Eichendorff über die Romantik: Drei Stücke [Reprint 2019 ed.] 9783486751284, 9783486751277


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German Pages 96 Year 1925

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Inhalt
Halle und Heidelberg
Die geistliche Poesie in Deutschland
Aus der „Geschichte der poetischen Literatur in Deutschland"
Anmerkungen
Nachwort
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Eichendorff über die Romantik: Drei Stücke [Reprint 2019 ed.]
 9783486751284, 9783486751277

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De r Dreiturmbücherei

Herausgeber! Jakob Brummer, München und Ludwig Hasenclever, Würzburg

Nr. 13

Eichendorff über die Romantik Drei Stücke KerauSgegeben, erläutert und mit Nachwort versehen von

Anton Maver-Pfannholz

München und Berlin 1925

Druck und Verlag von R.Oldenbourg

Inhalt Sette Halle und Heidelberg................................................................. 7 Die geistliche Poefle inDeutschland.................................................. 37 Aus der „Geschichte derpoetischen Literatur in Deutschland" ... 53 Anmerkungen................................................................................... 67 Nachwort....................................................................................... 8z

Halle und Heidelberg Das vorige Jahrhundert wird mit Recht als das Zeitalter der Geisterrevolution beieichnet. Allein damals wurden nur erst Parole und Feldgeschrei ausgeteilt, es war nur der erste Ausbruch des großen Kampfes, der sich unter wechselnden Evolutionen au bas neuntehate Jahrhundert vererbt hat, und noch bis heute nicht aus­ gefochten ist. Die deutschen Universitäten aber sind die Werbe, plätze und Übungslager dieses von Generation zu Generation sich erneuernden Kriegsheeres. Don Wittenberg ging einst die Re, formatioa aus, von Halle die Wolfsche Lehre, von Königsberg die Kantsche, von Jena die Fichtesche «ad Schellingsche Philosophie; lauter unsichtbare Gedaakenkatastrophen, die einen wesentlichen und entscheidenderen Einfluß auf das Gesamtleben ausgeübt haben, als sich die Staatsküastler träumen ließen. Bekanntlich ist unser Zahrhvabert unter dem Gestirn der Aufklärung geboren. Kaut hatte soeben die philosophische Arbeit seiner Vorgänger streng geordnet und, da er dieselbe in seiner groß, artigen WahrheitÄiebe für das Ganze als unzureichend erkannte, die Welt lieber sogleich in zwei Provinzen geteilt: in die durch mensch, liche Erfahrung wahrnehmbare, die er sich glorreich erobert, und in die terra incognita des Unsichtbaren, die er mit der nur dem Genie eigenen heiligen Scheu auf sich beruhen ließ. Seine Schüler aber wollten Üüger sein als der Meister «ad alles aufklärea; eine Art

chinesischer Schönmalerei ohne allen Schatten, der doch da- Bild erst wahrhaft lebendig macht. Sie setzten daher nun ihre» licht, seligen Verstand ganz allgemein als alleinigen Weltbeherrscher eia; es s-llte fortan nur noch einen Dernuaftstaat, nur Vernunft, reltgtoa, Dernunftpoefle usw. geben. Da jedoch jene zweite dunkle Provinz höchst unvernünftig mit ihrer Phantasie, mit ihrem Glauben, ihren Dolksgefühlen und Traditionen gegen dieses unerhörte Regiment zu rebellieren unternahm, so machten sie sich^s bequem, indem sie bas Geheimnisvolle und Uaerforschltche, bas sich durch das ganze menschliche Dasein hiadurchzieht, ohne weiteres als störend und überflüssig negierten. Kein Wunder demnach, daß das

deutsche Leben und das deutsche Reich, das grade auf diesen un­ sichtbaren Fundamenten vorzugsweise geruht, sich uun nach allen Seiten hin bedenklich senkte und zuletzt so lebensgefährliche Risse bekam, daß es von Polizei wegen abgetragen werben mußte. Und so «ar denn in der Tat der ganze alte Bau schon im Anfänge unseres Jahrhunderts in sich zusammengebrochen; der Sturm der französi­ schen Revolution und der nachfolgenden Fremdherrschaft hat nur den unnützen Schutt auseinandergefegt. Allein auf freiem Felde können dauernd nur Wilde wohnen, über die man sich bei aller Naturvergötterung doch so unendlich erhaben fühlte. Das begriffen alle, und so entstand damals sofort ein unerhörtes Treiben, Klopfen, Hämmern und Richten, als wäre alle Welt plötzlich Freimaurer geworden. Aber der Neu­ bau förderte nicht, weil sie über Fundament, Grund- und Aufriß fortwährend untereinander zankten. Am geschäftigsten und ver­ gnügtesten nämlich zeigten sich zunächst die dlten zähen Enzyklopä­ disten, die jetzt auf dem völlig kahlgefegten Bauplätze endlich ganz freie Hand hatten. Diese wußten wirklich nicht, daß seit Erschaffung der Erde schon mancherlei Bemerkenswertes darauf sich zuge­ tragen; sie wollten daher schlechterdings die Welt ganz von neuem anfangen und abstrakt konstruieren. Als Material hierzu trockneten sie vorerst alle Seelenkräfte auf, um sie in ihren philosophischen Herbarien gehörig zu klassifizieren, und daraus gingen damals die zahllosen neuen Gesetzbücher mit ihren Urrechten und Menschen­ veredelungen hervor. Sie waren, was fle fteilich am wenigsten sein wollten, eigentlich gutmütige Phantasten, wie ja jederzeit grade bei den Nüchternsten das bißchen defekte Phantasie am häufig­ sten überschnappt, welches der gesunden nicht leicht begegnet. Cs ist hiernach auch sehr begreiflich, daß in dieser alles verwischenden Gleichmacherei ohne Nationalität und Geschichte ein kühner Geist, wie Napoleon, den Gedanken einer ganz gleichförmigen europäischen Untversalmonarchie fassen konnte. Aber diesen Transzendentalen gegenüber ober vielmehr direkt entgegen arbeiteten gleichzeitig ganz andere Bauleute: die Frei­ schar der Romantiker, die in Religion, Haus und Staat auf die Vergangenheit wieder zurückgingen; also eigentlich die historische Schule. Das deutsche Leben sollte aus seinen verschütteten geheimnis­ vollen Wurzeln wieder ftisch ausschlagen, das ewig Alte und Neue wieder zu Bewußtsein und Ehren kommen. — Da jedoch beide Parteien einander keineswegs hinreichend gewachsen waren, so

nahm bei solchem Stoß «ad Gegenstoß späterhin die ganze Sache eine diagonale Richtung. Es entstand die aus beide» widerstrebenden Elementen wunderlich komponierte moderne Daterlänberei; ei» imaginäres Deutschland, das weder recht vernünftig, noch recht historisch «ar. Alle diese verschiedenen Richtungen waren natürlich vorzugs­ weise und in möglichster Konzentration auch auf deu deutschen Universttätea repräsentiert. Namentlich in dem ersten Dezennium unseres Jahrhunderts bildeten dort die obenerwähnten Abstrakte», meist halbverkommene Kantianer, durchaus noch die tonangebende Majorität. Die Philosophen setzten in ihrer Logik, wie wenn man beim Lesen erst wieder buchstabieren sollte, umständlich auseinander, waS flch ganz von selbst verstand; die Theologen lehrten eine elegante Aufklärungsreltgion; die Juristen ein sogenanntes Naturrecht, das nirgends galt und niemals gelten konnte. Nur etwa die Lehrer des römischen Rechts machten hie. und da eine auffallende Aus­ nahme, weil der Gegenstand fle zwang, stch in das Pofltive einer großartigen Vergangenheit zu vertiefe». Cs ist bekannt, wie Be­ deutendes Thibaut auf diesem Felde geleistet und wie der mlldernste Savigny,der überdies niemals in dieser Reihe gestanden, gerade damals sich überall neue Bahnen gebrochen hat. Jene halbiuvaliden und philosophische« Handwerker dagegen, da sie au stch so wenig Anziehungskraft besaßen, suchten nun mit allerlei schlauen Kunststücken zu «erben; die Derbsten unter ihnen durch zum Teil sehr schmutzige Witze und Späße, die alljährlich bet dem­ selben Paragraphen wiederkehrten; die vornehmeren, zumal weun fle heiratslustige Töchter hatten, durch intime Soireen und Plauder­ tees, um die bärtigen Burschen zu zivilisieren. Und das gelang auch ganz vortrefflich, denn zu ihnen hielt in der Tat beiweitem die Mehrzahl der jungen Äule, nämlich alle die unsterblichen Bettelstudenten, wie man sie billigerwetse nennen sollte, da sie bloß auf Brot studiere». Es war wahrhaft rührend anzusehea, wie da in den überfüllten Auditorien in der schwülen Atmosphäre der ent­ setzlichsten Langenweile Lehrer und Schüler um die Wette verzwetfluugsvoll mit dem Schlummer rangen, und dennoch überall die Federn unermüdlich fortschwirrten, um die verschlafene Wissen­ schaft zu Papier zu bringen und in sauberen Heften gewissenhaft heimzutragen. Allein nebenher ging auch noch ein anderer geharnischter Geist durch diese Universttäten. Sie hatten vom Mittelalter noch eia

gut Stück Romantik ererbt, waS fteilich in der veränderten Welt wunderlich und seltsam genug, fast wie Don Quixote, sich ausnahm. Der durchgreifende Grundgedanke war dennoch ein kerngesunder: der Gegensatz von Ritter und PHUister. Stets schlagfertige Tapferkeit «ar die Kardinaltugend des Studenten, die Muse, die er ost gar nicht kannte, «ar seine Dame, der Philister der tausendköpfige Drache, der fie schmählich gebunden hielt, und gegen den er daher, wie der Maltheser gegen die Ungläubigen, mit Faust, List und Spott beständig zu Felde lag; denn die Jugend kapituliert nicht und kennt noch keine Konzessionen. Und gleichwie Überall gerade unter Verwandten — «eil fie durch gleichartige Gewohnheiten und Prätensionen einander wechselseitig in den Weg treten — oft die grimmigste Feindschaft ausbricht, so wurde auch hier aller Phtltsterhaß ganz besonders auf die Handwerksburschen (Knoten) gerichtet. Wo diese etwa auf dem sogenannten breiten Steine (dem bescheidenen Vorläufer des jetzigen Trottoirs) sich betreten ließen, oder gar Studentenlieder anzustimmen wagten, wurden sie sofort in die Flucht geschlagen. Waren sie aber vielleicht in allzu bedeutender Mehrzahl, so erscholl das allgemeine Feldgeschrei: Burschen heraus! Da stürzten, ohne nach Grund und Veran­ lassung zu frugen, halbentkleidete Studenten mit Nappieren und Knütteln aus allen Türen, durch den herbeieilenden Sukkurs des nicht minder rauflustigen Gegenparts wuchs das improvisierte Handgemenge von Schritt zu Schritt, dichte Staubwirbel verhüllten Freund und Feind, die Hunde bellten, die Häscher warfen ihre Bleistifte (mit Fangeisen versehene Stangen) in den verwickelten Knäuel; so wälzte sich der Kampf oft mitten in der Nacht durch Straßen und Gäßchen fort, daß überall Schlafmützen erschrocken ans den Fenstern fuhren und hie und da wohl auch ein gelocktes Mädchenköpfchen in scheuer Neugier hinter den Scheiben sichtbar wurde. Die damaligen Universitäten hatten Überhaupt noch ein durchaus ftemdes Aussehen, als lägen sie außer der Welt. Man konnte kaum etwas Malerisches sehen, als diese phantastischen Studenten­ trachten, ihre sangreichen WanderzÜge in der Umgebung, die nächt­ lichen Ständchen unter den Fenstern imaginärer Liebchen; dazu das beständige Klirren von Sporen und Nappieren auf allen Straßen, die schönen jugendlichen Gestalten zu Roß, und alles be­ waffnet und kampfbereit wie ein lustiges KrtegÄager ober ein permanenter Mummenschanz. Alles dies aber kam erst zu rechter IO

Blüte und Bedeutsamkeit, wo die Natur, die ewig juug, auch am getreuste» jn der Jugeud hält, selber mitdichteud studiere» half. Wo, wie z. D. ia Heidelberg, der Walbhauch von deu Bergeu er, frischend durch die Straßen ging und nachts die Druuaen auf de» stille» Plätze» rauschte», uad t» dem Blüteameer der Gärte» rtags die Nachtigallen schlüge», mitte» jwischea Bürge» uad Eriaaeruagea einer große» Dergaageaheit; da atmete auch der Stubeut steter auf «ad schämte vor der ernsten Sagenwelt stch der kleinliche» Brotjägerei und der kindischen Brutalität. Wie großartig im Der, gleich mit anderen Studentengelagen war namentlich der Heidel, berger Kommers, hoch über der Stadt ans der Altaae des halb, verfalle»«» Burgschloffes, wen» rings die Täler abendlich ver, funken, und von dem Schlosse nun der Widerschein der Fackel» die Stadt, den Neckar und die darauf hingleitenbeu Nachen be, leuchtete, die fteudige» Burschenlieder dann wie ein Frühliagsgrvß durch die träumerische Stille htujogen und Wald u»b Neckar «uuder, bar mitsangen. — So war das ganze Studeatenwesen eigentlich ein «tldschöaes Märchen, dem gegenüber die übrige Measchheit, die altklug den Maßstab des gewöhnliche» Lebens daran legte, »ot, wendig, wie Sancho Paasa »eben Do» Quixote, philisterhaft »ad lächerlich erscheine» mußte. I» jeuer Zeit brütete äußerlich »och ei» unheimlicher Friede» über Deutschland, aber die prophetische» Gedaake», die den Krieg bedeute», arbeiteten gebundea in jeder Brust, und suchte» stch überall in wunderlichen Geheimbüadea Luft zu machen. Auch auf den UntversitLtea bestanden dergleichen Orbeusverbinbungen, »och ohae speziell politische» Beischmack, bloß auf allgemeine humantsttsche Zwecke gerichtet, mit allerlei abenteuerliche» Symbolen, furcht, bare» Ctdea uad raffelndem Heldeaschmuck, wie man es damals ta de» viele» Ritterromaaen fand. Bestand auch ihr Hauptretz ebea nur ta ihrer Heimlichkeit, die Sache war doch ehrlich, bitter, ernst und für die ganze Lebenszeit gemeint. Als aber jene humantstt, schea Ideen nach uad nach abgenutzt, und alle Lebensverhältuiffe immer matter wurden, da trat auch hier an die Stelle der strengen Orden die laxere Observanz der Landsmannschaften. Wie man draußen in der Philisterwelt nun mit dem Anstand statt der Tugend stch begnügte, so gingen auch diese Landsmannschaften eigentlich nur auf den Schein des Seins, auf den bloßen „Kommend. Gegen eine nähere Verbrüderung der speziellen Landsleute, obgleich im allgemeinen beengend uad einseitig, ließ stch im Grunde nicht viel

eiuveuden. Allein dies «ar nicht einmal der Fall bei ihnen, sie warben eifersüchtig auch aus anderen Provinzen und verfolgten die eigenen Landsleute, wenn sie sich ihrem Zwange nicht unter­ werfen mochten. Und da mithin hier die rechte sittliche Grundlage fehlte, dieses Treiben vielmehr, wie schon der selbstgewählte fade Name „Kränzchen" andeutet, sich lediglich auf der Oberfläche ge­ selliger Verhältnisse bewegte, so artete das Ganze sehr bald in bloßes Dekorationswesen, in ein pedantisches Systematisieren der Jugendlust aus; Mut, Fröhlichkeit, Tracht, Trinken, Singen, alles hatte seine handwerksmäßige Tabulatur, das unwürdige Prellen und Pressen der „Füchse" war ein löbliches Geschäft, Sittenlosig­ keit und affektierte Roheit eine besondere Auszeichnung, und es ist hiernach leicht erklärlich, daß gerade ihre Matadore im späteren Leben ost die stattlichsten Philister wurden. Mit der inneren Hohl­ heit aber wuchs die Prätension, sie knechteten die akademische Frei­ heit, indem jeder nur auf ihre Weise frei sein sollte, und so währte noch langehin ein gewaltiges Ringen zwischen ihnen und den alternden Orden; ein Kampf, der in einzelnen Fällen mit einer heroischen Aufopferung geführt wurde, die wohl eines größeren Zieles würdig gewesen wäre. So faßte z. D. einst ein hervor­ ragendes Ordensmitglied den kühnen Gedanken, sich unerkannt mitten in das feindliche Lager zu begeben, um durch Überredung, Rat und Tat die Gegenpartei zu den Seinigen herüberzuführen. Er hatte sich auch wirklich bereits zum Senior einer Landsmannschaft heraufgeschwungen, und der abenteuerliche Plan wäre fast geglückt, als feiger Verrat alles zu früh aufbeckte, und er nun in zahllosen Zweikämpfen sich durch sämtliche Landsmannschaften wieder heraus­ schlagen mußte, was allerdings ein Kampf auf Tod und Leben war. Das mag uns in gesetzteren Jahren jetzt unnütz und kindisch erscheinen; es war aber immerhin eine Vorschule bedeutender Charaktere, die, wie wir wissen, zur Zeit der Not und als es höhere Dinge galt, sich als tüchtig bewährt haben. So war in der Tat auf den Universitäten eine gewisse mittel­ alterliche Ritterlichkeit niemals völlig ausgegangen und selbst in jener Verzerrung und Profanation noch erkennbar. Unter allen diesen Jünglingen aber bildeten die eigentlichen, die literarischen Romantiker wiederum eine ganz besondere Sekte. — Die allgemeine Stimmung oder vielmehr Verstimmung war schon seit langer Zeit so prosaisch geworden, daß jeder romantische Anflug für ein Sakrilegium gegen den gesunden Menschenverstand gehalten und

höchsten- als et» barocker Jugendstreich noch toleriert wurde. Der schwere Provtantwageo der Drotwissenschafiea bewegte flch langsam in dem hergebrachten Geleise eines hölzernen Schematismus, die Religion mußte Dernunst annehmen und beim Rationalismus in die Schule gehu, die Natur wurde atomistisch wie ein toter Leichnam terlegt, die Philologie vergnügte flch gleich einem kindisch gewordenen Greise mit Eilbeastechen und endlosen Variationen über ei» Thema, das fle längst vergessen, die bildende Kunst endlich brüstete flch mit einer sklavischen Nachahmung der sogenannten Natur. Die Kraftgenies in den achtziger Jahren deS vorigen Jahr­ hunderts hatten durch ihre Übertreibung und lärmende Renom­ misterei das Übel eigentlich nur «och schlimmer und unheilbarer ge­ macht, indem fle in vollem BurschenwtchS ohne weiteres a«S der Universität in die Welt hinaussprengten und Leben und Literatur burschikos einrichteu wollten, waS natürlicherweise einen allge­ meinen Landsturm der Gelehrten gegen die Freibeuter auf die Dein« brachte. Zwar hatten Lesflng, Hamann und Herber nach den verschiedensten Richtungen hi» schon Blitze und Leuchtkugeln da­ zwischen geschleudert. Allein LesflngS kritische Blitze waren nur kalte Schläge, und da sie nicht zündeten, meinte jeder, eS gelte den Nach, bar, «ad hielt ihn gettost für den Seintgen. Herder dagegen ttug a«S aller Welt herrliche Bausteine zusammen, als eS aber ans Baue« kam, «ar er inzwischen alt und müde geworden, sei» Leben und Wirken büeb ein großartiges Fragment; und Hamanns Geister­ stimme verklang unverstanden in den Wolken. Auch in der Poesie hatten Goethe und Schiller bereits den neuen Tag angebrochen, aber sie hatten noch keine Gemeinde. Das Wetterleuchten dieser Genien, obgleich den Frühling andeutenb und vorbereitend, blendete und erschreckte vielmehr im ersten Augenblick die Menge; man hörte überall die Sturmglocken gehn, niemand aber wußte, ob und wo es brennt, die einen wollten löschen, die anderen schüren, und so entstand die allgemeine Konfusion, womit das neunzehnte Jahr, hundert debütierte. Da standen unerwartet und fast gleichzeitig mehrere gewaltige Geister in bisher ganz unerhörter Rüstung auf: Schelling, Novalis, die Schlegels, Görres, Steffens und Tteck. Schelling mit seiner kleinen Schrift über das akademische Studium, worin er den ge­ heimnisvollen Zusammenhang in den Erscheinungen der Natur sowie in den Wissenschaften andeutete, warf den ersten Feuerbrand in die Jugend; gleich darauf suchten andere diese pulsterende Welt-

seele in den einzelnen Doktrinen nachznweisen: Werner in der Geologie, Creuzer im Altertum und dessen Götterlehre, Novalis in der Poesie. Es «ar, als sei überall, ohne Verabredung und sichtbaren Verein, eine Verschwörung der Gelehrten ausgebrochen, die auf einmal eine ganz neue wunderbare Welt aufdeckte. K Am auffallendsten wohl zeigte sich die Verwirrung, welche diese plötzliche Revolution anrichtete, auf der damals ftequentesten Universität: in Halle, weil dort das heterogenste Material auch den entschiedensten Kampf provozierte. Hier trennte sich alles in zwei Hauptlager: in das stabile der Halbinvaliden, und das beweg, liche des neuen Freikorps, während das letztere wieder in mehrere verschiedenartige Gruppen zerfiel, welche aber von der Jugend, die noch nicht so ängstlich sondert, unter den Begriff der Romantik zusammengefaßt wurden. An der Spitze der Romantiker stano Steffens. Jung, schlank, von edler Gestchtsbildung und feurigem Auge, in begeisterter Rede kühn und wunderbar mit der ihm noch fremden Sprache ringend, so «ar seine Persönlichkeit selbst schon eine romantische Erscheinung und zum Führer einer begeisterungs, fähigen Jugend vorzüglich geeignet. Sein freier Dorttag hatte durchaus etwas Hinreißendes durch die dichterische Improvisation, womit er in allen Erscheinungen des Lebens die verhüllte Poesie mehr divinierte als wirklich nachwies. Am unmittelbarsten mußte diese Naturphilosophie begreiflicherweise die Mediziner berühren, unter denen die besseren Köpfe sich jetzt von der bisherigen Empirie zu dem ritterlichen Reil und zu Froriep wandten, die überall auf das geheimnisvolle Walten höherer Naturkräfte hindeuteten. — Eine andere Gruppe wieder bildeten die jungen Theologen, welche sich um Schleiermacher scharten. Dieser merkwürdig komponierte Geist schien, seiner ursprünglichen stachelichten Anlage nach, zum Antipoden der Romantik geeignet; und doch hielt er wacker zu ihr, und hat auf demselben platonischen Wege der Theologie, die damals zum Teil in toten Formeln, zum Teil in fader Erfahrungs, seelenlehre sich erging, wieder Gemüt erobert; eine Art von ge, harnischtem Pietismus, der mit scharfer Dialektik alle Sentimentali, tät männlich zurückwies. — Am entferntesten wären vielleicht die Philologen geblieben, hätte nicht Wolf, obgleich persönlich nichts weniger als Romantiker, hier wider Wissen und Willen die Dermitte, lung übernommen durch den divinatorischen Geist, womit er das ganze Altertum wieder lebendig zu machen wußte, sowie durch eine geniale Humoristik und den schneidenden Witz, mit dem der stets M

Streitlustige gegen Schütz unb andere, welche die Alten noch immer mumienhaft einzubalsamteren fortfuhren, fast in dramatischer Weise beständig zu Felde lag. — Zwischen diesen Gruppen klemmte sich endlich noch eine ganz besondere Spezies von Philosophen herein, die den unmögliche» Versuch machte, die Kantsche Lehre ius Romantische zu übersetzen. Hierher gehörte Professor Kayßler, ein ehemaliger katholischer Priester, der geheiratet, und nuu, gleich, sam zur Rechtfertigung dieses abenteuerlichen Schrittes, sich eine noch abeuteuerlichere Philosophie erfunden hatte. Er hatte es indes als doppelter Renegat mit den Kantianern wie mit deu Romantikern verdorben; seine trockenen, abstrusen Vorträge fände» fast uur unter seinen schlesischen Laudsleuteu geringen Anklaug, und wir wollten ihn hier bloß ueune», um das Bild der damalige» elementarischen Gärung möglichst zu vervollständigen. — Gegen, über allen diesen neuen Bestrebungen lag aber die breite schwere Masse der Kantscheu Orthodoxen und der Stockjuristen, sämtlich von dem wohlfeilen Kunststück voruehmeu Ignorierens fleißig Gebrauch machend; unter deu letztere» einerseits Schmaltz, der nachherige Geheimrat der Demagogeujäger, der die Kantsche Philosophie, die er vor kurzem sich iu Königsberg geholt, auf seine faselige Weise elegant zu macheu suchte; anderseits Dabelow, König, Wollaer u. a., die von der Philosophie überhaupt uichts wußten, übrigens stand Halle, so unsteunblich auch die Stadt und ein großer Teil ihrer Umgebung ist, in jener Zeit noch in mancherlei lokalem Rapport mit der romantischen Stimmung. Der nahe Gtbichensteiu mit seiner Burgruine, an die sich die Sage von Ludwig dem Springer knüpft, war damals noch nicht modern englisiert und eiugehegt, wie jetzt, und bot in seiner verwilderten Einsamkeit eine ganz «rüge Werkstatt für ein junges Dichterherz. Wer als Jüngling von dieser Höhe hinabgeblickt, und sie im Aller nach vielen Jahren «iederfleht, dem wird vielleicht dabei ungefähr zumute sein wie dem Autor nachstehenden Liedchens: Da steht «ine Burg über'« Tale Und schaut in den Strom hinein. Da« ist die fröhliche Saale, Da« ist der Gidicheastetn. Da hab' ich so oft gestanden, €« blühten Täler und Höh'n, Und seitdem in allen Landen Sah ich nimmer die Welt so schön!

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Durchs Grün da Gesänge schallten, Dou Rossen, zu Lust und Streit, Schauten viel" schlanke Gestalten Gleichwie in der Ritterzeit.

Wir waren die fahrenden Ritter, Eine Burg war noch jedes Hauö, Cs schaute durchs Blumeugitter Manch schönes Fräulein heraus. Das Fräulein ist alt geworden. Und unter Philistern umher Zerstreut ist der Ritterorden, Kennt keiner den andern mehr.

Auf dem verfallenen Schlosse, Wie der Burggeist, halb im Traum, Steh" ich jetzt ohne Genossen Und kenne die Gegend kaum. Und Lieder und Lust und Schmerzen, Wie liegen sie nun so weit — O Jugend, wie tut im Herzen Mir deine Schönheit so leid.

Völlig mystisch dagegen erschien gar vielen der am Gibichenstein belesene Reichharbsche Garten mit seinen geistreichen und schönen Töchtern, von denen die eine Goethesche Lieder komponierte, die andere sogar Steffens' Braut war. Dort aus den geheimnis­ vollen DoskettS schallten oft in lauen Sommernächten, wie von einer unnahbaren Zauberinsel, Gesang und Gitarrenklänge her­ über; und wie mancher junge Poet blickte da vergeblich durch das Gittertor, oder saß auf der Gartenmauer zwischen den blühenden Zweigen die halbe Nacht, künftige Romane vorausträumenb. — Nicht allzu fern davon aber, um auch in dieser Beziehung die Gegensätze zu vervollständigen, bewohnte Lafontaine ein idyllisches Landhaus. Man erzählte von ihm, daß er selbst an seinen schlechten Romanen eigentlich am wenigsten schuld sei, daß ihn vielmehr seine Verleger von Zeit zu Zeit nach Berlin verlockten und dort so lange gleichsam eingesperrt hielten, bis er einen neuen dicken Roman fertig gemacht; was er denn, um nur wieder freizukommen, jedesmal mit unglaublicher Geschwindigkeit besorgt habe. Und hiemit stimmte in der Tat auch seine ganze äußere Erscheinung. Es war ein bequemer, freundlicher, lebensfroher Mann, der jetzt, da die Zeit seine Sentimentalität quiesziert hatte, stch getrost auf das 16

Übersetzen alter Klassiker verlegte, und wie ein harmloser Revenant unter der verwandelten Generation umherging. Don nicht geringer Bedeutsamkeit war auch die Nähe von Lauchsiädt, wo die Weimarsche» Schauspieler während der Bade­ saison Vorstellungen gaben. Diese Truppe war damals in der Tat ein merkwürdiges Phänomen, und hatte unter Goethes und Schillers persönlicher Leitung wirklich erreicht, was späterhin andere, z. B. Jmmermann in Düsseldorf, vergeblich anstrebten, nämlich das Theater zu einer höheren Kunstanstalt und poetischen Schule des Publikums emporzuheben. Sie hatten allerdings, und wir möchten fast hinzufügen: glücklicherweise, keine eminent hervorragenden Talente, die durch das tzetvortreten einer übermächtigen Persönlich­ keit so oft die Harmonie des Ganzen mehr stören als fördern, gleichwie die sogenannten schönen Stellen noch lange kein Gedicht machen. Aber sie hatten, was damals überall fehlte, ein künstle­ risches Zusammenspiel. Denn eben jener höhere Aufschwung der waltenden Intentionen hob alle gleichmäßig über das Gewöhnliche und schloß das Gemeine oder Mittelmäßige von selbst aus; jeder hatte ein intimeres Verständnis seiner Kunst und seiner jedes­ maligen Aufgabe, und ging daher mit Lust und Begeisterung ans Werk. Und so durften sie wagen, was den berühmtesten Hof­ theatern bei unverhältnismäßig größeren Kräften damals noch gar nicht in den Sinn kam. Mitten in der allgemeinen Misere der Kotzebueaden und Jffländerei eroberten sie sich kühn ganz neue Provinzen; gleichsam die Tragweite der Kunstwerke und des Pu­ blikums nach allen Seiten hin prüfend, brachten sie Calderon auf die Bühne, gaben den Alarcos und den Jon der Schlegel, Brentanos Ponce de Leon usw. — Man kann leicht denken, wie sehr dieses Verfahren gerade das empfänglichste und dankbarste Publikum der Studenten enthusiasmiere» mußte. Die Komödienzettel kamen des Morgens schon, gleich Götterboten, nach Halle herüber, und wurden, wie später etwa die politischen Zeitungen und Kriegs­ bulletins, beim „Kuchenprofeffor" eifrigst studiert. War nun eines jener literarischen Meteore oder ein Stück von Goethe oder Schiller angekündigt, so begann sofort eine wahre Völkerwanderung zu Pferde, zu Fuß, oder in einspännigen Kabriolets, nicht selten einer großen Retirade mit lahmen Gäulen und umgeworfenen Wägen vergleichbar, niemand wollte zurückbleiben, die Reicheren griffen den Unbemittelten mit Entree und sonstiger Ausrüstung willig unter die Arme, denn die Sache wurde ganz richtig als eine NationalXIIl/2

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augelegeuheit betrachtet. In Lauchstädt selbst aber konnte man, wenn es sich glücklich fügte, Goethe und Schiller oft leibhaftig erblicken, als ob die olympischen Götter wieder unter den Sterblichen umher wandelten. Und außerdem gab es dort auch vor und nach der Theatervorstellung, in der großen Promenade noch eine kleine Weltkomödie, in welcher, wenigstens in den Augen der jüngeren Damen, die Studenten selbst die Heldenrollen spielten. Diese fühlten sich überhaupt wahrhaft als Musensöhne, es war ihnen j« Mute, als sei dies alles eigentlich nur ihretwegen veranstaltet; und sie hatten im Grunde recht, da sie vor allen andern das rechte Herz dazu mitbrachten. Dieses althallesche Leben aber wurde im Jahre 1806 beim Zusammensturz der Preußischen Monarchie unter ihren Trümmern mit begraben. Die Studenten hatten unzweideutig Miene gemacht, sich in ein bewaffnetes Freikorps zusammenzutun. Napoleon, dem hier zum ersten Male ein Symptom ernsteren Dolkswilleas gleichsam prophetisch warnend entgegentrat, hob daher zornentbrannt die Universität auf, die Studenten wurden mit uner­ hörtem Vandalismus plötzlich und unter großem Wehgeschrei der Bürger nach allen Weltgegenden auseinandergetrieben und mußten, ausgeplündert und zum Teil selbst der nötigen Kleidungs­ stücke beraubt, sich einzeln nach Hause betteln. — Wunderbarer Gang der Weltgerichte! Dieselben vom übermütigen Sieger in den Staub getretenen Jünglinge sollten einst siegreich in Paris einziehen. Der Geist einer bestimmten Bildungsphase läßt sich nicht auf­ heben, wie eine Universität. Was wir vorhin als das Charakteristische jener Periode bezeichnet: die Opposition der jungen Romantik gegen die alte Prosa war keineswegs auf Halle beschränkt, sondern ging wie ein unsichtbarer Frühlingssturm allmählich wachsend durch ganz Deutschland. Insbesondere aber gab es dazumal in Heidel­ berg eine« tiefen, nachhaltenden Klang. Heidelberg ist selbst eine prächtige Romantik; da umschlingt der Frühling Haus und Hof und alles Gewöhnliche mit Reben und Blumen, und erzählen Burgen und Wälder ein wunderbares Märchen der Vorzeit, als gäb' es nichts Gemeines auf der Welt. Solch' gewaltige Szenerie konnte zu allen Zeiten nicht verfehlen, die Stimmung der Jugend zu erhöhen und von den Fesseln eines pedantischen Komments zu befreien; die Studenten tranken leichten Wein anstatt des schweren Bieres, und waren fröhlicher und gesitteter zugleich als in Halle. Aber es ttat

gerade damals in Heidelberg noch eine ganz besondere Macht hinzn, um jene glückliche Stimmung zu vertiefen. Es hauste dort ein etnfiedlerischer Zauberer, Himmel und Erde, Vergangenheit und Zukunft mit seinen magischen Kreisen umschreibend — das war Görres. Es ist unglaublich, welche Gewalt dieser Mann, damals selbst noch jung und unberühmt, über alle Jugend, die irgend geistig mit ihm in Berührung kam, nach allen Richtungen hin ausübte. Und diese geheimnisvolle Gewalt lag lediglich in der Großartig­ keit seines Charakters, in der wahrhaft brennenden Liebe zur Wahr­ heit und einem unverwüstlichen Freiheitsgefühl, womit er die einmal erkannte Wahrheit gegen offene und verkappte Feinde und falsche Freunde rücksichtslos auf Tod und Leben verteidigte; denn alles Halbe war ihm tödlich verhaßt, ja unmöglich, er wollte die ganze Wahrheit. Wenn Gott noch in unserer Zeit einzelne mit prophetischer Gabe begnadigt, so war Görres ein Prophet, in Bildern denkend und Überall auf den höchsten Zinnen der wild­ bewegten Zeit weissagend, mahnend und züchtigend, auch darin den Propheten vergleichbar, daß das „Steiniget ihn!" häufig genug Über ihm ausgerufen wurde. Drüben in Frankreich hatte er bei den Banketten der bluttriefenden Revolution, hier in den Kongreßsälen der politischen Weltweisen das Mene Tekel kühn an die Wand geschrieben, und konnte sich nur durch rasche Flucht vor Kerker und Banden retten, ost monatelang arm und heimatlos umherirrend. — Seine äußere Erscheinung erinnerte einigermaßen an Steffens und war doch wieder grundverschieden. Steffens hatte bei aller Tüchtigkeit etwas Theatralisches, «ährend Görres, ohne es zu wollen oder auch nur zu wissen, schlicht und bis zum Extrem selbst die unschuldigsten Mittel des Effekts verschmähte. Sein durchaus freier Vortrag war monoton, fast wie fernes Meeres­ rauschen schwellend und sinkend, aber durch dieses einförmige Gemurmel leuchteten zwei wunderbare Augen und zuckten Ge­ dankenblitze beständig hin und wieder; es war wie ein prächtiges nächtliches Gewitter, hier verhüllte Abgründe, dort neue unge­ ahnte Landschaften plötzlich aufdeckend, und Überall gewaltig, weckend und zündend fürs ganze Leben. Neben ihm standen zwei Freunde und Kampfgenossen: Achim von Arnim und Clemens Brentano, welche sich zur selben Zeit nach mancherlei WanderzÜgen in Heidelberg niedergelassen hatten. Sie bewohnten im „Faulpelz", einer ehrbaren aber obskuren 2

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Kneipe am Schloßberg, einen großen lustigen Saal, dessen sechs Fenster mit der Ausstcht über Stadt und Laad die herrlichsten Wandgemälde, das herüberfuakelade Zifferblatt deS Kirchturms ihre StoSuhr vorstellte; sonst «ar wenig von Pracht oder Haus­ gerät darin t« bemerken. Beide verhielten sich zu Görres eigentlich wie fahrende Schüler zum Meister, untereinander aber wie ein seltsames Ehepaar, wovon der ruhige mild-ernste Arnim den Mana, der ewig bewegliche Brentano den weiblichen Part machte. Arnim gehörte zu den seltenen Dichternaturen, die, wie Goethe, ihre poetische Weltanflcht jederzeit von der Wirklichkeit zu sondern wissen, und daher besonnen über dem Leben stehen und dieses stet als ein Kunstwerk behandeln. Den lebhafteren Brentano dagegen riß eine übermächtige Phantast« beständig hin, die Poeste ins Leben zu mischen, was denn häufig eine Konfusion und Verwickelungen gab, aus welche« Arnim den unruhigen Freund durch Rat und Tat zu lösen hatte. Auch äußerlich zeigte sich der große Unterschieb. Achim von Arnim war von hohem Wuchs und so auffallender männlicher Schönheit, daß eine geistreiche Dame einst bei seinem Anblick und Namen in das begeisterte Wortspiel: „Ach im Arm ihm" ausbrach; während Bettina, welcher, wie sie selber sagt, eigentlich alle Menschen närrisch vorkamen, damals an ihren Bruder Clemens schrieb: „Der Arnim sieht doch königlich aus, er ist nicht in der Welt zum zweiten Mal." — Das letztere konnte man zwar auch von Brentano, nur in ganz anderer Beziehung sagen. Während Arnims Wesen etwas wohltuend Beschwichtigendes hatte, war Brentano durchaus austegend; jener erschien im vollsten Sinne des Worts wie eia Dichter, Brentano dagegen selber wie eia Gedicht, das, nach Art der Volkslieder, oft unbeschreiblich rührend, plötz­ lich und ohne sichtbaren Übergang in sein Gegenteil umschlug und sich beständig in überraschenden Sprüngen bewegte. Der Grundton «ar eigentlich eine tiefe, fast weiche Sentimentalität, die er aber gründlich verachtete, eine eingeborene Genialität, die er selbst keineswegs respektierte und auch von andern nicht respektiert wissen wollte. Und dieser unversöhnliche Kampf mit dem eigenen Dämon war die eigentliche Geschichte seines Lebens und Dichtens, und er­ zeugte in ihm jenen unbändigen Witz, der jede verborgene Narrheit der Welt instinktartig aufspürte und niemals unterlassen konnte, jedem Toren, der sich weise dünkte, die ihm gebührende Schellen, kappe aufzustülpen, und sich somit überall ingrimmige Feinde zu erwecken. Klein, gewandt und südlichen Ausdrucks, mit wunderbar 30

schöne», fast geisterhaften Augen, «ar er wahrhaft räuberisch, wenn er selbstkomponierte Lieder oft aus dem Stegreif zur Gitarre saug. Dies tat er am liebsten in Görres' einsamer Klause, wo die Freunde allabendlich eiuzusprechen pflegten; und mau könnte schwerlich einen ergötzlicheren Gegensatz der damals florierenden ästhetischen Tees ersinnen, als diese Abeudunterhaltungen, häufig ohne Licht und brauchbare Stühle, bis tief in die Nacht hinein: wie da die Dreie alles Große und Bedeutende, das je die Welt bewegt hat, in ihre belebenden Kreise zogen, und mitten in dem Wetterleuchten tiefsinniger Gespräche Brentano mit seinem «itzsprühenden Feuer­ werk dazwischen fuhr, das dann gewöhnlich in ein schallendes Ge­ lächter zerplatzte. Das nächste Resultat dieser Abende «ar die Einstedlerzeitung, welche damals Arnim und Brentano in Heidelberg Herausgaben. Das selten gewordene Blatt war eigentlich ein Programm der Romantik; einerseits die Kriegserklärung an das philisterhafte Publikum, dem es feierlich gewtdmet und mit dessen wohl-etroffenem Porträt es verziert «ar; anderseits eine Probe, und Muster­ karte der neuen Bestrebungen: Beleuchtung des vergessenen Mittelalters und seiner poetischen Meisterwerke, sowie die ersten Lieder von Uhland, Justinus Kerner u. a. Die merkwürdige Zeitung hat nicht lange gelebt, aber ihren Zweck als Leuchtkugel und Feuer­ signal vollkommen erfüllt, übrigens standen ihre Verfasser in der Tat eiafledlerisch genug über dem großen Treiben und Arnim und Brentano, obgleich sie neben Tieck, die einzigen Produzenten der Romantiker waren, wurden doch von der Schule niemals als vollkommen zünftig anerkannt. Sie strebten vielmehr, die Schule, die schon damals in überkünstlichea Formen üppig zu luxurieren anfing, auf die ursprüngliche Reinheit und Einfachheit des Natur­ lauts zurückzuweisen. In diesem Sinne sammelten fle selbst auf ihren Fahrten und durch gleichgestimmte Studenten überall die halbverschollenen Volkslieder für „des Knaben Wunderhora", das, wie einst Herders Stimmen der Völker, durch ganz Deutschland einen erfrischenden Klang gab. Auch Creuzer lebte damals in Heidelberg und gehörte, wiewohl dem genannten Triumvirat persönlich ziemlich fern stehend, durch seine Bestrebungen diesem Kreise an. Seine mystische Lehre hat, z. B. später in Lobeck, sehr tüchtige Gegner gefunden, und wir «ollen keineswegs in Abrede stellen, daß die phantastische Weise, womit er die alte Götterlehre als ein bloßes Symbolum christlich

umzubeuten sucht, gar ost an den mittelalterlichen Neuplatonismus erinnert und am Ende zu einer gänzlichen Auflösung deS Alter­ tums führt. Allein in Kriegszeiten bedarf ein grober Feind auch eines gewaltsamen Gegenstoßes. Erwägt man, wie geistlos dazu­ mal die Mythologie als eia bloßes Schulpeasum getrieben wurde, so wird man CreuzerS Tat billigerweise wenigstens als eine sehr zeitgemäße und heilsame Auftegung anerkennen müssen. — Noch zwei andere, höchst verschiedene Heidelberger Zeitgenossen dürfen hier nicht unerwähnt bleiben; wir meinen: Thibaut und GrieS. In solchen Übergangsperioden ist die sanguinische Jugend gern bereit, den Spruch: „Wer nicht mit unS ist, ist gegen unS" gelegent­ lich auch umzukehren und jeden für den ihrigen zu nehmen, der nicht zum Gegenpart hält; und in dieser Lage befand sich Thibaut. Schon seine äußere Erscheinung mit den langherabwallenden, damals noch dunkelen Locken, «aS ihm ein gewisses apostolisches Ansehen gab, noch mehr der eingeborene Widerwillen gegen alles Kleinliche und Ge­ meine unterschied ihn sehr fühlbar von dem Troß seiner eigentlichen Zunftgenoffen, und mit seiner propagandistischen Liebe und Kenntnis von der Musik der alten tiefsinnigen Meister berührte er in der Tat den Kreis der Romantiker. — Bei weitem unmittelbarer indes wirkte GrieS. Wilhelm Schlegel hatte soeben durch daS dicke Gewölk verjährter Vorurteile auf daS Zauberland der südlichen Poesie hin­ gewiesen. GrieS hat eS unS wirklich erobert. Seine meisterhaften Übersetzungen von Ariost, Taffo und CalderonS Schauspielen treffen, ohne philologische Pedanterie und Wortängstlichkeit, überall den eigentümlichen Sinn und Klang dieser Wunderwelt; sie haben den poetischen Gesichtskreis unendlich erweitert und jene glückliche Formfertigkeit erzeugt, deren sich unsere jüngeren Poeten noch bis heut erfreuen. Auch war GrieS sehr geeignet, für den Ritt in daS alte romantische Land Proselyten zu machen. Er verkehrte gern und viel mit den Studenten, die Abendtafel im Gasthofe zum Prinzen Karl war sein Katheder, und eS war, da er sehr schwer­ hörig, oft wahrhaft komisch, wie da die leichten Scherze und Witze gleichsam aus der Trompete gestoßen wurden, so daß die heitere Konversation sich nicht selten wie eia heftiges Gezänke auSnahm. Man steht, die Romantik war dort reich vertreten. Allein sie hatte auch damals schon ihren sehr bedenklichen AfterkultuS. Graf von Löben war in Heidelberg der Hohepriester dieser Wtnkelkirche. Der alte Goethe soll ihn einst den vorzüglichsten Dichter jener Zeit genannt haben. Und in der Tat, er besaß eine ganz unglaubliche

Formengewaadtheit und alles äussere Rüstzeug des Dichters, aber nicht die Kraft, es gehörig zu brauchen nab zu schwingen. Er hatte ein durchaus weibliches Gemüt mit unendlich feinem Gefühl für den saloumäßigen Anstand der Poesie, eine überzarte empfängliche Weichheit, die nichts Schönes selbständig gestaltete, sondern von allem Schönen wechselnd umgestaltet wurde. So durchwandelte er in seiner kurzen Lebenszeit ziemlich fast alle Zonen und Regionen der Romantik; — bald erschien er als begeisternngswütiger Seher, bald als arkadischer Schäfer, dann plötzlich wieder als aszetischer Mönch, ohne sich jemals ein eigentümliches Revier schaffen zu können. Za Heidelberg war er gerade „Isidoras Orientalis" und aovalisierte, nur leider ohne den Tiefsinn und den dichterischen Verstand von Novalis. Zn dieser Periode entstand sein frühester Roman „Guido", sowie die „Blätter aus dem ReisebÜchletn eines andächtigen Pilgrims"; jener durch seine mystische Überschwengliche feit, diese durch ein unkatholisches Katholisieren, ganz wider Wissen und Willen, die erstaunlichste Karikatur der Romantik darstellend. Er hatte in Heidelberg nur wenige sehr junge Jünger, die ihn gehörig bewunderten; aber die Gemeinde dieser Gleichgestimmten «ar damals sehr zahlreich durch ganz Deutschland verbreitet. Cs wäre eine schwierige, ja fast unmögliche Aufgabe, jenes wunder, liche Gewirr von Talent und Zopf, Lüge und Wahrheit mit wenigen Worten in einen Begriff zusammenzufaffen; und doch ist dieses Treiben insofern von literarhistorischer Wichtigkeit, als dasselbe den schmählichen Verfall der Romantik vorzüglich verschuldet hat. Cs sei uns daher lieber vergönnt, aus unserer ftüheste» Schrift (Ahnung und Gegenwart) die aus dem Leben gegriffene Darstel, lnag der damaligen Salonwirtschaft hier einzuschalten, da sie, obgleich erfunden, und doch vielleicht unmittelbarer, als eine Definition, in den Zirkel einführen dürfte. Cs ist nämlich dort von einer Soiree in der Residenz die Rede, wobei die Gesellschaft über die soeben beendigte Darstellung eines lebenden Bildes in große Bewegung geraten. „Mitten in dieser Entzückung fiel der Vorhang plötzlich wieder, das Ganze verdeckend, herab, der Kronleuchter wurde Heruntergelaffen und ein schnatterndes Gewühl und Lachen erfüllte auf einmal wieder den Saal. Der größte Teil der Gesellschaft brach nun von allen Sitzen auf und zerstreute sich. Nur ein kleiner Teil von Auserwählten blieb im Saale zurück. Graf Friedrich (der Held des Romans) wurde währenddessen vom Minister, der auch zugegen war, bemerkt und

sogleich der Fra« vom Hause vorgestellt. Cs «ar eine fast burchstchtig schlanke, schmächtige Gestalt, gleichsam im Nachsommer ihrer Blüte uvd Schönheit. Sie bat ihn mit so überaus sanften, leisen, lispelnden Worten, daß er Mühe hatte st« zu verstehen, ihre künst­ lerische» „Abendandachten", wie sie sich ausdrückte, mit seiner Gegenwart zu beehre«, und sah ihn dabei mit blinzelnden, fast zugedrückten Augen an, von denen es zweifelhaft «ar, ob sie ausforschend, gelehrt, sanft, verliebt, oder nur interessant sein sollten." „Die Gesellschaft zog sich nun in eine kleinere Stube zusammen. Die Zimmer wareu durchaus prachtvoll und im neuesten Geschmacke dekoriert, nur hin und wieder bemerkte man einige auffallende Besonderheiten und Nachlässigkeiten, unsymmetrische Spiegel, Gitarren, aufgeschlagene Musikalien und Bücher, die auf den Ottomanen zerstreut umherlagen. Friedrich kam es vor, als hätte es der Frau vom Hause vorher einige Stunden mühsamen Studiums gekostet, um in bas Ganze eine gewisse unordentliche Genialität hineinzubriugen." „Cs hatte sich unterdes ein niedliches, etwa zehnjähriges Mädchen eingefunden, die in einer reizenden Kleidung mit langen Deinüeidern und kurzem schleieruen Röckchen darüber, keck im Zimmer herumspraag. Es war die Tochter vom Hause. Ein Herr aus der Gesellschaft reichte ihr ein Tamburin, das in einer Ecke auf dem Fußboden gelegen hatte. Alle schloffen bald einen Kreis um sie, und bas zierliche Mädchen tanzte mit einer wirklich be­ wunderungswürdigen Anmut und Geschicklichkeit, während sie das Tamburin auf mannigfache Weise schwang und berührte und ein niedliches italienisches Liedchen dazu sang. Jeder war begeistert, erschöpfte sich in Lobsprüchen und wünschte der Mutter Glück, die sehr zuftieden lächelte. Nur Friedrich schwieg still. Denn einmal war ihm schon die moderne Knabeatracht bei Mädchen zuwider, ganz abscheulich aber war ihm diese gottlose Art, unschuldige Kinder durch Eitelkeit zu dressieren. Er fühlte vielmehr eia tiefes Mitleid mit der schönen kleinen Bajadere. Sein Ärger und das Lobpreisen der anderen stieg, als nachher das Wunderkind sich unter die Gesell­ schaft mischte, nach allen Seilen hin in fertigem Französisch schnippi­ sche Antworten erteilte, die eine Klugheit weit über ihr Alter zeigten, und überhaupt jede Unart als genial genommen wurde." „Die Damen, welche sämtlich sehr ästhetische Mienen machten, setzten sich darauf nebst mehreren Herren unter dem Dorsitz der Frau vom Hause, die mit vieler Grazie den Tee einzuscheaken wußte.

förmlich in Schlachtordnung und fingen an, von Ohrenschmäusen in reden. Der Minister entfernte flch in die Nebenstube, um zu spielen. — Friedrich erstaunte, wie diese Weiber geläufig mit den neuesten Erscheinungen der Literatur umjuspriugen wußten, von denen er selber manche kaum dem Namen nach kannte; wie leicht fle mit Namen herumwarfen, die er nie ohne heilige tiefe Ehrfurcht ausiusprechen gewohnt «ar. Unter ihnen schien besonders ein junger Mann mit einer verachtenden Miene in einem gewissen Glauben und Ansehen zu stehen. Die Frauenzimmer sahen ihn be­ ständig an, wenn es darauf ankam, ein Urteil zu sagen, und suchten in seinem Gesichte seinen Beifall oder Tadel im voraus herauszu­ lesen, um flch nicht etwa mit etwas Abgeschmacktem zu prostituieren. Er hatte viele genialische Reisen gemacht, in den meisten Haupt­ städten auf seine eigene Faust Ball gespielt, Kotzebue einmal in einer Gesellschaft in den Sack gesprochen, fast mit allen berühmten Schriftstellern zu Mittag gegessen oder kleine Fußreisen gemacht, übrigens gehörte er eigentlich zn keiner Partei, er übersah all« «eit und belächelte die entgegengesetzten Gefinnnngen und Bestrebungen, den eifrigen Streit unter den Philosophen oder Dichtern: Er war flch der Lichtpunkt dieser verschiedenen Reflexe. Seine Urteile waren alle nur wie zum Spiele flüchtig hingeworfen mit einem nachlässig mystischen Anstrich, und die Frauenzimmer erstannten nicht über das, was er sagte, sondern was er, in der Überzeugung, nicht verstanden zu werben, zu verschweigen schien." „Wenn dieser heimlich die Meinung zu regieren schien, so führte dagegen ein anderer fast einzig bas hohe Wort. Es war ein junger voller Mensch mit strotzender Gesundheit, ein Antlitz, das vor wohlbehaglicher Selbstgefälligkeit glänzte und strahlte. Er wußte für jedes Ding ein hohes Schwungwort, lobte und tadelte ohne Maß und sprach hastig mit einer durchdringenden gellenden Stimme. Er schien ein wütend Begeisterter von Professton und ließ fich von den Frauenzimmern, denen er sehr gewogen schien, gern den heiligen Thyrsusschwinger nennen. Es fehlte ihm dabei nicht an einer gewissen schlauen Mene, womit er niedrere, nicht so saftige Naturen seiner Ironie preiszugeben pflegte. Friedrich wußte gar nicht, wohin dieser während seiner Deklamationen so viel LiebeSblicke verschwende, bis er endlich ihm gerade gegenüber einen großen Wandspiegel entdeckte. Der Begeisterte ließ flch übri­ gens nicht lange bitten, etwas von seinen Poesten mitznteilen. Er laS eine lange Dithyrambe von Sott, Himmel, Hölle, Erde

und dem Karfunkelstein mit angestrengtester Heftigkeit vor, und schloß mit solchem Schrei und Nachdruck, daß er ganz blau im Gesicht wurde. Die Damen waren ganz außer flch über die heroische Kraft des Gedichts, sowie des Vortrags." „Ein anderer junger Dichter von mehr schmachtendem An­ sehen, der neben der Frau vom Hause seinen Wohnfltz aufgeschlagen hatte, lobte zwar auch mit, warf aber dabei einige durchbohrende neidische Blicke auf den vom Lesen erschöpften Begeisterten. Über­ haupt war dieser Friedrich schon vom Anfang an durch seinen großen Unterschied von jenen beiden Flausenmachern aufgefallen. Er hatte sich während der ganzen Zeit, ohne sich um die Verhandlungen der andern zu bekümmern, ausschließlich mit der Frau vom Hause unterhalten, mit der er Eine Seele zu sein schien, wie man von dem süßen zugespitzten Munde beider abnehmen konnte, und Friedrich hörte nur manchmal einzelne Laute, wie: „„mein ganzes Leben wird zum Roman"" — „„überschwängliches Gemüt"" — „„Priester­ leben"" — herüberschallen. Endlich zog auch dieser ein ungeheures Paket aus der Tasche, und begann vorzulesen, unter andern folgendes Affonanzenlieb: nun Lenz die filbern'n Bronnen Losgebundea: Änte' ich nieder, süßbeklommen. In die Wunder. Himmelreich, so kommt geschwommen Auf die Wunden Hast du einzig mich erkoren Zu den Wundern?

Ja di« Ferne süß verloren Lieber fluten, Daß sie, rückwärts sanft erschollen. Bringen Kunde.

WaS die andern sorgen, «ollen, Ist mir dunkel, Mir will ew'ger Durst nur frommen Nach dem Durste.

Was ich liebte und vernommen. Was geklungen. Ist den eignen tiefen Wonnen Selig Wunder!

„Er la- noch einen Haufen Sonette mit einer Art von priester­ licher Feierlichkeit. Keinem derselben fehlte es an irgendeinem wirklich anftichttgen kleinen Gefühlchen, an großen Ausdrücken und lieblichen Bildern. Alle hatten einen einiigen, bis ins Unend­ liche breit auseinander geschlagenen Gedanken, ste bezogen sich alle auf den Beruf des Dichters und die Göttlichkeit der Poeste; aber die Poeste selber, das ursprüngliche, freie, tüchtige Leben, das uns ergreift, ehe wir darüber sprechen, kam nicht zum Vorschein vor lauter Komplimenten davor und Anstalten dazu. Friedrich kamen diese Poeflen in ihrer durchaus polierten, glänzenden, wohlerzogenen Weichlichkeit wie der fade unerquickliche Teedampf, die zierliche Teekanne mit ihrem lodernden Spiritus auf dem Tische wie der Opferaltar dieser Musen vor. — Es ist aber eigentlich nichts künst­ licher und lustiger als die Unterhaltung einer solchen Gesellschaft. Was das Ganze noch so leidlich zusammenhält, sind tausend feine, fast unsichtbare Fäden von Eitelkeit, Lob und Gegenlob usw., und sie nennen es dann gar zu gern ein Liebesaetz. Arbeitet aber unverhofft einmal einer, der davon nichts weiß, tüchtig darin herum, so geht die ganze Spinnewebe von ewiger Freundschaft und heiligem Bunde auseinander." „So hatte auch heute Friedrich den ganzen Tee versalzen. Keiner konnte das künstlerische Weberschiffchen, das sonst fein im Takte so zarte ästhetische Abende wob, wieder recht in Gang bringen. Die meisten wurden mißlaunisch, keiner konnte oder mochte, wie beim babylonischen Baue, des anderen Wortgepräng verstehen, und so beleidigte einer den andern in der gänzlichen Verwirrung. Mehrere Herren nahmen endlich unwillig Abschied, die Gesellschaft wurde kleiner und vereinzelter. Die Damen gruppierten sich hin und wieder auf den Ottomanen in malerischen und ziemlich un­ anständigen Stellungen. Friedrich bemerkte bald ein heimliches Verständnis zwischen der Frau vom Hause und dem Schmachtenden. Doch glaubte er zugleich an ihr ein feines Liebäugeln zu entdecken, das ihm selber zu gelten schien. Er fand ste überhaupt viel schlauer als man anfänglich ihrer lispelnden Sanftmut hätte zuttauen mögen; sie schien ihren schmachtenden Liebhaber bei weitem zu übersehen und selber nicht so viel von ihm zu halten, als ste vorgab und er aus ganzer Seele glaubte." Als aber Friedrich späterhin, noch ganz enttüstet, dieses Abenteuer einem Freunde erzählt, erwidert dieser: „Ich kann dir im Gegen­ teil versichern, daß ich nicht bald so lustig war, als an jenem Abende,

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da ich |um ersten Male in diese Teetaufe oder Traufe geriet. Aller Augen waren prüfend und in erwartungsvoller Sülle auf mich neuen Jünger gerichtet. Da ich die ganje heilige Synode, gleich den Freimaurern mit Schurz und Kelle, so feierlich im poeti­ schen Ornate dafltzea sah, konnt" ich mich nicht enthalten, despektier­ lich von der Poesie zu sprechen und mit unermüdlichem Eifer ein Gespräch von der Landwirtschaft, von Runkelrüben usw. anzu­ spinnen, so daß die Damen wie über den Dampf von Kuhmist die Nasen rümpften und mich bald für verloren hielten. Mit dem Schmachtenden unterhielt ich mich besonders viel. Er ist ein guter Kerl, aber er hat keine Mannesmuskel im Leibe. Ich weiß nicht, was er gerade damals für eine fixe Idee von der Dichtkunst im Kopfe hatte, aber er las ein Gedicht vor, wovon ich trotz der größten Anstrengung nichts verstand und wobei mir unaufhörlich des simplizianisch-deutschen Michels verstümmeltes Sprachgepränge im Sinne lag. Denn es waren deutsche Worte, spanische Kon­ struktionen, welsche Bilder, altteutsche Redensarten, doch alles mit überaus feinem Firnis von Sanftmut verschmiert. Ich gab ihm ernsthaft den Rat, alle Morgen gepfefferten Schnaps zu nehmen, denn der ewige Nektar erschlaffe nur den Magen, worüber er sich entrüstet von mir wandte. — Mit dem vom Hochmutsteufel be­ sessenen Dithyrambisten aber bestand ich den schönsten Strauß. Er hatte mit pfiffiger Miene alle Segel seines Witzes aufgespannt und kam mit vollem Winde der Eitelkeit auf mich losgefahren, um mich Unpoetischen vor den Augen der Damen in den Grund zu bugsieren. Um mich zu retten, fing ich zum Beweise meiner poetischen Belesenheit an, aus Shakespeares „Was ihr wollt", wo Junker Tobias den Malvolio peinigt, zu rezitieren. „Und besäße ihn eine Legion selbst, so will ich ihn doch anreden." Er stutzte und fragte mich mit herablassender Genügsamkeit und kniffigem Gesichte, ob vielleicht gar Shakespeare mein Lieblingsautor sei? Ich ließ mich aber nicht stören, sondern fuhr mit Junker Tobias fort: „Ei Freund, leistet dem Teufel Widerstand, er ist der Erbfeind der Menschenkinder." Er fing nun an, sehr salbungsvolle, genialische Worte über Shakespeare ergehen zu lassen, ich aber, da ich ihn sich so aufblasen sah, sagte weiter: „Sanftmütig, sanftmütig! Ä, was machst du, mein Tänbchen? Wie geht's, mein Puthühnchen? Ci, steh doch, komm, tuck tuck!" — Er schien nun mit Malvolio zu bemerken, daß er nicht in meine Sphäre gehöre, und kehrte sich mit einem unsäglich stolzen Blicke, wie von einem unerhört Tollen,

von mir. Das schlimmste «ar aber nun, baß ich dadurch demaskiert «ar, ich sonnte nicht länger für einen Ignoranten gelten; und die Frauenzimmer merkten dies nicht sobald, als sie mit allerhand Phrasen, die sie da und dort ernascht. Über mich Herflelen. Zn der Angst fing ich daher nun an, «Ütend mit gelehrten Redensarten und poetischen Paradoxen nach allen Seiten um mich herumzuwerfen, bis sie mich, ich sie, und ich mich selber nicht mehr verstand und alles verwirrt wurde. Seit dieser Zeit haßt mich der ganze Zirkel und hat mich als eine Pest der Poesie förmlich exkommuniziert."------Es ist sehr begreiflich, daß dieses prätentiöse Unwesen von den Gedankenlosen und Schwachmütigen für die wirkliche Romantik gehalten, von den Hämischen aber gern benutzt wurde, den neuen Aufschwung Überhaupt zu verketzern. Vergebens verspottete Lteck selbst in den wenigen Nummern seines „Poetischen Journals" jene falsche Romantik, vergebens zogen Arnim und Görres mitten durch den Lärm neue leuchtende Dahnen; das Gekläff der Wächter des guten Geschmacks, die den Mond anbellen und bet Muflk heulen, war einmal unaufhaltsam erwacht. Es erschien ein „Kling, kling,Almanach", der die Lyrik der Romantiker parodisch lächerlich machen sollte, aber durch «in stupides Mißverständnis des Paro, vierten nur flch selbst blamierte. Der Däne Baggesen schrieb einen „Faust", eine Komödie, worin Fichte, Schelling, Schlegel und Tieck die lächerlichen Personen spielen, an Wttzloflgkeit, Bosheit und Langweiligkeit, etwa Nicolais „Werthers Leiden" vergleichbar. Garlieb Merkel endlich trommelte in seinem „Freimütigen" ein wahres Fallstaffsheer zusammen, allerdings freimütig genug, denn die armutselige Gemeinheit lag ganz offen zutage. In Heidel, berg selbst aber saß der alte Voß, der sich bereits Überlebt hatte, und darüber ganz grämlich geworden «ar. Mitten in dem staubigen Gewebe seiner Gelehrsamkeit lauerte er wie eine ungesellige Spinne, tückisch auf alles Junge und Neue zufahrend, das flch unvorsichtig dem Gespinste zu nähern unterfing. Besonders waren ihm, nebst dem Katholizismus, die Sonette verhaßt. Daher konnte Arnim, obgleich er anfangs aus großmütiger Pietät mit dem vereinsamten Greise friedlich zu verkehren suchte, dennoch zuletzt nicht umhin, ihm zu Ehren in der Ciufledlerzeitung In hundert Sonetten den Kampf des Sonetts mit dem alten Drachen zu beschreiben. Und auf ähnliche Weise hatte flch die Romantik Überhaupt ihren Gegnern gegenüber gestellt, indem fle, — wie in Ttecks ver, kehrter Welt, im Zerbino und gestiefelten Kater, in Schlegels

Triumphpforte für den Theaterpräsideoten Kotzebue, in Mahl­ manns Hussiten vor Naumburg — jenes hämische Treiben heiter als bloßes Material nahm und humoristisch der Poesie selbst dienstbar zu machen wußte. Aber die Romantik war keine bloß literarische Erscheinung, sie unternahm vielmehr eine innere Regeneration des Gesamtlebens, wie sie Novalis angekündigt hat; und was man später die romantische Schule nannte, war eben nur ein literarisch abgesonderter Zweig des schon kränkelnden Baumes. Ihre ursprüngliche Intentionen, alles Irdische auf ein Höheres, das Diesseits auf ein größeres Jenseits zu beziehen, mußten daher insbesondere auch das ganze Gebiet der Kunst gleichmäßig umfassen und durchdringen. Die Revolution, die sie in der Poesie bewirkt, ist schon zu vielfach be­ sprochen, um hier noch besonders erörtert zu werben. Der Malerei vindizierte sie die Schönheit der Religion als höchste Aufgabe, und begründete durch deutsche Jünglinge in Rom die bekannte Maler­ schule, deren Führer Overbeck, Philipp Veit und Cornelius waren. Derselbe ernstere Sinn führte die Tonkunst vom ftivolen Sinnen­ kitzel zur Kirche, zu den altitalienischen Meistern, zu Sebastian Dach, Gluck und Händel zurück; er weckte auch in der Profanmusik das geheimnisvolle wunderbare Lied, das verborgen in allen Dingen schlummert, und Mozart, Beethoven und Karl Maria von Weber sind echte Romantiker. Die Baukunst endlich, diese hieroglyphische Lapidarschrift der wechselnden Nationalbildung, war gerade in das allgemeine Stadium der damaligen Literatur mit eingerückt: kaserniertes Bürgerwohl mit heidnischen Substruktionen, die Antike im Schlafrock des häuslichen Famtlienglücks. Da erfaßte plötzlich die erstaunten Deutschen wieder eine Ahnung von der Schönheit und symbolischen Bedeutung ihrer alten Bauwerke, an denen sie solange gleichgültig vorübergegangen. Der junge Goethe hatte zuerst vom Straßburger Münster den neuen Tag ausgerufen, sich aber leider dabei so bedeutend überschrien, daß er seitdem ziemlich heiser blieb. Besonnener und gründlicher wies Sulpice Boisseree auf den Riesengeist des Kölner Domes hin, der bekanntlich noch bis heut sein mühseliges Auferstehungsfest feiert. — Das augen­ fälligste Bild dieser Umwandlung aber gibt die Geschichte der Marienburg, des Haupthauses des deutschen Ritterordens in Preußen. Dieser merkwürdige Bau hatte nicht einmal die Ge­ nugtuung, in malerische Trümmer zerfallen zu dürfen, er wurde methodisch für den neuen Orden der Jndustrieritter verstümmelt

und zugerichtet. Die kühnen Gewölbe wurden mit unsäglicher Mühe eingeschlagen, in den hohen luftigen Sälen drei niedrige Stock­ werke schmutziger Weberwerkstätten eingeklebt; ja um den letzten Prachtgiebel des Schlosses waren bereits die Stricke geschlungen, um ihn niederzureißen, als ein Romantiker, Max von Schenken­ dorf, ganz unerwartet in einer vielgelesenen Zeitschrift Protest ein­ legte gegen diesen modernen Vandalismus, den der damalige Minister von Schrötter, ein sonst geistvoller und für alles Große empfänglicher Mann, im Namen der Aufklärung als ein löblich Unternehmen trieb. Jetzt veränderte sich plötzlich die Szene. Schröt­ ter, da er seinen wohlgemeinten Mißverstand begriff, hieß, fast erschrocken darüber, sofort alle weitere Zerstörung einstellen, die Weber wurden ausgetrieben, Künstler, Altertumsfreunde und Tech­ niker stiegen verwundert in den rätselhaft gewordenen Bau hinab, wie in einem Bergwerke dort ein Fenster, hier einen verborgenen Gang oder Remter entdeckend, und je mehr allmählich von der alten Pracht zutage kam, je mehr wuchs, erst in der Provinz, dann in immer weiteren Kreisen der Enthusiasmus, und erweckte, soviel davon noch zu retten war, das wunderbare Bauwerk aus seinem jahrhundertelangen Zauberschlaf. Ein ähnliches Bewandtnis beinah hatte es mit dem Einfluß der Romantik auf die religiöse Stimmung der Jugend, indem sie gleichfalls den halbvergeffenen Wunderbau der alten Kirche aus seinem Schutte wieder emporzuheben strebte. Allein was dort genügte, konnte hier unmöglich ausreichen, denn die Romantiker, wenn wir Novalis, Görres und Friedrich Schlegel ausnehmen, taten es nicht um der Religion, sondern um der Kunst willen, für die ihnen der Protestantismus allzu geringe Ausbeute bot; ein Grund­ thema, das in „Sternbalds Wanderungen", in Tiecks „Phantasien" und in den „Herzensergießungen eines kunstliebenden Kloster­ bruders" durch die ganze Klaviatur der Künste hindurch auf das anmutigste variiert ist. Wir wollen daher auf die Konversion einiger, durch die Musik, die Pracht des äußeren Gottesdienstes u. dgl. m. bekehrter protestantischer Jünglinge keineswegs ein besonderes Gewicht legen. Der ganze Hergang aber erinnert leb­ haft an Schillers Grundsatz von der ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts; wir meinen die indirekte Macht, welche diese katholisierende Ästhetik auf die katholische Jugend selber ausgeübt. Es ist nicht zu leugnen, ein großer Teil dieser, fast überall prote­ stantisch geschulten Jugend ist in der Tat durch die Vorhalle der Zl

Romantik zur Kirche zurückgekehrt. Die katholischen Studenten, die überhaupt etwa- wollte» «ad konnten, erstaunten nicht wenig, al- ste in jenen Schriften auf einmal die Schönheit ihrer Religion erkannten, die sie bisher nur geschmäht oder mftleidtg belächelt gesehen. Der Widerspruch, in den sie durch diese Entdeckung mit der gemeinen Menge gerieten, entzündete ihren Äser, voll Begeiste­

rung brachten ste die altneue Lehre von der Universität mit nach Hause, ja sie kokettierten zum Teil damit in der Philisterwelt, wo man über die jungen Zeloten verwundert den Kopf schüttelte; mit einem Wort: DaS Katholische wurde förmlich Mode. Die Mode ging nach Art aller Mode bald vorüber, aber der einmal ange, schlagen« Ton blieb und hallte in immer weiteren Kreisen nach, und daraus entstand im Verlauf der immer ernster werdenden Zeiten endlich wieder eine starke katholische Gesinnung, die der Romantik nicht mehr bedarf.

So war die Romantik bet ihrem Aufgange ein Frühlingshauch, der alle verborgenen Keime belebte, eine schöne Zeit des Erwachens, der Erwartung und Verheißung. Allein sie hat die Verheißung nicht erfüllt, und weil ste sie nicht erfüllte, ging ste unter, und wie und warum dies geschehen mußte, haben wir bereits an einem anderen Orte ausführlich nachzuweisen versucht. Als jedoch auf solche Weise die Ebbe kam und jene Springfluten zurücktobten, wurde auch der alte Boden wieder trocken gelegt, den man für neuentdecktes Land hielt. Der zähe Rationalismus, die altkluge Verach­ tung des Mittelalters, die Lehre von der alleinseligmachenden Nützlichkeit, wozu die sublime Wissenschaft nicht sonderlich nötig sei; all daS vorromantische Ungeziefer, daS sich unterdes im Sande eingewühlt, kam jetzt wieder zum Vorschein und heckte erstaunlich. Dennoch war aber der bloßgelegte Boden nicht mehr ganz der­ selbe. Die Romantik hatte einige «avertilgbare Spuren darauf hinterlassen; ste hatte durch ihr beständiges Hinweisen auf die nationale Vergangenheit die Vaterlandsliebe, durch ihren Experimental-KatholijiSmus eia religiöses Bedürfnis erweckt. Allein diese Vaterlandsliebe «ar durch die abermalige Trennung vom Mttelalter ihres historischen Bodens und aller nationalen Färbung beraubt, und so entstand aus dem alten abstrakten Weltbürgertum die ebenso abstrakte Deutschtümelei. Anderseits konnte daS wieder­ angeregte religiöse Gefühl natürlicherweise weder von dem romanti,

schen Katholisieren, noch von dem wiedererstandenen Rationalis­ mus befriedigt werden, und flüchtete sich daher bei den Protestanten zu dem neuesten Pietismus. Von diesen veränderten Zuständen mußten denn auch zunächst die Universitäten wieder berührt werden; sie verloren allmählich ihr mittelalterliches Kostüm und suchten sich der modernen Gegen­ wart möglichst zu akkommodieren. Das deutsche Universitäts­ leben war bis dahin im Grunde ein lustiger Mummenschanz, in exzeptioneller Maskenfreiheit die übrige Welt neckend, heraus­ fordernd und parodierend; eine Art harmloser Humoristik, die der Jugend, weil sie ihr natürlich ist, großenteils gar wohl anstand. Jetzt dagegen, durch die halbe Schulweisheit und Vielwifferei auf­ geblasen, und von der epidemischen neuen Altklugheit mit fort­ gerissen, begnügten sie sich nicht mehr, sich an den dünkelhaften Torheiten der Philisterwelt lachend zu ergötzen; sie wollten sich über die Welt stellen, sie meistern und vernünftiger einrichten. Dazu kam, daß sie in den Befreiungskriegen wirklich auf dem Welt­ theater rühmlich mitagiert hatten, und nun auch das Recht be­ anspruchten, die übrigen Akte des großen Weltdramas mit fortzu­ spielen, mit einem Worte: Politik zu machen. Das war aber höchst unpolitisch, denn auf dieser komplizierten Bühne fehlte es glück­ licherweise der Jugend durchaus an der unerläßlichen Kenntnis, Erfahrung und Routine. Die Burschenschaften, die zunächst aus jener inneren Umwandlung der Universitäten hervorgingen, waren ohne allen Zweifel ursprünglich gut und ernst gemeint und mit einem nicht genug zu würdigenden moralischen Stoizismus gegen die alte Roheit und Sittenlosigkeit gerichtet. Anstatt aber nur erst sich selbst gehörig zu befestigen, wollten sie sehr bald im leicht er­ klärlichen Eifer des guten Gewissens auch die kranken Staaten durch utopische Weltverbefferungspläne regenerieren, die man am füglichsten als unschädliche Donquixotiaden härte übersehen sollen, wenn sich nicht, wie es scheint, nun dre wirklichen Politiker mit darein gemischt, und die jugendliche Unbefangenheit für ihre ehrgeizigen und unlauteren Zwecke gemißbraucht hätten. Und so wurden die Studenten, die solange heiter die Welt düpiert hatten, nun selber von der undankbaren Welt düpiert. Als ein anderes Symptom der neuesten Zeit haben wir vorhin den bei den Protestanten wieder erwachten Pietismus bezeichnet. Man könnte ihn, da er wesentlich auf der subjektiven Gefühls­ auffassung beruht, füglich die Sentimentalität der Religion nennen. XIII/3

Daher der absonderliche Haß der Pietisten gegen daö strenge positive Prinzip der Kirche, die von einem subjektiven Dafürhalten und Umdeutea der Glaubenswahrheiten nichts weiß. Dieser moderne Pietismus ist jetzt auf den deutschen Universitäten sehr zahlreich vertreten, nicht eben zum sonderlichen Heile der Jugend. Dena der nackte Rationalismus war an sich so arm, trocken und trostlos, daß er ein tüchtiges Gemüt von selbst zur resoluten Umkehr trieb. Der weichliche, sanft einschmeichelnde Pietismus dagegen, zumal wenn er Mode wird und zeitliche Vorteile in Aussicht stellt, erzeugt gar leicht heuchlerische Tartüffe, oder, wo er tiefer gegriffen, einen geistlichen Dünkel und Fanatismus, der das ganze folgende Leben vergiftet. Eine Sekte dieser Pietisten gefällt sich darin, grund­ sätzlich allen Zweikampf abzulehnen, und sich dies als einen Akt besonderen Mutes anzurechnen. Allein dieser passive Mut, die gemeine Meinung zu verachten und gelassen über sich ergehen zu lassen, ist noch sehr verschieden von der persönlichen Tapferkeit, die jeden Jüngling ziert. Es ist ganz löblich, aber noch lange nicht genug, das Unrechte hinter dem breiten Schilde der vortrefflichsten Grund­ sätze von sich selber abzuwehren; das Böse soll direkt bekämpft werden. Überhaupt aber darf hierbei nicht übersehen werden, daß dem Zweikampf ein an sich sehr ehrenwertes Motiv zum Grunde liegt: das der gesunden Jugend eigentümliche, spartanische Gerechtig­ keitsgefühl, das sich ohne innere Einbuße nicht unterdrücken läßt. Es gibt fast unsichtbare Kränkungen, infam, perfid und boshaft, die bis in das innerste Mark verwunden, und doch, eben weil sie juridisch uvgreifbar sind, vom Gesetz nicht vorgesehen werden können. Dies ist der eigentliche Sitz des Übels, der Kampfplatz, wo der Zweikampf, wie früher die Gottesgerichte, ausgleichend eintritt. Das­ selbe gilt im großen auch von den Kriegen, diesen barbarischen Dölkerduellen um Güter, die das materielle Staatsrecht nicht zu würdigen und zu schützen vermag, und zu denen wir namentlich die Nationallehre rechnen.—Demungeachtet sind wir weit entfernt, die ganz unchristliche Selbsthilfe des Zweikampfs irgendwie verteidigen zu wollen, wünschen vielmehr vorerst nur eine genügende Ver­ mittlung und Beseitigung seines tieferen Grundes, ohne welche, nach menschlichem Ermessen, alle Verbotsgesetze dagegen stets illusorisch bleiben werden. Mit der neuen Umwandlung des Zeitgeistes hängt auch der Grundsatz wesentlich zusammen, die Universitäten möglichst in die große» Residenzstädte zu verlegen. Wir wollen keineswegs in

Abrede stelle», daß die große» Städte mit ihrem gesellige» Verkehr, mit ihren Kuastschätzen, Bibliotheken, Musee» uab industriellen Aastaltea eine sehr bequeme Umschau, eine wahre Universitas alles Wissenswürdigea bieten. Allein es frägt sich nur, ob dieser Vorteil nicht etwa durch Nachteile anderer Art wieder aeutraliflert, ja überwogen wird? Uns wenigstens scheint das alles mehr für die Professoren, als für die Studenten geeignet ju sein. Es kommt für die letzteren auf der Universität doch vorzüglich nur auf eine Orientierung in dem Labyrinth der neuen Bildung an. Auf jene« großen Stapelplätzea der Kunst und Wissenschaft aber erdrückt und verwirrt die überwältigende Masse des Verschiedenartigsten, gleichwie schon jeder Reisende, wenn er eine reiche Bildergalerie hastig durchlaufen hat, zuletzt selbst nicht mehr weiß, was er gesehen; und namentlich die großen Bibliotheken kann nur der Gelehrte, der stch bereits für ein bestimmtes Studium entschiede» und ge­ hörig vorbereitet hat, mit Nutzen gebrauchen. Wie aber soll der für alles gleich empfängliche Jüngling mitten zwtschen den nach allen Seiten auslaufeadea Bahnen sich wahrhaft entscheiden, wo jedes natürliche Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler, wie es in kleinen Universitätsstädten stattfindet, durch den betäubenden Lärm und die allgemeine Zerfahrenheit der Residenz ganz um möglich wirb? Auch hier also droht abermals ein vager Dilettantis, mus und der lähmende Dünkel der Dielwifferet. Bei der Jugend ist eia« kecke Wanderlust, sie ahnt hinter dem Morgeadufi die wunderbare Schönheit der Welt; sie sich selbsttätig zu erobern ist ihre Freude. Ju den großen Städte« aber fängt die Jugend gleich mit dem Ende an: aller Reichtum der Welt liegt in der staubige» Mittagschwüle schon wohlgeordnet um sie her, sie braucht ihren Fauteuil nur gähnend da oder dorthin zu wenden, sie hat nichts mehr zu wünsche« und zu ahnen — und ist blasiert. Und auch in sittlicher Hinsicht ist der Gewinn nur illusorisch. In den kleinen Universitätsstädten herrscht allerdings oft eine arge Verwilderung, und die Studenten «erden in den großen Städten gewiß ruhiger und manierlicher sein. Allein dort erscheint die Liederlichkeit in der Regel so handgreiflich, bestialisch roh und abschreckend, daß jedes gesunde Gemüt von selbst ein Ekel davor überkommt, während hier die schön übertünchten und ästhetisierten Pestgrubev wohl auch die Besseren mit ihrem Gtsthauch betäuben. — Unsere Universitäten sind endlich bisher eine Art von Republik gewesen, die einzigen noch übrig gebliebenen Trümmer deutscher Einheit, ein brüderlicher

Verein ohne Rücksicht auf die Unterschiede der Provinz, deS Ranges ober Reichtums, wo den Niedrigge-oreaen die Überlegenheit des Geistes «ad Charakters zum Senior über Fürsten und Grafen erhob. Diese uralte Bedeutung der Universitäten wird von der in ganz andern Bahnen kreisenden Großstädterei notwendig ver­ wischt, die Studenten «erden immer mehr in das allgemeine Philistertum eingefaugeu und frühzeitig gewöhnt, die Welt diplo­ matisch mit Glacehandschuhen anzufassen. Dies halten wir aber, zumal in unserer materialistischen Zeit, für ein bedeutendes Unglück. Denn was ist denn eigentlich die Jugend? Doch im Grunde nichts anderes als das noch gesunde und uazerkaitterte, vom kleinlichen Treiben der Welt noch un­ berührte Gefühl der ursprünglichen Freiheit und der Unendlich­ keit der Lebensaufgabe. Daher ist die Jugend jederzeit fähiger zu entscheidenden Entschlüssen und Aufopferungen, «ad steht in der Tat dem Himmel näher, als das müde und abgenutzte Alter; daher legt sie so gern den ungeheuersten Maßstab großer Gedanken und Taten an ihre Zukunft. Ganz recht! denn die geschäftige Welt wird schon dafür sorgen, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen und ihnen die kleine KrLmerelle aufdrängen. Die Jugend ist die Poesie des Lebens, und die äußerlich ungebundene und sorgenlose Freiheit der Studenten auf der Universität die bedeutendste Schule dieser Poesie, und man möchte ihr beständig zurufen: sei nur vor allen Dingen jung! Denn ohne Blüte keine Frucht.

Die geistliche Poesie in Deutschland Es ist schon ost eia ziemlich müßiger Streit darüber geführt worden, ob überhaupt die Religion jur Kunst, oder umgekehrt, die Kunst für die Religion etwas nütz sei. Die einen betrachten die Religion nur als eine lästige, den Fortschritt hemmende Fessel der Kunst, «ollen diese ganz von jener emanzipieren, ja ste leugnen allen innern Konnex zwischen beiden. Gutzkow z. B. sagt in seinen Beiträgen zur Geschichte der neuesten Literatur: „In aller Welt, wo ist der Übergang von einer andächtigen Empfindung zu einem artistischen Werke? Mußte die Technik nicht äüer sein als dieser

Übergang? Ist also die Kunst (zu welcher der Verfasser doch ohne Zweifel auch die Poeste rechnen wirb), man mag fle nun Instinkt oder Überlegung nennen, ihrem Wesen nach nicht völlig unab­ hängig von Offenbarung, Mythus, Symbol und all den Begriffen, die man aus der Reltgtonsgeschichte entnimmt, um fle an die Spitze der Kunstgeschichte zu stellen?" Hier ist offenbar die Kunst mit der bloßen Kunstfertigkeit, mit dem Handwerk der Kunst, das diese ftetltch nirgends ganz entbehre« kann, wunderlich verwechselt worben. Ja aller Welt, was wäre denn das z. B. für eine Poefle, die, gleich der Lafontatatschea und der ganzen ordinären Uaterhaltuagsliteratur, mit dem vom Leben an die Oberfläche ausgeworfeaen, schmutzigen Schaume flch begnügte, und von Gott und dem inneren Menschen, als dem eigentlichen Inbegriff aller Religion, nichts wissen wollte! Ober bezeugt etwa uicht die Geschichte der Literatur aller Zeiten jenen abgeleugneten Konnex? Die religiösen Überzeugungen und Ge­ fühle der Völker haben immer und überall Kunst und Poefle ver­ wandelt und die Literaturepochea gemacht: im klasflschen Griechen­ land bas ursprüngliche Drama und die alte Lyrik, im Mittelalter die Ritterpoefle, später einen Dante, Michelangelo, Raffael, und neuerlich noch die moderne Romantik. Andere, und zum Teil sehr «ohlgeflvnte, meinen dagegen, die Religion stehe zu hoch, um von der Poefle erfaßt, ober um nicht,

wo sie von ihr berührt wird, dadurch profaniert und also gewisser, maßen gefährdet zu «erden. Die letzteren haben allerdings mancherlei Antezendentien für sich, in dieser extremen Allgemeinheit aber gewiß ebenso unrecht, wie jene, denen sie durch ihre mißverständliche Ansicht wider Willen recht eigentlich in die Hände arbeiten. Es steht geschrieben: „Wenn Ihr nicht seid wie die Kiadlein, so werdet Ihr nicht in das Himmel, reich eingehen." Alle Kinder aber sind geborne Poeten, und mancher Dichter zehrt lebenslang an dem poetischen Schatze jener wunder, baren Zeit, wo er noch nicht wußte, daß es eine Dichtkunst in der Welt gibt. Scheinbar ein ganz nutzloses bloßes Luxurieren des menschlichen Geistes, ist es dennoch die eigentliche Lebenslust, in der wir alle, gleichviel ob bewußt oder unbewußt, mehr oder minder gesund und kräftig atmen; unsichtbar, aber alldurchdringend, nicht selbst das Licht, aber das Medium des Lichtes, wie die Luft, die uns die Sterne spiegelt und den Boden lockert und wärmt, daß die Blumen und Wälder sehnsüchtig daraus zum Himmel wachsen; und gäbe es Menschen, die gar keine Poesie in sich, oder ihre Poesie an die Altklugheit der Welt ausgetauscht hätten, so wären dies eben nur kranke, defekte Leute. Wenn nun aber die Religion nicht einseitig diese und jene Anlage, sondern den ganzen Menschen, also auch Phantasie und Gefühl, deren Ausdruck eben die Poesie ist, gleichmäßig in Anspruch nimmt, so ist gar nicht abzusehea, warum der Mensch gerade in seinem Innerlichsten aufjene mächtige Schwinge verzichten, aus dem wunderbaren Instrument, über das der Finger Gottes gleitet, eine Saite herausnehmen, und so die ursprünglich vor, gesehene Harmonie mutwillig zerstören sollte. Diese Bedeutung der Poesie, als ein geheimnisvolles Organ zur Wahrnehmung wie zur Mitteilung der göttlichen Dinge, ist auch von jeher von der Kirche anerkannt worden, wie sie durch ihre Münster, ihre Musik, ihre Hymnen und Heiligenbilder zu allen Zeiten bekundet hat; ja der ganze äußere Kultus der Kirche selbst ist ein großes, bedeutungsvolles Kunstwerk. Wenn wir aber sonach, gegen jene beiden exklusiven Ansichten, der Poesie das religiöse Gebiet vindiziere«, so sind wir doch weit davon entfernt, dieselbe deshalb schon in Bausch und Dogen heilig sprechen zu wollen. Klemens Brentano vergleicht einmal den Dichter von Profession mit einer Straßburger Gans, der man auf Unkosten von Hirn, Magen usw. die Leber monströs überfüttere; so viele geschmackvolle Liebhaber sie dann auch finden möge, es bleibe

doch nur eine kranke Sans. Dieser sinnige Witz trifft so ziemlich genau den «unden Fleck. Indem nLmlich die Poesie, ihrer Natur nach, zwei GrundkrLste der menschlichen Seele, welche die Religion nur als organische Teile eines größern Ganzen liebreich schirmend und vermittelnd umfaßt, die Phantasie und das GefLhl, vorzugsweise herauszubilden strebt, so liegt hier die Versuchung und die Gefahr eben darin, daß sie, im Verlauf der Zeiten und Erfolge, ihrer ursprünglichen Heimat vergessend, jene beiden Kräfte selbständig aus aller Gemeinschaft mit dem Komplex der göttlichen Geheimnisse, ja, als eine Religion der subjektiven Eigenmacht geradezu in Oppo­ sition gegen jenen höheren Organismus zu setzen unternimmt, und somit, gleich den gefallenen Engeln, jenseits dem Haß, der Hoffart und all der barbarischen Verwirrung verfallen muß, in welcher wir sie gegenwärtig befangen sehen. Daß aber die Poesie unter der glänzendsten Ägide einer vielseitigen Kultur, und nach so großen Anstrengungen und mancherlei redlichem Aufschwung endlich in der Tat eine solche leberkranke Gans werden konnte, ist wohl einer ernsteren Beachtung wert. Wir wollen daher versuchen, ihre Sänge und Jrrgänge auf diesem Gebiet durch einen kurzen Überblick der betteffenben Literatur in den nachstehenden Blättern näher zu beleuchten, und werben uns also hierbei vorzugsweise auf die geistliche Poesie, und zwar zunächst in Deutschland, be­ schränken. Unter geistlicher Poesie aber verstehen wir nicht bloß das eigentliche Kirchenlied, sondern Überhaupt alle Dichtung, die aus der Betrachtung und dem tieferen Gefühl der göttlichen Dinge hervorgegangen. Alle Dichtung setzt jedoch bekanntlich einige Be­ geisterung voraus, welche doch wieder nichts anderes sein kann als eben das bis zum lebendigen Schauen gesteigerte Gefühl von der Größe, Wahrheit und Schönheit des begeisternden Gegen­ standes, wenn wir uns nicht etwa, wie die guten Menschen und schlechten Komödianten im Hamlet, für Hekuba begeistern wollen. Jede Poesie wird daher auch nur geistlich sein, insofern sie wahr­ haft gläubig ist. Solche Glaubensbegeisterung, die mit der Liebe eins ist, weht uns, wie aus einer andern Welt, aus den wunder­ baren Gesängen des heiligen Franz von Assisi entgegen, sie waltet in Thomas von Aquino, in Thomas von Kempen, und hat das Dies irae und das Stabat mater unvergänglich gemacht. Betrachten wir aber im ganzen den Gang der Poesie in der Zeit, wo die dichtenden Völker noch durch einen lebendigen Glauben

mit der Kirche innig verbunden waren, so gewahren wir, gleich der Zentri­ fugal, und Zentripetalkraft zur Erhaltung der physischen Weltordnuag, auch hier vor allem zwei sich wechselseitig ergänzende Grund klänge: das Streben einerseits, nach außen das Weltliche mit dem religibsen Element zn durchdringen und zu verklären, und anderseits, wo dieses Element an der äußersten Peripherie sich zu zersplittern scheint, die höhere Selbstbescheidnng und erwachende Sehnsucht des Welt, lichen selbst, zu seinem göttlichen Urquell wieder zurückzukeyrea. Wir sehen das Christentum erschütternd das nordische Naturgefühl durchleuchten, dann, immer weiter hinabsteigend, dem Mut, der Sitte und allen LebenSeinrichtungen der ftischea germanischen Völker eine tiefere Bedeutung geben, und so, als Blüte dieser Gesittung, endlich die Ritterpoesie herausbilden. Als aber das christ, liche Heldengedicht allmählig mit üppig spielender Zierlichkeit in den ganz weltlichen Mianegesang austöate, rankte dieser selbst, wie in Erinnerungen seiner höheren Abkunft, sich plötzlich an dem starken Glauben zur göttlichen Minne, zum Symbol aller Liebe und Frauen, aamut empor, und damals erklangen die schönsten Marienlieder. Dieselbe, von unsichtbaren himmlischen Mächten bewegte Flut und Ebbe geht auch durch die späteren Zeiten »och immer fort: das ernste Kirchenlied wird zum Volkslied, das fröhliche Volkslied wird zum Kirchenliede. Aus dem einfachen, kirchlichen Kyrte eleison entstanden die sogenannten „Leison", Lieder, die bei Wallfahrten, Kirchweihen, Bittgängen, aber auch bei anderen, politischen und bürgerlichen Festen vom Volke gesungen wurden. Und umgekehrt wieder benutzte man das weltliche Volkslied mit seiner Melodie und häufig auch nur mit geringer Abänderung der Worte ebenso zum kirchlichen Gebrauche. I. B. das Handwerksburschenlted: „Innsbruck, ich muß dich lassen, ich fahr dahin mein Straßen, in fremde Land dahin usw.", klingt nun: „O Welt, ich muß dich lassen, ich fahr dahin mein Straßen, ins ewig Vaterland vsw." Ja, die weltlichste aller Oichtuagsarten, die dramatische, nahm, in den Mysterien, ihren Ursprung aus dem religiösen Gefühl, und blieb harmlos in Frieden mit der Kirche. — So schlang sich ein höheres, geistiges Band heiter und versöhnend durch alle Poesie, sie stets mit dem Mittelpunkte alles Daseins vereinigend. Als aber die Reformation, dieses uralte Band lösend, das Individuum zum Meister und Richter über die Kirche bestellt hatte, mußte dort auch die Poesie, die überall den religiösen Phasen folgt, aus jener großen Gemeinschaft scheiden; das Individuum,

und mit ihm die subjektive Poesie, ging fortan seine eigenen Wege und die Theologie die ihrigen. Im Anfänge zwar, bevor die erste revolutionäre Begeisterung verflogen , waren die protestantischen geistlichen Gesänge noch ftische Kriegslieder, und das berühmteste derselben: „Sin' feste Burg ist unser @ott", wird unverkennbar noch bis auf den heutigen Tag bei den öffentlichen Manifestationen des Protestantismus als herausforderndes Danner gegen die Kirche gerichtet. Auch starkgläubig noch in ihrer Art waren jene frühesten Lieder. Allein der Glaube selbst «ar spoliiert und arm geworben, das Wunderbare hiuweggenommen, und dem Verstände einseitig eine unverhältnismäßige Befugnis eingeräumt; die Poesie hatte also in diesen Regionen ihr eigentliches Terrain ver­ loren. Und wenn dennoch das geistliche Lied der Außerkirchlichen damals in Simon Dach, Gryphius, Gerhard und Flemming seine schönste Blüte hatte, so geschah dies nicht, wie protestantische Schriftsteller uns so zuversichtlich berichten wollen, durch jene Glaubensplünderung, sondern trotz ihr, und beweist eben nur, was eine innige Glaubenskraft auch bei dieser Verschränkung der Religionsansichten noch immer vermochte. Ja, bei dem Besten der genannten Dichter, bei Paul Gerhard, zeigt sich eben schon ganz deutlich die neue subjektive Richtung, die nicht mehr die göttlichen Offenbarungen, sondern vielmehr die eigene Empfindung neben und bei Gelegenheit der Religion feiert; und auch Paul Flemming sagt schon, mit Bezug auf seine Fahrten nach dem Orient: ,------ Ich will blr^s besser «eisen, Wohin du sichrer sollst und mit mehr Nutzen reise«: Sehl Sieh dich selbste« durch! Du selbst bist dir die Welt! Verstehst du dich a«< dir, so hast bu'S wohlbestellt." Jedenfalls aber verhallten diese und andere schöne Lieder jener Zeit, unter denen überdies bei weitem die meisten Über­ setzungen oder Überarbeitungen alter katholischer Gesänge waren, gar bald in dem ungefügigen Chor, der nun allgemein angestimmt wurde. Denn die Poesie, da sie, wie gesagt, zu dem wenigen Dogma, bas sie sich aus der Kirche herübergerettet, kein rechtes Herz mehr hatte, wurde nun rein didaktisch und versank und erstickte endlich in einer starren Orthodoxie um so rascher, je zäher und hartnäckiger sich die letztere gegen die verhaßten Papisten zu verschanzen und somit zu isolieren strebte. Oder wer könnte in der Tat sich jetzt noch an der entsetzlichen Breite und Monotonie erbauen, womit ein Neumeister, Löscher, Marperger, Tadbel, Lehmus und zahllose

andere, unermüdlich einzelne Glaubenslehren und Sittengesetze in stolpernde Derse brachten, deren keiner es leicht unter einigen hundert Liedern tat, und unter welchen ein Benjamin Schmolle mit seinen „sonntäglichen Antrittsseufzern auf der Kanzel", seinen Kantaten, Arien und Rezitativen noch als dichterischer Heros er­ scheint ! Cs konnte nicht fehlen, diese bornierte Dickköpfigkeit mußte das andere Extrem hervorrufen. Der Pietismus setzte der Prosa die Überschwänglichkeit entgegen, um die erstarrte Mumie gewaltsam wieder zu beleben. Allein der Versuch mißlang gänzlich; denn die Wiedergeburt sollte, mit gleicher Einseitigkeit wie bei den Orthodoxen, durch eine bloße Steigerung des Gefühls erfolgen. Das Gefühl an flch aber ist nichts, sondern erhält überall seine Bedeutung und Wundermacht nur durch seinen Gegenstand, und an diesem wollten und konnten fie nichts mehr ändern. Daher das widerlich Schlaffe und Weichliche in dieser pietistischen Poeste, das beständige Um­ schlagen des gesund Kindlichen in das krankhaft Kindische, das gemütliche Dahinfaseln über das Innerste der göttlichen Wahr­ heiten bei dem fast wollüstigen Behagen an den bloßen Äußerlich­ keiten; anstatt der gottbegeisterten Freudigkeit einer totalen Welt­ entsagung das nichtsnutzige, halbe, ängstlich pedantische Mäkeln an der Moral, das den Tanz, den Scherz, das Lachen und Spazieren­ gehen als Sünde denunziert; jene sich selbst nicht trauende, forcierte Frömmigkeit, die endlich in den Sonntagseufzerlein und Wtegensänglein der Herrnhuter in einer völlig lügenhaften Spielerei mit dem Heiligsten aufgeht. Ja, es ist unglaublich und doch wahr, daß Graf Jiazendorf selbst, der von Gott gewöhnlich als von dem „Papächen und süßen Mamächen" redete, Derse, wie:

„Ich liebe mein Papächen, Ich liebe mein Mamächen, Und Druderlämmelei», Ich lieb die lieben Engel, Ich lieb den obern Sprengel, DaS Kirchlein und mein Herzelein" als Poeste und Andacht ausgeben durfte. So bettelhast genügsam war die Poesie durch ihren Abfall geworden.

Was sonach die Pietisten, sowie ihre erbittertsten Gegner, die Orthodoxen, unter großem Lärm und wechselseitigem Gezänke vergeblich angestrebt, war inzwischen katholischerseits durch Scheffler,

Spee und Balde geräuschlos «ad vollkommen erreicht worben. Während jene radikale Orthodoxie das Begriffsskelett der neuen Lehre zu konservieren meinte, indem sie es, abschließend und sorgfältig eiabalsamieread, mit ihren stereotypen Redefiguren zu Grabe trug, hatte dagegen Johann Scheffler, unter dem Name» Angelus Silestus, in seinem „cherubinischen Wandersmann" die Gottwerdung der menschlichen Seele feiernd, nur einfach hingewiesen auf die unverwüstliche Poesie und Schönheit der Kirche mit tiefsinnigen Sprüchen, die wie feurige Gedankenblitze um den alten Münster spielen. Diesen Tiefsinn hatte Friedrich von Spee, vorzüglich in „Trutznachtigall", mit aller Innigkeit eines wahrhaft dichterischen Gefühls durchdrungen, und durch seine herzlichen Klänge das Volkslied dem kirchlichen Gebiete wieder erobert. Cs sind religiöse Minnelieder; und gleichwie man dem weltlichen Mtnnegesaug, als das demselben zugrunde liegende edle und schöne Zartgefühl nicht mehr empfunden und verstanden ward, den Vorwurf spielender Tändelei zu machen begann, so hört man wohl auch jetzt, nachdem der alte Glaube ausgegangen, denselben Tadel gegen die Speeschen Dichtungen erheben. Mit gleichem Rechte freilich könnte die moderne Blasiertheit auch den jährlichen Frühlingsblumeuflor eine Tändelet der Natur nennen. — Dem Halbwesen der Pietisten endlich, das zaghaft immer möchte und doch nicht mag, stellte Jakob Balde die ganze, wahrhafte und entschlossene Aszetik und Abt-tung des Irdischen um Gottes willen streng und er­ schütternd gegenüber. Nun sollte man meinen, so große Dichter müßten auch auf die außerkirchlichen Poeten einen bedeutenden Einfluß geübt haben. Dem ist aber nicht so, aus dem einfachen Grunde, der noch heute gilt. — Spee und Balde waren Jesuiten, und Scheffler, von luthe­ rischen Eltern geboren, war zur Kirche zurückgekehrt. Ja, viele Protestanten haben vielleicht noch heute keine Ahnung davon, daß z. B. Balde, der größtenteils lateinisch dichtete, durch klassische Bildung und Eleganz häufig an Horaz erinnert, und baß wir dem unermüdlichen Eifer Spees vorzüglich die Abschaffung der grausamen Hexenprozeffe zu verdanken haben. — Genug, die protestantische Poeste ließ flch das wenig anfechten, und setzte ihren Altweibertrott vom geistlichen Parnaß hinab ungestört und unaufhaltsam fort. Da fle nun aber auch in der Tat da droben nichts Rechtes mehr zu tun fand, so wählte sie einen andern, den einzigen Ausweg, der ihr noch blieb: das geistliche Lied wurde aus der Kirche ins Haus ge-

trage», doch immer noch so, baß gleichsam bas Haus die Kirche vorstellev sollte. So entstanden jetzt Bibelsummarien in Distichen für Kinder, gereimte Katechismen für Havdwerksburschev auf der Wanderschaft «ad in der Werkstatt, christliche Reiterlieder, Äeder für wiegende Mütter, für DienstmLgde beim Schüsselwaschen, gegen das Kartenspiel, das Tabakrauchea usw., ja eine einzige dieser Sammlungen: „Des geistlichen und evangelischen Zions neue Staadeslieder," enthält allein nicht weniger als 147 Lieder für Amtsschreiber, Barbiere und Bauern. Auf solche Weise aber von den nach allen Seiten hin ausge, ttetenen Gewässern einmal gründlich auf den Sand gesetzt, war der Poesie, wenn sie überhaupt noch irgendeinen geistlichen Charakter behaupten wollte, der weitere Übergang von selbst gewieseu. Sie trennte sich gänzlich von der Kirche, und nahm nun ausschließlich die bloße Moral zu ihrer Domäne. Gellert kann als Typus dieser Richtung angesehen werden. Seinem empfindlichen Meißner Ge, schmack war die herrschende Konfusion, die ein unmögliches Bündnis zwischen hausbackener Prosa und den Mysterien des Christentums erzwingen wollte, herzlich zuwider; er löste daher die disparaten Elemente verständig voneinander, indem er das Positive lediglich auf sich beruhen ließ, und dagegen eine vom Glaubenskern sonderte, und also völlig nüchterne Ethik, die sich auch äußerlich durch eine gewisse elegante Reinlichkeit der Sprache kundgab, zu popularisieren suchte. Seiner Intention lassen wir vollkommene Gerechtigkeit widerfahren, ja wir geben gerne zu, daß er, wie die Zett nun einmal war, außerordentlich wohltätig wirkte; denn wenn das Schiff zerschlagen, ist jeder lobenswert, der seinem schwim­ menden Nebenmenschen auch nur eine morsche Planke zur Rettung unterschiebt. Aber eine Moral, die sich nirgend an den ewigen Pfeilern der positiven Religion lebendig emporrankt, wird not­ wendig alles wahrhaften, tatkräftigen Aufschwungs ermangeln; vor lauter Augst, sich auf dem Wege zum Himmel zu verirren, wagte sie es nicht, ihn resolut zu betreten; da sind überall Weg­ weiser mit langen dürren Fingern, nirgends Sterne oder Blitze, welche durchbrechend leuchten und zünden. Am wenigsten aber können wir, was auch Franz Horn und andere gutmütig dagegen sagen mögen, nach unserem poetischen Gewissen einräumen, daß eine so altgeborne, hüstelnde und hypochondrische Moral in irgendeiner Weise dazu geeignet war, der stech gewordenen Poesie ftische Jugend etnzuhauchen.

Daher die freudige Überraschung, das allgemeine Staunen und Aufsehen, das ein unerwartet ausgehendes Dichtergestir« über ganz Deutschland verbreitete. Klop stock war es, der es jugendlich unternahm und als seine Misflou betrachtete, das, was der Unverstand oder die Ermattung der Zeit geschieden, Religion und Porste, wieder zu versöhnen und wechselseitig durcheinander zu beseele». Nicht diese oder jene GlaubenÄehre, noch die Moral oder einzelne Tugenden, sondern den Angelpunkt des Christen­ tums selbst, die Erlösung des Menschengeschlechts durch den Gekreuzigten, machte er zum Gegenstand seiner Messiade; und das Selbstbewußtsein von der Größe und Würde dieses Unter­ nehmens gab seiner Gesinnung, ja seinem ganzen Leben einen Aufschwung und Pathos, der thu seinen Zeitgenossen, und «och lange nachher, fast als ein überirdisches Wesen erscheinen ließ. Aber jeder Dichter ist mehr oder minder ein Kind seiner Zeit, und auch Klopstock konnte dem protestantischen Zuge derselbe» nicht entgehen. Anstatt der höheren Allegorie und kühnen Symbolik des Mittelalters, wie sie noch im Dante großartig waltet, stellte er in der Messiade der ewigen Wahrheit das subjektive Menschliche, die Naturwahrheit, mit einem Wort: das Individuum, gleichsam als ebenbürtig gegenüber, indem er das Göttliche und Übermensch­ liche zur reine» Herzenssache machen wollte. Allein die göttliche Offmbaruug, das Positive der Religion ist zu übermächtig, um so »«verminst im bloßen Gefühle aufzugehen. Daher wird tu der Messiade die sich beständig übernehmende Empfindung so ost über­ schwänglich, und bas Wunderbare und Geheimnisvolle des Christen­ tums, weil das Organ zu seiner Erfassung nicht zureicht, dagegen abstraft ohne lebendige Anschauung. Engel und Teufel säuseln und stürmen nicht, wie in Dantes göttlicher Komödie, leibhaftig, himmlisch, entsetzlich, segnend oder verfluchend an uns vorüber, sondern halte« lauge, schmuckvolle Reden; es ist eine endlose Ex, Position, die es nicht zur wirklichen dramatischen Handlung kommen läßt. Ja, als Folge dieser bloß subjefttven Auffassung der Dinge sehen wir auch in Klopstocks übrigen Bestrebungen, bei aller tüchtigen Gesinnung, denselben Mangel an gesunder Objeftivität; in seinem Bardentum eine fabelhafte teutonische Urzeit, die niemals war, in seiner Gelehrienrepubltk eine Welt, die niemals sein kann. Da­ war das alte Schauen des Glaubens nicht mehr, sondern das, immerhin edle, Gefühl seiner eigenen sinkenden Macht und der Not­ wendigkeit daher, ihn zu stärken «nd zu verteidigen.

Doch es gibt noch eine» andere» Grund, warum sein Messias mehr bewundert als gelesen wurde und als christliches Erbaunagsbuch niemals populär werden konnte. Klopstock war nicht, wie er endlich selbst glaubte und andere» glauben machte, ein Wieder­ hersteller religiöser Überzeugungen, sondern recht eigentlich ein Reformator der deutschen Sprache und Dichtkunst. Gleichwie er in ftüher Jugend lange über die Wahl für sein starkes poetisches Bedürfnis, zwischen Messias und einem ganz weltlichen Stoffe geschwankt hatte, so wurde auch späterhin von ihm das Christen­ tum und das teutonische Heidentum, die altnordische wie die christ­ liche Mythologie, mit gleichem Eifer, wenn auch nicht mit gleichem Glücke umfaßt. Es war nicht sowohl die Religion, welche er mit antiken Versmaßen verweltlichend zum Stoff eines sentimentalen Kunstwerks gemacht, als vielmehr die Poesie, die er durch die Wahl eines solchen Stoffes feierte und j« adeln strebte. Gellert hat mehr auf die Gegenwart, Klopstock mehr auf die Nachwelt ge­ wirkt. Durch jene maßlose Berechtigung des Subjekts der positiven Religion gegenüber wurde er der Vater der neueren Poesie über­ haupt, durch seine Ästhetisterung des Christentums der Ahnherr der modernen Romantik. Seine weniger auf das Volk als auf die Gelehrten und Schriftsteller gerichtete Wirksamkeit verbreitete sich auch über das katholische Deutschland; doch, wenn man den allerdings be­ deutenden Vorteil einer edleren Sprache abrechnet, eben nicht zum Gewinne. Dean z. D. die geistlichen Dichtungen des Jesuiten Denis, der hier vor allen anderen zu nennen wäre, werde» durch die Klopstocksche antike Odenform ungenießbarer als sie nach ihrer innigen Frömmigkeit sein sollten. Der Gang aber, den seitdem die protestantische Theologie genommen, ist allbekannt; sie endete mit dem Rationalismus oder Dernunftglauben. Die göttliche Wahrheit sollte nicht mehr durch die Offenbarung, sondern die Offenbarung durch die mensch­ liche Vernunft bestätigt «erde», das Geoffenbarte nur insofern gültig sein, als es von dieser Vernunft das landesherrliche Plazet erhalten. Vergebens protestierte der ehrliche Wandsbecker Bote, Claudius, gegen solche Souveränetät der Dernunst, und suchte, was er in seiner Einsamkeit vom positiven Christentum sich treu und herzlich bewahrt, in einem heiteren, freilich mehr gemachten als naturwüchsigen Volkstons unter die Leute zu bringen. Sie fanden ihn liebenswürdig, neckisch, unterhaltend; aber sie wußten

doch alles besser. Die Vernunft wollte ihre eigene, vornehme Religion haben, und erfand die Religion der Humanität; d. h. es wurde ein konventionelles Ideal des Menschlichen als Dogma hingestellt, zu dem der Mensch sich aus sich selbst und ohne göttliche Hilfe und Gnade unter der stolzen Firma der sittlichen Kraft hinauf­ arbeiten könne und solle. Herder mit seinem bewunderungs­ würdigen Talent, aus dem Christentum, wie aus Philosophie und Geschichte, das Menschliche herauszufühlen, wurde der Haupt­ dichter des neuen Glaubens. Auch Tiedge, wenngleich geistig Herder in keiner Weise vergleichbar, darf hier nicht übergangen werden. Seine „Urania", indem sie diesen Humanitätskultus durch ästhetisch-rhetorischen Schmuck salonfähig machte, war fast ein Menschenalter hindurch das religiöse Handbuch der Gebildeten, zumal der Frauen. Schiller folgte demselben Gedankenzuge; ja sein Don Carlos, und darin insbesondere der Posa, sind nur praktische Ausführung dieses Themas im großen Stil. Goethe dagegen war völlig indifferent, er nahm, wie ein Maler seine Farben, Lichter und Schlagschatten, aus allen Religionen, vom alten und neuen Glauben gerade das und soviel, als ihm eben künstlerisch ratsam schien; er kann also hier, wo von geistlicher Poesie die Rede ist, nicht näher in Betracht kommen. Allein wie in allen Dingen, wenn sie in immer weiteren Kreisen Gemeingut geworden, das Gemeine sein unverjährbares Ge­ wohnheitsrecht geltend macht, so ist es auch mit der Erfindung der Humanitätsreligion ergangen. Als die volltönende Münze aus dem Reichtum jener vornehmen Geister unter die Armut des ge­ bildeten Pöbels, an Nicolai und seine Pflegebefohlenen gekommen und von den gröberen Händen abgegriffen war, erwies fich das Gold sofort als eine bloße künstliche Komposition, die das geheime Kupfer überall durchschimmern ließ. Das merkten sie sich instinktartig sehr bald, und die ganze Sache schlug nun in die weltbekannte Aufklärung um, deren Geheimnis eben darin bestand, daß sie das überkommene Kapital zu größerer Bequemlichkeit und Menschen­ beglückung völlig in Scheidemünze und Kupfer umprägte, und an die Stelle jener idealen Menschlichkeit den bloßen nüchternen Verstand setzte, der fortan Haus und Kirche bestellen und die wiß­ begierige Welt über alles, was er wußte und nicht wußte, gehörig aufklären sollte. Da aber in Norddeutschland der Wein teuer und daher die Nüchternheit wohlfeil ist, auch überdem ein jeder Verstand genug zu haben meint, so entstand jetzt in Berlin, Leipzig usw. eine

ungeheure Rührigkeit im Menschenbeglücken, und aus dieser jene platte Karrikaturliteratur, die wir noch bis auf den heutigen Tag nicht ganz verwunden haben. Bei der rapiden Ausbreitung des Fabrikgeschäfts mußte ohne Verzug auch die Arbeitsteilung ein­ geführt werden; Jffland übernahm die lahme und stolpernde, Kotzebue die gefallene Tugend, und Lafontaine überrieselte zu besserem Gedeihen das Ganze mit seinen thränenreichen Romanen. Und weil der Verstand alles begreifen will, so war dabei zwar von Liebe, Kartoffelbau, Unschuld und Runkelrüben viel rührendes Geschrei, von positiver Religion aber und allem, was sich eben nicht greifen läßt, nimmermehr die Rede. Es versteht sich von selbst, dieser alberne und unwürdige Zu­ stand mußte endlich den Ernst der Nation zu einer umfassenden Reaktion herausfordern. Es mußte vor allem andern nur erst der innerlich verstümmelte Mensch wiederhergestellt, der einseitigen Aufklärung des überfütterten Verstandes, der sich damals exklusiv der gesunde nannte, mußte die verborgene, tiefere Nachtseite der menschlichen Seele: Gefühl und Phantasie, erfrischend wieder beigegeben, und das sonach erweiterte und ergänzte Dasein mit der großen Vergangenheit, von der es die Reformation geschieden, von neuem in welthistorischen Zusammenhang gebracht werden. Jene dämonische» Grundkräfte der Seele aber können ohne Vermittelung eines Höheren über ihnen kein harmonisches Ganze bilden; man mußte daher ferner, ganz unprotestantisch, dem emanzipierten Subjekt das Positive, dem wandelbaren menschlichen Belieben die unwandelbare göttliche Wahrheit, mit einem Wort: die Kirche entgegensetzen. Das alles tat, oder versuchte vielmehr, die Ro­ mantik, und zwar vorzugsweise durch das Medium der Poesie. Jene höchste Vermittelung erstrebte Novalis in seinem Heinrich von Ofterdingen ganz speziell für die Dichtkunst; Friedrich Schlegel, mehr kritisch als dichterisch produktiv, für die Wissenschaft. Die- Romantik in dichterischer Beziehung ist mit hin nicht bloß in ihren einzelnen Erscheinungen, sondern ihrem innersten Wesen und Prinzip nach ganz und gar eine geistliche Poesie. Allein die Religion, auf die sie sich stützte, beruht auf dem Glauben. Die nächsten Nachfolger von Novalis und Fr. Schlegel aber, mehr oder minder in ihrer Zeit befangen, hatten selbst den vollen Glauben nicht, den sie verfochten; ein innerer Widerspruch, der bei der eigentümlichen Natur dieser Poesie dieselbe von Grund 48

aus zerklüftet» mußte. Dieser Grundmangel ergibt sich bei August Wilhelm Schlegel unumwunden aus seinen, erst späterhin veröffentlichten Selbstgeständnissen, worin er den Katholizismus und seinen Bruder Friedrich vornehm desavouiert, und den ersteren, ohne alle eigene Überzeugung, nur als moderne Mythologie und geschicktes Reizmittel gegen die geistige Apathie seiner Zeitgenossen benutzt zu haben bekennt. Tieck zwar hat sich dergleichen niemals offen merken lassen, aber nur um so wirksamer kundgegeben durch eine gegen die Sache selbst gerichtete feinzersetzende Ironie, die sich durch alle seine Dichtungen schlingt und unter dem Vorwand, über den Dinge» zu schweben, anmutig spielend mit der einen Hand wieder nimmt, was sie mit der andern gegeben. Ein so perfides Halb-- und Scheinwesen konnte aber natürlicher­ weise ebenfalls nicht dauernd befriedigen. Es tat sich daher sehr bald dieselbe Erscheinung hervor, die wir unter ähnlichen Ver­ hältnissen schon bei Klopstock bemerkt haben. Der selbstbewußte Mangel gläubigen Inhalts sollte durch prächtige Formen ersetzt, die Verarmung durch Luxus überboten werden; und wie in der Messiade der Protestantismus, wurde nun auch hier der Katholizis­ mus, von dem sie nur noch ein vages Kunstgefühl hatten, ästhetisch gemacht. Mit dem Unterschiede jedoch, daß die wieder entfesselte Phantasie, welche sich bei Klopstock noch schüchtern mit der gewissen­ haftesten Ausschmückung ihres Stoffes begnügte, jetzt mächtiger und tiefer greifend die göttlichen Wahrheiten selbst in ihrer Weise umzu­ deuten unternahm und nicht ruhte, bis sie bei einem, ihr zu allen Zeiten besonders zusagenden Pantheismus angelangt. Ein Übel, das im Keime schon bei Novalis sich andeutet, in Werners frühesten Schriften künstlerisch systematisiert wird, bei Platen und anderen endlich offen zutage kommt. — Die Romantik hatte sonach sich selbst gerichtet. Heine war der erste, der in dem verwilderten Feldzüge das: sauve qui peut! öffentlich ertönen ließ und, mit zweischneidiger Ironie von dem in der eigenen Phantasterei stecken gebliebenen Munitionskarren der Romantik rasch die letzten Gurten und Stränge durchschneidend, mit Sattel und Zeug zu dem schon lange schaden­ froh gegenüber lauernden Heidentum Reißaus nahm. Eine ganze Freischar romantischer Trainknechte, Nachzügler und Marodeurs, ja alles, was inzwischen am Glauben Schiffbruch gelitten, folgte, ebenso frech aber weniger witzig als Heine, seinem willkommenen Signalrufe; und so entstand bei einer neuen Generation, die, durch die Befreiungskriege von jenen geschieden, die Romantik

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kaum als fabelhafte Tradition mehr kannte, die allerneueste Poesie, die wir füglich als die antichristliche bezeichnen können. Diese antichristliche Dichtung hat also nicht etwa Neues er­ funden, sondern nur dem Längstvorbereiteten poetischen Ausdruck und somit allerdings eine verschärfte und allgemeinere Wirksamkeit gegeben. Es ist eben nur der farbigschillernde Gischt der Brandung, die seit mehreren Menschenaltern unwillig an den Fels der Kirche sich emporbäumt, nur die fast unvermeidliche Konsequenz der drei­ hundertjährigen protestantischen Gedankenströmung, die sich nun plötzlich als Nemesis entlarvt hat. Habt ihr einmal, direkt oder indirekt, dem emanzipierten Subjekt die Souveränetät zuerkannt, aus welchem Grunde wollt ihr ihm nun die Befugnis absprechen, dieses Recht jetzt auch gegen den Protestantismus selbst zu kehren und, eine Schranke nach der andern durchbrechend, endlich die ganze, volle, unbedingte subjektive Freiheit bis zum Naturstande des Orangutang zu erstreben? Und in der Tat, das Charakteristische und Unterscheidende dieser neuesten Literatur liegt keineswegs in einer Veränderung des Prinzipes, sondern nur in dem Mehr oder Minder seiner praktischen Anwendung, es liegt darin, daß die­ selbe, nachdem sie mit der positiven Religion längst fertig geworden, jetzt aus derselben eigenen Machtvollkommenheit auch das Joch der Moral abschüttelt, und, da sie in diesem Fortschritt von gewissen mittelalterlichen Erinnerungen und Einrichtungen ungebührlich belästigt wird, mit gesteigertem Fanatismus und Wegwerfung aller bisherigen Scham und Scheu dem Christentum Haß und gänzliche Vernichtung offen proklamiert, gleich jenem Wahnwitzigen, der den Tempel der Diana in Brand steckte, in der wüsten Zerstörung des Heiligen eine eitle Unsterblichkeit suchend. Hinter diesen letzten Trümmern einer tausendjährigen Kultur lauert freilich die Anarchie, die Barbarei und der Kommunismus; der Proletarier hat an der willkommenen Bresche, wie zur Probe, schon die Sturmleitern an­ gelegt. 9t6er: apres nous le deluge! Was geht das den subjektiven Absolutismus an! Und was machten inzwischen die katholischen Dichter gegen diese liederliche Rebellion der Poesie? Wenige, vereinzelte, schüchterne Klänge abgerechnet, lange Zeit hindurch — nichts, und am Ende noch etwas Schlimmeres: die „Stunden der Andacht," einer zimper­ lichen Andacht, die sich, dem philosophischen Jndifferentismus zu Gefallen, alles Katholischen entäußert. Soll denn auch unsere Frömmigkeit bei dem Protestanlismns betteln gehen? Wir lassen

ihren religiösen Dichtungen, wenn sie eS verdienen, gern und na, umwunden volle Gerechtigkeit widerfahren, ja, wir würden keinen Anstand nehmen, einige der besten Kirchenlieder von Dach, Gerhard, Novalis oder Schenkendorf freudig als die unseren avtuerkeane«. Aber wir haben oben gesehen, wohin die geistliche Poeste der Pro­ testanten unaufhaltsam geraten, da sie, flch selbst überlassen, frei waltete. Wo sie aber von de» Konsistorien und Synoden jum liturgischen Gebrauche etngefangen wurde, ist sie unter der Zensur der fanatisch verschlimmbessernden Dernunftreltgion ganz altklug und prosaisch geworden und daraus endlich die gegeuwärtige Gesangbuchsnot entstanden, die, der allgemeine» Konfuflo» ver­ falle» und eine wahre literarhistorische Musterkarte aufwetsend, noch bis heute iwischen dem ästhetisch-religiösen, historisch-antiquari­ schen und kirchlich-praktischen Standpunkte ratlos hin und her schwankt, und nichts Geringeres als „ein Gesangbuch der uaflchtbare« Kirche, die nicht hier oder dort ist, sondern Gott allein be­ wußt," im Schilde führt. Da ist als» für uns nichts nachzuahmen, »och abzulernen, als etwa, wie wir es nicht machen sollen. Ebenso töricht aber, ja widersinnig wäre es, sich allzu schreckhaft von dem wüsten Daadalismus drüben bis zum andern Extreme hintreiben zu lassen, in der geistlichen Dichtkunst, weil sie des Mißbrauchs empfänglich, die Kunst verwerfen, und gleichsam wie eine vom Zeitgeist belagerte Festung hinter dem Bollwerk verbrauchter Formeln flch selber geistig aushungera zu wollen. Solche furchtsame, abschließende, bloß negativ« Moralität wird von dem geschäftigen Feinde über kurz oder lang notwendig überflügelt; wie der einfältige Vogel Strauß, der beim Anblick des Jägers die Augen zubrückt und meint, es habe keine Gefahr, weil er sie nicht sehen mag. Wohlmeinende Absicht allein ist noch keine Poesie; eine prosaische Poesie aber, wenn man sie so bezeichnen darf, verfehlt ihr Ziel nur um so gewisser, je größer und würdiger ihr Gegenstand ist. Wer diesen daher durch eine ängstlich abwehrende Beschränktheit in Auffassung und Darstellung geltend machen wollte, wäre wie jener ehrliche Deutsche, der sich mit seiner stanzösischen Einquartierung am besten zu verständigen meinte, wenn er das Deutsche, wie ein Deutschfranzos, gebrochen sprach. Wir haben so viele schöne geist­ liche Lieder und Sprüche von Fr. Schlegel, von Werner, Demens Brentano und den ungenannten Dichtern in Diepenbrocks Geist­ lichem Blumenstrauß; warum werben sie in unseren stereotypen

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Gebet, und Gesangbücher» nicht zur Erftischung des religiösen Sinnes benutzt? Nicht in der unleugbaren künstlerischen Vollendung ihrer Formen besteht ja die Sünde der modernen Poeste, sondern darin, daß fle keinen Inhalt hat, als ihre Leidenschaft und das dämonische Spiel der losgebuadenen Elementargeister; daß sie, an den äußersten Grenzen menschlicher Freiheit und Willkür angelangt, faustisch taumelnd über diese hinausverlangt, und da auf der wüsten Höhe dieser Versucher zu ihr getreten, sich mit ihrem Herzblut ihm ver­ schrieben und vor Baal das Knie gebeugt, der ihr dafür nun Macht gegeben über alle Lande und Weltherrlichkeit. Aber der Teufel ist ein Humorist. Er hat ihr zugleich heimlich den Stempel der Philisterei als Emblem ihrer Weltherrschaft aufgedrückt. Denn ein Philister ist, wer mit nichts geheimnisvoll und wichtig tut, wer die hohen Dinge materialistisch und also gemein ansieht, wer sich selbst als goldenes Kalb in die Mitte der Welt setzt und es ehrfurchtsvoll anbetend umtanzt. Und was wäre denn jene nihilistische Poesie anders als ein solcher vornehmgewordener, sublimierter Egoismus? Und dennoch, wir wiederholen es, Ehre, wem Ehre gebührt! Verkennt und verschmähet also die Kunst nicht, weil jene sie zu teuer mit ihrer Seele erkauft und mißbraucht haben; denn sie ist ein von Gott bestimmtes Gefäß himmlischer Wahrheiten. Aber gebt diesem entweihten Gefäße, bevor sie es ganz zerschlagen, den ursprüng­ lichen Wein des Lebens wieder, gebt dieser jungbyronschen Poesie, gleichviel ob im Drama, Roman oder im geistlichen Liede, wieder jene große, tiefsinnige Weltansicht, welche, indem sie das Dies­ seits an das Jenseits knüpft, aller irdischen Erscheinung eine höhere Bedeutung und Schönheit verleiht. Ob und wie bald oder spät der ftische Lebenstrank, dem von jenem potenzierten Schnaps ver­ brannten Gaumen der Menge munden wird, ist menschlicher Weise nicht vorauszusehen. Aber in Zeiten gährenden Kampfes kommt es darauf an, sich vor allem seiner eigenen Stellung klar bewußt zu werden, gegen das erkannte Böse, unbekümmert um die Ordon­ nanzen des Journalismus, nach bestem Wissen und Gewissen Einspruch zu tun, und so das ewige Danner, das die Nachwelt von uns fordern wird, wenigstens für eine bessere Zukunft unbefleckt über dem Getümmel auftecht zu erhalten.

Aus der „Geschichte der poetischen Literatur in Deutschland" i. Zn der vorhergehenden Betrachtung find die Vorgänger der Romantiker an unsern Blicken vorüber gegangen; bis zu ihren höchsten Blüten, bis zur rhetorischen Idealität Schillers und zur symbolischen Naturpoefie Goethes erschloß fich uns diese vom Rationalismus beherrschte Zeit. — Aber der deutsche Geist fand hierin kein Genüge und keine Ruhe; die Saatkörner, welche Lessing, Hamann und Herder ausgestreut, gingen in dem unbefriedigt sich fühlenden deutschen Norden auf. Die Vermittlung zwischen der sichtbaren Natur, wie sie bei Goethe unter der schönsten Form in ihrer symbolischen Bedeutung erschienen war, und der Welt des Unsichtbaren, unternahm ein neues Geschlecht. Allegorie und Symbolik genügten ihm nicht mehr; es verlangte nach einem wesentlicheren Inhalte, nach einer nahrhafteren Speise für den hungernden, an sich selbst nagenden Geist. So wurde es auf das Positive wieder hingeführt. Goethes Wirklichkeit und Schillers Ideal hatten für dasselbe nur Bedeutung in bezug auf ein Drittes über ihnen, wo beide bereits versöhnt und Eins sind: auf die Menschwerdung Christi, des göttlichen Vermittlers von Natur und Freiheit. Diese Idee erfassend, erklärten sie sich mit jugendlich feuriger Begeisterung zu Rittern des Christentums wider den herrschenden Rationalismus, und nahmen zugleich auch alles zu Hilfe, was das Christentum in den Jahrhunderten der Vergangen­ heit, da es geherrscht, in der Literatur der Völker hervorgebracht hatte. — Freilich aber äußerte sich dieses Bestrebe» zunächst, da die Jünger ihre Milch an einer ganz andern Brust getrunken, und in einer andern Luft aufgewachsen waren, als ein unsicheres Suchen und Herumtappen einer sich selbst kaum verständlichen Sehnsucht. Die Poesie hatte sie vor die Türen der katholischen Kirche, vor das in Waldesdickicht versteckte und längst vergessene Heiligtum hin­ geführt; kein Wunder daher, wenn sie ihre Aufgabe, die zur guten

Hälfte eine ethische war, vorzüglich als eine ästhetische nahmen, und statt der sichtbaren lebendigen Kirche sich nicht selten in einem tränmerischen Halbdunkel mit einer bloßen poetischen Symbolik dieser Kirche, einer neuen christlichen Mythologie abzufinden suchten. So viel zur Einleitung in diese neue Periode des deutschen Geistes, die der Gegenwart schon so weit entschwunden und viel­ fach so rätselhaft und unerklärlich scheint. War jene Zeit ja selbst eine Feenzeit, da das wunderbare Sieb, das in allen Dingen ge­ bunden schläft, zu singen anhob, wie die Waldeinsamkeit das uralte Märchen der Natur «iedererzählte, von verfallenen Burgen und Kirchen die Glocken wie von selber anschlugen und die Wipfel sich rauschend neigten, als ginge der Herr durch die weite Stille, baß der Mensch in dem Glanze betend niedersank. Es war, als erinnerte das altgeworbene Geschlecht sich plötzlich wieder seiner schöneren Jugendzeit, und eine tiefe Erschütterung ging durch alle Gemüter, da Schelling, Steffens, Görres, Novalis, die Schlegels und Tieck ihr Tagewerk begannen. Es bedarf wohl nur dieser Namen, um den Umfang dieser geistigen Erschütterung anzudeuten, die alle Richtungen der neuern Bildung, Politik, Philologie und Medizin nicht ausgeschlossen, erftischend und belebend durchdrang. Don Grund ans verjüngt aber wurde insbesondere die Poesie und gewann einen Überraschen­ den Reichtum an Inhalt und Formen, von dem die jetzigen Poeten, wider Wissen und Willen, noch bis auf den heutigen Tag ver­ drossen zehren. Auch hier begannen die Romantiker erst kritisch. Aber ihre Kritik war keine negative Demonstration; nach dem Grundsätze vielmehr: daß Poesie nur durch Poesie rezensiert werden 'könne, ward sie in lebendigem, dichterischem Kampfe selber zum Kunstwerk, wie Tiecks Zerbino, A. W. Schlegels meisterhafte Be­ sprechung der damaligen literarischen Zustände, und dessen berühmte Triumphpforte, unter welcher der Theaterpräsibent Kotzebue feier­ lich begraben wurde. Ebenso traten sie der prosaischen Misere nicht mit theoretischer Langweiligkeit, sondern faktisch mit leuchtenden Dorbildern entgegen, um sie an einer größeren Vergangenheit aufzurichten. In diesem Sinne haben ihre noch unübertroffenen Übersetzungen einen entscheidenden Einfluß auf unsere Literatur ausgeübt. Calderon wurde von ihnen gleichsam erst entdeckt. Auch Shakespeare war bis dahin fast nur eine Geheimwiffenschast der Goetheschen Iugendgenoffen, und Eschenburgs und Wielands Versuche gaben kaum den gelehrten Apparat zu einer künftigen

Übersetzung; erst durch Schlegel wurde er wirklich deutsch und populär. Und hier können wir nicht umhin, zugleich einen Vorwurf abzuweisen, den die neueste Zeit aufgebracht und der sich seitdem von Buch zu Buch gedankenlos forterbte, den Vorwurf nämlich, daß die Fomantik eben durch jene universale Umschau das neue Geschlecht von deutscher Natur und Kunst entfremdet und einem Quietismus gehuldigt habe, der sie politisch unfähig und für die großen Fragen der Gegenwart gleichgültig gemacht. Denn konnte wohl, fragen wir, eine welthistorische Bewegung, wie die im Jahre 1813, die noch zu Kotzebues Zeiten für Narrheit gegolten hätte, so nur von ungefähr aus den Wolken fallen? Waren es denn nicht eben jene quietistischen Romantiker, welche das alte Sagenbuch der deutschen Nationalpoesie wieder aufgeschlagen, und auf die ein­ samen Burggeister weisend, überall im stillen deutschen Sinn und deutsches Recht weckten und an Tugenden erinnerten, die der Gegenwart nottaten? Oder habt Ihr die männlichen Klagen und gewaltigen Lieder schon vergessen, womit Friedrich Schlegel un­ ausgesetzt zur Umkehr aus der moralischen Verwesung mahnte und die wie ein unsichtbarer Heerbann durch alle Herzen gingen? Und dies alles in einer Zeit, wo Napoleon sein Schwert über Deutsch­ land gelegt hatte, wo es keine müßigen Spaziergänge europa, müder Poeten galt, um für hochtrabende Floskeln den Lobsalm der Journale einzuwechseln, sondern wo es galt, das Leben für den Ernst de- Lebens einzusetzen. Und als es nun endlich zu handeln galt, traten Görres, Steffens, Schenkendorff, Raumer und andere der Besten an die Spitze der Jugend, die in der Romantik ausge­ wachsen war, und anstatt altklug zu schwatzen, das Vaterland befreite. Noch ist kein Menschenalter vergangen, seit diese Romantik wie eine prächtige Rakete funkelnd zum Himmel emporstieg, und nach kurzer wunderbarer Beleuchtung der nächtlichen Gegend, oben in tausend bunte Sterne spurlos zerplatzte. Der Pöbel lacht, und die Gebildeten, kaum noch vom Staunen und Entzücken erholt, reiben sich die Augen von der Blendung und gehen gleichgültig wieder an ihre alten Geschäfte. Woher der rasche Wechsel? Was hat diese Poesie verbrochen, daß sie überhaupt einmal Mode werden und ebenso schnell wieder aus der Mode kommen konnte?

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II. Es sind vorzüglich zwei charakteristische Momente, die die Romantik von anderen Literaturepochen unterscheiden; erstens die Allgemeinheit des geistigen Umschwungs, der nicht etwa, wie in ftüheren Perioden, die Poesie allein oder wohl gar nur einzelne Gattungen derselben, sondern den ganzen Jdeenkrets erfaßte; und zweitens das religiöse Grund wesen dieses Umschwungs, welcher eben deshalb ein so totaler sein mußte, weil ja die religiösen Gefühle und Überzeugungen überall das geheimnisvolle Senfkorn sind, aus dem die Gesamtbildung einer Nation emportreibt. Wir haben bereits oben erwähnt, wie die Reformation in ihrem natürlichen Fortgänge jene Bildung auf das emanzipierte Subjekt gestellt und dadurch in allen ihren Zweigen gründlich alteriert hatte. Fichtes Anfang in seinem System des absoluten Ichs (1794) bildet nur die Spitze aller wissenschaftlichen Konse­ quenzen der Reformation. Dieses absolute Ich nämlich, unter Negation aller bestehenden Wirklichkeit, produziert, wie anderswo treffend gesagt wird, selbst erst durch einen Akt der höchsten Freiheit, durch sein erkennendes Handeln, d. t. durch sein Bewußtsein, die wahre Wirklichkeit, und ist somit sein eigner Gott und Schöpfer der Welt, die nur in diesem Bewußtsein existiert. — Hier aber war in der Tat der Protestantismus an dem unvermeidlichen Abgrunde angelangt, gegen den kein weiteres Protestieren mehr galt; er mußte sich entweder kopfüber hinabstürzen, ober, wider seine Natur und erträumte Omnipotenz, zu dem ursprünglich Göttlichen über dem Ich wieder zurückkehren. Das letztere versuchte Schelling philo­ sophisch zu vermitteln, indem er das Ideale und Reale als Eines begründete im Absoluten, aus dem das Ich und die reale Welt hervorging, und das also die Identität von Natur und Geist oder Gott selber ist. Dieser Totalanschauung des Lebens gemäß sind Wissenschaft und Religion Emanationen jenes Absoluten, die Weltgeschichte nur die Selbstentwickluag und Offenbarung des­ selben, der Staat sein organischer Körper, die Schönheit aber die end­ liche Darstellung des Unendlichen vermittelst der Kunst, welche mithin eine unmittelbare Offenbarung Gottes im menschlichen Geiste ist. Man steht aus diesen wenigen Andeutungen, wie nahe ver­ wandt diese Philosophie der Romantik war, indem sie eigentlich eben nur das wissenschaftlich begründete, was gleichzeitig die Romantik an den einzelne» Erscheinungen des Lebens poetisch nachzuweisen strebte. Auch die Romantik nämlich betätigte, wie

wir oben sahe«, ihre tiefgehende Opposition gegen die Folge« der Reformation vorjüglich dadurch, daß sie dem allmächtigen Subjekt ein Absolutes, die positive Religion, entgegeastellte. Auch sie begriff das Leben und seine großen historischen Momente nur als Offenbarungen Gottes, und Kirche, Staat und Volk hiernach als eine, wenngleich selbständig gegliederte Einheit, wie sie allerdings im Mittelalter sich in Europa, und namentlich in Deutschland, zu einer gesunden Nationalität entfaltet hatte. Ja der Dichtkunst insbesondere aber bekundete sie diese ihre höhere und durchaus religiöse Weltanschauung durch die dem Christentum eigentümliche versöhnende Liebe, die kein blindzermalmendes Schicksal anerkennt, nicht Großes und Edles diesseits vernichtend abbricht, sondern auch das Tragische nur als ein verklärendes Märtyrertum auffaßt. Ja selbst in der Behandlung der Liebe im gewöhnlichen, engeren Sinne zeigt stch jenes Streben nach einer höheren Vermittlung des Realen und Idealen. Denn wenn die Romantik die Natur und deren geistigsten Ausdruck, die menschliche Schönheit, als ein Symbol des Göttlichen betrachtete, so mußte notwendig auch die Liebe, als das tiefere Gefühl dieser Schönheit, dem Göttlichen zugewendet und in den geheimnisvollen Kreis des Ewigen mit ausgenommen werden. Daher sagte Schleiermacher damals in seinen vertrauten Briefen: „Nun aber die wahre himmlische Venus entdeckt ist, sollen nicht die neuen Götter die alten verfolgen, sonst möchten wir verderben auf eine andere Art. Vielmehr sollen wir nun erst recht verstehen die Heiligkeit der Natur und der Sinnlichkeit, deshalb sind uns die schönen Denkmäler der Alten erhalten worden, weil es soll wiederhergestellt werden, in einem weit höheren Sinne als ehedem, wie es der neuen schönen Zeit würdig ist: die alte Lust und Freude und die Vermischung der Körper und des Lebens nicht mehr als das abgesonderte Werk einer eigenen gewaltigen Gottheit, sondern Eins mit dem tiefsten und heiligsten Gefühl, mit der Der-schmelzung und Vereinigung der Hälfte der Menschheit zu einem mystischen Ganzen. Wer nicht so in das Innere der Gottheit und der Menschheit hineinschauen und die Mysterien dieser Religion nicht fassen kann, der ist nicht würdig, ein Bürger der neuen Welt zu sein." Und hier können wir nicht umhin, eines Vorwurfs zu ge­ denken, den man den Romantikern oft genug gemacht hat, eine laxe Moral nämlich bei Darstellung des Sinnengenuffes. Ein solcher Vorwurf hätte nur da Sinn und vollkommene Berechtigung,

wo das Semetnflnaltche im kokett drapierten Gewände einer bloß konventionell idealen Tugevdlichkeit in die Salons eingeführt werden soll, wie j. B. bei Wieland; oder wenn es, wie in manchen neuesten Dichtungen, geradezu die Larve abwerfeud, sich ftech und nackt, als Göttin der Dernuast, zu allgemeiner Anbetung auf den Altar stellen will. Don beiden Todsünden aber müssen wir die Romantik, einige verhältnismäßig seltene Verirrungen aus unbe­ wachter Lust abgerechnet, durchaus fteisprechen. Wir sind gewiß wett davon entfernt, irgendeiner liederlichen Literatur das Wort reden zu wollen. Aber ebenso easschieden müssen wir, um dem Dichter sein angeborenes Recht zu wahren, gegen das andere Extrem protestieren, das in dieser religiös auf­ geregten Zeit der Poesie um so größere Gefahr droht, als es sich in den Mantel christlicher Liebe hüllt und mit geweihten Waffen zu streiten scheint; wir meinen den unzeitigen Rigorismus kirch­ licher Beschränktheit von der einen Seite, und anderseits die Prüderie der Pietisten, dieser Pedanten der Sittlichkeit. Die ersteren möchten am liebsten alles Sinnliche, namentlich alle Darstellung der Liebe, aus der Poeste verbannen, überstttlich und strenger als Christus, der selbst die Geschlechtsliebe durch die Che geheiliget hat. Sie wollen, allerdings ehrlich, nur das Über­

irdische, bemerken aber in ihrem blinden Eifer nicht, daß das Über­ irdische an sich unbarstellbar ist, daß wir ja in aller Kunst nur die Siunenwelt zum Maßstabe des Übersinnlichen haben, und daß mithin z. B. eine gute Darstellung der heiligen Jungftau, so wie jedes Heiligenbild, ohne jenes lebendige Gefühl der irdischen Schön­ heit ganz unmöglich wäre. Es ist überhaupt wider die Weltorbnung und hat jederzeit die meiste Verwirrung hervorgebracht, irgendeine nicht zu beseitigende Elementarkraft der Seele, weil sie dem Miß­ brauch ausgesetzt, eigensinnig ignorieren zu wollen, anstatt sie viel­ mehr nach besten Kräften zu veredeln. Ist daher, nach mensch­ licher Voraussicht, durchaus keine Hoffnung vorhanden, die Liebe jemals gründlich von der Erde vertilgen zu können, so handeln diejenigen ohne Zweifel sehr unverständig, die sie von ihrem natür­ lichen Boden, von der Poesie, abzutrennen trachten, und, also entadelt, nur den niederen Begierden zum Raube vorwerfen. Eben weil die Liebe nur von Poesie lebt, bildet sie auch das unverwüstliche Grundthema aller Dichtungen, dessen höhere oder gemeinere Auf­ fassung von jeher den wahre» Dichter von dem unberufenen unter­ schieden hat.

Der Pietismus dagegen, zaghafter und ohne die entschlossene Begeisterung einer totalen Umkehr, die von keinen Konzessionen weiß, möchte zwischen jener klösterlichen Aszetik und der weltlichen Zügellosigkeit sich in Poesie und Leben ein sitllfrommes juste milieu zurechtmachen. Er will den Sinnengenuß und die Liebe sich allenfalls gefallen und wohlbekommen lassen, aber zugleich aus Furcht vor der Sünde die Lust neutralisieren. Die Farben sollen nicht brennen, die Blumen erst ängstlich fragen, ob sie nicht etwa zu kräftig duften und vielleicht ein paar Schwachköpfe berauschen könnten; das ganze gewaltige Leben soll in ein sanftes Handbuch der Moral umgeschrieben werden in usum Delphini: jener zer­ fallenen, wurmstichigen, historisch schreckhaften Unschuld, die aus jedem Blütenkelche nur ihr eigenes heimliches Teufelchen auf­ ducken und ihr ein Schnippchen schlagen sieht. Aber die schwüle Langweiligkeit eines solchen englischen Sonntags ist, abgesehen von der dabei kaum zu beseitigenden Heuchelei, ohne Zweifel unheil­ brütender als die unbefangene kecke Lust eines gesunden Volkes, das wieder einmal den Arbeitsschmutz der ganzen Woche von sich kehrt und sich innerlich stärkt. Denn rechte Freude ist eine ebenso starke Schwinge, und lehrt ebenso herzinnig beten, als die Not, weil beide, worauf es doch am Ende ankommt, die Rinde der trägen Gleichgültigkeit brechen, die das Herz vom Himmel scheidet. In jener temperierten, flauen, abgeblaßten Sitten-Diät und Selbst­ verhätschelung aber ist, wie in aller Halbheit, keine Erhebung. Beide Gegner daher, die herben Aszetiker wie die süßlichen Pietisten, würden, wenn das überhaupt tunlich wäre, in ihren Konsequenzen gar bald mit der Poesie fertig werden, die sie ohnedem, weil sie sie nicht verstehen, nur unwillig tolerieren. Denn eine kräftige Sinnenwelt ist das unabweisbare Material aller Kunst, und es ist gleichviel, ob die einen dieses Material ganz vernichten, oder die andern es zu einer impotenten Negation verstümmeln wollen. Diese unerquickliche Leere aber, womit weder Gott noch Menschen gedient ist, müßte notwendig wieder zur Lüge führen, d. i. zur falschen Sentimentalität, oder zu dem Surrogat einer abstrakten Unnatur mit körperloser Liebe und rhetorischer Tugend. Grade der frische Blick in die Welt und die tiefere Ahnung ihrer verhüllten geistigen Physiognomie bezeichnet den Dichter, dessen Sache es ist, nicht, wie der Vogel Strauß beim Anblick des Jägers, vor dem bunten Wirrsal feig den Kopf zu verstecken, sondern die sinnliche Erscheinung im Feuer himmlischer Schönheit zu taufen

«ad vom Gemeinen jv erlösen. Nur in der wohlverstandenen, innigen Eintracht und Porste und Religion also ist für beide Heil; denn die wahre Poesie ist durchaus religiös, und die Religion poetisch, und eben diese geheimnisvolle Doppelnatur beider darzustellen, war die große Aufgabe der Romanük. Allein mit der oben erwähnten Übereinstimmung und Hingabe der Romanük an die Naturphilosophie, so sehr sie auch den wechselseiügen Aufschwung fördern mochte, war doch unleugbar auch eine gefährliche Versuchung gegeben. Denn indem diese Philosophie alles unter dem Absoluten als Eines zusammenfaßte, lag der extreme Irrtum nicht gar fern, welcher, wie Gott in der Welt, so die Welt und mithin auch jedes einzelne in jener allschaffenden, sich stets neugebärenden Weltkraft aufgehen läßt; mit einem Wort: jene dem mystisch gesteigerten Naturgefühl überall sehr gewöhn­ liche pantheistische Ausschweifung, wie wir sie in Werners frühesten Schriften bemerkt haben. Werner ist, nach mannigfachen Irr­ wegen, zur Kirche zurückgekehrt. Die Romantik aber entfernte sich auf der von ihm eingeschlagenen Bahn immer weiter von ihr, nicht gewahrend oder nicht beachtend, wie ihre ganze Bedeutung und das, was sie von früheren poetischen Schulen unterschied, eben darin lag, daß sie das Positive des Christentums, also die Kirche, in Leben, Kunst und Wissenschaft wieder frei und geltend zu machen übernommen. Nachdem dieser natürliche Boden einmal verschoben war, fing jeder an anarchisch sich selbst seinen Katholizis­ mus nach eigenem poetischen Gelüsten zuzustutzen; und so entstand, gleichwie beim babylonischen Turmbau, allmählich jenes wunder­ liche Gemisch von Mystizismus, katholischer Symbolik und protestanti­ scher Pieüsterei, jener konventionelle Jargon altdeutscher Redens­ arten, spanischer Konstruktionen und welscher Bilder, der fast an des simplizianisch-deutschen Michels verstümmeltes Sprachgepräng erinnert, und insbesondere bei Löben (Jsidorus Orientalis) un­ bewußt sich selber parodiert. Da bezieht sich alles mit einer Art von priesterlicher Feierlichkeit auf den Beruf des Dichters und die Göttlichkeit der Poesie, aber die Poesie selbst, das ursprüngliche, freie, tüchtige Leben, das uns ergreift, ehe wir darüber reden, kommt nicht zum Vorschein vor lauter Komplimenten davor und Anstalten dazu. Oder wer könnte wohl eine gelungenere Parodie von Novalis' Idee der Durchdringung und Erlösung der Welt durch die Poesie ersinnen, als Löben in seinem sehr ernst gemeinten Romane „Guido" wider Wissen und Willen gegeben, wo es am Schluffe heißt:

„Serinen wohnen in den Düften, In den Düsten wohnt das Leben, Leichtem Weben, lichtem Schweben LoSgegeben." Andere nahmen die Sache schon leichter und tolerierten den Katholizismus, der ihnen nur noch ästhetische Gültigkeit hatte, als bloße Dekoration, wie z. B. Fouque in seinen Rttterromanea; während anderseits der unpoetische Müllner gar das heidnische Schicksal mit seinem tückischen Fatalismus in katholisch-spanischem Kostüm zu seinem Tragödiengott einsetzte. Wo aber der positive Glaube abhanden gekommen, schwankt das immer bewegliche Zünglein des menschlichen Geistes ratlos zwischen den entgegengesetztesten Extremen; und so erweckte auch hier die pantheistische Zerstörung der Individualität gar bald wieder alle alte», zärtlichen Mitgefühle für das schnöd verkannte Subjekt. Indem jedoch die Romantik auf solche Weise mit dem Unglauben, dem modernen Aberglauben än die Allmacht des Subjekts, und allen den weltlichen Mächten, gegen die sie ja eben zu Felde lag, so mattherzig zu kapitulieren, ja zu kokettieren begann, hatte sie auch schon sich selbst säkularisiert. Es entstand in dem Feldlager Un­ sicherheit und Verwirrung, und aus dieser Verwirrung, «eil sie den Nerv des Ganzen traf, jene innere Zerrissenheit, welche die letzten Stadien der Schule charakterisiert und nichts mehr von der kecken Zuversicht und Morgenftische weiß, mit der die ersten Romantiker im Vollgefühl des guten Gewissens auszogen. Aber auch noch von einer anderen Seite, auf dem eigentümlich künstlerischen Gebiete der Romantik selbst, lauerte der Feind. In der zweideutigen Richtung, die Tieck mit seiner Ironie an­ gegeben, lag schon der heimliche Abfall. Denn was die Romantik unternommen, konnte, wie wir gesehen, nur aus dem innersten Marke der Gesinnung, aus der tiefsten Wurzel des religiösen Lebens heraufgebaut werden; wir sagten schon früher, ihre Aufgabe war halb eine ethische, die romantischen Poeten aber nahmen sie bloß ästhetisch. Indem sie mit jener ironischen Vornehmheit sich über den Inhalt hinausstellten, ging ihnen dieser allmählich und unvermerkt in der bloßen Form auf. Es konnte daher nicht fehlen, die Form wurde zur Formel, und es entstand eine romantische Manier, wie sie z. B. in Fouques Recken uns anwidert. Ja der scharfe Akzent, den sie hiernach einseitig auf die bloße Form legten, und die darin erlangte Meisterschaft mußte, weil hier das Talent willkür-

lich ju schaffe» schien, ihrerseits wiederum zu einer aristokratischen Selbstvergötteruvg, zu dem Geniekultus führe», der in manchen romantischen Dichtungen fast ausschließlich gefeiert wird. So hatten nun allerdings die Romantiker — und hier er­ scheinen sie durchaus liebenswürdig — den Rationalismus aus allen seinen verjährten Posttionen und Verstecken in Religion, Politik, Haus, Erziehung und Sitte unbarmherzig herausgejagt; vielleicht das ergötzlichste Hallali, das jemals durch die Literatur erklungen. Das Feld, das ste damals auch in der öffentlichen Meinung voll­ ständig behauptet, war mit papiernen Lorbeerkränzen und Perücken bedeckt, und die zu Tod erschreckten Kahlköpfe, nachdem die wilde Jagd längst vorübergestürmt und ste selbst sich wieder stattliche Zöpfe angedreht haben, können die unerhörte Keckheit noch immer nicht vergessen und rufen ihnen noch bis heute ingrimmig das entsetz­ liche Wort: Jesuiten! nach. Mit Recht nannte daher Goethe die Romantiker fürchterliche Gegner „aller Nichtigkeit, der Parteisucht für das Mittelmäßige, der Augendienerei, der Katzenbuckelgebärden, Leerheit und Lahmheit, in welcher fich damals die wenigen guten Produkte verloren." — Allein es war bei ihnen mehr oder minder eben auch nur die frische Jagdlust, die ste so weit fortgerisse«. Ste hatten fich durch das wuchernde Schlingkraut der rationalistischen Wüste zwar tapfer durchgehauen, stutzten aber, als fie nun plötzlich vor der vergessenen alten Kirche standen; fie wollten allerdings das Pofitive, aber nicht aus orthodoxem Eifer, sondern um des Ge­ heimnisvollen und Wunderbaren, um des schönen Heiligenscheins willen, der das Positive umgibt; sie gaben statt der heidnischen Mythologie eine christliche Mythologie; mit einem Wort: sie verfochten einen Glauben, den sie im Grunde selber nicht hatten. Und das konnte auch füglich nicht anders sein. Wir sahen, der Inhalt der Romantik war wesentlich katholisch, das denkwürdige Zeichen eines fast bewußtlos hervorbrechenden Heimwehs des Protestantismus nach der Kirche. Daher auch die auf den ersten Blick befremdende Erscheinung, daß diese Romantik gerade im katholischen Süden nur wenig Anklang gefunden, weil eben hier die Poesie der Religion, die sie heraufbeschwören wollten, wenigstens im Volke noch fortlebte; man erstaunte oder lächelte über solche luxuriöse Anstrengungen für etwas, das sich ja von selbst verstand. Im nördlichen Deutschland dagegen, welchem die Romantiker angehörten, waren diese fast ohne Ausnahme protestantisch ge­ schult und in der außerktrchlichen Wissenschaft und Lebeasgewohn-

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heit aufgewachsen. Sie mußten daher gleichsam sich selbst erst ins katholische Idiom übersetzen, das nicht ihre Muttersprache war; sie hatten dort frühzeitig schon vom Baume der Erkenntnis ge­ nascht und jene katholische Unbefangenheit und Unschuld verloren, die, weil sie es ganz ist, kaum weiß, daß sie katholisch sei; es fehlte ihnen mithin der natürlich Boden einer katholischen Ge­ sinnung, die allein vermögend «ar, ihre Überzeugungen jur lebendigen poetischen Erscheinung zu bringen. Daher ihre unsichere Haltung, dieser gemachte, sprunghafte, forcierte Katholizismus, der, stets unbeftiedigt, immer über sich selbst hinausgeht. Ja Hoffmann sahen wir das letzte aufflackernde Knistern der Flamme, die bereits allen Inhalt verjehrt hatte, und der endliche Sprung aus dieser Phantasterei ju dem neuesten Nihilismus hat hiernach kaum etwas Befremdendes mehr. Erging es doch längst schon den Romantikern ungefähr wie den römischen Auguren, die bei ihren feierlichen Weissagungen einander nicht ohne heimliches Lächeln ins Gesicht sehen konnten. Projessioasmübe von ihrer Wallfahrt aus dem Heiligen Lande jurückgekehrt, fühlten sie eine menschliche Sehnsucht nach den Fleischtöpfen der irdischen Heimat und schämten sich ihrer armen, schäbig gewordenen Pilgertracht vor der daheimgebltebenen Geistreichtgkeit, die ihrerseits nicht unterließ, die Zurückgekehrten mit einer Marseillaise großmütig einjuholen. Heinrich Heine, ursprünglich selbst noch Romantiker, macht hierbei die Honneurs, indem er aller Poesie das Teufelchea frivoler Ironie anhängt, das jubelnd ausruft: Seht da, wie hübsch, ihr guten Leute! aber glaubt ja nicht etwa, daß ich selber an das Zeug glaube! Fast jedes seiner schönen Lieder schließt mit solchem Selbst­ morde. Die Jett hatte allgemach den Romantikern hinter die Karte geguckt und insgeheim Ekel und Langeweile vor dem hohlen Spiele überkommen. Das sprach Heine frech und witzig aus, und der alte Jauberbaan war gelöst. So gefährlich ist es, mit dem Heiligen ju spielen. Denn «er hochmütig oder schlau die ewigen Wahrheiten und Geheimnisse als beliebigen Dichtungsstoff zu überschaue» vermeint, «er die Religion, die nicht dem Glauben, dem Verstände oder der Poesie allein, sondern allen dreien, dem ganzen Menschen angehört, bloß mit der Phantasie in ihren einzelnen Schönheiten willkürlich zu­ sammenrafft, der wird zuletzt ebenso gern an den griechischen Olymp als an das Christentum glauben und eins mit dem andern ver­ wechseln und versetzen, bis der ganze Himmel öde und leer wirb.

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Wahrlich, die rechte Poesie liegt ebensosehr in der Gesinnung als in den lieblichen Talenten, die erst durch die Art ihres Gebrauches groß und bedeutend werden. — Wie wenig aber diese spätere Richtung der Romantik nach dem Sinne ihrer Begründer war, beweist u. a. ein im Morgenblatt veröffentlichter Brief A. W. Schle­ gels an Fouque. Hier sagt nämlich der erstere schon im Jahre 1806: „Wie Goethe, als er t»erst auftrat, und seine Zeitgenossen, Kliner, Lenz usw. (diese mit roheren Mißverständnissen) ihre ganze Zuversicht auf Darstellung der Leidenschaften setzten, und zwar mehr ihres äußeren Ungestüms als ihrer inneren Tiefe, so haben, meine ich, die Dichter der letzten Epoche die Phantasie, und zwar die bloß spielende, müßige, träumerische Phantasie, allzusehr zum herrschen­ den Bestandteil ihrer Dichtungen gemacht. Anfangs mochte dies sehr heilsam und richtig sein, wegen der vorhergegangenen Nüchtern­ heit und Erstorbenheit dieser Seelenkraft. Am Ende aber fordert das Herz seine Rechte wieder, und in der Kunst wie im Leben ist doch das Einfältigste und Nächste wieder das Höchste. — Die Poesie, sagt man, soll ein schönes und freies Spiel sein. Ganz recht, insofern sie keinen untergeordneten, beschränkten Zwecken dienen soll. Allein wollen wir sie bloß zum Festtagsschmuck des Geistes, zur Gespielin seiner Zerstreuung? oder bedürfen wir ihrer nicht weit mehr als einer erhabene» Trösterin in den innerlichen Drangsalen eines unschlüssigen, zagenden, bekümmerten Gemüts, folglich als der Religion verwandt? Darum ist das Mitleid die höchste und heiligste Muse. Mitleid nenne ich das tiefe Gefühl des menschlichen Schicksals, von jeder selbstischen Regung geläutert und dadurch schon in die re­ ligiöse Sphäre erhoben. Darum ist ja auch die Tragödie, und was im Epos ihr verwandt ist, das Höchste der Poesie." Nicht in ihren Intentionen also lag der Fall der romantischen Poesie, sondern in ihrem eigenen Abfall von jenen Intentionen, und dieser Abfall wieder weit weniger in einer treulosen Felonie der Dichter, als in der Gleichgültigkeit der Zeitgenossen. Welche lebendige Romantik entfalteten z. B. der abenteuernde Herzog von Braunschweig, Schill und der Tiroleraufstand im Jahre 1809! Dennoch hatte der Sturm damals alles wieder ver­ weht. Denn das Maß des Unglücks war noch nicht erfüllt und hatte die Eisdecke des Nationalgefühls noch nicht gebrochen. Aber jene leuchtenden Heldengestalten blieben mahnend im An­ gedenken der Menschen und waren Vorzeichen und Erwecker des Befteiungskrteges.

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Ebenso verhallten die Klänge der romantischen Poesie in der harten Zeit, nur von wenigen innerlichst vernommen; denn sie appellierte an ein katholisches Bewußtsein, das noch kaum erwacht und nirgends reif war. Sie mußte abfalleu wie vorzeitige Blüten eines künftigen Frühlings. Aber, wir sagen es wiederholt, nicht ohne eigene Schuld, wie wir oben gesehen. Der Hochmut des Subjekts, der einst schon die Engel stürzte, hat auch die Romantik gestürzt.

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Anmerkungen (Dem.:

A. - GLmtl. Werke des FreiLerrn Jos. v. EtchenLorff. Historisch,krittsche Aus, gäbe herausaeaebeu von w. Kos« und L. Sauer. Regensburg, I. Habbel. — r^G. — Geichlchtt der poetischen Literatur Deutschlands von Jos. Frhrn. v. Gchen, borff. Reu yerausgegeben und etngel. von W. Kosch. Kempten und München sMsel, sammlung io/ii] 1906.)

Halle und Heidelberg Sette 7. Wolff, Christian Frh. v. (1679—1754); von 1706—1723 lehrte er Mathematik und Philosophie in Halle, dann infolge der pietistischen Anfeindung (A. H. Francke) von Friedrich Wilhelm I. des Landes ver­ wiesen, bis 1740 in Marburg (Hessen); durch Friedrich II. nach Preußen und Halle zurückberufen. Seite 9. Thibaut. Anton Frtedr. Justus Th. (1772—1840), als Jurist bedeutender Pandektenforscher, lehrte 1798 in Kiel, 1802 in Jena, 1806 in Heidelberg. H.,K. A. XI 358s. Dgl. H. Levin, Heidelberger Romantik (München 1922) S. 17: „Th. hielt sich vom Rationalismus ebenso fern wie von der romantischen Gedankenwelt, der er zeitweise geradezu feindselig eutgegenstand." Savtgny, Frtedr. Karl0.(1779—1861), Haupt der historischen Rechts­ schule; 1803 Marburg, 1808 Landshut, 1810—42 Berlin. Hauptwerke: „Geschichte des römischen Rechts im M.A." (6 Bd. 1815/31) und „System des heutigen römischen Rechts" (8 Bd. 1840/49). Seite 13. Kraftgenies der achtziger Jahre. Sonst „Stürmer und Drängt. . Lessing, Hamann, Herder. DaS Dreigestirn begegnet in seiner Bedeutung für das deutsche Geistesleben auch L.-G. S. 307 und im Traktat „Über die ethische und religiöse Bedeutung der neueren romantischen Poesie in Deutschland" (1847) S. i3ff. Dgl. R. Oietze, E/s Ansicht über romantische Poesie im Zusammenhang mit der Doktrin der roman­ tischen Schule. Leipzig 1883, (essen vütterlehre. Georg Friede. Cr. (1771—1858). 1802 Marburg, 1804/45 Heidelberg (mit einer ein, jährigen Unterbrechung in Leyden). Sein Hauptwerk aus dem von E. bezeichneten Gebiet ist: »Symbolik und Mythologie der alten Völker", 4 Bde. (1810/12). Außerdem deutsche Schriften 5 Abt. 1836—58 (mit einer Selbstbiographie, über deren historischen Wert vgl. F. Schneider, Beiträge zur Geschichte der Heidelberger Romantik. Rene Heid. Zahrb. XVIII 1914 55 ff.). „Er. ließ flch durch die von ihm angenommene Schellingsche Naturphilosophie |n den Neuplatonikern führen (Herausgabe des PlotiaoS, 3 Bde. 1835), bei denen er gleiche Gedanken |n finden glaubte; und die Neu, platouiker zeigten ihm durch ihre Mitteilungen über die hellenistischen mysti, scheu Seheimkulte den Weg zu den Forschungen über die griechische Mytho, logte und ihre Herkunft. Da er flch zuerst mit dem DionyfoSkult beschäftigte, den er mühelos ans Indien zurückführen konnte, wurde er dazu verführt, die Herkunft aller griechischen Mythologie(?) von dorther zu erweisen, mit einer objektiv falschen Methode, indem er statt mit der historischckitischen Beweisführung theologisch,dogmatisch von den Angaben der Neuplatoniker auS über sehr gewagte archäologische Deutungen hinweg in seinem Ziel gelangte" (Schneider a. a. O.). Novalis. R/S Gedankengänge, die hier berühtt «erben, hat €. aus, führltch verfolgt L.,G. S. 311—333. Steffens. Henrik St. (geb. 1773 zu Stavanger in Norwegen, 1804 Professor der Mineralogie zu Halle, gest. 1845 zu Berlin), Werke: Betttäge zur inneren Naturgeschichte der Erbe, 1801. Anthropologie. 2 Bde., 1824. Was ich erlebte, 10 Bde., 1840/44. Wie ich Lutheraner wurde, 1831. Bgl. zur Charakteristik €.'< Tagebuch vom 16. Juli 1805 (H.,K. A. XI105): „Besonders riß St. durch die lebendige Kraft seine- EnthustaS, muS jeden feiner Zuhürer hin" und uoter dem 19. Mai 1807 (ebenda 197) heißt es von GSrreS: „Blaß, jung, «ilbbewachfeu, fast wie Steffens." Reil. Johann Christian R. (1759—1813), feit 1787 Professor der Therapie und Direktor der Klinik in Halle. Nachruf von Steffens (tz.,K. A. X 470).

Froriep. Ludwig Friedrich F. (1779—1847), Anatom in Jena, Halle (1804—1808), Tübingen, Stuttgart, Weimar. Schleier wacher. Friedrich Daniel Ernst Sch. (1768 bis 1834), Theolog und Philosoph. Halle 1804—07, baun Berlin. Hauptwerke (Ges. 30 Bde. 1834/64): Über die Religion, Reben an die Gebilbtteu unter ihren Verächtern (1799); Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (1803); PlatouS Werke, übers, m. Elul. u. Anm. (1804—28); Gründe, der philosophischen Ethik; der christliche Glaube nach den Grund, sähen der evangelischen Kirche (2 Teile 1821/2). Schl, «ar der Theologe der Romantik; wie fle «endet er flch zunächst gegen den einseitigen Ratio, naliSmuS der Aufklärung (»gl. R. Hayw a. a. V. S. 419ff.). Don feiner Reltgiofltät aus, die wiederum durch ihre mysttschq>ietistische Herkunft «eseut,

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lich bestimmt ist (vgl. I. Nadler, Berliner Romantik, Berlin 1921 S. 65ff.), muß und kann das ganze Verhältnis der Romantik zur Religion, wie es A. v. Martin, Das Wesen der romantischen Religiofltät (Viert, f. Literatur, Wissenschaft u. Geistesgesch. 1,2) in mustergültiger Weise analysiert hat, be­ urteilt werden.

Wolf, F. A. (1759—1824). Vers. d. Prolegomena ad Homerum. (Dgl. H.-K. A. XI 342.) Er war der erste bewußte Fachgelehrte der klassi­ schen Philologie in Deutschland; mit ihm beginnt die neuzeitliche Text­ kritik, besonders an Homer.

Seite 15. Schütz. Christian Gottfried Sch. (1747—1832). 1779 Professor der Poesie und Beredsamkeit in Jena, 1804 in Halle. Hsg. d. „Allg. Lit.-Ztg." (H.-K. A. XI 343). Kayßler. Adalbert K., ursprünglich katholischer Priester, dann zu den Reformierten übergetreten; 1805/06 Professor der Philosophie in Halle, 1806 in Breslau. (H.-K. A. XI 328).

Schmalh. Anton Heinrich Theodor Sch. (1760—1831), Professor der Rechte. „Schmalhens reine Unwissenheit", Tageb. vom 27. Sept. 1807 (H.-K. A. XI 214). Dabelow, Christian, Professor der Rechte in Halle.

König, Heinrich Johann Otto (1748—1820), Professor für Staats-, Völker- und Kirchenrecht (H.-K. A. X 471). Woltaer, Johann Christian, Professor der Rechte in Jena.

Giebichenstein und Sage von Ludwig dem Springer. Gf. Ludwig (d. Springer) von Thüringen, der unter den Königen Hein­ rich IV. und Heinrich V. eine politische Rolle spielte (f 1123), soll wegen eines Mordes vom Kaiser auf dem G. gefangen gehalten worden sein und sich durch einen kühnen Sprung gerettet haben. Seite 16. Der Reichhardtsche Garten. Dgl. I. Nadler, Lite­ raturgeschichte der deutschen Stämme III (1918) S. 222/23; W. Lucke, tzallische Romantik. Eichendorff-Kalender 1922, S. i54ff. Zeitgenössisch ist auch die Schilderung bei K. A. Darnhagen von Ense, Denkwürdig­ keiten des eigenen Lebens (hsg. v. I. Kuhn) I (Berlin 1922) S. 177 u. ö. Die von C. erwähnte Braut Steffens" hieß Johanna.

Lafontaine und seine schlechten Romane. Der Modeschrift­ steller Aug. Heinr. Jul. L. (1758—1831) war der Schöpfer des weiner­ lichen Familienromans und schrieb mindestens 150 Bände. A. W. Schlegel richtete gegen ihn eine vernichtende Kritik im 1. Stück des Athe­ näums 1792 (Werke XII 1847 S. 3ff.) und bekämpft „die im ganzen so herabziehende Art seiner Romane, denen es an Poesie, an Geist, ja sogar an romanhaftem Schwünge fehlt" (a. a. O. S. 27). E. spricht L.,G. S. 244 von der „unmoralischen, inneren Lüge, die fast ein Menschenalter lang durch die Teegesellschaften und Leihbibliotheken ging und in den unerschöpflichen Romanen von L. das Land verwässerte"; S. 247: „Voß und L. haben die

Sentimentalität ... in da« Familienleben der Segen wart eingeführt nnd glücklich unter Dach nnd Haube gebracht." Seite 17. Lauchstädt. Da« Schauspielhaus in £. wurde 1791 vom Herzog Karl August von Sachsen-Weimar erworben, 1802 neu erbaut und war durch Goethe« und Schillers Wirten 20 Jahre lang eine der berühmtesten Bühnen Deutschland«. E. war öfter in £., vgl. j. D. Tageb. vom 3. August 1805 (H.-K. A. XI106) bei einer Aufführung des Götz von jDerlichiugen in Anwesenheit Goethes, 9. Juli 1806 bei GoetheSugenie (S. 139). Jmmermann und seine Theaterbestrebungen in Düssel, dorf. Karl Leberecht I. (1796—1840); seine hier erwähnten Bestrebungen gingen darauf hinaus, das Drama aus den Ereignissen der neuesten Geschichte heraus zu schaffen und damit den historischen Realismus auf der Bühne zu begründen. Als Leiter der Düsseldorfer Mnsterbühne (1834—37) suchte er diesen Gedanken |u verwirklichen Zusammen mit Chr. D. Grabbe, der durch seine Berichte „Da- Theater in Düsseldorf" J/s dramaturgisches Unternehmen zu fördern suchte). Kotzebueaden. August v. Kotzebue (1761—1819, ermordet als russtscher Spion von dem Studenten K. L. Sand), der beliebteste Theater, stückmacher seiner Zeit. Die vollständigste Dramensammlung (Wien 1840/41) enthält 40 Bände, da»» 45 Bände an-gewählte Prosa, schriften (Wien 1842/43). Er schrieb u. a. auch eine satirische Posse gegen die Romantik: „Der hyperboräische Esel" (1799); dagegen schrieb A. W. Schlegel 1800: „Ehrenpforte und Triumphbogen für den Theaterpräfl, denten von Kotzebue bei seiner gehofften Rückkehr in- Vaterland". Srsch. anonym und ohne Ortsangabe; al- ErscheiuungSzeit „Gebr, zu Anfang des neuen Jahrhunderts". R. Haym (a. a. O. S. 762) nennt diese Schrift „bie bedeutendfle unter den rein polemischen Leistungen der Romantik. — S. fällt über K.'s Schrifttum höchst abfällige Urteile;». B. L.,S. S. 280: „Das Cha, rakteristische der Kotzebueliteratur ist die konventionelle Charakterloflgkeit, eine Blasiertheit, die alles, waS sie nicht begreift ober was fle geniert, vornehm verlacht." „K. war der erste, der es schamlos und priutlpienmäßig sich jur Aufgabe machte, alle sittlichen Mächte des Lebens, Religion, Ehre, Vaterlandsliebe, als altmodische Träumerei und Hirngespinst, tut Ziel, scheibe frivolen Witzes öffentlich an den Pranger »u stellen und dafür einen glatten, weltmännischen Nihilismus, als bas allein Verständige und Gen, tile, tur Herrschaft zu bringen." 6.281: „In seinem eigentlichen Kotzebue, abeu wußte er die schlummernden Sünden und Schwachheiten der Ration gegen ihre Tugenden aufzurufen, einzig durch die perfide Eskamotage, womit er diese lächerlich und jene liebenswürdig darstellte, den Unglauben durch aufgeblasenes Weltbürgertum, Diebstahl durch zärtliche Familien, sorge, Liederlichkeit durch ein sogenanntes gute« Herz, gefallene Mädchen, durch leichtfertige Tränen gar preiswürbig zn Ehren und unter die Haube brachte."

Jffländeret. Aug. Wllh. Jffland (1779—1814). Schrieb rührend« Sittengemälde, In denen die Tugend stets den Sieg davonträgt, in geschickter theatralischer Mache. Dgl. L.,S. S. 279 s. Alarcos nnb Jon der Schlegel. „Alarcos", Tranerspiel von Fr. Schlegel 1802, teilweise in ehrgeizigem Wetteifer gegen den »Jon" seines DrnderS gedichtet, behandelt «ine spanisch« Geschichte. Der „Jon" von A. W. Schlegel wurde »nm ersten Mal 1802 von Goethe ans der Weimarer Bühne aufgeführt.

Brentanos Ponce de Leon. Lnstspiel 1801. Als Dühnenbear, beitung „Valeria oder Daterlist". HSg. v. R. Steig, Berlin 1900. Seite 18. Anfhebung der Universität. Die Universität Halle «nrde 1806 zunächst aufgehoben, dann in eine westfälische Universität um, gestaltet, 1813 aufs neue von Napoleon aufgehoben (S?.#Ä. A. X 471). Über die wirtschaftliche Bedeutung dieses Vorganges vgl. E. Neuß, Die Entwicklung deS Halleschen Wirtschaftslebens vom AuSgang des 18. Jahrh, bis »um Weltkrieg. Halberstadt 1924 (Bd. 2 der Beiträge »ur mitteldeutschen Wirtschaftsgeschichte und WirtschaflSkunde) 6.61. Seite 19. SörreS. Joh. Joseph v. G. (1776—1848), ein gebür, tiger Koblenzer; anfangs Anhänger der fran»Sflschen Revolution, dann Abwendung von Frankreich (vgl. I. Grisar, Wie SörreS ein Deutscher wurde. Stimmen d. Zeit 53 [1923] S. iff.); 1806 Privatbo»ent in Heidel, berg und Freundschaftsbündnis mit Arnim und Brentano (vgl. F. Schultz, Jos. SörreS als Herausgeber, Literarhistoriker, Kritiker im Zusammenhang mit der jüngeren Romantik, Palästra 12, Leipzig 1922 und A. Stockmann Die jüngere Romantik München 1923 S. 276 ff. u. 326 ff.). „Teutsche Volksbücher" 1807 (vgl. I. Prestel, Don altertümlicher Dichtung und ro, mantischer Erneuerung, München,Berlin 1924 ®. 21 ff. u. 69ff.); 1808 Koblenz, 1814—16 Herausgabe des „Rheinischen Merkur" (Kampf gegen Napoleon); 1819 Flugschrift „Teutschland und die Revolution" (gegen die Unterdrückung demokratischer und nationaler Bestrebungen); nach seiner Flucht vor dem preußischen Staat und nach großen Schwierigkeiten (vgl. K. A. v. Müller, Drei unbekannte GörreSbriefe. Gelbe Hefte 1 [1924] S. 181 ff.) Berufung als Professor der Geschichte nach München 1827; 1838 Gründung der Hist.,pol. Bl. Im gleichen Jahre seine Kampfschrift „Athanasius". „Christi. Mystik" (4 Bde. 1836—42).

Arnim, Lud«. Achim v. (1781—1831) und Brentano Clemens (1778—1842). E. hat diesen Führern der Heidelberger romantischen Schule auch in der L.,G. und den ihr vorausgehenden Aufsätzen und Abhandlnngen (». B. Hist.,pol. Bl. 19 [1847] ®« 85ff.: „Brentano und seine Märchen") eingehende Beachtung geschenkt und höchste Derehrung gezollt. So schreibt er von Arnim (L.,G. S. 358s.), daß er bi« Romantik am reinsten und gesündesten repräsentiere; „nicht als ob er der schul, gerechteste unter ihnen gewesen ..., sondern durch den Grundton, den er in allen seinen Dichtungen angeschlagen; wir meinen bi« Unabhängigkeit

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und Wahrhaftigkeit bet Gesinnung, die ihn »eit über di« «aber» erhebt. Männlich schön, von edlem, hohem Wachse, freimütig, feurig und mild, »acker, tuverläjsig uud ehreuhaft tu allem Wesea, treu ju dea Freunden halteub, »o diese vou allen verlaffea, — »ar Arnim iu der Tal, »as andere durch mittelalterlichen Aufputz gern scheinen wollte«: eine ritterlich« Srschei, ouog im besteu Sinne, die aber be-halb auch der Gegenwart immer etwas seltsam »ab fremd geblieben."' Dr. nennt er (£.. Eleme», Zschr. f. Kirchengesch. 44 (1925) 129; dagegen wieder Stuhlfaoth, Wan» entstaub das Lotherlied? io Zschr. f. Büch. 16 (1924).) Stmoa Dach (1605—1659). Über ihn E. io L.,G. 177—197s. Andreas Gryphius (1616—1664). L.,G. 143ff. An geistlicher Poeste dichtete er: „Son, und Feyrtags,Sonneten" (1639), da»» „Thränen und Leide» des Herrn" uod „Kirchhoffs,Gedanke»". Paul Flemming (1609—1640). L.,G. 175s. Zo diesem Gedicht vgl. Ausg. v. 3. M. Lappenberg, Lit. Der. 82 S. 5, D. 29/30. Paul Gerhardt (1607—1676). Dgl. L.,G. S. 197. I» der Dor, rede zu „P. G. Geistl. Lieder" Gütersloh 1874 ®. VII bringt PH. Wackernagel et» Urteil der Straßburgerin Katharina Zell 1534 über den Charakter der reformatorischen geistliche» Lieder: „Oer tzandwerksgesell singt sie ob seiner Arbeit, die Dienstmagb ob ihrem Schüffelwascheo, der Acker, und Rebmann auf seinem Acker «ab die Mutter dem «eiaeadeo Kiod in der Wiege." Neomeister, Erdmann (1671—1756), Haaptpriester zu Hamburg, Bekämpf« des Pietismus, ungemein fruchtbarer Schriststell«, Schöpfer bet Kirchen,Kantate. Dgl. H. Beck in PRC XIII, 772 u. A. Ritscht, Geschichte des Pietismus II, 1 (Bonn 1884) 6. 149, 423. — Löscher, Walentin Ernst (1673—1743), letzter bedeutender Vertreter d« luth. Orthodoxie und Pietistengegncr. — Marperger, Bernhard Walther (1682—1746). — Taddel, Christian Ludwig (1706—1775). — Lehmus Johann Adam (1707—1788 Rothenburg 0. T.): „Davids Psalter" 1762. „JesuS in mehr als 100 Liedern" 1766. „Jesus in 365 Oden" 1770. Seite 42. Schmolle. Benjamin Schmolck (1672—1737), als Liederdichter auch der „zweite Gerhardt" genannt, steht uat« dem Einfluß d« schlesischen Oichterschul«. „Das himmlisch« Vergnügen in Gott". „Der mit rechtschaffenem H«zen zu seinem Jesus sich »aheobe Sünder". „Gott, geheiligt« Morgen, und Abendandachten". Dgl. daS Urteil bei H. Kober, Geschichte d« religiöse« Dichtnng in Deutschland (Essen 1919) S. 127: „bei dem trockenen Orthodoxen B. Sch. änß«t sich d« Pietismus in herzlichen, geflanuugstüchtigen HaoSandachtea, in einem Fortschritt zur Toleranz." Pietisten. Ja der L.,G. S. 201s. führt E. andere Namen für di« Poesie des Pietismus auf. Dort heißt es: „Jozwischen hatte Opitz

der geistlichen Dichtung bereits »ach jweierlei Seite« hin eine gelehrte Richt««- gegebea: teils »ach der Aotike «ab heiboischeo Mytholo, gi«, teil- »um italienischen Schäferspiel; nad aa das letztere lehnte« die Pietist«« mit ihrem Religionsidyll sich ao. Hirte« singe« Schäferlieder beim Kripplein Jes«, Christas wird als Oaphnis gefeiert, da sind lanter honigsüß« Wiegeagesäaglein and Soaalagsse«ft«rlein. Ci« Haoptmaa« Baße bringt etaen „andächtigen Seelenspaziergang", Mitternacht „feuerheiße Liebesflammea einer in Jes« verliebte« Seele", Benjamta Prätorius, eine „spielende Myrtenau" «nd ein „jauchzendes Libanon", Johaaußeo „solamitische Freudeaküffe einer gläubige« Seele" «ad Jo, Hann Georg Albtaas windet in seiner brüastigen Verzückung einen Zypressenkraut aus den fünf Wunden Jesu „mit über di« Nacht empor, gehobenem Sian, aber krankem Haupt, gehemmte« Lebenslichtern, knacken, den Gliedern, einem wie gebackenen Leib «nd schlotternden gähnen." — Die hier zitierten Dichter sind: Peter Basse (f 1653?): Andächtiger Seelen, spaziergang, durch die Sassen von Jerusalem vom Richt,Hause Pilati, biß zum Heiligen Grabe. Abgetheilet in Zwey Hundert Schritte 1653. — Joh. Seb. Mitternacht (1613—1674), Rektor in Sera; seine Gedichte ersch. 1653 — Benjamin Prätorius (1659 Pfarrer zu Groß,Liffa): „Jauchze«, deS Libanon" Leipzig 1689 u. „Spielende Myrten,Aue von Sott, Engel und Menschen, als Gewitter Heiligen, und Außerwehltea Sesellschafft, der bald zuk-nfftt-en Freude des ewigen Lebens bewohnet" Leipzig 1664. — Mich. Johaaossen (1615—1679). — Joh. Gg. Albini (1624—1679).

Iinzeadorf, Nikolaus Ludwig Graf von (1700—1760), Stifter der Herreahuter und Vater der »eueren quietistischen Religiosität. Dgl. L.,G. S. 20a;H. Kober, a.a.O. S.27».zuletzt des. K Reinhardt, Mystik und Pietismus (München 1925) S. 198 ff, 218. Seite 43. Angelus Stlesius (1624—77). L.,G. S. 203. Ur, sprünglich Arzt, konvertierte er zur katholische» Kirche und trat in den Minoriteaorden ein. Außer den Reimsprücheo des „Chr. Wand." auch: „Geistige Seeleolust" (geistliche Hirtenlieder).

Friedrich von Spee (1591—1635). Oie Schrift gegen die Hexen, Prozesse nennt sich „Cautio criminalis“. L.,G. S. 203. Ausführliche Angaben bei Wetzer,Welte, Kirchenlexikon XI1 575ff. Dgl. auch Rein, Hardt a. a. O. S. 95ff. Jakob Balbe (1604—1668). L.,G. 203s. Dgl. A. Baumgart, «er, Gesch. b. Weltliteratur IV 2 (1905) S. 652. Seile 44. Gellert, Christian Fürchtegott (1715—1769). Man vgl. mit C.'s Urteil bas von Friedrichd.Gr.: „ le plus raisonnable(l) de tous les savants allemands“. Seit« 45. Klopstock als Reformator der deutschen Sprach« »ab Dichtkunst. Dgl. K. Muth, Klopstock. Hochland XXI, 2, 337ff. Seite 46. Michael Denis S. I. (1729—1800). Verbrachte bi« größte Zeit seine- Lebens in Wien, wo er zuerst Professor am Theresianum,

dann nach Aufhebung des Ordens Direktor der Garellischeu Bibliothek war (Mitschöpfer der modernen Bibliographie). Sein dichterischer Ruhm beruhte auf seinen „Poetischen Bildern" 1760/62, auf seiner Osflanbear, bettuug 1768/69 und seinen „Liedern Sinads des Barden" 1773. Er dichtete auch eine Menge gottesdienstliche Lieder (z. B. „Hier liegt vor deiner Majestät"). Claudius, Matthias (1740—1815), der Wandsbecker Bote. L.-G. S. 252. Über Cl. als Dolksdichter C. in Hist.-pol. Bl. 22 (1848) S. 130. Seite 47. Herder als Dichter der „Humanität". Dgl. mit dem E/schen Urteil daS von C. Kühnemaun, Herder (München 1912) S. 535: „Dichtung nach seinem Sinne, tadellos in der sanften Gesinnung, schicklich und ehrbar, aber leider ohne alle Poesie." Tiedge (1752—1811) „Urania" (1801). 6 Gesänge über Gott, Utw sterblichkeit und Freiheit. L.-G. S. 276. Seite 49. A. W. Schlegels Urteil über den Katholizismus L.-G. S. 340. (Dgl. R. Haym a. a. O. S. 456: „Sein Verhältnis zur Relt, gion, zum Christentum zumal, weit entfernt, ein Verhältnis natürlicher Zuneigung zu sein, war lediglich ein Verhältnis der Höflichkeit.") Srite 50. „Stunden der Andacht" von Karl Heinrich gschokke aus Magdeburg (1771—1848). Ausgabe für Katholiken von Anton Jarisch (1856) in 4 Bde. (W. Kosch zu E/s L.-G. S. 541.) Seite 51. Diepenbrocks Geistlicher Blumenstrauß. Melchior Frhr. v. D. (1798—1853), anfangs Offizier, später unter dem Einfluß des Professors und nachmaligen Regensburger Bischofs I. M. Sailer Priester geworden; Sekretär Sailers; 1845 Fürstbischof von Breslau, 1850 Kardinal. Oer „Geistliche Blumenstrauß aus spanischen und deutschen Dichtergärten" erschien zuerst Sulzbach 1826.

Aus der Literaturgeschichte i. Seite 54. TieckS Zerbino oder die Reise nach dem guten Ge­ schmack. Ersch. zuerst in den „Romantischen Dichtungen". Jena 1799, „ge­ wissermaßen eine Fortsetzung des Gestiefelten Katers" (s. 0. S. 75). A. W. Schlegels Besprechung der damaligen literarischen Zustände. Schl, schrieb fast 300 Rezensionen (R. Haym, Roman­ tische Schule S. 165), besonders in der Allg. Literaturzeitung, später auch in dem von ihm herausgegebenen Athenäum. In der A.L.Z. erschien 1796 als erste die Besprechung der poetischen Stücke des ersten Jahrgangs der Horen. Oie wertvollsten Rezensionen und Kritiken (z. B. über Lafou, tatve s. 0. S. 68) sind gesammelt in A. W. v. Sch. sämtl. Werken u, 12 (Leipzig 1847). Calderon. Der spanische Dramatiker Don Petro C. de la Barca (1600—1681) hat außer Rttterstücken vor allem geistliche Dramen verfaßt, unter denen die Autos sacramentales den höchsten Rang

etnnehmen. Ihr« Stärke unb Bedentung ruht ebenso in der Ausdruck-, fähigkelt für überfinnliche Vorgänge wie in bet zwingenden Technik des Aufbaus. Die Romantiker D. Tieck (9t Haym a. a. O. S. 47a) entzückt« an dieser Poesie namentlich die Farbenpracht und bet Formenreichtum. A. W. Schlegel gab 1803 den 1. Band „Spanisches Theater* heraus mit bet Übersetzung von 3 Lalderonstücken, 1809 den 2. Bb. mit 2 Stücken. In bet „Enropa* (HSg. v. F. Schlegel) I (1803) veröffentlichte et einen Aufsatz „über bas spanische Theater*, worin et die Bedeutung C/s klarlegt. Eschenbnrg, Joh. Joachim (1743—1820) -ab die erste vollständige Übersetzung von Shakespeares Dramen (12 Bde. 1775/77). An seiner Arbeit begeisterte sich Tieck für den Briten und sie regt« z. T. auch A. W. Schlegel zu seinem berühmten Aufsatz „Etwas über William Shake, speare bei Gelegenheit Wilhelm Meisters* an (1796), dem dann neue über, setzungen folgten. Wieland übersetzte neben vielem anderen auch 22 Shakespeare,Dramen zwischen 1762 und 1766. Seite 55. Raumer. Gemeint ist hier wohl der Geologe Karl Georg v. R. (1783—1865), Bruder des Hohenstaufengeschichtsschreibers Friedrich ». R.; er wurde 1811 Professor tu Breslau und nahm als Frki, williger 1813/14 an den Befreiungskriegen teil; 1819 wurde er «egen Be, teiligung an den burschenschaftltchen Bestrebungen gemaßregelt.

II. Seite 56. Fichte» System des absoluten Ichs (1794). Johann Gottl. F. (1762—1814.) In den Schriften „Über den Begriff der Wißen, schaftslehre oder der sog. Philosophie* und „Grundlagen der gesamten Wissenschaften*. Schelling, Friedr. WUH. Jos. v. (1775—1854), der „Philosoph der Romantik; Vertreter der romantischen Naturphilosophie.* 1798 Jena, 1803 Würzbnrg, 1827—41 München, 1841 Berlin. Seile 57. Schleiermacher „Vertraute Briefe*. „Dertr. Br. über die Sucinde* (von Fr. Schlegel), zuerst Jena 1800. In der von Jt. Gutzkow (Hamburg 1835) besorgten Reuausgabe 6.97s. Seite 58. Wieland, Christoph Martin (1733—1813). C. sagt von seinem Werk (S.,S. S. 226ff.): „ES war in seiner Spitze und Vollendung der philosophisch formulierte Egoismus des sinnlichen Genusses*. Seite 60. Pantheistische Ausschweifung usw. Friede. Ludwig Zacharias Werner (1768—1823; 1811 katholisch; 1814 Priester). L,G. S. z79ff. E. widmet W. eine Art Apologie (vgl. H. Brandenburg a. a. O. S. 4891) mit der Begründung, daß „bei W.'s Individualität seine poetische Bedenkt«- durchaus nur in beständiger Beziehung auf seine religiösen Intentionen gewürdigt «erden kann.* Als Beispiel für das „mystisch gesteigerte Naturgefühl" gibt E. S. 383 den „Rheinfall bei Schaffhansen*. Soeben» „Guido*. Zu Soeben vgl. 0. S.72, Etnl. zu R. Pissin, Jos. n. Wilh. v. Eichendorfs» Jugendgedichte (Neudr. literar,hist. Selten,

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Herren Nr. 9. Berlin 0. I.) S. VIII ff. und H. teviu a. a. O. 6. 81 f.

Der Roman „Guido" hieß früher „Hieroglyphen" und war als Doll, endung von Novalis Ofterdingen geplant. Ein weiteres Werk von L. ist die Gedichtsammlung: „Reisebüchlein eines andächtigen Pilgers".

Seite 61. Fouquö. Friedrich Baron de la Motte F. (1777—1843). Don diesen entschiedensten „Partisan der Romantik (L.-G. S. 44z), der „gläubig in alle ihre Intentionen einging", um schließlich „die Romantik in Mißachtung, ja Verachtung zu bringen" (©. 445) heißt es 6.447: „Bei F. überwältigte die reiche, auf einen Punkt gespannte Phantasie, verbunden mit einer ehrlich ritterlichen Intention, alle anderen Geistes­ kräfte, und machte ihn so zum Don Quixote der Romantik." Zu dem Einfluß der F/schen Romantik und ihrer Helden bietet ein Beispiel 9L Dehio, Edwin von Manteuffels politische Ideen (Hist. Zschr. 131, S. 42s.), zugleich ein Beweis des Zusammenhangs Romantik-Pietismus. Tieck mit seiner Ironie. Über die romantische Jrouie und ihren Bedeutungswechsel s. des. R. Haym a. a. O. Index S. 923 und Ricarda Huch, Blütezeit der Romantik (Lpz. 1901) S. 285ff. Zusammen­ gefaßt in E/schem Sinne auch bei M. I. Wolff, Heinrich Heine (München 1922) S. 6of. „Der Romantiker verachtete jede Tätigkeit und so auch die eigene. Sein Werk ist ja nur die dürftige Wiedergabe seines souveränen Ich, das unvollkommene Objekt im Vergleich mit dem vollkommenen Subjekt. Er nimmt es nicht ernst, er behandelt es wie ein Spiel und wenn es ihm gerade paßt, deckt er die Karten auf und zeigt, daß er nur mit sich selber und dem Publikum einen Spaß getrieben habe. Das ist die berühmte romantische Ironie; sie fließt unmittelbar aus der Stellung des Dichters über seinem Werk und ist am letzten Ende der Ausdruck einer seelischen Verfassung, die nichts kennt als ihre eigene Laune". Von E/s romantischer Ironie gegen die Romantik selbst („Krieg den Philistern!") spricht H. Eichholtz, E/s „Dichter und ihre Gesellen" im „Wächter" 5 (1922) S. 566. Zur Begriffsbestimmung vgl. auch M. Pulver, Romantische Ironie und romantische Kombdie. Freiburger Diss. 1912 (ersch. in St. Gallen). Seite 63. E. Th. A. Hoffmann (1776—1822). Dgl. L.-G. 491 bis 500. H. ist für E. das deutlichste Symptom des Ausgangsprozeffes der Romantik. Hch. Heine, ursprünglich selbst noch Romantiker. Dgl. zur Linde, H. H. und die deutsche Romantik. Freiburg 1899 und M. I. Wolff, a. a. O. S. 51—64. H. war Schüler A. W. Schlegels; er hat in seiner ersten Prosaschrift zur Romantik Stellung genommen (1820) und dabei seinen Lehrer verherrlicht, in dessen Spuren der ganze Aufsatz mit großer Unselbständigkeit wandelt. Bei H. floß damals die romantische Stimmung mit der Byronstimmung zusammen, die ja selbst wieder durch die romantische Legende von Byron entstand. Seite 64. A. W. Schlegel an Fouque. A. W. Schl/s Sämtl. W. (Lpz. 1846) 8. Bd. S. 142ff.

Nachwort Der Begriff Romantik bedeutet für uns zweierlei: eine geschichtlich lokalisierte Erscheinung mit einem wenn nicht rationell bestimmbaren so doch intuitiv fühlbaren Anfang und Ende und anderseits eine immanente ethische oder ästhetische Anschauuugsform, vielleicht auch eine Denkart, die mit mehr oder weniger Klarheit unter Zuhllfevahme der geschichtlichen Romantik erläutert werden kann. Diese historisch,begriffliche Zwiespältig, kett hat schon Alessandro Manzoni hervorgehoben*), ja haben schon die Vertreter der geschichtlichen Romantik selbst geschaffen, wenn sie, wie etwa Friedrich Schlegel, mit heißem Bemühen um eine verstandesmäßige Definition dessen rangen, was fle wollten und fühlten. Die Romantik, die heute unsere Literatur neu befruchten, unsere Kultur neu orientieren und einen neuen Boden für unsere Zukunft schaffen möchte und die auf so mannigfachen Wegen in unser Geistesleben eindriagt oder eingedrungen ist, — auch diese neue Romantik trägt als Strömung ohne Zweifel mit Recht den Namen jener Bewegung, die vor mehr als hundert Jahren einem größeren Zeitraum seine ästhetische und weltanschauliche Signatur zu geben schien. Es besteht ein intimer und naturgemäßer Wechselverkehr zwischen damals und heute; die Ideen und Theorien jener früheren Ro, mantik finden in den heutigen Romantikern, mögen fle nun kommen von welcher Seite nur immer, verstehende Freunde und bereitwillige Inter, preten; sie haben aber auch umgekehrt ihren modernen Trägern vielfach Anregung und Nahrung gegeben und haben allein schon durch ihr ge, schichtliches Sein wenigstens einigermaßen eine begriffliche Festigung der neuen Bestrebungen ermöglicht. In ihren konkreten Erscheinungen und Äußerungen freilich sind diese Bestrebungen so buntfarbig und so ver, schiedeugestaltig, ja sich oft ineinander so widersprechend, daß auch hier nur wieder der Vergleich mit jener alten Periode der Ruhelosigkeit und der Widersprüche gelten kann. Wir können in der heutigen Romantik im wesentlichen drei Kategorien unterscheiden, ohne zwischen ihnen stelle Grenzen aufrichten zu wollen; im Gegenteil: sie sind gegenseitig oft so sehr ineinander verkettet, daß sie gewisse in ihnen selbst ruhende Elemente des Gegensatzes gar nicht erkennen. Wir unterscheiden also:

i. Oie literarisch-wissenschaftliche Richtung. Sie hat ihren Mittelpunkt in den Forscher- und Leserkreisen um Wilhelm Kosch, ihr

*) Über die Romantik. Übers, von F. ArenS in: die Werke von A. M., Hrsg, von H. Bahr und E. Kamnitzer, 5. Bd. (München 1923), S. 492. 6*

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Vrgaa vor allem' im „Wächter" unfc ihre Organisation vor allem im „Elcheadorff,B»»d". Sie erwirbt sich «»bestreitbare Verdienste durch die NeuerSffaun- der Literaturschätze der ftüheren Romantik („Romantische Bücherei^, ohne dabei wählerisch |u sei», unb erhofft sich von diesem Reuerfaffe» der Alte» auch eine Beleb»«- zuküofügea literarischen Stre­ be»« ta De«tschla»d. Ihre Jatereffea umfasse« bas Gesamtgebiet alles desse», was sie als „Romantik" «»spricht, voa A. W. Schlegel herauf bis zu de» letzte» «ad feinste» Reguagea romantischen Geistes io der Literatur überhaupt. Sie hat sich unter das Daaaer I. von Eichendorffs gestellt »ad tut daran, wenn anders sie der Romantik bienen will, Unrecht. Wir «erde» «eiter unten darauf zu spreche» kommen. Ihre Dorliebe zur alten Romantik überhaupt führt aber zu einer überhöhe» Etaschätzuag ihrer Gesamtbedeutuag und zu einer vielfach unkritischeu Wertnag ihrer Eiazelleistuagea. Ich habe in einem kleinen Auf­ satz „Was ist uns die Romantik?"') die allgemeine» positiven Werte der Romantik für unsere Zeit und unsere heutigen Kulturnotwendigkeiten heranszuhebe» versucht; an etozelaea Beispiele« würde uns all das zu noch viel lebendigerem Bewußtsein kommen. So stellt I. Spreugler in einer Besprechung') von G. Amorettis Neuausgabe der Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur von A. W. Schlegel') fest, daß dieser Frühromantiker manches von Walze! und Strich vorweggenommen hat, wenn er schon voa der Dolleadnng und Selbstgenügsamkeit jedes antike» Werkes und von der grenzenlosen Fern« der Romantik sprach; und «er etwa heute »och des gleichen A. W. Schlegel Kritik über die Moderomane und Lafontaine vom Jahre 1798**) liest, der staunt über die Dauerhaftig­ keit und Zeitlosigkeit der dort ausgestellten Prinzipien. P. L. Landsberg kann in seinem trotz allem schulmeisterlicher Angriffe') bedeutsamen Buch „Die Welt des Mittelalters und wir"') oft in den Spuren des Rovalts wandel», und V. Walze!') muß seinerseits betonen, daß die „Herzens­ ergießungen" lange vor Wölfflla wichtig« Erkenntnisse über Raffaels Malerei gewonnen haben. Don der Sprache der Romantiker sagt Kurt Borries, daß „alle ihre Werke io Musik getaucht seien und baß nicht nur ihre Lyrik, sondern auch ihr« Prosa musikalisch sei"'), — hat nicht auch Nietzsche von Brentano als dem musikalischsten der Poeten gesprochen und was fehlt »nserer papiergewordenen Sprache heute mehr als Musik? — G. v. Belo« ') Bayer. Blätter für das Gymnasialschulwesen 59 (1923), 6.124 ff. ') Hochland 22 (1925), S. 722. ') Bonn-Leipzig 1923. ') Sämtliche Werke XII (1847)/ S. n ff. ') Dgl. Jahresbericht der deutschen Gesch. 5 (1924), S. 7 f. •) 2. Aufl., Bonn 1924. ’) Einleitung zur Ausgabe von Wackenroder-Tiecks „Herzensergießunge» eines kunstliebenden Klosterbruders". Leipzig, Insel 1921, S. 47. *) Die Romantik und die Geschichte. Berlin 1925, S. 50.

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rühmt der im Nachklang der Romantik erwachse»«« Geschichttschreibung nach'), »baß sie die Betonung der Abhängigkeit voa allgemeinen Mächte« nicht btt |«t Leugnung der PersLalichkeit gesteigert habe" —, eia« 6td# lang, die wir seit Lamprecht endlich selbst wieder ««« errungen habe« —, «ad wie Richtiges uad Wertvolles Eichesdorff att kiterarhistoriker gesehea und heraasgehobea hat — ich denke gerade a» seiseo Fnnd des spezifisch Rorddentsche« io der Romantik (Z. Radler!) —, bas t» teige», soll ja mit der Zweck dieser kletaes Ausgabe sei». Aber bei aller Bserkessnsg solcher sicht aus der Weit zu schaffender Leistungen und bei der gerech,

teste« Würdigoog der historische» Bedingtheit nod Folgerichtigkeit der ga»te» damalige» Bewegung wird man doch die Grenzen ihres Segeas und de» Umfang ihrer Wirksamkeit genau abwägea müsse« und wirb vor allem eines nicht vergesse« dürfe«: daß die Romaatik selbst «tchtt anderes sei« wollte, att ttaofltorisch, «ab baß man ihr sicht immer eioe» Gefalle» erweist, wen» maa ihre Erzeugnisse stabiliflert. Uad da»« wirb maa ««s bei allem Eattücke» über et« eiatelaes romaotisches Stück doch auch ei«, mal de« Aoblick göaaea müsse«, wie «ach Goethes waadervollem Bild die reine sch-«« Fra« des hohe» Brahmea «iederstetgt t«m Flusse «ad wie die bewegte Welle flch voa selbst ia ihre« weiße» Häube» herrlich z« kri, stall«»« Kugel ballt. Di« Welle d« Romantik «mß »um Gebild d« Klassik

werbe». Jedenfalls k-naen unter b« historiflereobeo Neutralität dies« litt# rarische» Richtung flch alle einander widerstrebenden Tendenzen am leichteste« tusammeafiodeo, ohne ihr Wese« eiazubüßea und ihr Ziel aus dem Aug« |tt verliere«. Eta einziger Blick ia die zxrttbischea D«öffeatltch»ageu kau« diese friedeaSstiftend« Tätigkeit beweise». 2. Die germaaisch,gotische Richtuag. Sie ist aktivistisch, kämp, ferisch. Ihre Romaatik will die Wiedergeburt des Nordische«, des v«, manische«, des Deutsche« h«beirafea, uad bah« fleht fl« auch i» de» national,stamaüichea Erruagenschaftea der stüherea Romaatik aicht bloß ei» wesentliches Verdienst, soabera baS Wese« selbst. Sie fleht i» der Renaissance das Dtthäagatt bet deutschen Kultur, wie es der Ruf« im Streit, Richard Beaz, formuliert hat; ste fleht i« jeb« deutsche« Kunst, die diesem germanisch,gotischen Ideal nicht entspricht, eine Unvollkommen, heit ob« eine Degeneration ob« etaea Verrat; Romanik ist ihr nur bet „Versuch einer Gotik mit untauglichen Mittel«"'); der Klassizttmus ist eia Greuel uub „Wiackelmaan ist der v«b«blichste Seist, b« je üb« bas so heillos hi«, uad hergezerrte Kunst, «ab Baudeakea des deutschea Volkes hereiabrach"'); man liebt Goethe — jetzt nicht mehr aus ästhetischen Srü«, *) Die deutsche Geschichtsschreibung voa bea Befreiungskriegen btt zu uuseren Tagen. München,Berlin 1924, S. 8. ') W. Worringer, Formprobleme d« Gotik. München 1922, S. 86. *) S. Weiß, Die Entdeckung des Volkes bet Zimmerleute. Jena 1923, S. 11.

den wie die alte Romantik ob seiner dionysischen Grundbewegung, dem üppig fließenden Weiblichgelösten, Anschmiegsamen seiner 5Dic$tttö91) —, sonder» well er als Jüngling den Straßburger Münsterturm bestieg und in begeistertem Hymnus die Mauen Erwin von Steinbachs grüßte; und man sucht dem historischen Ereignis der Italienischen Reise sein Bitteres t« nehmen, indem mau es als Unglück für Goethe und die deutsche Dich­ tung ansieht, wenn durch sie der Dichter „unter das klassische Schönziel geriet" (!)2)* 4oder indem mau seine Bedeutung im Fortschritt der künst­ lerischen Persönlichkeit Goethes nach Möglichkeit abzuschwächen unter­ nimmt2). Aus positiven und negativen Strebungen innerhalb dieser Rich­ tung ist der Typus des „gotischen Menschen" geschaffen worden, ein Typus, der sich zwar nirgends mit scharfen Konturen abgrenzen lassen wird, der aber nach dem Willen seiner Erzeuger alle Sehnsucht und allen Tran­ szendentalismus und alle nordische Schöpferkraft und alle romantische Fruchtbarkeit in sich tragen soll. Der Auferweckung dieses „gotischen Men­ schen" und seiner Kunst gilt die Arbeit dieser völkischen Romantik. Sie übersteht aber zweierlei: wenn sie sich auf die alte Romantik beruft, so kann sie sich nur auf einen Ausläufer, in diesem Fall auf den nationalen Ausläufer des Romantizismus stützen, der erst dann als Lebensauffassung zur Macht gelangte, als das romantische Streben nach dem ursprünglichen Werden nicht zur Jnternationalität geführt und sich mit einer Art Re­ signation „aus ihrem geschichtlichen Weltsinn" auf nationale Eigentümlich­ keiten zurückgezogen hattet. Und zweitens: wenn sie in der Gotik das helfende, rettende, neuaufbauende Element sieht, so kann sie ihr mit nur nationalen Wertungen nie und nimmer gerecht werden. Denn nach dem Programm dieser romantischen Neugotiker kann der ernsthafte Glaube des Mittelalters der wahre Kern aller seiner Lebensformen auf sich beruhen bleiben, er braucht nicht in das deutsche Lebensideal miteinbezogen werden2), d. h. die völkische Romantik steht in der Gotik nur eine nationale Höhen­ lage; den von ihr erbauten gotischen Domen fehlt die religiöse Seele. So birgt ihre Einstellung etwas Wahres und etwas Falsches; denn in der Tat ist es nicht zu leugnen, daß die Gotik und ihre Religiosität gegenüber der Universalität des romanischen Gedankens eine Verengung in nationaler *) K. Borries, a. a. O. S. 23. 2) E. Weiß, a. a. O. а) So jüngst wieder R. Müller-Freienfels in der Einleitung zu Goethes Werken I, 5 (Italienische Reise Bd. 1) im Dolksverband der Bücherfreunde. Berlin 1922. 4) Konr. Weiß, Zum geschichtlichen Gethsemane. Mainz 1919, S. 152. б) A. Dempf, Das Verhängnis der deutschen Kultur. Hochland 22 (1925), S. 477. Diese Ablehnung trifft inhalllich mit der in meinem oben genannte» Aufsatz S. 127, Aum. 2 zusammen. Im übrigen ist das Wirken von R. Benz, das Dempf mit diesen Worten verurteilt, durchaus noch nicht so geschichtlich, als daß man von ihm im Präteritum sprechen könnte.

Hinsicht und somit eine Intensivierung nationaler Tendenzen bedeutet. Anderseits läßt sich ohne Religiosität, ja sogar ohne gesteigerte subjektive Religiosität bas Wesen der Gotik nicht erklären. Doch damit kommen wir von selbst an das nächste Problem. z. Die katholisch,gotische Richtung. Sie hat formell viel Ver­ wandtes mit der ebenbezeichneten Strömung. Wie diese fußt auch der katholische Romantizismus nicht auf der romantischen Wesenheit selbst, sondern auf einem Ruhepuukt, den die schweifende, suchende Romantik tu einzelnen ihrer Glieder nach langer, gewollter Irrfahrt sich erwählt hat. Das ist der Grundfehler, den diese dritte Richtung begeht, wenn sie im Hinblick auf die sog. deutsche Romantik sich die Seele des Katholizismus romantisch denkt. Sie sieht die ganze Bewegung einzig durch das Medium des alten Friedrich Schlegel, der mit dem Übertritt zum Katholizismus die Romantik aufgab, oder des milden Joseph von Etchendorff, der, wie wir noch sehen «erden, nie ein Romantiker im eigentlichen Sinne war. Der Katholizismus ist seinem Wesen nach nicht romantisch*). Es spielt hier nicht einmal so sehr der Ursprung der Romantik eine Rolle, so förderlich es auch sein kauu, zu seheu, wie diese aus einer Linie von der Mystik her über den Pietismus als Erzeugnis kolonial-deutschen Kulturmüudigwerdenö entstand3), oder daß sie wie Georg von Belows betont, als eine Schöpfung zwar nicht des protestantischen Geistes, aber des pro­ testantischen Bodens und seines Staates, des preußischen, zu gelten hat. Wir «erde» wohl am besten einen konfeffiouellen Ursprung überhaupt ausscheiden; denn baS Wesen der romantischen Frömmigkeit als solcher ist a priori iukonfeffionell4).* 6DaS ganze Sein und der Sinn der Romantik als des getstesgeschichtltcheu Moments, bas sie wirklich war (und zwar „Mo­ ment" im wirklichen Sinn als Ableitung von „mover*e*1), zielt nach dieser Uugebundeuheit. Karl Jokl sagt in seinem ausgezeichneten Buche: „Nietzsche und die Romantik"3): „Die Romantik versteht und erneuert die Religion *) Die Gedanken von K. Muth, Die Wiedergeburt der Dichtung aus dem religiösen Erlebnis (Kempten-München 1909), S. 78 ff. behaupten in diesem Siva noch ihre ganze volle und schwerwiegende Bedeutung. Wie wenig die gegenteilige falsche Ansicht noch ausgestorben ist, zeigen z. B. die merkwürdigen „Flugblätter katholischer Erneuerung" mit einer „Revi­ sion der Literaturgeschichte" von I. A. Lux, die zwar unglaublich ober­ flächlich sind (vgl. R. Newald in Bayer. Bl. für das Gymnastalschulwesen 61 [1925] S. 168 ff.), aber doch als Symptom einer ganzen noch bestehenden Richtung gedeutet werden können. *) So wenigstens I. Nadler, Die Berliner Romantik 1800 bis 1814. Berlin 1921. 3) A. a. O. S. 4 und S. 61. 4) Sogar für Brentano behauptet das, m. C. mit Recht, Karl Born­ hausen, Zeitschr. f. Ktrchengesch. 44 (1925), S. 106. 6) 2. Aufl. Jena 1923, S. 48.

an4 dem Gefühl, aus dem Herzen heraus, aus der Lied«, uud im höchsten Segenstand«, im Göttliche» fiudet alle roaraatische Hiagebuog ihr höchstes Biel** Daria sann alles schlummern: alles vorn phantasiereichsten Pan, theismus bis znr strengsten theoretischen Gebundenheit; alles von der nervösesten Mystik des Snbjekts und dem weichsten Pietismus bis |ot seelenruhigsten Hingabe an ein Objektives. Daher kommt es, daß die wirklichen Romantiker, ober solange einer «irllicher Romantiker ist. Diener aller Ideale werden'), und daß Friedrich Schlegel, eh« er den formellen Übertritt vollzog, dem heiligen Friedrich „alles hellig sein tonnte*. Und wenn es von ihm einmal heißt, er habe im Katholizismus die aufrichtigste, von keiner Erscheinung des Daseins sich scheuende und sie einzig befriedi, gend erklärende, lösend« Gott,, Welt,, Menschheits,, Geschichts, und All, tags,Psychologie erkannt'), so gilt bas eben für den Katholiken Fr. Schlegel, nicht für den Romantiker. Diese beiden Begriffe nicht als logisch« oder natürliche Verknüpfung oder Folge, sondern als Gegensatz aufgewiesen zu haben, ist das Verdienst «ine- Aufsatzes von A. von Martin, „Das Wesen der romantischen Religiosität*'), der etwas vom Entscheidendsten ist, was je über dieses vielerörterte Problem gesagt wurde. Mit unangreifbar« Konsequenz ist hier aus dem Wesen der romantischen Religion als einer Religion des Unendlichen, aus der innigen Verbindung von Totalität und Subjektivität alle» «eitere gefolgert, hinweg über die primär inbividnali, stische Forderung und die Phantast« als eigentliches Organ deS romanti, scheu Menschen zunächst zu dem Satz von Fr. Schlegel, daß ein« objektive Religion ein Vorurteil sei, nnd daß es unendlich viele Rellgionen geben müsse, — ja für jedes Individuum eine eigene. AuS diesem grenzenlosen Subjekltvismns, verbunden mit der ästhetischen Willkür — v. Martin wagt das für viele schwer verdauliche Wort, daß der Romautiker in vielem ein «iedergeborner Renaissancemensch seil — ergibt sich von selbst „ein tief, gehender Gegensatz zwischen dem frühen Romantizismus und dem späteren Katholizismus'). Zwar «öffneten sich Wege, die von der Romantik znm Katholizismus hiuüberführteu; doch das waren eutweder außeneligiöse Weg«, »bet fle führten völlig von der Romantik hinweg.* So ist di« Gleich, setzuug von Romantik uud Katholizismus ein Irrtum, d« dadurch nicht gering« wird, daß er populär gewordea ist. vES ist oben gesagt worden, di« katholisch« Romaatik habe manches mit d« völkische» gemein. Das zweite hiefür charakteristisch« Kennzeichen ist ihre Schwärmerei für die Gotik. So schwebt beiden Gruppen bas gleich« Ideal vor Augen; aber jede schaut es mit ganz and«eu Augen. Auch b« katholische Romantizismus hat den „gotischen Menschen* üb«,

') ') «. 43. *) ')

Sbd. 6. 46. Chr. Flaskamp,

Die deutsche Romantik.

Warendorf (1912),

Dierteljahrschr. f. Geistesgesch. u. Lit.,Wiff. I (1924), S. 389 ff. Sbd. S. 404.

nommeti; in dieser Umgebung aber trägt er gan» ander« Züge; gan» ab, gesehen davon, da- er mehr historisch angefaßt «Kd. Ja, man hat sogar den Begriff eines „gotischen Katholi»ismus" geprägt!') Das ist fteilich wieder nicht »n leugnen, baß »wischen Gotik und Romantik «in« natürlich«, auch religiöse Verwandtschaft infolge der gemeinsamen individualistischen 8Bnt»d besteht. Aber es ist geschichtlich unrichtig, „die Romantik als das wieder, aufgenommene gotische Ideal »u fassen", wie bas bei Chr. Flaskamp*) ge­ schieht. Ls ist doch in Wahrheit umgekehrt; die Gotik «ird von den Roman, tikern nachttäglich als romantisches Ideal aufgerichtet! Aber schon Lichen, borff und nach ihm viele andere begehen diesen Fehler, wenn sie die mittel, alterliche Dichtung und das Mttelalter schlechtweg romantisch nennen, obwohl „das lebensstarke Mttelalter in keiner Hinsicht romantisch war"*). Tragen so bi« Romantiker und Nachromantiker „Mtschuld daran, daß falsche Anschauungen über das Mttelalter sich in der Dolksphantafle fast untllgbar festgesetzt haben", so haben fle noch «inen anderen Irrtum auf dem Gewissen: die Jdentifi»ierung von Mttelalter und Gotik! Rur die Sottk erkannten fie als Mttelalter an, well fle flch eben von ihnen gern« „romantisch" nennen ließ; an gotischen Kathedralen und Burgen erwärmte flch ihre Sch-nheitslust, wie der „fahrend« Schüler" Brentanos es uns »eigt. Da- »wischen der karolingischen Konsolidierung mittelalterlicher Kultur und etwa Friedrich II. ein ebenso langer und ebenso selbständiger und «bens» bebeutsamer Zettraum lag, übersehen fle unwillkürlich; da­ bas heilige rbmische Reich nur in Kraft «ar, ehe bi« Sottt anbrach, und baß gerade in dieser letzteren Periode dieses Symbol abeudläubischer Kultur, solibarität »«bröckelte, beachten fle kaum; auch daß die katholische Frb«, migkeit vor dem „gotischen Katholi»ismus" ein« andere nnd durch das liturgisch« Gemeinschaftsgefühl geschloffener« «ar, ist ihnen entgangen. Und bas ist ein besonders schwerwiegender Unterlaffnngsfehler der katho, llscheu Rachromantiker und ihrer heutigen Enkel. Für fle ist allein btt Gotik «ine religiöse Kultur, ein« Hochblüte katholischer Frömmigkeit, viel, leicht eine erste Blütt, der fle btt »wett«, größer« nach»ubild«u berufen find. So meint ein Münchener Nachromantiker, Friedrich Beck*) in seinem Schriftchen „Andeutungen »u einer tieferen Begründung der Geschichtt der religiösen Kunst", die deutsche Kttcheubaukuust deS iz. bis 15. Jahrhunderts sei als der erste Triumph «ud die erste Verklärung der erlösten mensch, lichen Kunst im allgemeinen an»usehen und diese erste Blüte»eit sei unter, brocheu worden durch btt Renaissance, btt ttotz ihrer unberechenbaren nach, teMgeu Folgen nötig gewesen sei, um die Menschhett aus der Zeit des *) Dgl. „Dtt Phantafle vom gotischen Menschen". $lt Beil.». Bayr. Kurier 4, 1924, S. 69 f. *)«.«.£>. S. 25. ’) K. BorrieS, a. a. O. S. 17. ‘) St. Ast, Die Münchner Romantik und btt Gesellschaft von den 3 Schilden. Obb. Archiv f. vaterl. Gesch. 63 (1922), S. 78.

christlichen Iugeadalters in das reifere Stadium höheren Bewußtseins zu erheben." Wir sehen auch hier wieder wie bei den nationalen Roman­ tikern — und können auch bei den Neuen, z. B. den junge» Katholiken um das „Heilige Feuer" das gleiche beobachten — die Annahme eines gewaltsamen, durch die Renaissance erfolgten Abbruchs einer als Hoch­ idealaufgefaßten Epoche: bei den germanistischen Jüngern dieses Gedankens ist es ein unerreichter, durch das Folgende jäh zerstörter Hochstand einer völkischen Kultur, bei den andern die nie wieder erlebte Sichtbarwerdung echter christlicher, katholischer Frömmigkeit. Und doch ist es anders! Wer die Geschichte der Liturgie als der vollendetsten und abgerundetsten, weil vom objektiven Zentrum der Frömmigkeit selbst aus gebildeten Form des Gottesdienstes verfolgt, der kann in der Gotik nur ein auflösendes Moment sehen; der beginnende Individualismus der Gotik zerstört die Einheit des Gottesdienstes als der Feier eines Mysteriums; der gotische Realismus zerstört mit seinem Drang nach sinnlicher Erfassung geistigster Geheimnisse die zarte Geistigkeit des altchristlichen Symbols; er greift in seiner Not zur Übertreibung sinnlicher Eindrücke, um die Höhe der geistigen auszu­ drücken, und aus diesem Zwang entstehen die blut, und leidensvollen Marterszenen unserer gotischen Tafelbilder; dieser gotische Realismus, eng verbunden mit dem Subjektivismus als frömmigkeitsbildeudem Element, hat die Heiligen aus den stillen Grüften herausgehoben und auf die Altäre gestellt; er hat daS Ziel liturgisch-altchristlichen Gebets zersplittert, weil das eine Objektive ihm zu ferne rückte. Die Gotik hat die erhabene Ruhe und Sicherheit des liturgischen Bewußtseins abgelöst durch die Sehnsüchte und Wünsche und Vorstellungen und Leidenschaften einer subjektiven Frömmigkeit. Und aus diesem Grunde ist es erklärlich, ja natürlich, daß sich die Romantik mit der Gotik eines Geistes fühlen mußte, in der Fröm­ migkeit, wie in der Kunst; in beiden mußten sie Gegner einer Klassik ftin1). Aber objektiv betrachtet, kann die Frömmigkeit der Gotik nicht als Ideal christlicher, katholischer Frömmigkeit gelten. I. Huizinga2) engt zwar seine Betrachtungen über die religiösen Formen und Typen des aus­ gehenden Mittelalters in lokale Schranken ein, Frankreich und die Nieder­ lande, aber sie geben ein in den Hauptzügen wahres Bild. Und in der sonst sehr anfechtbaren Einleitung zu seiner Sammlung „Wunder und Taten der Heiligen"2) bringt G. Frenken im Anschluß an des Cäsarius von Heisterbach Wuadererzählungen jedenfalls die Wahrheit, daß in jener *) Dgl. über daS Verhältnis von klassischer und romantischer Kunst zum Religiösen bei 0. Casel, Liturgie als Mysterienfeier (Eccl. or. IX), S. 130 und Jld. Herwegen, Lumen Christi (Der katholische Gedanke VIII). München 1924, S. 146 f. 2) Herbst des Mittelalters, Studien über Lebens- und Geistesformen des 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und den Niederlanden. Mün­ chen 1924, S. 199 ff. und 235 ff. 2) Bücher des Mittelalters I, München 1925, S. XXVHl.

Zeit das mittelalterliche Christentum alt geworden sei — so sehr diese Wahrheit auch dem romantisch,gotische» Traum widerstreitet. Auch Cicheudorff hat eine Zeitlang diesen Traum gehegt. Wir haben es schon kurz gestreift uud auch aus den hier herausgegebeueu Schriften zur Romantik werben wir dieser Tatsache mehr als einmal bewußt werden. Aber er hat diesen Traum nicht zum Kanon seines Denkens werden lassen. Denn er war im eigentliche» Sinn nicht Romantiker. Kein Satz beweist dies deutlicher und klarer als einer der letzte» in „Halle und Heidelberg", da er die Romantik für eine starke katholische Gesinnung als entbehrlich aastest1). Und „einen Nekrolog darf man jenen Rückblick nennen, in dem der Eichendorff der 1840er und 1850er Jahre das Fazit der geistigen Bewegung der Romantik aus literarhistorischer Perspektive gezogen hat"'). Also nicht der Umstand, daß Cicheudorff überhaupt über Wesen, Ursprung uud Begriff der Romantik reflektiert, stellt ihn außerhalb der Romantik — das tun auch solche, die mitten in ihr, ja an ihren Quellen stehen! —, sondern daß er sie tatsächlich als zu Ende gegangen betrachtet, daß er Anfang und Höhe und — Untergang dieser Bewegung beschaut und beurteilt, so ehrlich, wie es seine ganze treue Natur von ihm fordert. Wer das, was die Romantik erstrebte, ein „ästhetisch,philosophisches Expert, ment" nennt'), der ist nicht in der Bewegung uud war auch in tiefstem Sinne nie in ihr. Denn wir müssen nicht bloß den Literarhistoriker, sonder» auch den Menschen Eichendorff aus der Romantik ausscheiden. Der durch Herkunft, Erziehung, Umgebung uud Schicksale, vor allem aber durch den religiösen Untergrund, seine jugendliche Entwicklung von vorne, herein in sich geschloffene, für eine natürliche, zwangslose und erschütte, rungslose Abklärung empfängliche Eichendorff war nie ein Diener aller Ideale, nie ein drangvoller Sucher einer schrankenlosen Totalität, nie ein Anbeter individualistischer Subjektivität und ein Mensch, dem die Ruhe, loflgkeit höchste Ordnung und schweifende Zügellosigkeit letztes Ziel ist. Schon ein Zeitgenosse seiner Heidelberger Studenteujugeud, Hch. Wilhelm Budde'), hat diesen Abstand von der Romantik herausgefühlt: „Ein italienisch kräftiges und brausendes Sehnen der Liebe ist ihm fremd wie der rechte uud glühende Himmel Italiens. Aber wo milder Blumen­ stand die Lust erfüllt, da wohnt sein Gemüt." „Der romantische Mensch," sagt F. Strich'), „hatte keine Bestimmung, und der Dämon, der ihn zwingt, war die dunkle und tragische Seite des Unendlichen, Ge, *) S. 0. S. 32. Dgl. die Einl. zur Eichendorff,Ausgabe von R. Diehe (Leipzig,Wien, Bibl. Inst.), Bd. I, S. 31. *) A. v. Martin, a. a. O. S. 414. •) Hist.,Pol. Bl. 22 (1848), S. 130. 4) Heidelberger Tagebuch. Neue Heidelberger Jahrb. 22 (1918), S. 328; vgl. H. Levin, Studien zur Heidelberger Romantik. München 1922, S. 81, A3. 6) Deutsche Klassik uud Romantik2.* 4München *6 1924, S. 73.

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setzloseu* *. War Elchendorff ton diesem Simon besessen? Er, der da beten konnt«: »Die Welt mit ihrem Gram nnd Glücke Will ich, ein Pilger, ftoh bereit Betreten nur wie ein« Drücke In dir, Herr, über« Strom der Zeit.* Ist je der dionysische Rausch, der allen Dualismus und alle Hemmung auf» hebt, tu seinen liebern »um Herrscher geworden? Ihn aber, den Rausch, pressen die Romantiker, wenn sie der klassischen Polarität den Krieg an, kündigen'). Unübertrefflich hat 3»€!*), der Nietzsche und die Romantiker als di« Dacchantenseelen, als die Dithyrambiker der beusschen ltteratur in einem Atem t« nennen die prachtvolle Kühnheit hat, einen Spiegel der roman­ tischen Seele aufgezeigt, einer Seele, „in der die Stimmungen und ihr Wetterwechsel allmächtig «erden können, einer Seele, die im Überschwang des Gefühle» ihren Lharatter «enden, von einem Extrem ins andere stürzen, bald himmelhoch jauchtend, bald »u Lobe bettübt, wie alle tzelden bet Lteck und Novalis tanzend, lachend sich über sich selbst erhebend, mit ihrer tust und selbst mit ihrem schwersten leiden spielen kann, ein« viel, wandernde Seele, «ine lyrische, dithyrambische Seele, die im Enthusiasmus alle» aubeten und alles zerstören kaun.* Trifft ein Zug dieses Bildes mit einem Jug Etchendorffschen Wesens zusammen? Der Dichter darf daher nicht zum Urbild eines Romantikers gemacht und in den Mittelpunkt eines Kultus der Romantik versetzt «erden, weder von einer literarischen, noch von einer religiösen Einstellung her. Aber, wird man etnwenden, irgendeine Beziehung Eichendorff« zur Romantik muß doch bestanden haben; aus dem Nichts ist der Glaub« an den Romantiker Eichendorff doch nicht geboren worden. Sanz sicher b«, stehen denn auch solche Zusammenhänge. Mau hat Etchenborff den „Erben der Romantik* genannt'), ohne immer herauszuheben, was den Erben von denen trennt, deren Hinterlassenschaft er auttitt, und ohn« zu sagen, baß dieser Erbe nicht blutsverwandt ist mit den Erblassern. Paul Heyse dichtet von ihm: Der scheibenden Romantss jüngster Sohn Erbt er allein bas Wunderhorn des Knaben, Nie sich ersättigeud an dem reinen Ton. Hier ist die Erbschaft schon fester umrissen: Die Meisterschaft im lieb! Ob er aber diese Meisterschaft nicht auch ohne die romantische Bewegnng erworben hätte, da doch Goethes Lyrik schon geschaffen «ar? Und ist auch bann Mörtke ein Romantiker? Mit anderen Worten: Ist die lyrik roman,

') Dgl. ebb. S. 55. *) A. a. O. S. 69 f. ’) So F.Gernot, Die Romantik u. Etchenborff. WLchter4(iy2i),S.iz;.

tische- Privilegium? Doch stad solche Krage» müßig! Historisch ist die Tatsache »ie »a bestreite», baß Eicheodorff vom Woaderhora geschbpft hat. Aber dies« historisch« Tatsache bedeutet »icht et»« ausschließlich« Bedingt, heil diese-Weges. Es ist auch sicht t» leugnen, daß maaches Werk, wie sei» Roma» »Ahaaag uad Segeawart" oder einige Novelle» die Farbe» voa der Romaatik herübergeaommea habe», aber dies« formet!« Aogletchoug ist »och laage keia Etagehea aus die geistige» Beweggrüade der Romaotik. Es wäre lohaead, diesem Problem ta de» Eicheodorffscheo Romane» u»d Novelle» eiaoral wirkllch grüoblich über eh« reine Motivstatistik hin­ aus nachtugehen. Immerhin: solche Tatsache» «ie überhaupt das »eh# liche Zusammenfällen der Etcheadorffsche» Dicht«»- mit der ausgehenden Romaatik, seine Freundschaft mh einigen Jünger» dieser Richtung habe« iha selbst t»m Romantiker im Urlell der Nachwelt gestempelt. Dor allem aber trägt er selbst di« Schuld: Er «urd« der erste Literarhistoriker dieser Beweg»»- «ad versucht« unter dem frische«, »och perflalich lebeadigen Eiadruck der Menschen »ad Dinge ihr so gerecht »u «erde», baß er als einer der Ihrige» aagesehea »erbe» koante. Unbewußt hat er -fier als eianml die objektiv vorhaadeae Sre»t« »wische» sich uad der Romaatik verwtscht. Wir Heatige» aber, die wir die Dtage au- historischer Distaa» b«, trachte» köaaea, müssen jene objektive Sr«»»e wieder sehe»; nur daa» komouo wir sowohl dem Derstäadat- der Romaatik al- dem ihres Literarhistorikers näher. Aus solche« Erkeantolssen folgt aber daaa vo» selbst aach eine Klärung naseres DerhLUaiffes »a dea romaatischea Strümuagea unserer Tage, «ie st« eingangs »a ke»a»etcha«a versucht wurde». Um solcher Zwecke Wille» ist diese deine Ausgabe mit einigen literar, historisch«« Schristtn Eicheadorff- eatstaaden. Rar eia paar Worte »ar Rechtfertigung «ad Erklärung voa Auswahl «ad Anlage! I. Als erste- Stück «rschetat die viel »itierte uad viel amstrtttea« auto­ biographische Ski»»« »Hall« »ab Heidelberg*, eia Werk des greise« Eicheadorff über die Jahre setaer Studeaiea»ei1, »um erstenmal »usammea mit dem Abschaitt »Der Abel and die Revolution" veriffeatlicht in der Sammlung »Au< dem literarische« Nachlasse Etcheadorjst", Paderborn 1866, S. 361—329. Die unentwegten Anhänger der Romantik stehen dieser Schrift, die ich für eines der Grundbücher unserer Literaturgeschichte halte, nicht sehr freundlich gegenüber; ste sehen in der Kritik, di« hier an der Bewegvng geübt wird, eine mürrisch« Erscheinung des Alttrs, das flch nur mehr müde an die gärenden Kräfte der eigene» Jugend «rtaaera kam». Wer aber Eicheadorff pria»tptell voa der Romaatik treaat, braucht weder aas dies« Erklärung aoch auf irgendeinen aaderea Vergleich »u verfallen'). Wir habe» jetzt eine treffliche kritische Ausgabe im 10. Band

') 3. D. versucht X. H. Wegener, kit. Echo 21 (1919), S. 571, »Halle uad Heidelberg", Goethe- „Dichtung «ad Wahrheit" aa bk Sehe »u stelle» «ad auch bei E. historisch«» Bericht uad dichterische Aasschmückuag »a uaterscheidea.

(6. 406—441) der Sämtlichen Werke des Freiherrn Joseph v. Eichen, dorff (Hrsg, von W. Kosch und A. Sauer), die W. Ko sch besorgt hat (Re, gensburg 1911). Aus ihr ist der Abdruck genommen worden; die ihr bei, gefügten Anmerkungen habe ich verwertet und überall dort, wo sie mir für die meinen |nr Quelle wurde», kenntlich gemacht. Da unsere kleine Ausgabe jedoch mehr dem Verständnis der Romantik als geistesgeschicht, licher Erscheinung denn biographischen oder rein literarhistorischen Zwecken dienen soll, mußten sich unsere Anmerkungen zum großen Teil auf eiuer anderen Grundlage aufbaueu, namentlich auch, soweit sie bibliographische Hinweise bringen; mit ihnen wollte ich aus naheliegenden Gründen nicht zu sparsam sein. Was ich hier von dem Charakter der Anmerkungen gesagt, gilt im allgemeinen auch von denen zu den beiden nächsten Stücken. II. „Die geistliche Poesie in Deutschland" ist abgedruckt aus den Historisch,politischen Blättern 20 (1847) S. 449—468, wo der Auf­ satz zuerst erschienen ist. Ich habe das Stück für so wichtig zur Beurtei­ lung der Stellung Clchendorffs als des Literarhistorikers der Romantik gehalten, daß ich es hier eingereiht habe, obwohl es über das romantische Problem selbst hinauszugreifen scheint. Der Aufsatz zeigt wie kein anderer mit unfehlbarer Schärfe, wie wett Eichendorff eigentlich dem roman­ tischen Geiste fern stand, wenn er den Erscheinungen, mit denen die Ro­ mantik genetisch zusammenhängt, wie dem Pietismus, so wenig Liebe und Verständnis entgegeubringt. Zugleich aber beweist der Aufsatz, wie Eichendorff ein fast modernes Empfinden dafür hatte, daß die Geschichte der religiösen Lyrik eine Kulturgeschichte bedeutet und daß au ihr sich wie nirgends Wert und Höhe einer jeweiligen Geistigkeit messen kann, vom alten Hymnus herauf bis zum religiös-lyrischen persönlichen Bekenntnis unserer Dichters. Dabei wäre es freilich ungerecht, wollten wir uns die Schwächen der Eichendorffschen Ausführungen verhehlen. An der kon, fessionellen „Einseitigkeit" wird, so hoffen wir, heute niemand mehr Anstoß nehmen; wir müssen es gelernt haben, über eine subjektive Einstellung hinweg ohne weiteres das Objektive zu prüfen. Hier aber sind die Schwä­ chen, die ich meine. Oie eine ist, daß Eichendorff die Geschichte der geist­ lichen Poesie erst mit dem gotischen Zeitalter beginnen läßt; liegt doch die höchste sakrale Weihe, die liturgische, von subjektiven Trübungen reine Religiosität, die gemeinschaftsgeborene und gemeinschaftssuchende Gebets, kraft der religiösen Poesie schon vor der gotischen Zeit, in den Hymnen und Sequenzen der altchristlichen und romanischen Periode. Wie sehr hätte die Erkenntnis und Kenntnis ihrer hieratischen Feierlichkeit und Mysterienhaften Tiefe gerade Eichendorffs Betrachtungen fördern müsse»! Und das zweite ist das: Wenn er die Poesien des 16. bis 18. Jahrhunderts be- und verurtellt, so vergißt er, daß der Zeitgeist, der in diesen Erzeug, x) Ein Problem ist damit vorweggenommev, wie es z. D. R. M. Meyer, Weltlit. im XX. Jahrh., Stuttgart und Berlin 1913, S. 41, aufrollt.

niffea lebt und kämpft — und das tut er trotz mancher komischeu Geste —, daß er hüben und drüben in gleicher Weise wirksam war und daß der immer stärker in diesem Jahrhundert um flch greifende Subjektivismus eine Macht war, die im protestantischen, pietistischen und katholischen Lager größere und kleinere Dichterpersönlichkeiten in ihren Bann geschlagen hatte. III. Cs folgen dann noch zwei Abschnitte aus der „Geschichte der poetischen Literatur in Deutschland", die Eicheudorff nach verschiedenen Vorarbeiten und Vorläufern im Jahre 1857 als Ganzes erscheinen ließ. Ich konnte nur solche Abschnitte wählen, die flch mit den allgemeineren Fragen der Romantik befassen, also Anfangs, und Schlußkapitel. Was er zu den einzelnen Romantikern Wertvolles geliefert hat, suchte ich in verschiedenen Anmerkungen unterzubriugen. Zugrunde liegt die Ausgabe von W. Kosch in der Sammlung Kösel (Kempten,München 1906); die betreffenden Abschnitte stehen S. 307 ff. und S. 507 ff. (mit kleineren Stteichungen); herangezogen wurde auch die Separatausgabe der Schrift „Über die ethische und religiöse Bedeutung der neueren romantischen Poefle in Deutschland", Leipzig 1847. Cicheuborffs Literaturgeschichte ist lauge Zeit nicht beachtet worden und hat daun außerhalb seiner Gemeinde nicht viel Freunde gefunden. Auch der neueste Biograph des Dichters, H. $rant)to6ttrg1), der im übrigen mit vieler Liebe in Eichendorffs Denke» und Fühlen einzudriugeu versucht, bleibt hier, wo es flch um des Men, scheu Eicheudorff tiefste Überzeugungen handelt, inttauflgeut. Er fleht nur den „orthodox befangenen Parteimanu", er fleht „seniles Versagen" und „klerikale Verengung des Blickes", wenn er ihm auch die Genugtuung spendet, daß dieser Dichter, Kämpfer und Schriftsteller niemals ein Mucker geworden sei. Wir müssen weiter gehen in der Anerkennung, als es diese Genugtuung zuläßt. Wir müssen seine Urteile, mag auch die Form manch, mal schroff und ausschließend wirken, auf die Objektivität ihrer Inhalte hin prüfen wie bei jedem anderen Literarhistoriker. Er verdient es wie jeder andere, nur mehr als mancher andere. Er schreibt mit seiner innersten Seele Literaturgeschichte, au der er selber schöpferisch mitgearbeitet hat. Wir müssen ehrlich sein im Nehmen, wie er es im Geben war. Wer den deut, schen Dichter Eichendorff liebt und verehrt, der uns wie keiner den deut, schen Wald besungen hat und dessen Poefle eines unserer köstlichste» Besitz, tümer ist, wer ihn liebt und verehrt, der darf den Menschen Eichendorff nicht ablehnen, wo er ein anderes, aber ein nicht unwesentliches Stück seines Wesens offenbart. Ehrliche Liebe wird auch hier den Weg finden durch enge, dem einzelnen nicht immer zusagende Schächte in den größeren, wettere» Raum geschichtlicher Wahrheit. Dort wird daun jeder Ehrliche inne werden, daß auch der Literarhistoriker Eichendorff nicht ein orthodox befangener Parteimann ist, sondern der gleiche liebe und aufrechte Mensch, dessen Lieder uns ob ihrer Reinheit entzücken, und daß auch über den x) Jos. v. Eichendorff. Sein Leben und sein Werk. S. 476 ff.

München 1922,

titerarkritischen Arbeite» de« Dichter« da« Gebot steht, dem er im ganzen Lebe» »ad Wirke» oha« Sch« u»d oha« Aofsehra gefolgt ist, gegen Sott, gegen die Welt und geg« flch selbst und seine Grundsätze, da« Gebot der Treue.

Der Treue widme ich auch diese Arbeit, wenn ich fie meiner lieben Schwester Maria in die Hände lege, deren beispiellose opferfreudige Treue mich und mein Hau« nach schweren Schicksalsschlägen und in trübsten Tagen anstecht erhalten und mir «ne Schaffensmöglichkeit und neuen Schaffen«, mnt gegeben hat. Freising, im Juli 1925. Anton Mayer,Pfanholz.