satz (vgl. VI, 448f.). Das vergessene „Volk“ tritt in Leonce und Lena nur in der Szene III/2 auf, wo „Bauern im Sonntagsputz“ auf dem „Platz vor dem Schlosse des Königs Peter“ als Jubelchor gruppiert, vom Schulmeister instruiert und dem Landrat inspiziert werden (VI, 118f.). Allerdings kann man das Volk als revolutionäre „Klasse“ vergessen, jedenfalls braucht man bei diesen Bauern kein „neues geistiges Leben“ (FA 2,440) suchen. So sehr der zeremoniale Einfall, die Bauern so zu stellen, „daß der Wind von der Küche über“ sie „geht“, damit sie „auch einmal“ im Leben „einen Braten riechen“ können, soziales Mitleid oder Wut über die ungerechten Verhältnisse zu wecken vermag – vgl. Büchners Neujahrsbrief 1836 an die Eltern: „Der Gedanke, daß für die meisten Menschen auch die armseligsten Genüsse und Freuden unerreichbare Kostbarkeiten sind, machte mich sehr bitter“ (FA 2,423) –, so sehr sind Büchners „Komödien-Bauern doch primär die komische Abbreviatur der damals sprichwörtlichen ,schlechten Menschen und guten Leute‘ aus Brentanos Ponce de Leon (V/2), wie an dieser Stelle auch die Allusion auf die sprichwörtliche Redensart ,den Braten riechen‘ zeigt“ (Beise 2005/08, 96f.). Die Bauern in Leonce und Lena werden also zur Zielscheibe des Spotts (sie torkeln in ihrer Trunkenheit und die ihnen eingebläute „Lection“ klingt wie ein verständnisloses „Wie? Wat?“), ohne dass die Solidarität mit ihnen – Effekt des von Büchner stets eingeklagten Mitleids mit den „Geringsten“ (V, 37) –, aufgekündigt würde. Das Lachen über die Bauern ist kein satirisches Verlachen, sondern ein humoristisch moderiertes Auslachen, dem die „vernichtende“ Spitze, wie Jean Paul das kritische Potenzial der Komik bezeichnete (JPW I.5, 129, 131), nicht abgebrochen wurde. Dies ist das Verfahren der „aristophanischen Humoreske“ (Beise 2005/08, 99), in der der „Feenwagen des Humors“ nicht zugleich als „Paketpost für Moral und gute Sitte“ benutzt wird, sondern in der der „Humor“ zur „köstlichsten Blüte der Poesie“ dadurch werde, dass er „mit Tränen benetzt“ sei, wie sich der Junghegelianer Robert Prutz seinerzeit ausdrückte (zit. ebd., 95, 100). In der sogenannten Bauernszene sind die „Tränen“, die den „Humor“ benetzen, das ,bittere‘ Mitleid mit den sozial Deklassierten, denen in der nächsten Szene
Satirische Elemente
Volk als komische Figur
Auslachen statt Verlachen
Aristophanische Humoreske
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IV. Schriften. Einzelanalysen
Gefahr der Wiederholung
Antikapitalistische Utopie
Utopie muss unrealistisch sein
Romantizität des Lustspiels
Ambivalente Ironie
die ebenso „sorgfältig gruppirte“ Klasse der höfischen „Herren und Damen“ entgegengestellt wird, deren „Fleisch […] vom Stehen“ verderbe, so dass man den Eindruck bekommen könnte, der Geruch, der aus dem Schloss „über“ die Bauern wehe, sei der Verwesungsgestank einer ebenso „abgestandenen“ (VI, 119) wie „abgelebten […] Gesellschaft“, die der Autor des Stücks „zum Teufel“ wünschte (FA 2,440) und die der frisch inthronisierte König Leonce am Ende des Dramas immerhin „nach Hause“ schickt (VI, 123). Leonce kann auf die „Dienste“ der verabschiedeten besseren Gesellschaft ebenso wie auf die des abgegangenen Staatsrats verzichten, weil er zuletzt – nachdem für einen Moment die Gefahr aufblitzte, dass das neue Regime nur eine verjüngte Ausgabe des alten sein könnte, dass das Spiel, das mit Langeweile und Müßiggang anfing auch wieder in Langeweile und Müßiggang ende (Mayer 1946, 315) – das „Ländchen“ Popo in ein Schlaraffenland verwandelt, in dem es keine Diener und keine Herren mehr braucht, weil die Not und die Arbeit, die mechanische Zeitmessung und die kapitalistische Moderne abgeschafft sind, zugunsten einer „menschlichen Gesellschaft“, die sich durch „musikalische Kehlen, klassische Leiber und eine kommode Religion“ auszeichnet (VI, 123f.). Der gelegentlich geäußerte Einwand, dass die Schlussvision so offenkundig unrealistisch sei, dass sie nur als „verzweifelte Parodie auf ein erfülltes menschliches Leben“ (Martens 1977, 155) verstanden werden könne und Leonce, Lena und Valerio ein letztes Mal als Mitglieder einer „parasitären Klasse“ (Denkler 1973, 252) bzw. spätabsolutistischen „leisure class“ (Hinderer 1977, 62) desavouiere, ist insofern nicht stichhaltig, als sie den utopischen Gehalt der Vision, „um dessentwillen die Wirklichkeit durchstoßen oder aufgehoben werden muß“ (Wilhelm Fraengers Komische Bibliothek. Dresden 1992, 199), missachtet. Gattungsgemäß steht in Leonce und Lena meistens das „phantastische Spiel zur sozialen Wirklichkeit nicht im Abbild-, sondern im Widerspruchsverhältnis“ (Dedner 1990, 170). In dieser Hinsicht folgte Büchner dem Vorbild der autonomen Komödie, genauer gesagt: den vor allem romantischen Versuchen, „die reine Komödie“ oder „das lustige Lustspiel“, das in Deutschland laut Schiller und Goethe all zu sehr „durch das sentimentalische“ Lustspiel „verdrängt worden“ sei (Schiller 1993, 845), wieder herzustellen. Paradoxerweise hat, so meinte Hans Mayer (1946, 307), niemand im Vormärz „echter und folgerichtiger“ als der „Nichtromantiker Büchner“ das „romantische Gebot der Entmaterialisierung und Verzauberung der Welt in Gestalt umsetzen können“. Vor allem aber war Büchner in seiner Komödie der aneignenden Kritik der Romantik und ihrer häufig ambivalenten Ironie verpflichtet, was sich auch in seinem spielerischen Umgang mit Zitaten zeigt. Nach der ersten Begegnung mit Lena, die die Heilung des Melancholiker Leonce durch Liebe einleitet, äußert dieser: „O lieber Valerio! Könnte ich nicht auch sagen: ,sollte nicht dies und ein Wald von Federbüschen nebst ein Paar gepufften Rosen auf meinen Schuhen?‘ Ich hab’ es glaub’ ich ganz melancholisch gesagt. Gott sey Dank, daß ich anfange mit der Melancholie niederzukommen. Die Luft ist nicht mehr so hell und kalt, der Himmel senkt sich glühend dicht um mich und schwere Tropfen fallen.“ (VI, 114f.). Leonce zitiert hier, durch Anführungszeichen markiert, den Titelhel-
7. Leonce und Lena
den aus Shakespeares Hamlet. Die Leser müssen die allerdings nur anzitierte Frage mit dem Schluss: „… mir zu einem Platz in einer Schauspielergesellschaft verhelfen?“ ergänzen. Meint Leonce also, dass seine „träumend vor sich hin“ gesprochene Bemerkung über das „Picken der Todtenuhr in unserer Brust“ und die „müden Füße“, für die „jeder Weg zu lang“ sei (114), nur unechte, gespielte Melancholie gewesen sei, mit der er Lena so beeindruckte? Leonce bemerkt nun, dass die Luft nicht mehr so „hell und kalt“ (114) bzw. so „scharf und dünn“ (106) wäre, wie es den Zustand der Melancholie kennzeichnet, sondern dass sie sich zu einer Atmosphäre verdichte wie zu Beginn einer Schöpfung. In der Tat wird Leonce durch die Begegnung mit Lena und ihrer Frage: „Ist denn der Weg so lang?“ (115) gleichsam wiedergeboren. Fortan ist keine Rede mehr davon, dass „Doch einmal ein gewisser Genuß in einer gewissen Gemeinheit stecke – also jeder verdient hätte, dass man sich „zum Ritter an“ ihm mache (108f.), insofern alle Menschen die gleichen „armen Teufel“ oder „Narren“ sind (III.2, 6) –, sondern „daß selbst der Geringste unter den Menschen so groß ist, daß das Leben noch viel zu kurz ist, um ihn lieben zu können“ (VI, 117), dass also menschliche Individualität in jeder Form anzuerkennen und liebenswert sei. Wenn Leonce in dem angeführten Zitat von sich behauptet, „mit der Melancholie niederzukommen“, so bedeutet dies augenscheinlich, dass er – sie gebärend – zugleich an ihr erkrankt wie dass er sie los wird (vgl. Beise/Funk 2005, 53). Deutlich wird dies, indem Leonce sich durch das Hamlet-Zitat von seiner eigenen Melancholie distanziert, die ihn anfangs noch gefangen hielt. Gleichzeitig markiert das Zitat in Hamlet III/1 den erfolgreichen Abschluss des Schauspielexperiments, das der dänische Prinz angestellt hat. In Leonce und Lena II/2 markiert es den Beginn jener Metamorphose, die aus dem zynischen Prinzen einen „human“ (VI, 117) gesinnten Utopisten des Glücks macht. Scheint es zunächst so, als markiere das Zitat nur ein weiteres Kunststück aus dem Verführungsrepertoire des gelangweilten Wollüstlings, dessen „Ideal eines Frauenzimmers […] unendlich schön und unendlich geistlos“ ist (111), so erweist es sich doch auch als Markierung der Echtheit von Leonces verliebtem Gefühl, weil er ihm spielerisch den Ausdruck verleiht, der dem „Vorhaben des Schauspiels“ („the purpose of playing“) gemäß sei, nämlich wahrhaftige Darstellung, weder „übertrieben“ noch „zu schwach“, sondern der Natur es Menschlichen entsprechend („not too tame“, aber ebenso wenig „overdone“, vielmehr „imitated humanity“ gemäß „the modesty of nature“), wovon in Hamlets Schauspielunterweisung die Rede ist. Shakespeares ästhetische Maxime von der freiesten Erfindung als treuestem Spiel grundiert als auch Büchners Lustspiel, dessen radikale Artifizialität der politischen Radikalität des Hessischen Landboten so wenig nachsteht wie dem radikalen Realismus des Lenz. Dass aber literarische Fantastik wie literarische Realistik „bei gleicher Radikalität auf gleichen Widerstand stoßen“, lässt sich „an der Rezeptionsgeschichte von Büchners Lustspiel ablesen“ (Dedner 1990, 171). Leonce und Lena machte zunächst wenig Eindruck. Der teilweise Erstdruck in Gutzkows Telegraph für Deutschland (1838) wurde so gut wie gar nicht beachtet (vgl. VI, 333–335). Erst der Abdruck in den Nachgelassenen Schriften (1850) lenkte die Aufmerksamkeit auch auf das Lustspiel, wenn-
Individualität als höchster Wert
Utopie des Glücks
Radikale Artifizialität
Ablehnung der Romantizität
105
106
IV. Schriften. Einzelanalysen
Abb. 9: „Mein Gott, wieviel Weiber hat man nöthig, um die Scala der Liebe auf und ab zu singen? Kaum daß Eine einen Ton ausfüllt“ (Leonce und Lena I/3). Die zynische Bemerkung des von seinen sexuellen Ausschweifungen gelangweilten Prinzen in Leonce und Lena hat ihre Parallele in der anonymen Lithographie aus der Biedermeier-Zeit. In der Vorbemerkung zur Erstveröffentlichung von Leonce und Lena wies Gutzkow 1838 ausdrücklich auf Büchners ,unkeuschen Witz‘ hin.
Schulz’ Betonung des Satirischen
Schmidts Ablehnung der amoralischen Blasiertheit
Expressionistische Rezeption
gleich es von „verhältnißmäßig minderem Belang als der Danton“ sei, wie Eduard Sattler im Frankfurter Konversationsblatt (Nr. 285, 29. Nov. 1850, 1138) die überwiegende Meinung formulierte. In der ausführlichen Besprechung von Wilhelm Schulz wurde das Stück vor allem als Hof- und Fürstensatire gedeutet, doch betonte er auch den „sorgenbefreiende[n] Humor, der darin sprudelt“. Schulz kannte aus persönlichem Umgang Büchners Gabe, „bald tragisch erschütternde Auftritte, bald die seltsamsten und lustigsten Verwicklungen nur so als beiläufige Zugabe zur Unterhaltung zu improvisiren“ (Grab 1985, 65), betrachtete die Einheit des Werks also durch die Vielseitigkeit des Verfassers gewahrt und sah Danton’s Tod und Leonce und Lena als zwei Facetten eines Bewusstseins. In gewisser Weise galt das auch für den Literaturkritiker Julian Schmidt (1856, 51 u. 55f.), der beide Stücke als Ausgeburten eines an „Langeweile“ leidenden Jünglings beurteilte. Für Schmidt war Büchner ein symptomatischer Repräsentant der moralischen und politischen Fehlentwicklungen im Vormärz; die in den Werken sich ausdrückende „Modekrankheit des Spleens und der Blasirtheit“ sei „die Consequenz jener skeptischen Selbstbeschauung, die uns die Romantik gelehrt“. Für die (Wieder-)Entdeckung Büchners durch die Naturalisten spielte Leonce und Lena naturgemäß keine Rolle. Erst im Dunstkreis des Expressionismus (vgl. Dedner 1983) kam auch Büchners Lustspiel zu Ehren. In Darmstadt hatte der Regisseur Josef Gielen am 21. Januar 1923 das Lustspiel in expressionistischer Manier inszeniert („so viel als möglich Sternheimsche
7. Leonce und Lena
Grelle und Bitternis hineingestopft“) und damit einen veritablen Theaterskandal ausgelöst: „Muß denn alles, was dem deutschen Volke groß und heilig war und ist, heute niedergerissen werden?“ fragte ein Kritiker im Darmstädter Tagblatt (23. Januar 1923), was Wilhelm Michel im Hessischen Volksfreund mit der Bemerkung glossierte: Werde einmal Leonce und Lena aufgeführt, „dann schreibt der Spießer an das Theater, was denn das für ein neumodischer Autor sei, und abends in der Vorstellung versucht er, ihn auszuzischen“ (Zimmermann 1993, 30–37). Die Kanonisierung des Lustspiels im Gefolge des Expressionismus führte zu einer verstärkten Aufmerksamkeit für die avantgardistische Ästhetik des Stücks, die sich insbesondere aus seiner forcierten Intertextualität ergibt. Friedrich Gundolf (in Martens 1973, 93) betonte die „papierne Herkunft des Lustspiels“, Paul Landau hatte es deshalb ein „reines Kunstgebilde“ genannt (WK 332). In der Literaturwissenschaft wurde entsprechend viel Mühe auf die Identifikation der zahlreichen Vorbilder, Zitate, Anspielungen und Entlehnungen verwandt. Soweit sich die Literaturwissenschaftler dem Stück nicht nur positivistisch näherten, sondern es auch interpretierten, wurde es in die modernistische Dichtungstradition eingereiht. Büchner galt hier nicht als genialer Anverwandler des Alten, sondern als visionärer Vorläufer des Neuen. In einem bezeichnenden Aufsatz mit dem Titel „Von Georg Büchner zu Samuel Beckett“ stellte Wilhelm Emrich fest, dass Büchner bereits „alle wesentlichen Aufbauelemente“ der „modernen Dichtung“ des 20. Jahrhunderts vorweggenommen habe. Für manche war Leonce und Lena gar schon Erfüllung des ,Absurden Theaters‘, andere nannten das Stück ein ,Traumspiel‘, ,eine ,Komödie des Nihilismus‘ oder eine Groteske, um es der ,Moderne‘ anzunähern. Gustav Beckers (1961, 13) erinnerte das Stück an Kierkegaards ,Existentialismus‘, Gonthier-Louis Fink (in Martens 1973, 498 u. 505) an Nietzsches ,Nihilismus‘ und Maurice Benn (1977, 166) an Schopenhauers ,Pessimismus‘ (vgl. Hermand 1983, 101–103). Die vorstehend charakterisierten, im Westen der 1950er bis 70er Jahre dominierenden Interpretationsansätze argumentierten im Wesentlichen mit einem identifikatorischen Verhältnis des Autors zu den Titelfiguren seiner Komödie. Ganz im Gegensatz dazu standen prononciert materialistische Ansätze, die das gesellschaftskritische Potenzial des Stücks betonten. Sie lasen Leonce und Lena vor allem als Satire auf die zeitgenössische Wirklichkeit und beurteilten das Verhältnis Büchners zu seinem Lustspielprinzen als verächtlich. So hieß es bei dem Ostberliner Professor Heinz Kamnitzer (1954, 131), Büchner zeige in dem Lustspiel, „wie der Müßiggang die Lebensweise einer parasitären Gesellschaftsklasse ist und wie dieser Müßiggang zur Quelle der eigenen Unzufriedenheit und der tödlichen Langeweile wird; wie die Langeweile die Mutter der Melancholie ist und die Melancholie der Zustand, in dem sich der Mensch einer untergehenden Gesellschaft über die Sinnlosigkeit seines Lebens klar wird. In dem lustigen Spiel mit dem ernsten Sinn wird die Willkür der deutschen Fürsten und die Knechtschaft ihrer Untertanen an den Pranger gestellt“. Wolfgang Rabe bezeichnete das ganze Stück als „plebejischen Protest gegen das nutzlose Schmarotzerdasein der Höflinge“ (zit. n. Wohlfahrt 1988, 107). Lienhard Wawrzyn (1974, 94, 109 u. 114) sah in dem Lustspiel eine „Denunziation der herr-
Avantgardistische Ästhetik
Vision der Moderne
Gesellschaftskritisches Potenzial
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IV. Schriften. Einzelanalysen
Weltanschaulicher Streit verliert um 2000 an Interesse
Popmodernistische Rebellion
schenden Klasse durch die Hypostasierung ihrer Weltsicht“, beurteilte die Melancholie der auftretenden Aristokraten als eine „Melancholie der […] vollen Bäuche“ und behauptete, das Stück sei aus „Haß gegen ein System“ geschrieben, das einen Zustand „totaler Entfremdung“ produziere. In dieser Deutungsperspektive gilt die Schlussutopie nicht als Einrede gegen die bedrückende Wirklichkeit, sondern als „zum Zwecke der Selbstbelustigung“ betriebenes „Spiel“, als „parodistischer Spaß“, mit dem sich das entfremdete Individuum Leonce in der Rolle „des autonomen Künstlers“ selbst zu retten versucht (Poschmann 1988, 217f.). Die sich als kritisch oder links verstehenden Literaturwissenschaftler griffen häufig zu einer bemerkenswerten Argumentationsfigur, um auch Leonce und Lena „ohne jeden Abstrich“ (Mayer 1979b, 409) als operatives Kunstwerk im Dienst der Revolution zu retten: „Die direkte Aufnahme des Themas der ausgebeuteten und verachteten Arbeit“ zum Beispiel hätte die Deutlichkeit der dichterischen Analyse „verwischt“ (Poschmann 1988, 195). Gerade weil die sogenannte „Bauernszene dramaturgisch gewissermaßen an den Rand des Textes gerückt“ (Wohlfahrt 1988, 143) wurde, obwohl sich das Stück ansonsten durch „äußerste dramaturgische Geschlossenheit“ auszeichne (Werner 1992, 104), sei sie der „Schlüssel“ zum „grundlegenden Gehalt des Stückes“ (Poschmann 1988, 191), ja dieser sei dem Stück nicht explizit zu entnehmen, sondern stecke „hinter dem […], was es zu sein oder zu spielen vorgibt“ (Wohlfahrt 1988, 116). Oder anders gesagt: Das „Eigentliche“ sei in dem Stück ,kryptographiert‘ anwesend, d.h. verbaliter ausgespart bzw. „im Unbewußten des Texts“ abgelegt (Hiebel 1988/89, 126ff.). Seit Mitte der 1990er Jahren hat der weltanschauliche „Streit um Leonce und Lena“ (Hermand 1983) an Bedeutung verloren. Die Forschung interessiert sich stärker für einzelne thematische Komplexe, etwa die Langeweile (Fues 1992), das Automatenmotiv (Helwig 1993), das ludische Element (Morgenroth 1996), die dramatische Konfiguration (Deufert 1997), das Mimisch-Komische (Kafitz 2000), die romantische Utopie (Beise 2002) oder die Melancholie (Dörr 2003). Zunehmend wird in der Wissenschaft die „Pluralität des Sinngehalts“ (Martin 2007, 181) wahrgenommen und die „Vereinbarkeit des Unvereinbaren im Werk Georg Büchners“ (Rohde 2006) konstatiert. Nicht mehr der Gegensatz von ästhetischem Konformismus und politischem Widerstand, sondern die komische „Koinzidenz von Rebellion und Gehorsam“ (Müller-Sievers 2003, 127) in Büchners Komödie fordert die Interpreten heraus. Damit entspricht das Stück einem weit verbreiteten Lebensgefühl um die zweite Jahrtausendwende, das man post-postmodern oder popmodernistisch nennen könnte. Das Büchner-Zitat: „Mein Zukunft ist so problematisch, dass sie mich selbst zu interessieren anfängt, was viel heißen will“ (FA 2,397), diente Stefan Pucher zu Beginn des 21. Jahrhunderts als Motto für seine Leonce und Lena-Inszenierung in Hamburg (Premiere am 9. Februar 2002), zu der er anmerkte: „Ich bin […] auf der Suche nach dem, was (mir) fehlt. […] Jedem fehlt was: Manschetten, Liebe, ein Braten, eine Dame, ein irrender Königssohn, das Hochzeitspaar, ein Subjekt zum Steckbrief, ein Volk […]. Dieses Fehlen zu spüren, als Frust, als starkes Gefühl, das […] in Energie umgewandelt werden muss. Der Punkt beim ,da fehlt mir was‘ ist ja gerade, dass man nicht weiss, was fehlt. Und selbst die-
8. Woyzeck
ses Wissen kann das Gefühl auch nicht abstellen, dass das nix bringt, dieses Wissen. […] Man muss einfach weitermachen […]; statt: ,ich muss‘, sagen wir: ,ich müsste ja mal‘ […]. Musst nicht, kannst aber nicht anders. Daher haben wir für alles jetzt Muster, alles läuft nach ein und demselben MUSTER. […] ,Try again, fail better.‘ Das war Beckett. ,Try again, feel better.‘ Das war ich“ (Deutsches Schauspielhaus in Hamburg, Programmfalter Nr. 13, Spielzeit 2001/02). Widerstand gegen die bestehenden Verhältnisse lässt sich nur innerhalb dieser Verhältnisse leisten, vielleicht nur in der wiederholenden Übererfüllung der gegebenen „Muster“. Dieses popliterarische Motiv lässt sich auch in Leonce und Lena finden, weshalb die Komödie um 2000 einer der meist inszenierten Klassiker gewesen ist.
8. Woyzeck Nach Fertigstellung der Druckfassung seiner Dissertation am 31. Mai 1836 arbeitete Büchner in Hinsicht auf eine mögliche Dozentur in Zürich an seinen Vorlesungen über Cartesius und Spinoza und begann wieder zu „schreiben“ (FA 2,437), also literarische Texte zu verfassen. In dem nicht vollständig überlieferten Brief an Karl Gutzkow, den Büchner in der ersten Juniwoche 1836 schrieb, muss Büchner davon gesprochen haben, dass er wenigstens zwei neue „Ferkeldramen“ plane, und Gutzkow, der antwortete, er wolle „sehen, was sich tun läßt“, um Unterstützung bei der Publikation seiner Stücke gebeten habe (440f.). An seinen Bruder Wilhelm schrieb Büchner am 2. September, er sei „gerade daran, sich einige Menschen auf dem Papier totschlagen oder verheiraten zu lassen“ (448), also eine Tragödie und eine Komödie zu schreiben, womit Woyzeck und Leonce und Lena gemeint waren. Die ursprüngliche Hoffnung, mit seinen Stücken in längstens zwei Monaten fertig zu sein (vgl. 437), erfüllte sich nicht. Mitte September schrieb Büchner an seine Eltern: „Ich habe meine zwei Dramen noch nicht aus den Händen gegeben, ich bin noch mit Manchem unzufrieden“ (FA 2,454). Da Büchner vor seiner Übersiedlung nach Zürich am 18. Oktober 1836 die Zeit davonlief, änderte sich daran allerdings erst einmal nichts mehr. Das „Fragment eines bürgerlichen Trauerspiels ohne Titel“, von dem Ludwig Büchner später sprach (WK 128), lag zu diesem Zeitpunkt in zwei handschriftlichen Entwürfen vor, die beide vollständig erhalten sind und üblicherweise als H1 und H2 bezeichnet werden (faksimiliert in VII.1, 5–42). In einem ersten Wurf skizzierte Büchner in 21 meistens ziemlich kurzen Szenen ein ,Mord aus Eifersucht-Drama‘ (VII.2, 3–11). In den ersten beiden Szenen treffen wir Margreth kurz vor Pfingsten auf einem Rummelplatz, wo sie einen Unterofficier kennenlernt, der von ihrer sexuellen Ausstrahlung stark affiziert ist: „Das ist ein Weibsbild, guckt sieben Paar lederne Hosen durch“ (3). Sie ist ihrerseits von seiner Autorität beeindruckt: „Ha! Ein Mann vor einem Andern“ (4). Der Unterofficier hatte ihrem Freund, einem einfachen Soldaten, mit dem sie seit fast zwei Jahren liiert ist, einfach befehlen können zu gehen. Über Margreths soziale Situation erfahren wir im Übrigen
Anfang der Arbeit in Straßburg 1836
Handschriftliche Entwürfe
Erste Szenenfolge H1
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IV. Schriften. Einzelanalysen
Der Fall Schneider als Vorlage für H1
nichts, außer dass sie mit einer alten Frau („Großmutter“) und zwei Mädchen zusammenzuleben scheint (8f.); ob Margreth die Mutter der Mädchen ist, ist unklar. Zwischen den Szenen mit Margreth und Unterofficier bzw. Margreth und Großmutter samt Mädchen sehen wir, wie sich ihr Freund Louis aus Eifersucht in einen Mordplan hineinsteigert. Er hat den Verdacht (4: „ich hab keine Ruh!“), dass Margreth ihm untreu sein könnte (4: „muß fort, muß sehen!“), beobachtet sie mit dem Unterofficier beim Tanz (4: „Ja wälzt Euch übernander!“) und fantasiert Stimmen, die ihm die Bestrafung Margreths befehlen (5: „Was spricht da? Da unten aus dem Boden hervor, ganz leise was, was (er bückt sich nieder) Stich, Stich, Stich die Woyzecke todt“). In der Nacht träumt er von Margreth und dem Unterofficier und einem Messer, das er in der Auslage eines Ladens gesehen hat. Anderntags bestätigt ihm sein Stubenkamerad, dass der Unterofficier bei seinen Kameraden über das „köstlich Weibsbild“ und ihre festen „Schenkel“ schwadroniert hat, so dass Louis Rachepläne schmiedet (6: „es ist noch nicht aller Tag Abend“). Abends findet Louis auf dem Weg vom Wirtshaus ein Messer, das er in einem Erdloch versteckt. Am nächsten Nachmittag holt Louis Margreth ab (9: „wir wollen gehn“) und führt sie vor die Stadt; als es dunkel geworden ist, bringt er sie mit dem gefundenen Messer um. In den folgenden Szenen beobachten wir einen Mörder nach seiner Tat: Wie er im Wirtshaus mit einem andern Mädchen tanzt und wegen der Blutflecke an seinem Ärmel angesprochen wird; wie er sich erinnert, das Messer am Tatort gelassen zu haben und zurückläuft, es zu holen; wie er zu einem See läuft, um die Tatwaffe hier zu versenken und sich von den Blutflecken zu säubern. Nicht nur die zuletzt referierten Szenen erinnern im Ablauf stark an einen am 15. April 1816 in der Nähe Darmstadts begangenen „Meuchelmord“, dessen Fallbeschreibung Eva-Maria Vering 2005 in dem 1834 aufgelegten ersten Band einer Bibliothek gewählter Strafrechtsfälle des Darmstädter Hofgerichts-Advokaten Philipp Bopp (1790–1862) wiederfand. Damals hatte ein 30-jähriger Schustergeselle namens Johann Philipp Schneider (1786–1816), der wie Woyzeck zum „zweiten Bataillon des großherzogl[ichen] Garde-Fusilier-Regiments“ (VII.2, 322) gehörte, mit einem Zuschneidemesser „kaum eine halbe Viertelstunde“ (325) vom Darmstädter Rheintor entfernt nahe einem frequentierten Weg in einem Waldstückchen einen Gefährten bei Einbruch der Dämmerung erstochen; hatte sich anschließend im „blut- und sandbedeckten Kleide“, wobei er für das Blut fadenscheinige Erklärungen abgab, in ein Wirtshaus begeben, wo „Tanz und Streit gewesen“; danach ging er wieder zum Tatort zurück, um Spuren zu verwischen, und gegen Morgen wusch er in einem „in der Nähe gelegenen Teich […] seinen blutgetränkten Rock“ aus. „Indessen war die That schon frühe bekannt“ geworden, weil ein „wahrhaft drollig[er]“ Barbier die Leiche entdeckt hatte und die Polizei zum Tatort führte. Auch das Messer konnte gefunden werden und half, den Mörder zu identifizieren (324–327f.). Alle diese Elemente finden sich in den Schlussszenen von H1 wieder, so dass man berechtigt ist, diese Fallbeschreibung als „Strukturquelle“ für den ,Mordkomplex‘ in H1 (mit einer Fortsetzung in H3,2: „Der is in’s Wasser gefallen“) anzusehen. Dass Büchner beim Schreiben seines Dramas die Um-
8. Woyzeck
gebung Darmstadts vor Auge hatte, konnte vor einigen Jahren Christian Schulz (1995/99) zeigen. Bei der Motivation des Mords als Ende eines unterschichtlichen Eifersuchtsdramas überlagerten sich wohl die Erinnerungen an drei andere Mordfälle, die Büchner von zu Hause bzw. der einschlägigen kriminalmedizinischen Literatur kennen konnte. Erstens ist der Fall des alkoholkranken Tabakspinners Daniel Schmolling (1779–1828) zu nennen, auf den Egon Krause 1969 erstmals hinwies. Schmolling verletzte am 25. September 1817 in der Nähe Berlins seine schwangere Geliebte Henriette Lehne durch Messerstiche tödlich. Sein Fall regte Büchner vor allem hinsichtlich des allmählichen Entstehens eines innerlichen Zwangs zum Morden an. Schmolling berichtete z.B. von dem immer dringender werdenden Tötungsdruck; besonders nachts „trat mir immer der Gedanke, die L. zu ermorden, vor die Seele, und dabei fühlte ich eine heftige Angst und Unruhe, welche mich nicht schlafen ließ“ (VII.2, 307–316). Zweitens wäre vielleicht der von Walter Hoyer 1922 angeführte Mord des 38-jährigen Leinwebers Johann Dieß (1772–1834) zu nennen, der am 15. August 1830 in einem Anfall „krankhafter Zornmüthigkeit“ seine Verlobte Elisabeth Reuter, mit der er bereits ein „4 Jahr altes aussereheliches Kind erzeugt hatte“, mit einem „Pfeifenraumer“ (das ist „ein spitziges kleines Werkzeug“, wie Krünitz’ Encyclopädie, 109. Teil, 1808, 605 definiert) erstochen hatte und 1831 in Darmstadt zu 18 Jahren Zuchthaus verurteilt worden war (VII.2, 433–437). Auch über diesen Fall, der indes keine konkreten Spuren in den niedergeschriebenen Szenen hinterlassen hat, hatte Bopp 1836 im Rahmen einer verbreiteten Diskussion über Zurechenbarkeit berichtet und dabei nicht nur auf den Fall Schmolling, sondern auch auf den Fall Woyzeck verwiesen. Dies ist der dritte und wichtigste Fall, auf den erstmals Hugo Bieber 1914 hinwies und der für Büchners Dramenentwürfe ab der zweiten Stufe so wichtig wurde, dass die Hauptfigur seither Franz Woyzeck heißt. Dass der Name in der Form „Woyzecke“ für das Mordopfer schon in H1 (VII.1, 8/9) auftaucht, mag bedeuten, dass Büchner zwar im Frühsommer 1836 von dem Leipziger Fall schon wusste, sich aber erst nach dem ersten Entwurf in die schon länger geführte „Debatte um den Woyzeck-Prozess“ (vgl. die Dokumentation in VII.2, 361–440) gründlicher einarbeitete und diese zur Grundlage seines Dramas machte. Der 41-jährige ehemalige Soldat und arbeitslose Perückenmachersohn Johann Christian Woyzeck (1780–1824) erstach am 3. Juni 1821 in einem Hauseingang der Leipziger Sandgasse die 46-jährige Witwe Johanna Christiane Woost, die ihm – wie anderen Soldaten der Leipziger Garnison – „den vertrautesten Umgang“ gestattete, wie es die Akten nennen, und ihn „oftmals deshalb bestellt“ habe, „um ihn dann wieder nach Bedarf und Laune zu versetzen“ (Glück 1987, 314). Woyzeck habe schwer unter „Eifersucht“ gelitten und Woost auch schon früher deswegen geschlagen (VII.2, 267). Am besagten 3. Juni hatte ihm Woost ein Rendezvous versprochen, aber mit dem Soldaten Böttcher versetzt. Woyzeck lief den ganzen Tag herum, präparierte auch eine abgebrochene Degenklinge „in der Absicht, die Wosstin damit zu erstechen“ (271), vergaß seinen Plan aber wieder, als er sie zufällig wieder traf und nach Hause begleitete. Erst als sie ihn fortschickte, damit der Vermieter sie nicht zusammen sähe, „habe ihn der Gedanke an
Quellen für die Motivation des Eifersuchtdramas Der Fall Schmolling
Der Fall Dieß
Der Fall Woyzeck
Der historische Woyzeck
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IV. Schriften. Einzelanalysen
Frage nach der Zurechnungsfähigkeit
Verborgene und partielle psychische Krankheiten
Die ClarusGutachten
Debatte über Clarus’ gerichtsmedizinische Grundsätze
das Messer und an seinen Vorsatz plötzlich wieder mit aller Macht ergriffen, und ihn mit einem Male dergestalt überwältiget, daß er darauf zugestoßen habe, ohne zu wissen, was er thue“ (281). Genau die Frage, ob Woyzeck gewusst habe, was er tat, also die Frage nach seiner Zurechnungsfähigkeit, rückte in das Zentrum einer von 1821 bis zum Ende der 1830er Jahre lebhaft geführten publizistischen Debatte. Alle Rechtssysteme seit der römischen Antike kannten Sonderbestimmungen für die Behandlung geisteskranker Straftäter, Anfang des 19. Jahrhunderts war dieses Thema jedoch in neuer Weise virulent geworden, weil nunmehr durch den Aufschwung der sogenannten Erfahrungsseelenkunde auch verborgene und partielle psychische Erkrankungen in das Zentrum der medizinischen Aufmerksamkeit gerückt waren. Liberale Psychiater wollten die Regel, dass die Strafgesetze nicht ohne Weiteres auf „Personen, welche den Gebrauch ihres Verstandes durch Melancholie oder andere schwere Gemüthskrankheiten völlig verloren“ hätten (so die Formulierung im Bayerischen Strafgesetzbuch von 1813), bei der Strafrechtsreform von 1822 insofern aufweichen bzw. in Hinblick auf vielleicht noch unbekannte, zukünftig anzuerkennende seelische Erkrankungen öffnen, dass das Gesetz keine uneingeschränkte Anwendung finden solle bei Personen, die „des Gebrauchs ihrer Vernunft nicht mächtig waren“ (VII.2, 333f.). Inwiefern eine Einschränkung der Zurechnungsfähigkeit vorlag, sollten nicht Richter, sondern Ärzte klären, was wiederum Juristen zu Recht nicht unbedenklich fanden. Im Fall Woyzeck wurde der Leipziger Psychiater Johann Christian August Clarus (1774–1854) vom Gericht mit einem Gutachten zum Gemütszustand des mutmaßlichen Mörders beauftragt und beurteilte ihn nach fünf Unterredungen als zurechnungsfähig auch zum Tatzeitpunkt. Daraufhin wurde Woyzeck zum Tod verurteilt (11. Okt. 1821). Obwohl der Einspruch der Verteidigung (3. Dez. 1821) und ein Gnadengesuch abgelehnt wurden (10. Aug. u. 14. Sep. 1822), sah sich das Gericht durch eine Eingabe des Leipziger Publizisten Johann Adam Bergk (1769–1834) zum Aufschub der Urteilsvollstrekkung gezwungen. Bergk hatte publik gemacht, dass Woyzeck im Sommer 1821 häufig „an Verstandesirrungen“ litt, wofür akustische Halluzinationen und Verfolgungswahn Symptome waren. Das Gericht beauftragte daraufhin Clarus mit einem zweiten Gutachten zu der Frage, ob „periodischer Wahnsinn“ (VII.2, 262) vorgelegen haben könnte, was dieser aber in seinem zweiten, Anfang 1823 eingereichten Gutachten verneinte und erneut feststellte, dass bei Woyzeck „die Freiheit des Willens“ zu keinem Zeitpunkt „aufgehoben gewesen sey“ (283). Um sich abzusichern, erbat sich Clarus aber eine Expertise der Leipziger Universität, eine Bitte, der Anfang 1824 stattgegeben wurde. Das „Responsum der medizinischen Fakultät“ in Leipzig bestätigte Clarus am 15. April 1824, in allen Punkten, ist insgesamt aber eher eine Loyalitätsadresse an den Kollegen als eine gründliche Revision seiner Argumente und Urteile (vgl. Steinberg/Schmideler 2006). Das Gutachten von Clarus wurde gedruckt und Woyzeck am 27. August 1824 hingerichtet. Damit war die Sache aber mitnichten erledigt. Obwohl sich 1824 mit Johann Christian August Heinroth (1773–1843) der weltweit erste Professor für Psychische Therapie in einer Rezension hinter Clarus gestellt hatte, griffen 1825 der Bamberger Medizinalrat Carl Moritz Marc und der Wittenberger Philosophie-Professor Johann Christian August Grohmann (1769–1847)
8. Woyzeck
Clarus und die gerichtsmedizinischen Grundsätze, nach denen er urteilte, heftig an. Damit kam die Debatte über psychische Zurechnungsfähigkeit und ihre strafrechtlichen Folgen erst richtig in Fahrt, zumal sie sich mit der seit dem 18. Jahrhundert geführten Debatte über die Berechtigung der Todesstrafe und mit politischen Standpunkten verband, was das Wiederaufflammen der Debatte im Jahr der Julirevolution erklärt. Seitens der konservativen Publizisten wurden Gründe für den Ausschluss der Zurechnungsfähigkeit meist so eng gefasst, dass kaum ein Delinquent davon erfasst wurde; bisweilen gingen sie sogar so weit, dass sie wie Heinroth die Unzurechnungsfähigkeit zum Tatzeitpunkt zwar anerkannten, aber dem Täter moralisch anlasteten und ihn damit in Verlängerung seiner früheren Schuldfähigkeit auch für straffähig erklärten. „Wird der Mensch zur Bestie, so ist es seine Schuld“ (VII.2, 336 u. 383), zum Beispiel, indem er durch übermäßigen Trunk seine Geistes- und Seelenkräfte verwahrlose. Heinroth zu Folge sei auch der zum Tatzeitpunkt kranke und daher in seinen Entscheidungen unfreie Täter schuldfähig, da er sich vom gesunden nur dadurch unterscheide, dass er „nicht erst im Zusammenhang der Tat, sondern bereits früher gesündigt, also auf seine Freiheit verzichtet habe“ (337). „Vernunftwidriges Leben erzeugt Krankheit“ und mache unfrei; aber „Unfreiheit ist die Frucht der Schuld; und die Folge der Schuld ist Strafe“ (384). Dagegen nahmen liberale Psychiater wie Marc an, dass eine Einschränkung der Schuld- und Straffähigkeit nicht nur dann gegeben war, wenn sich „die irrige Vorstellung des Verstandes ausschliessend bemeistert“ hat, sondern dass es auch einen „fixen partiellen Wahnsinn“ geben kann, der jenseits der „einzelnen fixen Idee“ im Übrigen „mit ungestörter Verstandeskraft und selbst mit Schärfe des Urtheils verbunden seyn“ könnte (VII.2, 388). Äußere moralische Maßstäbe anzulegen, lehnten Aufklärer wie Grohmann (1825, 309f.) ab. „Die Norm der Beurtheilung“ sei „der in dem Verbrecher sich darstellende Gemüthszustand“, was es verböte, „einen nicht hierher gehörigen Satz“ einzuschalten, etwa in der Art von Heinroths Behauptung: „ohne gänzlichen Abfall von Gott gibt es keine Seelenstörung“ (VII.2, 336). Vielmehr gelte es, „die Möglichkeit des bei der That statt gefundenen Bewußtseyns zu erkennen“ (Grohmann 1825, 315) und dabei zu bedenken, dass momentanen oder partiellen psychischen Aberrationen auch „somatische Krankheiten“ zugrunde liegen könnten, die außerhalb jeder moralischen Verantwortung des Individuums lägen. Alles andere sei „eine „unpsychologische und auch unphysiologische Lehre“ (VII.2, 422f.), die allenfalls „die beschränkte, eigensinnige und erfahrungslose Ansicht eines Arztes verrathe“, nicht aber die Schuld bzw. Schuldfähigkeit des Angeklagten beweise (407). Grohmann forderte 1833, bei jeder „Seelenstörung“ alle „Data“ über „somatische Abnormitäten“, „Naturbedingnisse“, „Seelenbestimmungen“ und „äussere Verhältnisse“ der betroffenen Leute „in Anschlag“ zu bringen (431). Da all das im Fall Woyzeck aber nicht geschehen sei, schrieb Johann Baptist Friedreich (1796–1862) – von 1820 bis zu seiner Entlassung aus politischen Gründen 1832 Professor für Physiologie in Würzburg – in seinem Systematischen Handbuch der gerichtlichen Psychologie für Medicinalbeamte, Richter und Vertheidiger (Leipzig 1835, 299) über Woyzeck: „Wer die, über diesen Unglücklichen gepflogenen Verhandlungen genau prüft, wird keine Zurechnungsfähigkeit, leider aber wieder einen schauderhaften
Der konservative Standpunkt: Unzurechnungsfähigkeit meistens selbstverschuldet
Der liberale Standpunkt: Unzurechnungsfähigkeit oft somatisch bedingt
Hinrichtung Woyzecks ein Justizmord?
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IV. Schriften. Einzelanalysen
Zweiter Entwurf H2
Woyzecks Paranoia
Menschen als Versuchsobjekte der Wissenschaft
Dramatische Adaption der Debatte über Zurechnungsfähigkeit
Weiterarbeit in Zürich 1837
Justizmord finden“ (VII.2, 432). Damit bekam die ganze Debatte einen politischen Akzent, der Büchner interessieren musste. In einem zweiten Entwurf (H2) näherte sich Büchner der Mordgeschichte über die Frage nach der Ursache von Woyzecks verwirrtem Gemütszustand. Die beiden Hauptfiguren des Eifersuchtsdramas tauschten die Namen (er heißt jetzt Woyzeck, sie Louise) und das Stück wurde jetzt nicht mehr mit ihrer Untreue, sondern mit Woyzecks schon vor dem Beziehungsunglück bestehenden Paranoia eröffnet. Zusammen mit dem Kameraden Andres besorgt der Soldat Woyzeck einen Dienstauftrag und fantasiert über die im Untergrund wühlenden Freimaurer (VII.2, 12). Währenddessen beobachtet Louise zu Hause die vorbeimarschierende Truppe, wobei ihr ein schmukker“ Tambourmajor auffällt. Als Woyzeck vorbeikommt, um sie für den Abend auf den Rummelplatz einzuladen, macht seine offenbar sich steigernde Verstörung der Gefährtin bereits „Angst“ (13). Zwischen den Buden des Jahrmarkts fällt Louise ihrerseits dem Tambourmajor auf. Dass sich Louise mit ihm einließ, erfahren wir nur dadurch, dass Woyzecks vorgesetzter Hauptmann ihm ,steckt‘, dass er Louise mit dem Tambourmajor in flagranti beobachtet hat. Als Woyzeck ihr eine ,Szene macht‘, wehrt sie ihn ab: „Ich hätt lieber ein Messer in den Leib als deine Hand auf meiner“ (19). Ein schlechtes Gewissen hat sie trotzdem; mit ihrem Versuch zu beten, bricht dieser Entwurf ab. Zwischen den Jahrmarktsszenen und Woyzecks Konfrontation mit Louise wird die Erklärung für Woyzecks Paranoia geliefert. Büchner griff auf ein blindes Motiv aus dem ersten Entwurf zurück, wo ein verwachsener Barbier auftaucht, der sich als Studien- und Demonstrationsobjekt der Wissenschaft verkauft hat (6f.) – eine Reminiszenz Büchners an die öffentliche Zurschaustellung von Charles-Ambroise Seurat, des „lebenden Skeletts“, in Straßburg im Sommer 1835 (vgl. VII.2, 451). Im zweiten Entwurf wird Woyzeck selbst zu einem solchen Studienobjekt; für täglich „3 Groschen und Kost“ (16) steht er dem Doctor für eines der Ernährungsexperimente zur Verfügung, wie sie Anfang des 19. Jahrhundert nicht unüblich waren (vgl. Roth 1990/94 u. 1995/99). Dass das Experiment pathologische Folgen hat, nimmt der Doctor in Kauf; seiner Theorie zuliebe ist er sogar über Woyzecks partiellen Wahnsinn, seine fixe Idee, d.h. die anfänglich gezeigte Paranoia, begeistert und will Woyzecks Entlohnung erhöhen. Weil der Wahnsinn noch nicht total ist – Woyzeck geht seinen Pflichten normal nach, nur dass er „da zwischen“ auch „eine schöne fixe Idee“ produziert (17) –, gilt dem Doctor ähnlich Clarus, Heinroth und anderen Psychiatern aus dem oben genannten konservativen Lager Woyzecks Willensfreiheit als nicht beeinträchtigt. Doch zeigt das Drama, dass die Mangelernährung somatische Auswirkungen hat, die Woyzecks Wahn erst produzieren oder mindestens soweit verschlimmern, dass er letztlich zum Messer greift. All das ist aber nicht mehr ausgeführt. Erst in Zürich fand Büchner wieder Zeit (FA 2,464f.), seine „Phantasie“ tätig sein zu lassen, also an seinen „poetischen Produkten“ zu arbeiten (die in Zürich entstandenen Handschriften sind faksimiliert in VII.1, 45–94). Sein Woyzeck-Drama begann er noch einmal neu, wobei er beide Entwürfe zu integrieren trachtete. Vor allem aber präzisierte er die soziale Situierung der Handlung, weitete „das Drama zu einem komplexen Gesellschaftsstück“ aus, wie Henri Poschmann (1988, 247) betonte. Im ersten Entwurf
8. Woyzeck
war das gesellschaftliche Bedingungsgefüge der Handlung noch nahezu ausgeblendet. Im zweiten Entwurf seufzt Louise zwar einmal: „Ach wir armen Leute“ (VII.2, 14), doch wurde dieses Motiv noch nicht so produktiv gemacht wie im dritten Anlauf (H4). Erst jetzt wird klar, dass Franz Woyzeck seinen Körper für die Ernährungsexperimente verkauft, weil er seine „Löhnung“ (24) bzw. das „Geld für die menage“ (27) zum Unterhalt für Frau und Kind braucht; im zweiten Entwurf sparte er seinen Zusatzverdienst noch, um sich ein Ausgeh-Vergnügen leisten zu können (13). Auch wird jetzt erst deutlich, dass es nicht nur die sexuelle Attraktivität des Anderen ist, die Woyzecks nunmehr Marie Zickwolf heißende Lebensgefährtin fremdgehen lässt, sondern auch die soziale Stellung des Tambourmajors, die es ihm erlaubt, ihr Schmuck zu schenken (24). In einem, seinen vorgesetzten Hauptmann angreifenden „Diskurs“ macht Woyzeck zudem explizit klar, dass sich „arme Leut“ die herrschende Moral häufig gar nicht leisten können: „Sehn Sie wir gemeinen Leut, das hat keine Tugend, es kommt einem nur so die Natur, aber wenn ich ein Herr wär und hätt ein Hut und eine Uhr und ne anglaise und könnt vornehm reden, ich wollt schon tugendhaft seyn. Es muß was Schöns seyn um die Tugend, Herr Hauptmann, Aber ich bin ein armer Kerl“ (25). Außerdem wird der Mord an Marie jetzt noch etwas anders motiviert. Im ersten Entwurf war es vor allem die Strafe für Untreue, die Louis an Margreth vollzog; im zweiten Entwurf sollte es wohl vor allem eine Folge der geistigen Verwirrung Woyzecks sein, die Louise zu Tode kommen ließ; und im dritten Anlauf sollte beides außerdem noch mit der pervertierten Reaktion eines sozial Deklassierten verbunden werden, der zuerst versucht, seinen Nebenbuhler zu verprügeln, dabei aber natürlich den Kürzeren zieht (31: „sie ringen, Woyzeck verliert“), worauf sich die Aggression gegen ihn mit der gegen Marie und der „aberratio, mentalis partialis“ zu einem tödlichen Gemisch verbindet. Karl Emil Franzos, der das Stück 1878 erstmals „vollständig“, ja wie man sagen könnte: aus eigener Autorherrlichkeit ,vervollständigt‘ herausgab, explizierte den gekränkten Narzissmus, wenn er Wozzeck mit der Überlegung, dass: wenn er nicht, dann niemand Marie küssen dürfen solle: „Ich nicht, Marie! und kein Anderer auch nicht! (Stößt ihr das Messer in den Hals.)“ (Mehr Licht! Eine deutsche Wochenschrift für Literatur und Kunst. Hg. v. Silvester Frey. Nr. 3, Berlin, 19. Oct. 1878, 41). Entscheidend ist, dass Woyzeck nicht im Affekt handelt. Er findet das Messer nicht, sondern kauft es mit dem Vorsatz, Marie zu töten. Und so kalt, dass sein Kamerad „starr“ vor Schrecken ist, macht er sein Testament (32). Dann bricht auch diese Fassung ab; trotzdem ist klar, dass Woyzeck diesen vorsätzlichen Mord nicht allein zu verantworten hat. Außer diesen drei Entwurfshandschriften existiert noch ein einzelnes Blatt (H3) mit zwei Szenenentwürfen; die erste gehört zu dem Komplex der wissenschaftlichen Menschenversuche und führt vor, wie sich das Interesse der Wissenschaft von einer Katze über eine Laus auf den zum Esel degradierten Menschen Woyzeck verlagert (Neumeyer 2009, 234f.); die zweite Szene zeigt, wie Woyzeck nach der Tat sich seinem Sohn (in H2 und H4 hat er mit Louise bzw. Marie ein Kind) nähert, dieser sich aber „weg“ wendet und „schreit“ (21). Der Status dieser ebenfalls in Zürich geschriebenen Notate ist unklar; ebenso, wie H4 überhaupt zu Ende geführt worden wäre. He-
Soziale Differenzierung der Handlung
Elaboriertere Motivierung des Mords
Ergänzungsentwürfe
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IV. Schriften. Einzelanalysen Problematik der Spiel- und Lesefassungen
Work in progress – eine Herausforderung für die Interpretation
Neuartiger Dramentypus
rausgeber von ,Lese- und Spielfassungen‘ führen H4 in aller Regel durch Anflicken der Szenen H1,14–21 zu Ende und füllen die Arbeitslücken in H4,3 und H4,9 mit Mischtext aus H1 und H2 auf. H3,1 wird relativ zu Anfang (vgl. FA 1,152f. bzw. Woyzeck, hg. v. H. Poschmann, 2008, 14f.; vor H4,4) oder in der Mitte des Stücks (vgl. Woyzeck, hg. v. B. Dedner, 2005, 24f.; vor H4,10) eingeflickt; weniger überzeugend ist die Einordnung nach H4,17 (so in MA 250f.). H3,2 muss notwendig ans Ende nach der Szene am Teich, vor oder nach H1,21 gesetzt werden (da stimmen MA, FA bzw. Poschmann 2008 und Dedner 2005 überein) und belegt, da die Szene mit Sicherheit erst in Zürich skizziert wurde (so Poschmann in FA 1,688–695, inzwischen bestätigt durch die Röntgenanalyse der Handschriften, vgl. VII.2, 155), dass Büchner das in H1 konzipierte Dramenende wohl im Wesentlichen bewahren wollte. Für die Interpretation des Woyzeck ist die Tatsache, dass nur Bruchstücke eines ,work in progress‘ vorliegen, eine Herausforderung. Interpretationen, die die Fragmentarität des ,Stücks‘ leugnen oder sie als gewollt hinstellen, gibt es nicht mehr. Im Grunde kann man Woyzeck so wenig interpretieren, wie es das Drama als solches gibt. Ariane Martin (2007, 194–206) zum Beispiel verzichtete daher programmatisch auf eine Gesamtinterpretation und besprach die verschiedenen Entwurfsstadien getrennt. Andere lösen die Interpretation auf in eine Folge von Interpretationen zu verschiedenen Themenkomplexen, welche Entstehungsstufen übergreifend angegangen werden; so ging erstmals Alfons Glück vor, der 1984–1985 Aufsätze zu den Themen „Armut und Arbeit“, „Militär und Justiz“, zur „Rolle der Ideologie“ sowie zur „Rolle der Wissenschaft“ vorlegte, und zuletzt Harald Neumeyer im Büchner-Handbuch (2009), der acht „Analysefelder“ vorschlug (BHb 108–116). Die meisten Interpretationen gehen aus von dem, zumindest was den Kanon angeht, literaturhistorischen ,Sensationswert‘ des Stücks aus: „Mit Woyzeck schafft Büchner eine radikal neue Zentralfigur eines radikal neuen Dramentypus“ (Knapp 2000, 207). Was den Dramentypus angeht, ist das Neue vor allem seine Unbestimmbarkeit. Auch unabhängig vom tatsächlichen Fragmentcharakter der drei Entwurfsstufen wurde das Stück in seiner Anlage her sowohl für die offene Dramenform in Anspruch genommen als auch für die geschlossene. Offen wirkt das Stück, weil es keinen streng organisierten Handlungszusammenhang mit definiertem Anfang und Ende besitzt, autonome Einzelszenen aufweist, verschiedene Sprachformen, häufige Ortswechsel, unbestimmte Zeitabläufe, eine Vielzahl episodischer Figuren. Das war das Erbe des Sturm und Drang-Dramas, was vor allem anfänglich empfunden wurde; Karl Gutzkow schrieb 1876 über die geglättete und der Konvention angenäherte Fassung von Franzos: „Bei dem Fragmente […] hätte ich beischreiben mögen: 1777. Es ist der Styl der Sturm u. Drang-Periode“ (Büchner: Gesammelte Werke 1987, Bd. 10). Geschlossen wirkt das Stück durch das sehr enge, auch Simultaneität einbeziehende Zeitgerüst, das auf nicht mehr als 48 Stunden ,präsentierte‘ Zeit hinausläuft, ein was die klassischen aristotelischen Kategorien Handlung und Zeit betrifft, hohes Maß an ,Einheit‘ (vgl. Dedner 1988/89). Auch andere Gattungsfragen bleiben letztlich unentschieden: Georgs jüngerer Bruder Ludwig Büchner sprach von einem „bür-
8. Woyzeck
gerlichen Trauerspiel“ (WK 128), Alfons Glück (1984, 194) von einer „Tragödie“, bei welcher an der Stelle, wo in der Antike „das Schicksal“ stand, in Woyzeck „die Armut“ platziert sei. Als „soziales Drama“ sei es in seiner Radikalität beinah „einmalig“, ja „fast ein Genre für sich“ (Dosenheimer 1949, 65), andererseits gibt es eine „gegenläufige Bewegung“, nämlich die Einbindung komischer, ja „grotesker“ Elemente (wovon metadramatische Einlassungen in H2 auch sprechen; vgl. VII.2, 14 u. 19), die es erlauben, „mit Ambivalenzen, mit Unbestimmtheiten, mit Widersprüchlichkeiten zu spielen“; nicht nur die offenbar der commedia dell’arte stammenden Figuren des Doctors und des Hauptmanns wären hier zu nennen, an Woyzeck selbst „haftet ebenfalls etwas Lächerliches, etwas Groteskes“ (Borgards 2009, 47–54). Was die Zentralfigur betrifft – Woyzeck ist das unbestrittene Zentrum der Handlung; er verleiht dem Stück gegen alle zentrifugalen Kräfte die kompositorische Einheit –, so ist das Neue, dass noch nie zuvor ein Dichter gewagt hat, „eine derart geschundene und geringe Kreatur wie Woyzeck als Held eines Theaterstücks zu präsentieren; noch nie zuvor war für die Not eines gedrückten Menschen eine solche Sprache, eine solche Form gefunden worden“ (ebd., 6). ,Held‘ des Dramas ist Woyzeck nur in seiner formalen Position als Protagonist bzw. als Zentralfigur des Szenengefüges. Gewöhnlich versteht man unter einem „Helden“ jemanden, der „mit kühner Hand in die Speichen des Zeitrades“ greift, um das eigene „Schicksal“ frei zu bestimmen, wie es der junge Büchner ausdrückte (FA 2,18); Woyzeck aber ist ein völlig „unheroisches Theaterstück“, wie Karl Viëtor 1928 meinte (GBJb 11, 328). Woyzeck bestimmt nichts selbst, und am wenigsten sein Schicksal. Der erste Entwurf des Stücks (H1) ist abermals eine Antwort auf die Frage Dantons und seines Autors: „Was ist das, was in uns hurt […] und mordet“ (III.2, 41)? Ab dem zweiten Entwurf wird außerdem noch gefragt, wie das, was uns huren und morden macht, in uns hineinkommt? Woyzeck ist ein fremdbestimmter Mensch, das ist sofort deutlich, aber die Zwänge, in denen er steht, sind so übermächtig und vor allem widersprüchlich, dass er sich mit seiner Entmenschlichung zur „Bestie“ (VII.2, 20), Verdinglichung zum „casus“ (27), Entkörperlichung zum „Schatten“ (19) entweder abfinden oder explodieren muss. Borgards (2009, 57) brachte das auf die Formel: „Woyzeck ist nicht nur ein determiniertes, sondern sogar ein qualvoll überdeterminiertes Subjekt. In ihm ballen sich mehr Bestimmungen, als ein einzelner Mensch zu tragen in der Lage ist.“ Er ordnete die auf den Protagonisten einwirkenden Zwänge zu einem Netz, in dessen Mitte Woyzeck gefangen ist und das zwischen vier Eckpunkten aufgespannt ist: 1) Ökonomie: „Teufelskreis von Armut und Arbeit“, für die Hauptfigur bedeutet das ein „Leben am Existenzminimum“; 2) Sexualität: „Konflikt zwischen körperlichem Begehren und sozialem Spielraum“, daraus resultiert ein „Scheitern am biopolitischen Normalisierungsdruck“; 3) Medizin: „Woyzeck als Versuchstier in einem Menschenexperiment“, die Folge ist „körperlicher und psychischer Verfall“; 4) Militär: „körperliche und sittliche Disziplinierung“, die „Gewaltbereitschaft“ hervorbringt (ebd., 92). Noch stärker als Lenz verweigert Woyzeck jeden kathartischen Trost. Mitleid in Lessings Sinn ist für Woyzeck schwer aufzubringen. Er ist von Anfang
Ebenfalls neu: Pauper als dramatische Zentralfigur
Held und Antiheld
Woyzeck als überdeterminierter Mensch
Antikathartische Konzeption
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IV. Schriften. Einzelanalysen
Erstdruck
Frühe Rezeption
Desinteresse der Naturalisten
Woyzeck als elitäres Symbolstück
an ,übergeschnappt‘, wie Marie sagt (VII.2, 23), er vermittelt als Medium, nicht aber als Sympathieträger die ihn und alle seines Gleichen entfremdende Gewalt gesellschaftlicher Verhältnisse, in denen Armut keine quasi natürliche Erscheinung ist, „wie sie […] immerfort Einzelne befallen mag“, sondern systematisch in Kauf genommenes Schicksal einer „zahlreichen Volksclasse“, die „sich durch angestrengteste Arbeit höchstens das nothdürftigste Auskommen verdienen kann, auch dessen nicht sicher ist“ und auch „keine Aussichten der Änderung hat, darüber immer tiefer in Stumpfsinn und Rohheit versinkt“ und so weiter, wie die neunte Auflage des Conversations-Lexikons (11,15f.) aus dem Hause Brockhaus unter dem Stichwort „Pauperismus“ zu berichten wusste (Borgards 2009, 21). Büchner war nicht auf Identifikation mit Woyzeck aus, sondern führte einen literarischen Prozess, in dem er „der Anwalt des vierten Standes, der Erniedrigten und der Entrechteten“ war, wie Alfred Hrdlicka (1991, 9) meinte. Während der Jahrzehnte, in denen die Woyzeck-Szenen im Nachlass des Autors schlummerten, war unter der Hand aus dem Drama über einen Vertreter des Vierten Stands eine „Proletariertragödie“ (Goltschnigg 2001/04, 1,44) geworden. Karl Emil Franzos hatte das „Trauerspiel-Fragment“ erst 1878 „vollinhaltlich“ – „nach bestem Wissen und Gewissen“, wie er meinte, ergänzt und bearbeitet – herausgegeben (in Mehr Licht! Nr. 1, Berlin, 5. Oct. 1878, 5). Die Brüder Ludwig und Alexander Büchner waren 1850 noch an der Entzifferung und Ordnung der nachgelassenen Entwürfe gescheitert (vgl. VII.2, 57–70). Als das Fragment herauskam, machten gerade die naturalistischen Autoren von sich reden. Franzos pries das Stück an als Beleg nicht nur für die ,sozial-demokratische‘ Einstellung des Autors, sondern als Beweis für die „genaueste Kenntniß des Volkslebens“ bei größter Freiheit gegenüber den traditionellen „Formregeln“. „Georg Büchner huldigte bedingungslos dem Realismus. Die Natur, die Wirklichkeit war ihm das ausschließliche Vorbild“ (Mehr Licht! Nr. 1, 5. Oct. 1878, 6f.). Der Theaterhistoriker Robert Prölß attestierte dem Stück 1883 einen „cynischen, bis zur Brutalität gehenden Naturalismus“ (Hauschild 1993, 565). Die Naturalisten aber kümmerten sich trotz der auch von Julius Bab 1913 bemerkten „wilden Naturalismen dieser Szenenfolge“ (Goltschnigg 2001/ 04, 1,188) kaum um Wozzeck, wie die Bearbeitung von Franzos hieß. Für sie waren Danton’s Tod und Lenz wichtiger, für die Parteigänger des Sozialismus unter ihnen auch noch der Hessische Landbote (vgl. ebd., 29–32). Der erste Dichter, für den Wozzeck wichtig wurde, war Frank Wedekind, der mit dem dogmatischen Naturalismus wenig anzufangen wusste. Und um eine Bühnenaufführung bemühten sich nicht etwa die Förderer des Naturalismus oder die Volksbühnenbewegung, sondern „Künstler, die dem Adel und dem Bildungsbürgertum entstammten“ (Viehweg 2000/04, 252). Hier wäre besonders Hugo von Hofmannsthal (1874–1929) zu nennen, der Wozzeck genauso wie Rainer Maria Rilke (1875–1926) als ein Stück für ein gebildetes und an der modernen Literatur interessiertes bürgerliches „Elitepublikum“ (ebd.) ansah. Für die Autoren der klassischen Moderne war Büchners Proletarierstück doch eher ein „Vorläufer moderner realistischsymbolischer Dichtung“, so Eugen Kilian 1913 (Goltschnigg 2001/04, 1,255), als ein naturalistisches Tendenzdrama. Für ihr elitäres Publikum
8. Woyzeck
wurde die Uraufführung 1913 im Münchner Hofschauspiel vorbereitet und inszeniert, und es bedurfte bis weit in die 1920er Jahre hinein einführender Vorträge, „mit denen man Leuten im Zuschauerraum, von denen man annahm, daß sie nicht zu dieser Elite gehörten, die man aber nun nach 1918 verstärkt und mit volkspädagogischem Impetus an die Theaterkunst zu binden suchte, beim Verständnis des Stückes auf die Sprünge und dem Woyzeck aus dem Eliteghetto helfen wollte“ (Viehweg 2000/04, 252f.). Ob Woyzeck jemals zu einem Stück für diejenigen wurde, für die darin Partei ergriffen wurde, ist die Frage. Unaufhaltsam war seine Karriere jedoch bei den Gebildeten, den Künstlern und Autoren aller Art. Am 5. Mai 1914 hatte das Stück inszeniert von Arthur Rundt in Wien Premiere; einer der begeisterten Besucher der Aufführung war Alban Berg (1885–1935), der aus dem Drama „in der Fassung von Karl Emil Franzos“ eine etwa anderthalbstündige Oper in drei Akten machte, die seit der Uraufführung am 14. Dezember 1925 unter Erich Kleiber in der Berliner Staatsoper Unter den Linden zu den Hauptwerken des modernen Musiktheaters gehört, schon weil es sich um die erste atonale Oper überhaupt handelt, aber auch weil sie selbst auf sehr kleinen Bühnen spielbar ist. Besonders bekannt wurde die 1951 für die Salzburger Festspiele geschaffene Inszenierung (erster Dirigent: Karl Böhm) von Oscar Fritz Schuh in den Bühnenbildern von Caspar Neher, die anschließend bis in die 1980er Jahre hinein an der Wiener Staatsoper weiter gespielt wurde. Ebenfalls bald nach Ende des Zweiten Weltkriegs entstand die erste Verfilmung des Werks, nämlich der 1947 in den Studios der gerade gegründeten DEFA in Potsdam gedrehte, abermals anderthalbstündige Wozzeck von Georg C. Klaren (1900–1962). Der unterschätzte Film benutzte eine weitgehend dem Expressionismus verpflichtete Formsprache, während die andere sehr bekannt gewordene, wenn auch überschätzte Verfilmung, Werner Herzogs (* 1942) Woyzeck (77 min, BRD 1979), sich eines eher dokumentaristischen Gestus’ bediente (vgl. Albrecht 1987; Hoff/Martin 2008). János Szász (* 1958) drehte die letzte große Woyzeck-Produktion (93 min, Ungarn 1994), die 1997 vom Bayerischen Rundfunk erstausgestrahlt wurde und sozialrealistisch aktualisierend – Woyzeck ist ein Weichensteller auf einer Gleisstrecke im heutigen Ungarn – inszeniert wurde. In jedem Fall aber bot sich die 1836/37 geschriebene Szenenfolge für den Film an, wie schon 1913, keine zwanzig Jahre nach ,Erfindung‘ des neuen Mediums, Hugo von Hofmannsthal bemerkte, der an den Regisseur Clemens von Franckenstein schrieb, am besten inszeniere man Büchners Dramenfragment, indem man „die 14 oder 16 Bilder abschnurren lasse wie einen Film, mit einfachsten Prospecten und einem Minimum an Mobiliar“ (Goltschnigg 2001/04, 1,248). Auch die Popkultur hat Woyzeck adaptiert, vielleicht wegen seiner Filmartigkeit. Im Jahr 2000 inszenierte Robert Wilson am Betty-Nansen-Theater in Kopenhagen Büchners Stück als „Musical“ mit den Songs von Kathleen Brennan und Tom Waits, die unter dem Titel Blood Money auf CD veröffentlicht wurde. Das „etwas kunstbeflissene“ (Konrad Heidkamp: „Filme für die Ohren“, in: DIE ZEIT, Nr. 20, 2002) Album steht für sich und hat mit Büchners Szenenfolge eher atmosphärisch zu tun, doch aktualisiert es mitunter den ,Gehalt‘ der literarischen Vorlage nicht schlecht: „Why be sweet, why
Oper von Alban Berg
Verfilmungen
Filmische Ästhetik
Musical von Tom Waits
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IV. Schriften. Einzelanalysen
be careful, why be kind?“ heißt es da: „Everything goes to hell, anyway…“, denn „God’s Away on Business“. In dieser Version erobert sich Büchners Fragment zunehmend die Bühnen des 21. Jahrhunderts. Die deutschsprachige Erstaufführung des Woyzeck „nach Georg Büchner von Tom Waits, Kathleen Brennan und Robert Wilson“ brachte Joan Anton Rechi (* 1968) im Theater Oberhausen heraus, die Inszenierung von Jorinde Dröse (* 1976) hatte am 2. Oktober 2009 am Deutschen Theater in Berlin Premiere, die von Jette Steckel (* 1982) am 20. Januar 2010 im Hamburger Thalia Theater. Ein Ende ist nicht abzusehen.
V. Revolutionär und Romantiker. Literarische Rezeption Vor 1850 wurde von Büchners literarischen Werken fast nur Danton’s Tod wahrgenommen (zur Frührezeption vgl. Hauschild 1985, 174–208; Dedner 2007). Die Publikationen des Lustspiels 1838 und des Erzähl-Fragments 1839 wurden zunächst weitgehend ignoriert oder sogar übersehen (vgl. V, 199f. u. VI; 332–335). Gut die Hälfte der rund hundert Rezeptionszeugnisse des Revolutionsdramas vor 1850 stammt noch aus den 1830er Jahren (vgl. die Aufstellung in III.2, 337–352). Die Veröffentlichung von Danton’s Tod 1835 dagegen hatte Aufsehen erregt, weil es für Gutzkow ein wichtiges Argument in seiner Kampagne zugunsten einer politisch-engagierten Literatur war. Während das Junge Deutschland, allerdings nur in Gestalt seines damaligen Protagonisten Karl Gutzkow, „in Büchner einen starken Mitkämpfer erblickte und seinen Beifall nicht sparte“, wie sich Ludwig Büchner ausdrückte, „konnte es natürlich von reactionär-pietistischer Seite nicht an der Bekämpfung eines Autors fehlen, der die Principien der Revolution und der Freigeisterei so offen und mit so seltenem Talent entwickelt hatte, und zwar gerade aus derjenigen Periode der französischen Umwälzung, welche man bisher nur verstohlen und alsdann nicht ohne die lebhaftesten Aeußerungen eines frommen Abscheues zu nennen gewohnt war“ (WK 121). Die wichtigste Rezension aus den Reihen der Gegner des Jungen Deutschland, zu dem Büchner zuerst noch gezählt wurde, stammt von einem Unbekannten aus dem Umkreis des Kritikers Wolfgang Menzel (1798–1873) und wurde im Literarischen Notizenblatt der Dresdner Abend-Zeitung (Nr. 86, 28. Oktober 1835, 313–315) unter dem nicht entschlüsselten Pseudonym „Felix Frei“ publiziert: „Wenn die gesunde Vernunft gar zu sehr mit den Füßen getreten wird, wenn man Schmuz für Schönheit, Gemeinheit für Erhabenheit, Zügellosigkeit für Genie ausgibt,“ so halte er „es für die Pflicht jedes, der es mit der deutschen Literatur ehrlich meint, seine Stimme dagegen zu erheben“, meint der Rezensent mit Bezug auf Gutzkows Rezension im Literaturblatt Nr. 27 zum Phönix (Nr. 162, 11. Juli 1835, 645f.). Das Stück sei eine „Musterkarte von Anstößigkeiten“, „ein Brandmal“ für die „deutsche Literatur“, enthalte „Auswüchse der Unsittlichkeit“ und „Pestbeulen der Frechheit“, „Rohheiten und Verzerrungen“, die alle zusammen nichts „Erfreuliches oder Erhebendes, Belehrendes oder Unterhaltendes“ hätten, den „Weg des Classischen“ verfehlten und daher keine Schönheit besäßen. Denn „nur das Sittliche kann auch schön seyn, das Unsittliche bleibt stets unschön, weil es der höheren Menschennatur uns entfremdet, uns zum Thiere herabwürdigt“ (vgl. Hauschild 1985, 185–189). Genau diese antiklassische Tendenz wurde aber auch positiv vermerkt, zum Beispiel von Friedrich Hebbel (1813–1863), der in seinem Tagebuch 1839 festhielt: „Büchners Danton […] ist herrlich.“ Das Stück sei „freilich
Frührezeption: Danton’s Tod
Antiklassizistische Tendenz
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V. Revolutionär und Romantiker
Nachahmer im 19. Jh.
Ablehnung engagierter Literaturkonzepte nach 1850
Büchnerkritik als Vehikel der Ausformulierung des realistischen Literaturprogramms
ein Produkt der Revolutions-Idee, aber nur so, wie wir alle Produkte Gottes sind“ (Werke. Hg. v. Gerhard Fricke u.a., Bd. 4, München 1966, 331). Das Stück nicht als Gesinnungsaufsatz seines Autors, sondern als objektive Dramatisierung von Ereignissen der Revolutions-Zeit zu lesen, war die Voraussetzung für seine literarisch produktive Rezeption auch bei Autoren, die sich nicht als Anhänger der „Revolutions-Idee“ verstanden, beispielsweise Rudolf Gottschall (1823–1909) und Ferdinand von Heinemann (1818–1881) mit ihren Robespierre-Dramen (1845 bzw. 1850). Das herausragende Beispiel ist das seinerzeit hochgelobte, inzwischen freilich weitgehend vergessene Drama Robespierre von Robert Griepenkerl (1810–1868), das formal und chronologisch an Danton’s Tod anschließt und am 17. Januar 1850 in Braunschweig uraufgeführt wurde; Adolf Stahr (1805–1876) schrieb damals in der Reichszeitung: „Hier ist ein Wurf gelungen, der an Kühnheit in der dramatischen Poesie neuerer Zeit seinesgleichen nicht hat. […] Es ist wirkliche und wahrhaftige Reproduktion des historischen Dramas, das Shakespeare geschaffen“ (Griepenkerl: Ausgewählte Werke. Hg. v. Heinz Amelung. Berlin 1921, 344). Spätere Stücke, angefangen von Griepenkerls Girondisten (1851), das chronologisch die Vorgeschichte von Danton’s Tod in Szene setzte, über Marie von Ebner-Eschenbachs Marie Roland (1867) bis hin zu Robert Hamerlings Danton und Robespierre (1871), waren weitere Beachtung verdienende Beispiele für die literarische Rezeption des Revolutionsdramas über die Epochenschwelle von 1848 hinaus, bevor es zu einem neuen Rezeptions-Schub durch die Naturalisten und Expressionisten um 1900 kam. Einen wichtigen Einschnitt in der Rezeptionsgeschichte Büchners markiert das Erscheinen der Nachgelassenen Werke 1850 und die gleichzeitige Abwendung von engagierten Literaturkonzepten seitens der sogenannten bürgerlichen Realisten. Theodor Fontane (1819–1898) schrieb in einem programmatischen Aufsatz über die „Poesie seit 1848“, die jetzige Zeit charakterisiere das Wegschließen aller politischen und sonstigen „Vortrefflichkeitsschablonen“ zugunsten eines einfachen „Realismus“, worunter er aber nicht „das nackte Wiedergeben alltäglichen Lebens, am wenigsten seines Elends und seiner Schattenseiten“ verstehe, sondern die poetische „Läuterung“ des „wirklichen Lebens“; „Weltschmerz“ und „Tendenzbilder“ seien „unter Hohn und Spott längst zu Grabe getragen“, was man mit der „Wiedergenesung eines Kranken“ vergleichen könne (Deutsche Annalen zur Kenntnis der Gegenwart und Erinnerung an die Vergangenheit 1 (1853), 353–377). Die Hebbel- und Büchnerkritik („wir haben an Hebbel ein ausgeführtes Bild jenes Princips, das bei Büchner nur in der Anlage vorhanden war“, meinte Schmidt) war eines der wesentlichen Medien zur Ausformulierung des realistischen Programms der Nachmärz-Literaten. Den Anfang machte Julian Schmidts (1818–1886) bereits erwähnte ausführliche Rezension über Büchners Nachgelassene Schriften in den Grenzboten (Nr. 4, 24. Januar 1851, 121–128), in der Büchner als „Typus der Zeit“, d.h. des kranken Vormärz, vorgeführt wird. Der Vormärz galt in dieser Perspektive als „Consequenz“ der Romantik, und Autoren wie Grabbe und Büchner als deren Nachfolger, was dichterische „Willkür, Abenteuerlichkeit und Fratzenhaftigkeit“ betraf, „doch ohne deren Poesie“ (Hauschild 1988, 19). Rudolph Gott-
Literarische Rezeption
schall, der in seinem Robespierre-Drama (1845) das Revolutionsstück Büchners durchaus zu nutzen wusste, erklärte später, dass über Büchners „Conglomerat von Scenen“ „mehr der wüste Hauch einer pathologischen Atmosphäre“ zu schweben scheine „als die freie Luft eines auch in tragischen Schauern erquickenden Weltgerichtes“ (Die deutsche Nationalliteratur in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Breslau 1855, 2,367f.). Das Erscheinen der Büchner-Gesammt-Ausgabe von Karl Emil Franzos 1879 vermochte das Bild Büchners bei den Realisten nicht zu verändern; seine Werke wiesen „keine Spur“ von „Neuartigkeit und Selbständigkeit“ auf, sein Danton strotze „von Unmöglichkeiten“ und der Wozzeck weise „eine Art von Realistik auf, die den Zola und seine Nana jedenfalls überbietet“, schrieb Gottfried Keller (1819–1890) an Paul Heyse (29. März 1880; Goltschnigg 2001/04, 1,142). Nur heimlich delektierte man sich an den romantischen Blüten der Büchnerschen Poesie, so Theodor Storm (1817–1888) oder Wilhelm Rosenberg (1850–1928) in ihrer Lyrik (vgl. BHb 87; Goltschnigg 2001/04, 1,148). Neuerdings habe sich „eine Art Büchnercultus ausgebildet“, stellte schon 1880 der Literaturhistoriker Adolf Stern (1835–1907) abermals in einer Rezension einer Büchner-Ausgabe in den Grenzboten fest. Er hatte dabei vor allem die „socialdemokratische Partei“ im Sinn, die „in dem jugendlichen Poeten und Verschwörer der dreißiger Jahre (nicht ganz mit Unrecht) einen ihrer Vorläufer“ sah (Goltschnigg 2001/04, 1,143). Die zu dieser Partei sich haltenden Dichter bemächtigten sich aber auch bald Büchners. Am 17. Juni 1887 hielt Gerhart Hauptmann (1862–1946) einen legendär gewordenen Vortrag, in dem er auch aus Danton’s Tod und Lenz las (vgl. ebd., 149). Fortan war Büchner einer der poetischen Götter für die Naturalisten. „Georg Büchners Geist lebte nun mit uns, in uns, unter uns. Und wer ihn kennt, diesen wie glühende Lava aus chtonischen Tiefen emporgeschleuderten Dichtergeist, der darf sich vorstellen, daß er, bei allem Abstand seiner Einmaligkeit, ein Verwandter von uns gewesen ist. Er ward zum Heros unseres Heroons erhoben. Das Grab Büchners wurde für unseren Kreis, die werdenden Forscher und werdenden Dichter, ein ständiger Wallfahrtsort“ (Hauptmann 1962, 596). In Hauptmanns Werk sind zum Beispiel die literarischen „Wahnsinns“-Studien Bahnwärter Thiel (1888) und Der Apostel (1890) ohne das Vorbild Büchner nicht zu denken, ebenso wenig wie Der Irre (1911) aus der Feder Georg Heyms (1887–1912), der 1909 Landaus neue Ausgabe erhalten und „Georg Büchner“ als „einen neuen Gott zu Grabbe auf den Altar gestellt“ hatte: „Ich liebe alle, die in sich ein zerrissenes Herz haben, ich liebe Kleist, Grabbe, Hölderlin, Büchner, ich liebe Rimbaud und Marlowe. Ich liebe alle, die nicht von der großen Menge angebetet werden. Ich liebe alle, die oft so an sich verzweifeln, wie ich fast täglich an mir verzweifle“ (Goltschnigg 2001/ 04, 1,172). Heyms Tagebucheinträge versammeln die literarischen Götter der elitären Moderne. Büchner gehörte seit der Jahrhundertwende zu ihnen. Die Stücke Büchners wurden alle in dieser Zeit uraufgeführt (Leonce und Lena 1895, Danton’s Tod 1902, Wozzeck 1913). Karl Bleibtreus Weltgericht (1888), Wedekinds Frühlings Erwachen (1891), Hauptmanns Fuhrmann Henschel (1898) und Rose Bernd (1902), Hans Henny Jahnns Hans Hein-
Entstehung eines Büchnerkults Ende des 19. Jh.s
Naturalistische Begeisterung
Expressionistische Begeisterung
Kunstgott der Klassischen Moderne
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V. Revolutionär und Romantiker
Büchner als literarische Figur
Revolutionär und Romantiker
rich (1914) und Pastor Ephraim Magnus (1917) verdanken alle dem Studium Büchners Texten entscheidende Anregungen. Der ,Klassizist‘ Hofmannsthal schrieb für die Uraufführung von Wozzeck eine eigene Schlussszene (Goltschnigg 2001/04, 1,41), die dann allerdings nicht verwendet wurde; der ,Impressionist‘ Rilke empfand die „tatsächliche Aktualität Büchners“ 1915 „über die Maassen“ (ebd., 214f.), der ,Expressionist‘ Klabund pries Danton’s Tod und Wozzeck 1920 als die „stärksten Verwirklichungen des deutschen Dramas aller Zeiten“ und bewunderte Büchners „mit dauernden Explosionen“ geladene Sprache (ebd., 297f.), der ,Materialist‘ Bertolt Brecht fand den Danton „nervöser“ und „vergeistigter“ als Shakespeare, „ein ekstatisches Szenarium, philosophisch ein Panorama“ (ebd., 314). Der Schweizer Schriftsteller Robert Walser (1878–1956) machte Büchner selbst zum ersten Mal zur Hauptfigur einer Kurzgeschichte (Büchners Flucht, in: Die Schaubühne 8 (1912) 2, 174), der Österreicher Fritz Gross (1897–1947) zur Hauptfigur eines Dramas (Georg Büchner. Stationen eines Lebens. Berlin 1919). Franz Theodor Csokor (1885–1969), der 1913 mit einem Gedicht an Büchner erinnert und 1922 einen Schluss für Woyzeck gedichtet hatte, verfasste 1927 ein Gesellschaft der Menschenrechte betiteltes Drama um Büchner (vgl. Fischer 1979), das als „wichtigster Beitrag zur dramatischen Büchner-Rezeption von 1945 gilt“ und zwischen 1929 und 1931 „an verschiedenen Theatern mit wechselndem Erfolg gespielt“ wurde (Goltschnigg 2001/04, 1,66f.). Die Büchner-Rezeption seit Anfang des 20. Jahrhunderts steht unter einem doppelten Vorzeichen: Es ist die Begegnung mit dem Werk eines Autors, der „ein Revolutionär und ein Romantiker zugleich“ war, wie Stefan Großmann (1875–1935) schon 1911 in der Silvester-Ausgabe der Wiener
Abb. 10 und Abb. 11: Seit Anfang des 20. Jahrhunderts hat Büchners bildhafte Sprache immer wieder Grafiker herausgefordert, seine Werke zu illustrieren. Die stilistische Spannweite ist dabei so groß wie die bildnerischen Techniken verschieden sind: Erich Wünsche changierte 1920 zwischen Expressionismus und Neusachlichkeit, Claus Hansmann 1947 zwischen Neoromantik und Existentialismus.
Literarische Rezeption
Arbeiter-Zeitung schrieb (Goltschnigg 2001/04, 1,241). „Revolutionär“: das hieß politische Avantgarde; „Romantiker“: das meinte literarische Avantgarde. Richtig glücklich wurden mit Büchner nur diejenigen Autoren und Leser, die mit beiden Avantgarden etwas anfangen konnten, doch fehlte es auch nicht an Lesern, die entweder die Revolution für gefährlich oder die Romantik für reaktionär hielten. Beide zuletzt genannten, einseitig interessierten Leser verstanden nicht, wie so „wunderbar Verschiedenes“, um hier noch einmal einen der besten Kenner Büchners, seinen späten Freund Wilhelm Schulz (1797–1860) zu zitieren, „doch der einen Quelle fast gleichzeitig entsprungen“ war (Grab 1985, 61). Ihrer scheint es aber nicht mehr viele zu geben. Georg Büchner gilt heute unbestritten als einer der bedeutendsten Autoren deutscher Sprache. Er ist „author’s writer“ schlechthin der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, d.h. das von Schriftstellerinnen und Schriftstellern jeglicher Couleur höchst geschätzte Vorbild. Davon zeugen die Reden zur Verleihung des „Georg-Büchner-Preises“, der seit 1951 als einer der wichtigsten Auszeichnungen für deutschsprachige Literatur von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt vergeben wird (vgl. Ulmer 2006). Zum Topos wurde dabei die Rede von der „immerwährenden Zeitgenossenschaft“ Georg Büchners (BHb 335). Traditionsgemäß bedankt sich der oder die Ausgezeichnete mit einer Rede, die das eigene Verhältnis zu Büchner zum Thema hat, und fast ohne Ausnahme bekannten sich die Autoren und Autorinnen affirmativ zu Büchner – ob es sich dabei um einen Büchner handelte, der dem historischen relativ ähnlich ist oder um einen ganz und gar erfundenen Pappkameraden, bleibe allerdings dahingestellt. Die Liste der Preisträgerinnen und Preisträger repräsentiert trotz gelegentlicher Überraschungen so etwas wie den jeweiligen literaturpolitischen Zeitgeist. Die Begründungen der Jury und die Namen der Preisträger sind im Internet zugänglich (http://www.deutscheakademie.de/preise_bue chner.html), so dass hier auf eine Auflistung verzichtet werden kann. Die Büchner-Preis-Reden von 1951 bis 1994 wurden in drei Bänden im Reclam-Verlag gesammelt herausgegeben, die seither gehaltenen Reden sind in den einzelnen Jahrbüchern der Akademie nachzulesen (seit 1993 im Wallstein-Verlag). Literarische Texte mit Büchner-Bezügen aus dem 20. und 21. Jahrhundert sind Legion. Gerhard Knapp (2000, 44f.) nannte „nur wenige“ Dramatiker, die von Büchner beeinflusst sind: Brecht, Borchert, Horváth, Frisch, Weiss, Müller, Dürrenmatt, Dorst „und zahllose andere“, „weit über den deutschen und den europäischen Kulturkreis hinaus“. Zahlreiche Gedichte zu oder über Büchner bis zum Jahr 1987 gab Jan-Christoph Hauschild in einer Anthologie mit dem Titel Oder Büchner (1988) heraus. Die wichtigsten Essays zu Büchner finden sich in drei voluminösen Bänden, die Dietmar Goltschnigg 2001 bis 2004 edierte, wobei die quantitative Verteilung frappierend ist (1875–1945: 616 Seiten, 1945–1980: 651 Seiten; 1980–2002: 780 Seiten). Die Büchner-Rezeption nach 1945 ist nur zum Teil erfasst, weil sie nicht mehr überschaubar ist. Immerhin ist auffällig, dass Büchner in noch gesteigertem Maße wichtig wurde, wenn es galt, eine gewisse Katerstimmung zu literarisieren. Wenige Beispiele, die für den Literaturunterricht an Schulen und Universitäten geeignet sind, mögen zum Schluss noch kurz gemustert werden.
Lieblingsautor der Gegenwartsliteraten
Unüberschaubare Rezeption seit 1945
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V. Revolutionär und Romantiker Salvatore: Büchners Tod, 1972
Schneider: Lenz, 1973
Braun: Unvollendete Geschichte, 1975
Am 7. Oktober 1972 wurde anlässlich der Eröffnung des Hessischen Staatstheaters in Darmstadt Gaston Salvatores (* 1941) Stück Büchners Tod uraufgeführt. Nach dem formalen Vorbild von Peter Weiss’ Trotzki im Exil (1969) spielt das Stück auf drei ineinander verschachtelten Ebenen, wobei die Figur Büchners auf allen Ebenen mit sich identisch bleibt. Die primäre Ebene ist das Krankenzimmer des Sterbenden, dessen Halluzinationen ihn abwechselnd in die Kerkerzellen der inhaftierten und gefolterten Mitglieder der ausgehobenen Gesellschaft der Menschenrechte und an die Wirkungsstätten des Renaissancedichters Pietro Aretino in Florenz und Rom versetzen. Das ganze Stück ist „ein Diskurs des Sterbenden mit sich selbst“ (BHb 340) und ein Diskurs des Autors über die gescheiterten Hoffnungen der Studentenbewegung am Ende der 1960er Jahre und die daraus folgende „Ratlosigkeit“ (Salvatore 1972, 50). Salvatores Büchner stirbt furchtbar desillusioniert: „Ich habe mir alles immer nur zurechtgelegt. […] Ich bin entsetzlich leer“ (82f.). Am Ende bleibt nichts von der revolutionären Arbeit übrig, auch nicht von der literarischen, nur die wissenschaftliche scheint Bestand zu haben. „Wissenschaft, deren Wirksamkeit sich in aller Stille etabliert, wird die Welt verändern“, behauptet das Stück. Am Ende fallen immer mehr Fische von oben herab, „bis schließlich Büchners Leiche ein einziger Haufen von Fischen geworden ist“ (85). Das scheint, mit Büchners Mitteln, eine Absage an 1968 zu sein. Doch behält am Ende Weidig das letzte Wort; er, dessen Sache die „Ratlosigkeit“ nicht ist. „Uns halten die Feinde fest. Die Herren verführen uns zum Leben. Ihr Zorn ist unsere Erholung. Ihre Willkür unser Entgelt, ein Heilmittel gegen die Ratlosigkeit, das Glück. Er bohrt besessen weiter, ohne zu merken, daß er allein ist. Und die, die ihre Ratlosigkeit so weit treiben, daß sie behaupten, eine bessere Welt sei unmöglich … woher wollen sie wissen, was möglich ist?“ (86). Ein Pendant dazu lieferte Peter Schneider (* 1940) mit seiner Erzählung Lenz (1973). Der Protagonist entflieht den studentischen Diskussionszirkeln auf eine Reise nach Italien, lebt eine Zeitlang unter angeblich ,authentischeren‘ Arbeitern, wird aber bald von der Polizei wieder ausgewiesen und kehrt nach Berlin zurück. Trotzdem war die Reise nach Süden eine Chance, die Identitätskrise nach dem Ende der heißen Phase des außerparlamentarischen Aktivismus zu überwinden, die Angst und Isolation, die Selbstentfremdung und Kommunikationsschwierigkeiten hinter sich zu lassen. Schneider integrierte umfangreiche Passagen aus Büchners Erzähl-Fragment in seine Novelle: „Durch die Aneignung dieses Textmaterials und seine Einschreibung als Subtext in die Textur einer neuen Erzählung entsteht eine durchgängige intertextuelle Spannung, die zwar nicht auf der inneren Kommunikationsebene, vom Protagonisten, wohl aber auf der äußeren, zwischen dem Autor und dem Rezipienten, reflektiert wird“ (BHb 341). Auch in der DDR nutzte der etwa gleichaltrige Volker Braun (* 1939) das Erzähl-Fragment Büchners als Subtext einer neuen Erzählung über eine tiefe Desillusion. In seiner Unvollendeten Geschichte (1975) wird Karin von der Partei und Staatssicherheit wegen angeblicher „Westverbindungen“ (Braun 1977, 37) so massiv unter Druck gesetzt, dass ihre Beziehung zu Frank daran zeitweilig zerbricht. „In manchen Sekunden war der Schreck so groß, daß sie keinen Zusammenhang mehr fand mit der Wirklichkeit“ (64). „Was für nicht druckbare Stimmungen!“ (78). Die Lenz-Figur ist in Brauns Erzählung in Ka-
Literarische Rezeption
rin und Frank aufgespalten. Ebenso wie Büchner nutzte Braun ,authentisches‘ Quellenmaterial, nämlich die Informationen einer ,Inoffiziellen Mitarbeiterin‘ des Ministeriums für Staatssicherheit, für diese eindringliche Darstellung, die „von individuell-naiver Glückserwartung, rabiater Repression und uneingelöster Zukunftshoffnung“ erzählt, mit einem an Büchner und Kleist geschulten „Blick auf eine rigoros normierte, emotional zerrissene und ideologisch deformierte gesellschaftliche Realität“, wie York-Gotthard Mix formulierte (Reclams Romanlexikon. Hg. v. Frank Rainer Max u. Christine Ruhrberg. Bd. 5: Zwanzigstes Jahrhundert III. Stuttgart 2000, 313). Vielleicht gibt es zur Zeit keinen Autor, der Büchner so intensiv rezipiert und ausgebeutet hat, wie Volker Braun. Ein Text über Büchners Briefe (1978) schien den Kulturbürokraten in der DDR wie die Unvollendete Geschichte vor allem wegen der Zitate allzu subversiv, um eine Publikation zeitnah zur Entstehung zuzulassen (die dazu gehörige Briefausgabe, für die der Text als Nachwort vorgesehen war, durfte allerdings ohne Weiteres erscheinen); das Drama Lenins Tod aus dem Jahr 1970 (Gesammelte Stücke 1,13–68) lehnte sich nicht nur im Titel an Büchners Revolutionsdrama an (vgl. Goltschnigg 2001/04, 3,442); die aus den Akten gezogene Geschichte des 1821 zum Mörder gewordenen Handlangers Carl Ludwig Otto erschien 2004 unter dem Titel Ein anderer Woyzeck. Brauns prominentester Kollege unter den DDR-Dramatikern, Heiner Müller (1929–1995), verarbeitete den enttäuschten Rückblick auf die utopischen Erwartungen, die der Sozialismus einmal versprochen haben mochte, in einem Stück, das „auf der Folie von Büchners Drama“ eine „Erinnerung an eine Revolution“ zu sein verspricht. Tatsächlich werden in dem Auftrag (1979) weniger eine Revolution als vielmehr „Vorstellungsbilder der Revolution als solche“ in einer „traumähnlichen Textur“ miteinander verwoben, wobei alle „bei Büchner begegnenden Motive der Melancholie, des Ekels vor der politischen Praxis, der dogmatischen Erstarrung und des Verrats“ wie „ein Echo“ wieder aufgenommen werden (Eke 2005/08, 41f.). Im Winter 1798/99 brechen drei Emissäre in Paris auf, um die Französische Revolution nach Jamaica zu ,exportieren‘; noch bevor die drei einen „Sklavenaufstand gegen die Herrschaft der britischen Krone im Namen der Republik Frankreich“ (Müller 1983, 47) zu Wege bringen konnten, dekretierte zu Hause General Bonaparte nach einem Putsch (9. Nov. 1799) das Ende der Revolution und entzog dem Auftrag die Basis. „Die Welt wird was sie war“ (62), resigniert der Arzt Debuisson und kehrt zurück in die Welt der Plantagenbesitzer, aus der er kam. „Der kleine Victor hat Revolution gespielt. Jetzt kehrt er heim in den Schoß der Familie“, frohlockt „ErsteLiebe“ (51). Der Schwarze Sasportas und der Bauer Galloudec aber bleiben der Revolution treu und enden darüber am Galgen bzw. in einem Lazarett. Beide erinnern die Revolution an diesem Punkt noch einmal mit einem Rollenspiel, das die Auseinandersetzung von Büchners Danton und Robespierre aufgreift: „Das Theater der Revolution ist eröffnet“ (53). In dieser Spiel-im-Spiel-Situation sind die Phrasen austauschbar; Robespierre spricht Sätze von Büchners Danton und umgekehrt. Sasportas setzt der „Endlosschleife possenhafter Selbstinszenierungen“ (Eke 2004/ 08, 56), dem „Theater der weißen Revolution“ (Müller 1983, 56), wie er sagt, schließlich ein Ende. Er hat als Schwarzer nicht die Option des Verrats wie der Weiße Debuisson: „Die Heimat der Sklaven ist der Aufstand“ (68). Gal-
Weitere Texte von Braun
Müller: Der Auftrag, 1979
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V. Revolutionär und Romantiker
Müller: Wunde Woyzeck, 1985
Jelinek: Ulrike Maria Stuart, 2006
loudec solidarisiert sich mit Sasportas. Müller forderte sein Publikum auf, Büchner weiter zu denken, indem er den zentralen Konflikt neu justiert. Das Thema Arm gegen Reich wird nicht mehr wie bisher auf die heimische Gesellschaft, sondern global verhandelt: Erste gegen Dritte Welt, Nord gegen Süd. Gemäß einem Diktum Adornos (1992, 55) kann die Utopie nicht konkretisiert, sondern als „Unaussprechliches“ nicht einmal durch die Negation des Bestehenden, sondern nur durch die „absolute Negativität“ des „Untergangs“ ausgesprochen werden. In diesem Sinne wird die „weiße“ Revolution von 1789–1799 nicht nur negativ erinnert, sondern ihre aktuelle Weiterführung als „Aufstand der Toten“ und der „Neger aller Rassen“, als „Krieg der Landschaften“ (Müller 1983, 69) in die absolute Negativität des unausweichlichen Todes geführt. „Tod den Befreiern“ heiße „die letzte Wahrheit der Revolution“, gibt der Verräter Debuisson zu bedenken (66), doch Sasportas antwortet: „der Tod ist ohne Bedeutung“ (69), denn: „Die Revolution ist die Maske des Todes. Der Tod ist die Maske der Revolution“ (50f.). Nur dass für den Sklaven die Maske das wahre Gesicht ist – diese Wahrheit herauszuschälen, dient das die Französische Revolution erinnernde Spiel Müllers, das zugleich das die Revolution erinnernde Spiel Büchners erinnert. Diese Dramaturgie fordert dazu heraus, „das Erinnerte in Beziehung zu setzen zum Gegenwärtigen“ (Eke 2004/08, 60), aber nicht in der Art der repräsentierenden Analogie, der Verehrung oder Reproduktion, sondern im Modus der kritischen Reflexion im aktualisierenden, aber über die Vergegenwärtigung des vorläufigen Scheiterns ins Zukünftige hinausweisenden Spiels. Inwiefern Büchner für Müllers Verfahren des ästhetischen DurchlässigMachens von Grenzen zwischen den Zeiten, Erinnerungen und Interpretationen wesentlich ist, zeigt – selber höchst ambivalent und interpretationsbedürftig – die 1985 gehaltene Büchner-Preis-Rede Die Wunde Woyzeck, in der Müller sich mit der Aktualität der Figur Woyzecks, der zukunftsweisenden Ästhetik des gleichnamigen Stücks und historisch-politischen Implikationen aus der historischen Erinnerung an und von „WOYZECK“ (der Figur/dem Stück) auseinandersetzt (Müller 1994, 261–263; vgl. BHb 353–356). Woyzeck sei zugleich eine „offene Wunde“ und ein begrabener Hund, dessen „Auferstehung“ wir „mit Furcht und/oder Hoffnung“ erwarten, weil dann „der Hund als Wolf“ und zwar „aus dem Süden“ wiederkehren werde. In dieser Stunde werde die „Geschichte“ beginnen – im Marxschen Sinne, dass erst die Revolution die aktuelle „Vorgeschichte“ der Menschen in „die eigentliche Geschichte“ der „menschlichen Gesellschaft“ verwandeln werde (MEW 3,28; 13,9) –, sofern der Mensch die Möglichkeit von Geschichte nicht vorher schon selbst zunichtemacht (IA 160f.). Woyzeck ist in Müllers Interpretation nicht nur Opfer, sondern auch Täter. Er hat einen Bruder, den Jäger Runge (der Rosa Luxemburg hinrichtete) und eine Schwester, Ulrike Meinhof, die mit zwei weiteren Figuren, nämlich der Marie aus Woyzeck und Kleists Findling Nicolo, identifiziert wird. Diese Art der Überblendung verschiedener literarischer und historischer Figuren benutzte auch eine andere Büchner-Preisträgerin, Elfriede Jelinek (* 1946), in ihrem nur als Theatertext zu habenden, nicht als Buch gedruckten Stück Ulrike Maria Stuart (Uraufführung am 28. Oktober 2006). In diesem Stück werden die Lebensläufe von Gudrun Ensslin (1940–1977) und Ulrike Marie Meinhof (1934–1976) mit Schillers Dramenfiguren Elisabeth
Literarische Rezeption
Tudor und Maria Stuart überblendet. Herausgekommen ist eine Meditation in Schiller-Zitaten und Büchner-Allusionen über „die Spielformen weiblicher Herrschaft, die am Ende alle in den Tod führen“, so Jelinek im Programmheft; bzw. „ein melancholisch-heiterer Abgesang auf die radikale deutsche Linke“, wie Christian Stöcker in Spiegel Online (29. Okt. 2006) schrieb. Die Trauer über die Vergeblichkeit der Revolution erfasst auch Ulrike Stuart (http://a-e-m-gmbh.com/wessely/fstuart.htm): „Die Revolution frißt jetzt ein Kind, und das bin ich, ich sage dazu, wohl bekomms! Vielleicht kommt ja sie mit mir zurecht, die liebe Revolution, ich konnt es nie. Ich bin ja nie mit mir zurechtgekommen, also geb ich mich der Revolution, vielleicht kann die mich brauchen, und das Volk erhebt sich, wenn ich tot bin, dessen bin ich mir fast sicher, oder doch nicht? Was, erheben wollt ihr euch, und dann auch wieder nicht? Na, dann von mir aus nicht. Mir ists egal. Ihr habt mich nie verstanden, das ist schade. Ihr wart viel zu jung. Erfüllt den Knast mit häßlichen Gerüchten über mich, ihr macht mich fertig, wißt ihr das? Ihr zwei? Das ist der Kummer von euch, König, Königin, daß diese Stifterin des Unheils, das im Denken liegt, noch nicht gestorben ist, noch nicht gestorben war, noch ehe ihre Kinder Wüstenboden konnten aufwühlen wie unsereins den Geist, ein Geistgestöber wie bei einer Kissenschlacht, und all der Geist, er führt zu nichts, der Aufwand führt zu nichts, nur ein paar Jahre noch und keiner wird mehr denken, wie der Revolution zu helfen wäre, nicht einmal das Wort wird kennen man, nur Quatsch wird alles sein, Gerede, Achtlosigkeit den Sätzen gegenüber, die uns heilig waren früher, und Rechtfertigung wird ausgeschlossen sein für immer.“
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Sonntag, 17. Oktober, 5.30 Uhr: Carl Georg Büchner in Goddelau (Hessen) geboren als ältestes Kind von Ernst Karl Büchner (1786–1861) und Sybille Caroline Friedericke Louise Büchner, geborene Reuß (1791–1858). – Weitere Kinder des Ehepaars: Mathilde Louise (1815–1888), Wilhelm Ludwig (1816–1892), Karl Ernst (1818–1818), Elisabeth Luise Emma (1821–1877), Friedrich Karl Christian Ludwig (1824–1899), Alexander Karl Ludwig (1827–1904). Herbst: Umzug der Familie Büchner in die großherzoglichhessische Residenzstadt Darmstadt. Herbst: Aufnahme in die Darmstädter „Privat-Erziehungs- und Unterrichts-Anstalt für Knaben“ von Dr. Carl Weitershausen. 26. März: Einschulung in das Großherzogliche Gymnasium („Pädagog“) in Darmstadt. 26. Mai: Konfirmation in der Darmstädter Stadtkirche. 29. September: Rede zur Verteidigung des Cato von Utica bei einem öffentlichen Schul-Actus des Pädagogs. 30. März: Exemtions-Schein (Abgangszeugnis) des Darmstädter Pädagogs. 9. November: Immatrikulation an der Medizinischen Fakultät der Académie zu Straßburg. – Büchner wohnt zur Untermiete bei dem Pfarrer Johann Jakob Jaeglé (1763–1837). Frühjahr: Verlobung mit Louise Wilhelmine Jaeglé (1810–1880), der Tochter seines Straßburger Vermieters. August bis Oktober: Ferienaufenthalt in Darmstadt. 25. Juni bis 3. Juli: Vogesenwanderung. August bis Oktober: Ferienaufenthalt in Darmstadt. 31. August: Immatrikulation an der Medizinischen Fakultät der Großherzoglich-Hessischen Landes-Universität Gießen. 18. November: Rückkehr nach Darmstadt wegen einer Gehirnhautentzündung. 6. Januar: Wiederaufnahme des Studiums in Gießen. Vor dem 10. März: Bekanntschaft mit dem oppositionellen Butzbacher Pfarrer und Schul-Rektor Friedrich Ludwig Weidig (1791–1837); zusammen mit dem ehemaligen TheologieStudenten August Becker (1812–1871) Gründung einer geheimen revolutionären „Gesellschaft der Menschenrechte“ in Gießen und mit einer weiteren Sektion in Darmstadt. 3. Juli: Teilnahme an der Gründungsversammlung eines überregionalen oppositionellen „Preßvereins“ auf der Badenburg bei Gießen; Erstdruck des Hessischen Landboten. 1. August: Verhaftung von Büchners Freund Karl Minnigerodes (1814–1894) bei dem Versuch,
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1838 1839 1850
139 Exemplare des Hessischen Landboten nach Gießen zu bringen; Büchner warnt auf einer geheimen Reise Mitverschworene in Butzbach und Offenbach am Main. September: Nach Vorlesungsschluss Rückkehr nach Darmstadt. Januar: Niederschrift von Danton’s Tod (Vorabdruck im Phönix 26.3.–7.4.1835). 6. März: Flucht über Weißenburg/Wissenbourg nach Straßburg. Mai/Juni: Übersetzung von Victor Hugos Dramen Lucrèce Borgia und Marie Tudor. 13. Juni: Veröffentlichung des „Steckbriefs“ in Frankfurter und Darmstädter Zeitungen. 11. Juli: Erscheinen der ersten Buchausgabe von Danton’s Tod. Oktober: Erscheinen der Buchausgabe von Lucretia Borgia und Maria Tudor. November: Nach längerem Schwanken Entscheidung für eine zoologische Dissertation. 13. und 20. April sowie 4. Mai: Vorstellung der Untersuchungsergebnisse seiner Doktorarbeit vor der Société d’histoire naturelle de Strasbourg. 31. Mai: Abschluss des Mémoire sur le système nerveux du barbeau (Cyprinus barbus L.); erschienen im April 1837 in den Akten der Straßburger Naturhistorischen Gesellschaft. 3. September: Promotion durch die Philosophische Fakultät der Universität Zürich zum „Doktor der Philosophie“. Sommer: Beginn der Arbeiten an Leonce und Lena und Woyzeck; daneben Ausarbeitung einer im Herbst abgebrochenen Vorlesung über die „philosophischen Systeme“ der Deutschen seit Descartes und Spinoza. 18. Oktober: Übersiedlung von Straßburg nach Zürich. 5. November: Öffentliche Probevorlesung Über Schädelnerven; anschließend Ernennung zum Privatdozenten für Vergleichende Anatomie an der Universität Zürich. 15. November: Beginn des Kollegs „Zootomische Demonstrationen“. Januar: Infektion Büchners mit Typhus; bettlägrig seit dem 2. Februar. Sonntag, 19. Februar, 15.30 Uhr: Tod Büchners in seiner Wohnung in der Zürcher Steingasse (heute: Spiegelgasse 12); beerdigt am 21. Februar auf dem 1875 aufgelösten Friedhof „Krautgarten“. Mai: Erste Teilveröffentlichung des Lustspiels Leonce und Lena. Januar: Veröffentlichung des Erzählfragments Lenz. November: Veröffentlichung der Nachgelassenen Schriften durch den Bruder Ludwig Büchner.
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Zeittafel
1875 1880 1895 1902 1913 1922 1967–1971 1988
1992–1999 2000–2012
November: Erste Teilveröffentlichung des Dramenfragments Woyzeck u.d.T. Wozzeck. Erste „Gesammt-Ausgabe“ der Werke Georg Büchners (hg. v. Karl Emil Franzos). Uraufführung von Leonce und Lena. Uraufführung von Danton’s Tod. Uraufführung von Woyzeck (noch als Wozzeck). Erste kritische Ausgabe „Sämtlicher Werke und Briefe“ (hg. v. Fritz Bergemann). Fragment einer historisch-kritischen Ausgabe (hg. v. Werner R. Lehmann). „Münchner Ausgabe“, erste zuverlässige Studienausgabe der Werke und Briefe (bearb. v. Karl Pörnbacher, Gerhard Schaub, Hans-Joachim Sinn und Edda Ziegler). „Frankfurter Ausgabe“, bisher umfangreichste Studienausgabe (hg. v. Henri Poschmann). „Marburger Ausgabe“, erste historisch-kritische Ausgabe mit Quellendokumentation und Kommentar (hg. v. Burghard Dedner, mitbegründet von Thomas Michael Mayer).
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Abbildungsnachweis Abb. 1: Aus Heinz Fischer: Georg Büchner und Alexis Muston. München 1987. Abb. 2: Aus Jean Strohl: Lorenz Oken und Georg Büchner. Zwei Gestalten aus der Übergangszeit von Naturphilosophie zur Naturwissenschaft. Zürich/München 1936. Abb. 3: Aus Georg Büchners sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Hg. v. Karl-Emil Franzos. Frankfurt a.M. 1879 [recte 1880]. Abb. 4: Fotografie von Arnd Beise (Magdeburg), 2004. Abb. 5: Aus Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit. 200 Jahre Französische Revolution in Deutschland. Kat. bearb. v. Gerhard Bott u.a. Nürnberg 1989. Abb. 6: Aus Friedrich Sieburg: Im Licht und Schatten der Freiheit. Frankreich 1789–1848. Bilder und Texte. Stuttgart 1961.
Abb. 7: Aus G. Lind: Heinrich Ferber, ein Gießener Bürgerleben. In: Heimat im Bild. Beilage zum Gießener Anzeiger, Nr. 1, 6. Januar 1938. Abb. 8: Aus Georg Büchner. Leben, Werk, Zeit. Kat. bearb. v. Thomas Michael Mayer u.a. Marburg 1985. Abb. 9: Aus Romantique. Erotische Kunst des frühen 19. Jahrhunderts. Konz. v. Mark van Wageningen und Dorine van den Beukel. Amsterdam/Singapur 2000. Abb. 10: Aus Erich Wünsche: Zwanzig Radierungen zu Dantons Tod. Dresden 1920 (= Graphische Reihe, Mappe 6). Abb. 11: Aus Georg Büchner: Leonce und Lena. [Mit] 8 Zeichnungen von Claus Hansmann. München 1947.
Personenregister Nicht aufgenommen wurden die Namen von Autoren der nach 1945 erschienenen Forschungsliteratur zu Georg Büchner. Adorno, Theodor W. 128 Aischylos 21 Alfieri, Vittorio 101 Aretino, Pietro 34, 126 Aristoteles 58, 83 Arnim, Achim v. 21 Arnold, Friedrich 35, 42, 95 Ascherson, Paul 42 Bab, Julius 118 Baiter, Johann Georg 35 Bartels, Adolf 63 Baum, Wilhelm 91 Becker, August 22, 26–28, 30, 48, 52, 75 Beckett, Samuel 107, 109 Bell, Charles 92 Berg, Alban 119 Bergk, Johann Adam 112 Bischoff, Theodor 90 Bleibtreu, Karl 123 Blum, Robert 55, 69 Blumenberg, Hans 87 Bobrik, Eduard 35 Boeckel, Eugène 18, 23, 26, 34, 98 Böhm, Karl 70, 119 Bopp, Philipp 110f. Borchert, Wolfgang 125 Börne, Ludwig 47, 66 Braun, Volker 44, 126f. Brecht, Bertolt 124f. Brennan, Kathleen 119f. Brentano, Clemens 21, 41, 100, 103 Brion, Friederike 72 Büchner, Alexander 17f., 23, 45, 118 Büchner, Caroline 16–18, 23, 26, 34, 36 Büchner, Ernst 16–18, 23, 26, 29–31, 36, 55, 95 Büchner, Ludwig 11, 16, 19, 24, 26, 29, 36, 95, 100f., 109, 116, 118, 121 Büchner, Luise 18f., 53, 100 Büchner, Mathilde 34 Büchner, Wilhelm 29, 41, 43, 79, 99, 109 Bürger, Peter 43 Calderón de la Barca, Pedro 21 Calmberg, Adolf 12
Campe, Joachim Heinrich 76 Canetti, Elias 45 Carus, Carl Gustav 93f. Cato d. J., Marcus Porcius 19f., 61, 80 Celan, Paul 43f. Cicero, Marcus Tullius 80 Clarus, Johann Christian August 43, 112, 114 Clemm, Gustav 26, 30 Csokor, Franz Theodor 124 Cuvier, Georges 32, 90 Danton, Georges 40, 54, 127 Darwin, Charles 9, 36, 94 Daumier, Honoré 59 David, Jacques-Louis 62 Descartes, René 34, 40–42, 79, 82–89, 96, 109 Desmoulins, Louis-Antoine 90 Dieß, Johann 111 Dilthey, Carl 18–20, 23 Döblin, Alfred 7 Donizetti, Gaetano 70 Dorst, Tankred 125 Dröse, Jorinde 120 Dürrenmatt, Friedrich 125 Duller, Eduard 64, 69 Dupin de Francueil fi Sand, George Duvernoy, George-Louis 31–33, 90 Ebner-Eschenbach, Marie 122 Eco, Umberto 43 Ehrmann, Karl-Heinrich 32 Eichelberg, Leopold 28–30, 51 Eichendorff, Joseph v. 41, 103 Elwert, Noa Gottfried 29, 46 Emil von Hessen und bei Rhein 53 Ensslin, Gudrun 128 Epikur 82f. Ewald, Schack Hermann 83 Faber, Georg Melchior 26f. Ferber, Heinrich 75 Feuerbach, Ludwig 38 Fichte, Johann Gottlieb 20, 81f., 89, 103 Foerster, Heinz v. 63 Fontane, Theodor 122
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Personenregister Fraenger, Wilhelm 104 Franckenstein, Clemens v. 119 Franzos, Karl Emil 11f., 18, 22, 52, 82, 98, 115f., 118, 123 „Frei, Felix“ 9, 57, 121 Freiligrath, Ferdinand 66 „Freistett“ fi Schlaf Frenzel, Karl 11 Freud, Sigmund 9 Freytag, Gustav 10f. Friederich, Johann Konrad 55, 56 Friedreich, Johannes Baptist 78, 113f. Friedrich, Caspar David 38 Frisch, Max 125 Gall, Franz Joseph 93 Gay, Peter 44 Geoffroy Saint-Hilaire, Étienne 90 Georgi, Conrad 29 Gericault, Théodore 62 Gervinus, Georg Gottfried 19 Gielen, Josef 106 Glück, Alfons 42, 111, 116f. Goethe, Johann Wolfgang 11, 21f., 39, 41, 67, 76–79, 100, 102, 104 Goeze, Johann Melchior 46 Gomes, Carlos 70 Gottschall, Rudolf 122f. Gozzi, Carlo 101 Grabbe, Christian Dietrich 12, 122f. Graebner, Paul 42 Griepenkerl, Robert 122 Grohmann, Johann Christian August 112f. Gross, Fritz 124 Großmann, Stefan 124 Grünbein, Durs 39, 43 Gundolf, Friedrich 107 Gutzkow, Karl 9f., 30f., 33, 39f., 54, 57, 64f., 69, 71–74, 91, 100f., 105f., 109, 116, 121 Halbe, Max 12 Hamerling, Robert 122 Hamm, Wilhelm 16, 18 Hansmann, Claus 124 Hardenberg fi Novalis Hartleben, Otto Erich 12 Hauman, Louis 65 Hauptmann, Gerhart 37, 40, 123 Hausenstein, Wilhelm 12f., Hebbel, Friedrich 10, 12, 121f. Heer, Oswald 34 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 13, 81, 89 Heidegger, Martin 44
Heine, Heinrich 24, 26, 41, 57, 60f., 67, 76, 87, 100 Heinemann, Ferdinand v. 122 Heinroth, Johann Christian August 112–114 Held, Franz 12 Hell, Theodor 65, 68 Henschke fi Klabund Herbart, Johann Friedrich 83, 88f. Herder, Johann Gottfried 21 Herloßsohn, Karl 55 Hermann, Georg 16 Herwegh, Georg 10, 69 Herzog, Werner 119 Herzog, Wilhelm 7 Heym, Georg 123 Heyse, Paul 123 Hillebrand, Joseph 32, 81f., 84, 89 Hobbes, Tomas 87 Hoffmann, E.T.A. 41, 69, 78, 100 Hoffmann, Heinrich Adolf 17 Hofmannsthal, Hugo v. 12, 44, 118f., 124 Hölderlin, Friedrich 123 Homer 21, 61 Horatius Flaccus, Quintus 69 Horváth, Ödön v. 125 Hotho, Heinrich Gustav 89 Hrdlicka, Alfred 77, 118 Hugo, Victor 16, 31, 33, 64, 66–71, 99 Huß, Jan 23 Hussenot, Louis 42f. Huxley, Thomas Henry 92 Immermann, Karl 39f., 68 Jacobi, Friedrich Heinrich 82 Jacobs, Friedrich 80 Jaeglé, Johann Jakob 23 Jaeglé, Wilhelmine 16, 21, 23, 27, 29, 34, 36, 44, 56, 71f., 76, 78, 100f. Jahnn, Hans Henny 123f. Jean Paul 21, 41, 50, 53, 62f., 100f., 103 Jelinek, Elfriede 128f. Kant, Immanuel 20, 85, 87 Keller, Gottfried 123 Kierkegaard, Søren 13, 109 Kilian, Eugen 118 Kirschleger, Frédéric 42 Klabund 46, 124 Klaren, Georg 119 Kleiber, Erich 119 Kleist, Heinrich v. 38, 123, 127f. Koch, Adam 51 Koch, Jacob 26 Kuckhoff, Adam 12f., 44, 69f.
Personenregister Külb, Philipp Hedwig 65 Künzel, Heinrich 99 Kuh, Emil 12 Kuhl, Johann Konrad 28f. Kuhn, Johannes 40, 82, 84
Napoleon I. Bonaparte 23, 59, 129 Neher, Caspar 70, 119 Nietzsche, Friedrich 107 Nodier, Charles 57 Novalis 87
La Mettrie, Julien Offray de 87 Landau, Paul 12f., 70, 98, 101, 107, 123 Lassalle, Ferdinand 10 Laube, Heinrich 26, 67 Laufenberg, Uwe Eric 63f. Lauth, Ernest-Alexandre 31f., 90 Lavater, Johann Caspar 97 Lehne, Henriette 111 Leibniz, Gottfried Wilhelm 87 Lendroy, Jacques 64, 65 Lenin, Wladimir Iljitsch 13 Lenz, J.M.R. 31, 33, 40f., 71–73, 76–78 Lessing, Gotthold Ephraim 46, 61f., 84 Lichtenberg, Georg Christoph 79, 84 Liebig, Justus 19 Locke, John 87 Löwig, Karl 34 Luck, Ludwig Wilhelm 18, 22, 373 Ludwig III. von Hessen-Darmstadt 99 Ludwig, Otto 12 Lüning, August 35 Lukács, Georg 57 Luther, Martin 51 Luxemburg, Rosa 128
Oberlin, Johann Friedrich 72f., 77 Oken, Lorenz 34–36, 90, 95, 98 Osterwald, Georg 59 Otto, Carl Ludwig 127
Magendie, François 92 Malebranche, Nicolas 88 Mann, Thomas 12 Marat, Jean-Paul 54 Marc, Carl Moritz 112f. Marggraff, Hermann 10, 55 Marlowe, Christopher 123 Marx, Karl 9, 13, 128 Mathilde von Bayern 99 Mathis, Ludwig Emil 27, 46 Mehring, Franz 11 Meinhof, Ulrike 128 Menzel, Wolfgang 121 Mercier, Louis-Sébastien 57 Merenne, Marin 88 Metz, Friedich 99 Michel, Wilhelm 107 Mignet, François-Auguste 55 Minnigerode, Karl 20, 26–30 Müller, Heiner 16, 38, 125, 127f. Müller, Johann Valentin 77 Müller, Johannes 33, 95 Musset, Alfred de 67, 100 Muston, Alexis 17
Panizza, Oskar 12 Pascal, Blaise 13 Petras, Armin 70 Platon 83 Preller, Carl 27f., 46 Prölß, Robert 118 Prutz, Robert 103 Pucher, Stefan 108 Ranke, Leopold v. 58f. Ravaillac, François 23 Rechi, Joan Anton 120 Reil, Johann Christian 75, 79 Reimarus, Heinrich Samuel 46 Renduel, Eugène 65 Reuß, Edouard 17 Reuß, Georg 27 Reuter, Elisabeth 111 Rieger, Ludwig Friedrich 65 Rilke, Rainer Maria 118, 124 Rimbaud, Arthur 123 Robespierre, Maximilien 54, 58f., 127 Rosenberg, Wilhelm 123 Rousseau, Jean-Jacques 60 Rühle, Ludwig August 46 Rundt, Arthur 119 Runge, Otto 128 Salvatore, Gaston 126 Sand, George 101 Sand, Karl Ludwig 23 Sartorius, Theodor 23 Sattler, Eduard 106 Sauerländer, Johann David 31, 55, 64f. Sauriac, Xavier 60 Schäffer, Martin 46 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 32, 87, 89 Scherr, Johannes 10 Schiller, Friedrich 21, 39, 104, 128f. Schinz, Rudolf 34 Schlaf, Johannes 63 Schloenbach, Carl Arnold 10 Schmid, Christian Heinrich 76 Schmidt, Julian 10, 12f., 63, 76, 106, 122
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Personenregister Schmolling, Daniel 111 Schneider, David 27 Schneider, Johann Philipp 110 Schneider, Peter 126 Schopenhauer, Arthur 12f., 107 Schubert, Gotthilf Heinrich v. 38 Schüler, Friedrich 47 Schütz, Friedrich Jakob 28 Schuh, Oscar Fritz 119 Schulz, Caroline 36 Schulz, Wilhelm 7, 10, 22, 25, 28–30, 33, 36, 43, 46f., 97, 99, 106, 125 Seurat, Charles-Ambroise 114 Seybold, Friedrich 65 Shakespeare, William 7, 12, 21f., 41, 44, 69, 100, 102f., 105, 124 Siebenpfeiffer, Jakob 47 Sophokles 21 Spinoza, Baruch 34, 38, 41f., 79–89, 94f., 109 Spurzheim, Gaspard 93 Stahr, Adolf 122 Steckel, Jette 120 Stein, Charlotte v. 39 Stern, Adolf 11 Sternheim, Carl 106f. Stöber, Adolph 23, 45, 93 Stöber, August 22f., 26, 45, 71f., 77, 81 Stoeber, Daniel Ehrenfried 72 Storm, Theodor 123 Szász, János 119 Tennemann, Wilhelm Gottlieb 29, 83f., 88f. Thales 82 Thiers, Adolphe 29, 55f., 59 Tieck, Ludwig 41, 71, 77f., 100 Trapp, Hermann 26
Tschudi, Johann Jakob 35 Viëtor, Karl 13, 57, 117 Vogt, Carl 7, 17, 22 Voltaire 60 Wagner, Georg Wilhelm Justin 47 Wagner-Régeny, Rudolf 70 Waits, Tom 119f. Walser, Robert 124 Weber, Carl Maria v. 16 Weber, Ernst Heinrich 90 Wedekind, Frank 12, 118, 123 Weidig, Friedrich Ludwig 25–30, 46f., 51–54 Weiss, Peter 126 Wernekinck, Friedrich 32, 90 Wiener, Hermann 26 Wihl, Ludwig 69 Wilbrand, Johann Bernhard 32, 42 Wilson, Robert 119f. Winckelmann, Johann Joachim 61 Winkler fi Hell Wolff, Oskar Ludwig Bernhard 64, 69 „Wolfram“ 10 Wolzogen, Ernst v. 12 Woost, Johanna Christiane 111 Woyzeck, Johann Chr. 40, 43, 111–113, 128 Wünsche, Erich 124 Xenophanes 83 Zehnder, Hans-Ulrich 36 Zeuner, Carl 28f., 54 Zimmermann, Friedrich 21f., 38, 80 Zimmermann, Georg 23, 81 Zola, Émile 123 Zweig, Arnold 13, 16, 76