120 36 8MB
German Pages [291] Year 2021
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2021, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783847112679 – ISBN E-Lib: 9783737012676
Andersheit – Fremdheit – Ungleichheit Erfahrungen von Disparatheit in der deutschsprachigen Literatur
Band 5
Herausgegeben von Paweł Zimniak und Renata Dampc-Jarosz
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2021, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783847112679 – ISBN E-Lib: 9783737012676
Marek Krisch
Ein wunderbares Gemisch von widersprechenden Eigenschaften Das Zeitgeschehen im Werk von Max Ring
V&R unipress
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Diese Publikation wurde von der Schlesischen Universität in Katowice finanziell unterstützt. © 2021, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Wo nicht anders angegeben, ist diese Publikation unter der Creative-Commons-Lizenz Namensnennung 4.0 lizenziert (siehe https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/) und unter dem DOI 10.14220/9783737012676 abzurufen. Jede Verwertung in anderen als den durch diese Lizenz zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Upadek / Der Fall, 2020, © Bartłomiej Wierzbicki Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2699-7487 ISBN 978-3-7370-1267-6
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Inhalt
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
1 Der Dichter lebte, litt und sang in schwerer Zeit. Max Rings Leben und Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
19
2 Hauptstadt der Langeweile, Stadt der Sünde, Mitte gesamtdeutscher Identifikation. Berlin im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Märzrevolution 1848 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Das nachrevolutionäre Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Die Industrialisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Die gesellschaftlichen Folgen der Industrialisierung . . . . . . . 2.5 Jeder zweite Berliner… Schlesier in Berlin . . . . . . . . . . . . 2.6 Berlin wird Hauptstadt des Deutschen Reiches . . . . . . . . . . 2.7 Ideenwelt der Epoche aus zeitgenössischer Perspektive . . . . .
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61 62 64 66 67 69 71 74
3 Grundübel der Zeit und eine neue Weltordnung. Die literarische Umsetzung des Zeitgeschehens 3.1 Weltanschauungen . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Revolution und ihre Kinder . . . . . . . . . 3.3 Soziale Frage . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Geldbesitz als Wertkriterium . . . . . . . . . 3.5 Einzug der Moderne . . . . . . . . . . . . . 3.6 Arztdasein und Wohltätigkeit . . . . . . . .
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79 79 90 104 112 118 126
4 Trügerische Masken, Gleisnerei und die Grenzen der gekannten Welt. Preußische Gesellschaft im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Der Adel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Der Geldadel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Die Mittelschicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Parvenüs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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137 141 145 151 151
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6
Inhalt
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153 158 168 170 176 187 193
5 Glänzender Luxus und unsägliches Elend, raffinirte Cultur und wilde Barbarei. Oberschlesien und seine Bevölkerung . . . . . . . . . . . . .
205
6 Die Physiognomie einer Stadt. Raumerfahrung in der wachsenden Metropole 6.1 Die Börse . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Das Theater . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Die bürgerliche Villa . . . . . . . . . . . . 6.4 Das Hinterhaus . . . . . . . . . . . . . . . 6.5 Der Hof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.6 Das Gefängnis . . . . . . . . . . . . . . . .
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221 233 237 240 245 250 252
Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
257
Bibliographie der Werke Max Rings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
267
Berliner Wohnorte Max Rings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
271
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
273
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
287
4.3.2 Moderne Abenteurer 4.3.3 Bildungsbürgertum . 4.3.4 Rentiers . . . . . . . 4.3.5 Handwerker . . . . . 4.4 Die unteren Schichten . . 4.5 Die Fremden . . . . . . . 4.6 Die Frauen . . . . . . . . .
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Einleitung
Das 19. Jahrhundert war eine Zeit außerordentlicher Veränderungen, insbesondere wenn man seinen Anfang mit der Entstehung der Vereinigten Staaten von Amerika oder dem Beginn der Französischen Revolution assoziiert und den Ausbruch des Ersten Weltkriegs als sein Ende ansieht.1 Die vielen revolutionären und kriegerischen Auseinandersetzungen dieser Zeit ebneten allmählich den Weg für eine grundlegende Transformation der damaligen Gesellschaften. Am prägendsten war bei diesem Wandel allerdings eine andere Erscheinung: die Industrialisierung, die die Lebens- und Arbeitsweise vieler Menschen in einem nie zuvor gekannten Ausmaß umgestaltete. Zu ihren unmittelbarsten gesellschaftlichen Folgen zählte die Binnenwanderung der Bevölkerung innerhalb eines Staates sowie ihre Auswanderung (meist in die Vereinigten Staaten von Amerika). Dadurch entvölkerte sich die Provinz immer mehr, während sich die Einwohnerzahl der größeren Städte und auch Industriegebiete, wie Oberschlesien, vervielfachte. Diese Entwicklung wäre aber ohne die Entstehung neuer Fortbewegungsmöglichkeiten (Eisenbahn) und einer modernen Infrastruktur nicht denkbar. Dass diese Erscheinungen bislang nicht explizit auf den deutschsprachigen Raum eingeschränkt wurden, liegt an der Tatsache, dass sie in weiten Teilen Europas ähnliche Formen annahmen.2 Manche dieser Tendenzen haben bis heute nicht an Gültigkeit verloren, doch es wäre ein Trugschluss, das 19. Jahrhundert im Ganzen als ein Abbild der Gegenwart zu betrachten. Zum einen begann in dieser Zeit erst der Übergang von einer Stände- zu einer Klassengesellschaft, was weiten Teilen der Gesellschaft zum ersten Mal in der Geschichte einen sozialen Aufstieg ermöglichte. Dieser blieb aber häufig teuer erkauft oder stellte sich erst in weiteren Generationen ein. Die weitgehend ungeregelte Industrialisierung, einschließlich des Einsatzes technischer Neuerungen, bedeutete meist großen Reichtum für wenige, aber Armut und Not für viele. 1 Vgl. Eric Hobsbawm: Das imperiale Zeitalter. Frankfurt a. M. 1989, S. 15, 18. 2 Vgl. Matthias von Hellfeld: Das lange 19. Jahrhundert. Zwischen Revolution und Krieg 1776 bis 1914. Bonn 2015, S. 97.
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8
Einleitung
Diese Behauptung lässt sich auch mit Zahlen untermauern: noch 1871 machte die Ober- und Mittelschicht etwas mehr als ein Viertel der preußischen Erwerbstätigen aus, folglich bildete die sonstige Bevölkerung, darunter auch Fabrik- und Bergarbeiter, die Unterschicht.3 Die Aufspaltung der Gesellschaft und die schlechte soziale Stellung von drei Vierteln der Bevölkerung hatte weitreichende Folgen, die sich kurzfristig in revolutionären Spannungen wie dem Schlesischen Weberaufstand4 offenbarten und in der Märzrevolution gipfelten, längerfristig aktivierten sie das politische Bewusstsein der unteren Gesellschaftsschichten und führten zur Herausbildung neuer Ideen (Sozialismus, Kommunismus), die noch im 20. Jahrhundert die Welt nachhaltig verändern sollten. Nicht weniger prägend erscheint in dieser Hinsicht die Bedeutungszunahme einer Schicht, die im Laufe des 19. Jahrhunderts den herkömmlichen adeligen Führungsanspruch immer erfolgreicher zu ihren Gunsten einzuschränken begann – des Bürgertums, das jedoch genauso wenig wie die Unterschicht eine einheitliche Gruppe darstellte.5 Das 19. Jahrhundert und vor allem dessen drittes Viertel, die Zeit zwischen der Märzrevolution und der Gründung des Deutschen Reiches, erscheint wie eine Epoche, die viele Phänomene der Gegenwart vorwegnimmt, sich von dieser aber auch wesentlich unterscheidet: »Manchmal ist es uns fern, manchmal sehr nah; oft ist es die Vorgeschichte der Gegenwart, zuweilen versunken wie Atlantis. Das lässt sich von Fall zu Fall bestimmen«6. Diese Vorbemerkung ist nicht als Lückenfüller zu betrachten, sie fasst nicht nur die wichtigsten Erscheinungen einer Epoche zusammen, sondern auch die Thematik der Werke eines Autors, der 1817 am südöstlichen Ende Preußens zur Welt kam, in Breslau und Berlin Medizin studierte, in den 1840er im oberschlesischen Gleiwitz als Arzt praktizierte, um in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Berlins Aufstieg zur Metropole als Einwohner mitzuerleben und als Schriftsteller zu begleiten, bis zu seinem Tod im Jahre 1901. Max Ring feierte sein Romandebüt kurz vor der Übersiedlung in die preußische Hauptstadt, wo er weitere Romane, unzählige Erzählungen und einige Dramen schuf. Darüber hinaus war er als Publizist für mehrere Zeitungen und Zeitschriften tätig, ins3 Vgl. Christian Jansen: Gründerzeit und Nationsbildung 1849–1871. Paderborn, München, Wien, Zürich 2011, S. 86. 4 Vgl. Matthias von Hellfeld: Das lange 19. Jahrhundert…, S. 96. Dieses Ereignis fand breite Rezeption auch in der Literatur, was sich u. a. an den Gedichten Die schlesischen Weber von Heinrich Heine (1844) und Lied einer schlesischen Weberin von Louise Aston (1846) sowie dem Drama Die Weber von Gerhart Hauptmann nachverfolgen lässt. 5 Vgl. Jürgen Kocka: Bürgertum und bürgerliche Gesellschaft im 19. Jahrhundert: europäische Entwicklungen und deutsche Eigenarten. In: Jürgen Kocka (Hrsg.): Bürgertum im 19. Jahrhundert: Deutschland im europäischen Vergleich, Band 1. München 1988, S. 11–76, hier S. 11ff. 6 Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München 2009, S. 17.
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Forschungsüberblick
9
besondere für »Die Gartenlaube«. Das Ziel des vorliegenden Buches ist es, Rings Lebensweg im Hinblick auf seine multikulturelle Heimat nachzuzeichnen sowie ausgewählte Aspekte seiner Werke vor dem Hintergrund des sozialgesellschaftlichen Wandels, vor allem in Berlin, zu beleuchten und einer Analyse zu unterziehen. Aufgrund des breiten Gattungsspektrums von Rings Schaffen, das beispielsweise auch viele historische Romane und Erzählungen enthält, war eine Eingrenzung der Primärliteratur vonnöten. In der Konsequenz wurde entschieden, das Augenmerk auf Rings Prosawerke zu richten, die zwischen 1849 und 1878 herausgegeben wurden und deren zeitliche Ebene als Zeitgeschehen oder jüngste Zeitgeschichte bestimmt werden konnte. Im Weiteren werden diese Texte verallgemeinernd als »zeitgeschichtliche Werke« zusammengefasst.
Forschungsüberblick Bei einem solchen Lebenslauf und Werk könnte man davon ausgehen, dass Max Ring und sein Schaffen bereits mehrmals zum Gegenstand literaturwissenschaftlicher bzw. literaturgeschichtlicher Arbeiten wurden. Zwar findet man Einträge über den Schriftsteller in zahlreichen Lexika, doch diese beschränken sich gattungsgemäß auf eine Kurzbeschreibung von Rings Leben und Werk. Die wenigen umfangreicheren Texte über den Schriftsteller nehmen sich seiner Texte nur oberflächlich an. Aus Adolph Kohuts (1848–1917) litterarisch-biographische[r] Studie über Max Ring, die 1898, also noch zu Lebzeiten des Schriftstellers, erschien und 16 Seiten umfasst, erfährt der Leser, dass Ring »Zeit seines Lebens die Oriflamme der Glaubens- und Gewissensfreiheit, des politischen und fortschrittlichen Gedankens hochhielt«7, wenngleich er in der »Kunst freilich (…) weniger radical«8 gewesen sein soll, da er in seinem literarischen Schaffen »das Ideal mit der Wirklichkeit zu versöhnen und in der realen Welt überall Poesie zu finden«9 versuchte. Kohut nennt Ring einen »Feind des rohen und gedankenlosen Naturalismus, wie der krankhaften und bleichsüchtigen Romantik«10, ohne sein Werk jedoch epochenspezifisch einzuordnen. Eigenschaften wie die »Lauterkeit seiner Gesinnung, (…) Offenheit seines Wesens und Reinheit seines Empfindens« machen ihn, laut Kohut, zu einem »Freund der Wahrheit«11 und strahlen gleichzeitig auf sein Schaffen aus. Hinzu kommt Rings »Seelenruhe«, die er der 7 Adolph Kohut: Max Ring. Eine litterarisch-biographische Studie. In: Nord und Süd, 84. Band, 1898, S. 318–333, hier S. 319. 8 Ebd. 9 Ebd. 10 Ebd. 11 Ebd., S. 320.
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Einleitung
Philosophie Spinozas verdanken soll, deren »begeisterter Jünger er ist und dessen pantheistischen und religiösen Standpunkt er mit Bewunderung theilt«12. Gattungstechnisch gliedert Kohut Rings Prosawerke in geschichtliche, kultur- und zeitgeschichtliche Romane sowie Hofgeschichten, Kriminalnovellen, Romane aus dem Leben der Ärzte und Erzählungen aus Frauenkreisen.13 Als Motive der zeitgeschichtlichen Werke, auf die im Weiteren besonderes Augenmerk gerichtet werden soll, erkennt Kohut den »Tanz um das goldene Kalb, das Streberthum und die Carrière-Macherei, die Verleugnung des Idealen, den Fetischdienst des Erfolgs, die Jagd nach dem Sinnestaumel, den dämonischen Drang nach Ruhm auf Kosten des Glückes des Einzelnen und des Wohles der Gesammtheit«14. Diese erste Studie über Max Ring gehörte bis zuletzt gleichzeitig zu den umfangreichsten, wobei es sich bei deren Autor um eine derart vielseitige und produktive Person handelt, dass man nicht davon ausgehen sollte, Kohut habe explizit Max Rings Schaffen hervorheben wollen, denn dieser deutsch-ungarische Journalist, Musik-, Literatur- und Kulturhistoriker, Biograf sowie Übersetzer aus dem Ungarischen verfasste über 120 Bücher und Monografien sowie hunderte von Artikeln in Zeitschriften, die er u. a. Goethe, Schiller, Kleist, Bismarck und Ferdinand Lassalle widmete. Wegen seiner Abstammung galt Kohuts Interesse verstärkt auch Persönlichkeiten jüdischer Herkunft, worauf z. B. sein zweibändiges Lexikon Berühmte israelitische Männer und Frauen in der Kulturgeschichte der Menschheit (Leipzig – Reudnitz, 1. Band: 1900, 2. Band: 1901) Zeugnis ablegt, ebenfalls mit einem Beitrag über Max Ring (2. Band, S. 64–67). Erst mehr als 30 Jahre später erschien in der Zeitschrift »Der Oberschlesier« Michael Fraenkels Artikel Max Ring. Das Lebensbild eines oberschlesischen Dichters15, der neben Informationen zum Leben und Werk des Schriftstellers auch einen Abdruck einiger seiner Gedichte enthält. Da sich der Autor vor allem auf Rings Erinnerungen als Quelle stützt, gleicht sein Text weitgehend dem Beitrag Kohuts, doch im Gegensatz zu seinem Vorgänger ist Fraenkel etwas präziser in der epochenspezifischen Einordnung von Rings Werk: Denn nicht nur in den größeren Zeitromanen, sondern auch da, wo er historisch gestaltete, betätigte er das vom ›Jungen Deutschland‹ in der Literatur eingeführte Prinzip, durch poetische Darstellung erhebender und abschreckender Beispiele aus der Vergangenheit den Idealismus der Gegenwart zu beleben, die Geschichte in befruchtende Beziehung zu setzen zu den Gegenwartsfragen.16
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Ebd., S. 319. Vgl. ebd., S. 331f. Ebd., S. 332. Michael Fraenkel: Max Ring. Das Lebensbild eines oberschlesischen Dichters. In: Der Oberschlesier, 12. Jahrgang, 7. Heft, S. 510–517. 16 Ebd., S. 514.
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Forschungsüberblick
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Rings Stärke sieht Fraenkel im Bereich der Prosa und ohne sie, wie Kohut, in enge Kategorien einzuteilen, schreibt er über Rings Romane, sie seien durchweg von sittlichem Ernst getragen, sie behandeln in leicht faßlicher, populärphilosophischer Form soziale und andere brennende Tagesfragen oder ein Stück Kulturgeschichte der Gegenwart oder Vergangenheit. Der Verfasser sorgt durch bunten Farbenauftrag dafür, daß auch eine Unterhaltung nicht zu kurz komme und der Reiz der Neugierde befriedigt werde17.
Ähnlich wie Fraenkel äußert sich Arno Lubos im ersten Band seiner Geschichte der Literatur Schlesiens (1960) über Ring, wenngleich in weniger blumiger Sprache und kritischer: Rings Unterhaltungsromane seien wenig wertvoll, die Stadtgeschichten – teils humoristisch und satirisch, allgemein finde man in seinen Werken einen sozialen Unterton18. Etwas mehr Platz und auch Anerkennung findet Ring in zweitem Band von Lubos’ Buch, wo es in Anlehnung an ein Zitat aus den Erinnerungen um das »Problem Oberschlesien« geht: Lubos folgert daraus drei Themenkreise (Industrialisierung und der damit verbundene Untergang des Bauerntums, sozialer Gegensatz zwischen Gutsherren und Landbevölkerung sowie Charakterisierung des einfaches Volkes), die er allerdings nicht mehr auf Rings Werke bezieht19. Zu den neuesten literaturwissenschaftlichen Beiträgen über Max Ring, die über eine allgemeine Beschreibung von Leben und Werk hinausgehen, gehört Hugh Ridleys Artikel Anthropologische Ansätze in der Berlin-Literatur Max Rings aus dem Jahr 201120. Ridley geht von der Annahme aus, Schriftsteller und Forscher, im Allgemeinen Intellektuelle, hätten erst im 19. Jahrhundert mit Verwunderung und Entsetzen feststellen müssen, dass den unteren Schichten der Gesellschaften, in denen sie lebten, gemeinhin dem Volk, bis zu diesem Zeitpunkt viel weniger Aufmerksamkeit geschenkt wurde als vielen weit entfernt lebenden exotischen Stämmen auf anderen Kontinenten. In den zitierten Fragmenten von Friedrich Engels, Wilhelm Heinrich Riehl und Max Ring erkennt er »potenziell drei sehr unterschiedliche Konsequenzen (…): Konfrontation mit der großstädtischen Armut; volkskundliche Nabelschau der selbstgefälligen Kulturpluralität der Heimat; Ankurbeln des Binnentourismus«21. Rings Werk bietet aus Ridleys Sicht »ein klares Beispiel der praktischen Auswirkung der literarischen Anthropologie auf die Belletristik, und damit auf das Stadtver-
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Ebd. Vgl. Arno Lubos: Geschichte der Literatur Schlesiens, I. Band. München 1960, S. 351. Vgl. Arno Lubos: Geschichte der Literatur Schlesiens, II. Band. München 1967, S. 141ff. Vgl. Hugh Ridley: Anthropologische Ansätze in der Berlin-Literatur Max Rings. In: Roland Berbig, Iwan-M. D’Aprile, Helmut Peitsch u. Erhard Schütz (Hrsg.): Berlins 19. Jahrhundert. Ein Metropolen-Kompendium. Berlin 2011, S. 375–380. 21 Ebd., S. 376.
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Einleitung
ständnis von Berlin«22. Im Hinblick auf seine Stoffe sieht Ridley Rings Werk sich in »eine Grundkonstellation des europäischen Realismus«23 einreihen. Als eine weitere ethnologische Tendenz bei Ring nennt der Forscher »die Beobachtung im Großstadtmilieu«24, die aber bewusst zu keinem Gesamtbild der Stadt führt. Gezeigt werden dagegen »eher Umschichtungen, Umbesiedlungen innerhalb der bekannten Konturen einer Stadt«25. Berlin wird bei Ring nach Meinung von Ridley »weder dämonisiert noch idealisiert, sondern Schauplatz neuer Erfahrung. Das beobachtende Auge ist nicht das des gelangweilten Flaneurs, sondern des beschäftigten Großstadtarztes, der sich anthropologisch ausbildet«26. Vom wachsenden Interesse an den Werken Max Rings zeugen zwei weitere aktuelle Veröffentlichungen. Zum einen handelt es sich um das im Rahmen eines studentischen Projektes erarbeitete und von Irena Sˇebestová herausgegebene Buch Max Ring – spisovatel a lékarˇ ze Sudic [Max Ring – Schriftsteller und Arzt aus Sudice] (Ostrava 2018), in dem auf 62 Seiten in tschechischer Sprache auf Rings Leben und ausgewählte Aspekte seines Schaffens (u. a. Ring als Theaterkritiker, Berliner Gesellschaft am Beispiel des Romans Der Kleinstädter in Berlin, soziale Lage am Beispiel des Romans Berlin und Breslau 1847–1849) eingegangen wird. Zum anderen unterzieht Johannes Brambora in seiner 2020 erschienenen Dissertation Von Hungerlöhnern, Fabriktyrannen und dem Ideal ihrer Versöhnung. Der Beitrag des populären Romans zur Entstehung eines sozialen Erklärungsmusters ökonomischer Gegensätze der Industrialisierung. 1845–1862 (Bielefeld 2020) neben Werken von Louise Otto-Peters, Robert Prutz und Adolf Schirmer auch Max Rings Romandebüt Berlin und Breslau. 1847–1849 einer Analyse.
Methodische Bemerkungen Der für die vorliegende Arbeit postulierte Forschungsansatz, die Darstellung des Lebens und Wirkens Max Rings mit der Untersuchung ausgewählter, den Zeitgeist, verschiedene Milieus der Gesellschaft sowie den Raum betreffender Aspekte seiner zeitgeschichtlichen Werke zu verknüpfen, erfordert das Heranziehen unterschiedlicher Konzepte und Methoden literatur- bzw. kulturwissenschaftlicher Analyse. Dabei wird, zumeist implizit, auf einzelne, mit dem Forschungsansatz konforme Elemente dieser Theorien zurückgegriffen.
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Ebd. Ebd., S. 377. Ebd. Ebd., S. 380. Ebd.
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Methodische Bemerkungen
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Die erste Bezugskategorie bilden dabei sozialgeschichtliche Ansätze. Schon die Beschäftigung mit Max Ring und seinen Texten kann auf die Errungenschaften dieser Theorie zurückgeführt werden, welche das Arbeitsfeld der Literaturwissenschaft um Texte erweitert hatte, die sich außerhalb des Kanons befinden.27 Gemäß dieser Denkrichtung wird außerdem angenommen, dass sich soziale Erfahrungen des Autors während der Entstehung des literarischen Werks darin widerspiegeln, dass also die außertextliche Wirklichkeit durchaus die Literatur beeinflusst, entgegen der »Vorstellung von einem autonom schöpfenden, individuell und überzeitlich zeugenden Autorsubjekt (…)«28. Diese Annahme korrespondiert mit einem Konzept aus dem Umkreis sozialgeschichtlicher und gesellschaftstheoretischer Theorien, dem Habitus-Begriff in der Auffassung von Pierre Bourdieu. Im Werk des französischen Soziologen bezeichnet dieser seit der Antike verwendete Begriff 29 »das historisch und kulturell spezifische System von Dispositionen (Werthaltungen, Einstellungen), das sich Individuen einer sozialen Einheit in Sozialisationsprozessen aneignen und das ihr Denken, Wahrnehmen, Beurteilen und Handeln so lenkt, dass sie alle typischen Gedanken und Handlungen einer Kultur zu erzeugen vermögen«30. Diese Überlegungen beziehen sich in erster Linie auf Max Rings Leben, insbesondere seine Kindheit und Jugend, die er als jüdisches Kind in einem christlichen Umfeld verbrachte, das dazu in sprachlicher und kultureller Hinsicht von deutschen und slawischen Elementen geprägt war. Dadurch entsteht die Frage, welche Einflüsse für die Herausbildung seiner Persönlichkeit entscheidend waren und was er aus dem kulturellen Feld, in dem seine Sozialisation stattfand, übernahm. Der Habitus spielt aber auch eine Rolle bei der Analyse der in Rings Werken dargestellten zeitgenössischen Gesellschaft, weil er von Bourdieu klassenspezifisch verwendet wurde: »Die Erzeugungsbedingungen des Habitus sind für die Mitglieder einer Klasse ähnlich. Damit haben die Angehörigen einer Klasse (…) einen Klassenhabitus, der in vielen Punkten ähnlich ist«31. Es wird daher im Weiteren zu
27 Vgl. Martin Huber: Methoden sozialgeschichtlicher und gesellschaftstheoretischer Ansätze. In: Vera Nünning, Ansgar Nünning (Hrsg.): Methoden der literatur- und kulturwissenschaftlichen Textanalyse. Ansätze – Grundlagen – Modellanalysen. Stuttgart, Weimar 2010, S. 201–223, hier S. 205. 28 Ebd., S. 201. 29 Vgl. Linda Simonis: Habitus. In: Ansgar Nünning (Hrsg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Stuttgart, Weimar 2013, S. 287–288, hier S. 287. 30 Thorsten Unger: Habitus. In: Dieter Burdorf, Christoph Fasbender, Burkhard Moennighoff: Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. Stuttgart, Weimar 2007, S. 300. 31 Boike Rehbein, Gernot Saalmann: Habitus (habitus). In: Gerhard Fröhlich, Boike Rehbein: Bourdieu-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Sonderausgabe. Stuttgart, Weimar 2014, S. 110–118, hier S. 115.
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Einleitung
beobachten sein, ob Ring einen klassenspezifischen Habitus der von ihm dargestellten Gesellschaftsschichten erkennt und beschreibt. Ein anderer sozialgeschichtlicher Gesichtspunkt, der die Analyse unterstützen soll, betrifft textinterne Aspekte und äußert sich in der Frage, ob es zwischen den Texten und gesellschaftlichen oder sozialgeschichtlichen Tatsachen Bezüge gibt, und wenn ja, wie werden dann diese Tatsachen literarisch angewandt. Da sozialgeschichtliche Ansätze »Stoffe, Motive und die Figurenkonstellationen in Beziehung zu gesellschaftlichen Prozessen«32 setzen, soll im Weiteren untersucht werden, ob Ring die für das 19. Jahrhundert typischen Veränderungen in seinen Werken umsetzt und ob dies auf der Makroebene einer Schicht oder der Mikroebene einer kleineren Einheit, wie die Familie, geschieht (oder auf beiden). Darüber hinaus stellt sich die Frage, welche sozialen Strukturen zur Konstruktion der literarischen Wirklichkeit in den Text übernommen werden. Der Einsatz sozialgeschichtlicher Ansätze erscheint im Kontext dieser Arbeit naheliegend, da sie »insbesondere bei Texten angewandt [werden], die in der literarischen Fiktion soziale Strukturen der wirklichen Welt nachahmen oder inszenieren«33. Eine andere Methode, die die folgende Analyse unterstützen soll, stammt neben u. a. den Cultural Studies, den Postcolonial Studies oder der Literarischen Anthropologie aus dem Bereich der kulturwissenschaftlich orientierten Ansätze.34 Zwei fundamentale Prämissen des New Historicism, die auf seine Bezüge zur Diskursanalyse und zur neueren Ethnologie zurückzuführen sind, lassen sich in den folgenden Aussagen ausdrücken: »Die Geschichtlichkeit von Texten ist zu berücksichtigen, wenn man sie für die Gegenwart erschließen und verständlich machen will« sowie »Geschichte ist als Text aufzufassen. Sie unterliegt den Vertextungsstrategien der Historiker«35. Der New Historicism unterscheidet sich somit dadurch von den sozialgeschichtlichen Ansätzen, dass er die Geschichte nicht als Hintergrundinformation zum besseren Verständnis eines literarischen Werkes auffasst, sondern untersucht »einerseits, inwiefern die Geschichte in den Text eingeschrieben ist, und andererseits, inwiefern die Geschichte selbst textuell erzeugt und strukturiert ist«36. Zu den Verdiensten dieser Theorie und den Gründen für ihr Heranziehen in der vorliegenden Arbeit gehört die Grundannahme, dass sich historische Wirklichkeit und Literatur auf mannig32 Martin Huber: Methoden sozialgeschichtlicher und gesellschaftstheoretischer Ansätze…, S. 208. 33 Ebd., S. 210. 34 Vgl. Tilmann Köppe, Simone Winko: Theorien und Methoden der Literaturwissenschaft. In: Thomas Anz (Hrsg.): Handbuch Literaturwissenschaft. Band 2: Methoden und Theorien. Stuttgart, Weimar 2013, S. 285–371, hier S. 363. 35 Vgl. ebd., S. 355. 36 Michael Basseler: Methoden des New Historicism und der Kulturpoetik. In: Ansgar Nünning (Hrsg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Stuttgart, Weimar 2013, S. 225–249, hier S. 230.
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Methodische Bemerkungen
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faltige Weise wechselseitig durchdringen. Diese scheinbar selbstverständliche und wenig progressive Feststellung ist jedoch (…) vor dem Hintergrund der literaturwissenschaftlichen ›Landschaft‹ zu verstehen, zu der sie sich als Gegengewicht formiert hat: An die Stelle von werkimmanenten, formalistischen und autonomistischen Ansätzen mit einer ahistorischen Tendenz einerseits und des ›alten‹ Historismus mit seiner Tendenz zu monolithischen Geschichtsbildern andererseits, tritt also die Suche des New Historicist nach den verborgenen sozialen bzw. kulturellen Spuren des literarischen Textes (…).37
Im Gegensatz zum hermeneutischen Besserverstehen bietet der New Historicism das Modell des ›Andersverstehen‹ oder ›Mehrverstehen‹.38 Das Problematische an dieser Methode ist ihr mikrologischer Charakter, die »ungeheure Komplexität historisch-kultureller Bedeutungsbezüge«39, weswegen sie »niemals den Anspruch erheben [kann], die Gesamtheit einer Kultur fassen und formulieren zu können«40, aber trotzdem auf der Suche nach unvermuteten Zusammenhängen als hilfreich angesehen wird. Was sie neben dem allgemeinen Interesse für die Geschichtlichkeit literarischer Texte mit sozialgeschichtlichen Ansätzen verbindet und dadurch für die vorliegende Arbeit beachtenswert macht, ist ihre Distanz gegenüber dem traditionellen literaturgeschichtlichen Kanon und der vermeintlichen »literarästhetische[n] Qualität eines Textes (deren Bewertung ja zudem von historisch variablen Kriterien und Präferenzen abhängig ist)«41. Genauso kann eine ähnliche Haltung in der Nähe der beiden Ansätze zum literarischen Text selbst sowie zu seinem historischen und gesellschaftlichen Kontext erkannt werden, was für die vorliegende Arbeit von besonderer Bedeutung ist. Unter dem Begriff Zeitgeschehen werden im Weiteren die für Ring tagesaktuellen Ereignisse sowie zeitgenössischen Erscheinungen und Prozesse wie auch deren Widerspiegelung innerhalb der Gesellschaft verstanden, als Ergänzung zur Zeitgeschichte, die sich vorwiegend den historischen, öffentlich gewordenen Ereignissen widmet und erst im 20. Jahrhundert als Bezeichnung in Deutschland eingeführt wurde.42 An manchen Stellen einiger Texte, insbesondere in Bezug auf die Darstellung der Revolution von 1848/49 in Rings Debütroman, erscheint die Grenze zwischen den beiden Termini als fließend. Die aus kurzer aber dennoch 37 Ebd., S. 227. 38 Vgl. Tilmann Köppe, Simone Winko: Theorien und Methoden der Literaturwissenschaft…, S. 356. 39 Moritz Baßler: Analyse von Text- und Kontextbeziehungen. In: Thomas Anz (Hrsg.): Handbuch Literaturwissenschaft. Band 2: Methoden und Theorien. Stuttgart, Weimar 2013, S. 225–231, hier S. 228. 40 Ebd. 41 Michael Basseler: Methoden des New Historicism und der Kulturpoetik…, S. 231. 42 Vgl. Gabriele Metzler: Zeitgeschichte. Begriff – Disziplin – Problem. In: Frank Bösch, Jürgen Danyel (Hrsg.): Zeitgeschichte – Konzepte und Methoden. Göttingen 2012, S. 22–46, hier S. 24.
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Einleitung
vorhandener zeitlicher Perspektive geschilderten Ereignisse bereits historischen Ausmaßes werden beispielsweise dadurch zum Tagesgeschehen stilisiert, dass Romanfiguren an ihnen beteiligt sind. Bei dem Versuch, das Zeitgeschehen des dritten Viertels des 19. Jahrhunderts in den Texten von Max Ring zu erfassen und zu untersuchen, ist auch eine Analyse des Raums von Bedeutung. Diese wird von der Überzeugung getragen, dass Raum (…) in literarischen Texten nicht nur Ort der Handlung, sondern stets auch kultureller Bedeutungsträger [ist]. Kulturell vorherrschende Normen, Werthierarchien, kursierende Kollektivvorstellungen von Zentralität und Marginalität, von Eigenem und Fremdem sowie Verortungen des Individuums zwischen Vertrautem und Fremdem erfahren im Raum eine konkret anschauliche Manifestation.43
Bei der Untersuchung der Räume in Rings Texten wird auch der von Michel Foucault in die Kulturwissenschaft eingeführte Begriff der Heterotopie herangezogen, welcher »zugleich in Anlehnung an und in Abgrenzung zum Begriff Utopie benutzt«44 wird. Heterotopien sind »durch eine paradoxe Verortung sowohl innerhalb als auch außerhalb der Gesellschaft«45 gekennzeichnet. Obwohl sie anthropologische Konstanten bilden, kann sich ihre Funktion auch wandeln. Manche von ihnen, wie Theater oder Kinos, »besitzen die Fähigkeit, mehrere reale Räume, mehrere Orte, die eigentlich nicht miteinander verträglich sind, an einem einzigen Ort nebeneinander zu stellen«46. Schließlich können sie ›heterochron‹ sein, »wie Archive und Museen, die Vergangenes (von verschiedenen Orten) in der Gegenwart (an einem gemeinsamen Ort) versammeln«47. Die vorliegende Studie ist in sechs Kapitel gegliedert. Das erste Kapitel fasst das Leben und Schaffen Max Rings zusammen, wobei besonderes Augenmerk auf die erste Phase seines Lebens gelegt wird, die Kindheit, Jugend und das frühe Erwachsenenleben. In Anlehnung an den Habitus-Begriff wird darin versucht, die Wurzeln seiner Persönlichkeit nachzuverfolgen. Im zweiten Kapitel werden ausgewählte Aspekte der Geschichte Preußens und vor allem Berlins im 19. Jahrhundert angesprochen, als Nachtrag zu Rings Lebensgeschichte und zugleich Ausblick auf die in seinen Werken beschriebene und in der Arbeit untersuchte Welt. Das dritte Kapitel ist der Untersuchung der prägenden The43 Wolfgang Hallet, Birgit Neumann (Hrsg.): Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn. Bielefeld 2009, S. 13. 44 Michael C. Frank: Heterotopie. In: Ansgar Nünning (Hrsg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Stuttgart, Weimar 2013, S. 303. 45 Ebd. 46 Michel Foucault: Von anderen Räumen. In: Michel Foucault: Schriften in vier Bänden, Bd. 4. Frankfurt a. M. 2005, S. 931–942, hier S. 938. 47 Stephan Günzel: Raum. Eine kulturwissenschaftliche Einführung. Bielefeld 2020, S. 101.
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men in Rings Texten gewidmet, die verschiedenartig vom Wandel zeugen und sich u. a. in politischer (Märzrevolution), gesellschaftlicher (Sittenverfall), sozialer (Sozialismus, Kommunismus), wirtschaftlicher (Materialismus) und technologischer (Erfindungen) Hinsicht offenbaren. Im vierten Kapitel wird das Augenmerk auf die preußische und insbesondere Berliner Gesellschaft dieser Zeit gerichtet, wobei sich die Analyse in Anlehnung an sozialgeschichtliche Studien an den jeweiligen Schichten orientiert. Dadurch entsteht ein komplexes und weitgehend komplettes Bild, bei dem auch die unteren Schichten von Ring berücksichtigt werden. Im fünften Kapitel verlagert sich der Fokus in die Provinz, nach Oberschlesien, in Rings Heimat, die er zwar nur selten aber dennoch umfangreicher als jeden anderen Raum außerhalb Berlins beschrieb. Das sechste Kapitel bildet die Untersuchung des Bildes von Berlin, der preußischen und später deutschen Hauptstadt sowie schon damals bevölkerungsreichsten deutschen Metropole. Darin wird sowohl versucht ein allgemeines Bild des städtischen Raums zu entwerfen wie auch einzelne Orte zu beschreiben, deren Präsenz in Rings Werken belangvoll erscheint. Der Untersuchung liegen Aspekte der Sozialgeschichte und des New Historicism zugrunde, ebenfalls wird auf Bourdieus Habitus- und Foucaults Heterotopiebegriff zurückgegriffen. Ausschlaggebend für die dargestellten Themen, Personen und Räume ist das Prinzip der Fokalisierung: der Autor dieser Arbeit folgt den Erzählern von Rings Texten, die nur selten Komplexität beanspruchen. Erst die Zusammensetzung dieser Erkenntnisse lässt ein vielschichtigeres Gesamtbild entstehen. Um das Ausmaß von Rings Schaffen nachvollziehbar zu machen und gegebenenfalls auch zu dessen weiteren Untersuchungen anzuregen, wird am Ende eine detaillierte Bibliographie seiner Werke dargeboten. Im abschließenden Literaturverzeichnis werden Quellen angegeben, welche die Grundlage dieser Arbeit darstellen. Beim Zitieren wird die von Max Ring stammende Rechtschreibung herangezogen, obwohl sie der heutigen in vielen Fällen widerspricht. Alle in der vorliegenden Arbeit verwendeten Abkürzungen, sowie nähere Angaben über Personen oder benutzte Literaturquellen sind dem Fußnotentext zu entnehmen. Dieses Buch verdankt seine Entstehung der Freundlichkeit und Hilfe vieler Personen. Frau Prof. Dr. habil. Graz˙yna Barbara Szewczyk danke ich dafür, dass Sie mich auf das Schaffen von Max Ring aufmerksam gemacht hat. Besonderen Dank möchte ich Frau Prof. Dr. habil. Renata Dampc-Jarosz für die vielen anregenden Gespräche, scharfsinnigen Bemerkungen und die organisatorische Unterstützung aussprechen, ohne die sich meine Arbeit viel mühseliger gestaltet hätte. Der Leitung der Philologischen bzw. Humanistischen Fakultät, insbesondere dem Dekan, Prof. Dr. habil. Krzysztof Jarosz, danke ich für die finanzielle Förderung des Forschungsvorhabens. Nicht zuletzt gilt ein lieber Dank auch
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meiner Frau und Familie, die mir während der Arbeit wie immer viel Geduld entgegengebracht haben.
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Der Dichter lebte, litt und sang in schwerer Zeit. Max Rings Leben und Werk
Zauditz ist eine kleine Ortschaft mit etwas mehr als 600 Einwohnern, es heißt heute Sudice und liegt im Nordosten der Tschechischen Republik, ganz nahe an der polnischen Grenze. Breslau, die historische Hauptstadt Schlesiens, ist ca. 200 und Berlin ca. 500 Kilometer entfernt48. 1742, nach dem Ersten Schlesischen Krieg, fiel Zauditz an Preußen und wurde infolge der preußischen Kreisreform von 1816 verwaltungstechnisch dem Landkreis Ratibor zugeordnet. Im Zuge dieser Entwicklungen verlor Zauditz das im 15., möglicherweise sogar im 14. Jahrhundert verliehene Stadtrecht, wodurch es zu Beginn des 19. Jahrhunderts vom Marktflecken zur Landgemeinde degradiert wurde. Darüber hinaus liegt Zauditz im 286 Quadratkilometer großen Hultschiner Ländchen, in dem »seit Jahrhunderten die mährischen/tschechischen, deutschen und polnischen sprachlichen und kulturellen Bevölkerungsgruppen zusammenlebten, wobei der deutsche Aspekt eine bestimmende Rolle spielte«49. Somit wurde die Grenzregion »von der interkulturellen Kommunikation und Interaktion der tschechischen, deutschen, polnischen genauso wie der jüdischen Nationalgruppen geprägt, deren Mentalitäten sich gegenseitig beeinflussten«50. Hier wurde am 4. August 181751 in einer jüdischen Familie Max Ring geboren, dessen Vorname eigentlich Marcus gewesen sein soll52, der spätere Romancier, Dramatiker, Lyriker, Jour48 Was die nächstgelegenen Städte angeht, sind es nach Racibórz/Ratibor 13, nach Opava/ Troppau 20, nach Ostrava/Ostrau 40, nach Gliwice/Gleiwitz 60 und nach Opole/Oppeln – 90 Kilometer. 49 Irena Sˇebestová: Die künstlerische Anabasis des Schriftstellers Max Ring: Von der Peripherie des Hultschiner Ländchens zur preußischen Metropole. In: Studia Germanistica Nr. 21/2017, Ostrava 2017, S. 73–81, hier S. 73f. 50 Ebd., S. 74. 51 Lediglich Franz Brümmer nennt den 22. Juli 1817 als Rings Geburtsdatum und bezieht sich auf dessen vermeintliche eigene Angabe (vgl. Franz Brümmer: Lexikon der deutschen Dichter und Prosaisten vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Leipzig 1913, Bd. 5, S. 476–477, hier S. 476). Ring selbst gibt in seinen Erinnerungen den 4. August 1817 als seinen Geburtstag an. 52 Vgl. Ring, Max. In: Renate Heuer (redaktionelle Leitung): Lexikon deutsch-jüdischer Autoren, Band 18, Berlin/New York 2010, S. 280–292, hier S. 280.
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nalist und auch Arzt, den man eine »wandelnde Chronik des 19. Jahrhunderts«53 nannte und einen Schriftsteller, dank dessen Werk »hinter die Coulissen der Welt-, Litteratur-, Cultur- und Theatergeschichte«54 geblickt werden kann. Da es trotz zahlreicher Lexikoneinträge über Ring an weiterführender Literatur über sein Leben und Werk fehlt, wird im Weiteren dieses Kapitels vorwiegend auf Rings 1898 in Berlin erschienenen, aber bereits 1870 fertiggestellten55, zweibändigen Erinnerungen zurückgegriffen, in deren Vorwort der Autor sein Buch als eine glaubwürdige Quelle von Informationen preist: »(…) so hatte ich das seltene Glück, vielen meiner hervorragenden Zeitgenossen zu begegnen und an den wichtigen Ereignissen teilzunehmen. Man findet sie in diesem Buche treu und wahr geschildert«56. Max Rings »in dem einst preußischen Herzogtum Warschau« 1779 geborener und »als vierzehnjähriger Knabe nach Deutschland«57 gekommener Vater Viktor war ein wohlhabender Landwirt, der auch Spirituosen produzierte (Branntweinbrennerei, Brauerei), eine Gastwirtschaft betrieb, sowie Felder von Christian Graf von Haugwitz58 pachtete, zu dem er seit langem eine freundschaftliche Beziehung unterhielt. Rings Mutter, Sarah, geb. Friedländer, »eine sehr schöne und gebildete Frau«59, verstarb, als der Junge »kaum vierzehn Wochen alt war«60 im Alter von 37 Jahren und ließ damit Max und seine fünf älteren Geschwister, Henriette (geb. 1800), Aaron (geb. 1800), Lina (geb. 1807), Rosalie (geb. ca. 1810) und Babette (geb. 1814), als Waisen zurück. Als seine früheste Erinnerung nennt Ring den »Kongress von Troppau«, den Troppauer Fürstenkongress61, der vom 20. Oktober bis 20. Dezember 1820 in Troppau, dem heutigen Opava, stattfand. Während ihrer Anreise sollen König Friedrich Wilhelm III. von Preußen und Kaiser Alexander I. von Russland über 53 Adolph Kohut: Max Ring. Eine litterarisch-biographische Studie. In: Nord und Süd, 84. Band, 1898, S. 320. 54 Ebd. 55 Vgl. Max Ring: Erinnerungen, Erster Band. Berlin 1898, Vorwort, S. VI. 56 Ebd. 57 Ebd., S. 2. 58 Christian August Heinrich Curt von Haugwitz, ab 1786 Graf von Haugwitz (1752–1832) war ein preußischer Jurist, Staatsmann und Diplomat. Siehe auch: Johann Minutoli: Der Graf von Haugwitz und Job von Witzleben. Berlin 1844. 59 Max Ring: Erinnerungen, Erster Band…, S. 6. 60 Ebd. 61 Die Kongresse von Aachen (1818), Troppau (1820), Laibach (1821) und Verona (1822) offenbarten eine neue Herangehensweise europäischer Staaten an die Außenpolitik, die aus den Erfahrungen der Napoleonischen Kriege erwuchs und auf zwischenstaatliche Zusammenarbeit statt Rivalität setzte. Siehe auch: Karin Schneider (Hrsg.), unter Mitarbeit von Stephan Kurz: Mächtekongresse 1818–1822. Digitale Edition. Wien: Österreichische Akademie der Wissenschaften, Institut für Neuzeit- und Zeitgeschichtsforschung 2018. http://maechtekon gresse.acdh.oeaw.ac.at/ [Zugriff: 18. 03. 2020].
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Zauditz durchgefahren und von der »Schuljugend unter der Aufsicht ihrer Lehrer (…) mit Gesang und Hurrahschreien« begrüßt worden sein.62 Der junge Max zeigte sich als ein Kind mit lebhafter Phantasie: »Überhaupt litt ich (…) häufig an (…) schrecklichen, immer wiederkehrenden Träumen. Trotz dieser Träumereien war ich ein sehr lebhaftes, aufgewecktes Kind (…)«63. Im Hause der Rings muss die Bildung einen hohen Stellenwert genossen haben, zum einen lässt sich darauf aus der erwähnten, von der Mutter hinterlassenen Bibliothek schließen64, zum anderen aus der Tatsache, dass Viktor Ring für Max und seine noch nicht erwachsenen Geschwister einen Hauslehrer anstellte, der sich mit der Fortbildung aller Kinder beschäftigte, da der Vater, obgleich selbst nur unzureichend gebildet, mit dem Bildungsniveau in den hiesigen Schulen nicht zufrieden war.65 Dieser erwies sich als ein Anhänger der Unterrichts- und Erziehungsmethoden des Schweizer Pädagogen und Schulreformers Johann Heinrich Pestalozzi66: »Wir verweilten nur wenige Stunden des Tages in der Schulstube; dann führte er uns ins Freie und zeigte uns hier die Gegenstände, welche wir kennen lernen sollen, Steine, Pflanzen und Tiere, in dem er uns zugleich auf ihre verschiedenen Eigenschaften aufmerksam machte.«67 Die vom Hauslehrer angewandten, auf Anschauung basierenden Methoden stießen vor allem bei Max auf fruchtbaren Boden, wie er im Nachhinein konstatierte: »(…) ich lernte nicht nur leicht lesen und schreiben, sondern auch nachdenken und dachte mehr und verständiger, als sonst Kinder in so frühem Alter zu thun pflegen«68. Von ebenfalls großer Bedeutung wird bei der Entwicklung des Jungen das offene Familienhaus gewesen sein, wo »ein lebhafter Menschenverkehr stattfand. Fast täglich kamen Fremde mit der durchfahrenden Schnellpost, Beamte aus der Umgegend, Freunde meines Vaters, die ihn besuchten oder mit ihm Geschäfte hatten«69. Zu diesen zählten sowohl hoch gestellte Persönlichkeiten wie der erwähnte Graf von Haugwitz oder der Fürst Felix von Lichnowsky70, als auch 62 63 64 65 66
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Max Ring: Erinnerungen, Erster Band…, S. 1. Ebd. S. 6. Vgl. ebd. Vgl. ebd. S. 4, 6. Im Zentrum von Pestalozzis Ideen bezüglich der Bildung stand das Ziel, die Kinder zu sittlichen Menschen zu erziehen, die, in religiösem Glauben verankert, nach dem Guten streben und ihre Selbstsucht möglichst überwinden. Die bei allen Kindern befindlichen, aber noch nicht entfalteten Kräfte und Anlagen sollten naturgemäß entwickelt werden. Siehe auch: Arthur Brühlmeier: Menschen Bilden. 27 Mosaiksteine. Baden 2007; Bijan Amini: Johann Heinrich Pestalozzi. Einführung in Leben und Werk. Pinneberg 2018. Max Ring: Erinnerungen, Erster Band…, S. 7. Ebd. Ebd. Fürst Felix Maria Vincenz Andreas von Lichnowsky, Graf von Werdenberg, (1814–1848) war ein preußischer rechtsliberaler Politiker. Am 18. September 1848 wurde Lichnowsky als
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Mitbürger aus der näheren und weiteren Umgebung (Steuerrat Suard aus Ratibor, Simon Pappenheim, Herausgeber des Ratiborer Anzeigers, Menageriebesitzer van Aken). Nicht unerwähnt bleibt in Rings Erinnerungen eine Reihe »merkwürdiger Persönlichkeiten« aus der nächsten Umgebung: Beck, »der unter Friedrich dem Großen Spionendienste geleistet hatte«, Schuhmacher Koch, »welcher noch immer einen langen Zopf trug«, der Vetter Kriebele, »ein wohlhabender (…) Bauer, aber ein sogenannter Quartalsäufer«, die jüdische Händlerin Chaje, »welche alle Welt bat, ihr einen Brief nach ›Merika‹ an einen vor dreißig Jahren ihr mit einer kleiner Summe durchgegangenen Kunden zu schreiben, in dem festen Glauben, dass Amerika nicht viel größer als unser Markflecken sei«, oder der jüdische Krämer, »der den ganzen Tag in talmudischen Schriften und Gebetbüchern mit lauter Stimme las«71. Daraus ergibt sich das bunte Bild einer multikulturellen Welt im damaligen Hultschiner Ländchen, das den zukünftigen Schriftsteller sensibilisiert und entscheidend geprägt haben muss. Über allen thront aber die Figur des Vaters, von dem Max Ring schreibt, dass er einen »natürlichen, geraden Verstand und ein feines, sicheres Benehmen« besaß, »das er sich im Umgange mit Höherstehenden angeeignet hatte«72. Vor allem unterstreicht er die religiöse Toleranz seines Vaters, die ihn maßgeblich prägte: Obgleich mein Vater, der sich zum jüdischen Glauben bekannte, die vorgeschriebenen Gesetze und Ceremonien streng beobachtete, hatte er sich im Verkehr mit der gebildeten Welt eine große Toleranz bewahrt. Nie hörte ich ein gehässiges Wort gegen Andersgläubige aus seinem Munde. (…) Er (…) sah es gern, daß ich mit den christlichen Kindern verkehrte und befreundet war. Ich durfte auch an den christlichen Festen Abgeordneter der Frankfurter Nationalversammlung bei Ausschreitungen, die nach der Abstimmung zum Waffenstillstand von Malmö ausgebrochen waren, von aufgebrachten Volksmassen angegriffen und ermordet. Lichnowskys gewaltsamer Tod, aber auch andere Ereignisse aus seinem Leben, wie der Militärdienst in der spanischen Armee unter Don Carlos oder seine Aufenthalte in Paris und Brüssel, führten dazu, dass sein Schicksal zum Gegenstand mehrerer literarischer Texte wurde, wie Heinrich Heines Atta Troll, Georg Weerths Leben und Thaten des berühmten Ritters Schnapphahnski oder Ernst Moritz Arndts Klage um Auerswald und Lichnowsky. Das schlesisch-mährische Adelsgeschlecht Lichnowsky, dessen Geschichte in das 15. Jahrhundert zurückreicht, machte auch durch die Förderung der Künste auf sich aufmerksam. So war Karl Alois Fürst Lichnowsky (1761–1814), der Großvater von Felix, ein Mäzen Mozarts und Beethovens. Siehe auch: Reinhold Wolny: Fürst Felix Lichnowsky (1814–1848). Ein früh vollendetes Ritterleben. Zum 150 Jahresgedenken an seine Ermordung im Frankfurter Septemberaufstand 1848. St. Ottilien 2003; Iveta Rucková: Das Adelshaus der Lichnowskys. Eine kulturelle Kontinuität. Ostrava 2007; Iveta Zlá: Das literarische Bild des Fürsten Felix Lichnowsky im Epos Heinrich Heines Atta Troll vor dem Hintergrund seiner tschechischen Übersetzung Eduard Petisˇkas. In: Studia Germanistica Nr. 20/2017, Ostrava 2017, S. 111–117. 71 Max Ring: Erinnerungen, Erster Band…, S. 9. 72 Ebd., S. 4f.
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teilnehmen, am Weihnachtsabend bei unserem Richter (…) die kunstvolle ›Krippe mit dem Jesuskinde‹ bewundern, Ostern mit der Dorfjugend mich mit ›Schmakostern‹, gegenseitigem Bespritzen und dem Suchen von bemalten Eiern belustigen und Pfingsten mit dem geschmückten ›Maien‹ herumziehen. So lernte ich frühzeitig durch das Beispiel meines Vaters und im Verkehr mit Andersgläubigen Duldung und Liebe.73
Nachdem Rings Hauslehrer aufgrund einer Affäre mit dem Hausmädchen entlassen worden war, begann der künftige Schriftsteller im Alter von zehn Jahren seine Schulbildung in einer Privatschule in Ratibor, wo er sich mit Ludwig Traube74 anfreundete, dem späteren Arzt und Mitbegründer der experimentellen Pathologie in Deutschland. Dort blieb er aber nur für kurze Zeit, denn nachdem seine älteste Schwester in Gleiwitz geheiratet hatte, bat sie den Vater mit Erfolg darum, Max mitnehmen zu dürfen und so wechselte er auf die Gleiwitzer jüdische Gemeindeschule. Bereits zu dieser Zeit ließ Ring ein literarisches Talent erkennen, wovon die Tatsache zeugt, dass er das Gedicht Das Veilchen schrieb, welches in der Zeitung »Der oberschlesische Wanderer« abgedruckt worden sein soll.75 Es wird sich dabei wohl um einen Ausdruck von Rings in seiner Heimat entwickelten Liebe zur Natur gehandelt haben, die er in seinen Erinnerungen folgendermaßen beschrieb: »Am liebsten aber verweilte ich in der sogenannten Wirtschaft, einem stattlichen Gebäude, mit Viehställen, Scheunen, und einem großen Obstgarten. Hier lockten mich im Frühling die ersten Veilchen, welche an dem geschützten Abhang blühten.«76 Wegen seines nicht allzu guten Benehmens entschied Max Rings Vater zunächst, den Jungen zurück nach Zauditz zu nehmen, wo er »von dem Kaplan des Ortes, einem ebenso liebenswürdigen, als kenntnisreichen katholischen Geistlichen, Privatstunden im Lateinischen und Griechischen erhalten hatte«77. Daraufhin kam Max auf das Gymnasium in Ratibor, wo er sich besonders durch seine Aufsätze auszeichnete.78 Hier erneuerte er seine Freundschaft zu Ludwig Traube: »Zur Besiegelung unseres Herzensbundes unterschrieben wir mit unserem Blut einen heiligen Eid (…)«79. Zugleich machte Ring auch neue Bekanntschaften und mit seinen Freunden verbrachte er viel Zeit auch während der Ferien, als sie die Umgebung von Zauditz erkundeten. Wie bereits einige Jahre zuvor kam der Gymnasiast erneut mit interessanten, manchmal merkwürdigen Personen in 73 Ebd., S. 14. 74 Siehe auch: Marianne Büning: Ludwig (Louis) Traube (1818–1876). Arzt und Hochschullehrer. Begründer der experimentellen Pathologie, Berlin 2008. 75 Vgl. Max Ring: Erinnerungen, Erster Band…, S. 17. Die deutschsprachige Zeitung erschien in den Jahren 1828–1945, zunächst wöchentlich (bis 1881), später täglich (1881–1945). Von 1828 bis 1933 wurde sie von Neumanns Stadtbuchdruckerei herausgegeben. 76 Ebd., S. 5. 77 Ebd., S. 18. 78 Vgl. ebd., S. 19. 79 Ebd., S. 21.
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Berührung, wie dem ihm bereits bekannten Fürsten Felix von Lichnowsky (bei Ring: Lichnowski80) oder dem Schriftsteller Wit von Dörring (bei Ring: von Döring)81. Bei der Beschreibung des Fürsten zeigt sich eine große Beobachtungsgabe Rings, die zu den wichtigsten Merkmalen seines Schaffens gehört: (…) ich glaube kaum, daß ich einen schöneren Mann, eine elegantere Gestalt und ein interessanteres Gesicht gesehen habe. Besonders übten seine großen, feurig schwarzen Augen einen dämonischen Zauber aus, und ich begriff vollkommen, daß ihm kein Frauenherz so leicht zu widerstehen vermochte. Erst im längeren Verkehr und bei genauer Beobachtung bemerkte man wohl, daß der Fürst sich drapierte, wie ein geschickter Schauspieler den Effekt beabsichtigte und auf Applaus spielte. Seine Liebenswürdigkeit erschien wie berechnet und alle seine Mienen und Worte einem bestimmten Ziel, der Befriedigung seiner Eitelkeit oder seiner Interessen zu dienen.82
Ring bekennt, dass er zu dieser Zeit kein Interesse an der Politik zeigte: »Mir und meinen Freunden war zu jener Zeit noch alle Politik fremd und gleichgültig; sogar die Julirevolution machte auf uns nicht den geringsten Eindruck«83. Andererseits begeisterte er sich für den Novemberaufstand von 1830/1831 in Kongresspolen: »Jeder Sieg der Polen wurde von uns mit Jubel begrüßt, jede Niederlage schmerzlich beklagt. Alle Welt schwärmte für die tapferen Sensenmänner, und überall hörte man das Lied: Noch ist Polen nicht verloren«84. In seinem Fall blieb es aber nicht nur bei der Euphorie für tapfere Kämpfer in einem fernen Land, denn Ring sah in seinem Zuhause die im österreichischen Troppau internierten Polen85, und wurde sogar Zeuge einer Szene, als »sein Vater seine früheren Landsleute in polnischer Sprache anredete. Mit Thränen in den feurigen Augen und mit begeisterten Grüßen umringten sie meinen Vater, den sie mit ihren enthusiastischen Umarmungen und Küssen fast zu ersticken drohten«86. Zur gleichen Zeit kam es in Rings Umgebung zum Ausbruch der CholeraEpidemie, was er in seinen Erinnerungen als Folge des polnischen Aufstandes bezeichnet87, doch in Wirklichkeit wütete diese Krankheit immer wieder in diesen Gebieten.88 Im 19. Jahrhundert brachen Cholera- und Typhus-Epidemien in Oberschlesien mehrmals aus, zunächst in den 1830er Jahren (1831–1833, 1836–
80 Ebd., S. 23. 81 Vgl. ebd., S. 34ff. Ferdinand Johannes Wit von Dörring (1799–1863) war ein deutsch-dänischer Schriftsteller, Journalist und Politiker. 82 Ebd., S. 31f. 83 Ebd., S. 36. 84 Ebd. 85 Vgl. ebd. 86 Ebd., S. 37. 87 Vgl. ebd. 88 Vgl. Marek Paweł Czaplin´ski: Epidemie cholery w rejencji opolskiej w latach 1831–1894. Rybnik 2012, S. 217.
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1838), dann zwischen 1848 und 1856 (mit 16.155 Infizierten und 8.105 Toten89 war es die gefährlichste Periode), später auch in den 1860er (1866–1867) und 1870er Jahren (1872–1874), schließlich 1894.90 Sehr eindringlich beschreibt Ring die Umstände der Seuche, deren Ausbruch er in Ratibor erlebte und an der im Oppelner Regierungsbezirk zwischen Juli 1831 und März 1832 1816 Personen erkrankten, von denen 1086 verstarben91: Wie ein entsetzliches Gespenst schwebte sie unsichtbar auf den Schwingen des Todes in der verpesteten Luft, von Osten nach Westen, unaufhaltsam von Ort zu Ort, alle Grenzen, jede Absperrung und alle Vorsichtsmaßregeln der Behörden verspottend. Schrecklicher als die Cholera selbst war die bleiche Angst in ihrem Gefolge. Wo sie sich zeigte, hörte jeder Verkehr, alles Leben auf. Man floh die davon befallenen Häuser, und mied jede Berührung mit ihren unglücklichen Bewohnern. Die Briefe, welche man von der Post erhielt, waren durchstochen und durchräuchert; das Geld mußte, bevor man es aus fremder Hand nahm, mit Essig gewaschen und sorgfältig gereinigt werden. Die Straßen rochen nach Chlor, die Menschen, in Wolle und Flanell gehüllt, eilten an einander vorüber, und selbst die besten Freunde wagten kaum, einander die Hand zu reichen. Die meisten Ärzte erschienen in schwarzen Wachstuch-Anzügen wie Dämonen, und ängstigten ihre ohnehin verzagten Patienten durch die seltsame Tracht. Die Leichen wurden sang- und klanglos, gewöhnlich des Nachts, begraben und, da die Totenwagen nicht hinreichten, auf elenden Karren heimlich fortgeschafft. Überall sah man nur die Embleme des Todes: Särge, Bahren und düstere Trauerkleider. Da auch die Schulen geschlossen werden mußten, so eilte ich in meine Heimat zurück (…).92
Nach dem Abklingen der Epidemie setzte Ring seinen Schulbesuch in Ratibor fort. Zerstreuung fand er bei Tanzstunden, die er bei einem Italiener nahm. Hier lernte er auch etwas ältere Gymnasiasten kennen, die »Studenten spielten, kommerschierten, und eine förmliche Verbindung mit bunten Abzeichen bildeten«93, welche einer Burschenschaft ähneln sollte und an der sich Ring beteiligte. Dabei wurden auch Mensuren, Zweikämpfe mit Säbeln, ausgetragen, an denen er ebenfalls teilnahm. Diese Tatsache wie auch der nicht näher beschriebene Konflikt mit dem Mathematiklehrer, den der Gymnasiast beleidigte, führte dazu, dass Ring von der Schule verwiesen wurde. Er ging nach Oppeln, wurde vom Bruder seiner verstorbenen Mutter aufgenommen, und setzte dort seinen Schulbesuch fort. In der Schule gründete er unter Aufsicht eines »trefflichen, originellen Oberlehrers«94 einen literarischen Klub. Nach zwei Jahren bestand er 89 Vgl. ebd., S. 224. Siehe auch: Rudolf Virchow: Mittheilungen über die in Oberschlesien herrschende Typhus-Epidemie (Aus dem Archiv für path. Anatomie und Physiologie und für klinische Medicin. Bd. II. Heft 1). Berlin 1848. 90 Vgl. ebd., S. 217–234. 91 Vgl. ebd., S. 218. 92 Max Ring: Erinnerungen, Erster Band…, S. 37f. 93 Ebd., S. 38. 94 Ebd., S. 39.
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die Abiturprüfung »nicht nur mit Ehren, sondern sogar mit Auszeichnung«95, nun stand die Wahl des Studiums an. Trotz seiner bereits zu diesem Zeitpunkt vielfach gezeigten literarischen Interessen entschied sich Max Ring für das Medizinstudium, das er 1836 in Breslau begann. Die Königliche Universität zu Breslau war 1811 gegründet worden, ging aber einerseits aus dem 1702, also noch in der Zeit der habsburgischen Herrschaft, von Kaiser Leopold I. ins Leben gerufenen Jesuitenkolleg, der nach seinem Stifter den Namen Leopoldina erhielt, und andererseits aus der in die Hauptstadt Schlesiens verlegten Universität Viadrina aus Frankfurt an der Oder hervor.96 In den 1830er Jahren betrug die Zahl der Medizinstudenten etwas mehr als einhundert.97 Auch wenn sich Ring nur implizit dazu äußert, wird die Universität und auch die Stadt selbst einen großen Eindruck auf ihn gemacht haben, schließlich zählte Breslau zu dieser Zeit fast 90.000 Einwohner, verglichen mit den ca. 7.000 in Ratibor wie auch Oppeln. Er ging nach Breslau, um »Medizin zu studieren, vor allem aber die akademische Freiheit zu genießen und das Burschenleben von Grund auf kennen zu lernen«98, was ihm durchaus gelungen zu sein scheint, insbesondere während des sog. Zobten-Kommers, dessen Beschreibung an die heutigen Karnevalsumzüge erinnert, aber kaum mehr mit Studenten in Zusammenhang gebracht wird: An dem dazu bestimmten Tage versammelten sich die Festgenossen zu Roß und zu Wagen in den mannigfaltigsten und seltsamsten Verkleidungen, an der Spitze die Senioren und Chargierten der Corps und Verbindungen im großen Wichs, mit Stürmern, Schärpen, Inepressibles von gelbem Leder, Schnürröcken und Kanonen, mit dem blanken Schläger an der Seite, in vierspännigen Extrapost-Chaisen, mit blasenden Postillonen, gefolgt von einer zahlreichen Mastenschar und einer unübersehbaren Menschenmenge, welche mit Jubel den Zug der bunten Masken, die witzigen Darstellungen und satirischen Anspielungen laut begrüßte.99
Den Höhepunkt der Feierlichkeiten bildete dabei der traditionelle Zug der Breslauer Studenten auf den nahegelegenen und in der Bezeichnung enthaltenen Berg Zobten, verbunden mit überschwänglichem Alkoholkonsum. Beschreibungen dieses alljährlichen Ereignisses findet man auch im Werk anderer Au-
95 Ebd. 96 Georg Kaufmann (Hrsg.): Festschrift zur Feier des hundertjährigen Bestehens der Universität Breslau. Erster Teil: Geschichte der Universität Breslau 1811–1911. Breslau 1911, S. 18ff. 97 Emil Richter: Die medizinische Fakultät. Die allgemeine Entwicklung. In: Georg Kaufmann (Hrsg.): Festschrift zur Feier des hundertjährigen Bestehens der Universität Breslau. Zweiter Teil: Geschichte der Fächer, Institute und Ämter der Universität Breslau 1811–1911. Breslau 1911, S. 239–260, hier S. 242. 98 Max Ring: Erinnerungen, Erster Band…, S. 41. 99 Ebd., S. 41f.
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toren, beispielsweise Gerhart Hauptmann.100 Neben solchen Zerstreuungen nahm Ring aus finanziellen Gründen eine Hauslehrerstelle an und konzentrierte sich »mit vielem Eifer« auf sein Studium. Überraschenderweise waren es aber nicht die medizinischen Seminare, die ihn am meisten fesselten, »woran wohl die trockene, pedantische Methode der meisten Lehrer die Schuld tragen mochte«101. Doch nach und nach kam er mit Wissenschaftlern in Berührung, bei denen er gerne lernte, so z. B. Prof. Purkinje102, bei dem Ring Vorlesungen und ein »Privatissimum«103 besuchte, Prof. Benedikt104, der »den Ruf eines gelehrten Sonderlings« genoss und »an mancherlei Vorurteilen und abergläubischen Schrullen«105 litt. Manche seiner Kommilitonen sollten später Karriere im Bereich der Medizin machen, so z. B. der ebenfalls aus Oberschlesien stammende Hermann Friedberg, Samuel Moritz Pappenheim und vor allem sein bester Freund Ludwig Traube. Neben den Hauptfächern seines Studiengangs entwickelte er damals auch ein Interesse für andere Forschungsgebiete, so besuchte er z. B. die Vorlesungen des Philosophen und späteren Rektors der Breslauer Universität Christlieb Julius Braniß (1792–1873), des Literaturhistorikers Johann Friedrich Ludwig Wachler (1767–1838) sowie des Botanikers und Naturphilosophen Christian Gottfried Daniel Nees von Esenbeck (1776–1858), der ihm und anderen Studenten »nicht allein durch seine botanischen Kenntnisse, sondern noch mehr durch seine kühnen politisch-sozialen Gedanken über die bürgerliche Gesellschaft und seine freisinnigen Ideen über die Ehe, den Staat u.s.w. imponierte«106. Darüber hinaus wurde seine Begeisterung für die Literatur neu entfacht, auch angesichts aktueller Strömungen: »Man kann sich heute kaum noch eine Vorstellung von dem Enthusiasmus machen, mit dem die genannten Schriftsteller besonders von der empfänglichen Jugend aufgenommen wurden. Man schwärmte für die Gedichte Heines, (…) man bewunderte die kühne Prosa und patriotische Sprache Börnes, man verschlang die Schriften des jungen Deutsch100 Vgl. Bernhard Tempel: Alkohol und Eugenik. Ein Versuch über Gerhart Hauptmanns künstlerisches Selbstverständnis. Dresden 2010, S. 98ff. 101 Max Ring: Erinnerungen, Erster Band…, S. 51. 102 Jan Evangelista Purkyneˇ, auch Johann Evangelist Purkinje und Johannes Evangelista Purkinje (1787–1869) war ein tschechischer Physiologe sowie Embryologie, der Naturphilosophie nahestehender Philosoph und Politiker. Siehe auch: Karl-Heinz Plattig: Johann Evangelist Purkinje (1787–1869). Ehrenmitglied der Physikalisch-Medizinischen Sozietät zu Erlangen. Erlangen 2009. 103 Max Ring: Erinnerungen, Erster Band…, S. 54. 104 Traugott Wilhelm Gustav Benedict (1785–1862) war ein deutscher Arzt, Professor für Chirurgie sowie Direktor des chirurgischen und augenärztlichen Institutes in Breslau. Siehe auch: August Rothmund: Benedict, Traugott Wilhelm Gustav. In: Allgemeine Deutsche Biographie 2 (1875), S. 325. Online-Version: https://www.deutsche–biographie.de/pnd1161 20029.html#adbcontent [Zugriff: 24. 03. 2020]. 105 Max Ring: Erinnerungen, Erster Band…, S. 55. 106 Ebd., S. 50f.
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lands (…)«107. Doch diese Euphorie ging mit einer generellen Skepsis in Bezug auf den Breslauer Literaturbetrieb einher. Ring schreibt von einem geringen Interesse für die Literatur in der schlesischen Hauptstadt sowie von Kühle und Teilnahmslosigkeit gegenüber den von ihm so leidenschaftlich begrüßten neuen Strömungen, was er auf die »ungünstige geographische Lage und die überwiegenden Interessen des hier vorherrschenden Handelsstandes zurückführt«108. Die hiesige Literaturszene kommentiert er in folgender Aussage: »(…) Holtei109 schweifte als Vorleser in der Ferne herum, der fein gebildete Kahlert110 war zu wenig produktiv und Hoffmann von Fallersleben111 als Dichter nur im engeren Freundeskreise der ›zwanglosen Gesellschaft‹ erst bekannt«112. In dieser Situation sah Ring das Feld der Literatur in Breslau der Gelegenheitspoesie überlassen, zu deren Vertretern vor allem die aus der Stadt selbst stammenden Johann Karl Wilhelm Geisheim (1784–1847) und Karl Heinrich Ferdinand Grünig (1781– 1846) zählten.113 Dieser geringschätzige Ton steht bei Ring im Widerspruch zu seinen allgemein wohlwollenden Darstellungen von Zeitgenossen, der Autor übersieht dazu eine ganze Reihe von Schriftstellern, die zu dieser Zeit in Berlin tätig waren.114 Ähnlich kritisch äußert sich Ring über die damalige Breslauer Presselandschaft, um die es nicht viel besser bestellt gewesen sein soll und die »sich fast ausschließlich auf die alte ›Schlesische‹ und die neue ›Breslauer Zeitung‹«115 beschränkt und »damals ein trauriges Bild litterarischer Armut«116 geboten haben soll, was im Bericht Rings vor allem auf mangelndes Interesse vonseiten der Leser und das daraus resultierende schnelle Scheitern dieser Blätter zurückzuführen ist. Die bescheidene Quellenlage lässt eine fundierte Auseinandersetzung mit dieser These nicht zu und ist deshalb als ein Forschungsdesiderat 107 Ebd., S. 58f. 108 Ebd., S. 59. 109 Karl Eduard von Holtei, auch Carl (von) Holtei, eigentlich Karl Eduard von Holtey (1798– 1880). Arno Lubos nennt ihn den »bezeichnende[n] Dichter der schlesischen Nachromantik«, ab dem auch »die Dialekt- und hochsprachliche Heimatdichtung zu einer weiteren Literatur an[wuchs]« – vgl. Arno Lubos: Geschichte der Literatur Schlesiens, I. Band…, S. 285 u. 288. Siehe auch: Christian Andree, Jürgen Hein (Hrsg.): Karl von Holtei. Ein schlesischer Dichter zwischen Biedermeier und Realismus. Würzburg 2005. 110 Karl August Timotheus Kahlert (1807–1864) war ein deutscher Dichter, Literaturhistoriker und Musikkritiker. Siehe auch: Wojciech Kunicki (Hrsg.): August Timotheus Kahlert. Der Briefwechsel zwischen Karl von Holtei und August Timotheus Kahlert. Leipzig 2018. 111 August Heinrich Hoffmann, bekannt als Hoffmann von Fallersleben (1798–1874) war ein deutscher Hochschullehrer für Germanistik, Dichter sowie Sammler und Herausgeber. Er schrieb die spätere deutsche Nationalhymne, Das Lied der Deutschen. 112 Max Ring: Erinnerungen, Erster Band…, S. 59. 113 Vgl. ebd., S. 60. 114 Vgl. Arno Lubos: Geschichte der Literatur Schlesiens, I. Band…, S. 268ff. 115 Max Ring: Erinnerungen, Erster Band…, S. 60. 116 Ebd., S. 65.
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anzusehen. Ring selbst ergab sich in dieser Zeit »dem Laster der Poesie« und schrieb »nicht nur heimlich lyrische und epische Gedichte«, sondern ließ sich »durch den Beifall nachsichtiger oder unkritischer Freunde verführen, diese unreifen Arbeiten drucken zu lassen«117. Dieses sozusagen erneute Debüt, diesmal mit dem Gedicht Der Zweifler erfolgte in der von Ignaz Julius Lasker unter dem Pseudonym Julius Sincerus herausgegebenen Zeitschrift »Die Nachtwandlerin; eine Zeitschrift für Scherz und Ernst«, welche Ring selbst »eine arme Somnambule« nennt, die »an der Schwindsucht des Abonnentenmangels frühzeitig zu sterben drohte«118. Zwar erregte sein Gedicht, der den »Kampf der neuen freien Weltanschauung mit dem alten Glauben« zum Thema hatte, kein Aufsehen, doch dank der Bekanntschaft mit Lasker, der ihn als seinen Schützling betrachtete, lernte Ring Breslauer Intellektuelle, »Mitarbeiter der Schlesischen und der Breslauer Zeitung, junge und alte Theaterkritiker, Lyriker und Novellisten« kennen, die »an gewissen Abenden in der ›Blauen Marie‹, einem renommierten Bierhause auf dem Neumarkt, (…) in einem großen, etwas wüsten Zimmer, mit niedriger Balkendecke, von Rauch geschwärzten Wänden und kleinen, blinden Fenstern« zusammenkamen. Zu diesen, »weder mit irdischen noch geistigen Gütern allzu reich«119 Gesegneten, gehörten Ladislaus Tarnowski (1811–1847)120, Gustav Schneiderreit (1803–1847)121 oder Rudolph Hilscher, Redakteur der »Schlesischen Zeitung«122. Ferner kam Ring »noch mit einigen wirklichen Notabilitäten Breslaus in Berührung, die vermöge ihrer Stellung oder ihrer Verhältnisse ein gewisses Ansehen genossen«123 und in verschiedenen Bereichen tätig waren. So verkehrte er u. a. mit dem Schriftsteller und evangelischen Theologen Karl Adolf Suckow (1802–1847), dem Dichter und Übersetzer Johann Gottlob Regis (1791–1854), dem Opernsänger, Musikdirektor der Universität Breslau und Bach-Forscher Johann Theodor Mosewius (1788–1858), dem Wirtschaftspolitiker sowie Mitbegründer und Verwaltungsdirektor der Oberschlesischen Eisenbahn-Gesellschaft Friedrich Lewald (1796–1858) oder dem Mediziner und Sanitätsrat Samuel Simon Guttentag (1786–1850). Am prominentesten war aber der viel jüngere sozialistische Politiker im Deutschen Bund und einer der Wortführer der frühen deutschen Arbeiterbewegung Ferdinand Lassalle (1825–
117 118 119 120
Ebd., S. 66. Ebd. Ebd., S. 67. Nach Meinung von Arno Lubos der »zweifellos erfolgreichste schlesische Geschichtsnovellist« – vgl. Arno Lubos: Geschichte der Literatur Schlesiens, I. Band…, S. 328. 121 Vgl. ebd., S. 309. 122 Siehe auch: Norbert Conrads: Schlesische Zeitung, Breslau/Bunzlau (1742–1945). In: HeinzDietrich Fischer (Hrsg.): Deutsche Zeitungen des 17. bis 20. Jahrhunderts. Pullach bei München 1972, S. 115–130. 123 Max Ring: Erinnerungen, Erster Band…, S. 68.
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1864)124, mit dem ihn »der Zufall zu verschiedenen Zeiten und unter verschiedenen Umständen zusammenführte« und den er einen »vielbesprochene[n], bald übermäßig vergötterte[n], bald ungerecht verdammte[n] sozialistische[n] Agitator«125 nennt.Auch an seinem Beispiel offenbart sich erneut Rings Beobachtungsgabe, indem er schreibt, dass Lassalles Mut ihm »mehr künstlich als natürlich, mehr eine Folge der Überlegung als des Charakters«126 erschien. Andererseits zeigt sich an dessen Beschreibung auch Rings Hang dazu, jeder noch so misslichen Lage auch Positives abgewinnen zu wollen, wie bei der Erwähnung von Lassalles Duelltod, als er schreibt, dass dieser »vielleicht zu seinem Glück« so früh sterben musste, »da er unmöglich die seiner Partei gemachten Versprechungen erfüllen konnte und zweifellos einen geistigen und moralischen Bankrott erleiden mußte, wenn ihn nicht die verhängnisvolle Kugel getroffen hätte«127. Es ist zugleich eine der wenigen politischen Aussagen Rings aus dieser Zeit, die ihn sicherlich jenseits vom linken Lager der Opposition positioniert. Was Ring nicht erwähnt, ist, dass er in dieser Zeit auch weitere Werke in den »Breslauer Tages- und belletristischen Blättern« publizierte, die »in weiteren Kreisen Beachtung fanden«128. So gesehen ist die Breslauer Zeit des angehenden Arztes und Schriftstellers schon als ausschlaggebend und ein »Schritt in die Literaturwelt« anzusehen – »er begann zu publizieren, machte Erfahrungen, gewann Kontakte und startete seine literarische Karriere«129, was ihm dann zugute kam, als er, wenngleich unverhofft, zehn Jahre später in die schlesische Hauptstadt zurückkehren musste. Doch zunächst ging Ring im Oktober 1838 nach Berlin um sein Medizinstudium fortzusetzen. Schon die Fahrt in die preußische Hauptstadt zeigte, wieviel sich zwischen den beschriebenen Ereignissen und dem Entstehen des Buches im Bereich der Technik verändert hatte: »Die Fahrt, welche man jetzt mit der Eisenbahn in 6–7 Stunden zurücklegt, dauerte damals in den wegen ihrer Schnelligkeit bewunderten Nagler’schen Eilpostwagen zwei Nächte und einen ganzen Tag«130. In Berlin bezog Ring »zwei möblierte Stuben«131 mit Ludwig 124 In der Zeit von Rings Studium in Breslau (1836–1838) war Lassalle aber erst ein Junge. Die weitere Charakterisierung dieser Persönlichkeit bezieht sich auf Beobachtungen aus späteren Jahren. Lassalle selbst hat zwar, vielleicht aufgrund seines mit 39 Jahren eingetretenen gewaltsamen Todes, keine Memoiren hinterlassen, aufschlussreich erscheint aber die sechsbändige Edition seiner Korrespondenz (Bände 1–5) und Schriften (Band 6), die mit Briefen aus dem Jahr 1840 beginnt – vgl. Gustav Mayer (Hrsg.): Ferdinand Lassalle. Nachgelassene Briefe und Schriften. Stuttgart, Berlin 1921–1925. 125 Max Ring: Erinnerungen, Erster Band…, S. 82. 126 Ebd., S. 90. 127 Ebd. 128 Adolph Kohut: Max Ring. Eine litterarisch-biographische Studie…, S. 321. 129 Irena Sˇebestová: Die künstlerische Anabasis des Schriftstellers Max Ring…, S. 77. 130 Max Ring: Erinnerungen, Erster Band…, S. 91. 131 Ebd.
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Traube und in seiner Freizeit erkundete er die Stadt, über die er nach mehreren Jahrzehnten folgendermaßen schrieb: »Obgleich das damalige Berlin sich weder an Größe und Pracht der Häuser, noch an Einwohnerzahl mit der heutigen Weltstadt vergleichen konnte, imponierte mir doch die Residenz gewaltig.«132 Dank Empfehlungsschreiben von Freunden und Bekannten aus Breslau lernte er hier berühmte Wissenschaftler kennen, u. a. den Literatur- und Religionshistoriker Leopold Zunz (1794–1886) sowie den Juristen und Historiker Eduard Gans (1797–1839). Beide waren gleichzeitig Vorkämpfer der Emanzipation der Juden. 1819 gründeten sie zusammen mit Moses Moser (1797–1838) den Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden, zu dessen Zielen eine Reform des Judentums und die Abschaffung der Taufe gehörte. Das Presseorgan des Vereins bildete die »Zeitschrift für die Wissenschaft des Judentums«. Ganz veröffentlichte darin vor allem Texte über die Rechtsgeschichte133, Zunz publizierte mit der Lebensbeschreibung Salomon ben Isaks, genannt Raschi (1822) die »erste wissenschaftliche Biografie der«134 jüdischen Literatur. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war unter den Juden ein Anpassungsprozess im Gange, der dazu führte, (…) dass man jüdischerseits immer begieriger den Anschluss an die christlich-deutsche Kultur suchte. Man war davon überzeugt, dass, je stärker man sich den Normen und Wertvorstellungen der Umwelt anpasste und je mehr man sich einen bestimmten Grad weltlicher Bildung und Kultur aneignete, dies zur Akzeptanz durch die Umwelt führen werde. Das galt insbesondere für Berlin, wo sich zwischen den durch Bildung und Besitz aufgestiegenen Kreisen der Berliner Jüdischen Gemeinde und der kultivierten christlichen Oberschicht von Bürgertum und Adel Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein reger gesellschaftlicher Verkehr entwickelte.135
Ring konzentrierte sich aber zunächst auf die Fortsetzung seines Medizinstudiums und kritisierte dabei die an der Universität vorgefundenen Verhältnisse: »Im Ganzen fehlte es in der medizinischen Fakultät nicht an bedeutenden Kräften und Lehrern, aber die Mehrzahl war hinter den Anforderungen der neueren Wissenschaft zurückgeblieben und zum Teil veraltet, so daß Berlin in dieser Beziehung hinter Wien und selbst hinter Prag zurückstehen mußte«136. Trotzdem lernte er bedeutende Persönlichkeiten kennen, wie den »wohl bedeutendste[n] deutsche[n] Physiologe[n]«137 des 19. Jahrhunderts Johannes Müller (1801–1858) 132 Ebd., S. 92. 133 Vgl. Christina Mestrom: Gans, Eduard. In: Elke-Vera Kotowski (Hrsg.): Juden in Berlin. Biografien. Berlin 2005,S. 92–93, hier S. 92f. 134 Anja Lenja Mueller: Zunz, Leopold. In: Elke-Vera Kotowski (Hrsg.): Juden in Berlin. Biografien. Berlin 2005, S. 291. 135 Julia H. Schoeps: Der Anpassungsprozess (1790–1870). In: Andreas Nachama, Julia H. Schoeps, Hermann Simon (Hrsg.): Juden in Berlin. Berlin 2001, S. 53–88, hier S. 64. 136 Max Ring: Erinnerungen, Erster Band…, S. 93. 137 Ruthard Jacob, Gerolf Kissling: Geschichte der Herzphysiologie im Rahmen der Deutschen Gesellschaft für Kreislaufforschung. In: Berndt Lüderitz, Gunther Arnold (Hrsg.): 75 Jahre
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oder den Chirurgen Johann Friedrich Dieffenbach (1792–1847), der ihm »ein besonderes Wohlwollen bis zu meinem Abgang von Berlin«138 schenkte. Aber schon bald begann Ring das literarische Leben Berlins kennenzulernen. In dieser Zeit wurde er Mitglied des von Moritz Saphir (1795–1858) gegründeten und nach dem Tunnel unter der Themse parodistisch genannten literarischen Vereins »Tunnel über der Spree«, der in den Jahren 1827–1898 tätig war und insgesamt über 200 Mitglieder zählte, darunter Theodor Fontane, Paul Heyse oder den Maler Adolph Menzel.139 Den Gründern schwebte vor, einen Verein nach dem Vorbild der ›Ludlamshöhle‹ in Wien zu bilden, der sich mit Ausschluss aller religiösen und politischen Fragen lediglich mit humoristisch-poetischen Arbeiten beschäftigen und hauptsächlich seine Satire gegen die Lobhudeleien und Prätensionen der damals in Berlin herrschenden litterarischen Cliquen richten sollte.140
Die Vereinsmitglieder entstammten aber verschiedenen Berufsgruppen und so lernte Ring in dieser Zeit u. a. den späteren preußischen Kultusminister Heinrich von Mühler (1813–1874), den späteren preußischen Staats- und Justizminister Heinrich von Friedberg (1813–1895), den späteren preußischen General der Infanterie Heinrich Karl Ludwig Adolf von Glümer (1814–1896) oder den Hofschauspieler Louis Schneider (1805–1878) kennen, eine »Stütze und das belebende Element des Tunnels (…)«141. Da jedes Mitglied ein Pseudonym gebrauchte, wählte Ring den Namen Zinzendorf, wohl in Anlehnung an den Grafen Nikolaus Ludwig von Zinzendorf und Pottendorf, einen lutherisch-pietistischen Theologen, Gründer und Bischof der Herrnhuter Brüdergemeine sowie Dichter zahlreicher Kirchenlieder. Der »Tunnel« erfreute sich »einer großen Beliebtheit und übte einen nicht zu unterschätzenden Einfluß auf das litterarische Berlin in jenen Tagen aus«142. Während der Treffen wurden Arbeiten der Mitglieder vorgelesen, einmal kam es so zur Lektüre des unvollendet gebliebenen Epos Sabathai Zewi von Ring, der »Geschichte eines jüdischen Messias aus dem siebzehnten Jahrhundert«143.
138 139
140 141 142 143
Deutsche Gesellschaft für Kardiologie – Herz- und Kreislaufforschung. Berlin, Heidelberg 2003, S. 149–192, hier S. 152. Max Ring: Erinnerungen, Erster Band…, S. 95. Siehe auch: Fritz Behrend: Geschichte des »Tunnels über der Spree«. Berlin 1938; Joachim Krueger: Das Archiv des »Tunnels über der Spree« und die Fontane-Sammlung in der Universitätsbibliothek. In: Forschen und Wirken. Festschrift zur 150-Jahr-Feier der Humboldt-Universität zu Berlin. 1810–1960, Bd. 3, Berlin 1960, S. 439–447; Anike Rössig: Juden und andere Tunnelianer. Gesellschaft und Literatur im Berliner Sonntags-Verein. Heidelberg 2008. Max Ring: Erinnerungen, Erster Band…, S. 101. Ebd., S. 106. Ebd., S. 103. Ebd., S. 109.
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Rings Suche nach intellektuellen Anregungen beschränkte sich aber nicht auf den »Tunnel«, denn kurze Zeit später kam er in eine »Gesellschaft junger Männer, welche einen entscheidenden Einfluß auf mein ferneres Leben und meine ganze Entwicklung übte«144. Es »bildete sich nach und nach ein zwangloser Verein«, in dem »jene Idealität« herrschte, »der begeisterte Wissensdrang und der liberale Geist, welche die damalige Jugend noch ganz beseelten. Bei diesen Zusammenkünften wurden die von uns verfaßten Gedichte und Arbeiten vorgelesen und beurteilt, besonders aber mit großem Eifer Hegel’sche Philosophie getrieben (…)«145. Zu diesem »Kreise strebsamer junger Männer«146 gehörten u. a. der Schriftsteller und Philosoph Moriz Carrière (1817–1895), der Nationalökonom und Publizist Heinrich Bernhard Oppenheim (1819–1880), der Dichter und Publizist Wilhelm Wolfsohn (1820–1865) oder der Psychiater und Schriftsteller Moritz Fränkel (1814–1902). Dank dieser Beziehungen wurde Ring »bald das Glück zuteil, Bettina [von Arnim] kennen zu lernen und längere Zeit der interessanten Gesellschaft anzugehören, deren geistiger Mittelpunkt sie war«147. Das folgende Fragment aus einem Buch über die Berliner Salons lässt die Bedeutung dieser für das damalige Berliner Leben typischen »Gesellschaft« nachvollziehen: Die Salons waren im klassischen Sinne zwanglose Gesprächs- und, wie man heute sagen würde, Erlebniskreise, in denen Freunde und Bekannte, die sich gut leiden mochten, zusammenkamen. Historisch-strukturell gesehen, waren sie lockere, schwebende Gebilde, kaum Institutionen zu nennen, obschon die bedeutendsten Salons solche für die Gesamtgesellschaft darstellen konnten. Es gab keinerlei festgeschriebene Verpflichtungen, außer gebildet oder bildungswillig zu sein und den guten Ton zu beherrschen. Es gab keine Vereins- oder Club-Satzungen, keine Vereinsbeiträge, keine Mitgliederlisten, keine Tagesordnungen oder Protokolle, keine Abstimmungen und Mehrheitsentscheidungen. Jede Stimme sprach für sich und wurde gehört. Selbst der sogenannte literarische Salon war nicht auf Literatur als Zweck fixiert, der musikalische nicht auf Musik.148
Das besondere an Bettina von Arnims Salon war »ein breites, reich differenziertes Spektrum der politischen und weltanschaulichen Richtungen des vormärzlichen Berlin«149. Ring traf hier u. a. den Rechtsgelehrten Friedrich Carl von Savigny (1779–1861), den ihm bereits bekannten Physiologen Oppenheim, den Diplomaten und Kunstkenner Athanasius Graf Raczyn´ski (1788–1874) mit seiner Tochter Wanda, Kunigunde von Savigny, geb. Brentano (1780–1863), Prinz 144 145 146 147 148 149
Ebd., S. 113. Ebd., S. 114. Ebd. Ebd., S. 117. Petra Wilhelmy-Dollinger: Die Berliner Salons. Berlin, New York 2000, S. 15. Ebd., S. 162.
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Friedrich Wilhelm Waldemar von Preußen (1817–1849), den norwegischen Violinisten Ole Bull (1810–1880) sowie zwei Töchter Bettinas, Maximiliane (bei Ring: Maxi, 1818–1894) und Armgart (bei Ring: Armgard, 1821–1880).150 Vor allem aber konnte er die scheinbare Unangepasstheit der Gäste beobachten, die er in folgender Beschreibung festhielt: Da saß der zwar freisinnige, aber gemäßigte Hegelianer Werder, und der extreme, wegen seiner zersetzenden Angriffe auf das orthodoxe Christentum gemaßregelte Theologe Bruno Bauer neben dem konservativen aristokratischen Obermundschenk Pitt-Arnim, der sogenannte ›Hofdemagoge‹ und liberale Geschichtsschreiber Friedrich Förster neben dem streng gläubigen Philipp Nathusius, dem späteren Herausgeber des ultrareaktionären Hallischen Volksblattes.151
In erster Linie begeisterte er sich aber für Bettina von Arnim (1785–1859), die in dieser Zeit mit dem 1835 erschienenen Buch Goethes Briefwechsel mit einem Kinde, ihrem literarischen Debüt und Resultat ihres Briefwechsels mit dem Dichter, für Aufsehen sorgte, dem 1840 der Roman Die Günderode folgte. Diese autobiographisch geprägten Werke bescherten ihr Ruhm und einen festen Platz unter den Schriftstellerinnen und Schriftstellern der deutschen Romantik.152 In Rings Beschreibung wird sie zu einer beseelten, fast übernatürlichen Figur: Alles, was Bettina mit mir sprach, klang mir damals wie eine höhere Offenbarung und sie selbst erschien mir in diesem Augenblick wie eine gottbegeisterte Pythia. Ein Gedanke jagte bei ihr den andern; die wunderbarsten Ansichten und Ideen über Leben, Wissen und Kunst flossen wie ein mächtiger Strom von ihren feinen Lippen. Es lag etwas Dämonisches, Prophetisches in ihrem ganzen Wesen und sie erinnerte mich bald an die geheimnisvollen Sibyllen des Altertums, bald an eine von feurigem Most trunkene Bacchantin.153
Mit der Zeit wurde Ring immer häufiger von Bettina eingeladen, manchmal durfte er sie auch »auf ihren interessanten Wanderungen durch das Berliner Voigtland nach den sogenannten ›Familienhäusern‹ begleiten, welche, vom ärmsten Proletariat bewohnt, ihr den Stoff zu dem 1843 erschienenen Werke: Dies Buch gehört dem Könige lieferten«154. Damit machte er wohl zum ersten Mal Erfahrungen mit der vorerst noch »mehr geahnte[n] als erkannte[n] soziale[n] 150 Vgl. Max Ring: Erinnerungen, Erster Band…, S. 119f. 151 Ebd., S. 119. 152 Vgl. Renata Dampc-Jarosz: »Lubie˛ byc´ tam, gdzie chce˛«. Bettina von Arnim z˙ycie i twórczos´c´ pomie˛dzy rzeczywistos´cia˛ a imaginacja˛. In: Nina Nowara-Matusik, Marek Krys´ (red.): Bettina von Arnim: O Polsce, Katowice 2018, S. 21. Siehe auch: Ingeborg Drewitz: Bettine von Arnim. Romantik – Revolution – Utopie. Düsseldorf–Köln 1969; Margarete Susman: Frauen der Romantik. Frankfurt a.M.–Leipzig 1996; Barbara Becker-Cantarino: Schriftstellerinnen der Romantik. Epoche – Werke – Wirkung. München 2000. 153 Max Ring: Erinnerungen, Erster Band…, S. 118. 154 Ebd., S. 122.
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Frage«155, mit der er später, in Oberschlesien wie auch Berlin, noch wesentlich häufiger konfrontiert werden sollte. Diese Erkenntnisse legen die Folgerung nahe, dass Rings Bekanntschaft mit Bettina von Arnim weit über gesellige Zusammenkünfte hinausging und in erster Linie die Weltanschauung des künftigen Schriftstellers wesentlich prägte. Bettina hat nämlich in ihrem Werk Dies Buch gehört dem König, dessen Entstehung Ring gewissermaßen beiwohnte, gesellschaftliche Reformen eingefordert und am Ende des Textes einen Bericht aus den Armenvierteln Berlins angehängt, in dem sie die Misere der im Vogtland vor dem Hamburger Tor lebenden Menschen darzustellen versuchte.156 In politischer Hinsicht herrschte in Berlin dieser Tage eine »zunehmende Unzufriedenheit mit der Regierung«157. Die Gründe dafür lagen in vielen Maßnahmen, wie die »Unterdrückung und Verfolgung jeder freieren Regung, die Nichtachtung der öffentlichen Meinung, die Willkür einer allmächtigen Polizei (…), die fast unerträgliche Bevormundung, die lästige Zensur und Beschränkung der Presse, vor allem der Mangel der vom König feierlich verheißenen und vom Volke ersehnten Verfassung«158. Das alles hatte zur Folge, dass sich selbst in gemäßigten Kreisen »Widerstand gegen den drückenden Absolutismus«159 regte. Zwar wurde Ring selbst zu dieser Zeit, wahrscheinlich ob seiner Unbekanntheit, noch nicht von der Obrigkeit belangt, doch die Repressionen betrafen Personen aus seinem nächsten Freundeskreis. So wurde der künftige Mediziner und Politiker Alfred von Behr (1812–1862) »wegen demagogischer Umtriebe verfolgt«160 und 1839 aus Berlin verwiesen. Durch seine Bekanntschaft mit dem Schauspieler Eduard Devrient (1801– 1877) entflammte bei Ring die Leidenschaft für das Theater neu, so dass er »nicht so leicht eine Vorstellung«161 versäumte. In seiner Darstellung war das Theater in Berlin eine der wichtigsten, wenn nicht die wichtigste Unterhaltungsmöglichkeit: »In jener Zeit erfreute sich noch die Bühne der höchsten Teilnahme aller Gebildeten und lieferte bei dem Mangel anderer Anregungen den Hauptinhalt des
155 Ebd., S. 123. 156 Wohlgemerkt war Ring lediglich eine von vielen Personen, mit denen Bettina von Arnim in dieser Zeit Umgang pflegte. In dem 2019 von Barbara Becker-Cantarino herausgegebenen und 724 Seiten umfassenden Bettina von Arnim Handbuch erscheint der Name des Schriftstellers nur einmal, im Kapitel Bettina-Chronik: Daten und Zitate zu Leben und Werk, bezüglich des Frühjahrs 1839. Außerdem wird in diesem Fragment aus Rings Erinnerungen zitiert – vgl. Barbara Becker-Cantarino (Hrsg.): Bettina von Arnim Handbuch. Berlin 2019, S. 51f. 157 Max Ring: Erinnerungen, Erster Band…, S. 123. 158 Ebd., S. 123f. 159 Ebd., S. 124. 160 Ebd., S. 125. 161 Ebd., S. 134.
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Tagesgesprächs«162. Auf der Bühne konnte er die Auftritte von u. a. Karl Mathias Rott (1807–1876), Karl Stawinsky (1794–1866), Bernhard Rüthling (1834–1881) oder Auguste Crelinger (geb. Düring, verw. Stich, 1795–1865) bewundern.163 Bald rückte aber die Zeit seines »Doctor- und Staatsexamens«164 näher, so dass er sich in die medizinischen Studien vertiefen musste. Im Gegensatz zu vielen anderen Kommilitonen bestand er beide Prüfungen ohne größere Probleme.165 Zu dieser Zeit erschien auch das Buchdebüt von Max Ring in Form eines Gedichtbandes, das in Zusammenarbeit mit Moritz Fränkel entstanden war (Gedichte, 1839). Es fand zwar »die freundliche Anerkennung der Kritik«, wurde aber »bald vergessen«166. Ebenfalls in dieser Zeit ereilte Ring ein Schicksalsschlag, der sein weiteres Leben, mindestens aber die nächsten zehn Jahre bestimmen sollte. In Zauditz starb nämlich sein viel geliebter Vater, was bei dem gerade graduierten Arzt einen Zusammenbruch auslöste: »Mehrere Wochen lag ich wie gelähmt, körperlich und geistig gebrochen, unfähig, einen Gedanken oder Entschluß zu fassen«167. Hinzu kam die finanzielle Situation: Viktor Ring hatte vorher Geld verloren und deshalb nur ein kleines Vermögen hinterlassen, der Sohn verzichtete daraufhin auf seinen Teil daraus zugunsten seiner Stiefmutter und einer der Schwestern. So kam er in eine prekäre finanzielle Situation, aus der ihm zwar zwischenzeitlich seine Freunde halfen, doch seinen Plan, sich als praktischer Arzt in Berlin niederzulassen, musste er aufgeben. Nach dem schweren Abschied von seinen Berliner Freunden, vor allem von Bettina, ging Max Ring Mitte 1840 nach Schlesien zurück.168 Er kam zunächst nach Breslau, wo er sich bei seinem Bruder niederließ und vollständig von seiner Krankheit genas. Ohne noch praktischer Arzt zu sein, besuchte er das Sta¨dtische Krankenhaus zu Allerheiligen, um sein Wissen zu
162 Ebd., S. 135. Zur Geschichte des Berliner Theaterwesens im 19. Jahrhundert siehe: August Hagen: Geschichte des Theaters in Preußen, vornämlich der Bühnen in Königsberg und Danzig von ihren ersten Anfängen bis zu den Gastspielen J. Fischer’s und L. Devrient’s. Königsberg 1854; Otto Weddingen: Geschichte der Berliner Theater. Berlin 1899; Walter Turszinsky: Berliner Theater. Großstadt-Dokumente Band 29. Berlin 1906; Gerhard Wahnrau: Berlin. Stadt der Theater. Der Chronik I. Teil. Berlin (DDR) 1957; Marion Linhardt: Berlin als Raum für Theater. In: LiTheS. Zeitschrift für Literatur- und Theatersoziologie 10 (2017), Sonderband 5: Musiktheater in Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Räume – Ästhetik – Strukturen. Bd. 1. Hrsg. von Marion Linhardt und Thomas Steiert, S. 41–121. 163 Vgl. ebd., S. 136. 164 Ebd., S. 139. 165 Vgl. ebd., S. 149. 166 Ebd., S. 146. 167 Ebd., S. 149. 168 Vgl. ebd., S. 152.
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bereichern.169 Auch in dieser Zeit machte Ring viele neue Bekanntschaften, so z. B. mit dem Arzt, Schriftsteller und Politiker Hermann Wollheim (1817–1855) oder dem Schriftsteller Eduard Boas (1815–1853).170 Schon bald verließ er aber Breslau, denn dank seiner Verbindungen bekam er die Möglichkeit, Arzt am Hofe des Plesser Herzogs Heinrich von Anhalt-Köthen (1778–1847) zu werden. Das Fürstentum Pleß bestand zwischen 1412 und 1918, ab 1452 war es eine Freie Standesherrschaft, die 1817 vom König Friedrich Wilhelm III. zu einem preußischen Fürstentum erhoben wurde.171 Das Adelsgeschlecht von Anhalt-Köthen bzw. von Anhalt-Köthen-Pleß regierte in Pleß in den Jahren 1765–1847, ehe das Fürstentum nach dem Tod des kinderlos gebliebenen Heinrich an die Grafen von Hochberg überging.172 In Rings Gespräch mit dem Herrscher zeigte sich, dass dieser von einem Arzt in erster Linie große Erfahrung erwartet, welche der damals 22-jährige Studienabsolvent nicht vorweisen konnte. Auch wenn er sich in Pleß wohl fühlte (»Ich selbst fand in Pleß eine überaus freundliche Aufnahme und eine Anzahl gebildeter Familien, wie man sie sonst nur selten in einer so kleinen Stadt antrifft.«173), gab es dort keine Zukunft für ihn. Stattdessen gründete er »durch eine Reihe glücklicher Zufälle eine nicht unbedeutende«174 Arztpraxis in Gleiwitz, das er bereits kannte und wo seine Schwester lebte. Ursprünglich äußerte er sich sehr wohlwollend über seinen neuen Wohnort: Da (…) die Stadt als Mittelpunkt des oberschlesischen Bergbaues und Hüttenwesens manche gesellschaftliche Annehmlichkeit bot, so hatte ich keinen Grund, den Ortswechsel zu bereuen. Außerdem befand sich in Gleiwitz ein katholisches Gymnasium, ein großes Kreisgericht und eine bedeutende Garnison, so daß es mir auch nicht an einem zusagenden Umgang und an geistiger Anregung mangelte. Während meines Aufenthalts fand ich hinlängliche Zeit und Gelegenheit, mich durch eigene Anschauungen mit interessanten und damals noch wenig gekannten Verhältnissen bekannt zu machen, da sich meine Praxis bis an die polnische Grenze mit der Zeit ausdehnte.175
Gleiwitz, 1276 erstmals urkundlich als Stadt erwähnt und somit eine der ältesten Städte Oberschlesiens, begann sich bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts zu einem Industriezentrum zu entwickeln, wovon beispielsweise die Inbetriebnahme des ersten deutschen Kokshochofens 1796 in der Gleiwitzer Eisenhütte oder 169 Vgl. ebd., S. 153. 170 Vgl. ebd., S. 154f. 171 Vgl. Johann Caspar Bluntschli (Hrsg.): Deutsches Staats-Wörterbuch. Erster Band. Stuttgart und Leipzig 1857, S. 242. 172 Vgl. Ernst Heinrich Kneschke (Hrsg.): Neues allgemeines deutsches Adels-Lexicon. Vierter Band. Leipzig 1863, S. 389. 173 Max Ring: Erinnerungen, Erster Band…, S. 159f. 174 Ebd., S. 166. 175 Ebd., S. 166f.
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der Baubeginn des Klodnitzer Kanals im Jahre 1792 Zeugnis ablegen.176 Dies hatte zur Folge, dass die Einwohnerzahl schnell zunahm und sich zwischen 1810 und 1838 von 2.990 auf 6.415 Einwohner mehr als verdoppelte.177 Die Wettbewerbsfähigkeit stieg durch den Anschluss an das preußische Bahnnetz im Jahre 1844.178 Zwei Jahre später, am 1. Oktober 1846, traf König Friedrich Wilhelm IV. in Glewitz ein, um die neue Bahnstrecke von Gleiwitz nach Myslowitz zu eröffnen.179 Wie von Ring beschrieben, gab es in Gleiwitz ein Gymnasium, das sich im Gebäudekomplex des ehemaligen, 1810 säkularisierten Klosters befand180, genauso wie ein Schwurgericht und ab den 1840er Jahren auch ein Kreisgericht für die Kreise Gleiwitz, Beuthen, Lublinitz und Pleß.181 Als richtig erweist sich ebenfalls die Information über die in der Stadt befindliche Garnison.182 Zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatte Gleiwitz in erster Linie die Funktion einer Garnisonsstadt, deren Bedeutung aber mit der rasanten Entwicklung der Industrie immer mehr schwand183 Zwiespältige Eindrücke lösten in Ring Kontakte mit der bäuerlichen Bevölkerung aus, die in Dörfern um Gleiwitz herum ansässig war. Darüber schrieb er später in einem Zeitungsartikel folgendermaßen: Von Natur gutmütig und begabt, war das arme Volk jener Gegend durch Jahrhunderte dauernde Sklaverei, Unterdrückung und Vernachlässigung demoralisiert und erniedrigt. Seine Hauptfehler waren eine fast unüberwindliche Trägheit, Unwissenheit, Sorglosigkeit und grenzenloser Leichtsinn. Unter dem Druck der auf ihm lastenden Leibeigenschaft und Erbunterthänigkeit, die erst die neuere Gesetzgebung aufgehoben hatte, mußten mit der Zeit alle besseren Keime verkümmern und zu Grunde gehen.184
Andererseits bemerkte er bei seinen Reisen auch großen materiellen Reichtum: »Großartige Hüttenwerke, Paläste der Eigentümer und Arbeiterkolonien steigen plötzlich in der Wildnis, im dichten Walde empor (…)«185. So erkannte und benannte er in einem der ersten Berichte dieser Art über Oberschlesien zahlreiche Gegensätze, »reges Leben und Treiben neben Trägheit und Verkommenheit, unermeßlichen Reichtum und furchtbare Armut, glänzenden Luxus
176 Vgl. Jolanta Rusinowska-Trojca: Städtebau und Wohnarchitektur des 19. Jahrhunderts in Gleiwitz (Gliwice). Bonn 2005, S. 21. 177 Ebd., S. 25. 178 Benno Nietzsche: Geschichte der Stadt Gleiwitz. Gleiwitz 1886, S. 309. 179 Ebd., S. 311. 180 Vgl. Jolanta Rusinowska-Trojca: Städtebau und Wohnarchitektur…, S. 15f. 181 Vgl. ebd., S. 26. 182 Vgl. ebd., S. 3. 183 Vgl. ebd., S. 32. 184 Max Ring: Oberschlesische Zustände im Jahre 1848. Ein Erinnerungsblatt. In: »Die Gartenlaube – Illustriertes Familienblatt«, Jahrgang 1898, Heft 17, S. 540–544, hier S. 542. 185 Max Ring: Erinnerungen, Erster Band…, S. 168.
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und unsägliches Elend, raffinierte Kultur und rohe Barbarei«186, die ihn wohl richtigerweise an die Zustände in Irland erinnerten, gleichzeitig aber zu einem heute schwer nachvollziehbaren Vergleich mit dem Charakter der hiesigen Bewohner verleiten ließen: »Wie dies so oft bei Grenzbevölkerungen zu beobachten ist, hatte die oberschlesische die Fehler und Schwächen der beiden in ihr vereinigten Rassen; die Berührung des deutschen mit dem slavischen Element hatte auf beide schädlich gewirkt und ihre Entwicklung aufgehalten«187. Den oberschlesischen Bauern und Arbeitern bekundet er zwar große »Bildungsfähigkeit, Anstelligkeit und schnelle Auffassung«, spricht ihnen aber die »Ausdauer, Zähigkeit und Zuverlässigkeit des Deutschen«188 ab. Das Resultat fällt bei Ring insgesamt negativ aus, denn aus seiner Sicht ist der oberschlesische Bauer und Arbeiter »rasch in seinen Entschlüssen und Thaten, ohne Überlegung, leichtsinnig, reizbar, bald ermüdet, oberflächlich, ohne moralische Widerstandskraft, grundsatzlos und hinterlistig, zum Lügen und Stehlen geneigt, träge und arbeitsscheu«. Zwar scheint er »gutmütig, stets willig, nie um eine Auskunft verlegen, freundlich und liebenswürdig«, gleichzeitig aber »selten treu und anhänglich«. Alles in allem ist er daher »ein halber Wilder, ein großes, unerzogenes Kind (…)«189. Bei den Reisen zu seinen Patienten konnte er aber auch erkennen, dass die offiziell aufgehobene Leibeigenschaft an vielen Orten praktisch noch existierte. Die Macht der Gutsherren blieb durch das Verwalten der Polizei und der Patrimonialgerichtsbarkeit nahezu unbeschränkt. Der Bauer war »noch in gewissem Sinne der weiße Sklave des Gutsbesitzers«, es herrschte »eine aller Beschreibung spottende Willkür und Rechtsunsicherheit«190, Ring selbst war Zeuge unbestrafter Misshandlungen von Bauern durch Großgrundbesitzer.191 Einer wirklichen Befreiung der niederen Schichten stand »der mangelnde Unterricht, die Abhängigkeit der Schule von der Geistlichkeit« im Wege, »welche das Volk nur in seiner dumpfen Unwissenheit und seinem religiösen Fanatismus zu erhalten suchte und jeden Fortschritt hemmte«192. Ring benennt und beschreibt die bekanntesten oberschlesischen Großindustriellen, wie Karl Godulla (1781– 1848), Franz Graf von Tiele-Winckler (1857–1922), die »beiden Grafen von Henckel-Donnersmarck«193, sieht aber mit Verbitterung in ihren damals unermesslichen Vermögen den Grund für die schlechte Lage der Bevölkerung: »Die höheren Klassen der Gesellschaft überließen sich einer übermäßigen Ver186 187 188 189 190 191 192 193
Max Ring: Oberschlesische Zustände im Jahre 1848…, S. 542. Ebd. Max Ring: Erinnerungen, Erster Band…, S. 169. Ebd. Ebd., S. 170. Vgl. ebd. Ebd., S. 171. Ebd., S. 176.
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schwendung und frivolen Genußsucht, während die untern im Elend, Trunk und Schmutz verkamen. Verbrechen gegen Leben und Eigentum gehörten zu den nicht ungewöhnlichen Vorkommnissen (…)«194. Mit seinen Darstellungen über Oberschlesien gehört Max Ring zu einer kleinen Gruppe von Autoren, die bereits zu dieser Zeit die harte Wirklichkeit dieser Region thematisierten. Motive, die er bearbeitete, waren der »Untergang der oberschlesischen Industrielandschaft, soziale Missstände oder die Wissensrückständigkeit. Nicht nur, dass er auf die aktuelle Problematik literarisch hingewiesen hat, sondern er benannte konkret ihre Ursachen.«195 Gleichzeitig ist anzumerken, dass sich Rings Darstellung von Oberschlesien auch später auf seine Erfahrungen aus dieser Zeit stützte, weswegen er dieselben Motive auch in seine Prosawerke aus den 1850er und 60er Jahren beinahe unverändert übernahm. 1847 wurde Ring, weiterhin als Arzt in Gleiwitz tätig, Augenzeuge der Hungertyphusepidemie, die damals diesen Teil Oberschlesiens heimsuchte. Diese Ereignisse sollten einen bleibenden Eindruck bei dem jungen Arzt hinterlassen und ihn weiter für soziale Angelegenheiten sensibilisieren. Bereits zu dieser Zeit schrieb er zwar seine Beobachtungen nieder, doch die Zensur verbot es ihm, diese zu veröffentlichen. Erst in späteren Texten kam der Schriftsteller auf diese Ereignisse zurück: (…) ganze Familien verfielen dem Tode, Hunderte verwaister, nackter, brotloser Kinder irrten von Dorf zu Dorf, weil sie, der Eltern beraubt, kein Obdach, keine Heimat, keine Nahrung finden konnten. Nicht selten mangelte es an Brettern zu Särgen für die Leichen, die in Lumpen gehüllt oder nackt zum Kirchhof auf Handschlitten oder Schubkarren geschleift wurden. Dabei fehlte es an menschlicher Hilfe. Schwarze Tafeln vor den Thüren der durchseuchten Hütten scheuchten das Mitleid von der Schwelle fort und verbreiteten Schrecken und Entsetzen. Die Zahl der heimischen Aerzte reichte nicht mehr hin, und viele von ihnen verfielen der Ansteckung, erkrankten und starben, während die furchtsamen Behörden sich fern hielten und ihre Pflicht versäumten. Vater und Mutter, Kinder und Säuglinge, eine ganze Generation rang ungesehen und ungehört mit dem erbarmungslosen Tode, in dumpfer Verzweiflung oder stumpfer Resignation. Nach und nach verstummten die Klagen, schwieg das Röcheln der Sterbenden, bis alles still war.196
Ring zeigte in diesen Texten nicht nur eine ausgeprägte Beobachtungsgabe, sondern auch analytisches Gespür, das von heutigen Erkenntnissen gestützt wird197, gepaart mit klaren politischen Überzeugungen:
194 195 196 197
Ebd., S. 177. Irena Sˇebestová: Die künstlerische Anabasis des Schriftstellers Max Ring…, S. 78. Max Ring: Oberschlesische Zustände im Jahre 1848…, S. 542. Vgl. Marek Paweł Czaplin´ski: Epidemie cholery w rejencji opolskiej w latach 1831–1894…, S. 58.
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Die eigentümliche Lage des Landes und der Bevölkerung, die ungünstigen klimatischen Einflüsse, wiederholte Mißernten, schlechte und mangelhafte Ernährung und verkehrte oder unzureichende Maßregeln trugen dazu bei, einen Notstand hervorzurufen, wie er schrecklicher nicht gedacht werden konnte. Die Hauptschuld jedoch wurde nicht mit Unrecht dem alten Regierungssystem zugeschrieben, das alle Warnungen und Mahnungen der besser Unterrichteten nur als Zeichen des »beschränkten Unterthanenverstandes« und liberaler Unzufriedenheit ansah und die laut um Hilfe rufende Stimme der Presse durch die bestehende Censur erstickte.198
Max Ring beschränkte sich dabei nicht auf die Rolle des aufmerksamen Beobachters, als Arzt ging er in die betroffenen Gegenden, wo ihn meistens schreckliche Zustände erwarteten, wie aus dem folgenden Bericht hervorgeht: »Ich selbst fand bei meinem Besuche eines Dorfes in einer Hütte auf dem bloßen Fußboden, ohne Decken, zwischen fünf Kranken zwei bereits Verstorbene, die der kaum vom Typhus genesene Vater zu schwach war fortzuschaffen, während fremder Beistand nicht zu erlangen war«199. Diese Erfahrung war keine Seltenheit, sondern eher die Regel: (…) überall fanden wir [Ring war mit dem Kreis-Wundarzt Tiesler unterwegs] dieselben grauenvollen Bilder des größten Elends, der höchsten Not. (…) Als wir die letzte Hütte verließen, setzten wir uns erschöpft, wie zerbrochen auf einen Stein an der Landstraße nieder und weinten still, zerrissen von unaussprechlichem Jammer und Schmerz.200
Insgesamt erkrankten im Regierungsbezirk Oppeln in den Jahren 1847–48 ca. 80.000 Menschen, d. h. 8,2 % der Bevölkerung, von denen 16.000 (20 %) verstarben.201 Auch für die Ärzte war die Aufgabe, die Epidemie zu bekämpfen, nicht ungefährlich: 33 von ihnen, auch Tiesler202, sollen der Seuche zum Opfer gefallen sein203. Ring selbst soll neben Karl Kuh (1804–1872) aus Breslau oder Rudolf Virchow (1821–1902)204 aus Berlin und einigen anderen zu den unermüdlichsten Bekämpfern der Epidemie gezählt haben.205 Doch auch wenn er 198 199 200 201 202 203 204
205
Ebd. Max Ring: Oberschlesische Zustände im Jahre 1848…, S. 542. Max Ring: Erinnerungen, Erster Band…, S. 194. Vgl. Marek Paweł Czaplin´ski: Epidemie cholery w rejencji opolskiej w latach 1831–1894…, S. 60. Vgl. Max Ring: Erinnerungen, Erster Band…, S. 194. Vgl. Marek Paweł Czaplin´ski: Epidemie cholery w rejencji opolskiej w latach 1831–1894…, S. 60. Virchow, der später eine beeindruckende wissenschaftliche Karriere absolvierte, sich auch mit der Anthropologie, Ethnologie und Archäologie befasste und außerdem als liberaler Politiker die Deutsche Fortschrittspartei und die Deutsche Freisinnige Partei mitbegründete, beschrieb seine Erfahrungen aus Oberschlesien in den 1848 erschienenen Mittheilungen über die in Oberschlesien herrschende Typhus-Epidemie. Vgl. Marek Paweł Czaplin´ski: Epidemie cholery w rejencji opolskiej w latach 1831–1894…, S. 60.
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seine Erlebnisse in lyrischer Form verarbeitete, war es ihm aufgrund der bereits erwähnten Tätigkeit der Zensurbehörde nicht beschieden, seine Texte zu veröffentlichen. Es ging dabei u. a. um die folgenden Zeilen aus dem Gedicht »An den König«: »Du hörtest wohl: es war die Presse, / Die Dir die reine Wahrheit bot. / O Herr! Mit gleichem Maße messe, / Gieb ihr die Freiheit, uns nur Brot!«206, die mit der Begründung, dass »Urteile oder Äußerungen sowohl über schon bestehende gesetzliche Vorschriften, als auch über Entwürfe zu dergleichen nur dann zulässig [sind], wenn sie in bescheidener, anständiger Form und wohlmeinender Absicht erfolgen«207, von der Zensur verboten wurden. Darüber hinaus lässt sich dieser Text, nicht zuletzt wegen seines Titels, auch als Anspielung auf Bettina von Arnims Dies Buch gehört dem König verstehen, was den großen Einfluss dieser Schriftstellerin auf Ring einmal mehr untermauern würde. Obwohl die Epidemie schließlich besiegt werden konnte, seine Praxis florierte und das Leben in Gleiwitz zahlreiche Unterhaltungsmöglichkeiten bot, wurde Max Ring der oberschlesischen Stadt langsam überdrüssig, es fehlte ihm an intellektuellen Impulsen, wie er sie bereits in Breslau und später Berlin erlebte: »(…) immer weniger konnte mir die kleine Stadt mit ihren beschränkten Verhältnissen, ihrem Mangel an allen höheren Interessen, mit ihren gesellschaftlichen Vorurteilen genügen. Ich vermißte die nötige geistige Anregung und die mir gebotenen materiellen Genüsse konnten mich nicht dafür entschädigen«208. Dem Schriftsteller kamen dabei die Ereignisse des Völkerfrühlings 1848 entgegen, die ihn so entscheidend geprägt haben müssen, dass er noch Jahrzehnte später, in einer Würdigung zum 80. Geburtstag ein »Achtundvierziger von altem Schrot und Korn«209 genannt werden sollte. Er stellte sich also eindeutig auf die Seite der Revolution und kommentierte die Nachrichten über ihre ersten Erfolge im Nachhinein folgendermaßen: Die ganze Welt schien über Nacht verwandelt, das Leben veredelt, alle Schranken und Hindernisse geschwunden, eine goldene Zeit gekommen. Das schwere Leid war vergessen, die böse Krankheit gewichen, und selbst der arme, bedrückte Landmann freute sich beim Anblick der jungen, hoffnungsvollen Saaten. Ein Bruderband umschlang die Herzen; Adel und Bürger, Besitzer und Proletarier reichten sich die Hände! Der Unterschied der Stände, der Rassen und Religionen schien gefallen, und jedes derartige Vorurteil erregte nur noch Spott oder Mitleid.210
Auch in diesem Fall blieb er nicht nur ein aufmerksamer Beobachter der revolutionären Umtriebe, vielmehr beteiligte er sich an mehreren Volksversamm206 207 208 209 210
Max Ring: Erinnerungen, Erster Band…, S. 195. Ebd. Ebd., S. 199. Adolph Kohut: Max Ring. Eine litterarisch-biographische Studie…, S. 319. Max Ring: Oberschlesische Zustände im Jahre 1848…, S. 543.
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lungen, »an denen es auch in Gleiwitz nicht mangelte«211. Am 28. März 1848 erschien auf Seite 1 des »Oberschlesischen Wanderers« ein Artikel Rings unter dem Titel: »Was bringt uns die neue Zeit?«, der mit folgendem Absatz schloss: Unser König trägt die deutschen Farben, Schwarz, Gold, Roth. Wir sind Preußen, aber auch Deutsche. Wir wollen nicht mehr zerstückelt und zerrissen leben, ein Spott unserer Feinde, die manche Perle aus Deutschlands Schatz geraubt. Durch Einigkeit groß und stark wird Deutschland gerüstet stehen in der Zeit der Noth, ein Schrecken für seine Feinde, eine gemeinsame Mutter für alle ihre Kinder.212
Dieses Engagement muss manche Mitbürger verstört haben (Ring selbst schreibt von der »Feindschaft der reaktionären und ultramontanen Partei«213), denn kurz darauf, als Reaktion auf diesen Artikel wurde in Gleiwitz ein anonymes Flugblatt unter dem Titel »Nur keine Judenemazipation!« verbreitet, in dem den Juden die »Hungersnot und der damit verbundene Typhus zur Last gelegt [wurde], welche sie durch ihren Geld- und Getreidewucher hervorgerufen haben sollten«214. In einer scharfen Entgegnung schrieb Ring u. a.: »Die Niederträchtigkeit hat sich mit der Feigheit verbunden, um, durch Nacht und Dunkelheit gesichert, ein Verbrechen zu begehen. Könnte das gedruckte Blatt für Euch erröten, es würde schamrot werden ob Euerer Feigheit und Gemeinheit«215. Daraufhin kam es in der Stadt zum antijüdischen Aufruhr, der im »Oberschlesischen Wanderer« folgenderweise beschrieben wurde: In unserer Stadt (…) fielen am 1. Mai Abends Straßenexcesse vor. Den meisten jüdischen Bewohnern wurden die Fenster eingeworfen; einem Kaufmanne in der Vorstadt wurde das Gewölbe erbrochen, eine Menge Waaren gestohlen oder verdorben, und sämmtliche Kleidungstücke und Wäsche fortgenommen. – Dem umsichtigen Benehmen unserer Civil- und Militär-Behörden ist es zu danken, daß die Ruhe ohne Blutvergießen wieder hergestellt wurde.216
In dieser lakonisch gehaltenen Notiz wird Max Ring, der im Zentrum dieses Geschehens stand, nicht namentlich erwähnt. Eine viel dramatischere und ausführlichere Darstellung der Ereignisse findet sich in der 1886 erschienenen Geschichte der Stadt Gleiwitz: Am 4. Mai war es in der Stadt selbst zu einer nicht unerheblichen Ruhestörung gekommen. Ein anonymes Flugblatt unter dem Titel »Nur keine Judenemancipation«
211 Max Ring: Erinnerungen, Erster Band…, S. 203. 212 Max Ring: Was bringt uns die neue Zeit? In: Der Oberschlesische Wanderer, No. 13, 28. März 1848, S. 1. 213 Max Ring: Erinnerungen, Erster Band…, S. 203. 214 Ebd. 215 Ebd., S. 204. 216 Ungezeichnet: Die Sicherheit hiesiger Gegend… In: Der Oberschlesische Wanderer, No. 21, 6. Mai 1848, S. 3.
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hatte den Dr. Ring zu einer kurzen Entgegnung veranlaßt, die in der ersten Nummer der neu begründeten »Gegenwart« am 2. Mai mit seinem Namen versehen erschien. Doch schon am 1. Mai hatte ein Teil der Bürgerschaft hiervon Kenntnis erhalten. In folge dessen erscheinen gegen Abend ein und zwanzig Personen vor dem hiesigen Bürgermeister Nerke und verlangen die Bestrafung des Dr. Ring. Ihre Erklärung ward zu Protokoll genommen. Doch half dies nichts. Alle Orte, wo Dr. Ring vermutet wurde, werden aufgesucht, man findet ihn nicht. Inzwischen hatte sich immer mehr Volk angesammelt; unter dem Rufe »alle Juden sind Betrüger« wälzen sich die Massen nach den Häusern der Juden. Fenster werden eingeworfen, Möbel und Waren vernichtet, ja teilweise entwendet. Erst gegen 3 Uhr morgens gelang es mit Hilfe der Bürgerschützen und des hiesigen Militairs ohne Blutvergießen dem Tumult Einhalt zu thun.217
Zu seinem Glück wurde Ring frühzeitig gewarnt und dank der Hilfe von Freunden und Bekannten konnte er fliehen, zunächst zu seiner Schwester nach Oppeln. Gleiwitz besuchte er erst nach Jahrzehnten wieder, doch vorher, am 9. Mai 1848 erschien im »Oberschlesischen Wanderer« seine Notiz, in der er nicht ohne Bitterkeit u. a. Folgendes schrieb: Mein ganzes früheres Leben spricht hinlänglich dafür, daß mir Religionshaß und Fanatismus gänzlich fremd geblieben. Am Krankenbette des Christen wie des Juden habe ich gewirkt, und ohne Unterschied des Glaubens meine Pflicht gegen Reich und Arm ausgeübt. Gern scheide ich von Gleiwitz für immer, wenn meine Entfernung allein den gestörten Frieden wieder herstellen kann. Meinen Feinden vergebe ich von Herzen, den armen Verirrten aber schenke ich mein Mitleid, meinen herzlichen Dank, mein schmerzliches Lebewohl für meine Freunde, besonders den Ehrenmännern, welche ich in der Zeit der Noth erprobt habe.218
Ring siedelte nach Breslau über, wo »infolge der Märzrevolution eine aller Beschreibung spottende Aufregung und Verwirrung«219 herrschte. Nach seiner Einschätzung war die Mehrheit der Einwohner Breslaus demokratisch gesinnt, genauso wie der Oberpräsident der Provinz Schlesien und frühere Oberbürgermeister von Breslau Julius Pinder (1805–1867).220 Zu den bekanntesten Personen, die Ring in seiner zweiten Breslauer Periode kennenlernte, zählte der russische Revolutionär Michail Bakunin (1814–1876), den Ring einen »der Vorläufer des modernen Nihilismus«221 nannte. Doch die Erfahrungen aus Gleiwitz machten ihn nachdenklich und zu dieser Zeit verblasste bereits allmählich Rings Begeisterung für die Revolution, auch wenn er von den Demokraten als ein Märtyrer seiner Überzeugung begrüßt worden war. Seine fortschreitende Skepsis drückte 217 Benno Nietzsche: Geschichte der Stadt Gleiwitz…, S. 315. 218 Max Ring: An die Bewohner der Stadt Gleiwitz. In: Der Oberschlesische Wanderer, No. 22, 9. Mai 1848, S. 3. 219 Max Ring: Erinnerungen, Erster Band…, S. 210. 220 Vgl. ebd. 221 Ebd., S. 212.
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er in folgender Aussage aus: »Frühzeitig erkannte ich die Fehler der Revolution, die Unfähigkeit der meisten Führer, die Unreife der Menge und die zwar eingeschüchterte, aber keineswegs besiegte Macht der Reaktion, die ich an mir selbst erfahren.«222 Doch mit dieser Einstellung stieß er auf wenig Verständnis, so dass er seine Überlegungen lieber für sich behielt, zumal sich Teile der demokratischen Bewegung in Breslau radikalisierten, d. h. immer weiter links positionierten, womit er nicht einverstanden war.223 Stattdessen wandte sich Ring jetzt verstärkt der schriftstellerischen und journalistischen Tätigkeit zu und praktizierte auch als Arzt. Zunächst erschien von ihm ein aus sechzehn Sonetten bestehender Zyklus unter dem Titel Revolution, in dem das lyrische Ich u. a. folgende Gedanken äußerte, die Rings vorher beschriebener Stimmung entsprachen (Sonett IV): »Du bist gekommen, ach! um schnell zu schwinden, / Du warst ein jähes Licht in finstrer Nacht, / Und wieder gleicht die Menschheit jenem Blinden, / Dem ein Moment der junge Tag gelacht.«224 Außerdem betätigte sich Ring als Publizist und schrieb Feuilletons für die »Neue Oder-Zeitung«, die später in der von Karl Marx herausgegebenen »Neuen Rheinischen Zeitung« abgedruckt wurden.225 Er übernahm auch die Kritik des Breslauer Theaters, »das durch die Märzrevolution sehr gelitten hatte und heruntergekommen war«226 und wo u. a. die Schauspieler Ewald Grobecker (1828– 1897), Theodor L’Arronge (1812–1878), Emil Devrient (1803–1872), Theodor Döring (1803–1878) und Karl Grunert (1810–1869) gastierten. Der Autor der Geschichte des Breslauer Theaters von 1841 bis 1900 meint, dass aufgrund der Revolution das Interesse des Publikums am Theater im Jahre 1848 zwar stark abgenommen hätte227, doch schon die folgende Saison 1849 habe sich »weit besser [gestaltet,] als es den Anschein gehabt hatte«228. Die vielen Theaterbesuche und die Kontakte mit Schauspielern regten Ring dazu an, selbst als Dramatiker tätig zu werden. So entstand das bereits begonnene Stück Die Genfer, ein Trauerspiel in fünf Akten, in dem sich der Autor mit der Figur des Michael Servetus (1509/1511–1553) beschäftigte, eines spanischen Arztes und humanistischen Gelehrten, der auf Betreiben Johannes Calvins als Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde. Analog zu den aktuellen Ereignissen der Revolution wollte er darin »den Kampf zwischen Autorität und
222 223 224 225 226 227
Ebd., S. 214. Vgl. ebd., S. 215. Max Ring: Revolution. Breslau 1848, ohne Seitenangabe. Max Ring: Erinnerungen, Erster Band…, S. 218. Ebd. Vgl. Ludwig Sittenfeld: Geschichte des Breslauer Theaters von 1841 bis 1900. Breslau 1909, S. 29. 228 Ebd., S. 36.
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Freiheit darstellen«229. Das Stück wurde trotz Bedenken der Theaterleitung ausgestellt und soll auch, laut Ring, sehr wohlwollend vom Publikum aufgenommen worden sein230, wenngleich es nach nur fünf Vorstellungen abgesetzt wurde.231 Das Treffen mit dem Buchhändler und Verleger Johann Urban Kern (1811– 1868) und dessen Drängen darauf, dass Ring einen Roman verfasst, führten zu Rings Romandebüt, dem Buch Berlin und Breslau. 1847–1849, welches bereits 1849 in Breslau erschien. Ring beschreibt darin Ereignisse, die mit der Revolution des Jahres 1848 zusammenhängen, als diese ganz Deutschland erfasste. Durch seine beiden Hauptfiguren, die kleinbürgerliche Marie (im 1. Band) und die adelige Wanda (im 2. Band) spiegelt er darin ein breites Panorama der damaligen Gesellschaft wider. Trotz seiner wachsenden Skepsis gegenüber der Revolution beschert der Autor seinen Figuren ein glückliches und zugleich ein wenig utopisches Ende, als er Wanda und einen weiteren Protagonisten, den Revolutionär Dörner, Lehrer werden lässt, die die junge Generation für die Ideale der untergehenden Revolution begeistern soll. Dank seines Romans lernte Ring in Breslau mit Berthold Auerbach (1812– 1882)232 und Theodor Mundt (1808–1861)233 zwei Schriftsteller kennen, denen er über Jahre freundschaftlich verbunden blieb. Über Auerbach schrieb Ring, dass dieser in »seinem Charakter und Wesen (…) die Eigenschaften des jüdischen Talmudisten und des schwäbischen Bauern [vereinte], ein wunderbares Gemisch von rabbinischer Spitzfindigkeit, spinozistischer Weisheit und Bauernschlauheit, von Düstelei und Naivetät, von tiefem Gemüt und schalkhafter Laune, von idealer Poesie und derber Sinnlichkeit«234. Mundt wiederum, früher einer der Wortführer der jungdeutschen Bewegung, nun aber als Professor der allgemeinen Literatur und Geschichte an die Universität Breslau versetzt, kam Ring »gedrückt vor und hatte in seinem Wesen etwas Melancholisches, Resigniertes, mit einer Beimischung milder Ironie, wie ein Mann, der die Illusionen des Lebens kennt 229 230 231 232
Max Ring: Erinnerungen, Erster Band…, S. 228. Vgl. ebd., S. 230. Vgl. Ludwig Sittenfeld: Geschichte des Breslauer Theaters von 1841 bis 1900…, S. 44. Siehe auch: Kerstin Sarnecki: Erfolgreich gescheitert. Berthold Auerbach und die Grenzen der jüdischen Emanzipation im 19. Jahrhundert. Oldenburg 2006; Hermann Kinder: Berthold Auerbach – »Einst fast eine Weltberühmtheit«. Eine Collage. Tübingen 2011; Jesko Reiling (Hrsg.): Berthold Auerbach (1812–1882). Werk und Wirkung. Heidelberg 2012; Christof Hamann, Michael Scheffel (Hrsg.): Berthold Auerbach. Ein Autor im Kontext des 19. Jahrhunderts. Trier 2013; Dieter G. Maier: Berthold Auerbach – Schriftsteller und Volkserzieher im 19. Jahrhundert. Berlin 2018. 233 Siehe auch: Wulf Wülfing: Mundts Anfänge. In: Wulf Wülfing: Junges Deutschland. Texte – Kontexte, Abbildungen, Kommentar. München, Wien 1978. S. 130–133; Petra Hartmann: »Von Zukunft trunken und keiner Gegenwart voll«. Theodor Mundts literarische Entwicklung vom »Buch der Bewegung« zum historischen Roman. Bielefeld 2003. 234 Max Ring: Erinnerungen, Erster Band…, S. 236.
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und belächelt, aber trotzdem nicht den Mut und die Lust hat, auf die Freuden der Welt und die Annehmlichkeiten der Gesellschaft zu verzichten«235. Als sich in der zweiten Hälfte von 1848 die politische Lage durch den Wiener Oktoberaufstand, die preußische Steuerverweigerung im November wie auch lokale Ereignisse in Schlesien (z. B. Niederschlagung eines Volksauflaufs in Schweidnitz im August) wieder zuzuspitzen begann, flammte Rings Interesse dafür wieder auf. In Breslau sah und sprach er kurz eine der führenden Persönlichkeiten der Revolution, den Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung wie auch Publizisten, Verleger und Dichter Robert Blum (1807–1848), der zur letzten Erhebung der österreichischen Revolution von 1848/49 nach Wien unterwegs war, wo er kurze Zeit später inhaftiert, zum Tode verurteilt und am 9. November hingerichtet wurde. Mit seinem Freund Berthold Auerbach und dessen Schwager half Ring bei ihrer weiteren Flucht, da sie aus Preußen nach Österreich hätten ausgeliefert werden können. Auch in Breslau kam es zu Ausschreitungen, Barrikaden wurden errichtet und schnell wieder gestürmt, was dem Scheitern des Aufstands gleichkam. Daraufhin wurde in der Stadt der Belagerungszustand verhängt und alle politischen Vereine aufgelöst.236 Infolge dieser Ereignisse veränderte sich auch die Stimmung unter der Bevölkerung, die Ring folgendermaßen beschrieb: Mehr als alles betrübte uns aber der jähe Umschlag der öffentlichen Meinung, die Charakterlosigkeit der Menge und die Gesinnungslosigkeit des vor dem Erfolg kriechenden Haufens. Über Nacht verwandelten sich wütende Demokraten in noch wütendere Reaktionäre und blutrote Linke in schwarz-weiße Rechte. Die Gemeinheit und Erbärmlichkeit machte sich breit und feierte ihre Triumphe.237
Derweil nahm Ring die Arbeit an seinem zweiten Roman auf, dessen Handlung er diesmal, vielleicht sicherheitshalber, in das Sachsen des 18. Jahrhunderts verlegte. Darin setzte er sich mit der Tätigkeit des Gründers der Herrnhuter Brüdergemeine Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf (1700–1760)238 auseinander, dessen Wirken Ring aber auch an Henri de Saint-Simon (1760–1825) erinnerte, den »Vater des modernen Sozialismus«239, was seinem Unterfangen wiederum Aktualität verlieh. Der dreibändige Roman unter dem Titel Die Kinder Gottes erschien 1851 in Breslau, erneut im Verlag von Johann Urban Kern. 235 236 237 238
Ebd., S. 240. Vgl. ebd., S. 253f. Ebd., S. 256. Siehe auch: Erich Beyreuther: Nikolaus Ludwig von Zinzendorf. Selbstzeugnisse und Bilddokumente. Eine Biographie. Gießen, Basel 2000; Martin Brecht, Paul Peucker (Hrsg.): Neue Aspekte der Zinzendorf-Forschung. Göttingen 2005; Dietrich Meyer: Zinzendorf und die Herrnhuter Brüdergemeine. 1700–2000. Göttingen 2009; Wilhelm Faix: Zinzendorf. Glaube und Identität eines Querdenkers. Marburg 2012. 239 Max Ring: Erinnerungen, Erster Band…, S. 267.
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Gleichzeitig begann das in der Stadt herrschende Klima Ring zuzusetzen. Es beunruhigte ihn ein »Kastengeist«, von dem er Folgendes schrieb: »Juden und Christen, Bürgerliche und Adlige, Kaufleute und Beamte, Civil und Militär verkehrten nur in seltenen Fällen mit einander und sonderten sich so viel als möglich von einander ab.«240 So endete für ihn die mit so viel Euphorie und Hoffnung begrüßte Revolution. Hinzu kam erneut das bereits aus Gleiwitz bekannte Gefühl der Beengtheit: »Außerdem bot Breslau auch geistig wenig Anregung und die Stellung der Schriftsteller war eine isolierte, kaum beachtete.«241 In der Konsequenz entschied sich Ring Breslau Anfang Oktober 1850 in Richtung Berlin zu verlassen, mit einem »neuen Kontrakt auf eine Reihe historischer Romane aus der preußischen Geschichte«242. Die Anfänge in der Hauptstadt waren schwer, auch dort herrschte laut Ring ein Klima von Zwietracht, Niedergeschlagenheit und polizeilicher Willkür, schon am Bahnhof gab es eine Polizeikontrolle.243 Persönlich erlebte er ebenfalls zunächst Enttäuschungen – viele seiner ehemaligen Freunde haben die Stadt für immer verlassen (Carrière, Wolfsohn, Oppenheim), andere begegneten ihm distanziert oder erinnerten sich kaum an ihn, wie die viel geliebte Bettina von Arnim.244 So lebte er anfangs zurückgezogen und arbeitete an seinem nächsten, erneut historischen Roman, »welcher den Kampf der Souveränität mit den alten Ständen in Preußen behandelte und vielfach an die letzten Ereignisse erinnerte«245. Der große Kurfürst und der Schöppenmeister, ein »Historischer Roman aus Preußens Vergangenheit« in drei Bänden, erschien 1852 bei Kern in Breslau. Gleichzeitig suchte er Verbindungen zum Theater und zur Presse in Berlin. Beim Generalintendant der königlichen Theater Karl Theodor von Küstner (1784– 1864) versuchte er sich mit zwei bereits in Breslau entstandenen, aber nicht veröffentlichten Stücken zu empfehlen, den Lustspielen Scarron’s Liebe und Alle spekulieren (das zweite in Zusammenarbeit mit dem Juristen und Schriftsteller Robert Bürkner, 1813–1886, entstanden). Durch die Bekanntschaft mit der Sängerin, Schriftstellerin und Schauspielerin Elise Schmidt (1827–1911) lernte Ring die Schauspielerin und Sängerin Clara Stich, verwitwet Hoppé (1820–1862) kennen, dank ihr wurde er wiederum vielen weiteren Schauspielern der Berliner Theater vorgestellt, u. a. Eduard Jerrmann (1798–1859), Auguste Crelinger (1795–1865) und Wilhelmine Schröder-Devrient (1804–1860).246 240 241 242 243 244
Ebd., S. 272. Ebd. Ebd. Vgl. Abschnitt »Das nachrevolutionäre Berlin« im folgenden Kapitel, S. 64–66. Vgl. Max Ring: Erinnerungen, Zweiter Band [im Weiteren: Erinnerungen II]. Berlin 1898, S. 2. 245 Ebd., S. 3. 246 Vgl. ebd., S. 13ff.
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Einen »nicht minder interessanten Kreis«247 fand Ring im Hause des ihm bereits bekannten Schriftstellers Theodor Mundt, der inzwischen nach Berlin zurückgekommen war. Etabliert hat diesen Salon seine Ehefrau Clara Mundt (1814–1873), die unter dem Pseudonym Luise Mühlbach auch literarisch tätig war. Ring äußert sich kritisch über ihr Talent und meint, dass sie zwar eine »bewunderungswürdige litterarische Fruchtbarkeit entwickelte«, ihr aber gleichzeitig »fast jeder künstlerisch-ästhetische Sinn, das feinere sittliche Gefühl und vor allem die nötige Selbstkritik«248 fehlten249. Bei den Mundts verkehrte u. a. der Schriftsteller Theodor Mügge (1802–1861), der Musiktheoretiker und Komponist Adolph Bernhard Marx (1795–1866), der Jurist und Stadtgerichtsrat Karl Ludwig Werther (1809–1861) oder der Schauspieler Moritz Rott (eigentlich Rosenberg; 1796–1867).250 In den Salon kamen außerdem auch Menschen von außerhalb Berlins, von denen die Bekanntschaft mit Karl Gutzkow (1811– 1878)251, einem der Stimmführer der jungdeutschen Bewegung und bedeutenden Vertreter des Frührealismus in Deutschland, zu den folgenreichsten gehörte. Es entstand ein Briefwechsel zwischen Ring und Gutzkow, und die Beziehung entwickelte sich weiter, nachdem der Letztere nach Berlin umgezogen war, wo er gut Fuß zu fassen schien. Doch da Gutzkow »unter Depressionen, im höheren Lebensalter jahrelang unter Verfolgungswahn«252 litt, kam es später zu einem Bruch in der Bekanntschaft, als Gutzkow in Rings Kritik seines 1870 erschienenen Romans Die Söhne Pestalozzis »die freundschaftliche Wärme und Teilnahme für sein Buch«253 vermisste. Als im positiven Sinne folgenreich erwies sich dagegen für Ring das Wiedersehen mit dem ihm bereits aus Oberschlesien bekannten Schriftsteller David Kalisch (1820–1872), dem er nicht nur mehrere Seiten im zweiten Band seiner Erinnerungen widmete, sondern auch das Buch David Kalisch, der Vater des Kladderadatsch und Begründer der Berliner Lokalposse aus dem Jahr 1873. Durch ihn lernte Ring den Buchhändler, Verleger und Theaterleiter Heinrich Albert Hofmann (1818–1880) kennen, der ab 1853 eine illustrierte Montags-Zeitung, 247 Ebd., S. 28. 248 Ebd., S. 29. 249 Siehe auch: Cornelia Tönnesen: Die Vormärz-Autorin Luise Mühlbach. Vom sozialkritischen Frühwerk zum historischen Roman; mit einem Anhang unbekannter Briefe an Gustav Kühne. Neuss 1997; Magdalena Popławska: Bilder der einsamen Frau im Werk der Vormärzschriftstellerinnen. Dresden 2016. 250 Vgl. Petra Wilhelmy-Dollinger: Die Berliner Salons…, S. 164–167. 251 Siehe auch: Roger Jones, Martina Lauster (Hrsg.): Karl Gutzkow. Liberalismus – Europäertum – Modernität. Bielefeld 2000; Ute Promies: Karl Gutzkow – Romanautor und kritischer Pädagoge. Bielefeld 2003; Wolfgang Rasch (Hrsg.): Karl Gutzkow. Erinnerungen, Berichte und Urteile seiner Zeitgenossen. Eine Dokumentation. Berlin, New York 2011. 252 Wilmont Haacke: Gutzkow, Karl. In: Neue Deutsche Biographie 7 (1966), S. 354–357, hier S. 354. 253 Max Ring: Erinnerungen II…, S. 45.
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»Berliner Feuerspritze. Löschblatt für brennende Fragen« (nach 1856 unter dem Titel »Berlin«) herausgab254, welche zunächst von Ernst Ludwig Kossak (1814– 1880) redigiert wurde, der als »Schöpfer des Berliner Feuilletons« galt255 und »ebenso bewundert wegen seines Geistes, wie gefürchtet wegen seiner scharfen, rücksichtslosen Kritik« wurde256. Durch seine Artikel für die »Feuerspritze« wurde der Buchhändler Ernst Keil (1816–1878) auf ihn aufmerksam, der gerade, 1853, die Zeitschrift »Die Gartenlaube – Illustrirtes Familienblatt«257 (ab 1890 »Die Gartenlaube – Illustriertes Familienblatt«) gegründet hatte und Ring als Mitarbeiter gewinnen wollte.258 Keil, der zuvor bis 1851 das Monatsblatt »Der Leuchtturm« mit dem Beiblatt »Laterne« (später »Reichsbremse«, »Spitzkugeln«, »Schildwacht«) und auch den »Illustrierten Dorfbarbier« herausgegeben hatte259, plante nun eine Zeitschrift neuen Typs mit dem Ziel, Wissenschaften auch unter einfachsten Bevölkerungsschichten zu popularisieren260. Was er aber in seinem neuen Blatt zu vermeiden versuchte, war Politik261. Stattdessen wollte er auf Gedichte, möglichst kurze Novellen, Briefe aus der Natur, Texte über den menschlichen Körper, kleine Feuilletons setzen262. Mit der »Gartenlaube« »setzte für Deutschland (…) die Epoche der Massenpresse im eigentlichen Sinne ein«263, die Zeitschrift sorgte für neue Maßstäbe. Die Auflage erreichte bereits nach halbjährigem Erscheinen 5.000 Exemplare wöchentlich und stieg kontinuierlich, am Ende des zweiten Jahrgangs gab es bereits 14.500 Abonnenten, nach weiteren zwei Jahren kletterte die Auflage auf 60.000 und 1861 auf 100.000 Exemplare. Zwischen 1867 und 1875 stieg der Absatz von 210.000 um 172.000 auf 382.000 Exemplare, was möglicherweise einen Weltrekord bedeutete.264 Mit dem Treffen von Keil und Ring begann ihre langjährige Freundschaft und Rings Zusammenarbeit mit der »Gartenlaube« resultierte in zahlreichen Texten, 254 Vgl. Eckhard Schulz: Hofmann, Albert. In: Neue Deutsche Biographie 9 (1972), S. 445–446, hier S. 445. 255 Vgl. Ernst Friedländer: Kossak, Ernst Ludwig. In: Allgemeine Deutsche Biographie 16 (1882), S. 754–755, hier S. 754. 256 Max Ring: Erinnerungen II…, S. 65. 257 Siehe auch: Fayçal Hamouda (Hrsg.): Der Verleger Ernst Keil und seine »Gartenlaube«. Leipzig 2005; Claudia Stockinger: An den Ursprüngen populärer Serialität. Das Familienblatt »Die Gartenlaube«. Göttingen 2018. 258 Vgl. Max Ring: Erinnerungen II…, S. 66. 259 Vgl. Gerd Schulz: Keil, Ernst. In: Neue Deutsche Biographie 11 (1977), S. 402–403, hier S. 402. 260 Vgl. Dieter Barth: Das Familienblatt – ein Phänomen der Unterhaltungspresse des 19. Jahrhunderts. Beispiele zur Gründungs- und Verlagsgeschichte. In: Bertold Hack, Bernhard Wendt, Marletta Kleiss (Hrsg.): Archiv für Geschichte des Buchwesens, Band XV. Frankfurt am Main 1975, S. 121–316, hier S. 172. 261 Vgl. ebd., S. 176. 262 Vgl. ebd., S. 175f. 263 Ebd., S. 184. 264 Vgl. ebd., S. 184–186.
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die über Jahrzehnte darin veröffentlicht wurden. Es handelte sich dabei zwar um ein populäres Familienblatt, doch weltanschaulich gesehen zeigte sich die Zeitschrift liberal und fortschrittlich. Rings Artikel in der »Gartenlaube« betrafen verschiedene Aspekte, es dominierte darin aber Berliner Thematik. Der Schriftsteller beschrieb die ihm bekannten literarischen Salons, Schriftsteller, Wissenschaftler, Theater und ihre Ensembles, äußerte sich aber auch zum Gesundheitswesen (Gräfe und die Augenklinik, Heft 14/1857; Die Berliner Charité, Heft 23/1858) bzw. schilderte so gewöhnliche Themen wie die Berliner Feuerwehr (Heft 44/1857) oder die Berliner Wasserwerke (Heft 2/1858). Darüber hinaus veröffentlichte er in der Zeitschrift auch seine literarischen Texte und gehörte mit zehn derartigen Publikationen aus den Jahren 1857–1868 zu den meistgedruckten Erzählern in der ersten Phase ihres Bestehens (1853–1880)265. Und als die preußischen Behörden die Herausgabe der »Gartenlaube« wegen eines kontroversen Beitrags 1863 zwischenzeitlich266 verboten, reagierte Ernst Keil mit der Gründung einer neuen Zeitschrift in Berlin, die unter dem Titel »Der Volksgarten. Illustrirtes Haus- und Familienblatt« wöchentlich erschien und deren verantwortlicher Redakteur zwischen Nummer 4/1864 und 26/1865 Max Ring war267. Nachdem aber Keil einen anderen, nicht ganz legalen Weg für die Verbreitung der »Gartenlaube« in Preußen gefunden hatte, wurde der als Ersatz konzipierte »Volksgarten« entbehrlich, weswegen sein Erscheinen nach zwei Jahren (Januar 1864 bis Dezember 1865) wieder eingestellt wurde.268 »Gartenlaube« bzw. »Volksgarten« blieben nicht die einzigen Zeitschriften, für die Ring tätig war. Ungefähr zur gleichen Zeit, 1857, bekam er von der Redaktion der »Vossischen Zeitung«269 die »Aufforderung, die Kritik der [Berliner] Theater, mit Ausnahme des königlichen Schauspielhauses, das dem alten Gubitz270 unterstand, zu übernehmen«271. In der Folge lernte er nicht nur die Ber265 Vgl. Andreas Graf: Die Ursprünge der modernen Medienindustrie: Familien- und Unterhaltungszeitschriften der Kaiserzeit (1870–1918). In: Georg Jäger (Hrsg.): Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert, Bd. 1: Das Kaiserreich 1871–1918, Teil 2, Frankfurt am Main 2003, S. 409–522, hier S. 435. 266 Vgl. Dieter Barth: Das Familienblatt…, S. 185. 267 Vgl. Alfred Estermann: Die deutschen Literatur-Zeitschriften 1850–1880: Bibliographien, Programme. München 1988, S. 298–300, hier S. 298. 268 Vgl. Dieter Barth: Das Familienblatt – ein Phänomen der Unterhaltungspresse des 19. Jahrhunderts…, S. 191. 269 »Vossische Zeitung«, eigentlich »Königlich privilegirte Berlinische Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen«, war eine Berliner Zeitung, die unter diesem Namen von 1721 (wenngleich man auch 1704 als Gründungsjahr nannte) bis 1934 erschien und Positionen des liberalen Bürgertums vertrat. 270 Friedrich Wilhelm Gubitz (1786–1870) war ein deutscher Grafiker (Holzstecher), Schriftsteller, Theaterkritiker, Herausgeber und Kunstprofessor. Theaterkritiker der »Vossischen Zeitung« wurde er 1823 und blieb es bis zu seinem Tod. – vgl. Eberhard Marx: Gubitz, Friedrich Wilhelm. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 7. Berlin 1966, S. 247–248.
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liner Theater sowie Schauspielerinnen und Schauspieler besser kennen, sondern freundete sich auch mit dem aus Breslau stammenden Chefredakteur der Zeitung Otto Lindner (1820–1867) an. Außerdem publizierte Ring in der Wiener »Neuen Freien Presse«, wo er in den 1860er Jahren die Berliner Chronik führte, in Kalischs »Kladderadatsch« sowie in der »Allgemeinen Zeitung des Judentums«, die in Leipzig erschien und wo u. a. Auszüge aus seinen Erinnerungen 1896 vorab abgedruckt wurden. Eine wichtige Begegnung machte er durch die Einladung seitens des Erzählers, Biographen, Tagebuchschreibers und Diplomaten Karl August Varnhagen von Ense (1785–1858)272, der, selbst Autor einer Biographie über Zinzendorf (Leben des Grafen Ludwig von Zinzendorf, 1846), durch Rings Roman Die Kinder Gottes auf ihn aufmerksam geworden war.273 Varnhagen stand im Zentrum eines »der belebtesten literarischen Salons«274, der nach dem Tod seiner Frau, Rahel Varnhagen von Ense, geb. Levin (1771–1833), nun von seiner Nichte, Ludmilla Assing (1821–1880) geführt wurde. Ring, der später Varnhagens Hausarzt werden sollte, sah ihn als einen »Meister der gesellschaftlichen Rede, unerschöpflich an geistreichen Bemerkungen, Bonmots und pikanten Anekdoten, die er mit bewunderungswürdigem Geschick und ungesucht in das Gespräch zu verflechten wußte; im höchsten Grade anregend und geistvoll, dabei ohne jede Prätension und Koketterie«275, erlebte ihn aber auch in vielen anderen Rollen, beispielsweise als einen »Wohltäter aller Bedürftigen«276, der sich durch Herzensgüte, Humanität und Menschenfreundlichkeit auszeichnete. Im Hause Varnhagens, der in seinem Leben bereits »mit Goethe, Fichte, Hegel, Schleiermacher, Wilhelm und Alexander von Humboldt persönlich vertraut, mit Uhland, Kerner, Chamisso, Achim von Arnim und Bettina innig befreundet«277 war, konnte man wichtige Figuren des damaligen gesellschaftlichen Lebens Berlins antreffen, so z. B. den General sowie kurzzeitigen Ministerpräsidenten und Kriegsminister Preußens Ernst
271 272
273 274 275 276 277
Siehe auch: Friedrich Pruskil: Der Theaterkritiker Friedrich Wilhelm Gubitz (1786–1870). Berlin 1938. Max Ring: Erinnerungen II…, S. 70. Obwohl Ring als Varnhagens Arzt tätig war und auch gesellschaftlich mit ihm verkehrte, fällt der Eintrag über ihre Korrespondenz in dem von Ludwig Stern katalogisierten Nachlass Varnhagens sehr knapp aus: »Ring, Max, Arzt und Schriftsteller in Berlin (1817–1901): Notiz über ihn; Brief an L. Assing 1853; an Varnhagen 1857; an L. Assing 1871 mit Nachschrift Victor Rings; zwei gedruckte Gedichte zu M. Rings Hochzeit 1856. Nr. 1 des ›Schalk‹, Berlin 1858. [214] Pastellbild von ihm 1853, eingerahmt. Vgl. Beiträge zur Kulturgeschichte von Berlin, 1898, S. 77ff.« – vgl. Ludwig Stern: Die Varnhagen von Ensesche Sammlung in der Königlichen Bibliothek zu Berlin. Berlin 1911, S. 666. Vgl. Max Ring: Erinnerungen II…, S. 82. Petra Wilhelmy-Dollinger: Die Berliner Salons…, S. 207. Max Ring: Erinnerungen II…, S. 85. Ebd., S. 87. Ebd., S. 91.
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Heinrich Adolf von Pfuel (1779–1866), die Fürsten Hermann Anton von Hatzfeld (1808–1874) und Hermann Ludwig Heinrich von Pückler-Muskau (1785– 1871)278, den Erzähler, Dichter und Maler Alexander Freiherr von UngernSternberg (1806–1868), Elisa Gräfin von Ahlefeldt (1788–1855), wie auch die Schriftsteller Rudolf Gottschall (1823–1909) und Julius Rodenberg (1831– 1914)279 oder die Schauspielerinnen Lina Fuhr (1828–1906) und Wilhelmine Schröder-Devrient (1804–1860). Einer Empfehlung Varnhagens verdankte Ring die Möglichkeit, mehrmals280 den Naturforscher Alexander von Humboldt (1769–1859) zu besuchen, der in seiner jahrzehntelangen Forschungsarbeit »einen neuen Wissens- und Reflexionsstand des Wissens von der Welt«281 schuf. Ring schrieb über ihn, Humboldt sei »im wahrsten Sinne und in der vollsten Bedeutung Meister des Wortes, der beste Erzähler, der klarste Redner. Ein unermeßliches Wissen steht ihm zu Gebot und trotz des hohen Alters bemerkt man auch nicht die geringste Abnahme eines Gedächtnisses, das wohl kaum seines Gleichen hat«282. Seine Besuche bei dem großen Wissenschaftler fasste Ring später auch in dem Beitrag Erinnerungen an Alexander von Humboldt zusammen, der in der ab 1867 u. a. von von Ernst Dohm und Julius Rodenberg herausgegebenen Zeitschrift »Der Salon für Literatur, Kunst und Gesellschaft« erschien (4. Band, 1869, S. 544–552). Außerdem besuchte er in dieser Zeit wieder die Sitzungen des Sonntagsvereins »Tunnel über der Spree«, dem sich mittlerweile neue Mitglieder, wie u. a. die Schriftsteller Theodor Fontane (1819–1898), Eduard von Tempeltey (1832–1919) 278 Pückler-Muskau war der meistgelesene Reiseschriftsteller seiner Zeit sowie Landschaftsarchitekt, politisch gesehen vertrat er liberale Ideen, Freundschaften verbanden ihn mit Rahel und Varnhagen, E.T.A. Hoffmann, Heinrich Heine und Bettina von Arnim – vgl. Thomas Diecks: Pückler-Muskau, Hermann Fürst von. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Berlin 2001, S. 759–761. Siehe auch: Heinz Ohff: Der grüne Fürst. Das abenteuerliche Leben des Fürsten Pückler-Muskau. München/Zürich 2002; Matthias Körner und Thomas Kläber: Dort senke dich auf ein Paradies. Die Gartenlandschaften des Fürsten Pückler. Berlin 2006; Urte Stobbe: Fürst Pückler als Schriftsteller. Mediale Inszenierungspraktiken eines schreibenden Adligen. Hannover 2015. 279 Neben seiner schrifstellerischen Tätigkeit war Rodenberg (eigentlich Julius Levy) auch Publizist und gab ab 1874 zusammen mit Gustav zu Putlitz und Berthold Auerbach die »Deutsche Rundschau« heraus, die zur führenden kulturellen Monatsschrift Deutschlands wurde – vgl. Sina Farzin: Rodenberg, Julius. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 21. Berlin 2003, S. 694–695. Siehe auch: Wilmont Haacke: Julius Rodenberg und die »Deutsche Rundschau«. Eine Studie zur Publizistik des deutschen Liberalismus 1870–1918. Heidelberg 1950. 280 Max Ring: Erinnerungen II…, S. 127. 281 Ottmar Ette: Alexander von Humboldt und die Globalisierung: Das Mobile des Wissens. Frankfurt am Main 2009, S. 13. Siehe auch: Andrea Wulf: Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur. München 2016; Ottmar Ette (Hrsg.): Alexander von HumboldtHandbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2018. 282 Max Ring: Ein Besuch bei Alexander von Humboldt. In: Die Gartenlaube, Heft 5/1857, S. 67–70, hier S. 69.
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und Rudolf Löwenstein (1819–1891), die Kunsthistoriker Theodor Kugler (1808– 1858) und Friedrich Eggers (1819–1872), die Maler Adolph Menzel (1815–1905), Theodor Hosemann (1807–1875) und Ludwig Burger (1825–1884) sowie der Bildhauer Wilhelm Wolff (1816–1887) und der Musiker Wilhelm Taubert (1811– 1891) hinzugesellt haben.283 Rings Hauptaugenmerk galt in dieser Zeit aber den Berliner Theatern, wo inzwischen Botho von Hülsen (1815–1886) überraschend284 Theodor von Küstner auf dem Posten des Generalintendanten der Königlichen Schauspiele zu Berlin folgte. Die preußische Hauptstadt war zu dieser Zeit noch keine Theater-Metropole, da es außer »dem königlichen Schauspielhaus und der Oper (…) nur noch vier Theater, das Friedrich-Wilhelmstädtische, das neue Königstädtische in der Charlottenstraße, das Vorstädtische der ›Mutter Gräbert‹ und das Krollsche Etablissement«285 besaß. Da Ring selbst wieder mit dem Lustspiel in fünf Akten Unsere Freunde (1859) als Autor für die Bühne tätig wurde, so blieb er in »fortdauernder Berührung mit der königlichen Bühne und ihren Künstlern«286. Darüber hinaus bearbeitete er auch immer wieder ausländische Werke wie Die Kameliendame von Alexandre Dumas dem Jüngeren (Eine neue Magdalena oder: Die Dame mit den Camelien. Pariser Sittenbild in fünf Akten) für die Bühne. Dadurch lernte Ring eine Reihe von Theaterleuten kennen, mit manchen von ihnen freundete er sich auch an, wie mit dem Regisseur Philipp Jacob Düringer (1809–1870), dem Schauspieler Ludwig Dessoir (eigentl. Leopold Dessauer, 1810–1874) und durch ihn mit dem Schriftsteller Emil Brachvogel (1824–1878). Politisch gesehen verschlechterte sich die Lage wieder, die Errungenschaften der Revolution wurden allmählich zurückgesetzt und auch Ring beobachtete »die Verfolgung der Christkatholiken und freisinnigen Gemeinden, Beschränkung der Presse, Verbot der Fröbelschen Kindergärten287 und ähnliche kleinliche Maßregeln«288, wenngleich er sich von da an »von allem politischen Treiben grundsätzlich fernhielt«289 und somit auch persönlich nicht belangt wurde. In den 1850er Jahren entfaltete sich insgesamt Max Rings literarische Tätigkeit, neben den bereits genannten entstanden weitere Dramen (Die Zeit ist hin, wo Bertha spann, 1853; Dichter und Wäscherin, 1853), zeitgeschichtliche (Verirrt und Erlöst, 1855) und historische Romane (John Milton und seine Zeit. Histori283 284 285 286 287
Vgl. Max Ring: Erinnerungen II…, S. 132. Vgl. ebd., S. 134. Ebd., S. 149. Ebd., S. 136. Siehe auch: Sigurd Hebenstreit: Friedrich Fröbel – Menschenbild, Kindergartenpädagogik, Spielförderung. Jena 2003; Detlef Krone: Biografische Studie zur Person und zum Werk Friedrich Fröbels. Frankfurt am Main 2016; Detlef Krone: Zur Psychologie eines Erziehers. Friedrich Fröbel, der Mann, der den Kindergarten ersann. Berlin 2020. 288 Max Ring: Erinnerungen II…, S. 158. 289 Ebd., S. 155.
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scher Roman, 1857), Erzählbände zu Berliner Themen (Stadtgeschichten, 1852; Neue Stadtgeschichten, 1858) sowie das autobiographisch geprägte Aus dem Tagebuch eines Berliner Arztes (1856). Ebenfalls in dieser Zeit, 1856, heiratete Ring Elvira Heymann (1833–1906), die Tochter des aus Glogau stammenden Verlegers Carl Heymann (1793–1862)290, wobei er dazu in den Erinnerungen anmerkte, dass damals »die Gründung eines Hausstandes nicht so schwer wie heute«291 gewesen sei. Aus dieser Beziehung gingen zwei Kinder hervor, der Sohn Victor Julius (1857–1934), später Vizedirektor am Kammergericht Berlin, und die früh verstorbene Tochter Ida (1860– 1871). 1857 konnte Max Ring seine Arztpraxis aufgeben, um sich vollständig der Literatur und Publizistik zu widmen. In dieser Zeit lernte Ring den Maler Eduard Hildebrandt (1818–1868), den Sozialreformer und einen der Gründerväter des deutschen Genossenschaftswesens Hermann Schulze-Delitzsch (1808–1883) sowie durch ihn den Sozialpolitiker Wilhelm Adolf Lette (1799–1868) kennen, der später auf Betreiben Rings, der damals als verantwortlicher Redakteur des »Volksgartens« tätig war, den Verein für die Erwerbsfähigkeit des weiblichen Geschlechts292 (bzw. den Verein zur Förderung der Erwerbsfähigkeit des weiblichen Geschlechts) gründen sollte. Trotz seiner vielen schriftstellerischen und publizistischen Arbeiten konzentrierte sich Ring vor allem auf Theaterkritik, da er von der Redaktion der »Vossischen Zeitung« mit der »Besprechung sämtlicher zweiter Theater«293 betraut wurde, wodurch er neben Theaterleuten, die in Berlin tätig waren, wie Theodor Reusche (1826–1881), August Neumann (1824–1894), Anton Ascher (1820–1884), Karl August Görner (1806–1884), Antonie Janisch (1848–1920) oder Anna Schramm (1835–1916), auch mit vielen auswärtigen Künstlern in Berührung kam, wie z. B. mit Heinrich Marr (1797–1871), Karl von La Roche (1794– 1884), Karl Fichtner (1805–1873), Bogumil Dawison (1818–1872), Wilhelm Kunst (eigentl. Wilhelm Kunze, 1799–1859) oder Julie Rettich (1809–1866). Aus dieser Zeit stammt sein Buch Hinter den Coulissen. Erinnerungen aus der Theaterwelt (1857).
290 Heymann gründete bereits 1815 in Glogau eine Buchhandlung und einige Jahre später einen Verlag. Zunächst wurden darin populär- und militärhistorische Bücher herausgegeben, später vor allem rechts- und staatswissenschaftliche Werke. Heymann siedelte 1835 nach Berlin über, wo er mit der »Kameralistischen Zeitung für die Königlich Preußischen Staaten« eine der ersten deutschsprachigen Fachzeitschriften für Verwaltungsrecht und -praxis verlegte. Carl Heymanns Verlag existiert bis heute, hat seinen Sitz in Köln und gehört zum Medienkonzern Wolters Kluwer. – vgl. Niels Reuter: Heymann, Carl. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 9. Berlin 1972, S. 89–90. 291 Max Ring: Erinnerungen II…, S. 159. 292 Vgl. ebd., S. 183. 293 Ebd., S. 184.
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Interessanterweise setzte sich Ring nicht nur mit lebenden Künstlern auseinander, denn 1861 nahm er sich des Grabs Heinrich von Kleists an, das er »in einem jeder Beschreibung spottenden traurigen Zustande (…), vollkommen verwüstet, von den darauf weidenden Kühen zertreten und verunreinigt«294 vorgefunden hatte, mit verwittertem Denkstein und erloschener Inschrift. Dank einer von ihm initiierten Sammelaktion konnte er das Grab wiederherstellen und umgittern sowie den Platz mit Bäumen und Blumen bepflanzen lassen. Außerdem versah er das Grabstein mit folgenden Versen aus eigner Feder: »Der Dichter lebte, litt und sang in schwerer Zeit. / Er suchte hier den Tod und fand – Unsterblichkeit«295, obwohl er dabei das falsche Geburtsdatum nicht korrigierte296. Jahrzehnte später, 1936, in der dunklen Zeit des Nationalsozialismus, wurde das Grab erneuert und wieder mit Rings Worten versehen, doch als fünf Jahre später der damalige Vorsitzende der Kleist-Gesellschaft und NSDAP-Mitglied der ersten Stunde, Georg Minde-Pouet (1871–1950), auf die jüdische Herkunft Max Rings hingewiesen hatte, wurde dessen Inschrift endgültig entfernt.297 Obwohl er sich politisch nicht engagierte, machte Ring in dieser Zeit wieder Erfahrungen mit der Zensurbehörde, die zwei seiner neuen Stücke beanstandete, auch wenn diese nicht gegen die preußische Regierung gerichtet waren. Es handelte sich dabei um Stein und Blücher, ein »vaterländisches Volksschauspiel in 4 Abtheilungen mit Musik« (1860) sowie um Ein deutsches Königshaus, ein historisches Drama in fünf Akten (1860) mit Hofschauspieler Hermann Hendrichs (1809–1871) in der Hauptrolle. Bei den Kontakten mit der Zensur konnte Ring sich »nicht eines bitteren Gefühls bei dem Gedanken erwehren, wie schwer und undankbar für den deutschen Dichter die Behandlung patriotischer Stoffe ist (…)«298, was auf seine heute vielleicht schwer verständliche, damals aber nicht unübliche Haltung schließen lässt: die eines deutschen Patrioten jüdischer Herkunft. In dieser Zeit waren von ihm u. a. Rosenkreuzer und Illuminaten. Historischer Roman aus dem 18. Jahrhundert in vier Teilen (1861), zwei Erzählbände (Vaterländische Geschichten, 1862; Neue Stadtgeschichten, 1865) und die Novelle Ein moderner Abenteurer (1862) erschienen, was das stofflich gesehen breite Spektrum seines Schaffens gut abbildet. Zeitgeschichtliche, verschiedene Gesellschaftsschichten betreffende und im Weiteren analysierte Texte stehen dabei historischen Werken gegenüber, deren Handlungszeit zwar in beiden Fällen das 18. Jahrhundert ist, doch einerseits beschäftigt sich der Autor mit der deutschen 294 Ebd., S. 185. 295 Ebd. 296 Vgl. Ingeborg Harms: Nun, o Unsterblichkeit, bist Du ganz mein. In: FAZ, Nr. 168, 23. 07. 2009, S. 27. 297 Vgl. ebd. 298 Max Ring: Erinnerungen II…, S. 203.
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Geschichte, während er andererseits versucht, anhand der Geschichte zweier Geheimbunde »ein kulturhistorisches Bild des Jahrhunderts der Vergessenheit zu entreißen«299. Mitte der 1860er Jahre erkrankte Ring während einer Reise nach Tirol und Italien an einer Nervenkrankheit so schwer, dass die Ärzte an seinem »Aufkommen zweifelten« und er für längere Zeit seine »gewohnte Thätigkeit aufgeben«300 musste. Die Therapie nahm insgesamt vier Jahre in Anspruch301, doch Rings Zustand verbesserte sich relativ schnell dergestalt, dass er bereits einige Stunden des Tages am Schreibtisch verbringen konnte und so »von Neuem den Segen der Arbeit«302 kennenlernte. In dieser Phase wurde er, wie bereits erwähnt, für ungefähr ein Jahr verantwortlicher Redakteur des »Volksgartens« und schrieb auch den 1867 veröffentlichten sechsbändigen Roman Ein verlorenes Geschlecht, in dem sich oberschlesische Motive wiederfinden, sowie die literarischen Skizzen Lorbeer und Cypresse (1869) mit Texten u. a. über Goethe, Schiller, Hölderlin, Kleist, Johann Christian Günther (1695–1723) und Moses Mendelssohn (1729– 1786). Während des Deutschen Krieges von 1866 zwischen Preußen und Österreich wurde er Zeuge patriotischer Begeisterung in Berlin, die mit jedem preußischen Sieg weiter wuchs303. Dem schnellen Sieg folgte ein allgemeiner Aufschwung in der Stadt, wobei Ring in diesem Wachstum auch Negatives sah: Zugleich entwickelte sich immer stärker und bedenklicher die Sucht nach leichtem, mühelosen Gewinn, die Begierde nach raffinierten Genüssen, eine materielle Richtung in allen Lebensverhältnissen, eine blinde Bewunderung und Anbetung des Erfolges, gleichviel, durch welche Mittel derselbe erreicht wurde.304
Seine Skepsis gegenüber diesen und ähnlichen Entwicklungen brachte Ring in seinem vierbändigen Roman Götter und Götzen (1870) zum Ausdruck, mit dem er »in ein Wespennest stach«305, eine Welle von Kritik auf sich zog und außerdem in eine »krankhafte Hypochondrie«306 verfiel, die Aufenthalte in der Schweiz und in mehreren Seebädern nicht lindern konnten. Daraufhin entschied er sich auf Anraten seiner Ärzte Berlin zu verlassen und im April 1870 nach Eisenach überzusiedeln. Auch wenn er sich hier schnell einlebte, mit dem Romancier und Dichter Fritz Reuter (1810–1874) anfreundete und allmählich seine Kräfte wiedererlangte, holte ihn bald das Tagesgeschehen wieder ein. Mit dem Ausbruch 299 Max Ring: Rosenkreuzer und Illuminaten. Historischer Roman aus dem 18. Jahrhundert. Erster Theil. Berlin 1861, Vorwort, S. Vf. 300 Max Ring: Erinnerungen II…, S. 205. 301 Vgl. ebd., S. 215. 302 Ebd. 303 Ebd., S. 218. 304 Ebd., S. 220. 305 Ebd. 306 Ebd., S. 221.
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des Deutsch-Französischen Krieges von 1870 bis 1871 sah er sich genötigt, nach Berlin zurückzukehren: »Ich fühlte, daß ich nach Berlin gehörte, daß ich nicht müßig dem großen Kampfe zusehen durfte und Alles, was in meiner Macht stand, dem Vaterlande schuldete«307. Die Euphorie dieser Tage überstieg um einiges die Begeisterung von 1866: Alle kleinlichen Streitigkeiten waren vergessen, das politische Gezänke verstummt. (…) Es war eine große, schöne Zeit, wie sie selten in dem Leben eines Volkes wiederkehrt (…). Vor Allem aber erfüllte uns die Einigkeit aller deutschen Stämme, die Verschmelzung der bisher getrennten Brüder zu einem großen starken Volk (…).308
In diesem Jahr schloss Ring auch seine Erinnerungen ab, auch wenn sie erst knapp drei Jahrzehnte später erscheinen sollten. Er sah seine Träume von 1848 wahr werden: »Deutschlands Einheit nach schweren, heißen Kämpfen errungen, die Freiheit gesichert, der Polizeistaat durch den Rechtsstaat beseitigt, das Volk zu einem neuen kräftigen Leben auf allen Gebieten erwacht«309, und auch persönlich war seine Lage ausgezeichnet: nach »lebensgefährlicher Krankheit wieder im Vollbesitz meiner Gesundheit und Kraft, von neuer Schaffenslust erfüllt, im Besitz einer liebevollen Frau und zweier hoffnungsvoller Kinder, umgeben von treuen Freunden und Genossen«310. Doch wie schon 1848 und auch 1866 wurde er aufs Neue enttäuscht und konstatierte bereits bald eine Reihe von Entwicklungen, die seine Stimmung trübten: es wurde »der schnödesten Genußsucht gehuldigt, ein unwürdiger Byzantinismus großgezogen und der Eigenwille einer großartigen, aber despotischen Persönlichkeit zum Schaden für die Freiheit zum Gesetz und zur Norm erhoben«311. Hinzu kam mit dem Tod seiner Tochter ein schwerer persönlicher Schicksalsschlag. All das ließ sein Vertrauen in die Zukunft schwinden und »nicht mehr zur Ruhe und Freude kommen«312, aus einem »sorglosen, leichtherzigen Optimisten [war] ein trauriger, bekümmerter Pessimist«313 geworden. Von den folgenden fast drei Jahrzehnten schrieb er am 4. August 1897, dass sie »ohne schwere Kämpfe und Unglücksfälle«314 verliefen, was aber nicht bedeutet, dass er in dieser Zeit untätig gewesen wäre. In den 70er und 80er Jahren des 19. Jahrhunderts publizierte Ring viele weitere Werke, die vor allem seiner Wahlheimat Berlin gewidmet waren, darunter belletristische (Der Kleinstädter in Berlin, 1873; Neue Stadtgeschichten, 1876; Berliner Kinder, 1883) und biographische Bücher (Carl Sand und seine Freunde. Roman aus der Zeit der 307 308 309 310 311 312 313 314
Ebd., S. 229. Ebd., S. 230. Max Ring: Erinnerungen, Erster Band. Vorwort, S. VI. Ebd. Ebd., S. VII. Vgl. ebd. Ebd. Ebd., S. VIII.
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alten Burschenschaft, 1873; David Kalisch, der Vater des Kladderadatsch und Begründer der Berliner Lokalposse, 1873). Die Entwicklung der Stadt, die er über Jahrzehnte aus nächster Nähe beobachten durfte, beschrieb er in den Spätwerken Berliner Leben. Kulturstudien und Sittenbilder (1882) sowie Die deutsche Kaiserstadt Berlin und ihre Umgebung (1882), das 1987 als Reprintausgabe in Ostdeutschland erschien. Sein 80. Geburtstag soll »in ganz Deutschland mit warmem Interesse gefeiert«315 worden sein, selbst da soll er noch gesagt haben: »Oh, ich bin noch lange nicht fertig – ich arbeite noch immer rüstig fort. Neben meinen Erinnerungen beschäftige ich mich mit vielen anderen Plänen, die ich auszuführen gedenke, wenn mir der Himmel die Kraft und die Gesundheit schenkt«316. Doch dazu kam es nicht mehr. Anlässlich seines 84. Geburtsjahres verlieh ihm der König von Preußen ehrenhalber den Professoren-Titel317. Kurz darauf, am 28. März 1901, verstarb Max Ring im Haus Nr. 52 an der Potsdamerstraße in Berlin, zwischen Kurfürstenstraße und Bülowstraße, wo er seit 1877 lebte. Beerdigt wurde er am 31. März 1901 auf dem Jüdischen Friedhof Schönhauser Allee.
315 Adolph Kohut: Max Ring. Eine litterarisch-biographische Studie…, S. 319. 316 Ebd. 317 Adolph Kohut: Berühmte israelitische Männer und Frauen in der Kulturgeschichte der Menschheit. Lebens- und Charakterbilder aus Vergangenheit und Gegenwart, Zweiter Band. Leipzig–Reudnitz 1901, S. 64.
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Hauptstadt der Langeweile, Stadt der Sünde, Mitte gesamtdeutscher Identifikation. Berlin im 19. Jahrhundert
Aus der Sicht eines Beobachters aus dem 21. Jahrhundert scheint die Geschichte Berlins im 20. Jahrhundert an Ereignissen kaum zu überbieten sein, schließlich durch- und überlebte die Stadt gleich mehrere Staatsformen und wurde sogar mit einer Mauer zweigeteilt, eher sie zur Hauptstadt des wiedervereinigten Deutschlands werden konnte. Doch es war eher das 19. Jahrhundert, welches die Weichen für Berlins Entwicklung stellte, mit allen Licht- und Schattenseiten. 1806 konnte der junge Stendhal (1783–1842), damals napoleonischer Soldat, sein Missbehagen kaum verbergen: »Wie konnte bloß jemand auf die Idee kommen, mitten in all dem Sand eine Stadt zu gründen!«318 In den folgenden Jahrzehnten wird sich wohl wenig an dieser Einschätzung geändert haben, denn noch 1843 bemerkte sein Landsmann Honoré de Balzac (1799–1850): »Stellen Sie sich ein Genf vor, das in einer Sandwüste verloren ist, und Sie haben eine Idee von Berlin. Es wird vielleicht einmal die Hauptstadt von Deutschland werden, aber immer wird es die Hauptstadt der Langeweile sein«319. Doch nicht einmal fünfzig Jahre später wandelt sich die Wahrnehmung, Mark Twain (1835–1910) meint 1891 »die neueste Stadt, die mir je vorgekommen ist«, zu besuchen und fügt hinzu: »Sogar Chicago würde altersgrau dagegen aussehen«320. Diese fünfzig Jahre decken sich ungefähr mit der Zeit, die Max Ring in Berlin verlebte. Nach der kurzen Studienzeit in den Jahren 1838–1840 ging er gezwungenermaßen nach Schlesien zurück, ehe er 1850 endgültig nach Berlin übersiedelte, wo er fast ununterbrochen bis zu seinem Tod 1901 auch blieb. Doch in die Zeit seiner Abwesenheit in Berlin fiel mit der Märzrevolution ein Ereignis, das ihn selbst auch in der Ferne, vor allem aber Preußens Hauptstadt für Jahrzehnte prägen sollte. 318 Karl Voß: Reiseführer für Literaturfreunde – Berlin. Vom Alex bis zum Kudamm. Frankfurt a. M., Berlin 1986, S. 122. 319 Ebd., S. 120f. 320 Ebd., S. 228.
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Hauptstadt der Langeweile, Stadt der Sünde, Mitte gesamtdeutscher Identifikation
2.1
Märzrevolution 1848
Der Ausbruch der Revolution hatte viele Gründe. Zum einen wurde es von der politischen Lage in anderen Ländern beeinflusst, insbesondere von der Februarrevolution in Frankreich. Sowohl dort als auch später in den deutschen Staaten resultierten die Proteste und Demonstrationen der Bevölkerung aus ihrer schweren materiellen Situation. Während in Frankreich besonders die Fabrikarbeiter betroffen waren, litten in deutschen Gebieten vor allem Handwerker und Bauern Not. Da diese Gruppen aber nicht entsprechend organisiert waren, schien das Bürgertum zu einem natürlichen Anführer der Revolution zu werden. Diese Schicht zeigte zwar Interesse daran, die Macht zu übernehmen und die Wirtschaft zu beeinflussen, sie strebte aber nicht unbedingt eine Demokratisierung an, da dies mit der Verwirklichung sozialer Forderungen einhergehen müsste, deren Kosten sie in hohem Maße selbst hätte tragen müssen. In dieser Sachlage wurden andere Gesellschaftsschichten aktiv, in Berlin waren es vorwiegend Handwerker und Studenten, während die sog. Arbeiteraristokratie, die Meister und gut verdienende Arbeiter, sich im Abseits hielten321. Schlüsselcharakter hatten Ereignisse, zu denen es Mitte März in Berlin kam. König Friedrich Wilhelm IV. (1795–1861) machte gegenüber den Demonstranten einige Zugeständnisse (Abschaffung der Zensur, Einführung eines Verfassungssystems) und während einer Protestaktion wurde am 18. März 1848 die folgende Erklärung vorgelesen: Der König will, daß Preßfreiheit herrsche; der König will, daß der Landtag sofort berufen werde; der König will, daß eine Konstitution auf der freisinnigsten Grundlage alle deutsche Länder umfasse; der König will, daß eine deutsche Nationalflagge wehe; der König will, daß alle Zollschlagbäume fallen; der König will, daß Preußen sich an die Spitze der Bewegung stelle.322
Doch diese Proklamation beruhigte die Demonstranten nicht, denn die Armee erschien auf dem Platz und zwei zufällige Schüsse wurden abgefeuert, die zwar niemanden verletzten, aber zu Unruhen und später zur Entstehung von provisorischen Barrikaden führten. Am nächsten Tag traf der König die umstrittene Entscheidung, die Armee aus der Stadt zurückzuziehen, wodurch die Zahl der Opfer reduziert werden konnte. Während der Kämpfe vom 18. bis 19. März kamen 300 Demonstranten sowie 100 Soldaten und Offiziere ums Leben, die 321 Vgl. Manfred Gailus: »Pöbelexcesse« oder Strassenpolitik? Vom großen Protest der »kleinen Leute« um 1848. In: Rüdiger Hachtmann, Susanne Kitschun, Rejane Herwig (Hrsg.): 1848. Akteure und Schauplätze der Berliner Revolution. Freiburg 2013, S. 11–20, hier S. 11ff. 322 Karl Ludwig von Prittwitz: Berlin 1848. Das Erinnerungswerk des Generalleutnants Karl Ludwig von Prittwitz und andere Quellen zur Berliner Märzrevolution und zur Geschichte Preußens um die Mitte des 19. Jahrhunderts, bearb. und mit einer Einleitung von Gerd Heinrich. Berlin 1985, S. 124.
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Märzrevolution 1848
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Unruhen in Berlin zählten »zu den schlimmsten während der gesamten deutschen Märzrevolution«323. Dank seiner Entscheidungen, wie z. B. der Unterstützung für die Einrichtung eines allgemeindeutschen Parlaments, gelang es dem König, die Gunst seiner Untergebenen zurückzugewinnen. In den folgenden Wochen begann eine neue politische Ordnung zu entstehen, die mit den MaiWahlen zur Preußischen Nationalversammlung ihren Höhepunkt fand. Dieses Haus wurde von Liberalen dominiert. Zur gleichen Zeit nahm in der Paulskirche die allgemeindeutsche Frankfurter Nationalversammlung ihre Arbeit auf. Der wichtigste Gegensatz, der sich hier bemerkbar machte, betraf die Demokraten und die Liberalen bzw. ihre Einstellung zur Vereinigung Deutschlands. Während die Demokraten bereit waren, für die Vereinigung einzutreten, wenn das System eines vereinten Landes eine Republik wäre, sprachen sich die Liberalen für eine Monarchie und Vereinigung unter der Flagge Preußens aus.324 Doch die Ereignisse des Sommers, als der preußische König Dänemark angriff, ohne die Frankfurter Nationalversammlung zu konsultieren, erwiesen sich als Anfang vom Ende der Revolution bzw. der Beginn der Konterrevolution, umso mehr, als das Parlament die Entscheidungen des Königs nachträglich ratifizierte. In Preußen erfolgte der Niedergang der Revolution mit der Ernennung des Grafen Friedrich Wilhelm von Brandenburg zum Ministerpräsidenten, der die Preußische Nationalversammlung zunächst bis zum 27. November suspendierte, worauf diese mit der Ankündigung der sog. Steuerverweigerung antwortete. Als Reaktion darauf wurde das Kriegsrecht ausgerufen, die Zivilgarde aufgelöst, politische Clubs geschlossen und radikale Zeitungen verboten.325 Am 5. Dezember erfolgte die Auflösung der Preußischen Nationalversammlung. Die Arbeit des Frankfurter Parlaments resultierte zwar in dem Entwurf einer allgemeindeutschen Verfassung vom 28. März 1849, die das vereinte Deutschland als eine Föderation mit einem erblichen Kaiser vorsah, doch Friedrich Wilhelm IV. wollte kein Herrscher ›von Volkes Gnaden‹ werden und lehnte diesen Vorschlag ab. Das Scheitern der Revolution in Preußen wird zum einen mit der geschickten Sozialpolitik der Behörden in Verbindung gebracht, denn die staatliche Verwaltung hat so weit wie möglich die Mängel beseitigt, von denen die Liberalen viel gesprochen haben, ohne darüber nachzudenken, sie zu korrigieren326. Zu diesen Entscheidungen gehörte u. a. die Abschaffung der Verpflichtungen der Leibeigenen in Schlesien, die Wiederherstellung von Handwerkskörperschaften sowie die Verabschiedung von Gesetzen zum Schutz der Arbeiter vor der Ausbeutung 323 Christopher Clark: Preußen. Aufstieg und Niedergang 1600–1947. München 2007, S. 486. 324 Vgl. Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1806–1866. Band 1: Bürgerwelt und starker Staat. München 1983, S. 610. 325 Vgl. Christopher Clark: Preußen…, S. 492. 326 Vgl. Christian Jansen: Gründerzeit und Nationsbildung 1849–1871…, S. 28.
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Hauptstadt der Langeweile, Stadt der Sünde, Mitte gesamtdeutscher Identifikation
durch Unternehmer. Diese Entscheidungen überzeugten die untersten Bevölkerungsschichten davon, dass der Staat sich besser um sie kümmert als das Bürgertum, das ihnen zwar viel in Aussicht stellte, aber nicht viel davon umsetzen wollte. Der zweite Grund für eine so einfache Niederschlagung der Revolution wird in der inneren Stärke der traditionellen Macht gesehen, deren Hauptmerkmal »die ungebrochene Loyalität und Schlagkraft der preußischen Armee«327 bildete. Denn obwohl die Soldaten häufig von den Gesellschaftsschichten abstammten, die sich an der Revolution beteiligten, so gelang es der Obrigkeit sie doch davon zu überzeugen, dass »sie die Revolution nicht unterdrückten, sondern sie im Gegenteil beschützten, dass sie die konstitutionelle Ordnung gegen die Anarchie und das Chaos der Radikalen sicherten«328.
2.2
Das nachrevolutionäre Berlin
Nach dem Scheitern der Revolution wurden ihre freiheitlichen Errungenschaften wieder zurückgenommen, sodass Ende 1850 die einzige erhalten gebliebene liberale Reform nur noch das Rauchen auf den Straßen erlaubte329. Die Polizei entwickelte sich zu einer paramilitärischen Organisation mit weitreichenden Befugnissen, welche dank eines breiten Netzes von Informanten mit Leichtigkeit jegliche revolutionäre Bestrebung in der Stadt verfolgen und zunichte machen konnte330. Die Repressionen nahmen zu, man entließ sämtliche Angestellte der Staatsverwaltung mit liberalen Ansichten, Lehrer befanden sich unter ständiger Überwachung, durch Inspektionen in Fabriken versuchte man revolutionären Strömungen vorzubeugen und die Presse wurde mithilfe von Steuern und einem neuen Lizenzsystem kontrolliert331. In der Bevölkerung herrschte ein Gefühl der Bitterkeit und Enttäuschung. In den 1850er Jahren setzte auch eine große Emigrationswelle ein, die alle deutschen Staaten betraf und in deren Folge jedes Jahr ca. eine halbe Million Menschen die deutschen Staaten vor allem in Richtung Nordamerika verließen332. Viele von ihnen waren enttäuschte, aber weiterhin
327 328 329 330
Christopher Clark: Preußen…, S. 495. Ebd. Vgl. Alexandra Richie: Berlin. Metropolia Fausta. Warszawa 2016, S. 200. Vgl. Wolfram Siemann: Gesellschaft im Aufbruch. Deutschland 1848–1871. Frankfurt am Main 1990, S. 41. 331 Vgl. Konrad Canis: Die preußische Gegenrevolution. Richtung und Hauptelemente der Regierungspolitik vom Ende 1848 bis 1850. In: Wolfgang Hardtwig (Hrsg.): Revolutionen in Deutschland und Europa 1848/49. Göttingen 1998, S. 161–184, hier S. 165. 332 Vgl. Matthias von Hellfeld: Das lange 19. Jahrhundert. Zwischen Revolution und Krieg 1776 bis 1914. Bonn 2015, S. 104ff.
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Das nachrevolutionäre Berlin
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tatkräftige Idealisten, wie das Beispiel von Carl Schurz (1829–1906) belegt, der in den USA zu einem der bekanntesten Politiker der Republikaner wurde333. Die Dagebliebenen mussten sich dagegen zwangsläufig mit der Obrigkeit arrangieren, was einen Bewusstseinswandel innerhalb des Bürgertums zur Folge hatte: »An die Stelle der im Vormärz von den Liberalen geforderten ›klassenlosen Bürgergesellschaft‹ ist in ihren Programmen nach 1848 immer deutlicher die ›bürgerliche Klassengesellschaft‹ getreten«334. Nur so ist zu verstehen, warum der Staat die Einführung des Dreiklassenwahlrechts durchsetzen konnte, das, eingeführt 1849 mithilfe einer Notverordnung, bis zum Ende der Monarchie im Jahre 1918 und auch für die Kommunalwahlen galt335. Die Klassen wurden nach Steueraufkommen gebildet und stellten jeweils ein Drittel der Wahlmänner, wodurch der politische Einfluss der wohlhabenden Klassen den der anderen um ein Vielfaches überstieg. Auch das passive Wahlrecht knüpfte an finanzielle Bedingungen in Form eines Einkommens von mindestens 300 Talern an, das zu dieser Zeit lediglich fünf Prozent der Einwohner Berlins vorweisen konnten336. In der Folge akzeptierten Teile des Bürgertums die neue Ordnung und distanzierten sich von der bis vor kurzem geltenden Idee der Reformen ›von unten‹ zugunsten des Konzepts »bürokratischer Reformen ›von oben‹, die in Preußen-Deutschland Tradition hatten«337. Für den Verzicht des Bürgertums auf seine Machtansprüche revanchierte sich der Staat mit »weitgehender Förderung seiner materiellen Interessen und der gewaltsamen Vertagung der sozialen Frage«338. In der Überzeugung, mit der Verabschiedung der Verfassung zumindest einen Teilsieg errungen zu haben, kehrten große Teile des Bürgertums zurück zu ihrem Leben von vor der Revolution: mit ihren Posten u. a. als Akademiker oder Beamte genossen sie Ansehen und Privilegien, manche versuchten auch ihre immer noch liberale Weltanschauung in Verwaltungsreformen einfließen zu lassen339. Das 19. Jahrhundert und vor allem dessen zweite Hälfte war für Berlin, wie auch für viele andere europäische Städte wie London, Paris oder Wien340, außerdem die Zeit eines rapiden Bevölkerungswachstums und -wandels. Zählte 333 Vgl. Bernd Stöver: Geschichte Berlins. München 2010, S. 30. 334 Claus-Dieter Krohn: Epoche – sozialgeschichtlicher Abriß. In: Horst Albert Glaser (Hg.): Deutsche Literatur: Eine Sozialgeschichte, Band 7: Vom Nachmärz zur Gründerzeit: Realismus. Reinbek bei Hamburg 1982, S. 11–23, hier S. 13. 335 Vgl. Bernd Stöver: Geschichte Berlins…, S. 30. 336 Vgl. ebd., S. 31. 337 Claus-Dieter Krohn: Epoche – sozialgeschichtlicher Abriß…, S. 13. 338 Ebd. 339 Vgl. Alexandra Richie: Berlin…, S. 203. 340 Vgl. Günther Lottes: Metropole und Revolution. Zu den historischen Voraussetzungen einer europäischen Metapher. In: Roland Berbig, Iwan-M. D’Aprile, Helmut Peitsch, Erhard Schütz (Hg.): Berlins 19. Jahrhundert. Ein Metropolen-Kompendium. Berlin 2011, S. 11–28, hier S. 12.
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Hauptstadt der Langeweile, Stadt der Sünde, Mitte gesamtdeutscher Identifikation
Preußens Hauptstadt 1815 noch ca. 200.000 Einwohner, so verdoppelte sich diese Zahl bis 1845, erreichte 1871 etwa 800.000 und überschritt bereits 1877 die Millionengrenze. Am Anfang des 20. Jahrhunderts lebten in der Hauptstadt des Deutschen Reiches zwei und im Großraum Berlin – um die dreieinhalb Millionen Menschen341.
2.3
Die Industrialisierung
Ein solcher Bevölkerungszuwachs wäre ohne eine prosperierende Wirtschaft nicht denkbar, doch der Grundstein dafür wurde erst zur Mitte des 19. Jahrhunderts gelegt. Berlins Wirtschaft basierte zuvor vor allem auf Textilindustrie, deren Produkte auch ins Ausland verkauft wurden, doch nach 1848 erlebte diese Branche einen plötzlichen Abschwung. Die Entwicklung anderer Wirtschaftszweige erwies sich als schwierig, da es in der Stadt aufgrund ihrer geographischen Lage auch an Rohstoffen mangelte. Zu Hilfe kam der Stadt in dieser Situation eine der wichtigsten Erfindungen dieser Zeit – die Bahn342. Die erste Eisenbahnstrecke Preußens, die Berlin mit Potsdam verband, wurde 1838 eröffnet und nur wenige Jahre später, am Ende der 1840er Jahre gehörte Berlin bereits »zu den großen Eisenbahnknotenpunkten Europas«343, Reisende aus Paris nach Moskau oder aus Mailand, Wien nach Skandinavien mussten hier umsteigen. Für die Bevölkerung des Großraums Berlin war dagegen der daraus resultierende Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs von Bedeutung, der zunächst, »seit 1847 vor allem mit Pferdeomnibussen und Pferdebahnen aufrechterhalten wurde«344. Ab 1871 wurde die 1877 fertiggestellte Ringbahn zum wichtigsten Berliner Verkehrsmittel, da sie die großen Kopfbahnhöfe verband. 1882 kam als Ergänzung die Stadtbahn dazu und ab 1881 verkehrten zusätzlich elektrische Straßenbahnen in Berlin. Nach und nach erschloss die Bahn auch einige Villenviertel345. Parallel zur Entwicklung der Eisenbahn setzte Preußen in dieser Zeit verstärkt auf den Straßenbau und in der Folge verdoppelte sich zwischen 1840 und 1860 deren Länge. Die Straßen Berlins wurden verbreitert und gepflastert. Auch das Berliner Kanalnetz erfuhr eine Modernisierung, was sich positiv auf seine Kapazität auswirkte346. Die Weiterentwicklung der verschiedenen Verkehrsmittel und -wege ging mit dem allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwung einher, die Gegend um die 341 342 343 344 345 346
Vgl. Bernd Stöver: Geschichte Berlins…, S. 27. Vgl. Alexandra Richie: Berlin …, S. 208. Bernd Stöver: Geschichte Berlins…, S. 22. Ebd., S. 38 Vgl. ebd. Vgl. Werner Natzschka: Berlin und seine Wasserstraßen. Berlin 1971, S. 59ff.
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Die gesellschaftlichen Folgen der Industrialisierung
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Chausseestraße und das Oranienburger Tor wurde zum industriellen Zentrum Berlins. Während im Jahre 1800 nur etwa 130 kleine Firmen hier ihren Sitz hatten, stieg diese Zahl im Jahr 1849 auf ca. 2.000347. Vorherrschend waren in dieser Zeit die Eisenbahn- und die Schwerindustrie, gegen Ende des Jahrhunderts kam die Elektroindustrie dazu348, mit Schering, AEG, Siemens, Osram oder AGFA entstanden Unternehmen, die zum Teil bis heute tätig sind349. Die 1837 gegründete Eisengießerei und Maschinenbauanstalt des aus Niederschlesien stammenden Unternehmers August Borsig (1804–1854) baute bis 1854 bereits 500 Dampflokomotiven und wurde 1872 zum größten Lokomotivenhersteller in Europa und zum zweitgrößten weltweit350. Von ihrer nicht nur wirtschaftlichen sondern auch gesellschaftlichen Bedeutung legt die Tatsache Zeugnis ab, dass die größten Unternehmen »ganzen Stadtteilen ihren Namen gaben, etwa Borsigwalde oder Siemensstadt«351. Der wirtschaftliche Aufschwung wurde von der Entwicklung des Bankenwesens begleitet, die Behrenstraße entwickelte sich zum Zentrum des Berliner Bankenviertels352. Da in den Jahren 1851–1857 in Preußen 119 Aktiengesellschaften entstanden, wurde 1863 in der Burgstraße ein neues Gebäude der Berliner Börse eröffnet353. Darüber hinaus florierten auch andere Wirtschaftszweige, Berlin wandelte sich zur Modehauptstadt und zu einem Zentrum des Pressewesens354.
2.4
Die gesellschaftlichen Folgen der Industrialisierung
Doch die als Erfolgsgeschichte daherkommende Erzählung vom Berliner Aufschwung hatte auch ihre Schattenseiten. Der riesige Zuzug, vor allem aus Preußens Osten, hatte eine ganze Reihe von Besorgnis erregenden Entwicklungen zur Folge. Zunächst fehlte es an Wohnräumen für die Zuzügler und als auf der Basis des nach dem Stadtplaner James Hobrecht (1825–1902) benannten und 1862 in 347 Vgl. Alexandra Richie: Berlin…, S. 214. 348 Vgl. Bernd Stöver: Geschichte Berlins…, S. 39. 349 Vgl. Alexandra Richie: Berlin…, S. 214. Siehe auch: Georg Siemens: Der Weg der Elektrotechnik. Geschichte des Hauses Siemens. Freiburg, München 1961; Peter Strunk: Die AEG. Aufstieg und Niedergang einer Industrielegende. Berlin 1999; Miron Mislin: Industriearchitektur in Berlin 1840–1910. Tübingen 2002; Rainer Karlsch, Paul Werner Wagner: Die AGFA-ORWO-Story – Geschichte der Filmfabrik Wolfen und ihrer Nachfolger. Berlin 2010. 350 Vgl. Bernd Stöver: Geschichte Berlins…, S. 39. 351 Ebd. 352 Vgl. Alexandra Richie: Berlin…, S. 219. 353 Vgl. Hans-Heinrich Peters, Marianne Heidenreich, Rolf Schache, Wolfgang Kirn: Wertpapierbörsen. Wiesbaden 1981, S. 21. 354 Vgl. Alexandra Richie: Berlin…, S. 215.
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Hauptstadt der Langeweile, Stadt der Sünde, Mitte gesamtdeutscher Identifikation
Kraft getretenen ›Bebauungsplans der Umgebungen Berlins‹ sog. Mietskasernen zu entstehen begannen, konnte das die angespannte Lage unter den ärmeren Gesellschaftsschichten nur teilweise entspannen, denn diese bis zu sechs Geschosse hohen Gebäude boten ihren Bewohnern nur ganz kleine und lichtarme Wohnungen mit wenig Luftzufuhr355. Dabei handelte es sich beileibe nicht um vereinzelte Musterbauten, sondern um einen riesigen Gebäudekomplex, den Wilhelminischen Ring, einen Mietskasernengürtel, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts um den alten Berliner Stadtkern herum errichtet wurde. Mit dem nicht abreißenden Zuzug in die Stadt stieg auch die ohnehin schon hohe Bevölkerungsdichte vor allem in den eng bebauten ärmeren Stadtvierteln, wodurch Berlin sogar das als negatives Beispiel gesehene London weit überholte. Laut Unterlagen lebten damals in 27.000 Stuben jeweils sieben Personen, in 18.400 – jeweils acht, in 10.700 – jeweils neun und in vielen weiteren – bis zu 20 Personen.356 Die sanitäre Lage war unzureichend, bereits am Ende des 19. Jahrhunderts verfügten erst acht Prozent der Wohngebäude in Berlin über eine eigene Toilette357, das Kanalisationsnetz wurde ab den 1860er Jahren ausgebaut358, sodass an vielen Orten die Abwässer in offenen Gossen die Straßen entlang flossen. Dies hatte Krankheiten zur Folge, wie die Cholera-Epidemie von 1866 oder die Pockenepidemie von 1871359. Da die Mietskasernenviertel zu einem Labyrinth aus Durchgängen, verborgenen Räumen und anderen Verstecken wurden, waren sie auch schwer zu kontrollieren und führten zu einer erhöhten Kriminalitätsrate. Trotz harter Strafen trieben hier weiterhin viele Diebe, Erpresser und andere Verbrecher ihr Unwesen, und trugen so zum Mythos Berlins als ›Stadt der Sünde‹ bei360. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen der damaligen Industriearbeiter ließen zu wünschen übrig: Die Arbeitszeit stieg von 12 bis 14 Stunden am Tag in den 1840er Jahren auf 17 Stunden in den 1870ern. Die Bedingungen waren oft gefährlich und krankheitserregend, die Arbeit – schlecht bezahlt, was unzureichende Ernährung nach sich zog und in Verbindung mit den Wohnbedingungen für eine explosive Mischung sorgte361. Diese Stimmungen versuchten zunächst 355 Vgl. ebd., S. 236. Siehe auch: Johann Friedrich Geist, Klaus Kürvers: Das Berliner Mietshaus 1740–1862. München 1980–1989 (drei Bände). 356 Vgl. ebd., S. 238. 357 Vgl. ebd., S. 239. 358 Vgl. Bernd Stöver: Geschichte Berlins…, S. 33. Siehe auch: Shahrooz Mohajeri: 100 Jahre Berliner Wasserversorgung und Abwasserentsorgung 1840–1940. Wiesbaden 2005. 359 Vgl. Klaus Trappmann: Weh, dass es die gibt, die darben… Zur Geschichte des Berliner Asylvereins. In: Anne Allex, Dietrich Kalkan: Ausgesteuert – ausgegrenzt… angeblich asozial. Berlin 2009, S. 268–278, hier S. 272. 360 Vgl. Alexandra Richie: Berlin…, S. 243. 361 Vgl. ebd., S. 245. Siehe auch: Jürgen Schmidt: Arbeiter in der Moderne. Arbeitsbedingungen, Lebenswelten, Organisationen. Frankfurt/New York 2015.
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Jeder zweite Berliner… Schlesier in Berlin
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die Max Ring bekannten Sozialpolitiker Hermann Schulze-Delitzsch und Ferdinand Lassalle zu kanalisieren, ehe es 1863 zur Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins und 1869 – der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei kam, die sich 1875 zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands zusammenschlossen, aus der 1890 die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) wurde. Doch die sozialen Spannungen betrafen nicht oder nicht in gleichem Maße die ganze Stadt, denn die prekären Lebensbedingungen herrschten vorwiegend in den von Arbeitern und Zuzüglern bewohnten Stadtteilen Wedding, Friedrichshain, Lichtenberg, Prenzlauer Berg, Rixdorf (später Neukölln) oder Kreuzberg362. Das Bürgertum Berlins ließ sich dagegen »seit Mitte des 19. Jahrhunderts vor allem im neuen Westen der Stadt nieder, in Charlottenburg und Wilmersdorf, aber auch im Bayerischen Viertel in Schöneberg«363. Außerdem entstanden viele Villenviertel »im Grunewald, am anderen Ende des Kurfürstendamms, aber auch in Richtung Potsdam, in Friedenau und Dahlem, Lichterfelde und Zehlendorf«364.
2.5
Jeder zweite Berliner… Schlesier in Berlin
Eine nicht zu übersehende Gruppe der Zugewanderten, der auch Max Ring angehörte, stammte aus Schlesien. Menschen aus allen Teilen dieser Region, die Mitte des 18. Jahrhunderts infolge der Schlesischen Kriege preußisch geworden war, zogen auf der Suche nach Arbeit und einem besseren Leben in die preußische Hauptstadt. Mit der fortschreitenden Industrialisierung und späteren Vereinigung Deutschlands im Jahr 1871 intensivierte sich die Migration: Damals entstanden die Arbeiterbezirke um den Schlesischen Bahnhof und das Schlesische Tor. Aus dieser Zeit stammt auch das Sprichwort, jeder zweite Berliner sei ein Schlesier, auch wenn es einem statistischen Vergleich nicht standhalten kann365. Damals zeigte die Bilanz der Migrationsströme bezüglich Schlesien eine negative Tendenz, in vielen Bezirken sank die Einwohnerzahl pro Quadratkilometer: »in Militsch von 60 auf 51 Einwohner, in Namslau von 64 auf 58, in Liegnitz von 79 auf 66, in Löwenberg von 89 auf 83 und in Grottkau von 85 auf 78«366. In den Jahren 1867–1910 verlor der Regierungsbezirk Oppeln fast 362 363 364 365
Vgl. Bernd Stöver: Geschichte Berlins…, S. 33. Ebd., S. 37. Ebd. Vgl. Roswitha Schieb: Jeder zweite Berliner. Schlesische Spuren an der Spree. Potsdam 2012, S. 9. 366 Wojciech Wrzesin´ski: Abwanderung aus Schlesien. In: Klaus Bz´dziach (Hg.): ›Wach auf, mein Herz, und denke‹: zur Geschichte der Beziehungen zwischen Schlesien und BerlinBrandenburg von 1740 bis heute / ›Przebudz´ sie˛, serce moje, i pomys´l‹: przyczynek do
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Hauptstadt der Langeweile, Stadt der Sünde, Mitte gesamtdeutscher Identifikation
250.000 Einwohner, der Regierungsbezirk Breslau fast 220.000 und der Regierungsbezirk Liegnitz 166.000 Menschen aufgrund der Auswanderung; in Oberschlesien betraf dieses Problem nicht nur die Bezirke Beuthen, Zabrze und Kattowitz, auch alle anderen zeigten »Verluste zwischen 11 % (Gleiwitz) und 124 % (Grottkau) über dem natürlichen Zuwachs, was in absoluten Zahlen einen Bevölkerungsverlust von 5.000 bis 40.000 Personen bedeutete«367. Die schlesischen Kontakte zu Berlin und Brandenburg beschränkten sich jedoch nicht nur auf den einseitigen Transfer von Menschen als Arbeitsmigranten. Die schlesische Provinz wurde auch zur Hauptlieferquelle für viele Baumaterialien, die bei der Entwicklung der Hauptstadt Preußens und später des Reiches verwendet wurden. Basalt und Granit wurden für den Bau von Eisenbahnstrecken und Straßen importiert, Sandstein und Marmor, die für den Bau von monumentalen Gebäuden und Denkmälern gebraucht wurden, kamen ebenfalls aus Schlesien. Wegen der enormen Bautätigkeit in der Gründerzeit mussten auch Ziegeln bezogen werden, da ihre Produktion in der Nähe von Berlin die Nachfrage in der Hauptstadt nicht mehr stillen konnte368. Auch Eisen für Brücken und andere Bauwerke, Zink für Zierzwecke und Steinkohle von Firmen der Kohlemagnaten wie Emanuel (1822–1880) und Fritz Friedländer (1858–1917), Caesar Wollheim (1814–1882) oder Guido Henckel von Donnersmarck (1830–1916), einem der reichsten Deutschen seiner Zeit369, kamen aus Schlesien. Darüber hinaus wurden Textilien, Landmaschinen (aus Breslau), Tonröhre für die Kanalisation (aus Münsterberg), Holz- und Glaswaren (aus dem Riesengebirge), Einmachgläser (aus Penzig), Gebrauchsgeschirr (aus Bunzlau, Freiwaldau und Waldenburg) sowie Feinkostprodukte: Pralinen aus Neiße, Kautabak aus Ratibor, Kräuterlikör aus Stonsdorf nach Berlin eingeführt370. Die Migration der Schlesier in die Hauptstadt diente nicht nur dem Zweck einer Verbesserung ihrer schlechten Lebensbedingungen, denn auch Unternehmer, Wissenschaftler und Künstler kamen hierher, denen die Stadt neue Entwicklungsmöglichkeiten bot. Unter den bekanntesten Schlesiern, die im 19. Jahrhundert zumindest zeitweise in Berlin lebten, waren u. a. der bereits erwähnte Unternehmer August Borsig (aus Breslau) und sein Sohn August (1829–1878), der Schriftsteller Gustav Freytag (aus Kreuzburg, 1816–1895), der Schriftsteller Karl von Holtei (aus Breslau, 1798–1880), der Bildhauer August Kiss (aus Paprotzan, heute ein Stadtteil von Tychy, 1802–1865), der Maler Adolph
367 368 369 370
historii stosunków mie˛dzy S´la˛skiem a Berlinem-Brandenburgia˛ od 1740 roku do dzis´. Berlin, Opole 1995, S. 180–189, hier S. 184. Ebd. Vgl. Roswitha Schieb: Jeder zweite Berliner…, S. 11. Vgl. Klemens Skibicki: Industrie im oberschlesischen Fürstentum Pless im 18. und 19. Jahrhundert. Stuttgart 2002, S. 212. Vgl. Roswitha Schieb: Jeder zweite Berliner…, S. 12.
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Berlin wird Hauptstadt des Deutschen Reiches
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Menzel (aus Breslau, 1815–1905), der Architekt Julius Carl Raschdorff (aus Pless, 1823–1914), der Theologe und Philosoph Friedrich Schleiermacher (aus Breslau, 1768–1834) oder die Frauenrechtlerin Agnes Wabnitz (aus Gleiwitz, 1841–1894). Max Ring gehörte wiederum neben dem Organisator der deutschen Arbeiterbewegung Ferdinand Lassalle (aus Breslau, 1825–1864), dem Schriftsteller David Kalisch (aus Breslau, 1820–1872), dem Journalisten Ernst Dohm (aus Breslau, 1819–1883), der Frauenrechtlerin und Sozialaktivistin Lina Morgenstern (aus Breslau, 1830–1909), dem Schriftsteller Felix Hollaender (aus Leobschütz, 1867– 1931) oder dem Kritiker Alfred Kerr (aus Breslau, 1867–1948) zu einer beachtlichen Untergruppe von Schlesiern jüdischer Abstammung, die in Berlin lebten und wirkten. Im Gegensatz zu ihnen war er aber gleich in doppelter Hinsicht ein Außenseiter: als Jude, wie sie, aber auch als Oberschlesier von der äußersten Grenze Preußens. Als sichtbare Spur des heute weitegehend vergessenen371 Einflusses, den Schlesien und die Schlesier auf das soziale und kulturelle Leben Berlins ausübten, bleiben bis heute die Namen von Straßen, Plätzen oder Bezirken (z. B. schlesische Viertel in Friedrichshain/Lichtenberg, Kreuzberg, Schmargendorf, Karow und Bohnsdorf, Straßen u. a. in Schöneberg, Friedenau, Dahlem und Lankwitz372), die mit der ehemaligen preußischen Provinz verbunden sind, welche »die Kultur Berlins wie kaum eine andere bereichert hat«373.
2.6
Berlin wird Hauptstadt des Deutschen Reiches
Vieles änderte sich, nicht nur in politischer Hinsicht, als 1862 der pommersche Junker Otto von Bismarck (1815–1898) zum preußischen Ministerpräsidenten berufen wurde. Von den Idealen der Märzrevolution hielt er gar nichts und beteuerte kurz nach seiner Ernennung in einer bekannten Aussage, dass es ihm nicht auf Preußens Liberalismus, sondern auf dessen Macht ankomme: »(…) nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden – das ist der große Fehler von 1848 und 1849 gewesen – sondern durch Eisen und Blut«374. Doch mehr als ein populistischer Großsprecher war Bismarck ein geschickt agierender Politiker, der es auf tückische Weise verstand, zumindest Teile seiner Gegnerschaft für sich und seine Pläne einzunehmen. Auf der einen Seite setzte er dabei auf eine Wirtschaftspolitik, die auf Liberalismus 371 372 373 374
Vgl. ebd., S. 9. Vgl. ebd., S. 21. Helmut Börsch-Suppan: Künstlerwanderungen nach Berlin. München, Berlin 2001, S. 255. Gerhard Eisfeld: Die Entstehung der Liberalen Parteien in Deutschland 1858–1870. Studie zu den Organisationen und Programmen der Liberalen und Demokraten. Hannover 1969, S. 117.
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und Freihandel ausgerichtet war, was den Interessen der Liberalen durchaus entgegenkam. Und auf der anderen Seite wusste er, die inneren Spannungen »mit der Dampfkraft des Auswärtigen«375 zu bewältigen. Gemeint sind damit die Kriege, die Preußen in den folgenden Jahren erfolgreich bestreiten sollte. Zunächst, 1864, bezwang Preußen zusammen mit Österreich Dänemark und übernahm die Verwaltung Schleswigs. 1866 wandte sich Preußen gegen den einstigen Verbündeten Österreich und gewann die Auseinandersetzung spektakulär, wodurch Österreich aus der gesamtdeutschen Politik verdrängt wurde. Zu Bismarcks Meisterstück wurde der ebenfalls erfolgreich für Preußen ausgegangene Deutsch-Französische Krieg von 1870 bis 1871, den Bismarck mit seiner provokanten ›Emser Depesche‹ zwar selbst herbeiführte, obgleich es, wie von ihm geplant, der französische Kaiser Napoléon III. war, der Preußen den Krieg erklärte. Infolgedessen entstand am 18. Januar 1871 das Deutsche Reich mit Wilhelm I. als ›Deutschem Kaiser‹, doch diesmal nicht ›von Volkes Gnaden‹, wie 1849 beabsichtigt, sondern unter der Führung Preußens. Bismarck, nun Reichskanzler, erreichte dadurch auch sein Ziel, »nach innen die politisch und sozial labilen Verhältnisse auf Dauer [zu] stabilisieren«376. Berlin wurde somit zur Hauptstadt eines neuen Staates mit großen Ambitionen, weswegen seine politische Bedeutung schlagartig stieg, da es nun zum Sitz der Bundesregierung und gleichzeitig des Kaisers wurde. Doch mit der erfolgreichen Politik und der liberalen Wirtschaft ging weder eine Demokratisierung noch eine gesellschaftliche Liberalisierung einher. Vielmehr entwickelte sich die Hauptstadt zum Zentrum einer militarisierten Maschine, in der die Armee den Ton angab377. Diese Tendenz sollte sich in den folgenden Jahrzehnten und vor allem nach der Thronbesteigung durch Wilhelm II. (1859–1941) im Jahre 1888 weiter verstärken. In der Zeit zwischen 1880 und 1913 stieg die Zahl der Offiziere und Soldaten um 100 Prozent378. Der Honoré Gabriel de Mirabeau (1749–1791) zugeschriebene Satz: »Andere Staaten besitzen eine Armee, Preußen ist eine Armee, die einen Staat besitzt«379, hatte also gewissermaßen weiterhin Bestand. Andererseits schien sich das Berliner Bürgertum von dieser Entwicklung nicht beeinflussen zu lassen. Noch 1862, als Bismarck Ministerpräsident wurde, wählten die Berliner »mit Karl Seydel einen bekennenden Liberalen aus der 375 Hermann Oncken: Rudolf von Bennigsen. Ein deutscher liberaler Politiker. Nach seinen Briefen und hinterlassenen Papieren. Zweiter Band. Stuttgart, Leipzig 1910, S. 45. 376 Claus-Dieter Krohn: Epoche – sozialgeschichtlicher Abriß…, S. 17. 377 Vgl. Alexandra Richie: Berlin…, S. 285. 378 Vgl. ebd., S. 285f. 379 Als mögliche Urheber werden auch Friedrich Leopold von Schrötter, August Wilhelm Rehberg und Céleste Stoffel gehandelt – vgl. Victor Cherbuliez: L’Allemagne politique depuis la paix de Prague (1866–1870). Paris 1870, S. 291; Céleste Stoffel: Rapports militaires écrits de Berlin 1866–1870. Paris 1871, S. 398; Hans Rosenberg: Bureaucracy, Aristocracy and Autocracy: The Prussian Experience, 1660–1815. Cambridge 1958, S. 40.
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Fortschrittspartei«380. Und auch in den folgenden Jahren blieb die Hauptstadt in liberaler bzw. linker Hand, sehr zum Leidwesen von Bismarck, der Berlin »wegen der linksliberalen Mehrheiten, die sich in der Reichstagswahl zum Norddeutschen Bund 1867 noch einmal deutlich bestätigten, für politisch absolut unzuverlässig«381 hielt. Gleichzeitig muss aber erwähnt werden, dass das Bürgertum bei weitem keine homogene Schicht mehr darstellte. Im Zuge der Industrialisierung entstand nämlich neben dem klassischen Bildungsbürgertum auch das politisch weniger stabile Besitzbürgertum, dessen Vertreter immer wieder bereit waren, Kompromisse mit der Obrigkeit zu schließen, da sie beispielsweise von öffentlichen Aufträgen abhängig waren. Politisch gesehen gruppierten sie sich in den Reihen der Nationalliberalen Partei, die auf nationale Einigung setzte und Bismarcks Kurs weitgehend unterstützte. Die Vereinigung Deutschlands brachte in Berlin einen wirtschaftlichen Aufschwung mit sich, allein 1872 entstanden fast zweimal so viele Fabriken wie im gesamten Jahrhundert zuvor382. Die davon profitierenden Berliner legten ihr Geld in Immobilien, neue Banken, Chemiebetriebe und Fabriken, die Eisenbahn sowie an der Börse an – die sog. Gründerjahre waren in voller Blüte.383 Doch schon bald sollten sie ein jähes Ende finden, denn bereits 1873 platzte an der Berliner Börse die Spekulationsblase, es fing mit dem Zusammenbruch der Quistorp’schen Vereinsbank, deren Schicksal bald weitere Börsen-, Aktien- und Spekulationsunternehmen teilen sollten384. Wirtschaftlich gesehen konnte dieser Gründerkrach schnell überwunden werden, allein 1874 wurden in Berlin fast 900 neue Firmen gegründet, die Löhne blieben stabil. Andererseits hatte er ungeahnte Langzeitfolgen: viele Betroffene aus dem Mittelstand, die ganze Vermögen verloren haben, suchten nun nach schnellen Lösungen und Schuldigen. Diese fanden sie, wie so oft, im Protektionismus, Nationalismus und vor allem Antisemitismus385. Innerhalb weniger Wochen wurde alles Jüdische zum Ziel von Angriffen: die häufig im Besitz von Juden befindliche Presse beschuldigte man der Verschwörung gegen naive Investoren, es ging das Gerücht um, die angesehenen Familien jüdischer Bankleute und Unternehmer hätten keinen Schaden 380 381 382 383
Bernd Stöver: Geschichte Berlins…, S. 31. Ebd. Vgl. Alexandra Richie: Berlin…, S. 324. Siehe auch: Hans Otto: Gru¨ nderzeit. Aufbruch einer Nation. Bonn 1984; Markus Baltzer: Der Berliner Kapitalmarkt nach der Reichsgründung 1871. Berlin 2007; Christian Jansen: Gründerzeit und Nationsbildung 1849–1871. Paderborn, München, Wien, Zürich 2011. 384 Vgl. Jan Pieter Krahnen, Volker Wieland (Hrsg.): Der deutsche Kapitalmarkt vor dem Ersten Weltkrieg. Gründerboom, Gründerkrise und Effizienz des deutschen Aktienmarktes bis 1914. Frankfurt am Main 2005, S. 40ff. 385 Peter Pulzer: The Rise of Political Anti-Semitism in Germany and Austria. London 1988, S. 21.
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davongetragen386. Diese antijüdische Einstellung zeigten jedoch nicht nur enttäuschte Verlierer des Börsenkrachs, im Laufe der folgenden Jahre wurde sie salonfähig, wovon der sog. Antisemitismusstreit von 1879–1881 Zeugnis ablegt, bei dem sich insbesondere der konservative Historiker Heinrich von Treitschke (1834–1896) auf der einen sowie Althistoriker Theodor Mommsen (1817–1903) und der Marburger Philosoph Hermann Cohen (1842–1918) auf der anderen Seite gegenüberstanden. Initiiert wurde er von Treitschkes Artikel mit der Forderung, »sie sollen Deutsche werden, sich schlicht und recht als Deutsche fühlen – unbeschadet ihres Glaubens und ihrer alten heiligen Erinnerungen, die uns Allen ehrwürdig sind; denn wir wollen nicht, daß auf die Jahrtausende germanischer Gesittung ein Zeitalter deutsch-jüdischer Mischcultur folge«387. Mommsen und viele andere bedeutende Wissenschaftler, Unternehmer und Politiker antworteten darauf sowie auf andere antisemitische Aussagen mit der sog. Notabeln-Erklärung vom 12. November 1880, in der es u. a. hieß: In unerwarteter und tief beschämender Weise wird jetzt an verschiedenen Orten, zumal den größten Städten des Reichs, der Racenhaß und der Fanatismus des Mittelalters wieder ins Leben gerufen und gegen unsere jüdischen Mitbürger gerichtet. Vergessen wird, wie viele derselben durch Fleiß und Begabung in Gewerbe und Handel, in Kunst und Wissenschaften dem Vaterlande Nutzen und Ehre gebracht haben. Gebrochen wird die Vorschrift des Gesetzes wie die Vorschrift der Ehre, daß alle Deutschen in Rechten und Pflichten gleich sind. Die Durchführung dieser Gleichheit steht nicht allein bei den Tribunalen, sondern bei dem Gewissen jedes einzelnen Bürgers.388
Viele der Themen und Ideen, die im 19. Jahrhundert ihren Ursprung hatten und sich auch heute sehr aktuell anhören, sollten zunächst im 20. Jahrhundert zur Entfaltung kommen, zum Teil auf verheerende Weise. Berlin stand dabei häufig, im 20. wie im 19. Jahrhundert, im Mittelpunkt, denn es »sollte alles sein: politisches Zentrum – immer mehr auch für die Weltpolitik –, kultureller Brennpunkt und nicht zuletzt Mitte gesamtdeutscher Identifikation«389.
2.7
Ideenwelt der Epoche aus zeitgenössischer Perspektive
In seinen Texten befasst sich Max Ring durchaus mit zeitgenössischen Strömungen in gesellschaftlicher und sogar politischer Hinsicht. Um diese besser nachvollziehen zu können, wird im Folgenden kurz versucht, auf die von ihm verwendeten Begriffe einzugehen, jedoch nicht aus heutiger Sicht, sondern vor 386 387 388 389
Vgl. Alexandra Richie: Berlin…, S. 335f. Walter Boehlich (Hrsg.): Der Berliner Antisemitismusstreit. Frankfurt a. M. 1965, S. 10. Heinrich Rickert (ohne Namensnennung): Antisemiten-Spiegel. Danzig 1890, S. 19. Bernd Stöver: Geschichte Berlins…, S. 42.
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allem durch Zitate aus Lexika, die um das Jahr 1850 erschienen und die Ring selbst gelesen haben kann. In seinem politischsten Buch, Berlin und Breslau. 1847–1849, Rings Auseinandersetzung mit der noch andauernden Revolution von 1848/49, verweist der Erzähler immer wieder auf den heute kaum begreiflichen Widerspruch zwischen der Demokratie und dem Liberalismus. Eine Erklärung für diesen Gegensatz findet sich gegen Ende eines der Einträge im Großen Conversations-Lexicon für die gebildeten Stände, dem sog. Ur-Meyer, das in den Jahren 1840–1852/1855390 veröffentlicht wurde. Während die Demokratie darin als »Herrschaft des Demos, Volksherrschaft (…)«391 bezeichnet und ohne explizite Anspielungen auf aktuelle Ereignisse auf sechs Seiten weiter erläutert wird, stößt man bei der Lektüre des Eintrags über den Liberalismus unter anderem auf eine Beschreibung der politischen Auseinandersetzungen innerhalb des revolutionären Lagers in den Jahren 1848/49: Die Revolution des Jahres 1848 war plötzlich gekommen, sie entwickelte sich in so rascher Folge der Ereignisse, daß selbst der revolutionären Partei wenig Zeit blieb sich zu sammeln, daß selbst sie im Drange der Verhältnisse sich mehre Uebereilungen zu Schulden kommen ließ, welche sich später grausam rächten. Aber die Partei der eigentlichen Altliberalen war überrascht; sie, welche ihre Wirksamkeit auf einen anwachsenden Fortschritt berechnet hatte, stand nun in Mitten einer Bewegung, welche ihre für die Zukunft geträumte Thätigkeit mit einem Schlag absorbirte. Daß unter diesen Umständen die große Mehrzahl ihrer Mitglieder Zeit zu gewinnen suchte, um erst über die von nun an einzunehmende Stellung sich zu einigen, ist kaum zu verwundern. In diesem Bestreben nun traf sie zusammen mit dem schlau berechneten Plan der Aristokraten; sie wurde von den letzteren als Werkzeug benutzt und so entwickelte sich denn vor unseren Augen das tragi-komische Schauspiel des ersten deutschen Reichstags.392
Ohne die Richtigkeit dieser, vor allem für ein Lexikon, äußerst subjektiven Darstellung der Ereignisse prüfen zu wollen, sei lediglich festgestellt, dass es dadurch zu einer Spaltung innerhalb der Revolutionären gekommen ist, mit entsprechenden Folgen: »Der Name liberal ist in Deutschland seitdem die ausschließliche Parteibezeichnung für die Konservativ-Konstitutionellen geworden. Diejenigen, welche der demokratischen Partei angehören, wollen selbst denselben nicht mehr tragen und sehen es gerne, wenn man ihrer ganzen Faktion die
390 Die erste Ausgabe umfasste insgesamt 52 Bände, 46 Bände A–Z (1840–1852) sowie sechs Supplementbände (1853–1855). 391 Joseph Meyer (Hrsg.): Das große Conversations-Lexicon für die gebildeten Stände. Siebenter Band. Vierte Abtheilung. Hildburghausen, Amsterdam, Paris und Philadelphia 1846, S. 134. 392 Joseph Meyer (Hrsg.): Das große Conversations-Lexicon für die gebildeten Stände. Neunzehnter Band. Zweite Abtheilung. Hildburghausen, Amsterdam, Paris und Philadelphia 1852, S. 239f.
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Benennung der ›radikalen‹ beilegt«393. Wie im Weiteren gezeigt wird, setzt Ring die Akzente etwas anders, seine Sympathie gilt nicht ausschließlich den Demokraten, es bleibt aber festzuhalten, dass der Gegensatz Liberalismus versus Demokratie zu dieser Zeit durchaus seine Berechtigung hatte. Während diese Thematik lediglich in Rings Romandebüt zu finden ist, beschäftigt er sich in mehreren Werken (neben Berlin und Breslau. 1847–1849, vor allem in Handwerk und Studium sowie Ein verlorenes Geschlecht) mit den Ideen des Sozialismus und Kommunismus. Diese Begriffe kommen im Ur-Meyer zwar nicht vor, werden aber im Neuen Konversations-Lexikon für alle Stände erläutert, das in den Jahren 1857–1860/1861394 von Joseph Meyers Sohn, Herrmann Julius Meyer, herausgegeben wurde. Obwohl beide Ideen in einem Eintrag behandelt werden, betont der Autor die wesentlichen Unterschiede zwischen ihnen: »Der Kommunismus ist der Bruch mit der Civilisation, der Socialismus faßt sich als die Vollendung derselben, jener abstrahirt von den gegebenen Zuständen und Verhältnisssen, dieser will von ihnen ausgehend die neue Gesellschaft entwickeln, jener vertritt die Ansprüche des formlosen, dieser die des ausgebildeten Proletariats«395. Bei der Beschäftigung mit der Geschichte dieser Denksysteme werden vor allem französische Theoretiker aufgezählt, die später als Frühsozialisten bezeichnet wurden. In dieser chronologischen Auflistung kommt zunächst François Noël Babeuf (genannt Gracchus Babeuf, 1760–1797) vor, dessen Hauptideen folgendermaßen zusammengefasst werden: die »Gütergemeinschaft als die Unterlage der Gleichheit, die Beseitigung aller Stände, welche nicht der unmittelbaren Produktion dienen, kein Luxus, keine Gelehrten u. Künstler, keine andere Beschäftigung als der Landbau, gleiche Erziehung Aller, auf die einfachsten Fertigkeiten beschränkt«396. Über Henri de Saint-Simon (eigentlich Claude-Henri de Rouvroy, Comte de Saint-Simon, 1760–1825) erfährt der Leser, dass er eine »Wissenschaft der Gesellschaft«397 etablieren wollte, doch von »einem eigentlichen socialen Systeme kann bei Saint-Simon noch nicht die Rede seyn (…)«398. Erst Saint-Amand Bazard (1791–1832) und Barthélemy Prosper Enfantin (1796–1864), Anhänger Saint Simons, hätten seine Lehre geordnet und verbreitet.399 In Charles Fourier (1772–1837) sieht der Autor einen Theoretiker, der einerseits die Ideen des Saint-Simonismus fortsetzt und weiterentwickelt, 393 Ebd., S. 240. 394 Zwischen 1857 und 1860 erschienen die 15 Bände des Grundlexikons, dazu noch bis 1861 ein Wort- und Sachregister, ein Atlasband und ein Tafel-/Stahlstichband. 395 Herrmann Julius Meyer (Hrsg.): Neues Konversations-Lexikon für alle Stände. Neunter Band. Hildburghausen und New-York 1859, S. 1200. 396 Ebd., S. 1203. 397 Ebd. 398 Ebd. 399 Vgl. ebd.
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dessen Lehre aber andererseits »einen streng nationalökonomischen Charakter«400 hat. Die Ansichten Étienne Cabets (1788–1856), nach dessen utopischem Roman Voyage en Icarie auch ikarischer Kommunismus genannt, werden als eine Rückkehr zum Babeufismus aufgefasst, wenngleich mit einigen Unterschieden wie der Verzicht auf Gewalt oder die Aufwertung der Bildung.401 Als »bedeutendste[n] Versuch, den bestehenden Staat zum Executor des Socialismus zu machen«402 wird Louis Blancs (1811–1882) Hauptwerk L’organisation du travail bezeichnet. Unter den von außerhalb Frankreichs stammenden Frühsozialisten werden mit Namen lediglich der Engländer Robert Owen (1771–1858) und der Deutsche Wilhelm Weitling (1808–1871) erwähnt, wobei ein Aspekt im Werk des Letzteren durchaus mit Rings Auffassung des Frühsozialismus korrespondiert. Im 1845 in Bern erschienenem Evangelium eines armen Sünders (auch Das Evangelium der armen Sünder) setzt Weitling nämlich das Leben und Schaffen Christi mit den Ideen des Kommunismus in Verbindung. Dieses religiöse Interesse des Frühsozialismus findet sich ebenfalls im Werk vieler anderer Theoretiker dieser Bewegung, insbesondere Saint-Simon. Der Bezug zu Ring besteht darin, dass in seinen Werken mehrmals solche Analogien vorkommen. Interessanterweise kommen weder bei Ring, noch in den Lexika die Namen von Karl Marx und Friedrich Engels vor, die den Frühsozialismus übrigens kritisierten und »als vorwissenschaftlichen Utopismus abtaten«403. Als geistigen Gegenpol zum Sozialismus bzw. Kommunismus würde man heutzutage den Kapitalismus bezeichnen, doch dieses Wort kommt weder in den angeführten, vielbändigen Lexika noch in Rings Texten vor, obgleich in letzteren manchmal allgemein ›das Kapital‹ oder ›die Kapitalisten‹ erwähnt werden. Diese Feststellung findet ihre Bestätigung in Erkenntnissen zur Etymologie des Kapitalismus, nach denen dieser Begriff in seiner bis heute gültigen Bedeutung erst ab den 1840er Jahren gebraucht wurde, in Texten von u. a. Richard de Radonvilliers, Pierre Leroux, Louis Blanc oder William Thackeray.404 Eine der Ideen, mit denen sich Ring sehr häufig beschäftigt, der Materialismus, wird dagegen im Ur-Meyer nur knapp erläutert, als »diejenige philosophische Ansicht, welche, die Verschiedenheit von Materie und Geist negirend, den Satz aufstellt: Alles existirinde ist materiell, und auch die Seele ist nicht etwas Selbstständiges, Reales, für sich Bestehendes, sondern das gesammte Seelenleben, unser Denken, Wollen und Fühlen, ist nichts als eine bloße Affektion des 400 401 402 403
Ebd., S. 1204. Vgl. ebd. Ebd. Klaus von Beyme: Sozialismus. Theorien des Sozialismus, Anarchismus und Kommunismus im Zeitalter der Ideologien 1789–1945. Wiesbaden 2013, S. 19. 404 Vgl. Ingomar Bog: Kapitalismus. In: Gustav Fischer (Hrsg.): Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaften. Band IV. Stuttgart/New York 1978, S. 419–432.
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Hauptstadt der Langeweile, Stadt der Sünde, Mitte gesamtdeutscher Identifikation
Körpers (…)«405. Auf die in Rings Texten vorherrschende Bedeutung des Materialismus als einer auf finanzielle Profite bedachten Lebenseinstellung wird im Eintrag nicht eingegangen.
405 Joseph Meyer (Hrsg.): Das große Conversations-Lexicon für die gebildeten Stände. Zwanzigster Band. Hildburghausen, Amsterdam, Paris und Philadelphia 1851, S. 999.
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Grundübel der Zeit und eine neue Weltordnung. Die literarische Umsetzung des Zeitgeschehens
3.1
Weltanschauungen
Die meisten der untersuchten Texte Rings entstanden zwischen 1849 und 1878, ihre Handlung spielt ebenfalls überwiegend in dieser Zeit. Es ist, vor allem von 1849, als die Märzrevolution zu Ende geht, bis 1871, als die deutschen Staaten zum ersten Mal in der Geschichte zu einem gemeinsamen Reich vereinigt werden, die Zeit der Gründerjahre und der Nationsbildung. Politisch gesehen wird sie, insbesondere zu Beginn der 1850er Jahre von der voranschreitenden Reaktion geprägt, die aber »trotz der Aufhebung vieler rechtlicher Errungenschaften der Revolution und der Verfolgung ihrer Protagonisten (…) keineswegs die vorrevolutionären Zustände wieder herstellen«406 konnte. Trotzdem müssen sich vor allem die bürgerlichen Anhänger der Revolution neu orientieren, wenn sie in Deutschland bzw. Preußen bleiben. Und da ein fortgesetztes offenes Opponieren Gefahren birgt, entscheiden sich viele für die innere Opposition. Dadurch brechen Zeiten des Pragmatismus ein, der Schein gewinnt an Bedeutung, die Menschen führen immer mehr ein Fassadenleben, wie es Theodor Fontane etwas später in seinen Werken schildern sollte. Literaturgeschichtlich gesehen ist es eine Zeit mit gleich mehreren Strömungen, die gerade zu Ende gehen: Vormärz, Junges Deutschland und auch Biedermeier, die Zeit des Realismus steht bevor. Zu den programmatischen Texten dieser Zeit gehört Adalbert Stifters Vorwort (auch Vorrede) zu seiner 1853 erschienenen Erzählsammlung Bunte Steine, in der er unter anderem folgenden Gedanken formuliert: Es ist das Gesez dieser Kräfte das Gesez der Gerechtigkeit das Gesez der Sitte, das Gesez, das will, daß jeder geachtet geehrt ungefährdet neben dem Andern bestehe, daß er seine höhere menschliche Laufbahn gehen könne, sich Liebe und Bewunderung seiner Mitmenschen erwerbe, daß er als Kleinod gehütet werde, wie jeder Mensch ein Kleinod für alle andern Menschen ist. (…) Es liegt in der Liebe der Ehegatten zu einander in der Liebe der Eltern zu den Kindern der Kinder zu den Eltern in der Liebe der Geschwister 406 Christian Jansen: Gründerzeit und Nationsbildung 1849–1871…, S. 33f.
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Grundübel der Zeit und eine neue Weltordnung
der Freunde zu einander in der süßen Neigung beider Geschlechter in der Arbeitsamkeit (…).407
Max Ring scheint in seinen Werken diesen Teil von Stifters Anweisungen zu beherzigen. Bereits in seinem Romandebüt, Berlin und Breslau. 1847–1849, setzt er sich kritisch mit der Sittlichkeit mancher Revolutionäre auseinander. Den Rahmen für diese Darstellung bietet dem Erzähler der Besuch Dr. Dörners in der Wohnung eines »großen Agitators«408, bei dem auch »zwei Damen«409 zugegen sind, seine Ehefrau und die Freundin Lucie, die Geliebte des Hausherrn. Im Laufe des Gesprächs verkündet der Agitator zudem, er wolle für »das Volk (…) zum wenigsten die Garantie der Arbeit, aber in der Liebe freie Konkurrenz. Es lebe die freie Liebe.«410 Der letzte Satz wird noch zweimal wiederholt. Das ganze Gespräch verleitet den Erzähler dazu, über »diese geniale Zerrissenheit, diese Frivolität im Familienleben«411 zu reflektieren, die er auf die Zeit der Romantik zurückführt: Aus jener Schule, welcher die beiden Schlegels, Tiek, und Novalis angehörten, welche in mittelalterlichen Erinnerungen schwelgte und Treu und Glauben predigte, ging zugleich auch jene schrankenlose Berechtigung der genialen Subjektivität hervor. Der Geist, als solcher war fessellos und durfte alle einengende Bande der Philisterwelt überspringen.412
Dieser Sittenverfall beschränkt sich aber, nach Ansicht des Erzählers, beileibe nicht auf die künstlerisch-literarischen Kreise der Gesellschaft, sondern greift zunehmend auch auf andere Schichten über: Auf diese Weise wurde von den Romantikern die Sittlichkeit des Familienlebens untergraben, die Begriffe von Liebe und Treue verwirrt, das Institut der Ehe angegriffen und vernichtet. Grade diese Schule, welche im gegenwärtigen Augenblicke sich der neuen Entwickelung feindlich gegenüberstellt und ihr den Vorwurf der Unsittlichkeit täglich wiederholt, ist die Mutter der genialen Liederlichkeit unserer Zeit.413
Hierauf folgen einige Bemerkungen mit erkennbar journalistischem Charakter, in seinem Eifer zählt der Erzähler wahre Personen und auch ein literarisches Werk auf, um die dargelegten Thesen nachdrücklich zu untermauern: Die Lucinde, das Leben des Prinzen Louis Ferdinand, Pauline Wesel414, Schlegels Privattreiben, das ganze geistreiche und doch in den höheren Ständen so unsittliche Berlin 407 408 409 410 411 412 413 414
Adalbert Stifter: Bunte Steine. Ein Festgeschenk. Pesth 1853, S. 7. Max Ring: Berlin und Breslau. 1847–1849. Erster Band: Marie. Breslau 1849, S. 154. Ebd. Ebd., S. 160. Ebd., S. 161. Ebd., S. 162. Ebd., S. 162f. Eigentlich Pauline Wiesel (1778–1848), Lebensgefährtin des Prinzen Louis Ferdinand von Preußen, befreundet mit Rahel Varnhagen.
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Weltanschauungen
in der damaligen Zeit, sind eben so viel Beweise für unsere Behauptung. Noch leben Männer und Frauen aus jener Periode, welche diese Ansicht aus eigener Erfahrung bestättigen müssen.415
Alles in allem stellt die Romantik also, nach Meinung des Erzählers, eine Gefahr für die Öffentlichkeit dar. Auch die ansonsten von Ring so wertgeschätzte Bildung erweist sich in diesem Fall als das Sprachrohr falscher Ideen. Interessant ist ferner, dass der Erzähler in der Demokratie, womit in diesem Roman meist, in Abgrenzung zum Liberalismus, der radikale Teil des revolutionären Lagers gemeint ist, einen ungewollten Erben dieser Strömung oder zumindest ihrer Lebensauffassung erkennt: Zu keiner Zeit war die Sittenlosigkeit in Berlin höher gestiegen, als unter der Herrschaft der Romantiker. (…) die zunehmende Bildung verbreitete die Lehren der Romantik und die exquisite geniale Liederlichkeit, welche bisher zu meist in den höheren Kreisen der Gesellschaft ausschließlich, fast allein geherrscht, hatte bald ihren Weg auch in die mittleren und unteren Schichten des Volkes gefunden. Die Demokratie hatte diese Erbschaft der Vergangenheit wie so viele andere angetreten, ohne dafür zurechnungsfähig und verantwortlich zu sein.416
Auch die Zeit des Sturm und Drangs scheint mit ihren Idealen bereits weit entfernt zu sein, wenngleich sich eine der Figuren aus der Erzählung Der Herr Professor, enthalten im letzten Band der Stadtgeschichten von 1876, noch an die Erzählungen ihrer Mutter über die Werther-Euphorie erinnert. Um diese »Schwärmerei« zu verstehen, meint der titelgebende Protagonist der Erzählung, müsse »man sich in den Geist jener Zeit versetzen, die überschwängliche Sentimentalität unserer Vorfahren kennen, das achtzehnte Jahrhundert mit seinem Sturm und Drang sich lebendig vorstellen«417. Und er fügt hinzu: »In unseren Tagen ist ein Mann wie Werther kaum noch denkbar«418. In Rings Werken stellen die gegeneinander austauschbaren Begriffe von Tugend, Anstand, Sitte und Moral die Werte dar, die der Erzähler seinen Figuren als Muster vorgibt. Als Beispiel sei hier Rolf, der Maschinenbauer aus Berlin und Breslau. 1847–1849, angeführt. Nachdem er von der Schwangerschaft Maries mit einem anderen Mann von Dritten erfahren hat, wendet sich der als gutherzig beschriebene Arbeiter von ihr ab. Die Gründe für diese Entscheidung, die ihm nicht leicht fällt, sind nicht so sehr in einer instinktiven Eifersucht, als vielmehr – in der eingeprägten Moral zu suchen, die der Erzähler für angeboren erklärt: »Er hatte Begriffe von Ehre. Der einfache Arbeiter fühlte tief und vermochte trotz der 415 Ebd., S. 163. 416 Ebd. Aufschlussreich ist dabei außerdem, dass Ring die Romantik ausschließlich mit dem Bereich der Sitten assoziiert und sie ferner eindeutig negativ konnotiert. 417 Max Ring: Neue Stadtgeschichten. Erster Band: Der Herr Professor. Leipzig 1876, S. 172. 418 Ebd.
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Lehren, welche er durch communistische Schriften eingezogen, nicht den angebornen Gewohnheit zu verleugnen.«419 Aus heutiger Sicht scheint diese Vorgehensweise auf das ganze Buch bezogen unlogisch zu sein: wenn nämlich die Bildung der jungen Generation den Schlüssel zum eigentlichen Gelingen der Revolution bedeutet, wenn es sich dabei also um das Einprägen einer bestimmten Weltanschauung, eines Wertesystems handelt, die nicht angeboren ist, da sie erst vermittelt werden muss, warum kann dann ein von der neuen, in diesem Fall kommunistischen Lehre überzeugter Arbeiter sich nicht über sein ursprüngliches Wertesystem hinwegsetzen? Rolfs Abwendung von Marie scheint vor allem handlungstechnisch begründet zu sein, denn nur durch ihren vermeintlichen Selbstmord und seine Unwissenheit darüber wie auch über ihre Rettung kann sich die Handlung des Romans weiter entfalten. In Rings Werken ist dieses Wertesystem aus Tugend, Anstand, Sitte und Moral in erster Linie die Munition im Kampf gegen das andere, mit ihm konkurrierende und in der Gesellschaft vorherrschende Wertesystem, bestehend aus den sinnverwandten Begriffen Materialismus, Egoismus und Geld samt allen Abwandlungen. Doch es gibt in Rings Büchern keine klar verlaufende Grenze zwischen diesen beiden Wertesystemen, auch die verdorbene Welt der Materialisten gibt sich tugendhaft und anständig, schließlich ist die vom Autor bzw. den Erzählern seiner Bücher erwünschte Sittlichkeit noch bzw. wieder die gültige Norm. Ein Beispiel für diese Einstellung stellt der Bankier Werth dar, eine Figur aus der Erzählung An der Börse, der mit einer Schauspielerin fremdgehende Ehemann, welcher »nach wie vor für einen Ehrenmann«420 gilt: Er ließ sich nicht das Geringste gegen die anerkannte Moral zu Schulden kommen und genoß nach wie vor die allgemeine Achtung, welche man einem so reichen und angesehenen Mann nicht versagen konnte. Einige Geschäftsfreunde zuckten zwar die Achseln und gaben sich vor ihren Frauen das Ansehen sittlicher Entrüstung, während sie im Stillen den Glücklichen beneideten.421
Diese Situation nicht nur des Mangels an Sittlichkeit, Anstand usw., sondern auch der Verlogenheit, Unaufrichtigkeit, des Scheins, ist beileibe nicht den oberen, besitzenden Schichten vorbehalten, auch wenn es sichtliche Unterschiede bei ihren Vorlieben gibt. Während in Rings Werken die Männer aus der Oberschicht ihre Ehefrauen betrügen, bevorzugt mit Schauspielerinnen oder, wie der Bankier Werth, mit Balletttänzerinnen,422 greifen die Figuren aus der 419 420 421 422
Max Ring: Berlin und Breslau. 1847–1849. Erster Band…, S. 225. Max Ring: Stadtgeschichten. Dritter Band: An der Börse. Leipzig 1852, S. 133. Ebd., S. 132. Siehe auch: Nina Nowara-Matusik: Künstlerin sein… Die Figur der Schauspielerin bei Helena Orlicz-Garlikowska und L. Andro. In: Nina Nowara-Matusik (Hrsg.): Facetten des Künstler(tum)s in Literatur und Kultur. Studien und Aufsätze. Berlin 2019, S. 103–115.
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Unterschicht immer wieder zur Flasche und vernachlässigen dadurch ihre in dieser Zeit häufig noch vielköpfigen Familien, wie Neumann in ChristkindAgnes. Trotzdem bleibt die Ehe ein wichtiges Ideal in dieser Welt, doch nicht alle Protagonisten sind sich dessen bewusst, dass sie »die Frucht der Liebe sein [muss], wenn sie nicht zur Hölle werden soll«423, wie es die junge Frau Julie im Gespräch mit ihrer unglücklich verheirateten Freundin Antonie in der Erzählung Die Geschiedene ausdrückt. Gleichzeitig macht sie der Freundin auch Vorwürfe: »Du hast in der Ehe ebenfalls nur eine Versorgungsanstalt gesehen, einen Freibrief für ein angenehmes Leben, für alle Genüsse des Luxus. Der Mann selbst war Dir die Nebensache; im besten Falle hast Du gehofft, mit der Zeit ihn erträglich zu finden.«424 Einen wesentlichen Teil der Schuld für eine solche Entwicklung tragen nicht nur in diesem Fall die Eltern der jungen Frauen, wie Julie weiter ausführt: »Ich weiß wohl aus eigner Erfahrung, wie unsere Eltern in der heutigen Zeit, bei der Wahl eines Mannes für ihre Töchter, das Hauptgewicht auf seine materiellen Eigenschaften legen.«425 Doch es sind in Rings Texten nicht nur die Betroffenen selbst, die desillusionierten jungen Frauen, welche sich über ihre unglücklichen Ehen beklagen. Eine der Nebenfiguren in Götter und Götzen, Herr Weller, der Geschäftspartner von Kommerzienrat Eduard Schröder, äußert im Gespräch mit seinem Freund die folgende Sichtweise: Laß mich mit seinen sogenannten glänzenden Partien in Frieden, die auf nichts weiter hinauslaufen, als auf eine gemeine Speculation, wobei beide Theile nur auf ihren Vortheil, einzig und allein auf Gut und Geld, auf Rang und Stand sehen, als ob es sich darum handelte, eine Kuh oder ein Pferd zu kaufen, obgleich man sonst bei dem Handel noch mit größerer Vorsicht zu Werke geht. Man verlobt und verheirathet in unserer Zeit nicht zwei Liebende, sondern nur noch zwei Geldsäcke oder zwei Grundstücke, und ich wundere mich nur, daß man nicht in den Zeitungen statt der betreffenden Namen lieber gleich die Summen anzeigt, zum Beispiel die Verbindung von hunderttausend Thalern des Fräulein X mit den Hunderttausend des Herrn D (…). Und da klagt man noch, daß es so viele unglückliche Ehen, miserable Männer, treulose Frauen und misrathene Kinder gibt.426
Er ist einer Mitsprache der Eltern bei der Wahl von Ehepartnern für ihre Kinder zwar nicht gänzlich abgeneigt, meint jedoch, wie zuvor Julie: »Aber die Hauptsache bleibt doch das Herz und der Geist, ob die zu einander passen, und vor Allem, ob auch die wahre Liebe eine solche Verbindung schließt.«427 Es sind aber nicht nur die Protagonisten, die ihre Ansichten über die Ehe äußern, auch der 423 424 425 426 427
Max Ring: Neue Stadtgeschichten. I: Die Geschiedene. Prag und Leipzig 1858, S. 91. Ebd. Ebd. Max Ring: Götter und Götzen. Erster Band. Berlin 1870, S. 189f. Ebd., S. 190.
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Erzähler selbst tut seine Meinung kund, in diesem Fall bezüglich der unglücklichen Verbindung von Antonie: Dergleichen Ehen, welche weit öfter vorkommen als man denkt, gewinnen mit der Zeit, durch die Macht der Gewohnheit, das Ansehen einer vollkommen glücklichen Verbindung und vermögen auch den oberflächlichen Beobachter zu täuschen. Sie gleichen dem trügerischen Sumpf, der sich mit Blumen schmückt, aber nirgends einen festen Halt gewährt. Die Zeit der Prüfung, irgend ein ernsthaftes Ereigniß zeigt ihre Nichtigkeit und die Hohlheit des Grundes, auf dem das Gebäude ruht.428
In diesen Fragmenten konterkariert Ring nicht nur die damals vorherrschende Meinung von der allgemeinen Unterordnung der Frau gegenüber dem Mann in einer Ehe, sondern sieht und benennt auch weitere mögliche Opfer eines solchen Systems, wodurch er es im Ganzen in Frage stellt. In einer solchen Lage bleibt den unglücklich Verheirateten immerhin die Möglichkeit einer Scheidung, auch wenn sie von vielen nicht gern gesehen wird. In Die Geschiedene inszeniert der Autor ein Streitgespräch zwischen Geheimrat Bolten, der mit der Erarbeitung eines neuen Ehegesetzes betraut ist, der unglücklichen Antonie, ihrer Freundin Julie und deren Ehemann, einem Arzt, der dabei eine liberale Position vertritt. Er meint, das Gesetz und somit der Staat müssten die Scheidung eher erleichtern als erschweren, wofür er sich auch wegen beruflicher Erfahrungen einsetzt: Eine Ehe ohne gegenseitige Neigung schadet der Moral weit mehr als die Leichtigkeit, womit ein derartiges verkehrtes Bündniß gelöst werden soll. Aber nicht immer bleibt es bei der bloßen Gleichgültigkeit; wir sehen häufig Haß, Widerwillen und Abneigung die Stelle der Liebe einnehmen. Das ganze Leben wird vergiftet, das Dasein zur Hölle und die Familie (…) befindet sich in einem Zustande chronischer Fäulniß (…)429
Für Bolten hat die Ehe »selbst in ihrer tieffsten Entartung etwas Heiliges; sie erscheint mir als ein unantastbares Sakrament, das nur durch den Tod des einen oder des andern Gatten gelöst werden darf«430. Eine Erleichterung der Scheidung würde nach seiner Meinung »dem Leichtsinn und der Sittenlosigkeit die Thore [öffnen] und (…) das ganze Institut der Ehe in Frage«431 stellen. Der Geheimrat selbst zeigt zwar Verständnis oder meint Verständnis für unglücklich Verheiratete zu zeigen, doch in einer Vereinfachung der Scheidungsgesetzgebung sieht er »die Grundlage des Familienlebens«432 untergraben und in der Konsequenz sogar den Staat bedroht. Bolten schließt sein Plädoyer mit einem Bezug auf bürgerliche Tugenden. Demnach hat der Mensch als Bürger
428 429 430 431 432
Max Ring: Neue Stadtgeschichten. I: Die Geschiedene…, S. 121. Ebd., S. 141. Ebd., S. 140. Ebd. Ebd.
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Pflichten zu erfüllen; nicht sein Wille und Gelüste dürfen herrschen, sondern eine Ordnung und Gesetzmäßigkeit, welche das Wohl des Ganzen stets bezwecken. Wer diesen heiligen Kreis durchbricht, fordert das Unglück und die Strafe heraus, die ihn nothwendiger Weise treffen. Die Liebe ist frei, die Ehe aber gebunden.433
Die Ansichten Boltens lesen sich wie Zitate aus vorangegangenen Epochen, der Weimarer Klassik in der Literatur und des Deutschen Idealismus in der Philosophie. Besonders stark scheinen sie an Johann Gottlieb Fichtes Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre (1796/1797) angelehnt, und vor allem deren ersten Teil, Grundriß des Familienrechts, in dem sich der Philosoph mit der Ehe und den Wechselbeziehungen zwischen den Eheleuten beschäftigt. Die Ehe bezeichnet er dabei als einen natürlichen und moralischen Akt, welcher weder dem Staat noch dem Recht unterworfen ist. Die Eheleute werden von Fichte zwar scheinbar gleichgestellt, doch vor allem ist es die Frau, die auf ihre eigene Persönlichkeit verzichten, sich dem Mann unterordnen und freiwillig Teil seines Lebens und Wesens werden soll, ohne dabei etwas zu verlieren.434 Das Ergebnis des Gesprächs bleibt bei Ring zwar unentschieden, doch die weitere Handlung der Erzählung bringt ein Resultat zugunsten der Ansichten des Arztes. Bolten verliebt sich nämlich in die verheiratete Antonie und so wird die öffentliche Debatte über das von ihm erarbeitete Ehegesetz zu einem inneren Kampf zwischen Pflicht und Liebe. Der Geheimrat verteidigt zwar sein Gesetz, argumentiert dabei »glänzender und überzeugender« wie jemals zuvor, doch »ohne selber überzeugt zu sein«435. Dann tritt aber eine überraschende Wende ein, unter den Zuschauern erblickt Bolten Antonie, er besinnt sich und argumentiert von nun an gegen sein eigenes Gesetz, das am Ende nicht angenommen wird. Bolten setzt damit »Rang, Ansehen, Beförderung«436 aufs Spiel und verliert diese, er wird »in eine entfernte Provinz (…), (…) in eine ziemlich unbedeutende Stelle mit einem geringen Gehalte verbannt«437. Am Ende heiratet Bolten die inzwischen verwitwete Antonie, die dabei feststellt, dass das »wahre Glück (…) nicht auf Reichthum, Rang und Stellung [beruht]; nur die Liebe giebt dem Dasein einen Werth. Alles Uebrige ist eitel und vergänglich«438. Auf der Suche nach Ideen, die über jeden Zweifel und jeden Verdacht erhaben sind, erweist sich auch die Religion in ihrer institutionalisierten Form als wenig hilfreich, häufig sogar als kontraproduktiv. Diese Einstellung ergibt sich nicht zuletzt aus der starken Pluralisierung der Protestanten und den daraus resul433 Ebd., S. 142. 434 Johann Gottlieb Fichte: Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre. Hamburg 1960, S. 367–371. 435 Max Ring: Neue Stadtgeschichten. I: Die Geschiedene…, S. 186. 436 Ebd., S. 187. 437 Ebd., S. 189. 438 Ebd., S. 194.
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tierenden Komplikationen wie auch einer, im Vergleich zu der einheitlichen katholischen Kirche, verminderten Präsenz in der Öffentlichkeit: Es gab die großen theologischen und kirchlichen Richtungen und Frömmigkeitstypen, die Orthodoxie und die Nach- und Neubildungen des Pietismus, die Liberalen und die Vermittler. Es gab die Unterschiede des Bekenntnisses, Lutherische Kirchen, eine Minderheit von eigenständigen Reformierten und die – im frühen 19. Jahrhundert entstandenen – Kirchen der Union der beiden ›Konfessionen‹; diese Union war umstritten, vor allem in Preußen, insofern gab es nicht nur einen Gegensatz lutherischer und unierter Kirchen, sondern auch einen Konflikt zwischen Lutheranern und Unionsanhängern innerhalb der preußischen Kirche, der Union. Schließlich: Der Protestantismus war pluralisiert in Territorial-, in Landeskirchen; sie waren auf das Gebiet eines Staates beschränkt, in diesem Gebiet aber dann die einzige anerkannte Kirche dieser Konfession; sie waren dem Landesherrn zugeordnet und hatten vielfach eine eigene regional-einzelstaatliche Tradition, einen eigenen Geist.439
Max Ring bezieht sich in seinen Werken folglich nicht auf die ganze Institution der Kirche, vielmehr sind es einzelne Figuren, die er Pietisten nennt und immer äußerst kritisch darstellt. Das Beispiel für eine solche Figur bildet bereits in Berlin und Breslau. 1847–1849 der Raschmacher Kramer, kein Geistlicher also, den der Erzähler einen »Stillen im Lande«440 nennt und somit auf eine Bewegung frommer Protestanten des 18. Jahrhunderts anspielt, die »sich vor dem wachsenden Lärm der Aufklärung in ihr Kämmerlein zurückzogen, im Stillen die Bibel lasen, beteten und die trotzdem, oder gerade deswegen, eine bemerkenswerte Wirkung ausübten«441. Der Erzähler meint, die Gruppe wäre »im Sonnenschein der hohen und allerhöchsten Gunst in den letzten Jahren zu Berlin wie Pilze emporgeschossen«442. In einem Kapitel besucht Kramer die kranke Mutter Maries, allerdings erst nachdem die Tochter die Wohnung verlassen hat. Doch statt der kranken Frau beizustehen und ihr Hoffnung auf Besserung zu geben, beschwört er sie, sich auf den Tod vorzubereiten. Auf die Entgegnung, der Arzt habe von einer möglichen Genesung gesprochen, antwortet Kramer, er »kenne nur einen Doktor, welcher Gewalt hat über Leben und Tod, und der ist Jesus Christ«443. Noch viel bedrohlicher wird die Figur eines Predigers in dem Roman Der Kleinstädter in Berlin aus dem Jahr 1873 gezeichnet, der Ich-Erzähler bezeichnet ihn da als »fanatisch« und »zelotisch«. In einem Gespräch mit dem Ich-Erzähler, einem angehenden Schriftsteller, kritisiert der Geistliche »Schiller und Göthe als 439 Thomas Nipperdey: Religion im Umbruch. Deutschland 1870–1918. München 1988, S. 67. 440 Max Ring: Berlin und Breslau. 1847–1849. Erster Band…, S. 60. 441 Werner Ross: Die Stillen im Lande. Wie »heil« ist unsere Welt? In: Die Zeit Nr. 03/1977 vom 7. Januar 1977. https://www.zeit.de/1977/03/die-stillen-im-lande/komplettansicht [Zugriff: 02. 12. 2019]. 442 Max Ring: Berlin und Breslau. 1847–1849. Erster Band…, S. 60f. 443 Ebd., S. 62.
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heidnische Götzendiener, die großen Naturforscher der Gegenwart als Atheisten und Materialisten«444. Das Theater sieht er »als eine Schule aller Laster, als einen wahren Sündenpfuhl«445, was auch auf die darin beschäftigten Personen abstrahlt: »Jeder Schauspieler war in seinen Augen ein verdorbener und verlorener Mensch, jede Schauspielerin nicht besser als eine öffentliche Dirne«446. Bei einem weiteren Gespräch verteidigt der Prediger die Absetzung »eines allgemein verehrten, freisinnigen Theologen«447 und schimpft dazu »auf das aufgeklärte Gesindel, auf die Ketzer, Irrgläubige und Materialisten«448 sowie die Presse. Der IchErzähler spricht dagegen bezüglich des Geistlichen von »neuen Inquisitoren und modernen Ketzerrichter[n]«449, die er in folgender Aussage mit aller Entschiedenheit kritisiert: Ich achte und verehre die guten Priester und wahren Diener des Herrn, welche das Evangelium der Liebe in Worten und Thaten verkündigen, aber ebenso sehr und noch mehr verabscheue ich alle Pfaffen, welche im Namen der Religion nur Haß, Zwietracht und Feindschaft verbreiten, indem sie den Bruder gegen den Bruder, die Frau gegen den Mann, den Vater gegen seine Kinder hetzen und ebenso den Frieden des Staates wie der Familie stören. Um so mehr muß man ein solches Treiben verachten, wenn sich darin nur geistlicher Hochmuth, Herrschsucht und persönliches Interesse offenbart, wenn mit dem Fanatismus die schmachvollste Heuchelei sich verbindet und der Geistliche seinen schönen und heiligen Beruf nur zum Deckmantel seiner gemeinen Leidenschaft mißbraucht.450
Wie bei manchen Themen äußert der Erzähler auch in diesem Fall Worte, die mancherorts auch heute aktuell wären. Gleichzeitig wird dabei deutlich, dass nicht die Religion, der Glaube an sich, sondern lediglich deren falsche, d. h. fanatische Auslegung kritisiert werden. Am eindrücklichsten wird der Kern des Disputs zwischen dem Ich-Erzähler und dem Prediger bei einem Besuch des ersteren in der Kirche. Wie schon in den Gesprächen ereifert sich der Geistliche da über die »zunehmende Sündenhaftigkeit der Zeit«451, vor der er den Kirchenbesuchern mit »dem göttlichen Strafgericht«452 droht. Der Kern steckt aber in der folgenden Bemerkung des Ich-Erzählers:
444 445 446 447 448 449 450 451 452
Max Ring: Der Kleinstädter in Berlin. Zweiter Band. Berlin 1873, S. 99. Ebd. Ebd. Siehe Anm. 421. Ebd., S. 163. Ebd., S. 164. Ebd., S. 165. Ebd., S. 165f. Ebd., S. 89. Ebd.
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Am schlimmsten aber eiferte er gegen die menschliche Vernunft, gegen jeden geistigen Fortschritt, die er als die Hauptquellen aller unserer Sünden und der heutigen Verderbniß verdammte. Nach seiner Meinung gab es nur ein Heil, nur eine Rettung – der unbedingte Glaube, die gänzliche Verleugnung der eigenen Ueberzeugung und die blinde Annahme der kirchlichen Dogmen und Satzungen.453
Der Ich-Erzähler akzeptiert es demnach nicht, bevormundet zu werden. Man kann es auch versuchen, aus dieser Aussage des Ich-Erzählers auf seine Weltanschauung zu schließen: die Rolle der Kirche scheint darin auf die Funktion eines Begleiters der gesellschaftlichen Entwicklung beschränkt, der sich der Vernunft keinesfalls in den Weg stellen darf. Die Tatsache, dass der Ich-Erzähler aus Der Kleinstädter in Berlin als einzige Figur in allen zeitgeschichtlichen Texten Rings über die Rolle der Kirche reflektiert, und das nur am Rande, zeigt, wie selten diese Problematik in Rings Werken erörtert wird und somit welch niedrige Bedeutung der Autor dieser Thematik beimisst. Ganz ähnlich stellt sich die Lage im Fall der damals entscheidenden politischen Entwicklungen auf dem Gebiet Deutschlands und insbesondere in Preußen dar. Nach dem Debütroman, in dem die Frage der Revolution und somit auch des wichtigsten politischen Ereignisses dieser Zeit behandelt wurde, verschwindet die Politik aus den Werken Rings und wird nie wieder ähnlich umfangreich besprochen. Eines der möglichen Gründe ist die Zensur, doch lässt sich heute nicht mehr feststellen, ob seine Werke zensiert wurden und wenn ja, in welchem Ausmaß (nicht auszuschließen ist auch eine selbstzensorische Vorsicht des Autors selbst). Die einzigen Belege liefern seine Erinnerungen.454 Doch sein Elan diesbezüglich kehrt auch dann nicht wieder, wenn die großen Umwälzungen dieser Zeit anstehen, in Form des preußisch-österreichischen Krieges von 1866, des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71 und schließlich der Gründung des Deutschen Reiches im Jahre 1871. Zu den wenigen zeitgeschichtlichen Werken Rings, in denen diese Themen am Rande angesprochen werden, gehört eine Erzählung aus der letzten Sammlung der Stadtgeschichten von 1876, auch wenn der Titel, Durch Kampf zum Frieden, anderes suggeriert. Die Handlung beginnt zwar im Juli 1870, kurz vor Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges, spielt aber nicht nur auf den Schlachtplätzen, sondern vorwiegend in einem schlesischen Bad. Die Kriegserklärung selbst wird »von Vornehm und Gering, von Jung und Alt, von allen Einwohnern und Gästen des Bades laut begrüßt«455. Die im Weiteren folgende Beschreibung der im 453 Ebd., S. 89f. 454 Vgl. Max Ring: Erinnerungen, Erster Band…, S. 194ff. 455 Max Ring: Neue Stadtgeschichten. Dritter Band: Durch Kampf zum Frieden. Leipzig 1876, S. 104.
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Bad vorherrschenden Stimmung weist zunächst einen lediglich beobachtenden Charakter auf, mit noch vorsichtigen Versuchen vorauszublicken: Trotz der ernsten Lage und der unausbleiblichen Besorgnisse sah man jedoch auf allen Gesichtern den Ausdruck freudiger Begeisterung, eines hohen Enthusiasmus, der sich in Worten und Blicken kund that. Arm in Arm zog singend ein Trupp kräftiger Burschen durch die Straßen, um nach dem nächsten Sammelplatz der eingerufenen Mannschaft zu marschiren. Hier umarmte eine Mutter ihren Sohn, dort eine weinende Frau den bärtigen Landwehrmann, der seinen jüngsten Buben an das Herz drückte, das vielleicht schon nach einigen Tagen eine feindliche Kugel durchbohren wird.456
Daraufhin gibt es aber eines der wenigen Fragmente, in denen vom Erzähler in feierlichen Worten das nationale Zusammengehörigkeitsgefühl beschworen wird, bis hin zu quasireligiösen Vergleichen: Die allgemeine Aufregung hatte trotz der Trauer etwas Berauschendes, so daß der Einzelne darüber sein Leid vergaß und von dem Sturm der Begeisterung mit fortgerissen wurde. Vor der gemeinsamen Gefahr schwanden alle egoistischen Gedanken und Befürchtungen und in der Liebe zu dem bedrohten Vaterland verlor sich jeder besondere Wunsch, jedes eigene Interesse wie ein Tropfen im bewegten Meer. Es war ein großer, ein heiliger Augenblick, wie er nur selten im Leben eines Volkes wiederkehrt.457
Gleichzeitig lässt der Erzähler an manchen Stellen auch eine satirisch gefärbte Distanz zu seinem Stoff erkennen, wie in der folgenden Beschreibung: »Auch der blasirte Diplomat fühlte plötzlich eine Anwandlung patriotischer Begeisterung und sittlicher Entrüstung gegen das frivole französische Volk, selbst gegen die kleine Tänzerin, mit der für immer und ewig zu brechen er sich gelobte.«458 Andere hochtrabende Aussagen werden durch unprätentiöse Antworten konterkariert, wie im folgenden Dialog: »Ach mein Freund! Was bedeutet in solcher Zeit das Leben des Einzelnen, wo Tausende untergehn, Reiche stürzen und ein ganzes Volk dem göttlichen Strafgericht erliegt. Es giebt eine Nemezis, eine himmlische Gerechtigkeit!« »Vor lauter Moral scheinst Du die Hauptsache zu vergessen.«459
Am Ende der Erzählung findet eine dreifache Hochzeit statt, bei der die Gäste »ein Lebehoch dem Kaiser, dem neuen deutschen Reich und den Neuvermählten«460 anstimmen, während eine der Figuren den folgenden Wunsch äußert: »Nach so schweren Leiden, nach diesen innern und äußeren Kämpfen bedürfen wir der Ruhe. Möge ein langer, dauernder Frieden uns und die ganze Welt 456 457 458 459 460
Ebd., S. 124. Ebd., S. 124f. Ebd., S. 104. Ebd., S. 158. Ebd., S. 186.
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Grundübel der Zeit und eine neue Weltordnung
beglücken und die Wunden heilen, die der Krieg ihr und uns geschlagen hat.«461 Diese Meinung scheint sowohl dem Erzähler, als auch dem Autor selbst nahezuliegen, der in seinem Reisebuch In der Schweiz, in einem Fragment über den Revolutionskrieg nahezu pazifistische Töne anklingen lässt: »Unwillkürlich sprachen wir den Wunsch aus, daß ein solches Schauspiel sich niemals wiederholen möge, daß endlich die benachbarten Völker zur Erkenntnis ihrer wahren Interessen kommen und sich nicht zum Spielball ihrer Herrscher hergeben sollten.«462 Gleichzeitig klingt in diesem Satz auch die für den Biedermeier charakteristische Flucht ins Idyll und ins Private an. Alles in allem ist es bezeichnend, dass Ring dem großen Thema dieser Zeit, der Vereinigung Deutschlands und Gründung des Deutschen Reiches, nicht einen mehrbändigen Roman widmet, sondern lediglich eine längere Erzählung, deren Handlung er dazu fern der wichtigen Schauplätze lokalisiert.
3.2
Revolution und ihre Kinder
Kaum ein historisches Ereignis hat das Leben von Max Ring mehr geprägt, als die Märzrevolution des Jahres 1848. Wie bereits erwähnt, wurde er noch Jahrzehnte später in einer Würdigung seines Schaffens ein »Achtundvierziger von altem Schrot und Korn«463 genannt. Seine Unterstützung für die Revolutionäre in Form von Artikeln in der Gleiwitzer Presse sollte auch ganz konkrete und weitreichende Konsequenzen für sein Leben haben, schließlich musste er Oberschlesien für immer verlassen. In der Folge übersiedelte er nach Breslau und nur wenig später nach Berlin. Es ist zwar heute nicht mehr zu klären, ob sein Leben ohne die Ereignisse des Jahres 1848 die gleiche und nebenbei auch von ihm selbst erwünschte Wendung genommen hätte, doch zweifellos beschleunigte die Revolution auch seine persönliche Entwicklung. Dabei stellt sich die Frage, inwiefern Ring diese Thematik in seinen Werken behandelt. Abgesehen von seinen Erinnerungen, in denen er ausführlich auf die Begebenheiten des Jahres 1848 eingeht464, fällt dabei vor allem sein Prosadebüt aus dem Jahr 1849 auf, der Roman Berlin und Breslau. 1847–1849. Die beiden Bände des Romans sind mit den Namen zweier Protagonistinnen (Marie, Wanda) untertitelt, deren von der Revolution beeinflussten Schicksale den Rahmen der Handlung bilden. Die 19-jährige Marie, die in »einem kleinen Stübchen auf der Niederwallstraße«465 mit ihrer kranken Mutter lebt und mit dem 461 462 463 464 465
Ebd., S. 184f. Max Ring: In der Schweiz. Reisebilder und Novellen. Erster Band. Leipzig 1870, S. 51. Adolph Kohut: Max Ring. Eine litterarisch-biographische Studie…, S. 319. Siehe Kapitel 1, S. 42ff. Max Ring: Berlin und Breslau. 1847–1849. Erster Band…, S. 1.
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Sticken ihren Lebensunterhalt bestreitet, ist eine der Hauptfiguren im ersten Band, während die Adelige Wanda von Selz, die bereits im ersten Band erscheint, zur Hauptfigur des zweiten Bandes wird. Der Klassenunterschied zwischen den beiden Frauen determiniert auch ihr Schicksal. Marie wird von Baron Karl von Kronheim, dem Sohn eines pensionierten Majors, verführt. Als dieser erfährt, dass sie schwanger ist, bricht er jeglichen Kontakt zu ihr ab. Marie vermag es nicht, sich ihrem Verlobten Rolf, einem Maschinenbauer aus den Borsigwerken, anzuvertrauen und als sie durch den Tod ihrer Mutter von einem weiteren Schicksalsschlag getroffen wird, schreibt sie zwei Abschiedsbriefe (an Rolf und Karl), geht ans Spreeufer und wirft sich in den Fluss, womit der erste Band endet. Kronheim hat derweil Wanda kennengelernt, die er für sich einzunehmen versucht, da er sie für eine gute Partie hält. Rolf erleidet dagegen einen Nervenzusammenbruch und kommt in ein Krankenhaus. Doch es stellt sich heraus, dass Marie gerettet werden konnte, und da sie Wanda kennenlernt und ihr ihre Geschichte erzählt, bricht die Gräfin ihre Verlobung mit Kronheim. Außerdem macht sie die Bekanntschaft des Demokraten Dr. Dörner, mit dem sie immer mehr Zeit verbringt, was nicht unbemerkt bleibt. Von ihrem Vater wird Wanda deswegen gezwungen, Berlin in Richtung Breslau zu verlassen, doch zufälligerweise trifft Dörner ebenfalls dort ein. Aufgrund der zunehmenden Verfolgung der Revolutionäre muss er weiterfliehen und schlägt ihr vorher vor, ihn zu begleiten. Wanda willigt ein, sie kommen nach Cannstatt in Württemberg, wo sie zusammen mit Marie eine Erziehungsanstalt für Kinder leiten. Am Ende erscheint ein »unglücklicher Freischärler«466 vor ihrer Tür, der sich als der totgeglaubte Rolf entpuppt. Erst jetzt erfährt er, dass Marie am Leben ist, und wird »wie ein Bruder von seinen Freunden«467 aufgenommen. Diese stark auf Liebesbeziehungen der Protagonisten ausgelegte Handlung468 läuft vor dem Hintergrund großer gesellschaftlicher und politischer Umwälzungen ab, die sich bereits im Vorfeld der eigentlichen Revolution ankündigen. Der Erzähler sieht dabei Gemeinsamkeiten mit der Lage in vorrevolutionärem Frankreich469: »Dieselbe Unzufriedenheit in allen Schichten der Gesellschaft, dieselbe drückende Gewitterschwüle in der geistigen Welt, welche großen und 466 Max Ring: Berlin und Breslau. 1847–1849. Zweiter Band: Wanda. Breslau 1849, S. 253. 467 Ebd. 468 Max Ring war dabei nicht der einzige Autor, der die Handlung seiner Romane auf diese Weise konstruierte, vielmehr handelt es sich um eine für die damaligen Unterhaltungsromane übliche Strategie. Vgl. Magdalena Popławska: Bilder der einsamen Frau im Werk der Vormärzschriftstellerinnen…, S. 326. 469 Interessanterweise waren es zu dieser Zeit vor allem Karl Marx und Friedrich Engels, die die Revolutionen von 1789 und 1848 vergleichend analysierten. Siehe: Walter Schmidt: 1789 und 1848 im historischen Revolutionsvergleich bei Marx und Engels in der Zeit der Auswertung der Revolutionserfahrungen von 1848/49. In: Beiträge zur Marx-Engels-Forschung, Bd. 16, 1984, S. 93–100.
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erschütternden Weltbegebenheiten voranzugehen pflegt, vermehrte noch die Ähnlichkeit der gegenwärtigen Epoche, mit der vergangenen.«470 Doch im Gegensatz zu Frankreich des ausgehenden 18. Jahrhunderts gibt es nun in den deutschen Gebieten zur Mitte des 19. Jahrhunderts eine neue Schicht, die entschlossen um ihre Rechte kämpft: »Der vierte Stand, fälschlich das Proletariat genannt, erschien mit seinen Ansprüchen auf dem Schauplatz und forderte die Rechte, welche der dritte schon besaß.«471 Doch auch der dritte Stand, das Bürgertum also, ist mit der ihm vom Adel zugedachten Rolle unzufrieden, da er »von der Mitregierung ausgeschlossen«472 wurde. Einen weiteren wesentlichen Grund für die Verbitterung des Bürgertums sieht der Erzähler im »Absolutismus des Polizei- und Beamtenstaats«473. An anderen Stellen führt er seine Sicht auf diese beiden Staatsbereiche weiter aus, über die Polizei in vorrevolutionärem Berlin äußert er sich beispielsweise folgendermaßen: Das Verfahren der Polizei im Jahre 1847 war für das Volk erniedrigend. Sie handelte mit einer Willkür, welche sie zum Gegenstand des allgemeinen Hasses machte. Sie übte ihr ohnedies mißliebiges Amt in einer Weise aus, welche verletzend war. Daher richtete sich die Revolution vorzugsweise gegen ihre Herrschaft. Beschwerden halfen nicht, selten wurden sie gehört.474
Zu den in dieser Zeit häufig von der Polizei ergriffenen Maßnahmen zählt er beispielsweise »willkürliche Verhaftungen« sowie die Erpressung der »Geständnisse durch Ueberraschung und List«475. Ähnlich geht im Roman der Polizeirat mit den beiden Verhafteten, Dr. Dörner und Rolf, um, indem er versucht, sie zu einem Geständnis zu zwingen.476 Der Beamtenstaat manifestiert sich dagegen für den Erzähler u. a. in der »preußischen Beamtenkrankheit, der Sucht, eine Karriere zu machen«477. Diesem scheinbar natürlichen Zug des menschlichen Charakters widmet der Erzähler eine längere Passage, in der er den Weg in den Beamtenstaat beschreibt, nicht ohne auf die eigene Sicht aufmerksam zu machen:
470 Max Ring: Berlin und Breslau. 1847–1849. Erster Band…, S. 75. 471 Ebd. 472 Ebd. Da Rings Roman noch während des Revolutionsgeschehens entstand und unmittelbar danach erschien, lassen sich heute nicht mehr alle darin enthaltenen Thesen aufrechterhalten. Andererseits bietet er einen weitgehend unverstellten Blick auf diese Ereignisse, auch wenn der Erzähler immer wieder Partei ergreift und mit den Revolutionären sympathisiert. Seine Einstellung ist dabei in idealistischen Kategorien zu verankern. 473 Ebd. 474 Ebd., S. 87. 475 Ebd., S. 97. 476 Vgl. ebd., S. 98. 477 Ebd., S. 28.
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Dieses Uebel ist so tief eingewurzelt, ein solcher Krebsschaden unserer Gesellschaft, daß wir seine nähere Schilderung nicht übergehen dürfen. Wenn der Jüngling auf der Universität die ersten Studienjahre im heitren Lebensgenuß, oft in wilder Schwelgerei vollbracht, erscheint ihm in dem letzten Semester der goldenen Zeit der Gedanke an seine Karriere wie ein mahnendes Gespenst. Nun wird in wilder Hast studirt, um das Examen glücklich zu bestehn. Die Pforten des Staatsdienstes öffnen sich und hinter dem Eintretenden schließt sich die Welt mit ihren großen Interessen. Nur ein Ziel steht jetzt vor Augen, die Karriere.478
Seine Darlegung, die der Beschreibung einer seiner Figuren, des Barons von Kronheim, vorangestellt ist, schließt der Erzähler mit einer endgültigen Abrechnung mit dem Beamtenstand ab: Ihr [der Karriere] wird die Ueberzeugung, die Männerwürde aufgeopfert, ihr die Freiheit des Herzens und des Geistes hingegeben. Der Staatsdienst kostet der Menschheit mehr, als sich berechnen läßt. Er verschlingt die besten Kräfte und die edelsten Triebe. Die Bureaukratie mit ihrem Rang- und Titelwesen war zu allen Zeiten die stärkste Handhabe des Absolutismus. Ihr verdanken wir jenes starre Mönchswesen des Beamtenthums.479
Zu diesen Gründen kommt aufseiten des Bürgertums auch die »Opposition gegen die mittelalterlich-romantische Richtung des Monarchen«480, womit der seit 1840 als König von Preußen regierende Friedrich Wilhelm IV. (1795–1861) gemeint sein müsste, der in dieser Zeit die Königswürde als gottgewollt ansah und keine Beschränkung seiner Macht akzeptieren wollte.481 Der König prägte auch das geistige Leben Preußens, durch seine Korrespondenz mit den intellektuellen Größen des Landes, insbesondere mit Alexander von Humboldt482, aber auch als Figur oder Adressat in den zeitgenössischen Veröffentlichungen, wie Bettina von Arnims sozialkritische Werke Dies Buch gehört dem König (1843) und dessen Fortsetzung Gespräche mit Daemonen. Des Königsbuchs zweiter Teil (1852), David Friedrich Strauß’ ironische Schrift Der Romantiker auf dem Thron der Cäsaren, oder Julian der Abtrünnige (1847) oder Joseph von Eichendorffs unvollendetem Drama Das Incognito (1840–1843). Der Erzähler schreibt von einem Zusammenschluss des dritten mit dem vierten Stand, des Bürgertums mit den Arbeitern. Interessanterweise assoziiert er die fortschrittlichen Vertreter der ersten Gruppe mit dem Liberalismus und der 478 479 480 481
Ebd., S. 28f. Ebd., S. 29. Ebd., S. 75. Vgl. Frank Lothar Kroll: Staatsideal, Herrschaftsverständnis und Regierungspraxis. In: Jörg Meiner, Jan Werquet (Hrsg.): Friedrich Wilhelm IV. von Preußen. Politik – Kunst – Ideal. Berlin 2014, S. 18–30, hier: S. 26. Siehe auch: Frank-Lothar Kroll: Friedrich Wilhelm IV. und das Staatsdenken der deutschen Romantik. Berlin 1990. 482 Siehe auch: Ulrike Leitner (Hrsg.): Alexander von Humboldt / Friedrich Wilhelm IV., Briefwechsel (Beiträge zur Alexander-von-Humboldt-Forschung, 39). Berlin 2013.
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zweiten – mit der Demokratie: »Bis zum Ausbruche der Märzrevolution ging der Liberalismus mit der Demokratie darum Hand in Hand.«483 Als Beispiel für diese Zusammenarbeit nennt er die Unterstützung der Arbeiterbewegungen durch die Liberalen in Form der Bildung, Verbreitung freisinniger Schriften oder des Stiftens von Gesangklubs. Diesen beiden Schichten steht im Roman unversöhnlich der Adel gegenüber, auch wenn es einige wenige Figuren gibt, wie Wanda von Selz, die die Forderungen der Gegenseite verstehen oder sogar unterstützen. Doch vorherrschend ist die Einstellung, welche Wandas Vater, Graf von Selz, in folgender Aussage zum Ausdruck bringt: Ein König darf mit rebellischen Unterthanen niemals unterhandeln. Er hat sich Alles vergeben. Sie werden die Folgen sehn. Die Heiligkeit der Krone ist vernichtet und in den Staub getreten. Wir werden furchtbare Tage erleben. Das Volk wird sich nicht beschränken. Es hat seine Kraft kennen gelernt, eine Schranke gestürzt. Bald wird es ihm gelüsten, den ganzen Bau einzureißen; denn Zerstörung ist sein eignes Element.484
Die überwiegende Mehrheit des Adels ist von ihrer einzigartigen und unantastbaren Stellung überzeugt, die keine Revolution dauerhaft untergraben kann. Dies zeigt sich am besten während einer Debatte in der Nationalversammlung über die Abschaffung der Ständeprivilegien. Einer der Teilnehmer beschreibt da die Rolle des Adels wie folgt: Der Adel wird ewig, wird unsterblich sein (…). Er ist der Träger der Geschichte bei allen Völkern gewesen. Jede große That ward von ihm vollbracht. Seine Kämpfe leben im Gesange im Munde des Volkes. (…) Wehe denen, die seine heiligen Rechte antasten und an seine Krone fassen.485
Bei einer solchen Einstellung der beiden Lager erscheint eine Zuspitzung der Lage unweigerlich. Die Ereignisse, die dem Ausbruch der Märzrevolution vorausgingen, wie der Ausbruch der Revolution in Frankreich oder die Unruhen in Österreich, rafft der Erzähler auf etwas mehr als einer Seite. Außerdem zählt er auch die Forderungen auf, die an den König gestellt wurden: »Anträge auf freie Ständeverfassung, Entfernung des Militairs, Abdankung des Ministeriums, Bewaffnung der Bürgerschaft, Einrichtung der Schwurgerichte und Gleichheit aller religiösen Kulte«486. Ähnlich wie die Historiker487 beschreibt der Erzähler den eigentlichen Ausbruch der Revolution. Noch bevor auf dem Schlossplatz Schüsse fallen, greift die Armee bereits die Demonstranten an: »Die Kavallerie rückte 483 484 485 486 487
Max Ring: Berlin und Breslau. 1847–1849. Erster Band…, S. 75. Ebd., S. 117. Max Ring: Berlin und Breslau. 1847–1849. Zweiter Band…, S. 125. Max Ring: Berlin und Breslau. 1847–1849. Erster Band…, S. 100. Vgl. Rüdiger Hachtmann: Berlin 1848. Eine Politik- und Gesellschaftsgeschichte der Revolution. Berlin 1997, S. 156.
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näher und näher. Man hörte den dröhnenden Huffschlag der Pferde auf dem Plaster. Man sahe schon die Schwerdter blinken. Es wurde scharf auf die wehrlose verworrene Masse eingehauen.«488 Die Revolution beginnt, in Berlin entstehen Barrikaden, es gibt Verletzte und auch Tote. Der Erzähler lässt zwei seiner Figuren direkt an den Unruhen teilnehmen: Dr. Dörner und Rolf. Durch Dörners Verletzung ergibt sich handlungstechnisch die Möglichkeit eines Kennenlernens zwischen ihm und Wanda, was für die Handlung des Romans von großer Wichtigkeit ist. Sowohl im Falle von Dörner, als auch später von Rolf setzt der Autor das Motiv der Liebe ein, der zum Auslöser der Handlung wird. Bereits nach wenigen Wochen, während der sich Dörner wegen seiner Verletzung nicht aktiv am Geschehen beteiligen konnte, zeigt sich ein verändertes Bild in der Stadt: Die Stadt sprach lauter, als ein Mensch vermocht und erzählte die Geschichte ihrer Revolution. Die sechs Wochen, welche Dörner auf dem Krankenbette zugebracht, galten mehr als eben so viel Jahrzehnte. Die Bewegung hatte ihr Gepräge den Gebäuden wie den Menschen aufgedrückt. Von dem Schlosse, auf den Thürmen wehte die schwarzroth-goldne Fahne, an den Straßen-Ecken klebten riesige Plakate von allen Farben. Ein Haufe neugieriger Leser umstanden sie jeder Zeit. Die Literatur war aus der Verborgenheit auf den offenen Markt getreten. Die Ecken dienten als Lesekabinette, die Mauern sprachen und predigten politische und soziale Lehren, welche eine ungewöhnliche und schnelle Verbreitung innerhalb des Volkes fanden. An den Schaufenstern hingen Karrikaturen, die das Publikum zu enträthseln suchte, Portraits berühmter Männer, welche die Volksgunst wie Eintagsfliegen über Nacht ausgebrütet hatte.489
Ring verzichtet in dieser Darstellung auf den für ihn üblichen Reportagestil und führt literarische Elemente ein, die Stadt wird personifiziert, das Schicksal des Einzelnen steht metaphorisch für den Zustand der Welt, die Revolution fungiert noch als das alles bestimmende Ereignis. Doch der allwissende Erzähler streut schon früh Zweifel am positiven Ausgang der Revolution und bekundet seinen Figuren obendrein noch Arglosigkeit, indem er über Dörner schreibt, er habe »nur das Licht, nicht den Schatten, der die neue Bewegung begleitete«490, gesehen. Zu diesem Zeitpunkt gibt es aber noch Grund zur Hoffnung. Eine weitere Errungenschaft der Revolution stellen politische Klubs dar, »zunächst Brennpunkte der Bewegung, die Schulen der neuen Volksbildung«491. Die letzte Bezeichnung ist auch vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte zu sehen: »Eine wunderbare Erscheinung war jedenfalls das plötzliche Auftauchen begabter Redner bei einer Nation, welche bisher so wenig Gelegenheit gehabt,
488 489 490 491
Max Ring: Berlin und Breslau. 1847–1849. Erster Band…, S. 103. Ebd., S. 144f. Ebd., S. 146. Ebd., S. 166.
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parlamentarische Fähigkeiten auszubilden.«492 Das Verdienst der politischen Klubs, insbesondere des demokratischen Vereins, sieht der Erzähler zum einen darin, Ideen und Begriffe entwickelt und verbreitet zu haben, die den meisten bislang unbekannt waren. Zum anderen trug die Tätigkeit dieser Klubs und Vereine493 dazu bei, dass sich Menschen aus verschiedenen Gesellschaftsschichten erst kennenlernen konnten, ihr Verdienst lag also: (…) in der Vermischung und Vereinigung aller Stände, welche seit der Revolution begonnen und vorzugsweise durch den demokratischen Verein so wie zum Theil durch die Bürgerwehr befördert wurde. Die Berührung in denselben Versammlungen und in den gleichen Räumen hatte nothwendiger Weise einen Ideenaustausch hervorgebracht. Die verschiedenen Schichten der Gesellschaft rückten einander näher, lernten sich kennen und gewannen sich ein gegenseitiges Interesse ab. Die Massen waren in Fluß gerathen, die spröden Stoffe schmolzen zusammen und paßten sich derselben Form an. Viele Vorurtheile mußten auf diese Weise schwinden und die humane Auffassung konnte nur dabei gewinnen.494
Die Erfolgsaussichten der Revolution schwinden jedoch allmählich, als sich nach der ersten, kurzen Zeit des gemeinsamen Handelns herausstellt, dass die Ziele des Bürgertums in vielen Punkten von den Bestrebungen der Arbeiter abweichen. Ein wesentlicher, bis dato im Buch unausgesprochener Unterschied besteht in den Besitzverhältnissen der beiden Schichten. Das über ein sicherlich größeres Vermögen verfügende Bürgertum beginnt, die wachsenden Ansprüche des ärmeren vierten Standes zu fürchten, welche von den Reden und Versprechungen der Volkstribune angetrieben werden: Die Spaltung zwischen Arbeiter und Kapitalisten wurde mit jedem Tage größer und bedeutender. Mißtrauen auf der einen Seite und Furcht auf der andern waren ausgesät und wucherten in den Gemüthern fort. Die freudige Erhebung Aller, welche auf die schönen Märztage gefolgt, die innige Vereinigung und Harmonie fing bereits bereits an zu schwinden. (…) Die mannigfach sich kreuzenden Interessen der verschiedenen Stände traten immer schärfer und schneidender hervor.495
492 Ebd. 493 Wilhelm Blos schrieb in seiner mehrmals aufgelegten Geschichte der deutschen Bewegung von 1848 und 1849: »Berlin wies in diesen Tagen ein sehr reges politisches Leben auf. (…) fast jeden Abend fanden Versammlungen statt und es bildeten sich Klubs und Vereine (…). Hier fand sich die bürgerliche Demokratie zusammen (…)«. In: Wilhelm Blos: Die Deutsche Revolution. Geschichte der deutschen Bewegung von 1848 und 1849. Stuttgart 1893, S. 218. Siehe auch: Joachim Paschen: Demokratische Vereine und preußischer Staat. Entwicklung und Unterdrückung der demokratischen Bewegung während der Revolution von 1848/49. München, Wien 1977; Stefan-Ludwig Hoffmann: Geselligkeit und Demokratie. Vereine und zivile Gesellschaft im transnationalen Vergleich 1750–1914. Berlin 2003. 494 Max Ring: Berlin und Breslau. 1847–1849. Erster Band…, S. 168. 495 Ebd., S. 153. Diese Sichtweise wird von der Geschichtsschreibung weitgehend bestätigt – vgl. Christian Jansen: Gründerzeit und Nationsbildung 1849–1871…, S. 19.
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Der vierte Stand radikalisiert sich sukzessive und beginnt die Idee der Demokratie, nach Ansicht des Erzählers, falsch zu verstehen, da er sich von ihrer Einführung die Lösung aller seiner materiellen Probleme verspricht. Diese Situation erleichtert die Tätigkeit einer Reihe von Agitatoren, deren feurige Reden jedoch nichts Gutes bringen, sondern lediglich eine Spirale der Gewalt anheizen, so dass Unruhen und Straßenkämpfe das Bild Berlins prägen: Das Volk hatte sich mit der Idee der Demokratie vertraut gemacht und die neue Lehre von der Gleichberechtigung Aller zu seinem Schibolet erwählt. Von diesem Evangelium, das ihm täglich verkündet und angepriesen wurde, erwartete es Abhülfe seiner Noth, seines tausendfachen Elends. Es verband mit dem Worte Demokratie, den Begriff der Erlösung und des Glücks, nach dem es vergeblich unter dem alten Staat gerungen. Ihm war Demokratie und Frei[heit] identisch geworden. Eine solche Masse gab den fruchtbaren Boden für jede Agitation ab und bald waren Straßen-Exzesse, Tumulte an der Tagesordnung.496
Der Bewegung fehlt es, nach Meinung des Erzählers, an einem »Genie, welches die Führer der ersten französischen Revolution beseelt«497 hatte. In den Anführern der Märzrevolution sieht er »schlechte Kopien der großen französischen Originale, ärmliche Industrieritter, welche mit ihrem Vermögen, mit ihrem Charakter, wie mit ihrem Geiste längst bankerott waren. Aus solchen Elementen konnte höchstens nur der Putsch entstehn, dieser Wechselbalg der Revolution«498. Die Unzulänglichkeiten der einen gehen mit einem schwärmerischen Idealismus der anderen führenden Persönlichkeiten der Revolution einher, welcher sie die eigentlichen Ziele, Bedürfnisse und Wünsche der Bevölkerung nicht nachvollziehen lässt. Dr. Dörner vergleicht die Revolution beispielsweise mit der Geburt des Christentums: alle ihre Gegner setzt er mit den damaligen Heiden gleich, und ihre Befürworter mit denjenigen, die Jesus folgten, denn sie »siegten über Schönheit, Reichtum, Weisheit und Macht, weil sie den Gott in ihrem Busen trugen. Sie schufen eine Welt um und zerbrachen die Form, deren Inhalt bereits erschöpft war«499. Dörner mag als Doktor der Philosophie mit seinem Vergleich nicht ganz Unrecht haben, doch für die gesellschaftlich-politischen Rahmenbedingungen mit mehreren Strömungen innerhalb des revolutionären Lagers, welche zunehmend unterschiedliche Ziele verfolgen, bietet er sicherlich keine Lösung. Die Mannigfaltigkeit der Revolutionssympathisanten zeigt sich dabei nicht nur auf der Straße oder in den politischen Klubs, sondern auch in der dank der Märzrevolution entstandenen Preußischen Nationalversammlung:
496 497 498 499
Max Ring: Berlin und Breslau. 1847–1849. Zweiter Band…, S. 23. Ebd. Ebd. Max Ring: Berlin und Breslau. 1847–1849. Erster Band…, S. 142.
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Aus Urwahlen während einer Zeit hervorgegangen, welche von den Schwingungen der Revolution noch zitterte, bot sie ein wunderbares Gemisch der verschiedensten Personen und Interessen dar. Neben bedeutenden Intelligenzen, die sich ihr keineswegs gänzlich abstreiten lassen, saßen die Kiolbassas und Nennstiels, kaum des Lesens und Schreibens kundig.500
In dieser fragilen Lage hat es die langsam wiedererstarkende Gegenseite relativ leicht, Maßnahmen zu ergreifen, um die Errungenschaften der Revolution zunichte zu machen. Der Erzähler erkennt dieses Problem bereits kurz nach Ausbruch der Revolution: Die mannigfach sich kreuzenden Interessen der verschiedenen Stände traten immer schärfer und schneidender hervor. Alle diese Elemente zusammengenommen mußten mit der Zeit dem gestürzten System dazu dienen, seinen Einfluß wieder herzustellen. Hier lagen die Keime einer beginnenden Konterrevolution, welche Anfangs schüchtern, später mit täglich wachsender Kühnheit wieder hervorzutreten wagte.501
Der Erzähler lässt dabei eine seiner Figuren, Baron von Kronheim, eine Rolle spielen. Der in seinen Diensten stehende Raschmacher Kramer soll heimlich Waffen für die Arbeiter besorgen, damit sie die Bürgerwehr angreifen können, über die sie erbittert sind. Die Idee dahinter ist, dass beim Ausbruch einer solchen Auseinandersetzung das Militär eingreifen würde, um für Ruhe und Ordnung zu sorgen.502 Obwohl dieser Plan am Ende nicht verwirklicht wird, erobert die Gegenrevolution Stück für Stück zuvor verlorene bzw. aufgegebene Positionen zurück, was der Erzähler auch auf die spezifische deutsche Geschichte ohne parlamentarische Traditionen zurückführt: Die Contrerevolution war zu dem Aeußersten entschlossen. Ein Staatsstreich wurde vorbereitet. Er gelang zu leicht bei einer Nation, deren politisches Leben noch keine Festigkeit gewinnen konnte, deren Rechtsgefühl durch Jahrhunderte geschlummert hatte, die in Materialismus und Indifferenz noch arg versunken war.503
Nach mehreren Monaten seit Ausbruch der Revolution (ein genaues Datum wird nicht genannt), stellt sich die Lage wie folgt dar: Die Liberalen des Jahres 1847 hatten durch die Märzrevolution gesiegt und bekämpften gemeinschaftlich mit dem Ministerium, das aus ihr hervorgegangen war, die Demokratie vom Jahre acht und vierzig. So war die Majorität der Nationalversammlung ministeriell gesinnt und büßte dadurch, wie wir bereits erwähnt, das Vertrauen des Volkes ein, welches ihr nie die Verleugnung seiner Revolution verzieh. Die Reaction (…)
500 501 502 503
Max Ring: Berlin und Breslau. 1847–1849. Zweiter Band…, S. 62. Max Ring: Berlin und Breslau. 1847–1849. Erster Band…, S. 153. Max Ring: Berlin und Breslau. 1847–1849. Zweiter Band…, S. 9. Ebd., S. 64.
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brachte eine Schwankung in den Parteien hervor, so daß weder das Ministerium, noch die Opposition sich eines Sieges rühmen konnte.504
Wenn man dabei, wie bereits zuvor, den Liberalismus mit dem Bürgertum sowie die Demokratie mit dem vierten Stand bzw. den Arbeitern gleichsetzt, bedeutet das ein weiteres Mal, dass sich die beiden Schichten, die einträchtig die Revolution herbeigesehnt und auch angefangen hatten, nun feindlich gegenüberstehen. Der Erzähler deutet die Wahrscheinlichkeit dieser Zwietracht schon früh an und es lässt sich aus seinen Worten auch ableiten, dass diese unter bestimmten Voraussetzungen hätte vermieden werden können. Dazu hätte es beispielsweise besonnenerer Anführer im vierten Stand oder auch einer besseren Reaktion auf das Erstarken der Gegenrevolution bedurft. Dieses Bild steht jedoch im Widerspruch zu den Erkenntnissen der heutigen Historiker. In den zeitgenössischen Untersuchungen werden nämlich »zwei gegenläufige Tendenzen«505 der Revolution von 1848 erkannt. Eine Zusammenarbeit der beiden Lager erscheint angesichts der folgenden Beschreibung praktisch unmöglich: Die Gegensätze zwischen den beiden Revolutionen – der teils liberalen, teils demokratischen Bürgerbewegung und den unterbürgerlichen Rebellionen – waren fundamental und weitgehend unvereinbar. Schon die Kommunikation war schwierig. Zentrale politische Begriffe wurden von den beiden revolutionären Hauptströmungen vollkommen verschieden aufgefasst (…).506
Dies stimmt zum einen mit Rings Darstellung, seiner Betonung der zunehmenden Unterschiede im revolutionären Lager überein, zum anderen erklärt und rechtfertigt es Rings Neigung, die jeweiligen Gruppen innerhalb der Revolutionären vereinfachend mit den Begriffen Demokratie bzw. Liberalismus zu assoziieren. Rings Sicht auf die beiden Lager lässt sich ebenfalls durch die Erläuterung der jeweiligen Wahrnehmungen des Begriffes ›Freiheit‹ durch das Bürgertum und die unteren Schichten besser nachvollziehen: »Freiheit« z. B. wurde im Bürgertum auf eine Verfassung, die Meinungsfreiheit des Einzelnen, im wirtschaftlichen Bereich auf die Durchsetzung von Kapitalismus und Marktwirtschaft bezogen. In der unterbürgerlichen Bewegung war der Begriff kommunitaristisch gefärbt im Sinne von Brüderlichkeit. Er war ständisch differenziert und stand deshalb häufig in weniger radikalem Gegensatz zur Obrigkeit. In der unterbürgerlichen Volksbewegung stand im Mittelpunkt von »Freiheit« das Recht auf Arbeit und ein menschenwürdiges Leben. Oft mit antimarktwirtschaftlicher, antikapitalistischer Tendenz orientierten sich die unterbürgerlichen Bewegungen und der Teil des demo-
504 Ebd., S. 62f. 505 Christian Jansen: Gründerzeit und Nationsbildung 1849–1871…, S. 16. 506 Ebd.
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kratischen Bürgertums, der sie unterstützte, an vormodernen Normen der Auskömmlichkeit, der Ehrbarkeit, der gemeinschaftlichen Nutzung.507
Bei solch enormen Wahrnehmungsunterschieden erscheinen die eingetretenen Spaltungen zwischen den Revolutionären als zwangsläufig und das liberale Bürgertum (…) in einer doppelten Frontstellung: Es stand gegen die alte Ordnung, die es bereits im Vormärz bekämpft hatte, und gegen die neuen Massenbewegungen der Unterschichten. Statt dem polaren Gegensatz zwischen Staat und Gesellschaft, der das bürgerliche Denken im Vormärz strukturiert hatte, offenbarte die Revolution viel kompliziertere Konfliktlagen.508
In Rings Roman lassen sich ohne Zweifel viele dieser Auseinandersetzungen erkennen, der Erzähler nimmt dabei eine eindeutig liberale, dem vierten Stand vielleicht nicht entgegengesetzte, ihn aber doch immer wieder belehrende Position ein. Die bislang untersuchten Teile des Buches spielen in Berlin, im Laufe des zweiten Bandes wird die Handlung aber, wie der Titel schon andeutet, nach Breslau verlegt. In Breslau stellt der Erzähler eine gewisse Selbstzufriedenheit fest: »Während in Berlin die Banquiers und reichen Kaufleute eine oft lächerliche, aber immer ehrenwerthe Sucht zeigen, hervorragende Talente heranzuziehen und mit ihnen zu verkehren, fühlt der Breslauer Patricier dies Bedürfnis nicht und lebt zufrieden in stolzer Selbstgenügsamkeit«509. Aber auch in der schlesischen Metropole hat die Revolution stattgefunden und auch dort werden ihre Errungenschaften langsam zunichte gemacht. Dass manche Liberale sich langsam von ihr abwenden, liegt an der schlechten wirtschaftlichen Lage, was die folgende Aussage verdeutlicht: »Kein Geschäft, keine Nahrung. Wir müssen alle zu Grunde gehen. Sie wissen, ich bin immer liberal gewesen, aber alles doch mit Maaß«510. Selbst einstige Anhänger der Revolution identifizieren sich nicht mehr mit einer inzwischen radikalen und gewaltbereiten Bewegung: »Heut zu Tage wird Jeder für einen Reactionär gehalten, der noch einen ganzen Rock am Leibe trägt. (…) Wir gehen entschieden der Anarchie entgegen, wenn die Regierung nicht bald energische Maßregeln trifft«511. Dies entspricht der Feststellung des Historikers, am Ende von 1848/49 hätten »große Teile des Bürgertums die Niederschlagung der Revolution durch die alten Mächte der Ordnung (…) als kleineres Übel im Vergleich zu den Forderungen der De-
507 508 509 510 511
Ebd., S. 16f. Ebd., S. 17. Max Ring: Berlin und Breslau. 1847–1849. Zweiter Band…, S. 160. Ebd., S. 152. Ebd., S. 153.
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mokraten«512 gesehen. Auch hier folgt also auf die revolutionäre Euphorie unter großen Teilen des Bürgertums und des vierten Standes, darunter auch das Landvolk, eine Ernüchterung: Das Volk war auf die Bürgerwehr erbittert (…). Diese hingegen war mit den Anordnungen nicht zufrieden, die der Magistrat getroffen hatte. (…) Von allen Seiten regnete es Vorwürfe und Beschuldigungen. Die scheinbare Einigkeit, welche bisher geherrscht, war erschüttert und aufgelöst, der Rausch verflogen und nur der moralische Jammer blieb zurück.513
Der Leidtragende ist im Hinblick auf die Handlung Dr. Dörner, der in Breslau Zuflucht gesucht und sie nur für kurze Zeit gefunden hatte. Von einer Verhaftung durch die Kräfte der erneut herrschenden Reaktion gefährdet flieht er aus Breslau mit Wanda von Selz, was nebenbei einen gesellschaftlichen Skandal auslöst. Für die Hauptfiguren endet die Geschichte glücklich, als letzter stößt, wie erwähnt, der verwahrloste Maschinenbauer Rolf zu ihnen, der im Roman die militante Seite der Revolution versinnbildlicht. Nachdem er sich von seinen Bekannten, insbesondere von Dörner, trennen musste, gab ihm »nur der Kampf gegen die Reichen und Aristokraten (…) noch einen Halt«514, was das andere, im Roman weniger präsente Gesicht der Revolution vor Augen führt, auch im folgenden Fragment: Er hatte in Dresden auf den Barrikaden gefochten und zuletzt in Baden gekämpft, verwundet schleppte er sich nach der letzten Schlacht über die Würtembergische Gränze und war bettelnd und hungernd bis zu der Wohnung Dörners gelangt.515
Doch nun ist das Ziel dieser Gruppe ein anderes, eine Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse wollen sie nicht mehr durch eine Revolution, sondern durch die Erziehung von Kindern herbeiführen. Diese Ideen rücken Ring in die Nähe der Frühsozialisten, für die Erziehung und Bildung als wichtige Leitbegriffe fungierten.516 Die Romanfiguren leben gleichberechtigt (»Es gab im Hause weder Herrin noch Dienerin. Marie und die Gräfin standen einander gleich. Das ergab sich ganz von selbst.«517), führen eine Erziehungsanstalt und kümmern sich um die Kinder, in deren Seelen Dörner ein »unentweihtes Heiligthum«518 erkennt: 512 513 514 515 516
Christian Jansen: Gründerzeit und Nationsbildung 1849–1871…, S. 20. Max Ring: Berlin und Breslau. 1847–1849. Zweiter Band…, S. 221. Ebd., S. 254. Ebd., S. 254f. Vgl. Robert Pfützner: Das Ende der Erziehung in der Utopie? Die Pädagogik des Sozialen im französischen Frühsozialismus. In: Irene Leser, Jessica Schwarz (Hrsg.): utopisch dystopisch. Visionen einer ›idealen‹ Gesellschaft. Wiesbaden 2018, S. 83–98, hier S. 86f. Siehe auch: Robert Pfützner: Solidarität bilden. Sozialistische Pädagogik im langen 19. Jahrhundert. Bielefeld 2017. 517 Max Ring: Berlin und Breslau. 1847–1849. Zweiter Band…, S. 251. 518 Ebd., S. 250.
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Den ganzen Tag war er bemüht den herrlichen Keim zu entwickeln, den die Natur ihm entgegentrug. Er achtete auf die zarten Regungen des jungen Geistes und weckte nur heilige, große Gedanken in dem Herzen der Kleinen, die er wie sein Herr und Meister berufen hielt für’s Himmelreich.519
Seine Neuausrichtung verdankt Dörner dem Gespräch mit einem alten Freund, dem »Verfasser der Dorfgeschichten«520, in welcher Figur unschwer der Schriftsteller Berthold Auerbach zu erkennen ist, der in der Revolutionszeit in Breslau lebte und sich auch an den Kämpfen in Wien beteiligte. Diese Wahl ist nicht zufällig, Ring stützt sich auf eigene Erfahrungen, er kannte und schätzte Auerbach.521 Der Schriftsteller schlägt ihm vor, er solle »Erzieher einer neuen Generation [werden], welche der Freiheit würdiger, wie die [der] Väter«522 wäre. Die letzten Sätze dieses Kapitels lassen auch auf die Einstellung des Erzählers schließen: Ja er wollte nur ein Schullehrer werden. Spottet nicht, lacht nicht über diesen Entschluß. In den Händen dieses armen, von Noth und Kummer gedrückten Standes liegt die Zukunft der Menschheit. Die Dorfschule ist das Heiligthum, in welchem der neue Messias geboren wird, wie einst zu Betlehem im Stalle das Licht erschienen ist, das die Welt erleuchtete.523
Einerseits hat diese Entscheidung, dem Tagesgeschehen zu entsagen und sich stattdessen einer zukunftsträchtigen Basisarbeit zu widmen, viel Idealistisches und Nobles an sich, andererseits ist sie gleichzeitig eine Form des biedermeierlichen Eskapismus, zumal ebenfalls Strömungen im Gange sind, die das Ziel verfolgen, die Revolution und ihre Errungenschaften zu diskreditieren und umzudeuten. Als in einem der letzten Kapitel nämlich eine der Nebenfiguren von der Märzrevolution spricht, wird sie von einer anderen, einem Grafen, korrigiert: »Sagen Sie doch nicht immer (…) Revolution. Es war nur ein Krawall, an dem sich ausschließlich Juden und Polen betheiligten«524. Der Erzähler wagt keine endgültige Bewertung der Märzrevolution, was angesichts des Erscheinungsjahres des Romans, bereits 1849, nur weitblickend und vernünftig erscheint. Trotz vieler Fehler ist er von ihrer Richtigkeit überzeugt, überlässt aber das Urteil den künftigen Historikern: 519 520 521 522 523
Ebd. Ebd., S. 223. Siehe Kapitel 1, S. 46f. Max Ring: Berlin und Breslau. 1847–1849. Zweiter Band…, S. 230. Ebd., S. 234. Über die eindeutig christlichen Bezüge bei einem Schriftsteller jüdischer Herkunft und Glaubens lässt sich nur mutmaßen. Einerseits waren es allgemein verständliche Metaphern, andererseits spielten die Ursprünge des Christentums auch eine Rolle in den Theorien der Frühsozialisten, mit denen Ring zu dieser Zeit offensichtlich sympathisierte. 524 Ebd., S. 237.
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Revolution und ihre Kinder
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Ein zukünftiger Geschichtsschreiber wird mit Unparteilichkeit über die Leistungen des demokratischen Klubs aburtheilen und trotz der Verirrungen seine große Bedeutung nicht verkennen.525 Noch ist das Ereignis zu neu, noch sind die Parteien, die sich schroffer als je gegenüberstehen, zu erregt, um ein ruhiges Urtheil abzugeben. Die Geschichte wird über sie und ihre Gegner richten.526
Berlin und Breslau. 1847–1849 ist Max Rings Revolutionsroman schlechthin, in keinem anderen Buch widmet er dieser ihm so wichtigen Thematik auch nur ansatzweise so viel Platz. Aus den späteren Werken verschwindet sie zwar nicht gänzlich, wird aber höchstens nur kurz erwähnt, wenn die Handlung des Buches in diese Zeit fällt. So geschieht es in einer der Stadtgeschichten, der Erzählung Keine Geborene aus dem Jahr 1865, die in einer nicht benannten Provinzialstadt spielt. Zum Ausbruch der Revolution meint der Erzähler hier, es wären »trotz aller Irrthümer und Verirrungen schöne, heilige und unvergeßliche Tage«527 gewesen. In einer der Erzählungen des Sammelbandes Aus dem Tagebuche des Berliner Arztes aus dem Jahr 1856 dient die Revolution als Hintergrund für die Geschichte des Hauptmanns von Adler, der an Typhus erkrankt, die Revolutionswirren nicht bewusst miterlebt und nach seiner Genesung davor geschont wird, die Wahrheit zu erfahren, was zu komischen Vorfällen führt. Als beispielsweise ein Herrenfriseur und dazu noch Anhänger der Revolution geholt wird, der dem Hauptmann voller Euphorie über die neuen Zustände erzählt, schreit der Hauptmann entsetzt: »Ich lasse mich nicht rasiren (…). Der Mensch ist ja verrückt geworden und kann mir in seinem Wahnsinn die Kehle abschneiden«528. Auch die Handlung des sechsbändigen Romans Ein verlorenes Geschlecht aus dem Jahr 1867 spielt in dieser Zeit, wenngleich nicht in Berlin, sondern in Oberschlesien, an der südöstlichen Grenze Preußens. Ähnlich wie in Rings Debütroman steigt auch hier im Laufe der Revolution »mit dem Genius der Freiheit (…) zugleich das rothe Gespenst der Anarchie hervor«, das »Zwietracht, Raub und Plünderung«529 nach sich zieht. Zwar gibt es in dieser Gegend keine Arbeiterschicht, doch der vierte Stand wird von Bauern repräsentiert, die sich für die 525 526 527 528
Max Ring: Berlin und Breslau. 1847–1849. Erster Band…, S. 167. Max Ring: Berlin und Breslau. 1847–1849. Zweiter Band…, S. 64. Max Ring: Neue Stadtgeschichten. Zweiter Band: Keine Geborene. Berlin 1865, S. 214. Max Ring: Ausgewählte Romane und Novellen. Aus dem Tagebuche eines Berliner Arztes. Zweiter Band. Leipzig 1870, S. 41. 529 Max Ring: Ein verlorenes Geschlecht. Sechster Band. Berlin 1867, S. 113. Der Phraseologismus ›rotes Gespenst‹ ist eine Übersetzung des französischen ›le spectre rouge‹, mit dem Auguste Romieu 1851 seine Broschüre betitelte, in der er einen Bürgerkrieg in Frankreich prophezeite – vgl. Christiane Wanzeck: Zur Etymologie Lexikalisierter Farbwortverbindungen. Untersuchungen Anhand anhand der Farben Rot, Gelb, Grün und Blau. Amsterdam–New York 2003, S. 70f.
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»materielle Seite der Bewegung«530 begeistern. Ähnlich wie Teile der Berliner Bewegung findet in dieser Schicht, nach Ansicht des Erzählers, eine Verkennung der revolutionären Ideen statt: »Freiheit war ihm gleichbedeutend mit Befreiung von allen Abgaben und Lasten, Gleichheit und Brüderlichkeit mit Theilung der Güter und Zerstörung des Eigenthums«531. Doch die Revolution bleibt letztlich eine kurze Episode, die keinen wesentlichen Einfluss auf die Handlung hat. Ein neuer Ton kommt lediglich in dem Reisebuch In der Schweiz aus dem Jahr 1870 auf, in dem sich der Erzähler, hier mit Max Ring zu identifizieren, mit über zwanzig Jahren Abstand bei dem Besuch der Frankfurter Paulskirche an die führenden Persönlichkeiten dieser Versammlung erinnert und sie Märtyrer der Freiheit [nennt], welche muthig für ihre Ueberzeugung kämpften und duldeten, zaghafte Gothaer, die wider Willen der Reaction dienten, Großdeutsche, Ultramontane Feudale, jene ganze wunderbar zusammengesetzte Versammlung, die hier in der Paulskirche so viel gesprochen und so wenig gethan hat.532
An einer anderen Stelle führt er diesen Gedanken in der rhetorischen Frage weiter aus: »Auch die Freiheit hat ihre Heiligen und Märtyrer, und warum sollen wir nicht an sie glauben und uns an ihrem Beispiel stärken und erheben?«533 Er bezieht sich hier zwar auf die Geschichte der Schweiz, doch vielleicht zeugt ausgerechnet das von der Universalität der Ideen der Märzrevolution von 1848.
3.3
Soziale Frage
Ein Thema, das Max Ring im Gegensatz zur beendeten Revolution weiter in seinem Werk umtreiben sollte, ist das der Arbeiterbewegung, im Sinne der folgenden Definition: »gegen die besitzenden Klassen u[nd] deren politische Vertreter gerichtete, auf Verbesserung der ökonomischen, sozialen u[nd] politischen Verhältnisse abzielende Bewegung der abhängigen Lohnarbeiter«534. Man könnte in diesem Zusammenhang auch vom Kommunismus sprechen, Ring selbst benutzt das Wort auch immer wieder, allerdings erscheint dies irreführend, da er sich vorwiegend auf das Gedankengut der Frühsozialisten wie Henri de Saint-Simon oder Charles Fourier und nicht auf Karl Marx beruft. Die Vermutung, Bezüge auf den Letzteren wären zu dieser Zeit verboten gewesen, konnte nicht nachgewiesen werden. Hinzu kommt, dass der heutige Leser den Begriff 530 531 532 533 534
Ebd. Ebd., S. 113f. Max Ring: In der Schweiz. Reisebilder und Novellen. Erster Band. Leipzig 1870, S. 11f. Ebd., S. 171. Duden. Deutsches Universalwörterbuch. 8., überarbeitete und erweiterte Auflage. Berlin 2015, S. 175.
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Soziale Frage
Kommunismus unweigerlich mit den geschichtlichen Prozessen des 20. Jahrhunderts assoziiert, was mit der Lage der Arbeiter im 19. Jahrhundert, den Gründen für die Entstehung einer Arbeiterbewegung und ihren Zielen wenig gemein hat. Bereits in Berlin und Breslau. 1847–1849 widmet sich Ring dieser Thematik, auch wenn sie durch den primären Konflikt der fortschrittlichen Revolutionäre gegen die reaktionäre Staatsmacht in den Hintergrund rückt. Die Gründe für die Entstehung einer Arbeiterbewegung erscheinen nach der Darstellung des Erzählers nahe liegend: In den letzten Jahren war unter den Arbeitern selbst eine merkwürdige Veränderung vorgegangen. Die zunehmende Bevölkerung, die steigende Konkurrenz hatte den goldenen Boden des Handwerkerstandes vernichtet. Die gemeinsame Noth brachte in allen das gleiche Mißbehagen an den gegenwärtigen Zuständen, eine Unzufriedenheit mit den bestehenden Verhältnissen hervor. Der natürliche Wunsch des Menschen, eine Verbesserung seiner Lage herbeizuführen, hatte sämmtliche Gewerke bereits ergriffen.535
Der Erzähler offenbart auch gute Kenntnisse der Theorien, die der neuentstandenen Arbeiterbewegung zugrunde lagen: Ein neues Evangelium, welches in Frankreich zuerst von St. Simon und Fourier offenbart, von Lamenais mit glühende Worten gepredigt, von Cadet zum Fanatismus ausgebildet war, hatte seinen Weg auch nach Deutschland genommen. In der Schweiz, wo die größere politische Freiheit, die Menge der Flüchtlinge aus allen Staaten Deutschlands, jede Neuerung begünstigten, befand sich der Brennpunkt der neuen Lehre, welche von dort aus radienförmig sich verbreitete.536
Doch in dieser Zeit, kurz vor Ausbruch der Märzrevolution, sind es nicht nur Arbeiter, die sich der neuen Bewegung anschließen, im Gegenteil, die folgende Aufzählung beinhaltet vor allem Berufe, die eindeutig dem Bürgertum zuzurechnen sind: Junge Männer, welche ebenfalls mit dem Geiste der gegenwärtigen Regierung unzufrieden waren, Literaten, die unter dem Drucke der Censur schmachteten, Candidaten, welche wegen mißliebiger Gesinnung höheren Orts verdächtig waren und vergebens eine Anstellung erwarteten, ehemalige Liberale, die an der politischen Gestaltung des Vaterlandes verzweifelten, einsame Forscher, abstrakte Philosophen, jugendliche Schwärmer und Utopisten (…).537
Andererseits sind es nach Meinung des Erzählers insbesondere die Arbeiter, die ein reges Interesse an neuen gesellschaftspolitischen Ideen zeigen, im Gegensatz 535 Max Ring: Berlin und Breslau. 1847–1849. Erster Band…, S. 73. 536 Ebd., S. 73f. 537 Ebd., S. 74.
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zum Bürgertum im Allgemeinen: »Es ließ sich nicht verkennen, daß grade unter dieser Klasse ein entschiedenes Streben nach Belehrung und Erkenntnis vorherrschte, weit mehr als unter der eigentlichen Bürgerschaft (…)«538. Eine andere, mehrmals in diesem Roman vorhandene und bereits angedeutete Facette, sind religiöse Vergleiche bezüglich nicht nur der Revolution, sondern auch der neuen Lehre, wie auch die Überzeugung mancher Figuren, an einer Zeitenwende zu stehen: »Die Idee ist unsterblich (…). (…) wir stehen am Vorabende einer neuen Weltepoche. Wie zu den Zeiten der römischen Herrschaft ist die Welt vergiftet und verdorben, in ihrer Auflösung begriffen. (…) Ein neues Evangelium ist verkündet worden und seine Wahrheit wird siegen.«539 Aufschlussreich erscheint, auch im Hinblick auf spätere geschichtliche Entwicklungen, die Aussage Wandas aus dem Gespräch mit einem konservativen Adeligen: Ich weiß nicht, was Communismus ist (…). Ich habe mich nie mit den Meinungen der Schule bekannt gemacht. Von Jugend auf hab’ ich mir ein selbstständiges Urtheil gebildet und erhalten. Verstehen Sie, Herr Graf, unter Communismus eine uniformierte Gleichheit des ganzen Menschengeschlechts, eine Vernichtung jeder besonderen Individualität, so erkläre ich mich dagegen (…).540
Auf die Frage, was sie denn darunter verstünde, antwortet Wanda, ähnlich wie zuvor Dörner bezüglich der Revolution: »Nichts weiter, als das praktisch angewandte Christenthum«541. Doch diesem positiven Bild von einer fortschrittlichen und idealistischen neuen Lehre stehen gegen Ende des Romans die Aussagen des Berthold Auerbach nachempfundenen Schriftstellers aus dem bereits zitierten Gespräch mit Dörner gegenüber, der dieser Bewegung die Schuld am Misslingen der Revolution zuschreibt, da sie »die Drachensaat des Zwiespalts ausgesäet und Volk und Bürgethum geschieden«542 hätte. Er nennt sie »geistige und leibliche Bettler«543, welche sich wünschen, »daß die ganze Welt in Lumpen gehn und den Bettelsack sich um die Schultern hängen soll. Diese ruinirten Gesellen wünschen ihren Ruin mit dem Bankrott der Gesellschaft zu decken«544. Der Autor scheint diese Meinung zu unterstützen, denn er lässt Dr. Dörner der Revolution abschwören und sich stattdessen der Erziehung zu widmen, was ihm ebenfalls der besuchte Schriftsteller empfohlen hat, als beste Möglichkeit den Menschen zu helfen.
538 539 540 541 542 543 544
Ebd., S. 173. Ebd., S. 93. Max Ring: Berlin und Breslau. 1847–1849. Zweiter Band…, S. 206. Ebd. Ebd., S. 226. Ebd., S. 225. Ebd.
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Die Arbeiterbewegung ist ebenfalls ein Thema in der 1854 erschienenen Volkserzählung Handwerk und Studium, in der Ring die unterschiedlichen Lebensgeschichten zweier Brüder einem Vergleich unterzieht. Franz Berger schließt zu Beginn der Handlung seine Lehre als Schuhmacher ab und da die Geschichte in einer nicht näher bestimmten, aber nicht mehr als zwei bis drei Dekaden zurückliegenden Vergangenheit spielt, muss er auf der Suche nach einer Anstellung seine Heimatstadt Berlin verlassen. Sein Vater, der ihn viel lieber hätte studieren sehen, sagt sich im Zuge einer Rauferei unter den Gesellen von ihm los. Franz’ Bruder Ludwig studiert dagegen Jura, ganz zur Freude des Vaters. Doch im Laufe der Handlung verkehren sich die scheinbaren Gewissheiten von den Vorteilen des Studiums gegenüber dem Handwerk in ihr Gegenteil. Ludwig beendet zwar sein Studium und findet eine Anstellung am Obergericht, wo er aber nur als »unbesoldeter Hülfsarbeiter«545 tätig ist, Schulden macht und am Ende vom Franz vor dem finanziellen Ruin gerettet werden muss. Auch dem Schumacher ergeht es zunächst schlecht, er zieht mit seinem Freund Rudolph Schwarz, einem Buchbinder, von Ort zu Ort, findet aber keine feste Anstellung. Vom zufällig getroffenen Schneider Albert Strudel werden die beiden zur Beteiligung an einem Arbeiterverein eingeladen, was zu ihrer Verhaftung führt. Erst nach Monaten kommen sie dank der Frauen der verhafteten Mitglieder frei und gelangen über die Schweiz und Frankreich nach England, wo sich ihr Glück wendet. Am Ende ist es also Franz, der seinen Bruder rettet, sich mit seiner Jugendliebe verlobt und nach Berlin zurückkehrt, wo er nicht nur privat, sondern auch beruflich und gesellschaftlich glücklich wird, als Stadtverordneter und »Stifter eines Gesellenvereins und einer zweckmäßigen Bibliothek für den denselben«546. Zwar erweist sich in diesem Buch der nicht näher definierte Kommunismus noch viel stärker denn in Rings Romandebüt als ein Schreckgespenst und eine hohle Versuchung, doch bevor sich die beiden Handwerker davon überzeugen, durchgehen sie eine Phase der Begeisterung. Ähnlich wie in Berlin und Breslau wird die neue Lehre auch hier mit dem frühen Christentum547 verglichen, doch im Gegensatz zum Romandebüt bezieht der Erzähler Stellung zu den Verheißungen 545 Max Ring: Handwerk und Studium. Zweiter Theil. Berlin 1854, S. 2. 546 Ebd., S. 132. 547 Auch diese Bezüge rücken Ring in die Nähe der Frühsozialisten, für die Religion von großer Bedeutung war. Saint-Simon erklärte es in seinem posthum erschienenen Buch Le Nouveau Christianisme (1825) zur Aufgabe des Christen, die unteren Gesellschaftsschichten bei der Verteilung des Sozialprodukts gerecht zu behandeln. Seine Anhänger riefen sich zur ›Kirche‹ aus und nannten sich ›Apostel‹. Diese Einstellung ging mit einer Kritik der traditionellen Kirchen einher und hatte auch zur Folge, dass der Frühsozialismus in damaligen Studien als Teil einer religiösen Tradition betrachtet wurde – vgl. Julian Strube: Sozialismus, Katholizismus und Okkultismus im Frankreich des 19. Jahrhunderts. Die Genealogie der Schriften von Eliphas Lévi. Berlin / Boston 2016, S. 41f. und 105f.
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dieser Theorien, die er dazu nicht mehr durch die Gedanken oder Aussagen seiner Figuren, sondern durch das Anführen von Büchern wiedergibt: Eines dieser Bücher handelte von der Wahrheit der neuen Ideen, welche mit vielem Scharfsinn auf das ursprüngliche Christenthum zurückgeführt wurden. Einzelne Stellen des neuen Testamentes waren äußerst geschickt benutzt und ließen den Erlöser in dem Lichte eines großen gottbegabten Sozialisten sehn. Dies Werk verständlich und geistreich geschrieben, blendete durch die Kühnheit seiner Gedanken und die hinreißende Gewalt der Sprache.548
Mit sehr viel Ironie begegnet der Erzähler Albert Strudel, der eigentlichen Triebfeder zu Franz’ und Rudolphs Engagement im Arbeiterverein, allein dessen sprechender Name sagt schon Einiges über die Einstellung des Erzählers diesem Protagonisten gegenüber aus. Und auch die Darstellung der Begegnung von Albert mit den beiden Hauptfiguren lässt an dessen Ehrlichkeit zweifeln. Der Erzähler nennt ihn einen »neue[n] Apostel«549 und belächelt die praktische Umsetzung der von ihm gepriesenen Ideen: Theilen müssen wir. Den schnöden Mammon mit Stumpf und Stiel ausrotten. Kein Mensch darf mehr besitzen als der andere. Dahin muß es, dahin wird es kommen, denkt an mich. Der letzte Rest aus der Flasche war nun ebenfalls verschwunden, doch blieb es zweifelhaft, ob der Herr Albert Strudel denselben aus Vergeßlichkeit oder zur Bekräftigung seiner Lehren von der Gleichheit der Güter selber ausgetrunken hatte.550
Die Darstellung seines weiteren Schicksals, das am Ende der Erzählung zusammengefasst wird, dient dem Erzähler dazu, die restlichen Zweifel an der Aufrichtigkeit seiner Absichten zu zerstreuen. Strudel ging nämlich nach Australien, hatte dort (…) das Glück, einer reichen, aber häßlichen Kolonistenwittwe zu gefallen, die ihn heirathete. Er war nun Besitzer und wie man hörte, plötzlich ein Feind aller kommunistischen Lehren geworden. Er steht an der Spitze eines Vereins zum Schutz des Eigenthums, das er früher für Diebstahl erklärte. Auch hat er mehrere Schriften gegen den Kommunismus geschrieben und borgt Geld zu ziemlich hohen Prozenten an die arme, leidende Menschheit.551
Rings Erzählung ist aber keineswegs als eine ironische Abrechnung mit der Arbeiterbewegung zu verstehen, seine in Berlin und Breslau dargelegte Weltanschauung wird auch hier zum Ausdruck gebracht. Bevor seine Hauptfiguren in England ankommen, werden sie in Frankreich mit den unter den dortigen Ar-
548 549 550 551
Max Ring: Handwerk und Studium. Erster Theil. Berlin 1854, S. 68. Ebd., S. 45. Ebd., S. 46. Max Ring: Handwerk und Studium. Zweiter Theil…, S. 134.
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beitern populären »kommunistische[n] und sozialistische[n] Lehren«552 konfrontiert. Franz war für den Erzähler aber eine zu gesunde, tüchtige Natur, und konnte auf die Länge der Zeit an den schwärmerischen Träumen und Ausgeburten einer erhitzten Phantasie kein Wohlgefallen. Er sah weder in den einförmigen Arbeiterkasernen, noch in den allgemeinen Werkstätten, welche der Staat einrichten und überwachen sollte, das künftige Heil seines Standes.553
Diesem angesichts der Erfahrungen des 20. Jahrhunderts nahezu prophetischen Bild setzt der Erzähler das bereits aus Rings Debütroman bekannte Prinzip der allgemeinen Bildung entgegen, »selbst für den Aermsten, die Vereine zur gegenseitigen Ausbildung und Besprechung der gemeinschaftliche[n] Interessen, die Einrichtung von Hülfs- und Krankenkassen«554. In Rings groß angelegtem sechsbändigem Roman Ein verlorenes Geschlecht spielt die Arbeiterbewegung zwar eine untergeordnete, aber nicht zu unterschätzende Rolle. Die auf wahren Begebenheiten basierende Haupthandlung beschäftigt sich mit der Familientragödie des adeligen Geschlechts der von Vulskis, eine der Hauptfiguren, Fürst Valerian Vulski, veranlasst den Mord an seiner Mutter, der Fürstin. Im Laufe der Handlung gewinnt ein anderer Protagonist an Bedeutung, der anscheinend aus England stammende Ingenieur Robert Gibson, der ein Experte für Kohlenbergbau ist und sich später als der totgeglaubte ältere Bruder des Fürsten entpuppt. Auch in diesem Fall spielt die Handlung großteils vor der Märzrevolution, die sich erst gegen Ende der Handlung des Romans ereignet. Im vierten Band beschäftigt sich der Erzähler eingehender mit der Lage der Arbeiter, dabei bietet er auch eine Geschichte der frühsozialistischen Bewegung, die er in Frankreich beginnt. Er nennt dabei Henri de Saint-Simon, der »den Grundsatz der christlichen Bruderliebe neu zu verwirklichen suchte«555, sowie Charles Fourier als Schöpfer des idealen »Utopien, worin die gesammte Menschheit eine einzige große Familie bilden und die Arbeit mit dem Genusse verschmelzen sollte«556. Bezüglich England erwähnt er Robert Owen und spricht auch von dessen »Schwärmereien«557, zählt aber gleichzeitig eine Reihe von Unternehmungen auf, die auf seine Ideen zurückzuführen sind, »Associationen und Arbeitervereine zur Gründung von Sparkassen, zum Einkauf billiger Lebensmittel und Erwerbung größerer Gewinne stets durch sociale Genossen-
552 553 554 555 556 557
Ebd., S. 62. Ebd. Ebd., S. 62f. Max Ring: Ein verlorenes Geschlecht. Vierter Band. Berlin 1867, S. 14. Ebd. Ebd.
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schaft«558, darunter auch die 1844 von Webern gegründete Genossenschaft Rochdale Society of Equitable Pioneers. Diese Theorien gelangten dann, nach Meinung des Erzählers, über die Schweiz nach Deutschland, wo sie aufgrund der politischen Lage »leichteren Eingang [fanden], als dies unter anderen Bedingungen bei dem bedächtigen und schwer beweglichen Geiste des Volkes möglich gewesen wäre«559. Dies zog wiederum Spannungen nach sich, wie sie sich auch während der Märzrevolution offenbarten: Während aber auch hier die nicht immer berufenen und reinen Führer die Arbeiter mehr aufregten als belehrten, mehr die Bourgeoisie erbitterten, als über ihre Lage aufklärten, und sie meist nur zu politischen Parteizwecken mißbrauchten, wurden die besitzenden Classen mit banger Furcht vor der Zukunft und den Forderungen eines drohenden Proletariats erfüllt.560
Am Interessantesten erweist sich in diesem Fragment aber die folgende Gegenüberstellung zweier Begriffe, die das Verständnis für die Einstellung des Erzählers in diesem Werk wie auch seine Sympathien wesentlich erleichtert. Diese erscheint umso wichtiger, als der Erzähler sie zur wichtigsten Frage des Jahrhunderts erklärt, welche nur wenige erkennen, geschweige denn zu beantworten versuchen: Die Hauptschuld trug wie gewöhnlich die Unwissenheit, indem der Socialismus mit dem Communismus verwechselt, beide für solidarisch mit einander verbunden gehalten wurden, während sie sich wesentlich dadurch unterschieden, daß der letztere die völlige Auflösung des Staates, der Gesellschaft und selbst der Familie verlangte, während der erstere nur eine Reihe praktisch durchführbarer Reformen, vor Allem eine Verbesserung der Arbeiterverhältnisse erstrebte.561
Wie erwähnt geht diese Unwissenheit mit dem Unwillen der meisten einher, sich mit diesen neuen Bewegungen auseinanderzusetzen, wodurch es den Behörden, nach Meinung des Erzählers, leicht fiel, Ängste beim Bürgertum zu schüren und es zum Verzicht auf seine fortschrittlichen Forderungen zu bewegen.562 Doch der Erzähler beschränkt sich nicht auf eine Zusammenfassung der bestehenden Verhältnisse, eine der Figuren, Robert Gibson, macht er zum Anhänger dieser auch ihm sympathischen Idee. Der Ingenieur vergleicht die Situation mit der einer unter Druck stehenden Maschine, die kurz vor einer Explosion steht, und plädiert dafür, die materielle Lage der Arbeiter zu verbessern. Auch in dieser Aussage kommen religiöse Vergleiche zum Vorschein:
558 559 560 561 562
Ebd., S. 16. Ebd., S. 17. Ebd., S. 18. Ebd. Vgl. ebd., S. 19.
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Der Druck, welcher hauptsächlich auf den Arbeitern lastet, muß ihnen abgenommen, ihre Lage erträglicher werden. Christus lehrt: Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist; das Evangelium der Neuzeit stellt die Forderung: Gebt dem Volke, was dem Volke gebührt. Sorgen wir für sein Wohlbefinden, für seine Erziehung, seine Bildung, und die Furcht vor dem Communismus wird verschwinden.563
In der Praxis plant Gibson den Bau von Wohnhäusern für die Bergleute oder vielmehr die Entstehung einer »Mustercolonie für die ganze Gegend«564, welche »zum Ausgangspunkt aller beabsichtigten Verbesserungen«565 werden soll. Doch nicht alle begeistern sich für diese Ideen. Einen Widersacher findet Gibson in den stark an Karl Godulla, den oberschlesischen Großindustriellen und vielleicht eindrucksvollsten Selfmademan dieser Zeit schlechthin566, erinnernden Zinkkönig Godowski, der es gewohnt war, »seine Arbeiter als Sklaven zu betrachten und zu behandeln«567. Ähnliche Positionen wie Gibson vertritt einer der Protagonisten des Romans Götter und Götzen aus dem Jahr 1870, Franz Weller, überraschenderweise ein wohlhabender Vertreter des Bürgertums, der auf eine herabwürdigende Bemerkung über Sozialisten und Kommunisten mit der Feststellung reagiert, (…) daß in dem Socialismus ein gesunder Kern enthalten und wir ihm zu Dank verpflichtet sind, weil er den wunden Punkt unserer Gesellschaft berührt und die uns drohende Gefahr aufgedeckt hat (…). Vor Allem jedoch haben die Socialisten das Verdienst, daß sie die große sittliche und welterlösende Bedeutung und den Segen der Arbeit richtig erfaßt und den Grundsatz des Evangeliums: »Jeder Arbeiter ist seines Lohnes werth« zu dem ihrigen gemacht haben.568
Andererseits gibt es in Rings späteren Werken auch Figuren, wie der explizit als sozialistisch bezeichnete Maler aus der Erzählung Der Schlafbursche, enthalten im Buch Berliner Leben. Kulturstudien und Sittenbilder aus dem Jahr 1882, die stark an den Schneider Albert Strudel erinnern. Dem Maler wird von der 563 564 565 566
Max Ring: Ein verlorenes Geschlecht. Dritter Band. Berlin 1867, S. 181. Max Ring: Ein verlorenes Geschlecht. Vierter Band…, S. 22. Ebd. Godulla kam 1781 als Sohn eines Jagdhüters in Makoschau in Oberschlesien zur Welt und wuchs in bescheidenen Verhältnissen auf. Durch Unterstützung und Förderung des Grafen Carl Franz von Ballestrem, in dessen Diensten er stand, wurde er 1807 zum Verwalter dessen Güter und Betriebe und 1818 zum Bevollmächtigten des Grafen. Dank Schenkungen Ballestrems begann Godullas selbständige unternehmerische Tätigkeit, welche im »Ganz- oder Teilbesitz von 18 Zinkerzbergwerken, 4 Zinkhütten und 40 Kohlengruben« mündete, was ihm auch den Beinamen ›Zinkkönig‹ einbrachte. Er starb 1848 in Breslau. Seine Persönlichkeit soll von folgenden Zügen geprägt gewesen sein: »rastlosen Fleiß, Rechtschafffenheit bei finanziellen Unternehmungen, Verlaß nur auf die eigenen Kräfte, rücksichtslose Strenge seinen Arbeitern gegenüber, äußerste Sparsamkeit, Einfachheit in der Lebenshaltung«. – vgl. Alfons Perlick: Godulla, Karl. In: Neue Deutsche Biographie, Band 6. Berlin 1964, S. 499–500. 567 Max Ring: Ein verlorenes Geschlecht. Vierter Band…, S. 12. 568 Max Ring: Götter und Götzen. Dritter Band. Berlin 1870, S. 232f.
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Grundübel der Zeit und eine neue Weltordnung
Hausbesitzerin, Frau Breitbach, die Wohnung gekündigt, woraufhin er seine durch das Trinken selbstverschuldete Lage dazu nutzt, eine Gruppe von Menschen aufzuhetzen und das Haus von Frau Breitbach anzugreifen. Die Problematik der Arbeiterbewegung spielt sicherlich keine zentrale Rolle in Rings Erzählungen und Romanen schließlich unterhaltender Natur und doch wird sie erkannt und angesprochen, mit einem klaren Bekenntnis für die sozialistisch genannten Kräfte einer evolutionären Veränderung.
3.4
Geldbesitz als Wertkriterium
In einer der wenigen Studien über Max Rings Werk zählt Adolph Kohut folgende Hauptmotive seiner Bücher auf, zu denen, wie bereits erwähnt, der »Tanz um das Goldene Kalb, das Streberthum und die Carriere-Macherei, die Verleugnung des Idealen«, der »Fetischdienst des Erfolgs, die Jagd nach dem Sinnentaumel«, der »Drang nach Ruhm auf Kosten des Glückes des Einzelnen und des Wohles der Gesammtheit«569 gehören. Zwar kommt in der Aufzählung der Begriff Materialismus nicht vor, doch gebraucht ihn Max Ring mehrmals in seinen Werken um die von ihm beschriebenen Zeiten zu charakterisieren. Dabei sind beide Bedeutungen dieses Wortes von Belang: Materialismus als eine »philosophische Lehre, die alles Wirkliche als Materie interpretiert oder von ihr ableitet« genauso wie die »materielle, auf Besitz und Gewinn bedachte Einstellung dem Leben gegenüber«570. Im vierbändigen Roman Götter und Götzen aus dem Jahr 1870 erzählt Ring die Geschichte des 24-jährigen Bernhard Schröder, der auf eine aussichtsreiche kaufmännische Karriere im Geschäft seines Onkels, Eduard Schröder, verzichtet, um Maler zu werden, was der Verwandte nicht nachvollziehen kann. Bernhards Lehrer wird der geschätzte Professor Blechheim, ein Vertreter des Idealismus. In einem Gespräch mit seinem Schüler offenbart der Professor seine Sicht auf die Welt: Wir leben in einer Zeit, welche sich gegen die Kunst gleichgültig, wo nicht gar feindlich verhält. Andere Interessen beherrschen die Welt; der Materialismus tödtet mit seinem vernichtenden Hauche die Blüten des Genius und erstickt jedes höhere Streben in der Brust der nur nach Genuß und Gewinn jagenden Menge.571
Weiter meint er, es habe »glücklichere Jahrhunderte« gegeben, in denen »das ganze Volk den lebendigsten Antheil an den Schöpfungen des Künstlers nahm,
569 Adolph Kohut: Max Ring. Eine litterarisch-biographische Studie…, S. 332. 570 Duden. Deutsches Universalwörterbuch…, S. 1175. 571 Max Ring: Götter und Götzen. Erster Band…, S. 68.
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Geldbesitz als Wertkriterium
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wo das Schönheitsgefühl das Gemeingut Aller war und jeden Einzelnen bis in seine innersten Beziehungen«572 durchdrungen habe. Zu einem für die Handlung wesentlichen Protagonisten entwickelt sich im Laufe der Handlung der die unteren Schichten behandelnde Arzt Johannes Börner, der »Armendoctor«. Ein Gespräch den philosophischen Materialismus betreffend findet im zweiten Band des Romans zwischen Bernhard und seinem Freund Börner statt. Der junge Maler wirft Börner vor, er wäre ein materialistischer Arzt, der »die feinsten Schwingungen der Seele lediglich durch ein Spiel der physischen Kräfte zu erklären«573 suche. Börner hält dagegen und erklärt, er lebe nicht »in dem Reich erträumter Ideale« und habe gelernt, die »Natur und die Menschen mit unbefangenen und prüfenden Blicken anzuschauen«574. Bernhard ist nicht überzeugt und meint, überall die »materialistische Richtung (…) dieser prosaischen Gegenwart« zu erblicken, im »Staat und in der Gesellschaft, in der Kunst und im Leben«575. Börner verteidigt aber die Wissenschaft und erkennt die Wurzel »einzig und allein in dem Zwiespalt unseres modernen Lebens, in der Lüge unserer ganzen politischen und socialen Institutionen«576. Er ist durchaus bereit (…) den crassen Materialismus der Gegenwart, vor allem in seinen unsittlichen und antihumanen Consequenzen, den den Durst nach Geld und Gewinn, die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, die Verachtung aller höhern Interessen, die Niedrigkeit der Gesinnung, die Verleugnung der bessern Ueberzeugung, den Verrath an Natur und Wahrheit (…)577
zu verdammen, sieht in ihm aber auch »ein unentbehrliches Zwischenglied in der Entwickelung der Menschheit«578. Diese überraschende Erkenntnis gründet auf folgender optimistischer und mit den Ideen der Frühsozialisten korrespondierender Überzeugung: Indem er die Resultate der Wissenschaft, die Entdeckung des Genius ausbeutet und zu seinem Nutzen verwendet, fördert er unwillkürlich den Fortschritt, mehrt er den Wohlstand, schafft er neue, kaum geahnte Quellen des Reichthums. Mit dem Besitz verbreitet sich Bildung und Gesittung, wenn ich auch zugeben will, daß die Selbstsucht, die Begierde nach Genuß in demselben Maße zunimmt. Aber das Gift führt das Gegengift mit sich. Die materiellen Interessen bilden einen festen Kitt und verschmelzen
572 573 574 575 576 577 578
Ebd., S. 69. Max Ring: Götter und Götzen. Zweiter Band. Berlin 1870, S. 75. Ebd., S. 75f. Ebd., S. 76. Ebd., S. 77. Ebd., S. 79. Ebd.
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Grundübel der Zeit und eine neue Weltordnung
die getrennten Stände der Gesellschaft, wie sie Völker und Länder mit einander verbinden.579
Selbst auf die Einwendung Bernhards, die Lage der Arbeiter würde sich nur verschlechtern, antwortet Börner, sie seien »noch immer hundert mal besser gestellt als der Sklave in der antiken Welt, als der Hörige des Mittelalters«580, durch neuentstandene Vereine gegen die »Bedrückungen des Kapitals«581 geschützt und dank des von Bernhard so stark kritisierten Materialismus mit Möglichkeiten ausgestattet, gegen dessen Auswüchse auch erfolgreich vorzugehen. Trotz der scheinbar überzeugenden Argumente Börners verbleiben beide bei ihren Standpunkten, vielleicht auch, weil sich ihre Perspektiven zu sehr voneinander unterscheiden, für Bernhard ist die idealistische Dimension von Bedeutung, Börner interessiert sich für allgemeine gesellschaftliche Prozesse. Abgesehen von der zum Teil veralteten Sprache könnte ein solches Gespräch zweier ähnlich veranlagter Personen auch heute ähnlich verlaufen: die Kritik am Verfall der Sitten auf der einen, die Freude über die in fast allen Bereichen steigenden statistischen Faktoren auf der anderen Seite. Meistens sind es aber keine Streitgespräche, sondern Klagen über den Zustand der Welt, in denen der Materialismus oder auch der ihm sinnverwandte Egoismus von den Figuren angeprangert werden. So wird in Ein verlorenes Geschlecht der »riesige Egoismus der Gegenwart« vom Erzähler zum »Grundübel der Zeit« erklärt, das in diesem Fall die »ursprünglich edlere und bessere Natur« der Hauptfigur, Fürst Vulski, »angegriffen und zerstört«582 habe. Im vierten Band erweist sich wiederum der Grubenbesitzer und Zinkkönig Godowski als »der verkörperte Egoismus, der zu Fleisch gewordene Materialismus der Gegenwart«583. Dieses Laster ist aber beileibe nicht den oberen, besitzenden Gesellschaftsschichten vorbehalten, wie die Aussage einer der Figuren der Erzählung Der Geheimrath aus dem Jahr 1857 nahelegt: »Der Egoismus herrscht in allen Verhältnissen jetzt vor und vernichtet jedes bessere Gefühl. Die heiligsten Bande werden durch die Selbstsucht erschüttert und aufgelöst. Kinder hadern mit ihren Eltern, Brüder stehen gegen Brüder auf, wenn die materiellen Interessen sie entzweien«584. Folgerichtig spielt das Geld eine entscheidende Rolle in dieser Welt, wie eine der Figuren aus der Erzählung Auch ein Gründer, enthalten in dem letzten, 1876 erschienenen Band von Rings Stadtgeschichten, nüchtern feststellt: »Wir leben 579 580 581 582 583 584
Ebd., S. 80. Ebd., S. 81. Ebd. Max Ring: Ein verlorenes Geschlecht. Erster Band…, S. 73. Max Ring: Ein verlorenes Geschlecht. Vierter Band…, S. 52. Max Ring: Der Geheimrath. Prag & Leipzig 1857, S. 81.
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Geldbesitz als Wertkriterium
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einmal in einer Zeit, wo das Geld mehr als je eine Macht geworden ist, die dem Besitzer Rang, Ansehen, alle Genüsse und, so paradox das auch klingen mag, selbst Geist verleiht«585. Dieser Gedankengang erinnert an spätere Thesen Max Webers zur »Ethik« des modernen Kapitalismus, in deren Zentrum (…) der Erwerb von Geld und immer mehr Geld [stand], unter strengster Vermeidung alles unbefangenen Genießens, so gänzlich aller eudämonistischen oder gar hedonistischen Gesichtspunkte entkleidet, so rein als Selbstzweck gedacht, daß es als etwas gegenüber dem ›Glück‹ oder dem ›Nutzen‹ des einzelnen Individuums jedenfalls gänzlich Transzendentes und schlechthin Irrationales erscheint.586
Andererseits untersuchte Weber in dem Artikel den Einfluss des Protestantismus auf den Kapitalismus, was sich anhand von Rings Texten nicht nachweisen lässt. Ring bestätigt damit aber die zu dieser Zeit einsetzende Tendenz des »bürgerliche[n] Unterhaltungsroman[s] (…) den Geldbesitz bereits als Wertkriterium anzuerkennen«.587 In Auch ein Gründer wird die Geschichte des Assessors Eduard Hellwig erzählt, der sich in Helene, Tochter des reichen Kommerzienrats Rosen und Urheberin der zitierten Aussage, verliebt, welche ihn, einen schlecht bezahlten Juristen, zwar abweist, ihm aber auch die Stelle des Syndikus im Unternehmen ihres Vaters besorgt. Der Kommerzienrat erwartet dabei von dem neuen Angestellten, dass »dieser nicht nur ein Auge zudrücken, sondern ihn noch mit seiner juristischen Autorität und seiner Kenntniß der Gesetze mit ihren Hinterthüren und Schleichwegen theils aus Dankbarkeit und Liebe für die schöne Helene, theils aus Rücksicht auf seinen eigenen Vortheil nach Kräften unterstützen«588 würde. Hellwig bekommt auch den Tresor zu sehen und darin »blitzende Goldstücke, schimmernde Silberbarren, Banknoten und Cheks«, die der Erzähler die »modernen Talismane und Feengaben nennt«, welche »dem glücklichen Besitzer jeden Wunsch gewähren«589. Diesen Gegenständen schreibt der Erzähler regelrecht übernatürliche Kräfte zu, die bei dem jungen Juristen ein »Geldfieber«590 auslösen: Die Macht des Goldes, die hier dem Assessor verkörpert entgegentrat, übten auch auf ihn den dämonischen Einfluß, dem sich so leicht kein Sterblicher zu entziehen vermag. In der ganzen Atmosphäre lag ein bestrickender Reiz und die Schnelligkeit, womit gleichsam im Handumdrehen dieser Geldstrom wuchs und sich vermehrte, die Leich585 Max Ring: Neue Stadtgeschichten. Zweiter Band: Auch ein Gründer. Leipzig 1876, S. 94. 586 Max Weber: Die protestantische Ethik und der »Geist« des Kapitalismus. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 20, 1904, S. 1–54, hier S. 16. 587 Renate Böschenstein-Schäfer: Zeit- und Gesellschaftsromane. In: Horst Albert Glaser (Hrsg.): Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte. Band 7: Vom Nachmärz zur Gründerzeit: Realismus 1848–1880. Reinbek bei Hamburg 1992, S. 101–123, hier S. 113. 588 Max Ring: Neue Stadtgeschichten. Zweiter Band: Auch ein Gründer…, S. 106. 589 Ebd., S. 102. 590 Ebd., S. 113.
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Grundübel der Zeit und eine neue Weltordnung
tigkeit des Gewinnes und die damit verbundenen Vorstellungen von Herrschaft, Rang und Ansehen, von Genuß und Lebensfreude hatten etwas Berauschendes für die Phantasie. Jede Banknote erschien ihm gewissermaßen eine Anweisung auf ein sorgenloses Dasein und jedes Goldstück, als eine Bürgschaft auf eine heitere Zukunft.591
Doch aufgrund von Hellwigs Aufrichtigkeit verliert er seine Stelle und stürzt in noch größere Geldsorgen als vor seiner Anstellung, da sein Vater, ein Fabrikbesitzer, Bankrott gegangen ist und sich auf der Flucht vor seinen Gläubigern befindet. Trotzdem findet die Erzählung ein für Hellwig gutes Ende: er lässt sich als Rechtsanwalt in seiner Heimatstadt nieder und heiratet glücklich, im Gegensatz zu seiner einstigen Liebe Helene, in deren aus Berechnung geschlossener Ehe es »zu höchst skandalösen Auftritten zwischen Beiden gekommen und nur durch die Vermittlung des Commercienrathes die proponirte Scheidung des würdigen Paares unterblieben sein«592 soll. Eine ähnliche Einstellung zu Geld kommt beispielsweise auch in Götter und Götzen zum Vorschein (»(…) das Geld ist die einzige reelle Macht, vor der sich selbst Könige und Fürsten beugen müssen«593, »Wir leben einmal in einer Welt, wo die materiellen Interessen Alles beherrschen und das Geld die erste Rolle spielt«594), der enttäuschte Bernhard versteigt sich gar zu folgendem Gedankengang: »Die Tugend ist nur noch ein eitler Traum der hirnverbrannten Thoren, die Freundschaft eine Täuschung, die Liebe ein Wahn, die Kunst ein Possenspiel, Geist und Herz und wie die übrigen Güter der Menschheit heißen, eine Seifenblase, lächerliche Illusionen und Einbildungen betrogener Betrüger, das Geld – Alles!«595 Bernhard sieht dadurch sein idealistisches Weltbild schwanken, viele andere, pragmatisch veranlagte Protagonisten von Rings Büchern suchen dagegen einen Ausweg aus ihren Geldsorgen, indem sie beispielsweise ihr Eigentum verpfänden. In einer Erzählung aus dem ersten Band von Rings Stadtgeschichten bekundet der Erzähler ausdrücklich sein Interesse an sozialen Fragen, die sich nicht am Schicksal der Menschen selbst oder den gesellschaftlichen Prozessen im Allgemeinen beobachten lassen, sondern auch an bestimmten Einrichtungen, wie dem Leihhaus: Das Leihhaus ist der Barometer unserer gesellschaftlichen Zustände, und eine Statistik desselben würde lehrreicher sein als alle sozialen Romane, die statt der Wahrheit oft nur Dichtung geben, welche weit hinter der Wirklichkeit zurückbleibt. Könnten die ein-
591 592 593 594 595
Ebd., S. 102f. Ebd., S. 164. Max Ring: Götter und Götzen. Erster Band…, S. 13. Max Ring: Götter und Götzen. Zweiter Band…, S. 173. Max Ring: Götter und Götzen. Vierter Band. Berlin 1870, S. 85.
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zelnen Pfänder ihre Erlebnisse erzählen, welch’ eine wunderbare Fülle von rührenden und spannenden Ereignissen würden wir mit aufmerksamem Ohre vernehmen.596
Eine andere Möglichkeit ist es, einen Kredit aufzunehmen. Ähnlich wie die Bedeutung von Geld entbehren auch die folgenden Worte des Erzählers aus der Erzählung Die Erben, der Geschichte einer zufälligen Erbschaft, die der unvermögende Kassenbote Bauer macht und durch die Machenschaften seines Schwagers, des neureichen Schneidermeisters Hasenfritz, beinahe wieder verliert, nicht einer bis heute gültigen Aktualität: »Kredit ist der Zauber, mit dem sie [die Kaufleute] die Kunden locken, die Menge an sich ziehen und den immer mehr überhand nehmenden Luxus unterstützen. Dadurch aber lassen sich gar Viele verführen und geben weit über ihre Kräfte aus, machen Schulden und ruiniren sich, weil sie nicht an’s Bezahlen denken.«597 In Die Chambregarnisten meint ein Protagonist gar: »Der Pump ist die moderne Gottheit, welche die ganze Welt beherrscht«598. Doch die Kreditgeber sind in Rings Büchern meist keine Banken, sondern eher private Spekulanten oder, wie er sie abwertend nennt, »Wucherer« bzw. »Halsabschneider«. Die Tätigkeit dieser Figuren hat immer wieder einen wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung der Handlung, da sie ihre Schuldner zum Begleichen der Rückstände zwingen, was weitere Ereignisse nach sich zieht. Es gibt in Rings Büchern kaum eine Gruppe, die er kritischer beurteilen würde, als diese Spekulanten, wie beispielsweise in folgendem Fragment: Ueber die ganze Hauptstadt war eine derartige Brüderschaft verbreitet, welche sich gegenseitig kannte, ihre besonderen Zeichen, Gewohnheiten und Einrichtungen hatte; dazu gehörten Leute aus allen Ständen, in den verschiedensten Lebensverhältnissen, vom gemeinen Trödeljungen bis zum reichen Hausbesitzer, vom Pfuschmakler bis zum vornehmen Banquier; Alle von der gleichen Geldgier und dem Streben beseelt, unter jeder Bedingung und ohne Rücksicht auf die dazu führenden Mittel, schnell reich zu werden. (…) Ueberall wo die Verhältnisse eine schlechte Wendung nahmen, wo eine Familie dem Ruin entgegen ging, wo es an Geld und Credit fehlte, fand sich diese Bande ein wie die Raben, wo sie ein Aas wittern, gleichsam von dem Geruch der Auflösung herbeigelockt. Sie umschwärmten das dem Ruin geweihte Opfer erst aus der Ferne, dann immer näher und näher, langsam es aussaugend, tropfenweise das Blut desselben schlürfend, bis es immer schwächer wurde, zusammenbrach und endlich in ihre Klauen fiel.599
Eine weitere, nicht weniger kritische, aber von einer Veränderung in Form zeugende Beschreibung dieser Gruppe findet sich in dem fünfzehn Jahre später erschienenen Roman Der Kleinstädter in Berlin:
596 597 598 599
Max Ring: Stadtgeschichten. Zweiter Band: Die Chambregarnisten. Leipzig 1852, S. 247. Max Ring: Neue Stadtgeschichten. III: Die Erben. Prag und Leipzig 1858, S. 168. Max Ring: Stadtgeschichten. Zweiter Band: Die Chambregarnisten…, S. 107. Max Ring: Neue Stadtgeschichten. III: Die Erben…, S. 132f.
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Grundübel der Zeit und eine neue Weltordnung
Die modernen Halsabschneider (…) unterscheiden sich in ihrem Aeußern nicht mehr von anständigen Leuten. Sie sind nur um so gefährlicher geworden, seitdem sie die Manieren und Formen der aristokratischen Kreise angenommen haben, mit denen sie hauptsächlich ihre Geschäfte machen. Es giebt jetzt notorische und bekannte Wucherer, welche ein glänzendes Haus machen, ihre eigene Equipage und Reitpferde halten und die feinste Gesellschaft bei sich sehn, natürlich meist ihre Schuldner. Es ist dies ein trauriges Zeichen unserer Zeit und ein neuer Beweis für die Macht des Geldes.600
So schließt sich ein Kreis, am dessen Anfang die neuen materiellen Bedürfnisse aller Gesellschaftsschichten dieser Zeit stehen, in einer Epoche rasanten Wachstums, aber für viele ohne ausreichende Einkünfte wie auch ohne verlässliche Geldquellen. Es lässt sich kaum nachprüfen, inwieweit diese Art tatsächlich verbreitet war, weder nennt Ring Zahlen der Betroffenen, noch existieren Statistiken zu diesem Thema. Sicherlich veränderte sich die Lage in den 1860er Jahren wesentlich: es entstanden erste genossenschaftliche Spar- und Kreditvereine601. Ring scheut sich nicht davor, die sozialen Probleme seiner Zeit anzusprechen und zu mahnen, wenngleich seine Bücher durchaus keine Sozialromane sind, sondern eher unterhaltenden Charakter mit sozialem Unterton haben.
3.5
Einzug der Moderne
Das 19. Jahrhundert und insbesondere dessen zweite Hälfte prägte nicht nur die politische Entwicklung der deutschen Staaten hin zu einem vereinten Deutschen Reich, entscheidend für diese Zeit war die in ganz Europa rasant fortschreitende Industrialisierung und alle damit verbundenen Prozesse. Die Zahlen, die diese Fortschritte belegen, hinterlassen bis heute einen bleibenden Eindruck. Im Jahr 1800 lebten in den deutschen Gebieten 23 Millionen Menschen, bis 1900 hat sich diese Zahl auf 56 Millionen mehr als verdoppelt.602 Das Bevölkerungswachstum betraf vor allem die Städte. So war Berlin zwar bereits im Jahre 1800 mit 172.000 Einwohnern die bevölkerungsreichste deutsche Stadt, doch nur sieben Jahrzehnte später, im Jahre 1870, zählte sie schon 826.000 Einwohner, die Einwohnerzahl hat sich in dieser Zeit fast verfünffacht. Und auch das Tempo des Zuzugs in die preußische Hauptstadt stieg: während der durchschnittliche prozentuale 600 Max Ring: Der Kleinstädter in Berlin. Zweiter Band…, S. 142. 601 Christian Jansen: Gründerzeit und Nationsbildung 1849–1871…, S. 188. 602 Vgl. Matthias von Hellfeld: Das lange 19. Jahrhundert. Zwischen Revolution und Krieg 1776 bis 1914. Bonn 2015, S. 92.
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Einzug der Moderne
Jahreszuwachs zwischen dem Beginn und der Mitte des 19. Jahrhunderts 1,8 % betrug, erreichte er in den weiteren zwei Dekaden 3,5 %.603 Auch die Beschäftigungsstruktur in den Wirtschaftssektoren begann sich zu verändern. Im Jahre 1800 waren 62 % der Menschen in der Landwirtschaft beschäftigt, bis 1875 sank diese Zahl auf 50 %, während sowohl das Gewerbe und Industrie (von 21 % auf 29 %), als auch Handel und Dienstleistungen (von 17 % auf 21 %) Anstiege verzeichneten.604 Die Transformation von bislang eher »ländlichen Wirtschaftsund Sozialstrukturen in eine Industriegesellschaft«605 nahm ihren Lauf. Auch Max Ring sind diese Veränderungen nicht entgangen, wenngleich es übertrieben wäre zu behaupten, dass sie von zentraler Bedeutung für sein Werk sind. Trotzdem reflektieren die Erzähler und Protagonisten seiner Werke mehrmals über die anstehende oder sich bereits vollziehende Veränderung ihrer Welt, deren sie sich durchaus bewusst sind, wie zum Beispiel in der Erzählung Handwerk und Studium aus dem Jahr 1854, hier in Form einer rhetorischen Frage: »Wer möchte es leugnen, daß wir einer neuen Zeit entgegengehen, daß sich viele Formen und Verhältnisse überlebt haben, daß unsere gesellschaftlichen Zustände einer wesentlichen Verbesserung bedürfen?«606 In Ein verlorenes Geschlecht aus dem Jahr 1867 äußert der fortschrittliche Gibson in einem Brief an seinen englischen Freund folgende Gedanken: Durch dich erst gelangte ich zu der Einsicht, daß die alten Zustände für das Ganze wie für den Einzelnen ferner unhaltbar geworden sind, daß eine neue Weltordnung sich im Stillen unaufhaltsam entwickelt. Die alten Kräfte, Gedanken und Einrichtungen haben sich vollkommen überlebt und abgenützt; sie sind dem Untergange unwiderruflich verfallen. Nur ihre Formen behaupten sich noch, während der Geist längst aus ihnen entwichen ist. (…) Wo aber das gewöhnliche Auge jetzt nur Auflösung, Zersetzung und Untergang sieht, entdeckt der geschärfte Blick des Denkers bereits auch die Keime einer künftigen Entwicklung (…).607
Und in Götter und Götzen, einem drei Jahre später herausgegebenen Roman, ist es der Armendoctor Börner, der ähnliche Gedanken formuliert: Die alten Formen haben sich überlebt, und die neuen sind noch nicht geschaffen; die bürgerliche Gesellschaft befindet sich in einem Zustande der Verwirrung und Auflösung. (…) Der Menschheit ist ihre alte Haut zu eng geworden und sie sucht sie wie eine Schlange abzustreifen und mit einer passendern Hülle zu vertauschen. Gerade in einer solchen Zeit des Ueberganges (…) machen sich alle Schwächen und Gebrechen (…) doppelt bemerkbar (…).608 603 604 605 606 607 608
Vgl. ebd., S. 94. Vgl. ebd., S. 92. Christian Jansen: Gründerzeit und Nationsbildung 1849–1871…, S. 61. Max Ring: Handwerk und Studium. Erster Theil…, S. 63. Max Ring: Ein verlorenes Geschlecht. Vierter Band…, S. 14. Max Ring: Götter und Götzen. Zweiter Band…, S. 77f.
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Grundübel der Zeit und eine neue Weltordnung
Ohne die Aussagen dieser beiden, dem Erzähler und wohl auch dem Autor nahestehenden Protagonisten eingehend untersuchen zu wollen, lässt sich feststellen, dass sie davon überzeugt sind, in einer Zeit besonders großen Wandels zu leben, dessen Ausgang bei weitem noch nicht entschieden ist. Die zuvor genannten Zahlen sind einerseits nur Kennzeichen dieser Veränderung, andererseits aber auch deren Katalysator. Hinzu kommen neue Arbeitsformen und technische Erfindungen, die diesen Wandel weiter beschleunigen. Die Eisenbahn war die technische Neuigkeit dieser Zeit schlechthin, vor allem im dritten Viertel des 19. Jahrhunderts. Zwischen 1850 und 1873 vervierfachte sich in Preußen die Zahl der Streckenkilometer (von 5.875 auf 23.881 km), die Anzahl der auf diesen Strecken verkehrenden Züge betrug ca. 8.000 Lokomotiven und 160.000 Güterwaggons.609 Vor allem für die Weiterentwicklung der Wirtschaft war die Eisenbahn von größter Bedeutung: »Die Gütertransporte auf den deutschen Eisenbahnen wuchsen zwischen 1850 und 1873 jährlich um 13 % und damit schneller als das Wirtschaftswachstum«610. Und auch der Eisenbahnbau wurde zu einem führenden Sektor der Wirtschaft, mit positiven Einflüssen auf andere Bereiche, wie den Maschinenbau, die Eisen- und Stahlindustrie sowie den Bergbau611. Doch abgesehen von der neuentstandenen Möglichkeit eine große Anzahl von Menschen und auch Waren viel schneller über längere Distanzen zu transportieren wie auch den technologischen Fortschritt brachte die Entwicklung der Eisenbahn auch kulturelle und mentale Folgen mit sich. Sie faszinierte die Menschen, machte ihnen aber gleichzeitig Angst. Ihretwegen wurde in Deutschland die erste Pflichtversicherung eingeführt und da »anhand von Eisenbahnunfällen (…) psychogene T[r]aumata«612 entdeckt wurden, brachte deren Erforschung »einen wichtigen Impuls für die Entstehung der Psychologie als Wissenschaft«613. Von den Intellektuellen dieser Zeit wurde die Eisenbahn unterschiedlich aufgenommen, zu ihren Kritikern gehörte beispielsweise Joseph von Eichendorff, der sie zwar als technische Erfindung akzeptierte, doch die Folgen ihrer Ausbreitung kritisch sah, vom »Missbehagen an dem Zerstören der Landschaft, Lockern der Bindung zwischen den Menschen und (…) der allgemeinen Geistlosigkeit« bis hin zur Beeinflussung der »Denkweise der Menschen (…), die von nun an zweckorientiert, geschwind und oberflächlich die Welt gewahren«614. 609 610 611 612 613 614
Vgl. Christian Jansen: Gründerzeit und Nationsbildung 1849–1871…, S. 66. Ebd., S. 67. Vgl. ebd. Ebd., S. 66. Ebd. Zbigniew Feliszewski: Eichendorffs Stimme im Diskurs über Kultur. In: Graz˙yna Barbara Szewczyk, Renata Dampc-Jarosz (Hrsg.): Eichendorff heute lesen. Bielefeld 2009, S. 79–89, hier S. 87f.
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Einzug der Moderne
Interessanterweise assoziiert Eichendorff die Bewegung mit dem allgemeinen Wandel im 19. Jahrhundert und erkennt als dessen negatives Resultat die Aufhebung moralischer Grenzen sowie den Niedergang der Sitten,615 was Ring ebenfalls bemängelt, ohne Eichendorffs Diagnose zu teilen. Die Handlung von Max Rings zeitgeschichtlichen Texten spielt zwar vorwiegend in Berlin, doch auch seine Figuren unternehmen immer wieder Reisen und wählen dafür die Bahn. Ein Beispiel dafür findet sich in der Erzählung Der Geheimrath aus dem Jahr 1857, in der der titelgebende Protagonist mit seiner Frau und Tochter sowie mit deren Verlobtem einen Ausflug außerhalb der Stadt unternimmt. In der Beschreibung des Erzählers erinnert der Zug an ein großes Tier: »Schwerfällig keuchte die Lokomotive bald heran und schnaubte wie unwillig über die ihr aufgebürdete Arbeit, dunkle Rauchwolken ausstoßend, welche von der Luft wie ein Schleier hin- und hergeweht wurden. Ein greller Pfiff ertönte (…)«616. Die Darstellung der Vorbereitung auf die Abfahrt hat wiederum etwas Andächtiges an sich, man erkennt, dass es sich (noch) nicht um ein alltägliches Geschehen handelt: Als der Lieutenant zurückkehrte, gab die Glocke das Zeichen zum Einsteigen und das Publikum stürzte aus den Wartezimmern und vom Peron nach dem Zuge; Bekannte nahmen noch schnell einen zärtlichen Abschied; junge Damen wehten mit den Schnupftüchern den zurückbleibenden Freundinnen einen Gruß zu und empfingen das schüchtern dargebotene Blumenbouquet oder die Düte, mit Bonbons und anderen Süßigkeiten gefüllt, aus den Händen ihrer männlichen Begleiter.617
In der Beschreibung der Fahrt wird die Dimension der Neuartigkeit dieses Erlebnisses deutlich, was auch die zuvor erwähnten Ängste nachvollziehen lässt. Die Eisenbahn selbst versinnbildlicht für den Erzähler die Rastlosigkeit der Epoche: In der That erschallte (…) von neuem ein greller Pfiff und die Lokomotive setzte sich Anfangs nur langsam, dann immer schneller und schneller in Bewegung, bis sie in rasender Eile, wie der verkörperte Geist der Zeit dahinschoß, zuweilen eine dunkle Rauchwolke ausstoßend, die sich wie eine riesige Schlange durch die Lüfte in allerhand abenteuerlichen Windungen wälzte.618
Auch für die Natur bedeutet die Begegnung mit der neuartigen Technologie eine nie zuvor gemachte Erfahrung. Ring kontrastiert bei seiner Schilderung die Ruhe des Waldes mit dem Lärm der Maschine und personifiziert dazu die Natur: Donnernd, dröhnend bewegte sich der Zug weiter durch den schattigen Wald, dessen heilige Stille durch das laute Getöse unterbrochen wurde. Erschrocken flatterten die
615 616 617 618
Vgl. ebd., S. 88. Max Ring: Der Geheimrath…, S. 58. Ebd., S. 60f. Ebd., S. 63.
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Vögel aus den Zweigen auf, ein scheues Häschen setzte geängstigt über die blanken Schienen und verschwand am Rande der jungen Schonung. Die zarten Birken zitterten bis zu ihrer Wurzel vor der neuen Kraft der Elemente, während die alten Eichen trotzig ihre knorrigen Aeste gleich drohenden Armen dem Zuge entgegenstreckten.619
Durch das folgende Fragment wird deutlich, dass für die Menschen von außerhalb einer Großstadt, wie in diesem Fall die preußische Hauptstadt, eine Eisenbahn noch immer etwas Neues und Fremdartiges darstellt: »Unaufhaltsam sauste die Maschine vorüber an dem Dörfchen und seinem spitzen Kirchthurm; verwundert schauten ihr die Dorfkinder am Wege nach, und erhoben bei ihrem Anblick ein unartikulirtes Jauchzen, womit sie die noch immer fremdartige Erscheinung begrüßten«620. Neben dieser mit Begeisterung einhergehenden Distanz und Verwunderung offenbart sich in dieser Passage eine weitere gesellschaftliche Facette der neuen Erfindung. Durch die Eisenbahn verliert das Reisen nämlich seinen Individualcharakter und wird zu einer Kollektiverfahrung. Ein Nebeneffekt dieser Entwicklung ist die allmähliche Aufhebung der gesellschaftlichen Klassentrennung. Deshalb nennt eine der adeligen Figuren die Eisenbahn verächtlich »ein durchaus demokratisches Institut«621. Sie aber fährt und lebt »nur gern in guter Gesellschaft« und »muß darum Sorge tragen, daß man sowenig als möglich mit unangenehmen Personen in Berührung kommt«622. Für weniger voreingenommene Protagonisten, wie Anna, die spätere Ehefrau von Assessor Hellwig aus der Erzählung Auch ein Gründer, erweist sich eine solche Fahrt als die Quelle interessanter Beobachtungen. In ihrem Fall ist es aber keine Eisenbahn- sondern eine Omnibusfahrt: Schon der Omnibus mit seinen zahlreichen ein- und austeigenden Passagieren gewährte ihr das größte Vergnügen; da war ein höflicher Herr, der ihr beim Einsteigen so freundlich seine Hand bot (…). Dann kam eine junge Frau mit einem bildschönen Knaben (…); ein Gelehrter mit blauer Brille (…), Arbeiter, die nach gethanem Tagewerk zu ihren Familien in die Stadt zurückkehrten (…).623
Als Omnibus wurde in dieser Zeit ein von Pferden gezogener Wagen genannt, in Berlin nahm die Concessionierte Berliner Omnibus-Compagnie am 1. Januar 1847 ihren Betrieb auf. Technisch gesehen handelte es sich dabei um keine besondere Neuigkeit, andererseits war es der Beginn des städtischen Nahverkehrs, dessen demokratischer Charakter wahrscheinlich noch wesentlich stärker ausgeprägt war als im Falle der Eisenbahn. Erwähnenswert sind außerdem die li619 620 621 622 623
Ebd. Ebd., S. 63f. Ebd., S. 62. Ebd. Max Ring: Neue Stadtgeschichten. Zweiter Band: Auch ein Gründer…, S. 67f.
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terarischen Merkmale in dieser Passage. Der Autor macht sich und die Leser mit dem neuen Fortbewegungsmittel vertraut, indem er die Fahrt äußerst detailliert, zeitgetreu beschreibt und dabei nahezu den naturalistischen Sekundenstil vorwegnimmt. Mit der Einführung anderer technischer Erfindungen, den Anfängen der Elektrifizierung oder der Telegrafie, beschäftigt sich Ring in seinen Werken kaum, obwohl er sie manchmal beiläufig erwähnt. Dem technischen Fortschritt gegenüber ist er grundsätzlich positiv eingestellt, ohne in Begeisterung zu verfallen. Der Grund dafür liegt in der Tatsache, dass er ganz pragmatisch nicht nur die vielen Gewinner des Fortschritts erkennt, sondern auch die möglichen oder tatsächlichen Verlierer. Ein Beispiel für diese Einstellung bietet die Erzählung Handwerk und Studium, in der die Handwerker als Schicht zu den Verlierern des technischen Fortschritts gehören. Zunächst werden hier die Eisenbahnen und der Ausbau des Eisenbahnnetzes mit der nur teilweise nachvollziehbaren Einwendung kritisiert, dass sie das Leben der Handwerker veränderten, indem die Wanderschaft zünftiger Gesellen nach Abschluss ihrer Lehre verlorenging: »Nur wenige Gesellen wandern noch. Die Eisenbahnen haben wie so viele poetische Elemente auch dem Handwerksstand seinen Reiz geraubt«624. Mit dem Absterben einer Tradition einher geht aber eine weitere, viel bedrohlichere Entwicklung, die man zum Teil auch heute, toutes proportions gardées, feststellen kann: »Der fabrikmäßige Betrieb der Gewerbe hat das Uebrige gethan. Die kleinen Städte sind heruntergekommen, Alles drängt sich nach der Hauptstadt hin. Die Herbergen sind verlassen und die frohen Lieder längst verstummt«625. Eine kurze, aber aufschlussreiche Analyse der Lage der Handwerker bezüglich des technischen Fortschritts und dessen Schattenseiten liefert der Erzähler im weiteren Teil des Buches: Die Verbesserungen und neuen Erfindungen im Maschinenwesen, welche dem Ganzen zum Vortheil gereichten, schadeten dem Einzelnen. Das Kapital bemächtigte sich derselben und arbeitete mit ihnen zu einem billigeren Preise, als Menschenhände vermögen. Der Handwerker, der mit dem Kapital nicht gleichen Schritt halten konnte, verarmte immer mehr und mehr. So sank er zu der besitzlosen Klasse herab und vermehrte die Zahl der Unzufriedenen, welche mit jedem Tage wächst.626
Die Schuld an dieser Entwicklung liegt aber nicht bei dem Fortschritt selbst, sondern bei der, aus Sicht des Erzählers, falschen Anwendung der neuen Erfindung bzw. bei einer insgesamt falschen Wirtschaftspolitik. Hoffnung macht dem Erzähler dennoch eine andere, ebenfalls in Handwerk und Studium er-
624 Max Ring: Handwerk und Studium. Erster Theil…, S. 38. 625 Ebd. 626 Ebd., S. 64.
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wähnte Entwicklung, die er mit einer Mahnung an das zu diesem Zeitpunkt immer noch zersplitterte Deutschland verknüpft: Wer die Fremde nicht kennt, wird auch die Heimath nicht verstehn. Es geht dem Einzelnen, wie ganzen Völkern. Eine Nation, die sich dem lebendigen Weltverkehr abschließt, bleibt stehn und verkommt geistig und materiell. Im lebendigen Austausch mit Anderen erwachen alle Kräfte. (…) Kein Weitgereister kann zum engherzigen Spießbürger werden, davor schützen ihn seine Erfahrungen und E[r]innerungen, welche ein geistiges Kapital bilden, von dem er noch lange Jahre zehrt.627
Die Wurzeln der hier nur ansatzweise dargelegten Erscheinung, die man heute als Globalisierung bezeichnen würde, liegen eigentlich in der frühsozialistischen Lehre. Henri de Saint-Simon meinte, die »global vernetzte Welt würde zu einer Verständigung der Völker führen und damit Befremdung und Unfrieden schließlich ganz aus der Welt schaffen«628. In Erfindungen wie die Eisenbahn oder die Telegrafie und deren Verbreitung sahen die Frühsozialisten eine Möglichkeit zur Verbesserung der Lage der Menschen. Dabei ignorierten sie die möglichen Gefahren, wie die bei Ring beschriebene Verwahrlosung der Handwerker durch verstärkten Einsatz von Maschinen, und erkannten im Fortschritt »vielmehr die Aussicht auf allgemeine Wohlfahrt und sozialen Frieden«629. Reminiszenzen an diese Lehre findet man in einer Aussage Börners in Götter und Götzen: Wie ein eisernes Band schlingen sich die Eisenbahnen um die fernsten Gegenden und vermitteln nicht blos den Austausch der Waaren und der industriellen Erzeugnisse, sondern auch der Gedanken und Empfindungen. Der elektrische Draht verknüpft nicht blos die Cabinete, sondern auch die Völker, er dient nicht nur der Börsenspeculation, sondern auch der Freiheit. Die Dampfmaschine hebt nicht nur die Schätze der Erde, spinnt unsere Wolle, webt unsere Kleider, sondern befreit auch den Menschen von dem niedern Sklavendienst, vom gemeinen Tagewerk, von der mechanischen Arbeit.630
Bei Ring wird dieses euphorische Plädoyer durch die Einwendung von Börners Gesprächspartner Bernhard konterkariert, die Dampfmaschine würde »zugleich ein riesig anwachsendes Proletariat«631 schaffen. Der technische Fortschritt und seine Folgen lassen sich in Rings Texten auch am Beispiel der Entwicklung des Tourismus beobachten. Ursache und Folgen sind in diesem Fall relativ einfach zu benennen: die Erfindung der Eisenbahn und der Ausbau des Streckennetzes machen viele bislang schwer erreichbare Orte 627 Max Ring: Handwerk und Studium. Zweiter Theil…, S. 56f. 628 Dirk van Laak: Alles im Fluss. Die Lebensadern unserer Gesellschaft – Geschichte und Zukunft der Infrastruktur. Bonn 2019, S. 49. 629 Ebd., S. 50. 630 Max Ring: Götter und Götzen. Zweiter Band…, S. 80. 631 Ebd.
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zugänglich, die Einheimischen versuchen aus den neuen Möglichkeiten Profit zu schlagen, in der Konsequenz steigt die Zahl der Touristen.632 Ring beschäftigt sich mit dem Tourismus zwangsläufig in seinem zweibändigen Reisebuch In der Schweiz aus dem Jahre 1870. Darin erwähnt er das in den Sommermonaten in Berlin grassierende Reisefieber633 sowie den infolge von Eisenbahnen und Dampfschiffen zunehmenden Fremdenverkehr in der Schweiz634, wobei er dieses Wachstum nicht bewertet. Der Erzähler einer der letzten Stadtgeschichten aus dem Jahre 1876, zu der Rings Reise in die Schweiz möglicherweise den Anstoß gab, blickt dagegen äußerst kritisch auf diese Entwicklung und freut sich in für manche bis heute gültigen Worten darüber, der touristischen Hektik entkommen zu sein: Fern von dem lärmenden Treiben der großen Touristenstraße herrschte hier noch eine wohltuende Einfachheit; keine moderne Hotelwirthschaft, kein zudringlicher Kellnertroß, kein wüster Führerschwarm, keine englischen Snob-Familien (…) verdarben dem schlichten Reisenden die Freude und den Genuß an der wahrhaft entzückenden Natur.635
Eine andere Erscheinung dieser Zeit, die zwar seit der Antike bekannt war, sich aber aufgrund der Industrialisierung schnell entwickelte, stellt die Werbung dar.636 Bei Ring ist sie in dem zweibändigen Roman Der Kleinstädter in Berlin aus dem Jahr 1873 zu finden. Ein lange nicht gesehener Bekannter des Ich-Erzählers, Ludwig Scherer, der bislang Theaterstücke schrieb, erzählt ihm während einer 632 Die Entwicklung des Reiseverkehrs war eine der typischen Erscheinungen dieser Zeit in Europa. 1827 gründete Karl Baedeker den ersten deutschen Verlag für Reisehandbücher. 1841 wurde in England die mutmaßlich erste touristische Gruppenreise von Thomas Cook organisiert, der 1845 das erste Reisebüro in Leicester eröffnete. 1863 entstand das erste Reisebüro in Deutschland (Breslau), das 1873 Reisen nach Ägypten und 1878 sogar Weltreisen anbot. Siehe auch: Gottfried Korff, Klaus Beyrer, Hermann Bausinger (Hrsg.): Reisekultur. Von der Pilgerfahrt zum modernen Tourismus. München 1991; Rüdiger Hachtmann: Tourismus-Geschichte. Göttingen 2007; Alina Dittmann: Carl Stangen – Tourismuspionier und Schriftsteller. Der deutsche Thomas Cook. Frankfurt a. M. 2017. 633 Max Ring: In der Schweiz. Reisebilder und Novellen. Erster Band…, S. 1f. 634 Ebd., S. 88. 635 Max Ring: Neue Stadtgeschichten. Erster Band: Der Herr Professor. Leipzig 1876, S. 145. 636 Zum Thema Werbung in der Literatur siehe auch: Gisela Müting: Die Literatur »bemächtigt sich« der Reklame. Untersuchungen zur Verarbeitung von Werbung und werbendem Sprechen in literarischen Texten der Weimarer Zeit. Frankfurt am Main 2004; Dominik Baumgarten: Ästhetische Transfers zwischen Literatur und Werbung. Marburg 2014; Nicole Sahl: Literature sells. Literatur in der Werbung – Werbung in der Literatur. In: Claude D. Conter (Hrsg.): Aufbewahrt! Literarisches Leben in Selbstzeugnissen, Dokumenten und Objekten = À Conserver! Témoignages, documents et objets de la vie littéraire. Ausstellungskatalog. Mersch 2017, S. 204–223; Thomas Wegmann: Über Zusammenhänge von Literatur und Werbung in der klassischen Moderne. In: Mitteilungen des Regensburger Verbunds für Werbeforschung, 6/2018, Schwerpunkt: Out of Line. Zur Theorie und Geschichte ungewöhnlicher Werbemittel, S. 28–40.
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erneuten Begegnung davon, nun für die Industrie tätig zu sein, womit die Werbebranche gemeint ist: Ich will Dir nur gestehn, daß ich für verschiedene angesehene Geschäfte nicht nur Anzeigen für die Zeitungen, sondern auch für die Littfaßsäulen verfasse. Du weißt ja: ›Noch nie dagewesen:‹ – ›Die sociale Frage gelöst!‹ – ›Keine Revolution mehr!‹ – ›Gesundheit der höchste Schatz!‹ und ähnliche Ueberschriften, welche mit der Empfehlung von Schlafröcken, Malzextract und dergleichen gemeinnützigen Stoffen schließen.637
Scherer schlägt dem Erzähler sogar vor, gemeinsam mit ihm zu arbeiten, da sich dadurch viel Geld verdienen ließe und ihm selbst schnell die Ideen für Werbeslogans ausgingen, doch der Erzähler lehnt diesen Vorschlag mit einer für viele Figuren aus Rings Texten typischen Begründung ab: »Es kam mir, wie eine Entwürdigung vor, auf die Leichtgläubigkeit des Publikums in solcher Weiße zu speculiren und mir auf Kosten der Wahrheit mein Brod zu verdienen (…)«638. Max Rings zeitgeschichtliche Romane und Erzählungen bilden keine Chronik der Epoche, in der sie entstanden. Manche der hier untersuchten Erscheinungen werden nur beiläufig erwähnt, andere weisen Lücken auf (keine Erwähnung von Karl Marx oder Friedrich Engels in Bezug auf die Arbeiterbewegung). Trotzdem lassen sie sich, um mit dem Autor selbst zu sprechen, als ein Barometer ihrer Zeit verstehen, einer Zeit des Wandels, des Übergangs und sicherlich auch der Unsicherheit, der Ring nicht nur als Schriftsteller, sondern auch, zumindest bis zur Aufgabe seiner Praxis im Jahre 1857, als Arzt begegnete.
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Als Arzt war Max Ring ab 1840 in Oberschlesien und von 1850 bis 1857 in Berlin tätig, wenngleich er in den Berliner Adressbüchern bis zum Lebensende als praktischer Arzt und Schriftsteller geführt wird.639 In seinen Werken kommen immer wieder Ärzte als Nebenfiguren vor, wie Börner in Götter und Götzen oder der Ehemann Antonies in Die Geschiedene, in diesen beiden Fällen sind sie, wie erwähnt, auch Träger fortschrittlicher Ideen. Das Meiste über ein Arztdasein in dieser Zeit erfährt man aber aus dem 1856 erschienenen Erzählband Aus dem Tagebuche eines Berliner Arztes, wobei sich der Titel als irreführend erweist, da lediglich die letzten drei der insgesamt neunzehn auf zwei Bände verteilten Erzählungen die Berliner Verhältnisse thematisieren, während die Handlung der ersten sechzehn in Schlesien spielt. Es ist auch schwierig, wenngleich für die folgende Erörterung nicht ausschlaggebend, zu bestimmen, inwieweit es sich 637 Max Ring: Der Kleinstädter in Berlin. Erster Band. Berlin 1873, S. 232. 638 Ebd., S. 254. 639 Siehe S. 271.
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hierbei um einen autobiographischen Text handelt.640 Äußerlich scheint sich eine solche Annahme zu bestätigen, der Ich-Erzähler beginnt wie Ring selbst in Oberschlesien zu praktizieren, eine Anstellung beim Fürsten in Pless bleibt ihm verwehrt, woraufhin er in eine nicht benannte Industriestadt zieht, um dort eine Praxis zu eröffnen. Auch der Umzug nach Berlin stimmt mit Rings Leben überein. Am Anfang des Buches verlässt der Ich-Erzähler Berlin, um in einer kleineren Stadt eine Arbeit zu finden, doch diese Suche erweist sich als schwierig, was dem Leser wiederum eine Vorstellung von der damaligen Lage der Ärzte und deren Perspektiven ermöglicht: Nirgends zeigte sich eine offene Stelle, nirgends eine Aussicht. Vergebens las ich alle Zeitungen und Intelligenzblätter. Haushälter, Dienstmädchen, Köche und Köchinnen wurden verlangt, aber kein Arzt. Schon trug ich mich mit dem Entschlusse, als Europamüder nach Amerika auszuwandern, oder in die Dienste der holländischen Compagnie zu treten und das gelbe Fieber zu heilen (…).641
Schließlich lässt sich der Ich-Erzähler »als Arzt, Wundarzt, u. s. w.«642 in einer Provinzialstadt nieder, doch trotz Anzeigen »in dem Wochenblättchen«643 bekommt er keine Patienten. Die Ausstattung seiner Praxis beschreibt der IchErzähler mit einer dem ganzen Buch eigenen Selbstironie folgendermaßen: Vor mir stand mein Schreibtisch. Auf demselben lagen eine Menge Bücher aufgeschlagen, gleichsam die sprechenden Zeugen meines Fleißes und meiner Gelehrsamkeit, daneben lag der ganze ärztliche Apparat, einige chirurgische Instrumente, mein Hörohr für Brustkranke, Receptpapiere und Schreibzeug. Es war Alles mit einer gewissen Koketterie geordnet, so daß es jedem Eintretenden in die Augen fallen und wie ich glaubte, imponiren mußte.644
Die ärztliche Tätigkeit wird als beschwerlich beschrieben, zumal die Medizin in dieser Zeit, zur Mitte des 19. Jahrhunderts, bei vielen Beschwerden und Krankheiten noch keine wirksamen Mittel zur Verfügung stellt: »Es ist ein mühseliges Geschäft, täglich und stündlich mit Leidenden umzugehn, von einem Krankenlager an ein Sterbebett zu treten, dem heranschleichenden Tod in das hohle Auge zu sehn und ihm doch nicht wehren zu können. Wie oft verwünschte ich
640 Die Texte sollten nicht in der heutigen Bedeutung einer Autobiographie gelesen werden, denn der autobiographische Pakt im Sinne Philippe Lejeunes wird zwischen dem Autor und seinen Lesern nicht geschlossen. Die möglichen Übereinstimmungen mit Rings Leben bleiben somit spekulativ. 641 Max Ring: Ausgewählte Romane und Novellen. Aus dem Tagebuche eines Berliner Arztes. Erster Band. Leipzig 1870, S. 1. 642 Ebd., S. 12. 643 Ebd. 644 Ebd., S. 13.
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meine Ohnmacht und die Rathlosigkeit der Wissenschaft«645. Hinzu kommt eine noch schwerere geistige Bürde, die Patienten unverstellt zu sehen, tiefer hineinzublicken als jeder andere Beobachter: Für den Arzt gibt es nur wenig Geheimnisse; er wird schnell der Vertraute, oft der einzige Freund. Der Leidende wirft vor ihm die Maske ab und er sieht den Menschen nicht nur im gewöhnlichen, sondern auch im geistigen Négligé. Der Schein verschwindet und er darf tiefe, tiefe Blicke in die Vergangenheit und in das Leben seiner Patienten thun. – Es ist ein schwerer Stand.646
Die Beschwerlichkeit des Arztdaseins resultiert nach Ansicht des Erzählers auch aus alltäglichen Problemen wie dem besonders großen Konkurrenzdruck unter der Ärzteschaft. Die viel beschäftigten Ärzte werden von Außenstehenden als die besseren gesehen, auch wenn sie ihren Erfolg unter den Patienten dem Auftreten oder sogar der Verabreichung unerlaubter Mittel verdanken: »Eine imponirende Figur, natürliche oder künstliche Würde, allerlei erlaubte oder unerlaubte Hülfsmittel, vor Allem ein gewisses Savoir faire verleihen oft dem Charlatan und Tropf das Uebergewicht über seine Kollegen, die solche Wege nicht einschlagen wollen oder nicht verstehen«647. Häufig entscheiden daher Zufälle und nicht die Fähigkeiten eines Arztes über seinen beruflichen Erfolg: Mein Ruf stand auf dem Spiel, was aber sollte ich beginnen? Solchen Verleumdungen gegenüber steht der rechtschaffene Arzt hülflos und ohne Vertheidigungsmittel da. Er kann sich nicht auf die Wahrheit berufen, denn dieselbe ist am Krankenbette äußerst schwierig oder gar nicht auszumitteln. Selbst die Sektion giebt nicht immer Aufschluß über die Richtigkeit seiner Ansichten. So hängt sein Renommée von jedem Zufall ab. Ein Wort, ein verfängliches Achselzucken des Kollegen, das Geschwätz der Basen Kaffeeschwestern, das Urtheil der Kinderfrauen und Wickelweiber entscheiden über seine Tüchtigkeit, sein Wissen und schließlich über sein Geschick.648
Am Ende dieser Passage lässt der Erzähler situationsbedingt sogar seinem Frust über die Berufswahl freien Lauf: »Indem ich diesen Gedanken nachging, verwünschte ich zum ersten Male meinen Beruf, den ich aus inniger Neigung und gegen den Willen meines Vaters gewählt hatte«649. Nach seinem Umzug nach Berlin wiederholt sich die ganz am Anfang seines Praktizierens gemachte Erfahrung des Mangels an Patienten, trotz großen Aufwands:
645 646 647 648 649
Ebd., S. 19. Ebd., S. 19f. Ebd., S. 29. Ebd., S. 33f. Ebd., S. 34.
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Sämmtliche Zeitungen und Intelligenzblätter der Residenz brachten drei Tage hintereinander meinen Namen mit fetter Schrift gedruckt und zugleich die Angabe meiner Wohnung und der Sprechstunden. Ich versprach mir einen außerordentlichen Erfolg davon, sah mich aber leider getäuscht. Mehrere Wochen blieb ich unbeschäftigt.650
Es vergehen sogar Monate, bis der Erzähler »das Gesicht eines Patienten zu sehen«651 bekommt. Wahrscheinlich ist auch dies der Grund für eine Reihe von Bemerkungen über die schwierige Lage der Ärzte in der preußischen Hauptstadt. Zum Teil wiederholt er dabei die bereits während seiner Zeit in Schlesien vorgebrachten Argumente: Man kann dreist annehmen, daß mehr als die Hälfte derselben dem Proletariate angehört, wenn sie nicht von Hause ein kleines Vermögen besitzen. Der Theologe, der Jurist und der Lehrer wird vom Staate angestellt und nach beendeter Prüfung besoldet. Ihnen wird die Gelegenheit geboten, ihre Kenntnisse und Fähigkeiten geltend zu machen. Nur der Arzt ist dem Zufall Preis gegeben. Was nützt ihm sein Wissen, sein Talent, das er nicht verwerthen kann, so lange es ihm an Patienten fehlt? Er erliegt der Concurrenz, der Charlatanerie. Eine elegante Einrichtung, eine Equipage, die Protection eines einflußreichen Gönners sind für ihn mehr werth als Geist, Gelehrsamkeit und praktisches Geschick.652
Der Behandlung seiner Patienten, ihren Krankheiten, den angewandten Methoden schenkt der Erzähler dagegen nur wenig Platz. In den von ihm beschriebenen Fällen spielt der Arzt häufig die Rolle des Bekannten oder Vertrauten, der sich eher mit den geistigen, mentalen Problemen seiner Patienten beschäftigen muss als mit den körperlichen. Ein Beispiel dafür bietet die Erzählung Der Hypochonder, deren Protagonist ein »ausgezeichnetes Exemplar dieser Klasse«653 bietet. Von seiner Erkrankung überzeugt zieht er alle »Allopathen, Homöopathen und Hydropathen«654 der Hauptstadt zu Rate. Später bildet er sich ein, dass ihn seine Frau zu vergiften versucht. Wie sich herausstellt, ist das von ihr angewandte Mittel ein Insektenpulver gegen Wanzen. Als es dem Erzähler gelingt, seinem Patienten diesen Umstand bewusst zu machen, wird dieser von seiner Hypochondrie geheilt. Oftmals sind die vermeintlichen Patienten, zu denen der Erzähler gerufen wird, gar nicht somatisch krank. Ihre Probleme, die manchmal als Krankheit gedeutet werden, ergeben sich aus ihren Lebensumständen, der Armut, Einsamkeit oder einer unglücklichen Liebe. Bei den tat650 Max Ring: Ausgewählte Romane und Novellen. Aus dem Tagebuche eines Berliner Arztes. Zweiter Band. Leipzig 1870, S. 84. 651 Ebd., S. 85. 652 Ebd. 653 Max Ring: Ausgewählte Romane und Novellen. Aus dem Tagebuche eines Berliner Arztes. Erster Band…, S. 65. 654 Ebd., S. 65. Siehe auch: Matthias Wischner: Kleine Geschichte der Homöopathie. Essen 2004; Marion Baschin: Die Geschichte der Selbstmedikation in der Homöopathie. Essen 2012.
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sächlich Kranken gibt es dagegen häufig keine Hoffnung auf Genesung, weswegen sich die Aufgabe des Arztes »auf ein Hinhalten und mögliches Verzögern des gefürchteten Endes«655 beschränkt. Zu den wenigen Beispielen einer wirklichen Behandlung zählt die Beschreibung einer Schädeltrepanation, bei der der Erzähler assistiert und die er als eine der »gefährlichsten und mühevollsten« Operationen beschreibt.656 Die Schilderung des Eingriffs ist professionell und sachlich: »Es wird dabei mittelst einer Art von kreisförmiger Säge, die man durch einen besonderen, hebelartigen Apparat in Bewegung setzt, ein rundes Knochenstück herausgeschnitten, vorsichtig herausgehoben und die darunter befindliche ›harte Hirnhaut‹ bloßgelegt und eingeschnitten«657. Manchen neueren, inzwischen wieder verworfenen Ansätzen in der Medizin steht der Erzähler eher skeptisch gegenüber. Dies lässt am Beispiel seiner Einstellung der Physiognomik658 gegenüber nachvollziehen, einer Lehre, bei der man aus dem Äußeren des Körpers, insbesondere des Gesichts, Erkenntnisse über die geistigen Merkmale eines Menschen, vor allem dessen Charakterzüge, zu erhalten versuchte. Das Problematische daran ist aus heutiger Sicht vor allem, dass sie dem Rassismus und der Eugenik Vorschub leistete. Der Erzähler beschäftigt sich zwar nicht mit solchen Fragen, sieht diese Lehre aber trotzdem skeptisch, obwohl er sie nicht vollends verurteilt: Obgleich ich keineswegs einen gewissen Werth der Physiognomik bestreiten will, so möchte ich doch vor Irrthümern und voreiligen Schlüssen warnen. Eine eigentliche Verbrech[e]r-Physiognomie habe ich nur selten gefunden, und trotz meiner vielfachen Erfahrungen möchte ich ihre Existenz noch immer bezweifeln.659
Zu den interessantesten Erzählungen gehört in Aus dem Tagebuche eines Berliner Arztes der Text Ein Ball im Irrenhause, in dem der Erzähler seinem Studien655 Max Ring: Ausgewählte Romane und Novellen. Aus dem Tagebuche eines Berliner Arztes. Zweiter Band…, S. 250. 656 Erst zu dieser Zeit, ab etwa 1865 wurden während archäologischer Ausgrabungen Schädel mit Öffnungen gefunden, deren Entstehung nicht auf Kämpfe oder Unfälle zurückgeführt werden konnte – vgl. Michael Solka: Steinzeitliche Chirurgie. In: Borsuye. Zeitschrift für Medizin u. Kultur. 10, 39, 1998, S. 18f. 657 Max Ring: Ausgewählte Romane und Novellen. Aus dem Tagebuche eines Berliner Arztes. Erster Band…, S. 124. 658 Im deutschsprachigen Raum leistete Johann Caspar Lavater (1741–1801), Pastor, Philosoph und Wissenschaftler, der Entwicklung dieser Disziplin großen Vorschub, vor allem mit seinem vierbändigen Werk Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe (1775–1778). Unverkennbar ist in Lavaters Lehre der »moralische Tenor«. Als Mitbegründer der Moralischen Gesellschaft ging es ihm auch um die »moralische Verbesserung der Gesellschaft« – vgl. Richard Weihe: Die Paradoxie der Maske. Geschichte einer Form. München 2004, 287ff. 659 Max Ring: Ausgewählte Romane und Novellen. Aus dem Tagebuche eines Berliner Arztes. Erster Band…, S. 80.
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freund, welcher nun eine solche Anstalt leitet, einen Besuch abstattet. Schon bei der Betrachtung des Anwesens stellt der Erzähler einen weitreichenden Vergleich an: »Draußen lag die Welt der vernünftigen Wesen, und hier drinnen war das Reich des Wahnsinns und des Irrthums. Nur eine leichte Scheidewand trennte Beide von einander, wie in unserem Gehirn, wo die Grenzen ebenfalls dicht nebeneinander liegen und kaum bemerkbar in einander fließen«660. Der Freund kritisiert die bisherige Vorgehensweise bei Geisteskranken und meint, man habe sie bislang wie Verbrecher behandelt. Noch als er sein Amt angetreten hat, fand er in der Anstalt »einen Drehstuhl, worin die Armen, wenn sie unruhig waren, so lange im Kreise herumgewirbelt wurden, bis sie vor Schwindel die Besinnung verloren; Zwangsbetten und Zwangsjacken; selbst Ketten für die Rasenden, an die man die Aerzte zuerst selber hätte anschließen müssen«661. Als seine Lehrer nennt er u. a. die Pioniere der Anstaltspsychiatrie Philippe Pinel (1745–1826), einen Gegner der Zwangsbehandlung, Jean-Étienne Esquirol (1772–1840), Mitarbeiter und Schüler Pinels, den Begründer der Monomanielehre, sowie die deutschen Psychiater Karl Wilhelm Ideler (1795–1860) und Moritz Gustav Martini (1794–1875)662. Den Höhepunkt der Erzählung markiert ein in der Anstalt organisierter Ball, bei dem der Erzähler vielen bemerkenswerten Gästen begegnet, die sich später als Patienten der Anstalt erweisen, was der Erzähler selbst nicht bemerken konnte. Das psychiatrische Krankenhaus trägt dabei eindeutig Züge einer Heterotopie im Sinne Foucaults, die Darstellung des scheinbar normalen Verhaltens der Patienten unterstreicht die Verortung der Anstalt sowohl innerhalb als auch außerhalb der Gesellschaft. Der ganze Ball stellt sich als ein Experiment an dem Erzähler heraus, im Gespräch erklärt der Studienfreund dem Erzähler seine Methode, darin findet sich auch ein Reformvorschlag an die Behörden: Der gesunde, wie der kranke Mensch bedarf der Liebe; sie allein thut Wunder. So manche Regierung würde ganz wohl daran thun, ein Collegium über Geisteskrankheiten und deren Behandlung zu hören; sie würde zu der Ueberzeugung gelangen, daß weit mehr durch Nachsicht und Milde, als durch Strenge und Tyrannei sich wirken und viel erzielen läßt.663
Die einfache Wahrheit, die sich aus diesem Besuch ergibt, wiederholt auch der Erzähler selbst am Ende seines Textes, als er seinen Freund abschließend charakterisiert: »So herrschte er mit einer Allgewalt, wie sie kein Fürst auf dieser Welt besitzt, lediglich durch seinen Geist und seine Liebe (…); denn nur die Liebe 660 Max Ring: Ausgewählte Romane und Novellen. Aus dem Tagebuche eines Berliner Arztes. Zweiter Band…, S. 58f. 661 Ebd., S. 62. 662 Vgl. ebd. 663 Ebd., S. 71.
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Grundübel der Zeit und eine neue Weltordnung
weckt Gegenliebe; sie vollbringt die größten Wunder (…)«664. Durch diese Erzählung wird auch klar, dass sich Ring nicht per se neuen Strömungen in der Medizin verweigert. Im Gegensatz zur vorher erwähnten Physiognomik werden neue Methoden in der Psychiatrie durchaus positiv dargestellt, auch wenn der Erzähler ihnen mehr als ein interessierter Beobachter begegnet und weniger als Arzt, da sein Tätigkeitsbereich in erster Linie die innere Medizin umfasst. Neben den genannten wird in den Werken Rings noch eine weitere Facette des Arztdaseins angesprochen, die sich angesichts eines aus heutiger Sicht praktisch fehlenden Systems gesundheitlicher Versorgung offenbart. Die Ärzte sind in ihren Hilfeversuchen auf sich alleine gestellt, da es noch kein organisiertes System der Krankenversorgung gibt. Während sich die Wohlhabenden ärztliche Hilfe problemlos leisten können, stehen die Armen im Falle einer Krankheit vor oft unlösbaren Problemen. In dieser Situation kommen Wohltäter ins Spiel, einflussreiche Gönner, die, im Prinzip, ihr Geld den Minderbemittelten schenken. Solche Figuren kommen auch in Rings Texten vor, allerdings erweisen sie sich häufig als Betrüger, die durch ihre Wohltätigkeit andere Interessen verfolgen. Eine solche Figur ist Baronesse von Freistadt aus der Erzählung Der Waisenknabe aus dem Jahr 1858, eine »eine große, stattliche Dame, welche ungemein vornehm aussah und mit einem gewissen Stolze auf die übrige Menschheit« herabschaut, was sie aber nicht daran hindert, eine »fleißige Kirchgängerin zu sein«665. Vor allem aber steht (…) sie im Geruche der größten Wohltätigkeit; sie war Mitglied aller möglichen Vereine für arme Wöchnerinnen, kranke Kinder, verwahrloste Indviduen jeder Art. Sie stand an der Spitze der Krippen- und Kleinkinderbewahr-Anstalten, war Vorsteherin der Frauenhülfskasse, welche jede Weihnachten in einem eigends dazu gemietheten Lokale eine Ausstellung und förmlichen Markt von Stickereien abhielt. (…) Jeden Winter veranstaltete sie auch einen oder mehrere Bälle zu ähnlichen Zwecken (…). Wohltun war und blieb einmal die Passion der Baronesse (…).666
Ein für die Figur, nach Ansicht des Erzählers wohl entscheidender Nebeneffekt ihrer Tätigkeit ist der Zugang zum Hof und dessen »intimeren Zirkeln«667. Während sie »aus Liebe zur Menschheit« und »vor lauter Wohltätigkeit«668 die eigene Familie vernachlässigt, greift die Baronesse »gar zu gern (…) in das Schicksal der armen Leute ein, wobei sie es liebte, die Rolle der Vorsehung zu übernehmen (…)«669. Auch im weiteren Verlauf der Handlung erweist sie sich als 664 665 666 667 668 669
Ebd., S. 73. Max Ring: Neue Stadtgeschichten. II: Der Waisenknabe. Prag und Leipzig 1858, S. 39. Ebd. Ebd., S. 41. Ebd., S. 42. Ebd.
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Arztdasein und Wohltätigkeit
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eine negative Figur, da sie wissentlich ein Waisenhaus unterstützt, in dem die Waisenkinder misshandelt werden. Ein noch eindeutigerer Fall geheuchelter Wohltätigkeit findet sich in einer der Erzählungen aus Aus dem Tagebuche eines Berliner Arztes. Darin wird eine der vom Ich-Erzähler betreuten Patientinnen von dem frommen Baron von Walden finanziell unterstützt, der »an der Spitze verschiedener wohltätiger Vereine«670 steht. Anfangs zeigt sich der Erzähler von dieser Figur begeistert: »Welche Demuth, welche Bescheidenheit, welch ein warmes Mitgefühl für die leidende Menschheit! Jedes seiner Worte athmete die reinste, uneigennützige Liebe und Humanität.«671 Trotzdem kann er sich eines Misstrauensgefühls gegenüber dem Baron nicht erwehren: »Dennoch beschlich mich unwillkürlich in seiner Nähe ein Zweifel an der Aufrichtigkeit des edlen Barons, ohne daß ich eigentlich eine gegründete Ursache hatte«672. Zunächst erscheinen diese Vorbehalte unbegründet, der Baron unterstützt die Kranke und nimmt die ganze Familie für sich ein, sein Interesse an Ihnen scheint mit jedem Besuch zu steigen. Später kommt es aber zu einem Zwischenfall, bei dem der Baron vom Verlobten der Tochter der Patientin, einem Tischlergesellen, verletzt wird, weswegen weitere Hilfe unterbleibt. Doch das eigentliche Opfer ist nicht der Baron, sondern die Tochter der Patientin, die er zum Geschlechtsverkehr zwingen wollte, indem er dies zur Bedingung seiner finanziellen Hilfe für ihren Verlobten machte. Der Tischlergeselle kommt nach dem Angriff auf den Baron ins Gefängnis, der Zustand der Mutter verschlechtert sich. Unerwartete Hilfe kommt der Familie schließlich vonseiten der Verlobten des Barons und ihres Vaters zu, die den Tod der Mutter zwar nicht aufhalten können, die Familie aber weiterhin unterstützen. Die uneigennützige Wohltäterin, denn solche Figuren finden sich auch in Rings Werken, löst ihre Beziehung zum Baron, der jedoch keinen weiteren Schaden nimmt und zwecks Genesung nach Italien reist. Max Ring blickt zwar überwiegend pessimistisch auf seine Umgebung, die er vor allem durch das Prisma des vorherrschenden Materialismus sieht und beschreibt, doch gleichzeitig stattet er immer wieder Protagonisten, die Träger seiner eigenen Ideen zu sein scheinen, mit Ansichten aus, die man etwas vereinfachend als idealistisch oder gar utopisch zusammenfassen könnte. Ein kurzer Vergleich soll diese These abschließend für diesen Teil untermauern. Rings persönliche Weltanschauung lässt sich wohl am besten an einem aus dem 1870 herausgegebenen Reisebuch In der Schweiz stammenden Zitat nachverfolgen, in 670 Max Ring: Ausgewählte Romane und Novellen. Aus dem Tagebuche eines Berliner Arztes. Zweiter Band…, S. 98. 671 Ebd., S. 100. 672 Ebd., S. 101.
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dem gleich mehrere der auf den vorherigen Seiten behandelten Themen angesprochen werden: Krankheit, Fortschritt, Krieg und auch Materialismus: Und doch (…) hat die Erfahrung und darüber belehrt, daß selbst epidemische Krankheiten, die man früher ebenfalls als eine Naturnothwendigkeit ansah, durch Beseitigung der sie verursachenden Schädlichkeiten, der verpesteten Auswurfsstoffe, durch Verbesserung der Luft und des Trinkwassers, durch zweckmäßige Canalisation nicht nur beschränkt, sondern völlig ausgerottet werden können. Lassen Sie uns demnach hoffen, daß die fortschreitende Civilisation, die zunehmende Bildung, die größere Humanität der Menschheit dieselben oder noch größere Dienste leisten, die Völker aufklären und den Kriegen ein Ende machen wird. Was der materielle Vortheil, die Solidarität der Interessen begonnen und angebahnt, soll die höhere Erkenntnis, die Kraft und Macht des Geistes vollbringen (…).673
Am Ende des im gleichen Jahr erschienenen Romans Götter und Götzen lässt Max Ring die Figur des Herrn Weller ein neues Gebäude bauen, das mehrere, den Ansichten des Autors nahestehende und mit der sehr breit verstandenen Bildung verbundene Zwecke erfüllen soll: »Polytechnikum und eine Kunstschule für Gewerbe, verbunden mit einer Halle für öffentliche belehrende Vorträge aus dem Gebiete der Naturwissenschaften, der populären Medicin und besonders der Gesundheitspflege«674. Zum Leiter dieser Anstalt wird der inzwischen zum Professor ernannte Doktor Börner bestimmt, das vermeintliche Alter Ego des Autors. In einem Vortrag erörtert er die »Ziele und Zwecke der neuen Stiftung«675 und äußert u. a. folgende Gedanken, zunächst bezüglich der sich wandelnden Welt: Noch befinden wir uns mitten im Kampfe von entgegengesetzten Interessen. Schroffer als je stehen sich die feindlichen Mächte gegenüber, der Glaube und das Wissen, Freiheit und Willkür, Liebe und Selbstsucht. Auch fehlt es unserer Zeit nicht an Götzen, welche an die Stelle der alten Götter getreten sind, und vor denen wie immer der Pöbel kniet. Aber wir fürchten ihre Herrschaft nicht (…).676
Die Erkenntnisse sind nicht viel anders als die zuvor angeführten Meinungen über den vorherrschenden Materialismus der Zeit, anders ist dagegen der Blick auf diese Welt, der sich im Falle von Börner durch einen großen Zukunftsoptimismus kennzeichnet. Diese Einstellung gründet aber nicht allein in einem Glauben an die Vernunft, sondern vielmehr in deren Verbindung mit dem Guten, Schönen, Rechten und Wahren: »Wir aber erkennen das ewige Walten der Gottheit, die Herrschaft des Wahren, Guten und Großen, die sich in segensreichen Thaten täglich offenbart, sodaß wir nicht mehr blos ahnen, sondern 673 674 675 676
Max Ring: In der Schweiz. Reisebilder und Novellen. Erster Band…, S. 52f. Max Ring: Götter und Götzen. Vierter Band…, S. 247. Ebd., S. 252. Ebd., S. 254.
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schauen, nicht mehr glauben, sondern wissen«677. Der zuvor angeführten Aussage Rings aus In der Schweiz kommt der folgende, in einem bemerkenswert langen Satz gefasste Abschluss von Börners Vortrag am nächsten: Wo die Menschheit ein altes Unrecht stürzt, ein Vorurtheil besiegt, wo sie den Sklaven frei macht, dem gedrückten Neger seine Menschenwürde gibt, wo sie dem Weltverkehr neue Bahnen durch die Wildniß bricht und die fernsten Welttheile durch den elektrischen Draht verbindet, wo sie die Kräfte der Natur benutzt, um Wohlstand und Cultur zu verbreiten, wo sie die Völker zum friedlichen Wetteifer spornt, statt sie zum blutigen Kriege aufzustacheln, wo aus ihrer Mitte die großen Denker und Erfinder auferstehen, um die Welt mit dem Licht der Wissenschaft zu erhellen und unvergängliche Schätze der Erkenntniß zu verbreiten, wo sie wie hier für die wahren Bedürfnisse des Volks in großmüthigster Selbstverleugnung Werkstätten des Geistes, wahre Tempel der Bildung gründet, überall, wo der Einzelne sich selbst vergißt und nur für seine Brüder sorgt, wo die Liebe waltet, die wahre Humanität ihr siegreiches Banner aufpflanzt, da verehren wir das Göttliche im Menschen, da ist Gott zugegen.678
Abgesehen davon, dass sich diese Erwartungen mit jedem weiteren Jahrzehnt als utopisch und vollkommen falsch erwiesen, da der Fortschritt den Völkern Afrikas keine Verbesserung ihrer Lage bringen und sie stattdessen zum Spielball alter und neuer Kolonialmächte degradieren sollte, vor allem aber in letzter Konsequenz zu zwei verheerenden Kriegen mit Millionen Opfern führte, wird am Vergleich der Zitate vom Autor und seinem Protagonisten deutlich, dass Max Ring manche seiner Figuren eigene Gedanken aussprechen ließ und dass diese Gedanken in ihrem Kern von einem starken, auf den Ideen der Frühsozialisten gründenden Idealismus geprägt waren, der sich in der Überzeugung äußerte, dass die Bildung, die Wissenschaft und der generelle Fortschritt, zu dem auch aber nicht nur technische Erfindungen gehörten, der Menschheit einen allgemeinen Wohlstand bescheren würden. Folgerichtig befürwortet Ring, trotz seiner Begeisterung für die Revolution von 1848, eine evolutionäre Entwicklung hin zu einer gerechteren Zukunft. Diese hoffnungsvollen Ansichten werden in einer konkreten Sprache, bei einem geringen Einsatz von Stilmitteln, jedoch in einem immer wieder didaktischen und moralisch belehrenden Ton dargelegt.
677 Ebd., S. 255. 678 Ebd., S. 255f.
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Trügerische Masken, Gleisnerei und die Grenzen der gekannten Welt. Preußische Gesellschaft im 19. Jahrhundert
Das 19. Jahrhundert und insbesondere dessen drittes Viertel war, wie bereits erwähnt, nicht nur von einem Fortschritt im Bereich der Technik geprägt, als kennzeichnend erwiesen sich auch, vor allem aufgrund dieser Prozesse, Veränderungen in Bezug auf die Bevölkerungsentwicklung, die sich für diese Periode mit drei Stichworten zusammenfassen lässt: Bevölkerungswachstum, Migration und Urbanisierung. Die Bevölkerung des Deutschen Bundes, mit Ausnahme von Österreich, stieg nicht allzu schnell, aber allmählich von 33,8 Millionen im Jahre 1850 auf 39,2 Millionen im Jahre 1870, wobei die Geburten- und die Sterberate bis in die Mitte der 1860er Jahre relativ konstant blieb.679 Mit der Migration sind zwei Prozesse der Bevölkerungsentwicklung gemeint, zum einen die Auswanderung aus den deutschen Staaten, vor allem in die USA, welche sowohl aufgrund politischer Verfolgung, als auch aus wirtschaftlichen und/oder sozialen Gründen erfolgte und in manchen Phasen dieser Periode in den 1850er Jahren 0,5 % der gesamten Bevölkerung des Deutschen Bundes, d. h. ca. 1 Million Menschen, jährlich betraf.680 Zum anderen handelte es sich in dieser Zeit um die zunehmende Binnenmigration, die den dritten Prozess, die Urbanisierung, nach sich zog. Dank neuer Arbeitsmöglichkeiten infolge der Industrialisierung vergrößerte sich die Bevölkerung aller größeren deutschen Städte erheblich. Im Falle von Berlin hat sich, wie erwähnt, ihre Zahl zwischen 1800 und 1870 fast verfünffacht, zwischen 1850 und 1870 erfolgte beinahe eine Verdopplung, von 419.000 auf 826.000 Einwohner.681 Zu diesen drei Prozessen gesellte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts ein weiterer, in Form der Auflösung der ständischen Gesellschaft. Die Stelle des Standes blieb aber nicht ungesetzt, sondern wurde von der Schicht übernommen. Der Unterschied zwischen diesen beiden, manchmal fälschlich synonym ver679 Vgl. Christian Jansen: Gründerzeit und Nationsbildung 1849–1871…, S. 75f. 680 Vgl. ebd., S. 77. 681 Vgl. Ulrike Laufer, Hans Ottomeyer (Hrsg.): Gründerzeit 1848–1871. Industrie & Lebensträume zwischen Vormärz und Kaiserreich. Ausstellungskatalog des Deutschen Historischen Museums. Dresden 2008, S. 191.
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Trügerische Masken, Gleisnerei und die Grenzen der gekannten Welt
wendeten Begriffen bestand darin, dass die ursprüngliche und nun an Bedeutung verlierende Standeszugehörigkeit unumkehrbar war, jeder Vertreter eines Standes blieb es ein Leben lang, während man die Schichtzugehörigkeit durchaus überwinden konnte, in die eine oder die andere Richtung.682 Auch wenn diese Prozesse die Entwicklung von einer Agrar- hin zu einer Industriegesellschaft bezeugen, so gibt es auch eine weitere Statistik, anhand derer man feststellen kann, dass dieser Weg zu dieser Zeit gerade einmal die erste Etappe erreichte. Während man die ersten drei Prozesse nämlich bis heute beobachten kann oder, im Falle des Bevölkerungswachstums in Europa, bis vor wenigen Jahrzehnten beobachten konnte, unterscheidet sich die für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts ermittelte Bevölkerungsstruktur immens von der heutigen. Im Jahr 1871, mehr als zwei Jahrzehnte nach der Märzrevolution und hinsichtlich des bereits fortgeschrittenen Wandels zu einer Industriegesellschaft bzw. am Ende der Gründerzeit, teilten sich die Erwerbstätigen in Preußen folgendermaßen auf: die zusammengezählte Ober- und Mittelschicht machte 26,6 % und die Unterschicht – 73,4 % aller Erwerbstätigen aus. Zur ersten Gruppe gehörten Großgrundbesitzer, Voll- und Kleinbauern mit mindestens 1,25 ha Grundbesitz (9,4 %), Bildungsbürger, alle Beamte, Offiziere, Angestellte (3,9 %), Wirtschaftsbürgertum, gewerblicher Mittelstand (vor allem Handwerker und Kleingewerbetreibende; 10,6 %) sowie Rentiers und Pensionäre (2,6 %). Die Unterschicht bestand dagegen aus dem Gesinde (15,0 %), Handarbeitern, Tagelöhnern (26,7 %), gewerblichen Arbeitern (Handwerksgesellen, Gehilfen, Heimarbeitern, Manufaktur-, Fabrik- und Bergarbeitern; 23,6 %), Soldaten (2,4 %) sowie Bettlern, Landstreichern und Armen (5,6 %).683 In Anbetracht dieser Zahlen, insbesondere der Einteilung in Ober- und Mittel- bzw. die Untersicht sollte man festhalten (…) dass sich sämtliche heutigen Einkommensverhältnisse und sozialen Lagen (abgesehen von einer kleinen Randgruppe extremer Armut) innerhalb der ersten Kategorie »Ober- und Mittelschicht« wiederfinden würden. Drei Viertel der Bevölkerung in der Gründerzeit lebten also in für uns kaum vorstellbarer Armut, inakzeptablen hygienischen und Wohnverhältnissen. Innerhalb der »Ober- und Mittelschicht« gab es demnach extreme soziale Unterschiede (…).684
682 Vgl. Christian Jansen: Gründerzeit und Nationsbildung 1849–1871…, S. 85. Siehe auch: Friedrich Lenger: Industrielle Revolution und Nationalstaatsgründung. Stuttgart 2003 (= Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte, 10. Aufl., Bd. 15), S. 142–212. 683 Vgl. Jürgen Kocka: Zur Schichtung der preußischen Bevölkerung während der industriellen Revolution. In: Wilhelm Treue (Hrsg.): Geschichte als Aufgabe. Festschrift für Otto Büsch zu seinem 60. Geburtstag. Berlin 1988, S. 380–385. Siehe auch: Jürgen Kocka: Arbeitsverhältnisse und Arbeiterexistenzen. Bonn 1990, S. 81–89. 684 Christian Jansen: Gründerzeit und Nationsbildung 1849–1871…, S. 87.
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Trügerische Masken, Gleisnerei und die Grenzen der gekannten Welt
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Wollte man die Ober- von der Mittelschicht absondern, würde dazu »neben den (…) adligen Großgrundbesitzern eine schmale Schicht von Wirtschaftsbürgern, ein Teil der Staatsbeamten, die höheren Offiziere sowie ein Teil der ›Rentiers, Pensionäre‹ [zählen], worunter alle verstanden wurden, die von den Erträgen ihres Vermögens leben konnten (…)«685. Max Ring selbst, ob als Arzt oder als Schriftsteller, gehörte zu der Schicht der Bildungsbürger, die gemeinsam mit Beamten, Offizieren und Angestellten knapp vier Prozent aller Erwerbstätigen ausmachte, d. h. ca. 415.000 Menschen in ganz Preußen umfasste. Das Spektrum der Figuren seiner Werke deckt dagegen nahezu alle der genannten Kategorien, wenngleich manche über- (Bildungsbürger), andere dagegen unterrepräsentiert (Bauern) sind, was vor allem auf die Tatsache zurückzuführen ist, dass Rings zeitgeschichtliche Werke zumeist in Berlin spielen. Es wird im Folgenden teilweise versucht, die soziale Struktur in seinen Büchern wiederzugeben, die detailliert angeführte Statistik dient aber in erster Linie dem Ziel, die damalige Bevölkerungsstruktur nachvollziehen zu lassen sowie auf deren Besonderheit im Vergleich zu heutigen Verhältnissen hinzuweisen. Im Allgemeinen wird die zeitgenössische Gesellschaft in Rings Texten sehr kritisch gezeigt, die Erzähler und auch die Figuren beklagen, wie im vorangegangenen Kapitel gezeigt, den vorherrschenden Materialismus, in der Bedeutung des Strebens nach Geld um jeden Preis, den alle Schichten betreffenden Egoismus, den Verfall der Tugenden und Sitten, Heuchelei und Lüge. Ein aufschlussreiches Beispiel für diese Sicht findet sich im ersten von zwei Bänden der Neuen Stadtgeschichten aus dem Jahre 1865 und wird vom Erzähler über eine Figur geäußert, die im Gegensatz zu Börner aus Götter und Götzen oder Gibson aus Ein verlorenes Geschlecht sicherlich nicht als Idealist zu charakterisieren ist: Herr Theodor Glaser hatte mit ganz anderen Leuten verkehrt, mit der Elite einer durch und durch demoralisirten Gesellschaft, deren Heuchelei und Lüge er von Grund aus kannte. Er hatte keine Illusionen mehr und glaubte weder an die Tugend der Frauen noch an die Ehrenhaftigkeit der Männer. Er wußte, daß man sich eben so gut seine Kleider, wie seine Gedanken und Empfindungen borgen kann, und daß es nicht nur geschminkte Wangen und künstliche Zähne, sondern auch geschminkte Geister und künstliche Seelen giebt.686
Rings Kritik ist hier, wie im bürgerlichen Realismus, gegen den Schein, das Fassaden- und Maskenhafte gerichtet, der Autor offenbart dabei einen »Spürsinn für Verstörungen und Trostlosigkeit hinter glänzenden Fassaden«687, wie Fritz 685 Ebd. 686 Max Ring: Neue Stadtgeschichten. Erster Band: Ein moderner Abenteurer. Berlin 1865, S. 214. 687 Fritz Martini: Deutsche Literatur im bürgerlichen Realismus 1848–1898. Vierte Auflage. Stuttgart 1981, S. 489.
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Trügerische Masken, Gleisnerei und die Grenzen der gekannten Welt
Martini in Bezug auf Ferdinand von Saar feststellte. Eine ähnliche, wenngleich von der Gleichgültigkeit der Menschen zeugende und auf Berlin bezogene Kritik wird in der Erzählung Auch ein Gründer sichtbar: Trotz aller Idealität und Illusionen kannte er hinlänglich die Welt der großen Stadt, um auf ihre Theilnahme zu rechnen. Ein flüchtiges Bedauern, ein mitleidiges Achselzucken war Alles, was er von dieser herzlosen, selbstsüchtigen Gesellschaft erwarten durfte. Heute betrauert, morgen vergessen, wo nicht gar verhöhnt und verspottet.688
Die Unbarmherzigkeit und Eigennützigkeit der Einwohner einer Großstadt erweist sich also immer wieder als unerschöpfliche Quelle der Desillusionierung, eine an die Stadt gebundene und altruistische Gemeinschaft kommt demnach nicht vor, es überwiegt Gleichgültigkeit. In Götter und Götzen wird die Kritik noch gesteigert, in den vom Erzähler wiedergegebenen Gedanken des idealistischen und zu diesem Zeitpunkt äußerst verzweifelten jungen Malers Bernhard Schröder: Die Wahrheit ist geächtet, dem Spott preisgegeben, und an ihrer Stelle herrscht die Lüge mit ihrem ganzen Gefolge, Heuchelei, Verleumdung, Gleisnerei und Augendienerei, grinsende Larven, trügerische Masken. Die heilige Unschuld, die fromme Sitte wird durch das freche Laster, durch die schamlose Sünde verdrängt, die in Gold und Purpur einherschreitend, mit ihrer eigenen Schande prahlt, mit ihren verbuhlten Reizen einen schmachvollen Handel treibt und den Meistbietenden Körper und Seele verkauft.689
Bezeichnenderweise sind es in allen drei Fällen die vom Erzähler wiedergegebenen Gedanken der Figuren und nicht seine eigenen Worte, was sie zu äußerst subjektiven Aussagen macht. Damit zerstreut der Autor die Perspektive und schafft in seinen Texten eine Welt, die weder eindeutig, noch einheitlich ist. Mögen manche der Figuren eindimensional erscheinen – für den Raum, in dem sie fungieren, gilt das nicht. Die mögliche Lösung für die vielen Laster der Gesellschaft wird direkt von einer der Figuren der Erzählung Feine Welt ausgesprochen: Auch für uns bietet die Gesellschaft keinen Reiz und keine Nahrung mehr, aber eben so wenig dürfte die Politik unser letztes Ziel und unsere einzige Aufgabe sein. In einer Zeit der allgemeinen Auflösung und Zerstörung muß das Heil von der Familie wieder ausgehen. In ihrem heiligen Schoße allein sind noch die Tugenden zu finden, die sittliche Kraft, welche die Gesellschaft und den Staat regeneriren wird.690
Es ist erneut eine idealistische und zugleich auch utopische Vision, wie sie häufiger in Rings Werken vorkommt, beispielsweise am Ende seines Debütromans Berlin und Breslau. 1847–1849, dessen Hauptfiguren sich auf das Land 688 Max Ring: Neue Stadtgeschichten. Zweiter Band: Auch ein Gründer…, S. 136. 689 Max Ring: Götter und Götzen. Vierter Band…, S. 84. 690 Max Ring: Stadtgeschichten. Vierter Band: Feine Welt. Leipzig 1852, S. 239.
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Der Adel
zurückziehen und eine Bildungsanstalt für Kinder gründen, in der festen Überzeugung, nur auf diese Weise einen gesellschaftlichen und in der Konsequenz auch politischen Wandel herbeiführen zu können.
4.1
Der Adel
Beschäftigt man sich mit Max Rings zeitgeschichtlichen Werken, begegnet man immer wieder Figuren, die dem Adel angehören. Dies ist nicht weiter verwunderlich, schließlich waren sowohl Preußen in seiner ganzen Geschichte wie auch das 1871 entstandene Deutsche Reich eine Monarchie. Einerseits sind adelige Figuren also aus Rings Werken nicht wegzudenken, andererseits spielen sie darin bis auf wenige, untypische Beispiele nicht die führende Rolle. Die Handlung von Rings zeitgeschichtlichen Texten wird vom Autor zumeist in Berlin platziert und in diesen Büchern sind Adelige lediglich Nebenfiguren. Adlige Figuren und auch der Stand als solcher gewinnen dann an Bedeutung, wenn sich der Autor für bürgerlich-adelige Konstellationen entscheidet. Ein Beispiel dafür bietet die Erzählung Keine Geborene, das zweite Band der Neuen Stadtgeschichten aus dem Jahr 1865. Schon der Titel dieser in der Revolutionszeit spielenden Erzählung deutet auf die darin enthaltene Problematik hin: Seraphine Rosenfeld, die Tochter eines Bankiers aus Berlin, ist nämlich keine Geborene, keine Adlige, sondern eine Bürgerliche jüdischer Herkunft, ihre Heirat mit Baron Carl von Steinau deshalb eine Mesalliance, woran sie von anderen Figuren auch deswegen daran erinnert wird, weil die Handlung in der nicht genau lokalisierten preußischen Provinz und nicht in der Hauptstadt selbst spielt. Der Baron ist zwar wirklich in sie verliebt, doch die Akzeptanz seiner Eltern beruht nicht auf ihren persönlichen Vorzügen, sondern liegt im Vermögen ihres Vaters, der interessanterweise selbst ein großer Anhänger des Adels ist. Auf die Feststellung seiner Tochter, der Adel habe sich überlebt, antwortet dieser: Das sagen die Zeitungsschreiber und all’ die Leute, denen die Trauben zu hoch hängen. In der Wirklichkeit sieht und erfährt man gerade das Gegentheil. Wer nimmt die erste Stellung am Hofe ein und lebt in der Umgebung des Königs? Der Adel, kein Anderer wie der Adel. Wer steht an der Spitze der Armee und commandirt das Heer? Wieder der Adel. Auf hundert adelige Offiziere und Generäle kommt vielleicht erst ein Bürgerlicher. Wer bildet die Spitzen der Regierung? Adelige Minister und adelige Regierungspräsidenten. Und da sprechen noch die Leute, daß sich der Adel überlebt hat. Umgekehrt, der Adel besitzt allein Macht und Ansehen im Staate und wenn wir Bürgerlichen nicht noch das Bischen Geld hätten, hätten wir gar nichts.691
691 Max Ring: Neue Stadtgeschichten. Zweiter Band: Keine Geborene…, S. 54f.
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Trügerische Masken, Gleisnerei und die Grenzen der gekannten Welt
Es ist eine nüchterne Darstellung der Lage kurz vor Ausbruch der Märzrevolution, deren Scheitern eine Reaktionsära nach sich zog, weswegen die zu diesem Zeitpunkt bestehenden Machtverhältnisse im Staate vielleicht nicht gänzlich unangetastet, aber doch überwiegend stabil blieben. In Rings Buch ist es aber eine Adlige, Clothilde von Steinau, die Schwester Carls, welche im Gespräch mit ihrer Mutter den zuvor von Seraphine ausgesprochenen Gedanken vom Untergang in einer weiterreichenden Analyse weiterspinnt: Der Adel geht theils durch eigene Schuld, theils durch die Macht der Verhältnisse langsam aber sicher seinem Untergange entgegen. Mit der wachsenden Macht und Souverenität der Fürsten ist sein Ansehen, sein Einfluß immer mehr geschwunden. (…) An den Höfen ruinirten sich unsere Vorfahren durch Luxus und Liederlichkeit. Unsere eigene Familie weiß davon ein Lied zu singen. Die schlechte Wirthschaft und Verschwendungssucht, eine Folge dieser Verhältnisse, brachte den Adel materiell herunter (…). Sein Ansehen mußte um so schneller sinken, je kräftiger sich der bisher verachtete Bürgerstand durch seinen Fleiß, seine Kenntnisse und Industrie entwickelte (…).692
Die Mutter schreibt diese Ansichten, nicht ganz zu Unrecht, Clothildes Bekanntschaft mit dem hiesigen Arzt, Doktor Burger, zu, der, wie auch Börner in Götter und Götzen, ein entschiedener Anhänger der Demokratie ist und in Clothilde verliebt. Doch am Beispiel von Clothilde offenbart sich eine auch am Beispiel einiger anderer adeliger Figuren, die im Gegensatz zur Mehrheit ihres Standes dem politischen Wandel aufgeschlossen gegenüberstehen, festzustellende Eigenschaft: Bevor sie sich endgültig für die Demokratie aussprechen, müssen sie einen inneren Kampf zwischen den neuen, ihrem Stand entgegengesetzten politischen Überzeugungen und der aus ihrer Erziehung resultierenden und zumindest noch ansatzweise vorhandenen Weltanschauung austragen. Bei Clothilde geschieht dies nach einem Gespräch mit Burger, in dem der Arzt ihre Familie angegriffen hatte: Ihr klarer Verstand ließ keine Täuschung über die Lage und die Bedeutung des modernen Adels zu, der ihrem Ideale so wenig entsprach und dessen materieller und geistiger Verfall ihrem Scharfblick nicht verborgen bleiben konnte. Aber so mächtig war das Vorurtheil der Geburt und Erziehung in ihr, so unausrottbar der unbewußte Hochmuth auf die eingebildeten Vorzüge ihres Standes, daß sie ungeachtet ihrer besseren Ueberzeugung nicht zur vollen Erkenntnis ihres Unrechts gelangen konnte, obgleich sie selbst vielleicht am meisten unter ihrem Irrthum litt.693
Nebenbei wird in dieser Passage auch die gegen den Adel gerichtete Einstellung des Erzählers sichtbar, wenn er von »eingebildeten Vorzüge[n]« spricht und diese einen »Irrthum« nennt. Clothilde ist aber nur eine Nebenfigur der Handlung, in deren Zentrum ihr Bruder, Baron Carl von Steinau, steht, der beispielhaft für eine 692 Ebd., S. 22. 693 Ebd., S. 81f.
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Der Adel
Reihe adeliger bzw. aus der Oberschicht stammender Figuren in Rings Werken fungiert. Carl, der als ein junger, in Berlin stationierter Offizier Seraphine begegnet war, stammt nicht nur wegen seiner Herkunft aus einer anderen Welt als seine wohlerzogene, an Kunst und Wissenschaft interessierte und bislang dank ihrer Herkunft bzw. dem Vermögen ihres Vaters mit Künstlern und Gelehrten verkehrende Ehefrau.694 Seine Kenntnisse gehen nicht über »die gewöhnliche Durchschnittsbildung eines Lieutenants«695 hinaus. Nach dem Abklingen der allerersten Liebesgefühle und auch angesichts der Rückkehr in die Heimat, wo er einer ihm bekannten und vertrauten adeligen Gesellschaft wiederbegegnet, wird sein Verhalten gegenüber Seraphine schroffer. Ihr, der aus einer Großstadt stammenden und in der Provinz vereinsamten, selbst von Carls Familie mit Argwohn beäugten, weil bürgerlichen Frau, wirft er vor, selbst für diesen Umstand verantwortlich zu sein.696 Statt nach einer für sie beide akzeptablen Lösung aus dieser Lage zu suchen, widmet er immer mehr Zeit seinen adeligen Bekannten und findet sogar in der »reizende[n], verführerische[n] Gräfin Schönstein«697 eine Geliebte. Diese verkörpert den Typus einer das Leben in vollen Zügen genießenden adeligen Figur in Rings Werken: Sie hatte Paris kennen gelernt und eine Rolle in den dortigen Salons gespielt, mit den hervorragendsten Männern, mit Schriftstellern, Künstlern und Schauspielern im intimen Verkehr gestanden und so manches interessante und piquante Abenteuer mit ihnen erlebt (…). Dann reiste sie eine Zeitlang in Gesellschaft eines russischen Fürsten am Rhein und besuchte die bekannten Bäder, wo sie am grünen Tisch bedeutende Summen verlor, aber auch manche Liaison anknüpfte und eben so schnell wieder löste (…). Vielleicht war es der zerrüttete Zustand ihrer Finanzen, der sie wieder in die Heimath und auf ihre Güter zurückführte.698
Für die mit »unverkennbarer Blasirtheit«699 agierende Gräfin wird das Verhältnis mit Carl zu einer willkommenen Abwechslung von »der Gesellschaft bornirter Landjunker und der adeligen Familien der Nachbarschaft, die allerdings einen auffallenden Contrast zu den Kreisen bildeten, in denen sie sich während ihres Aufenthaltes in Paris, Baden-Baden und Venedig bewegt hatte«700. Zu den wenigen Zerstreuungen in dieser Gegend gehören für den Adel die diesem Stand vorbehaltenen Bälle, bei denen deutlich wird, dass die adlige Gesellschaft durchaus nicht homogen ist, sondern einer strengen, ihrem Rang entsprechenden Hierarchie unterliegt, auch wenn in diesem Fall die höher ge694 695 696 697 698 699 700
Vgl. ebd., S. 103. Ebd. Vgl. ebd., S. 106. Ebd., S. 126. Ebd., S. 127. Ebd., S. 128. Ebd.
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Trügerische Masken, Gleisnerei und die Grenzen der gekannten Welt
stellte adlige Person keinen guten Ruf genießt: »Der Nimbus der Geburt übte in diesen Kreisen einen so großen Zauber aus, daß selbst sonst ehrenwerthe Männer und Frauen diese bekannten Thatsachen ignorirten und sich durch einen freundlichen Blick (…) einer solchen Frau geehrt fühlten«701. Außerdem werden Jagden veranstaltet mit abschließendem Festessen, die der Erzähler als ein ausschweifendes Gelage darstellt: Nach der Jagd bewirthete die Fürstin ihre Gäste auf dem Schlosse mit einem ausgesuchten Souper, das bei aller Beobachtung der äußeren Formen einer Orgie immer ähnlicher wurde. Der köstliche Champagner floß in Strömen und löste die Zungen in ungewohnter Weise; die kecksten Scherze wurden gewagt und mit rauschendem Beifall aufgenommen, Erzählungen piquanter und galanter Abenteuer jagten einander und erregten ein nie endendes Gelächter. (…) Auf den Wunsch der Fürstin und mit ihrer Unterstützung eröffnete der Adjutant eine Pharobank, um die sich bald die ganze Gesellschaft gruppirte. Man fing mit verhältnißmäßig geringen Einsätzen an, die sich jedoch im Verlaufe des Spiels zu einer sonst in Privatkreisen nicht üblichen Höhe steigerten.702
Später zieht sich die bei der Jagd und der nachfolgenden Veranstaltung ebenfalls anwesende Gräfin mit Carl zurück, doch bei dem Verhältnis geht es ihr nicht allein um Zerstreuung oder gar Liebe, sondern um die Verbesserung ihrer finanziellen Lage durch den vermeintlich reichen Baron. Sie lässt ihn für ihre Spielschulden Wechsel ausstellen, die Adjutant von Pittwitz, ein vorgeblicher Freund und Rivale Carls um die Gunst der Gräfin, aufkauft, um den Baron in den finanziellen Ruin zu treiben. Selbst als Seraphine schwanger wird, löst dies keine Gewissensbisse bei ihrem Ehemann aus, im Gegenteil, er verbringt noch weniger Zeit mit ihr. Es bedarf gleich mehrerer Schicksalsschläge, damit Carl einsichtig wird und sein Verhalten ändert. Neben der an der Figur des Adjutanten zu beobachtenden, dem Adel aber nicht vorbehaltenen Heimtücke, ist dies, eine rücksichtslose Selbstsucht, die typische Eigenschaft vieler, vor allem junger Protagonisten aus der Oberschicht in Rings Werken. Das Kind stirbt, Carl wird bei einem Duell mit von Pittwitz schwer verwundet und nur dank Seraphines Einsatz entgehen sie dem finanziellen Ruin. Was weiter passiert, stellt Carl in eine Reihe mit zwei anderen adligen Protagonisten aus anderen Werken: Wanda von Selz aus Berlin und Breslau. 1847–1849 sowie Gibson aus Ein verlorenes Geschlecht. Durch den Einfluss von Seraphine und Clothilde, die ihn pflegen, begeistert er sich für die Ideen der nur am Rande erwähnten Märzrevolution und wird am Ende Landwirt, während sich seine Schwester mit Doctor Burger verlobt. Wie im Falle von Wanda, Gibson und auch ihrem Bruder ist dies eine weitere bürgerlich-adelige Beziehung. Im letzten Satz des Buches meint der Erzähler, 701 Ebd., S. 125. 702 Ebd., S. 156.
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Der Geldadel
Carl von Steinau gehöre nun »zu dem Adel, den weder Geburt noch Geld, sondern einzig und allein das Verdienst dem Manne«703 verleihe. Das Sinnbild für den Zustand des Adels kann man in der Beschreibung des Schlosses der von Steinaus suchen: »Es war ein stattliches Gebäude und zeigte trotz sichtbarer Vernachlässigung noch jetzt die Spuren von dem früheren Wohlstande und Glanz der angesehenen Familie«704. Auch die Tatsache, dass das Schloss später für das Geld von Carls Schwiegervater, einem schließlich bürgerlichen Bankier, renoviert wird, kann symbolisch gedeutet werden. Trotz des gesellschaftlichen Wandels übt der Geburtsadel weiterhin einen großen Einfluss auf viele bürgerliche Figuren aus Rings Werken aus. Schon Seraphines Vater würde »viel darum schenken, (…) nicht ›Rosenlaub‹, sondern Herr ›von Rosenlaub‹«705 zu heißen. Auch in der Erzählung Der Herr Professor wird die Möglichkeit erwähnt, einer der Figuren »den Adel zu verschaffen«706. Und im Roman Götter und Götzen schlägt der zwielichtige August Fleckel einem adeligen Oberst unumwunden vor, ihn zu adoptieren und somit zum Adelstitel zu verhelfen.707 Doch auch wenn die Märzrevolution gescheitert ist, haben sich die Zeiten inzwischen geändert, eine strikte Trennung zwischen den Ständen, bei der den Bürgerlichen lediglich die Rolle der Dienstleister für den Adel zugedacht ist, gehört nunmehr der Vergangenheit an. In Berlin beteiligen sich Adlige an, in diesem Fall betrügerischen, Geschäften, deren Urheber wohlhabende Bürgerliche sind.708 Schon die adelige Clothilde ist sich dessen bewusst, dass die »Aristokratie des Geldes (…) der Aristokratie der Geburt den Rang abgelaufen«709 hat. Und auch später bemerkt der Erzähler während des Besuchs von Herrn Rosenlaub bei den von Steinaus, dass »Geldadel und Geburtsaristokratie (…) einander schroff«710 gegenüberstehen.
4.2
Der Geldadel
Für die neue Wirtschaftselite verkommt der Adel trotz aller seiner zum Teil noch bestehender Privilegien zu einem Relikt aus längst vergangenen Zeiten, auch wenn manche Adlige aufgrund ihres Auftretens, ihrer Manieren oder auch an703 704 705 706 707 708 709 710
Ebd., S. 218. Ebd., S. 13. Ebd., S. 53. Max Ring: Neue Stadtgeschichten. Erster Band: Der Herr Professor…, S. 97. Vgl. Max Ring: Götter und Götzen. Vierter Band…, S. 139f. Vgl. Max Ring: Götter und Götzen. Dritter Band…, S. 211f. Max Ring: Neue Stadtgeschichten. Zweiter Band: Keine Geborene…, S. 23. Ebd., S. 172.
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Trügerische Masken, Gleisnerei und die Grenzen der gekannten Welt
derer mehr oder minder lobenswerter Vorzüge vor allem für die jungen Vertreter der neuen Eliten durchaus zum Vorbild taugen, wie Graf von Stutterbach »aus uraltem Geschlecht, (…) das Orakel des Jockey-Clubs, der Löwe des Salons, berühmt und berüchtigt durch seine zahllosen Abenteuer auf dem Felde der Liebe und durch seine noch zahlreichern Schulden«711 für Jacques Schröder, Sohn des Kommerzienrats aus Götter und Götzen. Doch außer einem ausschweifenden Lebensstil hat der Adel der neuen Elite kaum etwas zu bieten, denn das »Gold ist in unserer Zeit am Ende doch der alleinige Gebieter der Welt und die Pfandbriefe gehen den Adelsbriefen stolz voran«712, wie der Erzähler in dem dritten Band der ersten Stadtgeschichten aus dem Jahre 1852 bemerkt. Ebenfalls in dieser Erzählung, An der Börse, werden Vertreter der beiden konstituierenden Teile der Oberschicht, des Geburts- und des Geldadels, einem Vergleich unterzogen, in dem sich die zuvor angeführten Eigenschaften bestätigen: Die beiden Kreise unterschieden sich wesentlich. Dort alte, ehrwürdige Ruinen, verfallene Burgen, welche noch immer stolz herniederschauten, hier moderne Palläste, mit dem Luxus und Komfort der heutigen Zeit versehen, welche den unwirthbaren Schlössern den Rang abzulaufen drohten. Der Adel zeigte vergilbte Spitzen und welke Gesichter, aber feine und sichere Manieren, ererbte Traditionen von früherer Größe und verschwundenem Glanz. Die Börse dagegen lachte in üppiger Frische und strahlte von Brillanten; ihr Auftreten war kecker und natürlicher, im Vollgefühle der Kraft, welches Jugend und Reichthum giebt.713
Zwar kommt es im Laufe der Begegnung zu einer Annäherung der beiden Gruppen, doch die Regeln diktiert dabei die neue Elite, denn selbst »der strengste Aristokrat vermag sich nicht mehr dem gewaltigen Einfluß der modernen Gottheit zu entziehn«714. In der Erzählung wird die Geschichte des Bankiers Eduard Werth geschildert, der ein aufschlussreiches Beispiel eines Vertreters des reichen Wirtschaftsbürgertums abgibt. Eduard Werth ist ein Mann »in den besten Jahren«715, der »einige Jahre in London auf dem Komptoir eines der größten Häuser der City gearbeitet«716 hat und deshalb eine große Vorliebe für England hegt, die sich in seiner Kleidung, seinen Manieren, selbst in seiner Sprache manifestiert. Inzwischen reich geworden pflegt er einen in jeder Beziehung luxuriösen Lebensstil, der den Sinn der Bezeichnung Geldadel bzw. Geldaristokratie rechtfertigt, allerdings zu den besten Zeiten dieses Standes: 711 712 713 714 715 716
Max Ring: Götter und Götzen. Erster Band…, S. 195. Max Ring: Stadtgeschichten. Vierter Band: An der Börse…, S. 70. Ebd., S. 172. Ebd., S. 173. Ebd., S. 7. Ebd., S. 8.
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Der Geldadel
Herr Werth liebte den Luxus und Komfort des Lebens, doch noch weit mehr, wenn von ihm und seinem Vermögen gesprochen wurde. Er entwickelte bei solchen Gelegenheiten eine verschwenderische Pracht, denn auf einige tausend Thaler mehr oder weniger kam es ihm gar nicht an. Wer den orientalischen Luxus kennt, der bei den Bällen der Geldaristokratie zu herrschen pflegt, wird sich einen Begriff von den eleganten Toiletten der hier versammelten Gäste machen können. Das rauschte von Seide und kostbaren Stoffen, das Gold schimmerte und die Juwelen blitzten.717
Im Laufe der Handlung entwickelt er sich auch zu einem Mäzen der Künste und offenbart »eine wahre Leidenschaft für das Theater und besonders für Oper und Ballet«718, während er sich früher nur für sein Geschäft interessierte und zur Zerstreuung lieber Karten spielte. Dieser Zug, das manchmal oberflächliche Interesse an Kunst und Kultur lässt sich auch am Beispiel des Hauses eines anderen Gewinners der Gründerzeit nachvollziehen, des Kommerzienrats Rosen aus der Erzählung Auch ein Gründer: In malerischer Unordnung lagen auf Etageren von Rosenholz die Erzeugnisse der neuesten Literatur, englische Keepsakes, spannende Sensationsromane, politische Broschüren und lyrische Dichtungen, an denen der prachtvolle Einband das Beste zu sein schien, kostbare Kupferwerke, Aquarellen und Illustrationen, Zeitungen und Modejournale.719
Die vorherige Beschreibung von Werths neu erwachtem Interesse an den Künsten hat zwar nichts Ironisches an sich, doch die Folgen seiner Begeisterung sind ganz anderer Natur: Er lässt sich nämlich auf eine Affäre mit einer Schauspielerin ein, auch dies eine in Rings Werken typische Verhaltensweise der finanziellen Elite. Doch Werths Leben ändert sich durch eine Krise an der Börse: Er verliert einen Großteil seines Vermögens und wird dazu spielsüchtig, wodurch sich seine finanzielle Lage noch weiter verschlechtert. Außerdem stellt sich heraus, dass der Bankier seine Geschäftsbücher gefälscht hat. Angesichts des drohenden Bankrotts flieht er nach England, wird aber aufgespürt, zurückgebracht und festgenommen. Sein Ende ist jäh: Er wird wahnsinnig und stirbt kurz darauf. Eine ähnliche, obgleich weniger tragische Figur bildet der Kommerzienrat Eduard Schröder im Roman Götter und Götzen, in dessen »keineswegs unangenehmen, nur etwas harten Zügen (…) sich ein hoher Grad von selbstbewußter Lebensklugheit [zeigt], wie sie häufig bei Leuten vorgefunden wird, die durch glückliche Speculation ein bedeutendes Vermögen sich erworben haben«720. Außerdem verkörpert Schröder den »Typus eines würdigen Bankiers, respectabel vom Scheitel bis zur Sohle, anständig in jeder Miene und Bewegung, in jeder 717 718 719 720
Ebd., S. 169. Ebd., S. 102. Max Ring: Neue Stadtgeschichten. Zweiter Band: Auch ein Gründer…, S. 15. Max Ring: Götter und Götzen. Erster Band…, S. 5.
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Trügerische Masken, Gleisnerei und die Grenzen der gekannten Welt
Falte seines Herzens und seiner saubern Toilette, seines Gewissens und der weißen Leibwäsche, die den frischgefallenen Schnee beschämte«721. Die Bezeichnung ›respektabel‹ gebraucht der Erzähler gleich sechsmal auf etwas weniger als zwei Seiten, um Schröder selbst wie auch seine Umgebung zu beschreiben. Mit diesem Adjektiv werden demnach seine Accessoires, die Ausstattung der Wohnung und seine Gesinnung geschildert, »die Art und Weise, wie er seine Geschäfte führte, wie er an der Börse und in der Gesellschaft auftrat, wie er als Mensch, Familienvater und Staatsbürger seine Pflichten pünktlich erfüllte, sodaß er darum allgemein in hoher Achtung stand«722. Und respektabel ist ebenfalls »der freundlich herablassende und doch entschiedene Ton, worin er den verschiedensten Personen, seinem Buchhalter, seinen Commis, Maklern und Börsenagenten gleich einem Fürsten Audienz ertheilte (…)«723. Es ist aber auch Schröder, der den Wunsch seines Neffen Bernhard, Maler werden zu wollen, nicht nachvollziehen kann und für seine Tochter Klara eine gute Partie sucht, ihre Gefühle ignorierend. Schröder geht im Falle seiner Tochter sogar so weit, dass er sie für verrückt erklären lassen will, um sie auf diese Weise zur Entscheidung für den von ihm erwünschten Kandidaten zu zwingen.724 Andererseits ist der Urheber dieser Machenschaften in Schröders Sohn Jacques zu suchen, der am Ende auch den finanziellen Ruin der vom Vater gegründeten Firma herbeiführt. Dank des ursprünglichen Vermögens seines Vaters genießt Jacques das Leben in vollen Zügen und pflegt einen ausschweifenden Lebensstil. Zu seinen Abenteuern gehört die Affäre mit einer Balletttänzerin, deren Künstlername Melusine Saint-Pierre lautet und die sich scheinbar berechtigte Hoffnungen auf eine Heirat mit ihm macht. In einer längeren Aussage äußert Herr Weller, der Geschäftspartner von Herrn Schröder, seine Meinung über diese jungen Vertreter der Oberschicht, zu der er auch Jacques zählt: (…) mit dem Treiben der sogenannten goldenen Jugend (…) sollt ihr mir vom Leibe bleiben. Die vergeudet nur ihre beste Kraft, wälzt sich im Schmuz, stürmt auf ihre Gesundheit los, verschwendet nicht nur Geld und Zeit, sondern auch das Beste, was ihr Gott gegeben hat, das Mark aus den Knochen, Hirn und Herz, bis sie, welk vor der Zeit, matt und vertrocknet, was man mit Einem Worte blasirt nennt, dahinsiecht und elend, jammervoll zu Grunde geht (…). Daher kommen diese schwindsüchtigen, saft- und kraftlosen Männer, diese jugendlichen Greise, welche mit allen Thorheiten der Jugend alle Laster des Alters verbinden, Leichtsinn und Liederlichkeit mit gemeiner Selbstsucht und Herzlosigkeit, verzehrende Begierden mit ohnmächtiger Schwäche, kalte Berechnung mit wilder Leidenschaft, üppige Verschwendung mit schnödem Geiz, indem sie
721 722 723 724
Ebd. Ebd., S. 5f. Ebd., S. 6. Vgl. Max Ring: Götter und Götzen. Vierter Band…, S. 205ff.
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Der Geldadel
Tausende zur Befriedigung ihrer Wollust und ihrer Vergnügungen verschleudern und nicht einen Pfennig für das allgemeine Beste übrig behalten (…).725
Schließlich entscheidet sich Jacques, den Erwartungen seines Vaters entsprechend, um die Hand von Bella anzuhalten, die Tochter des »Geheimen Finanzraths von Witzenhausen«726. Auch diese Ehe sagt einiges über die neue Oberschicht aus. Sie leben als gleichrangige Partner in »musterhafter Einigkeit«727 und sind »viel zu klug (…), um sich das Leben durch fortgesetzte Eifersucht zu erschweren«728, denn »fester als jede gegenseitige Neigung verknüpfte sie das Band der gemeinschaftlichen Interessen«729, die sich u. a. in dem Vorhaben offenbarten, nach dem Tod der Mutter den Einfluss Klaras auf den Vater zu verringern. Die Beschreibung ihrer Flitterwochen zeigt dagegen eindrücklich die Möglichkeiten, die sich der neuen finanziellen Elite eröffneten: Sie hatten gewissenhaft ihr Programm innegehalten und die vorgeschriebenen Touristenwege absolvirt (…). Von der Schweiz waren sie über die Gotthardstraße nach Italien gegangen, wo sie sich in Kirchen und Museen langweilten, in Mailand die Betten feucht, in Florenz die Strohhüte weit theuerer und in Genuas die Seefische weit schlechter als in ihrer Heimat fanden. Besser gefiel es ihnen in Paris (…); hier fühlte sich Jacques in seinem Element, besonders in der Closerie de Lilas, auf den Boulevards und an der Table-d’h ôte des Grand-Hôtel de Louvre, wo er Champagner trank, nach vornehmen Bekanntschaften suchte und seine Parvenunatur nicht verleugnete, obgleich es ihm keineswegs an einer gewissen äußern Politur und oberflächlichen Bildung fehlte, hinter der sich seine ursprüngliche Roheit barg.730
Doch am besten amüsieren sie sich in Baden-Baden, wo sich »die vergnügungslustige Schaar der fremden Gäste und Touristen aus allen Weltgegenden«731 versammelt. Die bisherigen Erfahrungen ihrer Reise verblassen, denn in dem Kurort ist, wie es der Erzähler zusammenfasst, »classische Nacktheit mit romantischer Liederlichkeit, antike Freiheit mit moderner Frivolität gepaart«732, was den Figuren am besten entspricht. Später steigt Jacques in die Firma seines Vaters ein und wird angesichts dessen Desinteresses immer mehr zu deren geschäftigem Leiter, zunächst mit Erfolg. Aufgrund seiner Risiko- und Spekulationsbereitschaft nennt ihn der Erzähler einen Repräsentanten der neuen Zeit733. Doch im Laufe der Zeit erweisen sich 725 726 727 728 729 730 731 732 733
Max Ring: Götter und Götzen. Erster Band…, S. 187. Ebd., S. 237. Max Ring: Götter und Götzen. Dritter Band…, S. 61. Ebd. Ebd. Max Ring: Götter und Götzen. Zweiter Band…, S. 181f. Ebd., S. 176. Ebd., S. 188. Vgl. Max Ring: Götter und Götzen. Dritter Band…, S. 169.
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seine, auch mit der Hilfe und dem Wissen adliger Unterstützer getroffenen Maßnahmen als nur auf den eigenen Gewinn ausgerichtete betrügerische Machenschaften. Sobald er verhaftet werden soll, greift Jacques, der die Schmach eines Prozesses und der sicher geglaubten Gefängnisstrafe nicht ertragen kann, zur Waffe und erschießt sich.734 Wie die adelige Clothilde in Keine Geborene ist es in Götter und Götzen Klara, die großbürgerliche Tochter von Bankier Schröder, die in einer Aussage bezüglich ihres Bruders der gesamten Oberschicht den Spiegel vorhält und diese aufs Äußerste kritisiert: Er ist nur das getreue Echo einer Welt, für die es keinen andern Maßstab gibt als das Geld. Geist, Wissen, Talent und Genie, Sittlichkeit und Tugend finden in diesen materiellen Kreisen keine Schätzung mehr; sie haben keinen Werth, weil man sie nicht wägen, nicht verwechseln, nicht in baares Geld umsetzen kann. Diese Menschen tragen an der Stelle des Herzens nur noch einen Geldbeutel, ihr Gott ist das goldene Kalb, ihr Tempel die Börse, ihr Evangelium der Courszettel. Sie achten eine Actie, ein zinstragendes Papier höher als alle unsterblichen Schöpfungen des Genius und schwärmen nur noch für Austern und Cigarren, für Champagner und Hummersalat. für Pferde und Tänzerinnen.735
Klara selbst bleibt ihren Überzeugungen treu und wird am Ende zu einer der grenzüberschreitenden Figuren in Rings Werk, auch wenn es sich in ihrem Fall nicht um Standesgrenzen handelt. Sie heiratet den ebenfalls bürgerlichen, wenngleich viel weniger vermögenden Dr. Börner. Es wäre aber falsch zu behaupten, Ring zeichne die bürgerlichen Figuren aus der finanziellen Oberschicht ausschließlich kritisch. Der neuen Elite gehört beispielweise auch Herr Weller an, obgleich er die Funktion eines Außenseiters erfüllt, der mit seinen mahnenden Worten über die aus seiner Sicht falsche Ausrichtung der Firma, aber auch viele andere gesellschaftliche Entwicklungen auf Unverständnis sowohl bei Eduard Schröder, als auch und vor allem bei Jacques stößt. Und selbst Eduard Schröder wird letztendlich als ein Opfer der Machenschaften seines Sohnes gezeigt. Im Gegensatz zum Adel erweist sich die neue Oberschicht auch als viel durchlässiger, ein Aufstieg ist ebenso möglich wie ein Abstieg, den beispielsweise Herr Werth und Jacques Schröder angesichts ihres Bankrotts erleben müssen. Selbst die Oberhäupter dieser Schicht, Herr Schröder sen., Herr Rosen oder Herr Rosenlaub, sind in Wirklichkeit Emporkömmlinge, die sich zu ihrer Stellung erst emporarbeiten mussten. Bei gesellschaftlichen Anlässen, die Vertreter der Oberschicht veranstalten, sind wiederum adlige Figuren genauso vertreten wie bürgerliche Protagonisten, als Beispiel sei hier das Haus von Herrn Rosen genannt, in dem sich regelmäßig die folgende Gesellschaft trifft: 734 Vgl. Max Ring: Götter und Götzen. Vierter Band…, S. 243f. 735 Max Ring: Götter und Götzen. Erster Band…, S. 34.
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Die Mittelschicht
(…) alte und junge Lebemänner, elegante Dandys, eroberungslustige Offiziere, einige Aristokraten, die durch eine reiche Partie ihre zerrütteten Vermögensverhältnisse und verschuldeten Güter zu verbessern gedachten, großartige Börsenspeculanten und Fabrikbesitzer, gelehrte Professoren und Künstler, darunter zahlreiche Zukunftsmusiker mit langen Haaren und noch größerer Selbstüberschätzung (…).736
Der allgemeine Wandel macht sich demnach auch an der Struktur der Gesellschaft bemerkbar. Der Adel hat zwar darin weiterhin seinen Platz, doch seine Rolle ist aufgrund der finanziellen Schwäche nicht mehr die des Anführers, obgleich adlige Etikette teilweise immer noch gefragt ist, wie am Beispiel des Strebens nach Adelstiteln seitens vieler Großbürger zu beobachten ist. Der Übergang von einer Standesstruktur zur Schichtstruktur der Gesellschaft737, die letztendlich zur weiteren Verringerung der Rolle des Adels und deren Übernahme durch die finanzielle Oberschicht führen sollte, zeigt sich auch an folgendem Zitat: »Dort stand ein Gründer-Krösus, der noch vor einigen Jahren mit alten Kleidern handelte, im eifrigen Gespräch mit dem Abkömmling eines erlauchten Hauses, dessen Stammbaum bis zu Karl dem Großen reichte«738. Doch diese beiden Figuren sind lediglich zwei unterschiedliche Vertreter einer neuentstandenen Oberschicht, die es in dieser Form bislang nicht gab. Eines der sekundären Themen in Rings Büchern ist somit auch das Streben nach gesellschaftlichem Aufstieg.
4.3
Die Mittelschicht
4.3.1 Parvenüs Bei der Beschreibung mehrerer Figuren bedient sich der Erzähler der wenig schmeichelhaften Bezeichnung ›Parvenü‹, womit er insbesondere die zu großem Reichtum gekommenen Vertreter der finanziellen Oberschicht meint. Dieser vor allem für die Gründerzeit mit ihrer immensen Geldakkumulation typische Ausdruck739 ist auch bei Ring negativ besetzt, denn der Zuwachs am materiellen Kapital geht bei den meisten Vertretern dieser Klasse in seinen Texten nicht mit einer Zunahme am kulturellen Kapital einher. Dass Parvenüs hier die Beschreibung des Bürgertums eröffnen, liegt daran, dass sie ein Zwischenmilieu darstellen: von Geburt bürgerlich, greifen sie durch ihren Reichtum und Einfluss 736 737 738 739
Max Ring: Neue Stadtgeschichten. Zweiter Band: Auch ein Gründer…, S. 15. Vgl. Christian Jansen: Gründerzeit und Nationsbildung 1849–1871…, S. 85. Max Ring: Der Kleinstädter in Berlin. Zweiter Band…, S. 69. Siehe auch: Jost Hermand: Der gründerzeitliche Parvenü. In: Peter Hahlbrock, Erta Elisabeth Killy (Hrsg.): Aspekte der Gründerzeit. Katalog zur Ausstellung in der Akademie der Künste (Berlin) vom 8. September bis zum 24. November 1974. Berlin 1974, S. 7–15.
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Trügerische Masken, Gleisnerei und die Grenzen der gekannten Welt
nach der gesellschaftlichen Rolle, die bislang den Adligen vorbehalten war. Dieser Gruppe gehört beispielsweise Jacques Schröder an, dem der Erzähler eine »Parvenunatur«740 bescheinigt. Auch Herr Rosenlaub, der Vater Seraphines aus Keine Geborene, wird als »ein ausgemachter Parvenu mit allen üblen Angewohnheiten und Lächerlichkeiten eines solchen«741 bezeichnet, womit vor allem seine »unbegrenzte Eitelkeit« gemeint ist, die »ihn zu manchen Extravaganzen verführte und ihm den Ruf eines eingebildeten Narren verschaffte«742. Im Falle von Herrn Rosen, dem Vater Helenes aus der Erzählung Auch ein Gründer, äußert sich das Parvenühafte dagegen in der Architektur und der Ausstattung seiner Villa: Die prachtvolle Besitzung des reichen Commerzienraths trug durchaus den Stempel der Neuheit und des modernsten Geschmacks, den man mit dem Namen des »ParvenuStyls« bezeichnen kann; jene eigenthümliche Mischung aus äußerer Pracht und innerer Leere, von Ostentation und Sparsamkeit, von Geiz und Verschwendung, wodurch unsere heutige Geldaristokratie so sehr charakterisiert wird.743
Doch auch wenn die meisten der so bezeichneten Figuren aus Rings Werken in der finanziellen Oberschicht vorkommen, ist dieser Typus beileibe nicht dieser Gruppe vorbehalten. Ein Beispiel dafür liefert die Figur von Friedrich Hasenfritz aus der Erzählung Die Erben, der als Schneidermeister und somit Handwerker dem Bürgertum zuzurechnen ist. Doch sein Geschäftskonzept ähnelt zum Teil der Vorgehensweise der finanziellen Elite, wenngleich er mit ganz anderen, kleineren Summen handelt: Meister Hasenfritz hatte sich mit ein Paar Thalern in der Hauptstadt niedergelassen, wo er bald sich eine gewisse Kundschaft unter der leichtsinnigen Jugend zu erwerben wußte, weniger durch die Gediegenheit und Trefflichkeit seiner Arbeit, als durch den Kredit, welchen er den jungen Leuten eröffnete. Dafür berechnete er aber auch seine Prozente und ein Rock kam bei ihm immer um einige Thaler theurer zu stehn; außerdem aber lieferte er möglichst schlechte Waare, so daß seine Kleider schnell abgetragen waren. Weil er aber borgte, hatte er immer Zulauf und wenn erst ein Student, ein angehender Jurist oder Arzt angebissen hatte, so kam er auch nicht so leicht wieder los. Er spekulirte auf die augenblickliche Verlegenheit, ließ sich monatliche Abschlagszahlungen gefallen und schmierte seine Kunden von Neuem an, so daß zu der alten Schuld immer frische Summen hinzukamen.744
Im Falle von Beschwerden seitens der Kunden oder Versuchen, sich von ihm zu trennen, zeigt Hasenfritz dann ein anderes Gesicht und droht ihnen so lange, bis 740 741 742 743 744
Max Ring: Götter und Götzen. Zweiter Band…, S. 182. Max Ring: Neue Stadtgeschichten. Zweiter Band: Keine Geborene…, S. 45. Ebd. Max Ring: Neue Stadtgeschichten. Zweiter Band: Auch ein Gründer…, S. 13. Max Ring: Neue Stadtgeschichten. III: Die Erben…, S. 48.
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Die Mittelschicht
sie ihre ganze Schuld zurückgezahlt haben. Nachdem er auf diese Weise zu einem kleinen Vermögen gekommen ist, verwirklicht der Schneidermeister eine weitere, ähnlich funktionierende Geschäftsidee, er wird nämlich Spekulant bzw. »Halsabschneider und Wucherer«745, wie ihn seine Bekannten und Geschäftsfreunde nennen. Das Parvenühafte offenbart sich in seinem Fall in einer weiteren Facette, die der Erzähler merkwürdigerweise an seinem Aussehen zu erkennen meint: Ein verschmitzter Zug um den sinnlich aufgeworfenen Mund und eine gewisse Aufgeblasenheit zeigten gleich, welch Geisteskind er war, einer jener bürgerlichen Parvenüs, deren Charakter aus einer Mischung von Schlauheit und Hochmuth besteht, grob gegen Niedrigstehende und Untergebene, kriechend gegen Vornehme und wo es sein Vortheil erforderte.746
An seinem Schild an der Haustür steht die Bezeichnung »(…) Tailleur; denn das deutsche Wort Schneider kam dem Besitzer viel zu gemein vor (…)«747. Und an der Ausstattung des Hauses zeigt sich »ein wahrer Parvenü-Luxus, schreiende Tapeten, mittelmäßige Kupferstiche und schlechte Oelbilder in prächtigen Rahmen, vergoldete Spiegel und theure Möbel, die aber nicht zusammen passen wollten (…)«748. Hasenfritz selbst, den der von einer zufälligen Erbschaft überraschte Kassenbote Bauer, die Hauptfigur der Erzählung und Schwager des Schneiders, um Hilfe bei deren komplizierter Erledigung bittet, wird zu einer Negativfigur. Dem Schwager und dessen Familie heuchelt er Hilfsbereitschaft vor, während er in Wirklichkeit nur versucht, das beträchtliche Erbe an sich zu reißen.
4.3.2 Moderne Abenteurer Eine den Parvenüs verwandte und ebenfalls schichtenübergreifende Gruppe stellen für Ring ›moderne Abenteurer‹ dar, eine gesellschaftliche Erscheinung deren Bezeichnung er, im Gegensatz zu den Parvenüs, selbst erfindet. Ähnlich wie der Begriff ›Parvenü‹ ist auch der Ausdruck ›moderner Abenteurer‹ negativ besetzt, außerdem besteht die Verwandtschaft zwischen beiden Begriffen auch darin, dass manche der so bezeichneten Figuren zu beiden Gruppen gezählt werden können. Das Abenteuerliche wird bei Ring mit Handlungen konnotiert, 745 Ebd., S. 49. Entgegen einer langen Tradition gebraucht Ring diese Bezeichnungen allerdings nicht als Synonyme für Juden – vgl. Ulrike Haß-Zumkehr: Deutsche Wörterbücher – Brennpunkt von Sprach- und Kulturgeschichte. Berlin, New York 2001, S. 176. 746 Ebd., S. 52f. 747 Ebd., S. 51. 748 Ebd., S. 59.
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die an der Schwelle zum kriminellen Unrecht stehen bzw. diese überschreiten. Der Begriff kommt bei Ring nicht nur in den Texten seiner Werke vor, mit dieser Bezeichnung betitelte der Autor sogar eine der Stadtgeschichten aus dem Jahre 1865. Darin wird der titelgebende Protagonist vom Erzähler als »einer jener modernen Charactere [beschrieben], wie wir sie jetzt in der Politik und im Leben eine bedeutende Rolle durch ihre rücksichtslose Kühnheit spielen sehen und die der Erfolg auf einen Thron erhebt, daß Mißlingen im Schuldgefängnisse vielleicht enden läßt«749. Das schichtenübergreifende Wesen dieser Gruppe wird später in einem Gespräch zweier Figuren bestätigt: »Es giebt Aventuriers in allen Regionen, in allen Ständen, Aventuriers mit einer Grafenkrone, die in einer eleganten Equipage fahren, Rennpferde halten, mehrere Bedienten haben und glänzend eingerichtet sind«750. Das vielleicht eindrucksvollste Beispiel für einen Vertreter dieser Gruppe findet sich bei Ring aber in dem fünf Jahre später erschienenen Roman Götter und Götzen, seiner Abrechnung mit dem Materialismus und Egoismus der Zeit. Bei der Figur handelt es sich um eine der im negativen Sinne schillerndsten im ganzen Werk Rings. Der aus der Mittelschicht stammende August Fleckel, den der Erzähler durchweg ironisch bis spöttisch beschreibt, ist »eine jener genialen Erscheinungen, welche an dem Horizonte der Gegenwart von Zeit zu Zeit mit kometenartigem Glanze auftauchen und die allgemeinste Bewunderung durch ihre außerordentliche|[n] Eigenschaften erregen (…)«751. Sein Ziel, das in der vorherigen Beschreibung der gesamten Gruppe nicht auszumachen war, wird in diesem Fall eindeutig definiert: »(…) ein ungewöhnlicher Mann, der sich schon vielfach im Leben versucht und die mannichfaltigsten Experimente angestellt, um das Ziel seiner Wünsche zu erreichen, das heißt: Millionär zu werden«752. Typisch für Fleckel sind ebenfalls »seine Beharrlichkeit und bewunderungswürdige Elasticität«753, denn selbst wenn »eine Unternehmung scheiterte, sein Glücksschiff strandete, so ließ er sich nicht abschrecken, eine neue Idee, an denen sein erfindungsreicher Kopf keinen Mangel litt, ins Leben zu rufen und mit Hülfe derselben sich wieder flott zu machen«754, eine Eigenschaft, die ihn von vielen seinen, zum Teil adligen Partnern bis zum Ende unterscheidet. Fleckels bisherige Unternehmungen beschreibt der Erzähler wie folgt: So war er abwechselnd nach und nach Herausgeber verschiedener Zeitschriften gewesen, von denen jedoch immer nur die vielversprechende Probenummer erschien; Erfinder und Colporteur eines untrüglichen Mittels für zahnende Kinder, Fabrikant von 749 750 751 752 753 754
Max Ring: Neue Stadtgeschichten. Erster Band: Ein moderner Abenteurer…, S. 45f. Ebd., S. 102f. Max Ring: Götter und Götzen. Erster Band…, S. 114. Ebd. Ebd., S. 114f. Ebd., S. 115.
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Die Mittelschicht
wasserdichten Kunststeinen, bald Agent, bald Director einiger gemeinnützigen Gesellschaften mit den hochtönenden Namen »Prometheus«, »Phönix« und »Sphinx«, des »agronomischen Cultur-Vereins«, der »mineralischen Düngungs-Compagnie«, des »europäischen Nachweisungs-Bureau« und ähnlicher weltberühmten Anstalten zum Wohle der ganzen Menschheit.755
Seine neue, ebenfalls suspekte Idee ist die Gründung des »internationalen Pantheons« in Berlin, das »ein Asyl für das verkannte Genie, eine Zufluchtsstätte für das unbelohnte Talent«756 bieten soll. Es handelt sich dabei nicht nur um eine Galerie, denn »hier sollten die ausgezeichneten Schöpfungen des Geistes, Gemälde, Statuen, die Werke der Dichter und Componisten, alle wissenschaftlichen Leistungen und Entdeckungen ihren Mittelpunkt, Künstler, Schriftsteller und Gelehrte ihren angemessenen Lohn und den nöthigen Schutz finden«757, lediglich zu einer kleinen Provision. Im Werbeprospekt wird das »Pantheon« als »›ein Universal-Museum, ein unentbehrlicher Mittelpunkt der geistigen Interessen für die an der Spitze der Civilisation und Intelligenz stehende Metropole‹«758 beworben. Fleckel ist zwar der Urheber dieser Gründung, doch er handelt nicht allein. Unterstützung bekommt er u. a. vom »gefürchteten Kunstkritiker Doctor Eugen Schnitzler«759, der von den Künstlern gegen eine positive Kritik ihre Werke erzwingt, sowie vom »Justizrath außer Dienst, Herr[n] Vogelsang«760, der, »mit allen Chicanen und Schlupfwinkeln des Rechts bekannt«761, die Prozesse seiner zwielichtigen Klienten gewinnt und dabei auch selbst gut verdient. Fleckels Funktion für die Handlung hängt mit der Figur des jungen Malers Bernhard Schröder zusammen, der seine ersten Werke im »Pantheon« ausstellen lässt. In den Gesprächen mit Bernhard offenbart sich Fleckels Einstellung zur Kunst: Er findet Bernhards Bilder »nicht praktisch«762 und um sie besser verkaufen zu können, gibt er dem Maler die folgende Empfehlung: »Es gibt nichts Dankbareres, als Mütter zu malen, wiegende Mütter, betende Mütter, waschende Mütter, glückliche und unglückliche, arme und reiche Mütter«763. Nebenbei erfährt man auch, aus welcher Schicht Fleckels Kunden stammen, denn er suggeriert dem Maler »Stoffe aus dem bürgerlichen Leben«764 zu wählen. Fleckel pflegt einen kostspieligen Lebensstil, er reist nach Baden-Baden, verspielt dort große Summen in einem Spielkasino und so ist es nicht verwun755 756 757 758 759 760 761 762 763 764
Ebd. Ebd., S. 118. Ebd. Ebd., S. 117 Ebd., S. 121. Ebd., S. 122. Ebd. Ebd., S. 139. Ebd., S. 143. Ebd.
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derlich, dass auch das »Pantheon«, wie alle seine bisherigen Unternehmungen, scheitert. Auch in diesen Passagen beschreibt ihn der Erzähler in einem spöttischen Ton: »Wie alle großen Männer bewährte er im Misgeschick seinen hohen Geist. (…) Keine Drohung konnte ihn erschüttern, kein so hartes Wort ihm den Frieden seines Herzens rauben.«765 Seine Unerschütterlichkeit offenbart sich auch während des Besuchs des Gerichtsvollziehers, der ihn unter Androhung der Festnahme zur Zahlung von 500 Talern zwingen will. Fleckel redet auf ihn ein und stellt ihm künftige Gewinne in Aussicht, bis der Gerichtsvollzieher sich entfernt und ihm sogar 50 Taler leiht. Mit dem Geld bezahlt Fleckel seine Flucht, die ihn nach England führt. Dabei kommen ihm folgende Gedanken: »Ich thue nur, was alle großen Feldherren, was die berühmtesten Helden der Weltgeschichte vor mir gethan haben, wenn ich der Nothwendigkeit weiche und mich vor dem drohenden Sturm zurückziehe«766. Es hört sich größenwahnsinnig an: Ein gewöhnlicher Bankrotteur, der abwegige Vergleiche zum Schicksal historischer Gestalten zieht. Wie Wunschdenken erscheint dabei auch die folgende Vorstellung: »Man wird mich zwar einen Betrüger (…) nennen, aber nur so lange, bis ich als reicher Mann zurückkehre. Dann werde ich meine Schulden sammt Zinsen bezahlen; die Welt wird mich wegen meines Edelmuths bewundern (…)«767. Doch Fleckels Wünsche gehen tatsächlich in Erfüllung. In England wird er Kunsthändler und lernt dabei den Millionär Jonathan Dobson kennen, den er »durch seine staunenswerthen Kenntnisse in allen Fächern und Wissenschaften (…) Kunst, Literatur, Industrie, Mineralogie, Geographie, Nationalökonomie (…)«768 stark beeindruckt und mit der Aussicht auf große Gewinne durch Investitionen in das Eisenbahnnetz in Deutschland zu umgarnen versucht. Um seinen Plan zu verwirklichen gewinnt er in Deutschland Jacques Schröder als Partner. Der Plan sieht lediglich »für die Unternehmer und Begründer einen ungeheuern Nutzen« vor, während »die Rentabilität für die Actionäre mehr als zweifelhaft«769 erscheint, auch Dobson ist darin nur ein Mittel zum Zweck. Das Vorhaben wird verwirklicht, lediglich Herr Weller durchschaut den Plan und scheidet in der Konsequenz aus der Firma Schröder aus. An der Verhaltensweise Fleckels lassen sich bezüglich dieser Unternehmung zwei weitere Charakterzüge beobachten, seine Rücksichtslosigkeit und sein Egoismus, die der Erzähler in Form einer rhetorischen Frage zusammenfasst: Was kümmerte es ihn, ob der ehrenwerthe Dobson reussirte oder zu Grunde ging, ob die neue Eisenbahn die leichtsinnigen Actionäre zu Grunde richtete, ob sein Unternehmen
765 766 767 768 769
Max Ring: Götter und Götzen. Dritter Band…, S. 106. Ebd., S. 120. Ebd., S. 120f. Ebd., S. 184. Ebd., S. 204.
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Tausende ruinirte, ob der Sieg, wenn auch nicht durch Ströme von Blut, aber wenigstens durch Ströme von Thränen erkauft und von den Verwünschungen seiner Opfer begleitet würde? Er dachte (…) nur an sich, an den eigenen Vortheil mit jenem großartigen Egoismus, der den modernen Abenteurer kennzeichnet und nicht nur in der Politik, sondern auch auf dem Felde der Speculation die gewöhnliche Moral verdrängt und das Rechtsgefühl ertödtet.770
Doch zunächst hat die auf Betrug fußende Unternehmung keine Konsequenzen für Fleckel, selbst nach einigen Jahren wird er trotz des finanziellen Ruins von Dobson und großer Verluste unter den Actionären »bewundert und anerkannt als das größte Finanzgenie nicht nur der Residenz, sondern der Welt, nicht nur des Tages, sondern seines Jahrhunderts«771. Auf das Eisenbahnprojekt folgen weitere, »(…) Bergwerke, Schmelzhütten, Markthallen, Kanäle, Häfen, Riesenbauten, Anleihen von Millionen (…)«, sodass er von manchen »für einen modernen Magier«772 gehalten wird. Der Erzähler sieht ihn viel kritischer und auch wenn er ihn »eine Art von Universalgenie«773 nennt, meint er damit, dass Fleckel viele scheinbar widersprüchliche Züge in sich vereint; er ist »abwechselnd erhaben und lächerlich, geistreich und bornirt, unermüdlich und träge, großmüthig und gemein, verschwenderisch und schmuzig, enthaltsam und liederlich, kühn und feige, schlau und dumm, ein Chamäleon, das in allen Farben schillerte (…)«774. Am Ende werden seine Machenschaften durchschaut, die Polizei beschlagnahmt die Handelsbücher der Gesellschaft, Aktionäre und Gläubiger wenden sich von ihm ab. Während sich Jacques Schröder beim Festnahmeversuch erschießt, bleibt das Schicksal von August Fleckel unbekannt. An einer Stelle erklärt der Erzähler Fleckel zum »Typus einer Menschenklasse, die gegenwärtig eine bedeutende Rolle in der Welt spielt und je nach dem Erfolge, bald wegen ihrer Kühnheit und Klugheit bewundert und gepriesen, bald wegen ihrer Frechheit und Gewissenlosigkeit verachtet und verspottet wird«775. Dabei zieht er auch weitreichende historische Vergleiche zu mythenumrankten, aber fragwürdigen Berufen der Vergangenheit: Wie jedes Jahrhundert, hat auch die Gegenwart ihre Charlatane, Goldmacher, Alchemisten, Wunderthäter und Abenteurer. Unsere Cagliostros suchen aber nicht den Stein der Weisen in dem chemischen Laboratorium, sondern an der Börse, sie verwandeln nicht Blei, sondern Lumpen und Papier in Gold; sie haben nichts mit Geistern, sondern mit der wirklichen Welt zu thun, sie citiren nicht die Schatten der Verstorbenen, sondern herrschen über die Lebenden, die, nicht minder leichtgläubig wie die Gesellschaft 770 771 772 773 774 775
Ebd., S. 210. Max Ring: Götter und Götzen. Vierter Band…, S. 124. Ebd., S. 127. Ebd., S. 123. Ebd., S. 124. Max Ring: Götter und Götzen. Dritter Band…, S. 208.
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des achtzehnten Jahrhunderts, sich von diesen modernen Glücksrittern täuschen läßt.776
Somit macht der Erzähler ihren Erfolg oder Misserfolg vom Glück abhängig, denn »solange sie das Glück begünstigt, erreichen sie Alles, Ruhm, Ehre, Macht und Einfluß; selbst ein Thron ist ihnen nicht zu hoch«777. Doch den Wert dieser Attribute stuft der Erzähler weit niedriger ein als die Bedeutung ihrer Entsprechungen in der angeblich glorreichen Vergangenheit: »Die Heroen der Geschichte sind den Helden der Speculation gewichen, und dem großen Onkel ist der kleine aber schlaue Neffe gefolgt«778. Darüber hinaus lässt sich an der Figur von August Fleckel Rings Ideenreichtum beobachten. Es handelt sich dabei zwar um eine Nebenfigur, doch die Komplexität ihrer Beschreibung legt die Vermutung nahe, dass der Autor sie auch zur Hauptfigur eines anderen Textes hätte machen können. Fleckel als ein moderner Abenteurer oder Hasenfritz als Parvenü sind Vertreter einer Gesellschaft, zu deren zentralem Ziel das Streben nach Geld geworden ist, für das sich alles kaufen lässt. Fleckel und Hasenfritz selbst wie auch die meisten ihrer Partner und Kunden gehören dem Wirtschaftsbürgertum an, dies gilt letztlich auch für die Figuren aus der finanziellen Oberschicht. Fraglich bleibt dagegen, inwiefern sie in Rings Texten als Vertreter des gesamten Bürgertums als Gesellschaftsschicht fungieren können.
4.3.3 Bildungsbürgertum Die positiven Helden des Romans Götter und Götzen sind neben Franz Weller auch Johannes Börner und Bernhard Schröder, die so wie auch Fleckel dem Bürgertum zuzurechnen sind. Doch eine genauere Bestimmung dieser Schicht erscheint angesichts soziologisch-geschichtlicher Studien779 viel schwieriger als es auf den ersten Blick den Anschein haben mag. Am einfachsten lässt sich feststellen, welche Schichten oder Stände nicht dazugehörten: »der Adel, die katholische Geistlichkeit, die Bauern und die unteren Schichten der Bevölkerung in Stadt und Land, einschließlich der Arbeiterschaft«780. Zum Bürgertum zählen dagegen »die Kaufleute, Fabrikanten und Bankiers, die Kapitalbesitzer, 776 777 778 779
Ebd., S. 208f. Ebd., S. 209. Ebd. Vgl. Jürgen Kocka: Bürgertum und bürgerliche Gesellschaft im 19. Jahrhundert…, S. 11ff. Einen aufschlussreichen Außenblick bietet dagegen das Kapitel Wartos´ci mieszczan´skie: Bildung in: Czesław Karolak, Wojciech Kunicki, Hubert Orłowski: Dzieje kultury niemieckiej. Warszawa 2006, S. 337–346. 780 Ebd., S. 11.
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Unternehmer und Direktoren«, die das »Wirtschafts- oder Besitzbürgertum bzw. die Bourgeoisie«781 repräsentieren. Bei Ring wird dieser Teil des Bürgertums als Geldadel bezeichnet, aber auch viele andere Figuren, wie Fleckel oder Hasenfritz zählen dazu. Eine Untergruppe des Wirtschaftsbürgertums bildet die »große (aber anteilsmäßig leicht rückläufige) Masse der kleinen Selbständigen in Handel, Gewerbe und Dienstleistungen, die Handwerker, Kleinhändler, Gastwirte etc.«782 Dieser Teil des Bürgertums zählte im Jahr 1871 insgesamt 10,6 % aller Erwerbstätigen. Im Laufe des 19. Jahrhunderts gelangte die zweite Gruppe aber »an den Rand des Bedeutungsfeldes«783 von Bürgertum und wurde immer mehr »als ›kleinbürgerlich‹ oder ›mittelständisch‹ bezeichnet«784. Bei Ring wird sie insbesondere in Handwerk und Studium thematisiert. Das Bildungsbürgertum, wobei anzumerken ist, dass dieser Begriff erst im 20. Jahrhundert eingeführt wurde785, besteht dagegen aus »Personen, die durchweg höhere, tendenziell akademische Bildung besaßen und sie beruflich verwerteten«786, genauer gesagt handelt es sich hierbei also um »die Ärzte, Rechtsanwälte und anderen Freien Berufe, die Gymnasiallehrer und Professoren, die Richter und höheren Verwaltungsbeamten, dann auch Naturwissenschaftler, Diplom-Ingenieure und qualifizierte Experten in den Leitungsstäben großer Unternehmen«787. 1871 zählte diese Gruppe 3,9 % aller Erwerbstätigen, alle Beamte, Offiziere, Angestellte mit eingerechnet. Darüber hinaus gibt es eine weitere Gruppe, zu der »städtisch orientierte Großbauern, Künstler, Offiziere, kleine Beamte oder auch viele der gegen Ende des Jahrhunderts an Zahl schnell zunehmenden Angestellten«788 zählten und über deren Zugehörigkeit zum Bürgertum je nach Einzelfall zu urteilen war. Doch die Daten und Zahlen lassen trotzdem die Frage unbeantwortet, welche Werte, Ideen und Prinzipien die in allen Belangen so uneinheitlich erscheinende Schicht zusammenhielten: Die gleiche Klassenlage kann es nicht gewesen sein, denn die einen waren selbständig, die anderen beamtet, und wieder andere zählten zu den Privatangestellten. Sie gehörten verschiedenen Wirtschaftssektoren, Branchen und Berufen an. Auch nach ihrer Bildung unterschieden sie sich, denn eine, wenn auch abnehmende, Mehrheit der Wirt781 782 783 784 785 786 787 788
Ebd., S. 12. Ebd. Ebd., S. 13. Ebd. Siehe auch: Manfred Riedel: Bürger, Staatsbürger. Bürgertum. In: Otto Brunner, Wemer Conze, Reinhart Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Band 1. Stuttgart 1972, S. 672–725. Vgl. ebd., S.12. Siehe auch: Ulrich Engelhardt: »Bildungsbürgertum«. Begriffs- und Dogmengeschichte eines Etiketts. Stuttgart 1986. Ebd. Ebd. Ebd., S. 13.
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schaftsbürger verfügte im 19. Jahrhundert nicht über jene akademische Bildung, die die Bildungsbürger als solche definierte. Auch nach Einkommen und sozialer Herkunft war das Bürgertum äußerst heterogen.789
Für die Analyse des Gesellschaftsbildes bedeutet dies, dass eine eingehende Untersuchung der einzelnen Untergruppen des Bürgertums nicht angestrebt wird, da diese sich unweigerlich in Widersprüchen verlieren müsste, selbst in Bezug auf eine dieser Untergruppen, wie das Bildungsbürgertum. Gleichzeitig wird aber im Folgenden am Beispiel einzelner Figuren versucht, auf Gemeinsamkeiten innerhalb der Schicht hinzuweisen. In der mehrmals angeführten Studie zum Bürgertum werden diese Gemeinsamkeiten vor allem auf zwei Faktoren zurückgeführt: »seine Kultur und Lebensführung«790. Prägend für alle Teile des Bürgertums war ein gemeinsames Familienideal: »die Familie als eine sich selbst begründende, als Selbstzweck begreifende Gemeinschaft, als eine durch emotionale Beziehungen statt durch Zweckhaftigkeit und Konkurrenz geprägte Sphäre in Absetzung zu Wirtschaft und Politik, die Familie als rechtlich geschützter (…) Innenraum der Privatheit im Unterschied zur Öffentlichkeit.«791 Im Hinblick auf die kulturellen Aspekte (…) teilten die Wirtschaftsbürger und die Bildungsbürger eine besondere Hochachtung vor individueller Leistung und begründeten damit ihre Ansprüche auf wirtschaftliche Belohnung, soziales Ansehen und politischen Einfluß. Damit verknüpfte sich eine positive Grundhaltung gegenüber regelmäßiger Arbeit, eine typische Neigung zu rationaler und methodischer Lebensführung. Als ausgesprochen bürgerlich gilt in dieser Perspektive das Streben nach selbständiger Gestaltung individueller und gemeinsamer Aufgaben, auch in Form von Vereinen und Assoziationen, Genossenschaften und Selbstverwaltung (statt durch Obrigkeit). Die Betonung von Bildung (statt von Religion) kennzeichnete das Welt- und Selbstverständnis der Bürger. Bildung gehörte zugleich zur Grundlage ihres Umgangs miteinander und zur Abgrenzung von anderen (etwa durch Zitate und Konversationsfähigkeit). Ein ästhetisches Verhältnis zur Hochkultur (Kunst, Literatur, Musik) kennzeichnete das Bürgertum ebenso wie der Respekt vor der Wissenschaft.792
Vor allem die letzteren, auf die Hochkultur bezogenen Aspekte begründeten das Abdrängen der großen »Masse der kleinen Selbständigen« an den Rand des Bürgertums, während das Wirtschafts- und das Bildungsbürgertum immer mehr zu einer schwer unterscheidbaren Schicht verschmolz. 789 Ebd., S. 14. 790 Ebd., S. 27. Siehe auch: Andreas Schulz: Lebenswelt und Kultur des Bürgertums im 19. und 20. Jahrhundert. 2. Auflage. Berlin/München/Boston 2014. 791 Ebd. Siehe auch: Mario Rainer Lepsius (Hrsg.): Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Teil III: Lebensführung und ständische Vergesellschaftung. Stuttgart 1992; Andreas Gestrich: Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert. München 1999. 792 Ebd.
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Die Mittelschicht
Diese Entwicklung des Bürgertums wurde aber nicht nur von der fortschreitenden Industrialisierung und Urbanisierung beeinflusst, sondern auch von politischen Maßnahmen, insbesondere in der Reaktionsära, d. h. in den Jahren nach dem Scheitern der Märzrevolution. Aktive Befürworter der Revolution, zu denen ohne Zweifel auch Max Ring zu zählen ist, mussten sich mit den neuen Verhältnissen arrangieren, es sei denn, sie waren vorher emigriert. Den Dagebliebenen setzten die Maßnahmen der Reaktion zu, wie die Zensur, der nach eigenem Bekunden auch Ring selbst zum Opfer fiel. Das Sich-Arrangieren mit der eingetretenen Situation beruhte auf dem Prinzip, dass vor allem das Bürgertum auf seine freiheitlichen Forderungen verzichtet und dafür vom Staat wirtschaftlich gefördert wird, was die positive Entwicklung des Wirtschaftsbürgertums mit beeinflusste. Für Bildungsbürger, wenn eine strikte Trennung in dieser Zeit überhaupt noch möglich war, hing vieles vom persönlichen Schicksal ab.793 Diese Überlegungen sollen zur Antwort auf die Frage verhelfen, warum in Max Rings zeitgeschichtlichen Texten Figuren aus dem Bildungsbürgertum quantitativ zwar stark vertreten sind, qualitativ aber als Repräsentanten einer solch fortschrittlichen Schicht wenig überzeugen, bis auf wenige Ausnahmen. Während andere Schichten und Stände, wie der bereits untersuchte Adel oder die finanzielle Oberschicht, aber auch die Unterschicht genau beschrieben und häufig auch explizit als solche benannt und charakterisiert werden, erscheint das Bildungsbürgertum als eine lose Zusammensetzung weitgehend unterschiedlicher Individuen. Als Beispiel kann hier das bereits zitierte Fragment aus Aus dem Tagebuche eines Berliner Arztes dienen, in dem sich der eine Ähnlichkeit mit dem Autor aufweisende Ich-Erzähler über die kümmerliche Lage der Ärzte beschwert, sie auf eine Stufe mit dem Proletariat stellt und sich auch von Theologen, Juristen und Lehrern abgrenzt, die im Gegensatz zu den Ärzten vom Staat bezahlt worden sein sollen.794 Eine mögliche Antwort könnte auf der vorhin angeführten Tatsache beruhen, dass der Begriff selbst erst im 20. Jahrhundert eingeführt wurde, weswegen zur Zeit der Entstehung der Bücher, in den zwei, drei Jahrzehnten nach der Märzrevolution noch kein Bewusstsein von der Existenz einer solchen Schicht vorhanden war, auch nicht unter ihren Mitgliedern. Rings Bücher sind dazu, was man niemals vergessen darf, Unterhaltungstexte, die teilweise auch als Fortsetzungsromane abgedruckt wurden, und deshalb zeigt der Autor darin verstärkt expressive Figuren aus der Oberschicht oder auch mitleiderregende aus der Unterschicht, welche sich möglicherweise positiver auf die Auflagen seiner Bü-
793 Vgl. Christian Jansen: Gründerzeit und Nationsbildung 1849–1871…, S. 18ff. 794 Vgl. Max Ring: Ausgewählte Romane und Novellen. Aus dem Tagebuche eines Berliner Arztes. Zweiter Band…, S. 84.
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cher auswirkten als Darstellungen viel weniger aufregender Protagonisten aus dem Bildungsbürgertum. Sucht man nach Werten, die Vertreter dieser Schicht verbinden, findet man, neben allgemeingültigen Floskeln wie die ›Suche nach Glück‹, den für diese Zeit beileibe nicht selbstverständlichen Willen, aus Liebe zu heiraten. Ein repräsentatives Beispiel hierfür bietet die Figur von Assessor Hellwig aus der Erzählung Auch ein Gründer. Sein Weg zum Eheglück führt über die Faszination für Helene, die an Luxus gewohnte Tochter von Kommerzienrat Rosen, welche eine Beziehung von seiner gesellschaftlichen und vor allem finanziellen Stellung abhängig macht, weswegen sie, nicht ganz abgeneigt, dem Assessor eine Arbeit in der Firma ihres Vaters besorgt. Hellwig, der sich aufgrund seiner staatlichen Anstellung in ständigen Geldsorgen befindet, begrüßt diese Möglichkeit und lässt sich sogar, wie bereits erwähnt, vom Reiz des Geldes, der »Goldstücke, (…) Silberbarren, Banknoten und Cheks«795 verzaubern, der Erzähler spricht dabei vom »dämonischen Einfluß, dem sich so leicht kein Sterblicher zu entziehen vermag«796. Doch die Beziehung zu Helene erweist sich als ein Irrtum und scheitert. Am Ende heiratet Hellwig Anna, die Tochter eines Gemüsehändlers, die ihn in schwerer finanzieller Not mit den ganzen Ersparnissen ihrer Mutter rettete. Merkwürdigerweise sah Hellwig Anna nach der ersten Begegnung »so tief in der gesellschaftlichen Rangordnung«797 stehen, dass sie sich zu Helene »wie das holde, unansehnliche Veilchen zu der in allen Reizen der höchsten Schönheit prangenden Centifolie verhielt«798 – ein Beispiel dafür, dass die gesellschaftlichen Barrieren nicht nur in den oberen Schichten funktionieren, auch wenn sowohl Hellwig, als auch Anna und Helene derselben Schicht angehören, dem Bürgertum, wenn sie auch alle verschiedenen Teilen dieser Schicht zuzurechnen sind: dem Bildungsbürgertum (Hellwig), dem Kleinbürgertum oder Mittelstand (Anna) bzw. dem reichen Wirtschaftsbürgertum (Helene). Zu den am ausführlichsten dargestellten und insgesamt komplettesten Figuren aus dem Bildungsbürgertum gehört der bereits mehrmals erwähnte Johannes Börner aus Götter und Götzen, auch wenn es sich bei ihm nicht um die Hauptfigur des Romans handelt. Er ist Arzt und bekleidet den Posten des ›Armendoctors‹, doch nicht aus idealistischen Gründen, wie man vermuten könnte. Bei der Beschreibung seiner Figur weist der Erzähler erneut auf die schwere materielle Lage der Ärzte in dieser Zeit hin, die selbst bei Erfolgen in ihrem Fachgebiet keine ihren Fähigkeiten entsprechende Stelle finden können:
795 796 797 798
Max Ring: Neue Stadtgeschichten. Zweiter Band: Auch ein Gründer…, S. 102. Ebd. Ebd., S. 110. Ebd.
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Obgleich er durch seine medicinischen Leistungen, besonders durch einige neue und bedeutende Entdeckungen im Gebiete der Physiologie sich bereits einen Namen in der gelehrten Welt erworben hatte, fehlte ihm doch noch immer die äußere Anerkennung, sodaß er sich genöthigt sah, die nur schlecht bezahlte, mühevolle Stellung eines Armendoctors anzunehmen, um sein Leben fristen zu können.799
Der Erzähler führt seine Figur während der regelmäßig stattfindenden Versammlung »junger, strebsamer Männer, Maler, Bildhauer, Musiker, Doctoren der Medicin und Schriftsteller«800 ein, was die These von der bürgerlichen Vorliebe für Assoziationen bestätigt. Die Teilnehmer werden als hochbegabt charakterisiert, doch unterscheiden sie sich hinsichtlich ihrer »Lebensstellung und Anschauung«801. Vereint sind sie dagegen »in dem mehr oder minder hervortretenden Mangel materieller Besitzthümer«802. Börner, auf dessen »breitschulterigen Gestalt (…) der weniger schöne als interessante Kopf mit hoher Denkerstirn und klaren, durchdringenden Blicken« ruht, zeichnet sich durch »Offenheit und Guthmüthigkeit« aus und wird von den anderen durch sein »geistiges Uebergewicht (…), Alter, Wissen und Erfahrung«803 als das Oberhaupt dieser Versammlung anerkannt. Andererseits hat sich Börner viel Jugendhaftes bewahrt, was man auch an seiner Kleidung beobachten kann, denn »(…) in der mehr bequemen als eleganten Toilette, dem lose gebundenen Halstuch und dem nichts weniger als fashionablen Paletot von rauhem melirten Wollenstoff machte sich noch immer seine studentische Nonchalance bemerkbar«804. Die bereits zuvor, im Kontext der in den zeitgeschichtlichen Werken Rings vertretenen Ideen dargestellte Weltanschauung Börners lässt sich mit dem Begriff der Fortschrittlichkeit wohl am besten zusammenfassen. Ganz im Sinne der Frühsozialisten verteidigt er die technische Entwicklung und sieht darin das Werkzeug zur Überwindung der bestehenden materiellen Unterschiede.805 Bei der Bewertung der Lage der Unterschichten zieht er einen historischen Vergleich und meint deshalb, dass die Arbeiter trotz allem viel besser gestellt seien als in der Antike oder im Mittelalter.806 Selbst dem Materialismus seiner Zeit, dessen Bestehen er durchaus zugibt, vermag er Positives abzugewinnen, indem er darin nicht nur Möglichkeiten für die unteren Schichten erkennt, sich aus ihrer Lage zu befreien, sondern auch Chancen für die Weiterentwicklung der Wissenschaft:
799 800 801 802 803 804 805 806
Max Ring: Götter und Götzen. Erster Band…, S. 82f. Ebd., S. 80. Ebd., S. 81. Ebd. Ebd., S. 82. Ebd., S. 83. Vgl. Max Ring: Götter und Götzen. Zweiter Band…, S. 80. Vgl. ebd., S. 81.
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Er nöthigt die Wissenschaft, welche bisher dem Leben fern gestanden, sich mit der Praxis zu verbinden und aus ihrer abstracten Einseitigkeit herauszutreten. Die neuere Statistik, die Nationalökonomie verdanken ihm ihre überraschende Ausbildung und zugleich eine gesündere Richtung, bessere Grundsätze und eine segensreiche Anwendung.807
Als Arzt, der selbst in der Forschung tätig ist, steht Börner der Wissenschaft aufgeschlossen gegenüber, Skepsis äußert er dagegen bezüglich der mit Aberglauben und Unfreiheit assoziierten Religion. Eine eingehende Darstellung dieser Weltanschauung findet sich in Börners Vortrag am Ende des Romans. Inzwischen ist er zum Professor ernannt worden und soll die von Franz Weller finanzierte Bildungsanstalt leiten. In seinem breit gefächerten Vortrag erklärt Börner die Götter für tot und sieht den »Glaube[n] (…) dem Zweifel, die Offenbarung der Erkenntnis gewichen«808. Die »auf der Bahn des Wissens, der Gesittung, der Bildung und Cultur«809 nun fortgeschrittene Menschheit steht in seinen Augen »mitten im Kampfe von entgegengesetzten Interessen«810. Der Glaube kämpft dabei gegen das Wissen, die Freiheit gegen die Willkür, die Liebe gegen die Selbstsucht. Durch den Fortschritt in allen Bereichen und das sich ausbreitende »Licht der Wissenschaft« sieht Börner der Zukunft äußerst positiv entgegen.811 Diese Ansichten decken sich mit der zu dieser Zeit fortschreitenden Säkularisierung der Gesellschaft, ihrer Entkirchlichung auf der einen und sogar Entchristianisierung auf der anderen Seite. Der Einfluss der Kirchen, sowohl der protestantischen als auch der katholischen, auf Politik, Wirtschaft und Familienleben verringert sich, was auf eine Reihe von Faktoren zurückzuführen ist. Den theoretischen Unterbau liefern u. a. der Darwinismus (deutsche Erstausgabe von Darwins Über die Entstehung der Arten im Thier- und Pflanzen-Reich durch natürliche Züchtung, oder Erhaltung der vervollkommneten Rassen im Kampfe um’s Daseyn erscheint 1860) und später die Werke Nietzsches.812 Von Bedeutung sind ebenfalls neue Ideen wie der Sozialismus und Kommunismus, die unweigerlich zur Weiterbildung insbesondere der unteren Gesellschaftsschichten beitragen. Schließlich tragen die bereits angesprochenen Veränderungen wie die Verstädterung zur Säkularisierung bei. Ganz bürgerlich erscheinen an anderer Stelle auch Börners Ansichten zum Thema Liebe, die er im Gespräch mit Bernhard Schröder äußert: Auch die Liebe hat eine andere und höhere Aufgabe zu erfüllen; sie darf nicht in einseitige Gefühlsschwärmerei, in Anbetung und Vergötterung des geliebten Gegen807 808 809 810 811 812
Ebd. Max Ring: Götter und Götzen. Vierter Band…, S. 252. Ebd., S. 253. Ebd., S. 254. Vgl. ebd., S. 255f. Vgl. Thomas Nipperdey: Religion im Umbruch. Deutschland 1870–1918…, S. 126ff.
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standes aufgehen, sondern muß sich bethätigen, große Opfer bringen, sich die schwersten Entbehrungen auferlegen, nicht nur genießen, sondern auch ringen und arbeiten, und das gilt für beide Geschlechter in gleicher Weise.813
Im Verlauf des Gesprächs bezieht er sich auf Schillers Lied von der Glocke814, was zum einen die Bedeutung dieses Gedichtes für das Bürgertum dieser Zeit ein weiteres Mal unterstreicht, zum anderen Börner selbst als Vertreter dieser Schicht bestätigt. Seine Argumentation liest sich dabei wie eine Abwandlung von Schillers Worten bzw. ein Kommentar dazu: Die wahre Liebe wurzelt nicht allein in der schönen Sinnlichkeit, nicht nur in der Sympathie der Herzen, sondern ebenso sehr und vielleicht noch mehr in der Gemeinsamkeit der geistigen und selbst der materiellen Interessen, in der vollkommenen Harmonie aller Verhältnisse, die freilich nur selten gefunden wird.815
Neben der für die Ideenwelt des Bürgertums typischen Betonung der geistigen und materiellen Seiten einer Liebesbeziehung verweist Börner auch auf einen der für diese Schicht grundlegendsten Werte: die Arbeit, die dabei wie ein Allheilmittel erscheint. Ebenfalls im Gespräch mit Bernhard Schröder meint er dazu: Ich habe noch einen bessern Bundesgenossen, das ist die Arbeit. Wenn mich ein Schmerz anwandelt, wenn das Schicksal mir ein finsteres Gesicht schneidet, wenn der rothe Fleischmuskel, den man das Herz nennt, sich krampfhaft zusammenzieht, oder wild aufbäumt, dann flüchte ich zu meinen Büchern, zu meinen Knochen und Präparaten, dann versenke ich mich in meine Studien und vergesse Alles, was mich drückt. Meine Sorgen verschwinden, der Kummer vergeht und alles Elend der erbärmlichen Welt hat für mich ein Ende.816
Die Arbeit hat dabei keinen eskapistischen, wie es den Anschein haben mag, sondern einen idealistischen Wert, es ist der »Gedanke, eine neue Wahrheit zu entdecken, ein Licht in der Finsterniß zu finden und vielleicht der Menschheit einen Dienst zu leisten«817, der Börner mit Glück erfüllt. Zum Schluss dieser Aussage, indem er seinen Lob der Arbeit noch weiter bekräftigt, verweist Börner auch auf einen weiteren Begriff aus dem bürgerlichen Bedeutungsfeld der Arbeit – die Pflicht: »(…) es gibt nichts auf der Welt, was uns mehr tröstet und erhebt, als die Arbeit und das Gefühl, unsere Pflicht gethan zu haben«818. Die Arbeit erscheint somit für Börner wie auch die von ihm vertretene Schicht nicht als ein Wert für sich, sondern entwickelt sich dazu, wenn sie der Allgemeinheit dient. Die beiden Anspielungen, auf Schillers Glocke, eines der bekanntesten Gedichte 813 814 815 816 817 818
Max Ring: Götter und Götzen. Zweiter Band…, S. 94f. Vgl. ebd., S. 95. Ebd., S. 96. Max Ring: Götter und Götzen. Dritter Band…, S. 10f. Ebd., S. 11. Ebd.
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der Weimarer Klassik, auf der einen und die Bedeutung der Arbeit auf der anderen Seite zeigen darüber hinaus, dass sich Ring nicht einer einzigen Epoche zuordnen lässt. Vielmehr können sie als ein Versuch gedeutet werden, das Geistige der vorangegangenen Epochen mit der anbrechenden Zeit des Materiellen, die eine »besondere Hochachtung vor individueller Leistung und (…) eine positive Grundhaltung gegenüber regelmäßiger Arbeit, eine typische Neigung zu rationaler und methodischer Lebensführung«819 hegte, zu verbinden. Eine andere Figur, die dem Bildungsbürgertum zuzurechnen ist, führt der Autor im Roman Ein verlorenes Geschlecht ein. Es handelt sich dabei um den Ingenieur Robert Gibson. Das Problematische an diesem Protagonisten besteht darin, dass er sich im Laufe der Handlung als der verschollene ältere Bruder des Fürsten Valerian Vulski herausstellt und somit eigentlich ein gebürtiger Adliger ist. Doch als er am Ende des Romans durch das Testament seiner verstorbenen Mutter zum Universalerben ihres Nachlasses bestimmt wird, verzichtet er darauf und tritt »in den Bürgerstand zurück«820. Da er seine Standeszugehörigkeit überwindet und sich bewusst gegen den Adel und für das Bürgertum entscheidet, erscheint Gibson wie ein äußerst überzeugter Vertreter dieser Schicht. Seine Vorgeschichte wird dabei aber nicht erzählt und somit lässt sich nicht eindeutig rekonstruieren, wie und wodurch er sich seine Weltanschauung angeeignet hat. Ein kleines Indiz bietet ein Brief, den Gibson an seinen Freund in England schreibt und ihm darin dafür Dankbarkeit erweist, dass er seine Vergangenheit überwinden konnte und zum Arbeiter, denn so versteht er sich, geworden ist, wobei deutlich wird, dass dieser »Umwandlungsprozeß« »nicht ohne Kampf«821 vollzogen wurde. Als Figur wird Gibson erst gegen Ende des dritten von sechs Bänden des Romans eingeführt und folgendermaßen dargestellt: Er war ein angehender Dreißiger, kräftig und breitschultrig, mit einer intelligenten und energischen Physiognomie. Auf dem kräftigen Nacken ruhte der Kopf eines Denkers, mit hoher starkgewölbter Stirn und kahlem Scheitel, während ein dunkelschwarzer Vollbart das feste, geschlossene Kinn und die Wangen umgab.822
Außerdem bemerkt der Erzähler seinen »überlegenen Geist« und nennt seine »ganze Erscheinung männlich, fast stolz und gebieterisch, dennoch aber Vertrauen weckend«823. Er spricht zwar wenig, aber »jedes seiner Worte klang
819 820 821 822 823
Jürgen Kocka: Bürgertum und bürgerliche Gesellschaft im 19. Jahrhundert…, S. 27. Max Ring: Ein verlorenes Geschlecht. Sechster Band…, S. 193. Max Ring: Ein verlorenes Geschlecht. Vierter Band…, S. 5. Max Ring: Ein verlorenes Geschlecht. Dritter Band…, S. 157. Ebd.
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überzeugend und gewichtig; seine Rede war einfach und natürlich und doch glaubte man stets etwas Neues und Ueberraschendes zu hören (…)«824. Im vorangegangenen Kapitel wurde bereits auf die aufgeschlossene Einstellung dieses Protagonisten den Arbeitern und der Arbeiterbewegung gegenüber verwiesen. Gibson ist sich demnach ihrer schweren Lage bewusst und setzt sich für die Verbesserung dieser auch tatkräftig ein, indem er beispielweise Häuser für sie bauen lässt. Doch darüber hinaus präsentiert Gibson auch allgemeingesellschaftliche Überlegungen, die nicht nur aufgrund historischer Vergleiche stark an Börner erinnern. Dabei sieht er eine stetige Entwicklung der Menschheit, verurteilt aber manche Epochen wie das Mittelalter, das nach seiner Meinung an seiner »einseitigen Entwicklung untergehen« musste, da ihm »die Grundbedingung alles Daseins, die Freiheit und Gleichheit, mangelte«825. Den Fortschritt brachte demnach erst das »Bürgerthum, das durch seine Arbeit die Schranken niedergerissen, die Fesseln gebrochen hat«826. Die so gewonnene Freiheit führt wiederum weitere positive Veränderungen herbei, denn »nur aus der Freiheit können sich Wohlstand, Bildung und Gesittung entwickeln«827. Ähnlich wie Börner erkennt auch Gibson einen großen Wert in der Arbeit, denn sie »(…) vollbringt unmerklich und ohne jeden blutigen Kampf die größte aller Revolutionen. Langsam und sicher räumt sie die letzten barbarischen Rechte und Schranken des Mittelalters hinweg, vernichtet sie den Feudalstaat, um an seiner Stelle den Rechtsstaat aufzurichten«828. In dieser Lobpreisung der Arbeit geht er noch weiter als Börner, da er »eine neue Welt (…) auf den Trümmern der untergegangenen erstanden [sieht], eine Welt freier und gleichberechtigter Menschen, die sich um das Banner der erlösenden Arbeit schaaren (…)«829. Gleichzeitig merkt er, wie auch Börner, an, dass der »Kampf des Lichtes gegen die Finsterniß, des Rechtes gegen die Gewalt, des Allgemeinwohles gegen den Egoismus der Stände und des Kapitals«830 noch nicht vorüber sei, obwohl er vom Sieg des Fortschritts überzeugt ist. Eine Stütze erkennt er dabei in der Familie, die er »die Grundbedingung der ganzen sittlichen Weltordnung«831 nennt, und der Ehe, von der er »die höchsten und heiligsten Begriffe«832 hat. Gibson erscheint wie eine Person, die ihre Vor824 825 826 827 828 829 830 831 832
Ebd. Ebd., S. 166. Ebd., S. 167. Ebd., S. 168. Ebd. Ebd., S. 169. Ebd. Max Ring: Ein verlorenes Geschlecht. Vierter Band…, S. 9. Ebd.
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haben sorgfältig plant um sie dann gewissenhaft zu verwirklichen. Seine Hochachtung vor der Ehe und Familie setzt er am Ende des Romans infolge der Heirat mit der bürgerlichen Elfriede um. In seiner letzten Aussage lässt ihn der Erzähler die bürgerlichen Tugenden erneut bekräftigen: »Die Leiden und die Noth des Lebens (…) sind unvermeidlich, aber Arbeit und Liebe helfen sie uns tragen, sie sind die Erlöser der Menschheit, welche unaufhaltsam ihrem Ziele, dem geistigen und materiellen Wohle Aller, entgegenschreitet«833. Börner und Gibson sind zwei prägnante, aber letztlich auch vereinzelte Beispiele für ausdrucksstarke, der gegenwärtigen wie auch historischen Rolle ihrer Gesellschaftsschicht bewusste Figuren. Das macht sie aber zu Ausnahmeerscheinungen, denn in anderen zeitgeschichtlichen Werken Rings bleiben Bildungsbürger eher Mitläufer, die keinen wesentlichen Einfluss auf die Handlung im Sinne ihrer Schicht nehmen, was sie wiederum nicht weniger glaubwürdig macht.
4.3.4 Rentiers Eine sowohl aus geschichtlicher Sicht wie auch in Bezug auf Rings zeitgeschichtliche Werke kleine Gruppe, die ebenfalls zur Ober- und Mittelschicht zu zählen ist, bildeten Rentiers, Menschen, die von Boden-, Kapital- und Pachtzinserträgen lebten. Zusammen mit den Pensionären, Beamten in Ruhestand, machten sie im Jahre 1871 zwar nur 2,6 % aller Erwerbstätigen Preußens aus, doch gleichzeitig vergrößerte sich diese Gruppe wie keine andere in der Gesellschaft, denn zur Zeit der Märzrevolution zählte sie lediglich 0,3 %, der Zuwachs belief sich also auf beinahe 900 %.834 In Rings zeitgeschichtlichen Werken handelt es sich hierbei um keine einheitliche Gruppe. Eine der Nebenfiguren der Erzählung Ein moderner Abenteurer teilt der Erzähler »dem Genus ›Rentier‹« zu, das »bekanntlich die verschiedensten Individuen umfaßt und in seiner vaguen Bezeichnung bald einen wirklichen Millionär, bald einen ausgemachten Schwindler und Bankrotteur bedeuten«835 kann. Ausführlicher wird diese Gruppe am Beispiel des Barons von Portheim charakterisiert, einer Nebenfigur aus der Erzählung An der Börse. Der Baron ist »ein liebenswürdiger Junggeselle in den besten Jahren, der von einer alten Tante (…) ein ziemlich ansehnliches Vermögen ererbt«836 hat, weswegen er »eine benei833 834 835 836
Max Ring: Ein verlorenes Geschlecht. Sechster Band…, S. 193f. Vgl. Christian Jansen: Gründerzeit und Nationsbildung 1849–1871…, S. 86. Max Ring: Neue Stadtgeschichten. Erster Band: Ein moderner Abenteurer…, S. 54. Max Ring: Stadtgeschichten. Dritter Band: An der Börse…, S. 29.
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denswerthe Existenz«837 führen kann. Die Erbschaft erlaubt es ihm, »die dürftige Stellung eines armen Lieutnants mit der angenehmern eines wohlhabenden Partikuliers zu vertauschen und einzig und allein seinem Vergnügen zu leben«838. In Wirklichkeit ist sein Lebensstil aber derart kostspielig, dass Portheim sein Erbe durch Börsenspekulation zu vergrößern versucht, was er aber nicht alleine unternimmt. Er wird zum Kunden von Eduard Werth, der Hauptfigur der Erzählung, den er am Ende der Handlung, nach Werths Bankrott und Flucht, persönlich in England aufspürt und zurückbringt. Portheim ist ein extrem auf sein Aussehen fixierter Mensch, seine Toilette nimmt »mindestens ein Drittheil seines Lebens in Anspruch (…), während er die übrigen zwei Drittheile dem edlen Müssiggange«839 widmet. Für den Erzähler stellt seine Figur auch einen Typus dar, denn im Zuge der Charakterisierung von Portheim wechselt er vom Singular in den Plural und geht zur folgenden detaillierten Beschreibung der für eine ganze Gruppe typischen ausgefallenen Kleidung über: Er gehörte zu jener Klasse glücklicher Rentiers, denen man täglich und stündlich stets zu gewissen Zeiten an bestimmten Orten begegnen muß. Die Mehrzahl derselben trägt einen blauen oder grünen Leibrock mit vergoldeten Knöpfen, ein karrirtes, musterhaftes Beinkleid, das die wohl conservirte Wade zeigt, feinste Wäsche und goldene Busennadel mit einem großen Stein, ein Stöckchen mit einem ciselirten Goldknopf, und einen trefflich gepflegten Schnurr- und Backenbart, der sie nach ihrer Meinung unwiderstehlich macht.840
Doch der Erzähler beschränkt sich nicht auf die Schilderung des eleganten Aussehens der Rentiers. Ebenso detailreich beschreibt er den für die Vertreter dieser Gruppe typischen Tagesablauf: In solcher Gestalt erblickt man sie zur festen Stunde auf der Promenade, mit eingekniffener Lorgnette die Vorübergehenden musternd, besonders wenn dieselben dem weiblichen Geschlechte angehören. Nach diesem Spaziergange speisen sie am Tabel d’hôte in einem der ersten Hôtels der Residenz, jedoch zu billigeren Preisen, da sie meist abonnirt sind. Gewöhnlich trinken sie eine halbe Flasche Rothwein, doch einmal in der Woche wenigstens Champagner. Sie stehen mit dem Oberkellner auf vertrautem Fuß und kennen jeden Garçon bei seinem Namen. Nach Tische besuchen sie eine renommirte Conditorei, wo sie ihren Kaffee einnehmen und die Zeitungen lesen. Der Leitartikel interessirt sie hierbei weit weniger, als das Kursblatt, und die hinten stehenden Annoncen weit mehr als die politischen Nachrichten.841
Nach der Schilderung des Erzählers beschränken sich die Interessen der Rentiers jedoch nicht nur auf das Kulinarische, auch die Kultur hat in ihrem Leben eine 837 838 839 840 841
Ebd. Ebd. Ebd., S. 34. Ebd. Ebd., S. 34f.
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Funktion. Diese ist am einfachsten als Vergnügen zu beschreiben und ähnelt dadurch der Kulturauffassung des Geldadels. Die Schauspielstätten dienen demnach in erster Linie der Entwicklung des gesellschaftlichen Lebens, der Kontaktknüpfung bzw. Liebesabenteuern: Sobald der Abend kommt, eilen sie in die verschiedenen Theater, doch nur, wenn Oper und Ballet gegeben wird. Mit einigen Tänzerinnen stehen sie in telegraphischer Verbindung, weshalb sie gewöhnlich in den Prosceniumslogen ihren Sitz zu nehmen pflegen. Gegen das Schauspiel, und besonders gegen ein klassisches Repertoir zeigen sie eine entschiedene Abneigung. Nach der Oper verschwinden sie meist in Begleitung einer jungen, eleganten Dame in besondere Kabinette, wie man sie in allen guten Restaurationen zu finden pflegt. Hiermit endet der tägliche Lebenslauf der Glücklichen.842
Es sei jedoch angemerkt, dass diese Beschreibung auch auf einige andere Schichten bzw. deren Teile zutreffen würde. Die Gruppe der Rentiers verfügt über keine Alleinstellungsmerkmale, ihre Mitglieder sind mit Glück und/oder Können zu Vermögen gekommen. Rentiers können sowohl bürgerliche als auch adelige Personen sein.
4.3.5 Handwerker Sozialgeschichtlich gesehen handelt es sich hierbei um eine Gruppe, die stark von den neu entstandenen schichtenspezifischen Möglichkeiten des gesellschaftlichen Auf- aber auch Abstiegs geprägt war. Ein Blick auf die vorhin zusammengefasste Tabelle der sozialen »Schichtung der Erwerbstätigen in Preußen am Beginn und Ende der Gründerzeit«843 verdeutlicht, dass angehende Handwerker, d. h. Lehrlinge, Gehilfen und Handwerksgesellen, der Unterschicht zugerechnet wurden. Erst das Bestehen einer Meisterprüfung sowie die berufliche Verselbstständigung ermöglichte ihnen den Aufstieg in die Mittelschicht mit einigermaßen geordneten materiellen Verhältnissen. Andererseits blieb auch die Stellung der Handwerker innerhalb des Bürgertums nicht statisch, denn im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden sie, wie bereits erwähnt, an den Rand dieser Schicht verschoben und »als ›kleinbürgerlich‹ oder ›mittelständisch‹ bezeichnet«844. Bei Ring lässt sich das Schicksal der Handwerker besonders am Beispiel der Protagonisten der Erzählung Handwerk und Studium nachvollziehen, in der die
842 Ebd., S. 35f. 843 Vgl. Christian Jansen: Gründerzeit und Nationsbildung 1849–1871…, S. 86. 844 Jürgen Kocka: Bürgertum und bürgerliche Gesellschaft im 19. Jahrhundert: europäische Entwicklungen und deutsche Eigenarten. In: Jürgen Kocka (Hrsg.): Bürgertum im 19. Jahrhundert…, S. 13.
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Die Mittelschicht
berufliche Entwicklung zweier Brüder, Franz und Ludwig Berger, verglichen wird. Franz ist der ältere Sohn eines Schuhmachermeisters, der als »ein tüchtiger, aber allzu stolzer und ehrgeiziger Mann«845 charakterisiert wird. Immer wieder bedauert der Vater, nicht studiert zu haben, und möchte, dass seine Kinder das von ihm nicht erreichte Ziel wahr werden lassen. Doch Franz enttäuscht ihn, denn schon als Kind zeigt er wenig Interesse am Lernen, stattdessen »wußte [er] besser mit Pfriem und Nadel als mit der Feder und dem Griffel umzugehn und verstand das Maaßnehmen früher als das Einmaleins«846. Auch später lässt sich der Sohn nicht umstimmen und obwohl der Vater nachgibt, kostet es ihn »viel Ueberwindung, seinem Lieblingswunsche entsagen zu müssen«847. Auch wenn Franz in seine Fußstapfen treten und Schuhmachermeister werden will, hegt der Vater weiterhin eine »Abneigung gegen den widerspenstigen Sohn«848. Als es bei der Abschiedsfeier der auf Wanderschaft gehenden Gesellen zu einer Rauferei kommt, bei der Franz eigentlich den guten Ruf seines Vaters und vor allem Bruders verteidigen will, wird er auch aufgrund der weiterhin vorhandenen Abneigung von seinem Vater verstoßen, mit den Worten: (…) ich will (…) nicht der Vater eines Kindes sein, das nur Schmach und Kummer auf mein Haupt gehäuft. Wer keine Ehr’ und Reputation im Leibe hat, ist und bleibt ein Lump, der im Zuchthaus enden wird. (…) Der Junge war ein Nichtsnutz von Jugend auf. (…) In der Schule hat er nichts lernen wollen, zu Hause nur Unfug angerichtet. Ich ziehe meine Hand von ihm. Mag er sehn, wie er fortkommt. Aber das sag ich ihm, daß er nie meine Schwelle wieder betreten darf.849
In diesem »Jammer der Verlassenheit«850 geht Franz auf die Wanderschaft. Dabei handelt es sich um eine »Gesellentradition, einige Jahre in der Fremde (mindestens 50 km) zu arbeiten, um die eigenen Kenntnisse und Fertigkeiten zu erweitern«851. Franz ist mit seinem Freund Rudolph Schwarz unterwegs, ebenfalls dem Sohn eines Meisters, der aber im Gegensatz zum Vater von Franz inzwischen verstarb. Rudolph hat auf Wunsch seiner Mutter eine Buchbinderlehre abgeschlossen. Selbst vor Franz’ Zerwürfnis mit seinem Vater sind die finanziellen Verhältnisse ihrer Familien trotz der Zugehörigkeit zur Mittelschicht als bescheiden, aber geordnet einzustufen: Großes Vermögen besaßen beide nicht. Die Wittwe Schwarz wohnte in dem kleinen Häuschen, das ihr Gatte hinterlassen und lebte mit ihrer sechszehnjährigen Tochter, 845 846 847 848 849 850 851
Max Ring: Handwerk und Studium. Erster Theil. Berlin 1854, S. 2. Ebd., S. 3. Ebd., S. 4. Ebd. Ebd., S. 12f. Ebd., S. 15. Brockhaus, Gesellenwandern. http://brockhaus.de/ecs/enzy/article/gesellenwandern [Zugriff: 08. 01. 2020].
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Marie, von dem Ertrage der Hausmiethe und einiger Grundstücke, welche sie verpachtet hatte, da die einzeln stehende Frau sich mit der Bewirthschaftung derselben nicht befassen konnte. Meister Berger war grad auch nicht reich zu nennen, aber da es ihm nicht an Arbeit fehlte und er ein sparsamer, nüchterner Wirth war, so führte er sein Hauswesen anständig durch und vermochte sogar von Zeit zu Zeit einige Thaler zu ersparen.852
Bei der Beschreibung von Franz’ und Rudolphs Wanderschaft zieht der Erzähler zunächst Vergleiche mit der Vergangenheit und idealisiert diese. Er meint, dass früher das »Handwerksburschenleben noch einen poetischen Reiz hatte«853. Überall wären sie freundlich aufgenommen worden und in den Herbergen willkommen gewesen. Vor allem aber wären so Gesellen aus »allen Deutschen Ländern«854 zusammengetroffen und hätten »im heiteren Gespräch ihre wunderbaren Erlebnisse und Erfahrungen«855 ausgetauscht. Nach Ansicht des Erzählers gab es in dieser idealisierten und nicht näher bestimmten Vergangenheit »keinen freiern Mann im ganzen Reich, als einen Handwerksburschen auf der Wanderschaft«856. Die Darstellung seiner Gegenwart fällt beim Erzähler dagegen trist aus. Wie an anderer Stelle erwähnt sieht er die Eisenbahn als Hauptgrund für den Niedergang dieser Tradition an. Tatsächlich wandernde Gesellen sähe man demnach nur noch dann, wenn sie eine Eisenbahnfahrt nicht bezahlen könnten. Der »fabrikmäßige Betrieb«857 trug wiederum dazu bei, dass die Hauptstadt an Bedeutung gewann, während die Provinzstädte »heruntergekommen«858 sind. Andererseits merkt der Erzähler auch an, dass die Handlungszeit in dieser Passage einige Jahre bzw. Jahrzehnte zurückliegt: »Das Eisenbahnnetz, welches jetzt ganz Deutschland umsponnen hält, war noch nicht vollendet und es gab noch immer Städte genug, wo das Handwerk blühte.«859 Trotzdem gestaltet sich die Stellensuche der beiden Freunde als schwierig, auch weil sie sich nicht trennen wollen. Während Franz als Schuhmacher gute Chancen auf eine Anstellung hat, sieht es für Rudolph schwieriger aus. Daran lassen sich weitere Facetten des damaligen Gesellen- bzw. Handwerkerlebens erkennen. Zum einen ist es die offensichtliche Tatsache, dass die Handwerker keine einheitliche Berufsgruppe bildeten. Ihre materielle Lage unterschied sich nicht nur aufgrund ihres beruflichen Status (ob sie noch Gesellen oder schon Meister waren), sondern auch hinsichtlich ihrer konkreten Berufswahl. Zum anderen lag der Grund 852 853 854 855 856 857 858 859
Max Ring: Handwerk und Studium. Erster Theil…, S. 2. Ebd., S. 37. Ebd. Ebd. Ebd., S. 38. Ebd. Ebd. Ebd.
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Die Mittelschicht
für diese Unterschiede nicht nur, aber immer häufiger im Zusammenhang des jeweiligen Berufes mit den neuen technischen Erfindungen. Während die Schuhmacherei, das Handwerk von Franz, noch nicht davon betroffen ist und es ihm relativ leicht gelingt, eine Anstellung zu finden, leidet die Buchbinderei, Rudolphs Handwerk, aus Sicht der Buchbinder bereits unter den technischen Neuerungen: »Mit der Buchbinderei ging es schon damals schlecht (…). Grade dieses Gewerk wurde hauptsächlich fabrikmäßig betrieben und litt an Pfuschern und Nebenhändlern wie kein anderes. In jedem Galanterieladen konnte man feine Buchbinderarbeiten zum Kaufen bekommen.«860 Diese Entwicklung beunruhigt den Erzähler, an anderer, von der Arbeiterbewegung handelnder und bereits zitierter Stelle nennt er die Handwerker die Verlierer der technischen Entwicklung, da sie nicht in der Lage sind, mit dem Kapital zu konkurrieren, das dank der neuen Maschinen viele Produkte schneller und billiger herstellen kann. Während die Fabrikbesitzer und auch die Kunden profitieren, verlieren viele Handwerker nicht nur finanziell durch ausbleibende Aufträge sondern auch am gesellschaftlichen Ansehen.861 Angesichts der fehlenden Anstellung haben die beiden Freunde immer weniger Geld zur Verfügung und sehen sich eine Zeit lang sogar gezwungen zu betteln, was sie eindeutig der Lage vieler Mitglieder der Unterschicht nahebringt. Doch schließlich finden beide eine Stelle, vor allem hat Franz dabei Glück, denn sein neuer Meister ist ein angesehener und wohlhabender Schuhmacher und ein Beispiel dafür, das trotz der genannten Widrigkeiten beruflicher Erfolg für Handwerker immer noch möglich ist: Sein Meister galt für den beschäftigsten in der ganzen, großen Stadt. Das war kein armer Schuhmacher, wie sein eigener Vater, sondern ein vornehmer Herr, der einen großen, prächtigen Laden hielt. In einem hohen Schaufenster mit glänzenden Spiegelscheiben standen die zierlichsten Sammt- und Seidenschuhe auf einem vergoldeten Gestell. (…) Hinten im Hofe des großen Hauses lag die Werkstatt, in welcher man den Meister nur äußerst selten sah. Er überließ die Oberaufsicht einem Werkführer (…). Herr Brand hielt sich meist im Laden auf, wo er seine Kunden bediente und ihre Bestellungen entgegennahm. Nur zu den vornehmsten Herrschaften ging er selbst ins Haus.862
Franz’ Glück währt aber nicht lange, der Grund dafür liegt darin, dass Frau Brand, die »schöne und lustige Meisterin«863, dem jungen Gesellen Avancen macht. Ihre Leidenschaft steigert sich so weit, dass sie Franz einen Brief schreibt, in dem sie ihm vorschlägt, gemeinsam nach Amerika zu fliehen.864 Franz weist
860 861 862 863 864
Ebd., S. 38f. Vgl. ebd., S. 64. Ebd., S. 48f. Ebd., S. 85. Vgl. ebd., S. 86.
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ihren Vorschlag sehr behutsam zurück, doch als sich Frau Brand von dieser Demütigung erholt, schlägt ihre einstige Liebe in Hass um und sie sinnt auf Rache. Der von ihr beauftragte Werkführer, ihr alter und neuer Liebhaber, kundschaftet die Tätigkeit von Franz in dem Arbeiterverein aus, zu dessen Vorsteher Rudolph neben dem Schneider Albert Strudel gerade gewählt wurde. Nachdem sie vom Werkführer Beweise für die Tätigkeit des Vereins überreicht bekommt, denunziert Frau Brand den Verein anonym. Diese Entwicklung ist nebenbei auch ein Beispiel für die Schutzlosigkeit der unteren Schichten gegen Bessergestellte. Infolge einer polizeilichen Razzia kommen u. a. Franz und Rudolph in Haft und werden erst Monate später von den Müttern und Töchtern der Häftlinge aus dem Gefängnis befreit. An dieser Stelle, ganz am Ende des ersten von zwei Bänden, versteigt sich der Erzähler angesichts der abenteuerlichen Flucht seiner Protagonisten ins Ausland zum folgenden Vergleich: »Der Handwerker ist der moderne, irrende Ritter, denn gleich dem kühnen Kämpen des Mittelalters, zieht er auf Abenteuer in unsern armen unpoetischen Zeiten.«865 Über die Schweiz und Frankreich gelangen Franz und Rudolph schließlich nach London866. Erst hier können sie sich dank ihrer Meister, die der Erzähler ganz bewusst ihren deutschen Pendants gegenüberstellt, beruflich weiterentwickeln: Die Meister, bei denen sie arbeiteten, gaben ihnen die beste Gelegenheit. Sie betrieben ihr Geschäft in großartiger Weise und waren stets darauf bedacht, neue Vortheile durch Verbesserung des Handwerkszeugs, billige Einläufe von Rohstoffen und Benutzung neuer Erfindungen zu erlangen. Weit entfernt von dem Schlendrian, in den die deutschen Arbeiter häufig zu verfallen pflegen, beschäftigten sie sich stets damit, etwas Neues zu benutzen, oder selber zu ersinnen. Die freie Zeit verwandten sie zu ihrer eigenen Belehrung, die sie aus nützlichen Schriften über ihr Handwerk und aus den vielen technischen Journalen schöpften, die in England allgemein verbreitet sind.867
Trotz neuer Unannehmlichkeiten, wieder im Zusammenhang mit dem Schneider Albert Strudel, werden Franz und Rudolph Meister in England, dank Unterstützung seitens der königlichen Familie florieren ihre neuen, endlich eigenen Geschäfte. Privat gibt es aber Unterschiede: Während Rudolph die auf der Wanderschaft kennengelernte Emilie nach England holt, sie heiratet und zwei Kinder aus dieser Ehe hervorgehen, kann Franz dort nicht wirklich heimisch werden. Nachdem er vom finanziellen Ruin seines Vaters erfahren hat, reist er zurück in die Heimat und rettet Herrn Berger, indem er dessen vor der Pfän865 Ebd., S. 100. 866 Zur Darstellung Englands und Londons in der deutschen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts siehe auch: Robert Radu: Nach London! Der Modernisierungsprozess Englands in der literarischen Inszenierung von Georg Christoph Lichtenberg, Heinrich Heine und Theodor Fontane. Frankfurt am Main 2010. 867 Max Ring: Handwerk und Studium. Zweiter Theil…, S. 68f.
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Die Mittelschicht
dung stehendes Haus auf seinen Namen kauft. Er verlobt sich mit seiner Jugendfreundin Marie, verkauft sein Geschäft in England und zieht endgültig nach Berlin zurück, was er mit folgender Aussage kommentiert: »Draußen war ich in der Fremde, hier bin ich zu Hause. Lieber trocken Brot im Vaterlande, als in der Ferne den besten Braten.«868 Wie an anderer Stelle erwähnt, wird Franz auch in Berlin erfolgreicher Schuhmachermeister, sein guter Ruf beschert ihm die mehrmalige Wahl zum »Stadtverordneten und Schiedsrichter«869. Außerdem widmet er sich der »Hebung des Handwerkerstandes«870, u. a. als »Stifter eines Gesellenvereins und einer zweckmäßigen Bibliothek für den denselben«871,»Vorstand in Gewerkssachen«872 und sogar Berater der Regierung in Handwerksangelegenheiten. Seine Vorstellung von einer trotz aller Widrigkeiten erfolgreichen Zukunft für die Handwerker drückt der Autor aber mit einer Aussage Rudolphs aus, die dieser als Gast von Franz bei einem zu seinen Ehren veranstalteten Festessen äußert. Auf den Trinkspruch von Franz’ Vater: »Es lebe das Handwerk, blühe und gedeihe, jetzt und immerdar«873, antwortet Rudolph mit folgender, auf seinen englischen Erfahrungen gründender Darlegung: Soll das Handwerk wirklich leben und gedeihn, so muß es sich nicht eigensinnig abschließen von der Wissenschaft. Nur im lebendigen Verkehr mit dieser, und indem es sich stets durch die fortschreitende Bildung veredelt und verjüngt, wird es sein Ziel erreichen, Wohlstand erlangen und einen tüchtigen Bürgerstand schaffen. (…) Vor Allem aber wird eine tüchtige Bildung und Erziehung dem Handwerker helfen. Darunter verstehe ich nicht bloß Lesen und Schreiben, so wie Rechnen, sondern die Kenntnis der Sprachen, der Naturwissenschaften und all die großen Fortschritte, welche die Wissenschaft in kurzer Zeit gemacht, besonders aber die Erweckung des bürgerlichen Sinnes schon in dem Knaben selbst.874
Um diesen Zweck zu erfüllen, möchte er »Handwerkerschulen, Vereine zur Förderung des Standes, Bibliotheken und Lesezimmer für Meister und Gesellen«875 entstehen lassen. Diese Aussage erinnert an die fortschrittlichen Ideen anderer Protagonisten späterer Texte von Ring, die Unterschiede liegen vor allem im stilistischen Bereich, in ihren Reden beziehen sich Börner und Gibson auf verschiedene Phasen der Menschheitsgeschichte und untermauern ihre Argu-
868 869 870 871 872 873 874 875
Ebd., S. 130. Ebd., S. 132. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 134. Ebd., S. 134f. Ebd., S. 135.
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Trügerische Masken, Gleisnerei und die Grenzen der gekannten Welt
mente mit viel Pathos, während die Darlegung von Rudolph Schwarz einzig an der Zukunft orientiert ist.
4.4
Die unteren Schichten
Die Tatsache, dass Max Ring in seinen zeitgeschichtlichen Texten auch Personen aus den unteren Schichten darstellt, erscheint aus heutiger Sicht nahe liegend und offensichtlich, schließlich versucht er, wie schon der Titel insbesondere seiner Erzählungsreihe Stadtgeschichten suggeriert, über das und aus dem Leben einer Stadt, in seinem Fall der stetig wachsenden Metropole Berlin, zu erzählen. Auch seine Begeisterung für die Märzrevolution und das damit verbundene, zumindest partielle Verständnis für die Forderungen der Arbeiterbewegung lassen sich als Grund für sein Interesse an dieser Schicht als solcher und deren literarischer Darstellung anführen. Gleichwohl war Ring weder der erste noch der einzige Schriftsteller, der sich dieser Thematik widmete. Eine mögliche Inspiration ist, wie bereits erwähnt, in Bettina von Arnims Dies Buch gehört dem König zu suchen, dessen Entstehung Ring gewissermaßen beiwohnte. Auch in den Werken Karl Gutzkows, mit dem Ring zwischenzeitlich befreundet war, kommt die soziale Frage vor.876 Darüber hinaus beschäftigten sich u. a. Ernst Willkomm (1810–1886), Autor zeitkritischer Romane, Reiseskizzen und Erzählungen, Louise Otto-Peters (1819–1895), eine sozialkritische Schriftstellerin und Frauenaktivistin877, Robert Eduard Prutz (1816–1872)878 oder Adolf Schirmer (1821–1886) mit den sozialen Problemen ihrer Zeit. Eine andere Frage ist, inwieweit man Rings Texte als soziale Romane oder Erzählungen einordnen kann. Abgesehen von seinem Romandebüt erweist sich diese Thematik als nebenrangig in seinem Schaffen, Ring stellt alle Schichten der Gesellschaft ausführlich dar, die unteren Schichten spielen dabei eine erhebliche, aber keine entscheidende Rolle.879 Die Schilderung des Lebens der Unterschicht geschieht bei Ring auch vor dem Hintergrund einer wohl überlegten Strategie, die der Autor selbst im Vorwort zu Berliner Leben. Kulturstudien und Sittenbilder aus dem Jahre 1882 kurz zusammenfasst: 876 Siehe auch: Gert Vonhoff: Vom bürgerlichen Individuum zur sozialen Frage. Romane von Karl Gutzkow. Frankfurt a. M., Berlin, Bern, New York, Paris, Wien 1994. 877 Siehe auch: Ilse Nagelschmidt, Johanna Ludwig (Hrsg.): Louise Otto-Peters. Politische Denkerin und Wegbereiterin der deutschen Frauenbewegung. Dresden 1996. 878 Siehe auch: Edda Bergmann: »Ich darf das Beste, das ich kann, nicht tun.« Robert Eduard Prutz (1816–1872). Würzburg 1997. 879 Zur Geschichte des sozialen Romans siehe auch: Erich Edler: Die Anfänge des sozialen Romans und der sozialen Novelle in Deutschland. Frankfurt am Main 1977; Hans Adler (Hrsg.): Der deutsche soziale Roman im 18. und 19. Jahrhundert. Darmstadt 1990.
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Jeder gebildete Deutsche kennt London und Neapel, Italien und Halbasien, die Kirchen in Rom, die Theater in Paris und selbst die Judenhäuser in Barnowitz. (…) Nur unsere Heimat ist uns fremd und unsere nächsten Landsleute lassen uns gleichgiltig. Nicht nur den Süddeutschen, sondern den eingeborenen Bewohnern ist Berlin in vielen Punkten noch eine terra incognita.880
Dabei handelt es sich nicht um ein erst in der Spätphase seines Schaffens erwachte Interesse, denn bereits in dem 1856 erschienenen und 1870 neu aufgelegten Aus dem Tagebuche eines Berliner Arztes findet sich eine in ihrem Kern ähnliche Darstellung. In der Erzählung Eine böse Nacht beschreibt der Ich-Erzähler die Anfänge seiner ärztlichen Tätigkeit in Berlin. Wie schon einige Jahre zuvor in Oberschlesien hat er trotz vieler Anzeigen noch keine Patienten. In einer stürmischen Nacht sucht ihn aber ein Junge auf, der einen Arzt für seine kranke Mutter sucht. Das Kind wohnt in dem Voigtland, der späteren Rosenthaler Vorstadt, die sich heute auf die Ortsteile Mitte, Prenzlauer Berg und Wedding erstreckt. Auf dem Weg in das als Verbrechergegend verschriene Voigtland, das lediglich ca. eine halbe Stunde Fußweg von der Wohnung des Ich-Erzählers entfernt ist, werden die »tröstlichen Zeichen der Civilisation und Menschennähe immer seltener, die Entfernungen von einem Hause zu dem andern immer größer«881. Der Weg zieht sich in die Länge, das schlechte Wetter und die bedrohliche nächtliche Umgebung verschlechtern die Stimmung des Arztes weiter, aber alle diese Umstände reichen wohl nicht aus, um die folgende Schilderung zu erklären: Mir war ungefähr zu Muthe, wie den Reisenden, welche in das Innere von Afrika oder Central-Amerika vordringen. Bei jedem Schritte glaubte ich, auf irgend ein gefährliches Abenteuer, auf einen feindlichen Neger- oder Indianerstamm zu stoßen. Die Quellen des Nils, das Mondgebirge und die Kordilleren konnten mir nicht unbekannter sein, als die Gegend, in der ich mich befand. (…) Auch die letzten Spuren europäischer Bildung, Constabler und Nachtwächter, waren nicht mehr sichtbar. Ich befand mich an den Grenzen der gekannten Welt. Hier hörte wirklich Alles auf.882
Gleichzeitig ist Ring weit davon entfernt, pauschal über diese ›Terra incognita‹ und ihre Bewohner, die Unterschicht im Allgemeinen, zu urteilen. Vielmehr widmet er sich in seinen Werken dem Näherbringen dieser Klasse seinen Lesern, zwar nicht hauptsächlich, aber doch erkennbar. Seine differenzierte Sichtweise resultiert dabei aus den Erfahrungen des Großstadtarztes mit den vielen Hausbesuchen in verschiedenen Teilen und Milieus der Berliner Metropole. In einer anderen Erzählung des Tagebuches zählt der Ich-Erzähler die verschiedenen 880 Max Ring: Berliner Leben. Kulturstudien und Sittenbilder. Leipzig, Berlin 1882, Vorwort. 881 Max Ring: Ausgewählte Romane und Novellen. Aus dem Tagebuche eines Berliner Arztes. Zweiter Band…, S. 90. 882 Ebd.
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Bewohner der Hinterhäuser auf, der für die Minderbemittelten typischen Gebäude: Hier finden wir die seltsamsten Existenzen, die originellsten Gestalten, die verschiedensten Altersstufen, Bildungsgrade und Menschenschicksale, den fleißigen Arbeiter und den unverbesserlichen Trunkenbold, den rohen Proletarier und das verkannte Genie, das unschuldige Kind und die liederliche Dirne, den ehrlichen Handwerker und den bestraften Verbrecher. (…) Hier sieht man wunderbare Erscheinungen, verschollene Menschen, die Ausgestoßenen der Gesellschaft, vergessene Leute, die weder Freunde noch Angehörige haben, lebende Todte, die Niemand kennt, groteske Männer und Frauen, die nur selten aus ihrem Versteck an das Tageslicht kommen (…).883
Einerseits schreibt der Ich-Erzähler dieser Schicht allgemein »weit mehr Vertrauen und Opferfähigkeit, als in der vornehmen Gesellschaft«884 zu, andererseits erkennt er auch hier eine bestimmte Hierarchie, die sich beispielsweise darin äußert, dass nicht alle miteinander Umgang pflegen: Doch auch unter den Hinterhäusern giebt es große Unterschiede in Bezug auf Aussehen und Bequemlichkeit, grade wie sich unter den Bewohnern die verschiedensten Rangund Standesstufen bemerkbar machen. Die pensionirte Beamtenwittwe im ersten Stockwerk verkehrt nicht mit der Frau des Schuhflickers oder Korbflechters in der dritten Etage. Sie hat bessere Zeiten gesehen und rühmt sich ihres vornehmen Umgangs und ihrer angesehenen Verwandten, die jedoch keine Notiz von ihr nehmen wollen. Die junge Prostituirte möchte gern mit den Töchtern der Wäscherin sich bekannt machen, aber diese hat mit Recht ihren Kindern jeden Verkehr mit der anrüchigen Person verboten.885
Einmal mehr wird in dieser Beschreibung auch die Einstellung des für die Werke Rings typischen Erzählers deutlich, der unumwunden seine moralischen bzw. sittlichen Bedenken äußert. So wird die Prostituierte allein wegen ihres Berufes zu einer »anrüchigen Person« und die Entscheidung der Wäscherin geschieht »mit Recht«. Nach dieser Sichtweise bildet in diesem Milieu der Unterschied zwischen »Tugend und Laster« die einzige klare Trennlinie, wenngleich sie genauso für alle anderen Schichten gilt. Bezeichnenderweise gehören auch die Protagonisten von Rings erster Stadtgeschichte, Christkind-Agnes aus dem Jahre 1852, zur Unterschicht. Die titelgebende Hauptfigur ist Agnes Neumann, das älteste von fünf Kindern ihrer Eltern. Zu Beginn der Handlung zieht die siebenköpfige Familie in eine zwar neue, aber im Kellergeschoss eines gerade fertiggestellten Hauses liegende Wohnung, die »übrigen Stockwerke können erst im Frühjahre bezogen werden«886. Der Grund 883 884 885 886
Ebd., S. 93f. Ebd., S. 96. Ebd., S. 95. Max Ring: Stadtgeschichten. Erster Band: Christkind-Agnes. Berlin 1852, S. 5.
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für den Umzug liegt in der schlechten finanziellen Lage der Neumanns, die mit der Arbeitslosigkeit des Vaters zusammenhängt. Die glücklichere Vergangenheit der Familie beschreibt der Erzähler folgendermaßen: Im Anfange ihrer Ehe war der Erwerb hinreichend. Der Mann hatte als Portier eine Anstellung in einem ansehnlichen Hause und sein gutes Auskommen. Sie selbst verdiente als Wäscherin noch manchen schönen Groschen nebenbei. Da wurde er wegen Grobheit und Unregelmäßigkeiten, welche er sich häufig zu Schulden kommen ließ, aus dem Dienste entlassen. Sie dagegen verfiel in eine lang andauernde Krankheit, welche die kleinen Ersparnisse aufzehrte.887
Diese Entwicklung verschlechtert nicht nur die materielle Lage der Familie, sondern beeinträchtigt auch die Stimmung darin, was der Erzähler mit folgender Metapher kommentiert: »Wann die Sonne des Glücks geschwunden, dann wagen sich die Fledermäuse und Vampyre der bösen Leidenschaften und Laster erst hervor«888. Herr Neumann wird »immer rauher und härter«889. Obwohl er die Kündigung nur sich selbst zuzuschreiben hat, legt er diesen Umstand vor allem seiner kränklichen Frau zur Last. Am schlimmsten ist aber die Tatsache, dass er auch der Trunksucht verfällt, die ihn »in die Bierstube und den Branntweinladen«890 hinaustreibt und dort »zum täglichen Gaste«891 werden lässt. Als er eine neue Aufseherstelle findet, scheint sich die Lage der Familie wieder zum Besseren zu wenden, es gibt »wieder gutes Essen, warme Kleider und selbst freundliche Blicke für die arme Frau«892. Nun ist es aber die Umgebung in der neuen Arbeit, die einen schlechten Einfluss auf Neumann ausübt und seine vorläufige Besserung wieder rückgängig macht: Die Kameraden waren meist wüste Menschen, von allen Weltenden herbeigeweht, welche den leicht errungenen Verdienst eben so schnell vergeudeten. Die Flasche ging unaufhörlich im Kreise herum. Karten und Würfelspiel gehörten mit dazu, und leichte Dirnen gab es in Hülle und Fülle unter den fremden Weibern. Das Sprüchwort: wie gewonnen, so zeronnen, traf auch jetzt von Neuem ein.893
Da der regelmäßige Lohn die Ausgaben übersteigt, schlägt Neumann »den Seitenweg des Betrugs und des Unterschleifs«894 ein. Er arbeitet bei einem Eisenbahnunternehmen, das zu groß ist, um vollständig überwacht zu werden. Höhere Beamte ersinnen den Plan, sich eines Teils der Lieferungen zu bemächtigen, der ohne Mitwissen und Unterstützung einfacher Angestellten nicht durchführbar 887 888 889 890 891 892 893 894
Ebd., S. 20f. Ebd., S. 21. Ebd. Ebd., S. 22. Ebd. Ebd. Ebd., S. 22f. Ebd., S. 23.
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wäre. Aus diesem Grund wird auch Neumann in das Vorhaben eingeweiht und am Gewinn beteiligt. Zunächst bleibt die Unterschlagung unerkannt, doch »der schreiende Luxus und die Verschwendung, welche mit dem betrügerischen Erwerbe verbunden waren«895, ziehen eine von den Aktionären eingeforderte Untersuchung nach sich, in deren Folge ein Teil der Beamten entlassen wird. In der Feststellung des Erzählers, dass »dieses Schicksal (…) wie gewöhnlich die niederen Aufseher«896 traf, unter ihnen auch Neumann, lässt sich eine Spur von Anteilnahme für diese Menschen erkennen. Neumann ergibt sich wieder seiner Trunksucht, was sowohl die materielle, als auch die mentale Lage der Familie nur weiter verschlimmert. Frau Neumann greift ein und versucht, die Familie mit einem kleinen Obsthandel zu ernähren, was ihr eine kurze Zeit lang notdürftig auch gelingt. Der Erzähler kommentiert die Situation folgendermaßen: Ein solches Hauswesen gleicht einem Gewande, das in Stücke fällt. Von Tag zu Tag wird es fadenscheiniger. Vergebens sucht der verschämte Besitzer das Uebel zu verbergen. Ein kleiner Riß genügt und die lang verhehlte Blöße tritt ungescheut hervor. Welche Schmerzen hatte die arme Frau erduldet, ehe es zu diesem Aeußersten gekommen war. (…) Vor allen Augen, selbst vor denen der Kinder hatte sie den Ruin zu verheimlichen gesucht und in ihrem Geiste nach neuen Hilfsquellen gerungen, um dem drohenden Verderben zu entgehen. Alles umsonst. Länger ging es nicht. Der Umzug hatte die letzten Hülfsmittel hinweggenommen. Der Banquerot war ausgebrochen und das nackte Elend stand vor der Thür.897
An anderer Stelle zieht der Erzähler einen gewagten, aber durchaus einleuchtenden Vergleich zwischen ihrer Lage und der eines großen Unternehmens. Auch diese Schilderung offenbart die Zuneigung, die der Erzähler zu dieser Schicht hegt: Die einfache Obsthändlerin, deren Vorräthe verdorben, deren Kredit vernichtet war, fühlte dieselbe Verzweiflung wie ein großes Handelshaus, dessen Verluste nach Millionen gerechnet werden und das durch seinen Fall die europäische Handelswelt erschüttert. Die Wirkung war dieselbe. Hier wie dort die Grundfesten des Lebens dem Einsturz nah, und Noth und Elend vor der Thüre lauschend.898
Angesichts des finanziellen Ruins ihrer Familie beschließt Agnes, ein Dienstmädchen zu werden, was sie zu einer Vertreterin dieser relativ großen, im Jahre 1871 15 % der Erwerbstätigen zählenden Untergruppe der Unterschicht macht. Obwohl sie noch jung ist, hat sie als das älteste von fünf Kindern bereits viel Erfahrung bei der Betreuung von Kindern sammeln können und müssen, der Erzähler meint dazu: »Frühzeitig lernte sie den Ernst des Lebend kennen und 895 896 897 898
Ebd., S. 24. Ebd. Ebd., S. 25. Ebd., S. 19.
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übte jede strenge Pflicht ohne Murren und Widerstand, wie aus innerer Nothwendigkeit«899. Bei der Suche nach einer Anstellung hilft Agnes ihre Freundin Rieke, die sie zu einer »Vermiethsfrau«900, Madame Steiner, führt. Agnes ist beileibe nicht als einzige an einer Anstellung interessiert. In dem Warteraum wird deutlich, dass es auch in dieser Gruppe eine Hierarchie gibt, was ihr Bild weiter differenziert: »Auch die dienende Klasse hat ihre Rangordnung, ihre Aristokratie und ihren Plebs«901. Agnes wird Dienstmädchen beim Viktualienhändler Hintze und auch wenn der Erzähler meint, dass sie »es noch gut getroffen«902 hat, sieht er diesen Schritt im Allgemeinen mit Skepsis: Ging es ihr im elterlichen Hause auch schlecht, so war sie doch bei den Ihrigen und frei. Mit diesem Schritt hatte sie ihre Freiheit aufgegeben. Der Wille fremder Menschen beherrschte sie von nun an. Ihre Zeit, wie ihre Bewegungen gehörten nicht mehr ihr an. Selbst das Wort mußte sie behüten und beherrschen lernen, nur noch die Gedanken blieben ihr. Dienen ist ein gar hartes Loos! Wen der gütige Gott davor schützt, der sollte auch mild und freundlich gegen seine Leute sein.903
Während sich Agnes aber langsam zurechtfindet, auch weil sie sich in den Sohn ihres Arbeitgebers, den Gesellen Karl, verliebt hat, schreitet der »moralische Verfall«904 ihrer Familie voran. Neumann, bei dem es sich inzwischen herausgestellt hatte, dass er lediglich der Stiefvater von Agnes ist, verdient zwar wieder Geld, doch dies geschieht nun vollends auf illegale Weise. Da er noch seltener zu Hause und stattdessen vor allem mit seinem Kumpan, dem blinden Fritz, unterwegs ist, geben die Familienverhältnisse ein »Bild der Zwietracht und der eingerissenen Verwilderung«905 ab, was in erster Linie ihre minderjährigen Brüder betrifft, die sogar Alkohol trinken. Endgültig zum Verhängnis wird der Familie der Versuch Neumanns, in eine Wohnung einzubrechen, die sich im gleichen Haus befindet, in dem auch die Hintzes leben. Während Neumann mit Fritz in die Wohnung einbrechen, wartet Agnes im Hof auf Karl, der nicht erscheint. Sie sieht die Einbrecher, erkennt sie aber nicht. Der Einbruch misslingt und auf der Flucht drückt Neumann Agnes Dietriche in die Hand, weswegen auch sie verhaftet wird. Seiner »moralischen Versunkenheit«906 bewusst, aus »Furcht und Schaamgefühl«907 erhängt sich Neumann im Gefängnis. Agnes wird dagegen freigelassen und auch wenn sie den Widerstand von Herrn Hintze zuerst brechen 899 900 901 902 903 904 905 906 907
Ebd., S. 15. Ebd., S. 57. Ebd., S. 59. Ebd., S. 81. Ebd. Ebd., S. 146. Ebd. Ebd., S. 227. Ebd.
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muss, heiratet sie am Ende Karl. Wie in seinen meisten anderen Texten, steht also auch in Christkind-Agnes eine Liebesbeziehung im Zentrum der Handlung. Einzigartig ist aber die Tatsache, dass sich alle Hauptfiguren aus der Unterschicht rekrutieren. Was Neumann, die tragische Figur dieser Erzählung, angeht, liegt der Grund für den missglückten Einbruch nicht in dem Versuch, mit dem gestohlenen Geld seine Schulden abzuzahlen, sondern nach Amerika auszuwandern. Auf diese Idee bringt ihn sein Komplize Fritz, der schon »seit langer Zeit davon bei Tag und Nacht«908 träumt, weil es dort »Geld wie Heu«909 geben soll. Neumann bringt der Vorschlag dagegen »die unbestimmte Hoffnung (…), dort für sich und die Seinigen eine bessere und reinere Existenz zu finden, als die gegenwärtige«910, womit der Erzähler erneut die besseren Züge seines Charakters zeigt. Ring deutet hier die Möglichkeit einer Auswanderung in die Vereinigten Staaten an, das ›Land der unbegrenzten Möglichkeiten‹, welche viele Deutschen aus verschiedenen Schichten vor allem in dieser Zeit ergriffen haben.911 Eine mögliche Emigration wird von den Figuren seiner Werke mehrmals in Erwägung gezogen, aber nur selten verwirklicht. Einige Protagonisten aus anderen Schichten, auf die im Weiteren eingegangen wird, haben eine Zeit in Amerika dagegen bereits hinter sich, kehren aber mit ihren Erfahrungen in die Heimat zurück. Auf Neumanns Selbstmord geht der Erzähler von Christkind-Agnes nicht weiter ein, doch in einem anderen Text aus der Sammlung Berliner Leben erörtert Ring diese Problematik. Die Texte aus diesem Buch haben, bis auf eine Erzählung, alle journalistischen Charakter, weswegen der Erzähler darin durchaus mit dem Autor zu identifizieren ist. Anlass zu den Überlegungen verschafft dem Erzähler ein Besuch in der »Morgue von Berlin«, wie der Text auch betitelt ist. Hier erfährt er von einem befreundeten Arzt, dass die Zahl der Selbstmörder »sich in den letzten Jahren (…) in einer wahrhaft auffallenden Weise vermehrt«912 habe. Gründe für diese Entwicklung sind aus der Sicht des Freundes »die unglücklichen Zeitverhältnisse, der immer schwerere Kampf um das Dasein, die übermäßige
908 909 910 911
Ebd., S. 199. Ebd., S. 198. Ebd., S. 199. Zur Darstellung der Vereinigten Staaten in der deutschen Literatur siehe: Sigrid Bauschinger, Horst Denkler, Wilfried Malsch (Hrsg.): Amerika in der deutschen Literatur. Neue Welt – Nordamerika – USA. Stuttgart 1975; Alexander Ritter (Hrsg.): Deutschlands literarisches Amerikabild. Neuere Forschungen zur Amerikarezeption der deutschen Literatur. Hildesheim, New York 1977; Frank Trommler (Hrsg.): Amerika und die Deutschen. Bestandsaufnahme einer 300jährigen Geschichte. Opladen 1986; Ulrike Maria Horstmann: »Amerika, du hast es besser«: Zur Geschichte Amerikas in der deutschen Literatur. San Diego 1987; Holger Lenz: Das Amerikabild in der deutschen Literatur. München 2019. 912 Max Ring: Berliner Leben. Kulturstudien und Sittenbilder…, S. 176.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2021, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783847112679 – ISBN E-Lib: 9783737012676
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Genußsucht und der zunehmende Mangel an sittlichem und religiösem Sinn«913. Hinzu kommt unglückliche Liebe und die damit verbundene »Furcht vor Schande und Entehrung«914, womit auf eine uneheliche Schwangerschaft angespielt wird. Bezüglich Rings Prosawerken lässt sich eine solche Figur in Marie aus Berlin und Breslau. 1847–1849 erkennen, die, von Kronheim verlassen, einen Selbstmordversuch unternimmt, diesen aber überlebt. Als Hauptgrund für diesen verzweifelten Schritt führt der Arzt aber »die allgemein verbreitete Trunksucht in den unteren Ständen an, der er die Hälfte der durch Selbstmord Umgekommenen zuschreibt«915. Diese Beschreibung trifft wiederum teilweise auf Neumann aus Christkind-Agnes zu. Mit dem untersten Teil der Unterschicht beschäftigt sich Ring in einem anderen Text aus Berliner Leben, die Veranlassung dazu bietet die Eröffnung eines Asyls für Obdachlose im Jahre 1869, zu dessen Entstehung ein Artikel aus der Gartenlaube den Anstoß gegeben haben soll.916 Die Lage dieser Menschen stellt er wie folgt dar: Wie jede große Stadt besitzt auch Berlin ein zahlreiches Proletariat, darunter Hunderte und Tausende, welche am Morgen nicht wissen, wo sie abends ihr müdes Haupt hinlegen und die lange Nacht zubringen werden. Die Menge der Obdachlosen steigt noch bedeutend am Anfang jedes Quartals, wo viele arme Familien von ihren Hauswirten wegen Zahlungsunfähigkeit exmittiert und auf die Straße getrieben werden. Ganze Karawanen sieht man an den sogenannten Ziehtagen mit ihrem dürftigen Gerümpel oft in strömendem Regen oder erstarrender Kälte von Haus zu Haus irren, um ein Quartier zu finden, und an allen Thüren vergebens anklopfen (…).917
Während sie im Sommer im Freien leben, im Tiergarten oder Friedrichshain, gewähren ihnen in »der rauhen Jahreszeit (…) die im Bau begriffenen Häuser, Brücken, Keller, Schuppen und Viehställe den erwünschten Schutz«918. Auch in diesem Fall handelt es sich um keine einheitliche Gruppe, denn nicht alle Obdachlosen erweisen sich als vollkommen mittellos. Menschen, die trotz Obdachlosigkeit noch über Geld verfügen, kommen in sog. ›Pennen‹ unter, womit meist neue Häuser gemeint sind, welche »auf diese Weise erst trocken gewohnt werden sollen«919, wie es im Falle der Neumanns aus Christkind-Agnes geschieht. Diese Häuser befinden sich größtenteils in dem sog. Voigtland und werden von 913 914 915 916
Ebd. Ebd. Ebd. Siehe auch: Klaus Trappmann: Weh, dass es die gibt, die darben… Zur Geschichte des Berliner Asylvereins. In: Anne Allex, Dietrich Kalkan: Ausgesteuert – ausgegrenzt… angeblich asozial. Berlin 2009, S. 268–278. 917 Max Ring: Berliner Leben. Kulturstudien und Sittenbilder…, S. 202. 918 Ebd., S. 203. 919 Ebd.
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den sog. ›Pennenmüttern‹ betrieben, die ebenfalls der Unterschicht entstammen. Dabei kann man sich, nach Meinung des Erzählers, »kaum eine Vorstellung von dem hier herrschenden physischen und moralischen Schmutz, von dem wüsten Treiben in diesen wirklichen Kloaken machen, wo Männer und Frauen untereinander in bunter Gemeinschaft die Nacht verleben«920. Den vollkommen Mittellosen bleibt in erster Linie das ›Polizeiverwahrsam‹, in dem sich 1868 laut dem Erzähler »14029 Männer, 1664 Frauen und 64 Kinder befanden, von denen 13743 Männer, 1331 Frauen und sämtliche Kinder sich selbst gemeldet hatten (…)«921. Darin findet man lediglich »einen Sitz auf einer Holzbank ohne Rücklehne«922. Die Gesellschaft ist (…) eine höchst gemischte; neben nächtlichen Unruhestiftern und Bummlern erblickt man heruntergekommene Handwerker und Arbeiter, neben armen, unglücklichen Frauen feile Straßendirnen, neben der Unschuld das verworrene Laster, neben der Bildung oder wenigstens der äußeren Politur die größte Roheit und Gemeinheit.923
In dieser Situation erweist sich der Bau eines zweigeteilten Asyls für obdachlose Männer und Frauen, das von einem Komitee in Auftrag gegeben wurde, in dem »Kaufleute, Fabrikanten, Beamte und Gelehrte, Männer wie Virchow, Borsig, Löwe-Calbe (…) saßen«924, als äußerst nützlich. Ring beschreibt das Asyl aus einer späteren Perspektive und kommt auf eine Zahl von über 300 täglichen bzw. über 100.000 jährlichen Übernachtungen im Männer-Asyl sowie über 50 täglichen bzw. 20.000 jährlichen Übernachtungen im Frauen-Asyl. Die Einrichtung bietet den Bedürftigen aber nicht allein Schlafmöglichkeiten, was der Erzähler folgendermaßen beschreibt: Eine ganz besondere Sorgfalt wird der Reinlichkeit zugewendet; zu diesem Zweck ist eine vollständige Badeeinrichtung vorhanden, über die der Hausvater die Aufsicht führt. Jeder Obdachlose erhält des Abends eine warme Suppe und des Morgens eine Tasse Kaffee mit Brot, so daß Niemand die Anstalt nüchtern verläßt.925
Sein Bericht dient dem Erzähler auch dazu, die Wohltätigkeit der Berliner zu loben, womit insbesondere der ›gebildete Mittelstand‹ gemeint ist.926 Wie schon in seinen Prosawerken, beispielsweise im Roman Götter und Götzen, wird auch hier die zeitgenössische Humanität gepriesen, die der Erzähler an die Stelle der früheren Frömmigkeit getreten sieht: »Was im Mittelalter der fromme Glaube that, um der Armut zu helfen, die Kranken zu pflegen, die Dürftigen zu unter920 921 922 923 924 925 926
Ebd. Ebd., S. 205. Ebd., S. 204. Ebd. Ebd., S. 206. Ebd., S. 208. Vgl. ebd., S. 213.
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stützen, das leistet jetzt die selbstbewußte Humanität in noch erhöhtem Maße, indem sie sich nicht nur auf palliative Mittel beschränkt, sondern das Übel an seinen Wurzeln anzugreifen sucht.«927 Rings Darstellung der unteren Schichten der Gesellschaft, welche, was man niemals aus dem Blick verlieren darf, drei Viertel und somit die absolute Mehrheit der Bevölkerung ausmachten, erscheint vielfältig und differenziert. Wie bereits erwähnt, erkennt und benennt er auch Unterschiede innerhalb der Unterschicht und sieht grundsätzlich davon ab, diese Gruppe im Ganzen zu idealisieren. Doch in einem Aspekt lässt sich an mehreren die Unterschicht betreffenden Fragmenten seiner Werke »ein hinlänglich bekanntes [Symptom erkennen], das den ganzen europäischen Realismus durchzieht: der ständige Hinweis auf die Fortsetzung zeitloser Mythen und tragischer Figurenkonstellationen in den Tiefen der modernen Großstadt«928. Bereits in seinem Romandebüt äußert der Erzähler den Wahnsinn Rolfs kommentierend folgende Gedanken: Die Liebe ist in den unteren Schichten der Gesellschaft noch immer jene kräftige Leidenschaft, welche den ganzen Menschen mit ursprünglicher Gewalt erfaßt. Selbstmord und Wahnsinn aus Liebe finden wir hier häufiger als in den höheren Klassen, wo Erziehung, Konvenienz und Sitte die Gewalt der Empfindung abgeschwächt haben. Das Herz hat seine Spannkraft verloren und schlägt matter unter dem Frack, als unter dem Kittel des Arbeiters. Ein gebildeter Geist hat tausend Trostgründe und Zerstreuungen, die ihn eine Leidenschaft überwinden lassen, an welcher der schlichte Mann zu Grunde geht. Die höhere Gesellschaft kann mit ihrem kränkelnden Herzen leben, das Volk stirbt am gebrochenen.929
Die Überzeugung vom ursprünglichen Charakter der Menschen aus der Unterschicht wird vom Erzähler der drei Jahre später erschienenen Erzählung Christkind-Agnes mit ganz ähnlichen Argumenten wiederholt bzw. kopiert: Die Liebe, welche unter den Gebildeten immer mehr durch die gegenwärtigen sozialen Verhältnisse an Frische und Ursprünglichkeit verloren hat, findet oft im Volke einen fruchtbaren Boden wieder, indem sie mit ungebrochener Kraft sich entwickeln kann. Hier, wo tausend Trostgründe und Zerstreuungen fehlen, welche ein gebrochenes Herz in der großen Welt noch heilen können, entwickelt sich eine Leidenschaft mit überraschender Gewalt. Nirgends begegnen wir häufiger dem Selbstmorde aus Liebe, als unter den untern Volksklassen, nirgends furchtbareren Ausbrüchen der Eifersucht, als hier. Dies ist eine Erfahrung, welche sich durch die Statistik aller Zeiten und Völker nachweisen läßt.930
927 928 929 930
Ebd. Hugh Ridley: Anthropologische Ansätze in der Berlin-Literatur Max Rings…, S. 377. Max Ring: Berlin und Breslau. 1847–1849. Zweiter Band…, S. 33. Max Ring: Stadtgeschichten. Erster Band: Christkind-Agnes…, S. 187.
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Merkwürdig erscheint dabei vor allem der letzte Satz dieser Passage, mit dem der Erzähler Anspruch auf eine nicht näher beschriebene Wissenschaftlichkeit erhebt. Selbst beim Besuch des Leichenschauhauses, im publizistischen Text Die Morgue von Berlin, das drei Jahrzehnte später erschien, behauptet der mit Ring zu identifizierende Erzähler: »Nur noch im Volke findet man einen Werther oder eine Sappho, die den Verlust des geliebten Gegenstandes nicht überleben wollen«931. Dieses Argument platziert der Autor unter die bereits angeführten Selbstmordgründe wie ›Kampf um das Dasein‹ oder ›Trunksucht‹. Und auch in dem stark autobiographisch geprägten Aus dem Tagebuche eines Berliner Arztes behauptet der Ich-Erzähler: Gerade in den unteren Ständen kommt der Selbstmord aus Liebe weit häufiger als in höheren Klassen vor. Dort finden wir noch eine Frische der Empfindung, eine Gluth der Leidenschaft, welche hier längst geschwunden und verblaßt ist. Die Bildung und das Vorwiegen der Verstandesrichtung in unserer Zeit lassen es zu so gewaltsamen Ausbrüchen und Entschlüssen nicht mehr kommen. Ein Werther ist jetzt unmöglich und würde sich nur lächerlich machen. Man tröstet sich heut zu Tage weit eher über den Verlust einer Geliebten als über den seines Vermögens. Ich habe auch in der höheren Gesellschaft manchen Selbstmord erlebt, aber die Veranlassung lag fast immer in zerrütteten Geldverhältnissen, selten nur in der Liebe oder Eifersucht. Wer die Romantik der Leidenschaft noch sucht, der muß tiefer hinabsteigen. Unsere Werther’s sind keine Legationssekretaire oder poetische Assessoren, sondern Arbeiter, Handwerker, Tischler, Schuster und selbst Schneider.932
Die mehrmalige Erwähnung Werthers als einer Figur, die für Ursprünglichkeit und Natürlichkeit steht, lässt einerseits die Schlussfolgerung zu, dass Ring »in den Alltagsstoffen seiner Großstadt die zeitlosen Stoffe der Weltliteratur [entdeckt] und (…) sein Werk damit (…) in eine Grundkonstellation des europäischen Realismus«933 einreiht. Andererseits überschatten diese Aussagen aus heutiger Sicht den ansonsten ausgewogenen Blick Rings auf die unteren Schichten der Gesellschaft, denn durch die ihnen zugeschriebenen Eigenschaften verweigert er der Unterschicht gleichzeitig andere Attribute, die somit nur dem oberen Viertel der Gesellschaft vorbehalten zu sein scheinen. Auf diese Weise entsteht eine scheinbar unüberwindliche gesellschaftliche Barriere, die sich nicht durch Vermögen oder Bildung, sondern allein durch Herkunft definieren lässt.
931 Max Ring: Berliner Leben. Kulturstudien und Sittenbilder…, S. 176. 932 Max Ring: Ausgewählte Romane und Novellen. Aus dem Tagebuche eines Berliner Arztes. Erster Band…, S. 54. 933 Hugh Ridley: Anthropologische Ansätze in der Berlin-Literatur Max Rings…, S. 377.
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Angesichts Rings Interesses an der dem Bürgertum weitgehend unbekannten Unterschicht liegt die Frage nahe, wie er ›wirkliche Fremde‹, Ausländer oder Minderheiten, darstellt. Die Zeit seines intensivsten Schaffens, die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts und insbesondere dessen drittes Viertel, war schließlich von starken Migrationsströmen geprägt, auch wenn diese vor allem innerhalb der deutschen Gebiete stattfanden bzw. Deutsche ins Ausland, vorwiegend nach Amerika führten, was Ring in seinen Werken aber lediglich nebenbei erwähnt, ohne es eingehend darzustellen. Einen humoristisch gefärbten, aber auch aufschlussreichen Beitrag zum Thema des Fremden leistet Ring mit seinem Text Die Wilden von Berlin aus der Sammlung Berliner Leben. Zu Beginn erklärt er Teile der zuvor beschriebenen Gruppe der Obdachlosen zu den »Wilden der Residenz«934, da sie »gewissermaßen außerhalb der polizeilich und bürgerlich geordneten Gesellschaft in einem anormalen Naturzustande, von der Hand zum Munde leben (…)«935. Damit sind aber nicht alle Obdachlosen gemeint, sondern die, welche lieber »Hunger [dulden] und (…) ein ruhiges Lager [entbehren], als daß sie auf ihre Freiheit verzichten«936. Trotz dieser Klarstellung erscheint eine solche Einteilung aus heutiger Sicht merkwürdig, das Fremde wird demnach nicht über die Trennlinien der Ethnie oder Religion definiert, sondern muss über den Lebensstil charakterisiert werden. Andererseits ist Rings Sichtweise für seine Zeit keine besondere und auch keine vereinzelte, obwohl sie in der Vergangenheit wurzelt und zum Zeitpunkt der Veröffentlichung seines Sammelbandes, 1882, immer mehr vom aufstrebenden Nationalismus im vereinigten Deutschland ersetzt wird.937 Im Weiteren zählt der Erzähler andere Gruppen auf, die in die Großstadt ziehen, »in der sie unbeachtet, fern von ihren Angehörigen sich ihrem Hange überlassen können oder leichter als in der Heimat ihr Fortkommen zu finden hoffen (…)«938. Auch diese Schilderung mutet ob der Nennung eines negativ besetzten Wortes als ersten Grundes für die Migration fragwürdig an. Zu dieser Gruppe gehören laut dem Erzähler (…) jene bekannten ungarischen Mausenfallenhändler und Hechelkrämer, die mit kläglicher Stimme ihre Drahtwaaren anbieten und um einen ›Kreuzar‹ betteln, jene italienischen Musikanten, die mit ihren Drehorgeln uns zur Verzweiflung bringen, jene 934 935 936 937
Max Ring: Berliner Leben. Kulturstudien und Sittenbilder…, S. 273. Ebd. Ebd., S. 274. Vgl. Reinhard Kühnl: Nation – Nationalismus – Nationale Frage. Was ist das und was soll das? Köln 1986, S. 69ff. 938 Max Ring: Berliner Leben. Kulturstudien und Sittenbilder…, S. 274.
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männlichen und weiblichen Straßensänger, die auf den Höfen die neuesten ›Mordithaten‹ mit heiserer Stimme krächzen, jene wahren und falschen Tyroler, die in den Kneipen und Tingel-Tangelkellern ihr Ohren zerreißendes Gejodel erschallen lassen, jene Taschenspieler und Jongleure, die in fleischfarbigen Tricots und schäbigen, mit goldenen Flittern benähten Sammtjacken ihre Kunststücke in öffentlichen Gärten oder in den Dörfern um Berlin vor einem verehrten Publikum produzieren, jene Menageriebesitzer, die in elenden Leinwandzelten oder Bretterbuden einen lebensmüden Wolf, einen invaliden Bären und ein ausgestopftes Krokodil zeigen (…).939
Mit dieser Aufzählung wird klar, dass der Erzähler keine verlässliche Zusammenfassung der Ausländer in Berlin anstrebt, sondern vielmehr die markantesten Vertreter dieser Gruppe auswählt, die ihre Existenz am äußersten Rand der Gesellschaft fristen. Diese Schilderung dient ihm aber gleichzeitig als Einführung dazu, eine selbst erlebte Geschichte darzustellen. Während eines Spaziergangs sieht der Erzähler »in der Nähe des botanischen Gartens (…) eine große Tafel mit dem Bilde einer Zulukassern-Familie«940, die »für fünfzig Pfennige ein noch nie dagewesenes Schauspiel von kanibalischer Wildheit und afrikanischer Gefräßigkeit«941 bewirbt. Er geht hinein und erblickt eine als Urwald stilisierte Bühne mit gemalten Löwen, Tigern und Schlangen. Das eigentliche Schauspiel ist kein Bühnenstück im theatralischen Sinne, sondern eher ein Szenenbild aus dem vermeintlichen Leben der Zulus: Mitten in dieser grauenvollen Wildnis lagen die pechschwarzen Zulukassern in ihrer landesüblichen Toilette, die Herren mit (…) Tierfellen, die Damen mit einer zierlichen Schürze bekleidet, im übrigen durch keinen überflüssigen Anzug belästigt. Auf ein gegebenes Zeichen erhob sich die liebenswürdige Gesellschaft und führte zu den Klängen der Ziehharmonika den furchtbaren Kriegertanz unter wahrhaft grauenvollem Gesichterschneiden, unglaublichen Gliederverrenkungen und halsbrecherischen Sprüngen aus, während sie dazu ein schreckliches Geheul ausstießen und sich mit ihren Lanzen und (…) Keulen bedrohten.942
Nach der Vorstellung erscheint der Leiter dieses Etablissements und hält einen »wahrhaft bewunderungswürdigen ethnographischen Vortrag«943 über »die Natur, die Sitten und Gebräuche, die Religion, Sprache und Lebensweise der Zulukassern«944, wie der Erzähler mit beißender Ironie berichtet. Darin erfahren die Zuschauer viele absurde, aber geschickt als wissenschaftliche Tatsachen verkleidete Informationen, z. B. dass die Zulus »wegen der vielen wilden Tieren auf
939 940 941 942 943 944
Ebd. Ebd., S. 275. Ebd. Ebd., S. 276. Ebd., S. 277. Ebd.
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hohen Bäumen«945 leben oder dass ihre »besiegten und gefangenen Feinde (…) als eine große Delikatesse verspeist«946 werden. Bei einem angeblich in seiner Muttersprache geführten Gespräch wünscht sich der Häuptling der Zulus vom Leiter »am liebsten eine frische Menschenkeule«947. Die Pointe der Geschichte stellt bei Ring die Tatsache dar, dass sich der vermeintliche Häuptling am Ende als ein weißer Berliner entpuppt, wobei ihn die eigene Ehefrau als solchen entlarvt.948 Vor allem belächelt der Autor in seinem Text die Naivität der Zuschauer, aus heutiger Sicht könnte man darin aber auch einen kleinen Beitrag zur Erschaffung eines negativen Menschenbildes sehen und somit zur Verbreitung oder Festigung von Rassenstereotypen. Dass Ring von solchen Überlegungen möglicherweise freizusprechen ist, beweist das Anfangskapitel von Berliner Leben, Berlin und die Berliner, in dem er die Bewohner der preußischen und später deutschen Hauptstadt als »ein wunderbares Gemisch von verschiedenen Elementen«949 bezeichnet und weiter ausführt: »Ost- und Westpreußen, Schlesier, Sachsen, Westfalen, Rheinländer und auch Polen strömten nach Berlin und verschmolzen nach und nach mit der schon vorhandenen Bevölkerung«950. In dem »Typus des Berliners«951 glaubt er auf die Herkunft zurückzuführende positive und negative Charakterzüge der Menschen ausmachen zu können. Dieser Typus soll demnach (…) die Ausdauer, Zähigkeit und Gemütlichkeit des Deutschen, aber auch das Phlegma und die Unbeholfenheit der germanischen Rasse, die Tapferkeit, Leichtlebigkeit und den Esprit der Franzosen, aber auch ihre Eitelkeit, Großsprecherei und Rauflust, die Anstelligkeit und leichte Fassungsgabe der Slaven, aber auch ihre Launenhaftigkeit und Genußsucht, den Witz, die Schlagfertigkeit und den Erwerbssinn der Semiten, aber auch ihre zersetzende Kritik, ihren kalten Verstand und scharfen Sarkasmus (…)952
in sich vereinen. Solche Stereotype953 sind auch in Rings Prosawerken zu finden, wobei die Ausländer darin meist oberflächlich behandelt und als Gruppen dargestellt werden, was die Schilderung ihrer stereotypen Eigenschaften vereinfacht. Durch diese Verallgemeinerung lassen sich die Beschreibungen eher als Stereo-
945 946 947 948 949 950 951 952 953
Ebd., S. 278. Ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 279. Ebd., S. 15. Ebd., S. 16. Ebd. Ebd. Zur Einführung in die Begriffsgeschichte siehe: Ruth Florack: Tiefsinnige Deutsche, frivole Franzosen: nationale Stereotype in deutscher und französischer Literatur. Stuttgart, Weimar 2001; insbesondere Kapitel I: Nationale Stereotype als Gegenstand der Literaturwissenschaft. Eine Standortbestimmung, S. 1–48.
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type auffassen, im Gegensatz zu Vorurteilen, welche Abwertendes enthalten.954 Am häufigsten handelt es sich dabei um Urlauber, die ihre Zeit an gleichen Orten verbringen wie die Hauptfiguren der Texte und deshalb auch beschrieben werden, sie gehören sozusagen zum Mobiliar. Eine solche Darstellung findet sich im Roman Götter und Götzen bei der Beschreibung Baden-Badens, wo Bella und Jacques das Ende ihrer Hochzeitsreise verbringen. Russen charakterisiert der Erzähler allgemein als »diese auf steter Wanderung begriffenen Nomaden des Nordens«955. Ein englisches Ehepaar wird folgendermaßen beschrieben: Dort langweilte sich der englische Snob, ein reich gewordener Bierbrauer oder Kleiderhändler, mit seiner liebenswürdigen Familie, den breiten Rücken seinen Nachbarn zugewendet, hinter den mächtigen Blättern der Times wie eine große Raupe unter einer Kohlstaude verborgen, während die hochblonde Gattin eifrig in ihrem Reisehandbuch die Schönheiten Badens studirte, ohne ihre Umgebung nur eines Blickes aus den wasserblauen Augen zu würdigen.956
Franzosen sind dagegen quecksilbrig und machen »unter Scherzen und Lachen mehr Geräusch und Aufsehen (…), als die vierfache Zahl von Deutschen, ohne sich um ihre Nachbarn und deren sittliche Entrüstung zu kümmern«957. Doch die Nationalität aller dieser Figuren erscheint zweitrangig, entscheidend ist die Tatsache, dass sie über Geld verfügen und dem Bürgertum oder der Oberschicht zuzurechnen sind. Wichtige Protagonisten aus dem Ausland findet man in Rings zeitgeschichtlichen Werken kaum, dagegen bedient sich der Autor mehrmals der Figur eines verkappten Ausländers (oder einer verkappten Ausländerin), bei dem es sich um Personen handelt, die aus verschiedenen Gründen ihre deutsche Herkunft verschleiern und sich als Ausländer ausgeben. Eine solche Figur stellt die geheimnisvolle Gräfin Lercadie de Merlincour aus der Erzählung Ein moderner Abenteurer dar, bei der es sich am Ende herausstellt, dass sie von einem reichen Bankier angeworben wurde, um die »beabsichtigte Verbindung [der Hauptfigur] mit einer jungen Dame zu hintertreiben«958. Während sie noch ihre Rolle spielt, verdankt sie ihre Anziehungskraft einerseits der adeligen Herkunft und als angebliche Plantagenbesitzerin in Louisiana auch ihrem Reichtum. Andererseits ist sie als »Creolin«959 das Beispiel einer ›geheimnisvollen Fremden‹, wie sie in Rings 954 Vgl. Bernd Schäfer: Entwicklungslinien der Stereotypen- und Vorurteilsforschung. In: Bernd Schäfer, Franz Petermann (Hrsg.): Vorurteile und Einstellungen. Sozialpsychologische Beiträge zum Problem sozialer Orientierung. Festschrift für Reinhold Bergler. Köln 1988, S. 11–65, hier S. 51. 955 Max Ring: Götter und Götzen. Zweiter Band…, S. 175. 956 Ebd., S. 176. 957 Ebd., S. 177. 958 Max Ring: Neue Stadtgeschichten. Erster Band: Ein moderner Abenteurer…, S. 203. 959 Ebd., S. 146.
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Werken nur selten vorkommen. Ihr exotisches Aussehen fasst der Erzähler in folgenden Worten zusammen: Unter den scharf gezogenen Augenbrauen brannten die verzehrenden, Alles versengenden Augen in wahrhaft tropischer Gluth. Ihr Feuer wurde nur durch die langen, weichen Wimpern gedämpft, welche seidenen Vorhängen glichen. Die grünlich schillernde Pupille glänzte wie ein seltsamer Edelstein in weißer Emaille gefaßt; ein eigener Zauber lag in ihrem Blick, der die dämonische Kraft, womit die Klapperschlange den sie umflatternden Vogel bannt, zu besitzen schien.960
Sie tritt »mit einer Mischung von bezaubernder Naivetät und großartiger Unbefangenheit« auf und ist damit »weit entfernt von Prüderie deutscher Frauen in ähnlichen Fällen«961. Ihre exotische und auch erotische Ausstrahlung dient dem Ziel, Dr. Wirrer zu verführen, die Aufklärung ihrer wahren Identität lässt wiederum die vermeintliche sittliche Ordnung wiederherstellen. Gleichzeitig spiegelt sich in der ›Creolin‹ die bei Ring nur ganz selten vorkommende Vorstellung von einer verführerischen exotischen Schönheit wider. Ring bedient sich damit des in dieser Zeit, im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts aufkommenden Motivs der ›Femme fatale‹, einer »Nachfahrin der romantischen Undine, aber ebenso der rasenden Weiber aus der Trauerspiel-Literatur des 18. Jahrhunderts, der Hexen des 15. bis 17. Jahrhunderts, der ruchlos-mächtigen Renaissancegestalten wie Lucrezia Borgia, der biblischen Skandalfiguren wie Salome, Judith und Dalila, der antiken verführerischen Machtweiber wie Helena und Kleopatra und der mythologischen Machtweiber wie Gorgo und Medusa«962. In ihrer modernen Ausprägung ist die ›Femme fatale‹ eine »meist junge Frau von auffallender Sinnlichkeit, durch die ein zu ihr in Beziehung geratender Mann zu Schaden oder zu Tode kommt«963. Bei Ring sind diese Attribute allerdings nur eine Fassade, sie werden eingesetzt um einen betrügerischen Plan durchführen zu lassen. Dass ›verkappte Ausländer‹ als Figuren nicht unbedingt negativ sein müssen, zeigt sich dagegen am Beispiel des schon mehrmals angeführten Ingenieurs Robert Gibson aus Ein verlorenes Geschlecht, der in Wirklichkeit der totgeglaubte Bruder des Fürsten Vulski ist. Mit seinem angenommenen Namen repräsentiert Gibson aber in erster Linie das Land, welches samt seiner Bevölkerung am besten in Rings Werken bewertet wird: England. Die ausführlichsten Aussagen dazu finden sich aber in der Erzählung Handwerk und Studium, deren Hauptfiguren nach England gelangen, wo sie im Gegensatz zu Deutschland die Gelegenheit 960 Ebd., S. 150. 961 Ebd., S. 164. 962 Gerhard Stein: Vorwort. In: Gerhard Stein (Hrsg.): Kulturfiguren und Sozialcharaktere des 19. und 20. Jahrhunderts. Band 3: Femme fatale. Vamp. Blaustrumpf. Sexualität und Herrschaft. Frankfurt/M. 1985, S. 11–20, hier S. 12. 963 Carola Hilmes: Die Femme fatale. Ein Weiblichkeitstypus in der nachromantischen Literatur. Stuttgart 1990, S. 10.
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bekommen, sich beruflich zu entfalten. Dabei wird zum einen die bereits erwähnte Eigenschaft der Engländer gelobt, aufgeschlossen auf Neuerungen zu reagieren, sich diesen nicht zu verschließen. Zum anderen zeichnen sich die Engländer durch (…) die Betheiligung des Einzelnen an den großen politischen und socialen Fragen des Vaterlandes. Die Meisten waren Mitglieder der verschiedenartigsten Vereine und Gesellschaften, welche bald die Interessen des eigenen Standes, bald das städtische Wesen, bald auch die Gesammtheit mit großem Ernste zum Gegenstande ihrer Fürsorge machten.964
Doch wie so oft bei Ring bleibt dieses Lob nicht uneingeschränkt, vielmehr werden auch die negativen Charakterzüge der Engländer aufgezählt. Die aus Berlin stammenden Hauptfiguren erkennen demnach (…) ihr stolzes Selbstgefühl, das häufig in Härte, Rohheit und Egoismus ausartet, ebenso den abgeschlossenen Krämergeist, der die Welt zu Grunde gehen läßt, wenn er nur seinen Vortheil dabei finden kann. Sie sahen die schreienden Gegensätze von Reich und Arm, (…) den Stolz und Hochmuth, der sich in Mienen und Worten der Vornehmen oft genug ihnen gegenüber aussprach und die Verachtung aller Fremden, die immer bei einem Volke auf Beschränktheit und Egoismus schließen läßt.965
Auf alle zeitgeschichtlichen Texte Rings übertragen, erweisen sich diese Fragmente jedoch als Ausnahmen. Die Handlung seiner Werke spielt nur selten im Ausland und die Ausländer selbst werden zumeist entweder nicht beachtet oder stereotyp dargestellt. Ebenso spärlich sind in Rings Werken Verweise auf den Antisemitismus, was aus mehreren Gründen überrascht. Ring selbst war natürlich Jude und bekannte sich zu dieser Herkunft. Obwohl seine Werke zur Unterhaltungsliteratur gehören, scheute er sich nicht, kontroverse Themen wie die Revolution oder die Arbeiterbewegung anzusprechen. Und schließlich wurde in dieser Zeit, mit dem Berliner Antisemitismusstreit der späten 1870er Jahre, eine neue, rassistisch motivierte Form des Antisemitismus geboren.966 Es ist nicht so, dass diese Problematik überhaupt nicht in Rings zeitgeschichtlichen Texten vorzufinden ist, doch es sind insgesamt nur einige wenige Beispiele, die sich aufzählen und sogar zitieren lassen. In der Erzählung Die Chambregarnisten sagt eine der Figuren über eine mögliche Ehe seiner Tochter: »Diese reichen, getauften Juden prahlen gar zu gern mit einer anständigen, christlichen Verwandtschaft. Ich werde sogleich dem Assessor schreiben und ihm ein für allemal jede Hoffnung neh964 Max Ring: Handwerk und Studium. Zweiter Theil…, S. 69. Siehe auch: Robert Radu: Nach London! Der Modernisierungsprozess Englands in der literarischen Inszenierung von Georg Christoph Lichtenberg, Heinrich Heine und Theodor Fontane. Frankfurt am Main 2010. 965 Ebd., S. 70. 966 Vgl. Christian Jansen: Gründerzeit und Nationsbildung 1849–1871…, S. 244f.
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men«967. In Keine Geborene wird Seraphine Opfer eines Komplotts der adeligen Frauen aus der Umgebung, doch der Grund für diesen liegt in erster Linie in der im Titel angeführten Tatsache, dass sie eben ›keine Geborene‹, d. h. keine Adlige, ist. Bei der ironischen Beschreibung der Baden-Badener Urlaubsgesellschaft empört die »etwas allzu reiche Toilette, goldener Schmuck und jüdische Zuvorkommenheit« einer Frankfurter Bankierfamilie »das christlich-germanische Bewußtsein einiger minder geschmückten und minder schönen Damen dermaßen (…), daß sie unerbittlich jede Annäherung zurückwiesen und mit ihren Stühlen abrückten, um jede Berührung mit den Kindern Israels zu vermeiden«968. Und schließlich erzählt ein Bekannter des Ich-Erzählers von Der Kleinstädter in Berlin, nun Ludwig Schnorrer, von seinem Namenswechsel und meint dazu: »Ein Mensch der Löbel Schnommer heißt, wird in jeder anständigen Gesellschaft ausgelacht, bevor er noch den Mund aufthut. Ein solcher Name kann einen Menschen unglücklich machen und ich habe ihn deshalb abgelegt.«969 Diese Spärlichkeit in Bezug auf die antisemitische oder antijüdische Problematik bleibt unverständlich, auch wenn oder gerade weil sich Ring sonst durch gesellschaftliches Engagement auszeichnete. Alles in allem entsteht ein uneinheitliches Bild des ›Fremden‹ in Max Rings zeitgeschichtlichem Schaffen, nicht so sehr durch merkwürdige Bezüge, wie im Falle der Unterschicht, als vielmehr aufgrund seines nur spärlichen Vorhandenseins und dadurch einer mörglicherweise vergebenen Chance auf ein noch größeres literarisches Gesellschaftspanorama.
4.6
Die Frauen
In den folgenden Überlegungen wird nicht angestrebt ein ausführliches Bild der Frauenfiguren in Rings zeitgeschichtlichen Werken zu zeichnen, sondern vielmehr Tendenzen und Sichtweisen aufzuzeigen, die sich darin offenbaren und wiederholen. Im Allgemeinen spielen Frauen als Neben- aber auch Hauptfiguren eine wichtige Rolle in diesen Texten, weder ihre Standes- noch Schichtzugehörigkeit sind dabei von Bedeutung, es sei nur an die adelige Wanda von Selz aus Rings Romandebüt Berlin und Breslau. 1847–1849 und das aus der Unterschicht stammende Mädchen Agnes aus der Erzählung Christkind-Agnes erinnert. Bei der näheren Betrachtung von Rings Texten wird aber deutlich, dass die Entfaltungsmöglichkeiten für die Frauenfiguren begrenzt sind bzw. dass sie nur dann im Leben reüssieren, wenn sie sich glücklich verheiraten. 967 Max Ring: Stadtgeschichten. Zweiter Band: Die Chambregarnisten…, S. 139. 968 Max Ring: Götter und Götzen. Zweiter Band…, S. 177. 969 Max Ring: Der Kleinstädter in Berlin. Erster Band…, S. 75.
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Ein aufschlussreiches Beispiel für Rings Vorgehensweise bei der Kreation von Frauenfiguren und deren Schicksal bietet der dreibändige Roman Die Lügner, ein Spätwerk aus dem Jahre 1878. Zu den wichtigsten Frauenfiguren dieses Buches gehören: Elise Tauscher, Ehefrau des Journalisten Dr. Richard Tauscher, Theodore Bauer, eine enge Freundin Richard Tauschers, die mit Theodore befreundete Julie von Kronenberg sowie die Schriftstellerin Ada Stern, Freundin von Julie und Theodore. Ohne eingehend auf den Inhalt eingehen zu wollen, sei lediglich zusammengefasst, dass die Ehe zwischen Richard und Elise Tauscher keine glückliche ist, weswegen Richard ein zwischen enger Freundschaft und Liebesbeziehung schwankendes Verhältnis mit der jungen Theodore beginnt. Dieses entwickelt sich immer mehr zu einer Beziehung, bis hin zu einem Heiratsantrag des verheirateten Richard. Als Theodores Gefühle abklingen und sie sich Richards Unentschlossenheit und auch Täuschung gegenüber seiner Frau bewusst wird, zerbricht die Beziehung. Am Ende heiratet sie den Schwager ihrer Schwester, Rudolph Wagner. Elise verzeiht Richard seine Untreue, sie bleibt bei ihm, am Ende verlassen beide Berlin und gründen eine Erziehungsanstalt in Thüringen, auch dies ein wiederkehrendes Motiv in Rings Werken. Die beiden anderen Frauenfiguren ereilt ein schlimmes Schicksal. Julie von Kronenberg, eine »der reizendsten und beneidenswerthesten Damen der Residenz«970, ist mit einem Bankier verheiratet, hat Kinder und gehört zur Elite Berlins. Trotzdem beginnt sie eine Affäre mit Rittmeister von Liefen, weswegen sie ihre Familie verlässt und sich mit dem Liebhaber in Nizza niederlässt. Vorahnend wirkt dabei die von ihrer Mutter ausgesprochene Warnung: »Eine Liebe, der jede sittliche Basis, jede feste Garantie fehlt, kann nur mit einer furchtbaren Enttäuschung enden«971. Tatsächlich wird die neue Beziehung immer mehr von Argwohn und Anschuldigungen geprägt. Julie erkrankt und auch wenn sich die Liebenden dadurch wieder näherkommen, aussöhnen und heiraten, verstirbt sie am Ende. Ada Stern wird als eine begabte Schauspielerin vorgestellt, »mit einer glänzenden (…) Phantasie, mit einem ungewöhnlichen Talent ausgestattet, reich an kühnen, oft gewagten Gedanken und Inspirationen (…)«972, gleichzeitig aber bekundet ihr der Erzähler »einen eigenthümlichen dämonischen Reiz«973 sowie den gänzlichen »Mangel an jedem ethischen Sinn und sittlichen Grundsätzen«974. Nach kurzzeitigen Erfolgen gerät Ada aber immer mehr in Vergessenheit und als sie am Ende des letzten Bandes Theodore nach langer Zeit wieder besucht, schreibt der 970 Max Ring: Die Lügner. Roman aus der modernen Gesellschaft. Erster Band. Stuttgart und Leipzig 1878, S. 79. 971 Max Ring: Die Lügner. Roman aus der modernen Gesellschaft. Zweiter Band. Stuttgart und Leipzig 1878, S. 232. 972 Ebd., S. 72. 973 Ebd. 974 Ebd., S. 73.
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Erzähler von der »durch ihre eigene Schuld heruntergekommenen, durch ihre Frivolität und den Mangel an sittlichem Gehalt immer gesunkenen, auch äußerlich verkümmerten Schriftstellerin«975. Durch eine solche Konstellation kann man sich als Leser des Eindrucks nicht erwehren, dass Julie und Ada aufgrund ihres ›unsittlichen‹ Lebenswandels vom Erzähler bestraft werden, Ada mit Vergessenheit, Julie mit dem Tod, während die auf den ›rechten Pfad‹ zurückgekehrte Theodore mit persönlichem Glück belohnt wird. Der Roman Die Lügner ist zwar im Hinblick auf derartige Konstellationen wohl am aussagekräftigsten unter allen zeitgeschichtlichen Texten Rings, doch die Überzeugung von der Heirat und Familiengründung als einzigem ›sittlichen‹ Lebensentwurf bleibt ihnen allen gemein. Diese Sichtweise war im 19. Jahrhundert charakteristisch, in der Ehe sah man die Hauptaufgabe der Frau.976 Das Eheleben wurde dazu bis ins Detail vom Gesetz geregelt, welches u. a. die Zeugung und Erziehung von Kindern als Hauptzweck der Ehe vorsah sowie die Unterordnung der Frau dem Mann gegenüber voraussetzte.977 Bezüglich der Sexualität galten hingegen strenge gesellschaftliche Normen, nach denen die »Frau keusch und schamhaft sein«978 und niemals die Initiative ergreifen sollte, die dem Mann vorbehalten war. In dem Buch offenbart sich eine weitere Tendenz, die das Werk Rings durchzieht, hier aber wohl am stärksten zum Ausdruck kommt, da sie von den männlichen Hauptfiguren zusammengefasst wird. Es geht dabei um nichts weniger als die gesellschaftliche Rolle der Frauen. Darin ist auch ein Widerhall der Debatten zu vernehmen, die mindestens seit der Französischen Revolution geführt wurden. In der Schaffenszeit von Ring waren die Ideen Arthur Schopenhauers populär, der die Frau »auf der Mittelstufe zwischen dem Kinde und dem Manne, als welcher der eigentliche Mensch ist«979, platzierte. In dieser Vorstellung gab es keinen Platz für weibliche Unabhängigkeit, natürliche Eigenschaften der Frauen waren Gehorsam und Unterordnung gegenüber dem Mann. Außerdem wurden intellektuelle Aktivitäten von Frauen kritisiert, da sie weibliche Instinkte beeinträchtigen sollten.980 Auch in den folgenden Jahrzehnten prägten ähnliche Konzepte die Debatte, von u. a. (aber nicht nur) Friedrich Nietzsche, Paul Julius Möbius (Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes, 1900) oder Otto Weininger (Geschlecht und Charakter, 1903). Auf der Grundlage der 975 Max Ring: Die Lügner. Roman aus der modernen Gesellschaft. Dritter Band. Stuttgart und Leipzig 1878, S. 243. 976 Vgl. Bonnie S. Anderson, Judith P. Zinsser: Eine eigene Geschichte. Frauen in Europa. Band 2. Aufbruch. Vom Absolutismus zur Gegenwart. Frankfurt am Main 1995, S. 185. 977 Vgl. Magdalena Popławska: Bilder der einsamen Frau im Werk der Vormärzschriftstellerinnen. Dresden 2016, S. 46f. 978 Ebd., S. 50. 979 Arthur Schopenhauer: Parerga und Paralipomena. Berlin 1851, S. 491. 980 Vgl. Magdalena Popławska: Bilder der einsamen Frau im Werk der Vormärzschriftstellerinnen…, S. 36.
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Ungleichheit zwischen Mann und Frau bauten diese Autoren »Argumentationslinien auf, wo von den wesensmäßigen Tugenden der Frau nichts mehr zu finden ist, stattdessen unverhohlen die Minderwertigkeit der Frau behauptet wird«981. Auf der anderen Seite sind diese Konzepte vor dem Hintergrund der Emanzipation der Frauen zu sehen, vielleicht auch als Reaktion darauf. Noch 1865 fand in Deutschland die erste Frauenkonferenz statt, bei der der Allgemeine Deutsche Frauenverein entstand. Dieser setzte sich »die erhöhte Bildung des weiblichen Geschlechts und die Befreiung der weiblichen Arbeit von allen Hindernissen«982 zum Ziel. Die ursprüngliche Mitgliederzahl von 34 verdoppelte sich im ersten Jahr und stieg nach fünf Jahren auf 10.000.983 In Rings Roman stammen die Aussagen zur Rolle der Frau von Richard Tauscher und Rudolph Wagner, den beiden Kontrahenten um die Gunst Theodores, und sind somit nicht mit den Überzeugungen des Autors gleichzusetzen, auch wenn eine solche Wahrnehmung naheliegend erscheint. Während eines Gesprächs am Anfang des Romans äußert Tauscher seine Meinung über den Einfluss der Frauen auf Literatur und Kunst: Allerdings (…) üben unsere Frauen einen großen, aber leider auch meist schädlichen Einfluß auf unsere Literatur und Kunst aus (…). Am wenigsten werden noch die bildenden Künste dadurch getroffen, für die das weibliche Geschlecht nur ausnahmsweise ein tieferes Verständniß und wirkliches Interesse zeigt; desto mehr leidet aber Musik und Poesie, welche sie direkt und indirekt beherrschen. Die meisten Männer sind erschöpft von des Tages Mühen und Lasten, von schwerer Arbeit, ernsten Studien und hundertfachen Geschäften behindert, fast ausschließlich von ihrer Berufsthätigkeit in Anspruch genommen, so daß diese Domäne des Geistes beinahe ganz den Frauen überlassen bleibt.984
Die künstlerische Tätigkeit der Frauen ist demnach nicht auf Begabung oder einfach nur ein solches Bedürfnis zurückzuführen, sondern allein auf deren falsches Verständnis von der Rollenverteilung in einer Ehe. Diese, nicht mit Rings Ansichten gleichzusetzende Aussage bildet keine Ausnahme, nicht nur angesichts der vorhin dargelegten zeitgenössischen Konzepte über die Rolle der Frau in der Gesellschaft. Joseph von Eichendorff behauptete beispielsweise »in seinem Text über Die deutsche Salon-Poesie der Frauen, dass schreibende Frauen erstens
981 Hansjürgen Blinn: Emanzipation und Literatur. Texte zur Diskussion. Frankfurt a. M. 1984, S. 375ff. 982 Rosemarie Nave-Herz: Die Geschichte der Frauenbewegung in Deutschland. Fünfte, überarbeitete und ergänzte Auflage. Hannover 1997, S. 9. 983 Vgl. ebd., S. 12. 984 Max Ring: Die Lügner. Roman aus der modernen Gesellschaft. Erster Band…, S. 35f.
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unnatürlich seien und zweitens zur Verflachung der Literatur beitrügen«985. Tauscher setzt seine Aussage fort und vermittelt dabei den Eindruck, das gesamte Schaffen von Frauen wäre das Ergebnis eines Irrtums: Daher kommt es auch, daß auf diesem Gebiete das weibliche Element überwiegt und immer mehr den männlichen Genius verdrängt; daher unsere schwächliche, bleichsüchtige Lyrik für höhere Töchterschulen und schwärmende Backfische, diese Sensationsromane und Herzensgeschichten für und von unverstandenen Frauen, die ganze Misère unseres Theaters mit seinen französischen Sittendramen, Birch-Pfeiffer’schen Rührstücken und dem unentbehrlichen Toilettenwechsel der weiblichen Darsteller; daher vor Allem das moderne Virtuosenthum und die Erfolge der Zukunftsmusik mit ihrem Anhang von langhaarigen und kurzsinnigen Jüngern, hypergenialen Weibern, russischen Fürstinnen, deutschen Excellenzen, Marien und Magdalenen, welche anbetend zu den Füßen ihres Meisters liegen.986
Es ist eine konservative Sichtweise, in der die Überzeugung von der Richtigkeit der traditionellen Rollenverteilung in einer Ehe nachklingt. Diese wird wiederum direkt und mit aller Deutlichkeit als etwas Selbstverständliches von Rudolph Wagner zum Ausdruck gebracht, dem wahrscheinlich edelsten Protagonisten des Romans, da er im Gegensatz zu den meisten anderen Figuren nicht als Lügner bezeichnet werden kann. Im Gespräch mit Theodore über die Rolle der Frauen stellt er demnach fest: Die Frau hat einen ebenso hohen, wenn auch andern Beruf als der Mann. Die Natur hat sie dazu geschaffen, durch Anmuth und Huld, durch Güte und Milde, vor Allem durch Liebe das Leben zu verschönern und das Dasein zu schmücken. Sie ist das Herz und er der Kopf, sie das Gemüth und er der Geist. Er muß kämpfen und ringen, schaffen und sorgen und sie steht ihm nicht als Dienerin, sondern als treue Freundin zur Seite, um ihn aufzumuntern, anzufeuern, zu trösten, zu erheben und zu belohnen. Er gehört der Außenwelt, sie der Familie, deren Mittelpunkt sie bildet. In ihrem Kreise, geschützt vor jeder rohen Berührung, schaltet sie als die Herrin des Hauses, als die Hüterin heiliger Sitte und jener reinen Liebe, welche der Urquell aller menschlichen Bildung und gesellschaftlichen Ordnung ist. Weh ihr, wenn sie diese Grenze überschreitet, wenn sie sich gewaltsam von der Familie losreißt, um ein selbstsüchtiges Einzelleben zu führen, wenn sie ihren wahren Beruf verkennt und ihre innerste Natur verleugnet! Sie ist verloren und treibt wie ein abgefallenes Blatt, vom Sturm der Leidenschaft erfaßt, im Schmutz der Welt, bis sie elend untergeht.987
985 Ewa Jurczyk: »Mit der Feder erwerben ist recht schön«. Joseph von Eichendorff und die Literatur von Frauen. In: Graz˙yna Barbara Szewczyk, Renata Dampc-Jarosz (Hrsg.): Eichendorff heute lesen. Bielefeld 2009, S. 115–126, hier S. 117. 986 Max Ring: Die Lügner. Roman aus der modernen Gesellschaft. Erster Band…, S. 36. 987 Max Ring: Die Lügner. Roman aus der modernen Gesellschaft. Zweiter Band…, S. 132.
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Die Aussage liest sich wie eine Prosa-Fassung von Schillers Glocke, ergänzt die Worte Tauschers und lässt sich dazu als Indiz verstehen, das für die zuvor erhobene These von der Bestrafung der ›unsittlichen‹ Figuren spricht. Die Überzeugung von der Natürlichkeit der traditionellen Geschlechterrollen durchzieht alle Werke Rings, obgleich sie erst in Die Lügner mit dieser Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht wird. In den früheren Texten sind es kurze Aussagen, manchmal nur einzeln eingestreute Sätze, die auf die Sichtweise des Autors schließen lassen. So stellt der Erzähler in Christkind-Agnes fest, dass der Mann »laut aussprechen [darf], was das züchtige Mädchen still verschweigen muss«988. Und an einer anderen Stelle äußert der Erzähler seine Ansichten über die vermeintliche Gleichberechtigung der Geschlechter, jedoch ganz im Sinne der Weltanschauung Rudolphs: »Die Natur des Weibes ist im Dulden und Ertragen, die des Mannes nur im Wirken und Handeln stark. Es giebt kein schwächeres Geschlecht. Dasselbe Maaß der Stärke wohnt beiden inne, nur in der Anwendung desselben unterscheiden sich Mann und Frau«989. Eine ähnliche Sicht vertritt Bormann, ein fortschrittlicher und erfolgreicher Mittelständler aus der Erzählung Der Geheimrath: »Die Frau wirkt in ihrem Kreise ebenso Großes, wie der Mann in dem seinigen; er ist der Kopf und sie das Herz der Gesellschaft; ihm gehört die Welt und ihr das Haus«990. Auch in diesem Fall wird die Einschränkung der Entfaltungsmöglichkeiten für Frauen als etwas Natürliches und Edles dargestellt: Den Frauen allein verdanken wir es, daß wir nicht in dem äußern Treiben verwildern und untergehen. Das ist der schöne Beruf, den ihnen die Natur angewiesen hat, und wer möchte zweifeln, daß sie auf diesem Gebiete das Höchste leisten; sie übertreffen uns durch die Tiefe ihres Gefühls, durch die Reinheit ihrer Sitten und vor allem durch eine Opferfähigkeit ohne Grenzen.991
Bormanns Gesprächspartnerin und spätere Ehefrau Martha entgegnet zwar, dass der Erziehung bei der Charakterbildung eine größere Rolle als der Natur zukäme, doch ohne Weiteres akzeptiert sie die führende Stellung der Männer, indem sie ihnen »ein höheres, geistiges Streben, mehr Wahrheit und innere Ehrlichkeit«992 bekundet. Dass die Frauen in ihrem Streben nach Glück passiv bleiben sollen, beweist der Kommentar des Erzählers zu einer bereits zuvor angeführten Begebenheit aus Handwerk und Studium. Die Frau des Meisters, Frau Brand, macht dabei dem Gesellen Franz Berger Avancen und der Erzähler kommentiert ihre Vorgehens988 989 990 991 992
Max Ring: Stadtgeschichten. Erster Band: Christkind-Agnes…, S. 176. Ebd., S. 217. Max Ring: Der Geheimrath… S. 97. Ebd., S. 97f. Ebd., S. 99.
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weise folgendermaßen: »Für einen ordentlichen Mann giebt es kein widerlicheres Schauspiel, als ein zudringliches Weib, weil ein solches seine innerste Natur verleugnet und das Höchste preisgiebt, was es besitzt, die keusche Schamhaftigkeit«993. Die Art und Weise, wie Frau Brand den Gesellen für ihre Zurückweisung bestraft, wird zwar nicht direkt auf Geschlechterklischees zurückgeführt, doch sie kann auch in diesem Sinne gedeutet werden, da sich der Erzähler Ausdrücke wie »das rachgierige Weib«994 bedient. Über die Vorstellung von den traditionellen Geschlechterrollen hinausgehende Herabwürdigungen des weiblichen Geschlechts kommen in Rings Werken äußerst selten vor, sollen aber der Vollständigkeit halber auch angeführt werden. Beispielsweise in der Erzählung Die Chambregarnisten kommentiert der Erzähler das Verhalten von Klara mit dem Satz: »Sie war ein Weib und glaubte ihm«995. Während in dieser Aussage den Frauen eine vermeintlich typisch weibliche Leichtgläubigkeit nachgesagt wird, behauptet der Erzähler an einer anderen Stelle desselben Buches paradoxerweise das Gegenteil und schreibt ihnen eine »angeborene Lust an Täuschung«996 zu. Trotzdem sei betont, dass solche Verunglimpfungen nur ganz selten in Rings Werken zu finden sind. Häufiger kommen dagegen Fragmente vor, in denen sich Figuren, bezeichnenderweise meist weiblichen Geschlechts, über ihren mangelnden Einfluss beschweren. Am stärksten kommt diese Kritik in der Aussage der rebellischen Klara im Roman Götter und Götzen zum Ausdruck, der Tochter von Eduard Schröder und späteren Ehefrau von Börner, die sich mit der gesellschaftlichen Rolle der Frauen auseinandersetzt: Ein Blick in das Leben und Treiben meiner Umgebung genügt schon, um mich mehr als hinreichend über die falsche und unwürdige Stellung des weiblichen Geschlechts in der Gesellschaft zu belehren. Man betrachtet und behandelt uns noch immer wie unmündige Kinder, im besten Falle, wie ein kostbares Spielzeug, das zur Unterhaltung dient, aber sonst zu weiter nichts gut ist, als sich zu putzen, Toilette zu machen, wenn es hoch kommt, ein Liedchen leidlich zu singen, oder ein Klavierstück von Herz (…) fingerfertig abzuhaspeln und eine Quadrille mit graziöser Nonchalance zu tanzen.997
Da die Möglichkeiten für die Selbstbestimmung in dieser Gesellschaft so beschränkt sind, richtet sich Klaras Kritik aber in erster Linie gegen die Zustände, die in vielen Ehen herrschen, und nicht gegen die Ehe selbst. Dies wird in ihrer nächsten Aussage deutlich:
993 994 995 996 997
Max Ring: Handwerk und Studium. Erster Theil…, S. 85. Ebd., S. 94. Max Ring: Stadtgeschichten. Zweiter Band: Die Chambregarnisten…, S. 132. Ebd., S. 165. Max Ring: Götter und Götzen. Erster Band…, S. 28f.
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(…) es gibt allerdings Männer, welche für die sogenannten häuslichen Tugenden schwärmen, indem sie in ihren Frauen nur eine Art höherer Wirthschafterinnen erblicken, die für sie nähen, stricken und kochen müssen, sowie es Frauen gibt, die in der Ehe nur eine sichere Versorgungsanstalt suchen und an den Mann keine andere Anforderung stellen, als daß er ihnen die nöthigen Mittel gewährt, um ihre tausendfachen Bedürfnisse, ihre kleinlichen Gelüste zu befriedigen. Zuletzt kommt Alles nur auf ein Geschäft hinaus (…).998
In wenigen Aussagen wird der fehlende politische Einfluss der Frauen bemängelt. Dies geschieht beispielsweise im Zuge der bereits erwähnten Diskussion über das neue Ehescheidungsgesetz in der Erzählung Die Geschiedene, bei der Julie folgende Gedanken äußert: Weil Ihr Euch die Herrn der Schöpfung nennt, glaubt Ihr auch alle Weisheit gepachtet zu haben. (…) Wir werden nicht gefragt und nicht gehört; darum sieht es auch jetzt so elend in der Welt aus. Ist es nicht eine schändliche Ungerechtigkeit und Einseitigkeit bei einem Gesetze, das uns am meisten angeht, unsre Ansicht gänzlich zu übersehen?999
Doch auch sie rüttelt nicht am vorherrscherden Rollenverständnis, denn sie bestätigt die Rolle der Frau als »Hüterin und Beschützerin dieses Heiligthums«1000, der Sitte. Ohnehin wird ihre Aussage von den an der Diskussion teilnehmenden Männern nicht ganz ernst genommen und eher als Entspannung in einer heikel gewordenen Diskussion aufgefasst. Julies Ehemann meint zu ihrem Vorschlag, die Frauen an der Gesetzgebung zu beteiligen: »Da würde etwas Schönes herauskommen«1001. Eine Veränderung auf gesellschaftlicher Ebene scheint daher viel weiter entfernt, als im Hinblick auf die durch technischen Fortschritt bedingten Umwälzungen. Doch auch in dieser Hinsicht zeigen sich bei Ring leichte Anzeichen von Wandel, die sich am eindrücklichsten an einer Aussage Dr. Börners in Götter und Götzen feststellen lassen. In einem Gespräch mit Bernhard Schröder reagiert Börner auf dessen Einwand, dass eine »energische, charaktervolle Frau (…) auch meist der Weiblichkeit«1002 entbehren würde, mit folgender Aussage: Weiblichkeit! (…) Das ist auch eines jener Worte, das schon unendlich viel Unheil gestiftet hat und fortwährend gemisbraucht wird. Wenn ein Mädchen oder eine Frau einmal ehrlich nach der Wahrheit forscht und die von der Gesellschaft ihr gezogenen Schranken mit kühnem Geiste zu durchbrechen sucht, wenn sie sich ein anderes und höheres Ziel steckt, als aus der Hand ihrer Aeltern ihr Schicksal in der Gestalt eines begüterten oder gut situirten Mannes zu empfangen, wenn sie sich an den großen Fragen der Zeit nicht nur passiv betheiligt, sondern selbst Hand anlegt, so weit dies ihre 998 999 1000 1001 1002
Ebd., S. 29. Max Ring: Neue Stadtgeschichten. I: Die Geschiedene…, S. 145. Ebd. Ebd., S. 144. Max Ring: Götter und Götzen. Zweiter Band…, S. 93.
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Stellung und ihre Fähigkeit erlaubt, wenn sie ein selbstständiges Urtheil abgibt, ihrer eigenen Ueberzeugung folgt, mit Einem Worte, wenn sie nicht blos scheinen, sondern sein, nicht blos die Gedanken Anderer aufnehmen, sondern selbst denken, nicht nur leiden, sondern auch handeln will, so ist sie unweiblich; dagegen gilt Koketterie, Gefallsucht, Heuchelei und Lüge nur zu oft als gepriesene Weiblichkeit.1003
Der Grund für eine solche Wahrnehmung ergibt sich sicherlich aus einer Vorstellung von Geschlechterrollen, die auch der zuvor angeführten Aussage Rudolph Wagners zugrunde liegt. Und auch der in vielen Belangen so fortschrittlich denkende Börner bescheinigt den meisten Frauen in demselben Gespräch einen »Mangel an Charakter und Energie«1004. Diese Widersprüche sollten zwar nicht zwangsläufig auf die Weltanschauung Max Rings übertragen werden, doch an einem anderen, publizistischen Text lassen sich diese beobachten und teilweise bestätigen. In Das Haus der Berliner Frauen aus der Sammlung Berliner Leben beschreibt der mit dem Autor zu identifizierende Ich-Erzähler seinen Besuch in dieser vom Verein für Erwerbfähigkeit des weiblichen Geschlechts gegründeten Einrichtung. Es sei daran erinnert, dass noch zu dieser Zeit die Bildung von Mädchen und Frauen im deutschen Raum auf ein Minimum beschränkt werden sollte, das sich im Erlernen der für die Rolle der Hausfrau nötigen Fertigkeiten erschöpfte. Das Lehrniveau an öffentlichen Schulen war daher niedrig, Ordensschulen und weltliche Privatschulen wurde die staatliche Finanzierung verwehrt. Eine weitere Hürde bildete die Tatsache, dass Mädchen keine Reifeprüfung ablegen und somit auch nicht studieren durften, was sich erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu verändern begann.1005 Seinen Text beginnt Ring mit der Schilderung der breiten Unterstützung für das Vorhaben1006 und beschreibt dann die Tätigkeit der Berliner Bildungsanstalt, in der u. a. »Unterricht im Buchführen, kaufmännischen Rechnen, in Komptoirarbeit und Korrespondenz, Handels- und Gewerbekunde, Geld- und Wechselwesen, in englischer und französischer Sprache, im Deutschen und der Geographie«1007 erteilt wurde. Vom modernen Charakter des Hauses zeugt die Tatsache, dass später »das telegraphische und typographische Institut«1008 hinzugekommen sind. Dass sich die Tätigkeit der Anstalt nicht auf die Ausbildung beschränkt, sondern auch reale Arbeitsstellen vermittelt, liegt an dem »in der
1003 Ebd., S. 93f. 1004 Ebd. 1005 Vgl. Magdalena Popławska: Bilder der einsamen Frau im Werk der Vormärzschriftstellerinnen…, S. 41f. 1006 Max Ring: Berliner Leben. Kulturstudien und Sittenbilder…, S. 218f. 1007 Ebd., S. 220. 1008 Ebd.
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dritten Etage gelegene[n] Arbeitsnachweisungsbureau«1009, dessen Leistungen der Autor mit vielen Zahlen belegt. Es ist eine sachliche Darstellung mit vielen weiteren Informationen, bei deren Vermittlung die Meinung des Autors in den Hintergrund tritt. Diese wird jedoch am Ende des Textes deutlich: In dieser Weise wirkt der Letteverein nach allen Seiten und mit allen Kräften für die Erwerbsfähigkeit des weiblichen Geschlechts, die keineswegs mit der sogenannten Emancipation der Frauen verwechselt werden darf. In den von der Natur und der Gesellschaft gegebenen Schranken sucht derselbe seine Aufgabe zu lösen, indem er durch eine zweckmäßige Bildung der Mädchen und Frauen neue, ihnen bisher unzugängliche Kreise einer lohnenden Thätigkeit erschließt, ihnen durch die eigne Arbeit eine selbständige, unabhängige Stellung giebt, ohne sie deshalb der Familie und ihrer wahren Bestimmung zu entziehen. Er bietet den Verlassenen eine Heimat, den Unbemittelten seine Hilfe, den Witwen und Waisen eine Stütze, den unversorgten Töchtern ein Unterkommen, das sie vor der Sorge um das tägliche Brot und öfters auch vor der ihnen drohenden Verführung schützt. Sein Streben ist von der reinsten Humanität beseelt, sein Ziel die echte und einzig wahre Emancipation der Frau durch Arbeit, Bildung und Sittlichkeit.1010
Hier klingen an mehreren Stellen wieder die Überzeugungen nach, die auch in Rings Prosawerken zu finden sind. Der Erzähler zeigt sich also als ein Befürworter der Entwicklung der Frauen und spricht sich dafür aus, ihnen die Erwerbstätigkeit zu ermöglichen, doch vorausgesetzt, dass ihre gesellschaftliche Rolle, die ›Schranken der Natur und Gesellschaft‹, dabei nicht in Frage gestellt werden. Trotzdem grenzt er sich mit dieser Haltung von der damals üblichen Auffassung von der Rolle der Frau in der Gesellschaft ab. Man könnte behaupten, dass er einen Mittelweg zwischen der von Schopenhauer oder Weininger postulierten Rolle auf der einen und der Emanzipation der Frauen auf der anderen Seite sucht. Im Allgemeinen lässt sich in Rings Texten eine Nähe zu den Ideen Wilhelm von Humboldts feststellen, der diese in seinen Werken Ueber den Geschlechtsunterschied und dessen Einfluß auf die organische Natur (1794) sowie Ueber die männliche und weibliche Form (1795) offenbarte. Humboldt beschränkt sich dabei nicht auf die Biologie des Menschen, sondern schlägt einen universalistischen Pfad ein. Dieser ermöglicht es ihm, in der Natur eine Dynamik der gegenseitigen Verbindungen zu finden. In Bezug auf Frauen und Männer erarbeitet er einen Katalog weiblicher und männlicher Eigenschaften, die gegensätzlich sind und als solche ein harmonisches Ganzes bilden können. Nur eine Verbindung und Vermischung dieser Eigenschaften im Namen der Liebe stellt, laut
1009 Ebd., S. 222. 1010 Ebd., S. 224f.
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Die Frauen
Humboldt, das Erreichen des Ideals der Menschlichkeit sicher.1011 Diese Einstellung scheint sich in Rings Texten eher widerzuspiegeln als die Ideen Schopenhauers. Seine Figuren bleiben zwar in den damals üblichen gesellschaftlichen Rollen samt aller typsicher Vorstellungen verankert, doch in Bezug auf Rings Hauptkategorien der Tugend, Moral und Sittlichkeit erscheinen sie gleichberechtigt. In seinen zeitgeschichtlichen Werken zeigt Max Ring ein breites und detailreiches Panorama der preußischen und insbesondere Berliner Gesellschaft des zweiten und dritten Viertels des 19. Jahrhunderts. Das Bild der jeweiligen Schichten oder Stände ist dabei durchaus differenziert. Bezeichnend ist dabei der zu beobachtende Aufstieg des Bürgertums, das immer mehr zu einer prägenden Schicht wird, was die Erzähler der jeweiligen Werke auch zu begrüßen scheinen, bei gleichzeitigem Abstieg des Adels. Eine Zäsur stellt bei dieser Entwicklung das Jahr 1848 und der Ausbruch der Märzrevolution dar, die trotz ihres Scheiterns viele dauerhafte Veränderungen ermöglicht hatte. Gleichzeitig ist Rings Darstellung nicht frei von Stereotypen, die insbesondere in zwei Fällen zu beobachten sind. Die Frauenfiguren werden demnach in ein aus vermeintlichen natürlichen sowie gesellschaftlichen Schranken bestehendes Korsett gezwungen. Versuchen weibliche Figuren, sich aus diesem zu befreien, werden sie dafür bestraft. Bei der überwiegend aufschlussreichen Schilderung der unteren Schichten der Gesellschaft greift der Erzähler dagegen zu einer Idealisierung, indem er dieser Schicht eine nur für sie gültige Natürlichkeit zuschreibt, was ihr Bild in Rings Werken schließlich verformt. Vieles bleibt dabei mit den Mustern der damaligen Unterhaltungsliteratur behaftet. Bei der Erzählstrategie dominiert die Außenperspektive, die oft detaillierten Beschreibungen des Aussehens der Figuren stimmen nur selten mit der Charakterisierung ihres Innenlebens überein, die oberflächlich bleibt. Auch wenn sich Ring kritisch über die Funktion der Physiognomik in der Kriminologie äußerte1012, so charakterisierte er seine Figuren doch häufig über deren Gesichtszüge. Trotzdem bieten Max Rings zeitgeschichtliche Texte einen beachtenswerten Einblick in die preußische und vor allem Berliner Gesellschaft dieser Zeit, insbesondere die Phase zwischen dem Ende der Revolution und der Entstehung des ersten deutschen Nationalstaates. Allein ihre Verankerung zwischen diesen beiden Zäsuren der deutschen Geschichte macht sie zu lesenswerten Zeugnissen einer Epoche, einer Zwischenzeit, in der gegenteilige Tendenzen und Strömungen um Vorherrschaft rangen, in politischer, gesellschaftlicher, sozialer und auch technologischer Hinsicht. 1011 Vgl. Wilhelm von Humboldt: Gesammelte Schriften, Band 1, hrsg. von Albert Leitzmann. Berlin 1903, S. 294. 1012 S. Abschnitt »Arztdasein und Wohltätigkeit« in Kapitel 3.
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Glänzender Luxus und unsägliches Elend, raffinirte Cultur und wilde Barbarei. Oberschlesien und seine Bevölkerung
Ende 1740 marschierten preußische Truppen in das zu diesem Zeitpunkt österreichische Schlesien ein und übernahmen die Kontrolle über dieses Gebiet. Diese Ereignisse lösten den Ersten Schlesischen Krieg zwischen Preußen und Österreich aus, das 1742 beendet wurde. In dem Vorfrieden von Breslau vom 11. Juni 1742 und dem Frieden von Berlin vom 28. Juli 1742 wurde die Teilung des Gebiets »in das etwa sechs Siebentel umfassende Preußisch-Schlesien und das kleinere Österreichisch-Schlesien«1013 bestätigt. Die Auseinandersetzung zwischen Preußen und Österreich ging weiter, es folgten noch zwei Schlesische Kriege (1744–1745 und 1756–1763), wobei sich an dem letzten, der auch als der Siebenjährige Krieg bekannt ist, auch die Großmächte Großbritannien, Frankreich und Russland beteiligten. Erst die »Annexion des geopolitisch und wirtschaftlich wertvollen Schlesien (…) machte das bisher zweitrangige Brandenburg-Preußen zu einem anerkannten Glied des europäischen Staatensystems«1014. Historisch gesehen, bestand die Region aus dem westlichen, größeren Niederschlesien und dem östlichen Oberschlesien, dessen Fläche ca. ein Drittel des Gesamtgebiets Preußisch-Schlesiens ausmachte. Verwaltungstechnisch wurde Schlesien in die Regierungsbezirke Breslau, Liegnitz und Oppeln eingeteilt, wobei die beiden ersten weitgehend mit Niederschlesien deckungsgleich waren, während das letzte Oberschlesien umfasste. Was die Bevölkerung angeht, bestanden gravierende Unterschiede in der Konfessionsstruktur der westlichen und östlichen Regierungsbezirke. 1817, im Geburtsjahr Max Rings, waren 72 % der Bevölkerung des Regierungsbezirks Breslau und fast 86 % der Bevölkerung des Regierungsbezirks Liegnitz protestantisch, während die Anzahl der Protestanten im Regierungsbezirk Oppeln lediglich 7,52 % betrug. Katholiken machten dagegen nur 26,56 % bzw. 13,78 % der Bevölkerung der westlichen Regierungsbezirke, aber beachtliche 91,01 % aller Einwohner des Regierungsbezirks Oppeln
1013 Joachim Bahlcke: Schlesien und die Schlesier. München 2005, S. 74. 1014 Ebd.
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aus.1015 Hinter diesen Zahlen verbargen sich vor allem Unterschiede in Bezug auf die Muttersprache. Im Jahre 1819 sprachen demnach 67,2 % der Bevölkerung Oberschlesiens Polnisch und nur 29 % Deutsch.1016 Der Autor dieser Statistik teilt die Einwohner deswegen als Polen bzw. Deutsche ein, doch diese Maßnahme scheint nicht unbedingt der Wahrheit zu entsprechen. Die Sprache der Bevölkerung Oberschlesiens ließ sich zwar als ein Dialekt des Polnischen einstufen, doch war sie gleichzeitig von Entlehnungen aus dem Tschechischen und zunehmend auch Deutschen durchsetzt, so dass sie für Polen schwer verständlich war und als Wasserpolnisch bezeichnet wurde.1017 Was die Volkszugehörigkeit angeht, lassen sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts keine wesentlichen propolnischen Bestrebungen der Oberschlesier beobachten, einige Einzelpersonen, wie der Schriftsteller, Publizist, Wegbereiter der Volksbildung und Ethnographie in Oberschlesien Józef Piotr Lompa (1797–1863), der katholische Priester und sozialpolitische Aktivist Józef Szafranek (deutsch: Josef Schaffranek, 1807– 1874), der katholische Priester, Wohltäter, Vorkämpfer der Mäßigkeitsbewegung und Polonisator Jan Alojzy Ficek (deutsch: Johann Alois Fietzek, 1790–1862) oder der katholische Priester und führende Vertreter der tschechischen Nationalbewegung in Oberschlesien sowie Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung Cyprián Lelek (1812–1883), ausgenommen.1018 Im Allgemeinen blieb Oberschlesien aber in dieser Zeit eine im Vergleich zu Niederschlesien auf vielfache Weise rückständige Region. Die Landbevölkerung befand sich in einer schwierigen Lage, die Urbanisierungsprozesse gingen langsamer voran. Auch die Integration mit dem preußischen Staat erfolgte weniger schnell als im Falle von Niederschlesien.1019 Max Ring wurde bekanntlich im ländlichen Teil Oberschlesiens geboren, nahe der preußisch-österreichischen Grenze. Ruft man sich seine Einstellung zur Heimat aus seinen Memoiren in Erinnerung, entsteht dabei ein zwiespältiger Eindruck. Einerseits lobt er zwar die in der Kindheit und Jugend erfahrene Toleranz, andererseits wird er schon im Erwachsenenalter zum Opfer einer anti1015 Vgl. Stefi Jersch-Wenzel: Die Juden als Bestandteil der oberschlesischen Bevölkerung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Stefi Jersch-Wenzel: Deutsche – Polen – Juden: ihre Beziehungen von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert (= Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin. Band 58). Berlin 1987, S. 191–209, hier Tabelle 1, S. 194. 1016 Vgl. Georg Hassel: Statistischer Umriß der sämmtlichen europäischen und der vornehmsten außereuropäischen Staaten, in Hinsicht ihrer Entwickelung, Größe, Volksmenge, Finanz- und Militärverfassung, tabellarisch dargestellt. Erster Heft, welcher die beiden großen Mächte Österreich und Preußen und den Deutschen Staatenbund darstellt. Weimar 1823, S. 34. 1017 Vgl. Marie Gawrecka: Od podziału S´la˛ska do Wiosny Ludów (1740–1848). In: Joachim Bahlcke, Dan Gawrecki, Ryszard Kaczmarek: Historia Górnego S´la˛ska. Polityka, gospodarka i kultura europejskiego regionu. Gliwice 2011, S. 171–192, hier: S. 181. 1018 Vgl. ebd., S. 184. 1019 Vgl. ebd., S. 191.
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jüdischen Hetze, weswegen er Oberschlesien für immer verlässt. Allerdings kommen ihm diese Umstände nicht ganz ungelegen. Schon die Rückkehr nach Oberschlesien erfolgte mehr oder weniger gezwungenermaßen – nach dem plötzlichen Tod seines Vaters, der kein allzu hohes Vermögen hinterlassen hat, musste Ring als Arzt tätig werden und kam aufgrund fehlender Stellen in Berlin nach Oberschlesien zurück, wo er sich in Gleiwitz niederließ. In dieser Stadt hatte er fortan über mehrere Jahre eine Arztpraxis geführt. Dank dieser Tätigkeit lernte er nicht nur die bürgerliche Stadtbevölkerung kennen, sondern auch die Bauern aus dem Umland. Es wäre töricht zu behaupten, dass diese Erfahrungen Ring nicht geprägt hatten, doch es bleibt eine Tatsache, dass er sich in lediglich zwei seiner vielen zeitgeschichtlichen Prosawerke mit seiner Heimat auseinandersetzte. Zum einen spielen die meisten Erzählungen des autobiographisch geprägten, zweibändigen Aus dem Tagebuche eines Berliner Arztes in Oberschlesien, zum anderen ist diese Region der wichtigste Handlungsort des sechsbändigen Romans Ein verlorenes Geschlecht. Die Vermutung, Ring habe aufgrund mangelnden Interesses an dieser abgelegenen Gegend auf das Thema Oberschlesien in seinen Werken verzichtet, wird von der Tatsache konterkariert, dass ausgerechnet Aus dem Tagebuche eines Berliner Arztes im Jahre 1870 in der Reihe Ausgewählte Romane und Novellen von Max Ring neu aufgelegt wurde. Andererseits spielt Oberschlesien und dessen Bevölkerung in den meisten Texten dieses Buches keine besondere Rolle, der Ich-Erzähler konzentriert sich auf der Schilderung seiner beruflichen Tätigkeit und reflektiert über das Arztdasein. Lediglich am Anfang der Erzählung Vater und Sohn, der ersten im zweiten Band des Buches, sind einige Bemerkungen über Oberschlesien und den Charakter der Oberschlesier zu finden, auch wenn diese Bezeichnung nicht verwendet wird: In der Nähe der polnischen Grenze, wo ich als praktischer Arzt längere Zeit damals lebte, bieten »Land und Leute« vielfache Gelegenheit zu interessanten Beobachtungen und Studien. Die Folgen der früheren Erbunterthänigkeit und Hörigkeit sind noch keineswegs verschwunden; die ehemalige Knechtschaft hat Herren und Unterthanen in gleicher Weise demoralisirt und dadurch die abnormsten Zustände und Verhältnisse herbeigeführt. Trotz der im Jahre 1809 erfolgten Aufhebung der Erbunterthänigkeit hat sich im Laufe der Zeit wenig verändert und noch heute zeichnet sich das Volk an der Grenze durch seine sklavische Gesinnung, durch Trägheit, Leichtsinn und Trunksucht aus, während der Adel der Provinz durch seine tyrannische Willkür, Verschwendungssucht und seinen Uebermuth an das Leben und Treiben jener alten Magnaten und ihre so verrufene »polnische Wirtschaft« erinnert.1020
1020 Max Ring: Ausgewählte Romane und Novellen. Aus dem Tagebuche eines Berliner Arztes. Zweiter Band…, S. 1.
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Ausführlich schildert der Ich-Erzähler diese gesellschaftliche Rückständigkeit, die sich vor allem in der zwar gesetzlich abgeschafften, aber mental noch nicht überwundenen Erbuntertänigkeit1021 offenbart, in der Erzählung Eine Wahnsinnserklärung aus dem ersten Band des Buches. Als Arzt erhält er den Auftrag über die Zurechnungsfähigkeit eines Angeklagten zu entscheiden, es handelt sich um eine Superrevision, da der Angeklagte bereits von zwei anderen Ärzten für wahnsinnig erklärt wurde. Doch diese Schritte wie auch der ganze Auftrag stellen sich vor Ort in einem anderen Licht dar. Der Angeklagte, ein Müller, ist keineswegs wahnsinnig, sein Vergehen besteht darin, dass er mit dem hiesigen Gutsbesitzer streitet, und der Grund, warum er überhaupt gerichtlich belangt werden soll, liegt in der nicht vorhandenen Gewaltenteilung: Der Baron war der Tyrann seiner Untergebenen und herrschte durch Furcht und Schrecken vollkommen unbeschränkt. Wehe dem armen Bauer, oder dem Häusler, der sich gegen ihn und seine Gewaltthätigkeiten aufzulehnen wagte! Willkürliche Prügel und Kerkerstrafen waren dem kühnen Empörer gewiß. Mit der Polizei vertraut und von einem gefälligen und gewissenlosen Justitiar unterstützt, erlaubte sich der Herr Baron ungestraft die schreiendsten Ungerechtigkeiten gegen seine Unterthanen. (…) Der Justitiarius, der das Recht handhaben sollte, wurde in jener Zeit von dem Gutsbesitzer angestellt, besoldet und war natürlich dessen untergebener Diener, meist der Tafelfreund, der mit ihm zechte, jagte und spielte. Was stand von ihm zu erwarten? – So war die Gerechtigkeitspflege auf diesem Dorfe beschaffen.1022
Der angeklagte Müller, der am Ende dank des Einsatzes des Ich-Erzählers aus der Haft entlassen wird, stellt eine Ausnahmeerscheinung in dieser Gegend dar und das allein deswegen, weil er, im Gegensatz zur übrigen Bevölkerung, auf Einhaltung seiner Rechte besteht, auch zum Preis einer Fehde mit dem Gutsbesitzer. Dass sich andere Menschen in diesem Dorf nicht so verhalten liegt aber auch daran, dass sie sich, im Gegensatz zum Müller, ihrer Rechte gar nicht bewusst sind: Die armen Leute in jener Gegend, des Lesens und Schreibens meistens unkundig, kannten natürlich die Gesetze nicht, welche zu ihrem Schutz gegeben sind. Dieselben waren so gut wie gar nicht für sie vorhanden. (…) Die Dienstleute und Bauern fügten sich in ihr Schicksal, nahmen ihre Prügel und Leiden mit landesüblicher Gleichgül-
1021 In Preußen wurden die Bauern im Zuge des Oktoberedikts (Edict den erleichterten Besitz und den freien Gebrauch des Grundeigentums so wie die persönlichen Verhältnisse der Land-Bewohner betreffend) vom 9. Oktober 1807 von der Leibeigenschaft und Erbuntertänigkeit befreit. Eine frühe, ausführliche Beschreibung und Kritik dieser Zustände enthält Ernst Moritz Arndts Versuch einer Geschichte der Leibeigenschaft in Pommern und Rügen (Berlin 1803). 1022 Max Ring: Ausgewählte Romane und Novellen. Aus dem Tagebuche eines Berliner Arztes. Erster Band…, S. 40f.
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tigkeit und Indolenz hin und küßten noch die schwere Hand des gestrengen Herrn. Alle fügten sich ohne Ausnahme, nur der Müller nicht.1023
In den anderen Erzählungen aus dem Buch erfährt der Leser nicht mehr viel über die Oberschlesier, jedenfalls unternimmt der Ich-Erzähler keine weiteren Versuche einer synthetischen Darstellung der Bevölkerung. In vier Erzählungen (Eine blutige Nacht, Verbrechen aus Ehre, Aus den Offenbarungen eines Trepanirten, Vater und Sohn) werden Gewalttaten thematisiert, womit der Ich-Erzähler möglicherweise die Willkür des hiesigen Adels zu unterstreichen versucht, wenngleich die Täter nur in zwei Fällen adlig sind. Die anderen beiden Fälle lassen sich wiederum als Bestätigung für die bereits zuvor beschriebene Überzeugung des Autors von einer positiven wie negativen Ursprünglichkeit in den unteren Schichten verstehen. In einem einzigen Satz wird deutlich, dass es sich um eine arme Region handelt: »Die Einwohner lebten in wahrhaft primitiven Zuständen und die meisten Kinder, denen ich auf meiner Reise begegnete, zeigten eine paradiesische Unschuld und schienen ein Hemde selbst dem Namen nach nicht zu kennen«1024. Auf die sprachlich-ethnischen Verhältnisse geht der Ich-Erzähler kaum ein, auch wenn er sie auch nicht verschweigt. In einem Satz stellt er Folgendes fest: »Die Bevölkerung war slavischen Ursprungs und ich hatte den Vortheil, daß ich kein Wort der polnischen Sprache kannte«1025. Da dieser Gedanke nicht weiter ausgeführt wird, lässt sich nicht nachvollziehen, worin der Vorteil dieser Unkenntnis besteht. Man könnte darin sicherlich die Abneigung gegen eine zivilisatorisch unterentwickelte Ethnie erkennen, doch der Inhalt des Buches lässt eine solche Schlussfolgerung nicht zu. Interessanter wäre es zu erfahren, inwiefern die Unkenntnis der polnischen Sprache auf Ring selbst zutraf, doch auch in seinen Erinnerungen findet man keine Informationen darüber. Bemerkenswert ist dagegen, dass der Ich-Erzähler von der polnischen und nicht wasserpolnischen Sprache schreibt. Andererseits ist eine Erklärung in diesem Fall naheliegend: für eine des Polnischen nicht mächtigen Person wäre eine solche Unterscheidung unmöglich. Während in Aus dem Tagebuche eines Berliner Arztes die offensichtliche Rückständigkeit Oberschlesiens vor allem auf die nicht überwundene Erbuntertänigkeit zurückgeführt wird, kommt der Erzähler des elf Jahre später erschienenen Romans Ein verlorenes Geschlecht zu teilweise anderen Schlüssen. Die Beobachtungen ähneln sich stark, doch nun stehen nicht mehr politische Fehler, sondern ethnische Unterschiede als Ursache im Vordergrund. Eine neue Facette der Darstellung bildet die Hervorhebung der Gegensätze, insbesondere
1023 Ebd., S. 41. 1024 Ebd., S. 2. 1025 Ebd.
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zwischen dem neuen, durch die Industrialisierung entstandenen Reichtum und der weiterhin vorhandenen Armut: Ueberall reges Leben und Treiben neben slavischer Indolenz und Verkommenheit, unermeßlicher Reichthum und furchtbare Armuth, glänzender Luxus und unsägliches Elend, raffinirte Cultur und wilde Barbarei. Dieselben Gegensätze, welche das ganze Land zeigt, reflectiren sich ebenfalls in dem Charakter seiner Bewohner. Wie jede Grenzbevölkerung vereint auch sie alle Fehler und Gebrechen beider Racen. Die Berührung des deutschen mit dem slavischen Element hat ein keineswegs günstiges Resultat geliefert, sondern im Gegentheil weit eher schädlich gewirkt.1026
Die Beschreibung der Oberschlesier ist in dem Roman ausführlicher als in Aus dem Tagebuche eines Berliner Arztes, der Erzähler verweist auch hier darauf, dass »das arme Volk jener Gegend durch Jahrhunderte dauernde Sklaverei und Vernachlässigung verwildert und demoralisiert«1027 wurde. Zu den größten Lastern der Bevölkerung zählt er eine »unüberwindliche Trägheit und ein[en] Leichtsinn ohne Grenzen«1028. Den Alkoholismus bezeichnet er als eine Fluchtmöglichkeit für die Bauern von ihrem schweren Los, doch in der Konsequenz sollen sie »faul, träge, arbeitsscheu und liederlich«1029 geworden sein. Die plötzliche Aufhebung der Erbuntertänigkeit wird im Roman etwas anders, teilweise kritisch gedeutet. Nach Meinung des Erzählers wurde die neu errungene Freiheit für viele Bauern zu einer Last, da sie bislang von ihren Gutsbesitzern zwar ausgebeutet, aber auch betreut wurden, wenn auch notdürftig. Diese durchaus überzeugenden Argumente verknüpft der Erzähler jedoch mit heute schwer fassbaren ethnischen Stereotypen, die sich in folgenden Passagen offenbaren: Dazu kam noch der angeborene Nomadensinn des gemeinen Mannes, der im Gegensatz zu dem häuslichen Deutschen am liebsten ungebunden umherschweift und der rastlose Wanderer unter den Völkern ist.1030 Trotz seiner Bildungsfähigkeit und großer Anstelligkeit fehlt ihm die Ausdauer und Zähigkeit, Energie und Widerstandskraft des Deutschen. Wie dieser der geborene Phlegmatiker, so ist der Slave der geborene Sanguiniker, rasch in seinen Entschlüssen und Thaten, aufgeregt, leichtsinnig, gutmüthig und liebenswürdig, aber eben so schnell ermüdet, grundsatzlos, flach, hinterlistig und rücksichtslos, ein großes, unerzogenes Kind mit allen Fehlern und Tugenden eines solchen.1031
Bemerkenswerterweise sieht der Erzähler nicht nur die Bauern, sondern auch die Adligen als Opfer der bisherigen Verhältnisse, weil sie »moralische Kraft 1026 1027 1028 1029 1030 1031
Max Ring: Ein verlorenes Geschlecht. Dritter Band…, S. 85. Ebd. Ebd., S. 86. Ebd. Ebd. Ebd., S. 87.
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eingebüßt und selbst materiell dadurch gelitten«1032 haben sollen. Als Folge nennt er deren »Trägheit und Liederlichkeit«1033 sowie »ein verschwenderisches und üppiges Leben«1034, worin er die Ursache für die Entstehung des Stereotyps der ›polnischen Wirtschaft‹1035 erkennt. In dieser wechselseitig schlechten Beeinflussung der beiden Stände sieht der Erzähler aber auch einen Grund für den Aufstieg des Bürgertums, hier »Bürgerstand« genannt, welcher »durch die ihm eigene Thätigkeit und Sparsamkeit immer mehr an Wohlhabenheit und Einfluß [gewann], indem er eine anerkennungswerthe Regsamkeit nach allen Seiten zeigte«1036. Erst die Entwicklung des Bürgertums soll »die unterirdischen Schätze aufgeschlossen (…), großartige Unternehmungen hervorgerufen und ähnliche Zustände geschaffen [haben], wie wir sie nur in einigen Districten Englands finden (…)«1037. Wie hoch der Erzähler die Bedeutung der ethnischen Herkunft schätzt, zeigt sich am Beispiel des Fürsten Valerian Vulski, gegen Ende der folgenden Passage, in der erneut Gegensätze hervorgehoben werden, diesmal jedoch nicht zwischen zwei unterschiedlichen Tendenzen, sondern innerhalb eines Charakters: Sein Charakter zeigte von Natur schon ein seltsames Gemisch von passiver Schwäche und Indolenz neben einer plötzlich wie ein Wirbelwind hervorbrechenden Energie und Willenskraft, von sanfter Gutmüthigkeit und an Grausamkeit grenzender Wildheit, von liebenswürdiger Offenheit und schlauer Verstecktheit, von verschwenderischer Großmuth und kleinlicher Berechnung seines Vortheils, jene fast unglaublichen Gegensätze, welche sich in dem Wesen der slavischen Völker und besonders Polen vorfinden, bei denen der augenblickliche Impuls, das ursprüngliche Temperament und die schnell auflodernde Exaltation die Handlungsweise zu bestimmen pflegt und die Stelle der den germanischen Völkern eigenthümlichen ruhigen Ueberlegung und grundsätzlichen Thuns einnimmt.1038
Weder Bildung, noch Erziehung oder die im Ausland gesammelten Erfahrungen konnten nach Ansicht des Erzählers »dazu beitragen, diese Charakterfehler zu beseitigen«1039. Dadurch entpuppt sich Ring als ein Befürworter der Erblichkeitstheorie, im Gegensatz zur Milieutheorie Hippolyte Taines, die die Entwicklung des Menschen ausschließlich auf Einflüsse und Erfahrungen seiner Lebensumwelt zurückführte. Für den Charakter ist aber nicht allein die ethnische Herkunft verantwortlich und es erscheint fragwürdig, Vulski als das Beispiel 1032 1033 1034 1035 1036 1037 1038 1039
Ebd., S. 88. Ebd. Ebd. Zur Entstehung und Entwicklung dieses Begriffs siehe: Hubert Orłowski: »Polnische Wirtschaft«. Zum deutschen Polendiskurs der Neuzeit. Wiesbaden 1996. Max Ring: Ein verlorenes Geschlecht. Dritter Band…, S. 89. Ebd., S. 89f. Max Ring: Ein verlorenes Geschlecht. Erster Band…, S. 73f. Ebd., S. 74.
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eines Oberschlesiers zu zeigen. Dieser Protagonist wird in erster Linie durch seine Standeszugehörigkeit definiert und in dieser Hinsicht unterscheidet er sich kaum von den bisher dargestellten adeligen Figuren, wenngleich er zu dem Typus jüngerer, abenteuerlustiger und risikobereiter Adliger bzw. zu der Schicht der ›modernen Abenteurer‹ zu zählen wäre. Auch die schon mehrmals angeführte Figur seines Bruders Robert, die im Laufe der Handlung immer mehr an Bedeutung gewinnt, lässt sich kaum als ein Oberschlesier bezeichnen, jedenfalls spielt die ethnische Herkunft fast keine Rolle bei deren Charakterisierung. Er unterscheidet sich zwar wesentlich von Valerian, doch diese Unterschiede, seine Arbeitsamkeit und Pflichtbewusstsein, dienen dem Erzähler in erster Linie dazu, die Überlegenheit des Bürgertums, dem sich Robert am Ende des Romans auch anschließt, gegenüber dem Adel, dem er entstammt, hervorzuheben. Außerdem tritt Robert bis zum letzten Band als der englische Ingenieur Gibson auf. Ein anderer Protagonist, dem der Erzähler relativ viel Aufmerksamkeit schenkt, obgleich er im Gegensatz zu den Vulskis nicht zu den Hauptfiguren des Romans gehört, ist der bereits erwähnte Zinkkönig Godowski, der stark an den Großindustriellen Karl Godulla erinnert, welcher den gleichen Beinamen bekam. Godowski ist zum einen das Beispiel für einen oberschlesischen Selfmademan und ein Beleg für die neuen Möglichkeiten eines gesellschaftlichen Aufstiegs. Zur Welt kam er zwar als »der Sohn eines Tagelöhners, ohne alle Bildung und Erziehung, aber mit einer seltenen Schlauheit von Jugend auf begabt«1040. So wurde er Diener in »einer gräflichen Familie (…) und wußte sich durch seine Geschmeidigkeit und Gewandheit der Herrschaft dermaßen zu empfehlen, daß er zu den verschiedensten Geschäften gebraucht wurde«1041. Zu seinem Vermögen kam Godowski durch die Entdeckung eines reichen Erzvorkommens, über »dessen Werth er seinen Herrn geschickt zu täuschen wußte, so daß dieser ihm gegen eine geringe Entschädigung die Ausbeutung desselben gänzlich überließ«1042. In der Folge kaufte er »die benachbarten Felder von den unwissenden Besitzern um einen äußerst billigen Preis«1043 und bereicherte sich weiter. Bei seinen Unternehmungen hatte er immer wieder Glück, denn »wo er in die Erde stach, fand er die schönsten Erze in Hülle und Fülle, neben dem Galmei das Eisen und dicht dabei die beste Kohle«1044. Die unheimlichen Dimensionen seines Aufstiegs verleihen ihm in der Bevölkerung Attribute einer sagenhaften Figur, man schreibt »ihm unnatürliche Kräfte und Begabung zu«1045 und glaubt, »daß er im Besitze einer Wünschelruthe sei und dafür dem Teufel seine Seele ver1040 1041 1042 1043 1044 1045
Max Ring: Ein verlorenes Geschlecht. Vierter Band…, S. 32. Ebd., S. 33. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 34.
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schrieben habe«1046. Da diese Überzeugung keineswegs im übertragenen Sinne gemeint ist, lässt sie nebenbei auch Rückschlüsse auf das Ausmaß des in der Bevölkerung immer noch vorherrschenden Aberglaubens zu. Zum anderen kreiert der Autor mit Godowski eine durchweg negative Figur. Von einem anderen Protagonisten wird er als »ein furchtbarer Egoist, ein entschiedener Menschenfeind (…) [beschrieben], der rücksichtslos seinen Vortheil verfolgt und keine Schonung, kein Mitleid kennt«1047. Gibson, der trotz dieser Schilderung dem Zinkkönig unvoreingenommen zu begegnen versucht, überzeugt sich bei einem Gespräch mit Godowski von der Richtigkeit der Anschuldigungen. Schon sein Aussehen, die »gebogene Adlernase (…) mit dem spitzen Kinn und den buschigen grauen Augenbrauen, unter denen die kleinen, aber stechenden Augen lauerten«1048, verleiht ihm, nach Meinung des Erzählers, das »Aussehen eines beutelustigen Raubvogels«1049. Er spricht »rauh und gebieterisch, kurz hervorgestoßen und abgebrochen, als ob er stammelte (…)«1050. An einer Stelle der Beschreibung Godowskis bemüht der Erzähler erneut ethnische Stereotype, wobei er diese gleichzeitig teilweise relativiert: Trotz des angenommenen Firnisses der Bildung war und blieb er der slavische Bauer in höchster Potenz mit allen Fehlern und ohne die liebenswürdigen Eigenschaften desselben, für die er die Laster der Civilisation eingetauscht hatte. Die Verschlagenheit, Hinterlist und Schlauheit derselben war bei ihm noch mit Gewaltthätigkeit und Rücksichtslosigkeit gepaart, der Leichtsinn und die Sorglosigkeit durch Geiz und leidenschaftlichen Gelderwerb ersetzt, die zähe Liebe für das Alte in Haß gegen jede Neuerung umgewandelt, der naive Egoismus zur höchsten Menschenverachtung gesteigert.1051
In den wohltätigen Maßnahmen Gibsons sieht Godowski »nur pure Eitelkeit«1052 und meint, dieser würde »nur das Gesindel rebellisch [machen], (…) das Volk«1053 aufhetzen. Auf die Bitte Gibsons, das Begräbnis eines seiner Arbeiter zu bezahlen, reagiert Godowski mit folgendem Wutausbruch: Menschlichkeit! Pah! geht mir mit eurer Menschlichkeit! Lasse mich nicht mit Worten betrunken machen, wie die andern Leute. Weiß was dahinter steckt – Unsinn, purer Unsinn, wo nicht noch Schlimmeres. Mit der Menschlichkeit kommen wir nicht weit; das Volk ist nur mit Furcht und Prügeln zu regieren. (…) Will Ihnen aber sagen, wohin Ihre Menschlichkeit führt – zu Raub, Mord und Todtschlag. Das wird das Ende vom Liede sein. Hetzen uns die Arbeiter auf den Hals, setzen dem Gesindel verdrehtes Zeug
1046 1047 1048 1049 1050 1051 1052 1053
Ebd. Ebd., S. 36. Ebd., S. 40. Ebd. Ebd. Ebd., S. 41. Ebd., S. 43. Ebd.
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in den Kopf. Das ist gefährlich, höchst gefährlich. Wenn erst das Volk lesen und schreiben kann, zu denken anfängt, dann ist es aus mit dem Respect. (…) Das Gesindel will mit uns theilen, plündern und stehlen, und Alles nehmen – das ist eure Menschlichkeit!1054
Nach der vorher angewandten Einteilung gehört Godowski wegen seines Vermögens zur finanziellen Oberschicht, doch aufgrund zahlreicher Faktoren unterscheidet er sich wesentlich von den zuvor dargestellten Vertretern dieser Gruppe. Im Gegensatz zu ihnen ist er nicht in der Finanzbranche tätig, auch fehlt es ihm an ihrer Weltgewandtheit und einem vielleicht oberflächlichen, aber dennoch vorhandenen Interesse an der Kultur. Zwar gibt es in dieser Gruppe auch Außenseiter, wie Franz Weller aus Götter und Götzen, doch diese unterscheiden sich im positiven und nicht negativen Sinne von ihrer Schicht, anders als der oberschlesische Großindustrielle. Trotzdem bleibt er eine Figur der neuen Epoche, denn er verfügt über ein großes Vermögen und weiß deshalb um seinen Einfluss: »(…) habe Alles, was das Herz sich wünschen kann, Ruhm und Ehre, Achtung und Freundschaft, Macht und Gewalt; kann bauen und einreißen, schaffen und zerstören, brauche Keinem Rechenschaft zu geben und kann selbst dem Gesetz eine Nase drehen, weil ich Geld habe, viel Geld habe«1055. Die unteren Schichten, Bauern und Arbeiter, denen der Autor in seiner bereits angeführten Kurzanalyse der Lage viel Aufmerksamkeit schenkt, kommen als Protagonisten im Roman kaum vor. Eine kurze Schilderung wird lediglich dem Bergmann Pawel Voiteck gewidmet, den man aufgrund seiner Taten als rücksichtslosen Verbrecher brandmarken könnte. Voiteck wird als Figur gegen Ende des letzten Bandes eingeführt, zunächst greift er mit einer Bande das Haus Godowskis an, das in Flammen aufgeht, später tötet er als Auftragsmörder die Fürstin Vulski. Doch der Erzähler zeigt ihn als das Opfer seiner schweren Lebensverhältnisse. Als Voiteck nach dem Anschlag auf Godowski nach Hause kommt, sieht er folgendes Bild: »(…) er fand seine Frau in wilder Fiebergluth, und seine hungernden Kinder umringten ihn und schrieen nach Brot«1056. Dieser Anblick erfüllt ihn »mit wildem Schmerz«1057, doch er hat nur »eine vertrocknete Brotkruste«1058, die er seinen Kindern reichen kann. Die kranke Frau fordert Milch, doch auch diese gibt es nicht. Kälte dringt »zu allen Ritzen und Spalten«1059 der Hütte ein, doch es fehlt auch an Holz, um Feuer zu machen: »(…) auf dem öden Herd hatte schon lange keine helle Flamme gebrannt, und nur ein schwarzer Fleck verrieth, daß hier einmal in besseren Zeiten gekocht worden 1054 1055 1056 1057 1058 1059
Ebd., S. 47f. Ebd., S. 51f. Max Ring: Ein verlorenes Geschlecht. Sechster Band…, S. 143. Ebd. Ebd. Ebd., S. 145.
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war«1060. Voitecks Entschluss, den Mordauftrag zu übernehmen, folgt kurz darauf und der einzige Grund scheint die finanzielle Belohnung zu sein. Ein typisches Leben der oberschlesischen unteren Schichten scheinen die sog. ›Vecturanten‹ abzugeben, wohl die einzige oberschlesische Berufsgruppe, die der Autor, im Gegensatz zu seinen in Berlin spielenden zeitgeschichtlichen Werken, kurz charakterisiert: Zwischen den Gruben, Hütten und nächsten Lagerplätzen bewegen sich in unabsehbaren Reihen die Karren und jämmerlichen Fuhrwerke der sogenannten »Vecturanten«, welche Erz und Kohlen fortschaffen und verfahren. Elende Wagen von primitiver Einfachheit, mit kleinen zottigen Pferden bespannt, schleppen sich mühsam auf den vernachlässigten Landstraßen und ausgefahrenen Wegen. Ausgestreckt auf dem belasteten Gefährte, leitet der Landmann das halb verhungerte Gespann, schlafend oder halb berauscht, da der leichte Verdienst ebenso schnell in den überall herumliegenden Schänken vertrunken und verjubelt wird, während der Acker unbestellt oder den Frauen und Kindern überlassen bleibt und die Wirthschaft dabei nothwendig zu Grunde geht.1061
Wäre die Analyse der Oberschlesier in Rings Werken an dieser Stelle zu Ende, ergäbe sich das traurige Bild einer rückständigen Bevölkerung, die durch jahrhundertelange Vernachlässigung den Anforderungen der Moderne nicht gerecht werden kann. Die Adeligen zeigen sich nicht in der Lage, Verantwortung zu übernehmen, die neue finanzielle Elite, verkörpert durch Godowski, ist nur auf den eigenen Vorteil bedacht, weswegen die übrige Bevölkerung in miserablen Verhältnisse leben und immer wieder Hunger und Not leiden muss. Dieses Bild ist nicht falsch und wird von einer überwiegenden Mehrheit von Passagen, die Oberschlesien und dessen Bevölkerung betreffen, auch bestätigt. Es gibt aber auch Lichtblicke, einen solchen bietet die folgende Aussage von Elfriede, der späteren Frau von Robert/Gibson, aus einem Gespräch mit dem Fürsten Vulski, der erst dabei ist, seine Rückkehr nach Oberschlesien zu planen: Sie werden (…) unsere Heimat nicht wiedererkennen. Alles hat sich verändert und ich darf wol sagen, auch zum Besseren gewendet. Ich glaube, daß Sie sich einigermaßen in dieser neuen Welt gefallen werden, da Ihnen die amerikanischen Zustände ein so großes Interesse abgewonnen haben. Wie dort, wenn auch nicht mit derselben Schnelligkeit und in gleich riesiger Dimension, entwickelt sich ein frisches und überraschendes Leben, wachsen mächtige Anlagen, großartige Hüttenwerke und Fabriken aus dem Boden, oft mitten in den eben erst gelichteten Wäldern empor. Wo sonst die elende Hütte des verarmten Bauers gestanden, erhebt sich jetzt ein mächtiger Industriepalast, und rings um ihn schaaren sich die freundlichen, reinlichen Wohnungen der fleißigen und geschickten Arbeiter. Wüsten werden bepflanzt, öde Strecken bebaut, Canäle gegraben, und wo sonst auf elenden Wegen sich mühsam das traurige Fuhrwerk im Sande und 1060 Ebd. 1061 Max Ring: Ein verlorenes Geschlecht. Dritter Band…, S. 84f.
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Schmutze fortschleppte, fliegt jetzt auch bei uns auf glatten Schienen die beschwingte Locomotive.1062
Elfriedes Schilderung scheint nur zum Teil der Realität zu entsprechen, schließlich wird erst Gibson, im Verlaufe der Handlung, zu einem Erneuerer auch in sozialer Hinsicht, vor allem aber beweist diese Darstellung die positive Einstellung des Autors dem technischen Fortschritt gegenüber, welche er auch in anderen Werken zum Ausdruck bringt, ohne die möglichen Verlierer dieser Entwicklung zu vernachlässigen. Angesichts der heutigen Lage mag es verwundern, dass Max Ring Oberschlesien in seinen Werken als ein ländlich geprägtes Gebiet zeigt, schließlich zählt die Woiwodschaft Schlesien gegenwärtig ca, 4,5 Millionen Bevölkerung1063, die u. a. in mehreren Städten mit über 100.000 Einwohnern leben, während die Einwohnerzahl der Hauptstadt Kattowitz ca. 300.000 beträgt. Doch Ring, der Oberschlesien vor allem im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts kennen lernte, zunächst als Kind und Jugendlicher, dann als Arzt in Gleiwitz, stellt die Lage so dar, wie er sie selbst erlebte. Gleiwitz, eine der wichtigsten Städte der Region, zählte im Jahre 1852, also kurz nach Rings Weggang, lediglich 9.173 Einwohner1064 und die heutige Hauptstadt hatte erst 1865 die Stadtrechte verliehen bekommen. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war auch für Oberschlesien eine Zeit rasanten Wandels zu einem Industriegebiet, doch Ring erlebte das nicht mehr als Zeitzeuge. Seine beiden Werke, deren Handlung großteils in Oberschlesien spielt, basieren demnach auf Rings früheren Erfahrungen, was auch bei der Lektüre der Bücher deutlich wird. Sowohl in Aus dem Tagebuche eines Berliner Arztes als auch im Roman Ein verlorenes Geschlecht ist die Handlungszeit auf die Jahre vor 1848 zu datieren, in dem Roman findet die Märzrevolution beispielsweise gegen Ende der Handlung statt. Dies ist insofern von Belang, als es die Darstellung Rings schon zur Zeit des Erscheinens der Werke antiquiert erscheinen lässt, umso mehr aber ihre Authentizität bestätigt. Vielleicht erklärt dies, warum Ring die Stadt Gleiwitz, wo er schließlich mehrere Jahre lebte und als Arzt tätig war, lediglich als »kleine Provinzialstadt«1065 erwähnt, ohne sie näher zu beschreiben. Zu den ausführlichsten Beschreibungen eines konkreten Ortes in Oberschlesien gehört in Rings Werken die Schilderung des fürstlichen Schlosses der Vulskis im Roman Ein verlorenes Geschlecht, dessen Lage aber der Erzähler nicht genau 1062 Max Ring: Ein verlorenes Geschlecht. Zweiter Band…, S. 61f. 1063 Urza˛d Statystyczny w Katowicach / Województwo, https://katowice.stat.gov.pl/zakladka1/ [Zugriff: 13. 02. 2020]. 1064 Hugo Weczerka: Gleiwitz. In: Hugo Weczerka (Hg.): Handbuch der historischen Stätten. Schlesien. Stuttgart 1977, S. 123–127, hier S. 125. 1065 Max Ring: Ausgewählte Romane und Novellen. Aus dem Tagebuche eines Berliner Arztes. Erster Band…, S. 11.
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bestimmt, außer dass es am »äußersten Ende der Monarchie, dicht an der polnischen Grenze«1066 liegt. In der Architektur meint er den »Kampf zwischen dem Mittelalter und der hereinbrechenden Reformation«1067 zu erkennen, wodurch sich »die scheidende Gothik und die auftauchende Renaissance (…) den Rang streitig«1068 gemacht haben sollen. Aus diesem Grund zeigt das fürstliche Schloss »neben dem mittelalterlichen Thurm und den Spitzbogen die geschnörkelten Säulen, Gallerien, Festons und Embleme der Renaissance«1069. Durch spätere Umbauten fehlt »dem Ganzen jede innere Einheit und wohlthuende Harmonie«1070, wodurch sich in der Schilderung des Erzählers ein folgendes Bild offenbart: »Während der linke, älteste Flügel durchaus den gothischen Styl, wenn auch in seinem Verfall und seiner plumpen Entartung sehen ließ, erschien die breite Facade mit ihren hohen Fenstern, Colonnaden und Sandsteinfiguren durchaus im Geschmack einer späteren Zeit, wogegen der rechte Flügel schon gänzlich an die nächste Zopfperiode erinnerte«1071. Dass die Fürstin nur »das untere Stockwerk des alten Schlosses«1072 bewohnt, verstärkt den Eindruck eines unaufgeräumten Zustands nur weiter. Der Erzähler gebraucht hier die Strategie, von der Beschaffenheit des Hauses auf den Charakter der Figur zu schließen, worauf er auch explizit eingeht: »Nicht nur das Antlitz des Menschen, sondern auch seine Wohnung nimmt mit der Zeit das Gepräge seines Wesens an und spiegelt seine innere Stimmung wieder«1073. Noch wesentlich detailreicher als das Äußere wird die Innenausstattung beschrieben, wobei sich der Erzähler aber so sehr auf Einzelheiten konzentriert, dass dabei kein Gesamtbild des Schlossinneren erkennbar wird. Im »saalartigen Gemach«1074 erkennt er eine »braune Ledertapete (…), Vorhänge von schwerem braunen Sammt (…), den riesigen Marmorkamin, (…) jene seltsamen Zwitterformen von Sofas, auf denen man nicht ruhen, und Stühlen, auf denen man nicht sitzen konnte (…)«1075. Darüber hinaus gibt es hier eine Reihe von »mythologischen und allegorischen Verzierungen«1076 und auch die »vorhandenen Kunstgegenstände trugen denselben Charakter gewaltsamer Nachahmung der Antike«1077. Trotz des kritischen Blickes
1066 1067 1068 1069 1070 1071 1072 1073 1074 1075 1076 1077
Max Ring: Ein verlorenes Geschlecht. Dritter Band…, S. 1. Ebd. Ebd. Ebd., S. 2. Ebd. Ebd. Ebd., S. 4. Ebd., S. 5. Ebd. Ebd., S. 5. Ebd., S. 6. Ebd., S. 7.
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enthält sich der Erzähler aber wertender Kommentare, wie sie beispielsweise bezüglich vieler Berliner Villen zu lesen sind. Angesichts einer laut Rings Beschreibung völlig unterschiedlichen gesellschaftlichen Struktur Oberschlesiens erwächst der Zinkkönig Godowski zum Vertreter der hiesigen Oberschicht, obwohl der Kontrast beim Vergleich seines Anwesens mit den Villen seiner Berliner Pendants größer nicht sein könnte. Obwohl der Großindustrielle »mehrere prachtvolle Schlösser und mit dem größten Luxus ausgestattete Paläste auf seinen zahlreichen Gütern«1078 besitzt, lebt er »in seiner alten Dienstwohnung«1079, aus dem Aberglauben, »daß sein Glück sogleich von ihm weichen würde, wenn er die Wiege desselben jemals verlassen sollte«1080. Die Innenausstattung stimmt mit dem Äußeren des »kleinen ärmlichen Hause[s]«1081 überein: Die Zimmer waren überaus einfach und schmucklos, nicht einmal mit Tapeten bekleidet, sondern von der Hand eines Dorfmalers mit grellen Kalkfarben angestrichen. Ebenso dürftig zeigte sich die Beschaffenheit der übrigen Einrichtung: Stühle und Tische von gemeinem Fichtenholz, das Sofa mit ordinärem Wollenzeug überzogen, Alles ohne jede Spur von Geschmack und behaglichem Comfort. Desto mehr war er für die Sicherheit durch den großen eisernen Geldschrank gesorgt, der mürrisch und fest verschlossen wie sein Herr in einer Ecke stand und verächtlich auf die ganze Welt zu blicken schien.1082
Auch bei genauerem Blick vermag der Erzähler keine interessanten Gegenstände oder Verzierungen auszumachen, bis auf wenige Ausnahmen: »An den kahlen Wänden hing eine alte Schwarzwälder Uhr, über der Thür ein kupferner Weihkessel, sonst fehlte jeder Schmuck, jeder Kunstgegenstand, womit sich nicht allein der Reichthum, sondern selbst die mäßige Wohlhabenheit zu umgeben liebt«1083. Auch im Falle Godowskis verweist der Erzähler auf den Zusammenhang zwischen dem Zustand des Hauses und dem Charakter seines Bewohners, obgleich dies angesichts von Godowskis Darstellung als eindeutig negativem Charakter mehr Berechtigung zu haben scheint: »Es lag etwas unsäglich Trostloses und Unbehagliches in dieser Umgebung, welche unwillkürlich die Gemüthlosigkeit und Herzensarmuth ihres Bewohners wiederspiegelte«1084. Da sich die Beschreibung der Elite der oberschlesischen Industrie praktisch auf Godowski beschränkt, lässt sich diese Schilderung nicht mit anderen vergleichen. Auf Robert Gibsons Wohnverhältnisse geht der Erzähler nicht ein. 1078 1079 1080 1081 1082 1083 1084
Max Ring: Ein verlorenes Geschlecht. Vierter Band…, S. 38. Ebd. Ebd., S. 39. Ebd. Ebd. Ebd., S. 39f. Ebd., S. 40.
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Den meisten Platz räumt Ring in seinen Werken der Darstellung der Bevölkerung und dem Aussehen der ländlich geprägten, aber schon im Wandel begriffenen Umgebung ein. Zunächst wird dabei die bereits thematisierte Veränderung in Rings Wortwahl deutlich. In einer Kurzbeschreibung seiner Reise nach Oberschlesien offenbart der Erzähler des 1856 erschienenen Aus dem Tagebuche eines Berliner Arztes noch eine neutrale Einstellung: »Die Dörfer, welche ich passirte, boten einen höchst traurigen Anblick dar. Verfallene Hütten, Strohdächer, Papierfenster brachten mir einen keineswegs günstigen Begriff von dem Wohlstande und der Kultur meiner künftigen Patienten bei. Die Einwohner lebten in wahrhaft primitiven Zuständen (…)«1085. Mögliche Gründe für die beobachteten Zustände werden nicht genannt, ein in der Großstadt Berlin ausgebildeter Arzt reist in eine ihm unbekannte Gegend und notiert seine Erlebnisse. In dem 1867 erschienenen Roman Ein verlorenes Geschlecht erscheint ein ähnliches Bild, dessen Aussage aber durch den Gebrauch eines einzigen Wortes verändert wird: »Es war ein echt slavisches Dorf mit verfallenen Hütten, großen Misthaufen und nackten oder halbbekleideten Kindern«1086. Dieselben Zustände deutet der Erzähler plötzlich anders, durch die ethnische Perspektive. Zwar enthält er sich weiterer Kommentare dieser Art, doch in Verbindung mit den bereits angeführten Fragmenten bezüglich der Bevölkerung lässt sich die neue, nach dem Prinzip der Rasse funktionierende Wahrnehmungsweise nicht abstreiten. Im Gegensatz zur Beschreibung Berlins setzt der Erzähler bei der Schilderung Oberschlesiens auf eklatante Kontraste: Meilenweit führte (…) der Weg durch öde Sandstrecken, traurige Dörfer, an elenden Hütten vorüber, in denen der verkommene Landmann ein jämmerliches Leben fristet. (…) Hie und da erhob sich neben den elenden Hütten das prächtige Schloß eines Gutsbesitzers[,] überraschte mitten in den schwarzen Forsten das großartige Etablissement eines reichen Industriellen.1087
Die Erwähnung des Anwesens eines Großindustriellen deutet aber auf einen Wandel hin, in dem die Gegend bereits begriffen ist. Der Erzähler ist sich dessen bewusst, äußert seine Meinung über diese Veränderungen aber nicht, auch wenn die Darstellungsweise in diesen Passagen farbenfroh, metaphernreich und dynamisch, teilweise sogar magisch wirkt: Zahlreiche Hüttenwerke und wahrhafte Industrie-Paläste steigen mitten in dieser Wildniß empor, ein überraschender Anblick in solcher Umgebung. Dieser Eindruck 1085 Max Ring: Ausgewählte Romane und Novellen. Aus dem Tagebuche eines Berliner Arztes. Erster Band…, S. 2. 1086 Max Ring: Ein verlorenes Geschlecht. Dritter Band…, S. 61. 1087 Ebd., S. 81.
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wird noch erhöht, wenn der Abend hereinbricht und die zahllosen Flammen und Flämmchen meilenweit den Horizont beleuchten und in der Dunkelheit das Schauspiel einer glänzenden Illumination hervorzaubern. Hier schlägt die rothe Lohe der riesigen Hochöfen zum Himmel auf, gleich dem Krater eines feuerspeichenden Vulcans, aus dessen Bauch das geschmolzene Erz wie ein glühender Lavastrom hervorschießt. Dort steigen die grünen und blauen Lichter des kochenden Zinks wie ein buntes Feuerwerk empor, während die angezündeten Kohlenmeiler, die in Coaks verwandelt werden, weithin wie brennende Städte und Dörfer dem nächtlichen Wanderer erscheinen.1088
Die vermeintlich positive Einstellung zur Entwicklung der Industrie in Oberschlesien wird von der Beschreibung des sog. Brandfeldes konterkariert, auf dem vor »langen Jahren durch Zufall oder Selbstentzündung ein mächtiges, meilenweit unter der Erde fortlaufendes Kohlenflötz in Brand gerathen [war], ohne daß es bisher geglückt war, die unterirdische Flamme zu ersticken«1089. Diese Passagen lesen sich wie Vorboten der in den kommenden Jahrzehnten immer weiter zunehmenden Umweltzerstörung: Mitten in der lachenden Landschaft stieß der geborstene Boden fortwährend Rauchwolken aus, schwarze Dämpfe, welche die Atmosphäre mit infernalischen Dünsten erfüllten. (…) Um so trostloser war der Eindruck während der warmen Jahreszeit, wo die Natur sich in ihr grünes Festgewand kleidete. Während ringherum Au und Feld freundlich lachten, wurde das Brandfeld dann von der doppelten Hitze ausgedörrt, das trockene Gras verwelkte, der Rasen verwandelte sich in Staub und statt der Blüthen brachen gelbe, rothe und blaue Schwefelflammen hervor. Die Reihenfolge der Jahreszeiten schien gestört, der Frühling mit dem Winter, der Winter mit dem Lenz vertauscht.1090
Es wäre übertrieben, Max Ring vorausahnende Fähigkeiten zuschreiben zu wollen. Trotzdem belegt diese Schilderung einmal mehr die Sorgfalt seiner Beobachtungsgabe. Auf jeden Fall gehören die letzteren Fragmente, die Industrieentwicklung und deren Folgen betreffend, zu den aufschlussreichsten in seiner Darstellung Oberschlesiens, bei der sich ansonsten vieles mit der Beschreibung der Bevölkerung deckt: vorherrschende Armut und Not, deren Ursprünge mit der Zeit nach dem Prinzip der Rasse und der ›polnischen Wirtschaft‹ umgedeutet werden.
1088 Ebd., S. 83. 1089 Max Ring: Götter und Götzen. Fünfter Band…, S. 41. 1090 Ebd., S. 42f.
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Die Physiognomie einer Stadt. Raumerfahrung in der wachsenden Metropole Es giebt Orte, wo die guten Geister uns umgeben, und andere, wo die bösen Gewalt über uns bekommen.1091
Berlin gehörte im 19. Jahrhundert zu den europäischen Metropolen, die sich aus mehreren Gründen am schnellsten wandelten. Dies hatte in erster Linie mit dem bereits erwähnten starken Bevölkerungswachstum zu tun, die Einwohnerzahl Berlins stieg von 172.000 im Jahre 1800 auf 826.000 im Jahre 1870, wobei sich der durchschnittliche prozentuale Jahreszuwachs von 1,8 % in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf 3,5 % in den folgenden zwei Jahrzehnten beinahe verdoppelte1092. Der Grund für diese Entwicklung lag in der fortschreitenden Industrialisierung, die Berlin ein wichtiges Industriezentrum mit zahlreichen Fabriken werden ließ, welche der Bevölkerung neue Arbeitsmöglichkeiten bescherten. Im Zuge dieses Wandels veränderte sich das Gesicht der Stadt, ehemalige Dörfer aus dem Umland wurden eingemeindet, wodurch neue Viertel entstanden. Dank ihrer Gewinne investierte die neue finanzielle Elite in den Aus- aber auch Umbau der Metropole. Hinzu kamen die nötigen Veränderungen im Bereich der Infrastruktur, die Kanalisierung verbesserte das Leben der Einwohner, die Entwicklung des Nahverkehrs eröffnete ihnen neue Fortbewegungsmöglichkeiten und beeinflusste so ihre Mobilität. Zugleich war Berlin ein Ort heute kaum mehr vorstellbarer sozialer Unterschiede, die Gewinner der Gründerzeit lebten im Luxus, während die überwiegende Mehrheit der Einwohner, die den unteren Schichten angehörten, ein entbehrungsreiches Leben ohne Aussicht auf sozialen und gesellschaftlichen Aufstieg fristen mussten. Schließlich gesellte sich eine Veränderung in politischer Hinsicht dazu: Von der Hauptstadt Preußens wurde Berlin im Zuge der Vereinigung Deutschlands zur Hauptstadt des neuentstandenen Deutschen Reiches, was seine Bedeutung noch weiter steigerte. Max Ring verlebte die gesamte zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts in Berlin und war somit Zeuge aller dieser Veränderungen, die er zunächst vor allem als Arzt wahrnahm und als Journalist sowie Schriftsteller literarisch umsetzte. Zu 1091 Max Ring: Stadtgeschichten. Vierter Band: An der Börse…, S. 120. 1092 Vgl. Matthias von Hellfeld: Das lange 19. Jahrhundert. Zwischen Revolution und Krieg 1776 bis 1914…, S. 94.
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Die Physiognomie einer Stadt. Raumerfahrung in der wachsenden Metropole
seinen aufschlussreichsten Texten über Berlin gehört das 1882 erschienene Berliner Leben. Kulturstudien und Sittenbilder, worin die bereits »in verschiedenen Zeitschriften zerstreuten Berliner Skizzen, Bilder, Studien und Stadtgeschichten« gesammelt »und mit einer Anzahl neuer, noch nicht erschienener Arbeiten vermehrt«1093 herausgegeben wurden, wie dem Vorwort zu entnehmen ist. Im Eingangskapitel dieses Buches beschäftigt sich der um Sachlichkeit bemühte Autor mit der Entwicklung der Stadt. Nach einer Schilderung der Geschichte Berlins meint er, ihre Vergrößerung wäre mit der Verschönerung einhergegangen, weswegen die Metropole nun »eine der schönsten und am besten verwalteten Städte der Welt«1094 sei. Als bewundernswert bezeichnet er »die Breite und Reinlichkeit der Straßen, die Pracht und den Geschmack der öffentlichen Gebäude und der Privathäuser, die Eleganz der Kaufläden und Bazare, die Lebhaftigkeit des Verkehrs, der selbst den von Paris um das dreifache übertreffen soll, so wie die vorzügliche Beleuchtung«1095, was er als Verdienst »hauptsächlich der städtischen Selbstverwaltung«1096 ansieht. In Bezug auf infrastrukturellen Wandel erklärt der Autor die Übernahme »der öffentlichen Straßen, Plätze und Brücken«1097 vom Staat im Jahre 1875 zum Beginn einer neuen Ära. Als Folgen dieser Entscheidung nennt er »eine bessere Pflasterung der Straßen«, deren bisheriger Zustand »einer Residenz unwürdig war«, »Straßenreinigung mit einem Kostenaufwand von zwei Millionen Mark«, welche von »1500 Kehrern mit 30 Maschinen besorgt« wird, die »Beseitigung der Ekel erregenden und gesundheitsschädlichen Rinnsteine oder Gossen«, deren »mephitischen Ausdünstungen (…) der Herd gefährlicher Krankheiten und Epidemieen« gewesen sein sollen, und die »allgemeine Kanalisation Berlins«1098, was zusammengenommen »die Reinlichkeit der Stadt und die Gesundheit ihrer Bewohner« verbessert, sowie die »große[n] Fortschritte (…) [des] Beleuchtungswesen[s]«1099. Darüber hinaus lobt der Autor die Verdienste der Verwaltung im Bereich des Schulwesens und schätzt die Zahl der unterrichteten Kinder auf 78 %, was einen Anstieg von 23 % im Vergleich zum Jahr 1861 bedeutet und worin der Autor einen 1093 1094 1095 1096
Max Ring: Berliner Leben. Kulturstudien und Sittenbilder. Leipzig, Berlin 1882, Vorwort. Ebd., S. 7. Ebd. Ebd. Siehe auch: Berthold Grzywatz: Stadt, Bürgertum und Staat im 19. Jahrhundert. Selbstverwaltung, Partizipation und Repräsentation in Berlin und Preußen 1806 bis 1918. Berlin 2003. 1097 Ebd., S. 8. 1098 Siehe auch: Shahrooz Mohajeri: 100 Jahre Berliner Wasserversorgung und Abwasserentsorgung 1840–1940. Wiesbaden 2005. 1099 Ebd. Siehe auch: Ingrid Thienel: Verstädterung, städtische Infrastruktur und Stadtplanung. Berlin zwischen 1850 und 1914. In: Zeitschrift für Stadtgeschichte, Stadtsoziologie und Denkmalpflege, 4. Jahrgang, Stuttgart 1977, S. 55–84.
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Die Physiognomie einer Stadt. Raumerfahrung in der wachsenden Metropole
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»Beweis für den Geist und die Intelligenz der Bevölkerung«1100 erkennt. Die Hervorhebung der positiven Entwicklung des Schulwesens deckt sich mit der in mehreren Prosawerken Rings dargelegten Betonung der Bedeutung von Bildung, was auch auf den nächsten Punkt zutrifft, die Unterstützung der »Armen der Stadt«1101. Dazu zählt der Autor u. a. die Finanzierung »des Barackenlazaretts für Pockenkranke in Moabit, des allgemeinen Krankenhauses in Friedrichshain, (…) der Irrenanstalt in Dalldorf und des Waisenhauses in Rummelsburg«1102. Zu der wirtschaftlichen Entwicklung der Stadt äußert sich der Autor kennzeichnenderweise erst nach der Aufzählung der soeben genannten Verdienste der Verwaltung. Gleichzeitig fällt die Einschätzung dieser Fortschritte nicht minder positiv aus: In verhältnismäßig kurzer Zeit hat die Industrie und der Handel einen überraschenden Aufschwung genommen. Zahlreiche Fabriken erheben sich in verschiedenen Teilen der Stadt und beschäftigen ein Heer von Arbeitern, die sich durch ihre Intelligenz und Geschicklichkeit auszeichnen. Ein glänzendes Beispiel von der Größe und Bedeutung der Berliner Industrie liefert vor allem die bekannte Maschinenbauanstalt von Borsig (…). Nicht minder großartig ist die Telegraphen-Fabrik von Werner Siemens.1103
Außerdem lobt er die »Kunst und Wissenschaft«, welche in »noch höherem Maße wie die Industrie blühen«1104 soll, und nennt als Beweis eine Reihe von Gelehrten, Malern und Bildhauern, Architekten, Musikern sowie Schriftstellern bzw. Journalisten, die in Berlin tätig sind.1105 Hinzu kommt »eine fast zu große Anzahl von Theatern«1106 sowie »verschiedene öffentliche Lokale«, welche »besonders musikalische Aufführungen« anbieten und »durch ihre trefflichen Leistungen und die Billigkeit des Preises wesentlich die Verbreitung und Popularisierung der musikalischen Bildung fördern«1107.
1100 Ebd., S. 9. 1101 Ebd. 1102 Ebd., S. 10. Siehe auch: Christoph Sachße, Florian Tennstedt: Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland. Band 1: Vom Spätmittelalter bis zum Ersten Weltkrieg. Stuttgart 1980; Band 2: Fürsorge und Wohlfahrtspflege 1871–1929. Stuttgart 1988. 1103 Ebd., S. 10f. 1104 Ebd., S. 11. 1105 Vgl. ebd., S. 11f. Siehe dazu die Reihe Berlinische Lebensbilder, hrsg. von Wilhelm Treue, Rolf Winau, Gerhard Hildebrandt, Michael Erbe, Gerd Heinrich u. a. In den Jahren 1987– 2016 sind in Berlin 11 thematische Einzelbände erschienen. 1106 Die Zahl der Theater in Berlin stieg von sechs in den 1870er auf 59 im Jahr 1914 – vgl. Lothar Gall: Berlin als Zentrum des deutschen Nationalstaats. In: Wolfgang Ribbe, Jürgen Schmädeke (Hrsg.): Berlin im Europa der Neuzeit. Ein Tagungsbericht. Berlin, New York 1990, S. 229–238, hier S. 232. 1107 Ebd., S. 12. Siehe auch: Sven-Oliver Müller: Das Publikum macht die Musik: Musikleben in Berlin, London und Wien im 19. Jahrhundert. Göttingen 2014.
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Nach der Zusammenfassung der zahlreichen Verpflegungsmöglichkeiten von Berlin geht der Autor zur Beschreibung des »riesigen Verkehr[s]«1108 der Hauptstadt über, die er mit vielen Zahlen belegt. Dabei nennt er »gegen 5000 Droschken erster und zweiter Klasse, ungefähr 200 Omnibus, welche in einem Jahre fast 20 000 000 Menschen befördern, und das große Pferdebahnnetz mit über 120 000 Meter Geleisen, mehr als 200 Wagen und 1200 Pferden, die von 25 000 000 Menschen auf durchschnittlich einer Million Fahrten benutzt werden«1109. Sein allgemeines Fazit fällt folgendermaßen aus: »Alles in allem ist Berlin gegenwärtig eine der interessantesten, bedeutendsten, und sehenswertesten Städte der Welt, nämlich die Hauptstadt des Deutschen Reiches und der geistige Mittelpunkt eines großen, intelligenten Volkes (…), das eine bedeutende historische Mission hat«1110, wobei er diese nicht näher erläutert. Rings Beitrag vertritt sicherlich eine andere Gattung als seine bisher analysierten literarischen Texte, seine Zusammenfassung erscheint aber nützlich, da sich auf diese Weise vergleichen lässt, ob bzw. welche dieser Entwicklungen der Autor auch in seiner Prosa thematisiert. Gleichzeitig sei an dieser Stelle vorweggenommen, dass im Weiteren, bei der Schilderung konkreter Orte gelegentlich auch auf ein anderes nichtliterarisches Werk Rings eingegangen wird, das im Jahr 1882 erschienene und 1987 nachgedruckte umfangreiche und mit 313 Zeichnungen illustrierte Buch Die deutsche Kaiserstadt Berlin und ihre Umgebung, in dem Ring auf 358 Seiten verschiedene Aspekte der Vergangenheit und Gegenwart Berlins anspricht und somit der Hauptstadt zumindest teilweise den im Vorwort zu Berliner Leben selbst eingebrachten Nimbus einer ›Terra incognita‹ zu nehmen versucht. Bezeichnenderweise beginnt bereits die erste Stadtgeschichte, ChristkindAgnes, mit einer Reflexion des Erzählers über das thematische Potenzial, welches die Stadt einem sorgfältigen Beobachter bietet und welches, nach seiner Meinung, häufig selbst die schriftstellerische Phantasie übersteigt: Jedes Haus hat seine Geschichte, und wenn die Wände und Mauern reden könnten, so würden sie gewiß uns Dinge erzählen, wie sie so leicht kein Dichter in seinem Kopf ersinnen mag. Die Straßen einer großen Stadt sind immer die interessantesten Bibliotheken, und jedes Gebäude ein Buch voll rührender und erschütternder Begebenheiten, dessen Kapitel von den verschiedenen Stockwerken gebildet werden. Boden und Keller, Belle-Etage und dritter Stock, welche Fülle von Romanen und Tragödien, humoristischen Lebensbildern und überraschenden Situationen! Wer den hinkenden Teufel zur Seite hätte, der durch Zauberschlag plötzlich die Dächer von den Häusern hinwegnahm, würde das wunderbarste Schauspiel von der Welt erleben. Hier ras’t die 1108 Ebd., S. 14. 1109 Ebd. Siehe auch: Ural Kalender: Die Geschichte der Verkehrsplanung Berlins. Köln 2012. 1110 Ebd., S. 15.
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düstre Verzweiflung, dort jubelt die ausgelassene Lust. In jenem Zimmer liegt eine starre Leiche, von heißen Thränen benetzt, in diesem ein neugeborenes Leben von dem glücklichen Lächeln der Mutter begrüßt. Auf schwellendem Divan dehnt sich der Reichthum, auf elendem Strohlager siecht das Elend. Leid und Freude, Tugend und Laster, Lachen und Weinen, Leben und Tod, diese ganze wunderbare Welt wird von vier Mauern eingeschlossen, in denen die Tragödie und das Lustspiel des Daseins mit seinem bunten Scenenwechsel an uns vorüberzieht.1111
An dieser Beschreibung, deren Aufbau auch für andere Schilderungen charakteristisch ist, lässt sich Rings Strategie nachverfolgen. Der Blick des Erzählers bewegt sich dabei von außen nach innen. Zunächst beschreibt er die Straße, das Gebäude, erst dann stellt er die Wohnungen und Zimmer dar. Durch diese Richtung, vom Allgemeinen zum Besonderen, wird die Wirklichkeit gezähmt, gebändigt und eingegrenzt. Gleichzeitig wird bei Ring diese figurative Ebene der Anschaulichkeit durch den Einsatz von Emotionen um die Ebene der Reflexion ergänzt.1112 Da diese Einführung auch programmatisch gedeutet werden könnte, liegt die Erwartung nahe, Ring würde seine Darstellung der Stadt über Kontraste konstruieren, schließlich beendet er die angeführte Passage mit einer solchen Aufzählung. Doch diese Annahme bestätigt sich bei der eingehenden Lektüre seiner zeitgeschichtlichen Texte nicht. Vielmehr widmet er sich, insbesondere in den Stadtgeschichten, den jeweiligen Schichten bzw. Milieus und erschafft deren Bild, ohne sie anderen gegenüberzustellen. Ebenso wenig lässt sich aufgrund dessen behaupten, Ring würde in seinen Texten ein Gesamtbild Berlins kreieren. Durch die Konzentration auf einzelne Schichten oder Milieus entstehen ihre Bilder, bei denen die Umgebung, der Handlungsraum, nur ansatzweise für den Erzähler von Bedeutung ist. Möglicherweise sahen Rings Pläne für seine Stadtgeschichten-Reihe anders aus, denn nach der Betonung des thematischen Potenzials einer Stadt im Allgemeinen geht der Erzähler von Christkind-Agnes zur Beschreibung Berlins über, was aber im Vergleich zu seinen späteren in der Hauptstadt spielenden Romanen nur singulären Charakter hat: Immer größer wird die Stadt. Täglich wächst das Häusermeer der Residenz. Die Vorstädte haben längst die Ringmauern verlassen und schreiten mächtig weiter in der Ebene vor, welche noch vor Kurzem eine wüste Fläche war. Gebäude schließt sich an Gebäude an. Hier und da tritt wohl noch eine Lücke ein, wo ein schlechter Bretterzaun, aufgefahrene Kalksteine und zerstreute Ziegelhaufen bereits den künftigen Neubau andeuten. Noch fehlt an manchen Stellen das wohltätige Trottoir, auch die Straßenbeleuchtung ist nur mangelhaft (…). Je schneller die Zahl der Menschen in der Hauptstadt zunimmt, desto eiliger schießen die Häuser in den Vorstädten empor. Wie Pilze über Nacht wachsen ganze Stadttheile überraschend auf, und kaum, daß ein
1111 Max Ring: Stadtgeschichten. Erster Band: Christkind-Agnes…, S. 3f. 1112 Vgl. Hugo Aust: Realismus. Stuttgart, Weimar 2006, S. 95.
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schützendes Dach die rohen Mauern deckt, siedelt sich bereits das Parasitengeschlecht der Erde in allen Räumen an.1113
An diesem Beispiel wird eine andere Eigenschaft von Rings Raumbeschreibung deutlich, ihre Metaphorik, die im Vergleich zu seiner Darstellung von Menschen vielfältiger und komplexer wirkt; der Raum wird dadurch lebendiger. Dieses Fragment ergänzt die vorhin angeführte Darstellung der Stadtentwicklung aus Berliner Leben, allerdings ist hier anzumerken, dass es angesichts der Zeitspanne, die zwischen den beiden Texten besteht, und des Tempos der Veränderung von Berlin beinahe schon historischen Charakter hat, schließlich liegen genau dreißig Jahre dazwischen. Lediglich in zwei weiteren Texten äußert sich der Autor ausführlicher über die Entstehung und Entwicklung neuerer Viertel. Aufschlussreich erscheint dabei vor allem die Erzählung Der Geheimrath, in der zwei Stadtteile dargestellt und teilweise auch verglichen werden. Zum einen schildert der Erzähler das neuentstandene sog. Geheimratsviertel, das seinen Namen der Tatsache verdankt, dass dort viele hohe Beamte lebten (heute ist es das Tiergartenviertel, dessen westlicher Teil aber auch Diplomaten- oder Botschaftsviertel genannt wird): Wir befinden uns in einem neuen Theile der Hauptstadt, welcher vorzugsweise mit dem Namen »das Geheimrathviertel« halb im Ernst, halb im Scherz belegt wird. Die Häuser sehen einander meist ähnlich, große stattliche Gebäude mit hellen Fensterscheiben, vor denen Blumentöpfe stehen. Die Straßen sind still ohne Geräusch; nur zuweilen hört man durch die halbgeöffneten Fenster den Ton eines Klaviers und erhascht die Bruchstücke eines beliebten Salonstückes (…). Dann und wann begegnet man einem Manne in schwarzem Leibrock mit weißer Binde, der mit abgemessenen Schritten und im vollsten Bewußtsein seine Würde an uns vorüberschreitet. Man sieht ihm schon von weitem an, daß er auf seinen Schultern die Last des Staates tragen hilft, daß er ein Rad in der mächtigen Regierungsmaschine ist.1114
In dieser erneut detaillierten Schilderung sticht die Verwendung des Wir heraus, ein Stilmittel, das der Autor in seinen frühen Texten manchmal bei der Beschreibung neuer und/oder weniger bekannten Orte einsetzt. In diesem Fall ermöglicht es dem Leser sich assoziativ mit dem Text zu identifizieren,1115 den Erzähler bei seinen Beobachtungen zu begleiten. Ebenfalls in diesem Text beschreibt der Erzähler ein nicht benanntes Gewerbegebiet, in dem sich die Fabrik einer der Figuren befindet. Zwar werden in der zweiten Schilderung Vergleiche zum Geheimratsviertel gezogen, doch handelt es sich hierbei nicht wirklich um 1113 Max Ring: Stadtgeschichten. Erster Band: Christkind-Agnes…, S. 4f. 1114 Max Ring: Der Geheimrath…, S. 1f. 1115 Vgl. Manfred Günter Scholz, Dieter Burdorf: Identifikation. In: Dieter Burdorf, Christoph Fasbender, Burkhard Moennighoff (Hrsg.): Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. Stuttgart 2007, S. 339.
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eine für die Handlung ausschlaggebende Kontrastierung, denn sie befindet sich erst in der zweiten Hälfte der Erzählung. Gleichzeitig leistet der Erzähler damit einen erwähnenswerten Beitrag zur Beschreibung Berlins der 1850er Jahre: Ebenfalls vor dem Thore der Stadt, aber in einer ganz entgegengesetzten Richtung lag das Fabrikgebäude des Posamentiers Bormann. Die ganze Gegend dort zeigt eine verschiedene Physiognomie und gleicht in keiner Beziehung dem sogenannten Geheimrathsviertel. Verschwunden sind die feinen Häuser mit den glänzenden Spiegelscheiben; dafür sieht man große Etablissements, riesige Schornsteine, die Pyramiden der Industrie. Statt der behaglichen und vornehmen Ruhe herrscht ein reges und geschäftiges Treiben; die Dampfmaschinen ächzen und stöhnen, brausen und sausen den ganzen Tag. Die Spindeln schwirren, die Räder rasseln, die Walzen schreien und quitschen ohne Aufhör. Man begegnet nur selten dem schwarzen Leibrock und der weißen Binde des Beamten, dafür desto häufiger der Blouse und dem lose geschlungenen Halstuche des Arbeiters.1116
An dieser weiteren detailreichen Beschreibung lassen sich wie in einem Spiegel Kontraste zum Geheimratsviertel beobachten, die Eleganz und Stille des ersteren weichen nun der gewerblichen Betriebsamkeit. Durch die akustische Nachahmung dieser Hektik werden die Sinne aktiviert und die Schilderung gewinnt einen poetischen Charakter. An den letzten Sätzen der beiden angeführten Fragmente wird deutlich, dass die Beschreibungen relativ knapp und dynamisch gehalten sind. Einige wenige Eigenschaften der jeweiligen Teile sieht der Erzähler als ausreichend an, um sogleich zur Beschreibung der Figuren überzugehen. Dieser Satz dient dem Erzähler gleichzeitig dazu, auf die gesellschaftliche Zusammensetzung des Viertels einzugehen. Dabei handelt es sich aber eher um den Unterschied zwischen dem Gewerbe und der in Rings Texten mehrmals kritisierten Beamtenwelt, als um eine erneute Gegenüberstellung des Bürgertums und der Arbeiter. In der vorher erwähnten Schilderung derselben Gegend in Die Geschiedene entsteht ein ähnliches Bild: »In dem gewerbreichen Theile der Hauptstadt (…) liegt ein Laden neben dem andern; es herrscht eine rege Thätigkeit, ein tüchtiges Geschäftsleben. (…) In den Hallen und Höfen haben die Arbeiter und Werkleute alle Hände voll zu thun (…). Die Straßen und Häuser zeigen eine ganz besondere, gewerbsmäßige Physiognomie (…)«1117. Bemerkenswert ist dabei, wie sich Ring, trotz seiner Abneigung gegen die kriminologische Physiognomik, immer wieder der ästhetischen und für den realistischen Roman typischen Ausprägung dieser Lehre1118 bedient. Auf die Schilderung der Orte trifft diese Strategie noch mehr zu als die Beschreibung der Figuren. Der Grund für die häufige Verwendung dieses Begriffes scheint in dem Willen zu 1116 Max Ring: Der Geheimrath…, S. 159f. 1117 Max Ring: Neue Stadtgeschichten. I: Die Geschiedene…, S. 5. 1118 Vgl. Stephan Pabst: Physiognomik. In: Dieter Burdorf, Christoph Fasbender, Burkhard Moennighoff (Hrsg.): Metzler Lexikon Literatur…, S. 585.
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liegen, den Raum nicht nur beliebig darzustellen, sondern auch zu ordnen. Durch die Benennung des charakteristischen äußeren Erscheinungsbilds eines Ortes führt der Autor gleichzeitig seine eigene, subjektive Kategorie der Orte ein und geht durch deren emotionale Komponente über die reine Wirklichkeitsbetrachtung hinaus. Während Ring in seinen Prosawerken Veränderungen durchaus wahrnimmt, wenngleich »relativ unbedeutende, eher Umschichtungen, Umbesiedlungen innerhalb der bekannten Konturen seiner Stadt«1119, kommen in den Texten, trotz seines in Berliner Leben und Die deutsche Kaiserstadt Berlin und ihre Umgebung unter Beweis gestellten Interesses für die Wahrzeichen der Hauptstadt, die damals schon berühmten, historischen Teile der Stadt kaum vor. Als Ausnahme könnte man die folgende Beschreibung von Unter den Linden anführen, obgleich sie bei ihrer Kürze dieser Bezeichnung kaum gerecht wird. Im zweibändigen Roman Der Kleinstädter in Berlin berichtet der Erzähler in einem Brief folgendermaßen über seine Erlebnisse: Mein Weg führte mich über die Linden, von denen Du wohl schon gehört haben wirst. Du kannst Dir aber keinen Begriff machen, wie großartig die sind, ein Haus immer schöner wie das andere und dazu das Gelaufe und Gefahre, daß es Einem ganz schwindlig wird, überall die prächtigen Läden und Schaufenster, in denen die kostbarsten Sachen von der Welt aufgestellt sind.1120
In diesem Fall lässt sich die kurze Schilderung mit der Darstellung der Linden im Buch Die deutsche Kaiserstadt Berlin und ihre Umgebung vergleichen, das ungefähr zehn Jahre später entstand. Hier werden der Allee mehrere Seiten gewidmet, der Erzähler geht dabei auf ihre Geschichte, Länge und vor allem auf Gebäude ein, die sie säumen. Der Anfang dieser Schilderung ist teilweise in einem pathetischen Ton gehalten, welcher für das ansonsten um Sachlichkeit bemühte Buch untypisch erscheint: Die (…) »Linden« oder »Unter den Linden« sind der Stolz und die Freude des Berliners, seine liebste Promenade, das Rendezvous der feinen Welt, der Sammelplatz der Menge, die Via sacra des Volkes, die Siegesstraße des tapferen Heeres, das Forum der Regierung, das Pantheon der Helden und berühmter Männer. Hier sieht man die schönsten Paläste, die herrlichsten Denkmäler der Kunst, die ersten Hôtels, die prachtvollsten Läden mit ihren verlockenden Schaufenstern. Hier entfaltet Berlin besonders an Sonnund Festtagen seinen ganzen Glanz, hier feiert es seine Feste; hier lernt der Knabe spielend die Geschichte des Vaterlands, wenn er zu dem »alten Fritz« oder zu dem »Marschall Vorwärts« aufblickt; hier empfängt der Jüngling seine Bildung, hier fühlt
1119 Hugh Ridley: Anthropologische Ansätze in der Berlin-Literatur Max Rings…, S. 380. 1120 Max Ring: Der Kleinstädter in Berlin. Erster Band…, S. 35.
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sich der Mann von den ihn umgebenden, großstädtischen Leben fortwährend angeregt und hier überläßt sich der Greis seinen schönsten Erinnerungen.1121
In dieser Beschreibung zeigt der Autor einen anderen Stil, Substantive werden aneinandergereiht, der Text hat zunächst den Charakter einer Aufzählung, ehe er eine auf Schillers Glocke zurückzuführende Struktur bekommt. Es ist schon erstaunlich, wie sehr Berlins wohl wichtigste Allee in der zweiten Darstellung idealisiert wird, während der Erzähler in seiner kurzen Beschreibung aus dem Roman positive Aspekte mit negativen verbindet. In dem gemäß Rings Vorwort zu Berliner Leben möglicherweise auch an Touristen gerichteten Buch aus dem Jahr 1882 findet sich dagegen keine einzige negative Bemerkung, im Gegenteil, die Berliner Allee wird als eine Bildungsstätte nationaler Gefühle, Stimulationsort innovativer Gedanken und zugleich Schauplatz wichtiger Erinnerungen gezeigt, die symbolisch für sämtliche Lebensetappen stehen, wenngleich nur des männlichen Teils der Gesellschaft. Der weitere Teil von Rings Text besteht in einer minutiösen Aufzählung der einzelnen Gebäude, die die Allee säumen, was seine grundsätzliche Strategie bestätigt, den Blick vom Allgemeinen auf das Einzelne, das Detail zu richten. Das Allgemeine ist dabei so universell, dass der Text, abgesehen von wenigen Details (›alter Fritz‹, ›Marschall Vorwärts‹), auch als Beschreibung vieler anderer Metropolen dieser Zeit herhalten könnte. Dieser Nebeneffekt der Passage lässt sich deshalb auch als eine Art der Öffnung verstehen: Berlin, die neue Hauptstadt des neuen Reiches, wird somit zu einer universellen Metropole. In dem Roman Der Kleinstädter in Berlin zeigt der Erzähler auf humoristische Weise das Leben des Neu-Berliners August Bolle, der aus Pasewalk im heutigen Mecklenburg-Vorpommern in die Hauptstadt zieht. Bolles Erfahrungen erweisen sich vor allem zu Beginn seiner Zeit in Berlin als wenig ermutigend. Das Leben in der Hauptstadt ist sehr kostspielig, was der Ich-Erzähler mit folgender Aussage kommentiert: »Du hast gar keinen Begriff, wie theuer das berliner Pflaster ist und wie schnell einem das Geld ausgeht, als ob es die galoppirende Schwindsucht hätte. Bei uns in Pasewalk kostet ein ganzes Haus nicht mehr wie hier ein Zimmer mit Schlafcabinett«1122. Zu den Hauptproblemen gehört die Suche nach einer Wohnung, wobei sich die auf den ersten Blick komfortablen sehr schnell als das Gegenteil erweisen, wie in der folgenden Schilderung des IchErzählers: Es war aber in der Wohnung nicht zum Aushalten. Rechts Kindergeschrei mit obligater Wiegenbegleitung. Links ein Musikus, der auf der Violine kratzte, daß ich davon Ohrenzwang bekam, unter mir ein Kupferschmied und über mir ein Schuster, der fort1121 Max Ring: Die deutsche Kaiserstadt Berlin und ihre Umgebung. Reprint der Originalausgabe in 2 Bänden von 1883–1884. Leipzig 1987, Erster Band, S. 102. 1122 Max Ring: Der Kleinstädter in Berlin. Erster Band…, S. 24.
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während sein Leder klopfte, dazu noch das ewige Wagengerassel, Hofconcerte und eine Plumpe, welche jedesmal laut aufkreischte, wenn man sie anrührte.
Der typische Lärm einer Großstadt, ein bis heute nicht überwundener Aspekt mit teilweise ähnlichem Ursprung, mischt sich in diesem Fall mit anderen, nicht minder verdrießlichen Unannehmlichkeiten: Das Alles hätt’ ich noch ertragen, aber die Nächte waren zu entsetzlich. Kaum hatte ich mich ins Bett gelegt und meine Lampe ausgelöscht, so kamen alle sieben Plagen Egyptens über mich. Mein ganzer Körper bedeckte sich mit Blasen, als ob ich in lauter Nesseln gelegen hätte. Ich mußte aufstehen, und Licht anzünden, aber auch das half nicht. Endlich sprang ich auf und legte mich aufs Sopha, wo ich eben so wenig Ruhe vor den Bestien fand. Der Feind vertrieb mich auch von meinem neuen Lager und es blieb mir nichts übrig, als den Morgen schlaflos auf einem Stuhl zu erwarten.1123
Im Laufe der Handlung werden aber solche Berichte aus dem Alltag immer seltener. Überhaupt steht der Roman beispielhaft dafür, wie wenig sich Ring für die Kontraste zwischen der Großstadt Berlin und dem Land interessiert, womit ein enormes Potenzial verlorengeht: »Es gibt zwar Figuren, die aus der Kleinstadt nach Berlin kommen, sie sehnen sich aber nicht nach der Heimat zurück, ziehen aus ihren Erfahrungen kein Gesamtfazit, sondern reihen sich gemütlich in die Großstadt ein«1124. Außer den in diesem Kapitel angeführten bleiben zusammenfassende, synthetische Äußerungen über eine Großstadt im Allgemeinen oder Berlin im Wesentlichen selten in Rings zeitgeschichtlichen Werken. Manchmal machen die Figuren oder der Erzähler kurze Aussagen oder äußern gar vereinzelte Sätze, die auf ihre Einstellung schließen lassen. Diese fallen sowohl positiv als auch negativ aus und ergeben deshalb kein schlüssiges Gesamtbild. So behauptet eine der Figuren aus der Erzählung Feine Welt: »Das Leben auf dem Lande isolirt uns und beschränkt unsern Horizont. Der geistige Fortschritt ist nur möglich in der großen Stadt«1125. An anderen Stellen werden die Vorzüge des Lebens in der Großstadt dagegen aus anderen Gründen in Frage gestellt. Bei einer der Figuren aus der Erzählung Der Herr Professor schreibt ein Arzt »die Verzögerung der vollständigen Genesung einzig und allein den schädlichen Einflüssen der großen Stadt zu und verordnete den Aufenthalt in einem höher gelegenen klimatischen Kurort der Schweiz (…)«1126. In Die Erben kritisiert der Erzähler wiederum die Einwohner der Großstadt, ohne aber weitreichende Schlüsse daraus zu ziehen: »Aber die Leute in einer großen Stadt haben mehr zu thun, als auf einander zu 1123 1124 1125 1126
Ebd., S. 25f. Hugh Ridley: Anthropologische Ansätze in der Berlin-Literatur Max Rings…, S. 379f. Max Ring: Stadtgeschichten. Vierter Band: Feine Welt…, S. 178. Max Ring: Neue Stadtgeschichten. Erster Band: Der Herr Professor…, S. 132.
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achten. Stumm und theilnahmlos gehen sie an einander vorüber und Keiner kümmert sich um den Verlust des Andern«1127. An einer Stelle derselben Erzählung unternimmt der Erzähler den Versuch die Stadt zu vermenschlichen, indem er behauptet: »Auch die große Stadt hat ihren Sonntag und ergötzt sich daran; dann schweigt besonders am Morgen das laute Getümmel und der geschäftige Lärm; die Straßen und Häuser sehen ordentlich andächtig und fröhlich drein mit ihren hell geputzten Fensterscheiben und frisch gewaschenen Treppen«1128. Einen ähnlichen Eindruck hinterlassen Fragmente, in denen der Erzähler von der Physiognomie einer großen Stadt schreibt.1129 Bei der Beschäftigung mit Rings zeitgeschichtlichen Texten ist im Hinblick auf die Darstellung der Metropole Berlin immer zu beachten, dass er zu den ersten Schriftstellern gehört, die sich dieser Thematik widmen. Selbst Autoren, die parallel zu Ring tätig waren, verzichten darauf, Berlin als einen Raum darzustellen, auch wenn sie die Handlung ihrer Bücher dort lokalisieren, wie Wilhelm Raabe in Die Chronik der Sperlingsgasse aus dem Jahr 1856.1130 Dieses Desinteresse unterscheidet Berlin von den größten europäischen Metropolen wie London oder Paris und ist in der Geschichte begründet. Im Gegensatz zur »Kolonistengrüdung Berlin« waren London und Paris schon »seit dem Mittelalter nationale Zentren und hatten sich schon im 18. Jahrhundert zu spezifisch modernen, durch Warenverkehr, Handelsgesinnung, kapitalistische Arbeitsauffassung bestimmten Metropolen ausdifferenziert«1131. Max Ring betritt und erforscht damit Neuland, und zeigt im Allgemeinen ein differenziertes Bild der schnell wachsenden Großstadt Berlin, in dem sich positive Aspekte mit negativen mischen. Während die ersteren eher im Allgemeinen zu suchen sind, in der rasanten Entwicklung des Bauwesens, der Infrastruktur und des Verkehrs, offenbaren sich die letzteren beim detaillierten Blick auf die ersteren und sind beispielsweise in der Entstehung der Mietskasernen, mit allen damit verbundenen gesellschaftlichen Nachteilen, zu suchen. Ring verzichtet dabei weitgehend auf Kontraste, sowohl zwischen den einzelnen Schichten, als auch zwischen der Stadt und dem Land bzw. der Großstadt und der Kleinstadt, wodurch er sich 1127 1128 1129 1130
Max Ring: Neue Stadtgeschichten. III: Die Erben…, S. 210. Ebd., S. 42. Vgl. Max Ring: Neue Stadtgeschichten. II: Der Waisenknabe…, S. 1. Vgl. Christof Forderer: Die Großstadt im Roman. Berliner Großstadtdarstellungen zwischen Naturalismus und Moderne. Wiesbaden 1992, S. 10. 1131 Ebd. Zur Darstellung von Großstadt in der Literatur siehe auch: Volker Klotz: Die erzählte Stadt. Ein Sujet als Herausforderung des Romans von Lesage bis Döblin. München 1969; Karl Riha: Die Beschreibung der »großen Stadt«. Zur Entstehung des Großstadtmotivs in der deutschen Literatur (ca. 1750–ca. 1850). Bad Homburg, Berlin, Zürich 1970; Hermann Bausinger, Theodor Kohlmann (Hrsg.): Großstadt. Aspekte empirischer Kulturforschung. Berlin 1985; Angelika Corbineau-Hoffmann: Kleine Literaturgeschichte der Großstadt. Darmstadt 2003.
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der Gefahr einer extrem positiven oder negativen Schilderung entzieht. Darstellungen einzelner Viertel und insbesondere Gesellschaftsschichten oder Milieus zieht er synthetischen Gesamtbildern der Großstadt vor. So ist auch der Titel der Stadtgeschichten zu verstehen, als Geschichten aus dem Leben der Stadt. Die Metropole Berlin wird dabei zum »Schauplatz neuer Erfahrung«1132 und das »beobachtende Auge ist nicht das des gelangweilten Flaneurs, sondern des beschäftigten schriftstellernden Großstadtarztes«1133. Seine Figuren stehen dabei mitten im Geschehen, leben auf einer Welle der Gegebenheiten, an der Oberfläche, und hinterfragen dies nur äußerst selten. Die schnell wachsende Stadt entwickelt sich zu einer »Plattform für Erlebnispluralismus, Simultanität und Dynamik«1134. Diese neuen Eigenschaften der Großstadt begünstigen allmählich die »Erosion sinnstiftender Orientierungsstrukturen«1135 und führen in der Konsequenz dazu, dass die Innenwelt der Bewohner durch die Fragmentierung der Außenwelt atomisiert wird1136. Ring unternimmt bewusst den anspruchsvollen Versuch, die Menschen vor dem Hintergrund der Großstadt zu charakterisieren. Er verwendet dabei eine teilweise durchaus originelle Metaphorik, indem er beispielsweise die Physiognomik in ästhetischer Hinsicht zur Darstellung der Stadt einsetzt. Dadurch werden aufschlussreiche Aspekte der voranschreitenden Atomisierung offenbart, die der Autor zwar immer wieder wahrnimmt, sie aber in letzter Konsequenz der vorausgesetzten Sittlichkeit opfert. Auch dies zeigt ihn als einen Autor des Dazwischen. Nun soll das Hauptaugenmerk auf die Orte der Großstadt gerichtet werden, auf die der Erzähler seine besondere Aufmerksamkeit lenkt. Im Gegensatz zum vorherigen Kapitel wird dabei aber nicht versucht anhand der Orte die Gesellschaftsstruktur wiederzugeben. Manche dieser Orte lassen sich mit Hilfe der von Michel Foucault postulierten Kategorie der Heterotopie nachvollziehen, als Orte, die »in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplazierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können«1137. Die ambivalente Lokalisierung der Orte, die sich
1132 Hugh Ridley: Anthropologische Ansätze in der Berlin-Literatur Max Rings…, S. 380. 1133 Ebd. 1134 Waltraud Wende: Großstadtdichtung. In: Dieter Burdorf, Christoph Fasbender, Burkhard Moennighoff (Hrsg.): Metzler Lexikon Literatur…, S. 296. 1135 Ebd. 1136 Vgl. ebd. 1137 Michel Foucault: Andere Räume. In: Karlheinz Barck (Hrsg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig 2002, S. 34–46, hier S. 39.
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gleichzeitig innerhalb und außerhalb der Gesellschaft befinden, wirft die Frage auf, wie stark sie die darin lebenden Menschen beeinflussen.
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Die Börse
Zu den Handlungsorten, die in Rings zeitgeschichtlichen Werken am präsentesten sind, gehört die Börse. Das bedeutet nicht, dass die Handlung am häufigsten an der Börse spielt, sondern lediglich, dass der Autor auf kaum einen Ort so oft im wortwörtlichen wie übertragenen Sinne Bezug nimmt wie auf die Börse. Diese fungiert in seinen Texten einerseits als ein konkreter Ort des Wertpapierhandels, andererseits versinnbildlicht sie vor allem die zuvor angeführten Mängel und Fehler der Epoche. Auch in Rings Darstellung erscheint die Börse »als Bühne rationalen Kalküls und ökonomisch-arbeitsteiliger Funktionalität wie auch als Szenerie von Hysterien, Euphorien und Paniken«1138. Eine eingehende Beschreibung dieses Ortes findet sich im Beitrag Eine Stunde an der Börse aus dem Sammelband Berliner Leben. Der Erzähler beginnt seinen Bericht mit der Bemerkung, dass die »alten Götter (…) aus der Welt geschwunden, und an ihre Stelle die Götzen der materiellen Gegenwart getreten«1139 seien. Infolge dieser Entwicklung sei ein »neuer Glaube (…) erstanden, eine Art internationale Weltreligion, wie zu den Zeiten des römischen Verfalls«1140. Damit spielt er auf die an anderer Stelle thematisierte Bedeutung des Geldes und den vorherrschenden Materialismus der Gründerzeit an, wobei er sich in diesem Fall auf antike Gottheiten beruft: »In demselben Pantheon thronen (…) der griechische Hermes, (…) die launenhafte Fortuna, (…) der goldene Plutus, (…) neben dem syrischen Mammon, (…) und dem ägyptischen Apis«1141. Die Börse wird vom Erzähler als der Tempel der neuen Religion bezeichnet und auch ausführlich im Hinblick auf die Architektur beschrieben, was in den Prosatexten nicht passiert. Das in der Burgstraße gelegene Börsengebäude ist demnach (…) ein imposanter Prachtbau im Renaissancestyl, mit doppelter Front, korinthischen Säulen, mit symbolischen Statuen und Arkaden, die sich in den Fluten der vorüberfließenden, von größeren und kleineren Schiffen und Kähnen belebten Spree wiederspiegeln. Der herrliche, große Saal, der die Zahl der Besucher nicht mehr zu fassen
1138 Andreas Langenohl: Börse. In: Stephanie Wodianka, Juliane Ebert (Hrsg.): Metzler Lexikon moderner Mythen. Figuren, Konzepte, Ereignisse. Stuttgart, Weimar 2014, S. 58–61, hier S. 58. Siehe auch: Sven Grzebeta: Ethik und Ästhetik der Börse. Paderborn 2014. 1139 Max Ring: Berliner Leben. Kulturstudien und Sittenbilder…, S. 180. 1140 Ebd. 1141 Ebd.
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vermag, wird durch einhundert und achtzig Granitsäulen in zwei Räume, in die sogenannte Fonds- und Produktenbörse geteilt.1142
Bei der Schilderung der Gestaltung des Innenraums konzentriert sich der Erzähler in erster Linie auf die kunstvolle Verzierung der Wände und erwähnt die eigentliche Ausstattung des Raums eher beiläufig, im letzten Satz seiner Beschreibung: An den Wänden erblickt man prachtvolle Fresken von dem Maler Klöber, Sinnbilder der Arbeit, Fischer, Holzhauer und Landleute bei der Ernte, in ihrer Mitte die Göttin der Natur, die alte Kybele. Ueber der Fondsbörse schwebt Vulkan, der Gott der Schmiede, Merkur, der Beschützer des Handels, ein feuriges Roß als Symbol des Dampfes und eine Gruppe, welche die Herstellung des Papiergeldes zeigt, ein charakteristisches Bild für Börsenspekulanten. In dem Saale selbst stehen zahlreiche Bänke, mit Metallplatten versehen, die den Namen der hier sitzenden Bankiers und Kaufleute angeben.1143
Bei der Beschreibung der geschäftlichen Tätigkeit an der Börse bedient sich der Erzähler zweier Metaphern. Zum einen setzt er die religiösen Vergleiche fort, wodurch das Funktionieren der Börse mit einem Gottesdienst gleichgestellt wird, es ist »ein wunderbares Schauspiel, das mit keinem andern Kultus sich vergleichen läßt«1144. Erwartungsgemäß beobachtet der Erzähler dabei auch Unterschiede, die er folgendermaßen beschreibt: »Statt der feierlichen Stille (…) vernimmt man hier ein dumpfes Rauschen und Brausen, einen betäubenden Lärm, wie wenn das Meer brandend gegen seine Ufer schlägt. Man hört nur ein wirres Durcheinander von Stimmen, abgebrochene Worte, unartikulierte Laute, deren geheimnisvoller Sinn den uneingeweihten Ohren verborgen bleibt«1145. Religiöser Art ist auch der Vergleich des Telegraphen mit einem antiken Orakel, dessen »Ausspruch (…) wie die Stimme eines Gottes beachtet«1146 wird. Zum anderen setzt der Erzähler auch militärische Vergleiche ein und schreibt vom »Schlachtfeld der Börse, wo der Kampf um Tod und Leben gekämpft und das Geschick des Tages entschieden wird«1147. Im Gegensatz zum Vergleich mit einem Gottesdienst greift diese Metapher weiter, denn sie erlaubt es den jeweiligen Beteiligten konkrete, aus dem Militär stammende Ränge zuzuschreiben: »Auf ihren gewohnten Sitzen erblickt man bereits die Führer und Feldherren der beiden entgegengesetzten Heerlager, der Hausse und Baisse, umgeben von ihrem Generalstab, von ihren Adjutanten, den geschäftigen Kommis und Maklern, die eilig auf ihren Wink von einer Seite des Saals zu andern fliegen, um die gege1142 1143 1144 1145 1146 1147
Ebd., S. 181. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 182. Ebd., S. 184.
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Die Börse
benen Aufträge auszurichten«1148. Während es sich bei dieser Schilderung um eine allgemeine Beschreibung der für die Börse typischen Vorgänge handelt, gebraucht auch der Erzähler einer der Stadtgeschichten dieselbe Strategie und stellt den für Eduard Werth folgenschweren Kursverlust folgendermaßen als eine Schlacht dar: Die kleineren Spekulanten, welche um jeden Preis losschlagen mußten, wehrten sich so gut es ging und kämpften einen verzweifelten Todeskampf. Die Börse glich in diesem Augenblick einem Leichenfeld. Zwar sah man weder Blut noch Wunden, auch hörte man kein Todesröcheln, keinen letzten Seufzer, mit dem das Leben flieht, aber dennoch gab es der Sterbenden hier genug, gebrochene Herzen, erlöschende Augen, unterdrücktes Stöhnen und heimlich gerungene Hände im Ueberfluß. Manche Existenz war in einem Augenblick vernichtet, manches glänzende Haus für immer ruinirt. (…) Der Kampf war bald zu Ende. Die Besiegten ergaben sich in ihr Geschick und flehten nicht die Gnade des Siegers an. Das Schlachtfeld wurde geräumt, die Verwundeten und Sterbenden schwankten fort, wandelnde Leichen, welche den Tod im Herzen trugen.1149
Zu den wenigen positiven Eigenschaften der Börse als Institution zählt der Erzähler ihre Toleranz, die »keinen religiösen Unterschied kennt«1150, wenngleich dies nicht ohne Vorbehalt geschieht. Zwar werden kleinere »Übertretungen (…) nicht allzugenau [genommen] und [man] verzeiht gern dem irrenden Bruder eine Schwäche. Wenn er strauchelt oder gar fällt, vergiebt man seine Schuld, mit der Hoffnung, in ähnlicher Lage auch von ihm Vergebung zu finden«1151. Die Voraussetzung für einen solchen Umgang bildet aber »der Kredit, der an der Börse die Stelle des Glaubens vertritt. Wer diese unschätzbare Gnade besitzt und sich unter allen Verhältnissen zu bewahren weiß, der zählt zu den Auserwählten und genießt hohe Achtung und ein unbedingtes Vertrauen«1152. Negativ urteilt der Erzähler dagegen über einen neuen Zug in der Tätigkeit der Börse, die Spekulation, »in deren Gefolge ein zunehmender Luxus, eine maßlose Genußsucht, eine steigende Frivolität sich bemerkbar macht und die Gesellschaft ernstlich zu bedrohen scheint«1153. In dem Beitrag aus Berliner Leben entsteht somit ein vielfältiges Bild der Börse, deren Uneinheitlichkeit der Erzähler selbst in folgendem Fragment kontrastiv zu unterstreichen versucht: Hier wie überall bietet die Börse ein wunderbares Gemisch von widersprechenden Eigenschaften, von wahrer Größe und erbärmlicher Kleinheit, von Hochherzigkeit und 1148 1149 1150 1151 1152 1153
Ebd., S. 184f. Max Ring: Stadtgeschichten. Vierter Band: An der Börse…, S. 209f. Max Ring: Berliner Leben. Kulturstudien und Sittenbilder…, S. 182. Ebd. Ebd., S. 182f. Ebd., S. 184.
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Die Physiognomie einer Stadt. Raumerfahrung in der wachsenden Metropole
Knauserei, von gewöhnlichem Schacher und großartiger Thätigkeit, von Scharfsinn und Thorheit, von kluger Berechnung und thörichter Spielwut. So erscheint sie zugleich imposant und lächerlich, gewaltig und kleinlich, kühn und verzagt, allmächtig und erbärmlich, bald als Herrscherin der Welt, vor der sich Könige Staatsmänner beugen, bald als die Sklavin eines frechen Egoisten, eines gewöhnlichen Abenteurers, eines verzweifelten Spielers, dessen Erfolge sie so lange bewundert, bis eines Tages das von ihm errichtete Luftschloß zusammenbricht und Hunderte unter den Ruinen begräbt.1154
In Rings Prosawerken dominiert dagegen die pessimistische Sicht auf die Börse, dabei wiederholt der Autor viele der im Beitrag aus Berliner Leben vorgebrachten Argumente. Auch hier wird die Börse mit einem Tempel1155 oder einem Schlachtfeld1156 verglichen, gemein haben mehrere Texte auch die Hervorhebung der Toleranz1157, wenngleich einen ob der allgemein pessimistischen Darstellung das Gefühl beschleicht, dass das Wort in Anführungszeichen zu setzen wäre. Diese Vermutung wird vor allem in Götter und Götzen bestätigt, wo der Erzähler von der Toleranz »bis zu einem gewissen Punkte«1158 schreibt, ohne diesen Gedanken weiter auszuführen. Alles in allem wird die Börse in den Prosawerken zum Sinnbild des fortschreitenden Materialismus. Zu den wenigen Fragmenten, die über die Schilderung aus Berliner Leben hinausgehen, gehören die Aussagen Franz Wellers, des wohlhabenden Außenseiters aus dem Roman Götter und Götzen. In einem Gespräch mit dem ›modernen Abenteurer‹ Jacques Schröder erläutert Weller zunächst seine Vorstellung von der Aufgabe der Börse: (…) nach meiner Erfahrung hat die Börse einen andern und weit höhern Beruf, als die schwindelhafte Speculation zu unterstützen. Sie ist die große Vermittlerin des Weltverkehrs, der befruchtende Strom, der durch hundert Kanäle Wohlstand und Segen verbreitet, dem Handel die nöthigen Kapitalien zuführt und der Industrie den unentbehrlichen Impuls verleiht, der Brennpunkt der zerstreuten Strahlen, die sich hier sammeln, um desto kräftiger das Ganze zu beleben. Sie schafft neue Werthe, sie verbindet die entferntesten Länder und Völker, sie verknüpft die getrennten Interessen, überwindet Raum und Zeit, entfernt die Grenzen und wird dadurch zur besten Friedensstifterin, indem sie Cultur und Gesittung verbreitet und den Nationen ihren wahren Vortheil lehrt.1159
Gleichzeitig ist sich Weller dessen bewusst, dass sich die Wirklichkeit immer mehr von seinem Ideal entfernt. Auch Schröder verweist darauf, indem er meint, 1154 Ebd., S. 183. 1155 Vgl. Max Ring: Stadtgeschichten. Vierter Band: An der Börse…, S. 3; Max Ring: Götter und Götzen. Dritter Band…, S. 161. 1156 Vgl. Max Ring: Stadtgeschichten. Vierter Band: An der Börse…, S. 209f. 1157 Vgl. Max Ring: Stadtgeschichten. Vierter Band: An der Börse…, S. 16; Max Ring: Götter und Götzen. Dritter Band…, S. 160; Max Ring: Der Kleinstädter in Berlin. Zweiter Band…, S. 111. 1158 Max Ring: Götter und Götzen. Dritter Band…, S. 160. 1159 Ebd., S. 230.
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Das Theater
es gehe hauptsächlich darum, Geld zu verdienen. Daraufhin kritisiert Weller das Geld u. a. als »Dämon« und äußert sich folgendermaßen zum damaligen Zustand der Börse: Statt eines fruchtbringenden Stroms ist die Börse durch ihn zu einer stinkenden Kloake geworden, die den ganzen Unrath der Welt mit sich führt. Die Beherrscherin des Weltverkehrs hat sich wie eine Straßendirne in die Arme des gemeinen Schwindels geworfen. Das solide Geschäft hat zum größten Theil aufgehört und ist dem Spiel, der Wette gewichen.1160
Dieser überwiegend negative Blick auf die Börse charakterisiert aber nur die Prosawerke Rings. In Die deutsche Kaiserstadt Berlin… wiederholt der Erzähler zwar seine Kritik, aber auf eine abgeschwächte Weise, und fügt außerdem hinzu, dass sich »die neuere Generation der Börse (…) bei allen wohltätigen Sammlungen lebhaft betheiligt, Wissenschaft und Kunst befördert und durch monumentale Prachtbauten oder nutzbringende Einrichtungen nicht wenig zu Verschönerung und Bequemlichkeit Berlins beiträgt«1161. Mit ähnlichen Argumenten endet auch der Beitrag in Berliner Leben1162. Es ist letztlich eine Frage des Standpunktes: Als sozial interessierter und auch engagierter Prosaautor kritisiert Ring den schlechten Einfluss insbesondere der Spekulation auf die Gesellschaft, als ein um Unparteilichkeit bemühter Sachbuchautor sieht er trotz aller Kritik auch die positiven Seiten der Tätigkeit der Börse.
6.2
Das Theater
Man könnte annehmen, dass das Theater oder die Berliner Theater in Rings Texten als das ideelle Gegenpol zur Börse fungieren würden. Abgesehen davon, dass eine solche Darstellungsweise nur folgerichtig erschiene, spräche auch Rings Beziehung zum Theater dafür: Schließlich war er nicht nur Dramenautor, sondern vor allem jahrelang auch Theaterkritiker in Berlin.1163 Doch in seinen Prosawerken spiegeln sich diese biographischen Tatsachen kaum wider. Hauptsächlich dienen Theater- und Opern-, in erster Linie aber Operetten- sowie Ballettbesuche der Oberschicht zur Zerstreuung. Für diese Figuren gehören sie zum Lebensstil dazu, doch weder die Figuren selbst, noch die Erzähler der jeweiligen Texte kommentieren diese Besuche oder äußern sich über die Theater
1160 Ebd., S. 231. 1161 Max Ring: Die deutsche Kaiserstadt Berlin und ihre Umgebung. Reprint der Originalausgabe in 2 Bänden von 1883–1884. Zweiter Band, S. 85. 1162 Max Ring: Berliner Leben. Kulturstudien und Sittenbilder…, S. 192f. 1163 Vgl. Kapitel 1, S. 55.
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Die Physiognomie einer Stadt. Raumerfahrung in der wachsenden Metropole
im Allgemeinen. Einen Widerhall dieser Einstellung stellen folgende Worte des Ich-Erzählers aus Der Kleinstädter in Berlin dar: Wenn der berühmte Schiller, wie man sagt, das Theater für eine moralische Erziehungsund Bildungsanstalt für das Volk hält, so ist diese Meinung in unserer praktischen Zeit ein vollkommen veralterter und überwundener Standpunkt. Die Schaubühne hat jetzt eine ganz andere Aufgabe und dient hauptsächlich dazu, die Zeit zwischen dem Diner und Souper in angenehmer Weise todt zu schlagen. Das geschieht am besten durch französische Lustspiele, Ausstattungsstücke und vor Allem durch Possen, da bekanntlich nichts so sehr die Verdauung befördert als vieles Lachen.1164
Auch in Rings beiden Sachbüchern wird diesen Einrichtungen wenig Aufmerksamkeit geschenkt: In Berliner Leben widmet ihnen Ring keinen einzigen Beitrag, in Die deutsche Kaiserstadt Berlin… ist ein solcher zwar vorhanden, doch lässt sich darin keine synthetische Darstellung von Berlins Theaterwelt finden, geschweige denn eine Meinung des Autors darüber. Trotzdem findet sich unter Rings Prosawerken eine Erzählung, in der der Theaterbesuch für die Figur zu einem einzigartigen Erlebnis wird. Möglicherweise spielt dabei eine Rolle, dass diese Figur, Anna aus der Erzählung Auch ein Gründer, eine gewisse Naivität auszeichnet, was sie von den häufig blasierten Vertretern der Oberschicht unterscheidet. Das besuchte, aber nicht benannte Theater gehört laut des Erzählers »in der That zu den schönsten Denkmälern der modernen Architektur«1165. Die aus der Provinz stammende Anna weiß zunächst nicht, »was sie zuerst bewundern sollte«1166, denn das Theater ist ein imposantes Gebäude, bei dessen Beschreibung der Erzähler folgende Elemente hervorhebt: »die breiten Marmortreppen, den weiten Zuschauerraum, die doppelte Logenreihe mit den roth drappirten Wänden und der reich vergoldeten Brüstung, die himmelhohe Decke mit ihren prächtigen Fresken und dem riesigen Kronleuchter, der gleich einer strahlenden Sonne das ganze Haus mit blendendem Licht erhellte«1167. Erneut offenbart sich an dieser Schilderung Rings Stil, den Raum mit Hilfe einer Aufzählung einzufangen und zu charakterisieren. Den Fokus richtet er dabei auch auf die Details: die Form, Farbe, Verzierung. Bei der Beschreibung der Bühne bedient sich der Erzähler eines religiösen Vergleichs, wenngleich er dabei auf die Figur von Anna Bezug nimmt: »Und nun gar erst die Bühne, die hinter dem herabgelassenen Vorhang ihr geheimnisvoll wie das Allerheiligste eines Tempels erschien, zu beiden Seiten von schlanken Säulen eingefaßt und von den herr-
1164 1165 1166 1167
Max Ring: Der Kleinstädter in Berlin. Erster Band…, S. 148f. Max Ring: Neue Stadtgeschichten. Zweiter Band: Auch ein Gründer. Leipzig 1876, S. 71. Ebd. Ebd.
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Das Theater
lichsten Statuen und Büsten umgeben (…)«1168. Im Gegensatz zur Börse wird die Atmosphäre eines Tempels insbesondere während der Vorstellung aufrechterhalten, es herrscht »eine tiefe feierliche Stimme«. Durch die allgemeinreligiösen, nicht auf ein konkretes Glaubenssystem zurückzuführenden Anspielungen weist der Erzähler auf den besonderen Charakter der beiden Orte hin. Und obwohl er ihre Rolle unterschiedlich bewertet, die Börse – eher negativ, das Theater – weitgehend positiv, schlägt sich diese Meinung nicht auf die Art der religiösen Bezüge nieder. Dies könnte daran liegen, dass der Erzähler lediglich auf die äußeren Merkmale der Religion Bezug nimmt, wie die Architektur und Ausstattung der Tempel oder die allgemeinen Eigenschaften religiöser Rituale. Die Vergleiche haben also einen oberflächlichen Charakter, wenngleich man sie auch als den Versuch deuten kann, die beiden Orte auf diese Weise zu mythologisieren. In der Erzählung wird im Theater Goethes Egmont gespielt, der mit Beethovens Ouvertüre beginnt. Der Erzähler beschreibt die Musik als »erhaben, majestätisch und dann (…) tief ergreifend und rührend«1169. Anna ist von der Vorstellung überwältigt und glaubt »nie zuvor etwas Schöneres gehört«1170 zu haben. In der Beschreibung des Erzählers wird die junge Frau zu einer idealen Zuschauerin, die sich mit dem Stück vollkommen identifiziert: Was sie aber schon beim Lesen entzückt, das erfaßte sie nun hier in seiner Verkörperung mit ungeahnter, hinreißender Gewalt. Die persönliche Erscheinung, das gesprochene Wort, unterstützt von all den Hilfsmitteln der Bühne, von allem Zauber und Reiz der Kunst, ließ sie vergessen, daß sie im Theater sich befand und nur einem Schauspiel beiwohnte. Das waren keine bloßen Gebilde der dichterischen Phantasie, sondern wirkliche Menschen, die lebten, dachten und empfanden wie sie selbst, und an deren Geschick sie den innigsten Antheil nahm.1171
Der Erzähler beschreibt den Verlauf des Stückes von Akt zu Akt, Annas Begeisterung steigert sich noch weiter, am Ende verhält sie sich wie »eine Trunkene«1172. Der Erzähler bekundet ihr nun, nach dem Theaterbesuch, das Bewusstsein, dass »es eine höhere Wahrheit gab, als die gemeine alltägliche Wirklichkeit, eine ideale Welt, deren Hauch sie so eben verspürt hatte. Ein Funke von dem himmlischen Feuer des Genius war in ihre Seele gefallen und erhellte ihr Inneres mit seinem göttlichen Lichte«1173. Diese Beschreibung eines Theaterbesuchs bildet, wie bereits angemerkt, eine Ausnahme in Rings zeitgeschichtlichen Werken und auch wenn sie in Teilen sehr 1168 1169 1170 1171 1172 1173
Ebd. Ebd., S. 74. Ebd., S. 75. Ebd., S. 76. Ebd., S. 80. Ebd., S. 80f.
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Die Physiognomie einer Stadt. Raumerfahrung in der wachsenden Metropole
pathetisch daherkommt, legt sie doch von der Kraft des Theaters als eines Ortes der Kultur und Kunst Zeugnis ab. Darüber hinaus lässt sich die These aufstellen, dass Ring die Worte seiner Erzähler den Figuren anpasst: Für die im positiven Sinne naive Anna bedeutet der Theaterbesuch eine alles überwältigende Erfahrung, während die gelangweilt-überheblichen Protagonisten aus der Oberschicht im Theater lediglich kurzweilige Zerstreuung finden. Als ein Ort, an dem die Menschen mit ihrer herkömmlichen Zeit brechen können,1174 erweisen sie sich dazu als Heterotopien.
6.3
Die bürgerliche Villa
Als aufmerksamem Beobachter der städtischen Entwicklung konnten Max Ring auch die Veränderungen im Bereich des Wohnungs- bzw. Häuserbaus nicht entgangen sein. Wie bereits angeführt beschrieb er in seinen zeitgeschichtlichen Werken u. a. die Entstehung neuer oder den Wandel bereits bestehender Stadtteile, wenngleich er sich bei seiner Schilderung nicht auf die architektonischen Aspekte dieser Entwicklung konzentrierte, sondern allen voran die in diesen Vierteln lebenden oder arbeitenden Menschen beschrieb. Mehr Aufmerksamkeit schenkte er dagegen den Domizilen der jeweiligen Gesellschaftsschichten, in erster Linie denen der finanziellen Elite. Der Grund dafür ist möglicherweise in der Feststellung des Erzählers von Götter und Götzen zu suchen, dass »unsere Wohnungen mehr oder minder das Gepräge ihrer Besitzer tragen und inniger mit uns verwachsen sind, als man glauben möchte«1175. Die Darstellung der Häuser der neuen Oberschicht sieht der Erzähler demnach auch als Möglichkeit, zugleich auf den Charakter der Vertreter dieser Schicht schließen zu lassen. Eine solche Strategie wird von Ring nicht ausschließlich in diesem Fall eingesetzt, unter anderem gebraucht er sie auch während der Beschreibung eines oberschlesischen Schlosses. Diese Darstellungsweise kann man beispielweise an der Schilderung des Hauses von Kommerzienrat Rosen aus der Erzählung Auch ein Gründer beobachten. Bereits vor der eigentlichen Beschreibung kritisiert der Erzähler das Gebäude und überträgt seine Kritik auf die Schicht, zu der Rosen gehört – die Geldaristokratie: Die prachtvolle Besitzung des reichen Commerzienraths trug durchaus den Stempel der Neuheit und des modernsten Geschmacks, den man mit dem Namen des »ParvenuStyls« bezeichnen kann; jene eigenthümliche Mischung von äußerer Pracht und innerer 1174 Vgl. Michael C. Frank: Heterotopie. In: Ansgar Nünning (Hrsg.): Metzler Lexikon Literaturund Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Stuttgart, Weimar 2013, S. 303. 1175 Max Ring: Götter und Götzen. Vierter Band…, S. 123.
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Die bürgerliche Villa
Leere, von Ostentation und Sparsamkeit, von Geiz und Verschwendung, wodurch unsere heutige Geldaristokratie so sehr charakterisirt wird.1176
In das Haus gelangt der Besucher, Assessor Bolten, durch ein »vergoldete[s] Gitter«1177 und einen »Vorgarten, in dessen Mitte sich ein Springbrunnen von Zink präsentirte, rings von einer Gesellschaft massiver Najaden und Tritonen umgeben (…)«1178. Immer wieder verweist der Erzähler auf den aus seiner Sicht übertriebenen Prunk des Hauses. So ist die offene Veranda »mit Säulen von imitirtem Marmor und Fresken geschmückt, die weniger durch ihren künstlerischen Werth, als durch den blendenden Goldgrund und durch glänzende Farben sich auszeichneten«1179. Bei der Schilderung der Innenausstattung betont der Erzähler dagegen, dass die Gegenstände zwar luxuriös sind, aber nicht zueinander passen und keine Funktion erfüllen, was er mit aller Genauigkeit schildert: Da sah man gothisch geschnitzte Lehnstühle, auf denen man nur mit steifem Rücken sitzen konnte, Renaissance-Schränke, die fortwährend einer Reparatur bedurften, japanische Lackkasten, die zu Nichts zu gebrauchen waren, indische Elfenbeinarbeiten, altdeutsche Holzschnitzereien, silberne Pokale, venetianische Gläser, römische und florentiner Mosaiken, eine wunderliche Sammlung von Raritäten und Nippsachen aus allen Ländern und Zeitaltern, mehr für den Schein und Staat als für das Bedürfnis und innere Befriedigung berechnet.1180
Im Weiteren nimmt der Detailreichtum der Schilderung noch weiter zu, wodurch der Erzähler seine These vom allgemeinen stilistischen Durcheinander untermauern, gleichzeitig aber auch seine eigenen Kenntnisse unter Beweis stellen kann: Neben der herrlichen Venus von Milo stand eine heilige Genofeva, der Apollo vom Belvedere bei einem unförmlichen mexikanischen Götzenbilde; eine pompejanische Vase leistete einer Tasse von altem Meißener Porzellan Gesellschaft, eine Schäferin à la Pompadour aus Biscuitmasse im Corset und geblümten Reifrock liebäugelte mit der Statue eines bronzenen Antinous und an den Wänden hing die büßende Magdalena von Correggio an der Seite eines modernen, frivolen Bildes.1181
Diese kontrastreiche Unordnung überträgt der Erzähler als Merkmal nicht nur auf die Figur des Hausherrn, sondern auch auf die Zusammensetzung der anwesenden Gäste, worauf im Kapitel »Trügerische Masken, Gleisnerei und die Grenzen der gekannten Welt«. Preußische Gesellschaft im 19. Jahrhundert ein1176 1177 1178 1179 1180 1181
Max Ring: Neue Stadtgeschichten. Zweiter Band: Auch ein Gründer…, S. 13. Ebd. Ebd. Ebd., S. 13f. Ebd., S. 14. Ebd., S. 14f.
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Die Physiognomie einer Stadt. Raumerfahrung in der wachsenden Metropole
gegangen wurde. Dass sich Ring häufiger ähnlicher Stilmittel bediente, zeigt ein Fragment des Romans Die Lügner, in dem der Erzähler seine Eindrücke von dem Haus ebenfalls auf die darin versammelte Gesellschaft projiziert.1182 Doch im Gegensatz zur Erzählung enthält sich der Erzähler hier weitgehend wertender Kommentare und beschreibt die Villa mit einem leicht ironischen Ton folgendermaßen: »Das Haus selbst, die Schöpfung eines phantasievollen Architekten, vereinte alle bekannten und unbekannten Bauarten. Demgemäß waren auch die Möbel und sonstigen Dekorationen den verschiedensten Zeitaltern und Ländern entlehnt«1183. Das Innere des Hauses wird ähnlich detailreich wie in der Erzählung beschrieben, obgleich der Erzähler seine Beobachtungen wohlwollender schildert: Den eigentlichen Glanzpunkt der Villa bildete der sogenannte Festsaal, im Frührenaissancestyl mit wahrhafter Verschwendung gebaut; die reich vergoldete Stuckdecke, von weißen Karnatiden gestützt, die Wände mit kostbarem, röthlich schimmerndem Marmor bekleidet und dazwischen die zierlichsten Arabeskenkränze, von schwebenden Kindern und tanzenden Genien getragen. Riesige Kronen und Kandelaber von Bergkrystall funkelten wie Brillanten und spiegelten das Licht der brennenden Kerzen in allen Farben des Regenbogens gebrochen wieder; ein feenhafter Anblick, ein zauberhaftes Schauspiel für das geblendete Auge (…).1184
Die Schönheit der Villa wird von der an den Festsaal angrenzenden Blumenhalle vervollständigt, in der »die schönsten exotischen Gewächse«1185 zu bewundern sind, die der Erzähler genau aufzählt: »(…) schlanke Palmen, (…) phantastische Orchideen (…); rankende Schlingpflanzen mit goldenen und purpurrothen Dolden (…); Kamelien und Azaleen (…); grüne Lorbeer- und Myrtenbäume (…)«1186. In besonderem Glanz erstrahlen die Häuser der Oberschicht, wenn darin Feste veranstaltet werden. Ein solches findet im Haus des Bankiers Eduard Werth aus der Erzählung An der Börse statt, es versammelt sich die Elite Berlins, die Gäste stammen sowohl aus dem Adel als auch dem Bürgertum. Der Erzähler macht dabei folgende Beobachtungen: Der Hausflur und die Treppe waren in einen Zauberhain verwandelt. Der Fuß der Gäste schritt auf weichen Teppichen, zwischen blühenden Citronen- und Orangenbäumen. Hohe Oleander und Rhododendron standen in dem reizenden Vorzimmer, das durch die Kunst des berühmtesten Tapezierers der Residenz in ein türkisches Zelt umgeschaffen war. An den Wänden zogen sich schwellende Divans hin, von der bunten Decke verbreitete die Rubin-Ampel ein rosiges Dämmerlicht. (…) Neben diesem bezau1182 1183 1184 1185 1186
Vgl. Max Ring: Die Lügner. Roman aus der modernen Gesellschaft. Erster Band…, S. 105. Ebd., S. 103. Ebd., S. 103f. Ebd., S. 104. Ebd.
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Die bürgerliche Villa
bernden Kabinette befand sich das Wisthzimmer. Die Spieltische (…) waren bereits arrangirt. (…) Auch hier athmete die ganze Einrichtung eine gediegene Wohlhabenheit (…). Natürlich war der Tanzsaal der Höhepunkt des feinen Geschmackes und der Eleganz. (…) Ein wahrhaft fürstlicher Luxus herrschte in den imponirenden Räumen. Kostbare Trumeaux strahlten das Bild der Gesellschaft von allen Seiten wieder, eine Unzahl von Gasflammen verbreitete eine glänzende Tageshelle. Die Decken schimmerten von Stuck und Gold, und der getäfelte Fußboden war ein Meisterstück der zierlichen Holzmosaik. (…) Alles war darauf berechnet, zu blenden und zu überraschen.1187
Auch in dieser Beschreibung verzichtet der Autor auf die zuvor dargelegte Strategie, die Architektur der Häuser bzw. die Innenausstattung auf den Charakter der Figuren zu übertragen. Doch selbst ohne diese Stilmittel gelingt es ihm, den ungeheuren Reichtum der neuen Elite darzustellen, die gerade dabei ist, die jahrhundertelange Vorherrschaft des Adels für immer zu beenden. Doch Luxus und Pracht sind in Rings Werken nicht allein der Oberschicht vorbehalten. Beispielhaft dafür steht die Wohnung des Schneidermeisters Hasenfritz aus der Erzählung Die Erben: Das Zimmer (…) war, wenn auch nicht mit dem besten Geschmack, aber wenigstens mit dem größten Luxus eingerichtet, ein wahrer Parvenü-Luxus, schreiende Tapeten, mittelmäßige Kupferstiche und schlechte Oelbilder in prächtigen Rahmen, vergoldete Spiegel und theure Möbel, die aber nicht zusammen passen wollten und aussahen, als wären sie auf dem Trödelmarkt oder auf einer Auktion erstanden.1188
Die im letzten Satz geäußerte Mutmaßung bestätigt sich auch, denn mehrere Möbel hat »der Meister von säumigen Schuldnern für einen Spottpreis als Abschlagszahlung angenommen«1189, was der Erzähler voller Mitgefühl kommentiert: »Hätten die verschiedenen Lehnstühle, Sophas und Oelgemälde Sprache bekommen, sie hätten wunderliche Geschichten von selbstverschuldetem Elend, von wilder Verschwendung und zu später Reue, von taumelnden Orgien und verzweifelten Entschlüssen erzählen können (…)«1190. Neben den Veränderungen innerhalb der Gesellschaft, dem nun möglichen sozialen Aufstieg oder drohenden Abstieg, beobachtet Ring auch den damit einhergehenden innerstädtischen Wandel, was an zwei Fragmenten des Romans Götter und Götzen deutlich wird. Im ersten Band besucht der angehende Maler Bernhard Schröder das Haus seines Lehrers, Professor Blechheim. Über ein »halb verrostetes Thor« und einen »vernachlässigten Garten«1191 gelangt er zur Villa, bei
1187 1188 1189 1190 1191
Max Ring: Stadtgeschichten. Vierter Band: An der Börse…, S. 166ff. Max Ring: Neue Stadtgeschichten. III: Die Erben…, S. 59. Ebd. Ebd., S. 60. Max Ring: Götter und Götzen. Erster Band…, S. 57.
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Die Physiognomie einer Stadt. Raumerfahrung in der wachsenden Metropole
deren Beschreibung der Erzähler erneut dazu neigt, die Architektur und Ausstattung auf den Charakter des Besitzers zu übertragen: Das Haus selbst hatte, was man bei unsern modernen Wohnungen so selten findet, einen bestimmten Charakter und schien gleichsam die Eigenthümlichkeiten seines Besitzers widerzuspiegeln. Es war im italienischen Villenstil gebaut und mit einer offenen Veranda versehen, wogegen die Fenster der obern Etage durch grüne Jalousien so fest geschlossen waren, daß kaum ein Sonnenstrahl hineindringen konnte (…). In dem untern Stockwerk befand sich ein mächtiger, wüst aussehender Saal, der durch einen von der Decke niederfallenden Vorhang von braunem Wollenstoff in zwei ungleiche Theile geschieden wurde. (…) Es herrschte hier eine fast auffallende Einfachheit, keine Spur von jenem koketten Luxus, womit so manche Künstler nach dem Vorgange der Franzosen sich zu umgeben lieben.1192
Das Haus und vor allem der ihn umgebende Garten lösen bei Bernhard wehmütige Gefühle aus, der Erzähler schreibt vom »poetischen Reiz dieses improvisirten Edens«1193, von einer »Poesie der Wehmuth«1194 darin. Doch nach einigen Jahren, nachdem der Professor erblindet und an den Bodensee gezogen ist, wird seine Villa »für ein Spottgeld erstanden«1195, dann weiterverkauft und abgerissen, an ihrer Stelle entsteht »ein wahrhafter Prachtbau, ein glänzender Palast im Stil der neuern Renaissance«1196, dessen Beschreibung im Roman sechs Seiten einnimmt und somit zu den ausführlichsten Schilderungen dieser Art in allen zeitgeschichtlichen Werken Rings gehört. Das neue Gebäude verdient durchaus die Bezeichnung Palast: »Das verrostete, eiserne Gitterthor war durch ein vergoldetes Portal ersetzt. Eine Flucht von hohen Marmorsäulen führte über die breite, mit reichen Teppichen belegte Treppe zu der prächtigen Vorhalle, die mit bunten Fresken und Malereien mehr überladen als geschmückt erschien.«1197 Bereits am Anfang dieser langen Beschreibung wird deutlich, dass der Erzähler keinen Gefallen an dem neuen Gebäude findet. Im Laufe der Schilderung streut er immer wieder Sätze ein, die auf seine Einstellung schließen lassen, wie im folgenden Fragment: Hohe Treppen von massivem Palissanderholz führten in eine Reihe von Prachtgemächern, die mit größerm Luxus als Geschmack ausgestattet waren. In bunter Mischung waren hier alle Zeitalter, die Moden und Einrichtungen aller Länder und Völker vertreten. Bald erblickte man einen großen Saal im maurischen Stil, mit goldenem Stuck und grellen Farben, eine nicht eben allzu glückliche Nachahmung der Alhambra, aber 1192 1193 1194 1195 1196 1197
Ebd., S. 61. Ebd., S. 60. Ebd., S. 58. Max Ring: Götter und Götzen. Vierter Band…, S. 117. Ebd. Ebd., S. 117f.
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Das Hinterhaus
trotzdem blendend und imposant, bald ein gothisches Zimmer, mit braunen Ledertapeten, gemalten Fenstern, hohen aber äußerst unbequemen Lehnstühlen, sogenannten Rückenbrechern, und einem kolossalen Buffet, auf dem silberne Becher, Schüsseln und Vasen fast aufdringlich zur Schau gestellt wurden.1198
Gegen Ende der Schilderung nimmt die Kritik immer mehr Platz ein, der Erzähler widmet dieser nun ganze Passagen und so erfährt der Leser immer mehr über die Vorstellungen des Erzählers: Trotz aller Eleganz machte sich eine gewisse Geschmacklosigkeit, ein Haschen nach Effect, eine gemeine Prunksucht, vor Allem aber der Mangel an harmonischer Uebereinstimmung bemerkbar. Alles, was der Tapezier und Maler leisten konnte, war geschehen, aber man vermißte jenen wohltuenden Geist der höhern Ordnung, worin sich die wahre Bildung und das ästhetische Verständniß kundgibt.1199
Dieses wie auch mehrere weitere Fragmente dienen dem Erzähler dazu, auf den Charakter des Besitzers dieses Anwesens anzuspielen. Es handelt sich dabei um August Fleckel, der gerade als »eine Art von Universalgenie«1200 allgemein bewundert wird. Der Autor wendet also auch hier die Strategie ein, durch die Architektur und Innenausstattung von Gebäuden auf den Charakter ihrer Besitzer zu schließen. Gleichzeitig bieten vor allem diese beiden Passagen, über die Villa Blechheims und den Palast Fleckels, aufschlussreiche Einblicke nicht nur in einzelne Berliner Häuser dieser Zeit, sondern auch in Prozesse, die Berlin zu einer der imposantesten europäischen Metropolen machten. Rings immer wieder angewandte Strategie der Übertragung von Merkmalen der Gebäude auf seine Figuren mag dabei künstlich erscheinen, doch in der Konsequenz lassen sich diese Passagen auch übersehen, wodurch ein vielleicht einseitig kritisches, aber dadurch auch nicht falsches Bild der Oberschichtshäuser der Gründerzeit entsteht. Im Hinblick auf das Heterotopiemodell erscheinen die Villen als weitgehend geschlossene Orte. Allein ihr Konzept, das Streben nach Pracht, die Anlehnungen an den unbeliebten und doch in Vielem nachgeahmten Adel, grenzen sie vom städtischen Raum ab, was sich auch auf das Wesen ihrer Bewohner überträgt.
6.4
Das Hinterhaus
Während man bei der Lektüre von Rings zeitgeschichtlichen Werken immer wieder auf Beschreibungen der häufig geschmacklos entworfenen und eingerichteten, aber trotzdem beachtlichen Häuser der Oberschicht stößt, wird den 1198 Ebd., S. 118. 1199 Ebd., S. 120. 1200 Ebd., S. 123.
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Die Physiognomie einer Stadt. Raumerfahrung in der wachsenden Metropole
Behausungen der Unterschicht in diesen Texten viel weniger Platz eingeräumt. Trotz der Spärlichkeit dieser Darstellung zeigt der Autor verschiedene Wohnmöglichkeiten für die minderbemittelte Mehrheit der Bevölkerung, zu denen u. a. Kellerwohnungen gehören, die sich zum Teil in neuen, noch nicht ganz bezugsfertigen Mietshäusern befinden, wie im Falle der Wohnung, die Familie Neumann zu Beginn der Handlung von Christkind-Agnes bezieht. Der Erzähler offenbart in dieser Hinsicht sogar eine differenzierte Sichtweise, denn selbst »unter den Kellerwohnungen giebt es noch einen Unterschied, von dem sich unsere Philosophie nichts träumen läßt, elegante Salons und wüste Höhlen, in denen das Elend und Verbrechen hausen«1201. Zum sinnbildlichen Wohngebäude der unteren Schichten lässt sich anhand von Rings Texten das Hinterhaus erklären, auch wenn es in lediglich zwei Werken erwähnt und kurz beschrieben wird. Es handelte sich hierbei um eine ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Berlin und auch anderen Großstädten sehr populäre Wohnmöglichkeit, hinter der die Vermeidung einer sozialen Trennung in der Stadt als Grundidee stand, wie aus dem folgenden Fragment ersichtlich wird: Der Bautyp des Berliner Mietshauses sorgte in der wilhelminischen Epoche für eine klare Trennung der Bewohner nach sozialen Klassen innerhalb eines Gebäudes. Hinter der prunkvoll anmutenden Fassade des Vorderhauses mit seinen meist wohlhabenden Bewohnern der oberen und mittleren Schicht versteckten sich oft mehrere Hinterhäuser, in denen die Arbeiterklasse in kleinen 1- bis 2-Zimmer-Wohnungen Unterkunft fand. Diese Wohnkonstellation beschrieb James Hobrecht, unter dessen Leitung seinerzeit der Bebauungsplan als Grundlage dieser Mietshausquartiere entstand, als äußerst vorteilhafte Mischung, von der beide Seiten durchaus profitieren können und die der Entstehung nach Klassen getrennter Viertel, also einer stark ausgeprägten sozialen Segregation auf gesamtstädtischer Ebene, entgegenwirken sollte.1202
Die Beschreibung der Hinterhäuser beginnt in beiden Texten, in denen sie zur Sprache kommen, Aus dem Tagebuche eines Berliner Arztes sowie der Erzählung Der Waisenknabe, mit einer allgemeinen Bemerkung über das Stadtbild, gefolgt von einer kurzen Schilderung des Vorderhauses: Wer durch die Straßen einer großen Stadt geht und dieselben nur oberflächlich ansieht, der bekommt freilich nur einen unvollkommenen Begriff von ihrer Physiognomie, indem er nur die vordere Partie und nicht die Kehrseite der Medaille kennen lernt. Da giebt es prachtvolle Häuser, welche man schon Paläste nennen kann; großartige Gebäude mit Spiegelfenstern, mächtigen Portalen und geschmackvollen Balkons; sie bilden gleichsam den Vorhang, hinter dem sich wieder eine ganz andere Stadt mit einer neuen, mehr oder minder unbekannten Bevölkerung erhebt. Fast jedes dieser glän1201 Max Ring: Stadtgeschichten. Erster Band: Christkind-Agnes…, S. 97. 1202 Lars Wagenknecht: In zweiter Reihe – Bauliche und soziale Struktur von Vorder- und Hinterhäusern am Beispiel von Berlin-Wedding. Saarbrücken 2008, S. 1.
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Das Hinterhaus
zenden Gebäude hat nämlich einen Stiefbruder, das sogenannte Hinterhaus, einen Proletarier von dürftigem, herunter gekommenen Aussehn und trauriger Gestalt.1203
Somit wird klar, dass der Erzähler das Hinterhaus nicht zufällig oder nebenbei thematisiert, sondern sich gezielt diesem Ort widmet. An dieser Beschreibung offenbart sich auch, dass der Autor bereits in seinen frühen Werken das Ziel verfolgt, der im Vorwort zu Berliner Leben dargelegten These von der Unkenntnis der Heimat literarisch entgegenzutreten, indem er die »ganz andere Stadt« mit ihrer »mehr oder minder unbekannten Bevölkerung« charakterisiert. Andererseits lässt sich behaupten, dass er durch seine Annahme von der Existenz dieser anderen Stadt die gesellschaftliche Trennung nur weiter festigt. Diese Vermutung scheint sich zu bestätigen, sobald der Erzähler die Hinterhäuser als einen Ort beschreibt, an dem »häufig die Armuth, das Elend, die Prostitution und zuweilen das Verbrechen«1204 vorkommen, sowie »die partie honteuse«1205, den beschämenden Teil der Stadt. Doch der Erzähler belässt es nicht bei diesen allgemeinen Bemerkungen, sondern charakterisiert die Hinterhäuser und ihre Einwohner in einigen längeren Passagen, aus denen sich wiederum ein nuancierteres Bild dieses Milieus ergibt. Bei der Aufzählung der häufigsten Einwohnertypen wird so beispielsweise deutlich, dass sie zwar überwiegend aber nicht ausschließlich den unteren Gesellschaftsschichten zuzurechnen sind: Die Bevölkerung (…) derselben gehört zum großen Theil den arbeitenden Klassen an; hier lebt der fleißige Handwerker, der trotz aller Anstrengung nicht so viel verdient, um seine überaus zahlreiche Familie zu ernähren, die Wäscherin, welche durch die fortwährende Berührung mit bald heißem und bald kaltem Wasser an der Gicht leidet und kaum mehr einen Finger rühren kann, der heruntergekommene Musiker, der Privatlehrer, der am Hungertuche nagt; die arme Wittwe mit ihrer kleinen Pension, oder einer monatlichen Unterstützung von zwei Thalern aus der Armenkasse, der Abenteurer, der entlassene Bediente, der bestrafte Verbrecher, welcher unter polizeilicher Aufsicht steht (…).1206
Und auch wenn der Erzähler seine Zusammenstellung mit der Bemerkung beendet, dass sich aus dieser Gruppe »das Laster und die Gefängnisse zu rekrutiren pflegen«1207, offenbart sich in seiner detailreichen Beschreibung vor allem eine beobachterische Sorgfalt, gepaart mit einem mitfühlenden Blick, die insgesamt jeder Verallgemeinerung trotzen. In Aus dem Tagebuche eines Berliner Arztes stellt der Ich-Erzähler fest, dass die Hinterhäuser »eine unbekannte Region [sind], in die nur der Polizeibeamte, der 1203 1204 1205 1206 1207
Max Ring: Neue Stadtgeschichten. II: Der Waisenknabe…, S. 1. Ebd. Ebd., S. 2. Ebd. Ebd.
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Die Physiognomie einer Stadt. Raumerfahrung in der wachsenden Metropole
Armenvorsteher, der Executor, der Arzt und der Todtengräber zuweilen einen Blick«1208 werfen. Aus Sicht des Erzählers ist dies eine objektive Bemerkung, die dem heutigen Leser andererseits das Ausmaß der damaligen sozialen Trennung offenbart, umso mehr, als die ›beiden Welten‹ häufig nur wenige Meter voneinander entfernt existieren. Auf diese Feststellung folgt eine Schilderung der Hinterhäuser selbst, wobei der Ich-Erzähler darauf hinweist, dass sie auf seinen persönlichen Erfahrungen als »angestellten Armenarztes«1209 basiert: Meist liegen die Hinterhäuser am Ende eines langen, schmalen Hofes, der mit allerlei Kehricht, Gerümpel, Wasserkarren und ähnlichen Gegenständen angefüllt ist. Fast immer findet man die Thüren von Kindern, Hunden und Katzen besetzt. Eine schmutzige Treppe führt unmittelbar zu den kleinen Wohnungen. Die enge Küche ist auf der Hausflur angebracht, aber nur kurze Zeit brennt auf dem rohen Herd das gastliche Feuer während des Tages. Viel Holz wird nicht verbraucht.1210
Bei der Beschreibung der Wohnungen, die, wie erwähnt aus einem oder zwei Zimmern bestanden, zeigt sich ein ähnliches Bild der Armut und Not. Vergleicht man diese mit den von Luxus oder sogar Prunk geprägten Häusern der Oberschicht werden die in der damaligen Gesellschaft herrschenden sozialen Unterschiede erst richtig offenbar: Die Stuben sind niedrig, die Einrichtung beschränkt sich auf das Nöthigste. In der Mitte steht der unpolirte Tisch, an der Wand eine Anzahl größerer und kleinerer Bettstellen. Sopha und Schränke gelten als unerhörter Luxus. Trotzdem ist jeder Winkel ausgefüllt und es gebricht häufig an dem nöthigen Raum, da die Armen meist mit vielen Kindern gesegnet sind. Es scheint oft ein Räthsel, wie all die Personen neben einander wohnen und in der kleinen Stube zusammen leben. Man richtet sich eben ein, so gut man kann, und schläft im Nothfall auf der bloßen Diele, mit einer leichten Decke vor der Kälte geschützt.1211
Ferner versucht der Erzähler das Bild einer typischen Familie aus den Hinterhäusern zu zeichnen, was er am Ende der Passage auch unterstreicht. Entgegen der an manchen Stellen kommunizierten Meinung entsteht dabei eine Darstellung von Armut und Not, aber nicht Pathologie oder Verbrechen, was Ring erneut als einen sozialkritischen Autor profilieren lässt, der den Grund für die Vorgehensweise seiner Figuren zuallererst in ihren Lebensverhältnissen suchte. Die traditionelle Familienstruktur erscheint in dieser Beschreibung eher zweitrangig, zumal diese vom Erzähler als selbstverständlich wahrgenommen und zu keinem Zeitpunkt weiter kommentiert wird: 1208 Max Ring: Ausgewählte Romane und Novellen. Aus dem Tagebuche eines Berliner Arztes. Zweiter Band…, S. 94. 1209 Ebd. 1210 Ebd. 1211 Ebd.
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Das Hinterhaus
Der Mann sitzt am Fenster bei seiner Arbeit; die Mutter steht in der Küche, wäscht und kocht, die Töchter nähen vor der Thüre, auf der Hausflur, oder gehen schon des Morgens vor Tagesanbruch in die Fabriken, die älteren Knaben sind in der Schule, oder treiben sich auf der Straße herum, wo sie Schwefelhölzer oder Stecknadeln feil bieten, die jüngeren Kinder liegen in den Wiegen, wo sie entweder schlafen oder schreien. Dieses Bild bietet so ziemlich jedes Hinterhaus mehr oder minder dar.1212
Während die bisherigen Schilderungen zum Gesamtbild kärglicher und von Armut geprägter, letzten Endes aber, je nach Bewohner, ordentlicher und trotz allem akzeptabler Behausungen beitrugen, beschreibt der Erzähler in einem kurzen Fragment die wichtigsten Beschwerlichkeiten, mit denen Hinterhausbewohner zu kämpfen hatten: Vom Keller bis zum Dach hinauf wimmelt es von Menschen wie in einem vollgepfropften Bienenstock, nur mit dem Unterschied, daß die Zellen nicht so sauber und zierlich sind, wie die der Bienen. Die Luft ist meist verdorben, mit mephitischen Ausdünstungen geschwängert, die aus den schmutzigen Rinnsteinen und Düngergruben aufsteigen; die Wände feucht und kalt, die Fenster klein, die Scheiben erblindet, so daß die Sonnenstrahlen nur mühsam durchdringen.1213
In Der Waisenknabe wird dieses Bild der Not um eine weitere Facette ergänzt, feuchte Keller, »in denen das Wasser oft Monate lang stehen bleibt«1214. Erst mit der Aufzählung dieser Lebensbedingungen entfaltet das Bild der Berliner Hinterhäuser seinen wahren Schrecken, vor allem, wenn man dabei bedenkt, dass diese Beschreibung nicht auf die Wohnverhältnisse eines kleinen Teils der damaligen Gesellschaft zutrifft, sondern deren Mehrheit. Die beiden angeführten Bücher sind in den 1850er Jahren erschienen und da sich Ring nicht weiter mit dem Thema beschäftigte, lässt sich anhand seiner späteren Werke leider nicht mehr nachvollziehen, welche Veränderungen bezüglich der Hinterhäuser in den weiteren Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts eingetreten sind. Aus heterotopischer Sicht stellen die Hinterhäuser vorwiegend offene Räume dar. Auch wenn sie einen Einfluss auf das Wesen ihrer Bewohner ausüben, erweisen sie sich gleichzeitig als durchlässig, ihre Bewohner wollen und können sie auch verlassen.
1212 Ebd., S. 94f. 1213 Ebd., S. 95. 1214 Max Ring: Neue Stadtgeschichten. II: Der Waisenknabe…, S. 2.
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Die Physiognomie einer Stadt. Raumerfahrung in der wachsenden Metropole
Der Hof
Einen Ort, der nicht nur räumlich eng mit den Hinterhäusern verbunden ist, stellt der Hof dar, der das Vorderhaus mit dem Hinterhaus verbindet. In Der Waisenknabe stellt Ring aber eindeutig fest, dass diese Verbindung zwar räumlich vorhanden, gesellschaftlich gesehen aber kaum eine Rolle spielt: »Die Gränzscheide zwischen den beiden getrennten Gebieten ist der gemeinschaftliche Hof, welcher allerdings nur selten und in gewissen Ausnahmefällen von der vorderen Gesellschaft betreten wird«1215. Zwar bleibt dieses Prinzip in Rings zeitgeschichtlichen Texten unangetastet, weshalb Begegnungen der Bewohner des Vorder- und Hinterhauses nicht stattfinden, doch erwähnt Ring den Hof mehrmals. In der Erzählung Die Chambregarnisten beschreibt der Erzähler auf mehreren Seiten die Eindrücke der Hauptfigur, Gottlieb Hühnerbein, bei der Beobachtung des Geschehens am frühen Morgen auf dem Hof. Die Schilderung erscheint insofern aufschlussreich, als hier ein Vertreter des Vorderhauses seine Aufmerksamkeit auf den gemeinsamen, vor allem aber von den Bewohnern des Hinterhauses benutzten Hof richtet. Im Gegensatz zur Darstellung des Hinterhauses ist es eine Beschreibung, in der nicht versucht wird, auf den Charakter der Menschen oder ihre Eigenschaften zu schließen. Dafür besticht sie einmal mehr mit Detailreichtum. Zunächst sieht Gottlieb zwei Dienstmädchen Wasser holen kommen, die eine agiert dabei »lässig und gähnend«1216, die andere setzt »den Pumpenschwengel (…) mit einem raschen Schwung in Bewegung«1217. Dann gesellt sich »der Bursche des Lieutenants«1218 zu ihnen, er trägt »eine Kaffeemaschine in der Hand, um dieselbe zu reinigen«1219. Nun erscheint der Milchmann und »die arme Schuhmachers Frau aus dem Hinterhause«1220 kommt »angehinkt, denn sie war lahm auf dem einen Bein«1221. Der Diener des Leutnants kommt wieder, diesmal mit einem Pferd, schließlich zeigt sich der Offizier, steigt auf sein Pferd und fährt davon. Wie schon die Schilderung einer Omnibusfahrt wirkt auch diese Beschreibung durch ihren Detailreichtum teilweise wie die Vorwegnahme des Sekundenstils. Mit dem Fortschreiten des Tages wird es auf dem Hof wie im Haus immer lebendiger: Thüren wurden auf und zu geschlagen, Klingeln läuteten, Stimmen riefen. Den meisten Spektakel aber machte der Stiefelputzer mit seinem Klopfstock. Der fleißige Mann hieb 1215 1216 1217 1218 1219 1220 1221
Ebd., S. 3. Max Ring: Stadtgeschichten. Zweiter Band: Die Chambregarnisten…, S. 33. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 34. Ebd.
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Der Hof
unbarmherzig auf die aufgehängten Kleidungsstücke und dazu sang er mit lauter Stimme ein bekanntes Lied. Manchmal schien es als ob er mit ganz besonderer Wuth auf einen Leibrock losdrosch; vielleicht dachte oder wünschte er dabei, daß sein Besitzer darin stecken möge. Es hätt’ ihm sicher nichts geschadet.1222
Mit diesem Bild endet die Darstellung, bei der der Hof wie eine Theaterbühne erscheint, zumal das Geschehen vom Fenster aus beobachtet und auch aus dieser Perspektiver beschrieben wird. Es ist eine erfrischend beiläufige und in dieser Länge seltene Schilderung des großstädtischen Alltags bei Ring. In einer anderen Funktion wird der Hof in der Erzählung Christkind-Agnes eingesetzt. Die Hauptfigur Agnes Neumann trifft sich hier mit dem Sohn ihrer Arbeitgeber und ihrem späteren Ehemann Karl Hintze zum »Stelldichein«1223. Der Hof wird als »lang und schmal, mit Gerümpel, alten Fässern und Kisten angefüllt«1224, beschrieben. Das Geschehen wird aus Agnes’ Perspektive geschildert und da sie verliebt ist, gebraucht der Erzähler Vergleiche zu Romeo und Julia, was in Verbindung mit dem Handlungsraum, dem tristen Hof, überraschende Effekte hervorruft: Es wehte eine kühle scharfe Novemberluft, und Karl mußte sich die Hände reiben, damit sie ihm vor Frost nicht erstarrten. Kein goldener Balkon zierte das Haus, welches mit dem Pallaste Kapulets durchaus keine Aehnlichkeit darbot. Statt des rauschenden Springbrunnens stand in dem Winkel eine alte Plumpe, aus der Agnes ihren täglichen Wasserbedarf für das Haus entnahm. Ein abgestorbener Fliederstock mit dürren Aesten sollte vermuthlich die blühenden Orangenbäume ersetzen, doch weder Nachtigall noch Lerche sang auf ihm. Trotz alledem dünkte ihnen kein Ort auf der Welt so schön und anmuthig, als der lange, schmale Hof mit seinem Gerümpel, seiner alten Plumpe und dem dürren Fliederbaum.1225
Im weiteren Verlauf der Handlung wird der Hof, wie an anderer Stelle erwähnt, dagegen zum Schauplatz eines Verbrechens, ohne dass der Erzähler ihn dabei beschreibt. Agnes’ Vater bricht mit seinem Komplizen in eine Wohnung ein und wird dabei ertappt. Auf der Flucht drückt er seiner überraschten Tochter, die vergebens auf den eingeschlafenen Karl wartet, Dietriche in die Hand, weswegen auch sie der Komplizenschaft verdächtigt wird, ins Gefängnis kommt und ihre Arbeit verliert. Auch wenn der Hof im letzten Fall handlungstechnisch keine besondere Rolle zu spielen scheint, zeigen sich an allen drei Beispielen Rings gestalterische Fähigkeiten in Bezug auf den Handlungsraum. Dieser scheinbar uninteressante Ort kann zugleich als die Quelle anregender Beobachtungen, Schauplatz eines Ren1222 1223 1224 1225
Ebd., S. 35. Max Ring: Stadtgeschichten. Erster Band: Christkind-Agnes…, S. 189. Ebd. Ebd., S. 190.
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Die Physiognomie einer Stadt. Raumerfahrung in der wachsenden Metropole
dezvous wie auch ein Tatort fungieren. Eine weitere Möglichkeit ergibt sich in der Erzählung Der Waisenknabe, wo »(…) sich die Kinder der verschiedenen Parteien auf dem neutralen Boden [begegnen] und (…) so zuweilen ein freundschaftliches Verhältniß an[knüpfen], da sie sich noch in dem glücklichen Alter befinden, wo man entweder keine Standesunterschiede kennt, oder noch leichter darüber hinwegsieht«1226. Es mag ein zu weit hergeholter Gedanke sein, doch scheint es, als klinge in diesem Satz einmal mehr Rings Idee von der Veränderung der Gesellschaft, Überwindung der Standesunterschiede durch Bildung nach.
6.6
Das Gefängnis
Das Interesse Rings an Gefängnissen ergibt sich aus der Tatsache, dass er dadurch, in der Funktion eines Gefängnisarztes, die Gelegenheit bekommt, »einen Blick in das Leben und Treiben der Verbrecherwelt zu thun«1227. Die ausführlichsten Ergebnisse dieser Beobachtungen bietet der Beitrag Erfahrungen eines Gefängnißarztes aus dem Sammelband Aus dem Tagebuche eines Berliner Arztes, wenngleich es sich hierbei um keine Berliner Haftanstalten handelt, sondern das Gefängnis in einer lediglich mit der Initiale G. benannten Stadt, bei der es sich höchstwahrscheinlich um das oberschlesische Gleiwitz handelt, wo Ring in den 1840er Jahren als Arzt praktizierte. Somit ist dies zwar kein großstädtisches, immerhin aber ein preußisches Gefängnis. Bei der Betrachtung der Anstalt sieht der mit dem Autor selbst zu identifizierende Erzähler (…) ein großes Gebäude, welches weit mehr Aehnlichkeit mit einem Palaste, als mit dem Aufenthalt von Verbrechern hat. Eine Reihe von stattlichen Flügeln im gothischen Geschmack schließen mehrere freundliche Höfe ein; selbst an Gärten fehlt es nicht, wo die Bewohner zu gewissen Stunden frische Luft schöpfen dürfen. Allerdings benimmt ihnen eine dreißig Fuß hohe Mauer jede Aussicht ins Freie und auf Flucht. Große, mit festen eisernen Schlössern versehene Thore sperren die Anstalt von der Außenwelt ab; sie öffnen sich nur für diejenigen, welche mit einer besonderen Erlaubnißkarte versehen sind, oder zu dem Beamtenpersonale gehören.1228
Gleich zu Beginn seines Gefängnisbesuches bemerkt der Erzähler zwei miteinander kontrastierende Bilder: Einerseits sieht er »mehrere fröhliche Kinder, welche sich ungestört ihren Spielen überlassen«1229, die »Familie des Gefängnißinspektors«1230, andererseits sind nur wenige Schritte von ihnen entfernt 1226 Max Ring: Neue Stadtgeschichten. II: Der Waisenknabe…, S. 3. 1227 Max Ring: Ausgewählte Romane und Novellen. Aus dem Tagebuche eines Berliner Arztes. Erster Band…, S. 78. 1228 Ebd., S. 78f. 1229 Ebd., S. 79. 1230 Ebd.
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Das Gefängnis
»Zimmerleute mit dem Aufschlagen des Blutgerüstes beschäftigt (…), auf dem morgen in der Frühe der schwere Verbrecher enden wird, dessen Gesundheit ich vor seinem Tode noch einmal zu prüfen habe«1231. Der erschütternde Eindruck dieser Schilderung wird noch dadurch verstärkt, dass die Kinder »ein Stück Holz, das beim Absägen des Schaffots herabgefallen ist, (…) jetzt ohne Bedenken zu ihren Spielen verwenden«1232. Diese Darstellung belegt einmal mehr Rings sorgfältige Beobachtungsgabe, durch welche der Autor ohne übertriebene Effekthascherei beeindruckende Bilder erzeugen kann. Im Weiteren beschäftigt sich der Erzähler insbesondere mit der Beschreibung der Gefängnisinsassen und deren Schicksale, wobei er einen schwerwiegenden Fehler des Systems zu erkennen meint und diesen auch eindeutig anprangert. Es geht dabei um die Praxis, Angeklagte zusammen mit den Verurteilten einzusperren, wobei die ersteren (…) sich vorläufig nur in Untersuchungshaft befinden und häufig als vollkommen unschuldig später entlassen werden müssen. Sie leiden trotz aller Humanität, die man ihnen angedeihen läßt, unter solchen Verhältnissen nun doppelt. Wer entschädigt sie aber für all’ die überstandenen Qualen, wenn sie oft erst nach Monaten, selbst nach Jahren von aller Anschuldigung freigesprochen werden? Wer ersetzt ihnen ihre verloren gegangene Gesundheit, die täglichen Demüthigungen, die schlaflosen Nächte und all’ die Verluste an Geist, Körper und Vermögen?1233
Diese Passage beendet der Erzähler mit einem für seine Zeit durchaus fortschrittlichen Appell an die Justiz: »Hier sollte das Gesetz und die Richter, als Ausleger desselben, mit besonderer Vorsicht verfahren und nur unter den gravirendsten Umständen die oft leicht ausgesprochene und schwer wieder gut zu machende Verhaftung beschließen«1234. Eine andere kritische Beobachtung macht der Erzähler beim Besuch des »allgemeinen Krankensaal[s] der Anstalt«1235, wo »mehr Freiheit als sonst im Gefängnisse«1236 herrscht. Die Kritik richtet sich in erster Linie gegen die im Gefängnis befindliche Literatur, welche die Insassen lesen dürfen. Gemeint sind vor allem Stoffe »aus alten Ritter- oder Räuberromanen«1237, welche sich großer Beliebtheit erfreuen, was der Erzähler im folgenden Satz kritisiert: »Man glaubt nicht, wie nachtheilig derartige Bücher gerade auf diese Menschenklasse wirken, die sich gleichsam an solchen Romanhelden ein Beispiel nehmen und in ihnen
1231 1232 1233 1234 1235 1236 1237
Ebd. Ebd. Ebd., S. 91. Ebd. Ebd., S. 89. Ebd. Ebd.
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Die Physiognomie einer Stadt. Raumerfahrung in der wachsenden Metropole
ihr Ideal sehen«1238. Auch in diesem Fall ist seine Kritik mit einer konkreten Empfehlung verbunden: »Deshalb sollte vorzugsweise darauf hingearbeitet werden, derartige schlechte Bücher, welche noch immer von der ungebildeten Menge mit Heißhunger verschlungen werden, durch eine gesunde Volksliteratur zu ersetzen«1239. Diesen gutgemeinten, im Ansatz aber zensorischen Vorschlägen steht Rings unverstellter Blick auf die Gefängnisinsassen selbst gegenüber. Entgegen seiner zuvor dargelegten Neigung bestimmte Milieus, insbesondere die unteren Schichten der Gesellschaft, durch das Zuschreiben einer noch unverbrauchten Ursprünglichkeit, Natürlichkeit zu idealisieren, erscheint seine Darstellungsweise der Häftlinge wesentlich fortschrittlicher und ausgereifter. Diese lässt sich am eindrücklichsten mit dem Kommentar des Erzählers zum Vorgehen mancher seiner ärztlichen Kollegen untermauern, welche eine Verbrechernatur in der Physiognomie und sogar Physiologie zu erkennen meinen: »Hier stehen wir an den Grenzen unserer Kunst, und wer irgendwie sich mit dem Gegenstande beschäftigt hat, der wird zu dem Resultate gewiß gelangt sein, daß nicht angeborene, physiologische Schädelbildungen und Organveränderungen, sondern äußere Verhältnisse, Jugendeindrücke, schlechtes Beispiel und Verführung die Hauptfaktoren sind«1240. Diese humanistische Weltanschauung unterstreicht auch der letzte Satz des Beitrags, in dem sich der Erzähler auf die im Gefängnis bereits erfolgte Vollstreckung der Todesstrafe bezieht und kritisch dazu äußert: »Ich (…) entfernte mich erschüttert und keineswegs von der Zweckmäßigkeit der Todesstrafe überzeugt«1241. Auch in Max Rings zeitgeschichtlichen Prosawerken kommen Gefängnisse als Handlungsräume vor, die Hauptfiguren einiger Texte werden im Laufe der Handlung zwischenzeitlich inhaftiert. In den meisten Fällen kommen diese Darstellungen ohne eine umfassende Beschreibung der Anstalten selbst aus, ebenso wenig haben die Figuren Umgang mit anderen Insassen. Die Gefängnisaufenthalte entspringen einer falschen Anschuldigung (Agnes Neumann aus Christkind-Agnes) oder dienen der moralischen Läuterung der Figuren (Herr Neumann, Geheimrat Reisland aus Der Geheimrath). In Christkind-Agnes wird die Zelle von Agnes folgendermaßen knapp beschrieben: »Die Zelle, welche ihr angewiesen wurde, und die sie beim Schimmer der Lampe, die der Gefängnißwärter trug, betrachten konnte, war nur wenig kleiner, als die Küche, in der sie seit zwei Monden schlief. In der Ecke stand ein Bett mit einer Strohsackmatrazze und einer rauhen, wollenen Decke versehn«1242. Den ersten Satz könnte man 1238 1239 1240 1241 1242
Ebd. Ebd., S. 90. Ebd., S. 81. Ebd., S. 101. Max Ring: Stadtgeschichten. Erster Band: Christkind-Agnes…, S. 220.
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Das Gefängnis
dabei als eine gegen die Lebensverhältnisse des Dienstpersonals gerichtete Kritik lesen. In Der Geheimrath fällt die Beschreibung noch wesentlich knapper aus, es werden lediglich »die einfachen weißen, aber reinlichen Wände des Gefängnisses«1243 erwähnt. Etwas mehr Platz räumt der Erzähler der Beschreibung eines Gefängnisses im Roman Der Kleinstädter in Berlin ein, dessen Ich-Erzähler gleich zweimal verhaftet wird, wobei die Anstalten in diesem Fall als Polizeigewahrsam sowie Stadtvogtei bezeichnet werden. Im Gegensatz zu den zuvor erwähnten Figuren, die alle in Einzelzellen untergebracht sind und keine Unannehmlichkeiten zu beklagen haben, erlebt der Ich-Erzähler im Gefängnis grauenvolle Tage: Es war ein entsetzlicher Aufenthalt in diesen verpesteten Räumen, worin das Laster und Verbrechen, aber auch nicht selten das unverschuldete Unglück haust. In einem niedrigen Zimmer, dessen Decke ich bequem mit meiner Hand erreichen konnte, lagen auf einer Reihe von schmalen Bänken einige zwanzig Personen, halbnackte, verhungerte Kinder und gebrechliche Greise mit eingefallenen Gesichtern, Spitzbuben, obdachlose Herumtreiber und Trunkenbolde, eine wahre Höllengallerie von verkommenen und zerlumpten Erscheinungen. (…) Dazu noch die unerträgliche Hitze, die mephitischen Ausdünstungen, der Lärm der Betrunkenen, das Schnarchen der Schläfer, das Stöhnen und klagen der Greise, das Schreien und Weinen der Kinder. Mir schwirrte der Kopf und ich fürchtete den Verstand zu verlieren.1244
Als er zum zweiten Mal, aus einem anderen Grund verhaftet wird, kommt der Ich-Erzähler in eine Zelle mit einem Angeklagten, der sich der Gaunersprache bedient. Dessen Aussagen werden zitiert, zugleich aber in Klammern übersetzt: »›(…) Du wirst doch nicht so ein Chamer (Esel) sein und dibbern (gestehen).« (…) »Was! Du willst kein Ganef (Dieb) sein (…). Laß das wittische Geschmuß! (lasse das dumme Geschwätz). Ich bin kein Teufelssager! (kein Angeber! kein Vigilant!)«1245. Da sein Zellengenosse über alle Neuigkeiten bezüglich des Gefängnisses bestens informiert ist, stellt der Ich-Erzähler eine gute Vernetzung der Häftlinge fest, es ist »(…) eine vollkommen organisirte Verbindung zwischen den Gefangenen, die sich unter den Augen ihrer Wächter, und besonders zur Nachtzeit und gegen Morgen mit einander auf verborgenen Wegen unterhielten und sich alles Wissenswerthe mittheilten«1246. Zwecks der Kommunikation wird »eine geheime Zeichensprache, eine Art telegraphische Verbindung«1247 gebraucht. Diese Erfahrungen lassen den Ich-Erzähler zu der Überzeugung ge-
1243 1244 1245 1246 1247
Max Ring: Der Geheimrath…, S. 243. Max Ring: Der Kleinstädter in Berlin. Erster Band…, S. 220ff. Max Ring: Der Kleinstädter in Berlin. Zweiter Band…, S. 23. Ebd., S. 27. Ebd.
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Die Physiognomie einer Stadt. Raumerfahrung in der wachsenden Metropole
langen, dass »es für einen jungen, angehenden Verbrecher keine bessere Schule geben kann, als die Gefängnisse«1248. Im Allgemeinen lassen Rings Schilderungen von Gefängnissen in erster Linie Rückschlüsse auf den Autor selbst und seine Weltanschauung zu, die sich vor allem aus dem ersten untersuchten Beitrag ergeben. Darin offenbart er die für seine Zeit äußerst fortschrittlichen Überzeugungen, beispielsweise bezüglich der Todesstrafe. In den Prosawerken kommt diese Sichtweise weitgehend abhanden, es dominieren darin stereotype Darstellungen von Verbrechern, wenngleich diese nicht per se falsch sein müssen. Was die beiden Schilderungen verbindet, ist Rings bemerkenswerte Beobachtungsgabe, mit der er sich jedem Detail des Gefängnislebens voller Sorgfalt nähert. Interessanterweise erscheinen die Gefängnisse in Rings Texten entgegen ihrer typischen Klassifizierung innerhalb des Heterotopiemodells1249 als durchaus offene Orte, deren eindeutiger Charakter immer wieder durchbrochen wird, indem die Figuren entweder ihre Freiheit wiedererlangen oder sich durch ihren inneren Wandel selbst befreien können.
1248 Ebd., S. 28. 1249 Vgl. Michael C. Frank: Heterotopie. In: Ansgar Nünning (Hrsg.): Metzler Lexikon Literaturund Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe…, S. 303.
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Schlussfolgerungen
In seiner Kurzrezension von Max Rings Erzählung An der Börse kritisierte Theodor Fontane den Text als »Leihbibliothekenfutter!«1250 und meinte weiter: »(…) in dem ganzen Buche lebt und webt auch keine Spur von schöpferischer Kraft; Charaktere, Situationen, Bilder, Styl, Verknüpfung, Lösung – alles verbraucht«1251, obschon er dem Autor »übrigens anderweitig Talent bekundet«1252. Am aufschlussreichsten ist in diesem lediglich neunzehn Zeilen umfassenden Beitrag Fontanes Feststellung, Ring habe die Absicht gehabt »real zu sein«, doch er verwechsle »Realität und Trivialität; statt des Wirklichen giebt er das Gewöhnliche«1253. Um diesen Vorwurf nachvollziehen zu können, ist ein Blick in einen anderen, ebenfalls 1853 erschienenen Text Fontanes vonnöten, die programmatische Schrift Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848, in der der Autor eine Antwort auf die Frage sucht, was der Realismus eigentlich sei. In einer Passage zählt Fontane auf, was sein Realismusbegriff nicht umfasst: Vor allen Dingen verstehen wir nicht darunter das nackte Wiedergeben alltäglichen Lebens, am wenigsten seines Elends und seiner Schattenseiten. Traurig genug, daß es nöthig ist, derlei sich von selbst verstehende Dinge noch erst versichern zu müssen. Aber es ist noch nicht allzu lange her, daß man (…) Misere mit Realismus verwechselte und bei Darstellung eines sterbenden Proletariers, den hungernde Kinder umstehen, oder gar bei Productionen jener sogenannten Tendenzbilder (schlesische Weber, das Jagdrecht u. dgl. m.) sich einbildete, der Kunst eine glänzende Richtung vorgezeichnet zu
1250 Ungezeichnet: Ring, Max, Stadtgeschichten. III. Theil: An der Börse. In: Friedrich Zarncke (Hrsg.): Literarisches Centralblatt für Deutschland, Jahrgang 1853. Leipzig 1853, S. 15. Zur Feststellung der Autorschaft siehe: Roland Berbig: Theodor Fontane Chronik. Berlin/ Boston 2010, S. 344. 1251 Ebd. 1252 Ebd. 1253 Ebd.
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Schlussfolgerungen
haben. Diese Richtung verhält sich zum echten Realismus wie das rohe Erz zum Metall: die Läuterung fehlt.1254
Fontane entscheidet demnach also, und nicht nur für sich, welche Themen als wahr und künstlerisch zu betrachten sind und sich als Stoffe eignen, was als wirklich und somit wertvoll und was als gewöhnlich anzusehen ist uns als der realistischen Literatur unzumutbar zurückgewiesen werden sollte. Max Ring wählte für sich aber einen anderen Weg, seine Vorstellung von den in der Literatur zulässigen Themen ist eine andere, weitere, auch wenn er dies in keinem theoretischen Beitrag begründet. Beim ersten Blick auf die in der vorliegenden Arbeit untersuchten Texte sticht zuallererst ihr breites Themenspektrum hervor, die Schattenseiten des Lebens gehören genauso dazu, wie seine Sonnenseiten. Der Literaturkritiker und -historiker Rudolf Gottschall (1823– 1909) nannte Ring in einer Rezension einen »Schriftsteller von großer Beweglichkeit, der alles, was gerade die Welt bewegt, geschwind und behend in eine romanhafte Einkleidung zu bringen weiß«1255. Dies stellt an sich vielleicht keine große Leistung dar, doch wenn man ästhetische Qualität und vermeintliche Überzeitlichkeit nicht als primäre Kriterien einer literaturwissenschaftlichen Untersuchung gelten lässt, avanciert es zum beachtenswerten Merkmal eines Oeuvres, zumal wenn den heutigen Leser inzwischen viele Jahrzehnte von der Veröffentlichung dieser Bücher trennen und er sich, wie ein Archäologe oder Detektiv, durch das Dickicht des einstigen Zeitgeschehens durchkämpfen muss. Ring ist dabei kein gewöhnlicher Chronist seiner Zeit, die Themenwahl entspringt keinem im Voraus formulierten Programm. Politische, auf zeitgeschichtliche Ereignisse ausgelegte Stoffe kommen in den zuvor untersuchten Werken einerseits zwar selten vor, aber sie sind vorhanden, allen voran die Revolution von 1848/49, auf die auch in Rings späteren Werken bis in die 1870er Jahre eingegangen wird. Dieses Ereignis bildet in den Texten immer wieder eine klare Zäsur und ein, zumindest was ihren Ausbruch angeht, seltenes Beispiel für schichten- und ständeübergreifende Einheit und Solidarität. Andererseits greift er gerne sozialgesellschaftliche Entwicklungen auf, die sich nicht auf ein singuläres Ereignis einschränken lassen, sondern vielmehr über einen längeren Zeitraum in der Gesellschaft schwelen, wie die soziale Frage und das damit verbundene Aufkommen neuer Ideen. Es sei dahingestellt, ob seine zeitgeschichtlichen Texte als Sozialromane und -erzählungen mit Unterhaltungselementen oder als Unterhaltungsromane und -erzählungen mit sozialem Unterton zu be1254 Ungezeichnet: Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848. In: Karl Biedermann (Hrsg.): Deutsche Annalen zur Kenntniß der Gegenwart und Erinnerung an die Vergangenheit. Erster Band, Leipzig 1853, S. 353–377, hier S. 357f. 1255 Rudolf Gottschall: Neue Romane. In: Blätter für literarische Unterhaltung, Jahrgang 1875, Zweiter Band. Juli bis December. Leipzig 1875, S. 822–828, hier S. 824.
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Schlussfolgerungen
zeichnen sind, auf jeden Fall steht die Problematik des Materiellen, des Geldes (oder des Geldmangels) im Zentrum der meisten Texte. Das machte sie, durch die Einführung des Geldes als Wertkriterium, schon zu ihrer Entstehungszeit neuartig, unglücklicherweise macht es sie heute wieder aktuell. Das Streben nach Besitz schreibt Ring dabei nicht einer einzigen Schicht, Klasse oder einem Stand zu, den Materialismus und Egoismus meint er in der ganzen Gesellschaft zu beobachten, obgleich nicht in allen Figuren. Den Herren Schröder senior und vor allem junior, dem Inbegriff der modernen Habgier, stellt er den besonnenen und altruistischen Geschäftspartner Franz Weller genauso gegenüber, wie er die Figur des Kohlemagnaten Godowski mit dem Ingenieur Gibson oder Herrn Neumann mit der Figur seiner Tochter Agnes konterkariert, was jedoch nicht bedeutet, dass Ring bei der Figurenkonstellation seiner Werke auf scharfe Kontraste setzt. Gleichzeitig ist er weit davon entfernt, die materiellen Probleme seiner Protagonisten auf einen Nenner bringen zu wollen. Die Armut und Not der Figuren aus den unteren Schichten der Gesellschaft mutet dabei immer wieder traumatisch, nahezu unbeschreiblich an, vor allem aus heutiger Sicht. Die Protagonisten leiden Hunger, werden immer wieder obdachlos, ihre Aufstiegschancen erweisen sich als äußerst begrenzt an, die feudale Ständegesellschaft ist noch nicht überwunden, die Schichtengesellschaft formiert sich erst, der Sieg des Neuen über das Alte ist keine Selbstverständlichkeit, zumal manche der neuen Schichten oder Teile davon, wie die emporgekommene Finanzelite, die dem Wirtschaftsbürgertum zuzurechnen ist, lediglich den Adel in seiner Funktion ablösen wollen. Die nebulöse Bezeichnung vom Kampf des Neuen mit dem Alten beschränkt sich bei Ring aber nicht auf rein wirtschaftliche Aspekte. Diese Auseinandersetzung wird in den Texten auch auf vielen weiteren Ebenen des gesellschaftlichen Lebens ausgetragen. Im Allgemeinen stehen sich dabei Wissenschaft, Bildung und Freiheit auf der einen, der Aberglaube und die Willkür auf der anderen Seite unversöhnlich gegenüber. In den Texten selbst werden zwar u. a. Wissen und Glaube als Gegenpole geführt, doch kann diese Auffassung zu Missverständnissen führen. Die Religion spielt nämlich in Rings zeitgeschichtlichen Werken keine wesentliche Rolle, die wenigen Figuren, welche als Priester oder Aktivisten eine Glaubensrichtung vertreten, werden durchweg negativ gezeichnet, als Fanatiker und Ewiggestrige, die meisten von ihnen sind auch in erster Linie auf ihren eigenen finanziellen Vorteil bedacht. Ring greift nicht den Glauben an sich an, den er manchmal sogar positiv konnotiert (Assoziationen zwischen den Revolutionären und dem frühen Christentum), sondern die Kirchen und ihre Vertreter, die nur vermeintlichen Nachfolger Jesu auf Erden. Das Hervorheben der Bedeutung von Wissen, als Verbindung von Bildung und Wissenschaft, ist in Rings Werken dagegen viel präsenter. Bemerkenswert erscheint dabei vor allem seine Auffassung von der Bildung, die Unterstreichung ihrer immensen Bedeutung von der frühen Kindheit an als einziger Möglichkeit
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Schlussfolgerungen
gesellschaftlichen Wandel herbeizuführen, auch dies ein immer noch gültiger Gedanke, obschon sich die sozioökonomischen Gegebenheiten grundlegend geändert haben. Die Dringlichkeit der Bildung wird dabei nicht nur von Figuren aus dem Bildungsbürgertum hervorgehoben, der Maschinenbauer Rolf erkennt sie ebenso wie der Handwerksmeister und einstige Geselle Rudolph Schwarz. Dieser erläutert auch eindringlich, was er darunter versteht und zwar »nicht bloß Lesen und Schreiben, so wie Rechnen, sondern die Kenntnis der Sprachen, der Naturwissenschaften und all die großen Fortschritte, welche die Wissenschaft in kurzer Zeit gemacht [hat], besonders aber die Erweckung des bürgerlichen Sinnes (…)«1256. Darüber hinaus setzt er sich für die erfolgreiche Zusammenarbeit des Handwerks mit der Wissenschaft ein. Dies ist kein singulärer Gedanke bei Ring, eine komplexe Ausführung dieser Idee findet ihre Verwirklichung in einem sechzehn Jahre später veröffentlichten Roman, in dem es zur Gründung einer neuen Schule kommt, in der die Gewerbelehre mit naturwissenschaftlichen Vorträgen verknüpft werden soll. Eine andere Facette des Kampfes zwischen dem Alten und dem Neuen spiegelt sich in der Darstellung des technologischen Fortschritts wider, der die Lebensverhältnisse zu dieser Zeit nachhaltig zu verändern, wenngleich nicht immer zu verbessern begann. Zu den wichtigsten Erscheinungen dieses Wandels gehört die Bahn, doch Ring bemerkt und beschreibt auch andere Erfindungen bzw. deren Verbreitung, wie die Elektrifizierung, die Telegrafie und Fotografie, mit Wohlwollen verzeichnet er die Verbesserung der Infrastruktur. Dabei äußert er sich immer wieder durchaus kritisch, es geht dabei nicht um die Erfindungen selbst, sondern um deren Einsatz, der häufig auf Kosten der Menschen, der Fabrikarbeiter und zunehmend auch Handwerker, ansatzweise auch der Natur geschieht. Darin offenbart sich ein Zwiespalt, der für mehrere Aspekte seiner Texte charakteristisch ist. Während der Fortschritt im Allgemeinen begrüßt und als ein Gewinn für die Mehrheit der Bevölkerung dargestellt wird, vergisst Ring auch die wirklichen oder potenziellen Verlierer des technologisch-gesellschaftlichen Wandels nicht. Viele der Ideen aus dem Bereich des Fortschritts, aber auch der sozialen Frage und der Bildung lassen auf eine Nähe des Autors zum Gedankengut der Frühsozialisten schließen, zumal er die Vertreter dieser Richtung sogar namentlich nennt und deren Theorien beschreibt. Interessanterweise gilt das nicht mehr für den Kommunismus, den er als Gefahr darstellt, ohne Karl Marx, der ihm bekannt gewesen ist, auch nur zu nennen. Darüber hinaus stellt die Schilderung des Kampfes zwischen dem Alten und dem Neuen das wahrscheinlich beste Beispiel für Rings literarische Umsetzung zeitgenössischer gesellschaftlicher und sozialgeschichtlicher Prozesse dar. Diese Darlegungen erwecken einerseits zwar immer wieder, insbesondere bezüglich politischer The1256 Max Ring: Handwerk und Studium. Zweiter Theil. Berlin 1854, S. 135.
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men, den Eindruck der Oberflächlichkeit, andererseits bestechen sie heute durch ihre, von Rudolf Gottschall bereits angesprochene, einstige Aktualität. Der journalistische, auf Rings berufliche Erfahrungen zurückzuführende Stil mancher Passagen, und ihre Nähe zum Tagesgeschehen unterstreichen dabei den unterhaltenden Charakter dieser Texte, was jedoch nicht als Nachteil oder Vorwurf anzusehen ist. Durch das Fortdauern oder Wiederauftreten mancher der gesellschaftlichen Prozesse lassen sich so Parallelen zur heutigen Welt entdecken, was Rings Texte von den Werken vieler Autoren aus dem Kanon unterscheidet, die sich manchmal sogar programmatisch, wie Fontane, gegen die literarische Verarbeitung aktueller Themen ausgesprochen haben. Da Max Ring in seinen Texten auf Einzelheiten aus der zeitgenössischen Tagespolitik verzichtet und die für ihn interessanten gesellschaftlichen Prozesse auch ausführlich beschreibt, manchmal sogar synthetisch zu deuten versucht, erweist sich die Erschließung und Verständlichmachung seiner Werke für die Gegenwart als keine unmögliche Aufgabe, auch wenn im vorliegenden Buch wahrscheinlich nicht alle diesbezüglichen Fragen beantwortet wurden. Bei alledem stößt Rings durchaus vorhandene Fortschrittlichkeit immer wieder auf Grenzen, er selbst schreibt von den ›Schranken der Natur und Gesellschaft‹. Man kann sich über diese in Bezug auf die Frauen gebrauchte Wendung echauffieren, sie gibt aber ganz präzise den zu dieser Zeit dominierenden Diskurs über Geschlechterrollen wieder. Ring wählt auch in dieser Hinsicht einen Zwischenweg: Seine weiblichen Figuren dürfen lernen und sogar arbeiten, solange sie den obigen Pakt nicht in Frage stellen. Meistens ist es aber der männliche Teil der Gesellschaft, der ihnen diese Möglichkeiten verwehrt. Dabei erweist sich die Schilderung der weiblichen Figuren in Rings zeitgeschichtlichen Texten alles andere als eindimensional, viele von ihnen setzen auch ihren Willen durch. Ihr Schicksal hängt in erster Linie mit einem weiteren zentralen Kriterium in Rings Wertekosmos zusammen, dem Anstand, der Moral, Sitte und Tugend. Die Einstellung der Figuren diesen Werten gegenüber determiniert schließlich auch ihr Geschick. An diesem schon für seine Zeit antiquierten Modell zeigt sich zugleich einmal mehr Rings Fortschrittlichkeit: Männliche Protagonisten werden für ihr unmoralisches Handeln, sei es im Hinblick auf ihre Familie oder ihren Beruf, genauso abgestraft wie die weiblichen Figuren. Ebenso problematisch erweist sich die Darstellung der Figuren aus den unteren Schichten der Gesellschaft. Einerseits räumt ihnen Ring relativ viel Platz in seinen Texten ein, schildert sorgfältig ihre Lage und bei etwaigem Unglück oder Verbrechen zieht der Erzähler niemals vorschnelle Schlüsse, er ist sogar geneigt, ihre materiellen Verhältnisse oder andere äußerliche Umstände als Ursache heranzuziehen. Andererseits meint er im ›einfachen Volk‹ einen höheren Ethos, das Erhabene vorzufinden, das im verbildeten Bürgertum verlorengegangen sei, folglich scheut er sich nicht davor, diese Figuren zu verklären, ein »Zeichen der
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Verankerung volkskundlicher Interessen in idealistischen Vorstellungen«1257. Darin offenbart sich das vielleicht Problematischste an der Ästhetik von Rings zeitgeschichtlichen Werken: Der kaum zu realisierende Versuch, die auf das Ländliche verweisenden Attribute (schließlich wandelten die Stadtgeschichten die damals populäre Gattung der Dorfgeschichte ab) mit der »Tradition der sich etablierenden Großstadtliteratur«1258 zu verknüpfen. Seine zeitgeschichtlichen Werke zeigen in ästhetischer Hinsicht immer wieder das Abklingen der vergangenen Epochen und versuchen gleichzeitig die künftigen vorwegzunehmen. Angesichts der nahezu vollkommenen Vergessenheit Rings muss dieser Versuch als gescheitert angesehen werden. Dabei bieten Rings zeitgeschichtliche Texte eine breite Palette aufschlussreicher Erkenntnisse, trotz der angedeuteten Problemhaftigkeit erweisen sie sich immer wieder als erwähnens- und lesenswert. Rings Beobachtungsgabe besticht durch Sorgfalt und Detailreichtum, der Blick wandert dabei immer von außen nach innen, auch wenn hier, insbesondere bei der Beschreibung von Menschen, eine Diskrepanz zwischen der ausführlichen Schilderung des Aussehens, vor allem des Gesichts, und der eher oberflächlichen Charakterisierung des Innenlebens der Figuren festzustellen ist. Die Metaphorik ist eher schlicht und meistens eindeutig, aber gleichzeitig wirkungsvoll. Am markantesten wirken dabei die Schilderungen der einzelnen Orte und des Raums im Allgemeinen. Ring strebt in seiner Prosa kein Gesamtbild der Großstadt Berlin an, auch das heimatliche Oberschlesien lässt sich als Region kaum nachvollziehen. Dafür sucht er als behutsamer Beobachter konkrete Orte auf, blickt hinter die Fassaden, schreckt auch nicht davor zurück, das allseits Gemiedene darzustellen. Gemeint sind damit neben den Mietskasernen und Hinterhäusern vor allem Heterotopien wie das Gefängnis oder das psychiatrische Krankenhaus, bei dessen Darstellung der Erzähler die Grenzen zwischen der vermeintlichen Normalität und der vermeintlichen Krankheit bewusst und gezielt verschwimmen lässt, was umso mehr eine Reflexion über ihre Verortung gleichzeitig außerhalb aber auch innerhalb der Gesellschaft möglich macht. So entsteht nach und nach zwar kein komplettes, aber durch das Fragmentarische ein aufschlussreiches Bild einer sich stark wandelnden Metropole einerseits und einer denselben Prozessen ausgesetzten Provinz am Ende des Reiches andererseits. Viele Aspekte seiner zeitgeschichtlichen Werke offenbaren Max Ring als einen Autor des Übergangs, der Unentschiedenheit, des Dazwischen. Diese sich vor allem an der Haltung der Figuren und Erzähler der Texte manifestierende Haltung führt zu der Frage nach dem Autor selbst, nach seinem Habitus und den Transfers aus seinem kulturellen Feld. Als prägend erscheinen in dieser Hinsicht 1257 Hugh Ridley: Anthropologische Ansätze in der Berlin-Literatur Max Rings…, S. 379. 1258 Ebd.
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seine jüdische Herkunft, verbunden mit der Offenheit und Toleranz seines Vaters, sowie das Heranwachsen in einer provinziellen, für den Anfang des 19. Jahrhunderts aber äußerst multikulturellen, mitteleuropäischen Gegend. Das schrittweise Kennenlernen des städtischen Raums im Zuge der Schul- und Studienzeit, die Ring bis nach Breslau und dann Berlin führte, und die vielen Bekanntschaften wirken dabei horizontöffnend und formierend auf die Persönlichkeit des angehenden Schriftstellers. Der durch den Tod des Vaters und die Rückkehr nach Oberschlesien eingetretene und von Ring selbst nur widerwillig vollzogene Rückschritt erweist sich im Nachhinein nur als vermeintlich negativ, denn die Erfahrungen der 1840er Jahre sollten ihn u. a. für die Ungerechtigkeiten seiner Zeit und die soziale Frage nur weiter sensibilisieren. Paradoxerweise scheinen diese Erfahrungen Max Ring auch zu einem mehrfachen Außenseiter gemacht zu haben, der sich in seinen Werken immer wieder für eine Zwischenposition entschied. Erstens wird er als Jude besonderen Anfeindungen ausgesetzt gewesen sein, auch wenn sich dies lediglich am Beispiel seines fluchtartigen Verlassens von Gleiwitz belegen lässt. Zweitens stammte er nicht nur von außerhalb Berlins, wie viele andere Einwohner der Stadt, sondern gleichzeitig aus einer Gegend, die erst seit einigen Jahrzehnten preußisch war. Drittens machte er sich einen Namen als ein glühender Anhänger der Revolution von 1848/49 und war nach deren Scheitern gezwungen, sich mit den Gegebenheiten der voranschreitenden Reaktionsära zu arrangieren, um nicht der Zensur oder noch strengeren Strafmaßnahmen der Behörden zum Opfer zu fallen. All dies wird seine defensive, immer wieder unentschiedene Haltung zur Folge gehabt haben. Außerdem sind diese persönlichen Erfahrungen, die außertextliche Wirklichkeit, durchaus mit den Stoffen von Rings Werken in Verbindung zu bringen, die Vorstellung von dem selbständigen Autorsubjekt lässt sich dadurch einmal mehr entkräften. Gleichzeitig konnte im Laufe der Analyse nicht festgestellt werden, dass der Habitus des Autors mit dem Habitus der Figuren seiner Werke, soweit dessen Erfassung möglich war, identisch ist. Gleichwohl findet man bei der Lektüre von Rings Texten Figuren, bei deren Kreation die persönlichen Erfahrungen des Autors eine Rolle gespielt zu haben scheinen, auch wenn es sich hierbei in erster Linie um die Begeisterung für die Revolution von 1848/49 handelt. Rings herkunftsbedingtes Außenseitertum eines oberschlesischen Juden spiegelt sich dagegen in den Figuren seiner Texte kaum wider. In seiner Darstellung verfügt Oberschlesien über keine ausgeprägte Mittelschicht, Juden kommen in den untersuchten Texten lediglich als unbedeutende Nebenfiguren vor. Andererseits erweist sich der Klassenhabitus als ein zentraler Begriff für Rings zeitgeschichtliche Werke und kann insbesondere auf den Adel und die unteren Schichten der Gesellschaft zurückgeführt werden, deren Schilderung am prägnantesten erscheint, während sich das Bürgertum auch aufgrund seiner Kom-
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plexität einer einfachen Klassifizierung entzieht. Als fortschrittlich oder auch utopisch kann dabei der Verzicht einiger Figuren auf ihre Adeligkeit verstanden werden, der mit ihrer Aufnahme in den Bürgerstand verbunden ist und als folgenrichtige Entscheidung dargestellt wird. Max Ring zeigt eine Gesellschaft, die im Wandel begriffen ist, und ist sich dieses Wandels auch bewusst. Gleichzeitig treffen die meisten Figuren seiner Werke, auch angesichts der gescheiterten Revolution, keine voreiligen Entscheidungen in dieser Hinsicht, trotz zahlreicher Ausnahmen suchen doch die meisten das kleine Glück im Privaten. Interessanterweise sind es in Rings Werken immer wieder die Frauen, denen es gelingt, sich über die Grenzen ihrer meist adeligen Herkunft hinwegzusetzen, auch wenn der Erzähler dies bevorzugt der Liebe zu einem bürgerlichen Protagonisten zuschreibt. Ebenfalls zum Vorschein kommt in Rings Texten der Zusammenhang des Klassenhabitus mit der wirtschaftlichen Lage der jeweiligen Schichten der Gesellschaft, wenngleich die Erzähler generell darum bemüht sind, ihre positiven wie auch negativen Seiten zu schildern, anstatt die soziale Frage zum wichtigsten Beweggrund für jede Handlung der Figuren zu machen. Am 15. Juni 1879 schrieb Theodor Fontane in einem Brief an seine Frau Emilie folgende Zeilen: Ich habe nun mit zwei großen und ernsten Arbeiten Glück gehabt und doch auch wieder gar kein Glück. (…) Die Sachen von der Marlitt, von Max Ring, von Brachvogel, Personen die ich gar nicht als Schriftsteller gelten lasse, erleben nicht nur zahlreiche Auflagen, sondern werden auch wo möglich ins Vorder- und Hinter-Indische übersetzt; um mich kümmert sich keine Katze.1259
Obwohl er, zwei Jahre älter als Ring, zu diesem Zeitpunkt bereits auf die Sechzig zuging und Autor mehrerer Bücher war (u. a. Wanderungen durch die Mark Brandenburg, 1862), sollte sich der literarische Erfolg erst ab den 1880er Jahren einstellen. Trotzdem mutet heute die Vorstellung, Fontane wäre vergessen worden und stattdessen hätte Max Ring seinen Platz im Kanon eingenommen unvorstellbar an. Warum es nicht so kam, lässt sich heute nicht mehr lückenlos nachverfolgen, aber Gründe für diese Entwicklung gibt es schon. In einer Analyse des Schaffens von Autoren, mit denen Ring zumindest zwischenzeitlich befreundet war, u. a. Gutzkow und Auerbach, wird behauptet, dass (…) es den deutschen Zeitroman-Autoren an engagierter Aufmerksamkeit für die sozialen, ökonomischen, politischen Zustände und Prozesse nicht gefehlt [hat]. Den meisten wurde sie schon durch ihre journalistische Praxis nahegelegt. Dennoch hat der Kanon darin recht, daß sowohl die Macht wie auch das Spezifische der einzelnen Phänomene in den panoramischen Darstellungen poetisch nicht so realisiert werden, daß den zeitgenössischen und den späteren Lesern eine deutlichere und vertieftere Erkenntnis dieser Phänomene möglich wurde und wird, als sie der mehr oder minder 1259 Zit. nach Roland Berbig: Theodor Fontane Chronik…, S. 2197.
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Schlussfolgerungen
unreflektierte Konsens, wie er sich in Alltagsgespräch, Zeitungsartikeln oder Reden niederschlägt, gewährt.1260
Ob diese Erkenntnis auch auf die Werke von Max Ring zu übertragen ist, lässt sich nicht eindeutig feststellen. Er strebt in seinen Texten keine Totalität an, schreibt eher seine Beobachtungen auf, die er literarisch verarbeitet. Komplexe Themen werden dabei vereinfacht, bisweilen oberflächlich dargestellt. Zu den Faktoren, die auf heutige Leser störend wirken können, gehört sicherlich die auf ein glückliches und moralisierendes Ende ausgelegte Handlung, die aufgrund der Struktur der vorliegenden Arbeit nicht immer nacherzählt werden konnte. Dass Ring zu den Autoren gehört, die weitgehend vergessen wurden, verwundert nicht, das Ausmaß des Vergessens, auch angesichts der Worte Fontanes, dagegen schon. In seinen Büchern spricht er immer wieder Themen an, die heute immer noch aktuell sind oder wieder aktuell werden. Vor dem Hintergrund der Umwälzungen des 19., 20. und auch 21. Jahrhunderts kann der Blick zurück auf das Schaffen dieses vielseitigen und sensiblen Beobachters des Geschehens seiner Zeit einen erfrischenden und zugleich erhellenden Beitrag leisten.
1260 Renate Böschenstein-Schäfer: Zeit- und Gesellschaftsromane…, S. 121.
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Bibliographie der Werke Max Rings
Gedichte (mit Moritz Fränkel). Johann Friedrich Hartknoch: Leipzig, 1839. De typho abdominali. Diss. inaug. medica quam consensu et auctoritate gratiosi medicorum ordinis in alma literarum universitate Friderica Guilelma ut summi in medicina et chirurgia honores rite sibi concedantur die VII. M. Augustii A. MDCCCXL h. l. q. s. publice defendet auctor Marcus Ring Zauditiensis. Berlin 1840 (Dissertation). Revolution (Gedichte). Kohn: Breslau 1848. Berlin und Breslau. 1847–1849. Roman. Joh. Urban Kern: Breslau 1849. 1. Band: Marie. 2. Band: Wanda. Die Genfer. Trauerspiel in 5 Akten. Trewendt u. Granier: Breslau 1850. Die Kinder Gottes. Roman. 3 Bde. Kern: Breslau 1851. Der große Kurfürst und der Schöppenmeister. Historischer Roman aus Preußens Vergangenheit. In 3 Bänden. Joh. Urban Kern: Breslau 1852. Stadtgeschichten. M. Simion: Leipzig 1852 1. Band: Christkind-Agnes. 2. Band: Die Chambregarnisten. 3. Band: An der Börse. 4. Band: Feine Welt. Die Zeit ist hin, wo Bertha spann. Romantisches Schauspiel in 5 Aufz. H. Michaelson: Berlin 1853. Dichter und Wäscherin. Original-Lustspiel in 1 Akt. H. Michaelson: Berlin 1853. Handwerk und Studium. Eine Volkserzählung. 2 Bde. Julius Springer: Berlin 1854. Verirrt und Erlöst. Roman in zwei Bänden. Hugo Scheube: Gotha 1855. Aus dem Tagebuche eines Berliner Arztes. Hofmann und Comp.: Berlin 1856. Hinter den Coulissen. Humoristische Skizzen aus der Theaterwelt. Verlag von A. Hofmann u. Comp.: Berlin 1857. John Milton und seine Zeit. Historischer Roman. Meidinger Sohn & Cie.: Frankfurt a. M. 1857. Der Geheimrath. Ein Lebensbild. J. L. Kober: Prag und Leipzig 1857. Neue Stadtgeschichten. J. L. Kober: Prag und Leipzig 1858. 1. Band: Die Geschiedene. 2. Band: Der Waisenknabe. 3. Band: Die Erben.
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Bibliographie der Werke Max Rings
Unsere Freunde. Original-Lustspiel in 5 Akten. H. Michaelson: Berlin 1859. Eine arme Seele. Roman in 3 Bänden. Kober & Markgraf: Prag 1859. Scarron’s Liebe. Original-Lustspiel in 1 Akt. In: Dt. Bühnen-Almanach. 1859. Ein deutsches Königshaus. Historisches Drama in 5 Akten. H. Michaelson: Berlin 1860. Stein und Blücher. Vaterländisches Volksschauspiel in 4 Abtheilungen mit Musik. H. Michaelson: Berlin 1860. Der Sohn Napoleons. (Herzog von Reichsstadt.) Geschichtliches Lebensbild in 2 Bänden. Albert Vogel: Berlin 1860. Rosenkreuzer und Illuminaten. Historischer Roman aus dem 18. Jahrhundert. 4 Bde. Otto Janke: Berlin 1861. Vaterländische Geschichten. Otto Janke: Berlin 1862. 1. Band: Das Rübenfeld. – General und Secretär. – Der Tambour Fritze in Neiße. – Der Leibkutscher Friedrichs des Großen. – Die Verschwörung der Frauen. – Eine SchneiderRevolution. – Pack schlägt sich, Pack verträgt sich. – Der Hofnarr des Kurfürsten. 2. Band: Die Kunstfreunde. – Leyer und Schwert. Ein moderner Abenteurer. Novelle. Schünemann’s Verlag: Bremen 1862. Neue Stadtgeschichten. Otto Janke: Berlin 1865. 1. Band: Ein moderner Abenteurer. 2. Band: Keine Geborene. Ein verlorenes Geschlecht. Roman. 6 Bde. Otto Janke: Berlin 1867. Der Ankläger von Strassburg. Historische Novelle. M. Lesser: Berlin 1869 [ohne Jahresnennung]. Lieben und Leben. Neue Erzählungen. Otto Janke: Berlin 1869. 1. Band: Die Ehescheuen. – Im Hause der Bonaparte. 2. Band: In Hause der Bonaparte (Fortsetzung). – Der Sieg der Liebe. 3. Band: Der Sieg der Liebe (Fortsetzung). – Der Philosoph von Charlottenburg. Fürst und Musiker. Zeitroman. 3 Bde. Otto Janke: Berlin 1869. Lorbeer und Cypresse. Literaturbilder. R. Lesser: Berlin 1870 [ohne Jahresnennung] Ein untergegangener Dichter. – Ein Sabbath-Abend bei Mendelssohn. – Schubart und Schiller. – Goethe als Bruder Studio. – Der Dichterfürsten erstes Begegnen. – Hölderlin. – Leben und Sterben eines deutschen Dichters. – Eine deutsche Dichterin. – Die Tochter des Philosophen. Die Weltgeschichte ist das Weltgericht! Louis Napoleon Bonaparte. Allg. dt. Vlgsanst.: Berlin 1870. In der Schweiz. Reisebilder und Novellen. Dürr: Leipzig 1870. Die Geheimnisse einer kleinen Stadt. Humoristische Novelle. Schulze & Co.: Leipzig 1870 Götter und Götzen. Roman. 4 Bde. Hausfreund-Expedition: Berlin 1870. Ausgewählte Romane und Novellen. Dürr: Leipzig 1870–1871. 1. Band: Verirrt und Erlöst. 2. Band: Aus dem Tagebuche eines Berliner Arztes. 3. u 4. Band: John Milton und seine Zeit. 5. Band: Hinter den Coulissen. Erinnerungen und Biographien aus der Theaterwelt. Am Abgrund. Novelle. Albert Goldschmidt: Berlin 1870. Seelenfreunde. Roman. 3 Bde. Otto Janke: Berlin 1871. Die Auferstandenen. Albert Goldschmidt: Berlin 1871. = Bibl. f. Haus u. Reise. 23. Bd.
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Bibliographie der Werke Max Rings
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Lose Vögel. Humoristische Erzählungen, Kriminalgeschichten u. Novellen. 2 Bde. Merzbach: Berlin, Posen 1872. Hinter den Coulissen. Erinnerungen und Biographien aus der Theaterwelt. 2 Bde. Dürr: Leipzig 1872. Carl Sand und seine Freunde. Roman aus der Zeit der alten Burschenschaft. 4 Bde. Otto Janke: Berlin 1873. David Kalisch, der Vater des Kladderadatsch und Begründer der Berliner Posse. Ein Erinnerungsblatt. Staude: Berlin 1873. Der Kleinstädter in Berlin. Roman. 2 Bde. Wedekind u. Schwieger: Berlin 1873. Unfehlbar. Zeitroman. 4 Bde. Costenoble: Jena 1874. Leuchte u. Kompaß. Lebensweisheit u. Menschenkenntniß in Sprüchen von Rochefoucald, Chamfort, Lichtenberg, Jean Paul und Börne gesammelt sowie mit biographischen Einleitungen versehen. Kaufmann: Dresden 1874. Der große Krach. Roman 4 Bde. Costenoble: Jena 1875. Neue Stadtgeschichten. Ernst Julius Günther: Leipzig 1876. 1. Band: Der Herr Professor. 2. Band: Auch ein Gründer. 3. Band: Durch Kampf zum Frieden. Eine unversorgte Tochter. Roman. 2 Bde. Costenoble: Jena 1876. Die Lügner. Roman aus der modernen Gesellschaft. Eduard Hallberger: Stuttgart und Leipzig 1878. Das verkaufte Herz. Goldschmidt: Berlin 1878. Das Haus Hillel. Historischer Roman aus der Zeit der Zerstörung Jerusalems. (3 Einzelbände). Otto Janke: Berlin 1879. Goldene Ketten. Eine Hofgeschichte. 4 Bde. Schottländer: Breslau 1881. Frauenherzen. Mit einer Einleitung von Joseph Kürschner. W. Spemann: Stuttgart 1882. Berliner Leben. Kulturstudien und Sittenbilder. Bernhard Schlicke: Leipzig / Nicolai: Berlin 1882. Die deutsche Kaiserstadt Berlin und ihre Umgebung. 1. Band mit 178 Illustrationen, Heinrich Schmidt & Carl Günther: Leipzig 1883. 2. Band mit 135 Illustrationen, Heinrich Schmidt & Carl Günther: Leipzig 1884. Berliner Kinder. Roman. 3 Bde. Otto Janke: Berlin 1883. Hanka. Eine Erzählung aus den Bergen. Goldschmidt: Berlin 1884. Eine liebenswürdige Frau. Ein Lebensbild. Otto Janke: Berlin 1885. Die liebe Mama. Humoristische Erzählung. Otto Janke: Berlin 1885. Die Spiritisten. Erzählung. Otto Janke: Berlin 1885. Wahnsinnig auf Befehl. Erzählung. Denicke: Leipzig 1885. Unterm Tannenbaum. Eine Weihnachtsgeschichte. A. Reinecke: Berlin 1885. Das verkaufte Herz. Eine Erzählung. Goldschmidt: Berlin 1886 [ohne Jahresnennung]. Die Schützlinge des Großen Kurfürsten. Historische Erzählung. Otto Janke: Berlin 1886. Auferstanden. Erzählung. Otto Janke: Berlin 1886. Das Kind. Ein falscher Name. Zwei Stadtgeschichten. Reinecke: Berlin 1886. Sieg der Liebe. Geschichtliche Erzählung aus dem Jahre 1870. Otto Janke: Berlin 1886 [ohne Jahresnennung]. Julie Eberhard. Novelle. Goldschmidt: Berlin 1887. Streber und Kämpfer. Zeitroman. 2 Bde in einem. Costenoble: Jena 1888.
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Bibliographie der Werke Max Rings
Das Buch der Hohenzollern. Schmidt u. Günther: Leipzig 1888/89. Gift. Novelle. K.K. Hofbuchdruckerei A. Haase: Prag 1893. Gedichte. H. Steinitz: Berlin 1896. Vor dem Schwurgericht und andere Geschichten. H. Steinitz: Berlin 1896. Irrwege. Novelle. Ein Staatsgeheimnis. Roman. H. Hillger: Berlin 1897. Erinnerungen. 2 Bde. Concordia Deutsche Vlgs-Anstalt: Berlin 1898. Der Herr Professor. Roman. H. Hillger: Berlin 1899.
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Berliner Wohnorte Max Rings
(1) 1852–1857: Kronenstr. 16 (2) 1857–1859: Louisenstr. 22 (3) 1859–31. 3. 1866: Potsdamerstr 9 (4) 1. 4. 1866–1872: Köthenerstr. 14 (5) 1872–1877: Potsdamerstr. 40 (6) 1877–1901: Potsdamerstr. 52
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Personenregister Im Personenregister werden nur Namen aus dem Fließtext erfasst, die Erwähnungen in Fußnoten wurden nicht berücksichtigt.
Ahlefeldt, Elisa von 53 Alexander I. von Russland 20 Arnim, Bettina von 33–35, 42, 48, 93, 176 Ascher, Anton 55 Assing, Ludmilla 52 Auerbach, Berthold 46f., 106, 264 Bakunin, Michail 44 Balzac, Honoré de 61 Bauer, Bruno 34 Bazard, Saint-Amand 76 Beethoven, Ludwig van 239 Behr, Alfred von 35 Benedict, Traugott Wilhelm Gustav Bismarck, Otto von 10, 71–73 Blanc, Louis 77 Blum, Robert 47 Boas, Eduard 37 Börne, Ludwig 27 Borsig, August 67, 70, 184 Bourdieu, Pierre 13, 17 Brachvogel, Emil 54 Brambora, Johannes 12 Braniß, Christlieb Julius 27 Bull, Ole 34 Burger, Ludwig 54 Cabet, Étienne 77 Calvin, Johannes 45 Carrière, Moriz 33, 48 Clara Mundt (= Luise Mühlbach) Cohen, Hermann 74 Crelinger, Auguste 36, 48
27
49
Dampc-Jarosz, Renata 17 Dawison, Bogumil 55 Dessoir, Ludwig 54 Devrient, Eduard 35 Devrient, Emil 45 Dieffenbach, Johann Friedrich 32 Dohm, Ernst 71 Donnersmarck, Guido Henckel von Döring, Theodor 45 Dörring, Wit von 24 Düringer, Jacob 54
70
Eggers, Friedrich 54 Eichendorff, Joseph von 93, 120f. Enfantin, Barthélemy Prosper 76 Engels, Friedrich 77, 126 Ense, Karl August Varnhagen von 52 Ense, Rahel Varnhagen von 52 Esenbeck, Christian Gottfried Daniel Nees von 27 Esquirol, Jean-Étienne 131 Fallersleben, August Heinrich Hoffmann von 28 Ficek, Jan Alojzy 206 Fichte, Johann Gottlieb 85 Fichtner, Karl 55 Fontane, Theodor 32, 53, 79, 257f., 264 Förster, Friedrich 34 Foucault, Michel 16f., 232 Fourier, Charles 76, 104, 109 Fraenkel, Michael 10 François Noël Babeuf 76f. Fränkel, Moritz 33
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288
Personenregister
Freytag, Gustav 70 Friedberg, Heinrich von 32 Friedberg, Hermann 27 Friedländer, Emanuel 70 Friedländer, Fritz 70 Friedrich Wilhelm III. 20, 37 Friedrich Wilhelm IV. 38, 62f., 93 Friedrich Wilhelm Waldemar von Preußen 34 Fuhr, Lina 53 Gans, Eduard 31 Geisheim, Johann Karl Wilhelm 28 Glümer, Heinrich Karl Ludwig Adolf von 32 Godulla, Karl 39, 212 Goethe, Johann Wolfgang von 10, 57, 86, 239 Görner, Karl August 55 Gottschall, Rudolf 53, 258 Grobecker, Ewald 45 Grunert, Karl 45 Grünig, Karl Heinrich Ferdinand 28 Günther, Johann Christian 57 Guttentag, Samuel Simon 29 Gutzkow, Karl 49, 176, 264 Hatzfeld, Hermann Anton von 53 Haugwitz, Christian von 20f. Hauptmann, Gerhart 27 Heine, Heinrich 27 Heinrich von Anhalt-Köthen 37 Heymann, Carl 55 Heymann, Elvira 55 Heyse, Paul 32 Hildebrandt, Eduard 55 Hilscher, Rudolph 29 Hobrecht, James 67 Hofmann, Heinrich Albert 49 Hölderlin, Friedrich 57 Hollaender, Felix 71 Holtei, Karl Eduard von 28, 70 Hosemann, Theodor 54 Hülsen, Botho von 54 Humboldt, Alexander von 53 Humboldt, Wilhelm von 202f.
Ideler, Karl Wilhelm
131
Janisch, Antonie 55 Jarosz, Krzysztof 17 Jerrmann, Eduard 48 Kahlert, Karl August Timotheus Kalisch, David 49, 71 Keil, Ernst 50f. Kern, Johann Urban 46 Kerr, Alfred 71 Kiss, August 70 Kleist, Heinrich von 10 Kleist, Heinrich von 56, 57 Kohut, Adolph 9, 112 Kossak, Ernst Ludwig 50 Kugler, Theodor 54 Kuh, Karl 41 Kunst, Wilhelm 55 Küstner, Karl Theodor von 48
28
L’Arronge, Theodor 45 La Roche, Karl von 55 Lasker, Ignaz Julius 29 Lassalle, Ferdinand 10, 29f., 69, 71 Lelek, Cyprián 206 Leopold I. (HRR) 26 Lette, Wilhelm Adolf 55 Lewald, Friedrich 29 Lichnowsky, Felix von 21, 24 Lindner, Otto 52 Lompa, Józef Piotr 206 Löwenstein, Rudolf 54 Lubos, Arno 11 Marr, Heinrich 55 Martini, Fritz 139f. Martini, Moritz Gustav 131 Marx, Adolph Bernhard 49 Marx, Karl 45, 77, 104, 126 Mendelssohn, Moses 57 Menzel, Adolph 32, 54, 70 Meyer, Herrmann Julius 76 Meyer, Joseph 76 Minde-Pouet, Georg 56 Mirabeau, Honoré Gabriel de
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72
289
Personenregister
Möbius, Paul Julius 195 Mommsen, Theodor 74 Morgenstern, Lina 71 Moser, Moses 31 Mosewius, Johann Theodor Mügge, Theodor 49 Mühler, Heinrich von 32 Müller, Johannes 31 Mundt, Theodor 46
29
Napoléon III. 72 Nathusius, Philipp 34 Neumann, August 55 Nietzsche, Friedrich 195 Oppenheim, Bernhard 33, 48 Otto-Peters, Louise 176 Owen, Robert 77, 109 Pappenheim, Samuel Moritz 27 Pappenheim, Simon 22 Pestalozzi, Johann Heinrich 21 Pfuel, Ernst Heinrich Adolf von 53 Pinder, Julius 44 Pinel, Philippe 131 Prutz, Robert Eduard 176 Pückler-Muskau, Hermann Ludwig Heinrich von 53 Purkyneˇ, Jan Evangelista 27 Raabe, Wilhelm 231 Raczyn´ski, Athanasius 33 Raschdorff, Julius Carl 71 Regis, Johann Gottlob 29 Rettich, Julie 55 Reusche, Theodor 55 Reuter, Fritz 57 Ridley, Hugh 11f. Ring, Aaron 20 Ring, Babette 20 Ring, Henriette 20 Ring, Ida 55 Ring, Lina 20 Ring, Rosalie 20 Ring, Sarah 20 Ring, Victor Julius 55
Ring, Viktor 20, 22, 23, 36 Rodenberg, Julius 53 Rott, Karl Mathias 36 Rott, Moritz 49 Rüthling, Bernhard 36 Saar, Ferdinand von 140 Saint-Simon, Henri de 47, 76, 104, 109, 124 Saphir, Moritz 32 Savigny, Friedrich Carl von 33 Savigny, Kunigunde von 33 Schiller, Friedrich von 10, 57, 86, 198 Schirmer, Adolf 176 Schleiermacher, Friedrich 71 Schmidt, Elise 48 Schneider, Louis 32 Schneiderreit, Gustav 29 Schopenhauer, Arthur 195 Schramm, Anna 55 Schröder-Devrient, Wilhelmine 48, 53 Schulze-Delitzsch, Hermann 55, 69 Schurz, Carl 65 Sˇebestová, Irena 12 Servetus, Michael 45 Seydel, Karl 72 Spinoza, Baruch 10 Stawinsky, Karl 36 Stich, Clara 48 Stifter, Adalbert 79f. Strauß, David Friedrich 93 Suckow, Karl Adolf 29 Szafranek, Józef 206 Szewczyk, Graz˙yna Barbara 17 Taine, Hippolyte 211 Tarnowski, Ladislaus 29 Taubert, Wilhelm 54 Tempeltey, Eduard von 53 Tiele-Winckler, Franz von 39 Traube, Ludwig 23, 30f. Treitschke, Heinrich von 74 Twain, Mark 62 Ungern-Sternberg, Alexander von Virchow, Rudolf
41, 184
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2021, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783847112679 – ISBN E-Lib: 9783737012676
53
290
Personenregister
Wabnitz, Agnes 71 Wachler, Johann Friedrich Ludwig Weber, Max 115 Weininger, Otto 195 Weitling, Wilhelm 77 Werther, Karl Ludwig 49 Wilhelm I. 72 Wilhelm II. 72
27
Willkomm, Ernst 176 Wolff, Wilhelm 54 Wolfsohn, Wilhelm 33, 48 Wollheim, Caesar 70 Wollheim, Hermann 37 Zinzendorf, Nikolaus Ludwig von Zunz, Leopold 31
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2021, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783847112679 – ISBN E-Lib: 9783737012676
32, 47