Ehe - Haus - Familie: Soziale Institutionen im Wandel 1750-1850 9783412212537, 9783412205393


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German Pages [318] Year 2010

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Ehe - Haus - Familie: Soziale Institutionen im Wandel 1750-1850
 9783412212537, 9783412205393

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Ehe – Haus – Familie

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Inken Schmidt-Voges (Hg.)

Ehe – Haus – Familie Soziale Institutionen im Wandel 1750–1850

2010 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

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Gedruckt mit Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Titelvignette von Daniel Chodowiecki, aus: Heinrich Matthias August Cramer, Unterhaltungen zur Beförderung der häuslichen Glückseligkeit, Berlin 1781 © 2010 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Druck und Bindung: Prime Rate, Budapest Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Hungary ISBN 978-3-412-20539-3

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Inhalt

Vorwort .....................................................................................................

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I N K E N S C H M I D T -V O G E S Strategien und Inszenierungen häuslichen Lebens zwischen 1750 und 1820. Eine Einführung........................................................................

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Forschungsperspektiven

MICHAELA HOHKAMP Wer ist mit wem, warum und wie verheiratet? Überlegungen zu Ehe, Haus und Familie als gesellschaftliche Schlüsselbeziehungen am Beginn des 19. Jahrhunderts – samt einem Beispiel aus der Feder eines Mörders ..................................................................................

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SIEGRID WESTPHAL Von der Gelehrten zur Hausmutter. Aufklärung als geschlechtsspezifischer Bildungsprozess? ................................................

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NACIM GHANBARI Das Haus und die wilhelminische Häusergesellschaft. Zur Überprüfung von Claude Lévi-Strauss’ Theorie eines historischen Übergangs..................................................................................................

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Strategien in Gesellschaft und Ökonomie

EVELYNE LUEF „und vom drohen sey noch niemand gestorben“. Häusliche Gewalt im 18. Jahrhundert .....................................................................................

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ALICE VELKOVA Familie und Besitzinteressen. Veränderungen in der Wahrung des Familieninteresses in der ländlichen Gesellschaft Böhmens im 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts ............................................................

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JOSEF GRULICH  Heiratsstrategien der Dorfbevölkerung. Die Herrschaft Třeboň/ Wittingau 1792-1836.................................................................................

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ULRIKE PLATH Stille im „Haus“. Hausvater, Verwalter und transnationale Gesellung auf dem baltischen Gutshof zwischen 1750 und 1850 .............

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Inszenierungen in literarischen Kontexten

IRIS CARSTENSEN Dem Sohn den Weg weisen. Zur Selbstthematisierung eines holsteinischen Landadeligen als Haus- und Familienvater in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ..........................................................

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DAVID HILL The citizen and the family in the reform project of J. M. R. Lenz ............

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FRIDRUN FREISE Das ,Etikett‘ der idealen Ehe und Familie. Wie Gelegenheitsgedichte im 18. Jahrhundert einen neuen Wertekanon repräsentieren ........................................................................

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ANDREA ALBRECHT „Ehe und Nicht-Ehe ist eine individuelle Sache“. Ledige Frauen in der literarischen Imagination Therese Hubers...........................................

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  Abbildungsverzeichnis .............................................................................. Autorenverzeichnis.................................................................................... Register......................................................................................................

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Vorwort

Die Auseinandersetzung mit der Familie als kleinster sozialer Einheit hat Konjunktur. In Zeiten, da in den westlichen Industrienationen die staatlichen Versorgungsinstitutionen an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit geraten, da demographischer Wandel und ökonomische Globalisierung die vermeintlichen Sicherheiten schrumpfen lassen, ist die Frage nach der Funktion und Leistungsfähigkeit von familiären Strukturen in den gesellschaftlichen und politischen Debatten nicht wegzudenken. Auch in den Wissenschaften lässt sich in den letzten Jahren in allen einschlägigen Disziplinen in Publikationen, Forschungsförderungen, Tagungen und Projekten eine intensivierte Auseinandersetzung mit dem Thema feststellen. Umso wichtiger schien es, auch aus historischer Perspektive jene Phase großer Dynamik und erheblichem Neuerungspotenzial genauer zu betrachten, die allgemein als Entstehungszeit der „bürgerlichen Familie“ gilt, deren Bild und Imagination immer noch viele aktuelle Debatten zumindest als Hintergrundfolie prägt. Die Jahrzehnte um 1800 besitzen immer noch hohen identifikatorischen Wert; nicht für die Gesellschaft insgesamt, sondern auch für die Wissenschaften. So bedienen sich die Sozialwissenschaften in ihren historischen Herleitungen sehr oft dieser Zeit als Abgrenzung von vormodernen Strukturen. Auch die Geschichtswissenschaften zehren in ihrem Selbstverständnis als „bürgerliche“ Wissenschaft trotz aller Differenzierungen und turns noch von den Prägungen des 19. Jahrhunderts. Dementsprechend lag der Schwerpunkt der kleinen, internationalen Tagung im Dezember 2007 auch auf der Frage, inwieweit sich neue Fragehorizonte auf ‚Ehe‘, ‚Haus‘ und ‚Familie‘ finden lassen und welche Ansatzpunkte eröffnen. Ermöglicht wurde dies durch eine großzügige Förderung durch die FritzThyssen-Stiftung, die auch die Druckkosten für die Herstellung dieses Bandes dankenswerter Weise übernahm. Ein sehr herzlicher Dank sei an dieser Stelle Teresa Minnich ausgedrückt, die mit großem Engagement die Tagung organisiert hat, wie auch Janna Pahre und Alexandra Faust, die mit unermüdlicher Kleinarbeit und Geduld die Redaktion und das Lay-Out dieses Bandes miterarbeitet haben. Siegrid Westphal war und ist mir nicht nur bei diesem Projekt immer eine verlässliche und vertrauensvolle Mentorin in allen Fragen des wissenschaftlichen Arbeitens, wofür ihr an dieser Stelle ein sehr herzlicher Dank ausgesprochen werden soll. Osnabrück/Bremen, im November 2009 Inken Schmidt-Voges

I N K E N S C H M I D T -V O G E S

Strategien und Inszenierungen häuslichen Lebens zwischen 1750 und 1820 Eine Einführung

Gemeinsames Essen, gemeinsame Erbauung und Unterhaltung an einem Tisch – das ist ein Kernmotiv sozialer Gemeinchaft. Es findet sich in nahezu allen religiösen Festen, in der commensalitas der Klöster, in zeremoniellen Mahlen und als räumlicher wie zeitlicher Kern familiären Lebens. Daniel Chodowiecki hat dieses Bild für den Titelkupfer eines Ratgebers mit „Überlegungen zur Beförderung der häuslichen Glückseligkeit“ 1 gewählt, um die Kernaussagen für seine Leser im späten 18. Jahrhundert auf einen Blick erfahrbar zu machen. 2 Das Versprechen der ‚häuslichen Glückseligkeit‘ manifestiert sich hier in der dichten Kontemplation, mit der die Familienmitglieder dem Vorgelesenen lauschen. Die scheinbar zufällige, ungezwungene Anordnung der Anwesenden um den Tisch offenbart bei näherer Betrachtung doch Strukturen, die für die Vorstellungen von häuslichem Leben im 18. Jahrhundert charakteristisch sind. Zunächst fällt die doppelte Teilung auf. Das junge Ehepaar mit seinen Kleinkindern sitzt im Vordergrund, während die (Schwieger-)Eltern dahinter zur Bildmitte hin positioniert sind. Sie markieren das Zentrum, sowohl durch ihre näher am Tisch gewählte Sitzposition als auch durch ihre Handlungen des Vorlesens bzw. des Schaukelns der Enkelkinder auf den Knien. Dieser generationellen Trennung auf der Bildhorizontalen entspricht die Geschlechtertrennung in der 1 2

Cramer, Heinrich Matthias August: Unterhaltungen zur Beförderung der häuslichen Glückseligkeit, Berlin 1781. Zu Daniel Chodowieckis druckgraphischer Auseinandersetzung mit Aspekten des familiären Lebens vgl. jüngst Schmiesing, Ann: Daniel Chodowieckis illustrations for Theodor Gottlieb von Hippels ‚Über die Ehe‘ in: Journal for eighteenth Century Studies 31 (2008), S. 491-511.

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Vertikalen. Die beiden Frauen sitzen links vom Tisch – dem Betrachter den Blick auf das Leben am Tisch leicht öffnend –, während die beiden Männer vom rechten Rand her die Szenerie eher gegen allzu neugierige Blicke abzuschirmen scheinen. Hinter dem Tisch befindet sich das Haus- und Kindermädchen mit einer Handarbeit oder Kinderbekleidung in der Hand. Ihre stehende Haltung markiert einerseits eine gewisse Distanz zur Kernfamilie, andererseits ist sie so nahe am Tisch platziert, dass sie den Text mitlesen kann. Die beiden Kinder sitzen nicht still, sie rangeln auf den Schößen von Mutter und Großmutter herum und vermögen die verdichtete Ruhe nur schwer zu ertragen. Fragen der Ökonomie werden nicht offen thematisiert, scheinen also bedeutungslos für die ‚häusliche Glückseligkeit‘ zu sein. Gleichzeitig verweisen aber die ausgesuchte Kleidung, das ästhetischen Ansprüchen genügende Mobiliar sowie die Betonung der Bildung durch den Gestus des Vorlesens auf die Wohlsituiertheit dieses Haushaltes. Diese stillschweigende Trennung von ökonomischen Aspekten und sozialer Praxis des familiären Lebens ist für die Konzepte und Inszenierungen des 18. Jahrhunderts ebenso typisch wie die Frage nach der Bedeutung der Geschlechter, der Generationen und des Gesindes innerhalb eines Haushaltes, einer Familie. Aber auch die funktionale Bedeutung von ‚Haus‘ und ‚Familie‘ für die Gesellschaft insgesamt wurden im 18. Jahrhundert verstärkt und unter neuen Prämissen und Gesichtspunkten diskutiert. Denn die Diskrepanz zwischen der erlebten sozialen Realität und den überkommenen Beschreibungs- und Deutungsmustern war zu groß geworden, mussten geändert werden und für die aktuellen Gegebenheiten eine bessere Passgenauigkeit erhalten. Wie jede Epoche machte sich also auch die Zeit um 1800 ihr eigenes Bild davon, wie familiäres Leben idealerweise gestaltet sein sollte und welche funktionale Bedeutung ihm in der Gesellschaft insgesamt zukommt. Solche „Epochenimaginationen“ 3 machen deutlich, dass ‚Familie‘ zwar eine „natürliche Grundeinheit der Gesellschaft“ 4 darstellt, als solche aber keine ahistorische Kategorie bildet, sondern Teil der vielfältigen Wandlungsprozesse im sozialen, politischen, ökonomischen, kulturellen und natürlichen Umfeld ist. Wie aber hat man sich den Wandel solcher „Epochenimaginationen“ vorzustellen – der für die Zeit um 1800 als die Ablösung des vormodernen Modells des ‚ganzen Hauses‘ durch das die Moderne begründende Ideal der ‚bürgerlichen Kleinfamilie‘ beschrieben wird? Welchen Einfluss haben soziale, politische, rechtliche, ökonomische Faktoren auf einen bürgerlichaufgeklärten Kommunikationsprozess in den Journalen, Wochenschriften, 3

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Zum Begriff vgl. Holzem, Andreas/Weber, Ines: Einleitung, in: Holzem, Andreas/Weber, Ines (Hg.): Ehe – Familie – Verwandtschaft. Vergesellschaftung in Religion und sozialer Lebenswelt, Paderborn 2008, S. hg-zt. Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Artikel 16, Satz 3.

Strategien und Inszenierungen häuslichen Lebens

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Traktaten und Literaturen? Wo werden Impulse gegeben, wie werden diese aufgenommen, umgedeutet, eingearbeitet in die sehr unterschiedlichen Ordnungskonzepte der einzelnen Stände und Konfessionen? Die neueren Forschungen zu diesem Feld haben gezeigt, dass die normativen Vorstellungen von ‚Ehe‘, ‚Haus‘ und ‚Familie‘ kaum mehr als einen Leitbildcharakter besaßen. Die Vielfalt der seit dem späten Mittelalter untersuchten Ehe- und Paarbeziehungen, der Ausgestaltung von familiärer Ökonomie und Haushaltsstrukturen war darunter nur schwer fassbar. Will man eine Vorstellung davon bekommen, welche Gestalt, Bedeutung und Funktion diese drei eng miteinanderverwobenen Bereiche innerhalb einer sich wandelnden Gesellschaft zukommen, kann der Blick auf normative Änderungen nur ein erster sein. Vielmehr kommt es darauf an zu fragen, wie sich die Strategien und Inszenierungen änderten und anpassten, mit denen die Menschen ihr Beziehungs- und Familienleben in die neuen Rahmenbedingungen einbetteten. Dieser Prozess vollzieht sich in enger Wechselseitigkeit der Veränderungen von rechtlichen und sittlichen Normen mit den Methoden der Eheund Haushaltsführung, der Selbstdarstellungen und Inszenierungen auf allen Ebenen gesellschaftlichen Lebens. Diese Perspektive ist der Leitfaden für die Beiträge in diesem Band, die sich auf ganz unterschiedliche Arten mit den Entwicklungen dieses Spannungsfeldes zwischen Strategie und Inszenierung zwischen 1750 und 1850 auseinandersetzen. Obwohl die Frühe Neuzeit immer sehr deutlich unter den Vorzeichen der Prozesshaftigkeit (zumeist im Sinne einer fortschreitenden Entwicklung hin zur Moderne) betrachtet wurde und wird – hier sei an Paradigmen wie „Territorialisierung“, „Bürokratisierung“ oder „Rationalisierung“ erinnert –, ist eine solche Prozesshaftigkeit für ‚Haus‘ und ‚Familie‘ aber bisher nicht dezidiert untersucht worden. Stattdessen gibt es eine Fülle von Anstrengungen, die Zeit um 1800 als eine Zeit eines Übergangs recht starrer Beschreibungsmodelle zu untersuchen. Die Annahme einer konsekutiven Abfolge von ‚ganzem Haus‘ und ‚bürgerlicher Familie‘ ergibt sich daraus, einerseits aus einer zeitlich unbestimmten „Vormoderne“ heraus auf das Auslaufen des ‚Hauses‘ zu schauen und demgegenüber andererseits aus der „Moderne“ des ausgehenden 19. Jahrhunderts zurück die ersten Anfängen solcher bürgerlicher Vorstellungswelten von ‚Familie‘ zu suchen. In der Konsequenz ergibt sich eine mehr oder weniger lange Übergangsphase, sei sie „Sattelzeit“, „langes 18.“ oder „langes 19. Jahrhundert“ genannt. 5 Die inhärente Statik solcher

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Koselleck, Reinhard: Einleitung, in: Brunner Otto/Conze, Werner/Koselleck, Reinhart: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, Stuttgart 1974, S. XV; O’Gorman, Frank: The long eighteenth Century. British political and social history 1688-1832. Trotz ihrer jeweiligen inhärenten Problematik und den kontroversen Diskussionen, die sie um die Deutung der Zeit zwischen 1750 und 1850 provozierten, ist ihnen gemeinsam,

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master narratives versperrt den Blick dafür, ‚Haus‘, ‚Familie‘ und ‚Ehe‘ in einem funktionalen Verhältnis zu sehen, das eine lange Tradition aufweisen kann und für die Zeit um 1800 eine ganz eigene Konstellation eingeht. Gerade weil die Familie als Kernstück bürgerlichen Selbstverständnisses in der Entwicklung der Werte des Bürgertums eine so herausragende Rolle spielte, war die bürgerlich geprägte Geschichtswissenschaft lange von einem retrospektiven Blick auf die „offsprings“ dieses Familienkonzeptes geprägt, ohne die jeweiligen Alternativen und Gleichzeitigkeiten entsprechend zu berücksichtigen, die vor allem im großbäuerlichen Haushalt bzw. der Adelsdynastie gesehen wurden. 6 Mittlerweile hat die Forschung die Wechselbeziehungen zwischen Individuum – Familie – Gesellschaft und Politik aus ganz unterschiedlichen Perspektiven betrachtet und dabei immer wieder auf die Ambivalenzen, Widersprüche, Gleichzeitigkeiten und Brüche hingewiesen. Dabei ist jedoch bisher der Graben zwischen normativen und wertorientierten Modellkonzepten in Recht und Literatur auf der einen Seite und der sozialen Praxis der Lebensführung und Selbstdarstellung innerhalb sich wandelnder Wertsysteme auf der anderen Seite kaum überbrückt und miteinander in Beziehung gesetzt worden. Vielmehr findet sich diese Trennung von ‚Ehe‘, ‚Haus‘ und ‚Familie‘ noch allenthalben, ohne auch für diesen Bereich der Vergesellschaftung stärker von einem funktionalen als einem konsekutiven Verhältnis mit entsprechenden Traditionen und Entwicklungen auszugehen.

Forschungsgeschichte Die intensivere Beschäftigung mit familialen Formen des Zusammenlebens entwickelte sich in den 1970er Jahren aus zwei Forschungsrichtungen heraus. Die Historische Demographieforschung beschäftigte sich aus der Perspektive der Arbeitsorganisation und Ökonomie intensiv mit Familienstrukturen, auch hier dezidiert retrospektiv auf die „Verlorenen Lebenswelten der vorindustriellen Gesellschaft“. 7 Diese Studien brachten die Vielfalt der fami-

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dass sie die Erforschung von ‚Haus‘ und ‚Familie‘ kaum beeinflusst haben, allenfalls werden einzelne Aspekte hervorgehoben. Vgl. hierzu Hardtwig, Wolfgang: Hochkultur des bürgerlichen Zeitalters, Göttingen 2005, S. 15; Hahn, Hans-Werner/Hein, Dieter (Hg.): Bürgerliche Werte um 1800. Entwurf – Vermittlung – Rezeption, Köln 2005, S. 19; Hettling, Manfred/Hoffmann, Stefan-Ludwig (Hg.): Der bürgerliche Wertehimmel. Innenansichten des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2000, S. 16; Stollberg-Rilinger, Barbara: Europa im Jahrhundert der Aufklärung, Stuttgart 2000, S. 145-151. So der Titel von Laslett, Peter: Verlorene Lebenswelten. Geschichte der vorindustriellen Gesellschaft, Frankfurt 1991. Vor allem die Arbeiten von Michael Mitterauer und Josef Ehmer prägten diese Forschungen: Mitterauer, Michael: Vom Patriarchat zur Partnerschaft. Zum Strukturwandel der Familie, München 1977; Mitterauer, Michael:

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liären Lebenszyklen, der Haushaltsformen und Generationenbeziehungen in einzelnen Haushalten ans Licht, die nicht mit dem aus der ‚Hausväterliteratur‘ tradierten statischen Modell in Übereinstimmung zu bringen waren, sondern eher die Diskrepanz zwischen Norm und Praxis deutlich machten. Zugleich verwiesen sie auf das komplizierte Geflecht von biologischer Abstammung und Rechtsbeziehung zum Hausvater, die beide gleichermaßen konstitutiv für das Modell des ‚Hauses‘ waren. Zugleich entstanden im Rahmen der Sozialgeschichte mehrere Studien und Sammelbände, die sich dezidiert mit Fragen der Einbindung und des Wandels von Sozialstrukturen und Ordnungsmodellen befassten. In diesen Arbeiten lag der Schwerpunkt also stärker auf den übergeordneten Strukturen und Erklärungsmodellen, die mit einem generalisierenden Anspruch der master narratives nicht so sehr die Widersprüchlichkeiten in den Blick nahmen. 8 Mit der verstärkten Bearbeitung von frauen- und dann geschlechterhistorischen Fragen rückte seit den 1980er-Jahren die Ehe verstärkt in den Blickpunkt als institutionalisierte Paar- und damit Geschlechterbeziehung. Familiäre Strukturen, Arbeitsorganisation sowie Rechte und Pflichten in der sozialen Umwelt wurden nun aus der Perspektive der „Geschlechtscharaktere“ betrachtet. Zunächst standen dabei literarische Studien im Vordergrund, die den Umbruch als „späte Sentimentalisierung“ einer seit der Reformation vo-

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Grundtypen alteuropäischer Sozialformen. Haus und Gemeinde in vorindustriellen Gesellschaften, Stuttgart 1979; Ehmer, Josef: Familienstruktur und Arbeitsorganisation in ländlichen Gesellschaften, Wien 1986. An den neueren methodischen Fragestellungen orientieren sich auch Arbeiten aus der Volkskunde/Europäischen Ehtnologie, wie etwa Hennings, Lars: Familien- und Gemeinschaftsformen am Übergang zur Moderne. Haus, Dorf, Stadt und Sozialstruktur zum Ende des 18. Jahrhunderts am Beispiel Schleswig-Holsteins, Berlin 1995. Vgl. hierzu Weber-Kellermann, Ingeborg: Die deutsche Familie. Versuch einer Sozialgeschichte, Frankfurt 1974; Hausen, Karin: Familie als Gegenstand historischer Sozialwissenschaft: Bemerkungen zu einer Forschungsstrategie, in: Geschichte und Gesellschaft 1 (1975), S. 171-209; Hausen, Karin: Historische Familienforschung, in: Rürup, Reinhard (Hg.): Historische Sozialwissenschaft. Beiträge zur Einführung in die Forschungspraxis, Göttingen 1977, S. 59-95; Conze, Werner (Hg.): Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, Stuttgart 1977; Bulst, Neidhardt (Hg.): Familie zwischen Tradition und Moderne. Studien zur Geschichte der Familie in Deutschland und Frankreich vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, Göttingen 1981; Rosenbaum, Heidi: Formen der Familie. Untersuchungen zum Zusammenhang von Familienverhältnissen, Sozialstruktur und sozialem Wandel in der deutschen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, Frankfurt 1982. Als Ergebnis dieser sozialhistorischen Familienforschung können Andreas Gestrichs Ausführungen zur Neuzeit gesehen werden in Gestrich, Andreas (Hg.): Geschichte der Familie, Stuttgart 2003, S. 364-652.

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ranschreitenden „Domestizierung“ der Frau ansahen. 9 Eine stärkere Ausrichtung auf sozial- und kulturhistorische Fragestellungen und Methoden in den 1990er-Jahren führte auch hier zu einer Relativierung der Engführung von Norm und Praxis. Gerade für die Jahre um 1800 wurde auch in den aufgeklärten Diskursen eine große Öffnung und Offenheit für das Aufbrechen überkommener Geschlechterverhältnisse konstatiert, die sich unter dem Eindruck der Französischen Revolution und der nachfolgenden Restauration allerdings wieder deutlich veränderten. Während diese Phase für die weibliche Teilhabe an gesellschaftlichen Kommunikationsprozessen intensiver erforscht wird, 10 gibt es nur wenige Untersuchungen, die ‚Haus‘ und ‚Familie‘ jenseits literarischer Repräsentation des „bürgerlichen Wertehimmels“ als Mittlerinstanzen in diesem Ordnungsprozess thematisieren, obgleich die ‚Familie‘ als Bezugsrahmen für die Entfaltung des Individuums als Konstituens bürgerlicher Selbstverständigungsprozesse allenthalben betont wird. 11 Die mikrohistorische Perspektive auf ‚Haus‘ und ‚Familie‘ erlebte dagegen im Kontext der Historischen Anthropologie einen großen Durchbruch. Mehrere größere Untersuchungen zeigten, dass die forschungspraktische 9

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So die Titel zweier einflussreicher Studien. Becker-Cantarino, Barbara: Vom „Ganzen Haus“ zur Familienidylle. Haushalt als Mikrokosmos in der Literatur der Frühen Neuzeit und seine spätere Sentimentalisierung, in: Daphnis 15 (1986), S. 509-533; Roper, Lyndal: The Holy Household. Women and Morals in Reformation Augsburg, Oxford 1989. Die These der getrennten Sphären findet sich auch in jenen Untersuchungen, die sich primär auf zeitgenössiche Diskurse stützen, so etwa Frevert, Ute (Hg.): Bürgerinnen und Bürger. Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert, Göttingen 1988; Opitz, Claudia et al. (Hg.): Ordnung, Politik und Geselligkeit der Geschlechter im 18. Jahrhundert, Göttingen 1998; Gray, Marion W.: Productive men, reproductive women: the agrarian household and the emergence of separate spheres during the German Enlightenment, New York 2000. Opitz, Claudia et al. (Hg.): Tugend, Vernunft und Gefühl. Geschlechterdiskurse der Aufklärung und weibliche Lebenswelten, Münster 2000. Weckel, Ulrike: Der „mächtige Geist der Assoziation“. Ein- und Ausgrenzung bei der Geselligkeit der Geschlechter im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, in: Archiv für Sozialgeschichte 38 (1998), S. 57-77. Westphal, Siegrid: Geschlecht und Nation um 1800 im Alten Reich: Traditionslinien und Wandel, in: Fink, Gonthier et al. (Hg.): Identitäten und Fiktionen um 1800, Frankfurt 2004, S. 299-321. Westphal, Siegrid et al. (Hg.): Handlungsspielräume von Frauen um 1800, Heidelberg 2005. Die beiden großen Studien Habermas, Rebekka: Frauen und Männer des Bürgertums. Eine Familiengeschichte (1750-1850)., Göttingen 1999 und Trepp, Anne-Charlott: Sanfte Männlichkeit und selbständige Weiblichkeit. Frauen und Männer im Hamburger Bürgertum zwischen 1770-1840, Göttingen 1996 haben gezeigt, dass erst die mikrohistorische Erforschung der je individuellen Strategien im Umgang mit gesellschaftlichen Werten und Normen einen differenzierenden Blick auf den Schematismus derselben erlauben. Dazu auch Katja Deinhardt/Julia Frindte: Ehe, Familie und Geschlecht, in: Hahn/Hein: Bürgerliche Werte, S. 253-272.

Strategien und Inszenierungen häuslichen Lebens

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Trennung zwischen dem Binnenraum der Familie bzw. eines Haushaltes und der ‚Außenwelt‘ von Gemeinde, Gesellschaft und Herrschaft einen Großteil jener sozialer Beziehungsnetze ausblendet, die ganz entscheidend in die Familie hineinwirkten. Damit sind ‚Verwandtschaft‘, ‚Freundschaft‘ und ‚Nachbarschaft‘ als gleichberechtigtes Bedingungsgefüge für die Vielfalt familiärer Strukturen neben politische Normen und allgemeine Diskurse getreten. 12 Zugleich machten diese Studien, die sich im Gegensatz vor allem ländlichen Kontexten widmeten, die Kontinuitäten tradierter Strukturen und Wahrnehmungsmuster deutlich, in denen die im städtisch-bürgerlichen Kontexten zu Tage tretenden Umbrüche erst allmählich Einzug hielten. Der im Titel gewählte Dreisatz Ehe – Haus – Familie bezeichnet verschiedene Ebenen häuslichen Lebens: die in der Ehe institutionalisierte Paarbeziehung als Kern, das ‚Haus‘ als räumliches Ensemble aller der Versorgungsgemeinschaft angehörenden Personen sowie die Familie als Beziehungsgefüge zwischen den Generationen. Zugleich verweisen diese Begriffe aber auch – wie gesehen – auf unterschiedliche Forschungskonzepte, die mit den bereits genannten „Epochenimaginationen“ verbunden sind. Gerade diese oft nicht reflektierte Überschneidung von Untersuchungsgegenstand, Quellenbegriff und Forschungsbegriff macht die Auseinandersetzung mit dieser Phase des Wandels so problematisch. 13 Denn für eine nicht unerhebliche Zeit werden alle drei Begriffe parallel verwandt, wie ein Blick in Zedlers Grosses Universallexikon von 1735 zeigt: „Familia, ist eine Anzahl Personen, welche der Macht und Gewalt eines Hauß-Vaters, entweder von Natur, oder rechtlicher Disposition unterworfen sind, zu Erlangung eines gemeinen Gutes. […] Dieses gemeine Gute aber, welches in Ansehung des öffent12

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Medick, Hans, David W. Sabean (Hg.): Emotionen und materielle Interessen. Sozialanthropologische und historische Beiträge zur Familienforschung, Göttigen 1984; Sabean, David: Property, Production and Family in Neckarhausen. 1700-1870, Cambridge 1990; Schlumbohm, Jürgen (Hg.): Familien und Familienlosigkeit. Fallstudien aus Niedersachsen und Bremen vom 15. bis ins 20. Jahrhundert (Quellen und Untersuchungen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Niedersachsens in der Neuzeit 17), Hannover 1993; Schlumbohm, Jürgen: Lebensläufe, Familien, Höfe. Studien zu Bauern und Eigentumslosen in einem agrarisch-proto-industriellen Kirchspiel Nordwestdeutschlands: Belm 1650-1806, Göttingen 1994; Medick, Hans: Weben und Überleben in Laichingen 1650-1900. Lokalgeschichte als allgemeine Geschichte, Göttingen 1996;Sabean, David Warren, Jon Mathieu, Simon Teuscher (Hg.): Kinship in Europe: Approaches to long-term development (1300-1900), New York 2007. Diese Problematik zeigt sich deutlich im zum Thema grundlegenden Artikel in den Geschichtlichen Grundbegriffen: Schwab, Dieter: Art. Familie, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Stuttgart 1975, Bd. 2, S. 790-827. Gestrich etwa trennt in seiner Darstellung konsequent die genannten Bereiche begrifflich und analytisch von einander, Gestrich, Neuzeit, S. 364-652.

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lichen Guten zwar nur ein privatum zu nennen ist, kann nicht anders erhalten werden, als wenn dasselbe, was die Familie unterhält, dazu kommt, welches in 3. Stücken bestehet, nemlich in Personen, Sachen und einer Ordnung, oder häußlichem Regiment.“ 14

Zugleich wird aber differenziert, dass „die Anzahl derer Personen nicht allezeit, und bey allen einerley, sondern variiert nach der Condition und Stand des Hauß-Vaters“. Sie umfasse „die 3. einfachen Societaeten“ nur da, wo sie „am vollkommensten“ sei, „doch können nicht alle Familien sich eben dieses Glückes rühmen, weil öfters der Ehestand unfruchtbar ist […], zuweilen ist auch der Hauß-Herr so arm, daß er keinen Knecht halten kann“. 15 Was hier unter dem Stichwort „Familie“ verhandelt wird, kann als Synonym für die Definition des ‚Hauses‘ angesehen werden, wie es seit dem 16. Jahrhundert in der frühneuzeitlichen Adaption des aristotelischen oikos in theologischen, politischen und juristischen Schriften zu finden war. Zugleich zeigt aber die geringe Ausführlichkeit des Artikels zum „Haus, juridice und civiliter“, dass man der „Familie“ offensichtlich die größere Erklärungskraft beimaß. Wenngleich das auf den ersten Blick die These des Übergangs zu bestätigen scheint, muss man doch konstatieren, dass eine hinreichende Untersuchung der Begriffe ‚Haus‘ und ‚Familie‘ noch aussteht. Denn gerade in der Gesellschafts- und Politiktheorie der Frühen Neuzeit findet sich eine häufige synonyme Verwendung von oikos, domus und familia, deren Funktion, Bedeutungswandel und Übersetzungsgebrauch völlig ungeklärt ist. 16 Angesprochen wird aber umso deutlicher, dass Modellkonzepte und Rechtsnormen kaum je den lebensweltlichen Gegebenheiten einer größeren Anzahl von Menschen entsprach, sondern einen „Idealtypus“ im Weber’schen Sinne darstellte.

Ehe, Haus und Familie als soziale Institutionen Einem funktionalen Verständnis aller drei Aspekte kommt man näher, wenn man sie von ihrem institutionellen Charakter her betrachtet; denn Institutionen verknüpfen die unterschiedlichen Ebenen sozialer und politischer Ordnung miteinander auf spezifische Weise. Dabei gilt es, die Unterschiede im institutionellen Gefüge selbst für die Analyse fruchtbar zu machen. Eine ‚In14

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Art. Familia, in: Johann Heinrich Zedler (Hg.): Grosses vollständiges Universallexikon (im Folgenden: Zedler), Bd. 9, S. 118. Die Kursivierungen sind im Original durch die Verwendung der Antiqua-Schrift hervorgehoben. Ebd. Art. Haus, in: Zedler, Bd. 12, S. 458. Selbst für die antike und spätantike Bedeutungsund Begriffsgeschichte entstehen erst in jüngster Zeit umfangreichere Studien. Vgl. Brendan D. Nagle: The Household as the foundation of Aristotle’s polis, Cambridge 2006.

Strategien und Inszenierungen häuslichen Lebens

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stitution‘ kann zunächst entsprechend des allgemeinen Sprachgebrauches als eine Einrichtung gesehen werden, die nach – oft rechtlich – festgelegten Regeln der Aufgaben- und Funktionsverteilung bestimmte Aufgaben erfüllen. Dementsprechend wird in der Politikwissenschaft mit ‚Institution‘ eine Einrichtung bezeichnet, die verlässliche politische Entscheidungen fällt und durchsetzt. 17 In der Soziologie bezeichnet ‚Institution‘ in einem grundlegenderen Sinne „jegliche Form bewußt gestalteter oder ungeplant entstandener stabiler, dauerhafter Muster menschlicher Beziehungen, die in einer Gesellschaft erzwiscne oder durchdieallseits als legitim geltenden Ordnungsvorstellungen getragen und tatsächlich ‚gelebt‘ werden.“ 18 Damit sind also auch jene Einrichtungen erfasst, die gewachsen und im Wesentlichen durch Sittlichkeitsvorstellungen geprägt sind. Der Komplex ‚Ehe‘, ‚Haus‘ und ‚Familie‘ zeichnet sich dadurch aus, dass ihr institutioneller Charakter sowohl Aspekte der politischen Funktionen ausweist als auch sehr stark von dem Normen- und Wertgefüge einer sozialen Institution geprägt ist, wie es sich in der sozialen Umwelt der Verwandtschaft, Nachbarschaft und Gemeinde gelebt wurde. Als institutionalisierte Paarbeziehung ist die ‚Ehe‘ begründet durch einen rechtlichen Akt, durch den Mann und Frau zu einer gemeinsamen Lebensführung verbunden werden. Zugleich wird damit aber auch die Rechtsstellung der entstehenden Familie und des Haushaltes in der Gesellschaft bestimmt. Diese Regelungen änderten sich mit der entstehenden Kodifizierungsbewegung unter dem Einfluss der Aufklärung deutlich, dennoch war die Ehefrau in den meisten Aspekten rechtlich abhängig vom Oberhaupt, dem Mann. Einzig das Ehegüterrecht ermöglichte der verheirateten Frau eigene Handlungsspielräume. 19 Auch wenn sich die Rechtspraxis bis in das beginnende 19. Jahrhundert hinein sehr viel durchlässiger zeigte, war dies in 17 18

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Vgl. hierzu die Definition in Göhler, Gerhard (Hg.): Die Rationalität politischer Institutionen - Interdisziplinäre Perspektiven, Baden-Baden 1990, S. 16. Türk, Klaus: Art. Institution, in: Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart 1994, S. 375. Vgl. hierzu grundlegend Esser, Hartmut: Soziologie. Spezielle Grundlagen. Band 5: Institutionen, Frankfurt a. M. 2000, S. 14. Duncker, Arne: Gleichheit und Ungleichheit in der Ehe. Persönliche Stellung von Frau und Mann im Recht der ehelichen Lebensgemeinschaft 1700-1914, Köln 2003; vgl. die Beiträge von Ursula Vogel, Ursula Floßmann, Ernst Holthöfer, Susanne Weber-Will, David W. Sabean, Regula Gerber Jenni und Annamarie Ryter in: Gerhard, Ute (Hg.): Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, München 1997. Möhle, Sylvia: Ehen in der Krise. Zur bedeutung der Eigentumsrechte und der Arbeit von Frauen in Ehekonflikten (Göttingen 1740-1840), in: Schlumbohm, Jürgen (Hg.): Familien und Familienlosigkeit. Fallstudien aus Niedersachsen und Bremen vom 15. bis ins 20. Jahrhundert (Quellen und Untersuchungen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Niedersachsens in der Neuzeit 17), Hannover 1993, S. 39-50.

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erster Linie nicht etwa einer mangelnden Gültigkeit des Rechts zu verdanken, sondern der konkurrierenden Pluralität von rechtlichen Institutionen, wie etwa der Geschlechtsvormundschaft. 20 Zugleich war die Ehe aber nicht nur ein Rechtsinstitut, sondern eine soziale Institution in dem Sinne, als Mann und Frau als Ehepaar ganz bestimmten Normen und Werten in der Ehe- und Haushaltsführung genügen mussten, die in ihren elementaren Grundlagen theologisch begründet waren, sich aber je nach sozialer Stellung, Milieu und Region durchaus unterschiedlichen Variationen erfreuen konnten. Dabei spielte vor allem eine Rolle, wieviel Eigensinn und Individualität in der Auslegung geltender Ordnung von Ehe von der sozialen Umwelt als zugehörig anerkannt wurde, bzw. welches Verhalten eines oder beider Ehepartner definitiv als Überschreitung der Grenze der Schicklichkeit angesehen und entsprechend mit zumeist informellen Aktionen sanktioniert wurde. 21 Erfolg oder Misserfolg eines solchen Unternehmens hing ganz entscheidend davon ab, wie es den Ehepartnern gelang, den Alltag zu meistern, insbesondere mit Konfliktsituationen umzugehen. Denn anders als politischen Institutionen konnte man die Probleme nicht vertagen, auseinandergehen und sich mit beruhigten Gemütern wieder an einen Tisch setzen, hier verlangte die ununterbrochene Einbindung beider Ehepartner in die Haushaltsführung und Kindererziehung eine unmittelbare, nachhaltige Problemlösungskompetenz, sollten die Konflikte nicht angestaut in gewalttätgien Auseinandersetzungen enden, was oft genug geschah. In diesem Sinne war jede Ehe unabhängig von ihrer rechtlichen Gültigkeit eine soziale Institution, deren Bestand im Wesentlichen von der sozialen Umwelt der Ehepartner abhängig. 20

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Sabean, David W.: Allianzen und Listen: Die Geschlechtsvormundschaft im 18. und 19. Jahrhundert, in: Gerhard, Ute (Hg.): Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, München 1997, S. 460-479; Weber-Will, Susanne: Geschlechtsvormundschaft und weibliche Rechtswohltaten im Privatrecht des preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794, in: Gerhard, Ute (Hg.): Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, München 1997, S. 452-459; Westphal, Siegrid (Hg.): In eigener Sache. Frauen vor den höchsten Gerichten des Alten Reiches, Köln 2005. Dies zeigen die vielen Arbeiten zu (nieder)gerichtlichen Auseinandersetzungen über Ehe- und Haushaltsführung. Vgl. z.B. Lutz, Alexandra: Ehepaare vor Gericht. Konflikte und Lebenswelten in der Frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. 2006; Burghartz, Susanna: Ehen vor Gericht. Die Basler Ehegerichtsprotokolle im 16. Jahrhundert, in: Wunder, Heide (Hg.): Eine Stadt der Frauen. Studien und Quellen zur Geschichte der Baslerinnen im späten Mittelalter und zu Beginn der Neuzeit (13.-17. Jhd.), Basel 1995, S. 167-187; Eibach, Joachim: Der Kampf um die Hosen und die Justiz - Ehekonflikte in Frankfurt im 18. Jahrhundert, in: Kesper-Bierbaum, Sylvia/Dieter Klippel (Hg.): Kriminalität in Mittelalter und Früher Neuzeit. Soziale, rechtlich, philosophische und literarische Aspekte, Wiesbaden 2008, S. 167-188; Möhle, Sylvia: Ehekonflikte und sozialer Wandel. Göttingen 1740-1840, Frankfurt/M. 1997.

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Ganz ähnlich lässt sich die Situation für das ‚Haus‘ als einer sozialen wie politischen Institution oder Grundeinheit feststellen. Die rechtlichen Beziehungen der Hausbewohner speisten sich aus unterschiedlichen Quellen. Neben dem Eherecht, das das Verhältnis des dem Haushalt vorstehenden Ehepaares regelte, veränderte sich die rechtliche Begründung der Abhängigkeit der Kinder vom Vater. Während im älteren Naturrecht das Eltern-KindVerhältnis im Wesentlichen im Rahmen der Eigentumsbegrifflichkeit diskutiert wurde – die aber explizit eine ähnlich weitreichende Verfügungsgewalt wie über Sachen explizit ausschloss –, verlagerte sich der Diskurs im späten 18. Jahrhundert auf die Auffassung eines spezifisch naturrechtlichen Vertragsverhältnisses, das aber den Status der Kinder als Rechtssubjekte in den Kodifikationen nur in geringem Maße beeinflusste. 22 Auch die Stellung des Gesindes, das durch die Annahme des Weinkaufs für eine festgesetzte Zeit der Herrschaft des Hausvaters unterwarf, innerhalb eines Haushaltes wurde erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts mit einem eigenen, die Aufgaben und Pflichten beider Hausstände beschreibenden Recht versehen. In den vorangegangenen Jahrhunderten unterlagen Art und Weise der Entlohnung, Arbeitsbelastung und Versorgung sehr viel stärker im Ermessen allgemeiner Sittlichkeit, wenn es auch immer mal wieder einzelne Gesindeordnungen gab. 23 Wenn das ‚Haus‘ also nicht als eine rechtlich fixierte Institution zu sehen ist, vielmehr als eine Vielfalt unterschiedlicher Rechtsbeziehungen, so stellt es in den Augen der Zeitgenossen dennoch eine in sich geschlossene soziale Institution dar, die durch den Normenkomplex der oeconomia christiana geregelt wurde. Das Funktionieren dieses Normensystems, wie es vor allem in den Hausschriften theologischer und später auch ökonomieliterarischer Provenienz vertreten wurde, war aber wiederum nur im engen Austausch mit der sozialen Umwelt der Nachbarschaft und Verwandtschaft möglich, die über Legitimität oder Illegitimität bestimmter Verhaltensformen entschied. Die Bedeutung der Institution ‚Haus‘ für die soziale und politische Ordnung speiste sich vornehmlich über die in ihm geleistete Arbeit aller Hausgenossen, sei es die Produktion der materiellen Substanz an Lebensmitteln, Kleidung, Handelsgütern und Handwerksprodukten, der Erhalt einer hinreichenden Existenzgrundlage für die eigene wie kommenden Generationen, sei es die Erziehungsarbeit zu einer christlich-sittlichen Lebensführung, oder sei es die Managementfunktion des leitenden Ehepaares, die eigener Kompetenzen bedurfte. Die Auseinandersetzung mit der Institution ‚Haus‘ kann also nicht 22 23

Berding, Dietrich: Elterliche Gewalt, Kindesrecht und Staat im deutschen Naturrecht um 1800, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 22 (2000), S. 52-68. Dürr, Renate: „Der Dienstbothe ist kein Tagelöhner...“. Zum Gesinderecht (16. bis 19. Jahrhundert), in: Gerhard, Ute (Hg.): Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, München 1997, S. 115-139.

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in der Frage enden, ob Otto Brunner mit der seiner Vitalisierung des Riehl’schen ‚ganzen Hauses‘ Anfang der 1950er-Jahre Recht hatte oder nicht, 24 es geht vielmehr darum, die Verschiebung der Akzente in der Bewertung dessen, was als Essenz häuslichen und familiären Lebens angesehen wurde, deutlich zu machen und zu kontextualisieren. Eine solche Verschiebung der Akzente fand im Laufe des 18. Jahrhunderts statt. Auf der einen Seite rückte die Bedeutung der geleisteten Arbeit in den Hintergrund zugunsten einer sehr aufklärerischen Betonung der Sittlichkeitsbildung innerhalb der Familie, die den entscheidenden Beitrag zum ‚gemeinen Guten‘ – wie der Zedler es nannte – lieferte. Damit einher ging auf der anderen Seite ein gewandeltes Verhältnis zum ‚Staat‘. Denn wenn zuvor die Obrigkeiten über die Pflicht zur Normenkontrolle und Sittenzucht recht weitreichende Eingriffsrechte in jeweilige häusliche Konstellationen besaß, wurde dieses nun zurückgewiesen und der ‚Staat‘ auf seine Aufsichtsfunktion über das geschriebene Recht beschränkt. Das geschriebene, kodifizierte Recht aber definierte den Hausvater und Ehemann als ein Scharnier, so dass er gegenüber dem ‚Staat‘ als rechtlicher Vertreter anzusehen war, in die Familie hinein aber sehr weitgehende Herrschaftsbefugnisse besaß. Dem entspricht die massive Verbreitung und Präsenz eines harmonischen Familienideals, das sich durch intensive, emotional gestärkte Beziehungen innerhalb der Familienmitglieder auszeichnete. Dieser ‚private‘ Raum der Familie war also dadurch charakterisiert, dass die Obrigkeit keine Verfügungsgewalt besaß, das familiäre Leben selbst aber durchaus nach außen sichtbar war und sein musste – denn wie sonst hätte man sich der positiven Sanktionierung der eigenen Gestaltung und Umsetzung der Sittlichkeitsforderungen vergewissern können. Auch hier spielte also das ‚offene Haus‘ als materialisierter Raum der sozialen Institution ‚Familie‘ eine wichtige, wenn nicht gar entscheidende Rolle, um die Einhaltung der Regeln dieser Institution durch die soziale Umwelt bestätigen zu lassen. 25 Die ökonomischen Aspekte sind in diesem Konzept nicht ausgeschlossen, sondern kommen im Gewande der Sittlichkeitsbildung wieder zum Vorschein, wie die Tugenden zu Ordnung, Fleiß und Sparsamkeit belegen. Häusliche Fragen von Produktion, Verwal24

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Diesen Eindruck mag man gewinnen, wenn man die Stellungnahme Peter Blickles zur kritischen Diskussion der Brunner’schen Thesen in den letzten 20 Jahren liest. Blickle, Peter: Das Alte Europa. Vom Hochmittelalter bis zur Moderne, München 2008, S. 102. Eibach, Joachim: Das Haus: Zwischen öffentlicher Zugänglichkeit und geschützter Privatheit (16.-18. Jahrhundert), in: Schwerhoff, Gerd/Susanne Rau (Hg.): Zwischen Gotteshaus und Taverne. Öffentliche Räume im Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Köln 2004, S. 183-205; Eibach, Joachim: Die Schubertiade. Bürgerlichkeit, Hausmusik und das Öffentliche im Privaten, in: http://www.europa.clio-online.de /site/lang__de/ItemID__307/mid__12210/40208773/Default.aspx.

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tung und Erhalt der materiellen Existenzgrundlage wurden aber als Teilbereiche in eigene, selbstständige Bereiche verlagert – ohne jedoch zu verschwinden. Ausgehend von der These, dass ‚Ehe‘, ‚Haus‘ und ‚Familie‘ drei Aspekte jener sozialen Institution darstellen, die über die Ehe- und Eltern-KindBeziehung eine gesellschaftliche Grundeinheit mit der Pflicht zur Erziehung und Versorgung bilden, gehen die Beiträge in diesem Band ganz unterschiedlichen Emanationen der eben beschriebenen Akzentverschiebungen nach, die gleichwohl immer wieder um die großen Fragen des Transformationsprozesses um 1800 kreisen. Dabei spielt das Verhältnis von häuslicher Ordnung, häuslichen Lebenswelten zur Gesellschaft eine ganz wichtige Rolle. Die feinen Unterschiede zwischen einer sich als Denkmuster gerade entwickelnden ‚Gesellschaft‘, die zunächst unabhängig von staatlicher Regulation gesehen wird, und der civitas oder res publica, die Unterschiede zwischen der Obrigkeit vor Ort und einer als ‚Staat‘ gedachten politischen Organisation prägen die medialen Neuentwürfe familiären Lebens. Die enge Verknüpfung dieser Entwicklung mit den Gegenbegriffen ‚privat‘ und ‚öffentlich‘ zeigt gut, dass es im 18. Jahrhundert genau um den großen Bereich zwischen der gestuften Zugänglichkeit geht. Denn das Besondere der ‚Privatheit‘ lag ja in der Wahrnehmung einer solchen durch die anderen. Das zeigt Fridrun Freise in ihrer Analyse des Wertewandels in Hochzeitsgedichten genauso, wie Evelyne Luef. Die Verhandlung häuslicher Gewalt verläuft anhand von Billigkeitsnormen, die Frage von Legitimität oder Illegitimität der ausgeübten Gewalt definiert sich nicht nach schriftlich festgelegten Kriterien, sondern durch die Wahrnehmung der Gewalt durch die ‚Anderen‘, die Nachbarn, Verwandten, Hebammen und Chirurgi. Aber auch die Tatsache, dass der Rat eine eigenmächtige Trennung von Tisch und Bett bestätigte, zeigt, dass hier der „Eigensinn“ der Eheleute wie auch der sie umgebenden Umwelt sehr viel Einfluss auf die Art und Weise der Eheführung und auch Beendung hatte – unabhängig von rechtlichen Normen und Zuständigkeiten. Eine Variante zum Thema stellt die Bezugnahme auf die Nation dar. Bisher war der Bezug entstehender Nationsvorstellungen während der napoleonischen Kriege zu Ehe, Familie und Haus vor allem aus der Perspektive einer domestizierenden Funktionalisierung der Frau betrachtet worden. Dabei lag der Fokus in erster Linie auf der Ausrichtung der Mädchen- und Frauenbildung zu der Nation nützlichen Haus- und Ehefrauen – selbst das Gebären

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von Kindern erlebte während der napoleonischen Kriege eine Überformung als ein Dienst zum Besten der Nation. 26 Nicht nur für Frauen, auch für Männer konnte die Rückbindung an Haus, Ehe und Kind eine stärkende Funktion und Motivation im Einsatz für die Nation darstellen, wie David Hill in seiner Studie zum Heeresreformprojekt des Schriftstellers Lenz deutlich macht. Dessen intensive Erfahrungen im Militärwesen des 18. Jahrhunderts veranlassten ihn, ein sehr weitreichendes Programm zu entwerfen, das den Soldaten den Sinn und Zweck ihres Lebenseinsatzes dadurch vermitteln sollte, dass sie in einem roulierenden System ein halbes Militärdienst, ein halbes Jahr Haus- und Landwirtschaft im Kreise der Familie die emotionale Bindung an „zuhause“ und damit an die Nation zu bestärken. Damit findet sich eine pointierte zeigenössische Stellungnahme zum Problem der „Vergesellschaftung des Soldaten“ (nicht des Militärs!). Diese neue Perspektivierung zeigt die Virulenz des Bereiches Ehe- und Familienleben von Soldaten in stehenden oder Söldnerheeren, die bisher trotz fortwährender Monita nur in Nebensätzen behandelt wurde. 27 Denn Lenz’ Projekt fordert nicht weniger als eine diametrale Umkehr von der bisher – zumindest theoretisch – weitgehend zölibatär gedachten Lebnsform der Soldaten zu einer ganz gezielt geförderten Ehe- und Häuslichkeit; womit sich nicht nur die Sinnhaftigkeit und Motivation steigern ließ, sondern auch die Versorgungsprobleme der aus unehelichen Paarbeziehungen stammenden Kinder sowie ausgeschiedener Soldaten. 28 Parallel zu einer solchen Konzeption männlicher Häuslichkeit ist die These nach der Zuspitzung weiblicher Bildung zu hauswirtschaftlichen und erzieherischen Aufgaben in Haus und Ehe stärker zu hinterfragen, als dies bisher geschieht. Siegrid Westphal macht deutlich, dass in dieser Frage die fehlende Kontexutalisierung von Forschungen zu solchen Phasen des Wandels und der Transformation ganz wesentlich den Blick für deutlich größere Heterogenität und das fortwirken bestimmter Traditionen verstellen können. Indem sie Frage nach der Beschränkung von Mädchen- und Frauenbildung im 26

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Vgl. etwa Herminghouse, Patricia (Hg.): Gender and Germanness. Cultural productions of nation, Providence 1997 und Westphal, Siegrid: Frauenzimmerlexika der Frühen Neuzeit als nationaler Mythosentwurf, in: Georg Schmidt (Hg.): Die deutsche Nation im frühneuzeitlichen Europa. Politische Ordnung und kulturelle Identität?, München, im Erscheinen. Vgl. dazu jüngst Hien, Markus: Zwischen Aktion und Reaktion. Grenzen und Möglichkeitender Bevölkerungspolitik im 18. Jahrhundert am Beispiel der Ansiedlung und Niederlassung aktiver und ehemaliger Soldaten, in: Militär und Gesellschaft 12 (2008), S. 89-95. Vgl. zu diesem Themenbereich Kroll, Stefan: Soldaten im 18. Jahrhundert zwischen Friedensalltag und Kriegserfahrung. Lebenswelten und Kultur in der kursächsischen Armee, Paderborn 2006.

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späten 18. Jahrhundert aus der Entwicklung seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts aufrollt, zeigt sie, dass diese Entwicklung eine unter mehreren darstellt. Denn die auf Häuslichkeit zielenden Bildungskonzepte sind allesamt theoretischen Konzepten zur staatlichen Mädchenbildung entnommen. Die nach wie vor aber ebenso wichtige Form der nicht-institutionalisierten Formen von Bildung zeigen, dass auch das Ideal der (selbst)gebildeten und gelehrten Frau durchaus zum Nutzen und Wohle der Nation verstanden wurde. Die intensive Einbindung des Bildungsdiskurses in eine auf Ehe perspektivierte Lebensführung wirft die Frage auf, inwiefern die Ehe denn als prägendes Leitbild fungiert hat bzw. fungiert haben könnte. Die Forschungen zu spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Paarbeziehungen, Lebensentwürfen und –verläufen hat gezeigt, dass der Polarisierung zwischen Ehe und Zölibat als den beiden legitimen Lebensformen eine Vielfalt von Zwischenformen gegenüberstand. Michaela Hohkamp weist darauf hin, dass neben der unfreiwillige Ehelosigkeit durch fehlende Heirats- bzw. Erwerbschancen ebenso große eine Vielfalt an „eheänhlichen“ Lebensgemeinschaften bestand, die gemeinsam wirtschafteten und Kinder aufzogen, ohne jedoch offiziell verheiratet zu sein – seien es mittellose Tagelöhner, Soldaten oder morganatische Beziehungen im Adel. Bereits in der Studie von Evelyne Luef taucht auch die Selbstverständlichkeit auf, mit der ein unverheiratetes Paar zusammenleben konnte bzw. ein verheiratetes Paar sich auch eigenmächtig trennte – akzeptiert von der weltlichen Obrigkeit, die keinen Anlass sieht, die zuständige geistliche Obrigkeit zu behelligen. Dieser Vielfalt von Paarbeziehungen und Lebensgemeinschaften, denen man immer noch unterstellen kann, sich an einem kulturellen Leitbild von „Ehe“ als sozialer Institution zu orientieren – wenn auch mitunter ohne die Implikationen einer rechtlichen Fixierung – entwickelten sich um 1800 herum aber auch neue Lebensentwürfe jenseits einer durch die normativen Vorgaben der Ehe geregelten Existenzberechtigung. Andrea Albrecht diskutiert am Beispiel des literarischen Werkes von Therese Huber, wie weit sich Literatur als ein gedankliches Experimentierfeld erweisen konnte, um die oftmals real existierenden Lebensbedingungen insbesondere unverheirateter Frauen denkbar und diskutierbar werden zu lassen. Auch hier zeigen sich die graduellen Unterschiede zwischen der ‚alten Jungfer‘, der Gouvernante und einer selbstbestimmt lebenden Frau in sehr vielfältiger und schillernder Weise, die zugleich durch eine große Ergebnisoffenheit solcher pluraler (weiblicher) Lebensentwürfe gekennzeichnet sind – und damit auch die Frage, welche Sinnstruktur – oder zeitgenössisch: ‚natürliche Bestimmung‘ – man dem eigenen Leben neben der der Reproduktion und Ehelichkeit geben könnte.

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Die Funktion der Literatur als Experimentierfeld neuer Denkmodelle wie bei David Hill und Andrea Albrecht einerseits und als Feld der Selbstdarstellung, Repräsention und Inszenierung wie in den Studien von Fridrun Freise und Iris Carstensen andererseits bringt ein Kernproblem auf den Tisch, mit dem sich die Forschungen zum Wandel der ehelichen/familiären/häuslichen Leitbilder seit langem trägt: die ständische und gesellschaftliche Verortung dieses Wandels. Die starke Fokussierung auf die Literatur als Reflexionsmedium des gehobenen Bürgertums hat den Blick darauf verstellt, dass sich auch in den anderen Ständen und sozialen Schichten ein ganz erheblicher Wandel vollzog. So kann Iris Carstensen mit ihrem close reading der Tagebuchaufzeichnungen eines Adeligen anhand seiner Auseinandersetzung mit seinen vielfältigen Aufgabenbereichen zeigen, dass der Einfluss aufklärerischer Diskurse im Hinblick auf Eheleben und Elternschaft auch im Adel ganz erheblich spürbar ist – und zu einer spezifischen produktiven Spannung zwischen herrschaftlichem Hausvater mit dynastischen Interessen und liebendem Familienvater mit individueller Lebensführung führt. Alice Velkova und Josef Grulich belegen anhand ihrer Untersuchungen zu den familiären Strategien im Hinblick auf die Vererbung von Besitz und Eigentum sowie auf Heirat und Netzwerkbildung, dass sich in den ländlichen Siedlungen Böhmens die Strukturen eines festen, an Haus und Hof gebundenen Besitzes erst im Laufe des 18. Jahrhunderts herausbildete – und damit die Voraussetzungen für die soziale Institution ‚Haus‘ recht eigentlich erst geschaffen wurden. Hier von einer ‚verspäteten‘ Entwicklung auszugehen wäre jedoch verfehlt, denn die Veränderungen im Erb- und Eherecht sowie die Pluralisierung von Erwerbsmöglichkeiten in den Städten führten zu einer Dynamisierung der ökonomischen Strategien, die nicht länger an ‚Haus und Hof‘ gebunden bleiben, sondern in einem komplexen verwandtschaftlichen System bei steigender Weitergabe von Geldwerten stattfand. Dieser Entwicklung hatte ihrerseits wiederum ganz entscheidende Auswirkungen auf die Heiratschancen und Partnerwahl der nachgeborenen Geschwister, die ihrerseits zunehmend stärker die emotionale Gestimmtheit mit dem Partner betonten als die nach wie vor sehr wichtige Gestimmtheit des ökonomischen Familieninteresses. Die hier kurz skizzierten Bereiche, in denen die hier vorliegenden Studien mit neuen Akzenten beitragen, stellen selbstverständlich nur einen kleinen, ausgewählten Ausschnitt dar – viele weitere Aspekte wie etwa die Offenheit der Geschlechtermodelle um 1800, die zunehmend unter emotionalen Beziehungskategorien geleitete Wahrnehmung häuslichen und familiären Leben, ökonomische Strategien und Eigentumsfragen wären anzusprechen. Sie zeigen aber sehr deutlich, dass die Forschungsgroßkonzepte von ‚Ehe‘, ‚Haus‘ und ‚Familie‘ vor dem Hintergrund dieser „Epochenimagination“ um 1800 noch einmal überdacht werden müssen.

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So verweisen die Beiträge von Michaela Hohkamp, Evelyne Luef und Andrea Albrecht darauf, dass es einer intensiveren Auseinandersetzung darüber bedarf, dass sich das Verständnis von Ehe nicht erst mit den aufklärerischen Ideen zu wandeln beginnt. Vielmehr bedarf es – um diesen Wandel greifbar zu machen, einer intensiveren Beschäftigung mit dem Ehebegriff der Frühen Neuzeit. Wie schon Antje Flüchter gezeigt hat 29 und Michaela Hohkamp abermals betont, wurde dem rechtlichen Status ein so großer Stellenwert beigemessen, dass die Frage danach, was als ‚Ehe‘ wahrgenommen wurde in den Hintergrund rückte. Dabei spielte gerade der lebensweltliche Erfahrungshorizont in den sozialen Regulierungsmechanismen eine ganz entscheidende Rolle. Solche Ehekulturen, die durchaus in Kontrast zu obrigkeitlichen, normativen Vorgaben stehen konnten, sind bisher kaum auf die methodische Ebene der Forschung gelangt. Noch deutlicher zeigt sich der Bedarf einer Nachjustierung im Hinblick auf das ‚Haus‘. Die berechtigte und vielfältige Kritik an Brunners Konzept des ‚ganzen Hauses‘ hat bisher nicht zu einer theoretisch-methodischen Neukonzeption geführt, vielmehr wird der Begriff eher gemieden oder in viele „Gänsefüßchen“ gesetzt. Als politische Institution war das ‚Haus‘ solange wirksam, als die Zuordnung höchst unterschiedlicher sozialer Beziehungen zu einem ‚Hausvater‘ mit beträchtlichen Konsequenzen für den Rechtsstatus der einzelnen Personen verbunden war. Diese rechtliche Grundlage änderte sich mit der zunehmenden Bedeutung des kodifizierten Rechts, aber als soziale Institution büßte das ‚Haus‘ keineswegs an Bedeutung ein. Nach wie vor lebten Personen in einem Haushalt, die in ganz unterschiedlicher Beziehung zum Haushaltsvorstand standen, für die der ‚Hausvater‘ zumindest die soziale und sittliche Verantwortung trug. So verweist Nacim Ghanbari darauf, dass das ‚Haus‘ als soziales Modell gerade in der wilhelminischen Literatur ausgesprochen präsent ist – und damit eine Wirkung weit jenseits des von Riehl und Brunner gedachten Zeitraumes entfaltet. Ganz ähnlich ist das ‚Revival‘ des Hausvaters im baltischen Raum zu beurteilen, wie Ulrike Plath deutlich machen kann. Aber auch im Hinblick auf die Politik und Gesellschaft ist die fortdauernde Wirkmächtigkeit der sozialen Institution ‚Haus‘ schon früh fassbar, wenn etwa Lothar Gall in Anlehnung an Hannah Arendt den Denkrahmen des Frühliberalismus als einer ‚Hausvätergesellschaft‘ be-

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Flüchter, Antje: Der Zölibat zwischen Devianz und Norm: Kirchenpolitik und Gemeindealltag in den Herzogtümern Jülich und Berg im 16. und 17. Jahrhundert, Köln 2006. Vgl. auch die ungedruckte Habilitationsschrift von Michael Sikora: „Mausdreck mit Pfeffer“. Das Problem der ungleichen Heiraten im deutschen Hochadel der Frühen Neuzeit, Münster 2004.

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zeichnet. 30 Die Ergebnisse der Studien zu Böhmen und zum Baltikum machen einmal mehr deutlich, dass das ‚Haus‘ als Forschungskonzept ein neues Profil braucht, dass regionale und epochale Charakteristika ebenso berücksichtigt wie die vielfältigen Facetten des ‚Haues‘ Quellen jenseits der ‚Hausväterliteratur‘. Ausgehend von diesen Beobachtungen muss demnach auch das Konzept ‚Familie‘ aus neuen Perspektiven gedacht werden. Abgesehen von dem bereits angesprochenen Fehlen einer begriffsgeschichtlichen Untersuchung zu Haus/domus/oikos und Familie/familia steht die Frage nach dem Verhältnis der beiden Begriffe und Konzepte nach wie vor im Raum. Neben der Kernfamilie spielt die weitere Familie im Sinne der Verwandtschaft und Schwägerschaft gerade für die ökonomischen Interessen jeden ‚Hauses‘ eine ganz entscheidende Rolle, wie Alice Velkovà, Josef Grulich, Iris Carstensen und Michaela Hohkamp aus ganz unterschiedlichen ständischen Blickpunkten deutlich machen. Sie unterfüttern damit die Ergebnisse von Studien zu ländlichen und adeligen Häusern und Familien und den je spezifischen Entwicklungen im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert. 31 Während also auch hier die rechtlichen Entwicklungen die politische Institution ‚Familie‘ – in dem Sinne, dass hier weitreichende Abhängigkeiten im Hinblick auf gesellschaftliche und politische Teilhabe definiert werden -, immer stärker auf die einer Ehe entsprossenen Kinder fokussiert, kann diese „Reduktion“ im Hinblick auf die soziale Institution ‚Familie‘ als eines weit gespannten Netzwerkes zur Wahrung eines ‚Familieninteresses‘ kaum gesprochen werden. An diesen Beispielen wird deutlich, dass die großen master narratives des Übergangs vom ‚Haus‘ zur ‚Familie‘ umso mehr an Tragfähigkeit verlieren, je mehr man sich von den literarischen Inszenierungen des Bürgertums entfernt. Zu jedem der angesprochenen Punkte tragen die Aufsätze aus ihrer jeweiligen Perspektive bei. Zwei Grundtendenzen, die ihnen gemeinsam sind, sollen hier noch einmal zusamengefasst werden: 30

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Gall, Lothar: Liberalismus und „Bürgerliche Gesellschaft“. Zu Charakter und Entwicklung des Liberalismus in Deutschland, in: Historische Zeitschrift 220 (1975), S. 324-356. Neben den bereits erwähnten mikrohistorischen Studien zu ländlichen Gesellschaften von Medick, Schlumbohm und Sabean vgl. für den Adel Reif, Heinz: Westfälischer Adel 1770 – 1860. Vom Herrschaftsstand zur regionalen Elite, Göttingen 1979; Matzerath, Josef: Adelsprobe an der Moderne. Sächsischer Adel 1763 bis 1866. Entkonkretisierung einer traditionalen Sozialformation, Stuttgart 2006; Weckenbrock, Olga: „... der Universität wegen und nicht des Hofes“: Die Wahrnehmung der sozialen Umwelt von Vater und Sohn von Vincke in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Düselder, Heike (Hg.): Adel und Umwelt. Horizonte adeliger Existenz in der Frühen Neuzeit, Köln 2008, S. 313-338.

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Zum einen lässt sich zeigen, dass die Jahrzehnte um 1800 eine große Dynamik in allen gesellschaftlichen und kulturellen Bereichen in sich tragen, die großes Neuerungspotenzial in sich tragen. Dieses Potenzial ist keineswegs bereits so eingegrenzt, wie es die Rückschau aus dem späten 19. und 20. Jahrhundert erscheinen lassen mag. Die Vielfalt an Denkmodellen, die Konsequenz, mit der sie zu Ende oder auch nur angedacht werden, sie lassen diese Zeit gerade im Hinblick auf Verständnis, Ausgestaltung und Repräsentation von Ehe, Haus und Familie als eine eigene Zeit mit einer eigenen „Epochenimagination“ erscheinen. Zum anderen aber ist der Versuch, diese „Epochenimagination“ definieren zu wollen, in Abgrenzung zum Herkommen wie auch zum Entstehenden, ein Sisyphos-Unterfangen. Denn je näher man von den master narratives an die lebensweltlichen Zusammenhänge der Akteure in der alltäglichen Praxis, in der Auseinandersetzung mit Obrigkeiten und sozialer Umwelt und in ihrer permanenten Herstellung von Sinnhaftigkeit ihres Daseins im Spiegel der gültigen Normen heranzoomt, umso klarer tritt hervor, dass die Forschungskonzepte weder auf das ‚Davor‘ noch auf das ‚Danach‘ so richtig passen, aber auch nicht einfach beiseite geschoben und durch andere ersetzt werden können. Eine mühsame, aber notwendige Arbeit der Neubestimmung der drei hier zur Debatte stehenden Aspekte von häuslich-familiärem Leben steht aus – und in diesem Sinne versteht sich dieser Band nicht als ein in sich geschlossenes Werk mit einem kohärenten Ansatz, vielmehr soll die Heterogenität der Perspektiven, Ebenen, Methoden und Ansätze, mit der die Beiträge um die Kernbereiche kreisen, neue Fragehorizonte eröffnen und zum Nachdenken über dasVerständnis und das Verhältnis von Ehe, Haus und Familie nicht nur in den Jahrzehnten um 1800 einladen.

MICHAELA HOHKAMP

Wer ist mit wem, warum und wie verheiratet? Überlegungen zu Ehe, Haus und Familie als gesellschaftliche Schlüsselbeziehungen am Beginn des 19. Jahrhunderts – samt einem Beispiel aus der Feder eines Mörders

Als Fanny Lewald, die Tochter eines Kaufmanns in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts ein ihr angetragenes Heiratsprojekt zurückwies, begründete sie dies damit, sie sei für eine Ehe nicht erzogen worden. Was dieser jungen Frau speziell als gelungene Vorbereitung auf eine Ehe vorgeschwebt haben mag, lässt sich nicht sicher sagen. Von diesem Einzelfall abgesehen, tritt uns hier aber ein Zusammenhang zwischen Erziehung einerseits und der Bereitschaft zur Eheschließung bzw. der Fähigkeit, eine Ehe zu führen andererseits entgegen, wie wir ihn für andere kulturelle und historische Kontexte, in denen Ehen zwischen Männern und Frauen als grundlegende gesellschaftliche Institutionen angesehen werden und wurden, nicht so ohne weiteres annehmen dürfen. Sicher – die neueren Forschungen zu Ehe bzw. Ehelosigkeit in frühneuzeitlichen europäischen Gesellschaften zwischen dem 15. und dem 19. Jahrhundert haben gezeigt, dass ein Leben außerhalb der Institution Ehe, sei es nun freiwillig oder unfreiwillig, durchaus kein gesellschaftliches Kuriosum war: Angefangen bei spätmittelalterlichen Geistlichen und Gelehrten, denen wegen der christlichen Repräsentationen über ein gelungenes irdisches Dasein der Zölibat als „überlegene und erstrebenswertere ... Lebensform“ 1 galt, weiter über Frauen, die teils ganz bewusst sich in Klöstern bietende Bildungschancen nutzten, wenn sie die Verbindung mit Gott über die weltliche Ehe stellten, bis hin zu finanziell und rechtlich mitunter sehr gut gestellten Kurtisanen an der Schwelle zum 16. Jahrhundert, lassen sich im frühneuzeitlichen Europa zahlreiche Männer und Frauen ausmachen, die dem Ehestande nicht beitraten. Aber nicht nur gelehrte oder religiöse Frauen und Männer führten ein Leben außerhalb der Institution Ehe. Auch Angehörige weltlicher Stände wie z.B. nachgeborene Söhne und Töchter adeliger Familien lebten in Ehelosigkeit, die nicht unbedingt immer ungewollt gewesen sein muss. Gab es doch durchaus Söhne und Töchter oder Witwen und Witwer, die Heiratsprojekten von Eltern bzw. Verwandten aktiv Widerstand entgegen setzten. Wenn von Ehe bzw. Ehelosigkeit die Rede ist, sind jedoch nicht nur adelige, 1

Ulbrich, Claudia: Art. Ehe, in: EdN Bd. 3, Stuttgart 2006, Sp. 38-44, 38.

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Michaela Hohkamp

städtische oder religiöse Lebenswelten zu bedenken. Zu reden ist auch von zahlreichen Frauen und Männern landarmer bäuerlicher Bevölkerungen, die ihre Haushalte häufig genug ein Leben lang gemeinsam führten, ohne kirchlich getraut worden zu sein. Diese trotz ihrer Unvollständigkeit doch recht beachtliche Liste von Beispielen zu Lebensformen außerhalb der Institution Ehe zeigt, dass wir im frühneuzeitlichen Europa viele verschiedene Lebenswege und Lebensstile ausmachen können, in denen entweder weltliche Ehen oder Paarbeziehungen überhaupt keine Rolle spielten, oder Formen des gemeinsamen Lebens praktiziert wurden, die nicht unter die formale Definition „Ehe“ zu subsumieren sind, obwohl sie dieser sozialen Beziehung sehr nahe kommen konnten. 2 Trotz dieses Befundes wird man jedoch davon ausgehen müssen, dass die Ehe im vormodernen Europa – und dies keineswegs nur bei Christen – ein höchst erfolgreiches Konzept war. Haben wir es bei den oben aufgezählten Fällen von Ehelosigkeit doch mit Beziehungen zu tun, deren Entwürfe sich, wenn auch in unterschiedlichem Maße und in ganz verschiedener Art, letztendlich doch auf die Institution Ehe bezogen – und sei es in ablehnender Weise. Wird zudem berücksichtigt, dass die Mehrzahl der zwischen dem 15. und dem 19. Jahrhundert in Europa lebenden Frauen und Männer eine Ehe oder zumindest eine eheähnliche Beziehung eingegangen sind, 3 dann ist trotz der eingangs geschilderten Beobachtungen davon zu sprechen, dass die Ehe – und mit ihr das Haus, Familie und Verwandtschaft – zur kulturellen Grundausstattung europäischer Gesellschaften gerechnet werden können: Es sind Schlüsselbeziehungen. 2

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Das Konzept „amicitia“ bzw. Freundschaft z.B., das im 18. Jahrhundert wahlweise als Ergänzung oder als Gegenkonzept zur zweigeschlechtlichen Liebesehe verstanden werden konnte, das aber auch politisch, sozial oder emotional wichtige Beziehungen – etwa zwischen Lehrern und ihren Schülern – bezeichnen konnte, sei hier nur als ein Beispiel unter anderen genannt. Zu Ehe, Liebe und Freundschaft siehe Schnegg, Brigitte: Gleichgestimmte Seelen. Empfindsame Inszenierung und intellektueller Wettstreit von Männern und Frauen in der Freundschaftskultur der Aufklärung, in: Werkstatt Geschichte 28 (2001), S. 23-42. Wobei vor allem die Beziehungen zwischen Männern der Kriminalisierung unterlagen, vgl. Puff, Helmut: Sodomy in Reformation Gernany and Switzerland, University of Chicago Press, 2003. Wie sehr sich europäische Gesellschaften auf Eheschließungen als Leitmodell fokussiert haben, lässt sich daran ablesen, dass Unverheiratete häufig mit negativen Urteilen über ihre Leben zu rechnen hatten. Bis heute besonders geläufig ist die Figur der unverheirateten Tante, die in der Figur der „alten Jungfer“, der ledig gebliebenen Verwandten, die wegen mangelnder wirtschaftlicher Eigenständigkeit im Haushalt ihrer Brüder oder Schwestern mit „durchgezogen“ werden musste, allgemein bekannt ist, siehe Budde, Gunilla: Das Geschlecht der Geschichte, in: Welskopp, Thomas/ Mergel, Thomas (Hg.): Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebatte, München 1997, S. 125-150, hier S. 132. Zu ledigen Männern und Frauen siehe Kuhn, Bärbel: Familienstand: ledig. Ehelose Frauen und Männer im Bürgertum (1850-1914), Köln 2000.

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Forschungslinien und Forschungslandschaften Seitdem die historischen, sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschungen Ehe, Haus und Familie als Untersuchungsgegenstand betrachten, hat sich um diese Schlüsselbeziehungen ein schier unübersehbares Forschungsfeld konstituiert, das in seiner empirischen Vielfalt kaum noch zu übersehen ist. Im Lauf der folgenden Betrachtungen sollen deshalb nur solche Forschungslinien vorgestellt werden, die ganze Forschungslandschaften konturiert haben. Hinsichtlich der Forschungen über Ehe ist vor allem festzuhalten, dass diese Institution über lange Jahre schwerpunktmäßig aus einer Perspektive untersucht worden ist, die normativ-rechtliche Fragen in den Vordergrund gerückt hat. 4 In den letzten Jahren lässt sich hier allerdings eine Verschiebung hin zu kulturwissenschaftlichen Problemstellungen bemerken, etwa wenn nach Machtverhältnissen und Handlungsoptionen im Kontext von Eheschließungen gefragt wird. Auf die facettenreiche Vielfalt der verschiedenen Forschungsschwerpunkte in diesem Bereich soll hier nicht weiter eingegangen werden (vgl. hierzu die Einleitung in diesem Band). Festzuhalten ist aber, dass sich im Laufe der Jahre eine Trennungslinie entwickelte zwischen Untersuchungen, die auf normativen Texten aufbauen, und solchen Studien, die auf gerichtlichen Quellenmaterialien basieren. Dieser Unterschied hatte zwei wichtige Konsequenzen für die gesamte Forschungslandschaft. Während in den erstgenannten Forschungen Bezüge, die über die Ehe, über die Familie und über das Haus hinaus wiesen, eher in den Hintergrund traten, umfassendere Beziehungsnetze deshalb von nachgeordneter Bedeutung zu sein schienen, konnten lokal verortete und auf die konkrete Beziehungspraxis ausgerichtete Untersuchungen gerade zeigen, dass Beziehungen wie Ehe, Haus und Familie vom übrigen Sozialgefüge nicht zu trennen waren; 5 darüber hinaus entzog sich normativ-rechtlich ausgerichteten Forschungen der nicht selten gewalttätige Beziehungsalltag wie er in mikrohistorischen bzw. sozialanthropologischen Studien zur Frühen Neuzeit deutlich zu Tage trat. 6 Dieser generelle und über einen langen Zeitraum hinweg zu beobachtende forschungspraktisch relevante Unterschied machte sich in historischen und kulturgeschichtlichen Arbeiten zum „Haus“ besonders bemerkbar. Das Konzept des frühneuzeitlichen Hauses ist kulturwissenschaftlich arbeitenden 4 5

6

Siehe Ulbrich: Art. Ehe, Sp. 43. Sabean, David Warren: Property, Production, and Familiy in Neckarhausen, 17001870, Cambridge 1990. Und ders.: Kinship in Neckarhausen, 1700-1870, Kinship 1998. Vgl. Hohkamp, Michaela: Häusliche Gewalt: Beispiele aus einer ländlichen Region des mittleren Schwarzwaldes, in: Lüdtke, Alf/ Lindenberger, Thomas (Hg.): Physische Gewalt. Studien zur Geschichte der Neuzeit. Frankfurt/M. 1995, S. 276-302. Vgl. Griesebner, Andrea: Konkurrierende Wahrheiten. Malefizprozesse vor dem Landgericht Perchtoldsdorf im 18. Jahrhundert, Wien 2000.

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Wissenschaftler/innen vor allem vertraut durch die Diskussion um seine Brauchbarkeit als heuristisches Konzept. Zum ersten mal explizit von dem sozialkonservativen W. H. Riehl (1823-1897) formuliert, später dann von dem autoritär eingestellten Historiker Otto Brunner unter dem Label „Ganzes Haus“ neu konzeptualisiert, hat das „Haus“ seit den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts die wissenschaftlichen Diskussionen um die Charakteristika frühneuzeitlicher Lebenswelten und damit auch um kulturgeschichtlich zu bestimmende Epochengrenzen immer wieder belebt. Seitdem nun vor allem in den achtziger und neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts aus lokal- und geschlechtergeschichtlich angelegten Studien sehr gute Argumente gegen ein all zu hermetisches Verständnis von „Haus“ im Sinne Brunners erarbeitet worden sind, 7 beginnt das „Haus“ und mit ihm die Diskussion um seine mögliche Neukonzeptualisierung – nun aber in Verbindung und Überlappung mit anderen Konzepten wie Ehe, Familie und Verwandtschaft – in die historischen Debatten zurückzukehren. 8 Die verschiedenen Positionen und Entwicklungen dieser Diskussion sind an dieser Stelle nicht auszuführen. Für die folgenden Überlegungen genügt es festzuhalten, dass einer der wesentlichen Punkte in der Diskussion um dieses Konzept „Haus“ in der Frage nach seiner Offenheit und seinen Rändern bzw. Grenzen bestand und noch immer besteht. Auf der historisch-empirischen Ebene ging und geht es dabei schwerpunktmäßig darum, wie dieses Haus nach außen und nach Innen abzugrenzen ist, welche Personen – Verwandte, Nachbarn, Gesinde, Freunde – diesem sozialen, politischen und wirtschaftlichen Gefüge „Haus“ zuzuordnen sind und welche Funktionen ihm im Alltag zukamen bzw. zukommen sollten. Forschungsgeschichtlich stehen „Haus“ und „Familie“ dabei in einem bemerkenswerten Zusammenhang. In dem Maße nämlich, wie die historischen Wissenschaften seit dem 19. Jahrhundert das „Haus“ zum Vorgänger7

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Zum Konzept vgl. Gestrich, Andreas: Art. Haus, in: EdN, Bd. 5, Stuttgart 2007, Sp. 216-218. Zum Konzept vgl. auch Blickle, Peter: Das alte Europa. Vom Hochmittelalter bis zur Moderne, München 2008. Zum Konzept des Hauses vgl. Ulbrich, Claudia: Shulamit und Margarete. Macht, Geschlecht und Religion in einer ländlichen Gesellschaft des 18. Jahrhundert, Wien 1999, S. 211-256. Vgl. z.B. Schmidt-Voges, Inken: Frieden und Ruhe im Haus. Überlegungen zur Ordnungsfunktion des Hauses um 1800 am Beispiel der Osnabrücker Gesindeordnungen 1766 und 1838, in: Osnabrücker Mitteilungen 111 (2006), S. 105-129; siehe auch Eibach, Joachim: Das Haus zwischen öffentlicher Zugänglichkeit und geschützter Privatheit (16.-18. Jahrhundert), in: Rau, Susanne/ Schwerhoff, Gerd (Hg.): Zwischen Gotteshaus und Taverne. Öffentliche Räume im Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Köln 2004, S. 183-205. Zu adeligen Häusern aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive vgl. Wunder, Heide: Dynastie, Geschlecht, Herrschaft. Frauen des hohen Adels in der Frühen Neuzeit, in: Baumbach, Gabriele/ Bischoff, Cordula (Hg.): Frau und Bildnis 1600-1750. Barocke Repräsentationsfigur an europäischen Fürstenhöfen, Kassel 2003, S. 15-37.

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modell der im 18. Jahrhundert sich durchsetzenden bürgerlichen Familie stilisierte, hat die Forschung sich auf die Kleinfamilie konzentriert, diese zur ultima ratio der westlichen Industriegesellschaften erklärt und verwandtschaftliche Bindungen, die sich nicht über Blutsverwandtschaft konstituierten, als nachgeordnete Beziehungen angesehen. Erst in neuerer Zeit erweitert sich dieser Fokus und umgreift jetzt weitere Beziehungsnetze. Im Gefolge solcher Untersuchungen ist die alte, aber langlebige These von der schwindenden Bedeutung verwandtschaftlicher, nachbarschaftlicher und freundschaftlicher Verbindungen im Verlaufe der neuzeitlichen europäischen Staatsbildung einer erfolgreichen Revision unterzogen worden. 9 Die emotionalisierte, auf Intimität ausgerichtete bürgerliche Familie mit ihren geschlechterspezifischen Rollenzuweisungen ist in der Forschung aber bis heute präsent 10 – inklusive der Vorstellung von der Ehe als einer auf Liebe basierenden zweigeschlechtlichen Beziehung – und dies ganz unabhängig von der Frage, ob es sich bei der Ehe um eine vertragliche Vereinbarung, oder um eine Institution handelte, die sich als göttliche Ordnung verstand. 11

9

10

11

Vgl. Sabean, David Warren/Teuscher, Simon: Kinship in Europe: A new Approach to Long-Term Development, in: dies. und Mathieu, Jon (Hg): Kinship in Europe. Approaches to Long-Term Development (1300-1900), New York 2007, S. 1-31. Zur Bedeutung von Verwandtschaft vgl. auch Lipp, Carola: Verwandtschaft – ein negiertes Element in der politischen Kultur des 19. Jahrhunderts, in: Historische Zeitschrift 283 (2006), S. 31-77. Im Umfeld, und mitunter auch in direkter Verbindung mit den kritischen Debatten über das Konzept „Haus“ haben sich Diskussionen um die Familie, und hier besonders um den Wandel der „Großfamilie“ ergeben. Ein Kernpunkt in dieser Debatte bestand in der Frage nach dem Verhältnis zwischen Emotionen und materiellen Interessen. Der inzwischen zu einiger Berühmtheit gelangte Satz „ich liebe die Frau mit den 100 Hektar Land“, hat diesem Kernproblem schon in den 1980er-Jahren kurz und prägnant Ausdruck verliehen Siehe hierzu: Medick, Hans/Sabean, David Warren: Emotionen und materielle Interessen in Familie und Verwandtschaft. Überlegungen zu neuen Wegen und Bereichen einer historischen und sozialanthropologischen Familienforschung, in: dies. (Hg.): Emotionen und materielle Interessen. Sozialanthropologische und historische Beiträge zur Familienforschung Göttingen 1984, S. 27-54. Siehe z.B. Daumas, Maurice: Le Mariage amoureux. Histoire du lien conjugal sous L´Ancien Régime, Paris 2004. Die zahlreichen Ehestreitigkeiten zwischen adeligen Paaren werden auch als Ausdruck einer Heiratspraxis gesehen, für die gegenseitige Zuneigung kaum Bedeutung gehabt hat, vgl. z.B. Marra, Stefanie: Allianzen des Adels. Dynastisches Handeln im Grafenhaus Bentheim im 16. und 17. Jahrhundert, Köln 2007. Zur rechtlichen bzw. religiösen Grundlegung von Ehen vgl. zusammenfassend Gestrich, Andreas: Art. Familie, in: EdN, Bd. 3, Stuttgart 2006, Sp. 790-809 und hier vor allem die umfassenden Literaturangaben. Vgl. auch Ulbrich: Art. Ehe.

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Forschungsperspektiven In dem Maße nun wie sich die historische Forschung der letzten Jahre kulturwissenschaftlichen Fragestellungen geöffnet hat, haben sich auch die forschungsleitenden Fragen verändert. Nicht mehr die Erforschung linearer und teleologisch gedachter Entwicklungslinien stehen im Vordergrund des Interesses, sondern komplexe Wandlungsprozesse mit all ihren Brüchen, Widersprüchen, Rückkoppelungen und Interferenzen. Auf konzeptueller Ebene geht es inzwischen nicht mehr um die Entwicklung kohärenter Modelle, sondern eher um Fragen nach Überlappungen, nach Schnittstellen, nach Kreuzungen, Transfers, nach Übersetzungen und Verflechtungen, nach Entgrenzungen und nach Überschreitungen. Für die Bereiche Ehe, Haus, Familie und Verwandtschaft ergeben sich hieraus neue Fragen, die vor allem die Kohärenz und Eindeutigkeit dieser historischen Faktoren betreffen. Denn was muss, kann und soll z.B. unter Ehe verstanden werden, wenn diese eben keine auf lange Dauer angelegten Beziehungen zwischen Männern und Frauen waren, wie es die normativen Vorgaben vorsahen. Wie ist und war ein ehelicher Alltag zu fassen, wenn Paare, die formal zwar verheiratet waren, ihr Leben faktisch aber gerade nicht gemeinsam zubrachten, wie dies etwa für viele Paare aus städtischen und ländlichen Bereichen zu beobachten ist, deren Erwerbsarbeit längere Trennungen nötig machten. Was bedeutete die Ehe für adelige Paare, die nicht nur zeitweise an verschiedenen Höfen lebten, sondern sich wegen der geschlechterspezifisch angeordneten Lebenswelten in Frauen- und Männerhöfe bzw. in die sogenannten Frauenzimmer und den männlich dominierten Haupthof nur höchst punktuell aufeinander bezogen. Nämlich etwa dann, wenn es sich um die Zeugung legitimer Nachkommen, um die Akkumulation von Gütern beispielsweise im Zuge von Eheschließungen, oder um die Weiter- bzw. Vergabe ebendieser Güter handelte. Was ist umgekehrt zu sagen über das jahrelange gemeinsame Zusammenleben von Paaren, die in grund- und leibherrlichen Abhängigkeiten lebten, wegen ihres rechtlichen Status oder ihrer ökonomischen Situation aber keine Erlaubnis zur Eheschließung erhielten, trotzdem eine Familie gründeten und – soweit möglich – einen eigenständigen Haushalt führten? 12 Und was ist zu sagen über Ehen von Adeligen, die zur linken Hand geschlossen wurden, während die „standesgemäße“ Gattin noch am Leben war? Wer war dann mit wem und wie verheiratet? Diese und ähnliche Fragen sind keineswegs als das Resultat kulturwissenschaftlicher Spitzfindigkeiten anzusehen, sondern sie betrafen grundsätzlich die Lebenswirklichkeiten (übrigens nicht weniger) historischer Akteure 12

Siehe z.B. Schlumbohm, Jürgen: Lebensläufe, Familien, Höfe. Die Bauern und Heuerleute des Osnabrückischen Kirchspiels Belm in proto-industrieller Zeit, 1650-1860, Göttingen 1994.

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und Akteurinnen. So musste sich z.B. Mitte des 16. Jahrhunderts die zweite Frau des hessischen Landgrafen Philipp des Großmütigen, Margarethe von der Saale mit dem Problem befassen, inwiefern und vor allem mit welchen rechtlichen Konsequenzen sie verheiratet war. Denn Philipp hatte die Hofdame seiner Gemahlin in Anwesenheit des Theologen Philipp Melanchthons (!) zwar geheiratet. Doch war ihr Status inklusive dem ihrer Kinder damit keineswegs eindeutig geklärt. Die Lage dieser Ehefrau zur linken Hand und ihrer Nachkommen gestaltete sich nicht zuletzt deshalb unübersichtlich, weil die erste Ehefrau des hessischen Landgrafen, die Fürstentochter Christine von Sachsen, zum Zeitpunkt der zweiten Eheschließung noch lebte. Die morganatische Ehe ihres Gatten wuchs sich deshalb in der Folgezeit zu einem reichsweiten Skandal aus in dessen Verlauf dem Fürsten gar Bigamie vorgeworfen wurde. Einem sehr ähnlichen Problem wie die beiden Gattinnen des hessischen Landgrafen sahen sich rund hundert Jahre später die Pfälzer Raugräfin Luise von Degenfeld und ihr Gegenpart, die hessische Landgrafentochter Charlotte ausgesetzt. Nachdem der Pfalzgraf bei Rhein, Karl I. Ludwig (1618-1680) sich in seiner Funktion als summus episcopus nämlich von seiner ersten standesgemäßen Gattin aus hessischem Hause selbst geschieden hatte, hatte er seine langjährige Mätresse Luise zur linken Hand geheiratet. 13 Diese zweite Ehefrau wurde zwar von den Verwandten des Fürsten sowie von der Mehrheit des reichsfürstlichen Adels akzeptiert. Doch bestritt die erste Gattin Zeit ihres Lebens rechtskräftig geschieden zu sein und verbrachte noch Jahre nach der zweiten Eheschließung ihres Gemahls am kurpfälzischen Hofe in nächster Nähe des neuen Paares. Mit Fragen nach Art und Qualität ihrer Paarbeziehung sahen sich aber nicht nur adelige Frauen konfrontiert. Wiederum hundert Jahre später hatte sich in der vorderösterreichischen Herrschaft Triberg z.B. auch eine blinde Bauerntochter, Clara Duffnerin ihr Name, damit zu befassen in welcher Hinsicht sie als verheiratet gelten konnte bzw. wollte, oder eben nicht. Hing von der Antwort auf diese Frage doch ganz wesentlich ab, ob sie gegenüber dem eigenen Bruder ihre Rechte auf Anteile an den Erträgen des elterlichen Hofes durchsetzen konnte. Formalrechtlich gesehen, war die Klägerin zwar ganz ohne Zweifel verheiratet. Aus einer Perspektive jedoch, die auch Aspekte einer moralischen Ökonomie berücksichtigte, befand sie sich eher in der Lage einer Unverheirateten. Denn der ihr angetraute Gatte hatte Clara verlas13

Siehe Knebel, Margarete: Liselottes Verwandte. Der weitverzweigte Stammbaum der Liselotte von der Pfalz, Weinheim 1995. Auch Schaab, Meinrad: Die Geschichte der Kurpfalz, 3 Bde., 1988-1992. Zu der Beziehung der Schwester des Pfälzer Kurfürsten zu dessen zweiter Frau vgl. Hohkamp, Michaela: Eine Tante für alle Fälle: TantenNichten-Beziehungen und ihre politische Bedeutung für die reichsfürstliche Gesellschaft der Frühen Neuzeit (16. bis 18. Jahrhundert), in: Lanzinger, Margareth/ Saurer, Edith (Hg.): Politiken der Verwandtschaft, Wien 2007, S. 149-171.

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sen, wollte auf absehbare Zeit nicht zu ihr zurückkehren und kam auch seinen ehelichen Pflichten zur Versorgung nicht nach. Folgerichtig versuchte die Verlassene sich aus ihrer existentiellen Notlage zu befreien, indem sie die ihr nach dem Tod der Eltern zugesprochenen Versorgungsleistungen reklamierte. Laut Erbvertrag sollte sie diese jedoch nur dann zu genießen haben, wenn sie unverheiratet war – eine Bedingung, die das lokale Gericht nötigte, die Frage zu klären ob bzw. inwiefern die verlassene Clara als verheiratet anzusehen war bzw. ob sie als blinde Frau überhaupt ein Recht auf eine Ehe gehabt hatte. 14 Diese drei hier in gebotener Kürze vorgestellten Beispiele lassen deutlich werden, dass die Beziehungsformationen Ehe, Haus, Familie und Verwandtschaft sich in den historischen Lebenswirklichkeiten von Frauen und Männern sehr unterschiedlich darstellten. Geschehnisse wie die um Clara Duffnerin zeigen, dass diese Beziehungskonzepte für die historischen Akteure und Akteurinnen nicht starr und statisch waren, sondern als gestaltbare Beziehungsformen angesehen wurden, die sie situationsbezogen formten und interpretierten. Der Erforschung von Ehe, Haus, Familie und Verwandtschaft aus einer Langzeitperspektive sind deshalb unbedingt akteursbezogene Untersuchungsperspektiven zur Seite zu stellen, die diese Beziehungen als dynamische Formationen untersuchen, als Beziehungsnetze, die sich nicht nur über historische Zeiten hinweg immer wieder neu formierten, sondern sich auch im Verlauf der Lebenszeiten konkreter historischer Akteur/inn/en veränderten, und die zudem immer wieder neu und sehr verschieden gelebt und gedeutet werden konnten. Die oben nur kurz angerissenen Beispiele illustrieren dies. Denn anders als der Pfälzer Kurfürst Karl I. Ludwig und seine zweite Gattin Luise von Degenfeld, betrachtete die erste fürstliche Gemahlin ihre Ehe z.B. nicht als aufgelöst. Sie sah sich nicht als geschiedene Frau, sondern behauptete ihre fürstliche Position vorerst, indem sie nach der zweiten Eheschließung ihres Gatten weiter am Heidelberger Hof verblieb. Erst nachdem aus dieser zweiten Ehe mehrere Kinder hervorgegangen waren, verließ sie in Begleitung ihrer Schwägerin Elisabeth die Kurpfälzer Residenz, kehrte an den elterlichen Hof in Kassel zurück, verblieb dort aber nur bis zum Tode ihres Gatten. Als ihr Sohn aus der Ehe mit Karl I. Ludwig die Herrschaft in der Pfalz angetreten hatte, verlegte sie ihren Wohnsitz wieder nach Heidelberg und residierte dort bis zu ihrem Ableben als Mutter des regierenden Kurfürsten mit eigenem Hofstaate. Solche Handlungs- und Interpretationsspielräume nutzte auch die sächsische Fürstentochter Christine für sich. Um ihre fürstliche Stellung nicht zu verlieren, akzeptierte sie ein Leben in einer 14

Zu diesem Fall im Detail vgl. Hohkamp, Michaela: „Im Gestrüpp der Kategorien: zum Gebrauch von „Geschlecht“ in der Frühen Neuzeit“, in: Griesebner, Andrea/ Lutter, Christina (Hg.): Die Macht der Kategorien Wien, 2002, S. 6-17.

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„menage à trois“, die laut den Vorgaben der peinlichen Halsgerichtsordnung Kaiser Karls V nicht nur unter Strafe stand, sondern darüber hinaus auch gegen religiöse Grundsätze verstieß. Nicht weniger flexibel als die beiden Fürstinnen des 16. und 17. Jahrhunderts zeigte sich die Bauerntochter Clara im 18. Jahrhundert. Anders als die Obrigkeiten es ihr nahe legten, beantragte sie nämlich die in ihrem Fall durchaus denkbare Trennung von Tisch und Bett nicht, sondern zog es vor, die Abwesenheit ihres Ehemannes als temporär begrenzte Situation zu verstehen. Um als verheiratete Frau in den Genuss der ihr vertraglich zugesicherten Naturalgaben zu gelangen, positionierte Clara sich – zumindest so lange wie der Ehemann außer Landes war – an der Schnittstelle zwischen Ehe, Haus, Familie und Verwandtschaft, d.h. sie interpretierte sich nicht nur als Ehefrau, sondern auch als Tochter und vor allem als Schwester und damit als Mitglied eines umfassenderen Verwandtenverbandes bzw. Haushaltes. Der Verortung innerhalb eines solchen Beziehungsgefüges konnte der Bruder nicht widersprechen. Wie das Protokoll vermerkte, gewährte der Verklagte seiner Schwester Clara aus „brüderlicher Liebe“ nun die im Erbvertrag zugesprochenen Gaben und sicherte ihr damit eine auskömmliche Existenz.

Interpretation(en) einer Ehe oder der Sieg der Feder Um die Vielfalt der Interpretationen und Handlungsspielräume von und in Beziehungsgefügen wie Ehe, Familie, Haus und Verwandtschaft historisch erforschen zu können, bedarf es geeigneten Quellenmaterials. Aussagen historischer Akteure und Akteurinnen über eheliche, familiäre, häusliche und verwandtschaftliche Beziehungen sind in Hinterlassenschaften gerichtlicher bzw. obrigkeitlicher Instanzen signifikant häufig zu finden. Wegen ihrer quantitativen und qualitativen Dichte sind sie für die historische Analyse und Interpretation besonders geeignet. Die folgenden Überlegungen zu unterschiedlichen möglichen Sehweisen verschiedener Personen auf ein und dieselbe Ehe sollen im folgenden daher auf der Basis eines Mordgeständnisses entwickelt werden. Der ausgewählte Quellentext datiert aus dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts und stammt aus der Feder eines etwa zwanzigjährigen Jünglings, der am 3. Juni 1835 seine Mutter, und zwei seiner Geschwister tötete. Sein Name: Pierre Rivière. Es ist jetzt fast vierzig Jahre her, dass Michel Foucault das „mémoire“ dieses jungen Mannes publiziert hat. Als Sohn der Eheleute Jean Rivière und Victoire Brion zu Beginn des Jahres 1815 geboren und aufgewachsen im ländlichen Calvados in der Basse-Normandie, zerhackte Pierre Rivière im späten Frühling des Jahres 1835 die Köpfe seiner schwangeren Mutter, seiner ältesten Schwester und seines jüngsten Bruders. Im Protokoll des Friedensrichters, der an den Tatort gerufen worden war, ist die Szene wie folgt beschrieben:

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„Wir betraten ein Haus im Erdgeschoß, das aus einem Zimmer bestand, im Norden hart an die Gemeindestraße von Aunay nach Saint Agnan grenzend, von Süden her erhellt durch ein Fenster und eine Tür, von Norden durch eine Glastür; hier fanden wir drei Leichname auf der Erde ausgestreckt liegen: 1. eine ungefähr vierzigjährige Frau, auf dem Rücken liegend vor dem Kamin, an dem sie im Augenblick ihrer Ermordung beschäftigt gewesen zu sein scheint mit der Zubereitung eines Breis, der sich noch in einer Kasserolle auf dem Herd befand. Die Frau trägt ihre Alltagskleidung, die Haare sind zersaust; ihr Hals und der hintere Teil des Schädels sind zerschnitten und zerhackt. 2. Ein Junge von sieben bis acht Jahren, bekleidet mit einer blauen Bluse, Hosen, Schuhen und Strümpfen, auf dem Bauche liegend und das Gesicht der Erde zugewandt; der Kopf ist von hinten sehr tief gespalten. 3. Ein Mädchen, bekleidet mit einem Kattungewand, Strümpfen, ohne Schuhe oder Pantoffeln, auf dem Rücken liegend, die Füße auf der Schwelle der Tür, die auf den Hof hinausführt, ihre Klöppelarbeit liegt auf ihrem Bauche, die Baumwollhaube zu ihren Füßen, und eine starke Handvoll Haare, die ihr offenbar bei dem Mord ausgerissen worden sind; die rechte Gesichtshälfte und der Hals sind sehr tief zerhackt. Es scheint, dass diese unglückliche junge Person an ihrer Spitze arbeitete, nahe bei der Glastür, die derjenigen gegenüber liegt, an der sie gestürzt ist, denn ihre Pantoffeln blieben am Fuß des Stuhls liegen, der dort steht.“ 15

Ein erschütterndes Bild. Erschütternd auch deswegen, weil die szenische Schilderung nicht einfach nur möglichst detailgetreu die Situation beim Auffinden der Toten wiedergibt, sondern weil sie zugleich eine häusliche Alltagsituation beschreibt: eine Brei kochende Mutter mit zweien ihrer Kinder im Hause, die Tochter mit Klöppelarbeit beschäftigt. Was uns in dem obrigkeitlichen Protokoll entgegentritt ist das Zerrbild einer familiären, einer häuslichen Idylle, wie sie an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert in zahlreichen Bildern, oder Schriftquellen dargestellt worden ist. Die Intimität der beschriebenen Szene ist gebrochen durch den gewaltsamen Tod, der das im obrigkeitlichen Akt des Beobachtens und Beschreibens erschaffene Bild häuslichen Alltags in eine groteske Pantomime der Gewalt zu verwandeln scheint. Wilde, real tötende Gewalt auf der einen Seite, und hinter der Gewalt liegend, durch sie hindurch scheinend, eine imaginierte familiäre Normalität auf der anderen Seite – das sind die beiden Pole, die diese Szene dominieren. Was die als „mémoire“ bezeichnete Schrift Pierre Rivières für unsere Zwecke so brauchbar macht, ist der Umstand, dass der gesamte Text ganz wesentlich aus einer kaum Atem schöpfenden langen Erzählung besteht, in der Pierre Rivière über die eheliche Beziehung seiner Eltern berichtet und dabei diese Ehe in ihrer Verflechtung mit den umgebenden familiären, häuslichen und verwandtschaftlichen Beziehungen beschreibt. Der Text gewährt uns deshalb nicht nur Einblicke in die von Pierre Rivière wahrgenommene, 15

Foucault, Michel: Der Fall Rivière. Materialien zum Verhältnis von Psychatrie und Strafjustiz, Frankfurt/M. 1975: Das Verbrechen und die Verhaftung, S. 17f.

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interpretierte und erzählte Lebenswelt. Durch seine Komposition, aber auch durch sein weites zeitliches, räumliches und personelles Ausgreifen erlaubt uns der Text darüber hinaus Einblicke in Vorstellungen über Ehe, Haus und Familie der Eltern Rivières, seiner Großeltern, der Nachbarn, der Gemeindemitglieder, der ortsansässigen Obrigkeiten: kurz der gesamten lokalen Gesellschaft inklusive der übergeordneten und weiter entfernt angesiedelten Instanzen. Das hier erneut gelesene „mémoire“ Pierre Rivières ist im Jahr 1975 zum ersten Mal in deutscher Sprache veröffentlicht worden. Zwei Jahre zuvor war es als Teil einer diskursanalytischen Studie in französischer Sprache publiziert worden. 16 In der deutschen Version umfasst der Text circa sechzig Seiten. Pierre hatte den Text in seiner Zelle verfasst, nachdem er in Haft genommen und von offizieller Seite aufgefordert worden war, die Motive für seine Tat zu erläutern. In dem ursprünglich herausgegebenen Sammelband ist dieser Text im Detail nicht analysiert worden. Um den bereits existierenden und sich kreuzenden Diskurssträngen, produziert vom Staatsanwalt, dem Friedensrichter, dem Präsidenten des Schwurgerichtes, dem Justizminister, dem Landarzt, den Dorfbewohnern, ihrem Bürgermeister und nicht zuletzt vom örtlichen Pfarrer, nicht noch einen weiteren Diskurs hinzuzufügen, verzichteten die Herausgeber auf solch ein Unternehmen ganz bewusst. 17 Wenn hier also der Versuch unternommen wird, das „mémoire“ Pierres für eine Annäherung an verschiedenste Sichten auf gesellschaftliche Schlüsselbeziehungen zu nutzen, wird neuer Gebrauch von einem alten Text gemacht. 18 Damit ist jedoch keineswegs die Absicht verbunden, die von Foucault und seinen Mitarbeiter/inn/en vor längerer Zeit vorgelegte Sammlung von Texten gewissermaßen im Nachhinein um realhistorische Reflexionen zu erweitern. Das Anliegen besteht vielmehr darin, auf Basis dieses, wenn nicht einzigartigen, so doch sehr dichten und außergewöhnlich facettenreichen Textes, verschiedene zeitgenössisch verfügbare Konzepte über Ehe, Haus und Familie 16

17 18

In den „Annales d´hygiène publique et de médecine légale“ ist die Schrift 1836 zuerst veröffentlicht worden, vgl. Peter, Jean Pierre/ Favret, Jeanne: Das Tier, der Wahnsinnige, der Tod, in: Foucault, Michel: (Hg.), Der Fall Rivière, S. 207-210, S. 219 und Einführung, ebda., S. 7ff. Foucault, Michel: Einführung, in: ders. (Hg.): Der Fall Rivière, S. 10. Das „mémoire“ selbst ist nur in einem der sieben wissenschaftlichen Beiträge thematisiert worden und zwar mit dem Ziel, die Tat selbst als Reaktion auf die elenden Lebensbedingungen weiter Teile der ländlichen Bevölkerungen im nachrevolutionären Frankreich zu verstehen, in dem zu dieser Zeit zahlreiche ähnliche Verbrechen registriert werden konnten. Die beiden Autoren dieses Beitrages, Peter und Favret, führen den Fall einer « Bauernmagd » an, die ihr Kind getötet haben sollte, die Geschichte der Frau eines Tagelöhners, die laut publiziertem Bericht die „Hungerschreie ihres einjährigen Kindes“ nicht mehr ertragen es deshalb getötet und hernach einen seiner Schenkel verzehrt hatte, vgl. Peter/ Favret, Das Tier, S. 212.

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in einer ländlichen Gesellschaft am Beginn des 19. Jahrhunderts exemplarisch herauszuarbeiten. Folgt man dem „mémoire“, so begann die Geschichte der Ehe von Pierre Rivières Eltern bereits im Vorfeld ihrer Heirat. Sie war geschlossen worden, um den Vater vor der Einberufung zum Militär zu schützen, die – es war das Jahr 1813 und die napoleonische Ära neigte sich dem Ende zu – unausweichlich zu sein schien. Um den zweiten ihrer drei Söhne vor dem Militärdienst zu bewahren, hatten, so Pierre Rivière, die Großeltern väterlicherseits – Jean Rivière und Marianne Cordel – die Ehe ihres zweiten Sohnes mit der an Alter und Besitz gleichrangigen Victoire Brion aus dem nahe gelegenen Nachbarort Courvedon eingefädelt. Aus lokaler Perspektive passte das Paar zueinander. Wie Pierre in seinem Text ausdrücklich vermerkte, favorisierten beide Großelternpaare die Verbindung deshalb zunächst uneingeschränkt. Erst kurz vor der Eheschließung erhoben die Eltern der Braut doch noch Einwände. 19 Die Brautleute hielten indessen an dem ursprünglichen Plan fest. Und so fand die Hochzeit statt. Folgt man Pierres Ausführungen, so war dieses Beharren aber keineswegs als Zeichen einer liebevollen Regung zu deuten, sondern vielmehr als trotziges Beharren gegenüber den eigenen Eltern, das wesentlich von der Mutter getragen wurde. Die Feder des Sohnes präsentiert dem Leser also gleich zu Beginn der Erzählung eine lieblose und trotzige Mutter, die er im weiteren Verlauf seines Textes denn auch für das Elend seines Vaters verantwortlich machen wird. Hinter, unter und jenseits dieser subjektiven Beschreibung ist indessen das zeitgenössisch übliche Modell einer Ehe zu erkennen, an dem üblicherweise tatsächlich nicht nur die Brautleute selbst, sondern auch andere Familiemitglieder bzw. Verwandte beteiligt waren – in unserem Falle die Geschwister der künftigen Eheleute und deren Eltern. Dieses Thema, ich möchte es hier das Motiv der „erweiterten Eheschließung“ nennen, zieht sich wie ein roter Faden durch das gesamte weitere „mémoire“. Es scheint auf, wenn Pierre davon erzählt, wie sehr die Eltern seiner Mutter mit der Frage befasst waren, welche Konsequenzen die Ehe für ihre Tochter materiell und emotional wohl haben würde, es begegnet uns wieder in der Erzählung Pierre Rivières über die Pläne seiner Großeltern väterlicherseits und deren Absicht, den Sohn durch die Heirat vor dem drohenden Militärdienst zu bewahren und klar und eindeutig tritt uns diese „erweiterte Eheschließung“ auch in denjenigen Passagen des mémoire entgegen, in denen über die Bedingungen des Ehevertrages berichtet wird, den die Eltern Pierre Rivières vor ihrer standesamtlichen und vor ihrer kirchlichen Hochzeit schlossen. Das Generationen übergreifende und viele verschiedene Personen einschließende Modell einer Ehe wird hier auch rechtlich und besitzstrate19

Ebd., S. 65.

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gisch greifbar. In dem Vertrag wurde nämlich festgehalten, dass das von beiden Ehepartnern eingebrachte Mobiliar nach der Heirat als gemeinsames Gut zu behandeln wäre. Für die während der Ehe eingebrachten Güter wurde eine Zugewinngemeinschaft vereinbart. Starb einer der Gatten, und sollten bis zu diesem Zeitpunkt aus der Ehe keine Kinder hervorgegangen sein, sollte der überlebende Teil den ehelichen Besitz erben. Existierten dagegen leibliche Nachkommen, waren die Güter zwischen den Kindern und dem zurückbleibenden Elternteil hälftig aufzuteilen. Berücksichtigt man nur diese Vereinbarungen, dann stellte die Ehe mit Victoire Brion für Pierres Vater ein lukratives Geschäft dar. Denn das vom Vater Pierres eingebrachte materielle Gut belief sich auf 100 Francs, während sich das der Mutter, bestehend aus Wäsche, Kleidern, einem verschließbaren Schrank, einem Bett, Leinentüchern und anderen nicht näher spezifizierten Haushaltsgegenständen, auf einen geschätzten Gesamtwert von ca. 400 Francs belief. Diesem Ungleichgewicht gegenüber stand das ebenfalls nur ungleich zugewiesene Recht auf Trennung. Denn das Recht zur Auflösung der ehelichen Gemeinschaft wurde der zukünftige Ehegattin zugesprochen. Ihr in die Ehe eingebrachtes Gut sollte sie im Falle einer Trennung nicht verlieren. 20 Was uns in dem Text Pierre Rivières entgegen tritt, ist also nicht eine Ehe in der die Mutter den Vater eindeutig dominierte, sondern eine eheliche Beziehung, die von Anbeginn an auf der ungleichen Zuteilung von Gütern und Rechten basierte, und die darüber hinaus nicht nur die Brautleute selbst betraf, sondern einen ganzen Verwandtschaftsverband. Denn nicht nur die Eheleute selbst und ihre erwarteten Nachkommen, also die nächst folgende Generation, spielten bei den ehelichen Vereinbarungen zwischen den Eltern Pierre Rivières eine Rolle. Auch Mitglieder der vorangegangenen Generation, hier die Eltern der Ehefrau, waren über die üblichen Mitgiftzahlungen an den ökonomischen und damit auch emotionalen Angelegenheiten des jungen Paares beteiligt. Laut Ehevertrag bestand die Mitgift der Braut nämlich zu einem beträchtlichen Teil in unbeweglichen Gütern, die sie dereinst erst von den Eltern zu erben haben würde. Damit war der Gütertransfer von einer Generation auf die nächste gekoppelt an eine Eheschließung in der nachfolgenden Generation. Die hiermit schon verbundene widersprüchliche Interessenkonstellation verkomplizierte sich noch durch eine Vereinbarung im Ehevertrag, wonach der Ehemann die erfolgreiche Verwaltung der ehelichen Güter, d.h. ihre gewinnbringende Bewirtschaftung zu gewährleisten hatte. Als Gegenleistung für seine Arbeit erhielt er das Verfügungsrecht über den von ihm bearbeiteten Bodenbesitz.

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Zu Eheverträgen vgl. Lanziner, Margareth u.a. (Hg.): Aushandeln von Ehe. Heiratsverträge der Neuzeit im europäischen Vergleich, Köln 2010.

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Aus Sicht ihres erstgeborenen Sohnes schlug die Ehe der Eltern Rivière, dieser Haushalt, dieses familiäre Leben gründlich fehl. Die Verbindung der Eltern, im wahrsten Sinne des Wortes eingebettet in die Beziehungen zu den jeweiligen Großeltern, zu Nachbarn, Freunden und anderen Verwandten, gestaltete sich in den Augen des Sohnes so katastrophal, dass er nur einen Ausweg sah: den Mord an der Mutter und der älteren Schwester, die sich ihm als Quälgeister des Vaters darstellten, als habgierige Personen und den Hausfrieden bedrohende Gegner. Als Gründe für diese Sichtweise gab er in seinem Mordgeständnis erstens die Weigerung der Mutter an, mit dem Vater in einem Haus zu wohnen und mit ihm das Bett zu teilen. Zweitens brachte er vor, die Mutter habe den Vater zu unangemessenen Arbeitsleistungen genötigt und drittens habe sie permanent Geld verschwendet, den ehelichen Besitz verschleudert und zudem die Beziehungen zu den Großeltern und anderen Verwandten, Nachbarn und Gemeindemitgliedern arg strapaziert. In Pierres Text sind es denn auch konsequenterweise die dem Vater regelmäßig abverlangten Arbeitsleistungen einerseits, sowie die von der Mutter eingeforderten Unterhaltsverpflichtungen andererseits, die – zusammen mit den von den Eltern seit Beginn ihrer Ehe wiederholt und öffentlich betriebenen Streitigkeiten um die eheliche Kohabitation – um die gegenseitige Verpflichtung zur leiblichen Versorgung und um die Nutzung des gemeinsamen Besitzes, die er als die zentralen Punkte im Missverhältnis seiner Eltern ausmachte. Wobei Pierre vor allem der Dauerstreit um das häusliche Zusammenleben der Eltern besonders beschäftigt zu haben scheint. Denn wie das Motiv der „erweiterten Ehe“ und die Idee von der Ehe als Tausch- und Gebrauchsbeziehung, so durchzieht auch das Thema geteilter oder gemeinsamer ehelicher Räume das gesamte „mémoire“. Hatten aus Sicht des Sohnes die fortdauernden Streitigkeiten der Eltern doch bereits im Augenblick der Eheschließung begonnen, als die Mutter sich weigerte, Haus und Bett mit ihrem neuen Ehemann zu teilen. Zwischen dem Haus des Vaters in Aunay (hier lebten der Vater, die Eltern von Pierres Vater, eine seiner Tanten und sein jüngerer Bruder) und dem Haus der Mutter in Courvaudon (dort wohnte die Mutter Pierres mit ihren Eltern) spielten sich laut Pierres Schilderungen denn auch die späteren zwanzig Ehejahre der Eltern ab; inklusive Zeugung und Geburt der sechs gemeinsamen Kinder. Die eheliche Beziehung der Eltern schilderte Pierre einerseits als Streit in Permanenz, verbunden mit physischer Gewalt, andererseits als gegenseitig betriebenen Handel um Besitz, Arbeit und emotionale bzw. generative Produktion und Reproduktion. Neben ausführlichen, zum Teil aber auch sehr verwickelten Schilderungen über rechtliche Auseinandersetzungen um Rechte an mobilem und immobilem Besitz, finden sich in dem Text aber auch wiederholt Bemerkungen zu ehelichen Verhandlungen und kurzfristigen Einigungen, wie sie neben und zwischen den zahlreichen physisch oder juris-

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tisch ausgetragenen Streitigkeiten immer wieder beschrieben sind. Folgt man Rivières Schilderungen, dann betrieben die Eltern ihre Streitigkeiten und Einigungen aber auch symbolisch, z.B. im Streit um das eheliche Bett, oder um den Besitz eines gemeinsamen Schrankes, der, mal als Bestandteil der Mitgift, dann als Geschenk des Ehemannes und schließlich als materialisiertes Streitobjekt im Verlaufe eines Aus- und Umzuges von einem Haus zum andern und wieder zurück, in Pierres Text eine prominente Rolle spielte. Wie den mitunter etwas kryptischen Schilderungen Pierres außerdem zu entnehmen ist, verhandelten und tauschten die Eltern Riviére aber auch Essen und Zärtlichkeiten. 21 Es sind solche vom Sohn beschriebenen Szenen über Streit, geschicktes Verhandeln von Ansprüchen, über die beidseitige Verteidigung von Positionen, die ein eheliches, familiäres und haushälterisches Leben erkennbar werden lassen, das wesentlich auf Tausch basierte, auf nachbarlicher und verwandtschaftlicher Integration und auf der Möglichkeit, ferne und nahe, private und öffentliche, formelle und informelle Räume immer wieder neu zu kreieren und zu besetzen. Was uns in Pierres „mémoire“ entgegentritt, ist ein sehr komplexes Vorstellungsgefüge von Ehe, Familie, Haus und Verwandtschaft, das sich simplen statisch geprägten Vorstellungen nicht fügte, wie sie etwa in der oben zitierten szenisch gestalteten Tatortbeschreibung als zeittypische Repräsentationen sichtbar geworden sind. Auf die Frage aus welchen Motiven heraus eine Ehe zustande kommen sollte, wie ein Haushalt zu führen war, wer mit wem wann und unter welchen Bedingungen Bett und Tisch zu teilen hatte, wer zum Hause zählte und wer nicht, wie Ehe, Haus und Familie sich mit anderen Gruppen verflochten bzw. kreuzten – auf all diese Fragen gab und konnte es keine eindeutige Antworten geben.

Schluss Der Fall Rivière hat ein ungewöhnlich gewaltsames Ende gefunden. Am Ende gab es drei bzw. vier Tote, und einen Verhafteten, der mit der Todesstrafe rechnen musste. Pierre Rivière rechtfertigte seine Tat damit, dass er dem elenden ehelichen, häuslichen und familiären Dasein des Vaters ein Ende habe setzen wollen. Die Verursacher der Misere – für Pierre Rivière waren dies vor allem die eigene Mutter und die älteste Schwester – habe er deshalb geglaubt töten zu müssen. So wie Pierre Rivière den verhörenden Obrigkeiten seine Sicht auf die elterliche Ehe darbot, kamen seine tatsächliche und seine gewünschte Realität nicht zur Deckung. Der in Pierres Text immer wieder aufscheinende Gegensatz zwischen Wunsch und Wirklichkeit war für ihn – so sagte er es – nur durch den Akt des Tötens aufzuheben. Aus der Perspektive Pierre Rivières war seine Gewalttat also die Antwort auf die Ehe der El21

Ebd., S. 69f.

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tern, die er als desaströse Beziehung interpretierte. Haben die Großeltern die Beziehung ihrer Kinder ebenso gesehen? Hat der Vater sie so erlebt? Hat die Mutter sie so begriffen? Welche Erwartungen hatte Pierres Mutter an ihren Ehemann, welche der Ehemann an sie? Um Antworten auf diese Fragen zu finden, ist das von Michel Foucault 1975 in einem Sammelband mit dem Titel: „Der Fall Rivière. Materialien zum Verhältnis von Psychatrie und Strafjustiz“ publizierte „mémoire“ des geständigen Mörders Pierre Rivière hier einer Neulektüre unterzogen worden. Hinter bzw. durch die Feder des Täters, der seine Tat in einem Dutzende Seiten langen Schreiben erzählte und zugleich erklärte, sind die Großeltern und die Eltern Pierres sichtbar geworden. Da es sich bei dem Quellentext um eine obrigkeitlich beauftragte Erklärung eines Täters handelt, ist in ihm zunächst einmal die Perspektive des Schreibenden zu erkennen. Durch diesen Text hindurch konnten jedoch auch noch andere Sichtweisen und Interpretationen erkennbar gemacht werden. Hinter der obrigkeitlich modellierten Feder Pierres, durch seine Schilderungen hindurch, erscheinen andere Akteure und Akteurinnen. Im Mordgeständnis Rivières ist von einem einsamem, hermetischen und gedemütigtem Dasein zu lesen. Wird der Text jedoch einer historischen Lektüre unterzogen, wird ein spannungsreiches soziales Gefüge voller Widersprüche sichtbar, das aber auch von Gegenseitigkeiten gekennzeichnet war. Um die Ehe der Eltern Rivière als Kernbeziehung lagerten sich Beziehungen der Großeltern und Geschwister an, die nicht nur auf die Motive zur Eheschließung einwirkten, sondern auch den ehelichen Alltag mit gestalteten. Am Ende von Pierres Erzählung stehen seine Morde. Diese können als Reaktion auf die geschilderten Demütigungen gelesen werden, aber zugleich auch als Antwort auf einen spannungsgeladenen Beziehungsalltag, dessen komplexe Dynamik für den Sohn nicht zu handhaben war. In den und durch die von Pierre Rivière geschilderten Handlungen der Eltern war zu erkennen, welche Erwartungen Vater und Mutter Rivière an ihre eheliche Verbindung hatten, wie sie diese Erwartungen zu erfüllen versuchten, wie sie ihre Ehe(n) lebten. Aus Sicht der Mutter kam dabei der Arbeitsleistung des Ehemannes eine wichtige Bedeutung zu. Galt diese doch als Gegenpart für die von ihrer Seite in die Ehe eingebrachten Güter. Ein permanentes Zusammenleben, das Teilen von Tisch und Bett, erwartete sie dagegen nicht, Zärtlichkeiten hingegen schon. Für Rivières Vater dagegen scheint weniger der Besitz im Vordergrund gestanden zu haben, als seine Position als Hausherr, als Oberhaupt der Familie. Seine öffentliche Reputation und, zumindest zeitweise, auch das Leben mit seiner Ehefrau unter einem gemeinsamem Dach, scheint für ihn deshalb mit Ehe und Familie verbunden gewesen zu sein. Die zum Teil lang andauernden ehelichen Streitigkeiten um den Wohnort, das Bett, die gemeinsamen Möbel, und anderes mehr, belegen dies.

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Die eheliche Verbindung der Eltern Rivière war keine nach außen abgeschlossene Beziehung. Vor allem die von Pierre Rivière in seinem „mémoire“ immer wieder geschilderten Verhandlungen der Eltern in die sie auch Nachbarn, Verwandte und Freunde integrierten, ihre öffentlich ausgetragenen Auseinandersetzungen, aber ihre auch immer wieder neu getroffenen Übereinkünfte lassen uns vermuten, dass an der Ehe der Eltern Rivière nicht nur die jeweiligen Ehepartner, ihre Kinder und ihre Eltern beteiligt waren, sondern – um es überspitzt zu sagen – auch die gesamte lokale Öffentlichkeit. Die Ehe hatte offene Ränder. Bleibt am Ende die Frage wie viele Ehen das Paar Rivière geführt hat, wie sie sich jeweils gestalteten und welchen Konzepten sie dabei folgten. Eine vollständige Antwort darauf ist nicht zu geben. In den Schilderungen Pierre Rivières lassen sich aber immerhin Konzepte erkennen, die sich an der Idee des Tausches einerseits und häuslicher Gemeinschaft andererseits orientierten. Im gewöhnlichen Alltag reagierten die Eheleute sehr flexibel, stellten sich auf neue Situationen ein, aktualisierten durchaus auch einmal ihre Perspektiven auf die Beziehung und reagierten offensiv auf Erfordernisse und Forderungen. Welche Ehe mögen die Eltern Rivière geführt haben? Wer war mit wem, warum und wie verheiratet? Nach dem bislang Dargelegten, sollte deutlich geworden sein, dass dies keine eindeutig zu beantwortende Frage ist. Trotzdem, oder gerade weil dies so ist, soll abschließend festgehalten werden, dass Pierre Rivière, als er die Mutter und die Schwester zur Strafe für die vom ihm als unablässig empfundene Demütigung des Vaters tötete, die Deutungshoheit für sich in Anspruch genommen, und Konzepte von Ehe, Familie und Haus, wie sie von seinen Eltern gelebt und inszeniert worden sind, radikal negiert hat. 22 Bliebe zu diskutieren, ob obrigkeitliche Vorstellungen zu Ehe, Haus und Familie, wie sie in den eingangs zitierten Tatortprotokollen sichtbar geworden sind, sich zumindest partiell, mit denjenigen des Täters gedeckt haben. Doch das ist eine andere Geschichte.

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Zum Feld der familiären Binnenbeziehungen vgl. Opitz-Belakhal, Claudia/Cimino, Paola: Vater-Sohn-Konflikte um 1800? Generationenbeziehungen zwischen alter Ordnung und neuen Freiheiten, in: Labouvie, Eva/Myrrhe, Ramona (Hg.): Familienbande – Familienschande. Geschlechterverhältnisse in Familie und Verwandtschaft, Köln 2007, S. 169-188.

SIEGRID WESTPHAL

Von der Gelehrten zur Hausmutter. Aufklärung als geschlechtsspezifischer Bildungsprozess?

„Die Männlichkeitslücke“ – mit diesem Titel macht der Autor Andreas Gössling seit kurzem auf einen Trend aufmerksam, der unsere Gesellschaft alarmieren müsse: immer mehr Jungen versagen in der Schule und landen in der Arbeitslosigkeit, sie seien häufiger krank und psychisch labiler und neigen zur Gewaltkriminalität. „Kurzum: Ihre Misere wächst sich zu einem großen gesellschaftlichen Problem aus“. 1 Zahlreiche Publikationen ähnlicher Couleur verweisen auf die Entdeckung der Jungen als gesellschaftspolitisch brisantes Thema. Parallel und mit ähnlicher Vehemenz wird in den Medien die Krise der Männlichkeit ausgebreitet. Nicht nur Gössling macht für diese Entwicklungen die Einseitigkeit in Erziehung und Bildung verantwortlich. In Kindergärten und Grundschulen arbeiten fast nur Frauen. Im gesamten Bildungswesen dominiere seit Jahren die Vermittlung von ausschließlich weiblichen Werten. Daher plädiert der Autor für die Remaskulinisierung und die Ausbalancierung traditionell männlicher und weiblicher Eigenschaften und Aspekte im Bildungswesen. Dass Schulen und Bildungsinstitutionen mehr als ein Ort des Wissenserwerbs sind, ist keine neue Erkenntnis, sondern verweist auf eine zentrale Entwicklung der Frühen Neuzeit, die in der Aufklärung ihren Höhepunkt fand. Zumindest für den deutschsprachigen Raum werden Aufklärung und Bildung sowie Erziehung als Synonyme betrachtet und die pädagogische Dimension betont. 2 Bildungsglauben und Erziehungsoptimismus, pädagogische Ideen und Programme, Schulgründungen und Schulordnungen, Erziehungsvorstellungen und Nationalerziehungspläne zählen zu den zentralen Anliegen der Aufklärung mit dem Ziel, eine Besserung und Versittlichung der Menschheit zu bewirken. 3

1 2 3

Gössling, Andreas: Die Männlichkeitslücke. Warum wir uns um die Jungs kümmern müssen, Pößneck 2008, S. 221. Vgl. Borgstedt, Angela: Das Zeitalter der Aufklärung, Darmstadt 2004, S. 13. Vgl. Vierhaus, Rudolf: Aufklärung als Lernprozess, in: ders., Deutschland im 18. Jahrhundert. Politische Verfassung, soziales Gefüge, geistige Bewegungen, Göttingen 1987, S. 84-95.

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Aufklärungsforscher betonen, dass Bildung in diesem Zeitraum im weitesten Sinne zum entscheidenden Sozialisationsinstrument geworden sei, über das Werte und Normen der Gesellschaft sowie die entsprechenden Wahrnehmungs-, Denk- und Verhaltensmuster vermittelt werden sollten. 4 Als weiteren wichtigen Bildungstrend im Verlauf des 18. Jahrhunderts wurde herausgearbeitet, dass neben der primären Sozialisation durch die Familie in der sekundären Sozialisation immer stärker außerfamiliäre Angebote wie Schulen, Geselligkeitskreise und die Gruppe der Gleichaltrigen an Bedeutung gewannen. Auf diese Weise konnten sich Männer und Frauen in der Frühen Neuzeit Bildung häufig auch auf nichtinstitutionelle Weise aneignen. Inwiefern durch diese Entwicklungen eine geschlechtsspezifische Sozialisation stattfand, die Männer und Frauen auf jeweils unterschiedliche geltende Normen, Rollenerwartungen, Werte und Überzeugungen der Gesellschaft festlegte, ist eine noch immer offene Frage der historischen Sozialisationsforschung. 5 Dies hat folgende Ursachen: Zum einen hat sich der Blick der Forschung, der stark durch die Erziehungswissenschaften und die Bildungsgeschichte geprägt war, lange Zeit auf die aufklärerischen Erziehungsschriften und theoretischen Bildungskonzepte der Aufklärer gerichtet, wobei sich gewissermaßen ein klassischer Kanon an Autoren herausbildete, der immer wieder „gebetsmühlenartig“ zitiert wurde. Vorschnell hat die Forschung daraus auf die Schul- und Bildungspraxis geschlossen. Zum anderen konzentrierte sich die sozialgeschichtliche und an der Bürgertumsforschung orientierte Bildungsgeschichte vor allem auf Institutionalisierungsprozesse des höheren Schulwesens, die als Kennzeichen eines sich erfolgreich ausbildenden Bürgertums mit einem entsprechenden Wertehimmel gelesen wurden. 6 Diese sehr einseitige Perspektive hat nicht nur die häuslichen und außerhäuslichen nicht institutionalisierten Bildungsmöglichkeiten weitgehend ausgeblendet, sondern den Institutionalisierungsgrad des Schulwesens in vielen protestantischen Territorien des Alten Reiches über4

5

6

Vgl. Herrmann, Ulrich: Pädagogisches Denken, in: Hammerstein, Notker/Herrmann, Ulrich (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. II: 18. Jahrhundert. Vom späten 17. Jahrhundert bis zur Neuordnung Deutschlands um 1800, München 2005, S. 97-133. Vgl. Gestrich, Andreas: Vergesellschaftungen des Menschen. Einführung in die Historische Sozialisationsforschung, Tübingen 1999; Wunder, Heide: Geschlechtsspezifische Erziehung in der Frühen Neuzeit, in: Schnell, Rüdiger (Hg.): Zivilisationsprozesse. Zu Erziehungsschriften in der Vormoderne, Köln/Weimar/Wien 2004, S. 239-253. Vgl. Ehrenpreis, Stefan: Erziehungs- und Schulwesen zwischen Konfessionalisierung und Säkularisierung. Forschungsprobleme und methodische Innovationen, in: ders./Schilling, Heinz (Hg.): Erziehung und Schulwesen zwischen Konfessionalisierung und Säkularisierung. Forschungsperspektiven, europäische Fallbeispiele und Hilfsmittel, Münster u.a. 2005.

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schätzt, weil vor allem die aufklärerischen „Vorzeigestaaten“ untersucht worden sind. 7 Erst in jüngster Zeit wendet sich die Forschung der Vielfalt der Territorien und der sich darin abbildenden konfessionellen Bildungslandschaft zu, wobei das katholische und niedere Schulwesen immer stärker berücksichtigt werden. Denn gerade im Bereich von Bildung und Erziehung macht es einen erheblichen Unterschied, ob man die Bildungsmöglichkeiten in einem katholischen Fürstbistum betrachtet oder auf Preußen schaut, ob man die Elementarerziehung breiter Bevölkerungskreise untersucht oder den Fokus auf höhere Bildungsanstalten und außerinstitutionelle Bildungsmöglichkeiten richtet. Zudem hat sich die Tendenz abgeschwächt, die Institutionalisierung des Schulwesens als lineare Entwicklung zu begreifen. Vielmehr verweisen einige Untersuchungen darauf, dass die Obrigkeit Ende des 18. Jahrhunderts vor allem im städtischen Bereich als wesentlicher Förderer und Unterstützer des Schulwesens aus einer ganzen Reihe von Gründen wieder zurücktrat und sich andere Träger und Initiatoren betätigten. 8 Langes Zeit spielte das Thema Mädchenerziehung und Bildung für Frauen in der Bildungsgeschichte überhaupt keine Rolle. Vielmehr dominierte die Vorstellung, dass Mädchen und Frauen von den Lern- und Bildungsprozessen der Aufklärung nicht profitierten, sondern sie vielmehr davon sogar ausgeschlossen gewesen seien. 9 Nicht zuletzt deshalb hat sich die Frauen- und Geschlechtergeschichte auf unterschiedlichsten Wegen darum bemüht, dieses Bild zu korrigieren, wobei der Schwerpunkt auf dem späten 18. Jahrhundert lag. 10 Diese verkürzte Perspektive hat letztlich dazu geführt, dass längerfristige Entwicklungen und insbesondere Kontinuitäten und Veränderungen von der Früh- zur Spätaufklärung nicht entsprechend wahrgenommen wurden. Vor allem Karin Hausens Ansatz der Polarisierung der Geschlechtscharaktere um 1800 wirkte prägend, 11 insofern ihre These von den getrennten Sphären der Geschlechter und der Festlegung der Frau auf das Haus zur einseitigen Beschäftigung mit aufklärerischen Erziehungs- und Bildungsvorstellun-

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Vgl. Menk, Gerhard: Das Bildungswesen in den deutschen protestantischen Territorien der frühen Neuzeit, in: Ehrenpreis/Schilling, Erziehung, S. 55-99. Menk: Bildungswesen, S. 94. Vgl. Becker-Cantarino, Barbara: Der lange Weg zur Mündigkeit. Frau und Literatur (1500-1800), Stuttgart 1987; dies.: Schriftstellerinnen der Romantik. Epoche – Werke – Wirkung, München 2000. Vgl. Kleinau, Elke/Opitz, Claudia (Hg.): Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung, 2. Bde, Frankfurt am Main 1996. Vgl. Hausen, Karin: Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“ – eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: Conze, Werner (Hg.): Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, Stuttgart 1976, S. 363-393.

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gen geführt hat, die im Sinne einer geschlechtsspezifischen Erziehung und Bildung gedeutet wurden. 12 Im Folgenden soll es darum gehen, Aufklärung als umfassenden Bildungsprozess seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zu begreifen und danach zu fragen, ob gegen Ende des 18. Jahrhunderts im Bereich von Bildung und Erziehung als Folge eines Ausschlussprozesses tatsächlich eine Festlegung der Frau auf die Rolle der Ehefrau, Hausfrau und Mutter stattgefunden hat. Dazu gilt es zum einen zwischen Diskurs und sozialer Praxis zu unterscheiden, und zum anderen nach Kontinuitäten und Veränderungen zu fragen.

1. Der Querelle des femmes-Diskurs Betrachtet man die Forschungen zu Erziehungs- und Bildungsprozessen im Verlauf des späten 17. und 18. Jahrhunderts, liegt es in der Tat nahe, von zunehmenden geschlechtsspezifischen Festlegungen zu sprechen. Allerdings wird häufig ausgeblendet, dass diese Entwicklung in einer deutlich längeren Traditionslinie zu sehen ist, nämlich als Teil des Querelle des femmesDiskurses seit dem Spätmittelalter, und dass in diesem Kontext immer konkurrierende Rollenbilder für Frauen diskutiert wurden. Bei der Querelle des femmes handelt es sich um eine seit dem 15. Jahrhundert europaweit geführte, vom Humanismus ausgehende Gelehrtendebatte über die Würde und den Wert des weiblichen Geschlechts und damit Fragen der moralischen, intellektuellen und gesellschaftlichen Rangordnung der Geschlechter. 13 Dialogische Verfasstheit in Reaktion auf eine misogyne 12

13

Vgl. Langgas, Meike: Mädchenbildung bildet Mädchen. Eine Geschichte des Begriffs und der Konstruktion, Wien 2000; Felbinger, Andrea: Der Wandel des Bildungsbegriffs unter feministischer Perspektive. Auf den Spuren der Geschlechterbildung, München 2004; Mayer, Christine: Bildungsentwürfe und Konstruktion der Geschlechterverhältnisse zu Beginn der Moderne, in: Behm, Britta L./Heinrichs, Gesa/Tiedemann, Holger (Hg.): Das Geschlecht der Bildung – die Bildung der Geschlechter, Oppladen 1999, S. 13-31. Vgl. Gössmann, Elisabeth: Die Gelehrsamkeit der Frauen im Rahmen der europäischen Querelle des Femmes, in: dies. (Hg.): Das Wohlgelahrte Frauenzimmer, München 1984, S. 7-20; dies: Für und wider die Frauengelehrsamkeit. Eine europäische Diskussion im 17. Jahrhundert, in: Brinker-Gabler, Gisela (Hg.): Deutsche Literatur von Frauen, Bd. 1, München 1988, S. 185-197; Brokmann-Nooren, Christiane: Weibliche Bildung im 18. Jahrhundert. „Gelehrtes Frauenzimmer“ und „gefällige Gattin“, Oldenburg 1994; Opitz, Claudia: Die Entdeckung der gelehrten Frau. Zur Debatte um die Frauenbildung in Deutschland zwischen 1500 und 1800, in: Ansorge, Rainer (Hg.): Schlaglichter der Forschung. Zum 75. Jahrestag der Universität Hamburg 1994, Berlin/Hamburg 1994, S. 305-319; dies.: Streit um die Frauen? Die frühneuzeitliche „Querelle des femmes“ aus sozial- und frauengeschichtlicher Sicht, in: Historische Mitteilungen 8 (1995), S. 15-27; Fietze, Katharina: Frauenbildung in der „Querelle

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oder frauenapologetische Position sind Charakteristika dieser Debatte. Während das frauenfeindliche Lager die These von der schöpfungsbedingten Zweitrangigkeit und der intellektuellen und moralischen Schwäche der Frauen vertrat, ging es dem frauenfreundlichen Lager darum, die misogyne Bibelexegese zu widerlegen und den Beweis zu erbringen, dass das weibliche Geschlecht zu allerlei Künsten und Wissenschaften befähigt und die existierende Geschlechterordnung als ein Produkt mangelnder Bildungschancen für Frauen zu begreifen sei. 14 Zwischen diesen beiden Gruppen existierte eine weitere Richtung, die eher einen mittleren Weg favorisierte und eine vermittelnde Position einnahm. Typisch ist dabei insgesamt eine starke Rhetorisierung mit relativ konstanter Topik, die sich vor allem aus der Bibel, den Kirchenvätern, Aristoteles und den Scholastikern speist. Neben den theologischphilosophischen Argumenten, die den größten Anteil ausmachten, gewannen dann im Verlauf der Frühen Neuzeit juristische und biologische Argumente immer größere Bedeutung.

2. Weibliche Gelehrsamkeit Wichtigstes Element der Beweisführung waren für die frauenfreundliche Partei die „Exempla“ weiblicher Gelehrsamkeit. Die bekannteste Quellengattung sind in diesem Zusammenhang die Frauenzimmerlexika. 15 Es han-

14 15

des femmes, in: Kleinau/Opitz, Geschichte, Bd. 1, S. 237-251; Bock, Gisela/Zimmermann, Margarete: Die Querelle des Femmes. Eine begriffs- und forschungsgeschichtliche Einführung, in: dies. u.a. (Hg.): Die europäische Querelles des Femmes. Geschlechterdebatten seit dem 15. Jahrhundert, Stuttgart/Weimar 1997, S. 938; Bock, Gisela: Frauen in der europäischen Geschichte. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München 2000; Bausen, Martin: Lob und Unschuld der Ehefrauen: Analytische Betrachtungen zu Leben und Werk des Johannes Freder. Ein Beitrag zur „Querelle des femmes“ des 16. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 2002; Hohkamp, Michaela/Jancke, Gabriele (Hg.): Nonne, Königin und Kurtisane. Wissen, Bildung und Gelehrsamkeit von Frauen in der Frühen Neuzeit, Königstein/Taunus 2004; Hacke, Daniela: Stadt, Hof und Schrift: Vom „streitbaren Dialog“ der Geschlechter im Europa des 15.-18. Jahrhunderts, in: Lundt, Bea/Salewski, Michael/Timmermann, Heiner (Hg.): Frauen in Europa. Mythos und Realität, Münster 2005, S. 398-423; Drexl, Magdalena: Weiberfeinde – Weiberfreunde? Die Querelle des femmes im Kontext konfessioneller Konflikte um 1600, Frankfurt am Main/New York 2006; Köhler, Cornelia Caroline: Frauengelehrsamkeit im Leipzig der Frühaufklärung. Möglichkeiten und Grenzen am Fallbeispiel des Schmähschriftenprozesses im Zusammenhang mit der Dichterkrönung Christiana Mariana von Zieglers, Leipzig 2007; Hassauer, Friederike: Heißer Streit und kalte Ordnung. Epochen der Querelle des femmes zwischen Mittelalter und Gegenwart, Göttingen 2008. Vgl. Fietze: Frauenbildung, S. 237f. Schmidt-Kohberg, Karin: Repräsentationen gelehrter Frauen in „Frauen-zimmerLexika“ des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Hohkamp/Jancke: Nonne, S. 135-152; vgl. Woods, Jean Muir/Fürstenwald, Maria: Schriftstellerinnen, Künstlerinnen und gelehr-

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delt sich dabei um Zusammenstellungen von Kurzbiographien gelehrter bzw. berühmter Frauen, die überwiegend von männlichen Gelehrten entweder in lateinischer Sprache oder der jeweiligen Volkssprache verfasst wurden. Je nachdem richteten sie sich an ein gelehrtes oder auch breiteres Publikum, einige waren direkt an Frauen adressiert. Vom 14. bis 16. Jahrhundert erschienen die Kataloge in den humanistisch-literarischen Zentren in Italien, Frankreich und Spanien. Die Frauenzimmerlexika des 17. und 18. Jahrhunderts wurden dann vor allem in den nördlicher gelegenen Ländern Europas herausgegeben. Entscheidend sind nun zwei weitere damit verbundene Veränderungen: während die älteren Kataloge überwiegend in lateinischer Sprache verfasst waren und damit stärker auf den Gelehrtendiskurs verwiesen, zeigt sich bei den Lexika des beginnenden 18. Jahrhunderts eine klare Tendenz zur Nationalsprache und zu zunehmendem nationalen Selbstbewusstsein. Dies drückt sich vor allem darin aus, dass die Autoren großes Interesse an gelehrten Frauen aus dem eigenen Land demonstrierten und die Zahl von mythologischen und biblischen sowie christlichen Frauengestalten abnahm. Wichtig wurden nun unter Einfluss frühaufklärerischer Tendenzen Zusammenstellungen von gelehrten Frauen, die aus eigener Kraft und durch Erziehung den Beweis erbracht hatten, die gleichen geistigen Fähigkeiten wie Männer zu besitzen. Damit sollten insbesondere empirisch erfahrene Vorurteile der Gesellschaft und der Gelehrtenwelt an den Universitäten gegen weibliche Gelehrsamkeit entkräftet werden. Gleichzeitig sollten die Exempla auch als Nachweis dafür gelten, dass zeitgenössische Frauen die antiken Heldinnen übertrumpft hatten, die auf diese te Frauen des deutschen Barock. Ein Lexikon, Stuttgart 1984; Woods, Jean Muir: Das „Gelahrte Frauenzimmer“ und die deutschen Frauenlexika 1631-1743, in: Neumeister, Sebastian/Wiedemann, Conrad (Hg.): Res Publica Litteraria. Die Institutionen der Gelehrsamkeit in der Frühen Neuzeit, Bd. 2, S. 577-587; Rang, Brita: Jus fasque esse in rempublicam litterariam foeminas adscribi. Gelehrt(inn)en-Enzyklopädien des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Paedagogica Historica XXVIII (1992), S. 511-549; Moore, Cornela Niekus: „Not by nature but by custom“. Johan van Beverwijck’s „Van de wtnementheyt des vrouwelicken Geslachts“, in: Sixteenth Century Journal XXV/3 (1994), S. 633-651; Heuser, Magdalena: Johann Gerhard Meuschen. Courieuse Schau-Bühne Durchläuchtigst-Belahrter Dames 1706, in: Gössmann, Elisabeth (Hg.): Kennt der Geist kein Geschlecht? München 1994, S. 176-188; Brandes, Helga: Das Frauenzimmer-Lexicon von Amaranthes, in: Das achtzehnte Jahrhundert 22,1 (1998), S. 22-30; Cöppicus-Wex, Bärbel: Der Verlust der Alternative. Zur Disqualifizierung weiblicher Bildungsideale im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts am Beispiel zweier Ausgaben des Nutzbaren, galanten und curiosen Frauenzimmer-Lexikons, in: Opitz, Claudia/Weckel, Ulrike/Kleinau, Elke (Hg.): Tugend, Vernunft und Gefühl. Geschlechterdiskurse der Aufklärung und weibliche Lebenswelten, Münster 2000, S. 271-285; Westphal, Siegrid: Frauenzimmerlexika als nationaler Mythosentwurf, in: Schmidt, Georg: Die deutsche Nation im frühneuzeitlichen Europa. Politische Ordnung und kulturelle Identität? München (erscheint 2009).

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Weise ihrer Erhabenheit beraubt wurden. An die Stelle der Bewunderung trat nun die Idee der imitatio. Gelehrte Frauen wurden nun zu Vorbildern für die Nation erhoben. Von ihnen sollte ein starker Nachahmungsdruck ausgehen. So wollten die Verfasser der Lexika die Leserinnen und Leser davon überzeugen, dass eine intellektuelle Erziehung der Töchter wünschenswert (für die Nation) sei. Immer mehr Frauen sollten den „Ehrenweg der Gelehrsamkeit“ einschlagen. Dabei hatten deutsche Autoren bis ins 17. Jahrhundert größte Mühen, „ihre Seiten mit ‚gelehrten Frauenzimmern‘ und Literatinnen zu füllen“. 16 Erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts scheint sich die Situation geändert zu haben, was als eine Folge der aktiven Förderung von Frauen durch die deutschen Sprachgesellschaften gesehen werden kann. 17 Eine Reihe von Autoren konnte nun eine immer größere Anzahl von gelehrten Frauen versammeln, welche nun die Überlegenheit der deutschen Nation gegenüber den anderen Nationen demonstrieren sollten. In einem Zeitraum von knapp fünfzehn Jahren (1705 bis 1721) erschienen mindestens sechs Werke ähnlichen Umfangs, die den Beweis führen sollten, dass Frauen nicht nur zu Gelehrsamkeit fähig seien, sondern insbesondere Deutschland zahlreiche gelehrte Frauen hervorgebracht habe. Frauengelehrsamkeit mutierte zu einem Gradmesser nationaler Überlegenheit und nationalen Stolzes. Voraussetzung dafür war, Männern und Frauen die gleichen Verstandeskräfte zuzubilligen. So heißt es beispielsweise in der Vorrede des 1712 von dem Gelehrten, Polyhistor und Eisenacher Stadt-Physicus Christian Franz Paullini verfassten Werk „Hochund Wohl-gelahrtes Teutsches Frauenzimmer“: „Warum aber sollte eine geschickte und würdige Weibs-Person der Academischen Ehren und Würden unfähig seyn? Würdigt man sie des Poetischen LorbeerKrantzes/warum nicht auch anderer graduum … Alle sind wie der Tugend/also auch der Gelarsamkeit fähig. Und dörfen wir weder Geschlecht oder die Natur dißfalls schmähen.“ 18

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Opitz: Entdeckung, S. 309. Vgl. Westphal, Siegrid: Frauen der Frühen Neuzeit und die deutsche Nation, in: Langewiesche, Dieter/ Schmidt, Georg (Hg.): Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg, München 2000, S. 363-385. Paullini, Christian Franz: Hoch- und Wohl-gelahrtes Teutsches Frauenzimer. Abermahl durch Hinzusetzung unterschiedlicher Gelehrter wie auch etlicher ausländischer Damen hin und wieder um ein merckliches vermehret, Frankfurt am Main/Leipzig/Erfurt 1712. Auszüge des Werkes sind in digitalisierter Form über ein Projekt der Dokumentations- und Informationsstelle ARIADNE der ÖNB (http://www.onb.ac.at/ariadne/projekte/femme/projekt.html) zugänglich, das den frauenrelevanten historischen Bestand der ÖNB erschließen möchte. In einem ersten Schritt wurden historische frauenspezifische Lexika erfasst, zu denen auch die Frauenzimmerlexika gezählt werden.

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Wichtig ist nun die Feststellung, dass das, was um 1700 unter einer gelehrten Frau verstanden wurde, sehr diffus gewesen zu sein scheint. Weibliche Gelehrtheit sei zum einen an den schönen Künsten und dem klassischen Fächerkanon an den Universitäten (Theologie, Jurisprudenz, Medizin, die sieben freien Künste und Sprachen) gemessen worden. Zum anderen haben aber auch praktische Fähigkeiten wie Handarbeiten oder prophetische Gaben Frauen dazu qualifiziert, in den Kanon weiblicher Gelehrter aufgenommen zu werden. 19 Kriterien seien folgende gewesen: „Sprachfähigkeiten, Publikationen, Kenntnisse und Betätigungen in zeitgenössischen Wissenschaftsgebieten, Handlungen allgemein, übersinnliche Fähigkeiten und Herrschaftsausübung“. 20 Verschiedene Untersuchungen einzelner Lexika, in denen die Auszählung und Zuordnung der Frauen zu diversen Wissensgebieten unternommen wurde, kommen zu dem Ergebnis, dass der Großteil der aufgezählten Frauen aus dem deutschen Sprachgebiet im Bereich der schönen Künste verortet werden kann. In der Mehrheit habe es sich um Dichterinnen, Künstlerinnen, Musikerinnen oder Frauen gehandelt, die eine oder mehrere Sprachen beherrschten. 21 Bei den Dichterinnen und Schriftstellerinnen wird hervorgehoben, dass sie sich vor allem im religiös-theologischen Bereich betätigt haben und durch das Verfassen religiöser Traktate mit Schwerpunkt in der Erbauungsliteratur, Gebete oder Lieder hervorgetreten seien. 22 Fähigkeiten im Bereich der Medizin, Jura oder den neuen empirischen Naturwissenschaften spielten offenbar nur eine geringe Rolle. Neueste Forschungen betonen jedoch, dass der Grund dafür nicht in der geringen Zahl von Frauen in diesen Fächern gelegen habe, sondern vielmehr die Verfasser der Lexika – überwiegend polyhistorische Gelehrte – empirischen Naturwissenschaften und auch der Medizin keinen zentralen Stellenwert bei der Beurteilung von Gelehrsamkeit beigemessen haben. 23 Für beide Geschlechter gilt im Kontext dieser spezifischen Gattung deshalb, dass die Verfasser der Lexika eher einen heterogenen und konventionellen Gelehrsamkeitsbegriff vertraten, der nicht nach dem gesellschaftlichen Nutzen und der Anwendbarkeit des Wissens fragte und damit auch den empirischen Naturwissenschaften einen geringen Stellenwert beimaß. 24 Nicht nur deshalb blieben Äußerungen zum Zweck von Frauenbildung äußerst vage. Es ging den Verfassern nicht darum, 19 20 21 22 23 24

Rang: Jus, S. 539. Schmidt-Kohberg: Repräsentationen, S. 145. Woods: Frauenzimmer, S. 581; Woods/Fürstenwald: Schriftstellerinnen; eine etwas andere Zuordnung unternimmt Rang: Jus, S. 539. Rang: Jus, S. 539. Schmidt-Kohberg: Repräsentationen, S. 150. Köhler: Frauengelehrsamkeit, S. 6-10; Grimm, Gunter E.: Literatur und Gelehrtentum in Deutschland. Untersuchungen zum Wandel ihres Verhältnisses vom Humanismus bis zur Frühaufklärung, Tübingen 1983.

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konkrete Erziehungsinstitutionen für Mädchen einzufordern oder Frauen umfassend zu bilden, um ihnen verbesserte Berufsperspektiven zu ermöglichen. Dies stand nicht im Zentrum ihres Erkenntnisinteresses. Wenn überhaupt auf ein Erziehungsziel verwiesen wurde, dann darauf, dass Wissen immer auf die Erkenntnis von Tugend und Gott gerichtet sein müsse. 25 Daraus leiteten einige Verfasser lediglich ab, dass Frauen auf diese Weise auch dazu angeleitet würden, als tugendhafte, fromme und sittsame Ehefrau das Haus verständig zu führen und die Kinder zum Wohle der Nation vorbildlich zu erziehen. Neben den Verfassern von Frauenzimmerlexika findet sich um 1700 eine Vielzahl anderer Autoren, die betonten, dass Männer und Frauen von der gleichen Gottebenbildlichkeit seien und deshalb die gleichen Verstandesgaben besitzen und zu Gelehrsamkeit fähig seien. Denn das in der Frühaufklärung postulierte Ideal der menschlichen Vervollkommnung durch Bildung kannte keine Differenzierungen. Das selbständige vernunftgeleitete, seinem Gemeinwesen dienende Individuum war das Ziel. Durch Bildung und Erziehung sollten die Menschen zu eigenem und damit allgemeinen Glück geführt werden. 26 Vernunft und Verstand wurden zu den wichtigsten Werkzeugen erkoren, die Welt empirisch und rational zu erfassen. Auch wenn die meisten Aufklärer mit dem vernunftbegabten Wesen implizit nur den Mann meinten, waren die philosophischen Grundlagen hinsichtlich des menschlichen Erkenntnisvermögens geschlechtsneutral formuliert. Sie beruhten einerseits auf der Naturrechtslehre, andererseits auf der Erkenntnistheorie Descartes und seiner Nachfolger. Ein Anhänger dieser Lehren musste grundsätzlich von der Geschlechtsneutralität des erkennenden Geistes ausgehen, die eine gleiche geistige Befähigung von Männern und Frauen suggerierte. Neben dem Leitbild des „gelehrten Frauenzimmers“ und dem allgemeinen Leitbild der aufklärerischen Humanität, wonach bei der Erziehung und Bildung kein Unterschied zwischen den Geschlechtern gemacht werden sollte, existierte jedoch bereits die Vorstellung von Mädchenbildung als Vorbereitung auf die weibliche Bestimmung und unter Berücksichtigung auf ein spezifisch weibliches Wesen, 27 wobei um 1700 und in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts noch die ersten beiden Strömungen dominierten.

3. Der mitteldeutsche Raum als Bildungslandschaft der Frühaufklärung Am Beispiel des mitteldeutschen Raumes (mitteldeutsche Bildungslandschaft) mit Halle, Leipzig und Wittenberg lässt sich die Gleichzeitigkeit 25 26 27

Schmidt-Kohberg: Repräsentationen, S. 144. Langgas: Mädchenbildung, S. 14. Vgl. Meiner, Karin: Der besondere Weg, ein Weib zu werden. Über den Einfluß von Leitbildern auf die Entwicklung der höheren Mädchenbildung seit dem 17. Jh., Frankfurt am Main 1982, S. 13.

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der verschiedenen Leitbilder für Mädchen und Frauen besonders gut zeigen, wobei auf der einen Seite August Hermann Francke zu sehen ist, auf der anderen Seite Jakob Thomasius, Christian Thomasius und seinen Schülern eine zentrale Rolle zukam. In der Vernunfft-Lehre (1691) von Christian Thomasius, die das Bildungsprogramm schon im Titel führt (Einleitung zu der Vernunfft-Lehre/ Worinnen durch eine leichte/ und allen vernünfftigen Menschen/ waserley Standes oder Geschlechts sie seyn/ verständliche Manier der Weg gezeiget wird/ ohne die Syllogistica das wahre/ wahrscheinliche und falsche von einander zu entscheiden/ und neue Wahrheiten zu erfinden), heißt es beispielsweise: „Weibes-Personen sind der Gelahrtheit so wohl fähig/als Manns-Personen.“ 28 Und in einer „Anmerckung“ von 1707, die Thomasius oder einem seiner Schüler, eventuell Nicolaus Herrmann Gundling, zugeschrieben wird, 29 ist die Rede von einer „Jungfer-Academie“ nicht nur als Ausbildungsstätte von Frauen, sondern als Ort der Lehre von Professorinnen. 30 Noch Jahrzehnte später wurden diese Ideen in Göttingen aufgegriffen, wo ein anonymer Verfasser in einer Schrift um die „Anlegung einer Universität für das schöne Geschlecht“ (1747) bat. 31 Drei Promotionen, zwei in Leipzig (1667/1671 unter dem Vorsitz von Jakob Thomasius und Johannes Sauerbrei) und eine in Wittenberg (1686, Vorsitz Johannes Pasch) kommen Ende des 17. Jahrhunderts zu dem Ergebnis, dass Frauen mit entsprechenden finanziellen Mitteln, Muße und Begabung die Ausbildung ihrer Fähigkeiten erlaubt sei. 32 Auch wenn die Forschung in diesem Zusammenhang immer wieder von Ausnahmeerscheinungen spricht und betont, dass das Leitbild der gelehrten Frau nur eine sehr kleine Elite von adligen und/oder gebildeten Frauen im Blick hatte, 33 so ist doch nicht zu unterschätzen, dass hier erstmals intensiv über Zugänge von Frauen zu höherer Bildung diskutiert wurde. Dabei ging es nicht mehr so sehr darum, die Voraussetzungen zur Bildungsaneignung zu beweisen, wie das in früheren Phasen der Querelle des femmes der Fall gewesen ist. Denn das frühaufklärerische humanitäre Konzept von Bildung setzte gleichsam voraus, dass Frauen als Gott ebenbildliche Menschen über die gleiche Vernunftbegabung wie Männer verfügen. Vielmehr stand nun im Zentrum der Diskussion, wie und auf welche Art und Weise Bildung vermit28 29 30 31 32 33

Zitiert nach Köhler: Frauengelehrsamkeit, S. 25f. Köhler: Frauengelehrsamkeit, S. 26. Köhler: Frauengelehrsamkeit, S. 26. Hakemeyer, Ida: Bemühungen um Frauenbildung in Göttingen 1747, Göttingen 1949, S. 7. Der mutmaßliche Verfasser scheint Johann David Michaelis gewesen zu sein. Vgl. Köhler: Frauengelehrsamkeit, S. 31. Vgl. Ceranski, Beate: Wunderkinder, Vermittlerinnen und ein einsamer Marsch durch die akademischen Institutionen. Zur wissenschaftlichen Aktivität von Frauen in der Aufklärung, in: Opitz/Weckel/Kleinau: Tugend, S. 287-308.

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telt werden sollte, wobei es parallel zu Fragen der Institutionalisierung und damit der Erfassung weiterer Bevölkerungsschichten immer stärker um den Zweck und den Nutzen von Erziehung und Bildung ging. In einem komplizierten Wechselverhältnis zur Frühaufklärung stehend, 34 entwickelte Hermann August Francke zeitgleich zu den Verfechtern der Frauengelehrsamkeit in Halle, Wittenberg und Leipzig ein Erziehungskonzept für Mädchen, das pietistischem Gedankengut verpflichtet war und in Anlehnung an frühere Strömungen der lutherischen Orthodoxie auf die Vermittlung des wahren Christentums zielte. 35 Entsprechend der ständischen Gesellschaftsordnung war sein Modell auf drei Arten von Erziehung ausgerichtet. Mädchen des Waisenhauses sollten eine gründliche Elementarschulbildung und eine Unterweisung in der Christenlehre und „weiblichen Arbeiten“ erhalten, die Bürgerschule für Töchter des Halleschen Bürgertums besaß einen etwas weiter gefassten Lehrplan. An der Spitze stand das 1698 gegründete Gynaceum für Mädchen und junge Frauen des Adels und reicher Bürgerfamilien als Pendant zum Pädagogium, das junge Männer auf das Universitätsstudium vorbereitete. Bei der Ausgestaltung der höheren Mädchenbildung orientierte sich Francke an den Überlegungen des französischen Erzbischofs Fénelon, dessen Schrift „Traité sur l’Education des Filles“ (1687) er ins Deutsche übersetzte. Neben Elementarunterricht und der Unterweisung in der Christenlehre und feinen Handarbeiten, erhielten die Mädchen entsprechend den Anforderungen an ihren Stand Unterricht in Französisch, höfischen Umgangsformen und in „extraordinären“ Fächern wie Griechisch, Hebräisch, Musik- und Klavierunterricht. „Leitend für Franckes Erziehungsentwurf war die christliche ‚Hausmutter‘, die mit ihrer hauswirtschaftlichen Tüchtigkeit und moralischen Standfestigkeit dem ihr von Gott zugewiesenen Beruf (= Berufung) nachkommen können sollte.“ 36

Dieses Leitbild blieb für die protestantische Mädchenerziehung lange Zeit prägend, auch wenn der Versuch der Institutionalisierung einer höheren Mädchenerziehung mit pietistischer Ausrichtung in Halle scheiterte, weil die inneren Widersprüche des Konzepts zu Widerständen bei den Schülerinnen führten. Die intensive Auseinandersetzung mit Erziehungs- und Bildungskonzepten für Mädchen und Frauen hatte im mitteldeutschen Raum weitere Ergeb34 35

36

Vgl. Sparn, Walter: Religiöse und theologische Aspekte der Bildungsgeschichte im Zeitalter der Aufklärung, in: Hammerstein/Herrmann: Handbuch, Bd. II, S. 134-168. Vgl. Witt, Ulrike: „Wahres Christentum“ und weibliche Erfahrung. Bildung und Frömmigkeit im Pietismus des 17. und beginnenden 18. Jahrhunderts, in: Kleinau/Opitz: Geschichte, Bd. 1, S. 263-274. Mayer, Christine: Erziehung und Schulbildung für Mädchen, in: Hammerstein/Herrmann: Handbuch, Bd. II, S. 188-211.

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nisse zur Folge, wobei der Gottsched-Kreis in Leipzig offenbar eine Mittlerstellung zwischen dem Leitbild der gelehrten Frau und dem Leitbild einer auf die Bestimmung der Frau vorbereitenden Erziehung und Bildung einnahm. 37 Beispielhaft sei hier auf die von Johann Christoph Gottsched, Johann Georg Hamann und Johann Friedrich Mai unter der Fiktion einer weiblichen Herausgeberschaft veröffentlichten moralischen Wochenschrift „Die Vernünftigen Tadlerinnen“ von 1725/26 verwiesen. 38 Ausgehend von der Prämisse, dass Moralentwicklung und Bildungsstand in einem engen Wechselverhältnis zu sehen sind, 39 dominiert auch hier der allgemein humanitäre Tenor, dass Frauen als Menschen gleiche geistige und seelische Fähigkeiten wie Männer besitzen und deshalb auch zur Gelehrsamkeit befähigt seien. Als gelehrt galten Frauen, wenn sie die lateinische wie französische Sprache beherrschten und über Kenntnisse in Geographie, Geschichte, Philosophie und Poesie verfügten. 40 Dabei ist Poesie im Sinne der Gelehrtenpoesie zu verstehen, wonach das Gedicht als Ausdruck der Gelehrsamkeit seines Dichters zu sehen ist und auf die Erziehung und den Genuss eines gelehrten Lesepublikums zielt. 41 Lebensbeschreibungen berühmter und bekannter Gelehrter wie Anne Dacier, Anna Maria van Schurmann 42 oder Gertraud Moller sollten die Leserinnen zur Nachahmung anspornen, wobei jedoch Tugend, Vernunft und Sittlichkeit gewahrt werden sollten. So wird an der grundsätzlichen Verpflichtung der Frau auf ihre Rolle als Hausmutter, Ehefrau und Mutter nicht gerüttelt, gleichzeitig jedoch auf verschiedenen Ebenen ein erhöhtes Bildungsniveau für Mädchen und Frauen gefordert, das bis zur wissenschaftlichen Betätigung gehen konnte. Durch die fiktiven weiblichen Herausgeberinnen und Autorinnen bzw. tatsächlich schreibenden Frauen in den „Vernünftigen Tadlerinnen“ wird sogar eine öffentliche publizistische Tätigkeit von Frauen toleriert. 43 Gottsched selbst hat Frauen in ihrem Bildungsstreben und bei ihren publizistischen Bestrebungen unterstützt. Er war nicht nur mit der „gelehrtesten

37 38 39 40 41 42

43

Vgl. Meiners: Weg, S. 31-33; Goodman, Katherine R.: Amazons and apprentices: women and the German Parnassus in the early Enlightenment, Camden House 1999. Vgl. Köhler: Frauengelehrsamkeit, S. 44-68. Vgl. Mayer: Erziehung, S. 191. Vgl. Ebd., S. 47. Vgl. Niekus Moore, Cornelia: „Dasselbe will ich den Gelehrten überlassen.“ Dichterinnen und Gelehrtenpoesie, in: Hohkamp/Jancke: Nonne, S. 122-134. Zu der von ihr verfassten Schrift über weibliche Gelehrsamkeit vgl. jüngst Spang, Michael: Anthropologie und Geschlechterbild in Anna Maria van Schurmans Dissertatio über Frauenbildung, in: Zeitsprünge 13 (2009), S. 99-130. Vgl. Köhler: Frauengelehrsamkeit, S. 53f.

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Frau Deutschlands“, Luise Gottsched, verheiratet, 44 sondern hat sich in Fortsetzung der Tradition der deutschen Sprachgesellschaften 1730 für die Aufnahme von Christiana Mariana von Ziegler in die gelehrte Gesellschaft „Die deutsche Gesellschaft“ in Leipzig eingesetzt. Im Oktober 1733 wurde die dem Gottsched-Kreis angehörende Dichterin auf sein Betreiben hin von der Universität Wittenberg mit dem Titel „poeta laureata“ gekrönt. 45 Gleiches geschah 1738 in Göttingen mit Sidonia Hedwig Zäunemann. 46 1750 wurde Anna Christina Ehrenfried von Balthasar von der Universität Greifswald zur Baccalaurea artium et philosophiae ernannt, 47 1754 Dorothea Christiane Leporin, verheiratete Erxleben als erste Frau im Alten Reich von der Universität Halle promoviert. 48 Sie war auch eine der wenigen Frauen, die sich in ihrer Schrift „Gründliche Untersuchung der Ursachen, die das weibliche Geschlecht vom Studiren abhalten“ (1742/1749) öffentlich mit der Frage der Frauenbildung auseinandersetzte und sich für eine umfassende Bildung aussprach. Noch 1787 wurde Dorothea Schlözer an der philosophischen Fakultät in Göttingen promoviert, was für die Langlebigkeit des Konzepts der gelehrten Frau auch noch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts spricht. 49

4. Der Wandel der Leitbilder Die prinzipielle Bejahung gleicher Verstandeskräfte und die daraus abgeleiteten Möglichkeiten höherer Bildung für Mädchen und Frauen in Theorie und Praxis erfuhren im Verlauf des 18. Jahrhunderts jedoch eine Verschiebung hin zu einem Leitbild, das auf die weibliche Bestimmung und das weibliche Wesen ausgerichtet war, wobei nicht ganz deutlich ist, welche Ursachen dafür konkret zu benennen sind. So betont die frauen- und geschlechtergeschichtliche Forschung vor allem den Wandel auf der Diskursebene. Die Vorstellung von der natürlichen Bestimmung des Weibes zu Ehe und Mutterschaft und die dieser Funktion untergeordnete gesellschaftlich akzeptierte Teilhabe von Frauen an Bildung sei 44 45 46 47 48

49

Vgl. Goodman, Katherine R.: Learning and Guildwork. Luise Gottsched as „Gehülfin“, in: Hohkamp/Jancke: Nonne, S. 83-108. Vgl. Köhler: Frauengelehrsamkeit. Vgl. Niemeyer, Beatrix: Auschluss oder Ausgrenzung? Frauen im Umkreis der Universitäten im 18. Jahrhundert, in: Kleinau/Opitz: Geschichte, Bd. 1, S. 275-294. Vgl. Niemeyer: Ausschluss, S. 285. Vgl. Niemeyer: Ausschluss, S. 288-292; Fulda, Annette: „Da dergleichen Exempelbey dem weiblichen Geschlechte insonderheit in Deutschland etwas rar sind“: Gelehrtes Wissen, ärztliche Praxis und akademische Promotion Dorothea Christiana Erxlebens (1715-1762), in: Hohkamp/Jancke: Nonne, S. 60-82. Vgl. Götze, Dorothea: Der publizistische Kampf um die höhere Frauenbildung in Deutschland. Von den Anfängen bis zur Zulassung der Frau zum Hochschulstudium, Diss. München 1957; andere Position bezieht Meiners, Weg, S. 32f.

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gegen Ende des 18. Jahrhunderts immer stärker in den Vordergrund getreten. Nicht mehr die Gelehrte, sondern die Hausfrau und Mutter seien zu einem Identifikationsmodell geworden. 50 Erziehung und Bildung sollten diesem Anliegen entsprechend ausgerichtet sein. Alle Forschungsarbeiten heben die Leitfunktion von Jean-Jaques Rousseaus Erziehungsroman Emile (1762) hervor, in dessen fünftem Buch „Sophie oder die Frau“ Erziehung für Mädchen von ihrer Bestimmung her definiert wurde, nämlich ganz auf den Mann ausgerichtet zu sein. 51 Joachim Heinrich Campe, Johann Heinrich Pestalozzi und Friedrich Daniel Schleiermacher griffen dessen Ideen auf und bestimmten den Diskurs über Mädchenerziehung und Frauenbildung, während andere Positionen wie die von Amalia Holst, Theodor Gottlieb von Hippel und Mary Wollstonecraft weniger rezipiert wurden. 52 Wirkungsmächtig wurden Rousseaus Ansichten in einer spezifischen deutschen Ausrichtung der Philanthropen, die auf die wohlunterrichtete, „auf Praxis und Nützlichkeit bedachte Hausfrau, die ihre Kinder erzieht und belehrt, ihrem Mann gefällt und ihn versteht, mit Einsicht ein großes Hauswesen leitet und damit zugleich zum Wohl der Menschheit beiträgt,“ 53

ausgerichtet war. Im Gegensatz zu Rousseau zielte die deutsche Rezeption darauf, die Frau in Anlehnung an ältere Traditionen stärker als sittsame und tugendhafte Hausmutter und weniger als Liebespartnerin zu skizzieren. 54 Die gelehrte Frau galt nun als Schreckgespenst und bot Anlass zu Spott und bissiger Polemik. 55 Sie wurde als schlechte Ehefrau und Hausmutter oder eitle Kokotte denunziert. Die geschlechtergeschichtliche Forschung hat darin einen Abwehrkampf gegen potentielle weibliche Konkurrentinnen gesehen. Da Nutzen und Notwendigkeit von Bildung für Staat und Gesellschaft ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts immer stärker betont worden seien, hätten sich rein in der Theorie erhebliche Möglichkeiten für Frauen geboten, aus der Anerkennung ihrer gleichen geistigen Befähigung Ansprüche der Teilhabe an allen Bildungsmöglichkeiten zu stellen und eventuell sogar den Zu50 51 52 53 54

55

Vgl. Toppe, Sabine: Mutterschaft und Erziehung zur Mütterlichkeit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Kleinau/Opitz: Geschichte, Bd. 1, S. 346-359. Schmid, Pia: Weib oder Mensch, Wesen oder Wissen? Bürgerliche Theorien zur weiblichen Bildung um 1800, in: Kleinau/Opitz: Geschichte, Bd. 1, S. 327-345. Vgl. Ebd. Meiners: Weg, S. 42. Vgl. Felden, Heide von: Geschlechterkonstruktion und Frauenbildung im 18. Jahrhundert: Jean Jacques Rousseau und die zeitgenössische Rezeption in Deutschland, in: Gieseke, Wiltrud (Hg.): Handbuch zur Frauenbildung, Opladen 2001, S. 25-34, S. 31. Vgl. Weckel, Ulrike: Der Fieberfrost des Freiherrn. Zur Polemik gegen weibliche Gelehrsamkeit und ihre Folgen für die Geselligkeit der Geschlechter, in: Kleinau/Opitz: Geschichte, Bd. 1, S. 360-372.

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gang zu Berufen einzufordern. Durch die polemische Kritik am „Blaustrumpf“ sollte der Ausschluss von Frauen von der höheren Bildung legitimiert und ihr berufliches Wirken in Grenzen gehalten werden, nämlich in den Grenzen des weiblichen Geschlechts und seiner „natürlichen Bestimmung“. Andere erklären die Debatte mit ökonomischen Interessen. 56 Übermäßige Bildung gefährdete aus Sicht der Zeitgenossen das Haus und die Hauswirtschaft, die bis weit in das 19. Jahrhundert als Garanten gesellschaftlicher Ordnung galten. Gleichzeitig erkennt die Bildungsgeschichte aber auch die Tendenz, dass auf die sozioökonomischen Veränderungen und die Gefahr zunehmender Verarmung bürgerlicher und unterer Schichten reagiert wurde, indem Mädchen grundsätzlich eine bessere Erziehung und Bildung zugebilligt wurde, um der Armut durch Selbsthilfe begegnen zu können. 57 Für die Ablehnung weiblicher Gelehrsamkeit werden auch pietistische Frömmigkeitsvorstellungen genannt, die auf eine unmittelbare Beziehung zum Religiösen fußten und das Wirken in der Welt als Last erscheinen ließen.

5. Bildungsanspruch und soziale Praxis Neuere Ansätze fordern jedoch, in der Frage des Ausschlusses von Frauen von Wissen, Bildung und Gelehrsamkeit einen Perspektivenwechsel auf zwei Ebenen vorzunehmen: Zum einen soll stärker auf den Bedeutungsgehalt der Begriffe geachtet werden, zum anderen Orte und Räume erschlossen werden, die nicht dem Institutionalisierungsparadigma unterworfen seien. Aus heutiger Sicht ist es schwierig, das Verständnis von Wissen, Bildung und Gelehrsamkeit in der Vergangenheit zu rekonstruieren. 58 So ist beispielsweise der Gelehrsamkeitsbegriff in der Frühaufklärung sehr offen definiert, und Frauen galten häufig bereits als gelehrt, wenn sie über Kenntnisse verfügten, die andere Frauen nicht beherrschten. Die Frage, in welchen Kontexten bestimmte Fähigkeiten als Wissen, Bildung oder Gelehrsamkeit charakterisiert wurden, kann – so die neueste Erkenntnis – nur in Abhängigkeit von der Funktion und den damit verbundenen Rollen beantwortet werden. 59 Eine klare Abgrenzung war zumindest solange nicht notwendig, solange aus dem Nachweis gelehrter Frauen keine konkreten gesellschaftlichen Konsequenzen abgeleitet wurden. Erst als in der Spätaufklärung immer stärker nach dem Nutzen und der Brauchbarkeit von Erziehung und Bildung für die Gesellschaft gefragt wurde, wurde es wichtig, beides von den in der ständi56 57 58 59

Vgl. Weckel: Fieberfrost, S. 366. Vgl. Mayer: Erziehung, S. 198. Vgl. die methodischen Überlegungen bei Hohkamp, Michaela/Jancke, Gabriele: Einleitung, in: dies.: Nonne, S. 8-16, 13f. Vgl. Ebd.

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schen Gesellschaft vorhandenen sozialen Differenzierungen ausgehend zu definieren. Dabei konzentrierten sich die reformerischen Bemühungen im Gegensatz zur Frühaufklärung in erster Linie auf die Erziehung von Mädchen des bürgerlichen Mittelstandes, die im Sinne des „bürgerlichen Weiblichkeitsmodells“ geprägt werden sollten. 60 Daher bestand in der pädagogischen Diskussion Einigkeit darüber, „zweckmäßige“ Mädchenschulen einzurichten. 61 Die Notwendigkeit zur Institutionalisierung von Bildung zwang wiederum zur Kanonisierung von Wissen, zu grundsätzlichen Überlegungen darüber, welches Wissen für Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Politik notwendig ist, wer es vermitteln soll und wie es vermittelt werden soll und welchem Zweck dieses Wissen dienen soll. Dabei sind jedoch folgende Dinge zu bedenken: 1. Der Diskurs über die Geschlechterbeziehungen und weibliche Erziehung und Bildung im späten 18. Jahrhundert war weder einheitlich noch geschlossen. Zahlreiche konkurrierende Erziehungs- und Bildungsmodelle belegen, dass das „bürgerliche Weiblichkeitsmodell“ zu diesem Zeitpunkt keineswegs konsensfähig war. Vielmehr konnten verschiedene Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit bis hin zur Austauschbarkeit existieren, wie nicht zuletzt für Hamburger Ehepaare im ausgehenden 18. Jahrhundert gezeigt wurde. 62 2. Die Widersprüchlichkeit des Diskurses spiegelt die zunehmende Instabilität der Geschlechterordnung im späten 18. Jahrhundert wider. Denn durch die aufklärerischen Kommunikationsprozesse 63 eröffneten sich auch für Mädchen und Frauen neue Möglichkeiten der Teilhabe, 64 sei es, dass sie Zugang zu Geselligkeitskreisen erhielten oder zur Organisatorin davon aufstiegen, sei es, dass sie zur spezifischen Adressatin zahlreicher neuer Medien wie der Zeitschriften und Journale wurden, sei es, dass sie sogar als Künstlerin, Schriftstellerin oder Herausgeberin von Frauenzimmerjournalen auftra-

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Vgl. Mayer: Erziehung, S. 200. Vgl. Mayer: Erziehung, S. 198. Vgl. Trepp, Anne-Charlott: Sanfte Männlichkeit und selbständige Weiblichkeit. Frauen und Männer im Hamburger Bürgertum zwischen 1770 und 1840, Göttingen 1996. Vgl. Bödeker, Hans-Erich: Aufklärung als Kommunikationsprozess, in: Aufklärung 2 (1987), S. 89-111. Vgl. Frindte, Julia/Westphal, Siegrid (Hg.): Handlungsspielräume von Frauen um 1800, Heidelberg 2005; Bartolo, Julia di: Selbstbestimmtes Leben um 1800. Sophie Mereau, Johanna Schopenhauer und Henriette von Egloffstein in Weimar-Jena, Heidelberg 2008.

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ten. 65 Aufklärerische Bildungsprozesse vollzogen sich nicht im institutionalisierten Bereich, sondern in erster Linie im gesellschaftlichen „Nahbereich“ der informelle Beziehungs- und Freundschaftsnetzwerke. 66 Erziehung von Mädchen fand noch überwiegend im Haus durch die Mütter oder Erzieherinnen bzw. Hauslehrer statt, 67 Bildung von Frauen geschah in Form der Selbstbildung durch Kommunikation und Lesen. Nicht zuletzt deshalb haben der Buchbesitz, das Lektüreverhalten, die Art des Textkonsums und die angeeigneten Inhalte größere Aufmerksamkeit der Aufklärungsforschung gefunden. Sie spricht für das 18. Jahrhundert u. a. von einer Verweltlichung und Verweiblichung des Leseakts, der in den vorangegangenen Jahrhunderten religiös und männlich gewesen sei. 68 Die in stiller Lektüre Roman lesende Frau habe sich zum Sinnbild des Lesens entwickelt. In den Frauenzimmerjournalen wurden dezidierte Bildungsprogramme mit Lektüreempfehlungen für Frauen angeboten. In diesen Kontexten lebte der Querelle des femmesDiskurs weiter. In Form der „Galerien von Frauen“ wurden herausragende Frauen der Vergangenheit und Gegenwart weiterhin als (nationale) Vorbilder gezeigt, auch wenn gelehrte Frauen selbst von weiblichen Schriftstellerinnen und Herausgeberinnen nicht geschätzt wurden. Die Vorstellung von Gelehrtheit bzw. Gelehrsamkeit blieb dabei diffus, auf jeden Fall sollten Frauen ihr Wissen und ihre Belesenheit nicht offenbaren, sondern sich um ihrer selbst willen bilden. Kataloge von künstlerisch und literarisch tätigen Frauen dominierten im Rahmen nationaler Überbietungsstrategien und blieben bis weit ins 19. Jahrhundert populär. 69 Konterkariert und beschränkt wurde das Ideal der sich selbst bildenden Frau in der „Lesesuchtdebatte“ durch die Vorstellung, dass übermäßiges Lesen zu Schwindsucht und Realitätsverlust führe – zahlreiche Abhandlungen beschäftigten sich deshalb mit dem Einfluss ungebändigter Lesewut auf die psychische, physische und intellektuelle Entwicklung junger Mädchen. 70 Dahinter stand immer die Angst, dass Selbstbildung

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Vgl. Weckel, Ulrike: Zwischen Häuslichkeit und Öffentlichkeit. Die ersten deutschen Frauenzeitschriften im späten 18. Jahrhundert, Tübingen 1998; Ackermann, Astrid: Paris, London und die europäische Provinz, Köln 2005. Vgl. Schnegg, Brigitte: Geschlechterkonstellationen in der Geselligkeit der Aufklärung, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 52 (2002), S. 386-398. Vgl. Mayer: Erziehung, S. 189. Vgl. Chartier, Roger: Die Praktiken des Schreibens, in: Ariès, Philippe/Chartier, Roger (Hg.): Geschichte des privaten Lebens, Bd. 3: Von der Renaissance zur Aufklärung, Frankfurt am Main 1991, S. 115-165, S. 150. Vgl. Günther, Johannes (Hg.): Deutsche Frauen. Biographien und Porträts der bedeutenden lebenden deutschen Schriftstellerinnen und Künstlerinnen, Jena 1862. Vgl. Barth, Susanne: Mädchenlektüren. Lesediskurse im 18. und 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main/New York 2002.

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„verbilden“ und Mädchen und Frauen die ihr bestimmten Aufgaben in Ehe, Haus und Familie nicht erfüllen könnten. Der pädagogische Diskurs erscheint auf diese Weise eher als Reaktion auf die im Zuge aufklärerischen Bildungsstrebens gewachsenen Handlungsspielräume von jungen Mädchen und Frauen. Es handelte sich um einen Versuch, „all das praktisch-tätig wieder zu vereinigen, was in der alltäglichen sozial-kulturellen Erfahrungswelt längst auseinandergefallen sein konnte“. 71 3. Die Umsetzung der pädagogischen Zielsetzungen der Spätaufklärung stieß in der Praxis auf erhebliche Schwierigkeiten, die zum einen mit der kirchlichen Verankerung des Bildungswesens in der Frühen Neuzeit zusammenhängen, zum anderen auf die engen finanziellen Spielräume der Landesherrschaft verweisen. Auch wenn die Institutionalisierung des Schul- und Bildungswesens aus aufklärerischer und herrschaftlicher Perspektive sinnvoll und notwendig gewesen wäre, so war die Wirklichkeit noch weit von einer institutionalisierten Bildungslandschaft entfernt. Im späten 18. Jahrhundert und bis weit ins 19. Jahrhundert hinein dominierten immer noch außerinstitutionelle Bildungsmöglichkeiten, wobei die Forschung konfessionelle Unterschiede ausgemacht hat. In katholischen Territorien kam es früher als in den protestantischen zu Ansätzen der Institutionalisierung von Mädchenbildung, weil an die Tradition der Lehrorden angeknüpft werden konnte. 72 Auch wenn Mädchenbildung schon seit der Reformationszeit ein eigener Stellenwert zukam, 73 wurden mit der flächendeckenden Einrichtung von katholischen Mädchenschulen in obrigkeitlicher Regie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts neuartige strukturelle Voraussetzungen für die institutionalisierte Mädchenbildung geschaffen. 74 Katholische Mädchenschulen können dabei in mehrfacher Hinsicht als Sozialisationsinstanzen angesehen werden, da sie auf eine konfessions-, geschlechts- und standesspezifische Erziehung und Bildung der Mädchen zielten. Weltliche und kirchliche Obrigkeiten gaben dabei mit Erziehungsprogrammen den Rahmen vor. Mitunter wirkten die Eltern auf die Unterrichtsgestaltung ein.

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Mayer: Erziehung, S. 190. Vgl. Conrad, Anne: Zwischen Kloster und Welt. Ursulinen und Jesuitinnen in der katholischen Reformbewegung des 16./17. Jahrhunderts, Mainz 1991; dies.: Weibliche Lehrorden und katholische höhere Mädchenschulen im 17. Jahrhundert, in: Kleinau/Opitz: Geschichte, Bd. 1, S. 252-262; dies.: Bildungschancen für Frauen und Mädchen im interkonfessionellen Vergleich, in: ARG 95 (2004), 282-300. Vgl. Westphal, Siegrid: Reformatorische Bildungskonzepte für Mädchen und Frauen – Theorie und Praxis, in: Kleinau/Opitz: Geschichte, Bd. 1, S. 135-151. Vgl. Möller, Lenelotte: Höhere Mädchenschulen in der Kurpfalz und im fränkischen Raum im 18. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2001.

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Neuere Arbeiten, die sich mit der katholischen Mädchenbildung in Kurmainz, 75 im Rheinland, 76 im habsburgischen Österreich 77 und im gemischtkonfessionellen Fürstbistum Osnabrück 78 im Zeitalter der Aufklärung beschäftigen, verweisen darauf, dass katholische weibliche Schulbildung auf die Verinnerlichung stereotyper Geschlechterrollen zielte, die bereits im elterlichen Haushalt eingeübt worden waren. Weibliche Bildung wurde zwar grundsätzlich befürwortet, deren Umfang und Inhalte jedoch mit Blick auf die künftige Rolle der Mädchen in Ehe, Haushalt und Familie beschränkt. Der Großteil der Mädchen und Jungen erhielt im Kern zwar dieselbe Schulbildung, die auf Elementarwissen beschränkt war. 79 Wichtig sind jedoch zwei geschlechtsspezifische Besonderheiten. Als das Spezifikum nicht nur von katholischer Mädchenbildung kann der Handarbeitsunterricht bezeichnet werden, der ständeübergreifend in allen Schulformen unterrichtet wurde. Dadurch wurden grundlegende Wert schöpfende Fertigkeiten vermittelt, die auf den praktischen Arbeitsalltag vorbereiteten. Gleichzeitig galt Handarbeit für die gehobenen Stände als weibliche Tugend und neben dem Lesen religiöser Schriften als das beste Mittel, um die Frauen von lasterhaftem Verhalten abzuhalten. 80 Die zweite geschlechtsspezifische Besonderheit bestand darin, dass Mädchen der Zugang zu weiterführenden Schulen bis zur Universität weiterhin verwehrt blieb, obwohl in den von den religiösen Frauengemeinschaften unterhaltenen Pensionaten umfangreicheres Wissen als in den anderen Schulformen vermittelt wurde. Allerdings wurde auch hier nicht annähernd das Bildungsniveau der Lateinschulen, Gymnasien und Universitäten erreicht. 81 Die Institutionalisierung von Mädchenbildung im protestantischen Bereich setzte dagegen erst sehr viel später ein und zeichnet sich durch eine 75 76

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Vgl. Schreiner, Gisela: Mädchenbildung in Kurmainz im 18. Jahrhundert, Stuttgart 2007. Vgl. Rutz, Andreas: Bildung-Konfession-Geschlecht. Religiöse Frauengemeinschaften und die katholische Mädchenbildung im Rheinland (16.-18. Jahrhundert), Mainz 2006. Vgl. Langer-Ostrawsky: Die Bildung, der Beruf und das Leben. Lebenszusammenhänge der Absolventinnen des Civil-Mädchen-Pensionates zwischen Staatsräson und Bildungspolitik 1786-1803, in: Hohkamp/Jancke: Nonne, S. 39-59. Vgl. Fiegert, Monika: Pragmatische Geschlechtertrennung. Die Anfänge elementarer Mädchenbildung im geistlichen Fürstentum Osnabrück. Ein Beitrag zur Historischen Mädchenbildungsforschung, Bochum 1999. Vgl. Schraut, Sylvia/Pieri, Gabriele: Katholische Schulbildung in der Frühen Neuzeit. Vom „guten Christenmenschen“ zu „tüchtigen Jungen“ und „braven Mädchen“. Darstellung und Quellen, Paderborn 2004. Vgl. Dürr, Renate: Von der Ausbildung zur Bildung. Erziehung zur Ehefrau und Hausmutter in der Frühen Neuzeit, in: Kleinau/Opitz: Geschichte, Bd. 1, S. 189-206. Vgl. Rutz: Bildung, S. 412.

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Vielzahl regional sehr heterogener Mädchenschulformen mit unterschiedlicher Trägerschaft aus. 82 Häufig wurden Mädchenschulen und Pensionate von Privatpersonen beiderlei Geschlechts auf eigene Rechnung eingerichtet, die dadurch ihren Lebensunterhalt verdienen wollten und um obrigkeitliche Unterstützung baten. 83 Diese Schulen waren auf die Bedürfnisse der jeweiligen Zielgruppe ausgerichtet. Große Bemühungen wurden beispielsweise auf die Einrichtung sogenannter Industrieschulen verwandt, die sich an Mädchen und Jungen unterer Schichten richteten, um ihnen die Voraussetzungen zur Bestreitung des eigenen Lebensunterhalts zu vermitteln. In diesem Kontext entstanden auch eigene Industrie-Töchterschulen, von denen die obrigkeitlich finanzierte Anstalt in Blankenburg (Herzogtum Braunschweig-Lüneburg) als Musterschule galt und zum Vorbild für die Einrichtung anderer Schulen wurden. 84 Auch bei den mittleren Schichten dominierte das Leitbild der zweckmäßigen, „industriösen Bildung“, die entsprechend der Bestimmung der Frau auf die Rolle der Ehefrau, Hausfrau und Mutter vorbereiten sollte. 85 Höhere protestantische Mädchenschulen existierten in sehr unterschiedlicher Form, sind bisher aber kaum untersucht worden. 86 Offenbar besaßen sie zunächst den höchsten Anspruch bezüglich der zu vermittelnden Bildung. Staatliche Normierungsprozesse setzten im protestantischen Bereich erst Ende des 19. Jahrhunderts ein. Bis zu diesem Zeitpunkt blieben die privat-häusliche Erziehung von Mädchen und die außerinstitutionelle Bildung von Frauen dominierend.

6. Fazit Welche Konsequenzen die unterschiedliche konfessionelle Ausprägung der Bildungslandschaft für den geschlechtsspezifischen Sozialisationsprozess hatte, ist weitgehend unerforscht. Bisherige Untersuchungen betonen immer wieder mit Blick auf die mangelnde Institutionalisierung im Bereich der Mädchenerziehung, wie katastrophal die Bildungsmöglichkeiten für Mädchen und Frauen gerade im protestantischen Bereich gewesen seien. Die katholische Mädchenschulbildung mit höherem Institutionalisierungsgrad wird dagegen gleichsam als Vorreiter gesehen und hat nicht zuletzt deshalb in den letzten Jahren zunehmende Aufmerksamkeit erfahren. Gleichzeitig wurde 82 83

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Vgl. Mayer: Erziehung, S. 200f; Ehrenpreis: Erziehungs- und Schulwesen, S. 30. Vgl. Mayer, Christine: Die Anfänge einer institutionalisierten Mädchenerziehung an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, in: Kleinau/Opitz: Geschichte, Bd. 1, S. 373-392. Vgl. Mayer: Anfänge, S. 382-385. Vgl. Ebd., S. 391. Vgl. Heuvel, Christine van den: Zu den Anfängen höherer Mädchenbildung in Osnabrück um 1800, in: Osnabrücker Mitteilungen 103 (1998), S. 157-179.

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dadurch jedoch das in der Forschung dominierende Verständnis der geschlechtsspezifischen Festlegung von Mädchen und Frauen auf die ihnen im spätaufklärerischen Diskurs bestimmte Rolle als Ehefrau, Hausfrau und Mutter fortgeschrieben. Institutionalisierung wird somit aus modernisierungstheoretischer Perspektive positiv gedeutet, die Ergebnisse dieses Prozesses aber kritisiert. Nicht zuletzt deshalb gelingt es kaum, die vielen Widersprüche bezüglich der Erziehungs- und Bildungsmöglichkeiten von Mädchen und Frauen in der Spätaufklärung zu klären. So ist es kaum verständlich, dass in einer Zeit des vermeintlichen Bildungsnotstandes bei Mädchen und Frauen zahlreiche Frauen in der Lage waren, als Schriftstellerin oder sogar Herausgeberin von Frauenzimmerjournalen zu arbeiten oder dass es eine ganze Reihe von gebildeten Frauen gab, die eigene Schulen eröffneten und eigenverantwortlich leiteten. Es gilt, sich von der Fixierung auf die aufklärerischen Diskurse und die obrigkeitlichen Institutionalisierungsbemühungen zu lösen und Aufklärung als umfassenden Bildungsprozess zu begreifen, der auch die Selbstbildung umfasst. Obwohl auf der Diskursebene das ältere Leitbild der gelehrten Frau ausgedient hatte und ein neues Leitbild propagiert wurde, konnten Mädchen und Frauen an einer Vielzahl von Lern- und Bildungsprozessen partizipieren, bei denen das Ideal der Ehefrau, Hausfrau und Mutter eines unter mehreren war.

NACIM GHANBARI

Das Haus und die wilhelminische Häusergesellschaft Zur Überprüfung von Claude Lévi-Strauss’ Theorie eines historischen Übergangs

In Franz Kafkas Romanfragment „Das Schloß“ kommt es in einem Gespräch zwischen K. und der Wirtin Gardena, bei der K. um die Hand Friedas anhält, zu einem Streit. Die Wirtin greift K. an: „Sie aber sitzen hier, halten meine Frieda und werden – warum soll ich es verschweigen? – von mir gehalten. Ja, von mir gehalten, denn versuchen Sie es junger Mann, wenn ich Sie aus dem Hause weise irgendwo im Dorf ein Unterkommen zu finden, und sei es nur in einer Hundehütte. […] Friedas Stellung hat in dieser Hinsicht gar nichts mit Ihrer zu tun. Frieda gehört zu meinem Haus und niemand hat das Recht ihre Stellung hier eine unsichere zu nennen.“ 1

In Gardenas Entgegnung auf K.’s Antrag wird „Haus“ in einer Weise verwendet, die über die schiere Materialität der Behausung hinausgeht. Das Haus vermag die einzelnen Personen zu halten oder zu verstoßen, sie mit Stellungen und Rechten auszustatten oder ihnen Stellungen und Rechte zu entziehen. In Gardenas Entgegnung auf K. umfasst also die Zugehörigkeit zu einem Haus mehr und anderes als der Text mit dem Verweis auf das „Unterkommen“ im Dorf zunächst nahe legt. Das Haus erscheint in dieser kurzen Passage als eine korporative Einheit, in der Fragen der Ökonomie, Verwandtschaft und Statuszugehörigkeit gemeinsam verhandelt werden – also auf eine Weise, die sich an die aristotelische Bestimmung des Oikos und den alteuropäischen Begriff des Hauses anschließen lässt. Dieser begriffs- und literarhistorische Befund ist überraschend, da man gemeinhin davon ausgeht, dass der alteuropäische, korporative Begriff des Hauses mit der Zäsur der Moderne „um 1800“ und der juristischen Verabschiedung des „Hausstands“ als ständischer Herrschaftseinheit 2 verschwindet. Diese Einsicht manifestiert sich bei Wilhelm Heinrich Riehl und wird in 1 2

Kafka, Franz: Das Schloß, Frankfurt/M. 1982, S. 85. Vgl. Koselleck, Reinhart: Die Auflösung des Hauses als ständischer Herrschaftseinheit. Anmerkungen zum Rechtswandel von Haus, Familie und Gesinde in Preußen zwischen der Französischen Revolution und 1848, in: Bulst, Neithard/Goy, Joseph/Hoock, Jochen (Hg.): Familie zwischen Tradition und Moderne, Göttingen 1981, S. 109-124.

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der deutschsprachigen Theorie- und Begriffsgeschichte des Hauses – so etwa bei Otto Brunner – fortgesetzt. 3 Nach Riehl und Brunner wird „Haus“ mehr und mehr zu einer nostalgischen Größe, die es nur mehr herbeizuwünschen und zu restituieren gilt. Im Gegensatz zur deutschsprachigen Theoriegeschichte des Hauses haben Sozialanthropologen wie etwa Franz Boas und Claude Lévi-Strauss stets die strukturell bedingte Flexibilität des Hauses betont. 4 Dieser Zweig der Häuserforschung ist aber bislang in der deutschsprachigen akademischen Diskussion unbekannt geblieben, was sich einerseits auf die disziplinäre Barriere (Geschichte versus Sozialanthropologie) zurückführen lässt. Andererseits aber ist die disziplinäre Barriere das Resultat eines tiefer liegenden Unterschieds, der mit den argumentativen Vorgaben, Vorannahmen und Konventionen der beiden Disziplinen zusammenhängt. Während nämlich in der Geschichtswissenschaft überwiegend Zäsuren und Brüche herausgearbeitet und erklärt werden, sind es in der Sozialanthropologie institutionelle Kontinuitäten, die es herauszuarbeiten und zu erklären gilt. Auf das Haus übertragen bedeutet dies, dass die Tatsache, dass „Hausstand“ und domesticité im 18. Jahrhundert als juristische Begriffe verschwanden, für die Geschichtswissenschaft ein Skandalon darstellt, während das sozialanthropologische Denken angesichts desselben Umstands davon ausgeht, dass institutionelle Strukturen selten „mit einem Federstrich“ 5 verschwinden, sondern sich allenfalls in andere Aggregatzustände verflüchtigen oder in anderen Materialien verfestigen. In diesem Zusammenhang ist der Status von Literatur zu erläutern. Bislang wurde der literarhistorische Befund, dass etwa Kafka in seinem Roman auf den alteuropäischen Begriff des Hauses zurückgreift, stillschweigend als Anfangspunkt einer Gedankenkette gesetzt, die bei der Vermutung endet, dass institutionelle Strukturen nur selten restlos verschwinden und dass sich das Haus als „listenreiche Institution“ 6 über sein Ende als juristische Einheit hinaus erhält. Der Begriff und die literarische Verwendung des Hauses und 3

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Vgl. Riehl, Wilhelm Heinrich: Die Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Sozial-Politik, Bd. 3: Die Familie, Stuttgart 1897 [1854], S. 150-303; Brunner, Otto: Adeliges Landleben und europäischer Geist. Leben und Werk Wolf Helmhards von Hohberg 1612-1688, Salzburg 1949; ders.: Das „ganze Haus“ und die alteuropäische „Ökonomik“, in: ders.: Neue Wege der Sozialgeschichte. Vorträge und Aufsätze, Göttingen 1956, S. 33-61. Vgl. Boas, Franz: Kwakiutl Ethnography, Chicago 1966; Lévi-Strauss, Claude: The Way of the Masks, Seattle 1990 [1975], S. 163-187; ders.: Clan, Lineage, Haus [19761982], in: ders.: Eingelöste Versprechen. Wortmeldungen aus dreißig Jahren, München 1985, S. 199-253. Vgl. Koselleck: Die Auflösung des Hauses, S. 110. Vgl. zum Begriff der „listenreichen Institution“ Lévi-Strauss, Claude: Traurige Tropen, Frankfurt/M. 1978 [1955], S. 188.

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dessen historische Realität wurden somit als gleichrangig und austauschbar gewertet. Die Gleichbehandlung von Begriff/Literatur und Gegenstand wiederum ist nicht selbstverständlich, aber auch kein Fehler, sondern Teil einer weiteren disziplinären Übernahme – in diesem Fall der Übernahme der Sozialanthropologie durch die Germanistik. Eine solche Übernahme besteht nicht allein darin, dass in der Germanistik sozialanthropologische Texte gelesen und bearbeitet werden können, sondern darüber hinaus in der Methodik. Die methodische Übertragung der sozialanthropologischen Vorgabe „follow the natives!“ hat für die Lektüre literarischer Texte zur Folge, dass man hier den Idiomen folgt. 7 Anders gewendet: wenn die Literatur der wilhelminischen Gesellschaft und noch des beginnenden 20. Jahrhunderts den alteuropäischen Begriff des Hauses verwendet, dann liegt die Vermutung nahe, dass sich dort auch häuslich korporative Strukturen beobachten lassen. Ich möchte im Folgenden dieser Vermutung nachgehen und zum einen anhand von Lévi-Strauss’ Überlegungen zum Haus und zur Häusergesellschaft eine theoriehistorische Linie rekonstruieren, die alle Ansätze zum Haus (historisch, sozialanthropologisch, literarisch und volkskundlich) integriert. Zum anderen sollen Lévi-Strauss’ Ergebnisse anhand der wilhelminischen Gesellschaft überprüft werden.

I. Das Haus In den 1970er Jahren, als Lévi-Strauss beginnt, über das Haus nachzudenken, sind die sozialanthropologischen Argumente zur Familie und Verwandtschaft von einer zweifachen Statik gekennzeichnet. Sie bedienen sich einerseits einer statischen Beschreibungssprache, um Verwandtschaftsbeziehungen zu klassifizieren und diese in den Zusammenhang der Verwandtschaftsterminologie zu stellen. 8 Sie operieren andererseits mit einem statischen Modell historischen Wandels, wonach sich Abweichungen vom patrilinearen Verwandtschaftssystem auf dessen matrilineare Vergangenheit zurückführen lassen. Dieses Modell geht – wenn auch teilweise unausgesprochen – auf Johann Jakob Bachofens Studie „Das Mutterrecht“ (1861) zurück. Der Basler Rechtshistoriker Bachofen geht darin der Vermutung nach, dass sich vor dem Patriarchat und den patriarchalischen Rechtsinstitutionen eine Art Urgesellschaft befunden habe, in der jeweils die Mütter die Herrschaft über die 7

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Vgl. zu diesem methodischen Imperativ Schüttpelz, Erhard: Der Punkt des Archimedes. Einige Schwierigkeiten des Denkens in Operationsketten, in: Kneer, Georg/Schroer, Markus/Schüttpelz, Erhard (Hg.): Bruno Latours Kollektive. Kontroversen zur Entgrenzung des Sozialen, Frankfurt/M. 2008, S. 234-258. Zur Wissensgeschichte der kinship-studies und deren Erbe vgl. Carsten, Janet (Hg.): Cultures of Relatedness. New approaches to the study of kinship, Cambridge 2000; Parkin, Robert (Hg.): Kinship and Family. An anthropological reader, Malden 2004.

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ihrigen innehatten. Bachofens evolutionistische These wird über den amerikanischen Rechtshistoriker Lewis Henry Morgan und dessen „Ancient Society“ (1877) globalisiert und findet Eingang in die sich formierende Ethnologie. Die Evidenz dieser These lässt sich am Beispiel des avunkularen Privilegs, das die besondere Beziehung zwischen dem Mutterbruder (avunculus) und dem Schwestersohn bezeichnet und das zunächst in südafrikanischen Gesellschaften beobachtet wurde, am besten veranschaulichen. Wie ist die Beziehung zwischen Mutterbruder und Schwestersohn gekennzeichnet? „1. The uterine nephew all through his career is the object of special care on the part of his uncle. 2. When the nephew is sick the mother’s brother sacrifices on his behalf. 3. The nephew is permitted to take many liberties with his mother’s brother; for example, he may go to his uncle’s home and eat up the food that has been prepared for the latter’s meal. 4. The nephew claims some of the property of his mother’s brother when the latter dies, and may sometimes claim one of the widows. 5. When the mother’s brother offers a sacrifice to his ancestors the sister’s son steals and consumes the portion of meat or beer offered to the gods.“ 9

Die Sozialanthropologie steht lange Zeit vor dem Rätsel, wie sich die Ausnahmestellung dieser verwandtschaftlichen Beziehung erklären lässt, die zwar offensichtlich auf die mütterliche Linie verweist und dennoch bevorzugt in patrilinearen Gesellschaften zu beobachten ist. Einer der folgenreichsten Versuche, das Rätsel des Avunkulats zu lösen, bestand – wie bereits angedeutet – darin, die privilegierte Beziehung zwischen Mutterbruder und Schwestersohn als einen Rest matrilinearer Vergangenheit der patrilinearen Gesellschaften zu deuten. 10 Die Spur dieses Arguments lässt sich in unterschiedlichen sozialanthropologischen Studien verfolgen. Um der schwerfälligen Mechanik dieses Erklärungsmodells zu entkommen, setzen Lévi-Strauss’ Überlegungen zum Haus dort an, wo sich die Topik des Argumentationsmusters aufzulösen beginnt. Eine erste Auflösungserscheinung entdeckt er in Franz Boas’ Aufzeichnungen über die Gesellschaftsstruktur der Indianer der amerikanischen Nordwestküste. Boas beschreibt darin soziale Einheiten, genannt „numayma“, die sich nach patriund matrilinearen Gesetzen reproduzieren. 11 Doch statt eine solche Doppelgesetzlichkeit in eine fiktive Chronologie zu überführen, 12 wertet Boas sie als Kennzeichen einer ganz bestimmten sozialen Struktur, die sich mit den 9

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Vgl. Radcliffe-Brown, Alfred R.: The Mother’s Brother in South Africa [1924], in: ders.: Structure and Function in Primitive Society. Essays and Addresses, London 1965 [1952], S. 15-31, hier S. 16. Vgl. ebd. Vgl. Boas: Kwakiutl, S. 52. Zwar gibt es auch hier eine latente Privilegierung des patrilateralen Systems, aber sie wird zu keinem Argument gesteigert, vgl. ebd.

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gängigen sozialanthropologischen Begriffen wie etwa Clan, Lineage, Stamm und Familie nicht erfassen lässt: „The structure of the numayma is best understood if we disregard the living individuals and rather consider the numayma as consisting of a certain number of positions to each of which belongs a name, a ‚seat‘ or ‚standing place‘ that means rank, and privileges. Their number is limited, and they form a ranked nobility. […] These names and seats are the skeleton of the numayma, and individuals, in the course of their lives, may occupy various positions and with these take the names belonging to them.“ 13

Es ist auffällig, dass Boas in seinen Aufzeichnungen das Wort „numayma“ als einziges Wort in der Sprache der Kwakiutl nicht kursiviert. Typografisch wird „numayma“ zwar den eigenen Wörtern zugewiesen, doch Boas unterlässt es, das Fremdwort „numayma“ zu übersetzen. Erst Lévi-Strauss unternimmt es, Boas’ rätselhafte Institution „numayma“ mit „Haus“ (maison) zu übersetzen 14 und damit an die alteuropäische Semantik der Adelshäuser anzuschließen. In Lévi-Strauss’ Worten ist das Haus „eine moralische Person; sodann Inhaber einer Domäne, die sich aus materiellen und immateriellen Gütern zusammensetzt; schließlich perpetuiert es sich dadurch, daß es seinen Namen, sein Vermögen und seine Titel in direkter oder fiktiver Linie weitergibt, die nur unter der Bedingung als legitim gilt, daß diese Kontinuität sich in der Sprache der Verwandtschaft oder der Allianz [Schwiegerverwandtschaft], meistens in beiden, ausdrücken läßt. Da es unmöglich ist, das Haus durch die unilaterale – patrilineare oder matrilineare – Deszendenz oder durch eine ausschließlich exogame oder endogame Reproduktionsweise zu definieren, ist das wesentliche Kriterium, von dem sich alle anderen herleiten, in meinen Augen das folgende: in einer ‚Häuser‘Gesellschaft wiegt die Filiation die Allianz auf, und die Allianz wiegt die Filiation auf.“ 15

Mit seiner Definition des Hauses als Körperschaft (personne morale) bleibt Lévi-Strauss implizit in der Tradition von Riehl, der seinerzeit das Haus ebenfalls als eine „halb naturnotwendige, halb freiwillige Genossenschaft“ und als eine „Gesamtpersönlichkeit“ definiert hatte. 16 Riehls Begriff der Körperschaft jedoch hat einen starken Verbundcharakter. Er hebt die interne Zusammensetzung des Hauses und die Zugehörigkeit zum Haus hervor. Der Verfall des „ganzen Hauses“ besteht demnach darin, dass Personen, die ursprünglich zum Haus gehörten (so etwa das Gesinde oder entfernte Verwand-

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Ebd., S. 50. Vgl. Lévi-Strauss: Way of the Masks, S. 172. Lévi-Strauss, Claude: Stillstand und Geschichte. Plädoyer für eine Ethnologie der Turbulenzen [1983], in: Raulff, Ulrich (Hg.): Vom Umschreiben der Geschichte. Neue historische Perspektiven, Berlin 1986, S. 68-87, hier S. 78. Vgl. Riehl: Die Familie, S. 156.

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te) zu Riehls Zeiten nicht mehr (oder nur bedingt 17) unter die Herrschaft des Hausvaters fallen. Die Idee vom Verfall des „ganzen Hauses“ verdankt sich somit einer bestimmten Vorstellung von der Körperschaft als eines räumlichen, durch Satzungen und Rechte gebundenen Kollektivs; erst aufgrund eines solchen Körperschaftsbegriffs konnte die Verabschiedung des Hausvaters als einer „altständischen Rechtsfigur“ 18 und des „Hausstands“ als juristisch definierten Begriffs als historischer Untergang des Hauses gedeutet werden. Das disziplinäre Überleben des Hauses in der Sozialanthropologie ist dagegen darauf zurückzuführen, dass hier von Anfang an Rechtsgeschichte und Körperschaftslehre zueinander in ein Verhältnis der wechselseitigen Exegese gebracht wurden. Lévi-Strauss’ Definition des Hauses lässt sich allein vor dem Hintergrund dieser sozialanthropologischen Körperschaftslehre verstehen. Inspiriert durch Henry Sumner Maines Diktum „corporations never die“ spielt der gesetzgeberische Akt für die sozialanthropologische Bestimmung der Körperschaft eine marginalisierte Rolle, da Rechte und Privilegien lediglich die Vehikel sind, mittels derer die Körperschaft ihre Unsterblichkeit ausdrückt: „The important point in his [Maines] view is that rights and duties, office and property, are not the forces that generate corporations but the vehicles and media through the agency of which corporations express their intrinsic perpetuity. However, it is easy to misplace the emphasis and infer that the critical feature is the ‚estate‘, that is the body of rights and duties related to property that is held by the corporation and transmitted by succession.“ 19

Die Unsterblichkeit und Perpetuität der Körperschaft ist an Techniken und Operationen der sozialen Reproduktion und Sukzession gebunden. Einzelne Gesetze sind diesen Techniken und Operationen untergeordnet. Die Körperschaft ist darüber hinaus in erster Linie nicht ein Kollektiv, das sich räumlich situieren und darstellen lässt, sondern ein zeitlich bestimmtes; sie ist nicht so sehr „a plurality of persons collected in one body“, sondern „plurality in succession“. 20 Die Pluralität in Sukzession ist – wie Burkhard Schnepel schreibt

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So verfolgt die preußische Gesindeordnung von 1810 das Ziel, das um den Hausstand als ständischer Herrschaftseinheit bereinigte Allgemeine Landrecht durch hausväterliche Privilegien zu ergänzen, vgl. Koselleck: Die Auflösung des Hauses, S. 117-123. Ebd., S. 116. Fortes, Meyer: Kinship and the Social Order. The legacy of Lewis Henry Morgan, London 1969, S. 293. Zur doppelten disziplinären Genealogie des Begriffs „Körperschaft“ (Max Weber versus Henry S. Maine) vgl. Kramer, Fritz W.: Körperschaft, in: Streck, Bernhard (Hg.): Wörterbuch der Ethnologie, Wuppertal 2000, S. 126-129. Kantorowicz zitiert nach Fortes: Kinship and the Social Order, S. 303.

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– als „continuity despite and through death“ zu deuten. 21 Eine solche Kontinuität wird häufig über Ämter hergestellt, die unabhängig von den sie bekleidenden Personen weiter existieren. Diese Vorstellung ist im Zusammenhang mit der Korporativität des Hauses auch bei Riehl, Boas und LéviStrauss präsent. Mit Verweis auf Riehl spricht Bärbel Kuhn vom „Tantenplatz“, den ein Haus den zahlreichen ehelosen Frauen zur Verfügung zu stellen hat. 22 In ähnlicher Weise sprechen auch Boas und Lévi-Strauss davon, dass das Haus sich nicht aus Personen, sondern aus Positionen und Stellen zusammensetzt. Die Domäne des Hauses besteht demnach aus Stellen, Titeln und Privilegien. Wo aber sind die Verwandten im Haus? Nach Lévi-Strauss kann man sich den Fall von miteinander in haushälterischer (ökonomischer) Hinsicht kooperierenden Freunden vorstellen, die weder verwandt noch verschwägert sind, die ein gemeinsames Vermögen „in direkter oder fiktiver Linie“ weitergeben und als Haus bezeichnet werden können. Die Bedingung für ihre „Ver-Hausung“ ist lediglich, dass diese „Kontinuität sich in der Sprache der Verwandtschaft oder der Allianz, meistens in beiden, ausdrücken läßt.“ 23 Die soziale Tatsache der Verwandtschaft, Schwiegerverwandtschaft und Freundschaft ist somit der Sprache der Verwandtschaft bzw. Schwiegerverwandtschaft nachgeordnet und sekundär. In einem Punkt weicht Lévi-Strauss’ Begriff des Hauses als einer Körperschaft von Riehl ab. Für Riehl ist der synkretistische Charakter des Hauses („halb naturnotwendig, halb freiwillig“) eingebettet in eine Entwicklungslinie Hegelscher Provenienz, wonach die Familie über das Haus in der Gesellschaft aufgehoben wird: „Durch das Absterben des Hauses, als der halb naturnotwendigen, halb freiwilligen Genossenschaft, ist ein Mittelglied zwischen der Familie und der Gesellschaftsgruppe verloren gegangen und die günstigste Gelegenheit zur sozialen Wirksamkeit und Machtentfaltung des Hausregiments vernichtet.“ 24

Bei Lévi-Strauss sucht man vergeblich nach einer solchen Mediatisierung des Hauses, die von einer expansiven Bewegung ausgeht, die von der kernfamilialen Einheit über das Haus als extended family bis hin zur „Gesellschaftsgruppe“ reicht. Die Genese häuslicher Strukturen wird bei LéviStrauss hingegen anhand eines zweifachen Verfallsprozesses erklärt, den er in seinen Überlegungen zur „Häusergesellschaft“ (société à maisons) ausführt. Die Häusergesellschaft ist in Lévi-Strauss’ Augen ein globales, univer21 22 23 24

Vgl. Schnepel, Burkhard: Continuity despite and through death. Regicide and royal shrines among the Shilluk of Southern Sudan, in: Africa 61 (1), 1991, S. 40-70. Vgl. Kuhn, Bärbel: Familienstand: ledig. Ehelose Frauen und Männer im Bürgertum (1850-1914), Köln/Weimar/Wien 2002, S. 46. Lévi-Strauss: Stillstand und Geschichte, S. 78. Riehl: Die Familie, S. 156.

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selles Phänomen. Sein tableau der Häusergesellschaften reicht vom Japan des 11. Jahrhunderts bis zum Frankreich des 17. und 18. Jahrhunderts und bis zu den polynesischen und indonesischen Gesellschaften, wie sie von den Ethnologen des 19. und 20. Jahrhunderts bereist und beobachtet wurden.

II. Die Häusergesellschaft Lévi-Strauss’ Ausführungen zum Haus sind von Anfang an Teil der disziplinären Aneignung der Geschichte durch die Ethnologie. 25 Bereits in seinem Frühwerk „Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft“ stellt sich für Lévi-Strauss die Frage, wie sich der historische Übergang von elementaren Strukturen zu komplexen Strukturen der Verwandtschaft beschreiben lässt. Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft kennzeichnen „Systeme, welche die Heirat mit einem bestimmten Typus von Verwandten festlegen“, während die komplexen Strukturen Systeme kennzeichnen, „die sich darauf beschränken, den Kreis der Verwandten zu definieren, und die die Bestimmung des Gatten anderen, ökonomischen oder psychologischen, Mechanismen überlassen.“ 26 In seinen späten Schriften wird Lévi-Strauss die Unterscheidung zwischen elementaren und komplexen Strukturen der Verwandtschaft zum Gegensatz zwischen „kalten“ Gesellschaften ohne Geschichte und „heißen“ Gesellschaften mit Geschichte ausbauen. Bereits der Studie „Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft“, die bald zum ethnologischen Klassiker avancierte, sollte ein zweiter Band über komplexe Strukturen (und damit über Systeme in Gesellschaften mit Geschichte) folgen. Das ist nie geschehen; stattdessen lassen sich die Spuren des nicht realisierten Buchprojekts in Lévi-Strauss’ kleineren Schriften verfolgen. Ein erster Anhaltspunkt, wie der zweite Band hätte aussehen können, findet sich bereits am Ende von „Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft“. Am Ende dieser Studie, in der Lévi-Strauss nachweist, dass Verwandtschaft auf dem Prinzip des (Frauen-)Tauschs als einem „totalen Phänomen“ 27 beruht, finden sich einige wenige Überlegungen dazu, was notwendigerweise zum „Untergang“ des Frauentauschs führen muss: „der verallgemeinerte Tausch setzt Gleichheit voraus und ist doch eine Quelle der Ungleichheit. Er setzt Gleichheit voraus, da die theoretische Voraussetzung für die 25

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Zu Lévi-Strauss’ Aneignung einer von der Geschichtsphilosophie bereinigten Geschichtswissenschaft vgl. Paul, Axel T.: Zeitreisen. Lévi-Strauss und die Geschichte, in: Kauppert, Michael/Funcke, Dorett (Hg.): Wirkungen des wilden Denkens. Zur strukturalen Anthropologie von Claude Lévi-Strauss, Frankfurt/M. 2008, S. 304-332. Lévi-Strauss, Claude: Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, Frankfurt/M. 1993 [1949], S. 15. Vgl. ebd., S. 118. Zur Unterscheidung zwischen „eingeschränktem“ und „verallgemeinertem“ Tausch vgl. ebd., S. 333-335.

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Anwendung der elementaren Formel darin besteht, daß die Operation c heiratet A, die den Zyklus schließt, der Operation A heiratet b, die ihn als erste eröffnet, äquivalent ist. Damit das System harmonisch funktionieren kann, muß eine Frau a ebensoviel wert sein wie eine Frau b, eine Frau b soviel wie eine Frau c und eine Frau c soviel wie eine Frau a; anders gesagt, die Lineages A, B, C müssen denselben Status und dasselbe Prestige haben. Doch der spekulative Charakter des Systems, die Erweiterung des Zyklus, die Einführung sekundärer Zyklen zwischen bestimmten unternehmensfreudigen Lineages zu ihrem eigenen Nutzen, schließlich die unvermeidbare Präferenz für bestimmte Allianzen, die darin resultiert, daß an diesem oder jenem Punkt des Kreislaufs Frauen akkumuliert werden – das alles sind Faktoren der Ungleichheit, die jeden Augenblick einen Bruch herbeiführen können. Wir kommen also zu dem Schluß, daß der verallgemeinerte Tausch fast unvermeidlich zur Anisogamie führt, d. h. zur Heirat zwischen Gatten unterschiedlichen Ranges; daß diese Konsequenz um so [!] deutlicher in Erscheinung treten muß, wenn die Tauschzyklen sich vermehren oder erweitern; daß sie aber gleichzeitig in Widerspruch zum System steht und folglich seinen Untergang heraufbeschwören muß.“ 28

Der Zyklus des verallgemeinerten Tauschs, der auf „egalitären Voraussetzungen“ beruht, neigt damit zu „aristokratischen Folgen“, 29 die erst die „Krise“ herbeiführen. Die Beschreibung der Krise verdankt sich einer zusätzlichen Unterscheidung, die Lévi-Strauss einführt, der Unterscheidung zwischen „unternehmensfreudige[n] Lineages“, die zu ihrem Nutzen bestimmte Allianzen präferieren und forcieren, und Lineages, die auf überkommene Allianzoptionen vertrauen. Diese Unterscheidung, die in „Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft“ nicht weiter ausgebaut wird, taucht in späteren Schriften auf, in denen beschrieben wird, unter welchen Bedingungen sich eine Gesellschaft von der Kreuzcousinenheirat verabschiedet, 30 einer Allianzoption, die unternehmensfreudige Familien längst für „ziemlich langweilig und alltäglich“ 31 halten. Denn die Kreuzcousinenheirat „gibt Sicherheit, erzeugt aber Monotonie: von Generation zu Generation wiederholen sich die gleichen Allianzen, die Sozialstruktur wird einfach reproduziert. Die Heirat auf größere Entfernung dagegen birgt zwar Gefahr und Abenteuer, erlaubt aber auch die Spekulation: sie knüpft völlig neue Allianzen und bringt die Geschichte durch das Spiel neuer Koalitionen in Bewegung.“ 32

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Ebd., S. 374f. Ebd., S. 376. Vgl. Lévi-Strauss, Claude: L’Adieu à la cousine croisée, in: Les Fantaisies du voyageur. XXXIII variations Schaeffner, Paris 1982, S. 36-41. Vgl. Lévi-Strauss, Claude: Kreuzfahrten der Lektüre [1982], in: ders.: Der Blick aus der Ferne, München 1985, S. 120-140, hier S. 121. Lévi-Strauss: Stillstand und Geschichte, S. 70.

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Während Lévi-Strauss in diesen Schriften noch von Lineages und Familien spricht, geht er in seinem Aufsatz „Stillstand und Geschichte“ („Histoire et ethnologie“) dazu über, solche unternehmensfreudigen Familien als „Häuser“ zu bezeichnen. Jene Gesellschaften, in denen sich die obsessive, manipulative Auseinandersetzung mit Verwandtschaftsstrukturen beobachten lässt, sind demnach als Häusergesellschaften zu denken. Häusergesellschaften zeichnen sich dadurch aus, dass in ihnen „Beziehungen der Überlegenheit oder Unterlegenheit zwischen den Individuen oder Gruppen aufhören, transitiv zu sein. Nichts verhindert, daß eine Position, die in mancher Hinsicht überlegen ist, in anderer Hinsicht unterlegen ist.“ 33

In einer Vorlesungsreihe, die er dem Themenkomplex des Hauses widmet, demonstriert Lévi-Strauss anhand unterschiedlicher Übergangsgesellschaften, dass das Wechselspiel zwischen Über- und Unterlegenheit eine Reihe komplementärer Paare erzeugt. Macht und Status (Prestige), Exogamie und Endogamie, Matri- und Patrilinearität, soziale Reproduktion durch Abstammung und durch Wahl sind solche antagonistischen Paare. Das Haus vermischt und kombiniert diese dualen Prinzipien. 34 Als kunstvoll geschmücktes Gebäude, wie es bereits bei Riehl besungen wird, 35 hypostasiert es sie. Die gleichzeitige Geltung dieser dualen Prinzipien bedarf einer Erläuterung. Denn einerseits wird bei Lévi-Strauss eine solche duale Organisation der Häusergesellschaft zeitlich und damit historisch gedacht oder lässt sich zumindest historisieren, wenn er etwa schreibt, dass zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt die Beziehungen der Überlegenheit oder Unterlegenheit aufhören, transitiv zu sein. An einer Stelle wird sogar der Sprung in ein sozialhistorisches Erklärungsmodell gesucht, wenn es etwa heißt, dass in einigen Gesellschaften „rudimentäre Formen von Staat“ 36 die Verwandtschaftsstrukturen durchdringen und diese zur Neuorganisation zwingen. Andererseits hat bei Lévi-Strauss das Denken in komplementären Beziehungen eine zutiefst ahistorische Dimension. Bereits in der frühen Schrift „Traurige Tropen“ beschreibt er die Gesellschaft der brasilianischen Caduveo als eine dual organisierte Gesellschaft. 37 Zahlreiche Gedanken, die er später im Zusammenhang mit dem Haus formulieren wird, finden sich bereits hier – was in den späteren Schriften das Haus als fetischisiertes Gebäude ist, 38 ist in der Gesellschaft der Caduveo die komplexe Körper- und Gesichtsbemalung. So 33 34 35 36 37 38

Ebd., S. 79. Vgl. Lévi-Strauss: Way of the Masks, S. 183f. Vgl. Riehl: Die Familie, S. 173-208. Vgl. Lévi-Strauss: Kreuzfahrten der Lektüre, S. 136. Dieser Punkt wird bei LéviStrauss nicht weiter ausgeführt. Vgl. Lévi-Strauss: Traurige Tropen, S. 143-189. Lévi-Strauss: Clan, Lineage, Haus, S. 205.

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wie das Haus antagonistische Gesetze in sich symbolisch vereint, zeugen die kosmetischen Muster und der Stil der Caduveo von einem ähnlichen Unternehmen, Gegensätzliches zu vereinen: „Der Caduveo-Stil konfrontiert uns also mit einer ganzen Reihe komplexer Probleme. Zunächst gibt es einen Dualismus, der wie in einem Spiegelsaal auf die verschiedenen Ebenen projiziert wird: Männer und Frauen, Malerei und Bildhauerei, Darstellung und Abstraktion, Winkel und Kurve, Geometrie und Arabeske, Hals und Bauch, Symmetrie und Asymmetrie, Linie und Fläche, Randverzierung und Hauptmotiv, Wappenstück und Feld, Figur und Hintergrund. Aber diese Gegensätze fallen erst nachträglich auf; sie haben statischen Charakter.“ 39

In die starren symmetrischen Gegensätze kommt durch die asymmetrische Zerstückelung und Re-Kombination Bewegung hinein. In Lévi-Strauss’ Deutung offenbart der künstlerische (das ist kosmetische und handwerkliche) Stil der Caduveo den Wunsch, angesichts einer streng hierarchischen sozialen Organisation Symmetrie zu denken, ohne jedoch die Sozialstruktur zu verändern. Dabei bedient sich Lévi-Strauss eines konventionellen Begriffs von Kunst, wonach Kunst – „scheinbar harmlos“ 40 – angesichts ökonomischer Härten und Zwänge ausgleichend und kompensatorisch wirken kann. Die von Lévi-Strauss verwendete Metaphorik stützt diese Vermutung, da es heißt, die Kunst der Caduveo vermöge es, „den Widerspruch in ihrer sozialen Struktur“ zu „verschleiern“ oder zu „vertuschen“. 41 Das Doppelgesetz der sozialen Reproduktion, von dem Lévi-Strauss im Zusammenhang des Hauses schreibt, ist somit in dessen ästhetizistischem Programm eingebettet. Seine Theorie des historischen Übergangs scheint eher den Gesetzen eines ästhetischen Kalküls und weniger sozialhistorischen Zwängen zu folgen und entspricht damit dem strukturalistischen Argument. 42 Um es zu wiederholen: bereits der Abschied von der Kreuzcousinenheirat und die Entscheidung für eine exogame Heirat wurden in Worten eines Ge39 40 41 42

Lévi-Strauss: Traurige Tropen, S. 183. Ebd., S. 188. Ebd. „In den menschlichen Gesellschaften wie in den biologischen Arten sind elementare Mechanismen auf identische Weise wirksam, wie hoch auch der jeweilige Komplexitätsgrad jedes Organisationstypus sein mag: auf molekularer Ebene ins Auge gefaßt, sind die physikalisch-chemischen Prozesse überall dieselben. Die Legitimität der vergleichenden Methode beruht nicht auf ausgeprägten oder oberflächlichen Ähnlichkeiten. Sie muß die Analyse bis auf ein Niveau verlagern, das tief genug ist, damit an der Basis jedes sozialen Lebens einfache Besonderheiten in Erscheinung treten, die sich zu rudimentären Systemen vereinigen, die eventuell zu den Baumaterialien komplexerer Systeme werden, die ihrerseits einen höheren Integrationsgrad aufweisen und mit vollkommen neuen Merkmalen ausgestattet sind.“ Lévi-Strauss: Kreuzfahrten der Lektüre, S. 125f.

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schmacksurteils gekleidet: die endogame Heirat war bestenfalls „langweilig und alltäglich“. Die Vorstellung des historischen Übergangs als eines ästhetischen zeigt sich nicht zuletzt in der Rede von den minimalen Verzerrungen und Differenzen in den Regeln der Verwandtschaft, denen es nachzuspüren gilt: „Der Übergang von einer Form zur anderen ist häufig kaum wahrnehmbar, kenntlich nur an einer leichten Beugung der Regeln und Verhaltensweisen.“ 43 Für die Frage nach der Entstehung einer Häusergesellschaft ist die Betonung der kaum wahrnehmbaren Verzerrungen überraschend, da es in den untersuchten Häusergesellschaften stets massive soziale und infrastrukturelle Veränderungen sind, die Häuser sichtbar werden lassen. Bereits Boas weist in seinen Aufzeichnungen über die Kwakiutl-Gesellschaft darauf hin, dass erst Abwanderungen, Seuchen und Kriminalität dazu führen, dass bestimmte Regeln der Vererbung und der Allianzbildung modifiziert bzw. verabschiedet werden. Es sind „abandonment of ancient lands and acquisition of new ones by occupation or usage, consession of lands to immigrants, transfer of titles in compensation for murders or other damages, annexation by neighbors of rights or titles left without heirs“, 44

die die Möglichkeiten einer auf Verwandtschaft gegründeten sozialen Reproduktion einschränken. Boas’ Aufzählung fasst in wenigen Worten die sozialen und politischen Veränderungen zusammen, die in der KwakiutlGesellschaft durch den Kontakt der einheimischen Bevölkerung mit kanadischen Handelsleuten und der kanadischen Regierung ausgelöst wurden. Die alte Ordnung der verwandtschaftlichen Verbände und deren Hierarchie untereinander wurden dadurch verändert, dass statusniedrige Gruppen anfingen, mit der kanadischen Regierung Handel zu treiben und ihren Reichtum zu mehren. Die alten Familien sahen sich plötzlich Parvenüs gegenüber: „A rising stream of cash began to flow into the local economy, allowing new contenders to compete with the traditional chiefs for precedence and position. This caused competition over rights to privileges to intensify in the late nineteenth century, and it increased the quantities of goods offered at such public ritual distributions of wealth.“ 45

Mit der Statusveränderung der alten verwandtschaftlichen Verbände wandelt sich die Funktion der Sprache der Verwandtschaft. Sie

43 44 45

Lévi-Strauss: Stillstand und Geschichte, S. 72. Vgl. Boas: Kwakiutl, S. 171. Wolf, Eric R.: Envisioning Power. Ideologies of Dominance and Crisis, Berkeley/Los Angeles/London 1999, S. 80. Zur Entwicklung der Kwakiutl-Gesellschaft im 19. Jahrhundert vgl. ebd., S. 74-88; Mauzé, Marie: Boas, les Kwagul et le potlatch: Élements pour une reévaluation, in: Homme 26 (1986), S. 21-53.

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„dient nicht mehr dazu, die Sozialstruktur zu verewigen, sondern wird ein Mittel, sie zu sprengen und umzuformen. Die Familien reproduzieren sich nicht mehr nach Regeln, die für alle gelten; jede fühlt sich frei, zu ihrem Vorteil zu verfahren.“ 46

Während zuvor für alle die Regel der standesgemäßen ebenbürtigen Heirat gegolten hatte, werden nun vorteilhafte Mesalliancen möglich. In einer solchen Gesellschaft ist die Ehe nur mehr in der Alternative Hypergamie (Heirat zwischen einem ranghohen Mann und einer Frau niederen Ranges) oder Hypogamie (Heirat zwischen einer ranghohen Frau und einem Mann niederen Ranges) denkbar. 47 Der Austausch zwischen den nicht ebenbürtigen Gruppen kann nur deshalb stattfinden, weil in der Häusergesellschaft Macht und Status divergieren und gegeneinander ins Feld geführt werden können. Lévi-Strauss’ Theorie der Häusergesellschaft setzt sich somit aus ästhetischen Elementen und sozialhistorischen Beobachtungen zusammen. Sie verdankt sich zunächst dem Import der historischen Kladistik und genealogischen Forschung in die Ethnologie. 48 Sie beansprucht, der ethnologischen Terminologie mit „Haus“ einen weiteren terminus technicus hinzuzufügen. Man kann nachträglich feststellen, dass Lévi-Strauss mit seinem Import erfolgreich war. In der zeitgenössischen ethnologischen Forschung stellt der Begriff des Hauses eine wichtige Kategorie dar, die sich nicht allein zur Analyse von Verwandtschafts- und Gesellschaftsstrukturen eignet. 49 Die Erforschung des Hauses zeigt darüber hinaus, wie die materielle Verkörperung sozialer Strukturen aussehen kann; wichtige Ergebnisse der ethnologischen Häuserforschung konnten auf diese Weise in neue Überlegungen zur material culture eingehen. Während also der Import eines Begriffs, den LéviStrauss der Geschichtswissenschaft entnahm, in die Ethnologie geglückt scheint, stellt sich die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen eines ReImports der durch den Begriff des Hauses gewonnenen ethnologischen Erkenntnisse in die historische und germanistische Kulturwissenschaft. Das 46 47 48

49

Lévi-Strauss: Stillstand und Geschichte, S. 72. Vgl. Lévi-Strauss: Way of the Masks, S. 181f. Vgl. Lévi-Strauss: Stillstand und Geschichte, S. 82f.; Lévi-Strauss: Way of the Masks, S. 174f. Lévi-Strauss zitiert etwa Schmid, Karl: Zur Problematik von Familie, Sippe und Geschlecht, Haus und Dynastie beim mittelalterlichen Adel. Vorfragen zum Thema „Adel und Herrschaft im Mittelalter“, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 105 (1957), S. 1-62. Vgl. Lévi-Strauss, Claude: Maison [1991], in: Bonte, Pierre/Izard, Michel (Hg.): Dictionnaire de l’ethnologie et de l’anthropologie, Paris 1991, S. 434-436; Carsten, Janet/Hugh-Jones, Stephen (Hg.): About the House. Lévi-Strauss and Beyond, Cambridge 1995; Joyce, Rosemary A./Gillespie, Susan D. (Hg.): Beyond Kinship. Social and Material Reproduction in House Societies, Philadelphia 2000; Sparkes, Stephen/Howell, Signe (Hg.): The House in Southeast Asia. A changing social, economic and political domain, London 2003.

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historische und literarische Material eignet sich wiederum dazu, LéviStrauss’ strukturalistische Theorie eines historischen Übergangs zu überprüfen.

III. Die wilhelminische Häusergesellschaft Die zu Beginn zitierte Stelle aus Kafkas Romanfragment „Das Schloß“, das in den Jahren 1922 bis 1924 entsteht, ist im Zusammenhang einer literarhistorischen Periode zu sehen, die bevorzugt von der sozialen Reproduktion von Häusern und wechselnden Verwandtschaftskonstellationen erzählt. Eine solche literarhistorische Linie lässt sich mit Friedrich Hackländers „Handel und Wandel“ und Gustav Freytags „Soll und Haben“ beginnen und mit Theodor Fontanes Romanen „Vor dem Sturm“, „Der Stechlin“ und „Die Poggenpuhls“ oder etwa Thomas Manns „Buddenbrooks“ fortsetzen. Die Romanliteratur lässt sich um die zahlreichen genealogischen Abhandlungen oder auch Zeitschriften wie „Die Gartenlaube“ und „Daheim“ erweitern, die ebenfalls häusliche und verwandtschaftliche Zusammenhänge ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. Ein eindrückliches Dokument dieser Passion für Häuser besteht in Fontanes mehrbändigem Werk „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“, in dem er zunächst Reste und Fundstücke der (jüngst) vergangenen Kultur des märkischen Adels versammelt und kommentiert, bevor er die auf diese Weise dokumentierten Geschichten und Gerüchte für seine Romane weiter verarbeitet. Die Besonderheit dieser Texte besteht darin, dass sich „Haus“ nicht allein auf das dynastische Haus des Adels bezieht, sondern – ganz im Sinne von Lévi-Strauss – auf alle Inhaber einer Domäne (sei sie als Rittergut, Geldvermögen, Immobilie, Privileg oder gar akademischer Titel definiert), die ihre Perpetuität in der Sprache der Verwandtschaft bzw. Schwiegerverwandtschaft artikulieren. Dazu können Familienunternehmen und Banken genauso gehören wie Künstler-, Handwerker- und Akademikerhaushalte. Die Häuser entstehen und reproduzieren sich auf eine Weise, die sich mit Lévi-Strauss’ Begriff des Hauses ziemlich genau beschreiben lassen. Die Perpetuität der Häuser wird stets durch das Wechselspiel eines Doppelgesetzes sichergestellt. Die Bedeutung des Hauses für die wilhelminische Gesellschaft zeigt sich am Status des Hauses im Verhältnis zur Familie. Für LéviStrauss ist die Familie vor allem durch „monogame Heirat, unabhängigen Wohnsitz der Jungvermählten, affektive Beziehungen zwischen Eltern und Kindern“ 50 gekennzeichnet. Das Haus als eine Körperschaft, die um die Kontinuität ihrer Domäne bemüht ist, steht in einem parasitären Verhältnis zur

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Lévi-Strauss, Claude: Die Familie [1956], in: ders.: Der Blick aus der Ferne, München 1985, 73-104, hier S. 74.

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Familie und zur Ehe. 51 Die Literatur der wilhelminischen Häusergesellschaft erzählt von diesem Verhältnis anhand dritter Figuren, allen voran anhand der ehelosen Schwester, die auf intrikate Weise in die Ehe ihres Bruders eingeschlossen ist. Das trifft für Fontanes „Vor dem Sturm“ und „Der Stechlin“ genauso zu wie für Thomas Manns „Buddenbrooks“. In diesen Romanen wird zunächst die patrilineare Sukzession der Vermögen und Titel erwartet. Davon zeugen die zahlreichen Verfallserzählungen von den jeweils letzten männlichen Erben eines Hauses. Das berühmte Beispiel einer solchen Verfallserzählung ist „Buddenbrooks“, wo mit dem Tod Hanno Buddenbrooks das Haus in der männlichen Linie ausstirbt. Weniger bekannt ist die Tatsache, dass dieselbe Literatur, die vordergründig vom Verfall der Häuser spricht, verwandtschaftliche Konstellationen entwirft, die eine Perpetuität der jeweiligen Häuser in Aussicht stellen. An dieser Stelle kommen die ehelosen Schwestern ins Spiel. Es ist, als würden sich zwei konkurrierende soziale Dreiecke ineinander schrauben. Das kleinfamiliale Dreieck Vater/Mutter/Kind wird nicht nur in „Buddenbrooks“ von einer anderen triangulären Konstellation überlagert. Der Vater und seine Schwester – also die Vaterschwester – bilden darin eine geschwisterliche Allianz. Die ehelose Schwester reproduziert sich auf diese Weise über ihren Bruder und ihren Neffen. Jene Beziehung, die diese Romane antreibt und die Erzählung am Laufen hält, ist in den meisten Fällen die Beziehung zwischen Neffe und Tante – ihre karikatureske Zuspitzung erfährt diese Beziehung 1901 in einer Schrift Erich Mühsams, die den Titel trägt: „Zur Psychologie der Erbtante. Eine Thantologie“. Die Ehelosigkeit der Schwestern erscheint also noch in der wilhelminischen Gesellschaft als Teil einer Hauspolitik, die bisweilen die potentielle Mitgift der Schwestern entweder direkt in die Ehe des Bruders umleitet oder indirekt über das Erbe, das die ehelose Tante dem Neffen hinterlässt. 52 Die häusliche Struktur lässt sich somit – in Abkehr von familialem Denken und durch Einführung der Operationen sozialer Reproduktion – als das Ineinandergreifen von zwei verwandtschaftlichen Beziehungen beschrei51

52

Parasitär meint hier, dass es nicht zu einem Austausch zwischen Haus und Familie kommt, sondern dass sich das Haus der Familie bedient. Ich verwende „parasitär“ nicht pejorativ, sondern im Sinne von Serres, Michel: Der Parasit, Frankfurt/M. 1987 [1980]. Die ehelose Vaterschwester der wilhelminischen Literatur ist im Zusammenhang jener Tanten zu sehen, die vor allem in der Frühen Neuzeit die Perpetuität ihrer Häuser sicherstellen, vgl. den Beitrag von Michaela Hohkamp in diesem Band und darüber hinaus Hohkamp, Michaela: Eine Tante für alle Fälle: Tanten-Nichten-Beziehungen und ihre politische Bedeutung für die reichsfürstliche Gesellschaft der Frühen Neuzeit (16. bis 18. Jahrhundert), in: Lanzinger, Margareth/Saurer, Edith (Hg.): Politiken der Verwandtschaft, Wien 2007, S.149-171; dies.: Tanten. Vom Nutzen einer verwandtschaftlichen Figur für die Erforschung familiärer Ökonomien in der Frühen Neuzeit, in: Werkstatt Geschichte 46 (2007), S. 5-12.

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ben; die eheliche oder familiale Verbindung wird darin um eine geschwisterliche Verbindung erweitert. Eine solche minimalistische Definition der häuslichen Struktur erlaubt literarische und kulturwissenschaftliche Mikroanalysen, in denen das Haus nicht mehr für die genealogische Abfolge der Generationen in der männlichen Linie steht, sondern für zwei verschiedene verwandtschaftliche Beziehungen in ihrer Kopplung. Wenn man Lévi-Strauss’ Überlegungen zur Häusergesellschaft folgt, dann muss zuerst die Divergenz von Macht und Status soziale Gebilde wie Häuser entstehen lassen. Und in der Tat lässt sich diese Beobachtung anhand der deutschen Gesellschaft des späten 19. Jahrhunderts, allen voran anhand der wilhelminischen Gesellschaft des Deutschen Kaiserreichs, in der die Häuser-Literatur entsteht, bestätigen. Allerdings wird diese Divergenz in der jüngsten historischen Forschung fast ausschließlich als Merkmal des in sich hochgradig heterogenen Adels gewertet. So stellt Stephan Malinowski für den preußischen Adel fest: „Doch problematisch und unvereinbar mit allen Demokratisierungstendenzen war weniger der Typus des reichen Großgrundbesitzers als diese, in Preußen ungewöhnlich zahlreiche Gruppe, die zunehmend mäßige Mittel mit maßlosen Ansprüchen kombinierte.“ 53

Malinowski positioniert diese Beobachtung gegen die These von der sozialen Synthese von Adel und Bourgeoisie als eines Bündnisses der Eliten, das die wilhelminische Gesellschaft (und infolgedessen die sozialen Entstehungsbedingungen des deutschen Faschismus) am nachhaltigsten beeinflusst habe. Er bringt gegen das vermeintliche Bündnis der Eliten das Heer des „Adelsproletariats“ 54 in Stellung und formuliert in nuce das Programm einer neuen Adelsforschung „vom adligen ‚unten‘“: 55 „Nicht Konservatismus, Beharrung und starre Modernitätsverweigerung, sondern Dynamik und Radikalisierung, nicht materialistische Profitmaximierung einer homogenen ‚Rittergutsbesitzerklasse‘, sondern die anti-materialistische Bilderproduktion chancenloser Söhne und Töchter, nicht Kapitalistenklasse und Elitensynthese, sondern Fragmentierung, Abstieg und völkische Mittelstandsideologie sind die zentralen Stichworte.“ 56

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54 55 56

Malinowski, Stephan: Ihr liebster Feind. Die deutsche Sozialgeschichte und der preußische Adel, in: Müller, Sven Oliver/Torp, Cornelius (Hg.): Das Deutsche Kaiserreich in der Kontroverse, Göttingen 2009, S. 203-218, hier S. 208. Ebd. Ebd., S. 218. Ebd., S. 217. Malinowski schlägt in diesem Zusammenhang die Aufnahme eines neuen analytischen Begriffs vor: „Die in der Adelsgeschichte wohl ideale analytische Einheit […] bietet […] die Familie im adligen Sinn des Wortes, also als Großverband von Namensträgern“ – dem ist nur hinzuzufügen: also als Haus. Vgl. ebd., S. 218.

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Diese überzeugenden Beobachtungen zur Heterogenität des Adels im Deutschen Kaiserreich sind – und das scheint mir der blinde Fleck von Malinowskis Programm zu sein – mit der Karikierung der Bourgeoisie erkauft. Wenn es etwa heißt, dass „Paul v. Schwabach oder die Brüder v. Siemens […] durch Adelstitel und Villenkäufe nicht adliger als Friedrich v. Schiller und Johann Wolfgang v. Goethe“ 57 wurden, stellt sich die Frage, nach welchen Kriterien Malinowksi selbst das Adelsprädikat vergibt. Die „harte[n] Kriterien“, die er zur Bestimmung des Adels anführt („Konnubium, Berufswahl, Ausbildung“ 58), lassen zwar tatsächlich erkennen, dass es in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle nicht zu einer Verschmelzung des Adels und der Bourgeoisie gekommen ist – wichtig scheint mir, dass diese Verschmelzung dennoch immer wieder aufs neue (wenn auch vergeblich) erprobt und gewünscht wurde. Ausgehend von einem operativen Begriff des Hauses ist zu erkennen, dass sich jene Techniken der sozialen Reproduktion, denen sich – nach Malinowski – das adlige Haus bedient, auf der Seite des Bürgertums und der Bourgeoisie ebenfalls beobachten lassen. 59 Das Haus bedient sich in allen drei Fällen einer Sprache. Die Divergenz von Macht und Status, die eine Heterogenität des Adels erkennen lässt, sucht auch das Bürgertum und die Bourgeoisie heim. So lässt sich etwa – das soll die folgende Lektüre verdeutlichen – die „Bilderproduktion chancenloser Söhne und Töchter“, von der Malinowski im Zusammenhang mit dem adligen Haus schreibt, ebenfalls auf das bürgerliche Begehren nach sozialer Reproduktion übertragen.

Exkurs: Paul Wallichs „Lehr- und Wanderjahre“ Paul Wallich (1882-1938), der Sohn eines Berliner Bankiers, setzt mit den „Lehr- und Wanderjahren“ die Tradition der Hausbücher fort, die der Vater, Hermann Wallich (1833-1928) mit seinen Erinnerungen „Aus meinem Leben“ begründet. 60 Die väterlichen Notizen sollen den Kindern „zur Beleh-

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60

Ebd., S. 210. Ebd. Die Unterscheidung zwischen Bürgertum und Bourgeoisie ist in der deutschen Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts nicht zuletzt antisemitisch überzeichnet. Die bürgerlichen jüdischen Häuser werden zunehmend als bourgeois bezeichnet, vgl. als wilhelminisches Manifest der Unterscheidung zwischen deutsch-bürgerlich und jüdischbourgeois Sombart, Werner: Der Bourgeois. Zur Geistesgeschichte des modernen Wirtschaftsmenschen, München/Leipzig 1913. Vgl. Wallich, Hermann: Aus meinem Leben, in: Zwei Generationen im deutschen Bankwesen, S. 29-158; Wallich: Lehr- und Wanderjahre eines Bankiers, in: ebd., S. 159-426.

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rung und Weisung“ 61 dienen und beginnen – gemäß den Angaben einer Hauschronik 62 – mit genealogischen Angaben: „Ich bin am 28. Dezember 1833 in Bonn geboren. Meine Eltern gehörten alten respektablen jüdischen Familien an. Mein Vater war der Abkömmling einer Familie, die seit mehreren hundert Jahren am Rhein ansässig und der Überlieferung nach vom Westen eingewandert war. Unter den Vorfahren befanden sich berühmte Ärzte, wie denn nachweislich ein Isaac Wallich sich bereits 1689 den Doktortitel in Padua holte. Die Familie meiner Mutter war weniger angesehen im Ort, weil sie jüngeren Datums (aus dem Elsaß) eingewandert war und man noch einen Unterschied zwischen alt Eingesessenen und verhältnismäßig neu Eingewanderten machte. Diese Familie zeichnete sich aber durch große Intelligenz und Rührigkeit aus, welche denn auch die einzelnen Mitglieder in späterer Zeit sehr zu ihrem Vorteil betätigten.“ 63

Hermann Wallich führt den Ruhm seines Hauses auf die (in diesem Fall hypergame) Zusammenführung von Status (das väterliche Haus) und Vermögen (das mütterliche Haus) zurück. Der Status eines Hauses wird auch hier – gemäß den Genrebestimmungen der Hauschronik – anhand der Jahre abgemessen, die es an einem Ort verbracht hat („seit mehreren hundert Jahren am Rhein ansässig“). 64 Das Vermögen eines Hauses wird weniger auf materielle Reichtümer, sondern eher auf geistige Gaben („große Intelligenz und Rührigkeit“) zurückgeführt. Die Notizen werden fortgesetzt mit einzelnen schulischen und beruflichen Stationen in Herrmann Wallichs Leben, in die Angaben zur Heirat, Geburt von Kindern und zum Tod von Verwandten ebenso wie „Überlegungen zur künftigen politischen und ökonomischen Entwicklung“ 65 des Kaiserreichs integriert werden. Im Gegensatz zu den väterlichen Aufzeichnungen, deren vielseitig rhapsodischer Charakter auf den umfassenden Anspruch einer Lebenserfahrung, die es „dem neuen Geschlecht“ 66 weiterzugeben gilt, zurückzuführen ist, berichten die Aufzeichnungen des Soh61 62

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65 66

Vgl. Wallich: Aus meinem Leben, S. 31. In der wilhelminischen Gesellschaft ist es durchaus üblich, von professionellen Historikern genealogische Tafeln der eigenen Familie aufstellen zu lassen, vgl. Kaufmann, David: Hundert Jahre aus einer Familie jüdischer Ärzte. Dr. Leo, Dr. Jakob, Dr. Isak, Dr. Wolf Winkler [1890], Gesammelte Schriften, Bd. 3. Frankfurt/M. 1915, S. 286295; ders.: Zur Geschichte der Familie Pisa [1894], Gesammelte Schriften, Bd. 2. Frankfurt/M. 1910, S. 277-284; ders.: Ein Jahrhundert einer Frankfurter Ärztefamilie [1897], Gesammelte Schriften, Bd. 3. Frankfurt/M. 1915, S. 296-302. Wallich: Aus meinem Leben, S. 31f. In welchem Maß sich der Status des Hauses anhand der Jahre bestimmen lässt, die es an einem Ort verbracht hat, geht daraus hervor, dass beide Häuser aus dem Westen eingewandert sind. Die Einwanderung ist allgemein – entscheidend ist nur, wie lange sie zurückliegt. Der Status des Hauses scheint berechenbar. Ebd., S. 137. Vgl. ebd., S. 31.

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nes von einem klar abgegrenzten Lebensabschnitt, der dem Plan eines umfassenden sozialen Aufstiegs gewidmet ist: „Mein ausgesprochenes Weltanschauungsideal war damals die Hebung des sozialen Standards der Familie. Dazu gab es, nach mir, nur drei Wege, die möglichst alle drei hätten beschritten werden müssen. Den ersten hatte ich schon verfehlt: es war der Eintritt in ein Korps. Der dritte – und wichtigste – lag noch in weitem Felde, es war die Gattin von ‚Familie‘. Der zweite aber [...] war der Reserveoffizier.“ 67

Die Aufzeichnungen beginnen mit dem Verlassen des elterlichen Hauses und dem Studium in Freiburg und enden mit der Anstellung in der Berliner Handels-Gesellschaft. Von Paul Wallichs Verlobung erfährt der Leser nur in einer einleitenden Notiz; weder der Name der Braut noch die Umstände der Eheanbahnung werden erwähnt. 68 Wallich schließt alle Überlegungen zu seiner Heirat mit der bürgerlichen Hildegard Rehrmann, der Tochter eines Lehrers, aus seinen Erinnerungen aus. Ausgehend von seinen eigenen Vorgaben zum sozialen Aufstieg, der die Heirat mit einer Adligen vorschreibt, erscheint diese Allianz als eine Kompromisslösung, 69 die den schwachen Status der Söhne jüdischer Herkunft wiederholt verdeutlicht. Das Fehlen jeglichen Kommentars bezüglich der Heirat kontrastiert mit den zahlreichen Ausführungen über misslungene Versuche, eine gute Partie zu machen. Wallichs „Lehr- und Wanderjahre“ lesen sich als Protokoll eines langen rite de passage, der noch vor der endgültigen Aufnahme in das Haus der Braut endet. Das Protokoll hält Ankünfte in fremden Städten (Freiburg, Posen, Hamburg, Paris, London und New York) und Aufnahmen in Handelshäuser fest. Die einzelnen Abschnitte der „Lehr- und Wanderjahre“ sind nach diesen Stationen geordnet. Jeder Abschnitt wiederum enthält die Beschreibung einer Kette von Aufnahmebemühungen in die gute Gesellschaft der jeweiligen Stadt – Aufnahmebemühungen, die durch Paul Wallichs jüdische Herkunft erschwert werden, obwohl er von seinen Eltern mit Rücksicht auf seine berufliche Zukunft getauft wurde. 70 Im Zuge der Bemühungen um Mitglied67

68

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Wallich: Lehr- und Wanderjahre, S. 167f.: zum Vergleich der beiden Autobiografien im Hinblick auf den sich wandelnden jüdischen Assimilationsprozess vgl. Mosse, Werner E.: Problems and Limits of Assimilation. Hermann and Paul Wallich 18331938, in: Year Book of the Leo Baeck Institute 33 (1988), S. 43-65. „Zwischen meiner Rückkehr aus Südamerika und meiner Verlobung im Februar 1913 liegen ziemlich genau drei Jahre, die ich als Junggeselle in Berlin und Potsdam zubrachte. Anderthalb weitere Jahre brachte ich an den gleichen Orten als verheirateter Mann zu.“ Ebd., S. 362. Paul Wallichs Schweigen über seine Heirat kontrastiert mit den Ausführungen des Vaters in „Aus meinem Leben“, wo er die genauen Umstände seiner Eheschließung mit Anna Jacoby beschreibt, vgl. Wallich: Aus meinem Leben, S. 128-132. Vgl. Mosse: German-Jewish Economic Élite, S. 155f. Vgl. Wallich, Hermann: Aus meinem Leben, S. 132.

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schaften auf der „Aspirantenliste“, 71 die ihm eine gehobene soziale Stellung sichern sollen, sieht er sich wiederholt entweder im Verein mit nicht getauften Juden, von denen ihn – in den Augen der Gesellschaft – weniger trennt, als ihm lieb ist, oder im Verein mit anderen Getauften. 72 Paul Wallich bestimmt seine Position daher stets im Hinblick der doppelten Abstandsmessung zu den adligen und den jüdischen Häusern. Während er nach seiner Ankunft in Freiburg (1901) und noch in der Hamburger Zeit (1905/06) diese streng meidet, um in jene aufgenommen zu werden, und sich damit zeitweise jeglichen gesellschaftlichen Verkehrs beraubt, 73 gibt er in der darauf folgenden Zeit die selbst auferlegten Reglements nach und nach auf und wird Teil der städtischen Boheme. In die erste Phase der sozialen Meidung der jüdischen Häuser fällt Paul Wallichs Versuch, durch die Heirat mit der Schwester seines Freundes, Julius vom Rath, in ein adliges Haus aufgenommen zu werden: „Und wirklich – dieser vorzügliche Freund vergaß kölnisches Patriziervorurteil soweit, für mich um die Hand seiner Schwester zu werben.“ 74 Die Werbung misslingt: „You must draw the line somewhere! hatte die alte Dame ihrem Sohn wahrscheinlich seinerzeit auf seine Werbung geantwortet; es war schließlich nicht ganz meine Schuld, wenn ich erst etwas spät verstand, wo die Scheidelinie gezogen werden sollte. Ich habe das Haus der Frau vom Rath nicht wieder betreten.“ 75

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Wallich: Lehr- und Wanderjahre, S. 177. „Als ich ihn in meiner Angelegenheit aufsuchte, erklärte er mir, er habe noch zwei ähnliche ‚Fälle‘ bei dieser Wahl durchzubringen, sei aber guter Hoffnung für uns alle drei. Wie ich später erfuhr, handelte es sich dabei um die gleichfalls reüssierenden Bob Oppenheim und Walter Hecht.“ Ebd., S. 216; vgl. hierzu auch S. 178; 224. „Als ich nach Freiburg kam, war ich Antisemit, mehr als ich es je wieder gewesen.“ / „Daß ich das Schwergewicht meines Verkehrs in eine rein arische Richtung zu legen suchte, hat mir den ganzen Freiburger Aufenthalt verdorben. Ich habe dadurch eben gar keinen Verkehr gehabt.“ / „Eine Empfehlung von Mankiewitz an ein sehr nettes Haus – Sport und junge Mädchen – ließ ich ostentativ unbenutzt, weil die Leute Juden waren.“ / „Mein Leben in Hamburg war der typische Werdegang des langsam reüssierenden Strebers mit allen Sorgen und Besorgnissen, mit gelegentlichen Niederlagen, die man einstecken muß, und schließlich ein paar kleinen Erfolgen, die nach all den Mühen und Unannehmlichkeiten nicht mehr die Freude machen, die man sich erst von ihnen versprochen hat.“ Vgl. ebd. S. 161; 162; 164; 218; zu Paul Wallichs gesellschaftlichem Ehrgeiz vgl. Mosse: German-Jewish Economic Élite, S. 145ff. Wallich: Lehr- und Wanderjahre, S. 221. Ebd. Die Heirat der „Kameradenschwester“ – ein Topos der deutschen Freikorpsliteratur der 1920er Jahre – wird bei Klaus Theweleit als eine bestimmte Form der Vermeidung ökonomischen und politischen Austauschs gedeutet: „Die Heiraten, die möglich sind, geschehen fast immer nach dem Muster: die eigene Schwester für den Kameraden/guten Freund/bewunderten Mann, und dessen Schwester zur eigenen Frau. [...] Betrachten wir die Verbindung mit einer Frau vom Typ ‚Kameradenschwes-

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In der zweiten Phase seines gesellschaftlichen Ehrgeizes, in der Wallich die jüdischen Häuser nicht mehr streng meidet, führt er die Besonderheit seines soziales Leben, das in der Mischung aus Assimilationsbemühungen an die gute Gesellschaft und die Boheme besteht, auf sein „nomadisierendes Volontärleben“ zurück. 76 Sein dekadenter Lebensstil („das Bummelleben junger Leute, die ziemlich reichlich Geld, nicht im gleichen Maße Geschmack haben und nicht besonders knapp mit ihrer Zeit gestellt sind“ 77) entpuppt sich als Effekt einer Erziehungskrise, die sich – so Wallich – im Institut des Volontariats für Söhne aus reichem Hause offenbart. Diese Söhne sind analog zu den Haustöchtern, die ihrer Versorgung harren, als Haussöhne zu bezeichnen: „Die Volontärjahre! [...] Hier liegt die Schwierigkeit für die Erziehung junger Leute, die durch besondere Beziehungen berufen zu sein scheinen, später leitende kaufmännische Stellungen einzunehmen, ohne doch ein väterliches oder sonstwie verwandtes Geschäftshaus hierzu zu ihrer Verfügung zu haben. [...] So sammelt der fahrende Volontär in der Regel eine gewisse Menge ungenügend fundierter und unreifer Kenntnisse, die sich im Gedächtnis verwirren und kaum eine ganz vage Basis für spätere aktive Geschäftsbetätigung geben.“ 78

Zwischen dem Zeitpunkt der so genannten Berufung zur „leitende[n] kaufmännische[n] Stellung“ und der tatsächlichen „aktive[n] Geschäftsbetätigung“ liegen im Fall Wallichs mehrere Jahre, in denen er nicht nur wiederholt die Handels- und Bankhäuser, in denen er als Volontär tätig ist, wechselt, sondern auch weite Reisen unternimmt. In jedem neuen Haus ist es ihm selbst überlassen, unter widrigen Umständen sich Kenntnisse anzueignen, da die Geschäftsinhaber nicht gewillt sind, dem Volontär, auf den andernorts eine lukrative Tätigkeit wartet, ihr Wissen weiterzugeben und ihre Betriebsgeheimnisse zu enthüllen. Die lange Phase der Volontärjahre ist deshalb eine

76 77 78

ter‘ vergleichend mit verschiedenen aus der Ethnologie bekannten Heiratsregeln, so fällt auf, daß diese weder ökonomisch noch politisch fundiert ist, sondern allein psychisch.“ Klaus Theweleit: Männerphantasien, Bd. 1 und 2. München/Zürich 2000 [1977/78], S. 129f. Theweleits These von der Tauschblockade durch „die Verbindung mit einer Frau vom Typ ‚Kameradenschwester‘“ ist zu widersprechen. Wie die Passage bei Wallich verdeutlicht, dient selbst die zu Beginn homoerotisch gefärbte Freundschaft mit Julius vom Rath dem Zweck, Wallich die Tür zur guten Gesellschaft zu öffnen. Durch die Allianz der Häuser Wallich und vom Rath würden – gemäß den Regeln der Häusergesellschaft – Status und Vermögen ausgetauscht werden. Vgl. Wallich: Lehr- und Wanderjahre, S. 213. Ebd., S. 273. Ebd., S. 213; vgl. hierzu auch S. 288. Aber auch die Söhne, die in den Häusern ihrer Väter ausgebildet werden, sehen sich neuen Problemen gegenüber: Es fehlt ihnen die internationale Erfahrung, und ihr Aufstieg innerhalb des väterlichen Hauses wird von den anderen Angestellten nicht gern gesehen, vgl. ebd., S. 213f.

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der nur scheinbaren Ausbildung. In dieser Zeit bilden „die üblichen Volontärfehler, Unregelmäßigkeit der Bürostunden und Wertlosigkeit der gelegentlichen Mitarbeit“ 79 die Grundlage für ein halbherziges Bohemeleben. Da diese Phase von Anfang an nicht der Vermittlung von bestimmten Wissensinhalten dient, wird sie auch nicht nach dem Erlangen einer Qualifikation beendet, sondern aufgrund von natürlichen Umständen (das hohe Alter von Hermann Wallich, Paul Wallichs Vater) und affektiven Vorbehalten (Nervosität angesichts aufgeschobener Festanstellung): „Mein Vater war über 76 Jahre alt, als es sich darum handelte, mich in das praktische Geschäft einzuführen. Dies hohe Alter hatte ihn auch in den letzten Monaten veranlaßt, ganz besonders auf meine baldige Heimkehr zu dringen. Einige Nervosität hatte auch wohl mitgesprochen, weil er empfand, daß die Anstellung bei der Deutschen Bank vielleicht nicht in allen Dingen so glatt vor sich gehen konnte, wie es seinen und meinen hohen Ansprüchen entsprochen hätte. [...] Nichtsdestoweniger rechneten wir beide, mein Vater und ich, mit Bestimmtheit auf einen sehr warmen Empfang seitens der Bank, [...] die meine Lehrjahre an allen Stellen freundlich unterstützt hatte und deren leitende Direktoren von unseren Wünschen und Absichten laufend orientiert waren. Diesen freundlichen Empfang fand ich in vollem Umfang, als mich mein Vater, ganz wenige Tage nach meiner Rückkehr in die Behrenstraße mitnahm. Bald aber ergab sich ein merklicher Abstand zwischen dem, was wir erwarteten und dem, was die Bank anbot.“ 80

Vater und Sohn besetzen hier gemeinsam die Position des Initianden. Nachdem der Vater seinen Sitz als Vorstandsmitglied der Deutschen Bank freigegeben hat, erstrebt er, dass nun sein Sohn – im Grunde an seiner Stelle – aufgenommen wird. Die darauf folgenden Verhandlungen, die dem Sohn auf absehbare Zeit den Titel des stellvertretenden Direktors sichern sollen, scheitern dennoch. Während dem Volontär Wallich in den vorangegangen Häusern die nötige Ausbildung mit der Begründung verweigert wurde, dieser würde ohnehin bald in das für ihn bestimmte Haus (Deutsche Bank) zurückkehren, 81 empfiehlt ihm nun die Deutsche Bank, die befürchtet, „den Vor79 80 81

Vgl. ebd., S. 289. Ebd., S. 362. Das gilt auch für den Anfang seiner Karriere, als es gilt, als Lehrling in ein Bankhaus aufgenommen zu werden: „Mein Vater, der viele Jahre in leitender Stellung bei der ersten Bank Deutschlands gewesen und immer noch eng mit ihr verbunden war, der so vielen fremden Leuten durch Anstellung ihrer Verwandten oder Protégés gefällig gewesen war – [...] wurde es schwer, in Deutschland ein passendes Haus zu finden, das seinem Sohn die Anfänge des Bankbetriebes beibringen wollte. [...] Bei diesen Häusern aber spielte die Sorge vor dem Einblick in ihr Geschäft, den ich während meiner Lehrzeit gewinnen und später eventuell zum Nutzen der Deutschen Bank verwenden könnte, eine solche Rolle, daß zwei von ihnen meinem Vater sein Anliegen unter nichtigen Vorwänden, natürlich in liebenswürdigster Form, abschlugen.“ Ebd., S. 214f.

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wurf des Nepotismus auf sich zu laden“, sein Glück außerhalb des „früher vom Vater [Hermann Wallich] geleiteten Betriebe“ zu suchen. 82 Die Deutsche Bank spricht von sich – auf der einen Seite – als von einer Körperschaft, deren Reproduktion nicht mehr aufgrund verwandtschaftlicher Loyalitäten erfolgen soll; nicht anders lässt sich die Furcht vor Nepotismus begreifen. Sie ist aber – auf der anderen Seite – noch insofern ein verwandtschaftlich bestimmtes Haus, als es sich als ein „früher vom Vater geleiteten Betriebe“ bezeichnet. Die Rede vom väterlichen Betrieb, in dem nach Abgang des Vaters der Sohn die freigewordene Stelle einnimmt, hallt noch im letzten Verhandlungsgespräch nach, ohne jedoch die endgültige Entscheidung der Wallichs zu beeinflussen: „So ging ich mit meinem Vater zusammen, eine endgültige Unterhaltung mit Mankiewitz zu haben. Der [...] war entrüstet darüber, daß ich [...] die Bank meines Vaters mit einer fremden vertauschen wollte, [...] und war doch nicht in der Lage, das Wort auszusprechen, das mich gehalten hätte.“ 83

Das entscheidende Missverständnis zwischen den beiden Parteien besteht darin, dass die Deutsche Bank zu diesem Zeitpunkt Paul Wallich noch erlaubt, sie als „die Bank meines Vaters“ zu bezeichnen. Ein solches Eigentumsverhältnis würde es Hermann Wallich tatsächlich erlauben, seinen Nachfolger selbst zu bestimmen. Hermann Wallich hat aber nicht mehr den Status eines Patriarchen, der seinen Nachfolger selbst bestimmen kann, sondern ist selbst ein Angestellter, der, nachdem er aus der Bank ausgeschieden ist, diese bestenfalls noch über seine „Wünsche und Absichten“ informieren kann. Diese Passagen, die von den Verhandlungen zwischen den Wallichs und der Deutschen Bank handeln, zeigen, inwieweit sich die Sprache des Hauses gewandelt hat. Noch immer besteht sie darin, Abstammung („die Bank meines Vaters“) gegen eine andere soziale Form auszutauschen. Diese andere Form ist aber nicht mehr als Allianz zu fassen, sondern nur mehr in deren Abweichung als „Nepotismus“. Der Grund für den jahrelangen Informationsfluss zwischen der Deutschen Bank, Herrmann und Paul Wallich kann nicht im Plan der vorgezogenen Rekrutierung neuer Direktoren bestehen. Erst am Ende der Reise und mit der Aufnahme in ein fremdes Haus (Berliner Handels-Gesellschaft) gelingt es Paul Wallich, seinen prekären Status auf eine neuartige Hauspolitik zurückzuführen. Die Berliner Handels-Gesellschaft wird in den Aufzeichnungen als „das Institut Carl Fürstenbergs“ 84 eingeführt. Wallich wird mehr und mehr Zeuge von personalpolitischen Maßnahmen, die auf Fürstenbergs Hauspolitik zurückzuführen sind und dessen Sohn, Hans Fürstenberg, betreffen: „Wir alle 82 83 84

Vgl. ebd., S. 363. Ebd., S. 365. Vgl. ebd.

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wußten, daß von nun an eine Lücke für Hans Fürstenberg jr. offen gehalten wurde.“ 85 Wallich sieht selbst seine eigene Beförderung zum Geschäftsinhaber als Teil der Vorbereitung der bevorstehenden Nachfolgeregelung: „Während ich zwei Jahre zuvor [kurz nach Eintritt in die Berliner HandelsGesellschaft] um den mir zugesagten Direktortitel schließlich mit den letzten Mitteln hatte kämpfen müssen, fiel mir die höchste Stelle, die die Berliner-HandelsGesellschaft zu vergeben hatte, unerwartet in den Schoß. In der zweiten Hälfte des Jahres 1912 entschloß sich Fürstenberg plötzlich, mich zum Geschäftsinhaber zu machen. Was ihn zu diesem Schritt bewogen hat, ist mir auch heute noch nicht bekannt. Am ehesten möchte ich noch annehmen, daß er für die künftige Kandidatur seines Sohnes den Präzedenzfall eines möglichst jugendlichen Inhabers schaffen wollte.“ 86

Vor dem Hintergrund seines eigenen gescheiterten Versuchs, in der väterlichen Bank angestellt zu werden, und angesichts der sozialen Parallelen zwischen den beiden Häusern Wallich und Fürstenberg spekuliert Paul Wallich zunehmend über Carl Fürstenbergs Bestrebungen, den Sohn in die eigene Bank aufzunehmen. Seine Überlegungen betreffen den Status der Haussöhne schlechthin, nachdem neben ihm selbst mit Walter Merton ein weiterer „Sohn“ in die Bank aufgenommen wird: „Walter Merton war der zweite von den vier Söhnen Wilhelm Mertons in Frankfurt, des erfolgreichen Gründers der Metallgesellschaft, und war kaum ein oder zwei Jahre älter als ich. [...] Beim Engagement Mertons begann wohl Fürstenberg mit der Vorbereitung der Bank auf seinen Sohn Hans, der damals als kaum mehr als Zwanzigjähriger irgend etwas auf der Berliner Universität studierte. In des Vaters rasch gruppierendem Hirn stellten sich die Dinge nun so dar – so wenigstens schilderte er sie mir um diese Zeit –, daß die Berliner Handels-Gesellschaft nach Art der Banque de l’union Parisienne in Paris eine Sammelstelle für die Söhne der deutschen HauteFinance werden sollte, die allmählich der Berliner Handels-Gesellschaft die väterlichen Beziehungen und damit immer neuen Geschäftsfundus zubringen sollten. [...] Dasjenige endlich, was die stillschweigende Voraussetzung für Mertons Eintritt in die Bank gewesen war [...], geschah nicht: Weder Fürstenberg noch Ahrens [Mitglied des Vorstands] traten ihm aus der Überflussquelle ihrer Aufsichtsratssitze auch nur einen einzigen ab. [...] Schnell vollzog sich so, was kommen mußte. Fürstenberg wurde des unbeschäftigten, kritischen Zuschauers an der Schwelle seines Büros müde und beschloß, ihn von dort dauernd zu entfernen [...].“ 87

Fürstenberg schwebt eine Art sozialer Reproduktion des Hauses vor, bei der die Söhne nicht allmählich den Status der Väter übernehmen, sondern bei der sie lediglich – als Haussöhne – „die väterlichen Beziehungen“ verkörpern. Die Wendung „Sammelstelle für die Söhne der deutschen Haute-Finance“ suggeriert den unbestimmten Status, den jeder Sohn auf unabsehbare Zeit 85 86 87

Ebd., S. 425. Ebd., S. 399. Ebd., S. 393ff.

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einzunehmen und den er gegebenenfalls mit anderen Söhnen zu teilen hat. Die Folgen eines solchen schwebenden Zustands beobachtet Paul Wallich an der unglücklichen Karriere Walter Mertons, dem ein Sitz verweigert wird, und der die Bank verlässt, nachdem er sie um seine „väterlichen Beziehungen“ bereichert hat. Rückblickend erscheint selbst Wallichs eigene Karriere als Folge einer solchen Väterrekrutierung: „Für meinen Vater besaß er [Carl Fürstenberg] [...] Hochachtung als Bankfachmann, und er hat es später gelegentlich ausgesprochen, daß er sich einen ‚echten‘ Wallich habe leisten wollen. Tatsächlich war er so für mich – oder eher für seinen Plan – voreingenommen, daß er, kaum daß ich einen zusammenhängenden Satz ausgesprochen hatte, ausrief: ‚Ganz der Vater! Das könnte der alte Wallich gesagt haben!‘ Nach fünf Minuten der Unterhaltung fragte er mich, [...], ob ich [...] in seine Bank eintreten wolle.“ 88

Es ist die Beziehung zwischen Vater und Sohn, die der Deutschen Bank und der Berliner Handels-Gesellschaft zu nutzen scheint. Die Banken besetzen somit eine Position, die zuvor von den Häusern selbst eingenommen wurde; während diese durch das Stiften von Ehen miteinander in Verbindung traten und damit die eheliche Allianz und die Familie für ihre Zwecke verwendeten, sind es nun die Banken, die vorzugsweise die Verbindung Vater/Sohn für die Bankenpolitik verwenden. Die Lektüre von Paul Wallichs „Lehr- und Wanderjahren“ sollte vorführen, dass sich die Operationen zur sozialen Reproduktion des Hauses nicht allein – wie etwa von Malinowski angenommen – auf der Seite des Adels beobachten lassen. Die Domäne des Hauses Wallich ist in diesem Fall die Direktorenstelle bei einer Bank, die der Vater an seinen Sohn weiterzugeben sich bemüht. Wallichs Lebenserinnerungen verdeutlichen die Fragilität, die das Bemühen um die Perpetuität kennzeichnet. Eine solche Lektüre verdankt sich dem operativen – von Boas und Lévi-Strauss inspirierten – Begriff des Hauses und dem Konzept der Häusergesellschaft. Lévi-Strauss’ Beobachtung von historischen Konstellationen, in denen „Beziehungen der Überlegenheit oder Unterlegenheit zwischen den Individuen oder Gruppen aufhören, transitiv zu sein“, 89 lässt sich für die wilhelminische Gesellschaft nachweisen. In diesem Zusammenhang ist es nicht ausschließlich der Adel, der seine vormalige Position der Überlegenheit gegenüber der Bourgeoisie nicht mehr auf alle weiteren Beziehungen übertragen kann. Wallichs Lebenserinnerungen eines Bourgeois verdeutlichen die Schwierigkeiten, die ökonomische Überlegenheit in die Status-Überlegenheit zu konvertieren. Die Divergenz von Macht und Status manifestiert sich somit nicht allein innerhalb einer be88 89

Ebd., S. 363. Lévi-Strauss: Stillstand und Geschichte, S. 79.

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stimmten Gruppe (wie etwa im Adel), sondern bringt vor allem die Beziehungen zwischen den Gruppen in Bewegung. Die Beschreibung und Deutung der wilhelminischen Gesellschaft als einer Häusergesellschaft bedarf einer Theorie der Körperschaften, die diese nicht allein im Hinblick auf ihre juristische Verfasstheit definiert, wonach sich aufgrund von Gesetzesänderungen die korporative Struktur fundamental verändert. Für eine solche Theorie der Körperschaften, die vor allem von der Sozialanthropologie entwickelt wurde, sind die einzelnen Gesetze dem Begehren nach der Unsterblichkeit der Körperschaft untergeordnet. Sobald der Wunsch nach der Perpetuität der Körperschaft als primär gesetzt wird, geraten eine Fülle von Techniken in den Blick, die diese am Leben zu erhalten suchen. Für das Haus als Körperschaft gewinnt die sprachliche und literarische Artikulation der Kontinuität eine besondere Bedeutung, insofern nach Lévi-Strauss’ Deutung das Haus von anderen korporativen Strukturen sich zuerst durch die Sprache des Hauses unterscheidet. Der Erfolg einer Hauspolitik wird somit nicht zuletzt auf literarischem Feld entschieden.

EVELYNE LUEF

„und vom drohen sey noch niemand gestorben“ Häusliche Gewalt im 18. Jahrhundert 

„Sein weib sey eine schlechte würthin, laße die kinder zerlumpt hergehen, mithin wolle er sie gar nicht mehr annehmen, übrigens habe er sie noch nicht erschlagen, und vom drohen sey noch niemand gestorben.“ 1

Diese Aussage des Glasermeisters Anton Turbath ist in einem Ratsprotokollbuch des landesfürstlichen Marktes Perchtoldsdorf überliefert, vor dessen Marktgericht er sich 1775 für die Gewalt, die er gegen seine Ehefrau Sabina ausübte, verantworten musste. Sabina und Anton Turbath sind eines von drei Perchtoldsdorfer Ehepaaren, deren häusliche Konflikte im Zentrum der folgenden Ausführungen stehen. Die Analyse ihrer Ehekonflikte beleuchtet, wie Gewalt in der Ehe im 18. Jahrhundert wahrgenommen wurde und welche Möglichkeiten der Konfliktlösung es für die Betroffenen gab. Gilt das Forschungsinteresse häuslicher Gewalt in vormodernen Gesellschaften, muss berücksichtigt werden, dass dabei Handlungen in den Blick geraten, die in der Frühen Neuzeit oft kein Vergehen oder Verbrechen darstellten. Sowohl der Gewaltbegriff, als auch die Normen, an denen er gemessen wird, werden sozial konstruiert und unterliegen historischer Verände

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Der vorliegende Aufsatz basiert auf meiner gemeinsam mit Petra Pribitzer geschriebenen Diplomarbeit, die im April 2007 an der Universität Wien approbiert wurde. Vgl. Luef, Evelyne/Pribitzer, Petra: „und sollen die eheleith friedlich und einig miteinander leben...“. Häusliche Gewalt in niedergerichtlichen Quellen des 18. Jahrhunderts, Dipl. Univ. Wien 2007.Archiv der Marktgemeinde Perchtoldsdorf [AMP] B1/37: Sitzung vom 14.08.1775, fol. 297r. Die handschriftlichen Quellen wurden buchstabengetreu transkribiert. Bis auf Satzanfänge und Eigennamen wurde einheitlich die Kleinschreibung verwendet. Der vorliegende Aufsatz basiert auf meiner gemeinsam mit Petra Pribitzer geschriebenen Diplomarbeit, die im April 2007 an der Universität Wien approbiert wurde. Vgl. Luef, Evelyne/Pribitzer, Petra: „und sollen die eheleith friedlich und einig miteinander leben...“. Häusliche Gewalt in niedergerichtlichen Quellen des 18. Jahrhunderts, Dipl. Univ. Wien 2007.Archiv der Marktgemeinde Perchtoldsdorf [AMP] B1/37: Sitzung vom 14.08.1775, fol. 297r. Die handschriftlichen Quellen wurden buchstabengetreu transkribiert. Bis auf Satzanfänge und Eigennamen wurde einheitlich die Kleinschreibung verwendet.

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rung. 2 Ehefrau, Kinder und Gesinde unterstanden dem als legitim angesehenen Züchtigungsrecht des Hausvaters und waren damit – bis zu einem gewissen Grad – auch potentiell seiner Gewalttätigkeit ausgesetzt. 3 Im „Großen vollständigen Universal-Lexikon aller Wissenschaften und Künste“ von Johann Heinrich Zedler aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wird „Gewalt“ folgendermaßen definiert: „Gewalt, heißt das Vermögen etwas auszurichten, entweder mit Fug und Recht, und alsdenn ist es eine rechtmäßige Gewalt, potestas, Pouvoir, oder ohne Recht und aus Muthwillen, da ist es eine straffbare Gewaltsamkeit, Vis, violentia: und da ist man befugt, Gewalt mit Gewalt, wie man kann, zu vertreiben.“ 4 Wie Michaela Hohkamp bereits 1995 betonte, konnte Gewalt in der Frühen Neuzeit entweder legitim, im Sinne von „potestas“, oder illegitim, als „violentia“, ausgeübt werden. 5 Violentia und potestas unterschieden sich jedoch nicht darin, dass ausschließlich violentia mit der Anwendung physischer oder psychischer Gewalt einherging. 6 Auch im Rahmen von potestas

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Vgl. Lorenz, Maren: Physische Gewalt - ewig gleich? Historische Körperkontexte contra absolute Theorien, in: Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit 4 (2004), S. 9-24 und Imbusch, Peter: Der Gewaltbegriff, in: Heitmeyer, Wilhelm/Hagan, John (Hg.): Internationales Handbuch der Gewaltforschung, Wiesbaden 2002, S. 26-57. Für einen Forschungsüberblick zum Thema häusliche Gewalt und eine kritische Auseinandersetzung mit bisherigen Arbeiten vgl. Luef, Evelyne/Pribitzer, Petra: „und sollen die eheleith friedlich und einig miteinander leben...“, S. 18-31. Genannt seien beispielsweise Beck, Rainer: Frauen in der Krise. Eheleben und Ehescheidung in der ländlichen Gesellschaft Bayerns während des Ancien régime, in: Van Dülmen, Richard (Hg.): Dynamik der Tradition. Studien zur historischen Kulturforschung, Frankfurt am Main 1992, S. 137-212; Farge, Arlette/Foucault, Michel (Hg.): Familiäre Konflikte. Die "Lettres de cachet" aus den Archiven der Bastille im 18. Jahrhundert (Edition Suhrkamp 1520), Frankfurt am Main 1989 (frz. 1982); Habermas, Rebekka: Frauen und Männer im Kampf um Leib, Ökonomie und Recht. Zur Beziehung der Geschlechter im Frankfurt der Frühen Neuzeit, in: Van Dülmen, Richard (Hg.): Dynamik der Tradition. Studien zur historischen Kulturforschung, Frankfurt am Main 1992, S. 109-136. Zedler, Johann Heinrich: Großes vollständige Universal-Lexikon aller Wissenschaften und Künste. 64 Bände, Graz 1993-1999 (Vollständiger Nachdruck der Halle/Leipzig Ausgabe 1732-1754), Bd. 10, Sp. 1377. Vgl. Hohkamp, Michaela: Häusliche Gewalt. Beispiele aus einer ländlichen Region des mittleren Schwarzwaldes im 18. Jahrhundert, in: Lindenberger, Thomas/Lüdtke, Alf (Hg.): Physische Gewalt. Studien zur Geschichte der Neuzeit, Frankfurt am Main 1995, S. 276-302. Vgl. Hohkamp, Michaela: Grausamkeit blutet, Gerechtigkeit zwackt. Überlegungen zu Grenzziehungen zwischen legitimer und nicht-legitimer Gewalt, in: Eriksson, Magnus/ Krug-Richter, Barbara (Hg.): Streitkulturen. Gewalt, Konflikt und Kommunika-

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konnte personale, direkte Gewalt angewendet werden. Voraussetzung für eine legitime Ausübung von Gewalt waren eine entsprechende hierarchische Beziehung zwischen den beteiligten Personen und die Verhältnismäßigkeit der ausgeübten Gewalt. 7 Violentia dagegen, so Dorothea Nolde, steht für Gewalt, „die entweder von einer dazu nicht legitimierten Person ausgeübt wurde […], oder aber die Befugnisse einer legitimen Autoritätsperson sprengte.“ 8 Michaela Hohkamp weist darauf hin, dass es unklar bleibt, wann sich die „im Schutz von potestas begangenen verbalen und physischen Übergriffe in abstrafbare Verbrechen oder Vergehen verwandelten, […] die Grenzen waren fließend, variabel definierbar und situationsbedingt verschiebbar.“ 9 Im Kontext von Haus, (Ehe)Frau und Kinder war Gewalt im Sinne von potestas grundsätzlich positiv besetzt, waren doch die „Hausgewalt“ und „Hauszucht“ eine legitime Angelegenheit und sogar Verpflichtung des Hausvaters. „‚Kleine Gewalt‘“, wie Thomas Lindenberger und Alf Lüdtke es ausdrücken, „gehörte […] zu den Erwartungen an einen väterlich-männlichen Habitus“. 10 Erst die „übermäßige“ Gewaltanwendung, die in den Quellen häufig als „häusliche missfälligkeiten“, „üble tractierung“, „hartes halten“ oder „übermässige härte“ bezeichnet wird, wurde als unrechtmäßig angesehen. In den drei Ehekonflikten, die im Folgenden kurz skizzieren werden, führte diese als übertrieben und somit als illegitim empfundene häusliche Gewalt dazu, dass sich die Ehemänner vor dem Marktgericht verantworten mussten. Bevor ich mich aber den „Streitkulturen“ 11 der Ehepaare Weigl, Haaß und Turbath zuwende, soll zunächst der Untersuchungsraum und das Quellenmaterial kurz vorgestellt werden.

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tion in der ländlichen Gesellschaft (16.-19. Jahrhundert), Köln/Weimar/Wien 2003, S. 59-79, hier S. 64f. Vgl. ebd. Nolde, Dorothea: Gattenmord. Macht und Gewalt in der frühneuzeitlichen Ehe, Köln/Weimar/Wien 2003, S. 147; Anm. 26. Hohkamp, Grausamkeit blutet, Gerechtigkeit zwackt, S. 65. Lindenberger, Thomas/Lüdtke, Alf: Physische Gewalt - eine Kontinuität der Moderne, Einleitung zu: Dies. (Hg.): Physische Gewalt. Studien zur Geschichte der Neuzeit, Frankfurt am Main 1995, S. 7-38, hier S. 25. Vgl. dazu den von Magnus Eriksson und Barbara Krug-Richter herausgegebenen Sammelband, in dem das Augenmerk u.a. auf die Untersuchung der Grenzen zwischen sozial akzeptierten und nicht akzeptierten Formen von Gewaltanwendung gelegt wurde: Eriksson, Magnus/Krug-Richter, Barbara (Hg.): Streitkulturen. Gewalt, Konflikt und Kommunikation in der ländlichen Gesellschaft (16. - 19. Jahrhundert), Köln/Weimar/Wien 2003.

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Untersuchungsgebiet und Quellenkorpus Der landesfürstliche Markt Perchtoldsdorf, 12 in dem die Ehepaare Weigl, Haaß und Turbath lebten, liegt südwestlich von Wien im heutigen Niederösterreich und zählte in der Mitte des 18. Jahrhunderts rund 1.700 „Seelen“. 13 Viele der EinwohnerInnen waren im Weinbau beschäftigt, der die Region noch heute stark prägt. Ackerbau und Viehzucht spielten im Vergleich dazu nur eine untergeordnete wirtschaftliche Rolle und auch die Perchtoldsdorfer HandwerkerInnen arbeiteten in erster Linie zur Deckung des lokalen Bedarfs. In Perchtoldsdorf wurde sowohl die niedere als auch die höhere Gerichtsbarkeit vom Marktgericht ausgeübt, das sich aus dem Marktrichter und den Mitgliedern des Inneren Rats 14 zusammensetzte. Das Marktgericht war somit auch jene Instanz, die für die hier präsentierten Fälle von häuslicher Gewalt zuständig war. Besondere Beachtung erhielt häusliche Gewalt in den meisten Fällen nur dann, wenn sie – wie dies für Gewalt ganz allgemein gilt als übertrieben, illegitim oder ungerechtfertigt empfunden bzw. bewertet wurde. Nur dann bestand die Möglichkeit, dass sie Eingang in die Quellen fand. Doch selbst wenn häusliche Gewalt als schwerwiegend genug empfunden wurde, um in einem gerichtlichen Kontext zur Sprache zu kommen, stehen wir als HistorikerInnen vor dem Problem, dass sie üblicherweise auf der Ebene der niederen Gerichtsbarkeit, die für die sogenannten „causae minores“, die „kleineren“ Straffälle, zuständig war, behandelt wurde. Da die Überlieferungssituation für niedergerichtliche Quellen generell sehr schlecht ist, lässt sich häusliche Gewalt in den Quellen oft nur schwer auffinden. Für Perchtoldsdorf sind wir in der glücklichen Situation, dass neben den Quellen der Malefizgerichtsbarkeit 15 auch die niedergerichtliche Überlieferung in hohem Ausmaß bewahrt wurde. 16 Die hier vorgenommene Analyse 12

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Zu den folgenden Ausführungen vgl. Ostrawsky, Gertrude: Geschichte des Marktes Perchtoldsdorf 1683-1983, Perchtoldsdorf 1983 sowie Griesebner, Andrea: Konkurrierende Wahrheiten. Malefizprozesse vor dem Landgericht Perchtoldsdorf im 18. Jahrhundert, Wien/Köln/Weimar 2000, S. 37-46. Basierend auf der „Seelenbeschreibung“ 1754 und der Volkszählung 1754, vgl. Ostrawsky: Geschichte des Marktes Perchtoldsdorf, S. 117. Nach Gertrude Ostrawsky setzte sich der Innere Rat aus 12 Mitgliedern zusammen, allerdings stellten wir beispielsweise für die Jahre 1748-1749 sowie 1760-1763 jeweils davon abweichende Mitgliederzahlen fest. Vgl. AMP B1/28 und B1/34. Die während des 18. Jahrhunderts in Perchtoldsdorf geführten Malefizprozesse bildeten die Grundlage für Andrea Griesebners Arbeit „Konkurrierende Wahrheiten“. Niedergerichtliches Quellenmaterial stand beispielsweise auch im Zentrum eines von Andrea Griesebner und Susanne Hehenberger geleiteten Forschungsseminars an der

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der Ehekonflikte basiert größtenteils auf niedergerichtlichen Quellen, die sich nach wie vor im Perchtoldsdorfer Marktarchiv befinden. Es handelt sich dabei einerseits um Akten im weitesten Sinne – wie summarische Verhöre, Bandzettel, ärztliche Atteste, Anzeigen und Briefe – und andererseits um die Ratsprotokollbücher des 18. Jahrhunderts. Der Vorteil dieser niedergerichtlichen Quellen liegt unter anderem darin, dass sie näher an die Alltagspraxis vergangener Gesellschaften anknüpfen, da sie Einblicke in die alltäglichen Konflikte, Streitigkeiten, Auseinandersetzungen und Anliegen „gewöhnlicher“ Frauen und Männer ermöglichen. Neben diesen von einem weltlichen Gericht produzierten Akten und Ratsprotokollbüchern wurden auch die Konsistorial- und Zustellungsprotokolle des Wiener Erzbischöflichen Konsistoriums eingesehen. Die im Rahmen der weltlichen bzw. geistlichen Gerichtspraxis produzierten Quellen sind dementsprechend kritisch zu lesen. Es gilt jedoch nicht nur zu bedenken, welche Umstände und Intentionen die Produktion dieser Dokumente geprägt haben. Was wir aus den Quellen herauslesen bzw. was wir in die Quellen hineininterpretieren, kann immer nur eine (Re)konstruktion der Wirklichkeit sein. Diese (Re)konstruktion ist vom Entstehungskontext der Quellen ebenso abhängig wie von der Position, die wir als HistorikerInnen einnehmen, wenn wir „mit dem Problembewußtsein der Gegenwart die Erforschung der Vergangenheit in Angriff nehmen.“ 17 Wie also wurde häusliche Gewalt im 18. Jahrhundert von den betroffenen Personen selbst und wie von der Obrigkeit wahrgenommen? Über welche Handlungsspielräume verfügten Männer und Frauen der Vormoderne innerhalb des Rahmens, der ihnen durch Ehe und „Haus“ vorgegeben war? Welche Möglichkeiten der Konfliktlösung boten sich ihnen?

„mit schlägen so unmenschlich tractiret…“ Die Quellen, die über die Konflikte zwischen dem circa 42-jährigen Fleischhackermeister Jacob Weigl und seiner rund 12 Jahre ältere Ehefrau Ursula 18 informieren, umfassen einen relativ kurzen Zeitraum und stammen haupt-

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Universität Wien. Vgl. Czwik, Maria/Griesebner, Andrea/Hehenberger, Susanne/Krovat, Katharina/Luef, Evelyne/Pfister, Eugen/Pribitzer, Petra: Ehre – Emotionen – Eigentum. Häusliche Gewalt, Wirtshaushändel und Holzdiebstähle in Perchtoldsdorf (18. Jahrhundert), in: Frühneuzeit-Info 18 (2007), S. 62-90. Landwehr, Achim: Geschichte des Sagbaren. Einführung in die Historische Diskursanalyse, Tübingen, 2. Aufl., 2004, S. 14. Die Altersangaben wurden basierend auf einer 1754 angefertigten Beschreibung der BewohnerInnen Perchtoldsdorfs rekonstruiert. Vgl. Karton 152/1: Beschreibung: Deren Bürgern, Inleith und Ainschichtige Persohnen, von Joseph Andre Altmayr an undt die Hochstraß hinauß und herein, wie auch die Knappen Straß hinab bey dem Spittal undt biß zu deß Michael Carl Seyn Hauß in Clusivi pro 1754 vom 6. Februar 1754.

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sächlich aus den Jahren 1748 und 1749. Wie lange Jacob und Ursula Weigl zu diesem Zeitpunkt bereits verheiratet waren, bleibt unklar. Über die Gewalt, die Jacob Weigl seiner Ehefrau Ursula zufügte, können wir uns durch einen vom Bader und Wundarzt Johan Englhardt ausgestellten Bandzettl eine bildliche Vorstellung machen. 19 Demzufolge sei Ursula Weiglin mit „villen schlegen und zwar merckhlich mit einen stockh auf das haubt und angeschicht geschlagen worden und da durch das linckhe aug gleich oberhalb der augen braun bluedig aufgeschlagen ein halb finger lange wunden biß auf das bein und solcher gestalden daß das aug so contussirth 20 schwartz und blau mit blueth under loffen und so gross wye ein eyh heraus gestanden, mer der linckhe armb das bein fellig zer gelt und zweyen grossen contussionen oder auf gelauffenen dibel und edwaß offen sodan der gantze armb schwartz und blau auß gesehen da durch ville schmertzen verursachet hat.“ 21

In diesem Attest beschreibt der Bader nicht nur die Verletzungen, die Ursula Weiglin an Kopf und Arm zugefügt worden waren, er erwähnt auch, dass sie große Schmerzen gehabt haben muss. Diese Feststellung ist durchaus bemerkenswert, da die Erwähnung von Schmerzen in den Quellen nicht üblich ist. Überdies ist in dem Attest auch mehrmals von blutenden respektive blutunterlaufenen Wunden die Rede, was – wie Michaela Hohkamp in ihrem Aufsatz „Grausamkeit blutet, Gerechtigkeit zwackt“ zeigt – dazu gedient haben könnte, ungerechtfertigte Gewalttätigkeiten sprachlich zu markieren. 22 Dass Ursula Weiglin diese Verletzungen von ihrem Ehemann zugefügt worden waren, geht aus einem Ratsprotokollbucheintrag vom 29. April 1748 23 hervor. Diesem ist zu entnehmen, dass Ursula Weiglin „wider ihren ehewirth Jacob Weigl klagend“ 24 beim Marktrat erschienen war, da er sie „mit schlägen so unmenschlich tractiret, den linckhen arm schier entzwey und das aug fast aus dem kopf geschlagen hette […].“ 25 Neben Ursula Weiglins Aussage sind im Ratsprotokoll auch mehrere ZeugInnenaussagen zu einem Text verschmolzen, weshalb angenommen 19 20 21 22 23

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25

Vgl. AMP Karton 109/6: Bandzettl der Ursula Weiglin vom 26.04.1748. Von lat. Contusio, Prellung, Quetschung, vgl. Zedler, Bd. 6, Sp. 1159f. AMP Karton 109/6: Bandzettl der Ursula Weiglin vom 26.04.1748. Vgl. Hohkamp: Grausamkeit blutet, Gerechtigkeit zwackt, S. 62. Vgl. AMP B1/28: Sitzung vom 29.04.1748, fol. 86r+v; bzw. Abschrift dieses Eintrags: AMP Karton 109/6: Auszug aus dem Ratsprotokoll vom 29.04.1748, datiert mit 02.05.1748. AMP B1/28: Sitzung vom 29.04.1748, fol. 86r+v. Wenn im Folgenden von KlägerIn, Beklagte, klagen etc. die Rede ist, so beziehen sich diese Ausdrücke auf die in den Quellen als solche bezeichneten Personen und Handlungen und sind nicht mit dem juristischen Fachvokabular der Gegenwart gleichzusetzen. Ebd., fol. 86r.

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werden kann, dass sie nicht allein vor den Marktrat getreten war. 26 Bemerkenswert ist, dass die vor Gericht anwesenden Personen offenbar nicht zu der ausgeübten physischen Gewalt befragt wurden. Im Zentrum der Untersuchung stand vielmehr der Umgang, den Jacob Weigl mit dem Perchtoldsdorfer Schusterehepaar Kettl pflegte. Bereits im Jahr zuvor, im Juli 1747 war Jacob Weigl der Kontakt zu dem Ehepaar Kettl aufgrund eines „üblen verdachts“ und öffentlichen Geredes vom Marktgericht verboten worden. 27 Die Misshandlungen der Ursula Weiglin standen zwar am Beginn der Klage und leiteten das Verfahren ein, das Interesse des Marktgerichts galt aber in erster Linie der Missachtung des ausgesprochenen Umgangsverbots, was sich auch an der verhängten Strafe zeigt. Für die Übertretung des Umgangsverbots wurden sowohl das Ehepaar Kettl als auch Jacob Weigl bestraft. Erst am Ende des Ratsbeschlusses werden „die weiglische eheleuth“, d.h. Jacob und Ursula Weigl dazu angehalten, friedlich und einig mit einander zu leben. Jacob Weigl wurde zudem unter Strafandrohung ermahnt, „keine thättigkeiten wider seine ehewürthin mehr“ auszuüben. 28 Mit diesem in der Ratssitzung gefassten Beschluss war die Angelegenheit allerdings noch nicht beigelegt. Johann Michael Kettl, der sich vom Marktrat offenbar ungerecht behandelt fühlte, verfasste einen Beschwerdebrief an den Reichsgrafen von Oed, ein Mitglied der Hofkommission in Wien. 29 Johann Michael Kettls Brief, in dem die Misshandlung von Ursula Weiglin nicht thematisiert wurde, führte dazu, dass das Marktgericht eine Gegendarstellung der Geschehnisse verfasste und diese ebenfalls an die Hofkommission schickte. 30 In diesem Brief, der im Namen des Marktrichters Joseph Hartmann verfasst wurde, ist nicht nur vom missachteten Umgangsverbot die Rede. In nahezu identischem Wortlaut wie im Ratsprotokollbucheintrag vom 29. April 1748 schildert der Marktrichter auch die Verletzungen der Ursula Weiglin. Eine Abschrift des Bandzettl vom 26. April 1748 war dem Brief als Anlage (A) beigelegt. Marktrichter Joseph Hartmann argumentiert das festgelegte Strafmaß nicht nur mit der Missachtung des Umgangverbots, sondern auch damit, dass

26 27 28 29

30

Vgl. AMP B1/28: Sitzung vom 29.04.1748, fol. 86r+v. Vgl. AMP B1/27: Sitzung vom 12.07.1747, fol. 161v. AMP B1/28: Sitzung vom 29.04.1748, fol. 86v. AMP Karton 109/6: Brief von Michael Kettl an den Reichsgrafen von Oed vom 04.05.1748. Im selben Karton befindet sich auch eine Abschrift dieses Briefes, die, wie der Schriftvergleich mit dem Ratsprotokollbuch zeigt, vom Marktschreiber angefertigt wurde. Vgl. AMP Karton 109/6: Brief von Richter und Rat des Marktes Perchtoldsdorf an die Hofkommission in Wien vom 29.05.1748.

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„der Jacob Weigl aber mit seinem weib sich nicht wohl vergleichet, dahero wann dises zusammenschliefen, fressen und saufen nicht abstellen derffen, mord und todt gahr leicht entstehen könnte. Dann es nicht das erste mahl ist, das der Weigl sein weib so unmenschlich tractirt und geschlagen hat, uns aber obliget alles übel und die laster also auch alle gelegenheit darzue abzuschneiden und abzustellen, ansonsten wann auch dise ohne straf darvon kommen würden, kein mensch in markht eine forcht oder sorg auf den markhtrath seine vorgesezte obrigkheit haben, sondern gleichfalls in die straf zu ziehen bemueste euer excell[enz] und gnaden überlaufen und behelligen würde“. 31

Wie diesem Ausschnitt zu entnehmen ist, dürfte Jacob Weigl seine Ehefrau schon mehrmals schwer misshandelt haben. Der Umgang mit dem Ehepaar Kettl, so der Marktrichter, müsse auch deshalb unterbunden werden, um Mord und Todschlag zu verhindern. Überdies fürchtete der Marktrichter durch Johann Michael Kettls Anrufung der übergeordneten Instanz einen Autoritätsverlust. Aus diesem Brief des Marktrichters geht weiters auch hervor, dass Ursula Weiglin nach der Misshandlung den gemeinsamen Haushalt verlassen hatte. Wo sie Unterschlupf fand, bleibt jedoch unklar. Die häusliche Gewalt, die Jacob Weigl gegenüber seiner Ehefrau ausübte, wird in den Quellen nur im Zusammenhang mit der Übertretung des Umgangsverbots sichtbar. Es stellt sich die Frage, ob Ursula Weiglins Klage ohne die Überschreitung dieses Umgangsverbots überhaupt Eingang ins Ratsprotokollbuch gefunden hätte. Michaela Hohkamp beobachtete in der von ihr untersuchten Triberger Gesellschaft des 18. Jahrhunderts, dass Informationen über Gewalttätigkeiten zwischen Männern und Frauen in den Gerichtsprotokollen häufig nur indirekt, sozusagen als Nebenhandlung in anderen Konfliktfällen zur Sprache kommen. 32 Ähnlich gelagert dürfte die Situation auch in diesem Fall sein, wo es dem Marktgericht wohl in erster Linie darum ging, das über Jacob Weigl und dem Ehepaar Kettl verhängte Umgangsverbot durchzusetzen und die eigene Autorität über die Untertanen zu stärken. In den weiteren Quellen wird das Ehepaar Kettl zwar nicht mehr erwähnt, die häuslichen Konflikte zwischen Jacob und Ursula Weigl beschäftigten das Marktgericht dagegen noch in mehreren Sessionen. In einem Ratsprotokollbucheintrag vom 9. Jänner 1749 ist vermerkt, dass Jacob und Ursula Weigl gemeinsam vor dem Rat erschienen waren, da Ursula Weiglin ihren Mann neuerlich wegen „üblen tractiren“ geklagt hatte. 33 Festgehalten wird u. a., dass „weillen selbe in güette nicht beysamben bleiben und mit ein ander cohabitiren wollen, hat sich der Weigl in rath ercläret, seiner ehewürthin täglich zwey groschen zu

31 32 33

Ebd. Vgl. Hohkamp: Häusliche Gewalt, S. 279. Vgl. AMP B1/28: Sitzung vom 09.01.1749, fol. 252r.

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geben und ein zimerl einzu raumben, damit sye in hauß ihren unterstand ruhig haben möge, sich hingegen in seine würthschaft in gerinsten nicht einmische, sondern dem Weigl sein lein wösch und effecten getreulich ausfolgen lassen solle.“ 34

Der zitierte Eintrag zeigt, dass sich das Ehepaar Weigl offenbar getrennt hatte. Jacob Weigl erklärte sich bereit, seiner Ehefrau Unterhalt zu bezahlen und ihr einen Raum im Haus einzurichten, wenn sie sich im Gegenzug dafür nicht mehr in seine „würthschaft“ einmische. Da sämtliche Ratsprotokollbucheinträge ab Jänner 1749 de facto die weltlichen Angelegenheiten nach einer Trennung von Tisch und Bett behandelten (z.B. Alimentationszahlungen, Herausgabe von Wäsche und Effekten, Brennholzversorgung etc.), war anzunehmen, dass Ursula und Jacob Weigl vom zuständigen Konsistorium der Erzdiözese Wien eine Trennung genehmigt worden war. Obwohl die Konsistorialprotokolle für den relevanten Zeitraum erhalten sind, blieb das Durchsehen der Bände ohne Ergebnis. Zwar besteht die Möglichkeit, dass die entsprechende Verhandlung entweder nicht protokolliert wurde, die Unterlagen nicht mehr erhalten sind oder von uns nicht aufgefunden werden konnten. Für wahrscheinlicher halten wir es aber, dass die de facto durchgeführte Ehetrennung des Ehepaares Weigl nie vor dem Konsistorium verhandelt worden war. Denkbar ist, dass der Perchtoldsdorfer Marktrat die informelle Trennung duldete, sich aber darum bemühte, Ursula Weiglin zumindest im Haus ihres Ehemannes unterzubringen, auch wenn die Ehepartner nicht mehr länger dazu bereit waren, Tisch und Bett miteinander zu teilen.

Von Grobheiten, Injurien und Schlägen… Im Unterschied zum Ehepaar Weigl, wo die Quellen nur über einen kurzen Zeitraum Auskunft geben, können die Konflikte des Hauerehepaares Haaß von den 1750er Jahren bis in die 1780er Jahre verfolgt werden. Im September 1754 heirateten der 21-jährige Leopold Haaß und die um mindestens zwölf Jahre ältere Francisca, 35 die aus ihrer ersten Ehe mit dem Hauer Johann Festl drei Kinder in die Ehe einbrachte. Die ersten Hinweise auf häusliche Gewalt finden sich bereits kurz nach der Eheschließung. In der Ratssitzung vom 8. Januar 1755 36 wurde Leopold Haaß vorgeworfen, seine 5-jährige Stieftochter bei großer Kälte in den Schweinestall gesperrt zu haben und seine Stiefkinder ganz allgemein schlecht zu versorgen. Leopold Haaß gestand, das Mädchen für eine Stunde in den Stall gesperrt zu haben und rechtfertigte sein Handeln mit dem Ungehorsam des Kindes. Offenbar fand das Marktgericht Leopold Haaß’ Strafmaßnahme für nicht angemessen, denn er wurde mit drei Tagen Arrest bestraft und zur Besserung ermahnt. 34 35 36

Ebd. Vgl. Pfarre Perchtoldsdorf, Copulationsbuch 1741-1755. Vgl. AMP B1/31: Sitzung vom 08.01.1755, fol. 267v.

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Nur ein halbes Jahr nach diesem Vorfall stand Leopold Haaß erneut vor Gericht. 37 Die vor das Marktgericht beorderte örtliche Hebamme Anna Maria Weißmannin beschuldigte ihn, seinen kleinen Stiefsohn „jämmerlich geschlagen“ zu haben. Dies habe ihr seine Ehefrau „selbst erzehlet, und hart geklaget“. Auch Francisca Haaßin, die acht Tage zuvor das erste gemeinsame Kind auf die Welt gebracht hatte und ihren Sohn verteidigen wollte, sei von ihrem Ehemann schwer misshandelt worden. Leopold Haaß habe zudem eine „messergappel“ gezückt und „selbe [seine Frau] darmit erstechen wollen“. Die Hebamme fügte dem hinzu, dass es nicht das erste Mal gewesen sei, dass Leopold Haaß seiner Frau die „messergappel“ an den Hals gesetzt habe. Auch die Schustermeisterin Theresia Gnaterin, vermutlich eine Nachbarin, wurde zu diesen Vorfällen befragt – in der Beschreibung der Misshandlungen und Todesdrohungen deckt sich ihre Aussage mit jener der Hebamme, wobei aber auch sie keine Augenzeugin der Ereignisse war. Leopold Haaß, der die Intervention des Marktrats offenbar als ungerechtfertigte Einmischung in seine hausväterliche Gewalt sah, konterte damit, „dass er, und sonst niemand mit seinen weib zu schaffen hätte, und vor selbe sowohl, als auch die Kinder sorgen müste“. Theresia Gnaterin drohte er, sollte sie sich weiterhin einmischen, „gewiss eines mit der flinten auf den pelz [zu] brennen“. Auf diese Aussage hin wurde vom Marktrichter die Verhaftung von Leopold Haaß veranlasst und sein Gewehr beschlagnahmt. Zweifelsohne nahm das Marktgericht die von Leopold Haaß ausgehende Gefahr ernst, denn eine Woche nach dem beschriebenen Vorfall wurde Francisca Haaßin vom Marktrat befragt, ob sie mit ihrem Ehemann weiterhin zusammenleben wolle. 38 Bemerkenswert ist, dass sie auch gefragt wurde, ob Leopold Haaß wegen seines Verschuldens bei der „hochlöb[lichen] in sicherheits sachen verordneten hof commission“ angezeigt werden sollte. 39 Francisca Haaßin bat, so das Protokoll, um eine gnädige Strafe für ihren Mann, da sie, obwohl sie seinen Zorn fürchtete, dennoch hoffte, er werde sich bessern und „friedlicher“ mit ihr leben, wie er es schon öfter versprochen hatte. Leopold Haaß bat den Marktrat und seine anwesende Ehefrau um Verzeihung und versprach, mit seinem „weib, welcher er die hand gegeben, frommer und geistlicher leben“ und auch seine Stiefkinder „gebührend halten“. Leopold Haaß wurde allerdings nicht sofort entlassen, sondern musste zusätzlich zu den sieben Tagen, die er bereits im Arrest verbracht hatte, noch weitere drei Tage und Nächte in Haft bleiben. Der Marktrat belegte ihn mit einer, so das Protokoll, „wohlverdienten, jedoch dermahlen gnädigen straff“,

37 38 39

Vgl. AMP B1/31: Sitzung vom 18.06.1755, fol. 332r+v. Vgl. AMP B1/31: Sitzung vom 25.06.1755, fol. 336r+v. Ebd.

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die sicherlich nicht zuletzt auf die Bitte seiner Ehefrau um eine milde Strafe zurückzuführen ist. Weiters rief das Marktgericht Leopold Haaß dazu auf, „daß er sich friedsammer gegen seinen weib aufführen, des schlagens, und deren betrohlichkeiten enthalten, auch einen besseren wirth abgebe und sich mit aller liebe, und treu gegen ihr erzeigen, seine stiff kinderl vätterlich auferziehen, denen die nährung schaffen, und in geringsten nicht so hart halten, als bey mindester dessen überschreittung, er alsogleich widerumb gefänglich eingezochen, und wider ihme auf das schärfeste verfahren werden solle.“ 40

In der zitierten Ermahnung verbirgt sich nicht nur die Androhung einer verschärften Strafe bei neuerlichem Fehlverhalten, sondern auch eine Aufzählung sämtlicher Verfehlungen bzw. ehelicher Konfliktbereiche. Dass das Marktgericht nicht nur leere Drohungen ausstieß, sondern bereit war, zum Schutz der Ehefrau drastischere Maßnahmen zu ergreifen, zeigt sich nach einer trügerischen Ruhephase mehr als ein Jahr später. In einem Verhör vom 15. September 1756 41 sagte Francisca Haaßin aus, dass ihr Mann am vergangenen Sonntag aus nichtigem Anlass zu toben begonnen und die sechsjährige Stieftochter, das gemeinsame einjährige Kind und sie selbst attackiert und schwer misshandelt habe. Als er im Laufe der Auseinandersetzungen mit den Worten „du hund, ich bring dich umb“ eine Hacke aus der Kammer holte, sei sie mit den Kindern zur Nachbarin Barbara Voglin geflüchtet. Auch diese wurde von Leopold Haaß, der seiner Frau folgte, bedroht. Als Grund für seinen Ausbruch gab Leopold Haaß an, dass seine Frau an besagtem Sonntag nach Hietzing wallfahren gegangen war, „jedoch ihme zu spött heimbgekommen [war], wo er doch auf sie gewarttet, und schon angerichtet gehabt“. Kurz darauf habe er von seiner Frau den „ehelichen beyschlaff“ verlangt, den sie ihm, wie schon öfters, verwehrte. Francisca Haaßin rechtfertigte die Verweigerung des Beischlafs einerseits mit dem Hinweis, dass sie zuvor bei der Beichte gewesen sei, nach der „es“ sich „nicht so geschwindt geschickhet“. Andererseits verwies sie auf die Anwesenheit der Kinder. Wie Dorothea Nolde ausführt, bildete der Bereich der Sexualität eines der größten ehelichen Konfliktfelder. 42 Zum ehelichen Beischlaf waren im Prinzip beide Ehepartner verpflichtet, doch wog eine Verfehlung bei Frauen schwerer als bei Männern. 43 Als weitere Konfliktfelder macht Dorothea Nolde die Haushaltspflichten der Frau, den Wirtshausbesuch des Mannes sowie den Ungehorsam und die Aufsässigkeit der Ehefrau aus. 44 Die schlechte 40 41 42 43 44

Ebd., fol. 336v-337r. AMP Karton 109/2: Verhör vom ps. 16.09.1756. Vgl. Nolde: Gattenmord, S. 115. Vgl. ebd., S. 118-120. Vgl. ebd., S. 109; S. 114f.

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Haushaltsführung der Frau wurde vor Gericht meist nur im Zusammenhang mit anderen Konflikten als Vorwurf vorgebracht, wie es auch am Beispiel Haaß zu sehen ist. In dem Bericht an die „NÖ Repraesentation und Cammer“, 45 der auf das Verhör folgte, beschrieb der Marktrat Leopold Haaß als jähzornigen und unbeherrschten Menschen, der seine Umgebung gefährde. Gleichzeitig strich das Schreiben Leopold Haaß’ physische Stärke und Gesundheit heraus. Der Marktrat äußerte zudem seine Bedenken, dass Leopold Haaß seiner Frau oder seinen Kindern ein Leid antun könnte und gab seiner Befürchtung Ausdruck, dass ihm, dem Marktrat, in so einem Fall „die schuld der unvorsichtigkeit beygemessen werden könnte“. Der bereits erkennbaren Intention des Marktrates entsprechend, wurde Leopold Haaß „der k.k. miliz, als recrout für die zu Perchtoldstorff übergeben“. 46 Mit der Entsendung Leopold Haaß’ zum Militär war Francisca Haaßin zwar vor der Gewalttätigkeit ihres Ehemannes sicher, schlitterte nun allerdings in eine finanzielle Notlage. In den folgenden beiden Jahren ersuchte sie den Marktrat mehrmals sowohl um Darlehen als auch um materielle Unterstützung in Form von Holz und eines „magentranks“. 47 Die prekäre Lage der Frau mit vier Kindern verdeutlicht, wieso nur selten Ehetrennungen angestrebt wurden. Von der Schwierigkeit einmal abgesehen, überhaupt eine Trennung zu erreichen, war die einer Trennung folgende finanzielle Situation vermutlich ein abschreckender Gedanke. Für die Jahre 1761 und 1763 finden sich in den Ratsprotokollbüchern Einträge, wonach sowohl Leopold Haaß, als auch Francisca Haaßin vor dem Marktgericht mit der Bitte erschienen, an die Landesherrin ein Gesuch zur Entlassung aus dem Militär zu richten. Für Dezember 1764 kann mit Sicherheit festgestellt werden, dass Leopold Haaß aus dem Militär entlassen worden war. Zu diesem Zeitpunkt klagte Francisca Haaßin nämlich erneut, dass sie „wegen ihr zu viel ohne Ursach angethanen Grobheiten, Injurien und Schlägen bey ihrem Mann nicht mehr bleiben könne“. 48 Das Marktgericht verwies sie mit ihrem Anliegen an die „Geistligkeit“, 49 da die von ihr nun angestrebte Trennung von Tisch und Bett nicht in den Zuständigkeitsbereich des Marktgerichts, sondern in die des Konsistoriums fiel. Leopold Haaß wurde erneut zur Besserung ermahnt, diesmal allerdings mit der nachdrücklichen Drohung, dass er „so wie er von dem soldathen leben loßgemacht worden, 45 46 47 48 49

AMP Karton 109/2: Bericht an die NÖ Repräsentation und Cammer vom 16. September 1756. Ebd. Vgl. AMP B1/32: Sitzung vom 09.03.1757, fol. 35v; AMP B1/32: Sitzung vom 04.02.1758, fol. 145r+v; AMP B1/32: Sitzung vom 24.05.1758, fol. 188v-189r. Vgl. AMP B1/35: Sitzung vom 05.12.1764, fol. 124v-125r. Ebd.

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auch widerummen darzu kommen könne“, 50 sollte er seine Frau wieder so unmenschlich behandeln. Wie auch im Fall Weigl verwies der Marktrat den Fall an die Geistlichkeit, aber auch hier konnte kein Eintrag in den Konsistorialprotokollbänden der Erzdiözese Wien gefunden werden. Zu vermuten bleibt, dass Francisca Haaßin die Trennung von Tisch und Bett vor dem Konsistorium nicht beantragt hat. Vier Jahre später, im Juli 1768, taucht das Ehepaar Haaß neuerlich in den Ratsprotkollbüchern auf. 51 Diesmal ist es allerdings Leopold Haaß, der als Kläger auftritt und sich beschwert, „daß sie [Francisca Haaßin] sich schon eine zeit lang bey andern leuthen aufhalte, und nicht zu hauß komme“. 52 Wie lange Francisca Haaßin schon getrennt von ihrem Mann lebte, kann nicht festgestellt werden. Sie verteidigte ihr Fernbleiben damit, dass er sie „allzu übel mit schlägen tractire“. 53 Dies ist der letzte Ratsprotokollbucheintrag, der über das Verhältnis der Ehepartner informiert, er endet - wie so viele zuvor – mit der neuerlichen Aufforderung, friedlich miteinander zu leben.

„sie könne die so vielen schläge nicht mehr ertragen…“ Bei dem dritten und letzten Ehepaar, dessen häusliche Konflikte hier präsentiert werden, handelt es sich um den eingangs erwähnten Anton Turbath und seine Ehefrau Sabina. Ähnlich wie beim Ehepaar Haaß, bei dem wir als HistorikerInnen die Ehekonflikte sozusagen von Anfang an mitverfolgen können, verhält es sich mit dem Ehepaar Turbath. Über elf Jahre hinweg, von 1766 bis 1777, bieten uns die Quellen immer wieder Einblicke in ihre ehelichen Auseinandersetzungen. Anton Turbath, ursprünglich ein Glasergesell aus Wien, heiratete im Februar 1766 im Alter von circa 24 Jahren 54 die älteste Tochter des verstorbenen Perchtoldsdorfer Glasermeisters Mathias Huebmer. 55 Da Mathias Huebmer ohne männlichen Nachfolger verstorben war, konnte der junge, nicht aus Perchtoldsdorf stammende Anton Turbath durch die Eheschließung mit der 22jährigen Sabina den Platz als Glasermeister einnehmen. Bereits zwei Monate nach der Eheschließung, im April 1766, musste Anton Turbath „erforderter massen“ mit seiner Ehefrau Sabina, seiner Schwie50 51 52 53 54

55

Ebd., fol. 125r. AMP B1/36: Sitzung vom 19.07.1768, fol. 32r. Ebd. Ebd. Das Alter wurde anhand der Angaben in folgender Aussage rekonstruiert. Vgl. AMP Karton 109/8: Summarische Aussage von Anton Turbath vom 13.08.1771. Anton Turbath war als Zeuge eines Überfalls vom Marktrat vernommen worden. Die Rekonstruktion der Altersangaben basieren auf: Vgl. Karton 152/2: Beschreibung.

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germutter, Eva Huebmerin, und den beiden Ehezeugen in der Ratskanzlei erscheinen. 56 Der Marktrat forderte ihn auf, sich an den „von ihme Turbat eigenhändig unterfertigten“ Übergabevertrag zu halten, 57 wonach seine Schwiegermutter wöchentlich 17 Kreuzer bekommen sollte. Offenbar wollte Anton Turbath seiner Schwiegermutter diese Zahlungen vorenthalten. Überhaupt dürfte das Verhältnis zwischen Anton Turbath und seiner Schwiegermutter schwierig gewesen sein, denn drei Jahre nach der Aufforderung, sich an den Übergabevertrag zu halten, wurde Anton Turbath „wegen übler haltung seiner schwiegermutter“ neuerlich in die Ratskanzlei zitiert und dazu angehalten, seine Schwiegermutter „beßer [zu] halten“. Im widrigen Fall müsse er die Kosten für Quartier und Versorgung für sie tragen. 58 Nur wenige Monate später, im September 1769, bat Eva Huebmerin darum, ins Bürgerspital aufgenommen zu werden. 59 Ihr Ansuchen lehnte der Marktrat mit der Begründung ab, dass ihr Schwiegersohn sie versorgen solle. 60 Der ortsfremde Anton Turbath hatte nicht nur den Glaserbetrieb übernommen, wahrscheinlich war ihm auch das Haus des verstorbenen Glasermeisters Mathias Huebmer überschrieben worden. Obwohl er mit seiner Ehefrau und deren Mutter vermutlich im Haus seines verstorbenen Schwiegervaters lebte, war ihm Eva Huebmerin nicht willkommen, sondern wurde von ihm als (finanzielle) Belastung angesehen. Dass diese Situation sich auch auf das Verhältnis der Eheleute zueinander auswirkte, ist anzunehmen. Wie sich Sabina Turbathin in dieser schwierigen Situation verhielt, ist aus den Quellen nicht ersichtlich. Möglicherweise löste sich der Konflikt mit der Schwiegermutter auch ganz von selbst, denn im Totenbuch der Pfarrre Perchtoldsdorf ist im November 1769 vermerkt, dass Eva Huebmerin im Alter von 65 Jahren verstorben ist. 61 Mit großer Wahrscheinlichkeit handelt es sich dabei um die Mutter von Sabina Turbathin. Häusliche Gewalt gegenüber der Ehefrau thematisieren die Quellen erstmals in einem Ratsprotokollbucheintrag vom August 1775. 62 Demzufolge war Sabina Turbathin mit drei männlichen Zeugen vor dem Marktgericht erschienen. Sie klagte, dass ihr Ehemann sie „schon wiederum seit 14. tagen her täglich schlage, ihr auch immer drohe, er wolle sie umbringen“. 63 Die 56 57 58 59

60 61 62 63

Vgl. AMP B1/35: Sitzung vom 16.04.1766, fol. 264r. Ebd. Vgl. AMP B1/36: Sitzung vom 12.04.1769, fol. 93r. Zur Geschichte des Perchtoldsdorfer Bürgerspitals vgl. Mundt, Alexis: Fürsorge in der Krise? Das Bürgerspital von Perchtoldsdorf im 17. Jahrhundert, Dipl. Univ. Wien 2008. Vgl. AMP B1/36: Sitzung vom 27.09.1769, fol. 138r. Vgl. Pfarre Perchtoldsdorf, Todten-Protocoll 1742-1771. Vgl. AMP B1/37: Sitzung vom 14.08.1775, fol. 296v-297r. Ebd., fol. 297r.

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drei Zeugen, so jedenfalls der Eintrag im Ratsprotokollbuch, bestätigten ihre Angaben, „daß nehmlich der beklagte der klägerin immer den todt drohe“. 64 Weiters ist zu lesen, dass Sabina Turbathin „aus besorgniß umgebracht zu werden“, die vorangegangene Nacht nicht zu Hause, sondern bei einem der anwesenden Zeugen, Anton Ofenbacher, verbracht habe. Anton Turbath reagierte auf die Anschuldigungen mit einer Reihe von Vorwürfen seinerseits: „Sein weib sey eine schlechte würthin, laße die kinder zerlumpt hergehen, mithin wolle er sie gar nicht mehr annehmen, übrigens habe er sie noch nicht erschlagen, und vom drohen sey noch niemand gestorben“. 65 Deutlich sichtbar werden an dieser Stelle die verschiedenen Ebenen der Textkonstruktion. 66 Obwohl sich Anton Turbath demnach wenig reumütig und einsichtig zeigte, schließt im Ratsprotokollbuch unmittelbar an diese Kritik sein Versprechen zur Besserung an: „[W]eilen jedoch der Turbath anheute unter den teuersten versicherungen zugesaget hat, daß er sein eheweib nunmehro niemalen mehr schlagen wolle, ist demselben sein unkristliches betragen gegen sein eheweib für diesmal noch auf das nachdruksamste verhoben, und veranlast worden, dass er wiederum nach haus gehen […] solle.“ 67

Bemerkenswert ist, dass Sabina Turbathin mit der Unterstützung von gleich drei männlichen Zeugen vor Gericht auftrat. Vermutlich wollte sie dadurch den Anschuldigungen gegenüber ihrem Ehemann mehr Gewicht verleihen. Aufgrund der Formulierung, er schlage sie „schon wiederum seit 14. tagen“, kann wohl auch angenommen werden, dass für Sabina Turbathin, die zu diesem Zeitpunkt seit mehr als neun Jahren mit Anton Turbath verheiratet war, Gewalttätigkeiten nicht neu waren. Im Gegensatz zu den beiden ersten Fallbeispielen, in denen den Verletzungen der Ehefrauen mehr Platz eingeräumt wurde, werden die Gewalttätigkeiten im Ratsprotokolltext nicht näher konkretisiert. Mehr Bedeutung wurde den von Anton Turbath ausgehenden Todesdrohungen beigemessen. So habe Sabina Turbathin ihrem Mann „bey der nacht, als er schon im beth gelegen, ihm, ein meßer […] auf den tisch legen [müssen]“. 68 Auch die drei Zeugen bestätigten in erster Linie die von Anton Turbath ausgestoßenen Todesdrohungen. Ihre Aussagen können eventuell auch als Indiz dafür gewertete werden, dass die in Perchtoldsdorf aufgewachsene Sabina Turbathin über einen starken Rückhalt in der Bevölkerung verfügte. Da 64 65 66

67 68

Ebd. Ebd. Vgl. Gleixner, Ulrike: Geschlechterdifferenzen und die Faktizität des Fiktionalen. Zur Dekonstruktion frühneuzeitlicher Verhörprotokolle, in: WerkstattGeschichte 4 (1995), S. 65-70. AMP B1/37: Sitzung vom 14.08.1775, fol. 297r. Ebd.

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ein obrigkeitliches Eingreifen in häusliche Konflikte in der Regel nur dann gerechtfertigt war, wenn die ausgeübte Gewalt als violentia bewertet wurde, musste Sabina Turbathin den Gerichtsmitgliedern glaubhaft vermitteln, dass ihr Leben in Gefahr sei. Umgekehrt kann die von Anton Turbath festgehaltene Aussage „übrigens habe er sie noch nicht erschlagen, und vom drohen sey noch niemand gestorben“ als Zurückweisung der marktobrigkeitlichen „Einmischung“ gelesen werden. Ähnlich wie Leopold Haaß im vorigen Beispiel rekurrierte Anton Turbath damit auf das ihm zustehende Züchtigungsrecht und sah offenbar keine Zuständigkeit der Marktobrigkeit vorliegen, so lange er seine Ehefrau nicht „erschlagen“ hatte. Auch er legitimierte seine Gewalt durch die Kritik an der Haushaltsführung seiner Ehefrau und der Versorgung der Kinder. Interessant ist auch die Vorgehensweise des Marktgerichts. Es veranlasste, dass „er [Anton Turbath] wiederum nach haus gehen, das weib aber indeßen bis auf die nacht sich anders wo aufhalten solle, auf den abend aber herr marktrichter selbst sie wiederum nach hauß führen, und friden zu stiften trachten wolle.“ 69 Obwohl Anton Turbath das Versprechen abgerungen worden war, seine Frau nicht mehr zu schlagen, sollte sich Sabina Turbathin dennoch den verbleibenden Tag von ihm fern halten. Der Marktrichter höchst persönlich wollte Sabina Turbathin am Abend nach Hause begleiten und zwischen den Eheleuten Frieden stiften. Üblicherweise wurden solche vermittelnden Tätigkeiten von Vertretern der Geistlichkeit übernommen. Wie Cornelia Schörkhuber-Drysdale zeigen konnte, nahm in den beiden von ihr untersuchten katholischen Ehetrennungsverfahren der Pfarrer als „Vermittler, Streitschlichter und Aussöhner“ 70 eine wichtige Position ein. Drehten sich die Konflikte um Gewalt oder die Hauswirtschaft, empfahl er den Ehepaaren mitunter den Gang vor das weltliche Gericht. 71 Alexandra Lutz stellte für das protestantische Holstein für den Beginn des 18. Jahrhunderts ein allgemein zunehmendes Interesse der Pastoren für die Qualität der Ehen fest und spricht in diesem Zusammenhang von einem regelrechten „Überwachen“ des ehelichen Zusammenlebens. Mitunter war die Einflussnahme der Pastoren auch erwünscht, um Hilfe wurden sie vor allem von Ehefrauen gebeten. Die Vertreter der weltlichen Obrigkeit griffen nur in Fällen extremer Bedrohung ein, in denen sie, so vermutet Alexandra Lutz, um das Leben der Ehefrauen fürchtete. In solchen Situationen kam es mitunter auch zu einer Zusammen69 70

71

Ebd. Schörkhuber-Drysdale, Cornelia: „... ich bitt dich umb Gottes willen, mein herr und frau bringen schirr umb einander ...“ Ehestreitigkeiten und Ehetrennung in der bäuerlichen Gesellschaft Oberösterreichs zu Beginn des 18. Jahrhunderts, in: Griesebner, Andrea/Scheutz, Martin/Weigl, Herwig (Hg.): Justiz und Gerechtigkeit. Historische Beiträge (16.-19. Jahrhundert), Innsbruck 2002, S. 255-268, hier S. 261. Vgl. ebd.

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arbeit von geistlicher und weltlicher Obrigkeit, indem die Verhandlung der Ehesachen von den weltlichen Gerichten an die geistlichen überwiesen wurde. Alexandra Lutz kommt zu dem Schluss, dass die weltliche Obrigkeit sich eher zugunsten der Ehefrauen einsetzte. Dies allerdings nur in sehr schweren Fällen von Gewalttätigkeit und oft auch erst nachdem der Ehekonflikt schon jahrelang bekannt war. Von einer Schutzfunktion der weltlichen Obrigkeiten gegenüber den Ehefrauen könne daher nicht gesprochen werden. 72 Während die Vermittlerrolle von Pfarrern und Pastoren in Ehekonflikten bekannt ist und auch in der Forschung ihren Niederschlag fand, wurde das versöhnende Eingreifen der weltlichen Obrigkeiten bisher kaum thematisiert. Es stellt sich die Frage, wie üblich diese Friedensbemühungen von Seiten des Marktrichters gewesen sind. Leider enthalten die weiteren Ratsprotokolleinträge keinerlei Hinweise darauf, wie der Vermittlungsversuch des Marktrichters verlaufen ist. Rund eineinhalb Jahre nach diesem obrigkeitlichen Eingreifen klagte Sabina Turbathin neuerlich, dass ihr Ehemann sie „mehrmahl immerhin ohne Ursache“ stark verprügelt, mit einem Messer bedroht und zu erdrosseln versucht habe. Um dem Marktrat ihre dramatische Situation zu veranschaulichen, führte Sabina Turbathin zwei Beispiele von häuslicher Gewalt an, die für die jeweiligen Ehefrauen tödlich endeten. Sie fürchtete, „es müßte ihr gehen wie der Kerlingerin zu Rodaun, welche von ihren Mann erstochen worden, oder der Würthin zu Neustadt […]“, die von ihrem Ehemann erschossen worden war. 73 Der zu diesem Zeitpunkt mehr als dreißig Jahre zurückliegende Mord an Barbara Kerlingerin, die 1744 von ihrem Ehemann Joseph Kerlinger mit einem Hirschfänger erstochen worden war, ist von Andrea Griesebner in ihrer Studie „Konkurrierende Wahrheiten“ ausführlich behandelt worden. 74 Der zweite Fall konnte bislang nicht bestätigt werden, vermutlich kann aber davon ausgegangen werden, dass auch er sich tatsächlich zugetragen hat und allgemein, und somit auch den Gerichtsmitgliedern, bekannt war. Wie bereits zuvor reagierte Anton Turbath auf die Vorwürfe seiner Ehefrau mit Kritik an ihrer Haushaltsführung und kündigte ihr vor dem versammelten Rat für den Abend weitere Schläge an. Anton Turbaths Zorn richtete sich auch gegen die Ratsherren, denen er „das maul halten geschaft“ habe, denn „er wäre ein handwerks mann, und die rathsfreunde wären auch nur handwerksleuth […]“. Deutlich wird, zu welchen Spannungen es aufgrund der hierarchischen Strukturen innerhalb desselben Standes kommen konnte. 72 73 74

Vgl. Lutz, Alexandra: Ehepaare vor Gericht. Konflikte und Lebenswelten in der Frühen Neuzeit, Frankfurt/New York 2006, S. 76-106. Vgl. AMP B1/38: Sitzung vom 25.02.1777, fol. 90r+v. Vgl. Griesebner: Konkurrierende Wahrheiten, S. 204-210.

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Als bürgerlicher Glasermeister wollte sich Anton Turbath offenbar von anderen Handwerkern, auch wenn diese eine politische Funktion ausübten, nicht vorschreiben lassen, wie er seine Ehefrau zu behandeln habe. Die Tatsache, dass er ursprünglich nicht aus Perchtoldsdorf stammte, sondern in den Ort eingeheiratet hatte, trug vermutlich noch zusätzlich zur Verschärfung der Situation bei. Nicht die häusliche Gewalt allein, sondern auch die Ehrenbeleidigung von Richter und Rat führten zu seiner Verhaftung am 25. Februar 1777. In der Session vom 14. März 1777 75 entschuldigte sich Anton Turbath für sein beleidigendes Verhalten bei der letzten Ratssitzung. Er versprach, ab sofort ein anderes Leben zu führen und seine Frau nicht mehr zu schlagen und bat „wehemüthigst“ um seine Haftentlassung. Sabina Turbathin, danach gefragt, ob sie wieder mit ihrem Ehemann zusammenleben wolle, sagte jedoch aus: „Sie traue sich nicht mehr mit ihm zu leben, denn sie könne die so vielen schläge nicht mehr ertragen, überhaupt aber fürchte sie, daß er sie umbringe, denn sie sey ihres lebens nicht sicher, und sie glaube nicht, daß er sein wort halten, und sich bessern werde, denn er habe solches schon öfters versprochen, und niemahl sein wort gehalten. Übrigens habe er auch schon sein eigenes mägdlein beylaufig vor 5 jahren, als solches im 4ten jahr alt ware, zu einen krippel gemacht. […] Da er nun ein so gar gefährlicher mann sey, als bathe sie die fürkehrung dahin zu treffen, daß sie von ihrem mann loskomme, denn sie wollte gerne mit ihm leben, wenn sie nur versicheret wäre, daß er sich beßerte, und wenn er doch ja wieder zu ihr gelaßen würde, so bitte sie ihm nachdrücksamst dahin zu verhalten, daß er nicht so unmenschlich mit ihr umgehe.“ 76

Der Text vermittelt den Eindruck, dass Sabina Turbathin eine dauerhafte Trennung von ihrem Mann anstrebte und Richter und Rat dabei um Hilfe bat. Sie argumentierte ähnlich wie in der Sitzung vom 25. Februar 1777. Neu an ihrer Darstellung ist, dass sie Anton Turbaths Brutalität gegenüber der Tochter erwähnt. Ein friedliches Zusammenleben würde nicht an ihrem Verhalten scheitern, sondern einzig und allein an dem „unmenschlichen“ Verhalten ihres Ehemannes. Die Entscheidung, Anton Turbath aus dem Arrest zu entlassen, lag zu diesem Zeitpunkt allerdings nicht mehr in den Händen des Marktrats, welcher „wegen seines [Anton Turbaths] üblen betragens die anzeige schon höherer orten gemacht“ hatte und ihn deshalb „ohne daher erfolgender hohen verordnung, nicht entlaßen könne“. Vermutlich noch am Tag der Einvernahmen verfassten Richter und Rat einen Brief an die Städtische Kommission in Wien, 77 in dem sie um Anweisungen bezüglich der weiteren 75 76 77

AMP B1/38: Sitzung vom 14.03.1777, fol. 99r-100r. Ebd. Vgl. AMP Karton 109/8: Schreiben an sowie Antwort von der Städtischen Kommission in Wien vom 15.03.1777.

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Vorgehensweise baten. Die Mitglieder der Städtischen Kommission ordneten seine Haftentlassung an und begründeten ihre Entscheidung damit, dass Sabina Turbathin darum gebeten habe „mit demselben in anbetracht ihrer kleinen kinder fernerhin zu leben.“ 78 Bemerkenswert ist, dass die im Ratsprotokoll festgehaltenen Aussagen von Sabina Turbathin von den Mitgliedern der Städtischen Kommission teilweise ins Gegenteil verkehrt worden waren. Führte Sabina Turbathin vor dem Marktgericht das Wohl ihrer Kinder als Argument an, um sich von ihrem Ehemann trennen zu dürfen, dienten die Kinder im Brief der Städtischen Kommission als Rechtfertigung für die Haftentlassung ihres Ehemannes. Ob es sich dabei schlichtweg um ein Fehlurteil handelte, oder ob jemand auf das Verfahren Einfluss genommen hatte, ist nicht festzustellen. Zur Sitzung des Marktgerichts am 17. März 1777 wurden Sabina und Anton Turbath vorgeladen und ihnen der Brief der Städtischen Kommission vorgelesen. Anton Turbath, so das Ratsprotokoll, entschuldigte sich beim Marktrat und seiner Ehefrau und wurde zur Führung eines „beßeren lebenswandels“ ermahnt. Auch wurde ihm vor Augen geführt, mit welchen Konsequenzen er bei Nichteinhaltung seines Versprechens rechnen müsse. Erst nachdem Anton Turbath „ernstlich zu beßeren auf das feyerlichste anheute zugesaget hat“, wurde er entlassen. 79 Mit diesem Versprechen auf Besserung endet die Überlieferung für die häuslichen Konflikte des Ehepaares Turbath.

Resümee Die Konflikte der drei Perchtoldsdorfer Ehepaare ermöglichten Einblicke in das Eheleben von Frauen und Männern unterschiedlichen Alters, verschiedener Berufszugehörigkeiten und „Eheerfahrungen“. Gerade in Bezug auf die Anwendung und Wahrnehmung von Gewalt, auf die Gestaltung des konkreten Ehealltags und die daran gestellten Erwartungen erscheint „Erfahrung“ als eine Kategorie, die bei der Analyse und Interpretation berücksichtigt werden muss. In die Wahrnehmung und Bewertung des eigenen Ehelebens flossen verschiedene „Erfahrungswerte“ – sei es die Ehe der Eltern, frühere Ehen oder jene von Verwandten und Nachbarn – mit ein. Nicht zuletzt davon wurde abgeleitet, was an Gewalt als „angemessen“ und was als „zuviel“ bewertet wurde. 80 Vorraussetzung für die Einbeziehung der Kategorie Erfahrung ist die kritische Auseinandersetzung mit dem Erfahrungsbegriff selbst. So hat Joan Scott bereits zu Beginn der 1990er Jahre auf die Schwierigkeit, den Erfahrungsbegriff zu theoretisieren, aufmerksam gemacht. Erfahrung darf nicht 78 79 80

Vgl. ebd. Vgl. AMP B1/38: Sitzung vom 17.03.1777, fol. 100r-101r. Die Bedeutung der Kategorie Erfahrung wurde auch in der dem Vortrag folgenden Diskussion betont.

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als unhinterfragte Selbstverständlichkeit hingenommen werden. „It is not individuals who have experience, but subjects who are constituted through experience“ 81 postulierte sie und lenkte damit das Augenmerk auf die für Erfahrung konstitutiven gesellschaftlichen Vorbedingungen. 82 Deutlich geworden ist zudem, dass die Wahrnehmung von Gewalt, egal welcher Ausprägung, immer nur aus dem Kontext ihrer Entstehung erklärt werden kann. Die Quellen zu den Konflikten der drei Ehepaare vermitteln den Eindruck, dass Gewalt bis zu einem gewissen Grad im Alltag der Ehepaare integriert war. Mit der Formulierung, dass sie immer „ohne Ursache“ geschlagen worden seien, weisen Francisca Haaßin und Sabina Turbathin das Züchtigungsrecht ihrer Ehemänner nicht per se zurück, sondern nur die ungerechtfertigte und übermässige Gewaltanwendung. Obwohl Ursula Weiglin, Francisca Haaßin und Sabina Turbathin gewalttätiges Verhalten von Seiten ihrer Ehemänner „gewohnt“ waren, gab es auch für diese drei Frauen eine Grenze, ab der sie die Gewalt ihrer Ehemänner nicht mehr einfach hinnahmen und einen anderen Umgang einforderten. Wie Hinweise in den Quellen zeigen, war das Marktgericht für die Frauen nicht immer die erste Anlaufstelle. Eskalierten oder drohten die Gewalttätigkeiten zu eskalieren, suchten die Frauen zunächst häufig Schutz und Hilfe bei NachbarInnen oder Verwandten. Erst in einem zweiten Schritt banden sie den Marktrat in ihre häuslichen Konflikte ein. 83 Bemerkenswert erscheint in diesem Zusammenhang, dass die Ehefrauen in den untersuchten Fällen vom Marktrat Unterstützung erfuhren. Gewalttätiges Handeln musste nicht unbedingt zu schweren Verletzungen oder zum Tod führen, um auch von der Obrigkeit als violentia bewertet zu werden. Eine gewisse „Todesnähe“ oder „Todesgefahr“ scheint aber notwendig gewesen zu sein, um den obrigkeitlichen Eingriff in das hausväterliche Züchtigungsrecht zu erreichen. Im Fall von Ursula Weiglin legitimierte das Marktgericht sein Handeln damit, dass Mord und Todschlag zu befürchten wäre, wenn nicht streng durchgegriffen werde. Dabei darf nicht vergessen werden, dass es dem Marktrat in erster Linie darum ging, das über Jacob Weigl und das Ehepaar Kettl verhängte Umgangsverbot durchzusetzen und so auch die eigene Autorität über die Untertanen zu stärken. Die Missachtung des obrigkeitlichen Umgangsverbotes und die Bewertung der häuslichen Gewalt als violentia standen in diesem Fallbeispiel in einem unmittel81 82 83

Scott, Joan: The Evidence of Experience, in: Critical Inquiry 17 (1991), S. 773-797, hier S. 779. Zur Debatte um die Kategorie Erfahrung vgl. Griesebner, Andrea: Feministische Geschichtswissenschaft. Eine Einführung, Wien 2005, S. 143-153. Zu diesem Befund kommt auch Claudia Ulbrich für den von ihr untersuchten Ort Steinbiedersdorf. Vgl. Ulbrich, Claudia: Saufen und Raufen in Steinbiedersdorf. Ein Beitrag zur Erforschung häuslicher Gewalt in der ländlichen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts, in: Historische Mitteilungen 8 (1995), S. 28-42.

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baren Zusammenhang. Der Fall veranschaulicht, dass nicht nur KlägerInnen, Angeklagte und ZeugInnen vor Gericht Strategien und Taktiken verfolgten, sondern auch das Marktgericht selbst aus einer bestimmten Motivation heraus handelte. Auch in den häuslichen Auseinandersetzungen des Ehepaares Haaß ist von Todesdrohungen die Rede. Leopold Haaß richtete diese aber nicht nur gegen seine Ehefrau, sondern auch gegen die Nachbarin, deren Unterstützung seiner Ehefrau er als unliebsame Einmischung empfand. Der Marktrat schätzte die Situation als gefährlich ein und nutzte die Möglichkeit, Leopold Haaß zum Militär abzugeben. Hier offenbart sich die Möglichkeit einer „Ehetrennung“, die zwar obrigkeitlich, in diesem Fall vom Marktrat, sanktioniert wurde, ohne aber den „normalen“ Weg eines Ehetrennungsverfahrens vor dem Konsistorium einzuschlagen. Die Todesdrohungen, die Anton Turbath gegen seine Ehefrau ausstieß, wurden gleich von drei männlichen Zeugen vor Gericht bestätigt. Überhaupt nimmt die Schilderung von Sabina Turbathins Todesangst im vorliegenden Quellenmaterial relativ breiten Raum ein. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die beiden von Sabina Turbathin angeführten Beispiele, in denen die häuslichen Auseinandersetzungen zum Tod der Ehefrauen führten, als so wichtig erachtet wurden, dass sie Eingang ins Ratsprotokollbuch fanden. Wie bei den Konflikten des Ehepaares Weigl muss auch in diesem Fall die obrigkeitliche Einmischung und Bewertung der häuslichen Gewalt als violentia kontextuell eingeordnet werden. Anton Turbath scheint, ähnlich wie Leopold Haaß, ein „ungehorsamer“ und widerspenstiger Zeitgenosse gewesen zu sein, mit dem sich der Marktrat seit seinem Auftauchen im Markt im Jahr 1766 regelmäßig wegen kleinerer Vergehen, Übertretungen und „Streiche“ beschäftigen musste. Die aus Perchtoldsdorf gebürtige Sabina verfügte vermutlich über ein dichteres soziales Netz und eine gefestigtere Position im Ort als ihr Ehemann. Sowohl ihre Perchtoldsdorfer „Wurzeln“ als auch das nonkonforme Verhalten ihres Ehemannes dürften in die obrigkeitliche Beurteilung ihrer häuslichen Situation als wichtige Faktoren eingeflossen sein. Interessant sind die Reaktionen der Ehemänner auf das obrigkeitliche Eindringen in die häusliche Sphäre. Leopold Haaß und Anton Turbath wiesen das Interesse des Marktrats an ihrer häuslichen Situation eindeutig als „Einmischung“ zurück. Leopold Haaß argumentierte damit, dass ihm aufgrund der Versorgung der Familie die potestas über seine Frau und Kinder zustehe. Die von Anton Turbath überlieferte Aussage, er habe seine Ehefrau noch nicht erschlagen und vom drohen sei noch niemand gestorben, weißt darauf hin, dass für ihn die Schwelle von potestas zu violentia erst mit dem Tod überschritten wurde. Von Jacob Weigl ist leider nicht überliefert, wie er auf die Vorwürfe der Misshandlung reagierte.

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Wie gezeigt werden konnte, fungierte das Marktgericht nicht nur als strafende Instanz, sondern war auch um die Vermittlung in Ehekonflikten bemüht. Für Perchtoldsdorf konnte nachgewiesen werden, dass der Marktrichter als Mediator aktiv wurde. Auffallend ist, dass keiner der hier vorgestellten Ehekonflikte in den Quellen des Wiener Konsistoriums aufgefunden werden konnte. Selbst im Fall Haaß, in dem die Ehefrau explizit darauf verwiesen wurde, sich an das Konsistorium zu wenden, finden sich in den Konsistorialprotokollen keine Quellen. Dies deutet darauf hin, dass nur ein Bruchteil der Ehekonflikte überhaupt vor dem Konsistorium verhandelt wurde. Keines der drei Ehepaare hat vor dem Konsistorium formell um eine Trennung von Tisch und Bett angesucht, obwohl die Quellen darauf hinweisen, dass alle Ehepaare zumindest temporär getrennt lebten, ohne dass dies von der geistlichen Obrigkeit sanktioniert worden wäre. Der Marktrat nahm insofern eine vermittelnde Position ein, indem er versuchte, die Ehepaare wieder zusammenzuführen bzw. das Zusammenleben unter einem Dach anordnete. Es scheint, als hätten Eheleute, die nicht mehr zusammenleben wollten, neben der schwer durchsetzbaren Ehetrennung vor dem Konsistorium noch eine andere Alternative als Handlungsmöglichkeit zur Verfügung gehabt, nämlich die „eigenmächtige Trennung“ bzw. das temporäre Verlassen des gemeinsamen Haushaltes. Das Eingreifen der weltlichen Obrigkeit hingegen, diesen Eindruck vermitteln die Perchtoldsdorfer Quellen, dürfte üblicher gewesen sein als in der Forschung bislang angenommen. Nicht zuletzt wohl auch deshalb, weil es im Aufgabenbereich des Marktrates lag, für Ruhe und Ordnung im Ort zu sorgen. Mikrohistorische Studien, wie diese, eignen sich nur bedingt dazu, Aussagen über einen zeitlichen Wandel im Umgang mit Gewalt zu treffen, indem sie das Augenmerk eher auf die Heterogenität vorherrschender Denk- und Verhaltensmuster legen. Der Blick auf die Praxis verdeutlicht, dass historische Subjekte trotz restriktiver Normen und hegemonialer Diskurse über beachtliche Handlungsspielräume verfügten und diese auch nutzten.

ALICE VELKOVÁ

Familie und Besitzinteressen Veränderungen in der Wahrung des Familieninteresses in der ländlichen Gesellschaft Böhmens im 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts

Seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts kam es in den böhmischen Ländern zu zahlreichen gesellschaftlichen Veränderungen, die sich natürlich auch im Leben auf dem Lande widerspiegelten. Diese Wandlungsprozesse vollzogen sich nicht in Brüchen und Diskontinuitäten, sondern setzten sich in der ländlichen Gesellschaft allmählich als neue Verhaltensmuster durch, die auf den Wandel im wirtschaftlichen, sozialen oder legislativen Bereich reagierten. 1 Alle diese Veränderungen erreichten auch das Leben in der Familie; die Menschen passten ihnen ihre Interessen und Strategien an. Zu den wichtigsten Bereichen, die nachhaltig in die Familienbeziehungen eingriffen, gehörten Besitzangelegenheiten, also der Aufbau, die Erhaltung und die Erweiterung des Besitzes sowie dessen Übergabe an die nächste Generation. 2 Gerade die Erforschung des Besitztransfers zeigt uns sehr gut, wie sich im Verlauf des Untersuchungszeitraums das Verständnis dessen wandelte, was „Familieninteresse“ eigentlich bedeutete. In dieser Zeit änderte sich nämlich nicht nur die Betonung der unterschiedlichen Werte, die eine Familienstrategie formten. Auch die Grenzen, innerhalb derer das Familieninteresse wahrgenommen wurde, verschoben sich. Dieser Artikel beschäftigt sich mit der Frage, welche Faktoren die Entscheidung eines Hofbesitzers in dem Augenblick beeinflussten, in dem er seinen Nachfolger aussuchte. War es seine Hauptstrategie, den Hof im Rahmen der Familie (des Geschlechts) zu 1

2

Cerman, Markus/Maur, Eduard/Zeitlhofer, Hermann: Wirtschaft, Sozialstruktur und Besitztransfer in frühneuzeitlichen gutsherrschaftlichen Gesellschaften in vergleichender Perspektive. Ergebnisse des Projekts „Soziale Strukturen in Böhmen“, in: Cerman, Markus/Zeitlhofer, Hermann (Hg.): Soziale Strukturen in Böhmen. Ein regionaler Vergleich von Wirtschaft und Gesellschaft in Gutsherrschaften, 16.–19. Jahrhundert, Wien 2002, S. 279-280; Cerman, Markus/Maur, Eduard: Proměny vesnických sociálních struktur v Čechách 1650–1750 [Wandlungen in den ländlichen Sozialstrukturen Böhmens, 1650-1750], in: Český časopis historický 98 (2000), S. 737– 773. Medick Hans/Sabean David (Hg.): Emotionen und materielle Interessen, Göttingen 1984.

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halten, bemühte er sich also, ihn um jeden Preis einem Verwandten zu übergeben, oder interessierte ihn mehr der wirtschaftliche Gewinn? Was war in diesem Moment überhaupt das Familieninteresse? War es die Lösung, die im Augenblick für den Hofbesitzer und seine gegenwärtige Familie am günstigsten war oder wandte der Hofbesitzer eine Strategie an, die den Nutzen der breiter verstandenen Familie einschließlich künftiger Generationen verfolgte? Bei der Untersuchung dieser Fragen bemühe ich mich um einen komparatistischen Ansatz, der die Ergebnisse verschiedener Studien zu Rate zieht. Der Hauptteil beruht allerdings auf meinen eigenen Forschungen, die ich für die westböhmische, unweit von Plzeň/Pilsen gelegene Herrschaft Šťáhlavy durchgeführt habe (vgl. Abb. 1).

Charakteristik der untersuchten Region Im Fall von Šťáhlavy handelte es sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts um eine recht kleine Herrschaft. In acht Dörfern und einem Städtchen lebten ungefähr zweitausend Einwohner. 3 Im Laufe des hier betrachteten Zeitraumes wurde es Bestandteil eines größeren Komplexes, der bis 1850 auf 22 Lokalitäten mit annähernd 7500 Einwohnern anwuchs (der ursprüngliche Herrschaftskern wurde damals von 4700 Menschen bewohnt). 4 Die Herrschaft befand sich ständig in adeligem Besitz; der landwirtschaftliche Charakter überwog, obwohl hier bereits seit dem 16. Jahrhundert Eisenverhüttung existierte. Diese wuchs in den folgenden Jahrhunderten weiter an, im 19. Jahrhundert entstanden aus den hiesigen Eisenwerken die berühmten ŠkodaWerke, deren Sitz anschließend nach Pilsen verlegt wurde. In meiner Analyse werde ich mich nur mit den Hofbesitzern beschäftigen. Im System der Gutsherrschaft waren diese Personen nicht die tatsächlichen Eigentümer der Anwesen, die sie bewirtschafteten. Das Eigentum an den Untertanenhöfen (dominium directum) stand der Obrigkeit zu, aber die Hofbesitzer verfügten in der Regel über relativ breite Verfügungsrechte, die ihnen garantierten, dass sie den Hof mit Zustimmung der Obrigkeit verkaufen oder einem bestimmten Erben übergeben konnten (dominium utile). Die Hofbesitzer in der Herrschaft Šťáhlavy lassen sich in drei Gruppen unterteilen:

3

4

Nähere Informationen zu der Herrschaft in: Velková, Alice: Die Herrschaft Šťáhlavy. Wirtschaft, soziale Strukturen und Demographie, in: Cerman, M./Zeitlhofer, H. (Hg.): Soziale Strukturen in Böhmen, S. 29-41. Sommer, Johann Gottfried: Das Königreich Böhmen, statistisch-topographisch dargestellt, 6. Band, Pilsner Kreis, Prag 1838; Palacký, František: Popis Království českého [Beschreibung des Königreichs Böhmen], Praha 1848.

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Abb. 1: Karte von Westböhmen mit der Herrschaft Šťáhlavy

Zu den reichsten Hofbesitzern gehörten die Besitzer der dominikalen Mühlen und Wirtshäuser und vor allem die Bauern, von denen die größten um die 20 ha Feldfläche bewirtschafteten. Kleinere Hofbesitzer wurden Chalupner genannt. Sie bewirtschafteten gewöhnlich um weniger als 5 ha Feldfläche. Einigen Chalupnern reichte dieses Anwesen nicht, um ihre Familien zu ernähren; häufig verdienten sie ihren Lebensunterhalt, indem sie zusätzlich ein

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Handwerk ausübten. Die handwerkliche Produktion war für eine dritte Gruppe von Hausbesitzern eine besonders wichtige Quelle zur Unterhaltssicherung: Die Rede ist von den Häuslern, die keinen Grund und Boden bewirtschaften, sondern nur ein landarmes Haus besaßen. Diejenigen unter ihnen, die kein Handwerk ausübten, ließen sich von den Bauern oder der Obrigkeit für Arbeiten auf deren Gütern und Meierhöfen einstellen.

Die Entstehung von Familienbesitz Im Vergleich zu früheren Zeiten kam es im 18. Jahrhundert beim Besitztransfer zu einer wesentlichen Veränderung. Für das 16. und 17. Jahrhundert war eine gewisse Instabilität des Besitzes bezeichnend, denn die Hofbesitzer hatten recht häufig gewechselt. Ihr Verlassen eines Anwesens war häufig gleichbedeutend mit Migration, da sie das Dorf verließen, in dem sie vorher gelebt hatten. Ihre Anwesen verkauften sie in einem solchen Fall an einen Nichtverwandten Käufer und bemühten sich anschließend, ein neues Wirkungsfeld zu finden. 5 Dieses Verhalten wurde durch die Tatsache gefördert, dass es in jener Zeit noch relativ leicht war, ein Anwesen zu erhalten. 6 Dagegen zeichnete sich das 18. Jahrhundert durch eine Stabilisierung der familiären Bindungen an ein Anwesen aus. 7 Die Mobilität der Menschen, die über eine Liegenschaft verfügten, ging zurück. Sie begannen vielmehr, eine Art Familienbesitz zu schaffen, der über Jahrzehnte von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Zu diesem Wandel kam es aus mehreren Gründen: Zuerst wuchs die Bevölkerung und vor allem die Schicht der Landlosen, was zu einer erhöhten Nachfrage nach freien Anwesen führte. Die Stabilisierung der Besitzverhältnisse wurde auch durch obrigkeitliche Maßnahmen beeinflusst. Die Obrigkeit schränkte nach dem Dreißigjährigen Krieg die Wegzugsmöglichkeiten aus einer Herrschaft ein, 8 denn es lag in ihrem Interesse, die vom Krieg zerrütteten Anwesen zu erneuern und ständige Besitzer für sie zu gewinnen. Zur Unterstützung ihrer Bestrebungen schuf die Obrigkeit gün5

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Petráň, Josef: Poddaný lid v Čechách na prahu třicetileté války [Die Untertanen in Böhmen an der Schwelle des Dreißigjährigen Krieges], Praha 1964, S. 64, 248-251; Krofta, Kamil: Dějiny selského stavu [Geschichte des Bauernstandes], Praha 1949, S. 160-161. Zeitlhofer, Hermann: Land, Family and the Transmission of Property in a Rural Society of South Bohemia, 1641-1840, in: Continuity and Change 22 (2007), S. 519-544, hier 528. Volf, Miloslav: Výsledky soupisu gruntovních knih v Středočeském kraji [Ergebnisse des Verzeichnisses der Grundbücher im Kreis Mittelböhmen], in: Sborník archivních prací 16 (1966), S. 50-127, hier S. 105; Kalista, Zdeněk: Česká barokní gotika a její žďárské ohnisko [Die böhmische Barock-Gotik und ihr Mittelpunkt in Saar], Praha 1970, S. 69-78; Ders.: Tvář baroka [Das Antlitz des Barock], Praha 1992, S. 63-65. Krofta, K.: Dějiny selského stavu, S. 196-198.

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stige Bedingungen für diejenigen Menschen, die sich für den Aufbau einer solchen „Familienbasis“ entschieden. Sie ermöglichte ihnen, zu einem recht günstigen Preis jene breiten Verfügungsrechte zu gewinnen, die den Hofbesitzern und ihren Nachkommen eine bedeutende soziale Sicherheit gewährte. Eine gewisse Garantie, dass die Besitznachfolge nicht gestört wurde, schuf zudem die Praxis selbst, da die Obrigkeit fast nie in die Besitzentscheidungen ihrer Untertanen eingriff. 9 Man kann daher sagen, dass sich an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert geeignete Bedingungen für die Niederlassung von Familien herausbildeten, was im weiteren Verlauf zur Entstehung von Familienbesitz führen sollte. 10 Damit entstand auch eine Besitzkontinuität. 11 Ansässige Familien hatten wenig Gründe für eine weitere Migration, und wenn sie ihren Hof trotzdem verkauften und sich zum Kauf eines anderen Anwesens entschlossen, dann taten sie dies im Umkreis der benachbarten Dörfer; die Grenzen der Herrschaft wurden nur ausnahmsweise überschritten. Unter diesen Umständen, da sich zugleich die Auswahl des Partners häufig auf die nahe Nachbarschaft beschränkte, 12 boten sich als erste mögliche Käufer des Anwesens unweit ansässige Verwandte an. Betrachten wir nun, wie sich diese Entwicklung in den Besitztransaktionen widerspiegelte. Im 18. Jahrhundert sollte offensichtlich sein, dass Transfers zwischen Verwandten zunahmen, während die Nichtverwandten Käufer als neue Hofbesitzer immer mehr aus den Grundbüchern, in denen diese 9 10 11

12

Zeitlhofer, H.: Land, Family, S. 530. Cerman, M./Maur, E./Zeitlhofer, H.: Wirtschaft, Sozialstruktur und Besitztransfer, S. 283. Eine ähnliche Kontinuität bestätigt für das osnabrückische Belm auch Schlumbohm, Jürgen: Lebensläufe, Familien, Höfe. Die Bauern und Heuerleute des Osnabrückischen Kirchspiels Belm in protoindustrieller Zeit, 1650-1860, Göttingen 1994, S. 506508. Die Kontinuität des Familienbesitzes, die in einigen Fällen sogar mehrere Jahrhunderte andauern konnte, zeigt auch Le Play, Frédéric: Les ouvriers des deux mondes. Bd 3, Paris, Tours 1870-79, S. 134, 140. Grulich Josef/Zeitlhofer, Hermann: Migrace jihočeského obyvatelstva v období před třicetiletou válkou a po jejím ukončení [Die Migration der südböhmischen Bevölkerung in der Zeit vor dem Dreißigjährigen Krieg und nach dessen Beendigung], in: Historická demografie 22 (1998), S. 79-105. Die Autoren zeigen, dass für die ländliche Bevölkerung eine Migration bis zu 20 Kilometer vom Geburtsort typisch war. Eine ähnliche Untersuchung für die Region Šťáhlavy belegte für Personen, die ihr Leben mit ihrem Geburtsort verbanden, eine markante Bevorzugung von Partnern, die aus der nächsten Umgebung stammten (d. h. aus Orten, die bis zu 10 Kilometr entfernt lagen). Vgl. Velková, Alice: Migrace a životní cyklus venkovského obyvatelstva na Šťáhlavsku v letech 1750-1850 [Migration und Lebenszyklus der Landbevölkerung in der Region Šťáhlavy in den Jahren 1750-1850], in: Maur, Eduard/Grulich, Josef (Hg.): Dějiny migrací v českých zemích v novověku [Die Migrationsgeschichte der böhmischen Länder in der Neuzeit]. Historická demografie 30 (2006) – Supplement, S. 73-98, hier S. 89-92.

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Transaktionen festgehalten wurden, verschwanden. Die ersten Grundbücher wurden in der Herrschaft Šťáhlavy leider erst seit Ende des 17. Jahrhunderts geführt, 13 so dass sie keinen Vergleich mit der älteren Zeit ermöglichen, aber ein ähnlicher Trend wurde auch von anderen Historikern festgestellt. Josef Grulich, der den Besitztransfer in den Jahren 1625-1710 in der südböhmischen Herrschaft Chýnov erforschte, kam zu dem Schluss, dass in diesem Zeitraum bei 81% der Transaktionen zwischen dem alten und dem neuen Hofbesitzer keine verwandtschaftlichen Beziehungen existierten. Im folgenden Zeitraum 1711-1795 ging jedoch der Anteil von Transfers zwischen Nichtverwandten auf 31% zurück. 14 Einen ähnlich hohen Anteil Nichtverwandter Käufer bei den Transfers von Anwesen vor 1750 zeigen die Untersuchungsergebnisse von Dana Štefanová für die nordböhmische Herrschaft Frýdlant (für die Jahre 1558-1648 kommt sie auf einen Anteil von 73,4%, für den Zeitraum 1651-1750 immer noch auf 68,1%). 15 Diese Angaben könnten allerdings leicht verzerrt sein, da die Autorin nicht von einer Familienrekonstruktion ausging, sondern nur von den in den Grundbüchern erfassten verwandtschaftlichen Beziehungen. Die Grundbücher dürften in dieser Hinsicht allerdings nicht absolut zuverlässig sein, besonders wenn der neue Hofbesitzer einen vom alten Besitzer abweichenden Nachnamen hatte. Auch Hermann Zeitlhofer, der seine Untersuchungen am Beispiel der südböhmischen Pfarre Kapličky durchführte, nennt für den Zeitraum 1651-1720 einen Anteil von 31% Nichtverwandtschaftlicher Transfers, für die Jahre 1721-1840 dann nur noch 13% . 16 Zeitlhofer behandelt leider den Zeitraum 1721-1840 als Ganzes, so dass nicht festgestellt werden kann, ob es im Fall von Kapličky in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem Wandel kam. Im Prozess der Stabilisierung des Familienbesitzes gab es noch einen weiteren wichtigen Faktor: das geringer werdende Migrationniveau, das sich seit Ende des 17. Jahrhunderts beobachten lässt. Familien, die ihre Zukunft 13

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15

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Státní oblastní archiv [Staatliches Gebietsarchiv] Praha, Sbírka státních pozemkových knih [Sammlung staatlicher Grundbücher] Blovice Nr. 133-139, 161, 168; Plzeň Nr. 134-136; Rokycany, Nr. 233, 268, 270, 273-276. Grulich, Josef: Populační vývoj a životní cyklus venkovského obyvatelstva na jihu Čech v 16. až 18. století [Bevölkerungsentwicklung und Lebenszyklus auf dem südböhmischen Lande im 16.-18. Jahrhundert], České Budejovice 2008, S. 303-304. Štefanová, Dana: K aspektům role příbuzenských vztahů a majetkových transakcí. Situace na frýdlantském panství v letech 1558-1750 [Zu Aspekten der Rolle verwandtschaftlicher Beziehungen und Besitztransaktionen. Die Situation in der Herrschaft Frýdlant in den Jahren 1558-1750], in: Historická demografie 22 (1998), S. 107-144, hier S. 126, 131, 136-138. Zeitlhofer, Hermann: Headship Succession and Retirement in South Bohemia, 1640-1840, in: Green, David R./Owens, Alastair (Hg.): Family Welfare. Gender, Property, and Inheritance since the Seventeenth Century, Westport 2004, S. 73-96, hier S. 79.

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und die Zukunft ihrer Nachkommen mit einem bestimmten Ort beziehungsweise Anwesen zu verbinden begannen, bauten zugleich recht stabile Beziehungen zu ihrer Umwelt auf. Es handelte sich nicht nur um nachbarliche Beziehungen, die im Alltagsleben nützlich waren, sondern vor allem um verwandtschaftliche Beziehungen, die noch wichtiger waren. Eine geringere Migration bedeutete, dass sich die Menschen auf mehr Verwandte stützen konnten als früher. Das wachsende verwandtschaftliche Netz beschränkte sich nicht nur auf eine Versicherung für einen Notfall; es prägte auch auf bedeutsame Weise die gesamte Familienstrategie – zum Beispiel bei der Vermittlung eines Arbeits- oder Gesindedienstplatzes und natürlich bei der Auswahl des Lebenspartners. Die Wichtigkeit des Netzes lässt sich übrigens auch beim Besitztransfer beobachten. Auf den geringer werdenden Anteil von mit Migration verbundenen Übergaben verwies in seiner bereits erwähnten Untersuchung Josef Grulich, der zu dem Schluss gelangte, dass in der Herrschaft Chýnov in den Jahren 1650-1700 26 % der Transfers von Bauerngütern und 53% der Weitergaben von Chalupnerhöfen mit Migration verbunden waren. Hundert Jahre später zeigte sich jedoch eine Stabilisierung in den Besitzverhältnissen: Mit Migration hingen nur noch 11% der Transfers von Bauern- und Chalupnerhöfen zusammen. 17 Man darf sagen, dass die Menschen immer weniger bereit waren, ihren Wirkungsort zu wechseln; sie bemühten sich im Gegenteil, ihren Besitz zu erhalten und wenn möglich zu vergrößern, um ihn weiteren Generationen zu übergeben. Meine eigenen, am Beispiel der Herrschaft Šťáhlavy durchgeführten Forschungen bestätigen diesen Trend nicht nur, sondern zeigen zugleich, wie sich die Situation in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts weiter entwickelte. Auch in Šťáhlavy zeigt sich ein Ende der Zeiten, in denen unter den neuen Hofbesitzern ein erhöhter Anteil Nichtverwandter Käufer erkennbar war. Bis 1720 tauchte in den Grundbüchern ein Drittel solcher neuer Besitzer auf. Im Verlauf der nächsten hundert Jahre ging die Rolle des Nichtverwandten Käufers deutlich zurück; der Anteil solcher Fälle verringerte sich um die Hälfte und bewegte sich bei 18-22% . Zu einem erneuten Wandel kam es erst nach 1820, als bei der Eintragung von in den Jahren 1821-1850 vorgenommenen Besitztransfers wiederum bei einem Drittel der Fälle ein Nichtverwandter Käufer erschien (Abb. 2).

17

Grulich, Josef: Převody poddanských nemovitostí a migrace obyvatelstva na jihu Čech. Situace na Chýnovsku v druhé polovině 17. a 18. století [Der Transfer von Anwesen der Untertanen und die Migration der Bevölkerung im Süden Böhmens. Die Situation in der Region Chýnov in der zweiten Hälfte des 17. und im 18. Jahrhundert], in: Studie k sociálním dějinám 6 (2001), S. 117-136, hier S. 121-125.

Alice Velková

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90 80 70 60 50 40 30 20 10 0 Chýnov 16251710

Chýnov Kapličky Kapličky Šťáhlavy Šťáhlavy Šťáhlavy Šťáhlavy 17111651172116911721178818211795 1720 1840 1720 1787 1820 1850

Abb. 2: Übergabe an nichtverwandte Personen

Gründe für diese Entwicklung waren allerdings nicht die Zunahme freier Anwesen oder die rückläufige Nachfrage nach ihnen. Im Gegenteil, die dauerhaft erschwerte und eher noch abnehmende Chance auf den Erwerb eines Anwesens löste in der Bevölkerung eine Verhaltensänderung aus. Die Menschen verbanden ihre Lebensperspektiven nicht mehr nur mit einem Dorf, einer Pfarre oder einer Herrschaft. Die Migration nahm auch bei den sesshaften Bevölkerungsschichten zu. Einen Impuls für dieses Verhalten lieferte natürlich der gesellschaftliche Wandel, der im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts durch die josephinischen Reformen ausgelöst wurde. Eine Situation, in der die Besitzer ihre Höfe häufiger an eine Nichtverwandte Person verkauften, bedeutete allerdings nicht, dass die Väter aufhörten, an ihre Kinder zu denken. In den meisten Fällen übergaben die Hofbesitzer ihr letztes Anwesen an eines ihrer Kinder. Die Veränderung gegenüber dem 18. Jahrhundert liegt darin, dass es sich nicht immer um dasselbe Anwesen handelte, auf dem sie als Wirtschafter begonnen und das bereits ihre Väter und Großväter bewirtschaftet hatten. Auch wenn es natürlich weiterhin Familien gab, die auf ihren Höfen mehrere Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte ausharrten, lässt sich ein wachsender Anteil von Hofbesitzern beobachten, die während ihres Lebens mehrere Besitztransaktionen vornahmen (Tab. 1).

Familie und Besitzinteressen

Beziehung des neuen Hofbesitzers zum alten Hofbesitzer

129 Zeitraum der Übernahme des Anwesens 1691–1720

1721–87

1788–1821

1821–1850

Zahl

%

Zahl

%

Zahl

%

Zahl

%

Sohn (eventuell mit Schwiegertochter)

30

41,1

200

47,6

163

48,4

177

46,2

Tochter (eventuell mit Schwiegersohn)

9

12,3

52

12,4

45

13,4

42

11,0

Witwe (eventuell mit neuem Ehemann)

6

16,7

32

7,6

20

5,9

13

3,4

Geschwister und ihre Lebenspartner

3

4,1

46

11,0

19

5,6

12

3,1

Eltern, Ehemann, Ehefrau, Schwiegervater

0

0

3

0,7

6

1,8

6

1,6

sonstige Verwandte

1

1,4

10

2,4

8

2,4

6

1,6

Nichtverwandter Käufer

24

32,9

77

18,3

75

22,3

126

32,9

Insgesamt

73

100

420

100

336

100

382

100

Tab. 1: Übergaben nach der Beziehung zwischen dem neuen und dem alten Hofbesitzer, Herrschaft Šťáhlavy 1691-1850 18

Auch in der Herrschaft Šťáhlavy lässt sich eine geringere Mobilität bei den Hofbesitzern beobachten. Vielleicht überraschend, aber doch in sich logisch war dieser Prozess bei den Häuslern ausgeprägter als bei den Chalupnern und den Bauern. Die Häuslerschicht hatte sich in Šťáhlavy erst im ersten Viertel des 18. Jahrhunderts formiert und war offenbar von Anfang an im Hinblick auf die Mobilität eine sehr stabile soziale Gruppe. 19 In dieser Zeit der beginnenden Häuslerkonstituierung durften auch aus nicht ansässigen Familien stammende Personen darauf hoffen, ein Haus zu erhalten. Für sie war der Erwerb eines Hauses markanter Erfolg und sozialer Aufstieg zugleich, so dass sie keinen Grund hatten, sich um eine Änderung dieser Position zu bemühen. Den Häuslern standen aber selten die Möglichkeiten offen, durch weitere Migration ihren sozialen Aufstieg fortzusetzen. Sie orientierten sich stärker an der Sicherung des Erreichten. Dies lag an ihrer Art, den Lebensunterhalt zu verdienen, denn zumeist ernährten sie sich als Handwerker oder 18 19

Im Jahre 1787 kam zur Veränderung in der Erbpraxis. Von dieser Zeit die Hofbeziter zogen den ältesten Sohn dem vordem üblichen jüngsten Sohnes (s. weiter) vor. Auf die Stabilität der Häuslerschicht weist auch H. Zeitlhofer hin: Land, Family, S. 529.

130

Alice Velková

Tagelöhner, was ihnen – falls sie eine Familie besaßen – schwerlich größere Ersparnisse bescherte, die als Basis für eine soziale Veränderung hätten dienen können. Häusler, die sich Mitte und Ende des 18. Jahrhunderts im produktiven und reproduktiven Alter befanden, verknüpften so zu mehr als 90% (gegen Ende des 18. Jahrhunderts sogar zu fast 100% ) ihre Zukunft mit dem Ort, an dem sie ein Anwesen besaßen. Ähnlich verhielten sich auch die zur gleichen Zeit geborenen Bauern und Chalupner. Bei Personen, die in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wirtschaftlich aktiv waren, lässt sich eine größere Mobilität beobachten als bei Menschen, die ihr Anwesen an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert besaßen. Bis zu 30% der vor Mitte des 18. Jahrhunderts in Bauern- und Chalupnerfamilien geborenen Kinder blieben nicht einmal bis zu ihrem 15. Geburtstag in ihrem Geburtsort. Daraus ergibt sich zwangsläufig, dass sie diesen Ort gemeinsam mit ihren Eltern verließen, die sich entschlossen hatten, ihr Glück andernorts zu suchen (traten die Kinder in den Gesindedienst ein, geschah dies in der Regel erst nach dem 15. Lebensjahr, und andere Typen der Kindermobilität waren nicht mehr so häufig). Von den vor Ende des 18. Jahrhunderts geborenen Kindern der Bauern und Chalupner verließen bloße 2% auf diese Weise ihren Geburtsort – die Eltern dieser Kinder hatten keinen Grund, ihr Anwesen zu verlassen. Mit der geringer werdenden Mobilität kam es zugleich zu einer Abschließung der einzelnen Schichten. Ein Aufstieg im Hinblick auf soziale Stellung oder Besitz wurde im Verlauf des 18. Jahrhunderts immer schwieriger und war an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert bereits nahezu ausgeschlossen. Ein Anwesen konnten dann im Prinzip nur noch Personen erhalten, die aus Familien stammten, die bereits im Besitz eines Hauses waren. Diese Entwicklungslinien führten dazu, dass Transfers innerhalb der Familie im 18. Jahrhundert immer häufiger auftraten. Die Übernahme eines Anwesens von den Eltern war zugleich der einfachste und typischste Weg, wie die Hofbesitzer zu ihrem Grund und Boden kamen.

Besitztransfer im Rahmen der Familie Die wichtigste Familienstrategie, die von den Hofbesitzern im 18. Jahrhundert verfolgt wurde, basierte also auf dem Versuch, einen Familienbesitz aufzubauen, der dann von Generation zu Generation weitergegeben werden konnte. Familiengefühl und Respekt gegenüber dem väterlichen Besitz leitete ihr Denken auch dann, wenn das Anwesen nicht auf einen direkten Nachkommen transferieren konnte; sie versuchten dann, einen Nachfolger im Rahmen der weiteren Familie zu finden, damit das Anwesen nicht „in fremde Hände“ kam (diese Formulierung wird häufig bei den Einträgen in den

Familie und Besitzinteressen

131

Grundbüchern verwendet). 20 Dazu kam es vor allem, wenn der Hofbesitzer keine eigenen Kinder hatte, die er als Erben wählen konnte, oder wenn der Vater nicht mehr weiter wirtschaften konnte und die wirtschaftliche Situation des Hofes so schlecht war, dass eine Übernahme durch den Sohn nicht die zahlreichen Schulden bereinigen konnte, die auf dem Anwesen lasteten. Dann versuchte der Hofbesitzer, einen Nachfolger auch unter den Cousins, Onkeln oder Neffen zu finden – wenn auch an erster Stelle natürlich die eigenen Geschwister in Frage kamen. Der Transfer auf einen Verwandten war allerdings nicht immer gleichbedeutend mit der finanziell günstigsten Lösung. Bei Verkäufen unter Verwandten war der Preis üblicherweise niedriger als beim Verkauf an einen nichtverwandten Interessenten. 21 Wie gesehen, gaben die Hofbesitzer im 18. Jahrhundert in diesen Fällen dem Interesse der breiteren Familie den Vorzug vor einem sofortigen finanziellen Gewinn der eigenen Kernfamilie. Allerdings gehörten bei diesen Entscheidungen auch die Familienkonstellation und das Schicksal der abtretenden Hofbesitzer zu den wichtigen Faktoren. Sollte ein Anwesen verkauft werden, weil sie Aussicht auf eine bessere Existenz an einem anderen Ort hatten, oder die auf dem Anwesen lastenden Schulden bezahlt werden mussten, war wohl ein fremder Käufer die bessere Lösung. Falls jedoch der Hofbesitzer und seine Frau ins Ausgedinge gehen und auf dem verkauften Anwesen bleiben wollten, spielte die Unsicherheit der sozialen Beziehungen zum künftigen Besitzer eine große Rolle. Zwar war auch ein Verwandter kein Garant für gute Beziehungen, aber trotzdem mochte der abtretende Besitzer das Zusammenleben mit einem Menschen bevorzugen, den er kannte und dessen Handeln er einschätzen konnte – im Gegensatz zu einem fremden Käufer, der für ihn gleichbedeutend mit einem Schritt ins Unbekannte war. Im Zeitraum 1721-1787 lässt sich in der Herrschaft Šťáhlavy tatsächlich ein Anwachsen der Fälle beobachten, wo auf den ehemaligen Besitzer dessen Bruder oder die Schwester zusammen mit ihrem Ehemann folgten. Der Anteil der Übergaben an Geschwister erreichte damals 11% und war also ver-

20

21

Vgl. Zeitlhofer, Hermann: Die „eisernen Ketten“ der Heirat. Eine Diskussion des Modells der „ökonomischen Nischen“ am Beispiel der südböhmischen Pfarre Kapličky, 1640-1840, in: Duhamelle, Christophe/Schlumbohm, Jürgen (Hg.): Eheschließungen im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts. Muster und Strategien, Göttingen 2003, S. 35-63, hier S. 52. Zu einer Verringerung des Preises konnte es allerdings auch beim Verkauf an einen Nichtverwandten kommen, beispielsweise wenn das Anwesen durch ein Ausgedinge beschwert war. Vgl. Rebel, Hermann: Peasant Stem Families in Early Modern Austria. Life Plans, Status Tactics, and the Grid of Inheritance, Social Science History 2 (1978) S. 255-291, hier S. 268-270.

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gleichbar mit den Transaktionen zugunsten der Tochter des ehemaligen Besitzers und deren Ehemann (12%). 22 Aber bereits mit Beginn des 19. Jahrhunderts änderte sich die Situation erneut. Die Hofbesitzer begannen sich wesentlich pragmatischer zu verhalten. Wichtig wurde nicht etwa das, was aus Sicht der weiteren Familie gut war, sondern das, was der gegenwärtigen Familie half. Deshalb suchten die Besitzer nicht mehr um jeden Preis einen Nachfolger im Rahmen ihrer Familie, sondern übergaben das Anwesen – falls sie es nicht an ein eigenes Kind übergeben konnten – eher einem nichtverwandten Käufer als etwa einem Geschwisterteil. Jürgen Schlumbohm spricht in diesem Zusammenhang davon, dass etwa die Belmer Bauern sich im 19. Jahrhundert bei weitem nicht der Idee der „Geblüts-Kontinuität“ folgten. Ihre Strategie, der sie ihre Entscheidung unterordneten, richtete sich auf die Erfüllung persönlicher Wünsche und Interessen. 23 Die Anwesen der Väter wurden so plötzlich für einen Teil der Hofbesitzer zu einer Bremse für den weiteren wirtschaftlichen Aufschwung. Wichtig ist, dass auch diejenigen Bauern, die entschlossen waren, jenes Familienband zu durchtrennen, durch das sie bisher an ihre Höfe geknüpft waren, ihre Nachfolger unter dem Aspekt des höchstmöglichen Gewinns auswählten. Die Person des neuen Hofbesitzers war für sie bereits nicht mehr so wichtig (falls keine weiteren Faktoren ins Spiel kamen, wie zum Beispiel die auf dem Hof verbleibenden Eltern im Ausgedinge), weshalb sie den Käufer auch nicht mehr primär im Umkreis ihrer Verwandten suchten. Man kann sagen, dass seit dem zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts ein Teil der Hofbesitzer anfing, das Anwesen als Vermögensinvestition zu betrachten. Dieser Prozess war in verschiedenen Schichten unterschiedlich intensiv. Die Besitzer großer Güter wurden von den Veränderungen langsamer erfasst als die Häusler und Chalupner (Abb. 3). Aber auch in diesen Schichten lässt sich in diesem Zeitraum ein bedeutender Wandel beobachten. Es ist selbstverständlich, dass Fälle, in denen beispielsweise ein Bauer sein Gut verkaufte, um in die Stadt zu gehen, die Ausnahme waren – falls es sie überhaupt gab. Dagegen war es nicht ungewöhnlich, dass ein Bauer seinen Hof verkaufte, um einen besseren ein Stück entfernt zu kaufen. Dieses aktivere Verhalten machte es auch möglich, den Markt mit solchen Anwesen stärker in Bewegung zu versetzen.

22

23

Trotz des recht geringen Anteils von verwandtschaftlichen Transfers, die Dana Štefanová für die Herrschaft Frýdlant festhielt, kann sie die starke Position des Bruders des Hofbesitzers belegen, der vor 1750 in insgesamt 10 % der Fälle an den verwandtschaftlichen Transfers beteiligt war. Štefanová, D.: K aspektům, S. 126. Schlumbohm: Lebensläufe, Familien, Höfe, S. 509, 524.

Familie und Besitzinteressen

133

60

50

40

%

Bauern Chalupner Häusler

30

20

10

0 1691-1720

1721-1787

1788-1820

1821-1850

Abb. 3: Transfers auf nichtverwandte Käufer bei den einzelnen sozialen Gruppen

Die Übergabe des Anwesens an das eigene Kind blieb von diesem Trend relativ unberührt. Diese Art von Besitztransaktion war im 18. Jahrhundert die am weitesten verbreitete Transferform gewesen und blieb dies auch im 19. Jahrhundert; sie wurde von mehr als der Hälfte der Hofbesitzer bevorzugt. Aber auch hier lässt sich beobachten, dass der Besitzer sein Anwesen am häufigsten in den Jahren 1721-1820 an sein Kind übergab – also gerade in der Zeit, in der die Familienbeziehungen eine große Rolle spielten. Der Anteil dieser Übergaben an der Gesamtzahl der Transaktionen erreichte 60-62%; in den sonstigen Untersuchungszeiträumen – zu Beginn des 18. Jahrhunderts und im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts – lag er etwas niedriger (53% bzw. 57%). In den meisten Fällen übernahm der Sohn das Anwesen des Vaters. Die Tochter beziehungsweise deren Ehemann erhielten den Besitz bei ungefähr einem Fünftel der zugunsten eines Kindes durchgeführten Transfers. Bei einem Teil dieser Übergaben wurde die Tochter nur deshalb Erbin des Anwesens, weil der der Vater keinen Sohn hatte, dem er den Vorzug hätte geben können. Im 19. Jahrhundert kam es in diesem Bereich zu bestimmten Veränderungen, indem sich der Anteil der Töchter erhöhte, denen die Hofbesitzer den Vorzug vor dem Sohn gaben. 24 Es handelte sich vor allem um Häusler, deren Söhne in größerem Maß den gesellschaftlichen Wandel ausnutzten und häu24

Fertig, Christine/Lünnemann, Volker/Fertig, Georg: Inheritance, Succession, and Familial Transfer in Rural Westphalia, 1800-1900, in: The History of the Family 10 (2005), S. 309-326.

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figer ihren Geburtsort auf Dauer verließen, womit sie ihren Schwestern größeren Raum gaben. Frauen erhielten allerdings nicht nur auf Kosten ihrer Brüder leichteren Zugang zum Besitz. Zur Verbesserung ihrer besitzrechtlichen Stellung trugen auch die Ende des 18. Jahrhunderts vorgenommenen neuen legislativen Regelungen bei. Den Frauen eröffnete sich ein Weg zum Mitbesitz der Anwesen ihrer Ehemänner, und es war auch nicht ungewöhnlich, dass eine Frau als einzige Besitzerin eines Anwesens auftrat. Auch deshalb kam es zu einem Wandel der Familienstrategie. Wurde im 18. Jahrhundert die Tochter des Hofbesitzers zur Erbin, war es üblich, dass als Besitzer in den Grundbüchern nur ihr Ehemann genannt wurde (die Tochter selbst wurde in diesem Zeitraum nur in 20% der Fälle Besitzerin). Dagegen trug der abtretende Vater im frühen 19. Jahrhundert fast immer Sorge, dass seine Tochter wenigstens zur Mitbesitzerin des väterlichen Anwesens wurde. In den Jahren 1788-1820 figurierte der Schwiegersohn bei 16% der Einträge als alleiniger Besitzer, 1821-1850 wurde zu seinen Gunsten nur noch ein einziger Eintrag vorgenommen (2%). Dagegen fand in den Jahren 1788-1820 ein Eintrag zugunsten der Tochter allein bei 29% der Fälle statt – und nach 1821 bereits bei 36%. Die Stärkung der Rolle der Frau in Besitzfragen lässt sich auch in Fällen beobachten, wo der Sohn des früheren Hofbesitzers zum Erben ernannt wurde. Während vor 1788 in keinem einzigen Fall die Ehefrau des Erben bei der Ausfertigung des Eintrags als Mitbesitzerin auftauchte, erreichten diese Eintragungen nach 1821 bereits 17%. Falls man die weiteren, bereits erwähnten Fälle in die Überlegungen einbezieht, in denen der Hofbesitzer bei der Auswahl des Erben der Tochter den Vorzug vor dem Sohn gegeben hatte, findet sich ein weiterer Beleg für den Wandel der ländlichen Mentalität. Für den Hofbesitzer war es nicht mehr vorrangig, dass sein Nachfolger gleichzeitig seinen Namen trug. Nicht mehr auf die Interessen der weiteren Familie wurde größerer Wert gelegt, sondern auf die der eigenen Kernfamilie. 25

25

Vgl. dazu Mitterauer, Michael: Formen ländlicher Familienwirtschaft. Historische Ökotypen und familiale Arbeitsorganisation im österreichischen Raum, in: Mitterauer Michael/Ehmer, Josef (Hg.): Familienstruktur und Arbeitsorganisation in ländlichen Gesellschaften, Wien 1986, S. 185-323, hier S. 312-314.

Familie und Besitzinteressen

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100% 90% 80% 70% Tochter Schwiegersohn und Tochter Schwiegersohn Sohn und Schwiegertochter Sohn

60% %

50% 40% 30% 20% 10% 0% 1691-1720

1721-1786

1788-1820

1821-1850

Abb. 4: Transfer des Anwesens auf ein eigenes Kind

Die Tatsache, dass im gesamten Untersuchungszeitraum der Besitztransfer auf das eigenen Kind dominierte, zeigt zugleich, dass die Hofbesitzer als Alterssicherung das Leben im Ausgedinge auf dem Gut bevorzugten, das von ihrem Kind bewirtschaftet wurde. 26 Im Unterschied zum 18. Jahrhundert tauchten im 19. Jahrhundert häufiger Fälle auf, in denen es sich bei diesem 26

Das Ausgedinge war in dieser Hinsicht eine bedeutende Einrichtung, die im protoindustriellen Europa eine erhebliche Ausdehnung besaß. Vgl. beispielsweise Goody, Jack/Thirsk, Joan/Thompson, Edward Palmer: Family and inheritance. Rural Society in Western Europe 1200-1800, Cambridge 1976; Held, Thomas: Rural Retirement Arrangement in Seventhenth- to Ninethenth- Century Austria. A Cross Community Analysis, in: Journal of Family History 7 (1982), S. 227-254; Gaunt, David: The property and kin relationships of retired farmers in northern and central Europe, in: Wall, Richard/Robin, Jean/Laslett, Peter (Hg.): Family forms in historic Europe, Cambridge 1983, S. 249-279; Plakans, Andrejs: Retirement, inheritance, and Generational Relations: Life-Course Analysis in Historic Eastern Europe, in: Hareven, Tamara K. (Hg.): Aging and Generational Relations Over The Life Course. A Historical and Cross-Cultural Perspective, Berlin/New York 1996, S. 140-157; Velková, Alice: Forma sociálního zabezpečení na vesnici v 18. a v první polovině 19. století. (Výměnek v pozemkových knihách vesnice Lhůty u Šťáhlav.) [Eine Form der sozialen Versicherung auf dem Lande im 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. (Das Ausgedinge in den Grundbüchern des Dorfes Lhůta bei Šťáhlavy)], in: Historická demografie 21 (1997), S. 93–131; Poska, Allyson M.: Gender, property and retirement strategies in early modern northwestern Spain, in: Journal of Family History 25 (2000), S. 313-325.

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dem Kind übergebenen Anwesen um ein anderes als den „Familienhof“ handelte – vielmehr war es ein Anwesen, das der abtretende Vater dank eines bestimmten wirtschaftlichen Kalküls und eines wachsenden Immobilienmarkts im Laufe seines Lebens erworben hatte. Trotzdem dauerte die Furcht vor einem Leben mit fremden Menschen im 19. Jahrhundert immer noch an. In dieser Hinsicht war Böhmen anscheinend konservativer als beispielsweise bestimmte Regionen in Schweden. Die dortige Forschung zeigt, dass im Verlauf der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Anteil der einem Kind übergebenen Anwesen bedeutend zurückging (von 40% auf 18%). 27 Diesen Transfertyp nutzten die Hofbesitzer besonders dann, wenn sie ins Ausgedinge gehen und auf dem Anwesen bleiben wollten. Nach dem Verkauf eines Anwesens blieben die ehemaligen Hofbesitzer dagegen nur in Ausnahmefällen im Ausgedinge ihres ehemaligen Anwesens (6–7%). Dass die schwedische Forschung einen relativ kleinen Anteil von Transfers zugunsten der eigenen Kinder zeigt, belegt noch deutlicher den Verzicht der Hofbesitzer auf Familiensentiment zugunsten einer größeren Betonung der Marktbeziehungen. Die meisten dortigen Verkäufe von Anwesen (um 70%) waren zugleich mit der Migration der Hofbesitzer verbunden, die ihr ursprüngliches Anwesen verließen, um anderswo eine Existenz aufzubauen. Die Zahl der kontinuierlich von Generation zu Generation übergebenen Anwesen geht in diesem Modell noch deutlicher zurück als dies die vergleichbare Analyse für die Herrschaft Šťáhlavy gezeigt hatte. Der Zeitraum, in dem es zu einem derart markanten Wandel im Verhalten der Hofbesitzer kam, ist in beiden Ländern identisch: das zweite Viertel des 19. Jahrhunderts. 28 Wie bereits angeführt, war dieses neue Modell einerseits mit einem bestimmten Wandel in der Mentalität und dem Verständnis von Bedeutung und Bedürfnissen der Familie verbunden. Andererseits hatte es natürlich auch wirtschaftliche Ursachen – es war zugleich eine Reaktion auf den Wandel in den ländlichen Marktbeziehungen und auf den wachsenden Wert der Grundstücke und Anwesen. 29 Dieser Prozess ist allgemeinerer Natur: Die Ergebnisse der Analyse der Herrschaft Šťáhlavy sind in dieser Hinsicht sicher weder einzigartig noch zufäl-

27

28

29

Dribe, Martin/Lundh Christer: Retirement as a Strategy for Land Transmission. A Micro-Study of Pre-Industrial Rural Sweden, in: Continuity and Change 20 (2005), S. 165-192, hier S. 175-176. Ebenda, S. 181. In Schweden kommt es in diesem Zeitraum zu einem markanten Anwachsen der Transfers zugunsten von nichtverwandten Käufern: Während deren Anteil in den Jahren 1766-1799 38 % und im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts 40 % betrug, wuchs er im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts bereits auf 84 %. Ebenda, S. 187.

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lig. Unterschiedlich sind vermutlich nur Intensität, Schnelligkeit und Konsequenz, mit denen er sich durchsetzte. 30 60

50

40

%

Sohn Tochter, Schwiegersohn Geschwister Ehemann, Ehefrau Sonstige Verwandte Nichtverwandte

30

20

10

0 1691-1720

1721-1787

1788-1820

1821-1850

Abb. 5: Verwandtschaftsbeziehungen in der Besitznachfolge (Stellung zum Vorbesitzer), Šťáhlavy 1691-1850.

Schluss Die Analyse der Besitztransaktionen hat gezeigt, dass es auf dem böhmischen Land zwischen 1650 und 1850 zu bedeutenden Veränderungen bei der Auswahl des Nachfolgers des Hofbesitzers kam. Im Verlauf dieser zwei Jahrhunderte wandelten sich die Präferenzen der Hofbesitzer und deren Auffassung des Familieninteresses. Bis in das 17. Jahrhundert hinein war es nicht besonders üblich, dass die Besitzer ein konkretes Anwesen von Generation zu Generation weitergaben. Da die Grundherren ihnen in dieser Zeit häufig keine Erbrechte garantierten, bevorzugten die Besitzer einen Hoftransfer, der ihnen den höchsten kurzfristigen Gewinn sicherte. Seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts änderte sich diese Situation jedoch. Die unter 30

In Innichen in Tirol setzte ein ähnlicher Prozess beispielsweise mit Verspätung ein. Zur erwähnten Stabilisierung der Familien kam es erst seit Anfang des 19. Jahrhunderts, während das 18. Jahrhundert hier immer noch als eine sozial instabile Zeit charakterisiert werden kann. Lanzinger, Margareth: Das gesicherte Erbe. Heirat in lokalen und familialen Kontexten. Innichen 1700-1900, Wien 2003, S. 230.

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anderem auch durch den Dreißigjährigen Krieg verursachten wirtschaftlichen Schwierigkeiten führten die Obrigkeiten dazu, sich um eine stabile Besetzung der untertänigen Güter zu bemühen. Zudem interessierte sich auch der Staat für ihre Prosperität, so dass für die Untertanen geeignete Bedingungen geschaffen wurden, um sich dauerhaft in konkreten Lokalitäten niederzulassen. Es kam zum Aufbau von Familienbesitz. Dann lag es im natürlichen Interesse der Familie, diesen Besitz wenn möglich zu vergrößern und ihn vor allem in der Hand der Familie zu halten. Im 18. Jahrhundert sank so bei den Besitztransfers der Anteil der Verkäufe an nichtverwandte Käufer. Dagegen erhöhte sich der Anteil von Transfers, die zugunsten des Sohns des Hofbesitzers erfolgten. Falls der Besitzer aus irgendeinem Grund nicht sein Kind als Erbe wählen konnte, bevorzugte er eine verwandte Person – besonders einen Bruder oder Schwager – gegenüber einem nichtverwandten Käufer. Dieser Trend wurde zugleich von einer verringerten Migration der Hofbesitzer begleitet, die weder Grund noch Interesse daran hatten, ihre Stellung an einem anderen Ort zu verbessern. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts gingen die Chancen auf einen deutlicheren sozialen Aufstieg zurück, und die einzelnen sozialen Schichten schotteten sich gegeneinander ab. Seit Ende des 18. Jahrhunderts kam es allerdings zu einem erneuten Wandel dieses Verhaltens, der seinen Höhepunkt im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts fand. Die Gründe für diese Veränderungen müssen meiner Ansicht nach auf wirtschaftlicher wie auf gesellschaftlicher Ebene gesucht werden, aber auch im Bereich der Mentalität der Landbevölkerung. Anscheinend trugen seit Ende des 18. Jahrhunderts auch die wachsenden Preise für Anwesen zu einer stärkeren Polarisierung des ländlichen Milieus bei. Es tauchte eine Schicht wirtschaftlicher starker Besitzer auf, die sich in spekulativen Verkäufen und Käufen zu verwirklichen begannen, welche nichts mehr mit dem Familiensentiment gemeinsam hatten. In diesem Zusammenhang muss noch ein weiterer Faktor erwähnt werden. Während sich im 18. Jahrhundert Verkauf und Kauf von Anwesen „auf Raten“ abspielten, erhielt der Verkäufer im 19. Jahrhundert das Bargeld auf einmal beziehungsweise in zwei Raten, von denen ihm die erste unmittelbar nach Abschluss des Kaufvertrags und die zweite zu einem bestimmten, nicht allzu weit entfernten Termin (üblicherweise ein halbes bis ein Jahr) zur Verfügung stand. Der Käufer konnte sich den notwendigen Geldbetrag leihen und dann in Raten zurückzahlen, aber wichtig ist, dass der Verkäufer einen wesentlichen Teil des Verkaufspreises gleich erhielt und sofort wieder investieren konnte.

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Zum größeren Kaufpotential dürften auch die Veränderungen im Bereich des Erbrechts beigetragen haben, die 1786-87 vorgenommen wurden. 31 Die Besitzer von Untertanenhöfen erhielten damals zum ersten Mal das allgemeine Recht, ihren Nachfolger mittels eines schriftlichen oder mündlichen Testaments zu bestimmen, das Vorrang vor der gesetzlichen Erbfolge hatte. Falls der Besitzer kein solches Testament hinterließ, sollte sein ältester Sohn erben. Dies war ein erheblicher Eingriff in die Erbpraxis in Böhmen. Hier war es nämlich bis zu diesem Zeitpunkt üblich gewesen – wie auch das Beispiel Šťáhlavy zeigt – dass der jüngste Sohn das Anwesen erbte. Diese Veränderung erwies sich jedoch als positiv für den Betrieb des Hofes und für die Familie, so dass sie während einer Generation tatsächlich von den Hofbesitzern akzeptiert wurde. Ein Hofbesitzer konnte so dank des neuen Erbrechts noch zu Lebzeiten mehrere seiner Kinder absichern und übergab seinem Erben damit weniger finanzielle Verpflichtungen und Schulden. Der neue Hofbesitzer konnte sich dann statt auf die Begleichung von Forderungen stärker auf die Verzinsung seines wirtschaftlichen Erfolgs konzentrieren. Ein zweiter Grund muss im Bereich der gesellschaftlichen Veränderungen gesucht werden, die sich Ende des 18. Jahrhunderts im Zusammenhang mit den josephinischen Reformen abspielten. Die Protoindustrialisierung, die wachsenden Städte und die immer breiter werdenden Erwerbsmöglichkeiten außerhalb der Landwirtschaft hatten zur Folge, dass die Menschen immer mehr und häufiger die Grenzen der Herrschaft hinter sich ließen, in der sie geboren waren. Sie bemühten sich um eine aktivere Gestaltung ihres eigenen Lebens, da ihnen bewusst wurde, dass nur eine Veränderung ihres Lebensstils eine eventuelle Verbesserung ihrer Lebensbedingungen mit sich bringen konnte. Dies war das Ergebnis des bereits erwähnten sozialen Wandels, in dessen Verlauf sich die einzelnen sozialen Schichten immer stärker abschlossen, so dass es für die Menschen fast unmöglich war, ihre in gewisser Weise durch die soziale Herkunft des Einzelnen vorbestimmte soziale Stellung am Aufenthaltsort bedeutsam zu verändern. Diese Situation ließ bei vielen Menschen die Überzeugung wachsen, dass sie es an einem anderen Ort besser haben würden. Wichtig war auch ein weiteres Motiv, nämlich die Absicherung einer besseren Zukunft für die eigenen Kinder. Selbst wenn ein Weggang die soziale Position in dieser ersten abwandernden Generation nicht wesentlich zu verbessern vermochte, bestand die Hoffnung, dass die folgende Generation es bereits besser haben würde, da sie am neuen Wohnort neue

31

Dazu Velková, Alice: Transformations of rural society between 1700-1850, in: Historica – Historical Sciences in the Czech Republic 13 (2008), S.109-158, hier S. 142-150.

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Erfahrungen sammeln beziehungsweise den Zugang zu einer gewissen Ausbildung erhalten konnte. 32 Die soziale Entwicklung auf dem Lande mündete im 19. Jahrhundert in die Aufhebung der Unteilbarkeit eines Anwesens, 33 was praktisch die Annullierung jener „Idee des Familienanwesens“ 34 mit sich brachte, das ohne Verkleinerung – sondern im Gegenteil wenn möglich vergrößert – von Generation zu Generation übergeben werden sollte. Damit verlor die Überzeugung ihre Gültigkeit, dass sich die Primärbeziehungen in der ländlichen Gesellschaft nicht auf zwischenmenschlicher Ebene formten, sondern vor allem durch Besitz und die Forderungen des Familienbesitzes geprägt wurden. 35 Die Aufhebung des Rechts vom einzelnen Erben (sog. Anerben) hatte zudem weitere weitreichende Folgen – es verwischte die Unterschiede zwischen den aus einer Familie stammenden Kindern. In der Zeit, in der das Anwesen nur von einem Kind des Hofbesitzers übernommen werden konnte, waren die Schicksale der Kinder aus ein und derselben Familie sehr unterschiedlich und sozial vielfältig. 36 Es war keine Ausnahme, dass ein Sohn sich in der ursprünglichen Bauernschicht halten konnte, während sein Bruder zum Häusler oder sogar zum Inwohner wurde. 37 Ähnlich variierten die Möglichkeiten der Geschwister beim Abschluss einer sozial ebenbürtigen Ehe. Familien, die im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts tatsächlich mit der Aufteilung ihrer Güter unter den Kindern begannen, beseitigten einerseits dieses 32

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Machačová, Jana/Matějček, Jiří: Chudé (dolní) vrstvy společnosti českých zemí v 19. století. Sociální pozice a vzory chování [Die armen (unteren) Schichten der Gesellschaft in den böhmischen Ländern im 19. Jahrhundert. Soziale Positionen und Verhaltensvorbilder], in: Studie k sociálním dějinám 1 (1998), S. 121-303, hier S. 195-196. Zur vollständigen Aufhebung der Einschränkungen bezüglich der freien Teilbarkeit von Grundstücken kam es durch ein Reichsgesetz vom 27. 6. 1868, das für Böhmen durch das Landesgesetz vom 20. 12. 1869 ergänzt wurde. Sauermann, Dietmar: Hofidee und bäuerliche Familienverträge, in: Rheinischwestfälische Zeitschrift für Volkskunde 17 (1970), S. 58-78, hier S. 58-59. Bringemeier, Martha: Gemeinschaft und Volkslied. Ein Beitrag zur Dorfkultur des Münsterlandes, Münster 1931, S. 78. Lünnemann, Volker: Familialer Besitztransfer und Geschwisterbeziehungen in zwei westfälischen Gemeinden (19. Jahrhundert), in: Historische Sozialforschung 30 (2005), S. 31-48. Dazu Velková, Alice: Výzkum sociální mobility na příkladu osob narozených v letech 1791–1800 na panství Šťáhlavy [Die Untersuchung der sozialen Mobilität am Beispiel der 1791–1800 in der Herrschaft Šťáhlavy geborenen Personen], in: Historická demografie 27 (2003), S. 173-224, hier S. 215-223. Vgl. auch Fertig, Christine: Hofübergabe im Westfalen des 19. Jahrhunderts. Wendepunkt des bäuerlichen Familienzyklus?, in: Duhamelle, Christophe/Schlumbohm, Jürgen (Hg.): Eheschließungen im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts. Muster und Strategien, Göttingen 2003, S. 65-92, hier S. 78.

Familie und Besitzinteressen

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jahrhundertealte Ungleichgewicht, trugen aber andererseits zum dramatischen Wandel des sozialen Spektrums auf dem Lande bei.

JOSEF GRULICH

Heiratsstrategien der Dorfbevölkerung. Die Herrschaft Třeboň/Wittingau 1792-1836

Obwohl die Problematik der Eheschließung bereits seit mehreren Jahrzehnten systematisch von ausländischen Forschern 1 bearbeitet wird, stand sie in der tschechischen Geschichtsforschung bisher eher am Rande des Forschungsinteresses. Dabei wurde vor allem die adelige Umwelt erforscht, da man hier neben Eheverträgen auch auf persönliche Korrespondenzen zurückgreifen kann, um einen tieferen Einblick in das Denken und Handeln einzelner Personen zu gewähren. 2 Demgegenüber muss für das Heiratsverhalten der Stadt- 3 und Dorfbevölkerung 4 vom Gesichtspunkt neuerer metho-

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Mit Eheschließung im Allgemeinen beschäftigt sich Bologne, Jean Claude: Svatby. Dějiny svatebních obřadů na Západě, Praha 1997. Die erwähnte Problematik in der adeligen Umwelt erforscht zum Beispiel die österreichische Historikerin Bastl, Beatrix: Tugend, Liebe, Ehre. Die adelige Frau in der Frühen Neuzeit, Wien 2000. Mit der Problematik der westlichen Familie und der Ehe beschäftigt sich Goody, Jack: The Developement of the Family and Marriage in Europe, Cambridge 1983. Der Eheschließung im 18. und 19. Jahrhundert widmet sich Duhamelle, Christophe/Schlumbohm, Jürgen/Hudson, Pat (Hg.): Eheschließungen im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts. Muster und Strategien, Göttingen 2003. Die Ehe als ein wichtiges Übergangsritual verarbeitete Gennep, Arnold van: Přechodové rituály. Systematické studium rituálů, Praha 1997. Vgl. vor allem Bůžek, Václav/Hrdlička, Josef/Král, Pavel/Vybíral, Zdeněk (Hg.): Věk urozených. Šlechta v českých zemích na prahu novověku, Praha-Litomyšl 2002; Bůžek, Václav/Hrdlička, Josef (Hg.): Dvory velmožů s erbem růže. Všední a sváteční dny posledních Rožmberků a pánů z Hradce, Praha 1997; Maťa, Petr: Svět české aristokracie (1500-1700), Praha 2004; Vorel, Petr: Aristokratické svatby v Čechách a na Moravě v 16. století jako prostředek společenské komunikace a stavovské diplomacie, in: Bůžek, Václav/ Král, Pavel (Hg.): Slavnosti a zábavy na dvorech a v rezidenčních městech raného novověku, České Budějovice 2000 (= Opera Historica 8), S. 191-206; Vorel, Petr: Pernštejnská svatba v Prostějově roku 1550, Časopis Matice moravské 114, 1995, S. 143-159. Die Ehe in der städtischen Umwelt wird vor allem im Rahmen der umfassender arbeitenden Genderstudies erforscht. Es fehlen hier aber Studien, die sich detaillierter auf die Eheschließung konzentrieren. Vgl. vor allem Lenderová, Milena: K hříchu i k modlitbě. Žena v minulém století, Praha 1999; Vošahlíková, Pavla: Jak se žilo za časů Františka Josefa, Praha 1996; Neudörflová, Marie L.: České ženy v 19. století, Praha 1999; Horská, Pavla: Naše prababičky feministky, Praha 1999.

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dologischer Zugänge ein weitgehendes Forschungsdesiderat konstatiert werden. Die bisher bestehenden Forschungen analysieren nämlich das mit der Eheschließung verbundene Verhalten mit Hilfe von Kirchenbüchern oder anderen seriellen Quellen, die es nicht ermöglichen, tiefer in die Gedankenwelt der einzelnen Personen einzudringen. Im Folgenden wird daher anhand einer anderen Quellengattung – des Ehevertrags – die enge Verschränkung von familiären, ökonomisch bestimmten und persönlichen Strategien untersucht. Dabei sollen vor allem die jeweiligen Handlungsspielräume in qualitativer wie quantifizierender Weise herausgearbeitet werden, wie sie sich zwischen kollektiver Mentalität, lebensweltlichen Bezügen und familiären Bedürfnissen entfalteten und entwickelt wurden.

Eheverträge als Quelle für familiäre Strategien Die Eheverträge fordern zu einer seriellen Bearbeitung auf, die es ermöglicht, strukturelle Grundzüge in sozialer Interaktion wie kollektiver Mentalität sichtbar zu machen, die für die dörfliche Umwelt typisch waren. Neben gruppenspezifischen Elementen zeichnen sich die Eheverträge aber auch dadurch aus, dass die einzelnen Individuen hervortreten, die an diesem Rechtsgeschäft beteiligt waren. Es handelt sich zwar nicht um eine traditionelle Quelle von so genannten Ego-Dokumenten, 5 manche von ihnen können 4

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Dem Land wurde die Aufmerksamkeit vor allem aus der Sicht der positivistisch aufgefassten ethnographischen Studien, die sich auf die Beschreibung von Heiratsgewohnheiten und Trachten konzentrierten, gewidmet. Vgl. z. B. Bartoš, František: Moravská svatba, Praha 1892; Heroldová, Iva: Uzavírání sňatků a svatební obyčeje v Čechách ve 2. pol. 18. stol. a v 1. pol. 19. stol., Český lid 62 (1975), S. 129-139; Ulčová, Marie: Výbava chalupnické nevěsty z Plzeňska v roce 1800, Český lid 65 (1978), S. 37-39; Zíbrt, Čeněk: Staročeská svatba, Praha 1929. Eine tiefere Einsicht in die gegebene Problematik bringen historisch-demographische Studien, die die Eheschließung auf Grund der Matrikeln erforschen. Vgl. vor allem Brabcová, Petra: Svatby v 18. století z hlediska církevních matrik, Český lid 85 (1998), S. 257-262; Fialová, Ludmila: Vývoj sňatečnosti a plodnosti obyvatelstva Českých zemích v 19. století, Historická demografie 12 (1987), S. 207-224; Kárníková, Ludmila: Vývoj obyvatelstva v českých zemích 1754-1914, Praha 1965; Štěrbová, Blanka: Sňatečnost a sňatková migrace ve farnosti Střelské Hoštice v letech 1645-1890, Jihočeský sborník historický 58 (1989), S. 125-136; Štěrbová, Blanka: Vývoj sňatečnosti ve Střelských Hošticích v letech 1891-1999, Historická demografie 23 (1999), S. 151-182; Štěrbová, Blanka: Vývoj sňatečnosti v lokalitě Novosedly nad Nežárkou v letech 1686-1910, Historická demografie 11 (1987), S. 97-140; Fialová, Ludmila/ Horská, Pavla/Kučera, Milan/Maur, Eduard/Musil, Jiří/Stloukal, Milan: Dějiny obyvatelstva v českých zemích, Praha 1996. Pavel Král, der sich seit langem mit der Analyse adeliger Testamente beschäftigt, führt an, dass eine solche analytische Differenzierung zur Trennung zwischen den „freiwilligen“ persönlichen Quellen, in denen der Schreiber über sich selbst spricht, und den „erzwungenen“, wo die historische Persönlichkeit gezwungen wird, über sich

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sogar nur im Rahmen eines breiteren Musters interpretiert werden, weshalb ihre Aussagekraft begrenzt ist. Dennoch lassen sich in einigen Eheverträgen Elemente individueller Prägung entdecken, die Rückschlüsse auf die Stellung und Motivation der jeweiligen Personen zulassen. Dabei handelt es sich nicht notwendig nur um den Bräutigam oder die Braut. In den Eheverträgen waren auch jene Personen aufgeführt und eingebunden, die unmittelbar von den Konsequenzen der Absprachen betroffen waren, wie etwa Eltern, Geschwister, „provisorische Hauswirte“ 6 oder „Freunde“. 7 Indem deren Belan-

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selbst unter dem Druck frühneuzeitlicher Verwaltungs- oder strafrechtlicher Institutionen zu sprechen, führte. Král, Pavel: Mezi životem a smrtí: testamenty české šlechty v letech 1550 až 1650, České Budějovice 2002 (= Monographia Historica Bd. 2), S. 8. Allgemeine Literatur über Ego-Dokumente: Bahlcke, Joachim/Strohmeyer, Arno (Hg.): Die Konstruktion der Vergangenheit. Geschichtsdenken, Traditionsbildung und Selbstdarstellung im frühneuzeitlichen Ostmitteleuropa (1500–1800). Berlin 2002; Greyerz, Kaspar von/Medick, Hans/Veit, Patrice (Hg.): Von der dargestellten Person zum erinnerten Ich. Europäische Selbstzeugnisse als historische Quellen (1500-1850). Köln/Weimar/Wien 2001; Habermas, Rebekka: Frauen und Männer des Bürgertums: Eine Familiengeschichte (1750-1850), Göttingen 2003, S. 269-278 (Fiktionen und Fakten, Ego und Egodokumente); Jancke, Gabriele/Ulbrich, Claudia (Hg.): Vom Individuum zur Person. Neue Konzepte im Spannungsfeld von Autobiographietheorie und Selbstzeugnisfoschung, Göttingen 2005; Schulze, Winfried: Ego-Dokumente: Annäherung an den Menschen in der Geschichte, Berlin 19962; Winkelbauer, Thomas (Hg.): Vom Lebenslauf zur Biographie. Geschichte, Quellen und Probleme der historischen Biographik und Autobiographik. Horn – Waidhofen/Thaya 2000 (=Schriftenreihe des Waldviertler Heimatbundes, Bd. 40). Als „provisorischen Hauswirt“ bezeichnete man in Böhmen gewöhnlich den neuen Gatten einer verwitweten Frau, deren Kinder noch zu klein waren, als dass sie die Familienwirtschaft selbst übernehmen und erhalten konnten. Seine Tätigkeit war auf die Zeit begrenzt, bis zu der der rechtsgültige Erbe fähig war, die Familienwirtschaft seines bereits verstorbenen Vaters zu übernehmen. Wenn sich der Stiefvater gut um die ihm anvertraute Familienwirtschaft kümmerte, konnte er zusammmen mit seiner Gattin erwarten, nach der Übergabe der Familienwirtschaft in Gestalt eines Altenanteils lebenslänglich versorgt zu sein. Der Begriff „provisorischer Hauswirt“ ist also im tschechischen Kontext nicht mit der Bezeichnung „Miethauswirt“ zu vermischen, denn im erwähnten Fall entstand kein Mietverhältnis, sondern zeitlich begrenztes finanzielles Eigentum. Zur Stellung der provisorischen Hauswirte vgl. im Folgenden S. 17ff. Jeder Einzelne bildete während seines Lebens ein Sozialnetz der Verhältnisse, das für die Eingliederung des Menschen in die Gesellschaft wichtig war. Die Partnerauswahl wurde deshalb neben den Eltern noch durch andere Personen, „die Freunde“, beeinflusst. Das Wort „Freund“ benutzte man aber in einem anderen Sinne als heute. Heute teilen wir die Menschen aus unserer Umgebung in „Verwandte“, bzw. Familie, und „Freunde“, die mit uns in keinem Angehörigenverhältnis stehen, ein. Dagegen bezeichnete man früher als „Freunde“ gerade die verschwägerten Personen oder Paten. Es handelte sich also um Blutsverwandtschaft und nicht genetische Verwandtschaft. Seit den 1830er Jahren drang dieser Ausdruck in fast alle Heiratsverträge ein. Mit der

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ge auch mit festgehalten wurden, deckten die Eheverträge also die Interessen eines weit größeren Personenkreises ab, als dies die unmittelbare Bezugnahme auf eine Eheschließung zwischen zwei Personen vermuten lassen würde. Bisher wurden Eheverträge im Rahmen der historischen Forschung lediglich unter sehr spezifischen Gesichtspunkten Beachtung geschenkt, etwa aus der Perspektive der Rechtsgeschichte, 8 der Sozialgeschichte oder der Historischen Demographie. 9 So stellen die Eheverträge etwa für die Rechtsgeschichte eine zentrale Quelle zur Erforschung des Vermögens- und des Erbrechts dar. Gleichzeitig lassen Vereinbarungen über die Rechtsstellung von Hausvater, Hausmutter und „provisorischem Hauswirt“ Rückschlüsse auf Herrschaftshierarchien und Rechtsvormundschaften innerhalb der häuslichen Gemeinschaft zu, ebenso wie Regelungen über das zukünftige Zusammenleben des jungen Ehepaares. Neben volljährigen Personen definieren sie aber auch die Rechte einzelner Kinder auf ihre jeweiligen Anteile an der väterlichen Wirtschaft und die Erbfolge; ebenso bestimmen sie auch die Stellung möglicher Waisenkinder, bevor sie das rechtsfähige Alter erreichen. Zudem lassen sich testamentarische Anteile finden, wenn etwa rechtliche Regelungen über das Ausgeding im Todesfall getroffen werden. Die Eheverträge regulieren also die Kompetenzen einzelner Familienangehöriger, um vitale Interessensfragen nicht erst im Konfliktfall zu verhandeln.

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Problematik der Verwandtschaft, Schwägerschaft und Patenschaft beschäftigten sich im Allgemeinen z. B. Gestrich, Andreas/Krause, Jens-Uwe/Mitterauer, Michael (Hg.): Geschichte der Familie, Stuttgart 2003, S. 560-564 (Patenschaft), S. 632-652 (Verbindungen: Verwandtschaft und Familienfreunde); Bengtsson, Tommy/Mineau, Geraldine P. (Hg.): Kinship and Demographic Behavior in the Past, New York 2008. Die Lokalforschung der Verwandschaft vollzog z. B. Sabean, David Warren: Property, Production, and Family in Neckarhausen, 1700–1870, Cambridge 1991; Sabean, David Warren: Kinship in Neckarhausen 1700-1870, Cambridge 1998. Die Verhältnisse unter den Familienangehörigen wandelten sich, z. B. Robisheaux, Thomas: Rural Society And The Search For Order In Early Modern Germany, Cambridge 1989, S. 121-146 (Defending the patrimony); Theibault, John C.: German Villages in Crisis: Rural Life in Hesse-Kassel and the Thirty Years' War, 1580-1720, New Jersey 1995, S. 72-100 (Householdes, families, lineages). Vgl. vor allem Procházka, Vladimír: Česká poddanská nemovitost v pozemkových knihách 16. a 17. století, Praha 1963; Klabouch, Jiří: Manželství a rodina v minulosti, Praha 1962; Kapras, Jan: Manželské právo majetkové dle českého práva zemského, Praha 1908; Malý, Karel/Sivák, Florián: Dějiny státu a práva v Československu do r. 1918, Praha 1988. Nácovská, Pavla: Svatební smlouvy jako pramen sociálně-dějinného a historicko-demografického poznání (Kutná Hora 1550--1600), Historická demografie 21 (1997), S. 37-72. Die Autorin konzentriert sich vor allem auf die Inhaltsanalyse der Heiratsveträge. Sie legt den Schwerpunkt auf die Höhe der Mitgift, die Beobachtung der Verhältnisse der ersten und zweiten Heiraten und auf die Chance, eine neue Ehe einzugehen.

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Die Eheverträge können auch aus sozialhistorischer Perspektive für die Erforschung von Familien und deren Lebenszyklen 10 fruchtbar gemacht werden. Denn die Eheverträge bestimmten nicht nur die Rahmenbedingungen der jeweiligen Brautleute, sondern darüber hinaus in ganz erheblichem Maße auch die der übrigen Mitglieder beider Herkunftsfamilien. Deshalb ist jeder Ehevertrag Ausdruck ganz unterschiedlicher, an die jeweilige Situation angepasster Strategien zur Sicherung der sozialen und ökonomischen Bedingungen der Familien sowie ihrer einzelnen Mitglieder. Aus diesem Grund offenbaren die Verträge auch viele Informationen über die Stellung der nachgeborenen Brüder und Schwestern, Stiefkinder und Eltern, der Witwen und Witwer, deren Schicksal von der Heirat des Erben abhing und das auch in Übereinstimmung mit „Freunden“, Paten, Schwägern und anderen Verwandten beschlossen wurde. 11 Die Eheverträge geben darüber hinaus wertvolle Einblicke in die materielle Kultur. Der/die „Zukünftige“ brachte außer dem Vieh oft auch viele notwendige alltägliche Gegenstände mit in die neue Wirtschaft. Der Haushalt wurde oft mit verschiedenen Kleingeräten oder mit 10

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Zum Begriff der Lebenszyklen – z. B. die historische Demographie nimmt die Lebenszyklen als Situationen der Bevölkerungskomplexe wahr, die durch ein bestimmtes Ereignis, in der Regel durch Alter, Geschlecht und Familienstand, bedingt sind. Jeder Mensch durchlebt sein eigenes individuelles Leben, in jedem Augenblick befindet er sich in einer bestimmten Etappe des persönlichen Lebenszyklus, der von der Geburt bis zum Tod verläuft. Die grundlegenden Etappen des Lebenszyklus jedes Einzelnen beziehen sich gewöhnlich auf ein bestimmtes Alter. Von diesem Standpunkt ausgehend gliedert man den Lebensrhythmus eines Menschen in Jugend, Reifezeit, mittleres Alter, Alterung und Ausleben. Vgl. verschiedene Auffassungen des Lebenszyklus – z. B. Petráň, Josef, (ed.), Dějiny hmotné kultury II/1. Kultura každodenního života od 16. do 18. století, Praha 1995, S. 148-168. (Geburt, Kindheit, Eintritt ins Erwachsenenleben, Ehe und Familie); Dülmen, Richard van: Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit, Bd. 1: Das Haus und seine Menschen, 16.-18. Jahrhundert, München 2005; Münch, Paul: Lebensformen in der Frühen Neuzeit, Frankfurt am Main-Berlin 1992, S. 233-313, 452-485 (Haus und Familie; Kindheit, Jugend und Partnerwahl, Alter und Tod). Mit der Problematik des Lebenszyklus beschäftigt sich auch die englische Historiographie intensiv, z. B. Cressy, David: Birth, marriage & death. Ritual, religion, and the life-cycle in Tudor and Stuart England, Oxford 19992; Grassby, Richard: Kinship and capitalism. Marriage, family, and business in the English-speaking world, 1580-1740, Cambridge 2001; Smith, Richard M. (Hg.): Land, kinship and life-cycle, Cambridge 2002. Auf die Spezifika des Lebenszyklus von Frauen verwies Wiesner, Merry E.: Women and gender in early modern Europe. Second edition, Cambridge 2005, S. 51-101 (The female life-cycle); vgl. Sieder Reinhard/Mitterauer Michael, The reconstruction of the family life course: theoretical problems and empirical results, in: Richard Wall – Jean Robin – Peter Laslett (edd.): Family forms in historic Europe, Cambridge 1983, S. 309-345. Zur Bedeutung der Verwandtschaft wurde kürzlich der Sammelband von Sabean, David Warren/Teuscher, Simon/Mathieu Jon (Hg.) veröffentlicht: Kinship in Europe. Approaches to Long-Term Development (1300-1900), Oxford/New York 2007.

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einem Wagen, der durch Pflug und Egge ergänzt wurde, bereichert. Zwar wurden nicht alle Gegenstände generell in den Eheverträgen vermerkt – die Ausstattung rechnete man nicht zur Mitgift –, aber auch bei Wiederverheiratungen sind die Gegenstände des Erblassers oft aufgeführt, teilweise sogar mit einem Schätzwert. Eine dritte wichtige Interpretationsebene stellen die Aspekte der Historischen Demographie dar. Die „klassischen“ Fragen nach erster und zweiter Eheschließung, Heiratsalter, Heiratskreisen, der sozialen Homogenität bzw. Heterogenität im Heiratsverhalten, Höhe und Struktur der Mitgift, 12 die bisher meist auf einer Analyse von Matrikeln beruhten, können mit Hilfe der Eheverträge ergänzt und erheblich vertieft werden. Die vorliegende Studie setzt deshalb den Schwerpunkt auf die Sichtbarmachung der makrohistorischen „großen Ereignisse“ in den mikrohistorisch mittels der Eheverträge fassbar werdenden Lebensverhältnisse und -strategien. Sie definierten Handlungsspielräume, Wahrnehmungsstrukturen und Erfahrungsräume, die den „praktischen Sinn“ der jeweiligen Menschen in ländlichen Kontexten bestimmten. Dabei werden die „Zukunftsplanungen“ und „Weichenstellungen“ in drei Zeitabschnitten betrachtet und miteinander verglichen – 1792-1796, 1812-1816 und 1832-1816, wobei die fünf Jahre 1812-1816 im Mittelpunkt stehen, da 1811 mit der Einführung des Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches (ABGB) eine einschneidende Änderung der rechtlichen Situation eingetreten war. Zudem kam es infolge der langen Kriege gegen Frankreich zu einer großen Inflation, die zum Bankrott der Habsburger Monarchie führte. Insgesamt lässt sich für die 40 Jahre ein spürbarer Wandel im familiären und ehelichen Leben beobachten, der sowohl auf die tief greifenden Umbrüche im politischen und rechtlichen Umfeld zurückzuführen ist, aber auch durch die beginnende industrielle Revolution im wirtschaftlichen Bereich bedingt war.

Die Třeboňer/Wittingauer Eheverträge Die Untersuchung basiert auf einer Analyse von 901 Eheverträgen aus der Herrschaft Třeboň/Wittingau zwischen 1792 und 1836, womit eine möglichst „dichte Beschreibung“ erreicht werden soll. Darin enthalten sind nicht nur Informationen über die Brautleute, sondern auch über deren Eltern, Geschwister, Kinder und weitere Verwandte, also weit mehr als 2000 Personen. Am Herrengut Třeboň/Wittingau wurden – wie in vielen anderen Herrengütern auch – seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert so genannte „Grundbücher“ angelegt, in welche die Eheverträge eingetragen wurden. 13 Das Wittin12 13

Diesen Fragen widmete sich in ihrer Arbeit Nácovská: Svatební smlouvy, S. 47-60. Die Bücher mit den Eheverträgen wurden seit dem Ende des 18. Jahrhunderts in den einzelnen Herrschaften geführt – zum Beispiel an der Herrschaft Třeboň/Wittingau

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gauer Herrengut stellt dabei insofern eine Ausnahme dar, als hier die Eheverträge im „Buch der Überweisungen, Verträge und Vergleiche“ vermerkt wurden. 14 Diese Tatsache garantiert ein vollkommenes Muster der Quelleninformationen. Die zu den einzelnen Bauernhäusern im Rahmen der Grundbücher registrierten Eheverträge haben zwar den gleichen Kündigungswert, aber sie müssen nicht immer vollständig sein. Es kam des Öfteren vor, dass sie auf losen Blättern in die Bücher eingelegt wurden und somit leicht wieder herausgenommen werden bzw. herausfallen und verloren gehen konnten. Das „Buch der Überweisungen, Verträge und Vergleiche“ stellt im Unterschied zu den Grundbüchern eine repräsentativere Basis der Quelleninformationen dar. Allein die Existenz dieser neuen Form einer sehr umfassenden Sammlung von Eheverträgen seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert deutet auf ein sich wandelndes Verständnis von Ehe und Familienökonomie hin. Denn war seit dem Trienter Konzil das Abschließen von Eheverträgen in seiner ehestiftenden Funktion der kirchlichen Einsegnung nachgeordnet worden, so erlangten die Eheverträge mit der zunehmenden Säkularisierung des Eherechts im Laufe des 17. Jahrhunderts allmählich wieder an Bedeutung. 15 Für das Habsburger Territorium und Böhmen wurde die säkularisierte Auffassung im Jahre 1783 mit dem Ehepatent von Joseph II. manifest. Neben neuen sprachlichen Regelungen – „Ehe als profaner Vertrag“ 16 – waren vor allem die institutionellen Neuerungen von Bedeutung. Joseph II. beendete die kirchliche Jurisdiktion und unterstellte Eheangelegenheiten den weltli-

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seit dem Jahre 1788, Blatná seit dem Jahre 1776, Český Krumlov seit dem Jahre 1787, Hluboká seit dem Jahre 1800. An der Wittingauer Herrschaft wurde seit dem Jahre 1787 eine kontinuierliche Reihe der Bücher der Eheverträge geführt. Grundlage der vorliegenden Studie ist der Bestand – Státní oblastní archiv Třeboň, OS Třeboň, sign. 1970-1971, 425-428 (Knihy převodů, smluv, narovnání – weiter: KPSN). Vor dem Tridentiner Konzil fanden Verlobungen und Hochzeiten ohne die Anwesenheit eines Priesters, nur im Kreis der Verwandten statt. Die Vesper in der Kirche folgte in der Regel erst nach der Hochzeitsnacht. Nach 1563 war die Gültigkeit der Ehe an die Erteilung des Ehesakraments durch einen Priester gebunden. Näher Grulich, Josef: „Slavnostní okamžiky“ – svatební a křestní obřad v období raného novověku (Závěry tridentského koncilu a pražské synody ve světle jihočeských matričních zápisů z 2. poloviny 17. století), Historická demografie 24, 2000, S. 49-82. Näher Klabouch: S. 115-116. Zum rechts- und ideengeschichtlichen Wandel der Ehe als Vertrag vgl. Cristellon, Cecilia: Marriage and Consent in Pretridentine Venice. Between Lay Conception and Ecclesiastical Conception, 1420-1545, in: The Sixteenth Century Journal 39 (2008), S. 389-418. Národní archiv Praha, Sbírka patentů, inv. č. 2066 (das Eheliche Patent von Josef II.).

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chen Gerichten. Lediglich für die geistlich-religiöse Betreuung waren dann die geistlichen Würdenträger noch zuständig. 17 Dieses josephinische Eherecht wurde wegweisend für die personenrechtlichen Ausführungen im ABGB, das 1811 allgemein rechtskräftig wurde. 18 Auch in diesem Gesetzbuch war festgelegt worden, dass die Eheverbindung durch einen Vertrag zustande kam, durch den sich die Verlobten an die Erfüllung der Ehepflichten banden: „Die Familienverhältnisse werden durch den Ehevertrag gegründet. In dem Ehevertrage erklären zwei Personen verschiedenen Geschlechtes gesetzmäßig ihren Willen, in unzertrennlicher Gemeinschaft zu leben, Kinder zu zeugen, sie zu erziehen, und sich gegenseitigen Beistand zu leisten.“ 19

Mit einem Vertrag war dabei zunächst die Eheschließung selbst gemeint, die sich noch nicht auf ökonomisch-materielle Absprachen bezog. In § 80 wurde festgelegt, dass der zuständige Pastor als Beweis der unverbrüchlichen Gültigkeit der Ehe verpflichtet war, den Ehevertrag eigenhändig in das Ehebuch zu übertragen. 20 Nun galt dieser Eintrag als ehestiftender Rechtsakt, nicht mehr die kirchliche Einsegnung. Die kirchlichen Matrikeln wurden am 1.5.1781 zu öffentlichen Urkunden erklärt, als die Überwachung ihrer Führung aufhörte, eine reine Angelegenheit der Kirchenbehörden zu sein und sich neben den Bischöfen auch die Kreishauptmänner daran beteiligten. Das neue Personenstandsformular wurde dauerhaft am 20.2.1784 eingeführt und in einer etwas verbesserten Form galt es bis zum Jahr 1949, als das kommunistische Regime die Matrikelevidenz in die Kompetenz der Staatsorgane überführte. 21 17

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Dies galt nicht nur für die römisch-katholische Kirche, sondern für alle anerkannten Konfessionen und Religionen. Vgl. Klabouch: Manželství, S. 120-123; Duncker, Arne: Gleichheit und Ungleichheit in der Ehe. Persönliche Stellung von Frau und Mann im Recht der ehelichen Lebensgemeinschaft 1700-1914, S. 137-147; Vogel, Ursula: Gleichheit und Herrschaft in der ehelichen Vertragsgesellschaft – Widersprüche der Aufklärung, in: Ute Gerhard (Hg.): Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, München 1997, S. 265-292, hier S. 280f. Das Allgemeine bürgerliche Gesetzbuch wurde auch auf Tschechisch im Verlag von Kašpar Widtmann herausgegeben: Kniha wsseobecných zákonů městsských pro wssecky německé dědičné země mocnářství rakauského, Praha 1812. Das eheliche Recht ist darin in §§ 44-136 enthalten, weiter betreffen es auch §§ 137-186, die die Verhältnisse zwischen den Kindern und ihren Eltern regelten und die sich der Stellung der unehelichen Kinder in der damaligen Gesellschaft widmeten. Ebd., S. 14 (§ 44). Ebd., S. 24 (§ 80). Mit der Problematik der Entwicklung von Matrikeleinschreibung beschäftigte sich im tschechischen Kontext Maur, Eduard: Základy historické demografie, Praha 1978, S. 53-57.

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Abb. 1: Ansicht des Hauptortes Třeboň/Wittingau mit dem Schloss und Verwaltungssitz im Vordergrund, 1699.

Während die einzelnen „Bücher der Überweisungen, Verträge und Vergleiche“ den genauen Text der Heiratsverträge vermittelten, erfüllten die kirchlichen Matrikeln die Funktion einer Sekundärquelle. Gerade durch sie war es möglich, sowohl die fehlenden Angaben über die Neuvermählten (Alter, Gesellschaftsposition der Eltern usw.) als auch die näheren Umstände der Verwirklichung der Ehe (Datum, Ort usw.) zu ergänzen. Für die kirchliche Form der Eheschließung war der so genannte „eheliche Konsens“ der weltlichen Obrigkeit in dem untersuchten Zeitraum nicht nötig. Mit diesem Regulierungsinstrument versuchte man die Anzahl von instabilen Eheschließungen und damit das Armutspotenzial nur bis zum Jahr 1781 zu reduzieren. Das Patent über die Aufhebung der Leibeigenschaft 22 sowie das 22

Dabei handelt es sich um die kaiserliche Verordnung vom 1.11.1781, die für die böhmischen Länder die Aufhebung der direkten persönlichen Abhängigkeit der Untertanen von den Obrigkeiten (Leibeigenschaft) verkündete. Die Untertanen gewannen damit das Recht, ohne Bewilligung der Obrigkeit eine Ehe zu schließen, sie konnten frei umziehen und auch außerhalb der Grenzen der Herrschaft studieren sowie eine Arbeit im Handwerk oder in den Manufakturen aufnehmen. Das Patent löste aber nicht das Wesen der untertänigen Beziehung – Fron-, Natural- und Geldverpflichtungen der Bauern zu den feudalen Landeigentümern blieben bis zum Jahr 1848 unverändert. Die Herausgabe des Patentes, die von der Entwicklung der Produktionskräfte

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Toleranzpatent hatten zur Folge, dass die obrigkeitlichen Organe nicht mehr in die Eheschließungen der Untertanen eingreifen konnten. 23 Der materielle Ehevertrag wurde während der Verlobungszeit geschlossen, in der Regel weniger als einen Monat vor der Eheschließung. Der Begriff „Ehevertrag“ wurde dabei normalerweise nicht gebraucht; an seiner Stelle finden sich Bezeichnungen wie etwa „einer ehelichen Verabredung“, „eine geistliche Verpflichtung“ oder „eine Kupplung“. 24 Der Ehevertrag wurde von je drei Zeugen beider Seiten unterschrieben und dann mit einer obrigkeitlichen Bewilligung in das betreffende Buch wie auch in das Grundbuch des Dorfes eingeschrieben. Kam es zu einer Auflösung des Verlöbnisses, wurde der bestehende Vertrag in einer neuen Ausfertigung als ungültig bezeichnet, womit er außer Kraft trat. Der Ehevertrag erlangte seine rechtliche Gültigkeit erst nach der kirchlichen Trauungszeremonie, die meistens im Pfarrsprengel der Braut stattfand, während das eigentliche Hochzeitsfest dann oftmals im Haus des Bräutigams gefeiert wurde. 25 Es bestand keine rechtliche Verpflichtung für Brautpaare, einen Ehevertrag zu schließen. Es hing von dem Paar ab, ob es seine familiären Verhältnisse durch ein amtliches Dokument regeln wollte. In den meisten Fällen schlossen nur die Paare einen Vertrag, die ein Bauernhaus besaßen. Es handelte sich also um Bauern oder Beisassen, nur selten um Häusler. Die Erben eines Bauernhauses oder Witwer sicherten damit für ihre Verlobten ein Ausgeding. Oder es handelte sich um Witwen, die ihren Gatten die provisorische Wirtschaftsleitung übertrugen. 26

23

24

25

26

vor allem im nichtlandwirtschaftlichen Sektor erzwungen wurde, hatte große Bedeutung für die wirtschaftliche Entwicklung der böhmischen Länder und für die Gestaltung der neuzeitlichen böhmischen Nation. Näheres dazu in Bělina, Pavel/Kaše, Jiří/Kučera, Jan P.: Velké dějiny zemí Koruny české, Praha-Litomyšl 2001, S. 357-369. In der tschechischen Umgebung wurden die bürgerlichen Eheschließungen erst im Jahre 1868 bewilligt, die kirchlichen überwogen die Zivileheschließungen jedoch nach wie vor bis zur Hälfte des 20. Jahrhunderts, als sie aus der Sicht des sozialistischen Familienrechtes nicht mehr akzeptabel erschienen. Vgl. Maur, Základy, S. 57. In den Jahren 1812-1816 und 1832-1836 wird am Anfang des Vertrages angeführt: „Am unten bezeichneten Tag und Jahr wurde der folgende Ehevertrag geschlossen“. In den 1890-er Jahren wird der Plural angeführt „Eheverträge“, obwohl es sich nur um einen Kontrakt handelt – nach einer breiteren Auffassung schließen den Vertrag nämlich zwei Seiten, die Familie des Bräutigams mit der Familie der Braut. 15 % der Eheschließungen fanden in der Wittingauer Herrschaft im Haus des Bräutigams statt. Näher dazu Grulich, Josef: Populační vývoj a životní cyklus venkovského obyvatelstva na jihu Čech v 16. až 18. století. České Budějovice 2008, S. 305-309. Auf-

Heiratsstrategien der Dorfbevölkerung

153

In der Regel kam der Status des „provisorischen“ Hauswirts dem zukünftigen Ehemann der Witwe zu. Diese Funktion konnte aber auch der Bruder des verstorbenen Hauswirtes, der Ehemann der Schwester des Hoferben oder sogar der Vater des zukünftigen Hauswirtes sein, sofern er das Bauernhaus an seinen Sohn überschrieben hatte, selbst aber bis zu dessen Volljährigkeit die Wirtschaft stellvertretend leitete. In der Herrschaft Chýnov (1652-1795) gelang es, die angeführten Angaben qualitativ zu belegen. Nach dem Tod des Eigentümers der Familienwirtschaft übernahmen: Sohn (46 %), Schwiegersohn (7,2 %), neuer Gatte der Witwe (20,5 %), Vater (1,2 %), Bruder (2,4 %) oder Schwager des ursprünglichen Landwirtes (1,2 %), bzw. fremde (nicht verwandte) Person infolge des Verkaufs (20,5 %). Auch wenn die überwiegende Mehrheit der Eheverträge die Besitzverhältnisse des vermögenden, landbesitzenden Teils der dörflichen Bevölkerung regelte, lassen sich in wenigen Fällen Beispiele finden, in denen Paare ohne Grundbesitz einen Vertrag schlossen. Sie taten dies vor dem Hintergrund verwandtschaftlicher Beziehungen, die es ihnen ermöglichten, ein Bauernhaus auf Lebenszeit zu pachten (vgl. Tab. 1).

grund der Analyse der Grundbücher bewies dies ebenfalls Procházka: Česká poddanská nemovitost, S. 453-511 (Dědické právo k poddanské nemovitosti).

Josef Grulich

154 1792-1796

1812-1816

1832-1836

%

%

%

Männer Bauern

101

36,9

166

58,2

235

68,7

24

8,8

30

10,5

85

24,9

Häusler

2

0,7

0

0

6

1,7

Inwohner

1

0,4

3

1,1

0

0

Auszügler

8

2,9

2

0,7

2

0,6

Andere

2

0,7

13

4,6

3

0,9

Unklar

136

49,6

71

24,9

11

3,2

Insgesamt

274

100,0

285

100,0

342

100,0

71

25,9

159

55,8

194

56,7

Beisassen

8

2,9

11

3,8

36

10,5

Häusler

0

0

3

1,1

5

1,5

Inwohner

2

0,7

8

2,8

15

4,4

Auszügler

3

1,1

11

3,8

23

6,7

Andere

1

0,4

15

5,3

15

4,4

Unklar

189

69

78

27,4

54

15,8

Insgesamt

274

100,0

285

100,0

342

100,0

Beisassen

Frauen Bauern

Tab. 1: Soziale Verteilung der Wittingauer Eheverträge 1792-1836

Neben den sozialhistorischen Aspekten zeigt eine quantitative Analyse den Wandel der Bedeutung von Eheverträgen im Rahmen einer Eheschließung, in seiner Verschränkung von sich wandelnden individuellen Familieninteressen und makrohistorischen, sozialstrukturellen Umbrüchen, die neue, andere Strategien erforderten. Die Zahl der Verlobten, die am Wittingauer Herrengut einen Ehevertrag schlossen, sank im Laufe des Untersuchungszeitraums. Eine Stichprobe in den Dörfern Lužnice, Branná, Břilice, Přeseka, Spoly, Domanín, Nová Hlína, Stará Hlína zeigt, dass zu Beginn des Untersuchungszeitraums in nicht ganz der Hälfte der Fälle ein Ehevertrag geschlossen wurde. Demgegenüber war es in den 1830-er Jahren nur noch ein Fünftel (Tab. 2).

Heiratsstrategien der Dorfbevölkerung

155

120 100 80 Eheschließungen 60

Heiratsvertrag ohne Vertrag

40 20 0 1792-1796

1812-1816

1832-1836

Tab. 2: Anzahl der Eheverträge im Verhältnis zu den Eheschließungen im Pfarrsprengel Wittingau (in den Dörfern Lužnice, Branná, Břilice, Přeseka, Spoly, Domanín, Nová Hlína, Stará Hlína), 1792-1836.

Diese Tendenz hing vor allem mit einem massiven Bevölkerungszuwachs in dieser Zeit zusammen, dem keine entsprechende Erweiterung der Grund besitzenden Ressourcen gegenüber stand, womit Erbrechtsfragen bei Heiraten und damit die Notwendigkeit von Eheverträgen tendenziell abnahm. 27 Dementsprechend stieg auch die Anzahl der Eheschließungen, wohingegen die Zahl der Eheverträge im Untersuchungszeitraum stagnierte. Diese Entwicklung ist aber nicht unmittelbar mit dem Anwachsen einer armutsbedrohten Unterschicht gleichzusetzen. Vielmehr eröffnete der seit dem Beginn der 1820-er Jahre in den böhmischen Länder einsetzende Modernisierungsprozess nicht erbberechtigten Paaren eine Vielfalt neuer Verdienstmöglichkeiten in den wachsenden Städten mit ihren sich allmählich entwickelnden industriellen Produktionsformen. Die meisten Eheverträge waren auf Tschechisch geschrieben. Eine Ausnahme bildete die Gemeinde Hodějovice, wo fast alle Eheverträge in Deutsch abgefasst wurden. In den Jahren 1792-1796 wurden die Eheverträge in Třeboň/Wittingau von verschiedenen Schreibern verfasst, somit änderten 27

Die Bevölkerung der Böhmischen Länder nahm seit der Hälfte der 1790-er Jahre bis zur Hälfte der 1840-er Jahre um zwei Millionen zu, von 4,5 auf 6,5 Millionen, dies entspricht einem Wachstum um 44 %. Näher Maur, Eduard/Horská, Pavla: Zemědělské obyvatelstvo Českých zemí v 17.-19. století, Historická demografie 10 (1986), S. 177-189, hier S. 181.

Josef Grulich

156

sich gelegentlich Sprachstil und Formulierungen. Trotzdem enthielten sie die gleichen Erfordernisse wie die Eheverträge aus den folgenden Epochen und auch die Semantik der benutzten Termini zeigte keine allzu markanten Unterschiede. Jedoch waren sie weniger genau bei der Identifikation einzelner Personen und enthielten weder Alter noch Sozial- oder Familienstellung der Verlobten. Deshalb war es notwendig, die erwähnten Eheverträge mit den Matrikeln abzugleichen und die fehlenden Angaben zu ergänzen. Seit dem Jahre 1796 wurden die Eheverträge in formal ähnlicher Weise geschrieben und enthielten mehr oder weniger die gleichen Informationen wie die Eheverträge aus den folgenden zwei Epochen, die ein einziger Schreiber eintrug. Trotzdem fehlen auch für die Jahre 1812-1816 einige Angaben – vor allem Alter und die Stellung der Verlobten. Der Ehevertrag definierte die Bedingungen der familiären Landwirtschaft und stellte damit für die einzelnen Familien eine besondere Möglichkeit dar, ihre ökonomischen und sozialen Ressourcen durch Heiratsstrategien langfristig zu sichern und auszubauen. Dass sich diese Strategien dabei ganz wesentlich an Stand und Alter der Brautleute orientierten und stark differierten, möchte ich im Folgenden zeigen. In meiner Untersuchungsgrundlage stellten die Eheschließungen zwischen ledigen Personen den größten prozentualen Anteil dar (73 %), während die Eheschließungen von verwitweten Personen deutlich geringer waren (27 %). Hier muss auch deutlich zwischen Heiraten von Witwen und Witwern mit ledigen Personen (24 %) bzw. mit ebenso verwitweten Personen (3 %) unterschieden werden. Dies zeigt nicht nur eine quantitative Aufstellung (Abb. 3), sondern wird im Folgenden auch als maßgebliche Zielorientierung der jeweiligen Strategien zu sehen sein.

7%

3% Beide ledig

17%

Witwer und Ledige Witwe und Lediger Witwer und Witwe 73%

Abb. 3: Anzahl der Eheschließungen nach dem Personenstand der Ehepartner

Heiratsstrategien der Dorfbevölkerung

157

Strategien der Ledigen Obwohl die Ledigen den größten Anteil jener Brautleute stellten, die einen Ehevertrag abschlossen, unterschieden sich ihre Heiratsstrategien doch erheblich. Ausschlaggebend war dabei zumeist ihre jeweilige Stellung innerhalb der Herkunftsfamilie. Man muss also zwischen den Hoferben, den Töchtern und den nachgeborenen Söhnen differenzieren. Den Erben der Hofstellen standen bei der Partnerwahl im Vergleich zu allen anderen Gruppen die größten Möglichkeiten offen, einen Partner aus der gleichen sozialen Umgebung zu finden. 28 Sie heirateten bei durchschnittlich niedrigerem Heiratsalter überwiegend ledige Mädchen. 29 Vom Erfolg ihrer Strategie, die soziale und ökonomische Grundlage der Bauernstelle zu stabilisieren oder gar zu verbessern, hingen aufgrund des 1787 geänderten Erbrechts die Heiratschancen der übrigen Geschwister unmittelbar ab. 30 Dass diese Rahmenbedingungen aber keine Zwangsläufigkeit generierten, wird an der Partnerwahl von Jan Pozdníček deutlich. Als Erstgeborener überließ die Wirtschaft seinem jüngeren Bruder und heiratete die Witwe des Dorfrichters Kateřina Berndíková, die zehn Jahre älter war als er. 31 Ihre Kinder waren noch klein und Jan konnte auf diese Weise wirtschaften, bis die Haupterbin Marie das 18. Lebensjahr erreichte. Obwohl er nur der „provisorische Landwirt“ wurde, gewann er dank der Heirat mir der Witwe des Dorfrichters neue „Freunde“, die zu Festigung seiner Stellung und Erweiterung seiner sozialen Kontakte beitrugen und auch seine Herkunftsfamilie besser vernetzten. Diese profitierte also doppelt, da auch der zweitgeborene Sohn nun eine stabile Perspektive hatte. Die existentielle Bedeutung der Sicherung der materiellen Interessen nicht nur der neuen Kernfamilie, sondern auch der übrigen Familienmitglieder, schloss aber nicht aus, dass auch emotionale Interessen eine nicht unbedeutende Rolle spielten. Wenngleich Vorstellungen von „romantischer Liebe“ oder auf sexuellem Begehren begründete Affekte zu dieser Zeit nicht als legitime Interessen angesehen wurden, so war doch gegenseitige Sympathie, Vertrauen und Zuneigung wichtig, um eine langfristige Stabilität der ehelichen Beziehung und damit das Funktionieren der Wirtschaft zu gewährleisten. Das konnte bereits im Vorfeld einer Eheschließung durchaus zu Konflik28

29 30

31

Im Jahre 1787 kam es zu einer Veränderung des Erbrechtes bei den untertänigen, erkauften Bauernhäusern. Die Bauernhäuser erbte nicht mehr der jüngste Sohn, sondern der älteste, was die Auszahlung der Geschwister nach der Geburtsfolge ermöglichte. Vgl. Grulich, Josef: Populační vývoj, S. 296-299, 301-302. Vgl. Klášterská, Alice: Výběr partnera a sňatkový věk dědiců venkovských usedlostí na Šťáhlavsku a jejich sourozenců v 18. a na počátku 19. století, Historická demografie 22 (1998), S. 145-168 (hier S. 153). SOA Třeboň, OS Třeboň, sign. 425 (KPSN), fol. 350.

158

Josef Grulich

ten führen. Gleichwohl waren sich alle Beteiligten aufgrund ihrer normativen Prägung durchaus bewusst, dass emotionale Interessen nur innerhalb dieses mitunter engen Rahmens der familiären Strategien berücksichtigt werden konnten. 32 Im Gegensatz zum Hoferben hatten die Geschwister weniger anzubieten und damit stärker eingeschränkte Möglichkeiten der Partnerwahl. Insbesondere den nachgeborenen Söhnen konnte ein sozialer Abstieg drohen, wenn sie keinen Anteil an einem Gut vorweisen konnten. Daher lag es in ihrem Interesse, eine Wirtschaft zu gewinnen. Im Hinblick darauf, dass es im dörflichen Umfeld an Geld mangelte, um ein fremdes Bauernhaus zu kaufen oder zu mieten, schien eine Ehe mit einer Witwe oder einer Erbin einer Hofstelle die beste Möglichkeit zum Erwerb eines Guts zu sein. Dies zeigt sich in der großen Flexibilität bezüglich der Zukunftsplanung der nachgeborenen Söhne. Die nachgeborenen Söhne, die keine Anspruch auf die Übernahme der Familienwirtschaft hatten, konnten nur mit der Auszahlung des Erbteils als „Startkapital“ rechnen und auf eine günstige Gelegenheit warten, um sich einzuheiraten. Wie oben gesehen, spielte die Eheschließung des erstgeborenen Bruders eine große Rolle. Wenn sich der Familie eine gute Gelegenheit bot, ihrem nachgeborenen Sohn eine bessere Stellung zu verschaffen, versäumte sie nicht, diese auszunutzen wie zum Beispiel bei Vojtěch Matějka. 33 Auf Verlangen seines erstgeborenen Bruders wurde in dessen Heiratsvertrag bestimmt, dass er nach dem Ablauf einer Frist ein Bauernhaus, das dem Vater der Braut gehört, bekommen sollte. Da die Brauteltern Vojtěch ihre Wirtschaft übertrugen, mussten sie ihrer Tochter keine Mitgift auszahlen und so wurde das „Geschäft“ mit gegenseitiger Zufriedenheit abgeschlossen. Für Vojtěch wurde demnach schon im 15. Lebensjahr beschlossen, dass er Landwirt auf dem Bauernhof der Eltern seiner Schwägerin werden sollte. Die Schwestern der Erben hatten allgemein bessere Chancen auf eine homogene Ehe im Sinne der Erhaltung der bestehenden Gesellschaftszugehörigkeit, womit sich das Risiko eines sozialen Abstiegs deutlich geringer darstellte, als bei den nachgeborenen Söhnen. 34 Die Mädchen heirateten bevorzugt Männer aus niedrigeren sozialen Schichten, wenn sie ein Bauernhaus 32

33 34

Vgl. Sabean, David W./Medick, Hans: Emotionen und materielle Interessen. Sozialanthropologische und historische Beiträge zur Familienforschung, Göttingen 1984; Duhamelle, Christophe/Schlumbohm, Jürgen, Eheschließungen im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts. Muster und Strategien, Göttingen 1996; Medick, Hans: Werben und Überleben in Laichingen 1650-1900, Göttingen 1996, S. 314-336 (Heiratsverhalten und Heiratsalter); Schlumbohm, Jürgen: Lebensläufe, Familien, Höfe: Die Bauern und Heuerleute des osnabrückischen Kirschspiels Belm in Proto-industrieller Zeit, 1650-1860, Göttingen 1994, S. 368-538. SOA Třeboň, OS Třeboň, sign. 425 (KPSN), fol. 39-40. Ebd., S. 167.

Heiratsstrategien der Dorfbevölkerung

159

besaßen. 35 Entscheidend war die Höhe der Mitgift, die sich wiederum nach der Vermögensstellung des Vaters bzw. des erbenden Bruders sowie der Anzahl weiterer zu versorgender Töchter in der Familie bemaß. Dementsprechend sanken die Chancen auf eine „gute Partie“, wenn keine oder keine angemessene Mitgift gestellt werden konnte; sei es, weil eine junge Frau aus einer armen Familie stammte, verwaist war oder ein uneheliches Kind zu versorgen hatte. So bekamen etwa verwaiste Bräute in den Jahren 1812-1816 im Durchschnitt um 200 zl. der Wiener Währung (weiter W. W.), in den Jahren 1832-1836 um 140 zl. der konventionellen Währung (C. M.) weniger als die Mädchen, deren Vater noch lebte. 36 Standen keine sittlichmoralischen Probleme dem Leumund einer vermögenden Bauerntochter entgegen, konnte sie erwarten, durch eine entsprechende Partnerwahl ihre angestrebte soziale Stellung zu erlangen. Auch hier fällt auf, dass viele Verträge zur Absicherung der Geschwister des Bräutigams geschlossen wurden. In einigen Fällen fiel sogar die gesamte Mitgift der Braut den Geschwistern des Bräutigams zu. Im Juni 1812 bekam zum Beispiel Josef Zahradník die ganze Mitgift seiner zukünftigen Schwägerin in Höhe von 500 zl W.W. , um davon das „Matoušer Bauernhaus“ zu kaufen. 37 Die Beispiele haben deutlich gezeigt, dass sich die Heiratsstrategien der ledigen Nachkommen einer Familie in einem ganz engen, mehrdimensionalen familiären Kontext entfalteten.Die Verträge führen jedenfalls an, dass der Bräutigam dem Bruder das Geld nur wegen „der Bruderliebe“ gebe. Vielfach war dies bereits im Übergabevertrag zwischen dem Vater und dem Hoferben festgelegt. In den Heiratsverträgen offenbart sich die Schlüsselrolle der elterlichen Autorität, weshalb die Position des Einzelnen innerhalb der eigenen Familie für deren Engagement auf dem Heiratsmarkt wichtig war. Obwohl die Geschwister in der gleichen Familie, im gleichen Haushalt aufwuchsen, konnte von Chancengleichheit bei der Partnerwahl demnach keine Rede sein. Während sich die erstgeborenen Söhne mit einer hohen Erwartungswahrscheinlichkeit sehr früh auf ihre zukünftigen Aufgaben entsprechend ihrer sozialen Position vorbereiten konnten, mussten ihre Brüder – und mit Einschränkungen auch die Schwestern – die Erwartungen an die persönliche Zukunft oft vergleichsweise lange offen halten. Verlässlichere Pla-

35 36

37

Vgl. Klášterská: Výběr partnera, S. 157. Situation nach dem Jahr 1811: 5 Gulden in Bankzetteln = 1 Gulden Wiener Währung (weiter: W.W.); 100 Gulden Konventioneller Währung (weiter K.W.) = 232 Gulden W.W.; nach 1820: 2,5 Gulden W.W. = 1 Gulden K.G., Näher dazu Dolenský, Antonín: Bankocetle a šajny v současných skládáních lidových, Český lid 18, 1909, S. 125-126; Spáčil, Bedřich: Česká měna. Od dávné minulosti k dnešku, Praha 1973, S. 83-90. SOA Třeboň, OS Třeboň, sign. 425 (KPSN), fol. 366-367.

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Josef Grulich

nungsgrundlage erhielten sie letztlich erst durch den Ehevertrag des Hoferben.

Strategien verwitweter Personen Die Heiratsstrategien verwitweter Personen unterschieden sich von denjenigen lediger Personen in mehreren Aspekten. Zum einen waren Witwer von ihren Eltern unabhängig, da sie zumeist bereits über einen längeren Zeitraum eine eigene Wirtschaft geführt hatten. Ihre Geschwister waren in der Regel ausgelöst, deshalb konnten sie sich ihre Partnerin relativ unabhängig von dem Wunsch der Eltern oder Verwandten ausersehen. Auch für Witwen lässt sich feststellen, dass sie ähnlich große Entscheidungsspielräume genossen. Mit Hilfe der durchgeführten Forschungen in der Herrschaft Třeboň/ Wittingau (1792-1836) gelang es, alle erwähnten Behauptungen allgemeinen Charakters zu beweisen. In der Fachliteratur legt man das dominante Augenmerk auf die Umstände des Witwenlebens, 38 die vorgenommene Forschung konzentrierte sich auf Heiratsstrategien aller verwitweten Personen – Frauen und Männer der Dorfbevölkerung. In ihrer Situation kamen nicht so sehr familiäre, sondern stärker persönliche Strategien zum Tragen. Dennoch waren auch sie in ein Netz sozialer Beziehungen eingebunden, das sie nicht ohne erhebliches Risiko verletzen konnten. Neben diesen sozialen Faktoren wirkten aber auch rechtliche As38

Die Grundübersicht der Literatur zur Problematik des Witwentums: Blom, Ida: The history of widowhood: A bibliographic overview, Journal of family History 16 (1991), S. 191-210; Fauve-Chamoux, Antoinette: K historii vdov, Historická demografie 23, 1999, S. 15-28. Mit der Problematik der verwitweten Frauen beschäftigten sich im tschechischen Kontext z. B. Grulich, Josef: Venkovská žena v období raného novověku (16.–18. století), Československá historická ročenka 2001, S. 223-235; Ogilvie, Sheilagh/Edwards, Jeremy: Ženy a „druhé nevolnictví“ v Čechách na počátku novověku, Historická demografie 22, 1998, S. 5-49; Štefanová, Dana: Zur Stellung von Witwen in ländischen Gesellschaften den Frühen Neuzeit zwischen 1558 und 1750, in: Bůžek, Václav/Štefanová, Dana (Hg.): Menschen – Handlungen – Strukturen. Historisch-anthropologische Zugangsweisen in den Geschichtswissenschaften, České Budějovice 2001, (= Opera Historica 11), S. 197-217; Velková, Alice: Venkovské ženy v letech 1650 – 1850. Perspektivy výzkumu s využitím historické demografie, mikrohistorie, historické antropologie a dějin každodennosti, in: Čadková, Kateřina/Lenderová, Milena/Stráníková, Jana (Hg.): Dějiny žen aneb Evropská ženy od středověku do 20. století v zajetí historiografie (Sborník příspěvků z IV. pardubického bienále 27. – 28. dubna 2006), Pardubice 2006, S. 125-144; Velková, Alice: Sebevědomé, nebo zoufalé? Vdovy hospodařící na venkovských usedlostech v první polovině 19. století, in: Vojáček, Milan (Hg.): Reflexe a sebereflexe ženy v české národní elitě 2. poloviny 19. století. Sborník příspěvků z konference uspořádané ve dnech 23.-24. listopadu 2006 Národním archivem ve spolupráci s Archivem hlavního města Prahy, Praha 2007, S. 321-340.

Heiratsstrategien der Dorfbevölkerung

161

pekte einschränkend auf die Partnerwahl. Denn zum einen enthielt der bestehende Ehevertrag der verwitweten Person genaue Bestimmungen im Falle des vorzeitigen Todes eines Ehepartners, zum anderen mussten die Ansprüche der Kinder – vertreten durch ihren Rechtsbeistand – berücksichtigt werden. Der Witwenstand war meistens nicht vorhersehbar. Anstatt einer gut funktionierenden Familienwirtschaft vorzustehen, sahen sich Witwer und Witwen plötzlich mit der Notwendigkeit konfrontiert, möglichst schnell einen passenden Partner zu finden, der den Fortgang der Hauswirtschaft sicherstellen konnte. Sie konnten es sich nicht leisten, lange Zeit dem verstorbenen Ehemann nachzutrauern – womit nicht die emotionale Verarbeitung einer nahe stehenden Person gemeint ist, sondern die offizielle Einhaltung der vorgeschriebenen Trauerzeit, während der normalerweise eine neue Verheiratung nicht möglich war. Wie schnell die verwitweten Personen fähig waren, einen neuen Partner zu finden, dokumentieren insbesondere die Eheverträge von Witwern mit ledigen Mädchen. In der Mehrzahl der Eheverträge aus den Jahren 1812 – 1816 wird das Sterbedatum der ersten Ehefrau erwähnt. Meistens handelte es sich um eine recht kurze Zeit von einem Monat bis einem halben Jahr. Nur in Ausnahmenfällen lassen sich Zeiträume von mehr als einem Jahr finden. 39 Es ist kaum vorstellbar, dass der Witwer eine neue Partnerin so schnell ohne Hilfe von außen fand. Die Doppelbelastung der Haushaltsführung und der Erziehung oft minderjähriger Kinder ließen kaum Spielraum für Eigeninitiative in Sachen Brautwerbung. 40 Wenngleich die Partnerwahl sowohl bei den verwitweten Personen als auch bei den Ledigen grundsätzlich unter der Prämisse der ökonomischen Sicherung stand, unterschieden sie sich doch hinsichtlich der Prioritäten, nach denen sie die Eignung eines neuen Partners beurteilten. Für die Witwer waren Mitgift oder soziale Stellung der Braut nicht das Wichtigste. Sie bewerteten sie vor allem nach ihren Kompetenzen und Fähigkeiten als Hausfrau und Stiefmutter für die hinterbliebenen Kinder. Weil sie selbst schon Nachkommen hatten und eine Wirtschaft besaßen, wählten sie meistens ledige, ungebundene Mädchen – also keine Witwen – als ihre zukünftigen Ehefrauen. Da Witwer aber gegenüber ledigen Erben weniger attraktive Heiratskandidaten waren, lässt sich eine überdurchschnittliche hohe Verheiratung mit Mädchen feststellen, die aus sozioökonomisch schlechter gestellten Verhältnissen kamen. 39

40

Die Auseinandersetzung mit der Verlassenschaft der Ehefrau ist in 31 Fällen angeführt. Nur in zwei Fällen übersteigt die Zeit der Suche nach einer neuen Ehefrau ein Jahr. Das jüngste Kind war in den meisten Fällen ungefähr zwei Jahre alt, in zwei Fällen handelte es sich um ein fünf bzw. siebeneinhalb Monate altes Kind.

162

Josef Grulich

Frauen, die nicht mit einer großen Mitgift rechnen konnten, mussten ihre Aussteuer und Mitgift selbst erarbeiten und konnten erst relativ spät eine Ehe eingehen. Deshalb waren sie meist älter als ihre Altersgenossinnen, die sich einen ledigen Mann auswählten. 41 Die Witwer nahmen auch öfter verwaiste Mädchen als Partnerinnen. 42 Sie konnten zukünftigen Ehepartnern im Durchschnitt eine deutlich geringere Mitgift anbieten, so dass die Heirat mit einem Witwer für viele einen Ausweg aus einem relativ begrenzten Heiratsmarkt darstellte. Im Unterschied zu Ledigen finden sich bei Witwern auch vergleichsweise häufig Eheschließungen mit jungen Frauen, die aus unehelichen Verhältnissen stammten. In den betreffenden Verträgen traten die Mütter der illegitimen Töchter als Verhandlungspartnerinnen auf, während die Stiefväter nur ausgesprochen selten als Aussteller der Mitgift auftraten. 43 Für den sozialen Status der Witwer ergab sich daraus kein Risiko, da sie bereits über eine längere Zeit ein Netz von sozialen Beziehungen geknüpft hatten, das ihnen den Bestand ihres gesellschaftlichen Status garantierte. Da die Heiratsstrategie der Witwer nicht von besitzstandsichernden Aspekten der Ökonomie, sondern von der Aufrechthaltung von deren Funktionsfähigkeit bestimmt war, konnten sie die Vermögensaspekte zugunsten einer schnellen Verfügbarkeit der Arbeitskraft hinten anstellen. Das wiederum kam jenen Frauen entgegen, die anderweitig kaum eine Chance auf eine sozial absichernde Eheschließung hatten. Im Unterschied zu den Witwern, die eine gute Chance auf eine weitere Eheschließung hatten, blieben die Witwen seit den Erbrechtsänderungen im Jahre 1787 oft bis zu ihrem Lebensende allein. Dies hing vor allem mit der veränderten Stellung des neuen Ehemannes, des so genannten „provisorischen Hauswirts“ zusammen. Bis 1787 erbte der jüngste Sohn den Hof, so dass eine Eheschließung mit einer Witwe durchaus gesucht war. So konnte man deutlich früher eine eigene Wirtschaft führen, als es der Fall gewesen wäre, wenn man die Eheschließung des jüngsten Bruders hätte abwarten müssen. Der „provisorische Hauswirt“ konnte den Hof führen, bis der jüngste Stiefsohn herangewachsen war. Nach der Veränderung des Erbrechts waren immer häufiger die Witwen als provisorische Haushaltsvorstände anzutreffen. Das hatte mehrere Gründe: In erster Linie verschlechterte die Hofübergabe an den ältesten Sohn die Verhandlungsposition der Frau, denn sie hatte kaum noch „eigene“ Vermögenswerte, also eine mindestens mittelfris41 42 43

Vgl. Klášterská: Výběr partnera, S. 151. In den Jahren 1812-1816 heirateten sie um 15 % mehr „Waisenbräute“ als die ledigen Männer und in den 1830er Jahren lag der Anteil immer noch um 13 % höher. In den Jahren 1812-1816 handelt es sich nur um einen Fall aus 51 Verträgen, in dem ein Witwer eine illegitime Tochter heiratete, in den Jahren 1832-1836 kommen schon zwei Fälle aus 54 vor.

Heiratsstrategien der Dorfbevölkerung

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tige Führungsposition, anzubieten. 44 Eine zweite Eheschließung schien demnach nur dann in Betracht zu kommen, wenn die Frauen in jungen Jahren verwitweten; aber auch in diesem Fall spielte die ökonomische und gesellschaftliche Stellung eine entscheidende Rolle, wie die Wahl der 25-jährigen Witwe Kateřina Papáčková zeigt. Im Juli 1815 heiratete die Witwe, obwohl sie noch im Juni ihre Bauernstelle hatte verkaufen wollen. Es schien zunächst unmöglich einen Partner zu finden, der sechsundzwanzig Tage Fronarbeit leisten und sich um die eigene Wirtschaft kümmern wollte. Schließlich fand sich eine Lösung in der Person des Matěj Bejlovec. Im Vertrag wird der Name des Vaters des Bräutigams nicht aufgeführt, es handelte sich einen bereits länger vom Vater unabhängigen Mann, eventuell in einer Anstellung als Knecht oder Tagelöhner. 45 Für beide bedeutete diese Heirat eine Sicherung bzw. Verbesserung der sozialen Stellung, wenn auch Matěj „nur“ der provisorische Landwirt wurde und seine Zukunft potentiell unsicher war. Aber auch für den potentiellen Ehemann ergab sich mit dem Eintritt in die Wirtschaft der verwitweten Frau eine schwierige Situation. Seine Leitungsfunktion war zeitlich nämlich bis zur Volljährigkeit des ältesten, erbenden Sohnes begrenzt. In den Eheverträgen wurde meistens kein Ausgeding oder eine andere Art der Versorgung festgehalten, weil man nicht wusste, was der Bräutigam vom Erben des Bauernhauses bekommt. Diese Formulierung stellte eine Form der Rückversicherung dar, denn seine Position wurde im Ehevertrag des Erben neu verhandelt. Auf diese Weise wurde dem „provisorischen Hauswirt“ eine Art ‚Bewährungszeit‘ auferlegt – falls sich der neue Hauswirt gegenüber der Familie nicht gut verhielt, konnte er vom Erben für seine eigene Zukunft weder Geld noch ein Ausgeding erwarten. Mit diesen Unsicherheiten konnte von einer langfristigen existenziellen Sicherung keine Rede sein und machte die Eheschließung mit einer Witwe nicht zur Zukunftsplanung erster Wahl. Doch trotz dieser Beschränkungen eröffnete die Heirat eine Möglichkeit zur sozialen Statussicherung, die eine langfristige Perspektive zumindest nicht ausschloss. So verfügte der Witwer Martin Mejta aus dem Dorf Štěpánov im Ehevertrag mit seiner neuen Braut, dass – stürbe er (Mejta) in den nächsten vier bis fünf Jahren, sein erbberechtigter Sohn Vavřinec noch zu jung wäre, um das Bauernhaus übernehmen zu können. Die Braut solle deshalb erneut heiraten und mit dem neuen Landwirt die Wirtschaft gemeinsam führen. Damit war dem potentiellen Gatten der Braut die Leitungsposition immerhin bis zum Tod der Braut zugesichert. 46 Danach 44 45 46

Vgl. Klášterská: Výběr partnera, S. 150-151, 186. SOA Třeboň, OS Třeboň, sign. 426 (KPSN), fol. 138-139. SOA Třeboň, OS Třeboň, sign. 427 (KPSN), fol. 462.

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wäre er von dem Willen des Erben des Bauernhauses abhängig, ob er zu seinem zukünftigen Lebensunterhalt beitrug, beziehungsweise es ihm erlaubte, im Ausgedingebauernhaus zu wohnen. Die Stellung des neuen Ehemannes und „provisorischen Hauswirts“ nach der Übernahme durch den Hoferben bestimmte also der Erbe des Bauernhauses, nicht die Witwe. Diese Position schränkte ihn in seinen Handlungsspielräumen ein, da er eigene Bedürfnisse denen der angeheirateten Familie im Konfliktfall unterordnen musste. Diese „eigenen Bedürfnisse“ waren nicht nur auf seine Person bezogen, sondern auch auf die Kinder, die aus seiner Ehe mit der Witwe stammten. Denn in dem Maße, wie er seine Position, sein Ansehen innerhalb der Familie festigen konnte, hatten auch seine Kinder eine Chance, in die Erbfolge des Hofes aufgenommen zu werden. Verwitwete der „provisorische Hauswirt“ seinerseits, regelte ein Rechtsbeistand die Eigentums-, Rechts- und Erbverhältnisse. Der neue Ehevertrag wurde daher mit seinem „Einverständnis“ geschlossen. Der Bräutigam verpflichtete sich, die Kinder anständig zu ernähren, anzukleiden und zu unterrichten. Martin Dudek und Anna Jindrová schlossen ihre Ehe im Jahre 1813. 47 Die beiden kannten einander aber schon lange Zeit vorher. Martin war nämlich der Witwer der Gattin des Bruders der Braut und demnach heiratete er die Tante der verwaisten Kinder. An das Bauernhaus kam also keine fremde Person, sondern ein Familienangehöriger, der die Rolle seines Vorgängers übernahm. Eine solche Verbindung war allerdings nicht häufig, meistens war der provisorische Landwirt eine nicht verwandtschaftlich gebundene Person. Die Schlüsselrolle spielte deshalb die dritte Person, der Rechtsbeistand, der die Verhältnisse am Bauernhaus gestaltete und überwachtete, dass die Waisenkinder in ihren Rechten nicht benachteiligt wurden. Der Entwicklungsrahmen des sozialen Status des „provisorischen“ Hauswirtes war also ausgesprochen groß – von völliger Unsicherheit im Hinblick auf die Zuweisungen des Hoferben bis hin zum Erwerb einer sicheren Stellung innerhalb der Familie und nach außen. Es hing vor allem von den Fähigkeiten des Einzelnen ab, wie er sich in die vorgefundene Situation einfügen konnte und ob er fähig war, seine eigenen Interessen einzubinden. Das soziale Umfeld verknüpfte mit der Stellung des „provisorischen“ Hauswirts bestimmte Erwartungen im Hinblick auf seine Führungsfunktion. Festigte er seine Stellung, gewannen seine eigenen Kinder gleichwertige Ausgangsbedingungen wie die anderen Nachkommen der Hauswirte, was wiederum für die nachgeborenen Söhne von besonderem Interesse war.

47

SOA Třeboň, OS Třeboň, sign. 427 (KPSN), fol. 28.

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Beispiele familiärer Strategien Mit der Heirat verbanden sich nicht nur zwei Menschen – es verbanden sich zwei Familien. Der zukünftige Ehemann wurde deshalb – wie gesehen – sorgfältig ausgewählt, um das bestehende soziale Netz nicht zu destabilisieren, sondern weiter zu festigen. Über den Charakter und die Kompetenzen des Partners selbst war deshalb auch das Ansehen und das Netzwerk seiner Herkunftsfamilie von nicht unerheblicher Bedeutung. So erklärt sich auch der „Brauttausch“, wenn die Braut vor der Hochzeit sehr erkrankt oder verstorben war. Tomáš Kubata etwa hatte einen Heiratsvertrag mit seiner Braut abgeschlossen, die jedoch schwer erkrankte. Er heiratete schließlich ohne inhaltliche Änderungen im Vertrag deren Schwester. 48 Tomáš hielt sein Versprechen und heiratete eine Tochter des Landwirtes, womit die erwartete Verbindung der Familien und die Zunahme des sozialen und ökonomischen Kapitals in der erwünschten Richtung erfolgte. Die sozialen Netze, innerhalb derer sich die Heiratsstrategien entfalteten, konnten aber durchaus auch Beschränkungen aufweisen. So bestimmten etwa berufliche Rücksichten die Wahl des zukünftigen Ehemannes für Müllerstöchter in weit stärkerem Maße als in anderen Sparten des ländlichen Handwerks. 49 Darüber hinaus waren manche Netze so eng geknüpft, dass entweder die Blutsverwandtschaft oder die geistliche Verwandtschaft in Form von Paten- oder Schwägerschaft einer Heirat entgegen stand. 50 Wollte ein Paar trotz verbotener Verwandtschaftsgrade eine Ehe schließen, mussten sie am entsprechenden Amt um einen Dispens nachsuchen. 51 Es sind vergleichsweise viele Fälle überliefert, in denen solche Paare bereits in einer eheähnlichen Gemeinschaft zusammenlebten und gemeinsame Kinder großzogen, während sie auf den Dispens warteten. Im Allgemeinen wurde dies aber als legitime Partnerschaft anerkannt. So heirateten der Cha48 49

50

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SOA Třeboň, OS Třeboň , sign. 425 (KPSN), fol. 353-354. Vgl. Medick: Weben, S. 141-206 (Proto-industrielles Handwerk in einer ländlichen Gesellschaft); Schlumbohm: Lebensläufe, S. 46-95; Schlumbohm, Jürgen/Praß Reiner/Duhamelle,Christophe/Béaur,Gérard (Hg.): Ländliche Gesellschaften in Deutschland und Frankreich, 18. und 19. Jahrhundert, Göttingen 2003. Paragraphen 13-16 des Ehelichen Patents von Josef II. führten als Hindernis für die Ehe Verwandtschaft und Schwägerschaft an. Státní oblastní archiv Praha, Sbírka patentů, inv. č. 2066. Paragraph 65 des Allgemeinen Gesetzbuches aus dem Jahre 1811 verbot die Eheschließung zwischen den Verwandten in der steigenden und absteigenden Linie „(...) es stamme die Verwandtschaft aus der ehelichen und unehelichen Frucht“. Paragraph 66 ergänzte, dass „aus der Schwägerschaft ein Hindernis für die Ehe entstehe“; Widtmann: Kniha, S. 19. Das Ehehindernis der Schwägerschaft wurde erst mit dem Dekret vom 20.5.1814 aufgehoben. Auf die Problematik der kirchlichen Dispense verwies z. B. Klabouch, Jiří: Manželství a rodina v minulosti, Praha 1962, S. 65-67.

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lupner František Eiker aus einer Einsiedelei bei dem Dorf Uhlířov und Johana Hánová aus Kramolín erst im Juli 1833, obgleich der beantragte Dispens bereits im Januar erteilt wurde. Da das Kind bereits geboren war und der Brautvater auch die Hälfte der Mitgift ausgezahlt hatte, bestand offenbar keine große Dringlichkeit. 52 Sehr populär waren Doppelhochzeiten, wenn zwei Kinder des Hauswirtes die Geschwister aus einem anderen Bauernhaus heirateten. Da sie meist am gleichen Tag vollzogen wurden und auch die Eheverträge gleichzeitig aufgesetzt wurden, musste hier kein Dispens eingeholt werden. Oft heiratete ein Bruder der Braut die Schwester des Bräutigams, so dass der zukünftige Erbe des Bauernhauses seiner Schwester nicht den Erbteil auszahlen musste, sondern mit der Mitgift seiner eigenen Braut „verrechnete“. Auch Josef Krafl musste deshalb den Erbteil (von 200 zl W.W.) im Jahre 1812 nicht an seine Schwester Kateřina auszahlen. 53 Des Weiteren kam es zu Situationen, in denen der Bruder des Bräutigams die Schwester der Braut heiratete. Solche Fälle traten eher vereinzelt auf, weil sie nur dann strategisch sinnvoll waren, wenn der Vater der Braut keinen Erben für das Gut hatte und es deshalb der Schwiegersohn bekam. Die Eltern der Braut mussten wieder keine Mitgift auszahlen und der Bräutigam musste seinem Bruder keinen Erbteil auszahlen, der wiederum Hauswirt wurde, obwohl er nicht der Erstgeborene war. Doppelhochzeiten waren deshalb attraktiv, weil man auf diese Weise verhindern konnte, eine Mitgift in voller Höhe auszahlen zu müssen. Zugleich konnte das soziale Netz auf diese Weise deutlich gefestigt werden. Im Jahre 1792 heiratete Josef Liška Mariana, die Tochter von Jakub Pilný. Die Mitgift wurde nicht ausgezahlt, da in einem gleichzeitig abgeschlossenen Übergabevertrag die Wirtschaft an den neuen Schwager übertragen wurde. 54 Einen ähnlichen Fall kann man für das Jahr 1794 nachweisen. Die Hochzeit der jeweiligen Geschwister wurde bei der Vermählung von Jan Železný, genannt Klouda, und Mariana, der Tochter von Matěj Kolenář ein paar Jahre im Voraus vereinbart. Im Heiratsvertrag wurde angeführt, dass der Vater der Braut keine Mitgift auszahlen wird, da der Bruder des Bräutigams namens Jakub die Schwester der Braut heiraten sollte. Für den Fall, dass Jakub stürbe, bevor die Hochzeit vollzogen sei, sollte Matěj Kolenář nachträglich 300 zl W.W. als Mitgift an Jan Železný auszahlen. 55 In den Jahren 1812-1816 lässt sich eine auffällige Häufung von Doppelhochzeiten feststellen, die das ökonomische Argument untermauern. In im52 53 54 55

SOA Třeboň, OS Třeboň , sign. 428 (KPSN), fol. 32. SOA Třeboň, OS Třeboň , sign. 426 (KPSN), fol. 6. SOA Třeboň, OS Třeboň , sign. 1971 (KPSN), fol. 20-21. SOA Třeboň, OS Třeboň , sign. 1971 (KPSN), fol. 136-138.

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merhin 13 % aller ersten Eheschließungen und in 4 % der Heiraten von verwitweten Personen lassen sich Doppelhochzeiten nachweisen. Wegen des Bankrotts verloren sie einen großen Betrag, den sie in Bankzetteln hatten. 56 In dieser Krisensituation konnte es Existenz sichernd sein, die Mitgift nicht in Geld auszahlen zu müssen, sondern die ausgehandelten Summen zu überschreiben. In den 1830-er Jahren ging die Zahl dieser „Doppelhochzeiten“ dann wieder zurück, auf 4 % bei ersten Eheschließungen; bei verwitweten Personen lassen sie sich gar nicht mehr nachweisen. 57 Nur ausnahmsweise schlossen jene Paare einen Ehevertrag, die keine Hofstelle besaßen. Der Vertrag wurde dann aus zwei Gründen geschlossen: Erstens in dem Fall, dass die Familie des Bräutigams oder der Braut den zukünftigen Eheleuten eine Wirtschaft kaufte. Oder zweitens, wenn sie ihnen wenigstens den Nahrungserwerb am Ausgedingehaus 58 sicherte. Die erste Strategie wählte František Havel aus dem Dorf Novosedly nad Nežárkou. Der Vater seiner Braut zahlte ihm die ganze Mitgift vor der Hochzeit aus, damit er „mit Hilfe des väterlichen Beitrages“ eine Liegenschaft kaufen konnte. 59 Wenn die Familie nicht genügend Mittel für den Kauf der Wirtschaft hatte, konnten die Neuvermählten bis zu ihrem Tod im Ausgedingehaus wohnen. 60 Auf diese Weise half Matěj Žoldnajl im Jahre 1816 seinem Bruder 56

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Der Staatsbankrott wurde am 15.3 1811 infolge der Erschöpfung des ökonomischen Potenzials der Habsburger Monarchie während der langwierigen napoleonischen Kriege erklärt. Mit dem Finanzpatent vom 20.2.1811 wurde der Kurs des abgewerteten Papiergeldes, der so genannten Bankzettel, auf ein Fünftel seines nominellen Wertes verringert. Weil die Preise auch weiter stiegen, waren davon vor allem die Schichten der Bevölkerung, die von Lohn oder Gehalt abhängig waren, betroffen. Näher in Československé dějiny v datech, Praha 1986, S. 236; Die Wechselkurse der damaligen Währung sind in Anmerkung N. 38 angeführt. Dieses Phänomen stellte aber keine plötzliche Zäsur dar, vielmehr setzte es einen langfristigen Trend fort, der durch die napoleonischen Kriege und den Staatsbankrott der Habsburger Monarchie unterbrochen wurde. Für eine exaktere Analyse der Doppelhochzeiten müssten längere Zeitabschnitte untersucht werden. Vgl. Fialová: Vývoj sňatečnosti, S. 208. Für das Ausgedingehaus benutzte man im tschechischen Sprachraum den Ausdruck muss man sich ein kleines Haus vorstellen – auf Deutsch Hütte, in der tschechischen Umgebung benutzt man auch den Begriff „Chalupe“. Ihre Bewohner nannte man gewöhnlich Chalupner. Sie stellten eine, niedrige (ärmere) Schicht der dörflichen Bevölkerung dar. SOA Třeboň, OS Třeboň, sign. 428 (KPSN), fol. 77. Im Text der Heiratsverträge, die für die Herrschaft Třeboň/Wittingau (1792-1836) erforscht wurden, wurde die Familienwirtschaft meistens als Liegenschaft erwähnt – damit wurde aber die Unterhaltsquelle gemeint, es handelte sich nicht um ein Gewerbe oder Geschäft. Das Ausgedinge konnte ein kleines Haus darstellen (in der tschechischen Umgebung die schon oben erwähnte Chalupe), im Fall der ärmsten Bewohner des Landes sogar

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aus. Bei der Einschreibung des Heiratsvertrags fűhrte er an, dass dies so „für die einfachere Versorgung beider Neuvermählten“ passierte. Der Bräutigam und seine Braut mussten Steuern aus dem Haus an die Obrigkeit zahlen und sie waren zu einem dreizehntägigen Fußherrendienst verpflichtet Wenn der Landwirt aber nach der Übergabe der Familienwirtschaft selbst das Ausgedinge nutzen wollte, mussten seine bisherigen Benutzer (damit sind die Neuvermählten gemeint) anderswohin weggehen. Der Landwirt sollte ihnen im genannten Fall 400 Gulden auszahlen und wenn nur noch Einer von ihnen am Leben war, so betrug diese Summe nur 300 Gulden. Wenn aber niemand Interesse an der Nutzung des Ausgedinges hatte, konnten die Neuvermählten hier bis zum Tod bleiben. Erst dann wurde das Ausgedinge wieder ein Bestandteil des Gutes, aus dem es ursprünglich ausgeklammert worden war. 61 In ähnlicher Weise wurden auch Martin Pumpra aus Dunajovice durch den Vater des Bräutigams unterstützt. Die Verlobten konnten die Chalupe „bewirtschaften und erhalten“. Im Heiratsvertrag verpflichtete sich der Vater des Bräutigams für die Kinder 150 zl W. W. in die herrschaftliche „allgemeine Kasse“ abzuführen. Nach dem Tod der Eheleute sollte dieses Geld zu gleichen Anteilen ihren Kindern gehören und vom Besitzer des Gutes zusätzlich ein Stück Land erhalten. 62 Es lag also im Interesse aller Familienmitglieder, durch die Bestimmungen eines Heiratsvertrages möglichst gute Ausgangsbedingungen für die eigene Zukunft zu sichern Insbesondere dann, wenn eine Behinderung vorlag, hatte die jeweilige Person nur begrenzte Möglichkeiten der Anerkennung durch die Gesellschaft, die ihn als unerwünschte Belastung betrachtete. Deshalb war es sehr wichtig, wie seine Familie zu ihm stand. Vielleicht sah es der Witwer Tomáš Rút gerade deshalb als wichtig an, genau festzulegen, wer sich um seinen Sohn Tomáš kümmern wird, der „ein Krüppel“ war. Sein Heiratsvertrag führte an, dass er sich zur Übergabe seines Gutes im Dorf Mazelov an seinen Sohn Jakub nur unter der Bedingung verpflichtete, dass Jakub sich bis zum Tod um seinen verkrüppelten Bruder kümmern wird. Diesem wurde mittels des Heiratsvertrages also die Versorgung bis zum Ende seines Lebens versichert. Der Heiratsvetrag wurde also mit Blick auf das Entwicklungspotenzial aller Mitglieder des Haushaltes geschlossen. Bei der Partnerwahl hatten die Eltern die entscheidende Stimme, wobei die Stärkung des sozialen Netzwerkes im Mittelpunkt stand. Die verwandschaftlichen Verhältnisse waren deshalb manchmal sehr kompliziert – vor allem, wenn diese Strategien durch

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nur ein Zimmer im gemeinsamen Haushalt. Ursprünglich war es für die Sicherung des Lebensunterhalts alter oder verwitweter Personen bestimmt. Im Verhältnis zu den Neuvermählten deutet es auf äußerst ärmliche Verhältnisse seiner Bewohner hin. SOA Třeboň, OS Třeboň, sign. 426 (KPSN), fol. 178. SOA Třeboň, OS Třeboň, sign. 426 (KPSN), fol. 30.

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mehrere Verbindungen in enger zeitlicher Folge intensiviert wurden. Im folgenden Absatz führe ich zwei Beispiele an, die eher als Ausnahmefälle ländlicher Heirats„politik“ anzusehen sind – aber für die mentale Grundhaltung sehr aussagekräftig sind. Im Dezember 1833 heirateten die Stiefgeschwister Jakub Švejcar und Marie, die als Waisenkind nach dem Tod von Bartoloměj Jáchym genannt Krejčí zurückgeblieben war. 63 Der Vater des Bräutigams war der Stiefvater der Braut und wurde nun auch ihr Schwiegervater. Eine solche Hochzeit war durch das Allgemeine Gesetzbuch aus dem Jahre 1811 verboten. 64 Die Braut sollte das Bauernhaus von ihrem verstorbenen Vater erben, aber dank der Ehe fand sie Versorgung an der Familienwirtschaft ihres Stiefvaters. Ihr Bauernhaus konnte der Bruder des Bräutigams, ihr zweiter Stiefbruder, günstig kaufen, und damit Landwirt werden. Die Familie versorgte also gleich drei Kinder auf einmal, denen der Anteil aus dem Vaterserbe nicht ausgezahlt werden musste. Sie erleichterte somit die Situation für den zukünftigen Landwirt und verbesserte die Stellung des nachgeborenen Sohnes. Noch bemerkenswerter war die Eheschließung von Jakub Lomský und Mariana Kovářová im Dezember 1812. 65 Die Braut war nämlich die Tochter des Schwagers des Bräutigams. Da eine Heirat Blutsverwandter definitiv ausgeschlossen war, müssen wir also annehmen, dass die Schwester des Bräutigams einen Witwer heiratete, der Kinder aus erster Ehe hatte. Es heiratete nicht nur diese Braut, sondern auch ihre Schwester, die den Bruder des Bräutigams heiratete, also einen weiteren Schwager ihres Vaters. Es handelte sich demnach um eine Doppelhochzeit, die noch in weitere Verwandschaftsverhältnisse verstrickt war. Die Bräutigame wurden sowohl die Schwager als auch die Schwiegersöhne des Gatten ihrer Schwester. Es bleibt aber die Frage, ob diese Brüder bereits über eine solche Verbindung nachdachten, als ihre Schwester den Witwer mit zwei Töchtern heiratete oder erst später. Beide Fälle bestätigen, dass an erster Stelle die familiäre Versorgung stand. Die jungen Menschen wurden schon von klein auf in Überzeugung erzogen, dass „Liebe“ im Sinne eines leidenschaftlichen Begehrens in der Eheanbahnung keine Rolle spielte, sonder ganz im Gegenteil sogar schaden konnte. Die Partnerwahl wurde lange Zeit den Eltern überlassen, was nicht als der Eingriff in das Privatleben verstanden wurde, sondern als Pflicht der Eltern, die so den Nachkommen eine annehmbare Zukunft versicherten. Die Vernachlässigung dieser Pflicht konnte als gegen die Tradition gerichteter Akt aufgefasst werden. Die idealisierte Vorstellung, den zukünftigen Partner erst kennenzulernen, wenn die Hochzeit verabredet war, gehörte zum Alltag 63 64 65

SOA Třeboň, OS Třeboň, sign. 428 (KPSN), fol. 65-66. Widtmann: Kniha, S. 19. SOA Třeboň, OS Třeboň, sign. 425 (KPSN), fol. 356-357.

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der damaligen Menschen. Realiter kannten sich einige junge Menschen schon vor der Eheschließung. Zur Bekanntmachung hatten sie zahlreiche Möglichkeiten; etwa „bei der Musik“, auf den Märkten, im Dienst, bei gemeinsamen Arbeiten auf dem Feld oder jeden Sonntag in der Kirche. Gegenseitige Liebe oder besser gesagt gegenseitige Sympathie sollte erst während der Ehe oder nach der Zeit der Verlobung entstehen. Die Verlobten konnten sich in vielen Fällen gegenseitig sympathisch sein. 66 Der Begriff „Liebe“ drang allmählich aber auch in die Eheverträge. Seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts wurde in ihrer Einleitung geschrieben: „Es versprechen die beiden in die Eheschließung Eintretenden, sich gegenseitig Treue, Liebe und Herzlichkeit bis zum Tod einzuhalten“. Während man in den Jahren 18121816 dieses Versprechen in der Hälfte der Eheverträge finden kann, wird es in den 1830er-Jahren schon in allen Verträgen erwähnt. Es lässt sich also dem allgemeinen europäischen Trend entsprechend feststellen, dass sich seit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert die Bedeutung einer grundsätzlich affektiven Bindung durchzusetzen begann, während Spuren der „Liebesheirat“ – wie wir sie heute kennen – erst nach dem Ersten Weltkrieg zu finden sind. 67

Strategien lediger Mütter Vom 16. Jahrhundert bis Mitte des 18. Jahrhunderts sollte die außereheliche Schwangerschaft einer Frau, mit der Vertreibung aus der Herrschaft, mit Kerker oder mehrwöchigen öffentlichen Arbeiten der Beteiligten – Mann und Frau – bestraft werden. Die Verhältnisse begannen sich erst nach dem Jahre 1750 zu ändern. Die aufklärerische Populationspolitik begann sich um die ledigen Mütter und deren Kinder zu kümmern, die die zukünftigen Arbeitskräfte darstellten. 68 Die Situation veränderte sich allmählich zugunsten der ledigen Mütter, die nun nicht mehr der gesellschaftlichen Degradierung ausgesetzt wurden wie in den vorherigen Jahrhunderten. Es hing davon ab,

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Näher Bologne: Svatby, S. 85-86, 256-284. Ebd. S. 276f. Mit der Stellung unehelicher Kinder und lediger Mütter beschäftigte sich im tschechischen Kontext unter strafrechtlichen Gesichtspunkten Tinková, Daniela: Ilegitimita a „nová ekonomie života“ v osvícenské Habsburské monarchii. Problém svobodných matek a sociální péče na prahu občanské společnosti, Historická demografie 27, 2003, S. 133-172; vgl. auch Mitterauer, Michael: Ledige Mütter. Zur Geschichte illegitimer Geburten in Europa, München 1983. Vgl. auch Fuhrmann, Martin: Volksvermehrung als Staatsaufgabe? Bevölkerungs- und Ehepolitik in der deutschen politischen und ökonomischen Theorie des 18. und 19. Jahrhunderts, Paderborn 2002, S. 72f.

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welches Umfeld eine junge Frau in der dörflichen Gesellschaft hatte und ob sich ihre Familie von ihr abkehrte. 69 Der Anteil der unehelich geborenen Kinder erhöhte sich seit den 1750-er Jahren, allerdings unterscheiden sich die Meinungen der Historiker bezüglich der Ursachen des erwähnten Sachverhalts. 70 Wenn die Eltern des illegitimen Nachkommen einander nachträglich heirateten, wurden ihrem Kind die gleichen Rechte gesichert wie ehelich geborenen Kindern. Manche Dorfmädchen gingen voreheliche Sexualbeziehungen mit der Überzeugung ein, dass sie ihren Partner später heiraten würden. 71 Wenn sie aus reichen Familien 69

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Alice Velková versuchte am Beispiel der Karriere einiger lediger Mütter, die auch aus den reicheren dörflichen Schichten stammten, zu zeigen, welche Chance sie um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert auf eine Eheschließung hatten; entweder mit dem Vater ihres Kindes, oder mit einem anderen Partner. Velková führt an, dass minimal zwei Drittel der Frauen erst erheblich später einen Gatten fanden, als dies bei ihren Altersgenossinnen üblich war. Etwa die Hälfte dieser Frauen heiratete den Vater ihres unehelichen Kindes, die anderen Frauen heirateten einen anderen Partner. Wenn sie nicht den Vater ihres Kindes heirateten, schlossen sie die Ehe noch ein paar Jahre später. Näheres in Velková, Alice: Nemanželské děti ve venkovské společnosti na přelomu 18. a 19. století, in: Tomáš Jiránek/Jiří Kubeš (Hg.): Dítě a dětství napříč staletími, Pardubice 2003, S. 205-227. Der erwähnten Problematik widmet sich Daniela Tinková, die die Situation in Böhmen mit der Situation in Italien und Frankreich vergleicht. Sie stellt die Ansichten einiger Historiker gegenüber und führt verschiedene Möglichkeiten an, warum es zu der Zunahme der Zahl unehelicher Kinder kommen konnte. Erstens konnte diese Zunahme mit der Bewegung der Dienstboten zusammenhängen, die oft in die Stadt wegzogen, wo größere Arbeitsmöglichkeiten waren. Der erhöhte Anteil der unehelichen Kinder konnte unter anderem auch durch eine Steigerung der Löhne für die Dienstboten und durch die größere Mobilität der Lohnarbeiter ermöglicht werden. Eine weitere Ursache könnte auch die Zunahme der Zahl junger Frauen sein, die wegen der Arbeit in die großen anonymen Städte weggingen, wo die Zahl der Paare im Konkubinat stieg. Zudem konnte es sich um bewusstes Kalkül der Mutter handeln, die auf diese Weise einen zukünftigen Ernährer an sich binden wollte und nicht zuletzt konnte die Steigerung der unehelichen Kinder Abwesenheit oder Versagen der antikonzeptionellen Praktiken bedeuten. Tinková: Ilegitimita, S. 136-137. Alice Velková führt an, dass um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert 8 % der Paare vor der Hochzeit einen Nachkommen zeugten (Velková: Nemanželské děti, S. 222.). Die Verträge im Zeitraum 1812-1816 zeigen eine geringfügig niedrigere Zahl – 6, 5 % der Paare hatten vor der Hochzeit einen Nachkommen oder die Braut war schon schwanger. In den 30-er Jahren des 19. Jahrhunderts schlossen in der Třeboňer/Wittingauer Herrschaft sogar 9,9 % Paare einen Vertrag, als die Braut das Kind schon geboren hatte. In einem Prozent der Fälle schließlich wurde ein Kind gezeugt und „der Bräutigam bekennt sich, der Vater der Leibesfrucht der Braut zu sein“. Unter Bezugnahme darauf, dass es sich nur um die Paare handelte, die den Heiratsvetrag schlossen und daher aus den reicheren Schichten der dörflichen Bevölkerung stammten, kann man schließen, dass die Gesamtzahl der vorehelichen Empfängnisse noch wesentlich höher war. Zudem wurde eine eventuelle Schwangerschaft nicht immer im

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stammten, konnten sie eine entsprechende Mitgift anbieten, was auch die relativ hohe Zahl der Bauerntöchter, die noch vor der Hochzeit ein Kind gebaren, erklärt. 72 Ihre Verlobten stammten aus den reicheren Schichten der dörflichen Bevölkerung und konnten eine erwünschte Ehe innerhalb ihrer Schicht schließen. 73 Die voreheliche Sexualität ist also bei allen Schichten der dörflichen Gesellschaft belegbar, nicht nur bei den niedrigsten. 74 Die ledigen Mütter begannen sich allmählich darüber klar zu werden, dass sie trotz der Existenz eines unehelichen Kindes einen passenden Bräutigam finden konnten. Gleichzeitig konnte sie das Trugbild finanzieller Unterstützung durch ihren ehemaligen Geliebten motivieren. In § 170 des ABGB wurde festgestellt, dass die Eltern des illegitimen Kindes mit Rücksicht auf „die Ernährung, Erziehung und Verpflegung des Kindes“ konstruktiv miteinander in Kontakt stehen sollten. 75 So zögerten Anna Znůtová und Anna Schwarzová nicht, die rechtlichen Möglichkeiten auszunutzen. Die beiden ledigen Mütter aus der Herrschaft Týn nad Vltavou verklagten im Jahre 1834 Vojtěch Ambrož als Vater aus Bečice ihrer Kinder vor dem Herrschaftsamt in Wittingau, um mit dessen Hilfe finanzielle Unterstützung vom Vater ihrer Kinder zu erhalten. Anna Schwarzová bekam für ihre zwei unehelichen Kinder 90 Gulden konventioneller Währung, 76 Anna Znůtová, war erfolgreicher – für ein Kind sollten ihr 149 Gulden und 55 Kreuzer konventioneller Währung ausgezahlt werden. 77 Sehr interessant ist das Vorgehen von Anna Znůtová. Im Mai 1833, also ein knappes Jahr vor dem Ausgleich, schloss sie einen Heiratsvertrag mit

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Vertrag angeführt. Die Heiratsverträge aus den 90-er Jahren des 18. Jahrhunderts sind kürzer und sie führen die unehelichen Kinder nicht an, was aber nicht bedeutet, dass diese in dieser Zeit nicht existierten. Im Zeitraum 1812 – 1816 stammten aus insgesamt 14 Fällen zehn ledige Mütter aus der dörflichen Umgebung und bei vier Müttern ist nichts über ihre Stellung gefunden worden. Im Zeitraum 1832 – 1836 waren aus insgesamt 32 Fällen 21 ledige Mütter Töchter eines Bauers, drei eines Chalupners, zwei eines Ausgedingers und je eine die Tochter eines Müllers und eines Schmieds, bei vier Müttern wurde die Stellung nicht angegeben. Im Zeitraum 1812--16 stammten in 14 Fällen sieben Männer aus der dörflichen Um-gebung, zwei aus der chalupner Umgebung, einer war Soldat und bei vier Männern konnte ihre Stellung nicht gefunden werden. Im Zeitraum 1832-1836 waren aus 32 Fällen 18 Söhne eines Bauers, 11 eines Chalupners, einer Ausgedinger, einer Häusler und einer Müller. In den Familien von Handwerkern, Häuslern oder Inwohnern war die Geburt eines unehelichen Kindes keineswegs die Ausnahme – sondern machte 18-25 % aus. Vgl. Velková: Nemanželské děti, S. 221. Widtmann: Kniha, S. 53. SOA Třeboň, OS Třeboň, sign. 428 (KPSN), fol. 71. SOA Třeboň, OS Třeboň, sign. 428 (KPSN), fol. 100.

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Vojtěch Ambrož. 78 In dieser Zeit war Anna sechs Monate schwanger. Dann kam es aber anscheinend zu einem Streit und die Ehe wurde nicht realisiert. Im Abkommen über den Ausgleich wird angeführt, dass zwischen ihr und Vojtěch eine freiwillige Versöhnung geschlossen wurde und dass die Braut darüber nachdenkt, ihn schließlich doch zu heiraten. 79 Ihre Eheschließung verwirklichte sich aber nicht und beide heirateten noch in demselben Jahr eine andere Person. Vojtěch heiratete ein Bauernmädchen aus dem Heimatdorf 80 und Anna heiratete einen Bauern aus dem Dorf Sobětice. 81 Hier wird deutlich, dass es für ledige Mütter durchaus Entscheidungsspielraum gab, ob sie den Vater ihres unehelichen Kindes heiraten sollten oder nicht. Sie waren sich anscheinend darüber bewusst, dass sie nicht allein bleiben würden. Ihr Vorgehen zeigt also, wie sich die ledigen Mütter allmählich zu emanzipieren begannen. Von dem Kindsvater konnten sie eine erkleckliche Summe bekommen, die ihre Attraktivität auf dem Heiratsmarkt erhöhte. Das uneheliche Kind brachte gleichzeitig neue Arbeitskraft in die Familienwirtschaft und konnte sogar erwünscht sein.

Das uneheliche Kind als Hindernis für die Eheschließung? Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts begann sich auch die Situation zugunsten der unehelichen Kinder zu verändern. Dies war vordergründig darin begründet, Schwangerschaftsabbrüchen und Infantiziden vorzubeugen. 82 Es wurden Landesgebäranstalten und Findelhäuser eröffnet. 83 Das Bürgerliche Gesetzbuch aus dem Jahre 1786 stellte vorübergehend die unehelichen Kinder den ehelichen Kindern gleich. 84 Diese Bemühungen scheiterten aber an der Herausgabe des ABGB im Jahre 1811, wodurch die unehelichen Kinder

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SOA Třeboň, OS Třeboň, sign. 428 (KPSN), fol. 24. SOA Třeboň, OS Třeboň, sign. 428 (KPSN), fol. 100. SOA Třeboň, OS Třeboň, sign. 428 (KPSN), fol. 67-68. SOA Třeboň, OS Třeboň, sign. 428 (KPSN), fol. 101. Vgl. Tinková: Hřích, S. 310-356. In Prag erfüllte die Funktion des Findelhauses das Welscher Spital. Im Jahre 1789 wurde im Gebäude des ehemaligen Klosters bei St. Apolinář die mit dem Findelhaus verbundene Gebäranstalt eröffnet. In Brünn wurde eine ähnliche Institution schon im Jahre 1772 und in Olmütz im Jahre 1780 eingerichtet. Fialová et al.: Dějiny obyvatelstva, S. 172. Zu den Geburts- und Accouchierhäusern im Gebiet des Alten Reiches vgl. Regenspurger, Katja: Die Frau als Gegenstand der Geburtshilfe. Accouchierhauspolitik und weibliches Selbstverständnis um 1800, in: Westphal, Siegrid (Hg.): Handlungsspielräume von Frauen um 1800, Heidelberg 2005, S.77-90; Schlumbohm, Jürgen (Hg.): Die Entstehung der Geburtsklinik in Deutschland 1751-1850: Göttingen, Kassel, Braunschweig, Göttingen 2004. Tinková: Ilegimita, S. 146.

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wegen der finanziellen Regelung der familiären Verhältnisse wieder in eine untergeordnete Stellung versetzt wurden. 85 Für die Stellung des illegitimen Kindes war sehr wichtig, ob seine Eltern später heirateten. Obwohl die Kinder dadurch Legitimität gewannen, wurden sie nicht völlig gleichgestellt. Der § 161 des ABGB garantierte ihnen zwar, dass sie als ehelich gezeugt angesehen wurden, erbrechtlich waren sie aber jenen Kindern nachgeordnet, die nach der Eheschließung geboren wurde. 86 In den meisten Heiratsverträgen der Paare, die vor der Eheschließung Nachkommen zeugten, wurde angeführt, dass die Familienwirtschaft vom ältesten Kind beziehungsweise ältesten männlichen Nachkommen geerbt wird. Die außerhalb der Ehe geborenen Kinder wurden damit nicht von den Erbansprüchen enthoben. Wichtig war wahrscheinlich, wie viel Zeit zwischen der Geburt und der Heirat der Eltern vergangen war und ob sich der Vater vor bzw. gleich nach der Geburt zu dem Kind bekannte und ob er seinen Namen im Kirchenbuch anführen ließ. Wenn der Vater des Kindes von Anfang an bekannt war und wenn er später mit dem Mädchen eine Ehe schloss, hinderte nichts daran, dass der Nachkomme auch vom Gesichtspunkt der Erstgeburt als legitim anerkannt wurde. Eine andere Stellung gewannen die Nachkommen der ledigen Mütter, die keine Ehe mit dem Vater ihres Kindes eingingen. Der Vater konnte bekannt sein, womit er dem Kind einen Raum für verschiedene Kontakte im Rahmen seines Sozialnetzes öffnete und ihm damit auch Perspektiven bot. In diesem Fall wurde das Kind oft von der dörflichen Gesellschaft akzeptiert, weil es für sie nichts „Fremdes“ darstellte. Wenn der Vater gänzlich unbekannt war, wurde die Stellung des Kindes erschwert, weil viele Fragen nach seinem Ursprung aufkamen und weil sich das Sozialnetz vor diesem Kind teilweise verschloss. Für die ledige Mutter war es deshalb wichtig, der Gesellschaft den Vater ihres unehelichen Kindes vorzustellen. Das führte mitunter dazu, dass ein Mann zu Unrecht der Vaterschaft beschuldigt wurde. Früher wurde nämlich der Name des Vaters in das Kirchenbuch allein nach der Angabe der Mutter verzeichnet, beziehungweise nach der Angabe der Menschen aus dem Dorf. Die Theresianischen Maßnahmen bemühten sich deshalb, die angeblichen Väter der unehelichen Kinder zu schützen und forderten, dass der Name des Vaters eines illegitimen Nachkommen nur dann verzeichnet werde, wenn er selbst darum ersuchte. 87 Das ABGB verschärfte die Situation noch. Den Namen des Vaters eines unehelichen Kind durfte man nur dann in das Kirchen85

86 87

Der Paragraph 155 des Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches stellte fest, dass sich “die unehelichen Kinder nicht der gleichen Rechte wie die ehelichen Kinder” erfreuen. Widtmann: Kniha, S. 49. Widtmann: Kniha, S.51. Vgl. Tinková: Ilegitimita, S. 146.

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buch einschreiben, wenn der Vater selbst seine Einwilligung dazu gab, wobei dies der Pfarrer und ein Zeuge bestätigen mussten. 88 Die Identität des Vaters war auch deshalb wichtig, weil ihm der Lebensunterhalt des unehelichen Kindes oblag. Das ABGB führt an, dass „das uneheliche Kind das Recht hat, von seinen Eltern Ernährung, Erziehung und Verpflegung zu verlangen, wobei der Vater zum Unterhalt verpflichtet ist.“ 89 In Wirklichkeit blieb die Mutter aber meistens mit der Sorge für das Kind allein. Sie konnte sich aber an das entsprechende Herrschaftsamt wenden und um Ersatz ersuchen, wie es im schon erwähnten Beispiel von Anna Znůtová und Anna Schwarzová der Fall gewesen war. Obwohl sich Vojtěch dazu verpflichtete, seinen illegitimen Kindern eine bestimmte Summe für den Unterhalt zu bezahlen, wurde er nicht im Kirchenbuch als ihr Vater eingetragen. Wahrscheinlich war es nicht mehr nötig, weil er mit ihren Müttern ein Abkommen schloss und die Kinder versorgte. Im Zeitraum vor dem Jahr 1812 waren die Fälle, in denen die Braut das Kind mit einer anderen männlichen Person zeugte, absolut vereinzelt. Allmählich erhöhte sich aber ihre Zahl, was auf eine bessere Möglichkeit der Eheschließung für ledige Mütter hindeutet. 90 Im Jahre 1816 etwa heiratete Matěj Parola Anna Bambulová. Ihr gemeinsamer Sohn Ondřej wurde durch die Eheschließung legitimiert, ein weiteres Kind der Braut „außer dem Bett mit einem Anderen gezeugt“, konnte nicht dieselben Rechte für sich in Anspruch nehmen. 91 Das uneheliche Kind, das aus einer früheren partnerschaftlichen Beziehung stammte, wurde nicht durch die Hochzeit legitimiert und es blieb weiterhin in einer untergeordneten Stellung. In der Regel gewann das uneheliche Kind durch die Ehe seiner Mutter eine geringfügig bessere gesellschaftliche Stellung als uneheliche Kinder, deren Mütter ledig blieben. Es besaß vor allem eine Existenzgrundlage. In der Praxis hing es aber stark vom Willen des Stiefvaters ab, welche Stellung so einem Kind zugebilligt wurde. Im Falle, dass die Braut die Erbin der Familienwirtschaft war und sich der Mann auf den Grundbesitz einheiratete, wurde das Kind problemlos in die Familie aufgenommen. Als Anna Šnějková im April 1832 heiratete, adoptierte ihr Bräutigam František Sokolík, genannt Jílek, ihren unehelichen, viereinhalb Jahre alten Sohn namens Jan. Ausschlaggebend war aber nicht die Zuneigung zu dem Kind, sondern das Interesse an der Liegenschaft einer landesherrlichen Chalupe bei Val. Obwohl Jan angenommen wurde, hatte er nicht die gleichen 88 89 90 91

Widtmann: Kniha, S. 52 (§ 164). Widtmann: Kniha, S. 52-53 (§ 166). Im Zeitraum 1812-1816 handelt es sich um 0,5%, in den 30-er Jahren des 19. Jahrhunderts schon um 2,4 %. SOA Třeboň, OS Třeboň, sign. 426 (KPSN), fol. 167.

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Rechte wie die anderen Kinder, denn obwohl er der erstgeborene Sohn der Erbin der Chalupe, war, bestimmte der Vertrag die zukünftigen Nachkommen der Eheleute als den Erben und Jan wurde vom Erbe ausgeschlossen. 92 Dem offensichtlichen ökonomischen Zuwachs stand aber auch im 19. Jahrhundert die moralische Anrüchigkeit gegenüber, war das Kind doch lebender Beweis eines nicht einwandfreien Lebenswandels der Mutter. Der Stiefvater musste erwägen, ob sein Zugang den Ruf des Grundbesitzes nicht schädigen und ob das Kind von Verwandten und dörflicher Gesellschaft angenommen werden würde. Wenn der Landwirt glaubte, dass der Zugang des Kindes dem Fortgang der Familienwirtschaft schadete, war es besser, das Kind der Obhut der Großeltern anzuvertrauen, wie sich Tomáš Malecha entschied. Als er Mariana Housková heiratete, verpflichtete er sich, ihr Kind in seiner Wirtschaft aufzunehmen, das Kind zu ernähren, zu bekleiden und sich um es zu kümmern. Das Kind wurde aber nur für eine bestimmte Zeit toleriert. Als es nicht mehr von der Mutter abhängig war, setzte der Stiefvater durch, dass es zum Vater der Braut (dem Großvater) gebracht wurde. 93 Die unehelichen Kinder in der dörflichen Gesellschaft blieben ständig in einer untergeordneten Stellung. Die Aussichten auf eine Eheschließung waren unsicher und das Suchen eines passenden Partners stellte eine komplizierte Aufgabe dar. Die Fälle, in denen die illegitimen Nachkommen einen Heiratsvertrag schlossen, treten deshalb nur vereinzelt auf, was auch dadurch bedingt ist, dass die Verträge durch Menschen aus der reicheren Umgebung geschlossen wurden, wohin die unehelichen Kinder nur schwer eindringen konnten. Ihre schwierigere Sozialstellung wird durch die Tatsache betont, dass sie die Bewilligung ihres Rechtsbeistandes und des entsprechenden Amtes einholen mussten, wenn sie in die Ehe eintraten. 94 Eine größere Wahrscheinlichkeit einen Partner zu finden, hatten die unehelichen Töchter. Sie konnten zwar dem zukünftigen Gatten keine hohe Mitgift bieten, sie konnten ihm aber ihre Fähigkeiten als Wirtschafterinnen zur Verfügung stellen. Wenn sich die illegitimen Töchter vermählten, heirateten sie in den meisten Fällen Witwer. Eine Ausnahme stellt hier Kateřina Vančurová dar, die im Jahre 1833 den Bauern Matěj Nováček, den Erben der Liegenschaft im Dorf Neměcké Ohražení, heiratete. Der Heiratsvertrag wurde im Beisein des Großvaters der Braut, Ondřej Vančura, geschlossen, der gleichzeitig die Mitgift der Braut gewährte. Der Vertrag unterscheidet sich keineswegs von den gängigen Verträgen legitimer Nachkommen und auch die Höhe der Mitgift ist durchschnittlich. Der Großvater der Braut war wahrscheinlich Garantie genug, dass das Mädchen aus einer ordentlichen, wenn 92 93 94

SOA Třeboň, OS Třeboň, sign. 427 (KPSN), fol. 443. SOA Třeboň, OS Třeboň, sign. 426 (KPSN), fol. 1-2. Widtmann: Kniha, S. 15.

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auch unehelichen Umgebung stammte, und er war vor allem fähig, dem Bräutigam eine ausreichend hohe Mitgift anzubieten. 95 Die illegitimen Nachkommen männlichen Geschlechts waren in einer weitaus schlechteren Stellung, weil sie ihrer zukünftigen Partnerin, beziehungsweise deren Familie keine existentielle Grundlage bieten konnten. Eine von den wenigen Möglichkeiten, die sich den illegitimen Söhnen anbot, war es, Arbeit in der Stadt zu suchen. Dort bemühte man sich, aus eigener Kraft eine bessere Stellung zu erlangen und eine passende Gattin zu finden. In dem Untersuchungszeitraum findet sich nur ein Fall, in dem ein Vertrag durch einen illegitimen Sohn geschlossen wurde. Dies war Josef Černý, der Alžběta Svobodová heiratete. Ihre Zukunft war allerdings unsicher. Die drei Brüder der Braut waren beim Militär und wenn der älteste von ihnen zurückkäme, würde er die Familienwirtschaft von den Verlobten übernehmen. Die Eheleute würden höchstwahrscheinlich Dienstboten werden. 96 Die Stellung unehelicher Kinder auf dem Lande hing im Wesentlichen von der Stellung der Eltern in der dörflichen Gemeinde ab. Diese wies ihnen aufgrund moralischer Prinzipien einen Platz an ihrem Rand zu, denn es stand für die Sündhaftigkeit der Eltern. Erst unter dem Einfluss der staatlichen Reformen begannen sich bessere Möglichkeiten für Geltendmachung von Rechtsansprüchen der unehelichen Kinder in der dörflichen Gesellschaft zu öffnen, was das soziale Beziehungsgefüge aber sicherlich nur bedingt stärkte.

Epilog Eheverträge der ländlichen Bevölkerung werden bisher in der tschechischen Geschichtswissenschaft nur sehr zögerlich als Quellen für eine Sozialgeschichte der agrarischen Gesellschaft wahrgenommen. Die hier vorgestellte Analyse dreier Zeitabschnitte in den nahezu vollständig überlieferten Beständen der Herrschaft Třeboň/Wittingau (1792-1836) konnte deren reiches Material im Hinblick auf familiäre Strategien der sozialen und ökonomischen Bestandssicherung aufzeigen. Die analysierten Eheverträge – sowie ihre testamentarischen Anteile – ermöglichen einen tieferen Einblick in die kollektive Mentalität, die sowohl Wahrnehmungsmuster der dörflichen Gesellschaft wie auch der einzelnen Personen strukturierte und Handlungsspielräume eröffnete – für Männer und Frauen, Alte und Junge, Eingesessene und Fremde. Wenngleich Eheverträge hauptsächlich von Angehörigen der vermögenden Schichten geschlossen wurden, wird in ihnen doch aufgrund der sehr differenzierten Strategien ein hohes Potenzial an sozialer Mobilität in der ländlichen Gesellschaft durch „Heiratspolitik“ deutlich. Die in den Ehever95 96

SOA Třeboň, OS Třeboň, sign. 428 (KPSN), fol. 43. SOA Třeboň, OS Třeboň, sign. 426 (KPSN), fol. 24.

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trägen greifbar werdenden Heiratsstrategien können demnach als „Knotenpunkte“ in familiären sowie individuellen Biographien gesehen werden, die punktuell die Dynamik der sozialen und ökonomischen Beziehungen und Netzwerke innerhalb der ländlichen Bevölkerung deutlich werden lassen. Die vorgelegte Studie umfasst nicht alle Themenbereiche, die durch die Heiratsverträge abgedeckt wurden. Sie sollte die außerordentliche Aussagekraft der benutzten Quelle aufzeigen. Für die Zukunft wäre es passend, eine größtmögliche Zahl an Verträgen zu analysieren und mittels ihrer noch detailgenauer die typischen Verhaltensmuster in der dörflichen Gesellschaft aufzudecken. Gleichzeitig wäre es angebracht, den persönlichen wie kollektiven Strategien der Landbewohner größere Aufmerksamkeit zu widmen und diese Strategien dann einer weitaus tieferen mikrohistorischen Analyse zu unterziehen. Es sollte nicht bei einer Gegenüberstellung von Lebenspraxis und herrschenden Normen bleiben. Die weitere Forschung sollte auf die gegenseitige Kombination der Heiratsverträge mit verschiedenen Quellenarten, vor allem mit den Testamenten, die den Alltag des Landbewohners aufzeigen, gerichtet sein. Die vorgelegte Studie bemühte sich, die Möglichkeiten der systematischen Erforschung von Heiratsverträgen mit Bezug auf die Problematik der Sozialgeschichte des Landes um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert darzustellen. Dieser genaue Blick macht darüber hinaus aber auch den allmählichen Wandel in den Vorstellungen über den Zusammenhang von Ehe, Familie und Haushalt deutlich, der sich einerseits deutlich an rechtlichen Veränderungen orientierte, im Hinblick auf die Rezeption von sich ändernden Wertvorstellungen aber doch eigenen Geschwindigkeiten folgte.

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Stille im „Haus“. Hausvater, Verwalter und transkulturelle Gesellung in der baltischen ökonomischen Literatur zwischen 1750 und 1850 

Das „ganze Haus“ und die „Hausväterliteratur“ sind zentrale Schlagwörter in der deutschsprachigen Frühneuzeitforschung. 1 Als Historiker muss man an ihrem Realitätsbezug zweifeln. Doch sollte darüber nicht die Bedeutung der literarischen Produktion von Realität unterschätzt werden. Das „Haus“ und sein semantisches Umfeld waren in weiten Teilen des deutschsprachigen Kulturraums Schlagwörter, die den Nerv der Zeit trafen, den Diskurs bestimmten und die Buchproduktion der Frühen Neuzeit in einem geradezu modernen Maße anregten. Allein dadurch hat das „Haus“ eine gewichtige Realität erlangt, manifestiert in vielen hunderten von Kilo Buch. In ihnen wurde ein vorbildhaftes Gesellschaftsmodell entworfen, das die Zeitgenossen sicherlich nicht immer umsetzten, dem sie sich aber nur schwerlich ganz entziehen konnten. Das „Haus“ in der Literatur ist kein Abbild der sozialen Realität, sondern ein Ideal, dessen Bedeutung und Umsetzung regionale Differenzen aufweist. So etwa fehlt in Estland und Lettland das „Haus“ als dominanter Begriff in Forschung und Quellen, obwohl sie aufgrund der Unterwerfung Livlands im Mittelalter unter deutsche Herrschaft gerieten und Dank der Privilegien, die der dünnen deutschen Oberschicht von den wechselnden Mächten (Polen, Schweden und Russland) gewährt wurden, bis in das 20. Jh. hinein dem deutschen Kulturraum angehörten,. Dies gilt sowohl für die deutschbaltische,

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Der Artikel wurde verfasst mit großzügiger Unterstützung der Universität Tallinn sowie der Estnischen und der Lettischen Akademie der Wissenschaften. Zur Diskussion: Trossbach, Werner: Das „ganze Haus“ – Basiskategorie für das Verständnis der ländlichen Gesellschaft deutscher Territorien in der Frühen Neuzeit?, in: Blätter für Deutsche Landesgeschichte 129 (1993), S. 277-314; Valentin Groebner: Außer Haus. Otto Brunner und die „alteuropäische Ökonomik“, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 4 (1995), S. 69-80; Hans Derks: Über die Faszination des „Haus-Konzeptes“, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), S. 221- 242. Ganz aktuell dazu: Andreas Holzem/ Ines Weber: Einleitung in: Dies (Hg.): Ehe. Familie. Verwandtschaft. Vergesellschaftung zwischen Lebenswelt und Religion, Paderborn 2008, S. 14 und Heinrich-Richard Schmidt in ebd.

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als auch für die estnische und lettische Geschichte. Diese Stille im „Haus“ verdient es, näher untersucht zu werden. Dabei ist Vorsicht angebracht, ist das Schweigen der Quellen doch noch leichter fehl zu interpretieren als ihre mitunter irreführende Auskunftsfreudigkeit. Das Fehlen eines Begriffs kann auf unterschiedliche soziale Strukturen oder einen anderen Sprachgebrauch hinweisen. Schweigen kann je nach Situation und kulturellem Kontext Desinteresse, Widerstand oder Zustimmung ausdrücken; mitunter wird dabei gerade über das Vertrauteste und Naheliegendste nicht gerne gesprochen, während über Ausnahmen detailliert diskutiert wird. Geht man auf der Suche nach dem baltischen „Haus“ von literarischen Quellen aus, wird man am ehesten im Umfeld der deutschbaltischen Oberschicht fündig: ihre Kultur basierte auf der Schriftkultur, sie rezipierte die deutsche Hausväterliteratur und produzierte selbständig neue Quellen, auch war der Besitz hier rechtlich sichergestellt. Das bäuerliche Haus der „undeutschen“ Leibeigenen hingegen stellte bis Mitte des 19. Jh.s kein Eigentum dar. 2 Zwar finden sich auch hier Formen der transnationalen Gesellung, und das von Deutschen verfasste Schrifttum zur estnischen und lettischen Volksaufklärung kann als Übertragung des „Hauses“ auf das bäuerliche Milieu interpretiert werden, 3 doch verhinderte die rechtliche Position bei aller emotionalen Affiziertheit an den Wohnort die Entwicklung des „Hauses“ zu einer gesellschaftlichen Basiskategorie. Am wenigsten erforscht und in den literarischen Quellen präsent ist die Schicht der „Halb- und Kleindeutschen“, also der transnationalen deutsch-lettische/deutsch-estnischen Mittelund Unterschicht in Stadt und Land. Aufgrund der unklaren nationalen Zu-

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Während des Wiederaufbaus der Gutswirtschaft im 18. Jh. verschärfte sich die rechtliche und wirtschaftliche Situation der bäuerlichen Bevölkerung und die traditionell geringe Schicht von Freibauern schwand. Der 1765 unter Katharina II. eingeleitete Versuch, die baltischen Gutsbesitzer dazu zu bringen, das bäuerliche Recht auf Klage gegenüber den Grundherren und das Eigentumsrecht an beweglicher Habe anzuerkennen und die Hauszucht zu begrenzen, verlief sich im deutschbaltischen Gewohnheitsrecht. Erst die Bauernverordnung von 1804 und das 1816/1819 ausgesprochen Ende der Gutswirtschaft änderte die Situation. Nach einer langen Übergangsphase finden sich ab Mitte des Jh. eine mobile, sozial ausdifferenzierte Bauernschaft mit vererbbarem Eigentum an Grund und Boden (Kahk, Juhan: Bauer und Baron im Baltikum, Tallinn 1999). Mit dieser strukturellen Wende bekam auch das „Haus“ im bäuerlichen Umfeld eine neue Bedeutung. Besonders in der medizinischen Volksaufklärung findet sich der bäuerliche Hausvater als verantwortlichen Hausvorstand. So etwa im Werk von Peter Ernst Wilde (Landarzt, eine medicinische Wochenschrift, Mitau 1765 etc.), das vielfach in das Estnische und Lettische übersetzt wurden. Weitere Schnittstellen zwischen der deutschen, deutschbaltischen estnischen und lettischen Volksaufklärung und Hausväterliteratur finden sich in der ökonomischen Ratgeber-Literatur.

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ordnung standen sie am Rande der Gesellschaft, und in der nationalorientierten Forschung wurde ihnen kaum Interesse entgegen gebracht. 4 Quellenbedingt wird man sich auf der Suche nach dem baltischen „Haus“ also zunächst auf die deutschbaltische Häuser der Oberschicht in Stadt und Land konzentrieren, ein sinnvoller Einstieg, waren sie doch komplexe soziale Knotenpunkte der deutsch-estnischen bzw. deutsch-lettischen kulturellen Begegnung: 5 Hier lebten und wirtschafteten der gutsbesitzende Adel mitsamt den zumeist (halb- oder klein-) deutschen Hofbeamten, den örtlichen Handwerkern und den deutschen und russischen Wanderarbeitern sowie den bäuerlichen Esten und Letten, die zugleich auch die Dienerschaft stellten. Das baltische „Haus“ war mehrsprachig und multikulturell. Auf Dauer funktionierende Lebens- und Wirtschaftseinheiten herzustellen, war eine Herausforderung. Welche Bedeutung konnte hierbei das „Haus“ als ideales Gesellschaftsmodell erlangen und wie wurde es in der Geschichtsforschung thematisiert? Ein Blick auf die Historiographie zeigt, dass die estnische und lettische Geschichtsforschung des 20. Jh. sich kaum für das Thema der häuslichen Wirtschaft und den hier vorzufindenden Formen der Gesellung interessierte. Vielmehr zementierte sie das Bild einer sozialen Ungleichheit zwischen der Figur des grausamen deutschbaltischen Barons und der des geknechteten, doch insgeheim widerständigen estnischen oder lettischen Bauern. Auch in wirtschaftshistorischen Studien zur baltischen Gutswirtschaft der Frühen Neuzeit wurde nur ansatzweise auf das „Haus“ als Modell und Realität eingegangen. 6 Eine baltische Hausforschung war ebenso wenig im Sinne der 4 5

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Als Ausnahme gilt Bosse, Heinrich: Die kleinen deutschen Leute in den Baltischen Ostseeprovinzen, in: Jahrbuch des Baltischen Deutschtums, 1987 (1986), S. 49-64. In den Abhandlungen jüngeren Datums ist Heide W. Whelan meines Wissens nach die Einzige, die den Begriff „Haus“ in Bezug auf das Baltikum benutzt, freilich ohne ihn genauer zu definieren (vgl. Dies.: Adapting to Modernity. Family, Caste and Capita-lism among the Baltic German Nobility, Köln, Weimar, Wien 1999, S. 47, 11, 120). An älteren Arbeiten zur Wirtschaftsgeschichte fehlt es nicht. Vgl. Sepp, Hendrik/Liiv, Otto/Vasar, Juhan (Hg.): Eesti majandusajalugu. I [Estnische Wirtschaftsgeschichte I], Tartu 1937; Uluots, Jüri: Grundzüge der Agrargeschichte Estlands, Tartu 1935 und Liiv, Otto: Eesti majandus [Die Wirtschaft Estlands], 1937. Im schwedischen Exil gewann die Wirtschaftsgeschichte durch Arnold Soom Aufschwung (vgl. etwa Ders.: Der Herrenhof in Estland im 17. Jahrhundert, Lund 1954). In Sowjetestland wurde ihr zwar große Bedeutung zugesprochen, doch fehlen in den materialreichen Darstellungen entscheidende Fragestellungen. Das gilt v.a. für das umfangreiche Werk von Juhan Kahk. In den 90er Jahren wurde der erreichte Forschungsstand zusammengefasst (Kahk, Juhan u.a. (Hg.): Eesti talurahva ajalugu 1 [Geschichte des estnischen Bauernvolks], Tallinn 1992; Kahk, Juhan/Tarvel, Enn: An Economic History of the Baltic Countries, Stockholm, 1997), doch liegen bis heute nur wenige neue Forschungen vor.

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Sowjetherrschaft wie populärwissenschaftliche Studien und Vereine zur Hauswirtschaft, der Begriff verschwand sogar zwischen 1940 und 1990 aus dem öffentlichen Leben. Bis heute stößt der Begriff „Haus“ als umfassende Wirtschaftseinheit und Gesellungsform, die es verdienen, historisch untersucht zu werden, im Baltikum auf Unverständnis. In deutschbaltischen und in der Regel bürgerlichen Erinnerungen finden sich zwar Spuren transkultureller Hausgemeinschaften, doch stellen sie häufig Reaktionen auf die Revolution von 1905/6 dar und verklären in imagologisch wirkungsmächtigen Bildern das häusliche harmonische Miteinander im Gegensatz zur politischen Realität. 7 Zumeist tritt einem das deutschbaltische „Haus“ in Erinnerungen als nationales Bollwerk gegenüber, wie etwa in der Erinnerungsschrift „Drei Generationen“ von Reinhard Wittram (1902-1973), zweifellos dem führenden deutschbaltischen Historiker der ersten Hälfte des 20. Jh.s. In dem Buch, das 1949 zeitgleich mit Otto Brunners Studie zum „Adeligen Landleben“ und im Austausch mit ihm entstand, 8 umgeht Wittram den Begriff „Haus“. Das häusliche Leben der Deutschbalten schmilzt bei ihm zu einem von der Umwelt isolierten Raum zusammen, in dem ungestört deutsche Eigenheit und Einheit zelebrieren werden konnte. Hier findet sich keine lebensweltliche Weitung auf ein „ganzes Haus“, das gegenüber der nationalen Vielschichtigkeit des Landes geöffnet wäre, stattdessen verbarrikadiert sich das deutschbaltische „Haus“ mit Hilfe des Hausunterrichts, des Hauslehrers und des Hausfreundes vor den Anstürmen von außen. 9 Hier, auf dem deutschen Herrenhof, konnte man ungestraft deutsch sein und deutsch denken, hier gab es keine Konflikte mit den Esten, Letten und Russen, deren Existenz in Belletristik und Erinnerungen auch weitgehend ausgeblendet und sozial entschärft wurde. 10 Eine Riehlsche Demonstration des „ganzen Hau-

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Als Ausnahme kann gelten: Seppel, Mart: Näljaabi Liivi- ja Eestimaal 17. sajandist 19. sajandi alguseni (Die Hungerhilfe in Liv- und Estand vom 17. bis 19. Jahrhundert), Tartu 2008, S. 188-193 (Dissertationes Historiae Universitatis Tartuensis 15), S. 188-193. August Bielenstein: Ein glückliches Leben – Autographie 1826 – 1907, Michelstadt 2002, S. 392; Bienemann, Friedrich (Hg.): Aus vergangenen Tagen. Der „Altlivländischen Erinnerungen“ N.F., Reval 1913; Robert Baum: Stillleben am Christenmorgen in der Villa Auguste. Ein Bilderbuch aus dem Lande der Erinnerung für meine Familie. Als Manuskript gedruckt [Riga 1911?]. Brunner, Otto: Adeliges Landleben und europäischer Geist. Leben und Werk Wolf Helmhards von Hohberg 1612-1688, Salzburg 1949. Wittram, Reinhard: Drei Generationen Deutschland – Livland – Rußland. 1830-1914. Gesinnungen und Lebensformen baltisch-deutscher Familien, Göttingen 1949, S. 149217 und S. 234f. Ungern-Sternberg, Arnim von: „Erzählregionen“: Überlegungen zu literarischen Räumen mit Blick auf die deutsche Literatur des Baltikums, das Baltikum und die deutsche Literatur, Bielefeld 2003.

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ses“ war dem baltischen Biedermeier weitgehend fremd, Darstellungen transnationaler häuslicher Gemeinsamkeit in Literatur und Kunst sind selten. 11 Das baltische „Haus“ war konservativ und wurde in seiner Modernisierungsfeindlichkeit bereits im 19. Jh. mit dem englischen verglichen. 12 Wittram erklärt dies mit der „besonderen Stellung der deutschsprachigen Kolonie inmitten der ‚Landgenossen‘ anderer Nationalitäten“. 13 Zweifelsohne übertünchte die nationale Perspektive die transkulturelle Lebensrealität im und um das „Haus“. Sie wieder zu beleben könnte eine der wichtigsten Forschungsperspektiven einer neuen baltischen „Haus“Forschung sein, die Diskurs und Alltag miteinander verbindet und die Gutshöfe von blutleeren und einseitig überzeichneten Erinnerungsorten zu Schauplätzen der unterschiedlichsten Gesellungsformen macht. 14 Als erster Schritt in diese Richtung, soll im Folgenden die deutschsprachige baltische ökonomische Literatur des 16. bis 19. Jh.s auf die Darstellung des „Hauses“, des „Hausvaters“ und das transnationale Zusammenleben hin untersucht werden – wobei folgende Einschränkungen gelten: Aufgrund des Fehlens entsprechender Schlüsselbegriffe und der noch lange nicht abgeschlossenen Neukatalogisierung und Inventarisierung der Bibliotheken gleicht das Auffinden der in den Baltica-Beständen vorhandenen Hausväterliteratur einem Glücksspiel und ist Fleißarbeit. Es ist nicht ausgeschlossen, dass der Korpus der baltischen ökonomischen Literatur in Zukunft ergänzt werden wird; mit Sicherheit aber wird sich die Zahl der außerhalb des Baltikums erschienenen Hausväterliteratur in den baltischen Beständen erweitern und damit das Bild von der Intensität des europäischen Kulturtransfers verändern.

1. Die baltische Ökonomik und das Fehlen des Hausvaters Im deutschsprachigen Raum wurde die Ideologie des „ganzen Hauses“ vor allem in der Hausväterliteratur entwickelt und verbreitet. Seit der Reformation, verstärkt aber zwischen 1660 und 1730, wurde hier in Weiterentwicklung der antiken Ökonomik in ebenso zahl- wie umfangreichen Schriften die christliche, zumeist protestantische Grundlage des frühneuzeitlichen Ständesystems entworfen, deren Kernzentren die Haushalte mit ihren Familienvorständen bildeten. Jedes einzelne „Haus“ sollte eine Spiegelung des göttlichen

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Ebd., S. 192. Hollmann, Friedrich: Bedeutung und Grenzen der häuslichen Erziehung in der Gegenwart, in: Mittheilungen und Nachrichten für die evangelische Kirche in Rußland 35, NF. 12 (1879), S. 200-220. Ebd. S. 205f. Leseman, Silke/Lubinski, Axel (Hg.): Ländliche Ökonomien. Arbeit und Gesellung in der frühneuzeitlichen Agrargesellschaft, Berlin 2007.

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Weltsystems darstellen und gleich ihm wohl eingerichtet und weise geleitet sein. In der baltischen ökonomischen oder hausväterlichen Literatur präsentiert sich dieses Getriebe auf spezifische Art und Weise. Bereits auf den ersten Blick tritt sie bescheiden auf, fehlen hier doch Drucke vom Format eines Hohberg oder Florinus. Zugleich ist auch die Zielgruppe, für die geschrieben wurde, eine kleinere als im deutschen Kontext, richtete sich baltische hausväterliche Literatur doch nicht an die große Gruppe der Hausväter vom Bauernwirt bis zum Gutsbesitzer, sondern nur an bestimmte Haushaltsvorstände – doch dazu später mehr. Parallel zur gesamteuropäischen Entwicklung der Ökonomik lag ihr Höhepunkt auch im Baltikum um 1700. Die deutschsprachige baltische ökonomische Literatur diente der Disziplinierung der Oberund Mittelschicht, sollten durch sie doch Kenntnisse und Interesse an der häuslichen Ökonomie, wirtschaftliches, d. h. umfassendes und vorausschauendes Denken sowie die Prinzipien der sozialen Fürsorge und der sozialen Kontrolle verbreitet werden. Kennzeichen der ökonomischen Ratgeberliteratur im 17. und 18. Jh. ist ihr umfassender, geradezu enzyklopädischer Charakter, der alle nur denkbaren Bereiche von der Personalführung bis hin zur Düngung, Waldpflege, Koch- und Gartenkunst miteinander verbindet. Durch diese gattungsspezifische Vielfalt der Themen stellt das baltische hausväterliche und frühe ökonomische Schrifttum eine unschätzbare Quelle dar für die Erforschung des Alltagslebens auf dem Gutshof in all seinen Aspekten, von volksreligiösen Vorstellungen über die Repräsentation und Verfasstheit des „Hauses“ bis hin zu den transnationalen bzw. transkulturellen Formen der Gesellung und dem Umgang mit der Natur. 15 Mit der Explosion des Wissens auf dem Gebiet der Ökonomie ab Mitte des 18. Jh.s verliert sich das einheitliche Profil der Gattung. Ratgeber zu allen möglichen Spezialgebieten wurden von nun an gesondert auf den Markt geworfen und in Form von Kalendern unter das Volk gebracht. Doch verlor sich dadurch im Baltikum nicht das Grundbedürfnis nach einer Ratgeberliteratur zur Personal- und Wirtschaftsführung im großen Stil, waren Großgrundbesitz und Gutswirtschaft doch bis in das 20. Jh. hinein gängige Formen der ländlichen Lebenswelt. Das Kernthema der deutschen Hausväterliteratur, die Bestimmung der mentalitären Grundlage des Miteinanders, 16 hatte im Baltikum über die Beendigung der Leibeigenschaft 1816/19 und den Verkauf des Bauernlandes ab Mitte des 19. Jh. hinaus Bedeutung, ja, das Thema schien zunehmend an Bedeutung zu gewinnen. 15 16

Düselder, Heike/Weckenbrock, Olga/Westphal, Siegrid (Hg.): Adel und Umwelt. Horizonte adeliger Existenz in der Frühen Neuzeit, hg. v., Köln, Weimar, Wien 2008. Durch diesen moralischen und gesamtgesellschaftlichen Anspruch unterscheidet sich die Hausväterliteratur, wie Sepp und Brunner zu Recht konstatieren, von den ökonomischen Schriften des ausgehenden 18. bis 20. Jh.s.

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Der klassische Korpus der baltischen Ökonomik im 16. und 17. Jh. umfasst fünf Schriften.17 Den Anfang macht das Manuskript über die „Liefflandische Oeconomi oder Hauszhaltung“ von Zacharias Stopius (†1594), verfasst in den 1560er und 1570er Jahren, zeitnah zu seinem 1565 erschienenem Rigischen „Schreibcalender“ (Abb. 1), dessen Monats-Bildtafeln, Mond- und astrologische Zeichen Stopius im Kalenderteil der Ökonomie genauer erläutert.

Abb. 1: Zacharias Stopius, Schreibcalender auff das Jahr nach Christi …, Königsperg 1565. 17

Der klassische Korpus der baltischen hausväterlichen Literatur wurde erstmals von Hendrik Sepp zusammengetragen und in einer Tageszeitung der breiten Öffentlichkeit vorgestellt. Die Bezeichnung der frühen baltischen Ökonomik als „hausväterlicher landwirtschaftliche Literatur“ geht auf ihn zurück, wobei er auf die Frage nach der Figur des Hausvaters aber nicht weiter eingeht (vgl. Sepp, Hendrik: Kuidas õpetati põldu harima 300 a. tagasi. Põllumajanduslikud õpperaamatud rootsi ajal [Wie lehrte man vor 300 Jahren die Felder zu bestellen? Landwirtschaftliche Lehrbücher in schwedischen Zeit], Postimees, 21. Januar 1933, S. 5; ders.: Põllumajanduse teoreetiline käsitlus Liivimaal XVII ja XVIII sajandil [Die theoretische Behandlung der Landwirtschaft in Livland im 17. und 18. Jh.], in: Eesti Rahva Muuseumi Aastaraamat 9-10 (1933-1934), S. 204-211). Der Korpus von Schriften hat sich bis heute auf die unveröffentlichten und schwedischen Schriften.

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1559 kam der in Breslau geborene Stopius nach seinem Studium der Medizin in Rostock nach Livland. Hier stieg er zum Stadt-Physikus des Erzstifts Riga, zum Leibarzt des Erzbischofs Wilhelm von Brandenburg und des Herzogs von Kurland, Gotthard Kettler, auf. Sein umfangsreiches Manuskript zur „Lieffländischen Oeconomi“ wurde angeblich aus Kostengründen niemals gedruckt. 18 Der Druck blieb aber wohl auf Grund seiner Rolle während der Kalenderunruhen (1584-1589) und der „tractetlein und pagellae“ aus, also politisch-polemische Flugschriften, die er während des Wahlkampfs um die polnische Krone nach dem Tod Sigimund II. Augusts hat drucken lassen. 19 Von seinen politischen Gönnern bekam Stopius Häuser und Grundstücke, Bauerngesinde und Heuschläge geschenkt 20 und 1570 wurde er in den polnischen Adelsstand erhoben. 21 Sein pro-polnische Engagement mag in den andauernden Auseinandersetzungen zwischen Polen und Schweden um die Vorherrschaft im Baltikum sehr wohl einer Drucklegung seines Werkes im Wege gestanden haben. Doch geriet sein Manuskript, das seit mehr als drei Jahrhunderten als verschollen gilt, dadurch nicht in Vergessenheit. Ein aus dem 17. Jahrhundert stammendes und später typographisch übertragenes „Extract deß sechsten Capittels Herrn Doctoris Stopii weilant Medici der Stadt Riga ersten Bucheß Lieffländischer Oeconomi oder Haußhaltung“ befindet sich in der Lettischen Nationalbibliothek und gewährt Einblick in das verschollene Manuskript. 22 Salomon Gubert (†1653), Pastor von Lemburg und Sunzel in Livland, hat das Werk wohl als einer der wenigen vollständig in Händen gehalten und bediente sich seiner im 3. Kapitel seines eigenen Buchs „Stratagema oeconomicum, Oder Akker-Student“ (Abb. 2). 23 Das 18

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Sjölund, Peter: Släkten Stopius i Riga: http://genealogi.sjolunds.se/stopius.htm; Güntz, Max: Handbuch der landwirtschaftlichen Literatur. Mit biographischen Notizen und 38 Bildnissen von Autoren, Bd. 1., Leipzig 1897, S. 29. Feuereisen, Arnold Heinrich: Der älteste Rigasche Almanach und die ersten Kalendermacher in Riga, in: Rigascher Almanach 59 (1929), S. 75-98, hier S. 95. Baensch, Henry von: Geschichte der Familie von Wrangel vom Jahre zwölfhundertfünfzig bis auf die Gegenwart. Nach Urkunden und Tagebüchern bearbeitet, Bd. 2, Berlin, Dresden 1887, S. 524. Strādiņš, Jānis: Die Geistesgeschichte Rigas und Lettlands im 16. Jahrhundert: Grundlagen und Gegensätze, in: http://www.hwpfeiffer.de/buch/16jh.pdf; Gadebusch, Friedrich Konrad: Livländische Bibliothek nach alphabetischer Ordnung, Bd. 3, Riga 1777, S. 230; Brennsohn, Isidor: Die Aerzte Livlands von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart. Ein biographisches Lexikon nebst einer historischen Einleitung über das Medizinalwesen Livlands, Mitau 1905, S. 384f. Die Abschrift des 6. Kapitels stammt vom Jānis Straubergs (F. Jānis Straubergs, Ap. 9, Inv. N. p. 63-32, 060); Feuereisen, Rigascher Almanach, S. 96. Arndt, Johann Gottfried: Vorrede, in: Fischer, Johann Bernhard von: Liefländisches Landwirthschaftsbuch auf die Erdgegend von Lief- Est- und Curland eingerichtet (…). Zum Druck befördert und mit einer Vorrede begleitet von Johann Gottfried

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„Stratagema“ erschien in fünf Auflagen zwischen 1645 und 1757 und kann somit als Beweis für das beharrliche Fortwirken ökonomischer Vorstellungen in der Frühen Neuzeit gelten. 24 Gubert ist von den klassischen Autoren der baltischen hausväterlichen Literatur sicherlich der bekannteste und wurde außerhalb des Baltikums etwa von Wolff Helmhard Freiherr von Hohberg in seiner „Georgica Curiosa“ erwähnt. 25 Im Baltikum wurde Guberts Schrift von Johann Hermanns (geb. 1630) „Lieffländischem Landman“ (Abb. 3) flankiert, der zwischen 1662 und 1695 in Riga gedruckt wurde.

Abb. 2: Salomonis Gubert, Stratagema oeconomicum, Riga: Georg Matthias Nöller, 1688.

Abb. 3: Johann Hermann, Lieffländischer Landman, Riga: Georg Matthias Nöller, 1695.

Unter dem Titel „Ziemianin albo gospodarz inflandski“, also „Der Landmann, oder der inflantische [livländische, U.P.] Wirt“, erschien es in den

24 25

Arndt, Halle/Magdeburg 1753 (vgl. auch Vorrede in der Erstausgabe von Guberts „Stratagema“); Feuereisen, Rigascher Almanach, S. 96. Recke, Johann Friedrich v.; Napiersky, Karl Eduard: Allgemeines Schriftsteller- und Gelehrten-Lexikon, Bd. 2, Mitau 1929, S. 139f. Hohberg, Wolf Helmhard von: Georgica Curiosa (…), Nürnberg 1682, Vorrede.

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Jahren 1671, 1673 und 1823 auch auf Polnisch, lagen die Parallelen zwischen der livländischen und der polnischen Landwirtschaft doch auf der Hand. 26 Als drittes Hauptwerk der baltischen Ökonomie gilt „Der getreue Amt-Mann / oder Unterricht Eines guten Hauß-Halters“ (Abb. 4), der 1696 anonym in Riga erschien. Alle drei Schriften finden sich heute zusammengebunden zu einem Konvolut, dem ein kompiliertes „Kleines Vieh-ArtzeneyBüchlein“ aus dem Jahre 1755 begefügt wurde. 27 Den Abschluss der baltischen Ökonomik im 17. Jh. bildet ein von Johan Wolfgang Boecler als druckfertig angekündigtes Manuskript mit dem Titel „Ehstnischer Hauß- und Landmann, mit vielen merckwürdigen, das Ehstnische Landwesen betreffenden, allen in sothanem Herzogthumb wohnenden Hauß und Landleuten zu wissen nützlichen observationen“, bei dem es sich wohl um eine estländische Adaption des „Lieffländischen Landmanns“ von Hermann handelt. 28 Um die Mitte des 18. Jh.s, also bereits unter russischer Herrschaft (1710-1918), kam es zu einem erneuten Boom landwirtschaftlicher Ratgeberliteratur, 29 und es entstand eine Reihe von Schriften zu den speziellen Problemen des est- und livländischen Land- und Ackerbaus, der als Vorbild und Versuchsfeld für das Zarenreich besonderer Aufmerksamkeit auf sich zog: hier wurden zuerst landwirtschaftlichen Neuerungen eingeführt und mit der Aufhebung der Leibeigenschaft experimentiert. 1753 erschien mit dem „Liefländischen Landwirthschaftsbuch“ von Johann Bernhard von Fischer (1685-1772) eine der ersten Hälfte des 18. Jh.s angemessene neue baltische Ökonomik, die 1772 zum zweiten Mal in den Druck ging (Abb. 5). Fischer, der als Zweijähriger nach Riga gekommen war, machte nach seiner Ausbildung zum Arzt nach den Verheerungen des Nordischen Krieges und der Pest erst als Stadtphysikus in Riga, später als Leibarzt der Kaiserin Anna und Archiater, also als Leiter des russischen Medizinalwesens, Karriere. Unter Eli26

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Hermann, Johann: Lieffländischer Landman, Riga 1695 (Erstausgabe Riga 1662); Gargas, Sigismund: Volkswirtschaftliche Ansichten in Polen im XVII. Jahrhundert, Innsbruck 1905, S. 28. Anonym.: Ein kleines Vieh Artzeney-Büchlein, Darinn die meisten Kranckheiten der Pferde, Rinder, Schaafe (…) zu finden, auch wie selbige zu curiren. Aus etlichen Authoren zusammengetragen und zum nützlichen Gebrauch hier beygefüget, o.O. 1755. Für den Hinweis danke ich Aivar Põldvee, vgl. ders.: „Lihtsate eestlaste ebausukombed“ ja Johann Wolfgang Boecleri tagsitulek. Lisandusi kiriku, kirjanduse ja kommete ajaloole [„Der Einfältigen Ehsten Abergläubische Gebräuche“ und die Rückkehr von Johann Wolfgang Boecler. Anmerkungen zur Kirchen-, Literatur- und Sittengeschichte], in: Piret Lotman (Hg.): Ajalookirjutaja aeg. Aetas historicorum, Tallinn 2008 S. 141-227, hier S. 206 f., S. 217. Die ausufernde baltische ökonomische Literatur des 18. und 19. Jh.s wird hier nur insofern betrachtet, als sie für die baltische Rezeption des „Hauses“ und des „Hausvaters“ von Bedeutung ist.

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sabeths Herrschaft legte er seine Ämter ab und zog sich auf das Land zurück. Aus dem Nichts schuf er in denkbar ungünstiger Umgebung das spätere Griesenbergsche Höfchen, dem er aufgrund seiner Abgelegenheit den Namen „Hinterbergen“ gab, und widmete sich ganz der Landwirtschaft. 30

Abb. 4: Anonym: Der getreue Amt-Mann oder Unterricht eines guten Hauß-Halters, Riga: Georg Matth. Nöller, 1696

Abb. 5: Johann Bernhard von Fischer, Liefländisches Landwirthschaftsbuch,Halle: Johann Justinus Gebauer 1753.

In seinem höchst populären Landwirtschaftsbuch, das noch Ende des 18. Jh. in beinahe jedem livländischen Gutshof vorhanden war, legte er einen Überblick über den Stand der Human- und Veterinärmedizin vor, der auch international gesehen auf der Höhe der Zeit war. 31 Er schreibt vor allem für die während des 18. Jh. in die baltischen Provinzen eingewanderten Deutschen, die hier das vom Großen Nordischen Krieg zerstörte Land aufbauen halfen. 30 31

M. Johann Christoph Brotze: Rückblick in die Vergangenheit. 2. Stück, Riga 1806, S. 9-12. 1736 wurde Fischer Mitglied der Akademie der Naturforscher, 1744 Mitglied der Royal Society in London.

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Neben Handwerkern kamen viele akademisch gebildete junge Männer in das Land, die als Hauslehrer und in der in deutscher Hand liegenden Administration der Provinzen Beschäftigung fanden. Ihnen, von denen später ein Teil als Gutsverwalter oder -besitzer in der Landwirtschaft tätig war, legte er die Besonderheiten des nordischen Landbaus ans Herz, der im Vergleich zu klimatisch milderen Zonen dem Ökonom besondere Aufmerksamkeit und besondere Kenntnisse abverlange. Über die Landwirtschaft selber enthielt das Buch nicht viel Neues und es ließ auch weitere Lücken offen, was der erneute Abdruck von Guberts „Stratagema“ vier Jahre nach Fischers Erstdruck deutlich macht. Auch August Wilhelm Hupel (1737 - 1819) – der ebenfalls aus Deutschland eingewanderte bedeutende Topograph des Baltikums, der in zahlreichen und umfangreichen Schriften ein ausführliches Bild des nördlichen Baltikums vom Ende des 18. Jh. zeichnete 32 – machte in seinem 1796 erschienenen „Oekonomischen Handbuch für Lief- und Ehstländische Gutsherren, wie auch für deren Disponenten“ (Abb. 6) auf die grundlegenden Mängel in Fischers „Landwirtschaftsbuch“ aufmerksam.

Abb. 6: August Wilhelm Hupel, Oekonomisches Handbuch, Riga: Johann Friedrich Hartknoch 1796.

32

Jürjo, Indrek: Aufklärung im Baltikum. Leben und Werk des livländischen Gelehrten August Wilhelm Hupel (1737-1819), Köln 2006.

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So klagt er unter anderem: „Für Liefland sind zwar Wirthschaftsbücher gedruckt worden: aber sowohl die ältern, welche man jetzt äußerst selten zu Gesichte bekommt, als das neueste aus der Feder des ehemaligen Archiaters von Fischer, thun den hiesigen Landwirthen überhaupt keine Genüge; am wenigsten enthalten sie eine praktische Anleitung für unsere Wirthschafts-Verwalter.“ 33

Fischer zeigte sich den Verwaltern gegenüber äußerst distanziert, nannte er es doch „ein Glück für unsre ietzige Zeiten, daß die Wissenschaft des Landbaues und der Haushaltungskunst nicht mehr nöthig hat, sich nach dem Dünkel und Eigensinn der Pächter und Verwalter zu richten, sondern daß Staatsmänner und Gelehrte, am Hofe und auf Universitäten, auf derselben Erweiterung eifrig bedacht seyn.“ 34

Doch irrte Fischer in diesem Punkt ganz offensichtlich, spielten die Verwalter der Güter doch bis in das 20. Jh. hinein eine ausnehmend große Rolle. Wie bereits die hier angeführten Überschriften der älteren baltischen ökonomischen Literatur zeigen, fehlen hier im Unterschied zu deutschen Hausväterliteratur die zentralen Gestalten des „ganzen Hauses“ im Riehlschen und Brunnerschen Sinn – der Hausvater und ihm zur Rechten die Hausmutter. Der in der baltischen Ökonomik angesprochene „Amt-Mann“, „Akker-Student“ oder „Landmann“ war Verwalter, Disponent oder Inspektor, also der ranghöchste Beamte auf dem Hof. Ihm zur Seite, doch nicht in ehelicher Beziehung zu ihm, stand die „Hofmutter“, also die Vorsteherin für die innerhäuslichen Belange einschließlich der Tierzucht. Beide sind nur auf Zeit als oberste Wirtschaftsverwalter angestellt, wobei sie zwischen den Interessen des eigentlichen Besitzers, der übrigen Hofbeamten sowie der Bauerund Dienerschaft vermitteln und mit ihren eigenen Privatinteressen abgleichen mussten. Die Vielfalt von Begriffen für Verwalter und Hofmutter weist auf die baltische Sonderentwicklung hin, spricht doch allein Stopius parallel vom „Hauszwirt“, „Hauszman“, „Haushalter“, „Amtman“, „Hoffmeister“, „Hofmeyer“ und „Meyer“ samt den jeweils dazugehörigen weiblichen Pendants. Auch bei ihm fehlen Hausvater und Hausmutter als Dreh- und Angelpunkt der ländlichen Wirtschaft. Die Vielfalt von Bezeichnungen für den an seiner Stelle wirtschaftenden Haushalter spiegelt zum einen die historischen und begrifflichen Sonderentwicklungen in den drei baltischen Provinzen Est33

34

Hupel, August Wilhelm: Oekonomisches Handbuch für Lief- und Ehstländische Guthsherren, wie auch für deren Disponenten; darinn zugleich Ergänzungen zu Fischers Landwirthschaftsbuche geliefert, auch für auswärtige Liebhaber die liefländischen Verfahrungsarten hinlänglich dargestellt werden. 1. Theil, Riga 1796, Vorwort S. III. Fischer, Landwirtschaftsbuch, S. 3.

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Liv- und Kurland; doch weist sie zum anderen auch auf eine fehlende Ausdifferenzierung der Hofbeamtenschaft und eine kaum erfolgte rechtliche und vertragliche Regulierung der Positionen des Verwalters hin. Das starke Übergewicht der Privatbeamten- oder Verwalterliteratur und das Fehlen des Hausvaters im Baltikum kann unterschiedlich erklärt werden: Offenbart sich in ihr die fehlende oder eine fehlerhafte Rezeption des deutschen „Hauses“? Oder war die baltische Ökonomik ein hoch spezialisiertes Schrifttum, das die Gemeinplätze des „Hauses“ nicht zu wiederholen brauchte? 35

3. Die baltische Ökonomik als regionale Variante der Hausväterliteratur Bereits ein flüchtiger Blick auf die in den baltischen Beständen vorhandene deutsche Hausväterliteratur zeigt, dass die Annahme einer fehlenden Rezeption unsinnig ist. Die Basis für den engen deutsch-baltischen Austausch zum Thema legte Martin Luther, der mit seiner 1524 verfassten Auslegung des 127. Psalms „an die Christen zu Rigen ynn Liffland“ das Modell des „Hauses“ und des „Hausvaters“ erstmals in das Baltikum brachte. 36 Mit Justus Menius’ (1499-1558) „Oekonomia christiana“, Franz Philipp Florinus’ (1649-1699) “Oeconomus prudens”, Johann Joachim Bechers (1635-1682) „Kluger Hauß-Vater, verständige Hauß-Mutter“, Christian Friedrich Ger35

36

In den baltischen Bibliotheken konnten bislang folgende Werke der deutschsprachigen Verwalterliteratur gefunden werden: Anonym: Oekonomischer Unterricht für Verwalter und Wirthschafter, von einem erfahrnen Landwirth entworfen, Berlin 1762; [Wichmannshausen, Johann Burckhardt von]: Unschuldige Vorschäge, in welcher Art das Landwirtschafts-Wesen (…) merklich zu verbessern seyn dürfte, Leipzig 1762; Feldeck, Josepho von: Kern Einer vollständigen Hauß- und Landes-Wirthschafft, Oder Der Wohlerfahrne Böhmisch- und Oesterreichische Haußhalter (…), Leipzig 1718; [Leonhardi, Friedrich Gottlob]: Oekonomische Briefe oder entdeckte Betrügereyen der Verwalter. Zweyter Band, Leipzig 1788. Von den bedeutenden Werken dieses Genres fehlen somit v.a. Werke aus dem 17. Jahrhundert. Von den vorhandenen Beständen geht Georg Andreas Böckler in seiner „Nützlichen Hauß- und Feld-Schule“ (Nürnberg 1678) in seinen einleitenden Kapiteln zum Meierhof näher auf den Verwalter ein. Doch fehlen etwa die Schriften von Johann Lassenius (Der vorsichtige/löbliche und getreue Ambtmann (…), Helmstadt 1664) und Rudolph Johann Helmers (Der standesmässige, kluge und richtige Haushalter, das ist die Kunst die Wirtschaft grosser Herren und allerhand Standespersonen (…) wohl einzurichten, Bd.1-4, Frankfurt 1698). Die baltische Verwalterliteratur wird daher im vorliegenden Aufsatz Sepp folgend als „hausväterliche ökonomische Literatur“ bezeichnet, da sie an der Hausväterliteratur orientiert ist, doch weniger den Besitzer des Gutes als den Verwalter anspricht. Martin Luther: Der hundert vnnd Sieben vnnd zwentzigst psalm ausgelegt an die Christen zu Rigen und Lyffland, Wittemberg: Lukas Cranach und Christian Döring, 1524. Für den Hinweis danke ich Inken Schmidt-Voges.

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mershausen (1725-1810) „Hausvater“ und „Hausmutter“ und Otto von Münchhausens „Der Hausvater in systematischer Ordnung“ (1765-1773) sind einige der Grundlagenwerke der Gattung in den Bibliotheken Est- und Lettlands vorhanden. 37 Wie Johann Gottlieb von Eckharts „Experimental-Oekonomie (…) oder Anleitung zur Haushaltungskunst“ (Abb. 7) zeigt, hatte die Hausväterliteratur ohnehin den Anspruch mit leichten Abwandlungen überregional anwendbar zu sein. In seinem Wunsch, von Jena aus die Ökonomie „ganz Teutschlands“ zu verbessern, wendet sich Eckhart bereits im Titel auch an die „Herren Cur- und Lievländer“, die von ihm lernen könnten, größeren Profit aus ihren Gebieten zu schlagen. 38

Abb. 7: Johann Gottlieb von Eckhart, Experimental Oeconmie, Jena: Johann Wilhelm Hartung 1763

37

38

Die genannten Schriften finden sich am vollständigsten in der Baltica- und RaraAbteilung der Akademischen Bibliothek der Universität Tallinn, in der die Bestände der Estländischen Literärischen Gesellschaft (1842-1940) aufbewahrt werden. Eckhart, Johann Gottlieb von: Vollständige Experimental Oeconomie (…) oder Anleitung zur Haushaltungskunst (…). Insonderheit darinne ales so eingerichtet, daß ganz Teutschlands Oeconomien darnach tractiret werden, auch die Herren Cur- und Liefländer, und wo sonst viel unbebaute Pläne liegen, nach dieser Vorschrift funfzehn bis zwanzig pro Cent von ihren Gütern haben können., Jena 1763.

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Auch in Wolf Helmhard von Hohbergs (1612 - 1688) „Georgica curiosa“ findet sich die Hoffnung wieder, über den österreichischen Raum hinaus auf Anerkennung zu stoßen. Tatsächlich waren die Grundprinzipien der Wirtschaftsordnung, die in diesen Schriften dargestellt wurden, zumeist allgemein gültig, wie Fleiß, Fürsorge, Liebe, Wissen, rationale Wirtschafts- und Buchführung etc., und konnte leicht den jeweiligen naturräumlichen und sozialen Kontexten angepasst werden. Andersherum erfuhren auch baltische ökonomische Schriften im deutschsprachigen Ausland teils rege Rezeption. So etwa wurde der 1678 in das Baltikum immigrierende böhmische Exulant Georg Holyk (Holík Jiří) (1640?1700?), der unkundig der deutschen Sprache seinen Beruf als Prediger niederlegen musste und sich dem Obst- und Gartenbau zuwandte, zum ersten Bestseller-Autoren des Baltikums. Sein „Vereinigter Liff- und Ausländischer Garten-Bau“ aus dem Jahr 1684 erschien in neun Auflagen, darunter 1739 und 1751 in Frankfurt. 39 Wolf Helmhard von Hohberg war nicht nur mit Salomon Guberts „Stratagema“ vertraut, sondern hatte sogar das Titelblatt von Zacharias Stopius umfangreichem Manuskript zur „Lifländischen Oeconomie“ gesehen. 40 Auch das vom Livländer Reiner Broocman (1677-1738) mit seinem Sohn Carl Frederic Broocman in schwedischer Sprache verfasste „En fulständig Swensk Hus-Hålds-Bok“, das zwischen 1736 und 1739 in zwei Bänden in Norrköping erschien, weist auf die Verflechtung des Baltikums mit dem übrigen Nordeuropa hin. 41 Das Baltikum lag also weder im 16. noch im 18. Jh. weit ab am Rande Europas, sondern hatte als Adressat und Adressant aktiven Anteil am allgemeinen gelehrten ökonomisch-moralischen Diskurs der Zeit. Wie weit das hier vorgelegte gelehrte Wissen um den Hausvater auch von den Haushaltsvorständen rezipiert wurde, ist eine andere Frage. Aufschluss hierüber gibt die religiöse Gebrauchsliteratur, über deren Verbreitung und Bedeutung kein Zweifel besteht. Noch bevor die Welle der Verwalterliteratur in der baltischen Ökonomik anwuchs, finden wir den „Hausvater“ als Typus in den weitgehend zweisprachigen religiösen Gebrauchstexten (Katechismen, Gebete, Predigten, Lieder etc.). Sie sollten den nach der langen Kriegszeit seit Mitte des 16. Jh.s einwandernden protestantischen Pfarrern den Einstieg 39

40 41

Güntz: Handbuch, S. 29. Vgl. auch Talve, Ingmar: Georgius Franciscus Holyk. Ein Beitrag zur Geschichte der landwirtschaftlichen Literatur des Baltikums im 17. Jahrhundert, in: Commentationes Balticae. Jahrbuch des baltischen Forschungsinstituts 1954 (1955), S. 3-37. Hohberg: Georgica Curiosa, Vorrede. Vahtre, Sulev: Reiner Broocmann Laiuse hingekarjasena (1666-1704) [Reiner Broocmann als Seelenhirte in Lais], in: Anu Saluäär (Hg.): Põhjasõda, Karl XII ja Laiuse, Jõgeva 2002, S. 109-129.

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in ihren Dienst erleichtern und wandten sich zugleich auch an die Gutsbesitzer und Hauhaltsvorstände in den Städten, die für die sittliche Erziehung ihrer Untergebenen die grundlegenden religiösen Texte und liturgischen Phrasen in der Landessprache benötigten. 42 Beide Gruppen bilden somit auch die Zielgruppe des bedeutendsten Handbuchs des estnischsprachigen Baltikums, des „Hand- und Hauszbuches / Für die Pfarrherrn und Haußväter“ von Heinrich Stahl (1600-1657), 43 das in seinen vier Bänden nicht an Kritik am baltischen Hausvater spart: Neben Gott, dem „grossen Haußvater“, würden die menschlichen „Hauß-Väter“ und „Hauß-Mütter“, also die Besitzer, aufgrund ihres fehlenden Willens, die örtlichen Sprachen zu erlernen und ihre moralische Position als wahrhafte Hausvorstände aufzutreten, weitgehend versagen. Umso größer war für den Kirchenmann Stahl daher die Bedeutung der Pfarrer als „Haußhalter“ Gottes auf Erden und der Verwalter als Haushalter im Auftrage der Besitzer. 44 Ihnen wurde die Verantwortung für den Zusammenhalt der Gesellschaft in dem dünn besiedelten Land mit seinen wenigen Kirchen übertragen. Erneut findet sich also die Figur eines mit der Kommunikation beauftragten Stellvertreters, dessen gesellschaftliche Position weitaus wichtiger und komplizierter war als die des Besitzers. Wie kam es zu dieser starken Position des Haushalters in der baltischen hausväterlichen Literatur? Auf der Textebene kann argumentiert werden, dass die baltischen Schriften nicht zu wiederholen brauchten, was in der umfangreichen deutschsprachigen Hausväterliteratur ohnehin deutlich genug zum Ausdruck gebracht worden war. Sie konnte es sich leicht machen, das gesellschaftliche Ideal der christlichen Ökonomie als bekannt voraussetzen und sich in kleinformatigen, dünnen und kostengünstigen Schriften an den Personenkreis wenden, der im deutschsprachigen Schrifttum nicht angespro42

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44

Vgl. für die mitteleuropäischen Zusammenhang immer noch Hoffmann, Julius: Die „Hausväterliteratur“ und die „Predigten über den christlichen Hausstand“. Lehre vom Hause und Bildung für das häusliche Leben im 16., 17. und 18. Jahrhundert, Weinheim 1959. Stahl, Heinrich: Hand und Hauszbuches Für die Pfarherren und Hausz-Väter Esthnischen Fürstenthumbs, I-IV, Revall, 1632-1638; erneut aufgelegt von Adolph Simon 1656, 1674 und 1693; Mancelius, Georg: Lettisches Hand-buch (7. Das Hauß- und Lehr-Buch Syrachs. So wol für Lettische Kirchendiener als auch für Christl. HaußVäter solcher Sprache in Lief-Curland und Semgallen (…), Riga 1685 [erschienen] 1696; 1685 gab Henrich Adoph, Superintendent von Curland und Semgallen, das bereits von Christoph Fürecker überarbeitete Buch erneut unter dem Titel „Vermehrtes Lettisches Hand-Buch“ in Mitau heraus. Stahl: Hand- und Hauszbuches I, Vorrede, o. S.; IV, o. S. Im Gegensatz zur baltischen Stellung des Hausvaters vgl. Schorn-Schütte/Walter Sparn (Hgg.): Protestantische Pfarrer. Zur sozialen und politischen Rolle einer bürgerlichen Gruppe in der deutschen Gesellschaft des 18. bis 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1997.

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chen werden konnte: die Verwalter oder Amtmänner. Als besondere kulturelle Mittler am Gutshof, die sich fließend in mindestens zwei Sprachen ausdrücken können, Informationen über das Gebiet, über Land und Leute an den Gutsherrn weiterleiten und zugleich dessen Wünsche den Bauern und der Dienerschaft vermitteln mussten, waren sie die eigentliche Schnittstelle zwischen der Welt der deutschen Oberschicht und der nicht-deutschen Unterschicht, zwischen mündlicher und schriftlicher Kultur. Ihr schwieriger kultureller und sozialer Zwischenstatus bedurfte einer eigenen Ratgeberliteratur, die nur vor Ort verfasst werden konnten. Die Verwalter, von denen keine spezifische Ausbildung gefordert wurde und die daher häufig ungelehrt waren, benötigten keine großformatigen, teuren Schriften, sondern kleine, leicht zu erfassende und mit sich zu führende Anweisungen. Da sie aber auch diese nicht immer zu Rate zogen, ausreichend verstanden und zur Zufriedenheit ausführten, richtete sich die deutschsprachige baltische ökonomische Literatur zugleich auch an die Gutsbesitzer, um diese auf alle möglichen Arten des Unterschleifs, der Bestechung und der Erpressung seitens der Verwalter aufmerksam zu machen und genaue Kontrollen und Visitationen einzuführen. Verweisen das Schweigen im „Haus“ und die schwache Position des „Hausvaters“ darüber hinaus nicht aber auch auf die häufige Abwesenheit der Besitzer? 45 Für diese Möglichkeit gibt im häufig von Kriegszügen verwüsteten Baltikum der Frühen Neuzeit es zahlreiche Anhaltspunkte. 46 Die reelle oder zumindest mentale Abwesenheit des im Militär und im Staatsdienst beschäftigten Besitzers von dem Gut mit seinen alltäglichen Sorgen kann somit mit großer Sicherheit für das 17. und 18. Jahrhundert nachgewiesen werden. So klagte 1775 – inmitten der langen Friedenszeit im 18. Jh. – Erich Johann von Meck, Sekretär der Lief- und Estländischen Ritterschaft, in seiner Preisschrift über die „Eigenthümlichen Besitzungen der Bauren“: „Vielleicht würde es mit zur großen Aufmunterung der Bauern dienen, sich dem Ackerbauer zu widmen, wenn ein Theil des Adels auf seinen Gütern lebte, und hiezu (sic), anstatt daß es an einigen Orten für eine Schande gehalten wird, ein Landedelmann zu heißen, durch den Monarchen oder Gesetze ermuntert würde.“ 47

45

46 47

Mit dem Gedanken, dass die Hausväterliteratur gerade eine Sehnsucht nach dem verlorenen oder niemals verwirklichten „Haus“ ausdrückt, endet auch Valentin Groebners „Außer Haus“, s.o. Soom: Herrenhof, S. 310. Meck, Erich Johann von: Preißschrift wegen der eigenthümlichen Besitzungen der Bauren (…), in: Abhandlungen der freyen Oekonomischen Gesellschaft in St. Petersburg zur Aufmunterung des Ackerbaues und der Hauswirthschaft in Rußland, 8 (1775), S 49-67, hier S. 56.

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Die reale Abwesenheit des Besitzers ist aber nur eine Erklärungsmöglichkeit für die schwache Position des „Hausvaters“ Ebenso könnte man auch auf die Komplexität des multiethnischen baltischen „Hauses“ verweisen, die einen besonders befähigten, spezialisierten Mittlergestalt nötig machte. 48 In den für die Verwalter und Pastoren verfassten Schriften finden sich detaillierte Beschreibungen ihrer Rolle bei der Organisation des transnationalen Miteinanders. Allein aufgrund der Weitläufigkeit vieler Güter konnte der Besitzer den häuslich-wirtschaftlichen Pflichten nur eingeschränkt nachkommen. Einfacher war der Spagat zwischen Landwirtschaft und aktivem Geschäftsleben, zu dem viele Bürgerliche gezwungen waren, im Umfeld der Städte oder auf den Kirchgütern, die kleineren Umfang hatten. Der Besitzer großer und zersplitterter Güter benötigte schlichtweg eine rechte Hand, die ihm die Verwaltung des Gutes abnahm – auch wenn dies automatisch zu einer Schwächung seiner Position führte. Ein guter Verwalter entlastete den Gutsherrn. Neben den Pastoren und Verwaltern hatte als dritte Person die Gutsbesitzerin (Witwe) eine nicht zu unterschätzende Bedeutung für den Zusammenhalt und das Funktionieren des baltischen Gutshofs. Sie verhalf dem „Haus“ nicht nur durch ihren Nachwuchs zur notwendigen Kontinuität, sie war auch häufiger vor Ort als ihr Gatte und mehr als dieser als Ansprechperson für die Bauern vorhanden. Sie verwaltete die Gutsapotheke, war nicht selten als Gebietshebamme tätig oder unterhielt Lazarette. 49 Die baltische Gutsherrin übernahm also Aufgaben, die zum typischen Aufgabenfeld des deutschen Hausvaters gehörten, und half damit, die durch Staatsdienst und Krieg geschlagene Leerstelle zu kompensieren. Frauen finden sich zumeist als Besitzerinnen kleinerer Güter oder Witwensitze. 50 Möglicherweise kann auch der deutschbaltische paternalistische Diskurs als Kompensation der zugeschriebenen Hausvaterpflichten gelten. Die Titulierung des Landes- und Gutsherrn als Vater und der Landesherrscherin als Mutter ist alt und weckte Vorstellung von der ersehnten guten Herrschaft. 51 Im paternalistischen Diskurs bezog der unter Kritik von Krone und Kritikern stehende baltische Adel verbal seine ihm zugewiesene Position – unabhängig davon, ob er diese auch im Alltag ausfüllte. So beschränkte er sich auf die Sicherung des bäuerlichen Überlebens durch Kornvorschüsse, doch finden sich in ihm keinerlei Anweisungen für das alltägliche Miteinander entspre48 49

50

51

Wittram: Drei Generationen, S. 192. Vgl. Plath, Ulrike: Esten und Deutsche in den baltischen Provinzen Russlands. Fremdheitskonstruktionen, Kolonialphantasien und Lebenswelten 1750-1850, Wiesbaden 2009 (im Druck), Kap. II.3.2.3. Vgl. Buddenbrock, Gustav Johann von (Hg.): Sammlung der Gesetze, welche das heutige livländische Landrecht enthalten, kritisch bearbeitet. Bd. 1, Mitau 1802, S. 34 f., S. 52 f. Seppel, Näljaabi, S. 188-193.

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chend der deutschen Hausväterliteratur. Der paternalistische Diskurs scheint somit eine Leerstelle gefüllt haben, die auch dort klaffte, wo der Hausherr tatsächlich auf dem Land lebte. Häufig befanden sich mehrere Güter in Familienbesitz, die gegen Ende des 18. Jh. aufgrund der wachsenden finanziellen Überlastung schnell ihre Besitzer wechselten. Auch in finanziell gesicherten Familien war das Leben auf dem Stammgut auf die Sommermonate beschränkt. Der adelige Besitzer als Hausvater scheint im 18. und beginnenden 19. Jh. also eine Ausnahme gewesen zu sein.

4. Die imaginierte Rückkehr des Hausvaters im 19. Jh. Mit August von Kotzebue (1761-1819) hielt die literarische Figur des Hausvaters erstmals als Gesellschaftsideal in der baltischen Gesellschaft Einzug. 1789 schrieb Kotzebue das Schauspiel „Die väterliche Erwartung, eine ländliche Familien Scene in Esthland“ und 1801 folgte, passend zum Thronantritt Alexander I., „Die Zurückkunft des Vaters“. In beiden Schaustücken geht es um eine vakante Vaterrolle und ihre segensreiche Wiederbesetzung. Zweifelsohne war Kotzebue, dessen umfangreiches Werk erst allmählich rezipiert wird,52 hochsensibel für die Stimmungen der Zeit, die er in seinen unzähligen Theaterstücken zum Ausdruck brachte. Mit Sicherheit gilt dies auch für seine Darstellung der baltischen Vaterfigur, die eine hoch politische war und sich zuvorderst auf den Zaren bezog. Während Paul I. (1754-1801) diese Sehnsucht nicht erfüllen konnte, war Alexander I. (1777-1825), zumindest in den ersten Jahren, die perfekte Verkörperung dieses Ideals: Er öffnete das Land gen Westen und schützte es zugleich vor Napoleon Bonaparte. 53 So lobt er in seinen „Fragmenten, aus der Schreibtafel eines Reisenden“, die „väterliche Ordnung“, die Alexander I. auf den kurländischen Kronsgütern gestiftet habe, während auf den Rittergütern die reinste Willkür herrschte. 54 Diese Neubesetzung der Vaterfigur im politischen System führte im Baltikum zu einer Welle vaterländischer Begeisterung und zu einem plötzlichen Erstarken des Hausvaters als Vorstand der Rittergüter. Den Beginn dieser allgemeinen Trendwende markieren Matthias Thiels (1785-1843) „Unterhaltungen aus der vaterländischen Geschichte für die Jugend“, erschienen 1814 in Riga. Die „Unterhaltungen“ waren überaus populär und erlebten bis 1838 52 53

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Elias, Otto-Heinrich: August von Kotzebue kui poliitiline kirjanik [August von Kotzebue als politischer Schriftsteller], in: Keel ja Kirjandus 3 (2007), S. 203-221. Damit wiederholt sich die Analogisierung von Haus- und Landesvater, die für die Territorialherrschaft des 16. Jh. typisch war. Vgl. Harrington, Joel F.: Hausvater and Landesvater. Paternalism and Marriage Reform in Sixteenth-Century Germany, in: Central European History 25 (1992), S. 52-75. Vollständiger Titel „Fragmente, aus der Schreibtafel eines Reisenden. Von Riga nach Berlin durch Westpreußen“, in: Der Freimüthige 1804, 240, 1. Dezember, Sp. 438439, hier Sp. 439.

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vier Auflagen, wobei der Text mehrfach überarbeitet wurde und der Umfang sich ständig vermehrte. Thiel stellt hier einen deutschbaltischen MusterHausvater mit Namen „Allwill“ vor, der das Glück der Häuslichkeit in tiefer Verbundenheit mit der Natur und verankert in der Geschichte der Heimat findet. Nach und nach gibt er in den „Unterhaltungen“ sein Wissen an die Kinder weiter, wobei er sie zu Beginn über den Naturraum der nächsten Umgebung unterrichtet und von hier aus, auf sich immer weiter erstreckenden Erzählpfaden in das Innere des Reiches vordringt. Den Höhepunkt des Buches stellt eine gemeinsame Fahrt der Familie zum Thronfest Alexanders I. dar, dem allein man das häusliche Glück zu verdanken habe. Thiels Darstellung eines idealtypischen deutschbaltischen Hausvaters, der seine nächste Umgebung samt den heiligen Stätten der Letten und Esten wie seine Westentasche kennt, der in mustergültig hausväterlich-bürgerlicher Bescheidenheit auf seinem kleinen Gute lebt, seinen Kindern ein liebevoller Vater ist und diese zur Liebe gegenüber dem Vaterland und dem Regenten erzieht, ist die erste und wichtigste Darstellung deutschbaltischen Hausvatertums. Unter Alexander I. wuchsen Kenntnisse und emotionale Affizierung der Geschichte der baltischen Provinzen gleichermaßen, in welchen man sich immer tiefer verwurzelt fühlte, und die mit einer neuen Liebe und absoluten Loyalität gegenüber dem Zaren zu einem neuen deutschbaltischen Selbstverständnis verschmolz. Dieses neue Bild des baltischen Adels hob sich ab von der zwar regional verwurzelten, doch wenig repräsentativen und heruntergekommenen Kultur des verarmten baltischen Landadels im 18. Jh., wie Jakob Heinrich von Lilienfeld (1716-1785) ihn in seinem Stück „Der Neujahrs-Wunsch“ beschrieben hatte. 55 Hier war der Adel kaum noch vom Bauerntum zu unterscheiden und ermangelte jenes besonderen Glanzes sowie der aufopferungsvollen Verantwortung, die ihn schmücken sollte. Das weitgehende Fehlen des „Hausvaters“ vor 1800 und seine Rückkehr mit Alexander I. ist aber nicht allein ein belletristisches Phänomen, sondern verbalisierte und initiierte eine tief greifende Veränderung in der Gesellschaft. Die Entstehung der Figur des Hausvaters kann als Höhepunkt eines Konsolidierungsprozesses des Adels angesehen werden. Dabei ist Thiels Hausvater in seiner Beschaulichkeit und Verwurzeltheit das Idealbild eines im Frieden gezähmten, „verbürgerlichten“ Adeligen. Ritterlich-adeliger Militärsinn und vaterländischer Schutz des Landes sind dieser auf sein „Haus“ fixierten Figur fremd. Herr Allwill führt keinen Adelstitel.

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Abgedruckt in: Preuß, Werner H. (Hg.): Jakob Heinrich von Lilienfeld (1716-1785). Der baltische Dichter und politische Schriftsteller. Eine Auswahl aus seinen Werken, St. Ingbert 1997, S. 11-82.

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Der neue Typus eines baltischen Hausvaters kann als Reaktion auf die reale Abwesenheit der Besitzer und der ökonomischen Situation angesehen werden. Beides fiel den deutschen Reisenden und Hofmeistern, die um 1800 in das Baltikum kamen, schmerzhaft ins Auge. Die kulturelle und nationale Trennung, die Leibeigenschaft der Bauern und das Fehlen der gewohnten patriarchalen Ordnung verstörte sie und diente in vielen Berichten als abschreckendes Gegenbild der europäischen Aufklärung. 56 So lesen sich ihre Berichte, zumindest während der Zeit ihrer Eingewöhnung in der Fremde, als endlose Aufzählungen dessen, was ihnen im Baltikum kritisch aufstieß. Sie vermissten hausväterliche Ordnung, Verantwortungsgefühl und Streben nach Verbesserung der Ökonomie beim Gutsbesitzer ebenso wie beim Bauern – wobei diese als Leibeigene, denen eigener Besitz und damit die Antriebskraft zu wirtschaften fehlte, entschuldigt waren. Positive Berichte findet man vor allem dort, wo kleine, meist von verwitweten (bürgerlichen) Frauen geführte Gutswirtschaften sich dem Ideal einer deutschen hausväterlichen Wirtschaft annäherten. 57 Das Wiedererkennen von Bekanntem war positiv affiziert. Die unübersichtliche Größe, Vielzahl und verstreute Lage der baltischen Besitzungen gehörte zu den Hauptkritikpunkten der Agrarerneuerer im 19. Jh. Die aus der europäischen Ökonomik stammende Idee, kleine Wirtschaftseinheiten möglichst effektiv zu bewirtschaften und überschüssige Gebiete abzutreten oder zu verpachten, sollte nicht nur dem wirtschaftlichen Aufschwung im Baltikum dienen; sie sollte zugleich im baltischen Adel ein neues, konkretes Verantwortungsgefühl für Land und Leute erwecken, das über die imaginäre Verwurzelung durch die familiäre Memoria hinausging. 58 Diese um 1830 zu datierende bewusste Kehrtwende hin zur standesbewussten Integration von Staats- und Landesdienst in hausväterlicher Verankerung wird in den Quellen der Zeit deutlich. Die nun massenhaft einsetzende Selbstbeschreibung des neuen hausväterlichen Besitzers im Baltikum prägte das Bild vom ortsansässigen baltischen Adel als Gutsherrn bis heute. Doch darf diese neue Ortsgebundenheit nicht als ahistorische Größe angesehen werden. 59 Entscheidend zur Bejahung der 56 57 58 59

Plath, Ulrike: Esten und Deutsche, Lüneburg 2009 (im Erscheinen). Ebd. Kap. I.2.2. So etwa durchgehend der Tenor in Hupels „Oekonomischem Handbuch“. Dieser ahistorischen Größe der paternalistischen Einstellung hängt auch Heide Whelan in ihrer Studie an, s.o. Den Bruch im landwirtschaftlichen Selbstbewusstsein macht dagegen Blaese Max v.: Die Landwirtschaft in Kurland. Unter Benutzung officieller Quellen und privater Enquete, Mitau 1899, S. 127-129 deutlich. Seine Einschätzung ist umso bedeutender, als Kurland mit seiner Sonderentwicklung als polnisches Herzogtum in der Frühen Neuzeit als einzige der drei späteren Provinzen über ein lokales Herrscherhaus, eine realtiv wohlhabende Beamten- und Bauernschaft verfügte. Heinz Ischreyt stellt in seinem unveröffentlichtem Manuskript „Mitau. Erinne-

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Landwirtschaft seitens des Adels trugen die Krise der Gutwirtschaft zu Beginn des 19. Jh.s und das Ende der Leibeigenschaft bei, die eine Neudefinition des Standes notwendig machte. Der Adel war gezwungen sein Profil zu schärfen und eine Ideologie zu entwickeln, die integrativ auf die zentrifugalen Kräfte in der Gesellschaft wirkte. Der baltische „Ton der Hausväterlichkeit“ kann somit als eine konsolidierende Reaktion angesichts einer sich modernisierenden Gesellschaft, der das Korsett der Leibeigenschaft genommen worden war, interpretiert werden. Die wirtschaftliche Situation ließ der Oberschicht kaum eine andere Wahl, als sich als Gutsherr und Hausvater neu zu erfinden. Dies wird von der zunehmenden Bedeutung des „Hauses“ im Wortschatz des öffentlichen Lebens untermauert. 1841 legte der „Verein bewährter Hausfrauen“ das erste deutschbaltische Kochbuch für Frauen vor, die ohne jegliche Vorkenntnisse den Haushalt übernahmen; 60 1878 wurde nach skandinavischem Vorbild und mit tatkräftiger Unterstützung aus Kopenhagen ein „Hausfleiß-Verein zu Dorpat“ gegründet, der Handwerksunterricht für Knaben in den Grundschulen einführte; 61 um 1900 wurde mit der zunehmend schwierigen sozialen und wirtschaftlichen Lage auch unter Deutschbalten „Hausmannskost“ gegessen – das 19. Jh. erfand das „Haus“ neu und band es mehr denn je an die „Hausfrau“. All diese Übertragungen des „Hauses“ auf das Baltikum scheiterten jedoch an dem baltischaristokratischen Lebensstil, der sich bis in das 20. Jh. hinein erhielt und den Habitus der Deutschbalten prägte. Der baltische „Hausvater“ ließ sich nur widerstrebend an den ländlichen Besitz binden und die baltische „Hausfrau“ führte nach Kräften ein Leben jenseits von Küche und Herd. 62 Für die konkreten Arbeiten in Haus und Hof hatte man – soweit es finanziell eben ging – Angestellte.

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rungen an eine Residenz im 18. Jahrhundert und die Aufklärung in Kurland“ (für dessen Bereitstellung ich Mara Grudule danke) das bürgerliche und ländliche „Haus“ als Geldanlage dar, die um 1800 jedoch nicht selten der Verschuldung zum Opfer fiel (ebd., S. 53-56, S. 90). Nach den hierauf folgenden Neuordnungen, kam es auch hier erst Mitte bis Ende des 19. Jh.s. zu einer allgemeinen Blüte der ländlichen Wirtschaft. Praktisches Mitauer Kochbuch. Ein unentbehrliches Hand- und Hülfsbuch für Hausfrauen und Köchinnen in Cur-, Liv- und Esthland (…) Durch eigene Erfahrung erprobt und herausgegeben von einem Verein bewährter Hausfrauen, Mitau 1841. A. v. Clauson Kaas: die Entwicklung der Arbeitsschule in Skandinavien, in: Bericht des Hausfleiß-Vereins zu Dorpat, Dorpat: Laakmann, 1878, S. 1-11. VI. Bericht des Hausleiß-Vereins zu Dorpat, Dorpat 1883. Nottmeier, Christian: Adolf von Harnack und die deutsche Politik 1890-1930 (Beiträge zur historischen Theologie 124), Berlin 2002, S. 31.

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5. Transnationale Formen der Gesellung auf dem baltischen Gutshof in der Frühen Neuzeit Der Wiederaufbau der Gutswirtschaft und die zunehmende ständische Repräsentation im 18. Jh. hatten die lebensweltlichen Berührungspunkte zwischen adeligen Deutschbalten und bäuerlichen „Undeutschen“ in Liv- und Estland deutlich verringert. Dennoch gab es zu allen Zeiten Formen der transkulturellen und transnationalen Gesellung auf Festen (Johanni, Wackenfest), in gemeinsamen religiösen Handlungen (Taufe, Hausandacht, Abendmahl) und sozialen Ritualen (Herrscherwechsel). Zu den bedeutenden transnationalen Phasen im Lebenszyklus gehört die Kindheit. Sie war ein in deutschbaltischen Memoiren häufig gewähltes literarisches Motiv zur Darstellung der Gemeinsamkeit, verweist aber zudem auf soziale Realität der Bedeutungslosigkeit kultureller Zugehörigkeit in den ersten Lebensjahren. In den baltischen Provinzen war es um 1800 unter den Deutschen aller Stände weitgehend unhinterfragt üblich, die Kinder gleich nach der Geburt bis zum Alter von etwa zwei Jahren „undeutschen“ Ammen und Wärterinnen zu übergeben, wurde das Stillen doch aufgrund der strengen moralischen und diätetischen Vorschriften der Zeit als „pöbelhaft“ abgetan. 63 Diese seit dem 16. Jh. in den höheren gesellschaftlichen Schichten verbreitete Praxis geriet jedoch immer wieder in das Kreuzfeuer der Moralisten. 64 Im Vergleich zu West- und Mitteleuropa, wo sich das neue Verständnis von Familie und Mutterschaft à la Rousseau und Buffon bereits gegen Ende des 18. Jh.s weitgehend durchgesetzt hatte, änderten sich im Baltikum die familiären Konzepte und sozialen Realitäten erst im Laufe des 19. und beginnenden 20. Jh.s. 65

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[Meyer, Andreas]: Briefe eines jungen Reisenden durch Liefland, Kurland und Deutschland an seinen Freund Herrn Hofrath K... in Liefland, Erster Theil, Erlangen 1777, S. 48f. Kunze, Lydia: „Die physische Erziehung der Kinder“. Populäre Schriften zur Gesundheitserziehung in der Medizin der Aufklärung, (Med. Diss.) Marburg 1971, S. 121-165; Crampe-Casnabet, Michèle: Aus der Philosophie des 18. Jahrhunderts, in: Farge, Arlette/Davies, Natalie Zemon (Hg.): Geschichte der Frauen, Bd. III: Frühe Neuzeit, Frankfurt, New York, 1994, S. 333-366; Gélis, Jacques: Die Individualisierung der Kindheit, in: Ariès, Philippe/Chartier, Roger (Hg.): Geschichte des privaten Lebens, Bd. 3, Von der Renaissance zur Aufklärung, Frankfurt a.M. 1991, S. 313331; Reyer, Jürgen: Wenn die Mütter arbeiten gingen... Eine sozialhistorische Studie zur Entstehung der öffentlichen Kleinkindererziehung im 19. Jahrhundert in Deutschland, Bamberg 1983, S. 113. In Frankreich hatte dieser Prozess bereits in den 80er Jahren des 18. Jahrhunderts begonnen, vgl. Fairchilds, Cissie: Frauen und Familie im Frankreich des 18. Jahrhunderts, in: Held, Jutta (Hg.): Amazonen, Mütter, Revolutionärinnen, Hamburg 1989, S. 35-50, hier S. 35-39f. Whelan: Adopting, S. 167.

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Die Kindheit kann als zentraler Ort der transnationalen Sozialisierung der deutschbaltischen Oberschicht gelten, hier war sie ihren späteren Untergebenen so nahe, wie später kaum jemals wieder. Kein Wunder, dass daher gerade das Ammenwesen zu einem Kernpunkt der aufklärerischen Sozialkritik wurde, die eine soziale Aufwertung der Ammen verlangte. 66 Im gleichen Atemzug wurde diese von den Aufklärern aber wiederum in Frage gestellt. So sieht Johann Christoph Petri (1762-1851), begeisterter Fürsprecher der Esten und deren Befreiung aus der Leibeigenschaft, ausgehend vom neuen Frauenund Mutterideal 67 in der Weggabe der Kinder unter die Obhut von Ammen die Gefahr eines doppelten Kontrollverlusts. So könnten die deutschen Mütter weder bei einer „Verderbniß der Säfte“, noch bei einem schlechten moralischen Einfluss der „beinah völlig thierischen Ammen“ ausgleichend eingreifen. 68 Mehr noch als die Ammen wurde in der nostalgischen Rückschau des endenden 19. Jh. die gleichfalls der „undeutschen“ Bevölkerung entstammende Wärterin in der deutschbaltischen Erinnerung zu einer engen Bezugsperson. Ihr wurde vor allem nach der Bauernbefreiung und der Aufkündigung der überständischen Haus- und überständischen Lebensgemeinschaft ein zentraler Platz als Bindeglied zwischen der Welt der Deutschen und der der Esten und Letten eingeräumt. 69 Sie vermittelte den Kindern die grundlegenden Sprachkenntnisse, die für die weitere Sozialkompetenz von ungemein großer Bedeutung waren. Nicht wenige deutschbaltische Kinder hatten im 19. Jh. als erste Muttersprache nicht das Deutsche, sondern eine der beiden lokalen Landessprachen, Estnisch oder Lettisch. 70 Erst im Alter von ca. fünf Jahren, als die Erziehung in die Hand der leiblichen Eltern zurückgegeben wurde, ging man auf die deutsche Sprache und Kultur über. Die Zweisprachigkeit 66 67 68

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Schlegel, Chr. Hieronymus Justus: Reisen in mehrere russische Gouvernements in den Jahren 178*, 1801, 1807 und 1815, Bd. 5, Meiningen 1830, S. 202. Reyer: Wenn die Mütter, S. 113. Petri, Johann Christoph: Briefe über Reval nebst Nachrichten von Esth- und Liefland. Ein Seitenstück zu Merkels Letten von einem unpartheiische Beobachter, Deutschland o.O. 1800, S. 105. Während die Vorstellungen von der Schädlichkeit unterschichtiger Ammen bereits seit dem 16. Jh. in Italien bekannt waren und im 18. Jh. weite Verbreitung fanden, taucht dieser Diskurs im Baltikum erst sehr spät auf. Gélis: Individualisierung, S. 322f.; Osenbrüggen, Eduard: Nordische Bilder, Leipzig 1853, S. 202. Das Thema „Kindheit im Baltikum“ mit all seinen Facetten verdient als wesentlicher Baustein zur Erforschung der Aufklärung zwischen West und Ost in Zukunft weit mehr Beachtung. Bislang liegen meines Wissens hierzu keine historischen Untersuchungen vor. Anonym: Aus der „guten alten Zeit“. Erinnerungen an die 40er Jahre in Livland, in: Bienemann, Friedrich (Hg.): Aus vergangenen Tagen. Der „Altlivländischen Erinnerungen“ N.F., Reval 1913, S. 72-133, hier S. 107f. Wittram: Drei Generationen, S. 223.

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der Deutschbalten, die als Ausdruck eines besonderen Verwurzeltseins im 19. Jh. verstärkt gepflegt wurde, wurde durch die Wahl der Amme und des Kindermädchens, der Gouvernanten und Erzieher bewusst gefördert. Die estnischen oder lettischen Wärterinnen vermittelten auch zwischen der realen und der mythischen Welt, erzählten und sangen sie doch all die vielen Epen, Sagen und mythischen-magischen Geschichten und heilten mit Besprechungen und halbmagischen Verrichtungen die Leiden der Kleinen. Da dieser Zugang zur Volksreligion und Volkserzählung als einer spezifischen kulturellen Tradition den meisten Deutschen nach dem Ende der Kindheit verschlossen blieb, 71 wurde die Gestalt des Kindermädchens in den gegen Ende des 19. Jh. veröffentlichten Erinnerungen zu einer fast mythisierten Person im Ständesystem. 72 Sie waren im Zarten wie im Groben mitunter die einzigen wirklichen Ansprechpartner für die Kinder in der steifen, zunehmend auf Nähe und direkte Emotionalität verzichtenden Welt des Adels um 1800. 73 Die Wärterinnen konnten für die Kinder vor allem dort zu einem festen und akzeptierten Teil der Familie werden, wo diese ihr Amt bereits über mehrere Generationen am Gutshof ausgeübt hatten. Doch auch außerhalb der „Traumwelt der Kinder“ 74 finden sich immer wieder Hinweise auf eine die Generationen übergreifende Verkettungen der deutschen Herrschaft und der „undeutschen“ Bauern- und Dienerschaft. Für die Bauern bedeutete eine solche Kontinuität eine gewisse Garantie für ein auf Sympathie beruhendes Gemeinwesen und eine gemäßigte Herrschaft. Hierfür waren sie sogar bereit, im Falle der Verschuldung und drohenden Insolvenz dem Gutsbesitzer mit ihrem eigenen Ersparten unter die Arme zu greifen. 75 Gleiches galt für das System der Patenschaften, über das vor allem 71 72

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Plath: Esten und Deutsche, Kap. II.2.3. Taube von der Issen, Helene Freifrau von: Titel, in: Graf Alexander Keyserling. Ein Lebensbild aus seinen Briefen und Tagebüchern zusammengestellt von seiner Tochter Freifrau Helene von Taube von der Issen, Band I., Berlin 1902, S. 355f. von der Recke, Elisa: Herzensgeschichten einer baltischen Edelfrau. Erinnerungen und Briefe, Fünfte Auflage Stuttgart: Lutz, 1918, S. 34f. und S. 59. Dr. Bertram, [Georg von Schultz]: Baltische Skizzen, 4. Auflage, Reval 1904, S. 64; Freiherr von Taube, Otto (Hg.): Gräfin Keyserling, Henriette: Frühe Vollendung. Das Leben der Gräfin Marie Keyserling in den Erinnerungen ihrer Schwester, Bamberg 1948, S. 70f. Anonym: Aus der „guten alten Zeit“. Erinnerungen an die 40er Jahre in Livland, in: Bienemann: Altlivländischen Erinnerungen, S. 72-133, S. 112f.; Gruenewaldt, Anna von: Erinnerungen der Anna von Gruenewaldt, Oberin a.D. der Kaiserin Augusta Stiftung, Fellinn 1914, S. 6; Hupel, August Wilhelm: Topographische Nachrichten aus Lief- und Ehstland, Bd. II, Riga 1777, S. 130; [Bellermann, Johann Joachim]: Bemerkungen über Esthland, Liefland, Rußland nebst einigen Beiträgen zur EmpörungsGeschichte Pugatschews während eines achtjährigen Aufenthalts gesamlet (sic), Prag und Leipzig 1792, S. 287-290; Petri, Johann Christoph: Ehstland und die Ehsten, oder

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wohlhabende Bauern familienähnliche Bande zu den Deutschen aufbauten; 76 weitaus seltener suchten auch Deutsche Paten aus der bäuerlichen Schicht, was dort als große Ausnahme mit Danksagungen der gesamten Dorfgemeinde entgegengenommen wurde. Der Prozess der transkulturellen Sozialisierung verlief über den Zweitspracherwerb in der Kindheit und wurde im Erwachsenenalter mit der Sprachkenntnis des Lettischen und Estnischen und an bestimmten Festtagen repräsentativ zur Schau gestellt. Der Grad an Sozialisierung schwankte dabei sowohl was die Sprachfähigkeit als auch was den Willen zur alltäglichen Auseinandersetzung mit den anderen Kulturen und Nationen anbelangte von Person zu Person beträchtlich. Dennoch waren transkulturelle Sozialisierung und Gesellung sowie speziell für die Organisation des Miteinanders ausgebildete kulturelle Mittler die Basis der baltischen Gesellschaft. Neben diesen Formen der Ordnung des transkulturellen Lebens gab es aber auch zu jeder Zeit Formen der Abschottung, die sich im Zeitalter des verstärkten nationalen Denkens verstärkten. So kann etwa der bis in das beginnende 20. Jh. unter Deutschbalten übliche Kinderaustausch zum Zweck der Gemeinschaftsstifung innerhalb der Großfamilie als Gegenreaktion auf die Öffnung der Gesellschaft angesehen werden. 77 Durch diese Praxis schirmte sich die deutschbaltische Familie von der Außenwelt ab und wurde mehr und mehr zu einem geschlossenen System, einem Bollwerk gegen die nationale Verunsicherung. Auch mit der zunehmenden Bedeutung der „Familie“ blieben jedoch die alten Formen des „Hauses“ bestehen, etwa dort, wo andersnationale Kindermädchen quasi in die Familie aufgenommen wurden. Solche persönlichen Formen des Miteinanders verliefen nicht selten ganz im Widerspruch zum vorherrschenden sozialpolitischen Trend und prägten die Form der deutschbaltischen Familie auch noch nach dem Auseinanderbrechen der baltischen Geschichts- und Lebensgemeinschaft 1939/1944 und der Umsiedlung der Deutschbalten.

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historisch-geographisch-statistisches Gemälde von Ehstland. Ein Seitenstück zu Merkel über die Letten, 2. Teil, Gotha 1802, S. 56f.; vgl. auch Hein, Ants: Palmse – Palms. Ein Herrenhof in Estland, Tallinn 1996, S. 170. Plath: Esten und Deutsche, Kap.II.1.4., III.1.1.1. und III.1.1.2. Igelström, Graf Alexander Archibald: Erinnerungen des Grafen Alexander Archibald Igelström, in: Baltische Hefte 16 (1970), S. 6-148, S. 83 und S. 90; Whelan: Adapting, S. 107; Burguière, André/Lebrun, André: Die Vielfalt der Familienmodelle in Europa, in: André Burguière u.a. (Hg.): Geschichte der Familie, Bd. III: Neuzeit, Frankfurt, New York 1997, S. 13-119, hier S. 49-53.

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5. Schluss: Beredtes Schweigen Das Fehlen des „Hauses“, des „Hausvaters“ und der „Hausmutter“ in der baltischen ökonomischen Literatur sowie seine geringe Präsenz in den Quellen und der bisherigen Forschung zur Frühen Neuzeit macht auf Besonderheiten bei der Rezeption deutschen Schrifttums und auf eigene soziale Strukturen im Baltikum aufmerksam. Betrachtet man das Schweigen als kulturelles Phänomen und Teil des Diskurses, wird es zu einem beredten Schweigen, das als Quelle gedeutet werden kann. Zunächst regt das Schweigen die Suche nach weiteren Quellen an. Gerichtsakten, die über die Struktur des baltischen „Hauses“ Auskunft geben könnten, sind bislang ebenso wenig zum Thema ausgewertet worden wie das umfangreiche Schrifttum der aufklärerischen Literatur. Die Aufarbeitung des Idealbildes eines Gutshofs in der baltischen Ökonomik als religiöse, soziale und wirtschaftliche Einheit steht ebenso aus wie eine zeitgemäße, dichte Beschreibung des Alltags- und Wirtschaftslebens im 18. und beginnenden 19. Jh. Erschwerend wirkt dabei, dass auf Grund des Fehlens eines lokalen Fürstenhauses in Liv- und Estland 78 der Sozialzusammenhalt auf dem baltischen Gutshof kaum Bestandteil der allgemeinen Landesrechte und Privilegien war. Schriftliche Quellen zu den konkret angewandten Hausrechten müssen erst gesucht werden, besaß doch jedes „Haus“ seine eigenen Regeln, die nur teilweise im Wackenbuch festgehalten waren und zumeist auf mündlichen Vereinbarungen und Traditionen beruhten. Das transkulturelle baltische „Haus“ und sein Regelsystem richteten sich nach der bäuerlichen Kultur, die nicht auf dem Schrifttum basierte. Alltägliche Formen des Umgangs finden sich nur selten in schriftlichen Quellen, etwa in den Visitationsberichten und Gerichtsakten. Hingegen bildeten mündliche Eide und Vereinbarungen sowie Aufzeichnungen von Abgabeleistungen auf Holzstöcken auf und um den Gutshof ein beständiges, doch nur schwer fassbares Regelsystem. 79 Die Hauszucht über die Leibeigenen macht die Regulierung des Umgangs am Gutshof zu einer Privatsache, die nur in Ausnahmefällen an die Öffentlichkeit drang. Nichtsdestoweniger müssen die verstreuten schriftlichen Hinweise gesucht, geordnet und in vergleichender Perspektive gedeutet werden.

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Das unter polnischer Herrschaft stehende Herzogtum Kurland stellt aufgrund seines lokalen Herrscherhauses und seiner auch auf den Gutshöfen weitaus klarer definierten Formen der Repräsentation und des Umgangs ein eigenes Phänomen dar. Dies zeigt sich auf allen Ebenen des ständischen Miteinanders, angefangen von den Eiden beim Herrschaftswechsel bis hin zu den gemeinschaftsstiftenden Festen im Jahreslauf. So etwa war auch die Position des Verwalters im Gegensatz zu Russland und Deutschland bis in das 20. Jh. hinein nicht vertraglich geregelt, sondern war Teil der mündlichen Kultur.

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Diese Spurensuche ist jedoch ein mühsames Unterfangen, schnelle Ergebnisse sind nicht zu erwarten. Das Fehlen des „Hauses“ in schriftlichen Quellen darf nicht vorschnell als fehlende Verbundenheit der örtlichen Bevölkerung zu ihren Wohnplätzen interpretiert werden. Im deutschsprachigen Raum verweist „Haus“ auf Kontinuität, Besitz, Verantwortung und Auseinandersetzung mit den örtlichen Gegebenheiten und ist unweigerlich mit dem Begriff der „Häuslichkeit“ verbunden. Einen Teil dieser Assoziationen beinhaltet im Baltikum mit seiner ausgeprägten Mehrsprachigkeit das Schlagwort „Sprache“. Ohne die Pflege der estnischen und lettischen Sprache seitens der Deutschbalten, hätten die estnische und lettische Nationalkultur ein anderes Antlitz und ohne gegenseitige Sprachkenntnisse wäre eine gemeinsame Geschichte undenkbar gewesen. Doch fehlt dieser Ausrichtung auf die Sprache die praktischökonomische Dimension des „Hauses“ und die gemeinschaftsstiftende „Gesamtheit der menschlichen Beziehungen und Tätigkeiten“ 80 rund um den Gutshof. Auf der Suche nach anderen, alternativen Ausrücken findet man im baltischen Sprachgebrauch den „Hof“, über den die „Hofmutter“ herrscht, und das vom Verwalter und Pastor gepflegte „Gebiet“. Für August Wilhelm Hupel in seinem „Oeconomischem Handbuch“ war das „ganze Gebiet“ die ideale und zentrale baltische Wirtschaftseinheit: Es bezeichnet den Raum, in dem die Wirtschaft des Gutshofs und der Bauernwirten zusammenfiel und bildete daher eine Schnittstelle, in der in gegenseitiger Achtung und gegenseitiger Verantwortung gemeinsam gewirtschaftet werden musste. 81 Hupel umreißt hier ein idealtypisches baltisches Wirtschaftsmodell, das – ganz wie das „Haus“ – den realen Gegebenheiten nicht immer entsprach, diese aber bis zu einem gewissen Maße formte. Schenkt man den literarischen Quellen Glauben, nahm der baltische Adel im ersten Drittel des 19. Jh.s zur Zeit des baltischen Biedermeier seine Rolle als Gutsbesitzer und Ökonom neu ein. 82 Hierbei gilt es jedoch zu bedenken: Die deutsche Bevölkerungsschicht des Baltikums erneuerte sich nach den großen Verlusten des Nordischen Krieges durch eine starke Einwanderungswelle aus dem Deutschen Reich. Die späte ideologische und reale Inbesitznahme des Landes als aktiv handelnder Gutsherr mag also auch auf die erst im 19. Jh. erfolgte Heimischwerdung dieser Immigranten verweisen, die nunmehr zunehmend auch als Bürgerliche Landbesitz erwerben konnten und zudem die schriftliche Produktion von Texten über das Baltikum zwischen 1750 und 1850 dominierten. Es kann also mit einer weniger beredten, kon80 81 82

Brunner: Ökonomik, S. 105. Hupel, Oekonomisches Handbuch, S. 100-105. Elias, Otto-Heinrich (Hg.): Zwischen Aufklärung und Baltischem Biedermeier. Elf Beiträge zum 14. Baltischen Seminar 2002, Lüneburg 2007 (Baltische Seminare 12).

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stanten Form der baltischen Gutswirtschaft gerechnet werden, die sich jedoch im Schlagschatten der Quellen befindet und erst mühsam beleuchtet werden muss. Dabei darf die Bedeutung der baltischen Frauen, der Gattinnen, Töchter und Witwen, bei der Erforschung des „Hauses“, des „Hofes“ und des “Gebietes“ nicht unterschätzt werden. Sie waren weitaus häufiger anwesend als die Männer, bereiteten den Immigranten ein neues Heim und waren die Stützen des baltischen „Hauses“. Ihrer, der Verwalter und „Hofmütter“ wird in den erzählenden Quellen aber nur im Vorübergehen gedacht. Beschäftigt man sich mit dem Schweigen im baltischen Haus hat man sich mit der literarischen Produktion von Realität auseinanderzusetzen. Welches Bild wird uns von der Vergangenheit gezeichnet und was verschwiegen? Diese Frage bleibt.

IRIS CARSTENSEN

Dem Sohn den Weg weisen. Zur Selbstthematisierung eines holsteinischen Landadeligen als Haus- und Familienvater in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts

Nicht allzu lange nach ihrer Heirat im Dezember 1761 gelangen Friedrich Reichsgraf Rantzau aus dem Haus Ahrensburg und dessen Frau Amoene in den Besitz der Herrschaft Breitenburg, eines der größten „Adligen Güter“ der Herzogtümer Schleswig und Holstein. Neue Erbherrin nach dem Tod ihres Bruders ist die Reichsgräfin Amoene, eine geborene Komtess CastellRemlingen, deren Vorfahren mütterlicherseits ebenfalls dem alteingesessenen Geschlecht der Rantzaus angehört und auf Breitenburg im heutigen Kreis Steinburg gelebt haben. 1 Friedrich Rantzau gibt seine Laufbahn als Offizier auf und wirkt fortan als Gutsherr. Das Paar lebt auf dem Gut und zieht dort seine sieben Kinder auf, zwei Mädchen und fünf Jungen. Die Erbfolge und damit das Wiederaufblühen des Hauses Rantzau auf Breitenburg scheinen gesichert. Doch die Umsetzung dieses Unternehmens erweist sich als kompliziert. Der älteste Sohn erkrankt schwer und kann das Erbe nicht antreten, und auch der zweitgeborene Hans entwickelt sich nicht den elterlichen Vorstellungen von einem geeigneten Gutsherrn entsprechend. Nach jahrelangen, wenig zufriedenstellenden Versuchen, positiv auf Hans einzuwirken, bestimmt schließlich Amoene Rantzau als Erbherrin den jüngsten Sohn Conrad zum Erbfolger. Dieser Konflikt um Hans steht im Folgenden im Mittelpunkt, denn er rührt an das Selbstverständnis der Eheleute, an die Auffassung von sich als Eltern und als Paar wie auch als Standespersonen. Dabei ist festzustellen, dass Amoene und Friedrich Rantzau ihre Kinder nicht einfach auf überkommene Weise als Landadelige heranwachsen ließen und die Erziehung weitgehend ans Personal delegierten, sondern sie nahmen ihre Elternrolle persönlich sehr wichtig, besonders in Krisensituationen, wenn ein Kind krank war oder vom vorgezeichneten Weg abzukommen schien. Tatsächlich müssen die neuen Bewohner auf Breitenburg von Anfang an mit einem schwierigen Erbe umgehen. Amoene Rantzau ist in der Erbfolge ihren älteren Schwestern vorgezogen worden und kann nur durch einen für sie teuren Erbschaftsvergleich verhindern, dass es zum Rechtsstreit kommt. 1

Friedrich Rantzau lebte von 1729-1806, Amoene Rantzau von 1732-1802.

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Der finanzielle Spielraum des Paares ist von vornherein durch Schulden begrenzt, die auf dem Gut lasten. 2 Überdies muss es sich damit arrangieren, dass die Herrschaft Breitenburg durch einen tödlich verlaufenen Streit unter den Vorfahren in den 1720er Jahren stark belastet ist. Aus diesem Vorfall resultierten der Abbruch der männlichen Erblinie sowie der Entzug der Reichsgrafschaft Rantzau durch den dänischen König; 3 seitdem ist auch in der Gutsherrschaft Breitenburg manches ungeordnet. Der im 16., 17. Jahrhundert leuchtende Glanz des Hauses Breitenburg, der mit so berühmten Ahnherren wie dem Statthalter Heinrich Rantzau verbunden ist, ist weitgehend verloren. 4 Zudem sind die Rantzaus wie alle alteingesessenen Adelsgeschlechter in den Herzogtümern mit der Verringerung des eigenen Einflusses konfrontiert. Sie müssen darauf reagieren, dass neue Familien aufsteigen und die Aufnahme in die Ritterschaft anstreben. Blickt man etwa auf Friedrich Rantzaus Geschwister, so leben diese fast alle über die Jahre hinweg in prekären Abhängigkeitsverhältnissen, sei es als Angehöriger des Militärs oder als Landrat. Ausgenommen hiervon ist der älteste Bruder Christian, der allerdings das ererbte Elternhaus, das Gut Ahrensburg aus finanziellen Gründen an den mächtigen und überaus reichen Grafen Heinrich Carl Schimmelmann veräußert hat. Der erst jüngst nobilitierte Schimmelmann, Minister in dänischen Diensten, erreicht nicht nur die Aufnahme in die Ritterschaft, sondern auch die Einheirat in das Geschlecht der Rantzaus. Auf seinen Einfluss in Kopenhagen meint man nicht verzichten zu können. Vor diesem Hintergrund ist zu sehen, dass Friedrich Rantzau ab 1764 über viele Jahre hinweg als Gutsherr auf Breitenburg Tagebuch führt. 5 Dieses 2

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Vgl. allgemein zu den Schwierigkeiten, ein adliges Gut gewinnbringend zu bewirtschaften das Beispiel des Gutes Ahrensburg, das selbst unter der Leitung des kaufmännisch sehr geschickten Heinrich Carl Schimmelmann nicht selbsttragend gewesen ist: Behrens, Angela: Das adlige Gut Ahrensburg von 1715 bis 1867. Gutsherrschaft und Agrarreformen, Neumünster 2006, hier S. 226-227. Der Großonkel Amoenes ist verdächtigt worden, seinen älteren Bruder, den Erbherrn, auf der Jagd aus niedrigen Beweggründen getötet zu haben. Der damalige dänische König hat ihn in lebenslange Festungshaft legen lassen und sich auf einen alten Vertrag berufen, wonach er bei fehlendem männlichem Erben die Reichsgrafschaft einziehen kann. Proteste von Seiten der Rantzaus und Verhandlungen haben immerhin erwirkt, dass Amoenes Großmutter die Herrschaft Breitenburg als Allod erhalten geblieben ist. Vgl. zu den Stammlinien der Rantzaus allgemein, zum sprichwörtlichen Ruf dieses Adelsgeschlechtes: „stolz wie ein Rantzau“, „treu wie ein Rantzau“, und zu der schweren Krise in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts: v. Teisen, J./ Bobé, Louis (Hg.): Danmarks Adels Aarbog. II. Stamtavler, 47. Jg., København 1930, S. 7-176. Die Tagebücher erstrecken sich über die Jahre 1764 bis 1794 mit einer Lücke von 1784 bis 1792. Sie sind Teil des Familienarchives Rantzau-Breitenburg, das zusammen mit dem Gutsarchiv im Landesarchiv Schleswig (LAS) verwahrt wird.

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dient ihm offenbar zur Erinnerung und Rückversicherung seiner zahlreichen Aktivitäten und Bemühungen um das Gut, auf der anderen Seite bietet es ihm eine Plattform, um sich einem Idealbild entsprechend zu stilisieren. Der Neuanfang als eingeheirateter Gutsherr verhindert zwar, dass er ohne Weiteres an überkommene Herrschaftspraktiken anknüpfen kann, auf der anderen Seite vergrößert sich damit die Chance, seine Rolle nach eigenen Vorstellungen zu gestalten. In seinen Tagebüchern zeigt sich Friedrich vor allem auf sein Wirken als Familienvater und Gutsherr in der Herrschaft Breitenburg konzentriert. Weiter gefasste, von den machtbewussten Vorfahren des Hauses Rantzau-Breitenburg abgeleitete Ambitionen bringt er dagegen nicht zum Ausdruck und verzichtet beispielsweise darauf, näher auf seine Position als Interessenvertreter der Ritterschaft einzugehen. 6 Er reflektiert in seinen Tagebüchern kaum, sondern schreibt handlungsorientiert. Gleichwohl lassen seine Schilderungen an das Modell des christlich orientierten Hausvätermodells denken, wie es über die bis in seine Zeit verfasste, sogenannte Hausväterliteratur tradiert wird. 7 Dies zeigt sich besonders eindrucksvoll bei seinen Ausführungen zu Familienfesten wie auch zu Unglücks- und Todesfällen, wenn er Herrschaft, Bediente und Untertanen als Gemeinschaft darzustellen bestrebt ist, oder bei der Darlegung seiner Bemühungen um die Hauskapelle auf Breitenburg. Er begnügt sich nicht damit, diese als Privatkapelle wiederaufzubauen, sondern streitet darüber hinaus jahrelang für eine Konzession, damit diese Kapelle über seine kleine Familie hinaus auch von den Hausbedienten und Gutsuntertanen genutzt werden kann. 8 Friedrich Rantzau beansprucht, alle Fäden in der Hand zu halten, strebsam, gerecht und verantwortungsbewusst nach allen Seiten hin zu agieren, sei es, was die Neustrukturierung und gewinnsteigernde Gutsführung anbelangt, sei es gegenüber seinen Schutzbefohlenen, ob als Gutsherr und Gerichtsherr, als Oberdeichgraf, als Kirchspielherr, als Hausherr und Familienvater. Im Gegenzug erwartet er Gehorsam und Treue. Mehr noch, er notiert gerne wechselseitige Zeichen von Zuneigung und Rührung und wirkt dabei beeinflusst von der Zeitströmung der Empfindsamkeit. Es scheint Friedrich Rantzaus Ideal zu sein, mehr mit Liebe als mit Furcht betrachtet zu werden, ein Ideal, das in der Jahrhun-

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Vgl. Carstensen, Iris: Friedrich Reichsgraf zu Rantzau auf Breitenburg (1729-1806). Zur Selbstthematisierung eines holsteinischen Adligen in seinen Tagebüchern, Münster u.a. 2006, S. 139-207. Vgl. als Überblick zur Hausväterliteratur Hoffmann, Julius: Die „Hausväterliteratur“ und die Predigten über den christlichen Hausstand“. Lehre vom Haus und Bildung für das häusliche Leben im 16., 17. und 18. Jahrhundert, Weinheim, Berlin 1959. Zur Schlosskapelle auf Breitenburg vgl. Carstensen: Breitenburg, S. 61-66.

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dertmitte auch in der allgemein moralisch-didaktisch ausgerichteten Literatur popularisiert wird. 9 Dennoch offenbart sich auch in den Tagebüchern, dass Friedrich Rantzaus Anspruch auf Vertrauen und Folgsamkeit längst nicht immer Genüge geleistet wird. Über Jahre ziehen sich die ausufernden Streitigkeiten mit dem Pastor Hölck und Friedrich Rantzau als Kirchspielspatron hin; vielfältig und nicht nur die Arrondierung der Ländereien oder die schriftliche Fixierung der Dienstpflichten betreffend sind die Konflikte mit den Untertanen; nicht zuletzt von den Bedienten sieht sich Friedrich immer wieder enttäuscht. Friedrich Rantzau zeigt sich deshalb nicht nur als gutmütiger Hausvater, sondern laviert zwischen Strenge und Milde, zwischen wirtschaftlicher Rationalität und Zielstrebigkeit sowie immer wiederkehrenden Phasen der Unpässlichkeit und des Sichzurückziehens nach Rosdorf, seinem kleinen, abgeschirmt im Wald angelegten Refugium. 10 Die Darstellung von Konflikten mit den Untertanen in seinen Tagebüchern erscheint lückenhaft und unzusammenhängend, sie ist für ihn jedoch kein Tabu, wenngleich er sich oft nicht nur erbost, sondern gekränkt und persönlich getroffen gibt. Unhinterfragt wie das Modell des hausväterlichen Hofes ist nämlich auch die Vorstellung von den gemeinhin unverständigen, unkultivierten und renitenten Untergebenen, die Friedrich Rantzau häufig bemüht, während er stets das Recht, die Vernunft und den guten Willen auf seiner Seite sieht. Demgegenüber erlegt er sich in Bezug auf seine Familie stärkere Zurückhaltung auf und verschweigt manchen Disput ganz. Seine Diskretion mag mit Rücksichtnahme auf Angehörigen als potentielle Leser erfolgen. Vielleicht sind Enttäuschungen über die eigenen Kinder für ihn selbst aber auch besonders bedrückend und schwer mit seinem Selbstbild als Vater und Erzieher zu vereinbaren, betont doch die zunehmende pädagogische Literatur jener Zeit die Erziehung der Kinder als vornehmste Elternpflicht und gibt zahlreiche Handhaben und Richtlinien vor, um dieser Pflicht methodisch fundiert nachkommen zu können. 11 In der folgenden Untersuchung der Konflikte um Hans, den zweiten Sohn, geht es zunächst darum, Friedrich Rantzaus Selbstthematisierung als Vater vorzustellen, um sie mit seinen in Briefen geäußerten Erwartungen und Befürchtungen hinsichtlich seines auffällig gewordenen Sohnes und speziell mit den Argumenten von Hans’ bürgerlichem Lehrer zu konfrontieren. Im zweiten Teil werden die Haltung Friedrich Rantzaus bzw. seiner Frau Amoe9 10 11

Vgl. hierzu Sørensen, Bengt Algot: Herrschaft und Zärtlichkeit. Der Patriarchalismus und das Drama im 18. Jahrhundert, München 1984. Vgl. Carstensen: Breitenburg, S. 45-50. Vgl. Brüggemann, Theodor/Ewers, Hans Heino (Hg.): Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur. Von 1750 bis 1800, Stuttgart 1982; Hammerstein, Notker/Herrmann, Ulrich (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte II. 18. Jahrhundert. Vom späten 17. Jahrhundert bis zur Neuordnung Deutschlands um 1800, München 2005.

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ne bezüglich ihrer Ehe, der Erziehung der Kinder und der Entscheidungsgewalt in der Herrschaft Breitenburg verglichen. Auch hier stellen die Tagebücher Friedrich Rantzaus die Grundlage dar, denn diese bilden den herausragenden Bestandteil innerhalb des Rantzau-Breitenburgischen Familienarchivs aus dem 18. Jahrhundert. Das Charakteristikum der Tagebücher ist die Spannung zwischen dem Verlangen, sich beim Schreiben seiner selbst zu vergewissern, und dem bloßen Notieren ständig fluktuierender Eindrücke, Erlebnisse und Stimmungen. Ein nur gelegentlich durch Beschreibungen aufgelockerter, in der Regel vielmehr knapp gehaltener Berichtstil mit häufigen Redundanzen durch die Verwendung bestimmter Sprachmuster und eingeschliffener Deutungsmuster wie auch der Verzicht auf tiefergehende Ansätze zur Reflexion lässt die Tagebucheinträge eher holzschnittartig wirken. Diese werden mit den Jahren eher noch einsilbiger und auch fragmentarischer. Für die Jahre 1784-1792 fehlen sie ganz. Ein letzter Band endet 1794. Diesen Tagebüchern werden weitere schriftliche Hinterlassenschaften gegenüber gestellt, zumeist Briefe. Neben der lückenhaften Überlieferung gehören deshalb zur Problematik der Quelleninterpretation Unterschiede in den Stillagen, welche durch Gattungskonventionen und individuelle Gewohnheiten bedingt sind. Die Briefe sind gegenüber den Tagebüchern geschmeidiger und wechselhafter im Tonfall, detailfreudiger, scheinbar offener und auch gefühlsbetonter, dafür aber eben auch heterogener. Es handelt sich in der Mehrheit um Schreiben, die an Friedrich Rantzau adressiert sind; nur gelegentlich hat er Wert darauf gelegt, von seinen eigenen Schreiben eine Kopie zu bewahren. Die Auseinandersetzung mit solchen Ego-Dokumenten darf nicht zu voreilig generalisierenden Aussagen zum Landadel in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts führen, 12 umgekehrt sollen sie nicht bloß sozialgeschichtliche Forschungsthesen zum Umbruch des Adels angesichts der Beschneidung seiner Privilegien durch absolutistische Herrscher einerseits, der Emanzipation bürgerlicher Schichten und den von diesen propagierten Wertvorstellungen andererseits illustrieren. 13 Diese Fallstudie setzt vielmehr an der Heterogeni12

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Vgl. allgemein Schulze (Hg.): Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte, Berlin 1996. Für das 18. Jahrhundert vgl. Schönborn, Sybille: Das Buch der Seele. Tagebuchliteratur zwischen Aufklärung und Kunstperiode, Tübingen 1999; Vellusig, Robert: Schriftliche Gespräche. Briefkultur im 18. Jahrhundert, Köln, Weimar, Wien 2000. Als Überblick zum Adel vgl. Asch, Ronald G.: Europäischer Adel in der Frühen Neuzeit, Köln, Weimar, Wien 2008, hier spez. Kap. 4. Zum Krisenbewusstsein des Adels, dem Stichwort „Oben bleiben“, vgl. Braun, Rudolf: Konzeptionelle Bemerkungen zum Obenbleiben: Adel im 19. Jahrhundert, in: Wehler, Hans-Ulrich (Hg.): Europäischer Adel 1750 - 1950, Göttingen 1990, S. 87-95. Zum Problemfeld adliger bzw. bürgerlicher Werte vgl. Frie, Ewald: Adel und bürgerliche Werte, in: Hahn, HansWerner/Hein, Dieter (Hg.): Bürgerliche Werte um 1800. Entwurf – Vermittlung – Re-

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tät der Perspektiven an, durch die sich nicht nur einzelne Adelsgeschlechter gegeneinander abhoben, sondern die gegebenenfalls auch den einzelnen Adligen zu widersprüchlichen Handlungen veranlassen konnten. Der Versuch, die Konflikte um den Sohn Hans an unterschiedlichen Stationen und aus unterschiedlichen Blickwinkeln heraus zu analysieren, markiert, dass der Entscheidungshorizont der Rantzaus dehnbar war und ihre Entscheidungen nicht klar auf der Hand lagen. Sie changierten zwischen Herkommen, Standesbewusstsein und Repräsentationsbedürfnis einerseits, der Adaption bürgerlich konnotierter Werte wie Gewissenhaftigkeit, Bildungseifer, Häuslichkeit, Sparsamkeit andererseits. Der Berufung auf Emotionen als verbindendes Band steht das Verlangen nach hierarchisch festgelegten Beziehungsmustern gegenüber. Im Vergleich von Tagebüchern und Briefen wird insbesondere nach Argumentations- und Handlungsmustern gesucht, die wiederholt auftreten, die sich bestätigen oder einander widersprechen, um am Beispiel Friedrich Rantzaus nachzuvollziehen, inwieweit die Antworten des Adels auf komplexe Erziehungs-, Familien- und Standesfragen variieren konnten.

I. Der treusorgende Hausvater a) Die Tagebücher: Zum Jahreswechsel 1778/79 fasst Friedrich Rantzau die Tage vom 26. Dezember bis zum 7. Januar zusammen. 14 Dabei geht es ihm nur um ein Thema: die Probleme mit Hans, dem damals gerade vierzehn Jahre alten Sohn. Nach den anhaltenden Beschwerden des Hofmeisters, Hans lerne nichts, störe seinen älteren Bruder und verführe die kleineren Geschwister zu Ungezogenheiten, habe er seinen Sohn zur Rede gestellt, von den anderen Kindern isoliert und neben seine Räume einquartiert. Hans bleibe von den Vergnügungen der anderen Kinder ausgeschlossen. Im Hinblick auf seine bevorstehende Reise zum Kieler Umschlag habe er seinem Kammerdiener scharfe Befehle gegeben, den Sohn streng zu überwachen und über dessen Verhalten vom Aufstehen bis zum Zubettgehen Buch zu führen. 15 Es ist nicht das erste Mal, dass Friedrich sich gerade wegen dieses Sohnes in seinen Tagebüchern besorgt und unzufrieden zeigt. So hat er etwa ein Jahr zuvor schon einmal notiert, dass ihn der Bericht über Hans’ schlechtes Verhalten während der Schulstunden betroffen gemacht habe. Damals hat er noch angemerkt, er verzichte auf eine „fühlbare“ Bestrafung, da er hoffe,

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zeption, Köln, Weimar, Wien 2005, S. 393-414. Für den Adel in den Herzogtümern Schleswig und Holstein vgl. Degn, Christian/Lohmeier, Dieter (Hg.): Staatsdienst und Menschlichkeit. Studien zur Adelskultur des späten 18. Jahrhunderts in SchleswigHolstein und Dänemark, Neumünster 1980. Vgl. LAS Abt. 127.21 FA L 56, 26.12.1778-6.1.1779 (Sammeleintrag). Gemeint ist der wichtigste Finanz- und Jahrmarkt in den Herzogtümern, der für den einheimischen Adel gleichzeitig Treffpunkt ist.

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sein Sohn komme unter Gottes Leitung am ehesten zur Einsicht, wenn er sehe, dass er seinem Vater Kummer bereitet haben. 16 Allerdings lässt sich aus den Tagebüchern nicht unmittelbar herauslesen, dass Friedrich Rantzau seinen Sohn Hans als Sorgenkind ansieht. Es finden sich aber im RantzauBreitenburgischen Familienarchiv zwei Konvolute mit Briefen und anderen Schriftstücken zum Thema Kindererziehung, von denen eine Reihe von Friedrich Rantzau selbst verfasst sind. 17 Das eine bezieht sich überwiegend auf die fünf Söhne und deren Erzieher im allgemeinen, enthält aber auch Briefe über die Verhandlungen wegen eines neuen Hofmeisters, der eigens für Hans angestellt werden soll. Das zweite Konvolut bezieht sich ganz auf Hans und birgt unter anderem ein kleines Reisejournal, mit dem Friedrich seinem Sohn dessen Fehler und Wege zur Besserung aufzeigen will und einen Briefaustausch zwischen dem Vater, dem Sohn und einem Altonaer Lehrer, in dessen Obhut Hans kommt, nachdem die vorangegangenen Erziehungsbemühungen als gescheitert gelten. In seinen Tagebüchern zeichnet Friedrich Rantzau zuallererst ein Idealbild von sich als Vater. Wichtig scheint ihm die Hervorhebung von freudigen oder traurigen Anlässen, die sein Selbstverständnis als Hausvater innerhalb einer harmonischen Gemeinschaft von Eltern, Kindern und Bediensteten zu unterstreichen vermögen. Es gehören dazu Taufen und Geburtstage, Weihnachten, aber auch das Vogelschießen und eher spontan veranstaltete Feste und Lustbarkeiten, bei denen er etwa die Kinder zusammen mit den Bediensteten vor Gästen tanzen lässt. Umgekehrt hält er auch fest, dass die Hausbewohner die elterliche Sorge teilen und alle gemeinsam beten, nachdem er und Amoene sich entschieden haben, ihre Kinder der damals noch risikobehafteten Pockenimpfung zu unterziehen. 18 Wiederholt äußert Friedrich Rantzau seinen Beifall darüber, dass die eigenen Kinder bei herausgehobenen Festtagen mit kleinen Darbietungen hervortreten. Er beschränkt sich allerdings keineswegs darauf, seine Kinder in Zusammenhang mit solchen mehr oder weniger inszenierten Anlässen zu erwähnen. Vielmehr äußert er sein Interesse an ihnen schon von klein auf. 19 Besonders die Sorge in Krankheitsfällen findet ihren Niederschlag in den 16 17 18 19

LAS Abt. 127.21 FA L 55, 20.12.1777. Vgl. LAS Abt. 127.21 FA L 24, L 6. LAS Abt. 127.21 FA L 65, 28.10.1769. Vgl. LAS Abt. 127.21 FA L 55, 29.11.1772. S. allgemein Opitz, Claudia: Wandel der Vaterrolle in der Aufklärung, in: Küchenhoff, Joachim (Hg.): Familienstrukturen im Wandel, Basel 1998, S. 13-32. Zur „natürlichen“, d.h. instinktiven Elternliebe in der Hausväterliteratur vgl. Hoffmann, Hausväterliteratur, S. 135f.; vgl. als einen der spätesten Vertreter der Hausväterlitertur über das Elternglück, an der Entwicklung der eigenen Kinder engen Anteil zu haben,von Münchhausen, Otto: Der Hausvater, Bd. 4, Hannover 1769 (ND Hildesheim 1994), S. 361f.

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Tagebüchern. Bemerkenswert ist aber auch, dass er regelmäßig eine frühabendliche Spielstunde mit den Kindern erwähnt. Außerdem hält er mitunter Geschenke und Ausflüge, z. B. nach Rosdorf, als Belohnungen und Vergnügungen für die Kinder fest. Er erwähnt seine Teilnahme an Prüfungen und freut sich über gute Resultate seiner Kinder. Zunehmend notiert er Besuche und Visiten, die er, seine Frau oder auch die Gouvernante und der Hofmeister mit den Kindern unternehmen, um sie in die lokale Gesellschaft einzuführen. Zumeist belässt er es aber dabei, solche Termine festzuhalten; auf deren konkrete Ausgestaltung, worüber man sich z. B. unterhalten, was man serviert hat, geht er nicht weiter ein. Dies gilt auch für das alltägliche Zusammenleben auf Breitenburg, sowohl was die Kinder untereinander, als auch ihr Verhältnis zu den Eltern und Erziehern sowie den Umgang mit den Bediensteten anbelangt. Friedrich Rantzau drückt keine Vorliebe für eines seiner Kinder aus und versucht nicht, sie charakterlich zu differenzieren, sondern zeigt sich im Gegenteil eher bemüht, keines der Kinder zu bevorzugen. Dies gilt auch für den ältesten Sohn und designierten Nachfolger; dessen Einführung in den späteren Aufgabenbereich als Herr auf Breitenburg verzeichnet der Vater eher beiläufig. Friedrich Rantzau äußert sich in seinen Tagebüchern nicht dazu, inwiefern er sich als Vater mit der zeitgenössischen pädagogischen Literatur befasst und davon beeinflussen lässt, während die Bücherlisten seiner Söhne auf ein grundsätzliches Interesse hieran schließen lassen. 20 Vielmehr vermitteln die Tagebuchaufzeichnungen ganz allgemein, dass Friedrich Rantzau seine Kinder als Landadelige zu sozialisieren bemüht ist. Dazu gehören unhinterfragt überkommene, mit materiellem Wohlstand und Gefallen an ästhetischer Repräsentation verbundene Standessymbole wie das Pferd und die Jagd. In den Aufzeichnungen geht es immer wieder in unterschiedlichen Zusammenhängen um Pferde, obwohl der Spaziergang in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts generell sowie auch in Friedrich Rantzaus Aufzeich-

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In den Literaturlisten für die Söhne sind z. B. auch pädagogische Ratgeber von Johann Bernhard Basedow aufgelistet, vgl. LAS Abt. 127.21 FA L 6, Nr. 6, gemeinschaftliche Bücher. Zudem fällt auf, dass einige Bücher unterschiedlicher Gattungen offenbar als so wichtig angesehen wurden, dass mehrere Söhne ein eigenes Exemplar davon hatten, beispielsweise beliebte didaktisch-moralische Kinderlustspiele mit sprechenden Titeln wie „Der dankbare Sohn“ von J. J. Engel (1770), „Der Edelknabe“ von J. J. Engel (1775), „Die Geschwisterliebe“ von Christian Felix Weiße (1776). Dies gilt auch für das Lesebuch „Der Kinderfreund“ von Friedrich Eberhard von Rochow (1776), das sich vor allem an Landkinder richtet und mit seinen Beispielgeschichten zur Unterscheidung von Tugenden und Lastern als Grundlage für ein erfülltes und glückliches Leben beitragen will, vgl. dazu Brüggemann/Ewers: Handbuch Kinderund Jugendliteratur, Sp. 835-850. Zugleich ist die Lektüre auf das Alter und die Bedürfnisse der Kinder abgestimmt.

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nungen eine große Aufwertung erfährt. 21 Pferde werden zum Verhandlungsgegenstand und Druckmittel auch im Konflikt mit Hans. In den Tagebüchern verzeichnet Friedrich Rantzau allerdings darüber hinaus, dass er seinen Kindern Verantwortung und Loyalität gegenüber den Untertanen vorlebt. Mit der Hervorhebung gerade dieser Handlungsweisen entspricht er dem Wertekanon, der u.a. auch in der damaligen Kinderliteratur veranschaulicht und dabei gerne für die Gegenüberstellung von tugendhaftem Landadel und selbstbezogenem höfischem Adel herangezogen wird. Die vornehme Geburt, lautet die Botschaft, hebt die Adligen zwar von den anderen Ständen ab und bietet ihnen Privilegien und Annehmlichkeiten, aber sie erlegt ihnen auch die Pflicht zur Vorbildlichkeit und Tugendhaftigkeit auf. 22 Wie die Kinder auf das väterliche Vorbild unterschiedlich umsetzen, darauf geht Friedrich Rantzau freilich nicht ein. Sie bleiben in seinen Tagebüchern Projektionsflächen für die Darstellung der eigenen verantwortungsbewussten und vorbildhaften Vaterrolle: „Und fand sie alle gottlob wohl vor“, schreibt er unzählige Male in seinen Eintragungen, eine Redewendung, die betont, dass er stets um das Wohl seiner Angehörigen besorgt ist. b) Das Reisejournal: Zu den Maßnahmen, die Friedrich Rantzau unternimmt, um seinen Sohn Hans zur Einsicht zu bringen, gehört auch, diesen Anfang März 1779 auf eine Kurzreise mitzunehmen und dabei ein Journal über dessen Verhalten zu führen. 23 Statt jedes Mal unmittelbar auf seine Verfehlungen hingewiesen zu werden, soll Hans diese schriftlich vorgelegt bekommen. Das Reisejournal legt somit ähnlich wie die Tagebücher Rechenschaft über Friedrich Rantzaus hartnäckige Erziehungsbemühungen ab. Tatsächlich schreibt er das Journal zwar zunächst für seinen Sohn, fordert es aber von diesem ausdrücklich zurück, um es bei den eigenen Unterlagen zu verwahren. Im Mittelpunkt steht dabei nicht sein eigenes Handeln, vielmehr hält er konkret fest, was er an seinem Sohn auszusetzen hat und wie dieser sich bessern soll. Friedrich Rantzau filtert drei Hauptkritikpunkte heraus: die Religion, den sozialen Umgang, und schließlich das Verhalten des Sohnes gegenüber seinem Vater. Er wirft seinem Sohn vor, unorganisiert, unpünktlich, launenhaft und unkonzentriert zu sein. Statt sich intensiv mit seinem Glauben auseinander zu setzen, leiste er nur mechanische Gebetsübungen ab. Er lese keine 21

22 23

Vgl. als Überblick zum Spaziergang König, Gudrun M.: Eine Kulturgeschichte des Spazierganges. Spuren einer bürgerlichen Praktik 1780-1850, Wien, Köln, Weimar 1996. Vgl. die Inhaltsbeschreibungen zur Kinderliteratur der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bei Brüggemann/Ewers: Handbuch Kinder- und Jugendliteratur. LAS Abt. 127.21 FA L 24, Nr. 26, fadengeheftetes Journal vom 4.-9.3.1779, Friedrich Rantzau an seinen Sohn Hans.

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Bücher, die nützlich und wichtig seien, um den eigenen Gedanken ein Fundament zu geben. Daraus resultiere, dass ihm im Umgang mit Seinesgleichen geeignete Konversationsthemen fehlten, er sich schüchtern und befangen fühle und einen negativen Eindruck hinterlasse. Stattdessen halte er sich ständig bei den Stallknechten auf und ziehe deren Gesellschaft sogar der des eigenen Vaters vor. Im übrigen lasse Hans’ Benehmen immer wieder Respekt gegenüber seinem Vater vermissen. Bei der Darlegung dessen, was er zukünftig von seinem Sohn erwartet, unterstreicht Friedrich, dass er eine persönliche, stetige Auseinandersetzung mit Gott und der Religion unter Hinzuziehung von Lektüre wünsche, keine stumpfe Übernahme von Glaubenssätzen. 24 Ein auf diese Weise fundierter Glaube soll ihm als Richtschnur bei allen seinen Handlungen helfen, hofft Friedrich Rantzau, zumal wenn er einst ohne Vater in eine Welt hinaustrete, die „mehr zum Bösen als zum Guten“ verleite. 25 In Hinsicht auf Hans’ Benehmen stellt er hingegen feste Regeln auf. Hans habe zu stehen, wenn sein Vater stehe, und sich erst zu setzen, wenn dieser es ihm gestatte. Eindringlich mahnt er darüber hinaus seinen Sohn, sich mehr in seiner Nähe aufzuhalten, statt sich, wie er es formuliert, mit „Leuten, die unter deiner Geburth sind“, gemein zu machen. 26 Besonders im Schlussteil schwanken Friedrich Rantzaus Äußerungen zwischen Strafandrohungen – so wird Hans mit Reitverbot oder gar Wegnahme des Pferdes, d.h. mit einer denkbar empfindlichen Strafe, gedroht – und der Berufung auf „Liebe“ und „Freundschaft“ zwischen Vater und Sohn. Friedrich Rantzau fragt, ob es nicht ganz natürlich sei, wenn er als Vater aufgrund des stillen und mürrischen Verhaltens seines Kindes seinerseits dessen Gesellschaft nicht mehr wünsche, ihm keine Vergnügungen mehr zukommen lasse und nicht mehr mit ihm ausführe. Er werde lebenslang Hans’ treuer Vater bleiben, schreibt Friedrich Rantzau allerdings daraufhin und formuliert diese Aussage als Entschuldigung: „ich bin dein treuer zu meiner Endschul24

25 26

Vgl. hierzu ein Verzeichnis von Hans’ Büchern, in dem zahlreiche zeitgenössische, auf Kinder ausgerichtete Schriften zur religiösen Unterweisung aufgelistet sind: LAS Abt. 127.21 FA L 6, Nr. 15. LAS Abt. 127.21 FA L 24, Nr. 26, 4.-9.3.1779, Friedrich an seinen Sohn Hans. LAS Abt. 127.21 FA L 24, Nr. 26, 4.-9.3.1779, Friedrich an seinen Sohn Hans: „und du glaubst das wen dir Leute unter deiner Geburth loben oder deine aus drücke in Reeden in ihrer Geselschaft guth heisen, das dier dieses Ehre und Liebe macht, da ich dir doch versichere, das wen du nicht gegenwärtig bist, solche Leute untereinander über deine Expressions, und was dar zu gehört ihr Gespotte über dich haben, was nun aber deine Conduite dich in Gegenwart deines Vattern so auf den Stühlen herrum zu werfen betrift so sei versichert das auch der geringste Bediente dier solches übel nimt [...] den wen der Baur auch nur solches siehet und unter seines gleich nicht so genau nimt, so siehet er doch das Gegentheil auch schon bei artige Stadt Leute, und glaubt dahero von deiner Erziehung nicht viel Anstendiges.“

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digung in der Folge deines Lebens Vatter.“ 27 Tatsächlich zeigen die schriftlichen Zeugnisse Friedrich Rantzaus, dass diese Entschuldigung mehr als eine rhetorische Formel ist. Er wird sich seinem Sohn immer emotional verbunden erweisen und trotz aller Enttäuschungen niemals ganz konsequent gegen diesen vorgehen. Das Reisejournal artikuliert und bestätigt wichtige Erziehungsansätze, die in den Tagebüchern eher vermittelt zum Ausdruck kommen. Es soll sichergestellt werden, dass Hans der ihm vorherbestimmten Rolle als Landadeliger und als zukünftiger Offizier entsprechend gefestigt wird und gewandt nach außen auftritt. Dabei gilt es, sich die Glaubenssätze des Christentums zu eigen zu machen und der Autorität des Vaters zu folgen. Allerdings ist das Reisejournal ein Beleg dafür, dass Friedrich Rantzau als Vater eben nicht die angestrebte Autorität besitzt. Auch die in den Tagebüchern von ihm feierlich beschworene Hausgemeinschaft verliert an Glaubwürdigkeit, wirkt vielmehr wie eine willkürlich eingesetzte Festtags- und Anlassformel, wenn er im Journal den unkontrollierten Umgang seines Sohnes mit den Bedienten mit scharfen Worten ablehnt. Er ist dabei geschickt genug, den eigenen Standesdünkel von der überlegenen Kultiviertheit des Adels als Allgemeingut darzustellen, indem er betont, Hans müsse mit der Verachtung der Bauern rechnen, wenn er sich mit ihnen gemein mache, da sie von ihm ein anderes Verhalten erwarteten als von ihresgleichen. Das Reisejournal ist bewusst komponiert und in Einzelpunkte untergliedert. Dabei wirkt es in der Wortwahl und durch die Unterstreichung bestimmter Passagen stark emotionalisiert und zugespitzt. Der Grund hierfür ist, dass Friedrich Rantzau die registrierten Verhaltensfehler seines heranwachsenden Sohnes als Vorboten für dessen drohendes Scheitern im Erwachsenenalter deutet. Das Schreiben soll seinen Sohn aufrütteln, schon allein dadurch ist zu erklären, dass Friedrich Rantzau sich nicht weiter darum bemüht, Verständnis zu äußern, indem er etwa das ungebärdige Verhalten seines Sohnes als vorübergehendes, mit dem Heranwachsen zusammenhängendes Phänomen deutet. Wie in seinen anderen Schriften, so setzt er auch hier nicht dazu an, das Vater-Sohn-Verhältnis zu reflektieren, indem er – beispielsweise – über das Verhältnis zu seinem eigenen Vater nachdenkt. Erhält man über das Reisejournal zwar eher als durch die Tagebücher einen Eindruck davon, wie häufig sich im alltäglichen Zusammensein zwischen Vater und Sohn Reibungspunkte auftun mögen, so bleiben die psychologischen Verwicklungen doch unbeleuchtet.

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LAS Abt. 127.21 FA L 24, Nr. 26, 4.-9.3.1779, Friedrich Rantzau an seinen Sohn Hans.

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c) Die Altonaer Korrespondenz: Eigentlich hat der Vater den zukünftigen Lebensweg seiner beiden ältesten Söhne schon Ende 1776 in die für adelige Standespersonen übliche Bahnen geleitet. Für den ältesten Sohn Detlev hat er ein Bewerbungsgesuch als Kammerjunker, für Hans eines als Leutnant bei der Garde in dänischen Diensten verfasst; beide Gesuche sind bewilligt worden. 28 Der Zeitpunkt des Dienstantritts soll sich nach dem Abschluss des Unterrichts der Kinder richten und ist noch nicht fixiert. Friedrich Rantzau lässt es damit aber nicht genug sein. Neben der mangelhaften moralischen Reife seines Sohnes Hans sieht er auch als Problem an, dass die schlechten schulischen Leistungen des Jungen eine erfolgreiche Laufbahn beim Militär verhindern könnten. Während er selbst seinerzeit ohne weitere Vorbildung von seinem Vater dem preußischen Militär überantwortet worden ist, 29 hält er es offenbar für erforderlich, dass Hans sich schon im voraus die für einen Offizier gefragten Kenntnisse in Mathematik und Sprachen aneignet. Anscheinend teilen nicht alle Verwandten diese Auffassung, doch kann sich Friedrich Rantzau durch Graf Rantzau von Oppendorf, den Ältesten des Geschlechtes der Rantzaus, bestätigt sehen: Die „großen Herren“ verlangten nunmehr, aus einem Offizier jederzeit einen Minister machen zu können, sonst ließen sie ihn nicht aufsteigen. Detlev Rantzau tritt dafür ein, dass ein Adelssohn zunächst gut ausgebildet und vor allem moralisch gefestigt werden müsse, um auf dieser Grundlage seinen Weg nach eigener Neigung und Begabung zu wählen. 30 Soweit geht Friedrich offenbar nicht. Gleichwohl greift er wegen Hans’ weiterer Bildung und Erziehung zu dem bislang von ihm unerprobten Mittel, diesen am Gymnasium in Altona einzuschreiben und aus dem Haus zu geben. Zuvor hat er noch eine weitere Enttäuschung hinnehmen müssen. Der eigens für Hans angestellte Hofmeister hat sich schon nach wenigen Monaten wieder auf einen besseren Posten wegbeworben. Dabei hatte Friedrich Rantzau im Vorfeld Kontakte spielen lassen, darunter zu dem ausgewiesenermaßen reformorientierten Pädagogen und Professor an der Kieler Universität, Martin Ehlers, um sich bei der Suche nach einem geeigneten Kandidaten und in der Frage, welche Arbeitskonditionen man gewähren müsse, beraten zu lassen. Die Frage ist nicht zuletzt, ob für Hans ein Lehrer zur Verfügung steht, der nicht nur über die fachliche Kompetenz verfügt, sondern auch über die

28

29 30

Vgl. Vgl. LAS Abt. 127.21 FA L 6, Nr. 51-59, Korrespondenz wegen der Ernennung der beiden ältesten Söhne Friedrich Rantzaus zum Kammerjunker bzw. Leutnant bei der Garde. Vgl. LAS Abt. 127.21 FA L 53, nicht nummerierte Papiere Friedrich Rantzaus. LAS Abt. 127.21 FA L 23, Nr. 71, undatiert, Graf Rantzau von Oppendorf an Friedrich Rantzau.

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Bereitschaft zu ständiger Aufsicht und über den richtigen Umgangston mit dem adligen Zögling. 31 Hans wird Ende 1779 beim Subrektor des Altonaer Gymnasiums, Marcus Wilhelm Müller, einquartiert und soll von diesem zusätzlich Privatstunden bekommen. Der mittlerweile 15-jährige Hans erhält in Altona auch Konfirmandenunterricht. Er wird dort öffentlich und in Anwesenheit seines Vaters und seiner beiden älteren Geschwister konfirmiert. 32 Freilich geht Friedrich Rantzau auf das Ereignis in seinen Tagebüchern nicht ein, während er die Konfirmation von Hans’ Geschwistern als festlichen Akt auf Breitenburg im Kreis der Familie festgehalten hat. Friedrich Rantzau verzichtet nun auf seine direkte Kontrollgewalt, besucht Hans in Altona nur ausnahmsweise, lässt ihn lediglich in den Ferien nach Breitenburg kommen und beschränkt sich auf einen Briefwechsel mit Hans und dessen Lehrer. Im Folgenden interessieren besonders die Briefe des Lehrers sowie die vereinzelten, als Kopien gekennzeichnete Briefe, die Friedrich Rantzau nach Altona an den Subrektor Müller gesandt hat. Trotz aller Anstrengungen seitens des Vaters und des Lehrers bringt Hans’ Aufenthalt in Altona nicht den erhofften Lern- und Erziehungserfolg, sondern stürzt den Vater in neue Verlegenheiten; der Versuch wird 1781 nach anderthalb Jahren vorzeitig abgebrochen. Zunächst bemühen sich der landadelige Vater und der bürgerliche Lehrer möglichst unbeeindruckt von Standesschranken zum Wohl des Sohnes zusammenzuwirken und sich einen gegenseitigen Vertrauensvorschuss zu gewähren. Man ist sich einig, dass Hans möglichst permanent unter Aufsicht stehen soll; Friedrich Rantzau hofft darüber hinaus, dass der Lehrer seinem Sohn die Neigung zur passenden Lektüre vermitteln könne, und gesteht sogar, dass er selbst bei diesem Versuch gescheitert und auch von Hans’ früherem Hofmeister enttäuscht worden sei. 33 Zwar wird beiden Parteien schnell deutlich, dass Hans einen ganz anderen Lebensstil als sein Lehrer gewohnt ist, dass er beispielsweise nicht von alleine aufsteht und sich nicht ohne Diener ankleidet und frisiert. Der Vater gibt, wie schon im Reisejournal, zu verstehen, dass sein Sohn Selbständigkeit in diesen Dingen lernen müsse. Doch vorerst plädiert er für eine bewährte Lösung: Ein Diener wird eingestellt.34 In anderen offenen Fragen dagegen, legt Friedrich Rantzau die Priorität auf 31

32 33 34

Vgl. die Beruhigungsversuche des als Vermittler nach Altona gesandten Mediziners und Aufklärers Philipp Gabriel Hensler (1733-1805), LAS Abt. 127.21 FA L 24, Nr. 30, 28.9.1779, Hensler an Friedrich Rantzau. Vgl. LAS Abt. 127.21 FA L 56, 12.4.1780. Vgl. LAS Abt. 127.21 FA L 24, Nr. 40, 29.11.1779, Friedrich Rantzau an M. W. Müller (Briefkopie). Vgl. LAS Abt. 127.21 FA L 24, Nr. 35, 25.10.1779, Friedrich Rantzau an M. W. Müller.

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Ausgabendisziplin und Zweckmäßigkeit und zeigt sich besorgt, seinen Sohn nicht zu verwöhnen und dessen Konsum- und Repräsentationswünsche nicht überhand nehmen zu lassen – zumal, wenn diese ihn vom Lernen ablenken könnten. Um den vertrauensvollen Austausch mit dem Lehrer zu erleichtern und nicht ständig an die Standesunterschiede zu erinnern, kündigt Friedrich Rantzau zu Beginn der Korrespondenz an, auf alle Titel und Ehrformeln zu verzichten. 35 Der Vater und der Lehrer sprechen sich gelegentlich ab, Hans ausgewählte Passagen aus ihrer beider Briefe vorzulesen oder im Gegenteil geheim zu halten, um dem Jungen gegenüber geschlossen aufzutreten. Vor allem sehen sich beide Seiten darin einig, dass es bei Hans in erster Linie um die moralische Reifung, die sogenannte Herzensbildung, um das empfindliche und leicht verführbare Wesen des Kindes zu festigen. 36 Nach wenigen Monaten kommt es zur ersten Bewährungsprobe. Hans hat das wertvolle, edelsteinbesetzte Petschaft seiner Schwester, ein Geschenk und Erbstück der Großmutter, an sich genommen und zerbrochen. Statt sein Missgeschick zuzugeben, hat er das Petschaft offenbar weit unter Wert an einen jüdischen Pfandleiher verkauft und sich dabei als Offizier und Grafensohn statt als Gymnasiast ausgegeben, als der er einen solchen Handel nicht hätte machen dürfen. 37 Es ist zuallererst der Lehrer und nicht etwa die in der Nähe lebende, eingeschaltete Verwandtschaft, der sich engagiert zeigt, Hans aus dieser misslichen Situation herauszuhelfen, zu vermitteln und Friedrich Rantzaus Befürchtungen eines öffentlichen, womöglich sogar in Kopenhagen bekannt werdenden Skandals zu zerstreuen versucht. Letztlich scheint der Konflikt die Annäherung zwischen Vater und Lehrer zu bestärken, weil er den Austausch über Erziehungsfragen intensiviert und Müller Mitgefühl für den Vater zum Ausdruck bringt. Es geht in den folgenden Briefen immer wieder um die angemessene Strafe, welche die innere Einstellung des Jungen positiv verändern soll, statt ihn verstockt zu machen. Der Lehrer führt auch an, was in anderem Kontext bereits Friedrich Rantzau einmal in seinen Tagebüchern als Hoffnung formuliert hat, nämlich dass Kinder eher durch den offenbaren Kummer der Eltern zum Bereuen ihres Fehlverhaltens geführt würden als durch praktische Strafmaßnahmen. 38 Wie 35 36

37 38

Vgl. LAS Abt. 127.21 FA L 24, Nr. 40, 29.11.1779, Friedrich an M. W. Müller (Briefkopie). Friedrich Rantzau unterstreicht sowohl in dem besprochenen Reisejournal Hans gegenüber als auch in der Korrespondenz mit dem Altonaer Lehrer das Ziel der Herzensbildung; vgl. LAS Abt. 127.21 FA L 24, Nr. 26, 4.-9.3.1779, Friedrich Rantzau an seinen Sohn Hans; LAS Abt. 127.21 FA L 24, Nr. 40, 29.11.1779, Friedrich an M. W. Müller (Briefkopie). Vgl. LAS Abt. 127.21 FA L 24, Nr. 1, 16.5.1780, M. W. Müller an Friedrich Rantzau. Vgl. LAS 127.21 FA L 24, Nr. 1, 16.5.1780, M. W. Müller an Friedrich Rantzau: „aus dem Brief, den ich zuletzt von Ew. Hochwohlgebohren zu erhalten die Ehre gehabt

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allerdings in der damals stark zunehmenden pädagogischen Literatur das Thema Bestrafung und Gewissensbildung umstritten ist, 39 so lehnen auch die Beiden weitergehende Sanktionen nicht per se ab und überlegen, welche Strafe sinnvoll sein könnte. Als Argument gegen eine Strafe gilt ihnen vor allem, dass Hans sie als Liebesentzug verstehen, oder dass sie ihn bloßstellen könnte. Der zeitweilige Entzug eines Schmuck- und Statussymbols wie der Uniform beispielsweise würde den Verdacht erwecken, dass Hans sich dieser Ehrenzeichen als unwürdig erwiesen haben könnte. 40 Gleichzeitig gehen beide Seiten aber offenbar davon aus, dass Hans sich gerade durch solch eine Strafe oder die bloße Androhung einer solchen nachhaltiger in seinem Verhalten beeinflussen lässt. Oft genug setzen sie sich mit seinen Wünschen auseinander, die um solche äußeren Attribute wie den Degen, die Uniform oder ein Pferd kreisen. Die Entscheidung für Diskretion mag als Zugeständnis an den vermeintlich sehr empfindlichen point d’honneur des Adelssprösslings erfolgen, 41 wie auch aus dem Interesse heraus, nicht selbst ins Gerede zu kommen. Umgekehrt markiert die Entscheidung für eine solche Strafe, dass das Vergehen als besonders schwerwiegend angesehen wird. Die Wogen scheinen sich wieder zu glätten, bis sich der Lehrer seinerseits von Hans schwer hintergangen glaubt und ihn des versuchten Diebstahls verdächtigt. 42 Dies leitet in der Folge auch den Vertrauensbruch zwi-

39

40 41

42

habe, sind dem H. Gr. Hans die Stellen vorgelesen, die nach meiner Meynung einen Eindruck auf sein Gemüth machen mußten und auch gemacht haben. Ist irgend eine Strafe wirksam: so muß es gewiß die seyn, die ein Sohn empfindet, wenn er sieht, daß er einem Vater, von dem er geliebt wurde, einen nagenden Kumer und körperliche Leiden verursacht hat; und diesen Gedanken habe ich bey H.Gr. Hans so lebhaft zu machen gesucht als es mir möglich war. Es war mir unmöglich, diese Stelle ihm vorzulesen, ohn daß ich selbst gerührt wurde und mich ganz in den kränkenden Gram versetzt fühlte.“ Zum Thema Strafe und Gewissen vgl. allgemein Begemann, Christian: Furcht und Angst im Prozeß der Aufklärung. Zu Literatur und Bewußtseinsgeschichte des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a. M 1987; Kittsteiner, Hans-Dieter: Die Entstehung des modernen Gewissens, Frankfurt a. M. 1995; vgl. Cardi, Claudia: Das Kinderschauspiel der Aufklärungszeit. Eine Untersuchung der deutschsprachigen Kinderschauspiele von 1769-1800, Frankfurt a. M., Bern, New York 1983, S. 239-243. Zum Uniformverbot nach dem Vorfall mit dem Petschaft vgl. LAS 127.21 FA L 24, Nr. 57, 16.6.1780, M. W. Müller an Friedrich Rantzau. Vgl. als Beispiel für Friedrich Rantzaus Wertlegung auf Diskretion LAS 127.21 FA L 6, Nr. 27, im April 1779, Friedrich Rantzau an den Herrn Feiermann (Briefkopie), der als Hofmeister für Hans arbeiten soll: „alle Klagen oder Reprochen in Gegenwart seiner Geschwister oder andere Leute wieder rathe ich. So bald Sie aber mit ihm alleine sind [...] ihn aber als denn mit ernsthafter Freundlichkeit zu sagen das das die Ursache sey warum sie aus der Gesellschaft oder von denen Spatziergang mit Ihnen weggegangen wären Sie hätten aber es ofendl. zu sagen den Schimpf nicht machen wollen.“ Vgl. LAS Abt. 127.21 FA L 24, Nr. 12, 4.7.1780, M. W. Müller an Friedrich Rantzau.

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schen Vater und Lehrer ein. Müller, der bislang darauf geachtet hat, Hans’ Vergehen nicht öffentlich werden zu lassen, will ihn nun in den Karzer der Schule einschließen lassen. Zwar bemüht sich der Subrektor gegenüber Friedrich Rantzau betont um höflichen Respekt, und er versichert ausdrücklich, dass er die eigentliche Ursache für die Karzerstrafe nicht habe bekannt werden lassen, so dass Außenstehende nur auf einen Jugendfehler und Studentenstreich schließen würden. Überhaupt kommt er erst am Ende seines Briefes und wie mit Überwindung auf den Vorfall zu sprechen und unterstreicht, dass es ihm sehr unangenehm sei, erneut eine Klage über Hans anbringen zu müssen. Er will den Brief nur auf Anraten Philipp Gabriel Henslers geschrieben haben, des einzigen Menschen, der von dem Vorfall wisse. 43 Spätestens hier wird klar, dass die Korrespondenz zwischen Lehrer und Vater keineswegs unbefangen und ohne Zurückhaltung erfolgt. Bald darauf beginnt Müller jedoch, erheblich zugespitzt zu formulieren. Statt mit abgewogen versöhnlichen Worten zu schreiben, schimpft er in einem langen, ganz dem moralischen Betragen von Hans gewidmeten Brief mit Ausdrücken wie „aufsässig“, „impertinent“ und „grobe bäurische Behandlung“. 44 Hans erscheint in den Geschichten, die sein Lehrer zu berichten hat, fast wie eine Karikatur des oberflächlichen Adelssprosses, der Leichtfertigkeit, Dünkelhaftigkeit, einen Hang zu verschwenderischer Vergnügungssucht und Verlogenheit vereint mit Faulheit, Schulschwänzerei und Leistungsschwäche. Den Bediensteten enthalte er das ihnen zustehende Trinkgeld vor, seinem Lehrer begegne er mit unhöflichem, aufsässigem Benehmen, die Einladung von angesehenen Bürgerlichen weise er mit Herablassung ab, andererseits weiche er schüchtern zurück, wenn es um das Halten einer öffentlichen Rede gehe. 45 Einzig Trunksucht und Ausschweifungen mit dem weiblichen Geschlecht will er ihm nicht vorwerfen, auch wenn Hans sich damit gerne gegenüber den Bediensteten rühme. In verschiedenen Kritikpunkten mag Friedrich Rantzau durchaus mit dem Subrektor Müller übereinstimmen, wenn man an seine Vorwürfe im Reisejournal denkt. Parallelen finden sich ebenso in der zwiespältigen Haltung, was den Umgang der eigenen Kinder mit den unteren Ständen anbelangt. Grundsätzlich will man offenbar den Kontakt mit diesen eingeschränkt wissen, weil man sie für ungebildeter, unkultivierter und moralisch weniger entwickelt ansieht und ihren schlechten Einfluss fürchtet. Andererseits sollen die eigenen Kinder lernen, in der Begegnung mit jenen Schichten Menschenfreundlichkeit einzuüben, statt mit Gleichgültigkeit und Abschätzigkeit aufzutreten. Die harten Vorwürfe des Lehrers lassen zuallererst allerdings an die 43 44 45

Vgl. LAS Abt. 127.21 FA L 24, Nr. 12, 4.7.1780, M. W. Müller an Friedrich Rantzau. Vgl. LAS Abt. 127.21 FA L 24, Nr. 3, 5.1.1781, M. W. Müller an Friedrich Rantzau. Vgl. LAS Abt. 127.21 FA L 24, Nr. 3, 5.1.1781, M. W. Müller an Friedrich Rantzau.

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damals verbreitete Adelskritik denken, mit der sich bürgerliche Autoren nicht zuletzt zur eigenen Selbstvergewisserung gegenüber dem Adel absetzten. 46 Demnach haben sich bei Müller latent vielleicht von Anfang an vorhandene, grundsätzliche Vorbehalte gegen den Adel in den Vordergrund geschoben. Auf die Abkühlung des Verhältnisses von Friedrich Rantzaus Seite lässt schließen, dass Müller sich anscheinend verstärkt aufgefordert sieht, Rechenschaft über die Verwendung des Geldes für Hans abzulegen. Außerdem wird deutlich, dass Hans genügend Gelegenheit findet, sich der Aufsicht seines Lehrers zu entziehen, was doch stets die Sorge und Befürchtung seines Vaters bei der Anstellung von Hofmeistern gewesen ist. 47 Somit mögen infolge des Verdachts, dass Hans seinen Lehrer bestehlen wollte, auf Seiten des Lehrers wie des Vaters virulente Vorurteile hochgekommen sein, welche die Kommunikation überlagert und in eine eigentlich ungewollte Richtung gedrängt haben. In seinen letzten Briefen zeigt der Lehrer sich allerdings wieder etwas versöhnlicher. Er unterstreicht noch einmal als eine Art Fazit, Hans hasse „das Böse und den Bösewicht“, 48 könne aber oft nicht zwischen Tugend und Laster unterscheiden. Er selbst habe es daher immer als seine Aufgabe angesehen, zu dieser Unterscheidung anzuleiten. Müller attestiert Hans zwar weiterhin, dass dieser in den meisten Schulfächern schwach sei, andererseits führt er nun aber mit Freude eine Episode an, in der sich nach seinem Dafürhalten Hans selbstlos um andere „sehr verdient“ gemacht habe. 49 Vater und Lehrer teilen die Einschätzung, Hans sei kein böser Charakter, doch leichtsinnig, unerfahren und verführbar; er vergesse schnell alle guten Vorsätze. 46

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Die stereotype, vom Typus des ungehobelten Landjunkers und des blasierten Hofadeligen ausgehende Adelskritik schlägt sich auch in der Kinderliteratur nieder, die in den Literaturlisten der Kinder Friedrich Rantzaus aufgeführt sind; vgl. beispielsweise die Inhaltsanalyse zu „Niedersächsisches Wochenblatt für Kinder“ von J. L. Benzler (Hg.) (1774-1776) bei Brüggemann/Ewers: Handbuch Kinder- und Jugendliteratur, Sp. 124-131. Schon auf Breitenburg hat Friedrich Rantzau darauf bestanden, dass der Hofmeister im Zimmer seiner Söhne übernachten müsse. Vgl. LAS Abt. 127.21 FA L 6, Nr. 27, im April 1779, Friedrich Rantzau an Herrn Feiermann (Briefkopie), Hans’ zukünftigen Hofmeister. Um die Zeit herum, als Friedrich Rantzau seinen Sohn Hans aus Altona zurückzuholen beschließt, ist die Verwandtschaft durch den tragischen Duelltod eines Neffen Amoene Rantzaus in Bestürzung versetzt. Ein Bruder Friedrich Rantzaus beispielsweise sieht darin ein warnendes Beispiel für Hans: LAS 127.21 FA L 10, nicht nummeriert, 21.12.1780, Peter Rantzau an seinen Bruder Friedrich Rantzau. Vgl. den verstimmten Brief, den Müller nach der Benachrichtigung, dass Hans ihn verlassen werde, verfasst hat, LAS Abt. 127.21 FA L 24, Nr. 71, 21.2.1781, M. W. Müller an Friedrich Rantzau. Vgl. LAS Abt. 127.21 FA L 24, Nr. 76, 20.3.1781 M. W. Müller an Friedrich Rantzau.

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Das dient dem Vater wiederholt als Argument, so auch als er in einem Brief an Hans’ zukünftige Vorgesetzte um einen Aufschub des Dienstantritts im fernen Kopenhagen bittet, was ihm verständnisvoll gewährt wird. 50 Hans soll nun für eine Zeit unter der Obhut seines Onkels, in dem von diesem kommandierten Infanterieregiment auf den Militärdienst vorbereitet werden, das in Itzehoe stationiert und damit auch von der Herrschaft Breitenburg leicht zu erreichen ist. Die Haltung, dass die verinnerlichte moralische Bildung bzw. die Ausprägung eines Gewissens von zentraler Bedeutung bei der Erziehung eines Kindes sei, ist in der damaligen pädagogischen Literatur verbreitet und steht im Zusammenhang mit der Diskussion um die sinnvolle Strafanwendung. Sie vertritt damit einen anderen, nach innen gerichteten Ansatz als die für den Adelsnachwuchs früherer Generationen gebräuchlichen Lehren der Politischen Klugheit. 51 Jene haben, ausgehend von einem negativen Menschenbild bei Hofe, in erster Linie vermitteln wollen, wie man sich durch geschliffene äußere Formen unangreifbar macht und gegen Konkurrenten und Widersacher durchsetzt. Nicht, dass Friedrich Rantzau dieses pragmatische Denken nicht vertraut gewesen wäre. 52 Wenn er die Überzeugung vertritt, der Wert eines Menschen hänge von dessen moralischer Integrität ab, muss dies keineswegs bedeuten, dass das eingeschliffene Denken in Ständehierarchien, dass sich zuallererst an äußeren Formen festmacht, seine Geltungskraft verloren hat. Bevor er sich entschließt, Hans aus Altona fortzunehmen, hat dieser ihm auf verschiedene Fragen zu antworten, unter anderem zu seinen Leistungen in den Schulfächern. 53 In einem anderen Brief versucht Hans speziell darüber Auskunft zu geben, ob er Fortschritte in Mathematik gemacht, sich in französischer Konversation geübt habe und sich in Gesellschaften in der Unterhaltung zu behaupten wisse. 54 Was Friedrich Rantzau demnach für unabdingbar hält, damit sein Sohn den anvisierten Lebensweg erfolgreich bestreiten kann, sind anwendungsorientierte Fachkenntnisse und nicht zuletzt gesellschaftlicher Schliff.

50 51 52

53 54

Vgl. LAS Abt. 127.21 FA L 6, Nr. 62, 13.2.1781, Friedrich Rantzau an den General, Baron von Haxthausen (Briefkonzept). Vgl. Geitner, Ursula: Die Sprache der Verstellung. Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert, Tübingen 1992. In einem Verzeichnis von Hans’ Büchern findet sich z.B. auch Julius Bernhard von Rohrs in mehrfacher Auflage erschienener „Unterricht Von der Kunst der Menschen Gemüther zu erforschen“ (1714); vgl. LAS Abt. 127.21 FA L 6, Nr. 15. Vgl. LAS Abt. 127.21 FA L 24, Nr. 80, 16.11.1780, Hans an Friedrich Rantzau. Vgl. LAS Abt. 127.21 FA L 24, Nr. 23, 21.10.1780, Hans an Friedrich Rantzau.

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Friedrich Rantzau betreibt in seinen Aufzeichnungen keine Selbstbefragung oder gar Selbstkritik. 55 In seinen Tagebüchern geht er scheinbar selbstverständlich mit Sprachformeln und Typisierungen um, ohne diese an der Wirklichkeit zu messen. Gleiches gilt auch für den Briefwechsel mit dem Lehrer Müller. Beide Seiten scheinen direkte persönliche Angriffe zu vermeiden. So muss offen bleiben, inwiefern Friedrich Rantzau die Kritik an Hans auf sich bezieht und inwieweit er sein Selbstbild als Vater infrage gestellt sieht. In der traditionellen Hausväterliteratur wird entlastend thematisiert, dass Eltern trotz großer Bemühungen bei der Erziehung ihres Kindes manchmal erfolglos bleiben. Sie müssten dann ihr „Kreuz“ tragen und dürften sich selbst keine Vorwürfe machen. 56 Im 18. Jahrhundert erhält die Erziehung jedoch einen Bedeutungszuwachs; sie wird zur Wissenschaft erklärt, zugleich wird die Verantwortung der Eltern für den Erziehungserfolg bei ihren Kindern verstärkt betont. 57

II. Die Entscheidungsgewalt der Mutter Bislang ist ausgeblendet geblieben, welche Position Amoene Rantzau als Ehefrau und Mutter im Konflikt mit Hans einnimmt. Dies hängt mit dem überlieferten Quellenbestand zusammen. Das Breitenburger Familienarchiv wird von den Tagebüchern Friedrich Rantzaus dominiert; sie dokumentieren seinen Anspruch, in allen Fragen um Gutswirtschaft und Familie die Entscheidungsgewalt zu haben. Von Amoene Rantzau sind zwar zahlreiche zumeist an ihren Mann gerichtete Briefe erhalten, deren Überlieferung ist aber diskontinuierlich. Offenbar hat Friedrich Rantzau Wert darauf gelegt, Zeugnis über sein eigenes Tun abzulegen, Papiere von den Vorfahren zu sammeln und zudem seine Korrespondenz zu verwahren, in späteren Jahren allerdings mit deutlich abnehmendem Elan. Für Amoene Rantzau gilt dies nicht. Den überlieferten Quellen zufolge scheint sie sich im Konflikt mit Hans lange weitgehend zurückgehalten bzw. 55

56 57

Vgl. hierzu den Brief, in dem Friedrich Rantzau Müller den Abgang von Hans ankündigt LAS Abt. 127.21 FA L 24, Nr. 63, Friedrich Rantzau an M. W. Müller (Briefkopie). Hans’ moralisches Betragen entspreche weder seiner Geburt, seiner Erziehung noch seinem Alter. Er habe als Vater keine Unkosten gescheut und wisse bei diesem Sohn nicht weiter. Hoffmann: Hausväterliteratur, S. 165. Vgl. Kittsteiner: Gewissen, S. 352-353, der die Rezeptionsgeschichte des biblischen Gleichnisses „Der verlorene Sohn“ als Indiz für einen Mentalitätswandel deutet. Im 17. Jahrhundert habe „Der verlorene Sohn“ noch zu den beliebtesten Gleichnissen gezählt. Die Aufklärer hätten sich jedoch zunehmend von dem Gleichnis distanziert bzw. es uminterpretiert, da sie den einfachen Wechsel von dem Sünden- in den Gnadenstand durch Reue und Buße abgelehnt und stattdessen die Erziehung zum vorausdenkenden Gewissen propagiert hätten.

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Friedrich Rantzau in seinem Vorgehen unterstützt zu haben. So beinhaltet der Altonaer Briefwechsel in seinem heutigen Überlieferungszustand keine eigenen Schreiben von Amoene. Sie ist offenbar auch nicht persönlich zu Hans’ Konfirmation nach Altona gefahren. Immerhin gibt es vereinzelte Bemerkungen in den Briefen von Vater und Sohn, wonach sie sich doch eingeschaltet und auf ihren Mann und ihren Sohn eingewirkt hat. So schreibt Hans, der öffentliche Reden und Auftritte scheut und damit ein wichtiges Erziehungsziel blockiert, kurz vor seiner Konfirmation an seinen Vater, er lasse sich nur wegen seiner Mutter öffentlich konfirmieren. 58 Aus späteren Jahren sind jedoch eine ganze Reihe von Briefen erhalten. Amoene Rantzau spart dabei nicht mit strengen Mahnungen, obwohl sie sich durch die dadurch hervorgerufenen Verstimmungen getroffen zeigt, und begründet ihre Einlassungen ihrem mittlerweile Offizier gewordenen Sohn gegenüber mit ihrer Autorität als „getreue Mutter“. 59 Nachdem Hans ihr offenbar vorgeworfen hat, die anderen Geschwister ihm vorzuziehen, bestätigt sie, dass sein liebloses Verhalten ihr gegenüber, seine Schulden und sein wenig christlicher Lebenswandel Einfluss auf ihre Gefühle hätten. 60 Nachdem Hans gegen die Bedenken der Eltern geheiratet hat und Familienvater geworden ist, ermahnt sie ihn, lieber für die Erziehung seiner Kinder zu sparen, auf das Reiten, Wirtshausbesuche und Glücksspiele zu verzichten und sich auf die eigene junge Familie zu konzentrieren. 61 Sie deutet diesen Abschied vom gewohnten Lebensstil positiv – anders als ihr Mann, der von einer zeitweiligen Einschränkung spricht –, 62 und vertritt etwa die Meinung, Spaziergänge seien gesünder als Reiten. 63 58 59

60 61 62

63

Vgl. LAS Abt. 127.21 FA L 24, Nr. 56, 7.4.1780, Hans an Friedrich Rantzau. Vgl. LAS Abt. 127.21 FA L 23, Nr. 84, 4.4.1793, Amoene Rantzau an ihren Sohn Hans. Vgl. den folgenden Brief, in dem Amoene Rantzau ihre Enttäuschung zeigt, dass ihr Sohn ihr noch nicht geantwortet hat. Sie habe ihre Mahnungen sehr vorsichtig abgefasst und den Brief vorher ihrem Mann zu lesen gegeben und ausserdem kopieren lassen, um einem jeden zeigen zu können, was sie geschrieben habe: „ich werde nicht aufhören als Mutter zu rathen, wie auch bey meinen 3 jüngsten Söhnen thue, so es als gehorsame Kinder meinen Rath folgen u sich als mich liebende Kinder gegen mich betragen“, LAS Abt. 127.21 FA L 23, Nr. 82, 22.4.1793, Amoene Rantzau an ihren Sohn Hans. LAS Abt. 127.21 FA L 23, Nr. 74-76, 1.12.1786, Amoene Rantzau an ihren Sohn Hans. Vgl. LAS Abt. 127.21 FA L 23, Nr. 84, 4.4.1793, Amoene Rantzau an ihren Sohn Hans. Friedrich Rantzau drängt seinen Sohn, einige Zeit zu vergessen, dass er Graf sei, und gerne „groß tun“ wolle, vgl. LAS Abt. 127.21 FA L 44, Briefkopienbuch, 19.12.1788, Friedrich Rantzau an seinen Sohn Hans. Vgl. LAS Abt. 127.21 FA L 23, Nr. 84, 4.4.1793 Amoene Rantzau an ihren Sohn Hans.

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Darüber hinaus bittet sie außenstehende Korrespondenzpartner wegen der ungeklärten Erbschaftsfrage um ihren Rat, denn es zeichnet sich ab, dass der älteste Sohn Detlev aus Krankheitsgründen die Erbfolge nicht wird antreten können. Schließlich ist sie es, die ein Journal führt über Detlevs wechselhaften Gesundheitszustand als Beleg dafür, dass sie als Eltern ihr Möglichstes getan hätten, wobei sie neben eigenen Versuchen, Detlev zu stabilisieren, auch die ihres Mannes betont. 64 Friedrich Rantzaus Tagebuchaufzeichnungen aus dieser Zeit sind dagegen unterbrochen oder nicht erhalten. Es stellt sich die Frage, ob Friedrich Rantzaus schablonenhaftes Selbstbild in seinen Tagebüchern nicht vielleicht auch eine Abwehrreaktion gegen die realen, weniger eindeutigen Machtverhältnisse in seiner Ehe bedeutet, ist doch seine Frau die eigentliche Erbherrin der Herrschaft Breitenburg. Das lässt sich zwar nicht eindeutig beantworten, doch immerhin ist zu verfolgen, dass über die Jahre hinweg beide Eheleute um die Auslegung ihrer Rollen gerungen haben. Dabei ging es ihnen sowohl um die Gefühlsebene, um den Anspruch, dem Anderen Liebe entgegenzubringen, wie auch um das Austarieren der Entscheidungsgewalt. Offenbar hat keiner von ihnen dauerhaft den Ton angegeben. Amoene Rantzau hat wohl nicht selten abweichende Auffassungen gegenüber ihrem Mann vertreten. Zudem hat sie Argumentationsmuster, die ihr Mann gebraucht, etwa die Hervorhebung ihrer Mutterrolle oder die Anspielung auf ihre geringe körperliche und seelische Belastbarkeit so zu nutzen gewusst, dass diese mal weibliche Fügsamkeit demonstrieren, mal auch der Durchsetzung ihres Willens dienen konnten. 65 a) Amoene Rantzau in den Tagebüchern ihres Mannes: Friedrich Rantzaus Tagebücher lassen im Unklaren, inwiefern seine Frau in den Konflikt mit Hans einbezogen gewesen ist. So schreibt er, als es darum geht, Hans nach Altona zu schicken, nichts entscheiden zu wollen, bevor er sich mit seiner Frau besprochen habe. 66 Nach Hans’ Vergehen mit dem Petschaft notiert er hingegen, dass er die ihm selbst so nahegehende Angelegenheit seiner Frau verschwiegen habe, da er sich ihren Kummer und Sorge vorstellen könne

64 65

66

Vgl. LAS Abt. 127.21 FA L 50, Schreibkalender Amoene Rantzaus mit der Aufzeichnung der Krankengeschichte ihres ältesten Sohnes. Zur Mutterschaft als Legitimitätsstrategie vgl. Opitz, Claudia: Mutterschaft und weibliche (Un-)Gleichheit in der Aufklärung, in: dies./Weckel, Ulrike/Kleinau, Elke (Hg.): Tugend, Vernunft und Gefühl. Geschlechterdiskurse der Aufklärung und weibliche Lebenswelten, Münster u.a. 2000, S. 91; vgl. Toppe, Sabine: Mutterschaft und Erziehung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Kleinau, Elke/Opitz, Claudia (Hg.): Mädchen- und Frauenbildung I: Vom Mittelalter bis zur Aufklärung, Frankfurt a.M., New York 1996, S. 346-359. Vgl. LAS Abt. 127.21 FA L 56, 22.9.1779.

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und sie daher allein tragen wolle. 67 Diese Haltung, unangenehme Vorkommnisse mit den Kindern, Nachrichten über Feuer oder Unglücksfälle vor der eigenen Frau möglichst zu verbergen, formuliert Friedrich Rantzau wiederholt und begründet sein Zögern damit, dass sie stark beunruhigt und ihre labile Konstitution angegriffen werden könne. Umgekehrt vermerkt er bei Krankheitsfällen der Kinder immer wieder, dass seine Frau sich vor Sorge aufreibe. Krankheit ist ein immer mitschwingendes Thema, über das Friedrich Rantzau nicht zuletzt seine eigene Sorge, sein Mitgefühl aber auch seine Hilfsbereitschaft zum Ausdruck bringt; die vielen Unpässlichkeiten seiner Frau bieten immer wieder einen Anlass, sich als fürsorglicher Ehemann zu zeigen. Während Friedrich Rantzau großen Wert darauf legt, sich selbst als den verantwortlichen Gutsherrn darzustellen, schenkt er Amoene Rantzaus Wirken als adliger Gutsherrin wenig Notiz in seinen Tagebüchern. Statt sie nach dem Modell des hausväterlichen Hofes als praktisch tätige bzw. delegierende Gutsherrin darzustellen, verzeichnet er ihren Besuchsverkehr, beschränkt sich also auf repräsentative Tätigkeiten. 68 Vor allem scheint er seine Frau in den Tagebüchern durch die Brille von ständeübergreifenden, die „naturgegebene“ männliche Führungsrolle unterstreichenden Geschlechterstereotypen zu betrachten. Diese eingeschränkte Sichtweise gilt, obwohl es auch in der weitverzweigten Familie Rantzau adlige Erbherrinnen gegeben hatte. Ihre Zweisamkeit thematisiert er eher zurückhaltend. Niemals stellt er dabei die Ehe nur als Zweckgemeinschaft dar oder äußert gar, dass der Eheschließung strategische Erwägungen zugrunde gelegen haben, sondern er sucht vielmehr Zeichen der Verbundenheit und Zuneigung festzuhalten. 69 Zwar bringt Friedrich Rantzau Liebesgefühle zumeist nur indirekt zum Ausdruck, aber er führt doch gerne an, dass man sich freut, sich gegenseitig zu beschenken, zu „surprenieren“, den anderen zu begleiten oder bei der Rückkehr von längeren Fahrten ein Stück des Weges entgegenzukommen. 70 Sehr 67 68

69 70

Vgl. LAS Abt. 127.21 FA L 56, 27.4.1780. Den Grund seines Kummers über Hans vertraut er auch seinem Tagebuch nicht an. Vgl. Frühsorge, Gotthardt: Die Einheit aller Geschäfte. Tradition und Veränderung des „Hausmutter“-Bildes in der deutschen Ökonomieliteratur des 18. Jahrhunderts, in: Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung 3, Wolfenbüttel 1976, S. 137-157; Lesemann, Silke: „dass eine gelehrte frau keine wirtinn sey“. Zur Bildung und Sozialisation landadliger Frauen im 18. Jahrhundert, in: Opitz/Weckel/Kleinau (Hg.): Tugend, Vernunft und Gefühl, S. 249-269. Lesemann, Silke: Liebe und Strategie. Adlige Ehen im 18. Jahrhundert, in: Historische Anthropologie 8 (2000), S. 189-207. Vgl. Friedrich Rantzaus Überraschung zum Hochzeitstag im Jahr 1779, LAS Abt. 127.21 FA L 56, 23.12.1779: „gegen Abend arangierte ich in meiner Stuben ei-

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viel deutlicher zeigt er sie als bemühte Eltern. Als sein Ideal erscheint das Weihnachtsfest, in der er die liebevolle Mütterlichkeit seiner Frau zum Ausdruck bringt und sie als diejenige hervorhebt, welche einen Lichterbaum zur Tradition macht, dabei die ganze Hausgemeinschaft, also auch die Bediensteten, versammelt und mit sorgfältig über das ganze Jahr ausgewählten Geschenken bedenkt. 71 Trotz der offensichtlichen Sehnsucht nach Harmonie hält Friedrich Rantzau auch Streitigkeiten mit seiner Frau fest. Seine Darstellung zeigt die klassischen Geschlechterstereotypen, indem er sein eigenes Handeln als vernünftig betrachtet, während seine Frau starrsinnig und unvernünftig agiert. Gleichzeitig kann er dabei auffallend emotional schreiben. Die Streitigkeiten beziehen sich im Wesentlichen auf die Behandlung von Krankheiten der Kinder, auf Amoene Rantzaus Schwangerschaften, auf die Bediensteten. Friedrich Rantzau gesteht demnach seiner Ehefrau selbst als Mutter und als Hausherrin keine eigene Autorität zu, handelt aber trotzdem gegebenenfalls nach ihrem Willen. Er zeigt sich nachgiebig und rücksichtsvoll, äußert aber doch mit anklagenden und die persönliche Betroffenheit zum Ausdruck bringenden Worten, dass seine Frau nach seinem Dafürhalten seinen Ängsten und Ratschlägen nicht genügend Gehör und Vertrauen schenkt, sondern sich eher vom Gerede und den Einflüsterungen insbesondere weiblicher Bediensteter leiten lasse. 72 Meinungsverschiedenheiten oder gar Streitigkeiten über andere Themen deuten sich nur zwischen den Zeilen an, er expliziert sie nicht weiter. Eine große Ausnahme bildet ein Eintrag aus dem Jahr 1783, der auf die Belastung der Ehe durch Friedrich Rantzaus häufigen Rückzug nach Rosdorf schließen lässt. Friedrich Rantzau schreibt, er wünsche, von Gott aus dem Leben und aus dem Dienst genommen zu werden, „der mir je lenger je saurer gemacht wirt, aus Herschsucht unter der Larfe einer zährtlichen Liebe“. 73 b) Amoene Rantzau in ihren Briefen: Amoene Rantzaus zahlreiche Briefbotschaften an ihren Mann sind dagegen stets mehrstimmig. Selbst dann, wenn

71

72 73

nen Tisch mit Lichter und legte das so ich meiner frau zum Weinachten geben wolte darunter ein Ring von meinen Haaren mit meinen Nahmen wahr, darauf nebst Zucker kuchen ect. worauf ich Conrath eine Klocke gab, der gantz unerwartet damit klingeln muste, wie diese kleine Spaß vorbei wahr, gingen wir zu Tische und aus einander.“ Vgl. LAS Abt. 127.21 FA L 64, 24.12.1765; LAS Abt. 127.21 FA L 65, 24.12.1767; LAS Abt. 127.21 FA L 65, 24.12.1770. Zum Weihnachtsfest als Symbol der bürgerlichen Familie vgl. Weber-Kellermann, Ingeborg: Das Weihnachtsfest. Eine Kulturund Sozialgeschichte der Weihnachtszeit, München, Luzern, Frankfurt a. M. 1978. Vgl. LAS Abt. 127.21 FA L 64, 10.12.1765; LAS Abt. 127.21 FA L 64, 30.11.1764; LAS Abt. 127.21 FA L 65, 18.12.1771. LAS Abt. 127.21 FA L 56, 6.8.1783.

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sie harte Vorwürfe anbringt, ist sie auf vielerlei Weise und mit vielerlei Worten bemüht, ihre Liebe auszudrücken, wie auch ihren Wunsch, seiner Liebe versichert zu werden. Insbesondere als die Kinder noch klein sind, übermittelt sie gerne deren Liebesbekundungen und versucht über die Elternliebe auch die Paarbeziehung zu stärken. Demnach will auch Amoene Rantzau ihre Ehe von Gefühlen getragen sehen, wobei das Medium des Briefes ihr dafür eine breite Ausdruckspalette eröffnet, die Friedrich Rantzau in seinen mehr kalenderartig knappen Tagebüchern für sich so nicht findet. 74 Amoene Rantzaus Briefe thematisieren allerdings durchaus auch Konflikte des Ehepaares um die Entscheidungsgewalt in der Gutswirtschaft. Ein Beispiel ist hierfür das Jahr 1766, das in Amoenes Briefen als Krisenjahr aufscheint. Sie bittet ihren Mann sogar, sich für die Zeit seiner Brunnenkur getrennt von ihr auf Rosdorf aufzuhalten. 75 Aus ihrer Perspektive ist ihr Mann stets mit ihr unzufrieden, erträgt ihre Gesellschaft schlecht. Sie argumentiert so wie gelegentlich ihr Mann, als gebe es das Ideal der harmonischen Hausgemeinschaft gar nicht, und meint, die Einmischungen der Bediensteten und anderen Hausbewohner, von ihr als Favoriten ihres Mannes bezeichnet, trügen mit Schuld an der Ehekrise. Diese leisteten nur ihrem Mann, nicht aber ihren Anweisungen Folge. Auch sie wirft ihrem Mann mangelndes Vertrauen vor. Er traue ihr nicht zu, Breitenburg während seiner Abwesenheit gut zu leiten. 76 Tatsächlich begründen, abgesehen von dem Umstand, dass Amoene die Erbherrin ist, allein schon die strukturellen Charakteristika eines größeren landadeligen Haushaltes mit vielfältigen Verantwortungsbereichen und den nicht selten mehrtägigen Abwesenheiten des Ehemannes, eine relative Selbständigkeit und Entscheidungsgewalt der Frau. Dabei gehen Amoene Rantzaus Aussagen mit dem patriarchalischen Hausvatermodell insofern konform, als dass sie ihre Herrschaft auf Breitenburg von ihrem Mann ableitet und sich nur als seine Vertreterin während seiner Abwesenheit beschreibt. Sie betont darüber hinaus immer wieder die Charakter- und Glaubensstärke ihres Mannes und spricht umgekehrt von ihrer eigenen gesundheitlichen 74

75 76

Zur zeitgenössischen empfindsamen Briefkultur und die Diskussion um deren weibliche Prägung vgl. Wegmann, Nikolaus: Diskurse der Empfindsamkeit. Zur Geschichte eines Gefühls in der Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1988; Koschorke, Albrecht: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des achtzehnten Jahrhunderts, München 1999; Reinlein, Tanja: Der Brief als Medium der Empfindsamkeit. Erschriebene Identitäten und Inszenierungspotenziale, Würzburg 2003. LAS Abt. 127.21 FA L 29, 1.7.1766, Amoene Rantzau an ihren Ehemann. Vgl. LAS Abt. 127.21 FA L 23 Nr. 89-90, 5.11. und 7.11.1766, Amoene Rantzau an ihren Ehemann (zusammengesetzter Brief, Unterstreichungen im Original): „aber du must mir auch mehr als Domestiquen glauben u zutrauen, u etwas Freyheit laßen, du würst hören das ich nicht mißbraucht habe die Zeit meiner von dir gegebener Herrschaft.“

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Schwäche. Schließlich bemüht sie sich um versöhnliche Töne und lässt einen Ring mit Inschrift und zwei Herzen anfertigen und ihm zusenden. 77 Die Harmonie in der Familie nicht zu zerstören, ist ihr auch in späteren Jahren ein erklärtes Anliegen, als sie sich wegen der Krankheit ihres ältesten Sohnes zu einer Neuregelung der Erbfolge genötigt sieht. Darüber hinaus treibt sie die Furcht um, dass ihre Entscheidung angefochten werden könnte, würde sie der herkömmlichen Erbfolge nach Geburtsalter keine Rechnung tragen. Sie hat selbst als jüngste Tochter und designierte Erbfolgerin solche Erfahrungen gemacht, dass ihre älteren Schwestern sich übergangen sahen. Obwohl der letztlich gütlich zustande gekommene Erbschaftsvergleich mit ihren Geschwistern ihr seinerzeit die Entscheidung der Erbnachfolge ausdrücklich zugesprochen hat, 78 holt sie sich bei dem Göttinger Rechtsgelehrten Johann Stefan Pütter eine zusätzliche Absicherung für ihr eigenes Testament. 79 Der vielversprechende jüngste Sohn Conrad wird von ihr als Erbfolger eingesetzt. 80 Amoene Rantzau hat daran festgehalten, selbst über die Erbnachfolge auf Breitenburg zu bestimmen und dabei zum wichtigsten Kriterium gemacht, welchen ihrer Söhne sie am geeignetsten für die diese Aufgabe ansah. Unbedingt wollte sie die im Falle des vorzeitigen Ablebens ihres Mannes drohende Rechtslage verhindern, von der Regierung eingesetzte Vormünder akzeptieren zu müssen, die anstelle ihres kranken ältesten Sohnes die Geschäfte auf Breitenburg vertreten hätten. 81 Aber auch ihrem zweiten, als leichtlebig und verschwenderisch ausgewiesenen Sohn Hans mochte sie die Erbfolge offenbar nicht anvertrauen. In einem sich offenbar über Jahre erstreckenden Entscheidungsprozess hat sie gegen die Konvention gehandelt, also doch unter Inkaufnahme möglicher Kränkungen ihren Sohn Hans in der Erbfolge zurückgesetzt und diese Entscheidung schließlich ohne Absprache mit ihrem Mann getroffen. Dadurch wird Friedrich Rantzaus in früheren Jahren in seinen Tagebüchern vertretenes Selbstbild als (Haus-)vater brüchig. Er zieht 77 78 79 80

81

Vgl. LAS Abt. 127.21 FA L 23, Nr. 101, 2.11.1766, Amoene Rantzau an ihren Ehemann. LAS Abt. 127.21 FA L 53, Erbschaftsvergleich von 1762. Vgl. LAS Abt. 127.21 FA L 24, Nr. 49, 14.5.1796, zwei Briefkonzepte Amoene Rantzaus an Justizrat Pütter in Göttingen. Conrad studiert zunächst in Kiel, ab 1794 dann an der Reformuniversität in Göttingen, vgl. LAS Abt. 127.21 FA L 23, Nr. 225, 20.10.1794, Conrad Rantzau an den Breitenburger Hofmeister Neubauer. Der Adelssohn unterrichtet seinen alten Lehrer von seinem ambitionierten Lehrplan und zählt als Fächer Staatsrechte, Kameralwissenschaften, Handlungswissenschaften, Experimentalphysik, ein kameralistisches Studium sowie Staatenlehre auf. Er steigt nach dem Tod seiner Eltern zum Minister in Kopenhagen auf und er befestigt die Herrschaft Breitenburg weiter. Vgl. LAS Abt. 127.21 FA L 24, Nr. 49, 14.5.1796, zwei Briefkonzepte Amoenes an Justizrat Pütter in Göttingen.

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sich nach dem Tod seiner Frau im Jahr 1802 nach Rosdorf zurück und lebt dort mehr schlecht als recht von der ihm bewilligten Apanage.

III. Schlussbemerkung Friedrich Rantzau geht offenbar davon aus, dass er als hausväterlicher Gutsherr und Familienvater unterschiedliche Interessen einzubinden in der Lage ist. Dies ist die Klammer, die seine Tagebücher über viele Jahre zusammenhält. Dem Modell des hausväterlichen Landadeligen wird in der zeitgenössischen Literatur mit Wohlwollen begegnet. Friedrich Rantzau findet für sein Wirken aber auch Bestätigung innerhalb des Geschlechterverbandes; Graf Rantzau von Oppendorf, der als ältester Rantzau den Zusammenhalt der Verwandtschaft und die Familienehre verficht, würdigt ihn entsprechend in seinem Testament. 82 Tatsächlich ist das normativ-statische Hausvater-Modell ständeübergreifend anerkannt, aber schwierig umzusetzen, da es auf einem Gleichklang aller Interessen beruht und Herausforderungen gegenüber wenig flexibel ist. Hinzu kommt, dass Beziehungen, die sich auf die Bindekraft von Emotionen berufen, wohl größere Intensität versprechen, sich jedoch auch größerer Verletzbarkeit und Fragilität aussetzen. Dieses prekäre Gleichgewicht gerät für Friedrich Rantzau bei der Erziehung von Hans aus den Fugen, worauf er in seinen Tagebüchern verstärkt mit Ausblendungen reagiert. Dabei ist Friedrich Rantzau als Vater bereit, unerprobte Wege zu gehen; bei Schwierigkeiten zieht er sich aber auch wieder zurück. Sein Sohn konfrontiert ihn mit Verhaltensweisen, die konträr zu den von ihm propagierten Erziehungsidealen von Verantwortung und moralischer Festigkeit stehen. Damit ist nicht nur Friedrich Rantzaus Autorität als Hausvater angegriffen, sondern es stellt sich darüber hinaus die Frage, inwieweit er selbst seinem Erziehungsideal gerecht wird oder ob er doch persönliche Verantwortung für die problematischen Entwicklungen trägt. Gänzlich außer Kraft gesetzt wird Friedrich Rantzaus Autorität bei der Auswahl des Erbfolgers. In seinen Tagebüchern bemüht er sich zu überspielen, dass seine Frau die Erbherrin ist, indem er sich selbst als vielfältig wirkender Entscheidungsträger darstellt und das Agieren seiner Frau als Guts82

Vgl. LAS Abt. 127.21 FA L 6, Nr. 35, 20.1.1778, Graf Rantzau-Oppendorfs Vermächtnis über das Lübecker Kanonikat für einen der Söhne Friedrich Rantzaus. Dieser will sein Vermächtnis auch als Anerkennung für Friedrich Rantzau verstanden wissen, „der die familie durch seine gute Aufführung und Lebensart Ehre macht“.

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herrin mehr nur in ritualisierten Kontexten wie der Vergabe von Weihnachtsgeschenken oder von Sachspenden an Notleidende zur Geltung bringt. Der Tod seiner Frau macht ihn zum bloßen Testamentsvollstrecker.

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The citizen and the family in the reform project of J. M. R. Lenz Jacob Michael Reinhold Lenz (1751- 92) has an established place in the history of German literature as a leading member of the Sturm und Drang movement beside writers such as Goethe, Herder and Klinger. In terms of the historical development of the drama he was in many ways the most influential of these writers, as is testified by the enthusiasm of the successive innovators who have ‚rediscovered‘ him, Büchner, the Naturalists, Brecht, Kipphardt, Hein, all of them champions of an alternative tradition of drama, the ‚open‘ drama. 1 Characteristic of the ‚open‘ drama is a structure and a thematic range that, instead of offering aesthetic closure, provokes the audience to independent reflection and action by formulating questions relating to the real-world experience of the audience, exposing to it contradictions rather than providing it with solutions. Lenz’s three main plays, Der Hofmeister, Der neue Menoza and Die Soldaten, all highlight the discrepancy between the ideal world that the characters are capable of imagining and a real world that is characterised by moral passivity and the abuse of power. Each of these three plays has a kind of happy end in which an ideal of social harmony is conjured up. This vision of individual selfrealisation within a harmonious social framework takes the form, as it so often does in eighteenth-century literature, of the bourgeois family which is held together by love and virtue (two concepts which are so entwined that they are often hard to distinguish). After all this was the period in the emergence of modern culture when the middle classes, spearheaded by the literary intelligentsia, were striving to find legitimacy and (in a variety of ways) attempted to establish discourses based on values contrary to those of the court, namely on various kinds of achievement. 2 At different times at different places in the cultural landscape different themes came into prominence, such as rationality or authenticity, but an underlying constant was the creation of a new kind of public sphere (the communication of like-minded spirits through journals, coffee-houses, reading circles etc.) and the emergence of a new kind of private realm, the inner world of the private individual and the domestic world of the family. 3 1 2 3

See Klotz, Volker: Geschlossene und offene Form im Drama, München 1975. See Elias, Norbert: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, 6th ed., Frankfurt 1978, Vol. 1, p. 1-64. See Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit: Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied, Berlin 1962.

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Contrasted with the moral decadence and wastefulness of the court, the bourgeois family became a model of harmonious social coexistence, even and especially in those cases where the literary imagination linked the guilt of a middle-class girl to the predatory ruthlessness of an aristocratic seducer, as in Emilia Galotti or the countless fictions revolving round infanticide. And the family was all the more able to function as an ideal since its sentimentalisation, the apparent replacement of bonds of authority by the bonds of affection, 4 allowed it to be the locus of individual self-realisation through love – marital love, parental love and filial love. In the case of Lenz’s plays, however, the concluding tableau which presents an idyll of bourgeois domesticity, love and virtue, is subverted by contradictions which force the audience to ask itself why contemporary society makes it so difficult, or impossible, to achieve this ideal. In Der Hofmeister the various concluding images of familial bliss are so implausible that the play dissolves into grotesque parody, a joke at the expense of the very idea of a happy family. The resolutions are all engineered by such improbable and artificial sets of circumstances that the only families the audience really believes possible are the dysfunctional ones that the action of the play is built upon: one happy end depends on chance encounters, one on a lottery win, and in one of them even, the tutor, now castrated, is united with a girl of such limited imagination that she is more interested in her father’s ducks than in having children. Der neue Menoza is equally a play full of inadequate fathers and dysfunctional families which in this case have led to a confusion of identities, so that the union of the lovers is impeded by the mistaken belief that they are brother and sister. They show their moral worth by refusing to give in to the sophistry of the fashionable theologians who claim that incest need be no barrier to marriage, but the happy end in which they discover that they are not in fact related and are therefore entitled to their bliss is marred by the fact that the father is off-stage doing something as banal as having breakfast when the discovery is made; he therefore assumes that the final rejoicing is because the lovers have given in to temptation and joins in the general jubilation – for all the wrong reasons. 5 And by the end of Die Soldaten the audience has witnessed the seduction of a middle-class girl by an aristocratic officer, leading to the disintegration of her family, the murder of the officer by his middle-class rival, and the latter’s suicide. In the final scene two characters, both aristocrats, reflect on the action and – in different ways in the two different surviving versions of the 4 5

See Sørensen, Bengt Algot: Herrschaft und Zärtlichkeit. Der Patriarchalismus und das Drama im 18. Jahrhundert, München 1984. See Hill, David: Configurations of utopia: Lessing’s Nathan der Weise and Lenz’s Der neue Menoza, in: Publications of the English Goethe Society 77 (2008), pp. 61-67.

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play – come up with a plan for the institution of state brothels which, it is supposed, will relieve the sexual urges of the soldiers and allow the classes and the sexes to live in harmony with each other. The final words, spoken by the Obrister, draw on the enthusiastic abstraction typical of eighteenthcentury utopianism: „Die Beschützer des Staats würden sodann auch sein Glück sein, die äußere Sicherheit desselben nicht die innere aufheben, und in der bisher durch uns zerrütteten Gesellschaft Fried und Wohlfahrt aller und Freude sich untereinander küssen (I, 734).“ 6

The proposal for institutionalising prostitution in order to preserve the bourgeois family is, however, thoroughly problematic. The play has shown many more fundamental causes for the catastrophe, notably (as generally in the tradition of the ‚bürgerliches Trauerspiel‘) an aggressively predatory male aristocracy, but joined here by the illusions of upward social mobility harboured by the middle-class girl and her father. In the end what has been revealed is an abuse of class-based and sex-based power that goes far beyond the scheme that the Obrister proposes and indeed reveals his proposal to be a further example of the abuse of power. It is not entirely clear whether Lenz was aware of this contradiction when he wrote the first version of this scene, but the revised version leaves us in no doubt: in the penultimate speech of the play, the Gräfin raises her voice in protest against the proposal: „Wie wenig kennt ihr Männer doch das Herz und die Wünsche eines Frauenzimmers“ (I, 734). Even though this objection is drowned out by the Obrister’s concluding utopian rhetoric, or even because it is, the audience is reminded that he as a male and as an aristocrat is part of the problem rather than its solution. 7 Lenz is not unusual in using the device of concluding a comedy with a vision of domestic bliss. He is unusual in the way that he questions this vision by the use of dramatic devices which subvert the happy endings expected from a comedy and make possible the ‚openness‘ that has had so many admirers and imitators. (As a consequence he was himself unsure whether to call his plays comedies or tragedies.) What is less well known is that he devoted considerable energy to developing his own proposals for ways in which the family could be reconstituted so that it, and indeed society as a whole, would be free of the centrifugal forces he analyses so effectively in his dramas. At least by the time he came to revise Die Soldaten for the second version he was clear that the specific proposal presented in the final 6 7

References in this form are to volume and page of Lenz, Jakob Michael Reinhold: Werke und Briefe in drei Bänden, ed. Sigrid Damm, Leipzig 1987. See Hill, David: ‘Das Politische’ in Die Soldaten, in: Orbis Litterarum 43 (1988), pp. 299-315.

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scene could only be seen as absurd, but he nevertheless went on developing this general line of thought and produced a huge number of sketches and drafts of an all-embracing reform project that would give the family an entirely different position within society. Of these sketches only one appears in the standard edition of his works, namely the unfinished essay Über die Soldatenehen (III, 787-827). It has now at last been possible for the first time to edit the complete sketches from manuscripts found in Kraków, Riga and Berlin, and these have appeared under a title provided by the editors, as Das Berkaer Projekt. 8 There are a number of reasons why these sketches – some 300 pages of manuscript, of which Über die Soldatenehen is less than one tenth – have been so long overlooked by scholars: the artificial separation of literary history, to which Lenz is thought to belong, from other strands of socio-cultural history; the authority of Goethe’s contempt for Lenz’s reform scheme expressed in Dichtung und Wahrheit; 9 and the practical difficulty of reducing this probably incomplete mass of jottings, notes, calculations, dedicatory letters and fragments of essays to a single coherent proposal for reform. Nevertheless they offer valuable insights into both Lenz himself and his age, in particular into questions relating to the nature of the emerging bourgeois family and its possible relationship to the state. 10 The great majority of the fragments making up the Berkaer Projekt date from 1776, the year which was a turning-point in Lenz’s life. In 1771, at the age of twenty, he had disobeyed his father, a strictly Protestant pastor in Livonia, and left Königsberg shortly before he was due to graduate from the university in order to travel to Alsace with the two barons von Kleist who planned to join the French army. There in Alsace, in the fortress at Landau and in Strasbourg, he spent three-and-a-half years as their companion and 8

9 10

Griffiths, Elystan/Hill, David (ed.): Lenz, Jacob Michael Reinhold: Schriften zur Sozialreform. Das Berkaer Projekt (Historisch-kritische Arbeiten zur Literatur 42), Frankfurt 2007. Über die Soldatenehen is on pp. 1-41. Goethe, Johann Wolfgang: Werke, Weimarer Ausgabe, Weimar 1887-1919, Part I, Vol. xxviii, pp. 246f. Almost all previous attempts to evaluate the project have limited themselves to a discussion of Über die Soldatenehen: Glaser, Horst Albert: Bordell oder Familie? Überlegungen zu Lenzens ‘Soldatenehen’, in: Wurst, Karin A. (ed.): J. R. M. Lenz als Alternative? Positionsanalysen zum 200. Todestag, Köln 1992, pp. 112-22; Wilson, W. Daniel: Zwischen Kritik und Affirmation. Militärphantasien und Geschlechterdisziplinierung bei J. M. R. Lenz, in: Stephan, Inge/Winter, Hans-Gerd (ed.): ‘Unaufhörlich Lenz gelesen ...’ Studien zu Leben und Werk von J. M. R. Lenz, Stuttgart 1995, pp. 52-85; Wilms, Wilfried: Dismantling the Bourgeois Family: J. M. R. Lenz’s ‘Soldatenfamilie’, in: Monatshefte 100 (2008), pp. 337-50. The exception is Gibbons, James M.: Der ‘Einsiedler’ in Berka: Der Sommer 1776 und die ‘Lettres à Maurepas’, in: Stephan, Inge/Winter, Hans-Gerd (ed.): ‘Die Wunde Lenz.’ Leben, Werk und Rezeption, Berlin 2003, pp. 257-84.

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all-purpose lackey, building on the knowledge of military matters he had acquired as a child in Tartu and mingling with soldiers, but at the same time becoming a leading member of the circle of progressive German writers in Strasbourg. Lenz’s involvement in military matters included not only technical questions of tactics and fortification but also his patrons’ treatment of women, and Lenz became closely – all too closely – involved in the seduction of a jeweller’s daughter, Cleophe Fibich, by one of the von Kleist brothers. This incident seems to have provided Lenz with the story of Die Soldaten, but from it also derives his conviction that there were far-reaching problems in the relationship of the sexes to each other in his society and that an era of social harmony could be ushered in if it were possible to reorganise the relationship of the family, the army and the nation to each other. By the time that he began writing Die Soldaten at the end of 1774 Lenz had managed to break with the von Kleist brothers. He had become a regular member of the ‘Gesellschaft der schönen Wissenschaften’ in Strasbourg, where he presented his literary plans for discussion. Lenz was by now one of the leading members of the German literary avant-garde later known as the Sturm und Drang, and was in close communication not only with Goethe but also with, for example, Herder, Klinger und Lavater. He had begun to establish a role and an identity for himself, in many ways the antithesis of the career as private tutor and then as pastor that his father had planned for him. But a role and an identity within an intellectual elite are not the same as a career, and, despite his enormous energies, his imaginative writing and the teaching he undertook were not enough to give him a financial basis for survival. On March 14 1776 he wrote to Merck in Darmstadt, that he was as poor as a church-mouse (III, 406), and on the following day a letter to Zimmermann referred rather secretively to an imminent journey that would lead to the resolution of his financial problems (III, 407). What Lenz knew, and what the intelligentsia throughout the German-speaking world knew, was that for the past five months Goethe was in Weimar. Finally there seemed to be signs that the young rebels of the Sturm und Drang movement might find a place in feudal-absolutist society that would accommodate them. Not only Lenz but also Klinger and the so-called ‚Genieapostel‘ Christoph Kaufmann converged on Weimar in the summer of 1776. Goethe, Lenz, Klinger and Kaufmann were all aged between 24 and 26, young men with questionable academic careers behind them, an avant-garde elite who enjoyed scandalising the worthily moralistic middle-class establishment, but men who had reached an age at which they had to think seriously of a career if they wanted to avoid being stuck as a private tutor in some remote corner of the German landscape – an existence whose wretchedness Lenz had mercilessly portrayed in Der Hofmeister. Goethe seemed to have found a future at the court of Weimar. Klinger was

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discussing with Wieland the possibility of a military career. ‚Lenzchen‘, as Goethe called him, was physically too small to be eligible, but he had other plans. He evidently decided to transform the one-sided and unsatisfactory proposal voiced in the final scene of Die Soldaten into a positive reform project that he could put forward in his own name in the hope of being rewarded with either a post or at least a regular income. Lenz therefore travelled to Weimar thinking that he might be able to win Carl August or perhaps through him some other monarch for his project. This project had developed over the past months and in March of 1776 Lenz could tell Herder of the existence of Über die Soldatenehen (III, 400). A few days later he left for Weimar. This essay, which survives in incomplete form, is dedicated to Carl August (21) 11 but is explicitly intended for monarchs in the plural (1). However, shortly after his arrival in Weimar Lenz decided to write in French and address his proposal to the French government (III, 459). The beginning of a French translation of Über die Soldatenehen has indeed survived (200ff.), but Lenz seems to have become aware of the range of implications of his project and after a few weeks left Weimar for the nearby village of Berka, where he spent two months in the summer of 1776. It is from this period that the majority of fragments of the Berkaer Projekt probably derive. In the late summer of that year Goethe’s relations with both Klinger and Lenz deteriorated, and at the end of November Lenz was, like Klinger a few weeks earlier, ejected from Weimar. The immediate cause for Lenz’s dismissal is still unknown, but Goethe was clearly involved, and Lenz’s emotional dependence on his broken relationship with Goethe together with the collapse of his hopes of a career seem to have contributed to the series of mental breakdowns which dogged him for the rest of his life until his early death in Moscow in 1792. His first stop after leaving Weimar was with Goethe’s brother-in-law Schlosser in Emmendingen, where Lenz tried to build into his project the detailed knowledge of agricultural management that Schlosser could provide him with, but after that he seems to have abandoned his grand project for reform. There were particular personal reasons, it seems, for Lenz’s decision to direct his proposal to the French government. His landlady in Strasbourg had shown him letters from a friend of hers, Henriette von Waldner, and these letters were enough to arouse Lenz to one of his periodic infatuations. Just as he was leaving for Weimar he received the news that Henriette was engaged to be married, and on April 1 he wrote (but may not have sent) a letter dripping with horrified jealous pain to warn her against marriage – on the 11

References in this form are to Lenz, Jacob Michael Reinhold: Schriften zur Sozialreform. Das Berkaer Projekt (see Note 8 above). Quotations from this edition are generally simplified by the omission of information relating to corrections in the manuscript etc.; editorial insertions are denoted by angle-brackets: < … >.

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same April 1 when he first mentioned the possibility of writing in French, and incidentally the same April 1 1776 on which Henriette was actually married. Lenz believed, or persuaded himself, that Henriette, who as an aristocrat was beyond his social reach, had been forced to marry an unsuitable man. In the months of 1776 that he spent in Weimar and Berka Lenz tried to come to terms with these issues in the unfinished drama Henriette von Waldeck oder Die Laube, but the papers of the Berkaer Projekt contain repeated references to love as something which motivates him and it seems likely that by some strange logic Lenz thought his proposal might be rewarded by the French government granting him a post as officer and that as a member of the ‚noblesse militaire‘ he would acquire a social rank compatible with Henriette’s. 12 But there were in addition specific reasons why the French government might be open to proposals such as Lenz was planning. France was in a state of crisis following the financial chaos in which Louis XIV had left the country on his death in 1715, and this crisis had only been deepened by his son Louis XV. The Seven Years War had not only made the financial situation worse but had at the same time revealed the fundamental weaknesses of the French army. The accession to the throne of the young Louis XVI in 1774 was therefore accompanied by the prospects of fundamental reform, and the first signs were indeed positive. The physiocrats, arguing that the productivity of nature was the source of all economic productivity, seemed to provide a solid basis for a reform of the tax system which would put the finances of the nation on a sound footing. At the same time there was a lively discussion of the ways in which the army might be reformed, and in particular Jacques-Antoine Hippolyte de Guibert in his Essai général de Tactique had proposed a set of reforms intended to integrate it better into society. 13 Guibert was guided by a sense of an army identifying with national goals – an ideal that was to inspire the French Revolutionary armies some twenty-five years later. It was an idea that inspired Lenz too and he lavished high praise on Guibert’s Essai (5). His development of Guibert’s argument gave him an opportunity to use his knowledge of military matters to work out the practical reality of the idea of a national culture that was organic, that was natural to a specific people and which represented the very antithesis of the alienation that seemed to be preventing people from achieving self-fulfilment or, more precisely, self-realisation. This was – adapted to the French context – the idea of a German ‚Kulturnation‘ that the writers of the Sturm und 12 13

See Wilson, W. Daniel: Kritik. [Guibert, Jacques-Antoine Hipployte de]: Essai général de Tactique, précéde d’un discours sur l’état actual de la Politique & de la Science Militaire en Europe; avec le Plan d’un Ouvrage intitulé: La France Politique & Militaire, Liège 1773.

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Drang had so enthusiastically embraced. Lenz could identify with the idealisation of nature and the idealistic vision of a national culture, and he could identify with the somewhat Rousseauistic idea of a lost social harmony, together with the proposal of specific reforms to overcome the rifts between the army and the people. In particular he could accept Guibert’s goal of making the individual soldier feel that his duties derived from the fact that he was part of an organic whole, the nation. In Über die Soldatenehen he writes enthusiastically about this ideal in the form of a vision he has had: „Ich sahe nun schon die alten glücklichen Zeiten wieder eintreten, da der Soldat auch zugleich Bürger war und durch die Annehmlichkeiten seines Vaterlandes gefesselt, Blut und Leben freywillig dafür hergab... Ich sah nun den Soldaten der nun von dem Bürger eben so verachtet als gehaßt und gefürchtet wird, den edelsten Theil dieser Bürger ausmachen, ich sah ihn von der allgemeinen Hochachtung seiner Landsleute entflammt Wunder der Tapferkeit verrichten und wie bey den Griechen die Flucht für so etwas schändliches halten, daß ihm die härteste Todesstraffe lieber wäre.“ (13) 14

Lenz’s aim was to motivate the soldiers not through pressure from without, the fear of punishment or the hope of reward, but through developing mechanisms which would make them identify with society as a whole. This he sees as the essential ingredient of a total transformation leading to the integration of society: „Alle Stände die jetzt gleichsam auseinander gerissen sind werden wieder in ihre rechten Gelenke gerichtet und der Staatskörper wird gesund“ (33). Formulations like this convey both the enthusiasm and the reach of the Berkaer Projekt. In this it was not dissimilar to the multitude of utopian reform projects that are characteristic of the age of absolutism and have contributed to its problematic sobriquet ‚enlightened‘. In the summer of 1776 Lenz seems to have become aware of the disparity between the totalism of the social transformation he was promising and the limitedness of the means to achieve it that he was proposing in Über die Soldatenehen, namely the marriage of soldiers. Consequently he threw himself into the study of two main areas that he now saw as necessary adjuncts of it, on the one hand military matters, including detailed questions of tactics and deployment as well as more general issues concerning leadership and motivation, and on the other financial matters, ranging from taxation to agricultural economics. The Berkaer Projekt contains an impressive list of references and quotations which reveal the intensity with which Lenz was engaging with contemporary discourses that had been enlivened by the prospects of reform associated with the accession of Louis XVI. 15 It is an attempt – in the end, it seems, a 14 15

See also p. 80. See 633-45; see also the list of books that Lenz asked Goethe to send on to him when he moved to Berka (III, 472).

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failed attempt – to bring together these fields in an idea of the nation as an organic whole. It is important to be aware of the context of Lenz’s analysis of marriage and the family. Some of his ideas, which may seem so surprising to the modern reader, are very much part of debates about the family in the eighteenth century that were evidently possible because of fundamental structural changes which had not yet produced the kind of bourgeois family that acquired normative status in the nineteenth. Many authors have been named as possible sources for Lenz’s ideas about reform, including Restif de la Bretonne, Hupel and Lilienfeld (474f.). There is no concrete evidence that Lenz knew any of these writers, but in a general way they illustrate the extent to which the family as such was the subject of debate. We do however know that Lenz was thoroughly acquainted with two authors, both active primarily in the field of the military, who also discussed the social consequences of the reform of marriage specifically within a military context, Guibert and Maurice, comte de Saxe. In the case of Guibert, there is only a passing reference to the advisability of allowing the marriage of soldiers, which was contrary to contemporary practice, but because of the importance of Guibert for Lenz this brief note may well have struck a chord with him. Saxe did however include in his Rêveries an essay entitled „Reflexions sur la Propagation de l’Espece Humaine“, 16 which argued for the marriage of soldiers, albeit marriages that were limited to a time-span of five years, with the proviso that when a marriage had produced children it could be extended for a further five years and after two such extensions could become permanent. There was a stage in Lenz’s early reflections on the question when he himself envisaged the Obrister’s proposal at the end of the first version of Die Soldaten being amended to something rather similar. Responding in a letter of Nov. 20 1775 to Herder’s evident shock at the impropriety of the Obrister’s proposal, Lenz suggests amendments that might be made: „Z.E. das mit den Konkubinen, medischen Weibern, könnte ganz wegfallen und der Obriste dafür lieber von Soldatenweibern sprechen, die wie die Landmiliz durchs Los in den Dörfern gezogen würden und sodann wie die römischen Weiber die nicht confarreatae waren, auf gewisse Jahre sich verheurateten. Die Kinder erzöge der König.“ (III, 353)

It is not clear whether Lenz at this stage thought that such amendments would enhance the ironisation of the Obrister, but the fact that he goes on to reflect on the proposal in his own name suggests that they had some inherent merit for him and were not wholly ironic: 16

Saxe, Maurice comte de: Les Reveries ou Memoires sur l’art de la Guerre, Vol. 2, Mannheim 1757, pp. 79-86.

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„Ordentliche Soldatenehen wollen mir nicht in den Kopf. Soldaten können und sollen nicht mild sein, dafür sind sie Soldaten. Hektor im Homer hat immer recht gehabt, wären der Griechen Weiber mit ihnen gewesen, sie hätten Troja nimmer erobert. Ich hab einige Jahre mit den Leuten gewirtschaftet in Garnisonen gelegen gelebt hantiert.“ (III, 353)

However, when he came to commit to paper the fragments that make up the Berkaer Projekt he was clearly critical of the temporary marriages that Saxe was advocating: „J’ai éclaté en rire sur ce que le Comte de saxe dit de la propogation il netoit pas si bon Philosophe que tueur… des mariages pour quelque tems – oui ce seroient des militaires – mais cela ne va pas il n’etoit pas si mauvais theologien que mauvais politique.“ (170)

Elsewhere he makes the point that such marriages worked for the Romans because of the geographical range of their campaigns and might thus in his own time at most be relevant to the navy (385). The only substantial point relating to marriage on which the Lenz of the Berkaer Projekt agrees with Saxe is, as indicated in the quotation above, that marriage and divorce are no business of the Church (214-16). The key issue on which Lenz breaks away from his earlier reflections is this question whether soldiers could at the same time be ‘ordentliche’ husbands, that is to say, whether the qualities required of a soldier were the same qualities that could make an adequate husband. The Obrister in the second version of Die Soldaten denies that they could, using terms similar to those of Lenz himself in that letter of Nov. 20 1775 (I, 734), but this view is, as we have seen, relativised by the scepticism of the Gräfin. The moment when Lenz turned the corner and began to embrace the idea of soldiers’ marriages seems to be captured in a note in the Berkaer Projekt which was probably written shortly before his journey to Weimar: „Vielleicht ganz förmliche Ehen < – > warum nicht?“ (407). And in Über die Soldatenehen he seems to go out of his way to emphasise the range of advantages of allowing soldiers to marry (36-37) and defend himself from the accusation of naivety in his portrayal of happily married soldiers: „Ich sehe hier runzelnde Stirnen genug die sich bey diesen gar nicht überladenen einfältigen Bildern zu einem höhnischen Lächeln entfalten. Jugendliche poetische Grillen! sagen sie, Erfahrungen bestättigen es, daß die verheuratheten Soldaten gemeinhin im Dienst die schlechtesten waren. – Freilich, m. H. bey unsern Sitten? wie kann’s anders seyn.“ (15) 17

17

To this is attached the comment: “Also Soldatenfamilien das ist das ganze Geheimniß” (15).

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Soldier-families are therefore only a problem when their introduction is not linked to a moral regeneration of society. As we have seen, the idea of soldier-families was not in itself entirely new when Lenz introduced it. What is original and distinctive about Lenz’s treatment of the subject is, first, the way in which he used it as the basis of imaginative literature in Die Soldaten, 18 and, second, the detail of the way in which he imagined soldier-families would be structured and integrated into a reform of society. Because the notes and sketches which make up the Berkaer Projekt are so disjointed and their chronology is in most cases unknown, it is not possible to deduce from them a coherent theory of the family, but there are a number of recurrent themes and motifs which give us a clear idea of the direction in which Lenz’s thinking was going. Saxe’s primary motive in proposing the marriage of soldiers was, as the title of his essay indicates, to raise the birth-rate: that is an additional benefit for Lenz, but his fundamental idea was that, through their wives, children and farms, soldiers should have a sense of what it was they were fighting for and should feel that they had a personal interest in the outcome of their battles: „Um sich aber vertheidigen zu können, muß der Soldat wissen was er vertheidigt, es sinnlich lebhaft fühlen um sich davon begeistern zu können... Die Selbstliebe der Soldaten muß also mit in die Berechnung eurer Tacktick kommen, oder sie wird eine leere Spekulation, die grade für den entscheidenden Augenblick – nicht Stich hält.“ (8f.)

This ‚Selbstliebe‘, the equivalent of Rousseau’s amour de soi, i.e. the selfbelief that is the basis of human existence, needs to be attached to a concrete object. At times it relates to the land that the soldier’s family cultivates, and Lenz speaks of the importance of „attachement au sol“ (107, 142f., 298), but more frequently, and especially in view of his analysis of the French national character (49, 221f., 245), he emphasises the emotional bond between husband, wife and children. One extract from an extended passage may suffice to illustrate the glowingly sentimental colours with which Lenz paints the domestic bliss enjoyed by the soldier when he returns from his campaigns, contrasted with the immoral misery that currently prevails: „Ich sah nun den Offiziern, der gegenwärtig sein glänzendes Elend durch halbausgesponnene und Morgen wieder vergessene Liebesintriguen, oder durch ein Spiel das ihn wenn er reich ist zum Bettler, wenn er arm ist zum Spitzbuben macht, oder 18

The Berkaer Projekt also includes notes on the possibilities of developing the material further through fiction, for example writing a novel made up of fictional letters from soldiers’ wives (166, 199) or from a soldier to his friend (241), and there has survived a lengthy fragment of a fictional letter addressed by an Alsatian soldier to the French Minister of War, St Germain (266ff.).

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wohl gar durch die allererniedrigendsten Ausschweiffungen zu zerstreuen sucht und das Gefühl desselben doch nie ganz verlieren kann, diesen Offizier sah ich ganz der Würde seines Standes gemäß als einen der ersten Personen im Staat wie er es zu seyn verdient, sich betragen und hochgeschätzt werden, ohne daß er diese Achtung durch Hochmut oder Unarten zu erzwingen sucht ich sah ihn in den Armen der reitzendsten Gemahlin, die nur für ihn so sorgfältig erzogen worden, des höchsten Glücks edler Gemüther geniessen des Glücks nach Würden angebethet zu werden von dem was man anbethet, ich sah Jugend, Schönheit, Witz und Talente alle ihre Reitze vereinigen, ihn ganz ihn unaussprechlich für ein halb Jahr Mühe und Beschwerde zu belohnen – ich sah diese Leute von einander scheiden, ihn festentschlossen für soviel Schönheit in tausend blosse Schwerdter zu stürzen, sie durch den hohen Grad ihres Schmerzens und ihrer Besorgniß ihn zu dem höchsten Grad der Tapferkeit und des Muths spannen, um soviel Liebe würdig zu werden“ (19)

Or more briefly: „Leur sejour chez leur femmes doit absolument par le contraste faire un vrai sejour dans l’Elysée pour les lier plus fortement a leur patrie“ (77). The intensity of Lenz’s writing shows that, in whatever way his soldierfamilies differed from the bourgeois family as it was developing in the eighteenth century, it was essential to him to draw on the emotional bonds, the intense inwardness that is so evident in the literature of the period. His aim is to harness the emotional ties of the private realm to public purposes, namely the national military goals. At the same time, as the lengthy quotation above shows, Lenz sees this as a process of moral rejuvenation. The family will not only provide the soldier with something to fight for, something to which to attach his amour de soi, it also establishes a moral framework and discourages ‚Liebesintriguen‘, ‚Ausschweiffungen‘, ‚Hochmut‘ and ‚Unarten‘. At times this extends to a Rousseauistic attack on the moral degeneracy of the nation in its present state: „Die verdorbenen Sitten entnerven Bürger und Soldaten, die Schaamhaftigkeit ist von unsern Weibern gewichen, die Industrie liegt, der Handel selbst muß am Ende ermatten und in blosse Kunst zu betrügen zu übervortheilen ausarten, die Ehen werden selten und die Nachkommenschaft elend, die Armeen aber müssen am Ende faßt das Ansehen von gewafneten Leichnamen bekommen, deren Thaten von dem Spiel gewisser unwillkührlichen Bewegungen abhängen, die ein kleiner Umstand verwirren kann.“ (10)

Moral weakness therefore leads to military failure, for without the inner allegiance to some shared idea soldiers can only be treated as machines (5, 7, 32, 58). That is to say, they have an alienated relationship to their activity and in the heat of battle lack the independence which would make them act

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instinctively in an effective way. 19 At the same time the idea of being a machine is also a metaphor that recurs in Lenz’s aesthetic and theological writings (for example in his essay on Götz von Berlichingen) to denote the human being who has failed to achieve moral autonomy and therefore selfrealisation, whose absurdity is the foundation of comedy. The restructuring of the army is therefore one key element of the moral restructuring of the nation as a whole: „Der Soldatenstand wird uns das Muster guter Sitten seyn“ (35). But, as with Rousseau, this requires not the repression of the self but the cultivation of self-respect, amour de soi, and the development of mechanisms to free the individual from amour-propre. In an attempt to focus the soldier’s allegiance, to anchor his amour de soi, Lenz divides the French army into legions, each of which is based in one particular province of the country. The legion and the area that it belongs to is therefore an intermediary linking the individual family and its farm with the nation. Soldiers would normally be expected to marry women from their own province, but there is allowance for certain limited exceptions, which require their own procedures (47, 49, 58, 62, 279f.). The practical reconciliation of the duties of soldier and farmer-husband are realised through Lenz’s proposal that soldiers should serve with their military units during the summer and return to their homes in the winter. Different sketches allow for different periods at home each year, and there are special arrangements for rotating tours of duty in border garrisons, which need to be maintained at full strength, but Lenz emphasises the need for soldiers to be accustomed to being separated from their wives at the same time as having enough contact with them to feel that they are grounded in their families. When they are on vacation, soldiers will be able to recover their strength and reflect on what they have learnt on the battle-field, doing one hour’s training a day so that they do not lose their skills (24, 26). As far as the rest of their time is concerned, several of the sketches in the Berkaer Projekt refer to the economic and psychological benefits of helping with the farm work (50, 107, 130, 235, 271, 292), though one fragment suggests that such activity is unsoldierly (297). At most, perhaps recalling that the soldier will be no more than an occasional visitor, his farm work is a ‚Zeitvertreib‘ (21) and he is absolved from management duties: „Le soldat pendant quil serve doit laisser le soin de son oeconomie entièrement a sa femme et a ceux qui veulent l’assister de ses conseils et de ses services Il n’y peut 19

That is the significance of the quotation from Guibert that heads Über die Soldatenehen: “l’opinion du moment fait tout a la guerre” (1) and of the phrase “den entscheidenden Augenblick” quoted earlier. Caesar is for Lenz the model of a general who could inspire such independence in his army.

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rien faire que d’en jouir dans le tems du congé et d’y cooperer par des services de valets qui fortifieront son corps et sa santé et qu il fera seulement dans le dessein de se donner du mouvement.“ (230) 20

The other home activity of soldiers on leave that is given considerable prominence in the Berkaer Projekt is the military training of their sons that they will provide with the help of veterans (31, 166, 171f., 173, 228, 293). 21 This not only helps the soldiers themselves not to forget their skills but provides the most effective and cheapest education of the next generation of soldiers (31, 33, 235). Further refinements of this plan are also mentioned which allow the state to control the process more closely: the father when he returns on leave will inspect his sons’ progress and will be responsible for it, which is reflected on the important role it is to play in his own promotion (51, 219); more strikingly, if a particular son does not have the aptitude to take on his father’s military specialism the father can exchange his son and adopt another more suitable boy instead (87, 241); or, the organisation and monitoring of training is entrusted to the police (229). For the rest, these sons are expected to help by working on the farm. At this stage in the argument we can see that Lenz is going far beyond a general wish for soldiers to identify with the land and the families they are defending. In order to achieve the necessary refocusing and reattachment of the amour de soi he needs to reorganise the legal and economic relations between the members of the family. Again, because we do not know which of these scattered notes can be considered as belonging together and because his terminology is inconsistent, it is difficult to reconstruct the whole new system that Lenz wanted to introduce (assuming that he was clear enough in his mind for one to be able to suppose such an intention). 22 The following is therefore no more than a tentative hypothetical summary. Details vary, but parents would be encouraged by tax concessions and rewards to let their daughters marry soldiers and would in recompense continue to be responsible for the maintenance of their daughter, 23 who would also work on the farm (12f., 21, 28, 39, 43, 49, 53, 74, 342, 379, 407). The taxes that they did pay would go towards the education of their grandsons and would therefore be paid willingly (164, 232, 342). There might even be a prize for producing a large number of children (385). These 20 21 22 23

See also p. 227. In one case it is suggested that the veterans focus on general skills whereas the soldiers’ own training is more specialised (241). The terms ‘Soldaten’ or ‘soldats’, for example, sometimes include officers and sometimes exclude them. Since the argument will go on to propose that the daughter is primary heiress of the farm Lenz is clearly thinking here of the oldest or only daughter. Other daughters would either marry soldiers (107) or presumably marry civilians in the normal way.

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parents whose daughters married soldiers would also be responsible for their grandchildren (49): they would provide maintenance of their granddaughter(s), though the state would contribute a dowry (13, 39), and the state would pay for the maintenance and education of their grandsons because they would in turn be destined for the army (13, 39, 49, 379). Soldiers would be allowed to marry these daughters as long as the daughters had sufficient wealth (338) and once the soldiers had gained a certain specified wealth, which they might earn by working on their fiancée’s farm (102, 106, 107, 108, 123, 295), and as long as they gained a positive report from their superiors in the army (107, 108, 241, 279). The brothers of these daughters would also work on their sister’s farms either until they became soldiers or had earned enough to marry another woman (106). Whatever the details of its execution, which are not always clear or consistent, the system that Lenz is developing is based on tying the soldier to the nation, and the essential link between these two is the wife. It is she who, with her family and the soil she farms, represents the nation to the soldier. This leads Lenz to two further proposals which are of significance to the history of gender relations and the family. First he is eager to raise the social status of these women and proposes that the wives of soldiers should be given particular marks of honour (107, 237, 273, 294). This social status is further conveyed to her parents: for example, Lenz explains why her parents will be delighted to maintain her: „Mais qui nourrira ces femmes? belle demande ses parents et avec bien de plaisir parce que par lá ils entrent dans l’ordre distingué des familles de Soldats ce qui doit etre une esspece de noblesse.“ (49)

That, one might say, is an intervention at the ideological level: the awarding of medals is a relatively cheap and superficial way of conveying the approval of the state. Much more fundamental and far-reaching in its consequences is a change to the system of inheritance that Lenz also proposes. Whereas it was normal at the time for the oldest son to be the main heir, inheriting the farm, while the other children shared a fixed proportion of their father’s wealth (the ‚légitime‘), Lenz proposes that the oldest daughter should be the main heir: „Ayant aboli jusqu’ici tout ce quil nous restoient d’abus des tems feodaux et prejudicieux a nos arrangements actuelles – il ne nous en est resté que le principal le germe de tous les maux public dont nous sentons tous les effets funestes sans jusqu’ici avoir pú en demeler la cause cachée: C’est l’institution des heritages qui fait le fils ainé heritier universel et en payant la legitime aux autres enfans les exclut en quelque façon des fonds paternelles… Quel mal en resulteroit il, si par un arret universel on etablissoit que dorenavant les heritages des fonds paternels ne resteroient que pour la

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fille ainée tandis que le frere auroit la legitime et iroit chercher a gagner la vie le mieux qu’il pourroit.“ (105f.) 24

There are many other formulations of this proposal by which the oldest daughter inherits the farm and her brother(s) work for her or her parents until they are able to support themselves (130, 137, 138, 270f., 292, 298f., 416), but none of them occurs in Über die Soldatenehen, which suggests that this may be a later addition to Lenz’s vision once he had worked out where his ideas were leading him. In any case this revision of inheritance laws was intended to apply only to soldier-families, not across the society as a whole (280). Nor, one has to add, does Lenz seem to have reflected on the further consequences of this proposal, namely problems caused by having two different systems of inheritance within the society, nor in particular the power that the change in inheritance would give women and the way that that would in turn affect the ideal of the bourgeois family, an ideal that Lenz both draws on and disrupts. One of the problems that Lenz clearly foresaw with his plan was how marriages could be sustained over lengthy periods when husband and wife were necessarily separated. There was a danger that one partner would be tempted to be unfaithful to the other, which would be a particularly severe blemish in the context of Lenz’s notion of moral regeneration. What was almost equally damaging was the mere thought that one’s partner might be unfaithful, and the Berkaer Projekt contains numerous proposals for the regulation of relationships between the sexes. One set of notes is headed, „barrieres wieder die Jalousie“ (257). Officers are forbidden on pain of dismissal to enter middle-class households (58, 237), and since this was the heart of the affair with Cleophe Fibich, one cannot help suspecting that personal experience lies behind the particular intensity with which Lenz draws up lists of regulations designed to control the sexual behaviour of both sides who engaged, or intended to engage in soldier-marriages. He also appeals for the civilian population to be militarised: instead of wasting their time, they should be taught military theory, fortification and ballistics (80, 87, 193, 226): this is to be a ‘closed’ society controlled by a single set of dominant values. Of particular interest in this context is an extended passage of some nine double-sided sheets (210-220) in which Lenz attempts to formulate his “Loix des femmes Soldats” (216) and the corresponding „loix des Soldats“ (219). 25 24 25

For other formulations see pp. 130, 137, 138, 270f., 292, 298f., 416. See Hempel, Britta: Lenz’ ‘Lois des femmes Soldats’. Erzwungene Sittlichkeit in einer ‘schraubenförmigen Welt’, in: Stephan, Inge/Winter, Hans-Gerd (ed.): ‘Die Wunde Lenz.’ Leben, Werk und Rezeption, Berlin 2003, pp. 373-87.

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He provides, for example, laws which will punish soldiers who go on leave without visiting their wives as also those who do not bring up their sons properly. Unmarried men are forbidden to give presents to women or to write them letters. It is significant that the regulations restricting the behaviour of women are more detailed and stricter than those controlling men. Women are forbidden by law to complain when their husbands return to the army. They may join in festivities only in the company of three lady-friends and one parent; they are allowed to dance because that promotes their health and their beauty, but for no longer than one hour at a time – unless their husband is present. Any woman who is found to be unfaithful is punished by death. In fact all contact between married people and members of the opposite sex outside the immediate family circle is forbidden. Any offence against this principle is followed by separation, which, if the innocent partner wishes it, can be permanent, and in that case the guilty party is not allowed to remarry for a period of ten years. Such attempts to control sexuality reveal a repressive gesture that is found elsewhere in Lenz’s writing, for example his Meine Lebensregeln, whose neurotic intensity may be traced by those who wish to back to Oedipal conflicts in a family dominated by Lenz’s severely pietistic father. Fuel for such an approach might also be provided by the other main problem beside jealousy that Lenz’s regulations deal with, namely revulsion. Thus he argues that one of the advantages of soldier-marriages is that the partners spend a great deal of time apart and so have less opportunity to develop revulsion for each other – as if revulsion were a natural consequence of cohabitation. At the same time this elides into revulsion in a more specific sense when he formulates regulations that allow for separation or divorce if one of the partners develops an offensive illness: one example is bad breath. Lenz is thus giving power to women at the same time as trying to regulate sexual relations. Before we go on to attempt an assessment and historical location of Lenz’s project it is necessary to point out that there is one strand of thought within the notes and sketches making up the Berkaer Projekt that seems to run contrary to the main line of argument, which, as we have seen, idealises women as the heart of the family tied to a particular plot of land and a particular locality. The consequence of this is that women would have nothing to do with the actual military campaigns, where they would merely distract the men (179, 292, 378). And when Lenz writes about the role of women in the battles of the Germanic tribes he seems merely to be interested in the powerful motivating force that they can be (375, 376, 401). But there are by contrast a number of notes which refer to the positive contribution that women can play in the support of troops as sutlers selling provisions to the army in the field, doing the washing and helping with the carrying and foraging (169, 189, 263, 399, 400, 401). In one of these (400) he talks of

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them being dressed as Amazons and in another set of notes he even seems to envisage the possibility of their fighting in cases of emergency: „im Kriege können die Weiber auf und mitgehn, die Kinder den Eltern lassen Soldatenweiber nähren sich mit ihrer Arbeit Offiziers 26 von ihren Männern trennen Alle Anstalten wegen der Deserteurs fallen weg, Kinder zu hause ich sah Weiber als Amazonen im Nothfall mitfechten und das stärkste corps de reserve machen Soldatenweiber machen die Marquetender“

It is not clear how this fits in with the dominant idea of the woman as the focus of domesticity, whether these notes were written either earlier or later than the other manuscripts, or whether they merely contain an idea that Lenz toyed with but never properly integrated into his scheme. The attempt to organise, rationalise and control human behaviour, though extreme, is not in principle untypical of the kind of way that Enlightenment reformers set about putting the world to rights, any more than is the role that Lenz claims as mentor to the French Minister of War. It contrasts, however, with the haste that is evident in the scribbled fragments of the Berkaer Projekt, and it contrasts with the tendency of his plays to show how complex and entangled human behaviour is. Above all it seems to contrast in many ways with the emphasis on feeling and the attempt to restore some kind of primal, natural and therefore instinctive social harmony, both of which are more reminiscent of Rousseau – himself a figure on the edge of the Enlightenment. The concept of the organic society that Lenz looks forward to is strongly influenced by Rousseau, and it is significant that he often uses the past tense to refer to an ideal of social harmony that once existed and needs to be recovered. For example, he begins the argument of Über die Soldatenehen: „In den ältesten Zeiten war der Bürger und der Soldat unzertrennlich und warum sollte er zertrennlich seyn“ (2). He then goes on to compare the human with the natural world, pointing out that animals are always endowed with the means of either directly defending themselves or of fleeing their predators. This coincidence between being and the ability to defend oneself was, he claims, realised in the Europe of the ancients, in the Greeks and in Caesar, but, with the collapse of culture in the modern world, has been lost as standing armies and mercenaries were introduced. Like Rousseau, and like Herder and Goethe, his fellow Sturm und Drang writers, Lenz is at heart making a protest against the alienation that they see as characteristic of modern society. It was not the inequality of power as such to which they objected – witness the similar backward utopia evident in Götz von Berlichingen’s memory of the festivities that used to be organised by the 26

Presumably to be read as ‚Offiziersweiber‘.

The citizen and the family in the reform project of J. M. R. Lenz

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Landgrave of Hanau 27 – but the abuse of power, which they attributed to alienation and bureaucratisation, i.e. to symptoms of the bourgeois culture emerging within feudal absolutism that conflicted with the individualism it also produced. Similarly Lenz appeals to the idea of a nation, an original organic community constituted by citizens as the ultimate goal of identification through which the individual achieves self-fulfilment. Although he at no point suggests that he wanted to do anything but strengthen the power of the monarchy, his reforms in fact look forward to a concept of citizenship that only flowered in the French Revolution. 28 Lenz is the only writer of this movement, with the possible exception of Herder in his Reisejournal, who attempts to think through the practical consequences of these attitudes. This is particularly clear at the point where Goethe and Lenz are closest. The military success of Götz von Berlichingen and his devoted followers lies at least in part in their knowledge of secret paths, representing a closeness to nature which contrasts with that of the imperial troops pursuing them, of whom Götz says contemptuously: „es sind lauter Miethlinge.“ 29 While Goethe only implicitly criticises the false individualism, the selfishness and alienation that is represented by financial motivation and in the last lines of the play expresses through Lerse nothing more specific than the need to keep the memory of Götz alive, it is Lenz who devoted his energies to devising practical methods which would encourage at the same time the autonomy of the individual and his harmonious integration into his social and natural environment. The idea of autonomy covers both the moral autonomy Lenz’s comedies were intended to provoke and the kind of practical autonomy of the soldier in the field of battle who is an effective fighter because he identifies with the goals of his general; social integration involves ideas of a society based on an inequality legitimated by difference of function, in which the different sectors of society are held together by mutual respect and understanding, Rousseau’s ‚pitié‘. 30 It is a model of the way in which alienation from the self and from society can be overcome. It draws on the language and the affective intensity associated with the 27 28

29 30

Eibl, Karl/Jannidis, Fotis/Willems, Marianne (ed.): Der junge Goethe in seiner Zeit. Texte und Kontexte, Vol. 1, Frankfurt, Leipzig 1998, pp. 294f. „Ist es denn in der Natur der Dinge unmöglich – und seit wenn? – daß ein Monarch das erste Exempel geben und aus seinen Soldaten – auch Bürger des Staats machen kann den sie beschützen. Dieses Wort allein muß euch alle Vortheile vor die Augen bringen die damit verknüpft sind – was für edle trefliche Bürger – und was für unbezwingliche Soldaten“ (34). Eibl (ed.): Goethe, Vol. 1, p. 280. See Hill, David: Stolz und Demut, Illusion und Mitleid bei Lenz, in: Wurst, Karin A. (ed.): J. R. M. Lenz als Alternative? Positionsanalysen zum 200. Todestag, Köln 1992, pp. 64-91.

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David Hill

emerging bourgeois family, but in its at times obsessive attempt to control the private sphere it reveals here at the birth of the modern family a repressive and instrumental dimension that, for one scholar at least, is reminiscent of the Lebensborn project. 31 It gives a particular power to women while at the same time idealising them as representing the idea of the nation and locking society into fixed gender roles. It breathes the idea of the citizen committed to a national community, freed from alienation and serving his countryfolk out of love, a love mediated through his love for his family, land, wife and children, and it shows in one particular variant the characteristic mixture of empowerment and disempowerment associated with the idea of citizenship and the idea of the family as they developed in the late eighteenth century. In particular it reflects the way in which the internalisation of power-structures described by Foucault 32 relates to shifts in the distribution of power.

31 32

See Wilson, W. Daniel: Kritik. Foucault, Michel: Surveiller et punir. Naissance de la prison, Paris 1975.

FRIDRUN FREISE

Das ,Etikett‘ der idealen Ehe und Familie Wie Gelegenheitsgedichte im 18. Jahrhundert einen neuen Wertekanon repräsentieren

Hochzeit, Taufe, Namenstag, Geburtstag und Tod sind Anlässe für Gelegenheitsgedichte, bei denen die Adressaten vom familiären und gesellschaftlichen Umfeld gefeiert werden. Insbesondere Hochzeit und Taufe sind dabei als ‚rites de passage’ 1 anzusehen, die die Gefeierten in ihre sozialen Kontexte einordnen. Gerade bei Hochzeiten wird der Eintritt in die Institution Ehe und das damit verbundene Familienkonzept gefeiert, bei Geburt und Taufe wird der Säugling nicht nur als neuer Mensch und in der kirchlichen Gemeinschaft, sondern auch im Kreis der Familie willkommen geheißen. Ein Wandel der Vorstellungen vom Ehe- oder Familienleben müsste sich demnach nicht nur in den Feierbräuchen, sondern auch in den zu diesen Anlässen überreichten Schriften widerspiegeln. Das wirft die Frage auf, ob Gelegenheitsgedichte nicht eine ideale Quelle für die Entwicklung familiärer Strukturen im 18. Jahrhundert wären, da sie im Gegensatz zu Schilderungen solcher Feierriten in großer Zahl überliefert sind. Die Antwort lautet: ja und nein – ja, weil man die Perspektive der breiten Masse bürgerlicher Schreiber erfassen kann; nein, weil die poetischen Gelegenheitswerke Bedingungen der Literarizität folgen, obwohl ihre Verfasser nicht den Anspruch erheben Dichter zu sein und obwohl den Texten in der poetologischen Diskussion der Literaturstatus abgesprochen wird. Wie lässt sich nun mit diesem durch die Quellenbeschaffenheit begründeten Dilemma umgehen? Im Folgenden soll ein möglicher Weg vorgeführt werden, auf welche Weise die in den Schriften greifbaren Diskurse zur näheren Erhellung der zeitgleich üblichen familiären Muster nutzbar gemacht werden können. Ein kurzer Blick auf den Status von Gelegenheitsdichtung in der Mitte des 18. Jahrhunderts dient dem Verständnis der gattungsspezifischen Besonderheiten. Danach wird ein Textkorpus von 161 Hochzeitsgedichten aus der Stadt Elbing in einer exemplarischen Analyse auf Ehe- und Familienbilder untersucht. Die statistische Analyse des gesamten Textkorpus wird dabei durch die ausführliche Interpretation und Kontextualisierung einzelner Beiträge ergänzt. 1

Vgl. grundlegend van Gennep, Arnold: The Rites of Passage, Chicago 2001.

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Fridrun Freise

Um 1750 hatten die führenden Poetiker und Literaturkritiker der Kasuallyrik den Status als „Poesie“ längst aberkannt. Sie kritisierten Gelegenheitstexte unter anderem als kunstlos, repetitiv, gefühlsarm und unpoetisch. 2 Auch die bis zur Jahrhundertwende um 1700 in der Praxis fest verankerte gesellschaftliche Relevanz, die sich zum Beispiel in der Repräsentation des Sozialstatus der Adressaten manifestierte, 3 wurde von den literarisch ambitionierten Zeitgenossen in Frage gestellt. Gleichzeitig sank die Nachfrage nach den Versen anlässlich von Hochzeiten, Beerdigungen, Geburtstagen oder Ratswahlen aber keineswegs. Man kann sogar eine Ausweitung der Adressaten- und Verfasserkreise feststellen. Die literaturwissenschaftliche Forschung des 20. Jahrhunderts benannte deshalb gerade das Vermassungsphänomen als Ursache für Niedergang, Verflachung und Abwertung der Kasualpoesie. 4 Auch der in der ästhetisch-poetischen Diskussion oft genannte Kritikpunkt „Massenhaftigkeit“ ist um 1750 schon mehr als hundert Jahre alt. 5 Für die Familien-Thematik noch interessanter ist jedoch der Vorwurf, dass die Ausweitung der bedichteten Anlässe die Zunahme der nicht bedichtungswürdigen Anlässe mit sich bringe. Die so häufig bedichteten „Privatbegebenheiten“ seien zu trivial, um als Grundlage für Literatur zu dienen. Obwohl in vielen Schulen noch das Dichten gelehrt wurde, 6 vertraten selbst 2

3

4 5

6

Vgl. hier beispielhaft zu der zentralen Kontroverse um den Wert von Kasualliteratur zwischen Johann Christoph Gottsched und Georg Friedrich Meyer vgl. Segebrecht, Wulf: Das Gelegenheitsgedicht, Stuttgart 1977, S. 255-275. Vgl. z.B. Fuchs, Juliane: HimmelFelß und Glückes Schutz. Studien zu Bremer Hochzeitsgedichten des 17. Jahrhunderts, Frankfurt a.M./Berlin/Bern u.a. 1994. In der Dissertation wird die Repräsentation verschiedener Berufsgruppen in Hochzeitsgedichten des 17. Jahrhunderts untersucht. Vgl. außerdem Freise, Fridrun: Das Kasualgedicht als öffentlicher Raum. Strategien der Repräsentation und sozialen Selbstvergewisserung in Thorner Gelegenheitsschriften des frühen 18. Jahrhunderts, in: Emmelius, Caroline/Freise, Fridrun/Mallinckrodt, Rebekka von/ u.a. (Hg.): Offen und Verborgen. Vorstellungen und Praktiken des Öffentlichen und Privaten in Mittelalter und Früher Neuzeit, Göttingen 2004, S. 249-268, hier insbes. S. 249-252; zum Aktenwert von Kasualschriften in Präzedenzrechtsakten vgl. Füssel, Marian: Gelehrtenkultur als symbolische Praxis. Rang, Ritual und Konflikt an der Universität der frühen Neuzeit, Darmstadt 2006, S. 265f. Vgl. Segebrecht, Gelegenheitsgedicht, hier insbes. S. 230-254. Vgl. z.B. die schon topisch gewordene Klage des Martin Opitz: „Es wird kein buch/ keine hochzeit/ kein begräbnüß ohn vns gemacht; vnd gleichsam als niemand köndte alleine sterben/ gehen vnsere gedichte zuegleich mit jhnen vnter.“ Opitz, Martin: Buch von der Deutschen Poeterey, in: ders.: Gesammelte Werke. Kritische Ausgabe, hg. v. George Schulz-Behrend, Bd. II: Die Werke von 1621 bis 1626, Teil 1, Stuttgart 1978, S. 331-416, hier S. 349. Vom Elbinger Gymnasialrektor Johann Lange ist z.B. aus dem Jahr 1742 belegt, dass er in seinen Privatstunden Übungen in lateinischer und deutscher Poesie anbot. Neu-

Das ‚Etikett’ der idealen Ehe und Familie

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Verfasser von Dichtungslehrbüchern wie der Schulrektor und GottschedGegner Johann Christoph Dommerich diese Meinung in ihren Gymnasialpoetiken: 7 „Gelegenheitsgedichte sind Gedichte, worin eine privat oder öffentliche Begebenheit nicht nur poetisch erzälet [!], sondern auch mit verschiedenen Betrachtungen untermenget wird. Da nicht alle, besonders Privatbegebenheiten, die gehörige poetische Grösse besizen [!]: [...] so entsteht daher die ungeheure Menge schlechter Gelegenheitsgedichte, welche so vielen Anteil an dem Verderben des guten Geschmacks haben.“ 8

Die „Betrachtungen“, die in die Gratulationsgedichte eingebunden werden, werten den geringen Anlass in Dommerichs Augen nicht auf, sondern werden von ihm auf demselben unwichtigen Niveau wie die bedichtete „private“ Begebenheit eingeschätzt. Auch von den wenigen Literaturwissenschaftlern, die sich zur Gelegenheitsdichtung im 18. Jahrhundert geäußert haben, 9 wird gerade am Beispiel von Liebes-, Ehe-, Familien- und Freundschaftsthematik im Hochzeitsgedicht jener Rückzug ins Private und Familiäre festgestellt. Betrachtet man die thematische Struktur der Gedichte und die häufig fallenden topischen Schlagworte, so liegt ein solcher Schluss nahe. Der Befund wird auch durch die Analyse einer repräsentativen Stichprobe von 187 Elbinger Kasualschriften bestätigt. Als Grundlage für die statistische Untersuchung dienen drei umfangreiche und für die Überlieferung der Elbinger Gelegenheitsdichtung zentrale Textkonvolute aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. 10 Zwei Bände stammen aus der repräsentativen Casualiasammlung der ehemaligen Elbinger Gymnasial- und späteren Stadtbibliothek. Der erste (BE XVIII.103) umfasst 108 Drucke von 1749-1755, der zweite (BE

7

8 9

10

baur, Leonhard: Aus der Geschichte des Elbinger Gymnasiums, Programm Gymnasium Elbing 1897, S. 46. Dommerich, Johann Christoph: Entwurf einer Deutschen Dichtkunst zum Gebrauch der Schulen abgefasset [...], Braunschweig: im Verlage des großen Waisenhauses 1758. Ebd., S. 51f. („Erklärung der Gelegenheitsgedichte.“). Beispielhaft seien genannt Leighton, Joseph: Occasional Poetry in the Eighteenth Century in Germany, in: Modern Language Review 78 (1983), S. 340-358. Baumgartner, Walter: Lübecker Hochzeitsgedichte. Aspekte und Facetten, in: Bruns, Alken (Hg.): Der Wagen. Lübecker Beiträge zur Kultur und Gesellschaft, Lübeck 2004, S. 58-87. Ein heute im Danziger Staatsarchiv aufbewahrter Casualiasammelband mit vielen Drucken aus dem 18. Jahrhundert (APGd 491/1708) enthält eine große Zahl von Dubletten zu BE XVIII.102 und wurde nicht in die Statistik aufgenommen, um nicht das Ergebnis zu verzerren. Die Biblioteka Elbląska [Elbinger Bibliothek] wird im Folgenden immer mit der Bibliothekssigle BE abgekürzt. BUT steht für Biblioteka Uniwersytecka w Toruniu [Universitätsbibliothek in Thorn], APGd für Archiwum Państwowe w Gdańsku [Staatsarchiv in Danzig].

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Fridrun Freise

XVIII.102) 125 Schriften von 1755-1778. Diese beiden werden ergänzt durch einen Folioband unbekannter Herkunft (BUT Pol.8.III.966-1117) mit 155 Drucken von 1767-1783. 11 Für die Zeit nach 1783 fehlen heute Sammlungen dieser Art und die daraus resultierende spärliche Quellenlage macht somit die sinnvolle statistische Auswertung unmöglich. 12 Der Untersuchungszeitraum umfasst deshalb die Jahre 1749 bis 1783. In den drei beschriebenen Konvoluten finden sich insgesamt 157 Hochzeitsschriften, je zwei zu einer Jubelhochzeit und zu einer Verlobung (vereinfacht für die Statistik: 161 Hochzeitzeitsschriften), die genauer ausgewertet wurden. Ein Geburts-, 23 Geburtstags- und zwei Namenstagsgedichte (vereinfacht für die Statistik: 26 Geburtstagsdrucke) dienen als ergänzende Beispiele. Alle übrigen in den Sammelbänden dokumentierten Spielarten der Gattung – vor allem Ratswahl- und Leichengedichte – wurden in der Untersuchung nicht berücksichtigt, da die topischen Verweise auf Ehe und Familie bei diesen Anlässen deutlich seltener auftreten. Alle Drucke entstammen einem stadtbürgerlichen Milieu, unter das sich wenige adelige Adressaten mischen. Damit gelten die beschriebenen Funktionszusammenhänge auch nur für einen stadtbürgerlichen Kontext sowie für die dort dichtenden Laien-Poeten, die nicht den Anpruch erhoben, Literatur zu verfassen. Aus den poetologischen Vorgaben zur Erfindung (‚inventio’) entwickelten sich vier für die Ehe-Thematik zentrale Themenkomplexe, die von den Verfassern auch noch im 18. Jahrhundert besonders häufig ausgewählt werden. Dem Anlass zugeordnet wird an erster Stelle das Thema „Liebe“. Zu den Einfällen, die sich aus den persönlichen Umständen der Adressaten schöpfen, zählt zweitens die Betrachtung männlicher und weiblicher „Tugenden“. 13 Drittens finden sich häufig Aussagen zur religiösen, philosophi11 12

13

BUT Pol.8.III.966-1117 enthält außerdem zwei vorgebunden handschriftliche Casualia, die hier nicht berücksichtigt werden. Zur Überlieferungslage der Elbinger Kasualschriften vgl. Freise, Fridrun: Das Elbinger Gelegenheitsschrifttum. Die heutigen Bestände vor dem Hintergrund der Geschichte der historischen Sammlungsinstitutionen, in: Garber, Klaus (Hg.): Handbuch des personalen Gelegenheitsschrifttums in europäischen Bibliotheken und Archiven, Bd. 21: Elbing. Elbląg. Elbinger Bestände unter Berücksichtigung der historischen Sammlungen der ehemaligen Elbinger Stadtbibliothek und des ehemaligen Elbinger Stadtarchivs, hg. v. Fridrun Freise u. Mitarb. v. Stefan Anders u. Sabine Beckmann, Hildesheim/Zürich/New York 2008, S. 21-71, hier insbes. S. 35-37. In den Anleitungspoetiken des 17. Jahrhunderts werden solche topischen Fundorte (‚loci’) auf unterschiedliche Weise zusammengefasst. Die beiden genannten Kategorien führt z.B. Balthasar Kindermann unter der Überschrift „Das VII. Kapit. Von den Personen/ an die wir schreiben/ dabey uns dan gewiesen wird/ wie wir die Erfinung nehmen sollen/ entweder von deroselben Geschickligkeit/ oder Tugend/ oder von einiger Weissagung/ wie es nemlich derselben ins künfftige werde ergehen/ oder von dero Treu und Redligkeit/ oder von der Freundschaft und Liebe/ oder vom Handel und

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schen oder mythischen Begründung von Ehe, 14 die in dieser Untersuchung unter dem Schlagwort „Ehe“ zusammengefasst werden. Als vierte und letzte folgt schließlich die hier als „Familienleben“ bezeichnete Kategorie, zu der alle Aussagen zählen, die Beziehungen zwischen Ehepartnern oder zwischen Kindern und Eltern behandeln. 15 Die Analyse der 161 Hochzeitsschriften ergibt für die vier Kategorien eine prägnante statistische Verteilung (vgl. Abb. 1).

„Liebe“ In immerhin 148 Hochzeitsschriften (92%) wird das Wort „Liebe“ nicht nur als Worthülse erwähnt, sondern es lässt sich aus dem Beiträgen eine spezifische Vorstellung von Liebe ablesen. Die Ausprägungen reichen von expliziten und ausführlichen Liebeskonzeptionen zu implizit ablesbaren Überzeugungen, die aus idealen Paar-Inszenierungen in Schäfergesprächen oder kleinen Episoden sprechen, an denen oft der Liebesgott Amor beteiligt ist. 16

14

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16

Wandel/ oder von derselben heroischen Thaten/ u.s.f.“ [Kindermann, Balthasar:] Der Deutsche Poët/ Dari[nn]en gantz deutlich und ausführlich gelehret wird/ welcher gestalt ein zierliches Gedicht/ auf allerley Begebenheit/ auf Hochzeiten/ Kindtauffen/ Gebuhrts= und Nahmens=Tagen/ Begräbnisse/ Empfah= und Glückwünschungen/ u.s.f. [...]/ kan wol erfunden und ausgeputzet werden/ [...], Wittenberg: Friedrich Wilhelm Fincelius 1664, S. 165-193. Autoritäten wie die Bibel oder Aussprüche berühmter Gewährsleute werden zumeist unter dem als ‚Locus Testimoniorum’ bezeichneten Erfindungsort angeführt. Vgl. z.B. [Hunold, Christian Friedrich]: Die Allerneueste Art/ Zur Reinen und Galanten Poesie zu gelangen. Allen Edlen und dieser Wissenschafft geneigten Gemühtern/ Zum Vollkommenen Unterricht/ Mit überaus deutlichen Regeln/ und angenehmen Exempeln ans Licht gestellet/ Von Menantes, Hamburg: Gottfried Liebernickel 1707, S. 554 oder Wahll, Johann Samuel: Kurtze doch gründliche Einleitung zu der rechten/ reinen und galanten Teutschen POESJE, [...], Chemnitz: Conrad Stöffel 1715, S. 106f. Diese Kategorie ist phänomenologisch gefasst und ist deshalb kaum einem Erfindungsort zuordnen. Verweise auf Kinder könnten sich z.B. bei Frauen ‚ex loco generis’ speisen oder im Kontext der Kinderwünsche im Hochzeitsgedicht erscheinen. Z.B. das Schäfergespräch BUT Pol.8.III.1098: Schäfergespräch an dem Tormin= und Silberschen vergnügten Mirthenfeste zu Elbing den 21 Februar 1783 widmet diese aus Ergebenheit d' Arambide, Elbing: Johann Gottlieb Nohrmann (1783); mit AmorEpisode: BUT Pol.8.III.1040: Am Kirsten= und Schröterschen Hochzeittage. Elbing, den 26. Oct. 1779, o.O.: o.D. (1779).

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0 insges. 161 (100%)

Liebe 148 (92%)

Tugend 112 (70%)

Ehe 98 (61%)

Familie 41 (25%)

BUT Pol.8.III.966-1117: 1767 – 1783 BE XVIII.102:

1755 – 1778

Abb. 1: Themenkomplexe zur Ehe-Thematik in Elbinger Hochzeitsdrucken

Dass in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Liebesthematik quasi naturgemäß in einem Hochzeitsgedicht auftauchen musste, bestätigt eine Passage aus der leicht ironischen Rechtfertigung des Kandidaten Georg Grübnau 17 für seine eigene Themenwahl: „Denn eine Hochzeit ist doch eine Hochzeit, und also muß man auf der Hochzeit von der Hochzeit, das ist, von Liebe reden, und wenn man von Liebe nicht reden kan, so muß man von Zärtlichkeit reden, und wenn man von Liebe und Zärtlichkeit nicht allein reden kan, so muß man von beyden zugleich reden, oder gar schweigen.“ 18

Die Ausschließlichkeit, mit der die Liebesthematik bei Hochzeitsgedichten eingefordert wird, korrespondiert mit der weiteren Zunahme des schon im 17. Jahrhundert häufigen topischen Versatzstücks. Wenn die emphatische Aufladung von Liebe als Grundbedingung von Ehe im 18. Jahrhundert flächendeckend topisch eingesetzt wird und als Voraussetzung für Hochzeits17 18

Zu Grübnau vgl. Abs, Hugo (Hg.): Die Matrikel des Gymnasiums zu Elbing (15981786), Danzig 1936-1944. ND Hamburg 1982, S. 263 (1747,12). BUT Pol.8.III.979: Gedanken über die Prädestination in den Ehen. Der Hochzeitfeyer des [...] Herrn Daniel Leberecht Rogge [...] Predigers bey der Kirche zu den heiligen drey Königen der Neustadt Elbing mit der [...] Jungfer Regina Maria des [...] Herrn Samuel Kienast hochverdienten Senioris und ersten Predigers bey der Hauptkirche zu sanct Marien der Altstadt Elbing einzigen Jungfer Tochter gewidmet von George Grübnau E.E.Pr. Candidat. Elbing den 23 October des Jahres 1770, Elbing: Johann Gottlieb Nohrmann (1770), fol. *3v.

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gedichte zu gelten scheint, ist dies 100 Jahre früher nur eine sehr beliebte Spielart. Beispielhaft für die kasualliterarische Bedichtung einer aus sich heraus existierenden, dauerhaften Liebe zwischen Mann und Frau, die schließlich als Belohnung in eine gute Ehe mündet, lassen sich allerdings auch hier schon finden. Das zeigt Georg Greflingers Hochzeitsgedicht auf den Danziger Studienkollegen Reinhold von Amstern, der 1651 die Elbingerin Dorothea Radlauin verwitwete Ewert heiratet: „EJn Hertze/ das beständig liebt Wird/ ob es schon die Zeit betrübt Und tausend Neider hassen/ Das/ da es sich hat fest gesetzt/ Am Ende/ dennoch unverletzt/ Mit süsser Lust umbfassen.“ 19

Hier ist die Ehe der Lohn für die beständige und ideale Liebe. Neu ist jener ideale Zusammenhang von Liebe und Ehe also nicht, sondern die konzeptionellen Ausformungen des Zusammenhangs, in die im 18. Jahrhundert moderne philosophische Gedanken integriert werden. Solche Konzeptionen sind in den meisten Gedichten von Alltagsdichtern, die nur Gelegenheitsschriften verfassen und keinen andersgearteten literarischen Anspruch haben, zumeist recht plakativ. Häufig speisen sie sich aus einem mehr oder weniger spitzfindigen Einfall, der auf einen bekannten philosophischen Gedanken oder eine gesellschaftliche Idealvorstellung anspielt. Dieses Prinzip lässt sich schon anhand einiger sprechender Titel illustrieren, da die Themen gerne in der Überschrift genannt und dann im Gedicht weiter ausgeführt werden. 1754 feiert Carl Alexander Möller „Die vernünftige Menschenliebe als eine Ursache glücklicher Verbindungen“. 20 Die Vernunft ist in seinem Gedicht nicht nur Basis für ein ausgefülltes Geistesleben, sondern als Grundfeste für „Liebe, die vernünftig frey[,]“ auch das Fundament für eine maßvolle Paarbeziehung, die Glück ohne „Weh“ verspricht. 21 Derselbe Verfasser nutzt ein Jahr später unter dem Titel „Die wahre Freundschaft“ Schlagworte der modischen 19

20

21

BUT Pol.7.II.6937: Der Beständige Liebhaber Herren Reinholt von Amstern/ Vbersandt von Georg Greflinger Käyserlichen Notario auß Hamburg, o.O.: o.D. [1651], fol. π1v. BE XVIII.103 adl. 89: Die vernünftige Menschenliebe als eine Ursache glücklicher Verbindungen wolte bey der vergnügten Vermählung des [...] Herrn Alexander Unterberg Hochverdienten Rathsherrn der Königlichen Stadt Elbing, Scholarchen eines löblichen Gymnasii, wie auch itziger Zeit [...] Herrn Landrichtern mit der [...] Frauen Maria Eleonora des [...] Herrn Michael Heinrich Horns [...] gewesenen ältesten Herrn Bürgermeistern, wie auch Vice=Präsidenten der Königlichen Stadt Elbing nachgelassenen [...] Witwe [...] zu erkennen geben Carl Alexander Möller E.E.P.C, Elbing: Johann Gottlieb Nohrmann [1754]. Ebd., fol. π1v-π2r.

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Freundschaftskultur, um sie auf die eheliche Partnerschaft von Mann und Frau zu applizieren. In einem religiösen Lehrgedicht entwickelt er seine biblisch belegte Grundkonzeption, indem er die zu erwartende FreundschaftsLiebe des bedichteten Paares in Adam und Eva präfiguriert. 22 In einem anonymen Beispiel – „Die Liebe, kein blosses Spiel der Natur,“ – aus der Zeit um 1770 wird die Liebe in ein tugendreligiöses Weltbild eingebettet. 23 Ein mit den Initialen „J.C.S.“ abgekürzter, unbekannter Verfasser beschwört 1778 „Die Uebereinstimmung der Gemüther als das größte Glück der Ehen“ 24 und geht damit von der sehr gängigen Vorannahme aus, dass für die ideale Liebe beziehungsweise Ehe bei beiden Partnern gleiche seelische Disposition bestehen müsse. Auf diesen sehr populären Kontext wird im Folgenden noch näher eingegangen. Veränderungen gegenüber dem 17. Jahrhundert ergeben sich somit in der zeittypischen Ausprägung der Begründungen für die ideale Liebe, die sich in den Gelegenheitsgedichten zumeist auf die Anknüpfung an große Schlagworte wie „Vernunft“ oder „Freundschaft“ reduziert.

„Tugend“ Die mit 70% an zweithäufigster Stelle verhandelte Themengruppe beschäftigt sich mit den Tugenden von Braut beziehungsweise Ehefrau und Bräutigam respektive Ehemann. Statistisch erfasst wurden ganz streng nur explizit genannte Tugenden. Diese Tugenden erscheinen nicht nur als idealisierende Attribute für die Adressaten, sondern wie das Liebesthema auch als Bestandteile oder Begründungsmuster von Ehekonzeptionen. Besonders häufig findet sich hier die Gedankenkonstruktion des „Tugendlohns Ehe“ für vorheri22

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BE XVIII.102 adl. 1: Die wahre Freundschaft wolte an dem vergnügten Hochzeitfeste des [...] Herrn Carl Friedrich Tolkemit Notarii Cancellariä allhier mit der [...] Jungfer Maria Eleonora des [...] Herrn Michael Heinrich Horns [...] ältesten Bürgermeisters wie auch [...] Vicepräsidenten und Ober=Kriegscommissarii nachgelassenen einzigen Jungfer Tochter welches den 2ten Sept. 1755. feyerlichst begangen wurde in Erwägung ziehen und dem [...] Brautpaare gehorsamst Glück wünschen ihr ergebenster Freund und Diener Carl Alexander Möller, E.E.P.C, Elbing: Johann Gottlieb Nohrmann (1755). BUT Pol.8.III.968: Die Liebe, kein blosses Spiel der Natur, bey der erwünschten Hochzeitfeyer des [...] Herrn Johann Schmidt, [...] Secretarii, und der [...] Jungfer Anna Eleonora, des [...] Herrn Andreas Theodor Brakenhausen, i.Z. [...] Königlichen Burggrafen und [...] Bürgermeistern der Königlichen Stadt Elbing [...] Jungfer Tochter, besungen von einem Freunde der tugendhaften Liebe, Elbing: Johann Gottlieb Nohrmann [um 1770]. BUT Pol.8.III.1026: Die Uebereinstimmung der Gemüther als das gröste Glück der Ehen wurde bey der feyerlichen Vermählung des Herrn Negocianten Philipp Wilhelm Mila mit der Demoiselle Johanna Maria Carolina Sieffert besungen von J.C.S. Elbing den 6ten October 1778, (Elbing): Johann Gottlieb Nohrmann (1778).

Das ‚Etikett’ der idealen Ehe und Familie

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ges Wohlverhalten. Wie schon gezeigt, gehört das Lob der Adressaten zu den grundlegenden topischen Erfindungsinhalten. Die Inhaltskerne solcher Attribute haben sich somit vom 17. zum 18. Jahrhundert hin kaum verändert. Für fast alle Charakterzüge dieser Art – zum Beispiel die drei der „Edle[n] Sendelin“ 1753 zugeschriebenen Merkmale „[d]er Tugend, Gottesfurcht, und dem was häuslich ist“ 25 – lassen sich auch über einen Zeitraum von 100 Jahren Pendants finden. 26 Diese Liste ist für die meisten Tugenden fortsetzbar. Aktualisierungen im traditionellen Kanon der Tugenden gibt es zum einen in zeitgenössischen Häufungen von Begriffen wie zum Beispiel der Kombination des Attributs ‚Munterkeit’ und mit der Bezeichnung ‚Kind’ für die Braut. 27 Zum anderen finden sich vereinzelt aktuelle Schlagworte, die in das Begriffsrepertoire integriert werden. Stellvertretend seien hier die „aufgeklärten Triebe“ genannt, die 1754 einem Bräutigam zugeschrieben werden. 28 25

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BE XVIII.103 adl. 56: Zu des Herrn Lands Hochzeit=Kerzen mit der Edlen Sendelin, bringt aus kindlich treuem Herzen ein geweyhtes Opfer hin, Heinrich Land. Jm Jahr 1753. den 13. Febr., Elbing: Samuel Gottlieb Preuss (Witwe) (1753), fol. π2r. Zu Tugend z.B. „Froh=Werck/ wenn Sie Tugend liebt/“ in BUT Pol.7.II.1977: Ehestandes Traur= und Froh=Werck/ Bey Hochzeitlichem Ehren= und Frewden=Tage (s.T.) Hn. NICOLAI FROWERCKS/ [...] Bürgers/ Mältzenbräuers und Handelsmans der Königl. Alten Stadt Elbing/ Vnd [s.T.] Jungfrawen Anna Corellin/ (s.T.) Herrn SAMUELIS CORELLEN/ [...] Pastoris Königl. Newen Stadt Elbing/ Eheleiblichen Jungfr. Tochter; [...] von einem Sonderbaren Corellen=liebhaber, Elbing: Achatius Corell d.J.; Johann Arnoldt 1675, fol. π3v; zu Gottesfurcht z.B.: „Die [i.e. die Braut] auch von Jugend auff allzeit ihr gantzes Leben | Der wahren Gottesfurcht hat eintzig [!] nur ergeben/ | [...]“ in BUT Pol.7.II.6965: Freuden=Gedichte Auff den Erfreulichen Hochzeitlichen Fest= und Ehren=Tag Des [...] Hn. Johan Wernigke Bräutigams/ Und der [...] Jungfrauen CORDULA Des [...] Hn. ANTHONJJ SMYTHS Eh=Leibliche Tochter/ Braut. Welcher im jetzt lauffenden 1648. Jahr den 7. Janu. gehalten worden, Elbing: Achatius Corell d.Ä. (1648), fol. π2v; zu Häuslichkeit z.B.: „Froh=Werck/ wenn im Hauß Sie wachet/ | Froh=Werck/ wenn Sies woll bestelt/ | [...]“ in BUT Pol.7.II.1977, fol. π3v. „Mit einem Engels Kind, in dem die edle Tugend, | die Klugheit und Verstand, die Munterkeit und Jugend | Die Schönheit schöner macht [...]“ in BE XVIII.103 adl. 25: NUPTIAS AUSPICATISSIMAS VIRO [...] EPHRAIMO GOTTLOB MARSILIO, GRAECAE ET OO.LL. IN GYMNASIO PATRIO PROFESSORI EXTRAORDINARIO ET VIRGINI [...] MARIAE ELISABETHAE BERGMANNORUM SANGVINE ORIUNDAE, D. XXIX. JAN. A. MDCCL. SOLEMNI RITU CELEBRATAS AMICE GRATULATUR COLLEGIUM ELBINGENSE, Elbing: Samuel Gottlieb Preuss (1751), fol. π2r (Verfasser: „I.H.B.C.“). „Weit bessre Schlüsse wird der machen, | Der sich von jenem Haufen trennt, | Und den verborgnen Wehrt [!] der Sachen | Mit einer reifen Schärfe kennt. | Wer nun die aufgeklärten Triebe | Mit sichern Folgen auf Dich lenkt, | Und in die weise Wahl versenkt, | Nennt diese Fesseln neuer Liebe: | Ein Lieben, ohne ein Betrüben;“ in: BE XVIII.103 adl. 88: Ward ihrem Mäcenat, Herrn Unterberg, als Braut die Edle Hornin

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Spezifischen Inhalt gewinnen die Tugenden also vor allem durch die Integration in übergreifendere Konzepte.

„Familienleben“ Immerhin noch 25 % aller Schriften beschreiben darüber hinaus Beziehungen zwischen Ehepartnern, Eltern und Kindern sowie familiäre Rollenzuschreibungen – sei es als idyllische Szene oder durch die symbolische Interaktion im Druck. Eine Spielart dieser Verweise auf familiäres Leben sind die EhespiegelGedichte, die den Adressaten vorführen, wie sie sich idealer Weise im Familienleben zu verhalten haben. In der Art einer Anweisung, die sowohl das Handeln als auch die dahinter stehende Geisteshaltung betrifft, listet beispielsweise Johann Hingelberg anlässlich der Schuster-Konopackischen Hochzeit im Jahr 1749 die zukünftigen Aufgaben des Paares bei der Kindererziehung auf: „Ja mit der Kinderzucht, schließt man den Lebenslauf Zu wahrer Frömmigkeit in Kindes=Kindern auf. [...] Denn wenn die Kinder noch mit warmen Strahlen spielen Und diese Eitelkeit noch nicht im Herzen fühlen, So muß das Aeltren Paar mit Fleiß drauf seyn bedacht, Daß nicht die Kinderzucht von ihnen werd veracht. Wer seine Kinder stets mit zarter Liebe führt, Und wenn er in dem Fleisch des Adams Bosheit spürt, Sie gleich durch sanfte Zucht zum guten [!] kan bewegen, Auf dem und seinem Stand ruht überhäufter Segen.“ 29

Die pädagogischen Anweisungen transportieren implizit einen Verhaltenskanon, der auf anerkannte Vorstellungen von einem Eltern-Kind-Verhältnis und damit auf ein Bewusstsein von Familienstrukturen verweist. Besonders aus den 1770er und 1780er Jahren sind außerdem Gedichte überliefert, die Kinder ihren Eltern widmen. Darin ist die liebevolle Beziehung zu den Eltern zentrales Thema. Mögliche Anlässe für solche Überreichungssituationen sind unter anderem der Dank für ein ‚neues’ Elternteil und der Lobpreis seiner Aufgaben bei der Erziehung anlässlich der Wiederhei-

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anvertraut: so sang dis [!] Lied auf ihren Flöten das Musen=Chor angehender Poeten in Elbing. den 9 Julii 1754, Elbing: Johann Gottlieb Nohrmann 1754, fol. π2r. BE XVIII.103 adl. 6: Nimt Schusterus zur Gemahlin seine edle Konopackin durch des Priesters Hand begleitet unter Wunsch und Segen hin, so beschreibt den wahren Nutzen des vergnügten Ehestandes, des Braut=Paares tieffer Diener und Bewund'rer dieses Bandes Johann Hingelberg. L.A.C. 1749. den 10. Junii, [Elbing:] Samuel Gottlieb Preuss (1749), fol. π2r-π2v.

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rat 30 oder die hymnische Feier von liebevoller Beziehung und Erziehung anlässlich eines Geburtstags. 31 Solche Inszenierung sind genau wie die Tugendaufzählungen Zuschreibungen, mit denen die Widmenden und Adressaten sich ideell schmücken. Neben den Verhaltensanweisungen und Momentaufnahmen vorbildlicher Familienbeziehungen nimmt das einzige anlässlich einer Kindertaufe von 1771 geschriebene Gedicht eine Sonderstellung ein. Samuel Teschner 32 schreibt es für seinen Patensohn Karl Samuel, der in die führende Elbinger Ratsfamilie Ramsey hineingeboren wird. 33 Der Text Teschners bietet explizit den philosophisch-gesellschaftstheoretischen Hintergrund für die vielen kurzen Familienallusionen. Die neue Sicht auf ‚das Kind’ drückt sich zum einen in medizinisch-naturwissenschaftlicher Fachterminologie aus: Der „Embryo“ kommt unschuldig im Leben an. Dort wird er sofort gesellschaftlich zum „Bürger der Oberwelt“ und muss sich eingewöhnen. 34 In einer metaphorischen Schilderung wird der nun folgende Lernprozess des von Natur aus neugierigen und wissbegierigen Kindes beschrieben und die Entdeckung der Empfindungen und Sinne (Sehen, Fühlen, Schmecken, Hören) nachvollzogen. 35 Das Bild des positiv un30

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Z.B. BUT Pol.8.III.1003: Dem Vermählungstage ihrer zärtlich geliebten Mutter Frauen Anna Dorothea verwittweten Marsiliin verlobten Hahnin gewidmet von ihrer einzigen Tochter Carolina Dorothea Marsiliin. Elbing den 28. Febr. 1775, o.O. o.D. (1775). BUT Pol.8.III.1105: Dem Geburtsfeste Jhres würdigsten Vaters Herrn Jaques du Bois gewidmet von Jean Jaques du Bois & Carolina du Bois. Elbing den 1. Julius 1783, o.O.: o.D. (1783). Zu Teschner, der sich gerade nach dem Studium in Elbing etabliert hat, vgl. Abs, Matrikel, S. 275 (1755,1) sowie den Druck auf Teschners Hochzeit: BE XVIII.102 adl. 118: Dem glücklich vollzogenen Teschner= und Ramseyischen Hochzeitfest den 12 Hornung des 1771sten Jahres gewidmet von den in Elbing Studirenden, Elbing: Johann Gottlieb Nohrmann (1771). APGd 492/466 s. 37-44: Bey Gelegenheit der erfreulichen Geburt eines muntern Sohnes Karl Samuel wodurch das vornehme Ramseyische Haus den 26sten des Heumonats im Jahr 1771 erfreuet worden am Tauftage desselben den 30sten dieses Monats entworfen von Samuel Teschner, Elbing: Johann Gottlieb Nohrmann (1771). APGd 492/466 s. 37-44, hier fol. π2r: „Wie er dort unschuldvoll lächelt, der kleine willkommene Fremdling, | Der vom Gestade der Schöpfung zu uns herüber geschwommen, | Und nach überstandner Gefahr die Herberge segnet; | Nur vor kurzem ein Embryo noch, nun zwar schon ein Bürger | Unsrer Oberwelt, aber in seinen Geschäften noch schüchtern.“ APGd 492/466 s. 37-44, fol. π2r-π2v: „Bald trinkt er mit sanften Zügen den Balsam der Lüfte, | Athmet im wiederholten Genusse nur Wollust und Wonne, | Bald versucht er mit freyerer Hand den Luftkreis zu schlagen, | Und beschauet vergnügt die für ihn bereitete Wohnung. | [fol. π2v:] Furchtsam scheuet er halb den Stral des zuströmenden Lichtes, | Und halb suchet er ihn mit zitternden Blicken voll Neugier. | Denn ihm setz-

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beeinflussten Kindes, das sich die Welt selbst erschließt, verweist auf die Rezeption Rousseauscher Erziehungsvorstellungen. Das Kind wird nicht mehr als schwach und einer Erziehung zur Menschwerdung bedürftig empfunden, sondern es soll im Idealfall die in ihm naturhaft angelegten Fähigkeiten selbst erfahren und so gebrauchen lernen – gegebenenfalls mit maßvoller Hilfe anderer Menschen. 36 Auf die Schilderung des sinnlichen Entdeckens der Welt lässt der Verfasser den Entwicklungsschritt des verstandesmäßigen Begreifens und der Entwicklung von Begriffen folgen: „Um zu den höhern Stufen der aufgeklärten Erkenntniß Jmmer weiter hinauf zu steigen, und sich durch das Chaos Roher und ungestalter Jdeen zur deutlichern Einsicht Und zum reifern Urtheil von Dingen kühn durchzuarbeiten, Wie auf die Höhe des Meeres durch Wellen und Sturm ein Pilote. Doch mit sich selbst nur wenig bekannt, durch dunkles Bewusstseyn Merket er kaum die um seine Vernunft sich lagernde Knoten, Und gewöhnt sich allmählig mit unverdrossenem Fleisse Glücklich sie aufzulösen und ihren Zwang zu bestreiten.“ 37

Auf das pädagogische wird hier ein erkenntnistheoretisches Konzept in Anlehnung an Christian Wolff aufgesattelt: Durch den Gebrauch der niederen Erkenntnisvermögen, wozu auch die ausführlich beschriebenen sinnlichen Erfahrungen gehören, entwickelt sich die höhere Stufe begrifflicher Erkenntnis, die sich über Verstand, Vernunft und Urteilsvermögen ausprägt. 38 Der

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te die weise Natur blos mit Kräften bewaffnet, | Aber in ihrem Gebrauch und in der Kunst zu empfinden | Unerfahren, auf ihren Schauplatz ans Ufer des Lebens. | O warum gab sie ihm nicht schon ausgebildete Begriffe | Und den Schatz von Empfindungen mit, den Töchtern der Uebung | Und einer durch Versuch erst glückenden spätern Erfahrung? | Warum gab sie ihm nicht den Maaßstab der Wesen in Händen? | Jetzt muß er als Lehrling das Geheimniß von Körpern und Farben, | Von der Grösse der Symmetrie, der Art des Geschmackes, | Von dem Süssen, Bittern und Sauren künstlich ergründen; | Jetzt muß er erst das Verhältniß der hohen und tieferen Töne | Durchstudiren, die Schwingung der Luft arithmetisch berechnen, | Und durch dunkle Vergleichung ihre Verschiedenheit messen:“ Zur Rolle von Rousseaus Kindheitsvorstellung auf das pädagogische Denken vgl. unter vielen Herrman, Ulrich: Pädagogische Denken, in: Berg, Christa/Buck, August/Führ, Christoph u.a. (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 2: 18. Jahrhundert. Vom späten 17. Jahrhundert bis zur Neuordnung Deutschlands um 1800, München 2005, S. 97-133, hier S. 103-105. APGd 492/466 s. 37-44, fol. π2v. Vgl. dazu Nieser, Bruno: Aufklärung und Bildung. Studien zur Entstehung und gesellschaftlichen Bedeutung von Bildungskonzeptionen in Frankreich und Deutschland im Jahrhundert der Aufklärung, Weinheim 1992, S. 121-124. Auf dem Dualismus zwischen einem niederen sinnlichen und höheren begrifflich-logischen Erkenntnisvermögen beruhen auch zeitgenössische ästhetische Theorien, die – der Terminologie von Georg Friedrich Meier und Alexander Gottlieb Baumgarten folgend – den Ge-

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bewusst programmatisch schreibende Verfasser durchsetzt sein Plädoyer für eine moderne Haltung dem Kind gegenüber mit zentralen philosophischen Schlagworten der Zeit, wie zum Beispiel ‚aufgeklärt’ („aufgeklärte[] Erkenntniß“). Die Zukunftswünsche für den Neugeborenen ordnen ihn sogar explizit zum einen in den engen Familienkreis („verehrungswürdige[] Eltern“), zum anderen in den übergeordneten Kontext der „bürgerliche[n] Gesellschaft“ ein: „Wachse zur Ehre der Menschheit und bürgerlicher Gesellschaft, Zum Vergnügen und Troste verehrungswürdiger Eltern, [...]“ 39

Mit der Schilderung der Kindheit als eigenem Lebensabschnitt, aufgeklärter Erziehungsziele und der staatlichen Verortung wird hier punktuell ein philosophisch-gesellschaftlicher Hintergrund explizit formuliert, der hinter vielen knapper gehaltenen Familieninszenierungen durchscheint.

„Ehe“ In immerhin 61 % der Schriften wird nicht nur das Heiraten als anlassstiftender Akt bedichtet, sondern in unterschiedlicher Deutlichkeit und Ausführlichkeit eine Konzeption für die auf die Hochzeit folgende Ehe entwickelt. Erfasst wurden in dieser Kategorie alle Beiträge, die die Institution Ehe theoretisch oder allegorisch begründen. Diese Themengruppe ist zugleich diejenige der vier untersuchten, aus der die meisten umfassenderen Abhandlungen stammen, von denen hier drei Beispiele genauer vorgestellt werden sollen. Ein heute anonymer Verfasser mit den Initialen „J.C.S.“ bedenkt 1778 die Hochzeit von Philipp Wilhelm Mila mit Johanna Maria Carolina Sieffert mit einem Gedicht über „Die Uebereinstimmung der Gemüther als das gröste

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schmack bzw. die „unteren Erkenntniskräfte“ zur Erkenntnis von Schönheit und damit auch Literatur etablieren. Vgl. Pape, Walter: Die Theorie des schönen Umgangs. Zur Ästhetik und Poetik der Kinderliteratur im 18. Jahrhundert, in: Grenz, Dagmar (Hg.): Aufklärung und Kinderbuch. Studien zur Kinder- und Jugendliteratur des 18. Jahrhunderts, Pinneberg 1984, S. 21-46, hier S. 23-28. APGd 492/466 s. 37-44, fol. π4v. In der sich zu dieser Zeit neu entwickelnden Kinder- und Jugendliteratur finden sich ebenfalls Werke, die explizit zum Bürger erziehen sollen. Zu den bekanntesten Beispielen zählt u.a. Campes gut zehn Jahre nach diesem Kasualgedicht erschienener „Theophron“ (1783), dem „rezeptionsgeschichtlich bedeutsamsten elterlichen Rat für Jünglinge“. Grenz, Dagmar: Erziehung zum Bürger, Erziehung zum Menschen? Der Stellenwert der bürgerlichen Arbeit in den „Elterlichen Räten“ im ausgehenden 18. Jahrhundert, in: Dies., Aufklärung und Kinderbuch, S. 183-212, hier S. 185-191. Zum Begriff des Bürgers im Umfeld literarischer Erzeugnisse vgl. den Sammelband Friedrich, Hans-Edwin/Jannidis, Fotis/Willems, Marianne (Hg.): Bürgerlichkeit im 18. Jahrhundert, Tübingen 2006. Einen Forschungsüberblick gibt hier u.a. Michael Maurer mit einem Kapitel zu „Kultur und bürgerliche[r] Vergesellschaftung“ (S. 31-44).

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Glück der Ehen“. 40 Als Folie für das von den Adressaten angestrebte und ihnen zugeschriebene Positivmodell – „der besten Ehe Bild“ 41 – zeigt der anonyme Schreiber zuerst zwei Negativvarianten auf: Die erste beschreibt er als wertlose Ehe, die entweder durch willkürliche Partnerwahl („Loos“) beziehungsweise durch flüchtige Auswahl und Verblendung zustande gekommen ist oder aus Beweggründen wie Eigennutz geschlossen wurde. 42 Die zweite – die Eroberung eines „Hagestolzen“ – schließt Eitelkeit und bis zu einem gewissen Grade Gewinnsucht mit ein. Von dem bisher unverheirateten alten Junggesellen lässt sich ein Erbe für Frau und Kinder sichern. 43 Auch wird bei diesem Beispiel als kritikwürdig gebrandmarkt, dass „Ziel und Ende“ aller in die Ehe gesetzten Wünsche die Reduktion auf den Überschwang der Flitterwochen ist, auch wenn hier die Liebe durch die Kinder als „Unterpfand“ noch weiterbesteht. 44 Grundsätzlich werden die Umstände hier schon etwas positiver dargestellt. Unterschwellig schwingt jedoch die Kritik des Verfassers mit, dass die Beweggründe zu sehr auf körperlicher und zu wenig auf geistiger Ebene zu suchen sind. Beide geschmähten Varianten werden nun mit dem Idealbild einer Ehe kontrastiert: Die aus „ächte[r] Liebe“ von zwei durch „gleiche Triebe“ bewegte Herzen geschlossene Beziehung drückt sich dabei als „Sympathie[]“ in „Blick und Miene“ und „Harmonie[]“ in „Wort und Handlung“ in dem besonderen Gleichklang und Umgang miteinander aus. Eine völlige seelischgeistige Übereinstimmung, die „Gleichheit der Gemüther“, bildet hier die Basis der Beziehung. Durch sie werde die „Zärtlichkeit der ersten Stunden“, die im zweiten Beispiel noch als defizitär konnotiert war, auch während eines langen Ehelebens täglich von neuem geläutert und verschönert wiederkehren. 45 40

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BUT Pol.8.III.1026. Die einfache Möglichkeit, dass sich hinter den Initialen ein Verwandter der Braut verbergen könnte, lässt sich nicht letztgültig bestätigen. In der Elbinger Gymnasialmatrikel findet sich kein Mitglied dieser wichtigen Elbinger Ratsfamilie, dessen Initialen zu der Abkürzung „J.C.S.“ passen würden. Ebd., fol. π2v. Ebd., fol. π1v: „Nicht derer, die durchs Loos entstehen, | Wo oft ein Blick die Wahl erzeugt, | Wo oft der Schimmer sie verblendet, | Wo Eigennutz sich frech verpfändet, | Und dann vereint von ihrem Werthe schweigt.“ Vgl. dazu Art. Hagestoltz, in: Zedler, Johann Heinrich: Grosses vollständiges Universal Lexicon Aller Wissenschaften und Künste [...] Zwölffter Band: H-He, Halle/Leipzig 1735, Sp. 194f. BUT Pol.8.III.1026, fol. π1v: „Auch nicht das Glück, in Flittertagen | Dem Hagestolzen kühn zu sagen: ‚Verachte nicht der Ehe Band; | ‚Hier ist der Wünsche Ziel und Ende: | ‚Wir reichten uns die frohen Hände, | ‚Und herzen einst der Liebe Unterpfand.“ Ebd., fol. π1v-π2r: „Nein! Nur das Glück, wo ächte Liebe | Jm Herzen, die durch gleiche Triebe | Verwandt, der Ehe Bande knüpft; | Wo Blick und Miene Sympathien, |

Das ‚Etikett’ der idealen Ehe und Familie

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Diese extreme Betonung des seelischen Gleichklangs der Ehepartner wird an dem schon in der Barockzeit sehr beliebten Topos von der Gattin, die dem Mann die Sorgen des täglichen Lebens erleichtert und abnimmt, ausgeführt. 46 In der gängigen Variante ist es einseitig die Aufgabe der Ehefrau, dem von Amtsgeschäften und Mühen beschwerten Ehemann dieselben zu erleichtern. Im vorliegenden Fall schreibt der Verfasser den Partnern dagegen die Fähigkeit zu, einander wechselseitig die Schwermut zu vertreiben und zur Zufriedenheit zu verhelfen. Eine zusätzliche Verstärkung erfährt die geschilderte Möglichkeit zur symbiotischen Heilung im Mila-Sieffertschen Hochzeitsgedicht dadurch, dass die Gattin, an deren Brust der Mann „Zufriedenheit“ schöpfen könne, Doris genannt wird. 47 Der Name verweist vermutlich auf „Thirsis und Damons Freundschaftliche Lieder“, eine Gedichtsammlung, in der Samuel Gotthold Lange und Immanuel Pyra inniges Freundschaftserleben poetisch feiern. 48 Neben Lange, der in den Gedichten als Damon figuriert, und Pyra (Thirsis) tritt in der literarischen Inszenierung noch Langes Frau Dorothea unter dem Namen Doris auf. 49 Im Rahmen des freundschaftlich verbundenen Dreiergespanns wird ihr als Damons Frau in einer Passage sogar die Fähigkeit der Sorgenerleichterung und Seelenstärkung

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Wo Wort und Handlung Harmonien, | Wo jede Grazie mit ihnen hüpft. || [π2r:] Hier ist die Gleichheit der Gemüther, | Das beste Kleinod aller Güter, | Sie ist allein der Ehe Glück - | Die Zärtlichkeit der ersten Stunden, | Die diese Liebende empfunden, | Führt jeder Tag verschönert neu zurück.“ Vgl. z.B. für das 17. Jahrhundert: BUT Pol.7.II.1933: Glück=Wünschung Auff den Hochzeitlichen Ehren=Tag Hn. Jsaac Funcken Bräutigambs/ vnd Jungfraw Reginen Engelkin Braut/ den 3. Novembr. Ao. 1648. Wollmeinend auffgesetzt von Jacob Schmidt, Elbing: Achatius Corell d.Ä. (1648), fol. π2v: „Sie [i.e. die Braut] ist all trauriger Gedancken | Vertreiberin/ sein Labesal/ | [...]“; für das 18. Jahrhundert BUT Pol.8.III.1057: Der frohen Hochzeitsfeier des Herrn Prediger Schröter mit Demoiselle Schwidder gewidmet von G.F.S. Elbing den 3 Mäy 1781, o.O.: o.D. (1781), fol. π1r: „Und denn, wenn Deinen Geist einst Gram erfüllt, | Dann trägt Sie [i.e. die Ehefrau] Dir ein Liebespfand entgegen; | Dann wird Dein Busen bey den härtsten Schlägen | Des Schicksals heiter und gestillt.“ BUT Pol.8.III.1026, fol. π2r: „Nicht Auge nur, nicht nur die Miene | Lacht Heiterkeit, selbst wenn es schiene | Als wölke der Abend Traurigkeit, | So sieget doch am frohen Morgen | Der Gatte, frey der bangen Sorgen, | An Doris Brust, voll von Zufriedenheit.“ Thirsis und Damons Freundschaftliche Lieder. Heraus gegeben [!] von M. Samuel Gotthold Langen, Predigern zu Laublingen, der Kayserl. Acad. nat. curios. wie auch der Königl. Greiffswaldischer und Jenaischen Deutschen Gesellschafften Mitglied. Zweyte vielvermehrte Auflage, Halle: Carl Hermann Hemmerde [1749]. Vgl. zu diesem Gedichtzyklus u.a. Kemper, Hans-Georg: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, Bd. 6/1: Empfindsamkeit, Tübingen 1997, hier insbes. S. 114-144.

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durch Tugend zugeschrieben. 50 Die ehetheoretische Verortung wird also durch den intertextuellen Verweis zusätzlich literarisch in den empfindsamen Diskurs eingebettet. 51 Viele dieser thematisch gebundenen Beiträge sind in den 1770er und 1780er Jahren außerdem in Prosa verfasst. Die Texte dieser Art sind dezidiert als anlassgebundene Abhandlungen geschrieben, die ein Gedicht ersetzen sollen, und werden nicht anstelle von Hochzeitspredigten überreicht. In solchen einzeln oder als Beitrag in einer Sammelschrift überreichten Prosatexten steht im Vergleich zum Gedicht, das durch Versmaß und Umfang beschränkt ist, außerdem mehr Raum zur Verfügung, ein Thema ausführlich abzuhandeln. Eine wörtliche inhaltliche Verortung und Bezugnahme lässt sich für den Prosabeitrag „Gedanken eines schönen Geistes in unsern Zeiten vom ehelichen Bündniß“ anlässlich der Hochzeit der Bürgermeisterstochter Florentina Maria Ramsey mit dem Kaufherrn Samuel Teschner vornehmen. 52 Der Text erschien 1771 in einem traditionellen Sammeldruck, den die Elbinger Gymnasialdozenten seit dem 17. Jahrhundert verpflichtend bei einem Familienereignis in einer Ratsherrenfamilie überreichen mussten. Zwischen vielen traditionalistischen, teilweise nahezu noch rhetorisch zu nennenden Gedichten fällt Daniel Cramers 53 Prosabeitrag, der als Lehrer der vierten Klasse an sechster Stelle im Druck steht, optisch deutlich heraus. Auch inhaltlich sind diese Zeilen ungewöhnlich. Der Gymnasiallehrer verfasste nämlich keinen eigenen Text, sondern kompilierte nur. Die ersten 50

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„Komm, Doris, komm, durch deine Freundlichkeit | Verklären sich die allertrübsten Wolcken. | Komm, würdige mit tugendvollem Blick | Die Seelen zu stärcken. | Dein sanftes Bild, der Anmuth Abdruck wird | Durch unsre Hand gemeinschaftlich vollendet, | Dereinsten dort, an jenem keuschen Baum, | Jm Schatten erhoben.“ Freundschaftliche Lieder [1749], S. 40, aus dem Gedicht „Des Thirsis Vereinigung mit Damon und Doris den Himmel zu besingen.“ Ebd., S. 39f. Als Überblick zu verschiedenen Forschungspositionen (u.a. Pikulik, Sauder) vgl. das Themenheft „Empfindsamkeit“ der Zeitschrift Aufklärung. Interdisziplinäres Jahrbuch zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte 13 (2001). BE XVIII.102 adl. 119: VIRO PERMAGNIFICO MAXIME STRENVO GENEROSO AMPLISSIMO […] DOMINO CAROLO ERNESTO RAMSEY PRAECONSVLI […] ET P.T. CIVITATIS PRAESIDI PROTOSCHOLARCHAE AC XENODOCHII SPIRITVS SANCTI HOSPITALARIO LOGE […] NVPTIAS AVSPICATISSIMAS FILIAE SVAE VIRGINIS […] FLORENTINAE MARIAE CVM VIRO […] DOMINO SAMVELE TESCHNER CIVE ET MERCATORE […] D. XII. FEBR. MDCCLXXI DEBITAE OBSERVANTIAE ET BONI OMINIS CAVSA GRATVLANTVR GYMNASII ELBINGENSIS DOCENTES, Elbing: Johann Gottlieb Nohrmann (1771), fol. π3r-π3v („Daniel Cramer.“). Daniel Cramer ist lt. BUT Pol.8.IV.32-34 (1770) „Lehrer der 4ten Classe.“ Vgl. auch BUT Pol.8.III.998 (1774).

Das ‚Etikett’ der idealen Ehe und Familie

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vier von fünf thematisch je einen Aspekt ansprechenden Absätze stammen aus Jean Jacques Rousseaus populären Erziehungsroman „Emile ou de l'Éducation“. Alle zitierten Passagen sind dem fünften Buch entnommen, in dem der ideal erzogene Emile seinem weiblichen Pendant Sophie vorgestellt wird, sich in sie verliebt und sie schließlich heiratet. Auch diese Erlebnisse werden als Teil der Erziehung geschildert und vom Emiles Mentor begleitet, der seinen Schüler auch in allen Belangen der Liebe belehrt. Cramers Zitate stammen aus diesen Ausführungen, sind aber teilweise etwas aus ihren jeweiligen Kontexten gerissen. Text Daniel Cramers in BE XVIII.102 adl. 119: „Gedanken eines schönen Geistes in unsern Zeiten vom ehelichen Bündniß“

„Das gesellschaftliche Verhältniß beyderley Geschlechts ist wunderbar. Aus dieser Gesellschaft entsteht eine moralische Person; dessen Auge die Frau; und dessen Arm der Mann ist, aber sie hangen beyde so von einander ab; daß die Frau von dem Mann lernet; was sie sehen muß und der Mann von der Frau; was er thun muß,“

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Kontexte der Kompilation aus „Aemil“ 54 (übernomme Passagen kursiviert) „Die Vernunft der Weiber ist eine praktische Vernunft, welche sie auf eine sehr geschickte Art die Mittel finden läßt, zu einem bekannten Endzwecke zu gelangen, welche sie aber diesen Endzweck selbst nicht finden läßt. Die gesellschaftliche Beziehung der Geschlechter aufeinander ist vortrefflich. Aus dieser Gesellschaft entsteht eine sittliche Person, wovon die Frau das Auge, und der Mann der Arm ist: aber mit einer solchen Abhängigkeit von einander, daß die Frau von dem Manne lernet, was man sehen muß, und der Mann von der Frau lernet, was man thun muß. Wenn die Frau eben [S. 56:] so wohl, als der Mann, bis zu den Grundsätzen hinaufsteigen könnte, und der Mann eben so wohl, als sie, den Witz hätte, alle einzelne Umstände aus einander [!] zu setzen: so würden sie

Herrn Johann Jacob Rousseaus, Bürgers zu Genf, Aemil, oder Von der Erziehung. Aus dem Französischen übersetzet, und mit einigen Anmerkungen versehen. Vierter Theil. [...], Berlin/Frankfurt/Leipzig 1762.

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„beyde gehorchen; und beyde sind Herren.“

„Das Reich der Frauen ist ein Reich der Anmuth; der Geschicklichkeit und Gefälligkeit, ihre Befehle sind Liebkosungen[,] ihre Drohungen sind Thränen. Sie muß in dem Hause wie ein Minister im Staate regieren; indem sie sich befehlen lässet; was sie thun wil. Jn diesem Verstande ist es gewiß, daß diejenige [!] Haushaltungen die besten sind, wo die Frau das meiste Ansehen hat. Wenn sie aber die Stimme eiues [!] Oberhauptes vergißt und nur allein befehlen wil, so entstehet allezeit Elend; Aergerniß und Schande.“

„Jch wolte hundermal lieber ein einfältiges und schlechterzognes Mädchen lieben: als ein Madchen [!] das stolz: gelehrt und einen schönen Verstand hat; welche in meinem Hause einen Richtplatz der Gelehrsamkeit anlegen würde, in welchem sie den Vorsitz haben wolte. Eine Frau von schö-

Fridrun Freise

stets unabhängig voneinander in einer ewigen Zwietracht leben, und ihre Gesellschaft könnte nicht bestehen. Jn der Uebereinstimmung aber, welche unter ihnen herrschet, zielet alles zu dem gemeinschaftlichen Endzwecke ab. Man weis [!] nicht, wer von dem Seinigen das meiste hinzu thut; ein jeder folget dem Stoße des andern; ein jeder gehorchet, und alle beyde sind Herren.“ (S. 55f.) „Jch versehe es mich, daß viele Leser, die sich erinnern, daß ich der Frau eine natürliche Gabe beylege, den Mann zu regieren, mich hier eines Widerspruches beschuldigen werden; gleichwohl werden sie sich betriegen. Es ist ein großer Unterschied unter, sich des Rechtes anmaßen, zu befehlen, und denjenigen regieren, der befiehlt. Die Herrschaft der Frau ist eine Herrschaft der Sanftmuth, der Geschicklichkeit und der Gefälligkeit. Jhre Befehle sind Liebkosungen; ihre Drohungen sind Thränen. Sie soll in dem Hause so, wie ein Minister in dem Staate, dadurch regieren, daß sie sich dasjenige befehlen läßt, was sie thun will. Jn diesem Verstand ist es ausgemacht, daß die besten Haushaltungen diejenigen sind, worinnen die Frau das meiste Ansehen hat. Wenn sie aber die Stimme des Oberhauptes verkennet, wenn sie seine Rechte an sich reißen und selbst befehlten will: so entsteht aus dieser Unordnung allezeit nur Elend, Aegerniß und Unruhe.“ (S. 135) „Es schicket sich also für einen Mann, der Erziehung hat, nicht daß er eine Frau nehme, die keine hat, und folglich auch keine aus einem Stande, worinnen man keine Erziehung haben kann. Jch wollte aber doch noch hundertmal lieber ein einfältiges und gröblich erzogenes Mägdchen, als ein gelehrtes Mägdchen und eine Witzlinginn, [!] haben, die in meinem Hause ein Litteraturgericht [!] anlegen wollte, worinnen sie sich zur Vorsitzerinn [!] machen würde.

Das ‚Etikett’ der idealen Ehe und Familie

nem Verstande ist die Geissel ihres Mannes[,] ihrer Kinder, ihrer Freunde, ihrer Bedienten. Stolz auf die Hoheit ihres vortrefflichen Genies verachtet sie alle Pflichten einer Frau; und fängt beständig an sich als ein Mann aufzuführen.“

„Es scheinet mir; daß man bey einer Heyrath die grosse Schönheit vielmehr fliehen als suchen müsse. Die Schönheit nimmt gar bald ab; wenn man sie besitzt und genießt; nach 6 Wochen gilt sie in den Augen des Besitzers nichts mehr; aber ihre Gefahren dauren so lange; als sie selbst. Woferne eine schöne Frau nicht ein Engel ist; so ist ihr Ehmann der Unglücklichste; und wenn sie ein Engel wäre; wie solte sie verhindern; daß sie nicht beständig mit Feinden umgeben wäre.“

„Aber eine angenehme und einnehmende Gestalt muß man vorziehen.“

„Die Annehmlichkeiten vergehen nicht so; wie die Schönheit;“

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Eine Frau, die eine Witzlinginn ist, ist die Geißel ihres Mannes, ihrer Kinder, ihrer Freunde, ihres Gesindes, der ganzen Welt. Von der erhabenen Hoheit ihres Geistes verachtet sie alle ihre Frauenpflichten, und fängt stets damit an, daß sie sich, nach Art der Mademoiselle de l'Enclos, zu Manne machet.“(S. 137) „Nach diesen Betrachtungen kömmt die Gestalt in Betrachtung. Diese ist die erste, die rühret, und die letzte, die man machen muß: man muß sie aber doch nicht für nichts rechnen. Die große Schön= [S. 139:] heit scheint mir bey der Ehe vielmehr zu fliehen, als zu suchen. Die Schönheit wird bald durch den Besitz vernutzet: nach Verlaufe von sechs Wochen ist sie für den Besitzer nichts mehr; ihre Gefährlichkeiten aber dauren so lange, als sie. Wofern nicht eine schöne Frau ein Engel ist, so ist ihr Mann der unglücklichste Mensch: und wenn sie auch ein Engel wäre, wie wird sie verhindern, daß sie nicht unaufhörlich von Feinden umgeben sey? Wenn die äußerste Häßlichkeit nicht ekelhaft wäre: so würde ich sie der äußersten Schönheit vorziehen; denn da beyde in kurzer Zeit für den Mann nichtig sind, so wird die Schönheit eine Unbequemlichkeit, und die Häßlichkeit ein Vortheil. Die Häßlichkeit aber, welche den Ekel hervorbringt, ist das gröste Unglück. Diese Empfindung vergeht nicht, sondern nimmt vielmehr unaufhörlich zu, und verkehret sich in Haß. Eine dergleichen Heurath ist eine Hölle; es würde besser todt, als so vereiniget seyn. Man verlange in allem das Mittelmäßige, auch die Schönheit selbst nicht ausgenommen. Eine angenehme und einnehmende Gestalt, die nicht Liebe, sondern Wohlwollen einflößet, ist das, was man vorziehen soll. Sie ist ohne Nachtheil für den Mann, der Vortheil davon gereichet zum gemeinen Besten. Die Annehmlichkeiten vernutzen sich nicht, wie die Schönheit. Sie haben

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„und 30 Jahre nach der Heyrath gefällt eine ehrbare Frau mit ihrer Anmuth ihrem Manne eben noch so wohl: wie am ersten Tage.“

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Leben, sie erneuern sich ohne Unterlaß, und eine rechtschaffene Frau mit Annehmlichkeiten, gefällt nach einer dreyßigjährigen Ehe ihrem Manne noch so, wie am ersten Tage.“ (S. 138f.)

Abb. 2: Konkordanz des Cramer–Textes mit den originalen Passagen aus „Aemil“

Obwohl die Wortwahl nicht identisch ist, ist der Textinhalt bis auf die Auslassungen doch erstaunlich genau nachgezeichnet. Man kann vermuten, dass Cramer eine andere Ausgabe benutzt beziehungsweise aus dem Französischen übersetzt hat. Der erste Abschnitt stellt den Ehemann als Arm und die Ehefrau als Auge einer einzigen moralischen Person vor, die in der Ausübung ihrer unterschiedlichen Aufgaben beide gleichberechtigt sind und voneinander lernen sollen. Der zweite Abschnitt präzisiert die Rolle der Frau als die eines „Ministers im Staate“, sie müsse regieren, „indem sie sich befehlen lässet; was sie thun wil“. 55 Die beiden folgenden Exzerpte gehen auf die Frauenrolle ein. Im dritten Absatz heißt es: „Eine Frau von schönem Verstande ist die Geissel ihres Mannes“, 56 während der vierte vor weiblicher Schönheit warnt, die die Ehe durch Versuchung und Eifersucht gefährde. Drei der vier dem „Aemil“ entlehnten Absätze präsentieren also Vorgaben zu Gestalt und Verhalten für die Frau. Sie fügen sich damit in Cramers Beitrag zu einer Einheit, die auch in anderen Hochzeitsgedichten häufig zu finden ist. Keines dieser Zitate berührt die Liebe als zentrale Grundvorraussetzung, auf der Emiles Mentor neben der gesellschaftlichen Einordnung für eine ideale Ehe besteht. 57 Diesen Tenor führt Cramer in seinem letzten, nicht bei Rousseau wörtlich verifizierbaren Absatz nicht nur weiter, sondern betont ihn sogar deutlich: „Die Liebe ist eben nicht allezeit nothwendig; um eine glückliche Heyrath zu thun. Es ist schon genung [!] für 2 Eheleute; wenn man auf die Ehrbarkeit; auf die Tugend und auf gewisse Wohlanständigkeiten; und nicht so sehr auf die Geburt und das Alter; als auf die Gemüthsneigungen siehet. Die Liebe wird von einer beständigen Unruhe der Eifersucht begleitet; welche sich gar nicht zum Ehestande schickt; welcher ein Stand des Genusses und des Friedens ist.“ 58

55 56 57 58

BE XVIII.102 adl. 119, fol. π3r. Ebd., fol. π3v. Vgl. z.B. ein „Rezept“ zur Aufrechterhaltung der Liebe in der Ehe: Rousseau: Aemil, S. 310. Ebd., fol. π3v.

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Ein pragmatischer Standpunkt dieser Art ist in einem Hochzeitsgedicht mehr als ungewöhnlich, obwohl er der tatsächlichen Heiratspraxis näher kommt als der stereotyp beschworene Diskurs über die tiefe Verbundenheit der Adressaten in Liebe. 59 Dafür lenkt Cramer den Blick auf die gesellschaftliche Relevanz der Ehe, die auch Rousseaus Beispielzögling Emile erst verstehen muss, um reif für die Ehe mit Sophie zu sein. 60 „Man heyrathet sich deswegen nicht einander; damit man einzig und allein nur eines an das andere denken wolle; sondern um mit vereingten Kräften die Pflichten des bürgerlichen Lebens zu erfüllen, sein Haus vernünftig zu regieren und seine Kinder wohlauf zu ziehen.“ 61

Die zentrale Idee lässt sich außerdem in der grundlegenden Definition von „Ehestand, Ehe“ im gleichnamigen Eintrag von Zedlers „Grossem UniversalLexicon“ wiederfinden – die Kinderaufzucht „zum Nutzen der menschlichen Gesellschafft“. Auch hier wird jedoch die vorherige Existenz von Liebe vorausgesetzt, die in Cramers Beitrag so auffällig fehlt. 62 Vor dem Hintergrund, dass in mehr als 90 % der ausgewerteten Hochzeitsgedichte Liebe an zentraler Stelle thematisiert wird, muss diese Auslassung in Cramers ohnehin schon ungewöhnlichem Prosatext besonders auffallen. Das lenkt auch die 59

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Zum Missverhältnis zwischen ideellem und oft literarischem Liebesverständnis und dem gesellschaftlich-moralischen Rahmen für Ehe in bürgerlichen Schichten vgl. Maurer, Michael: Die Biographie des Bürgers Lebensformer und Denkweisen in der formativen Phase des deutschen Bürgertums (1680-1815), Göttingen 1996, S. 314323. „Wir wollen von Jhnen reden. Da Sie nach dem Stande eines Mannes und Vaters trachten; haben Sie auch wohl die Pflichten desselben recht erwogen? Da Sie das Haupt einer Familie werden, so wollen Sie ein Mitglied des Staates werden; und was heißt ein Mitglied des Staates seyn, wissen Sie das? Wissen Sie, was Regierungsform, Gesetz, Vaterland ist? Wissen Sie, unter was für einem Preise Jhnen erlaubet ist, zu leben und für wen Sie sterben sollen? Sie glauben, alles gelernt zu haben, und Sie wissen noch nichts. Ehe Sie eine Stelle in der bürgerlichen Ordnung nehmen, so lernen Sie solch erst kennen und einsehen, was für ein Rang Jhnen darinnen zukömmt.“ Rousseau: Aemil, S. 240. In den folgenden Erläuterungen folgt die Vorstellung des Gesellschaftsvertrags. BE XVIII.102 adl. 119, fol. π3v. „Ehestand, Ehe, ist ein natürlicher Stand, in welchen zwey Personen von unterschiedenem Geschlechte mit einander treten, und sich verbinden, ihre Liebe zu Vermehrung des menschlichen Geschlechts einander alleine zu wiedmen [!], damit sie die aus solcher Verbindung zu hoffenden Kinder, gewiß vor die ihrigen mögen erkennen, und sie so dann zum Nutzen der menschlichen Gesellschafft wohl erziehen können. Auf diese zum voraus gesetzte Beschreibung des Ehestandes wird sich unsere folgende Betrachtung gründen. Wir werden vor allen Dingen demjenigen folgen, was uns die sich selbst gelassene Vernunfft lehret.“ Art. Ehestand, Ehe, in: Zedler, Johann Heinrich: Grosses vollständiges Universal Lexicon Aller Wissenschaften und Künste [...] Achter Band, E. Halle/Leipzig 1734, Sp. 360-401, hier Sp. 360f.

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Aufmerksamkeit auf die alternativen Eheziele: die Erfüllung der „Pflichten bürgerlichen Lebens“ durch ein vernünftiges Hausregiment und gute Kindererziehung. Mit dieser auf einen pragmatischen Ehebegriff ausgerichteten Kompilation übernimmt der Gymnasiallehrer nicht – wie sonst üblich – eine inhaltliche Position aus dem literarischen oder philosophischen Diskurs, sondern nutzt mit den Rousseau-Zitaten nur die Autorität eines zentralen Gewährsmannes für eine eigene Aussage. Die Interpretation der genauen Absicht dieser Zusammenstellung ist allerdings schwierig. Cramers Rezeptionsanweisung dem „Hochedlen Brautpaar zum Nutzen und Vergnügen“ 63 könnte auf den poetologischen Sinnhaftigkeits-Diskurs („Nutzen“) hinweisen und damit auf eine inhaltlich ernst gemeinte Verhaltensvorlage – zum Beispiel für eine Konvenienzehe. Inhaltliche Einfälle, die aus dem konventionellen Idealmuster für die Gelegenheit ausbrechen, sind allerdings ziemlich selten und wären gerade bei einem Pflichtdruck vom Gymnasium besonders ungewöhnlich, weil Auslassungen und Normabweichungen zumindest eine Möglichkeit sind, in einem stark auf äußere Repräsentation ausgerichtetem Genre Kritik anzudeuten, ohne sie offen zu formulieren. 64 Genauso ließe sich ein verborgener Enträtselungsaufruf hineinlesen, der die Rezipienten zur Enträtselung der bekannten Quelle aufriefe. Dafür sprächen zum Beispiel das Wort „Vergnügen“ und die anonyme Formulierung „schöne[r] Geist[]“ aus der Überschrift. Darüber hinaus wäre außerdem eine heute nicht mehr zu entschlüsselnde Anspielung möglich, die über bestimmte Schlagwörter den zeitgenössischen Lesern sofort klar gewesen sein kann. Obwohl in diesem Fall eine eindeutige Zuordnung der Vorlage nachweisbar ist, lässt sich die Aussageabsicht also nicht eindeutig ermitteln. Damit konzentriert sich in dem vorliegenden Sonderfall ein Problem bei der Interpretation von Kasualschriften, das bei dieser Gattung generell vorliegt. Nur in seltenen Fällen kann man auf zufällig vorhandenes Quellenmaterial zurückgreifen, dass es gestattet, den historischen Kontext zu bestimmen und dadurch eine spezifische auf biographische Umstände abgestimmte Textdeutung zu verifizieren. In allen vier statistisch erfassten Kategorien – Liebe, Tugend, Familienleben und Ehe – erscheinen die verhandelten Themen in ihrer Ausprägung nicht 63 64

BE XVIII.102 adl. 119, hier fol. π3v. Für das 17. Jahrhundert vgl. zu diesem Thema Schilling, Michael: Simon Dach in Magdeburg. Ein unbekanntes Epicedium aus der Schulzeit des Königsberger Poeten, in: Czarnecka, Mirosława/Solbach, Andreas/ Szafarz, Jolanta u.a. (Hg.): Memoriae Silesiae. Leben und Tod, Kriegserlebnis und Friedenssehnsucht in der literarischen Kultur des Barock. Zum Gedenken an Marian Szyrocki (1928-1992), Wrocław 2003, S. 367-377, hier 369f. Schilling deutet hier das Fehlen eines Gedichtes von Andreas Cramer, einem Kontrahenten des verstorbenen Adressaten, aus.

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nur abhängig von der gesellschaftlichen Aktualität des genannten Inhalts, sondern auch von der zeitgleichen poetologischen Diskussion in puncto Gelegenheitsdichtung. So weisen etwa die frühen Drucke aus den 1750er Jahren zumeist den Stil einer religiösen Abhandlung im Gedichtform auf und ihre Argumentation ist stark auf die Bibel als Quelle fixiert. Der Gestus erinnert an ein religöses Lehrgedicht. 65 Einen zeitspezifischen Alternativtypus bilden die eher scherzhaft gemeinten Benimmerörterungen über der Verhältnis der Geschlechter wie zum Beispiel der anonyme Hochzeitsdruck „Die Frage: Ob man ein Frauenzimmer, das man liebt, oft besuchen müsse?“ von 1754. 66 Solche thematischen Erörterungen erscheinen in den späteren Drucken tendenziell häufig in Prosa. Viele außerdem in dem Sammelband BUT Pol.8.III.966-1117 vereinten Drucke feiern generell die Beziehungen der im Druck miteinander in Kontakt Tretenden. Die Inhalte werden in hymnischem Überschwang, im Scherzgedicht, in Odenform, in sich wieder stärker literarisch verortenden Amor- bzw. Götter-, Schäfer- oder Bardendichtungsszenen verbrämt dargestellt. Nicht der Lehr-, sondern der Symbolcharakter des Druckes wird durch Anspielungen im Gedicht oder in den Paratexten hervorgehoben. In der persönlichen Anrede geht es vor allem um die Schilderung der Qualitäten, die die Beziehung beleben, oder die Schilderung der jeweiligen Tugenden. Diese poetologischen Moden erklären somit das Phänomen, dass gängige topische Begründungsmuster für Ehe vor allem in den Gedichten aus den 1750er und 1760er Jahren zu finden sind. Zwei wichtige argumentative Versatzstücke sind die biblische Präfiguration über Adam und Eva als erstes Paar sowie die Begründung der Familie als Grundlage des Staates und eines bürgerlichen Gemeinwesens. In beiden Kontexten werden diese Grundannahmen in Form eines Lehrgedichtes verhandelt, bei der ersten Variante, um die Ehe religiös als gottgeschaffene und gottgewollte Institution zu rechtfertigen, im zweiten Fall mit verstärkt gesellschaftlicher Implikation. Zwischen diesen beiden argumentativen Hauptsträngen changieren die Begründungen, die an zentraler Stelle die Notwendigkeit der Ehe zur Erhaltung des Menschengeschlechts anführen. Auch statistisch lässt sich der beschriebene Entwicklungszusammenhang nachvollziehen: Mit Kinderaufzucht und Vermehrungsauftrag argumentieren bis 1755, dass heißt in der Hochphase der Lehrgedichte, 22 % der Verfasser, während in der Zeit vor 1783 nicht einmal drei

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Vgl. z.B. die oben vorgestellte Gelegenheitsschrift BE XVIII.102 adl. 1. Drucke dieser Art finden sich insbesondere in den Sammelbänden BE XVIII.102 und BE XVIII.103. BE XVIII.103 adl. 74: Die Frage: Ob man ein Frauenzimmer, das man liebt, oft besuchen müsse? ward bey der Schmidt= und Fuchsischen Eheverbindung, welche in Elbing vergnügt vollzogen wurde, beantwortet von einem diesem Hause verbundenen Diener. Den 30sten April 1754, o.O.: o.D. (1754).

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Prozent der Gedichte diesen Punkt erwähnen. Cramers RousseauKompilation bildet damit die Ausnahme. Die vorgeführten Beispiele zeigen, dass für den poetischen Gelegenheitsdruck eine Reihe von Bedingungen beachtet werden müssen, wenn er als Quelle genutzt werden soll, die Aufschlüsse über Strukturen und Vorstellungen von Ehe oder Familienleben geben kann. Erstens verwenden die Laien-Verfasser eines kasualen Hochzeitsdrucks zahlenmäßig am häufigsten die Themenkomplexe „Liebe“ und „Tugenden (der Adressaten)“ für ihre Gedichtkompositionen. In mehr als der Hälfte aller Fälle werden – häufig auch unter Zuhilfenahme der ersten beiden Kategorien – Vorstellungen von „Ehe“ behandelt. Ein Viertel aller Drucke ergänzt die Theorie außerdem mit ausschnitthaften Szenerien aus einem idealen Familienleben. Ähnliche anlassabhängige Schwerpunkte finden sich bei Geburtstagsdrucken (Tugenden, Wünsche) oder Ratswahlen (Staatstugenden, Regentschaft). Zweitens ließen sich explizite Verortungen vor allem im literarischen Kontext (Pyra, Lange) beziehungsweise wirkmächtigen Vordenkern (Wolff, Rousseau) verifizieren. Vor allem aber zeigt sich deutlich, dass im poetischen Gelegenheitsschrifttum stärker als zum Beispiel in einem rein biographischen Genre, bewusst auf überpersonale literarische, philosophische oder gesellschaftstheoretische Muster gesetzt wird, die nicht für sich in Anspruch nehmen eine – und sei sie auch nur inszenierte – Realität zu beschreiben. Analoge Untersuchungen, wie sie am Beispiel der auch anlassgebundenen Leichenpredigten Rudolf Lenz 67 zur Familienstruktur und Rudolf Schlögl 68 zur Entwicklung privater Frömmigkeit durchgeführt haben, sind im poetischen Kasualdruck deshalb nur schwer umzusetzen. Der Kasualdruck lässt aufgrund seines nach wie vor stark repräsentativen Charakters keine zwingenden Rückschlüsse auf die jeweilige Umsetzung dieser Vorstellungen durch spezifische Autoren und Adressaten zu. Das gilt für jeden Kasualdruck: Selbst scheinbar privat wirkende Inszenierungen wie der gedruckte 67

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Vgl. hier den frühen Artikel Lenz, Rudolf: Emotion und Affektion in der Familie der Frühen Neuzeit. Leichenpredigten als Quelle der historischen Familienforschung, in: Schuler, Peter-Johannes: Die Familie als sozialer und historischer Verband. Untersuchungen zum Spätmittelalter und zur frühen Neuzeit, Sigmaringen 1987, S. 121-146, zu Verweisen auf das ‚ganze Haus’ insbes. S. 130. Schlögl, Rudolf: Öffentliche Gottsverehrung und privater Glaube in der Frühen Neuzeit. Beobachtungen zur Bedeutung von Kirchenzucht und Frömmigkeit für die Abgrenzung privater Sozialräume, in: Melville, Gert/von Moos, Peter (Hg.): Das Öffentliche und Private in der Vormoderne, Köln/Weimar/Wien 1998, S. 165-209, zur Auswertung der Leichenpredigten insbes. S. 195-206. Auch Schlögl reflektiert, wie problematisch es ist, aufgrund der Predigten allgemeine Rückschlüsse auf Sündenbewusstsein oder Gläubigkeit zu ziehen. Ebd., S. 206.

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Widmungstitel „Seinem schwarzaugschen trautsten Weibchen“ 69 stehen nicht als Garant für tatsächliche Zuneigung zwischen Eheleuten, sondern spiegeln ein erwünschtes Verhältnis zwischen den Ehepartner nach außen. 70 Am Beispiel von Leichendrucken hat Christian von Zimmermann eine solche Übertragung intimer Gefühle – wie eben Trauer – in den öffentlichen Bereich vorgeführt, in dem das private Trauern gleichzeitig wichtiger Teil der öffentlichtlichen Inszenierung wird. 71 Rebekka Habermas beschreibt, wie sich ein Sohn der Nürnberger Familie Merkel um 1783 mit Freunden traf, um theoretisch über Eheschließung und Liebe zu diskutieren, 72 und dass Tagebücher und Foren wie Logen oder Gesellschaften Orte waren, an denen diese Themen öffentlich verhandelt wurden. 73 Gleichzeitig kann sie aber belegen, dass die Diskussionsteilnehmer bei einer Heiratsentscheidung im realen Leben durchaus pragmatisch handelten und nicht den theoretisch verhandelten Optionen folgten. 74 Die poetischen Gelegenheitsschriften bewegen sich auf genau dieser programmatischen und identitätsstiftenden Ebene und müssen nicht der Handlungsrealität entsprechen. Hier greifen der rein poetische Diskurs und der auch gesellschaftlich wirksame Diskurs auf repräsentativer Ebene ineinander beziehungsweise erscheinen als einander bedingend. Besonders deutlich zeigt sich dieses Amalgam in den vom empfindsamen Gefühlskult geprägten Drucken (vgl. BUT Pol.8.III.1026). Der Nutzwert des poetischen Gelegenheitsdrucks als Quelle für die historische Familienforschung, die Aufschlüsse über Strukturen und Vorstellungen von Ehe oder Familie geben kann, lebt deshalb von einer Ambivalenz. Einerseits verhindert der – auch in Drucken, die einen scheinbar privaten Bereich beschreiben, grundsätzlich vorhandene – repräsentative Charakter des Dargestellten, dass man tatsächlich Rückschlüsse auf historische Ereignisse ziehen kann. Oft bieten sich selbst bei der Interpretation mehrere Optionen zur Auswahl an, so dass eine Entscheidung für eine spezifische Aussage nur durch selten vorhandenes eindeutiges Kontextmaterial gefällt werden 69

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BUT Pol.8.III.1070: Seinem schwarzaugschen trautsten Weibchen M.E.B. übergiebt dies Denkmahl seiner Gesinnung G.O.B. Ladekopp den 27sten November 1781, o.O.: o.D. (1781). Zum repräsentativen Charakter des Kasualgedichts im 17. Jahrhundert vgl. Freise: Das Kasualgedicht als öffentlicher Raum. Zimmermann, Christian von: Verinnerlichung der Trauer – Publizität des Leids. Gefühlskultur, Privatheit und Öffentlichkeit in Trauertexten der bürgerlichen Aufklärung, in: Aurnhammer, Achim/Martin, Dieter/Seidel, Robert (Hg.): Gefühlskultur in der bürgerlichen Aufklärung, Tübingen 2004, S. 47-74, hier zusammenfassend S. 73f. Habermas, Rebekka: Frauen und Männer des Bürgertums. Eine Familiengeschichte (1750-1850), Göttingen 2000, S. 266-269. Ebd., S. 269-275. Ebd., S. 294.

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könnte. Darüber hinaus sind immer noch wirksame Anteile aus dem Bereich der Poetik Grund für Form und Wahl des inhaltlichen Genres. Schließlich wurden die Texte häufig von dritten, nicht in den beschriebenen privaten Bereich involvierten Personen geschrieben, die nur ein schematisiertes Ideal quasi als äußere Etikettierung auf die Adressaten applizierten. Gerade hier liegt andererseits aber auch der mögliche Gewinn der Quellengattung. Die schematischen Aussagen, die in die repräsentativen Texte gelangen, sind in der Regel allgemein akzeptierte Grundüberzeugungen, die nicht strittig sind, um niemanden zu brüskieren. Hier lassen sich deshalb ein gesellschaftlicher Minimalkonsens sowie in Einzelfällen besonders favorisierte theoretische Inhalte extrahieren. Die in den Gedichten vertretenen Ideen und Familienbilder dienten weder einer intimen innerfamiliären Kommunikation, noch können sie als sichere Indizien für eine Familienkonzeption gelten, die von den an der Literatur Beteiligten gelebt wurde. Die Gelegenheitsdrucke zu den „privaten“ Anlässen fungierten analog zum 17. Jahrhundert im stadtbürgerlichen Milieu ihrer Verfasser und Adressaten als Repräsentationsinstrument, über das man sich in einem anerkannten Werteumfeld verortete.

ANDREA ALBRECHT

„Ehe und Nicht-Ehe ist eine individuelle Sache“ Ledige Frauen in der literarischen Imagination Therese Hubers

I. „Heürathen! – Was versprechen Sie sich denn davon?“ Lebensformen jenseits der Ehe „Heürathen! – Was versprechen Sie sich denn davon? wenn ich das nur wüßte!!! [...] Heürathen!? – Wenn’s nur die anderen Menschen nicht wüßten! – und doch thut man’s nur wegen der anderen Menschen – also kann die Sache nicht gut seyn. Die Ehe ist es zwar, aber hat man die nicht ohne Heürath. Sie sehen ich denke; ich spreche nicht: und bitte um Vergebung!“ 1

Diese unverhohlen spöttischen Zeilen richtete Rahel Levin am 16. Dezember 1800 an ihren Freund Jean Paul. Dieser hatte sich in Berlin einen Ruf als ,Libertin‘ erworben, der die „Weiber“, denen er in den Salons der Stadt begegnete, in „Menge“ bewunderte und liebte. 2 Nach diversen Ver- und Entlobungen mit „weiblichen Kraftgenies“ 3 war er jedoch nach Bayreuth zurückgekehrt, um eine konventionell bürgerliche Ehe mit Karoline Meyer einzugehen – ein Ereignis, das Levins Spott und ihr Plädoyer für eine Ehe „ohne Heürath“, also für eine freie, unbürgerliche, auf Emotion und nicht auf vertragliche Vereinbarung gründende Partnerschaft motivierte. Doch unabhängig von der konkreten Gestalt ihrer romantisch geprägten Ehevorstellung belegen ihre Fragen auch einen anderen, im Rahmen dieses Beitrags wesentlichen Punkt: In den gebildeten, aufgeklärten Kreisen des Alten Reichs war der Zweck des Heiratens offenkundig nicht mehr selbstverständlich, sondern bedurfte – zumindest in der intimen, freundschaftlichen Kommunikation, wie Rahel Levin sie mit Jean Paul unterhielt – einer Begründung, wenn nicht so1

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Rahel Levin an Jean Paul, 16. Dezember 1800, in: Feilchenfeldt, Konrad/Schweikert, Uwe/Steiner, Rahel E. (Hg.): Varnhagen. Gesammelte Werke (Bd. IX), München 1983, S. 15f. Jean Paul an Christian Otto, 13. Juni 1800, in: Berend, Eduard (Hg.): Jean Paul. Sämtliche Werke, Abt. III: Briefe, Berlin 1927–1964, hier: III.3, Nr. 482, S. 345. Paul, Jean: Jean Pauls Briefe und bevorstehender Lebenslauf, in: Miller, Norbert (Hg.): Jean Paul. Sämtliche Werke, Bd. I.4, München 1959ff., S. 925–1080, hier: S. 1060.

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gar einer Rechtfertigung. Und tatsächlich gelang es Levin, Jean Paul mit ihrer Polemik gegen das Heiraten zu provozieren. Noch Jahre später nahm er ihren Brief zum Anlass einer ironisch-satririschen Erwiderung: In der Diesjährigen Nachlesung an die Dichtinnen, als Anhang zur 2. Auflage der Vorschule der Ästhetik 1813 veröffentlicht, erteilt Jean Paul in der literarischen Fiktion einer Gruppe junger gebildeter Frauen – darunter eine kecke „Berliner Jüdin“ – den dringenden Rat, „nicht zu heiraten“ bzw. höchstens eine Ehe auf Zeit einzugehen, da nur dann beide Partner „mit einer Freiheit, in welcher jede Minute Nein sagen kann“, lieben würden. Die „Dichtinnen“ sollen „nach nichts [...] fragen, nicht einmal nach Männern, sondern sich selber setzen wie Fichte“, 4 pointiert er und macht auf diese Weise deutlich, dass es bei seinem Scharmützel mit Rahel Levin im Kern nicht um die Ehe als Institution, sondern um die Entscheidungssouveränität der Frau ging: Anstatt sich an den Vorgaben der Konvention, der Moral oder der Natur zu orientieren – Instanzen, von denen im 18. Jahrhundert gemeinhin die Bestimmung und Ordnung der Geschlechter abgeleitet wurde 5 – richtet Jean Paul den Fokus auf die Möglichkeit einer selbst begründeten und selbst bestimmten Entscheidung für oder eben auch gegen eine bürgerliche Ehe. Levins Frage: „Heürathen! – Was versprechen Sie sich denn davon?“ ist ebenso wie Jean Pauls Empfehlung: „Du glückliches Direktorat heirate nicht!“ 6 an das souveräne, männliche bzw. weibliche Individuum gerichtet, das die tradierten, sozial etablierten und vermeintlich anthropologisch fixierten Verhaltensregeln und Rollenvorgaben im Zeichen individueller Selbstbestimmung und Emanzipation überschreiten kann und soll. Die Auseinandersetzung mit dem Sinn und Unsinn des „Heürathens“ verweist auf ein sozial- und kulturgeschichtlich signifikantes Phänomen, das um 1800 in vielen europäischen Ländern Raum griff: 7 Je stärker sich die Gesellschaft in Kleinfamilien strukturierte und je deutlicher sich die dazugehörige Eheideologie in den Texten der Zeit niederschlug, desto häufiger traten an den Rändern der neuen sozialen Formation Männer und – durch demographische, soziale und politische Faktoren unterstützt – vor allem auch Frauen auf, die Lebenskonzepte jenseits des bürgerlichen Ehe- und Familienideals 4

5 6 7

Paul, Jean: Vorschule der Ästhetik, in: Miller, Norbert (Hg.): Sämtliche Werke, Bd. I.5, München 1967, S. 7-514, hier: S. 434ff. Vgl. Albrecht, Andrea: Bildung und Ehe „genialer Weiber“. Jean Pauls Diesjährige Nachlesung an die Dichtinnen als Erwiderung auf Esther Gad und Rahel Levin Varnhagen, in: DVjs 80 (2006), H. 2, S. 377406. Vgl. Honegger, Claudia: Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaft vom Menschen und das Weib: 1750-1850, München 1996. Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, S. 441. Vgl. Dauphin, Cécile: Alleinstehende Frauen, in: Duby, Georges/Perrot, Michelle (Hg.): Geschichte der Frauen, Bd. IV, Frankfurt a.M. 1994.

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praktisch zu leben und auch öffentlich zu rechtfertigen begannen, darunter neben Witwen 8 und Geschiedenen auch Frauen, die willentlich oder unwillentlich unverheiratet blieben. Begünstigt wurde dieser Tranformationsprozess durch die Rechtsordnungen, denn sowohl das Allgemeine Preußische Landrecht als auch der Code Civil sahen hinsichtlich der ledigen, aus der väterlichen Gewalt entlassenen Frau (wie auch für geschiedene oder verwitwete Frauen) relativ liberale Regelungen vor. Die unverheiratete Frau hatte zwar keine politischen Rechte, doch nach dem Allgemeinen Preußischen Landrecht galt sie als frei hinsichtlich ihrer persönlichen Lebensgestaltung, sie war geschäfts- und prozessfähig und durfte sogar Kinder adoptieren. 9 Auch der Code Civil von 1804, der in weiten Teilen Deutschlands galt, ließ den Ledigen eine Chance auf Gleichberechtigung: Nach Artikel 388 beschränkte sich „die väterliche Gewalt auf Minderjährige unter 21 Jahren [...]. Eine Ausdehnung der väterlichen Gewalt darüber hinaus konnte nicht mehr mit dem Hilfs- und Schutzbedürfnis des Kindes begründet werden und widersprach“ zudem „der Freiheitsidee“. 10 Hält man sich an Rebekka Habermas’ wiederholte Warnung, nicht von den ideologischen „Normen und Geboten, wie sie in zahlreichen [...] Selbststilisierungen vom idealen Bürger und seiner Gattin nachzulesen sind, auf die faktische Lebensführung zu schließen“, 11 so ist davon auszugehen, dass die um 1800 temporär in Unordnung geratene Geschlechterordnung der Frau tatsächlich lebenspraktische Alternativen zum Heiraten eröffnete. In der liberalen Literatur und Publizistik der Zeit tauchen dementsprechend zunehmend Stellungnahmen auf, die die konventionelle, bürgerliche Ehe kritisieren oder sogar offensiv als überkommene, patriarchale Lebensform attackieren, 12 weil sie der persönlichen Entfaltung der Frau entgegen stehe. „Ein Frauenzimmer [...], das mit einer Gestalt, die gefällt, erwuchs und Vermögen besitzt“, sei unklug, behauptete Wilhelm Heinse 1787 in Ardinghello und die glückseligen Inseln, „wenn es sich das unauflösliche Joch der Ehe aufbinden läßt“. Die Freiheit der literarischer Fiktion nutzend, überblendet Heinse in seinem Roman Emanzipations8 9

10 11 12

Vgl. Ingendahl, Gesa: Witwen in der Frühen Neuzeit. Eine kulturhistorische Studie, Frankfurt a.M. 2006. Vgl. Kuhn, Bärbel: Familienstand: Ledig. Ehelose Frauen und Männer im Bürgertum (1850–1914), Köln u.a. 2000, S. 93ff.; Weber-Will, Susanne: Geschlechtsvormundschaft und weibliche Rechtswohltaten im Privatrecht des preußischen Allgemeinen Landrechts von 1794, in: Gerhard, Ute (Hg.): Frauen in der Geschichte des Rechts, München 1997, S. 452–459. Kuhn: Familienstand: Ledig, S. 94. Habermas, Rebekka: Frauen und Männer des Bürgertums. Eine Familiengeschichte (1750–1850), Göttingen 2000, S. 11. Zur Vorgeschichte der „querelle de mariage“ vgl. Bock, Gisela: Frauen in der europäischen Geschichte. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München 2000.

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rhetorik und Männerphantasie: „Eine Göttin bleibt es unverheuratet, Herr von sich selbst, und hat die Wahl von jedem wackern Manne, auf so lange sie will.“ 13 Doch auch jenseits literarischer Fiktionen wurde ein Konflikt zwischen der Eheschließung und dem weiblichen Freiheitsanspruch ausgemacht: Für Emilie von Berlepsch, eine Freundin Jean Pauls, stand fest, dass in einer Zeit, in der die „allgemeine Verfeinerung und Ausbildung aller Ideen und Gefühle [...] den Weibern höhere Bedürfnisse des Geistes und des Herzens“ gegeben habe, „bloße Herrschaft und Uebergewicht der Stärke nicht mehr hinreichend seyn“ könne, „die Ehen glücklich zu machen“. Ihres Erachtens konnten sich die „Weiber“ mit einem auf die Häuslichkeit „eingeschränkten Zustand“ nicht länger zufrieden geben. 14 Und Theodor Gottlieb von Hippel erklärte kurzerhand die Zeiten für vorbei, in denen die Männer „das andere Geschlecht überreden“ konnten, „daß eine Vormundschaft wie bisher für dasselbe zuträglich sey, daß sie seinen Zustand behaglicher und sorgloser mache als eine Emancipation, wodurch es sich mit Verantwortung, Sorgen, Unruhen und tausend Unbequemlichkeiten des bürgerlichen Lebens belasten würde, die es jetzt kaum dem Namen nach zu kennen das Glück habe.“ 15

Die teils fiktionalen, teils ironisch-satirischen, teils pathetisch-engagierten Stellungnahmen von Levin, Jean Paul, Heinse, von Berlepsch und Hippel richteten sich gegen die zeitgenössischen Propagandisten eheideologischer Überzeugungen, die – wie beispielsweise Joachim Heinrich Campe – die Ehe als die einzige Lebensform deklarierten, in der die Frau „einen bestimmten Standort, Wirkungskreis, Schutz, Ansehn und einen höhern Grad von Freiheit und Selbstständigkeit“ erhalten könne. 16 Doch war das Ledigendasein für eine Frau um 1800 tatsächlich mit individueller Freiheit, Emanzipation und der Suspendierung patriarchaler Fremdbestimmungen verknüpft? Weibliche Ehelosigkeit war durch den demographischen Wandel, durch Kriegsfolgen und andere sozialhistorisch-demographische Faktoren zum Ende des 18. und Beginn des 19. Jahrhunderts auch zu einem massiven sozialen und ökonomischen Problem geworden. Der steigende Frauenüberschuss zwang Frauen immer öfter Lebensformen auf, auf die sie nicht vorbereitet 13 14

15 16

Heinse, Wilhelm: Ardinghello und die glückseligen Inseln, Bd. II, 5. Auflage, Leipzig 1961, S. 208. von Berlepsch, Emilie: Über einige zum Glück der Ehe nothwendige Eigenschaften und Grundsätze, in: Der Neue Teutsche Merkur, 5. und 6. Stück, 1791, S. 63-102 und 113-134, hier: S. 86. von Hippel, Theodor Gottlieb: Ueber die bürgerliche Verbesserung der Weiber, in: Theodor Gottlieb von Hippels Sämmtliche Werke, Bd. VI, Berlin 1828, S. 118. Campe, Joachim Heinrich: Väterlicher Rath für meine Tochter. Ein Gegenstück zum Theophron. Der erwachsenern weiblichen Jugend gewidmet, Frankfurt und Leipzig 1790, S. 31.

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waren. Denn trotz des rechtlich gestützten Handlungsraums trugen alleinstehende Frauen im Allgemeinen ein großes ökonomisches und soziales Risiko. Während der Junggeselle durch eine Berufskarriere das Defizit seiner Eheund Kinderlosigkeit ausgleichen konnte, war die Frau im 18. Jahrhundert weitgehend aus dem Erwerbsleben ausgegrenzt, erhielt in der Regel eine nur unzureichende Bildung und blieb daher zumeist darauf angewiesen, im Kloster, bei Freunden oder auf dem sogenannten „Tantenplatz“ 17 im Haushalt von Verwandten für ihr Auskommen zu arbeiten. 18 Zugleich überboten sich Literatur und Publizistik des ausgehenden 18. Jahrhunderts darin, unverheiratet und kinderlos bleibende Frauen in unendlicher Variation der gleichen diffamierenden Stereotypen und Klischees als moralische, etwas später auch als anthropologische Aberrationen an den Pranger zu stellen. Während der „Hagestolz“ in der Regel nur als merkwürdig oder schrullig bemitleidet, belächelt oder sogar für seine sexuelle Ungebundenheit beneidet wurde, hatte die ‚Alte Jungfer‘, 19 wie Amalia Holst feststellt, keinerlei „Schutzwehr [...] gegen das Ridikül“, „welches man so gerne über diesen Stand verbreitet“. 20 Die unverheiratet bleibende Frau wurde als Person stigmatisiert und verlacht, die nicht nur gegen religiöse, soziale und moralische Normen verstieß, sondern – und dieses Argument verschärft sich im Zuge der anthropologischen Wende des frühen 19. Jahrhunderts 21 – auch ihre natürliche Bestimmung verfehlte. In Karl Julius Webers Demokritos, oder die hinterlassenen Papiere eines lachenden Philosophen aus den Jahr 1832 - 1835 heißt es paradigmatisch: „Der Hagestolz verfehlt seine Bestimmung nicht ganz, wenn er auch die Geschlechtsbestimmung verfehlt; Liebe entbehrt er allenfalls (und doch nicht immer), das ist negatives Unglück; entgeht er aber getäuschter, betrogener Liebe, so ist das positives Glück; nicht so die alte Jungfer, deren einzige Bestimmung die Mutter ist.“ 22

17 18 19

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21 22

Kuhn, Familienstand: Ledig, S. 46ff. Vgl. auch Hohkamp, Michaela (Hg.): Tanten. Themenheft der Zeitschrift Werkstatt Geschichte 46 (2007). Vgl. Wunder, Heide: „Er ist die Sonn’, er ist der Mond“. Frauen in der Frühen Neuzeit, München 1992, S. 75f. Vgl. Baumgarten, Katrin: Hagestolz und Alte Jungfer. Entwicklung, Instrumentalisierung und Fortleben von Klischees und Stereotypen über Unverheiratetgebliebene, Münster u.a. 1997. Holst, Amalia: Über die Bestimmung des Weibes zur höhern Geistesbildung, in: Lange, Sigrid (Hg.), Ob die Weiber Menschen sind. Geschlechterdebatten um 1800, Leipzig 1992, S. 76-85, hier: S. 81. Vgl. Baumgarten, Katrin: Hagestolz und Alte Jungfer. Entwicklung, Instrumentalisierung und Fortleben von Klischees und Stereotypen über Unverheiratetgebliebene, Münster u.a. 1997. Vgl. Baumgarten: Hagestolz und Alte Jungfer, S. 116. Weber, Karl Julius: Demokritos, oder die hinterlassenen Papiere eines lachenden Philosophen, 12 Bde., 1832-40, 10. Aufl., Leipzig, Berlin 1908. Hier: II, Kap.: Die Sonderlinge und Hagestolze, S. 54.

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Weil die ,Alte Jungfer‘ der „Liebe“, d.h. dem Lieben wie dem Geliebtwerden, entbehren müsse, weise sie psychische und physiologische Deformationen und Defekte auf, anschaulich wiedergegeben in Honoré Daumiers Karikatur La vieille fille cueillant une rose aus dem Jahr 1839. 23

Honoré Daumier: La vieille fille cueillant une rose, 1839

Die Lebensrealität gestaltete sich daher für unverheiratete Frauen zumeist sehr viel schwieriger als es die zitierten emanzipatorischen, die Freiheit der Eheentscheidung beschwörenden Gesten suggerierten. In der Literatur der Zeit bilden sich diese Ambivalenzen und Divergenzen deutlich ab: Zum einen beteiligt sich die Literatur an der Verbreitung, Durchsetzung und Stabilisierung paternalistischer, anti-emanzipatorischer Ideologeme. Die Mehrzahl der Brief-, Entwicklungs-, Ehe- und Liebesromane des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts, die Rühr- und Familienstücke ebenso wie die idyllisierenden Gemälde und die satirisierenden Karikaturen, konstituieren keinen Diskurs der Subversion. Zum anderen aber nutzen einige Autorinnen und Autoren die literarische Rede dazu, gesellschaftliche Normen und Selbstverständ23

Der Sammlung www.daumier.org sei für die Bereitststellung der Reproduktion gedankt.

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lichkeiten probeweise zu suspendieren und alternative Lebenskonzepte narrativ zu erproben, die in der Regel um 1800 noch nicht offen zur Diskussion standen. Dabei gerät auch zunehmend die sozialhistorische Wirklichkeit in den Blick: Gerade in der Literatur von Frauen beginnt sich in dieser Zeit ein realistisches Prinzip des Erzählens auszubilden, das kulturhistorisch relevante Einblicke in die zeitgenössische Auseinandersetzung und die kulturelle Arbeit mit und an den gegebenen sozialen Normen und Wertvorgaben eröffnet. Der folgende Beitrag will dies am Beispiel Therese Hubers zeigen, einer Schriftstellerin, die in ihren Essays, Erzählungen und Romanen immer wieder das Positionenspektrum der spätaufklärerischen Ehe- und Familiendiskussion problematisiert und zur Lebenswirklichkeit in Beziehung setzt. Der Schwerpunkt der Ausführungen liegt auf Hubers Essay Ueber Weiblichkeit, in der Kunst, in der Natur, und in der Gesellschaft aus dem Jahr 1801/02 (Abschnitt II) und auf ihrem Roman Die Ehelosen aus dem Jahr 1829 (Abschnitt III und IV). Da sich in diesen Texten geschlechterpolitische, pädagogische und moralphilosophische Aspekte auf kulturhistorisch signifikante Weise miteinander verschränken, kann die Fallstudie dazu genutzt werden, zum einen die zeitgenössische Funktionsbestimmung des narrativ-fiktionalen Verhandlungssmodus, zum anderen den kulturhistoriographischen Wert literaturwissenschaftlicher Textinterpretationen tentativ zu evaluieren (Abschnitt V).

II. Therese Hubers Essay Ueber Weiblichkeit, in der Kunst, in der Natur, und in der Gesellschaft Ausgehend von ihren frühen narrativen Texten, etwa Luise. Ein Beitrag zur Geschichte der Konvenienz (1796), 24 über Hannah, der Herrnhuterin Deborah Findling (1821) und Jugendmuth (1824) bis hin zu ihrem letzten Roman Die Ehelosen (1829), hat sich Therese Huber immer wieder mit freiwilliger und unfreiwilliger weiblicher Ehelosigkeit auseinandergesetzt und den Blick dabei auf die sozialen, rechtlichen und vor allem auch kulturellen Bedingungen gelenkt, unter denen Frauen Entscheidungen über „Ehe und NichtEhe“ 25 zu treffen haben. Dieses Interesse hat nicht zuletzt biographische Gründe: Viele der in den Romane entfalteten Episoden haben einen autobiographischen Kern oder gehen, wie man den Korrespondenzen entnehmen kann, auf die gelingenden und misslingenden Ehen ihrer Töchter, Freunde und Freundinnen zurück. Die sich in den essayistischen und narrativen Tex24

25

Ein „indictment of marriages of convenience“, vgl. Richards, Anna: Double-voiced Discourse and Psychological Insight in the Work of Therese Huber, in: Modern Language Review 99 (2004) , S. 416-429, hier: S. 420. Huber, Therese: Die Ehelosen, 2 Bde., Leipzig 1829, Bd. I, S. 200.

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ten manifestierende Reflexion des Ehelosen-Problems lässt sich allerdings nicht auf diese lebensweltlich-biographische Dimension reduzieren. Huber nutzt vielmehr ihre Biographie und die Biographien anderer als konkreten Erfahrungsschatz, um allgemeine ästhetische, politische und gesellschaftliche Frage- und Problemstellungen zu generieren. Dies ist beispielsweise in dem 1802 unter dem Namen ihres Mannes publizierten Essay Ueber Weiblichkeit, in der Kunst, in der Natur, und in der Gesellschaft der Fall, in dem Huber – die Camouflage der männlichen Autorschaft nutzend – sich zunächst aus der Perspektive der „Männer“ 26 mit Ideal und Wirklichkeit weiblicher Existenz auseinandersetzt. Nach einer kritischen Einlassung auf den „Irrthum“, 27 von einem in der Literatur idealiter verhandelten Gegenstand auf die gesellschaftliche Wirklichkeit zu schließen, und daran anschließende Überlegungen zu den Eigenarten männlichen und weiblichen Schreibens 28 kommt Huber auf zeitgenössische literarische Weiblichkeitsdarstellungen zu sprechen, 29 um sich ausdrücklich gegen „weibliche Karaktere“ auszusprechen, die durch ihre emanzipierte, unkonventionelle Lebensführung die Grenzen konventioneller Weiblichkeit zu sprengen drohen. Denn mit „weiblichen Kraftgenies“ – wie Huber sie ansatzweise schon in Goethes Adelheid von Weislingen aus dem Götz von Berlichingen, Philine aus Wilhelm Meisters Lehrjahren und Schillers Königin Elisabeth aus Don Carlos zu erkennen meint 30 – könne die Literatur die ihr zugeschriebene Aufgabe, „uns die schöne Natur der Weiblichkeit anschaulich zu machen“, 31 nur unzureichend erfüllen. Die Schriftsteller schöner Literatur seien hingegen gehalten, Frauenbilder zu entwerfen, in denen sich – wie beispielsweise in der „schönen Seele im Wilhelm Meister“ 32 – ein harmonisches Verhältnis weiblicher Sittlichkeit, Sinnlichkeit und Schönheit abbilde. Angesichts dieser Positionierung könnte man zu der Auffassung gelangen, Huber rede in ihrem Essay einem konservativen Ideal des „Weib[es] wie es seyn soll“ das Wort. 33 Und tatsächlich tastet sie den paradigmatischen Wert 26

27 28 29 30

31 32 33

Huber, Therese: Ueber Weiblichkeit, in der Kunst, in der Natur, und in der Gesellschaft, in: Dies.: Romane und Erzählungen Bd. 8, Erzählungen 1801-1802 (2), hg. von Magdalena Heuser, Hildesheim u.a. 1999, S. 412-446, hier: S. 424. Ebd., S. 413. Ebd., S. 416f. Ebd., S. 421ff. Ebd., S. 428f. Vgl. Köpke, Wulf: Die emanzipierte Frau in der Goethezeit“, in: Paulsen, Wolfgang (Hg.): Die Frau als Heldin und Autorin. Neue kritische Ansätze zur deutschen Literatur, Bern, München 1979, S. 96–110. Huber: Ueber Weiblichkeit, S. 437. Ebd., S. 427. Ebd., S. 437. Vgl. die Kontroverse um Wilhelmine Karoline von Wobesers Roman Elisa oder das Weib wie es sein sollte (1795).

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des konventionellen Ehemodells nicht an. Im Gegenteil: In ihrem Essay wendet sie sich explizit gegen Forderungen nach einer politischen und rechtlichen Gleichstellung der Geschlechter, weil diese zur Folge hätte, dass der Frau die „geschlechtsmäßige[] Existenz“, d.h. ein Leben als Hausfrau, Gattin und Mutter, nicht mehr gewährleistet werden könne und es infolgedessen zu einer unerwünschten Korrosion der Geschlechterordnung käme: „Ehe man also eine vermeynte Ungleichheit abzustellen strebt, frage man erst brave Mütter, wackere Hausfrauen, Weiber die ihres Geschlechtes sind, [...] ob sie sich in Vergleichung mit den Männern, durch das in der bürgerlichen Gesellschaft zugefallene Loos, in einen niedrigeren Stand verwiesen dünken?“ 34

Diese dezidiert anti-emanzipatorisch erscheinenden Ausführungen werden im hinteren Teil des Essays allerdings mit einer überraschend radikalen Überlegung konfrontiert. Zunehmend ihre männliche Sprecherrolle in eine geschlechtsneutrale, wenn nicht sogar in eine weibliche Stimme transformierend, 35 konfrontiert Huber hier das propagierte Weiblichkeitsideal mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit, die, wie sie eingangs des Essays schon konstatiert hatte, oftmals „im Kontrast“ zum Ideal stehe. 36 In Bezug auf die Wirklichkeit habe man konsequent zwischen einerseits der „natürliche[n]“, durch das Geschlecht geprägten Weiblichkeit und andererseits der „Weiblichkeit aus der zweyten Hand“, der „gesellschaftliche[n] Weiblichkeit“ 37 zu unterscheiden, die vor allem durch „Konvenienz“, 38 also durch sozial verbindliche Konventionen, Normen und Gesetze, geprägt sei. Damit aber ist die um 1800 gemeinhin für selbstverständlich gehaltene Kopplung von biologischen und sozialen Geschlechtsfaktoren (sex und gender) zugunsten einer separierenden Betrachtung aufgelöst – eine analytische Operation, die es Huber erlaubt, sich in der Folge kritisch mit der Verträglichkeit natürlicher und gesellschaftlicher Einflussgrößen auseinanderzusetzen. Denn nur selten sieht sie beide kongruieren, nur im Idealfall sei die an äußeren Konventionen orientierte „gesellschaftliche Weiblichkeit [...] die schützende Form der natürlichen“, verhalte sich die gesellschaftliche Weiblichkeit „zu der natürlichen, wie ein schönes Gewand zu den Umrissen die es bedekt“. Im Normalfall gesellschaftlicher Wirklichkeit hingegen komme es immer wieder zu pathologischen Divergenzen, und zwar vor allem dann, wenn gesellschaftliche An34 35

36 37 38

Huber: Ueber Weiblichkeit, S. 441f. Vgl. die distanzierende Betonung der männlichen Weiblichkeitsvorstellungen als „eure Regeln, eure Definitionen, eure Schlüsse“ und den zunehmend empörten Ton gegenüber den Schriftstellern, die Frauen mit Kindern zu verwechseln scheinen, ebd., S. 430. Ebd., S. 416. Ebd., S. 431. Ebd., S. 433.

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sprüche und Erwartungen so an Gewicht zunähmen, dass die Frau sich dazu gezwungen sehe, zwecks gesellschaftlicher Rücksichtnahme ihre Natur zu unterdrücken: „Wenn aber die Form den Stoff erstikt, wenn die natürliche Weiblichkeit in der gesellschaftlichen untergeht, dann flieht die sittliche Schönheit, und unedle Scheue, entehrende Prüderie, schaale Organisation, oder die Aftergrazien der Verderbniß nehmen ihre Stelle ein. Hier sieht man das Weib, wechselweise Tyrannin und Sklavin fremder Triebe, ihre Würde schänden; dort hat steife knechtische Zucht den allerersten Begriff dieser Würde, das Gefühl weiblicher Freyheit, nie in ihrer engen Brust aufkommen lassen. [...] Weiber von Verstand, von einem Gefühl, das wenigstens ursprünglich wahr sein mochte [...], unterwerfen sich als Mütter, als Hausfrauen, als Gattinnen, auf Kosten alles fremden Glückes das ihnen anvertraut ist, oft den kleinlichsten oder empörendsten Konvenienzen [...]“ 39

Aus diesen empirischen Beobachtungen einer für die Frau problematischen Lebenswirklichkeit zieht Huber nicht den Schluss, dass das normative Ideal der „geschlechtsmäßigen Existenz der Weiber“ 40 als Ehefrauen, Hausfrauen und Mütter zu modifizieren oder gar zu verabschieden sei. An der Desavouierung dieses Ideals ist ihr nicht gelegen, obgleich sie es durch die Konfrontation mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit in ihrem Essay zunehmend ins Gebiet der Dichtung verweist und auf den „idealischen Fluren eines goldenen Zeitalters“ 41 verortet, da die am Gelingen einer Ehe beteiligten Faktoren sich nur selten in Balance befänden: „femininity is a balance of nature, art (that is, social training and education), and society (that is, social necessity)“, stellt Blackwell in diesem Zusammenhang zutreffend fest. „Only when these three are in balance, only when women marry not out of financial need, for protection or support, or by social force, is marriage truly ideal.“ 42 Das eigentliche gesellschaftspolitische Anliegen von Hubers Essays aber zielt nicht auf eine Stärkung dieses Balance-Ideals, sondern bezieht sich auf die Souveränität der Frau, eine ihrem Geschlecht gemäße Existenz selbst wählen bzw. sich auch selbst dagegen entscheiden zu dürfen: „Wir haben gefunden“, schlussfolgert sie, „daß die politische Ungleichheit zwischen beyden Geschlechtern, dem weiblichen zum Schuz gereicht, und mit seiner Haupteigenschaft, Geschlecht zu seyn, vollkom-

39 40 41 42

Ebd., S. 434ff. Ebd., S. 442. Ebd., S. 438. Blackwell, Jeannine: Marriage by the book. Matrimony, divorce, and single life in Therese Huber's life and works, in: Goodman, Katherine R. (Hg.): In the shadow of Olympus. German Women Writers Around 1800, Albany, New York 1992, S. 137156, hier: S. 154.

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men übereinstimmt. Sollte es aber nicht jedem Weibe freystehen dürfen, diesem Schutze zu entsagen, und unter das gemeine Recht zu treten, wenn sie wollte?“ 43

Die provozierende Frage erheischt durch ihre suggestive Formulierung die Zustimmung der Leser und Leserinnen. Wenn eine Frau sich angesichts der „naturwidrigsten Konvenienz“ innerhalb der „bürgerlichen Verhältnisse[]“ 44 gegen die natürliche Geschlechtsvorgabe und gegen eine dieser Vorgabe entsprechende Existenz als Ehefrau, Hausfrau und Mutter entscheiden will, soll ihr diese Entscheidung freistehen. Mit Vehemenz plädiert Huber in ihrem Essay daher für das Recht, auf „Weiblichkeit Verzicht“ tun, sich des Geschlechts „bis auf die äusseren Zeichen der Tracht“ entkleiden und statt Ehe und Mutterschaft eine Anstellung „im Staate oder im Felde“ anstreben zu dürfen. 45 Zwar sind nach ihrer Ansicht – und hier deckt sich ihre Diagnose mit einer um 1800 weit verbreiteten Überzeugung – Ehe- und Berufsstand für eine Frau in der Regel unvereinbar, so dass sie sich jeweils für das eine oder das andere zu entscheiden hat. Diese Entscheidung aber will Huber der Frau nicht durch die Gesellschaft oktroyieren lassen. Die propagierte „Ausschließlichkeit“ der weiblichen „Bestimmung zum Frauenstand“ sei ein „Unrecht“, ein grausames „Uebel“, das laut „um Abhülfe“ schreie. In den „Millionen von schaalen Scherzen“, die über unverheiratet bleibende Frauen in der Literatur, in den Wochenschriften, den Literatur- und Intelligenzblättern der Zeit kursierten, sieht Huber „die Gesellschaft den grausamsten Krieg gegen ihr eigenes Glük, und gegen die Weiblichkeit“ führen. Nicht den Frauen, sondern der Gesellschaft ist es demnach zuzurechnen, wenn sich unverheiratet bleibende Frauen, denen es am natürlichen Liebesobjekt (Ehemann und Kind) mangelt, in bemitleidens- oder verabscheuungswürdige ‚Alte Jungfern‘ transformieren: „Hier ist die Hauptquelle aller weiblichen Unarten zu suchen; hier ist die Schule, in welcher das Weib die Schönheiten der Natur gegen die Grimassen der Künsteley, die Tugenden der Freiheit gegen die Ränke des Sklavenstandes vertauschen lernt. In dieser Werkstatt werden die kleinlichen, kalten, heuchlerischen Leidenschaften zubereitet, die das Heiligste im Busen des Weibes – die Liebe ersticken.“ 46

Im Gegensatz zu ihrem Zeitgenossen Karl Julius Weber ist für Huber Jungfernschaft demnach nicht als Symptom eines norm- oder naturwidrigen individuellen Verhaltens zu werten, das die Gesellschaft durch negative Sanktionierungen rejustieren kann. Vielmehr geraten unverheiratete Frauen erst dadurch in eine prekäre Position, dass das gesellschaftlich codierte Geschlech43 44 45 46

Huber: Ueber Weiblichkeit, S. 444. Ebd., S. 442. Ebd., S. 444ff. Ebd., S. 442f.

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terrollenspiel ihnen keine alternativen Optionen zu der ihrem Geschlecht ‚gemäßen‘ Rolle als Ehefrau offeriert. Bleibt sie unverheiratet und erlangt kein Objekt für ihre Liebe, läuft alles auf ein liebloses Leben als ‚Alte Jungfer‘ zu. Solange der Frau die Entscheidung für die Wahl eines Berufs- statt des Frauenstands versperrt ist, ihr nicht freisteht, „unter das gemeine [männliche] Recht zu treten, wenn sie wollte?“, wird die Gesellschaft demnach weiterhin zum einen ‚Alte Jungfern‘, zum anderen die „grelle[n] Unweiblichkeiten“ 47 produzieren, die nach Hubers Diagnose immer dann auftreten, wenn Frauen sich gegen ihren eigentlichen Willen der zum unnatürlichen Zwang gewordenen Konvenienz unterwerfen und somit ihrer natürlichen Liebesfähigkeit verlustig gehen. Die Gleichstellung, für die Huber in ihrem Essay eintritt, betrifft also keine dezidiert politischen Rechte, sondern die Anerkennung des Anspruchs der Frau, eine Entscheidung gegen ihre natürliche und damit zugleich auch gegen ihre gesellschaftliche Geschlechtsbestimmung treffen zu dürfen. Eine Frau soll nur Weib sein, „so lange sie Weib seyn will“, 48 pointiert sie. Damit geht es aber wie bei Jean Paul und Rahel Levin auch in Hubers Essay im Kern um die Entscheidungssouveränität der Frau, um die gesellschaftliche Anerkennung des weiblichen Willens. Da Entscheidungen über die eigene Lebensführung nur unter der Voraussetzung eines Spektrums von Handlungsoptionen getroffen werden können, streiten alle drei gegen die auswegslose Festschreibung der Frau auf ein fixiertes Rollenschema. Nicht die von Campe und anderen propagierte Rolle der „beglückende[n] Gattin[], bildende[n] M[u]tter und weise[n] Vorsteherin […] des innern Hauswesens“ 49 an sich ist das Problem, sondern die Anerkennung alternativer Rollen jenseits der Ehe, sei es, wie Jean Paul imaginiert, als willentlich unverheiratete „Dichtin“ oder sei es, wie Therese Huber in ihrem Essay fordert, als eine ihrem natürlichen Geschlecht willentlich entsagende berufstätige Frau.

III. Zur „Ansicht von der Bestimmung unsers Geschlechts“. Das Vorwort zum Roman Die Ehelosen In dem 1829 kurz vor ihrem Tod publizierten Roman Die Ehelosen erreicht Therese Hubers Auseinandersetzung mit der Entscheidungssouveränität der Frau besondere Signifikanz. Hier nutzt die inzwischen etablierte und unter ihrem eigenen Namen publizierende Autorin den fiktionalen Rahmen für den Entwurf eines Panoramas weiblicher Lebensläufe, die demonstrieren sollen, welche Optionen einer Frau neben der Eheschließung faktisch offen stehen oder zumindest offen stehen sollten. Der „kleine[n] Gallerie von Mädchen47 48 49

Ebd., S. 437. Ebd., S. 445. Campe: Väterlicher Rath für meine Tochter, S. 15.

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schicksalen“, 50 die diese Lebenläufe in aller Ausführlichkeit entfalten, ist ein Vorwort vorgeschaltet, das Huber – neben einer ausführlichen captatio benevolentiae – zur programmatischen Einbettung ihres Romans nutzt. Von Beginn an positioniert sie sich dabei als eine pragmatische, am „täglichen Leben“ orientierte Schriftstellerin, der es im Unterschied zu ihren romantischen Kollegen und Kolleginnen nicht in erster Linie um literarische Innovation oder künstlerischen Selbstausdruck geht. Motiviert durch „innigste Theilnahme“ am Schicksal anderer Frauen, durch das Wissen um die „Wichtigkeit“ 51 ihres Gegenstands und durch die eigenen pädagogischen Erfahrungen führt sich Huber als eine Autorin ein, die ihre Texte in der Tradition des pädagogischen Erziehungsromans 52 und der spätaufklärerischen Ratgeberliteratur verortet. Die designierten Adressatinnen ihres Romans sind denn auch die „Mütter[]“, denen Huber in literarischer Form „einige Winke zu geben“ wage, wie sie ihre „ernste, schwere Aufgabe“, 53 die physische, moralische und intellektuelle Erziehung und Bildung ihrer Töchter, angemessen bewerkstelligen könnten. Dabei ist sich die Autorin offenkundig darüber bewusst, dass ihr Text Kritik provozieren wird, und zwar zum einen hinsichtlich des gewählten Genres und seiner poetischen Ausführung, zum anderen hinsichtlich des Themas: der Verhandlung weiblicher Ehelosigkeit. Huber nutzt dementsprechend das Vorwort nicht nur dazu, sich förmlich für die „Form“ des „Unterhaltungsbuches“ 54 und seine ästhetischen Mängel 55 zu entschuldigen, sie bemüht sich auch um eine vorgreifende Erläuterung ihrer geschlechterpolitischen Absichten. So verwahrt sie sich gegen den Vorwurf, mit ihrem Roman Argumente gegen die Ehe liefern zu wollen. Leserinnen, die in ihrem Roman Trost und Rat für ‚Alte Jungfern‘-Schicksale erwarteten, müssten demnach notwendig enttäuscht werden. Zur Begründung ihrer anders gelagerten Schreibintention lässt Huber eine kritische weiblichen Gesprächspartnerin – „eine sehr gescheute Frau und gute Mutter“ 56 – mit einem Vorwurf proleptisch zu Wort kommen, um ihn gleich im Anschluss zu widerlegen: Huber habe, so die Kritik, „das häufigste, drückendste Verhältniß in dem Leben der Jungfrau ganz übergangen. Ich schildere lauter Jungfrauen, die nicht heirathen wollen, weil der ledige Stand ihnen gefalle; sie habe aber erwartet, Gründe zu finden, Mittel, wie Jungfrauen, die kei-

50 51 52 53 54 55 56

Huber: Die Ehelosen, Bd. I, S. VIII. Ebd., Bd. I, S. V. Rousseaus Emil und Sophiens Reisen werden explizit erwähnt, ebd., Bd. I, S. XXII und Bd. II, S. 43. Ebd., Bd. I, S. XXf. Ebd., Bd. I, S. V. Ebd., Bd. I, S. XXXI. Ebd., Bd. I, S. VIIIf.

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ne Freier gefunden, mit ihrem Loose zufriedenzustellen sein möchten. [...] Ich habe diesen Fall nicht übersehen; ich habe versucht, zu zeigen, wie auf verschiedenen Bildungsstufen, durch verschiedene Mittel, bei verschiedenen Charakteren, die Jungfrau ohne Heirath sich einen genügenden Wirkungskreis schaffen kann.“ 57

Die fingierte Kritik greift ins Leere, weil Huber ihre Narration bewusst darauf konzentrieren will, alternative Lebenswege zu entfalten, auf denen Frauen auch ohne Ehe und Kinder zu persönlich glücklichen und anerkannten Mitgliedern der Gesellschaft werden können. Der Roman dient also ebenso wenig therapeutisch-konsolatorischen wie (im klassischen Sinne) feministisch-emanzipatorischen Zwecken. Er soll vielmehr einen pragmatisch und pädagogisch orientierten, auf individuelle Interventionen abgestimmten Reform- und Bildungsprozess befördern helfen. Auch in den Ehelosen bleibt daher eine glückliche Ehe ein anerkanntes Ideal weiblicher Lebensführung. Im Vorwort ihres Romans attackiert Huber die zeitgenössische Erziehung nur dafür, dass sie ausschließlich „auf das Verheirathen“ als Bestimmung weiblicher Existenz vorbereite. „Ich sehe“, stellt sie fest, „daß wir einerseits fortfahren, bei der Erziehung unserer Töchter mehr oder weniger auf das Verheirathen als ihre Bestimmung hinzudeuten, und sehe, daß andererseits das Heirathen durch die Umstände immer mehr erschwert und immer weniger beglückend wird. Das Erstere zu vermeiden, ist die Aufgabe der Erziehung; die Ursachen des Letzteren hängen mit dem Zeitpunkte, – wenn man es so nennen will – mit der Krisis unserer Bildungsstufe zusammen; die Folgen beider Fälle blicken uns aus so vielen, nicht allein durch die Zeit verblühten – denn die Blüte ist immer nur ein flüchtiger Moment –, sondern von innen heraus entstellten Mädchengesichtern entgegen!“ 58

Es ist der kritisch beobachtende Blick auf die realhistorische Wirklichkeit („Ich sehe“), mit dem Huber ihre Leser und Leserinnen darüber belehren will, wie „traurig[]“ 59 weibliches Leben jenseits idealer und ideologischer Annahmen faktisch aussehen kann. Während die „Umstände“ – zu denken ist etwa an den im späten 18. Jahrhundert in ganz Europa einsetzenden demographischen Wandel, der zu einem hohen Frauenüberschuss und entsprechend schlechten Heiratschancen geführt hatte 60 – als gegebene Rahmenbedingungen der longue durée interpretiert werden, die individuell nur schwer zu beeinflussen sind, ist die Erziehung offenkundig der von Huber ausgemachte Bereich, in dem sich durch die pädagogische Unterrichtung der Mütter unmittelbar eine Verbesserung erzielen ließe. Doch wie sehen die Vorschläge für die von Huber angestrebte Reform der Mädchenerziehung aus?

57 58 59 60

Ebd., Bd. I, S. IXf. Ebd., Bd. I, S. VIf. Ebd., Bd. I, S. XIV. Vgl. Dauphin: Alleinstehende Frauen.

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Bevor Huber dies am Beispiel konkreter weiblicher Lebensläufe narrativ entfaltet, differenziert sie in ihrem Vorwort ihre Überlegungen in sozialer Hinsicht aus: Insbesondere Frauen aus ökonomisch schwierigen Schichten sehen sich demzufolge mit dem Umstand konfrontiert, sich zum Zwecke ihrer Existenzsicherung im Erwerbsleben behaupten zu müssen: „Verlangen die Umstände von ihnen, daß sie durch eigenen Fleiß oder Talent ihren Unterhalt erwerben, so erwähnt dieses Ziel ihrer Bildung,“ rät Huber den Müttern, „doch immer mit der Aussicht im Hintergrunde: sich wieder mit den Ihrigen zu vereinen“, 61 also im familiären Rahmen einen befriedigenden, weil sozial integrierten Lebensabend verbringen zu können. In den höheren, „sogenannten gebildeten Ständen“ träten hingegen „noch andere Ursachen hinzu, welche die Absicht aufs Heirathen vermehren“ 62 und die Frauen, so sie denn keinen Gatten finden, in eine „peinliche[]“ Lage bringen könnten. Hier sei es vor allem eine zu ambitionierte Bildung, die schon im Mädchenalter eine Entfremdung vom „Familienwesen“ 63 einleite und die Ehe zur einzig denkbaren Option aufwerte. Huber schlägt sich auch in diesem Punkt nicht auf die Seite der Emanzipation: Anstatt sich für eine gleichberechtigte Einbeziehung der Frau in das aufklärerische Bildungsprogramm einzusetzen, verficht sie ein moderat progressives Reformprojekt, das die Erziehung pragmatisch an den gegebenen Lebensumständen orientieren soll: „Laßt ihnen Weniges lehren, aber lernt selbst noch mit ihnen, Väter, Mütter, durch Lesen und Gespräch mit vernünftigen Männern, die Ihr im häuslichen Zirkel versammelt. Statt dieser Mannichfaltigkeit von Wissenschaft, bei welcher Kopf und Herz so wenig gewinnen, zieht Eure Töchter in das Interesse Eures Hauswesens, durch Uebertragung einzelner Theile, durch Theilnahme an dem Ganzen; gebt ihnen das Gefühl, nützlich, hülfreich, wohlthätig zu sein, je nach Maßgabe ihres Alters, ihrer Kräfte.“64

In einem etwas unspezifischen Rekurs auf Positionen der aufklärerischen Pädagogik und Moralphilosophie empfiehlt sie daher eine Erziehung, die die Mädchen zu selbstdisziplinierten, selbstbestimmten Frauen heranbildet. Sie sollen einerseits in der Lage sein, sich auf die widrigen Umstände und äußeren Zwänge einzustellen, andererseits aber auch über die geistige Freiheit verfügen, Entscheidungen über ihr Leben selbstbestimmt treffen und die Konsequenzen dieser Entscheidung dann auch tragen zu können: 65 „Daß die Ehe in dem Zustande der Gesellschaft, wie er sich jetzt gestaltet hat, nicht mehr Naturgebot sei, wage ich in meinen ‚Ehelosen’ darzustellen. Der Naturtrieb 61 62 63 64 65

Huber: Die Ehelosen, Bd. I, S. XXVII. Ebd., Bd. I, S. XVII. Ebd., Bd. I, S. XIXf. Ebd., Bd. I, S. XXVf. Vgl. Blackwell: Marriage by the book, S. 155.

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ward hier [...] durch das Gefühl veredelt und der Herrschaft des Verstandes unterworfen. Die Erziehung jedes Kindes soll eigentlich stets die Erziehung nachahmen, welche die Vorsehung, im Laufe der Jahrtausende, dem Menschengeschlechte gab und täglich zu geben fortfährt: sie soll den jungen Menschen durch Sittlichkeit geistig frei machen. Frei ist aber nur Der, welcher ohne Zwang gehorchen und ohne Eigennutz befehlen kann, sei es den Menschen oder den Umständen oder sich selbst; – dazu gelangt der Mensch jedoch nur durch ununterbrochen fortgesetzte Selbsterziehung, und diese zu entwickeln, scheint mir der Erziehung einziger Zweck.“ 66

Eine Eheschließung wird unter diesen Bedingungen nicht mehr als die natürliche Bestimmung der Frau, sondern als Aufnahme eines Berufs deklariert, also als eine willentlich auf sich genommene Lebens- und Arbeitsform, die wie andere Berufe mit Rechten und Pflichten einhergeht. Die Mütter als die Agentinnen der Erziehung direkt ansprechend, rät Huber: „Werden Eure Töchter durch Umstände oder eigenen Antrieb veranlaßt, der Ehe gegen Euch zu erwähnen: so sprecht mit Ernst und Würde von ihr, als einem Berufe, der so wichtige Verantwortlichkeit auferlegt, so schwere Pflichten bedingt, daß er nur mit dem muthigsten Entschlusse, der frömmsten Ergebung übernommen werden könne. – Und sagt, Ihr Frauen, ist sie anders?“ 67

Das programmatisch gehaltene Vorwort annonciert somit die narrative Entfaltung eines Bildungsprogramms, das erstens an die Stelle der unglücklichen, gefühlskalten, weil der gesellschaftlichen „Künstelei“ verfallenen Gattinnen manche gute Ehefrau mit einem „freudige[n] Herz“ 68 und zweitens an die Stelle der frustrierten ‚Alten Jungfern‘ „liebgehabte alte Mädchen“ 69 treten ließe. Huber erweitert damit das in ihrem Essay benannte binäre Optionsspektrum um die Position der unverheiraten Frau, die sich ihres Geschlechts nicht zugunsten eines Berufs entledigen muss, sondern die auch ohne Ehemann und Kind ein von Liebe erfülltes und gesellschaftlich respektiertes Leben führen kann. Ihren Roman als kontrafaktisches Gedankenexperiment ankündigend, fragt Huber ihre skeptischen Leserinnen, ob sie nicht auch meinen, dass, wenn der propagierte Bildungsgang „beharrlich verfolgt worden wäre“, die durch die Umstände „zur Ehelosigkeit genöthigten Jungfrauen [...] unbekümmert aus der Blüte in die Reife und weiter zur Ernte fortgeschritten sein würden, zu der Ernte früh ausgestreuter Saaten genügenden Glückes durch ein wohlthätiges Wirken unter Freunden, Verwandten

66 67 68

69

Huber: Die Ehelosen, Bd. I, S. XIf. Ebd., Bd. I, S. XXIV. Ebd., Bd. I, S. XXIXf. Huber ist auch stets daran gelegen, wie Richards zutreffend feststellt, “to show female readers how to be good wives and mothers”. Richards: “Double-voiced Discourse”, S. 421. Huber: Die Ehelosen, Bd. I, S. XXX.

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und Bedürftigen, von ihren Zeitgenossen geliebt und diese Liebe auf das jüngere Geschlecht forterbend sehend?“ 70

Getragen ist diese vorsichtig formulierte Hoffnung durch eine moralische Vision, die Huber der Aufklärung – insbesondere Rousseaus und Herders Schriften – entnimmt, die sie allerdings im Hinblick auf die geschlechterpolitischen Belange ihres Romans umkodiert. 71 Im Zuge dessen wird das im Emile propagierte Erziehungsideal, das die Eigenliebe (amour-propre) des (männlichen) Individuums in eine Tugend (vertu) zu verwandeln sucht, 72 für die physische und moralische Erziehung der Frau adaptiert, ohne dass die offenkundig anti-emanzipatorische Tendenz von Rousseaus Mädchenerziehung, die die Frau auf eine häusliche Existenz festschreibt, Erwähnung findet. 73 Ebenso wird der Auszug aus Herders religionsphilosophischem Gedicht Das Ich, der dem Roman als Motto vorangestellt ist und sich dezidiert an den Mann wendet – „Und so gediehest du / Zum Knaben, Jünglinge, zum Mann und Greis“ 74 – im Kontext des Romans auf die Frau und ihre moralische Reife bezogen: „So lasset dann im Wirken und Gemüt Das Ich uns mildern, daß das beßre Du, Und Er und Wir und Ihr und Sie es sanft Auslöschen, und uns von der bösen Unart Des harten Ich unmerklich-sanft befrein. In allen Pflichten sei uns erste Pflicht Vergessenheit sein selber! So gerät Uns unser Werk, und süß ist jede Tat, Die uns dem trägen Stolz entnimmt, uns frei Und groß und ewig und allwirkend macht. Verschlungen in ein weites Labyrinth Der Strebenden, sei unser Geist ein Ton Im Chorgesang der Schöpfung, unser Herz Ein lebend Rad im Werke der Natur.“ 75

70 71

72 73 74 75

Ebd., Bd. I, S. XXVIII. Vgl. Schlimmer, Angelika: Romanpoetik und Weiblichkeitsdiskurs. Zur Bedeutung der Kategorie gender im Romanverständnis von Therese Huber und Johanna Schopenhauer, Königstein/Ts. 2001, S. 191. Rousseau, Jean-Jacques: Émile ou de l’éducation, in: Ders.: Œuvres Complètes, Bd. 4, S. 241-868, hier: S. 547. Ebd., S. 547. Vgl. vor allem das 5. Kapitel. Vgl. Herder, Johann Gottfried: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 205208. Huber: Die Ehelosen, Bd. I, S. IV.

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Die Freiheit des Ich ist mit Tugend, Tugend mit der Überwindung egozentrischer Eigenliebe und diese Überwindung wiederum mit der selbstlosen Tätigkeit für Andere zu verknüpfen. Erst durch selbstlose Taten und eine selbstbestimmte Zurücknahme des Ich wird der Mensch – bzw. für Huber: insbesondere die Frau – zu einem moralisch integeren Teil der Gemeinschaft (Rousseau) und zu einem gottgefälligen Teil der Schöpfung (Herder). In den paratextuellen Passagen ihres Romans lässt die Autorin auf diese Weise ein positives Gegenbild zur bestehenden Situation einer egozentrisch agierenden, moralisch depravierten Gesellschaft aufscheinen – ein Gegenbild, das mit utopischen Zügen ausgestattet ist: Ihre in literarischer Form vorgebrachten „Vorschläge“ seien „Träume“, 76 gesteht sie, und liefert damit implizit die Begründung dafür, dass sie ihre pädagogischen und moralischen Vorstellungen in der Form fiktionaler Lebensläufe zu veranschaulichen sucht. Auf diese Funktionsbestimmung literarischer Darstellung wird zurückzukommen sein.

IV. Die „Gallerie von Mädchenschicksalen“. Hubers beispielhafte Lebensläufe Der Roman Die Ehelosen präsentiert ein ganzes Spektrum unverheirateter Frauen, von denen jedoch bei weitem nicht alle über „einen genügenden Wirkungskreis“ 77 verfügen. Das abschreckende Gegenbild liefern zwei „veraltete Fräulein“, die alle Klischees erfüllen, die den ‚Alten Jungfern‘ im 18. und 19. Jahrhundert zugeschrieben werden: Sie müssen ihr ödes, erotisch unbefriedigtes Jungfern-Dasein durch einen Verwandten finanzieren lassen und „würden [...] sich lieber das Nothwendige versagt haben, um sich Ueberfluß des Putzes zu verschaffen, um dessentwillen doch ihr Tadel Jüngere und Glücklichere traf.“ 78 Enttäuscht vom Leben, befassen sie sich vor allem mit Lästereien, Kuppeleien und Intrigen und machen zugleich mit überkommenen Sittlichkeits- und Konvenienzvorstellungen ihren Nächsten das Leben schwer. 79 Dagegen stellt Huber eine Reihe von Frauen aus zumeist gutbürgerlichen Verhältnissen, 80 die ein mehr oder weniger vorbildliches Ledigendasein e76 77 78 79 80

Ebd., Bd. I, S. XXX. Ebd., Bd. I, S. X. Ebd., Bd. I, S. 211. Ebd., Bd. II, S. 10. Schlimmers Beobachtung, dass Huber nur „junge, gutaussehende und selbstbewußte Frauen [...] aus wohlhabenden Verhältnissen“ zeige, trifft nicht zu. Neben den beiden alten Jungfern im Hause ist auch von unverheiratet bleibenden Mädchen (Bd. II, S. 105f.) aus ärmeren Verhältnissen die Rede (Bd. II, S. 98). Vgl. Schlimmer: Romanpoetik und Weiblichkeitsdiskurs, S. 196.

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xemplifizieren. Neben der attraktiven Sophie Dullin, die als Fürstenmätresse ein zwar emotional erfülltes und moralisch integeres, aus bürgerlicher Perspektive aber höchst zweifelhaftes Leben führt, 81 sind es vor allem zwei Frauenfiguren, auf die sich die Narration konzentriert: Erstens die gesellschaftlich höchst anerkannte Stiftsdame Elisabeth von Herbert und zweitens die Landadlige Anna von Thum. Elisabeth von Herbert wird von Huber als eine gebildete und zur Selbstbestimmung erzogene Frau charakterisiert, die eigentlich beabsichtigt, eine Ehe einzugehen, und zwar mit Hugo, einem reichen Mann, der sie intensiv umwirbt, für den sie jedoch nur Achtung und Mitleid, aber keine Liebe empfindet. Ihre Freundin Sophie Dullin missbilligt daher ihre Verlobung, und es kommt zu einer programmatischen Auseinandersetzung über das Konzept der Ehe, in der die im Vorwort angesprochene Abhängigkeit der Eheabsicht von Schicht und Bildungsstufe – nun durch die individuelle Perspektive der Figuren gebrochen – aufgegriffen wird: „Der Entschluß zu einer Heirath erschrickt mich immer“, bekennt Sophie gegenüber Elisabeth, „‚[...] dieses Bündniß, wie es heutzutage besteht, giebt dem Weibe so wenig, legt ihm so viel auf, daß mir bedünkt, ein Mädchen wage, wie die Schrift es nennt, Gott zu versuchen, wenn sie es eingeht.‘ – ‚Dann müßte ich nie, dann müßte kein Mensch heirathen?‘ fragte Elisabeth halb scherzend; aber ernst erwiederte Sophie: ‚Das werden sie nie lassen. Bei dem Volke ist mir auch nicht bange dafür, sie sind der Natur näher geblieben; aber Mädchen seltener Art, aber Du, – Du solltest wenigstens mit Liebe heirathen, damit die Ehe doch einen Lichtpunkt, den des Beginnens, hätte.‘“ 82

Während die in adligen Kreisen verkehrende, desillusionierte Sophie wissentlich „ihr bürgerliches Dasein opfert[]“, 83 um ganz für ihren „idealen Bund[]“ 84 mit dem Fürsten zu leben, sich also über die Sittlichkeitsvorstellungen – die „Meinung der Welt“ 85 – im Zeichen der Liebe hinwegsetzt, ist Elisabeth sehr viel skrupulöser: „Nie hatte sie, so frei ihr Sinn war, der Meinung getrotzt, nie hatte ihre Unbefangenheit die Grenzen der Zucht überschritten.“ 86 Sie muss allerdings erkennen, dass Sophie mit der Einschätzung ihres Heiratsplans recht hat, und nachdem auch die Beziehung zu einem zweiten Mann Walo ihr keine Aussicht auf eine mit Liebe erfüllte Partnerschaft zu eröffnen scheint, beschließt Elisabeth, ganz von ihren Heiratsplänen abzusehen und stattdessen eine Klosterstelle anzutreten – eine Option,

81 82 83 84 85 86

Huber: Die Ehelosen, Bd. I, S. 216ff. Ebd., Bd. I, S. 278f. Ebd., Bd. I, S. 243f. Ebd., Bd. I, S. 272. Ebd., Bd. I, S. 244. Ebd., Bd. I, S. 325.

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die es ihr auch als ledige Frau ermöglicht, sich im Rahmen der bürgerlichen Sittlichkeitsvorstellungen zu halten: „Sie hatte sich oft ein Leben voll Liebe und Thätigkeit im ledigen Stande gedacht; jetzt malte sie es sich aus und läugnete nicht, daß sie einen großen Vortheil dabei hatte, indem ihre Expectanz auf einen Stiftsplatz ihr im gesellschaftlichen Leben Frauenwürde versprach.“ 87

Elisabeth wird zu einer hoch angesehenen Stiftsdame und nutzt in der Folge ihre privilegierte, auch ökonomisch abgesicherte Position dazu, sich selbstständig einen Wirkungskreis zu schaffen: Sie nimmt einen Pflegesohn namens Otto an 88 und gründet eine Holländerei 89 und eine Mädchenschule, in der „arme Mädchen“ aus niedrigeren sozialen Schichten entweder für ihr Leben als Ehefrauen von „Söldner[n] und Tagelöhner[n]“ 90 oder für ihr Leben als unverheiratete „Pflegerinnen ihrer Aeltern“ und als „Stützen ihrer Geschwister“ 91 ausgebildet werden. Damit aber avanciert Elisabeth in der literarischen Fiktion zu einer der von Huber im Vorwort benannten Reformagentinnen, die sich nicht nur für ihr privates Glück, sondern auch für das Glück anderer und den Fortschritt zu einer lebenswerteren Gesellschaftsformation einsetzen. Das Engagement richtet sich dabei signifikanterweise auf die Ausbildung sozial und ökonomisch benachteiligter Frauen, die ohne entsprechende Vorbereitung unter der grassierenden Ehelosigkeit besonders zu leiden hätten. Ihre vielfältigen Tätigkeiten als Stiftsdame, Erzieherin, Wirtschafterin und Ausbilderin werden im Roman von Elisabeth selbst als Beruf qualifiziert: „[...] Ich glaube“, bekennt sie gegenüber ihrem Vater, „daß jeder Mensch, bei der Wahl seines Berufes, seine Anlagen – die doch seine Neigungen bestimmen – zuratheziehen muß.“ Der Vater hingegen – und hier nutzt Huber die Möglichkeiten ihres literarischen Mediums, differierende Perspektiven als solche auszugestalten – interpretiert den vermeintlichen Beruf seiner Tochter als Form einer auf die Gesellschaft verschobenen Mutterschaft und kann ihn so, und nur so, akzeptieren: „Für das sittlich ausgebildete Mädchen ist nur der geistige Inhalt der Mutterschaft Bedürfniß geblieben“, lässt ihn die Erzählerin das Konzept geistiger Mutterschaft erläutern. Dieser Inhalt bestehe „in Lieben und für Andere leiden und thun. Das gänzliche Vergessen der Persönlichkeit ist der Mutterliebe Eigenthümlichkeit. Liebenswürdige ehelose Mädchen treten

87 88 89 90 91

Ebd., Bd. II, S. 12. Ebd., Bd. II, S. 75ff. Ebd., Bd. II, S. 84. Ebd., Bd. II, S. 98. Ebd., Bd. II, S. 105.

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deshalb zu ihrer Umgebung ganz in das Verhältnis der Mütter, wo immer es Noth thut; denn sie tragen die Mutterschaft des gebildeten Weibes im Busen.“ 92

An Stellen wie diesen manifestiert sich Hubers gedankliche Entkopplung von sex und gender: Mutterschaft muss demnach nicht als ein ausschließlich „biologisches Phänomen“ wahrgenommen werden, sondern kann als ein „gesellschaftliches Potential“ konzipiert sein, das der Frau auch abgelöst „von Sexualität und Fortpflanzung“ 93 ein Betätigungsfeld eröffnet – sei ihr außerfamiliales Engagement nun als Beruf oder als geistige Mutterschaft identifiziert. Anders als in ihrem programmatischen Essay verlieren die geistigen Mütter in den Ehelosen allerdings nicht notwendig ihre natürliche Weiblichkeit. Anstatt sich, wie es dort heißt, des Geschlechts „bis auf die äusseren Zeichen der Tracht“ zu entkleiden und in einen Männerberuf einzutreten, sind es in den Ehelosen die originär weiblichen Aktivitäten: Pflege, Erziehung, Hauswirtschaft und Unterricht, mit denen die alleinstehende Frau ihrer sozialen und moralischen Verantwortung gegenüber der Gesellschaft nachkommt und sich die Anerkennung der Väter erwirbt. Huber vertritt damit ein durchaus traditionelles Frauenbild: Das weibliche Geschlecht ist zwar nicht unbedingt zur Ehe, aber sehr wohl zu „Nachgiebigkeit, Fleiß und thätige[r] Liebe für den Kreis, in dem es lebt“, 94 bestimmt. Will die Frau ein erfülltes und glückliches Leben als Frau führen, muss sie sich darum bemühen, sich durch soziales Engagement und durch tätige Liebe gegenüber ihren Mitmenschen die Basisqualität des Weiblichen, ihre Liebesfähigkeit, zu erhalten. Eine Alternative zum Leben als verheiratete Frau und Mutter lässt sich daher nicht in der Ausübung eines beliebigen Berufs finden. Huber sieht vielmehr, wie es schon im Vorwort heißt, im „wohlthätige[n] Wirken unter Freunden, Verwandten und Bedürftigen“ 95 einen Tätigkeitsbereich für die Frau, der ihr auch jenseits der Ehe ein erfülltes Leben verschaffen könne. Sie argumentiert dabei – und dieses Argumentationsmuster durchzieht den ganzen Roman – auf drei verschiedenen, aber zusammenhängenden Ebenen, auf einer psychologischen, einer sozialen und einer moralischen Ebene. In psychologischer Hinsicht wird durch das „Lieben und für Andere“ Leiden erstens das weibliche Liebesbedürfnis gestillt und die Grundlage für die emotionale Zufriedenheit gelegt. In sozialer Hinsicht gewährt die Betätigung der Frau zweitens ein Mindestmaß an gesellschaftlicher Anerkennung, sie kann sich durch ihre Be92 93

94 95

Ebd., Bd. II, S. 86ff. Goetzinger, Germaine: „Daß die Ehe in dem Zustande der Gesellschaft, wie er sich jetzt gestaltet hat, nicht mehr Naturgebot sei...“. Therese Hubers Roman „Die Ehelosen“ (1829) als Vorentwurf zu einer Theorie sozialer Mütterlichkeit, in: Brandes, Helga/Kopp, Detlev (Hg.): Autorinnen des Vormärz. Forum Vormärz Forschung. Jahrbuch, Bielefeld 1997, S. 15-26, hier: S. 24. Huber: Die Ehelosen, Bd. I, S. XXIII. Ebd., Bd. I, S. XXVIII.

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tätigung als nützliches Mitglied der Gesellschaft erweisen und somit Respekt erwerben. Und drittens kann die Frau sich durch ihr Engagement moralisch qualifizieren, d.h. als ein Mensch bewähren, der die eigenen Interessen zugunsten Anderer zurückzustellen bereit ist. Die moralische Qualifizierung ist die weitaus wichtigste: „die unerschütterliche Beharrlichkeit im Guten“ führe „eine schönere Genugthuung“ herbei als „die unbestrittenste Anerkennung gewähren könnte“, heißt es im Roman aus dem Munde eines Aristokraten – eine Perspektivierung, mit der Huber zugleich die Geltung der Aussage relativiert. Für die bürgerliche Frau ist das Absehen von den „Welturtheile[n]“ 96 weit schwieriger. Huber lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass Elisabeth ein sozial anerkanntes, moralisches Vorbild ist, doch mit Hilfe ihres polyperspektivischen Erzählverfahrens zeigt sie zugleich die gesellschaftlichen Widerstände, mit denen sie zu kämpfen hat. Für Bodo etwa, einen Pflegesohn von Anna von Thum, sprengt Elisabeths Lebensform die Grenzen des weiblichen Geschlechts: „Elisabeth’s Großmuth, ihre genialen Irrthümer, ihre uneigennützige Freundschaft, ihr wohlthätiges Leben machten sie zu einem Gegenstande seiner Verehrung; aber sie trat, seiner Meinung nach, durch das Uebergewicht ihres Verstandes aus den Schranken ihres Geschlechtes heraus, und [...] erregte [...] in ihm eine Abneigung vor dem Außerordentlichen in ihrem Geschlechte, da er seine Anforderungen an das Weib auf die Mittelmäßigkeit beschränkte.“ 97

Konfrontiert mit konfligierenden Einschätzungen sind der Leser und die Leserin mithin aufgefordert, sich selbst ein Urteil über den Wert Elisabeths zu bilden – eine der Spätaufklärung entstammende Erzählstrategie, die Perspektiven an die Stelle eines autoritativen Urteils und das Aufzeigen von erwartbaren Problemen an die Stelle von einfachen Lösungen 98 treten lässt. Soziales Engagement tritt auch bei Hubers zweiter eheloser Hauptfigur an die Stelle der konventionellen Haushalts- und Familiengründung. Wie Elisabeth findet die Männer verachtende Anna von Thum in ihren zwei Pflegekindern (Bodo und Hedwig) Ersatzobjekte für ihre Mutterliebe. Im Unterschied zu Elisabeth vergisst sie über ihr Engagement allerdings nicht ihre „Persönlichkeit“ und verfehlt damit ein wesentliches Element integerer geistiger Mutterschaft und integerer moralischer Reife. Während Elisabeths Handeln von ihrem Verstand geprägt ist und sie ihr Ich und ihre Eigenliebe altruistisch hintanstellt, lässt sich Anna so „von der Leidenschaftlichkeit ihres 96 97 98

Ebd., Bd. II, S. 40f. Ebd., Bd. II, S. 125f. Vgl. Schönert, Jörg: Fragen ohne Antwort. Zur Krise der literarischen Aufklärung im Roman des späten 18. Jahrhunderts: Wezels ‚Belphegor‘, Klingers ‚Faust‘ und die ‚Nachtwachen des Bonaventura‘, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 14 (1970), S. 183-229.

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Gemüthes bestimmen“, 99 dass sie ihre Eigenliebe nicht zu überwinden vermag: „Sie gestand es sich nicht ein, daß ihr Bestreben nie dahin gegangen war, zum großen Baue des geistigen Welttalls beizutragen, sondern sich selbst ein Tempelchen zu errichten, um darin, nächst der Gottheit, verehrt zu werden.“ 100

Da Anna auf einer Gegenleistung für ihre Wohltätigkeit beharrt, ist sie in der Folge weder in der Lage, sich auf Dauer eine gesellschaftliche Anerkennung zu sichern noch durch ihr soziales Engagement zu einem Zustand emotionaler Zufriedenheit zu gelangen: „Mit aufrichtigem Willen hatte sie dieses Leben dem Wohle Anderer geweiht, aber, in letzter Rücksicht, nicht um des Guten willen, das daraus hervorgehen mußte, sondern um der Dankbarkeit willen, die sie als Abzahlung für ihre Liebe, als Kaufgeld für ihre Wohlthaten bedurfte. Der Wohlthäter soll aber geben wie Gott, der in den Erfolg seiner Gabe, in den rechten Gebrauch seiner Wohlthat seinen Zweck setzt, und der in der Lehre der Freiheit, die er uns gab, Dank- und Brandopfer aufhob. Durch die Ansprüche an Dank wird dem Empfänger die Wohlthat zur Fessel; er sucht ihr, wenn er redlich ist, selbst auf Kosten der Gabe zu entgegen, und nun keimt in dem Wohlthäter die bittere Empfindung, Undankbare gemacht zu haben.“ 101

Anna will Dankbarkeit und ideologische Gefolgschaft, anstatt ihren Pflegekindern wiederum eine autonome Wahl der Lebensform zu ermöglichen. Das von Huber im Vorwort benannte Erziehungsziel der „Selbständigkeit“, „Selbsterziehung“ 102 und „Selbstherrschaft“ 103 preisgebend, setzt Anna von Thum alles daran, ihre Pflegekinder von ihren eigenen radikalen „Cölibatsansichten“ 104 zu überzeugen und sie – nach ihrem eigenen Vorbild – vom Eheschließen abzuhalten. Damit aber verfehlt Anna letzendlich sowohl die soziale und psychologische als auch die moralische Dimension weiblichen Handelns. In der kontrastiven Gegenüberstellung von Elisabeth und Anna macht Huber deutlich, dass sie sich ebenso vehement gegen die Mütter wendet, die ihre Töchter zum Heiraten erziehen, wie gegen die Mütter, die – wie Anna von Thum – ihren Töchtern das Zölibat als einzige Bestimmung vermitteln. 105 Der Roman Die Ehelosen disqualifiziert demnach nicht die Ehe-

99 100 101 102 103 104 105

Huber: Die Ehelosen, Bd. II, S. 125f. Ebd., Bd. II, S. 243f. Ebd., Bd. II, S. 243f. Ebd., Bd, I, S. XII u.ö. Ebd., Bd, I, S. 272. Ebd., Bd. I, S. 186. Ebd., Bd. I, S. XIVf.

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Institution an sich, 106 wogegen auch die im Roman ebenfalls ausführlich geschilderten vorbildlichen Ehen sprechen (vor allem Otto und Hedwig, aber auch Bodo und Zoe führen gute Ehen). Vielmehr richtet Huber den Fokus auf die Rahmenbedingungen, unter denen Mädchen und junge Frauen eine freie, selbstverantwortliche Entscheidung für oder gegen eine Ehe treffen können. Huber betont dabei vor allem die pädagogischen Konditionen, die eine freie Entscheidungsfähigkeit befördern: „Du [...] wirkst sehr wohlthätig,“ muss sich Anna von Thum von ihrem zur Ehe entschlossenen Pflegesohn Bodo sagen lassen, „wenn Du Deinem Geschlechte den herabwürdigenden Wahn benimmst, als sei sie [die Ehe, A.A.] der einzige Weg, Eure Bestimmung als Wohlthäterinnen der Mitwelt [...] zu erreichen. Sich aber der Ehe zu erwehren, sie zu fliehen, folgt daraus nicht. Ehe und Nicht-Ehe ist eine individuelle Sache, muß, wie der Glaube, gewählt, nicht aufgedrungen sein, sonst wird sie, wie dieser, Fanatismus und Heuchelei.“ 107

In den Ehelosen erscheint, wie Germaine Goetzinger ausgeführt hat, die „selbstgewählte Ehelosigkeit der Frauen als legitime Alternative [...] zu dem, was bisher als die ‚natürliche Bestimmung des Weibes‘“ 108 – und, müsste man hinzufügen, als die normativ-konventionelle Vorgabe weiblicher Lebensformen – gegolten hat. Die Lebenspraxis hat sich an den neuen Ansprüchen des veredelten „Gefühl[s]“ und des mündig gewordenen „Verstandes“ zu orientieren, 109 also nicht mehr der Natur und der Konvenienz, sondern dem gereiften Gefühl und Wissen um Moral und Sittlichkeit Rechnung zu tragen. In ihrem Roman bettet Huber diese Überlegungen in eine historische Verlaufsform, und das heißt im Hinblick auf die narrative Form: in eine zeitliche Struktur ein. Die Ehelosen präsentieren nicht einfach ein „weitläufige[s] Bündel von Geschichten“, wie Wulf Köpke meint, 110 und der Roman stellt auch nicht bloß eine „verwirrende und undurchdringliche Exemplahäu-

106

107 108 109 110

Vgl. dagegen: „Im Roman wird besonders der Familienbegriff der bürgerlichen Gesellschaft für die Abwertung und Ausgrenzung der Frauen, die die erwartete Rolle nicht erfüllen, verantwortlich gemacht, denn diese gesteht den Ledigen nur einen Platz als Außenseiterinnen in der familiären Gemeinschaft zu.“ Schlimmer: Romanpoetik und Weiblichkeitsdiskurs, S. 194. Huber: Die Ehelosen, Bd. I, S. 200f. Goetzinger: „Daß die Ehe in dem Zustande der Gesellschaft, wie er sich jetzt gestaltet hat, nicht mehr Naturgebot sei...“, S. 16. Huber: Die Ehelosen, Bd. I, S. XIf. Köpke, Wulf: Immer noch im Schatten der Männer? Therese Huber als Schriftstellerin, in: Rasmussen, Detlef (Hg.): Der Weltumsegler und seine Freunde. Georg Forster als gesellschaftlicher Schriftsteller der Goethezeit, Tübingen 1988, S. 116-132, hier: S. 124.

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fung” 111 dar, wie Goetzinger annimmt. Vielmehr hat Huber ihren Text als einen Generationenroman angelegt und konsequent historisch, soziologisch und psychologisch perspektiviert, sodass sich im narrativen Progress konkreter geschlechterpolitischer Auseinandersetzungen eine teils von Huber beobachtete, teils von ihr antizipierte (und herbeigesehnte) historische Entwicklung spiegelt. Die Leserin bekommt – je nach Zählung – mindestens drei Frauengenerationen vorgeführt. Während die Vertreterinnen der ersten entweder in mehr oder weniger problematischen Konvenienzehen stecken oder, wie die zwei Tanten, als verabscheuenswürdige ‚Alte Jungfern‘ enden, gelingt es der zweiten Generation in Gestalt von Elisabeth von Herbert und Anna von Thum, Lebensformen jenseits der Ehe zu etablieren, auf die sich wiederum die dritte Generation erfolgreich berufen kann. „Und warum sollte ich heirathen?“, wendet sich Sara als eine Repräsentantin der dritten Generation selbstbewusst an ihren Vater, „[...] fehlt es mir an Liebe? an Beruf? Blicken Sie um mich, lieber Vater! [...] Könnte ich mich in diesem weiten Kreise frei bewegen, wenn ich mich anheischig machte, den mir alsdann zunächstliegenden einer Hausfrau auszufüllen? [...] Ich sehe in jeder Ehe eine Mangelhaftigkeit, ein Hinderniß, der Vollendung zuzureifen [...] – Lassen Sie mich, guter, guter Vater! lassen Sie mich nur halb so gut, so glücklich wie Elisabeth werden!“ 112

Während Elisabeths Entscheidung gegen die Ehe noch einem verletzten Gefühl entspringt, sie nach einer herben emotionalen Enttäuschung erst beginnen muss, sich „ein Leben voll Liebe und Thätigkeit im ledigen Stande“ zu entwerfen und gegenüber ihrem Vater zu rechtfertigen, ist Sara in einer ungleich besseren Position. Aus ihrer Perspektive ist es nicht mehr die Ehelosigkeit, sondern die Ehe, die die Handlungs- und Wirkungsfähigkeit der Frau beschränkt. Beeindruckt von der vorbildlichen gesellschaftlichen und moralischen Reputation Elisabeths, weiß der Vater ihre Argumente nicht mehr zu kontern. Denn, wie Huber lakonisch schreibt, „die Zeiten bleiben sich nicht gleich“. 113 Auch Hedwig, ebenfalls der dritten Generation zugehörig, orientiert sich an dem Vorbild Elisabeths. Obwohl selbst glücklich mit Otto verheiratet, plant sie die Gründung eines „Schwesterhauses“, 114 um das Schließen von Versorgungs- und Konvenienzehen in der Zukunft überflüssig zu machen. Sowohl Sara als auch Hedwig verkörpern damit bereits eine in der fiktionalen Welt vorweggenommene Realität: Als souverän zwischen „Ehe und Nicht-Ehe“ entscheidende Frauen verweisen sie auf das von Huber an111 112 113 114

Goetzinger: „Daß die Ehe in dem Zustande der Gesellschaft, wie er sich jetzt gestaltet hat, nicht mehr Naturgebot sei...“, S. 17. Huber: Die Ehelosen, Bd. II, S. 288ff. Ebd., Bd. I, S. 6. Ebd., Bd. II, S. 148ff.

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gestrebte Ideal einer gesellschaftlichen Formation, in der unverheiratete wie verheiratete Frauen zu sozialer Anerkennung, psychisch-emotionaler Ausgeglichenheit und moralischer Integrität gelangen können. Zufrieden kann die Erzählerin deshalb zum Abschluss des Romans Bilanz ziehen: „Es ging unser Bestreben dahin, zu zeigen, wie die Denkart die Schicksale ebensowol lenkt, als die Schicksale die Denkart erzeugen oder befestigen, wie demnach zur Selbsterziehung anleitende Erziehung unserer Kinder der einzige Bürge ihrer moralischen Wohlfahrt, bei allem Wechsel des Lebens, ist. Wenn uns dieses Bestreben gelang, können wir unsere Freunde ruhig verlassen, denn ein Jeder von Ihnen hat, nach seinen Kräften, den Zweck seines Daseins erkannt.“ 115

Die im Rekurs auf das Vorwort und das dort annoncierte Programm der Erziehung zur Selbsterziehung zum Ausdruck gebrachte Zufriedenheit mit dem Erreichten bezieht sich offenkundig nicht nur auf den Abschluss der Handlung, sondern auch auf die gewählte Darstellung in „Form eines Unterhaltungsbuches“. Doch wieso bedient sich Huber eigentlich des literarischen Mediums und lässt sich trotz der „Wichtigkeit“ ihres Gegenstandes auf die Gattung des Romans ein? Von der Beantwortung dieser Frage hängt eine weitere Frage ab, die im Folgenden nur ansatzweise beantwortet werden kann: Welches heuristische Potential birgt die literaturwissenschaftliche Interpretation narrativ-fiktionaler Texte für die Geschlechter- und Kulturgeschichtsschreibung des 18. und 19. Jahrhunderts?

V. Vom Wert „eines Unterhaltungsbuches, eines Romanes“ Therese Huber hat sich „nicht unbedacht“ 116 dafür entschieden, ihr pädagogisches Programm in Form eines Romans zu vermitteln. Sie wage sich „an keine andere“ Darstellungsform, räumt sie im Vorwort der Ehelosen ein, insistiert aber zugleich selbstbewusst darauf, dass das, „was ich mitzutheilen wünschte, [...] wahrscheinlich in dieser Form den meisten Lesern, ‚die ich meine‘, vor die Augen gebracht“ 117 werden könne. Einzig ein „Unterhaltungsbuch[]“ scheint ihr also dazu geeignet, die Leser und Leserinnen der designierten Zielgruppe in ausreichend hoher Anzahl erreichen und ihnen das Schreibanliegen evident machen zu können. Bei den „Lesern, ‚die ich meine‘“ handelt es sich vor allem um die im Roman mehrfach direkt angesprochenen Mütter, die sich, wie Therese Huber selbst, um das gegenwärtige und zukünftige Wohlergehen „unsere[r] Töchter“ 118 sorgen und in der Literatur nach Rat suchen. Anstatt sich an diese Gruppe nun mit einem theoretisch115 116 117 118

Ebd., Bd. II, S. 327f. Ebd., Bd. I, S. XI. Ebd., Bd. I, S. Vf. Ebd., Bd. I, S. XXf.

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diskursiven Beitrag zu wenden – etwa mit einer „Erziehungsschrift“ oder einem „Buch für Mütter“ 119 nach dem Vorbild von Pestalozzis Buch der Mütter oder Anleitung für Mütter ihre Kinder bemerken und reden zu lehren (1803) –, präsentiert Huber, wie wir gesehen haben, im Haupttext der Ehelosen eine diversifizierte Fallsammlung von sozial, psychologisch und moralisch unterschiedlich gelagerten, aber jeweils realistisch beschriebenen Individualschicksalen von Frauen. Sie nutzt den erzählenden Darstellungsmodus dazu, das im Vorwort benannte geschlechterhistorische Problem am Beispiel unterschiedlicher weiblicher Lebensläufe in seiner Diversität und Komplexität vorzustellen und ihre Diagnose am konkreten Einzelfall 120 exemplarisch zu erläutern. Die Wirkungsfunktion der didaktischen Belehrung der Mütter, das prodesse, wird dabei durch Unterhaltungsfunktionen (movere und delectare) unterstützt: Hubers Frauenschicksale, die innerfamiliären Auseinandersetzungen sowie die emotionsgeladenen Liebes- und Freundschaftsbeziehungen werden in einer internen, Empathie evozierenden Fokalisierung dargestellt, die dem Leser und der Leserin Identifikationsangebote macht, ihn aber zugleich auch an die eingangs aufgestellten Thesen gemahnt. Hubers Roman wird somit zu einer Art „Thesenroman“, 121 er bleibt „didaktisch“, da die Autorin sich, wie Köpke bemerkt, keiner Fabulierlust überlässt, 122 sondern sich an die schon im Vorwort explizit gemachte Schreibabsicht hält. Dennoch weiß sie die fiktionale Qualität literarischer Rede für ihren Zweck zu nutzen, denn ihre Narration beschränkt sich nicht auf eine Darstellung und Kritik des Ist-Zustands. Huber entwirft in ihrem Roman vielmehr ein alternatives, in die Zukunft weisendes Szenario: Der Als-ob-Status fiktionaler Rede erlaubt ihr zu „zeigen“, 123 wie sich die Gesellschaft zum Besseren verändern könnte, wenn die Mütter nur den pädagogischen Hinweisen folgten. Die narrativ entfalteten „Vorschläge“ werden daher im Vorwort auch als „Träume“ bezeichnet, als Vorwegnahmen einer erwünschten historischen Entwicklung, die von einigen Figuren des Romans, etwa von Hedwig und Sara, bereits exemplarisch verkörpert und gelebt werden. In der fiktionalen Wirklichkeit des Romans stehen letztere für das Ideal selbstbestimmter weiblicher Akteure; sie erscheinen weder als Opfer des von der Gesellschaft oktroyierten paternalistischen Wertesystems noch als revolutionäre Widerständlerinnen. An ihrem Beispiel können die Leserinnen vielmehr beobachten, wie Frauen in ei-

119 120

121 122 123

Ebd., Bd. I, S. X. Vgl. Hahn, Andrea: „Wie ein Mannskleid für den weiblichen Körper“. Therese Huber (1764-1829), in: Tebbe, Karin (Hg.): Beruf: Schriftstellerin. Schreibende Frauen im 18. und 19. Jahrhundert, Göttingen 1998, S. 103-131, hier: S. 117. Vgl. Schlimmer: Romanpoetik und Weiblichkeitsdiskurs, S. 190. Köpke: Immer noch im Schatten der Männer, S. 129. Huber: Die Ehelosen, Bd. II, S. 328.

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nem selbstbestimmten und „aktiven Aneignungsprozeß“ 124 die sozialen und moralischen Wertvorgaben interpretieren und in der individuellen Umsetzung, d.h. auf der Suche nach individueller Anerkennung, nach emotionalem Glück und nach moralischer Integrität, modifizierend mitgestalten können. Huber inszeniert vor allem die Protagonistinnen der dritten Generation als souveräne Agentinnen, die am gesellschaftlichen Prozess bewusst teilhaben und ihre zum Teil kleineren, zum Teil größeren Handlungsspielräume zu nutzen und auszudehnen verstehen. Für die Frauen der ersten Generation mag – wie für die Generation der Mütter, an deren pädagogische Verantwortung Huber in ihrem Vorwort appelliert – der Interventionsspielraum noch auf die Töchter- und Pflegetöchtererziehung beschränkt sein. Die Realisierung des propagierten Erziehungsideals der Selbsterziehung aber bildet die in der narrativen Fiktion bereits realisierte Voraussetzung dafür, dass Frauen ihre Entscheidungssouveränität sukzessive ausbauen und mehr und mehr in der Lage sein werden, zukunftsgestaltend in den historischen Prozess mit einzugreifen. Dass die Erziehung zur Selbsterziehung nicht dem emanzipatorischen Utopismus Jean Pauls und Rahel Levins entspricht, sondern eine Form der Sozialdisziplinierung impliziert, sollte angesichts von Hubers Realismus nicht überraschen: Das literarische Medium dient ihr dazu, die Realisierbarkeit von Transformationsvorstellungen aufzuzeigen. Ihren Lesern legt Hubers Darstellungsverfahren eine bestimmte Rezeptionshaltung nahe: Sie sollen sich in die Einzelschicksale einfühlen, individuelle Entscheidungsprozesse der Figuren empathisch nachvollziehen und die im Roman gegeneinander gestellten perspektivischen Bewertungen der beschriebenen Lebensläufe aus Innen- und Außensicht kritisch evaluieren. Huber wechselt dazu zwischen auktorialen und intern fokalisierten Passagen. 125 Während ihre Erzählstimme im Vorwort und in den kommentierenden Zwischenpassagen des Romans die Deutungs- und Bewertungshoheit über das Geschehen für sich beansprucht und aufrecht erhält, gewährt sie sowohl in den dialogischen Partien der erzählten Handlung als auch in den eingelagerten Ich-Erzählungen einzelner Figuren den unverheirateten und verheirateten Frauenfiguren sowie den ins Geschehen involvierten Männern jeweils eigene Stimmen, die abweichende Perspektiven entfalten. Auch als (zeitgenössische) Rezipientin ist man somit auf die Notwendigkeit verwiesen, Werturteile selbst zu treffen und sich insbesondere von überkommenen Konvenienzvorstellungen und den Meinungen der Welt zu lösen. Die Entscheidung beispielsweise zwischen „Ehe und Nicht-Ehe“ avanciert auf diese Weise auch für die Leserinnen sukzessive zu einer „individuelle[n] Sache“. 124 125

Habermas: Frauen und Männer, S. 11. Vgl. Harmeyer, Jutta: Therese Huber: Die Ehelosen (1829), in: LosterSchneider, Gudrun/Pailer, Gabriele (Hg.): Lexikon deutschsprachiger Epik und Dramatik von Autorinnen (1730-1900), Tübingen 2006, S. 220-222.

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Huber entwertet in den Ehelosen somit nicht die gesellschaftliche und moralisch institutionalisierte Bedeutung der Ehe, sondern sortiert sie in ein Optionsspektrum von unterschiedlichen, ebenfalls wertbesetzten Lebensformen ein, aus denen das Individuum in Zukunft selbsttätig wählen soll. Anders als in ihrem Essay Ueber Weiblichkeit, in der Kunst, in der Natur, und in der Gesellschaft noch für die Literatur postuliert, schneidet sie dabei ihre Frauenfiguren nicht auf ein allgemeinverbindliches Harmonie-Ideal zu: Ihre Literatur liefert weder idealisierte Konstrukte ‚schöner Seelen‘ noch emanzipatorische „Kraftweiber“, sondern realistisch gestaltete Charaktere. Somit lässt sich zwar auch im Hinblick auf Die Ehelosen feststellen, dass Huber gegenüber den „überlieferten und weitgehend anerkannten Weiblichkeitsvorstellungen [...] eine nur zögernd abweichende, eher ambivalente Haltung“ 126 einnimmt. Doch gerade diese aus dem Realismus geborene Ambivalenz macht den Roman kulturhistorisch interessant. Anders als in programmatischen, rein diskursiven Beiträgen, und auch anders als in autobiographischen Texten und sogenannten Ego-Dokumenten, die längst zum festen Bestand historischer Geschlechterforschung und Kulturgeschichtsschreibung zählen, eröffnen Romane wie Therese Hubers Die Ehelosen einen instruktiven Einblick in die historische ‚Mittäterschaft‘ von Frauen. Gerade durch die konsequent funktionalisierte Ausrichtung ihrer Schreibpraxis stellt Hubers Text aus, wie Frauen an der Reflexion, Ausgestaltung, Stabilisierung und Anerkennung der Lebens- und Handlungsräume, die das 19. Jahrhundert charakterisieren, mitarbeiten, im Guten wie im Schlechten. Ihr Roman bildet dabei weder die rein ideologische noch die rein lebensweltlich-realistische Seite der geschlechterhistorischen Auseinandersetzungen ab. Die eigentümliche Konkretheit des Literarischen, kombiniert mit dem eigentümlichen Als-ob-Status fiktionaler Rede, erzeugt vielmehr eine spezifische Verschränkung von einerseits pragmatischer, lebensweltgesättiger Verankerung in der sozialhistorischen Realität und andererseits transzendierender Überschreitung der faktischen Wirklichkeit. Die Ehelosen sind damit Teil eines gesellschaftlichen Selbstverständigungsdiskurses, ein Schauplatz, auf dem sich, wie Carroll Smith-Rosenberg schreibt, the „ongoing struggle between women and men actors for control of the script“ 127 besonders anschaulich beobachten lässt. Der Roman lässt sichtbar werden, wie in einer kulturhistorischen Umbruchsphase probeweise Zukunft entwor-

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Heuser, Magdalene: Jakobinerin, Demokratin oder Revolutionär. Therese Hubers ‚kleiner winziger Standpunkt als Weib’ um 1800, in: Schmidt-Linsenhoff, Viktoria (Hg.): Sklavin oder Bürgerin? Französische Revolution und Neue Weiblichkeit 17601830, Frankfurt a. M. 1989, S. 143-157, hier: S. 154. Smith-Rosenberg, Carroll: Disorderly Conduct. Visions of Gender in Victorian America, Oxford 1986, S. 17.

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fen und das auf den Weg gebracht wird, was wir heute, inklusive aller Zwänge, Restriktionen und Regressionen, Moderne nennen.

Abbildungsnachweis

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Daniel Chodowiecki, Titelvignette zu Heinrich Matthias August Cramer: Unterhaltungen zur Beförderung der häuslichen Glückseligkeit, Leipzig 1787, Universitätsbibliothek Osnabrück. Ausschnitt aus der Karte des Pilsner Kreises von Franz Jakob Heinrich Kreybich, Kartensammlung Historisches Institut der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik, Prag, Sign. A-427. Třeboň/Wittingau, Stadt (1699), SOA Třeboň, Vs Třeboň, Landkarte Nr. 3. Zacharias Stopius, Schreibcalender auff das Jahr…, Königsberg 1565, Akademische Bibliothek, Baltika-Abteilung, Tallinn. Salomonis Gubert, Stratagema oeconomicum, Riga 1688, Kirjandusmuuseumi Arhiivraamatugkogu. Johann Hermann von Neidenburg, Lieffländischer Landman, Riga 1695, Kirjandusmuuseum Arhiivraamatukogu. Anonym: Der getreue Amt-Mann oder Unterricht eines guten Hauß-Halters, Riga: Georg Matth. Nöller, 1696, Eesti Krijandusmuuseum Arhiivraamatukogu. Johann Bernhard von Fischer, Liefländisches Landwirthschaftsbuch Tallinn 1753, Akademische Bibliothek, Baltika-Abteilung, Tallinn. August Wilhelm Hupel, Oekonomisches Handbuch, Riga: Johann Friedrich Hartknoch, 1796, Eesti Kirjandusmuuseumi Arhiivraamatukogu. Johann Gottlieb von Eckhart, Experimental Oeconomie, Jena: Johann Wilhelm Hartung 1763, Tallinn, Akademische Bibliothek, Baltika-Sammlung. Honoré Daumier, La vieille fille cueillant une rose (1839), www.daumier.org

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Andrea Albrecht, Studium der Mathematik, Germanistik und Philosophie in Bremen, Hamburg und Göttingen; Promotion zum Thema „Kosmopolitismus. Weltbürgerdiskurse in Literatur, Philosophie und Publizistik um 1800“, Berlin 2005. Mitarbeit im Projekt: „Jahrhundertwende – Literatur, Künste und Wissenschaften um 1900 in grenzüberschreitender Wahrnehmung" an der Akademie der Wissenschaften. 2005-2006 University of California, Berkeley. Seit 2007 Leiterin einer Emmy Noether-Nachwuchsgruppe am Deutschen Seminar II der Universität Freiburg und an der School for Language and Literature des Freiburg Institute for Advanced Studies mit einem Projekt zum Verhältnis von exakter Wissenschaft, Literatur und Kulturtheorie. Iris Carstensen, 2004 Promotion in Kiel im Fach Europäische Ethnologie/Volkskunde zum Thema „Friedrich Reichsgraf zu Rantzau auf Breitenburg (1729-1806). Zur Selbstthematisierung eines holsteinischen Adligen in seinen Tagebüchern“. Freischaffende Volkskundlerin. Fridrun Freise, Studium der Germanistik und Musik in Osnabrück, 20012004: International Max Planck Research School „Werte und Wertewandel in Mittelalter und Neuzeit“, Göttingen (Dissertationsprojekt „Gedächtnis und Gelegenheit. Studien zur Praxis urbaner Kasualdichtung“), 2005-2008: IKFN der Universität Osnabrück („Handbuch des personalen Gelegenheitsschrifftums“), st. 2008 Leiterin der Schreibwerkstatt an der Päd. Hochschule Weingarten. Nacim Ghanbari ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich 3 (Sprach-, Literatur- und Medienwissenschaften) der Universität Siegen. Sie studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie in Hannover, Konstanz und Chicago und war 2004-2007 Promotionsstipendiatin im DFG-Graduiertenkolleg "Die Figur des Dritten" an der Universität Konstanz, wo sie mit einer Arbeit zum Thema "Das Haus. Eine deutsche Literaturgeschichte (1850-1926)" promoviert wurde. Sie ist Mitherausgeberin von "Totenkulte. Kulturelle und literarische Grenzgänge zwischen Leben und Tod" (Frankfurt/M. 2006). Josef Grulich studierte 1988-1993 Bohemistik und Geschichte an der Südböhmischen Universität in Budweis. Seit 1993 Oberassistent am Historischen Institut der Philosophischen Fakultät der Südböhmischen Universität in

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Budweis. 1994-2002 Externer Doktorand am Institut der böhmischen Geschichte der Philosophischen Fakultät in Prag. Er spezialisiert sich auf die Geschichte der ländlichen Gebiete, der Bevölkerung und Migration unter dem Gesichtspunkt der historischen Demographie, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (17.-19. Jahrhundert), Habilitation in Budweis 2009. David Hill is Emeritus Professor of German Studies at the University of Birmingham, UK. He studied German and French at Trinity College, Dublin, and Oxford and is the author of numerous publications, mainly on German literature of the late eighteenth century, and in particular on Lessing, Goethe and the Sturm und Drang. He has recently completed (with Elystan Griffiths) an edition of „Das Berkaer Projekt“ of J. M. R. Lenz. Michaela Hohkamp ist Professorin für Frühe Neuzeit/ Geschlechtergeschichte/ Historische Anthropologie an der Freien Universität Berlin. Sie hat an der Göttinger Universität studiert, war Projektassistentin am Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen, visting fellow am Europäischen Hochschulinstitut Florenz und hat verschiedene Forschungsaufenthalte z.B. in US-amerikanischen Bibliotheken absolviert. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der bäuerlichen Gesellschaft der europäischen Frühen Neuzeit, in der Erforschung der frühneuzeitlichen Höfe Europas, adeliger Herrschaft und Verwandtschaft sowie in europäischer Historiographie zwischen dem 15. und dem 18. Jahrhundert aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive. Evelyne Luef studierte Geschichte und Skandinavistik in Wien, Umeå und Göteborg. In ihrer bisherigen Arbeit setzte sie sich mit häuslicher Gewalt in historischen und literarischen Kontexten auseinander. In ihrer laufenden Dissertation beschäftigt sie sich mit Suizid und Suizidversuch im frühneuzeitlichen Österreich und Schweden. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Geschlechtergeschichte der Frühen Neuzeit und der historischen Suizid- und Kriminalitätsforschung. Ulrike Plath studierte 1991-1999 Geschichte, Finnougristik und Volkskunde in Hamburg und Tartu/Estland, 2000-2003 Stipendiatin im Graduiertenkolleg "Kontaktzone Mare Balticum: Fremdheit und Integration im Ostseeraum" Greifswald; 2004 Stipendiatin und Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Institut für Europäische Geschichte,Mainz. 2005 Promotion an der Universität Mainz zu "Esten und Deutschein den baltischen Provinzen Russlands. Fremdheitskonstruktionen,Kolonialphantasien, Lebenswelten 1750-1850". 2007 Forschungsstipendiatin der Universität Tallinn/Estland. Seit 2007 Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Under und Tuglas Literaturzentrum der Estnischen Akademie der Wissenschaften, Tallinn.Ihre Forschungsschwerpunk-

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

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te sind Baltische Geschichte, Imagologie, Kulturtransfer,Nahrungs- und Umweltgeschichte. Inken Schmidt-Voges studierte 1992-1998 Geschichte, Soziologie, Kunstgeschichte, Slavische Philologie und Fachjournalistik in Gießen und Kiel, 1999-2002 DFG-Stipendiatin in Kiel, Promotion im Bereich der Historischen Mythosforschung in der schwedischen Geschichte der Frühen Neuzeit, seit 2005 wiss. Assistentin an der Universität Osnabrück. Forschungsschwerpunkte liegen in der Politikgeschichte Mittel- und Nordeuropas, in der kulturhistorischen Friedensforschung, der norddeutschen Regionalgeschichte, der Familien- und Geschlechtergeschichte, der Historischen Mythosforschung sowie allen Formen von Kommunikationsprozessen in der frühneuzeitlichen Gesellschaft. Siegrid Westphal ist Professorin für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Osnabrück. Sie hat Geschichte, evangelische Theologie und Kunstgeschichte in Mainz und München studiert. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Politik- und Verfassungsgeschichte des Alten Reiches sowie der Rechtsgeschichte, die sie dezidiert unter gender-Aspekten untersucht. Gleichermaßen sind in ihrem Werk aber auch Themen aus dem Bereich der Wissens- und Bildungskultur von der Reformation bis zur Aufklärung vertreten sowie die kulturhistorische Friedensforschung. Alice Velková ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Institut der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik. Gleichzeitig lehrt sie neuzeitliche Geschichte an der Universität Pardubice. 1996-99 war sie Mitarbeiterin am internationalen Forschungsprojekt „Soziale Strukturen in Böhmen“. Ihre Dissertation über die Entwicklung der sozialen und demographischen Strukturen auf dem böhmischen Lande zwischen 1650-1850 wurde 2004 an der Karlsuniversität Prag angenommen.

Personenregister

Alexander I., Zar von Russland (1777-1825) 198f. Bachofen, Johann Jakob (1815 -1887), Rechtshistoriker 73 Balthasar, Anna Christina Ehrenfried von (1737-1808), wurde im 18. Jh. ein akademischer Grad verliehen 61 Becher, Johann Joachim (1635-1682), deutscher Wirtschaftstheoretiker und Publizist 192 Bellermann, Johann Joachim (1754-1842), Theologe und Semitist 204 Berlepsch, Emilie von (1757-1830), Schriftstellerin und Verteidigerin der Rechte der Frau 292 Boas, Franz (1858-1942), Sozialanthropologe 72, 74-77, 82, 95 Boecler, Johann Wolfgang (†1717), Pastor 188 Brecht, Bertolt (1898-1956), Dramatiker und Lyriker 243 Brunner, Otto (1898-1982), Historiker 20, 25f., 34, 72, 182, 191 Büchner, Karl Georg (1813–1837), deutscher Schriftsteller 243 Buffon, Georges-Louis Leclerc, Comte de (1707-1788), Naturforscher und Autor 202 Campe, Johann Heinrich (1746-1818), Pädagoge, Schriftsteller und Theologe 62, 292, 300

Cramer, Daniel (1568-1637), deutscher lutherischer Theologe, Chronist und Autor 279, 282ff., 286 Dacier, Anne (1654-1720), französische Übersetzerin und Schriftstellerin 60 Daumier, Honoré (1808-1879), Zeichner und Karikaturist 294 Dommerich, Johann Christoph (1723-1767), ab 1749 Rektor der herzoglichen Schule zu Wolfenbüttel 265 Eckhart, Johann Gottlieb von (1735-1809) 193 Ehlers, Martin (1732-1800), Reformpädagoge, Professor in Kiel 227 Engel, Johann Jacob (1741-1802), Schriftsteller und Philosoph 222 Fénelon, Francois (1651-1715), Geistlicher und Schriftsteller 59 Fichte, Johann Gottlieb (1762-1814), Philosoph 290 Fischer, Johann Bernhard von (1685-1772), Dichter und Essayist, Arzt in Riga und St. Peterburg 188-191 Florinus, Franz Philipp (1649-1699), evangelischer Theologe und Autor 184, 192 Fontane, Theodor (1819-1898), Schriftsteller 84f.

322 Francke, August Hermann (1663-1727), evangelischer Theologe und Pädagoge 58ff. Freytag, Gustav (1816-1895), Schriftsteller 84 Fürstenberg, Carl (1850-1933), Bankier 94f. Germershausen, Christian Friedrich (1725-1810), Schriftsteller und Pfarrer 192 Goethe, Johann Wolfgang von (1749-1832), Dichter 87, 243, 246ff., 261, 296, 322 Gottsched, Johann Christoph (1700-1766), Schriftsteller, Dramaturg, Literaturtheoretiker 60f., 265 Greflinger, Georg (1618-1677), Dichter und Schriftsteller 269 Gubert, Salomon (– bis 1653), Pastor von Lemburg und Sunzel 186f., 190, 194 Guibert, Jacques-Antoine Hippolyte de (1743-1790), General 249ff. Hackländer, Friedrich Wilhelm (1816-1877), Schriftsteller 84 Hamann, Johann Georg (1730-1788), Philosoph und Schriftsteller 60 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1770-1831), Philosoph 77 Hein, Christoph (geb. 1944), Schriftsteller 243 Heinse, Wilhelm (1746-1803), Schriftsteller und Gelehrter 291f. Herder, Johann Gottfried (1744-1803), Dichter, Kulturphilosoph und Theologe 243, 247f., 251, 261, 305f. Hippel, Theodor Heinrich von (1741-1796), deutscher Schriftsteller und Philosoph 62, 292

Personenregister

Hohberg, Wolff Helmhard Freiherr von (1612-1688), Schriftsteller 184, 187, 193f. Holst, Amalie (1758-1829), Pädagogin 62, 293 Holyk, Georg (1665-1700), Prediger, Schulmeister in Riga 194 Huber, Therese (1764-1829), Schriftstellerin 6, 24, 289, 295318 Hunold, Christian Friedrich (1680-1721), Pseudonym Menantes, Schriftsteller 267 Hupel, August Wilhelm (1737-1819), Pastor und Schriftsteller 190f., 208, 251 Neidenburg, Johann Hermann von (1639-??) 187ff. Joseph II. von Habsburg (1741-1790), Erzherzog von Österreich (1780-1790), Kaiser des Hlg. Röm. Reiches (1765-1790) 147f. Kafka, Franz (1883-1924), Schriftsteller 71f, 84 Karl XI. (1655-1697), König von Schweden (1660-1697)194 Kaufmann, Christoph (1753-1795), Arzt, Abenteurer, Bauer, Schriftsteller 247 Kettler, Gotthard (1517-1587), Herzog von Kurland 186 Kindermann, Balthasar (1636-1706), deutscher Dichter 267 Kipphardt, Heinar (1922-1982), Schriftsteller und Dramaturg 243 Klinger, Friedrich Maximilian (1752-1831), Schriftsteller 243, 247f. Kotzebue, August von (1761-1819), Dramatiker und Schriftsteller 199

Personenregister

Lange, Dorothea (1895-1965), Dokumentarfotografin, USA 278 Lange, Samuel Gotthold (1711-1781), Dichter und Pietist 277f., 286 Lavater, Johann Caspar (1741– 1801), Pfarrer, Philosoph und Schriftsteller 247 Lenz, Jakob Michael Reinhold (1751-1792), Schriftsteller 6, 22, 243-262, 324 Leporin, Dorothea Christiane (1715-1762), erste promovierte Ärztin in Deutschland 61 Levin, Rahel (1771-1833), Aufklärerin, Salonière 289f., 292, 300, 317 Lévi-Strauss, Claude (*1908) Sozialanthropologe 5, 71-81, 83f., 86, 95f. Lilienfeld, Jakob Heinrich von (1716-1785), Schriftsteller 199, 251 Maine, Henry Sumner (1822-1888), Anthropologe und Rechtshistoriker 76 Mann, Thomas (1875-1955), Schriftsteller 84f. Menius, Justus (1499-1558), Theologe und Reformator 192 Meyer, Karoline (1777-1860), Juristentochter, Verh. mit Jean Paul 289 Mila, Philipp Wilhelm (1764-1833), Historiker und Jurist 276f. Moller, Gertraud (1641-1705), Dichterin 60 Morgan, Lewis Henry (1818-1881), Anthropologe 73 Mühsam, Erich (1878-1934), politischer Aktivist und Schriftsteller 85

323 Müller, Marcus Wilhelm (17541785), Philologe, Subrektor des Altonaer Gymnasiums 227, 229-233 Münchhausen, Otto von (1716-1774), Schriftsteller, Landdrost im Kgr. Hannover, Agrartheoretiker 192 Opitz, Martin (1597-1639), Dichter und Literaturtheoretiker 264 Pasch, Johannes (gest. 1709), Professor der Philosophie in Rostock und Greifswald 58 Paul I. (Russland) (1754-1801), Zar von Russland (1796-1801), Herzog von Holstein-Gottorf (1762-1773)198 Paul, Jean (Johann Paul Friedrich Richter) (1763-1825), Schriftsteller 289f., 292, 300, 316 Paullini, Christian Franz (1643-1712), Universalgelehrter und Schriftsteller 55 Pestalozzi, Johann Heinrich (1746-1827), Pädagoge, Philosoph 62, 315 Petri, Johann Christoph (1762-1851), Schriftsteller 203 Pyra, Immanuel (1715-1744), deutscher Dichter 277f., 286 Rantzau, Amoene zu (1732–1802), Erbherrin der Herrschaft Breitenburg, verh. mit Friedrich zu Rantzau 215, 219, 221, 234240 Rantzau, Friedrich (1729-1806), Reichsgraf zu Rantzau auf Breitenburg 215-241 Rantzau, Heinrich (1526-1598), Statthalter des dänischen Königs für den königlichen Anteil Schleswig-Holsteins (1556-1598) 216

324 Restif de la Bretonne, Nicolas Édmé (1734-1806), Romancier 251 Riehl, Wilhelm Heinrich (1823-1897), Kulturhistoriker und Novellist 20, 26, 34, 71f., 75ff., 80, 182, 191 Rochow, Friedrich Eberhard von (1734-1805), Pädagoge 222 Rousseau, Jean Jacques (1712-1778), Schriftsteller, Philosoph 62, 202, 250, 253ff., 260ff., 274, 279, 283f., 286, 305f. Schiller, Friedrich von (1759-1805), Dichter, Philosoph und Historiker 87, 296 Schimmelmann, Heinrich Carl von (1724-1782), Hamburger Kaufmann, Gut Ahrensburg 216 Schleiermacher, Friedrich Daniel (1768-1834), protestantischer Theologe, Philosoph und Pädagoge 62 Schlözer, Dorothea (1770-1825), Doktorin der Philosophie 61 Schultz-Bertram, Georg Julius (1808-1875), Dichter und Schriftsteller 204 Schurmann, Anna Maria van (1607-1678), Philosophin und Polyhistorikerin 60 Stahl, Heinrich (1600-1657), deutsch-estnischer Kirchenhistoriker 195 Stopius, Zacharias (†1594), Arzt, Schriftsteller und Politiker in Livland 185f., 191, 194 Thiel, Matthias (1785-1843), Schriftsteller 198f. Thomasius, Christian (1655-1728), Jurist und Philosoph 58

Personenregister

Thomasius, Jakob (1622-1684), Philologe, Philosoph, Lehrer von Leibniz, Vater von Christian Thomasius 58 Wallich, Paul (1882-1938), Sohn von Hermann Wallich, deutscher Bankier 87-96 Wallich, Hermann (1833-1928), Bankier 87-96 Weber, Karl Julius (1767-1832), Schriftsteller 293, 300 Wilde, Peter Ernst (1732-1785), Physiker 180 Wilhelm von Brandenburg (1498-1563), Erzbischof der Hansestadt Riga 185 Wittram, Reinhard (1902-1973), Historiker 182f. Wobeser, Wilhelmine Karoline von (1769-1807), Schriftstellerin 297 Wolff, Christian (1679-1754), Philosoph und Mathematiker 274, 286 Wollstonecraft, Mary (1759-1797), Schriftstellerin 62 Zäunemann, Sidonia Hedwig (1714-1740), Dichterin 61 Zedler, Johann Heinrich (1706-1751), Buchhändler, Verleger und Enzyklopädist 16, 20, 96, 283 Ziegler, Christiana Mariana von (1695-1760), Schriftstellerin 61