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German Pages 264 Year 2001
mimesis Untersuchungen zu den romanischen Literaturen der Neuzeit Recherches sur les littératures romanes depuis la Renaissance
Herausgegeben von / Dirigées par Reinhold R. Grimm, Joseph Jurt, Friedrich Wolfzettel
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Barbara
Vinken
Du Bellay und Petrarca Das Rom der Renaissance
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2001
Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Vinken, Barbara: DuBellay und Petrarca : das Rom der Renaissance / Barbara Vinken. - Tübingen: Niemeyer, 2001 (Mimesis; 37) ISBN 3-484-55037-6
ISSN 0178-7489
© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2001 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz und Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Einband: Siegfried Geiger, Ammerbuch
Inhalt
Einleitung - Idolatrie und Kritik
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Ulustratio und Translatio: Erasmus, Speroni, D u Beilay Imitatio - theoretische Vorgaben (Erasmus) Energeia - produktive Umbesetzung (Speroni) Translatio - exemplarische Ausarbeitung (Du Beilay)
II Auctoritas und Imperium: Petrarca gegen Augustinus . . Romana Laus - Tropen und Topoi Prosopopeia - Ad dementem sextum romanum pontificem An Imperium Romanum - Sine nomine Ad fontes - Invectiva contra eum qui maledixit Italie Ad memoriam - Famiiiares III Antiquitez und Songe: Negative Poetik Par tibi, Roma, nihil - Hildebert de Lavardin Endlich begrabene Stadt - Zerschriebene Antike Durchkreuzte Ekphrasis - Die Poetik der Olive Verkehrte Heilsgeschichte - Lucan versus Vergil Verhindertes Epos - Via Augustinus Bienheureux presage - Prophezeiung und Fluch Topos der Vanitas - Die Poetik des Songe IV Regrets und Entr'escriture: D u Beilay versus Ronsard . . Ovide dé-moralisé - Irrfahrt und Exil Marguerite Nova Pandora - Ankunft und Erlösung Bibliographie
8 19 29 43 43 56 60 67 71 78 78 84 96 109 115 133 163 189 189 218 241
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Die vorliegende Arbeit geht auf meine Habilitationsschrift an der Universität Jena zurück. Danken möchte ich Hans Robert Jauß für seine anfängliche Anregung und Reinhold R. Grimm für seine langjährige und loyale Unterstützung. Michèle Lowrie hat mich in die Arcana der klassischen Literatur eingeführt und Anselm Haverkamp meine Ausführungen durch seine Ungeduld beflügelt. Die nötige Muße für die Arbeit hatte ich dank der großzügigen Stipendien des Lise-Meitner-Programms des Landes Nordrhein-Westfalen und der Dr.-Meyer-Struckmann-Stiftung. Für einen Druckkostenzuschuß danke ich der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Bei der Herstellung des Manuskriptes haben mir Olaf Reumann, Cornelia Wild und Claudia Harenberg geholfen. Die Redaktion hatte Hannes Schneider.
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Jean Cousin: . Don de la Société des Amis du Louvre, 1922. Louvre, Paris.
Meinen Eltern Renier und Katharina Vinken
Einleitung Idolatrie und Kritik The time is out of joint.1 Das Spätmittelalter wie die Renaissance begriff die Jetztzeit als eine heillose Zeit, eine Zeit der Widernatürlichkeit und der Verderbtheit, eine aus den Fugen geratene Zeit. Die Zeitgenossen litten an einer Epoche, in der jeder ordo in Frage und alle Rechtmäßigkeit auf den Kopf gestellt schien. Die Auswege, die aus diesem grundsätzlichen Ungenügen gesucht wurden, unterscheiden Mittelalter und Renaissance. Joachim del Fiore entwarf apokalyptische Visionen, Dante zeichnete in seiner Monarchia radikale politische Revisionen. Seit Petrarca erging man sich nicht mehr in überirdischen Spekulationen oder beispiellosen, politisch-utopischen Neuordnungen, sondern beklagte den Verlust einer tatsächlichen, historischen, ganz und gar irdischen Epoche, die alles Zeitgenössische in den Schatten gestellt hätte, der Antike. Petrarcas Diktum von der zeitgenössischen Geschichte, die keine überlieferungswürdigen Exempla hervorgebracht hätte, deshalb rühm- und tugendlos sei und nur im Modus der Satire abgehandelt werden könne, bringt es auf den Punkt. Virtus und gloria finden sich allein in der zurückliegenden, endgültig vergangenen Zeit der goldenen latinitas und können nur durch eine restaurano dieser Ordnung wiedergewonnen werden. Von der Verdrehung und der Verrücktheit der Jetztzeit ist die Sprache, barbarisiert wie sie ist, ebenso betroffen wie die Dichtung, die nicht mehr weiß, woher sie den Stoff für hohe Gattungen wie das Epos nehmen soll, und diesen folglich in der Vergangenheit suchen muß. Das Denken der Humanisten kreist im Positiven wie im Negativen um Rom als Dreh- und Angelpunkt allen Hoffens auf Veränderung. Petrarca wie Du Beilay stehen dabei in der Tradition Dantes; sie lehnen die bestehende Machtverteilung zwischen Kirche und Reich ab. Gemeinsam ist ihnen eine Zurückweisung der päpstlichen weltlichen Herrschaft, gemeinsam auch eine Abwendung von der mittelalterlichen Kontinuität zwischen christlichem und antikem Rom. Diese war in Gestalt der Mirabilia besonders eindrücklich illustriert. Die Mirabilia verfuhren mit dem antiken Rom wie das Neue Testament mit dem dadurch alt gewordenen Alten Testament: sie interpretieren es als Figur, die sich durch das christliche Rom erfüllt. Das antike Rom ist im christlichen Rom aufgehoben und fortgesetzt. Gegen solche Kontinuität vor Ort, die schon von Hildebert de Lavardin in Zweifel gezogen wird, kommt es zu einer Kontroversstellung 1
Shakespeare, Hamlet I, 5, 196. I
zweier Modelle, von restauratio und translatif), die auf zwei Nationen verteilt sind und in denen verschiedene politische Interessen und Ansprüche zum Ausdruck kommen. Die Italiener vertreten das Modell der restauratio Roms, das jetzt national besetzt wird, die Franzosen aus ebenso nationalen Gründen das der translatio. Im Interesse Frankreichs wird die translatio imperii, ein mittelalterliches Modell, mit der neu drängenden Frage nach der legitimen Nachfolge des Römischen Reiches reaktualisiert, um gegen die Interessen der restauratio und gegen das Heilige Römische Reich Deutscher Nation gewendet zu werden: Frankreich sei legitimer Nachfolger Roms, weil die deutsch-spanische Nachfolge kläglich versagt und das Erbe des Römischen Reiches nicht rechtmäßig angetreten habe. Die von Petrarca herbeigesehnte restauratio ist zu D u Beilays Zeiten noch keinesfalls ad acta gelegt, sondern sieht sich in einem erstarkenden Rom, prächtig durch Renaissancebauten, im Vorteil. Obwohl Karl IV. bereits auf Petrarcas Ansinnen lapidar antwortete, daß sich die Zeiten ändern, und obwohl für Erasmus längst außer Frage stand, daß es inzwischen mehr wert sei, Bürger des kaiserlichen Basel denn civis romanus zu sein, stehen Modelle der restauratio noch im Raum. In der Perspektive der neueren translatioTheoretiker hingegen kann Rom nicht wieder in altem Glanz und alter Glorie erstehen; sein Name verkörpert nicht mehr, wie Petrarca meinte, unvergänglichen Ruhm, sondern ist Schall und Rauch geworden. Wird den Anhängern der restauratio-Theorie Hybris unterstellt, so bezichtigen diese umgekehrt die Vertreter der translatio der Verdrehung und Verkehrung der Verhältnisse, kurz der Barbarei. Verweisen die an translatio Interessierten auf die Vergänglichkeit alles Irdischen und den ewigen Wandel der Dinge, so vertreten die Humanisten petrarkistischer Prägung ein ewiges Ideal, das sich auf Erden in der goldenen latinitas verwirklicht habe. Sie sehen, wie etwa Lorenzo Valla, ihr Heil in einer eigenartig reduktiven, weil national beschränkten restauratio. Man sucht seinen Nutzen in der im christlichen Abendland längst überwundenen Trennung von Barbaren und Römern und schlägt die Franzosen schlicht den Barbaren zu. A b e r beide, sowohl die Vertreter der translatio als auch die Vertreter der restauratio, versprechen sich von der Erfüllung ihrer politischen Pläne eine grundsätzliche Umwälzung, die Möglichkeit des Anbruchs eines neuen Goldenen Zeitalters, die Beendigung aller perversio und corruptio. Es könnte auf den ersten Blick so aussehen, als ob D u Beilay in dieser Konstellation auf die translatio setze und damit die typisch französische Lösung verträte. In seinen römischen Zyklen insistiert er auf den Ruinen Roms, die zu Schutt und Asche, zu nichtssagenden Steinhaufen zerfallen sind. Während Petrarca von den römischen Ruinen nicht zu enttäuschen war und noch das ruinierte Rom unübertrefflich fand, sind D u Beilays Ruinen definitiv, jenseits jeder restauratio. Gleichzeitig erscheint in seinen Zyklen das Heilige Römische Reich Deutscher Nation nicht als legitimer 2
Nachfolger, sondern als groteske Verzerrung römischer Größe. So richtig und wichtig es ist, Du Beilays Rombild von Petrarcas Romphantasien abzugrenzen, so unrichtig ist die Konsequenz, die man aus seinem Rombild für sein poetisches Projekt gezogen hat. Daß Du Beilay die deutsche translatio lächerlich macht und auf der Vergeblichkeit jeder restauratio beharrt, hat zu dem Kurzschluß verleitet, die translatio nach Frankreich als einzig plausiblen Ausweg aus diesem Dilemma zu sehen, den Du Beilay indirekt propagiere. In dieser Perspektive gelesen, erscheinen die 32 Sonette der Antiquitez und der anschließende Songe folgerichtig als eine Geschichte von Aufstieg und Fall: vom Fall der weltumspannenden, erhabenen Größe Roms und deren anmaßender, deswegen aber nicht weniger lächerlichen Nachäffung durch das Heilige Römische Reich und das Papsttum. Das Beharren auf den Ruinen, das als melancholische Ruinenromantik mißverstanden worden ist, unterstreicht die Unumkehrbarkeit von Geschichte um so drastischer. Die Regrets, als Satire des römischen Papsttums aufgefaßt, sollen Frankreich als Antithese zu römischer Korruption aufbauen helfen und vor diesem dunklen Hintergrund die französische Krone um so leuchtender zur Erscheinung bringen. Du Beilay stellt sich so gelesen als ideale Ergänzung zu Ronsard dar; denn während dieser die translatio nach dem Muster der Aeneis in seiner Franciade positiv für Frankreich reklamiert, Paris an die Stelle Roms setzt, und Panegyrik für das französische Königtum verfaßt, hielte Du Beilay ihm den Rücken frei, indem er die römisch-päpstlichen wie die deutsch-spanischen Ansprüche zurückweist. Dieses aus nationaler französischer Perspektive wünschenswerte wie auch einzig folgerichtige politische Verhalten Du Beilays wird durch einige, auch von seinen optimistischsten Interpreten kaum zu überhörende Mißklänge empfindlich gestört: durch das Motiv der vanitas, das beide Zyklen durchzieht, und das Motiv des Versagens der poetischen Inspiration. Durch das Motiv der vanitas werden solche klargeschnittenen, irdisch-politischen Konzepte generell in Frage gestellt. In Du Beilays Betonung der eigenen Unfähigkeit, lebendig vor Augen zu stellen, und in seinem Beharren auf der absoluten Nutzlosigkeit der Dichtung, die höchstens trösten kann, wenn sie nicht wie bei Ronsard schnöden Tauschverträgen zwischen Dichter und Macht dient, wird vielmehr das hehre Ziel und die effektive Durchführung des politischen Projekts unübersehbar ausgehöhlt. Sieht man sich Du Beilays Manifest der Deffence et illustration de la langue françoyse, das nicht ohne martialische Töne daherkommt und die These eines solchen national-politischen Projektes der translatio am ehesten zu unterstützen scheint, genauer an, fällt auf, daß translatio bei Du Beilay ein höchst komplexes Unterfangen ist. Es ist jedenfalls kein einfach abzuschließendes Ersetzungsverfahren, in dem ein Reich an die Stelle eines anderen treten und sich das Fremde bruchlos aneignen könnte. Sofern nach Du Beilays epochemachender Einsicht translatio Kultur erst schafft - das ist die entscheidende, im nationalen 3
Eifer leicht übersehene Pointe der Deffence - übersetzt translatio nicht alte Identität in neue Identität; vielmehr restituiert sie die in einer alten Identität Differenzialität. Translatio stellt sich in der Deffence als ein der «anxiety of influence» ausgesetzter Prozeß dar, der nicht auf schlichter Übernahme und Anpassung beruht, sondern Differenz ausagiert. Translatio regelt das kulturstiftende Verhältnis von Eigenem und Fremdem, das Verhältnis vom Eigenen zum Fremden und zum Fremden im Eigenen - oder besser, sie verfehlt es, dieses Verhältnis zu regeln. Sie ist nie stabil, sondern grundsätzlich von Mißverständnis bedroht. Nachahmenswert an den Römern ist deshalb vor allen Dingen ihre Art und Weise nachzuahmen. Mit diesem Schritt zur imitatio der imitatio entzieht Du Beilay der petrarkistischen Argumentation den Boden: Petrarca hatte das Konzept der translatio für die römische Geschichte zurückgewiesen, weil Rom nicht etwa die translatio Trojas sei, nicht auf Verrückung beruhe, sondern zum Ursprung zurückkehre. Eben dies unterscheidet für Petrarca das Römische Reich von allen anderen weltlichen Reichen. Diese Verbürgtheit durch das Ursprüngliche entfällt, wenn Du Beilay das Moment der Alterität am Übertragungsvorgang hervorhebt. Das jeder translatio implizite Paradox entwickelt Du Beilay am Beispiel römischer Geschichte, die darin für ihn exemplarisch ist, in den Antiquitez. Dieser Zyklus entzieht jeder positiven translatio des Römischen Reiches die Grundlage. In Lucans Pharsalia, die schon von Augustinus zu diesem Zweck benutzt wird, findet er das Muster der Aeneis durchkreuzt und widerlegt. Sie entlarvt Vergils quasi heilsgeschichtlichen Entwurf durch den von Hybris motivierten Brudermord von Romulus an Remus als das tieferliegende, wahre römische Fatum, das sich im Bürgerkrieg eines unseligen Reiches erfüllt. Römische Geschichte nach Lucan statt nach Vergil, nach der Pharsalia statt nach der Aeneis, ist nicht Heils-, sondern Unheilsgeschichte. Dem antiken Schema der Folge der Zeitalter pfropft Du Beilay nach dem Vorbild von Augustins De civitate Dei den Mord von Kain an Abel und damit das Schema der Erbsünde auf. Der Krieg der Giganten gegen die Götter, Dopplung des biblischen Mythos vom Turmbau zu Babel, läßt Rom endgültig aus gottgewollter ordo herausfallen und macht es zur Figur des kosmischen Chaos. Römische Geschichte zeugt sich in furchtbarer Fruchtbarkeit von Ungeheuerlichkeit zu Ungeheuerlichkeit fort. Gegründet in Brudermord, kann sie nicht anders, als den Bruderzwist im Wiederholungszwang frevelhafter Hybris fortzusetzen. Römische Geschichte repräsentiert das denkbar schlechteste Muster von translatio; was sich in ihr lesen läßt, ist nichts als die Macht blinder, fluchbeladener Wiederholung. Du Beilay macht römische Geschichte im Gegensatz zu Petrarca, der in römischer virtus und in römischer gloria ein Gegengewicht zu fortuna und vanitas sah, zum Exempel nicht nur der vanitas der Welt, sondern 4
der vanitas der Geschichte. Roms himmelragende Größe und seine weltumspannende Macht, seine prophezeite und von den Göttern gewollte endlose Beherrschung der Welt entpuppt sich als die täuschende Vorderseite einer von Hybris und Bürgerkrieg regierten Geschichte, die Du Beilay im Songe als illusio wie ein Kartenhaus zusammenstürzen läßt. Bedenkt man, daß Du Beilay translatio als das problematische Verhältnis von Eigenem und Fremdem, von Identität und Differenz definiert, so liegt die Verfehlung römischer Geschichte in der Unfähigkeit, dieses Verhältnis zu meistern, einer Unfähigkeit, die sich im Brudermord ankündigt und im Bürgerkrieg bestätigt. Unbarmherzig zerrt Du Beilay durch ein ironisches Gegeneinanderführen der antiken Intertexte immer wieder die von Vergil und Horaz unternommene Umbesetzung des Bürgerkrieges ans Licht; bei ihnen erscheint der Bürgerkrieg nicht als das, was er war, als Krieg nämlich gegen Eigenes, gegen das Fremde im Eigenen, sondern als guter Krieg gegen Fremdes. Römische Geschichte hat nichts, was der translatio wert wäre. Du Beilay entzieht damit jeder Panegyrik des französischen Königtums, die nach dem Muster des Römischen Reiches verfährt und wie Ronsard in der Franciade sogar eine Überbietung Roms versucht, die Basis. Das heißt nicht, daß man Rom den Rücken kehren und es vergessen könnte. Rom soll nicht überboten, sondern muß als Exemplum der vanitas in seiner verdrehenden, verrückenden Täuschung erkannt, in der Verdrehung seiner Täuschung zurückgedreht, zurechtgerückt und richtiggestellt werden. Erst dieses zurechtrückende Durchschreiben römischer Überlieferung kann die Geschichte davon erlösen, zur Wiederholung verdammt zu sein, kann sie vom tödlichen römischen fatum, das im Rom der Päpste blind weiterwirkt, befreien. Du Beilay bleibt damit wörtlicher als Ronsard auf die römischen Texte bezogen, die er jedoch nicht nachahmend zu überbieten, sondern im fatalen Muster ihrer Nachahmung offenzulegen und damit richtigzustellen sucht. Du Beilay schreibt mit der klassischen Überlieferung (Lucan, Ovid) gegen die klassische Überlieferung (Vergil, Horaz etc.) an. Den Alten, in deren Worten er schreibt, und ohne deren Worte er nicht geschrieben hätte, dreht er die Worte zurecht, läßt sie ihre eigene, buchstäbliche Wahrheit an den Tag bringen, zwingt sie dazu, ihre verstellende Täuschung als Täuschung zu exponieren. Du Beilays römische Zyklen sind damit, um es anachronistisch auszudrücken, ein Stück Aufklärungsarbeit. Die negative Poetik Du Beilays, die darin liegt, die Figur der enargeia zu zerschreiben, ist die poetologisch konsequente Durchführung der Enttäuschung. Denn in der enargeia, in der Fähigkeit, lebendig vor Augen zu stellen, Kriterium für dichterisches Können und dichterische Macht zugleich, konzentriert sich das trügerische, und deswegen verheerende Potential der Dichtung. Indem er Petrarcas römische Perspektive verkehrt, wäre D u Beilay ein Augustinus ohne Jenseits.
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Soweit ist die Intention im Werk Du Beilays nachzuzeichnen, die in ihren vielfältigen Details der genauen Lektüre bedarf; ohne eine solche nachzeichnende Lektüre fällt Du Beilay-Forschung in die ideologischen Gemeinplätze zurück, die den Dichter zu einem zweitrangigen Autor gemacht haben. Nur in der interpretativen Nachkonstruktion der Durchkreuzungsarbeit, die Du Beilays Gedichte zyklisch entfalten und nur in ihrem Zusammenhang preisgeben, läßt sich die unschöne Alternative von nationalen Ideologemen versus nostalgisch-melancholischen oder ironischen Gedankenspielen vermeiden, welche die Forschung seit langem belastet. Aber selbst wenn diese Alternative ad acta gelegt ist, bleibt Du Beilays Augustianismus ohne Jenseits nicht das letzte Wort. Denn da ist das Ende der Regrets, Enkomium auf Marguerite de France, in dem es nicht nur zu einem abrupten Wechsel von schärfster Satire zu höchstem Lob, sondern auch zu einer pointierten Umkehrung der bis dahin zerschriebenen und ironisierten Topoi dichterischer Potenz kommt. In Marguerite findet Du Beilay seine Muse und das strahlende Objekt seiner Verehrung, eine «vera beatrice», die keine Laura, und auch nicht die Madonna ist, von dieser Welt und trotzdem frei von den trügerischen Wirren der Erotik. Sie restauriert nicht nur seine Fähigkeit, lebendig darzustellen, sondern führt ihn zu Gott. Petrarca sieht die virtus in einer langen Römerserie verkörpert, Du Beilay findet neoplatonische Tugend und Schönheit in Marguerite, die ihn zum wahren Sein der Dinge und damit zur Möglichkeit einer wahren, unverstellten Dichtung bringt. Marguerite führt ihn in seine Heimat; sein Exil endet nicht in Frankreich, sondern mit Ficinos De amore in den Gefilden der Seligen, in seinem wirklichen Vaterland. Du Beilay tut für Marguerite de France, was wenig später Spenser, der Übersetzer Du Beilays, Raleigh und Sidney für Elizabeth I. tun sollten. Während Du Beilays römische Dichtung irdische Geschichte lesbar macht, indem sie enttäuscht, erlöst Marguerite als Nova Pandora von Roma Prima Pandora. Marguerite ist der von Du Beilay poetisch begründete Antitypus zu Rom. In ihr verkehrt sich das Leid, das Rom über die Welt gebracht hat; sie erlöst von corruptio und perversio und läßt in dieser Befreiung von irdischer Geschichte ein neues, goldenes Zeitalter aufscheinen. Marguerite ist zugleich der individuelle Heilsweg, auf dem die Seele des Dichters aus der Hölle des Körpers durch die Schönheit der Tugend zu Gott und in ihr Vaterland geführt wird, und kollektive Erlösungshoffnung, die vom römischen Fluch befreit, der alle irdische Geschichte bestimmt. Die Kategorie der Erlösung - und damit ein religiöses Schema, plötzlicher Bruch, unvermuteter Sprung, Gnade - tritt bei Du Beilay an die Stelle der historischen Schemata von restauratio und translatio. Diese Erlösung geschieht im Namen der Marguerite, Perle und Blume, Name für die Blumen der Rhetorik und die wahrhaft unschätzbare Preziosität der Verse. Paradoxerweise verstummt Du Beilay im Voll6
besitz seiner poetischen Kräfte, nachdem er im Klagen über sein Verstummen und seine erkaltete Muse in Rom eine unglaubliche poetische Fruchtbarkeit entfaltet hatte. Er schreibt in den wenigen ihm verbleibenden Jahren nur noch versprengte Gelegenheitsgedichte. Die negative Poetik der Antiquitez kommt am Ende der Regrets in einer regressiven Poetik zum Stillstand. Im enkomiastischen, neoplatonischen Teil von Du Beilays Werk wird seine historische Ferne am krassesten spürbar. Er widersetzt sich jeder modernen Vereinnahmung. Die Motive seiner Regression sind blind geworden.
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Illustratio und Translatio Erasmus, Speroni, Du Bellay Imitatio
- theoretische Vorgaben (Erasmus) postremo Roma Roma non est nihil habens praeter ruinas ruderaque priscae calamitatis cicatrices ac vestigia. 1 Ly donques & rely premièrement (ò Poëte futur) 2
Joachim Du Beilays schnell berühmt gewordenes Pamphlet zur Verteidigung der französischen Sprache, das vielleicht entscheidende Manifest der Pléiade, erschien 1549, vier Jahre vor der Reise des Autors nach Rom. Es handelt nicht nur vom Verhältnis des Französischen zu den alten Sprachen, sondern auch von der Konkurrenz zum Italienischen. Du Beilay definiert imitatio, den Inbegriff des Verhältnisses zu den Alten, als translatio und gibt damit eine neue Version der Verknüpfung von Sprachpolitik und Politik tout court. In der seit Petrarca vorherrschenden Antithese von restauratio versus translatio steht Du Beilay ohne Einschränkungen und mit allen politischen Implikationen auf Seiten der translatio, nicht ohne deren Begriff dabei entschieden zu verändern: ihn zu verschieben und verschärfen. Ich werde deshalb in einem ersten Kapitel den Stand des Verhältnisses von imitatio und translatio, der für Du Beilay maßgeblich war, erläutern, in einem zweiten Kapitel das umstrittene Verhältnis von energeia und enargeia behandeln, die Du Beilay deutlich voneinander abhebt, um dann in einem dritten Kapitel zu versuchen, den Beitrag kenntlich zu machen, den seine Deffence zu einem neuen, bis weit in die Sprachpolitik der Neuzeit hineinreichenden Begriff der translatio leistet,
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Erasmus von Rotterdam, Cicerortianus sive De optimo dicendi genere I Der Ciceronianer oder Der beste Stil, tr. Theresia Payr. In: Ausgewählte Schriften, ed. Werner Welzig, t. VII, Darmstadt 1972, pp. 298/99: «kurz, Rom ist nicht mehr Rom, es hat nur noch Trümmer und Ruinen, die schlecht vernarbten Wunden und stummen Zeugen längst vollendeten Verfalls». Marc Fumaroli erweist der Prägnanz dieses Satzes in seinem Epochen-Panorama L'âge de l'éloquence. Rhétorique et «res literaria» de la Renaissance au seuil de l'époque classique, Genf 1980 (Repr. Paris 1994), p. 103, die Ehre, übersieht aber in der Eingenommenheit für die Aetas Ciceroniana, der sein Werk gewidmet ist, die Bedeutung des Motivs und folglich auch die des Erasmus für Du Beilay, der bei Fumaroli nur am Rande, anmerkungsweise p. 464, n. 86, im Nachhutgefecht der AntiCiceronianer erwähnt ist. Joachim du Beilay, La Deffence et illustration de la langue françoyse, ed. Henri Chamard, Paris 1970, p. 107. Alle weiteren Zitate im Text nach dieser Ausgabe.
und das heißt seit Du Beilay: der Übersetzbarkeit der Kulturen angesichts, ja aufgrund prinzipieller Unübersetzbarkeit der Sprachen. Du Beilay steht vorbehaltlos auf Seiten erneuter translatio unter Aufgabe der restaurado und auf Kosten bloßer imitatio. Das hindert ihn nicht, ein entschiedener und in gewissem Sinne ein entschiedenerer Klassizist zu sein, als es die Italiener sein mußten. Zunächst geht es ihm darum, im Begriff der translatio die französische Sprache auf einen Stand der Alten zu bringen, der dem Verhältnis des Italienischen zum Lateinischen gewachsen ist. Insofern ist die Deffence das Stück nationale Sprachpolitik, als das es gefeiert worden ist: sie stellt das Französische den klassischen Sprachen potentiell gleich und entwickelt Methoden, um diese Potenz zu realisieren. Sie ist aber, aus der Not des Abstands, der sich im Vergleich mit dem Italienischen aufdrängt, zugleich ein Stück kunstvoller Überbietung, in der die bloße restaurano auf der Strecke bleibt. Vor allem ist sie aus der Ambivalenz der Aneignung heraus, die der Wettbewerb mit den Italienern schürt, zu einem Stück radikaler, historischer Kulturkritik geworden, in welcher die vordergründige Wettbewerbs-Alternative der imitatio positiv gewendet wird. Während das erste Buch der Deffence den Bezug zu den Alten unter allgemeinen Gesichtspunkten behandelt, ist der zweite Teil eine Poetik, in der neben einer Erörterung der rhetorischen Figuren die durchweg vernichtende Kritik der zeitgenössischen französischen Dichter steht. Du Beilay schafft sich eine tabula rasa. Nicht nur behauptet er, der erste zu sein, der eine französische Poetik schreibt; er setzt sich selbst in die Situation des totalen Neuanfangs der Dichtung. Dieser Neuanfang steht im Zeichen einer translatio, deren Implikationen über die unmittelbaren Ziele einer Sprachpolitik oder auch einer üblichen Poetik hinausgehen. Die Deffence nur als ein nationales Manifest zur Verteidigung des Französischen zu lesen, hieße sie um die kulturtheoretische Dimension zu verkürzen, die ihr im neuen Begriff der translatio zugrundeliegt. Für Du Beilay beruht jede Kultur auf translatio, ist Kultur translatio, ist folglich auch jede gelungene imitatio de facto nur als translatio möglich, liegt das Gelingen von imitatio in einer neuen translatio, während jede bloße restaurano hinter dem Ziel der imitatio notwendig zurückbleiben muß. Den Grund dafür faßt Du Beilay wörtlich, im Wortsinn von «Übersetzung» auf: man kann nur aus fremden Sprachen, in Übertragung aus fremden Kulturen erfolgreich nachahmen. Die Übersetzung aus fremden Sprachen ist das Paradigma jeder kulturellen Übertragung. Das Moment des Fremden wird nicht durch den Abstand der Jahre oder eine andere Stimme, sondern ausschließlich in der Andersheit einer fremden Sprache manifest. Der Neuanfang des Französischen kann deshalb nur durch die Verwandlung einer Fremdsprache in die eigene Sprache geleistet werden, durch die Einverleibung und Anverwandlung der klassischen, aber auch der zeitgenössischen fremden, vor allem italienischen Literatur. 9
Die moderne Opposition von Originalität und imitatio spielt dabei keine Rolle; vielmehr stehen sich zwei verschiedene Begriffe von imitatio gegenüber. Als gelungenes Beispiel der imitatio gelten die Italiener, allen voran Petrarca und Boccaccio, gefolgt von Sannazaro, Bembo, Ariost. Damit stehen sie selbst, wie die Alten, zu neuer Aneignung, weiterer translatio bereit, und Du Beilay macht einen entsprechenden Gebrauch von ihnen. Es geht an der Theorie wie der intertextuellen Praxis der Deffence vorbei, von «mosaïque» oder «marqueterie faite de morceaux de toute provenance» zu reden und das Ganze mit diesen Gründen als ein hastig komponiertes, unoriginelles Jugendwerk abzutun. 3 Die Originalität Du Beilays liegt im Gegenteil in der Art und Weise, wie er mit seinen «Quellen» umgeht, in der translatio, der er sie unterwirft und die er an ihnen exemplifiziert. An seiner Verwendung des Dialogs von Sperone Speroni wird translatio als eine solche Methode der produktiven Umbesetzung exponiert. Die unter den Zeitgenossen kontroversen Begriffe von imitatio zeichnen sich nicht zuletzt durch ihr unterschiedliches Verhältnis zur Zeit aus. Während der eine Begriff von der Unterstellung lebt, daß in dieser Welt alles vergänglich und veränderlich, nichts aber ewig ist, hält der andere an einem ewig-vollkommenen Ideal fest, das einmal geschichtliche Wirklichkeit gewesen sein und unverändert wieder Wirklichkeit werden soll. Dieses Ideal ist, was die Sprache angeht, der Stil Ciceros oder Vergils, und was die politische Epoche angeht, Roms große Zeit in Republik und Imperium - in sich widersprüchliche Größen, deren Widersprüchlichkeit in der Sprache Ciceros wie Vergils durchaus greifbar ist, aber doch versöhnt scheint. Der bloße Hinweis darauf, daß auf Erden ewig nur eines sei, nämlich ständige Veränderung, ist deshalb im Kontext dieser Kontroversstellung immer gegen den Ewigkeitsanspruch des Römischen Reiches, den Anspruch seines ewigen Stilideals und damit gegen den Ciceronianismus gerichtet. Dieser Anspruch artikuliert sich exemplarisch in der berühmten Jupitervorhersage der Aeneis «imperium sine fine dedi», die Augustinus in der Civitas Dei kritisiert und Erasmus vor Du Beilay neu situiert hatte. 4 Du Beilay formuliert den Einspruch der Vergänglichkeit gegen diesen Anspruch im Anschluß an Bembo nach Sperone Speroni: il quale [Dio] ab eterno diede per legge immutabile ad ogni cosa creata non durare eternamente, ma di continuo d'uno in altro stato mutarsi, ora avanzando ed ora diminuendo, finché finisca una volta per mai più poscia non rinovarsi.5 mais contre Dieu, qui a donné pour loy inviolable à toute chose crée de ne durer perpétuellement, mais passer sans fin d'un etat en l'autre, étant la fin & corruption de l'un, le commencement & generation de l'autre.6 3 4
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Chamard im Vorwort zu seiner Edition der Deffence, p. vi. Vergil, Aeneis I, 282; Augustinus, De Civitate Dei II, 29; sowie danach Erasmus, Ciceronianus, pp. 298/299: «Romam rerum dominam gentemque togatam». Sperone Speroni, Dialogo delle lingue, ed./trad. Helene Harth, München 1975, p. 98. Du Bellay, Deffence, pp. 56/57.
Es war Erasmus, der in seinem Ciceronianus 1528 die im Begriff der irtiitatio inhärente Alternative am radikalsten herausgearbeitet und damit den Standard für die andauernde Kontroverse gesetzt hatte. Sein Dialog erlaubt es, den sehr bestimmten Topos historisch zu rekonstruieren, auf dem Du Beilay schreibt: den er voraussetzt, in dieser Explizitheit aber ausspart. Beide, Erasmus und Du Beilay bewegen sich auf einem intertextuell hochdeterminierten Konfliktfeld und entwickeln aus der dort vorgegebenen Pluralität von Stimmen ihre eigenen Positionen, die sich nur aus der Differenz zu den Vorgaben bestimmen lassen. Dabei kommt es nicht von ungefähr, daß die Theorie der imitatio gleichzeitig die Praxis bestimmt, in sie exemplarisch eingeht. Erasmus konkretisiert die polemische Situation der ciceronianischen Debatte in der Form eines Dialogs, dessen Partner in sprechenden Namen verraten, was sie vertreten: Nosoponus, der krankhaft nervende Ciceronianer, liefert den Vorwand für die erasmischen Interventionen des wohlberatenen Bulephorus, der in der Zuspitzung seiner Pointen von einem Hypologus unterstützt wird. Die Rolle des Ciceronianus für Du Beilay ist wenig bekannt und unterschätzt. Terence Cave bleibt in seiner maßgeblichen Darstellung der Imitationstheoretiker nach Erasmus Du Beilay gegenüber unentschieden, und diese Unentschiedenheit nimmt sich wie ein Ausagieren der von ihm in dessen Texten wahrgenommenen Ambivalenz gegenüber der imitatio aus. Zunächst scheint es bei Cave wie ausgemacht, daß «some twenty years after the publication of the Ciceronianus, Du Bellay was to outline a theory less rich and penetrating, no doubt»; dann stellt sich im Laufe der Untersuchung heraus, daß, «In fact», Du Beilay «analogous to Erasmus's attack on Ciceronianism» verfährt; zumindest, «Indeed», scheinen beide «similar strategic positions» zu vertreten. 7 Tendiert Cave zu Anfang seines Kapitels dazu, im Vorfeld von Ronsard und Montaigne Du Beilays Deffence als einen überflüssigen Umweg zu unterschätzen, so findet er auf diesem Umweg doch mehr als erwartet, was sich dann allerdings als umso unvereinbarer mit dem Ziel der Darstellung, der «appropriation of authentic discourse» erweist, die Cave als Sollwert der Epoche ansetzt und in der Imitationsdebatte als «a moment of presence to be discovered amid fragments of the textual past» postuliert. 8 Nun sind aber solche Momente von Präsenz samt der durch diese begründeten Authentizität Du Beilays Sache nicht. Sie sind es so wenig, daß Du Beilay aus der Reihe der Vorläufer Montaignes ganz herauszufallen droht; er hätte nämlich die nach Caves Einschätzung entscheidende Einsicht des Erasmus verfehlt: «the proposition that any new and valid discourse must arise from an enactment within the author of the primary 7 8
Terence Cave, The Cornucopian Text. Problems of Writing in the French Renaissance, Oxford 1979, pp. 59, 64, 66. Cave, The Cornucopian Text, p. 53. II
linguistic impulse exploited by the great writers of antiquity.»9 Die Einsicht, daß die Alten sich einer primären sprachlichen Erschlossenheit der Welt erfreuten und diese den Neueren zur Anknüpfung hinterlassen hätten, ist Teil eines Projekts der Moderne, dessen Frühgeschichte Cave erforscht. Der Anteil Du Beilays an diesem Unternehmen, an dessen «desire to appropriate or naturalize an alien discourse» ist zweifelhaft, sofern Du Bellay zwar ganz offenkundig ein derartiges Interesse teilt, aber nicht, wie zu zeigen ist, seine Voraussetzung, «the primary linguistic impulse», und er folglich auch das gesetzte Ziel, «valid dicourse» in diesem Sinne nicht erreichen kann. 10 Kurz, es fragt sich, ob Du Beilay in dem Verfehlen moderner Sollwerte nicht andere, über die bloßen Gemeinplätze der Moderne hinausreichende Einsichten gehabt und übrigens mit Erasmus geteilt hat. Die kulturtheoretische Pointe, zu der sich seine Deffence im Modus der illustratici durcharbeitet, bleibt eminent rhetorisch, indem sie die Validität der Diskurse an keine neue Identität qua Authentizität binden kann und will; sie bleibt auf diese Weise unidentisch, aber differenzbewußter und unabsehbar in die Arbeit zwischen den Kulturen verstrickt, die sie doch verbindet, und das heißt, was ihren intertextuellen Status angeht, zwischen den Texten, die sie in der Aneignung verarbeitet. Schon Quintilian, dem der Ciceronianus entscheidendes Gewicht gibt, behandelt die Frage der imitatio nicht nach Identität, sondern nach Differenz; Erasmus vertieft diesen Zug, der im scholastischen Gebrauch der Rhetorik leicht verloren gehen konnte, nachdrücklich. So diskutiert Du Beilay wie Erasmus gute und schlechte imitatio mit Bezug auf die bei Quintilian vorgegebene Konkurrenz von Natur und Kunst. Gewiß, der eigene Text soll durch einen schon von Quintilian in das quasi natürliche Gleichnis des Essens und Verdauens gefaßten Prozeß gehen und so das ingenium des Autors zum Ausdruck bringen. 11 Indessen ahmt die Natur nie identisch nach. 12 Gerade darin ist ihr in der kunstfertigen Praxis der imitatio zu folgen, denn die bloße Kopie ist dem Original so unterlegen wie die Kunst der Natur. 13 Vor einem solchen Ergebnis bewahrt sie bei aller Polemik Erasmus. Auch und gerade, wenn man wie Cave die intertextuelle Struktur des Ciceronianus in seinem Angehen gegen die Ciceronianer durch einen auf Cicero selbst modellierten Diskurs geltend macht, liegt die Pointe bei Erasmus doch jenseits der ciceronianischen Quisquillen. Sein Rückgang auf Quintilian rückt dies in die richtige Perspektive. Denn schon daß die9 10 11 12 13
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Cave, The Cornucopian Text, p. 59 mit n. 34. Cave, The Cornucopian Text, p. 35. Quintilian, Institutio oratoria, X, 1, 19. Institutio oratoria, X, 2, 10. Institutio oratoria, X, 1, 11.
ser - Proto-Ciceronianer, wie er im Buch steht - zum Rückhalt der AntiCiceronianer werden kann, widerlegt die falsche imitatio, der die Ciceronianer in der Nachfolge ihres Modells erlegen sind. Cicero konnte nach Petrarca noch ganz für lateinische Rhetorik stehen und Quintilian als seinen Pädagogen einschließen. 14 Erst Rameés Anti-Quintilian wird die Differenz zu Cicero herauspräparieren und damit die Rolle Quintilians für den Ciceronianus des Erasmus von der anderen, ciceronianischen Seite her beleuchten. 15 Daß die Deffence du Beilays in der Geschichte dieser Parteiungen einen sehr bestimmten Platz hat, hat man übersehen oder für allzu simpel gehalten. 16 Bei Erasmus ist die imitatio eine heikle Affäre, eine Art von Geisterbeschwörung, die er von vornherein ins Licht des Unheimlichen und der Hybris stellt. Die falsche imitatio ist vom Tode umlauert: der einst blühende junge Mann, von Schönheit und Charme strahlend, wird durch sie zum Schatten seiner selbst, zum umherwandernden Gespenst. 17 Sie mag einen aber nicht nur die Gesundheit, sondern sogar das Leben kosten, wie Erasmus dann am aktuellen Opfer der Debatte, dem Beispiel des erfolgreichen, allzu erfolgreichen, wegen seines Erfolgs verfolgten Dichters Pierre Longueil feststellen wird. 18 Der Fall ist aufschlußreich für den Hintergrund Du Beilays und an gegebenem Ort näher zu betrachten. Bevor ich dazu komme, skizziere ich hier die allgemeinsten Umrisse der imitatio nach Erasmus (und das heißt hier: für Du Beilay). Sie liegen in einer nachgerade freudschen Unheimlichkeit der imitatio: einer der heimischen imitatio von Anfang an (das heißt für Erasmus: von Cicero und Quintilian an) eingezeichneten nicht-heimischen Fremdheit, Todesbezogenheit. Denn in der imitatio ist man von toten Kopien, von fiktiven Simulacren und leblosen Wachsstatuen umstellt; man vermeint, im seelenlosen Bild einer Wolke die lebendige Juno in Armen zu halten oder schlägt sich jahrelang für das Trugbild der Helena. 19 Der grundsätzliche Fehler liegt 14
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Siehe James Jerome Murphy, «Ciceronian Influences in Latin Rhetorical Compendia of the 15th Century». In: Acta Conventus Neo-Latini Guelpherbytani, ed. Stella P. Revard, Fidel Rädle, Mario Di Cesare, Binghamton NY 1988, pp. 521-530, p. 527; John Monfasani, «Episodes of Anti-Quintilianism in the Italian Renaissance». In: Rhetorica 10 (1992), pp. 119-138, p. 137. Peter Ramus, Arguments in Rhetoric Against Quintilian. Translation and Text of Ramus' Rhetoricae Distinctiones in Quintilianum, trad. Carole Newlands, DeKalb IL 1986, Introduction, p. 22. Walter Ong führt in seiner klassischen Monographie Ramus. Method, and the Decay of Dialogue. From the Art of Discourse to the Art of Reason, Cambridge MA 1958, pp. 48 sq., «Ramus' moderate Ciceronianism» ohne viel inhaltliche Motive auf einen «anti-Italian bias» zurück. Bernhard Teuber in dem Artikel «Ciceronianismus» (Francesco Tateo, Bernhard Teuber, Richard Schade). In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, t. II, Tübingen 1994, coli. 225-247. Erasmus, Ciceronianus, p. 2/3. Erasmus, Ciceronianus, pp. 114/15, 326/27. Erasmus, Ciceronianus, pp. 60/61, 62/63. 13
in der kategorialen Verwechslung des Lebendigen mit nur scheinbar Lebendigem, der Urszene alles Unheimlichen. 20 In Trugbildern befangen, stellt man in imitatio immer neu nur eitle, nichtssagende Schattenbilder oder Zerrbilder her, ja verwandelt man sich in ein solches Schattenbild seiner selbst. Die Ciceronianer, die sich vornehmen, nichts als Cicero, den wirklichen Cicero, den ganzen Cicero nachzuahmen, entstellen nicht nur sich selbst und treten als er verkleidet, maskiert an die Öffentlichkeit. Während die Natur doch will, wie Erasmus in Einklang mit der rhetorischen Doktrin versichert, «orationem esse speculum animi», erscheinen sie, auch noch ganz und gar unmännlich, vermummt vor den Leuten und zeigen von sich ein trügerisches, schmeichelndes Spiegelbild, «mendax speculum aut assentatrix imago». 21 Vermummung und gespenstische Leblosigkeit sind bei Erasmus von der ersten Seite an mit dem Bild der Larve assoziiert: «Larvae similior videtur quam homini». 22 Aber auch den Geist Ciceros, der noch aus seinen Texten atmet, können sie nicht reproduzieren. Sie verzerren ihn und schaffen höchstens eine «rein äußerliche, schattenhafte und vage Ähnlichkeit mit Cicero» / «praeter summam cutem umbram et auram modo quandam nihil assequuntur». 23 Im düsteren Ton von Trauergedichten, hier Horazens Ad Vergilium, spricht er vom «eitlen und nichtssagenden Schattenbild des Cicero» / «inanem ac fallacem Ciceronis umbram», das so heraufbeschworen werde. 24 Statt des Hauches, der den Leser wunderbarerweise noch aus den toten Buchstaben anwehe und die hinreißende Kraft des Textes ausmache, brächten es die falschen Cicero-Nachahmer nur zu einem kalten, gänzlich ausdruckslosen Abklatsch: «quam erit frigidum imitationis nostrae simulacrum?» 25 Das ist nicht nur ein lächerliches Ergebnis, sondern eine Verzerrung der rhetorischen memoria, deren Tradition Quintilian an den Trauerritus des vom Vater auf den Sohn weitergegebenen Hauchs, spiritus, bindet. 26 Die Verzerrung der memoria impliziert eine Verfehlung, nefas, die von Hybris nicht weit ist. Erasmus warnt vierfach davor: dreimal weist er auf die Giganten hin, die den Himmel erstürmen und Jupiters Thron stürzen wollten, sowie auch, via Horaz, auf Ikarus. 27 Die Hybris liegt bei ihm aber nicht mehr wie bei Horaz darin, daß man sich an Vollkommenem 20 21 22 23 24 25 26
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Erasmus, Ciceronianus, pp. 4/5, 30/31. Erasmus, Ciceronianus, pp. 328/29, 330/31. Erasmus, Ciceronianus, p. 2/3. Erasmus, Ciceronianus, p. 204/5. Erasmus, Ciceronianus, p. 62/63; siehe Horaz, Carmina, I, 20. Erasmus, Ciceronianus, p. 114/15. Institutio oratoria, III. - Siehe Anselm Haverkamp, «Auswendigkeit. Das Gedächtnis der Rhetorik». In: Gedächtniskunst. Raum - Bild - Schrift. Studien zur Muemotechnik, edd. Anselm Haverkamp, Renate Lachmann, Frankfurt/M. 1991, pp. 25-52, p. 35. Erasmus, Ciceronianus, pp. 114/15, 122/23, 178/79, 332/33.
vergeht, indem man sich mit ihm zu messen sucht; wer Pindar gleich werden will, so der Vergleich des Horaz, kann nicht anders als auf seinem Höhenflug wie Ikarus kläglich zu scheitern. Erasmus reserviert die Hybris für die latente Selbstüberschätzung der eigenen Individualität als individuell vollkommener; Cicero nachzuahmen ist für ihn so riskant, weil bereits dessen Vollkommenheit ans Fehlerhafte grenzt. Ebenso wäre es Hybris, gegen die eigene Natur anzugehen, indem man ein anderer zu werden suchte. Die Hybris sieht Erasmus also nicht im Willen zur emulatio, zum Übertreffen der Vorbilder, die er ausdrücklich befürwortet, sondern in der Aufgabe einer Einzigartigkeit, die einen jeden nach variatio anders sein läßt. 28 Der Klassizismus Du Beilays ist durch dieses selbe Angemessenheitsminimum charakterisiert, dessen Standard von nun an von der Poetik - im Unterschied zum gewachsenen Wahrheitsdrang der Pädagogen - gewahrt wird. Erasmus' Stellung zur imitatio wird von dem Paradox grundiert: um jemandem so ähnlich sein zu können, muß man von ihm verschieden sein, so daß «derjenige am ehesten an Cicero heranreicht, der ihm am wenigsten gleicht» / «ut Ciceronianus sit maxime qui Ciceroni sit dissimillimus» - ein Rätsel, das der Sphinx für würdig erachtet wird: «daß man einem anderen gerade dadurch nicht gleicht, daß man das gleiche tut wie er» / «Sphinge dignum aenigma, ut hoc ipso dissimilis sit aliquis quo similis est». 29 Identität steht gegen Ähnlichkeit, Gleichwertigkeit und auch Differenz. Imitatio kann deshalb nicht blinde Nachahmung der Oberfläche sein, sondern nur strukturell gelingen; sie ahmt ein Muster nach, und die Nachahmung des Musters kann durchaus in seiner Infragestellung bestehen. Identisches Imitieren führt dagegen zu einem Nachäffen, und «Ciceros Affen» sind folglich ein Leitmotiv des Ciceronianus,30 Erasmus wendet die von den Cicero-Humanisten ins Feld geführte Antithese von Mensch und Tier gegen diese und liefert so den Hintergrund für eine der beliebtesten Metaphern Du Beilays in der Deffence. Wer mit dem Ziel der Identität imitiert, bringt es nur zu einer lächerlichen, weil unangemessenen Kontrafaktur. Da sich alles verändert hat, kann man über das heutige Rom nicht reden, als wäre es das Römische Reich zu Zeiten des Augustus. Die veränderten Redegegenstände können nur angemessen behandelt werden, wenn sie entsprechend anders behan28
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Erasmus, Ciceronianus, pp. 328/29. Cf. Rüdiger Campe, Affekt und Ausdruck. Zur Umwandlung der literarischen Rede im 17. und 18. Jahrhundert, Tübingen 1991, p. 177, n. 27, der in Erasmus' Schrift den Widerstand der klassischen Angemessenheitsrhetorik gegen das Andrängen der neuen Ausdrucksrhetorik sieht. Erasmus, Ciceronianus, pp. 188/89. Pierre Mesnard konstatiert in seiner Ausgabe des Ciceronianus etwas verärgert ein elfmaliges Auftreten der Affen, Opera omnia Desidera Erasmi Roterodami, 1/2, Amsterdam 1971, pp. 581-710. 15
delt werden, als Cicero das tat. Will man Cicero imitieren, muß man ihn gerade in der angemessenen Behandlung seiner Gegenstände imitieren. Es gibt aber noch einen technisch tiefer liegenden Grund gegen die identische Imitation, den Cicero selbst exemplarisch vorgeführt hat. Gelungene Nachahmung zeichnet sich dadurch aus, daß man sie nicht erkennt: «Hat außerdem nicht Cicero selbst gelehrt, daß es oberstes Prinzip bei der Anwendung von Kunstmitteln ist, ihre Anwendung zu verschleiern? [...] Wenn wir daher Cicero mit Geschick und Erfolg nachahmen wollen, so müssen wir vor allen Dingen diese Nachahmung verschleiern» / «an non hoc ipse docuit Cicero caput artis esse dissimulare artem? [...] Itaque si feliciter Ciceronem imitari volumus, dissimulanda cum primis est ipsa Ciceronis imitatio». 31 Erasmus setzt die imitatio der imitado gegen eine einfache imitatio·. «Was bleibt uns also übrig, als die Nachahmung Ciceros bei Cicero selbst zu lernen?» fragt er rhetorisch im Gestus Ciceros: «Wir wollen ihn genauso nachahmen, wie er selber andere Autoren nachgeahmt hat» / «Quid igitur superest, nisi ut ipsam etiam Ciceronis imitationem ex ipso discamus Cicerone?» 32 Die Frage, rhetorisch wie sie gestellt ist, exemplifiziert das Unkenntlichmachen der imitatio, das sie selbstverständlich macht; es besteht darin, Fremdes nicht als Fremdes auszustellen, sondern in Eigenes zu verwandeln. Es setzt aber auch voraus, daß man nicht ein Modell, sondern viele nachahmt und auch in dieser Form der imitatio Ciceros folgt. Die Ciceronianer drücken das in Horaz' Bienengleichnis aus: Bienen nehmen von vielen Pflanzen, sie verdauen den Pollen im Mund und im Magen und geben ihn dann, verwandelt in ihre eigene Substanz, wieder. Darin erkennt man nicht den Duft oder den Geschmack einer bestimmten Pflanze wieder, an der die Biene gesogen hat, sondern ein der Biene eigenes Produkt, das sich aus all den anderen zusammensetzt. 33 Das Gegenteil davon ist bei Erasmus wie bei Du Beilay das Zusammenflicken eines Kleides aus verschiedenen, nicht zusammenpassenden Stoffen. Erasmus ist gegen das Genre des Cento, ein patchwork und beliebiges Mosaik, in der das Fremde als Fremdes ausgestellt ist; er bevorzugt eine Verschmelzung von Quellen, die er wie Du Beilay am alten Beispiel des Verdauens, in dem das Fremde zu eigen gemacht wird, illustriert. Das Resultat soll idealerweise ein einmalig individuelles «lebendiges Portrait» der eigenen Natur sein, in dem sich die Teile zu einem einheitlichen Ganzen zusammenfügen, das ingenium das Fremde authentisch belebt. Die aus der Natur bezogenen, organizistischen Gleichnisse und Metaphern, welche die Modelle für den lebendigen Stil abgeben, beleben den Text im selben Zug. 31 32 33
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Erasmus, Ciceronianus, pp. 86/87. Erasmus, Ciceronianus, pp. 194/95. Erasmus, Ciceronianus, pp. 86/87, 198/99.
Die «Person, die man wirklich ist» und deren «lebendiges Portrait» die Rede abgeben soll, vorzustellen - le style, c'est l'homme - das ist für jede Poetik die rhetorische Fähigkeit par excellence: die Fähigkeit, Leben zu verleihen, lebendig darzustellen. Erasmus greift an dieser Stelle in eine der beliebtesten Debatten der Renaissance ein und eine ihrer beliebtesten Figuren, die energeia, auf. Er erläutert deren Wirkung wie Horaz an der Quintessenz allen Belebens, des Atem-Gebens: «dem Geist, der in seinen Schriften atmet, dem Genie, dem er das Geheimnis seiner einzigartigen Wirkung verdankt» / «denique ubi mens illa spirans etiam num in scriptis, ubi genius ille peculiarem et arcanam afferens energiam?» 34 Der Ausdruck des Genies ist es, den Anschein des Atmens zu erwecken; sein Genius liegt in der Belebung der sonst leblosen Teile: «es darf nicht sein, daß unsere Rede nichts als eine Ansammlung von Zitaten oder ein Mosaik ist, sie muß ein lebendiges Bild der Persönlichkeit sein, ein Strom, der seinen Ursprung in unserem Herzen hat» / «nec oratio tua cento quispiam videatur aut opus musaicum, sed spirans imago tui pectoris aut amnis e fonte cordis tui promanane». 35 Genie und energeia rücken in den engen Zusammenhang, in dem sie auch bei Du Beilay stehen. Nachäffend sind die Ciceronianer, weil sie, je mehr sie Ciceronianer, und das heißt je identischer sie mit Cicero sind, diesem Cicero desto unähnlicher werden. Sie drücken sich nämlich nicht aus, sondern stellen nichts als ihre Unfähigkeit zur imitatio im Zusammenkitten fremder Splitter unter Beweis. Erasmus zieht die Metapher und das Gleichnis des Malens heran, um daran die schlechte Imitation und das Scheitern der lebendigen Darstellung zu illustrieren. Er entscheidet den Topos der ut pictura poesis zugunsten der Dichtkunst; interessant ist, daß er dies tut, indem er energeia gegen enargeia ausspielt. Die von Zeuxis aus vielen verschiedenen Frauen zusammengesetzte und dadurch erst vollkommen schöne Frau dient als Beispiel für den Vorschlag, nicht eine einzige Quelle zu imitieren, sondern sich auf viele verschiedene zu stützen. Schlechte Malerei und schlechte imitatio nehmen sich in dieser Hinsicht nichts; die Fehler der Malerei veranschaulichen das Fehlgehen der imitatio. Gute Dichtkunst dagegen, die einen richtigen Begriff von imitatio zur Voraussetzung hat, läßt sich nicht durch den Vergleich mit der Malerei oder der Bildhauerei veranschaulichen. Denn die lebendige Darstellung schlägt sowohl in der Malerei als auch in der Bildkunst grundsätzlich fehl: nicht nur zufällig, wie man meinen könnte, sondern per definitionem. Der lebendige Geist, der noch aus den toten Buchstaben atmet, liegt eben jenseits der Veranschaulichung, er kann nicht «vor Augen» gestellt werden. Die Metapher
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Erasmus, Ciceronianus, pp. 112/13. Erasmus, Ciceronianus, pp. 334/35. 17
des Bildes kommt bei Erasmus in der Art von verstellenden Trugbildern vor. So wie der Ciceronianer scheitert, der über die christliche Religion reden soll, die er kaum kennt, so scheitert der Maler, der einen Menschen portraitieren soll, den er nie zu Gesicht bekommen hat. 36 Die Ciceronianer machen Cicero durch ihre imitatio so lächerlich, wie der Maler einen Menschen lächerlich macht, den er ungeschickt portraitiert. 37 Sie gleichen dem Maler, der sich ohne Ende mit den immer wechselhaften und völlig zufälligen Details aufhält. 38 Den lebendigen Menschen darzustellen aber gelingt der Malerei und der Bildhauerei auch in ihren hervorragendsten Leistungen grundsätzlich nicht. Sie bleiben am Äußeren hängen; die Seele des Menschen ist ihnen nicht zugänglich. Malerei und Bildhauerei bleiben medial dem simulacrum verhaftet: Quantum licuit, vivam hominis speciem in mutum simulacrum transtulit. Nec aliud exigi potest a pictore. [...] denique ubi, quae sunt hominis propria, mens ingenium memoria consilium? Quemadmodum, quae sunt hominis praecipua, pictori sunt inimitabilia, ita summas oratoris virtutes nulla assequitur affectatio, sed a nobis ipsis sumamus oportet. Wenn einer das zustande bringt, hat er da nicht alles geleistet, was die Kunst zu leisten vermag? Er hat, soweit dies möglich ist, die lebendige Erscheinung auf ein stummes Bild gebannt. [...] und wo ist endlich das, was den Menschen erst zum Menschen macht, Geist, Intelligenz, Gedächtnis und Einsicht? Ebenso wie sich die wesentlichsten Merkmale des Menschen der Darstellung durch die Malerei entziehen, ebenso sind die höchsten rhetorischen Qualitäten mit Nachahmung nicht zu erreichen: Wir müssen sie aus uns selber schöpfen. 39
Indem die Malerei der äußerlichen imitatio verhaftet bleibt, kann sie den atmenden Geist und damit die propria des Menschen nicht darstellen. 40 Sie hat, als enargeia am äußeren Detail hängend, gerade keine energeia. Die Verankerung der «höchsten rhetorischen Tugenden», Paraphrase der energeia, im Allereigensten bleibt bei Erasmus jedoch nicht so unvermittelt neben der imitatio stehen, wie es an dieser Stelle scheint. Denn noch das Eigenste wird durch Übertragung und Anverwandlung von Fremdem in Eigenes erst gewonnen. Mit Du Beilay könnte Erasmus sagen, daß Dichter nicht (bloß) geboren werden - obwohl das Begehren des Eras36 37 3S 39 40
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Erasmus, Ciceronianus, pp. 148/49. Erasmus, Ciceronianus, pp. 60/61. Erasmus, Ciceronianus, pp. 110/11. Erasmus, Ciceronianus, pp. 108/9. Erasmus macht in seiner Ruhmesrede auf Albrecht Dürer, der ein Portrait von ihm gemalt hatte, fast eine Ausnahme, obwohl er selbst hier die Malerei nicht uneingeschränkt lobt. Dürer gelänge es, zu malen, was nicht gemalt werden kann, «the whole mind of a man as it shines forth from the appearance of the body, and almost the very voice». Nach Erwin Panofsky, «Nebulae in Pañete. Notes on Erasmus' Eulology on Dürer». In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 14 (1951), pp. 34-41, p. 41.
mus nach Authentizität gerade durch den christlichen Hintergrund, in dem der Ciceronianus steht, vehementer bleibt als das Du Beilays. Der eigene Genius entwickelt sich durch die Entfremdung an anderes, durch den Durchgang durch Fremdes. Daß Erasmus sich nicht gegen die Nachahmung insgesamt wendet, belegt nichts besser als sein eigener Dialog, der es an imitatio von Cicero nicht fehlen läßt. Aber er wendet sich gegen die irregeleitete imitatio der Ciceronianer. Deshalb ist die entscheidende Antithese nicht Originalität versus imitatio, sondern Identität versus Differenz im Verhältnis zur auctoritas der Quellen. Um nichts weniger als um Ciceros auctoritas willen darf man und kann man, um wie Cicero zu werden, auf keinen Fall genau so wie Cicero schreiben. Wie Erasmus polemisiert Du Beilay in der Deffence gegen mißlungene Imitationen. Auf der einen Seite richtet sich die Deffence gegen die ungebildeten französischen Dichter, als die seine direkten Vorläufer ohne Durchgang durch Fremdes, ohne die Aneignung von Fremdsprachen dichteten. Auf der anderen Seite macht er die Neolatinisten lächerlich, die in einer fremden Sprache schreiben, ohne jemals das Original erreichen zu können, und sich selbst dazu verdammen, die Alten nachzuäffen. Das Scheitern ist in beiden Fällen auf unterlassene translatio zurückzuführen; während die einen sich ganz auf ihr Eigenes verlassen, glauben die anderen, die Identität des Alten erreichen zu können und sehen nicht, daß sie aus den zerstörten Überresten und dem auseinandergesprengten Stückwerk die Antike nicht auferstehen lassen können - so die archäologische Metaphorik bei Erasmus wie bei Du Beilay. Pensent ilz donques [les ciceroniens], je ne dy egaler, mais aprocher seulement de ces aucteurs en leurs Langues? recuillant de cet orateur & de ce poëte ores un nom, ores un verbe, ores un vers, & ores une sentence: comme si en la façon qu'on rebatist un vieil edifice, ilz s'attendoint rendre par ces pierres ramassées à la ruynée fabrique de ces Langues sa premiere grandeur & excellence. 41
Du Beilays Verteidigung der französischen Sprache und der Ruhmesgesang auf sie gilt einer Sprache, durch die andere Sprachen hindurch sprechen, in der andere Sprachen sprechen - einer Sprache, die zu sich selbst kommt, indem sie in sich über-setzt, wörtlich trans-latio, Metapher ist. Das ist nun im Kontext zu entfalten. Energeia - produktive Umbesetzung (Speroni) Die in der Deffence entwickelte Theorie der imitatio geht mit einer vom Autor nicht eigens indizierten Praxis der imitatio Hand in Hand; sie praktiziert, was sie sagt. In den kommentierten Ausgaben wird klar, daß kaum ein Satz der gesamten Deffence nur von Du Beilay ist. Er lehnt sich weitestgehend und in oft wörtlicher Übersetzung an Sperone Speronis Dia41
Du Beilay, Deffence, pp. 78-79. 19
logo delle Lingue von 1542 an und stützt sich außerdem vor allem auf Horaz und Cicero. 42 Trotz dieser Quellenlage wäre die Deffence als ein patchwork von Zitaten, zu dem es die positivistische Quellenforschung zu machen versucht hat, ganz falsch beschrieben: gegen die Absicht des Autors und den Geist der Zeit. Man denke an die vom umgekehrten Vorurteil geleitete Ausgabe der Werke von Goethe, Diderot oder Rousseau, deren Poetik der Originalität von den Herausgebern gewissermaßen für bare Münze genommen wird, während bei einem Autor wie D u Beilay immer noch eine von der Poetik späterer Originalität her gelesene, genieästhetisch diffamierte imitatio zum Vorwurf wird. Erasmus' Einführung in die historischen Vorgaben der Renaissance-Diskussionen zeigt, wie weit man hier allenfalls gehen kann. Praxis und Theorie der imitatio stehen in der Renaissance in einem komplexen und oft paradoxen Verhältnis, das in struktureller Entsprechung zu dem Umgang der manieristischen Architekten mit antiken Fragmenten und Vorbildern beschrieben worden ist. In D u Beilays Text hat dieser architektonische Vergleich die doppelte Funktion, die intertextuelle Praxis zu beschreiben und en abyme zu reflektieren. Spielerisch leicht geht D u Beilay mit den Quellen um, die den Humanisten einen an Aberglauben grenzenden Respekt eingeflößt hatten; seine Ironie gegenüber diesem quasi religiösen, fetischistisch eingefärbten Nimbus scheint in Vokabeln wie «reliques» durch. Sein Verhältnis zu den «Autoritäten» ist auf der einen Seite durchaus ikonoklastisch; seine Technik der Montage hat mit der der von ihm kritisierten Neolatinisten, die gläubig die membra disjecta sammelten, ohne sie zu einem neuen, lebendigen Organismus zusammensetzen zu können, wenig zu tun. Ihm liegt nichts daran, Zitate wie Reliquien zu sammeln, um in ihnen die Substanz des Tradierten zu bewahren. Vor dem Hintergrund solcher Religiosität, Hingabe gegenüber den Alten wird der Aufruf zum Sakrileg klar, mit dem die Deffence schließt. Während die Neolatinisten hoffen, daß Sinn identisch und in Identität wiederzubeleben sei, entwendet D u Beilay, auf eine paradoxe Weise dabei nicht weniger wortwörtlich und buchstabengetreu, Wörter und Buchstaben und stellt sie in einen anderen Kontext, verrückt sie. Dadurch wird ihr alter Sinn verdreht und entstellt, werden der Tradition die Wörter im Munde herumgedreht. 42
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Cf. die quellenkritische Arbeit zu Sperone Speroni und Du Beilay von Pierre Villey, Les sources italiennes de la «Deffense et illustration de la langue française» de Joachim Du Bellay, Paris 1908. Das Wetteifern um Originalität und um den Vorrang der eigenen Nation, als das Du Beilays Deffence mißverstanden worden ist, bestimmt bis heute die maßgeblichen Du Beilay-Editionen. Chamard hat so prompt Charles de Bovelles' Liber de differentia vulgarium linguarum et Gallici sermonis varietate aus dem Jahre 1533 als die ursprünglichere, natürlich französische Quelle für Du Beilays italienische Quellen> aufgetan. Siehe Chamards Einleitung in die Deffence, p. 13.
Dieses nicht unaggressive Verhältnis zu den Quellen zeigt besonders kraß D u Beilays Umgang mit seiner Hauptquelle Sperone Speroni. Die neue Originalität seines Textes erweist sich an der Praxis des Zitierens aus Speronis Dialogo. Nun ist dieser Dialog kein Pamphlet wie die Deffence und keine Satire wie der Ciceronianus, sondern eine Zusammenstellung der relevanten Positionen der , ohne daß die Meinung des Autors klar ausgedrückt würde. Der Dialogo bleibt seltsam unentschieden in der Luft hängen; er wird durch den Zufall unterbrochen, so daß keine Partei den Sieg davontragen kann. Immerhin wird klar, daß auch hier die Sympathien nicht mehr auf Seiten der orthodoxen Humanisten liegen, deren reinste Ausprägung die Ciceronianer sind. Passenderweise trägt der Paduaner Gelehrte Bonamico, Sperones Vorbild für die vorgetragenen ciceronianischen Argumente, den Vornamen des vom Tode Auferstandenen, Lazaro. Du Beilay sucht sich in der Deffence aus den in Speronis Dialogo vertretenen Positionen die für ihn passenden Argumente heraus. Er geht dabei weder so zufällig noch so unbeholfen vor, wie man ihm lange vorgeworfen hat, sondern mit einer bemerkenswerten, strategisch eingesetzten, synthetischen Kraft. 4 3 Zur Stärkung des eigenen Projekts werden Argumente der Gegenpartei umgewidmet. So vermischt die Deffence die weit auseinanderliegenden Ansichten des Aristotelikers Pompanazzi, vertreten durch einen gewissen Peretto, mit denen des volkssprachlichen Humanisten Pietro Bembo und überträgt viele der von den Ciceronianern einzig der lateinischen Sprache zugesprochenen Fähigkeiten auf das Französische. Man findet bei Du Beilay weder Plan noch Idee von Speronis Text wieder, der nicht rekonstruiert wird, aber auch nicht in mittelalterlicher Manier auf bloße Spolien reduziert wird. 44 Die architektonische Metapher, die die Wiederverwendung von Bruchstücken tadelt, ist selbst noch ein entwendetes Bruchstück und wird als solches von Du Beilay auch markiert. Während es nämlich auf den ersten Blick so aussieht, als ob Du Beilay gerade das täte, was er den Neolatinisten vorwirft, und aus den Bruchstücken ein Gebäude errichtete, das mit der Identität der Textstücke die Idee des Ganzen verfehlte - er karikiert die ungewollte und ungekonnte Entstellung an einem Haus, in dem sich die Schlafzimmer an der Stelle der Empfangsräume finden und überdies Türen und Fenster vertauscht sind 45 - stellt sich dieser erste Eindruck schnell als trompe-l'œil heraus, als beliebte manieristische Technik. Im «Dialog» mit Speroni wird aus 43
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Siehe Ignacio Navarrete, «Strategies of Appropriation in Speroni and Du Beilay». In: Comparative Literature 41 (1989), pp. 141-154, p. 143. Siehe Arno Esch, «Spolien». In: Archiv für Kulturgeschichte 51 (1969), pp. 1 64. Du Beilay, Deffence, p. 80.
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einem bei diesem oft widersprüchlichen, hin und her wogenden und dann in der Mitte abgebrochenen Dialog ein stringenter Text, ein Argument und eine Handlungsanweisung, die tut, was sie sagt. Dies gelingt durch eine wirklich minimale Verschiebung, durch einen anderen Umgang mit der Metapher, die aus einem anderen Rhetorikverständnis resultiert. In dem Kontext, in dem diese Verlagerung von Rhetorik entstanden ist, ist dies natürlich nicht ohne Mißverständnis geblieben. Du Beilay ist wegen übertriebener, zudem noch inkonsistenter Metaphorik, die das Metaphernfeld im gleichen Bild wechsele, gleich in der ersten Antwort auf seine Deffence, dem Quintil Horatian des Barthélémy d'Aneau von 1550, scharf kritisiert worden. 46 Doranne Fenoaltea hat gegen ein solches vermeintlich klassisches Rhetorikverständnis, das in rhetorischen Figuren immer nur schmückendes Beiwerk sieht, die Innovation herausgearbeitet, die in einer Umwidmung der Metaphern Speronis durch Du Beilay liegt: «Ce qui est ornement stylistique chez Speroni et dans la rhétorique servira à marquer les points forts et la progression de l'argument dans la Defense».47 Was bei Speroni durchaus schmückenden Charakter für das jeweilige Argument hat, wird bei Du Beilay instrumental zu metaphorae continuae ausgebaut; «les métamorphoses de cette métaphore filée donnent une sorte de force démonstrative au discours sur la langue.» 48 Es bilden sich andere Zusammenhänge, die Argumentation wird systematisch umgeleitet: «la demonstration passe par la métaphore.» 49 Daß diese Umbesetzung in einem Text passiert, dessen einziges Thema die translatio ist, ergibt eine perfekte adaequaäo von Inhalt und Form, die jede Metasprache verbietet und sich jeder Rekonstruktion entzieht, die diese Selbstreflexivität, von der die Rede ist und in der die Rede ist, verkennt. Du Beilays Text ist nicht nur die Exposition einer neuen Theorie der imitatio, sondern die Vorführung, Inszenierung dieser Theorie qua Praxis der imitatio. Die diese Inszenierung bestimmende Figur ist jedoch nicht die Metapher im strengen Sinne, sondern die mit ihr assoziierte, für die Poetiken der Renaissance so zentrale energeia. Die energeia steht bei Du Beilay wie schon bei Erasmus im Herzen des Zusammenhangs von translatio 46
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Abgedruckt in der Ausgabe der Deffence von Chamard. Jochen Schlobach, «Metaphorische Variationen des Renaissancebewußtseins bei Joachim du Beilay». In: Die Pluralität der Welten. Aspekte der Renaissance in der Romania, edd. Wolf-Dieter Stempel, Karlheinz Stierle, München 1987, pp. 301-325, reformuliert diese Kritik der inkonsistenten, gebrochenen Metaphorizität Du Beilays. Doranne Fenoaltea, «La ruynée fabrique de ses langues. La métaphore architecturale dans la Defence et illustration». In: Du Bellay. Actes du Colloque International d'Angers 1989, ed. Georges Cesbron, Angers 1990, t. II, pp. 665 - 675, p. 670/71. Fenoaltea, «La ruynée fabrique de ses langues», p. 671. Fenoaltea, «La ruynée fabrique de ses langues», p. 672.
und imitatio. Sie bestimmt die Frage nach der Übertragung der Alten und liefert die Kriterien für Du Beilays Absetzung von den italienischen Neolatinisten. Sie erklärt nicht nur die Rekurrenz des , sondern das die Deffence bestimmende komplexe Zusammenspiel von Leben und Tod. Die Deffence, so meine These, ist nichts als eine Entfaltung, das rhetorische Vor-Augen-Stellen und die Illustration der Figur der energeia selbst. Und dies am entscheidenden Fall der Belebung, dem möglichen Bezug der französischen Sprache auf die Alten. In der für alle rhetorische Argumentation seit Quintilian charakteristischen Auto-Referentialität der angewandten Verfahren illustriert die Deffence die Möglichkeit der lebendigen Darstellung) am Fall der eigenen translatio. Das hat für die illustratio, die seine Deffence im strengen terminologischen Sinne sein soll, eine sehr bestimmte, metaphorologische Konsequenz, die sich in der von Fenoaltea beschriebenen Weise einer durchgängig gebrochenen Metaphorik äußert. 50 Für die Figur des «Vor-Augen-Stellens» gibt es viele Namen in ganz unterschiedlichen Funktionen: hypotyposis, evidentia, enargeia, demonstratio, ekphrasis, sowie die Bezeichnung, die du Beilay im Titel seiner Deffence verwendet: illustratio. Klar, deutlich und anschaulich werden Dinge «vor Augen gestellt» und vergegenwärtigt. Durch die Lebhaftigkeit der Beschreibung soll das dargestellte Objekt sozusagen leibhaftig vor dem inneren Auge des Lesers erscheinen. 51 Quintilian hatte den Komplex des «Vor-Augen-Stellens» und der energeia aus der Figurenlehre herausgehalten, also tiefer gelegt als den Effekt der Metapher; energeia wie enargeia sind bei ihm Effekte, an denen der ornatus insgesamt teilhat. Während die energeia den Höchstgrad des rhetorischen Verfahrens darstellt, ist die enargeia an die evidentia, die unterste Stufe, gekoppelt (ut cerni videantur). Dagegen hatte Aristoteles die Metapher als ein spekulatives Prinzip an die energeia geknüpft. Im 16. Jahrhundert kommt es im Anschluß an die Aristoteles-Kommentare prompt zu einer (mehr oder minder offenkundigen) von energeia und enargeia·, Agostino Nifo hatte beide in seinem Aristoteles-Kommentar miteinander vertauscht. 52 50
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Siehe Anselm Haverkamp, «Auswendigkeit», pp. 28-30; sowie ders., «Metaphora dis/continua. Base Respects of Thrift but None of Love». In: Die Aktualität der Rhetorik, ed. Heinrich F. Plett, München 1996. Cf. Fritz Graf, «Ekphrasis. Die Entstehung der Gattung in der Antike», und allgemeiner Gottfried Boehm, «Bildbeschreibung. Über die Grenzen von Bild und Sprache». In: Beschreibungskunst - Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart, edd. Gottfried Boehm et al., München 1995, pp. 143-156 und pp. 23-40. Zur Kommentargeschichte von energeia/enargeia Heinrich F. Plett, Rhetorik der Affekte. Englische Wirkungsästhetik im Zeitalter der Renaissance, Tübingen 1975, pp. 184-193, p. 187. 23
Für unseren Zusammenhang entscheidend ist, wie Aristoteles die energeia und die Metapher in der Metaphernversion des Vor-Augen-Stellens seiner Rhetorik herausgearbeitet hat. Danach haben insbesondere solche Metaphern energeia, die in der Analogie eine Seinsweise des Lebens einführen: das Blühen der Pflanzen, die Bewegung der Tiere, das Handeln der Menschen. 53 Aristoteles definiert dann das Vor-Augen-Stellen als metaphorische Ersetzung lebloser durch lebendige Inhalte. Diese Metaphern vermitteln «lebendige Anschauung», sofern sie vom Unbelebten zum Belebten führen, Seelenloses durch Beseeltes ersetzen. Bei der energetischen Metapher sollen Anschaulichkeit und Lebhaftigkeit aus der Ähnlichkeitsübertragung hervorgehen. Dieser Vorgang ließ sich generalisieren und ist in dieser Generalisierung zum Titel der letzten großen Metapherntheorie im Anschluß an Aristoteles, der Métaphore vive Paul Ricœurs geworden. 54 Dieses Verfahren wiederholt sich in der Deffence auf vielen Ebenen. Lebendig wird die französische Sprache vor Augen geführt, illustriert: sie ist ein Wesen, das eine Kindheit hat, in die Mannesjahre kommt und schließlich altert, dahinscheidet und begraben wird. Das Französische wächst, blüht und gedeiht; es muß wie die Obstbäume gepfropft, beschnitten, von Unkraut und Dornen befreit werden, um fruchtbar sein zu können und Blumen und Früchte im Überfluß zu tragen. 55 Denn daß die französische Sprache lebendig wird, heißt, daß sie wie die Natur vom Willen und der Kunstfertigkeit des Menschen abhängt, kultivierte Natur ist. Das «artifice», das kunstreiche Eingreifen in das Material der Sprache, von dem ihre Fruchtbarmachung abhängt, wird an der Kultur des Gartenbaus als künstlicher Eingriff in die lebendige Natur dargestellt. 56 Andererseits ist die Sprache wie die menschliche Sozialisation Fortsetzung von Natur; mit der Muttermilch oder besser der Ammenmilch eingesogen, ist ihr Erwerb natürlich, und deshalb gab es bei den Alten sogar Dichterinnen. Das Dichten wird als ein Zur-Welt-Bringen vor Augen gestellt: man muß die Gedichte lecken, wie die neugeborenen Bärenjungen geleckt werden, damit ihre Glieder Form bekommen. Mit Versen solange schwanger zu gehen wie die Elefanten, hält Du Beilay allerdings für übertrieben; diese tragen ihre Kleinen bekanntlich zehn Jahre aus (und, so ist 53
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Aristoteles, Rhetorik 1411b 25 sq.; Analyse der Beispiele im Kommentar der Ausgabe von Edward Meredith Cope, The Rhetoric of Aristotle, Oxford 1877, zur Stelle. Eine grundsätzlich neue Darstellung des Vor-Augen-Stellen-Motivs im Ausgang von Aristoteles und in Kritik Ricœurs gibt Rüdiger Campe, «Vor Augen stellen. Über den Rahmen rhetorischer Bildgebung». In: Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft, DFG-Symposium 1995, ed. Gerhard Neumann, Stuttgart / Weimar 1997, pp. 208-225. Du Beilay, Deffence, pp. 57, 73. Du Beilay, Deffence, p. 63.
zu ergänzen, selbst Ovid empfahl nur neun Jahre). 57 Frankreich, das so lange unfruchtbar war, wird bald guter Hoffnung sein und, geschwängert von Phoebus Apollon, den langersehnten, göttlichen Dichter zur Welt bringen. 58 Du Beilays illustrano des Französischen folgt dem Prinzip der energeia, und sie tut es im Aufgreifen der Verlebendigungstopoi nicht ohne ironische Distanzierung, die das aus der Analogie heraus Belebte in seinem Leben so wenig behindert, wie das Leben selbst durch die Analogie alles Lebendigen beeinträchtigt ist. Energeia prägt Du Beilays Schrift auf dem Hintergrund alles Lebendigen aber noch auf eine andere, historisch pointiertere Weise. Durch analogische Imitation soll das Französische ja an die Stelle der inzwischen toten Sprachen treten und deren Platz im Leben einnehmen; die energetische Metapher hat es als translatio also mit der Übertragung vom Lateinischen und Griechischen ins Französische zu tun. Die energeia belebt das intertextuelle Verfahren Du Beilays, indem es die toten Worte der Alten innerhalb der Deffence in der Transposition belebt, «au vif» vor Augen bringt. Die Neolatinisten dagegen verhindern die belebende Übertragung von den toten zu den lebendigen Wörtern, indem sie diese in einem Schrein von Büchern begraben und verhindern, daß sie lebendig von Mund zu Mund fliegen. 59 «Vif», «vive energie», «exprimer au vif», «écrire au vif» ist der Deffence zufolge erklärtes Ziel und höchstes Lob der Dichtung. 60 Der «vif esprit» charakterisiert etwa den wichtigsten Konkurrenten Pierre de Ronsard. 61 Solche «Energie» macht den Genius aus und ist - durchaus in Übereinstimmung mit Quintilian - der Inbegriff des figurai erreichbaren Ziels. Das Wort «énergie» kommt deshalb im Text zweifach, in beiden Varianten vor: einmal als Figur - «vertu ghist aux mots propres usités et non aliénés, du commun usaige de parler, aux metaphores, comparaisons, similitudes, energies, et tant d'autres figures et ornemens» 62 - und als Übersetzung für das höchste, was in der Dichtung geleistet werden kann und deren erste Ursache ist - «à cause de ceste divinité d'invention qu'ilz ont plus que les autres, de ceste grandeur de style, magnificence de motz, gravité de sentences, audace & varieté de figures, & mil'autres lumières 57 58 59 60
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Du Bellay, Deffence, p. 171. Du Bellay, Deffence, p. 178. Du Bellay, Deffence, p. 70. Diese Variationen beispielsweise in Deffence, pp. 73 (vif), 78 (energie, etymologisch), sowie 80 (vive energie, natürlich), 43 (exprimer au vif, stilistisch), 75 (écrire au vif rhetorisch). Cf. das «Seconde préface» zu L'Olive. In: Œuvres poétiques, ed. Henri Chamard, Paris 1982, p. 13. Du Bellay, Deffence, p. 35. - Henri Morier, Dictionnaire de poétique et de rhétorique, 3. éd. augm. et entièrement refondue, Paris 1981, pp. 409 (énergie), 527 (hypotypose), unterstreicht Herkunft und Tendenz dieser Stelle als exemplarisch nach Quintilian. 25
de poesie: bref ceste energie, & ne scay quel esprit, qui est en leurs ecriz, que les Latins appelleroient genius».63 Über das «je ne sais quoi» wird die energeia bei Du Bellay - wie bei Quintilian und Erasmus - mit dem Sublimen in Verbindung gebracht, das sich der klaren Definition und dem gefaßten Begrifflichen entzieht und damit bereits jenseits von Poetiken liegt. So wie die energeia eine poetische Definition überschreitet, so hat auch die Sprache etwas nicht definierbares Eigenes, das Du Beilay durch «je ne sais quoi» charakterisiert und das Sprache und Dichtung a fortiori unübersetzbar macht: «d'autant que chacune Langue a je ne scay quoy propre seulement à elle.»64 Auf das Erkennen der im Inneren versteckten «vertus», die genau wie die «force» auf die energeia verweist, auf die Kraft des Autors und die Kraft der Worte kommt es bei einer richtigen Übertragung von Fremdem in Eigenes an. Die unbestimmbare Eigenheit der Sprache erregt, durch die energeia des Dichters richtig behandelt, in höchstem Maße die Affekte. Daß die Erregung der Affekte das letzte Ziel der Kunst ist, die pierre de touche, macht die energeia zur entscheidenden Tugend. 65 Der Dichter, nach dem Du Beilay sucht, hält die Zügel der Erregung fest in der Hand und macht mit dem Leser, was er will: «qui me fera indigner, apayser, ejouyr, douloir, aymer, hayr, admirer, etonner». 66 Die energeia und das durch sie bewiesene Genie macht bei Du Beilay wie bei Erasmus den entscheidenden Unterschied zwischen sklavischer Nachahmung und richtig verstandener imitatio aus. Sie hat als einzige in jeder Hinsicht bewegende Fähigkeiten. Mit der energeia kommt Du Beilay wie Erasmus auf den Topos der ut pictura poesis, auf den Vergleich der Dichtung mit der Malerei. 67 Tertium comparationis ist, wie könnte es anders sein, die bloße (linguistisch unreflektierte) Übersetzung aus den alten Sprachen, der nicht gelingen kann, was die (richtig verstandene) Übertragung qua translatio (als translatio in dem von Du Beilay auf einen neuen Stand gebrachten, kulturtheoretischen Sinne) leisten soll und in Petrarcas Texten bereits konkret geleistet hat. Die Übersetzung scheitert, wenn sie sklavische Nachahmung bleibt wie die Malerei, an der offensichtlich wird, daß sie keine energeia hat. Du Beilay stimmt mit Erasmus überein, daß es der Malerei schlicht nicht gelingen kann, mit dem Körper des Abgebildeten seinen Geist beseelt darzustellen. 68 Die Malerei steht im Wettstreit der Künste auf einer niedrigeren Stufe als die Dichtkunst, an der sich umgekehrt der Wert wahrer translatio beweist und ablesen läßt, was in der bloßen Sichtbarkeit der 63 64 65 66 67 68
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Du Du Du Du Du Du
Beilay, Beilay, Beilay, Beilay, Beilay, Beilay,
Deffence, Deffence, Deffence, Deffence, Deffence, Deffence,
p. 40. p. 36. pp. 178-80. p. 179. p. 182. p. 41.
Malerei gemeinhin verloren geht, an der Sichtbarkeit des Abbildens als energeia nicht vor Augen treten kann. Energeia braucht das Medium der Sprache und die Verfaßtheit der Texte, um die Vertretung von Sterblichem durch Unsterbliches ins Werk setzen zu können. Mit den lebendigen Worten, die im Text aufgehoben sind, überlebt der Name des Autors und tritt an die Stelle des sterblichen Körpers. Der Schluß der Deffence, die in einem pamphletartigen Aufruf zur Plünderung Roms gipfelt, illustriert die energeia in dem älteren Namen der Dichtergruppe der Pléiade; denn bevor diese zu den Sternen griff und sich selbst kurz entschlossen in den Himmel versetzte, trug sie den martialischen Namen Brigade. Angesichts der strahlenden Ergebnisse der Pléiade hat man leicht übersehen, um welchen Preis es dazu gekommen ist. Der Schluß der Deffence betont den auto-referentiellen Aspekt dieses kriegerischen Unternehmens; er ist eine großartige mise en scène der aufgewandten energeia. In Szene gesetzt werden vor allem Aktualität und Schlagkraft: die Effizienz der Rede und die ihr zugrundeliegende Umsetzung von Rhetorik in Handlung. Wie das nackte Schwert wird der Text in actu schneidend und schlagend, beweist er seine actualitas.69 Du Beilays Deffence ist in diesem strengen, rhetorischen Sinne von aktueller Stoßkraft, in der sich spätere sprechakttheoretische Unterscheidungen wie die Austinschen von «illocutionary force» und «perlocutionary effect» ankündigen - «force» und nicht, wie in der linguistisch verharmlosenden deutschen Übersetzung «Rolle».70 Die Kraft der Du Bellayschen actualitas ist in doppelter Weise von der energeia geprägt: sie koppelt im Anschluß an Aristoteles Metapher translatio und energeia zusammen. Bedingung von energeia ist selbst wieder translatio. Das Genie ist deshalb auch nur insofern so etwas wie , als es sich in einem komplexen Spiel von Enteignung und Aneignung Fremdem sowohl anverwandelt als Fremdes in Eigenes verwandelt. Dieser doppelte Prozeß erhält im Anschluß an Quintilians Behandlung der energeia eine erhabene Qualifikation. Im «je ne sais quoi» kündigt sie den Grenzwert einer Poetik an. Da die Fähigkeit, einem Text Leben zu geben oder wiederzugeben, in der Praxis der Imitation mit dem römischen Erbe zusammengeschlossen ist, wird die energeia zum Produkt und Produzenten des Textes. Präformiert von energeia, inszeniert und illustriert der Text diese Figur, stellt er sie - dank und mittels der translatio per analogiam der Alten in das Eigene, Neue - lebendig, beseelt vor Augen. 71 69
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Du Beilay, Deffence, pp. 36. Das Gleichnis vom Schwert in der Scheide stammt aus Quintilian, Institutio oratoria, VIII, p. 15. Siehe Rüdiger Campe, «Pathos cum Figura - Frage: Sprechakt». In: Modern Language Notes 105 (1990), pp. 472-493. Zu dieser Doppelfunktion der rhetorischen Figuren Perrine Galand-Hallyn, «Enargeia maniériste, enargeia visionnaire des prophéties du Tibre au Songe d'océan». In: Bibliothèque d'Humanisme et Renaissance 53 (1991), pp. 305-328.
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Energeia und enargeia können so auch als Indiz für Du Beilays dichterische Entwicklung dienen, ein Sachverhalt, der seinerseits ein rhetorisches, an Cicero illustriertes Schema der translatio der Lehre auf das diese exemplarisch vor-lebende Leben variiert. 72 Im Gedichtszyklus der Olive, als dessen Vorwort die Deffence auch zu lesen ist,73 geht es darum, lebendig vor Augen zu stellen, ein beseeltes Portrait zu malen. Dieser Versuch schließt an die petrarkistischen Topoi an und steht in Konkurrenz zu Ronsard, dem er - zumindest scheinbar - den Vorrang einräumt. Du Beilay reicht allerdings in der Olive an die Paradoxien Petrarcas nicht heran, welche die Figur der enargeia gerade in ihrem vermeintlichen, immer neuen Scheitern im vollen Umfang variieren: von der memoria und der Spur über das phantasma und die Erscheinung. Er bleibt auch hinter Petrarcas raffinierter Dialektik zwischen der Betonung des Signifikanten im Gegenzug zum permanent in den Vordergrund gerückten Thema der Darstellung, des Signifikats, zurück. Anders der Zyklus der Antiquitez, der im Zeichen einer «morte peinture» als ein programmatisches Anti-enarge/a-Unternehmen zu lesen ist. In ihm kommt Du Beilays eigene Dichter-Kraft in einer paradoxen tour de force zum Zuge, die das Programm der Deffence, die translatio der Alten ex negativo, im Projekt einer negativen Poetik bewältigt. Das ist der Punkt, an dem Caves - und nicht nur seine - Einschätzung zu kurz greift, in dieser Verkürzung aber die Gründe für die herrschende Fehleinschätzung Du Beilays bloßlegt. «Elocutio is the stumbling block of translation» bei Du Bellay, hat Cave erkannt und auch, daß bei ihm Dichtung «the supreme and most problematic form of elocutio-eloquentia» sein muß. 74 Sie ist es aber nicht, um diese Problematik aus der Welt zu schaffen, sondern um sie als primordiale anstelle der Fiktion der falschen «primordialen Impulse» zu bearbeiten. In den Antiquitez und den Regrets geschieht dies auf gegenläufige Weise. Mit dieser Wende der Antiquitez gewinnt Du Beilay den Vorteil zurück, den er Ronsard in der Olive noch hatte konzedieren können. In der pointierten, fast polemischen Abkehr von der enargeia setzt Du Beilay sich von einer Zeit, die in dieser Figur den Inbegriff ihres Ehrgeizes gefunden hatte, ab. Vor Augen gestellt werden soll in den Antiquitez höchstens das schiere Nichts in seiner ganzen Nicht-Anschaulichkeit, die «grandeur du rien». 75 Rom wird nicht «lebendig dargestellt», sondern 72
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Siehe das ramistische Cicero-Schaubild, das den rhetorischen terminus Ciceronianus exemplarisch macht, Petri Rami Ciceronianus. In: Walter Ong, Ramus. Method and the Decay of Dialogue, p. 30. Du Bellay, «Seconde Préface» zu L'Olive, p. 14. Cf. François Rigolot, «Esprit critique et identité poétique. Du Bellay préfacier». In: Du Bellay. Actes du Colloque International d'Angers, ed. Georges Cesbron, Angers 1990,1.1, pp. 285-300. Cave, The Cornucopian Text, pp. 62, 63, auch 68. Bei anderer Gelegenheit, der Schilderung des Schildes von David, spielt Du
post- energeia und post- enargeia taucht es als die unheimliche Rückseite einer fehlgeschlagenen Belebung auf, als umherirrender, nur scheinbar belebter Kadaver, als Gespenst und simulacrum des Lebens. Die gleichzeitigen Regrets inszenieren demgegenüber das vielfältige theatrum mundi.16 Was in diesen Texten auf die Bühne gebracht und in ihnen zu lesen ist, sind Simulacren und Masken, täuschend-leerer Schein und nicht-wahres Leben. Hinter dem Scheinleben auf der Bühne, die eine verkehrte Welt darstellt, in der alle Werte Kopf stehen, steht die vanitas, die Du Beilays Zyklus immer wieder enthüllt, kein prunkendes Leben also, sondern die Nichtigkeit der Welt. Bevor ich zu den poetologischen und poetischen Möglichkeiten komme, die sich im Gefolge der Deffence in Antiquitez und Regrets auftun und widersprüchlich ausnehmen, sind die kulturtheoretischen Implikationen der translatio im einzelnen durchzusehen, die in der Poetik Du Beilays nicht so sehr rhetorische Gemeinplätze tradiert, sondern deren durch Erasmus vorbereitete Aktualisierung vollzieht. Translatio - exemplarische Ausarbeitung ( D u Beilay) Die erste Opposition, die in der Deffence zum Einsturz gebracht wird, ist die Grenze, die Europa seit der Antike trennte, die Grenze nämlich zwischen Barbaren, Griechen und Römern. In der italienischen Renaissance gewinnt sie eine erneute, problematische Geltung. Petrarca thematisiert sie am Ende des europäischen Mittelalters und gibt ihr eine neue, nationalistische Wendung. 77 Die Essenz, die Petrarca gerettet wissen möchte, wird nicht allein durch perfektes Beherrschen des Lateinischen garantiert; sie hängt jetzt, anders als im Römischen Reich, an Boden und Blut. Abgelöst von der italienischen Nation wird das Lateinische, europäische Sprache der Gelehrten, re-nationalisiert. Lorenzo Valla spricht von den Italienern als Römern, von und : Gewaltig ist daher das Sakrament der lateinischen Sprache, gewaltig fürwahr ihre Göttlichkeit, welche bei den Fremden, bei den Barbaren und sogar bei den Feinden heilig und gewissenhaft so viele Jahrhunderte hindurch bewahrt
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Beilay das Paradebeispiel aller ekphrasis, den Schild des Achill in der Ilias, mit dem knappen Gegenteil jeder solchen ekphrasis aus: «Nembroth estoit protraict en son boucler.» (La monomachie de David et de Goliath, III, v. 75). Siehe auch Marie-Dominique Legrand, «La référence picturale dans l'œuvre de Joachim Du Bellay». In: Du Bellay. Actes du Colloque International d'Angers 1989, ed. Georges Cesbron, Angers 1990, t. I, pp. 325-344. Cf. Malcom Quainton, «Les Regrets. Une poétique de parade». In: Du Bellay. Actes du Colloque International d'Angers, ed. Georges Cesbron, Angers 1990, t. I, pp. 249-59. Cf. den auf Du Bellay zugespitzten Überblick bei Eric MacPhail, «Nationalism and Italianism in the Work of Joachim Du Bellay». In: Yearbook of Comparative and General Literature 39 (1990/91), pp. 47-53. 29
wurde, so daß wir Römer nicht so sehr darüber zu trauern brauchen, als uns vielmehr daran erfreuen und sie vor den Ohren der ganzen Welt preisen müssen. Zwar haben wir Rom verloren, haben das Reich und die Herrschaft verloren - wenn auch nicht durch unsere Schuld, sondern durch die der Zeit - , aber dennoch regieren wir durch die glänzende Herrschaft der Sprache in einem großen Teil der Erde ... Dort nämlich ist römisches Reich wo die römische Sprache herrscht.78
Nachdem die Italiener zu Römern geworden sind, müssen alle anderen zu fremden Nationen und damit zu Barbaren werden. Der Terminus des Barbaren wird eine ontologische Größe; «Fremde» sind und bleiben Barbaren. Der casus belli für diese humanistisch-nationalistische Sprachpolitik stammt aus Du Beilays intellektuellem Milieu: Christophe de Longueil, brabantischer Abkunft, Schüler von Guillaume Budé in Paris, dann Schüler von Pietro Bembo in Rom wird 1519 wegen seines idealen Lateins, das den Stil des Marcus Tullius Cicero so perfekt imitiert, der Ehrentitel des römischen Bürgers verliehen, die an keinen «Barbaren» vor ihm verliehene höchste Ehre der Ciceronianer. Der Fall wird nicht erst den Ciceronianus des Erasmus mitbewegen; die sich daraus entspinnende Kontroverse brachte schlagartig die geopolitische Latenz der Auseinandersetzung heraus und wurde so bedrohlich, daß Longueil es vorzog, sich nach Venedig zurückzuziehen. Sie war nicht ohne offene politische Pointe, weil Longueil in seiner Pariser Zeit eine Art Deffence et Illustration des Französischen geschrieben hatte, in der er Frankreich Italien gleichstellt und zu einer Plünderung Italiens in einer translatio studii aufruft. So souverän sich Erasmus auch über diese Art von Nationalismus, über diese Form der imitatio des Ciceronianismus mokieren konnte, so war sie zur Zeit Du Beilays weder politisch noch sprachpolitisch ad acta gelegt. Die Ironie des Erasmus konnte sich daran beruhigen, daß ein Bürger von Basel ungleich besser gestellt ist als ein Bürger von Rom (was schon am Wortwitz des kaiserlichen Namens Basileia zum Ausdruck kommt); mutantur tempora?9 Die Trennung zwischen Barbaren und zivilisierten Menschen wird zum Herzstück der humanistisch-nationalistischen Diskurse. Die Sprache, so Lazaros Argument in Speronis Dialogo, ist das, was den Menschen vom Tier unterscheidet. Die einzig vollkommenen und deshalb einzig menschlichen Sprachen sind das Griechische und das Lateinische; alle «Fremdsprachigen» sind folglich in unterschiedlichem Grade irrationale Geschöpfe, Barbaren, nicht ganz menschlich, tierisch. «Ad maiorem linguae 78
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Vorwort zum ersten Buch der Elegantien\ Übersetzung nach Eugenio Garin, Geschichte und Dokumente der abendländischen Pädagogik, t. II, Hamburg 1958, p. 219. Erasmus, Ciceronianus, p. 694, 31-33: «Nunc autem quid est esse ciuem Romanum? Profecto minus aliquanto quam esse ciuem Basiliensem, si contemptis verborum fumis, rem aestimare libeat».
latinae gloriam» schickt er sich an, diese Ordnung der Dinge wie vordem «ad maiorem Dei gloriam» zu feiern: «ove possiamo e debbiamo esser uomini, sia umano, cioè Latino il ragionamento», sind «uns Menschen» angemessen einzig das Lateinische und Griechische, jede Abweichung von der ewigen und unverderblichen Vollkommenheit des Lateinischen Degradation. 80 Die von Dante getroffene Unterscheidung zwischen der natürlichen Instabilität der Volkssprachen und der ewigen Norm des Lateinischen wird für Lazaro zum Vorwand; 81 nicht allein sind die Volkssprachen veränderlich, sondern diese in sich schon abträgliche Veränderlichkeit verdankt sich der Kontamination durch barbarische Sprachen. So ist das Italienische ein durch Barbaren entartetes Latein. Dem Italienischen ist nicht nur das Kainsmal des Französischen und Provenzalischen infam auf die Stirn geschrieben; 82 jede barbarische Invasion hat in ihm Spuren hinterlassen, so daß das Italienische «eine verschwommene Mischung aller Barbareien dieser Welt» ist, lebendiges Zeugnis der italienischen Knechtschaft. 83 Im Verhältnis zum Lateinischen ist das Italienische Falschgeld.84 Im Italienischen spricht die Fremde, bezeugt sich immer wieder neu der Verlust des Imperiums und des «nome Latino» und damit der Verfall des Menschlichen. 85 Eine Sprachtheorie, die auf eine verlorene Identität setzt, kann bestenfalls auf die restaurado des verlorenen Zustandes hoffen; ihr muß es deshalb politisch darum gehen, entweder die vorhandene Vorherrschaft des Lateinischen imperialistisch, als Kompensation für den Verlust des Reiches, zu deuten und darin den klassischen Standard wiederzubeleben oder, extremer, auf eine restaurado Romana zu hoffen. Dagegen muß ihr alle translatio, die Differenz einschließt, als Veränderung zum schlechten Anderen, als , Verfall vorkommen. In Du Beilays Deffence dagegen ist die Grenze zwischen den barbarischen Sprachen und dem Lateinischen nicht ontologischer Art, sondern markiert einen relationalen Unterschied; jeder Fremde ist Barbar, so wie jeder Barbar in der Fremde ist. «Barbarus hie ego sum» schrieb Ovid erstaunt und in bitterer Ironie aus der Fremde des Exils. Du Beilay hätte das zum Motto seiner Deffence machen können, ein Motto, das zum Tatbestand geworden ist, und aus dem Erstaunen und Ironie gewichen sind. Jede Sprache ist im Prinzip barbarisch, weil keine reinen Ursprungs ist, sondern immer nur durch Einverleibung von Fremdem lebt. Sprachen sind Menschenwerk, nicht natürlich, sondern künstlich, nicht gottgege80 81 82 83 84 85
Speroni, Dialogo, p. 175. Dante, Convivio I, 5 (nach Opere minori, 1.1/2, edd. Cesare Vasoli, Domenico de Robertis, Mailand / Neapel 1988). Speroni, Dialogo, p. 174. Speroni, Dialogo, p. 173. Speroni, Dialogo, p. 179. Speroni, Dialogo, p. 179. 31
ben, sondern von Konvention und Willkür bestimmt. Du Beilay vergleicht die Vielheit der Sprachen gleich zu Anfang mit dem babylonischen Sprachengewirr, das als menschengemacht und deshalb beeinflußbar und veränderbar gedeutet wird. Mit dieser positiven Deutung besetzt er den negativen Topos Babel um. 86 Dante hatte im Convivio die Vielsprachigkeit, zu der eigentlich nicht die romanischen, als Variationen des Lateinischen aufgefaßten Sprachen, wohl aber die «barbarischen» Sprachen gehörten, als biblische Bestrafung menschlichen Hochmuts zitiert. Indem Du Beilay Zufälligkeit und Konventionalität der Sprachen hervorhebt, unterstreicht er das Moment des Könnens und der Kunst, um nicht zu sagen der Perfektibilität: Donques les Langues ne sont nées d'elles mesmes en façon d'herbes, racines & arbres: les unes infirmes & debiles en leurs espèces: les autres saines & robustes, & plus aptes à porter le faiz des conceptions humaines: mais toute leur vertu est née au monde du vouloir & arbitre des mortelz. 87
Diese Pflege hat die französische Sprache bisher nicht genossen - weil die Gallier nicht verstanden haben, was die Römer begriffen: daß nur durch die Dichter Geschichte erinnerbar bleibt und Nachruhm möglich ist. Jean Dorat, der Lehrer Du Beilays und der Pléiade bringt in dem griechischen Eingangsepigramm, das er zur Deffence beigetragen hat, die Konkurrenz zwischen Feder und Schwert auf einen emblematischen Punkt und unterstreicht mit dem Motiv des nationalen Wettstreits sein Kompliment an Du Beilays Projekt: Il n'y a qu'un seul bon augure, c'est de combattre pour la patrie, a dit la douce éloquence de la Muse homérique. Et moi, je dirai en parodiant le poète: il n'y a pas de plus grand honneur que de combattre pour la langue de la patrie. Aussi, du Bellay, de même que tes ancêtres se sont entendus appeler patriotes pour avoir défendu la terre de la patrie, de même, toi qui plaides pour la langue paternelle, tu auras à jamais un renom aussi comme bon patriote. 88
Die Deffence, zu der man sich kaum einen treffenderen Eingang denken kann, wird nicht müde, in vielen Beispielen die bittere Notwendigkeit der Feder, ohne die alles nichtig ist, zu unterstreichen. Einzig die Schrift garantiert Überleben, Ruhm über das Grab hinaus. Dichtung ist Epitaph, Monument, Denkmal, haltbarer als Erz und Stein, das zuverlässig dem Zahn der Zeit widersteht. Sang- und klanglos wäre der Name mit dem Körper dem Verschwinden ausgeliefert, würde ihn die Dichtung nicht im Gedächtnis halten. Einen Homer zu finden, der für den Nachruhm sorgt, 86
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Über Babel in der Sprachdiskussion des 16. Jahrhunderts Cf. Jean Céard, «De Babel à la Pentecôte. La transformation du mythe de la confusion des langues au XVI e siècle». In: Bibliothèque d'Humanisme et Renaissance 42 (1980), pp. 577-594. Du Bellay, Deffence, p. 12. In der Übersetzung von Sainte-Beuve nach der Einleitung von Chamard, Du Beilay, Deffence, p. 10.
indem er den Namen verewigt, ist deshalb wichtiger, als eine große Schlacht zu gewinnen. Du Beilay greift auf das berühmte Beispiel in Ciceros Pro Archias zurück, das bereits Petrarcas Canzoniere aufnimmt. 89 Que diray-je de cet autre grand monarque, qui desiroit plus le renaître d'Homere que le gaing d'une grosse bataille? & quelquefoys étant près du tumbeau d'Achile, s'écria haultement: O bienheureux adolescent, qui as trouvé un tel buccinateur de tes louanges! Et à la vérité, sans la divine Muse d'Homere, le mesme tumbeau qui couvroit le corps d'Achille, eust aussi accablé son renom. Ce qu'avient à tout ceux qui mettent l'asseurance de leur immortalité au marbre, au cuyvre, aux collosses, aux pyramides, aux laborieux edifices, & autres choses non moins subjectes aux injures du ciel & du tens, de la flamme & du fer, que de fraiz excessifz & perpetuelle sollicitude. 90
Nicht die Fakten zählen, sondern die Verarbeitung der Fakten im Medium der Dichtung. Du Beilay unterstützt damit die sich in der Renaissance anbahnende Verquickung zwischen Dichtern und Mächtigen Dichtung als Lobgesang und Ruhmeshymne auch und vor allem auf die Herrschenden. Die Vorteile einer solchen Allianz - hier mag auch die Konkurrenz zur Architektur eine Rolle gespielt haben - legt er ihnen nachdrücklich ans Herz. Das Aufblühen von Sprache und Dichtung geht mit dem Aufblühen des Reiches Hand in Hand. Wenn die translatio mit der Herrschaft der Monarchie nach Frankreich übergegangen ist, wird dort mit einem neuen Augustus ein neuer Vergil kommen. Die heidnische Idee des Unsterblichwerdens durch die Dichtung in der Erinnerung der Nachwelt, für die der heroische Tod in Kauf genommen wird, vermischt sich eigenartig mit der christlichen Auferstehungsidee, ein Synkretismus, der für die harten Humanisten und Ciceronianer der zentrale Gesichtspunkt war: «ma la lingua Latina ha virtù di fare d'uomini Dei, e di morti, non che di mortali che siamo, immortali per fama» lobt der Lazaro Speronis.91 Du Beilays translatio überträgt ein von den Humanisten ausschließlich für die griechische und lateinische Sprache entwickeltes Argument auf alle kultivierten Sprachen. Der sakramentale Charakter, den das Lateinische und das Griechische bei Lorenzo Valla hat und den Speronis Peretto in der Rede von der göttlichen Sprache ironisiert, 92 wird bei Du Beilay nicht geleugnet, aber seines exklusiven Anspruchs enthoben. Alle Spra89
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Petrarca, Canzoniere, 187: Guinto Alessandro a la famosa tomba del fero Achille, sospirando disse: «O fortunato che sì chiara tromba trovasti et chi di te sì alto scrise!» Nach Petrarca, Rime, Trionfi e Poesie Latine, edd. Ferdinando Neri et al., Mailand / Neapel 1951. Du Bellay, Deffence, pp. 134/35. Speroni, Dialogo, p. 180. Speroni, Dialogo, p. 198. 33
chen können bei richtiger Pflege über das Grab hinaus in Erinnerung halten, unsterblich machen, vergöttlichen. In der Deffence kehrt der mit dieser Macht der Sprache traditionell verknüpfte imperiale Topos, der die Reichweite der Dichtung an die zeitlichen und geographischen Grenzen des Imperiums bindet, wieder. Die Erweiterung der Sprache und die Erweiterung des Territoriums gehen - wie im Epigramm Dorats vorgesehen - Hand in Hand. La gloire du peuple Romain n'est moindre (comme a dit quelqu'un) en l'amplification de son langaige que de ses limites. Car la plus haulte excellence de leur republique, voire du tens d'Auguste, n'etoit assez forte pour se deffendre contre l'injure du tens, par le moyen de son Capitole, de ses thermes & magnifiques palaiz, sans le benefice de leur Langue, pour la quele seulement nous les louons, nous les admirons, nous les adorons. 93
Indem Du Bellay die Macht der Sprache und der Dichtung anerkennt, ermöglicht er den gezielten Einsatz des Mediums, dem sich der Weltruhm der Römer so gut wie ausschließlich verdanke. Auch in der Bestimmung des Verhältnisses von Schrift, Ruhm und Tod dienen ihm die Römer und Griechen als Vorbild. Der Vorsprung, den die Römer vor den Galliern haben und der ihnen de facto ermöglicht, diese Barbaren zu nennen, liegt für Du Beilay nicht in einer unterschiedlichen historischen Lage oder Faktizität, sondern in einem Vorsprung anderer Art, dem Begreifen des Mediums Dichtung, das die Alten so hervorragend einzusetzen wußten. Was die Römer vor allen Völkern auszeichnet, ist gegen den Strich der landläufigen Meinung und römischer Selbstdarstellung nicht ihr Mut, ihre Tapferkeit, kurz ihre Tugend; es ist Du Beilay zufolge das konsequente Einsetzen eines Mediums, das diese Tugend überlebensfähig macht. Die Römer werden von der ganzen Welt so gefeiert, ihre Taten sind so lange unbeschädigt im Gedächtnis geblieben und überstrahlen über Jahrhunderte hinweg den Glanz aller anderen Völker, weil sie begriffen, was Dichtung als Medium von Macht zu leisten vermag. Die Geschichte der Gallier und später der Franzosen hingegen ist so schlecht aufgeschrieben worden, daß sie nicht nur den Ruhm, sondern noch die Erinnerung an die Vorfälle selbst verloren haben. Die Franzosen sind ein Volk ohne Geschichte, weil sie sich in diesen entscheidenden Dingen nachlässig einer armen und unfruchtbar belassenen Sprache anheim gegeben haben. Weil sie die Bedeutung der Sprachpflege für die Erinnerung verkannt und den Wert der Dichtung nicht verstanden haben, sind jetzt auch ihre Taten, in die sie alle ihre Energie setzten, vergessen: mais bien on le doit attribuer à l'ignorance de notz majeurs, qui ayans (comme diet quelqu'un, parlant des anciens Romains) en plus grande recommendation le bien faire que le bien dire, & mieux aymans laisser à leur postérité les exemples de vertu que les preceptes, se sont privez de la gloyre de leurs bien faitz, & nous du fruict de l'immitation d'iceux: & par mesme moyen nous ont laissé 93
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Du Bellay, Deffence, pp. 183/84.
nostre Langue si pauvre & nue, qu'elle a besoing des ornementz & (s'il fault ainsi parler) des plumes d'autruy.94
Null und nichtig sind die Taten der Gallier, weil sie nicht begriffen haben, daß das dieser Taten nur im Gedächtnis der Nachwelt bleiben und für den weiteren Verlauf der Geschichte fruchtbar gemacht werden kann, wenn es mit dem Hand in Hand geht. Dieser Mangel an Verständnis ist nun kein Laster, sondern liegt im Gegenteil in einer Tugend begründet; der Tugend nämlich, nicht lange zu reden, sondern zu handeln. Denn das überlebenswichtige ist ein zweischneidiges Schwert. Dichtung kann propagandistisch zu ideologischen Zwecken eingesetzt werden; sie kann mit anderen Worten Fiktion im schlimmsten Sinne sein - was wiederum an den Römern gut zu sehen ist. In ihrem grenzenlosen Ehrgeiz und ihrer unersättlichen Ruhmsucht, befindet die Deffence, haben die Römer Dichtung nicht nur dazu benutzt, Geschichte im Gedächtnis zu behalten, sondern sie zu verfälschen. 95 Die Ruhmestaten der Gallier kehren sie unter den Teppich und verleumden sie. Die Gallier sind ihr auserkorenes Opfer, weil sie der stärkste Gegner waren und deshalb am meisten gedemütigt werden mußten. Die Gallier finden sich am Ende dieses Prozesses nicht nur um ihre Geschichte gebracht das ist ihre eigene Schuld - sondern mit der Verleumdung einer Geschichte zurückgelassen, die sie weiter mit sich herumschleppen - das geht auf den unlauteren, römischen Einsatz des Mediums Dichtung zurück. Zum schlechten Ende finden sie sich diffamiert. A quoy a bien aydé l'envie des Romains, qui comme par une certaine conjuration conspirant contre nous, ont extenué en tout ce qu'ilz ont peu notz louanges belliques, dont ilz ne pouvoint endurer la clarté: & non seulement nous ont fait tort en cela, mais pour nous rendre encor' plus odieux & contemptibles, nous ont apellez brutaux, cruelz & barbares.96
Doch warum, fragt Du Bellay, haben die Römer nicht auch die Griechen Barbaren genannt? Es kann nicht daran liegen, daß die Griechen nach innen. In Du Beilays Sonett erfüllt sich die Prophezeiung des Hannibal, aber ganz anders als Horaz es sich vorstellt. Rom ist geworden, was Hannibal vorhergesagt hatte: ein Monster, dessen Monsterhaftigkeit in seiner vom Feind in der Niederlage bestätigten unendlichen Regenerationsfähigkeit liegt, die es jedoch nicht unbesiegbar macht, sondern umgekehrt in blindwütige Selbstzerstörung treibt. Seine Stärke ist seine Schwäche. Was bei Horaz Signum der Unbesiegbarkeit war, wird bei Du Beilay sicheres Zeichen des Untergangs. Besonders perfide - «perfidus Hannibal» - ist die Art, wie Du Beilay den Hannibal von Horaz in den Mund gelegten Vergleich auf den Urtext des Brudermordes bezieht. Hannibal nämlich kommt zu seinem Vergleich 210
211 212
Ich folge hier dem Kommentar der Ausgabe der Oden und Epoden, erklärt von Adolf Kiesling, ed. Richard Heinze, Berlin 7 1930, p. 412, in der Annahme, daß in der letzten Strophe nicht mehr Hannibal, sondern das lyrische Ich spricht. Horaz-Kommentar von Heinze/Kiesling, p. 410. Du Bellay, Antiquitez X, v. 2.
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im Schmerz über seinen Bruder Hasdrubal, der eine Schlacht gegen die Römer verloren hat. Mit dieser Niederlage ist nicht nur der Untergang des karthagischen Namens in einem ergreifenden Vers des Horaz besiegelt: «[...] occidet, occidet / Spes omnis et fortuna nostri / Nominis Hasdrubale interempto» / «dahin, dahin / Ist alle Hoffnung, unsres Namens / Größe, denn Hasdrubal ist gefallen». 213 Der vom Feind betrauerte Fall des Bruders und Karthagos ist jedoch, wie sich in den späteren Sonetten herausstellt, Grund für den römischen Bruder- und Bürgerkrieg und damit für den Fall Roms. Der Sieg über Karthago ist, so Du Beilays Paradox, der Fall Roms: O que celuy estoit cautement sage, Qui conseillent pour ne laisser moisir Ses citoiens en paresseux loisir, D e pardonner aux rampars de Cartage! 214
Die neuralgische Funktion des Horazschen Intertextes für den Zyklus wird durch ein anderes semantisches Feld unterstützt: das der Zeugung, der Fortpflanzung, der Vererbung, das der - wie man altmodisch zu sagen pflegt - Rasse. 215 Drusus, der sich auf die Vindeliker stürzt, wie der junge Adler auf die Schlange, wird von seiner Jugend und von dem «patrius vigor» 216 getragen; Starke zeugen Starkes, in jungen Stieren und jungen Pferden erkennt man die Kraft der Väter; unbezwingbare Adler zeugen keine Tauben: «Fortes creantur fortibus et bonis». 217 Der der virtus geschuldete Triumph des römischen Volkes ist Erbmasse, weitergegeben durch die Zeugung, Manneskraft durch Manneskraft, in einem ganz und gar männlichen, fast tautologischen Verfahren. Das semantische Feld des Samens, der Besamung, der Zeugung ist in Du Beilays Sonett sehr prominent; die Wurzel *sem taucht allein dreimal auf; sie bildet überdies das letzte Wort des Sonetts. 218 Mit der Wurzel *sem ist das Wortfeld des Zeugens («engendrer») und die im «pleine» angedeutete Schwangerschaft der Stadt assoziiert, die Antiquitez X auch an die vergilsche Prophezeiung in Antiquitez VI «grosse d'enfants» (Aeneis, in Du Beilays Übersetzung) oder «foisonnante en enfants» anbindet. Die Mutter Erde und die Stadt Rom werden über die durch das Betonen 213 214 215
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Horaz, Carmina IV, 4, 70-72. Du Beilay, Antiquitez XXIII, w . 1 - 4 . Horaz achtet darauf, daß er Erbe und Erziehung zugleich lobt. Damit wird er einerseits dem Adoptivvater von Claudius, Augustus, gerecht und betont andererseits die direkte Herkunft des Claudius von eben den Vorfahren, die gegen Hannibal siegreich gewesen sein sollen. Für Du Beilay ist nicht das semantische Feld der Erziehung, sondern das der Herkunft bestimmend. Horaz, Carmina IV, 4, 5. Horaz, Carmina IV, 4, 29-33. Dem Französischen kommt in diesem Kontext zugute, daß Säen und Besamen dasselbe Wort sind.
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der Rundheit noch unterstrichene Fruchtbarkeit in Verbindung gebracht. Die Saat jedoch, die hier aufgeht, ist nicht die männlich gezeugte virtus, sondern die monsterartige Fruchtbarkeit der Erdgeborenen. Römische Geschichte ist nicht von immer wieder siegreich sich durchsetzender virtus, von tugendhaft reiner Manneskraft bestimmt - das wiederholte «brave», die Du Bellaysche Übersetzung von virtus, ist deshalb auch mehr als zweideutig - sondern vererbt wird die brudermordende Wut; diese, und nicht, wie Horaz meinte, die noch durch die Niederlage gesteigerte Kraft, erneuert sich ständig. Die Substanz Roms, der in ihr immer wieder aufschwellende Samen, der ihren «Leib wie den der Hydra gewaltig aufwachsen läßt», ist für Du Beilay wie für Dante der «mal seme d'Adamo», 219 mutatis mutandis das römische Verhängnis, das als eine Art Erbsünde ausagiert wird. An die Stelle des gegen einen äußeren Feind gerichteten Krieges trägt Du Beilay in den Horazschen Intertext den nach innen gerichteten Brüderkrieg ein, der bei Horaz weggeblendet bleibt, oder besser: korrigiert wird. Bei Horaz rückt die Ode IV,4 die Ode 111,3 zurecht: systematisch, Punkt für Punkt, wird der Bürgerkrieg durch den «guten» Krieg ersetzt. Die Assoziationen an den Bürgerkrieg werden aufgerufen, um umbesetzt zu werden: die beiden Brüder legen nicht Hand aneinander, sondern töten Fremde. Hannibal steht so auch als Garant für den richtigen Krieg, der ein Krieg gegen den äußeren Feind ist. Der im Mythos der Erdgeborenen immer mitschwingende Bruderkrieg wird bei Du Beilay durch Rekurrenz auf Ovids Metamorphosen konkretisiert, die bei Horaz scheinbar gebannte Latenz realisiert, ihm rücklings wieder eingetragen. Du Beilays «enchantement» bezieht sich auf den Gesang der Medea in den Metamorphosen - «carmen / auxiliare canit secretasque advocat artes». 220 Jason, durch zauberhaften Gesang unterstützt, wirft daraufhin einen Stein in die Mitte der bewaffneten Krieger, «lenkt von dem eigenen Leibe gewendeten Kampf auf sie selbst ab. Wechselwunden sich schlagend, verderben die erdeentstammten Brüder und fallen in innerem Krieg». a se depulsum Martern convertit in ipsos: terrigenae pereunt per mutua vulnera fratres civilique cadunt acie. 221
Die verheerende Plötzlichkeit dieses Vorgangs - das unglaublich schnelle Emporwachsen waffenstarrender Soldaten, die, kaum haben sie das Licht erblickt, sich auch schon gegenseitig umbringen, um blutend in den Schoß zurückzufallen, dem sie eben entsprossen sind, hat Du Beilay im Bild des die Ernte zerstörenden Gewitters glänzend illustriert. 219
220 221
Dante, Inferno III, 115. In: Dante Alighieri, La Divina Commedia, ed. Natalino Sapegno, Mailand / Neapel 1957, p. 40. Ovid, Metamorphosen VII, 137 sq. Ovid, Metamorphosen VII, 140-142.
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Die Antiquitez XI setzen den Zyklus der Erdgeborenen fort und bringen ihn mit dem der Giganten in Verbindung. Mars vergongneux d'avoir donné tant d'heur A ses nepveux, que l'impuissance humaine Enorgueillie en l'audace Romaine Sembloit fouler la celeste grandeur, Refroidissant ceste premiere ardeur Dont le Romain avoit l'ame si pleine, Soufla son feu, & d'une ardente haleine Vint eschauffer la Gottique froideur. Ce peuple adone, nouveau fils de la Terre, Dardant par tout les fouldres de la guerre, Ces braves murs accabla sous sa main, Puis se perdit dans le sein de sa mere, Afin que nul, fust-ce des Dieux le pere, Se peust vanter de l'empire Romain. 222
Hier erscheinen die Römer als himmelstürmende Giganten, während die Germanen die neuen Erdgeborenen, «nouveau fils de la terre» sind, durch die die Römer umkommen. Der Bürgerkrieg wird durch die Verwandtschaftsbeziehung zu Mars aufgerufen. Die Dramatik des Gewitters wird durch die Hitze des Krieges verstärkt: das Glühen, das Feuer, der glühende Atem, der die nordische Kälte schmelzen läßt; «dardant» verstärkt durch den vollen Reim «ardant» den Eindruck der Hitze. Das historische Ereignis der Barbareneinfälle gewinnt aber genausowenig wie der Bürgerkrieg ein eigenes, geschichtliches Profil; es bleibt eingebunden in die Chronik des «orgueil» als der Antriebskraft römischer Geschichte. Hochmütig verkennen die Römer die menschliche Ohnmacht, die sie, blind verwandelt in Kühnheit, Tollkühnheit, dazu bringt, an den Himmel heranreichen zu wollen, gottgleich zu werden. Die Goten, die Mars ob dieses Frevels gegen die Römer schickt, werfen die Stadt nieder, um sich dann im Schoß der Mutter zu verlieren. Du Beilay verschiebt das mit den Erdgeborenen verbundene semantische Feld weg vom Brudermord und hin zu der ungeheuren Kriegsbereitschaft der sich im Schoß der Mutter Erde gleich wieder auslöschenden Erdgeborenen. Vers 12 «Puis se perdit dans le sein de sa mere» zitiert «sanguineam tepido plangebat pectore matrem». 223 Diese prompte Rückkehr in den Mutterschoß, in dem Mutter Erde ihrer eben erst entsprossenen Saat sofort zum Grab wird und deren drastisch-ovidsches Blut Du Beilay uns erspart, hat nicht zuletzt deshalb eine eigenartige ödipale Signatur, weil es den Vater der Götter, Jupiter, daran hindert, sich mit dem Römischen Reich zu brüsten. Gegen den antiken unheilvollen Krieg zwischen Himmel und Erde hat Du Beilay in einem wahrscheinlich in Rom abgefaßten Sonett die 222 223
Du Beilay, Antiquitez XI. Ovid, Metamorphosen III, 125. 151
heilsbringende, erlösende christliche Heirat von Himmel und Erde als wahre Prophezeiung und tatsächlich frohe Botschaft gestellt. 224 Weihnachten beendet den Kreislauf der Greueltaten; es versöhnt Gott mit den Menschen. Gegen die Fruchtbarkeit der monsterzeugenden, seltsam inzestuösen Erde steht die Geburt des einzigen Gottessohnes aus der Jungfrau. Gegen die blutentsprungenen Brüder, die, sich gegenseitig blutig schlachtend, in den Mutterschoß zurückkehren, steht ein unversehrter Körper, eine ganz unblutige Fleischwerdung. La Terre et le Ciel, l'homme à la Déité Sont assemblez d'un nouveau mariage. Dieu prenant corps, sans faire au corps outrage Naist aujourd'hui de la virginité. 225
Während Rom als Mutter Erde in weiblicher Selbstzeugung gegen den himmlischen Vater kämpfende Monster gebiert, kommt es hier zu einer Versöhnung des Himmels mit der Erde, die sich in Gottesvaterschaft durch Jungfrauengeburt manifestiert. Rom steht bei Du Beilay nicht wie bei den klassischen Autoren im wenn auch immer bedrohten Namen des Vaters, in einer sich quasi ohne weibliche Zwischenglieder fortzeugenden virtus, sondern im Zeichen inzestuös-mütterlicher ungeheuergebärender Fruchtbarkeit, die ihre eigenen Söhne verschlingt oder umgekehrt von ihnen zerstört wird. 226 Zu diesem Komplex fruchtbarer, aber tödlicher Mutterschaft trägt implizit auch der Jason-Mythos bei, der die Figur Medeas assoziativ in die Textsphäre einbringt, auch wenn deren Name explizit nicht genannt wird. Im Angesicht dieser in den Antiquitez durchschlagenden tiefen Ambivalenz gegen alles Mütterliche nimmt es wenig wunder, daß die Stadt mit einem alle Welt überdeckenden «ventre obscur» verglichen wird, einem Bauch, der aufbricht und aus dem es herausquillt, 227 oder daß das Chaos, zu dem Rom wie die Weltgeschichte zurückkehrt, ein geschlossener «ventre» ist, in dem das Durcheinander der fruchtbaren Samen herrscht. 228 Die sich in sich selbst drehende und auf sich selbst verweisende Selbstgenügsamkeit der Stadt ist nicht nur erhaben konnotiert; ausgesprochen zwiespältig wird sie auch verworfen. Antiquitez XII, das den Vergleich zwischen himmelstürmenden Giganten und 224
225 226 227 228
Vor dem Hintergrund des Weihnachtsfestes und des Marienkults der französischen Gothik, deren Kathedralen so gut wie ausnahmslos Notre Dame heißen, müßte man sich die Umbesetzung ansehen, die der französische Petrarkismus systematisch an Petrarcas Canzoniere III vornimmt. Während Petrarca Laura am Karfreitag kennenlernt, verlegen die französischen Petrarkisten das Datum auf die heilige Nacht. So auch Olive V: C'était la nuyt que la Divinité Du plus hault ciel en terre se rendit. Cf. Du Bellay, Sonnets divers, Sonett XI; ed. Chamard, t. II, p. 262-263. Cf. Du Bellay, Antiquitez XXII. Du Bellay, Antiquitez XX, v. 6. Du Bellay, Antiquitez XXII, v. 12-14.
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Römischem Reich noch einmal explizit aufnimmt, führt aus dem Kriegsgeschehen heraus und stellt das Ergebnis vor. Rom beharrt in seiner Blindheit, die ob der Unverbesserlichkeit der Stadt schon fast beeindrukkend wirkt. Das wagemutige Gesicht, das Rom in seinen sieben Hügeln dem Himmel zuwendet, ist in Hochmut erstarrt. Der Stadt bleibt nichts übrig, als auf ihren «entehrten Feldern» ihren Ruin zu betrauern. Antiquitez XIII läßt in der an Petrarca angelehnten und in der Olive schon praktizierten Figur der negativen Reihung Antiquitez XXXI anklingen. Feuer, Schwert und Plünderungen, Naturkatastrophen, Selbstzerstörung und Verachtung durch Götter und Menschen: all das hat den Hochmut der Stadt nicht so brechen können, daß die Welt nicht noch über das erstaunt, was ihr geblieben. Die vielzitierte Formel von der «grandeur du rien», zur handlichen Kurzformel für den Zyklus geworden, ist die paradoxe und erhabene Stillstellung des in Antiquitez XXXI dramatisch geschilderten Umschlagens des Alles in das Nichts. Mit den Antiquitez XIV tritt der Bezug auf die Gegenwart und damit der Komplex der stärker hervor; im Zentrum steht die auf das christliche Rom übertragene Verheißung einer goldenen Wiedergeburt, in der das Erbe der Antike im doppelten Sinne des Wortes aufgehoben - eingegangen und erlöst - sein soll. Zu den traditionellen Haltungen des Staunens und der Verwunderung gesellen sich andere Reaktionen auf Roms Größe. Thematisch wird nun die humanistische Feier des antiken Roms; deren Vertreter werden durchweg abschätzig mit einem «dévot populaire» oder mit dem Ährenaufleser, dem «glaneur» verglichen, der die Reste der Ernte zusammenkratzt. Die Kontinuität römischer Tradition ist auch hier gegeben, steht jedoch im krassen Gegensatz zur vorherrschenden Auffassung dieser Kontinuität, die das antike im christlichen Rom zu seiner Bestimmung kommen läßt. Die Tradition, die hier fortgesetzt wird, ist eine barbarische. Die Renaissance steht gerade in ihrem Bezug auf das klassische Erbe in der Tradition der Barbaren, die sich paradoxerweise insofern als getreue Wiedergeburt des römischen Erbes darstellt, als die Römer selbst in den Antiquitez als ein barbarisches Volk dargestellt werden. Stärker profilieren sich auch die politischen Nachfolgeformationen, das Heilige Römische Reich Deutscher Nation und die römische Papstherrschaft. Lächerlich ist das Heilige Römische Reich, das die legitime Nachfolge des Römischen Reiches beansprucht. Genauso lächerlich der Anspruch des Papstes, der römischen Macht zu ihrem alten Glanz verhelfen zu wollen. Du Beilay schreibt implizit in der Anti-Origenes-Tradition; für Orígenes war Rom sine qua non der Heilsgeschichte. Für Du Beilay hingegen ist der römische spiritus loci der Dämon des alles ruinierenden Hochmuts, dem auch die Päpste mit ihrem Versuch, Rom neuaufzubauen, verfallen sind. In diesem Sinne sind die Päpste - das ist nicht ihr Glück, sondern ihr Fatum - römisch. Die Kontinuität zwischen uner153
löster Antike und römisch-katholischer Kirche ist eine Kontinuität des Unheils, versponnen in Blindheit. Die in ihr Agierenden sind verdammt, ihr Fatum unerkannt zu wiederholen. Jeder Versuch einer Weiterführung oder gar restauratio des Römischen Reiches ist deswegen nicht nur lächerlich, sondern unheilvoll. Die falsche Interpretation der römischen Geschichte als Heilsgeschichte führt zur Illusion einer vermeintlich erfüllenden Kontinuität, während das einzige, was an diesem Ort werden kann, himmelschreiender und letzten Endes vernichtender Hochmut ist. Gelenkt wird Roms Geschichte, sublime Ironie, nicht von göttlicher Vorsehung, sondern von der Blindheit des Buchstabens. Antiquitez XIV bringt den für den ganzen Zyklus entscheidenden Intertext zum ersten Mal zwar versteckt, 229 deswegen aber um so sprichwörtlicher ins Spiel: Caesars verhängnisvolles Überschreiten des Rubicon. Dieser Schritt Caesars markiert bekanntlich den Eintritt in den Bürgerkrieg und wird damit für Lucan zum entscheidenden Schritt der römischen Geschichte, zum unumkehrbaren Eintritt in die Perversion. Dem lucanschen Intertext entstammen die beiden ersten Vergleiche des Sonettes, Fluß und Löwe. Du Beilays für die Antiquitez so typische Figur des dreifachen, sich vom Naturphänomen über das Tier bis zum Menschen steigernden Simile («comme, comme, comme») vergleicht die zeitgenössische Reaktion auf den Fall Roms mit dem gefahrlosen, sommerlichen Überschreiten eines Flusses, der im Winter in überbordender Kraft die Ebene verwüstet und im Hochwasser Felder und Wiesen hinwegrafft; mit feigen Tieren, die den Löwen, der sich nach einem Kampf in der Arena erschöpft nicht mehr wehren kann, noch beim Zerfleischen mutwillig provozieren; mit den am wenigsten mutigen Griechen, die sich um den toten Körper Hektors scharen, um sich großzutun. Genauso benähmen sich die einst von Rom Besiegten und im Triumphzug nach Hause Geführten, die nun dem Staub der Gräber ihren Wagemut bewiesen. Mit lächerlichem, weil völlig überflüssigem Mut, grausam und leichenschänderisch, vergehen sich die Schwachen und Feigen ohne Ehrfurcht vor gefallener Größe. Während die römische Kühnheit und sogar der römische Hochmut bei aller Schrecklichkeit und bei allem Grauen bewundernswürdig bleibt, ist die «audace» derer, die sich jetzt an ihrem leichten Spiel weiden, von geierhafter Schäbigkeit. Comme on passe en aesté le torrent sans danger, Qui souloit en hyver estre roy de la plaine, Et ravir par les champs d'une fuite hautaine L'espoir du laboureur, & l'espoir du berger:
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Karen Collins, «Les Antiquitez de Rome. Du Bellay Crosses the Rubicon» In: Rome in the Renaissance. The City and. the Myth, ed. Paul A. Ramsay, Binghamton NY 1982, pp. 293-300, kommt das Verdienst zu, den intertextuell relevanten Bezugstext ausfindig gemacht zu haben.
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Comme on void les coiiards animaux oultrager Le courageux lyon gisant dessus l'arene, Ensanglanter leurs dents, & d'une audace vaine Provoquer l'ennemy qui ne se peult vanger: Et comme devant Troye on vid des Grecz encor Braver les moins vaillans autour du corps d'Hector: Ainsi ceulx qui jadis souloient, à teste basse, Du triomphe Romain la gloire accompagner, Sur ces pouldreux tumbeaux exercent leur audace, Et osent les vaincuz les vainqueurs desdaigner.230 Alles nimmt mit Caesars Übertritt über den Rubicon seinen Anfang. inde moras solvit belli tumidumque per amnem signa tulit propere sicut squalentibus arvis aestiferae Libyes viso leo comminus hoste subsedit dubius, totam dum colligit iram: mox ubi se saevae stimulavit verbere caudae erexitque iubas et vasto murmur hiatu infremuit, turn torta levis si lancea Mauri haereat: aut latum subeant venabula pectus, per ferrum tanti securus volneris exit, fonte cadit modico parvisque inpellitur undis puniceus Rubicon, cum fervida canduit aestas, perque imas serpit valles et Gallica certus limes ab Ausoniis disterminat arva colonis. tunc vires praebebat hiems atque auxerat undas tertia iam gravido pluvialis Cynthia cornu et madidis euri resolutae flatibus Alpes. Dann ließ er dem Krieg seinen Lauf und zog rasch mit seinen Standarten durch den angestiegenen Strom. Es war, als ob in Libyens glühender Steppe ein Löwe die Jäger vor sich sieht, unschlüssig geduckt seinen ganzen Grimm staut, sich jetzt mit fürchterlich peitschendem Schweif ermuntert, die Mähne sträubt und aus weitem Rachen gewaltigen Donner hinausbrüllt: wenn dann vielleicht die Schleuderlanze eines behenden Berbers sitzt oder Spieße in seine breite Brust dringen, stürmt er im Schußfeld vor und spottet aller schweren Wunden. - Aus unscheinbarer Quelle entspringend, zieht der rotsandige Rubicon, wenn heißer Sommer glüht, mit wenig Wasser dahin und schlängelt sich tief am Grunde durch die Täler, sichtbare Grenzscheide zwischen gallischem Gebiet und Ausoniens Bauern. Jetzt verlieh ihm der Winter Stärke: sein Wasser war angeschwollen, als schon drei Nächte lang Selenes Sichel in schweren Regenwolken stand und unter stürmischem Tauwind der Alpenschnee schmolz.231 D u Beilay verkehrt die Bilder Lucans mehrfach. Lucan verfolgt den Rubicon von der kleinen Bergquelle bis in sein sommerliches Tal, um ihn vor dem Übertritt Caesars im Winter von Regen und Schmelzwasser geschwollen als nur schwer überwindbare Grenze zwischen Gallien und Rom fließen zu lassen; ein Übertritt, hinter den es - man erinnert sich an die gefallenen Würfel - kein Zurück gibt. Der angeschwollene Fluß ist auch ein Sinnbild für die Kraft der über Rom herein230 231
Du Bellay, Antiquitez XIV. Lucan, Bellum civile I, 204-219. 155
brechenden Heeresfluten. Bei Du Beilay kommt die winterliche Macht des Flusses hingegen nur mehr als Erinnerung vor. Lucans Löwe, in freier Wildbahn, erscheint gespannt vor dem Sprung auf den Feind, während Du Beilays Löwe, in der Arena schon wie in einem römischen Spielzeugzitat eingefaßt, vom grausamem Spiel ermattet selber zum Spielball wird. Du Beilays Gedicht gliedert sich in ein Vorher und Nachher. Indem er sich der Lucanschen Vergleiche für den Fall des Römischen Reiches bemächtigt, trägt er dem Davor das Danach in historischer Überblendung ein. Er überblendet den Anfang vom Ende mit dem Ende, liest schon in den starken Löwen den schwachen, in den mächtigen Fluß das ohnmächtige Rinnsal ein. Das dritte Simile des toten Hektor vor den Mauern Trojas löst die Rätselstruktur des dreiteiligen Vergleiches. Während die vertrocknete Kraft des einst königlich die Ebene beherrschenden Flusses und das Ende des Löwen, Königs der Tiere, nur metaphorisch auf den Untergang eines Reiches deutet, ist die Niederlage des Königssohnes Hektor das historische Ereignis, das den Fall Trojas besiegelt; dieser Fall stellt sich bei Du Beilay aber nicht wie bei Vergil als die Bedingung eines Reiches ohne Ende, eines größeren Trojas in der Gestalt Roms dar, sondern als Figur des Endes, die sich auch auf das römische Imperium bezieht. Rom ist auch bei Du Beilay geworden, was es immer werden wollte, ein neues Troja. Allerdings ging dieser Wunsch anders in Erfüllung als von Vergil erwartet: Rom ist ein neues Troja, weil es am Ende genauso zerstört darniederliegt wie das alte Troja auch. In Rom erfüllt sich nicht die Weissagung Jupiters, sondern die Drohung der Juno. Juno nämlich willigt nach endlosen Kriegen gegen die ihr verhaßte Stadt darin ein, daß Rom zum Weltreich werden möge; allerdings unter der Bedingung, daß es kein neues Troja werde. Falls Rom Troja würde, so Junos Drohung, die sich in Du Beilay erfüllt, wird sich das trojanische Schicksal an ihm wiederholen. Antiquitez XVII setzt wieder mit dem Kampf der Erdgeborenen gegen den Himmel ein; es ist ein Vogel- und Feuersonett. Die Motive der Hybris, kunstreich ineinandergeschlungen, überbieten sich. Die das Gedicht gliedernde Opposition von Himmel-Recht versus Erde-Hybris bricht dabei durch die eingespielten Intertexte zusammen. Das politische Thema ist die translatio imperii, nach der das Heilige Römische Reich Deutscher Nation sich in der Nachfolge des Römischen Reiches sieht. Auf der ideologischen Ebene geht es darum, den deutschen Anspruch zu disqualifizieren. Du Beilays Bild für diese mißlungene translatio ist die deutsche Krähe. Die Krähe ist ein Vogel, der nach ohne das Original jemals erreichen zu können, der sein Vorbild vielmehr grotesk entstellt - so wie die Krähe groteskes Zerrbild des Adlers ist. Tant que l'oyseau de Juppiter vola, Portant le feu, dont le ciel nous menace Le ciel n'eut peur de l'effroyable audace Qui des Geans le courage affolla: 156
Mais aussi tost que le Soleil brusla L'asle qui trop se fit la terre basse, La terre mist hors de sa lourde masse L'antique horreur qui le droit viola. Alors on vid la corneille Germaine Se déguisant feindre l'aigle Romaine Et vers le ciel s'éslever de rechef. Ces braves monts autrefois mis en pouldre Ne voyant plus voler dessus leur chef Ce grand oyseau ministre de la foudre. 232
Solange der Vogel des Jupiter, «ministrimi fulminis alitem», 233 mit dem drohenden Feuer des Himmels flog, solange hatte der Himmel keine Angst vor der erschreckenden Kühnheit der Giganten. Aber sobald die Sonne den der Erde zu nahe gekommenen Flügel verbrannt hatte, gebar die Erde aus ihrer schweren Masse heraus den antiken Schrecken, der dem Recht Gewalt antat - soweit die beiden Quartette. Zunächst sieht es so aus, als ob dieses Gedicht ganz in der Logik des Zyklus die Hybris der Erdgeborenen gegen das Recht des Himmels, verkörpert im Adler als Epitheton Jupiters, stellen würde. Die deutsche, etwas lächerliche Usurpation eines zerstörten Reiches folgt als Strafe für diese Hybris. In der Tradition der Renaissance hätte Du Beilay dann das ständige Wachsen des Römischen Reiches mit den himmelstürmenden Giganten verglichen. Die ersten beiden Verse des zweiten Quartetts verunklaren die Situation jedoch. Sie vereinen in phantastischer Überdetermination zwei antike Mythen der Hybris, die in den Ovidschen Metamorphosen erzählt werden, auf engstem Räume: den Mythos des Ikarus und den Mythos des Phaethon, die im Gegensatz zum Mythos der Giganten Feuer- Flug- und Lichtmythen, nämlich Blitz- und Sonnenmythen sind. Der Adler ist als Emblem für Jupiter und für Rom doppelt kodiert; es ist das einzige Tier, das der Sonne ins Angesicht blicken kann. Den Flügel, den die Sonne verbrennt, ist der wächserne Flügel des Ikarus, der zu hoch zur Sonne flog und jäh ins Meer stürzte. Zu nah zur Erde hin - «qui trop se fit la terre basse» - lenkte hingegen Phaethon, der Sonnensohn, den Sonnenwagen seines Vaters, so daß die ganze Erde verbrannte - «ces braves monts autrefois mis en pouldre». Dem zügellosen Rasen konnte nur durch Jupiters Blitz, der in Phaethon fährt und ihn wie ein Sonnenrad zur Erde niederstürzen läßt, ein Ende gemacht werden. Ikarus' und Phaethons himmlische Exkursionen sind Beispiele für den Wahnsinn des maßlosen Ehrgeizes, der beidesmal mit Sturz und Tod bestraft wird. 234 232 233
234
Du Bellay, Antiquitez XVII. Horaz, Carmina IV, 6, 1. - Für die «corneille» als Vogel, der sich mit fremden Federn schmückt und deswegen «kahlgerupft, [...] ohne die entlehnte Farbenpracht» dastünde, der Vogel der also, siehe Epistolae I, 3,18 sqq. Cf. für die humanistischen Interpretationen von Phaethon, besonders auch im Bezug auf Antiquitez XVII, Guy Demerson, La mythologie classique dans l'œuvre lyrique de la Pléiade, Genf 1972, p. 336.
157
Auf diese Weise sind Rom, der Adler, Phaethon und Ikarus untereinander austauschbar geworden. Ihre Größe und ihr Heroismus, der diese vier, der klassischen Ästhetik zufolge, dem Register des Erhabenen zuschlägt, trägt den Keim der Zerstörung bereits in sich. Sie alle verbrennen durch den Blitz oder durch die Sonne. Blitz und Sonne, die Instanzen der Strafe, sind jedoch von Hybris eigenartig kontaminiert. Der Adler, der die Blitze des Jupiters trägt, wird von der Sonne verbrannt. In der Ovidschen Metamorphose betont der Sonnengott, daß Jupiter selbst den Sonnenwagen nicht lenken könnte; der gegen Phaethon geschleuderte Blitz ist das einzige Mittel gegen die verheerende Sonne. Blitz und Sonne setzen sich so eigenartig außer Kraft; auch sie stehen nicht als strafende Instanzen außerhalb der Hybris. Die beiden männlich/väterlichen Instanzen zerstören sich im Zeichen des Feuers gegenseitig in ihren Söhnen. In Du Beilays Sonett werden nicht väterlich-göttliches Recht gegen mütterlich-irdischen Frevel, sondern zwei Formen der Hybris gegeneinander ausgespielt: eine sublime im Zeichen des Vaters und eine verächtliche im Zeichen der Mutter. Beide machen Rom aus. Die eine ist eine oft im ornithologischen Register erzählte Geschichte zwischen Vätern und Söhnen, die andere eine zwischen der Mutter und muttergezeugten Söhnen. Die eine steht im Zeichen des Feuers, des Lichtes, des Fluges: der Leichtigkeit und der Hitze. Sie wird heroisch intoniert. Die Katastrophe des Falles macht den Triumph des Aufstieg nicht völlig zunichte; er bleibt, um im Bild zu bleiben, fulminant. Die andere steht im Zeichen der schweren Masse, des Gebärens, des Blutes, des Grabes und der Dunkelheit. Sie ist unsagbar, monströs konnotiert. In den «monts autrefois mis en pouldre» wird die Bestrafung durch Jupiters Blitz und die Verbrennung durch den fehlgelenkten Sonnenwagen Phaethons zusammengeschlossen; die sieben Hügel Roms waren im Zyklus die unter ihren eigenen Türmen begrabenen Riesen. Antiquitez XVIII stellt die Papstherrschaft als ironische Erfüllung römischer Prophezeiungen dar; die Ironie liegt auch hier in einem allzu wortwörtlichen Wahrwerden. Ces grands monceaux pierreux, ces vieux murs que tu vois, Furent premièrement le cloz d'un lieu champestre: Et ces braves palais dont le temps s'est fait maistre, Cassines de pasteurs ont esté quelquefois. Lors prindrent les bergers les ornemens des Roys, Et le dur laboureur de fer arma sa dextre: Puis l'annuel pouvoir le plus grand se vid estre, Et fut encor plus grand le pouvoir de six mois: Qui, fait perpetuel, creut en telle puissance, Que l'aigle Imperial de luy print sa naissance: Mais le Ciel s'opposant à tel accroissement, Mist ce pouvoir es mains du successeur de Pierre, Qui sous nom de pasteur, fatal à ceste terre, Monstre que tout retourne à son commencement.235 158
Du Bellay greift einen klassischen Topos der römischen Selbstdarstellung auf, wie er sich bei Properz 236 oder in Ovids Fasten findet. Hic, ubi nunc Roma est, orbis caput, arbor et herbae Et paucae pecudes et casa rara fuit. 237
Evander wird befohlen, sich an dieser Stelle niederzulassen: «Macht halt hier! Denn zu des Weltreichs Sitz wird diese Flur hier entstehen». Vor dem Hintergrund der armen, bäuerlich-ländlichen, rustikal-frugalen Landschaft hebt sich das vorhergesagte Rom, Haupt der Welt, «orbis caput» und dessen sagenhafter Aufstieg um so kontrastreicher ab. Bei Du Beilay wird diese Figur verkehrt: Roms Ende ist trauriger als sein Anfang, der ländliche Ort, der immerhin ins Idyllische spielt, den Steinhaufen und alten, zerfallenen Mauern allemal vorzuziehen. Das zweite Quartett liefert das unglaubliche Anwachsen römischer Macht im Zeitraffer: aus den Hirten wurden Könige, aus den Feldarbeitern Krieger, aus dem Königreich das Konsulat, die Diktatur, später das Kaiserreich und schließlich die Papstherrschaft. Der Aufstieg des Imperiums wird im Bild des imperialen Adlers mit der Hybris assoziiert und so liegen bereits in einer Geschichte, die sich wie die nicht abreißenwollende Kette eines unaufhaltsamen Aufstieges liest, die Keime des Verfalls und des Niederganges. In den Päpsten erfüllt sich das Schicksal Roms auf merkwürdige Weise. Als Nachfahren der Caesaren, die sie der konstantinischen Schenkung zufolge sind, machen sich die auf einem Steinhaufen sitzenden Päpste nicht eben prächtig; sie stehen vielmehr für die Rückkehr an einen wenig glänzenden, etwas erbärmlichen Anfang. Bei Buchanan erfüllt das Papsttum in einem ganz und gar unironischen Sinne römische Geschichte, indem es sie an ihren überhöhten Ursprung zurückführt: «Non ego Romulea miror quod pastor in urbe / sceptra gerit: pastor conditor urbis erat» / «Nicht wundere ich mich, daß ein Hirte in Romulus Stadt das Zepter führt: ein Hirte war ja der Gründer der Stadt». 238 Daß ein Hirte am Anfang und ein Hirte am Ende steht, stellt sich bei Du Beilay jedoch nicht als Erfüllung, sondern als Fatum dar, in dem die Wörter blind wahr werden. Du Beilays Sonett ist eine Reversion von Buchanans Epigramm. Der neue Hirte mit dem sprechenden Namen Pierre hütet nicht mehr in idyllischem Hain, sondern auf steinigen Trümmerhaufen seine Schafe. 239 Der Name des ersten Papstes - Petrus, Pierre - ist allzu buchstäblich wahr geworden; er ist dieser Erde doppelt fatal. Petrus, der Fels, auf den 235
Du Bellay, Antiquitez XVIII. Cf. Properz, Elegien I und IV. 237 Ovid, Fastes V, 93-94. 238 Nach Roma aeterna. Lateinische und griechische Romdichtung von der Antike bis in die Gegenwart, ed. Bernhard Kytzler, Zürich / München 1972, p. 490 sq. 239 Du Beilay, Antiquitez XVIII. 236
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unverrückbar die Kirche gebaut werden soll, wird mit unfruchtbarem Schutt konnotiert (Pierre-pierreux). Lapidar wird festgestellt, daß Felsen nicht fest sind und selbst der Stein dem Zahn der Zeit nicht widersteht. Die christliche Interpretationsfigur von figura und implementum wird damit verkehrt. Geschichte erfüllt sich, indem sie literal wahr wird. In diesem buchstäblichen Wahrwerden entpuppt sich die Verheißung, die in der Erfüllung auch eine Art Erlösung ist, jedoch als Fluch. Eine spezifische Ironie Du Beilays liegt darin, die Theorie des im Chaos endenden zyklischen Verlaufs der Geschichte ausgerechnet durch die Papstherrschaft wahr werden zu lassen, die natürlich auf einem radikal anderen Geschichtsmodell beruht. Antiquitez XIX überblendet den Mythos von Pandora mit dem Motiv der Zeitalter, die einander in fortschreitender Degradation folgen. Das zeitgenössische Rom, das durch Wörter wie «hier» und «jetzt» stark deiktisch markiert ist, liegt für Du Beilay in der Logik dieses Geschichtsmodells. Während im ältesten Rom das Gute noch mit dem Bösen wie in der verschlossenen Büchse der Pandora vermischt war, sind im eisernen Zeitalter die Tugenden gen Himmel entflogen, die Laster aber unter den Menschen geblieben, versteckt unter den Ruinen. Rom ist die der Erlösung harrende «Pandore fatale». Antiquitez XX vergleicht das Schicksal der für die Ewigkeit gebauten Stadt mit dem Kreislauf des veränderlichsten, wechselhaftesten Elements, des Wassers. Die Sentenz des Sonetts variiert einmal mehr den Topos der Hybris: alles wird zu nichts. Das Bild der zerberstenden Wolke, die die Erde mit ihrem großen, dunklen Bauch zudeckt, verbindet den Kreislauf des Wassers mit dem Bild der schwangeren und kinderreichen Mutter Roma. Der «Name des Hirten», der, wie man sich erinnert, dieser Erde bestimmt ist,240 taucht wieder auf. Die Stadt, Königin über Wasser und Erde, die so hoch wächst, daß sie sich selber nicht mehr halten kann, ist das Werk eines Hirten. Der neue Hirte, Petrus, ist immer wieder der alte; am Geschick der Stadt, naturalisiert im Kreislauf des ewig fließenden Wassers, kann er nichts ändern. Das Thema von Antiquitez XXVII ist der Wiederaufbau Roms zur Zeit der Renaissance; der Sprechakt des Lobs, der Rom Vorbildlichkeit zugesteht, wird unterlaufen. Toy qui de Rome emerveillé contemples L'antique orgueil, qui menassoit les deux, Ces vieux palais, ces monts audacieux, Ces murs, ces arcs, ces thermes, & ces temples, Juge, en voyant ces ruines si amples, Ce qu'a rongé le temps injurieux, Puis qu'aux ouvriers les plus industrieux, Ces vieux fragmens encor servent d'exemples. 240
Du Bellay, Antiquitez
160
XVIII, v. 11-14.
Regarde apres, comme de jour en jour Rome fouillant son antique séjour, Se rebatist de tant d'oeuvres divines: Hi jugeras, que le demon Romain S'efforce encor d'une fatale main Ressusciter ces pouldreuses ruines.241
Das erste Quartett nimmt das Motiv des Hochmutes über das Bild der den Himmel bedrohenden Giganten auf, die mit dem Turmbau zu Babel assoziiert werden. Das zweite Quartett spielt im Topos der allesfressenden Zeit das Motiv der Vergänglichkeit des Irdischen an und verbindet damit das der bisher unerreichten Vollkommenheit Roms. Selbst Roms Bruchstücke sind wertvoller als alles seither Hergestellte. Das erste Terzett scheint trotz der vorangestellten Drohung, die sowohl im Motiv der Giganten als auch in der vanitas mitschwingt, die Hoffnung auf ein neues Rom, dessen «göttliche» Bauwerke dem alten Rom in nichts nachstehen, und das seine Kraft ganz literal aus antikem Vorbild, aus antikem Boden zieht, zu nähren. Das Verb «fouiller» wirft jedoch einen Schatten auf die göttlichen Werke. Die Erde nämlich durchwühlt man eigentlich nicht nach Überresten antiker Gebäude, sondern nach Gold. Die Suche nach Gold ist aber in der antiken Überlieferung mit dem eisernen Zeitalter verbunden; sie ist ehrfurchtslos und blasphemisch. Seltsam ehrfurchtslos klingt das Durchwühlen auch in Zusammenhang mit dem «antique». Spätestens nach der Lektüre des zweiten Terzetts erweist sich die Hoffnung auf einen Wiederaufbau in göttlichen Werken als verblendet. Das qualifizierende Adjektiv «göttlich» kann nicht mehr einfach umgangssprachlich verstanden werden, sondern drückt das Begehren nach Gottgleichheit aus. Da das Rom der Renaissance, in wieder aufgebaut, das Rom des Papstes ist, fällt der Schatten der Hybris auf ihn; sein Rom schickt sich an, in der Mimesis an das antike Rom nicht nur die alten Bauwerke, sondern vor allen Dingen die römische Hybris nachzuahmen, die darin zum Ausdruck kam. Mimesis, der Wunsch nach einem neuen Rom, ist hier blinde Wiederholung, die zwar von der gleichen Hybris, nicht aber vom Sublimen getragen wird, die das alte Rom auszeichnete. Es ist schäbiger Abklatsch, nicht weniger frevelhaft, aber entschieden lächerlicher. In Antiquitez XXIX tritt Rom zum letzten Mal als Summa der Welt in vollem Ornat auf; das Gedicht baut den Topos von Rom als Mutter der Künste und der von allen Künsten geschmückten Geliebten aus. Das insistierende «tout», das den Gegenpol zu dem nicht weniger insistierenden «ny» bildet, die beide in der reihenden Aufzählung aller Möglichkeiten römische Allumfassendheit betonen, knüpft an das Motiv der Universalität des Imperiums an. Der ornatus bildet das durch dreifache Wieder241
Du Beilay, Antiquitez
XXVII.
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holung hervorgehobene thematische Zentrum des Gedichtes. 242 Das Motiv der Hybris klingt im Erstaunen selbst des Himmels ob dieser Pracht an. In Rom hat sich das Können aller historischen Epochen, die im pars pro toto der Architekturgeschichte aufgezählt werden, das Können aller Künste, die synekdochisch im Namen der berühmtesten Künstler genannt werden und - im crescendo - das Können aller Erdteile versammelt. Der Terminus «merveille» nimmt Antiquitez II auf; dort wurden die Weltwunder aufgezählt, die das von Du Beilay zu singende Rom in den Schatten stellen sollte. Jetzt ist Rom gesungen worden, und das Monument, das Du Beilay Rom nicht in der immer vom Turmbau zu Babel befleckten Architektur, sondern im genus humile der Schrift errichtet hat, entpuppt sich als Grabmal. Das Sonett vollzieht strukturell die Figur der römischen Geschichte, die in den Antiquitez als schrecklicher Sturz dramatisiert wird, nach. Denn nachdem die Stadt, Summa allen menschlichen Könnens, so geschmückt vor uns steht, kommt es im zweiten Terzett zu einem plötzlichen Umschwung. Der Schmuck der Welt verwandelt sich brüsk in das Grab der Welt. Du Beilays Verfahren erinnert in seiner Dramatik an die gleichzeitigen Vanitas-Diptychen. Es dramatisiert die Sentenz dieser Bilder, indem es sie im Modus jäher Gleichzeitigkeit zusammenzieht: die Schönheit der Welt, allegorisiert in einer geschmückten Frau, Figur der vanitas, schmilzt zu einem Totenschädel zusammen. Die auf spätmittelalterlichen Bildern aufgelöste Sentenz springt den in den Anblick der Geschmückten versunkenen Leser in Du Beilays Sonetten mit einem «horrible sault» plötzlich an. 243 Antiquitez XXX ist Teil des Naturzyklus, der die kosmische Perspektive hervorhebt, die nicht im Zeichen der ordo und der Harmonie, sondern im Zeichen des Chaos steht. Du Beilay vergleicht Rom mit einem Kornfeld, das von barbarischer Hand abgeerntet wird. Die Renaissance erscheint in diesem Bild als Ährenleserin, ärmliche Nutznießerin einer barbarischen Ernte. Typisch ist, daß ein positives Bild des blonden Wachsens, des goldenen Überflusses, des fruchtbaren Kreislaufes ständiger Erneuerung in ein negatives Bild des Unrechtes, der Gewalt, der Armut und des Mangels verkehrt wird. Übrig bleiben nach dieser Ernte keine vollen Scheunen, sondern «marques antiques». Das Verb des Plünderns und das Bild der «marques antiques» verbindet das Simile des Kornfeldes mit dem Trümmerfeld der Stadt und ihren Spolien, die sich die Nachfolger aneignen. Die ährenlesende Renaissance wird nicht als strahlende Wiedergeburt gefeiert, aber auch nicht als bloß friedliche Nutznießerin dargestellt, wie es das Bild des Ährenlesens konnotiert. Sie partizipiert plündernd an barbarischer Gewalt. Das Gedicht durchkreuzt den aufgerufenen Erwartungshorizont radikal und verkehrt die konventionellen 242 243
Cf. Du Beilay, Antiquitez XXIX, w. 4, 7, 13. Du Beilay, Antiquitez XXXI.
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Konnotationen. Dieses Aufrufen eines positiven Erwartungshorizontes und seine Verkehrung ins Negative ist ein durchgängiges Verfahren der Antiquitez• Dabei wird das ursprünglich positive Bild rückwärtig kontaminiert. Das Wachsen des Kornfeldes etwa, das «se haulse», das «se hérissé» und als Prozeß der Reifung ganz positiv besetzt ist, wird durch die ihm inhärente Parallele zum ständigen Wachsen des Römischen Reiches hinterrücks mit der Vorstellung der Hybris in Verbindung gebracht. Das Rom der Antiquitez spannt sich vom antiken Rom bis zum Rom der Renaissance; römische Geschichte stellt sich als Einheit dar, in der sich unablässig das tödliche Fatum der Buchstäblichkeit erfüllt. Jede Erneuerung, jede Wiedergeburt, ja jeder Versuch, im neuen Rom das alte zu übertreffen, ist dazu verdammt, diesen Literalsinn zu vollstrecken. Du Beilay wendet die antike Tradition der römischen Prophezeiungen gegen sie selbst und gegen ihre Rezeption in der Renaissance. Heilsbotschaften verkehren sich dabei ironisch in Flüche. Für Petrarca wie für Du Beilay verläuft die römische Geschichte kreisförmig; aber während dies für Petrarca bedeutet, daß in Rom die Dardaner an ihren Ursprung zurückkehren und so ihr Geschick erfüllen, heißt es für Du Beilay, daß die Menschen an diesem Ort dazu verdammt sind, das Schicksal Roms, dessen Ursprung in Hybris und Brudermord liegt, zu vollstrecken, indem sie den Fluch, der über der Stadt liegt, immer wieder blind ausagieren. Rom wird Du Beilay nicht wie Petrarca zur ewigen Stadt, sondern zur Stadt der Metamorphosen im Zeichen der vanitas. Ist der Ruhm des Namens Roma für Petrarca unvergänglicher als ein Diamantenberg, dann heißt Roma für Du Beilay nur das Vortäuschen von Ewigkeit. Während der Zyklus diesen Namen enttäuscht, bringt er dessen wahre Bedeutung an den Tag; Roma, mit sich selbst radikal unidentisch, ist der Name für andauernde Differenz. Dem entspricht eine ironische Intertextualität, die nicht übertrifft, erfüllt oder überbietet, sondern unterläuft und aushöhlt, und eine Gattung, die nicht mehr heroisches Epos sein kann und will, sondern in der unprätentiösen Form des Sonetts - einer Form der «kleinen Dichtung», der privaten Liebesschmerzen - die große Geschichte der Stadt Rom endlich desillusioniert, wahr erzählt. Topos der vanitas - Die Poetik des Songe Est-il rien de plus vain qu'un songe mensonger Un songe passager, vagabond et muable? 244
Zwischen Rom, Babylon und Jerusalem situiert, schreibt sich der Songe in ein dichtes Textfeld ein. Jerusalem und Babylon sind topisch klar entgegengesetzte Städte, während die Beziehung zwischen Rom und Baby244
Jean-Baptiste Chassignet, Le Mespris de la vie et consolation contre la mort, ed. Hans-Joachim Lope, Genf 1967.
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Ion schon deshalb wesentlich komplexer ist, weil die römische Geschichte in eine antike und eine christliche Epoche zerfällt; einmal wird Rom mit Babylon gleichgesetzt, ein anderes Mal werden beide antithetisch aufeinander bezogen. Die Offenbarung des Johannes amalgamiert das Rom der Christenverfolgung, die Weltbeherrscherin und Babel miteinander. Babylon steht im Zeichen des Hochmuts, in der die Geschöpfe es ihrem Schöpfer nicht nur gleichtun, sondern ihn übertreffen wollen. Das Motiv des Gigantenkampfes findet sich schon in Babylon: Nimrod will mit seinem Turm den Himmel stürmen. Was Rom mit Babylon in der frühchristlichen Exegese verbindet, ist der Anspruch auf Ewigkeit, der für ein weltliches Reich behauptet, was nur dem Reich Gottes zukommt und damit Inbegriff der superbia ist; wie für Augustinus, so ist auch für Hieronymus das Attribut der Ewigkeit eitel, leer, gotteslästerlich. Hieronymus plädierte noch für eine Zerstörung des Römischen Reiches, weil die, die es lenkten, es für ewig hielten und eben dies der Höhepunkt der Gotteslästerung sei; nicht umsonst stünde nach der Offenbarung auf der Stirn der königlich angezogenen Hure der Name der geschrieben, der Name Roma aeterna. Später, etwa von Honorius, werden die Päpste als Päpste der ewigen Stadt tituliert, ohne daß Rom damit in die Nähe von Babylon rückt; es bleibt im Gegenteil Vorbild des himmlischen Jerusalem. Dante vergleicht Epochen des christlichen Rom, dessen Korruption für ihn mit der Konstantinschen Schenkung begann, mit Babylon und stellt gewisse Päpste auf eine Stufe mit den antiken Christenverfolgern; beide trinken das Blut der Getreuen Christi. Gleichzeitig wird das antike Rom mit seinen Tugenden als Wegbereiterin des christlichen Roms interpretiert. Für Petrarca verkörpert Avignon Babel, lasterhafte Verwirrung, Rom dagegen Tugend und ordo; selbst die grauenhaftesten Gestalten des antiken Rom wie Nero sind im Gegensatz zum Avignoneser Antichrist Lichtgestalten. 245 Für die Reformatoren wird Rom bekanntlich Babel, der Papst der Antichrist. Du Beilays Songe zeigt Rom als ein vermeintliches Jerusalem, das sich als Babel entpuppt. 246 Die fünfzehn Sonette des Songe schließen die Antiquitez de Rome ab. Der Titel der Sammlung läßt keinen Zweifel daran, daß es zwischen den beiden Zyklen, zwischen visionären Traumgesichten des goldenen Rom, das vom Blitz getroffen in sich zusammensinkt, und der Beschreibung der staubigen Ruinen der ewigen Stadt einen thematischen Zusammenhang gibt: «Le premier livre des Antiquitez de Rome contenant une generale description de sa grandeur et comme une deploration de sa ruine plus un 245
246
Cf. Petrarca, Sine nomine IV; nach Paul Piur, Petrarcas