Edition und Engagement: Band 1 Darstellung [Reprint 2018 ed.] 9783110865400, 9783110059786


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German Pages 342 [352] Year 1979

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Inhalt
Einleitung Edition und Engagement
1. Kapitel Kleist in der literarischen Öffentlichkeit der Jahre 1811 bis 1821 Erste Editionsversuche
2. Kapitel Plädoyer für den Dichter des Prinz Friedrich von Homburg Ludwig Tiecks Kleist-Ausgaben von 1821 und 1826
3. Kapitel Erste Biographie und Brief-Edition Eduard von Bülow
4. Kapitel Kleist als Demonstrationsobjekt eines Altphilologen Theodor Gomperz
5. Kapitel Revision und Neuansatz Julian Schmidts Kleist-Ausgabe und Reinhold Köhlers Textkritik
6. Kapitel Anfänge einer positivistischen Literaturbetrachtung August Koberstein und die Briefe Kleists an Ulrike
7. Kapitel Editorische Nachlese Rudolf Köpkes Edition der Politischen Schriften
8. Kapitel Kleist im Klassiker-Programm der großen Verlage Von 1867 bis zu Th. Zollings historischkritischer Ausgabe
9. Kapitel Wissenschaftsideal und Verlegerwirklichkeit Erich Schmidts Kämpfe um eine definitive Kleist-Ausgabe
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Edition und Engagement: Band 1 Darstellung [Reprint 2018 ed.]
 9783110865400, 9783110059786

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Klaus Kanzog Edition und Engagement Band 1

Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker Begründet von

Bernhard Ten Brink und Wilhelm Scherer Neue Folge Herausgegeben von

Stefan Sonderegger 74 (198)

W G DE

Walter de Gruyter • Berlin • New York 1979

Edition und Engagement 150 Jahre Editionsgeschichte der Werke und Briefe Heinrich von Kleists Band 1: Darstellung von

Klaus Kanzog

W DE G Walter de Gruyter • Berlin • N e w York 1979

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

CIP-Kurztitelaufnahme

der Deutschen

Bibliothek

Kanzog, Klaus: Edition und Engagement : 150 Jahre Editionsgeschichte d. Werke u. Briefe Heinrich von Kleists / von Klaus Kanzog. - Berlin, N e w York : de Gruyter. Bd. 1. Darstellung. - 1979. (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker : N . F. ; 74 = 198) ISBN 3-11-005978-9

© 1979 by Walter der Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung • J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung • Georg Reimer • Karl J. Trübner • Veit & Comp., Berlin 30 • Alle Rechte, insbesondere das der Ubersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Weg (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen. Satz und Druck: Hofmann-Druck KG, Augsburg Buchbindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Berlin Printed in Germany

Im Gedenken an meine Frau Eva Kanzog (1927-1971) und meinen Lehrer Wilhelm Wissmann (1899-1967)

Inhalt

Einleitung Edition und Engagement

1

1. Kapitel Kleist in der literarischen Öffentlichkeit der Jahre 1811 bis 1821 Erste Editionsversuche

28

2. Kapitel Plädoyer für den Dichter des Prinz Friedrich von Homburg Ludwig Tiecks Kleist-Ausgaben von 1821 und 1826

74

3. Kapitel Erste Biographie und Brief-Edition Eduard von Bülow

133

4. Kapitel Kleist als Demonstrationsobjekt eines Altphilologen Theodor Gomperz

162

5. Kapitel Revision und Neuansatz Julian Schmidts Kleist-Ausgabe und Reinhold Köhlers Textkritik

176

6. Kapitel Anfänge einer positivistischen Literaturbetrachtung August Koberstein und die Briefe Kleists an Ulrike

204

7. Kapitel Editorische Nachlese Rudolf Köpkes Edition der Politischen Schriften

220

8. Kapitel Kleist im Klassiker-Programm der großen Verlage Von 1867 bis zu Theophil Zollings historisch-kritischer Ausgabe

242

9. Kapitel Wissenschaftsideal und Verlegerwirklichkeit Erich Schmidts Kämpfe um eine definitive Kleist-Ausgabe

278

Register

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Einleitung Edition und Engagement

1 In der vorliegenden Arbeit wird der Versuch unternommen, Editionsauffassungen und editorische Verfahrensweisen an einigen Ausgaben der Werke und Briefe Heinrich von Kleists aufzuzeigen. Im Mittelpunkt stehen der Entwicklungsprozeß des heute weitgehend gesicherten Textkanons sowie die exemplarische Beschreibung und Interpretation der maßgebenden Editionsfaktoren. Eine Beschränkung auf rein wissenschaftsgeschichtliche Fragestellungen ist damit nicht beabsichtigt. Wer Forschungsgegenstand und Forschungsmethoden als historische Phänomene begreift, muß seinen Blick notwendigerweise auf die Wechselwirkung von Geschichtlichem und Gegenwärtigem richten. Dies gilt auch für die moderne Edition, die ohne die Fortschritte und Rückschläge, die Erkenntnisse und Irrtümer früherer Editoren undenkbar ist und die zugleich in den Grenzen ihrer eigenen Möglichkeiten gesehen werden muß. Der Glaube an die Endgültigkeit philologischer Arbeit und die ,Zeitlosigkeit' historisch-kritischer Editionen ist längst geschwunden, und im gleichen Maße, wie der Herausgeber heute wissenschaftsgeschichtliche Aspekte in seine Überlegungen einbezieht, reflektiert er den eigenen Standort. Die folgenden Kapitel umfassen daher sowohl die Vorgeschichte zur geplanten historisch-kritischen Ausgabe der Werke und Briefe Kleists als auch eine Typologie editorischer Phänomene; sie suchen Sachverhalte zu beschreiben und wollen zum Selbstverständnis des Edierens beitragen. Kleists Werke eignen sich für die genetische und phänomenologische Betrachtung in besonderer Weise. Kleist hinterließ weder gesammelte Werke, ,letzter Hand', noch Verfügungen über sein literarisches Erbe; auch einen geschlossenen ,Nachlaß' hat es nie gegeben. So ist die Geschichte der Handschriften- und Textentdeckungen abenteuerlich genug, um das Zufallsmoment der literarischen Überlieferung ins Licht zu rücken und den Wandel ästhetischer Auffassungen nachzuzeichnen. Die Kleist-Editionen sind zudem mit den Namen bedeutender Literarhistoriker verbunden, die als Repräsentanten der verschiedensten Richtungen angesehen werden können. Es ist zu zeigen, wie jeweils vorgeprägte KleistBilder und bestimmte publizistische Absichten die Gestalt der einzelnen Ausgaben beeinflußt haben und wie erst die zunehmend verfeinerte Editionstechnik den authentischen Text erschloß. Die gesellschaftlichen Bedingungen der einzelnen Editionsunternehmungen, die oft unterschiedlichen Vorstellungen der Herausge-

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Edition und Engagement

ber und ihrer Verleger vom ,idealen Leser', bzw. potentiellen Käufer, und der Wandel von der offiziellen Ablehnung zur propagandistischen Verherrlichung treten bei Kleist wesentlich stärker hervor als etwa bei Schiller, Hölderlin oder Büchner. In der .positivistischen' Beurteilung spezifischer Textprobleme ist Kleist noch immer ein Prüfstein der deutschen Philologie.

2 Gegenstand der Editionsgeschichte ist ein ,Klassiker', der von den Kunstrichtern wie vom breiten Publikum erst nach erheblichen Widerständen akzeptiert wurde und dessen Werke sich nur langsam in das ,Klassiker'-Schema einfügten. Es geht um die Frage nach der temporären Gültigkeit ästhetischer Normen und um bestimmte nationale Eigentümlichkeiten, die Kleist schließlich zum Maßstab literarischer Werturteile werden ließen. Nicht zufällig ist die Kleist-Adaption aufs engste mit der politischen Geschichte Preußens und dem Kampf um die deutsche Einheit verbunden. Bis zum Beginn unseres Jahrhunderts scheiden sich am Verweigern der Klassiker-Würde die Geister. Das Wort,Klassiker' wird für das KleistVerständnis zu einem Schlüsselbegriff. Goethe schrieb 1795, daß die Ausdrücke ,klassischer Autor' und ,klassisches Werk' nur „höchst selten" anzuwenden seien; er war überzeugt, daß „kein deutscher Autor sich selbst für classisch" 1 hielte. Als Gründe dafür nannte er die politische Zerstückelung Deutschlands und das Fehlen eines Mittelpunktes „gesellschaftlicher Lebensbildung". Er erklärte, daß man einen „vortrefflichen Nationalschriftsteller nur von der Nation fordern" könne, fügte aber hinzu: „Wir wollen die Umwälzungen nicht wünschen, die in Deutschland classische Werke vorbereiten könnten". Kleist, Jahrzehnte später neben Goethe und Schiller in einer veränderten politischen Wirklichkeit zum .Klassiker' erhoben, hätte Goethes Vorstellung vom „klassischen Nationalautor" schon zum Zeitpunkt der Freiheitskriege, zumindest in einigen Punkten, entsprochen. Doch auf Goethes Urteil über Kleist blieben nationale Erhebung und posthum erschienene Werke wie die Hermannsschlacht und der Prinz von Homburg ohne Einfluß. Im Jahre 1795 waren Goethes Maßstäbe „Klarheit und Anmut" des Stils; hier fand er die „Schriftsteller seiner Nation auf einer schönen Stufe" - Kleist aber, den er später hauptsächlich an der Penthesilea maß, sah er von einer „unheilbaren Krankheit ergriffen" 2 . - Stil und 1

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Goethe: Literarischer Sansculottismus (1795), in: Werke. Weimarer Ausgabe, Abt. 1, Bd. 40 (1901) S. 196-203. Vgl. zur Begriffsbestimmung des Wortes ,klassisch', zur literarischen Kanonbildung und zu den einzelnen Aspekten der .Klassizität' Ulrike Tontsch: Der .Klassiker' Fontane. Ein Rezeptionsprozeß (Bonn 1977; Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwiss. 217) S. 11-32. Goethe: Ludwig Tiecks Dramaturgische Blätter (1826), in: Werke. Weimarer Ausgabe, Abt. 1, Bd. 40, S. 178 (vgl. auch Sembdner, Nachruhm, N r . 274).

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nationale Bedeutung wurden in der Literaturkritik zu Antipoden, nachdem ein „jüngeres Dichtergeschlecht" herangewachsen war, das - wie Rudolf Köpke resümiert - „nicht mehr classisch, sondern vaterländisch sein wollte" 3 . Der Erfolg der Goethe-Ausgabe letzter Hand und die Inthronisation Schillers, durch die Jahrhundertfeier von 1859 eindrucksvoll zum Abschluß gebracht, sind in Deutschland Symptome für den Prozeß einer Neuorientierung, der die Gegensätze zwischen Weimarer Klassik und Romantik verringerte und zu einer Konfrontation mit der ,Moderne' führte. In dieser Zeit mangelnder politischer Repräsentanz fällt den ,Klassikern', im weiteren Sinne der Nationalliteratur die Aufgabe zu, das deutsche Nationalbewußtsein zu stärken; die vaterländischen' Werke Kleists brauchten nur ergriffen zu werden. - Zur gleichen Zeit vollzog sich auch in Frankreich eine Emanzipation von den im 18. Jahrhundert durchgesetzten Mustern. Richtungsweisend war die 1850 von Sainte-Beuve gegebene Definition 4 , die weniger politische Tendenzen und neue Kunstregeln als eine Bereicherung des menschlichen Geistes durch schöpferische Vorstöße in unerschlossene Gebiete der „passion éternelle" und „vérité morale" vor Augen hatte, aber im „saine et belle en soi" zur traditionellen Harmonie-Vorstellung zurückkehrte. Diese Bewegung hatte in Frankreich, das von allen Ländern Europas die in sich geschlossenste ,Klassik' aufweist, eine Erweiterung des Klassiker-Kanons zur Folge, in dem auch Kleist ein Jahrhundert später seinen Platz finden sollte, obgleich man noch bei André Gide liest: „je ne connais, depuis l'antiquité, d'autres classiques que ceux de France (si toutefois j'excepte Goethe, et encore il ne devenait classique que par imitation des anciens)" 5 . In Frankreich waren nicht nur die seit Madame de Staëls Reflexions sur le suicide verbreiteten psychologischen, sondern auch nationale Vorurteile zu überwinden. Ansätze dazu zeigen sich bei Saint-René Taillandier, der Kleist 1859 trotz einiger Vorbehalte mit Sympathie gegenübertritt und gerade vor dem Hintergrund des Krankheitsbildes die Schönheit und Vielfalt seiner künstlerischen Ausdrucksmittel lobt 6 . In Deutschland mußten zuerst die hartnäckigen Einwände gegen den als kraß empfundenen Stil abgebaut werden. So bestand noch längere Zeit ein Widerspruch zwischen der Anerkennung Kleists als .Klassiker' und der gerügten mangelnden .Klassizität' seiner Ausdrucksmittel. Im Jahre 1854 schreibt Theodor Gomperz: „Zu diesen Classikern rechnen wir Heinrich von Kleist, trotz der zahlreichen Verirrungen, die uns bei diesem außerordentlich begabten Dichter ins Auge sprin3 4

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6

Rudolf Köpke, in: Heinrich von Kleist's Politische Schriften. Berlin 1862, S. 3. C . - A . Sainte-Beuve: Causeries du Lundi. 3. éd. Tom. 3 (Paris 1858) p. 3 8 - 5 5 . Qu'est-ce qu'un classique? (21. Oct. 1850), bes. p. 42. André Gide: Du classicisme, in: Domaine français. Messages 1943 (Genève, Paris 1943) p. 2 5 7 - 2 6 1 , Zitat p. 259. Zu Gides Penthesilea-Auffassung im Journal 1942 vgl. Sembdner, Nachruhm, Nr. 629. Saint-René Taillandier: Henri de Kleist. - Sa vie et ses oeuvres, in : Revue des deux mondes. Ann. 29, 2. Per., T o m . 21 (Paris 1859) p. 6 0 4 - 640.

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gen" 7 . Solche normästhetischen Vorbehalte sind die Quelle einer jahrzehntelangen Konjekturalkritik. Der Anerkennungsprozeß tritt 1859 mit der Kleist-Ausgabe Julian Schmidts in ein entscheidendes Stadium, obgleich Schmidt Kleist nicht zu den „classischen Dichtern" rechnete7®. Er ist 1884 zum Zeitpunkt der Ausgabe Zollings - im wesentlichen abgeschlossen. Kleists literarischer Ruhm erreicht, wie Georg Lukäcs bemerkt, „den Gipfelpunkt in der imperialistischen Periode", d. h. in den Jahren 1900-1914. „ In dieser Zeit ist er, wenigstens in den literarisch gebildeten Kreisen, der populärste und der als besonders aktuell empfundene Klassiker" 8 . Doch wird der „Dramatiker Kleist" - entgegen der Auffassung von Lukäcs - nicht erst „bei den Faschisten" das „große gestalterische Gegenbild zum dramatischen Humanismus Goethes und Schillers". Vielmehr hat man schon früh versucht, den Gegensatz zwischen Kleist und Goethe durch ein stärkeres Bewußtmachen des „Vaterländischen" und „Volkstümlichen" zu radikalisieren. Diese Tendenzen zeigen sich am deutlichsten in der Argumentation Rudolf Köpkes aus dem Jahre 1862: Während die deutsche Dichtung der Weimarer Klassik „in Griechenland und R o m " , nicht aber „in Deutschland" lebte und „bestürzt schwieg, als das Verderben hereinbrach", oder „den fremden Gewalthaber als den Vollzieher des Weltgeschicks" wohl gar bewunderte und pries, wollte Kleist, aus dem „die Stimme des lang eingeschläferten Gewissens" sprach, „nichts als sein Deutschland" 9 . Kleist setzte der „ausgleichenden Classicität" Goethes und Schillers, ihren idealen Gestalten, dem Antiken und dem „classisch gebildeten Sinne" den „schreienden Zwiespalt", das „Grausige", „derb Realistische", „volkstümlich Deutsche", „Provinzielle", seine „Dissonanzen" und die „lebenswahre Grobheit" des eigenen Werkes entgegen. „Goethe's und Schillers Dichtung war in ihrer Wurzel deutsch, aber doch kosmopolitisch vielseitig; Kleist hat seine Räthsel in deutsche Stoffe und Charaktere hineingelegt, er war volkstümlich und einseitig. So griff er als vaterländischer Dichter in den großen Kampf der Befreiung ein" 1 0 . Köpke kann sich auf Kleists patriotische Schriften von 1809 und die vaterländischen Dramen berufen; er verschweigt, daß Kleist unmittelbar nach dem Zusammenbruch Preußens mit seinem Phöbus einen Weg eingeschlagen hatte, der in die Nähe des Weimarer ,Klassizismus' führte. Von Zeit zu Zeit flammte der Streit um die „deutschen" Klassiker erneut auf; immer wieder wurde dabei auch Kleist ins Feld geführt. Im Anschluß an einen

Emendationen zu den Werken von Heinrich von Kleists. In: Die Grenzboten Jg. 13, 2. Sem., Bd. 3 (1854) S. 394 7 a Vgl. die Einleitung Julian Schmidts zu seiner Kleistausgabe. Bd. 1, S. V I I I - I X . 8 Georg Lukäcs: Die Tragödie Heinrich von Kleists, in: Lukacs, Deutsche Realisten des 19. Jahrhunderts (Berlin 1952) S. 19 (geschrieben 1936). 9 Köpke, a.a.O. S. 2. 1 0 Köpke, a.a.O. S. 48/49. 7

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Vortrag Paul Heyses sprach Zolling 11 1894 sogar von einer „Klassikerdämmerung" und einer „kleinen, aber gefährlichen Revolution": „Jetzt wanken Goethe's Dramen. N u r Schiller ist noch der ehrwürdige Onkel der deutschen Nation". Heyse hatte - ausgerechnet auf der Generalversammlung der Goethe-Gesellschaft - die geringe Theaterwirkung der Dramen Goethes und den Mangel an psychologischer Entwicklung kritisiert. „Die Überraschung bestand darin, daß einer der conservativsten Gegner der modernen Zeitmenschen an einem der gestempeltsten Vollkommenheits- und Ewigkeitsmenschen auch Unvollkommenes und Vorübergehendes aufzuzeigen versuchte". Zolling, der Kleist als einen .Klassiker' und zugleich ,Modernen' verstand, sparte nicht mit Spott, denn: „das war's ja, was bisher den Radicalen immer in die Ohren gellte: daß die Klassiker nicht Objekte für Anlegung eines ästhetischen Maßstabes, sondern daß sie selber ästhetischer Maßstab für alle übrigen Meßobjekte, also etwas Ewiges seien". Am Goethe-Kult änderte diese Klassikerkritik wenig; zur gleichen Zeit blühte die 1885 ins Leben gerufene Weimarer Goethe-Ausgabe, das neben der Weimarer Luther-Ausgabe größte nationale Editionsunternehmen. Eine Annäherung der Standpunkte und eine bessere Differenzierung der Klassiker-Auffassungen wurde durch die Anlehnung an psychologische Typenlehren erreicht. Auch Zolling, der sich von „radikalinskischem Übermut" wie von „conservativer Philisterei" gleichermaßen freizuhalten versuchte, stand solchen Theorien nahe. Er referierte 1894 ausführlich über einen heute vergessenen Essay Ola Hanssons, in dem am Beispiel großer Namen der Weltliteratur „bestimmte Grundformen für dichterische Anlage und dichterische Bethätigung" analysiert und zwei Typen, die „vorbildlichen Persönlichkeiten" sowie die „Undisciplinirten und Undisciplinirbaren" unterschieden werden. Die „Dichter des Normalen und Zulässigen" und die „Suggestionirer des Unbewußten im Leser" erscheinen fast gleichberechtigt nebeneinander. Für Zolling hat Hansson damit „nicht nur an der Klassikerdämmerung mitgearbeitet, sondern auch einen positiven Ersatz geboten durch Erhellung der Gegenstücke". Neben dem Ausspielen der Gegensätze national und kosmopolitisch ist diese allmähliche Aufwertung der psychischen Disposition Kleists einer der folgenreichsten Vorgänge innerhalb der Wirkungsgeschichte. Kleist wird repräsentativ für den Typus des ,Nervösen' unter den Dichtern und damit ein .klassischer Fall', auch für die Psychoanalyse. Als J. Sadger jedoch die Ansicht vertrat, Kleist habe die Rolle des ihn unterdrückenden Vaters in die Gestalt Napoleons als Unterdrücker Europas hineinprojiziert, und den Verfechtern des Kleistschen Patriotismus bedeutete, dies erkläre seinen maßlosen H a ß „viel besser denn alle patriotische Gesinnung" 1 2 , traf er auf Unverständnis oder 11

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Theophil Zolling: Klassikerdämmerung, in: Die Gegenwart. Bd. 46, N r . 33 (18. August 1894) S. 103-105. J. Sadger: Heinrich von Kleist. Eine pathographisch-psychologische Studie (Wiesbaden 1909; Grenzfragen des Nerven- u. Seelenlebens 10) S. 55. Teilveröffentlichung zuerst in: Die Gegenwart. Bd. 52, Nr. 36 (4. September 1897) S. 149-153 u. Nr. 37(11. Sept.)S. 169-173.

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Ablehnung. Die meisten Literarhistoriker übernahmen lediglich einige neugewonnenen Züge der Genieauffassung und entwickelten daraus einen eigenen Mythos des Gefühls und der Schicksalhaftigkeit, zuletzt der ,tragischen' Dichtung. Mit der Ausgabe Erich Schmidts ist die Heiligsprechung des Klassikers Kleist endgültig vollzogen. So verkündet Erich Schmidt am Schluß seiner Biographischen Einleitung: „Die Werke Kleists stehen heut unbestritten, wiewohl bei ihrer eigensinnigen, konsequenten Rücksichtslosigkeit nicht in jedem Stück und nicht für jeden Beschauer alsbald zugänglich, im Ehrenschrein der deutschen Literatur" 13 . Inzwischen hatten die meisten Dramen die Bühne erobert, die Zahl der Schulausgaben war sprunghaft gestiegen und Reinhold Steigs Abhandlung über Kleists Berliner Kämpfe hatte - wenn auch bereits im Ansatz tendenziös patriotisch verzeichnet - ein Verständnis der historischen Zusammenhänge ermöglicht. Unter den Werken dominierte der Prinz von Homburg, zu allen Zeiten ein Gradmesser der Kleist-Wertung. Hauptanteil an der nationalen Inbesitznahme Kleists hatte das deutsche Bürgertum, insbesondere die Liberalen. Das Haus Hohenzollern, und mit ihm noch immer ein Teil des Adels, verhielt sich weiterhin reserviert, duldete aber die Verherrlichung Kleists, soweit sie ins ideologische Konzept paßte. Das Signal „In Staub mit allen Feinden Brandenburgs" wurde zum klassischen Zitat 14 und der Prinz von Homburg zum preußischen Paradestück; für zweckmäßige Korrekturen und Interpretationshilfen sorgten kommentierende Schulmänner. Schon vor dem Ersten Weltkrieg, als der Mißbrauch Kleists immer offensichtlicher wurde, meldeten sich Gegenstimmen. Im Jahre 1908 zog Alexander Dombrowsky gegen den „spießbürgerlichen Geist" in der Kleistforschung und die „literarhistorischen Philisterstreiche" zu Felde: „Wir haben bis zu einem gewissen Grade die Periode überwunden, in der jeder nicht ganz alltägliche Zug im Antlitz des Dichters als krankhaft empfunden und registriert wurde; dafür haben wir eine mit wilder Kritik verbundene Methode eingetauscht, die am Werke ist, den Deutschen einen Kleist aufzureden, als dessen wesentliche Züge sich herausstellen: stramm-preußische konservative Gesinnung, norddeutsche Religiosität, anständiges Verhalten in allen Lebenslagen und als Grundlage seines dichterischen Schaffens das vielberufene Gemüt" 1 5 . - Der Kampf um Kleist als Klassiker war in eine Verherrlichung umgeschlagen, die auch die Rolle des Literarhistorikers verändert

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ES I, 46*. Das Zitat in: Büchmann Geflügelte Worte erstmals in der von Adolf Langen bearb. Ausgabe (Berlin 1920). Alexander Dombrowsky, in: Sonntagsbeilage zur Vossischen Zeitung, Nr. 12, 22. März 1908, S. 93. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Ausführungen von Egidius Schmalzriedt (Inhumane Klassik. Vorlesungen wider ein Bildungsklischee. München 1971) und Wilfried Malsch (Die geistesgeschichtliche Legende der deutschen Klassik, in: Die Klassik-Legende. 2nd Wisconsin workship. Hrsg. v. Reinhold Grimm u. Jost Hermand. Frankfurt a. M. 1971, S. 108-140).

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hatte: an die Stelle des Anwalts für die gerechte Anerkennung des Dichters war fast unmerklich der Mitstreiter für die Glorifizierung Preußens getreten. Der im November 1911 erschienene Gedenkartikel Franz Mehrings enthält die erste umfassende Kritik aus materialistischer Sicht 16 . Mehring hebt zwar hervor, Kleist habe „das Altpreußentum in seiner Mischung von Brutalität und Stupidität in die Sphäre der Kunst zu erheben gewußt", bezeichnet es aber als „Kleists Tragödie", daß er „sich niemals dauernd über die niederen Regionen des altpreußischen Junkertums zu erheben vermochte". Gerade die patriotische Dichtung, die sich nach dem Krieg von 1870/71 so hoher Wertschätzung erfreute, wird scharf kritisiert: sie bewege sich „im dumpfen Banne historisch rückständiger Anschauungen", und auch Kleists politische Haltung gegenüber den Reformen des preußischen Staates könne kaum fortschrittlich genannt werden. Der Prinz von Homburg erscheint als das „hohe Lied der Subordination unter den königlichen Willen". Es überrascht nicht, daß Fedor von Zobeltitz im Rückblick auf die Augusttage des Jahres 1914 Kleists Ode Germania an ihre Kinder neben Lissauers Haßgesang gegen England stellte: „Im Nebeneinander der Geschehnisse bleibt zuweilen das Temperament das Entscheidende, und hinter das Anfeuernde und Hinreißende als Ausdruck von Empfinden, Ahnen, Hoffen, mag die große Kunst zurücktreten" 17 . Dagegen rechnete Paul Ernst 1916/17 mit dem deutschen Idealismus und seinen politischen Folgen, dem preußischen Staat seit 1830 ab und stellte das .Preußische' des Prinz von Homburg ebenso in Frage wie die Mustergültigkeit der tragischen Situation; unter dem Eindruck der Materialschlachten des Weltkriegs trat die Diskrepanz zwischen Kleist, der nach Ernst den „Zusammenbruch des deutschen Idealismus" bereits hinter sich hatte, und dem .Klassikergeschwätz', mit dem das „deutsche Machtstreben" 18 nur verdeckt werden sollte, kraß hervor. Ein endgültiges Urteil über Kleist wollte Paul Ernst damit nicht fällen; er zog nur die „letzte Schlußfolgerung aus unserer klassischen Zeit. Nach dem Friedensschluß können wir unter die preußische Episode der deutschen Geschichte einen Strich ziehen: Vielleicht wird dann auch Kleist eine andere Stelle bekommen, als er heute einnimmt". Trotz aller Aktualisierung waren Kleists Werke als Schullektüre nach wie vor umstritten, zumal sie hier mit Schiller in Konkurrenz treten mußten. Im Oktober 16

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Franz Mehring: Heinrich von Kleist. 17. Nov. 1911, zuerst in: Die Neue Zeit. Jg. 30 (1911/12), Bd. 1, S. 241-248, wiederholt in: Mehring, Aufsätze zur deutschen Literatur von Klopstock bis Weerth (Berlin 1961; Mehring: Gesammelte Schriften, Bd. 10) S. 314-324, Zitate, S. 322, 324, 321 und 322. Fedor von Zobeltitz: Germania an ihre Kinder. In: Vossische Zeitung, Nr. 239, 12. Mai 1919 (Abend-Ausgabe). Paul Ernst: Der Zusammenbruch des Deutschen Idealismus (1919), geschrieben 1916/17. Zitiert nach d. 5. u. 6. Tsd. (1941), S. 309-327: Der Prinz von Homburg. Zitate, S. 326, 317, 322 u. 321.

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1913 erörterte R. Schacht in den Grenzboten die Klassikerproblematik vom pädagogischen Standpunkt. Er sieht in Kleist vor allem den „Eideshelfer gegen eine in Akademismus erstarrte Kunst", doch hat er Bedenken, ihn gegen Schiller auszutauschen. Aus der Definition, daß der Klassiker „nicht erfinde", sondern „zu einer allgemein überzeugenden Form gestalte", sowie dem Hauptargument, erst die „abschließende Gestaltung und die Breite und Tiefe seiner Nachwirkung" sicherten den allgemeinen Erfolg, leitet Schacht die Auffassung ab, „daß man Kleist beim besten Willen nicht zum Klassiker machen" könne: „Er ist ein Eigenbrödler. Das spricht nicht gegen seine dichterische Größe, wohl aber gegen seine Bedeutung für uns'' 19 . Ähnlich hat Friedrich Gundolf 1922 in Kleist die „vielleicht großartigste Verkörperung der deutschen Eigenbrödelei" 20 gesehen. Als Schullektüre will Schacht nur Michael Kohlhaas und zwar allein im Hinblick auf seine „typische Bedeutung für werdende Männer" gelten lassen; der Prinz von Homburg wird wegen mangelnder Vorbildlichkeit verworfen. Kleist fehle „jene krönende, weittragende Bedeutung in der Entwicklung unseres Geisteslebens, um deretwillen wir die Klassiker lesen lassen". Nach dem Ersten Weltkrieg ist Kleist in vieler Hinsicht wieder der Zeitgemäße'. So erklärt Julius Petersen in einem Vortrag vor der am 4. März 1920 gegründeten Kleist-Gesellschaft: „ E r ist der Modernste unserer Klassiker, und ich könnte ihn als den Klassiker des Expressionismus bezeichnen, wenn es mir nicht widerstrebte, Ewiges mit einem ephemeren Modewort in Verbindung zu setzen" 2 1 . Es war u.a. das Ziel dieser Kleist-Gesellschaft, „für die Vertiefung der Volkstümlichkeit seiner Werke einzutreten" und die durch Kleist „beflügelte vaterländische Gesinnung zu fördern" 2 2 ; der im Februar 1922 veröffentlichte Aufruf, unterzeichnet von Kleistforschern und zahlreichen Vertretern des öffentlichen Lebens, schließt mit dem Kernspruch: „Zu Kleist stehen heißt deutsch sein!" In gleicher Weise hatte sich bereits Hermann Gilow in einem Vortrag über den Prinz von Homburg vor der Berliner Gesellschaft für deutsche Philologie geäußert: „ E r wird uns zum Klassiker auch der Gesinnung" 2 3 . Parallel zu dieser Mythisierung Kleists vollzog sich die Heroisierung Goethes zum „einzigen Gesamtmenschen" und zum „ersten Gestalter der Deutschen". Friedrich Gundolf, der 1921 im Essay Dichter und Helden die Notwendigkeit solcher Kulte begründete, sah es geradezu als eine „Pflicht jeder lebendigen Bewegung" an, „in ihre Gegenwart hinein, die

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R. Schacht: Kleist ein Klassiker? In: Die Grenzboten Jg. 72, Bd. 4, Nr. 42 (15. Oktober 1913) S. 116-121. Friedrich Gundolf: Heinrich von Kleist (Berlin 1922) S. 7. Julius Petersen: Kleists dramatische Kunst. Vortrag vom 22. Oktober 1921. - In: Jahrbuch der Kleist-Ges. 1921, S. 2. Aufruf. - In: Jahrbuch der Kleist-Ges. 1921, S. 2. Hermann Gilow: Heinrich von Kleists Prinz Friedrich von Homburg 1821-1921. Ein geschichtlicher Rückblick. - I n : Jahrbuch der Kleist-Ges. 1921, S. 24 (die Worte „Klassiker auch der Gesinnung" sind gesperrt gedruckt).

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Heroen wachzuhalten" und lehrte: „Die Verehrung der großen Menschen ist entweder religiös oder sie ist wertlos" 2 4 . Die Ausbeutung Kleists im Sinne völkischer und rassischer Ideologien lag nahe. „Für die Kleist-Gesellschaft mit ihren Aufgaben", schrieb Minde-Pouet im März 1935, „schien es eine Selbstverständlichkeit, sich in den Bildungsorganismus des nationalsozialistischen Staates einzuordnen und mitzuarbeiten, das deutsche Volk im Feuer heiliger nationaler Erkenntnis zusammenzuschweißen und eine neue Blüte des deutschen Kulturlebens als höchsten Ausdruck deutscher Wesensart zu fördern. Denn gerade Kleist hat in seiner menschlichen und dichterischen Entwicklung die Erhöhung des persönlichen Daseins zur überpersönlichen völkischen Lebenshaltung, die Verschmelzung von Individuum und Gemeinschaft dem deutschen Volke vorgelebt" 2 5 . Minde-Pouet griff im übrigen auf die bereits im Aufruf von 1922 formulierten Anschauungen der Kleist-Gesellschaft zurück und verband sie mit den gewünschten Schlagworten der ,neuen Zeit': „Kleist ist der Ausdruck für die Entwicklung aus dem kosmopolitisch-humanen in das politisch-nationale Zeitalter", in Kleist „ist der reine Germane wieder erschienen, dessen ganzes Wesen heroischer Wille ist", und „die Stimme des Blutes gibt mehr und mehr den Grundakkord seiner leidenschaftlichen Dichtungen". Die Erklärung Minde-Pouets, Kleist sei zum „Klassiker des nationalsozialistischen Deutschland geworden", zieht die Konsequenz aus dieser Haltung. Das Werk Kleists, einst getragen vom deutschen Liberalismus und in glücklichen Augenblicken zu wahrer Volkstümlichkeit gelangt, war nunmehr der Falschmünzerei ausgesetzt. Der Zusammenbruch des Dritten Reiches führte zu einem Mißtrauen gegenüber Kleists Werken, aber auch zur Besinnung auf das „Vermächtnis der deutschen Klassiker". Reinhard Buchwald schrieb schon 1944, es käme auf den Versuch an, eine „Art Katechismus des klassischen Lebensglaubens und der klassischen Sittengebote aufzustellen". E r berief sich auf Goethes Urteil: „Das Klassische ist das

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Friedrich Gundolf: Dichter und Helden (Heidelberg 1921) S. 42, 24 u. 27. - Dadurch wird Kleist bei Gundolf wieder zum Antipoden Goethes. In seiner Antwort auf den von Harry Maync (Rektoratsrede 1927) erhobenen Vorwurf, Gundolfs Kleist-Bild zeige „vorgefaßte Einstellung", schreibt Gundolf am 11. Januar 1927 an Maync: „Mein Urteil über Kleist, wenn es schon der gegenwärtigen Kleistschwärmerei widerspricht, ist mir von Kind an natürlich und es ist überdies das Normalurteil dreier Generationen gewesen (das werden spätere Jahrhunderte entscheiden) doch keineswegs kokett, absichtlich unbillig und bewußt übertrieben. Ich wehre mich nur dagegen, den jeweils .neuesten Stand der Forschung', der oft nur eine flüchtige Literaturmode darstellt (wie z.B. die derzeitige Barock-Vergötzung) m i t , d e r Wissenschaft' gleichzustellen" (Briefe. N . F . Hrsg. v. Lothar Helbing u. Claus Victor Bock, Amsterdam 1965, S. 222).

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Georg Minde-Pouet: Die Kleist-Gesellschaft. - In: Deutscher Kulturwart Jg. 2 (1935), März-April-Heft, S. 9 0 - 9 3 . Vgl. zur Vorgeschichte dieser „politischen Indienstnahme des Kleistschen Werkes" Rolf Busch: Imperialistische und faschistische Kleist-Rezeption 1 8 9 0 - 1 9 4 5 . Frankfurt a. M. 1974.

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Gesunde" 26 , doch sah er Kleist nicht als absoluten Gegensatz, sondern erklärte: „Ja wir werden nicht einmal - was Goethe aus seiner geistigen Haltung heraus tun durfte - jenen tragischen Willen Kleists ausschließen, der in der Penthesilea gipfelt" 27 . Nach dem Bankrott der völkischen Literaturwissenschaft galt auch für Kleist, was ein Rundfunkkommentator 1951 einem seiner Hörer antwortete: „Gerade der ,klassische' Autor muß heute mehr denn je sich durch die übernationale Zugänglichkeit und Wirkungsmöglichkeit als ,Klassiker' ausweisen" 28 . Von den französischen Aufführungen des Prinz von Homburg und der Penthesilea ging dann in den 50er Jahren eine „Repatriierung" Kleists 29 aus, die die Oberzeitlichkeit seines Werkes bestätigte. Vergessen war der „Hobereau prussien", wiederentdeckt die „Dimension des Tragischen", und in den Konflikten zwischen Individuum und Gesellschaft wurden die Widersprüche auch der modernen Welt erkannt. Zur gleichen Zeit kam die Inszenierung des Zerbrochnen Krugs durch das Berliner Ensemble „nahezu einer Urbarmachung frisch entdeckten Bodens gleich" 30 . Man sah die gesellschaftskritischen Aspekte des Stückes und fand in seinem,Realismus' Auffassungen der materialistischen Literaturkritik bestätigt. Doch leitete diese Phase in der Rezeptionsgeschichte keine neue Kanonisierung Kleists ein. Während Heinz Politzer 1967 schrieb, Kleist sei „auf dem Wege, in europäischem Maßstab ein Dichter des gegenwärtigen Theaters zu werden" 31 , verbreitete sich zugleich die Ansicht, daß es „keine Schonzeit für Klassiker" gebe. Brecht hatte bereits Ende der 20er Jahre auf dem Höhepunkt der ersten großen ,Klassiker-Krise', die Formulierung vom „Materialwert der Klassiker" geprägt32 und in der Maßnahme wie auch in der Heiligen Johanna der Schlachthöfe eine solche ,Verwertung' Kleists demonstriert 33 . Ihm 26

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Goethe: Maximen und Reflexionen, in: Sämtliche Werke. Hrsg. v. Eduard von der Hellen (Jubiläumsausgabe). Bd. 38, S. 283. Reinhard Buchwald: Das Vermächtnis der deutschen Klassiker (Leipzig 1944, danach unveränd. Neuafl. Wiesbaden 1946). S. 19 und 190. Josef Sellmair: Klassiker und Moderne. Antwort an meinen Hörer Fritz Paepke, in: Dt. Rundschau 77, H. 4 (April 1951) S. 3 2 5 - 3 3 2 . Vgl. Hansres Jacobi: Frankreich entdeckt Kleist, in: Neue Züricher Zeitung v. 16. Nov. 1954 (auch in: Antares 4, 1955, Nr. 7, S. 5 7 - 6 0 ) ; Hanns Braun: Repatriierter Kleist. Zu Jean Vilars Deutschlandtournee, in: Rhein. Merkur v. 3. Okt. 1952; Claude David in: Kleist und Frankreich. Berlin 1969, S. 26. Hans Ulrich Eylau: Neues Licht auf Kleist, in: Berliner Zeitung Jg. 8, Nr. 25 v. 30. Jan. 1952. Heinz Politzer, in: Euphorion 61 (1967) S. 383. Gespräch über Klassiker (mit Herbert Jhering), in: Bertolt Brecht, Uber Klassiker. Ausgew. v. Siegfried Unseld. Frankfurt a. M. 1965, S. 8 8 - 9 7 , Zitat S. 91. So hat Brecht in der Maßnahme Situationsfunktionen des Prinz von Homburg auf das Verhältnis des jungen Genossen zur Partei übertragen und in der 10. Szene der Heiligen Johanna das Formmuster des Katechismus der Deutschen nachgebildet. In seinen Schriften zum Theater (Bd. 7, S. 350) findet sich die auch später vertretene Meinung: „Die Kunstmittel Kleists, Goethes, Schillers müssen heute studiert werden, sie reichen aber nicht mehr aus, wenn wir das Neue darstellen wollen".

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ging es darum, „die Klassiker noch einmal nutzbar zu machen", er sah aber diesen „Vorstoß zum Materialwert" durch den „Besitzfimmel" der ,ßildungs'-Hüter und deren Furcht, „daß die Klassiker vernichtet werden sollten", verhindert. „Hochmut" und „Besitzorgiasmus" 3 4 sind gewichen, und die Idee der Materialverwertung hat - am sichtbarsten in den Filmen von George Moorse, Volker Schlöndorff, Hans-Jürgen Syberberg, Eric Romer, Helma Sanders und Jonathan B r i e l - Schule gemacht. Geblieben ist die Erfahrung, daß die,Klassizität' Kleists in seiner Kenntnis der Condition humaine zu suchen ist und daß es - nach einer Formulierung Siegfried Melchingers - darauf ankommt, jenen „archimedischen Punkt" zu finden, von dem aus eine Vermittlung der im Werk enthaltenen Wahrheit möglich wird 3 5 .

3 Äußeres Zeichen des anerkannten ,Klassikers' ist die repräsentative Gesamtausgabe. Goethe hat seit 1786 mehrfach in Schriften und Werken, d i e e r z . T . durch Aufnahme noch unveröffentlichter Texte zusätzlich interessant zu machen wußte, über sein Lebenswerk Rückschau gehalten und in der Nachfolge der Wieland- und Schiller-Ausgaben mit der „Ausgabe letzter Hand" jenen Gesamtausgaben-Kult gefördert, der bis auf den heutigen Tag gepflegt wird. Der Rezensent der zweiten bei Cotta erschienenen Ausgabe von Goethes Werken schreibt am 26. April 1816, als Tieck gerade erst versucht, Reimer für eine Ausgabe der Werke Kleists zu gewinnen, im Morgenblatt für gebildete Stände, Goethe genieße schon lange Jahre das Glück, „daß die Nation an seinen Arbeiten nicht nur freundlich Theil nimmt, sondern daß auch mancher Leser, den Schriftsteller in den Schriften aufsuchend, die stufenweise Entwicklung seiner geistigen Bildung zu entdecken bemüht ist" 3 6 . Er bezeichnet damit ein spezifisch biographisches, auf Bildungs werte ausgerichtetes Erkenntnisinteresse des Lesers, das heute nicht mehr in gleichem Maße vorausgesetzt werden kann. In der Praxis stößt der Versuch, eine „stufenweise Entwicklung" sichtbar zu machen, sowohl auf das Dogma der gattungsästhetischen Ordnung 3 7 als auch auf den Wunsch nach möglichst vollständiger und dekorativer Darbietung. Unabhängig von der philologischen Diskussion über das Problem,

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Formulierungen Herbert Jherings, in: Brecht, Gespräch über Klassiker, a . a . O . , S. 91. Siegfried Melchinger: Die Gegenwart der Klassiker. Stuttgart 1969 (=Jahresgabe d. Goethe-Ges. Stuttgart) S. 2 1 - 2 2 . Waltraud Hagen: Quellen und Zeugnisse zur Druckgeschichte von Goethes Werken. Bd. 1. Berlin 1966 (Werke Goethes, Akademie-Ausg., Erg.-Bd. 2, 1) S. 526. Vgl. hierzu: Klaus Briegleb, Die Gattungsästhetik. Ein Dogma? Zur Übersichtlichkeit unserer Klassiker, in: hanser-bulletin 3 (1968).

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wie weit das Gesamtwerk eines Dichters noch als Corpus vom Typ der Sämtlichen Werke aufgefaßt und ediert werden kann 3 8 , interessiert die Frage, welche Momente den Wert einer Klassiker-Ausgabe wirklich bestimmen. Die tUnterlassenen Schriften Kleists erfüllten 1821 ein Gebot der Pietät und weckten ein gewisses Interesse für Kleist, das von Reimer 1826 mit den Gesammelten Schriften buchhändlerisch genutzt wurde. Die zwanzig Jahre später auf den Markt geworfenen Ausgewählten Schriften lassen dagegen ein rückläufiges Interesse vermuten; neben den Erzählungen wurden allein der Prinz von Homburg, der Zerhrochne Krug und das Käthchen von Heilbronn, also Werke geboten, die in der literarischen Öffentlichkeit Resonanz gefunden hatten. Julian Schmidt versuchte danach, durch gezielte Klassiker-Propaganda „das Verhältnis des Privatmanns zu der Literatur seiner Nation" zu bessern und ihn anzuregen, seine Wohnung mit geschmackvollen literarischen Wertobjekten auszustatten 39 . Seiner Kleist-Ausgabe folgte nach der Aufhebung der Klassiker-Privilegien im Jahre 1867 eine machtvoll einsetzende Textindustrialisierung, die sich den an Symbolwerte gebundenen Warencharakter des,Klassikers' zunutze machte. Es traten zwei für den Verleger ausschlaggebende Faktoren in Erscheinung: das allmähliche Entstehen eines Kleist-Mythos, der ein komplexhaftes Auffassen des Gesamtwerkes bewirkte, und die Anziehungskraft einzelner Werke, die den Assoziations- und Kristallisationspunkt dieses Prozesses bildeten. Von Anfang an aber wurden immer wieder außerhalb der Dichtung liegende Gesichtspunkte an Kleist herangetragen. So ist bekannt, wie wenig man sich in der Frühzeit für die Intentionen des Dichters interessiert hat. Der Zerbrochne Krug war für das Publikum nur „in zwei oder drei Akte geteilt" denkbar 40 . Goethe, der das „Talent des Verfassers" rühmte, „wie er es denn selbst in dieser stationären Prozeßform auf das wunderbarste manifestiert hat" 4 1 , vermißte dennoch die „rasch durchgeführte Handlung" 4 2 und gab den Formerwartungen des Publikums nach. Die Familie Schroffenstein und Das Käthchen von Heilbronn wurden in die Ritter- und Schauerromantik des kommerziellen Theaters einbezogen; Henriette Hendel-Schütz glaubte, die Penthesilea nach bewährtem Muster pantomimisch bewältigen zu können; der Prinz von Homburg stieß auf Ablehnung, weil er Normvorstellungen vom Idealbild des preußischen Offiziers verletzte. Das Lesepublikum hielt sich bei den Erzählungen an Teil-

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Vgl. hierzu Friedrich Beißner: Editionsmethoden der neueren deutschen Philologie, in: Zeitschrift f. dt. Philologie 83, Sonderheft (1964) S. 9 4 - 9 5 und Klaus Kanzog: Rez. der Werke Otto Ludwigs, in: Dt. Literatur-Ztg. 88 (1967) Sp. 521. Vgl. den Artikel Luxus und Schönheit im modernen Leben. Die Anlage von Hausbibliotheken, in: Die Grenzboten Jg. 11, 1. Sem., Bd. 2 (1852) S. 102-109: „Wer Geld hat, muß auch die Verpflichtung fühlen, etwas für die Literatur seines Volkes zu tun" (S. 105). Vgl. die Bemerkung Tiecks (Sembdner, Lebensspuren, N r . 241). Goethes Brief an Adam Müller (Sembdner, Lebensspuren, N r . 185). Goethes Bemerkung zu Falk (Sembdner, Lebensspuren, N r . 252).

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aspekte ihrer Thematik 4 3 : an Spannungsmomente, an Historisches und Moralisches. Allein diepatriotischen Gedichte erfüllten im Jahre 1808/09, wenn auch nur im engsten Kreise, und in der Zeit der Befreiungskriege in einer größeren Öffentlichkeit den ihnen zugedachten Zweck. Nach dem Wartburgfest erhielten die Gedichte einen neuen vaterländischen Akzent. In dieser Zeit beginnt auch der eigentliche Funktionalisierungsprozeß der Werke Kleists. Unter Funktionalisierung ist hier in erster Linie das selektive Erkennen und Zusprechen von Bedeutsamkeit zu verstehen, das bestimmte Werke im Hinblick auf inhaltliche oder formale Momente aktualisiert, ihre,Modernität' oder .Klassizität' herausstellt und sie dabei einem Kontext zuordnet. An Teil- und Auswahlausgaben ist dieser Prozeß wesentlich klarer abzulesen als an Gesamtausgaben, aber auch diese bleiben - am deutlichsten sichtbar in Einleitungen und Kommentaren davon nicht unberührt; er kann den Wert selbst historisch-kritischer Ausgaben in Frage stellen, einen neuen Text-Kanon schaffen oder die Werke zu bloßem Collage-Material 4 4 herabsinken lassen. Als ,endgültig' erscheint nur der vom Dichter autorisierte Text, dessen .Lesbarkeit' jedoch stets an Kontexte - der Entstehungszeit wie der Rezeption - gebunden bleibt. Eingriffe in den überlieferten Text sind an der Tagesordnung. Billigt man dabei den Konjekturalkritikern noch die Absicht zu, die Intentionen des Dichters auf Grund besserer Einsicht reiner hervortreten zu lassen, so trifft die Bühnenbearbeitungen meist das harte Urteil, die Werke Kleists - aus welcher Absicht auch immer - verfälscht, zumindest jedoch wichtige Akzente verschoben zu haben. Die Bearbeiter selbst stellen die Ansprüche des Publikums und die Forderungen des Theaters über die Eigensetzlichkeit der Vorlage. Die Intentionen des Dichters werden dabei im Prinzip nicht angetastet, es sollen nur die aus der subjektiven Einstellung des Dichters und den zeitbedingten Umständen sich ergebenden Hindernisse beseitigt werden, die der unmittelbaren sinnlichen Wirkung entgegenstehen. Die aktualisierende Bearbeitung kann ebenso ein Dienst am Werk des Dichters sein wie die Edition mit ihren historisierenden Tendenzen; beide Verfahren können aber auch zur Zerstörung des Werkes führen. - Für Julian Schmidt waren Edition und Theaterbearbeitung nur

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So schreibt Charlotte von Schiller an Prinzessin Caroline von Sachsen-Weimar über Kleists Michael Kohlhaas: „Da ist Luthers Charakter so hübsch in einzelnen Zügen geschildert" und: „da zeigt Kleist, daß er gut erzählen und mit Feuer vortragen kann, und hat sich ganz den Chronikton eigen gemacht" (Charlotte v. Schiller u. ihre Freunde. Bd. 1, 1860, S. 576/77). Henriette v. Knebel kolportiert in einem Brief an ihren Bruder eine Äußerung der Prinzessin („Der moralische Aussatz"), die sich in erster Linie auf die Marquise von O. bezog (Karl Ludwig v. Knebels Briefwechsel mit seiner Schwester, Jena 1858, S. 328). Vgl. zu dem mißglückten Versuch einer Kleist-Collage von Manfred Günzel (Heinrich v. Kleist: An den Ufern der Havel. Prosa. Frankfurt a.M. 1968) dieRez. v. Jürgen Manthey (Süddt. Ztg. 4.1.68).

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zwei Seiten ein und derselben Sache 4 5 , eine Anschauung, die nicht ohne Einfluß auf die Konjekturalkritik geblieben ist. Der Herausgeber bemüht sich über die bloße Feststellung des Wortlautes hinaus um die Konservierung von Sinnzusammenhängen, der Theaterbearbeiter dagegen muß diese Sinnzusammenhänge zeitgemäß oder symbolisch aufbereiten, wenn der Text - längst aus seinen determinierenden sozialen Ordnungen gelöst - noch .Wirkung' ausüben soll. Goethes Eingriffe in den Zerbrochnen Krug, Holbeins berüchtigte Bearbeitungen Kleistscher Dramen und die langwierigen Bemühungen, die Penthesilea auf die Bühne zu bringen 4 6 , zeigen, daß durch ein ganzes Jahrhundert hindurch Diskrepanzen empfunden und angemessene Lösungen gesucht wurden. Die Sicherung' des ursprünglichen Textes läuft unabhängig neben dieser Entwicklung her und führt zu einer immer stärkeren Abkapselung der Philologie. Aber dieses Auseinanderlaufen der Tendenzen hat auch sein Gutes: macht der wissenschaftliche Herausgeber den Text als etwas historisch Bedingtes sichtbar, so wird durch den Theaterbearbeiter klar, daß es keine Garantie für die ,Zeitlosigkeit' eines Werkes gibt.

4 Textkritik ist ohne ,Treue auch im Kleinen' undenkbar. In dieser methodischen Voraussetzung der Exaktheit zeigen philologische und naturwissenschaftliche Arbeitsweisen eine Verwandtschaft, die es verständlich erscheinen läßt, daß das Gebot der .Reinheit des Textes' vom Methodenwandel und von den Methodenkrisen der Literaturwissenschaft weitgehend unberührt blieb. Im gleichen Maße war Textkritik stets eine ,historische' Wissenschaft. So gilt noch heute der von Erich Schmidt in seiner Wiener Antrittsvorlesung von 1880 ausgesprochene Erfahrungssatz: „wir haben Textkritik üben und aus den Varianten immer mit der Frage nach den Gründen der Veränderung die innere und äußere Wandlung erfassen gelernt" 4 7 . ,Exakt' arbeiten bedeutet aber noch nicht .wissenschaftlich' arbeiten. ,Treue im Kleinen' kann zur .Kleinmeisterei' entarten, die „Kunstwerke wie Cadaver secirt" 4 8 und Fakten unfruchtbar macht. Keiner wußte das besser als Wil45

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„ A u c h sind viele seiner poetischen Stellen, die wir beim Lesen vollkommen zu würdigen wissen, nicht für den unmittelbaren Eindruck der Recitation berechnet, und bei verständigen Theatern ist man jetzt allmälig zu der Einsicht gekommen, eine mäßige und schonende Umarbeitung der Sprache bei der Aufführung für notwendig zu halten" (Grenzboten J g . 10,1. Sem., Bd. 2, 1851, S. 329). Vgl. Kurt Lowien: Die Bühnengeschichte von Kleists Penthesilea. (Masch.) Diss. Kiel 1922. Erich Schmidt: Wege und Ziele der deutschen Litteraturgeschichte. In: Schmidt, Charakteristiken. B d . 1 (Berlin 1886) S. 497. Ebda, S. 296.

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heim Scherer 49 , der das scheinbar , Objektive' niemals von der Interpretation und der geschichtlichen Erfahrung trennte, sondern gern das „Recht des Geistes" verteidigte, „durch Hypothesenbildung einen Causalzusammenhang herzustellen", der aber auch den „provisorischen Wert solcher Hypothesen" und die Gefahren erkannte, „welche die Benutzung von Hypothesen begleiten" 50 . Als Manfred Windfuhr 1957 den Satz „Edition ist Interpretation" formulierte 51 , setzte er damit dem ,Positivismus' der Scherer-Schule keine Antithese entgegen, er erschütterte nur deren Glauben an den Ewigkeitswert von Editionen. Heute ist die von Hans Zeller getroffene Unterscheidung zwischen „editorischer Interpretation" und „Interpretation des Textes" eine Grundvoraussetzung der Textkritik 5 2 . Ansätze für diese Einstellung finden sich schon bei Karl Lachmann und Jacob Grimm 5 3 ; sieht man dagegen den ,Positivismus' in der Literaturwissenschaft als Ausdruck einer auf der Erfahrungsphilosophie Comtes beruhenden Weltanschauung, so ist damit nur ein Teil des geistigen Horizontes erfaßt. In der Karl Müllenhoff gewidmeten Vorrede seiner 1868 erschienenen Geschichte der deutschen Sprache beruft sich Wilhelm Scherer auf die Naturwissenschaft, auf das Prinzip der Kausalerklärung und den Determinismus Buckles, - und hierin vollzieht sich eine radikale Neuorientierung. Scherer wendet sich gegen die „bloße gedankenlose Anhäufung wohlgesichteten Materials", gegen eine „eigene, geschichtlicher Betrachtung allein zustehende Methode" und jene „Theorien, in denen das Stichwort der Ideen als der Stern über Bethlehem erscheint", aber aus seinen Ausführungen geht ebenso klar hervor, daß er zunächst alle Phänomene aus der Geschichte ableitet und im Bewußtsein historischer Kontinuität auf ein Ziel ausrichtet. Er sieht die Aufgabe der Literatur- und Sprachwissenschaft in der Entwicklung der „Historiographie seit Moser, Herder, Goethe für Jeden der sehen will unzweifelhaft angedeutet" 54 und erfüllt sie mit einem spezifischen Geschichtsoptimismus. Dieses Erfassen aller Phänomene im Zusammenhang mit der Geschichte konnte zum damaligen Zeitpunkt nur unter nationalen Aspekten

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Wilhelm Scherer - Erich Schmidt: Briefwechsel. Berlin 1963, S. 51. Wilhelm Dilthey: Wilhelm Scherer zum persönlichen Gedächtnis, in: Deutsche Rundschau Jg. 13, Bd. 49 (1886) S. 134. Manfred Windfuhr: Die neugermanistische Edition. Zu den Grundsätzen kritischer Gesamtausgaben, in: Deutsche Vierteljahrsschrift f. Literaturwissenschaft u. Geistesgeschichte 31 (1957) S. 426. Hans Zeller: Befund und Deutung, in: Texte und Varianten, Hrsg. v. Gunter Martens u. Hans Zeller, München, 1971, S. 4 5 - 9 0 . Wilhelm Scherer erklärt in seinem Gedenkaufsatz über Jacob Grimm (Preuß. Jahrbücher Bd. 14, 1864, S. 680): „Lachmann ist ein Genie der Methode wie Grimm ein Genie der Combination" und fügt (Bd. 15, 1865, S. 21) einschränkend hinzu, daß „ungeregelte Combinationslust, welche so in seinem höheren Alter in kleinen Flämmchen hie und da herausschlägt", in seinen Jugendschriften noch „lichterloh" brenne. Wilhelm Scherer: Zur Geschichte der deutschen Sprache. Berlin 1868. (Widmung:) An Karl Müllenhoff, S. V I I I .

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erfolgen. So glaubt Scherer „seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts eine fortschreitende Bewegung" zu erkennen, „in welcher die Deutschen sich zur bewußten Erfüllung ihrer Bestimmung unter den Nationen zu erheben trachten" 55 . Das ist sowohl nationalpolitisch als auch bildungsgeschichtlich im Sinne eines Lebensideals, d.h. einer „nationalen Ethik" gedacht. Auch Leopold von Ranke hatte von der deutschen Literatur als dem „großen Besitz" der Nation gesprochen und in ihr „eins der wesentlichsten Momente unserer Einheit" gesehen 56 ; anläßlich des Abschlusses der Kobersteinschen Literaturgeschichte schrieb Rudolf Haym, das „Pfand", das wir in den „literarischen Taten unserer Nation" für „unsere politische Einigung" erblickten, sei nunmehr eingelöst 57 . Scherer betonte das evolutionistische Moment stärker und erklärte: „Völker sind nichts Ewiges" 5 8 . Schon in seiner Besprechung der Literaturgeschichte Hermann Hettners erinnert Scherer an die Kausalität als „historische Grundkategorie'' 59 . Hettners „Hauptfehler" liege in der „mangelhaften Motivierung" der einzelnen Erscheinungen, wie überhaupt bei ihm das Streben, „die Geschichte als eine lückenlose Kette von Ursachen und Wirkungen anzusehen", zu schwach entwickelt sei. „Motivierung" wird von Scherer teils psychologisch, teils historisch-physiologisch verstanden und sowohl auf die Genielehre als auch auf die „Mechanik der Gesellschaft" bezogen. Daraus ergibt sich der Vorrang der Erkenntnis kausaler Zusammenhänge gegenüber der zunächst zu leistenden exakten Beschreibung. Hier wird aber auch die Diskrepanz zwischen Ziel und Voraussetzung, zwischen dem Versuch, die Entwicklung der Dichtung im Rahmen der nationalen Entfaltung als kausal bedingten Naturprozeß aufzuzeigen, und der Notwendigkeit, erst einmal der Quellenfülle Herr zu werden, deutlich. Die historisch-kritische Edition wurde nur als erste Etappe auf dem Wege zum erstrebten Ziel angesehen. Daß Scherer selbst ein flexibles Edieren vor Augen hatte, geht aus seinem Brief an Erich Schmidt hervor, in dem er den Plan der Weimarer Goethe-Ausgabe entwirft und bemerkt: „Die kritische Ausgabe Goethes, die .Archiv-Ausgabe' will Loeper sie nennen, wird von Zeit zu Zeit gewiß erneuert werden müssen" 6 0 . Erst dieses Verständnis der Geschichte als Naturprozeß und die bedingungslose Anerkennung von Kausalität und Determination sowie Scherers Auffassung von der Regeneration des Editorischen erlaubt den Rückgriff auf die Erfahrungsphilo-

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Ebda, S. VI. Leopold von Ranke: Über die Trennung und die Einheit von Deutschland, 1832, in: Ranke, Sämtliche Werke. Bd. 49/50 (1887) S. 160. Die Vollendung von Koberstein's Geschichte der deutschen Literatur, in: Preußische Jahrbücher Jg. 19 (1867) S. 238-239. Wilh. Scherer: Zur Geschichte der deutschen Sprache, S. IX. österr. Wochenschrift f. Wiss., Kunstu. öffentl. Leben. Bd. 5 (1865) S. 758, wiederholt in: Wilh. Scherer, Kleine Schriften. Hrsg. von Konrad Burdach. Bd. 2 (1893) S. 66f. Wilh. Scherer - Erich Schmidt: Briefwechsel. Berlin 1963, S. 203 (Brief vom 21. Mai 1885).

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sophie, d. h. auf die fünf von C o m t e im Discours sur l'esprit positif aufgestellten Bedeutungen des Wortes „positiv" 6 1 . Insbesondere die vierte Definition ist geeignet, das von allen Vorurteilen freie ursprünglich positivistische' Moment der editorischen Arbeit in Erinnerung zu rufen. Diese Definition „consiste à opposer le précis au vague: ce sens rappelle la tendance constante du véritable esprit philosophique à obtenir partout le degré de précision compatible avec la nature des phénomènes et conforme à l'exigence de nos vrais besoins". Es geht hier nicht um die ,Genauigkeit' als ein abstraktes Postulat, sondern um ihre Funktion gegenüber den Objekten und den Bedürfnissen der Gesellschaft. Die exakte Methode wird nicht von der Spekulation her organisiert; sie folgt aus natürlichen Gegebenheiten und aus einem empirischen Verständnis der Welt. Einer der Leitsätze Wilhelm Scherers lautet: „Fülle und O r d n u n g der tatsächlichen Kenntnis ist die einzig mögliche Grundlage wissenschaftlicher Entdeckungen. Sie machen das aus was man wissenschaftliche Solidität nennen mag" 6 2 . Es bleibt die Frage, was Scherer unter dem „Tatsächlichen" versteht. Hier ist Comtes erste Definition „le mot positif désigne le réel, par opposition au chimérique" heranzuziehen. Schimärisch sind f ü r Scherer alle Dogmen und ästhetisierenden Betrachtungen, der Aristotelismus in der Literaturwissenschaft u n d die romantische „Nachtseite der N a t u r " . Alles Tatsächliche aber gehorcht allein empirischen Gesetzen. Deshalb sieht Scherer die literarischen Fakten nicht isoliert, sondern in der Verflechtung mit geschichtlichen und ökonomischen Prozessen. Auf die Edition bezogen, erscheint die Antwort auf die Frage nach dem Tatsächlichen leicht, denkt man nur an den Text, seine Uberlieferung und die Sichtung der Lesarten. Doch enthält jede Dokumentation des „Tatsächlichen" intentionelle Momente, denn bei aller „Fülle" darf die „ O r d n u n g " nicht aus dem Auge verloren werden, und trotz immer wieder erstrebter Vollständigkeit des Materials ist eine Auswahl zu treffen. Erinnert sei an die zweite Definition Comtes, „le contraste de l'utile à l'oiseux" : „il rappelle, en philosophie, la destination nécessaire de toutes nos saines spéculations pour l'amélioration continue de notre vraie condition, individuelle et collective, au lieu de la vaine satisfaction d'une stérile curiosité". Die Lesarten-Friedhöfe vieler Editionen beweisen nichts gegen diesen richtigen methodischen Ansatz der positivistischen Lehre. Ebenso folgenreich wie das naturwissenschaftliche Vorbild exakter Verfahrensweisen und kausaler Schlüsse hinsichtlich des Gesetzes von Ursache u n d Wirkung bei der Analyse literarischer Erscheinungen war die Übertragung des von Darwin in Umlauf gebrachten Begriffes „Evolution" auf die Textkritik. Wachstum und Ursprung dichterischer Werke gerieten in das Blickfeld des Betrachters, wobei die .endgültige' Gestalt der Werke vielfach in den Hintergrund trat. Auch hier knüpfte Scherer an das Erbe der deutschen Klassik und der frühen deutschen 61 62

Auguste Comte: Discours sur l'esprit positif. Paris 1844, p. 41f. Wilh. Scherer: Jacob Grimm. In: Preußische Jahrbücher. Bd. 14 (1864) S. 678.

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Philologie an. So hatte Goethe am Beispiel Wielands eine solche evolutionistische, von Bernhard Seuffert später nur in Ansätzen verwirklichte Textkritik angeregt, indem er behauptete, „daß ein verständiger fleißiger Literator durch Vergleichung der sämmtlichen Ausgaben" Wielands „allein aus den stufenweisen Correkturen dieses unermüdet zum Bessern arbeitenden Schriftstellers die ganze Lehre des Geschmacks würde entwickeln können" 6 3 . Andererseits hatten Karl Lachmann und Karl Goedeke in ihren historisch-kritischen Ausgaben der Werke Lessings und Schillers durch die Einbeziehung der Geschichte der Textkonstitution sowie der Entstehungsgeschichte der Texte das Arbeitsgebiet einer zukünftigen Textkritik abgesteckt. Als vordringlich erschien zunächst die Aufbereitung des Materials. Scherer zeigte ein starkes Interesse am Ursprünglichen literarischer Prozesse und an den Urformen einzelner Werke, während die nachfolgende, an der Weimarer Goethe-Ausgabe geschulte Generation die Notwendigkeit einer Gesamtdokumentation zum philologischen Dogma erhob. So kam es dazu, daß z.B. Erich Schmidts Fund der „Ur-Faust"-Handschrift „in der bisherigen Faust-Forschung eine Rolle gespielt" hat, „die ihrer eigentlichen Bedeutung nicht entspricht" 64 und daß die Editionen der Scherer-Schule im Material erstickten. Ob man die Feststellung von Textverwitterungen durch Rekapitulation der Druckgeschichte eines Werkes, die Herstellung eines gesicherten Textes aus der Ordnung der Uberlieferungsträger oder die Textgenese in Gestalt eines ,realen', bzw. .idealen' Wachstums als Ziel der Edition ansieht, ob man allein das Werk oder auch die Wirkungsgeschichte im Spiegel postumer Editionen im Auge hat, an der Notwendigkeit einer der Edition vorangehenden Dokumentation der Uberlieferungsträger wird heute niemand mehr ernsthaft zweifeln. Die moderne Edition kann diese vom Positivismus erhobene Forderung nicht mehr aufgeben, ohne in den Dilettantismus zurückzufallen. Innerhalb der verschiedenen editorischen Interessen zeichnet sich heute gegenüber der Scherer-Schule eine funktionelle Bezogenheit auf die Bedingungen des Materials, die Arbeitsweise und die Intentionen des Dichters und auf das Erkenntnisinteresse am Gegenstand ab. So konnte Gerhard Seidel aus der an der Editionstradition und an Brecht-Materialien gewonnenen Einsicht mit vollem Recht erklären: „nicht das Streben nach Gesamtdokumentation ist an den positivistischen Editionen kritikbedürftig, sondern die Mechanik, Ahistorizität und Akzentlosigkeit, mit der jene Ausgaben ihre Texte präsentierten" 65 . Die Kritiker der von Reinhold Bachmann inspirierten, von Friedrich Beißner an Wieland und Hölderlin erprobten und von Hans Zeller, Walter Killy und Hans 63

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Goethe: Literarischer Sansculottismus (1796), in: Werke. Weimarer Ausgabe, Abt. 1, B d . 40 (1901) S. 201. Siegfried Scheibe: Bemerkungen zur Entstehungsgeschichte des frühen Faust, in: Goethe 32 (1970) S. 63. Gerhard Seidel: D i e Funktions- u. Gegenstandsbedingtheit der Edition untersucht an poet. Werken Bertolt Brechts. Berlin 1970, S. 17.

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Szklenar weiterentwickelten textgenetischen Methode berufen sich auf den Primat des endgültigen Textes gegenüber den Vorstufen und verbinden ihre Kritik an diesem Verfahren mit einer Abwehr .bürgerlicher' Ideologien in der Literaturwissenschaft 66 . Drohen Editionen zum Selbstzweck zu werden, so sind solche Einwände berechtigt und heilsam, wird aber durch das Sichtbarmachen dichterischer Arbeitsprozesse eine evolutionistische Deutung programmiert, die eine größere Tiefenschärfe der Interpretation ermöglicht, so gehen sie entschieden fehl. Gerade die Arbeitsweise Brechts hat dazu beigetragen, die Aufhebung des Gegensatzes von Werksentstehung und endgültiger' Fassung und damit zwangsläufig auch des absoluten Gegensatzes von Text und Apparat als ein legitimes Verfahren der Textkritik zu akzeptieren; an die Stelle des ,endgültigen Textes' tritt dabei der .Leittext' und an die der stufenweisen ,Korrektur zum Besseren' das Phänomen der .permanenten Korrektur'. Gleiches gilt für die Kritiker der informationstheoretisch orientierten Edition. Der wirkliche Informations- und Erkenntnisgewinn wird im einzelnen schwer abzuwägen sein, zumal kein Herausgeber die Fragestellungen des Lesers genau voraussehen kann. Von einem .Rückfall in den Positivismus' sollte aber nur bei solchen Editionen die Rede sein, deren Arbeitsaufwand in keinem Verhältnis mehr zur Bedeutung des Textes steht oder in denen sich rein mechanistische Darstellungsverfahren in den Vordergrund drängen. Eine gerechte Beurteilung des editorischen Positivismus der Scherer-Schule verlangt, die fortschrittlichen und die reaktionären Momente gleichermaßen zu begreifen und nach den Ursachen der mechanistischen Entartung der Apparate zu suchen. Man kann mit Jost Hermand 67 zwischen der mehr „pedantischen Kleinlichkeitskrämerei der achtziger und neunziger Jahre und einer noch relativ,historisch' ausgerichteten Betrachtungsweise" des Positivismus unterscheiden und in dieser Richtung ein „getreues Spiegelbild des saturierten Bürgertums der zweiten Jahrhunderthälfte" erblicken, „das den weltanschaulichen Idealismus der Achtundvierziger an den Nagel hängt und sich mit einem gemächlichen Ausbau der errungenen Machtpositionen begnügt", darf aber die bereits im hermeneutischen Ansatz der damaligen Literaturwissenschaft selbst enthaltenen Widersprüche zwischen der empirischen Methode und dem mechanistischen Geschichtsverständnis nicht übersehen. Die positivistische' Literaturwissenschaft zeigt in ihren Anfängen einen „Abscheu vor der spekulativen Verirrung" 6 8 , sie vermeidet, Wertungen' und versucht, empirische - in experimentellen Verfahren bewährte - Medioden 66

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Am deutlichsten Karl-Heinz Hahn u. Helmut Holtzhauer: Wissenschaft auf Abwegen? Zur Edition von Werken der neueren deutschen Literatur. (Weimar 1964), in: Forschen u. Bilden. Mittlgnd. NationalenForschungs- u. Gedenkstätten H. 1 (1966) S. 5 b u . 19b. Jost Hermand: Synthetisches Interpretieren. Zur Methodik der Literaturwissenschaft. München 1968, S. 22f. Werner Krauss: Studien und Aufsätze. Berlin 1959, S. 3 2 - 3 4 : Die positivistische Konstituierung der literaturgeschichtlichen Wissenschaft.

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nach dem Vorbild der exakten Naturwissenschaft anzuwenden; am Ende dieser „wissenschaftlichen Jugendbewegung1'69 aber ist die Unmöglichkeit einer Übertragung isolierter Kausalverhältnisse auf komplexe Sinnzusammenhänge des geschichtlichen Verstehens erwiesen. Scherer allerdings beschränkte sich nicht auf das Stoffliche, er warnte vor der „Küstenschiffahrt" und wünschte „mehr Reflexion und allgemeine Gesichtspunkte"70, andererseits suchte er eine „Befriedigung des historischen Geistes", die auch bei fehlender Urkundlichkeit durch eine „klare und sichere Kühnheit der Combination und Construction" und zwar „mit der Denkbarkeit des Geschehenen" erreicht werden kann. Damit hatte er über die auch in der Naturwissenschaft als notwendig erkannten .Hypothesen' den Weg zu neuen Spekulationen beschritten71. Auch die .Wertung' literarischer Erscheinungen ließ sich nicht vermeiden, wie seine Geschichte der deutschen Literatur - ein Musterbuch literarischer Geschmacksurteile und intuitiver Charakteristiken zeigt. So ist schon bei Scherer eine Kluft zwischen Tatsachen-Empirismus und .Verstehen' zu bemerken, die ihm vielleicht im bedingungslosen Glauben an die Naturwissenschaft selbst nicht bewußt war. Das immer offener zu Tage tretende „seltsame Nebeneinander von positivistischer Sammelwut und idealistisch-erhabenen Geschmacksurteilen"72 führt schließlich zu einer Erkenntniskrise, die durch den Rückzug auf das Vorläufige des .Tatsächlichen' und seiner Feststellung kompensiert wird. Die weiterhin hohe Wertschätzung der „Tatsachenforschung" gründet sich auf den zweifellos erzielten Gewinn an neuem und besserem Material und auf Idealvorstellungen wissenschaftlicher Exaktheit; ihr Umschlag in statistisch-mechanistische Rezeption, Vollständigkeitswahn und Tatsachenanbetung ist jedoch ein Indiz für das Kompensationsbedürfnis. Auch die Edition erscheint als ein Rettungsanker in der immer uferloser werdenden Interpretationsflut.

5 Die zunehmend verfeinerte Editionstechnik lenkt den Blick einseitig auf die technischen Aspekte der Klassiker-Ausgaben, dem persönlichen Verhältnis der Editoren zu ihrem Gegenstande wird kaum Beachtung geschenkt. Doch neben der primär interessierenden Textkonstitution und dem erreichten Grad technischer Voll69

70 71

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Werner Richter in: Einführung zu Wilh. Scherer - Erich Schmidt: Briefwechsel. Berlin 1963, S. 29. Brief an Erich Schmidt v. 30.1.1875, in: Briefwechsel, S. 51. So konnte schließlich der Eindruck entstehen, den Peter Salm (Drei Richtungen der Literaturwissenschaft. Scherer-Walzel-Staiger. Tübingen 1970, S. 14) gewann: „Wenn die Kleinarbeit einmal geleistet ist, hat der Literaturkritiker oder -historiker anscheinend nur aus dem Faktenarsenal auszuwählen, um seine hypothetischen Konstruktionen zu entwickeln." Jost Hermand a.a.O. S. 25.

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kommenheit in der Variantendarbietung darf dem heutigen Betrachter die innere Anteilnahme der Herausgeber, ihr Vorverständnis der Texte und die Affinitat zum Lebensschicksal „ihres" Dichters nicht gleichgültig sein. Die Übernahme einer Herausgeberverpflichtung erfolgt mehr oder weniger zufällig, niemals aber ist sie völlig von der entscheidenden Einsatzbereitschaft des Herausgebers zu lösen, sich des Dichters und seines Werkes anzunehmen. Intellektuelle Reize, emotionale Übertragungen und selbst Identifizierungen spielen eine Rolle, und die vielfältigen Motivationen bleiben nicht auf den Anlaß zur Edition beschränkt, sondern greifen tief in die Gestaltung der Ausgaben ein. Ein bemerkenswertes Bekenntnis über die Beweggründe der Abfassung seiner Kleist-Biographie legt Adolf Wilbrandt vierzig Jahre nach deren Erscheinen ab. Kleist sei ihm „früh und tief ins H e r z gedrungen", und es habe seine „Seelenruhe" gestört, „daß ein Mann mit so .eigenstem Gesang' noch nicht zum allbekannten Nationaldichter geworden war"; so sei es ihm als die „nächste Pflicht" erschienen, „ein Kleist-Herold zu werden und die bei Sybel gelernte historisch kritische Methode an einer Biographie dieses vernachlässigten Dichters zu bewähren". Wilbrandt schildert die „Schaffenswonne", die Krisen und die tiefe Befriedigung, die ihn zuletzt erfüllte 7 3 . - Reinhold Steig, besessen von einem historisch-politischen Auftrag, beginnt das Vorwort seiner Kleist-Studie von 1901 mit den Worten: „ D i e s Buch habe ich geschrieben, weil es mir, in meinem Sinne, nothwendig war" und erklärt am Schluß, es wende sich „ a n Den, der geschichtlichen Sinn hatfür die nationale Entwickelung unseres Volkes und Vaterlandes" 7 4 . Die meisten KleistHerausgeber hielten mit solchen persönlichen Bekenntnissen zurück, brachten aber ihr Engagement in anderer Weise zum Ausdruck. Es bedarf keines weiteren Hinweises auf die nationalen Interessen an Kleist, die zwischen den Befreiungskriegen und dem Zweiten Weltkrieg jeden Herausgeber beflügelten, editorische Absichten mit Anliegen der Öffentlichkeit zu verbinden. Die Motivationen entsprechen - vom erstarkenden Bewußtsein einer Nationalliteratur bis zur Pervertierung ins Nationalistische - in allen Fällen der jeweiligen historischen Situation, in der die einzelnen Ausgaben vorbereitet wurden. D i e Editionsgeschichte der Werke Kleists ist Teil eines Prozesses, der mit wechselnden Impulsen die Literatur in das politische Bewußtsein einbezieht. Koberstein, Köpke, Julian Schmidt und Karl Biedermann nahmen aktiv an den Kämpfen für die Einheit Deutschlands unter preußischer Führung teil, Erich Schmidt und G e o r g Minde-Pouet zeigten eine mehr konformistische Haltung. So reicht das Engage73

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Adolf Wilbrandt: A u s der Werdezeit. Stuttgart 1907, S. 117ff. (vgl. Sembdner, Nachruhm, N r . 199). Reinhold Steig: Kleist's Berliner Kämpfe. Berlin u. Stuttgart 1901. In seiner Besprechung des Buches weist Herman G r i m m auf den „besonderen Vorteil" Steigs, „Märker zu sein und für Kleist als Märker einzutreten". So habe Kleist „in seinem miteingeborenen Biographen den rechten Vertreter seines Ruhmes gefunden" (vgl. Sembdner, Nachruhm, N r . 220b).

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ment von der kritischen Beurteilung zur affirmativen Aneignung und Verherrlichung, die zwangsläufig auf Widerstand stoßen mußte. Die Kleist-Philologie hat die wissenschaftlichen Aufgaben vielfach außerliterarischen Interessen untergeordnet und nach dem Zweiten Weltkrieg die Flucht ins rein Editorische angetreten. Die Substanz des Kleistschen Werkes aber war stark genug, das politische Chaos hinter sich zu lassen. Ein anderes wirksames Element war die Verwurzelung der Herausgeber im landschaftlich-lokalen Lebensbereich Kleists. Mehrere bedeutende Herausgeber und Kleistforscher, soweit sie sich auch mit editorischen Problemen beschäftigten, sind in Berlin oder in der Mark Brandenburg geboren oder waren mit dem Kulturleben Berlins eng verbunden. Die meisten empfanden zugleich „preußisch" oder „norddeutsch" 7 5 . Julian Schmidts Anschauungen waren geprägt vom starken Selbstbewußtsein seiner westpreußischen Herkunft, G e o r g Minde-Pouet sah in der Förderung des Grenzlanddeutschtums eine vordringliche kulturpolitische Aufgabe; bei Ottomar Bachmann und Paul H o f f m a n n führte die langjährige Bindung an Frankfurt/Oder zu einer fruchtbaren, lokalpatriotisch gefärbten literarischen Tätigkeit. N u r Theophil Zolling, in der Schweiz beheimatet und kosmopolitisch eingestellt, erscheint als ein Außenseiter, obgleich auch er zum geistigen Berlin der 80er und 90er Jahre gehörte; doch ist es wiederum kein Zufall, daß er sich in der Kleistforschung mit einem Buch über Kleist in der Schweiz einführte. Die von Erich Schmidt begonnene und von Georg Minde-Pouet fortgeführte Kleist-Ausgabe wurde zum Maßstab für die philologischen Leistungen der .Berliner Schule', der auch Eva Rothe und Helmut Sembdner verpflichtet sind. Mit solchen Zuordnungen zu politischen Tendenzen und soziologischen Bedingungen ist das Engagement der einzelnen Herausgeber nur in Umrissen erfaßt. Zur Motivation gehört auch der Versuch, sich durch Arbeitsleistung und Erkenntnisgewinn als Person zu verwirklichen, wodurch die Edition zum eigenen Werk des Herausgebers wird. Wissenschaftsideal und Lebensplan sind schwer voneinander zu trennen. In diesem Sinne verkörperte Erich Schmidt den Typus des charismatischen Gelehrten, der - seines Zieles früh gewiß - durch die innere Überzeugung und die Kraft seiner Persönlichkeit auf Hörer, Schüler und Leser langanhaltende Wirkung ausübte. Er hat sich, wie Albert Köster in seinem Nachruf bemerkt, „ m i t erstaunlicher Sicherheit und außerordentlicher Produktivität von Jahr zu Jahr immer die Aufgaben gestellt, die seinem jeweiligen Lebensalter und dem Stand seiner augenblicklichen Ausbildung gemäß waren" 7 6 . Anderen versagten die Zeitumstände eine ähnliche stufenweise Selbstverwirklichung durch wissenschaftliche Leistungen. Bülow und K ö p k e wurden in ihrer Entwicklung

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So nennt Erich Schmidt in seiner Biographischen Einleitung Kleist einen „Gipfel der norddeutschen Literatur" (Bd. 1, S. 5*). Albert Köster: Erich Schmidt. In: Das Literarische Echo, J g . 15 H . 17 (1. Juni 1913) Sp. 1 1 6 9 - 1 1 7 5 , Zitat Sp. 1170.

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gehemmt, Julian Schmidts Ruhm verblaßte, Rahmer sah sich von der Kathederwissenschaft in eine Abwehrstellung gedrängt, und selbst Georg Minde-Pouet, der wie kaum ein anderer Gelehrter die Facta bereichert hat, konnte seine Ausgabe nicht vollenden. Eva Rothes Pläne wurden durch ihren frühen Tod zerstört. Jeder engagierte Herausgeber ist seines Publikums gewiß. Meist sieht aber der Verleger die Absatzmöglichkeiten viel klarer als der Herausgeber, der vor der selbstgestellten Aufgabe und den eigenen Idealvorstellungen leicht Illusionen erliegt. In der Geschichte der Kleist-Edition ist der Käuferkreis ungefähr zu bestimmen. Der geistige Horizont des von Georg Andreas Reimer begründeten Verlages, Joseph Kürschners Idee einer enzyklopädischen Deutschen National-Litteratur und die Bildungsziele des Leipziger Bibliographischen Instituts erlauben ebenso Schlüsse wie die vorbereitenden Publikationen im Janas, im Monatsblatt der Allgemeinen Zeitung, in den Grenzboten, der Gegenwart und in der Monatsschrift Nord und Süd, die mit den Programmen dieser Zeitschriften in Zusammenhang zu bringen sind. Von allen Herausgebern ist es wiederum Erich Schmidt, an dem beispielhaft die Rolle des Literarhistorikers in der Gesellschaft seiner Zeit demonstriert werden kann. „Er brauchte die Reize eines bunteren Daseins und wußte mit einer feinen Lebenskunst sich jedem Zirkel einzufügen; am Kaiserhofe war er so gern gesehen wie in den Salons des westlichen Berlin, im freiherrlichen Schlosse so gern wie am häuslichen Tisch mütterlich sorgender Matronen; im Gespräch mit ernsten Männern wußte er sich so frei zu bewegen wie im Geplauder mit schönen Frauen" 77 . Diese Lebenshaltung hat vor allem in der Vorrede zur Kleist-Ausgabe, mit der Erich Schmidt ein Gegengewicht zum wissenschaftlichen Apparat schuf, ihren Niederschlag gefunden. Nicht immer hat der Herausgeber ein großes Publikum vor Augen, oft fühlt er sich zunächst einem kleineren Kreise zugehörig, für den seine Edition in erster Linie bestimmt ist. Hinter den meisten Kleist-Ausgaben werden solche literarischen Zirkel sichtbar - die Gesellschaft um den Grafen Finkenstein, der Freundeskreis Tiecks, die Naumburger „Litteraria", die altliberalen Mitstreiter Julian Schmidts, die Freunde der Gegenwart um Paul Lindau und Theophil Zolling, die Berliner Germanisten und die Kleist-Gesellschaft. Daneben treten imaginäre Gesprächspartner in Erscheinung: Tieck richtet die Vorrede seiner Kleist-Ausgabe indirekt an Goethe, Eduard von Bülow unterwirft seine Kleist-Biographie und Brief-Edition dem Urteil Tiecks, und Köpke gibt durch die Widmung an Friedrich von Raumer zu erkennen, daß er sich der Verantwortung als Historiker bewußt ist. Der bekannte Ruf Otto Brahms: „Frischauf also! Hier haben Sie meinen Kleist; geben Sie uns den Ihren" 78 läßt Erich Schmidts Ausgabe in vielem als Fortsetzung seiner Vorlesungen und Seminare verstehen; in der Frontstellung gegen Zolling und Rahmer sind auch antagonistische Momente wahrzunehmen. So lösten 77 78

Albert Köster, ebda Sp. 1173. Otto Brahm: Heinrich von Kleist. Berlin 1884.

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Freundschaften und Animositäten, Gildenbewußtsein und Zunftgebaren Arbeitsenergien aus, bestimmen Methoden und setzen Akzente. Innerhalb der Editionsgeschichte bezeichnet die Ausgabe Julian Schmidts den Übergang von der literarischen Kritik zu einem literaturwissenschaftlich-philologischen Standpunkt. Tieck und Eduard von Bülow waren selbst zu sehr Schriftsteller, als daß sie Kleist zum Gegenstand gelehrter Betrachtung hätten machen können. Noch bei Julian Schmidt bemerkt man jenes unmittelbare Reagieren auf literarische Reize, das für die literarische Kritik 7 9 typisch ist, aber Schmidt bemüht sich - beeinflußt von Theodor Gomperz und Moriz Haupt - zugleich um eine philologische Sehweise. Seit Koberstein spiegeln die größeren Kleist-Editionen das Selbstbewußtsein der Germanistik. Die Ausgabe Minde-Pouets ist mit der bereits in den 20er Jahren sich abzeichnenden Krise dieses Faches unmittelbar verbunden. Aus dieser Perspektive könnte die Editionsgeschichte als Teil einer Geschichte der Germanistik, ihres Selbstverständnisses und ihres politischen Auftrages angesehen werden. Doch entstünde ein einseitiges Bild, ließe man das Engagement für editorisches Denken, philologische Erkenntnisweisen und literarische Interpretationen außer acht. Die Auffassung von der Edition als dem „Resultat hilfswissenschaftlicher Tätigkeit" 80 scheint ein solches Engagement auszuschließen. Sie verleitet dazu, die Arbeit des Editors auf Textkonstitution und Variantenerfassung einzugrenzen und die Editionstechnik von der allgemeinen Theorie der Textkritik sowie der Texte überhaupt abzulösen. Wie die Edition durch Einleitung und Kommentar profiliert wird, so sind die technischen Aspekte in einen literarischen Gesamtzusammenhang eingebettet. Die Wahl bestimmter Darstellungsverfahren beruht auf grundsätzlichen Entscheidungen, die wiederum Ausdruck wissenschaftlich fundierter Überzeugungen sind. Die Variantendarbietung Zollings verrät eine flexiblere editorische Denkform als die mehr urkundliche Variantenverzeichnung Erich Schmidts. Die von Kurt Schmidt entwickelte „Variantenpartitur" und die seit Friedrich Beißner bevorzugte Textsynopse sind nicht allein aus dem Wunsch nach einer besseren Lesbarkeit zu erklären. Sie wurden durch den Erkenntnisdrang, textgenetische Vorgänge 81 zu begreifen, mehr oder weniger erzwungen. In einer Periode des Übergangs von der klassischen zur nicht-klassischen Ästhetik, die .Schöpfung' durch Realisation' und ,Stil' durch ,Struktur' ersetzt sowie die ,Mikroästhetik' ins Blickfeld rückt, wird sich dieses Verlangen nach textgeneti-

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Vgl. die Definition in: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. 2. Aufl. Hrsg. v. Werner Kohlschmidt u. Wolfgang Mohr, Bd. 2 (1965) S. 6 3 . Gerhard Seidel: Die Funktions- und Gegenstandsbedingtheit der Edition. Berlin 1970, S. 2 1 . Vgl. hierzu: Hans Werner Seiffert: Untersuchungen zur Methode der Herausgabe deutscher Texte. Berlin 1963, S. 141 ff.

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schem Verständnis auf strukturelle Interessen und den „ H o r i z o n t des M a c h e n s " 8 2 verlagern. D a s veränderte Verhältnis des Herausgebers zu seinen Texten löst jeweils neue editorische D e n k f o r m e n aus. Engagement bedeutet auch editorisches Vorverständnis des Materials, seiner Selektion und Darbietung. A u s diesem Vorverständnis ergeben sich Ziele und Aufbau der Einleitung, b z w . des N a c h w o r t e s , die Gattungsgliederung der Werke und die Anlage des K o m m e n t a r s . O b w o h l die Textkritik ein wesentlicher Bestandteil der Grundlagenforschung ist und die historisch-kritische A u s g a b e als Ziel aller philologischen Bemühungen um den ,richtigen' Text angesehen werden muß, darf sich die Editionsgeschichte nicht ausschließlich diesem Aspekt zuwenden. Zolling war davon überzeugt, mit seiner „historisch-kritischen A u s g a b e " etwas Endgültiges geschaffen zu haben, Erich Schmidt dagegen wußte, daß vieles an der eigenen A u s g a b e nur vorläufigen Charakter hatte. Jeder Edition ist es auferlegt, die Grundlagen eines Textes zu erforschen und ihn durch Interpretation zugleich transparent z u machen, d . h . ein besseres Lesen zu ermöglichen. Keiner der maßgebenden Herausgeber innerhalb der 150jährigen Editionsgeschichte der Werke Kleists hat seine A u f g a b e anders verstanden. N e b e n dem Gewinn an immer größerer Exaktheit wurde durch Einleitung und Kommentierung ein breites Interpretationsspektrum erreicht, das neue Fragestellungen bewirkte und somit der Edition immer wieder neue Aufgaben stellte. D e r stärkste Antrieb für die wiederholte Auseinandersetzung mit Problemen der Kleist-Edition aber geht noch immer von der exemplarischen Bedeutung der Texte und ihrer engen Beziehung z u m Kleistschen Lebensweg aus. D a s anfangs mehr biographistische Interesse der psychologisch-literarischen Genielehre, die existentialistischen Deutungen und die vereinfachenden Theorien einer bloßen Widerspiegelung politisch-ökonomischer Verhältnisse sind dem Bedürfnis gewichen, die Funktionen ästhetischer A u s d r u c k s f o r m e n und Strukturen im Spannungsfeld von Individuum und Gesellschaft, T r a u m a und dichterischer Seismographie zu verstehen. Kleist hat - nach der Auffassung M a r y Garlands - den Prinz von H o m b u r g so gezeichnet, wie er sich selbst gern gesehen hätte: in der Verbindung mit der Allgemeinheit, der er dient, indem er dem ihm - und nur ihm - bestimmten Pfade f o l g t 8 3 . Sein mißlungener Versuch, als politischer Schriftsteller dem Vaterlande nützlich zu sein, zeigt unbewältigte Konflikte, und die auch in den 82

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Nach einer Formulierung von Max Bensc: lYo^r.iminicrun^ ilcs Schoncn. Allgemeine Texttheorie und Textasthetik. Baden-Baden u. Krefeld 1960, S. 51.-Ich verweise hier auf die Arbeitsweise Kleists beim Redigieren und Umarbeiten von Vorlagen für die Berliner Abendblätter. Gegenüber H. Sembdner, der in seinem Abendblätter-Buch jeweils Vorlagen und Kleist-Texte in Paralleldrucken einander gegenüberstellte, habe ich in meinen Prolegomena (S. 199ff.) zu zeigen versucht, daß die textkritische Darbietung die verschiedenen Techniken der Textherstellung Kleists einsichtig machen muß. Nach einer Formulierung von Mary Garland: Kleist's Prinz Friedrich von Homburg. The Hague, Paris 1968, S. 74.

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Komödien spürbare tragische Komponente seiner Dichtungen macht die tiefen Widersprüche der ,Helden' zwischen Lust- und Realitätsprinzip bewußt. Auf der anderen Seite erscheinen ,Grazie' und , Anmut' als höchste Formen der Selbstverwirklichung und ziehen den Betrachter stets von neuem an. Nicht zufällig wird der Aufsatz Über das Marionettentheater neben dem Prinz von Homburg als Schlüssel für das Verständnis der Werke Kleists angesehen. Kleist skizziert hier - nach Herbert Plügge - einen „Reifungsprozeß, in dem die von der Menschheit erworbene Fähigkeit zur Reflexion wieder auf ihren Schwerpunkt abgestimmt wird" 8 4 . Unter diesem Aspekt gewinnen die Dramen und Erzählungen, unabhängig von ihren Stoffen, aber niemals völlig aus ihren historischen Bezügen gelöst, Modell Charakter und bestätigen dadurch die ,Klassizität' Kleists. Der erste Versuch, die Geschichte der Kleist-Editionen als Teil der allgemeinen Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte darzustellen, wurde 1967 von Helmut Sembdner im Rahmen der Dokumentensammlung Heinrich von Kleists Nachruhm unternommen 85 . Der Kleist eigentümliche Begriff „Nachruhm" umschreibt bereits die Problematik dieses Unternehmens, denn das Phänomen „Nachruhm" ist literaturwissenschaftlich kaum zu definieren, sondern nur im psychologischen Bereich durch eine eigene Literaturgattung zu erfassen, einem Kaleidoskop der „Vielfalt von Urteilen", der „Anstöße und Bekenntnisse", der „Irrtümerund Einsichten" 86 . Doch der Anspruch, eine Wirkungsgeschichte in Dokumenten zu bieten, impliziert nicht nur Geschichtsverständnis, sondern zugleich eine Steuerung des Materials, die auch dem Leser geschichtliche Zusammenhänge einsichtig macht. Sembdner vertraut bei seiner Auswahl exemplarischer Zitate auf die Aussagekraft der Quellen und die Assoziationsfähigkeit des Lesers. Im Abschnitt Editoren und Biographen sind wichtige Belege für eine erste Orientierung zusammengestellt, die bisher nur anhand verstreuter Publikationen möglich war, aber über einzelne sichtbare Tendenzen hinaus zeichnet sich die Editionsgeschichte selbst nicht ab. Die von Sembdner vielfach aufgesplitterten Quellen bilden ein Mosaik von Informationen, das - scheinbar außerhalb jeder .Wertung' - den daraus zu ziehenden Schlüssen nicht vorgreifen will. Mit positivistischen' Idealen ist diese Darstellungsmethode nicht zu vergleichen. Man wird vielmehr an Wilhelm Scherers Rezension der Literaturgeschichte Hermann Hettners erinnert. Scherer nennt Hettners Buch „vortrefflich, wenn man es als eine Besprechung der literarischen Gegenstände in geschichtlicher Folge" betrachte, es sinke aber „bedeutend im 84

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Herbert Plügge: Grazie und Anmut. Ein biologischer Exkurs über das Marionettentheater von Heinrich von Kleist. - In: Kleists Aufsatz über das Marionettentheater. Studien und Interpretationen. H r s g . v. Helmut Sembdner. Berlin 1967, S. 74. Vgl. meine Besprechung des Bandes (Deutsche Literatur-Zeitung J g . 89, H . 11. N o v e m ber 1968, Sp. 9 9 1 - 9 9 4 ) . Heinrich von Kleists Nachruhm. Eine Wirkungsgeschichte in Dokumenten. H r s g . v. Helmut Sembdner. Bremen 1967. (Samml. Dieterich. 318), Einleitung, S. X I . Neuausg. München 1977. (dtv. Wissenschaft!. Reihe. 4289.)

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Werte, wenn man den Maßstab der Geschichtswissenschaft" anlege. Auch der folgende Einwand läßt sich auf Sembdners Wirkungsgeschichte in Dokumenten übertragen: „Keine noch so treue und gewissenhafte Erforschung der Thatsachen, keine noch so lichtvolle und sinnige Sonderung und Gruppierung des Stoffes kann den Historiker der Pflicht entheben, die Ursachen dessen zu ergründen, was geschieht" 8 7 . Die Scheu, diesen entscheidenden Schritt zu vollziehen, ist nach den Erfahrungen mit der Willkür mancher Kleist-Interpreten begreiflich. Aber die .Dokumentation' kann nicht das .letzte Wort' des Literarhistorikers sein. Wir befinden uns hundert Jahre nach dem Durchbruch des .Positivismus' in einer Situation, die den Anfängen Wilhelm Scherers in vielem verwandt ist. Durch die exakten Wissenschaften zu einer Abkehr von „spekulativer Verirrung" veranlaßt, bildet die genaue Erfassung und Beschreibung des Quellenmaterials die Grundlage der Wissenschaft von der Dichtung. Sie kann jedoch der Hypothesen und Kombinationen ebensowenig entbehren, wie sie die Frage nach den Ursachen der literarischen Phänomene umgehen darf. Für Rolf Busch 8 8 dagegen lag der editorische Aspekt außerhalb des Interesses, obgleich der von ihm für die Beschreibung der „imperialistischen und faschistischen Kleist-Rezeption" gewählte Zeitraum von 1890 bis 1945 zahlreiche Anknüpfungspunkte bietet. Dies überrascht um so mehr, als auch die Rezeption der politischen Schrifte Kleists, an der die Abhängigkeit des editorischen Verhaltens vom politischen Vorverständnis besonders deutlich zum Ausdruck gebracht werden kann, hier kaum Beachtung findet. Es ist im übrigen eine Schwäche dieser „ideologiekritischen Untersuchung", daß sie die Textanalyse von vornherein mit der Bestimmung des .richtigen' oder .falschen' Bewußtseins verbindet und dadurch die strukturellen Bedingungen der Wirkung Kleistscher Texte und die Aktualisierungsfähigkeit ihrer Zeichen aus dem Auge verliert. Der Versuch, die spezifisch editorischen Entscheidungen im Kontext historischer Phänomene sichtbar zu machen, stößt auf eigene Schwierigkeiten. Zwischen der relativen Autonomie des Philologischen und Ästhetischen und den synchron verlaufenden Vorgängen im historisch-politischen, sozialen und kulturellen U m feld sind zwar Zusammenhänge zu vermuten, aber Kausalbeziehungen lassen sich selten unmittelbar herstellen. Hier kann es nur die Aufgabe sein, dieses Umfeld zu beschreiben und abzugrenzen, um weniger die Autonomie als die Relativität des philologischen Denkens zum Ausdruck zu bringen.

87 88

Wilhelm Scherer: Kleine Schriften. Hrsg. v. Konrad Burdach. Bd. 2 (Berlin 1893), S. 66. Vgl. die Literaturangabe in Anm. 25.

1. Kapitel Kleist in der literarischen Öffentlichkeit der Jahre 1 8 1 1 bis 1821 Erste Editionsversuche Neben Beiträgen zu verschiedenen Journalen hat Kleist sechs Buchausgaben drucken lassen: Die Familie Schroffenstein (herausgegeben von Ludwig Wieland und Heinrich Gessner), Amphitryon (herausgegeben von Adam Müller), Penthesilea, Das Käthchen von Heilbronn, Der Zerbrochne Krug und die Erzählungen. Die Familie Schroffenstein war anonym erschienen, der größte Teil der Beiträge zu den Berliner Abendblättern unter Chiffren, die erst Jahrzehnte später aufgelöst werden konnten. Keinem der genannten Dramen war zu seinen Lebzeiten ein Bühnenerfolg 1 beschieden, und von den aufgeführten Werken hat er keines auf dem Theater gesehen. Den verschiedenen Handschriften, bzw. Abschriften, die im Umlauf oder im Besitz von Freunden waren, kommt nur geringe Bedeutung zu. - In den Nachlaßanweisungen Kleists an Ernst Friedrich Peguilhen 2 fehlt jeder Hinweis auf noch zu veröffentlichende eigene Schriften; aus Peguilhens Brief an Frau von Werdeck 3 geht vielmehr hervor, daß Kleist vor seinem Tode Handschriften verbrannt hat, er also kaum auf die .Rettung' seines Werkes bedacht war. Dieses Verhalten überrascht nicht: Kleist schrieb für die Zeitgenossen, nicht für die Nachwelt, so sehr ihn auch der ,Nachruhm' als Phänomen beschäftigt hat und er im Falle der Penthesilea „auf die Zukunft hinaussah" 4 . Mit seinem freiwilligen Tode, diesem „Strudel von nie empfundner Seligkeit" 5 , erlosch für ihn auch das dichterische Lebenswerk. Man wird an die Guiskard- Katastrophe von 1803 und 1

Ihre Uraufführung erlebten: Die Familie

Zerbrochne 2

3

4 5

Schroffenstein

am 9. Januar 1804 in Graz, Der

Krug am 2. März 1808 in Weimar und Das Käthchen von Heilbronn

am 17.

März 1810 in Wien. - Die pantomimische Darstellung einzelner Teile der Penthesilea am 23. April 1811 in Berlin ist nicht als Aufführung zu werten. Gemeinschaftlicher Brief Henriette Vogels und Kleists vom 21. November 1811; ES 194, MP 219, Sbd 228 (II, 888-890). „Kleists {unterlassene Schriften sind nicht in meinen Händen, sondern - bis auf den Prinzen von Hessen Homburg den wie ich glaube Fr. v. Kleist h a t - v o n ihm und Mdme Vogel gemeinschaftlich verbrandt, wenigstens habe ich bis jetzt noch kein Blatt entdecken können, und weiß auch, daß beide sich mehrere Abende hindurch beschäftigt haben, den Ofen mit Manuscript zuheitzen" (ES5,S. 492; vgl. auch Sembdner, Lebenspuren, Nr. 526, dort jedoch stark verkürzt wiedergegeben. Kleists Brief an Goethe; ES 111, MP 124, Sbd 125 (II, 806). Kleists Brief an Marie v. Kleist v. 21. Nov. 1811; ES 192, MP 217, Sbd 227 (II, 888).

Edition u n d Engagement

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den suizidverdächtigen Entschluß Kleists erinnert, sich dem Expeditionskorps Napoleons anzuschließen. Damals schrieb er an Ulrike: „Der Himmel versagt mir den Ruhm, das größte der Güter der Erde; ich werfe ihm, wie ein eigensinniges Kind, alle übrigen hin. Ich kann mich Deiner Freundschaft nicht würdig zeigen, ich kann ohne diese Freundschaft doch nicht leben: ich stürze mich in den Tod" 6 . Die Katastrophe von 1811 steht jedoch unter einem anderen Vorzeichen: nicht das Mißlingen eines Werkes, sondern die fehlende Resonanz läßt ihn ein völliges .Scheitern' empfinden. Am besten zu verstehen ist Kleists Haltung dem eigenen Werk gegenüber aus dem Brief an Karl Frh. von Stein zum Altenstein vom 1. Januar 1809, in dem er, die Hermannsschlacht ankündigend, seine Hoffnungen auf die scheinbar nahe Änderung der politischen Verhältnisse setzt und sich als politischer Schriftsteller empfiehlt: „Und wenn der Tag uns nur völlig erscheint, von welchem Sie uns die Morgenröte heraufführen, so will ich lauter Werke schreiben, die in die Mitte der Zeit hineinfallen" 7 . Diesen hochgestimmten und so schnell zerstörten Erwartungen stelle man die folgenden Sätze aus einem der letzten Briefe an Marie von Kleist gegenüber, um die Hoffnungslosigkeit zu begreifen, die ihn nach der entscheidenden Auseinandersetzung mit seiner Familie in Frankfurt erfaßt hatte: „der Gedanke, das Verdienst, das ich doch zuletzt, es sei nun groß oder klein, habe, gar nicht anerkannt zu sehn, und mich von ihnen als ein ganz nichtsnutziges Glied der menschlichen Gesellschaft, das keiner Teilnahme mehr wert sei, betrachtet zu sehn, ist mir überaus schmerzhaft, wahrhaftig, es raubt mir nicht nur die Freuden, die ich von der Zukunft hoffte, sondern es vergiftet mir auch die Vergangenheit" 8 . Aber nicht nur die persönliche Demütigung und die versagte Anerkennung seiner Werke, auch die hoffnungslose politische Situation Preußens läßt ihn an seiner dichterischen Berufung verzweifeln. Wie immer man die ,Entfremdung' Kleists von der Gesellschaft beurteilen mag, sein gesellschaftliches Bewußtsein ist gerade in der letzten Phase seines Lebens nicht zu übersehen. In der Radikalität dieses Bewußtseins erkannte Kleist schließlich die Unmöglichkeit einer „Wiedervereinigung der Dichtung mit dem Vaterlande" 9 . Eines literarischen Testamentes bedurfte es nicht mehr. 6 7

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Kleists Brief an U l r i k e von Kleist v. 26. O k t . 1803; ES 71, M P 76, Sbd 77 (II, 737). M P 142, Sbd 144 (II, 820), ein Brief, in dem Kleist „die H o f f n u n g e n , die er auf Stein gesetzt hat, nun auf seinen Nachfolger überträgt" (Richard Samuel, Kleists Hermannsschlacht u n d der Freiherr vom Stein, in: Jahrbuch d. dt. Schiller-Ges. 5, 1961, S. 95). Kleists Brief an M a r i e v. Kleist v . 10. N o v e m b e r 1811; ES 191, M P 216, Sbd 222 (II, 883-884). Eine Formulierung R u d o l f K ö p k e s ( H . v . Kleist's Politische Schriften. Berlin 1862, S. 2 ) . Zu der nach der Schlacht von W a g r a m einsetzenden Krise bemerkt dagegen H e i n z Ide ( K l e i s t i m N i e m a n d s l a n d ? In: K l e i s t u n d die Gesellschaft. Eine Diskussion. Berlin 1965, S. 52): „Die V e r z w e i f l u n g , die Kleist nach W a g r a m überfällt, ist nicht nur unzulänglich, sie ist ganz falsch charakterisiert, w e n n man sie die eines Patrioten nennt; es ist die eines M e n schen, der sich d a z u verurteilt glaubt, im Nichts sinnvoll zu leben".

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Edition und Engagement

Es war Kleist nicht vergönnt, als „Schriftsteller in der Mitte der Zeit" den Platz zu finden, den Wieland und Goethe zeitweilig, Schiller aber unbestritten gefunden hatte. Schon in seinem Brief an Cotta vom 24. Juli 1808 bezeichnet er sich als einen, „den die Zeit nicht tragen k a n n " 9 3 . Dies ist auf andere Weise das Thema des Briefwechsels zwischen Kleist und Goethe anläßlich der Übersendung des ersten

Phöbus-Hehes

mit dem Organischen Fragment der Penthesilea

Beitrag 9 b . Kleists Einschränkung, die Penthesilea geschrieben" wie der Zerbrochne

Krug,

als wichtigstem

sei „ebenso wenig für die Bühne

schließt den Gedanken an eine Auffüh-

rung nicht aus, sie beruht auf einer nüchternen Einschätzung der damals herrschenden Theaterzustände. Goethes Antwort, daß es ihn immer betrübe und bekümmere, wenn er „junge Männer von Geist und Talent" sehe, die „auf ein Theater warten, welches da kommen s o l l " 9 c , und der gegen die romantische Schule gerichtete Hinweis auf die Theaterwirksamkeit Calderons führten Kleist den K o n flikt zwischen Werkgerechtigkeit und Praxis nur noch stärker vor Augen. E r konnte das ihm von Goethe entgegengehaltene „hic Rhodus, hic salta!" kaum anders denn als unverhüllte Aufforderung zum Kompromiß empfinden. Die erstmals nach der Überreichung des Amphitryon und durch das Weimarer Mißgeschick des Zerbrochnen

im Jahre 1807 sichtbare Krugs

verschärfte Mei-

nungsverschiedenheit zwischen Goethe und Kleist verträgt keine gewaltsame „Stilisierung ins absolut Gegensätzliche" 9 0 , obgleich das Schicksal des Kleistschen Werkes über ein Jahrhundert lang von dieser vielfach künstlichen und für die Editionsgeschichte folgenreiche Polarisierung Goethe-Kleist bestimmt wurde. Es handelt sich um einen durch Generationsunterschiede' 0 und gesellschaftliche Stellung sowie das Aufeinandertreffen in verschiedenen Entwicklungsphasen bedingten Gegensatz zweier künstlerischer Temperamente, die im Augenblick tiefgreifender politischer und geistiger Umwälzungen als empfindliche Seismographen ihrer Zeit reagierten. Goethe sah im Amphitryon

ein „Zeichen der Z e i t " 1 1 , und er

nannte das W e r k ein „bedeutendes, aber unerfreuliches M e t e o r " . In dieser Tage9a 9b 9c

9d

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ES 117, M P 133, Sbd 135 (II, 814). ES 111, M P 124, Sbd 125 (II, 8 0 5 - 8 0 6 ) . Heinrich Hoffmann von Fallersleben: Findlinge. Bd. 1, H . 2 (Leipzig 1859) S. 1 7 9 - 1 8 0 . Ausgabe Sembdner II, 8 0 6 - 8 0 7 . Vgl. zur Fragestellung Bernhard Blume: Kleist und Goethe, in: Monatshefte f. dt. U n terricht 38 (1946), wiederholt in: Heinrich von Kleist. Aufsätze u. Essays. Hrsg. v. Walter Müller-Seidel (1967) S. 1 3 0 - 1 8 5 , Zitat S. 130; außerdem Hippolyt Loiseau: Goethe et Kleist, in: Revue de l'enseignement des langues vivantes 52 (1935), N r . 2 / 4 , S. 6 5 - 7 4 , 9 7 - 1 0 3 , 1 4 5 - 1 5 2 , der das Verhältnis zwischen Goethe und Kleist aus dem ästhetischen Gegensatz „klassisch" - „romantisch" analysiert, und Hans Joachim Kreutzer (Euphorion 62, 1968, S. 2 0 5 - 2 0 7 ) , vor allem aber Katharina M o m m s e n : Kleists Kampf mit Goethe. Heidelberg 1974. Vgl. hierzu besonders Josef Nadler: Kleist und Goethe, in: Chronik des Wiener Goethe-Vereins 47 (1942) S. 1 - 7 . Tagebuchnotiz v o m 13. und 15. Juli 1807, sowieTag- und Jahreshefte 1 8 0 7 ; vgl. Sembdner, Lebensspuren, N r . 181.

Kleist in der literarischen Öffentlichkeit

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buchnotiz liegen gleichermaßen Anerkennung und Ablehnung, wie auch die Ahnung des Heraufkommens einer neuen Literatur beschlossen. Abweichend von dem seit 1809 ausgeprägt politischen Zeitbewußtsein Kleists, klingt in der Formulierung etwas von der .Krankheit der Zeit' an, der Goethe bewußt entgegentrat 12 . Goethe besaß „einen bemerkenswerten Einblick in das innere Wesen Kleists" 1 3 . Er hat, wenn wir dem Zeugnis Falks Glauben schenken dürfen, wohl auch Kleists Ende vorausgesehen 14 , zumindest die Gefahren des eingeschlagenen Weges erkannt. Sein psychologisches Einfühlungsvermögen beruhte auf Erfahrungen des eigenen Lebens, denen die Hypochondrie 1 5 nicht fremd war, und seine Erklärung, daß Kleists Ausbildung, „wie es jetzt bei vielen der Fall ist, durch die Zeit gestört wurde" 1 6 , traf den neuralgischen Punkt in der Persönlichkeitsstruktur Kleists. Goethes ,Gesundheit' war selbst nur mühsam erworben. Sie war mehr das Ergebnis bewältigter Konflikte, als krisenfeste Lebenskonstante. Die Behauptung, daß er „zumindest die Anlagen des Kleistischen in sich trug" 1 7 , scheint gewagt; aber die Frage, ob Goethe „wirklich kein Organ für die Kleistsche Verbindung von Liebesüberschwang und Todesreife besessen" habe 1 8 , erübrigt sich angesichts der Achilieis-Konzeption.

Im unerbittlichen Zu-Ende-denken ist Goethe Kleist in den

1808/09 entstandenen Wahlverwandtschaften

vielleicht am nächsten gekommen,

wie andererseits gerade hier die Unterschiede am deutlichsten werden. Zeigt Kleist in der Penthesilea den Widerspruch zwischen den Verpflichtungen gegenüber der Gesellschaft und der natürlichen Liebesneigung, d . h . zwischen Fremdbestimmung und Selbstbestimmung, so läßt Goethe in den Wahlverwandtschaften

die

Liebenden in Leidenschafts- und Bewußtseinsakten die Naturnotwendigkeiten von Gesetzen begreifen. In beiden Werken führen gesellschaftlich-soziale Ansprüche und .Verwirrungen des Gefühls' jeweils in äußerster Konsequenz zum tragischen Konflikt und zugleich zur Selbsterkenntnis, aber zwischen Penthesileas „Uberselig! Ganz reif zum T o d ' ' 1 9 und Ottilies Entsagung als tieferer Liebeserfül12

Am schärfsten zum Ausdruck kommend in der Tagebuch-Notiz Goethes vom 11. Juli 1827: „In von der Hagen Tausend und einen Tag, das Märchen von Turandot; tröstend über den Kleistischen Unfug, und alles verwandte Unheil. Wie wohltätig ist die Erscheinung einer gesunden Natur nach den Gespenstern dieser Kranken" (vgl. Sembdner, Nachruhm, N r . 278a).

13

Elger Blühm: Die Wandlungen des Kleistbildes, vornehmlich aufgewiesen an der Auffassung der Penthesilea (Masch.) Diss. Greifswald 1951, S. 61. „Sein Hypochonder richtet ihn als Menschen und Dichter zu Grunde" (vgl. Sembdner, Lebensspuren, N r . 384). Vgl. hierzu S. Rahmer: Das Kleist-Problem (1903) S. 3 2 : „Hypochondrie deckt sich bei Goethe ungefähr mit dem, was wir gegenwärtig als Nervenschwäche, Reizbarkeit, Verstimmung bezeichnen". Nach Aufzeichnungen Falks (Sembdner, Lebensspuren, N r . 384). Blume, S. 141. Joachim Müller: Goethe und Kleist. - In: Goethe und seine großen Zeitgenossen. Sieben Essays. Hrsg. v. Albert Schaefer. München 1968, S. 1 4 0 - 1 6 5 . Zitat S. 143. Penthesilea V. 2864/65.

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Kleist in der literarischen Öffentlichkeit

lung liegen - von Kleist nicht einzuholende - Lebenserfahrungen und Möglichkeiten subtiler Konfliktbewältigungen 2 0 , die auch den eigentlichen Grund des Nichtzueinanderfindens beider Dichter verdeutlichen. Zutreffend bemerkt Joachim Müller: „Goethe traf auf Kleist in einer Situation, in der er selbst glaubte, das Problem des Tragischen durch den Ausblick auf eine aussöhnende Abrundung bewältigt zu haben. Deshalb wehrte er die katastrophale Tragik, die ihm insbesondere in Kleists Penthesilea begegnete, so leidenschaftlich ab, daß er dem jungen Dichter gegenüber ungerecht wurde, aber dennoch wußte er vom Tragischen und seiner dichterischen Figuration soviel, daß seine Abwehrreaktion sich mit innerer Unsicherheit und mit menschlicher Teilnahme verband" 2 1 . Kleist hat Goethe zunächst umworben und wohl auch als Vorbild angesehen. Seine späteren epigrammatischen Ausfälle, in ihrer Schlagkraft den Xenien

ver-

wandt, ändern an seiner Bewunderung nichts; dem durch Ernst von Pfuel überlieferten Ausspruch: „Ich werde ihm den Kranz von der Stirne reißen" 2 2 steht die Formulierung im Brief an Marie von Kleist aus dem Sommer 1811 gegenüber, daß er sich mit Goethe „auf keine Weise zu vergleichen wage" 2 3 . Der gelegentlich Werther'sche Tonfall in den Briefen des jungen Kleist, ob nun als unmittelbarer Einfluß Goethes oder als eine andere Manifestation von .Weltschmerz' zu denken 2 4 , und Spuren des Wilhelm Meister, die über die Reminiszenzen 2 5 hinaus ein Erlebnisschema Kleists 2 6 vermuten lassen, zeigen eine Assimilationsfähigkeit der Gedankenwelt Goethes gegenüber. Am stärksten ist der Einfluß in der Wirkung der Gestalt Egmonts auf den Prinz von Homburg,

nicht nur in der Identität ein-

zelner Szenenmomente und Gesten 2 7 , in verwandten Motiven und Wortanklän-

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Es ist vermutet worden, daß Goethe sich in den Wahlverwandtschaften mit Kleist auseinandergesetzt hat. Vgl. hierzu die unterschiedlichen Beurteilungen von Werner Günther: Goethe und Kleist. Die Novelle-Die wunderlichen Nachbarskinder eine Umdeutung des Penthesilea-Motivs?In: Günther, Formund Sinn. Bernu. München 1968,S. 1 1 1 - 1 2 7 u . Katharina Mommsen: Kleists Kampf mit Goethe. Heidelberg 1974, S. 113-119. Joachim Müller, S. 163-164. Aufgezeichnet von A. Wilbrandt (vgl. Sembdner, Lebensspuren, Nr. 112. ES 185, MP 198, Sbd 212 (II, 875). Vgl. hierzu John Charles Blankenagel: Wertherian Tendencies in Heinrich von Kleist, in: Journal of English and Germanic Philology 28 (1929) S. 8 6 - 1 1 0 . Vgl. Paul Hoffmann: Goethe und Heinrich von Kleist, in: Goethe-Jahrbuch 29 (1908) S. 1 9 3 - 1 9 5 und Friedr. Michael: Goethes Amtmann u. Kleists Dorfrichter, in: Jahrbuch d. Kleist-Ges. 1922, S. 7 5 - 8 4 . So bemerkt Bernhard Blume (S. 138): „der junge Kleist lebt, was der junge Goethe dichtet. Er tut in seiner Sphäre genau dasselbe, was Wilhelm Meister in der seinen tut". Ein ähnliches Erlebnisschema bietet Schillers Max Piccolomini im Wallenstein; vgl. Kleists Brief an Wilhelmine von Zenge vom 16. Aug. 1800, ES 12, MP 12, Sbd 12 (II, 518). Die Degenabnahme (Egmont, Akademie-Ausg., S. 123/Prinz von Homburg V. 766ff.) und das Reichen des Kranzes (Egmont, Schlußszene/Prinz von Homburg, Anfang u. Schluß).

Kleist in der literarischen Öffentlichkeit

33

gen 28 , sondern vor allem im gemeinsamen Vorwurf, dem schicksalhaften Weg des Ausnahmemenschen, der nur seinem Genius folgt. Egmont und der Prinz stehen sich in ihren Gefängnismonologen29 sehr nahe, aber im Gegensatz zu Egmonts Märtyrerrolle ist das Verhalten des Prinzen durch Handeln charakterisiert. Während Sigurd Burckhardt30 hierin eine bewußte Antwort auf Goethes EgmontKonzeption zu erkennen glaubt, betont Donald H. Crosby 31 die Gleichartigkeit der ,Helden'-Typen und die bei Kleist vollzogene,Uberwindung des Tragischen', die Goethes Begriff vom Tragischen keineswegs fern steht. Doch die Gegensätze sind nicht zu übersehen, sie entwickeln sich bei Kleist mehr unbewußt und in Konzentration auf die eigene Selbstverwirklichung, gewinnen aber in der Folgezeit für die unterschiedliche Reaktion beider Dichter auf die Krisen der Zeit exemplarische Bedeutung. Goethe spürte schon im Amphitryon die Modernität Kleists. „Er mußte", wie Elger Blühm richtig erkannte, „vor der Erscheinung eines neuen Menschentypus warnen, dessen Charakteristikum die innere seelische Zerrissenheit und die auf den Instinkten beruhende dämonische und zerstörerische Leidenschaft war" 32 . Die Jungdeutschen sahen gerade in dieser Zerrissenheit mehr als ein Krankheitsphänomen; für sie waren es Leiden eines politischen Werther', in denen sich die Krise der Nation manifestierte33. Wolfgang Goetz hat einmal überspitzt formuliert, Kleist sei „am Publikum gestorben" 34 . Dem ist entgegenzuhalten, daß Kleist trotz zahlreicher Mißerfolge „zu seinen Lebzeiten ein bekannter Schriftsteller"35 war, wenn auch das Publikum in den beiden ersten Jahrzehnten der Wirkungsgeschichte seiner Werke nur schwer zu bestimmen ist. Die verschiedenen Briefpartner in der Frühzeit sind als Objekte seiner Monologe ebenso .Publikum' wie die geselligen Zirkel, in denen er seine Werke vorlas, und die Leser der Journale, die z.T. nur indirekt auf ihn aufmerksam wurden. Cottas einflußreiches Morgenblatt für gebildete Stände er28

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Erinnert sei nur an die Nachtwandler-Charakterisierung V. 24f. (Egmont: „und wenn ich ein Nachtwandler wäre", S. 58), an V. 1374: „Mir ziemts hier zu verfahren, wie ich soll!" (Egmont: „Ich handle wie ich soll", S. 57), an das Wort: „Ach, was ist Menschengröße, Menschenruhm!" V . 1174 (Regentin: „ O was sind wir Großen auf der Woge der Menschheit?" S. 16/17) und das .Versehen' Egmonts (Alba: „Unvorsichtig entwickelst du die Falten deines Herzens", S. 122). Vgl. Egmont: „Du bist nur Bild, Erinnrungstraum des Glücks [ . . . ] " (S. 132) und den Monolog (Prinz von Homburg, V. 1286 ff.: „Das Leben nennt der Derwisch eine Reise". Sigurd Burckhardt: Egmont and Prinz Friedrich v. Homburg; Expostulation and Reply, in: The German Quarterly 36 (1963) S. 1 1 3 - 1 1 9 . Donald H . Crosby: Kleist's Prinz von Homburg - an intensified Egmont? In: German Life and Letters 23 (1970) S. 3 1 5 - 3 2 2 . Elger Blühm, S. 62. Vgl. Theodor Mündt: Geschichte der Literatur der Gegenwart. Vorlesungen. Berlin 1842, S. 1 5 6 - 1 5 7 . Wolfgang Goetz: Kleist und sein Publikum. Vortrag. - In: Jahrbuch der Kleist-Gesellschaft 1929/30 (1931) S. 1 - 1 3 , Zitat S. 2. Elger Blühm, S. 57.

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Kleist in der literarischen Öffentlichkeit

reichte einen breiten Leserkreis, das luxuriös aufgemachte KunstblattPhöbus erweckte das Interesse der Literaten; die Berliner Abendblätter mit ihrem anfangs „eignen Charakter von Popularität" 36 hatten sich die „Unterhaltung aller Stände des Volkes" und die „Beförderung der Nationalsache überhaupt" 37 zum Ziel gesetzt, und Kleists Bücher fanden, obgleich der Absatz sich in Grenzen hielt, durchaus Käufer. Entscheidend für Kleist war nicht, daß er gelesen und rezensiert wurde, sondern daß die Theater sich ihm verschlossen. Als Theaterschriftsteller ersehnte er, hierin Schiller nacheifernd, das spektakuläre Forum der Bühne. Seine Klage über die „Mißgriffe" im Kätheben von Heilbronn - eine Folge seiner Absicht, das Stück „für die Bühne passend zu machen" 38 , steht keineswegs im Widerspruch zum Verlangen nach der Öffentlichkeit des Theaters. Mit derPentbesilea hatte Kleist zwar einen neuen Weg beschritten, der ihn die Aufgabe des Theaters unter veränderten Aspekten sehen ließ, aber dichterisches Selbstverständnis und Ruhmbegierde 39 konnten auf verschiedenen Ebenen nebeneinander bestehen. So findet auch der in der Penthesilea erreichte Standpunkt eines Theaters der Zukunft seinen Gegensatz in der für den „Augenblick berechneten" 40 Hermannsschlacht. Hätte Kleist das Wirkungsmoment seiner Werke gering geschätzt, wäre seine Enttäuschung über Mißerfolg und Ablehnung kaum zu verstehen. Vergeblich hoffte er auf die Aufführung des Prinz von Homburg im Königlichen Schauspielhaus, auch das Privattheater des Prinzen Radziwill scheint sich des Werkes nicht angenommen zu haben 41 . An eine Verbreitung seiner Stücke durch kleine Schloßtheater war ohnehin nicht zu denken 42 . Kleists Worte, er „schenke die Hermannsschlacht den Deutschen" 43 , und die an die Prinzessin Wilhelm gerichtete Widmung des Prinz von Homburg blieben ohne Echo.

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Brief an Friedrich Wilhelm III. vom 17. Juni 1811. ES 175, MP 202, Sbd 204 (II, 870). Aus der „Erklärung" Kleists, in: BA 22. Okt. 1810. Brief an Marie v. Kleist. ES 186, MP 197, Sbd 211 (II, 874). So schreibt Reinhold Stolze (Kleists Käthchen von Heilbronn auf der deutschen Bühne. B erlin 1923, S. 13): „An der Stärke dieser Erbitterung über Ifflands Ablehnung des Käthchen läßt sich ermessen, wie sehr sich Kleist danach gesehnt haben mag, einmal mit eigenen Augen eins seiner Werke auf der Bühne zu sehen, und wie gewaltig ihn die Enttäuschung über die mißgönnte Freude niederdrückte, zumal er immer wieder beobachten konnte, daß seichte Rührstücke von sentimentalen Halbpoeten im Berliner Schauspielhaus Tür und Tor offen fanden und die Herzen des Publikums bezauberten". Brief an Collin vom 20. April 1809. ES 129, MP 147, Sbd 149 (II, 824). Eine Aufführung im Privattheater des Prinzen Radziwill war bisher nicht nachzuweisen; vgl. Egon-Erich Albrecht: Heinrich von Kleists Prinz Friedrich von Homburg auf der deutschen Bühne. (Masch.) Diss. Kiel 1921, S. 11 - 1 2 und die Einleitung Richard Samuels zur Ausgabe des Prinz von Homburg (1964) S. 1 2 - 1 5 . Herbert A. Frenzel (Brandenburg-preußische Schloßtheater. Berlin 1959, S. 233) erwähnt nur eine Aufführung des Zerbrochnen Krugs in der Inszenierung Ludwig Tiecks auf dem Theater im Neuen Palais am 20. Juli 1847. Brief an Collin v. 20. April 1809. ES 129, MP 147, Sbd 149 (II, 824).

Kleist in der literarischen Öffentlichkeit

Die „stillschweigende Verwerfung" 4 4 des Prinz von Homburg

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am preußischen

Hofe hat nach allgemein anerkannter Anschauung wesentlich zur Mißstimmung Kleists beigetragen, ob sie als sein „Todesstoß" anzusehen ist, mag dahingestellt bleiben. Es war jedenfalls eine „poetische Verblendung" Kleists, von der Widmung des Stückes an die Prinzessin Wilhelm „Hofgunst zu erwarten". Ganz sicher scheint er seiner Sache selbst nicht gewesen zu sein. Das Widmungsgedicht enthält Demutsformeln 45 , die der Kritik zuvorzukommen suchen; auch Marie von Kleists Brief an den Prinzen Wilhelm sollte offensichtlich der schonenden Vorbereitung 46 auf die ungewöhnlichen Szenen des Werkes dienen. „Man hatte", wie Bülow auf Grund Tieckscher Informationen ausführt, „dem Stück erwartungsvoll entgegengesehen und fand sich in den daran gestellten Anforderungen schwer enttäuscht". Sowohl Kleist als auch der Hof gingen dabei von falschen Voraussetzungen aus. Das Stück war in der Charakterzeichnung des , träum wandlerischen' Prinzen sowie der schonungslosen und für einen preußischen Offizier undenkbaren Offenbarung der Todesfurcht anstößig; es erwies sich zur Verherrlichung der brandenburgisch-preußischen Geschichte als unbrauchbar und verfehlte damit die Grundbedingungen des höfischen Repräsentationstheaters 47 . Der H o f war naturgemäß nicht in der Lage, die Rolle des Dichters anders als in der des poeta laureatus 4 8 zu sehen, die Kleist zumindest der Königin Luise gegenüber für kurze Zeit gespielt hat 4 9 . Mit gutem Grund hatte man daher den bei Hofe angesehenen Stabs-

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Eduard von Bülow: Uber Heinrich von Kleists Leben, in: Monatsblätter zur Ergänzung der Allgemeinen Zeitung, November 1846, S. 526 (vgl. auch Sembdner, Lebensspuren, Nr. 505b). „Jetzt trösten, jetzt verletzen seine Klänge. Und solcher Antwort kann er sich nicht freun. Doch Eine denkt er in dem Kreis der Menge, Der die Gefühle seiner Brust sich weihn". Die 7ijsso-Reminiscenz: „Ich bin nur e i n e r , e i n e r alles schuldig" (V. 1033) ist nicht zu überhören. „qui sûrement renferme de grandes beautés, mais sur laquelle, si j'en juge par l'effet qu'elle a fait sur moi, il seroit nécessaire de prévenir Madame la Princesse, et surtout il seroit nécessaire qu'elle connut l'auteur, et toutes ses idées sur le Drame puisée dans le Shakespeare" (vgl. Sembdner, Lebensspuren, Nr. 506a). Vgl. hierzu auch Helmut Sembdner : Wie der Prinz von Homburg der Prinzeß Wilhelm überreicht wurde, in : Jahrbuch d. dt. Schillerges. 1 (1957) S. 169-175. Vgl. hierzu: Eckehard Catholy: Der preußische Hoftheater-Stil und seine Auswirkungen auf die Bühnen-Rezeption von Kleists Schauspiel Prinz Friedrich von Homburg, in: Kleist und die Gesellschaft. Eine Diskussion (Berlin 1965) S. 7 5 - 9 4 . So komm t in der Kabinettsorder Friedrich Wilhelms III. aus dem Jahre 1799 der Wunsch zum Ausdruck, daß die Dichter sich der vaterländischen Geschichte, insbesondere den Helden des brandenburgischen Hauses zuwenden sollten (vgl. Friedrich Braig, Heinrich von Kleist. München 1925, S. 377). Kleist scheint durch Adam Müllers 17. Vorlesung der Elemente der Staatskunst (24. Januar 1809) auf diese Kabinettsorder und damit vielleicht auch auf den Stoff des Prinz von Homburg aufmerksam gemacht worden zu sein. Vgl. die Gedichte an die Königin Luise I, 3 3 - 3 5 .

36

Kleist in der literarischen Öffentlichkeit

kapitän Friedrich von Luck 5 0 ausersehen, das Terrain für eine günstige Aufnahme des Werkes bei der Prinzessin Wilhelm vorzubereiten. Kleist dagegen verkannte, daß seine Adelsprivilegien nicht ausreichten, um sich den H o f geneigt zu machen. Für den König blieb er der entlaufene Offizier und „Versschemacher" s l . Am Geschmack des Hofes aber orientierten sich weitere Kreise. So berichtet Heine 1822 aus Berlin, das Stück sei „noch immer ein Erisapfel in unseren ästhetischen Gesellschaften" 5 2 , und es vergingen weitere sechs Jahre, bis der Prinz von Homburg

- in

verstümmelter Gestalt - die Berliner Bühne erreichte 5 3 . Der unmittelbare Anlaß der Ablehnung ist jedoch bei der Prinzessin Wilhelm zu suchen, die in der frühen Editionsgeschichte der Werke Kleists eine Schlüsselstellung einnimmt. Es sei daher an ihre Rolle am preußischen H o f , ihren geistigen Horizont und die Möglichkeiten ihres Einflusses erinnert. Caroline von Rochow, geb. von der Marwitz-Friedersdorf, von 1814 bis 1818 Hofdame der Prinzessin Wilhelm, zeichnet in ihren Erinnerungen54

ein Bild ihrer

Persönlichkeit. Nach dem frühen Tode der Königin Luise am 19. Juli 1810 stand sie als „einzige ältere und verheiratete Prinzessin an der Spitze des Hofes" und kam ihren Repräsentationspflichten gewissenhaft nach. Ihre „Popularität" war „außerordentlich groß. Aus allen Ständen wandte man sich an sie, um Trost in Gemütsleiden, oder Hülfe in Bedrängnissen zu suchen; fast jedermann hatte Zutritt zu ihr und schied mit dem Gefühl, eine teilnehmende Beschützerin gefunden zu haben" 5 5 . Kleist übertrug seine Verehrung der Königin auf die neue Repräsentantin des Staates und war darin nichts anderes als ein Bittsteller 5 6 . Man muß sich vergegenwärtigen, daß die Prinzessin Wilhelm mit „einem sehr ungleichen Gemahl" verheiratet war und „in einem Lande und einer Familie" lebte, „die ihr nicht gefielen" 5 7 . Die Sache Preußens war nicht unbedingt die ihre, obgleich sie die politische Erneuerungsbewegung unterstützte. Sie hatte sich eine

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Vgl. zu Friedrich von Luck (18. Okt. 1769- 16. April 1844) Friedrich Strehlke: Goethe's Briefe. Bd. 1 (Berlin 1882) S. 424-427 und Rieh. Samuel in der Einleitung zur Ausgabe des Prinz von Homburg (1964) S. 27, außerdem Helmut Sembdner, in: Jahrbuch der dt. Schillergesellschaft 1 (1957) S. 173-175. In den Berliner Abendblättern (15. Okt. 1810) war F. von Luck mit dem Gedicht Zum Geburtstag des Kronprinzen hervorgetreten. Vgl. Kleists Brief an Ulrike von Kleist vom 24. Juni 1804. ES 72, MP 77, Sbd 78 (II, 738). Vgl. Sembdner, Nachruhm, Nr. 553. Vgl. S. Rahmer: Heinrich von Kleist als Mensch und Dichter (Berlin 1909) S. 315-332. Außerdem Egon-Erich Albrecht, S. 54 - 66 und Eckehard Catholy, S. 78ff. Caroline v. Rochow u. Marie de la Motte-Fouque: Vom Leben am preußischen Hofe 1815-1852. Bearb. v. Luise v. d. Marwitz (Berlin 1908) S. 59ff. Ebda, S. 65. Was im Rahmen der üblichen Umgangsformen als selbstverständlich empfunden wurde. So schreibt auch Hitzig an Fouque am 18. Juni 1812: „das Stück ist übrigens in einer allerliebsten Dedikation der Prinzessin zugeeignet, so daß vielleicht auch bei Hofe etwas dafür geschehen könnte" (Sembdner, Nachruhm, S. 112). Caroline v. Rochow, a.a.O., S. 61.

Kleis: in der literarischen Öffentlichkeit

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gewisse Selbständigkeit bewahrt und scheint in der Erziehung ihrer Kinder sehr liberal gewesen zu sein 58 . Ihre „religiöse Richtung" war „eine mystische und sehr feste"; sie wurde später „die einflußreichste Förderin der pietistischen Richtung und die Beschützerin ihrer Träger'* 59 . Nachgesagt wird ihr auch, daß „sie wohl mehr einen romantischen Sinn als ein leidenschaftliches Herz besaß" 6 0 . Diese Art von Romantik, ein „Leben von Gedanken und Gefühlen apart zu führen", zeigt sich u.a. im Gedankenaustausch mit ihrer Schwester Auguste von Hessen-Homburg über Hölderlin 61 . Die literarische Konversation am preußischen Hof war auf ihren Geschmack bezogen: An Sonnabenden gab es „sogenannte EdukationsTees, wo alle jungen Prinzen und Prinzessinnen mit Hofmeistern, Gouvernanten, Damen, Adjutanten und einigen affides [ . . . ] sich bei der Prinzeß einfanden und irgend eine Lektüre, welche oft der Herzog Karl von Mecklenburg 62 hielt, den Abend schloß. Diese bewegte sich meist im romantischen Gebiet und die Romane von Fouque hatten in jener Zeit ihre höchste vogue" 63 . Die Bemerkung Bülows über das „Schweigen" der Prinzessin 64 und Tiecks Information, sie habe das Manuskript „liegengelassen" 65 , deuten einen indirekten Einspruch - sowohl zu Lebzeiten Kleists als auch danach - gegen Aufführung und Druck des Prinz von Homburg an. Ausschlaggebend war dafür gewiß nicht allein die Todesfurchtszene, sondern wohl mehr ein Unbehagen, in dem verschiedene Momente zusammenkamen: Das heikle Thema der Insubordination, das unangenehme Erinnerungen an die Prinzeneingabe vom 2. September 1806 und an die kritische politische Situation im Frühjahr 1809 weckte, ließ ebenso wie die dichterische Freiheit gegenüber dem historischen Prinzen von Homburg unwillkürlich Vorbehalte entstehen. Heines spätere Notiz, er habe gehört, eine „edle Dame" glaube, „daß ihr Ahnherr in einer unedlen Gestalt" in dem Stück erscheine 66 , mag auf Gerüchten beruhen. Aber im Sinne des damaligen Ehrenkodex m u ß t e die Prinzessin auf den Ruhm des Namens Hessen-Homburg 67 bedacht sein, der durch das Stück, wie auch immer sie seine poetischen Qualitäten eingeschätzt haben 58 59 60 61

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Ebda, S. 6 2 _ 6 3 . Ebda, S. 64. Ebda, S. 61. Hölderlin: Sämtliche Werke. Hrsg. v. Friedrich Beißner. Bd. 7. Dokumente, hrsg. v. Adolf Beck, T. 2 (1972) S. 1 4 7 - 1 5 6 (Briefe aus den Jahren 1 8 1 6 - 1 8 2 5 , mit Anm.). Hinweis auf die intrigante Figur des Herzogs, in: Caroline v. Rochow, a. a. O . , S. 86f. Ebda, S. 59/60. Vgl. zur Lektüre der Prinzessin Wilhelm: Leoni Wuppermann, Prinzessin Marianne von Preußen geborene Prinzessin von Hessen-Homburg in den Jahren 1 8 0 4 - 1 8 0 8 . Diss. Bonn 1942, S . 9 , Anm. 4. Vgl. Sembdner, Lebensspuren, Nr. 505b. Vgl. die Köpke-Notiz zu den Äußerungen Tiecks, in: Euphorion 62 (1968) S. 161. Vgl. Sembdner, Nachruhm, N r . 553. Dies umso mehr, als der brandenburgische Historiograph Jean Pierre Erman bereits 1804 die Legende von der angeblichen Insubordination des Prinzen von Homburg aus der Welt zu schaffen versucht hat (vgl. hierzu Klaus Kanzog: H . v. Kleist, Prinz Friedrich von Homburg. Text, Kontexte, Kommentar. München 1977, S. 1 1 3 - 1 1 9 ) .

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Kleist in der literarischen Öffentlichkeit

mag, befleckt wurde 6 8 .,Einspruch' bedeutet nicht staatliche Zensur im Sinne eines Rechtsaktes. Die Prinzessin war eine sanfte Autorität, und angesichts ihrer menschlichen Qualitäten wäre durchaus zu begreifen, daß Marie von Kleist es nicht wagte, Kleists Prinz von Homburg

unter Mißachtung der persönlichen Ge-

fühle der Prinzessin herauszugeben. Dennoch scheint die Prinzessin Kleist gewogen gewesen zu sein. Fouque behauptet Hitzig gegenüber am 29. Juni 1812: „auf Heinrichs und meine Poetenschaft gibt sie viel'' 6 9 . Nach dem Tode Kleists hat sie ihre Hilfsbereitschaft durch eine Unterstützung Ulrikes zu erkennen gegeben; eine Tagebuch-Notiz vom 8. Januar 1833 zeigt, daß ihr das Schicksal Kleists auch nach zwei Jahrzehnten nicht völlig gleichgültig war 7 0 . Staatsraison u n d persönliche Rücksichten setzten Grenzen, die auch sie nicht überschreiten konnte. Welch große Rolle moralische Ansichten bei der Beurteilung des Falles Kleist spielten, ist aus der Reaktion Friedrich Wilhelms III. auf die Anzeige Peguilhens vom 26. November 1811, aber auch aus dem nachhaltigen Zeitschriftenecho zu ersehen. Peguilhen hatte in der Vossischen Zeitung lediglich mitgeteilt, daß Henriette Vogel und Kleist diese Welt „aus reinem Verlangen nach einer bessern" 7 1 gemeinschaftlich verlassen hätten, daß er beabsichtige, einige Bruchstücke über die Katastrophe vorzulegen, und das Publikum gebeten, „sein Urteil bis dahin aufzuschieben, und nicht zwei Wesen lieblos zu verdammen, welche die Liebe und Reinheit selbst waren". Er hatte allerdings auch von einer Tat gesprochen, „wie sie nicht alle Jahrhunderte gesehen haben", und die Behauptung gewagt, Kleist und Henriette könnten „nicht mit einem gewöhnlichen Maßstab" 7 2 gemessen werden. Besonders diese Passage scheint, wie aus den späteren Aufzeichnungen Peguilhens 7 3 hervorgeht, allenthalben Entrüstung ausgelöst zu haben. Die Kabinettsordre vom 27. November 1811, die das Erscheinen der angekündigten Schrift untersagt, deutet die von menschlicher Anteilnahme zeugende Annonce als „öffent-

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Möglicherweise fürchtete sie auch Anspielungen auf Affären ihrer Brüder, die von Caroline von R o c h o w (S. 6 3 / 6 4 ) als „sehr schön, alle tapfer, meist roh, teilweise exzentrisch, aber alle romantisch" bezeichnet werden. Vgl. Sembdner, Nachruhm, N r . 121.

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Tagebuch-Aufzeichnung der Prinzessin Wilhelm v o m 8. Januar 1833 (vgl. Sembdner, Lebensspuren, N r . 562).

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A m 28. November 1811 auch in der Spenerschen Zeitung, wo am 2 6 . November die T o desanzeige F r . Louis Vogels erschienen w a r ; vgl. Sembdner, Lebensspuren, N r . 540 u. 539.

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Hierzu schreibt die Zeitung für die elegante Welt vom 6. Dezember 1811: „Entsetzlich fand man besonders die Idee, daß die sogenannten höheren Naturen nach einem ganz andern Maßstab als dem gewöhnlichen der Moral gemessen werden müßten. Sind diese höheren Naturen privilegiert, schauderhafte Verbrechen zu begehen, und wegen Ausbrüchen ihrer Raserei gerühmt zu werden, so laßt sie uns fliehen wie die Pest!!" (vgl. Sembdner, Nachruhm, N r . 2b).

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S. Rahmer, Heinrich von Kleist als Mensch und Dichter. Berlin 1909, S. 157 ff.

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liehe A n p r e i s u n g " des „vereinten M o r d e s und S e l b s t m o r d e s " 7 4 und macht aus dem F r e i t o d eine Angelegenheit der Religion und Sittlichkeit. A b e r diese waren auch für Peguilhen im Grunde unantastbar. So liest man in seinen Aufzeichnungen : „ I c h hielt das Verwerfliche der T a t v o r dem Richterstuhl der M o r a l und Religion für zu entschieden, als daß es mir hätte einfallen k ö n n e n , darüber noch U n tersuchungen a n z u s t e l l e n " 7 5 . D a ß es hier in erster L i n i e u m einen politischen Aspekt der M o r a l ging, zeigen die beiden Fassungen seines Entschuldigungsbriefes an den Staatskanzler H a r d e n b e r g 7 6 . Peguilhen leugnet nicht, daß es seine A b s i c h t gewesen sei, Kleists T a t „ z u entschuldigen". E r rechtfertigt seinen Plan jedoch mit dem Hinweis auf die eigentliche Intention: „ I c h wollte das Ereignis f ü r d a s V a t e r l a n d benutzen, und wahrlich nicht Selbstmord predigen, sondern die schnöde F u r c h t vor dem T o d e , eine Krankheit des Zeitalters, b e k ä m p f e n " 7 7 . V o r allem in der zweiten Fassung, in der er die stark emotionalen Z ü g e der ersten mildert und v o r dem „über alles geliebten und verehrten, ohnehin schon tief gebeugten K ö n i g e " seine „ganze Strafbarkeit" b e k e n n t , unterwirft sich Peguilhen nachdrücklich dem königlichen Willen, aber er gibt auch zu bedenken, daß man angesichts des erschütternden E i n d r u c k s der T a t „ w o h l über den Menschen den Staatsdiener vergessen 7 7 k o n n t e . D a s politische M o t i v der Handlungsweise Peguilhens k o m m t am stärksten in der ersten Fassung, insbesondere in der dem B r i e f beigefügten „ A n l a g e " z u m Ausdruck. D i e „Strafbarkeit" Peguilhens lag in der für einen preußischen B e a m t e n unvorstellbaren „ E x z e n t r i z i t ä t " . Peguilhen verteidigt sich daher mit dem A r g u m e n t , daß er in seinen Dienstgeschäften „ w e d e r S c h w ä r m e r n o c h exzentrisch" sei. E r räumt allerdings ein, daß er „durch außerordentliche H a n d l u n g e n , die von einer seltenen Stärke des Geistes und Kraft des Willens zeigen, o h n e welche nichts G r o ßes zu erwarten ist, e n t h o u s i a s m i r t " 7 8 werde. D o c h nutzt er diesen „ F e h l e r " zu seiner Rechtfertigung: „ M ä n n e r , die gar keinen Enthousiasmus k e n n e n , die selbst

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Zuerst bekannt gemacht von R. Steig: Kleist's Berliner Kämpfe. Berlin u. Stuttgart 1901, S. 669f. (vgl. Sembdner, Lebensspuren, Nr. 541), der Peguilhens „erbärmliches Schreiben an Hardenberg" zu stark abwertet. S. Rahmer, Heinrich von Kleist als Mensch und Dichter. Berlin 1909, S. 160. Die erste Fassung des Briefes (2. Dezember 1811) zuerst veröffentlicht von Paul Lindau (Die Gegenwart 1873, Nr. 34, S. 118 (danach korrigiert in: Sembdner, Lebensspuren, Nr. 542, aber ohne Anrede und Unterschrift, in der Neuaufl. der Lebensspuren Mai 1969 stark gekürzt). - Die zweite Fassung (3. Dezember 1811) abgedruckt bei Dirk Grathoff: Die Zensurkonflikte der Berliner Abendblätter, in: Ideologiekritische Studien zur Literatur. Essays. Bd. 1, hrsg. v. Volkmar Sander. Frankfurt a.M. 1972, S. 166-168. Der Satz ist in beiden Fassungen fast gleichlautend. In der zweiten Fassung sind die Worte „für das Vaterland" unterstrichen; außerdem ergänzt Peguilhen den Satz durch die Bemerkung, er habe eine „Parallele mit dem rühm würdigeren Tode Ewald v. Kleists bei Kunnersdorf aufstellen" wollen. In beiden Fassungen bis auf eine Satzumstellung und die Streichung des Wortes „Stärke des Geistes" (vor: und Kraft des Willens) identisch.

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wenn das Vaterland ruft, ruhig f o r t calculiren, werden E w . Exzellenz H ö c h s t selbst nicht für die würdigsten Staatsdiener h a l t e n " . D a s beigelegte vertrauliche B l a t t belegt die „ N a t u r " seiner Schwärmerei „durch T a t s a c h e n " , d. h . Peguilhen gibt sich freimütig als preußischer Patriot zu erkennen, indem er auf seine Aktivität im Zusammenhang mit den von der Regierung nur halbherzig geduldeten V o r bereitungen zur Befreiung Preußens von der „jetzigen Erniedrigung und A b h ä n gigkeit" verweist. Peguilhen erwähnt u. a. einen Plan zur Nationalbewaffnung und allgemeinen Militärbildung der J u g e n d , die Vorbereitung eines „ c o u p de m a i n " in Magdeburg und seine Beziehungen zu Schill. E r schließt mit der Versicherung, daß „ein rühmlicher T o d fürs V a t e r l a n d " sein „ h ö c h s t e r W u n s c h " sei. Peguilhen scheint sicher gewesen zu sein, daß H a r d e n b e r g in diesen Enthüllungen keinen „neuen B e w e i s " seiner Exzentrizität erblicken w ü r d e 7 9 . D u r c h das G e ständnis der Insubordination wäre er freilich dem K ö n i g e gegenüber in eine n o c h schlimmere Lage geraten. H a r d e n b e r g hat Peguilhen nicht nur - wie gewünscht das Blatt, sondern auch den B r i e f zurückgegeben und ihn offenbar veranlaßt, einen neuen B r i e f zu schreiben, der zu den A k t e n g e n o m m e n und dem K ö n i g als Entschuldigung vorgelegt werden k o n n t e . I n der zweiten Fassung sind die E n t h ü l lungen durch den neutralen Hinweis auf die „eigne, durch eine schon 5 J a h r dauernde ungewiße Lage, und m e h r noch durch die Lage des Vaterlandes zur T r o s t l o sigkeit sich hinneigende G e m ü t s s t i m m u n g " ersetzt w o r d e n 8 0 . Sehr geschickt begegnet Peguilhen auch dem V o r w u r f der Exzentrizität mit dem Satz: „ D e r U n glückliche ist viel reitzbarer als der G l ü c k l i c h e " , der indirekt auch eine Verteidigung Kleists einzuschließen scheint. A n s t ö ß i g blieb die Charakteristik der T a t Kleists als „außerordentliche H a n d l u n g " von einer „seltenen Kraft des W i l l e n s " . D e r K ö n i g m u ß t e sich dadurch an ähnliche Willensakte preußischer Offiziere erinnern; bereits in seinem B r i e f an G r a f von G ö t z e n vom 12. M ä r z 1809 hatte er die entsprechende A n t w o r t erteilt: „ I c h [ . . . ] werde keine Anarchie in meinem Lande dulden, so lange ich an der Spitze desselben s t e h e " 8 1 .

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„Zum Beweise, daß meine mit dem innigsten Zutrauen verschwisterte Verehrung für Ew. Exzellenz keine Redensart ist, füge ich ein besonderes Blatt bei, worin ich die Natur meiner Schwärmerei durch Tatsachen belege, Ew. Exzellenz mich ganz gebe wie ich bin und sogar meine zukünftigen Pläne andeute. Ich fürchte nicht, daß Ew. Exzellenz es als einen neuen Beweis meiner Exzentrizität aufnehmen, schmeichle mir, daß Höchstdieselben es ganz in Ihrem Innern begraben, und ohne davon Gebrauch zu machen, mir es mit eigner Hand zurückgeben werden". Zweite Fassung. So schreibt der König u.a. an Götzen: „daß so löblich und schätzenswerth auch jene Kraftvolle Gesinnungen sind, die durch mancherlei Ereignisse und Mittel herbeigeführt oder verbreitet worden, eben nachtheilige und unberechenbare Folgen können sie nach sich ziehen, wenn dergleichen Aufwallungen nicht durch die Klugheit geleitet, und zur Unzeit ausbrechen" (vgl. Ausgabe des Prinz von Homburg, hrsg. v. Richard Samuel, 1964, S. 225).

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Friedrich Wilhelm III. untersagte nicht nur die Schrift Peguilhens, sondern auch die Diskussion des Falles in den öffentlichen Blättern Preußens 8 2 . In anderen deutschen Landen blühte die Skandalaffäre umso üppiger, wobei die Skribenten dem Publikum eine wohlabgemessene Dosis aus Berichterstattung, vagen Vermutungen und moralischem Urteil boten. Die Entrüstung über Peguilhens Annonce war - sowohl in den gedruckten Artikeln als auch in privaten Äußerungen - ziemlich einhellig. Friedrich Weisser erwidert den Kritikern seines berüchtigten Schmähartikels 8 3 , dieser sei nicht gegen die „unglücklichen Toten", sondern gegen Peguilhen, „ihren unseligen Seligsprecher und Testamentvollstrecker gerichtet" 8 4 . Ludwig Rellstab spricht in seinem Brief an Friedrich Justin Bertuch von einem „Panegyricus" 8 5 und erklärt: „ N i e m a n d begreift, wie unsere sonst so ängstliche Zensur dergleichen hat durchgehen lassen". Selbst Achim von Arnim billigte die Rüge der Annonce Peguilhens, obgleich er „unendlich glimpflicher" mit ihm verfahren wäre 8 6 . N o c h drei Jahrzehnte später erinnert sich Varnhagen der „ U b e r spannung" Peguilhens 8 7 , und im Jahre 1905 urteilt Erich Schmidt, Peguilhen habe „mit taktlosester Albernheit das Wort für die Toten ergriffen" 8 8 . Eine solche Abkanzelung hat Peguilhen, der durch das letzte Billet Henriettes und den Wunsch Vogels vor eine fast unlösbare Aufgabe gestellt wurde und der die Annonce „im ersten Schmerz" schrieb, nicht verdient. Peguilhen hat im übrigen den Plan seiner Schrift nicht aufgegeben und weiterhin Material gesammelt 8 9 . Die zu seinen Lebzeiten nicht veröffentlichten Aufzeichnungen sind - wenigstens zum Teil - erst nach den Befreiungskriegen entstan82

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So konnte Hitzig Fouques Abschied von Heinrich von Kleist (vgl. Sembdner, Nachruhm, N r . 252) nicht drucken, wie aus seinem Brief an F o u q u e v o m 3. Dezember 1811 hervorgeht (vgl. Sembdner, Nachruhm, N r . 59a). öffentliche Seligsprechung und Vergötterung des M o r d s und Selbstmords in Deutschland. Im Jahr 1811. - I n : Morgenblatt für gebildete Stände vom 27. Dezember 1811 (vgl. Sembdner, Nachruhm, N r . 24 im A u s z u g , S. 23). Erwiderung Weissers auf den Angriff G . A . Eberhards (Salina, Halle, Februar 1811); vgl. Sembdner, Nachruhm, N r . 2 5 - 2 6 a / b . Zitat S. 27. Brief vom 1. Dezember 1811 (vgl. Sembdner, Nachruhm, N r 10). Entwurf eines Briefes an Cotta aus dem Jahre 1812, gedacht als Protest gegen Weissers Schmähartikel (vgl. Sembdner, Nachruhm, N r . 74). Dabei beruft er sich hinsichtlich seiner „Gesinnung über den Selbstmord" auf seine Geschichte der Gräfin Dolores. Varnhagens Brief an Eduard von Bülow vom 20. Februar 1847; vgl. Sembdner, N a c h ruhm, N r . 184, S. 150. In einer privaten Aufzeichnung notiert Varnhagen im April 1858 über Peguilhen: „übrigens ein dürftiges, phantastisches, ganz untergeordnetes Kerlchen" (vgl. Sembdner, Lebensspuren, N r . 546). Kleist-Ausgabe Erich Schmidts Bd. 1, S. 45. Wie vor allem aus den Abschriften der Briefe Kleists an Marie von Kleist zu erkennen ist, die sich im Nachlaß Peguilhens befanden. A m 12. Dezember 1811 hatte Marie von Kleist Peguilhen mitgeteilt, sie könne ihm keine Beiträge mitteilen; die Abschriften müssen Peguilhen also zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen sein. D a Varnhagen Ed. v. Bülow ( a . a . O . ) mitteilt, er habe Peguilhen „ i m Jahre 1815" zuletzt gesehen, kann das Material, von dem er seinerseits Abschriften anfertigte, nicht nach 1815 gesammelt worden sein.

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Kleist in der literarischen Öffentlichkeit

den 9 0 , als er möglicherweise auf einen Gesinnungswechsel hoffte und die Gelegenheit der eigenen Rechtfertigung suchte. Sie setzen sich an verschiedenen Stellen mit der Reaktion der Öffentlichkeit auseinander. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang der Schlußsatz. Peguilhen schreibt: „Daß übrigens das Berliner Publikum die Verstorbenen weniger verdammlich findet, als die Libellisten, zeigen ihre unbeschimpften, dicht mit Blumen und Gesträuch bekränzten Grabhügel und die häufigen Wallfahrten dahin, gleichsam als zu einer geweihten Stätte!" Hier 9 1 ist belegt, wie der Mythos des ,unglücklichen Dichters' sich bereits kurz nach dem Tode Kleists ausbreitete, während ein Teil seines Werkes noch mit einem Tabu belegt war und die moralische Verwerfung des Freitodes die öffentliche Meinung beherrschte. Dieses Interesse für die Person Kleists mußte irgendwann auch auf das Werk übergreifen. Der Boden für die Aufnahme und Weiterwirkung des Kleistschen Werkes war aber auch literarisch seit langem vorbereitet, obgleich das entscheidende Wirkungsmoment - wie so oft bei der Rezeption komplizierter dichterischer Strukturen - zunächst auf einem Mißverständnis beruhte. Das wird schon anläßlich der ersten Aufführung d et Familie Schroffenstein

am 9. Januar 1804 in Graz deutlich.

D a man in Graz das Genre der Ritterstücke pflegte und die „nötigen Dekorationen und Kostüme vorhanden waren" 9 2 , empfahl sich das Werk schon durch sein Sujet für eine Aufführung; hinzukam, daß es dem Schauspieler Anton Adolph von Crenzin, der an diesem Abend „zu seinem Vorteile" spielte, Gelegenheit gab, im ,Vaterfach' zu brillieren. D a das Stück aber die trivialromantischen Erwartungen nicht erfüllte, wurde es kein Publikumserfolg. Die Grazer Aufführung des Käthchen von Heilbronn

am 26. Dezember 1810 fand ebenfalls „wenig Beifall" 9 3 , doch

lag dies offenbar mehr an den technischen Schwierigkeiten, denen diese Bühne nicht gewachsen war. Das Theater an der Wien, wo das Käthchen von

Heilbronn

am 17. März 1810 zur Uraufführung kam, vermochte-gleichfalls auf Ritterstücke spezialisiert - die Erwartungen des Publikums wesentlich besser zu erfüllen. Auch wenn manche Stelle mit Rücksicht auf die Zensur beschnitten werden mußte und die Ausstattung im Vordergrund stand 9 4 , wurde hier der Grund für die erfolgrei90

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Dies ist aus Peguilhens Formulierung: „das befreite Europa, das jetzt Kleists Andenken lästert" zu erkennen (vgl. Rahmer, S. 160). Ebda, S. 161. Robert Baravelle: Unbekannte Erst- und Frühaufführungen Kleistscher Dramen. - In: Jahrbuch der Kleist-Gesellschaft 1929/30 (1931) S. 1 4 - 2 0 , Zitat S. 15. Vgl. dieRez. im Sonnabend-Anh. der Grätzer Zeitung zu Nr. 3 v. 5. Jänner 1811 und vor allem die Bemerkung: „daß die Aufführung dieser romantischen Schauspiele mehreren auf Provinzial-Bühnen nicht leicht zu beseitigenden Schwierigkeiten unterworfen ist" (Baravelle, S. 19). Reinhold Stolze: Kleists Käthchen von Heilbronn auf der deutschen Bühne. Berlin 1923, S. 9ff. Vgl. den Hinweis auf den 4. Akt: „Die Gegend im Gebirg mit den Wasserfällen und der Brücke, in der mehrere Pferde die Bühne betreten, dürfte die Szene gewesen sein, die dem Charakter dieses Theaters am meisten entsprach, in der dem Publikum am meisten Augenweide geboten wurde".

Kleist m der literarischen Öffentlichkeit

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che Bühnenlaufbahn des Stückes gelegt. D a s Interesse des Publikums beschränkte sich jedoch nicht allein auf das D e k o r der Ritterromantik, sondern galt zu einem nicht geringen Teil der Gestalt des K ä t h c h e n , die dem Bedürfnis nach sentimentalen R o l l e n entgegenkam. S c h o n am 2 4 . März 1811 fragt C h a r l o t t e von Schiller Prinzessin Caroline von S a c h s e n - W e i m a r , o b sie das „ b e r ü h m t e " Käthchen Hetlbronn

von

k e n n e 9 5 . M a n scheint G o e t h e eine Aufführung des Stückes nahegelegt

zu h a b e n , „da es in W e i m a r viele e n t z ü c k t e " und „viele es auf der B ü h n e zu sehen w ü n s c h t e n " 9 6 . Seine ablehnende R e a k t i o n 9 7 k o n n t e das Stück in W e i m a r nicht lange aufhalten. V o n den frühen Inszenierungen waren besonders die in M ü n c h e n und Breslau erfolgreich 9 8 . S o hat das Käthchen

von Heilbronn

schließlich auch den

anderen Dramen Kleists den W e g auf die B ü h n e geebnet. W i e im Falle der Schroffenstein

und später des Prinz von Homburg

Familie

lernte der größte T e i l des Thea-

terpublikums das S t ü c k nur in den zurechtgeschneiderten Kassenstück-Fassungen F r a n z von H o l b e i n s k e n n e n 9 9 , aber o h n e die insgesamt 1200 Aufführungen dieser Bearbeitungen wäre es nicht zur Breitenwirkung des Stückes g e k o m m e n , die u. a. eine Vorbedingung für die Edition der gesammelten W e r k e war. A u f h ö h e r e m Niveau vollzieht sich die Anerkennung Kleists in verschiedenen literarischen Zeitschriften, in denen man - abseits des sonstigen Journalgeschwätzes - die dichterische Originalität und das spezifisch N e u e , vor allem des tryon,

des Käthchen

von Heilbronn

und der Erzählungen

Amphi-

charakterisiert findet.

Bereits 1812 sind - fast unberührt von der persönlichen Tragödie, den Sensationsmeldungen und der moralischen Entrüstung - G r u n d z ü g e einer in die Z u k u n f t weisenden literarischen Einordnung zu erkennen. D i e wichtigsten Rezensionen erschienen noch vor Kleists T o d . B e d e n k t man, daß sie von hervorragenden Kriti-

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„Kennen Sie das berühmte Käthchen von Heilbronn? Falk und Schulze sind entzückt davon, jeder auf seine Weise, weil es sie wohl freuen möchte, wenn sie solche Käthchen hätten, die ihnen durch Wasser und Feuer folgten. Aber es ist ein wunderbares Gemisch von Sinn und Unsinn" (Charlotte von Schiller und ihre Freunde. Hrsg. v. Ludwig Ulrichs. Bd. 1, 1860, S. 576/77). Vgl. Sembdner, Lebensspuren, Nr. 385, beruhend auf E.W. Webers Geschichte des Weimartschen Theaters. Weimar 1865, S. 268. „Ein wunderbares Gemisch von Sinn und Unsinn! Die verfluchte Unnatur!" Und: „Das führe ich nicht auf, wenn es auch halb Weimar verlangt". Bemerkenswert ist die Wiederkehr der ersten Formulierung im Brief Charlotte von Schillers (vgl. Anm. 95). - Das Käthchen von Heilbronn wurde in Weimar erst am 16. Oktober 1822 gegeben und erlebte bis 1867 34 Aufführungen. Vgl. Stolze, S. 31 ff.: „In München ging es dem bekannten Staberl-Darsteller Karl, der den Wetter v. Strahl spielte, nicht so sehr darum, den tiefen Gehalt der Dichtung auszuschöpfen und auf der Bühne zu gebührender Geltung zu bringen, als vielmehr darum, dem schaulustigen Münchner Publikum das Blendwerk seiner Dekoration und Regiekunst vorzuführen". Vgl. die kritischen und teils bissigen Bemerkungen zeitgenössischer Rezensenten bei Stolze a.a.O., die jedoch die Verbreitung der Holbeinschen Bearbeitungen nicht verhindern konnten.

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Kleist in der literarischen Öffentlichkeit

kern verfaßt wurden, dann wird die Diskrepanz zwischen elitärer Kritik und den Auffassungen des breiten Publikums noch um vieles deutlicher. Vor dem Maßstab Shakespeare besteht Kleist ehrenvoll. So erklärt Ludwig Ferdinand Huber 1803 in seiner Besprechung der Familie Schroffenstein, der ersten Rezension eines Kleistschen Werkes überhaupt, die allerdings zugleich Teil der damals von Kotzebue im Freimüthigen betriebenen Anti-Goethe-Kampagne ist, daß es doch sehr die Frage sei, „ob die Details in Goethe'ns und Schiller's dramatischen Werken von eben dem wahrhaft shakespearischen Geiste zeugen, wie manche Details des Ausdrucks und der Darstellung in dieser Familie Schroffenstein"100. Johannes Falk, der Kleistim Herbst 1811 gegen die kalte und lieblose Behandlung in der Öffentlichkeit in Schutz nimmt, fragt indirekt gegen Iffland gerichtet, der das Käthchen von Heilbronn zur Aufführung abgelehnt hatte, wieviel Köpfe in Deutschland noch übrig seien, „die auch nur eine Periode, mit dieser Anmut, mit dieser Originalität, mit Neuheit, mit diesem Feuer im Ausdruck, mit dieser zugleich zarten und ungestümen Glut eines echten shakespeareschen Pinsels, wie Kleist im Käthchen von Heilbronn zu schreiben imstande sind" 1 0 1 . Mit den Schlagworten „Anmut", „Originalität" 1 0 2 und „Neuheit" 1 0 3 ist der Rahmen für die positive Beurteilung abgesteckt. Vor allem im Begriff „Neuheit" zeigen sich die an der Kunstlehre der Schweizer und Wieland gewonnenen Wertkriterien. Was durch Neuheit wirkte, war das Charakteristische 104 , wenn auch „Verstöße gegen Natur, Geschmack und Schicklichkeit" 1 0 5 den Gesamteindruck zunächst noch beeinträchtigten. Aus dieser Sicht gewinnen auch Genialität und Individualität als Maßstäbe Bedeutung. Hans Karl Dippold begrüßte den Amphitryon als ein Lustspiel, „das den leserlichen Schriftzug echter Genialität an der Stirn trägt" 1 0 6 , und Falk sieht den

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A n o n y m : Erscheinung eines neuen Dichters. In: Der Freimüthige, N r . 36, v. 4. März 1803, S. 1 4 1 - 1 4 2 (vgl. Sembdner, Lebensspuren, N r . 98a).

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Johannes Falk, in: Urania. Taschenbuch für Damen auf das Jahr 1812, S. 3 2 f . (vgl. Sembdner, Lebensspuren, N r . 390 a).

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Auch K . F . v. Jariges rühmt in seinerAmphitryon-Besprechurig (Allgemeine LiteraturZeitung v. 2 4 . Juli 1807) die „kühne Originalität" Kleists (vgl. Sembdner, Lebensspuren, N r . 179).

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Franz H o r n (Heidelberg. Jahrbücher N r . 2 6 , v. Juni 1812) nennt das Käthchen von Heilbronn „in seiner Neuheit vollendet" und Käthchens Verhältnis zum Grafen „ein rein poetisches, noch nie gezeichnetes" (vgl. Sembdner, Lebensspuren, N r . 392). Vgl. hierzu Wolfgang Monecke: Wieland und H o r a z . Köln, Graz 1964, S. 1 1 8 f . : „Die Forderung nach ,Neuheit' bereitet der Forderung nach Individualität des Ausdrucks den Boden".

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So bei Ernst Theodor Langer in der anonym erschienenen Rezension der Familie Schroffenstein, in: N e u e Allgemeine Deutsche Bibliothek Bd. 85, 2. Stück, H . 6 (Berlin, Stettin 1803) S. 3 7 0 - 3 7 4 , Zitat S. 3 7 2 ; vgl. auch Sembdner, Lebensspuren, N r . 100a.

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Morgenblatt für gebildete Stände v. 3. Juni 1807 (vgl. Sembdner, Lebensspuren, N r . 175a).

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Kleist in der literarischen Öffentlichkeit Zerbrochnen

Krug als ein W e r k „voll genialer und glücklicher Z ü g e " 1 0 7 , während

Karl August Böttiger Kleist unterstellt, in der Penthesilea

auf „Genialität und

Kühnheit Anspruch machen zu w o l l e n " 1 0 8 , die sich jedoch nur nachteilig auf das W e r k auswirkten; v o m Käthchen

von Heilbronn

aber spricht Böttiger als von ei-

nem „bei allen seinen Verirrungen und Unfügsamkeiten doch wahrhaft genialen dramatischen G e d i c h t " 1 0 9 . In der Zeitung für die elegante sent des Zerbrochnen

Krugs

Welt rühmt der Rezen-

den „wahrhaft poetischen Geist des W e r k e s " 1 1 0 ; er

sieht die „Verirrungen" dieses Lustspiels „aus einem Ü b e r m a ß an Kraft entspringen" und hält den Kritikern, die sich immer wieder an einzelne verfehlte Stellen klammern, Shakespeare entgegen 1 1 1 . D e r Rezensent des Käthchen

von

Heilbronn

verweist auf die unbefriedigende Situation des deutschen Theaters nach Schillers T o d . Gegenüber den Nachahmungen Schillers, den Verirrungen „in mystische Abenteuerlichkeiten" und den Versuchen, „durch rhetorische Behandlung frappanter Stoffe das hervorzubringen, was nur dem dichterischen Geist allein vorbehalten i s t " 1 1 2 , erscheint ihm das Käthchen

von Heilbronn

als „ein wahrhaftes, aus

tiefster Begeisterung entsprungenes W e r k " . Kleists Genialität wird hier nicht mehr als ein Sturm- und D r a n g - Z u g seines Wesens, sondern ganz aus romantischem Geiste verstanden, wie schon die Formeln „wahrhaft" und „tiefste Begeisterung" erkennen lassen. D e r Rezensent der Erzählungen113

sieht die „Strenge

und H ä r t e " des Kleistschen Stils aus der Individualität des Erzählers unmittelbar hervorgehen. Das ist eine für das Jahr 1810 kühne Ansicht, die Goethes Auffassung: „Klassisch ist das Gesunde, romantisch das ist das K r a n k e " 1 1 4 längst hinter 107

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1,3

114

Johannes Falk, in: Prometheus, H . 4, Wien 1808 (vgl. Sembdner, Lebensspuren, Nr. 249). Der Freimüthige, oder Berlinisches Unterhaltungsblatt für gebildete, unbefangene Leser, Nr. 26, v. 5. Februar 1808, S. 101 (vgl. Sembdner, Lebensspuren, Nr. 225a). Dresdener Abendzeitung v. 15. Dezember 1819 mit lokalpatriotischem Einschlag: „Wir können in Dresden sagen: hier bei uns ist der Geburtsort des bei allen seinen Verirrungen und Unfügsamkeiten doch wahrhaft genialen dramatischen Gedichts [ . . . ] " (vgl. auch Sembdner, Nachruhm, Nr. 515a). Zeitung für die elegante Welt v. 24. Mai 1811; vgl. Sembdner, Lebensspuren, Nr. 497. „Wollte jemand aus einzelnen, das rechte Maß verfehlenden Stellen in irgendeinem Werke von Shakespeare - und an solchen fehlt es in keinem seiner besten Produkte - den Beweis führen, daß das Drama nichts wert sei - wie würde man ihn allgemein verspotten". Zeitung für die elegante Welt v. 29. Oktober 1810; vgl. Sembdner, Lebensspuren, Nr. 369. Zeitung für die elegante Welt v. 24. November (vgl. Sembdner, Lebensspuren, Nr. 372) und: Allgemeine Literatur-Zeitung, Nr. 252, v. 14. Okt. 1812 (vgl. Sembdner, in: Jahrbuch der dt. Schillerges. 9, 1965 S. 4 2 9 - 4 3 1 ) . In der Allgemeinen Literatur-Zeitung heißt es im Hinblick auf den Stil der Erzählungen, Kleists Manier sei „so durchaus gleichartig und mit sich selbst übereinstimmend", daß man fühle, „sie gehöre der Individualität des Dichters an" (a.a.O., S. 430). Goethe: Maximen und Reflexionen. 5. Aus dem Nachlaß (Jubiläumsausgabe Bd. 38, S. 283). Vgl. hierzu auch Gertrud Hager: „Gesund" bei Goethe. Berlin 1955.

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Kleist in der literarischen Öffentlichkeit

sich gelassen hat. Sie paßt auch nicht zur Vorstellung des von W e l t s c h m e r z „ z e r rissenen" Dichters. In ihr ist angedeutet, was erst wesentlich später unter dem E i n fluß des Marionettentheater-Aufsatzes

erkannt wird, daß Kleist auch dort, w o er

Widersprüche aufreißt und die Sprache unter seinen Willen beugt, ganz aus einem Mittelpunkt heraus schafft. F ü r Wilhelm G r i m m als Verfasser der vier a n o n y m erschienenen R e z e n s i o n e n sprechen verschiedene I n d i z i e n 1 1 5 , aber auch unabhängig von der Klärung der Verfasserschaftsfrage sind sie in der einheitlichen K o n z e p t i o n und ihrer das W e s e n der D i c h t u n g Kleists erfassenden Charakteristik neben A d a m Müllers tryon-Vorrede

Amphi-

als das wichtigste Zeugnis für die kritische Wegbereitung der

W e r k e anzusehen. D i e s e Rezensionen bilden ein G e g e n g e w i c h t zur R o m a n t i k P o l e m i k , wie sie zeitweise v o m Morgenblatt

für gebildete

Friedrich Weissers Ablehnung des Käthchen

von

ausging und in

Stände

Heilbronn116

besonders kraß

zum A u s d r u c k k a m . I m G r u n d e handelte es sich längst nicht mehr um die einst im Morgenblatt

ausgetragene K l a s s i k - R o m a n t i k - K o n t r o v e r s e , sondern u m die v o n

Adam Müller 1807 zitierte „poetische G e g e n w a r t " 1 1 7 . Es ist bezeichnend, daß E . T . A . H o f f m a n n in den Gesprächen

der Serapionsbrüder

Kleist die „ K r a f t und

Genialität des vollendeten M e i s t e r s " z u e r k e n n t 1 1 8 und v o m Michael

Kohlhaas

als

einer „vortrefflichen, klassisch gediegenen E r z ä h l u n g " s p r i c h t " 1 1 9 . I n erster Linie ging es u m Fragen des „ G e s c h m a c k e s " . F ü r den Rezensenten in der Zeitung

für die elegante

Welt zeichneten sich Kleists Erzählungen

schon da-

durch aus, daß sie keine „empfindungsseligen Liebesgeschichten", keine „trivialen Szenen aus dem häuslichen L e b e n " und keine „breiten Reflexionen mit moralischen N u t z a n w e n d u n g e n " b o t e n 1 2 0 . D e r R e z e n s e n t in der Allgemeinen tur-Zeitung

Litera-

sieht in ihnen sogar ein „treffliches Gegenmittel wider die Verzärte-

lung des G e s c h m a c k e s " 1 2 1 . I n solche scheinbar rein ästhetische Beurteilung, die äußerlich auf dem gern v o r Augen geführten Gegensatz zwischen D i c h t u n g und Trivialliteratur beruht, mischen sich auch kräftige nationale T ö n e . S o erinnert der R e z e n s e n t in der Zeitung für die elegante

115

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121

Welt an die Befreiung von der Sklaverei

Von H. Sembdner (Jahrbuch d. dt. Schillerges. 2, 1958, S. 8 7 - 9 4 ) zunächst Fouque, dann jedoch auf Grund genauer Stilanalysen (Ebda, 9,1965, S. 436) Wilhelm Grimm zugewiesen, der sich im Brief an Arnim v. 10. Dez. 1811 (vgl. Sembdner, Nachruhm Nr. 72b) zu einer Rezension der Erzählungen Kleists, die in den Heidelberger Jahrbüchern erscheinen sollte, aber dort nicht publiziert wurde, bekennt. Vgl. auch Helmut Sembdner: In Sachen Kleist (München 1974) S. 2 2 7 - 2 5 0 . Morgenblatt v. 18. Dezember 1810 (vgl. Sembdner, Lebensspuren, Überarb. u. erw. Ausg. Mai 1969, Nr. 373). Amphitryon-Vorrede (vgl. Sembdner, Lebensspuren, Nr. 171). Werke, hrsg. v. Georg Ellinger. Bd. 8 (2. Ausg. 1927) S. 165. Ebda, Bd. 7 (2. Ausg. 1927) S. 24. Zeitung für die elegante Welt v. 24. November 1810 (vgl. Sembdner, Lebensspuren, Nr. 372). Allgem. Ztg. v. 14. Okt. 1812 (vgl. Jb. d. dt. Schillerges. 9, S. 430).

Kleist in der literarischen Öffentlichkeit

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der französischen Kunstregeln durch „Lessing und andere literarische Reformatoren" und fragt: „Sind wir denn nicht berechtigt, auch hierin unsere eigene Manier zu haben?" 122 . Kleist wird hier als „Trumpf gegen den französischen Geist ausgespielt" 123 . Auch diese Tendenz ist schon in einer der frühesten Rezensionen, in Görres' Besprechung der Familie Schroffenstein zu finden 124 . Sie kehrt in Hans Karl Dippolds und August Klingemanns^m/^ii^ow-Besprechungen wieder und findet schließlich mit dem Bekanntwerden der patriotischen Gedichte Kleists im Jahre 1813 neue Nahrung. Ein anderes Mittel der Geschmacksbildung des Publikums war die .poetische Konversation'. Im gleichen Jahr, in dem Tieck den ersten Band seinesPhantasus herausgab, erschien in der Zeitung für die elegante Welt das Gespräch über die Erzählungen von Heinrich von Kleist125. Als Verfasserin vermutet man Caroline de la Motte Fouque, eine glühende Verehrerin der Dichtungen Kleists 126 . Auch hier wird das Mittel des Perspektivwechsels eingesetzt, um einem kontroversen Thema durch verschiedene Aspekte gerecht zu werden. Aber die Freunde, die sich in der seit Boccaccio beliebten Landhausidylle „über die neueste Gattung epischer Poesie" (Sp. 1405) unterhalten, streiten nicht miteinander: „Das verschiedene Urteil über ein Kunstwerk ist nichts als der vielfach gebrochene Strahl ein und desselben Geistes" (Sp. 1423). Im Rahmen einer wohldurchdachten Ordnung der Figuren wechseln Stichworte und Bekenntnisse, Kritik und Charakteristik; auch eine kurze Reflexion über den Sinn literarischer Teegesellschaften (Sp. 1423) wird eingeflochten. In der entzückten Charlotte kann man Caroline, in Eduard, ihrem vorlesenden, kritisierenden Gemahl, Fouque wiedererkennen. Der Romantiker Narziß gibt die Stichworte, Charlottes Freundin Sophie und dem Spötter Franz sind Komplementärfunktionen zugedacht. Ausgangspunkt des Gesprächs ist der zweite Band der Erzählungen, aus dem Eduard zunächst die Verlobung von St. Domingo vorliest; das Gespräch greift danach auf andere Werke Kleists über. Zuletzt liest Eduard, um sein „strenges Urteil abzubüßen" und Charlotte wieder zu „versöhnen" (Sp. 1415), die Heilige Cäcilie. Im Gespräch wird als Einwand vorgebracht, Kleist sei „nicht allezeit frei von Absichtlichkeit" und seine Darstellung zeige „zuweilen Manier" (Sp. 1414); Gu-

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Vgl. Anm. 120. Claude David, in: Kleist und Frankreich. Berlin 1969, S. 10. Joseph Görres, Korruskationen, in: Aurora (München) v. 12. O k t . 1804 (vgl. Sembdner, Lebensspuren, N r . 135). Zeitung für die elegante Welt. Hrsg. v. August Mahlmann. Nr. 176-178, v. 3 . - 5 . September 1812. Teildruck in: Jahrbuch d. dt. Schillerges. 2 (1958) S. 98-102 und Sembdner, Nachruhm, N r . 653. Ich zitiere nach dem Original (Spaltenangaben in Klammern). Der Artikel ist unterzeichnet: C**. - H . Sembdner (Jb. d. dt. Schillerges. 2,1958, S. 97) identifiziert in dieser Chiffre erstmals Caroline de la M o n e Fouqué als Verfasserin.

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stavs „Schreckenstat" 127 in der Verlobung und die Störung des Erzählzusammenhangs durch die Zigeunerin im Michael Kohlhaas129 dienen als Belege. In der Höherbewertung der „Inspiration" gegenüber dem „Scharfsinn" (Sp. 1414) erscheinen alte Vorurteile. Sie zeigen ebenso wie die Frage, warum Charlotte die „kleinlichen Rechtshändel zur wahren Poesie erhoben wissen" wolle (Sp. 1414), daß es hier nicht allein um eine „Gattung epischer Poesie" geht, obgleich Eduard mit Bezug auf Michael Kohlhaas und den Zerhrochnen Krug den Ausdruck „juridische Dichtung" 1 2 9 prägt und in ihr „eine völlig neue und sicher höchst würdige Gattung der Poesie" (Sp. 1415) erblickt. Es geht vielmehr um das zentrale Problem der „wahrhaften Poesie" überhaupt. Deutlich erkennt Narziß, was Charlotte am Werke Kleists anzieht: „die sinnliche Erfaßlichkeit, das lebendig Nahe der Gegenwart" (Sp. 1406). Er selbst rühmt das Eingreifen des Geheimnisvollen, das „Unsichtbare außerhalb alles verstandenen Zusammenhanges" (Sp. 1414). Über die Zugehörigkeit Kleists zur Romantik wird nicht theoretisiert, aber in Wortwahl und Ideologie ist die romantische Grundeinstellung unverkennbar 130 . Die Dualität zwischen realer Begrenzung und Unendlichem, die Vorstellung vom geheimen Zusammenhang aller Dinge und die Auffassung der Dichtung als „Offenbarung einer Idee" (Sp. 1407) sind überall spürbar und weisen letztlich ins Religiöse: „wahrhafte Poesie ist Wiederholung der Schöpfungsgeschichte 131 . Nicht zufällig steht die Heilige Cäcilie am Schluß der Betrachtung. An der schwärmerischen Charakteristik des Werkes wird vollends deutlich, daß die Gesprächsrunde in den Erzählungen Kleists die Realisation des eigenen Idealbildes der Poesie suchte. Entscheidend für die Auffassung der Heiligen Cäcilie ist nicht die Katholizität der Fabel, obgleich sie indirekt das Urteil mitbestimmt, sondern ihre innere Geschlossenheit: „Keine Sylbe [ . . . ] ist hier zu viel, kein Bild erson127

Sbd II, 194. - Eduard fragt: „Warum dies gewaltsame innere und äußere Zerreißen, in einem Augenblicke, wo alles zur endlichen Versöhnung hinneigt?" (Sp. 1415). - Schon in dieser einseitig auf „Versöhnung" ausgerichteten Perspektive zeigt sich eine Verkennung der Absichten Kleists.

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Eduard nimmt zwar an diesem „Geheimniß als Geheimniß" Anstoß und ist von einem „peinlichen Gefühl" berührt (Sp. 1414), läßt aber später das geheimnisvolle Auftreten der Schwester Antonia in der Heiligen Cäcilie unerwähnt. E r macht also einen deutlichen Unterschied zwischen rätselhafter Erscheinung und religiösem Wunder. In seinem Gespräch über die Dichtergabe H. v. Kleists gibt Fouque später eine genauere Definition: „so können wir Kleist um jener unermeßlichen Gründlichkeit und Verständigkeit willen einen juridischen Dichter nennen". Allerdings mit einer differenzierten Abgrenzung gegenüber der „poetischen Zartheit" (Sp. 1406) - vermutlich im Hinblick auf Tieck - und der einseitig bedingten Poesie (Sp. 1423: „ein halbgrauer Nebeltag, in welchem sich Niemand als der Dichter zurecht findet"), woraus man mit H. Sembdner eine Kritik an den Dichtungen Fouques herauslesen kann. Charlotte bedient sich in diesem Zusammenhang sogar des Wortes „Magie". In eine rhetorische Frage gekleidet, erscheint die „wahrhafte Poesie" in den Erzählungen Kleists als „die unbegriffene Magie, welche die Dinge so begreiflich wahr hervorrufen" (Sp. 1408).

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nen, alles glücklich in sich gefunden und aufgefaßt. Der Dom bleibt durch das Ganze hin, der heilige Grund, die Partitur der begleitenden Musik" (Sp. 1422). Von hier findet man zu den Angelpunkten des Gespräches zurück. Charlotte vermag als Ziel des Dichters nur die „Harmonie des Lebens" 1 3 2 zu sehen, und für Eduard ist die Gattung der „juridischen Dichtung" ein „unmittelbarer Abglanz der himmlischen Rechtspflege, die still vermittelnde Gewalt ewiger Ordnungen anschaulich und lebendig offenbart" (Sp. 1415). Die Dichtung ist ein Spiegel des Lebens. Deshalb liebt Sophie den „menschlich wahren Dichter" in Kleist, der die „Wissenschaft des Lebens" besitzt, „welche der ausströmenden, die reale Begrenzung ins Unendliche ausdehnenden Phantasie als erfassendes Gegengewicht ganz notwendig ist" (Sp. 1423). Bei aller Begeisterung für Kleist konnte vor diesem Hintergrund das Phänomen des Tragischen in seinen Werken nicht in seiner ganzen Tragweite erkannt werden. In Fouques 1816 veröffentlichtem Gespräch über die Dich tergabe Heinrichs von Kleist133 sind hinter den Gesprächspartnern ebenfalls reale Personen zu vermuten. Sie zu identifizieren, ist im Hinblick auf eine bessere Charakteristik der bei Marie von Kleist tagenden Freitags-Lesegesellschaft von eigenem Reiz, wenn auch offen bleibt, wie weit Fouque die einzelnen Teilnehmer wirklich „recht getreu" 134 schildert, bzw. ob Stilisierung und literarische Fiktion nicht doch im Vordergrund stehen. Gegenüber dem Gespräch von 1812 ist ein starker Niveauabfall festzustellen, der Erich Schmidts Urteil vom „faden Teetischgeschwätz" 135 mehr oder weniger bestätigt. Man entzündet sich am Käthchen von Heilbronn, wechselt auf den Zerbrochnen Krug über und erwähnt auch den Michael Kohlhaas sowie den Robert Gttiskard. Die Urteile sind nur notdürftig miteinander verbunden, und insofern steht das Gespräch einer echten Unterhaltung näher als die konstruierte Argumentation des ersten Gesprächs; jedenfalls kann man sich danach leichter vorstellen, wie solche Plaudereien literarisch bewegter Gemüter im allgemeinen verliefen. Die „kleine Ludmilla" entwaffnet die strengen Kritiker des Käthchens von Heilbronn durch ihren naiven Preis der „reinen unschuldigen Liebe" des Käthchens ; bei der Betrachtung des Zerbrochnen Kruges steht die damals besonders aktuelle Frage nach Gattung 136 und Aufführbarkeit des Stückes im Vordergrund. Was über Kleists „Dichtergabe" gesagt wird, läßt sich auf den Grundgedanken der 132

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„Was war von jeher tragischer, als das Ringen des Einzelnen mit der Gewalt des Ganzen, das Uberfliegen und Verwirren der gezogenen Schranken bis ihn die Harmonie des Lebens erfaßt und hält!" (Sp. 1415). Morgenblatt für gebildete Stände, Nr. 53 u. 54, v. 1. u. 2. März 1816. Teildruck in: Sembdner, Nachruhm, Nr. 261. Helmut Sembdner (Jahrbuch d. dt. Schillerges. 2, 1958, S. 103) erkennt in Amalia Marie von Kleist, in Ferdinand Wilhelm von Schütz, in Adelphus Ernst von Pfuel und in Friedebert Fouques Selbstporträt. In Willibald könnte Brentano nachgezeichnet sein. Vgl. Ausgabe ES, Bd. 1, S. 463. Diese Frage spielt schon in Kleists Brief an Fouque (Sbd II, 862: „es ist nach dem Tenier gearbeitet") eine Rolle. - Fouque nennt das Werk jetzt ein „komisches Idyll".

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Kleist in der literarischen Öffentlichkeit

„Vereinigung scheinbar entgegengesetzter Gemütskräfte" reduzieren. Wie beim Käthchen von Heilbronn wird auch beim Zerbrochnen Krug die Diskrepanz zwischen Idee und Ausführung hervorgehoben. Zum Schluß liest Amalie die Heilige Cäcilie, das Bettelweib von Locarno und das Erdbeben in Chili. Wieder nimmt die Heilige Cäcilie eine Sonderstellung ein. Sieht man alle im Gespräch erwähnten Werke als Ganzes, wobei auffällig ist, daß die problematischen wie Penthesilea, Familie Schroffenstein, Amphitryon, aber auch Die Marquise von O. und der Findling fehlen, so ergeben sich Hinweise auf mögliche Kriterien der frühen Popularität Kleists. Gedacht als Wiedergutmachung der durch das Morgenblatt verbreiteten Schmähung Kleists 137 , bleibt die Veröffentlichung weit hinter dem gesteckten Ziel zurück 138 . Als Fouqué dieses Gespräch schrieb, lag sein mißglückter Editionsversuch bereits hinter ihm, während Tieck gerade erste Anstalten traf, eine Edition der Hinterlassenen Schriften vorzubereiten.

Die erste Erwägung einer Nachlaßedition

Im engeren Freundeskreis dachte man bereits unmittelbar nach dem Tode Kleists an eine Edition der „hinterlassenen Schriften". In ihrem bewegten, noch ganz unter dem Eindruck der „entsetzlichen Tat" geschriebenen Brief an Adam Müller139 fordert Caroline de la Motte Fouque diesen auf, sich mit Ernst von Pfuel zu vereinigen und „den ganzen Menschen in einzelnen Zügen seines ungekannten, dunklen und doch so reichen Lebens" darzustellen. Sie spricht davon, daß Kriegsrath Beckedorff 140 „vielleicht" den Plan habe, Kleists hinterlassene Schriften herauszugeben141, und fragt, ob Müller und Pfuel „dann nicht den Eingang oder das Vorwort dazu schreiben" wollten; andernfalls schlägt sie als Publikationsorgan für 137 138

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Vgl. Fouques Brief an Cotta v. 28. Dez. 1815 (Sembdner, Nachruhm, Nr. 71). Ich kann mich H. Sembdner, der in dem Gespräch über die Erzählungen eine „Vorstufe für Fouques Gespräch über die Dichtergabe H. v. Kleist's" erblickt, nicht anschließen. Sowohl der qualitative Abstand zwischen beiden Texten als auch der Unterschied in der Denkweise der Verfasser ist relativ groß. Wäre das erste Gespräch eine „Vorstufe", so müßte Fouques Gespräch zumindest die Hauptgedanken weiterentwickeln. Adam Müllers Lebenszeugnisse. Hrsg. v. Jakob Baxa. Bd. 1 (1966) S. 698-699 (zit.: Baxa). Vgl. auch Sembdner, Nachruhm, Nr. 56a (gekürzt). Der Brief ist undatiert, aber durch den Bezug auf Kleists Tod („Heute vor acht Tagen leuchtete die freundliche Erdensonne zum letztenmal auf sein edles, stolzes Haupt [ . . . ] " ) auf den 28. November 1811 zu datieren. Ludolf von Beckedorff (1778 -1858) war ein Freund Friedr. Aug. v. Stägemanns (Baxa I, 563) und Taufpate bei Müllers Tochter Cäcilie (Baxa I, 585). Vgl. auch Baxa II, 851. H. Sembdner (Jb. d. dt. Schillerges. 2, 1958, S. 106) sieht hierin eine Beckedorff „von Caroline zudiktierte Aufgabe". Der Satz beginnt jedoch mit einem „Vielleicht" und ist als Frage aufzufassen.

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einen Aufsatz die Erfurter Zeitschrift Erholungen vor, in der wenig später Fouques Abschied von Heinrich von Kleist erschien. Näheres über Herausgeberabsichten Beckedorffs wurde nicht bekannt. Wir wissen nur, daß er Kleist persönlich kannte, einige Beiträge für die Berliner Abendblätter142 lieferte, Mitglied der christlich-deutschen Tischgesellschaft war 143 und 1810/11 in politischer Opposition zu Hardenberg stand 144 . Im Juli 1811, als Beckedorff, dessen Gesuche um Wiederanstellung im preußischen Staatsdienst von Hardenberg „zu den Acten" gelegt worden waren, Berlin verlassen hatte, schrieb Kleist an Marie von Kleist, daß er ihn „sonst zuweilen sah" und daß er ihn „mehr als sonst vermisse" 145 . Wenn Caroline zunächst ihn als Herausgeber ins Auge faßte, wobei der Gedanke an „hinterlassene" Schriften noch ohne konkreten Bezug auf einen „Nachlaß" ist, so mag sie in erster Linie an diese persönlichen Beziehungen gedacht haben. Brentanos Charakteristik Beckedorffs läßt darüber hinaus die besonderen Qualitäten dieses Mannes ahnen: „ein durchaus klarer, besonnener, unterrichteter Mann aus der großen Gesellschaft, keine Art Phantast" 146 . Beckedorff war damals Erzieher des Prinzen von Anhalt-Bernburg in Ballenstedt und kehrte erst 1820, von Hardenberg auf Grund seiner Kotzebue-Schrift wieder in Gnaden aufgenommen, nach Berlin zurück. Weder Adam Müller noch Ernst von Pfuel lieferten den gewünschten Aufsatz. Adam Müller hat vielmehr seinen Nekrolog auf Kleist in die Nachricht von dem tragischen Ereignis eingeflochten, die er mit einiger Verspätung im österreichischen Beobachter147 erscheinen ließ. Sowohl der Herausgeber Josef Anton Pilat als auch Müller sicherten sich durch Formulierungen ab, die vor dem Verdacht einer Rechtfertigung des Selbstmordes schützten 148 . Ihnen kam es auf „eine durchaus wahre, unverfälschte Darstellung" des Ereignisses an, mit der sie dem „unziemlichen Enthusiasmus" Peguilhens und der „empörenden Entstellung" in der Zei-

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Kunst-Ausstellung (BA 6 . - 1 0 . u. 1 6 . - 1 9 . Okt. 1810), Andenken an das Königspaar (BA 22. Dez. 1810), Fragment über die Erziehung (BA 16. Jan. 1811) und Ständische Commission (BA 19. Jan. 1811). Vgl. Reinhold Steig, Kleists Berliner Kämpfe (1901) S. 507-510. Vgl. Steig, S. 22, 39, 612 u. 622. Vgl. Steig, S. 650. Sbd II, 873 (Ausgabe ES, Bd. 5, Nr. 179). Brentano an Görres im Jahre 1827; vgl. Baxa II, 874. Der österreichische Beobachter, Wien 24. Dez. 1811 (Baxa I, 7 0 5 - 7 0 8 ) ; vgl. auch Sembdner, Nachruhm, Nr. 23 u. 250 und Sembdner, Lebensspuren, Nr. 523b. So Pilats Hinweis, „auf welche Verirrungen und Abwege der Mensch durch Vergessenheit und Hintansetzung alles höheren Glaubens geraten könne!" Und Adam Müllers Satz: „Weit davon entfernt, sie zu rechtfertigen, oder auch nur zu entschuldigen, klagen die hinterbliebenen Freunde zuvörderst sie aufs stärkste an". Müller spricht von „frevelhafter Gemeinschaft" Kleists und Henriettes, betont aber, „daß das Leben beider übrigens so rein und fleckenlos war, als es ohne den höheren Glauben, den sie durch ihr Ende verleugneten, überhaupt sein konnte" (Baxa I, 705 u. 707).

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tungfür die elegante Welt vom 30. November 1811 entgegentreten wollten 149 . Für Kleist als Dichter findet Müller überzeugende Worte der Würdigung. An eine Edition seiner hinterlassenen Werke dachte er wohl nicht. Der alte Berliner Kreis war zerrissen 150 , er selbst in Wien in neue Verhältnisse hineingewachsen 151 , und was er an Handschriften besaß, reichte für eine solche Edition nicht aus 152 . Allein die Veröffentlichung des Letzten Liedes in den Friedensblättern scheint auf ihn zurückzugehen. Wie Pfuel über den Wunsch Carolines dachte, geht aus seinem Brief vom 7. Februar 1812 hervor 153 . Er sieht ihn durch Müllers Aufsatz im österreichischen Beobachter erfüllt und gesteht, daß „die öffentliche Verteidigung eines Selbstmordes immer eine kitzliche Sache" sei. Pfuels Auffassung über die Wahl des richtigen Zeitpunktes zeigt die Haltung eines Mannes, der seine Meinung nicht gern zu Markte trägt: „am besten ist's, es werde fürs erste gar nichts mehr öffentlich darüber gesprochen, später wird die Wirkung größer und gewisser sein". N u r auf diese Weise konnte er das Andenken an Kleist für sich bewahren. Pfuel hat, wie aus seinem Brief hervorgeht, die tiefe Todessehnsucht Kleists erkannt, aber auch die „unechte Exaltation" der Tat und die Rolle Henriettes in ihrer „dummen Zufälligkeit" richtig eingeschätzt. Wer seine Schweigsamkeit verurteilt, sollte sich die in dem Brief angeführten Gründe vergegenwärtigen. Pfuel schreibt: „Ich für mein Teil bin zuerst Kleists Freund und dann erst ein Christ, und deswegen weicht meine Ansicht von der der meisten weithin ab, und ich bin nicht imstande, mich ihnen so über meinen Freund verständlich zu machen, wie ich es wünsche, und wie ich einsehe, daß es nötig ist, um ihn zu rechtfertigen".

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Der Text aus der Zeitung für die elegante Welt wiederabgedr. in: Sembdner, Nachruhm, Nr. 2a. - Angeblich soll Müller sogar Material für eine Kleist-Biographie gesammelt haben; vgl. hierzu Sembdner, Nachruhm, Nr. 124 u. 125. Adam Müller schreibt am 10. Dez. 1811 an Friedrich Schulz: „Die nächste Wirkung einer solchen Nachricht, wie die von dem schrecklichen Ende unsers Kleist, ist wohl daß man die übriggebliebenen Freunde zusammenzählt, und überhaupt den zerrissenen Kreis enger zusammenzieht" (Baxa I, 701); vgl. auch Sembdner, Nachruhm, Nr. 50. Vgl. zu Müllers Weggang aus Berlin Baxa I, 640: „Hardenberg schickte Müller tatsächlich, nach Wien ins Exil". Welche Handschriften im Besitze Adam Müllers, bzw. seiner Gattin Sophie v. HazaMüller waren, ist dem Brief Johanna v. Hazas an Tieck v. 26. Nov. 1816 zu entnehmen (vgl. Sembdner, Nachruhm, Nr. 134). Es waren dies: die Abschrift der Penthesilca, die Geschichte meiner Seele, mehrere Hefte Fragmente überschrieben, sowie die Gedichte An die Kamille und An den König. Brief Pfuels an Caroline aus Wien v. 7. Febr. 1812 (Baxa 1,718-719); vgl. auch Sembdner, Lebensspuren, Nr. 527 und Nachruhm, Nr. 63 u. 23.

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Fouques Freundschaftsdienst Dem Schweigen Pfuels steht Fouques wortreicher, „unter heißen Tränen" 1 S 4 geschriebener Abschied von Heinrich von Kleist155 gegenüber, der sich zwar des Beifalls seiner Freunde 1 5 6 erfreute, aber im Grunde weder der Tragweite des Kleistschen Entschlusses noch der Selbstmord-Situation angemessen war. Das Schwelgen in Jünglingserinnerungen, die Berufung auf „Männerbund" und „Männerernst", die rhetorische, in einen „Kriegergruß" gekleidete Klage und das theatralische Bild des an der Gruft des Toten „dreimal: Feuer" rufenden „Kriegsmannes" sind nicht viel mehr als literarischer Freundschaftskult. Fouque war es gewiß ernst damit; er bekennt, daß die „höchste Kraft der Poesie" ihn „nie lebendiger durchdrungen, als gerade damals" 1 5 7 . Doch Kleist „mein Genoß im Kampf und Lied" zu nennen, war nach allem, was wir über seine Beziehungen zu Kleist wissen 158 , zu hoch gegriffen. Dennoch sollte anerkannt werden, daß auch später „keiner der andern Freunde" sich so wie er bemüht hat, „Kleists Andenken allen Schmähungen zum Trotz öffentlich zu ehren" 1 5 9 . Fouque war von einer echten Erschütterung erfaßt worden, die ihn für kurze Zeit im Schicksal eines anderen Dichters aufgehen ließ 1 6 0 . Daß es ihm - im Gegensatz zu seinem Rivalen Tieck - nicht beschieden war, das Werk Kleists durch eine Edition für die Zukunft zu sichern, lag an den ungünstigen Zeitumständen und seiner immer größer werdenden Entfernung von einer Generation, der er dichterisch nicht mehr allzu viel zu bieten hatte.

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Fouque an Hitzig am 28. Nov. 1811; vgl. Sembdner, Nachruhm, Nr. 55b). Zuerst veröffentlicht in: Erholungen, Thüring. Unterhaltungsblatt, Jan. 1812; vgl. Sembdner, Nachruhm, Nr. 252. So schreibt Ernst von Pfuel an Caroline: „Fouque danke für sein Gedicht, wodurch er sich und den Toten zugleich ehrt" (vgl. Sembdner, Nachruhm, Nr. 63), und AdolfWagner an Fouque: „Ihr männlicher Abschied von dem kühnen Kleist hat mich um so mehr gefreut, da ich vorher in dem Morgenblatte ein empörendes gottlos bübisches Geschwätz über seinen Hintritt fand" (vgl. Sembdner, Nachruhm, Nr. 65). Vgl. Fouques stark religiös gefärbtes Bekenntnis über die Entstehung des Gedichtes in seinem Brief an Helmina von Chezy v. 11. Mai 1812 (vgl. Sembdner, Nachruhm, Nr. 69). Fouque denkt hier offenbar an seine Mitarbeit in den Berliner Abendblättern. Einen gegenseitigen Austausch der eigenen Druckerzeugnisse hat Kleist in seinem Brief vom 15. Aug. 1811 (Sbd 214) angeregt. Im Herbst 1811 soll es nach der Aussage Fouques sogar zu einer „Dichterverbündung" gekommen sein (vgl. Sembdner, Nachruhm, Nr. 58). Wesentlich nüchterner jedoch schreibt Fouque am 28. Dez. 1815 an Cotta: „Ich gehörte zwar nicht zu Heinrich Kleists nächsten vertrautesten Freunden, aber ich war ihm doch nahe und innig befreundet" (Sembdner, Nachruhm, Nr. 71). H. Sembdner, in: Jahrbuch d. dt. Schillerges. 2, 1958, S. 95. Ähnlich verhielt es sich mit Caroline. So zeigte sich E. v. Pfuel überrascht: „Cara Carolina, ich habe nicht gedacht, daß Du Kleists Tod so tief empfinden würdest" (Sembdner, Nachruhm, Nr. 63).

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Kleist in der literarischen Öffentlichkeit U b e r Plan und Vorbereitung seiner nicht zustandegekommenen Edition des

Prinz von Homburg

sind wir verhältnismäßig gut unterrichtet 1 6 1 . F o u q u é war be-

reits vier Tage nach dem T o d e Kleists von Hitzig über die „Begebenheit" verständigt worden ( N 55a). A m 28. N o v e m b e r 1811 erkundigte er sich bei Hitzig, ob dieser etwas über den literarischen Nachlaß wisse ( N 55b). Hitzig, der mit Peguilhen befreundet war, machte ihm Anfang Dezember 1811 den gemeinsamen Abschiedsbrief Henriettes und Kleists im Original zugänglich und teilte ihm mit, daß kein Nachlaß existiere ( N 59a). F o u q u é nahm daraufhin am 12. Dezember 1811 mit Peguilhen Kontakt auf ( N 60), der zu einem Meinungsaustausch über die geplante Rechtfertigungsschrift Peguilhens führte ( N 38b). Bei dieser Gelegenheit fragte er auch nach dem Verbleib des Prinz von Homburg

( N 60), von dem Kleist

in seinem Brief an F o u q u é vom 15. August 1811 gesprochen h a t t e 1 6 2 . A m 1. Januar 1812 beklagt er dann Varnhagen gegenüber, daß Kleist „alle seine Papiere verbrannt hat, also gewiß auch viele Manuskripte mit" ( N 62b), berichtet aber zugleich - auf Grund welcher Informationsquelle, ist unklar, - daß der Prinz Homburg

von

durch „Verleihen an Freunde gerettet" sei. Hieran wird deutlich, wie

stark sein auf den Nachlaß gerichtetes Interesse gerade diesem W e r k galt. Ein Homburg-Manuskript

kam am 16. Juni 1812 zum Vorschein, als „ein H .

von Puttkammer" im Auftrag Marie von Kleists bei Hitzig vorsprach, um ihm das W e r k zum D r u c k anzubieten ( N 119). Hitzig, durch grimmen Leu'n, V. 1279 so fahrt ihn vor > so fahrt nur vor. - Tieck war erst vom 1. Januar 1825 an Dramaturg in Dresden, doch glaubt Albrecht auf Grund dieser Ubereinstimmungen konstatieren zu dürfen, daß Tieck schon 1821 bei der Gestaltung des Textes seine Hand im Spiel hatte. In jedem Fall darf der Zusammenhang von Bühnenpraxis und Edition als erwiesen angesehen werden.

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Plädoyer für den Dichter des Prinz Friedrich von Homburg

teilung der Textkonstitution der Hermannsschlacht,

des zweiten dort erstmals

edierten Dramas, fehlen mangels Uberlieferung einer handschriftlichen Vorlage überhaupt sichere Anhaltspunkte 1 3 4 . D o c h verstellt eine umfassende Ausbreitung des Variantenmaterials, wie sie Reinhold Köhler in laufender Folge der einzelnen Werke und Stellen darbot, den Blick für die Eigentümlichkeiten der Textentscheidungen Tiecks, denn nicht der jeweilige Fehler und seine notwendige Richtigstellung interessiert, sondern die Frage, ob den Eingriffen ein Sinn abzugewinnen ist und ob sich aus der Vielzahl solcher Korrekturen ein systematisches Vorgehen herauslesen läßt. Als Versuchstext für die Bestimmung der Tieckschen Editionsmethode ist Penthesilea

am besten geeignet, da Tiecks Vorurteile diesem Werk ge-

genüber besonders groß waren, obgleich er im ganzen gesehen den „Schmuck echter Poesie" (XLVI, 15) und die „Kühnheit der Bilder und Gleichnisse ( w o sich freilich einigemal das Widrigste neben das Schöne stellt)" (XLVI, 2 2 - 2 4 ) voll anerkannte. D i e Abweichungen sind nach zwei Gruppen, nach den Auslassungen und Zusätzen sowie dem Austausch einzelner oder mehrerer Formen und Wörter, zu klassifizieren 1 3 5 . 1. B e i d e n A u s l a s s u n g e n fällt auf, daß Tieck sich im Prinzip an die Vorlage hält und an keiner Stelle in die Substanz des Werkes eingreift, d . h . nirgends längere Partien streicht. Er waltet nicht als Zensor, sondern beschränkt sich auf die Korrektur vermuteter Druckfehler und metrische Glättungsversuche, die jeweils punktuell in einzelnen Versen vorgenommen werden 1 3 6 . Der Verlust des gebro134

135

136

Robert Guiskard, der dritte Dramentext - in den Hmterlassenen Schriften wahrscheinlich nach dem Phöbus-Erstdruck ediert - , weist neben zahlreichen Interpunktions-, Apostroph- und Rechtschreibungsdifferenzen, sowie übergangenen Sperrungen - abgesehen von aus der Vorlage übernommenen Fehlern - nur unbedeutende Abweichungen auf: einen Wortausfall (V. 39C Deck' ich den Schleier [jetzt] von der Mißgestalt), zwei Wortumstellungen (V. 271 Und keinen Laut mehr feig setz' ich [>setz' ich feig'] hinzu; Anm.: Diese Umstände liegen wenigstens hier [>hier wenigstens] zum Grunde), eine rhythmische .Verbesserung' (V. 211. 212 dein ungebändigtes [>unbändiges] Gemüth) und zwei offensichdiche Druckfehler (V. 14C Nun wie auch stets>stehst [anstelle der beabsichtigten Fehlerkorrektur: steht's]; V. 491 bange > lange Worte). Der Kleist-Text wird in der Fassung der Buchausgabe von 1808 (= E) wiedergegeben. H = handschriftliche Fassung, Ph = Phöbus- Druck. Die Verszählung folgt der Ausgabe Sbd 1961. Die Änderungen Tiecks sind durch Kursiv druck, die Tilgungen durch eckige Klammern gekennzeichnet. Auslassungen: V. 141C Es braucht ['s] nicht! Parallelvers 1473 folgt E; V. 1641 An euer Amt, ihr Pnest'rinnen [der] Dian[a]e«5 V. 1720 War denn [der] Dian[a]ercj Oberpnest'nnn hier? V. 26C1 O ihr, [der] Dian[a]e»J heil'ge Priesterinnen, V. 2342 Im Tod, du weißt — Was bebst du, [meine] Königinn? V. 2726 Warum [just] vor der DianaPriest'rinn Füßen? V. 2777 Die Tanais, [das] gesteh' ich jetzt, sie h a t . . . V. 2782. 2870 [O] DianaV. 2865 [Ganz reif zum] Zum Tod [']e reif[o] Diana [,]! fühl' ich mich! V. 2815 Sonst müßte man die Leiche des Achill[s] - V. 2362 So fordert er zu[m] Kampf, auf Tod und Leben, V. 404 u . ö . Abkürzung der Sprecherangabe Dolop[er]. Zusätze: Gält' es [,]jetzt die Atr[e]iden anzugreifen V. 2544; V. 1044 Was geht [dem] das Volk[e] denn der Pelide an? V. 1535 Als bis mein Wort dich ruft. Versprichst du'i mir?

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chenen Verses 1340 geht wahrscheinlich auf den Setzer zurück und scheint von Tieck bei der Korrektur übersehen worden zu sein. 2. Innerhalb der deutlich als Texteingriff zu erkennenden Varianten nimmt der A u s t a u s c h von Worten den größten Raum ein. Auch er erfolgt punktuell und führt nur in wenigen Fällen zu Umstellungen innerhalb eines Verses. Dieses Verfahren legt nahe, einmal den Motiven Tiecks im einzelnen nachzugehen 137 . V. 1227/28

Daß der Stern, auf dem wir athmen, Geknickt, gleich dieser Rosen eine[n], läge! In Ph druckt Kleist: „gleich Einer dieser Rosen", während H bereits die Inversion : „gleich dieser Rosen Einer" aufweist, E also die verdeutlichende Ph-Korrektur nicht übernimmt, aber zugleich einen Druckfehler einschleppt. Tieck erkennt den Druckfehler und versucht eine durchaus denkbare, wenn auch durch die anderen Uberlieferungsträger nicht gestützte Verbesserung. V . 2372-74

Hört' ich doch einen Sandblock just so gern, Endlosen Falls, bald hier, bald dort anschmetternd, Dem klafternhohen Felsen [riff]räs entpoltern. Der in E. überlieferte Ausdruck „Felsenriff" braucht nicht unbedingt als .richtig', d. h. als von Kleist gewollt, akzeptiert zu werden; wenn man voraussetzt, daß die Vorlage eine apostrophierte Dativform mit zwei Lang-s aufwies, lag eine Verwechslung mit Doppel-f, ein Druckfehler, nahe. Die Konjektur Tiecks kann sich auf die „Felsenrisse" in der Germania-Odt (in der von ihm benutzten KleistHandschrift e) stützen; diese Lesung ist auch in zwei weiteren Germania-Handschriften (a und g) überliefert 138 . V. 6 9 - 7 1

Und Glut ihr plötzlich, bis zum Hals hinab, Das Antlitz färbt, als schlüge rings um [ihr] sie Die Welt in helle Flammenlohe auf. Die Konjektur Tiecks erscheint auf den ersten Blick einleuchtend, da die „Glut" durch sie stärker lokalisiert wird: Penthesilea inmitten der Glut. Kleist hatte es jedoch auf die emotionale Bedeutung („ihr" im Sinne von „für sie") abgesehen: als schlüge ihr die Welt in helle Flammenlohe auf. Zur besseren Verständnishilfe und Sprechgliederung könnte „rings um" in Kommata eingeschlossen werden. V. 1295/96

137

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Wenn ich zur Flucht mich noch - wenn ich es thäte: Wie, sag', wie faß[t] ich mich?

Im Gegensatz zu Reinhold Köhler, der sich in den meisten Fällen mit einer Feststellung der in E überlieferten Fassungen begnügt, wird hier nicht nur eine Motivierung der Tieckschen Eingriffe, sondern zugleich eine interpretierende Begründung dieser Fassungen versucht. Vgl. hierzu die Textsynopse in K. Kanzog, Prolegomena zu e. histor.-krit. Ausgabe d. Werke H . v. Kleists. München 1970, S. 156.

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Die nachfolgenden Worte der Prothoe: „Du giengst nach Pharsos./Dort fändest du, [ . . . ] Du ruhtest dich [ . . . ] gefiehl's dir,/Nähmst du [ . . . ] " lassen keine Zweifel an der Einheit des Modus innerhalb dieser Gesprächspartie. Die Frage Penthesileas lautet übertragen: wie könnte ich mich fassen? Auf den Rat Prothoes antwortet sie V. 1302 im gleichen Modus: „Wenn es mir möglich war - ! Wenn ichs vermöchte - ! " Tieck, der den Entscheidungsaugenblick stärker betont, hat die Änderung wohl um der besseren Verständlichkeit willen vorgenommen und den Satz damit in die Nähe des Prinzen von Homburg gerückt: „Ich will nur sehn, wie ich mich fassen soll" (V. 1338). V. 1809-11

O du, die eine Glanzerscheinung mir, Als hätte sich das Aetherreich eröffnet, Herabsteiget, Unbegreifliche, wer bist du? Die Interpretation der Anrede Achills muß die Gesprächssituation des 15. Auftritts (Achill - Penthesilea) berücksichtigen. So ergibt sich die Verbform der 2. Person sing, bei Kleist aus der gesteigerten Anrede von selbst. Die 3. Pers. singl. Tiecks isoliert den Nebensatz, um die Einheit des Vergleichs, d. h. die Bildlichkeit der herabsteigenden Glanzerscheinung, zu erhalten, wobei das Relativpronomen in V. 1810 („die [ . . . ] , Als hätte sich [ . . . ] " ) unausgesprochen mitschwingt. V. 2755/56

That sie das sonst auch selber;

Pfeil und Bogen, [Sie] Die hat sie stets mit eigner Hand gereinigt. Tieck nahm offensichtlich an dem zweimaligen „sie" Anstoß und konnte wegen des Kommas in V. 2755 guten Glaubens sein, es handle sich beim „Sie" des folgenden Versanfangs um einen Druckfehler. Doch zeigt schon die anaphorische Konstruktion der Vorstufe in H die bewußte Blickrichtung auf Penthesilea, die der teichoskopischen Technik in diesem Teil der Szene gut entspricht: „Sie hat ihn immer Bogen so wie Pfeil,/Sie hat sie immer selbst gereinigt". V. 51/52

Die wie vom Himmel plötzlich, kampfgerüstet, In unsern Streit fällt, sich darein zu mischen, Tieck bietet die üblichere Form. Kleists „sich darin zu mischen" läßt in der Tat leicht Mißverständnisse entstehen. Zolling bemerkt jedoch: „Darin und darein, worin und worein braucht der Dichter promiscue; die von Tieck und Schmidt beliebten Änderungen sind daher völlig überflüssig" (II, 287). Parallelbeispiele gibt bereits Köhler (S. 10).

V. 2836 V. 2866-68

Nun denn, so komm' [mir] hier auf den Sitz zurück! -

Zwar weiß ich nicht, was hier mit mir geschehn Doch gleich des festen Glaubens könnt' ich sterben, Daß ich [mir] hier den Peliden überwand. In beiden Fällen scheint die Wiederholung des Wortes „mir" (in V. 2837 Rasch eure Schleier mir, ihr Priesterinnen, - bzw. V. 2866) Tieck zur Änderung bewogen

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zu haben, wobei er sowohl das Stilmittel der Wiederholung als auch das psychische Moment des Reflexivums verkannte und die Reden simplifizierend auf den O r t der Handlung zuschnitt 1 3 9 . V . 3019/20

Willst du die Pfeile auch? Hier schütt' ich [ihren] dir den ganzen Köcher aus!

Wer die Gesprächspartner und ihre Gesten in den Vordergrund stellt, wird die Verdeutlichung Tiecks begrüßen, zumal Penthesilea am Ende ihrer Rede sagt: „ D a ! Nimm sie hin!/ Nimm alle die Geschosse zu dir hin!" (V. 3023/24). Für Tieck sind die Pfeile Requisiten, während Kleist in ihrer symbolischen Bedeutung als Todeswerkzeug und Liebesattribut eine schicksalhafte Beziehung des Menschen zu den Dingen sichtbar werden läßt. Doch geht es hier nicht allein um die Pfeile. Das gleichfalls symbolische Ausschütten des Köchers erzwingt für Augenblicke einen Perspektivenwechsel von den Pfeilen auf „ihren ganzen Köcher". Kleist unterstreicht durch Wort und Geste den instrumentalen Zusammenhang von Pfeil und Köcher, aber in der fast innigen Bemerkung Penthesileas ist eine Nuancierung zum Phallischen mitenthalten. V . 1222/23

Der Sieg, ist er erkämpft mir schon, daß mit Der Hölle Hohn [schon] jetzt der Triumph mir naht?

Tiecks Änderung verrät Theaterinstinkt, denn das „jetzt" ist ein dramatisch starkes W o r t 1 4 0 ; erinnert sei hier an die Häufung des Wortes in Schillers Gallensteins Tod, vor allem in den Reden Wallensteins (V. 3 2 f . Jetzt muß/Gehandelt werden, V. 118 Jetzt, da die Macht noch mein ist, müßts geschehn, u.ö.). Er mag das zweimalige „schon" und die Aufeinanderfolge von „ H o h n " und „schon" als störend empfunden haben und übersah dabei, daß die Wiederaufnahme des Wortes von Kleist als Steigerungsmittel eingesetzt wird, um die rhetorische Frage, aus dem dreimaligen Fluch (mit anaphorischem Anfang in V. 1215, 1216 und 1219) herauswachsend, an einen Punkt zu führen, an dem die Rede vehement in Aktion umschlagen kann. V . 1610/11

Er wär' gefangen mir? Wie sonst? Ist's nicht? In [jedem] jenem schön'ren Sinn, erhabne Königinn!

V. 2085-87

U n d manches Herz, von düsterm Gram ergriffen, Begreift nicht, wie die große Tanais In [jedem] jenem

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ersten Wort zu preisen sei.

Eine ähnliche Stelle begegnet in der Rede desSosias (Amphitryon V. 1014): „Ich muß ein wenig auf den Strauch [ihr] hier klopfen". Vgl. zum Dativgebrauch auch Köhler S. 41. Tieck benutzt das „jetzt" auch in der Familie Schroffenstein V. 1135, um ein zweifaches „fast" (so bereits in der Hs. derFam. Ghonorez) zu tilgen: „Jeronimus, mir wird ein böser Zweifel/[Fast]/efzf zur Gewißheit [,] fast". Die gleichzeitige Tilgung des Kommas zeigt, daß Tieck die nachdrückliche Betonung des „fast" verkannt hat.

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Beide Fälle zeigen ein nur vordergründiges Verständnis des Textes. In V. 1611, der Antwort auf Penthesileas ungläubige Frage, stellt Tieck einen bloß äußerlichen Bezug auf die Rosenfesseln her; in der Konjektur „jenem" in V. 2087 wirkt offenbar die Erzählung von der Gründung des Amazonenstaates (V. 1953-1990) nach, obgleich dort von einem „ersten Wort" nicht expressis verbis die Rede ist. Achills Antwort „In jedem schön'ren Sinn" entspricht aber der ungewöhnlichen Situation in besonderer Weise. Durch sie wird Penthesilea in Sicherheit gewiegt, während der Komparativ „schön'ren" die für sie in diesem Augenblick unmöglich wahrnehmbare und für den weiteren Verlauf der Szene entscheidende Einschränkung: .außer dem der Gefangenschaft durch Kriegsgeschick' enthält. - Das Preisen „in jedem Wort" hat dagegen eine Parallele in Kleists Amphitryon (V. 1487), wo Alkmene Jupiter ein Denken an ihn „in jeder ersten Morgenstunde" gelobt. Kleists Konstruktion ist viel stärker gegenwarts- und zukunftsbezogen als Tiecks Konjektur. Sie läßt bereits Penthesileas Konflikt mit dem Gesetz (als dem überlieferten, formelhaft erstarrten Wort) aufscheinen. V. 2192/93

U n d in mein Herz, wie Seide weiß und [rein] klar, Mit Flammenfarben jede brannt' ich ein. Daß es Tieck hier primär um die Beseitigung des Reims ging, zeigen auch die verwandten Konjekturen in V. 1173 und V. 2719. Tieck hat in seinen eigenen Dramen Reime keineswegs gescheut, er setzte sie aber - in Anlehnung an Shakes p e a r e - als bewußte Stilmittel ein, so daß er die bei Kleist vorgefundenen Stellen als Unachtsamkeiten empfinden mußte. V. 2727

Was meint sie [auch] nur damit?

V. 2768 N u n , was [auch] denn giebt's? Die originale Fassung bereitet dem heutigen Leser wahrscheinlich kaum weniger Schwierigkeiten als dem breiteren Lesepublikum Tiecks. Beide Stellen fordern eine Anpassung an den gewöhnlichen Sprachgebrauch geradezu heraus. Doch hat Reinhold Köhler (S. 13/14) an Hand von Parallelstellen nachgewiesen, daß Kleist eine Vorliebe für das unbetonte ,auch' in Fragen hat 1 4 1 . V. 2741/42 Die That, die sie Vollbracht hat, ist zu scheußlich; drum laß mich [sein]. Tieck gestaltet die Rede der Prothoe durch die Verstärkung des begründenden Moments zu einer flüssigen Argumentation um, während Kleist gerade das Abrupte betont und die Oberpriesterin mit gutem Grund antworten läßt: „Fass' dich." V. 2936-38 Den will ich meiner Rache opfern. Sprich! Was soll man [nun] nur der Rasenden erwiedern? N u n , werd' ich's hören? - O meine Königinn, 141

In gleicher Weise korrigiert Tieck die Rede Ruprechts im Zerbrochnen Krug (V. 1019): „Was ist dir [auch] dochf"

Plädoyer für den Dichter des Prinz Friedrich von H o m b u r g

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Prothoes „nun" kann leicht für ein Druckversehen gehalten werden; außerdem bringt das doppelte „nun" eine sprachliche Härte in den Dialog, die allerdings bewußtes Stilmittel ist. Tiecks „nur" verstärkt die Ratlosigkeit Prothoes, lenkt aber von der tragischen Spannung dieses Augenblicks ab. Penthesilea weiß noch nicht, daß sie selbst Achill getötet hat, und steigert sich in ein bohrendes Fragen nach dem Täter hinein (V. 2922-36). In der herrischen Aufforderung „Sprich!" ist die Klimax erreicht, und nur noch wenige Worte trennen sie von der Enthüllung der Wahrheit. Prothoes „nun" bezeichnet genau diesen Wendepunkt. Penthesilea greift diese „nun" insistierend auf, aber in V. 2942 dämmert ihr die Erkenntnis: „Gebt Acht, sie sagen noch, daß ich es war". Tieck (oder der Setzer?) übersah, welche Funktion Kleist dem „nur" in dieser Partie vorbehalten hat. Die Oberpriesterin benutzt es in ihrer „schüchternen" Antwort (V. 2943: „Wer sonst, du Unglückseelige, als nur - ?") und kurz darauf in einschränkender Funktion, um Penthesilea damit um so schwerer zu treffen (V. 2948 ff.: „Und Himmel! wär' es nur dein Pfeil gewesen ¡/Doch, als er niedersank, warf'st du dich noch,/In der Verwirrung deiner wilden Sinne,/Mit allen Hunden über ihn[...]"). V. 2 1 1 0 - 1 3

Die Mutter lag, die bleiche, scheidende, Mir in den Armen eben, als die Sendung Des Mars mir [feierlich] /esi/i'cA im Pallast erschien, Und mich berief, nach Troja aufzubrechen, Tiecks Konjektur „festlich" findet eine Stütze in H 1 4 2 , der Grund für die Glättung des Verses ist jedoch in der spürbaren Unebenheit der Erstdruck-Fassung zu suchen. Man muß sich hier zu der Meinung durchringen, daß Kleist dem besseren Adverb gegenüber den Ansprüchen der metrischen Fügung (wie auch an anderen Stellen) den Vorzug gab, weil die Verkündigung der Ares-Botschaft (V. 2107-09) in der Todesstunde der Otrere eher feierlich als festlich zu denken ist. V. 2878 O Diana! Warum soll ich nicht? O [Diana] Göttin! Penthesilea, kurz vor der Entdeckung der Leiche Achills und dem Bewußtwerden ihrer eigenen Tat, befindet sich in einem Zustand „immer steigender Ungeduld". Die Klangfigur des Kyklos ist hier der angemessene Ausdruck der feierlichen Anrufung Dianas. Tieck glaubt durch die scheinbar bessere Variation zugleich den Rhythmus zu verbessern, was erkennen läßt, wie fremd ihm letztlich der rhetorische Aufbau des Werkes geblieben ist. V. 2986 Ich habe mich, beim [Diana,] Himmel! bloß versprochen, Tiecks Wort-Ersetzung, die wiederum schematisch das Versmaß glättet, geht an der Bedeutung, die der Berufung auf die Göttin zukommt, vorbei. Diana ist in diesem Werk als personale Instanz ständig gegenwärtig und wird im Augenblick der 142

Tieck hat hier möglicherweise die damals in seinem Besitz befindliche Handschrift zur Textgestaltung herangezogen. Eine durchgängige Konsultation von H läßt sich allerdings nicht nachweisen.

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Plädoyer für den Dichter des Prinz Friedrich von Homburg

Wahrheit auch von der Oberpriesterin angerufen (V. 2945). Der Ausruf „ O Himmel!" bleibt dagegen in dieser Szene als bloßer Schreckensruf der ersten Priesterin (V. 2977) und Meroe (V. 3015) vorbehalten. Besonders deutlich tritt das Bearbeitungsprinzip Tiecks in einer Gruppe von Beispielen zutage, die den Austausch nicht gebräuchlicher, z. T. sogar manieristischer Verben gegen allgemeiner verständliche erkennen läßt: V. 803

Nicht den Peliden, bei den ew'gen Göttern, Wirst du in dieser Stimmung dir gewinnen: Vielmehr, noch eh' die Sonne sinkt, [versprech*] befürcht'ich, Die Jünglinge, die unser Arm bezwungen, So vieler unschätzbaren Mühen Preis, Uns bloß, in deiner Raserei verlieren. Prothoe hat bereits erkannt, daß der Konflikt Penthesileas zwischen dem Gesetz des Amazonenstaates und der Liebe zu Achill nicht zu lösen ist, und tritt der schwesterlichen Freundin offen entgegen: „ D u bist, in Flammen wie du loderst, nicht/Geschickt, den Krieg der Jungfraun fortzuführen" (V. 796/97). Denn Penthesilea, die nach dem Gesetz den Bräutigam im Kampf, d. h. im Verständnis Kleists aus der Grazie ihrer Seele heraus erbeuten soll, hat diese Grazie in dem Augenblick verloren, als sie Achill, den ihr von Otrere Verheissenen (und gegen das Gesetz namentlich Genannten), trifft 1 4 3 . Prothoes Worte, aus denen Penthesilea nur Feigheit herauszuhören vermag, sind schon zu diesem Zeitpunkt prophetisch auf das Ende bezogen, obgleich sie zunächst nur verhindern sollen, das „Spiel der Schlachten" neu zu beginnen (V. 667). Tiecks Konjektur, die das hier ungewöhnliche und mißverständliche Wort „versprechen" ersetzt, interpretiert die Stelle als negative Vorausdeutung, bleibt aber doch hinter Prothoes Bewußtsein von der Unausweichlichkeit des Konflikts zurück. V. 1538-46

Penthesilea! O du Träumerinn! In welchen fernen Glanzgefilden schweift Dein Geist umher, mit unruhvollem Flattern, Als ob sein eigner Sitz ihm nicht gefiele, Indeß das Glück, gleich einem jungen Fürsten, In deinen Busen einkehrt, und, verwundert Die liebliche Behausung leer zu finden, Sich wieder wendet und zum Himmel schon Die Schritte wieder flüchtig [setzen] lenken will? Dem gewöhnlichen Sprachgebrauch nach würde man an dieser Stelle entweder „den Fuß setzen" oder „die Schritte lenken" erwarten, doch verbindet sich mit dem .Lenken' von Schritten ein höherer Bewußtseinsgrad und die stärkere Aus143

Verwiesen sei hier auf den Bericht des Odysseus (V. 56-102), in dem dieser Verlust der Grazie deutlich zum Ausdruck kommt.

Plädoyer für den Dichter des Prinz Friedrich von Homburg

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richtung auf ein Ziel. Das Adverb „flüchtig" in der Bedeutung ,auf der Flucht' weist zwar auf ein solches Ziel („zum Himmel"), aber im Bilde des in der „lieblichen Behausung" eingekehrten und sich wieder abwendenden Glückes ist ein Moment des Zögerns, d . h . des eigentlich Bleibenwollens, enthalten, das in der warnenden Frage Prothoes der Unrast Penthesileas entgegengesetzt wird. V. 2236/37

Denn dort, wenn meines Volkes Krieg [beschlossen] geendet, Führ' ich dich jauchzend hin, Tieck sorgt für das Verständnis des Verses, indem er das doppeldeutige „beschlossen" in dem von Kleist gemeinten Sinne „geendet" klarstellt, zumal Penthesilea wenige Verse zuvor (V. 2220: „Doch von zwei Dingen schnell beschloß ich Eines") das Verbum in der häufigeren Bedeutung „sich zu etwas entschließen" benutzt. Verloren geht das dreimalige o als Vokalträger des Verses, eine Eigentümlichkeit, die das Lernen und Sprechen des Verses erleichtert.

V. 2703 Entsetzen [griff] faßt' mich, und ich floh zu euch. Der in H und E gleichlautend überlieferte Vers weist im dreimaligen i ebenfalls einen Vokalträger auf. Insofern ist die Wortwahl psychologisch stimmig. Zugrunde liegt der Gedanke: Entsetzen ergriff mich 144 , jedoch erzwang der Versrhythmus die Eliminierung des Präfixes. Tiecks Verbesserung' 1 4 5 entspricht dem gängigen Schreckensvokabular der Romantik und bringt, am Ende der Rede und des 23. Auftritts recht wirkungsvoll, einen Stabreimeffekt in den Vers. V. 2914/15 Das aber will ich wissen, Wer mir so gottlos [neben hat gebuhlt] Nebenbuhl'rin ward! Kleists ungewöhnliche Verbalkonstruktion erscheint nur im ersten Augenblick als eine vom Rhythmus erzwungene Notlösung. Zolling (II, 429) hat sie mit Hinweisen auf den verwandten Ausdruck „zur Seite buhlen" im Käthchen von Heilbronn und in der Hermannsschlacht gerechtfertigt 146 . Tiecks pathetisch-hölzerne Ersatzformulierung stilisiert die Rede der Penthesilea auf die Tonhöhe der Tragödie, wodurch gerade das entscheidende Aktionselement „buhlen" verloren geht. V. 1625/26

Ihr Säfte meiner Jugend, macht euch auf, Durch meine Adern [fleucht] flieht, ihr jauchzenden, Köhler (S. 21) belegt durch Parallelstellen, die Zolling (II, 364) vermehrt,

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Die Wortverbindung begegnet in der Verlobung in St. Domingo (184, 8 - 9 : das Entsetzen, das wenige Augenblicke darauf ihren Busen ergriff) und im Bettelweib von Locarno (197,33: das Entsetzen, das sie ergriff). Auch in der Marquise von O. ersetzte Tieck „griff" durch „faßte": „so [ g r i f f ] f a ß t e sie eines Morgens, da sich das junge Leben wieder in ihr regte, ein H e r z . . . " (127, 15-16). Diese Prosastelle läßt das „griff" in V. 2703 als eine Kleist durchaus eigentümliche Form erscheinen. Vgl. Käthchen von Heilbronn V. 2278 (nach der Zählung Sembdners): „Sie buhlt mir so zurSeite um sein Herz" und Hermannsschlacht V. 2303: „Als nur der Mond, der ihm zur Seite buhlt".

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Plädoyer für den Dichter des Prinz Friedrich von Homburg

Kleists Neigung zu solchen alten, vielleicht besonders .poetisch' empfundenen Wortformen. Tieck modernisiert. Äußerlich gesehen bilden die Komposita-Änderungen eine eigene Gruppe im BearbeitungssystemTiecks, doch sind die einzelnen Fälle unterschiedlich zu beurteilen : V. 1172/73

Mit Sichelwagen schmettert auf ihn ein, U n d mähet seine üpp'gen Glieder [nieder] ab! Tieck nahm am Binnenreim Anstoß und ersetzte das ausdrucksvolle Bild des Niedermähens, d. h. des Fällens in voller Reife, durch ein bloßes Abschlagen. Daß es Kleist aber gerade auf dieses Bild ankam, zeigt die Vorstufe des Verses in H („Und laßt ihn seine Glieder niedermähen!") In E wird das Bild durch das vorgezogene Verbum und die Einfügung des Adjektivs intensiviert; der Binnenreim dient der gestischen Verschärfung, wobei bemerkenswert ist, daß Penthesilea diese Passage „mit schwacher Stimme" spricht.

V. 1296-98

Du giengst nach Pharsos. Dort fändest du, denn dorthin wieß ich es, Dein ganzes Heer, das jetzt zerstreut, [zusammen] beisammen. Im Michael Kohlhaas ist von einem „Haufen" die Rede, der sich „aus Resten des aufgelösten zusammengefunden" (74,26). In der AnekdoteDer Branntweinsäufer erwähnt der Erzähler eine „Kneipe, wo mehr als dreißig Gäste beisammen waren" (267, 36). Die Wortwahl in V. 1298 entspricht dem zum Zeitpunkt der Rede noch nicht abgeschlossenen Vorgang des Sich-Sammelns der einzelnen Heeresteile („jetzt zerstreut"), während Tieck den Akzent auf das „ganze Heer" (im futurischen Sinn: ,dann beisammen') legt. V.2449/50

U n d sag' dem Sittenrichter nichts, dem grämlichen Odyß, von dem, was ich dir «»vertraue; Instinktiv ,richtig' (möglicherweise nach H oder Ph) hat Tieck bei der Rhythmus-Korrektur in V. 2450 die Emendation „anvertraue" vorgenommen, die schon Köhlers Zustimmung fand und seitdem unbestritten ist. Eine von Kleist in E vielleicht absichtlich in den Vers hineingebrachte Hemmung mit verstärkter Betonung des „was" läßt sich nur schwer rechtfertigen.

V. 2599/2600

Hier kommt es, bleich, wie eine Leiche, schon Das Wort des Gräuel-Räthsels uns [heran] herab. Das „herab" ist, wie schon Köhler (S. 26) vermutete, „vielleicht nur Druckfehler, jedenfalls ganz unpassend, da Meroe 1 4 7 von keiner H ö h e kommt". Der Fehler könnte von der folgenden Bühnenanweisung „Sie steigt vom Hügel herab" ausgelöst worden sein.

V.2736 147

Sie blicket immer auf die Priestrinn [ein] hin.

23. Auftritt, V.2601 ff. Bericht der Meroe = „Das Wort des Gräuel-Räthsels" (V.2600).

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113

Köhler (S. 28) rechtfertigt das Verbum „einblicken" mit Parallelstellen im Michael Kohlhaas und in der Marquise von O. 1 4 8 . Die tiefere Begründung ist in der Ableitung des ,intensiven' Blickes aus den Erfahrungen des Magnetismus zu suchen. Das geht auch aus den folgenden Worten der zweiten und dritten Amazone hervor: „Grad" ihr ins Antlitz - " „Fest und unverwandt, / Als ob sie durch und durch sie blicken wollte.-" (V.2737/38) Vermochte der Austausch einzelner Worte den Vers nicht zu verbessern', so schreckte Tieck auch vor der Umstellung von Worten bis zur Änderung der Konstruktion nicht zurück. Doch handelt es sich nur um wenige Stellen: V.2286-90

O! Freund! Nach Themiscyra, sag' ich dir, Wo [Dianas Tempel aus den Eichen ragt]! aus den Eichen ragt Dianas Tempel Und wenn der Seel'gen Sitz in Phtya wäre, Doch, doch, o! Freund! nach Themiscyra noch, Wo [Dianas Tempel aus den Wipfeln ragt]! aus den Wipfeln ragt Dianas Tempel Der Versglättung Tiecks liegt die Normvorstellung einer notwendig gleichmäßigen, ,erhabenen* Dramensprache zugrunde. Das Ende des 17. Auftritts ist jedoch von großer Dramatik. Achill hat Penthesilea die Wahrheit enthüllt; sie sträubt sich, ihm nach Phtya zu folgen, während die Amazonen bereits heranstürmen, um sie zu befreien und Achill den Rückweg abzuschneiden. Das Beschwörende der Rede, durch die Penthesilea Achill umzustimmen versucht, kommt sowohl im Parallelismus als auch im unterbrochenen Rhythmus zum Ausdruck. Die betonte Anfangsstellung „ W o Dianas Tempel [. . .]" hebt den starken Gefühlswert dieses Heiligtums heraus. Dem entspricht die Antwort Achills: „Ich bau dir solchen Tempel bei mir auf."

V. 2621-23

Denn er auch, o wie mächtig sind die Götter! Er liebte sie, gerührt von ihrer Jugend, [Zu Dianas Tempel folgen wollt' er ihr:] Und wollt' ihr zu Dianas Tempel folgen; Kleist hat an diesem Vers gefeilt. H bietet die Fassung: Er liebte sie; gerührt von ihrer Jugend Wollt' er ihr zum Diana-Tempel folgen; Daß Kleist diesen Vers in H noch einmal genau überprüft hat, zeigt die nachträgliche Bleistift-Einfügung des Bindestrichs. In E nun steht die Ersetzung des Semikolons durch ein Komma mit der Perioden-Änderung des Satzes im Zusammenhang. Die Apposition „gerührt von ihrer Jugend", nunmehr auf den Anfang bezogen, hat an Logik gewonnen. Die entstandene rhythmische Härte akzentuiert

148

Vgl. Michael Kohlhaas (60,3): „weil das Gesindel höhnisch auf ihn einblickte". - Marquise von O. (141,16): „Die Marquise blickte, mit tötender Wildheit, bald auf den Grafen, bald auf die Mutter ein."

114

Plädoyer für den Dichter des Prinz Friedrich von Homburg

das dramatische Geschehen des Berichtes. Tieck bietet wiederum den ,besseren' Vers, durch den der Bericht jedoch ins Deklamatorische entgleitet. V.2719 Winkt immer nieder zu der Priestrinn Füssen [nieder] Da hier nur schwer ein ,Ersatz wort' zu finden ist, behalf sich Tieck zur Vermeidung des Endreims (V. 2718: „Sie winket immer fort - Winkt immer wieder - " ) mit einer Wortumstellung, zerstörte aber dabei die zwar ungewöhnliche, doch wirkungsvolle Verflechtung von Anapher und Reim. V. 629/30

Es ruft die Schlacht noch einmal mich ins Feld. Den jungen trotz'gen[ Kriegsgott bänd'g' ich mir ,] Kriegesgott zu bändigen. Köhler (S. 13) bietet weitere Beispiele, um zu zeigen, daß „Härten von der Art wie ,bänd'g' ich'" bei Kleist mehrfach vorkommen; an allen diesen Stellen hat Tieck ebenfalls korrigierend eingegriffen. In V . 630 allerdings zog die Stil-Korrektur durch die notwendig werdende Verschiebung des Kommas eine folgenschwere Satz- und Sinn-Korrektur nach sich, die vor allem Penthesileas starke Ich-Bezogenheit („bänd'g' ich mir") abschwächte, die schon hier Penthesileas Entfremdung vom Amazonenstaat erkennen läßt 1 4 9 .

V. 1044 Was geht [dem] das Volk[e] denn der Pelide an? Obgleich das Verbum „angehen" heute nur mit der Akkusativ-Konstruktion gebräuchlich ist, wird die Dativ-Konstruktion, seit Zolling in allen maßgebenden Ausgaben wiederhergestellt, als von Kleist gewollt tradiert. Tiecks Eingriff war ohnehin keine Verbesserung. V. 1045/46

Ziemt's [einer] Ares Tochter [Ares], einer Königinn, Im Kampf auf einen Namen sich zu stellen? Tiecks Änderung geht an der Situation des siebenten Auftritts vorbei. Während die Mädchen auf einem Hügel die Schlacht beobachten und der Oberpriesterin Bericht erstatten, ist diese in Rufweite zum Hügel zu denken. Erst in den Versen 1047 ff. schickt sie die Amazone Arsinoe mit einer Anweisung zu Penthesilea. Die Verse 1044-46 haben den Charakter eines Selbstgesprächs, das mit der Anrede „Königin" in eine Frage an Penthesilea mündet 1 5 0 . Auch der V . 1054 ist als Selbstgespräch anzusehen. V . 1212-14

- Das Siegsfest sollten [sich] so, Das heißersehnte, deine[r] Jungfrauen feiern! War's nicht dein eigner Mund, der's so befahl? Die Verse haben erst in E ihre endgültige Gestalt bekommen, aber schon in H

149

150

Diese Ich-Bezogenheit Penthesilesas kommt noch einmal in V. 2867/68 zum Ausdruck: „Doch gleich des festen Glaubens könnt' ich sterben, / Daß ich mir den Peliden überwand". Es ist bemerkenswert, daß sich noch Erich Schmidt (ES II, 66) Tieck anschließt und schreibt: „Vor .Königin' ist zu ergänzen: einer."

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115

und Ph begegnet das „Reflexivum für das Passivum" (Köhler S. 18), an dem Tieck Anstoß nahm und das er durch eine aktive Konstruktion mit Wechsel des Subjekts ersetzte. Köhler weist an Hand zahlreicher Beispiele den häufigen Gebrauch des Reflexivums bei Kleist nach. V . 2071-74

Und wehn die Reifsten derer, die da fallen, Wie Saamen, wenn die Wipfel sich zerschlagen, In unsre heimathlichen Fluren hin. [Hier pflegen wir, im] Im Tempel ¿er Diana ['s,^pflegt man ihrer, Sowohl H („Hier hegen wir, im Tempel Dianas, ihn / Und pflegen - " ) als auch E sind rhythmisch inkorrekt. Aber um des Gleichmaßes willen zerstört Tieck den stabreimenden Übergang (V.2073/74) und den Zusammenhang des „wir" (V.2041,2067,2070,2074). Doch der Einschluß in Kommata markiert Sprechpausen, so daß der Rhythmusstau als funktionelles Mittel der Bedeutungsnuancierung aufzufassen ist. V. 2342/43

Penthesilea. (wankend)Prothoe! Prothoe. [MeinJSchwesterherz! Penthesilea. [Ich bitte dich,] O! bleib' bei mir[.]! Prothoe. Im Tod, du weißt — Was bebst du, [meine] Königinn? Der Widersinn, Kleists Verse mit der Elle messen zu wollen, tritt an diesem Beispiel besonders kraß hervor. Tieck hat vielleicht guten Glaubens den Vers sachgemäß zurechtgestutzt, aber dabei die eigenen rhythmischen Verhältnisse, den Aufbau der Bitte, die in H fehlt, und die Steigerung übersehen. Gesprochen fallen die .überflüssigen' Senkungen und Hebungen kaum ins Gewicht, da der Affekt die Zwiesprache zwischen Penthesilea und Prothoe bestimmt und jede Rede in sich rhythmisch geschlossen ist. V.2586 War dies [er] ein Jubellaut der Freude nicht? Der ungewöhnliche Genitiv wurde von Kleist als Verbesserung angesehen, denn in H lautet der Vers noch: „War das der helle Laut der Freude nicht?" Der Manierismus des Verses legte allein im Hinblick auf die schnelle Verständlichkeit eine Korrektur nahe 1 5 1 . V.2864/45

Ich bin so seelig, Schwester! Uberseelig! [Ganz reif zum] Zum Tod ['] e reif [o] Diana [,]/ fühl' ich mich! In H steht das Komma vor „o Diana" und deutet eine Pause an, die das Sprechen des Verses erleichtert und die Unregelmäßigkeit des Versmaßes 1 5 2 kaum empfinden läßt. O b die Kommaverschiebung in E das Ergebnis einer Korrektur Kleists 151

152

Köhler (S. 26) und Zolling (II, 211) verweisen auf V. 1379 („Dies Werk ist der Giganten") als Parallele. Die Unregelmäßigkeiten wurden im Zusammenhang untersucht von Dirk Dethlefsen: Zu Metrum und Rhythmus des Blankverses in den Dramen Heinrich von Kleists. München 1970. (Studien und Quellen zur Versgeschichte. 3.)

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oder nur ein Druckfehler ist, läßt sich nicht sicher sagen. Der Anruf der Göttin („mit einer Art von Verzückung") hat im Grunde den gleichen rhythmischen Effekt wie in H. Tieck gestaltet den Vers nach V. 1682 („Zum Tode war ich nie so reif als jetzt.") um, zerstört aber damit die schwerwiegende Anfangsstellung des „Ganz reif", die als eine Steigerung des „Uberseelig!" aufzufassen ist. Die Beurteilung der I n t e r p u n k t i o n s e i n g r i f f e stößt auf erhebliche Schwierigkeiten, da keine Druckvorlagen erhalten blieben und der Anteil des Setzers nicht von den Korrekturen Tiecks abzugrenzen ist. Es wäre zunächst zu klären, wie man sich das Anfertigen der Vorlagen und den Satz vorzustellen hat. Daß die Texte der Hermannsschlacht und des Prinz von Homburg auf Abschriften zurückgehen, die der Verlag von den „Originalen" anfertigen ließ, ist dem Brief Tiecks an Reimer vom 28. Februar 1817 zu entnehmen 153 . Für die bereits gedruckten Werke, von denen der Zerhrochne Krug und die Erzählungen im Verlag verfügbar waren, darf man wohl korrigierte Exemplare als Druckvorlage voraussetzen. Aber die Frage, ob Tieck selbst die Interpunktion Zeile für Zeile durchgesehen hat, ist kaum zu beantworten. Die damaligen Setzerpraktiken, nach Adelungs Vollständiger Anweisung zur deutschen Orthographie an Normen orientiert, obgleich noch immer regional und der jeweiligen Offizin nach durch besondere Eigenheiten zu unterscheiden, lassen eine gewisse Selbständigkeit im Korrigieren 154 , vor allem gegenüber der bei Kleist zu beobachtenden Kommahäufung, vermuten. Hier muß man sich mit der Feststellung bestimmter Tendenzen der sichtbaren Eingriffe begnügen. - Als Versuchstext wurde Michael Kohlhaas gewählt15S. Am auffälligsten ist die Komma-Tilgung bei attributiven Angaben (585) und zwar sowohl bei temporalen, lokalen und modalen Angaben als auch bei kausalen Ergänzungen. Daneben wurden zahlreiche Kommata vor allem bei Konjunktionalsätzen (155), erweiterten Infinitivsätzen (121) und Relativsätzen (114) beseitigt; bei einfachen Infinitivsätzen unterblieb das Komma sechsmal. Wiederholt begegnen auch Tilgungen, die auf eine deutliche Verkennung der Kleistschen Intention weisen, den Text durch rhythmische Einschnitte, Stauungen und dramatisierte Gedankenführung zu gliedern (60). Satzwertige Partizipialbildungen (56) und Appositionen, die sich auf Namen, Beruf, Stand, Titel oder Verwandtschaftsgrad beziehen (46) sind relativ häufig von der Kommabindung befreit, während die Til153

154 155

„Wenn Sie mir doch durch Schütz die Originale von Hermann und dem Prinzen von Homburg von Kleist wieder könnten zukommen lassen, denn Ihre Kopien werden Sie behalten wollen [. . .]" (Sembdner, Nachruhm, Nr. 141). Daß es sich bei den „Originalen" um Autographen gehandelt haben kann, ist formal nicht auszuschließen, aber es können ebenso Apographen gewesen sein, die man,original' nicht zum Satz geben wollte Vgl. hierzu die Bemerkungen in Kanzog, Prolegomena, S. 117. Ich stütze mich hier auf Ergebnisse einer Arbeit, die im Wintersemester 1965/66 in meinem Textkritik-Hauptseminar von Gerold Zonsius vorgelegt wurde. Aus Platzgründen kann das statistische Material nicht vollständig ausgebreitet und an Hand von Beispielen belegt werden.

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117

gungen bei mehrgliedrigen Adjektivattributen (19) und Schaltsätzen (15) begrenzt bleiben. Nur einmal fehlt das Komma vor einer Interjektion und zweimal bei einer Satzreihung. Es ist sehr fraglich, ob für diese Eingriffe primär grammatikalische Überlegungen maßgebend waren. Denn innerhalb der Eingriffe, die eine grobe Klassifizierung erlauben, sind zahlreiche Inkonsequenzen zu bemerken, so daß man zu dem Schluß einer mehr gefühlsmäßigen Korrektur, vielleicht auch einer mangelnden Konzentration bei der Durchsicht gelangt. Eindeutig ist dagegen die Grundtendenz, die „Geschlossenheit kleinerer Aussage- und Handlungseinheiten aufzuheben und sie in größere syntaktische und inhaltliche Einheiten einzugliedern" 1 5 6 . Im Zusammenhang mit den 84 von Köhler notierten Textvarianten des Michael Kohlhaas betrachtet, gewinnt die Annahme einer aktiven Interpunktionskorrektur Tiecks eine gewisse Wahrscheinlichkeit. Wer auch immer sonst für die Eingriffe verantwordich sein mag, in jedem Fall büßte der Text Kleists viel von seiner D y namik ein 1 5 7 . Doch die Forderung nach dokumentarisch getreuer Textwiedergabe und das Interesse für die individuellen Eigentümlichkeiten der Zeichensetzung sind erst neueren Datums 1 5 8 . Noch Erich Schmidt beurteilte die Interpunktion in den Werken (nicht in den Briefen) Kleists von dem freieren Standpunkt der Wirkungspoetik, die den klassischen Philologen erkennen ließ. Tieck urteilte aus der Sicht des Publikums, d . h . einer ihm geläufigen Lesererwartung, der bestimmte ,Manierismen' Kleists entgegenstanden. Seine Absicht, einen flüssig lesbaren, leicht verständlichen und daher wirkungsvolleren Text herzustellen, entsprach durchaus den Idealvorstellungen damaliger Literaturkritik. Bedenkt man den Zeitpunkt der Kleist-Edition Tiecks, so hat man sich auch der allgemeinen philologischen Voraussetzungen zu erinnern, die den Horizont eines solchen Unternehmens bestimmten, ihm editorisches Gewicht gaben und zugleich seine Möglichkeiten begrenzten. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts zeichneten sich in Deutschland zwei Tendenzen ab: eine aus dem Geist der Poesie geborene Kunst des Edierens und eine Anlehnung an die klassische Philologie. Tieck selbst hatte 1803 mit der Ausgabe der Minnelieder

aus dem schwäbischen Zeitalter den Weg

bereitet. Seine Wackenroder- und Novalis-Ausgaben von 1796 und 1802 können als typisch .romantische' Editionen 1 5 9 angesehen werden. Karl Lachmann dage156

157

158

159

Nach G. Zonsius. Stichproben ergaben ähnliche Korrekturverhältnisse bei den übrigen Erzählungen Kleists. Kleists eigene Korrekturgewohnheiten sowie den Unterschied zwischen Entstehungsund Korrektur-Interpunktion habe ich am Beispiel des Erdbeben in Chili (Prolegomena, S. 105-110 u.S. 116-121) dargestellt. Zuerst nachdrücklich vertreten von Helmut Sembdner: Kleists Interpunktion, in: Jb. d. dt. Schillerges. 6 (1962) S. 229-252. Konsequenzen für die Leseausgaben forderte Herbert G. Göpfert in: Der Junge Buchhandel Jg. 17, Nr. 8, 1964, S. J 107. Die Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders erschienen anonym (Impressum 1797). Erst auf dem Titelblatt der 1799 edierten Phantasien über die Kunst für Freunde der Kunst gibt sich Tieck als Herausgeber zu erkennen.

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gen hatte 1816 mit der Abhandlung über die ursprüngliche Gestalt des Nibelungenliedes und zehn Jahre später mit seiner Ausgabe durch die Übertragung altphilologischer Methoden auf die deutsche Philologie der exakten Textkritik den Boden bereitet. Seit 1822 beschäftigte sich Goethe 160 mit der Ordnung seiner Werke und dem Gedanken an eine „Ausgabe letzter Hand", die 1826 vertragsreif war; für die Bearbeitung der Drucke faßte er von Anfang an einen klassischen Philologen ins Auge, zunächst Carl Ernst Schubart und, als sich der Plan wegen der räumlichen Entfernung nicht realisieren ließ, den Jenenser Altphilologen Karl Wilhelm Göttling. Die editorische Problematik der „Ausgabe letzter Hand" und die verhängnisvolle Auswirkung der Textkonstitution auf die spätere Weimarer Ausgabe161 sind bekannt, aber es ist notwendig, Goethes eigene Vorstellungen vom Edieren und von der Arbeit des Redaktors ins Gedächtnis zu rufen. Goethe umriß die editorische Aufgabe162 folgendermaßen: „1) daß der Text genau durchgegangen, auffallende, von selbst sich ergebende Druckfehler corrigirt würden 2) Daß da, wo sich etwa ein Dunkel- oder Widersinn ergibt, die Stelle bemerkt würde und deshalb Anfrage geschähe 3) Daß etwa eine, in früherer Zeit gewöhnliche, allzuhäufige Interpunction und Commatatisirung ausgelöscht und dadurch ein reinerer Fluß des Vortrags bewirkt werde. In solchem Falle sind freylich keine Codices zu collationiren, denn die früheren Ausgaben würden hier nur kümmerliche Nachweisung geben; aber eben deshalb hat der Verfasser zu wünschen, daß diese Arbeit bey seinen Lebzeiten geschehe, damit, nach einiger Berathung, der Entschluß alsobald gefaßt werden könne." Diese Idealvorstellung eines reinen, von Fehlern befreiten und zugleich in seiner Wirkung verstärkten Textes dürfte auch Tieck bei seinen Kleist-Ausgaben vorgeschwebt haben. Von einem solchen Editionsziel sind die von Tieck und Friedrich Schlegel gemeinschaftlich herausgegebenen Schriften Friedrich von Hardenbergs allerdings noch weit entfernt. Nachdem die zugrundeliegenden Manuskripte wieder zugänglich geworden sind, liegt offen zutage, was schon durch Vergleichung mit den von Hardenberg noch selbst veröffentlichten Sammlungen deutlich geworden war, daß hier Texte willkürlich zerstückelt und neu zusammengestellt wurden, „um gewisse Effekte zu erzielen", und daß „Fragmente produziert wurden, die gar keine waren" 163 . Dieser aus heutiger Sicht fragwürdige Umgang mit Texten, der den nachfolgenden Generationen ein höchst einseitiges Novalis-Bild aufzwang, ist 160

161

162

163

Vgl. hierzu Ernst Grumach u. Waltraud Hagen, Editionen, in: Goethe-Handbuch. 2. Aufl. hrsg. v. Alfred Zastrau. Bd. 1 (1960ff.) Sp. 1993ff. Zuerst kritisch analysiert von Ernst Grumach, Prolegomena zu einer Goethe-Ausgabe, in: Goethe 12 (1950) S. 6 0 - 8 8 . Brief an Karl Wilhelm Göttling vom 10. Januar 1825 (Weimarer Ausgabe IV, Bd. 39, S. 76 f.). Richard Samuel im Vorwort zum 2. und 3. Band der 2. Aufl. der Schriften von Novalis (Bd. 2, 1960, S. V-VIII). Dort auch Beispiele für das Editionsverfahren Tiecks.

119

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jedoch Ausdruck einer Poetik, die das menschliche Gemüt als etwas Unbekanntes, Geheimnisvolles begreift, das sich „auf unendliche Weise zu gestalten sucht", und in dem Text ein Mittel erkennt, sich dem Unendlichen anzunähern. In diesem Sinne konnte Tieck in der Vorrede zu den Schriften164

davon sprechen, daß die

beiden Bände, „obgleich sie nicht alles enthalten, was der Bekanntmachung würdig war", dennoch „vollkommen das Gemüth des Verfassers oder seine innere Geschichte" ausdrücken, und dem Leser empfehlen, die Sammlung „als ein Buch der Erweckung und Andacht" 1 6 5 anzusehen. Wie sich die Intuition des Herausgebers an einzelnen „schönen Stellen" und „tiefsinnigen Worten" entzündet, so soll auch der Leser durch den Text das Gemüt des Dichters intuitiv erfassen. So wurden die Schriften Friedrich von Hardenbergs zu einer Hauspostille der Romantischen Schule. Gestalt und Funktion des Herausgebers sind in der Romantik Gegenstand literarischer Reflexion. Der dabei in die Betrachtung einbezogene und wiederholt angesprochene „vielgeliebte Leser" war durch fiktive Vor- und Nachworte auf eine Poesie der Edition vorbereitet, die keine exakte Grenze zwischen künstlerischem und wissenschaftlichem Verfahren kannte 1 6 6 . Die Tatsache, daß Tieck in seiner Edition und Übertragung der Minnelieder unbekannte Schätze der Vergangenheit hob und daß es sich bei den Ausgaben von Wackenroder, Novalis, Kleist und Lenz ebenfalls um ein ,Vermächtnis' handelte, verlieh den Editionen einen eigenen M y thos. D e r Bruch zwischen Wissenschaft und Dichtung mußte in dem Augenblick eintreten, in dem sich Philologen der altdeutschen Texte annahmen. Dies geschah in den Jahren 1812 bis 1815, als Jacob und Wilhelm Grimm mit dem lied und dem Wessobrunner

Gebet,

den Eddaliedern

Hildebrand-

und dem Armen Heinrich

die

erste Periode der wissenschaftlichen Edition mittelalterlicher Texte einleiteten und als durch die intensive Erforschung älterer Sprachzustände klar wurde, daß Tiecks .Übertragungen' der Minnelieder oft kaum mehr als eine bloß äußerliche Umsetzung der Lautformen boten und auf einer Unterschätzung des Abstandes zwischen mittelhochdeutscher und neuhochdeutscher Sprache beruhten 1 6 7 . Jacob 164

165 166

167

Novalis Schriften. Hrsg. v. Friedrich Schlegel u. Ludwig Tieck. Bd. 1, Berlin 1802, S. I. Tieck erklärt dort weiter, daß die Auswahl der Fragmente hauptsächlich von Schlegel getroffen wurde, auf ihn dagegen der Versuch zurückgehe, „sie in verschiedenen Abteilungen in eine Ordnung zu bringen" (IX). Gleichzeitig wird betont, „daß der größte Theil der Fragmente nur aus Rücksicht auf den Raum zurückgeblieben" sei. Ebda, S. XII. Vorrede Tiecks zu den Minneliedem aus dem schwäbischen Zeitalter. Berlin 1803, S. IV (siehe Anm. 118). Nach einer ersten Bestandsaufnahme durch Joseph Brüggemann (Ludwig Tieck als Ubersetzer mittelhochdeutscher Dichtung, Diss. Tübingen 1908) wurde diese Entwicklung erstmals im Zusammenhang dargestellt von Gunhild Ginschel (Der junge Jacob Grimm. Berlin 1967). Vgl. dort besonders die Kapitel: Editionen mittelalterlicher Texte, S. 43-50, Ablehnung literarischer Ubersetzungen und Bearbeitungen, S. 71-152 und Grundsätze für die Edition mittelhochdeutscher Texte, S. 170-211.

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Grimm und Karl Lachmann haben danach - wenn auch auf unterschiedliche Weise - Grundsätze für die Edition mittelhochdeutscher Texte entwickelt, die den bis heute nicht gelösten Konflikt zwischen der Forderung nach Edition der besten ältesten Handschrift und einer aus der Klärung von Abhängigkeitsverhältnissen gewonnenen Textkonstitution aufzeigten. An die Stelle subjektiv-willkürlicher Entscheidungen trat ein differenzierter Purismus. Die von E . T . A. Hoffmann im Rückgriff auf Jean Paul zur Meisterschaft entwickelte Technik der Herausgeberfiktion wurde 1835 von Tieck aufgegriffen, um in der Novelle Das alte Buch und die Reise ins Blaue hinein168 das .romantische' Edieren gegen den Purismus der Philologen zu verteidigen, wobei er gleichzeitig den Abstand zum Editionsenthusiasmus seiner frühen Jahre durch die doppelte Verschachtelung von Manuskript- und Herausgeberfiktion zum Ausdruck brachte. Man erkennt in dem „altdeutschen Professor" und seiner Rüge, daß der alte Schulmeister das Märchen-Manuskript nicht in seinem korrupten Urzustand „mit allen Schreibfehlern und unbegreiflichen Stellen belassen", sowie dem „andern Altertumsforscher oder Grammatikus, oder was er sonst sein mochte", der das Manuskript für völlig wertlos erklärt, die Brüder Grimm wieder 169 und sieht, in welchem Maße die Poesie hier gegen die Jungdeutschen und zugleich gegen die „stubenhockenden Gelehrten" ausgespielt wird. In dem Werk finden auch persönliche Erinnerungen Tiecks an den Jugendfreund Piesker, die in der Gestalt des Manuskript-Bearbeiters Beeskow aufleben, und an die „fast vierzig Jahre" zurückliegende „sogenannte poetische Reise" durch Deutschland ihren Niederschlag. Tieck, für den die Dichtung zu allen Zeiten ein Lebenselexier war, blickt also zurück, und wenn er Beeskow fragen läßt: „was kümmern mich hier im einsamen schönen Gebirge die kritischen Urteile?" 1 7 0 so ist in diesen Worten neben dem Selbstverständnis des Dichters auch Selbstironie enthalten. Tieck hat sich sehr früh darin geübt, die Vorlagen anderer weiterzudichten, wie seine5tra«j?/e^erw-Redaktionstätigkeitfür Nicolai und das SchlußkapitelRyno zu F. E. Rambachs Eiserner Maske bezeugen. Er war schnell zu einem literarischen Routinier geworden, der sich in die Stileigentümlichkeiten anderer einleben und fremde Intentionen mit eigenen verbinden konnte. Diese erstaunliche Fähigkeit stellte die Wackenroder-Forschung vor das nur schwer lösbare Problem, Tiecks Anteil an den Texten genau zu bestimmen und die scheinbar divergierenden Bilder des kunstliebenden Klosterbruders und des der ,Zeitangst' unterworfenen Musi168

169

170

Zitiert nach der Ausgabe der Werke in vier Bänden. Hrsg. von Marianne Thalmann. Bd. 3 (1965) S. 9 4 5 - 1 0 4 7 . Ausgabe Thalmann Bd. 3, S. 959 u. S. 961. - Christian Gneuss (Der späte Tieck als Zeitkritiker, Masch. Diss. Würzburg 1948, S. 22 ff.) erwähnt in diesem Zusammenhang auch die versteckte Kritik Tiecks an Jacob Grimm in den Novellen Die Ahnenprobe und Die Klausenburg, sowie das Zeugnis Bernhardis über das negative Urteil, das sich Tieck von Jacob Grimm gebildet hatte. Ausgabe Thalmann Bd. 3, S. 963.

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kers Joseph Berglinger miteinander in Einklang zu bringen 171 . Die Theorie der Universalpoesie gab seiner Produktion neue Impulse und ließ seine verschiedenen Editionen als Ausdruck eines Programms erscheinen. Erst durch den Einfluß Solgers gewann sein Edieren an Wissenschaftlichkeit. Die neue Perspektive zeigt sich schon in der Wackenroder-Ausgabe von 1814, in der Tieck Rechenschaft über sein Eigentum an den Herzensergießungen von 1796 und an den Phantasien von 1799 ablegt. Sie ist trotz aller Irrtümer und Fehlentscheidungen auch das Kennzeichen der beiden Kleist-Ausgaben von 1821 und 1826. Die Worte des fiktiven Herausgebers in der Nov eile Das alte Buch und die Reise ins Blaue hinein decken sich daher nicht mit Tiecks eigener Praxis. Diesem Herausgeber ist es „ungewiß, ob die Nachricht von jenem Manuskripte, von dessen Lücken, alten Fragmenten und Änderungen und Zusätzen der späteren und neuesten Zeiten nicht alles nur ein Märchen sei". Er schildert die fiktive Textkonstitution als einen Prozeß von Rezeption und assoziativer Verknüpfung: „Indem ich las und über das Gelesene sann, entwickelten sich auch in meiner Phantasie neue Vorstellungen, Zusätze, Änderungen drängten sich mir unwillkürlich auf, und ehe ich noch gewiß war, ob es erlaubt sei, das bunte Geflechte eines fremden Geistes noch mit andern Farben und Bändern zu bereichern oder zu verderben, war in heitern Stunden die Arbeit schon vollendet 172 ." Dieses intuitive Moment der Texterfassung ist zwar zeitlebens ein Kennzeichen der Tieckschen Arbeitsweise geblieben, aber in zunehmendem Maße machte sich daneben die Reflexion als Gegengewicht bemerkbar. Doch ist das Edieren immer auch eine Frage des persönlichen Temperamentes. Als Sammler war Tieck eifrig um gute Textvorlagen bemüht, als Kritiker und Dramaturg nahm er sich das Recht, den Text gelegentlich zu verbessern; seiner sanguinischen Veranlagung verdankt er eine leichte Hand und die Fähigkeit spontaner Reaktionen, die der Kleist-Forschung noch Jahrzehnte später zu schaffen machten. Tiecks editorische Bemühungen sind mit starken dramaturgischen Interessen verknüpft. Er setzte die Aufführung des Prinz von Homburg an der Dresdener Hofbühne durch, und vom Intendanten Hans von Könneritz aufgefordert, das Publikum auf das Werk vorzubereiten, schickte er in der Abendzeitung1™, dem 171

172 173

Anknüpfend an Richard Alewyns wegweisenden Aufsatz Wackenroders Anteil (The Germanic Review 19, 1944, S. 52-58), wurde die textkritische Problematik dargestellt von Elmar Henrich (Joseph Berglinger. Eine Studie zu Wackenroders Musiker-Dichtung. Berlin 1969), der vor allem (in Opposition zu den harmonisierenden Wackenroder-Deutungen) den antithetischen Grundzug im Wesen Wackenroders herausarbeitete. Ausgabe Thalmann Bd. 3, S. 950. Edwin H . Zeydel (L. Tieck, Letters 1792-1853. N e w York, London 1937, S. 221) charakterisiert das Blatt wie folgt: „The Abendzeitung was one of the leading belletristic sheets of the day, a significant fact considering the endless number of poetic journals and almanacs which were in circulation during these years. The aim of the ,Abendzeitung' was to please; almost anything in rhyme was accepted provides it entertained. Politics were absolutely forbidden and reciprocal praise and flattery was the watchword. The , Abendzeitung' easily disposed of its literary rivals, either by direct criticism, or more often by simply overloocking and ignoring them."

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Plädoyer für den Dichter des Prinz Friedrich von Homburg

Blatt des Dresdener Liederkreises, fünf Tage vor der Premiere den Aufsatz Über die bevorstehende Aufführung des Prinzen von Homburg voran 1 7 4 . Schon Vorstufe und Korrektur des ersten Satzes lassen den Propagandisten Tieck, der den Aufsatz ganz auf die beabsichtigte Wirkung hin konzipierte, erkennen. Hieß es in der ersten Niederschrift: „Dieses Schauspiel Heinrichs von Kleist ist nur in Wien, Breslau und Frankfurt am Mayn mit Beyfall gegeben worden, doch hat es auch bei vielen Zuschauern, selbst Freunden des Dichters, manchen Tadel erfahren", so werden in der endgültigen Fassung Beifall und Tadel unterdrückt; der verkürzte Satz macht den Leser lediglich mit der Tatsache bekannt: „Dieses Schauspiel Heinrichs von Kleist ist schon in Wien, Breslau und Frankfurt am Mayn gegeben worden". Tieck vermeidet alles Nachteilige, da er fürchtet, das Publikum könnte sich „voreilig von dem trefflichen Werke abwenden", und er kleidet seine Darlegungen in die vorsichtige Einleitungsphrase, es „sei vielleicht nicht überflüssig, die Leser dieser Blätter auf Einiges aufmerksam zu machen". Der Aufsatz ist Bestandteil des dramaturgischen Programms, mit dem Tieck von Dresden her auf die Entwicklung der deutschen Bühne Einfluß zu nehmen hoffte und das sehr schnell zu Spannungen mit dem Dresdener Liederkreis 1 7 5 führte. Auch der Schluß des Aufsatzes, Tiecks Verbeugung vor dem Dresdener Theater, „das so vieles Treffliche und Schwierige befriedigend darstellt", und sein Hinweis auf den Dichter, „der, so lange er lebte, verkannt und selbst in seinem Vaterland nicht so beachtet wurde, wie er es verdiente", weisen über den Anlaß hinaus. Es ging Tieck darum, am Beispiel dieses ungewöhnlichen Schauspiels zu zeigen, daß die Reform der deutschen Bühne nur von solchen Stücken her möglich war. Die Berufung auf Shakespeare und Calderon, auf Lessing und Goethe macht den größeren Zusammenhang deutlich. Hatte er sich einst im Gestiefelten Kater und in der Verkehrten Welt der werkimmanenten Poetik bedient, um seine dramaturgischen Absichten zu verdeutlichen, so griff er jetzt zur Rezension als Mittel der klassischen Dramaturgie 1 7 6 . Tiecks Ideal ist der „gebildete" Künstler und Zuschauer, und ein Theater, das „Theilnahme" und „Vergnügen", „Scharfsinn" und „Gefühle" erweckt, das den 174

175

176

Vgl. die textkritische Darbietung des Aufsatzes und die Anmerkungen in Bd. 2, S. 7 2 - 7 9 . Der Aufsatz erschien am 1. Dezember 1821, die Aufführung fand am 6. Dezember 1821 statt. Am 19. Dezember 1821 ließ Tieck in der Abendzeitung seinen Brief an einen Freundin Berlin über die Aufführung des Prinzen von Homburg auf dem hiesigen königlichen Theater erscheinen (vgl. über die verspätete Anzeige Tiecks Brief an Winkler, Zeydel, Nr. 41, S. 225). Gegen Ende des Jahres 1823 lösten sich die freundlichen Beziehungen Tiecks zu den meisten Mitgliedern des Dresdener Liederkreises. Vgl. hierzu Zeydel, S. 222. Vgl. hierzu vor allem Tiecks Vorrede (S. I I I - X X I ) zu seinen Dramaturgischen Blättern (Bd. 1. 2. Breslau 1826). An Rezensionen Kleistscher Werke enthalten die Dramaturgischen Blätter neben den beiden Homburg-Auisitzen (I, 6 - 1 3 , 1 4 - 2 4 ) noch Besprechungen von Aufführungen des Kätheben von Heilbronn (I, 1 1 2 - 1 1 8 ) und der Familie Schroffenstein (II, 2 3 7 - 2 4 1 ) .

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Zuschauer an der „Enträtselung" des theatralischen Geschehens beteiligt und in dem der Dichter den Zuschauer „gleichsam auffordert, thätig mit einzugehen, und durch Witz und Poesie die Theile zu ergänzen 177 , die sich dem Auge entziehen müssen". Die Stücke sollten auf die „Aufmerksamkeit" und „Kombinationsgabe" des Publikums zugeschnitten sein, und Tieck glaubte, daß gerade Kleists Prinz von Homburg diese Bedingungen erfüllte. Wir lesen daher - im Gegensatz zu seinen Vorreden in den Kl eist-Ausgaben - kein Wort über die preußische Geschichte oder über aktuelle politische Fragen, sondern sehen das Stück ausschließlich auf das Problem des Ausdrucks und der Handlungsperspektive fixiert. Das Schauspiel ist für Tieck primär „kunstreiche Form"; er lehnt den „chronikartigen Styl" ebenso ab wie die „zu steife Symmetrie" und verweist auf die „Verkürzungen" und „verdeckten Figuren" der neueren Gemälde. Er erinnert an die „deutsche neuere Schule", die das Publikum gewöhnt habe, „Dinge zu verbinden 178 und zu betrachten, die demselben wohl früher als eine zu große Anstrengung erschienen wären", und versucht Kleist mit eigenen Theorien sowie mit der Ästhetik der Brüder Schlegel in Verbindung zu bringen. Das Publikum, mit den „Familiengemälden" Schröders, Ifflands und Kotzebues vertraut, konnte im Prinz von Homburg auf Grund der Personenkonstellation ein Werk gleicher Gattung erwarten und am Schluß wie Fischer im Gestiefelten Kater enttäuscht fragen: „Freunde, wo ist unsere Hoffnung zu einem Familiengemälde geblieben?" Tieck mußte vor allem diese Erwartungen durch seine Kritik an den „Familiengemälden" von vornherein zerstören. Zentrum seiner Argumentation ist jedoch die Kritik an den starren Empfindungsmechanismen der gewöhnlichen theatralischen Darbietungen: „Ob es immer der Natur gemäß sei, so zu empfinden, ob ein aufrichtiges Bewußtsein, ob die Erfahrung diesen einmal angenommenen Rausch der Großmuth in allen Lagen des Lebens bestätige, darnach fragt man nicht mehr." Schon zwanzig Jahre zuvor hatte er im Gestiefelten Kater die Unnatürlichkeit der Theater-Affekte lebendig vor Augen geführt, wobei nur an die Liebesszene im 2. Akt erinnert werden soll. Jetzt rührt seine Frage nach der „Natürlichkeit" der Empfindungen an ein Problem des Tragischen, das die Grenzen des Theaters zu sprengen drohte. 177

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Dem widerspricht Deinhardstein in seiner Rezension der Dramaturgischen Blätter Tiecks (Jahrbücher der Literatur, Wien. Bd. 36, 1826, S. 185): „Statt daß der Dichter die Täuschungen, die er vorüberführt, als Bedingungen höherer Genüsse so viel möglich zu erhalten sucht, bringt er hier jeden Augenblick den Zuschauer mit Gewalt aus der Täuschung heraus, und zwingt ihn, sein Geschäft zu übernehmen." - Otto Weissen (Ludwig Tieck als Kritiker des Dramas und Theaters. Diss. München 1928, S. 67 - 72) gelangt zu der Auffassung, daß Tieck das Publikum gegen den Schauspieler (und umgekehrt) ausspiele. Eine ähnlich illusionsfeindliche Tendenz und der gleiche Ansatz begegnet später bei Brecht (Kleines Organon § 67): „Da das Publikum ja nicht eingeladen werde, sich in die Fabel wie in einen Fluß zu werfen, um sich hierin und dorthin unbestimmt treiben zu lassen, müssen die einzelnen Geschehnisse so verknüpft sein, daß die Knoten auffällig werden."

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Tieck mußte in erster Linie mit dem Einwand rechnen, daß gerade die sog. T o desfurchtszene 1 7 9 im krassen Widerspruch zur „naturgemäßen" Empfindung des „ H e l d e n " stand. E r versucht daher nicht, diese Szene zu bagatellisieren, sondern wählt sie folgerichtig z u m Ausgangspunkt seiner Interpretation. E r beginnt zunächst merkwürdig verklausuliert: „ M ö c h t e diese hier dargestellte Seelenstimmung auch nicht natürlich zu nennen sein, so wäre sie doch weder dem Schauspiel angemessen, noch an sich interessant, wenn nicht durch die leidenschaftliche Aufregung, durch das traumähnliche Leben des Prinzen diese Sonderbarkeit, diese Todesfurcht begründet und gerechtfertigt w ü r d e . " Aber die anschließenden Sätze zeigen, daß er über die psychologische Folgerichtigkeit im Verhalten des Prinzen hinaus vor allem den lehrhaften Charakter des Stückes verdeutlichen möchte. Aus der Perspektive, daß der Prinz „nach dieser furchtbaren Schule" seiner Selbsterkenntnis „nun erst ächte Kraft und Wahrheit gewinnen" kann, soll der Zuschauer eine neue Vorstellung v o m Begriff des ,Helden 5 gewinnen, denn: „ A u f irgend einem Lebenspunkt muß jeder Held und Weise die Todesfurcht besiegen, um das Leben zu finden." Tieck ist sich jedoch darüber im klaren, daß die „grelle Scene des dritten A k t e s " den Z u s c h a u e r 1 8 0 „immer noch überraschen und erschrecken" wird. So ist - nach den Wiener Erfahrungen - das bescheidener gesteckte Ziel des Aufsatzes, wenigstens „störendes Mißfallen" abzuwehren. Die zeitgenössische Kritik hat die Hinterlassenen

Schriften

Kleists mit schuldi-

gem Respekt aufgenommen. Fast alle Rezensionen 1 8 1 betonten das Verdienst, das 179

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Nach den Feststellungen von E.-E. Albrecht im Regiebuch der Dresdener Aufführung scheinen in dieser Szene lediglich die Verse 1025-1029 gestrichen worden zu sein. - Im übrigen erwiesen sich Tiecks Befürchtungen als unbegründet. Er schreibt in seiner Resion der Aufführung über den Schauspieler des Prinzen: „unnachahmlich schön ward die Scene gegeben, die der Mittelpunkt des Stückes ist, und die wegen ihrer überraschenden Neuheit auch das Schauspiel, wenn sie nicht im Sinne des Dichters aufgefaßt wird, leicht stürzen kann. Diese Perioden, die von der Angst und dem auflösenden Entsetzen immer wieder zerrissen werden, wurden so erschütternd, schnell und mit dem wahren Ausdruck der aufgeschreckten Imagination gesprochen, daß die Rührung allgemein werden und eine zu genau nehmende Kritik erlöschen mußte" (Tieck, Krit. Schriften III, 18). Stefan Schütze (Journal für Literatur, Kunst, Luxus und Mode Jg. 38, Nr. 26, April 1823, S. 204), der zugesteht, daß die Zuschauer „durch übertriebenen Heldenmuth auf der Bühne verwöhnt" seien, sucht die Schuld für den „verfehlten Eindruck", den das Werk immer wieder hinterlasse, gleichermaßen beim Dichter wie beim Publikum, und er schreibt: „Ja von einem minder halsstarrigen Genie, als Kleist war, hätte man wohl gar einige Rücksicht auf die Beschaffenheit des Deutschen Publikums - grade nicht f o r d e r n , aber doch e r w a r t e n können". Mir sind folgende Rezensionen bekannt geworden, die ich im folgenden jeweils mit Siglen, Seiten- und Zeilenangabe zitiere: Literarisches Conversations-Blatt, No 288, vom 15. December 1821, S. 1149-1151 (unterz.:42), zit.: LCB.-Allgemeine Literatur-Zeitung 1822, Nr. 27, Januar 1822, Sp. 2 0 9 - 2 1 6 (zit.: ALZ). - Morgenblatt für gebildete Stände. Literaturblatt auf das Jahr 1822, Nr. 24, vom 22. März 1822, S. 9 4 - 9 6 (unterz.: M), zit.: M. - Journal für Literatur, Kunst, Luxus und Mode, Jg. 37, 1822, April-Heft,

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sich Tieck durch Edition und Vorrede erwarb. So beginnt der /fenwes-Rezensent seine Anzeige mit den Worten: „Heinrich von Kleist's Nachlaß konnte nicht schöner und würdiger mitgetheilt werden, als durch den Herausgeber, den er gefunden hat" (H 351, 1 - 2 ) , und im Literarischen Conversations-Blatt ist zu lesen: „Hier finden wir die letzten und schönsten Blüthen eines echt poetischen Genius den Zeitgenossen durch einen eben so echten Kunstkenner dargeboten" (LCB 1149, 15-17). Man r ü h m t Tiecks „partheylose Würdigung der Vorzüge wie der Mängel" (JL 113, 14-15), seinen „Blick in das Wesen der Poesie" (H 351,7), seinen „wohlwollenden Scharfsinn" (LM 234,3) sowie sein Urteil über den T o d Kleists, „in welchem Liebe u n d Gerechtigkeit sich die Wage halten" (LCB 1149, R 8 - 9 ) und sieht die Anforderungen erfüllt, die Goethe an die produktive Kritik stellte (H 352, 11-12); ein Rezensent spricht sogar von einer „Schreibart, die an die beste Goethische Prosa durch Klarheit und Einfachheit erinnert" (LM 233, 17-18). Wird zunächst der Eindruck erweckt, als habe es „das Ansehen von Vermessenheit, über dieß Werk nach Tieck noch etwas sagen zu wollen" (LM 233 u), so treten doch in den weiteren Ausführungen einiger Rezensionen sehr schnell z. T. schwerwiegende Einwände 1 8 2 gegen einzelne Werke Kleists und Tiecks Auffassungen zu Tage. Hauptgegenstand der Kritik ist wiederum die sogen. Todesfurchtszene im Prinz von Homburg. Diese Szene verletzt „schon bei'm Lesen das Gefühl" (LM 235,29), und der Morgenblatt-Rezensent bietet u. a. Maria Stuart, Marquis Posa und Egmont auf, u m zu zeigen, daß Kleist hier gegen die Gesetze des Dramas verstoße, da „ der Mensch in seiner tiefsten Erniedrigung" aufhöre, „ein Gegenstand f ü r die dramatische Kunst zu sein" (M 95, R 6 - 7). Es erscheint „bedenklich", daß Tieck es überhaupt „nötig erachtete, dem Publicum einen deutlichen Fingerzeig zu geben, wie es das Stück zu beurtheilen, von welchem Standpunkt aus, es das-

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S. 233-238 (zit.: LM). - Jahrbücher der Literatur, Wien. Bd. 20, Okt./Dez. 1822, Sammelbesprechung: „Ueber neuere dramatische Literatur", dort S. 111-126 (unterz.: M. von Collin), zit.: JL. - Hermes oder kritisches Jahrbuch der Literatur, 1. St. für das Jahr 1822, Nr. XIII der ganzen Folge (1822) S. 351-371 (unterz.: M - h ) , zit.: H . - Die Buchstaben L und R bezeichnen jeweils die linke bzw. rechte Spalte einer Seite. - Unberücksichtigt lasse ich die umfassende Rezension der Gesammelten Schriften und der Dramaturgischen Blätter von Robert Pearse Gillies (Foreign Quarterly Review Vol. 2, 1828, S. 671-696), obgleich sie die Rezeption des Kleistschen Werkes in England entscheidend beeinflußt hat. Mary Howard wird in Kürze eine größere Arbeit vorlegen, in der diese Rezeption in ihren Traditionsbezügen dargestellt ist. Die Gleichzeitigkeit von Reverenz und Kritik kommt am stärksten in der Rez. von M. v. Collin zum Ausdruck. Am 12. Febr. 1823 übersandte Collin Tieck die Rez. mit einem Begleitschreiben, in dem er Tieck bittet, diese Zusendung als ein Zeichen der Hochachtung zu betrachten, und erklärt: „Wenn ich mich in Hinsicht des Weites neuerer dramatischer Dichtung mit Ihnen in Opposition befinde, so ist dies infolge einer von den Aussagen der Vorrede zu Kleist verschiedenen Ansicht, die ich Sie mir zugute zu halten bitte" (Sembdner, Nachruhm, Nr. 160).

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selbe zu betrachten habe" (LM 236, 7 - 9 ) . Ausführlich beschäftigt sich M. von Collin mit der „feigen Todesfurcht" (JL 122,6 u. 123,21); er begründet die N o t wendigkeit seines Widerspruches zu den Ansichten Tiecks mit der Behauptung, daß seine Rüge „nur der Stimme der öffentlichen Meinung 1 8 3 selbst" folge (JL 124, 20 - 21). Im übrigen wirft M. v. Collin Kleist „Leichtsinn" in der „Behandlungsweise ernster Gegenstände" vor (JL 123,9). Die Eingangsszene sei „als Grundlage eines historischen Schauspiels zu träumerisch und willkürlich" (JL 121,16-17) und die Schlußszene das „Ende einer Komödie, die überdies mit den ehrwürdigsten Gefühlen Scherz treibt, und eine Begnadigung nicht anders behandelt als einen Hofball" (JL 123, 3 - 5 ) . Wie stark die kritischen Maßstäbe durch Vorurteile festgelegt sind, wird dann vor allem bei der Beurteilung der Hermannsschlacht deutlich, der Idealvorstellungen und Gattungserwartungen im Wege stehen. „Es streitet einmal mit unserm Nationalgefühl, sich einen Hermann vorzustellen, der viel listiger und verschlagener, als tapfer ist" (LM 237, 22-24), und der Morgenblatt-Rezensent fragt empört: „Was hat Kleist aus Thusnelde'n gemacht, aus unser ehrwürdigen Stammutter, die wir als Heldin, fast als Heilige verehren?" (M 96, L 8-10). M. von Collin, der die Hermannsschlacht über den Prinz von Homburg stellt, will dagegen die von Tieck vorgebrachten Einwände nicht gelten lassen und rügt auch, daß Tieck der Entwicklung des historischen Schauspiels in Deutschland (Arnim, Brentano, Fouque 1 8 4 , Uhland, Wetzel) keine Aufmerksamkeit geschenkt hat; er sieht es jedoch mit Tieck als einen Fehler an, daß die entscheidende Schlacht von Marbod geschlagen wird und daß die „Schlacht selbst ganz in den Hintergrund gestellt ist" (JL 120, 29-30); dadurch fehle dem Werk die „letzte erhabene Handlung" (JL 120, 32). Aus seiner starren Gattungsvorstellung heraus glaubt M. von Collin sogar den Grund erkannt zu haben, warum Robert Guiskard Fragment blieb. Er bemerkt einen Widerspruch zwischen dem historischen Stoff und der „etwas zu eigensinnig gewählten Behandlungsart" (JL 123, 39-40). Selbst die patriotischen Gedichte finden keinen ungeteilten Beifall. So stößt sich ein Rezensent an dem „zu bitteren Franzosenhaß, der sich in greller, mitunter widriger Ausmalung von Mord- und Blutscenen gefällt" (ALZ 216, 48-50). Sonst wird die Lyrik wenig beachtet; ein

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Dies ist eine versteckte Erklärung für das Debakel der Uraufführung des Prinz von Homburg am 3. Okt. 1821 am Wiener Burgtheater, das durch eine „planmäßig verbreitete Hetze" österr. Militärkreise (E.-E. Albrecht, S. 15) vorbereitet worden war. Damals schwieg die Wiener Kritik den Mißerfolg tot, denn „die Angst vor Tieck hielt die Herren Skribler ab, es so in die Welt zu schicken, wie es sich zutrug" (Korrespondenzbericht in: Journal für Literatur, Kunst, Luxus und Mode, N r . 111, Nov. 1823, S. 911). M. von Collin gibt sich hier als Verehrer Fouques zu erkennen, dessen Dichtungen ihm „immer eine reiche Fundgrube gewesen sind, aus welchen er Erholung wie Belehrung zu schöpfen wußte" (S. 115-116), und nennt Fouques Hermann (1818) „eine wahrhaft aus der Hand des Meisters hervorgegangene Schöpfung" (116,7-8).

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anderer Rezensent hätte anstelle der Idylle Der Schrecken im Bade lieber die von Tieck zurückgehaltenen politischen Schriften abgedruckt gesehen. Am wenigsten auf ,Kritik' eingestellt ist das Tieck nahestehende Literarische Conversations-Blatt, in dem ebenso wie in der Allgemeinen Literatur-Zeitung lange Passagen aus dem Prinz von Homburg zum Abdruck gelangen. Der Rezensent engagiert sich gleichermaßen für Tieck wie für Kleist und legt die Betonung auf den „vaterländischen Sinn" Kleists, der „nur gerade in den engsten brandenburgischen Verhältnissen, innerhalb deren seine erste Jugend sich entwickelt hat, sich, so wie er geworden, ausbilden konnte" (LCB 1151, R 1 - 6 ) . M. von Collin dagegen lenkt die Aufmerksamkeit vor allem auf die Theorie des Dramas, dennoch berühren seine Ausführungen spezielle Wiener Interessen. So spürt man eine gewisse Verstimmung über Tiecks Anspruch, Kleist vor dem Vergessen bewahrt zu haben, denn er kann sich mit Recht darauf berufen, daß das Käthchen von Heilbronn „mancher Schwierigkeiten ungeachtet, noch im Manuscript hier im Theater an der Wien zur Aufführung gebracht" wurde (JL 117, 17-19), und „aus seinen eigenen Umgebungen" den Schluß ziehen, Kleist sei „von seinem ersten Erscheinen an, der Gegenstand einer liebevollen Aufmerksamkeit der Kunstfreunde" (JL 117, 14-16). Wie M. von Collin zielt auch der Hermes-Rezensent auf grundsätzliche dramentheoretische Erörterungen; auch in seiner Anzeige nimmt die Interpretation des Prinz von Homburg den breitesten Raum ein. Tiecks Auffassung referierend und alle naheliegenden Einwände sowie die bekannten Vorurteile gegen das Stück sorgsam abwägend, gelangt er zu einer bemerkenswerten Deutung. So findet man erstmals Natalie stärker in die Interpretation einbezogen. Neben dem Kurfürsten und dem Prinzen erscheint sie als dritte Hauptgestalt des Dramas, da sich durch sie die ,,Versühnung(!) jener innern Traumwelt mit dem wirklichen Leben" (359, 9 - 1 1 ) vollzieht. Der Traum-Rahmen der ersten und letzten Szene, die Todesfurcht, die „gewisse Seltsamkeit" im Charakter des Prinzen und das scheinbar widersprüchliche Verhalten des Kurfürsten werden aus einer einheitlichen Konzeption Kleists begriffen. Der Rezensent verzichtet darauf, an den Prinzen den Maßstab des .Helden' anzulegen; er sieht den Prinzen vielmehr als die „Lieblingserscheinung des Hofes", dessen „Sonderbarkeiten" auf den Kurfürsten „eben so sehr einen stillen Reiz" haben, „wie sie Gewalt über ihn ausüben" (360, 12-15). Gegenüber der Deutung Tiecks heben sich der „Humorismus" des Kurfürsten (364, 18 u. 365, 10), die „Betroffenheit" Natalies durch das Todesschicksal des Prinzen (361, 29) und der „Gewinn", den der Prinz, der Kurfürst und Natalie gleichermaßen aus der ihnen „widerfahrenen Erschütterung" ziehen (364, 3 0 - 3 2 ) als neue Interpretationsmomente ab. Das brandenburgisch-preußische Element tritt zurück, die „Schönheit des Werkes" wird dagegen ganz aus „der eigenthümlichen Individualität des Charakters und des Lebens der dramatischen Personen" (365,43-366,1) aufgefaßt. Auf diese Weise gelangt der Rezensent zu einer in sich geschlossenen Interpretation des Werkes, die den „widerwärtigen Ernst" (364,28)

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zugunsten einer höheren, das Tragische umfassenden Heiterkeit zurückdrängt. Ebenso einfühlsam ist seine Charakterzeichnung Hermanns, die der Hermannsschlacht einen weniger patriotischen Sinn gibt als Tieck und dennoch den Intentionen Kleists wesentlich näher kommt. So rechnet der Rezensent Hermanns Charakter „zu dem Großartigsten", was er in der Poesie kenne (369,14-15), und sieht zugleich dessen Zentrum in der „nicht zu entweihenden Sicherheit seiner Natur" (368,16). Die Konsequenzen der mit Kleist einsetzenden und bei Hebbel vollends sichtbar werdenden Entwicklung, daß „im ernsten Drama eine sehr entschiedene Charakteristik mehr oder weniger zur Psychologie führen muß" (370,10-11), sind vorausschauend, wenn auch nur fragend angedeutet. Wer auch immer sich hinter den Chiffren M - h verbergen mag, aus den Ausführungen wird schnell deutlich, daß der Rezensent als ein hervorragender Kenner des Kleistschen Werkes angesehen werden muß, der bei aller Hochachtung Tiecks seinen eigenen Standpunkt kritisch abgrenzt und in einigen Punkten Mißverständnisse Tiecks vorsichtig korrigiert. Einem Hinweis Oscar Fanibachs folgend, glaubt Helmut Sembdner in diesem Rezensenten Wilhelm von Schütz zu erkennen, der - wofür einige Indizien sprechen - bereits die Rezension der ¡-Unterlassenen Schriften für das Literarische Conversations-Blatt lieferte 185 . Neben diesen Rezensionen ist nur eine Anzeige 186 zu nennen, die weit über den unmittelbaren Anlaß hinaus Kleist von der ästhetischen Konzeption des klassischen Idealismus her einer umfassenden Beurteilung unterwirft. Sie hätte der Kleist-Rezeption eine andere Richtung geben können, aber sie blieb im 19. Jahrhundert fast unbeachtet. Ihr Verfasser, der Hegelianer Heinrich Gustav Hotho 1 8 7 , stand vielleicht Ernst von Pfuel und Rühle von Lilienstern, zumindest politisch, nahe 188 ; daß sie seine Kritik am .Romantiker Kleist' unterstützten, läßt sich nicht beweisen. Hotho hatte sich 1827 für Ästhetik und Kunstgeschichte habilitiert; er erhielt 1828 eine Lehrstelle für Allgemeine Literaturgeschichte an der Berliner Kriegsschule, wurde 1829 außerordentlicher Professor an der Berliner Universität und war seit 1859 Direktor des Kupferstichkabinetts. In seinem kritischen Urteil frei von apologetischen Zwängen und persönlichen Verpflichtungen, tritt er dem

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Helmut Sembdner: Schütz-Lacrimas. Das Leben des Romantikerfreundes, Poeten und Literaturkritikers Wilhelm von Schütz, 1776-1847. Berlin 1974, S. 123-125 u. 223-242 (Text der Rezensionen). H. G. Hotho: Rez. der Gesammelten Schriften Kleists von 1826, in: Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik, Nr. 85/86, 87/88, 89/90, 91/92 (Mai 1827) Sp. 685-724 (zit. nach Spalten und Zeilen). Wiederabgedruckt in: Text und Kontext. Quellen und Aufsätze zur Rezeptionsgeschichte der Werke Heinrich von Kleists. Hrsg. v. Klaus Kanzog. Berlin 1979, S. 13-44. Vgl. zur Charakteristik der Rezension auch Dirk Grathoff, ebda S. 121. Heinrich Gustav Hotho (22. Mai 1802-24. Dez. 1873). Vgl. zur Biographie ADB. 13 (1881) S. 191-192 (Prantl). Beide gehörten der Sozietät der Jahrbücher an, und wie Hotho war Rühle an der Berliner Kriegsschule tätig.

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Werk Kleists nicht geschmäcklerisch ästhetisierend, sondern mit erkenntniskritischem Interesse entgegen und sieht die dichterischen Phänomene im Zusammenhang mit der Ausbreitung des Subjektivismus. Daher setzt seine Kritik bei Tieck selbst ein, leitet zu Novalis und den poetischen Offenbarungen über, die jenen Verlust an „Gegenständlichkeit" in der Dichtung herbeigeführt haben, aus dem schließlich die romantische ,Zerrissenheit' des Gemüts resultierte. Indem er gleich zu Beginn die Verwandtschaft der Gesinnungen zwischen Tieck, Kleist und den Romantikern herausstellt, sucht er die Begrenztheit des Tieckschen Standpunktes aufzuzeigen. Er hat als einziger Rezensent erkannt, daß es mit einer bloßen W ü r digung' und Kritik der Vorrede Tiecks nicht getan war, sondern „daß eben diese neueste Beurtheilung eine neuere nöthig" machte ( 6 8 5 , 7 - 8 ) . H o t h o widerspricht Tieck in entscheidenden Punkten und im Zusammenhang mit Werken, denen für die Auffassung der Dichtung Kleists eine Schlüsselrolle zufällt. So bei der Familie Schroffenstein,

in die er durch Tieck eine dem Grundpro-

blem des Dramas entgegengesetzte Auffassung hineingetragen sieht. Behauptet Tieck, Kleist zeige „tragisch, wie das Hirngespinst des Argwohns dadurch so schrecklich ist, daß es durch seine abscheuliche Natur leere Träume in Wirklichkeit verwandeln kann" ( X X X V , 1 0 - 1 3 ) , so besteht für Hotho gerade umgekehrt der „Hauptinhalt der Tragödie" darin, „daß die äußere Zufälligkeit das Gemüth wegen Nichtbeachtung dieser Zufälligkeit bestraft" ( 6 9 2 , 3 6 - 3 8 ) . Er zeigt, wie Tieck durch die vorgefaßte Meinung, das Drama bedürfe einer „wunderbaren Heiligkeit" des Zufalls, in der Beurteilung der Begebenheiten und Handlungen zu dem falschen Schluß gelangt, Kleist habe im fünften A k t 1 8 9 die dramengerechte Auflösung verfehlt, und entwirft in der Zurückführung des Geschehens auf den im Kleistschen Denken zentralen „Widerspruch von äußerer Wirklichkeit und Gemüth" ( 6 8 8 , 9 - 1 0 ) ein völlig geschlossenes Bild von der Konzeption und Durchführung des dramatischen Problems. Ebenso angegriffen wird Tiecks Unterstellung, Kleist habe den Amphitryon

des Molière „mehr als Studium oder Zerstreu-

ung als aus eigentlicher Begeisterung" umgestaltet ( X L I I I , 5 - 7 ) . Während Tieck in diesem Werk „nur eine Verirrung" erblickt, weist H o t h o daraufhin, daß es gerade die „neu hinzugekommene Bedeutung ist, welche uns den Schlüssel zu den nächstfolgenden, gewiß mit Begeisterung gearbeiteten Kleist'schen Dramen zu geben vermag" ( 7 0 0 , 4 1 - 4 4 ) . Auch H o t h o glaubt, die „Comödie" sei durch die Umgestaltung „verdorben", aber er schält aus dem Vergleich mit Plautus und M o lière jene „höhere Ernsthaftigkeit" des Werkes heraus, die allein zu einer gerechten und die Intentionen Kleists voll erfassenden Beurteilung führen kann.

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Auch der Rezensent im Literarischen Conversations-Blatt vermag Tiecks Ansicht nicht zu teilen, sondern ist der Uberzeugung, daß das von Tieck Getadelte „aus der innersten Natur" Kleists hervorgegangen ist (LCB 1149, R 35/36). Er schreibt: „Das ganze Gemüth des Dichters liegt in jenem fünften Art ausgedrückt da" (39/41).

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Eine scharfe Kritik der Ansichten Tiecks enthält die Besprechung desKäthchen von Heilbronn. In den Dramaturgischen Blättern hatte Tieck das Werk zu einem „ächten Volksschauspiel" erhoben und unbeschadet der „auch dem blödesten Auge sichtbaren" Fehler geschrieben: „Ein Volksschauspiel wird es uns aber dennoch bleiben." Dem hält H o t h o entgegen, das Werk sei „zu keiner Zeit ein Volksschauspiel gewesen" (709,2-3) und es sei auch seiner inneren Beschaffenheit nach nicht in der Lage, „Gefühle" zu erregen, „weichein jeder Brust schlummern". Im Gegensatz zu Tiecks romantischer Auffassung von der allumfassenden Einheit des menschlichen Gemüts geht er von einer realistischen Einschätzung der „Gemüthsintensität" des deutschen Volkes aus, das weder auf der niedrigen Stufe des Aberglaubens stehe noch „zu der höchsten Spitze der Bildung fortgeschritten" sei (709,10). Das „Umschlagen der Formen des Bewußtseins" in Ritter vom Strahl aber ist für ihn „nur ,die Bildung, die Laune, das Bedürfniß' eines bestimmten Jahrzehends(!) und eines bestimmten Standes" (709,15-18). Er unterscheidet zwischen dem zufälligen Aberglauben in der Familie Schroffenstein und den echtgeborenen Formen im Käthchen von Heilbronn und deckt die Inkonsequenz Tiecks auf, der die Poesie des „Volksschauspiels" lobt, aber den Aberglauben der Visionen, des Nervenfiebers und des Bleigießens als „roh" und mit dem Werk nicht „inniger verschmolzen" (L, 5 - 7 ) kritisiert. Hotho weist mit Nachdruck darauf hin, „daß gerade die Roheit, den Aberglauben der Vision und das bewußtlose Handeln nach ihr als das höchste Bewußtseyn zu bewähren, den eigentlichen Gegenstand dieses Dramas ausmache" (710,3-5). Die Einwände gegen Tiecks Auffassung der Hermannsschlacht und des Michael Kohlhaas beziehen sich auf das geschichtliche Sujet. Hotho, dessen Interesse in der Hermannsschlacht vor allem der Darstellung der „Listen und Intriguen" Hermanns gilt (712,3), widerspricht der Behauptung Tiecks, daß sich dieses Werk „zu der Würde eines historischen Schauspiels erhebt" ( L I I - L I I I , 1), denn er vermag nicht einzusehen, „warum ein Drama gerade deshalb ein .historisches' seyn solle, daß es zwei ganz verschiedene historische Zeiten sich als ,Historie' durcheinander ,zerstören' läßt" (711,34-37). Auch im Michael Kohlhaas kommt es ihm mehr auf die aus dem „inneren Zusammenhang" zu erschließende Konzeption Kleists an. Deshalb hält er die von Tieck als „Übereilung" angesehene Umänderung des geschichtlichen Charakters 190 des Sächsischen Kurfürsten für „nothwendig" (717,3). Den stärksten Widerspruch Hothos fordert die Festlegung des Prinz von

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Andererseits legt Hotho auf historische Fakten Wert und schreibt es „gern der Übereilung des Dichters zu, daß er die Sächsischen Kürfürsten statt in Wittemberg in Dresden residiren läßt, und Dresden, so wie es jetzt dasteht, schildert, statt sich nach der Localität des sechzehnten Jahrhunderts näher zu erkundigen" (717,13-17). - Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß im Conversations-Lexikon von Brockhaus (1853) unter dem Stichwort Kohlhaas die von Kleist geschilderten Vorgänge als geschichtlich ausgegeben werden (vgl. Sembdner, Nachruhm, Nr. 673 a/b).

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Homburg auf das Vaterländische heraus, die nach seiner Meinung auf Tiecks „Verkennen des eigentlichen Standpunktes des Stückes" (719,1 - 2 ) und der einseitigen Betonung des Problems der Subordination beruht. Hothos treffende Analyse des Prinz von Homburg und seine Verdeutlichung des Kernproblems - das „Verhältnis des träumenden Hellsehens und des verständigen wachen Bewußtseyns" ( 7 1 8 , 3 4 - 3 5 ) - vermochten jedoch die verhängnisvoll .patriotische' Wirkungsgeschichte dieses Werkes nicht aufzuhalten. Die Popularisierung Kleists verlief in den von Tieck vorgezeichneten Bahnen. Hotho glaubte noch, Tieck bemühe sich vergebens, das Publikum für die Werke Kleists zu begeistern, und begründete, warum diese Werke „ihrer Natur nach nur einem kleinen Kreise zur Freude und Erholung dienen" könne und dürfe 7 2 3 , 3 8 - 3 9 ) . Die von Kleist dargestellte „Richtung seiner Zeit" (724,12) sei im Grunde „nur eine Nebenrichtung" (724,13), und man müsse, „diese Verstimmungen und Krankheiten des Geistes nicht nur in sich erfahren haben, sondern sie auch für die Gesundheit selber halten" ( 7 2 4 , 9 - 1 1 ) , um mit Kleist „ganz übereinzustimmen" . So setzt sich am Ende die schon traditionelle, aber gegenüber Goethe modifizierte Unterscheidung zwischen .gesund' und .krank', übertragen auf das Klassik-Romantik-Schema, wiederum durch, obgleich in der .Entwicklung' Kleists zu einer größeren Wirklichkeitsnähe und stärkeren Geltung des Bewußtseins auch positive Momente gewürdigt werden. Es bleibt der Vorbehalt gegen die Beziehungslosigkeit der Kleistschen Wirklichkeitsgestaltung. Auch den Zwiespalt Kleists zwischen dem „treuen Bürger des preußischen Staates" (710/711) und dem Individuum, das sich „in den verborgensten Schacht des innersten Gemüthes" zurückziehen möchte ( 7 1 1 , 4 - 5 ) , sieht Hotho nirgends vollständig aufgehoben. Hier führt Hothos Diagnose zu einem Befund, der hundert Jahre später zum Streifall der materialistischen Ästhetik wurde. Keine Rezension scheint Tieck in seiner Grundeinstellung erschüttert zu haben, auch polemisch setzte er sich nirgends mit seinen Kritikern auseinander; wir sind nicht einmal sicher, ob er die Gegenargumente überhaupt zur Kenntnis genommen hat. Bei seiner Geringschätzung des Rezensionsgeschäfts der literarischen Journale gab er auf Kritiken wenig, er vertraute vielmehr auf das Eigenleben seiner Bücher und die unmittelbare Wirkung auf den Leser. Zudem konnte er gewiß sein, von seinen engeren Freunden verstanden zu werden. Sah er am Ende der 20er Jahre auf seine dichterische Produktion, seine dramaturgische Tätigkeit und seine verschiedenen Editionen zurück, so mußte ihm die Anerkennung, die Goethe seinen Arbeiten zollte, als die eigentliche Frucht seiner Bemühungen erscheinen, da er in Goethe letztlich das literarische Gewissen der Nation erblickte. Goethes Brief vom 9. September 1829 gibt dieser Anerkennung noch einmal Ausdruck und besiegelt ein glücklich hergestelltes Einverständnis auf dem Wege zu einem gemeinsamen Ziel. Goethe schreibt: „Wenn ich nun zeither mich alles desjenigen zu erfreuen hatte, was Ihnen zum Aufbau und zur Ausbildung unsrer Literatur fortschreitend beyzutragen gelungen ist und ich manche Winke sehr gut zu verstehen

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glaubte um zu so löblichen Absichten mitzuwirken; so bleibt mir, einen reinen Dank zu entrichten, kaum mehr übrig als der Wunsch: es möge fernherhin ein so schönes und eignes Verhältniß, so früh gestattet und so viele Jahre erhalten und bewährt, mich auch noch meine übrigen Lebenstage begleiten 191 ."

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Weim. Ausg. Abt. IV, Bd. 46 (1908) S. 81, geschrieben Anläßlich der Übersendung des Tieckschen Prologes zu Goethes Faust.

3. Kapitel Erste Biographie und Brief-Edition Eduard von Bülow

Der Kleist-Ausgabe Tiecks war nicht der gleiche Erfolg beschieden wie seiner Novalis* Ausgabe, die von 1802 bis 1837 fünf Auflagen erlebte und deren zwei Teile 1846 durch einen „dritten Theil" 1 ergänzt wurden. Erst in den 40er Jahren scheinen dem Verlag die letzten Exemplare der Gesammelten Schriften Kleists ausgegangen zu sein, so daß Reimer an eine neue Ausgabe denken mußte. Sie erschien nur in der Form Ausgewählter Schriften2, weil man, wie Tieck in der Vorrede erklärte, „zweifelte, ob eine neue vollständige Sammlung aller Schriften [. . .] sich des allgemeinen Beifalls erfreuen würde" 3 . Ein Blick in die Vorrede zum „dritten Theil" der Novalis-Ausgabe genügt, um die Editionsmüdigkeit Tiecks zu erkennen. Er führt „Krankheit, Reisen und manches Studium und andre Arbeiten" als Entschuldigungsgründe für die lange Verzögerung des Ergänzungsbandes an, er gesteht, daß ihn „die Mühe zurückschreckte", mit der er „die Manuskripte hätte ordnen, vergleichen und abschreiben müssen", und fährt fort: „Dieser Arbeit hat mich nun ein jüngerer, rüstiger und unermüdeter Freund überhoben, Ed. v. Bülow, der Verfasser des Novellenbuchs und mancher andern werthvollen Schrift." Diese Erklärung gilt nicht allein für Novalis. Auch sein Interesse an Kleist war sichdich erlahmt; die unzulängliche Ausgabe der Ausgewählten Schriften erweckt den Eindruck, als hätten hier finanzielle Interessen dominiert, neue Impulse konnten von ihr nicht ausgehen. Daß er zur gleichen Zeit auch die weitere Kleistforschung Bülow überlassen hatte, geht aus Tiecks Mitteilung an Reimer vom 21. 1

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Novalis: Schriften. Hrsg. v. Ludwig Tieck u. Friedrich Schlegel. 5., verm. Aufl. Th. 1. 2. Berlin: Reimer 1 8 3 7 . - T h . 3: Hrsg. v. Ludwig Tiecku. Eduard von Bülow. Berlin: Reimer 1846. Heinrich von Kleist: Ausgewählte Schriften. Hrsg. v. Ludwig Tieck. Bd. 1 - 4 . Berlin: Reimer 1 8 4 6 - 4 7 (vgl. Sembdner, Bibliographie, Nr. 50). Diese Meinung hat Sigm. Engländer (Tieck amputirt Heinrich von Kleist, in: Der Humorist. Hrsg. v. M. G . Saphir, Jg. 11, Nr. 272/73, vom 13./15. Nov. 1847) scharf abgewiesen: „Schmerzlich wie offene Narben starrten mich diese frevelhaft kalten Worte an. Nur ein Greis kann mit solcher Gleichgiltigkeit eine Nationalbeschimpfung dieser Art aussprechen; bloß ein Mann, der, weil ihm alle Liebe ausbrannte, sich in romantische Ironie verkriecht, und, von allem wirklichen Leben fern, in blöder Hofluft auf einem öden Gipfel steht, kann es so gelassen hinschreiben, K l e i s t s Dichtungen würden vollständig mehr keinen Beifall finden."

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Erste Biographie und Brief-Edition

November 1845 hervor: „H. v. Bülow hat von mir und auswärts sehr bedeutende Beiträge zur Biographie des Dichters erhalten. Er wird sie hoffentlich bald ausarbeiten 4 ." Diese Mitteilung legt den Schluß nahe, daß ähnlich wie bei der Novalis-Ausgabe ursprünglich vielleicht an eine Erweiterung der Kleist-Ausgabe gedacht war, daß jedoch die Fülle des neuen Materials die Ausführung des Planes unmöglich machte. Die Vorrede Tiecks hätte durch eine völlig neue Konzeption ersetzt werden müssen, sollte die Diskrepanz zwischen Vorrede und Ergänzungsband nicht allzu kraß in Erscheinung treten. Auch waren Ausgewählte Werke und umfassende Biographie (mit gleichzeitiger Briefedition) schlecht aufeinander abzustimmen. So beschränkte sich Tieck auf den Wiederabdruck der Vorrede, die er nur einer leichten Überarbeitung unterzog, und stellte in der Nachschrift die neue Lebensbeschreibung Kleists durch seinen „begabten Freund" in Aussicht5. In seinem Brief an Bülow vom 23. März 1846 klingt neben der Freude über den Fortgang der Arbeiten auch die Depression Tiecks an: „Ihr Fleiß ergözt mich. Ja, so konnte ich auch vor mehreren Jahren arbeiten 6 ." Unter Tiecks Dresdener Freunden und Bekannten war Eduard von Bülow7 der ideale Partner für eine literarische Zusammenarbeit mit dem um 30 Jahre Älteren. Vom Vater für den Kaufmannsstand bestimmt, hatte er in verschiedenen Bankhäusern gearbeitet, aber bald seinen literarischen Neigungen nachgegeben und kurze Zeit, wenn auch mit wenig Glück, eine eigene Verlagshandlung geführt. Nach dem Studium der Geschichte und der alten Sprachen und der Literatur an der Leipziger Universität hatte er sich 1828 in Dresden niedergelassen. Aus diesem Jahr datiert der erste Brief Tiecks an ihn. Die Bekanntschaft mit Tieck 8 muß jedoch einige Jahre zuvor erfolgt sein, denn bereits im Januar 1825 ist Bülow mit ei-

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Ludwig Tieck: Letters 1 7 9 2 - 1 8 5 3 . Hitherto unpublished. E d . by E . H . Zeydel, P. Matenko, R . H . Fife. N e w Y o r k , London 1937, S. 499 (vgl. Sembdner, Nachruhm, N r .

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172 a). „Mein Freund, E d . v. Bülow wird in einer Lebensbeschreibung des Dichters ein ziemlich vollständiges Bild von Kleist entwerfen. Viele vertrauliche merkwürdige Briefe, die man mir schon vor Jahren freundlichst mitgetheilt hatte, habe ich ihm zu diesem Behuf gegeben: er selber hat noch Manches aufgefunden und Schriften, mündliche Erzählungen von Freunden, Traditionen, Alles zu einem Gemälde vereinigt, welches mir die Gestalt des merkwürdigen und wahrhaft unglücklichen Mannes erst deutlich vorgeführt hat. Es ist zu hoffen, daß der begabte Freund recht bald diese höchst interessante Biographie dem Drucke übergeben wird" (S. X L V I ) . (Vgl. auch Sembdner, Nachruhm, N r . 179).

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Wulf Segebrecht: Ludwig Tieck an Eduard von Bülow. Dreiundzwanzig Briefe, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1966, S. 3 8 4 - 4 5 6 (zit.: Segebrecht). Zitat, S. 410.

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Karl Eduard von Bülow (geb. 17. N o v . 1803 in Berg bei Eulenburg, gest. 16. Sept. 1850 auf Schloß Oetlishausen, Kanton Thurgau).

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Nach Marie v. Bülow (Hans v. Bülow, Briefe u. Schriften, Bd. 1, 1895, S. 5) ist die Bekanntschaft durch Elisabeth von der Recke vermittelt worden.

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nem Lenz-Auftrag unterwegs 9 . Auch die Anregung zum Studium und zu der 1827 erschienenen Übersetzung von Manzonis Ipromessi sposi, mit der er seine Schriftstellerlaufbahn hoffnungsvoll begann, geht wahrscheinlich auf Tieck zurück. Bülow gehörte fortan zum engeren Kreis um Tieck. Selbst dessen Übersiedlung nach Berlin im Jahre 1842 und die veränderten Lebensumstände Bülows ließen den Kontakt nicht abreißen. Seine „Anhänglichkeit an Tieck" drohte vielmehr in eine „gewisse Abhängigkeit" auszuarten, „als Tieck ihn vielfach nach Berlin berief, auch sonst zu Reisen und Arbeiten veranlaßte, überhaupt mit Aufträgen für ihn nicht karg war" 1 0 . Bülow 1 1 besaß ein sicheres Einfühlungsvermögen in literarische Texte; als Bewunderer Tiecks - in mancher Hinsicht auch als sein Schüler - genoß er dessen besonderes Vertrauen, als Rezensent in den Blattern für literarische Unterhaltung zeigte er sich ihm und seinem Kreise verpflichtet, und als Herausgeber hatte er nicht nur Tiecks Editionstätigkeit erfolgreich fortgesetzt, sondern auch sein eigenes, ihm gemäßes Arbeitsgebiet gefunden. Der erste Eindruck bestätigt das Urteil, daß fast die gesamte Produktion Bülows unter dem „spezifischen Zwange Tiecks" 1 2 entstanden ist: Tieck hat zu Bülows Ausgabe von Friedrich Ludwig Schröders dramatischen Werken eine längere Einleitung geschrieben und Bülows Novellenbuch (Ubersetzungen von 100 berühmten Novellen) mit einem freundlichen Vorwort versehen. Doch ergaben sich aus diesem engen Verhältnis Konflikte, die Bülow letztlich nicht bewältigen konnte: er war für alle Zeiten als TieckJünger abgestempelt. So erkennt Hermann Frh. von Friesen 13 zwar Bülows Fleiß und Ausdauer an und spricht von seinen Verdiensten um die Edition unbekannter Texte, bewundert aber „die große Nachsicht Tieck's, die durch den Eifer in einer

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Vgl. Elisabeth Genton: Ein Brief Ludwig Tiecks über die nachgelassenen Schriften von Lenz, in: Jahrbuch d. Sammlung Kippenberg. N. F. 1 (1963) S. 171: „Bülow unternahm damals eine Reise nach Süddeutschland, die ihn durch Frankfurt führte." Dabei überbrachte er einen Brief Tiecks an Joh. Friedr. Heinr. Schlosser. Vgl. Heinrich Reimann: Aus Hans von Bülows Lehrzeit, Berlin 1908, S. 46. Vgl. zur Biographie Eduard von Bülows: Allgem. Dt. Biographie 3 (1876) S. 517 (v. Ahlefeldt). Marie von Bülow, Einleitungen zu: Hans von Bülow, Briefe und Schriften. Bd. 1 - 8 (1895-1908). Heinrich Reimann: Aus Hans von Bülows Lehrzeit. ErsterTeil einer unvollendet gebliebenen Biographie des Künstlers. 2., verm. u. verb. Aufl. Berlin 1908, S. 1 9 - 6 0 nebst Bibliographie der Werke E. v. Bülows. Alfred Rosenbaum, in: Goedeke, Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung. Bd. 10 (2. Aufl. 1913) S. 4 7 7 - 4 8 3 . Franz Brümmer, Lexikon der deutschen Dichter und Prosaisten vom Beginn des 19. Jh.s bis zur Gegenwart. Bd. 1 (6. Aufl. 1913) S. 197f. Richard Graf Du Moulin-Eckart, Hans von Bülow (München 1921) S. 1 8 - 2 4 . Segebrecht, S. 3 8 8 - 3 9 8 . Reimann, S. 25. Zumindest für die Dresdener Zeit glaubt Reimann (S. 24) feststellen zu dürfen, daß es Bülow „als sein - wenigstens vorläufiges - Lebensziel empfand", Tiecks „Abbild, Nachahmer und Schüler zu werden". HermannFrh. v. Friesen: Ludwig Tieck. Erinnerungen eines alten Freundes aus den Jahren 1825-1842. Bd. 1 (Wien 1871) S. 1 0 - 1 1 .

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mühsamen Beschäftigung leicht zu gewinnen war", mehr als das Talent Bülows. Hinzu trat der Widerstreit zwischen innerer dichterischer Berufung und nachschöpfender Tätigkeit. Bülows hartnäckiger Kampf um die Anerkennung als Dichter ist in seinen Briefen an Cotta 1 4 zu verfolgen, aus denen die Vorgeschichte der 1846/48 erschienenen Novellen-Ausgabe deutlich wird. Mit seinen Novellen glaubte e r - nach Tiecks Urteil - „einen neuen Weg in der Literatur" eingeschlagen zu haben, aber der Erfolg blieb aus. Bülows Kleist-Biographie ist von der späteren Kleist-Forschung wenig freundlich aufgenommen worden. Wendelin v. Maitzahn 15 sprach Bülow die „Kritik zu literarhistorischen Arbeiten" ab, und Adolf Wilbrandt äußerte: „Bülow schrieb noch ganz als Dilettant, warm für seinen Stoff, oberflächlich in der Auffassung, flüchtig in der Kritik 1 6 ." Julian Schmidt nannte die Biographie „ziemlich ledern" 1 7 . Solche Urteile gehen an den historischen Bedingungen dieser Arbeit vorbei. Bülow war erfüllt von der „Liebe und Theilnahme für Kleist, als Mensch und Dichter" 1 8 , er besaß einen Spürsinn für Details, und er nutzte die letzte Gelegenheit, noch lebende Zeugen zu befragen. Als Ideal schwebte ihm eine Dokumentation des Kleistschen Lebensschicksals vor, die dem englischen Stil der ,Life and Letters'-Darbietung entsprechen sollte. Wer die Beweggründe Bülows für die Aufnahme der Arbeit an der Kleist-Biographie allein aus der Freundschaft mit Tieck und den gemeinsamen Interessen herleitet, sieht nur den äußeren Anlaß. Von Tieck ist zweifellos die Anregung ausgegangen, aber der Stoff und die Gestalt Kleists fesselten ihn auch persönlich. Wolfgang Menzel stellt in seiner Besprechung 19 die Verbindung zwischen dem zuvor erschienenen Aufsatz Bülows über den genialen, aber an sich selbst zugrun-

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Zwanzig Briefe Bülows an Johann Georg Cotta nebst einigen Antwortentwürfen aus den Jahren 1828 bis 1853 und ein Brief von J. G . Cotta an Bülows Schwager, den Hofkammerrath und Kgl. Dänischen Generalkonsul Waldemar Frege v. 7. Jan. 1846, unveröffentlicht im Schiller-Nationalmuseum, Marbach a. N . (Cotta-Archiv, Stiftung der Stuttgarter Zeitung). Die ausführliche Darstellung der geschäftlichen Beziehung Bülows zu Cotta blieb bei der Drucklegung dieser Arbeit unberücksichtigt.

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Vgl. Notizzettel für Rudolf Köpke. Bd. 2, S. 1 2 7 - 1 3 C . Adolf Wilbrandt: Heinrich von Kleist. Nördlingen 1863, S. VI. Brief an Georg Reimer, N r . 1. Eduard von Bülow: Heinrich von Kleist's Leben und Briefe. Berlin 1848, V o r w o r t . - Die Novellen-Zeitung ( N . F . 4. Leipzig 1849. N r . 2 6 1 , v. 6. Jan. 1849. S. 16) empfiehlt die Biographie mit der Bemerkung, „sie leiste alles, was ein von Begeisterung für seinen Gegenstand durchdrungener Sammlerfleiß zu leisten im Stande ist".

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Literaturblatt N r . 91, 2 3 . December 1848: „Heinrich von Kleist und Heinrich von Bülow, beide Landsleute, beide altberühmten Adelsgeschlechtern entsprossen, beide von der feurigsten Natur und übersprudelndem Geiste, erlagen beide der Ungunst der Zeit und der Unnatur ihrer Stellung. Freilich muß man ihnen auch das Ausschweifende ihrer Einbildungskraft, die Reizbarkeit und das Unstäte ihres Charakters vorwerfen. Immerhin aber stimmt das Krankhafte, der geniale Wahnsinn in ihnen, mit dem Unglück der Zeit, mit der Verkommenheit und Schande deutscher Nation unter der napoleonischen

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degegangenen preußischen Offizier und Militärschriftsteller Heinrich Dietrich von Bülow

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und der Kleist-Biographie her. E r bezeichnet Kleist und Heinrich

Dietrich von Bülow als verwandte Naturen, und auch Bülow hat sie wohl als solche aufgefaßt. Ihn faszinierte das Problem des Lebenslaufes, die glückliche Verbindung von Veranlagung und schöpferischem Augenblick, die geschichtliche Bedingung der künsderischen Entwicklung und die tragische Komponente des Scheiterns. E r suchte nicht das Vorbildhafte und Allgemeingültige, sondern mehr das psychologische Korrelat zum schicksalhaften Ereignis. Seine Fähigkeit der Charaktererfassung hatte sich im Zusammenhang mit der eigenen schriftstellerischen Laufbahn und seinem Rückzug in die Reproduktivität ausgebildet. Innere Notwendigkeit und Ziel seiner biographischen Arbeiten sind in vielem aus Bülows Lebensumständen zu erklären. Bülows Arbeit an der Kleist-Biographie fällt in die Zeit einer tiefen persönlichen Krise. Seine E h e 2 1 drohte zu zerbrechen, seine finanzielle Lage war entmutigend und seine Gesundheit durch ein Nervenleiden angegriffen. „ W a r u m giebt es so viel Unglück, Mißstimmung, Verdrüßliches, Elendes in unserm L e b e n ? " fragt Tieck in seinem Brief v o m 3. September 1845, in dem er den Freund aufzurichten sucht: „ M i r war immer die Poesie ein schöner Trost in meinen Leiden, mit denen mein Leben wahrlich nicht verschont geblieben i s t 2 2 . " Vier Jahre später kam es zur Ehescheidung und Wiederverheiratung. Durch Louise Gräfin von B ü l o w - D e n newitz, eine Tochter des Feldmarschalls Wilhelm Graf B ü l o w von Dennewitz, der er schon seit längerem herzlich verbunden w a r 2 3 , fand er auf Schloß ötlishausen

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Herrschaft überein. Hätten jene edeln Geister Befriedigung finden können im Bewußtseyn der Nationalgröße, sie würden nie auf so seltsame Abwege gerathen seyn. Heinrich von Bülow fiel unter den Streichen der Kosaken als das Opfer seines glühenden Patriotismus. Heinrich von Kleist wurde Selbstmörder aus genialer Capnce, aber erst, nachdem er alle Hoffnung auf die Rettung des Vaterlandes aufgegeben hatte." Vgl. ADB 3 (1876) S. 5 1 5 - 517 (v. Meerheimb) u. Heinrich Dietrich vonBülow: Militärische und vermischte Schriften. In e. Ausw. mit Bülows Leben hrsg. v. E. Bülow u. Wilh. Rüstow. Leipzig 1853. Bülow war in erster Ehe verheiratet mit Franziska Elisabeth Stoll; vgl. Du MoulinEckart, S. 1 9 - 2 1 . Segebrecht, S. 407. Vgl. auch Tiecks Brief v. 17. Juni 1845: „Aber wie kann auch in solchen Angelegenheiten der treuste Freund rathen? Ist man ganz von einer großen Empfindung durchdrungen, so hört man aus jenes Munde nur Worte und leere Worte. Poesie, Natur, Kunst, Religion, unser Geist können viel Trost und Stärke im Leiden geben." (S. 406). Dies geht u. a. hervor aus den (nur bruchstückhaft überlieferten) Aufzeichnungen (Briefkonzepte bzw. Briefauszüge u. Tagebuchnotizen) Bülows aus der Zeit vom 15. Nov. bis zum 8. Dez. 1847 und vom 23. Jan. bis zum 31. Mai 1848 (Freies Dt. Hochstift II - 9658, 10Bl. 4 ° - 1 8 S.). Die z . T . noch erkennbare Numerierung (30, 31: urspr. 33, 34,41) weist diese Blätter als Reste eines ursprünglich weit umfangreicheren Manuskriptes aus. Hauptsächlicher Gegenstand sind Bülows Gespräche mit Tieck; Kleists Name begegnet in diesen Aufzeichnungen nicht. Vgl. hierzu Uwe Schweikert: Eduard von Bülow, Aufzeichnungen über Ludwig Tieck, in: Jahrbuch d. Freien Deutschen Hochstifts 1972, S. 318-367.

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neues Familienglück und die langersehnte finanzielle Unabhängigkeit, die ihm Muße für seine literarischen Arbeiten gestattete. Aus dieser Verstrickung in mannigfache Konflikte ist das mitfühlende Verständnis für die Lebenskatastrophe Kleists erwachsen: „ E s war von jeher, physisch und psychisch, ein tiefer Zwiespalt in seinem Leben, ein geheimnißvoller Fehler seines Organismus, dessen G r u n d stets verschleiert bleiben wird, und um dessentwillen die echte Menschlichkeit keinen einzigen Stein mehr auf seinen freiwilligen T o d werfen sollte 2 4 ." - Am auffälligsten ist das Übergreifen der eigenen Stimmung auf die Biographie an den erst für die Buchausgabe eingefügten Stellen über Kleists Idee, sich in der Schweiz ganz dem Landleben zuzuwenden, und bei der Frage, „was geschehen wäre, wenn er es begonnen hätte. Wenn seine Geliebte ihm die H a n d dazu gereicht, wenn er also innere Ruhe und eine äußere Heimath gefunden, wenn sich sein Talent ebenso, wie es wirklich geschah, auch in seinem Glücke ausgeprägt hätte" 2 5 . Bülow nimmt in seiner Antwort ein Stück der eigenen Lebensgeschichte vorweg 2 6 . Ihm erscheint es am wahrscheinlichsten, daß Kleist „ungefährdet über die entsetzliche Krisis hinausgekommen sein" und „kein so tragisches Schicksal gehabt haben" würde. D o c h seine anschließende Bemerkung hat etwas Fatalistisches: „ E s war nicht des Himmels Wille, daß es so kommen sollte." Diese Berufung auf das Schicksal gibt der Biographie einen .romantischen' Anstrich und entrückt sie von vornherein der traditionellen Vorstellung eines L e benslaufes nach aufsteigender Linie'. Ein wenig tritt Bülow damit auch den ewiggestrigen Moralisten entgegen, denen er schon in der Vorrede erklärt: „Kleists Talent kämpfte gegen die Krankhaftigkeit seiner Natur und die poetische Unzeit, in welche sein Wirken fiel, und war v o m Schicksale nicht dazu bestimmt, Beiden zum Trotz aushaltend, seinen Charakter zu stählen 2 7 ." Gegen Ende der Biographie kehrt der Gedanke einer möglichen Rettung noch einmal wieder. Bülow kommentiert die Nachricht, daß vielleicht im letzten Augenblick doch noch Aussicht auf eine Unterstützung von Seiten des Staates bestanden habe, mit den Worten: „ A n so dünnen Himmelsfäden hängen oft alle unsere menschlichen Geschikke!28". Auch in politischer Hinsicht ist diese Periode eine Zeit innerer Wandlungen. Bülow sah 1831 Europa „einer großen Crisis" entgegengehen und „Deutschland mit seiner großen östlichen Bastion, dem Königreich Preußen," als das „ H e r z Eu-

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Vorwort, S. V I I I . Biographie, S. 23. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang das Urteil, das Marie von Bülow (Einleitung, S. 6) über ihren Schwiegervater fällt: „Allein E. v. B ü l o w ' s schöne Gaben sind wohl nie zu vollkommener Entwicklung gelangt, weil seine Charakteranlage eine glückliche, harmonische Lebensführung verhinderte." Vorwort, S. V I I I . Biographie, S. 77.

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ropas'' 2 9 . Spätestens mit der Ubersiedlung von Dresden nach Stuttgart 1846 hat er seine auf die Führungsrolle Preußens ausgerichtete Einstellung geändert und sich revolutionären, wenn nicht sogar radikalen Anschauungen genähert, die ihn in Gegensatz zu Tieck brachten 3 0 . In einem Brief v o m 18. September 1848 versichert er C o t t a unter Hinweis auf eine soeben erschienene politische Broschüre, daß er „alles Preußische abgestreift habe". E r kritisiert seine „hochtorystischen Verwandten", das „Stock-Preußenthum" des Grafen Bülow und die „Tollheit in den Hoffnungen" der U l t r a s 3 1 . Gleichzeitig bietet er seine Mitarbeit an der Redaktion einer - wie gerüchtweise verlautet war - von C o t t a geplanten „halb-politischen, halb-unterhaltenden Zeitung" an und bittet, ihm zu glauben, daß er seine „seitherige äußere Lebensstellung dabei ganz aus dem Spiele lasse": „Meine künftige Berufstätigkeit wird ganz ausschließlich der Literatur und dem deutschen Interesse gewidmet sein." Die innere Bewegtheit und die Ehrlichkeit seiner Bemühungen sind nicht zu bezweifeln, obgleich man diesen „Salondemokratismus" 3 2 , der auch in der Ablegung des Adelstitels zum Ausdruck kam, nicht ganz ernst nahm. Es war ihm nicht vergönnt, in dem gewünschten Sinne politisch zu wirken. Seine Übersiedlung in die Schweiz hatte in erster Linie persönliche Gründe, aber sie war nicht zuletzt auch eine F o r m der Emigration. „ D i e in der Schweiz verfaßten Schriften und Ausgaben Bülows sind", wie Heinrich Reimann zusammenfassend bemerkt, „durchweg bald mehr bald weniger auf den hohen T o n nationaler Freiheit und Gleichheit und des Verlangens nach einheitlichem Zusammenschluß des durch elende Kleinstaaterei zerstückelten deutschen Vaterlandes g e s t i m m t " 3 3 . 29

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Vgl. den Brief an Cotta vom 28. Februar 1831 anläßlich der Übersendung eines Aufsatzes für die Allgemeine Zeitung: „Mir scheint es, als wenn die periodische Presse, will selbige sich hohe Verdienste um das deutsche Vaterland erwerben, jetzt alles aufbieten muß, Fürsten und Völker über ihr wahres Interesse aufzuklären; nur sie allein vermag es, so schnell als der Drang der Zeiten fordert." Tiecks Formulierung im Brief an Bülow v. 7. Juli 1847 („Wie konnten Sie in aller Welt denken, daß ich etwas gegen Sie hätte? Daß ich mich von Ihnen zurückziehen wollte?") deutet auf einen solchen Gegensatz, der jedoch nicht zur Entfremdung der Freunde führte. Segebrecht (S. 448) vermutet, daß Tieck auf Bülows in einem Brief geäußerte Gedanken absichtlich nicht eingegangen sei. Bülow erwähnt in diesem Zusammenhang Friedrich Graf v. Wrangel (13. April 1784-2. Nov. 1877) und August Graf v. Dönhoff (10. Okt. 1 7 9 4 - 1 . April 1874), ebenso-wenn auch mit Einschränkungen - Ernst v. Pfuel („Pfuel wird allerdings wol Kriegsminister werden, er ist aber keineswegs Ultra"). Du Moulin-Eckart, S. 42. Vgl. hierzu auch die Erinnerungen von K. M. Kertbeny aus dem Jahre 1849 (Silhouetten u. Reliquien, Wien und Prag 1861, S. 126): „Übrigens gebärdete sich Bülow im Ganzen nichts weniger als pronozirt literatenhaft, vielmehr sprach er selten von Literatur, und schien mehr auf sein Junkerthum Gewicht zu legen, obgleich er eben damals im Gerüche hyperdemokratischer Gesinnung gestanden haben soll, trotzdem ich auch hiervon nicht viel merkte, ja er vermied fast absichtlich alle politischen Fragen." Reimann, S. 51. - Im Brief an Cotta vom 18. September 1848 lautet Bülows Prognose: „Mir scheint der Unterschied zwischen Preußen und Ostreich wird werden: Dieses löst sich in Krieg, jenes in Frieden auf und beide gehen als Großmacht unter."

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In der Kleist-Biographie fällt dagegen die starke politische Zurückhaltung Bülows auf. Nirgends wird Kleist als Dichter des Preußentums gefeiert oder sein politisches Engagement ausdrücklich hervorgehoben. Schon der Verzicht auf die Veröffentlichung der politischen Schriften Kleists zeigt, wie gering Bülow ihre Bedeutung einschätzte 34 . Werke wie dieHermannsschlacht oder die Ode Germania an ihre Kinder werden nur beiläufig und mit Tiecks Worten erwähnt (S. 55). Daß er die politischen Konstellationen des Jahres 1809, den Konflikt Kleists mit der preußischen Staatskanzlei und Kleists Beziehungen zu den Reformen nicht durchschaute, lag an den fehlenden Informationen. Für Kleists Tod werden in allgemein gehaltenen Formulierungen das „Unglück seines Vaterlandes" und die „öffentliche Verleugnung seines Talentes" (S. 62) verantwortlich gemacht. Andererseits vermerkt Bülow „wunderliche Seitensprünge" (S. 61) wie die Idee, Napoleon mit Arsenik aus der Welt zu schaffen 35 , die er ein „Wahrzeichen von Kleists damaligem Geisteszustände" (S. 60) nennt. Durch solche Hinweise wurde leicht der Eindruck erweckt, daß Kleist realpolitisch gesehen mehr oder weniger ein Wirrkopf war, und dem Leser nahegelegt, ausschließlich dem Dichterischen Beachtung zu schenken. So heißt es denn auch in der Vorrede (S. VII): „Wer steht gegenwärtig noch an, Kleist einen der edelsten und patriotischesten deutschen Dichter zu nennen!" Aber auch auf die Problematik des Prinz von Homburg geht Bülow nicht ein. Er erwähnt weder Insubordination noch Todesfurcht und sagt lediglich, es sei „neben Kleists Herrmann, das einzige Schauspiel seiner Art, dessen Lektüre oder Aufführung, im Falle der Noth, brandenburgisch-deutsche Vaterlandsliebe zu erwecken fähig ist" (S. 62). Das politische Moment der Biographie ist darin zu sehen, daß Bülow den Abdruck der Briefe Kleists an Martini, Wilhelmine von Zenge und Rühle von Lilienstern zuerst der Zeitschrift Janus36 und den Vorabdruck seiner Biographie den Monatsblättern zur Ergänzung der Allgemeinen Zeitung37 anvertraute, renommierten Publikationsorganen, in denen Politik, Geschichte und schöne Literatur gleichberechtigt nebeneinanderstanden. Er erinnerte die Konservativen an ein verschüttetes literarisches Erbe, er lieferte den Jungdeutschen willkommenes Mate34

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Bülow erklärt in der Vorrede: „Die schon von Tieck besprochenen zerstreuten, politischen Blätter Kleists aus dem Jahre 1809 habe ich ebenfalls durchgesehen und des Druckes meist unwerth befunden" (S. X). - Hierzu bemerkt Köpke (Kleists Politische Schriften, S. 6): „Diese ,Reliquien', die er damals noch unverkürzt in Händen hatte, legte er also in demselben Augenblicke als unwichtig bei Seite, wo er den Untergang oder die absichtliche Zurückhaltung anderer beklagte. Der Umstand allein hätte den Biographen bestimmen sollen, nicht seinem persönlichen Geschmacksurtheil über den Werth dieser Blätter, sondern dem historischen Gesetze zu folgen, das zu retten gebietet, was noch zu retten ist, damit das Bild des Dichters so getreu als möglich hergestellt werden könne." Eine fragwürdige, auf den Memoiren von Friedrich Laun beruhende Überlieferung (vgl. Sembdner, Lebensspuren, N r . 321). Vgl. Analytische Bibliographie der Briefe, N r . 8. Ebda, N r . 9.

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rial und er bereitete auf dem Wege einer biographischen Analyse des unglücklichen' Dichters den Boden für das Verständnis der erst wesentlich später aufgedeckten politischen Zusammenhänge zwischen Kleist und dem Publikum seiner Zeit. Die Wirkung der Briefpublikation in der seit Januar 1845 von Viktor Aimé H u ber herausgegebenen und in den Revolutionstagen 1848 wieder eingegangenen Zeitschrift Janus darf jedoch nicht allzu hoch veranschlagt werden, im Jahre 1846 „erreichte der Janus mit 174 Abonnenten (bei einer Gesamtauflage von 750) seine höchste Absatzziffer" 3 8 . Dabei ist an vorwiegend konservativ eingestellte Leser zu denken, Grundbesitzer, Beamte und Geistliche, die Friedrich Wilhelm I V . innerlich verbunden und in ihren politischen Anschauungen streng preußisch orientiert waren. Diese in den Grundtendenzen reaktionäre Zeitschrift „wurde zwar mit recht beträchtlichen Staatszuschüssen unterhalten, Huber betrachtete sie aber mehr als ein Organ der entstehenden konservativen Partei als der Regierung'' 3 9 . Kleists Briefe, durch den Hinweis der Redaktion auf Kleist als „Sohn d e r Zeit und des Raums, dem er spezieller in seinen entscheidenden Bildungsjahren angehört e " 4 0 , dem Leser empfohlen, fügten sich ohne Gewaltsamkeit in das Programm der Zeitschrift ein. Der Beitrag scheint auf den „typisch ostelbischen Konservativismus" 4 1 berechnet, dem Huber und B ü l o w 4 2 aber doch ferner standen, als man vielleicht im ersten Augenblick vermutet. Huber, wegen seiner antiliberalen Gesinnung von den fortschrittlichen Kräften an der Berliner Universität wiederholt angegriffen 43 , sah in Kleist den „poetisch, oder doch dramatisch begabtesten aus der früheren romantischen Schule" 4 4 . Er dachte - nach dem Urteil Ingwer Paulsens - .„kreativ', nicht im eigentlichen Sinne .konservativ'. Das gilt vor allem für die sozialen Fragen, die von Anfang an eine wichtige Stelle im Janus einnahmen

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Ingwer Paulsen: Viktor Aimé Huber als Sozialpolitiker. Leipzig 1931. (Königsberger Forschungen. 2.) S. 40. Ebda, S. 39. Janus. 1846, Bd. 2, S. 109. Paulsen, a.a.O., S. 40. Zuvor waren im Janus Auszüge aus den nachgelassenen Selbstbekenntnissen G. H . v. Berenhorsts erschienen, denen (in H. 21 u. 22) Auszüge aus dessen Reisetagebüchern und später (1846, Bd. 2, S. 6 2 1 - 6 3 5 , 6 3 3 - 6 6 7 , 6 8 5 - 6 9 8 ) Briefe folgten. Im Janus ließ Bülow außerdem Ungedruckte Gedichte von Novalis (1846, Bd. 1, S. 2 1 - 2 5 ; vgl. auch die Berichtigung, S. 224), Teile „aus Novalis' ungedrucktem Tagebuche" (Ebda, S. 8 0 - 9 2 ) und eine Skizze über Adelheid Reinbold (1846, Bd. 2, S. 7 1 7 - 7 3 0 , 7 4 9 - 7 6 1 ) erscheinen. Sowohl die Novalis-Ausgabe Bülows als auch die von ihm herausgegebenen Schriften G . H . v. Berenhorsts wurden im Janus angezeigt. Viktor Aimé Huber (10. März 1 8 0 0 - 19. Juli 1869). - Mit Protektion der Regierung hatte Huber 1843 eine Professur für neuere Philologie, Literatur und Literaturgeschichte an der Berliner Universität erhalten; vgl. Helmut Faust: Viktor Aimé Huber. Ein Bahnbrecher der Genossenschaftsidee. Hamburg 1952, S. 34f. Janus, 1846, Bd. 2, S. 109.

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und ihn bald von den preußischen Konservativen trennen sollten" 4 5 . Bülows Entschluß, die Briefe Kleists dem Janus zu überlassen, ist nicht näher zu begründen. Es kann nur gesagt werden, daß die Veröffentlichung an der richtigen Stelle, wenn auch nicht im richtigen Augenblick, auf ein Publikum zielte, das sich mit dem Dichter noch immer nicht versöhnt hatte. Mit dem Vorabdruck der Biographie in den Monatsblättern Allgemeinen

zur Ergänzung

der

Zeitung schlug Bülow mehr eine großdeutsche und liberale Richtung

ein. Die Allgemeine

Zeitung war im ganzen gesehen ein überparteiliches Blatt, in

dem die verschiedensten Meinungen zu Worte kamen 4 6 . Georg Cotta, weniger kosmopolitisch eingestellt als der Vater, der das Blatt 1798 gegründet, gegen den Widerstand des Herzogs von Württemberg in Augsburg weitergeführt und in den 20er Jahren erfolgreich gegen die Zensur Metternichs verteidigt hatte, wünschte, „daß die A. Z. dem deutschen Volke die preußische Großthat der Befreiungskriege möglichst lebendig erhielt, aber er glaubte persönlich an die politisch-geistige Überlegenheit und den deutschen Beruf Oesterreichs" 4 7 . Die redaktionelle Verantwortung trug Gustav Kolb, der die „Unparteilichkeit und Allseitigkeit" der Zeitung auch auf dem Gebiete der Literatur zu wahren wußte und der „einen guten Teil der Bedeutung des vortrefflichen Cottaschen Morgenblattes

von dort

weg auf die/L Z. hinübergeleitet" hat 4 7 . Auf seine Initiative geht auch die Einrichtung der Monatsblätter

in den Jahren 1845 bis 1847 zurück 4 8 .

Im Jahre 1838 bezeichnet sich Bülow von Dresden aus als „ein fleißiger Leser der Allgemeinen

Zeitung",

von der er sagt, daß sie „von allen Parteien wohl als die

vornehmste Deutschlands angesehen werden" müsse 4 9 . Sein Versuch, ihr als Korrespondent beizutreten, scheint nur bedingt erfolgreich gewesen zu sein 5 0 . Später finden wir ihn als gelegentlichen Mitarbeiter. Seine Differenzen mit der Redaktion

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Paulsen, S. 41. - Vgl. das programmatische Vorwort Hubers Was wir wollen (Janus 1845, Bd. 1, S. 1-50) und das Bekenntnis: „Unsere Zeitschrift tritt entschieden als Organ der protestantisch-evangelischen Seite des conservativen Deutschlands auf" (S. 13). Uber die politische Richtung der Allgemeinen Zeitung schreibt dagegen V. A. Huber (Janus 1846, Bd. 1, S. 128), ihre „Tendenzlosigkeit" bestünde darin, „ungefähr zwei Drittel Liberalismus, Rationalismus und verzuckerten Radikalismus, auf ein mehr oder weniger obligates conservatives Drittel zu geben, wobei dann seltsam genug wieder mindestens zwei Drittel jener destruktiven Ingredienzen auf Preußen fallen". Ed. Heyck: Die Allgem. Zeitung 1798-1898 (München 1898) S. 105 u. 121. Am 25. Febr. 1846 schreibt Kolb an Cotta: „Sie entgegnen mir: die Monatblätter hätten unnötig die Arbeitslast gehäuft. Ich antworte: die Monatblätter waren notwendig zu Erhaltung unserer politischen Diskussionsfreiheit, zu Herstellung unseres moralischen Namens. Wir mußten gegen den damaligen Zwang ein Refugium haben, und müssen diesen offen halten, weil nichts uns vor der Wiederkehr jenes Zwanges schützt [. . .]" (Briefe an Cotta, Bd. 3, hrsg. v. Herbert Schiller, 1934, S. 148; vgl. auch Anm. S. 350-351). Bülow an Cotta, Brief vom 14. Dezember 1838. Antwortkonzept Cottas auf dem gleichem Brief.

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wurden bereits erwähnt; aus Bülows Sicht bestanden die Vorwürfe gegen die „jungdeutsche Journalclique" vielleicht zu Recht, denn Kolb hat „als materieller Förderer des Jungen Deutschland und dessen Vermittler gegenüber dem Publikum auf seine Entwicklung in nicht zu unterschätzender Weise eingewirkt" 51 . Aber die Aufnahme der Kleist-Biographie in die Monatsblätter dürfte von Kolb wesentlich mitentschieden worden sein, wobei offen bleibt, ob es sich um ein Entgegenkommen gegenüber Bülow handelt, oder ob Kolb dieses literarische Vermächtnis Tiecks jungdeutschen Interessen nutzbar machen wollte. Heute interessiert sich die Kleistforschung in erster Linie für die Quellen Bülows, ihre Herkunft und Glaubwürdigkeit, und die Frage seiner kritischen Einstellung diesen Quellen gegenüber. Die von Goethe in der Einleitung zu Dichtung und Wahrheit formulierte Aufgabe der Biographie, den „Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen" 52 , umschließt ein Ideal, das auch Bülow vorgeschwebt haben dürfte. Doch der Horizont eines jeden Biographen ist durch die innere Gebundenheit an den Gegenstand bestimmt, mag der Wille zur,Objektivität' noch so stark sein. Erst durch die Auswertung und die Verknüpfung mit anderen Informationen nimmt eine Quelle Konturen an - schon in diesem Augenblick wird die Grenze der Objektivität überschritten. Es ist schwer zu sagen, wie weit Bülow derartige Grenzen überhaupt gesehen und seine eigene Methode reflektiert hat. Sein Vorgehen ist bereits aus einer Bemerkung über die getroffene Stoffauswahl ersichtlich, daß er „keineswegs den ganzen" ihm „zu Händen gekommenen Stoff", sondern bloß das „ihm als wichtig Erscheinende mittheile, weil das jetzt Mode gewordene Verfahren, von ausgezeichneten Männern jeden unbedeutenden Zettel drucken zu lassen", seinem „eigenen Wesen allzu fremd" sei 53 . Scheint hier ein Auswahlprinzip nach qualitativen Gesichtspunkten vorzuliegen, so wird sein Vorgehen im Falle der Briefe Georg Heinrich von Berenhorsts um einiges deutli-

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Heyck, S. 120. - „Kolb war Politiker, aber für seine Person noch mehr der feine Schöngeist im Sinne der älteren Jahrzehnte. Von dem gleichaltrigen oder etwas nach ihm geborenen jungen Deutschland, das den lauten Ton seines politischen Sichäußerns auch auf die Litteratur- und Kunstbewegung übertrug und sich die Zusammenfassung unter einen Gruppennamen durch das einheitlich-tendenziöse Aufbauschen der einen, das Absprechen gegenüber der anderen Richtung und Erscheinung verdiente, unterschied ihn, daß er weit urteilsfähiger, gerechter und vielseitiger als jene war" (Ebda, S. 119/120). Vgl. zur Lebensgeschichte Kolbs auch Briefe an Cotta, Bd. 3, S. 148, Anm. „Denn dieses scheint die Hauptaufgabe der Biographie zu sein, den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen und zu zeigen, inwiefern ihm das Ganze widerstrebt, inwiefern es ihn begünstigt, wie er sich eine Welt- und Menschenansicht daraus gebildet und wie er sie, wenn er Künstler, Dichter, Schriftsteller ist, wieder nach außen abgespiegelt" (Jubiläumsausgabe. Bd. 22, S. 6). Vorwort, S. V I I .

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eher. In der Vorrede zur Edition dieser Briefe 5 4 spricht er offen davon, daß er, wenn auch nur an wenigen Stellen genötigt gewesen sei, „das Amt des Censors zu verwalten". Ähnliches läßt sich über die Eingriffe in die Briefe Kleists an Wilhelmine von Zenge sagen. N o c h immer bestimmen primär gesellschaftliche, gelegentlich auch moralische Rücksichten die Stoffauswahl und den Darstellungsstil der Lebensbeschreibung. Auch für Bülow war die Biographie weder Geschichte noch Psychogramm, sondern eine spezifische Darstellungsform der Literatur, d. h. die Möglichkeit, ein ins Exemplarische transponiertes Lebensschicksal mit literarischen Mittel zu zeichnen und hinter der äußeren Wirklichkeit die innere sichtbar zu machen. Er scheint sich dabei bewußt gewesen zu sein, daß das Authentische gegenüber der Interpretation gewisser Abgrenzungen bedurfte, und so ließ er immer wieder .Fakten' für sich selbst sprechen. Damit wird aber klar, daß gerade Bülows Kleist-Biographie weit in die Edition hineinreicht, ja selbst ein Editionsproblem darstellt, sofern es hier um Überlieferungen, ihre Autorisation und um exakte D e tails geht. Dies kann durch eine bis in die einzelnen Zeilen gehende Analyse der Kleist-Biographie gezeigt werden 5 5 . Das Bülow von Tieck zur Verfügung gestellte Material läßt sich leicht überblikken. Es handelt sich zunächst um den Brief von C . E . Albanus an Tieck v. 12. April 1832 ( 4 , 1 6 - 6 , 1 0 u. 8 , 7 - 1 3 ) , den Brief Kleists an Christian Ernst Martini ( 8 , 1 4 - 9 , 1 6 ) , den Abschiedsbrief Kleists und Henriette Vogels an Sophie Müller ( 2 7 4 - 2 7 5 ) , sowie um die von Wilhelm v. Schütz angefertigten Biographischen Notizen und Abschriften aus den Briefen Kleists an Marie von Kleist; letztere scheint Tieck Bülow allerdings erst nach dem Tode von Wilhelm v. Schütz überlassen zu haben, als die Kleist-Biographie bereits im Druck war 5 6 . Bülow hat außerdem Einblick in die Kopien der politischen Schriften Kleists genommen, wenn er daraus auch lediglich den Aufsatz Was gilt es in diesem Kriege f ( 2 5 3 - 2 5 5 ) veröffentlichte 5 7 . Er scheint durch Tieck auch in den Besitz einiger Originalhandschrif-

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Aus dem Nachlasse von Georg Heinrich von Berenhorst. Hrsg. v. Eduard von Bülow. Abt. 2. Dessau 1847, Vorwort, S. III: „Ich habe die wichtigsten, etwa vierzig Stück, zum Drucke ausgewählt, und war nur an wenigen Stellen genöthigt, das Amt des Censors zu verwalten." - Vgl. zu Berenhorst (6. Okt. 1733-30. Okt. 1814): ADB 2 (1875) S. 287-289 (v. Meerheimb) und NDB 2 (1955) S. 71 (W. Bußmann). Einen Vorabdruck der Selbstbekenntnisse Berenhorsts ließ Bülow im Janus (Bd. 2, 1845, S. 302-322) erscheinen; dort weist er auch auf die verwandtschaftlichen Beziehungen zu Berenhorst hin, der die Schwester seines Vaters geheiratet hatte. - Berenhorst war im 7jähr. Krieg Adjutant Friedrichs II., später als Militärschriftsteller ein Kritiker am preuß. Heeressystem. Die in Klammern eingefügten Zahlen beziehen sich auf Seiten und Zeilen der Buchausgabe. Vgl. Klaus u. Eva Kanzog: Die Kleist-Aufzeichnungen von Wilhelm v. Schütz, in: Jahrbuch d. dt. Schillerges. 13 (1969) S. 33. Sammelband mit Kopien von Prosaschriften, Gedichten und der unvollst. Abschrift des

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ten Kleists gekommen zu sein, deren Spuren nur im Autographenhandel 58 zu verfolgen sind; es läßt sich schwer sagen, ob diese Reliquien als .Geschenke'Tiecks zu betrachten sind. Unklar bleibt, welche Briefe Kleists an Wilhelmine über Tieck an Bülow gelangten. Es könnten die acht Briefe gewesen sein, die Tieck einst durch die Vermittlung Henriette Solgers erhalten, für die Kleist-Ausgabe von 1826 aber nur spärlich ausgewertet hatte. Die Originale waren spätestens 1822 wieder in den Händen Wilhelmines 59 , so daß Bülow bestenfalls Abschriften von Tieck bekommen haben kann. Mit diesem Material 60 allein war eine neue Biographie Kleists nicht zu schreiben. Bülow mußte deshalb nach neuen Quellen, d. h. vor allem nach zuverlässigen Gewährsleuten, die zu Auskünften bereit waren, suchen. Im Vorwort seiner Kleist-Biographie gibt Bülow Rechenschaft über seine Informanten: „Die Hauptquellen meiner Nachrichten waren zunächst der General-Lieutnant Rühle von Lilienstern und dessen Gemahlin, - Beide im vergangenen Jahre vom Tode ereilt, - welche mit dem Herrn von Pfuel, commandirendem Generale in Westphalen, zu Kleists vertrautesten Freunden gehört hatten. Dann die beiden verehrungswürdigen Frauen, deren die Briefe vorzugsweise gedenken und endlich, in Betreff der näheren Umstände vom Tode Kleists, Henriettens Familie" (S. VI). Rühle von Lilienstern wird aus Reputationsgründen an erster Stelle genannt. Aus den Briefen Bülows an Rühle 6 1 geht hervor, daß zwischen beiden bereits Kontakt in Angelegenheit der Berenhorst- und Novalis-Nachlässe bestand. Am 20. April 1845 sandte Bülow die Briefe seines Onkels, des Generals Georg Heinrich v. Berenhorst, „mit dem gehorsamsten Dank" zurück, am 13. September bat er um Auskunft über wichtige Papiere, Briefe und Gedichte Friedrich v. Hardenbergs, die Frau Generalin v. Bose „Herrn General v. Pfuel, vielleicht auch Ihrer Excellenz habe zustellen lassen"; der Brief vom 11. August 1846 beginnt mit den Worten: „Ihre Excellenz waren schon wiederholt so gnädig mir aus dem reichen

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Robert Guiskard, vollständig ausgewertet erst von Rudolf Köpke. Diese Kopien gab Bülow wieder an Tieck zurück. Vgl. Anm. 34 und Köpke-Kapitel, S. 235 ff. Vgl. Anm. 128 u. 129 dieses Kapitels und Semdner, Nachruhm, N r . 175. Dies geht aus dem Brief von Amadeus Wendt an Tieck v. 25. Nov. 1822 hervor, in dem Wendt im Auftrage Wilhelmines von „zurückempfangenen Papieren" spricht (Letters to and from Ludwig Tieck. Ed. by Percy Matenko, Edwin H . Zeydel, Bertha M. Masche. Chapel Hill 1967, S. 61). Vgl. Analytische Bibliographie der Briefe, Nr. 2. Tieck schreibt am 23. März 1846 u. a. an Bülow: „Beim Kleist haben Sie hoffentlich fast alles brauchen können, was ich Ihnen mitgetheilt habe, sonst hätte ich in meiner Sammlung diese Briefe gar gerne aufgenommen: sollten Sie manche zurück gelegt haben, so könnten Sie mir diese wohl noch übersenden" (Segebrecht, S. 410). Man könnte an den erwähnten Albanus-Brief und Kleists Abschiedsbrief denken; ein Bezug auf Briefe Kleists an Wilhelmine ist nicht ohne weiteres möglich. Georg Minde-Pouet: Briefe von, an und über Kleist, in: Jahrbuch der Kleist-Gesellschaft 1925/26, S. 6 3 - 6 5 .

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Schatze Ihrer Erinnerungen und Erlebnisse Mittheilungen über Heinrich von Kleist zu machen 6 2 , daß ich es hiermit noch einmal wage Ihre Güte mit einer derartigen Frage in Anspruch zu nehmen" 6 3 . Bülow hat sich auch an Ernst von Pfuel gewandt, aber keine Auskünfte erhalten. Er schreibt darüber am 9. Februar 1847 an Varnhagen von Ense: „Ich bezweifle nicht, daß der H . General von Pfuel noch die meisten Andenken und Erinnerungen an Kleist besitzt; allein sein deshalb gegen mich ausgesprochenes N e i n heißt jedenfalls, daß er sie nicht mittheilen will" 6 4 . Durch die Vermittlung Rühles hatte er jedoch kurz nach der Veröffentlichung der Erstfassung seiner Biographie in den Monatsblättern versucht, vielleicht im letzten Augenblick noch Material zu erhalten; erfragt Rühle am 2. Dezember 1846: „Würde es Ihrer Excellenz passend erscheinen, meinen Aufsatz zu geneigter Prüfung dem Herrn General von Pfuel Excellenz vorzulegen, so verpflichteten Sie mich zu dem verbindlichsten D a n k e " 6 5 . Aber auch diese Hoffnung erfüllte sich nicht; es ist nicht einmal sicher, ob Rühle den Aufsatz Bülows an Pfuel weitergegeben hat. Es fällt auf, daß Bülow hinsichtlich der Erwähnung Pfuels in den Briefen Kleists an Rühle bei der Redaktion der Briefe für die Veröffentlichung sehr sorgsam zu Werke ging. So strich er alle auf Pfuel bezüglichen Stellen: S. 760, Z . 8 - 1 1 :

„Wie sehr hat mich die Nachricht erfreut, die D u mir von unserm Freund Pfuel gibst, die Nachricht, daß das Korps, bei welchem er steht, vor die Stadt rückt, in welcher zugleich der Feind und sein Mädchen wohnt!"

S. 761, Z . 3 0 - 3 1 : „wie Pfuel sagen würde" S. 770, Z. 7 - 8 :

„Grüße Schlotheim. Was macht der Pfuel?"

Das könnte auf Anweisung Rühles geschehen sein, aber auch als eine Vorsichtsmaßnahme Bülows gedeutet werden, den General nicht zu kompromittieren. Besonders die erstgenannte Stelle mochte anstößig erscheinen, die Geringfü-

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Es handelt sich um folgende Stellen in der Biographie (die angeführten Nummern beziehen sich auf Sembdners Lebensspuren): 12,14-28 (Nr. 138 a), 38,20-28 mit Erwähnung Pfuels (Nr. 102), 40, 14-21 mit Erwähnung eines Billets von Pfuel (Nr. 118), 41, 5 - 2 2 über Kleists Flucht aus Paris (Nr. 120), 46, 25-47, 14 mit Erwähnung Pfuels (Nr. 155), 51,10-27 ebenfalls mit Erwähnung Pfuels (Nr. 188), 5 2 , 2 1 - 5 3 , 1 8 über Kleists Dresdener Zeit (Nr. 269), 53,19-29 mit Erwähnung Pfuels (Nr. 53), 5 4 , 1 - 2 4 über die angebliche Szene „auf der Brühischen Terrasse" mit dem Hinweis auf Frau v. Rühle (Nr. 309). Die Nachrichten Rühles erfolgten wohl großenteils mündlich, denn im Zusammenhang mit den beiden verlorenen Dramen Peter der Einsiedler und Leopold von Österreich vermerkt Bülow (40,27-28), daß Rühle ihm „aus der Erinnerung einen Theil des Plans erzählte", so daß zumindest eine persönliche Begegnung vorausgesetzt werden muß. Julius Petersen: Varnhagen v. Ense über Kleist. Mitteilungen aus seinem Briefwechsel mit Eduard v. Bülow, in: Jahrbuch d. Kleist-Gesellschaft 1923/24, S. 137. Jahrbuch der Kleist-Gesellschaft 1925/26, S.65.

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gigkeit der beiden anderen zeigt, daß der Name Pfuel in den Briefen prinzipiell getilgt werden sollte. Erst Varnhagen 66 und Wilbrandt 67 gegenüber hat Pfuel Anekdotisches von zweifelhaftem Quellenwert ausgeplaudert. Allerdings finden sich auch in Bülows Biographie verschiedene Stellen (38, 2 0 - 2 8 ; 39, 1 8 - 4 0 , 8; 40, 1 4 - 2 1 und 42, 1 2 - 1 4 ) , die andeutungsweise etwas von der Freundschaft zwischen Kleist und Pfuel erkennen lassen. In diesen Fällen wird man jedoch an eine Vermittlung der Begebenheiten durch Rühle denken müssen; zweimal erwähnt Bülow Rühle und Pfuel gemeinsam ( 5 1 , 1 0 - 2 7 und 5 3 , 1 9 - 2 9 ) . Hieraus läßt sich die Vermutung ableiten, daß Bülow unbedingt daran interessiert war, den Namen Pfuel - wenn schon nicht in den Briefen - wenigstens in seiner biographischen Darstellung ins Spiel zu bringen. Ebensowenig Erfolg hatte Bülow bei Ulrike von Kleist. Am 11. November 1847 teilte Superintendent Christian Wilhelm Spieker in Frankfurt/Oder Bülow folgendes mit: „Fräulein Ulrike v. Kleist lebt noch und befindet sich ganz wohl. Ich habe indes Ihre Bitte um Aushändigung der Briefe ihres Bruders zum diskreten Gebrauch bei der Biographie desselben persönlich sehr dringend wiederholt. Sie erklärte aber, daß sie schon einen Theil der Briefe vernichtet hätte und die noch vorhandenen vor ihrem Tode verbrennen werde, weil sie Sachen enthielten, die nur für sie, für einen dritten aber durchaus kein Interesse hätten. Dies sprach sie so fest und bestimmt aus, daß ich alle weiteren Versuche, sie Ihrem Wunsche geneigt zu machen, einstellen mußte" 6 8 . Bülow muß Ulrike aber auch persönlich aufgesucht haben, denn in Zollings Handexemplar seiner Kleist-Ausgabe findet sich der Bericht über einen der Forschung unbekannt gebliebenen Besuch Bülows bei Ul-

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Vgl. S. Rahmer: Heinrich von Kleist als Mensch und Dichter. Berlin 1909, S. 147. Die Mitteilung Pfuels ist auf den 11. März 1852 datiert. Eine „ausführlicher und lebendiger dargestellte" Fassung veröffentlichte J . Petersen, in: Jb. d. Kleist-Ges. 1923/24, S. 135. Adolf Wilbrandt: Heinrich von Kleist. Nördlingen 1863, S. V I I über mündliche Mitteilungen: „größtentheils verdanke ich sie der Güte des einzigen noch lebenden Freundes Kleist's, des Staatsministers a . D . General von Pfuel". Seine persönliche Begegnung mit Pfuel schildert Wilbrandt 40 Jahre später (Aus der Werdezeit, Stuttgart 1907, S. 118); vgl. Sembdner, Nachruhm, Nr. 199. - Vgl. auch die Zusammenstellung der verschiedenen Mitteilungen Pfuels in: Sembdner, Lebensspuren, Nr. 70, 78, 112, 117, 119b (an Wilbrandt), 114b, 310 (an Wilhelm Löwe), 116b, 123a (an Ernst Wippennann), 197a (an Franz Wallner) und 198 (an Varnhagen). Vgl. Sembdner, Nachruhm, N r . 113 (nur im Auszug) nach einer überlieferten Abschrift in der Kleist-Gedenk- und Forschungsstatte, Frankfurt/Oder (Friedrich Schilling u. Doris Gerstenhauer, Frankfurter Briefe aus 600 Jahren. Frankfut/Oder. Mappe 2 [um 1930]). Das seinerzeit der Stadt Frankfurt angebotene, aber nicht angekaufte Original gilt seitdem als verschollen (freundl. Mitteilung v. Herrn Rudolf Loch, Frankfurt/Oder). Aus dem Brief geht u. a. hervor, daß Superintendent Spieker mit Tieck persönlich bekannt war.

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rike, der einen lebendigen Eindruck von dieser Begegnung und von der Reaktion Ulrikes vermittelt 69 : „Das war mein Heinrich nicht mehr", pflegte sie zu sagen, wenn man sie über des Bruders letzte Jahre ausfragen wollte. Als E. v. Bülow von ihr Kl's Briefe sich erbat, empfing sie ihn sehr schlecht, indem sie ihm erklärte, daß sie mit Literaten nichts zu thun haben wolle. Kaum hatte er sich entfernt, als sie, die sonst über H. beharrlich schwieg, ihrem Herzen Luft machte und in leidenschaftlicher Weise lange zu den Nichten von H. sprach. „Wie schade", sagte Frau v. Pannwitz, „daß Herr v. Bülow nicht hinter der Thür ist!" Zolling fügt, offenbar gestützt auf mündliche Mitteilungen einer der Nichten Ulrikes, ergänzend hinzu: H's Briefe hütete sie voller Eifersucht, doch ist es wahrscheinlich, daß sie Manches verbrannt. Eines Tages fand eine Nichte auf der Bodenkammer das Bruchstück eines halb verbrannten Briefes von H . und brachte es verwundert der Tante. „ D u dummes Ding", zankte diese, „was gehen dich meine Briefe an!" Frln. v. Stojentin (1808 geboren) hat oft in H's Originalbriefen gelesen, die noch Vieles enthalten, was Koberstein nicht abdrucken durfte. Wie vorsichtig Bülow auch im Falle der Erwähnung Ulrikes in den von ihm veröffentlichten Briefen Kleists vorging, zeigt der Vergleich der beiden Fassungen des Briefes an Wilhelmine vom 4. Juni 1801. Im ersten Abdruck (Janus. Bd. 2. 1846, S. 176), als Bülow noch hoffte, etwas von Ulrike zu erlangen, fehlen zwei Stellen, an denen sich Kleist seiner Braut gegenüber freimütig über seine Schwester ausspricht. Beide Stellen sind erst in der Buchausgabe eingefügt worden, als Bülow keinerlei Rücksicht mehr zu nehmen brauchte: S. 183, Z. 3 - 7 : „Ich ehre Ulrike ganz unbeschreiblich, sie trägt in ihrer Seele Alles was achtungswürdig und bewundernswerth ist; Vieles mag sie besitzen, vieles geben können, aber es läßt sich, wie Goethe sagt, nicht an ihrem Busen ruhen." S. 184, Z. 13-20: „In Leipzig fand endlich Ulrike Gelegenheit zu einem Abenteuer, und hörte verkleidet, einer öffentlichen Vorlesung von Platner zu. Das geschah mit Vorwissen des Hofrathes, indem er selbst wünschte, daß sie, Störung zu vermeiden, lieber in Mannskleidern käme, als in Weiberröcken. Alles lief glücklich ab; der Hofrath und ich waren die einzigen im Saale, die um das Geheimniß wußten." Im Vorwort hat Bülow, ohne Ulrikes Namen zu nennen, dann ein wenig vor69

Handexemplar Zollings aus dem Besitze Friedrich Röbbelings, angezeigt in: Der Bücherwurm. Katalog 263, Nr. 5269, von mir im Oktober 1968 erworben. Die Eintragung findet sich auf dem in Bd. 1, zwischen S. XCVIII und X C I X eingebundenen Blatt (Rückseite).

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wurfsvoll die Notiz eingerückt: „Daß meine Nachrichten nicht noch vollständiger geworden sind, verschuldet leider! die Unerbittlichkeit, mit welcher sich die natürlichste und wichtigste Quelle, jeder Mittheilung an Fremde enthält" (S. VI). Die ablehnende Haltung Ulrikes verdient Nachsicht. Im amtsärztlichen Gutachten aus dem Jahre 1848 ist von „unverkennbaren Spuren eines Seelenleidens" 70 die Rede, auch Wilbrandts Bemerkungen, wiewohl aus zweiter Hand, deuten in die gleiche Richtung: „In ihren letzten Jahren verwirrte sich ihr Geist; die Wunderlichkeiten, mit denen sich schon ihre excentrische Jugend getragen hatte, wurden im Alter starr und peinlich, und entrückten sie zuletzt völlig in eine andere Welt" 7 1 . Zeugnisse aus früheren Jahren zeigen dagegen eine gewisse Bereitschaft, sich über den Bruder zu äußern. Dies scheint jedoch nur gegenüber nahestehenden Personen geschehen zu sein. Das erst 1903 veröffentlichte Dokument einer unbekannten Schreiberin „Was mit Ulrike Kleist im Jahre 1828 in Schorin über Heinrich Kleist erzählte" 7 2 ist der beste Beweis gegen die Behauptung Wilbrandts: „Auch ihren nächsten Freunden hat sie zu keiner Zeit von den Schicksalen des Bruders erzählen wollen" 7 3 . Das Reisetagebuch von Auguste von Pannwitz aus dem Jahre 1834 zeigt Ulrike auf den Spuren Kleists am Thuner See und ihr lebhaftes Interesse für französische Ubersetzungen seiner Werke 7 4 . „Wie gern und ausgiebig sie über ihren tragisch geendeten Bruder sprach, dessen entsinne ich mich genau aus ihren langen Unterhaltungen mit meiner Mutter", berichtet Ada Pinelli 7 5 . Das kleine Briefgeschenk an Ida Jochmus beweist darüber hinaus, daß Ulrike selbst bei den besonders heilig gehaltenen Briefen zu kleineren Zugeständnissen bereit war 7 6 . Ihre Abneigung galt in erster Linie dem „Literaten" Bülow, ein Ressentiment, das angesichts des Schicksals ihres Bruders verständlich erscheint. Weitere persönliche Mitteilungen verdankt Bülow zunächst wiederum Tieck, der sich aus eigener Erinnerung über das Käthchen von Heilbronn (54, 18-24 u. 56, 7 - 2 7 ) und den Prinz von Homburg ( 6 2 , 1 6 - 2 0 ) äußerte. Tiecks Mitteilungen über die Entzweiung Kleists mit Pfuel (40, 9 - 1 3 ) und die Entstehung des Prinz

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Vgl. Sembdner, Nachruhm, N r . 115. Wilbrandt, S. 412; vgl. Sembdner, Nachruhm, N r . 112. Paul H o f f m a n n : Ulrike von Kleist über ihren Bruder Heinrich. Ein Beitrag zur Biographie des Dichters, in: Euphorion 10 (1903) S. 1 0 5 - 1 5 2 (aus dem Nachlaß des „ u m die Kleistforschung verdienten Professor Rudolf Schwarze"); Text, S. 1 0 7 - 1 1 2 . - „ D i e Schrift läßt gewandte, ausgeschriebene Züge einer leichten H a n d erkennen; wahrscheinlich rühren sie von einer D a m e her [. . .] Auf die naheliegenden Fragen, wer ihre Erzählung niedergeschrieben, und welche Veranlassung die schwer zugängliche Ulrike mitteilsam gestimmt habe, weiß ich keine A n t w o r t " (S. 106). - Die Weglassung der Adelsprädikate läßt an eine adlige Schreiberin denken. Wilbrandt, S. 412; vgl. Sembdner, Nachruhm, N r . 112. Vgl. Sembdner, Nachruhm, N r . 109. Vgl. Sembdner, Nachruhm, N r . 110. Vgl. Analytische Bibliographie der Briefe, N r . 13.

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von Homburg (61, 21 —62,15) 77 stammen dagegen aus zweiter Hand (Marie von Kleist/Wilhelm von Schütz). Bülows Bemerkung über die verlorengegangenen „Fragmente" Kleists ( 4 1 , 1 - 4 ) geht entweder auf eine Äußerung Tiecks oder unmittelbar auf den an Tieck gerichteten Brief 7 8 Johanna von Hazas vom 26. November 1816 zurück. Tiecks Erinnerungen bewegen sich also in den engen Grenzen seiner kurzen persönlichen Bekanntschaft mit Kleist in Dresden und der eigenen Bemühungen um die Herausgabe der Werke; auch Köpke gegenüber hat Tieck später keine wesentlich neuen Angaben gemacht 79 . Bülow hat sich außerdem an Fouque, Heinrich Zschokke und - wahrscheinlich durch die Vermittlung Tiecks - auch an Friedrich von Raumer und Johann Valentin Teichmann gewandt. Die Berufung auf eine Mitteilung Fouques (12, 6) deutet darauf hin, daß er bereits vor 1843 mit Kleist beschäftigt war; schon damals scheint ihm auch die Abschrift von Kleists Brief an Fouque 8 0 vom 15. August 1811 (245-246) zugekommen zu sein. Zschokkes briefliche Mitteilung über Kleist erscheint in vollem Wortlaut ( 2 8 , 9 - 2 4 ) . Bei dem Versuch, Licht in die Beziehungen Kleists zur preußischen Staatskanzlei zu bringen, war Bülow allerdings nur ein Teilerfolg beschieden. Raumer gab die an ihn gerichteten Briefe Kleists 81 nicht heraus, sondern speiste Bülow mit einer kurzen Inhaltswiedergabe ab (58, 8 - 5 9 , 2 ) . Teichmann dagegen gewährte Bülow Einblicke in die beiden an Iffland gerichteten Briefe 8 2 Kleists, über die der Leser - ebenso wie über den „demütigen und feigen Brief" Ifflands - nur andeutungsweise ( 5 9 , 1 8 - 6 0 , 2) etwas erfährt. Es ist denkbar, daß Bülow vor allem wegen des zweiten „in einer so eigenthümlichen Weise beleidigenden" Briefes auf ihre Veröffentlichung verzichtete. Zweimal bezieht sich Bülow auf die „Familie von Schlieben" (38, 2 9 - 3 9 , 1 7 u. 39, 1 8 - 4 0 , 2); als Informantin kommt Henriette von Schlieben in Frage, die damals in Dresden lebte. Es fällt in diesem Zusammenhang auf, daß Bülow den 1827 in der Dresdener Morgenzeitung abgedruckten Brief 8 3 Kleists an Karoline von Schlieben anscheinend übersehen hat. Das größte Verständnis fand Bülow bei Wilhelmine Krug und Luise von Zenge,

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Vgl. Sembdner, Lebensspuren, N r . 505 a und 505 b. Briefe an Ludwig Tieck. Hrsg. v. Karl v. Holtei. Bd. 2 , S . 1 7 4 - 1 7 6 . Vgl. auch Sembdner, Nachruhm, N r . 134. O b schon Bülow über die Herkunft des//om^«rç»-Manuskriptes informiert war, läßt sich nicht sagen. Die ursprüngliche, in der Buchausgabe getilgte Bemerkung, Tieck habe sich das Manuskript „zu verschaffen gewußt", kommt der Wahrheit immerhin sehr nahe. Vgl. hierzu: Klaus Kanzog, Rudolf Köpkes handschriftliche Aufzeichnungen der Kleist-Bemerkungen Tiecks (Euph. 62, 1968, S. 164). Vgl. Analytische Bibliographie der Briefe, N r . 10. Veröffentlicht zuerst von Raumer; vgl. Analytische Bibliographie der Briefe, N r . 15. Veröffentlicht zuerst von Johann Valentin Teichmann; vgl. Analytische Bibliographie der Briefe, N r . 16. Vgl. Analytische Bibliographie der Briefe, N r . 2.

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die ihm zahlreiche Briefe zugänglich machten 84 . Von den 33 später von Karl Biedermann im Nachlaß Wilhelmines aufgefundenen Briefen 85 druckte Bülow 16 Briefe: sieben zuerst 1846 im Janus, neun weitere in der Buchausgabe der Biographie, nachdem er Auszüge daraus in den Monatsblättern mitgeteilt hatte; dazu kam noch ein Brief an Luise von Zenge 86 . In diesen Briefen herrscht, wie Biedermann bemerkt, „der reflectirende Ton vor; sie zeigen den Dichter weniger in dem Lichte eines glücklichen, gefühlvollen Liebhabers, als in dem eines etwas pedantischen Lehrers und Moralisten, der seine Verlobte .bilden', .erziehen' und dadurch seinem eigenen Wesen wahlverwandter machen will" 8 7 . Und es war nach Biedermanns Ansicht „keine ganz glückliche Auswahl, die gerade nur solche Briefe in die Öffentlichkeit brachte, in denen ein doctrinär-lehrhaftes, bisweilen selbst pedantisches Wesen des Briefstellers in den Vordergrund tritt" 8 8 . Es läßt sich jedoch mit einiger Sicherheit sagen, daß diese Auswahl nicht von Bülow, sondern von Wilhelmine selbst oder Luise getroffen wurde, wobei nicht festzustellen ist, ob Bülow Abschriften erhielt oder die Originale kurzfristig zur Verfügung gestellt bekam 89 . Bülow scheint in Leipzig mit Wilhelmine persönlichen Kontakt aufgenommen zu haben, sofern er nicht durch die weitreichenden Verbindungen des Frege'sehen Hauses längst in Beziehungen zur Familie Krug stand. Auf diesem Wege hat Bülow - wohldosiert - noch manches erfahren, was sich für die Biographie verwenden ließ. Besonders hinter den von ihm mitgeteilten Details 90 aus Kleists Frankfurter und Königsberger Zeit sind Hinweise der Geschwister v. Zenge zu vermuten; an einer Stelle (45, 1 1 - 1 4 ) erwähnt er ausdrücklich „die beiden Schwestern", ein anderes Zeugnis (57, 12-27) beginnt mit den Worten: „Im Jahre 1809 sah ihn die Schwester seiner Braut zum letztenmal in Frankfurt a. O wieder". Die wahrscheinlich auf Wilhelmine Krug und Luise von Zenge 91 zurückgehenden Informationen, vor allem die Äußerungen über Trennung und Wiedersehen, zeichnen sich durch Nüchternheit und taktvolle Zurückhaltung aus. Beide waren sich durchaus

84

85

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Bülow schreibt (Biographie, S. 13): „es mußten also auch Kleists Briefe an seine Braut für die Geschichte seines Innern theilweise wichtig sein. Ein halbes Jahrhundert, welches darüber hingegangen ist, hat die zartesten Bedenken gegen die Veröffentlichung gehoben und so wurden sie mir auf meine Bitte mitgetheilt." Vgl. Analytische Bibliographie der Briefe, N r . 22 u. 25 sowie die Briefe Biedermanns an Zolling. Vgl. Analytische Bibliographie der Briefe, Nr. 8, 9, 10. Vorwort Biedermanns in Nord und Süd 19 (1881) S. 86. Ebda, S. 87. Biedermann fand alle Briefe im Original vor. Es handelt sich mit einiger Sicherheit um folgende Passagen (die in Klammern angeführten Nummern beziehen sich auf Sembdner, Lebensspuren): X I I , 18 —XIII, 8 (Nr. 549a), 6 , 1 1 - 1 4 (Nr. 7), 9 , 2 9 - 1 0 , 2 1 (Nr. 30), 1 0 , 2 2 - 1 1 , 2 3 (Nr. 35), 1 3 , 2 0 - 1 4 , 1 8 (Nr. 39), 2 3 , 2 8 - 2 4 , 1 4 (Nr. 63a), 4 2 , 1 5 - 2 2 (Nr. 131), 4 4 , 8 - 2 7 u. 4 5 , 1 1 - 1 4 (Nr. 144), 4 4 , 2 8 - 4 5 , 1 0 (Nr. 145), 4 5 , 1 5 - 4 6 , 9 (Nr. 149), 4 6 , 1 9 - 2 4 (Nr. 152), 5 7 , 1 2 - 2 6 (Nr. 334). Luise von Zenge lebte damals im weltlichen Fräuleinstift zu Lindow, Kreis Ruppin.

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bewußt, daß es darum ging, Material für ein literarisches Porträt Kleists zu liefern; Klatsch und Indiskretionen verboten sich von selbst. Eine wesentliche Bereicherung erfuhr die Materialsammlung nach dem Vorabdruck der Biographie in den Monatsblättern durch die Auskünfte Varnhagens, an den sich Bülow am 9. Februar 1847 mit der Bitte „um eine kurze Skize Ihrer Ansicht von dem Leben und Tode des Unglücklichen" und einer Reihe von ungeklärten Fragen gewandt hatte 92 . Aus dem Antwortbrief Varnhagens vom 20. Februar 1847 sind Bemerkungen über Brockes (14,24-15,9), den Grafen zu Lippe (15,9-11), den verhängnisvollen Einfluß Adam Müllers auf Kleist (59,3-17) und über das Verhältnis Kleists zu Rahel (79,3-8) in die Buchausgabe eingegangen; auch den erstmals von Bülow erwähnten Namen des Arztes Dr. Joh. Benj. Erhard (73,6 u. 76,8) hatte ihm Varnhagen genannt. Trotz aller Hilfsbereitschaft hat Varnhagen aber nur Teil-Informationen geliefert. Ob er den Plan einer eigenen Kleist-Biographie wirklich aufgegeben hatte, ist schwer zu sagen 93 . Bülow gegenüber jedenfalls erklärt er: „Ich darf nicht daran denken, selber noch etwas über Kleist zu schreiben, am wenigsten jetzt, da die Sache schon in guten Händen ist. Mir liegen der Aufgaben nur allzu viele vor, und ich werde alle Kräfte anstrengen müssen, wenigstens einige meiner Vorsätze noch auszuführen 94 ." In seinem Brief erwähnt Varnhagen auch die „noch lebende Tochter der Mad. Vogel", die offenbar daraufhin von Bülow ausfindig gemacht worden ist. Denn in den Monatsblättern hatte er über das Verhältnis Kleists zu Henriette Vogel nur auf Grund von „mündlichen Mittheilungen der vertrautesten noch lebenden Freunde" (529, 1. Sp., Z. 4 - 5 ) berichtet; erst in der Buchausgabe fügt er hinzu: „sowie der Angehörigen seiner Todesgenossin" (72,7-8). Aus dieser Quelle kamen schließlich das Duodrama Die Liebe und die Freude (256-259) und Einzelne, einer Freundin hinterlassene Gedanken Henriettens (276-279) zum Vorschein. Da über die ihm von Varnhagen freimütig mitgeteilten Klatschgeschichten 95 „nicht öffentlich gesprochen werden" durfte, hat Bülow das Bild Henriettes von allen Vermutungen und Skandalandeutungen frei gehalten. Nicht zuletzt konnte Bülow

92 93

94 95

Vgl. Jahrbuch der Kleist-Gesellschaft 1923/24, S. 1 3 5 - 1 4 1 . Nach Rahmers Vermutung (Heinrich von Kleist als Mensch und Dichter. Berlin 1909, S. 145) stammen Varnhagens Notizen über Kleist sowie die von seiner Nichte angefertigten Abschriften des Peguilhen'schen Kleist-Materials erst aus Varnhagens letzten Lebensjahren. Die Ansicht Julius Petersens, Varnhagen habe den möglichen Gedanken eines biographischen Denkmals zugunsten der Biographie Eduard von Bülows aufgegeben (Jahrbuch d. Kleist-Ges. 1923/24, S. 136), ist durch die Äußerung Varnhagens allein nicht zu sichern. Jahrbuch d. Kleist-Ges. 1923/24, S. 139. So kolportierte Varnhagen: „Mad. Vogel aber war eine alte Liebschaft Müller's, die er für Mad. Sander aufgegeben hatte, und die, nachdem sein Freund und Nachfolger Franz Theremin dieselben Wege gegangen war, nun doch wieder mit Müller anknüpfen wollte, der jedoch lieber Kleist vorschob" (Ebda, S. 139).

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Erste Biographie und Brief-Edition

sich dabei auf zwei Briefe Peguilhens ( 7 6 , 1 8 - 2 2 u. 7 8 , 1 7 - 2 0 ) beziehen, dessen wertvolles Material blieb ihm jedoch verschlossen. Hinsichtlich der Vorgänge am 2 0 . und 2 1 . N o v e m b e r 1811 stützt sich B ü l o w a u f Augenzeugenberichte des Wirtes z u m Stimming ( 7 5 , 8 - 2 2 u. 2 8 0 - 2 8 6 ) und des Försters,

der sich

als

„einer der

Ersten"

bei

den T o t e n

gefunden

hatte

( 7 5 , 2 3 - 7 6 , 2 ) . D i e Befragung war anläßlich seines lange geplanten G r a b b e s u c h e s in Wannsee erfolgt. B ü l o w hat also keine Mühen gescheut, um - ca. 35 J a h r e nach der T a t - Authentisches über die näheren Todesumstände in Erfahrung zu bringen. E r hat das G r a b , für dessen „öffentliche E h r e " er schon f r ü h e r 9 6 eingetreten war, stimmungsvoll beschrieben. Es war dies nur eine Station seiner Pilgerfahrt zu den Kleiststätten. In Frankfurt a. O . hatte er gleichfalls versucht, einen unmittelbaren E i n d r u c k von der .historischen' U m g e b u n g Kleists zu g e w i n n e n 9 7 . S o wird die Biographie von persönlichen Erinnerungen B ü l o w s eingerahmt, die seinem B e r i c h t einen besonderen R e i z verleihen. N i c h t an allen Stellen ist die Q u e l l e genannt oder aus dem Zusammenhang leicht zu erraten. Gelegentlich äußert sich B ü l o w recht allgemein: „ M a n c h e , die ihn damals gekannt h a t t e n " ( 1 3 , 1 ) , „nach dem Urtheile seiner F r e u n d e " ( 1 9 , 2 0 ) , „wenn ich recht gehört h a b e " ( 2 4 , 16), „ n a c h einer anderen M e i n u n g " (47, 15) und „in diesem Augenblicke k o m m t mir auch noch die unverbürgte N a c h r i c h t z u " ( X I V ) 9 8 . In einigen Fällen, wie der Episode aus Paris ( 2 4 , 2 2 - 2 5 , 13), der angeblichen Begegnung mit Schiller und G o e t h e (29, 2 3 - 2 7 ) , der Bekanntschaft mit der G ü n d e r o d e ( 4 2 , 1 - 7), der möglichen R e t t u n g durch eine staatliche Unterstützung (76, 2 7 - 7 7 , 2) und der Schilderung des Verhältnisses Kleists zu H e n r i e t t e ( 7 3 , 4 - 7 4 , 3 ) 9 9 ist die sichere Zuweisung an einen bestimmten Informanten nicht m ö g lich. Unklarheiten bestehen auch ü b e r die H e r k u n f t der Stammbuchverse (6, 2 9 - 7 , 9), von denen angenommen wird, daß sie an Luise von Linckersdorf gerichtet s i n d 1 0 0 . B ü l o w verhielt sich seinen Quellen gegenüber keineswegs unkritisch, obgleich ihm alles willkommen war, was das Bild Kleists zu beleben vermochte. E r war vielleicht sogar allzu vorsichtig und n a h m die größten Rücksichten gegenüber noch lebenden Personen. E r s t a u f den R a t V a r n h a g e n s , der zwar zugab, „daß über die n o c h Lebenden nicht gut gesprochen werden k a n n " , der aber das „ Z u r ü c k h a l ten und Verstecken hinter A n f a n g s b u c h s t a b e n " in der Textfassung der Monats-

Monatsblätter zur Erg. der Allgemeinen Zeitung, Nov. 1846, S. 529'30. ~ Vgl. hierzu den Anfang der Biographie („Erwäge ich, was noch außerdem auf seinen jungen Geist gegenständlichen Eindruck machen konnte [. . .]") mit der Erwähnung der altertümlichen Oberkirche und dem Hinweis auf Ewald von Kleist, „welcher in Frankfurt begraben liegt". 9 8 Vgl. hierzu die Textstellen: 12, 2 9 - 1 3 , 5 (Sembdner, Lebensspuren Nr. 32a), 19, 1 7 - 2 1 (Nr. 51b), 2 4 , 1 5 - 2 1 (Nr. 60a), 47, 1 5 - 1 8 (Nr 155). 9 9 Vgl. hierzu: Sembdner, Lebensspuren, Nr. 6Cc, 86, 124, 52Ca u. 524. 1 0 0 Vgl. Analytische Bibliographie der Werke, Nr. 61. 96 9

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blätter „ungemein mißbehaglich für den Leser" 1 0 1 fand, entschloß er sich in der Buchausgabe zur vollen Nennung der meisten Namen. Tendenziöse Entstellungen sind nicht zu bemerken. Dort, wo die Uberlieferung heute vielleicht fragwürdig erscheint 102 , geht sie zu Lasten der Informanten, von deren Erinnerungsvermögen Bülow entscheidend abhängig war. Im übrigen hat Bülow auch einige gedruckte Quellen ausgewertet: die Rangliste von 1796 ( 6 , 1 7 - 1 9 ) , die Memoiren von Friedrich Laun ( 5 1 , 2 8 - 5 2 , 1 2 ; 5 4 , 2 5 - 5 5 , 9; 60, 3 - 6 1 , 20), die Selbstschau Heinrich Zschokkes (25, 14-28, 6), den in der Zeitschrift Orpheus gedruckten Brief Christoph Martin Wielands an Georg Christian Gottlob Frh. v. Wedekind vom 10. April 1804 ( 3 2 , 6 - 3 8 , 11 u. 4 2 , 7 - 1 1 ) und Adam Müllers Aufsatz 103 über Kleists Tod im österreichischen Beobachter vom 24. Dezember 1811 (72, 10-11). Für die Buchausgabe hat er noch Äußerungen Goethes über Kleist (29, 2 9 - 3 2 , 5) zusammengestellt. Varnhagen verdankt er den Hinweis auf seine Denkwürdigkeiten des eigenen Lebens mit der Stammbucheintragung Kleists vom 11. August 1804 (42, 23 - 4 3 , 8 ) und dem Zettel Kleists an Rahel (79, 9 - 1 9 ) sowie Abschriften der Ankündigung Peguilhens und der Todesanzeige Vogels in der Vossischen Zeitung vom 26. und 28. November 1811 (verwertet ist nur die erstere: 77, 5 - 7 8 , 7). Der Abdruck des bereits Tieck vorliegenden, aber erst von Amadeus Wendt gedruckten Gedichtes An Wilhelmine (249-252) folgt dem Erstdruck im Musenalmanach für das Jahr 1830104. Offen bleibt, wer Bülow die lange von ihm vergeblich gesuchten Berliner Abendblätter zur Einsicht anvertraut hat. Aus seiner Bemerkung im Vorwort („Indem ich diese Zeilen schreibe, kommt mir auch noch ein Exemplar der in Kleists Leben erwähnten, so selten gewordenen Berliner Abendblätter zu") ist zu

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Jahrbuch d. Kleist-Ges. 1 9 2 3 / 2 4 , S. 138. - Hierzu erklärt Bülow in seinem Antwortbrief: „Ihre Rüge, der Namen halb, ist auch in meinem Gefühl begründet; nur gebietet mir selbst die Schonung des Egoismus annoch manches zu verschweigen, was späterhin keinen Anstoß mehr gibt" (Ebda, S. 140).

102

So hat H . Sembdner Zweifel geäußert an der angeblichen Begegnung Kleists mit Schiller und Goethe (Lebensspuren, N r . 86), der Erzählung Rühles, er habe Kleist eines Herbsttages unter den Folgen einer starken Dosis Opium vorgefunden ( N r . 2 6 9 ) und dem Bericht über den Versuch Kleists, Adam Müller von der Elbbrücke zu stürzen ( N r . 309). An dieser Stelle vermerkt er allerdings nur, daß die „mündlichen Mittheilungen der vertrautesten noch lebenden Freunde Kleists sowie der Angehörigen seiner Todesgenossin" vollkommen mit dem Zeugnisse Müllers übereinstimmen. - Auch an anderen Stellen ist die Zurückhaltung Bülows Müller gegenüber deutlich zu spüren. - So bedauert Varnhagen (Jahrbuch d. Kleist-Gesellschaft 1 9 2 3 / 2 4 , S. 138), daß B ü l o w über Müller, der seines Erachtens „nur schlimm auf Kleist eingewirkt", nicht ausführlicher gesprochen habe. Bülows wahre, durch Tieck beeinflußte Meinung über Müller geht aus seiner Antwort an Varnhagen hervor: „Besonders wichtig und erfreulich ist es mir, daß Sie als Augenzeuge meinem Urtheil über Müllers ungünstigen Einfluß auf Kleist so sehr beistimmen" (Ebda, S. 140).

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Vgl. Analytische Bibliographie der Werke, Fehlzuweisungen und kontroverse Texte, Nr. 8

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entnehmen, daß sie ihm erst unmittelbar vor der Drucklegung der Biographie zugänglich wurden. Da er nur die Erscheinungszeit „vom 1. October bis Ende Dezember 1810" anführt, muß es sich um das gleiche Exemplar gehandelt haben, das später auch Köpke vorlag. Möglicherweise war es schon damals im Besitz Wendelin v. Maitzahns 105 . Innerhalb der kurzen, noch zur Verfügung stehenden Zeit war Bülow kein intensives Studium der Abendblätter möglich. Immerhin brachte er den Aufsatz Über das Marionettentheater (263-273) ans Licht, und von den unsignierten Beiträgen erkannte er instinktiv die Anekdote aus dem letzten preußischen Kriege (260-262) als ein Werk Kleists. Sein pauschales Urteil über Kleists Redaktionstätigkeit fällt negativ aus: „Er redigirte das Blatt ziemlich ungeschickt und wußte ihm nicht das mindeste öffentliche Interesse einzuhauchen" (S. XI). Hauptanteil an den gedruckten Quellen hat die Einleitung Tiecks zu den Gesammelten Schriften. Bülow verwertet ganze Passagen daraus, so die Auszüge aus den Briefen Kleists an die „edle, geistreiche Verwandte" (47, 22-51, 9 u. 62, 21-66,19) und Tiecks Charakteristik der „Zustände seines Gemüths" (16,21-19, 11) und der „letzten Szene seines traurigen Schicksals" (66, 20-71, 24). Daneben begegnen an verschiedenen Stellen Einschübe, deren Details der Einleitung entnommen sind: zu den Paris-Reisen (20, 1 - 7 u. 41, 23-29), zum Königsberger Aufenthalt (43, 9 - 2 7 ) , zur Gefangenschaft in Chalons sur Marne (47, 19-22), zu den Dichtungen der Dresdener Zeit (52, 13-20), der politischen Dichtung (55, 10-56, 6 in wörtlicher Wiedergabe) und den literarischen Arbeiten des letzten Berliner Jahres (57, 27-58, 7). An zwei Stellen ergänzt, bzw. korrigiert er Mitteilungen Tiecks: die Nachricht über die Tragödie Leopold von Österreich durch Aussagen Rühles (40, 28-41, 1) und den Bericht über Adam Müllers schlechten Vortrag Kleistscher Werke durch die Memoiren Friedrich Launs (54, 25-55, 9). Gelegentlich hat Bülow Tieck auch um Rat gefragt, wie aus der Äußerung über Kleist als möglichen Verfasser des Duodramas Die Liebe und die Freude ( X - X I ) hervorgeht. In einem Punkte allerdings scheint Tieck absolut verschwiegen geblieben zu sein: den Namen Marie von Kleists 106 hat er Bülow gegenüber niemals genannt. Trotz aller Abhängigkeit von Tieck und zahlreicher Textübernahmen war schließlich eine selbständige und weitgehend neu erarbeitete Biographie entstanden. Im Vorwort erklärt Bülow: „Als ich diesem, meinem verehrten Freunde, 105

106

Auf seinem Notizzettel für Rudolf Köpke vermerkt Maitzahn, daß Bülow „nicht alles von Kleist erkannt hat". - Vgl. zu den übrigen Abendblätter-Beiträgen S. 233-235 u. 263 f. dieser Arbeit. Dies geht aus der Notiz Bülows im Handexemplar seiner Biographie hervor, die sich auf das Manuskript der Aufzeichnungen von Wilhelm v. Schütz bezieht: „Alle vorstehenden Auszüge besitze ich von Wilh. v. Schütz Hand, an wen die Briefe gerichtet? an Schütz nicht, sagt Tieck" (Sembdner, Nachruhm, N r . 139b). - Da es sich bei dieser N o tiz um eine private Aufzeichnung handelt, ist kaum anzunehmen, daß Bülow seinerseits eine Mystifikation beabsichtigte.

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meine Arbeit vorlas, hatte ich die Freude, ihn erklären zu hören, daß er daraus zum erstenmal eine klare und vollständige Anschauung von Kleists Leben und Seelenzuständen erhalte" ( V I - V I I ) 1 0 7 . Zwar wird auch hier Tieck wiederum als Schutzpatron vorangeschickt, aber die Äußerung Tiecks könnte dem unmittelbaren Eindruck von der Vorlesung durchaus entsprechen. Bülow war den Tatsachen - soweit sie sich unter den damaligen Umständen überhaupt noch ermitteln ließen - einen bedeutenden Schritt näher gekommen und hatte vor allem durch die unbekannten Briefe einen neuen Weg zum Verständnis Kleists eröffnet. Es war Bülows Absicht, „diese Lebensskizze mit den vertrauten Briefen" schon im Herbst 1846 „als ein selbständiges Buch über Kleist erscheinen zu lassen". Die Begründung für den Zeitschriftenabdruck klingt einigermaßen plausibel: „nach reiferer Überlegung habe ich aber vorgezogen beides erst in Zeitblättern herauszugeben, um vielleicht späterhin, wenn mir das Glück so günstig seyn sollte, mir noch mehr Papiere oder Nachrichten von Kleist zuzuführen, eine desto größere Vollständigkeit zu erzielen" 1 0 8 . Der Erfolg allerdings war bescheiden. Die Informanten, auf die Bülow seine Hoffnung gesetzt hatte 1 0 9 , ließen sich dadurch nicht aus der Reserve locken; allein Varnhagen hat, wie bereits erwähnt, noch einiges zur Biographie beigetragen. Die folgenden Monate wurden von Bülow hauptsächlich zu einer stilistischen Überarbeitung des Textes genutzt 1 1 0 . Durch die Trennung der Briefe vom biographischen Teil gewann die Darstellung eine größere Geschlossenheit. Die Buchausgabe erschien bei W. Besser in Berlin, dem Verlag der von Viktor Aimé Huber herausgegebenen Zeitschrift Janus. Die Gründe für diese Verlagswahl Bülows bleiben dunkel. Reimer scheint nach dem Verzicht auf eine Erweiterung der Kleist-Ausgabe Tiecks von Bülow nicht mehr in Erwägung gezogen 107

108

D e r Rezensent in den Blättern für literarische Unterhaltung ( N r . 337, v. 2 . D e z . 1848, S. 1347) gesteht dagegen, daß er diesem Ausspruche Tiecks „nicht beistimmen" könne. „Eine psychologische Entwicklung des Charakters zu geben war bei dem Mangel ausreichenden Materials nicht möglich" (S. 1348). Monatsblätter zur Ergänzung der Allgemeinen Zeitung. N o v e m b e r 1846, S. 512.

109

Rätselhaft bleibt die Bemerkung (Kennzeichnung durch Kursivdruck von K K ) : „Eine schwache Hoffnung, welche ich früher hegte, von anderer Seite her Kleistsche Dichterreliquien mitgeteilt zu erhalten, ist mir nicht in Erfüllung gegangen, und es steht dahin, ob es der edlen Besitzerin je gefallen werde, sie zu veröffentlichen" (S. I X ) . Man denkt zunächst an Ulrike v. Kleist, zumal es in den Monatsblättern, also ein Jahr vor der Verweigerung der Briefe durch Ulrike, heißt: „Ich habe zwar die schwache Hoffnung, daß ein ganzer Koffer voll Papieren Kleists noch vorhanden ist; ob es aber der edlen Besitzerin je gefallen werde sie der Welt mitzuteilen, steht dahin" (S. 530). D o c h die versteckte Erwähnung Ulrikes („die natürlichste und wichtigste Quelle") eine Seite zuvor, läßt die Vermutung zweifelhaft erscheinen, auch wenn man vielleicht zwischen persönlichen Mitteilungen und Dichterreliquien unterscheiden muß. Wahrscheinlicher ist, daß es sich um eine andere Besitzerin, etwa die Tochter Marie v. Kleists, Luise von Stosch, gehandelt hat, in deren Nachlaß Minde-Pouet 1905 reiche Ernte hielt.

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Die vorbereitete Textsynopse konnte dieser Arbeit nicht beigegeben werden.

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worden zu sein 111 . Näher lag der Cotta-Verlag, da Bülow gerade in diesen Jahren engere Beziehungen zu Georg Cotta unterhielt. Johann Friedrich Cotta hatte einst Interesse für Kleist gezeigt und den Druck der Penthesilea nach dem „totalen Schiffbruch" 112 d e r H e r a u s g e b e r in den eigenen Verlag übernommen. Im Morgenblatt, das sowohl Weissers Schmähartikel als auch Fouques Gespräch über die Dichtergabe H. v. Kleists druckte, waren die verschiedenen literarischen Meinungen über Kleist zu Worte gekommen. Durch den Vorabdruck der Biographie hatten auch die Monatsblätter dazu beigetragen, das Verständnis für den Dichter in einer breiteren literarischen Öffentlichkeit zu fördern. Die Buchausgabe der Kleist-Biographie wäre ebenso im Verlage Georg Cottas denkbar gewesen. Bülows Briefe an Cotta enthalten keinerlei Hinweise auf Absicht und Drucklegung der Monatsblätter-Fassving; möglicherweise hat Bülow darüber mit Gustav Kolb korrespondiert 113 . Für die Übernahme der Biographie in den Verlag W. Besser könnten im Hinblick auf den Vorabdruck der Briefe in der Zeitschrift Janus rechtliche Gründe ausschlaggebend gewesen sein. Über die Verbreitung der Kleist-Biographie und ihre Publikumswirkung ließe sich erst an Hand von Absatzziffern Genaueres sagen. Daß aber das Schicksal Kleists gerade in der Zeit nach der Revolution von 1848 als aktuell empfunden wurde, zeigt das Urteil Hebbels, der anläßlich der Lektüre des Bülowschen Buches eine „Parallele zwischen den damaligen und den gegenwärtigen Zuständen" sieht und erklärt: „Es liegt in der Natur des Polizeistaats, daß er wohl für die Phrasen-Drechsler, die Geibel und wie die Königl. Preußischen Staats-Nachtigallen sonst heißen mögen, einen Platz hat, aber nicht für den Dichter, den wahren Ergründer und Darsteller der zeitlichen und ewigen Verhältnisse der Welt und des Lebens" 1 1 4 . Wenn zudem zwei angesehene und einflußreiche Rezensionszeitschriften wie das von Wolfgang Menzel redigierte Literaturblatt und das Londoner Athenaeum der Besprechung des Buches mehrere Spalten einräumten, so möchte man annehmen, daß es die literarischen Kreise, auf die es damals ankam, erreicht hat. Von der persönlichen Abneigung Wolfgang Menzels gegenüber Bülow, wie sie später in s a " . " Denkwürdigkeiten115 zum Ausdruck kommt, ist in der Buchan111

Im Aivhi\ Ues Verlages Walter de Gruyter haben sich keine Briefe Bülows an Reimer erhalten (freundliche Mitteilung v. Prof. Dr. Otto Neuendorff). - In einem Brief an Cotta v. 24. Januar 1848 äußert er sich aus Anlaß einer abgewiesenen gerichtlichen Klage der Witwe Fouques gegen Dümmler auch abfällig über Reimer: „Sonach kann also ein nachlässiger Verleger wie Dümmler, Reimer u. sc. einen Autor geradezu vernichten, indem er ihn bloß allzu gering druckt".

112

Vgl. Sembdner, Lebensspuren, Nr. 291a. Der Nachlaß G. Kolbs konnte nicht ermittelt werden. Brief Hebbels an H. Th. Rötscher vom 20. Februar 1849 (Briefe. Bd. 4, S. 147; vgl. auch Sembdner, Nachruhm, Nr. 306b). Wolfgang Menzel: Denkwürdigkeiten. Hrsg. v. Konrad Menzel. Bielefeld u. Leipzig 1877, S. 3 1 4 - 3 1 5 , zugleich mit einer Kritik an Luise v. Bülow, geb. Gräfin von Bülow-Dennewitz.

113 114

115

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zeige des Literaturblattes116

nichts zu spüren; sie galt dem „Literaten", den er

1846 durch eine Empfehlung Tiecks persönlich kennengelernt hatte, aber gering schätzte und als Dichter zu den „Schwächlingen" der neueren Literatur rechnete. Hier zollt er dem „fleißigen Sammler" Kleistscher Reliquien „für seine Mühe den aufrichtigsten D a n k " . Menzels Ausführungen lesen sich wie eine Kurzfassung der Biographie; sie sind eine exzerpthafte Wiedergabe mit eingeschobenen Briefzitaten und eine zwangsläufig pointierte Darstellung der Diskrepanz zwischen den „in hohem Grade genialen" poetischen Werken und der Zerrissenheit des „unglücklichen" Dichters. Wer auf den schon in den ersten Sätzen herausgestellten Zusammenhang zwischen dem „genialen Wahnsinn" Kleists und der „Verkommenheit und Schande deutscher Nation unter napoleonischer Herrschaft" achtet, wird auch hier eine versteckte politische Tendenz herauslesen. Sie entspricht dem Programm Menzels aus der bewegten Frühzeit des Literaturblattes.

Menzel hat

später offen bekannt: „Mein Literaturblatt sollte [ . . . ] die patriotische Gesinnung stärken, wo sie noch vorhanden war und wecken, wo sie schlief. Die Politik durfte ich freilich nicht voranstellen, das erlaubte die Zensur nicht. Doch habe ich keine Gelegenheit versäumt, in der Form von Bücherrecensionen politische Wahrheiten auszusprechen und schlechte Tendenzen zu bekämpfen" 1 1 7 . Die Erinnerung an die Tragik des Kleistschen Lebensweges gehörte zu den „politischen Wahrheiten" des Revolutionsjahres 1848. Der Rezensent des Athenaeum118

tritt dem Buch ein wenig herablassend entge-

gen: „It is somewhat late in the day to attempt to revive an interest in poor Kleist's wayward life and reckless death". Die nüchterne, stellenweise humorvolle Berichterstattung läßt keinen Zweifel, daß man jenseits des Kanals dem Werke Kleists wenig abgewinnen konnte. Es bestand eine gewisse Affinität zur Ritterromantik des Käthchen

von Heilbronn

und ein Interesse an der Rechtsproblematik

des Michael Kohlhaas wie des Prinz von Homburg; im übrigen war nur der Eindruck eines absonderlichen Lebensverhaltens haften geblieben, der Kleist als tragisch-kuriosen Fall zu betrachten erlaubte. Das von Bülow vorgelegte Material bestätigt somit längst Bekanntes: „ - that, in fact, there was a congenital flaw in his nature, which, if not amounting to constant or positive insanity, was ever pressing

116 117 118

Literaturblaw Nr. 91, v. 23. Dezember 1848, S. 361-364. Wolfgang Menzel, Denkwürdigkeiten, S. 237-238. The Athenaeum, Nr. 1140, v. 1. September 1849 (vgl. auch Sembdner, Nachruhm, Nr. 307, dort allerdings nur kurze Ausschnitte in deutscher Übersetzung). Bülows Werk diente elf Jahre später zusammen mit den von Tieck herausgegebenen Ausgewählten Schriften Kleists (1847) und der Kleist-Monographie von Saint-Rene Taillandier (1859) als Grundlage einer essayistischen Betrachtung des Lebens und der Werke Kleists in: The British Quarterly Review, London, Vol. 32 (1860) S. 367-389, an der der Stand der Kleist-Rezeption in England um die Mitte des 19. Jahrhunderts abgelesen werden kann. Auch zu diesem Beitrag wird Mary Howard (vgl. Tieck-Kapitel, Anm. 181) ausführlich Stellung nehmen.

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him towards its verge, and drove him beyond all control on any occasion of excitement". Die äußere Lebensgeschichte wird grob und fehlerhaft skizziert, dem neuen Briefmaterial wenig Beachtung geschenkt. Das Hauptinteresse des Rezensenten gilt der psychischen Disposition Kleists und den näheren Todesumständen, deren Schilderung die Hälfte der Besprechung einnimmt. Der englische Leser, soweit er das Buch selbst zu lesen nicht in der Lage war, erhielt auf diese Weise eine auf die Selbstmordfrage reduzierte Information: „a curious view of the whole extraordinary scene" und „details of a desperate tragic-comedy" - mehr mag ihn ohnehin kaum interessiert haben. Indem der Rezensent den Irrtum Henriettes, an einer unheilbaren Krankheit zu leiden, als „climax of this pitiable farce" herausstellt, zieht er den gemeinsamen Tod fast ins Makabre. Seine Zuneigung gilt der jungen grabpflegenden Emilie Holzmann, der „noch nichts von den Werken des hier ruhenden Todten bekannt war" 119 und die von Bülow „ein Exemplar derselben" erhalten hatte („We love sweet Emilia all the better for this ignorance"), und er konstatiert, daß anläßlich des düsteren Geschehens „grateful readers will bless the maiden hand that has blended with it a human interest in which all hearts may sympathize". - Bülows Zusammenstellung alles Wesentlichen und Wissenswerten über Kleists Leben wird zwar gewürdigt, aber eine leichte Ironie ist unverkennbar. Das abschließende Urteil über Kleist 120 war wenig geeignet, Kleist in England heimisch zu machen. Hieran wird deutlich, wie sehr es der nationalen Komponente bedurfte, um Kleist als Dichter durchzusetzen. Es seien noch einige Bemerkungen über den Nachlaß Bülows angeschlossen. Bülow hat Tieck nur einen Teil der ihm überlassenen Papiere wieder zurückgegeben, darunter die Kopien der politischen Schriften, die später in den Besitz Köpkes kamen. Der Brief Kleists an Martini und der Brief an Sophie Müller sind seitdem verschollen. Daß Bülow kurz nach Abschluß der Biographie Blätter der Original-Handschrift des Katechismus der Deutschen teils verschenkt, teils dem Autographenhandel zugeführt hat, ist durch einen Brief des Autographenhändlers Anton Baer an Eduard von Simson121 bekannt geworden. Uber Art und Umfang seines Nachlasses sind nur unklare Vorstellungen zu gewinnen. Köpkes Nachforschungen wenige Monate nach dem Tode Bülows bezogen sich - ausgelöst durch

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Vgl. Bülow, Heinrich v. Kleist's Leben und Briefe, S. 81. „We close the record with pity for one who scarcely appears to have been at any time an accountable being: regretting that a fine (if not a superior) genius, with which nature had certainly endowed him, should have been overlaid by a disorganized moral structure, through which it could never freely play, but only came out at best in sudden flames, - its light intercepted by perverse fancies, and its fire hurried into mere smoke by the gusts of passion". Brief vom 18. Januar 1849 (vgl. Sembdner, Nachruhm, Nr. 175 nach dem Original im Schiller-Nationalmuseum, Marbach a. N.).

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eine Bitte des Verlegers Brockhaus - zunächst nur auf „Tiecksche Papiere" 1 2 2 , die sich - wie ihm Agnes Alberti-Tieck mitgeteilt hatte - in den Händen Bülows befanden. Luise von Bülow verwies Köpke an ihren Stiefsohn Hans von Bülow, von dem K ö p k e allerdings nichts erhalten zu haben scheint. Die Familie von Bülow befürchtete Indiskretionen. A m 16. September 1854 schreibt Luise von Bülow an Köpke, nachdem ihr das Gerücht zu Ohren gekommen war, dieser habe die Bearbeitung des Tieckschen Nachlasses aufgegeben und das Material sei durch Frau Alberti in die Hände eines Breslauer Buchhändlers gelangt: „Sehr bedaure ich bis heute, daß mein Stiefsohn sich Ihnen in Rücksicht der Papiere, die Sie von mir wünschten, nicht gefälliger erwiesen hat - Sie hätten die Ihnen anvertrauten Sachen keines Falls fremden Händen übergeben. Dabei berühre ich noch eine Sorge, die mir Frau v. Bülow vor einiger Zeit aus Dresden mittheilte, daß sich nehmlich unter dem Tieckschen Nachlasse viele Briefe finden möchten, die unsere Familien-Verhältnisse sehr ausführlich berühren - die wir große Scheu tragen würden erst welchen fremden, uns unbekannten Händen zu überlassen, dagegen wir sie bei Ihnen unter gewissenhafter Verwahrung wußten Können Sie uns über diesen Punkt etwas Beruhigendes mittheilen?" 1 2 3 - K ö p k e klärte das Mißverständnis auf und zeigte, das Verhältnis Bülows zu Tieck betreffend, größte Zurückhaltung. So konnte Luise von Bülow am 25. Oktober 1854 antworten: „Was Sie mir zur Beruhigung über etwaige Indiskretionen sagen, die bei Herausgabe des Tieckschen Briefwechsels unsere Familie berühren könnten, befriedigt mich durchaus. Agnes Alberti wird jede Unannehmlichkeit vermeiden die Personen betreffen könnte, welche einen Kultus daraus machen ihren Vater zu verehren u. zu lieben" 1 2 4 . Holtei veröffentlichte 1864 nur einen einzigen Brief Bü-

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A m 26. N o v e m b e r 1853 schreibt Heinrich Brockhaus an K ö p k e : „ e s wäre zu wünschen bestimmt zu wissen, ob in dem Nachlasse H r n . von Bülow's irgend etwas zur Herausgabe Bestimmtes und Reifes über Tieck sich vorfindet, sowie was seine Erben mit etwaigen Mittheilungen über Tieck, die sich vorfinden möchten, bezwecken. Ich halte es für sehr leicht hierüber Gewißheit zu erhalten wenn Sie, verehrter H e r r Professor, oder Madame Alberti sofort an Frau von B ü l o w schreiben und um eine schnelle bestimmte Antwort bitten". (Unveröffentlicht im Köpke-Nachlaß des Literaturarchivs, jetzt: Zentrales Archiv der Akademie der Wissenschaften der D D R , Berlin. Mitgeteilt mit freundlicher Erlaubnis v. Frau D r . Kirsten). Köpke-Nachlaß des Literaturarchivs. - A m 10. April 1854 hatte Luise von B ü l o w geschrieben: „ I c h [ . . . ] bedaure nur, die gewünschten Tieckschen Papiere jetzt bei meiner Abreise, die in den nächsten Tagen statt findet, nicht hinzufügen zu können. Schuld daran ist mein Stiefsohn H a n s Bülow, dem ich Alles was von Manuskripten seinem Vater angehörte, übergeben habe. Er konnte sich nicht entschließen ohne eigene Durchsicht, Ihnen, geehrter D o k t o r , die Tieck-Papiere zu übergeben. N u n führt er ein so unstetes Leben, daß ich ihm die Papiere nirgend sicher nach zu senden wußte; erst jetzt, da er seit kurzer Zeit bei seiner Mutter in Dresden ist, habe ich es wagen können - bitte Sie nun sich schriftlich an meinen Sohn zu wenden, der, wie ich nicht zweifle, sogleich Ihrem Wunsche die Papiere durch zu sehen, willfahren wird". Köpke-Nachlaß des Literaturarchivs. - Vgl. über das Projekt, die im Nachlaß Tiecks

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lows an Tieck. Erst 1954 kamen Tiecks Briefe an Bülow im Antiquariatshandel zum Vorschein 125 . Im Zusammenhang mit der Abfassung seiner Tieck-Biographie hat Köpke bei Luise von Bülow auch persönlich vorgesprochen, um festzustellen, wie weit Bülow den Plan eines Erinnerungsbuches über Tieck ausgeführt hatte 126 . Möglicherweise hat er anläßlich der Herausgabe Act Politischen Schriften Kleists noch einmal Kontakt mit der Familie von Bülow aufgenommen 127 , doch wurde ihm offensichtlich kein Kleist-Material überliefert. Abgesehen von dem Fund des Handexemplars im Jahre 1902 finden sich erst in den zwanziger Jahren Spuren des Bülowschen Nachlasses: die an Bülow gerichteten Briefe Varnhagens 128 , Kleists Fragment Zeitgenossen129 und wahrscheinlich auch die 1923 in London aufgetauchten Aufzeichnungen von Wilhelm von Schütz. Als Erben lassen sich Hans von Bülow (Briefe Varnhagens), Dietrich von Bülow (Handexemplar) und Waldemar Frege (Zeitgenossen) ermitteln. Die Hoffnung, daß weitere Kleist-Manuskripte aus diesen Quellen ans Licht kommen würden, hat sich nicht erfüllt130.

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vorhandenen „Briefe an Tieck" beim Breslauer Verleger Max herauszugeben, das Köpke-Kapitel, S. 223f. dieser Arbeit, Anm. 1 3 - 1 5 . Auktionskatalog 109 v. Emst Hauswedell. Vgl. hierzu Segebrecht, S. 385. Vgl. Heinrich Lüdeke von Möllendorf: Aus Tiecks Novellen/eil. linefwechsel zwischen Ludwig Tieck und F. A. Brockhaus. Leipzig 1928. (Aus d. Archiv F . A. Brockhaus. 3) S. 203: „Besuche bei der Witwe und spätere Überlegung überzeugen ihn, daß, obwohl er das Manuskript nicht gesehen hat, es nicht bedeutend sein könne und daß Bülows Plan nie ausgeführt wurde". Vgl. hierzu auch Segebrecht a.a.O., S. 395. Vgl. die Einleitung Röpkes zu Kleists Politischen Schriften, S. 7: „Von Tieck hatte Bülow diese Papiere erhalten; im Nachlasse des einen oder des andern mußten sie aufbewahrt sein". Julius Petersen (Jahrbuch d. Kleist-Ges. 1923/24, S. 137) bemerkt hierzu: „ Die [ . . . ] Antwort Varnhagens ist in die Autographensammlung von Karl Hillebrand gekommen, der mit Hans v. Bülow, [ . . . ] befreundet war. Sie befindet sich gegenwärtig im Besitz von Frl. Meta Sattler in Bremen. Eine Abschrift ist mir durch die Freundlichkeit des Herrn stud. phil. Paul Sattler in Göttingen zugegangen [ . . . ] " . Vgl. Analytische Bibliographie der Werke, Nr. 99. Später wurde noch der Brief Spiekers an Bülow der Stadt Frankfurt/Oder zum Verkauf angeboten (vgl. Anm. 68).

4. Kapitel Kleist als Demonstrationsobjekt eines Altphilologen Theodor Gomperz Es ist bezeichnend für den Stand der deutschen Philologie um die Mitte des 19. Jahrhunderts, daß der erste Kritiker des von Tieck konstituierten Kleist-Textes aus dem Lager der klassischen Philologen kam. Ungewöhnlich mag erscheinen, daß sich Kritik und Verbesserungsvorschläge in der von Gustav Frey tag und Julian Schmidt herausgegebenen Zeitschrift Die Grenzboten finden 1 ; in unmittelbarer Nachbarschaft einer Attacke gegen das Glücksspiel und Berichten über eine Akademierede Salvandys und die Unterdrückung deutscher Minderheiten in Schleswig wirken solche Erörterungen deplaziert. Doch sind sie im Zusammenhang mit der Tages- und Kulturpolitik der Zeitschrift zu sehen. Julian Schmidt, auch persönlich an Kleist interessiert, wollte sein Publikum, welches „mehr ans Räsonnieren als ans Studieren gewöhnt" war, u.a. durch textkritische Exkurse „aufs wirkliche Lesen" hinweisen 2 ; ein „Mann vom Fach" wie Theodor Gomperz mußte ihm willkommen sein. Theodor Gomperz 3 stammte aus Brünn und hatte sich in Wien dem Studium der alten Sprachen und der klassischen Philosophie gewidmet, ohne einen „formellen Abschluß" zu suchen - „unmerklich ging der Student in den Privatgelehrten über" 4 . In den Revolutionstagen von 1848 beschäftigten ihn die „radikalen Schriften nicht nur von Börne, sondern auch von Gustav Struve und Karl Heinzen". Die Grenzboten schätzte er schon vor seiner Bekanntschaft mit den Herausgebern. So schrieb er am 29. Januar 1849 an seinen Bruder Carl: 5 „Ich habe noch nie 1

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Emendationen zu den Werken Heinrichs von Kleist. In: Die Grenzboten. Zeitschrift für Politik undLiteratur. Jg. 13,2. Sem., Bd. 3,1854, S. 3 9 4 - 3 9 9 , 4 3 3 - 4 3 5 , der erste Teil unter der Rubrik Literatur, der zweite Teil unter der Rubrik Wochenbericht. Julian Schmidt benutzt diese Formulierungen im Zusammenhang mit der Vorbereitung der 5. Auflage seiner Literaturgeschichte (Briefe an Gustav Freytag, Nr. 32, in: Nachlaß Gustav Freytag, Konvolut Julian Schmidt, Deutsche Staatsbibliothek Berlin). Theodor Gomperz (29. März 1832-29. August 1912). Biographischer Abriß in: Neue Dt. Biographie 6 (1964) S. 6 4 1 - 6 4 2 (Albin Lesky). Zitate aus: Theodor Gomperz, Essays und Erinnerungen. Mit einem Bild des Verfassers von Franz von Lenbach (Stuttgart u. Leipzig 1905). Dort gibt Gomperz (S. 2 7 - 3 0 ) eine kurze Schilderung seines Aufenthaltes in Leipzig, seiner Redaktionstätigkeit für die Grenzboten und eine Charakteristik Julian Schmidts. - Wird zitiert: Gomperz, Erinnerungen. Heinrich Gomperz: Theodor Gomperz. Briefe und Aufzeichnungen, ausgewählt, erläu-

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ein Blatt gefunden, dessen Tendenz mir so zugesagt hätte, wie dieses, welches die aufrichtigste demokratische Gesinnung mit nüchterner Betrachtung & gesunder Beurtheilung der Dinge verbindet". Am 4. August 1852 war er von Eduard Wessel, einem Studienfreunde Schmidts, diesem „ebenso dringend als angelegentlich" 6 empfohlen worden; 1853 kam es in Leipzig zur ersten persönlichen Begegnung. Vom Frühjahr 1854 bis zum 1. April 1855 warGomperzin Leipzig ansässig, um seine „langgehegte Absicht, das außerösterreichische Deutschland kennen zu lernen" 7 , in die Tat umzusetzen. Während dieser Zeit stand er in näherer Beziehung zu den Grenzboten; im Sommer 1854 vertrat er Schmidt sogar als Herausgeber und wurde, weil er den Verfasser eines politisch anstößigen Beitrages nicht preisgab, in einen Prozeß verwickelt, der ihm 6 Wochen Haft eintrug, die allerdings „durch einen königlichen Gnadenakt in eine Geldstrafe umgewandelt wurden" 8 . Er fühlte sich Julian Schmidt verbunden „in seiner Freiheitsliebe sowie in seinen außenpolitischen Neigungen und Zielen: in dem Abscheu vor dem damaligen Rußland als dem Hort unbeschränkter Fürstenmacht und damit der ,Barbarei', in der (bei Th. G . wohl vor allem vernünftiger Einsicht verdankten, bei J. Schm. wohl auch durch sein vaterländisches Empfinden genährten) Uberzeugung, daß die Einigung Deutschlands nur unter preußischer Führung zu erwarten sei, zugleich aber in dem Kampf gegen den damals in Preußen herrschenden, in der Regierung Manteuffels verkörperten ,Rückschritt'" 9 . Politik und Wissenschaft waren für Gomperz in den Tagen des Krimkrieges und der Machtentfaltung des zweiten französischen Kaiserreiches keine getrennten Lebensbereiche. Distanzierte er sich von dem „unheilvollen großdeutschen Ideal", so war er andererseits auch dem Großösterreichertum „früh entfremdet" 10 . Da er jüdischen Glaubens war, blieb ihm durch das Konkordat die Laufbahn des Hochschullehrers lange verschlossen. Doch gestattete wirtschaftliche Unabhängigkeit ihm ein Gelehrtendasein. So stand sein Jünglingsalter „unter dem Drucke der Aussichtslosigkeit, die nicht mit Mittellosigkeit gepaart war" 1 1 . tert und zu einer Darstellung seines Lebens verknüpft. Bd. 1: 1832-1868 (Wien 1936) S. 61. [Mehr nicht erschienen.] Vgl. auch die Bemerkungen über die Emendationen zu den Werken Kleists, S. 148-152. - Wird zitiert: Gomperz, Briefe. 6 Brief an Julian Schmidt in: Gomperz, Briefe, S. 114. 7 Gomperz, Erinnerungen, S. 27. Uber seine erste Begegnung mit Julian Schmidt schreibt Gomperz an seine Schwestern Josephine und Minna: „Ich habe in fast fortwährendem zweitägigem Verkehr mit diesem trefflichen Manne wahren Hochgenuss und nebenbei auch die Uberzeugung gefunden, dass ich mit meinen Tendenzen und Gesinnungen auch nicht eben bis an mein Lebensende isoliert fortvegetieren muss [ . . . ] " (3. September 1853, Gomperz, Briefe, S. 128). 8 Gomperz, Erinnerungen, S. 29-30 und Gomperz, Briefe, S. 153 (Zitat). Der Verfasser war ein „bejahrter Familienvater", den „eine etwaige Ausweisung um sein Brot gebracht hätte". 9 Gomperz, Briefe, S. 154. 1 0 Gomperz, Erinnerungen, S. 22. 1 1 Gomperz, Erinnerungen, S. 24.

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Die Emendationen zu Kleist, anonym veröffentlicht 12 und überhaupt „die erste seiner Arbeiten, die im Druck erschien" 13 , dürfen nicht mit dem Maßstab gemessen werden, den man an Gomperz' spätere Arbeiten anzulegen gewohnt ist. Er selbst nennt sie in einem Brief an seine Schwester Josephine vom 21. September 1854 „Bagatellen", die lediglich das Verdienst haben, „daß sie dem unklassischen Publikum einmal an einem neueren Dichter zeigen, was das eigentliche Geschäft der Philologen an den alten ist" 1 4 . Sie sind dennoch mehr als eine Jugendsünde'. Julian Schmidt hat eine Reihe von Verbesserungen in seine Kleist-Ausgabe übernommen, aber einige davon in der zweiten Auflage wieder rückgängig gemacht. Trotz der Kritik Reinhold Köhlers an den von Gomperz leichtfertig vorgenommenen Texteingriffen hat noch Erich Schmidt sich mit den Emendationen auseinandergesetzt und abweichende Meinungen ausführlich begründet. Gerade in den Fällen, in denen Irrtümer Gomperz' offensichtlich sind, lohnt auch heute eine Beschäftigung mit diesen Texteingriffen. Sie zeigen, wie hier ein Altphilologe seinen an völlig anderen Uberlieferungsverhältnissen geschulten Scharfsinn aufbietet, aber dabei die Eigentümlichkeiten des Textes und den speziellen Sprachgebrauch des Dichters vielfach verkennt, weil sich die textkritische Methode bereits verselbständigt hatte und vorzüglich jüngere Adepten dieser vielbewunderten Wissenschaft zur Konjekturalkritik verleitete. Sie zeigen zugleich, wie eng heute der Spielraum für Emendationen auf dem Gebiete der neueren deutschen Philologie geworden ist. Gomperz lag Tiecks Kleist-Ausgabe von 1826 vor; daneben nahm er Einblick in die Erstausgabe der Penthesilea, die sich für ihn „geradezu wie ein sehr verderbter alter Text" las l s , und die der Familie Schroffenstein, die nach seiner Auffassung „ungleich besser gerathen" war 16 . Von seinen 43 Emendationen sind heute zehn als eindeutige Verbesserungen 17 anerkannt. Julian Schmidt übernahm 34 in seine Kleist-Ausgabe (1859), machte aber in der zweiten Auflage (1863) sieben davon wieder rückgängig; neun Konjekturen wurden von ihm nicht akzeptiert, wobei er an zwei Stellen eigene Textverbesserungen vornahm. Bemerkenswert ist, daß Gomperz bei sieben heute abgelehnten Emendationen die Zustimmung Reinhold Köhlers fand und daß Zolling vier davon nebst drei weiteren in seine Ausgabe aufnahm. 12

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Die Verfasserschaft blieb anfangs unklar. Reinhold Köhler (Zu Heinrich von Kleist's Werken. Weimar 1862, S. VII) schrieb noch: „Von Gomperz, wenn nicht von Schmidt selbst müssen die .Emendationen' herrühren, die ich zuweilen zitieren werde". Gomperz, Briefe, S. 148. Gomperz, Briefe, S. 180/181. Grenzboten Jg. 13, 2. Sem., Bd. 3, 1854, S. 395. Grenzboten Jg. 13, 2. Sem., Bd. 3, 1854, S. 433. Guiskard V. 384: blassen Hemde] bloßen Hemde Amph. V. 1308: zehn Todten] zehn Toden Amph. V. 2283: in Nacht geschrieben] in die Nacht geschrieben Penth. V. 94: des Aeginers schimmernder Gestalt] des Aeginers schimmernde Gestalt (Julian Schmidt dagegen druckt noch: des Aeginers schimmernder Gestalt) Penth. V. 249: Auch uns] Auf uns Penth. V. 1426: von Elephantenthurm] vom Elephantenthurm Penth. V. 1987: Die

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Gomperz' allzu selbstsichere Haltung äußert sich im weitgehenden Verzicht auf eine ausführliche Argumentation; nur in 16 Fällen sind nähere Begründungen vermerkt. Formulierungen wie „es hieß natürlich", „es hieß offenbar", „es heißt augenscheinlich" oder „es muß heißen" suggerieren dem Leser Entscheidungen, ohne an sein kritisches Bewußtsein zu appellieren. Um die Grenzen editorischer Freiheit abzustecken, lohnt es sich, die Fehlinterpretationen einmal näher anzusehen 18 . 1. Die von Julian Schmidt übernommenen Lesungen: Familie Schroffenstein V. 724: „der Kranz ist ein vollendet Weib". — Hierzu bemerkt Gomperz: „Das kann unter Umständen sehr poetisch sein, an dieser Stelle und aus dem Munde der Agnes ist es sinnlos. Es heißt natürlich: ,Der Kranz ist ein vollendet Werk'" (S. 433). R. Köhler (S. 4) stimmt Gomperz zu, „denn Weib gibt keinen Sinn"; auch Zolling entscheidet sich für „Werk". Erich Schmidt, Kleist einen „so steifen Ausdruck für ,fertig' oder vollkommen'" nicht recht zutrauend, hält „Weib" - auch in der Handschrift belegt, aber von Zolling19 fälschlich als „Werk" gelesen - „für keinen Schreibfehler", obgleich er zugesteht, daß dies „eine sehr gesuchte Sentenz" sei. Seine Erklärung, die „Harmonie des Kranzes" stelle „ein Frauenideal" dar, wurde von Alexander Dombrowsky 20 angezweifelt; nach seiner Interpretation taucht in der Rede der Agnes „für einen Moment, gehalten durch den in jedem Fall gequälten Vergleich" die Anschauung auf, daß „der Kranz sich selber gewunden hat und darbietet". Zwingender als diese Erklärungsversuche ist Helmut Sembdners Hinweis auf zwei zeitgenössische Rezensionen 21 , in denen diese Verse „besonders gerühmt", das heißt doch wohl als sehr poetisch empfunden wurden. - Auch der rhetorische Aufbau der Verse verdient Interesse: die Argumentation der Agnes mit der Parallelführung von V. 718/719: „Ein Weib/Scheut keine Mühe" und V. 723/724: „Nun,/Der Kranz ist ein vollendet Weib" hat etwas typisch Kleistisches. Amphitryon V. 905: „Warum ergreift Bestürzung ihn, Entgeisterung". - Für das „auch metrisch unmögliche Entgeisterung" möchte Gomperz (S. 433) „Entgeistung" setzen. Der nicht ganz exakt gebaute Vers ist jedoch kein echtes Kriterium; das überzählige e kann beim Sprechen so entlastet werden, daß sich das Metrum von selbst wieder herstellt. R. Köhler (S. 37) belegt „Entgeisterung" Fraun] Die Frauen Penth. V . 2 0 8 7 : In jenem ersten W o r t ] In jedem ersten W o r t Käthchen V . 7 1 3 : Jugend] Tugend Prinz v. H o m b u r g V. 9 0 5 : Tyrannenreiche] Tyrannenreihe. 18

Verszählung, falls nicht anders vermerkt, nach Helmut Sembdner. Die Stellenangaben in den Ausgaben Julian Schmidts, Zollings und Erich Schmidts erübrigen sich weitgehend.

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Auch Eugen Wolff (Zeitschrift für Bücherfreunde J g . 2, 1898, S. 2 3 8 ) liest fälschlich „ W e r k " und hält das W o r t für ein „Mißverständnis" der Redaktoren der Erstausgabe. Zur Interpretation zweier Kleist-Verse. Euphorion 16 (1909) S. 180. Ludwig Ferdinand Huber (DerFreimüthigev. 4. März 1803) und Josef Görres (Aurora v. 12. Okt. 1840); vgl. Sembdner, Lebensspuren, N r . 9 8 a u. 135.

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mit zwei Stellen im Grimmschen Wörterbuch und verweist dazu noch auf Amphitryon V. 140: „Es könnt entgeisternder mir nicht sein Anblick sein". Penthesilea V. 232: „erfindungsreicher Larissäer". - Gomperz (S. 395) stellt die Suggestivfrage: „ist wol aus ,Laertäer' verdorben?" Der „Fehler" - auch in der Handschrift und im Phöbus auftretend - geht auf Kleist, nicht auf den Setzer (oder Tieck) zurück, worauf schon R. Köhler (S. 11/12) aufmerksam macht. Es handelt sich um „eine Verwechslung des ,Laertiaden' (V. 210) mit Virgils Larissaeus (Äneis II, 196)" (Erich Schmidt). Die Wahrscheinlichkeit, daß Kleist sich „dunkel des Beiwortes ,Larissaeus', das Achilles bei Virgil führt, erinnerte und es fälschlich dem Odysseus gab" (R. Köhler), ist so groß, daß die Interpretationsmöglichkeiten nicht durch eine solche „Fehlerbeseitigung" eingeengt werden dürfen. Penthesilea V. 503: Achilles zu den beiden Griechen, die ihm den Arm verbinden wollen, d.h. „ihn mit ihrem Geschäft zu belästigen scheinen": „Was neckt ihr?" - Gomperz vereinfacht zu: „Was macht ihr?" (S. 396) und übersieht das Wortfeld: belästigen - Narren - necken. Penthesilea V. 606: „Auf Küssen heiß von Erz". - Gomperz, dem diese „alte, im 18. Jahrhundert noch vorwiegende Form" von Kissen nicht geläufig war, setzt hier (ebenso wie später Zolling) sinngemäß ,Jüssen". Erich Schmidt und Helmut Sembdner konservieren die von Kleist „sonst nicht benutzte", aber auch in der Handschrift auftretende Form und schließen durch eine Worterklärung naheliegende Mißverständnisse aus. Penthesilea V. 720: „Verflucht das Herz, das sich nicht mäß'gen kann". - Gomperz erwägt: „Verflucht das Herz, das sich noch mäß'gen kann" (S. 397), da nach der erregten Rede Penthesileas „natürlich das Entgegengesetzte zu erwarten" sei. R. Köhler (S. 15) behauptet sogar, daß „dieses ,nicht' im Zusammenhangdurchaus keinen passenden Sinn gibt". Während Erich Schmidt das „nicht mäß'gen" mit der Erklärung begründet, Penthesilea breche ihre Rede mit diesen Worten „erschöpft" ab, spricht der Fortgang der Szene - nach Karl SchultzeJahde 2 2 - „nicht für eine Erschöpfung", vielmehr liege „gerade sich bäumender Hybrisstolz in dieser ganzen Stelle" 23 . Die Verständnisschwierigkeiten sind eine Folge der Auffassung, es handle sich hier um einen „selbständigen Ausbruch". Betrachtet man die Rede der Penthesilea (V. 682-720) im Zusammenhang und bezieht man V. 720 in letzter Konsequenz auf den von Penthesilea 22 23

Jahrbuch der Kleist-Gesellschaft 1925/26, S. 1 3 3 - 1 3 4 . Karl Schultze-Jahde hat seine Ansicht später modifiziert (Penthesilea 720 u. 747, in: Archiv f. d. Studium d. neueren Sprachen Jg. 91, Bd. 169, 1936, S. 9 - 1 7 ) . Gegenüber Wolfgang von Einsiedel, der den Vers als „Verzweiflungsausbruch" deutet (Die dramatische Charaktergestaltung bei H . v. Kleist, 1931, S. 16), sieht er ihn „völlig im Zuge der vorangehenden Rede gedacht". Penthesilea ahnt, daß „sich etwas in ihr vorbereitet, was ihr nicht klar zum Bewußtsein kommt, ihr aber als Vorstellung von Maßlosigkeit aufdämmert". So verstanden, wäre er als „tragische Vordeutung" aufzufassen.

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selbst gebrauchten Ausdruck „ich Rasende" (V. 707), so ist das „nicht mäß'gen" - sowohl durch die Handschrift als auch durch den Phöbus- und Erstdruck gesichert - leicht im Sinne von: „Ich weiß - aber ich kann nicht anders" zu interpretieren. Das hat schon Zolling (II, 316) erkannt: „Die Änderung, obgleich sie einen bessern Sinn herstellt, ist nicht zu rechtfertigen. Wir haben die Worte als eine Äußerung plötzlich hervorbrechender Selbsterkenntnis aufzufassen". An dieser Erklärung fällt auf, daß sie einen Gegensatz von „besserem Sinn" und textgemäßem Verständnis bewußt zu machen versucht. Penthesilea V. 1258: „Pfeil und Wangen". - Die Berechtigung der Konjektur „Pfeil und Wagen" bedarf nach Gomperz (S. 397) „kaum einer Erwähnung". Auch R. Köhler (S. 19) nennt die Änderung „notwendig und treffend". Sie ist aber, wie Erich Schmidt richtig bemerkt, „unnütz", denn Penthesilea „spricht von den wirklichen Waffen und den sonst siegenden Reizen des Weibes". Auch hier zeigt sich, wie punktuell Gomperz bei seinen „Verbesserungen" vorgeht. Der Zusammenhang dieses Verses mit V. 1253 („Staub lieber, als ein Weib sein, das nicht reizt") ist ihm entgangen. Penthesilea V. 1660-1661: „Wie ich ein Fest jetzt göttlicher, als der/Olymp durchjubelte, verherrliche". - Für „der Olymp" ist laut Gomperz (S. 397) „natürlich ,den [Olymp]' zu lesen". Kleist jedoch faßt „Olymp" als Götterversammlung, d . h . Gesamtheit der Götter auf 2 4 . Penthesilea V. 2636: „ U n d steht, von einer Schar schon abgeschnitten". - Gomperz (S. 398) bezieht „Schar" auf die Getreuen des Achill und ergänzt: „vonsezner Schar" 25 . Er übersieht in diesem Bericht der Meroe den entscheidenden Ausgangspunkt, Penthesileas Schlachtgang: „Sie zog dem Jüngling, den sie liebt, entgegen / . . . Mit allen Schrecknissen der Waffen rüstend. / Von Hunden rings umheult und Elefanten,/Kam sie daher, den Bogen in der Hand" (V. 2606 u. 2610-2612). Schon V. 2625 heißt es von Achill: „ U n d läßt die Freunde hinter sich zurück". Im Zusammenhang mit V. 2635: „Und will zurück noch zu den Freunden fliehn", kann „von einer Schar schon abgeschnitten" sich nur auf eine der Gruppen um Penthesilea beziehen. Penthesilea V. 2706: „Dem dürren Reif des Hag'dorns eingewebt". - Gomperz (S. 398) verändert „Reif" in ,Jteis". Schon Zolling verweist auf ein Zitat aus Shakespeares King Lear (IV, 4). Gomperz verkennt den poetischen Wechselbezug von Reif und Kranz und hält sich an das materiell Gegenständliche des Hagedorns 2 6 . 24

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R. Köhler (S. 21) kleidet seine Kritik an Gomperz und Julian Schmidt in eine Frage: „Aber kann man nicht recht gut sagen: der Olymp (d. h. die olympischen Götter) durchjubelt ein Fest?" Zolling (II, 413) setzt ohne Angabe von Gründen: „seiner Schar" in den Text und weist lediglich in der Fußnote auf die h.imUohriftliche Fassung („einer") - nicht aber auf die gleiche Form im Erstdruck - hin. R. Köhler (S. 27): „eine ganz unnötige Änderung".

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Penthesilea V . 2888: „Doch ein Verräter ist die Kunst der Schützen". Gomperz (S. 398) möchte das Sentenziöse der Aussage durch die Änderung in: „Kunst des Schützen" verstärken. Dieser Singular-Bezug erscheint nicht zwingend, da Penthesilea ihre Rede im Plural fortsetzt: „Und gilts den Meisterschuß ins Herz des Glückes,/So führen tücksche Götter uns die Hand". Hermannsschlacht V. 1722: „Warum setzt' er Thuiskon mir in Brand?" - Gomperz (S. 434-435) argumentiert, der Centurio habe keineswegs Thuiskon in Brand gesetzt, „sondern half retten mit Gefahr seines Lebens". Obgleich Gomperz mit seiner Frage „ist vielleicht pars pro toto, der eine für die vielen Römer zu nehmen?" der Erklärung des Verses nahe kommt, ändert er die Stelle in: „Warum setzt' er Thuiskon nicht in Brand?" und fügt hinzu, daß dieser Gedanke „für keinen Leser ¿er Hermannsschlacht einer Erklärung bedarf". R. Köhler (S. 71) entgegnet: „Aber der Centurio konnte recht gut Thuiskon anzünden, und dann doch beim Brande ein Kind auf das Jammern der Mutter retten. Der Sinn der letzten Worte Herrmann's ist: Was geht mich die einzelne gute Tat des Menschen an, da er doch im allgemeinen als Feind gehandelt hat?" Prinz von Homburg V. 3 5 5 - 3 5 7 : „Nun denn, auf deiner Kugel, Ungeheures,/Du, der der Windes Hauch den Schleier heut,/Gleich einem Segel lüftet, roll' heran!" (Handschrift). - Gomperz (S. 434) verbessert die schon bei Tieck korrupte Stelle: „Du, der den Windeshauch" in: „Du, dem der Windeshauch". Auf „Ungeheures" bezogen, ist die auch von R . Köhler (S. 59) und Zolling gebilligte Konjektur zwar grammatikalisch einwandfrei, doch entspricht sie nicht dem Sinne des Monologs, der an Fortuna- durch Kugel, Schleier und Füllhorn symbolisiert - gerichtet ist. Der Ubergang zum Femininum „Du, der" erklärt sich nach Erich Schmidt „aus Kleists Hinblick auf solche Abbildungen der mit geblähtem Schleier auf einer Kugel rollenden Fortuna durch Jost Ammann und viele andere". Eine erneute Kollationierung der Handschrift durch I.-M. Barth ergab, daß der Beurteilung der Stelle die Schreibung Windes Hauch (statt: Windeshauch) zugrunde zu legen ist, die allerdings die Konjektur „Du, der des Windes Hauch" notwendig macht. In drei Fällen ist auch Erich Schmidt den von Gomperz vorgeschlagenen Konjekturen gefolgt, während Helmut Sembdner sich anders entscheidet: Familie Schroffenstein V. 789 (Erstdruck): Agnes: Gleich, wer er ist. Ottokar: Ich will es heute noch. Kehre wieder. In der Handschrift ist die Stelle abweichend überliefert: Ignez: Gleich, wer er ist. Rodrigo: Ich will es nächstens. Kehre wieder. Bei der Redaktion 27 des Stückes für die Druckfassung wurde also „nächstens"

27

Hier eine „Verkürzung des Zeitverlaufs", nach Tino Kaiser (Vergleich der verschiedenen

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in „heute noch" geändert, wodurch eine metrische Ungenauigkeit in den Vers kam. G o m p e r z (S. 433) verbessert den Vers durch Apostrophierung des „heute noch" zu „heut' noch"; Zolling und Erich Schmidt folgen ihm hierin. Helmut Sembdner 2 8 ist dagegen der Auffassung, die Tilgung des e sei vergessen worden; er kürzt ,Jiehre wieder" zu „Kehr wieder". Analog dem dreimaligen „ L e b ' wohl" (V. 780, 784, 787) erscheint diese F o r m der Uberlieferung eher angemessen; die Änderung von „nächstens" in „heute noch" hat Vorrang vor dem metrischen Ausgleich. Offen bleibt die Frage, ob die zeitliche Bestimmung „heute noch" oder das affektbetonte „Kehre wieder" die stärkere Hervorhebung verdient. Amphitryon V. 2 1 5 6 - 2 1 5 7 : „ D a s andre Ich, das andre Ihr Bedienter,/Vom Teufel wieder völlig wars besessen" (Erstdruck). - G o m p e r z (S. 433) ändert kommentarlos in: „des andern Ihr Bedienter". Diese Lesung findet die Zustimmung R . Köhlers (S. 42); Zolling, der wie schon Julian Schmidt „des andren" setzt, und Erich Schmidt stützen sie mit der entsprechenden Molière-Stelle: „ O u i , l'autre moi, valet de l'autre v o u s " . Helmut Sembdner behält die im Erstdruck überlieferte Form bei 2 9 ; „Ihr Bedienter" sei „gleichsam in Anführungszeichen zu denken", so daß die Gleichsetzung von „ I c h " mit „Ihr Bedienter" gegenüber Molière eine eigene Berechtigung behaupten kann. Penthesilea V. 149: „von Sturm herabgerüttelt". - Gomperz (S. 395) hält „ v o n " wie in V . 1426 („von Elephantenthurm") für einen Druckfehler und liest: „vom Sturm"; Zolling und Erich Schmidt übernehmen die Konjektur mit einem Hinweis auf die gleiche Form im Phöbus und in der Handschrift. Helmut Sembdner sieht keine Veranlassung für einen Eingriff, da die Möglichkeit einer nachträglichen Korrektur nicht ausgeschlossen werden kann. Schwierigkeiten bereitet eine Stelle, bei der - entgegen Gomperz und Julian Schmidt - Erich Schmidt und Helmut Sembdner jeweils andere Lesungen anbieten: Penthesilea V. 8 2 1 - 8 2 2 : „ F ü h r t a u s der S c h a r f « den Gefangenen,/Lykaon, den Arkadier herbei!" (Erstdruck). - G o m p e r z (S. 398) empfand vier Akkusative vermutlich als störend; er liest stattdessen: „Führt aus der Schar ¿Ar der Gefangenen [ . . . ] " („mit Recht", wie R . Köhler, S. 15, vermerkt). Erich Schmidt nennt die Konjektur „fein, aber unnötig" und hält sich an die Handschrift, in der durch eine Korrektur (den > d e r ) die Lesung „Führt aus der Schar ihn der Gefangenen [ . . . ] " hergestellt wurde. Helmut Sembdner nimmt unter Berufung

28 29

Fassungen von Kleists Dramen. Bern, Leipzig 1944, S. 154) eine bereits in der H a n d schrift sichtbare und nunmehr folgerichtig fortgesetzte Tendenz. Briefliche Mitteilung Helmut Sembdners. „Julian Schmidts Emendation hat zwar gerade in bezug auf den französischen Text viel für sich, ist aber nicht zwingend, wie mir scheint" (briefliche Mitteilung Helmut Sembdners).

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auf den Erstdruck auch an der Fassung Erich Schmidts Anstoß. Zolling 30 hat „den Gefangenen" um der größeren Deutlichkeit willen in Kommata eingeschlossen. In einem Fall verzichtete Gomperz mit dem Eingeständnis, „nichts völlig Entsprechendes" zu wissen, auf einen eigenen Vorschlag; Julian Schmidts Konjektur 31 geht hier offenbar auf einen mündlich gegebenen Rat zurück: Penthesilea V. 2 7 7 0 - 2 7 7 2 : Uber den Bogen derPenthesilea: „Seht, wie er taumelt - Klirrt, und wankt, und fällt - ! / U n d noch einmal am Boden zuckt - Und stirbt,/Wie er der Tanaisgeboren ward". - Gomperz (S. 398) bemerkt hierzu: „Daß ein Bogen oder ein anderes lebloses Ding .stirbt', kann vielleicht ein Dichter unter Umständen sagen, aber daß er ,geboren ward' - doch es bedarf keiner ästhetischen Erörterung, um die Unhaltbarkeit dieser Stelle darzuthun". Mit einem Rückgriff auf V. 1995-2001 hätte die im ersten Augenblick ungewöhnliche Wortwahl leichtverständlich gemacht werden können. Wie dort der Bogen „der Oberpriesterin daniederfiel" und sich der Königin zu Füßen legte, so wiederholt sich jetzt der Vorgang umgekehrt. Bereits R. Köhler (S. 29 f.) gab die richtige Erklärung: „Der Tanais, die den Bogen des Reichs als die erste Königin damals zuerst empfieng, ward er damals gleichsam geboren, der Penthesilea aber, deren Hand er entfällt, stirbt er". Julian Schmidt ließ sich auch in der zweiten Auflage von dieser Erklärung nicht überzeugen; er blieb bei seiner Fassung: „Und birst,/Wie er der Tanais geborsten war". 2. Die von Julian Schmidt zunächst übernommenen, aber in der zweiten Auflage wieder rückgängig gemachten Lesungen: Der zerbrochne Krug V. 1688: „Ich Sprech ein Gottseibeiuns aus, und drehe [ . . . ] " - Tieck 32 hat laut Gomperz (S. 4 3 3 - 4 3 4 ) „wol mit Recht ,aus' nach ,uns' weggelassen." Um die Reinheit des Verses wiederherzustellen, ändert er „Sprech" in ,spreche". Gomperz verkennt hier den grundsätzlichen Unterschied zwischen einfachem und komponiertem Verbum. Frau Brigitte dürfte angesichts der mitternächtlichen Erscheinung ein Gottseibeiuns „ausgesprochen" habenim Gegensatz dazu stünde z . B . das „Sprechen" eines Rosenkranzes. Penthesilea V. 1 5 0 - 1 5 2 : „ [ . . . ] Den Lorbeer,/Mit ihren jungen, schönen Leibern groß, /Für diese kühne Tochter Ares düngend". - Hierzu erklärt Gomperz (S.

30

Zolling schließt sich also an den Erstdruck an, doch vermag seine Erklärung der Stelle (II, 3 2 0 ) nicht zu überzeugen: „Ihn, den Gefangenen ist so aufzufassen, daß die Königin ihre Freundin besonders auszeichnen will, daher hebt sie den Gefangenen der Prothoe unter der Schar der übrigen als den dieser eigenen hervor". Penthesilea will die „Verhaßte" (V. 785) keinesfalls „auszeichnen", was auch aus V. 823ff. ersichtlich ist.

31

Vgl. Julian Schmidts Anmerkungen in Bd. 3 (1859) S. 386. Die Konjektur ist dort mit einem G ( = G o m p e r z ) gekennzeichnet.

32

Kleist-Ausgabe Tiecks Bd. 2, S. 68, Z. 4 v. u . : „Ich Sprech' ein G o t t sei bei uns und drehe". Köhler (S. 4 7 ) hält den Wortausfall für ein „Versehen" Tiecks.

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395): „Man wird sich vergebens in allen Dramen Heinrichs von Kleist nach einem Seitenstück zu dieser unerhörten Wortstellung umsehen; überdies verlangt das ungewöhnliche Bild wol ein milderndes und erklärendes Wort. Es hieß offenbar: „ [ . . . ] Mit ihren jungen schönen Leibern bloß [ . . . ] ' „ein Wort, das wenig poetisch scheinen mag, das aber in diesem Schauspiel nicht weniger als noch viermal vorkömmt". Hierzu bemerkt schon R. Köhler: „Daß ,groß' ein Druckfehler sei, dagegen spricht, daß es auch im Phöbus steht; daß es aber als nachgestelltes Beiwort zu Leibern zu fassen sei, ist nicht notwendig, vielmehr gehört es zu ,düngend': ,mit ihren Leibern den Lorbeer groß düngen', düngen daß er groß wird, wie wir sagen ,groß ziehen' u. dgl." (S. 11). PenthesileaV. 680: „Und Trotz/st, Widerspruch, die Seele m i r ! " - D a Penthesilea fortfährt: „Denk ich bloß mich, sinds meine Wünsche bloß,/Die mich aufs Feld der Schlachten rufen?" meint Gomperz (S. 396-397), daß sie „doch nicht eben erst den eignen Trotz die Quelle ihrer Entschließungen nennen" konnte. Nach seiner Auffassung hieß es „höchstwahrscheinlich": „Und Trotz reizt, Widerspruch, die Seele mir!" R. Köhler (S. 14) entgegnet: „Es ist ein gar zu trivialer Gedanke, den Penthesilea aussprechen soll, daß Trotz und Widerspruch ihre Seele reizen, denn bei wem geschieht dieß nicht? Die Lesart der Originalausgabe ist auch die des Phöbus". Penthesilea V. 1355-1356: „Solang ein Atem Mörtel und Gestein,/In dieser jungen Brust, zusammenhält". - Die Änderung von „Atem" zu tom"-mit einer Abwehr möglicher Kritik, die „an der ungewöhnlichen Skansion" Anstoß nehmen könnte - scheint von der griechischen Atomistik (Leukippos und Demokritos) inspiriert zu sein 33 . Penthesilea V. 2213-2216: „ [ . . . ] wie wenn zur Nachtzeit/Der Blitz vor einen Wandrer fällt, die Pforten/Elysiums, des glanzerfüllten, rasselnd,/Voreinem Geist sich öffnen und verschließen". - Nach Gomperz (S. 398) wäre zu lesen: „seinem Geist". Die Konjektur beruht auf falschem Sinnbezug (Wanderer) und Nichtbeachtung der einzelnen Satzglieder und ihrer Stufenfolge. Penthesilea V. 2464-2466: „Was er im Weltkreis noch, so lang er lebt,/Mit seinem blauen Auge nicht gesehn, / Das kann er in Gedanken auch nicht fassen". An der Lesung „seinem blauen Auge" ist auch auf Grund des handschriftlichen Belegs nicht zu zweifeln. Die Stelle ist im Sinne von ,normalsichtig' als Durchschnittswert, d.h. als ,nicht darüber hinaussehend' aufzufassen. Gomperz (S. 398) dagegen versteht das „blaue Auge des Diomed" nur als „eine an sich gewiß sehr schätzenswerte Notiz, die vielleicht durch mündliche Uberlieferung auf Kleist gekommen ist", findet sie „hier aber doch nicht ganz an ihrem Platze".

33

R . Köhler (S. 2 0 ) fragt entrüstet: „Wie kann man unserm Dichter [ . . . ] die Scansion ,So lang ein A t o m ' zutrauen?" Vgl. hierzu Julian Schmidts Brief N r . 11 an Georg Ernst Reimer.

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Seine Annahme, es heiße „augenscheinlich mit Änderung kaum eines Buchstaben": „seinem blöden Auge" weicht vom Sinn der Aussage nur geringfügig ab, zerstört jedoch die Metapher 34 . Prinz von Homburg V. 1163-1166: „Wohin, im Mantel, schau, und Federhut/Er, unterm Schutz der Dämmrung, kam geschlichen:/Verstört und schüchtern, heimlich, ganz unwürdig,/Ein unerfreulich, jammernswürdger Anblick!" - Gomperz (S. 434) erklärt zu V. 1163: „Man sieht, daß scheu, nicht schau geschrieben stand". Auch hier sieht Gomperz nicht über die Zeile hinaus; gegen „scheu" spricht, wie Erich Schmidt in einer Fußnote 35 vermerkt, V. 1165; in V. 1169 greift Natalie dem Kurfürst gegenüber das „schau" wieder auf. Wie die Wendung zu verstehen ist, geht im übrigen aus Michael Kohlhaas (Sbd II 20, 2 0 - 2 1 ) hervor: „Was du gesagt hast, schau, Wort für Wort, ich glaub es dir". In V. 1163 hat sie „den Sinn einer anschaulichen Beteurung" (,HomburgKommentar von Eduard Arens, Münster 1901, S. 121). 3. Eigene Konjekturen Julian Schmidts: Amphitryon V. 1456-1457: Alkmene: „Soll ich zur weißen Wand des Marmors beten?/Ich brauche Züge»««, um ihn zu denken". - Gomperz (S. 433) ändert ohne Angabe von Gründen in: „Ich brauche Zügenur". Er übersieht dabei die unmittelbare Gedankenfolge von der „weißen Wand des Marmors" zu: „Ich brauche Züge nun". Julian Schmidt ging der interpretatorischen Schwierigkeit aus dem Wege, indem er den Vers umdichtete: „Ich brauche Züge, um mir ihn zu denken". Penthesilea V. 9 3 8 - 9 3 9 : „Nun freilich wohl, du mußt es wissen,/ - Hast du die Rosen schon drauf angesehn?". - Gomperz (S. 397) ist der Meinung, V. 939 sei „falsch interpungirt"; er scheint ihn als Begründung des „Wissens" in V. 938 aufzufassen und setzt daher nach abgeschlossenem Gedankengang einen Punkt („Hast du die Rosen schon drauf angesehn."). Julian Schmidt verzichtet auf jegliche Interpunktion am Versausgang, läßt aber wie Gomperz den Gedankenstrich fort 3 6 .

34

R . Köhler (S. 2 5 ) entkräftet Gomperz' Lesung mit dem Einwand, daß „es hier nur auf das Sehen überhaupt, gar nicht auf das mehr oder weniger scharfe Sehen ankömmt" und fragt, ob „es nicht vielmehr acht dichterisch" sei, „daß Kleist ein recht individualisierendes, lebendiges Beiwort wählt".

35

Er greift dabei auf die Bemerkung R. Köhlers (S. 63) zurück: „Aber Kleist würde ,scheu' nicht so zwischen ,im Mantel und Federhut' gestellt und nicht eine Zeile weiter den Prinzen auch .schüchtern' genannt haben". Zolling tilgt den Gedankenstrich am Verseingang; er behält aber das Fragezeichen bei. Auch in der 2. Auflage der Ausgabe Julian Schmidts fehlt die Interpunktion; man ist dennoch versucht, eher an einen Druckfehler als an eine Konjektur zu denken, kann aber Zweifel nicht ausschließen.

36

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4. Lesungen, die auch von Julian Schmidt nicht akzeptiert wurden: Amphitryon V. 581-583: Merkur: „Den Mann vielmehr beneid ich, dem ein Freund/Den Sold der Ehe vorschießt; alt wird er, /Und lebt das Leben aller seiner Kinder". - Gomperz bezieht sich auf das von Tieck fälschlich eingesetzte „aller ihrer Kinder". Entspricht schon dieser Bezug auf „Ehe" (statt auf „Den Mann vielmehr beneid ich") nicht dem Gedankengang, so entfernt sich die von Gomperz (S. 433) vorgenommene Änderung „aller guten Kinder" völlig aus dem Bereich vorgegebener Möglichkeiten; warum es „natürlich" so zu lesen sei, wird von Gomperz nicht weiter ausgeführt37. PenthesileaV. 221-222: „Durchbohrt mit einem Pfeilschuß, ihn zu fesseln, /Die Schenkel ihm". - Gomperz (S. 395) ist mit seiner Auffassung, „ihn zu fesseln" sei in ,.ßindgefesselt" zu ändern, einem Mißverständnis zum Opfer gefallen. Es handelt sich in dieser Rede des Odysseus nicht um eine Aussage, sondern um eine Aufforderung, wie auch aus den folgenden Worten „Versuchs, o Antiloch" ersichtlich wird. Penthesilea V. 355: „Den Kampf bei den Atriden fecht ich aus". - Gomperz (S. 396) erinnert zwar an das Verbot Agamemnons, sich in Kämpfe mit Penthesilea einzulassen, um das hohe Ziel, Ilion, nicht aus dem Auge zu verlieren, unterlegt aber der Grundbedeutung: „so werde ich jenen Kampf schon zu verantworten wissen" einen eigenen Sinn; es sei „zum Glück nicht schwer zu erraten, was hier geschrieben stand", nämlich: „Den Kampf ¿ei dem Kroniden fecht' ich aus". Der Analogie-Schluß von der Schwurform „beim Kroniden" (V. 448) und die Tatsache, daß sonst nur von „dem Atriden" die Rede ist, hinderte Gomperz an der unbefangenen Erklärung der Stelle. Nach Erich Schmidt ist der Sinn: „ich übernehme die Verantwortung dafür bei den Oberfeldherren Agamemnon und Menelaus". Penthesilea V. 384-386: „Gehetzter Hirsche Flug ist schneller nicht!/Der Blick drängt unzerknickt sich durch die Räder,/Zur Scheibe fliegend eingedreht, nicht hin!" - Gomperz (S. 396) räumt zwar ein, der „zerknickte Blick" sei „die kühnste Vorstellung, die die deutsche Literatur aufzuweisen hat", möchte sie aber dennoch nicht für Kleist in Anspruch nehmen. Seine Konjektur yj'feil" für „Blick" beruht auf der naheliegenden Assoziation „fliegen". Durch den Hinweis auf Wielands Oberon (III, 15) - „daß zwischen Schlag und Schlag/Sich unzerknickt kein Lichtstrahl drängen mag" - hat Erich Schmidt auf eine literarisch vorgeprägte Formulierung aufmerksam gemacht, die den „zerknickten Blick" weit weniger ungewöhnlich erscheinen läßt. Penthesilea V. 2188-2190: „Die ganze Welt/Lag wie ein ausgespanntes Musternetz /Vor mir". - Zu dieser Stelle äußert sich Gomperz (S. 435) zurückhaltend: 37

Aus den Anmerkungen Julian Schmidts zu dieser Stelle (Bd. 3, S. 386) wird - wie schon Köhler (S. 36) bemerkt - ersichtlich, daß er die richtige Lesung hergestellt hat, ohne zu wissen, daß sie bereits in der Originalausgabe steht.

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hier sei „augenscheinlich Fischernetz zu lesen, wenn wir nicht annehmen wollen, daß Penthesilea ihre Gleichnisse von weiblichen Arbeiten hernimmt". Julian Schmidt (Bd. 3, S. 386) meint: „Daß die Amazonenkönigin ihr Bild von einem Stickmuster entlehnt, ist freilich arg; aber die Stelle ist unzweifelhaft richtig". Hermannsschlacht V. 1328-1330: Marbod: „Er ruft mich auf, verknüpft mit ihm,/Sogleich dem Mordverrat zuvor zu kommen,/Die Weser, angesichts des Blatts, zu überschiffen" (Erstdruck)38. - Gomperz (S. 434) scheint unter Berufung auf V. 1394/95 („in drei Stunden, wenn du willst./Der Mond erhellt die Nacht") - nur an den Vorgang zu denken und konjiziert: angesichts der Nacht". Er läßt das szenische Moment: „Marbod, den Brief Hermanns, mit dem Dolch, in der Hand haltend" unberücksichtigt. Gomperz' Irrtümer sind nicht allein aus seiner klassisch-philologischen Grundeinstellung zu erklären. Gewiß ist die Voreingenommenheit den Texten gegenüber eine Folge der eingeübten Skepsis, grundsätzlich in allen verdächtigen Stellen Korruptelen zu wittern. Aber für die Kleist-Konjekturen kommt noch ein anderes Motiv hinzu. Dieser „außerordentlich begabte Dichter" war durch „zahlreiche Verirrungen" bekannt geworden, so daß besondere Aufmerksamkeit geboten schien. An einer Stelle verlangt ein ungewöhnliches Bild ein „milderndes und erklärendes Wort", an einer anderen bedarf es „keiner ästhetischen Erörterungen, um die Unhaltbarkeit dieser Stelle darzuthun". Gomperz arbeitet nach einer normativen Ästhetik, die zwar dem Kleisttext wesentlich näher rückt, als dies bei zeitgenössischen Rezensenten39 der Fall ist, die aber bestimmten Ausdrucksmitteln Kleists nicht gerecht werden kann. Daß Gomperz damit nicht allein steht, beweisen die sechs Fälle, in denen ein so besonnener Philologe wie Reinhold Köhler seine Auffassung teilt. Dieses Sträuben, eine ungewöhnliche Formulierung als gegeben anzuerkennen, ist immer wieder ein Indiz für zeitbedingte ästhetische Vorurteile, hier: für die Fixierung auf den Programmatischen Realismus Julian Schmidts mit seinen Maßstäben des Logischen und Gesunden. So können Fehler für philologische Verhaltensweisen beinahe interessanter sein als alle Verbesserungen. In einigen Fällen ist Gomperz jedoch durchaus bereit, scheinbaren Fehlern nachzuspüren und die richtige Erklärung zu suchen40. Er erwähnt (S. 398/99) Vers 657 der Familie Schroffenstein: „Ein Fluch ruht auf dein Haupt", den man „nur sehr willkürlich mit Tieck in: ,Fluch ruht auf deinem Haupt' ändern kann", und erinnert dabei an vier ähnliche Abweichungen vom normalen grammatikalischen 38 39

40

In der Ausgabe von 1826 fehlen die Kommata nach „Weser" und „Blatts". So war die Penthesilea Gubitz „zuwider durch verrenkte Sprache und gemeine Malerei im Ausdruck" (Sembdner, Lebensspuren, Nr. 489d). An einer Stelle (S. 434) bemerkt er zu V. 1575/76 im Prinz von Homburg: „Das sehr seltsame Die Regel / Nach der der Feind sich schlägt', was nichts anderes heißen kann, als die Regel, nach der er geschlagen wird, darf man darum doch nicht für verdorben halten".

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Gebrauch, „ w a s unmöglich alles auf Verderbnissen beruhen kann". Er argumentiert, daß man hier an eine „stilistische, halb gräcisierende Eigentümlichkeit Kleists zu denken" habe 4 1 . Der Vorwurf, für die Emendationen die Handschriften nicht herangezogen zu haben, ist G o m p e r z nicht zu machen, da diese zum damaligen Zeitpunkt nicht zugänglich waren. Zu kritisieren ist allein, daß er einige Erstdrucke imPhöbus und in den Hinterlassenen Schriften sowie die erste Ausgabe des Amphitryon nicht berücksichtigte; er verstieß damit gegen ein Hauptgebot seiner eigenen Disziplin, das für jede exakte Textkritik eine gründliche recensio voraussetzte. Er vertraute trotz aller philologischen Aufmachung auf die Intuition; andererseits arbeitete er mit Vergleichen und gelegentlichen statistischen Belegen. Die Leser der Grenzboten konnten aus den Darlegungen einen Eindruck von den Problemen der Textkritik und der Interpretation gewinnen. Die hier skizzierte Geschichte der Emendationen führt in der Linie Julian Schmidt, Reinhold Köhler, Theophil Zolling, Erich Schmidt und Helmut Sembdner einen deutlichen Abbau der Fehlentscheidungen sowie Entwicklung und Leistung der heraufkommenden positivistischen' Philologie vor Augen. Der,Positivismus' ist ohne die altphilologische Textkritik undenkbar, auch wenn er bald in einen immer stärkeren Gegensatz zu ihr geriet.

41

Im Zusammenhang mit einer Änderung Tiecks (Penthesilea V . 93/94): „Sie ruht, sie selbst, mit trunknem Blick schon wieder/ Auf des Aeginers schimmernde ( > schimmernder) Gestalt". Julian Schmidt (1,170) und Erich Schmidt folgen Tieck und setzen: schimmernder.

5. Kapitel Revision und Neuansatz Julian Schmidts Kleist-Ausgabe und Reinhold Köhlers Textkritik

Als Georg Ernst Reimer sich im Februar 1858 an Julian Schmidt wandte, um dessen Meinung über die Möglichkeiten einer Revision der Tieckschen Kleist-Ausgabe einzuholen, stand Schmidt im Zenit seiner Laufbahn. Seine Geschichte der deutschen Literatur im 19. Jahrhundert, zuerst 1853 erschienen, unter wechselnden Titeln verbreitet und 1858 bereits in 4. Auflage herausgekommen, war zu einem Standardwerk geworden, das den Marktwert seines Namens beträchtlich erhöht hatte; der Verlag konnte - ähnlich wie einst im Falle Tieck - mit der Zugkraft dieses Namens rechnen, wenn er Schmidt die Herausgabe der Neuauflage übertrug. Julian Schmidt, „unerschütterlicher Protestant, Preuße und Parteimann"1, war für Kleist bestens gerüstet und durch Publikationen ausgewiesen. Anfang 1849, im dritten Jahr seiner Grenzboten-Tätigkeit, war er mit einer Rezension der Leipziger Aufführung des Prinz von Homburg2 hervorgetreten, zwei Jahre später hatte er ein Charakterbild Kleists3 entworfen, das in Grundzügen in seine Literaturgeschichte eingegangen ist 4 . Sein Verhältnis zu Kleist hat sich im Laufe seiner journalistischen Tätigkeit und aus dem ihm eigentümlichen Wechselspiel von literarischer Kritik und tagespolitischer Polemik entwickelt. Hatte noch Tieck gelegentlich der Dresdener Aufführung des Prinz von Homburg im Jahre 1821 jede politische Anspielung vermieden, so wendet sich Julian Schmidt in seiner Rezension von vornherein an den politisch interessierten Leser.

1 2

3

4

Vgl. Constantin Rößler, in: A D B . 31 (1890) S. 7 5 1 - 7 6 7 , Zitat S. 753. Der Prinz von Homburg, in: Die Grenzboten Jg. 8 , 1 . Sem., Bd. 1 (1849) S. 3 3 8 - 3 4 5 . Wiederabgedruckt in: Text und Kontext. Quellen und Aufsätze zur Rezeptionsgeschichte der W e r k e Heinrich von Kleists. Hrsg. v. Klaus Kanzog. Berlin 1979, S. 5 5 - 6 2 . Betrifft die Neueinstudierung unter Oberregisseur Bartels am 9. Februar 1849; vgl. Leipziger Zeit u n g N r . 3 9 v . 8. Febr. 1849; im Museum f ü r Geschichte der Stadt Leipzig konnten weitere Aufführungen für den 11. u. 24. Februar 1849 ermittelt werden. Charakterbilder aus der Deutschen Restaurationsliteratur. 2. Heinrich von Kleist, in: Die Grenzboten Jg. 10, 1. Sem., Bd. 2 (1951) S. 3 1 9 - 3 3 7 . Geschichte der deutschen Nationalliteratur im 19. Jahrhundert. Bd. 1 (Leipzig 1853), Kap. 5: Dichter ohne Schule, S. 1 6 8 - 1 8 3 .

Revision und Neuansatz

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Dabei schont er weder „engherzige Prüderie" und „Etikette", durch die das Stück von den preußischen Hofbühnen verbannt worden war, noch die „sächsischen Philister", die sich nur an die „stille Welt der Kunst" hielten. Er macht sich über die Ängstlichkeit lustig, mit der man zum Schluß die Feinde „Brandenburgs" in Feinde „Germaniens" verwandelt hatte, und tritt mit Vehemenz für ein starkes Preußen und die Wiedergeburt der „alten sittlichen Gesinnung" ein, auf die „allein das Deutschland der Zukunft sich gründen darf" 5 . Julian Schmidt hält der „determiniert künstlerischen Richtung" des deutschen Volkes das französische Theater entgegen. Bei den Franzosen blicke „jedes Auge über den engen Horizont der Bühne hinaus auf die Straße" - man lausche den „Stichwörtern des Tages" und kenne nur die „große Nation". D e r Deutsche dagegen fühle, „wenn die Farbe nicht zu dick aufgetragen ist, die Anspielung nicht heraus". Diesem unpolitischen Publikum 6 ruft Schmidt die zündenden Stichworte ins Bewußtsein. Mit ästhetischen Problemen hält er sich nicht lange auf, über die Schauspieler verliert er kein Wort, ihn interessieren der sittliche Konflikt und die positive Idee des Staates. Er nimmt die Aufführung nur zum Anlaß einer Erörterung über das Wesen des preußischen Patriotismus, den er mit dem lediglich auf die Anerkennung der individuellen Sicherheit gerichteten Patriotismus des Amerikaners und Schweizers vergleicht. Die vaterländische Begeisterung der Hermannsschlacht

wird in die Betrachtung einbezogen, um das Verhältnis zwischen

Preußen und Österreich hoffnungsvoll zu erläutern 7 . Die Verfassungskämpfe der Jahre 1848/49 bilden den Hintergrund für die Analyse des Kurfürsten; der Fürst, der „mit verständigem Ernst die Zügel des Staates in starken Händen hält", die „treuen Kampfgenossen, die ihn verehren, ohne seine Knechte zu sein", und das „gegenseitige Vertrauen ohne Aufgeben der Selbständigkeit" 8 sind Idealbilder einer in Grenzen royalistischen Gesinnung. Deutlich wird auch die Warnung vor dem „corrosiven Einfluß des Radikalismus" ausgesprochen, der „jede Macht untergraben möchte, um freie Hand zu knabenhaften Gelüsten zu haben" 9 . Erfüllt vom politischen Geschehen des Tages, gestaltete Julian Schmidt Kleists 5

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8 9

Vgl. auch Sembdner, Nachruhm, Nr. 309; dort allerdings nur eine knappe Auswahl ohne Hinweis auf den polit. Charakter der Rezension. Das Publikum „ließ sich hinreißen von dem Geist echter Poesie, der lebensvoll in dieser Dichtung athmet, und vergaß die Partei, vergaß den Souveränen Unverstand', vergaß, daß es sich gerade in diesem Augenblick um die Anerkennung jenes Geistes durch die deutsche Nationalversammlung handelt, und daß die sächsischen Kammern vor ein paar Tagen laut dagegen protestirt hatten" (S. 338). Schmidt war „geborener Partikularist" (Rößler, S. 754). Hier aber läßt Schmidt fanfarenhafte Töne aufklingen: „Sollte auf's Neue der Feind den Rhein überschreiten, so werden Oestreichs und Preußens Heere wieder zusammenstehn, denn mächtiger noch als die gemeinsamen Sympathien verbünden sie die gemeinsamen Interessen" (Homburg-Rezension, S. 344). Ebda, S. 342. Ebda, S. 344.

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Revision und Neuansatz

Prinz von Homburg nach seinem Bilde; da er das „gesunde, frische Kriegerleben" des Stückes verabsolutiert, muß er alles, was sich nicht in dieses Bild einfügt, als „krankhafte Auswüchse und Fehler" ansehen. „In den Ernst des sittlichen Conflikts" mischt sich nach seiner Auffassung das „fremdartige Element einer somnambul unreifen Stimmung" und „trübt seine Reinheit". So nimmt er auch weniger an der Todesfurchtszene als an der „Träumerei" des „verliebten Nachtwandlers" Anstoß und nennt sie einen „zierlichen Rahmen für ein Schäferspiel, aber unanständig für eine Tragödie" 1 0 . Bereits in dieser Homburg-Rezension werden die bewegenden Kräfte des Schmidtschen Kleist-Bildes sichtbar: die Vorstellung von einem der „glänzendsten Dichter unserer Nation" 1 1 und das Bestreben, den „latenten Wahnsinn", der Kleists Leben „vergiftete und ihn endlich zum Selbstmord trieb" 1 2 , in das richtige Verhältnis zu den positiven Momenten seines Werkes zu bringen. Schmidts Sympathie gehört dem vaterländischen Dichter und Realisten Kleist, der sich vortrefflich in die Argumentation gegen „schädliche Richtungen" in der modernen Literatur 13 einfügen läßt. Dies wird in den Charakterbildern aus der Deutschen Restaurationsliteratur noch um einiges deutlicher. Von den Romantikern unterschieden durch die „Energie und Vollendung der Form" und ausgezeichnet durch „die hohe poetische Kraft, die echt Deutsche Gesinnung und das leidenschaftlich bewegte Herz", erscheint er als einer der wenigen Dichter, die dazu bestimmt sind, „das Zeitalter zu überleben" 1 4 . Der Lebenslauf Kleists wird in wenigen Zeilen abgehandelt, wichtig erscheint die literarische Bedeutung, die immer wieder aus dem Gegensatz zu Goethe und Schiller, den Romantikern und den Literaten nach den Befreiungskriegen entwikkelt wird. Die Würdigung Kleists führt zur Abrechnung mit den Irrwegen und modischen Tendenzen einer ganzen Epoche: das „leidenschaftliche Streben nach Wahrheit" wird gegen die „erkünstelte nervöse Abspannung" 1 5 , die „Leidenschaft des Patriotismus" gegen die „coquetten Phrasen patriotischer Melancholie" 16 ausgespielt. Manche Gegenüberstellungen erscheinen im Eifer des Plädoyers gewaltsam konstruiert, viele Fragestellungen bewußt überspitzt, nie zuvor wurde jedoch das Zukunftsweisende der Werke Kleists so deutlich ausgesprochen. Zudem bereitete der Stil Julian Schmidts - nach der dürren Prosa Bülows - dem Leser literarischen Genuß. 10 13

14 15

Ebda, S. 342. 1 1 Ebda, S. 340. 1 2 Ebda, S. 340. Auch in der Vorrede zur 3. Auflage seiner Literaturgeschichte bekennt Schmidt, daß es ihm hauptsächlich darum gegangen sei, „gewisse Richtungen in der Literatur zu bekämpfen", die ihm „schädlich schienen". Gustav Freytag (Preuß. Jahrbücher 57, 1886, S. 588) betont rückblickend die positive Seite dieser Kritik: „Denn indem er verurteilte, was in unserer Literatur krank war, wies er auch unablässig auf die Heilmittel hin, und wurde dadu rch in Wahrheit ein guter Lehrer für die Jüngeren, welche falschen Vorbildern, die in unbekämpftem Ansehen stehen, zu folgen bereit sind". Grenzboten Jg. 10, 1. Sem., 2. Bd. (1851) S. 337. Ebda, S. 323. 1 6 Ebda, S. 326.

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Vor allem hinsichtlich der Dramen Kleists werden neue, für die 50er Jahre des vorigen Jahrhunderts kühne Gedanken vorgetragen. Schmidt beobachtet, wie bei Kleist Tragödie und Komödie „auf eine zweckmäßige Weise sich einander annähern", und dies scheint ihm „auch der richtige Weg, das Theater zu einer gewissen Einheit zu idealisieren" 1 7 . Zugleich sieht er in der Sprache der Dramen „das Bild eines wahrhaft nationalen Styls, der sich für Deutschland auf eine organische Weise hätte entwickeln können, wenn nicht das Beispiel Goethe's und Schiller's verwirrend dazwischen getreten wäre" 1 8 . Damit verbindet er weniger eine Kritik an Goethe und Schiller selbst als vielmehr eine Kritik an den Epigonen, die sich der leicht nachahmbaren Schillerschen Rhetorik bemächtigten, bzw. „die Formlosigkeit und das Hervortreten der subjektiven Stimmung auch im Drama als das wesentliche Zeichen einer genialen Begabung'" 1 9 ansahen. Ebenso werden - wenn auch mit Einschränkungen - die Erzählungen gerühmt und vor allem Kohlhaas

Michael

wegen der „meisterhaften psychologischen Schärfe" und des „voll-

kommen durchsichtigen Realismus" hervorgehoben und denen als Musterbeispiel entgegengehalten, die - durch „das Beispiel Jean Paul's und der übrigen Humoristen verführt" - „in der Unklarheit und Verwirrung ein Zeichen von Poesie" 2 0 fanden. Als das „beste unter Kleist's Stücken" 2 1 sieht Schmidt den Prinz von an. Bei ACT Hermannsschlacht

Homburg

reizt ihn die Nähe zur Zeitgeschichte und der „anti-

zipirte Zorn des Kampfes", den er über „all die hübschen Lieder von Arndt, Stägemann, Körner, Schenkendorf, Rückert usw." stellt 2 2 . Am Zerbrochnen kehrt er die komischen Seiten hervor, während er imAmphitryon „allegorische Einfälle" 2 3 verwirrt sieht. Der Familie

Krug

die Komik durch

Schroffenstein

spricht er

„höchste Poesie" zu, obgleich das Werk im ganzen gesehen „als ein verfehlter Versuch zu betrachten" sei; er findet vor allem die Greuel „zu willkürlich erdacht" 2 4 . Das härteste Urteil trifft das Käthchen

von Heilbronn,

an dem ihn My-

stik, Unnatürlichkeit und „barocke Züge" 2 5 stören; später beurteilt er das „Märchenstück" wesentlich milder 2 6 . Die Penthesilea

wird dagegen ein „wunderbares

Stück" genannt und in die Nähe der Hebbelschen Judith

gerückt, dennoch bleiben

Vorbehalte: „Zwar ist die Sprache höchst poetisch, der Wahnsinn der Leidenschaft mit jener fieberhaften Gluth wiedergegeben, deren selten ein Dichter so 17 21 25

26

Ebda, S. 329 18 Ebda, S. 328 19 Ebda, S. 328 2 0 Ebda, S. 327. Ebda, S. 333 22 Ebda, S. 332/333 2 3 Ebda, S. 330 2 4 Ebda, S. 330/31. Ebda, S. 337. Das Wort „barock" ist bei Schmidt (ähnlich wie „Mystik") ein gern benutztes Etikett, mit dem er alle „ungesunden" Züge im Werk Kleists versieht. So spricht er von der zuweilen „barocken Härte seiner Zeichnung" (S. 323) und den „barocken Übertreibungen" in der Marquise von O. (S. 328). Vgl. Julian Schmidt: Heinrich von Kleist, in: Preuß. Jahrbücher Bd. 37 (1876) S. 593-607, bes. S. 599-602 im Zusammenhang mit einer Aufführung des Stückes durch die Meininger. - „Es. ist ein lustiges Mährchenstuck, das nicht derb und übermüthig genug vorgetragen werden kann; ein verhimmelndes Käthchen und gerührte Zuschauer verschieben das Ganze".

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Herr war, aber diese Wuth erregt doch immer nur Entsetzen, keine Erschütterung" 27 . In der Einleitung zur Ausgabe werden diePenthesilea und Michael Kohlhaas zu Paradebeispielen erklärt, an denen sich „ebenso die ganze Größe, wie die ganze Krankhaftigkeit des Dichters ermessen" lasse28. An diesen Vorbehalten zeigt sich der ästhetische Standpunkt Schmidts am deutlichsten. Er erklärt, daß er das Problem, „die Welt der freien Individualität aus allen Schranken der Natur und des Gesetzes zu reißen", für undramatisch29 halte, und erweist sich trotz aller Kritik an der Klassik dennoch „klassischen" Normen verpflichtet: „in der Kunst ist nur das Schöne und Begreifliche wahr, wie nur das Wahre schön ist" 30 . Sein Katalog der .unschönen' Stellen in Kleists Werk fügt sich dieser Argumentation nahtlos ein; es sind seit Kleists Lebzeiten im Grunde immer wieder die gleichen Stellen, an denen sich die Diskussion entzündet: die Todesfurchtszene im Prinz von Homburg, die Ermordung des Ventidius durch Thusnelda in der Hermannsschlacht, der Tod Achills, das „Auspeitschen Käthchens durch ihren Geliebten" 31 und die Anzeige der Marquise von O. - Schmidt steht im Lager der .Gesunden' und setzt sich polemisch „von einem gewissen ästhetischen Standpunkt unserer Zeit" ab, der diese Stellen „als Züge wunderbarer Kühnheit und Freiheit bewundert" 32 . Julian Schmidt war, wie Gustav Freytag bemerkt, „nicht der Mann, in seinem Feuereifer jedes Wort vorsichtig abzuwägen"33. So wechseln Lob und Tadel. Aber gerade aus der impulsiven Reaktion entstanden sehr oft treffende Charakteristiken und manches Urteil, das Jahrzehnte später bei anderen Kritikern wiederbegegnet. Kritik wurde ihm nicht zum Selbstzweck; alle Äußerungen tragen zur lebendigen Auseinandersetzung mit dem Werk bei und sind persönlichste Aussage, sie sind daher auch besonders leicht Angriffen ausgesetzt. Wenn ihm Gustav Freytag nachsagt, daß er „vor echter Poesie die Wärme und Begeisterung eines Jünglings bis in sein höheres Alter" behielt34, so trifft dieses anerkennende Wort einen tiefen Grundzug seines Wesens - etwas von dieser Begeisterung ist auch in den KleistAufsätzen zu spüren. Beide Grenzboten- Artikel rufen Julian Schmidts Leipziger Jahre in Erinnerung und zeigen, wie wenig seine Kleist-Ausgabe als das Ergebnis stiller Mußestunden im Gelehrtenstübchen angesehen werden darf. Sie ist in den letzten Jahren der 27

28

29

30 33 34

Ebda, S. 335-336. - Noch 1876 schreibt Julian Schmidt: „in mancher Beziehung halteich diePenthesilea neben dem Kohlbaas für den genialsten Versuch Kleist's; dramatisch ist er dennoch verfehlt" (Preuß. Jahrbücher Bd. 37, S. 602). Einleitung, S. LXXVIII. - Eine formelhafte Nachbildung der Briefstelle Kleists: „der ganze Schmerz zugleich und Glanz meiner Seele" (nach der Konjektur Tiecks). Schmidt hat dies später noch einmal mit der Bemerkung umschrieben, daß die Mysterien „nur erzählt, nicht gezeigt" werden und daß Kleist deshalb gezwungen sei, mit Hunden und Elefanten zu füllen (Preuß. Jahrbücher Bd. 37, S. 603). Grenzboten Jg. 10, 1. Sem., 2. Bd. (1851) S. 324 3 1 u. 3 2 Ebda, S. 324. Preuß. Jahrbücher Bd. 57 (1886) S. 588. Ebda, S. 588.

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Grenzboten-Titigkeit Schmidts und in persönlichem Kontakt mit Leipziger Freunden und Kollegen aus altliberalem Kreise entstanden. Das für die Grenzboten unmittelbar nach der Revolution verkündete politische Programm, das kulturund bildungspolitische Pläne einschloß, gilt in weiterem Sinne auch für die Kleist-Edition. Schmidts Hauptziele waren die Besinnung auf die „conservativen Kräfte in der Nation" 35 , das Bewußtmachen der Unentbehrlichkeit Preußens, die Sicherung der „conservativen Demokratie" 36 und der verstärkte Kampf gegen die Romantiker und Jungdeutschen. In einem Brief an Lehrs erklärt er, daß er alle seine literarhistorischen Arbeiten in den Grenzboten nur als Vorstudien einer Geschichte der deutschen Poesie betrachte, aber: „Geschichte ist mir dabei der Nebenzweck, die Hauptsache, daß man der systematisch betriebenen Verwilderung in sittlichen und ästhetischen Dingen von allen Seiten ebenso systematisch auf den Leib rückt" 37 . DieGrenzboten waren 1841 von dem Österreicher Ignaz Kuranda mit dem Ziel, Deutschland und Belgien als „wesensverwandte Länder einander näher zu bringen" 38 , gegründet und zunächst in Brüssel herausgegeben worden. Um der Zeitschrift auch in Deutschland Absatz und Wirkung zu sichern, war Kuranda - zugleich mit Rücksicht auf die preußische Zensur - nach Leipzig übergesiedelt, von wo aus er die österreichische Politik scharf bekämpfte, bis Revolution und größere Pressefreiheit ihm eine Rückkehr in seine Heimat und eine neue publizistische Tätigkeit erlaubten. Kuranda hatte Julian Schmidt, der nach dem Studium der Philologie in Königsberg, nach Promotion und Oberlehrerprüfung im Jahre 1840 kurze Zeit Lehrer in Marienwerder und Berlin war, als Mitarbeiter gewonnen; wenig später übernahm Gustav Frey tag, von Julian Schmidt ermuntert, den Eigentumsanteil Kurandas, und seit dem 1. Juli 1848 führten beide39 die Redaktion der Zeitschrift gemeinsam: „Die neuen Inhaber beschlossen, die Zeitschrift zu dem Organ 35

36

37 38

39

Gustav Freytag (Preuß. Jbb. 57, 1886, S. 585/86) charakterisiert die Situation folgendermaßen: „Die conservativen Kräfte in der Nation schienen geschwunden, das nationale Selbstgefühl war schwach; die liberalen Forderungen gingen weit auseinander, und der süddeutsche Liberalismus, auch der Gemäßigten, krankte an dem Ubelstand, daß ihm die sämmtlichen Staatsregierungen, vorab Preußen, für Feinde der deutschen Zukunft galten. Wärme für den eigenen Staatsbau bestand im Grunde nur in Preußen". So schreibt Julian Schmidt (Grenzboten Jg. 18,1, 1. Sem., Bd. 1, 1859, S. 71: „Im Jahr 1848 pflanzten die Grenzboten die Fahne der conservativen Demokratie auf". Vgl. Alex Köster: Julian Schmidt als literar. Kritiker. Diss. Münster 1933, S. 5. Vgl. Otto Westphal: Welt- und Staatsauffassung des deutschen Liberalismus. München u. Berlin 1919, S. 42f. Diese äußere Gemeinsamkeit darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß beide „journalisusche Vertreter entgegenstehender Parteien" waren (Julian Schmidt am 13. Juli 1865 an G. Freytag). Im Jahre 1861 schreibt er an G. Freytag: „Die Differenzen, die dann zwischen uns beiden vorgekommen sind, bestehn nicht dann, daß der eine mehr rechts, der andre mehr links war, sondern die Oscillationen zwischen Links und Rechts trafen bei beiden nicht immer zusammen; bald ging der eine mehr rechts, bald der andre" (Nachlaß Freytag, Brief Nr. 36, Staatsbibl. Preuß. Kulturbesitz, Samml. Darmstädter).

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zu machen, in welchem das Ausscheiden Oesterreichs aus Deutschland und die preußische Führung leitende Idee des politischen Theils sein sollte, dazu von liberalem Standpunkt ein Kampf gegen die Auswüchse der Demokratie und den Schwindel des Jahres. In dem literarischen Teil aber eine feste und strenge Kritik aller der ungesunden Richtungen, welche durch die jungdeutsche Abhängigkeit von französischer Bildung und durch die Willkür der alten Romantik in die Seelen der Deutschen gekommen war" 40 . Aus dem ursprünglich fortschrittlich-liberalen wurde bald ein national-liberales Blatt. Gustav Freytag gesteht, daß die Grenzboten niemals das Vorbild der besten „französischen und englischen Unternehmungen" zu erreichen vermochten und daß die Abonnentenzahl des Blattes bescheiden blieb. Trotzdem glaubt er, daß die Zeitschrift „einen wesentlichen Einfluß auf die Bildung der jungen Generation ausgeübt" hat und „daß in ihr viel von deutscher Einsicht und deutschem Gewissen zu Tage kam". Rückschauend setzt er Julian Schmidt ein Denkmal: „Das Hauptverdienst aber dieses Erfolges in den dreizehn ersten Jahren herben Kampfes gegen eine öde Reaction und gegen die Muthlosigkeit und Zerfahrenheit im Volke kommt Julian Schmidt zu, der Regelmäßigkeit seines Fleißes, seiner festen Vaterlandsliebe, dem unerschütterlichen Vertrauen zu der Tüchtigkeit der Nation und zu der Kraft des preußischen Staats, und seiner tapferen Rücksichtslosigkeit" 41 . Im Jahre 1857 wurde Moritz Busch auf Grund des sächsischen Preßgesetzes, das ein Landeskind als verantwortlichen Redakteur forderte, zum Redakteur der Grenzboten bestellt, 1861 gab Julian Schmidt die Herausgebertätigkeit auf, um die Leitung der neu gegründeten Berliner Allgemeinen Zeitung zu übernehmen, im Herbst 1865 trat er seine Eigentumsanteile an Max Jordan ab 42 . Mit seiner Ubersiedlung nach Berlin eröffnete sich ihm ein neuer Lebensbereich, aber mit dem schnellen Niedergang der Berliner Allgemeinen Zeitung endet seine ,große Zeit'. Auf eine Professur konnte er nicht hoffen 43 . Die Persönlichkeit Bismarcks hatte die politische Landschaft radikal verändert, viele Träume - wenn auch gewaltsamer als es sich die ideologischen Vorbereiter erhofft - verwirklicht und den Liberalen keine echte politische Alternative mehr gelassen. So gewinnen im Rückblick 40 41

43

Gustav Freytag in: Preußische Jahrbücher. Bd. 57 (1886) S. 585. Ebda, S. 590. Vgl. Gustav Freytag als Politiker, Journalist und Mensch. Mit unveröff. Briefen von Freytag und Max Jordan. Eingel. u. hrsg. v. Johannes Hofmann. Leipzig 1922, S. 27 (Brief von Gustav Freytag an Jordan v. 26. Sept. 1865). V o r der Übernahme der Redaktion der Berliner Allgemeinen Zeitung hat Julian Schmidt Gustav Freytag um Rat gebeten. E r schreibt in diesem Zusammenhang: „Ich fühle dringend die Nothwendigkeit, meinem Leben auch einen äußeren Halt zu geben; einmal redeten Sie von einer Professur, aber dazu werd ich allmälig zu alt, und wenn ich nicht etwas über Fortificationskunde lesen will, ist keine Aussicht etc. Das ewige einsame Bücherschreiben macht mich auf die Länge todt [ . . . ] " (Nachlaß Freytag, Staatsbibl. Preuß. Kulturbesitz, Sammlung Darmstadter, Brief N r . 35).

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auch die literarhistorischen Arbeiten Julian Schmidts affirmativen Charakter. Das k o m m t am besten in den Sätzen z u m Ausdruck, mit denen Schmidt im J a h r e 1876 Kleists gedenkt: „der gewaltige U m b i l d u n g s p r o c e ß , der in Preußen durch den Ü b e r m u t h des französischen Eroberers hervorgerufen wurde, spricht sich in keiner andern Figur so charakteristisch aus. E r gehört zu den bedeutendsten S y m b o len unseres geschichtlichen L e b e n s " 4 4 . - V o n 1878 bis zu seinem T o d e im J a h r e 1886 bezog Julian Schmidt ein Ehrengehalt Wilhelms I . 4 5 . D i e Vorbereitungen zur Kleist-Ausgabe haben wahrscheinlich im F r ü h j a h r , spätestens im S o m m e r 1858 begonnen. D i e H a u p t a r b e i t 4 6 f ä l l t - wenn man sich auf die nachträgliche Datierung der Briefe Julian Schmidts an R e i m e r von anderer H a n d verlassen darf - ins J a h r 1859. W ä h r e n d der Verlag bereits die ersten beiden B ä n d e setzen ließ, schrieb Schmidt noch an der Einleitung, für die er u.a. durch einen Aufruf in der Nationalzeitung

weiteres Material, insbesondere unbekannte

Kleist-Briefe, zu erlangen h o f f t e 4 7 . D e r T e x t wurde offensichtlich recht zügig gesetzt, aber die Fertigstellung zog sich wegen der Anmerkungen bis z u m Spätherbst 1859 hin. D i e Ausgabe erschien jedoch in L i e f e r u n g e n 4 8 , so daß die Zeitverluste nicht ins G e w i c h t fielen: E n d e August 1859 lagen die Textteile v o r 4 9 , und am 2 9 . September 1859 schreibt Schmidt an R e i m e r , daß die neue Ausgabe in G ö t t i n g e n , w o er seinen Urlaub verbrachte, „einigen E i n d r u c k " m a c h t 5 0 , gleichzeitig stellt er die A n m e r k u n g e n für die nächsten T a g e in Aussicht u n d berichtet über den Brieffund Kobersteins, der für die Ausgabe nicht mehr genutzt werden k o n n t e . G e g e n E n d e des Jahres dürfte die Ausgabe vollständig vorgelegen haben. D i e Briefe und Mitteilungen Julian Schmidts an G e o r g Ernst R e i m e r lassen den Pragmatiker erkennen. Schon der erste B r i e f , in dem er Vorschläge für die n o t wendige Revision der Ausgabe unterbreitet, zeichnet sich durch eine klare P r o blemstellung, zweckmäßige Dispositionen und realisierbare Vorschläge aus. R e i mer wußte danach, wie er sich als Verleger zu verhalten hatte, welche Kosten zu erwarten waren und welche T e r m i n e gesetzt werden k o n n t e n . M i t einem solchen Geschäftspartner m u ß t e die Zusammenarbeit ein Vergnügen sein. Julian Schmidt dachte an eine Ausgabe für L i e b h a b e r o h n e gelehrten Ballast; wichtig erschien 44 45

46

47 48

49 50

Julian Schmidt: Heinrich von Kleist, in: Preuß. Jbb. Bd. 37 (1876) S. 593. Constantin Rößler in: ADB 31, S. 761: „da trug der preußische Staat eine in der That dringende Schuld ab". Zwischen dem ersten Brief vom 2. März 1858 und dem zweiten Brief, ohne Datum, liegt ein nicht genau zu bestimmender Zeitraum. Dieser Brief dürfte jedoch im Januar oder Februar 1859 geschrieben worden sein, was sich aus der Bemerkung über den TreitschkeAufsatz (Dezember 1858) und dem von Hirzel den Grenzboten (1. Sem. 1858) zur Verfügung gestellten Goethe-Brief schließen läßt. Vgl. die Briefe Julian Schmidts an Georg Ernst Reimer, Brief, Nr. 4. Das Exemplar der Bayr. Staatsbibliothek enthält einige miteingebundene Umschlagblätter der Lieferungen. Vgl. Brief Nr. 8 Julian Schmidt bittet bereits um Freiexemplare. Vgl. Brief Nr. 9.

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ihm, daß die Texte - und zwar in zuverlässiger Gestalt - gelesen wurden, und hierin dürfte er mit Reimer einer Meinung gewesen sein. Julian Schmidts Renommée als Textkritiker wurde allerdings von den Rezensenten bald zerstört, aber wenn sich danach die Vorstellung festsetzte, Schmidt sei in editorischen Fragen mehr als nachlässig gewesen, so bedarf diese Meinung doch einer Korrektur. Er hat nicht nur versucht, neue Quellen und Handschriften Kleists zu ermitteln 51 , sondern ebenso „mit Haupt und Hirzel conferirt" 52 , um sich über mögliche Druckfehler in der früheren Ausgabe Klarheit zu verschaffen; die „eigentliche Correktur" sollte nach seinem Wunsch ein „ordentlicher Berliner Corrector" 5 3 besorgen (was auch geschah). Es ist eine Textkritik des ,gesunden Menschenverstandes', des unwillkürlichen Reagierens auf problematische Textstellen und des Mutes zur eigenen Entscheidung. Als Gomperz sich kritisch zum Text äußerte, hielt er dessen Konjekturvorschläge für bedenkenswert, als später Köhler zahlreiche Fehllesungen bemängelte, ließ er sich überzeugen. Er war so selbstherrlich nicht, daß er den Rat von Fachleuten mißachtete. Man begegnet bei ihm sogar schon der Auffassung von den spezifischen Ausdrucksmitteln der Kleistschen Sprache, die bei Konjekturen Vorsicht gebiete. So hat er vor der Drucklegung einige Texteingriffe wieder rückgängig gemacht und Reimer, der sich mit eigenen Konjekturversuchen an der Textgestaltung beteiligte, auf Irrtümer hingewiesen: „nämlich bei genauerem Studium findet man, daß, was man zuerst für einen Druckfehler gehalten, Eigentümlichkeit der Kleistschen Sprache ist" 5 4 . Die Vorwürfe treffen in erster Linie die Konjekturalkritik überhaupt, die wie schon bei den Emendationen von Gomperz gezeigt wurde - ein in der klassischen und mittelalterlichen Philologie entwickeltes Verfahren verabsolutierte. Julian Schmidt hat sich an der herrschenden Lehrmeinung orientiert; manches ist sicherlich seinem Temperament zuzuschreiben, das kein minutiöses Studium der Texte erlaubte. Diese Temperamentsentscheidungen sind besonders gut bei der Einschätzung der Gedichte und im Zusammenhang mit der Frage zu beobachten, an welcher Stelle der neuen Ausgabe der Variant zum Zerbrochnen Krug wiedergegeben werden soll. Schmidt hat seine Ansicht zweimal geändert; die Charakterisierung „völlig wertlos" 55 sowie „fade und läppisch" 56 zeigt, daß hier - erkennbar nur im privaten Bereich seiner Briefe an Reimer - nicht Literaturkritik geübt, sondern Geschmacksurteile abgegeben werden. Die Variante über den höheren Sinn des Putzes im Käthchen von Heilbronn, von Schmidt als „poetisch verwerflich" bezeichnet, erscheint ihm nur interessant, weil sie „Spuren von der ursprünglichen Inten-

51

Vgl. hierzu die ausführliche Darstellung des Versuchs, Koberstein zur Beisteuerung der Briefe Kleists an Ulrike zu bewegen, im Koberstein-Kapitel, S. 214 - Vgl. auch Brief N r .

1.

" 54

Vgl. Brief N r . 2 Brief N r . 2. «

53

Vgl. Brief N r . 1. ;ef N r 2. Brief N r . 3.

Br

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tion Kleists mit der K u n i g u n d e " 5 7 gibt, und wenn er schließlich die Variantfassung zu beiden D r a m e n im Anhang abdruckt, so nur, weil er fürchtet, man würde ihm die Weglassung „ d o c h nicht v e r z e i h e n " 5 8 . „ B e i näherer Ü b e r l e g u n g " sieht er ein, „ d a ß , was einmal gedruckt ist, dem Publikum nicht vorenthalten werden d a r f " ; er ergänzt sogar die Sammlung der G e d i c h t e durch die von T i e c k übergangenen Phöbus-Gedichte,

„obgleich sie auch nichts t a u g e n " 5 9 .

A u f welch unsicherem B o d e n sich die Kleist-Philologie z u m damaligen Zeitpunkt befand, ist am besten an der O d e Germania

an ihre Kinder

zu zeigen. Julian

Schmidt standen keinerlei Handschriften zur Verfügung; er war allein auf die von T i e c k gedruckte fehlerhafte Fassung (t) angewiesen 6 0 . Als R e i m e r ihm im letzten Augenblick den 1813 von Ernst von Pfuel veranlaßten E i n z e l d r u c k (b) zugänglich machte, war er ein wenig ratlos. D i e Version von 1813 erschien ihm als „ B e a r b e i tung des ursprünglichen T e x t e s " 6 1 und er druckte sie schließlich im A n h a n g , ließ sie aber in der zweiten Ausgabe wieder fort. D i e Variante „ R e t t e r " (b, aber auch: c, f, g) gegenüber „ K a i s e r " (t, aber auch: a, d, e) in Zeile 3 3 , angesehen als Bearbeitung „ i m Sinn der neuen V e r h ä l t n i s s e " 6 2 , reichte für die Klärung der Abhängigkeiten allein nicht aus, obgleich in seiner Überlegung ein richtiger Kern steckte. D a ß es sich andererseits bei den Stellen „ S o h n " (t) und „ L o h n " (b, so auch in allen ü b rigen Fassungen) in Zeile 67 um keine Variante, sondern um einen D r u c k f e h l e r in t handelte, vermochte er nicht zu erkennen. Dabei verwickelte er sich sogar in einen Widerspruch: „ S o h n giebt eine Art Sinn, aber L o h n ist offenbar ursprünglic h e r " 6 3 . In der gedruckten Erklärung hat Schmidt das W o r t „ursprünglich" vermieden; er spricht nur davon, daß „einige Stellen" des Einzeldrucks „das Richtige enthalten" m ö g e n 6 4 . W e r eine genaue Vorstellung von der Arbeitsweise Julian Schmidts gewinnen will, m u ß auf die Kritik Reinhold Köhlers zurückgreifen und darüber hinaus eine systematische Aufgliederung der Texteingriffe und nachträglichen Korrekturen Schmidts versuchen. Schon nach H e r k u n f t , geistiger Entwicklung und näheren Lebensumständen ist kaum ein größerer Gegensatz denkbar als der zwischen Julian Schmidt und dem um z w ö l f J a h r e jüngeren Reinhold K ö h l e r , der nie die Öffentlichkeit gesucht und - durch beschränkte Verhältnisse in seiner beruflichen Entwicklung zurückgesetzt - seine Lebenserfüllung in einem bescheidenen Gelehrtendasein gefunden hatte.

57 58 59 60

61 62 63 64

Brief Nr. 3. Brief Nr. 4. Brief Nr. 2. Zählung a - g nach Ausg. Sbd I, 911 f. - Vgl. hierzu die synoptische Übersicht in Kanzog, Prolegomena S. 151 - 1 6 6 . Brief Nr. 10 und Anm. 1. Ausgabe Julian Schmidt, Bd. 3, S. 417. Brief Nr. 10. Ausgabe Julian Schmidt, Bd. 3, S. 417.

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Köhler war in Weimar aufgewachsen; er hatte in Jena, Leipzig und Bonn klassische Altertumswissenschaft, altdeutsche Philologie und vergleichende Sprachwissenschaft studiert, 1852 in Berlin das Staatsexamen abgelegt und ein Jahr darauf mit einer Studie über Nonnos promoviert, jedoch auf die Habilitation verzichten müssen, da der frühe Tod des Vaters, eines protestantischen Geistlichen, ihn zwang, Mutter und Geschwister zu unterstützen 6 5 . Seit 1856 war er Weimarischer Bibliothekar, lange Zeit nur in untergeordneter Stellung und erst seit 1881 Leiter der Großherzoglichen Bibliothek, ein treuer Helfer vieler Forscher und als „Doctor Allwissend" 6 6 eine angesehene Persönlichkeit seiner Vaterstadt. Köhler stand abseits der politischen Kämpfe; sein Fleiß und sein Gelehrtenbewußtsein waren Ausdruck einer Selbstbewahrung gegenüber der kleinstädtischen Enge und der Misere, von Großherzoglichen Gnaden abhängig zu sein. In seinem Nachruf auf Köhler und in der späteren biographischen Skizze hat Erich Schmidt Glanz und Elend dieses durch Entsagungen erkauften Gelehrtenlebens geschildert und die wissenschaftlichen Qualitäten Köhlers charakterisiert 6 7 : „K. war ein außerordentlicher Gelehrter, aber weder ein Schriftsteller noch ein Mann neuer Gesichtspunkte, Combinationen und Hypothesen. In der classischen Philologie sicher geschult, nahm er besonnen seinen Weg durch die Sprachen und Litteraturen, sammelnd, sichtend, erläuternd. Das ganze deutsche Gebiet war ihm geläufig". Es ist nicht festzustellen, wer Köhler zu seiner Lesarten-Studie angeregt hat 6 8 ; man ist versucht an Koberstein zu denken, zu dem Köhler persönliche Beziehungen unterhielt 6 9 , aber die Arbeit kann auch auf eigene Initiative zurückgehen. Da sich Köhler in der Hauptsache mit Julian Schmidt auseinandersetzt, wird deutlich, 65

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In einem Brief an Heinrich Rückert vom 18. April 1852 (mitgeteilt von Erich Schmidt in: R. Köhler, Aufsätze über Märchen und Volkslieder. Berlin 1894, S. 3 - 4 ) macht Köhler gegen eine Habilitation neben materiellen Schwierigkeiten auch fachliche Bedenken geltend: „Ich glaube allerdings, daß ein Anfänger einzelnes bei mir lernen kann; daß ich aber ein einigermaßen gründliches Colleg werde lesen können, ist unmöglich". Erich Schmidt vermerkt: „ 1 8 5 5 , als Liliencron von Jena schied, erwog Köhler die Habilitation ernstlicher". So nennt ihn Erich Schmidt auf einer Karte vom 1. Juni 1880. Vgl. zu den persönlichen Beziehungen die Auszüge aus den Briefen Erich Schmidts an Reinhold Köhler Bd. 2, S. 1 5 6 - 1 6 0 . Zeitschrift d. Ver. f . Volkskunde 2 (1892) S. 4 1 8 - 4 3 7 , Goethe-Jahrbuch 14 (1893) S. 2 9 7 - 3 0 4 und in: R. Köhler, Aufsätze über Märchen u. Volkslieder. Berlin 1894, S. 1 - 1 2 . Vgl. außerdem die Bemerkungen in W . Scherer - E. Schmidt, Briefwechsel, S. 45, 65, 100, 223 und die biographische Skizze in A D B . 51 (1906) S. 3 1 7 - 3 1 8 (Zitat). Reinhold Köhler: Zu Heinrich von Kleist's Werken. Die Lesarten der Originalausgaben und die Änderungen Ludwig Tieck's und Julian Schmidt's. Weimar 1862. - Laut Auskunft des Verlages Böhlau, Weimar vom 7. Jan. 1970 fanden sich im Verlagsarchiv keine Unterlagen zur Entstehungsgeschichte dieses Werkes. Köhler war (nach Erich Schmidt) mit Koberstein mehrfach bei den Veranstaltungen der „Vogelweide" zusammengetroffen. Die im Nachlaß Reinhold Köhlers (Goethe-Schiller-Archiv der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten Weimar) erhaltenen 10 Briefe aus der Zeit von Anfang 1865 bis 7. Mai 1869 bieten nichts über Kleist.

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daß es sich hier um die Reaktion eines strengen Philologen auf die wissenschaftlichen Ansprüche eines als Außenseiter angesehenen Journalisten handelt. Doch vermeidet Köhler jede überflüssige Polemik; seine Argumentation ist von betonter Sachlichkeit. Vor allem die kurze Einleitung, in der er die bisherige Editionsgeschichte skizziert, ist ein Musterbeispiel disziplinierten Stils. Schmidts Kardinalfehler war die mangelnde Unterscheidung zwischen den Überlieferungsbedingungen alter und neuer Texte, d.h. er rechnete von vornherein mit einem zu großen Prozentsatz an Textverderbnissen, die es zu .bessern' galt. In dieser Auffassung ist er vielleicht von Gomperz, Hirzel und Haupt wesentlich bestärkt, wenn nicht entscheidend beeinflußt worden. Nimmt man seine Abneigung gegenüber den .Manierismen' des Kleistschen Stiles hinzu, so ist es nicht verwunderlich, daß er auf die intensive Konsultation der Erstdrucke 7 0 verzichtete. Von ihnen konnte er nach seiner Auffassung kaum Belehrung erhoffen. Zu einer exakten Feststellung der Textphänomenologie, wie sie Köhler dank seiner besonderen Begabung für Detailbeobachtung und Stilvergleichung versuchte, fehlte ihm dagegen die Zeit. Im übrigen war Schmidt auf Grund der Einsichtnahme in das Organische Fragment der Penthesilea zu der Erkenntnis gelangt, daß Kleist in der Buchausgabe „alles drunter und drüber geworfen hat" 7 1 ; eine solche Vorstellung vom Entstehungsprozeß des Werkes mußte ihn in der Uberzeugung, vielfach nicht voll ausgereifte Texte vor sich zu haben, noch bestärken. Vielleicht hat auch die Meinung eine Rolle gespielt, daß Tieck Nachlaßmaterial 72 zur Verfügung gestanden hatte, aus dem sowohl Verbesserungen wie auch neue Eigenwilligkeiten in die Ausgabe der Gesammelten Schuften hineingeraten waren. So muß zur Ehrenrettung des Textkritikers Julian Schmidt gesagt werden, daß die Textkonstitution seiner Ausgabe von 1859 das Ergebnis ernster Überlegungen und Bemühungen, wenn auch nicht gründlicher Studien ist. Ein weiterer Fehler Schmidts war das große Vertrauen, das er in die Lesungen Tiecks setzte. Doch zeigt ein Vergleich der Verbesserungen Schmidts mit den Texteingriffen Tiecks ein durchaus selbständiges Vorgehen und ein bestimmtes Verbesserungssystem. Waren die Textentscheidungen Tiecks Ausdruck eines starken künstlerischen Empfindens, so sieht man Julian Schmidt - zur Überraschung derer, die ihn nur als schwungvollen Stilisten kennen - nunmehr als korrigierenden Schulmeister am Werk; gerade dieses Vorgehen vermag den Vorwurf der Nachlässigkeit zu entkräften, aber es macht auch den Unterschied zwischen dem ,Positivismus' Köhlers und der Pedanterie Schmidts bewußt. Dabei darf nicht übersehen werden, daß diese Pedanterie wiederum Teil einer Wirkungspoetik ist, 70

71 72

Reimer hat Schmidt, wie aus dessen erstem Brief hervorgeht, „ältere D r u c k e " übersandt, aber es wird nicht klar, ob es sich dabei nur um die bei Reimer erschienenen Werke Kleists handelt. Vgl. Brief N r . 1. Im gleichen Brief erkundigt sich Jul. Schmidt nach Manuskripten für den „in Ihrem Verlag erschienenen Nachlaß".

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die eine .bessere' Lesbarkeit des dichterischen Werkes als Voraussetzung eines ,reineren' Genusses ansah. Nach dem Erscheinen der Lesarten-Studie Reinhold Köhlers war der Verlag gezwungen, die philologischen und buchhändlerischen Konsequenzen zu ziehen; in keinem Falle konnte er die Ergebnisse ignorieren. O b die zweite Ausgabe von 1863 - wie Eduard Grisebach 73 behauptet - „einzig und allein durch das Erscheinen der Köhler'schen Schrift veranlaßt worden", bleibe dahingestellt. Es ist eher anzunehmen, daß inzwischen ohnehin eine neue Auflage fällig geworden war. Der Korrektur stellte sich jedoch ein schweres Hindernis entgegen. Der Verlag hatte, offenbar in der Annahme, eine .endgültige' Textkonstitution erreicht zu haben, die Ausgabe stereotypieren lassen, um bei Neuauflagen Satzkosten einzusparen. Wollte er Köhlers Verbesserungen für die Ausgabe nutzbar machen, so mußte für jede einzelne Korrektur die Stereotypplatte geändert werden, was einen erheblichen technischen Aufwand erforderte und für die Dramen und Gedichte leichter als für die Prosa zu bewerkstelligen war. Leider geben die Briefe Julian Schmidts an Georg Ernst Reimer keinerlei Aufschluß über mögliche Direktiven des Verlages oder das von Schmidt als notwendig erachtete Ausmaß der Korrekturen. Lediglich in einer kurzen Bemerkung am Schluß des Nachwortes zur Ausgabe von 1863 legt Schmidt Rechenschaft über die eingearbeiteten Verbesserungen ab: „Bei der gegenwärtigen Durchsicht ist diese fleißige Arbeit durchweg zu Rathe gezogen. Handgreifliche Sprachfehler des Dichters wiederherzustellen haben wir uns aber nicht veranlaßt gesehen" 74 . Es ist vor allem dieser Hinweis auf „handgreifliche Sprachfehler", von dem aus Julian Schmidts textkritische Intentionen zu beurteilen sind. Schmidt hat zunächst einige Gravamina beseitigt, siebzehn Druckfehler, die er unbesehen aus der Ausgabe Tiecks übernommen hatte, und elf, die erst in seiner Ausgabe aufgetreten waren, wobei die Klassifizierung als Druckfehler nicht in jedem Fall eindeutig ist. Daneben korrigiert er an achtzehn Stellen in den Dramen und an weiteren zehn in den Erzählungen kleinere Textabweichungen, die er ebenfalls aus der Ausgabe Tiecks übernommen hatte. Bei allen übrigen Bemerkungen und Erstdruck-Verweisungen Köhlers entscheidet er von Fall zu Fall. Untersucht man jede einzelne von Köhler monierte Lesart im Vergleich mit der Ausgabe von 1863, so zeichnen sich folgende Tendenzen ab 7 5 :

73

74 75

Im Bibliographischen Anhang der von ihm herausgegebenen Sämtlichen Werke Kleists. Leipzig Bd. 2 (1884) S. 422. 2. Aufl. (zit.: S 2 ) Bd. 1, S. C X L I V . Die Darstellung beruht auf der Auswertung und Neuordnung des von Köhler vorgeführten Materials. Um den Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht zu sprengen, beschränke ich mich auf die mir am beweiskräftigsten erscheinenden Varianten und auf die Zusammenfassungen von Hauptgruppen. Verszählung zur besseren Textkontrolle nach der Ausgabe Sembdners.

Revision und Neuansatz

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1. Wie schon Tieck, so neigte auch Julian Schmidt zu Ä n d e r u n g e n d e r V e r b f o r m e n , wo ihm eine Modernisierung oder eine Verständnishilfe notwendig erschien: „erfordert"seht auf Ph, wo die Verse fast gleichlautend, wenn auch mit anderer Brechung überliefert sind und das Wort „setzt" in E als Druckfehler ausweisen. Schmidt hat darüber hinaus in V. 732 und 733 die Pausen verstärkt. Spätere Herausgeber wie O . Walzel, E. Schmidt und H . Sembdner kehrten zur ursprünglichen Interpunktion zurück, verstärkten jedoch die Pausen in V. 732 durch zusätzliche Kommata: „ N u n , diesen Krug jetzt, seht - den Krug, [ . . .]" 95 94

95

Dieses Komma (nur in E überliefert) wurde auch von allen nachfolgenden Herausgebern getilgt. Das erscheint mir im Hinblick auf die Stilfigur nicht gerechtfertigt, denn der Kyklos verlangt an dieser Stelle eine ungestaute Sprechweise.

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Zerhr. Krug, Vanant, V. 1938/39: So wird sie, wie der Krug zerbrochen worden, Umständlich nach de[n]m Hergang uns berichten. T und S1 übersahen den engen sachlichen Zusammenhang von Adjektiv und Verlaufsform und konjizierten „noch". Penth. V. 1227/28: Daß der Stern, auf dem wir athmen, Geknickt, gleich dieser Rosen einefnjr, läge! Köhler beruft sich ebenfalls a u f P h . Dort findet sich die Formulierung: „gleich einer dieser Rosen". Zwei weitere von Schmidt akzeptierte Vorschläge Köhlers dienen dem besseren Verständnis des Gesagten und sind auch als Sprechhilfe nützlich, obgleich eine Konjektur an diesen Stellen nicht unbedingt erforderlich ist: Penth. 70/71: als schlüge [rings um] ringsum ihr Die Welt in helle Flammenlohe auf. Hier legt das nicht auf den ersten Blick einleuchtende, aber berechtigte „ihr" (im Sinne von „für sie") eine Verstärkung des lokalen Bezugswortes nahe, um eine bessere Abgrenzung Penthesileas zu erreichen. Das kann ebenso durch die Zusammenziehung der Worte wie durch die von mir vorgeschlagene Einschließung in Kommata geschehen 96 . Käthchen V. 2134: Und flüstertestf,]: mein hochverehrter Herr! Nach Köhlers Auffassung „muß hier ein Kolon stehen". Heute würde man einschränkend sagen: sollte vielleicht ein Komma gesetzt werden, wenn man das Moment der .erlebten Rede' stärker zum Ausdruck bringen will. Von den übrigen fünf Vorschlägen Köhlers 97 können drei als grammatikalisch einwandfreie Verbesserungen gelten, während die beiden letzten umstritten bleiben werden: Farn. Schroff. V. 1667'68: [ . . . ] der Stämme Zwietracht ewig Mit [seiner] ihrer Wurzel auszurotten. Fände sich nicht in der Familie Ghonorez die gleiche Fassung „seiner Wurzel", so wäre Köhlers Forderung („Es muß geschrieben werden: ihrer Wurzel") ohne weiteres zu akzeptieren. Doch läßt sich für Kleists ungewöhnliche Pronominalkonstruktion nur schwer eine stichhaltige Begründung finden; vielleicht sind hier Bibel-Reminiszenzen (Hes. 17,9: „Ja, man wird seine Wurzel ausrotten") in den Vers eingeflossen. Zolling folgte dem Erstdruck, Erich Schmidt der Lesung Köhlers. Käthchen II, 8, 1063, Bühnenanweisung: Georg, der über [den] dem Burggrafen beschäftigt ist. Mit einigem Recht beruft sich Köhler hier auf Ph, wo die Bühnenanweisung lautet: Georg von Waldstätten, der über ihm beschäftigt ist. Zolling schloß sich der Lesung Köhlers an, Erich Schmidt hält sich an die Buchausgabe. Käthchen IV, 5; 2202/04: Rosalie: In der Grotte? Unmöglich! Eleonore: Wahrhaftig! In der Nebenkammern einer, die dunkel und versteckt sind. 96 97

Vgl. hierzu meine Bemerkung S. 105 dieser Arbeit. Es ist bemerkenswert, daß Helmut Sembdner, der von allen Herausgebern den wohl konservativsten Standpunkt vertritt, selbst diese grammatikalisch einwandfreien Verbesserungen nicht übernommen hat.

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Revision und Neuansatz

Auch Zolling und Erich Schmidt haben sich hier zu einer Korrektur der wohl als Druckfehler anzusehenden Stelle entschlossen. Kohlhaas II 6 4 , 8 - 1 2 : Es war höchst unwahrscheinlich, daß die Pferde, die der Abdecker von Dresden jetzt besorgte, jemals wieder in den Stand, wie sie aus dem Stall zu Kohlhaasenbrück gekommen waren, hergestellt werden [würden] könnten; doch gesetzt, daß es durch Kunst und anhaltende Pflege möglich gewesen wäre: [ . . . ] . Kleists etwas blasser Konjunktiv enthält eine futurische Aussage allgemeiner Art. Köhler, der Tiecks Lesung („werden können") wieder aufgreift und verbessert, stellt dagegen einen engeren Bezug zur vorangehenden Aussage („Es war höchst unwahrscheinlich [ . . . ] " ) her und legt den Akzent auf die Möglichkeit des Wieder-Dickfütterns der Pferde, von dem im weiteren Satzverlauf die Rede ist. Weder Zolling noch Erich Schmidt übernahmen Köhlers Lesung. Penth. V.1387/88: Penthesilea { schaut in den Fluß nieder.) Ich [,] Rasende! Da liegt er mir zu Füßen ja! Nimm mich (Sie will in den Fluß sinken, [ . . . ] ) Köhler fordert die Tilgung des Kommas, da Penthesilea sich selbst eine Rasende nenne. Zu bedenken ist jedoch, daß die von Kleist korrigierte Abschrift an dieser Stelle ein Komma aufweist. Liest man (wie auch Zolling und Erich Schmidt) „Ich Rasende!" so sind die Worte aus dem Augenblick zu erklären, in dem Penthesilea Helios, den sie „bei seinen goldnen Flammenhaaren" (V. 1384) zu sich herniederziehen wollte, im Spiegel des Flusses erkennt („Da liegt er mir zu Füßen ja!"). Das schließt eine von Kleist absichdich in die Rede hineingebrachte und der Steigerung dienende Stauung nicht aus. Kernstück der Ausgabe ist die Vorrede Julian Schmidts, ursprünglich auf drei bis vier Bogen veranschlagt, dann auf das Doppelte angewachsen, in wenigen W o chen verfaßt und von ihm selbst „ z u dem B e s t e n " 9 8 gerechnet, was er geschrieben habe. „Julian Schmidt w a r " , nach dem Zeugnis Gustav F r e y t a g s 9 9 , „ein schneller Arbeiter, pünktlich im Abliefern des Manuskriptes, Freude und Trost der Setzer; die Gedanken strömten ihm voll und gleichmäßig aus der Feder, auf den Seiten, die er von oben bis unten zu beschreiben liebte, fand sich selten ein W o r t corrigirt 1 0 0 . Die Rückseite seiner Concepte war in der Regel mit algebraischen Formeln beschrieben, solches Rechnen trieb er unablässig als Privatvergnügen zur E r h o l u n g " . Wilhelm Scherer, Erich Schmidt, Dilthey und H e r m a n G r i m m schätzten seine Arbeiten hoch ein. Scherer, der als Gymnasiast von der Literaturgeschichte

stark

beeindruckt worden war, erkannte aber auch die Schwächen dieses glänzenden Stilisten. Scherer spricht von einem „Gefühl der Unbehaglichkeit, das sich bei Julian öfters einstellt, daß man nicht mehr weiß wer redet, ob der A u t o r oder eine

98 99

100

Vgl. Briefe Julian Schmidts an Georg Ernst Reimer, Nr. 5. Gustav Freytag: Julian Schmidt bei den Grenzboten. - In: Preußische Jahrbücher Jg. 57 (1886) S. 590. In seinem Begleitbrief an Reimer (Nr. 5) beklagt Schmidt jedoch, daß seine Handschrift „im ganzen wenig lesbar" sei, was man an den überlieferten Briefen bestätigt findet.

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Quelle" 101 . Eine andere Gefahr zeigte sich in seiner Impulsivität und der zwangsläufig polemischen Zuspitzung der stets leidenschaftlich vorgetragenen Argumentation. Oskar Walzel hat diese Stileigentümlichkeit treffend charakterisiert: „Julian Schmidt war in seiner Jugend ein viel zu hitziger Kämpfer. Deutlich läßt sich beobachten, wie sein Temperament ihn während der Niederschrift seiner Beurteilung weitertreibt. Er setzt schier verständnisvoll ein, dann wird er von Schritt zu Schritt bissiger. So entstanden sogar Widersprüche, wie sie auch von Hebbel seinem Kritiker nachgewiesen werden konnten" 1 0 2 . Julian Schmidt sah sich bei allem, was er schrieb, im Brennpunkt der Öffentlichkeit; er war der Bewunderung seiner Eleganz ebenso gewiß wie der Feindschaft seiner Gegner. Anfangs sah Schmidt für die vom Verleger gewünschte Einleitung zur KleistAusgabe nur die Alternative zwischen einer kurzen Vorrede und einer vollständigen Biographie „mit allen Briefen, nebst einer Geschichte der Anerkennung, welche Kleist in Deutschland gefunden hat" 103 . Eine literarische Kritik der Kleistschen Stücke hielt er nicht für nötig, während er die Herstellung der neuen Biographie von weiteren Quellenfunden abhängig machte. Er überließ die Entscheidung darüber Reimer. Der Entschluß, die geplante kurze Vorrede zur Biographie auszuweiten, scheint dann durch den am 9. Juni 1858 an Julian Schmidt abgesandten Beitrag 104 Friedrich Christoph Dahlmanns, ein längeres autobiographisches Zeugnis aus dem Jahre 1808/09, wesentlich mitbestimmt worden zu sein. Mit der umfassenden Einbeziehung der Analyse einzelner Werke folgte er dem Rate Hirzeis 105 . O b die Vorrede wirklich zu den besten Arbeiten Julian Schmidts zu rechnen ist, wird man heute bezweifeln. Seine Grenzboten- Artikel machen einen wesentlich frischeren Eindruck. Nur die schwungvolle Einleitung (VI,4-XII,6), in der er im Anschluß an eine kurze Begründung der Edition das Wesen der Dichtung 106 zu definieren und Kleists dichterische Substanz zu erfassen versucht, hat essayistischen Reiz. Der Rest leidet an einer Überfrachtung durch Zitate, die Scherers Kritik voll bestätigt; hier macht sich der Zwang, eine biographische Skizze entwerfen zu müssen, auf fast jeder Seite bemerkbar. Es blieb Schmidt jedoch keine andere Wahl, als die Bülowsche Biographie zur Grundlage seiner Skizze zu machen und das Material in Zitat-Komplexen auszuwerten. Der Vorzug gegenüber der Darstellung Bülows liegt in der gefälligeren Darbietung und der Verknüpfung der Biographie mit der in die Chronologie eingeflochtenen Entstehungsgeschichte und Charakteristik einzelner Werke. Aus den Briefen Kleists wird reichlich zi101 102 103 104 105 106

Wilhelm Scherer - Erich Schmidt, Briefwechsel. Berlin 1963, S. 51. Oskar Walzel: Ein deutscher Kritiker. - In: Berliner Börsen-Courier, N r . 67 (1918). Vgl. Briefe Julian Schmidts an Georg Ernst Reimer, N r . 1. Ebda, N r . 2, Anm. 12. Ebda, N r . 1. Diese Darlegung beginnt mit dem bemerkenswerten Satz: „Im Grunde bedarf ein Dichter von Gottes Gnaden keines Auslegers" (VI, 4).

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Revision und Neuansatz

tiert; für die Frühzeit dienen die Briefe an Wilhelmine als Leitfaden, danach hält er sich ebenfalls an die von Tieck und Bülow bereits bekannt gemachten Briefe; Henriettes Abschiedsbrief an Sophie Müller mit der Nachschrift Kleists 107 erscheint in vollem Wortlaut. Über Bülows Material hinaus führen - abgesehen von dem Beitrag Dahlmanns - nur wenige Lesefrüchte 108 . Es wurde der Einleitung zum Verhängnis, daß Schmidt Kleists Briefe an Ulrike nicht mehr auswerten konnte und daß er die Einleitung in der zweiten Ausgabe auf Grund der von Koberstein veröffentlichten Briefe keiner Umarbeitung unterzog, sondern die Briefe - wohl aus Sparsamkeit des Verlages - lediglich in einem Nachtrag charakterisierte. Andererseits hat der Beitrag Dahlmanns 109 innerhalb der Einleitung besonderes Gewicht. Er vermittelt etwas von dem historischen Hintergrund der Entstehungsgeschichte der Hermannsschlacht und brachte, voller persönlicher Empfindungen, dem Publikum Kleist als vaterländischen Dichter näher. Spricht Dahlmann am Ende seiner Erinnerungen davon, daß Kleist „seiner düstern nagenden Hoffnungslosigkeit, seiner Verzweiflung am Vaterlande" 110 erlag, so schließt Schmidt die Betrachtung dieser Lebensepoche Kleists mit Versen aus dem Letzten Lied und der Charakteristik: „hier strömt die Qual eines vollen Herzens uns entgegen, das in dem allgemeinen Untergang auch das Götterkind der Poesie erblassen sieht" 1 1 1 . An dieser Stelle ist die Gewichtsverlagerung in der biographischen Skizze gegenüber der trocknen Materialdarbietung Bülows am deutlichsten zu spüren. Bei den Vorgesprächen über die Neugestaltung der Kleist-Ausgabe scheint Reimer sich darüber Gedanken gemacht zu haben, wie weit man die Einleitung Tiecks erhalten könne. Schmidt nennt sie „durch die Bülowsche antiquirt" und billigt ihr „nur noch einen literarhistorischen Werth" 1 1 2 zu. Dennoch greift er mehrfach auf die Einleitung zurück und druckt verschiedene Passagen daraus. Er scheint damit wohl einem Rat Reimers zu folgen, Tiecks Text nicht vollständig zu eliminieren, denn die wiedergegebenen Auszüge, in der Hauptsache Charakteristiken der Werke Kleists, sind z.T. ungewöhnlich lang. Es fällt jedoch auf, daß Schmidt diese Zitate häufig dazu benutzt, um seinen eigenen Standpunkt davon abzugrenzen 113 . Man erkennt hier geradezu beispielhaft, wie stark seine gesamte literarische Beweisführung auf Reaktionen anderen Meinungen gegenüber beruht

107 108

109

110 111 112 1,3

ES 193, MP 218, Sbd 224. So wertete Julian Schmidt (S. L X V I I f f . ) den 1857 erschienenen Briefwechsel zwischen Friedrich v. Gentz und Adam Müller aus. Dahlmann verschwieg Schmidt, daß er im Besitze der Handschrift ¿exFamilie Schroff enstein war. Vgl. S.C. 7 - 8 . Vgl. S. CIII, 2 - 4 . Vgl. Briefe Julian Schmidts an Georg Ernst Reimer, Nr. 1. Vgl. die jeweiligen Einsätze Schmidts im Anschluß an die zitierten Tieck-Stellen: „ E s liegt in dieser Lösung noch ein schlimmerer Ubelstand, auf den Tieck vergessen hat die Aufmerksamkeit hinzulenken" (zur Familie Schroffenstein; X L V , 26-28). - „Wir kön-

Revision und Neuansatz

197

und sich aus gegenteiligen Ansichten entwickelt; gelegentlich kommt es dabei sogar zu emphatischen Ausbrüchen 1 1 4 . Bei aller Wertschätzung der Verdienste Tiecks, des „warmen Lobredners" 1 1 5 , kann sich Schmidt aber auch der Kritik der Tieckschen Dichtung nicht ganz enthalten. So nutzt er gleich dreimal die Gelegenheit, die frühen Werke Tiecks zu brandmarken: im Zusammenhang mit dem von Tieck abgewerteten Zigeunerinnen-Motiv des Michael Kohlhaas läßt er deutlich werden, wie wenig Tieck eigentlich das Recht habe, hier von den „Krankheiten des Tages" zu reden, denen er doch selbst verfallen gewesen sei 1 1 6 , an anderer Stelle spielt er das Erdbeben in Chili gegen die ungesunde Romantik Tiecks aus 1 1 7 , und anläßlich der Tieckschen//ow¿«rg-Interpretation erinnert er an William Lovell und den Blonden Eckbert - die Sünden Kleists seien „auch die seinigen" (CXIII-CXIV). Daneben wertet Schmidt zahlreiche andere literarische, meist von Bülow bereits zitierte Quellen aus. Vielfach sind die Exzerpte nur notdürftig miteinander verklammert. Manchmal sind auch kurze Reflexionen über die literarische Situation im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts dazwischengeschoben, die der Darstellung im ganzen gesehen doch eine große Entwicklungslinie unterlegen; so führen die Gedanken immer wieder auf die Weimarer Klassik, auf die verderblichen Wirkungen Zacharias Werners und Kotzebues sowie auf Kleists Verhältnis zur Romantik zurück. Schmidt hatte sich für die Interpretation der Werke Kleists die Aufgabe gesetzt, „aus dem pathologischen Eindruck den echt künstlerischen loszuschälen" 1 1 8 ; das ist ihm im Rahmen seiner Einsicht und seines literarhistorischen Konzepts durchaus gelungen. Eine völlig neue Biographie war ihm weder

114

1,5 116

117

118

nen Tieck nicht beipflichten" (zu Penthesilea; LXXVII, 6). - „Diesmal übersieht Tieck, bei dem mächtigen Eindruck des Ganzen, die Fehler zu sehr" (zum Kätheben von Heilbronn; LXXXVIII, 18). - „Die Darstellung ist richtig, bis auf einen - entscheidenden Punkt" (zumPrinz von Homburg; 0X111,27-28). - „Wenn aber Tieck hinzusetzt [ . . . ] so ist das zuviel gesagt; im Gegenteil [ . . . ] " (zum Michael Kohlhaas; LH, 23-26) und: „Den psychologischen Zusammenhang der Episode hat Tieck nicht erkannt" (LVI, 6-7). So etwa anläßlich einer Äußerung Goethes über den Zerbrocbnen Krug, die Schmidt mit den Worten kommentiert: „Eine wunderliche Kritik! was man noch vor wenig Jahren im König Oedipus als den größten Vorzug empfunden, sollte nun ein Nachteil sein!" (LXXXIII, 5 - 7 ) . Vgl. Briefe Julian Schmidts an Georg Ernst Reimer, Nr. 1. „Man kann sich bei dieser sehr richtigen Kritik doch der Bemerkung nicht erwehren, daß diese Krankheiten des Tages nirgends so unheimlich hervortreten, als in den Novellen des Pbantasus, vom blonden Eckbert an (1796) bis zum Liebeszauber (1811)" (LVI, 23-26). „Es ist doch eine ganz andere Tragik in diesem Bild als in Tieck's Liebeszauber oder Pokal, jenen wüsten Ausflüssen einer Fieberphantasie, die in demselben Jahr gedichtet und dem Pbantasus einverleibt wurden" (CHI, 27-30). Vgl. Einleitung VI, 11-12.

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Revision und Neuansatz

möglich, noch war er der M a n n subtiler Q u e l l e n f o r s c h u n g 1 1 9 . Letztlich aber ist er von seinen Q u e l l e n nicht s o sklavisch abhängig, wie man vielleicht glauben mag. Liest man die Einleitung als versteckten K o m m e n t a r zur bisherigen Wirkungsgeschichte Kleists, so gewinnt sie Eigenständigkeit u n d besonderen Wert. A u s der Fülle der Werk-Aspekte soll hier Schmidts Betrachtung des Prinz Homburg

von

herausgegriffen und sowohl seine Arbeitsweise als auch der U n t e r -

schied gegenüber früheren Überlegungen in der Leipziger Rezension und in den Charakterbildern

verdeudicht werden. In der Einleitung

nimmt die Interpretation

naturgemäß einen wesentlich breiteren R a u m ein. S o wurden Bemerkungen Solgers ( C V I I , 6 - 1 0 ) und die wichtigsten Stellen aus der Argumentation Tiecks ( C V I I , 11 - 1 6 u. C X I I , 8 - C X I I . 2 6 ) einbezogen. Außerdem k o m m t der zeitpolitische Hintergrund der Entstehungsgeschichte stärker z u m A u s d r u c k . Gegenüber der knappen Erwähnung Prinz L o u i s F e r d i n a n d s 1 2 0 , dessen Bild u n d dessen U m gebung er im Prinzen und den Offizieren wiederzufinden glaubte, liegt das Schwergewicht jetzt auf Schill ( C V I I I , 26ff.) und Y o r k ( C I X , l f f . ) u n d ihrem Konflikt mit Friedrich Wilhelm III. D e r Aktualitätsbezug der Leipziger Rezension auf die Verfassungskämpfe der 50er Jahre wurde zugunsten des „ g l ä n z e n d angelegten P r o b l e m s " ( C X I , 5 ) weitgehend zurückgedrängt. E r legt das Stück auf eine durch die napoleonische Unterdrückung entstandene Staatsmoral 1 2 1 fest und sieht auf der einen Seite das „volle Recht des U r t e i l s " ( C X , 2 0 ) , auf der anderen jedoch die Notwendigkeit, daß „in einem echten Kriegerstaat die Disciplin [ . . . ] nicht das L e t z t e " sein dürfe ( C X , 2 2 - 2 3 ) . V o n dieser Warte muß e r - wie schon in der Leipziger Rezension sichtbar - im Kurfürsten ein politisches Vorbild sehen und die eigentliche A u f g a b e des Stückes darin suchen, nicht „ d i e Bewegung in der Seele des Prinzen, sondern die Bewegung in der Seele des Fürsten deutlich zu machen" ( C X I , 6 - 8 ) . N a c h seiner Meinung ist Kleist gerade dies nicht gelungen. D o c h Schmidts Interpretationsansatz, der K u r f ü r s t meine es v o n Anfang an mit seinem Urteil nicht ernst, ist ebenso einseitig wie die über Jahrzehnte in der Kritik weiterwirkende Folgerung, durch den „ g r a u s a m scherzenden" Kurfürsten werde der Konflikt ins Lustspielhafte verschoben.

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120

121

So schreibt Constantin Rößler (ADB 31,752): „In die technische Seite der Gegenstände sich einzuleben, war keineswegs seine Befähigung. Meist gab er ausdrücklich zu, daß er nicht als Sachverständiger urtheile. Er wollte nur die Seite ins Auge fassen, von der die Schöpfungen aller Art das allgemeine Denken und Empfinden beeinflussen". Aufgegriffen wurde dieser Aspekt erst wieder von Otto Brahm (Das Leben H. v.Kleists. Neue Ausg. Berlin 1911, S. 384) und Hanna Hellmann (in: German.-roman. Monatsschr. 9, 1923, 2. 289). Vgl. dazu jetzt die Homburg-Kommentare von Richard Samuel (Berlin 1964, S. 181) und Klaus Kanzog (München 1977, S. 151-157). Wiederum richtet sich seine Kritik gegen Goethe: „Die Befriedigung in der Natur, wie sie von Goethe und seiner Schule gepredigt wurde, reicht nicht mehr aus, wo die furchtbare Noth des Vaterlandes eine gewaltige Erhebung der Seele, ein Heraustreten aus den hergebrachten Empfindungen erheischte" (CVIII, 11-15).

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Revision und Neuansatr E b e n s o wenig paßte die Todesfurchtszene, die er schon in den

Charakterbil-

dern widerlich nannte, in sein politisch-ästhetisches K o n z e p t 1 2 2 . I n der Einleitung ist seine Ablehnung noch stärker und erregter: „ w i r erlauben uns aber die bestimmte Behauptung, daß jener A k t sich selbst wegwerfender Feigheit, in G e g e n wart der Geliebten (wohl zu unterscheiden von dem G e f ü h l ) bei einem H e l d e n unmöglich ist; doppelt und dreifach unmöglich bei einem märkischen Edelmann, einem O f f i c i e r jenes H e e r e s , das Kleist in so prachtvollen Farben schildert! W e n n er möglich ist bei einem Nervenkranken und S o m n a m b u l e n , so gehören Nervenkranke u n d S o m n a m b u l e nicht auf die B ü h n e , die nur mit gesunden, zurechnungsfähigen Figuren zu thun h a t " ( C X I V , 3 - 1 1 ) . M a n vermag kaum zu begreifen, wie Schmidt nach diesem V e r d i k t sein U r t e i l , der Prinz von Homburg

sei Kleists „ b e -

stes" (in der Einleitung sogar „ s c h ö n s t e s " ) W e r k , überhaupt aufrechterhalten kann. D e n n die E i n w ä n d e beziehen sich auf die Substanz des W e r k e s , während die gerühmten

„prachtvollen F a r b e n " mehr z u m Szenenkolorit gehören.

Diese

scheinbaren Widersprüche erklären sich aus der kritischen Einschätzung der ersten und letzten Szene. So glaubt Schmidt einen B r u c h zwischen dem Anfangsund Schlußtableau und dem übrigen S t ü c k zu erkennen; er vermutet, sie schwebten Kleist vor, „ehe sich der eigentliche Plan in ihm festgesetzt hatte und daß er sie nachher zu lieb gewonnen, u m sie zu o p f e r n " ( C X I V , 2 8 - 3 0 ) . N u n begegnet man bereits in Kleists Schrift Was gilt es in diesem

Kriegef

aus dem J a h r e 1809 dem für

die Eingangsszene charakteristischen M o t i v des R u h m b e g e h r e n s 1 2 3 , allerdings mit umgekehrtem V o r z e i c h e n . Schmidts Vermutung trifft also möglicherweise ein wichtiges entstehungsgeschichtliches M o m e n t , wobei Kleists W e n d e von der K r i tik des „jungen und unternehmenden Fürsten, der, in dem D u f t einer lieblichen S o m m e r n a c h t , von L o r b e e r n geträumt h a t " , zur letztlich positiven Bewertung des Traumes im Prinz

von Homburg

als der entscheidende Schritt anzusehen wäre.

D o c h Schmidt sieht in dem M o t i v nur die Schlacken einer Lieblingsidee K l e i s t s 1 2 4 . Sein Hinweis auf die sich daraus ergebende Zwangsläufigkeit der Charakterentwicklung läßt sein Vorverständnis deutlich werden. Sein Interesse richtet sich offensichtlich auf ein preußisches L e h r s t ü c k , und seine Urteile beruhen - von der Leipziger Rezension bis zur Einleitung - m e h r auf normativen Vorstellungen, wie ein solches Stück gebaut sein m ü ß t e , als auf dem B e m ü h e n , das vorliegende W e r k aus seinen eigenen Gesetzlichkeiten und Strukturen zu verstehen. 122

123

124

Vgl. hierzu die Erörterungen über Schmidts kunsttheoretische Ansichten bei Alex Köster: Julian Schmidt als literarischer Kritiker. Diss. Münster 1930,S. 1 8 - 2 1 und Joachim Kortegast, Realismus und Stil, in: Text und Kontext. Quellen und Aufsätze zur Rezeptionsgeschichte der Werke Heinrich von Kleists. Hrsg. v. Klaus Kanzog. Berlin 1979, S. 83-116. Man braucht dieses Motiv nicht unbedingt auf den Prinzen von Homburg zu beziehen; diese Stelle kann ebenso eine Paraphrase zu Adam Müllers Bild der Jugend Friedrich d. Gr. (Die Elemente der Staatskunst, 17. Vorlesung) sein. In diesem Zusammenhang verweist Schmidt auf ähnliche Motivüberlagerungen imKäthchen von Heilbronn.

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Revision und Neuansatz

Nach der Auffassung Schmidts ist die „Begierde" des Prinzen, „ f ü r das Gesetz zu sterben", nur „eine neue Exaltation, ein neuer Rausch" ( C X I I I , 2 8 - 2 9 ) . Damit rechnet er das Werk in einem wesentlichen Punkte wieder der von ihm verabscheuten Romantik 1 2 5 zu. Auch Kleists Tod erscheint ihm als eine solche Exaltation, ausgelöst durch die Begegnung mit Henriette Vogel, einem jener Zufälle, „denen Kleist stets soviel Macht über seine Seele gab" ( C X V I I I , 5 - 6 ) . Aber seine grundsätzliche Wertschätzung Kleists bleibt von allen diesen Momenten unberührt. Nicht Einzelheiten geben letztlich den Ausschlag, weder die negativ noch die positiv beurteilten, nicht die „plastische Kraft, die wir bei keinem anderen deutschen Dramatiker antreffen, auch bei Schiller und Goethe nicht" (VI, 1 5 - 1 7 ) oder der „sehr große Reichthum an Stimmungen" (VI, 2 6 - 2 7 ) , nicht die „Macht der Leidenschaft" (VII, 6), die „innere Dialektik des Stoffes" (VII, 21) und die „Ahnung von etwas H ö h e r e m " (VII, 2 8 - 2 9 ) , die das Kennzeichen echter Dichtung sei. Schmidt, der stets die ethischen Werte über die künstlerischen Ausdrucksformen stellte, sah in der Wahrheitsliebe Kleists das entscheidende dynamische Moment wie auch die tiefere Ursache für die große Ausstrahlungskraft seiner Persönlichkeit und seiner Werke. Es war ihm bewußt, daß Kleist sich jedem Versuch einer Einordnung in die Kategorien „classischer" oder „romantischer" Dichter entzog und daß die „erschütternde Wahrheit seiner Dichtungen" stets eine subjektive war (X, 5 - 6 ) . So führen selbst die schärfsten Einwände gegen die „ E x zentricität" seines Charakters, gegen seinen „übertriebenen Realismus" und die „Fieber der Dialektik" immer wieder auf diesen Kern zurück. Wer Schmidts Fehlurteile bemerkt und seine oft allzu hitzige Polemik rügt, sollte darüber nicht seine kritische Begabung verkennen. Gerade die Einleitung zur Kleist-Ausgabe, insbesondere die der Biographie vorausgehenden Seiten über Kleists Dichtung im allgemeinen, bestätigt das Urteil Constantin Rößlers über Schmidt: „ D i e starke Seite seiner Kritik, namentlich der Kunstwerke, war dieser fast untrügliche Instinct, herauszufühlen, wo Wahrheit, Kraft, Feuer und Metall, und wo bloßer Teig ist. Die sichere Nachempfindung dieser Kraft des wirklichen Lebens ist es, die seine zahllosen Artikel und Artikelreihen in seinen Büchern trotz ihrer starken Verletzung der Vorurtheile und oft genug der richtigen Ansicht immer wieder interessant gemacht hat. Dieser Eigenschaft verdankt er die bedeutende Wirkung, die ihm vergönnt w a r " 1 2 6 . Es war bei der kämpferischen Natur Julian Schmidts und der Herausforderung durch einige exponierte Formulierungen seiner Einleitung zu erwarten, daß seine Gegner scharf reagierten und die Kleist-Ausgabe zum Anlaß einer Abrechnung mit der von ihm vertretenen literaturkritischen Richtung nahmen, wobei sie die gleichzeitige politische Gegnerschaft verschleierten. Emil Kuh nennt Schmidt den 125

126

Auch für diese Erscheinung gilt eine schon zu Beginn der Einleitung erteilte Generalabsolution: „Wenn er der verkehrten Zeitströmung zuweilen unterliegt, so ist es nur, weil er rabulistisch seine Probleme auf die Spitze treibt" (VII, 2 5 - 2 7 ) . A D B 31, 755.

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„Nicolai unserer Tage" 1 2 7 . Hieronymus Lorm sieht in ihm den „Scharfrichter des Individualismus" und „Fanatiker des gesunden Menschenverstandes" 128 . Beide bedauern, daß das Werk Kleists in seine Hände fiel. Schmidt war nach der Meinung Emil Kuhs „am wenigsten dazu berufen, einen Dichter wie Kleist dem größeren Publikum näher zu bringen, denn es gebricht ihm an innerstem Verständniß der Poesie und an Pietät" 129 . Hieronymus Lorm spricht von einem „Fehlgriff, Kleist durch J. Schmidt, den Dianentempel durch Herostrat restauriren zu lassen" 1 3 0 . Er sieht in der Einleitung Schmidts sogar eine Gefahr für die zukünftige Bewertung der Werke Kleists: „denn die bisherige Nichtbeachtung im Großen und Ganzen konnte ihnen nicht so verderblich werden, wie eine falsche und schiefe Aufstellung, wie eine Beleuchtung von Seite des moralisierenden Rationalismus" 131 . Kuh bezeichnet diese Einleitung als „ästhetischen Bädeker" 132 und kritisiert daran vor allem die Loslösung einzelner Faktoren aus dem dichterischen Organismus, die zu einem „Knäuel von Widersprüchen" 133 führe, sowie das Auseinanderfallen von Biographie und Werkanalysen und die „Roheit" der sprachlichen Ausdrucksmittel 134 . Daneben ist er bemüht, Fehleinschätzungen durch eine weitläufige Darstellung der eigenen Auffassung zu korrigieren. Wie sehr er sich hier - trotz aller berechtigten Einwände im einzelnen - als Wortführer Hebbels versteht 135 , geht aus seiner Kritik an der Interpretation der sogen. TodesfurchtSzene im Prinz von Homburg hervor, in der er Hebbel 136 gegen Schmidt mit der Bemerkung ausspielt, „daß eine Zeile in Hebbel's Exposition mehr gilt, als der ganze Apparat des Schmidt'schen Geredes" 1 3 7 . Dies wird auch aus seiner KleistAuffassung selbst deutlich 138 . Andererseits versucht er durchaus zu differenzieren 127

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(Emil K u h : ) Julian Schmidt über Heinrich von Kleist. - In: Stimmen derZeit, J g . 1, Bd. 2, September-Heft 1859, S. 3 1 2 - 3 2 5 , Zitat, S. 312. Hieronymus L o r m (d. i. Heinrich Landesmann): Heinrich v. Kleist und seine Kritiker. In: österreichische Wochenschrift für Wissenschaft, K u n s t u . öffentliches Leben. B d . 1 (Wien 1863) S. 7 1 8 - 7 2 5 , Zitat, S. 723. Kuh, S. 325. L o r m , S. 723 1 3 1 L o r m , S. 723 1 3 2 Kuh, S. 324. Kuh, S. 325. In erster Linie erhebt er dabei den Vorwurf, daß Schmidt „aus einzelnen Scenen des Kohlhaas eine Theorie für den ganzen Kleist abgezogen" habe (S. 319). K u h , S. 325. Diese Polemik geht zurück auf abwertende Äußerungen Julian Schmidts über Hebbel, in denen Kleist und Hebbel in Zusammenhang gebracht werden (vgl. Sembdner, Nachruhm, N r . 2 9 9 - 3 0 0 b ) . H e b b e l : Der Prinz von H o m b u r g oder die Schlacht von Fehrbellin, in: österreichische Reichszeitung v o m 3./6. Februar 1850, wiederholt in: Hebbel, Sämtliche Werke, hrsg. v. R . M . Werner. B d . 11, S. 3 2 3 - 3 3 5 . Kuh, S. 322. „Heinrich von Kleist wird nur durch eine Linie von dem größten Poeten getrennt; freilich durch eine nicht unwichtige. Ich kenne in der Weltliteratur nur noch ein Beispiel, daß ein Dichter das höchste bildende Vermögen und zugleich den eminentesten Kunstverstand, bei solcher Abwesenheit von Ideen, in sich vereinigt hätte, wie eben Heinrich von Kleist, und der ihm ähnliche Dichter heißt Walter Scott" ( K u h , S. 317).

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und positive Gesichtspunkte Schmidts, wie z . B . die „richtige Empfindung dessen, was den Zusammenhang der einzelnen Dichtererscheinung mit dem geschichtlichen Geist der betreffenden Literaturepoche ausmacht" 139 , herauszustellen. Aber der polemische Abstand zur antiromantischen und antiidealistischen Grundeinstellung Schmidts wird dadurch letztlich nur vergrößert. Auch die zweite Ausgabe wurde von der Kritik recht unsanft behandelt. So rügt der Rezensent des Literarischen Centraiblattes 140 , daß Schmidt die Ergebnisse Köhlers nur zum Teil berücksichtige, die von Koberstein veröffentlichten Briefe Kleists an seine Schwester Ulrike nicht in die Einleitung eingearbeitet, sondern lediglich im Nachtrag behandelt und die von Köpke veröffentlichten Texte 1 4 1 überhaupt nicht beachtet hat. Der Verlag zog aus dieser Kritik keine Konsequenz; er ließ die Ausgabe bis 1891 mehrfach in unverändert stereotypisierter Form erscheinen, obgleich das Ungenügende der Ausgabe zunehmend stärker empfunden wurde. Das schärfste Urteil hat Eduard Grisebach 1883 gefällt: Schmidts Ausgabe sei „am Maßstab einer wahren, kritischen Ausgabe gemessen", im Grunde „nur eine Editio spuria, castrata, in usum Delphini vel potius Neminis" 1 4 2 . Nicht unmittelbar auf die Kleist-Ausgabe bezogen, aber für die literarische Situation und die Rolle Julian Schmidts nicht weniger charakteristisch ist die 1862, wenige Monate vor der Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins erschienene Kampfschrift Ferdinand Lassalles Herr Julian Schmidt der Literarhistoriker143. Lassalle, damals noch „spezifisch preußischer Vulgärdemokrat mit stark bonapartistischen Neigungen" 144 , sieht in Schmidt den „anerkannten Primas", den „gesalbten König" und „gefeierten Literarhistoriker" einer „Bande unwissender und gedankenloser Buben", die sich berufen glaubt, „Literatur und Volksbildung zu treiben" - die Stoßrichtung gegen den Grenzboten -Journalismus und die Politik der gerade gegründeten Berliner Allgemeinen Zeitung ist offensichtlich 1 4 5 . Schon hier werden Ansätze des späteren Versuchs sichtbar, das Proletariat vom kulturpolitischen Einfluß der liberalen Bourgeoisie zu befreien, so gelehrtangriffslustig und der Tradition verpflichtet sich Lassalle auch zeigt. In der Form fingierter Setzer-Anmerkungen spießt er Fehler in der Literaturgeschichte

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Kuh, S. 312. Literarisches Centraiblatt für Deutschland N r . 2 (9. Januar 1864) Sp. 4 1 - 4 2 . Der Rezensent schreibt: „ N a c h diesen W o r t e n zu urtheilen kann H e r r Schmidt unmöglich die Köpke'sche Schrift wirklich selbst gelesen haben, oder er hatte, als er diese W o r t e schrieb, bereits fast vollständig wieder vergessen, was er in jener Schrift gelesen hatte". H . v . Kleist: Sämtliche Werke. Hrsg. v. E d . Grisebach. Bd. 2 (1884) S. 423. Ferdinand Lassalle: Herr Julian Schmidt der Literarhistoriker mit Setzer-Scholien hrsg. Berlin 1862 (Vorw. unterz.: 22. 3. 1862). Formulierung von Friedrich Engels im Brief an Karl Kautsky v. 23. Febr. 1891 (Marx/Engels, Werke. Bd. 38, 1968, S. 40). Vgl. Lassalle, S. 12 u. 6 / 7 .

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Schmidts auf und zieht polemisch gegen „gespreizte Bildungssprache" und „gelehrten Schein" 1 4 6 zu Felde. Im wesentlichen aber richtet sich seine Kritik gegen die literarische Position des Liberalismus. Gerade Schmidts Aktualisierung der Literatur und sein engagiertes Eintreten für den Realismus erscheinen ihm verdächtig, während er sich andererseits mit Schmidt in der schwärmerischen Beurteilung Schillers durchaus hätte treffen können. Daß sich in der literarischen Konzeption Schmidts ein Kompromiß des Liberalismus mit dem militanten Preußentum und eine Umwertung der Klassik ankündigte, hat Lassalle deutlich gespürt. Es ist dies - fünfzig Jahre vor der Kritik Franz Mehrings - die erste Reaktion von .links'.

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U b e r den Stil schreibt Lassalle (S. 9/10): „ U m nun aber alle diese Sünden gegen die Bildung der Nation ungestraft begehen zu können, haben sich diese elenden Scribenten einen Styl erfunden, welcher selbst wieder vielleicht ihre schlimmste und gemeinschädlichste Sünde bildet. Sie haben aus den Schriften der Denker und Gelehrten sich einiger vornehmen Ausdrücke bemächtigt und mit Hülfe derselben sich eine eigene A r t von gespreizter ,Bildungssprache' erzeugt, die einen wahren Triumph der modernen Bildung darstellt und zeigt, wohin es die Kunst bringen kann. Es ist eine nach den Gesetzen der belletristischen Routine kaleidoskopartig durcheinander gerüttelte und geschüttelte Anzahl von Worten, die keinen Sinn geben, aber auf ein Haar so aussehen, als gäben sie einen solchen und einen erstaunlich tiefen!"

6. Kapitel Anfänge einer positivistischen Literaturbetrachtung August Koberstein und die Briefe Kleists an Ulrike Kurz nach dem Erscheinen der Kleist-Ausgabe Julian Schmidts veröffentlichte August Koberstein Kleists Briefe an seine Schwester Ulrike, um die sich Tieck und nach ihm Eduard von Bülow einst vergeblich bemüht hatten. Nach dem Tode Kleists wäre die Veröffentlichung als Sensation empfunden worden, und noch in den zwanziger Jahren hätten die Briefe mit einem gesteigerten Interesse rechnen können. Jetzt aber urteilt Julian Schmidt recht zurückhaltend: „Zwar werden durch sie die Räthsel in dem Leben des Dichters nicht gelöst, es wird in dem Bilde seines Charakters nichts Wesentliches geändert; aber über verschiedene Daten seines Lebens, die bisher nur nach der Uberlieferung mitgetheilt wurden, haben wir nun urkundliche Zeugnisse; und zwar nicht der Grund seiner Stimmungen, aber die Farbe derselben gewinnt ein volleres Licht. Nicht ohne die tiefste Rührung kann man diese Spuren einer tiefen, aber unklaren Natur durchlesen. Freilich machen sie, im Ganzen betrachtet, keinen erquickenden Eindruck; ein nicht kleiner Theil enthält Geldangelegenheiten" 1 . Man wird eine gezielte Bedeutungsabschwächung durch Julian Schmidt, der von den Briefen zu spät Kunde erhalten hatte, in Rechnung stellen müssen, doch ist nicht zu übersehen, daß die Briefe im Laufe der Zeit ihren sensationellen Charakter eingebüßt hatten. Gerade dadurch aber war der Leser in die Lage versetzt, das Verhältnis Kleists zu seiner Schwester sehr viel ,objektiver' zu beurteilen. Die sachlich gehaltene Vorrede Kobersteins hatte daran keinen geringen Anteil. Treitschke, der sich in seiner Rezension prinzipiell gegen die Veröffentlichung „vertrauter Briefe" ausspricht 2 , läßt die Edition wegen ihrer Vollständigkeit als Ausnahme gelten und erklärt, daß Koberstein „großen Anspruch auf den Dank des Publikums" habe: „diese Briefe werfen auf vieles, was die lückenhaften Publicationen von Tieck und Bülow im Dunkeln gelassen, helles Licht und gewähren einen erschütternden Einblick in die Kämpfe einer reichbegabten, schwer geprüften Menschenseele". - Man könnte auch von einer .natürlichen Schutzfrist' von fünfzig Jahren sprechen, durch die sich für den Leser - wie von selbst - eine veränderte Optik ergeben hatte. Ulrike von Kleist war am 5. Februar 1849 unvermählt gestorben. Ihr Nachlaß 1

2

Julian Schmidt: Heinrich von Kleist, in: Die Grenzboten Jg. 18, 2. Sem., B d . 4 (1859) S. 481. Heinrich v. Treitschke, in: Literarisches Centraiblatt, N r . 4 (28. Jan. 1860) Sp. 52; vgl. hierzu Bd. 2, S. 4.

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war, wie Zolling 1886 erstmals mitteilte, „in den Besitz ihrer Universalerbin, Frau von Schönfeldt, geb. von Pannwitz" übergegangen, „einer rechten Nichte Heinrichs, welche nebst vielen anderen Nichten von Ulrike erzogen worden war und dieselbe in ihrer letzten Krankheit treulich gepflegt hatte" 3 . Gemeint ist die „Lieblingsnichte Ulrikes" 4 , deren Namen Koberstein vermutlich auf ihren Wunsch nicht preisgab. Schon unmittelbar nach dem Tode Ulrikes hatte Varnhagen, dessen Interesse für Kleist keineswegs erloschen war, Erkundigungen eingezogen, aber vom Superintendenten Spieker am 14. Februar 1849 die Antwort 5 erhalten, die gesuchten Briefe Kleists seien „versiegelt" und „mit dem ausdrücklichen Befehl" an die Erbin gelangt, sie „nicht mitzuteilen, sondern im Familienarchiv zu hinterlegen". Der Nachlaß war danach weitere zehn Jahre unzugänglich. Daß es schließlich Koberstein gelang, Einsicht in die Briefe zu nehmen, ist nur besonders glücklichen Umständen zuzuschreiben. Nach der Darstellung Minde-Pouets 6 verdankt Koberstein die Gunst, daß ihm die „kostbaren Schriftstücke, wenn auch sehr gegen die Neigung der Besitzerin, endlich doch übergeben" wurden, „seiner persönlichen Verbindung mit der Kleist verwandten Familie von Schönfeldt", insbesondere seinem Studienfreund Ernst Ludwig Daniel von Schönfeldt 7 . Koberstein selbst schreibt in der ersten Manuskript-Fassung 8 seines Kleist-Vortrages: „es wird genügen, wenn ich bemerke, daß ich das mir von der Besitzerin der Briefe geschenkte Vertrauen ganz vorzüglich, oder vielmehr allein der gütigen Vermittlung und Fürsprache einer edlen Frau verdanke, welche die freundliche Gesinnung, die sie mir seit vielen Jahren bewiesen, durch diese Vermittlung aufs neue bethätigt und sich damit ein unverjährbares Recht auf meine Dankbarkeit erworben hat". Diese „edle Frau" muß „Fräulein von Stojentin" 9 gewesen sein, von der im Handexemplar Zollings 10 notiert ist, daß Ausgabe Zollings, Bd. 1 (1885) S. X C I X , Fußnote (siehe auch: Sembdner, Nachruhm, Nr. 117). 4 Friederike von Pannwitz (20. März 1 8 1 2 - 6 . Dez. 1868), am29. Juni 1852 verh. mit Bernhard von Schönfeldt (19. März 1 8 0 7 - 2 9 . April 1869); vgl. Gothaisches Genealog. Taschenbuch d. Adligen Häuser, Dt. Uradel 1922, S. 653. 5 S. Rahmer: H. v. Kleist als Mensch u. Dichter (1909) S. 147, nach Notizen Varnhagens (siehe auch: Sembdner, Nachruhm, Nr. 116). 6 Einleitung Minde-Pouets, in: ES V, S. 10. 7 Emst Ludwig Daniel von Schönfeldt (14. Jan. 1 8 0 5 - 9 . Juni 1858), das siebte Kind Johann Heinrich Ernst von Schönfeldts (23. Sept. 1 7 7 3 - 8 . Dez. 1812) und Johanna Ulrike Charlotte, geb. v. Loeben (24. Juni 1 7 7 1 - 2 2 . Nov. 1822); vgl. Gothaisches Genealog. Taschenbuch d. Adligen Häuser, 1904, S. 763 - 764. 8 Siehe die textkritische Darstellung, Bd. 2, S. 8 0 - 8 6 . 9 EineTochter aus der ersten Ehe Philipp von Stojentins (16. Aug. 1 7 7 2 - 2 9 . Juni 1844) mit Kleists Schwester Friederike (16. Dez. 1 7 7 5 - 5 . Nov. 1811). Nach Zollings Angabe soll sie 1808 geboren sein, das Gothaische Genealog. Taschenbuch d. Adligen Häuser, 1903, S. 813 verzeichnet jedoch keine Stojentin-Tochter mit diesem Geburtsjahr. Von den sechs Töchter käme am ehesten Friederike ( 1 8 0 2 - 1 8 8 3 ) oder Ottilie ( 1 8 0 4 - 1 8 7 8 ) in Frage, wenn man voraussetzt, daß Zolling sich seit ca. 1876 mit Kleist beschäftigt hat. 1 0 Einlegeblatt zu Seite X C I X . 3

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sie „oft in Heinrichs Originalbriefen gelesen" habe. Rahmers Bemerkung 11 , Koberstein sei „ein Freund" der Familie v. Stojentin und sein Vater Prediger auf deren Gut Schorin gewesen, macht die Vermittlung durch Fräulein von Stojentin ebenfalls wahrscheinlich. Die Briefe wurden Koberstein von der Besitzerin „zunächst nur zu eigener Kenntnißnahme anvertraut" 12 , ihm aber auf seine Bitte „zu freierer Verfügung gestellt". Offenherziger als in der Vorrede erklärt Koberstein in der ManuskriptFassung seines Kleist-Vortrages, er sei so glücklich gewesen, „einen Widerstand zu besiegen, der zeither jeder Bitte um den Einblick in die Papiere entgegengestellt worden war" 1 3 . Frau von Schönfeldt scheint Ulrikes letzte Verfügung und außerdem familiäre Bedenken geltend gemacht zu haben, aber sie stand den Vorgängen um Heinrich von Kleist distanzierter gegenüber, so daß ein Kompromiß näher lag als zu Lebzeiten Ulrikes. Zolling weiß zu berichten, Frau von Schönfeldt habe mit Koberstein „in langer, eingehender Korrespondenz" gestanden und „im Sinne ihrer Tante selbst genau bestimmt, was gedruckt, was verschwiegen werden sollte" 1 4 . Eine detaillierte Erörterung der Argumente ist nicht möglich, da sich ihre Briefe in den Nachlässen Kobersteins nicht erhalten haben. Fest steht, daß Koberstein die Originalbriefe Kleists selbst in der Hand hatte und nach ihnen auch Korrektur las 15 . Zu unterscheiden sind jedoch zwei Arten von Auslassungen: der unmittelbare Textbefund der von Ulrike unkenntlich gemachten Stellen und Kobersteins bewußtes Verschweigen von Passagen auf Grund der Einsprüche Frau von Schönfeldts. Von Interesse sind zunächst die vier unkenntlich gemachten Briefstellen, die Koberstein sowohl im Text als auch in den Fußnoten bezeichnet hat. Rahmers Annahme, Ulrike habe auf diese Weise „die Briefe ihres Bruders zur Veröffentlichung redigiert" 16 , ist durch solche Stellen allein nicht zu sichern. Die wenigen Eingriffelassen kein systematisches Vorgehen im Sinne einer Redaktion erkennen. Sie sind punktueller Natur und können ebenso als eine Vorsichtsmaßnahme gedeutet werden, daß niemand - wer auch immer in Zukunft die Briefe in die Hand bekam - lesen sollte, was dort geschrieben stand. Schon Ulrikes Verhalten Tieck und Eduard von Bülow gegenüber spricht eigentlich gegen Publikationsabsichten.

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S. Rahmer: Heinrich von Kleist an seine Schwester Ulrike, in: Sonntagsbeil. d. Voss. Zeitung, Nr. 26 (26. Juni 1904) S. 203. Vorrede, S. IV. - Eine allgemein gehaltene Erwähnung der „Familien v. Kleist und v. Schönfeldt", S. X X V . In der Fassung a. - Vgl. die textkritische Darstellung, Bd. 2, S. 82. Ausgabe Zollings, S. X C I X . - Zolling notiert zu Koberstein: „der mit der Familie befreundet war". Zolling scheint sich zuerst an Frl. v. Stojentin, danach an Angelika v. Schönfeldt gewandt zu haben (vgl. die Notiz Rahmers zu A. v. Schönfeldts Brief v. 12.2. 1887, in: Briefe und Mitteilungen Erich Schmidts, Anhang Nr. 1). Vorrede, S. IV. S. Rahmer, in: Sonntagsbeil. d. Voss. Zeitung, Nr. 26, S. 206.

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Auch eine vielleicht geplante Veröffentlichung in eigener Regie ist nicht zu beweisen. Bemerkenswert ist nur, daß Ulrike von den beiden verschenkten Briefen sowie von dem abgetrennten Brief-Abschnitt 1 7 Abschriften angefertigt und dadurch den Gesamtbestand erhalten hat. Die beiden wichtigsten Stellen 18 - im Dresdener Brief vom 25. O k t o b e r 1807 beziehen sich auf die H o f f n u n g Kleists, den „Kodex Napoleon z u m Verlag" zu bekommen und die ebenso starke Selbsttäuschung, die französische Regierung werde diePAö£«i-Buchhandlung erwählen, „ihre Publicationen in Deutschland zu verbreiten". Sie paßten nicht in das Bild des Patrioten Kleist und mußten jedem, der sich an den Verfasser der Hermannsschlacht und der O d e Germania an ihre Kinder erinnerte, anstößig erscheinen. Sollte Ulrike jemals an eine öffentliche Rechtfertigung ihres Bruders gedacht haben, so war diese Retusche notwendig. Die beiden anderen Stellen 19 sind persönlicher N a t u r . An der einen wird die emphatische, aus Schillers Wallenstems Tod (V.2927) übernommene Anrede an Ulrike „sei mein starkes Mädchen", an der anderen der N a m e Minette entfernt. Wäre Ulrike ernsthaft an einer Redaktion interessiert gewesen, so hätte sie noch wesentlich stärker in die Briefe eingreifen müssen. Es ist andererseits denkbar, daß sie - eine gründliche Durchsicht vorausgesetzt - angesichts der Fülle der ihr anstößig erscheinenden Details schließlich in dem anfänglich vielleicht nicht absolut festen Entschluß bestärkt wurde, von den Briefen überhaupt nichts preiszugeben. Im übrigen ist es fraglich, ob Ulrike in späterer Zeit mit ihrer Nichte über Einzelheiten gesprochen hat; ihr überlieferter Ausspruch: „was gehen Dich meine Briefe an" 2 0 steht einer solchen Annahme eher entgegen. Die von Zolling gewählte Formulierung „im Sinne ihrer Tante selbst genau bestimmt, was gedruckt, was verschwiegen werden sollte", kann nur in dem übertragenen Sinne verstanden werden, daß Frau von Schönfeldt der Überzeugung war, Ulrike hätte sich unter gewissen Umständen zu den gleichen Kürzungen entschlossen. Zollings Bemerkung, daß vieles von Koberstein verschwiegen worden sei, hat lange Zeit Erwartungen genährt, die sich 45 Jahre nach Kobersteins Edition, als die Originalbriefe zum zweiten Mal z u m Vorschein kamen, nicht erfüllten. Man vermutete sensationelle Details, es ergaben sich jedoch nur geringfügige Auslassungen 2 1 , die den späteren Streit u m die Veröffentlichungsrechte nicht wert wa-

" Die Briefe: ES 92, MP 104, Sbd 105 und ES 119, MP 135, Sbd 137 sowie der letzte Absatz aus: ES 66, MP 71, Sbd 72. 18 Koberstein, S. 135. Vgl. Sbd II 793, Z. 1 - 4 und Z. 17. " Koberstein, S. 92 u. 148. Vgl. Sbd II 737, Z. 1 und Sbd II 817, Z. 31. 20 Einlegeblatt zu Seite XCIX. Dort auch die Überlieferung: „ H ' s Briefe hütete sie voller Eifersucht, doch ist es wahrscheinlich, daß sie Manches verbrannt" und der Bericht, daß eine Nichte das „Bruchstück eines halb verbrannten Briefes" auf der Bodenkammer gefunden habe. - Dieses Verbrennen einzelner Briefe braucht keineswegs im Widerspruch zum Erhalten der übrigen zu stehen. 21 Siehe die textkritische Darstellung in Bd. 2, i>. 38-40.

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ren. Von den acht auf Grund verständlicher Einwände Frau von Schönfeldts unterdrückten Stellen - drei davon Nachschriften - bezieht sich nur eine einzige auf Momente der inneren Entwicklung Kleists. Zwei Kürzungen betreffen Geldangelegenheiten, drei weitere im wesentlichen Namen, die nicht mit Kleist in Zusammenhang gebracht werden sollten. Allein zwei Stellen betreffen sogenannte „Affären" von allerdings untergeordneter Bedeutung. Die ausgelassene Nachschrift zum Brief vom 12. November 1799 enthält Garnisonsklatsch, die zum Brief vom 25. November 1800 Hinweise auf Kleists Rolle bei den Verhandlungen, die schließlich zur Scheidung seiner ältesten Stiefschwester Wilhelmine von Ernst Eduard von Loeschbrand führten. Auf die Mitteilung dieser Privatangelegenheiten konnte die Öffentlichkeit zum damaligen Zeitpunkt kaum Ansprüche geltend machen. Jede Familie hat ihre eigenen Tabus. Schwerer wiegt der Eingriff in den Brief vom 12. November 1799, der die Argumentation Kleists zerstört und dem Leser ein wichtiges Zeugnis des Kleistschen Selbstverständnisses vorenthält. Dieser Passus ist aber, wie schon Rahmer 2 2 bemerkt, „aus leicht begreiflichen Gründen mit Rücksicht auf lebende Mitglieder der Familie Zenge weggelassen worden". Er enthält Kleists Klage über die Unmöglichkeit eines Gespräches im Zengeschen Familienkreis 23 („wenn der ganze Haufen beisammen ist") und das „durchkreutzende Geschwätz", das einen echten Gedankenaustausch mit Wilhelmine, deren feinerer Sinn „für schönere Eindrücke zuweilen empfänglich ist", unmöglich macht. Ulrike gegenüber kommentiert er diese Situation mit den Worten: „Ich wollte Dir nur zeigen, daß das Interesse, das mir die Seele erfüllt, schlecht mit dem Geiste harmoniert, der in dieser Gesellschaft weht; und daß die Beklommenheit, die mich zuweilen ergreift, hieraus sehr gut erklärt werden kann". Frau von Schönfeldt mußte aber persönliche Rücksichten höher stellen als den Aussagewert des Briefes; Wilhelmine von Zenge war 1852, ihre Schwester Louise 1855 verstorben - hier gebot das Feingefühl eine gewisse Zurückhaltung. Die restlichen Eingriffe gehen auf Koberstein selbst zurück. Da er ausdrücklich davon spricht, daß er die Korrekturfahnen an Hand der Originalbriefe verglichen habe, wird man hier weniger an Flüchtigkeitsfehler als an bewußte Eingriffe denken müssen. So findet man viele Stellen, die die Hand eines gewissenhaften Schulmannes erkennen lassen; besonders häufig ist die Einsetzung des Dativs anstelle des Accusativs und umgekehrt. Daneben begegnet auch der Austausch von Pluralformen und Singularformen. Auslassungen, Hinzufügungen und kleinere Textumstellungen sind schwieriger zu beurteilen; im Falle der Hinzufügungen ist die Tendenz einer größeren Verdeutlichung zu erkennen. Eine Reihe von Flüchtigkeitsfehlern ist aber trotz aller Gründlichkeit Kobersteins nicht auszuschließen.

22

S. Rahmer, in: Sonntagsbeil. d. Voss. Zeitung, N r . 26, S. 2 0 4 .

23

Sbd. II 4 9 6 , Z . 3 8 - 4 9 7 , Z . 10. - Bei Koberstein, S. 9 fehlt der Hinweis auf die Auslassung der Stelle, die hier keinen Stilbruch entstehen ließ.

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Im ganzen hat Koberstein den Text normalisiert und die Rechtschreibung den zu seiner Zeit üblichen Grundsätzen angeglichen. In der Interpunktion ist er seinem Stilgefühl gefolgt und dabei vom Kleistschen Original z . T . beträchtlich abgewichen; manches kann auch dem Setzer, bzw. den Druckereigebräuchen derZeitangelastet werden. In seinen Korrekturen ist Koberstein noch der klassischen Philologie verpflichtet und dürfte daher seine Eingriffe kaum als Verstöße gegen den Text empfunden haben. Wie Rahmer zuerst bemerkte 24 , sind es durchaus nicht immer „Verbesserungen". Aber noch Rahmer steht 1904 vor der Frage, „ob es von besonderem Wert ist, Briefe, die nicht für den Druck geschrieben wurden, ohne jede Veränderung wiederzugeben". Erst s e i n e „Veränderungen" sind aus historischer Sicht als Fehlentscheidungen anzusehen, denen Minde-Pouet 25 das Ideal einer absolut dokumentarischen Textdarbietung entgegensetzte. Die Edition der Briefe ist in Schulpforta, im Bannkreis der berühmten, 1543 von Herzog Moritz von Sachsen gegründeten, Schule entstanden. Das ist für ihre Vorgeschichte nicht weniger bedeutsam als das geistige Klima Dresdens und Berlins für die von Tieck herausgegebenen Hinterlassenen Schriften oder das Leipzigs für die Ausgabe Julian Schmidts. Im Jahre 1853 berichtet Ludwig Wiese, Vortragender Rat im Kultusministerium, seinem Dienstherren, „die Pforte sei immer noch ein Hort klassischer Bildung, dessen sich das Vaterland getrösten könne, weil die Grundlagen aller wahren Erziehung und Wissenschaft, die Heilige Schrift und die alten Klassiker, als Ausgangspunkt und Ziel unverändert geblieben seien, wenn auch mitunter auf gelehrten Schein hingearbeitet werde" 2 6 . Nicht einverstanden ist Wiese mit dem ,Neuerer' Koberstein, den er als das wohl „unfriedsamste Element im Kollegium" bezeichnet. Sein Unterricht sei „mangelhaft", „einige Schüler wisse er für das Studium des deutschen Altertums und der historischen Grammatik zu gewinnen, aber die Mehrzahl trage nicht viel aus seinen Stunden davon" 2 7 . Dagegen hebt Rektor Peter in seiner Totenrede es gerade als ein Verdienst Kobersteins hervor, „welches ihm in der Geschichte unserer Pforte nie vergessen werden darf", daß er „unserer Muttersprache und ihrer Literatur neben der griechischen und lateinischen Raum geschaffen, man kann vielleicht sagen, erkämpft hat" und „unsere großen neuen Klassiker bei uns eingeführt und bei Vielen auch für die geschichdiche Kenntniß der deutschen Sprache und Literatur einen Grund

24

S. Rahmer, in: Sonntagsbeil d. Voss. Zeitung, N r . 2 6 , S. 2 0 3 .

25

Vgl. hierzu Minde-Pouets Rezension der von S. Rahmer 1904 herausgegebenen Briefe Kleists an seine Schwester Ulrike (Dt. Literaturzeitung Jg. 2 5 , N r . 5 1 / 5 2 , 2 4 . D e z . 1904, Sp. 3 1 5 3 - 3 1 5 5 ) : „ R . will Kobersteins Versehen und Vergehen gut machen und hat doch ebenfalls weder die Interpunktion noch die eigenartige Schreibung der Originale festgehalten." Zitiert nach Fritz H e y er: Aus der Geschichte der Landesschule zu Pforte (Darmstadt und Leipzig 1943) S. 135. Fritz H e y e r , a . a . O . , S. 135.

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gelegt hat, auf dem sie nachher mit Erfolg und mit Genuß für sich selbst fortgebaut haben" 2 8 . Koberstein, im August 1820 als dritter Adjunkt in Schulpforta eingeführt und seit 1824 ordentlicher Professor, war fast 50 Jahre Mitglied der Anstalt; seine Tätigkeit reichte von Anfang an über das Schulpensum - in den ersten Jahren hauptsächlich Mathematik und Geschichte - hinaus. Er war ein höchst eigenwilliger Lehrer, der sich aber im Rahmen der Schulordnung zu behaupten vermochte und dessen Originalität man schließlich akzeptierte. „Seine Lehrmethode zeigte", wie Erich Schmidt aus eigener Erfahrung berichtet, „ein sehr individuelles Gepräge und stellte hohe Anforderungen, auf deren Befriedigung er mit Strenge hielt" 29 . Er wußte sich vor allem durch seine Gelehrsamkeit Respekt zu verschaffen. Seine 1827 in erster, bereits 1830 in zweiter und 1837 in dritter Auflage erschienene Literaturgeschichte 30 - ein „zum Gebrauch auf Gymnasien entworfenes" Werk, das er für die vierte Auflage in zwanzigjähriger Arbeit zu einem umfassenden Handbuch 3 1 umgestaltete - brachte ihm schnell öffentliche Anerkennung und 1857 den Ehrendoktor der philosophischen Fakultät der Universität Breslau ein; kurz vor seinem Tode wurde er zum Ehrenmitglied der Göttinger Gelehrten Gesellschaft ernannt. Doch sein Gelehrtendasein ließ sich mit den Lehrverpflichtungen nur schwer in Einklang bringen. Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf, von 1862 bis 1867 Schüler in Schulpforta, zeichnet in seinen Erinnerungen32 ein liebevolles Bild des später „etwas bequem" gewordenen Koberstein, der „bei Großbeeren im Feuer gestanden" hatte und der sich nun sein Leben auf eigene Weise einzurichten wußte 3 3 . Kobersteins Unterricht erscheint - entgegen dem Urteil Erich Schmidts - in einem weniger günstigen 28

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Ecce für den am 8. März d. J. gestorbenen Professor Dr. August Koberstein, gehalten in der Landesschule Pforte am 12. März 1870 (Potsdam 1870), S. 10. - Ein weiterer Nachruf des Rektors Peter erschien in: Album des Literarischen Vereins in Naumburg a. d. S. zur Feier seines fünfzigjährigen Bestehens (Naumburg 1871) S. 6 5 - 8 0 : Dem Andenken August Kobersteins (gelesen am 1. Nov. 1870). Erich Schmidt, in: ADB 16 (1882) S. 360-363, Zitat S. 362. August Koberstein: Grundriß zur Geschichte der deutschen National-Litteratur. Zum Gebrauch auf gelehrten Schulen entworfen. Leipzig 1827. - Rückblickend schreibt Rudolf H a y m (Preuß. Jahrbücher Jg. 19, 1867, S. 240): „Von der Schulbank her erinnert sich vielleicht Mancher, der seitdem längst zum Manne geworden, des dünnen Koberstein'schen Leitfadens der deutschen Literaturgeschichte, dessen Paragraphen er einst auswendig lernen mußte". August Koberstein: Grundriß der Geschichte der deutschen National-Litteratur. 4., durchgängig verb. u. zum größten Theil völlig umgearb. Aufl. Bd. 1 - 3 . Leipzig 1847-1866. Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf: Erinnerungen 1848-1914. Leipzig 1928, S. 77-78. So pflegte Koberstein, wie Wilamowitz-Moellendorf (S. 67) im Zusammenhang mit einer Schulepisode, der Visitation durch den „mächtigen Wiese", berichtet, meist auf den Kirchgang zu verzichten.

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Licht: „In Prima langweilte sein Vortrag über Literaturgeschichte, oft Vorlesungen aus seinem gelehrten Werke. Interpretiert ward nichts. Dies versagte also, und die Korrektur und Besprechung der Aufsätze bedeutete wenig. Aber sein Urteil war doch maßgebend" 34 . Wilamowitz-Moellendorf gedenkt jedoch zugleich des meisterhaften Dramenvorlesers und des experimentierenden Pädagogen, der den freien Vortrag, das Disputieren im Unterricht und auch das Theaterspielen der Schüler eingeführt hatte. Von den Dramenvorlesungen, zu denen sich „die Primaner, die es wollten", in Kobersteins Wohnung versammelten, werden besonders die Lesungen Kleistscher Dramen hervorgehoben: „Da lernten wir Kleist erst recht kennen, der ja noch so gut wie unbekannt war" 35 . Kobersteins Interesse für Kleist ist aus zwei Voraussetzungen zu erklären: aus dem unmittelbaren Erlebnis der Freiheitskriege, in die er 17jährig als einer der ersten Freiwilligen gezogen war, und aus seiner persönlichen Bekanntschaft mit Tieck, den er des öfteren in Dresden besuchte. Tieck hat Kobersteins Einstellung zur deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts wesentlich mitbestimmt, die in erster Linie durch die Ablehnung Schillers gekennzeichnet ist. Wilhelm Scherer36 äußert sich 1883 in einem Brief an Erich Schmidt abfällig.über diese Tendenz Kobersteins, Tieck in der Literaturgeschichte gegen Schiller auszuspielen; er argwöhnt, auch Schmidt sei „wohl durch Koberstein persönlich auf einen falschen Standpunkt gestellt", wie er seinem Gedenkartikel in der Allgemeinen Deutschen Biographie entnehme, was Schmidt mit der Bemerkung, er wisse sich „von Kobersteins Tieckkultur ganz frei" 37 , verneint. Um eine „Tieckkultur" aber ging es in jedem Fall. Kobersteins „innigste Verehrung" war der Ausdruck einer tiefen persönlichen Zuneigung, und sein öffentliches Eintreten für den alternden Dichter, sein Versuch, Tieck den seit Goethes Tod verwaisten Platz des größten lebenden Nationalautors zuzuweisen, war der Ausdruck eines echten vaterländischen Empfindens. Es sei hier auf Kobersteins Brief an Tieck vom 14. Februar 1839 verwiesen38, in dem er beinahe enthusiastisch bekennt: „und das ist mir immer als das Höchste und Herrlichste an Ihnen, verehrter Mann, erschienen, daß Sie so durchaus nur d e u t s c h e r Dichter haben sein wollen und sind, und daß Sie, was unserm Göthe leider nicht nachgerühmt werden kann, das Vaterland so warm im Herzen getragen haben", und in dem er Tieck mit dem Satze huldigt, „daß Göthe und Siedie beiden Gipfel unserer neueren Poesie sind und nicht Göthe und Schiller, dessen 34 35

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Wilamowitz-Moellendorf, a . a . O . , S. 77. Wilamowitz-Moellendorf, a. a. O . , S. 77. - In einem Brief an Frh. v. Usedom schreibt Koberstein 1860: „Alle Mittwoch lese ich in meinem Hause abends etwas vor, meistens etwas Dramatisches, wobei ich neben meinen Hausgenossen und einer Anzahl Primaner auch gegen 20 weibliche Zuhörer habe" (Fritz Heyer, Aus der Geschichte der Landesschule zu Pforte, 1943, S. 136). Wilhelm Scherer - Erich Schmidt: Briefwechsel. Berlin 1963, S. 185. Erich Schmidt, a.a.O., S. 185. Briefe an Ludwig Tieck. Ausgew. u. hrsg. v. Karl von Holtei. Bd. 2, 1864, S. 181-188.

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jetzige abgöttische Verehrung spätere Geschlechter mit gesunderem Sinne kaum werden begreifen können". Koberstein schrieb dies - nach der Meinung Erich Schmidts - „aus vollster Überzeugung - denn Complimente lagen diesem Manne von seltener Wahrhaftigkeit durchaus fern" 39 . Auch das preußische Herrscherhaus erinnerte sich, nicht zuletzt durch die Einflußnahme Raumers, der Verdienste Tiecks: Am 15. Oktober 1840, zwei Jahre vor der Berufung Tiecks nach Berlin, wurden Krönung und Geburtstag Friedrich Wilhelms IV. mit einer Aufführung von Goethes Tusso und einem Prolog Tiecks gefeiert. Sein „durch und durch preußischer Patriotismus" 40 , seine „Liebe und Verehrung für das preußische Herrscherhaus" veranlaßten Koberstein, sich neben der Arbeit an der Literaturgeschichte in einer größeren Studie dem „ Antheil Preußens an der Neugestaltung der deutschen Literatur" zuzuwenden, den er als ein Ferment der literaturgeschichtlichen Entwicklung ansah. Doch dieser Patriotismus äußert sich weder parteipolitisch noch publizistisch-kämpferisch. Er ist pädagogischer Natur 41 und bestimmt ihn - außerhalb der Schule - zu einer mehr antiquarischen Bestandsaufnahme des literarhistorisch und national Bedeutsamen. In Kleists Prinz von Homburg und Immermanns Münchhausen erkennt er zwei „echte und großartige Dichtungen", die „so durch und durch vaterländischen Geist und edles Nationalgefühl athmen, wie kaum ein anderes poetisches Werk von gleichem Rang aus dem nicht preußischen Deutschland" 42 ; dieses Urteil verrät deutlich den Einfluß Tiecks. Es war selbstverständlich, daß Koberstein sich auch für die Biographie Kleists interessierte. Als „Preuße mit Leib und Seele" 43 und gründlicher Historiograph war er der rechte Mann, dem die Briefe Kleists an Ulrike mit gutem Gewissen anvertraut werden konnten. Koberstein hat am 27. März und 3. April 1859 im Rahmen eines Vortrages über Heinrich von Kleist44 vor der Naumburger „Litteraria" zum ersten Mal Einzelheiten aus den Briefen mitgeteilt. Diese, im Winterhalbjahr einmal wöchentlich tagende, literarische Gesellschaft war am 6. Oktober 1821 aus dem am 3. Oktober

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Erich Schmidt, m: ADB 16 (1882) S. 362. - Erich Schmidt erwähnt in gleichem Zusammenhang, Kobersteins Frau sei die Freundin Dorothea Tiecks geworden. Rektor Peter im Ecce (1870) S. 12. - Koberstein wurde 1843 der rote Adlerorden verliehen. So beklagt Koberstein in seinem Brief an Tieck (Briefe an Ludwig Tieck, Bd. 2,S. 184) die „Schlaffheit unsrer Jugend" und ihren „gänzlichen Mangel an Enthusiasmus und Schwung"; gleichzeitig berichtet er von einer Klopstockfeier, die ihm Gelegenheit geboten habe, der Jugend „wieder einmal ans Herz zu klopfen". August Koberstein: Vermischte Aufsätze zur Literaturgeschichte und Ästhetik (Leipzig 1858), Aufsatz Nr. 8: Andeutungen über den besonders erfolgreichen Antheil Preußens an der Neugestaltung der deutschen Litteratur seit dem Ausgange des siebzehnten Jahrhunderts, S. 270. Erich Schmidt, in: ADB 16 (1882) S. 362 mit der ergänzenden Bemerkung: „Wie würden ihn die Erfolge des Jahres 1870 mit stolzer Freude erfüllt haben!" Siehe die textkritische Darbietung, Bd. 2, S. 8 1 - 8 6 .

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1819 gegründeten Thüringisch-Sächsischen Verein für Erforschung des vaterländischen Altertums hervorgegangen und bestand bis zur Jahrhundertwende 4 5 . Koberstein gehörte zu den Gründungsmitgliedern, von 1851 bis 1857 war er zweiter Vorsteher und bis zu seinem Tode hat er vor der Gesellschaft ca. 50 Vorträge 4 6 gehalten, von denen nur ein Teil gedruckt vorliegt. Elisabeth Frenzel nennt die „Litteraria" „beispielhaft für das Streben zahlloser kleiner, abseits von den großen geistigen Impulsen liegender Städte" 4 7 . „Die Schulmänner, unter welchen von Anfang an die Pförtner eine hervorragende Stellung einnahmen, mußten ihr anfängliches numerisches Uebergewicht allmählig an andere Elemente abgeben, hauptsächlich an die Juristen, deren Zahl von 1841 bis 1844 allein auf einige 40 gestiegen war, aber später allmählig wieder fiel" 4 8 , doch sind es vor allem die Pförtner Schulmänner gewesen, „auf deren Vorträge der Verein vorzüglich angewiesen" 4 9 war. Die „Litteraria" stand „allen Interessirten" offen. Jedes neue Mitglied hatte die Verpflichtung, binnen Jahresfrist nach Eintritt selbst einen Vortrag zu halten, wovon allerdings „sehr viele Neuaufgenommene sich selbst dispensirt haben" s o . Koberstein sah sich hier also keinem fachmännisch gebildeten Publikum, sondern einem für Bildung im weitesten Sinne aufgeschlossenen Zuhörerkreis gegenüber; zweimal im Winter waren - an sogen. „Frauentagen" - auch Damen als Gäste zugelassen. Sein Kleist-Vortrag ist bewußt auf dieses Publikum zugeschnitten. Die „Litteraria" war ein fester Bestandteil des Naumburger kulturellen Lebens 5 1 . Im geselligen Beisammensein nach den Vorträgen und in dem seit 1846 umsichgreifenden „Bowlenkultus" kam neben dem populärwissenschaftlichen Charakter auch das „gesellig-gemüthliche Element der Gesellschaft" 5 2 zum Aus45

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Das genaue Datum ließ sich weder im Stadtarchiv Naumburg noch in der Bibliothek der Heimoberschule Pforte ermitteln. Das letzte Album der „Litteraria" erschien im Jahre 1896. Kobersteins Vermischte Aufsätze enthalten acht Vorträge, bzw. Aufsätze, die „zweite, nicht zum Druck bestimmte Sammlung" von 1860 (Manuskript im Besitz von Frau Dr Elisabeth Frenzel) sechzehn weitere Vorträge, bzw. Aufsätze. Ein „noch vor kurzem vorhandenes Grundbuch" (Frenzel) gibt für die Zeit von 1837 bis 1846 dreizehn, bis zu seinem Tode (1870) weitere 28 Vorträge an. Elisabeth Frenzel: Blick in Kobersteins Werkstatt. Aus Anlaß eines Fundes unveröffentlichter Aufsätze zur Literaturgeschichte. In: Dt. Vierteljahrsschr. für Literaturwiss. u. Geistesgeschichte 27 (1953) S. 4 4 8 - 4 5 1 . Vgl. Album des Literarischen Vereins in Naumburg a. d. Saale zur Feier seines fünfzigjährigen Bestehens. (Als Manuscnpt für die Mitglieder gedr.) - Naumburg 1871, S. 1 - 3 2 : Geschichte der Litteraria v. Jungmeister 1821 - 1 8 4 6 (dem Album von 1846 entnommen), S. 3 3 - 6 4 : Geschichte der Litterana v. Krug. 1846-1871. Zitat, S. 38 f. Ebda, s. 40. Ebda, S. 35. Die Gesellschaft bestand bei ihrer Gründung aus 24 Mitgliedern (10 Schulmänner, 5 Justizbeamte, 4 Verwaltungsbeamte, 2 Geistliche und 1 Domherr), später gesellten sich „Künstler, Fabrikanten, Apotheker, Privat- und Militärpersonen" hinzu; 1846 hatte der Verein 70 Mitglieder (darunter 35 Juristen); vgl. Album, S. 38 f. Vgl. Album, S. 36.

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druck. In seinem Brief an Tieck jedoch beklagt Koberstein anläßlich der Abreise eines ihm befreundeten Ehepaares aus Naumburg das niedrige Niveau des Gros der Gebildeten: „Mit ihnen gehen die beiden einzigen Menschen aus Naumburg fort, die sich frei von den abscheulichen und wüsten Ansichten zu erhalten suchten, die jetzt immer mehr über Kunst, Litteratur, Leben und alles, was diesem einen höhern Gehalt verleiht, zur Herrschaft gelangen" 53 . Andererseits darf man den Unterton dieser Klage nicht überhören; sie enthält eine Spitze gegen die „neueste" Literatur und stellt ein Einverständnis mitTiecks Abneigung gegen die „Modernen" her. Ende August 1859 hat Julian Schmidt 54 durch Salomon Hirzel zunächst nur andeutungsweise von der Existenz der Briefe erfahren und Ende September Gewißheit über diesen Fund erhalten. Er fuhr sofort nach Schulpforta, wo Koberstein ihm das Studium der Originale gestattete. Zum damaligen Zeitpunkt war Koberstein noch nicht vertraglich gebunden. Zur Debatte stand daher der Vorschlag Julian Schmidts, die Briefe als Supplement-Band zur Kleist-Ausgabe herauszubringen. Aus welchen Gründen es nicht dazu gekommen ist, kann mangels sicherer Quellen nicht genau gesagt werden. Julian Schmidt scheint anfangs sehr an der Verbindung interessiert gewesen zu sein; er schreibt an Georg Reimer, die Briefe „würden der Ausgabe zur wesentlichen Zierde gereichen". Aber im gleichen Brief erklärt er andererseits: „Sollte Koberstein zu viel fordern, so kann ich Ihnen zum Tröste hinzusetzen, daß eine absolute Nothwendigkeit, diese Briefe der Ausgabe einzuverleiben nicht vorliegt" 55 . So hat Georg Reimers Verzicht auf die Übernahme der Briefe vermutlich finanzielle Gründe. Zu einer sachlichen oder persönlichen Auseinandersetzung ist es offensichtlich nicht gekommen. Reimer kündigt auf dem Umschlag der 7. Lieferung der Kleist-Ausgabe die im Verlag E. H. Schröder vorbereitete Edition der Briefe an, und Koberstein zeigt sich durch eine freundliche Schlußbemerkung 56 in seinem Vorwort erkenntlich. Trotz allem sind Vorbehalte Kobersteins gegenüber Julian Schmidt nicht völlig auszuschließen. Kobersteins Vorrede umfaßt knapp 24 Seiten; sie beschränkt sich im wesentlichen „auf die vorläufige Berichtigung von Einzelheiten in der von Bülow gelieferten Biographie und auf die Feststellung oder Hervorhebung verschiedener Puncte, 53 54 55

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Briefe an Ludwig Tieck. Bd. 2, S. 186. Vgl. Briefe Julian Schmidts an Georg Reimer, Nr. 8. Vgl. Briefe Julian Schmidts an Georg Reimer, Nr. 9 (die Besprechung fand Ende September 1859 statt). „Je mehr in jüngster Zeit, besonders durch einen geistvollen Aufsatz in R. Hayms Preuß. Jahrbüchern (Bd. 2 Heft 6) und durch Jul. Schmidts Litteraturgeschichte, so wie durch dessen Einleitung zu der neuesten Ausgabe von Kleists Schriften, die Aufmerksamkeit des Publikums auf den Dichter hingelenkt worden ist, und je zuversichtlicher erwartet werden darf, daß wegen des außerordentlich geringen Preises eben dieser Ausgabe seine Schriften fortan in immer mehr sich erweiternden Kreisen Verbreitung und Anerkennung finden werden: desto willkommener, darf ich hoffen, werden den Lesern derselben diese Briefe sein" (Vorrede zur Briefausgabe, S. X X V I ) .

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die darin theils mehr oder weniger ungewiß gelassen, theils ganz unberührt geblieben sind" 57 . Im Gegensatz zu den beiden Kleist-Vorträgen, die eine Biographie in Grundzügen vermitteln, ist sie nur auf die Briefe selbst bezogen. Sie ist im Ansatz aus dem Vortrag vom 27. März und 3. April 1859 entwickelt, aber zum Zwecke einer Einführung in die Briefe umgestaltet worden. Schlagkräftige Beweisführungen, pointierte Thesen und die feuilletonistische Eleganz Julian Schmidts wird man in ihr vergeblich suchen. Solche Stileigentümlichkeiten entsprachen nicht Kobersteins pommerisch-bedächtigem Wesen und seiner strengen Gelehrtennatur. Aber so unscheinbar die Vorrede auf den ersten Blick auch sein mag, so ist sie doch für Kobersteins Arbeitsweise außerordentlich charakteristisch. Die Vorrede bietet fast ausschließlich Fakten. Wie die Fußnoten 58 zu den Briefen haben diese aus den Texten gewonnenen Details etwas Positivistisches. Die Gesamtbiographie wird nicht aus den Augen verloren, dennoch gilt das Interesse in erster Linie den einzelnen Bausteinen, die sorgfältig auf ihre Beweiskräftigkeit geprüft werden. Auch Bülow hatte einst seine Quellen eingehend untersucht. Koberstein jedoch entwickelt eine spezifische Methode der wissenschaftlichen Arbeit. Für den Enthusiasmus bleibt kein Raum mehr. Koberstein prüft die Argumente Bülows, findet einzelne Angaben bestätigt, korrigiert Vermutungen oder zieht sie in Zweifel und läßt vor allem das bisher Unbekannte in seiner Bedeutung für die Biographie Kleists hervortreten. Unausgesprochen steckt in der Vorrede eine praktische Erziehung zur wissenschaftlichen Kritik, eine Demonstration, wie nur das als beweiskräftig gelten könne, was vom Material her ,positiv', d.h. dem äußeren Anschein nach als gesichert anzusehen sei. Jede Darlegung läßt Kobersteins behutsames Vorgehen spüren, keine ,Erklärung' wirkt gewaltsam, und wo das Material für die Erklärung eines Sachverhaltes nicht ausreicht, scheut er sich nicht, auf die Grenzen seiner Urteilsmöglichkeiten hinzuweisen. Nach der gleichen Methode ist Koberstein auch in den Kleist-Vorträgen vorgegangen. Dort fällt auf, daß er seine Ausführungen mit einem längeren Zitat aus Treitschkes Kleist-Aufsatz in den Preußischen Jahrbüchern einleitet; in der Vorrede erwähnt er diesen „geistvollen Aufsatz" am Schluß, beiläufig und ohne den Namen Treitschkes zu nennen. Seine persönliche Meinung hat er in einer Notiz zu den Exzerpten für die vierte Auflage des Grundrisses59 skizziert: „Der ganze Artikel ist sehr interessant und eine der bemerkenswertesten Charakteristiken Kleists, wenn ich auch nicht in allem übereinstimmen kann". Im Vortrag60 ergänzt er Treitschkes Worte durch die Bemerkung: „Sind sie auch nicht, wie ich meine, un" 58

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Ebda, S. V. Die 69 Fußnoten beziehen sich auf: den diplomatischen Befund (7), Personen (31), Orte (5), Briefdetails (5), Namen (3), Werke Kleists (8), literar. Anspielungen (1), Ed. v. Bülow (2) und Verweisungen (7). Zettelmaterial zu § 329 des Grundrisses im Koberstein-Nachlaß des Literaturarchivs der Akademie d. Wiss. der D D R , Berlin. Siehe die textkritische Darbietung.

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bedingt wahr, so entfernen sie sich doch auch nicht zu weit von der Wahrheit". Trotz gewisser Vorbehalte benutzte Koberstein das Treitschke-Zitat als rhetorischen Aufschwung und bediente sich damit eines Mittels, das ihm eigentlich nicht gemäß war: „In räthselhaftes Dunkel gehüllt tritt uns der bedeutendste Dichter jener Tage, welche der Blüthezeit von Weimar folgten, die einsame Gestalt Heinrichs von Kleist entgegen". - Wo Koberstein durch das gedruckte Wort an die Öffentlichkeit trat, versagte er sich solche emotionalen .Einstimmungen' 61 . Aber auch diese von der Vortragsrhetorik her gerechtfertigte insinuatio wurde dem Zuhörer nach dem vierten Satz als Zitat erkennbar. Die Ablenkung des Emotionalen führt in der vierten Auflage der Kobersteinschen Literaturgeschichte zu einer fast leidenschaftslosen Darstellung der Fakten und Quellen. Diese Enzyklopädie darf in unserem Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben, weil sie Kobersteins Entwicklung an einem Endpunkt zeigt. Karl Bartsch 6 2 lobt den „referierenden Charakter" des Werkes, Erich Schmidt die „nüchterne Objektivität"; andererseits kritisieren beide das Mißverhältnis zwischen Text und Fußnoten. Doch Koberstein hatte keine andere Wahl, wollte er seiner Arbeitsmethode nicht untreu werden. In den ersten drei Auflagen hatte er Kleists „großartiges Dichtertalent" nur im letzten Paragraphen „noch besonders hervorgehoben"; inzwischen hatte die Briefedition eine intensive Beschäftigung mit Kleist ausgelöst. In der vierten Auflage kommt daher sein Urteil über Kleist prägnanter und, gemäß der Anlage des Werkes, an verschiedenen Stellen des dritten Bandes zum Ausdruck. Wieder ist das Minutiöse seiner Arbeitsweise zu beobachten, die Eingliederung der Exzerpte unter die verschiedenen Gesichtspunkte seines Konzeptes und die absolute Beherrschung des Stoffes; biographische, literarhistorische und bibliographische Details finden gleichermaßen Berücksichtigung. Doch die Stoffülle ist erdrückend; an einer Stelle (S. 2 2 8 2 - 2 2 8 8 ) enthalten sieben Seiten lediglich acht Zeilen Grundtext 6 3 , während die Fußnoten einen Lebensabriß bieten. Diese „den Text überwuchernden Anmerkungen" machen es fast unmöglich, das Werk als eine in sich geschlossene Einheit aufzunehmen. Aber Koberstein ging es gerade um verschiedene Aspekte der literarhistorischen Betrachtungsweise, im weiteren Sinne um einen Pluralismus der Aspekte, der sich

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So vermerkt auch Erich Schmidt (ADB 16, 1882, S. 361): „Im Grundriß gelassen sammelnd und sichtend, jede subjektive Färbung meidend, verrieth er mündlich seine Sympathien und Antipathien sehr lebhaft". - Koberstein wußte ebenso zwischen den zu drukkenden und den nicht zur Veröffentlichung bestimmten Vorträgen genau zu unterscheiden, wie die Aufschrift der von Elisabeth Frenzel bekannt gemachten Sammlung (vgl. Anm. 46 u. 47) beweist. Karl Bartsch: Drei deutsche Litterarhistoriker. 1. K. A. Koberstein, in: Germania. Begr. v. Franz Pfeiffer 16 (1871) S. 1 0 9 - 1 1 2 , Zitat S. 112. Eine Klassifizierung Kleists als „Berliner" Dichter.

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aus seinem Methodenansatz von selbst ergab. Das schloß .Wertungen' nicht aus, auch die Subjektivität' Kobersteins ist durchaus spürbar. Wer im V o r w o r t der Brief-Edition eine entschiedene Stellungnahme zu Persönlichkeit u n d Werk Kleists vermißte, konnte nun auf den Seiten 2579 bis 2581 Kobersteins Auffassung 6 4 erfahren, die in ihren Grundzügen dem Urteil Tiecks entspricht. Im Jahre 1867 begrüßt Rudolf H a y m in den Preußischen Jahrbüchern65 die Vollendung der Kobersteinschen Literaturgeschichte u. a. m i t d e m S a t z : „ M i t b e s serem Gewissen haben wir das litterarische Ausruferamt in der That niemals geübt". Er rühmt die „bewundernswürdige Objectivität" des Werkes, deckt aber auch manche Schwäche auf. In den Anmerkungsmassen sieht er das „Geständnis der Verzweiflung an der künstlerischen Bewältigung des Gegenstandes", und er konstatiert, am wenigsten sei Koberstein „der Bedeutung des Persönlichen, der Ableitung epochemachender litterarischer Erscheinungen aus der individuellen Eigenart, aus dem Lebens- u n d Bildungsgange der Schriftsteller gerecht geworden" . Letzteres läßt sich auch von der Vorrede zu den Briefen Kleists an Ulrike sagen. Die Briefe sprechen im G r u n d e f ü r sich selbst 66 , und Kobersteins Vorbemerkung 6 7 , daß er „es einer andern H a n d überlasse, nach diesen Briefen und nach den eben angeführten Büchern die Lebensgeschichte des Dichters aufs neue zu schreiben", kann vielleicht als Kapitulation vor den Aufgaben einer Biographie angesehen werden. Daß es über die bloße Relation der Phänomene hinaus einer tragenden Idee und auch jugendlicher Begeisterung bedurfte, zeigt die im Dezember 1862 abgeschlossene Kleist-Biographie Adolf Wilbrandts 6 8 , die möglicherweise

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„So trin denn auch in fast allen seinen Dichtungen dieser Bruch seines ganzen Wesens mehr oder weniger als eine die innere Harmonie und die kunstmäßi^e Geschlossenheit eines Ganzen aufhebende Ungleichartigkeit des Besonderen hervor [. . .]. Gleichwohl gehören seine dramatischen Arbeiten, vornehmlich das Käthchen von Heilbronn, und in noch höherem Grade Der zerbrochene Krug und der Prinz von Homburg, nebst mehreren seiner Erzählungen, zu dem Vortrefflichsten, was in der deutschen Dichtung des neunzehnten Jahrhunderts hervorgebracht worden ist [ . . . ] " (S. 2580). Die Vollendung von Koberstein's Geschichte der deutschen Litteratur, in: Preußische Jahrbücher Jg. 19 (1867) S. 238-244. Der Artikel ist anonym erschienen; die Verfasserschaft Hayms wurde von Hans Rosenberg (Rudolf Haym: Ausgewählter Briefwechsel, 1930, S. 228) gesichert. In seinem Brief an Koberstein vom 10. Aug. 1864 spricht Haym, seinem „Gefühl der Dankbarkeit und Pietät gegen den Lehrer" Ausdruck gebend, ebenfalls davon, daß er an der „Einrichtung" des Werkes „manches anders wünschte". In seiner Rezension (Literar. Centralblatt Nr. 4, v. 28. Jan. 1860, Sp. 54) bemerkt Treitschke: „Der Herausgeber hat sich damit begnügt, einige erläuternde Anmerkungen zu geben und in einer kurzen, lichtvollen Einleitung auf den psychologischen Zusammenhang der Briefe und die darin enthaltenen Thatsachen hinzuweisen. Für die Umsicht und Sorgfalt dieser Bemerkungen bürgt Koberstein's bewährter Name". Vorrede zur Briefausgabe, S. IV. Adolf Wilbrandt: Heinrich von Kleist. Nördlingen 1863.

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auf eine Anregung Kobersteins 69 zurückgeht. Sie wurde von der Kritik nicht widerspruchslos hingenommen, aber von ihr gingen neue Impulse aus, während Kobersteins Edition nur neue Kenntnisse vermittelte. Adolf Wilbrandt, „aus Pietät Jurist, aus Neigung Historiker, aus Patriotismus Journalist, aus Naturtrieb Poet" 7 0 , hatte sich zum Ziel gesetzt, „die Werke und die Eigenheiten des Dichters nicht nach allgemeinen Eindrücken und unter fertigen Formeln, sondern in ihrer geschichtlichen Entfaltung aufzufassen, und das so gewonnene Urtheil in rein sachlicher Darstellung zu erhärten" 7 1 . Vorbild ist „die bei Sybel gelernte historisch-kritische Methode" 7 2 . Diese Methode hatte „die alte treuherzige Art, den Wert der Uberlieferungen sozusagen durch das Gefühl abzuschätzen, gründlich abgetan und durch sorgfältigste Ausgrabung der Quellen ersetzt" 7 3 . Wilbrandt blieb dabei jedoch nicht stehen, sondern vertraute auch seiner Intuition, die ihm eine akzentuierte Ordnung des überlieferten Materials ermöglichte. So kam er der Forderung nach einem „Verständnis aus dem Lebens- und Bildungsgange" sehr nahe, doch Treitschke gesteht, daß er „von Wilbrandt etwas Beßres erwartet hätte" 7 4 , und Rudolf Haym nennt das Buch eine „sehr mittelmäßige Arbeit" 7 5 . Hieronymus Lorm, der die „allzu systematische Behandlung" kritisiert, vermerkt, Wilbrandt habe „hie und da die psychologische Darstellung" versäumt und die Briefe Kleists „als unverarbeitetes Material an die Stelle gesetzt" 7 6 . Anton Bettelheim dagegen rühmt, daß „kein anderer vor und nach Wilbrandt mit solcher Sehergabe den inneren Zusammenhang der Schöpfungen und Schicksale des größten und unglücklichsten der deutschen Romantiker geschaut" habe 7 7 . Es überrascht nicht, daß Wilbrandt, der schließlich seiner dichterischen

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Wilbrandts Vater war eine Zeitlang Oberlehrer in Schulpforta und mit Koberstein eng befreundet (vgl. A . Wilbrandt: Aus der Werdezeit. Stuttgart u. Berlin 1907, S. 6 / 7 ) . In seiner Grußadresse zum 70. Geburtstag Wilbrandts schreibt Erich Schmidt: „Ihr ausgezeichnetes, der Persönlichkeit sich einschmiegendes Buch über Heinrich von Kleist befestigte eine schon in Schulpforta von unserm unvergeßlichen Lehrer Koberstein wachgerufene Neigung" ( A . Wilbrandt. Zum 24. Aug. 1907. Von seinen Freunden. Stuttgart u. Berlin 1907, S. 70).

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Adolf Wilbrandt: Ein Gespräch, das fast zur Biographie wird (1873), in: Wilbrandt, Gespräche u. Monologe. Stuttgart 1889, S. 4.

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Vorrede zum Kleistbuch. Adolf Wilbrandt: Aus der Werdezeit (Stuttgart u. Berlin 1907) S. 117 (siehe auch: Sembdner, Nachruhm, N r . 199).

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Ebda, S. 73. Treitschke an H a y m v. 3 0 . April 1863 (H. v. Treitschke: Briefe. Hrsg. v. M . Cornilicus. Bd. 2, 1913, S. 2 5 8 ; s . a . Sembdner, Nachruhm, N r . 2 0 2 b ) .

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H a y m an Treitschke v. 2. April 1863 (R. H a y m : Ausgewählter Briefwechsel, 1930, S. 2 1 1 ; s . a . Sembdner, Nachruhm, N r . 2 0 2 a ) . Hieronymus L o r m [d. i . : Heinrich Landesmann]: Heinrich v. Kleist und seine Kritiker, in: ö s t e r r . Wochenschrift für Wissenschaft, Kunst und öffentliches Leben. Bd. 1 (Wien 1863) S. 725 (s.a. Sembdner, Nachruhm, N r . 2 0 1 , gekürzt).

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Adolf Wilbrandt. Zum 2 4 . August 1907. Stuttgart u. Berlin 1907, S. 6 3 .

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Berufung folgte und der von 1881 bis 1887 Direktor des Wiener Burgtheaters war, sein Erstlingswerk bald nur als einen „Umweg" betrachtete, auf dem er zu seiner „Muse" zurückkehrte 7 8 . Es scheint, als sei Koberstein bewußt gewesen, daß Objektivität und künstlerische Gestaltung einander ausschlössen. Nach Wilbrandt besaß erst Erich Schmidt - in seiner Materialgewissenhaftigkeit ein Nachfolger Kobersteins - wieder genügend Selbstbewußtsein, um beides für vereinbar zu halten.

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Adolf Wilbrandt: Gespräche und Monologe. Stuttgart 1889, S. 10.

7. Kapitel Editorische Nachlese Rudolf Köpkes Edition der Politischen Schriften

Erst 1862 meldete sich Rudolf Köpke zu Wort, von dem man schon unmittelbar nach Tiecks Tod eine Mitteilung über Kleist hätte erwarten dürfen. Das Material, das er nunmehr mitteilte, kam zu spät, um allgemeines Interesse zu finden; es erschien andererseits zu früh für eine literarische Öffentlichkeit, die Kleist erst allmählich zu begreifen begann. Die ablehnende Haltung Treitschkes und die Leichtfertigkeit, mit der Julian Schmidt sich über die neugefundenen Texte hinwegsetzte, sind jedoch nur zum Teil ästhetisch zu begründen oder aus dem Unmut Schmidts zu erklären, daß dieses Material ihm noch nicht zur Verfügung gestanden hatte. Sie ergaben sich auch aus der Persönlichkeit Köpkes und aus der literarischen Rolle, die ihm durch Tieck zugefallen war. Zwei Jahre nach dem Tode Tiecks hatte Köpke Tiecks Nachgelassene Schriften1 veröffentlicht und eine „nach seiner Einsicht und bestem Gewissen" zusammengestellte Auswahl aus den noch ungedruckten Werken geboten. Im Vorwort hatte er Rechenschaft über Art und Bedeutung des Nachlasses abgelegt und auch Tiecks editorische Unternehmen erwähnt (S. X X I V ) , die in seinem Besitz befindlichen Handschriften aber übergangen. Der „biographische Commentar der Werke des Dichters" war noch im gleichen Jahr erschienen. Daß er in diesem Buch 2 , das bis heute die materialreichste Quelle zur Biographie und zu den literarischen Anschauungen Tiecks darstellt, wichtige Informationen wie die Herkunft der Handschrift des Prinz von Homburg unterschlagen mußte, wurde bereits erwähnt. Köpke berief sich auf Gespräche mit Tieck und sein persönliches Vertrauensverhältnis, er verwahrte den Hauptteil des Nachlasses, der noch unveröffentlichte, von Tieck 1821 nur erwähnte, Kleist-Schriften enthielt. Eine Darstellung seiner 1

2

Ludwig Tieck: Nachgelassene Schriften. Auswahl u. Nachlese. H r s g . v. Rudolf Köpke. Bd. 1. 2 . - Leipzig: Brockhaus 1855. Rudolf Köpke: Ludwig Tieck. Erinnerungen aus dem Leben des Dichters nach dessen mündlichen und schriftlichen Mitteilungen. Bd. 1 . 2 . - Leipzig: Brockhaus 1855. Mitteilungen über Kleist: Bd. 1, S. 3 3 7 - 3 3 9 ; Bd. 2, S. 5 5 - 5 6 , 2 0 1 - 2 0 2 ; im Auszug: Sembdner, Lebensspuren, N r . 271 u. 274 b. - Vgl. zur Entstehungsgeschichte des Werkes: Heinrich Lüdeke von Möllendorff, Aus Tiecks Novellenzeit. Briefwechsel zwischen Tieck und F . A . Brockhaus. Leipzig 1928, S. 2 0 0 - 2 0 3 und Klaus Kanzog: Ratschläge Friedrich von Raumers zur Tieck-Biographie Rudolf Köpkes, in: Jahrbuch des Freien Deutschen H o c h stifts 1970, S. 2 0 3 - 2 2 5 .

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Beziehungen zu Tieck ist für das Verständnis seiner Herausgebertätigkeit unerläßlich. Köpke war Schüler und Mitarbeiter Leopold von Rankes, seit 1846 Privatdozent und seit 1856 außerordentlicher Professor für Geschichte an der Universität Berlin. Seine wissenschaftlichen Interessen gehörten dem deutschen Mittelalter. Er hatte Tieck Anfang 1849 - zur Zeit des Dresdener Aufstandes - in Berlin persönlich kennengelernt. Aus der Einleitung zur Tieck-Biographie (S. X I I - X I I I ) erfahren wir, daß ihn die „gemeinsame Theilnahme für dortige Zustände" mit Tieck in Kontakt kommen ließ und daß aus dem Bedürfnis, „über die politischen Tagesfragen sich in Kürze zu verständigen", ein Verkehr erwuchs, der bis zu Tiecks Tode „ohne Unterbrechung fortgesetzt wurde" und der Köpke „vier Jahre hindurch wöchentlich mehrere Male, zuletzt fast täglich, oft Stunden lang" in Tiecks Haus führte. „Als die politische Spannung sich gelegt hatte", traten Dichtung und Literatur in den Vordergrund der Gespräche, aus denen sich allmählich die „Erinnerungen" Tiecks gestalteten. Köpke zeigte schon während seiner Studienzeit lebhaftes Interesse für die schöne Literatur, stand aber nach der Julirevolution in Opposition zu ihren „modernen Tendenzen" 3 . Während seiner Universitätstätigkeit bezog er die Literaturgeschichte in den Kreis seiner Vorlesungen ein, und gerade diese Vorträge „gewannen ihm zuerst einen größeren Zuhörerkreis" 4 . Weltfremdheit und Stubengelehrsamkeit wird man ihm kaum nachsagen. Für ihn wirkte alles Geschichtliche in die Gegenwart hinein und war Teil einer Kontinuität historischer Entwicklungen. Er hoffte auf das „Ende der Kleinstaaterei" 5 , die deutsche Wiedergeburt unter der Führung Preußens und eine konstitutionelle Verfassung, „welche die königliche Macht begrenzte, ohne sie zu knechten". Die Revolution von 1848 hat ihn dazu bestimmt, in den politischen Tageskampf einzugreifen. Er stand auf der Seite der Royalisten, da er durch die Republik die staatliche Ordnung gefährdet sah, und 3

4

5

W. v. Giesebrecht: Erinnerungen an Rudolf Köpke. - In: Historisches Taschenbuch. Begr. v. Friedr. v. Raumer. Hrsg. v. W. H . Riehl. 5. Folge, Jg. 2 (1872) S. 248-328, Zitat S. 276. Giesebrecht, S. 290. - Köpke las zuerst im Sommersemester 1850 „Uber neuere Literaturgeschichte seit dem Ende des 18. Jh.s" und wiederholte diese Vorlesung in den folgenden Wintersemestern unter wechselnden Bezeichnungen (Geschichte der deutschen Literatur seit dem Anfang dieses Jh.s, seit Schiller, bzw. seit der Mitte des 18. Jh.s). Eine spezielle Kleist-Vorlesung ist im Verzeichnis der Vorlesungen der Universität Berlin (Bayr. StB.: H.lit. 239") nicht aufgeführt. Zuletzt las Köpke im Wintersemester 1863/64 „Uber Lessings Leben und Schriften". Titel einer Flugschrift Rudolf Köpkes aus dem Jahre 1866, wiederabgedruckt in Köpke, Kleine Schriften (1872) S. 614-721. Vgl. hierzu die „sehr beifällige" und zugleich den eigenen S u n d p u n k t abgrenzende Rezension Raumers (Friedrich v. Raumer an Rudolf Köpke. Ein historisch-politischer Brief, Berlin 1866, wiederabgedrucktin Raumer, Litterarischer Nachlaß. Bd. 1, 1869, S. 279-290). Uber die Vorgeschichte der Rezension informiert K. Kanzog a.a. O., S. 222 - 224, die politischen Ansichten Köpkes charakterisiert W. Giesebrecht a.a.O, S. 312-313.

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wurde Mitbegründer des Patriotischen Vereins 6 . Nach dem Vertrag von Olmütz gehörte er zu den Enttäuschten, die sich aus der Parteipolitik zurückzogen, aber den Glauben an die deutsche Einigung wachhielten. Man ist versucht, Köpke auf eine Eckermann-Rolle festzulegen. Er hat in der Einleitung seiner Tieck-Biographie (S. XVIII) selbst an Eckermanns Gespräche mit Goethe erinnert, aber durch die Bemerkung, daß seine Gespräche mit Tieck „zum großen Theil historische Erinnerungen" waren, gerade den Unterschied zu den ästhetisierenden Absichten Eckermanns betont. Auch sein persönliches Verhältnis zu Tieck beruht auf anderen Kommunikationsvoraussetzungen 7 . Bereits nach 1840 war Tiecks literarischer Ruhm verblaßt, persönliche Schicksalsschläge und die Revolution, durch die Tieck nicht nur politisch in die Isolierung geraten war, ließen ihn nach Menschen suchen, denen er sich anvertrauen konnte. Als geborener Berliner und Kenner des deutschen Mittelalters, als Gegner moderner Literaturbestrebungen, der zudem Tiecks politische Anschauungen teilte, mußte Köpke ihm besonders willkommen sein. Starke persönliche Sympathien traten hinzu, und so unterschied sich Tiecks Haltung seinem Gesprächspartner gegenüber in vielem von der Souveränität Goethes, obgleich auch Tieck die Mittlerschaft Köpkes einkalkuliert und sich selbst in der Goethe-Rolle gefallen haben mag. In einem „schriftlichen Andenken" schrieb Tieck kurz vor seinem Tode an Köpke: „Glauben Sie mir, Theurer! daß nur wenige Menschen gleich bei der ersten Bekanntschaft einen so vortheilhaften Eindruck auf mich gemacht haben, als Sie. Ich fühlte sogleich Vertrauen, und aus Ihrem Wesen sprach eine solche feste Redlichkeit, Charakterstärke und sichere Ruhe, so daß ich Ihnen sogleich viel vertrauen konnte, was ich Andern verschwieg. Ihre gesetzte, ruhige Weise fesselte mich, und ich behaupte, einem solchen Manne könne man unter Tausenden vertrauen und ihn mit Sicherheit Freund nennen" 8 . Eine andere Formulierung im gleichen Brief 9 deutet darauf hin, daß Tieck Köpke auch als Nachlaß-Verwalter in Erwägung gezogen hat. Eduard von Bülow 6

Vgl. Rudolf Köpke: Kleine Schriften zur Geschichte, Politik u. Literatur. Ges. u. hrsg. v. F. G. Kiessling.-Berlin: Mittler u. Sohn 1872. Dort vor allem: Die Volkssouverainität. E.

polit. Controversschrift (S. 495-519) und der Aufrufe« das Volk (S. 545-560). 7

8

9

So schreibt Vamhagen von Ense (Tagebücher. Bd. 12, 1870, S. 279) über die Biographie: „Es ist ein Werk der Pietät, und als solches zu loben. Der Verfasser hat auch wohl von dem, was er verschweigt, nicht viel gewußt". Ludwig Tiecks diktierter Brief an Rudolf Köpke v. 29. März 1853, in: Briefe an Rudolf Köpke. Für die Litteraturarchiv-Ges. in Berlin hrsg. v. Heinrich Meisner u. Erich Schmidt. Berlin 1909. (Mitteilungen aus dem Litteraturarchive in Berlin. N.F. 1) S. 83. Am Schluß (S. 84) die Bekräftigung, „daß ich Sie zu meinen ächten, wahren Freunden mit inniger Überzeugung zählen kann". Ebda, S. 83: „Wie glücklich bin ich, daß Sie gewissermaßen an meinen Arbeiten Theil nehmen, und ich bin vielleicht so anmaßend, Sie bei Gelegenheit zu noch mehr Anstrengungen aufzufordern".

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kam nach dem Tode Tiecks dafür nicht mehr in Betracht. Agnes Alberti-Tieck teilte ihm am 9. August 1853 auf seine Anfrage in schroffem Ton mit, daß sie den „ganzen literarischen Nachlaß" ihres Vaters „Köpkes Güte übergeben" habe und daß er nur mit ihrem „Wissen und Bestimmungen und auch nur vereint" erscheinen werde; gleichzeitig bat sie Bülow, wegen eventueller Veröffentlichungen erst bei Köpke anzufragen10. In einem späteren Brief (an Köpke) nennt sie die Gründe für ihr Verhalten Bülow gegenüber: „wir fanden es von jee her nicht passend daß er sich gerade zu Vaters intimsten Freunden zählte, und es kamen durch ihn viele nur hingeworfene Ansichten meines Vaters auf ganz andere Weise zur Öffentlichkeit; ich sah mit Schrecken voraus daß dies bei seinem jetzigen Werke über V[ater], besonders um sich selbst dadurch ein relief zu geben, im erhöhten Maaße der Fall seyn würde" 11 . Bülow lebte zum Zeitpunkt dieses Briefes nicht mehr, sein Buch über Tieck ist über ein erstes Vorbereitungsstadium offenbar nicht hinausgekommen 12 . Köpke spricht in einem Brief an Carl von Holtei später nicht ohne Legitimation davon, daß er sich eine gewisse Zeit „als den nächsten Vollzieher dieses literarischen Testaments mit Recht betrachten konnte" 1 3 . Allerdings durfte er seine Aufgabe mit der Herausgabe der Nachgelassenen Schriften und der Erinnerungen im wesentlichen als erfüllt ansehen. Das Projekt, die im Nachlaß vorhandenen „Briefe an Tieck" herauszugeben, war zum damaligen Zeitpunkt nicht zu verwirklichen; der Verleger Max, dem Agnes Alberti-Tieck diese Briefe übergeben hatte, mußte, wie Köpke Holtei mitteilte, „die Ansicht gefaßt haben, er werde dabei die gehoffte Rechnung nicht finden". Erst zehn Jahre später hat Agnes Alberti-Tieck, nunmehr auf den Namen eines bekannten Schriftstellers vertrauend, Holtei mit der Edition beauftragt 14 . Holtei, der auch in der Folgezeit mehrfach um 10

11 12

13

14

Letters to and from Ludwig Tieck and his circle. Coli, and ed. by Percy Matenko, Edwin H . Zeydel, Bertha M. Masche. ChapelHill 1967. (Univ. of North Carolina Studies in the Germanic Lang, and Literatures. 57) S. 255. Der Brief liegt im Literatur-Archiv der Akademie d. Wiss. d. D D R , Berlin in einer Abschrift vor, die Agnes Alberti-Tieck Köpke zur Kenntnisnahme übersandte. Letters to and from Ludwig Tieck and his circle, S. 257. Es ist bezeichnend, daß Köpke Bülow im Vorwort seiner Tieck-Biographie nicht erwähnt und in der Darstellung Bülows Freundschaft mit Tieck nicht gerecht wird. Wulf Segebrecht (Ludwig Tieck an Eduard von Bülow. 23 Briefe. Jahrbuch d. Freien Dt. Hochstifts 1966, S. 395) hält es für nicht ausgeschlossen, „daß hier eine gewisse Animosität gegenüber dem anderen Tieck-Jünger Köpke geleitet hat". Briefe an Rudolf Köpke, S. 28. Konzept dieser „Antwort an Holtei" (S. 2 7 - 3 2 ) im Literatur-Archiv der Akademie d. Wiss. d. D D R , Berlin. Köpke erfuhr dies zunächst durch Mitteilungen in der Presse, am 30. Dez. 1863 wandte sich Holtei persönlich an Köpke, dem er in dem bereits erwähnten Antwortbrief die Vorgeschichte der Edition darstellte. Es schloß sich ein Briefwechsel an, der Aufschlüsse über das Editionsverfahren Holteis vermittelt. Vgl. hierzu: Aus Tiecks Novellenzeit. Hrsg. von Heinrich Lüdeke von Möllendorff, Leipzig 1928, S. 2 0 1 - 2 0 4 , und die Korrespondenz Köpke - Agnes Tieck-Alberti (Letters to and from Tieck and his circle, S. 2 5 0 - 272) sowie H o l t e i - K ö p k e (Briefe an Rudolph Köpke, S. 2 5 - 6 1 [15 weitere Briefe Holteis sind noch unveröffentlicht]). Außerdem die Vorrede Holteis zu: Briefe an Ludwig Tieck. Bd. I , 1864, S. V I I - X I V .

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R a t nachsuchte, wandte sich mit der Bitte an Köpke, die Einwilligung zu dieser Publikation zu geben. Köpkes Erklärung aus dem Jahre 1854 zeigt den inzwischen gewonnenen Abstand: „Meiner Einwilligung bedürfen Sie n i c h t " 1 5 . Mit dem T o d e Tiecks war Köpke nicht unbedingt die Verantwortung für die W e r k e Kleists zugefallen. F ü r die Weiterführung der von Tieck herausgegebenen Kleist-Ausgabe war aus der Sicht des Verlages nur ein Literarhistoriker von Rang in Frage gekommen. K ö p k e kannte die Vorurteile der öffentlichen Meinung gegen Historiker als Herausgeber literarischer W e r k e . So schrieb er schon im V o r w o r t zu Tiecks Nachgelassenen

Schriften:

„ D e r N a m e des Herausgebers wird den Mei-

sten ein Fremder sein, und die Wenigen, welche ihn von einem andern Gebiete her kennen mögen, werden vielleicht meinen, er habe sich unberufen z u m Dienst der Musen gedrängt, oder Anderes zu thun sei seine Pflicht" (S. X X V ) . So ist kaum anzunehmen, daß Köpkes Ehrgeiz sich damals auf die Herausgabe der W e r k e Kleists richtete; wie aus O . F . Gruppes und W . von Maitzahns Äußerungen 1 6 hervorgeht, scheinen ihn zunächst die Werke von Lenz beschäftigt zu haben. Erst 1862 legte er, z . T . auf Grund des Nachlasses, Kleists Politische Schriften dere Nachträge

zu seinen

Werken17

und an-

vor.

Diese Edition ist sehr schwer allein v o m Text her zu beurteilen. D e r Titel umschreibt den uneinheitlichen Charakter einer Sammlung, der etwas Zufälliges anhaftet und die man bestenfalls als eine Nachlese betrachten kann. Treitschkes U r teil, das Buch hinterlasse im ganzen „einen traurigen, fast unheimlichen Eind r u c k " 1 8 , geht zwar an der Bedeutung der hier zum ersten Mal veröffentlichten 15

16

17

18

Köpkes Antwortkonzept in: Briefe an Rudolph Köpke, S. 31. Köpke schreibt an Holtei: „So sind zehn Jahre verflossen, in denen ich zum Theil mit ganz andern Arbeiten beschäftigt, dennoch Pausen gehabt habe, die mir die Rückkehr zu jener ungelösten Aufgabe [ = Edition der Briefe an Tieck] verstattet hätten, wenn mir Gelegenheit dazu geworden wäre" (Ebda, S. 30). O . F . Gruppe war im August 1861 von Ferdinand Walter auf die Lenz-Papiere im Nachlaß Tiecks aufmerksam gemacht worden und hatte Köpke nach diesen gefragt. Im Vorwort seiner Lenz-Biographie (Reinhold Lenz, Leben u. Werke. Mit Erg. der Tieckschen Ausgabe. Berlin 1861) teilt er dazu mit: „Aus dem Nachlaß Tiecks sind sie in die Hände des kundigen Professors Dr. Rudolph Köpke, meines geschätzten Collegen, gelangt, welcher daraus noch publizieren wird, was der Erhaltung werth ist" und schließt den Vorwurf an: „Freilich hätte dies schon längst geschehen sollen, denn Documente dieser Art sind nicht Gegenstand des Privatbesitzes, sondern allgemeines Eigenthum" (S. XVII). - Acht Jahre später erinnert W. v. Maitzahn Köpke an dieinzwischen aufgegebene Lenz-Edition: „Sie wissen, daß Gruppe durch seine Klatschannalen über Lenz unsern Plan, gemeinschaftlich den Lenz herauszugeben, vereitelte" (Briefe an Rudolph Köpke, S. 68). Heinrich von Kleist's Politische Schriften u. andere Nachträge zu seinen Werken. Mit e. Einl. zum ersten Mal hrsg. v. Rudolf Köpke. Berlin: A. Charisius 1862. 168 S. Rez. im Literarischen Centralblatt Nr. 19, v. 10. Mai 1862. Treitschke erklärt: „Auf eine Stelle in der Literatur haben die flüchtigen Aufsätze keinen Anspruch; der Charakter des Dichters aber enthüllt sich uns hier noch nackter als in den von Koberstein herausgegebenen Briefen Kleist's an seine Schwester".

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Texte vorbei, trifft jedoch die Enttäuschung, mit der viele Leser das Buch aus der Hand gelegt haben mögen. Man kann sich der Vermutung nicht erwehren, daß Köpke ursprünglich eine viel umfassendere Publikation über Kleist geplant, aber aus verschiedenen Gründen davon Abstand genommen hat. Unter den nachgelassenen Papieren Köpkes befindet sich ein Notizzettel 19 , der verschiedene Angaben über einzelne Werke Kleists, insbesondere über seine Zeitschriftenbeiträge, aber auch über Aufführungen Kleistscher Werke in Berlin enthält. Durch die Erwähnung der Ausgabe Julian Schmidts und die Bemerkung, Friedrich von Raumer müsse Briefe von Kleist besitzen, läßt sich der Zettel ungefähr auf das Jahr 1860 datieren 20 . Dieser Zettel stammt von Wendelin v. Maitzahn, dem bekannten Literarhistoriker, Bücher- und Autographensammler. Da Maitzahn einige Jahre später Köpke an das „alte Freundschaftsverhältnis" 21 erinnert, das beide „seit Jahren" verbinde, und die Bitte um Überlassung von Lenz-Handschriften anschließt, dürfen wir annehmen, daß sich dieses Freundschaftsverhältnis auf den gegenseitigen Austausch von Quelleninformationen gründete; anderen Forschern gegenüber verhielt sich Maitzahn wesentlich reservierter, so daß Erich Schmidt ihn mit Recht einen „Geheimniskrämer" 22 nannte, der der Forschung wichtige Stücke seiner Sammlung, darunter auch Kleist-Briefe, vorenthielt 23 . Maitzahn teilte Köpke mit, was ihm an Einzelheiten über Kleist bekannt war. Er hatte den Phöbus und das erste Quartal der Berliner Abendblätter durchgesehen und sich außerdem um die von Kleist geplante Zeitschrift Germania bemüht; die Notiz, seine wiederholten Nachfragen nach dieser Zeitschrift in Prag seien resultatlos geblieben, zeigt, wie intensiv er auf die Vermehrung seiner Kleist-Schätze bedacht war. Seine Bemerkungen reichen aber weit über rein bibliophile Interessen hinaus, sie sind z.T. literaturkritische Exkurse zu noch unbekannten Beiträgen Kleists in den Berliner Abendblättern. So erkennt Maitzahn in den beiden Legenden Gleich und Ungleich und Der Welt Lauf Kleist als Verfasser, er kritisiert Eduard von Bülow, der den Abendblätter-Texten nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt habe, und bemerkt, daß die Anekdoten „großentheils Kleists Feder" angehören. Nicht durch Tieck, sondern erst durch Maitzahn wird also Köpke auf die Abendblätter-Spuren geführt.

19 20

21

22

23

Vgl. den diplomatischen Abdruck Bd. in 2, S. 127-129. Julian Schmidts Kleist-Ausgabe erschien 1859 in Lieferungen, die Vorrede Raumers ist auf den 14. Mai 1861 datiert. Brief vom 12. Juni 1869 (Briefe an Rudolph Köpke, S. 68). Maitzahn schreibt: „Ja mit inniger aber zugleich wehmütiger Freude gedenke ich oftmals der schönen Stunden, die wir mit einander verlebt haben!" Brief an Wilhelm Scherer v. 22. Dez. 1874 (Wilhelm Scherer-Erich Schmidt, Briefwechsel. Hrsg. v. Werner Richter u. Eberhard Lämmert. Berlin 1963, S. 47; vgl. auchS. 50,57, 64, 65, 228, 249). Uber das Schicksal der Kleist-Handschriften Maitzahns siehe: Analytische Bibliographie der Briefe, N r . 32.

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Unmittelbarer Anlaß für die intensivere Arbeit Köpkes an den im Tieck-Nachlaß vorgefundenen Aufsätzen Kleists war der Brief Kleists an Ulrike vom 17. Juni 1809 in der Ausgabe Kobersteins 24 . Die Pläne einer Herausgabe dieser Aufsätze reichen „längere Zeit" zurück, sofern man nicht überhaupt nur von einer ersten Bestandsaufnahme sprechen will. Es ist nicht zu erweisen, ob Köpke hoffte, Reimer würde ihn mit der Fortführung der Kleist-Ausgabe Tiecks beauftragen 25 . Köpke berichtet nur, daß er „andern Arbeiten hingegeben" und „ohne besondere Veranlassung zur Herausgabe" gewesen sei. Er hat jedoch den Rahmen seiner Edition ursprünglich weit gespannt und Informationen an Stellen eingeholt, die Gewähr für Authentizität versprachen. Beachtung verdienen daher auch andere unveröffentlichte Kleist-Materialien Köpkes. So fand schon S. Rahmer 26 bei der Durchsicht des Tieck-Nachlasses ein Manuskript Köpkes, das sich mit dem Verhältnis Adam Müllers zu Kleist befaßt und das als Bruchstück einer früheren Fassung der Einleitung angesehen werden kann. In seinem negativen Urteil gegenüber Müller von Tieck und Raum er beeinflußt, stellt Köpke hier eine dramatische Phase der Geschichte der Berliner Abendblätter dar und läßt Müller als den Hauptschuldigen an dem Zerwürfnis mit der preußischen Staatsregierung erscheinen. Danach wollte Kleist sich in den Abendblättern in „seiner unbefangenen Weise" aussprechen, den Leser „unterhalten, belehren" und „in nationalem Sinne erheben", während Müller, als „Bundesgenosse der Restaurationspartei", die Zeitung zum Werkzeug seiner Politik zu machen hoffte. Die „üblen Folgen", die „nicht Müller, sondern Kleist trafen", werden von Köpke mit einem Hinweis auf die politische Situation gerechtfertigt, da die „Staatsregierung, deren Lage der feudalen Partei gegenüber ohnehin schon unbequem genug war", sich „in einer Zeit strenger Zensur auf diese Weise unmöglich offen Opposition machen lassen konnte". - In seiner Einleitung begnügt sich Köpke bei der Erwähnung der Berliner Abendblätter mit der Feststellung, daß das Unternehmen an „innerer Planlosigkeit" litt und „zuletzt an dem Zerwürfnis mit den obersten Staatsbehörden" scheiterte, „auf deren Unterstützung Kleist nicht ohne Selbsttäuschung gerechnet hatte" 27 . An Hand der kurz zuvor erschienenen Lebenserinnerungen Raumers 28 sollte der Leser sich offenbar selbst ein Urteil bilden. 24

25

26 27 28

Köpke (Politische Schriften, S. 9) fand in diesem Brief (Sbd 153) das noch fehlende „bestimmte Zeugniß" Kleists für das von ihm geplante „patriotische Wochenblatt", für das die Beiträge offensichtlich bestimmt gewesen seien. Im Archiv des Verlages Walter de Gruyter hat sich nur ein Brief Köpkes vom 19. Februar 1860 an Reimer erhalten, in dem er mitteilt, er sei für das bevorstehende Universitätsjubiläum mit der Abfassung einer Geschichte der Universität beauftragt worden, und bittet, ihm dazu Briefe Schleiermachers zugänglich zu machen (freundl. Mitteilung Prof. Dr. Neuendorff). S. Rahmer: Heinrich von Kleist als Mensch und Dichter. Berlin 1909, S. 424-434. Politische Schriften, S. 27-28. Vgl. Analytische Bibliographie der Briefe, N r . 15.

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Leider unterläßt es Rahmer zu zeigen, in welche Vorstufen der von ihm dargebotene Text eingebettet ist. Aus den Einleitungssätzen und verschiedenen Textschichten 29 sowie dem Schluß des Manuskriptes geht eindeutig hervor, daß die Adam-Müller-Partie Teil einer umfassenderen Darstellung der geplanten Geschichte der Berliner Abendblätter

ist. Lediglich einzelne Formulierungen wur-

den, teils abgewandelt, in den späteren Text übernommen. Der eigentliche Plan kam nicht zur Ausführung. Daß aber Köpke eine solche Geschichte von Anfang an vorschwebte, zeigt schon sein systematisches Vorgehen bei der Vorbereitung des Werkes 3 0 , der Versuch, möglichst viel Informationen über die Zeitschrift festzuhalten und zu einer gesicherten Chronologie der Vorgänge zu gelangen. Allein das Fehlen einiger Hefte der Berliner Abendblätter

setzte Köpkes Bemühen Gren-

zen, und dies könnte der Grund gewesen sein, warum er als gewissenhafter Historiker den Plan schließlich aufgab. Rahmer hat das Manuskript aus dem Zusammenhang mit dem übrigen Nachlaß-Material herausgelöst, aber doch richtig erkannt, daß die „nur fragmentarische Arbeit", von „offiziöser Seite inspiriert, auch deren Auffassung über die Beritner Abendblätter

und besonders über Adam Müller wiedergibt". E r hat außer-

dem darauf hingewiesen, daß Köpke schon sehr früh über interne Vorgänge „eingehend unterrichtet" gewesen ist, zu deren Kenntnis er allein durch Raumer gekommen sein kann. Er hat jedoch sowohl eine Notiz im Benutzerbuch des Geheimen Staatsarchivs 31 falsch gedeutet, als auch wichtiges Material übersehen, das Köpkes Manuskript in einem anderen Lichte erscheinen läßt. Im Nachlaß Köpkes befinden sich Abschriften 32 von acht Briefen Kleists an 29 30

31

32

Vgl. die textkritische Wiedergabe in Bd. 2, S. 87-103. Von Bedeutung ist ein Zettel-Konvolut, das ich wie folgt numeriere: Bl. 1: Stellenhinweise in den Berliner Abendblättern; Rückseite: Chronologische Ubersicht über die Beiträge Kleists. Bl. 2: Ubersicht über die Abkürzungen und die Zugehörigkeit verschiedener Texte. Bl. 3: Fortsetzung der Ubersicht; Rückseite: Zusammenstellung der Beiträge aus demPhöbus und den Berliner Abendblättern. Bl. 4: Chronologie zur Geschichte der Zeitung; Rückseite: Abschrift des Briefes von Kleist an Raumer (Sbd 191). Bl. 5: Fortsetzung der Chronologie mit einzelnen Briefauszügen. Bl. 6: Ubersicht über die Gattungen der Beiträge; Rückseite: Historisches. Hinweise auf Müllers Abhandlungen. Bl. 7 - 9 : Stichworte; Einlagezettel: Adam Müller an Oberpräsident Sack (4. Jan. 1810). Bl. 10: Gliederung zur Charakteristik des Erzählstils; Rückseite: Ubersicht über die Nachträge zu Kleists Schriften. Bl. 11: Versuch einer Chronologie der Dichtungen Kleists vom 15. Aug. 1801 bis zum 15. Aug. 1811; Rückseite: Stichworte aus Kleists Briefen an Ulrike. Rahmer (S. 183) behauptet, Köpke habe „nicht mehr als die Akten bezüglich der Zensur der Abendblätter eingesehen", da offenbar das Benutzerverzeichnis des Geh. Staatsarchivs einen solchen Vermerk enthielt. Rahmers Irrtum, Köpke könne daher das Material nicht dem Geh. Staatsarchiv entnommen haben, beruht auf einer zu engen Auslegung dieses Vermerkes; Kleists Briefe waren Teil dieser Zensurakten. In Kanzleischrift geschrieben sind die Briefe: Sbd 180, Sbd 190, Sbd 192, Sbd 195 (unddie Abschrift des Antwortschreibens), Sbd 203, Sbd 204, Sbd 218; von Köpkes Hand: Sbd 184. - Köpke vermerkt: „Ergänzung zu Kleists 6 Briefen an F. v. Raumer vom 13. Dec. 1810-4. April 1811 Raumers Lebenserinnerungen, I. 229 ff.".

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Frh. von Hardenberg, Graf von der Goltz und Friedrich Wilhelm III. (einschließlich der Antwort Hardenbergs an Kleist vom 11. 3. 1811); sieben Abschriften stammen von Schreiberhand, eine wurde von Köpke selbst angefertigt, der auch die Abschriften mit den Originalen verglichen und danach korrigiert hat. Der auf der Brief-Übersicht angebrachte Vermerk Köpkes beweist, daß die Abschriften nach dem Erscheinen der Lebenserinnerungen Raumers angefertigt wurden, deren Vorwort auf den 14. Mai 1861 datiert ist. Der genaue Zeitpunkt der Archivbenutzung33 ist nicht mehr zu ermitteln. Nimmt man an, daß Köpke erst durch den Druck der Lebenserinnerungen Raumers - und nicht bereits durch mündliche Hinweise - zur Beschäftigung mit den Briefen angeregt wurde, so bleibt für die Arbeit im Archiv immerhin eine Frist von einem halben Jahr; die Politischen Schriften sind spätestens im Dezember 1861 auf den Markt gekommen, denn Köpkes Widmung nimmt auf Raumers sechzigjähriges Amtsjubiläum am 8. Dezember 1861 Bezug, und die erste Rezension lag bereits im Januar 1862 vor 34 . Köpkes Manuskript zur Geschichte der Berliner Abendblätter enthält bereits alle für das Verständnis der Zusammenhänge wichtigen Fakten, die der Öffentlichkeit erst zwanzig, bzw. vierzig Jahre später durch die Publikation O. Wenzels35 und R. Steigs36 bekannt wurden, und eine sachliche, auf Quellenanalyse gestützte Darstellung der Anfänge, der Ziele und des Niedergangs der Zeitung. Köpke hat auf Grund der im Archiv gefundenen sowie der von Raumer mitgeteilten Briefe ein genaues Zeitgerüst der Vorgänge aufgestellt und in regestenartigen Auszügen die dokumentarisch gesicherten Anhaltspunkte festgehalten, die als Gedächtnisstütze für die Niederschrift dienten; das Manuskript selbst weist zahlreiche Korrekturen auf, aus denen Köpkes Ringen um treffende Formulierungen ersichtlich wird. Köpke vermittelt zunächst einen Eindruck von der ersten Nummer der Berliner Abendblätter und zeigt am Gebet des Zoroaster gegenüber dem Fragment eines Schreibens aus Paris und den Tagesbegebenbeiten das Neuartige, fast Tollkühne des Unternehmens. Er skizziert Kleists Entwicklung bis zum Jahre 1810, erwähnt besonders seine wirtschaftliche Notlage, läßt aber keinen Zweifel daran, daß Kleist, der „ohne Geschick für Geschäfte und trotz seines Hasses gutmütig und voll idealistischer Vorstellungen" gewesen sei, für ein solches Redaktionsgeschäft nicht geeignet war. Die Vorgeschichte des Blattes, Kleists Anzeige in der Vossischen Zeitung und seine Verhandlungen mit Hitzig und Gruner, die verschiedenen 33

Die alten Benutzerunterlagen des Preußischen Geheimen Staatsarchivs (vor 1924) sind nicht mehr vorhanden (freundliche Mitteilung D r . Zimmermann, Geh. Staatsarchiv der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, v. 10. April 1968).

34

Vgl. Preußische Jahrbücher Bd. 9 ( 1 8 6 2 ) , H . 1 , S . 1 1 7 - 1 1 9 . Berücksichtigt man die Gepflogenheit des Buchhandels, Bücher vorzudatieren, so könnte das W e r k bereits im Spätherbst 1861 erschienen sein.

35

Vgl. Analytische Bibliographie der Briefe, N r . 2 1 . Reinhold Steig: Heinrich von Kleist's Berliner Kämpfe. Berlin und Stuttgart 1901. Vgl. besonders S. 79 die Bemerkungen über Raumers Darstellungsverfahren.

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Mitarbeiter und die verhängnisvollen Auseinandersetzungen mit der Staatskanzlei bis zum letzten Schritt, seinem Brief an den König, werden ausführlich behandelt. Im Mittelteil findet die bereits erwähnte Charakteristik Adam Müllers ihren Platz. Kleists persönliches Wagnis und die Vorfälle, die das Ende der Zeitung herbeiführten, sind für K ö p k e Teil der zeitgeschichtlichen Situation. Er gibt eine treffende Analyse des damaligen Lesepublikums, dessen „Sinn für Politik" noch nicht erwacht war, der politischen Umstände, der Zensur sowie der gesamten publizistischen Marktlage. Die Aufklärer hatten zwar das Interesse für Gemeinnütziges entwickelt, und mit Lokalnachrichten war allezeit ein Geschäft zu machen, aber angesichts der Monopolisierung politischer Nachrichten für die Vossische und die Spenersche Zeitung, der geregelten Befriedigung „hausväterlicher" und niederer Bedürfnisse durch Blätter wie das Berlinische Wochenblatt für den gebildeten Bür-

ger und denkenden Landmann, bzw. den Beobachter an der Spree und des philisterhaften Literaturdirigismus des Freimütigen mußten die Abendblätter nach Köpkes Meinung zwangsläufig scheitern: „ D i e Überfülle des politischen Stoffes, der in der Zeit lag, und die Ängstlichkeit der Verwaltung trugen gleichmäßig dazu bei, öffentliche Stimmen, die sich vielleicht hervorwagen mochten, zu ersticken". - Damit näherte sich K ö p k e dem damaligen Verantwortungsbereich Raumers. Dieser hatte zwar in seinen Lebenserinnerungen die Bedeutung seines Einflusses auf Hardenberg abzuschwächen versucht, er mußte sich aber doch getroffen fühlen, wenn Köpke, der die Berechtigung der Zensur keinesfalls in Frage stellte, die Regierungsmaßnahmen bei aller Berücksichtigung der Umstände kritisierte: „Freilich war der Behörde der alten Schule kein Gedanke unerträglicher als die Geheimnisse der Regierungskunst öffentlich besprochen, selbst nur vorübergehend berührt zu sehen". Eine so unbefangen niedergeschriebene Meinung erhielt gedruckt ein ganz anderes Gewicht; K ö p k e konnte sich eine solche Kritik an Raumer kaum leisten. Die achtzehn Briefe und Billette Raumers an Köpke aus den Jahren 1855 bis 1870, meist kurze Mitteilungen und Einladungen 3 7 , geben nur wenig Aufschluß über die persönlichen Beziehungen, die enger gewesen zu sein scheinen, als K ö p kes Bemerkungen im Vorwort seiner Tieck-Biographie (S. X X ) und die Widmungsvorrede zu den Politischen Schriften vermuten lassen. A u s Raumers Brief vom 19. April 1855 geht hervor, daß K ö p k e ihm Einblick in das Manuskript der Tieck-Biographie gewährt hat und daß er auf Einzelheiten der Darstellung unmittelbar Einfluß nahm 3 8 . Eine ähnliche Beeinflussung ist im Falle der Politischen 37

38

Vgl. Klaus K a n z o g : Ratschläge Friedrich von Raumers zur Tieck-Biographie Rudolf K ö p k e s , in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1970, S. 2 0 3 - 2 2 5 . Für uns ist in diesem Zusammenhang von Interesse, daß Raumer K ö p k e nahelegt, die „unwürdige Undeutschheit" Börnes zu erwähnen und dabei nicht auf die Folgen Rücksicht zu nehmen, „daß diese Schilderung des jungen D e u t s c h l a n d ] von dem alt Gewordenen, Impotenten nicht wird freundlich aufgenommen werden". K ö p k e wirft dann auch den Anhängern des Jungen Deutschland vor, ihre „ P o l i t i k " sei „keine deutsche, keine volksthümliche" (vgl. K a n z o g a . a . O . S. 2 1 6 - 2 1 7 ) .

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denkbar, auch wenn schriftliche Beweise hierfür fehlen. Köpkes Verhal-

ten gegenüber Raumer ist zumindest durch eine ständige Rücksichtnahme bestimmt, die sich im Hinblick auf Raumers Persönlichkeit, seine engen Beziehungen zum preußischen H o f und seine intime Kenntnis der von Köpke nur „historisch" behandelten Vorgänge fast von selbst ergab. Schon als Tieck-Biograph befand sich Köpke in einem Zwiespalt. Das geschichtlich Gewordene der jüngsten, von ihm nur zum Teil miterlebten Vergangenheit war nicht mit denselben Methoden darzustellen und zu interpretieren wie ein Dokument der ihm wohlvertrauten älteren Geschichte. Allein aus dem Generationsunterschied zwischen den noch lebenden Zeugen und dem Biographen ergaben sich unterschiedliche Distanzen, und die Gewährsmänner hatten vielfach Interesse daran, Tatsachen zu verschweigen oder Interpretationen in die gewünschte Richtung zu lenken. Quellenkritik und Wahrheitsfindung waren unter diesen Umständen sehr erschwert. Köpke war sich dieses Zwiespalts als Historiker bewußt, er sah es andererseits - wie er Varnhagen gegenüber bekannte 3 9 - als Vorteil an, „bei Abfassung seines Buches von Tieck's Leben nicht mehr zu wissen, als was er von diesem selbst erfahren". Varnhagen, wesentlich besser informiert, vermerkt in seinem Tagebuch schwerwiegende Einwände, nennt aber Köpke einen „klugen und einsichtsvollen Mann" und bescheinigt ihm, sein Buch lese sich „ganz angenehm"; es sei „gut geschrieben, in maßvoller Haltung, was mit einiger Schwächlichkeit" sich recht wohl vertrage. Ist für die Tieck-Biographie eine verständliche Pietät hinzuzurechnen, so zeigt Köpkes Kleist-Edition die speziellen historischen Bedingungen der Geschichtsschreibung noch um vieles deutlicher. Bei Ranke hatte Köpke gelernt, Kritik und Intuition miteinander in Einklang zu bringen, die Gegenwart lehrte ihn nunmehr den Kompromiß des Angemessenen und Maßvollen. In seiner Widmung an Raumer 4 0 ist Köpke - ermuntert durch die schonende Behandlung Kleists in dessen Lebensermnerungen,

vielleicht auch durch persönli-

che Gespräche - um eine Harmonisierung des einst so gespannten Verhältnisses bemüht. Aus ihr kann man neben der beinahe überschwenglichen Huldigung Raumers eine gewisse Unsicherheit und Vorsicht herauslesen. „Es irrt mich nicht", schreibt Köpke, „daß die Berührungen zwischen Ihnen, dem Staatsmanne, und dem Dichter nicht freundlicher Art gewesen sind. Persönlich unange-

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Begegnung mit Köpke am 18. Oktober 1855 (vgl. K. A. Varnhagen von Ense, Tagebücher. Bd. 12, Hamburg 1870, S. 290). Köpke versucht Raumer die Blätter Kleists durch die Erinnerung an Tieck schmackhaft zu machen („in dessen Verehrung und Liebe, wir, wie verschieden an Lebensalter und Stellung, einander zuerst freundschaftlich begegnet sind"). - Daß Köpke in vieler Hinsicht ein .Schützling' Raumers war, ist dem Brief Raumers an den Redakteur derSpenerscben Zeitung, Alexis Schmidt, vom 22. Oktober 1866 zu entnehmen, in dem er „als Freund" Köpkes bittet, dessen „ausgezeichnete Schrift über Kleinstaaterei (vgl. Anm. 5) baldigst anzuzeigen" (vgl. Anm. 37).

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nehme Erfahrungen haben Sie niemals gehindert gerecht zu sein, und Sie haben darum weder dem Menschen Ihre Theilnahme noch dem Dichter Ihre Anerkennung versagt. Die damals ausgesprochene Versöhnung wird heute zur historischen Sühne. Der Dichter ist nach schwerer Verirrung eingegangen in die Ehrenhalle unserer Litteratur; Sie haben seitdem fünfzig Jahre des reichsten Wirkens durchlebt, und stehen heute als gefeierter Greis voll seltener Jugendfrische und Theilnahme für Alles was die menschliche Brust bewegt, am Grabe des Dichters, der am Widerstreit des Lebens zu Grunde ging". Einer möglichen Kritik Raumers an seiner Edition war Köpke damit elegant entgegengetreten. Köpke hat auch auf die Wiedergabe der Briefe Kleists an Hardenberg, von der Goltz und Friedrich Wilhelm III. verzichtet 4 1 . Eine solche quellenmäßige Darlegung der Auseinandersetzung Kleists mit der Staatskanzlei 42 hätte den Rahmen der Edition gesprengt, die preußische Regierung von 1811 wäre in ein wenig günstiges Licht geraten, und auch Kleists „Selbsttäuschung" 4 3 wäre weitaus stärker zum Ausdruck gekommen. - Köpke sah in den politischen Schriften des Jahres 1809 nicht nur ein „geschichtliches Zeugnis vergangener Zeiten"; er wollte vielmehr durch sie die „Stimme des Propheten" beschwören, „die sich nach mehr als fünfzig Jahren warnend aus dem Grabe erhebt" 4 4 . Folgerichtig mußte er Kleist als unglücklichen deutschen Patrioten erscheinen lassen, ohne dabei die Berliner Kämpfe allzu stark in den Vordergrund zu rücken. So verbinden sich in seiner Edition konservativ-historisches Bewußtsein und philologische Akribie, Kleist-Propaganda und persönliche Rücksichtnahme zu einer Kampfschrift für die deutsche Einheit. Der zeitgeschichtliche Hintergrund bedarf kaum näherer Erläuterung. Mit dem Regierungswechsel - der Regentschaft und der späteren Krönung König Wilhelms I. - und der Entlassung des Ministerpräsidenten Frh. v. Manteuffel hatte im Herbst 1858 eine „neue Ära" begonnen, die auf eine Neubesinnung der preußischen Außen- und Innenpolitik hoffen ließ. Als Köpke sich mit Kleist beschäftigte, schwelte in Schleswig-Holstein der dänisch-deutsche Konflikt, Napoleon III. faßte eine Annexion der Rheinlande ins Auge, und in Preußen kam es wegen der geplanten Reorganisation des Heeres zu einem Verfassungsstreit. Im Oktober 1861 trafen sich Wilhelm I. und Napoleon III. in Compiegne, ein Jahr später wurde Bismarck Ministerpräsident. 41

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43

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Ich vermute, daß Köpke auch in diesem Falle Rücksicht auf Raumer nahm, dessen Auffassungen in den Lebenserinnerungen durch das neue Quellenmaterial in einigen Punkten korrigiert worden wären; die Veröffentlichung des bisher geheimen Archivmaterials hätte wohl auch offizieller Genehmigung bedurft. Bedenken mag hier vor allem der Brief Kleists an Friedrich Wilhelm III. (Sbd 204) ausgelöst haben („Zu Ew. Königlichen Majestät Gerechtigkeit und Gnade flüchte ich mich"). Es fällt auf, daß Köpke das Zensur-Problem umgeht, das er in seinem Entwurf wenigstens angedeutet hatte. Jetzt heißt es, daß Kleist auf die Unterstützung der obersten Staatsbehörden „nicht ohne Selbsttäuschung" (S. 28) gerechnet habe. Politische Schriften, S. 59.

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Erst aus dieser Perspektive sind Anfang und Schluß der Einleitung zu begreifen: der hochgestimmte Eingang, mit dem Motto zur Hermannsschlacht45 die Erinnerung an einen Dichter wachrufend, der einst die „Wiedervereinigung der Dichtung mit dem Vaterlande" erstrebt hatte 4 6 und der von den Zeitgenossen verkannt worden war, und die abschließende Mahnung an die Gegenwart: „Wieder haben sich die Epigonen der Eroberer erhoben und werfen ihre lüsternen Blicke auf die deutsche Erde, wieder spinnt die Trugpolitik die unsichtbaren zähen Fäden ihres Netzes, wieder heulen die Wölfe an den deutschen Marken" 4 7 . Die „maßvolle" Haltung des Historikers wechselt ins politische Engagement, an die Stelle kritischer Argumentation treten Rhetorik und kämpferisches Pathos: „Sollte das alte Chaos je wiederkehren? Wäre das möglich nach so vielen Opfern, schweren Kämpfen und schmerzlichen Erfahrungen? Nimmermehr! Auch Völker lernen aus der Geschichte, nur langsamer als der Einzelne; schwerer hat keines dafür gezahlt, als das deutsche. Möge es durch die That zeigen, es habe Kleist's großes Wort endlich erkennen gelernt: ,Vergebt, vergeßt, versöhnt, umarmt und liebt euch!"' 4 8 Versucht man das vaterländische Pathos von der Aufbereitung des Materials zu trennen, was freilich nicht überall möglich ist, so erscheint Köpke als sorgfältiger Literarhistoriker. Nach einem kurzen Abriß über die bisherigen Bemühungen um noch unbekannte Kleist-Texte gibt er Rechenschaft über seine Quellen und die Gründe für die mutmaßliche Autorschaft Kleists. Bevor er zur Analyse einzelner Texte übergeht, widmet er der Prosa Kleists „eine etwas allgemeinere Betrachtung", um daraus Stilkriterien zu entwickeln, „nach denen sich mit ziemlicher Gewißheit feststellen läßt, ob man es mit Kleist's Wort und Schrift zu thun habe oder nicht" 4 9 . Hier finden sich einige erstaunlich umsichtige Bemerkungen über Kleists Prosastil. Nach Köpkes Auffassung, die auf die in der Rhetorik geläufige Trennung der Gattungen „Erzählung" und „Geschichtsschreibung" zurückgreift, nähert sich Kleist „soweit sich das von dem Dichter sagen läßt, der Grenze des Geschichtsschreibers. Ohne es sein zu wollen oder auch nur den Anspruch des historischen Romanstils zu erheben, hatihn sein historischer Realismus auf den geschichtlichen Boden geführt" 5 0 . Köpke grenzt Kleists Prosa gegen die „neueren sogenannten hi45

46 47 48 49 50

„Wehe, mein Vaterland, dir! Die Leier, zum R u h m dir, zu schlagen, / Ist, getreu dir im Schoß, mir, deinem Dichter, verwehrt". Politische Schriften, S. 2. Politische Schriften, S. 59. Politische Schriften, S. 5 9 - 6 0 . Zitat aus Die Hermannsschlacht V. 2282. Politische Schriften, S. 18. Politische Schriften, S. 1 2 - 1 3 . Bezeichnend für den „Historiker" K ö p k e ist, daß er im Kohlhaas „ t r o t z des mythischen Kurfürsten von Sachsen, bei dem der Historiker von Fach nur mit Haarsträuben an den standhaften Johann Friedrich denken kann, nach Auffassung und Darstellung eine fast vollendete historische Erzählung" sieht, „deren Grundzüge dem Thatsächlichen entsprechen".

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storischen Romane", aber auch gegen die „neuen Novellen" mit ihren Reflexionen und Dialogpartien ab und sieht in ihrer „durchsichtigen Gegenständlichkeit", der „Selbstentäußerung" des Erzählers und dem „gleichen Wellenschlag" der erzählenden Rede ihre „Haupttugend"; Kleists Michael Kohlhaas könnte der Kunstform nach „ohne Übertreibung ein in Prosa aufgelöstes Epos genannt" werden. Hinweise auf Kleists „Vorliebe für die mittelbare Rede", auf den „künstlerischen Bau der Periode" und ähnliche Stileigentümlichkeiten in den Novellen des Cervantes, auf seine Wortwahl, insbesondre das „rechte deutsche Wort" an der „rechten Stelle", zugleich auf bestimmte „Angewohnheiten", die den Stil in Gefahr bringen, „in die Manier zu gerathen", nehmen Formulierungen vorweg, die in den späteren Stiluntersuchungen - wenn auch variiert und erweitert - immer wiederkehren. Wie systematisch Köpke bei der Analyse der Kleistschen Texte vorgegangen ist, zeigt ein Notizzettel im Nachlaß 5 1 , auf dem er die „Vorzüge und charakteristischen Zeichen seines Erzählstils" vermerkt hat. Aus dieser klaren Disposition hat Köpke Einleitung und Anmerkungen entwickelt. Anderes dagegen blieb unausgeführt oder hinterließ nur Spuren in der Einleitung. So ist Köpke nicht nur vom Stil, sondern auch von bestimmten Zentralbegriffen, Stoffen und Motiven Kleists ausgegangen. Werk-Auszüge zu den Stichworten „Geheimnis" und „Deutsche Stoffe", Aufgliederungen des Käthchen von Heilbronn nach Gesichtspunkten wie „Gemüth", „Sympathie", „Liebe", „Weiblichkeit", „ritterlicher Adelsstolz" und Belegsammlungen aus Kleists Briefen an Ulrike deuten darauf hin, daß Röpkes Absichten über die Edition der Politischen Schriften hinausreichten. Ebenso weisen der Versuch einer Chronologie der Dichtungen Kleists und die Gesamtübersicht über den Bestand an Kleist-Texten in diese Richtung. Für den Verzicht auf eine erweiterte Ausführung 5 2 mögen äußere Gründe maßgebend gewesen sein. Es werden nur Ansätze einer tragfähigen literarhistorischen Methode sichtbar, aber sie genügen, um Köpke auch als Literarhistoriker zu charakterisieren und ihn als einen Kritiker erscheinen zu lassen, der historisches Bewußtsein mit Texteinfühlung verband. Besondere Erwähnung verdient Köpkes Arbeitsmethode bei der Identifizierung von Texten aus den Berliner Abendblättern. Wendelin von Maitzahn hatte Köpke einen großen Teil der bisher als verschollen angesehenen Zeitschrift aus der eigenen Büchersammlung zugänglich gemacht und dadurch eine genauere Untersuchung überhaupt erst ermöglicht. Treitschkes Fehlurteil 53 , diese „flüchtigen Aufsätze" hätten „keinen Anspruch" auf „eine Stelle in der Literatur", ändert nichts an der Leistung Köpkes, die auch Treitschke nicht in Zweifel zieht. Wenn sich an-

51 52 53

Vgl. Anmerkung 32. Einiges ist in die Anmerkungen eingegangen. Vgl. Anmerkung 18 u. 79.

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dererseits spätere Herausgeber 5 4 blind auf Köpke verlassen haben, weil sie vielleicht vermuteten, ihm hätten authentische Informationsquellen zur Verfügung gestanden, so übersahen sie, daß K ö p k e weitgehend auf sich allein angewiesen war und intuitiv den richtigen Weg einschlug, um durch das Labyrinth der verschiedenen Beiträge hindurchzufinden s s . Bis zu diesem Zeitpunkt waren aus den Berliner den in den zweiten Band der Erzählungen Bettelweib

von Locarno

und Die heilige

Aufsatz Über das Marionettentheater schen Krieg

Abendblättern,

abgesehen von

(1811) aufgenommenen Beiträgen Das Cäcilie

(in veränderter Fassung), nur der

und die Anekdote aus dem letzten preußi-

bekannt, die Eduard von Bülow im Anhang seiner Biographie abge-

druckt hatte. Köpke nimmt die von Kleist verwendeten Chiffren mz und yz (Heilige

Cäcilie)

(Bettelweib)

als Leitfaden für die Zuweisung anderer Beiträge. E r geht

dabei von der richtigen Grundüberlegung aus, daß Kleist - zu einer Variation der Autorkennzeichnungen gezwungen - sich verschiedener Chiffren bediente, „je nachdem er erkannt, errathen oder verborgen bleiben wollte" 5 6 . Köpke vermeidet, nach einem strengen System zu suchen, erkennt aber in dem Unterzeichnungsverfahren eine gewisse Folgerichtigkeit und nimmt alle mit m, x, y und z, einzeln oder kombiniert unterzeichneten Texte für Kleist in Anspruch. V o n diesen formalen Eigentümlichkeiten ausgehend, verifiziert er, z . T . durch W o r t - und Stilparallelen in gesicherten Kleist-Texten gestützt, sechzehn Beiträge, die bis heute unbestritten blieben. Zehn unchiffrierte Beiträge weist Köpke Kleist allein aus inneren Gründen zu; auch in diesen Fällen hat er in sicherem Stilempfinden und intuitivem Erfassen des Geistes der Beiträge das Richtige getroffen. E r überläßt es dem Leser, den Beweis für die Verfasserschaft Kleists selbst nachzuvollziehen; durch die Zusammenstellung gleichartiger Texte nach bestimmten „Klassen" muß sich zwangsläufig „manches ergeben, was für die innere Zusammengehörigkeit spricht" 5 7 ; das Erkennen der Stileigentümlichkeiten wird durch Hinweise auf typisch Kleistsche Redewendungen erleichtert. Auch diese Beiträge - in der Hauptsache Anekdoten, die er ihrem Typus nach kurz charakterisiert - wurden von der Forschung bisher nicht in Zweifel gezogen. Eine weniger glückliche Hand hatte Köpke bei der Auflösung anderer Chiffren

54

ss

56 57

So erklärt Erich Schmidt (Vierteljahrsschrift für Litteraturgeschichte 3, 1890, S. 191 - 1 9 2 ) : „ N o c h immer wird mit Köpke fremdes Gut aufgerafft und ohne Fragezeichen in Kleists Schriften abgelagert, statt mindestens einer Abtheilung .Zweifelhaftes' zugewiesen zu werden. [ . .] Kein Herausgeber sagt, welche N u m m e r n er selbst vor Augen gehabt und worin er dem Gewährsmann Köpke folgt". Köpke ist durch W . v. Maitzahn lediglich „ in den Stand gesetzt" worden, „diese verschüttete Quelle durch eigene Untersuchung wieder zu öffnen" (S. 27). Politische Schriften, S. 28. Politische Schriften, S. 31.

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als der bereits erwähnten. Zwei st unterzeichnete E p i g r a m m e 5 8 haben nicht Kleist, sondern Friedrich August Stägemann zum Verfasser, zwei mit M. F . gekennzeichnete Beiträge stammen - trotz Köpkes Abweisung dieser von ihm selbst angedeuteten Möglichkeit 5 9 - von Fouque, und hinter den Chiffren ava und vaa verbirgt sich Achim von Arnim. Hier werden die Grenzen jeder Stilanalyse sichtb a r 6 0 : Wortwahl, syntaktische Fügungen und Sprachrhythmus reichen namentlich bei kürzeren Texten nicht aus, um eine Zuweisung zu sichern; identische Themen und gemeinsamer Zeitstil können den besten Kritiker täuschen. Auf der anderen Seite hat Köpkes Zuweisung der mit „ L e v a n u s " unterzeichneten Abhandlung Allerneuester

Erziehungsplan

und seine Erklärung der Chiffre cb

für die im wesentlichen Kleist zugehörenden Empfindungen landschaft

vor Friedrichs

See-

weitgehend Zustimmung gefunden. Die H . v. K. unterzeichnete Thea-

ter-Bemerkung vom 17. Oktober spricht für sich selbst. So hat Köpke insgesamt 3 5 Identifizierungen versucht, von denen nur sechs heute keine allgemeine Anerkennung 6 1

finden.

Das Schwergewicht der Edition Köpkes liegt trotz aller selbständigen Neuentdeckungen auf der Veröffentlichung der im Tieckschen Nachlaß vorgefundenen Handschriften, jener „Schriftstücke politischen, vaterländischen Inhalts, die ein Aufruf an das Volk sein sollten, jedoch nie zur Verwendung gekommen s i n d " 6 2 . Während Köpke Tiecks Verzicht auf die Veröffentlichung dieser Texte mit der verständlichen „Rücksicht auf die Erregung des eben durchgekämpften Völker58

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Hier sieht Köpke (S. 38) nur die Einheit der fünf Epigramme (drei sind mit xp und zwei mit stunterzeichnet), ohne nach der Möglichkeit einer speziellen Chiffren-Auflösung zu suchen. Als Grund führt Köpke (S. 33) an, daß Fouque sonst „nur wenige unbedeutende Zeilen unter d. 1. M. F. beigesteuert" hat. Am deutlichsten an dem Argument zu zeigen, das Köpke (S. 33) für die drei Beiträge Warnung gegen weibliche Jägerei (vaa), Die Heilung und-Das Grab der Vater (beide: M. F . ) ins Feld führt: „Diese drei Erzählungen gehören zusammen, sie sind von einem Verfasser; in allen dieselbe Anschaulichkeit, dieselbe Lebendigkeit der Darstellung, verschlungene Perioden und indirect wiederholte Reden und Betrachtungen". - Auch das für Kleist typische „dergestalt daß" reicht hier als Argument nicht aus. Erst die datentechnische Erfassung der Text-Charaktenstika in den Erzählungen Kleists brachte zutage, daß die Häufung des .dergestalt' sich lediglich auf jene Erzählungen (Michael Kohlhaas, Heilige Cdcilie, Zweikampf) bezieht, „die man als ,Chroniknovellen' von den anderen Erzählungen absetzen könnte" (Helmut Schanze: Datenverarbeitung in der Literaturwissenschaft, in: Beiträge zu den Fortbildungskursen des Goethe-Instituts 1971, S. 123-124). Der Haupteinwand gegen Kopie richtete sich später mehr gegen sein Übersehen wichtiger Beiträge, so daß Reinhold Steig 19C1 eine völlig neue Bestandsaufnahme vornahm. Politische Schriften, S 5 - 7 . Es muß hier angemerkt werden, daß Kopie es nicht mit Kleists eigenen Handschriften, sondern mit Abschriften zu tun hatte, für die Kleist als Verfasser identifiziert werden mußte. Der Sammelband ist verzeichnet bei: Eva Rothe u. Helmut Sembdner. Die Kleist-Handschriften und ihr Verbleib, in: Jahrbuch d. Dt. Schillerges. 8, 1964, S. 332.

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krieges, die jetzt friedlichem Stimmungen Platz machen sollte", entschuldigt, geht er mit Eduard von Bülow, der die Handschriften ebenfalls gekannt, aber des Druckes für „meist unwerth" befunden hat, ins Gericht. Röpkes Vorwurf, Bülow sei seinem „persönlichen Geschmacksurtheil", nicht aber dem „historischen Gesetze" gefolgt, „das zu retten gebietet, was noch zu retten ist, damit das Bild des Dichters so getreu als möglich hergestellt werden könne", bedarf der Bestimmung, was K ö p k e hier unter „ G e s c h m a c k " versteht. Aus seiner Gegenüberstellung von „persönlichem Geschmacksurtheil" und „historischem Gesetz" geht hervor, daß er , Geschmack" als ein rein ästhetisches Phänomen ansieht. Doch sowohl bei Bülow als auch bei Köpke dominieren politische Vor-, bzw. Mitentscheidungen. Aus den Perspektiven der Jahre 1848 und 1862 gesehen, mußte die Lektüre der Texte zu unterschiedlichen Auffassungen über die Zweckmäßigkeit ihrer Veröffentlichung führen. Gerade weil Bülow die nur tagespolitische Bedeutung der Aufsätze Kleists empfand, erschienen sie ihm für das Kleist-Bild der Gegenwart weniger wichtig; die gleiche Tatsache des „historischen" Verständnisses wird zwölf Jahre später z u m Anlaß einer Aktualisierung, obgleich K ö p k e betont, daß die Literaturgeschichte inzwischen zur Wissenschaft „herangereift" sei, und er selbst von der primär „wissenschaftlichen" Tendenz seines Unternehmens überzeugt gewesen sein dürfte. Der Versuch, diese aktualisierten Texte zugleich zu kanonisieren, konnte nur auf „wissenschaftlichem" Wege gelingen. Köpke kommt dabei das Verdienst zu, wirklich gerettet zu haben, was noch zu retten war 6 3 . Bülow fand a.mKatechismus der Deutschen keinen „ G e s c h m a c k " . Das 4. Kapitel Vom Erzfeind erschien ihm wohl als nicht mehr zeitgemäß, und die Verherrlichung Franz II. von Österreich, des „Retters und Wiederherstellers der Deutschen" stand offensichtlich im Widerspruch zu der 1848 erhofften Führungsrolle Preußens. Bezeichnenderweise griff er allein den Aufsatz Was gilt es in diesem Kriege? heraus, in dem von einer „Weltregierung" die Rede ist, die „in freier Wahl, von der Gesamtheit aller Brüdernationen, gesetzt wäre" 6 4 . Dieser Aufsatz genügt ihm als Probe, um daran zu zeigen, „wie edel überspannt Kleist damals die Politik handzuhaben gedachte" 6 5 . K ö p k e dagegen versucht, aus den Texten ein Gesamtbild der politischen Anschauungen Kleists zu gewinnen. Sein Blick richtet sich auf die historischen U m stände ihrer Entstehung und Zielsetzung; er ordnet scheinbar Widersprüchliches in die Formskala Kleistscher Ausdrucksmittel ein. Neben den Dramatiker und 63 M

65

Wörtlich zu nehmen, denn einige Stücke waren nicht mehr vollständig. Sbd II, 378. - K ö p k e bemerkt hierzu (S. 24): „Erst im Zusammenhange mit den früheren Stücken erscheint dieser Aufruf, der weder abgeschlossen noch auch das bedeutendste Stück ist, im rechten Lichte; um so weniger ist zu begreifen, wie B ü l o w gerade dies zur Probe mittheilen konnte, um dadurch seine Verurtheilung der anderen gehaltreicheren Blätter zu rechtfertigen." Vgl. B ü l o w , Kleists Leben und Briefe, S X .

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Chronisten Kleist tritt der Satiriker aus leidenschaftlichem Patriotismus. Dadurch werden die politischen Aufsätze Kleists zwar in ihrer Zeitbedingtheit verstanden, aber zugleich aus dieser herausgehoben und als Formproblem erkannt. Fast wichtiger als der Herausgeber ist der Interpret Köpke. In der Wiedergabe der Texte, vor allem hinsichtlich der Interpunktion, ist er keineswegs zuverlässig 66 . Aber in der Einzeldeutung und in dem Bemühen, auch die kleinsten Beiträge als notwendige Glieder des Kleistschen Werkes und Charakters erscheinen zu lassen, treten seine interpretatorischen Fähigkeiten hervor. Anklänge und Lieblingsbilder Kleists dienen ihm nicht nur als Mittel zur Textidentifizierung, sondern werden im weiteren als Leitmotive aufgefaßt. So wird das Lieblingsbild vom „Fuß auf dem Nacken" - eine typische „Bezeichnung vollständigster Vernichtung" zugleich im Brief eines politischen Pescherä, in der Penthesilea und in der Hermannsschlacht nachgewiesen 67 ; das Bild des „der Hölle entstiegenen Vatermörders"i m Katechismus der Deutschen wird mit Höllen-Assoziationen im Käthchen von Heilbronn, in der Hermannsschlacht und der Ode Germania an ihre Kinder in Zusammenhang gebracht 68 . Damit liefert Köpke den ersten Beitrag zur Erfassung der Kleistschen Sprach- und Bildwelt als Gesamtphänomen. Diese Methode leitmotivischer Interpretation begegnet auch im Kernstück der Einleitung, einer Charakterstudie Kleists, die sich von den Studien Bülows, Treitschkes und Julian Schmidts deutlich abhebt. Wie seine Vorgänger muß sich Köpke mit dem Pathologischen bei Kleist auseinandersetzen. Dabei vermeidet er, die „dunkle Richtung" in Leben und Werk als Nebenerscheinung abzutun, um dafür die unvergänglichen Leistungen um so größer herauszustellen. Er sieht den Dualismus im Leben Kleists als schöpferische Kraft. Kleist „bestand gewissermaßen aus mehreren Menschen; bald trat dieser bald jener hervor, oder sie führten untereinander einen dämonischen Krieg, dem er mit einer eisigen Selbstentäußerung zusehen konnte, als sei es ein Spiel fremdartiger Gewalten. Und doch war die Gesammtheit dieser ringenden Kräfte nichts anderes als er selbst" 69 . Der „strenge Realismus" und der „Abgrund des mystischen Geheimnisses" sind voneinander nicht zu trennen. Köpke verfolgt die einzelnen Stadien in Kleists Leben, die wechselnden Stimmungen, Lebensentscheidungen und Zweifel. Seine Fragestellung ist psychologischer Natur 7 0 , die Antwort führt immer wieder auf die politische Situation der Jahre 1806 bis 1811 zurück. Im Mittelpunkt steht die Überlegung, wann sich 66 67 68 69 70

Die Darstellung seines Interpunktionsprinzips ist hier aus Raumgründen nicht möglich. Politische Schritten. S 19. Politische Schriften, S. 21. Politische Schriften, S. 40. Kleists „Krankheit" ist für Köpke kein moralisches Faktum (wie für die Verächter Kleists), ebensowenig ein psychopathologisches Phänomen (wie für die Ärzte S. Rahmer und J. Sadger fünfzig Jahre später), sondern eine von vielen Faktoren abhängige Lebensund Todeskraft.

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Kleist der „dunklen Richtung, die ein Ergebniß seiner wachsenden Hoffnungslosigkeit war, zuerst überlassen habe" 71 . Köpke sieht die „dunklen Schatten" zuerst im Kohlhaas hervortreten und betrachtet Kleists Gefangenschaft in Frankreich als „Wendepunkt". Er leugnet nicht, daß Kleist vielleicht „gerettet worden wäre", wenn er „eine große sittliche Kraft in sich getragen" hätte 72 , sieht aber den „Zwiespalt" der Zeit als die tiefere Ursache aller persönlichen Konflikte an; das Besondere der „Nachtstücke" Kleists liegt für ihn gerade im Verzicht auf jede idealistische Überhöhung der Konflikte. ,Soziologische' Erwägungen scheinen anzuklingen, wenn es heißt, daß Kleist „jene geheimnißvolle Wandelung" dargestellt habe, „wie Menschen und Verhältnisse in räthselhafter Verkettung ihre ursprüngliche Natur und Freiheit verlieren, um zu werden, was sie nicht werden wollen" 73 . Köpkes übergeordneter Gesichtspunkt aber ist das Schicksalhafte im Leben der Menschen und Völker, doch werden nicht Ergebenheit und Glauben, sondern Trotz und Widerstand als Tugenden herausgestellt. Vom „ungeheuern Sturz aller Verhältnisse" nach dem Zusammenbruch Preußens bis zur Zukunftsvision im Prinz von Homburg74 spannt sich der Interpretationsbogen, der schließlich die Apologie Kleists einleitet. Köpke suggeriert die Vorstellung, daß Kleist „glücklich" gewesen wäre, wenn er „wie sein Vorfahr Ewald von Kleist" und „wie Theodor Körner" auf „dem Schlachtfelde, mit dem Degen in der Faust" hätte sterben können und daß er in seinem Prinz von Homburg „den künftigen York ahnte" und „die Siege von 1813 und 1815 vorausnahm" 7 5 . Zitate von Scharnhorst, Stein, Blücher und aus dem Aufruf des Erzherzogs Karl an die deutsche Nation erinnern an den Kampf um die nationale Befreiung, der für Kleist eine Wendung hätte bringen können 7 6 . Die Zeitgenossen, die seinen Mahnruf überhörten, werden fast als Mitschuldige an seinem Schicksal angesehen. Für den Tod Kleists findet Köpke die Formel: „Er ist gefallen wie Schill, weil es noch nicht an der Zeit war; aber nicht wie der Held, dessen Untergang noch ein Sieg ist, sondern im Streite mit sich selbst". Kleists „voreilige Handlung" erhält den Anschein „tragischer Überstürzung" 7 7 . Mehr konnte zu seiner Verteidigung kaum gesagt werden. So ist vieles, was Köpke aus unveröffentlichten Quellen kannte, indirekt der In-

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Politische Schriften, S. 45. Politische Schriften, S. 47. Der darin enthaltene Hinweis, daß Kleist „den Streit seines Innern durch Unterwerfung unter ein oberstes Gesetz zur Ruhe" hätte bringen können, ist mehr als Zugeständnis an Raumer und andere zu verstehen. Politische Schriften, S. 47. V. 1135-1138: „Das wird sich ausbaun herrlich, in der Zukunft, / Erweitern, unter Enkels Hand, verschönern, / Mit Zinnen, üppig feenhaft, zur Wonne / Der Freunde, und zum Schrecken aller Feinde". Politische Schriften, S. 58. Politische Schriften, S. 5 5 - 5 6 . Politische Schriften, S. 59.

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terpretation zugute gekommen. Sein persönliches Verhältnis zu K l e i s t u n d die Interpretation der Texte sind aus einem neuen Verständnis der Zusammenhänge abzuleiten. Auch dort, w o die Apologie schließlich als tagespolitisches Mittel eingesetzt wird, bleibt die Aufwertung Kleists als politischer Schriftsteller das große Verdienst der Edition. K ö p k e war über die geringe R e s o n a n z seiner Edition bei den maßgebenden Kritikern enttäuscht. Julian Schmidt schränkte die Bedeutung der T e x t - F u n d e durch die Bemerkung ein, die von K ö p k e ermittelten Beiträge hätten „ w o h l nur theilweise Kleist z u m V e r f a s s e r " 7 8 . Treitschke wertete den von K ö p k e wesentlich höher eingeschätzten Patriotismus durch die Feststellung „mangelhafter politischer Einsicht Kleists'' 7 9 ab. Wilbrandt, der das Material für seine Biographie zu nutzen verstand, tat sich - nach K ö p k e s Meinung - besserwisserisch hervor 8 0 , und Richard G o s c h e 8 1 gar „dreht und wendet sich hin und h e r " , um bei der Besprechung der Schmidtschen A u s g a b e K ö p k e s Buch „nicht erwähnen z u m ü s s e n " . Allein Friedrich von Uchtritz sprach K ö p k e in einem Brief aus der Seele: „ V o r allem gehören die politischen A u f s ä t z e z u dem Markigsten, das wohl die Literatur irgend eines Volkes an nachdrücklichen Zeugnissen eines schroffen heroischen T o d e s m u tes im gerechten H a s s e eines des H a s s e s würdigen J o c h e s und in unbedingter H i n gebung an das Vaterland zu dessen Rettung aus N o t und Knechtschaft aufweisen kann"82. Ihm schüttete K ö p k e sein H e r z aus über die fehlende Anerkennung und die schlechten Erfahrungen „ i m Kreise der Fachwissenschaft", die ihn „allgemach in eine Stimmung des heimlichen Ingrimms versetzt h a b e n " . Er fügt hinzu, daß ihm die Q u e l l e dieser gegen ihn gerichteten Einstellung „ i m m e r noch nicht ganz klar" sei 8 3 . In Wahrheit waren ihm die G r ü n d e wohl doch bewußt. K ö p k e besaß nicht das erforderliche ,preußische G a r d e m a ß ' 8 4 und die Ausstrahlungskraft einer öffentlichen Persönlichkeit. D a man ihm die ordentliche Professur versagt hatte, 78

79

80

81

82 83

84

H. v. Kleist's gesammelte Schriften. 2. Aufl. 1863, S. CXLIV. Vgl. auch Kapitel 5, Anm. 141. Literarisches Centralblatt, Nr. 19 v. 10. Mai 1862, Sp. 359, wiederholtin: Treitschke, Historische u. politische Aufsätze. Bd. 4. Leipzig 1897, S. 569 f. Adolf Wilbrandt: Heinrich von Kleist. Nördlingen 1863, S. 385. Von den 7 fälschlich Kleist zugeschriebenen Beiträgen hat Wilbrandt bereits 5 als nicht Kleist zugehörig erkannt (vgl. Bibliographie der Fehlzuweisungen und kontroversen Texte, Nr. 12). Richard Gosche: Übersicht der literarhistorischen Arbeiten in den Jahren 1863 und 1864; in: Jahrbuch f. Literaturgeschichte. Bd. 1 (1865) S. 376-377; J. Schmidts KleistAusgabe wird als „vollständig" bezeichnet, Köpke nur namentlich erwähnt. Vgl. Sembdner, Nachruhm, S. 159-160 (Brief von 27. Dez. 1865). Vgl. Sembdner, Nachruhm, S. 160-161 (Brief v. 27. März 1866), dort auch Köpkes Bemerkungen über Julian Schmidt, Wilbrandt und Gosche. Es machte sich, wie W. Giesebrecht (S. 282) berichtet, „ein Fehler im Oberkörper bei ihm bemerklich; der Brustknochen trat ungewöhnlich hervor, vielleicht infolge eines unglücklichen Falles in der Turnstunde" und seine „ganze Constitution" behielt, da der Körper nicht in regelmäßiger Weise auswuchs, „etwas Schwächliches und Gedrücktes".

Editorische Nachlese

240

wurde er niemals ein vollberechtigtes Mitglied der Berliner Universität. Der Streit mit seinem Widersacher Philip Jaffé um Editionsprinzipien der Monumenta maniae

histórica

Ger-

schadete seinem wissenschaftlichen Renommée. „Seine Freunde

haben tief beklagt, daß sein äußeres Leben so nicht zum rechten Abschluß kam, daß deshalb in den letzten Lebensjahren mehr und mehr eine Verstimmung über erfahrene Zurücksetzung bei ihm platzgriff" 8 5 . Eine neue Generation war herangewachsen. Köpke stand im Schatten Tiecks und Raumers und wurde zum Außenseiter einer Gesellschaft, zu deren Konsolidierung er durch wissenschaftliche Forschung und tagespolitische Stellungnahme beigetragen hatte. Was man in der Öffentlichkeit von einem neuen Kleist-Buch erwartete, verrät die Einleitung zum Nachdruck einzelner Texte in der Zeitschrift Europa,

in der

festgestellt wird: „Neues über die Motive, die ihn zum Selbstmord trieben, haben wir darin nicht gefunden. Wir hören nur wieder, daß Kleist innerlich zerrissen, recht eigentlich geistig getödtet war" 8 6 . Die Wirkung seiner Edition war dennoch größer als Köpke ahnte. Schon Emil Kuh scheint in der Donauzeitung61

die politi-

schen Schriften richtig eingeschätzt zu haben. Sie lagen nun einmal vor und konnten auf die Dauer nicht totgeschwiegen werden; ihre Beurteilung war eine Frage des politischen Temperaments. Rudolf Haym lobt in den Preußischen chern88

Köpkes „kritischen Scharfsinn" und nennt zwar die entdeckten

blätter-Beiträge

JahrbüAbend-

„nicht eben Goldkörner", findet aber die politischen Aufsätze

„um Vieles bedeutender". Die beabsichtigte Aufwertung des Patrioten Kleist stößt auf wenig Gegenliebe; stattdessen unterstreicht Haym mehr die historische Bedeutung der politischen Aufsätze und bemerkt, daß „sie nicht zu spät als ein redendes Zeugnis jener Tage, als ein ehrendes Denkmal für das Talent und die Gesinnung des Schriftstellers an's Licht" treten. Erstaunlich positiv, wenn auch durchaus kritisch, ist die Reaktion in der Süddeutschen 85 86

87

88

89

Zeitung89,

die im Rahmen

Vgl. Giesebrecht, S. 318. Aus dem Nachlasse Heinrichs von Kleist (Europa. Chronik der gebildeten Welt f.d. J. 1862, Nr. 3, Sp. 81 -86); abgedruckt werden: Die Bedingung des Gärtners, Brief eines politischen Pescherà, Nützliche Erfindungen, Entwurf einer Bombenpost, Der Welt Lauf. Vgl. den Hinweis bei S. Rahmer (Heinrich von Kleist als Mensch und Dichter, 1909, S. 438), jedoch nicht im Hauptblatt der Donauzeitung 1862, Nr. 163 und 164 (wie nach Rahmers Notiz anzunehmen), sondern wahrscheinlich in der Sonntagsbeilage, die bisher in keiner Bibliothek ermittelt werden konnte (kein Nachweis im Standortkatalog der deutschen Presse, Bremen). Preußische Jahrbücher Bd. 9, H. 1 (1862), S. 117-119 (anonym). Von Otto Westphal (Welt- u. Staatsauffassung des deutschen Liberalismus. Berlin 1919, S. 322) Haym auf Grund stilistischer Merkmale zugewiesen. Heinrich von Kleist als Politiker, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 39, 22. Jan. 1862, Morgenbl. u. Nr. 41, 23. Jan. 1862, Morgenbl. - Möglicherweise ist Wilbrandt der Verfasser des Aufsatzes, da er längere Zeit Redakteur der Süddeutschen Zeitung war. Abgedruckt •werden: Katechismus der Deutschen, Kap. 1 u. 16, Zitate aus der Hermannsschlacht, das Gedicht/In den Erzherzog Karl, Auszüge aus der Ode Germania an ihre Kinder und ein Brief Kleists an seine Schwester Ulrike.

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eines kurzen Aufsatzes über Kleist als Politiker Auszüge aus Köpkes Edition druckt, um „dem Andenken des großen Dichters hier diese neue Folie zu geben und wenigstens im Vorübergehen daran zu erinnern, wie viel seine nähere Bekanntschaft, wie viel sein Studium werth ist". Im Gegensatz zu Köpkes Intention wird den politischen Aufsätzen wiederum kaum aktuelle Bedeutung zugemessen, vielmehr offen erklärt: „Unsere Zeit hängt ganz anderen als diesen ausschließlich ästhetischen Tendenzen nach". Doch hebt der Rezensent die „große gesunde Anlage dieses romantischen Geistes" hervor und setzt damit einen deutlichen Akzent. Klar erkannt wird auch das zeitgenössische Publikum Kleists, woraus sich Kriterien für die eigentliche Bedeutung der Texte ergeben. Kleist schrieb „weder für die Philister noch für die Diplomaten; auch in dieser für den gemeinen Mann berechneten Form schrieb er im Grunde nur für seinesgleichen" 90 . Köpkes Versuch einer Aktualisierung der Texte war damit in seinem schwächsten Punkt getroffen und mußte - wenigstens fürs erste - als fehlgeschlagen betrachtet werden. Durch die Veröffentlichung der politischen Schriften war immerhin eine Neuorientierung eingeleitet worden, die den Journalisten Kleist in das Blickfeld rückte und vor allem Werke wie die Hermannsschlacht, den Prinz von Homburg und die Germania-Ode in einem größeren Zusammenhang sehen ließ. Sie zwang jeden, der sich mit Kleist ernsthaft beschäftigte, zu einer Auseinandersetzung mit den Texten. Bereits in der Kleist-Biographie Adolf Wilbrandts sind die politischen Schriften ein fester Bestandteil der Interpretation. Die von Köpke erhoffte Breitenwirkung konnten sie allerdings erst durch die Aufnahme in eine Gesamtausgabe erzielen. Julian Schmidts Ausgabe, bis 1868 den Markt beherrschend und Köpkes Funde ignorierend, hat die Verbreitung noch längere Zeit blockiert. Erst mit der von Adolf Wilbrandt mitverantworteten Hempelschen Kleist-Ausgabe von 1879 ist der Weg endgültig frei für eine Rezeption der politischen Schriften im Bewußtsein einer breiteren Öffentlichkeit. Ein tiefergehender Einfluß auf die ideologische Vorbereitung des deutsch-französischen Krieges darf ihnen daher nur in beschränktem Umfang zugesprochen werden. Sowohl die Schulausgaben der patriotischen Dichtungen Kleists als auch die Anerkennung seiner politischen Schriften fallen in die Zeit nach der Reichsgründung. 91

90

Vgl. den ähnlichen Gedanken in Wilbrandts Kleist-Biographie, S. 3 6 3 : „Auch wird man sich freilich nicht leicht darüber täuschen, daß weder diese Sprache noch diese Ideen zu einem starken Druck auf das Gefühl der M a s s e n berufen waren; daß, so stürmisch sie einherbrausen und so rein und voll sie auf die Gesammtheit zielen, doch ihre ganze A r t für einen engeren K.eis, gleichsam für einen Staat im Staat gehört".

91

Vgl. hierzu jetzt Rudolf Berg, Intention und Rezeption von Kleists politischen Schriften des Jahres 1809, in: Text und Kontext. Quellen und Aufsätze zur Rezeptionsgeschichte der Werke H . v. Kleists. Hrsg. v. Klaus Kanzog. Berlin 1978, S. 1 9 3 - 2 5 3 .

8. Kapitel Kleist im Klassiker-Programm der großen Verlage Von 1867 bis zu Th. Zollings historischkritischer Ausgabe

Die Aufhebung der Klassiker-Privilegien am 9. N o v e m b e r 1867 für alle vor 1837 verstorbenen Schriftsteller schuf auch für die Werke Kleists eine veränderte Marktlage. Bereits ein Jahr später war das Bibliographische Institut in Hildburghausen mit einer eigenen Kleist-Ausgabe zur Stelle 1 , und diese Hektik ist der Ausgabe anzumerken. U n t e r Zeitdruck gesetzt, fiel dem Herausgeber Heinrich K u r z 2 nur die Rolle eines Text-Arrangeurs zu, der die wichtigsten Texte herauszustellen und lediglich Fehler zu eliminieren hatte. Sein Vorbild war die Kleist-Ausgabe J u lian Schmidts, doch schloß er Amphitryon

und „einige poetische Kleinigkeiten",

d . h . zahlreiche Gedichte, aber auch Robert Guiskard

aus. V o n der Edition K ö p -

kes, den politischen Schriften und den Abendblätter-Beiträgen

Kleists nahm er

keine N o t i z . Im übrigen fiel die nur elf Druckseiten umfassende Einleitung mehr als dürftig aus. Den zu erwartenden Einwänden der Konkurrenten und Kritiker trat man im Einbanddeckel der Bände mit der kecken N o t i z entgegen: „ D i e V e r lagshandlung glaubt sich gegen den Schein verwahren zu müssen, als suche sie nur einen Platz im Wettbewerb um ,billige Klassiker'. Obgleich ihre Ausgaben inner1

2

Heinrich v. Kleists gesammelte Werke. Bd. 1 . 2 . - Hildburghausen: Verl. d. Bibliograph. Instituts 1868. ( = Bibliothek der Deutschen Nationallitteratur.). Einleitung unterz.: H . Kurz. - Vgl. zur Marktlage Birgit Sippel-Amon: Die Auswirkungen der Beendigung des sogenannten ewigen Verlagsrechts am 9. 11. 1867 auf die Edition deutscher .Klassiker', in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 14 (1974) Sp. 3 4 9 - 4 1 6 . Heinrich Kurz (28. April 1805-24. Febr. 1873) blickte auf eine bewegte politische Vergangenheit zurück. Als Burschenschaftler in Leipzig relegiert, promovierte er 1827 in Paris und übernahm 1830 eine Dozentur für chinesische Sprache in München. Als Herausgeber des oppositionellen Tageblatts Die Zeit (Augsburg) geriet er abermals mit den Machthabern in Konflikt; 1832 wurde er vom Münchener Oberappellationsgericht zu 2 Jahren Festung verurteilt. Er flüchtete in die Schweiz, war seit 1834 Prof. an der kath. Kantonsschule in St. Gallen und wurde 1839 von der kath. Regierungspartei gemaßregelt. An der Kantonsschule in Aarau fand er schließlich eine Lebensstellung; seit 1844 war er dort auch Kantonsbibliothekar. Literarisch hat er sich vor allem mit seinen Literaturgeschichten (Handbuch der poetischen Nationalliteratur der Deutschen von Haller bis auf die neueste Zeit. Abt. 1 - 3 . Zürich 1840-1842 und Geschichte der deutschen Literatur. Bd. 1 - 4 . Leipzig 1853-1872) einen Namen gemacht. Vgl. zur Biographie: ADB 17 (1883) S. 4 2 1 - 4 2 4 (Schumann).

Kleist im Klassiker-Programm der großen Verlage

243

halb eines erreichbaren Maßes der Billigkeit bleiben, so hat sie doch den Ehrgeiz, denselben auch das Ergebniß k r i t i s c h e r F o r s c h u n g zu eigen zu machen, welche eben allein im Stande ist, ihnen e i g e n e n 3 W e r t h zu verleihen". Aber diese kritische Forschung hielt sich in engen Grenzen. Zum Schluß seiner Einleitung erklärt Kurz: „Unsere Ausgabe [. . .] giebt den ursprünglichen Text, wie er uns durch die vom Dichter selbst besorgten Drucke oder in den ¡-Unterlassenen Schriften überliefert ist, mit einer einzigen Ausnahme, wo wir glaubten, einen den Anstand verletzenden Ausdruck nach Tiecks und Julian Schmidts Vorgang ändern zu müssen" 4 . Die späteren Auflagen 5 tragen den Vermerk Kritisch durchgesehene Ausgabe auf dem Titelblatt. Eduard Grisebach erklärte hierzu bissig: „Der Titelzusatz sollte lauten: unvollständige und öfters unkritische Ausgabe'" 6 . Abgesehen von den fehlenden Texten, ergaben Nachprüfungen Grisebachs folgendes Urteil: „Sonst im Allgemeinen, im Vergleich zu den Vorgängern, einen reineren Text bietend, adoptirt sie doch an einigen Stellen willkürliche Änderungen derselben sogar mit Bewußtsein!" - In dieser Gestalt erschien sie noch vier Jahre vor der von Erich Schmidt herausgegebenen Kleist-Ausgabe in der Reihe Meyers KlassikerAusgaben1. Einen Fortschritt bedeutet erst die 1879 im Verlag von Gustav Hempel erschienene Kleist-Ausgabe 8 . Auch sie wiederholt noch „in einer ganzen Reihe von Stellen die willkürlichen Änderungen der Tieck-Schmidt'schen Ausgaben" 9 , doch bezog sie erstmals die von Köpke publizierten politischen Aufsätze in die Werke ein und begründete damit einen neuen Text-Kanon. Es besteht kein Zweifel, daß die Gestaltung der Ausgabe auf Adolf Wilbrandt zurückgeht, obgleich er auf dem Titelblatt nicht ausdrücklich als Herausgeber genannt wird. Er schrieb die einleitende Biographie und traf offensichtlich auch die Auswahl für den Wiederabdruck einzelner Abendblätter-Beiträge. So findet man in seiner Kleist-Studie von 1863 Begründungen, die auf diese Auswahl vorausweisen. „Nach der sorgfältigsten Prüfung" 1 0 hatte Wilbrandt fünf Zuschreibungen Köpkes verworfen und die übri-

3

Dieses Wort ist halbfett gedruckt. Einleitung, S. XVI. Soweit zu ermitteln, zuerst: Leipzig: Verl. d. Bibliogr. Inst. [1878]. 6 Heinrich von Kleist's sämmtliche Werke in zwei Bänden. Hrsg. v. Eduard Grisebach. Bd. 2 [1884], S. 423. (Zitiert: Grisebach). 7 Leipzig u. Wien: Bibliogr. Inst, [um 1900]. 8 H . v. Kleist's Werke. Nebst der Biographie des Dichters von Adolf Wilbrandt. Th. 1 - 5 . Berlin: Hempel 1879. Einleitung in Bd. 1, S. I I I - L X I V : H . v. Kleist (Kolumnentitel: H . v. Kleist's Leben). 9 Grisebach, Bd. 2, S. 423. 10 Adolf Wilbrandt: Heinrich von Kleist. Nördlingen 1863, S. 385. Vgl. Analytische Bibliographie der Fehlzuweisungen und kontroversen Texte N r . 12. 4 5

244

Kleist im Klassiker-Programm der großen Verlage

gen Texte qualitativ unterschiedlich11 eingestuft. Nur in der „seltsamen Satyre" Allerneuester Erziehungsplan sowie in den Briefen eines Malers und eines jungen Dichters fand er Kleists „Denkart mit glücklichem Nachdruck vorgetragen" wieder; daneben nahm er noch die Empfindung vor Friedrichs Seelandschaft auf. Unter den Abendblätter- Anekdoten sah er „manche trefflich erzählt, mit kräftigen Strichen, die wir an dem Dichter kennen". In die Ausgabe gelangte neben den bereits bekannten: Muthwille des Himmels, Anekdote aus dem letzten Kriege, Der Branntweinsäufer und die Berliner Glocken und die Bach-Anekdote. Erscheint diese Auswahl auch subjektiv getroffen, so läßt sie doch Instinkt für Qualität erkennen. Die Ausgabe ist Bestandteil der 1867 von Gustav Hempel 12 gegründeten National-Bibliothek deutscher Classiker13, einem Konkurrenzunternehmen zur Bibliothek deutscher Nationalliteratur. Der Ausgangspunkt und die Zielsetzung dieser Klassiker-Reihe, von der bis zum Tode Hempels im Jahre 1877 bereits sechshundert Lieferungen erschienen waren, entsprach dem Klassiker-Programm des Bibliographischen Instituts. Sie war „für das ganze deutsche Volk in allen Classen und Schichten der Gesellschaft" bestimmt, doch sollten auch die „Gelehrten und Literaturkenner" befriedigt werden; die hohe Auflage erlaubte einen Preis von nur 25 Pfennigen für jede Lieferung. In der Ausführung dagegen erwies sich das Hempelsche Unternehmen der Bibliothek deutscher Nationalliteratur editorisch in vielem überlegen. Das war vor allem das Verdienst Hempels, der gute Mitarbeiter gewann und die Textgestaltung selbst überwachte. Uberhaupt ist die philologische Praxis des Verlages bemerkenswert, denn die Edition war in der Regel das Ergebnis einer Arbeitsteilung zwischen den „speziellen Editoren", drei „tüchtigen Correktoren", einem „Superrevisor" und Hempel. Nur hatte man die editorischen Probleme noch nicht völlig durchschaut. Die Forderung nach einem „vollständig fehlerfreien und von allen früheren Irrtümern gereinigten Text", bzw. nach der „Wiederherstellung des ursprünglichen oder richtigen Textes" war leichter erhoben als erfüllt, und die Aufgaben der Textkritik scheinen von der etwas naiven

11

12

13

Wilbrandt schreibt: „Alles in Allem genommen, macht diese zusammengewürfelte Reihe von Kleinigkeiten doch einen beklemmenden Eindruck. Kleist war nicht der Mann, mit elastischer Schmiegsamkeit sich zwischen den mannichfachen Forderungen eines Tagblattes zu bewegen; und nur zu oft sieht man den kleinen Artikeln die Lückenbüßer-Natur, das Erzwungene, Müde, widerwillig Hingeworfene an, das peinliche Gefühl, daß er nicht mit der Seele, nur für das tägliche Brod schrieb" (S. 385). Gustav Hempel (9. Jan. 1819-13. Jan. 1877) hatte sich im September 1846 selbständig gemacht und in Berlin eine Verlagsbuchhandlung aufgebaut, in der er alles verlegte, „was ihm zeitgemäß, praktisch und lukrativ schien". - Vgl. zur Biographie: Ed. Sabell: Gustav Hempel. Eine biographische Skizze (Börsenblatt für den Dt. Buchhandel 1877, Nr. 29, v. 5. Febr., S. 4 7 0 - 4 7 3 u. Nr. 31, v. 7. Febr., S. 5 0 1 - 5 0 4 . Außerdem: ADB 11 (1880) S. 7 2 7 - 7 2 8 (Kelchner). - Zitate nach Sabell. Vgl. zur Geschichte und zur Organisation der National-Bibliothek, insbesondere zur Auseinandersetzung Hempels mit den Kritikern der Schiller-Ausgabe: Sabell, S. 502.

245

Kleist im Klassiker-Programm der großen Verlage

Auffassung bestimmt worden zu sein, daß es einen solchen „ursprünglichen oder richtigen"

T e x t gebe, der nur durch Textverwitterungen entstellt sei. D i e oft

schwierige W a h l zwischen verschiedenen Fassungen, der weite Spielraum der Konjekturalkritik und das Problem der Entstehungsgeschichte eines Textes beunruhigten den Herausgeber kaum, da er hoffen k o n n t e , in den meisten Fällen auf eine Fassung .letzter H a n d ' zu stoßen. D i e Bedeutung des Hempelschen U n t e r nehmens liegt in dem F o r t s c h r i t t , daß hier erstmals T e x t k r i t i k auf breiter F r o n t getrieben wurde. So hat die K l e i s t - A u s g a b e 1 4 , deren Erscheinen H e m p e l nicht m e h r erlebte, die Ausgabe Julian Schmidts überflügelt. D i e s ist in vielem auch das V e r dienst Reinhold K ö h l e r s . A m 2 4 . F e b r u a r 1867 nahm H e m p e l Köhlers LesartenStudie z u m Anlaß, ihm eine ständige M i t w i r k u n g bei der Herausgabe der nal-Bibliothek

deutscher

Classiker

Natio-

anzubieten, da er nach seiner M e i n u n g „zu den

sehr W e n i g e n " gehörte, „ w e l c h e in W a h r h e i t zur Herausgabe eines deutschen Classikers berufen sind". Aus H e m p e l s B r i e f v o m 5 . M ä r z 1867 geht hervor, daß K ö h l e r eine Mitwirkung in solchem U m f a n g abgelehnt, aber R a t und H i l f e im Einzelfall zugesagt h a t 1 5 . I m J a h r e 1873 weiß di ^Deutsche

Dichterhalle

zu berichten, daß R e i n h o l d K ö h -

ler „bereits seit langer Z e i t eine kritische Ausgabe der Kleistschen D i c h t u n g vorb e r e i t e t " 1 6 . G o t t h i l f Weisstein nahm diese N o t i z a m 2 9 . Juli 1874 z u m Anlaß, u m K ö h l e r aus seiner Sammlung ein Einzelblatt mit Textvarianten „ v o n hervorragender B e d e u t u n g " , offenbar Pfuels E i n z e l d r u c k der O d e Germania

an ihre

Kinder,

zugänglich zu m a c h e n 1 7 . D a n a c h hört man, auch in den Briefen Weissteins an K ö h l e r , von diesem Plan nichts mehr, und es ist ungeklärt, o b K ö h l e r damals überhaupt mit einem Verlag in Verhandlungen stand; in seinem N a c h l a ß fanden sich keine V o r a r b e i t e n , die über seine Lesarten-Studie hinausreichen. Erst am 2 8 . N o v e m b e r 1881 bat R u d o l f K o c h K ö h l e r , für die Kleist-Ausgabe der Cottaschen Bibliothek

der Weltliteratur

eine „biographisch-literarhistorische Einleitung" zu

s c h r e i b e n 1 8 . Köhler hat dieses A n g e b o t ebenso abgelehnt wie die am 2 9 . April 1882 von J o s e p h K ü r s c h n e r 1 9 an ihn herangetragene Aufgabe, eine A u s w a h l - E d i 14

15 16

17

18 19

Die Rechte des Verlages gingen später an den Verlag Bong über, der die Kleist-Ausgabe (mit der Einleitung von Wilbrandt, aber speziellen Einleitungen der neuen Herausgeber zu den einzelnen Teilen) 1908 in der Goldenen Klassiker-Bibliothek in neuer Gestalt vorgelegt hat (H. v. Kleist: Werke. Auf Grund der Hempelschen Ausgabe neu hrsg. mit Einl. u. Anm. vers. v. Hermann Gilow, Willi Manthey u. Wilhelm Waetzold. T. 1 - 6 ) . Goethe-Schiller-Archiv der Nationalen Forschung- und Gedenkstätten, Weimar. Litteraturgeschichtliche Antworten, in: Deutsche Dichterhalle. Redakteur: Oscar Blumenthal. Bd. 2 (1873), Nr. 9, S. 104. Goethe-Schiller-Archiv der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten, Weimar, Nachlaß Reinhold Köhler, Nr. 677. Erhalten sind 9 Briefe, 1 Briefkarte und 6 Postkarten aus den Jahren 1874-1892 mit zahlreichen Anfragen an Köhler; gelegentlich scheint Weisstein Köhler auch Autographen übersandt zu haben. Vgl. die Briefe von Rudolf Koch in Bd. 2, S. 148-149. Goethe-Schiller-Archiv der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten, Weimar, Nachlaß Reinhold Köhler, Nr. 650.

246

Kleist im Klassiker-Programm der großen Verlage

tion der Werke Wielands in der Bibliothek der deutschen Nationalliteratur sorgen.

zu be-

An Köhlers Stelle schrieb kurzentschlossen Franz Muncker 20 die gewünschte Einleitung, die er auf Drängen des Verlags sogar einige Monate früher als vertragsgemäß vereinbart ablieferte. Muncker stand damals am Anfang seiner Universitätskarriere. Er hatte 1877 mit der Dissertation Lessingspersönliches und literarisches Verhältnis zu Klopstock promoviert und sich 1879 mit einer Arbeit über zwei kleinere deutsche Schriften Aventins habilitiert. Kurz danach trat er mit den ersten Editionen hervor, darunter der Einzelausgabe von C. M. Wielands Hermann, die fast zur gleichen Zeit wie die Kleist-Einleitung entstand21. Die 1886-1924 von ihm herausgegebene dritte Auflage der Lachmannschen Lessing-Ausgabe zählt zu seinen bleibenden Leistungen, die Kleist-Ausgabe kann dagegen nur als eine Gelegenheitsarbeit angesehen werden. Auf sie trifft das Urteil Erich Schmidts, Munkker „ediere und bevorrede so viel so gewerbsmäßig"22, leider in besonderem Maße zu; seine Einleitung führt in der Tat „sachlich keinen Schritt weiter und ist formal ohne jeden Reiz". In seinem schriftstellerischen Optimismus und seinem Vertrauen auf einen Leser, der an biographischen Grundzügen und ästhetisierenden Bemerkungen Genüge findet, hat es sich Muncker hier allzu leicht gemacht. Für die Edition selbst allerdings war Muncker nicht verantwortlich; er hat den Verlag lediglich beraten23. Textherstellung und Korrekturen lagen in den Händen von Wilhelm Vollmer, auf den wahrscheinlich auch die Anordnung der Texte zurückgeht. Eine völlig neue Druckvorlage scheint angesichts der kurzen Frist nicht erarbeitet worden zu sein, vielmehr ist anzunehmen, daß man die Hempelsche Ausgabe dafür benutzt und sie an Hand der Variantenaufstellung Köhlers sowie verschiedener Einzelausgaben überprüft hat. Hinsichtlich der Reihenfolge vertrat Muncker die Auffassung, der Leser solle zuerst ein Bild „von dem Dramatiker, der ja doch immer die Hauptsache bleibt, dann von dem Dichter in Vers und Prosa, zuletzt von seinen staatlichen und künstlerischen Ansichten" gewinnen. Doch der Verlag ignorierte diesen Vorschlag und folgte dem Gattungsdogma, Editionen „sämtlicher Werke" mit den Gedichten zu eröffnen. In der schwierigen Frage der politischen Aufsätze und kleinen vermischten Schriften diente Köpkes Publika211

21

Vgl. den Verlagsvertrag und Munckers Brief an Rudolf Koch vom 18. Februar 1882 in Bd. 2 , S . 1 5 1 - 1 5 3 . Christoph Martin Wieland: Hermann. Heilbronn 1882. (Dt. Litteraturdenkmale d. 18. J h . s. 6), Vorrede S. I I I - X X X (unterz.: März 1882).

22

Brief Erich Schmidts an Gustav Roethe vom 2 2 . Juli 1890 (vgl. Briefe Erich Schmidts, Anhang 2 a). Als Schüler von Michael Bernays war Muncker in den Augen Erich Schmidts von vornherein belastet. Julius Petersen (Franz Muncker. Werk und Persönlichkeit. Zu seinem 70. Geburtstag, in: Münchner Neueste Nachrichten Jg. 78, N r . 335 v. 4. Dezember 1925) hat dagegen später Munckers „gerechtes Urteil" gerühmt, „das niemals die Sachlichkeit um geistreicher Schlagworte willen preisgibt".

23

Vgl. Munckers Brief vom 18. Februar 1882. - Bemerkenswert ist der Rat Munckers, in Fällen, w o Köhler „Julian Schmidt beistimmt", Vorsicht walten zu lassen.

247

Kleist im Klassiker-Programm der großen Verlage

tion als Vorlage. Mit Ausnahme der von Wilbrandt Kleist abgesprochenen fünf Texte sowie der Baxer-Anekdote bietet die Ausgabe alle zum damaligen Zeitpunkt bekannten Abendblätter-Beiträge

Kleists 2 4 . Daneben gelangte der 1878 von Paul

Lindau vorgelegte Aufsatz Uber die allmähliche Reden

Verfertigung

der Gedanken

beim

in die Ausgabe, während das zwei Jahre zuvor ebenfalls von Paul Lindau

veröffentlichte Manifest Über

die Rettung

von

Österreich

merkwürdigerweise

fehlt. D i e Notwendigkeit einer eigenen Kleist-Edition war für den Cotta-Verlag nicht zwingend gegeben. Mit der Buchausgabe der Penthesilea,

die Johann Friedrich

von Cotta 1808 von Gärtner übernommen hatte, gehörte Kleist - abgesehen von Jeronimo

und Josephe

im Morgenblatt

- zwar gleichfalls zu den von der Aufhe-

bung der Privilegien betroffenen „Klassikern" des Verlages, jedoch zu den - z . T . selbst verschuldeten - .Ladenhütern' 2 5 . Wenn Carl von Cotta die Werke Kleists, unabhängig von der Tatsache, daß diePe»(Aesi/ews-Fassungen

des Zerbrochnen Krugs, derPenthesilea, desKäthchen chael Kohlhaas

von Heilbronn und des Mi-

hatten die Kleistforschung vor völlig neue Probleme gestellt. Sie

sah sich Varianten gegenüber, die nicht allein für die ,richtige' Lesung einer Textstelle von Bedeutung waren, sondern im Hinblick auf die Textgeschichte beurteilt und geordnet werden mußten. Klassiker-Leseausgaben konnten eine solche Bestandsaufnahme und Varianten-Kritik nicht leisten.

37

Sein Katalog der Bücher eines deutschen Bibliophilen mit litterarischen und bibliographischen Anmerkungen (Leipzig 1894, Suppl. u. Namensreg. 1895, neubearb. u. d . T . : Weltlitteraturkatalog eines Bibliophilen. Berlin 1898, E r g . - B d . 1900, 2 . , durchges., verb. u. stark verm. Aufl. Berlin 1905) war ein Standardwerk.

38

Hans von Müller, S. 41. Vgl. zur Biographie auch: Hans Henning, Eduard Grisebach in seinem Leben und Schaffen. Berlin 1905 und: Eduard Grisebach, Auto-Bibliographisches, in: V o m Fels zum Meer Jg. 14, Bd. 1 ( O k t . 1 8 9 4 / M ä r z 1895) = Bd. 27, S. 4 0 2 - 4 0 5 , mit einer Zeichnung von Hanns Fechner: Eduard Grisebach in seiner Bücherei.

Kleist im Klassiker-Programm der großen Verlage In dieser Situation bot die von Joseph Kürschner B a r t s c h 4 0 gegründete und herausgegebene Deutsche

39

251

in Verbindung mit Karl

National-Litteratur

die beste

Gelegenheit, die Kleist-Edition auf eine neue Grundlage zu stellen. Diese 164 Bände umfassende und in den Jahren 1882 bis 1899 erschienene Reihe 4 1 war zunächst auf Popularisierung bedacht; sie wollte „auch weiteren Kreisen" ermöglichen, „den Entwicklungsgang unserer Literatur zu erfassen und deren Werke mit Genuß und Verständnis in sich aufzunehmen" 4 2 . D e r Verlag W . Spemann vertrieb die Bände nach dem im Buchhandel beliebten Subskriptionsprinzip und wollte ebenso wie Cottas Bibliothek

der Weltliteratur

„wissenschaftliche Gründlichkeit,

äußere Ausstattung und typographische Schönheit" mit einer „ganz ungewöhnlichen Billigkeit des Preises" 4 3 vereinen. Textkritische Ansprüche sollten durch die Darbietung „sorgfältig revidierter, ergänzter und vervollständigter T e x t e " befriedigt werden. D o c h begnügte man sich nicht mehr mit dem Titelvermerk „kritisch durchgesehen", sondern gab der gesamten Reihe den vielversprechenden Untertitel Historisch-kritische

Ausgabe,

obgleich nicht alle Editionen diesem Anspruch

genügten. In jedem Fall war dem Herausgeber damit die Möglichkeit gegeben, philologische Grundlagenforschung zu betreiben und seine Ausgabe auch für den Literarhistoriker interessant zu machen. Zolling hat diese Gelegenheit genutzt und eine Ausgabe vorgelegt, diesich in vielem so vorteilhaft von ihren Vorgängern unterschied, daß sie zu einem Wendepunkt in der Editionspraxis wurde. Daß die Reihe sich letztlich mehr an den akademisch gebildeten Leser wandte, geht aus der

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Die beste Charakteristik Joseph Kürschners (20. Sept. 1853-29. Juli 1902) gibt August Sauer in der Vorrede zum Versteigerungskatalog der Sammlungen Kürschners (C. G. Boerner, Katalog 78, vom 30. M a i - 4 . Juni 1904), S. I I I - X I , wiederholt in: Sauer, Probleme und Gestalten (Stuttgart 1933), S. 2 1 1 - 2 2 1 . Vgl. auch das Vorwort von Hermann Hillger zum 25. Jahrgang von Kürschners deutschem Litteraturkalender (1903). In seinem Brief an Reinhold Köhler vom 29. April 1882 beruft sich Kürschner auf seine „Ubereinstimmung mit Prof. Bartsch, mit dem ich in der angenehmen Lage war, meinen Plan durchzusprechen und der sich selbst in vielfältiger Weise an demselben beteiligt". 164 in 220 Bänden. - Vgl. die Charakteristik von Herbert Jacob, in: Robert F. Arnold, Allgemeine Bücherkunde (4. Aufl. 1966): „Eine ganze Reihe namhafter Wissenschaftler hat an diesem Werk mitgearbeitet und z. T. vorbildliche Editionen geliefert; die wichtigsten Autoren sind mit Gesamtausgaben ihrer Werke vertreten, andere mit Auswahlen; diejenigen, die mit nur wenigen Werken in die Geschichte eingegangen sind, wurden in Sammelbänden oder anthologieartigen Sammlungen (z. B. Bremer Beiträge, Lyriker und Epiker der klassischen Periode, Schicksaldrama) zusammengefaßt. Die Sammlung reicht bis etwa zum Ende der Romantik (Immermann) und ist durch die Literaturgeschichte von Golther und Borinski und einem Registerband abgeschlossen. Ein ähnliches Unternehmen in neuerer Bearbeitung, das von nicht zu unterschätzendem Wert wäre und wie es z . B . einige romanische Länder haben, besitzen wir nicht" (S. 158). Zitiert nach dem Prospekt-Text auf dem Umschlag der einzelnen Lieferungen im Handexemplar der Kleist-Ausgabe Zollings. Angekündigt wurden Lieferungen „von ca. 7 Bogen ä 16 Seiten, zum Preis von 50 Pfg". Wöchentlich sollten zwei Lieferungen ausgegeben werden, und für die ganze Reihe war an eine Laufzeit von drei bis vier Jahren gedacht.

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Beilage Signale aus der htteranschen Welt hervor, die den einzelnen Lieferungen als Umschlag diente und eine Zeitschriftenschau, Akademie- und Universitätsnachrichten, Titel von Schulprogrammen und Dissertationen nebst Personalien bot. Im Prospekt der Deutschen National-Litteratur wird von einer „nach einheitlichen Gesichtspunkten getroffenen Anordnung" der „Gesamtheit der deutschen Litteraturschätze" gesprochen. Das Schwergewicht der Reihe liegt jedoch auf den Werken der Zeitgenossen Goethes und Schillers. Im übrigen scheint Kürschner den einzelnen Herausgebern weitgehend freie Hand gelassen zu haben. Wie aus seinem Brief an Reinhold Köhler 4 4 hervorgeht, wurden im Falle der geplanten Wieland-Ausgabe lediglich der Umfang der Edition sowie einige Grundsätze festgelegt, Disposition und Ausführung dagegen dem Herausgeber überlassen. Kürschner schreibt: „Vorausgehen soll dem ersten Band eine gute Biographie Wielands ( 4 - 5 Bogen) mit Angabe seiner sämtlichen Werke und kurzer Charakteristik derselben. Hierbei wäre namentlich auch auf das bibliographische Element (also Litteraturangaben etc.) und auf Mittheilungen über die Aufnahme der Werke durch die Zeitgenossen Rücksicht zu nehmen. Dieses letztere gilt nun auch für die kurzen Einleitungen, die man den zum Abdruck gelangenden einzelnen Werken beigeben müßte. Anmerkungen sollen in knapper Fassung, wo es noth thut den Text erläutern. Was diesen letzteren anlangt, so müßte er revidirt werden. Die Interpunktion ist dem Sinn entsprechend mit Consequenz durchzuführen. Sobald Sie mir eine Disposition geschickt haben, werde ich Ihnen eine von Ihnen zu bestimmende Ausgabe mit durchschossenem Papier zugehen lassen, um Text und Anmerkungen zu besorgen". Die Auswahl-Ausgabe der Werke Wielands45 stellte den Herausgeber freilich vor eigene Probleme, die nicht ohne weiteres auf Kleist zu übertragen sind; vor allem kann nicht gesagt werden, welchen Umfang Kürschner für die Kleist-Ausgabe projektiert hat, d.h. ob ihm wirklich eine Gesamtausgabe vorschwebte. Doch ist mit einiger Wahrscheinlichkeit anzunehmen, daß sein Brief an Zolling hinsichtlich der Einrichtung im wesentlichen die gleichen Grundsätze enthielt wie sein Brief an Köhler. Denn die Kleist-Ausgabe entspricht in der Anlage weitgehend dem skizzierten Schema, wobei die Briefe sinngemäß der Biographie nachgeordnet werden und die Textkritik in den Fußnoten einen relativ breiten Raum einnimmt. Offen bleibt, wie Kürschner mit Zolling bekannt wurde und warum man gerade ihm die Herausgeberschaft übertrug. Am nächsten liegt die Erklärung, daß die Zusammenarbeit sich aus journalistischen Kontakten und Kürschners Tätigkeit im Ver44

Auszug mit freundlicher Genehmigung von Prof. D r . Karl-Heinz Hahn, Nationale F o r schungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur, Weimar. - Die Großschreibung und Interpunktion des Briefes wurde normalisiert, die Rechtschreibung beibehalten.

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Nach Köhlers Absage übernahm H . Pröhle die siebenbändige Wieland-Ausgabe für die

Deutsche Sational-Litteratur

(1887 88).

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lag W. Spemann ergab, in dem 1882 sowohl Zollings Studie Heinrich von Kleist in der Schweiz46 als auch seine Feuilleton-Sammlung Reise um die Pariser Welt47 erschienen war. Zolling 48 war im Grunde ein Außenseiter, ein im Besitzbürgertum wurzelnder homme de lettres mit weitreichenden kulturellen Interessen, starkem Selbstbewußtsein und Mut zum Experiment; er hatte wie Eduard von Bülow den Kaufmannsstand hinter sich gelassen, um nach einem erfolgreich absolvierten Universitätsstudium im Journalismus ein ihm gemäßes Betätigungsfeld zu finden. Als Schweizer stand er Kleist politisch reservierter gegenüber als Koberstein, Treitschke, Julian Schmidt oder Köpke. Sein von nationalistischen Regungen freier Standpunkt kommt schon im Vorwort seiner Kleist-Studie zum Ausdruck: „Wohl niemals hat ein Dichter gelebt, dessen Werke in solchem Maße nur durch das Medium seiner Individualität und deren menschlichen Beziehungen verständlich sind, als dies bei Heinrich von Kleist der Fall ist". Mit dieser Studie, die aus einzelnen Aufsätzen zusammengewachsen ist 49 , hat Zolling die Kleistforschung seiner Zeit durchaus bereichert, und auch der historisch-kritischen Ausgabe gebührt Anerkennung, obgleich vieles daran problematisch ist. Leider hinterließ Zolling kein Nachlaßmaterial, das Aufschluß über sein Leben und sein Selbstverständnis gibt, auch seine Biographie wurde bisher nirgends skizziert. Die Nachrufe 50 beschränken sich auf kurze Charakteristiken und rühmen in erster Linie seine umsichtige Redaktionstätigkeit für die Wochenschrift Die Gegenwart. Unter den wenigen erhaltenen Briefen 51 gewähren die an C. F. Meyer Einblick in eine persönliche Freundschaft, andere legen Zeugnis vom Stil seiner Redaktionsgeschäfte ab oder erlauben - wie auch die Briefe Karl Biedermanns 52 eine Rekonstruktion der Vorgeschichte der Kleist-Ausgabe 53 , über seine Studienzeit wußte man bisher nur wenig. Es sei daher aus den Promotionsakten der

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Theophil Zolling: Heinrich v. Kleist in der Schweiz. Stuttgart: Spemann 1882. Theophil Zolling: Reise um die Pariser Welt. Bd. 1. 2. Stuttgart: Spemann 1882. Vgl. Briefe Karl Biedermanns, Anm. 3, 1. Theophil Zolling (30. Dezember 1849-22. März 1901) hieß mit vollständigem Familiennamen: Zollinger. In seinen schriftstellerischen Anfängen publizierte er (offenbar aus Familienrücksichten) auch unter dem Pseudonym: Gottlieb Ritter. Das erste Kapitel erschien in der Gegenwart, der Anfang des fünften Kapitels und einzelnes aus dem 7. und 8. Kapitel im Feuilleton der Neuen Freien Presse, Wien. Wichtig vor allem: Richard Nordhausen, Theophil Zolling, in: Die Gegenwart. Jg. 30, Bd. 59, Nr. 13 (30. März 1901) S. 197-198. In der Zentralbibliothek Zürich sind erhalten: drei Briefe an Gottfried Keller aus den Jahren 1875-1881, elf Briefe an C. F. Meyer aus den Jahren 1879-1888 und ein Brief an Unbekannt; daneben liegt je ein Brief von Keller (aus dem Jahre 1876) und C. F. Meyer (aus dem Jahre 1881) vor. Vgl. die Briefe von Karl Biedermann an Zolling in Bd. 2, S. 168-186. Vgl. die Briefe Zollings an Reinhold Köhler und Georg Ernst Reimer in Bd. 2, S. 160-167.

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philosophischen Fakultät der Universität Zürich der Lebenslauf 5 4 wiedergegeben, in dem Zolling anläßlich der Vorlage seiner Dissertation 5 5 Rechenschaft über Entwicklung und Studiengang ablegt. E r schreibt: „Am 30. December 1849 wurde ich in dem neapolitanischen Dorfe Scatati bei Pompeji geboren. Mein Vater, der dort eine Fabrik besaß, siedelte mit der ganzen Familie drei Jahre später dauernd nach seiner Vaterstadt Zürich über, wo ich die Stadtschulen besuchte. Schon früh zeigte sich in mir eine lebhafte Abneigung vor jeder Mathematik, welchem Umstände es besonders zuzuschreiben ist, daß ich alljährlich meist mit Mühe in die höhere Classe und zuletzt an das Gymnasium gelangte, trotzdem ich in den andern Fächern, besonders aber im deutschen Aufsatz und in der Geschichte, unter die Besten meiner Mitstrebenden zählte. Aber mein Vater hatte mich, der Familientradition zu Folge, dem Kaufmannsstande bestimmt und behielt zu diesem Zwecke einen durchaus auf das Mercantile gerichteten Bildungsgang im Auge. So wurde ich denn in der Knabenpension der Gebrüder Labhardt in Männedorf untergebracht, wo ich vorzugsweise die modernen Hauptsprachen mit Eifer und Erfolg trieb, ohne jedoch meine alten Lieblingsfächer, Universalhistorie und Literaturgeschichte, zu vernachlässigen. Das Zeugniß, welches mir beim Abgang gegeben wurde, constatirte, daß das Institut in mir einen seiner liebsten Schüler verliere. Leider wurde aber auch jetzt, nach meiner Confirmation, mein Wunsch, studiren zu dürfen, nicht erfüllt, so daß ich nothgedrungen den in mir ausgereiften Plan auf spätere, günstigere Zeiten verschieben mußte. Ein Jahr des conventioneilen .Wälschlandes' ging nunmehr über mich, worauf ich in ein Seidengeschäft in Zürich eintrat, um mich practisch für die kaufmännische Laufbahn vorzubereiten. Im Jahre 1870 absolvirte ich in Thun das Eidgenössische Officiers-Examen und machte in dem darauffolgenden Winter einen fast vierteljährigen Grenzbesetzungsdienst mit, nach dessen Ablauf ich an meine Großjährigkeit erinnerte und endlich die väterliche Erlaubniß erhielt, Geschichte studiren zu dürfen. Herr stud. philol. Ernst Walder übernahm es, mich während der Dauer eines Jahres in den alten Sprachen zu unterrichten, worauf ich an der Universität Collegia über meist philologische Fächer hörte. Zu Ostern 1873 siedelte ich nach Wien über, wo es mir gelang, Herrn Prof. Büdinger für mich zu interessiren, dessen Collegien ich schon in Zürich besucht hatte, ohne aber schon damals in persönlichen Verkehr mit ihm getreten zu sein. Er war so freundlich, mir in meinen historischen Studien mit seinem unschätzbaren Rath an die Hand zu gehen; unter seinen Auspicien entstand denn auch meine Arbeit über Alexanders des Großen Feldzug in Central-Asien, welche ich ohne seine Hülfe wol kaum hätte unternehmen dürfen. Schon damals vollendet und seither completirt und verbessert, ist es diese Schrift, womit ich mich gegenwärtig um das philosophische Doctorat bewerbe. In Wien hörte ich außer historischen Fachcollegien noch verschiedene Vorlesungen über Jurisprudenz bei den Proff. Siegel, Arndts und Exner, sowie Germanistik bei Prof. Heim54

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Zürcher Promotionsakten im Staatsarchiv des Kantons Zürich (Sign.: U 109 e. 1). Mit freundlicher Genehmigung von Herrn Staatsarchivar Dr. U . Helfenstein. Th. Zollinger: Alexanders des Großen Feldzug in Centrai-Asien. Eine historisch-geographische Quellenstudie. Inaugural-Dissertation zur Erlangung der philosophischen Doctorwürde an der Universität Zürich. Leipzig: Hartknoch 1875. Die Buchausgabe erschien mit gleichem Impressum unter dem Namen Zolling; sie trägt den Untertitel: Eine Quellenstudie und ist als „zweite umgearbeitete Auflage" bezeichnet. - Wie aus dem Gutachten von Prof. Dr. J . J . Müller hervorgeht, ist die erste Fassung von der Fakultät wegen erheblicher Mängel abgelehnt und die Arbeit danach in neuer, verbesserter Gestalt vorgelegt worden. Sie war Ende 1874 ausgedruckt (vgl. Zollings Brief an den Dekan der Philosophischen Fakultät Prof. Dr. G . Meyer v. Könau vom 2. Jan. 1875).

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pel. Nach einjährigem Aufenthalte an der Wiener Hochschule bezog ich im vergangenen Sommer die Universität Heidelberg, w o mich besonders die Vorlesungen über neuere und ältere Philosophie von Prof. K u n o Fischer, über Logik von Prof. Reichlin-Meldegg und die Methodologie der historischen Disciplin von Prof. Winkelmann anzogen. Das laufende Wintersemester findet mich in Berlin, dessen zahlreiche Ressourcen ganz dazu angethan sind, einen längeren Aufenthalt wünschenswerth zu machen. Hier höre ich Naturwissenschaften bei den Proff. Helmholtz, Dubois-Reymond und Virchow, sowie historische Fächer bei den Proff. Mommsen und Droysen. Zugleich arbeite ich an einer umfänglichen Darstellung der Organisation und politischen Wirksamkeit der pylisch-delphischen Amphiktyonie bis zur gänzlichen Umgestaltung derselben durch Augustus. Theophil Zollinger."

Unmittelbar nach der Promotion schlug Zolling die journalistische Laufbahn

ein, die ihn von 1875 bis 1881 als Auslandskorrespondenten der Neuen Freien Presse nach Paris führte, wo er sich als gewandter Feuilletonist einen Namen machte. Seine beruflichen Pläne erfüllten sich, als er am 1. Oktober 1881 die Redaktion der von Paul Lindau gegründeten Wochenschrift Die Gegenwart übernahm . Er hat das Blatt, das später in seinen Besitz überging, bis zu seinem Tode am 22. März 1901 geführt. Richard Nordhausen charakterisiert Zolling in diesen Jahren als einen Mann, der früh „zu jener ironischen Resignation" gelangte, die „nur den Weisen und Feinen" zuteil werde, und der in seiner „exklusiven, adligen Art" kein „Kamerad für die Berliner Kameraderien" gewesen sei. Zu Zollings Verdiensten rechnet er vor allem die Liberalität, mit der er die Gegenwart zum „Kampfplatz" gemacht habe, „auf dem die bewegenden Kräfte der Zeit literarisch zusammenstoßen und ihre Kraft an einander erproben" konnten: „Jedem, der etwas zu sagen hatte und es zu sagen wußte, öffnete er sein Blatt. Er brach entschlossen mit der abscheulichen Gepflogenheit, die den Redacteur, richtiger gesagt, den Verleger und Annoncenpächter, zum Vormund des freien Schriftstellers macht; die mit der Beckmesser-Tabulatur der Fraction an jeden neuen eigenwilligen Gedanken herantritt, jede neue fremde Melodie erwürgen möchte. Hier zum ersten Mal kam der Mann, der sich nicht zum Prokrustes geboren fühlte und uns Redefreiheit gab, unbedingte Redefreiheit" 56 . Die Kleist-Ausgabe blieb das einzige größere wissenschaftliche Forschungsunternehmen Zollings. In den 90er Jahren wandte er sich Georg Herwegh zu, doch blieb es bei der Veröffentlichung einiger Aufsätze und Mitteilungen aus dem Nachlaß und aus den Akten des Geheimen Staatsarchivs 57 . Das allgemeine Interesse für Herwegh war damals gering und die Herwegh-Forschung steckte noch in den Anfängen. Zolling leistete also auch hier Pionierarbeit, allerdings mit betont

56 57

Die Gegenwart. Jg. 30, Bd. 59, Nr. 13 (30. März 1901) S. 197. A u s Georg Herwegh's Nachlaß. Mitgetheilt von einem Freunde des Dichters. In: Die Gegenwart. Bd. 50, Nr. 40 (3. Oct. 1896) S. 2 1 4 - 2 1 7 . - Friedrich Wilhelm IV. und Georg Herwegh. In: Die Gegenwart. Bd. 54, Nr. 39 (1. Oct. 1898) S. 1 9 6 - 2 0 0 , Nr. 40 (8. Oct. 1898) S. 2 1 7 - 2 2 0 u. N r . 41 (15. Oct. 1898) S. 2 3 2 - 2 3 5 .

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antisozialdemokratischer T e n d e n z 5 8 . H e r w e g h wurde von ihm in erster Linie als Schweizer Emigrant und Künstler begriffen, dessen „tragisches Dichterschicksal" ihn berührte, obgleich ihm bewußt war, daß der Politiker H e r w e g h „ n u n einmal von dem Dichter nicht zu trennen i s t " 5 9 . In den späteren Jahren kehrte Zolling zur Belletristik 6 0 zurück. Beachtung verdient vor allem der R o m a n Bismarcks

Nachfolger61,

denn mit Bismarcks Entlas-

sung war für Zolling eine E p o c h e zu E n d e gegangen, in der die Geschichte noch als das Werk großer Persönlichkeiten begriffen werden konnte 6 2 . Gemäß den E m p findungen breiter Schichten des Bürgertums stilisiert er Bismarck z u m „großen Verfemten u n d Verbannten" und läßt die Folgezeit als politisches V a k u u m erscheinen. Seine H o f f n u n g setzt er nicht mehr auf den Reichstag, sondern allein auf die J u g e n d , von der er erwartet, daß sie wieder gut macht, „ w a s die Großen ges ü n d i g t " 6 3 . In den politischen Zielen identifizierte er sich weder mit den Großmachtgelüsten der Militärs noch mit den Radikalkuren der Revolutionäre. D i e Kleist-Ausgabe Zollings ist publizistisch durch die Gegenwart

vorbereitet

worden. Dies war zunächst das Verdienst Paul Lindaus, der dort 1873 die wichtigsten Stücke aus dem Nachlaß Peguilhens 6 4 und 1876 den Aufsatz Über die von Österreich

Rettung

sowie den Brief Kleists an Friedrich Schlegel v o m 13. Juni 1809

veröffentlicht hat 6 5 . Alle Materialien sind ihm von dem Dessauer Industriellen Karl Meinert, einem „ F r e u n d e der Gegenwart"

überlassen worden, aus dessen

reichem Handschriftenschatz später auch Zolling schöpfte. Daneben hat Lindau 1876 anläßlich der U r a u f f ü h r u n g der Penthesilea

im Berliner Königlichen Schau-

spielhaus dieses Stück, das in der Bearbeitung Mosenthals und in einer mißglück-

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Lassalle, Herwegh und die Socialdemokratie. In: Die Gegenwart Bd. 50, Nr. 5C (12. Dec. 1896) S. 373-377. Zu Georg Herwegh's Ehrenrettung. In: Die Gegenwart. Bd. 50, Nr. 43 (24. Oct. 1896) S. 262-266. Ein weiterer Artikel erschien u. d. T. Richard Wagner und Georg Herwegh. In: Die Gegenwart. Bd. 51, Nr. 1 (2. Jan. 1897) S. 8 - 1 2 u. Nr. 2 (9. Jan. 1897) S. 26-29. Zolling hatte als Lyriker und Cbersetzer (von Emile Augier, Carlo Goldoni, Alfred de Musset, Victorien Sardou) begonnen und gemeinsam mit Alphonse Daudet das (am 13. Dez. 1877) am Wiener Stadttheater erstmals aufgeführte) Schauspiel Neue Liebe verfaßt. - Später erschienen: Der Klatsch. Ein Roman aus der Gesellschaft (Leipzig: H. Haessel 1889), Frau Minne. Ein Künstlerroman (ebda 1889), Coulissengeister. Roman (ebda 1891) und: Die Million. Roman (Berlin: Verlag der Gegenwart 1893, auch: Stuttgart, Dt. Romanbibliothek zu Über Land und Meer 1893, 1). Bismarcks Nachfolger. Berlin: Verlag der Gegenwart 1895. Charakteristisch sind hierfür die beiden Kaisergedichte Zollings: Kaiser Wilhelm t In: Die Gegenwart. Bd. 33, Nr. 11 (17. März 1888) un&:KaiserFriedrich t Ebda, Nr. 25 (23. Juni 1888) sowie das Jubiläumsheft der Gegenwart zum 80. Geburtstag Bismarcks im Jahre 1895; vgl. hierzu: Walter Müller-Seidel, Fontane und Bismarck, in: Nationalismus in Germanistik und Dichtung (1968) S. 172 ff. Bismarcks Nachfolger, S. 563. Vgl. Analytische Bibliographie der Briefe, Nr. 19 u. 20. Vgl. Analytische Bibliographie der Werke, Nr. 85.

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ten opernhaften Inszenierung mit Clara Ziegler als Penthesilea über die Bühne ging, seinen Lesern näher zu bringen versucht 66 . Von Anfang an trat er als Anwalt der deutschen Klassik auf, der er in den Lehrplänen der Universitäten den gebührenden Platz sichern wollte 67 . Durch die Veröffentlichung der drei Abschiedsbriefe Kleists an Marie, des gemeinsamen letzten Briefes von Henriette Vogel und Kleist an Peguilhen sowie der sogen. Todeshtanei hat er allerdings die „Geistesstörung" Kleists wieder ins Gespräch gebracht. Lindau gestand, daß die typische „Familienbelletristik" nicht das Ziel seines schriftstellerischen Ehrgeizes gewesen sei 68 . Im Vorwort zur ersten Nummer der Gegenwart hat er den Titel dieser Wochenschrift vielmehr als eine Verpflichtung gedeutet, „stets in der Wirklichkeit zu fußen, aber zugleich auf die Vergangenheit zurückzublicken, um in der Gegenwart zu wirken und zu streben für eine bessere Zukunft" 69 . Ein solches Unternehmen, „ohne den Bestand der Illustration und ohne das kräftige Zugmittel der erzählenden Dichtung, lediglich der ernsthaften Besprechung der politischen, kirchlichen, nationalökonomischen Tagesfragen, dem wissenschaftlichen Essay, der literarischen und künstlerischen Kritik" gewidmet, war damals kein geringes Wagnis 70 , zumal Lindau in seinem politischen und literarischen „Glaubensbekenntnis" die Absicht bekräftigte, „alle wichtigen Erscheinungen auf dem Gebiete des öffentlichen Lebens und geistigen Schaffens vom freisinnigen Standpunkt aus zu besprechen" 71 . Das Programm wurde jedoch durch einflußreiche Finanziers gestützt, und die Gegenwart erreichte vor allem die gebildeten Schichten des jüdischen Bürgertums, aber auch den europäischen Hochadel 72 ; Anhänger der ,modernen Literatur' sahen in Lindau einen berufenen Wortführer. Seine Widersacher dagegen, denen die frankophile Richtung 73 des Blattes, die „Obscönität" seiner Briefe an eine Freundin und sein Eintreten für 66

Paul Lindau: Uber Kleists Penthesilea. Vor der Aufführung. In: Die Gegenwart. Bd. 9, Nr. 18 (29. April 1876) S. 2 8 4 - 2 8 6 und:Penthesilea. Von Heinrich von Kleist. Nach der Aufführung. Ebda, N r . 19 (6. Mai 1876) S. 2 9 8 - 3 0 2 . Nach dem Bericht von Kurt Lowien (Die Bühnengeschichte von Kleists Penthesilea, Masch. Diss. Kiel 1922) wurde durch diese Aufführung die Gegnerschaft gegen das Werk „entschieden verstärkt".

67

Paul Lindau: Unsere Classiker und unsere Universitäten. In: Die Gegenwart. Bd. 2, N r . 32 (31. Aug. 1872) S. 1 3 8 - 14C. Der Aufsatz enthält u. a. den Vorwurf: „Was bei uns .Literaturgeschichte' heißt, ist altdeutsche Philologie, grammatisch und antiquarisch".

68

Paul Lindau: Nur Erinnerungen. Bd. 2 (2. u. 3. Auf. 1917) S. 308. Die Gegenwart. Bd. 1, N r . 1 (19. Jan. 1872) S. 1. Paul Lindau: Zum Abschiede. In: Die Gegenwart. Bd. 20, Nr. 39 (24. Sept. 1881) S. 205. Die Gegenwart. Bd. 1, Nr. 1 (19. Jan. 1872) S. 1. Dies geht u . a . aus dem Nachlaß Lindaus in der Sammlung Linhoff der Universitätsbibliothek Münster hervor, in dem sich „vor allem Schreiben des europäischen Hochadels" befinden, „der Lindau als Künstler sehr geschätzt zu haben scheint" (freundliche Mitteilung von Frau Dr. Ruth Steffen). Vgl. hierzu das Spottgedicht von Johannes Plerr (Herr Doctor Paul Lindau der umgekehrte Lessing. 2. Aufl. Breslau 1880, S. 24): Deutsch ist des Blattes Titel, / Die Sprache deutsch und rein: / Doch die französ'sche Sauce / Durchwürzt's pikant und fein".

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Wilbrandts „unsittliche" Römertragödie Ama

und Messalina

nicht paßte, verun-

glimpften ihn als „Moses des Theaters" 7 4 , als „Typus des Berliner Journalismus in seiner widrigsten Abart" und als „gefeierten Apostel der Berliner Banquierskreise und des champagnerumspülten commis voyageur" 7 5 . Franz Mehring nannte Lindau 1891 einen „kapitalistischen Soldschreiber" 7 6 . Die Gegenwart

war im Januar 1872 zu einem Zeitpunkt ins Leben getreten, als

„die heißesten Wünsche Deutscher Patrioten sich erfüllt hatten" 7 7 . In diesen ,Gründerjahren' entwickelte die deutsche Intelligenz ein neues Verhältnis zur schönen Literatur. Während die Patrioten der Literatur die Aufgabe zuwiesen, die erfolgreich zum Abschluß gebrachte nationalstaatliche Entwicklung zu rekapitulieren, suchten die „Modernen" den literarischen Geschmack zu verfeinern und ihre Erfahrungen im Umgang mit ästhetischen Phänomenen zu vertiefen. Der „verhältnismäßig große Erfolg" 7 8 sicherte der Gegenwart

schnell einen festen

Platz im literarischen Leben. Lindau war sogar überzeugt, daß während seiner Tätigkeit „ein nicht unwesentlicher Theil der geistigen Unterhaltung in Deutschland in der Gegenwart

geführt worden ist" 7 9 . Nach dem Rücktritt Lindaus von den

Redaktionsgeschäften 80 schrieb Zolling an den Sagenforscher und Dichter Wilhelm Hertz, daß er sich in diesen Blatte „noch immer und mehr als je in der ausgesuchtesten Gesellschaft" befinden werde 8 1 . - Bereits in der ersten von ihm redigierten Nummer der Gegenwart

veröffentlichte Zolling einen Kleist-Artikel 8 2 , am

16. September 1882 teilte er mit, daß er eine „erste kritische Kleist-Ausgabe" vorbereite 83 . Zolling hat zunächst in der Schweiz und in Paris umfangreiche Ermittlungen angestellt und dabei Zschokkes sowie Geßners handschriftlichen Nachlaß durch74

Johannes Plerr a . a . O .

75

Junius: Paul Lindau und das literarische Judenthum. Eine Controverspredigt aus der Gegenwart (Leipzig 1879) S. 2 8 - 2 9 . Vgl. auch Albert H a h n : Ein Mann unserer Zeit. Paul Lindau (Berlin 1876), der Lindau als Matador eines „lasciven, äußerlich lackierten, innerlich aber hohlen, plattköpfigen Materialismus" beschimpfte. Franz Mehring: Kapital und Presse. Ein Nachspiel zum Falle Lindau [und der Affäre um die Schauspielerin Frl. v. Schabelsky], Berlin 1891.

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Die Gegenwart. Bd. 1, N r . 1 (19. Jan. 1872) S. 1. Paul Lindau: N u r Erinnerungen. Bd. 2, S. 230. Paul Lindau: Z u m Abschiede. In: Die Gegenwart. Bd. 2 0 , S. 2 0 6 / 0 7 . Schon in seinem Abschiedsartikel weist Lindau die Gerüchte zurück, daß politische „Meinungsverschiedenheiten" einen Bruch mit dem Verleger Stilke herbeigeführt hätten. Als Grund für seinen Rücktritt nennt er später vielmehr den Umstand, daß das „Redigieren, Korrespondieren und allwöchentliche Aufsätze schreiben" ihn von größeren selbständigen Werken abgehalten habe (Nur Erinnerungen. B d . 2, S. 230). Brief vom 2 3 . September 1882 (Handschriften-Abteilung der Bayer. Staatsbibliothek München, Hertziana 129). Theophil Zolling: Ein Porträt zum Kleist-Tage ([fälschlich:] 10. October). In: Die Gegenwart. Bd. 20, N r . 41 (8. O c t . 1881) S. 2 3 6 - 2 3 8 . Vgl. den Text der Notiz im Kommentar (4, 1) zu den Briefen Zollings an Reinhold Köhler.

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gesehen. Doch die im Anhang seiner Studie Heinrich von Kleist in der Schweiz publizierten 38 „ungedruckten" Briefe enttäuschten. So schrieb ein Kritiker: „Die meisten dieser Briefe stehen inhaltlich betrachtet mit Kleist und seinem Aufenthalte in der Schweiz oder seiner dichterischen Entwicklung in keinem Zusammenhang, liefern dagegen zur Charakteristik der hier in Betracht kommenden Persönlichkeiten allerdings viele höchst interessante Züge" 84 . Zolling hat dann als erster das Kleist-Konvolut des Tieck-Nachlasses, außerdem das Manuskript der Familie Ghonorez (aus Dahlmanns Nachlaß) und die Sammlung Varnhagen ausgewertet. Bernhard Erdmannsdörffer stellte ihm das Manuskript des Prinz von Homburg zur Verfügung, Theodor von Kleist überließ ihm den Aufsatz, den sichern Weg des Glücks zu finden, und Graf York von Wartenburg machte ihm bislang unbekannte Stücke da Berliner Abendblätter zugänglich, deren Durchsicht zwölf weitere Beiträge Kleists ans Licht 85 brachten. Zolling war vielen Dingen auf der Spur. Er hat Erben interviewt, Bibliotheken bereist und Sammler bewogen, die in ihrem Besitz befindlichen Handschriften zur Veröffentlichung herauszugeben; so konnte er schließlich 24 unbekannte Kleist-Briefe 86 zusammentragen und mit 10 an versteckter Stelle publizierten in seiner Ausgabe vereinen. Mehrfach lag das Ziel greifbar nahe, doch blieb ihm der Erfolg versagt: er verhandelte über Kauf und Veröffentlichungsrechte der Briefe Kleists an Wilhelmine, das gerade erst gegründete Goethe-Archiv ließ neues Material erhoffen, und er scheint sogar die Besitzer der Briefe an Ulrike und Pfuel ausfindig gemacht zu haben. Am schmerzlichsten war die fehlgeschlagene Erwerbung der Briefe an Wilhelmine 87 . Es ist dennoch erstaunlich, wieviel Material er für die Biographie zusammengetragen hat und wieviel neue Handschriften durch ihn bekannt oder erstmals für die Textgestaltung berücksichtigt wurden. Daneben hat er das Verdienst, die Kleist-Literatur aufgearbeitet und ihre Ergebnisse in der Ausgabe verfügbar gemacht zu haben. In den Jahren 1883/84 legte Zolling den größten Teil seiner Funde in der Gegenwart vor. Der wichtigste dieser Aufsätze - erschienen unter dem Titel Nachträge zu Heinrich von Kleists Leben88 - stellte in der chronologischen Darbietung der neuaufgefundenen Quellen bereits eine Art Gerüst für die spätere Biographie dar. Anderes publizierte er, um möglichen Konkurrenten zuvorzukommen und zugleich Interesse für die Ausgabe zu erwecken. In der Hoffnung auf neue Funde 89 und im Hinblick auf die Schwierigkeiten der biographischen Darstellung hielt

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88 89

Philipp Kohlmann in seiner Rezension des Buches (Archiv für Litteraturgeschichte 11, 1883, S. 437). Vgl. Analytische Bibliographie der Werke, Nr. 6, 27, 8 7 - 8 9 . Vgl. Analytische Bibliographie der Briefe, N r . 24, 26a, 27, 28. Vgl. hierzu die Briefe von Karl Biedermann an Zolling sowie die Anmerkungen in Bd. 2, S. 168-186. Vgl. Analytische Bibliographie der Briefe, Nr. 24. Vgl. hierzu Zollings Brief an Reinhold Köhler vom 4. Mai 1885.

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Zolling den ersten Band seiner Ausgabe vorerst zurück und brachte mit ihm wahrscheinlich Ende 1885 - das Unternehmen zum Abschluß 9 0 . Die Einleitung zum ersten Band, die „eigentlich nicht viel mehr als ein Nachtrag zu den Monographien von Julian Schmidt und Wilbrandt sein" will 9 1 , wuchs zu einer hundert Seiten umfassenden Biographie an, die zusammen mit den literarischen Einleitungen zu den einzelnen Abteilungen der Ausgabe eine eigene Publikation über Leben und Werk Kleists abgegeben hätte. Man wird der Ausgabe Zollings nicht gerecht, wenn man diese Teile aus der Betrachtung der Editionsgeschichte ausschließt. Sie bilden das Fundament der Edition und spiegeln den Stand der Kleistforschung in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Seit Wilbrandts Kleistbiographie, die der Verleger inzwischen zu Antiquarpreisen verkaufte 9 2 , waren zwanzig Jahre vergangen. Trotz ihres geringen Erfolges war eine zweite, überarbeitete Auflage fällig. „Mit Rücksicht auf den Zuwachs von neuem Wissensstoff" 9 3 , auch wohl nicht zuletzt im Hinblick auf Zollings erschöpfende Darstellung hat Wilbrandt sie nicht mehr in Angriff genommen. - Etwa zur gleichen Zeit wie Zolling beschäftigte sich auch Karl Siegen, der 1877 eine Edition der Ausgewählt en Dramen94 besorgt hatte, mit der Biographie Kleists und publizierte einen Teil seiner Forschungsergebnisse in der Gegenwart95; eine zusammenhängende Darstellung legte er erst in seinen Kleistausgaben von 1895 und 1899 vor 9 6 . Zolling hat seine Materialien mit Fleiß zusammengetragen, gesichtet und verwertet. Er hat zunächst Julian Schmidts und Wilbrandts Biographien als Grundriß benutzt, ist aber sowohl im Faktischen wie auch in der Darstellung über beide hinausgelangt. Vor allem trugen die zahlreichen neuen Briefe dazu bei, das Lebensbild Kleists auszugestalten. Seinen Quellen stand er im ganzen kritisch gegenüber, auch wenn er gelegentlich fremde Meinungen, die in sein Konzept paßten, übernahm. Noch nach Abschluß der Ausgabe hat er - wie die Eintragungen in sein 90

91 92 93

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Die Lieferungen der einzelnen Bände erschienen in folgender Reihenfolge: Bd. 4 = Lfg. 202,203,205,206. Bd. 3 = Lfg. 223,225,226,227. Bd. 2 = Lfg. 233,235,236,239. Bd. 1 = Lfg. 251,252,257,269. - Am 31. Oktober 1885 schreibt Zolling in der Gegenwart, der letzte, d. h. erste Band sei längst gedruckt und das Erscheinen habe sich „wegen eines neuen Porträts von Kleist" verzögert. Band 1, Einleitung, S. CHI. Nach einer Mitteilung von Karl Siegen (vgl. Anm. 12). Anton Bettelheim, in: Adolf Wilbrandt. Zum 24. Aug. 1907. Von seinen Freunden (Stuttgart u. Berlin 1907) S. 63. Ausgewählte Dramen. Mit Einl. u. Anm. hrsg. v. Karl Siegen, T. 1.2. Leipzig: F. A. Brockhaus 1877. (Bibliothek der deutschen Nationalliteratur d. 18. u. 19. Jh. s. 41. 42). Karl Siegen: Heinrich von Kleist und seine Familie, in: Die Gegenwart. Bd. 21, Nr. 19 (13. Mai 1882) S. 292-296. Sämtliche Werke. Mit e. biogr. Einl. von Karl Siegen. Bd. 1 - 4 . Leipzig: Fock [1895], Sämtliche Werke. Hrsg. v. Karl Siegen. Mit des Dichters Biographie u. Porträt, e. Abb. seiner Grabstätte u. e. Brief [an Ulrike v. Kleist vom 26. Okt. 1803] in Faks. Bd. 1 - 4 . Leipzig: Hesse [1899]. In verb. u. erw. Form wiederaufgelegt 1902 u. 1914 ( = Max Hesses Neue Leipziger Klassiker-Ausgaben.)

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Handexemplar zeigen - weiterhin Material gesammelt und teils ergänzend, teils korrigierend in die Biographie eingeordnet. In der äußeren Darbietung strebte er eine Verbindung von Lebensbeschreibung und quellenmäßiger Dokumentation an, hinter der die eigenen Urteile zurücktreten sollten. Das führte zu einer Uberfülle von Briefauszügen, zu Zitat-Montagen und Fußnoten-Nestern. Dennoch hat er die große Linie bewahrt und ein in sich geschlossenes Lebensbild gezeichnet. Die Tendenz seiner Biographie findet sich schon in seinem Buch Heinrich von Kleist in der Schweiz91 angedeutet: „Der Biograph hat den traurigen Prozeß zu beschreiben, wie diese unselige Gemütslage seine Seele überwuchert, sein Genie verdunkelt, seinen Körper zerrüttet und mit grauenhafter Folgerichtigkeit den freiwilligen Tod herbeiführt". Erst die Biographische Einleitung Erich Schmidts h a t nicht zuletzt unter dem Einfluß Diltheys - diese Methode des bloßen Beschreibens überwunden. Das äußerlich auffälligste Kennzeichen der Zollingschen Ausgabe ist die Fußnoten-Einrichtung für Lesarten und Anmerkungen. Durch dieses nach Karl Lachmann aus der klassischen Philologie auf Werke der altdeutschen Philologie sowie der neueren deutschen Literatur übertragene Verfahren wurde es möglich, die aus den Handschriften gewonnenen Ergebnisse neben den Druckvarianten in die unmittelbare Nähe des Textes zu rücken und zugleich die Meinungen der Textkritiker zu verzeichnen. Es ist das Verdienst Zollings, den Leser erstmals in Verbindung mit dem Text selbst über solche Einzelheiten informiert zu haben. Aus vorwiegend ästhetischen, aber auch aus praktischen und technischen Gründen haben sich spätere Editoren von dieser Methode abgewandt und separaten Kommentaren den Vorzug gegeben. Vor- und Nachteile beider Verfahren sind abzuwägen. Der Vorteil liegt in der sofortigen Rückgriff-Möglichkeit vom endgültigen Lesetext auf die Lesarten und in der schnellen Verständnishilfe bei Wörtern und Namen, die einer Erläuterung bedürfen; beides kommt einer kursorischen Lektüre des Textes sehr zugute. Der Nachteil liegt in der zwangsläufig isolierten Darbietung von Varianten, die ein Lesen von Vorstufen in .organischem' Zusammenhang unmöglich macht. Im Falle der Familie Ghonorez entschloß sich Zolling, den Text der Handschrift im Anschluß an die Familie Schroffenstein vollständig abzudrucken, der als Apograph vorliegenden frühen Fassung der Penthesilea dagegen erkannte er keinen eigenen Wert zu. Ein anderer Nachteil liegt in der Vermengung von Lesarten und Worterklärungen, so vorteilhaft dieses Verfahren auf den ersten Blick auch erscheinen mag. Hier werden zwei Interessenbereiche zusammengebracht, die ursprünglich nichts miteinander zu tun haben. Dies war allerdings in vielem die Folge einer weitverbreiteten Unsicherheit im Umgang mit Handschriften, bzw. mit Varianten überhaupt und des Fehlens allgemein-verbindlicher Richtlinien für eine differenzierte Zuordnung handschriftlicher Textzeugen zu den gedruckten Überlieferungsträ97

S. 1/2.

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gern. So darf nicht vergessen werden, daß Manuskripte damals mehr oder weniger nur als Steinbrüche für ,bessere' oder ,wahlweise' Lesungen angesehen wurden, und daß es dem Herausgeber nach dem Maß seines Beurteilungsvermögens überlassen blieb, was er im Text, bzw. Apparat berücksichtigen wollte. Beruhte seine Textkonstitution auf autorisierten ,letzten' Fassungen, so legte er sich bei der Variantenwiedergabe größte Zurückhaltung auf, aber auch wenn er sich für , Vorstufen' interessierte, hatten die Varianten die Funktion bloßer Anmerkungen. Nach den Vorstellungen Kürschners sollten „übersichtlich angeordnete Registerbände" die „Nutzbarkeit des ganzen Werkes" erhöhen 9 8 . Zolling bietet ein fünf Seiten umfassendes „Wortregister", das den sprachlichen Aspekten erstmals einen eigenen.Wert zuerkennt, wenn es auch in seiner bescheidenen Auswahl charakteristischer Worte und Wendungen für eine Analyse des Kleistschen Stiles wenig hilfreich ist. Er scheint dabei zunächst nach keinem festen Plan vorgegangen zu sein, sondern mehr oder weniger gefühlsmäßig auffallende Stellen angestrichen und gesammelt zu haben. Sichtbar wird jedoch die Tendenz, die vom allgemeinen Sprachgebrauch abweichenden und zugleich für Kleist bezeichnenden Worte festzuhalten. So begegnet man z. B. den altertümlichen' Worten Eigner, Gewinnst, Marmel und Wittib, speziell märkischen Prägungen wie Hütsche, Plumpe, Riegel 1 = Bengel) und Schubjak, ausdrucksvollen Wortbildungen wie Flammenzorn, Funkelpracht und Schreckenspomp, aber auch Kompositagruppen (Blitz-Element, Blitz-Hmketeufel, Blitzjunge; Donnersturz, Donnerwetterkerl, Donnerwetterpost/ und Metaphern (.Phiolen der Empfindung, Purpur der Freude, Senkblei des Gedankens); daneben werden einige Worte vermerkt, zu denen sich erklärende Bemerkungen in den Fußnoten finden, z.B. anklotzen, beigeflügelt, durchmurmeln, geschicklos, lustfeucht. Es ist hier an das Deutsche Wörterbuch der Brüder Grimm zu erinnern, das-seit 1875 mit Mitteln des Kaiserlichen Dispositionsfonds unterstützt - nach einer Zeit der Stagnation damals wieder stärker ins Bewußtsein der Öffentlichkeit gerückt war. Dem Wörterbuch liegt der Gedanke zugrunde, die Sprache so darzulegen, „wie sie sich in den letzten drei Jahrhunderten von Luther bis Göthe selbst darstellt. Man soll daraus ersehen wie man in diesem Zeitraum gesprochen hat, allerdings auch wie man gegenwärtig spricht, aber es wird nicht entschieden wie man sprechen soll" 99 . Diese „ganz geschichtliche Haltung" schließt nicht aus, daß „alle Wörter von Schönheit und kraft seit Luthers zeit [. . .] zur rechten stunde wieder hervorgeholt und neu angewandt werden" 1 0 0 . Voraussetzung war eine möglichst

98 99

100

Nach dem Text des Prospektes. Wilhelm Grimm an Friedr.Carl v. Savigny (Briefe der Brüder Grimm an Savigny. Hrsg. in Verb, mit I. Schnack von Wilhelm Schoof (Berlin 1953) S. 4C2 f. Jacob Grimm an Karl Lachmann v. 24. '31. Aug. 1838 (Briefwechsel der Brüder Jacob u. Wilhelm Grimm mit Karl Lachmann. Hrsg. v. Albert Leitzmann. Bd. 1 (Jena 1927) S. 688.

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umfassende Exzerption der Werke deutscher Schriftsteller. Mit seinem Register wollte Zolling offensichtlich dazu beitragen, diesen ,Thesaurus', aus dem nach Jacob Grimm die neueren Schriftsteller „den reichthum der vollkommen anwendbaren spräche ersehen und lernen" 1 0 0 können, durch Kleistsches Wortmaterial 1 0 1 zu bereichern. Angesichts der großen methodischen Unsicherheit und der praktischen Schwierigkeiten eines Klassiker-Wortregisters hat seitdem keine KleistAusgabe dieses Experiment in größerem Rahmen wiederholt. Es ist leicht, Zolling zahlreiche Inkonsequenzen bei der Exzerption der Werke für das Wortregister nachzuweisen. Daß er ein starkes Einfühlungsvermögen in den Kleistschen Stil besaß, zeigen seine bis heute nicht angefochtenen Zuschreibungen von zwölf Beiträgen Kleists 1 0 2 in den Berliner Abendblättern.

Nur in ei-

nem Fall, dem Mord aus Liebe ( B A 7 . Januar 1811), irrte ersieh gründlich 1 0 3 , doch ist gerade dieser Text für die auf Grund von Stilanalysen so schwer abzusichernde Verfasser-Identifizierung besonders lehrreich. Zolling hat sich vermutlich nicht primär durch den Stil, sondern durch das Sujet, den „ T o d des, wie Adolfine Vogel, unheilbar kranken und daher lebensmüden Fechtmeisters und seiner Geliebten", leiten lassen, in dem er „eine erschütternde Ähnlichkeit mit Kleists und seiner Todesgefährtin tragischem E n d e " 1 0 4 wiederfand. Als typisch Kleistsche Wendungen nennt er: „auf . . . gestützt, hierauf, indem, sogleich, indessen, darauf"; sie reichen als Kriterien für die Zuschreibung nicht aus. Nun hat es sich Zolling wie man nach der kurzen Begründung in der Einleitung glauben könnte - auf der Suche nach Stilkriterien keineswegs leicht gemacht. Es sei daher der Text zusammen mit den Wort-Unterstreichungen wiedergegeben, die Zolling im Handexemplar seiner Ausgabe vorgenommen hat 1 0 5 . Die Wiedergabe läßt ein systematisches Vorgehen und den Versuch erkennen, nicht nur einzelne Stilmomente, sondern mit Hilfe der syntaktischen Verknüpfungen eine bestimmte Stilebene zu finden, die eine sichere Zuschreibung 1 0 6 erlaubt. 101

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Die Brüder Grimm exzerpierten Kleists Werke nach den Originalausgaben (vgl. hierzu Helmut Sembdner in:Jahrbuch d. dt. Schillerges. 9,1965, S. 442-446). Später griffen die Bearbeiter auf die Ausgabe Julian Schmidts und nach 1905 auf die Ausgabe Erich Schmidts zurück (vgl. Deutsches Wörterbuch, Quellenverzeichnis, Leipzig 1971, S. 468/69). Vgl. Analytische Bibliographie der Werke, Nr. 87-89. Vgl. Bibliographie der Fehlzuweisungen und kontroversen Texte, Nr. 13. Ausgabe Zollings Bd. 4, S. 266. Bd. 4, S. 381 f. Auf den durchschossenen Blättern sind zusätzlich die Worte „daselbst, auf . . . gestützt, schrecklichst, allein ehe, ganz gleichgültig 191, 30, Augenblick der, Hierauf" vermerkt. Während Zolling (im 4. Band, S. 266) noch von einer „angeblichen Ubersetzung einer französischen Zeitungsnotiz" spricht, trägt er in Band 1 (S. LXXXV) nach, daß die Anekdote „wirklich eine freie Ubersetzung aus dem Französischen ist". Durch den Quellenfund (Journal Encyclopédique, Bd. 4, 1770, S. 543) scheint Zolling unsicher geworden zu sein, so daß er im Handexemplar eine erneute Prüfung des Sachverhaltes unternahm. Sein Urteil fällt jetzt vorsichtiger aus: „Die Übertragung hat Kleist wohl selbst verfaßt".

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Kleist im Klassiker-Programm der großen Verlage Mord aus Liebe.

Man hat vor einiger Zeit in den öffentlichen Blättern gelesen, daß ein Paar Liebende sich gegenseitig aus Verzweiflung in einem Augenblicke getödtet hatten. Ein ganz gleicher Vorfall ereignete sich im Jahre 1770 zu Lyon. Die Erzählung desselben findet sich in dem Journal Encyclopédique von diesem Jahre. Ein italienischer Fechtmeister, Namens Faldoni, heißt es daselbst, hatte sich bei seinen Uebungen einen solchen Schaden zugefügt, daß die Wundärzte, welche ihn zu behandeln hatten, erklärten, er müsse bald daran sterben, weshalb er sich immer auf seinen Tod vorbereiten möchte. Der Unglückliche liebte seit einiger Zeit mit der heftigsten Leidenschaft ein Mädchen, von dem er wieder geliebt wurde. Beide Liebende geriethen durch diese Erklärung der Wundärzte Anfangs in àieheftigste Verzweiflung. Der eifersüchtige Italiener konnte sich nicht entschließen, seine Geliebte in der Welt zurückzulassen, und diese betheuerte, sie würde ihn nicht zu überleben vermögen. Auf diese Versicherung gestützt, brütete von nun an Faldoni über dem schrecklichsten Gedanken; allein ehe er ihn ausführte, wollte er die Wahrheit der Gesinnung seiner Geliebten auf die Probe stellen. In einem Augenblicke der Zärtlichkeit und des Schmerzes ließ er sie mehrmals wiederholen, daß ihr ohne ihn das Leben ganz gleichgültig, ja verhaßt sei. Hierauf zog er ein Fläschchen aus der Tasche und sagte: das ist Gift! und sogleich verschlang er es. Außer sich vor Schmerz, entriß ihm seine Geliebte den Rest, und schluckte ihn begierig hinunter. Allein nun gestand er ihr, daß er bloß ihre Liebe und ihren Muth habe auf die Probe stellen wollen. Mit schmerzlicher Freude theilte er einem Freunde den gemachten Versuch mit. Dieser nahm ihm seine Waffen weg, und bemühte sich, ihn von den düstern Ideen, die ihn quälten, zu befreien. Der Kranke stellte sich beruhigt, und äußerte, gegen die Meinung der Aerzte die Hoffnung, seinen Unglücksfall zu überleben, indem et vorgab, es habe ihm ein Wundarzt in einer entfernten Stadt versprochen, ihm das Leben zu erhalten. Unter diesem Vorwande trat er die Reise an. Einige Tage darauf bat das Mädchen ihre Aeltern, sie möchten ihr erlauben, in ihrem Landhause zu Ivigny an den Ufern der Rhone, 2 Stunden von Lyon, der Landluft auf einige Zeit zu genießen. Der Italiener begab sich sogleich, mit 2 Pistolen versehen, dahin. Das Mädchen schrieb nun an ihre Aeltern einen Brief, worin sie auf ewig von ihnen Abschied nahm. Nachdem sie hierauf alle Bedienten entfernt hatten, verschlossen sich die Liebenden in die Hauskapelle. Hier setzten sie sich am Fuße des Altars nieder, und schlangen mit dem linken Arme ein Band um sich. Jedes hielt ein Pistol auf das Herz des andern, und mit Einer Bewegung gingen beide Pistolen los und durchbohrten die Brust von beiden mit Einem Male. Die Mutter war indessen, um den unglücklichen Plan zu vereiteln, sogleich, in der größten Eile von Lyon abgereist, allein sie fand nur die entseelten Körper fest an einander geschlossen. Ihre Tochter hatte die Augen mit einem Tuche verbunden, Faldoni aber sein Gesicht mit seiner Redingote verhüllt. Der Liebhaber war 30, und seine Geliebte 20 Jahr alt.

T r o t z aller scheinbar erreichten .Beweiskraft' des Stils, handelt es sich bei dem Text um den N a c h d r u c k eines ebenfalls anonym erschienenen Beitrages aus der Zeitung für die elegante respondenten

Welt v o m 18. Dezember 1810 und dem Nürnberger

Kor-

vom 2 9 . Dezember 1810. W a s also Zolling als Eigentümlichkeit des

Kleistschen Stils erschien, erweist sich als Kennzeichen eines Stils, in dem - ebenso wie bei Kleist selbst - individuelle Prägungen und Konventionen verschmolzen sind. D e r Verfasser, b z w . Ubersetzer wäre in diesem Fall nur durch neues Quellenmaterial zu bestimmen. Zolling war überzeugt, eine für lange Zeit gültige Kleist-Ausgabe geschaffen zu haben; sein wissenschaftliches R e n o m m é e wurde jedoch durch zwei Schüler Erich

Kleist im Klassiker-Programm der großen Verlage

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Schmidts erschüttert. Die Kritik kam nicht zufällig aus den Kreisen der Universitätsgermanistik, in denen man Zolling, der sich nach ihrer Meinung in ein ihm nicht zustehendes Arbeitsgebiet gedrängt hatte, von vornherein skeptisch gegenüberstand. Der Streit begann noch vor Abschluß der Ausgabe, nachdem Zolling am 12. September 1885 Otto Brahms preisgekrönte Schrift über Kleist 107 in der Gegenwart ungünstig besprochen und erklärt hatte, Brahm sei zwar in den ästhetischen Analysen „in mehrfacher Beziehung über Wilbrandt hinausgelangt", der biographische Wert der Darstellung sei jedoch „gleich null" 1 0 8 . Am härtesten scheint Brahm durch den - nicht ganz unberechtigten - Vorwurf getroffen worden zu sein, daß er „im eilfertigen Bestreben, sich am Preisausschreiben des Allgemeinen Vereins für Litteratur zu beteiligen," auf jede eigene Forschung verzichtet und von neuen Quellen „nur notdürftige Kenntniß genommen" habe und daß er im übrigen in der Charakteristik Kleists unselbständig sei. Schon am 21. Oktober erhob Brahms Freund Paul Schienther in der Frankfurter 7.eitu,ng gegen Zolling den Vorwurf des Plagiats, den Zolling wenige Tage später zu entkräften versuchte und der über eine wiederum belastende Erwiderung Schienthers zu Otto Brahms , Abrechnung' mit Zolling führte 109 . Die Schärfe der Auseinandersetzung wird erst vor dem Hintergrund der Wiener Pläne Erich Schmidts für eine eigene historisch-kritische Kleist-Ausgabe voll verständlich. Zolling hatte diese Pläne durchkreuzt und mußte folglich damit rechnen, daß man seiner Edition besondere Aufmerksamkeit zuwandte. Persönlich stand er Schmidt 110 keineswegs feindlich gegenüber, wie auch die Scherer-Schule von ihm nicht angegriffen wurde. Anläßlich des Erscheinens der Literaturgeschichte Scherers schrieb er vielmehr: „Die streng philologische Schule beweist mit diesem Werke ihres Führers, daß sie nicht, wie ihre Gegner behaupten, nur schnüffeln und zersetzen, sondern auch aufbauen und congenial über Dichtung und Dichter schreiben kann" 1 1 1 . Vorbehalte gegenüber Zolling mußten dort ent-

107

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111

Otto Brahm: Heinrich von Kleist. Gekrönt mit dem ersten Preise des Vereins für Deutsche Literatur. Berlin 1884. Theophil Zolling: Neues über Heinrich von Kleist. In: Die Gegenwart. Bd. 28, Nr. 37 (12. Sept. 1885) S. 166-167. Otto Brahm: Kleist-Studien von Zolling und-Anderen. In: Die Nation. Jg. 3, Nr. 6 (7. Nov. 1885) S. 84-86. In seinem Brief an Reinhold Köhler vom 23. Aug. 1882 spricht Zolling von Erich Schmidt als seinem „Freund". - E. Schmidt publizierte in der Gegenwart die Aufsätze Diderot und Lessing (Bd. 21, Nr. 9 u. 10, vom 4. u. 11. März 1882, S. 133-136 u. 153-155),Z«m 22. März 1822 (Bd. 21, Nr. 12, vom25. März 1882, S. 181-182)undßrt Jugendstück Lessings (Bd. 26, Nr. 38, vom 20. Sept. 1884, S. 181-183). Die Gegenwart. Bd. 20, Nr. 42 (15. Oct. 1881) S. 259. - Im gleichen Band erschienen von Wilhelm Scherer die Aufsätze über die Anfänge des modernen Geschmacks in der deutschen Literatur (Nr. 40, vom 1. Oct. 1881, S. 216-217) und die Anfänge des modernen Theaters in Deutschland (Nr. 51, vom 17. Dez. 1881, S. 402 - 404).

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stehen, wo Zolling den Ansprüchen dieser Schule nicht gerecht wurde und entgegen seiner Uberzeugung, streng nach der philologischen Methode zu arbeiten, dilettantische Momente offenbarte, die zum Teil aus seiner autodidaktischen Vorbildung, zum Teil aber auch aus seiner anderen Auffassung vom wissenschaftlichen Edieren verstanden werden müssen. Wie jeder in die Selbstverteidigung gedrängte Kritiker war Brahm in einer schlechten Position; er konnte seinen Ärger nur schwer unterdrücken und brachte einen gehässigen Ton in die Auseinandersetzung. Sieht man von den Plagiatsvorwürfen 112 ab, die heute mehr vom Montagecharakter der Einleitungen Zollings her zu beurteilen sind, so hat er dennoch die schwachen Stellen der Ausgabe richtig erkannt. Es geht im wesentlichen um zwei Mängel: 1. Zolling unterschätzte die handschriftlichen Probleme und hat zudem zahlreiche Fehler in die Ausgabe eingeschleppt. Die zwei von Brahm angeführten Beispiele, daß Zolling Fehler aus den Drucken übernimmt, die sich mit Hilfe der Handschriften leicht hätten korrigieren lassen 113 , sind keine Einzelfälle. Vor allem im Detail bemerkt man immer wieder, daß Zolling und seine beiden Helfer Hermann Brandes und Oskar Bulle 114 die verschiedenen Uberlieferungsträger nicht intensiv genug verglichen haben. 2. Das Kommentierungssystem, durch Kürschner in Grundzügen festgelegt, vermag Wissenschaftlichkeit und Popularisierungswünsche nicht zu vereinen. Zolling erklärt nach Brahms Auffassung „Dinge, die keiner Erklärung bedürfen und gibt die wunderlichsten Beispiele von Kommentatorenweisheit". Es bedarf einer näheren Untersuchung, wie weit sich bei Zolling wirklich „Belehrungssucht" ausspricht und welche Prinzipien seinen Anmerkungen zugrundeliegen. Wie Zolling im einzelnen vorgegangen ist, läßt sich am besten am Prinz von Homburg zeigen, da die Uberlieferung dieses Werkes leicht zu überschauen ist. Auf Grund der gerade erst bekannt gewordenen Abschrift mußten selbständige textkritische Entscheidungen getroffen werden. Auch die Sacherläuterungen fordern bevorzugtes Interesse, denn der Prinz von Homburg ist das am häufigsten kommentierte Werk Kleists; drei Jahre vor Zollings Ausgabe war der Schulkommentar von Heinrich Weismann 115 erschienen, und mit dem Kommentar von Reinhard Kade 1 1 6 setzte 1888 geradezu eine Kommentierungswelle ein. Hier ist nach den von Zolling gesetzten Akzenten zu fragen. 112

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Vgl. hierzu den Abschnitt Die Arbeitsweise Theophil Zollings. Montage und,Plagiat' in Bd. 2, S. 104-112. Zolling hat die beiden von Brahm monierten Stellen (Der Zerhrochne Krug, V. 213/214 und Penthesilea, V. 1785) erst im Handexemplar seiner Ausgabe (II, 16 u. 371) korrigiert. Vgl. Bd. 1, Einleitung, S. CV. Heinrich von Kleist: Prinz Friedrich von Homburg. Schulausgabe mit Einl. u. Anm. v. Dr. Heinrich Weismann. Stuttgart: Cotta 1882. (Schulausgaben Deutscher Klassiker.) Heinrich von Kleist: Prinz Friedrich von Homburg. Mit Einl. u. Anm. v. Reinhard

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Kleist im Klassiker-Programm der großen Verlage Zolling bietet in den Fußnoten zum Prinz von Homburg

14 Erklärungen von

Orts- und Personennamen, an 31 Stellen geht er auf die Wortbedeutung ein, und neben zahlreichen Querverweisungen auf einzelne Stellen innerhalb des Schauspiels finden sich 20 Parallelverknüpfungen mit den übrigen Werken Kleists. Mit 80 Angaben zu einzelnen Stellen, an denen Zolling vorwiegend Varianten notiert und gelegentlich Lesungen begründet, nehmen die textkritischen Anmerkungen den größten Raum ein. Der Kommentierungsrahmen ist zunächst durch das historische Sujet des Stükkes abgesteckt, so daß der heute antiquiert wirkende, damals aber durchaus folgerichtige Versuch, die verschiedenen Vorgänge und Namen mit den geschichtlichen Begebenheiten zu identifizieren, an erster Stelle steht. Daneben zeigen sich Ansätze, auch literarische Reminiszenzen Kleists 1 1 7 festzuhalten. Die eigentliche Quellenfrage (mit Abdruck einschlägiger Stellen) und das Problem dichterischer Verarbeitung werden in der Einleitung erörtert. Noch Richard Samuels

Homburg-

Kommentar ist, wenn auch mit viel umfangreicherem Material und Interpretationsschwerpunkte bildend, nach dem gleichen Prinzip angelegt. Es mag freilich unnütz erscheinen, wenn Zolling den Namen des Rittmeisters Stranz von dem in den Quellen genannten Oberstlieutnant Hans Christoph von Strauß herleitet oder den Namen Fehrbellin („nach der Fähre Fähr-Bellin genannt") erklärt, doch ist davon auszugehen, daß der historisch gebildete und an der brandenburgischpreußischen Geschichte interessierte Leser von 1885 solche Erklärungen in den Anmerkungen suchte. Was Zolling letztlich transparent machen wollte, waren die .poetischen Freiheiten' Kleists, und er hat damit einen Interpretationshorizont vorgezeichnet, der auch heute noch Beachtung verdient. Bei der Textkonstitution ging Zolling von der Beurteilung des Manuskriptes aus, die Bernhard Erdmannsdörffer 1874 nach einem ersten Textvergleich in den Satz zusammengefaßt hat: daß das Manuskript „fast ausnahmslos in allen Fällen zu Gunsten der ersten Tieckschen Originalausgabe und gegen die nachmals von Tieck und Schmidt aufgenommenen Textesänderungen zeugt" 1 1 8 . Aus dieser Perspektive ergab sich die Konsequenz, der Ausgabe den Text der Schriften

hUnterlassenen

zu Grunde zu legen, jedoch nicht die Verpflichtung, alle Abweichungen

des Textes der Gesammelten

Schriften

von 1826 zu notieren. Aber gerade dies hat

Zolling getan: in den 30 Fällen, bei denen er die Fassung derHinterlassenen Schriften wiederherstellte, sowie in zwei Fällen, wo er sich für Tiecks Emendationen

117

118

Kade. Wien: Graesser 1888. (Graessers Schulausgaben classischer Werke, unter Mitw. mehrerer Fachmänner hrsg. v. Prof. J. Neubauer. 37.) Zu V. 393 („Gradation der Schnelligkeit" in Anlehnung an die Faust-Szene des Puppentheaters), 1319 ff. (Shakespeare-Reminiszenz) und 1830 (Klopstocks OAeAn Fanny). Verszählung nach Sembdner. Preußische Jahrbücher. Bd. 34 (1874) S. 205.

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entschied 1 1 9 ; in einem Fall bietet er eine eigene Lösung an 1 2 0 . Das Verfahren, jeden von der Handschrift eindeutig widerlegten Texteingriff Tiecks zu notieren, wäre editorisch nur zu rechtfertigen, wenn man eine weitere Handschrift als Textvorlage voraussetzte. Zolling scheint jedoch an den Leser gedacht zu haben, der das Werk bisher nur aus den Tieck-Schmidtschen Gesamtausgaben kannte und dem er die Gelegenheit geben wollte, sich mit den Varianten auseinanderzusetzen. Diese Absicht kommt vor allem dort zum Ausdruck, wo er die Emendationen mit den Worten „Wie nichtssagend!" und „Tieck und Schmidt ändern überflüssigerweise" 1 2 1 kommentiert. An 42 Stellen verzeichnet Zolling die Lesarten der Handschrift. Er bietet damit nur einen Bruchteil der tatsächlich vorhandenen, wenn auch meist geringfügigen Abweichungen zwischen dem Text der Handschrift und dem Text der Hinterlassenen Schriften. Davon beziehen sich lediglich zwei Notationen 1 2 2 auf Stellen, die auf Grund des handschriftlichen Befundes verbessert wurden, zwei weitere auf Emendationen Julian Schmidts 1 2 3 , drei auf anscheinend eigene Verbesserungsversuche 1 2 4 und zwei auf allgemein anerkannte Konjekturen 1 2 5 . In 32 Fällen übernimmt Zolling Tiecks Änderungen von 1821, obgleich die Handschrift fast überall vertretbare Lesungen aufweist, die heute längst nicht mehr umstritten sind. Acht Texteingriffe betreffen rhythmische Divergenzen 1 2 6 , vier ungewöhnliche grammatikalische Konstruktionen 1 2 7 und fünf die Änderungen von „ O h e i m " zu „ O n kel" 1 2 8 . Aufschlußreich für das Einverständnis mit Tiecks Textentscheidungen sind vor allem die fünfzehn Eingriffe in das Sinngefüge des Textes, die hier eingehend behandelt werden sollen, weil sie zeigen, daß sich auch Zolling noch nicht völlig von der Verbesserungsmanie seiner Vorgänger befreit hat 1 2 9 : V.712/14:

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Kurfürstin. Hinweg, sag' ich! Im Wagen mehr davon! Der Prinz von H o m b u r g . K o m m t , gebt mir euren A r m ! - O Cäsar Divus!

V. 1659: Nichts Rührenders (wie Handschrift) und V . 1796: Seraphim' (gegen Handschrift: Seraphin). Bühnenanweisung nach V . 934. Handschrift: Er nimmt eilig einen Mantel um von der Wand. Tieck 1826: Er nimmt eilig einen Mantel um. Julian Schmidt: er nimmt eilig einen Mantel von der Wand. Zolling: Er nimmt eilig einen Mantel von der Wand um. Vgl. V . 991: „ L i e g t in zwei engen Brettern duftend (Tieck > l e b l o s ) morgen" und V . 1091: „ O dieser (Tieck > d i e s e n ) Fehltritt". V.255 (Hackelbüsche) und V.1059 (Rührenders), wie schon Tieck 1826. V.355 ( D u , dem der Windeshauch [. . .]), wie schon G o m p e r z , und V.907 (rechte Seit). V.1012, 1181, 1459. V.905 (Tyrannenreihe), nach G o m p e r z u. V . 1046 ( T h u m ) , nach Tieck. V.136, 399, 697, 929, 1278, 1490, 1596, 1809. V.233, 1214, 1715, 1851. V.1087, 1094, 1109, 1140, 1145.

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Die Leiter setz' ich an, an Deinen Stern! (er f ü h r t die Damen ab; Alle folgen) Tieck zieht die Aufforderung „ K o m m t , gebt mir euren Arm!" - nach Sembdner (I, 951) „wohl aus Etikettegründen" - zur Rede der Kurfürstin. Diese und der Prinz sprechen jeweils in der 2. Person sing, miteinander. Warum sollte der Prinz am Ende der Szene ins höfische Zeremoniell zurückfallen? Gemäß der Bühnenanweisung: „er führt die Damen ab" kann „euren Arm" auch als Pluralform aufgefaßt, muß aber dann dem Prinzen zugesprochen werden. V.747/49:

Der Kurfürst. Mithin hast D u die Reuterei geführt? Der Prinz von H o m b u r g , (sieht ihn an) Ich? Allerdings! 130 M u ß t D u von mir [dies] das hören? - Hier legt' ich den Beweis zu Füßen Dir. Die verhängnisvolle Bestätigung f ü h r t unmittelbar zum Befehl der Degenabnahme und der Gefangensetzung des Prinzen. Das Demonstrativpronomen bringt eine betont dramatische Schärfe in den Dialog. Tiecks neutraleres „das" dagegen schwächt diese spannungsvolle Konstruktion von Rede und Gegenrede; er scheint den mehrfachen ¡-Klang als störend empfunden zu haben. V.775/76:

Hohenzollern (entfernt sich von ihm). Es wird den Hals nicht kosten. Golz (ebenso). Vielleichtf, daß] bist D u schon morgen wieder los. Vielleicht in Anlehnung an V.792 ( „ N u n , des Arrestes bin ich wieder los?") hat Tieck einen .vollständigen' Satz gebildet, obgleich abruptes Sprechen in der Erregung des Augenblickes realistisch wirkt. Im Zusammenhang mit den beruhigenden Worten Hohenzollerns erreicht Kleist eine Redevariation, die das Kameradschaftliche im Verhalten der beiden Offiziere schlagartig z u m Ausdruck bringt.

V.918/19:

Hohenzollern. U n d sein Geschäft geht, wie man hier versichert, An die Prinzessin von Oranien. V.918 ist zweifellos rhythmisch inkorrekt. Nach Sembdner (1,952) hat der Kopist „wahrscheinlich ein ,mir' übersehen, das dem vorangehenden ,man' in der Handschrift ähnlich sieht". Gegenüber Tiecks Emendation „hier", die dem Geschäft des Grafen H o r n nur den Charakter eines allgemeinen Gerüchtes zumißt, wird man der Einfügung ,mir' den Vorzug geben 1 3 1 , weil die Mitteilung H o h e n zollerns dadurch größere Überzeugungskraft gewinnt und auch die Erregung des 129

130 131

Grundtext nach der Edition von Richard Samuel (1964). Die Eingriffe Tiecks sind durch eckige Klammern und Kursivschrift gekennzeichnet. Die Handschrift hat (nach Samuel) an dieser Stelle ein tragezeichen. So Sembdner (I, 672) und Samuel (S. 102).

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Kleist im Klassiker-Programm der großen Verlage

Prinzen verständlicher wird. Es bleibt allerdings die Frage, ob der Herausgeber den Vers unbedingt verbessern m u ß 1 3 2 . Rhythmische Ungleichmäßigkeiten begegnen bei Kleist häufiger. Sie erhöhen - wie auch an der vorliegenden Stelle - die Spannung des Vortrages. V . 1054/55:

Natalie. Und auf dem Rückweg, schau noch einmal ruhig Das Grab Dir an, das D i r geöffnet [wird] ward!

Tieck betrachtet das ö f f n e n des Grabes 1 3 3 als einen abgeschlossenen Vorgang, während Kleist die Tätigkeit im Augenblick des Gespräches zwischen dem Prinzen, der Kurfürstin und Natalie noch andauern läßt. Auf dem Wege zur Kurfürstin sieht der Prinz nicht allein das ihm bestimmte Grab, sondern - viel intensiver („beim Schein der Fackeln") eben diese Tätigkeit (V.982). Es ist daher konsequent, wenn Natalie an das ganze Erlebnis anknüpft, das der Prinz sich auf dem Rückweg noch einmal in einem Bewußtwerdungsprozeß vergegenwärtigen soll. V . 1113/14:

Der Kurfürst. Dein Wort, das fühl ich lebhaft, hätte mir Das Herz schon in der [erznen] ehrnen Brust geschmelzt.

O b Tieck am Binnenreim Anstoß nahm oder ob er bloß einen Schreibfehler vermutete, ist schwer auseinanderzuhalten. Er entschied sich für die sprachüblichere Wortverbindung und zerstörte die durch „erzen" und „schmelzen" vorgegebene Bildlichkeit. V.1115/17:

Der Kurfürst. Dich aber frag ich selbst: darf ich den Spruch Den das Gericht gefällt, wohl unterdrücken? Was würde [wohl] doch davon die Folge sein?

In dem zweimaligen „wohl" läßt sich leicht ein Schreibfehler vermuten, nur hat Tieck den Vers keinesfalls verbessert und die Nuancierung von „wohl" (einmal im Sinne von „etwa", zum anderen im Sinne von „voraussichtlich") übersehen. Die zweite Frage ist eine Steigerung der ersten, so daß das wiederholte „wohl" zur Dynamik der Rede beiträgt. V . 1270/71:

GrafReuss. Beim Himmel, trefflich, Fräulein! Ein Ereigniß, Das günst'ger sich dem Blatt nicht [treffen] fügen

132

133

könnte!

In seinem Bericht über die Dresdener Aufführung (Abendzeitung vom 19. Dezember 1821) zeigt sich Tieck erfreut über die Art, „mit welcher die Verse gesprochen wurden", und erwähnt in diesem Zusammenhang die Gefahr der Deklamationsstücke, „daß Vers und Rhythmus gar leicht einmal Handlung, Sprache und Drama zerstören möchten". Bei aller Kritik an „manchen Härten und Anstößen" der Kleistschen Verse (und der Notwendigkeit, gelegentlich nachzuhelfen) betont er gerade den Kontrast zu den erstarrten Silbenmaßen und Reimverkettungen dieser Deklamationsstücke (vgl. Krit. Sehr. III, 1 6 - 1 8 ) . Daß es sich um Öffnung eines Grabgewölbes handelt, geht aus V.1730 hervor.

Kleist im Klassiker-Programm der großen Verlage

271

Tieck hat hier den Gleichklang der Worte „trefflich" und „treffen" beseitigt und den Vers durch die Assonanz klingender gemacht. Durch die Behauptung Natalies, der Kurfürst habe ihr die Marschordre an das Regiment des Obersten von Kottwitz aufgetragen, muß dem Grafen Reuss das Zusammentreffen von Bittschrift und Marschordre als dem Vorhaben günstig erscheinen. Doch legt das Wort „fügen" etwas Schicksalhaftes nahe, das der Situation nicht entspricht. V. 1371/73:

Natalie. N u n so versichr* ich Dich, er faßt sich Dir E r h a b e n , wie die Sache steht, und läßt Den Spruch [mitleidsvoll] mitleidlos morgen Dir vollstrecken! Hinter der Konjektur „mitleidlos" steht die Auffassung vom Kurfürsten als eines in Sachen der Staatsraison unbeirrbaren Repräsentanten des Gesetzes. Daß Natalie nach ihrem Gespräch mit dem Kurfürsten (IV, 1) eine solche Auffassung vertritt, ist wenig wahrscheinlich. Sie ist sich aber der Gefahr bewußt, die dem Prinzen im Falle seiner Zustimmung zum Spruch des Kriegsgerichtes droht, und als beschwörende Warnung verstanden, wäre die Lesung „mitleidlos" durchaus zu rechtfertigen. Schwerer wiegt jedoch, daß im Bezug zum vorangehenden „Erhaben" die Schillersche Auffassung vom Erhabenen (= Widerspruch zwischen Vernunft und Sinnlichkeit) mitenthalten ist.

V.1376:

Natalie (tritt erschrocken näher). Du Ungeheuerster, ich glaub', Du [schriebst] schreibst? Nach der bündigen Erklärung des Prinzen: „Er handle, wie er darf; / Mir ziemt's hier zu verfahren, wie ich soll!" (V. 1374/75) wird Natalie bewußt, daß der Prinz entgegen ihrer Erwartung und Bitte den Spruch des Kriegsgerichtes anerkennt, nachdem sie bereits durch sein „Gleichviel!" (V.1374) in Unruhe versetzt worden war („Gleichviel?"). Der Schreibvorgang - durch die Bühnenanweisungen in V. 1362 sowie nach V. 1375 und 1376 festgelegt-erstreckt sich über mehrere Verse, und es ist eine Frage, wie weit man ihn im Augenblick des Erschreckens als abgeschlossen betrachten kann. Entscheidend ist zunächst nicht die in V. 1377/78 folgende Unterschrift, sondern die Formulierung der Zustimmung. Die Vergangenheitsform lenkt stärker auf das Unwiderrufliche des Entschlusses, während die von Tieck gewählte Gegenwartsform mehr den äußeren Vorgang des Schreibens dramatisiert. V.1553/54:

Kottwitz. Was liegt Dir dran, ob er zwei Wochen noch Erschöpft im Sand liegt, und die [Wunde] Wunden heilt? Zum Bild des verjagten Drachen (V.1550/51) mag der etwas dick aufgetragene Plural gut passen, denn Kriegsrede ist Prahlrede. Doch rückbezogen auf V.1551 („mit blut'gem Hirn") genügt der Singular, um die Schwere der schwedischen Niederlage zum Ausdruck zu bringen.

272 V.1610/12:

Kleist im Klassiker-Programm der großen Verlage

D e r Kurfürst.

Es besticht dein Wort Mich, mit arglist'ger Rednerkunst gesetzt, Mich, [der,] den D u weißt[,] Dir zugethan, [. . .] Tiecks relativischer Anschluß ist grammatikalisch korrekt konstruiert, er widerspricht jedoch dem handschriftlichen Befund. Tieck scheint an der Überfülle der Kommata - als Sprechhilfe unerläßlich - Anstoß genommen u n d die Stauung des Redeflusses als unnatürlich empfunden zu haben. Aber gerade durch diese Stauung wird eine größere Unmittelbarkeit der Rede erreicht, während Tiecks Formulierung gedrechselt wirkt. V.1638/39:

Hohenzollern. D u , gleichsam um sein [tiefstes] tiefes H e r z zu prüfen Nahmst ihm den Kranz hinweg, [. . .] Hohenzollern erinnert den Kurfürsten an die Traumszene zu Beginn des ersten Aktes. Der Superlativ entspricht vollkommen der vom Kurfürsten inszenierten Probe auf die geheimen Wünsche des Prinzen. Es ist unverständlich, warum gerade Tieck das Adjektiv nicht im Wortfeld des Unbewußten beläßt, sondern abschwächend ins Gemüthafte verlegt. V.1707:

Der Kurfürst. Thürmst D u , wie folgt, [ein] das Schlußgebäu mir auf: Nach der Wendung „wie folgt" hat der bestimmte Artikel einen stärker hinweisenden Charakter, so daß sich Tiecks Änderung gut in die äußere Logik der Rede einfügt. D o c h die Argumente Hohenzollerns und des Feldmarschalls überzeugten den Kurfürsten nicht, und der unbestimmte Artikel ist von seinen Worten: „Die Delphsche Weisheit meiner Offiziere" (V.1720) her zu rechtfertigen; durch ihn werden die Reden der Offiziere als Gedankenspiele abgetan.

V. 1784/85:

D e r Kurfürst. Sei's, wie D u sagst! Mit diesem Kuß, mein Sohn, [Bewill'g ich diese] Bewilligt sei die letzte Bitte Dir! Die ungewöhnliche und jedem Sprecher Schwierigkeiten bereitende Apostrophierung läßt die Tiecksche Korrektur gerechtfertig erscheinen. Leider ersetzt sie die ,väterliche' Sprache durch eine herrschaftlich-starre Redeweise, die dem Gestus dieses Augenblicks nicht angemessen ist. Man möchte nicht annehmen, daß Zolling an den hier vorgeführten, ihrem Charakter nach sehr unterschiedlichen Stellen Tieck blindlings gefolgt ist. Auffällig ist jedoch das Fehlen jeglicher Begründungen, warum er die Änderungen akzeptierte; zu den übernommenen Konjekturen Julian Schmidts in V.355 und 907 bemerkt er immerhin zustimmend, daß Schmidt dort „mit Recht" geändert habe. Drei ebenfalls übernommene, aber in den Fußnoten nicht als solche kenntlich gemachte Konjekturen Julian Schmidts in V.1012,1181 und 1459 lenken uns auf die richtige Spur und erhellen schlagartig die Problematik der Recensio Zollings. Bei den erst-

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273

genannten Konjekturen handelt es sich um solche, die bereits die Zustimmung Köhlers fanden 134 (und zwar an grammatikalisch auffälligen Stellen, die zu Änderungen herausforderten), bei den letztgenannten um solche, die von Köhler mangels Vergleichsmöglichkeiten noch nicht als Konjekturen erkannt werden konnten. Sie alle aber gelangten über die Satzvorlage, d.h. die Ausgabe Julian Schmidts in den Text. Man kann danach das editorische Vorgehen Zollings leicht rekonstruieren. Bevor er den Text des Prinz von Homburg zum Satz gab, verbesserte er die Fassung Julian Schmidts sowohl nach den FUnterlassenen Schriften als auch nach der Lesartenstudie Köhlers. Auf diese Weise kam es zur Ausmerzung der Tieckschen Emendationen von 1826 und einiger Eigenwilligkeiten Julian Schmidts sowie zur Lesarten-Notation in den Fußnoten. Zuletzt konsultierte er die Handschrift, die ihm Bernhard Erdmannsdörffer im Juli 1883 zugänglich gemacht hatte 1 3 5 , jedoch ohne Konsequenzen aus dem handschriftlichen Befund zu ziehen; es blieb bei der Wiedergabe einiger Abweichungen. Nun wäre die Textkonstitution Zollings wahrscheinlich anders ausgefallen, wenn nicht nur ein Apograph, sondern eine eigenhändige Handschrift Kleists die Beurteilungsgrundlage gebildet hätte. Es kommt hinzu, daß dem Kopisten eindeutige Fehler unterlaufen sind, die folglich auch dort Fehler vermuten lassen, wo wir es mit ungewöhnlichen Konstruktionen und Bildern Kleists zu tun haben. Dennoch läßt sich der Verdacht, daß Zolling hier mechanistisch statt textkritisch vorgegangen ist, nicht abweisen. So klafft eine Lücke zwischen der korrigierten Satzvorlage und den lediglich zur Diskussion gestellten Lesarten der Handschrift, die den Wert der Edition erheblich mindert. Am intensivsten setzte sich später Georg Minde-Pouet mit Zollings Kollationierungen und textkritischen Darbietungen auseinander, als er auf Grund der Zollingschen Ausgabe die Druckvorlagen für die Kleist-Ausgabe Erich Schmidts herstellte. Er kannte die Texte Zeile für Zeile und bestätigte, daß Zolling „sein reiches Material keineswegs erschöpft", es „sogar schlecht geprüft" hat und „daher zu irrigen Ergebnissen gekommen" ist: „sein Text weist die größten Fehler auf. Sorgfältige Nachprüfung brachte das zu Tage" 1 3 6 . Wie sorgfältig Minde-Pouet dabei vorging, zeigen die beigefügten Aufnahmen von korrigierten Textseiten aus der Ausgabe Zollings. Minde-Pouets editorisches Ideal war die urkundliche Wiedergabe der gesamten Uberlieferung; er wollte die Texte einschließlich aller NormAbweichungen und Fehler der Originale dokumentieren. Dabei mag vieles als Hyperphilologie und unnötiger Ballast erscheinen, dennoch hat er zu verwirklichen gesucht, was - vom Positivismus als unabdingbare Voraussetzung wissenschaftlicher Arbeit erkannt- heute von der modernen Edition „so legitim wie auch

134 135 136

In beiden Fällen bedient sich auch Köhler der Worte „mit Recht". Vgl. Zollings Brief an Georg Emst Reimer vom 28. Juli 1883 in Bd. 2, S. 165. Georg Minde-Pouet: Neues von und über Heinrich v. Kleist, in: Das Literarische Echo Jg. 5, H . 6 (Dez. 1902) Sp. 385.

274

Kleist im Klassiker-Programm der großen Verlage

selbstverständlich" gefordert wird: „Objektivität, Präzision, Vollständigkeit und Exaktheit, so weit wie das im Bereich empirischer Wissenschaften überhaupt möglich ist" 1 3 7 . Zolling ist von solchen Vorstellungen noch weit entfernt. Man kann sie auch nach Lage der damaligen Editionsunternehmen bei ihm nicht voraussetzen, und es wäre falsch, seine Arbeit aus der Retrospektive an N o r m e n zu messen, die sich in den 80er Jahren gerade erst herauszubilden begannen. Reinhold Steig war daher völlig im Recht 1 3 8 , wenn er sich der scharfen Kritik Minde-Pouets nicht anschloß, obgleich auch ihm die Problematik der Edition bewußt war. Sein Urteil über die Ausgabe entspricht genau dem historischen Standort und dem - trotz aller Irrtümer - unbestrittenen Verdienst Zollings: „sie bedeutete doch f ü r ihre Zeit einen großen Fortschritt gegenüber allem Früheren".

137 138

Helmut Praschek: Die Technifizierung der Edition - Möglichkeiten und Grenzen, in: Mathematik und Dichtung. Hrsg. v. Helmut Kreuzer (2. Aufl. München 1967) S. 123. Vgl. den Brief Reinhold Steigs an Minde-Pouet vom 18. Dez. 1902 in Bd. 2, S. 221.

Kleist im Klassiker-Programm der großen Verlage XVI. An «oljd.

275

(.'XXI

älntroort entgegenfeljen, ¡fließe id) mit ber SSerfidjerung meiner innigen $erei)rung unb Siebe, unb bin, Öerr 0/ S t i e g e l , » » 3Dr * geljorjamjter /. $ r a g , b f n 13» 3uni, 180!»/ 4 § e l n f $ o / i r ifieijl. h~ * Kleine Seite, Sriidengaffe, 91. »9. ¡t . ^ - 9 i a d | ( i i | r i f t | Hauptquartier bei oftr. Eorpä, baä in S a u f e n 4. eingerüdt ift, ift am 10/ tyafet/ in S i i p p o t b i S r o a l b e geroejen. X§ie[« / /-/• m a n n * ) , ber in $rejtben contyanbirt, §at eine fulminante $ro((. an bie S a u f e n erlaffen. 3Cuc£) baä 9raunf$iveigif$e ßorpä ift in S a u f e n , unb Sioftifc, mit feinem Raufen, in Saqreutf) eingefallen. 2)iefe Bewegungen lönnen Scfiitl oieUei($t retten.**) S $ i U $at fttb cor bem f r / t g i f i M « / h-l • / foXtiM^sflitnfti (gratien na S t r a l f u n b jurüdgejogen/'unb S k i f f e gmomyfen, / - • /. u m nadj ¡Rügen ju get|en. jUunfruiibn/ Dänen (roaS fagen Sie baju?) ^aben f i $ mit bem Gj^n/Mt Oratien Bereinigt. ,'., /

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mit ber 9 ! o t i j : | f l 8 1 o y . A J L T

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*) Qkneral Mr ÄQDOÜetie greifen ^o&cnn Hb»lf oon Xtyehnami (1766—1824), JUmRiantant von Zorgau, bot et gegen ben Befehl be« JtSntg« oon 6a$ten ben 5ran|ofen ni$t $atte flberliefern noSen. 3n jenen ^a^ren oerte^rte er «tel bei Jtdrnert, wo er Äleift, natu unb Vfuel traf. Bgl. Saun II 207 f. *•) e«iD mex bereit« an >1. Kai gefallen. . . * . U.M. # , ***) M. in >tl Blllllll» (Igli BHIilHl! HlHllj Bawiligiiiji fcfe " mW»«h« < W H t) in ber JStrl. S9I. j"ibllotl)e( 1 ÄÜ4.. de Kleist.

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Xbeuerfter » e r r ». « R i e g e l / Surrt) ben Dbriftburggrafen, Sefsm&tfjfl vftf äUalliS**), ift ein We= fud), baa » f n u. Xaljlmann unb id), um bie (Srlaubnifi, ein J o u r n a l , ober eigentlid) em iljodjenblatt, unter bem I t t e l : ©ermania, tierauägeben 3U bürfen, bei ber Regierung eilige/»«^» Ratten, S r . bem S t a b i o n * * * ) »orgelegt inorben. SBaä biefeS äilatt enthalten foll, tonnen S i e teiefit benfen, eä ift nur ein Wegenftanb, über ben ber Heutföe jetjt ju reben bat. 3l ! ir Bereinigen uns beibe, ö / w t). Safylmann unb td), S i e 511 bitten, bei bem ©rafen, burdj 3 ( ) c e gütige Sßerroenbimg, b a 3 , roas etroa nötljig fein mögte, ju tfjmt, um bie in Siebe ftefjenbe (irlaubnijj, unb ¡mar fo gefdjimnb, als e3 bie Umftiinbe »erftatten, }u erhalten. liefern ©efud; fügen roir notfi ein anbereä bei, baä uns faft eben fo micfytig ift: nafjmlid) unä gefölligft mit Beiträgen, ober roenigftenS mit e i n e m «ocliiufig ju befdjenten, inbem roir buref) bie Stnerbietungen be§ Suc^fjanblers }iemlicf| im S t a n b fein werben, fie fo gut, roie ein

Slnberer, 5U fjonoriren. oet^tei)t fid) oon felbft, bajj roir (falls bie Sinfenbung nid)t ju ftarf träte) logleicf) 6ine3 ber erften Slätter bainit .u, « ausfdjmütfen roürben; roeniger um S i e ju el)ren, roaS S i e niefit bebürfen, /Ji/l unä unb unfer gnftituijl $berf)aupt roill id) mit ber iepf| 0raf ®aUiä, bom«B 0ouwmeur uon •**) Sodann ®raf oon Stabion (1768—1821), üRiniftcr bet ausmärtigen »n» gelegen^etten. auf [ein anraten rourbe lnO'J »er unglUdlii^e Äriej jegen 3ran(reict) unternommen,rocer Siettetni^ im SHmflerium mo^en mufte.

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Kleist im Klassiker-Programm der großen Verlage

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277

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4 S i e ©elieOten ¡efjen einanber, oiine au entbedfeit, toer fte finb —/uet= H fpre^ett aber tjicfit blutig unb ta^ebürftenb j u fein. ^ . [5. SJobrigo uerfucf)t e3 feinen Sater j u ftimjifen. SergebenS.] J. ü. Jgnei »ertraut fitf) ifjrer Kutter an. Siefe S t f U r f t t X ^ entbedt iiir. ¿4. >m>» unb macf|t fte mifctrauifd), mit Cbft felbft pergiften.

n C S i e gefjt botf) roieber Ijin, tnifjtrauifcf) — enbticf) fdjliefet fie ifjn ans — £>erj, fie erlenneit einanber. — Sater fornpit j u recognoiciren. Siobrigo uerfuDativ-Änderung 190 Akkusativ-Konstruktion 114

Aktualität, Aktualisierung 57f., 69, 198, 203, 236, 241 Aktualisierungsfähigkeit 27 Allegorie 179 Allgemeine Literatur-Zeitung 45 A, 46, 124 A, 127 Allgemeine Zeitung 23, 73 A, 139 A, 140 Allgemeiner Deutscher Arbeiterverein 202 Allgemeiner Verein für Litteratur 265 Altertümliche Wortform 166 Altliberale 141, 181 Altpreußentum 7

Register

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Athenäum 97 Amerika 177 Athenäum (London) 157 A, 158 Analogie-Schluß 173 Atomistik 171 Anapher 106f., 114 Anekdote 112, 147, 225, 234, 244, 247 attributive Angaben 116 Aufführbarkeit 30, 34, 49 Anfangsstellung 116 Anmerkungen 216f„ 252, 261 f., 292, Aufführung 84, 121f., 176f., 256 s. a. Bühnenpraxis 301-303 Aufklärung 95 A, 98 Anmut 26, 44 Aufmerksamkeit 123 Anspielung 177, 301 Augenzeuge 153, 154 A Anti-Goethe-Kampagne 44 Ausgabe .letzter Hand' 1, 11, 118, 286 antiidealistische Einstellung 202 antik, Antike 84, 97, 102f. s. a. Fassung ,letzter Hand' antinapoleonische Tendenz 59, 98 Auslassungen 104, 192, 208 Antirationalismus 293 Ausrufungszeichen 306 antiromantische Einstellung 202 Austausch von Adjektiven 190 Antizipation 179 Austausch von Pluralformen und SingularApostroph 104 A, 272, 314 formen 208 Apparat 19, 248, 262, 297, 300f„ 315 Austausch von Worten 105 Apposition 116 Auswahl 119 A, 143, 151, 242f., 245f., Archivarisierung 297 249, 252 Archive, Bibliotheken: Authentizität 1, 144, 226 Berlin: Amerika-Gedenkbibl. 284 A, Autodidaktentum 266 294 A; Dt. Staatsbibl. 162 A; Kgl. Bibl. Autographenhandel 145 250; Preuß. Geh. Staatsarchiv 82 A, 227, Autonomie 27 228 A, 255; Staatsbibl. Preuß. Kulturbes. 181 A, 182 A; Verlag W. de Gruy- Autorisation 13, 144, 249f., 286, 300 ter 157 A, 226 A; Zentrales Archiv d. Akad. d. Wiss. d. DDR 160 A, 215 A, Barock 9 A, 179 223 A. - Dresden: Sachs. Landesbibl. Befreiungskriege 13, 21, 41, 58-60, 69, 103 A. - Frankfurt a. M.: Freies Dt. 73, 77, 81, 92, 99, 142, 178, 211, 313 A Hochstift 57 A, 137 A. - Frankfurt/ Begeisterung 45, 129, 136 A Oder: Kleist-Gedenk- u. Forschungss. a. Enthusiasmus stätte 147 A. - Leipzig: F. A. Brockhaus Belgien 181 161 A; Museum f. Gesch. 176 A. Mar- Berlin 22f., 36, 51, 52, 62, 64, 65, 67, bach a. N.: Schiller-Nationalmuseum 73, 82, 92, 128, 135, 155, 181 f., 186, 136 A (Cotta-Archiv), 159 A. München: 209, 216 A, 221, 225, 244 A, 249f„ Bayer. Hauptstaatsarchiv 73 A, 82 A; 255f., 258, 301, 304, 307-309 Bayer. Staatsbibl. 61 A, 183 A, 221 A, Berliner Abendblätter 25 A, 28, 34, 36 A, 258 A. - Stuttgart: Landesbibl. 61. 39 A, 51, 53 A, 54, 73, 77 A, 81, 154f., Weimar: Nat. Forschungs- u. Gedenkst., 225-229, 233-235, 240-244, 247, 259, Goethe-Schiller-Archiv 65 A, 66 A, 263, 282, 288, 289 A, 291 f. 186 A, 245 A, 252 A, 259; Großherzogl. Berliner Allgemeine Zeitung 182, 202 Bibl. 186. - Wiesbaden: Staatsarchiv Berliner Ensemble 10 82 A. - Zürich: Staatsarchiv d. Kantons Berliner Germanisten 23 Zürich 254 A, Zentralbibl. 253 A Berliner Germanisten-Kneipe 294 A Artistotelismus 17 Berliner Schule 22, 278, 283f., 301, 303, Arminius-Denkmal 70 310 Assonanz 271 Berliner Universität 141, 221, 278, 285, Assoziation 173, 301 290, 315 Assoziationsfähigkeit 26 Berlinisches Wochenblatt 229 Beschreibung 16, 261, 311

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Register

bestimmter Artikel 272 Bewußtsein 123, 130f. Bibel 193, 209, 302 Bibliographie 225, 248, 252 Bibliographisches Institut 23, 242, 244, 285-287, 305, 313f. Bibliophilie 250, 313 Bibliothek der deutschen Klassiker 286 Bibliothek der Weltliteratur 245, 247, 251 Bibliothek deutscher Nationalliteratur 244, 246, 286 Bibliotheken s. Archive Bild, Bildlichkeit 105, 112, 171, 174, 237, 270 Bildung 16, 130, 141, 182, 286 A, 302, 310, 315 Bildungsroman 101 .billige Klassiker' 242 Binnenreim 112, 270 Biographie 11, 21, 86, 134, 138, 143-158, 195, 200f., 215, 217, 220, 239, 246, 249, 252, 259-261, 281, 286, 293, 307, 309 biologische Sehweise 26 A Blätter für literarische Unterhaltung 135, 156 A Blankvers 115 A Bonn 186 brandenburgisch 34 A, 35, 78, 127, 140 s. a. Mark Brandenburg Breslau 43, 161 A, 122, 210 Brief 33, 134, 137-158, 204-209, 223, 247, 259f., 285, 292, 307, 312f. s. a. Briefe Kleists Brüssel 181 Bühnenanweisung 112, 193, 268 A, 271 Bühnenbearbeitung s. Theaterbearbeitung Bühnenpraxis 103 A, 283, 305 s. a. Aufführbarkeit, Aufführung, Theaterbearbeitung Bühnenwirksamkeit 34, 103 Bürgertum 6, 19, 253, 256 Burschenschaft 70, 82, 242 A, 249 A s. a. Wartburgfest

Charakterzeichnung 35 Charisma 22 Chauvinismus 70 Chiffre 28, 47 A, 128, 234f., 249 Christentum 52 s. a. Protestantismus, Religion Christlich-Deutsche Tischgesellschaft 51, 289 A, 291 christliche Poesie 97 Chronik 13 A Chronologie 195, 227, 312 Collage 13 Cottbus 65 A

Datenverarbeitung 190 A, 235 A Dativ 105, 107 A, 114, 190 Dativ —> Akkusativ-Änderung 190, 208 Deklamationsstück 270 A Demagogenverfolgungen 82 Demokratie 181 f. demokratische Gesinnung 163 Demonstrativpronomen 269 Der arme Heinrich 119 Der Beobachter an der Spree 229 Der Freimüthige 44, 45 A, 229 Der österreichische Beobachter 51 f., 58, 154 Der Staatsmann 68 Determinismus 15f. Deutsche Blätter 58 Deutsche Dichterhalle 245 deutsche Einigung 21, 70, 73, 163, 222 deutsche Gesinnung 4, 8, 178 deutsche Interessen 139 Deutsche Kommission 287f. Deutsche National-Litteratur 251 f. Deutsche Nationalversammlung 177 A deutsche Philologie 118, 162, 278 deutsche Stoffe 233 deutscher Dichter 211 s. a. Nationalschriftsteller Deutscher Idealismus 7 Deutscher Flottenverein 291 deutsches Altertum 209, 213 Cabinets-Bibliothek der deutschen Classi- deutsches Volk 130, 142, 177, 182, 244 Deutsches Wörterbuch 262, 263 A, 288, ker 286 302 Chalons sur Marne 155 Charakter 89, 100 A, 124, 127f., 130, deutsch-französischer Krieg (1870/71) 7, 241, 249, 279 136-138, 166 A, 237, 293 Deutschland 55, 69f., 73, 92, 138, 177, Charakterbild 312

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179, 181 f., 195, 212, 258 Deutschunterricht 7f., 210f„ 290 Dichter 52, 195 A, 231, 236, 241, 253, 279, 286, 293 Dichtung 48, 119, 140 Die Gegenwart 23, 253, 255-258, 260, 265 Die Grenzboten 8, 23, 162, 175f„ 178 A, 180-182, 195, 202, 284 Die Musen 57 Die Zeit (Augsburg) 242 A Die Zeitscbwingen 61, 68-73 Dilettantismus 248 A, 293 Disziplin 5, 198 Dokumentation 17f., 27, 117, 136, 209, 261, 273, 297, 304, 307 Donauzeitung 240 Dramaturgie 101, 121 f. Dramenvorlesung 211,280 s. a. Rezitation Dresden 45 A, 67, 74, 77 A, 83, 87, 103 A, 121 f., 124, 130 A, 134, 135 A, 139, 142, 146 A, 150, 155, 160, 176, 209, 211,221, 270 A Dresdener Abendzeitung 45 A, 121 Dresdener Liederkreis 122 Dresdener Morgenzeitung 150 Druckfehler 104 A, 105f., 112, 116, 118, 171, 184, 188, 192, 306 Druckvorlage 57 A, 59, 62, 69, 116, 273 Dunkelsinn 118 echtePoesie 104,180s. a. wahrhafte Poesie Eckermann [Typus] 222, 291 Eddalieder 119 Editionen: Goethe (Weim. Ausg.) 5, 16, 18, 118, 280, 288, 300. - Kleist: Hinterlassene Schriften 12, 50, 75-121, 132, 175, 209, 243, 265f., 273; Gesammelte Schriften 12, 87, 93 A, 121, 133, 155, 164, 176, 187, 224, 267; Ausgewählte Schriften 12, 133f„ 153; Ausg. Ed. v. Bülow 140-161; Cotta 245-247; Grisebach 247-250; G. Hempel 243-245; Koberstein 204-219; Köpke 224-241, 249; H. Kurz 242f.; E. Schmidt 284-316; J.Schmidt 183-203;Zolling: 251-274.Lenz: 86, 119, 224 A. - Lessing: 246, 248. - Luther: 5. - Novalis: 74, 76, 81, 117-119, 133, 134. -Schüler: 11,244 A,

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- Tieck: 81, 220, 222-224, 226. - Wakkenroder: 74, 76, 117, 119, 121. - Wieland: 11, 252, 288. Editionstechnik 20, 24, 297 A editorische Freiheit 165 Einfühlung 135, 233, 263, 309 Einheit Deutschlands s. deutsche Einigung Einleitung 24f., 155, 237, 245f., 252, 260, 281f., 297, 301f„ 307, 309, 311 s. a. Vorwort Einsamkeit 95, 99 Eliminierung älterer Wortformen 190 Eliminierung des Genitiv-s 189 Emendationen 164-175, 314 s. a. Konjekturalkritik Emigration (Exil) 52, 139 Empfindung 100, 124, 137 A, 198 A, 211 Empirismus 17, 20 .endgültige' Textgestalt 13, 17, 19, 297, 310 Endreim 114 England 158f. Entfremdung 29, 96, 114, 139 A, 163 Enthusiasmus 53, 71, 76, 92, 212 A, 215 Entstehungsgeschichte 245 Entstehungsiiiterpunktion 117 A, 306 Entwicklung 100, 138 A Epigonen 179, 232 Epigramm 32, 87, 190, 235 Erbauungsbuch 58, 119 Erfurt 51 Erholungen 51, 53 A .Erlebtes, Erlerntes, Ererbtes' 309 Erster Weltkrieg 7, 315 Erziehungspoetik 100, 124 Essay 5, 195, 307 Europa (Zeitschrift) 240 Evolution, evolutionistisch 16, 17, 18f. Exaktheit 14, 274, 278, 296 Exaltation 52, 200 existentialistische Sehweise 25 Expressionismus 8 Exzentrizität 39f., 149, 200, 247 A Exzerpte, Exzerption 58, 197, 216, 263 Fabel 48, 123 A Fakten 14, 17, 130 A, 144, 215f„ 228, 307 Familienbibliothek der deutschen Classiker 286 Familiengemälde 123

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faschistische Kleist-Rezeption 4, 9, 27 Fassung .letzter Hand' 245 s. a. Ausgabe letzter Hand Fehler 188, 304 s. a. Druckfehler, Schreibfehler Feuilletonismus 308 Flektion 190 Form 99, 101, 123, 178, 237, 313 A, 314 Formel, formelhaft 108, 180 A, 218, 238 Formlosigkeit 179 Formmuster 60 Fortschritt, fortschrittlich 79, 98, 141 Fragment 118, 119 A, 126 Frankfurt/Main 65, 73, 122 Frankfurt/Oder 22,29,147, 151, 153,281, 316 Frankfurter Zeitung 265 Frankophilie 257 Frankreich 3, 163 französische Bildung 182 französische Kunstregeln 3, 47 Französische Revolution 79, 98 französische Sprache 169, 303 A französisches Theater 10, 177 Frauentaschenbuch für 1818 57 Freiheit 70, 139, 180, 238 Freimaurer 73 A Freitagsgesellschaft [Marie von Kleist] 49, 63-65, 66 A Freundschaftskult 53 Friedensblätter 52, 59 Funktionalisierung 13 Fußnoten 215f„ 261, 272 Gattung 11, 25f., 48, 126 Gattungsdogma 246 Gefühl 31, 98, 122, 125f.,. 199, 308 gefühlsmäßige Korrektur 117 s. a. Einfühlung, Intuition Gemüt 6, 50, 88f., 119, 129f., 233, 272 genial, Genialität 44-46, 137 A, 158, 180 A, 247 A, 310 genialer Wahnsinn 136 A Genie 6, 15, 16, 25, 85, 89, 97, 124 A, 261, 281 Generationsunterschiede 30, 53, 230, 240 Genuß 188, 210 Genuswechsel 189 gereinigter Text 244 Germania [Zeitschriftenprojekt] 225

Germanisches Seminar der Universität Berlin 300 A, 301 A Germanistik 24, 265, 278, 280, 300, 301, 310, 316 Gesamtausgabe 11, 12, 248, 259f., 296f. Geschichte 1, 16, 91, 101, 144 geschichtlichen Sinn 21 geschichtliches Sujet 91, 130, 232 s. a. Stoff Geschichtsbewußtsein 233, 315 Geschichtsoptimismus 15 Geschichtsschreibung 230, 232 s. a. Historiker, Literaturgeschichte Geschichtsverständnis 26, 101, 218 Geschichtswissenschaft 15, 27, 221 Geschmack 18, 20, 46f„ 101, 140 A, 258 Geschmacksurteil 184, 236, 303 Gesellschaft 25, 79 A, 98f. gesellschaftliches Bewußtsein 29 Gesellschaft für Deutsche Literatur 282, 283 A gesund, Gesundheit, das Gesunde 10, 31, 45, 89 A, 131, 163, 174, 180, 212, 241, 294, 310 .gesunder Menschenverstand' 184, 201 Gleichnis 99, 104 Göttingen 161 A, 183, 210, 249 Goethe-Gesellschaft 5, 280 Goldene Klassiker-Bibliothek 245 A Gräcismen 175 Graz 42 Grazie 26, 110 Grenzlanddeutschtum 22 Großbeeren 210 großdeutsch 69, 142 Großösterreich 163 Großschreibung 314 Gründerjahre 258 Grundlagenforschung 251, 287 Hamburg 87, 91, 282 .handgreifliche' Sprachfehler 188 Handschrift 28, 52, 57, 59, 78, 184f., 235f„ 258, 261f., 266, 268, 273, 281, 283, 297, 313, 315 Harmonie 3, 49, 102, 138 A, 217 A, 311 Harmonisierung 230 Hegelianismus 128 Heidelberger Jahrbücher 46 A Heiterkeit 100 A, 128

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Held 33, 100, 124, 127 Herausgeberfiktion 120f. Hermann-Manie 70 Hermes 125, 127 Heroisierung 8, 309f. Herz 97f., 310 Hüdehrandlied 119 Hilfswissenschaft 24 Hinzufügungen 192, 208 Historiker 224, 227, 230, 232, 309 historisch-kritische Edition 16, 18, 25, 250 historische Grammatik 209 historische Sühne 231 historischer Realismus 232 historischer Roman 232f. historisches Drama 91, 92f„ 126, 130 historisches Gesetz 140 A, 236 Hof (preußischer) 35f., 56, 230, 278 Hofbühne 34, 177 Hofdichter 35, 279 Homosexualität 294 Hören 97 hyperdemokratische Gesinnung 139 A Hypochondrie 31, 100 Hypothese 15, 27, 61, 283f. Idealisierung 179 Idealismus 7, 19 s. a. Deutscher Idealismus, Klassischer Idealismus Imperialismus, imperialistisch 4,9,21,316 Individuum, Individualität 25, 44, 45 A, 127, 180, 253, 310 Infinitivsatz 116, 306 Informationstheorie 19 Instinkt 200, 311 Insubordination 78 Intention 13, 116, 184f., 241, 314 Interesse 101 Interjektion 117 Interpretation 6, 15, 239, 301 Interpunktion 118, 172, 192, 209, 237, 252, 272, 303-305, 314, 315f. Interpunktionsdifferenzen 104 A Interpunktionseingriffe 116, 314 Interpunktionskorrektur 117 Intuition 20, 119, 121, 174, 218, 230, 262 Inversion 105 Ironie 76, 97, 133 A, 159 Jahnsfelde 294

Jahrbücher der Literatur 125 A Janus 23, 140-142, 144 A, 151, 156f. Jena 68, 186. - Schlacht von Jena 88 Journal des Luxus und der Moden 61 Journal für Literatur, Kunst, Luxus und Mode 124 A, 126 A Journalismus 43-46, 99, 139 A, 141, 142, 162f., 181 f., 187, 202, 229, 241, 252f„ 255, 258, 310 s. a. Rezension jüdischer Glaube 163 jüdisches Bürgertum 257 Julirevolution (1830) 221 Junges Deutschland 33, 120, 140, 143, 181 f.

Junkertum 7, 139 A juridische Dichtung 48 f. Kaiisch 58 Kanon, Kanonisierung 2 A, 3, 236 s. a. Textkanon Karlsbader Beschlüsse 70, 73 katholische Literatur 61 A Katholizität 48 kausale Ergänzungen 116 Kausalität 15, 16-18, 27 Klassik 3, 17, 94, 180, 203, 306 Klassik - Romantik [Gegensatz] 3, 30 A, 46, 131 Klassiker 2-11, 209, 245, 257 A, 281 Klassikerkritik 5 Klassiker-Kult 247 Klassiker-Privilegien 12, 242 Klassiker-Propaganda 12 klassisch (das Klassische) 9, 45, 102, 180 klassisch-manieristisch [Gegensatz] 102 klassische Altertumswissenschaft 162, 186 klassische Bildung 209 klassische Normen 5, 180 Klassischer Idealismus 128 Klassizismus 4, 285 Klassizität 13, 26, 281 Kleinschreibung 314 Kleinstaaterei 139, 230 A Kleist-Apologie 7, 238f., 288 Kleist-Denkmal 316 Kleist-Gesellschaft 8f., 23 Kleist-Grab 42, 153 Kleist-Mythos 12, 42, 58, 79 Kleist-Propaganda 231 Klimax 109

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Königsberg 151, 155, 181, 307 Kombination 15, 20, 27, 123 Komma 116, 118, 194 s.a. Interpunktion Kommentierung, Kommentar 6,24f., 261, 266f., 297, 301, 303, 311, 312, 313, 316 Komödie 126, 179 Komparativ 108 Kompositum 112 Konflikt 32, 98f., 198 Konjekturalkritik 4, 13f., 184f„ 245, 250, 268, 272f., 305, 306. - Th. Gomperz: 164-175. - R. Köhler: 164-171, 172 A, 173 A, 174f., 189-194. - E. Schmidt: 164-169, 172f., 174. - J . Schmidt: 164f., 167 A, 169f., 171 A, 172-175, 189-194. - H. Sembdner: 164-166, 168f., 175. L. Tieck: 103-117, 187. - Th. Zolling: 164-170, 172 A, 175, 267-273. Konjunktionalsatz 116, 306 Konjunktiv 194 konservativ,Konservativismus 5f.,72,139, 140, 141, 142 A, 181, 231 Konstruktionsänderungen 191 Kontamination 283 Kontext 13 Korrektur 6, 39 A, 69, 116 Korrektur-Interpunktion 117 A, 306 kosmopolitisch, Kosmopolitismus 4f., 9, 22, 142 krank, Krankheit 33, 45, 87f., 89 A, 93f., 100, 131, 136 A, 178 A, 197, 199, 289, 293 A, 309, 310 Krankhaftigkeit 138, 180 Krankheit der Zeit 31, 39 Krise lOOf., 138 Kritik 99, 101, 126 A, 131, 180, 182, 197, 200, 230 kritische Ausgabe 243, 297 kühne Metapher 173 Kühnheit 45, 104 kursorische Lektüre 261, 301 Kyklos 109, 192 A Landshut 60 Laut 313 A, 314 Lebenslauf (Lebensweg) 137, 309 Lebensplan 88 A, 96 Lehrstück (preußisches) 199 Leipzig 66, 70, 134, 148, 163, 176, 180f., 186, 209, 242 A, 249, 313 A

Leipziger Kunstblatt 67 A, 69 Leipziger Schule 310 Leitmotiv 237 Leittext 19 Lesarten 17, 261f., 268, 273, 297, 300f., s. a. Varianten Lesbarkeit 13, 188, 191, 307 Leseausgabe 250 Lesepsychologie 314 Leser 2, 33, 119, 131, 154, 204, 246, 251, 268, 302f., 312 Lesererwartung 117 Liberalisierung 77 Liberalismus 6, 9, 141, 142, 181 A, 202f., 240 A, 255 Lieblingsbilder(ideen) 199, 237 Liederbuch der Hanseatischen Legion 58 Liederbücher 58 f. Life and Letters 136 Lindow, Kreis Ruppin 151 A .links' (politisch) 181 A, 203 literarischer Zirkel 23,33,37,47,49,76f„ 212f. Literarisches Conversations-Blatt 124 A, 125, 127f., 129 A Literarisches Wochenblatt 71 Literat 148f., 158 Literatur 131, 139, 142, 144, 287 Literaturblatt 136 A, 157f. Literaturgeschichte 14 A, 16, 216, 221, 236, 251 A, 257 A, 309, 315 Literaturkomödie 102 Literaturkritik 24, 117, 184 Literaturwissenschaft 19, 24, 249, 315 Litteraria (Naumburg) 23, 212-214 Litteraturarchiv-Gesellschaft 222 A,282 A Lokalpatriotismus 316 Lustspiel 198, 283f. Märchen 101 Märchenstück 179 Magdeburg 40 Magnetismus 113 Manier 45 A, 47, 102 A Manierismus 101f„ 110, 115, 117, 187, 233, 284f., 288 Manuskriptfiktion 120 Marienwerder 181 Mark Brandenburg, märkisch 21 A, 22, 77, 79, 92, 262, 302

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Monatsblätter zur Ergänzung der Allgemeinen Zeitung 142f., 152, 157

159-161; H. J. v. Collin: 63; F. Chr. Dahlmann: 72 A, 259; G. Freytag: 162 A, 181 A, 182 A ; H. Gessner: 258; Goethe: 278; G. Herwegh: 255f.; G. Keller: 253 A ; H. v. Kleist: 1, 28, 50, 54, 55 A , 57, 80, 125, 187, 240 A ; M. v. Kleist: 156 A ; U . v . Kleist: 205f.,292f„ J. M. R. Lenz: 86; A. Koberstein: 215 A ; R. Köhler: 186 A, 245 A ; R. Köpke: 160 A , 227; G. Kolb: 157 A ; J. Kürschner: 252 A ; P. Lindau: 257 A ; C. F. Meyer: 253 A ; G. Minde-Pouet: 284 A ; E. F. Peguilhen: 41; E. v. Pfuel: 294 A ; S. Rahmer: 292 A ; R. Schwarze: 149 A ; L. Tieck: 160, 187,220,224, 235, 250, 259; W. v. Zenge: 151; Th. Zolling: 253, 293; H. Zschocke: 258 Nachruf 280f. Nachruhm 26, 28 Nachtrag 196, 260 Nachtstück 238 Nachwort 25, 119, 188 naiv 84

Monolog 33, 114, 168 Montage 266 moralisch, Moral 38, 39, 41, 43, 71, 138, 144, 237 A moralisierender Rationalismus 201 Moralismus 151, 159 A, 309

napoleonische Herrschaft 136f. A, 158 Nation 2, l l f . , 16, 33, 58, 131, 136 A, 158, 178, 181 f. s.a. deutsche Einigung national 5, 9, 15, 16, 21, 46, 72, 159, 179 Nationalbeschimpfung 133 A Nationalbewußtsein 3, 278, 280, 291, 315

materialistische Ästhetik 131 materialistische Literaturkritik 10 Materialismus 258 A Materialwert lOf. Maximilian-Gesellschaft 313 Meininger [Theater] 179 A Melancholie 87, 96, 178 Metapher 165, 172Í. Metrik 104, 109, 113, 115 A, 165, 169f„ 305

Meyers Groschenbibliothek 286 Meyers Klassiker-Ausgaben 243, 313 Meyers Klassiker-Bibliothek 285-287 Mikroästhetik 24

Miscellen für die neueste Weltkunde 61 Mittelalter 9 7 f „ 222 modern, die Moderne 3, 5, 10, 84, 102, 178, 214, 257, 258, 285 Modernisierung 112, 190 Modernität 13 Modus 106, 116,

Morgenblatt für gebildete Stände 11, 33,

National-Bibliothek deutscher Classiker

41 A , 44 A , 46, 53 A, 124 A, 125f„ 142, 157, 247 Motiv 32, 39, 100, 233, 240, 301, 303 s. a. Leitmotiv Motivation 21 f. Motivierung 16, 105 A München 43, 242 A Münster 257 A

244f. Nationalgefühl 126, 212 Nationalgröße 137 A nationalistisch, Nationalismus 21, 253 Nationalliberalismus 182 Nationalliteratur 3, 21, 92, 286 Nationalschriftsteller 2, 21, 211 nationalsozialistisch 9

Musenalmanach für das Jahr 1830 154

Mystik 179, 237 Mythisierung 8 Mythos 42, 60, 119 - des Gefühls 6 - der Persönlichkeit 311 - des unglücklichen Dichters' 42, 58, 79 Nachahmung 45, 92, 102 A, 135 A Nachlässe: A . v. Arnim: 291; G. H. v. Berenhorst: 144; F.J. Bertuch: 65; Ed. v. Bülow:

Nationalzeitung

183

Natürlichkeit 123 Natur 91, 93, 100, 102, 123, 128, 129 A, 180, 198 A , 238 Naturalismus 284 naturgemäß 124 Naturrecht 79 A Naturwissenschaft 14f., 20 Naumburg 23, 212-214 nervös (Typus des Nervösen) 5, 31 A

Neue Freie Presse (Wien) 253 A, 255 Neuromantik 293

338

Register

Nibelungenlied 118 Nihilismus 96 A norddeutsch 6, 22, 281 normative Ästhetik 4, 5, 174, 180f., 199 Novelle 76, 100, 233 Novellen-Zeitung 136 A Nürnberger Korrespondent 264 Numerus-Wechsel 189 objektiv, Objektivität 15,102 A, 143,204, 216f„ 219, 274 Öffentlichkeit 195, 216, 220, 223, 228, 240, 262, 282, 296, 316 Österreich 64, 139 A, 142, 177, 181f. österreichische Staatskanzlei 61 Olmütz 222 Oppositionsblatt 65 Original 116, 292, 295 Originalausgabe 248, 250, 263 A Originalität 44, 281, 309 Originalitätssucht 285 Orthographie 103, 104 A, 116, 209, 306, 313 A, 314f. Paralipomena 249 A Paralleldruck 25 A Parallelismus 113, 165 Paris 58f., 153, 155, 255 Partizipalkonstruktion 116, 306 Pathologie 140, 149, 159, 197, 237, 293 A Pathos, Pathetik 69, 111, 232 Patrioten 29 A, 40, 82, 258 patriotisch 6, 99, 128 patriotische Dichtung 7 Patriotischer Verein 222 Patriotismus 5, 137 A, 158, 177f., 212, 218, 237, 239 Periodisierung 306 permanente Korrektur 19 Pedanterie 151, 187 Phantasie 100, 121 Philister 177, 241 Philologie 14, 22, 24, 27, 118, 162, 231, 278, 296 - klassische 117f., 162, 164, 174, 184, 186, 209, 248, 261, 278, 306 - mittelalterliche 118, 119f., 184, 186, 257 A, 261 - neuere 2, 14, 18, 248 s. a. Edition, Text, Textkonstitution, Textkritik

Phöbus 4, 30, 34, 64 A, 67, 74, 97f„ 157, 175, 185, 225, 250, 306, 308 P/Njixi-Buchhandlung 207 phonetische Merkzeichen 306 Pietät 93, 201, 217 A Pietismus 37 Plagiat 265f. Plural 269, 270 Pluralismus 216 Poesie 53, 85, 97, 99-101, 102 A, 104, 117, 123, 125, 128, 137, 179, 181, 196, 201, 211, 279 A, 281, s.a. echte Poesie, wahrhafte Poesie Poesie der Edition 119 Poetik 98,119,122, s. a. Erziehungspoetik, werkimmanente Poetik poetisch 112, 158, 165, 167, 171 poetische Freiheiten 267 poetische Unzeit 138 Polarisierung Goethe-Kleist 30 Polemik 187, 195, 200, 202, 312 politisch 21, 81, 88, 91, 140, 142 A, 158, 232, 279, 291, 310 politische Dichtung 155, 198 politische Literatur 176-178 politischer Schriftsteller 29, 60, 73, 139 Polizeistaat 157 Popularisierung 131, 251, 266, 283, 286288 Posen 285 positiv 178 A, 199f., 202 Positivismus 2, 15, 17-19, 27, 175, 187, 215-219, 273, 278, 285, 315 Potsdam 65 Präsens 271 Prag 95, 225 Pragmatismus 183 Pressefreiheit 142, 163, 181, s.a. Zensur Preußen 2, 21, 29, 36, 40f., 71, 77 A, 78, 99, 131, 138f„ 142 A, 163, 177, 181183, 212, 221, 230f., 238, 279, 315 Preußentum 140, 203 preußisch 6, 7, 12, 22, 35, 39, 40, 76, 79, 92, 127, 137, 199, 230, 281 Preußische Jahrbücher 215, 217, 240 Preußische Staatskanzlei 39f., 226, 229, 231 Preußischer Correspondent 81 Privatgelehrter 162f„ 186, 210, 221, 280 Programmatischer Realismus 174

Register

Proletariat 202 Protestantismus 142 A Pronominalkonstruktion 193 Prozeß [S. Rahmer - E. Schmidt] 295f. Psyche, psychisch 5, 102, 138 Psychiatrie 294 Psychoanalyse 5 Psychogramm 144 Psychologie 16,26, 88, 100, 124,128, 179, 217 A, 218, 290, 309 Publikum 12f., 23, 33, 38, 42-H, 47, 58, 87 A, 94, 108, 117, 121f., 123 A, 124 A, 125, 140, 142f., 157, 162, 177, 185, 196, 201, 204, 213, 229, 241, 248, 282, 315 punktuelle Konjektur 104, 167, 206 Purismus 120 Quelle 26, 75, 143, 153, 184, 195, 198, 215f., 218, 225, 231, 238, 248, 263 A, 264f., 267, 285, 292f., 301-303, 307, 312 Quellenkritik 230 radikal, Radikalismus 5, 99, 139, 142 A, 162, 177 Rassismus 9 Rationalismus 142 A Reaktion, reaktionär 79, 82, 141, 182 Realismus 10, 179, 199 A, 200, 203, 237, 302 A recensio 175, 248, 272 Rechtschreibung s. Orthographie Rede 281 Reflexion 121, 151, 233 Reflexivum 115 Reform der deutschen Bühne 122 Regiebuch 103 A, 124 A Reichsgründung 241 Reim 59, 108, 114 Reinheit des Textes 14, 118 Relativsatz 116, 306 Religion, religiös 6, 9, 37, 39, 48 Reliquien 140 A, 145, 156 A, 158 Requisiten 107 Restauration 70, 226 Revolution (1848) 77 A, 141, 157f., 181, 221 f., 236 revolutionär 70, 72, 97, 138 Revolutionierung 77

339

Rezension 34, 43-47, 85, 94, 122, 124132, 135, 158f„ 165, 174, 176-178, 198, 200-204, 209 A, 239-241, 258 A, 289f., 292 A, 294, 301, 310-312 Rezitation 14 A, 84, 85 A, 95,270 A, 305, s. a. Dramenvorlesung Rhapsodie 75 A Rheinischer Merkur 58 Rhetorik 45, 109, 165, 232 rhetorische Frage 107 Rhythmus 109, 111-113, 115, 116, 268270, 306 Rhythmusstau 115 .richtige' Lesung 250 ,richtiger' Text 244 f. Ritter- und Schauerromantik 12, 43, 158 Ritterstück 42 Rokoko 95 Romantik 3, 37, 48, 84f„ 94-96, 98, 100, 102 A, 111, 119, 129, 178, 181f„ 197, 200, 290, 291 A, 309 Romantik-Forschung 95 A Romantik-Polemik 46 romantisch [Won] 100 A romantisch [Begriff] 17, 45, 103 A, 138, 241 romantische Edition 117 romantische Ironie 133 A romantische Poesie 76 Romantische Schule 30, 97, 119, 141 Royalismus 177, 221 Ruhm 29, 34, s. a. Nachruhm Rußland 163 Rußlands Triumph 58 Sachsen 177 Salondemokratismus 139 St. Gallen 242 A St. Petersburg 250 Satire 70 A Satzreih ung 117 Schäferspiel 178 Schaltsatz 117 Scharfsinn 122, 125 Schorin 149 Scherer-Schule 15, 18f., 265f. Schicksal 6, 98, 138, 238, 310 Schmerz 40, 58, 90, 98 Schmerz/Schmutz-Glanz-Lesung 90, 180 A

340

Register

Schönbrunn (Friede von Schönbrunn) 62 Schönheit 127, 180 Schreibfehler 270 Schulausgabe, -kommentar, -lektüre 6, 7f„ 241, 266, 301 Schulmann, Schulmeister, Schulmeisterei 187, 208, 248 Schulorientierung 96, s. a. Berliner Schule, Romantische Schule, Scherer-Schule, Tieck-Schule Schulpforta 209-211, 213, 218 A, 280 Schweiz 22, 137-139, 149, 177, 242 A, 253, 256, 259, 307 Selbstbestimmung 31 Selbsterkenntnis 124, 167 Selbstironie 120 Selbstmord 3, 29, 39, 41 A, 51, 52, 53, 101, 137 A, 159, 178, 240 Selbstverwirklichung 22, 26, 33 Selbstzerstörung 89, 100 Sentenz 6, 60, 165, 168 sentimental 84 Setzerpraktiken 116, 209, 305 Sexualität 293 Shakespeare-Kontroverse 84, 91, 93 Shakespeare-Manie 85 Signale aus der literarischen Welt 252 sittliche Gesinnung 177 sittliche Normen 181, 199 sittlicher Konflikt 177f. Sittlichkeit 99, 294 situative Voraussetzung 106, 108, 114 Skansion 171 Somnambulismus 178, 199 Spekulation 17, 20, 27 Spenersche Zeitung 38 A, 58, 229, 230 A Sprache, Sprachnorm 113, 179, 237, 262, 284, 303 Sprachgebrauch Kleists 164f., s.a. Stileigen tümlichkeit Sprachgeschichte 287, 288 A Sprechpause 115 Staatsmoral 198 Staatsraison 38 Stabreim 111, 114 Stammbuchverse 153 Stauung 115, 116, 194, 272 Steigerung 107, 115, 194 Stereotypausgabe 188, 192, 202 Stichwort 177, 233

Stil 2f„ 24, 45, 102 A, 120, 123, 192 A, 194f„ 199 A, 201, 215, 227 A, 232-235, 262-264, 282, 284f., 288, 300, 302, 307, 309 f. Stilanalyse 46 A, 300 Stileigentümlichkeit 184, 234, 263, 302f., 304 Stilgefühl 209, 234, 249 Stilkritik 305 Stilkriterien 235 A, 263 Stilprinzip 306 Stilwille 285 .stillschweigende' Verbesserung 305 Stoff 103, 126, 143, 216, 233, 301 Straßburg 278 Straubing 60 Struktur 24, 42 Sturm und Drang 45, 85, 306 Stuttgart 139 subjektiv, Subjektivität 76 A, 102, 102 A, 217, 291 A Subjektivismus 129, 179, 200 Superlativ 272 Symbol 84, 107, 168 Symmetrie 123 Süddeutsche Zeitung 240 Synthetisches Interpretieren 19 A Talent 89 A, 91, 93, 99, 138, 140 Taschenbücher 58 Tatsachenforschung 20 das Tatsächliche 17 Technifizierung der Edition 274 A Teegesellschaft s, literarischer Zirkel Teichoskopie 106 Teilnahme 122 Temperament 121, 184, 195 Tempus 116 Tendenz 97, 158 Tendenzlosigkeit 142 A Text 19, 262, 286, 306, 314 Textästhetik 25 A Text-Arrangeur 242 Textauslassungen 206 Textbefund 15 A, 297 Textdarbietung 278, 312 Textdifferenzen 315 Texteingriff s. Konjekturalkritik Textfehler 103, 248, 266, 273, s. a. Druckfehler, Schreibfehler

Register

Textgenese 18f., 24, 297, 315 Textgeschichte 62, 250 Textidentifizierung 233, 237 Textindustrialisierung 12 Textkanon 1, 13, 249, s.a. Kanon Textkonstitution 20, 24, 104, 121, 244, 262, 267, 300, 314 Textkritik 14, 184, 245, 252, 261 Textphänomenologie 1, 187 Textsicherung 14 Textstatistik 175, 235 Textsynopse 24, 105 A, 185 A, 299 Texttheorie 25 A Texttreue 283 Textumstellungen 208 Textvarianten s. Varianten Textverderbnis 164 Textverständnis 302 Textverwitterungen 18, 245 Theater 13, 28, 30, 34, 45, 177, 179 Theaterbearbeitung 13, 14, 87, 177, 283 Theaterinstinkt 107 Theatralik 53, 123 Thun 254 Tieck-Schule 135,211 Tod 40, 98, 100, 237 A Tod Kleists 50, 56 Todesfurcht 127, 140 Todesfurchtszene 124-126, 178, 180, 201 Todesreife 31 Todessehnsucht 52 Todessympathie 94 Topos 168 Tragik, tragisch 7, 10, 31, 32, 100, 123, 128, 137f., 158, 197, 308 tragische Empfindungen 98 .tragische' Dichtung 6 tragische Vordeutung 166 A Tragödie 7, 101, 111, 129, 178f. Traum 100, 127, 129 Trauma 25, 99 Trivialromantik 42

187,

256,

199,

109,

Überlieferung 61, 187, 218, 261, 266, 297 Obersetzung 119, 149, 303 Überzeitlichkeit 10 Ultraliberale 73 A Umdichtung 191 A

341

Umstellung im Vers 105, 191 unbestimmter Artikel 272 unbetontes ,auch' 108 undisziplinierter Dichter 5, 85 ungesund 179 A, 182 ungewöhnlicher Genitiv 115 ungewöhnliches Bild 171, 174 .unglücklicher' Dichter 141 s. a. Mythos Universalpoesie 98f., 121 Universität 60,257,303, s. a. Berliner Universität Universitätsgermanistik 265, 278, 280, 300, 301 Unnatürlichkeit 179 Urania 67 Urformen 18 Urkundlichkeit 24, 273, 297 .ursprünglicher' Text 185, 245 Varianten 14,24,117,245,248,250,261f„ 268, 283, 297, 300, 306, s.a. Lesarten Variantenlokalisierung 297 Variantenpartitur 24 Variantenverzeichnung 21, 278, 300 vaterländisch 3, 4, 8, 127, 131 vaterländischer Dichter 4, 178 Vaterland 29, 39f., 58, 69, 89, 91 A, 137 A, 139f., 196, 198 A, 211, 232, 239 Vaterlandsliebe 140, 182 Verbesserungsmanie 268 Verbum 189 Verfallserscheinung 95 A Verfasser-Identifizierung 234, 263, 292 Verfasserschaftsfrage 46, 128, 239 Verfassungskämpfe (1848ff.) 177, 198 Vergleich 175 Vergnügen 122 Verlag 2, 23, 56, 65, 81, 83, 142, 156f„ 176, 183f„ 202, 213, 223f., 243-251, 288, 305, 311 Verlagsrecht 242 A Versöhnung 48 A, 74, 76, 127 Verwechslung 166 Verwirrung des Gefühls 31 völkische Literaturwissenschaft 9, 10 Vokalismus 111 Volksausgabe 300 A Volksbildung 202, 285 Volksschauspiel 130 Volkssouveränität 82, 222 A

342

Register

Volkstümlichkeit 4, 8f. Vorrede 74, 80, 86, 100, 129, 134, 194f„ 196, 204, 206, 214f„ s.a. Vorwort Vortrag 205f., 212f., 221, 281 f., 303 Vorurteile 104, 127, 129, 174 Vorverständnis 25, 199 Vorwort 50, 119, 248, 253, s. a. Einleitung Vossische Zeitung 38, 228f„ 292 Wagram 29 A, 62, 64 Wahnsinn 100, 158, 178f. wahrhafte Poesie 48, s. a. echte Poesie Wahrheit 89 A, 91, 124, 178, 180, 200, 230, 308 Wartburgfest 13, 69, 73, 82 Waterloo [Schlacht] 58 Wechsel von Genus und Numerus 189 weibliches Lesepublikum 43, 57 Weimar 30, 43, 61, 67, 83, 85f., 87 A, 90 A, 95, 98, 186, 216, 278, 308 Weimarer Klassik 97, 197 Weltschmerz 32, 46 werkimmanente Poetik 98, 122 Wertherismus 32, 85 Wertung 20, 26, 217 Wessobrunner Gebet 119 Widersinn 118 Widerspruch 129, 199, 201, 249 Widmungsgedicht 35 Wiederholung 106f. Wien 42, 52, 61f„ 74, 122, 124, 126 A, 127, 219, 254, 265, 278, 279 A, 280 Wilhelminische Ära 6, 279, 315 Wirklichkeit 102, 129, 131 Wirkung 122, 131 Wirkungsgeschichte 18, 26, 33, 198, 301

Wirkungspoetik 117, 187 Wittemberg 130 A Witz 95 A, 123 Wortausfall 104 A Worterklärung 261, 301 Wortfeld 166 Wortregister 262 f. Wortstellung 171 Wortumstellung 104 A Würzburg 278

Zeit 29, 30, 31, 33, 71, 85, 88f., 95 A, 98, 131, 136 A, 141, 143 A, 200 A, 241, s. a. Krankheit der Zeit Zeitangst 120 Zeitkritiker 95 A .Zeitlosigkeit' 1, 18 Zeitschrift s. Journalismus, Rezension Zeitung der freien Stadt Frankfurt 66, 73 A Zeitung für die elegante Welt 38 A, 45-47, 51 f., 74 A, 264 Zensur 38, 39 A, 41f., 70, 73 A, 77, 83, 142, 144, 158, 181, 226, 227 A, 229, 231 A Zentralbegriffe 233 Zentrumspresse 61 Zerrissenheit 33, 129, 158, 240 Ziebingen 76, 77 A Zitat 6, 158, 167, 195f., 215, 261, 307 Znaim 62 Zürich 254 Zufall 101, 129 Zuschauer 122-124 Zweiter Weltkrieg 21 f.

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Klaus Kanzog

Walter de Gruyter Berlin • NewYork 150 Jahre Editionsgeschichte der Werke und Briefe Heinrich von Kleists Band 2: Editorisches und dokumentarisches Material Groß-Oktav. ca. 270 Seiten. 1979. Ganzleinen ca. DM 128ISBN 3 11 005979 7 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker, Band 75)

Use Graham

Heinrich von Kleist Word into Flesh: A Poet's Quest for the Symbol Large-octavo. XII, 296 pages. 1977. Cloth DM 68,ISBN 3 11 007165 7 This study represents a decisive break with a scholarly tradition that regards Kleist as a metaphysical poet celebrating 'absolute feeling'. Through incisive textual analyses of the poet's letters and aesthetic writings as well as his creative opus the author shows Kleist to be beholden to a positivistic model of knowledge, yet groping toward a more comprehensive vision, uneasily aware of the fact that his intellectual stance fails to take into account vital ranges of experience. Kleist emerges as a master of poignantly contemporary themes and techniques who merits a hearing before an international forum. All quotations from the German are also given in English translation.

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