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German Pages 474 Year 2015
Stefan Tigges, Katharina Pewny, Evelyn Deutsch-Schreiner (Hg.) Zwischenspiele
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Stefan Tigges, Katharina Pewny, Evelyn Deutsch-Schreiner (Hg.) Zwischenspiele. Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume in Theater, Tanz und Performance
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Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Centre de Recherches sur l’Autriche et l’Allemagne (CR2A).
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2010 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Friedrich Hölderlin/Bertolt Brecht: Empedokles // Fatzer, Schauspiel Köln (2008), Regie: Laurent Chétouane (v.l.n.r.: Jan-Peter Kampwirth, Fabian Hinrichs, Sigal Zouk); Foto: Oliver Fantitsch Satz: Justine Haida, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1015-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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Inhalt Vorwort 9
1. Dialoge zwischen den Systemen: Schreiben für/über Theater 13 Rolf Kemnitzer und Katharina Schlender Vom Bettelautor zum BattleAutor 16 Edith Draxl und Paul Pechmann Szenisches Schreiben als avancierte literarische Praxis. Überlegungen zur Programmatik von uniT 24 Patrice Pavis Selbstbefragung zur zeitgenössischen Inszenierung 32 Bernd Stegemann Sex, Liebe und Geld in Zeiten ihrer technischen Reproduzierbarkeit. Drei Beobachtungen zu Falk Richters Dramen 39
2. Poetologische Positionen: Vom Anspruch auf Wirklichkeit 51 Margareth Obexer Statt zu vögeln, lasst sie kommen 53 Dirk Laucke Die Wahrheit in der Gosse oder Fick dich Industrie 58 Ewald Palmetshofer Autorinnen-Ratgeber 68 Jörg Albrecht Andreas Neumeister legt eine Schallplatte auf und geht mit mir in ein Polleschstück 71
Johannes Schrettle hundert verschiedene reisen und nur ein ZIEL: INTENSIVER leben – ARBEITSBERICHT aus dem projekt TOD UND TOURIST der zweiten liga für kunst und kultur und dem pathos transporttheater, münchen 82
3. Neue dramatische Schreibpositionen 89 Stückauszüge von: Anne Rabe: Als ob schon morgen wär 96 Dirk Laucke: Der kalte Kuss von warmem Bier. Ein Stück Scheißestaub 107 Juliane Kann: Ein Fuchs reißt Kaninchen 120 Tina Müller: 8 Väter 136 Georgia Doll: der hang zum grundsätzlichen 148 Margareth Obexer: das geisterschiff 164 Falk Richter: Die Verstörung 174
4. Zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung. Interkulturelle Bühnenprojekte 183 Rita Thiele Schauspiel Köln: Theater für eine multikulturelle Stadt 185 Hans Escher wiener wortstaetten. Ein interkulturelles Autorentheaterprojekt von Hans Escher und Bernhard Studlar 191
Sandra Noeth Hospitality is not equal. Über Choreographie als gastfreundschaftlichen Raum 203 5. Zwischen den Künsten, zwischen den Formen 217 Eléonore Bak Kunst im Rohzustand 220 deufert + plischke Notice Me! Ein Zwillingsdialog von deufert (K) + plischke (T) 232 Susanne Foellmer Imaginäre Verstrickungen und sinn-lose Laute. Zum Verhältnis von Bewegung und Text/Sprache im zeitgenössischen Tanz 242 Annette Storr Beobachtungen zum allmählichen Verschwinden dramatischer Figuren – auf dem Theater 258
6. Bild- und Wahrnehmungsräume 271 Kati Röttger und Alexander Jackob Zwischen Blick und Bild: Emilia Galotti gestern und heute 276 Ulrike Hass Das Gesehene und das Gelesene: Die unendliche Kreuzung. Laurent Chétouane inszeniert Heiner Müllers Bildbeschreibung mit dem Tänzer Frank James Willens 298 Genia Schulz Beschreibung einer Bühne. Zu Jourdheuils/Peyrets Inszenierung der Bildbeschreibung 310 Benjamin Wihstutz Heterotopie der Sinne. Überlegungen zur Einbildungskraft des Zuschauers 316
André Eiermann Die Szene des Unkörperlichen. (Trans-)Formationen von Zeit, Raum und Text in Stifters Dinge von Heiner Goebbels 330
7. Körperbilder und/im Medien-Transfer 349 Annette Jael Lehmann Bouncing in the Corner: Video und Körperinszenierung 351 Jörg von Brincken ›DVDeformazione‹. Zur ästhetischen Transformation der Tragedia Endogonidia im digitalen Videoformat 361
8. Durch die Geschichte(n) gehen: Politische Zwischenspiele in Theater und Performance 375 Jean Jourdheuil Heiner Müllers Philoktet. Ein Palimpsest 379 Andcompany&Co. TEMPODRAM: performing communism against space & time 393 Evelyn Annuss Als-Ob, Alltagsexperten, Akten. Über Ausnahmezustände im Theater 408 Jan Linders Synästhetisches Gehen. Eine Köln-Erfahrung mit matthaei & konsorten 424
9. Zwischenspiele: Die Suche nach dem Körper und das Drama der Präsenz Laurent Chétouane im Dialog mit Nikolaus Müller-Schöll 437 Autorinnen und Autoren 457
Vor wor t Das gesprochene, gesungene oder mimische Zwischenspiel, das zumeist als komische oder heitere Einlage zwischen den Akten oder Bildern eines Dramas zum Einsatz kam, den SchauspielerInnen als Ruhe- und Umkleidepause diente, den Wechsel des Bühnenbildes ermöglichte oder bei höfischen Festen und Umzügen eine Rolle spielte, hat sich im Verlauf der Jahrhunderte in den verschiedenen Theaterkulturen und Genres in Form der Parabase, der Stasimata, des Divertissement, jeux entre actes, Intermède, Intermezzi, der Interlude, des Quodlibets oder der Einlage zunehmend ausdifferenziert. Interessant ist, dass die Formen des theatralischen Zwischenspiels im auslaufenden 19. Jahrhundert an einem Scheideweg stehen und entweder entfallen oder eine ästhetische Autonomie einfordern um künstlerisch zu überleben. Statt die künstlerischen Ausformungsprozesse in ihren theaterhistorischen Dimensionen neu zu beleuchten, befragen die einzelnen AutorenInnen dieses Bandes vielmehr die gegenwärtige Kunstpraxis nach signifi kanten ästhetischen Tendenzen, wobei sich die Frage stellt, ob die sich herauskristallisierenden neuen künstlerischen Sprachen und Formen nicht auch mit der ästhetisch ausgebauten sowie terminologisch transformierten Kategorie des Zwischenspiels zu beschreiben sind. Im Mittelpunkt des Interesses steht dementsprechend immer wieder die Frage, ob und wie sich künstlerisch avancierte Arbeiten, seien es Theaterauff ührungen, Performances, performative Installationen, Klangcollagen, Videos, Choreographien oder in ein anderes Medium übersetzte Werke, mit der Kategorie des Zwischenspiels ästhetisch kurz- oder langfristig verorten lassen bzw. mit welchen Strategien die wiederholt miteinander spielenden Kunstformen im Prozess ihrer Entgrenzungen und Verfransungen neue Formen des Zwischenspiels begründen. Der Begriff des Zwischenspiels, der sowohl eine zeitliche als auch räumliche Dimension eröff net und bei dem immer auch die Frage des Vor- und (möglichen) Nachspiels mitschwingt, wird von uns bewusst weit gefasst und nicht als ein neues ästhetisches Paradigma für die Theorie und Praxis verstanden. Der Begriff 9
Zwischenspiele: Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume
erweist sich gerade in dem Sinne als sinnvoll, dass er sowohl auf das die Kategorie der Schwelle vermessende Moment des Zwischen als auch auf die von den Kunstformen ausgehende spielerische Dimension verweist. Gefragt wird damit nach den SpielpartnerInnen und nach den von ihnen ausgelösten spielerischen Konstellationen, die, so zeigen die Beiträge immer wieder, an Versuchsanordnungen erinnern und dabei auch die Grenzen in/von Theorie und Praxis zunehmend auflösen oder/und neu bestimmen. Welcher Gewinn geht also von spielerischen (Grenz-)Übergängen des Theaters, Tanzes und der Performancekunst aus? Laufen die jeweiligen Austritte aus der Kunst auf deren Wirklichkeitswerdung hinaus und werden damit neue Theatralitätsmodelle begründet? Wie liest sich heute Michels Frieds Diagnose, der 1967 die Autonomie der Kunst(formen) hinterfragte und zu dem Ergebnis kam, dass Theater das sei, was zwischen den Künsten liege? Welche ästhetischen, politischen, sozialen und interkulturellen Dimensionen gehen heute von den zumeist polyphonen Spielund Sprachräumen aus? Folgt der »Schauplatz der Sprache« (Theresia Birkenhauer) wieder verstärkt dramatisch geprägten Erzähl- und Handlungsstrategien – womit gegenwärtig eher einzelne nicht- bzw. postdramatische Strömungen als Zwischenspiele zu verstehen wären? Um möglichst eine Vielzahl von Perspektiven zu eröff nen, versammelt der Band verschiedene künstlerische und theoretische Positionen aus Deutschland und Österreich, die sowohl innerhalb als auch zwischen den jeweils mit einer Einleitung versehenen neun Kapiteln miteinander kommunizieren und ausdrücklich zu Lesesprüngen anregen sollen. Dazu gehören dramatische Schreibpositionen in Form von Stückauszügen, künstlerische Selbstverortungen von TheaterautorenInnen, PerformerInnen und einer Klangkünstlerin, Standpunkte von Schreibschulen, DramaturgenInnen und TheaterkritikerInnen ebenso wie ein längerer Dialog zwischen Laurent Chétouane und Nikolaus Müller-Schöll, der die zuvor markierten einzelnen theater-, tanz-, medien- und bildtheoretischen Blickwinkel am Ende des Buches nochmals entscheidend verdichtet. Dass von Heiner Müller immer noch wichtige Impulse ausgehen, seine Texte wie zum Beispiel Bildbeschreibung szenisch herausfordern, die Rezeptionsgeschichte nach wie vor faszinieren kann und Jean Jourdheuil in der künstlerischen und theoretischen Auseinandersetzung mit dessen Werk eine zentrale Rolle einnimmt, zeigen gleich mehrere Beiträge. Der vorliegende Band dokumentiert eine Tagung, die 2008 unter dem Titel Dramatische Transformationen 2. Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume in Theater, Tanz und Performance unter dem Dach der französisch-österreichisch-deutschen Forschungsgruppe CR2A (Centre de recherche sur l’Autriche et l’Allemagne) an der Universität Rouen stattgefun10
Vor wor t
den hat und von Stefan Tigges in Kooperation mit Katharina Pewny, Evelyn Deutsch-Schreiner (Universität für Musik und darstellende Kunst Graz) sowie mit Jürgen Hofmann (Szenisches Schreiben/UDK Berlin) organisiert wurde. Zahlreiche zusätzlich in das Buch aufgenommene Beiträge verschärfen die verschiedenen Perspektiven und erklären die nachträgliche Titeländerung. Tagung und Publikation wären ohne die finanzielle Unterstützung des CR2A, der Universität Rouen, des Conseil Scientifique, der Region HauteNormandie, der deutsch-französischen Hochschule (DFH/UFA), des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD), der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz, der Kultur Steiermark und des Österreichischen Kulturforums Paris sowie der Universität der Künste Berlin nicht möglich gewesen, wofür den Trägern nochmals gedankt sei. Der Dank gilt vor allem auch Francoise Retif, der engagierten Leiterin des CR2A, den TheaterautorenInnen sowie den Theaterverlagen, die dem Abdruck der Stückauszüge zustimmten sowie den Photographen, die ihre Bilder honorarfrei zur Verfügung stellten und nicht zuletzt allen AutorenInnen, die sich an diesem Buch beteiligt haben. Berlin, Graz, im Februar 2010
Die HerausgeberInnen
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1. Dialoge zwischen den Systemen : Schreiben für/über Theater Das vorliegende Kapitel versammelt exemplarische Positionen zum Schreiben für und über das Gegenwartstheater. Die Beiträge sind von vier Perspektiven aus formuliert, die maßgeblich mit Textproduktion im Theater befasst sind: Das sind die AutorInnensicht, die Präsentation und Perspektive einer dramatischen Schreibschule, die Standpunkte eines Theaterwissenschaftlers und die eines Dramaturgen. Sie zeigen die Zentralität des Schreibens für, und über, künstlerische Auff ührungen. Zwischen den Systemen – Schreiben für/über Theater knüpft an Auseinandersetzungen über die Prominenz von Texten, und daher implizit des Schreibens, im und über das Theater an, die mit Gerda Poschmanns Begriff des »nicht mehr dramatischen Theatertexts« (1997) begann, über Hans-Thies Lehmanns »postdramatisches Theater« (1999) und Theresia Birkenhauers Theater als »Schauplatz der Sprache« (2004) zu dem Verständnis der komplexen Verschränkungen von Texttheatralität und Auff ührungen als Texten führte. Diesen tritt mit der vorliegenden Textzusammenstellung eine Dimension des Schreibens zur Seite, die Isa Wortelkamp (2006) als »Sehen mit dem Stift in der Hand« beschreibt. Die theaterwissenschaftliche und die dramaturgische Tätigkeit werden der Sichtweise der AutorInnen und der Perspektive einer Schreibschule hinzugefügt. So konvergieren mehrere Subsysteme, die für die Produktions- und Rezeptionssysteme des Theaters maßgeblich sind, in dem Schreiben und der Textzusammenstellung. Ihrer Multiperspektivität entspricht auch die jeweils gewählte Textform, denn alle vier Texte sind in bestimmter Weise dialogisch: Entweder wurden sie von zwei AutorInnen verfasst (Kemnitzer/Schlender und Draxl/ Pechmann), oder im Modus einer Selbstbefragung formuliert (Pavis), oder wissenschaftliche und dramatische Texte werden miteinander in einen Dialog gebracht (Stegemann). So scheint das Dialogische, das im Laufe des 20. Jahrhunderts vom epischen und postepischen Theater, von Textflächen und Sprachspielen abgelöst wurde, im Schreiben über das Theater 13
Zwischenspiele: Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume
wiederzukehren. Die Ergänzungen, Positionierungen und Überlappungen mehrerer Positionen entsprechen auch den Inhalten der Beiträge, die sich in vielen Punkten um Berührungen und Kollisionen des Systems Theater mit anderen Systemen – der Kunstförderung, der Ausbildung, der Wissenschaft und der Medien sowie der Ökonomie drehen. Rolf Kemnitzer und Katharina Schlender zeichnen Debatten und Schriften von TheaterautorInnen nach, die 2007 10 Wünsche an ein künftiges Autorentheater formulierten und sich seitdem in unterschiedlicher Zusammensetzung zum Status des Dramatikers (und der Dramatikerin) artikulieren. Welche Strukturen begünstigen das dramatische Schreiben, und wie könnte ein »Schreibstreik« aussehen? Fragen wie diese beleuchten die Dimension des Systems Theater, die mit der Öffnung des Sprechtheaters zu anderen künstlerischen Formen virulent werden – wie virulent, zeigt der vorliegende Beitrag. Wie entsteht Neuerung im Theater? Wie kann sich eine dramatische Schreibschule in dem Dilemma der Hervorbringung von »nationaler« Dramatik, und in fundamentaler Kritik an dem Nationenparadigma – das zudem der Kunst nicht gerecht wird – artikulieren? Nach einer Kurzbeschreibung des Grazer Projekts uniT, das Einzelcoachings, Schreiblehrgänge (u.a.) für TheaterautorInnen anbietet, stellen Edith Draxl und Paul Pechmann die Programmatik der Schreibschule vor. Darin wird eine Kluft zwischen der Wahrnehmung von AutorInnen, konventionelle Dramen für den Theaterbetrieb produzieren zu müssen, und einem theaterwissenschaftlichen Reflexionsstand, der bereits vor einem Jahrzehnt den Begriff des »Postdramatischen« hervorbringt, deutlich. Diese Kluft wird im folgenden Beitrag von Patrice Pavis als Frage artikuliert: Wie verhalten sich die theaterwissenschaftliche und die künstlerische Praxis zu einander? Sollte man sich durch wissenschaftliche Lektüre auf den Besuch einer Auff ührung vorbereiten? Warum sind Theatermetaphern in die politische Sprache eingewandert? Was bedeutet Analphabetismus im Theater? Der französische Theaterwissenschaftler Patrice Pavis führt nach der Veröffentlichung seines Buches La mise en scène contemporaine (2007) mit sich selbst einen Dialog über zentrale Fragen. Das sind die Lektüre von Inszenierungen, das journalistische und das wissenschaftliche Schreiben über Theater, die Inszenierungs- und Schauspielkunst und die Ökonomien von Theaterfestivals und öffentlicher Kunstförderung. Schlussendlich setzt Bernd Stegemann systemtheoretische Theorien zu drei Theatertexten von Falk Richter in Bezug, damit führt er die dramaturgische Praxis des Textsampling vor. Nach den Themen Sexualität und Liebe gerät dabei besonders das neoliberale Wirtschaftssystem, dem Falk Richter in Unter Eis nachgeht, in den Fokus. In diesem Aspekt berührt Stegemanns Text sowohl die Forderungen der Battleautoren, als auch das 14
Dialoge zwischen den Systemen : Schreiben für/über Theater
zweite Kapitel zu poetologischen Positionen von AutorInnen, die nach Freiräumen für Kunst zwischen den Systemen (Ausbildung, Theater und Ökonomie) fragen. Ökonomie(kritik) scheint gegenwärtig ein tragender Zwischenraum zu sein, indem sich Perspektiven derjenigen treffen können, die für und über das Theater schreiben. Sie verbindet die Systeme der Dramatik, des Theaters, der Wissenschaft und der Ausbildung. K.P.
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Vom Bettelautor zum BattleAutor Rolf Kemnitzer und Katharina Schlender
»ich dachte unlängst kurz. was wäre wenn. wir streiken? zusammen. sämtliche. alle dramatiker zusammen. dass wir schreiben müssen, weil wir müssen, wissen wir. wir schreiben weiter! natürlich schreiben wir! das geben wir nicht auf. uns nicht. wir schreiben. aber nichts. nichts geben wir dem theater davon. nichts. keine lesung. keine werkstattinszenierung. keine uraufführung! lasst uns das fünf jahre tun. fünf jahre nichts dem theater geben. verhungern werden die! verhungern werden wir auch. aber lasst uns weiter kellnern. noch mehr wischen. hartz IV. was wäre wenn? sie können weiterspielen. die theater. moliere. shakespeare. horvath. müller. können sie. können sie. wie lange können sie? wie lange kann theater ohne gegenwart, ohne die sprache der gegenwart? zwei jahre? drei jahre? fünf jahre? kollegen. was wäre wenn? wenn wir streiken? fünf jahre lang. wir schreiben weiter, weil wir schreiben müssen! aber nichts davon. nichts rücken wir raus. nichts geben wir ab. nichts dem theater! 2007 bis 2012! erheben wir uns! lasst uns unsern anteil fordern! subventionsquote für uns stiefkinder! lasst uns die theater stürmen! an jedes haus ein hausautor! gehen wir nicht länger einzeln. gehen wir zusammen! keine lesung ohne honorar! keine arbeit unter wert! verlassen wir die schattenhaltung, werden wir das licht! aus der hand werden die uns fressen. die sprache der gegenwart. bezahlen werden sie dafür. anständig. und wir, wir können die miete von unserer arbeit bezahlen. 2012. wer braucht wen? das theater uns? wir das theater? was ist theater ohne sprache? ohne worte aus der gegenwart? lasst die theater zu uns kommen. 2012. zu unseren schreibtischen. zu unseren schreibfedern. wir machen eine werkstattwoche. einen wettbewerb. intendanten reichen ihre konzepte ein, dramaturgen müssen unter 35 jahre sein und wir sitzen im publikum. dramatiker! die jury 2012! suchen wir uns die theater aus, die unseren zuschlag kriegen. die unsere sprache kriegen. was wäre wenn. wir streiken? kollegen. bis 2012. fünf jahre. alle zusammen. das dacht ich unlängst kurz.«1 1. Katharina Schlender anlässlich einer Diskussion im Studio des MaximGorki-Theater Berlin am 27.04.2007.
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Vom Bettelautor zum BattleAutor
Gespräche mit Autorenkollegen anlässlich von Lesereihen oder Werkstatttagen offenbarten zunehmendes Unbehagen, was den Alltag der Autoren im Theaterbetrieb angeht. Man hörte z.B., dass einer Kollegin von einem Theater ein Stückauftrag angeboten wurde, dotiert mit 2.000 Euro – unverschämt angesichts der vielen Monate Arbeit, die damit verbunden sind. Man hörte von den Ärgernissen vieler Autoren, die ihre Arbeit in den Inszenierungen nicht gespiegelt sehen. Schon länger schwirrte die Idee im Kopf herum, einen Stammtisch für Berliner Autoren zu gründen, um bei Bier und Wein Ideen auszutauschen. Und dann gab es einen Anlass, der diesen Stammtisch ins Leben rief. Als anonymer ›Bettelautor‹ entschloss sich eine Autorin, die ungenannt bleiben möchte, Fragen an das Theater und seine Verantwortlichen zu stellen und auf Antworten zu hoffen. Circa 80 E-Mails gingen an Intendanten und Dramaturgen deutschsprachiger Theater und nur eine einzelne Antwort kam zurück: »Niemand zwingt den Bettelautor Bettelautor zu sein. Wer sich auf den Markt begibt, kennt die Bedingungen. Ansonsten muss man Filme schreiben. Wieso man für eine Uraufführung mehr Geld bekommen soll, ist unklar. Dies ist eine Strafgebühr, die uns dazu gebracht hat, Stücke nicht zu spielen, die bis heute in Verlagen verfaulen. Und nun Schluss mit Jammern und Stücke schreiben. Ich kenne Autoren, die leben davon, haben allerdings auch nie gejammert.«
Die Anonyma hatte gewagt, nach der Gleichberechtigung des Autors zu fragen sowie eine angemessene Bezahlung zu fordern. Im Frühjahr 2007 wurden Theaterautoren in das Studio des MaximGorki Theaters eingeladen, darunter die Anonyma, um in der Reihe Kloster der Wut aus ihren Stücken und Texten zu lesen. Wie so häufig, sollten die Autoren dafür kein Honorar erhalten. Die Autoren verweigerten die Lesung und es entstand eine Gruppe, die unter dem Titel ›Bettelautor‹ den Abend nutzen wollte, um gemeinsam mit weiteren Autoren, Regisseuren, Dramaturgen, Schauspielern und anderen Interessierten, über die Situation von Dramatikern zu diskutieren. Danach traf man sich regelmäßig und besprach, wie es um die Situation der Dramatiker steht und wie man diese verbessern könnte. Doch schon in den ersten Diskussionen wurde klar, dass in verschiedene Richtungen gedacht wurde. Es kam zu Streitigkeiten, was das Ziel der wohnzimmerlichen Treffen anging. Die Gruppe der Autoren begann sich zu spalten. Den anfänglichen ›Bettelautoren‹ reichte es aus, auf die Lage der Autoren im Theaterbetrieb aufmerksam zu machen, Ziel der späteren BattleAutoren war es jedoch, an dieser Lage etwas zu ändern. Die Gruppe von anfangs sieben Autoren trennte sich nach der zweiten öffentlichen Diskussion im 17
Zwischenspiele: Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume
Juni 2007 im Maxim-Gorki Theater Berlin. Die ›Bettelautoren‹ gibt es seitdem nicht mehr. Die Namen Rolf Kemnitzer, Andreas Sauter und Katharina Schlender stehen unter den »Zehn Wünschen für ein künftiges Autorentheater«. Die BattleAutoren wollen sich nicht anonym verstecken, sondern für bessere Arbeitsbedingungen kämpfen, denn ein gutes Theater braucht eine gute neue Dramatik.
Uns pflegen heißt euch pflegen. 10 Wünsche für ein künf tiges Autorentheater Seit Jahren gibt es einen scheinbaren Boom neuer Stücke auf deutschen Bühnen. In immer weniger Tagen immer mehr Urauff ührungen zu stemmen, wurde ein Trendsport für Intendanten, nach dem Motto: »Schöner Theater machen heißt schneller produzieren und schneller spielen!« Die tatsächlichen Auff ührungszahlen sind allerdings rückläufig. Meist werden Stücke kein zweites Mal inszeniert. Die Honorare für Stückaufträge, Urund Erstauff ührungen gehen in den Keller. Was aber bedeutet Quantität statt Qualität für die Theaterpaläste? Auch dort sehen viele den Substanzverlust kritisch und suchen nach Auswegen. Wo soll sich unser Theater hinbewegen? Wozu heutige Texte, die schlechter und teurer sind als Shakespeare? Welche Rolle soll der zeitgenössische Autor spielen, wenn nicht die des fünften Rades am Regiekarren? Wie kann unser Autorenrumoren konstruktiv werden? Wo haben sich Wirksamkeit und Notwendigkeit des zeitgenössischen Theaters versteckt? Wir wünschen uns (weil fordern blöd wäre, schließlich wollen wir uns am kürzeren Strang nicht aufhängen): 1. Keine Urauff ührungssucht! Bereits entdeckte Autoren wiederentdecken. Qualitätsgeilheit statt Frischfleischwahn! 2. Angemessene Uraufführungsprämien! Gegen die vom Theater gern kritisierte Ausbeutung des Menschen kann das Theater selbst etwas tun. Dramatiker sind keine Praktikanten. Angemessene Honorare auch für Werkstattinszenierungen und Lesungen o. ä.! 3. Mehr Auff ührungen einer Inszenierung statt ex und hopp! 4. Kontinuierliche Zusammenarbeit mit Autoren! Mehr Hausautoren! Autorentheaterevents ohne Altersbeschränkung und mit Folgen, d.h. keine One-Night-Stands mit Schreibern sondern Beziehungspflege. 5. Eine verantwortungsvolle Umsetzung neuer Dramatik. Die Inszenierung durch einen Regieassistenten ist nicht immer die Krönung für einen Text. Eine gute Besetzung dagegen schon. 18
Vom Bettelautor zum BattleAutor
6. Neue Stücke öfter auf die große Bühne! Durch nachhaltige Arbeit mit den Autoren wird das möglich sein. Mutdoping für Dramaturgen! 7. Mehr Dialog mit dem zeitgenössischen Publikum vor Ort, statt auf die überregionale Presse zu schielen. 8. Die Einführung einer Klassikerabgabe! Für das Spielen tantiemenfreier Klassiker geht ein kleiner Betrag an einen Fonds für zeitgenössische Dramatik. 9. Steuerkarten für zeitgenössische Dramatiker! Erste symbolische Geste: Gespielte Autoren bekommen an allen deutschsprachigen Bühnen ermäßigte Karten. 10. Eine offene Debatte mit allen Theaterschaffenden über die bestehenden Strukturen und die Frage, ob es nicht auch ohne neue Dramatik geht. Die Erklärung hat einige Diskussionen, Artikel, Berichte, Umfragen, Interviews usw. nach sich gezogen und das Problem ins Bewusstsein der Theateröffentlichkeit gerückt. In den Fachmagazinen »Theater heute« und »Theater der Zeit« wurde darüber diskutiert, in Osnabrück wurde dem beklagten ›Urauff ührungswahn‹ mit einem »Zweitauff ührungsfestival« begegnet und im Februar 2009 wurde die Erklärung auch in der Intendantengruppe des deutschen Bühnenvereins besprochen. Aber es gab nicht nur positive Reaktionen. Viele vor allem ältere Autoren zeigten sich skeptisch. Die Initiative der BattleAutoren ist nicht die Erste, die auf die Lage der Theaterautoren aufmerksam macht und wird sicherlich auch nicht die Letzte sein. Für viele macht Solidarität unter Autoren keinen Sinn, andere wollen ihre Unzufriedenheit nicht öffentlich machen, aus Angst vor ihren Auftraggebern. Auch meinen immer noch viele Theaterschaffende, es ginge den BattleAutoren nur um finanzielle Vorteile oder gar um Selbstprofi lierung. Es ist schwierig, über bestehende Strukturen zu diskutieren und noch schwieriger, diese wirklich zu verändern. Die Verantwortung wird allzu oft abgeschoben. Das mangelnde Interesse an neuer Dramatik, heißt es in vielen Dramaturgien, käme von den Zuschauern; die Kulturpolitiker seien Schuld, die Sparzwang und viele Uraufführungen fordern würden; die meisten sind der Meinung, selbst alles richtig zu machen. Solche Zufriedenheit erschwert Veränderungen. Autoren wissen um den Sachzwang vieler Theater, die der Stadt eine angemessene Platzauslastung vorweisen müssen und sehen Regisseure als kreativen Partner. Die Frage ist, ob sie von den Theatern umgekehrt als Partner ernst genommen werden. Viele Autoren lassen sich ausschlachten, damit sie wenigstens ein wenig auf die Bühne bluten dürfen. Glücklich sind sie damit nicht. Sie vermissen häufig Respekt und würdevollen Umgang mit dem Text. Wir fragen, unter welchen Bedingungen ein besseres Theater möglich wäre. 19
Zwischenspiele: Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume
Dabei vertreten wir die Meinung, dass eine starke zeitgenössische Dramatik zu einem lebendigen heutigen Theater gehört. Wenn wir die finanziellen Gegebenheiten in Frage stellen, dann nicht im Interesse der Autoren, sondern im Interesse des Theaters. In Berlin triff t man sich seit Herbst 2007 monatlich am DramaTisch, wo Autoren, Dramaturgen und Regisseure über Möglichkeiten der Veränderung sprechen. Hier fanden bereits anregende Gespräche mit Vertretern des Schriftstellerverbandes, der Dramatikerunion und Mitgliedern der Dramaturgischen Gesellschaft statt. Die Diskussion begann mit gewerkschaftlichen Themen. Als z.B. die Fachzeitschrift »Theater heute« das Gagengefüge an deutschsprachigen Theatern veröffentlichte,2 kamen alle künstlerischen Theaterberufe darin vor. Nur einer nicht, der des Dramatikers und das ist symptomatisch. Der Autor ist der einzige im Theaterbetrieb, der das unternehmerische Risiko trägt, denn die Tantiemen sind abhängig vom Eintrittspreis. D.h. der Autor leidet unter den Subventionen, denn diese senken die Eintrittspreise. Doch bald war man sich einig, dass nicht das Geld ins Zentrum der Diskussion geraten soll und bewegte sich mehr und mehr zu inhaltlichen Fragen hin. »Es gibt ja kaum noch Räume, die nicht von den Gesetzen des Marktes bestimmt werden. Und auch in der Kunst hört man immer öfter, etwas rechne sich nicht. Wenn wir aber genau diesen Raum, der benennt, dass es noch andere Dinge außerhalb des Marktes gibt, aufgeben, dann mache ich mir ernsthaft Sorgen um unsere Zukunft. Ich wünsche mir da vom Theater Gegenmodelle und eine klare Positionierung. Wir leisten uns doch als Gesellschaft einen so hochsubventionierten Ort, um diesen aus den Bedrängnissen des Marktes herauszuhalten. Im Moment hat man aber eher den Eindruck, das Theater kopiere die Gesellschaft, statt sie zu spiegeln.«3
Vom DramaTisch kommt auch die Idee für den nächsten Schritt der Initiative: die Gründung eines Autorentheaters in Berlin. Diese Idee ist auf große Zustimmung gestoßen. Nicht nur Autoren, auch Regisseure und Dramaturgen sehen die Notwendigkeit für so einen Schritt. In Berlin, wo die Mehrzahl der deutschen Dramatiker wohnt, werden die meisten wichtigen zeitgenössischen Theaterstücke nicht aufgeführt. Da Theaterstücke 2. Vgl. Peter Laudenbach: »Für eine Handvoll Euro«, in: Theater heute Jahrbuch (2007), S. 22-34, hier S. 30. 3. Vgl. Andreas Sauter: »Mehr als das fünfte Rad am Theaterkarren.« Interview mit Anja Dürrschmidt und Dorte Lena Eilers, in: Theater der Zeit 10 (2007), S. 24-28, hier S. 27.
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Vom Bettelautor zum BattleAutor
normalerweise nicht in den Buchhandel kommen, ist es der Öffentlichkeit gar nicht möglich, diesen Teil der literarischen Produktion wahrzunehmen. Eine wichtige kreative Ressource der Gegenwart bleibt verschlossen. Das wollen wir ändern. Mit einer Reihe von Lesungen und Auff ührungen, die zu einem Berliner Autorentheater führen könnten. Es gibt mehrere Wachstumsphasen. In der ersten veranstalten wir in Berlin u.a. ein Autorenfestival, die ›DramaTischTage‹. Im Gegensatz zu jenen Autorentagen, die landauf, landab stattfinden, setzen wir nicht auf unaufgeführte Stücke frisch aus der Schreiberwerkstatt, sondern stellen dem Berliner Publikum Texte, vorerst in Lesungen vor, die sich bereits andernorts bewährt haben, in Berlin bislang aber ignoriert wurden. Uns ist dabei nicht wichtig, ob sie bereits ein paar Jahre alt sind und ob die überregionale Kritik sie vielleicht schon besprochen hat. Damit unterscheiden sich unsere Kriterien von denen aller großen Theater, die sich fast ausnahmslos mit Urauff ührungen profi lieren wollen. Unser Ziel ist es, der zeitgenössischen Dramatik in Berlin ein anderes Gesicht zu geben und ein Theater zu gründen, in dem der Autor gleichberechtigt ist. Die ›Ersten DramaTischTage‹ im Dezember 2008 waren ein erster Schritt. Die BattleAutoren aber wollen hoch hinaus. Das zeigt auch ein Leitfaden, den ihr Vordenker Otto Wirx anlässlich einer geplanten Erstürmung der Hauptstadtbühnen verfasste. (Der Sturm wurde wegen Indisponiertheiten auf das nächste Jahr verschoben.)
Wir x ’ Leitfaden für ein anderes Theater in 14 Tagen 4 »Revolution ist weniger eine Frage der Ideologie als vielmehr eine Frage der konkreten Organisation.« 1. Tag In alle Theater werden Fenster reingebaut. Reinschauen und raussehen! 2. Tag Intendanten dürfen nicht mehr inszenieren. Platzhirschgehabe wird abgeschafft. 3. Tag Alle Kantinen werden lecker und zugänglich fürs Publikum. 4. Tag Alle Theatermitarbeiter (auch die gespielten Autoren) bekommen den Normalvertrag Solo mit 1500 Brutto. Kunst oder Leben! 4. Flugblatt der BattleAutoren zum Theatertreffen im Mai 2008 am »Talentetag« im Haus der Berliner Festspiele Berlin.
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Zwischenspiele: Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume
5. Tag In einem feierlichen Ritual werden alle Theaterwissenschaftler vom Hanswurst aus dem Theater vertrieben. Alle Konzepte, auch diesen Leitfaden, frisst der Hanswurst öffentlich weg. 6. Tag Die verbliebenen Dramaturgen sind jetzt Hanswurstdramaturgen und müssen täglich zehn Stücke lesen, bis sie selbst ganz blöd werden. 7. Tag Der Spielplan eines Hauses wird vor anderen Theatern geheim gehalten, damit nie wieder jemand abschreibt! 8. Tag Ab heute wird das Feuilleton von Kindern geschrieben. Die Kritiker dürfen erst wieder ins Theater, wenn Liebeskummer sie dorthin treibt (medizinischer Nachweis). 9. Tag In jedes Theater wird eine Geburtsstation und ein Hospiz integriert, betrieben von den Mitarbeitern des Theaters. 10. Tag Ab heute müssen die Dramatiker mit Hammer und Meißel schreiben, um InstantDramatik das Handwerk zu legen. 11. Tag Abschaffung von Kinderarbeit und Pädophilie im Theater. Stückeschreiben setzt ab sofort Volljährigkeit voraus. Dramaturgen, die Kinder mit Stückaufträgen in die Theater locken, werden in die katholische Kirche versetzt. 12. Tag Tote Dramatiker werden wiederbelebt und bewaffnet. 13. Tag Die Klassikerpunkregisseure müssen alle Vorstellungen ihrer Stücke ab sofort selbst mit ansehen. 14. Tag Statt der besten werden die schlechtesten Inszenierungen des Jahres zum Theatertreffen eingeladen. Daraufhin werden alle Theater sich bemühen, schlechter als die anderen zu sein. Denn nach Wirx führt nicht das relative, sondern erst das absolute Elend zum Umschwung der Verhältnisse.
Die Beharrlichkeit der Verhältnisse lädt zu solchen Träumereien ein. Als hochsubventionierte Veranstaltung verfügt der Theaterbetrieb über eine Heerschar von Kopfarbeitern, die ständig auf der Suche nach Gedanken und Ideen sind. Sie machen das Sprechen und Schreiben über Theater zu einer Kunst, die manchmal nur noch für sich da ist, abgekoppelt von der Gestaltungsarbeit. Wir sind gegenüber all den Debatten misstrauisch geworden und haben deshalb, anlässlich der DramaTischTage08, den Tisch 22
Vom Bettelautor zum BattleAutor
einer Podiumsdiskussion mit einem Vorschlaghammer zertrümmert. Wir müssen unsere Sache in die Hand nehmen. Die DramaTischTage09 führen die Idee eines Autorentheaters fort. Leidenschaft und Träume haben wir genug. Dem wird alles andere folgen.
Literatur Laudenbach, Peter: »Für eine Handvoll Euro«, in: Theater heute Jahrbuch (2007), S. 22-34. Sauter, Andreas: »Mehr als das fünfte Rad am Theaterkarren«, in: Theater der Zeit 10 (2007), S. 24-28.
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Szenisches Schreiben als avancier te literar ische Praxis. Überlegungen zur Programmatik von uniT Edith Draxl und Paul Pechmann
Der Verein für Kultur an der Karl-Franzens-Universität Graz »uniT« arbeitet seit sechs Jahren erfolgreich mit jungen DramatikerInnen und hat sich im Bereich der Nachwuchsförderung zu einer der wichtigsten Adressen im deutschen Sprachraum entwickelt. Ausgehend von der Beobachtung, dass die Ausbildung dramatischer Talente in Österreich, im Gegensatz zu Deutschland und der Schweiz, wenig wahrgenommen wurde, entwickelte »uniT« ein mehrstufiges, von etablierten Bühnen unabhängiges Förderprogramm: 1. Der »Retzhofer Literaturpreis« versteht sich als Nachwuchspreis für szenisches Schreiben. Er wird biennal vergeben. Man bewirbt sich um die Teilnahme mit der Skizze von einem Stück und wird dann in Folge zur Teilnahme eingeladen. Die BewerberInnen werden in der Folge bei ihrer Arbeit an ihrem Wettbewerbsbeitrag von RegisseurInnen, DramaturgInnen, SchauspielerInnen und AutorInnen kostenlos beraten und unterstützt. Gerade die Verbindung aus Stückentwicklung und Wettbewerb erhöht die Chancen der jeweiligen SiegerInnen, mit ihren Siegerstücken einen guten Start in der Theaterwelt zu erleben. Dies beweist der Werdegang unserer bisherigen SiegerInnen Gerhild Steinbuch, Johannes Schrettle, Ewald Palmetshofer, Christian Winkler (vgl. die Beiträge von Palmetshofer und Schrettle in Kap. 2). Mit allen von ihnen war die Arbeit im Rahmen dieses Preises der Start zu einer längerfristigen Arbeitsbeziehung. 2. Das Herzstück der Arbeit bildet der zweijährige Lehrgang »Szenisches Schreiben«. Dieses Förderprogramm wendet sich an junge DramatikerInnen und bietet 10 Module von je 5 Tagen in der Gruppe sowie ein Jahr 24
Szenisches Schreiben al s avancier te literar ische Praxis
Einzelmentoring durch herausragende zeitgenössische DramatikerInnen oder anerkannte AutorInnen an (René Pollesch, Marius von Mayenburg, Oliver Bukowski, Thomas Ostermeier, Peter Waterhouse, John von Düffel etc.). Der junge Autor/die junge Autorin soll in der künstlerischen Entwicklung herausgefordert und inspiriert und auf seinem/ ihrem Weg begleitet werden. Der Lehrgang wird 2009 zum zweiten Mal durchgeführt. Bisherige TeilnehmerInnen: Gerhild Steinbuch, Johannes Schrettle, Ewald Palmetshofer (an einzelnen Modulen), Christian Winkler, Jörg Albrecht (vgl. der Beitrag in Kap. 2), Natascha Gangl, Sophie Reyer, Christiane Kalss, Lisa Danulat, Daniela Dröscher u.a. 3. Workshops zur Stückentwicklung: Wir laden regelmäßig AutorInnen zu einer Schreibwoche in die Südsteiermark ein, bei der gemeinsam mit SchauspielerInnen und RegisseurInnen am eigenen mitgebrachten Material gearbeitet wird. Der Arbeitsprozess wird über die Schreibwoche hinaus begleitet. Letztendlich handelt es sich auch hier um Prozesse von ca. 3-4 Monaten. Ergebnisse sind unter anderem Uraufführungen in Mainz, das Siegerstück 2008 des Dramenwettbewerbs der Akademie Graz, Urauff ührungen in Mühlheim (E. Palmetshofer Helden) etc. 4. Arbeit mit Schüler/innen und Studierenden: Um begabte Leute kennen zu lernen, bieten wir auch regelmäßig Workshops für SchülerInnen und Studierende an, in Wien etwa in Kooperation mit dem Schauspielhaus. Die Erfolge der AutorInnen, die an den Programmen teilgenommen haben, sind zahlreich. Es seinen nur einige erwähnt: • Nahezu jährlich Einladungen zu den Werkstatttagen für junge AutorInnen des Burgtheaters • Teilnahme am Forum junger AutorInnen im Rahmen der Theaterbiennale in Wiesbaden • Einladung zum Stückemarkt im Rahmen des Theatertreffens Berlin • Gewinn des Stückewettbewerbs der Schaubühne Berlin • Einladungen zum Mühlheimer Theatertreffen und zum Heidelberger Stückemarkt • Gewinner des Preises der Deutschen Industrie • Hausautorenschaft am Wiener Schauspielhaus • Aufnahme in renommierte Verlage wie Rowohlt, Fischer, Henschel etc. • Auff ührungen und Lesungen von Stücken unserer AutorInnen im Rahmen des Steirischen Herbsts, im Burgtheater Wien, der Schaubühne Berlin, dem Volkstheater München, den Münchner Kammerspielen, im Schauspielhaus Wien, im Staatstheater Mainz und im Schauspielhaus Graz etc. 25
Zwischenspiele: Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume
Die Arbeit bei »uniT« wird von der Auffassung geleitet, dass es nicht darum gehen kann, AutorInnen auf tradierte dramatische Muster einzuschwören, sondern vielmehr darum, junge KünstlerInnen in ihrer Entwicklung herauszufordern, sie zu inspirieren und sie bei der Ausbildung ihrer eigenen künstlerischen Formen und ihrer eigenen Sprache zu begleiten. Solche Zielformulierung setzt ein Verständnis vom szenischen Schreiben als avancierte literarische Praxis voraus. Dieses skizzieren wir im Folgenden. Etablierte Theater stehen mit dem größten Teil ihrer Arbeit in der Tradition des Dramas im bürgerlichen Illusionstheater. Dramen oder dramatische Theatertexte sind Spielvorlagen, die eine Geschlossenheit in der Narration aufweisen, eine Fabel mit Bildern ausstatten, Figuren konturieren, ein Geschehen über Dialoge vermitteln etc. Dem Text wird die Vorherrschaft eingeräumt, alle anderen theatralen Mittel sind ihm untergeordnet. Es ist dies die Form eines Theaters, dessen Entwicklung nach einer langen Blütezeit im ausklingenden 19. Jahrhundert an einen Endpunkt angelangt ist. Ein Großteil des heutigen Publikums, dessen Sehgewohnheiten zum einen durch diese Überlieferung und zum anderen von den Produkten zeitgenössischer Unterhaltungsindustrie geformt sind, erwartet vom etablierten Theater die Fortführung dieser Tradition und billigt der Bühne mitunter lediglich eine museale Funktion zu. Im Kampf um Quoten sind viele Häuser verständlicherweise geneigt, solchem Verlangen nachzukommen. Und auch die einige Zeit lang weite Bereiche des Theaters dominierende Tendenz, mittels Betonung der Regieposition neue Darstellungsformen zu entwickeln, schwindet zugunsten der in ökonomischen Krisen allenthalben beobachtbaren kulturkonservativen Strömungen. So konnte HansThies Lehmann im Jahr 1999 noch konstatieren, das erfolgreiche Theater des 20. und jungen 21. Jahrhunderts sei ein Theater des 19. Jahrhunderts.1 Freilich gab und gibt es weiterhin Bestrebungen, neue Formen des Theaters jenseits vom hergebrachten Drama zu entwickeln. Zum einen versuchte man das Theater von der Vorherrschaft des Textes und von der Teleologie herkömmlicher Sinnproduktion zu befreien – in der Annahme, dass die Bindung des Kunstwerks an weltanschauliche Gewissheiten der zeitgenössischen Deutung von Welt und Geschichte nicht mehr entspreche.2 Zum anderen brachte das Auf kommen des Films das Theater in eine Konkurrenzsituation zu einem neuen Medium, in der das »alte« gezwungen war, die eigenen Mittel zu reflektieren und weiterzuentwickeln. Im Zuge dieser Selbstvergewisserung des Theaters rückt die Intermedialität 1. Vgl. Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater. Frankfurt a.M. 1999,
S. 76. 2. Vgl. ebd., S. 88.
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Szenisches Schreiben al s avancier te literar ische Praxis
in den Blickpunkt. Die musikalischen Strukturen der Sprache, die Zeitlichkeit des Raums, und die Bildlichkeit des Theaters traten als konstitutive Faktoren neben die Textvorlage von künstlerischen Auff ührungen.3 Das Theater öffnet sich im Lauf des 20. Jahrhunderts zu anderen Künsten hin, die sich ihrerseits auf das Theater zu bewegen. Während etwa die bildende Kunst die reale Präsenz des Betrachters in das Konzept mit einbezieht, arbeiten Antonin Artaud, Bertolt Brecht und Samuel Beckett daran, den Status des Publikums im vorgegebenen Rahmen theatralischer Kommunikation neu zu definieren. Andrerseits entwickelt die bildende Kunst performative Vorgänge, die manchmal Ritualen ähneln, sie löst den Werkbegriff zugunsten des Prozesses auf. TheatermacherInnen erkunden zur selben Zeit die Bedingungen theatralischer Codes: die ereignishafte Gegenwart, die Semiotik des Körpers, Gesten und Bewegungen, die Sprache als Klanglandschaft, Bildqualitäten jenseits der Abbildung etc. 4 Verändert haben sich in einer medial verfassten Wirklichkeit nachgerade die Wahrnehmungsformen: Diese funktionieren multiperspektivisch, vernetzt und simultan.5 In einem solchen Kontext steigt die Bewusstheit dafür, dass auf der Bühne eine Vielzahl von möglichen Sendequellen vorhanden ist. Das Theater sucht nach neuen Verknüpfungen der einzelnen Elemente und erprobt neue Arbeitsweisen. Parallel zu den skizzierten Abkoppelungstendenzen des Theaters vom Dramentext entfernt sich auch dieser sukzessive von der Bühne. Ab 1880 etwa begann das Drama verstärkt seine eigenen Konventionen zu hinterfragen; der traditionelle Theatertext war zunehmend in Auflösung begriffen, was letzten Endes dazu führte, dass beispielsweise Pirandello von der Unvereinbarkeit von Theater und Drama spricht.6 Formal avancierte dramatische Texte werden zunehmend schwerer auf der Bühne zu realisieren. Und so verwundert es nicht, wenn ein Theaterpraktiker wie der französische Regisseur Antoine Vitez meint, dass seit dem Ende des 19. Jahrhunderts »alle großen Werke, die für das Theater geschrieben wurden oder werden, geprägt sind von ,totaler Indifferenz‹ gegenüber den Problemen, die ihre Textur der szenischen Realisierung bietet«7. Gertrude Steins Dramen galten lange als unauff ührbar, erst Robert Wilson gelingt es viel später sie zu realisieren. Auch Heiner Müller formuliert, dass ein Text nur dann gut sei, wenn er für das Theater, wie es existiert, gar nicht machbar 3. Vgl. Juliane Rebentisch: Ästhetik der Installation. Frankfurt a.M. 2003,
S. 123. 4. Vgl. Lehmann, a.a.O., S. 51. 5. Vgl. ebd., S. 11. 6. Vgl. ebd., S. 78. 7. Zitiert nach ebd., S. 80.
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Zwischenspiele: Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume
sei. Die Forderung an den Text ist somit nichts weniger als der Auftrag, eine Triebfeder zu sein, das Theater neu zu erfinden. Wie reagiert nun die Theaterlandschaft auf diese Herausforderungen? Sie ist zweigeteilt, wobei der weitaus größere Teil der etablierten und der freien Theater sich mit der Dramatik auseinandersetzt. Das postdramatische Theater ist in Österreich aus der Perspektive eines Schreiblehrgangs, der alle Theaterformen für neue AutorInnen zugänglich wissen möchte, unterrepräsentiert. Avancierte Positionen werden, wenn überhaupt, nur auf diversen Festivals (z.B. steirischer herbst oder Wiener Festwochen) gezeigt. Erwähnenswert ist zudem die Arbeit, die das Tanzquartier im Bereich Performance leistet. Seit zwei Jahren gibt es nun das brut in Wien, das sich ganzjährig um diesbezügliche Projekte verdient macht. Alle Initiativen in diesem Segment haben indes eines gemeinsam: AutorInnen bleiben zumeist außen vor. So finden sich junge AutorInnen, die für szenische Produktionen arbeiten wollen, im Großen und Ganzen im Kontext des etablierten Theaters wieder, das sie zwingt, Plots, Figuren und Dialoge auf eine im künstlerischen Sinn überlebte Art und Weise herzustellen. Für Arbeiten, die den Erwartungshaltungen der Institutionen nicht entsprechen, gibt es in deren Programmen in der Regel wenig bis keinen Platz – es sei denn, sie stammen von prominenten Namen wie Elfriede Jelinek oder Gert Jonke; in solchen Fällen ist auch der etablierte Theaterbetrieb bereit, eingespielte Bahnen der Realisationspraxis zu verlassen und sich den Herausforderungen des Textes zu stellen. Was weithin fehlt, sind Orte, an denen theatrale Forschungsarbeit betrieben wird, die weniger bekannten AutorInnen Mut machen, originelle ästhetische Konzepte zu entwickeln, und die es ihnen ermöglichen, sich in die Tradition einer Gertrude Stein, eines Heiner Müller, einer Elfriede Jelinek zu stellen. Es ist nur konsequent, wenn sich eine in Österreich angesiedelte Einrichtung solchen Programmatiken und Poetiken verpfl ichtet fühlt, die einen besonderen Akzent auf die Reflexion der Bedingungen des eigenen Mediums setzen. Es ist gerade der formen- und sprachkritische Impetus einer Anzahl österreichischer AutorInnen, dem das jüngere deutschsprachige Drama wesentliche Impulse verdankt. Der Beginn einer »auf die reflexion und entwicklung ihrer mittel bedachten dichtung«8 ist hierzulande mit den Texten und Performances der Wiener Gruppe anzusetzen. Freilich soll hier die Wiener Nachkriegsavantgarde nicht zum österreichischen 8. Vgl. Reinhard Priessnitz u. Mechthild Rausch: »tribut an die tradition. aspekte einer postexperimentellen literatur«, in: Jörg Drews/Peter Laemmle (Hg.), Wie die Grazer auszogen, die Literatur zu erobern. Texte, Porträts, Analysen und Dokumente junger österreichischer Autoren. München 1975. S. 121.
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Szenisches Schreiben al s avancier te literar ische Praxis
Phänomen herunter gebrochen werden; bekanntermaßen stellt gerade die intensive Rezeption radikaler internationaler Strömungen (wie Dadaismus, Sturm-Expressionismus, Surrealismus, konkrete Poesie u.a.) die Voraussetzung für ihre von unbändiger Innovations- und Provokationslust geprägten Arbeit dar. Die szenischen Texte und Auftritte von H. C. Artmann, Friedrich Achleitner, Konrad Bayer, Gerhard Rühm und Oswald Wiener demontierten die Gattungsgrenzen, stellten die theatralische Kommunikationssituation auf den Kopf oder ließen mittels Setzung dramatischer ready mades das Theater sozusagen in der »Realität« verdunsten. Die Vorbehalte gegenüber herkömmlichen Formen des psychologisierenden und handlungsorientierten Theaters resultieren aus der Bezugnahme auf die Erkenntnisse aktueller Sprach-, Wahrnehmungs- und Kognitionstheorien, wie Gerhard Rühm in seinen grundlagen eines neuen theaters erläutert: »die fabel erscheint uns heute weitgehend verbraucht. geschehen begreifen wir als so vielschichtig, dass eine fabel, die den komplex des augenblicks auf nur einen aspekt banalisiert und nur eine richtung der zeitlichen aufrollung wahr haben will, unserem weltbild und daher auch unseren ästhetischen ansprüchen nicht mehr adäquat ist.«9
Die Arbeiten der Wiener Gruppe aus den 1950er Jahren bezeichnen aufgrund ihrer kunstphilosophischen Kompromisslosigkeit sicherlich auch die Grenzen des Experiments und führen die Destruktion aller konventionellen Formen der Literatur vor. Für die nachfolgenden Generationen hinterließ die Wiener Gruppe jedenfalls ein umfassendes Vokabular an Verfahrensweisen des nicht-mimetischen und anti-illusionistischen Theaters, dessen sich das formal avancierte Drama bis heute bedient. Während die szenischen Aktionen der 1950er Jahre in subkulturellen Nischen stattfanden, erreichten ab den 60er Jahren Peter Handke oder Wolfgang Bauer, ab den 80er Jahren Jelinek oder in den 90er Jahren Werner Schwab mit ihren Stücken ein weitaus größeres Publikum, indem sie diverse, der experimentellen Literatur zurechenbare Verfahren in abendfüllenden Stücken zur Anwendung brachten. Bauers komplexe Spiele mit Raum- und Zeitstrukturen sowie mit der Perspektivierung des Bühnengeschehens sind ebenso Ausdruck einer formenkritischen Grundhaltung wie etwa auch diverse Reduktions- und V-Verfahren in Handkes dramatischen Anfängen von Publikumsbeschimpfung bis zu Das Mündel will Vormund sein. Eine Dramenform wie in dessen Die Stunde, da wir nichts voneinander wußten reduziert ihre Mittel auf die Konstituierung eines sprachlichen Kosmos 9. Gerhard Rühm: »grundlagen eines neuen theaters«, in: Gerhard Rühm: theatertexte. gesammelte theaterstücke 1954-1971. Frankfurt a.M. 1990. S. 142.
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Zwischenspiele: Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume
im Nebentext und verlagert die Dramaturgie auf den rezeptiven Akt der Konkretisation. Jelineks Textmontagen wiederum verschieben die Sprecherinstanz in Bewusstseinszonen, die jenseits der Horizonte der auftretenden Sprechpositionen angesiedelt sind. Schwabs rhetorische Exzesse oder Jonkes musikalische Strukturen nachempfindende Wort- und Satzkompositionen schließlich unterlaufen die Weisen herkömmlicher Sinnproduktion durch die Setzung selbstreferentieller Sprachereignisse. Allen diesen Positionen ist gemeinsam, dass sie sich kraft der Reflektiertheit in der Sprachhandhabung und im Einsatz der dramaturgischen Mittel gegen ein »naiv« mimetisches Theater richten. An solchen, einer konsequenten Moderne verpflichteten Schreibhaltungen will sich »uniT« orientieren, im Bestreben, eine DramatikerInnenproduktion anzukurbeln, die den Theaterbetrieb nicht bloß mit neuen Namen beliefert. Unsere Gesellschaft ist eine wissensbasierte, was deren kontinuierliche Weiterentwicklung unabdingbar macht. Diese erfolgt, wie wir aus systemtheoretischer Perspektive annehmen, über Irritationen und innovative Impulse. Stillstand bedeutet Rückfall und hat negative Auswirkungen auf die gesellschaftliche, wirtschaftliche und demokratiepolitische Situation. Einer Weiterentwicklung bedarf es in jedem sozialen Segment, so auch in den Bereichen der Kunst und Kultur, wenn man davon ausgehen will, dass es gerade diese Bereiche sind, die es einer hoch entwickelten Gesellschaft erlauben den eigenen Status zu hinterfragen. Um die zum Fortschritt notwendigen Irritationen und innovativen Impulse im Feld der Kunst entwickeln zu können, braucht es gewisser Enklaven, in denen die Herstellung und Verbreitung von Werken ermöglicht werden, die gegen den common sense landläufiger Publikumserwartungen gerichtet sind. Darüber hinaus spiegelt zeitgenössische Kunst gerade mit den Formproblemen, an denen sie sich abarbeitet, strukturelle Fragen der Gesellschaft. Geht es zum Beispiel um die Fragen, wie sich in einer medial verfassten Welt Wirklichkeit, wie sich in einer immer mehr fragmentierten Umgebung das Subjekt konstituiert, ist die Kunst (ebenso wie die Philosophie) zwar nicht imstande, verbindliche Antworten zu geben; unter dem Einsatz gegenwartsrelevanter Verfahren vermag sie immerhin zur Präzisierung derartiger Fragestellungen beizutragen. Für Österreich, das seine Identität gern über Leistungen auf dem Gebiet der Hochkultur definiert, ist – neben dem musealen Auftrag – auch deren Weiterentwicklung von Belang. Die notwendige Voraussetzung für den Fortschritt ist das Vorhandensein eines prosperierenden künstlerischen Milieus, das solchen Experimenten Raum gibt, für deren Stattfinden der hochkulturelle Betrieb weniger (bis gar nicht) geeignet ist. »Neuerungen müssen nicht sogleich plausibel sein, […] Ergebnisse können handwerklich hinter den Erwartungen zurückbleiben, ihr innovatives Potential sich 30
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nur wenigen offenbaren«10 – nichtsdestotrotz sind innovative Bestrebungen abseits der etablierten Institutionen Gewähr dafür, eine Stagnation des Establishments abzuwehren. Auch indem sie diese kommentiert, vor sich hertreibt, unterminiert, findet innovative Gegenwartskunst ihren Niederschlag in der Hochkultur, und eben nicht nur dadurch, dass die Talente, die sie hervorbringt, von jener einverleibt werden. »uniT« sieht sich als ein Biotop, in dem Neues entstehen kann.
Literatur Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater. Frankfurt a.M. 1999. Priessnitz, Reinhard/Rausch, Mechthild: »tribut an die tradition. aspekte einer postexperimentellen literatur«, in: Jörg Drews/Peter Laemmle (Hg.), Wie die Grazer auszogen, die Literatur zu erobern. Texte, Porträts, Analysen und Dokumente junger österreichischer Autoren. München 1975. Rebentisch, Juliane: Ästhetik der Installation. Frankfurt a.M. 2003. Gerhard Rühm: »grundlagen eines neuen theaters«, in: Rühm, Gerhard: theatertexte. gesammelte theaterstücke 1954-1971. Frankfurt a.M. 1990.
10. Lehmann, a.a.O., S. 37 (Flaubert).
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Selbstbefragung zur zeitgenössischen Inszenierung Patrice Pavis
Warum sprechen Sie von Inszenierung und nicht von Theater? Weil es das Theater als solches nicht gibt. Es gibt lediglich Mittel, das Theater ins Spiel zu bringen, das heißt es zu inszenieren. Worin bestehen diese Mittel? In der praktischen Umsetzung eines Textes oder menschlicher Handlungen durch verschiedene Agenten. Kann das Theater denn nicht gelesen werden? Selbstverständlich. In diesem Fall handelt es sich allerdings um dramatische Literatur, nicht um Theater. Wozu gibt es Theorie, wenn die Praxis jeden Rahmen sprengt? Um Rahmen vorzugeben, die man dann besser sprengen kann. Ist Subjektivität in einer Beurteilung vermeidbar? Nein. Und das ist gut so. Welche Inszenierungen sehen Sie am liebsten? Solche, die meine Sicht des Theaters und des Lebens irritieren. Welche Inszenierungen hassen Sie? Den Rest. Wo situieren Sie sich in der Debatte zur Postdramatik? Nach ihr.
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Selbstbefragung zur zeitgenössischen Inszenierung
Ist Ihre theoretische Arbeit für die Inszenierungspraxis von Bedeutung? Ja und umgekehrt. Muss man sich auf eine Inszenierung vorbereiten, indem man etwa ein Buch, zum Beispiel das Ihre, liest? Kann man eine Auff ührung so mehr genießen? Es ist nicht empfehlenswert, aber es ist manchmal unvermeidbar. Ist der Begriff der »Inszenierung« hinsichtlich aktueller Produktionen eigentlich noch angebracht? Wenn man ihn kritisch begreift und hinterfragt, ja. Wird es Inszenierungen immer geben? Das ist nicht sicher. Was wird es nach der Inszenierung/mise en scène geben? Die mise en perf. Perfusion? Und auch die mère-fusion.1 Gibt es ein Leben nach der Inszenierung? Ja, vorausgesetzt man schreibt, ohne an sie zu denken. Warum ist die Inszenierung heute die Lieblingsmetapher der Politiker? Weil es ihnen nicht mehr gelingt, Geschichte zu schreiben. Welchen Sinn hat es, in einem Schauspiel nach Ordnung zu suchen? Zu sehen, wie wir diese Ordnung auffassen und wie sie uns ergreift. Was ergreift der Regisseur? Die Gelegenheit. Wie? In dem er den Augenblick packt. Worin besteht der Unterschied zum Leben? Es gibt keinen.
1. Anmerkung der Übersetzerin: Wortspiel: In »Per«fusion schwingt »Père«fusion (»Vater«fusion) mit. Die Antwort »Mère«fusion bedeutet »Mutter«fusion.
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Zwischenspiele: Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume
Was ist eine dekonstruierte Inszenierung? Eine Inszenierung, die man rekonstruieren kann. Inwiefern ist Inszenierung lebensnotwendig? Insofern sie ein Fragment unserer Welt rekonstruiert. Wie rekonstruiert sie es? Indem sie es durch den Körper und den Geist filtert. Inszenierung ist die Kunst des …? Die Kunst des Koan. Das heißt? Nicht versuchen zu begreifen, was man schon weiß, und versuchen nicht zu begreifen, was man nicht weiß. Ich sehe koanen Zusammenhang mit der Inszenierung. Inszenierung ist die Kunst der Verschiebung und der Regulierung. Welchen Aspekt der Arbeit ertragen Sie nicht? Den Kundenservice. Das heißt? Dem Publikum meine Absicht erklären zu müssen und den Gehorsam der Angestellten. Was ist das Schwierigste am Verfassen einer Kritik? Fair und ruhig zu bleiben: sich weder von seiner Begeisterung noch von seiner Verachtung mitreißen zu lassen. Wie kann man gerecht urteilen? Indem man spontan reagiert, aber auch mit einem gewissen Abstand, indem man auf Bissigkeit verzichtet. Woher kommt die Schwierigkeit, eine Auff ührung zu beurteilen? Von der Unfähigkeit, Menschen und ihre Arbeit ohne Gefühlswallung zu betrachten. Warum? Wir sind unfähig, gerecht und streng zu sein, uns mit dem anderen zu konfrontieren, ohne den anderen in uns und uns im anderen zu töten.
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Selbstbefragung zur zeitgenössischen Inszenierung
Gibt es etwas, was Sie mehr ärgert als ein Kritiker, der sich über einen Künstler lustig macht? Einen Künstler, der sich über einen Kritiker lustig macht. Warum mögen Sie un- oder schwer lesbare Inszenierungen, die nicht auf ein System rückführbar sind? Weil sie ein Mittel sind, gegen die Bürokratisierung der Bedeutung in der Kunst zu kämpfen. Warum mögen Sie keine lesbaren Inszenierungen? Weil ich meinen Auftrag nicht im Kampf gegen den Analphabetismus sehe. Was bestimmt den Großteil der Kritik an Regisseuren? Unehrlichkeit und ein gewisser moralisch-theoretischer Opportunismus. Brook beispielsweise wird sein Essentialismus vorgeworfen, Mnouchkine die Aneignung von Interkulturellem, Lepage seine internationale Theater(Kunst)vermarktung. Was denken Sie über die Polemik zur dunklen und elitären Seite des Theaters, die anlässlich des Theaterfestivals in Avignon 2005 ausbrach?2 Die Frage war es wert, gestellt zu werden. Wie ist darauf zu antworten? Indem man Elitisten und Demokraten gleicherweise gegeneinander ausspielt. Mit welchem Ziel? Mit dem Ziel, die Elite zu demokratisieren und die Demokratie zu verbessern.
2. Anmerkung S.T.: Für unterschiedliche Formen der Kritik und Polemik sorgten z.B. der artiste associé Jan Fabre mit Histoire des larmes, Romeo Castellucci mit Berlin 03, Wim Vandekeybus mit Puur, Jacques Delcuvellerie mit Anathème oder Gisèle Vienne mit Une belle enfant blonde. Fast zeitgleich erschienen im Herbst 2005 Régis Debrays kritische Abrechnung Sur le pont d´Avignon bei Flammarion sowie der von Georges Banu und Bruno Tackels bei den Editions L´entretemps herausgegebene Sammelband Le Cas Avignon 2005, deren Autoren dem Festivalprogramm wesentlich offner begegneten. Vgl. auch die 2006 folgende Bilanz Avignon 2005. Le conflit des héritages von Carole Talon-Hugon bei théatre hors-série/Actes sud in der die Autorin philosophisch und ästhetisch zu vermitteln versuchte.
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Zwischenspiele: Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume
Gibt es in Frankreich zu viele Theater? Vielleicht nicht zu viele Theater, aber definitiv zu viele Auff ührungen. Was kann man dagegen tun? Im Vorhinein eine Auswahl treffen, bevor das Publikum mangels Interesse oder aus reiner Bequemlichkeit wählt. Wirklich originelle Projekte unterstützen, die Ansprüche anheben. Soll man nach einer Methode vorgehen? Auf gar keinen Fall! Eine Einzelperson oder Gruppen unterstützen? Ein kollektives oder ein individuelles Projekt. Woher sollen junge Künstler von Anfang an wissen, wie man ein Projekt erarbeitet? Man muss ihnen dabei helfen es zu konzipieren, es zu präsentieren und dann zu realisieren. Wo? Unter anderem an der Universität. Erscheint Ihnen die Verteilung von Subventionen in Frankreich gerecht? Was weiß ich? Sobald ein Unternehmen institutionalisiert wird, stellt sich Konformismus ein. Das erstickt manche Talente. Wie können Sie sich dessen so sicher sein? Vergleichen Sie die in und off Produktionen des Theaterfestivals in Avignon.3 Kann das Theater ohne Subventionen auskommen? Nein, aber die Kunst, Subventionen zu erhalten sollte nicht mit der Kunst, zu inszenieren, verwechselt werden. Was untergräbt die Qualität einer Inszenierung? Zeitliche Einschränkungen, Publikumsanbiederungsstrategien, Amateurhaftigkeit, mangelnde Konzentration und mangelndes Interesse eines generalisierenden Massenpublikums. 3. Anmerkung der S.T.: Im In-Programm waren 2008 während drei Wochen knapp 30 Produktionen zu sehen, im vierwöchigen Off-Festival konkurrierten ca. 700 Aufführungen miteinander.
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Selbstbefragung zur zeitgenössischen Inszenierung
Welche Arten von TheaterKunst sollten Ihrer Meinung nach vorrangig unterstützt werden? Solche, die schwer zustande kommen. Kann man Regie lehren? Nein. Warum wird sie dann allerorts gelehrt? Um jenen Kollegen, die Gesetze schaffen und alles bürokratisieren wollen, in nichts nachzustehen. Welchen Kollegen? Denen von der Post, der Krankenkasse, dem Steuer- und dem Unterrichtswesen. Kann man das Schreiben an der Universität lernen. Noch weniger als das Inszenieren. Was lernt man über das Inszenieren? Ein paar Regeln des Métiers. Und über das Schreiben? Nichts. Abgesehen davon, wie geschrieben wurde und wie in Zukunft geschrieben werden soll, indem man nämlich gegen den Strich schreibt oder sich zumindest auf Umwege begibt. Warum schreibt man für das Theater? Weil man eine Welt schaffen möchte, die mit der Unseren in den Dialog tritt. Was ist der Unterschied zu Lyrik und Roman? Wir hoffen immer, uns auf einer Bühne zu sehen, von wo aus wir uns selbst sagen, wie wir uns verhalten sollen. Und wie sollen wir uns verhalten? Wir müssen den Anderen in uns selbst suchen. Und wie finden wir ihn? Indem wir uns im Anderen suchen. Was missfällt Ihnen an einem Regisseur? Der Anspruch, alles zu lenken und zu leiten, im Grunde also die Regie. 37
Zwischenspiele: Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume
Was gefällt Ihnen an einem Regisseur? Der Wille, trotzdem weiterzumachen. Wie kann man die Inszenierungspraxis weiterentwickeln und verbessern? Indem man jungen Künstlern das Recht gibt, Dinge zu versuchen und sich zu irren. Wann ist man ein junger Künstler? Von 7 bis 77. Was würden Sie einem Schauspieler empfehlen? Nur dann zu spielen, wenn er es mit dem Herzen tut. Und einem Regisseur? Nur dann zu handeln, wenn sein Herz danach schlägt. Wie sehen Sie Ihr zukünftiges Dasein nach diesem Buch? Besser, weil ich es nicht mehr schreiben muss. Dieser Text entstand neben und als Reaktion auf mein Buch »La mise en scène contemporaine«, Paris 2007. Der Beitrag wurde von Nicole Kandioler ins Deutsche übersetzt.
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Sex, Liebe und Geld in Zeiten ihrer technischen Reproduzierbarkeit. Drei Beobachtungen zu Falk Richters Dramen Bernd Stegemann
I. Sex oder Die Verstörung Intime Kommunikation in den Zeiten des Internets hat ihre besonderen Spielarten gefunden. Partnerbörsen, Datingseiten, Chatrooms und Foren für alle Phantasien bevölkern das Netz. Will das Theater sich dieser neuen medialen Interaktion nähern, verfolgt es unterschiedliche Strategien. Es wird dabei häufig versucht, die virtuelle Realität eines gemeinsamen Gesprächs ohne reale körperliche Präsenz darzustellen. Eine andere Möglichkeit besteht darin, die Netz-Kommunikation zur Vorgeschichte der dann gezeigten Situation zu machen. So geschehen in Norway today von Igor Bauersima und auch in einer zentralen Episode in Falk Richters Verstörung (Kap. 3). Hier treffen zwei Männer aufeinander, die sich offensichtlich in einem Forum für schnelle sexuelle Kontakte verabredet haben. Die Pointe der nun sich entwickelnden Situation besteht offensichtlich darin, dass einer der beiden Männer nicht so aussieht, wie sein Foto und seine Selbstbeschreibung glauben gemacht hat. Da jedoch Heiligabend und die Zeit schon fortgeschritten ist, beginnt der sich betrogen fühlende Mann, der nur mit seinem Tarnnamen Gayromeo genannt wird, nach Möglichkeiten sexueller Befriedigung zu suchen. Das nun beginnende Verhandlungsgespräch dreht sich um die schwierige Frage, wie nun noch »unkomplizierter Spaß« zu haben ist. Der Mann mit falschem Foto, Paul, ist in diesen Verhandlungen in der sichtlich schwachen Position. Sein reales Erscheinen hat seinen Marktwert drastisch sinken lassen. Er ist bemüht und bejaht alle 39
Zwischenspiele: Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume
Forderungen, die Gayromeo an einen möglichen »Spaß« stellt. Die zentrale Bedingung ist hierbei die absolute Unverbindlichkeit. Diese Bedingung entpuppt sich durch seine umständlichen Begründungen und das vehemente Insistieren als eigentliche Obsession von Gayromeo. Die Situation wird hierdurch paradox. Zwei Männer treffen sich für »unkomplizierten Spaß«, der eine ist enttäuscht, der andere offensichtlich durch den realen Anblick erregt. Der Enttäuschte bremst nun jeden Kontakt durch umständliche Bedingungen aus, während Paul auf alles einzugehen scheint, um zum Ziel seiner Erregung zu kommen. Pauls Prüfung endet mit einer kalten Begutachtung seines Körpers, die nicht zu seinen Gunsten ausfällt. An dieser Stelle wird die Szene nach dem dramaturgischen Prinzip von Verstörung unterbrochen durch einen anderen Handlungsstrang. Als sie wieder einsetzt, ist Gayromeos Entscheidung gefallen: »Wir lassen das.« Der Kontrast zwischen den Fotos im Netz und Pauls realem Aussehen verhindert die Möglichkeit, Paul doch annehmen zu können. Kein Sex ist für Gayromeo offensichtlich verlockender als die Erwartung von enttäuschendem Sex. Und inzwischen hat Paul durch die langwierige Examination seiner realen Erscheinung Potenzprobleme. Diese Anlaufschwierigkeiten führen bei Gayromeo zur endgültigen Ablehnung. Paul hingegen versucht die missglückte sexuelle Situation zu einer intimen umzudeuten. Die Differenz zwischen dem »A-meat« Gayromeo und seinem eigenen Aussehen möchte er in einer echten Beziehung verschwinden machen. Er zwingt Gayromeo seine Freundschaft auf, mit der zweifelhaften Begründung, dass er doch einen Freund brauche. Der Zwang wird zur tatsächlichen Gewalt, er schlägt Gayromeo nieder, fesselt ihn und nötigt ihn in der nächsten und letzten Szene dieser Episode dazu, sein Freund zu sein. Dabei legt er ihm die Worte in den Mund, die er gerne von ihm hören würde. Die erzwungene Freundschaft bleibt, wie auch sonst, eine einsame Inszenierung von Beziehung. Statt eines Bildes im Netz sitzt der nun gefesselte und blutende Gayromeo vor ihm und bleibt eine tote Puppe seiner Phantasie. Die Intimkommunikation hat seit ihrem ersten Auftreten in der frühen Neuzeit eine parallele Entwicklung zu den gesellschaftlichen Kommunikationsmedien durchlaufen 1. Ihr Beginn war von rhetorischen Figuren gekennzeichnet, deren Anwendung den Regeln des Anstands und der Bildung folgte. Das Raffi nement, mit dem die zur Verfügung stehenden sprachlichen Mittel eingesetzt wurden, entschied über Erfolg und Misserfolg der Verführung. Klassische Beispiele sind die Verführungsszenen von Don Giovanni in den unterschiedlichen Fassungen von Tirso de Molina, Molière und da Ponte. Mit dem Erscheinen des bürgerlichen Subjekts verschiebt sich die Situation der Verführung. Das Regelwerk der Verfüh1. Vgl. Niklas Luhmann: Liebe als Passion, Frankfurt a.M. 1982.
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Sex, Liebe und Geld in Zeiten ihrer technischen Reproduzierbarkeit
rung wird ebenso wie der seinem Stand gemäße Charakter suspekt, und an seine Stelle tritt das bürgerliche Subjekt. Dieses steht vor der paradoxen Schwierigkeit, sein Inneres so zu kommunizieren, dass es wahr und verständlich zugleich erscheint. Der Gebrauch rhetorischer Figuren verbietet sich unter dieser Maßgabe. Allgemeine Formulierungen für einen individuellen Sonderfall zu verwenden dient der Selbstdarstellung als einzigartigem Wesen wenig. Zugleich kann das Subjekt nicht in eine Privatsprache verfallen, die zwar einzigartig, aber auch unverständlich wäre. Es muss also seine Seele, seine Gefühle, seine Einzigartigkeit so formulieren, dass sie verständlich und authentisch zugleich wirkt. Der Bürger muss sich seine Gefühle quasi anmerken lassen. Eine Betonung z.B. seiner Aufrichtigkeit würde gleich Argwohn wecken und eine zu geschickte Formulierung seiner Liebe ließe ihn als Don Juan erscheinen. Die Seufzer, das Ach, das Unaussprechliche, das »Je ne sais quoi« wird zur Sprachfigur dieser Epoche. Die Liebe wird zur Passion. Denn nur wenn sein Gefühl den Liebenden dazu zwingt, dem anderen seine Liebe zu gestehen, ist sie glaubwürdig und verführt das Gegenüber, ihn ebenfalls lieben zu müssen. Der Selbstmord aus unerwiderter Liebe ist dann fatale Konsequenz einer Selbsterhöhung des subjektiven Gefühlshaushalts. In der Moderne wird die so genannte romantische Liebe zum Maßstab und zur Selbstüberforderung aller Liebenden erklärt. Eine Kulturindustrie hat sich der Produktion dieser Ekstasen angenommen, um sie als Gefühlsware gewinnbringend handeln zu können2. Jeder Mensch möchte nun Fühlen wie im Film und Liebe als eine Passion erleben, als gäbe es im Bereich der seelischen Fähigkeiten keine Unterschiede zwischen den Menschen, so wie sie im körperlichen allgemein anerkannt sind. Nicht jeder kann einen Marathon laufen, aber jeder glaubt wie eine Figur aus einem Film fühlen zu können. Die Verführung durch den Anschein der authentischen Passion ist wiederum in eine neue Phase gekommen. Die Kulturindustrie produziert inzwischen nicht nur die Vorbilder für authentische Gefühle, sie stellt auch in der Lebenswelt die Möglichkeiten zu authentischen Momenten zur Verfügung: romantische Abendessen, Reisen, Blumensträuße und Gedichtbände. So wie die rhetorischen Figuren abruf bar waren, sind die Zeichen für eine romantische Situation inzwischen inklusive des Überbietungszwangs standardisiert. Falk Richters Verstörung spielt nun in einer Zeit, in der diese aufgenötigten Angebote zu einer umfangreichen Zerstörung intimer Kommunikationsmöglichkeiten geführt haben. Der gewählte Zeitpunkt, der heilige Abend vor Weihnachten ist allgemeiner Kumulationspunkt für die Erwartungen an überzeugende Menschlichkeit, 2. Vgl. Eva Illouz: Der Konsum der Romantik, Frankfurt a.M. 2007 und Dies.: Gefühle in Zeiten des Kapitalismus, Frankfurt a.M. 2006.
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der mit inflationären Angeboten der Kulturindustrie an authentischen Geschenken und Momenten entsprochen wird. Parallel zu den vorgefertigten Momenten der Authentizität verläuft die Verdinglichung des Gegenübers im virtuellen Verführungsraum des Internet. Der Andere wird zur Projektionsfläche des eigenen Begehrens. Das Phantasma, das im Internet-Nutzer entsteht, wenn er durch die millionenfachen Angebote der Seiten surft, steht in keinem realen Kontakt mehr zu den dahinter sich verbergenden Menschen. Und zugleich verbergen sich hinter den standardisierten Selbstdarstellungen Menschen, die im Hinblick auf die Regeln des Marktes ihr Selbstbild entwerfen. So driften die Wahrnehmung des Anderen und die Selbstdarstellung des Eigenen unendlich auseinander. Das Kennenlernen in der vom Netz vorgegebenen Form führt zu einem Abgrund zwischen Suchenden und Gefundenen. Im Suchenden entsteht aufgrund seiner einsamen Phantasie vor den Bildern und Sätzen ein Phantasma des Anderen, das mit diesem aufgrund einer doppelten Entfremdung nichts mehr zu tun haben kann. Denn zum ersten hat sich der Mensch schon zum Nutzer zugerichtet und sich damit von seinem einstmals unendlichen Selbst verdinglichend entfernt und dabei meistens zum Objekt sexueller Begierden stilisiert. Zum zweiten werden die Phantasien des Betrachters durch diese Selbstdarstellungen angeregt. Sie entwickeln sich dann nach ihrer eigenen Logik ohne die Möglichkeit des Realitätsabgleichs zu Phantasmen, die jede denkbare reale Begegnung als defizitär deklassieren. Die Enttäuschung, die in der Szene zwischen Paul und Gayromeo ausgeführt wird, ist dieser Art des Kennenlernens durch die mediale Vermittlung strukturell eingeschrieben. Der echte Mensch ist eine prinzipielle Enttäuschung in Zeiten des virtuellen Sexmarktes.
I. Liebe oder Im Ausnahmezustand Mann und Frau führen ein Leben wie im Paradies. Sie sind erfolgreich, haben ein Kind, wohnen in einer sicheren und begehrten Wohnlage. Für jedes Hobby gibt es Freizeitangebote und die sozialen Kontakte halten keine bösen Überraschungen bereit, da alle, die hier wohnen, ähnlich glücklich Erwählte sind. Die Bösen, die Anderen leben auf der anderen Seite des Sicherheitszaunes, dort, wo niemand gerne ist und schon gar nicht freiwillig hin möchte. Mann und Frau leben im Ausnahmezustand ihrer Beziehung. Sie quälen sich mit Ängsten nicht zu genügen, herauszufallen, ausgestoßen zu werden, aus der Gated community ihres Konsumgefängnisses. Ihr Leben ist die Erfüllung eines Traums der bürgerlichen Gesellschaft. Sicherheit im Drinnen und Schutz vor dem unbekannten Draußen. Wenige Worte haben einen so alarmierenden und staatstragenden 42
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Klang wie das Wort »Ausnahmezustand«. Es mag an Carl Schmitts Definition des Souveräns als Entscheider über den Ausnahmezustand liegen.3 Vielleicht ist auch der Widerspruch, der in dem Wort selbst formuliert wird, Ursache für die Beunruhigung, die von ihm ausgeht. Eine Ausnahme ist eine Durchbrechung der Regel und diese ist ihrem Wesen nach kein Zustand, sondern ein punktuelles Ereignis. Damit die Ausnahme die Regel auch bestätigt, tritt der Ausnahmezustand in Kraft. Und wer über die Entscheidungsgewalt verfügt, diesen zu erklären, muss von einer Position aus agieren, die mehr umfasst als nur den Geltungsbereich des Gesetzes. Der Ausnahmezustand ist ein besonderer Grenzübertritt, da er im Moment seines Inkrafttretens die Grenze selbst erst erschaff t. Denn nur von der Perspektive des Gesetzes aus ist ein Ausnahmezustand notwendig, um die Bedrohung der Gültigkeit des Gesetzes abzuwehren. Und umgekehrt wird mit dieser Verteidigung das zu verteidigende Gesetz außer Kraft gesetzt. Hegel hätte gesagt, das Gesetz wird aufgehoben, um es zu bewahren. Die Grenze zwischen dem Gesetz und seinem Ausnahmezustand ist eine Wiederholung aller Grenzziehungen moderner Systeme. Systeme konstituieren sich aufgrund ihrer Leitdifferenz, mit der sie sich selbst und ihre Umwelt voneinander unterscheiden. Im Vollzug dieser Unterscheidung von System und Umwelt wird die eine Seite wie die andere bezeichnet. Das bemerkenswerte an dieser Systembildung ist sein Charakter als doppeltes Ereignis: nur indem es sich von seiner Umwelt unterscheidet, konstituiert es diese als das Andere, und nur wenn es dieses andere als spezifisch Anderes bezeichnet hat, kann es diese Umwelt beobachten. Das Rechtssystem beobachtet menschliches Verhalten mit der Unterscheidung Recht/ Unrecht. Ein Kuss auf der Straße ist für das Recht unsichtbar, solange er keinen Unfall provoziert. Beobachte ich die Umwelt unter der Perspektive gut/böse, sehe ich anderes, als wenn ich sie mit der Unterscheidung jung/ alt, drinnen/draußen oder sozialistisch/kapitalistisch betrachte. Jede dieser Grenzen erzeugt einen anderen Beobachtungsgegenstand und strukturiert die Umwelt anders. Die Unterscheidung in Inklusion und Exklusion ist für moderne Gesellschaften zu einem zentralen Paradigma geworden. Als sozial gilt, was die Inklusion steigert und die Exklusion mindert. Möglichst viele Menschen sollen Zugang zu Bildung, Nahrung und Medizin erhalten. Doch die Unterscheidung erzeugt auch einen Teil, der auf der exkludierten Seite steht. Der allgemeine Weltzustand wird so beschreibbar als systematisches Patchwork von Zugehörigkeiten und Ausgrenzungen. Ich bin Autofahrer aber kein Golfspieler, ich habe Kinder aber keine Aktien, ich wohne auf dem Lande aber zur Miete usw. Die Evolution moderner Gesellschaften mindert die Grenzen zwischen allen Lebensbereichen 3. Vgl. Carl Schmitt: Politische Theologie, Berlin 1996.
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und erhöht dadurch die Flexibilität des individuellen Lebensentwurfs. Im Gegenzug fallen die Bindungen an die Institutionen (Arbeitgeber, Sozialgesetze und Nation) und an die Menschen (Scheidung, Kleinfamilie und Singles). Die größte Angst des modernen Menschen ist somit eine paradoxe: er flieht jede unauflösliche Verpflichtung und fürchtet zugleich die Exklusion aus den für seinen Lebensentwurf notwendigen Systemen. Die Leitdifferenz von Drinnen und Draußen bestimmt die Selbstbeschreibung des modernen Menschen. Nur wer drinnen ist, lebt menschlich, da Menschsein durch diese Zugehörigkeit definiert ist. Eine kollektive Angst, »aus dem System zu fallen«, nicht mehr dazuzugehören, draußen zu sein, bildet den Antrieb, die Grenze zwischen Drinnen und Draußen ständig zu überprüfen und sich durch die Grenzziehung seiner eigenen Zugehörigkeit zu versichern. Ein Homo sacer wäre nach Giorgio Agambens Reformulierung 4 ein Mensch, der sein Menschsein verloren hat, da er nicht nur auf der falschen Seite der Grenze lebt, sondern diese Grenze für ihn keine Realität mehr hat. Ein Homo sacer kann somit auch keine Hoffnung mehr haben, jemals wieder auf die richtige Seite der Grenze zu gelangen, da diese für ihn nicht mehr existiert. Ein solcher Mensch ist aus dem menschlichen Zusammenhang, der durch Grenzen und Gesetze gebildet wird, gefallen. Die Angst vor der Auflösung der Grenze und dem damit irreversiblen Verlust der Zugehörigkeit manifestiert sich im Ausnahmezustand. Wer die Kraft nicht mehr auf bringt, jeden Tag erneut die Grenze zu ziehen und dadurch seinen Anspruch auf Dasein zu bestätigen, verliert seine Zugehörigkeit zum Innen. Je mehr Energie in die Aufrechterhaltung der Grenze geflossen ist, je wichtiger ihre ein- und ausgrenzende Funktion ist, desto angstvollere Bilder werden durch ihren drohenden Zusammenbruch evoziert. Und je fundamentaler die Funktion dieser Grenze für das Dasein des darin lebenden Menschen ist, desto kräftezehrender wird die tägliche Wiederaufrichtung des Schutzwalls gegen das von ihm ausgegrenzte Andere. Das politische Verfahren des Gleichgewichts aus Verschärfung der Ausgrenzungsmechanismen bei gleichzeitiger Hoff nung auf Inklusionsmöglichkeiten versucht diesen Zustand stabil zu halten. Geriete diese Balance in ein Ungleichgewicht, wäre eine Hysterisierung des Zugehörigkeitsgefühls die Folge, die in der Konsequenz in einem Ausnahmezustand münden würde. Die Grenze wäre nur zu erhalten, wenn sie aufgehoben würde. Die Situation der in diesem Ausnahmezustand lebenden Menschen wäre ein Kampf um die Bewahrung des Status quo. Ihre Handlungen wären determiniert von der Abwehr gegen das Draußen. Und dieses Draußen wird durch die Art der vorherigen Abgrenzung bestimmt. Es ist dämo4. Vgl. Giorgio Agamben: Homo sacer, Frankfurt a.M. 2007.
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nisch, krank, fremd und unberechenbar, wenn die Grenzziehung genau dieses ausgrenzen sollte. Die Kommunikation im Ausnahmezustand wäre strukturiert von Argwohn gegen jedermann und blinder Sorge um sich selbst. Die Menschen wären gefangen in einem Ausnahmezustand ihres Lebens. Agambens These ist, dass die westlichen Regierungen das Prinzip des Ausnahmezustands zu ihrem Regierungsalltag gemacht hätten.5 Die Frage ist, ob nicht die durch diese Regierungsbemühungen inkludierten Bürger längst einen individuellen Ausnahmezustand erreicht haben, in dem sich die Arbeit der Abgrenzung mit ihrem Selbstbild so verschlungen hat, dass die Außerkraftsetzung der Regeln jede Sekunde als Implosion droht.
III. Geld oder Unter Eis Unter Eis ist Teil des Systems, das Falk Richter in der Spielzeit 2003/4 an der Berliner Schaubühne initiiert hat. Das System hatte sich, wie jedes System, eine spezifische Funktion zugedacht. Seine Aufgabe war, die Unwissenheit der Theatermacher, die über ihre Gegenwart, in der sie leben, etwas erzählen wollen, zum Ausgangspunkt einer Erforschung der Welt zu machen. »Ich weiß es nicht, ich weiß es doch auch nicht …« beginnt Richters Konzept des Systems, in dem er die Suche nach den »wirklichen« Ursachen und Gründen hinter den verwirrend vielfältigen Phänomenen startet. Niklas Luhmann, der deutsche Vordenker der Systemtheorie, wünschte sich in einem Text der 80er Jahre einmal eine Kunst, die parallel zu seiner Erforschung der Wirklichkeit eine eigene, poetische Reformulierung seiner systemtheoretischen Erkenntnisse versuchen möge. In Rainald Goetz’ seit den 90er Jahren stark von Luhmanns Denken und Schreiben inspirierten Texten fand er einen ersten Autor, der seinem Wunsch folgte. Das System von Falk Richter konnte er leider nicht mehr erleben, da er 1998 gestorben ist. Die Reformulierungen von Unter Eis hätten ihm vielleicht gefallen, wie das ganze System, Theater als Wirklichkeit beobachtendes und generierendes System bewusst zu machen. In Unter Eis treffen drei Unternehmensberater aufeinander, die unterschiedliche, emotionale Bindungen an ihren Beruf haben. Der Beruf des Unternehmensberaters ist der idealtypische Fall einer systemtheoretischen Anwendung. Die Systemtheorie geht davon aus, dass es Systeme gibt.6 Diese schließen sich gegen ihre Umwelt ab, um eine interne Komplexität zu ermöglichen. Der rasante Fortschritt der Wissenschaften seit dem 18. Jahr5. Vgl. Giorgio Agamben: Ausnahmezustand, Frankfurt a.M. 2006. 6. Vgl. Niklas Luhmann: Soziale Systeme, Frankfurt a.M. 1984.
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hundert ist nur so zu erklären, dass z.B. ein physikalisches Experiment nur unter den Kriterien des Experiments beobachtet wird und nicht auch unter moralischen Fragen oder persönlichen Vorlieben, ästhetischen Beurteilungen oder juristischen Gesetzen. Das politische System kann es dann in Reaktion darauf zu seiner Aufgabe machen, genau dieses zu befragen, um mit der Unterscheidung, ob ein solches Handeln gut oder böse ist, Einfluss zu nehmen. Es wird jedoch dadurch niemals den physikalischen Wert des Experiments, sein Ge- oder Misslingen beeinflussen können. Die vehemente Abschließung der einzelnen Systeme wie Recht, Wissenschaft, Politik, Religion, Familie mit ihren Intimbindungen und auch Wirtschaft beurteilte man vom Systemblick z.B. des Sozialismus aus als negativ und nannte sie dann »Entfremdung«, die durch eine Zerstörung der Systemgrenzen aufgehoben werden müsse. Das vorrangige Ziel war in dieser Beschreibung dann die Aufhebung der Grenzen zwischen Kapital und Arbeit oder, anders formuliert, zwischen Produktionsmitteln und Produktivkräften. Der zweite evolutionäre Gewinn, den die Systemtheorie beschreibt, ist genau diese Möglichkeit, dass die Systeme sich wechselseitig auf ihre blinden Flecken hin beobachten und kritisieren können. Die Religion könnte nun zur sozialistischen Unterscheidung sagen, dass sie die Menschen nicht als Gotteskinder begreift, die christlichen Tugenden der Agape und Caritas ausblendet und durch zweckrationales Handeln (Enteignung, Umverteilung und Umerziehung) der göttlichen Gnade hybrid vorgreifen will. Der Unternehmensberater ist, wie man jetzt leicht sieht, ein systemtheoretischer Präzedenzfall, da er engagiert wird, um genau diesen Außenblick auf die innere Verfasstheit eines Unternehmens zu erarbeiten und zu formulieren. Er ist, im besten Falle, für das Unternehmen ein quasi göttliches Auge, das sämtliche blinden Flecken aufdeckt und hierdurch die latenten Strukturen explizit macht. Ein System im evolutionären Prozess ist auf diese fast immer schmerzhafte Bewusstwerdung seiner Lebenslügen (im therapeutischen System), seiner Sünden (in der Religion), seiner Spleens (im intimen System der Familie oder Liebe), seiner mangelhaften Bildung (in Wissenschaft und Schule) und seiner Krankheiten (Medizin) angewiesen. Die Unternehmen im System der Wirtschaft haben sich neben dem Markt, der mit seiner harten Unterscheidung von Gewinn und Verlust das Hauptregelmaß darstellt, eine Art Frühwarnsystem in Form der Unternehmensberatung geschaffen. Paul Niemand, der älteste Berater in Unter Eis, beginnt überraschenderweise mit einer Erzählung seiner Kindheit. Er erinnert sich sehr präsent an seinen Vater, der in seiner kindlichen Wahrnehmung ein elendig überforderter Fluglotse auf einem gottverlassenen Flughafen war. Seine wirre Mutter ist ungleich weniger wichtig. Beiden gemein ist, dass beide Eltern ihn nicht sehen, nicht hören, dass sie »festgefroren [sind] UNTER 46
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EIS/die haben mich nur geboren, weil man das halt so macht, die lieben mich nicht, und deshalb werde ich immer rennen und laufen und suchen und schauen und stürzen und fallen und zerbrechen und schreien.« Gefühlskalte Eltern, oder Eltern, die Gefühle nur behaupten, da sie glauben, ihrer fürsorglichen Rolle gerecht werden zu müssen, erzeugen bei ihren Kindern genau diese Selbstwahrnehmung des Unsichtbarseins, des nicht Vorhandenseins. Die Lücke im Ich des Kindes, das keine ursprüngliche Geborgenheit, kein Fundament für eine fraglose Existenzberechtigung hat, erzeugt eine Aktivität, die dieses unheilbare Loch zu füllen versucht. Der schmerzhafte Riss im Selbstbild des nicht geliebten Kindes ist dann der Ausgangspunkt für eine ziellose und darum neurotische Energie. Das Quantum, das Paul Niemand auf bringt, um sein Rennen und Stürzen zu durchleben, ist von der neurotischen Energie gespeist und daher enorm aber auch endlich, da diese Energie keinen Rückfluss in einer Befriedigung erfahren kann. Der Neurotiker hetzt solange einer schimärenhaften Erlösung nach, bis er ausgebrannt auf der Strecke bleibt. Auf dem Weg dieser Lebensflucht setzt die neurotische Energie alles daran, das vermeintlich erfülltere Leben der anderen Menschen zu zerstören. Er tötet alles, von dem er glaubt, dass andere es lieben könnten. Dass dieser Paul Niemand ein Unternehmensberater geworden ist, wirkt wie ein teufl ischer Plan zur wechselseitigen Zerstörung seines Lebens, das versucht möglichst viele andere mitzureißen. Ihm zur Seite sind zwei jüngere Kollegen gestellt, die vorbildlich die Glaubenssätze des Beraterberufs aufgesogen haben. Ihre Grundenergie verhält sich spiegelbildlich zur neurotischen von Paul Niemand. Sie sind Hysteriker. Ihre Sprechkurve verläuft in stetigen Steigerungen und Aufschwüngen. Ihr Sprechen ist ein hysterisches, da es durch diese Bögen gerade eine Distanz zum Gegenüber wie zum Gegenstand des Besprochenen herstellt. Sie begreifen ihr Sprechen als Vollzug einer Selbstbefriedigung, die keinen Partner, kein Thema, keine Liebe braucht, um sich selbst zu fühlen. Ihr Verständnis von Beratung ist Selbstbefriedigung und damit das Gegenteil des systemisch verstandenen Beobachtens und Beschreibens. Die drei Berater haben so eine fundamentale Umwertung ihrer Aufgabe vollzogen. Der Ältere sucht in der Beratung Selbstzerstörung und Fremdzerstörung zu synchronisieren. Die Jüngeren verlassen ihr Gefängnis des Narzissmus nicht mehr und beschleunigen den Wechsel der Erregungen bis zur eigenen Auslöschung. Ob die Funktion des Unternehmensberaters diese Eigenschaften provoziert oder umgekehrt Menschen mit diesen neurotischen Anlagen diesen Beruf ergreifen, bleibt die ungelöste Frage, die Unter Eis aufwirft. Als vierte Figur tritt zum Ende ein Kind auf, 9 bis 13 Jahre alt, also vor der Adoleszenz. Es ist gekleidet wie Paul Niemand und wird auch durch zum Teil paralleles Sprechen als sein kindliches Alter Ego eingeführt. 47
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Dieses Kind verhält sich perfekt eingepasst in die Unternehmenskultur der Berater. Es bekommt die besten Zukunftsprognosen, die seine ältere Ausführung, Paul Niemand, nicht mehr bekommt. Während dessen junge Ausgabe bruchlos eingefügt wird, verrinnt sein Leben in der Beschleunigung der Kicks von Porno und Entlassungen. Die Obszönität der realen Auswirkungen, die in der Blase aus Hotels, Flughäfen und Sitzungen erdacht wird, errechnet sich in dem Aktiengewinn von »0,00000789 Prozent pro Mann«, den Paul Niemand entlassen hat. Dass diese vier Berater dringend Rats bedürften, sei es göttlichen, therapeutischen oder familiären, ist mit Händen zu greifen. Und dass Berater keine Götter sind, die mit Excel-Tabellen und core values die Welt retten könnten, wird ebenso klar. Warum also, so fragt man sich zusehends, wird diesen Menschen und ihrem Beruf eine so hohe Relevanz zugeschrieben? Und die Antwort liegt im Monolog eines der beiden jüngeren Berater, Karl Sonnenschein, verborgen. Nach der Beschreibung eines ziemlich paranoiden Plans zur gegenseitigen Überwachung der Berater und zur schnellstmöglichen Aussortierung der nicht mehr effizient arbeitenden Kollegen, gerät er in das Thema staatlicher Subventionen. Dazu stellt er einige teuflisch kluge Fragen: Ob es nicht einfacher ist, die 100.000 Euro, die pro Arbeiter im Steinkohlebergbau jährlich vom Staat gezahlt würden, dem Kumpel einfach so in die Hand zu drücken, ohne gesundheitsgefährdende und umweltzerstörende Arbeit? Und ob Politiker, die in jeder Entscheidung von sensationsgierigen Medien und wankelmütigen Wählern, die fast immer zu ungebildet und unreif sind, um eine fundierte Entscheidung treffen zu können, ob diese Politiker mit ihren ungezählten lobbyistischen Abhängigkeiten eigentlich die richtige Instanz für Entscheidungen sind? Mit der Ausführung dieser Fragen entsteht tatsächlich ein Bedürfnis nach einer anderen Form der Entscheidungsfindung als der einer Massendemokratie. Ein systemtheoretischer Beobachter könnte ein Element in einer solchen Entscheidung sein. Die in Unter Eis sich selbst darstellenden Berater sind dagegen eine abschreckende Option. Blind für sich selbst und den Gegenstand, gerät ihnen die Welt zu einer Excel-Tabelle und Sprache zu einer Ansammlung von Floskeln. Der Mensch ist nicht Gott und von daher ist dieser der einzige, der ohne Berater auskommen muss. Die Welt muss mit dem Unvollkommenen zurechtkommen. Jedes System, das Anspruch auf eine alles bestimmende Meisterdifferenz erhebt, ist hybrid und darum zur Tragödie verdammt. Den blinden Fleck in der Unterscheidung von Gewinn und Verlust, der das wirtschaftliche System bestimmt, aufzuzeigen, wäre Aufgabe der Berater. Wenn diese ihrer Aufgabe nicht gewachsen sind, muss in der Moderne ein anderes System diese Funktion übernehmen. Und das kann eben auch die Kunst sein.
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Literatur Agamben, Giorgio: Ausnahmezustand, Frankfurt a.M., 2006. Agamben, Giorgio: Homo sacer, Frankfurt a.M., 2007. Illouz, Eva: Gefühle in Zeiten des Kapitalismus, Frankfurt a.M., 2006. Dies.: Der Konsum der Romantik, Frankfurt a.M., 2007. Luhmann, Niklas: Soziale Systeme, Frankfurt a.M., 1984. Schmitt, Carl: Politische Theologie, Berlin, 1996.
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2. Poetologische Positionen : Vom Anspruch auf Wirklichkeit Die Geschichte des Theaters zeigt, dass es die Dramatiker und Dramatikerinnen mit ihren neuen, ungewohnten Stücken waren, die die Ästhetik der etablierten Theaterbetriebe herausgefordert und voran getrieben haben. Schon Lessing, Schiller und Goethe litten unter dem Unwillen und Unvermögen der Theatermacher ihrer Zeit, neue Stücke adäquat auf die Bühne zu bringen. Die Wiener Gruppe in den 1950er Jahren hatte nur »verachtung für das theater« übrig und Peter Handke unternahm Publikumsbeschimpfungen, in den 1980er Jahren ließ sich Thomas Bernhard in Hass-Tiraden auf den deutschen Staats- und Stadttheaterbetrieb aus und Elfriede Jelinek stöhnte: Ich will kein Theater – ich will ein anderes Theater; und Werner Schwab verfertigte »Theaterzernichtungsstücke«. Obwohl die Theater heute geübt im Umgang mit neuen Dramaturgien und Figuren sind, kämpfen Autoren und Autorinnen nach wie vor gegen den Theaterbetrieb und seine Vermittlungsinstanzen. Margreth Obexer, Dirk Laucke, Ewald Palmetshofer und Jörg Albrecht reiben sich an den an sie gestellten Forderungen und Erwartungen, AutorInnen hätten »Wirklichkeit« für die Bühne dramatisch einzufangen und stellen diese Wirklichkeiten ihrer eigenen gegenüber. Margreth Obexer fragt provokant in ihrem Beitrag Statt zu vögeln, lasst sie kommen, ob die Theater tatsächlich Interesse an der Entdeckung neuer Stücke haben und sich auf die Sicht auf Wirklichkeit der Autoren und Autorinnen überhaupt einlassen wollen, oder ob sie stets vorher wissen, wie etwas zu sein habe und diese Gewissheiten über die Texte stülpen. Die Zuschreibung des Literatur- und Theaterbetriebs, er würde »Unterschichtsdramatik« schreiben, veranlasst Dirk Laucke in Die Wahrheit in der Gosse oder Fick dich Industrie seinen Wirklichkeitsbegriff zu überprüfen. Er stellt sich die Frage, wie viel selbsterlebte Wirklichkeit oder zumindest ihm bekannte Wirklichkeit in seine »Helden« einfließen muss und gibt in bemerkenswerter Offenheit Einblicke in seine Schreibimpulse und in ästhetische und gesellschaftspolitische Kontexte, in denen 51
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er schreibt. Ewald Palmetshofer hingegen warnt in Autorinnen-Ratgeber seine jungen Berufskollegen und -kolleginnen genau vor dieser Offenheit und der Vereinnahmung des Kulturbetriebs, der sich auf jedes Bruchstück von Künstlerbiographie stürzt, um die Schreibenden eilfertig festzulegen und zu katalogisieren. Fingierte Biographien und fingierte Kontexte wären ein Ausweg, meint Palmetshofer. Jörg Albrecht will ein Theater, das mit dem Internet kompatibel ist. In seinem Aufsatz Andreas Neumeister legt eine Schallplatte auf und geht mit mir in eine Polleschstück legt er seine poetologische Position dar, die Wirklichkeit, »reality«, in all ihren Verlinkungen zeigen zu wollen. Ein Theater mit dem Anspruch auf Wirklichkeit müsse auf die verkürzte Sprache der SMS, die komprimierte Musik der MP3-Player, die Geschwindigkeit der Suchmaschinen und auf das Aufspringen von Pop-up-Fenstern auf den Bildschirmen reagieren. Trotz Überlegungen, ob sich nicht Theater auch woanders als auf der Bühne abspielen könnte, träumt auch Albrecht von Regisseuren, die Widersprüche zulassen und »Texte nicht mehr performativ aufpimpen müssen möchten …«. Johannes Schrettles SchauspielerInnen verstehen sich als ProjektentwicklerInnen und er selbst ist Teil von ihnen. In seinem Arbeitsbericht aus dem Projekt TOD UND TOURIST, das am 28. Februar 2008 in München uraufgeführt wurde, zieht er eine Querverbindung von der Wirklichkeit der SchauspielerInnen, die in Figuren leben, zu der Wirklichkeit der Massentouristen. Sowohl SchauspielerInnen als auch TouristInnen sind auf einer Reise und suchen das intensive Erlebnis. Nachdrücklich kreist auch Schrettle um die Frage nach dem Stellenwert der Fiktion bei der Darstellung von Wirklichkeit. Wie Dirk Lauke reißt er den Widerspruch zwischen der heutigen Gier nach echtem, nacktem Leben, dem Leben von Flüchtlingen und EmigrantInnen und der schauspielerischen Darstellung an. E.D.-S.
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Statt zu vögeln, lasst sie kommen Margareth Obexer
Wenn auf theaterwissenschaftlichen Tagungen zeitgenössisches Theater reflektiert wird, dann steht naturgemäß der Geist des Neuen im Zentrum; ganz unabhängig davon, ob ausdrücklich formuliert oder nicht, verbindet sich der wissenschaftliche Drang nach neuen Stoffen mit der Fokussierung auf innovative Formen. Die Erneuerung steht unangefochten im Mittelpunkt, erlöst und ferngehalten von ihrer ältesten Rivalin, der Bestätigung und Bewahrung der inzwischen etablierten Formen. Und es ist das Geschenk der Abstraktion, dass sie absehen kann von den verlorenen Kämpfen, um stattdessen die gewonnenen zu begutachten. In der Theorie ist glücklicherweise die ansonsten überall präsente Praxis der Verhinderung kein geladener Gast. »Künstlerischer Ausdruck, Wirklichkeitswerdung, Entgrenzung des Werkbegriffs, Crossover zwischen Theater und anderen Künsten« – um nur einige der erhebenden Begriffe zu nennen, platzieren die progressiven Kräfte so selbstverständlich, wie man es sonst nur vom Frühling kennt. So viele schöne Möglichkeiten scheinen plötzlich auf, so viele Wege, die Dramatik einschlagen kann, die danach eine der vielfältigsten Künste überhaupt zu sein scheint. Einer Kunst, die sich frei herausnimmt, immer wieder und mit bloßer Hand nach Momenten von Wirklichkeit zu fischen, um daraus etwas zu gewinnen, das auf eine oder mehrere Verfasstheiten unseres heutigen Lebens zurückreflektiert. Allerdings könnte der Kontrast zwischen dem, was neue Dramatik könnte, und der Wirklichkeit, in der sie oft kaum noch die Idee ihrer selbst zu erkennen vermag, kaum schärfer ausfallen. Was hier miteinander ringt, sind einerseits die neue Wirklichkeit, die ein Stück mitbringt, das Milieu, aus dem heraus es spricht, die fi ktionalen Ebenen, die es einzieht und dessen unerprobte Verfasstheit, und die durchgespielte Wirklichkeit eines Theaterhauses andererseits, mit dessen jahrhundertelanger Tradition, seinem Wissen und seinen Gewissheiten, seinen festgelegten Räumen und seiner meist monarchistischen Verfassung. 53
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Wenn die Verschmelzung gelingt, dann gibt es ein Stück neuer Wirklichkeit auf der Bühne. Wenn nicht, dann wurde es auf dem Weg zu seiner Verwirklichung all seiner Wirklichkeiten beraubt; zu sehen ist eine Wiederholung, von der das Original nie gekannt wurde. Ich spreche von Dramatik, die verglichen mit dem Dokumentartheater, dem Projekttheater, der Performance und anderen neueren Theaterkünsten den eigenwilligsten Umgang mit der Wirklichkeit hat. Dramatik, in deren Zentrum noch immer die Sprache steht, geht anders auf sie ein – und anders mit ihr um. Ihr Ausdruck entsteht häufig aus der Durchwühlung des sprachlichen Materials, das sich in der Wirklichkeit vorfindet und aufgestöbert wird, und setzt oft ein entsprechendes Lesevermögen voraus. Wo neuere Theaterformen sich konkret, materiell und körperlich vor Ort, im Theater eingefunden und durchgesetzt haben, befindet sich die neue Dramatik, die erstmal aus der stillen Existenz von Manuskripten besteht, zunächst auf dem Stapel eines Schreibtischs eines Dramaturgen – manchmal ist es auch der Kühlschrank. Dramatik benötigt immer solche, die sich auf ihre neue Formen und Sprachen einlassen können und wollen, die sie lesen und ermessen können, was für ein Grad an Durchdringung von Wirklichkeit gerade vorliegt. Sie wird immer angewiesen sein auf solche, die die Kraft, die in ihr liegt, lesen und erkennen können. Ein neues Stück ist nicht wie ein neuer Kühlschrank, dessen Qualitäten objektiv überprüf bar sind, und es ist etwas anderes als ein klassisches Stück, über dessen Wert man sich einig geworden ist. Es erfordert Leute, die selbstbewusst genug sind, für ein Stück zu bürgen, wo andere lediglich bereit sind, nur Durchgesetztes wahrzunehmen. Es gibt sie, solche Scouts, die an die Kraft des dramatischen Ausdrucks glauben, wie er sich heute und jetzt äußert. Es sind eher Einzelgänger, die, was ihren Eigensinn erfordert, auf derselben Ebene mit Stückeschreibern anzusiedeln sind. Sie müssen Mut beweisen und ein Rückgrat besitzen – oder auch nur lieben. Wer nur den Erfolg sucht, springt dort auf, wo es ihn bereits gibt; Entdecker sind auch bereit, zu riskieren. Gäbe es mehr von ihnen, es gäbe auch mehr gutes Theater. Solche Scouts sind nicht selten jene, die in der undankbarsten Nische des Theaters operieren. Nur in wenigen ausgesuchten Theaterhäusern weist sich ein Dramaturg oder gar ein Intendant mit seinem Interesse an neuer Dramatik aus – das macht er schon eher mit einer neuen Inszenierung von Hamlet. Dagegen gibt es eine große Zahl von Menschen in führenden Positionen im Theater, die sich für Dramatik nicht einen Fingerbreit interessieren. Trotz ständiger Sparmaßnahmen und schrumpfender Subventionen, ist das Theater noch immer ein Ort, an dem sich Karriere machen lässt – auch ohne nennenswerte Leidenschaft für die Sache selbst. 54
Statt zu vögeln, lasst sie kommen
Doch solange von Seiten der Theaterleiter kein Interesse an neuer Dramatik besteht, gibt es nicht nur keine Kenntnis über sie, sondern auch keine Vermittlung. Wenn behauptet wird, dass ein Publikum sich nicht für die neue Dramatik interessiert, so ist dies ein untrügerisches Zeichen dafür, dass sich das Theaterhaus und seine Leitung nicht darum scheren. Für die zeitgenössische Kunst der Dramatik bedeutet dies eine Vernachlässigung, die sich auf mannigfache Weise äußert. Äußerlich gesehen, drückt sie sich in ihrer Abwesenheit aus; neue Dramatik belegt gerade mal ein Feld von 10 Prozent innerhalb der gesamten deutschsprachigen Inszenierungen. Ihre Abwesenheit zeigt sich aber auch an wenigen breit durchgebrachten Stücken, die ewig, bis sie zu Staub verfallen, auf sämtlichen deutschsprachigen Bühnen inszeniert werden. Oder man betreibt neue Dramatik im alten Kostüm; neue Dramatik wird mit den alten Gewissheiten überstrichen und damit entsorgt. Der Misserfolg solcher Inszenierungen lässt sich auch darüber erklären, dass ein neuer Stoff in alter Gestalt kein starkes Theater hervorbringen kann. Die Tatsache, dass Theaterhäuser seit Jahrzehnten fortwährend mit Kürzungen umgehen müssen, schlägt in Form von gesteigerter Ängstlichkeit zu Buche. Probenzeiten werden extrem kurz gehalten und mancher Intendant verkündet inzwischen stolz, eine Urauff ührung in zwei Wochen rauszuhauen – man kann es auch begraben nennen. Es gibt aus Kostengründen ein immer jünger werdendes Schauspielerensemble, in dem der älteste Schauspieler allermaximal vierzig ist; Frauen über fünfundzwanzig scheinen im zeitgenössischen Theater nicht zu existieren. Für neue Dramatik muss befürchtet werden, dass sich der Radius gesellschaftlicher Wirklichkeiten auf das eines Kindergartens reduziert. Wenn Schauspieler nicht älter als 20 sind, wird es entsprechend dazu auch keine Stücke mit erwachsenen und älteren Menschen geben können. Dies bedeutet außerdem, dass Stückeschreiber selbst nicht als ernsthaft Erwachsene betrachtet werden, sondern als Teenies, die sich im schalldichten Studio ein wenig austoben dürfen. Ernsthafte Fragen oder Aussagen über unser Leben und unsere Welt dagegen können allein von Klassikern, den Erwachsenen, gestellt werden Es gibt eine Pädagogisierung des Theaters, die ebenso dazu beiträgt, Dramatik in ihre Schranken zu weisen und ihr zu diktieren, was man von ihr verlangt. Spielzeitmotti stellen eine solche Pädagogisierung dar, »Ich und Du«, oder »Kampf der Kulturen«, oder andere nebulöse Eindeutigkeiten. Es ist nichts einzuwenden gegen ein Motto, das einen perspektivischen Leitfaden durch eine Spielzeit darstellt in Bezug auf die Auswahl der Klassiker; doch neue Stücktexte nach einem Motto zu vergeben kann nur bedeuten, zeitgenössische Dramatik auf das Niveau eines Schulunterrichts zwingen zu wollen. 55
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Es gibt die Tendenz, Dramatikern vom Prolog bis zum Epilog, von der Prioritätensetzung bis zur Aussage alles vorzugeben; Dramatik als eine Art Menübestellung. Spätestens da ist die Frage berechtigt, was Dramatik eigentlich soll? Wenn sie Ausdruck von Wirklichkeit sein soll, kann sie nicht aus vorgefertigten Modulen bestehen. Sie muss zuerst aus einer Suche bestehen, die die Kühnheit eines Auf bruchs besitzt, ohne sicheren Ausgang, die Ungewissheit, sich in einen Prozess zu begeben, der einen erstmal selbst verwickeln wird, bevor er einen wieder freigibt. Herauskommen kann dabei nicht nur die reine Wiedererkennbarkeit, der Effekt, der sich über allseits Bekanntes einstellt, sondern es wird naturgemäß auch die Abweichung sein. Das ist die Kunst der Wirklichkeit schuldig, wenn sie ihr Ausdruck verleihen will. Die Vernachlässigung beginnt dort, wo der Raum und die Zeit fehlen, um sich auf die neuen Gestalten und Formen einzulassen, die ein Abweichen von den beglaubigten Gewissheiten naturgemäß einfordern. Wie hartnäckig die manchmal verteidigt werden, davon kann jede(r) Dramatiker(in) berichten, ein Beispiel will ich nennen: in einem meiner Stücke (Der Zwilling) versucht ein Paar vergeblich, ein Kind zu zeugen; dabei lautet eine der Anschuldigungen, die der Mann gegen die Frau vorbringt, dass sie immer zu früh komme, wohingegen sie auf ihren Orgasmus nicht verzichten will. Die im Stück eigentlich trockenen Bettszenen wurden auf der Bühne folgendermaßen gelöst: der Mann vögelt mit heruntergelassenen Hosen alles, was irgendwie in seiner Reichweite ist, einschließlich seiner Frau, die er sich wie eine Kuh von hinten nimmt. Diese kommt naturgemäß gar nicht auf die Idee, selbst zu kommen. Die Auskunft der Regisseurin war, dass sich die Schauspieler es sich nicht anders vorstellen könnten, dass es schließlich unlogisch sei, dass die Frau vor dem Mann kommen würde, unlogisch im Sinne von: für den Schauspieler körperlich nicht nachvollziehbar. »Lasst sie doch einfach kommen, statt sie von hinten zu vögeln!«, warf ich ein – und es ist etwas, das sich grundsätzlich zur Verteidigung neuer Dramatik sagen lässt. Gemessen daran, wie schwer manchen die kleinste Abweichung fällt, muss man an Armstrongs Rede vom kleinen Schritt auf dem Mond denken: »That’s one small step for a man, one giant leap for mankind!« Man könnte glauben, das Wissen über uns und unsere Zeit scheint so gewiss und unverrückbar, dass man es von den Dramatikern nur bestätigt wissen möchte. Man weiß, wie die Wirklichkeit aussieht, wie man sie zu beurteilen und zu bewerten hat. Man weiß, wie die Menschen sich darin bewegen, wie sie sprechen, wie sie lieben und wie sie sterben. Man kennt ihre Ängste, ihre Neurosen, ihre Versäumnisse und ihre Sehnsüchte. Man 56
Statt zu vögeln, lasst sie kommen
weiß letzten Endes genau, wie der Mensch unserer Zeit beschaffen ist. Der Dramatik bleibt die Möglichkeit, sich daran zu halten, und das Bescheidwissen zu bestätigen. Doch was kann Dramatik dann noch taugen? Die heutige Wirklichkeit, so lautet der Common sense, ist beschleunigte, globalisierte, mannigfach zersplitterte Zeit. Der Mensch bewegt sich darin beschleunigt, zerrissen, globalisiert und er spricht schnell. Man weiß, wie die Geschichten dazu aussehen in so einer Zeit, man weiß, wie sie enden. Sie rennen verloren über die Bühne, Mann und Frau sind klar voneinander getrennt, mit klar eingeschriebenen Attributen von Männlichkeit und Weiblichkeit. Auch Nationalitäten sind meist wieder klar definiert, ein Türke ist ein Türke, ein Deutscher ein Deutscher, ähnlich ist es mit den Berufen, Unternehmer sind, was das Theater von Unternehmern immer gehalten hat: Abzocker, und ein Arbeitsloser spricht, wie man denkt, dass ein Arbeitsloser zu sprechen hat, lallend. Es ist erstaunlich, wie unterkomplex die Menschen geworden sind in einer Zeit, die als überkomplex wahrgenommen wird. Angesichts einer Kunst, mit der so vieles möglich ist, und die alles erreichen kann, besonders die Menschen, ist die lieblose Art, wie mit ihr umgegangen wird, jämmerlich. Sie nur zu verwalten, hat sie nicht verdient. Stark kann sie nur im Abweichen sein, nicht im Erfüllen.
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Die Wahrheit in der Gosse oder Fick dich Industr ie Dirk Laucke
1. (– was machstn hier eigentlich, hastu zu viel zeit oder was.) Ich kann so viel ich will über die Wirklichkeit schreiben und ich werde mich nicht selber da raus halten können. Tausend mal schlimmer andersrum! Schreiben ist nun mal mein Filter zur Wirklichkeit. Ich brauche diesen Filter, um ein bisschen Klarheit in dieses ganze Chaos aus Hass, Liebe und vor allem das Mir-doch-egal in meinen Eingeweiden zu bringen: Was ist denn jetzt hier Phase, wo stehe ich noch mal? (– na bei uns stehste, bei uns, stehste doch, oder was.) Ich nehme mal an, das ist bei den meisten AutorInnen so. Nur werde ich bekloppterweise ziemlich oft damit konfrontiert, dass meine – jetzt mal Klartext: noch sehr junge – Theaterarbeit in irgend einer Form besonderen Wirklichkeitsanspruch habe. (– wer sagt das, mann, wer sagt das.) Mal wird der Realismusbegriff wieder ausgepackt, mal das Wort »authentisch«, und im selben Atemzug brettern mir Begriffe wie »Abgehängtes Prekariat«, »Loser«, »Unterschichtsdramatik« und sogar »Ossis« entgegen. (– die ham doch wohln schatten.) Ich glaube, da wird ziemlich viel in einen Topf geworfen und behaupte hier breit und fett: Das Vermischen davon, »Wirklichkeit« ist gleich »abgehängtes Prekariat« lässt den Schluss zu, dass die Figuren, Themen oder was auch immer in meinen Stücken, nur eine andere, scheinbar wirklichere Wirklichkeit für viele Rezipienten darstellt. (– diese penner, sag mir wo die wohnen.) Der alte bürgerliche Hokuspokus – die Wahrheit liege bei den Wilden in der Gosse – spricht aus der Vermengung dieser Begriffe. 58
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(– wasn fürne gosse. siehstu hier ne gosse.) Dabei stecke ich in der selben Falle. (– scheißdrauf.) Die wenigsten Theaterstücke interessieren mich. (– wen schon.) Spätestens nach einer halben Seite Lesen und bisschen Durchgeblätter – ins Theater geh ich sowieso kaum – sage ich mir »ausgedachte Scheiße« oder »das Gedöns von Managern und urbaner Entfremdung kotzt mich langsam an.« (– right.) Nicht, dass ihr mich falsch versteht, ich kenne Überarbeitung, ich kenne Einsamkeit, ich kenne Geldsorgen, Reizüberflutung, ich kenne das Problem, Leute in irgendeiner Form hängen zu lassen, zu verraten, ich kenne auch MedienDesigner in Berlin, aber ich kenne nicht das Problem, dass mich das so belastet und ich darüber schreiben muss. Es fällt mir eigentlich nur schwer, mich in bestimmte Dinge rein zu versetzen, die ich nicht näher kenne – das Problem, ein paar Hunderttausend zu verlieren etwa oder tausend Leute zu entlassen. Jede Geschichte von Managern, egal wie »authentisch« sie ist, kommt mir einerseits schwer glaubhaft vor (vor allem in der gern heran gezogenen Fachsprache) und interessiert mich vor jeder Erfahrung eigentlich nicht. – Die Probleme erscheinen mir nicht wirklich. Dabei kann ich mir natürlich gut ausmalen, dass es Leute geben muss, die genau das über meine Stücke denken. Aber gebt mir ne Chance. Weil später, wenn das Managerstück oder das urbane-Entfremdungs-Zeug neben dem Klo liegt, lese ich natürlich auch noch mal rein. (– pff.) und ich fange an, das Stück meistens doch ganz okay, oder gut, oder sogar sehr gut zu finden. – Für sich, weils clever ist, ne coole Form hat oder in sich funktioniert. Doch meistens interessiert mich die im Stück berührte Wirklichkeit oder der Umgang damit immer noch nicht. Und das, obwohl konkrete soziale Probleme momentan glücklicherweise gut im Rennen sind! Ich habe anscheinend ein Problem mit anderen AutorInnen (– ohja, das hastu, aba ganz schön) und oder mit ihren Zugriffen zur Wirklichkeit (– hä?). (– hä. ich sagte hä.) Ist also Zeit, mich selber mal zu fragen, was das für ein Filter ist, der mir das Lesen versaut und mich beim Schreiben scheinbar lenkt. Ich glaube, ich unterliege da so einem bescheuerten Dogma: 1. Dass ich nur über das schreibe, was ich wirklich gut kenne, um 2. nicht in die Falle zu geraten, irgendwas »Kluges« über die Welt zu sagen. Obwohl ich natürlich weiß, dass ich auch was auf dem Kasten habe (– yeah, muss auch mal gesagt werden, und zwar rocknroll, alter) fühle ich mich entsetzlich dumm (– is nich schlimm, is nich schlimm.) sobald ich versuche Dinge zu erklären. Besonders dumm fühle ich mich dann, wenn ich mal wieder mein theoretisches Halbwissen auf den Tisch packe, das eigentlich bloß meine Überzeugungen stärkt. Ich könnte mit dem Begriff »Unterschichtsdramatik« sogar leben – solange damit nicht gemeint ist, ich will dem normalen, 59
Zwischenspiele: Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume
bürgerlichen Publikum mal zeigen, wie die armen Armen so ticken. (– nee, wa, du willst den arschlöchern zeigen, wo der hammer hängt.) Mein Filter sortiert natürlich Wirklichkeit nach Dingen, die mir am meisten auf den Keks gehen (scheißdeutschland, scheißarbeit, scheißgeldnot.) und Dingen, die mir ziemlich viel bedeuten (mucke, mach dein ding und widerstand). Darüber zu schreiben ist mein Bedürfnis. Irgendeine Haltung dazu haben auch die Figuren. Meist ist das sogar das Kernproblem des Stückes. – Darüber zu schreiben ist meine Leidenschaft. Ich haue einfach eine Figur mit einer Macke (AC/DC) mit einer Sache, die mir tierisch auf den Keks geht (Zeitarbeit) zusammen, und raus kommt die Konfrontation von machistischen Freiheitsidealen mit der bitteren Wirklichkeit postfordistischer Arbeitswelt. – Jedenfalls, wenn nicht oben drauf noch der wichtigste Faktor käme: der unberechenbare Einfluss vom Zufallsprinzip meiner Hirnströme. Meine mangelnde Ordnungskraft versaut mir dann doch wieder die Abhandlung zum Postfordismus, und ich schreibe lieber eine Geschichte, die hoffentlich nicht langweilt. Und weil es zu anstrengend für euch und mich werden könnte, diesen irrationalen Hirnstromfaktor in meinem Schreiben näher zu untersuchen, fasel ich hier lieber weiter über das Verhältnis Wirklichkeit/Milieu und meiner Theaterarbeit. (– schnarch, warum lässtn dich auf son schrott ein.) Vorher schalte ich aber noch mein nerviges Alter-Ego mit zwei Flaschen Bier ab. (– ey, danke, dirk, das wär doch nich nötig gewesen.)
2. Meine Helden sind Helden. Entweder waren sie es schon, oder sie werden es im Schreibprozess. Meine Helden sind nur nie zu Ruhm gekommen, weil ihr Kampf nicht dem gesellschaftlichen Mainstream entspricht. Den Mainstream gibt nicht die breite Menge der Bevölkerung vor, sondern die herrschende Klasse. (Oha, jetzt setzt er sich die revolutionäre Hornbrille auf.) Meine Helden sind eher sowas wie Piraten in einer Welt, die auch ohne sie klar kommt. Sie treten an, um sich ihren Teil zurück zu holen. Meine Helden kenne ich. Ich hab sie mal getroffen, die meisten aus den Augen verloren, manche war ich selbst oder ich sehe sie immer noch sehr oft. Wie Paul in alter ford escort dunkelblau saß ich mit zwei Typen in einer Fahrgemeinschaft Richtung Getränkelager im Mansfelder Land. Der eine war, man glaubte es seinem dünnen Körper nicht, Boxer. Der andere war Rolling Stones Fan. Der Stones Fan fragte mich, obwohl ich ihm jeden Tag was von dem wenigen Geld was ich bekam, fürs Spritgeld leihen musste, ob ich nicht Bock hätte, mal mit nach Amerika zu fahren. Wir sind nie irgend60
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wo hin abgehauen. Zwei Jahre später war AC/DC die Vorband meines ersten Stones-Konzerts. Ich war an kostenlose Karten geraten und sah mich nach Schorse um. Hab ihn nie wieder gesehen, aber ich stand inmitten von Fans in Käppis und kurzen Hosen, die Neunzig Tacken für die Karte hingelegt hatten, um eine halbe Stunde Hells Bells und Thunderstruck zu hören, und dann – sobald die menschliche Schlange Mick Jagger den fünfzigjährigen Schuljungen Angus Young ablöst – gingen die einfach nach Hause. Ich habe nie – wie Sven in WIR SIND IMMER OBEN – einen Plattenladen gründen wollen, aber meine Eltern und Großeltern haben mich vor, während und nach der Wende in ihren Schrebergärten bis zum Kotzen Hollywood schaukeln lassen. Viel Alk mit dabei und das Gerede von einer besseren Welt, die es früher mal in der Zukunft geben sollte. Ich bin mit einem Freund, der eine Zeit lang extrem viel kiff te, aus einer Studentendisko geflogen, ich warf Steine gegen die Tür; kein Nazi fing sie mit der Nase auf. In Osnabrück habe ich Natascha, eine Putzfrau aus der Ukraine kennen gelernt, die nach Deutschland kommen konnte, weil sie den Papieren nach jüdisch war, das ganze aber selbst vor ihren eigenen Kindern – Zwillinge – verheimlichte. Aus ihren und anderen Geschichten entstand die Figur Sascha in zu jung zu alt zu deutsch – einer Auftragsarbeit für das Theater Osnabrück, das ich sehr schätze. Für den Text tauschte ich Nataschas Putzjob im Hause einer gut bürgerlichen, weltoffenen, theaterinteressierten Familie einfach mit dem weit weniger angenehmen Putzjob, den ich selber mit meiner Mutter (hatte ich gleich eine coole Vorlage für die Figur Gitte) geteilt habe: Nachts, mit viel Musik in der Blutplasmaspende den Wischmopp schwingen, rote und blaue Säcke in den Keller schaffen – aus den roten Säcken tropfte manchmal Blut. Die Figur Roy im selben Stück bin in meinem mir kaum beschreibbaren Ekel vor Deutschland ich und zugleich der ekelhafte Typ, der mir bei einer Party in Osnabrück eine Flasche Becks aufs Auge rammte. Ein alter Freund von mir, Marian, ist Ausbilder bei der Bundeswehr. Er stellte mir jemanden vor, der mir den ganzen Abend lang seine düstersten und sogar schönsten Erlebnisse während seines ISAF-Einsatzes am Hindukush erzählte. Er fing mit Fotos auf seinem Laptop an – die Fotos von Menschen und Landschaftsaufnahmen – und endete damit, dass er heute nicht mehr weiß, warum er dort war. Anders als Richard in DER KALTE KUSS VON WARMEM BIER trinkt er viel Kaffee und lebt noch. Mit seinem Trauma. Er schraubt Mopeds zusammen. Eine unheimliche Last hat Martin – so heißt der Afghanistanveteran – auf mir abgeladen, als er mir sagte, dass ich der erste bin, dem er von diesen Erlebnissen erzählt. Bei ihm wie bei der Ukrainerin Natascha bin ich mächtig ins Trudeln geraten, wie das letzte Mal bei Tanja Ristic von Hier geblieben!: Ein nettes 61
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14-jähriges Mädchen erzählte uns AutorInnen, wie scheiße es in der Einzelzelle war. – Die gleiche Angst wie beim Luftangriff zehn Jahre vorher, nur waren damals ihre Eltern da, jetzt nur deutsche Polizisten. Reyna Bruns, Magdalena Grazewicz und ich verbrachten die meiste Zeit mit der Diskussion, ob und wie wir denn über sowas schreiben können – um nicht auf die Mitleidsschiene zu geraten, ohne die Geschichte und die Persönlichkeit Tanja Ristic zu verleugnen. Die Frage stelle ich mir heute umso mehr, je weniger Zeit ich persönlich mit Menschen ge- oder verlebt habe, deren Geschichte ich in einem Stück verbraten möchte: Kann ich dem »Material« überhaupt gerecht werden? Solange ich den Scheiß selber erlebt hatte, war’s ja kein Problem, das Erlebte zu nehmen und dann auch noch meine eigene Fantasie drüber zu kloppen. Fantasie oder selbst Erlebtes nacherzählen und ausschmücken, wo isn da überhaupt der Unterschied? Aber jetzt? Ich fand es von vornherein schon ein bisschen frech von mir, das Bild von einem Krieg in Afghanistan, dem Leben als Fremde in Deutschland, das ich nie erlebt habe, auf Papier zu hauen. Und doch habe ich es gemacht. – Eben weil der Anteil meiner Fantasie in allen Texten doch größer war als der authentisch zu nennende, wirklich erlebte. Natürlich ist es wichtig, sein Material gut zu kennen, am besten in diesem Material zu leben, doch mir ist klar geworden: ich kann noch so nah dran oder weit weg sein, ich werde IMMER über jemand anders schreiben. Das ist besonders beim dramatischen Schreiben der Fall. Andererseits werde ich nie im luftleeren Raum und vor jeder Erfahrung schreiben können. Ein altes kunstwissenschaftliches Thema. – Interessiert mich nicht. Die Frage ist doch eher, warum mich diese Menschen, ihre Biographien so interessieren. Erstmal natürlich, wenn sie nah dran an mir sind, weil sie nah an mir dran sind. Dann aber auch weil ich das Gefühl habe, – und da ist mein Filter ja schon im Spiel – ihre Geschichte, ihr Schicksal oder Problem weist über sie hinaus. Sie sagen mir vor allem was über mich in dieser behämmert lebendigen Welt. Die Fragen, die Probleme, die ich habe, werden mir durch ihre tatsächliche Existenz noch mal ordentlich vor den Latz geknallt, meine oft viel zu flachen Überzeugungen und Gefühle (Krieg is scheiße, kotz und weg) nochmal schön durchgenudelt und wachgeküsst, damit ich überhaupt weiter machen kann. Als Beispiel: Noch vor der Begegnung mit Natascha und dem Schreiben von zu jung zu alt zu deutsch hab ich gedacht, dass es eine prima Sache für osteuropäische Juden ist, die Möglichkeit zu haben, nach Deutschland zu kommen. Nach der Begegnung und dem Schreiben ist mir klar, was diese Einladung auch bewirken kann: Aus wirtschaftlicher Not und mit Hilfe jüdischer Identität in dieses Land zu kommen, muss nicht heißen, dass es einfach ist, sich dankbar im Land der Täter aufzuhalten. Meine Helden kommen aus der Wirklichkeit. Und verändern meine. 62
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3. Sind meine eigenen Erlebnisse und die Menschen, die ich kennen gelernt habe, die Basis, ein Stück überhaupt anzufangen, sind es die Dinge, die mir in die Seele regnen, die mich ein Stück überhaupt auf- und sogar zu Ende schreiben lassen. Ich habe nicht die Energie, über jedes beliebige Thema – mögen die Figuren noch so klar, konfliktreich und interessant sein – ein Stück zu schreiben. Nee, bisschen Spaß muss ich mir ja auch bieten. Und wenn sich erahnen lässt, dass ich mit einem Thema keinen großen Wurf landen werde, weil mir formal nix dazu einfällt, ich die zwingende Logik von genug hoch kochender Scheiße nicht sehe und ich außerdem wirklich heftigst Material neu leben müsste, lasse ich es natürlich bleiben. Es gibt jede Menge Dinge, die mir ziemlich auf den Keks gehen und die deshalb nicht gleich privatistische Gefühlssuppe sind. Auf der Basis meines präpubertären generellen Misstrauens gegen Staat und herrschende Ordnung geben sich bei mir Probleme, die es in meinen Augen Wert sind, aufgeschrieben zu werden, die Hand. Dass fast alle meine Figuren Geldprobleme haben, liegt daran, dass dies auch bei fast allen Leuten meines Umfeldes der Fall ist, mich derb eingeschlossen. Außerdem fehlt in den Stücken der Love-Faktor genauso wenig wie familiäre oder freundschaftliche Bindungen. Sie setzen die Handlung in Gang, erleichteren oder stören sie. Die Figuren sind fast immer mit Leidenschaft dabei. Meist unterfüttere ich sie da mit Sachen, auf die ich selber stehe, Musik oder die Haltung, sich nicht gern in den Nacken pissen zu lassen. Das eigentliche Ziel der Handlung jedoch will nicht nur das Stück vom Kuchen – sondern den Bäckereikonzern. Für die Figur könnte oder muss sich genau jetzt was ändern, sie will nicht mehr nur das ursprüngliche, kleine Ziel, sondern kämpft um ihr Recht – ihr Recht auf Freiheit, auf Anerkennung, auf Abarbeitung der neuen oder alten faschistischen Scheiße, auf die wir unsere Kinder setzen … Naja, so die gesellschaftliche Schiene. Jedenfalls ist das mein von Arthur Miller geklautes und von Oliver Bukowski (der Typ darf auch mal ein bisschen mehr Respekt kriegen) gut unterfüttertes Ideal. Da ich mir die Welt noch in dem Alles-ist-politisch-Zeug ankucke, finde ich meine Arbeit mit diesem Background natürlich auch irgendwie politisch. Ich hab auch den Anspruch, sagen wir mal meine Fick-dich-Industrie-Haltung in einem Stück nicht zu verheimlichen, aber ich wäre doch bescheuert, wenn ich glauben würde, ich könnte mittels Theater Anderen tatsächlich sagen wies mal war, wies jetzt läuft und was man anders machen sollte. Alles was ich machen kann ist: Versuchen ein bisschen Benzin in ein paar Schwelbrände zu schütten. Das Kaputtbrennen der Figuren darf dann für sich selber reden.
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Ich weiß nicht, wie oft ich Pulp Fiction, Trainspotting, Natural Born Killers und La Haine gesehen habe. Auf jeden Fall kommts mir so vor, als hätte ich diese Filme öfter gesehen als Theater betreten. Und das sind nicht mal meine Lieblingsfi lme – falls ich sowas haben sollte (Obwohl: Ken Loach, Heise und Dresen noch dazu … Nee, das führt hier zu nichts …) Was ich meine ist: der Kram hat mich natürlich geprägt. Meine Stücke sind lange nicht so abgedreht wie diese Filme, weil mich zu der abgedrehten Form ja noch die Figuren so interessieren. Eigentlich sind meine Stücke sogar eher schnöder Realismus als abgedreht, – »well made«, wenn ichs nur hinkriegen würde. Sieht man genau hin, durchlaufen die Figuren meiner SpitzenreiterFilme natürlich das Muster der Drehbuchschule von dem, was sie wollen durch die Kulmination des Konfliktes hin zu dem, was sie brauchen. So »strange« macht die Filme, dass die Protagonisten Ghetto-Kids, Junkies, Drogenhändler, Kleinkriminelle und Mörder sind – und natürlich die Form: Das Springen zwischen Erzählsträngen oder das für Film ungewohnte Ausruhen auf Dialog, die Farben und verschiedene Kameratechniken, die uns immer wieder vor Augen führen: das könnte echt sein, ist es aber nicht, sondern ein Film. Experimantalfi lmfreaks gähnen wahrscheinlich, weil Filme wie Trainspotting noch lange nicht abgefreakt genug sind – schließlich passiert da eine wichtige Sache: sie halten die Spannung über die Geschichte. Yes! was für ein Zugeständnis an das Publikum, an breite Massen, konfrontiert diese aber auch mit ungewohntem Sehen. Die meisten Leute gehen selten oder gar nicht ins Theater. Jedenfalls die meisten Leute, die ich kenne. Die andern sind selbst Theaterschaffende. Ich kann die Vorbehalte gegenüber Theater gut verstehen, trotzdem hatte ich ein paar Mal das Glück, dass es bei mir funktionierte und mich ein Abend schon gut mitgenommen hat. Ich glaube, die Vorbehalte kommen daher, dass die meisten Leute, die ich kenne, Theater als einen anstrengenden Akt wahrnehmen, der herzlich wenig mit ihrem Leben zu tun hat. Nuja, und da hab ich mir gedacht, vielleicht schreibe ich mal, was mit meinem und euerm Leben zu tun hat und ihr kriegt vielleicht doch noch einen Trichter drauf. Kein Bock auf hohe Kunst, die Geschichte kommt aus dem Diesseits, sollte spannend sein, für sich funktionieren, und wenn man was mehr drin sehen will, kann man das gerne machen. Sowas in der Art. Doch Theater ist halt zu mehr fähig als zu dem, was Filme besser können. Also breche ich die Form ein bisschen auf, denk ich mir. In alter ford escort dunkelblau gehts um ein Kind, das in der Inszenierung wahrscheinlich nicht zu sehen ist. Beim Kalten Kuss von warmem Bier passiert das Gegenteil: Stacheldrahtmann taucht auf, den nur Maik und das Publikum sehen. Oder die Szenen von WIR SIND IMMER OBEN haben kaum Exposition, sondern funktionieren eher wie ein Song 64
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von Wire, schnell abgehackt und energetisch, Klappe zu, nächste. Das ganze Stück ist so. Dazu kommt diese komische Erzähltechnik, als würde man das Geschehen einfrieren und in die Köpfe der Protagonisten leuchten; oder sie begleiten das Stück wie ein Voice Over, das sogar die Szenen beschreibt. Ich kann meine Neigung zu diesen Erzählpassagen und raus stechenden Monologen auch nicht immer klar begründen. – Wahrscheinlich mach ich das nur ganz gerne, weil ich mich nicht dazu durchringen kann, meine pseudopoetische Ader auch noch in Gedichten oder in einem Roman auszulassen. Egal. Auf jeden Fall will ich mit diesen Brüchen eine Lockerheit in der Inszenierung erreichen, schon noch ein Befremden (wie vielleicht Brecht meinte) erzeugen, ehe man weiter feist und fett die Story konsumiert.
4. Die Sprache ist das, was mir am meisten in den Arsch tritt beim Schreiben. Positiv jetzt: Irgendwie kommt das von alleine raus, das muss raus, sonst träume ich womöglich noch. Ich finde es verdammt schwierig, die Sprache meiner Stücke klar einzuordnen in Begriffe wie Ost-Slang oder Unterschichtssprache, schließlich haben wir kein allzu klares demographisches Sprachgefälle und die Sprachunterschiede in Deutschland verlaufen von Norden nach Süden. Außerdem ist das schon eine artifizielle Sache, weil – mal mehr, mal weniger – verdichtet. Auch wenns vielleicht schwer zu glauben ist, ich sehe nicht nur zwischen den Stücken große Unterschiede, sondern auch zwischen den Figuren eines Stückes. Die Art und Weise, wie eine Figur einen Satz sagt, welche Worte sie im Vergleich zu den anderen benutzt, soll sie schon voneinander abgrenzen. un meistens rotz ich das zeuch auch noch so runter wie die figurn das vielleicht ma aussprechn würden un groß- und kleingeschreibe gibts in gesprochner sprache nich. (Aber meistens schreib ich klein, weils schneller geht.) Und Satzzeichen – ist sowieso die Frage – sind nicht nur für Sinneinheiten gedacht, sondern interne Regieanweisungen. Wie Pause. Der Satz müsste eigentlich weiter gehen. Da scheiß ich aber drauf sonst kann ich keine Haltungswechsel klar machen. Die Sprache ist aber auch das, was mir am meisten in den Arsch tritt. Negativ jetzt: Weil ich schon Schiss hab, mich zu wiederholen. Die Figuren sind ziemlich schnell die Assis vom Dienst, weil sie ständig »so anstrengend reden« müssen. Und natürlich sind sie wie jeder Sprecher in ein Milieu eingebettet. Ihre Sprache, auch meine, wird ja von der Welt geformt, und sie formt auch die Welt. (Hat zumindest irgendwer Schlaues gemeint – wars Wittgenstein?) Die Sprache in meinen Stücken kommt natürlich aus der Welt, in der wir leben, die ich kenne, kommt anscheinend eher aus 65
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subproletarischen Verhältnissen, aber so einfach könnt ihr euch das auch nicht machen! Vielleicht gibts ja auch ne Verweigerungshaltung, eine andere Sprache zu sprechen. Genauso wie die noch so demokratischen Eliten Menschen mit ihrer Sprache und ihrem Habitus ausschließen, schließen die Ausgeschlossenen zurück aus, oder verweigern sich einfach, dazu zu gehören. Natürlich ist das inzwischen absurd geworden, weil ich ja doch nicht, wie jahrelang geplant, auf Hartz vier lebe. Ich denke, da wird sich noch einiges tun. Vielleicht heißen die Stücke dann: Scheißzeit für den Börsengang oder Willkommen im Dreck, Frau leitende Bankangestellte.
5. Jede Figur kommt aus einem Milieu. Jeder Mensch ordnet Menschen nach Milieus. Der Begriff »Milieustück« müsste eigentlich auf jedes Stück zutreffen, wo sich auch nur annähernd erahnen lässt, in welcher Welt die Figuren leben. Milieustudien betreiben hieße knallharte Wissenschaft inklusive abhängiger und unabhängiger Variablen auszuüben. Das ist nichts für mich und beinhaltet eine andere Haltung – einen kühlen beobachtenden Blick von Außen – als ich sie zu meiner Wirklichkeit habe. Vielleicht ging mir aber die weiter oben schon erwähnte Haltung auf den Sack, dass alles, was irgendwo vom Lehrerberuf abwärts liegt, Milieu heißt und Wirklichkeit drin haben soll. Vielleicht hatte ich auch bloß das Gefühl, es kommt ein bisschen vermessen rüber, wenn ich den sogenannten Sprachlosen scheinbar meine Sprache aufdrücke. Also hab ich die nächstbeste Chance ergriffen, denen ihre Sprache zurück zu geben indem ich sie in einem Stück von mir auf die Bühne hole. Die Chance hat mir das Thalia Theater Halle mit Silberhöhe gibts nich mehr gegeben. Ich, immerhin Innenstadtplattenboy, sollte was über das »Banlieue« meiner Stadt schreiben. Da gibts in Halle anner Saale mehrere – ich habe mich in das verrufenste Viertel Silberhöhe begeben, wo ich selbst noch nicht so oft war, mit der Vorannahme im Gepäck, dass überall nur heiß gekocht wird. War auch so. Ecky, Dave, Janine und Struwe hab ich auf der Straße kennen gelernt – ich wollte sie für das Stück, weil sie was zu sagen haben, was nicht unbedingt dem leider oft genug zutreffendem Klischee entspricht (Oh mann, hier is nur Abriss, keine Arbeit, kein Plan.) und weil sie sich nicht aufgegeben haben, weil bei denen noch was brennt. Natürlich war klar, dass wir genau jetzt – statt nur die harten und problematischen Biographien dieser jungen Leute auf die Bühne zu stellen – dass wir genau jetzt mit der Wirklichkeit und ihren Vorurteilen spielen. Das kam von den 66
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Protagonisten selber und dem Umstand, dass sie einerseits schon zeigen wollten, wie das Leben so aussehen kann, das sie kennen; andererseits hatten sie verständlicher Weise keinen Bock, jeden Eintrag im Muttiheft, Strafregister oder Stress mit Leuten aus der Silberhöhe offen zu legen. Ich habe viel Kraft und Hirnschmalz darin investiert, ja nicht voyeuristisch zu werden – in dem Sinne, die Protagonisten bloß zu stellen, sondern den Umstand, dass sie da stehen um unlangweilig zu reflektieren. Jetzt nach einer Weile (– kch kch ah äh, das Altern -)merke ich, es geht im Theater immer darum was zu zeigen. Ob jetzt von Schauspielern gespielt oder mit Laien dargestellt. Zwischen Wiederabruf barkeit und Performance gibt es kein authentisches oder dokumentarisches Theater. Theater IST nunmal Exhibitionismus und Voyeurismus zugleich. Schreiben ist es. Dieser Text ist es. Theater ist und bleibt in seinem Kernpotential vor allem spielerisch. So sehe ich das jedenfalls. Falls es wen bis hier her interessiert hat. (– alter, biste nich bald ma fertig, ich warte schon seit stunden. haste nich noch eins.) Klar. (– das is die richtige einstellung.)
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Autor innen-Ratgeber Ewald Palmetshofer
Du sollst dir ein Umfeld schaffen. Schaff dir ein Umfeld. Du wirst eins brauchen. Schaff dir mehrere. Kontexte schaff dir. Eine Herkunft. Schaff dir eine Herkunft. Eine nicht-soziale. Eine nicht-soziale Herkunft schaff dir und eine Vorgeschichte sollst du dir schaffen, eine Basis, von der du losgegangen sein wirst. Du musst nicht wirklich von dort los oder von dieser Herkunft herkommen musst du nicht und auch nicht aus diesem Kontext heraus. Aber du wirst dankbar sein, wenn du zurückgreifen kannst und da ein Kontext und ein Umfeld und eine Herkunft von dir erschaffen worden ist, die du dann heranziehen und vorweisen und bemühen kannst um der Rezeption deiner Person einen Ausgangspunkt, weil jede Rezeption einen Ausgangspunkt, und wenn Du Herrin des Ausgangspunktes deiner Rezeption, deiner biographischen Rezeption sein willst, musst du diesen Ausgangspunkt selbst in Umlauf bringen. In Ermangelung eines derartigen Puntkes wird dir die Rezeption diese Arbeit nämlich abnehmen und deine soziale Herkunft rezipieren und dich biographisieren und auf dich selbst zurückgreifen. Da ist einem doch sicher lieber, man hat vorgesorgt und eine Vorgeschichte zur Hand, die man dann anbieten kann, weil andernfalls nämlich deine soziale Herkunft oder dein Bildungsgang oder der Beschäftigungsstatus deiner Eltern, die Klasse muss da herhalten und das muss ja nicht sein. Falls die Rezeption deiner Biographie bereits begonnen hat und du hiervon zum ersten Mal hörst und du dir noch keine Gedanken gemacht hast bisher, dann ist das schade und man kann jetzt leider nichts mehr machen. Du sollst dich finalisieren. Du sollst dein Autorinnenleben final führen und deinen vielleicht sich ergebenden Erfolg als dieses Finale begreifen. Die retrograde Erzählung deines Lebens muss dafür in einer Weise strukturiert sein, dass ihre einzelnen Erzählelemente geradewegs auf dieses vielleicht eintretende Finale zurasen. Jedes einzelne Fitzelchen deines Lebens muss in dieser Erzählung, wenn schon nicht in deinem Leben, dann 68
Autor innen-Ratgeber
zumindest dort, in deiner Erzählung über dein Leben, Autorinnenleben, nachträglich auf dieses Ende hingeordnet und ihm Mittel zum fi nalen Zweck sein. Erst vom Ende, dem Finale her erhält deine Erzählung Sinn. Erzähle daher immer so, dass dieser Sinn schon in jedem Einzelding als Potenz und Ausrichtung enthalten gewesen sein wird und zu nichts anderem führen wird haben können. Verwende Sätze über dich selbst, die deutlich machen, dass du nichts anderes kannst, je können wirst, können wollen wirst. Verschweige aber, dass dieses Finalisiertheit in deinem Leben ein prekärer Zustand ist, weil nach dem Ende per definitionem nichts mehr kommt und dieses Endzeitprekariat für einen Menschen in jeder Hinsicht ungesund ist. Verhindere daher, dass dieses Finale von deiner Erzählung in dein Leben übertritt. Du bist nicht Teil deiner Erzählung. Schreib’ sie, sei sie nicht. Trenne zwischen Leben und Erzählung. Ja, du darfst lügen. Wenn du lebst, strebe natürlich nach der Ankunft des Finales, halte dich innerlich aber davon fern. Wie du weißt, ist nach dem Ende alles aus. Lebe final aber ohne anzukommen. In deiner Außenkommunikation weis’ darauf hin, dass du, falls man dir dieses Finale zugeschrieben hat, völlig in ihm angekommen bist und es sich als Dauerzustand in deinem Leben festgesetzt hat. Singe ein Loblied auf dein Endzeitprektariat im Autorinnenleben. Ist die externe Zuschreibung deiner Finalität noch ausständig, sorge dich um eine entsprechende Absicherung, bilde dich weiter und sorge vor. Halte immer einen Plan-B-Finale für dich bereit. Du sollst niemandem glauben. Dir und deinem vielleicht eintretenden Erfolg auch nicht. Das Finale kommt von außen. Man wird dich davon unterrichten. Falls nicht, dann eben nicht. Hast du aber die Gute Nachricht erhalten, schenk’ ihr keinen Glauben. Auch die anderen dürfen lügen. Versuche erst gar nicht nach Indikatoren für die Wahrheitsgemäßheit dieser Nachricht in deinem Leben zu suchen. Trage sie in deine Erzählung ein und gönn dir eine finale Aura. Mehr auch nicht. Man wird daran gehen dieses Finale aus deiner Vergangenheit herzuleiten, aus deiner Herkunft, deinem Umfeld. Dies wird gelingen. Sorge dich nicht. Erzählungen sind nun mal kausal. Da kann man nichts machen. Falls, was sehr wahrscheinlich ist, in dir der Eindruck entsteht, dass deine private Erzählung diese Kausalität nicht unterstützt und nicht zwingend trägt, sorge dich abermals nicht. Sollte dies aber die Grundfesten deiner bisherigen Lebenserzählung im Privaten erschüttern und der Eindruck einer gewissen brüchigen Identität entstehen, sollte das Gefühl aufkommen, dass deine Herkunft ein schlechtes Reservoir an Ressourcen darstelle, hat man also möglicherweise auf Sand gebaut und mangelt es am Fundament – wie dir scheint, hast du eine Krise. Nütze sie oder suche Hilfe. Suche jenseits der externen Zuschreibung des Finalen nach kleinen internen Ankünften. Über diese darfst du dich im Stillen und Geheimen freuen. Sprich darüber nicht öf69
Zwischenspiele: Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume
fentlich, beispielsweise vor Journalisten. Das macht die externe Zuschreibung klein, lässt dich gefühlig und dumm erscheinen. Du sollst Stil haben. Schon immer. Schon zuvor. Hast du deinen Stil gefunden und korrespondiert er mit der Außenkommunikation deiner künstlichen Erzählung, hast du Glück gehabt. Solange du die Gute Nachricht noch nicht erhalten hast, ist auch noch Zeit für kleine Korrekturen. Nütze dich selbst als Werbefläche und sei stimmig. Beachte aber, dass ein minimaler Riss im Gesamtkonzept interessant und glaubwürdig macht. Sei postmodern dezentriert und nicht glatt. Wurde die Gute Nachricht bereits zugestellt, hat sich das Gelegenheitsfenster für Stilfragen geschlossen. Du bist festgeschrieben. Jede folgende Korrektur würde dir als Versuch ausgelegt werden, nachträglich einer Erwartung zu entsprechen oder dein vielleicht neu verdientes Geld sinnlos zum Fenster rauszuwerfen. Zu spät ist zu spät. Schwimm! Nicht jeder kann schön sein. Das kann man auch mit Würde tragen. Solltest du katholisch sozialisiert sein, vergiss es. Bist du anderweitig religiös beladen, nütz es.
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Andreas Neumeister legt eine Schallplatte auf und geht mit mir in ein Polleschstück Jörg Albrecht
Körper, auf denen gespielt wird/Kopf hörer, die den Text vorsagen/Zuschauer, die mitsummen/was willst du sein?
Intro_ _Musik im Ohr, als ich zurückkomme, immer noch Musik im Ohr, immer noch die ganze Musik eines Abends, auf wenige Pfeiftöne zusammengeschoben, ist es das?, Musik in den Gehörgängen, Musik aus den Gängen des Clubs, wo wir darüber sprechen, warum und wie und wie schnell das sein müsste, das Theater, zum Beispiel so: eine Band aus Menschen, die alles, was sie jetzt gerade lieben und nicht lieben, alles, was sie wundert und aufregt und berührt, zusammenwerfen: Farben, Songs, Muster, Bilder, Sounds und Gefühle, sage ich, einfach so eine Band, sage ich, Vorsicht!, ruft Pelle, Vorsicht: Mikrophone!, ¿Mikrophone?, welche denn, was für welche denn, wie viele, in welcher Entfernung von uns, auf welcher Lautstärke?, wie der starke Hall eines Konzertmitschnitts mit einem großen Orchester auf dem Kopfhörer die Akustik des Raums, in dem du den Kopfhörer trägst, überlagert, wie das helle, bunte Videobild aus dem Bea71
Zwischenspiele: Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume
mer die Architektur meines Gesichts, das ja selbst kein Licht abstrahlt, überlagert, aber was genau, fragt Jonte, was wolltest du denn sein?, fragt er, fragt Jonte, ¿ein Keyboard oder ein Sampler, oder?, Moment mal!, sagt Pelle, seit wann sprechen wir über das, was wir machen wollen, in der Vergangenheitsform?_ _Musik ist mir eigentlich zu viel, sage ich zu Andreas Neumeister, Musik ist mein Leben, aber Musik überfordert mich, weil ich unmöglich jede Schicht gleichwertig hören kann, nein, weil du möglicherweise jede Schicht gleichzeitig hören kannst, ist dir die Überforderung alles andere als bewusst, sagt Andreas Neumeister zu mir, mehr sagt er nicht, bis die Musik vorbei ist, wenn die Musik vorbei ist, wird der Abend zu Ende sein, und wohin dann?, es braucht schon ein sehr geübtes Ohr, um ein komprimiertes Stück Musik vom nichtkomprimierten Original zu unterscheiden, der Versuch, zu hören, was weggelassen wird, im MP3, als fi ktionsbedingtes Risiko, ¿Fiktion oder Fiction?, ¿Realität oder Reality?, vielleicht interessiert mich Theater, weil ich mir immer vergeblich eine Band gewünscht habe, [¡but there is no rewind button for life!]_ _beim Einschlafen im Theater der Gedanke, wofür Theater das Testbild ist, sagt Jonte, beim Einschlafen helfen die Testbilder im Fernsehen nicht mehr so gut, weil es sie nicht mehr gibt, sagt Pelle, beim Einschlafen ist Musik am Schönsten, wenn sie nur aus der Ferne kommt, wie aus einer fernen Zukunft, sage ich, ach ja, Zukunft: ein Astronaut im Raumanzug, der durch die Halle eines Theaters läuft, off the ground, und über die Funkfunktion im Raumhelm mit einer Funkerin spricht, und zwar die Dialoge, auf wenige Sekunden zusammengeschnitten, die die wartenden Theaterbesucher wenige Minuten zuvor in der Halle sprechen, und während der Astronaut im Raumanzug schwebt, darüber nachdenken, was mit dem Space und den Theatern eigentlich passiert_ _[pre-recorded:] am 23. März 2007 legt Andreas Neumeister, master of listing/master of listening, in der Bar der Münchner Kammerspiele eine Schallplatte auf, die ich ihm in der Nacht auf den 26. November 2006 an den Plattentellern in Hildesheim überreiche, am 23. März 2007 setzt Andreas Neumeister, nachdem er und ich ein Stück von René Pollesch sehen, den Plattenarm auf meine Schallplatte, die nun seine ist, und auf der Angela Davis an die Jugend der Welt spricht, und könnte ich ihr den Text eingeben wie einem Computer oder einem Schauspieler auf der Bühne, würde sie folgendes sagen: im Theaterraum, im Jahr 1887, Körper von Schauspielern, die da stehen und in Versen sprechen, was ihnen ein Dichter ihrer Zeit in den Mund legt, Körper aber, denen die Geschwindigkeit 72
Andreas Neumeister legt eine Schallplatte auf
der Eisenbahn, die Treffsicherheit der Fotografie und die Lautstärkeregulierung des gerade erfundenen Grammophons schon ins Spiel übergangen sind, dagegen im Theaterraum, im Jahr 2007, Körper von Schauspielern, die hundertzwanzig Jahre alte Verse eines Dichters in den Mund nehmen, die sie anders sprechen als Schauspieler vor hundertzwanzig Jahren, ok, die sie aber genau so sprechen wie alle anderen Schauspieler im Jahr 2007, die Verse sprechen, copy copy copy, und jetzt?, Schauspielkörper, die stehen, sitzen, rennen, tanzen, vor allem: sprechen, ohne dass man ihnen anmerkt, dass sie die Stadt um ihr Stadttheater herum jeden Tag sehen, dass sie Videoclips und das Internet kennen, dass in ihnen Gefühle entstehen, aber nicht schon drei Wochen vorher, im Probenprozess, sondern genau jetzt, heyheyhey, wo ist die Gegenwart?_ _copy/shut/waste: Medientheoretiker Geert Lovink fragt: Ist es nicht vor allem das deutsche autoritäre Bürgertum, dass die Bilderflut nicht abkann, und zutiefst irritiert ist, dass das Fernsehen nicht mit einer Stimme spricht?_ _copy/cut/paste: aus dem Theaterraum ausschneiden und rein in die Stadt/ rein ins Netz/rein ins innere All!, oder anders herum?, jedenfalls raus!, [hey baby, space is just around the corner!]_ _drei Möglichkeiten [click here!]: in den virtual space gehen in den inner space gehen in den public space gehen _drei Möglichkeiten, und die alles entscheidende Frage: wie stehen unsere Körper zu diesen drei Möglichkeiten?_
No.1_virtual space: Dialoge mit Suchmaschinen
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Zwischenspiele: Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume
_berichten, mit minutiösem Erinnerungsvermögen von einem Theaterabend berichten ohne Theater, nur Platz nehmen und schauen und zuhören, wie sonst im Theater, und doch ist alles anders, beim Schwarzmarkt für nützliches Wissen und Nichtwissen, achtzig kleine Bühnen vor mir, achtzig Glühlampen, immer eine pro Bühne, und auf den Kopf hörern Gespräche, die Kopfhörer gehören für einen Abend mir, gegen Vorlage eines Dokuments, mit dem ich meine Identität nachweise, [sollte dieser Abend anders zu Ende gehen, als ich denke, durch ein Abbrennen des Theaters zum Beispiel, durch meine Vergesslichkeit, den Kopfhörer zurückzutauschen zum Beispiel, durch einen Herzinfarkt zum Beispiel, wer wird mich anhand der Abdrücke meiner Ohrmuscheln im Kopfhörer identifizieren?], ein Theaterabend, der so theatral ist, dass ich alle Inszenierungen, die ich in den Wochen zuvor sehe, sofort vergesse, denn: achtzig Glühlampen und achtzig Stücke auf einmal, deren Texte jetzt gerade entstehen, Dialoge, deren Repliken sich nur aus dem Leben der beiden Dialogpartner speisen, da nichts anderes vorhanden ist, sich gegenseitig zur Suchmaschine machen für das, was man finden will, mit dem Kopf hörer schalte ich mich in Gespräche, aber der Plan auf dem Papier: ungenau, was diesen Abend zu dem machen wird, was er dann ist, während ich suche, wer denn nun grad auf dem Kanal, den ich in den Kopfhörer gesendet bekomme, spricht, erliege ich immer wieder meiner Wahrnehmung: die richtige Glühlampe zum richtigen Dialog finden, um dem Dialog beim Entstehen zuzusehen, Möglichkeit Eins: die Frau bewegt die Lippen in der richtigen Geschwindigkeit, aber formt nicht die richtigen Worte, Möglichkeit Zwei: hier sind die Lippen so klein, dass ich ihre Bewegungen nicht sehe, aber die Bewegungen des Körpers, der spricht, und das Nicken des Körpers, der nicht spricht, stimmen, oder stimmen nicht, nein, weitersuchen, für Möglichkeit Drei, oder: nein!, nicht mehr weitersuchen, lieber den Dialog anhören und auf die lippensynchrone Fassung verzichten, den Dialog anhören und ganz falsche Bewegungen dazu sehen und denken, Wow wow wow!, wie das passt, gerade, weil es nicht passt!, den Dialog anhören und auf die Logen sehen, auf die Zuschauer, auf die Glühlampen und verstehen: das hier ist nur jetzt, für den Augenblick, und niemand zeichnet auf_ _in nullkommanullfünf Sekunden gefunden, Ergebnisse Eins bis Zwanzig zu: Theater, so schnell wie Suchmaschinen wird das Theater nicht sein, aber ein Theater, das schnell reagieren kann, das seine Autoren das schreiben lässt, was jetzt gerade da draußen passiert, aus Zutaten/Zitaten machen, was die Gegenwart, was zumindest ein Teil der Gegenwart ist, warum zum Beispiel kein Stück spielen, bei dem Menschen aus dem myspace-Universum als die Figuren auf der Bühne stehen, die sie in diesem Universum sind?, mit ihrem myspace-Namen, ihre myspace-Geschichte 74
Andreas Neumeister legt eine Schallplatte auf
erzählend, die ja von Anfang an nur die Geschichte vieler sein kann, weil du vom ersten Augenblick an mit allen anderen Geschichten verbunden bist, [Gegenwart is in your extended network!], also die Gegenwart nicht einfach den Blogs überlassen, die Sprache nicht aus den Blogs lösen, sondern in den Verlinkungen belassen, die Sprache durch die Medien schicken, die Medien durch die Sprache schicken, die Differenzen suchen, und dann, dann_ _was willst du sein?, ¿eine Suchmaschine?, ¿ein MP3?, ¿ein Link?, fragen Jonte und Pelle, und ich sage, Ich weiß nicht, aber ich mag es auch, wenn die Frage kurz offen bleibt, lang offenbleibt, vielleicht so: ein Stück entstehen lassen zwischen einer Frage und noch einer Frage, zwischen zwei Themenkomplexen, die allein schon genug wären für eine Trilogie, von Differenzen ausgehen, Differenzen aber nicht gleich wieder schließen, von einem space in den anderen springen und die Sprache dazwischen nicht gleich schließen!, die Sprachen aller, die mitspielen, ausnutzen, für diese Differenz, stattdessen: mit Schauspielern über Theatertexte diskutieren, in denen die Sprache die Hauptrolle spielt, mit Schauspielern über Computerspiele diskutieren, mit Schauspielern über Theatertexte, in denen die Sprache von Computerspielen die Hauptrolle spielt, diskutieren, was soll das bitte auf dem Theater?, diskutieren und wild diskutieren und wild und laut diskutieren und rufen: hey baby, life is just around the corner!, was weiß mein Körper vom Computerspiel?, nichts?, na, und schon wird er mitgerissen!, Leben: please select your computer system!, NOW!_
No.2_inner space: über Kopfhörer sprechen lernen _wie ein Französischkurs, wie ein Polnischkurs, wie ein Japanischkurs: Kopfhörer auf und los!, auf der mittleren von drei Leinwänden tauschen Schauspieler sich gegen Zuschauer aus, zum Beispiel gegen eine Norwegerin um die fünfzig, die unablässig in die Kamera schaut, einen Mann spielt, und später als Mann einen anderen Mann, der auch von einem Mann gespielt wird, küsst, die, sage ich zu Jonte und Pelle, und das ist das Wichtige: 75
Zwischenspiele: Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume
die den Text spricht, als wäre sie dabei, einen Teil ihres Lebens zu erzählen, und das will ich merken, sagt Jonte, wie bei einem Konzert, sagt Pelle, Erfahrung, Erfahrung und Gefühle, die in den Text hineingelangen, weil sie gerade in dem Moment entstehen, nicht, weil Sekundärtexte zur Figur vorsagen, welche Emotionen da sein müssen, während andere Sekundärtexte der Figur das Gegenteil nachsagen, Gefühle, zwischen Kopf hörer, Ohr und Herz entstehend, Emotionen im 21. Jahrhundert, e-motions, oder wie oder was?_ _Gob Squads Kopfhörertheater als adäquate Reaktion des Theaters auf die Erfindung des Kopfhörers, dieses kleinen Schallwandlers, der um 1910 erfunden wird, sage ich zu Andreas Neumeister, aber was ich mir wünschen würde: die Reaktion des Theaters auf die Erfindung der SMS, und zwar nicht als Minidramen in hundertsechzehn Zeichen, nicht als ironisches Sprechen in Abkürzungen, in a sort of Computerstimme, nicht mit dem obligatorischen Empfangston, den einige Theater immerhin schon als Warnung an die Zuschauer entdeckt haben, vor der Vorstellung doch bitte ihr Mobiltelefon auszuschalten, eher so: das, was an dramatischem Potential in der Sprache liegt, in der Technik liegt, in der Verschränkung von Sprache und Technik liegt, auch mal in den Guckkasten reinholen, so klingt die Zukunft, und da müssen wir ja hin, oder?_ _nach München?, also, wenn Sie mich in München sehen wollen, öff nen Sie diese e-Mail und sehen sie das Foto an, sehen Sie mich, mit Andreas Neumeister zusammen René Pollesch sehend [ein Stück von René Pollesch sehend, in München], sehen Sie meinem Gesicht das hier an: wow!, wowwowwow!, wow!, die Überforderung, die so was von gut tuende Überforderung, als würden ständig neue Pop-up-Fenster aufspringen im Inneren, Pop-up-Fenster, von denen aber keines nervt, sondern eines sehnsüchtiger herbeigesehnt wird als das vorige, wie Broken Social Scene, sage ich zu Andreas Neumeister, die einfach drei Musikstücke übereinander spielen und dann warten auf die Interferenzen, Interferenz als Überlagerung von Wellen, oder, sagt Andreas Neumeister, Interferenz als Übertragung muttersprachlicher Strukturen in eine Fremdsprache, und ich rufe: und was dabei herauskommt!, wie Theorie und Praxis übereinanderlegen, ja, das Leben und die Gedanken über das Leben interferieren lassen, die Theorie nicht den Büchern überlassen, die gehört doch zu uns!, Theorie als formbar, Theorie als verformbar, Theorie als performbar, nicht mehr, nicht weniger!, [wenn Sie einzelne Angebote nebeneinander angezeigt bekommen möchten, um sie besser vergleichen zu können, markieren Sie die entsprechenden Kontrollkästchen und klicken Sie dann auf: Vergleichen!]_
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Andreas Neumeister legt eine Schallplatte auf
No. 3_public space: bewegen/sprechen _passiert das Interessante, was im Theater passiert, nicht mehr im Theatertext, weil das Theatergebäude schon unter Denkmalschutz steht?, frage ich Jonte und Pelle, nein, sagen die, diesmal nicht, also diesmal kein Denkmalschutz, ein Lastwagen steht selten unter Denkmalschutz, hast du?, fragen sie, jaja, ich habe mein Mobiltelefon ausgeschaltet, ja, die Datenanzeigen auf der Wand des Lastwagens sind angeschaltet, und ja, es geht los, auf der Audiospur die Geschichte der osteuropäischen Lastwagenfahrer, auf den Datenanzeigen: die Geschichte eines westdeutschen Lastwagenunternehmens, auf den Straßen: die Geschichte einer Musikerin im roten Mantel, [hey baby, this is just around the corner], zwischendurch anhalten, aber das Tempo bleibt, genau so, wie es um mich herum jeden Tag geschieht, genau!, wie bei Rimini Protokoll, das ist richtiger Realismus für mich, sage ich, wenn alles nebeneinander passiert, nämlich: eine Geschichte im Computerspiel auf dem Laptop, eine Geschichte im Supermarkt, eine Geschichte beim U-Bahnfahren, manche Geschichten größer, manche kleiner, aber alles so ineinander und trotzdem so getrennt, dass ich nicht mehr weiß, wohin und wo nicht hin, und Jonte sagt, so funktioniert das alles ja, mit der Gegenwart, Pelle: auch im Theater möchte ich die Augenlider nicht öfter benutzen müssen als alle zwanzig bis dreißig Sekunden, die einzige Erfahrung, die nach zehn Stunden Wallenstein bleibt: eintausendzweihundert Lidschläge, lerne ich so meinen Körper kennen?, hey hey hey!, wo bitte ist denn hier die Gegenwart?, wenn das hier alles nicht for real ist?_ _was nicht for real ist: Die Räuber mit Jugendlichen aus Problemzonen in einer Problemzone inszenieren, obwohl der Text nichts mit den Jugendlichen zu tun hat, obwohl der Text nichts mit der Problemzone zu tun hat, weil dann die Vorgeschichte des Textes die einzige Problemzone für den Text ist, was for real ist: die gelöschten Graffiti, die ich neulich alle auf einmal sah, die du sonst nur verteilt siehst über eine Stadt, eine ganze Stadt und ihre grad noch leuchtenden Tags und Characters, alle gelöscht, mit dicken farblosen Balken, die sich vom Untergrund abheben, wer hat hier 77
Zwischenspiele: Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume
was rauskopiert?, und auf welcher Bühne dürfen wir diese Graffiti bald sehen?, gelöschte Graffiti, sagt Andreas Neumeister, gelöschte Graffiti sind ja auch Graffiti, genau!, sage ich, genaugenau, denn es wird ja fein säuberlich ausgelöscht, aber so bleiben die Umrisse, und die Umrisse bleiben auch lesbar, genau!, wie rauskopieren in Photoshop oder in Word, sagt Andreas Neumeister, genau!, wie bei Theorie, um die erfahrbar zu machen, da kannst du mit dem Ganzen umgehen oder mit Umrissen, manchmal sind die Umrisse ja auch das an der Theorie, was mit dir zu tun hat, und dann eben fein säuberlich radieren, mit dem Eraser Tool in Photoshop, und dann die Umrisse mitnehmen, rauskopieren, und die neu füllen, ja!_ _ein Pop-up-Fenster, das die Sprache und den public space zusammenbringt: das Gebäude steht unter Datenschutz, das Dokument steht unter Denkmalschutz, dieser Körper hier steht unter Virenschutz, und unter Spamschutz steht er außerdem!, Jonte und Pelle nicken und zeigen auf sich, und öffnen ein neues Pop-up-Fenster, in ihm: Regisseure, die Widersprüche zulassen, in sich, in dem Geschehen auf der Bühne und im Stück, Regisseure, die Gegenwart zulassen und viel mehr, die Gegenwart haben wollen, zum Beispiel die Gegenwart im public space, der nicht nur als Kulisse dient, weil so das Budget automatisch niedriger wird, Regisseure, die von ihren Schauspielern nicht alles verlangen, aber trotzdem alles bekommen, was die geben können, aber dann, als das Pop-up-Fenster zerplatzt, in Reality: Regisseure, die Texte nicht mehr performativ aufpimpen müssen möchten, Regisseure, die endlich einmal Texte von A bis Z haben möchten, Regisseure, die sagen, Ihr müsst nur ficken ficken ficken schreiben, die das sagen, auch wenn nirgendwo ficken steht, nirgendwo!, Stücke mit dem Wort ficken ficken ficken ficken ficken ficken ficken ficken ficken ficken fcken************************************************* *********************************************************** ********** [This video has been removed due to terms of use violation!]
Outro_über Forderungen: Überforderungen
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Andreas Neumeister legt eine Schallplatte auf
_was ich mir auf der Bühne am liebsten wünschen würde: Ein riesiges Pac-Man-Labyrinth, in dem Schauspieler gehen, rennen, springen, einer von ihnen als Pac-Man, die anderen als Gespenster, die Bewegungen der Gespenster gesteuert durch Vibration, Wärme oder kleine Elektroschocks, durch die Zuschauer, Bewegungen durch dies Labyrinth, und währenddessen werden ihnen die Texte eingegeben, die sie noch nicht kennen, über ein Telepromptersystem, das nicht zentriert ist, sondern sich über alle Wände dieses Labyrinths erstreckt, Geschichten, die mit denen zu tun haben, die diese Geschichten spielen, Geschichten, die nicht von A bis Z laufen, sondern Realität/Reality zeigen, wie sie ist, nämlich in all den Verlinkungen, in all ihrer Komplexität, ihrer Größe, so dass sich alle wundern, wie all das, was auf der Bühne zu hören und zu sehen ist, noch in die Höhe, Länge und Tiefe der Bühne passt, dass ich nie das Gefühl habe, diese Geschichte ist schon längst abgeschlossen und hat deswegen besser Platz in einer Chronik als in mir!, wo ist die Vergangenheit denn, wenn die Gegenwart da ist?, wenn ich mich erinnere, sehe ich die Erinnerung vor mir, als wäre sie die Gegenwart, weil die Nervenzellen den Unterschied zwischen dem früher Erlebten und dem Gerade-jetzt-Erleben doch gar nicht kennen_ _nur, was weiß mein Körper, solange er da ist, vom Verschwinden?, was weiß er vom Verdichten?, vom Komprimieren?, MP3s komprimieren, um mehr auf einen Player zu bekommen, sagt Jonte, Leben komprimieren, sagt Pelle, nicht gelebte, sondern: noch lebende Leben komprimieren, um mehr Leben auf eine Bühne zu bekommen, komprimieren/komponieren, damit alles in einem Bild sein kann, alles in einem Körper sein kann, alles auf einer Bühne, Theater als the phatter space to be, da passt mehr rein als in einen Körper, ja okay, jaja okay, ja, komprimieren, ist klar, erst mal zusammenschieben, [Jonte fragt: wer bist du?: ¿ein Kopfhörer?, ¿eine Schallplatte?, ¿ein Instrument?], zusammenschieben, wie beim Carcrash, [Pelle sagt: der geht in Wirklichkeit auch schnell, das Geräusch zu identifizieren als ein Carcrashgeräusch, dazu gehört Erfahrung, nur Film und Fernsehen haben uns schon an die Zeitlupe vor den splitternden Fensterscheiben gewöhnt, an die ins Unerträgliche gedehnten Bremsgeräusche], oder die körperlichen Crashs und die Körper, sage ich, Komprimierung, die auch schon im Körper anfängt, im Körpergefühl, was gehört dazu?, was gehört nicht mehr dazu?, so wie mancher nach dem Schlaganfall aufwacht und denkt, sein linkes Bein gehöre nicht ihm, dies Phantombein sei angenäht worden, unbemerkt, so wie mancher nach dem Autounfall und der Amputation der Arme denkt seine Arme seien noch da, wer auf Nervenenden am Stumpf drückt, damit der Arm wieder da ist, damit die Hand, damit der Daumen, der kleine Finger, der Ringfinger, der ganze Arm komprimiert, in den Nervenenden, wer so seinen Körper ansieht, aus 79
Zwischenspiele: Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume
Versehen oder nicht aus Versehen, bemerkt, dass der alles bietet, was die Geschichtsschreibung braucht, nein, der Körper allein ist die Geschichten, von daher: alle Geschichten in einem Körper, in einem einzigen, alle an einem Abend erzählen, allein das wär Wahnsinn, wie dann die Geschichte, die dreivierfünfzehn Körper mir erzählen?, genau, das ist der Wahnsinn, rufen Jonte und Pelle, das ist der richtige Wahnsinn!_ _weshalb sonst zucke ich, weshalb sonst erröte ich, weshalb sonst schaue ich auf meine Haut, wenn ich an Sachen denke, die ich erlebt hab, zum Beispiel, weil ich mir immer eine Band gewünscht habe, vielleicht, weil ich immer mit Freunden Band-T-Shirts hatte von uns als Band, wenn wir nur die Instrumente etwas besser gespielt hätten, vielleicht deshalb, vielleicht aber nicht nur deshalb, wünsche ich mir Ensembles wie Bands, wo jeder spielt, weil er reinpasst, weil er sein Instrument am Besten spielt, weil er genau die Musik mitbringt, die er ab der Zeit im Mutterleib mitbekommen hat, merken, wo die Menschen herkommen, aus welcher Musik, aus welcher Heimat, aus welchem Leben, Sampler an [wann wird Word das Wort: Sampler kennen?] Videobeamer: an!, und da steht: copy/cut/paste!_ _copy/cut/waste!: verbrauchen, verschwenden, verschleudern, aber nicht irgendwie, so wie eine Busfahrkarte: kaufen und entwerten, du musst sie ja entwerten, du musst ja musst sie ja, du musst ja entwerten/aufwerten, und so auch auf der Bühne: den Körper verbrauchen, den Atem verschwenden, den Text verschleudern, je mehr du verpulverst, desto schöner wirst du, copy/cut/waste, wie stehen unsere Körper zu diesen drei Möglichkeiten?, unsere Körper sagen: Wir wollen gleich drei Sachen auf einmal, das ist unsere Forderung, unsere Forderung, unsere Forderung nach Überforderung!_ _sorry, sagt jemand, da ich bin ich grad zu zu zu, aber schon singen die Klaxons, the dance of the cosmos shows/the stitches of spaces that slowly come and go, und was doch klar ist: dass wir erst am Anfang sind, am Anfang dessen, was wir Wahrnehmung nennen, nicht mehr so am Anfang wie im 19. Jahrhundert, aber immer noch am Anfang, und irgendwann, wenn noch mehr und noch schneller komprimiert werden kann, irgendwann dann könnten alle in einem Bild sein, alle Instrumente, die du beim Komponieren gebrauchst, [wer bist du?, ¿eine Pauke?, ¿eine Violine?, ¿eine Harfe?], Thomas Thieme sagt, Mich emotional so gehen zu lassen, dass ich kaum mehr weiß, ob ich spiele oder gespielt werde, genau, genau das, gespielt werden wie ein Instrument und dann eingespielt werden in ein Speichermedium und komprimiert werden und wieder abgespielt werden, in der komprimierten Version, in der komponierten Version, in der alles 80
Andreas Neumeister legt eine Schallplatte auf
ineinanderspielt, die spielenden/gespielten Körper der Schauspieler und die Bühne und die Kostüme und die Musik und der Text und die fassungslosen Gesichter im Publikum und auf der Bühne, alles ohne Anstrengung, alles mit der gleichen Anstrengung, mit der man auch das Leben anschaut, diese größte aller Überforderungen, ja!, auf meinem linken Ohr steigt grad David Bowies Stimme auf, von 1982, als er auf MTV sagt, Too much is never enough!, nein, nicht noch mehr MP3s löschen, nicht die Spammails auf meinem Computer löschen, die haben mehr mit mir zu tun als Nora, als Hamlet, nicht mit dem Videobeamer den Text den ich gerade hier schreiben will, auf mich projizieren, so kann ich nichts davon sehen!, oder nein, nicht auf hören!, [too much is never enough, never], endlich einmal alles auf einmal, endlich alles hören und alles sehen, alles in einem Musikstück hören, alles in einem Bild sehen, von links nach rechts: die Figuren, in der Reihenfolge ihres Verschwindens, genau, die Gedanken, in der Geschwindigkeit ihres Auftauchens, die Sprache in der Intensität ihrer Differenzen, in der Intensität eines lebenden Lebens, in dieser Gegenwart, ja!, das hätte ich gern zu meinen Lebzeiten einmal gesehen, aber irgendjemand sagt: Sorry, I was unable to open this picture!
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hunder t verschiedene reisen und nur ein ZIEL: INTENSIVER leben − ARBEITSBERICHT aus dem projekt TOD UND TOURIST der zweiten liga für kunst und kultur und dem pathos transpor ttheater, münchen Johannes Schrettle
wir beschäftigen uns mit tourismus, weil es ein phänomen ist, das uns interessiert, von dem wir in diesem moment noch denken, dass es außerhalb von uns selbst ist, also etwas, was wir beschreiben könnten, damit wir nicht die ganze zeit über uns selbst sprechen müssen, sprechen wir darüber, dass derzeit 7 millionen menschen touristisch unterwegs sind, und alle nur ein ziel haben: INTENSIVER LEBEN. dann trennen wir uns und treffen uns wieder. wir sagen tourismus und sehen SEX in thailand, strände, eine ethnologin in grönland, eine frau, die erst nach slowenien und dann im nächsten jahr nach TOGO gefahren ist, und eine, die nach afghanistan zu den deutschen truppen fährt und jetzt dort vor denen steht und ihnen ein lied vorsingt, weil sie hoff t, dass vielleicht eine bombe hochgehen könnte, weil sie schon die ganze zeit die gefahr sucht, die sie zuhause nicht kriegt, und wir merken, dass diese figuren, die kurz vorbeirauschen, wenn wir dorthin schauen, 82
ARBEITSBERICHT aus dem projekt TOD UND TOURIST
wo wir die welt vermuten, und die orte und die lieder, dass die alle existieren, und dass wir die aber nicht zeigen können, weil wir in einem bühnenraum mit diaprojektoren gefangen sind. wir sehen, dass man über reisen auf der bühne eigentlich nicht sprechen kann, weil wir das alles nicht erlebt haben, und über die figuren, die vielleicht verschwommene klischees aus schlecht übersetzten amateurdokumentationen über engländer in thailand sind, dass wir die sowie nie in unsere körper kriegen, und wir kriegen eine ahnung davon, dass WIR uns die ganze zeit wie abenteuertouristen verhalten, die das gefühl der drohenden gefahr lieben, die aber vorgesorgt haben, dass es nie wirklich gefährlich wird. wir nehmen uns vor, daran zu arbeiten, dass die gefahr und das intensive leben, das alle touristen haben wollen, irgendwann in der show auftaucht. wir stellen uns musik und tanzende eingeborene und ein riesiges monster vor. wir stellen uns vor, dass jeder schritt der letzte sein könnte. wir stellen uns vor, dass es mit brennender sehnsucht zu tun haben könnte. den gegenstand, der noch immer außerhalb von uns ist, können wir aber nur anschauen wie ein bild in einem reiseprospekt, wir stellen uns vor, dass das stück ein diavortrag ist, in dem nichts passiert außer dass alle immer wieder das selbe bild zeigen und eine geschichte dazu erfinden. jemand sagt, die sehnsucht ist leider auf den bildern nicht zu sehen, und es ist nicht möglich in unseren körpern die sehnsucht der figuren, die aufgetaucht sind, zu finden und dann zu präsentieren, wir haben wieder nur unsere eigene, und unsere eigene größte sehnsucht nach in dem moment, dass es schon vorbei ist, dass wir eine reise gemacht haben und dass wir eine gemeinsame geschichte haben, die wir erzählen können, und wir können nur wieder unsere sehnsucht nach realen ereignissen und nach riskanten momenten auf der bühne neben die sehnsucht der 7 millionen touristen legen und sehen, was passiert. wir versuchen, listen anzufertigen: die sehnsucht nach exotischen und entspannendem erotischen erlebnissen. die sehnsucht, einem schauspiel der natur zuzusehen, das so gewaltig ist, dass man dabei auf sich selbst zurückgeworfen wird, die sehnsucht, möglichst weit weg von sich selbst zu sein, 83
Zwischenspiele: Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume
die sehnsucht, eine fremde kultur zu berühren, die sehnsucht, rechtzeitig wieder zuhause und in guter form zu sein, die sehnsucht, den eigenen grenzen dabei zuschauen zu können, wie sie verschwinden, die sehnsucht, am grab einer berühmten person zu stehen und den hauch der geschichte zu spüren, die sehnsucht, jeder neuen person, die man triff t, eine neue erfundene geschichte darüber wer man ist und wo man herkommt, zu erzählen, die sehnsucht, gemeinsam unterwegs zu sein und dabei auf eine neue ebene zu kommen. wir haben jetzt bilder und textfetzen, die aus den bildern kommen, und einige sagen, dass sie nur arbeiten können, und fremdheit und exotik zu produzieren ist arbeit, dass sie diese arbeit nur machen können, wenn sie wissen wo sie sich befinden und wo sie hinwollen und vor allem: WARUM WIR HIER SIND. was wir sehen, wenn wir uns nicht bewegen. hier ist in münchen. wir sehen uns selbst jetzt als reisegruppe, die sich selbst gegenseitig versprochen hat, einen blick auf die welt zu kriegen, und rausschaut, und aber wieder nur sich selbst sieht, auch wenn sie wochenlang sucht und sich schon zuhause informiert hat und theorien und reisewarnungen studiert hat, wir können uns nie sicher sein, ob das was wir sehen wirklich die welt ist, und die konkreten bilder die eindeutig die welt waren prallen an uns ab, konkret wäre die geschichte der deutschen musicalsängerin nadine assmann, die uns während der arbeit begegnet, allerdings nur in einer geschichte im spiegel, die nach afghanistan gefahren ist und im lager der deutschen soldaten SINGIN IN THE RAIN gesungen hat, kurz bevor tatsächlich eine bombe explodiert ist, wobei nadine assmann das nicht in dem moment registriert hat, sondern erst viel später, und das eigenartige ist, dass sie, jetzt wo es vorbei ist, das gefühl hat, dass sie, weil sie dem tod schon ziemlich nahe war, dass sie in dem moment auch dem LEBEN viel näher war als sonst. das war aber eine andere art von leben. nicht das leben, das gemeint ist, wenn jemand zu ihr sagt, sie soll über ihr leben sprechen, nicht ihre lebensgeschichte, sondern das reale das ihr auf einmal begegnet ist, genau so wie dem bankangestellten der mit einem offenen herzen nach marokko gefahren ist. 84
ARBEITSBERICHT aus dem projekt TOD UND TOURIST
in unserem kopf sind lauter fi guren die anscheinend genau wissen, warum sie hier sind, und wir fragen uns, ob wir ihre stimme hören sollten und zu ihnen werden, aber wir bleiben immer auf dem weg stecken und die figuren die wir nur sein können, sind im besten fall irgendwo im niemandsland, zwischen UNS als realen figuren, die versuchen, einen abend lang zu reisen und bilder und leere räume und leere köpfe zu bespielen, und wir denken, dass wir vielleicht nur dieses niemandsland fi nden müssen, das der raum also kein ort sein müsste, dass die fi guren nicht wissen, wo sie sind, warum sie hier sind, wo sie hin wollen, weil wir auch eine sehnsucht nach grenzen haben, weil wir auch eine geschichte von flucht erzählen wollen, weil wir, wenn wir nicht erzählen können, warum wir weg wollen, wenigstens gerne erzählen würden, woher wir kommen und wovon wir weg wollen, weil wir wenn wir TOURISMUS denken auch sofort an flüchtlinge denken, und wir fragen uns, ob schauspieler, wenn sie flüchtlinge spielen, und autoren, wenn sie geschichten über flüchtlinge schreiben, eine art abenteuertouristen sind, die das ultimative erlebnis und das nackte leben wollen, von dem sie gehört haben, die, mit versicherung und dokumenten ausgestattet, eine reise in afghanische flüchtlingslager unternehmen, fotos schießen von körpern, die auf sich selbst zurückgeworfen sind und die nicht von banalen lebensgeschichten und mitteleuropäischem seelenlärm verstellt werden, sondern pur und real und in einzelnen momenten vielleicht authentisch sein könnten, und die körper der flüchtlinge und der mädchen in thailand, sind im rahmen der show gar keine echten orte mehr, sondern nur ein bild für einen ort, von dem aus man DIE WELT vollkommen klar sieht, während halb arbeitslose schauspieler die in münchen sitzen, die welt nicht klar sehen, weil sie die ganze zeit in ihrer eigenen verstrickung und ihrer eigenen geschichte hängen bleiben, und von der wollen sie ja weg, sie ist definitiv zu eng, sie ist nicht gefährlich, und es findet in dieser geschichte keine krise, kein bürgerkrieg, kein kampf der kulturen und keine begegnung mit dem monster statt, und die welt über die wir im rahmen der show die vielleicht nur ein diavortrag sein kann, sprechen wollten, handelt aber von krisen und bürgerkriegen und monstern und um so scharf zu werden wie die bilder die wir gesehen haben, brauchen wir ein erschütterndes, aufrüttelndes erlebnis, das unsere biografien zersprengt, das sex sein müsste aber gleichzeitig viel mehr als der sex, den wir kennen, und auch vielmehr kampf als die kämpfe die wir führen, und wir essen magische pilze und gehen raus auf die straße weil wir auch 85
Zwischenspiele: Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume
das gefühl hatten, dass die straße möglicherweise ein umkämpfter ort sein könnte, ist sie aber nicht mehr, es finden auch hier keine begegnungen mit dem realen statt sondern nur mit unseren eigenen bildern, die sich durch die drogen, die langsam zu wirken beginnen, voneinander lösen, und die zusammenhänge zwischen den körpern und ihren geschichten die wir uns jetzt ein paar wochen lang erzählt haben, und dem raum in dem wir uns bewegen, lösen sich wenigstens für ein paar minuten auf und die verschiedenen momente liegen nebeneinander. wenn wir keine flüchtlinge oder kriegsopfer oder migranten sein können, dann können wir vielleicht wenigstens figuren in einem godard-fi lm sein, wo die geschichte zwischen den bildern immer wieder durchgeschnitten wird, und ein raum entsteht, in dem es dann nämlich doch um leben um tod geht, auch wenn die figuren am ende sehen, dass der raum nur die wohnung ihrer eltern war, die einen sommer lang auf urlaub waren und jetzt wieder heimkommen, um die dinge neu zu ordnen und alles wieder auf seinen platz zu stellen und den ausnahmezustand zu beenden. MOMENTE, in denen einer der touristen als erstes bemerkt, dass die nackten maori, die ihre kriegstänze auff ühren, gecastet sind, und dass es schon wieder nicht der gegenstand, der außerhalb von uns war, der uns kurz angst eingejagt hat, sondern dass wir die ganze zeit innerhalb von münchen geblieben sind. wir schauen uns diavorträge über die ganze welt an. der schauspieler der sich mit dem sextouristen in thailand beschäftigt, hat das gefühl, er kennt das alles jetzt schon, und braucht eine höhrere dosis sex und gewalt, damit BEI ihm noch was losgehen kann wenn er sich auf der bühne damit beschäftigt, er hat jetzt sehnsucht nach einer figur die nicht nur sextourist sondern vielleicht auch noch pädophil ist, und die sehnsucht, eine figur in einem godard film zu sein, hat er sowieso nie verstanden, weil er eine geschichte braucht, einen ort von dem er losgehen kann. wir lesen, dass es schon 50 jahre vor uns keine weißen flecken mehr auf den landkarten gab, und dass die meisten reisen unternommen werden, damit sich nichts verändert. während der show stehen die schauspieler meistens nur auf der bühne und denken nach, wie und ob sie in den zuschauerrraum schauen sollen, ob die zuschauer statisten sind, die auch in dem film von godard mitspielen, oder ob sie sich wirklich für die schwebstoffe in grönland und die sehnsüchte von sextouristen interessieren, oder ob sie gar nicht da sind, ob die schauspieler an einem ort sind, wo sie alleine 86
ARBEITSBERICHT aus dem projekt TOD UND TOURIST
sind, zum beispiel in einem hotelzimmer, oder ob sie auf einer landschaft stehen, wo sie möglicherweise menschen sehen. es treten immer wieder schauspieler nach vorn und formulieren momente, auf die sie eigentlich gehoff t hatten, auf ihrer reise zu treffen. alle arbeiten mit reiserfahrungen, aber sie vergessen immer wieder, ob sie von etwas erzählen, dass sie schon gemacht haben, oder von etwas, dass sie vorhaben, weil sie auch immer mehr das gefühl haben, dass der diavortrag nicht von der stelle kommt und dass das alles eigentlich nur vorbereitung sein müsste, auf etwas, was passieren müsste, dass das reale eigentlich erst auftauchen müsste, dass wir uns gegenseitig versprochen haben. das reale müsste aber dann etwas sein, das nicht auf den bildern war, die man sich vor der reise angeschaut hat, und wenn es nicht auf den bildern war, wissen wir nicht, wie wir es erkennen sollen und wann wir die kamera drauf halten sollen. wir bemerken, dass das schon wieder etwas ist, worüber man nicht sprechen kann, die figur des sextouristen in thailand ist mittlerweile auch verschwunden, er hat sich in dem moment in dem er als figur klar war, in luft aufgelöst, und eine traurige touristin sagt, wir hätten von anfang an nichts aussprechen sollen, unsere leben hätten schon längst wilde tänze auff ühren können und wir hätten gemeinsam schon längst eine deutsche bar aufmachen und filme zeigen können, die wir selber hätten machen können, weil wir uns so gut gekannt hätten, dass wir gar nicht gemerkt hätten, dass wir uns nur für die kamera lieben. und wir hätten bayern schon längst hinter uns lassen können, wenn wir nicht immer versucht hätten, miteinander zu sprechen und uns zu verstehen dann könnten wir schon längst vereint sein, und dann wäre das kein wort sondern wir hätten das auch schon längst in unseren körpern. jedenfalls wissen wir dass was losgehen muss und dass das nicht in der sprache passieren kann. es müsste ein moment sein, in dem sich die diaprojektoren und die figuren und die menschen voneinander lösen und ekstatische tänze auff ühren, ein moment, der sich eingräbt, ein moment, nach dem es für eine figur möglich ist, zu sagen, ich bin eine wahnsinnig schöne frau, die im ausland, niedergeschlagen worden ist, am boden liegt und das bewusstsein verloren hat. für mich ist das gleichzeitig extrem traurig und extrem lustig, ich könnte ein lied singen, oder auch gar nichts tun. 87
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im hotelzimmer und zuhause ging das ja nicht weil ich die ganze zeit spiele spielen musste, und die waren sowas von konkret, dass ich überhaupt nicht mehr konkret war, ich konnte keine bombe sein, sondern immer nur versuchen möglichst schnell irgendwas anderes zu werden, aber eine schöne frau kann immer nur eine schöne frau sein oder unsichtbar sein, aber wenn die welt vor mir aufgeht, und ich außerhalb davon bin, dann kann ich auch scharf werden, dann kann ich auch eine bombe sein, dann bin ich hier und die welt da, und mein blick und ich sind völlig scharf, dann lauf ich auch nicht mehr die ganze zeit gegen die wand, so wie im hotelzimmer, dann brauch ich überhaupt nicht mehr laufen, dann kann ich liegen bleiben auf meiner showbühne, das ist dann nämlich eine showbühne, und die welt läuft vor mir auf und ab, in bunten traditionellen gewändern und mit musik, und IHR seid mir total fremd und dann können wir uns verständigen wie nadine assmann, die als musicalsängerin aus bremen zu den deutschen einheiten nach afghanistan fährt und ihnen was vorsingt und vielleicht einen kurzen moment lang wenn sie auf der bühne steht, das gefühl hat, sie könnte jetzt eine mitgebrachte splitterbombe aus ihrer heimatstadt aus ihrer handtasche nehmen und dann inmitten der deutschen einheit explodieren, oder auch so fremd wie die deutsche nazi schauspielerin die in gefangenschaft in polen plötzlich alles ganz klar sieht und von haselnussstauden und von der krume des ackers und vom rebstock spricht WIR SCHLAFEN JA MITTEN IN DEUTSCHLAND und im tod sind wir deutsch und die welt ist draußen, eingeteilt in gute drehorte und weniger gute drehorte und von mir aus könnte es jetzt losgehen! und wir stellen uns vor, dass, wenn sie das gesagt hat, dass dann etwas losgehen könnte, und dass alle zurück nach hause gehen könnten und an ihrem leben weiterarbeiten.
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3. Neue dramatische Schreibpositionen »Braucht man das Drama noch? Lügt das Drama? Ist das Drama tot?« Der in den letzten Jahren paradigmatisch anmutende und zunehmend unproduktive Glaubenskrieg zwischen Vertretern des dramatischen und postdramatischen Theaters – und dies betriff t sowohl die künstlerische Praxis als auch die Theoriebildung – zeigt vor allem zwei Tendenzen: Einerseits führen die für überaltert und abgestorben erklärten dramatischen Schreib- und Spielformen keine ästhetische Schattenexistenz, womit, zumindest was die Schreibpraxis angeht, gar nicht von einer »Renaissance des Dramatischen« (Birgit Haas) die Rede sein kann.1 Andererseits droht sich der Spalt zwischen Theorie und Praxis immer mehr zu vertiefen, indem speziell postdramatisch-performativ orientierte (theoretische) Schulen zu starke Eigendiskurse entfalten und die dramatisch geprägte Stückelandschaft mehr oder weniger ausblenden bzw. koexistierende Schreib- und Spielformen folgenschwer vernachlässigt werden.2
1. Vgl. Birgit Haas: Plädoyer für ein dramatisches Drama, Wien 2007 (speziell S. 11-74 u. S. 177-218). Birgit Haas wendet sich in ihrem zum Teil orthodox anmutenden »Feldzug« gegen das postdramatische Theater und dessen Dekonstruktionsstrategien, das sie in der Nachfolge der poststrukturalistischen und postmodernen Schulen in einer Achse des Bösen verortet, und wirft diesem vor, den »Blick auf zeitgenössische Dramatik und die Wirklichkeit« zu verstellen. Als Lösung, so ihr Vorschlag, sollte die »Mimesis einer neuen Tauglichkeitsprüfung« unterzogen werden bzw. das mimetische Drama behutsam rekonstruiert werden. 2. Andererseits warnt Theresia Birkenhauer die eher dramatisch orientierten Schulen vor einer zu starken Fokussierung der Merkmale des Dramatischen: »Der Versuch einer eindeutigen Bestimmung von Merkmalen des »Dramatischen« läuft Gefahr, Aufführungskonventionen mit der literarischen Form der Texte zu identifizieren.« Vgl. Theresia Birkenhauer: »Zwischen Rede und Sprache, Drama und Text: Überlegungen zur gegenwärtigen Diskussion«, in: Hans-Peter Bayerdörfer (Hg.) in Verbindung mit Malgorzata Leyko und Evelyn Deutsch-Schreiner, Vom
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In diesem Sinne sollte hervorgehoben werden, dass eine zu extreme Polarisierung bzw. Verdrängung des dramatischen Theaters schon aus dem Grunde wenig Sinn macht, da die postdramatischen Schreib- und Auff ührungsstrategien ihre Wurzeln im Dramatischen haben und das Moment des Dramatischen trotz zahlreicher Abkappungen alleine dadurch präsent ist/bleibt.3 Es wird sich zeigen, ob sich weiterhin ausdifferenzierende nachdramatische Formen langfristig ohne jegliche dramatische Reibungskraft bzw. ohne dramatische Rückkopplungen ästhetisch behaupten können. Auch wenn zunehmend das »Verhältnis von Drama und theatralischer Übersetzung aufgekündigt wird« und der »Versuch, durch dramatische Situationen, Figuren und eine Geschichte Theater zu erfinden als gänzlich veraltet bewertet wird«, so zeichnet sich doch ab – und dies unterstreichen auch die TheaterautorInnen in diesem Kapitel –, dass »Drama und Mimesis sich entgegen der Anweisungen des Postdramatischen wieder in die Darstellung der Weltwahrnehmung wie der darin dargestellten Welt einmischen«. 4 Bei den Lektüren der Stückauszüge wird deutlich, dass die jungen AutorInnen, die mehrheitlich dem Studiengang »Szenisches Schreiben« der UDK Berlin angehör(t)en, sich weniger an Vorgaben oder Anweisungen reiben, fast jenseits der theatertheoretischen Diskurse schreiben, trotz ästhetisch unterschiedlicher Strategien an das von dem Theater(-Text) ausgehende dramatische Potential glauben, handelnde und sich dialogisch äußernde Figuren erfinden als auch Fabeln entwickeln, womit sie durchaus Drama zum Theatertext. Zur Situation der Dramatik in Ländern Mitteleuropas, Tübingen 2007 (S. 15-24, hier: S. 23). 3. Hans-Peter Bayerdörfer bringt noch eine andere Perspektive ins Spiel: »Vielseitige innovative Konsequenzen ergeben sich daraus, dass sich solche Texte (d.h. nicht- oder nachdramatische Texte, S.T.) zwar auf unterschiedlichen Wegen von traditionellen dramatischen Formen ablösen, aber ihrerseits verstärkt an avancierte Textmodelle der Dramengeschichte des 20. Jahrhunderts anknüpfen.« Vgl. Hans-Peter Bayerdörfer: »Vom Drama zum Theatertext? Unmaßgebliches zur Einführung«, in: ebd. (S. 1-14). Dass die Polarisierung des dramatischen und postdramatischen Theaters in der Theorie und Praxis zunehmend abgelehnt und als überholt empfunden wird, zeigen auch zahlreiche Positionen, die in einer Festschrift des Studiengangs Szenisches Schreiben der UDK Berlin versammelt sind. Vgl. Stefan Tigges (Hg.): Leibhaftig schreiben. Welten phantasieren. 20 Jahre Studiengang Szenisches Schreiben. Universität der Künste. Berlin 2009. 4. Bernd Stegemann betitelt seinen in Theater heute (10/2008) abgedruckten Beitrag programmatisch mit »Nach der Postdramatik« und erinnert damit an eine von Patrice Pavis in diesem Band vertretene Position.
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Neue dramatische Schreibpositionen
engagiert auf gesellschaftliche Krisenphänomene reagieren und Fragen aufwerfen, die sowohl die Gesellschaft als auch das Schreiben/das Theater selbst betreffen.5 Dabei fällt ebenso auf, dass es sich hier nicht um Figurenhülsen oder abgeknickte Textträger handelt aus denen »es lediglich spricht«, sondern um suchende, altersnahe, zumeist entwurzelte Subjekte, deren Geschichte, Handlungsspielraum und sprachliches Ausdrucksvolumen abgenommen hat, was primär mit deren radikalen Verortung im Hier und Jetzt zusammenhängen mag. Die unmittelbare Anbindung an die Gegenwart wird jedoch von den AutorInnen immer wieder aufgehoben, indem die Zeiträume in Form von Rückblenden chronologisch aufgebrochen und damit vergrößert werden. Hört man den sprechenden Figuren einen Moment lang zu, stellt sich insbesondere die Frage, inwieweit die Sprache als milieuspiegelnder O-Ton dem Bedürfnis nach »Authentizität« verhaftet bleibt bzw. sich daraus lösen kann, um eigenwillig und kunstvoll aufzutreten und neue prosaische oder poetische Sprachräume zu öff nen.6 5. Im Falle zahlreicher aktueller Theatertexte kristallisieren sich zwei grundsätzliche Merkmale heraus. Einerseits suchen AutorInnen zunehmend die Nähe zum Theater bzw. entwickeln die Probenpraxis aktiv szenisch schreibend mit, was zumeist recht undifferenziert als »kollektive Schreibprozesse« bezeichnet wird, der traditionellen Dramenanalyse ihre (methodischen) Grenzen aufzeigt und sich damit die Frage stellt, inwiefern überhaupt noch Stückabdrucke möglich oder sinnvoll sind. Andererseits, so beklagen gerade HausautorInnen, entsteht durch die zunehmend »propagierte« Praxisinvolvierung ein verzerrtes Bild, das suggeriert, dass das Schreiben nur noch im Theater stattfindet und somit davon ablenkt, dass sich entscheidende Schreibprozesse nach wie vor außerhalb der Bühnen abspielen. Falk Richters mehrteiliger System-Zyklus und insbesondere Unter Eis ist sicherlich ein beeindruckender Beleg für ein repolitisiertes Theater, das wieder stärker in die (internationale) Öffentlichkeit strahlt. 6. Peter Michalzik diagnostizierte, dass viele (Jung-)DramatikerInnen zunehmend so schreiben, wie außerhalb des Theaters gesprochen wird und diese versuchen, Schichten unter der Oberfl äche zu schließen, wobei diese Sprachentwicklungen nicht grundsätzlich als ästhetisches Defizit missverstanden werden sollten. Vgl. Peter Michalzik: »Dramen für ein Theater ohne Drama. Traditionelle neue Dramatik bei Rinke, von Mayenburg, Schimmelpfennig und Bärfuss«, in: Stefan Tigges (Hg.), Dramatische Transformationen. Zu gegenwärtigen Schreibund Aufführungsstrategien im deutschsprachigen Theater, Bielefeld 2008. Hier stellt sich die Frage, ob sich die AutorInnen in Zukunft möglicherweise wieder verstärkt für sprachlich experimentellere Formen bzw. Kunstsprachen interessieren, die nicht unmittelbar aus spezifischen, verortbaren authentischen Milieus
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Zwischenspiele: Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume
Verortet Anne Rabe in Als ob schon morgen wäre ihre Figuren in der ostdeutschen Provinz, die wirtschaftlich stark gebeutelt ist und darunter leidet, dass immer mehr (junge) Menschen ihrer Heimat, »in der alles kaputt geht«, den Rücken kehren, so spielen auch bei Dirk Laucke die ostdeutschen Identitätserschütterungen, die Erfahrungen bzw. »überlieferten« Erinnerungen an die DDR sowie die andauernde Systemkonfrontation eine signifi kante Rolle. Der ausgelöschte Staat und die folgenreiche (Nach-)Wendezeit werden hier jenseits von ostalgischen Stimmungen nüchtern wie durch eine Art Black Box aufgerufen, womit die Geschichte zwar zu einem Endpunktpunkt kommt- eine Figur von Anne Rabe äußert schlicht: »Früher gibt’s nicht mehr« – aber nach wie vor schmerzen kann. In Dirk Lauckes Der kalte Kuss vom warmen Bier brechen dagegen zwei Männer, die ihre Vergangenheit eingeholt hat, aus einer Psychiatrie aus, um in einer Rollerkneipe ihre individuelle Geschichte gewalttätig autotherapeutisch aufzuarbeiten bzw. zu ertränken, was in einem Desaster endet. Laucke schließt Ost- und Westerfahrungen kurz, indem er den ehemaligen DDR-Grenzsoldaten Maik (»Ich habe nicht geschossen«) und den nach einer Amokfahrt aus der Bundeswehr ausgeschlossenen Richard, der nach seinem Afghanistan-Einsatz unter dem PTBS-Syndrom leidet, ihre jeweiligen Traumata (Folter, Geiselnahme) nachspielen lässt, wobei in Form eines »Stacheldrahtmanns« noch eine Art Kunstfigur mit doppelter Spiegelungsfunktion auftritt.7 Es wird schnell deutlich, dass letztlich beide Protagonisten »aus dem krieg nicht ohne narben nach hause gehen«, ihr Frieden eher einem verlängertem Kriegszustand gleicht und die jeweiligen Opferperspektiven vom Autor subtil beleuchtet werden. Verhungert bei Anne Rabe die zurückgelassene kleine Johanna, für die sich weder die Eltern noch die Großeltern verantwortlich fühlen bzw. diese mit der Fürsorge überfordert oder dazu unfähig sind, erscheinen am Schluss alle Figuren ebenso als Opfer einer selbstzerstörerischen und ver-
ästhetisch herausgefiltert werden und somit von den DramatikerInnen (wieder) Schichten fokussiert werden, die nicht unmittelbar an/unter der Oberfl äche liegen. 7. Klaus Naumann untersuchte Symptome posttraumatischer Belastungsstörungen (PTBS) ehemaliger Bundeswehrsoldaten, die in Afghanistan eingesetzt wurden, und weist auf die schwerwiegenden Folgen (Persönlichkeitsstörungen, soziale Isolierung, unkontrollierte Gewaltausbrüche, Suizidgefahr) als auch auf die wiederholt defizitär verlaufende Reintegration der »moralisch verletzten« Streitkräfte in die zivile Gesellschaft hin. Vgl. Klaus Naumann: »Traumatisierte Soldaten. Kriegstrauma und Zivilgesellschaft«, in: Frankfurter Rundschau vom 27.3.2009.
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Neue dramatische Schreibpositionen
rohenden Gesellschaft, deren Vertrauensverhältnis gegenüber dem Sozialstaat stark gestört ist. Juliane Kann stellt in ihrem Stück Ein Fuchs reißt Kaninchen, in dem eine Mutter und ihre Tochter mit dem Selbstmord des Mannes/Vaters konfrontiert werden, aber auch eine junge Mutter mit einem toten Baby im Arm eine Rolle spielt, ebenso Verlusterfahrungen in den Mittelpunkt ihrer Geschichte. Nachdem sich der krebskranke Vater mit seinem Rollstuhl vom Balkon gestürzt hat, stellt sich speziell die Tochter Nico die Frage, wie sie damit weiterleben und sich wieder als Mensch fühlen kann. Juliane Kanns Kunstgriff besteht nun einerseits darin, dass Nico, die einen viel zu großen Köprer hat, sowohl kindlich-naiv – auf dieser Ebene werden auch märchenhafte bzw. phantastische Momente in das Stück gewebt – als auch extrem erwachsen gezeichnet ist und damit die Figur in ihrer (sprachlichen) Entwicklung doppelt interessiert. Andererseits liest sich das Stück, das unterschiedliche ZeitRäume öffnet und sich mit dem Genre des Melodramas auseinandersetzt, auch als Reflexion über die Möglichkeiten des Erzählens, indem die Autorin verschiedene Erzählvarianten anbietet bzw. die Geschichte abbricht und »neu« starten lässt.8 Tina Müller beleuchtet in ihrem für das Kinder-/Jugendtheater geschriebenen Stück 8 Väter aus der Perspektive der heranwachsenden Nico – jedoch mittels wechselnder Erzählstimmen – familiäre auseinandergerissene Strukturen, wobei die Konflikte unterschiedlich gelagert sind und polyphon verhandelt werden. Dabei geht es sowohl um die Suche nach dem leiblichen Vater, um Vater- oder Familienersatz, die Mutter-Tochter-Beziehung, Selbsterfahrungen einer Heranwachsenden als auch um interkulturelle Konfrontationen. Die Fragen »ob man auch zu zweit eine richtige Familie sein kann«, ob es noch eine »Bilderbuchfamilie« gibt und wie viele Väter man eigentlich haben kann, stehen hier genauso im Vordergrund wie die Frage, in welcher Form sich von den Eltern vorgelebte Muster bei Kindern wiederholen bzw. wie Kinder sich aus diesen möglicherweise befreien können. Georgia Doll wählt im Gegensatz zu Tina Müller und ähnlich wie Dirk Laucke einen wesentlich kürzeren Zeitraum. Ihr Stück der hang zum grundsätzlichen spielt sich in einer einzigen Nacht ab, die in einer Kneipe beginnt, zu einem Kernkraftwerk führt, in einer Wohnung endet und von der Autorin mit einer vorangestellten Anweisung zeitlich genauer fi xiert 8. Mit ähnlichen Strategien operierte Roland Schimmelpfennig zuletzt auch in seinen Stücken Hier und Jetzt sowie in Idomeneus, in denen er mit der Zeit spielte, die Erzählung durch variierende Erzählfäden zerlegte und damit die Frage nach dem »Was wäre…wenn…Nein so ist es nicht gewesen…« immer wieder neu stellte.
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ist: »theoretisch ist es die nacht des 1. april 2008, ein datum wie ein witz, 40 jahre nach der gründung der RAF. Praktisch ist heute.« Nathalie und Rieke, die eine Gasthörerin, die andere Studentin der angewandten Soziologie, überreden den in einer Kneipe jobbenden Mario, der eigentlich lieber als Autor arbeiten würde, zu einer nächtlichen Spritztour, die jedoch vielmehr als eine in die Praxis übersetzte empirische Selbststudie zu begreifen ist. Im Vordergrund des die 68er-Generation ironisch reflektierenden Kollektivexperiments steht die Frage, ob sich Haltung und Handlung (wieder) zusammenbringen bzw. ob sich vierzig Jahre alte Werte wieder zu eigen machen lassen. Auch wenn das Experiment ziemlich naiv erscheint, gelingt es der Autorin doch über ihre scheiternden »Geschichtsretter«, die zu Beginn auf die in das geschichtshistorische Museum eingezogene Revolution anstoßen, die Utopiehülsen ihrer Generation ironisch nachzuzeichnen und dabei über die Figur von Mario die (Theater-)Kunst gleich mitzuverhandeln: »die autofiktion ist das genre der zukunft«. Magareth Obexer stellt ihrem Stück Das Geisterschiff eine kurze Bemerkung voran und verortet sich damit ästhetisch sehr deutlich: »Die Figuren sind teils schon anwesend oder bleiben nach dem Auftritt auf der Bühne, was dem Charakter eines zwar fi ktiven, aber auf Dokumentation begründeten Theaters Rechnung trägt, das auch die Möglichkeit einer »Verhandlung« birgt.« Verhandelt wird von der Autorin nun eine reale menschliche Tragödie, die sich in den letzten Jahren so oft wiederholt hat, dass sie »medial verbraucht« mittlerweile nur noch als Randnotiz in der Presselandschaft erscheint, was das zivilisatorische Scheitern und die damit verbundene Frage der Schuld umso gravierender zum Ausdruck bringt.9 Es geht um ein Boot mit 283 Flüchtlingen aus Sri Lanka, Pakistan und Indien, das vor sechs Jahren 19 Kilometer vor der Südküste Italiens unter mysteriösen Umständen sank und bis heute als nicht gehobenes Unterwassergrab besteht. Magareth Obexer gelingt es die Ausmaße der Katastrophe, insbesondere das von der Bevölkerung von Portoceleste ausgehende Totschweigen und Spurentilgen der Katastrophe – aber auch Stimmen von Außen – in Form von suchenden, äußerst sensiblen Sprachbewegungen multiperspektivisch genau zu vermessen und dabei der Rolle der Medien auf den Grund zu gehen. Verhandelt wird dabei aber eigentlich der Zu9. In der bildenden Kunst wurden diese menschlichen Katastrophen 2007
sowohl aus afrikanischer als auch aus europäischer Sicht – jedoch mit kulturell bedingt divergierenden ästhetischen Strategien – jeweils sehr eindringlich von Romualt Hazoumé (Benin) mit der aus 421 Plastikkanistern bestehenden Skulptur Dream bzw. von dem Schweizer Christoph Draeger, der mit Stranded ein Mahnmal für die fortdauerende humanitäre Katastrophe schuf und Trümmer eines Flüchtlingsbootes zu einer Skulptur zusammensetzte, übersetzt.
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Neue dramatische Schreibpositionen
stand der westlichen Kultur als solcher, der Umgang mit den europäischen Rändern und den zwischen den Grenzen umherirrenden Flüchtlingen, die im Sinne von Giorgio Agamben auf ein »nacktes Leben« reduziert werden, wobei Magareth Obexer einen Diskursraum öffnet, der von Sophokles Antigone bis zu Heiner Müller führt, der den Grad der Kultur von dem Umgang mit den Toten ableitete. Dementsprechend fragt eine investigative Journalistin im Stück: »Benötigen wir Tote, um bessere Menschen aus uns zu machen?« Falk Richter konfrontiert in Die Verstörung zwei Männer, die in doppelter Weise, d.h. als Internetidentitäten in Form einer Partnerbörse sowie als reale Identitäten aufeinandertreffen, wodurch sich die Realitätsebenen erhitzen und sich komplexe psychologische Prozesse sowie strategische Machtspiele entwickeln, die im Sinne des von Falk Richter vorangestellten Zitats von Eva Illouz die »Gefühle im Kapitalismus« diskursiv widerspiegeln. Die Verstörung als auch weitere Arbeiten von Falk Richter werden von Bernd Stegemann im ersten Kapitel gesondert reflektiert. S.T.
Literatur Bayerdörfer, Hans-Peter: »Vom Drama zum Theatertext? Unmaßgebliches zur Einführung«, in: ders. (Hg.), Vom Drama zum Theatertext. Zur Situation der Dramatik in Ländern Mitteleuropas, Tübingen 2007. Birkenhauer, Theresia: »Zwischen Rede und Sprache, Drama und Text: Überlegungen zur gegenwärtigen Diskussion«, in: Hans-Peter Bayerdörfer (Hg.) in Verbindung mit Malgorzata Leyko und Evelyn DeutschSchreiner, Vom Drama zum Theatertext. Zur Situation der Dramatik in Ländern Mitteleuropas, Tübingen 2007. Haas, Birgit: Plädoyer für ein dramatisches Drama, Wien 2007. Michalzik, Peter: »Dramen für ein Theater ohne Drama. Traditionelle neue Dramatik bei Rinke, von Mayenburg, Schimmelpfennig und Bärfuss«, in: Stefan Tigges (Hg.), Dramatische Transformationen. Zu gegenwärtigen Schreib- und Auff ührungsstrategien im deutschsprachigen Theater, Bielefeld 2008. Naumann, Klaus: »Traumatisierte Soldaten. Kriegstrauma und Zivilgesellschaft« in: Frankfurter Rundschau vom 27.3.2009. Stegemann, Bernd: »Nach der Postdramatik«, in: Theater heute 10 (2008). Tigges, Stefan (Hg.): Leibhaftig schreiben. Welten phantasieren. 20 Jahre Studiengang Szenisches Schreiben. Universität der Künste, Berlin 2009.
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Als ob schon morgen wär Anne Rabe
Personen Katja Marko Hannes Köppi Ulf Mutter von Katja Mutter von Marko
Das Stück spielt jetzt. Alles in kursiven Lettern sind Rückblenden. Nicht chronologisch.
Es ist gesprochen, wird schon erinnert, ist schon falsch. Wir möchten an den Anfang zurück um uns zu besinnen, um zu wissen, wo wir herkommen, damit wir weitergehen können. Aber das ist sehr falsch. Ich weiß nicht, wo ich war, als ich ein Anfang war. Köppi: Dass eine sich selbst umbringt, kann man ja noch verstehen. Dass die keinen Ausweg mehr sieht. Das geht jedem mal so. Das hat jeder schon einmal erlebt. Dass er gedacht hat, jetzt reicht’s, vielleicht ist besser ich leb gar nicht mehr. Wird nicht mehr. Wird nie mehr so wie vorher. (Kurze Pause.) Hab ich auch schon mal gehabt. Dass ich gedacht hab. Naja. Vielleicht. (Pause, energisch.) 96
Al s ob schon morgen wär
Die Birne weggeknallt und gut is. Das muss mal drin sein. Auch wenn’s peinlich ist. Ulf: Bei »Ulfe« ist heute keiner. Mir sind die Kunden weg. Nicht mal ein Auto kommt die Straßen lang. Die sind alle auf dem Friedhof. Ich steh vor der Tür und denk: komm se rin, könn se rausgucken. Manchmal hab ich Sätze im Kopf, die passen nicht zur Situation und ich weiß nicht wo die herkommen. Automatensätze sind das, die schon ewig und immer um die gleiche Uhrzeit in meinem Kopf sind, weil ich sie dann meistens brauche und wenn mal nicht, dann fällt’s mir erst auf. Katja: Es ist still. So still, dass ich mich selbst nicht mal höre. Ich bin taub. So taub bin ich, dass ich mich selbst nicht mal höre. Meinen Herzschlag nicht höre, dem man sagt, dass man ihn hört, wenn alles still ist und einem das Herz gehen sollte. Aber mir geht das Herz gar nicht. So taub bin ich. […]
Köppi: Das schöne Wörtchen Freiheit haben die hier in den ganz falschen Hals gekriegt. Das heißt ja nicht, dass man tun und machen kann, was man will. Aber das haben die geglaubt. Ich hab immer gesagt: Wartet mal ab. Es ist nicht alles Gold, was glänzt. Ich mein, wozu brauch ich denn das alles. Brauch ich doch alles nicht. Ich komm sehr gut zurecht mit dem, was ich hab. Das sieht nu so aus, als hätt das gar nichts mitnander zu tun, aber im Grunde hängt das alles zusammen. Wenn man seinen Kindern nicht beibringt, dass man nicht alles haben kann, 97
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was man aber gerne hätte. Ich mein, wer hätte nicht gerne mehr? Aber ist nicht. (Schweigen.) Ulf: Woher sollen die Gören denn lernen, was arbeiten ist? Gibt doch nüscht. Marko: Wie’n Werftabeiter siehste aus. Hannes: Ich bin Werftarbeiter. Marko: Aber du könntest aussehen wie einer, der wirklich weiß, was ein Schiff ist, der schon was gesehen hat von der Welt und nicht so’n Pseudoprolo. Hannes: Was willst du eigentlich wissen von der Welt? Bild dir mal nix ein auf deine Stelle. Brauchst nicht glauben, du wärst was Besonderes nur weil du der einzige bist. Das geht uns hier alle was an und im Grunde genommen gehörst du genauso dazu wie ich. Marko: Hätt ich keine Lehrstelle, würd ich trotzdem nicht rumlaufen wie einer, der sich aus’m Schädel das Gehirn rausrasiert hat. Uhps, ein bisschen zu oft drüber gegangen. Hannes: Ich arbeite für mein Geld. Marko: Zeitarbeit. Hannes: Wärst du dir wohl zu schade für. Marko: Scheiße. Ich bin kein K-f-Z-Me-cha-tro-nic-ker. Ich muss weg hier. Hannes: Würd mir echt den Arsch aufreißen für deinen Job. Den ganzen Tag schrauben an Autos, die du dir selbst nicht leisten kannst. Ab und zu ’ne Probefahrt. Marko: Hier hat keiner ein Auto, das du dir nicht leisten kannst. Wir bringen den Schrott doch nur durch den TÜV und wenn das nicht geht, kassieren wir, dass es halt doch geht. Hannes: Trotzdem. Du hast wenigstens eine. Irgendwann wirst du hier weggehen. Ich kann nie weg. Marko: Hör auf zu jammern. Du willst doch gar nicht weg. Hannes: Und wenn doch? Dir steht die Welt offen. Hat nicht jeder so’ne Chance. Marko: Woanders schon. […] 98
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Markos Mutter: Die haben schon Recht. Die sagen, dass das was mit früher zu tun hat. Muss man sich mal überlegen, was das für eine Veränderung war. Die Leute sollen immer nur schlucken. Immer nur »Ja« und »Amen« sagen. Und wenn mal was ist, wo es Probleme gibt und wo die Leute sagen: Wir wissen wie das geht. Wir kennen uns aus damit. Früher … Und spätestens da ist es gelaufen. Früher gibt es nicht mehr. Wissen alles besser und wir müssen »danke« sagen. Ich bin nicht undankbar. Mir geht es gut. Objektiv gesehen vielleicht sogar besser als damals. Aber man darf die Sache auch nicht nur sachlich betrachten. Es kommt auch darauf an, wie die Leute sich dabei fühlen. Die hätten sich aber umgucken können, wenn wir die annektiert hätten. Hier hat es einiges gegeben und es war bestimmt nicht alles gut. Aber von so Sachen wie mit Johanna habe ich nie gehört. Katjas Mutter: Wie sieht das hier aus? Katja: Mama, meine Titten, die sind so riesig. Das ist E, ich hab nicht mal ’n BH dafür gefunden. Katjas Mutter: Da musst du durch, die ersten Tage, wenn du krank bist, legst du dich hin. Katja: Neunundreißig sieben, gestern Abend. Heute bin ich noch nicht dazu gekommen. Katjas Mutter: Sag mal hörst du deine Tochter nicht? Die hat Hunger. Leg sie mal an, dann wird das auch besser. Katja: Warum hast du mir das nicht vorher gesagt, das das so weh tut? Ich meine nicht die Geburt, das Stillen. Wie soll denn das gehen? Das ist alles hart und tut weh, wenn ich nur ein bisschen die Arme bewege. Ich glaube, ich vergifte. Die vergiftet mich. Die hat mir die Brustwarzen wund gesaugt. Das ist alles blutig. Überall kleine Blutblasen. Katjas Mutter: Also ich geh jetzt. Ich komm nachher mal und guck, wie es dir geht. Sonst geh halt zum Arzt. Sei froh, dass du die Milch hast. Andere Frauen haben nichts, das geht dann ganz schnell ins Geld. Nach acht Wochen ist die Sache erledigt. Wirst sehen, wie praktisch das ist. So einfach wird das mit dem Essen nie wieder. Kühl einfach ein bisschen, dann wird es besser. (Katja mit dem Brief in der Hand.) Katja: Hat ganz schön lange gedauert. Zehn mal angefangen oder so. War ja schon ewig her, dass ich mal ’nen Brief geschrieben habe. 99
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Warum sie nicht in die Wohnung ist zum Beispiel oder dass sich das ganz seltsam anfühlt jetzt. Aber ich kann selber nicht sagen wie. Sitze im Glashaus, würde die zu denen sagen, wenn ich/egal. (liest den Brief vor.) Liebe Mutti, entschuldige, dass ich erst jetzt schreibe. Ich musste mich erst einmal sammeln und neu einfinden. Das ist ein ganz anderes Leben hier, aber ich habe immer noch nicht wieder angefangen zu rauchen. Die meisten sind sehr nett und ich habe viel Zeit zum Nachdenken. Denkst du auch viel nach? Ich hoffe, dass du nicht wieder nachts wach liegst. Mach dir bitte keine Sorgen um mich. Mir geht es wirklich sehr gut. Wenn du mich besuchen kommst, bring mir doch bitte etwas zu lesen mit. So viel wie möglich. Für einen Fernseher wird das Geld nicht reichen, aber wenn irgendwer seinen mal nicht mehr braucht, würde ich mich freuen. Ist aber kein Muss. Bücher sind auch klasse und Zeitschriften. Aber mach dir nicht so große Umstände. Wie geht es dir so? Alles Liebe, deine Katja. (Pause.) (Sie lacht.) Ulf: Bei Tieren soll es das auch geben. Das muss irgendwie in den Instinkten sein. Da merkt man wieder, dass der Mensch auch nur ein Tier ist. Sie haben ja letztens diesen Eisbären in Berlin gerettet. Dessen Mutter war mal Zirkuseisbär. Die mit dem Eisbärenkuss. Das war eine ganz große Nummer damals. Hatte ich sogar eine Briefmarke von. Die hätte ihr Junges auch verhungern lassen. Aber so ist es eben in der Natur. Da brauchen wir uns nicht wundern, wenn wir reinfunken, dass das alles aus dem Ruder läuft. Der Bär wird jedenfalls gewusst haben, warum er das gemacht hat. Ich war gleich dagegen, dass man das Vieh aufzieht. Putzig ist er zwar, aber das gehört eben nicht so. Man muss die Natur machen lassen. (Schweigen.) Köppi: Den hol’n se jetzt nach Rostock. Die ganz große Knete bringt der ins Land. Der verschaff t mir ’n Ein-Euro-Job, dass ich ihm die Kippen vor`m Gehege wegräum.
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[…] Katjas Mutter: Ich finde das gut, dass mir keiner die Schuld gibt. Ich habe mich natürlich in den Boden geschämt. Jetzt, dachte ich, fallen sie über mich her. Hätte man sogar fast verstehen können. So kannte ich meine Kati nicht. Das war nicht mehr mein Kind. Wir haben das doch früher auch hinbekommen. Ohne Ämter. Man greift sich gegenseitig unter die Arme. Ich bin jeden Tag hingegangen. Jeden Tag. Wäsche waschen, reden, kochen. Mir kann man wirklich keinen Vorwurf machen. Das habe ich auch alles lernen müssen. Mir hat niemand gezeigt, wie man einen Haushalt führt. Die ist doch in einem Alter, wo man Verantwortung übernehmen kann. (Pause.) Es wurde mir zu bunt. Als sie mit der Jugendhilfe kam, wurde es mir einfach zu bunt. Das haben wir wirklich nicht nötig. Das war früher normal, dass man in dem Alter Kinder bekommt. (Pause.) Wir können das alleine. Die warten doch nur darauf, dass wir einen Fehler machen. Aasgeier. Den Gefallen habe ich ihnen nicht getan. (Meerluft.) Hannes: Wenn ich hier so aufs Wasser gucke, krieg ich ganz schön Angst. Marko: Haste kein Seepferdchen oder was? Hannes: Denkst du nie an die Zukunft? Marko: Ich hab nix andres im Kopf. Hannes: Geht doch alles kaputt hier. Ich hab Angst um unser Land. Oder so. Marko : Schaff dir mal ´nen Recorder an. So viel Scheiße wie du laberst. Hör dir mal zu dabei. Du bist echt peinlich, Fettsack. Hannes: Mir geht das eben nicht am Arsch vorbei, du Besserfuzzi. Dir kann’s ja egal sein, was mit deinem Land passiert, dass die hier alles kaputt machen. Du haust ja schön ab. In zwei Jahren bist du weg. Ich schwör dir, spätestens. Meinetwegen verschwinde. Verpiss dich und mach dir ´n geiles Leben. Irgendwo. Im Westen oder Kuba. Aber lass die zufrieden, die hier leben wollen. Das ist Heimat. Davon hast du keine Ahnung. Du hast nur deine Karriere im Kopf. Und wenn du dann in den Ferien herkommst und deinen Gören deine HEI101
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MAT zeigst, merkst du nicht mal, dass die Fischer im Hafen gar keine Fischer sind, sondern Disneyland-Figuren, die »FRISCHEN FISCH AUS NORWEGEN« verkaufen. Marko: Sag mal, muss ich mir das von ’nem Nazi wie dir erzählen lassen? Hannes: Ich kann zwar nicht so gut quatschen wie der große Marko, aber ich sag’s dir trotzdem, weil ich langsam scheiß auf dein gepudertes Arschgesicht. Marko: Du verpestest die Luft. Hannes: Guck mal, das sieht man doch schon daran, dass die Busse nur noch alle dreißig Minuten fahren. Die kümmern sich einfach nicht. Für die sind wir der Arsch der Welt und die/ Marko: Wer sind die denn? Wer soll’n das sein »DIE«? Hannes: Schröder, Merkel oder die anderen Blödmänner. Such dir ein aus. Die scheiß Kanacken und Juden/ Marko: Zieh mal den Stecker, sonst verschwinde ich. Hannes: Ich bin hier geboren. Ich bin stolz auf die Landschaft und die Menschen, weil das ehrliche Leute sind. Die meinen einfach, die kommen hierher und wissen wie’s geht. Nimm doch mal die Umwelt. Das ist doch alles schon verpestet. Hier gibt es überhaupt nix mehr zu schützen für diese beschissenen Ökozecken. Marko: Du brauchst dringend ’n Bier. (Fasst Hannes an die Schulter.) Ich weiß ja, was du meinst, aber ich glaube, das stimmt so nicht ganz. […] Katja: Liebe Mutti, Ich wäre gerne dabei gewesen bei der Beerdigung, aber die wollen mich noch nicht raus lassen. Das sind Auflagen, sagen die. Ich werde ganz blöd, weil ich hier nie mit jemandem spreche. Da versteh ich die auch gar nicht mehr. Ich denke oft einen ganzen Tag über das nach, was man mir gesagt hat, bis ich mir sicher bin, dass ich es richtig verstanden habe. Ich versuche mir die Worte ganz genau zu merken. Das ist wichtig, weil ich ja sonst gar nicht mehr wissen kann, ob ich es auch richtig verstanden habe. Das klingt komisch oder? Aber die haben auch gesagt, dass ich hier eine Ausbildung machen kann. Aber erst nach dem Verfahren. Siehst du, es ist noch nicht alles verloren. Mit den anderen Frauen rede ich kaum. Die sind seltsam. Ich mag die irgendwie nicht. Sag Hannes, er muss wohl diesen Sommer allein ins Tausend-Sterne102
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Hotel fahren, aber er soll nicht böse sein. Und sag ihm, er wird bestimmt mal viele Kinder haben und besser auf sie aufpassen als ich. Johanna mag am liebsten Schmetterlinge. Vielleicht kannst du ja einen einfangen. Du musst ein bisschen warten, dann kannst du ihn ihr aufs Grab legen. Entschuldige bitte, dass wir uns so gestritten haben, wegen dem Jugendamt. Das tut mir wirklich leid. Ich will es jetzt versuchen, ich werde mich einfach an dich wenden, wenn es etwas gibt. Darf ich mich an dich wenden, Mama? Bis bald, deine Kati. […] Katjas Mutter: Das kannst du jetzt alleine auslöffeln. Die Suppe hast du dir selber eingebrockt. Katja: Mama, ich schaff ’s nicht. Ich komm nicht mal hoch. Ich komm nicht hoch zum Essen, nicht zum Kacken, nicht zum aufräumen, manchmal lasse ich Johanna einfach liegen, bis du kommst am Nachmittag. Katjas Mutter: Setz dir kleine Ziele, Maus. An jedem Ende von ’nem Tunnel ist Licht. Katja: Vielleicht können die mir helfen. Ich habe einen Termin gemacht, morgen kommt eine Frau vom Jugendamt. Katjas Mutter: (laut) Du bist verdammt noch mal zu faul deinen Arsch hochzukriegen. (Pause.) Ich hab dir gleich gesagt, treib ab. (Schweigen.) Du bist alt genug, Kati, da musst du jetzt durch. Vielleicht hättest du dir das lieber mal vorher überlegt. Katja: Ich werd bekloppt, Mama. Katjas Mutter: Ihr guckt zu viel Fernsehen. Du wirst da schön wieder absagen. Ich warne dich. (Pause.) Wenn du Hilfe brauchst, kannst du immer zu mir kommen. Das weißt du, Katja. Katja: Das Grau ist verschwunden, Mama. Wie weggeblasen. Jetzt, wo alles vorbei ist. Worte wie Reue, verstehe ich nicht. 103
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Nicht mehr. Mir tut alles furchtbar leid, aber es ist trotzdem schön die Trauer zu spüren. Ich dachte das kommt nie wieder, irgendein Gefühl. Ich war glücklich die zwei Wochen mit Hannes. (Pause.) Bin es immer noch, seit ich da wieder fühlen konnte. (Pause.) Mama. Du weißt gar nicht wovon ich schreibe oder? Jedenfalls dachte ich schon, dass mein Leben vorbei ist. Ulf: Jetzt hör ich sie schon wieder grölen. Hansa hat gewonnen. Wochenlanger Kampf um den Abstieg. Den Klassenerhalt geschaff t. Jetzt komm se gleich ´n Bier trinken. Komm se rin, könn se rausgucken. Jetzt passt es wieder. Schon komisch. Geht ja doch alles weiter. (Schweigen.) Köppi: Ich meine, woanders sterben auch Kinder. (Schweigen.) Ulf: Man weiß nie wozu das gut ist, sag ich immer, das wär doch auch kein Leben gewesen. Ich mein, wenn eine ihr Kind verhungern lässt, mit der muss was nicht stimmen. (Schweigen.) Köppi: Da wirste auch nicht glücklich bei. Hannes: Du glaubst nicht wer angerufen hat. Katja: Hast du die Konzertkarten im Radio gewonnen? Hannes: Besser. Katja: Noch besser? Hannes: Die nehmen mich. Also die übernehmen mich. Katja: Wer? Hannes: Die Russen. Katja: Du willst nach Russland? 104
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Hannes: Jetzt bist du aber mal ein bisschen blöde. Katja: Was da wohl der Führer zu gesagt hätte. Hannes: Ich werde Schiffsmechatroniker. Die haben mir ´ne Lehrstelle angeboten. Mensch, Katja, das klappt. ich hab dir gleich gesagt, das wird mein Glücksjahr. In ein paar Jahren muss ich keinen Wagen mehr ausleihen und wir sitzen vielleicht schon in unserem eigenen kleinen Häuschen. Mit Garten und so und vielleicht der einen oder anderen Johanna mehr, die drin spielt. Katja: Das ist gruselig. Hannes: Natürlich erinnere ich mich. Das war mein Glückstag. Mein Glückstag in meinem Glücksjahr. Dachte ich. Ich meine, Katja und ich wir waren zusammen gekommen. Wir waren für zwei Wochen weggefahren. Eigentlich wollten wir nur zwei Tage, aber es wurden zwei Wochen. Einfach so. CHOR/alle: Ich hab sie noch gefragt, was denn mit Johanna ist, vermisst du die kleine gar nicht willst du nicht mal anrufen und fragen, wie’s ihr geht? Aber die wollte halt einfach mal raus. Das kann doch sein, dass die auch mal raus muss. Das ist ja nicht gegen das Kind, wenn die Eltern auch mal Pause brauchen. Ich musste auch mal raus. Sind wir zwei Wochen geblieben. So, wie wir Lust hatten. Und plötzlich war alles klar. Die von der Werft haben bei mir angerufen, ob ich eine Lehrstelle will und so. Scheiße, das ist mehr als ein Sechser. Ich wollte am liebsten Katja flach legen und ihr gleich noch fünf Kinder reindrücken. Mann, ich dachte nur noch ans Ficken. Wir sind dann wieder nach Hause. Jetzt muss ich nur noch mit Johanna klar kommen. Ich hab gedacht, na an Marko kann sie ja nicht so hängen, der ist eh nie da. Vielleicht sagt sie bald Papa zu mir. Muss sie natürlich nicht. Katja hat mir die Schlüssel gegeben. Ich sollte vorgehen. 105
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An der Wohnungstür höre ich Lärm. Ich denk noch, mannomann, Familie ist echt nicht so einfach und Katja steht in der Tür und: Katja: Mach mal das Radio aus.
(Ende)
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Der kalte Kuss von warmem Bier. Ein Stück Scheißestaub Dirk Laucke
Die Bühnenfassung dieses Werkes ist eine Auftragsarbeit des Theater Heidelberg, 2. Fassung vom 02.03.09 Dank und Respekt an Martin und Marian. Personen Richard Maik Yvonne Stacheldrahtmann Ort Deutsche Kleinstadt Psychiatrie und Rollerkneipe Zeit Die Jesus-Tanne steht Schrägstriche (/) im Text heißen so was wie überlappenden Sprecheinsatz des nächsten Sprechers.
1. Entzugsklinik. Gesprächstherapie. Maik: ich in uniform, geschulterte kalaschnikow, auf der einen seite vom zaun, auf der andern rennt den ganzen tag ne horde hippies nackig übern hof. bis oben hin vollgepropft mit friede-freude-sozialismus-hier und da-nicht, kommt man sich dann ein bisschen verarscht vor, wenn 107
Zwischenspiele: Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume
man das sieht. mit 21. die häuser, die autos, die mopeds. selbst deren felder waren waren anders, vielleicht ein bisschen kleiner als bei uns, aber jeder verdammte popelbauer im westen kurvte mit seinem eigenen traktor rum, während wir mit einem von der maschinenausleihstation was weiß ich nicht wie viel eintönige hektar bestellten. egal. fünfhundert meter entfernt eine tutti kompletto andre welt. mit nackigen hippies. ich weiß nicht, ob die das gemacht haben um mich zu ärgern oder weil sie sicher waren, die westpolente kriegt mächtig stress, wenn sie da razzia mitten am zaun abhalten oder so. jedenfalls den ein tag erschreck ich mächtig, weil da zwei von den langhaarigen paar meter vor mir in der erde buddeln. ich reiß die waffe hoch. stehen bleiben. die kucken nur komisch. bleibt stehen, sag ich, ich schieß euch übern haufen. und die mit ihrm getue: ey alter, kein stress, bleib locker mann, wir baun hier nur was an, haste irgendwann auch dein spaß dran – was sollte ich denn machen. einen abknalln, nur weil er was in die erde pflanzt. ich stand einen augenblick, die waffe im anschlag. die standen, ich stand. und ich bin weiter gegang. melde meinem vorgesetzen keine vorkommnisse, und mal sehn was da kommt. die hippies hab ich so nah nicht wieder vors visier gekriegt. schade fast. aber ich hab zugekuckt. ein jahr lang. wie blumen zwischen den zaun wachsen und unkraut die minen zu wuchert. und irgendwann kommt das zeug von den hippies bei mir an. ein stengel. hab ich n bisschen was mitgenommen und getrocknet. und auf wache wars auch, wo ichs erste mal was davon geraucht hab. nur ich alleine, unter mir der todesstreifen, über mir die sterne. mir ist klar geworden, dass ich ne entscheidung hab. zu schießen. nicht zu schießen. mit zu machen, aus zu steigen. okee, es war scheiß wetter, aber der rest stimmt. diese nacht hat irgendwas mit mir gemacht. ich hab jeden abend an derselben stelle mein gras geraucht. immer mit demselben gefühl, was anderes zu machen, obwohl ich mitmache. noch. dann wars alle und ich hab angefangen, mir regelmäßig einen mit alk anzutüdeln. das wurde immer schlimmer, je länger der dienst da ging. ich sagte mir: im osten gibts nur brand und korn, im osten wirste auf jeden fall alkoholiker, drüben haste viel mehr dinge für ein erstes mal. ich hab die knarre weggeworfen und bin losgerannt. einfach los. der bauernjunge mitten übers minenfeld. Richard: ich. ich jetzt. das war mit meinem kraftfahrzeug. ich war zu meiner freundin unterwegs. ex, ich meine ex-freundin. die hatte sich von mir getrennt bevor ich nach afghanistan – ich kann vieles – viel von dem was mein vorgänger eben sagte, ist mir persönlich nicht fremd. der grund warum ich hier bin ist eigentlich ganz banal. ich war auf dem weg zu meiner freundin mila, ex, ich meine ex-freundin. sehr belebte straße und vor mir eine ampelsituation. da waren unmengen von 108
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leuten und eine gruppe jugendlicher mit, wie sich später raus stellte, silvestersprengkörpern. einer von den böllern explodierte direkt neben meinem fahrzeug. ich kann mir nicht erklären, weshalb, wahrscheinlich war das eine kurzschlussreaktion, ich bin aufs gas gegangen, auf die menge zu. ich hab zwei personen erwischt. eine frau dabei. ich bin weiter gefahren. immer weiter. als ich wieder einigermaßen auf dem richtigen kanal war und erstmal zur seite ran fuhr, die tür aufmachte, mich umsah, zielten bestimmt drei pistolenläufe auf mein gesicht. auf der wache stellten sie, die kollegen von der polizei, stellten fest, dass ich wohl zu viel getankt hatte vorher. die haben mir auch dringend, wie soll ich sagen, angeraten, hier her zu kommen eh sie den feldjägern bescheid gesagt haben. jetzt bin ich hier und hoffe, von meinem problem runter zu kommen. also dem – Maik: alkoholproblem. genau, das wollte ich sagen. ich meine klar, was hab ich gemacht. meine freiheit ausgenutzt. zuletzt hab ich mich hier niedergelassen. ich dachte berge und hügel sind gut, ich zieh ne gärtnerei auf. und dann haben die bullen mir die plantage unter der gärtnerei geräumt, die hanfplantage, und da hab ich mir gedacht, es ist mal wieder zeit, mir meine wahl zurück zu holen, wie damals an der grenze, neu anzufangen. therapie zu machen. ja, hier bin ich jetzt. Pause. Richard: ich weiß nicht. Pause. Richard: keine ahnung. ich hab mich nie erkundigt, ob die jetzt tot sind oder was –
2. Entzugsklinik. Freizeit. Richard: das ist gut, das ist so gut. Maik: hast du eigentlich immer das letzte wort. Richard: ist das gut, warst du mal im knast oder woher ist das. Pause. Maik: nee. meinst du nicht, dass du ein bisschen dick aufträgst. Richard: entschuldigung. Maik: ich weiß nicht mal ob die tot sind. du brauchst hier nicht den hirnverbrannten psychopathen spielen, damit sie dir deinen schaden abnehmen. wenn du ein problem hast mit dem onaniern, reicht das. das glauben die, das nehmen die ernst. Richard: ich hab kein problem mit – Maik: sollen die andern sich bescheuert vorkommen, die bloß ihren job 109
Zwischenspiele: Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume
verloren haben, oder sich einfach nur aus langeweile den ganzen tag die birne zu schütten. was du hier lieferst, bringt den ganzen ganzen rhythmus durcheinander. Richard: den was. Maik: rhythmus, den – schon mal was von akkordarbeit gehört. das ist genau dasselbe. jeder bringt seine story, das ist pflicht, um das programm hier zu erfüllen. deine story hebelt alle andern storys total aus. therapie ist akkordarbeit, du bist der lohndrücker. Richard: was soll ich machen. mir was anderes ausdenken. Maik: zum beispiel. Richard: du bist völlig bescheuert. Maik: ich sagte zum beispiel. du könntest dir aber auch einfach nur eingestehen, dass du nicht hierher gehörst. kuck sie dir mal an. die können doch kaum stehen, diese ausgemergelte, gelbgesichtige leichen. ich will dir mal was sagen – Richard: Richard. Maik: ich weiß. Maik. Richard: ich weiß. Maik: ich will dir mal was sagen, wir zwei ja, wir sind aus dem selben unverbesserlichen holz geschnitzt. die andern hat die welt da draußen zu süchtigen gemacht. die sind so kaputt, die welt will sie nicht mehr sehen. wir sind anders. wir nehmen uns was wir wollen, und wenns unser abstieg ist. wir gehörn hier nicht her. willste noch einen. Richard: hast du noch. ich meine, geht das, kann da nicht irgendwas/passieren. Maik: passiern, was soll denn da passiern. du hattest erst ein kurzen./mit dem zweiten stehste besser. Richard: mit dem zweiten steht man besser. Richard holt sich einen Tampon aus dem Arsch. Maik zieht einen neuen Tampon aus einer Plastiktüte und gibt ihn Richard. Maik: smirnoff. was/soll das. Richard: nur mal lecken. Maik: ich nehm dir das scheißding gleich/wieder weg. Richard: schon gut schon/gut. Maik: sone verschwendung. und dir verrat ich meine tricks. Richard steckt sich den neuen Wodka-Tampon hinten rein. Richard: ich hab gesagt/schon gut. Maik: so ein amateur. Pause. Maik: wirds warm. 110
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Richard: wird warm. das ist gut. warum bin ich da nicht selber drauf gekommen. meinst du, meinst du wir – boah wird das warm. man, ist das gut. meinst du wir schaffen das. Maik: wir schaffen was. Richard: das hier. Maik: das hier. Richard: die therapie. das runter kommen. Maik: willst du mich verarschen. wie willstn du hier runter kommen. fühl mal. das ist ekelhaft. das ist ekelhaft warm ist das hier. lass mal ein bisschen frischluft rein. mach mal das fenster auf. sieht aus wie normal, kriegste nur zehn zentimeter weit auf. kuck dich mal um. die blume da. plastik. der kaffee. sieht aus wie kaffee, riecht wie kaffee. schmeckt wie hasenscheiße. gymnastik. basteln. laberrunde. hier ist alles verdammte hasenscheiße. Richard: hat ja keiner gesagt, dass das hier ein urlaub wird. Maik: es ist knast mit blumenbildern. Richard: den hab ich mir ausgesucht. Maik: haste dir ausgesucht, haste zuhause gesessen, flasche bier vor dir, mannomann/so gehts nicht weiter. Richard: ich hab zwei – Maik: ich muss da mal was machen, am besten wärn entzug. Richard: ich hab zwei leute/– Maik: umgefahrn, verstanden. aber du bist nicht von selber auf das hier gekommen, das haben die bullen dir aufgedrückt. Richard: nahe gelegt. Maik: die haben dir – nahe gelegt – her zu kommen, hab ich recht. ob ich recht hab. Richard: ja. Maik: das zauberwort heißt/mildernde umstände. Richard: mildernde umstände. das ist es nicht. ich dachte ich, ich dachte ich krieg hier was in den griff. Maik: sag das mal deinem arschloch. Pause. Maik: das ist gut. das ist so gut. Pause. Maik: die dies wirklich schaffen gehn hier anders rein. für typen wie dich und mich ist das zeitverschwendung. Pause. Maik stöpselt sich auch einen neuen Tampon rein. Richard: ich dachte/ich – Maik: ah. Pause. 111
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Richard: ich konnte was damit anfangen, was du vorhin von der grenze gesagt hast. das gefühl mit sich alleine in irgendeinem niemandsland zu stehen und zu wissen, dass man sich entscheiden kann. Maik: hörn wir auf uns zu verarschen. Richard: das hätte ich gerne.
6. Maik und Richard trinken. Richard malt sich Tarnstreifen mit seinem Blut ins Gesicht. Richard: der falsche entschluss ist der keinen zu treffen. das hab ich in der ausbildung gelernt. das weiß jeder beim bund. als mein zugführer mal ein paar worte mit einer afghanischen frau gewechselt hat. burka und so, klar. als der nur ein paar worte mit der gewechselt hat, gehts gut, braucht ihr was, irgendwas. da hat die von hinten dermaßen eine gezogen gekriegt, ihr kopf flog weg wie ein leder beim elfmeter. irgendein typ. nicht mal ihr mann oder vater oder bruder, schießmichtot war das. einfach nur irgendein typ. und ich habs genau gesehn in den augen von meinem zugführer. ich hab gewartet, die hand am abzug, welcher befehl jetzt kommt, minutenlang. nichts. der hat gezittert, mein zugführer. der hat gezittert, die frau kriegt immer mehr auf den deckel, wird von dem typen richtiggehend vermöbelt, und mein zugführer gibt einfach keinen befehl. ich habs genau gesehen, was sich hinter seinen augen abspielt. die ganzen witzigen vorschriften hüpfen da vor ihm rum, und wie er dem typen, dem afghanen seinen gewehrkolben zwischen die zahnreihen rammt, und nach tritt, wenn er unten liegt. und dann sind alle afghanen da auf dem markt voll aufgescheucht und brüllen wie angeschossene tiere und fangen an mit diesem dreck nach uns zu schmeißen und fangen an steine nach uns zu schmeißen, bis mein zugführer den ersten warnschuss ablässt und wir versuchen, die lage zu kontrollieren, aber dann fällt aus irgend einer ecke noch ein schuss und die trampeln sich gegenseitig tot und wir sind zu wenig, um da kontrolle rein zu kriegen, also ziehen wir uns zurück aus dorf soundso, das wegen einer ISAF-einheit rebellischer brandherd geworden ist und wir müssen wieder kommen, um das ding schnellstmöglich auszupissen, was weiß ich, und mein zugführer kriegt zig disziplinarmaßnahmen angehängt, geht in den bau und kriegt ordentlich schläge von ganz oben und von der presse, weil er sich erlaubt hat, in so einer situation menschlich zu reagieren, seinen gefühlen freien lauf zu lassen wie ers hier vielleicht noch machen könnte. jeder von denen darf eine frau schlagen. erst recht wenn sie mit einem fremden typen spricht. erst recht wenn der fremde ein besatzungssoldat ist. wir sind 112
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besatzungssoldaten. genau das geht meinem zugführer da durch den kopf. alle warten auf seinen befehl. er zittert. steht da, kuckt sich an, wie die burka rote flecken kriegt. ich sag: der falsche entschluss ist der keinen zu treffen. und mein zugführer dreht sich um, senkt das G36, hebt die hand und befiehlt uns aufsitzen. und beim wegfahren sehen wir die gar nicht mehr, die frau mit der blutigen burka und den typen, der auf ihren kopf tritt, so viel fremden scheißestaub wirbeln unsere fahrzeuge auf.
7. Richard wischt sich das Gesicht wieder sauber. Maik: stehst du auf so was, miss tyson. ich hab mal solche dinger zusammen geschraubt, roller meine ich. bis mein chef meinte, der laden läuft besser, wenn da jemand steht, der weniger nimmt als ich. weiß ich nicht, aus welchem land der kam. ist mir auch egal. für mich war das scheiße, für den war das geschönte scheiße. nur für meinen chef war das eine cremige angelegenheit. wie wollt ihr denen eine gesellschaft aufdrücken, die nicht mal hier schick ist, Richard. kuck dir miss tyson an. die verdient ihr geld doch mit uns abhängigen. und wird dann frech, wenn man ihr mal aus ihrer abhängigkeit hilft. du hälst den rand, du biest. wird zeit, dass wir unseren eigenen weg gehen, alter kumpel. wird/zeit, dass wir – Richard: ich bin durch überhaupt kein netz gerutscht, wir kennen uns seit zwei tagen. Maik: wird zeit dass wir uns was zurück holen. Richard: ich bin durch kein netz gerutscht und ich will auch nichts zurückholen. eher hab ich was abzugeben. Maik: und was. Richard: meine erinnerungen. MAIK: und kohle, wie siehts damit aus. die hast du doch sicher auch schon verpulvert. RICHARD: geht. MAIK: wieso, wie lange bist du denn zurück. RICHARD: wie lange. MAIK: übern daumen. RICHARD: übern daumen sind es bald ziemlich genau drei jahre. MAIK: drei jahre. drei jahre und du hast nichts anderes zu tun als die ganze zeit von deinem beschissenen einsatz zu reden. drei jahre, das geld ist ja wohl pfutsch. RICHARD: mehr oder weniger.
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Maik: drei jahre, verdammte hulle. tut so als käme er mit taschen voll gold taufrisch und schwerstverwundet aus dem krieg. Richard: was spielt denn das für eine rolle, wie/lange das her ist. Maik: was das für eine rolle spielt. was das für eine rolle spielt. hört sich eigentlich jeder dein geseier von den Armen turban-muttis die ganze zeit an. Richard: du bist der erste. Maik: die und der typ mit dem pen pen. ich habe nicht geschossen. ich habe nicht geschossen. glückwunsch, du hirni, für dein lupenreines gewissen. Richard: du bist der erste. Maik: ich bin der erste was. Richard: dem ichs sage. Maik: na vielen dank. Pause. Richard: du hast geschossen. Maik: nee. wirklich nicht. (lacht) wirklich nicht. Richard: verstehe. Maik: scheiße, denkt doch was ihr wollt. was ich dir gerade sagen wollte – oh. entschuldigung. Richard: was denn. Maik: mein popo hat husten. Richard: du schwein. Maik: was ich sagen wollte – oh, jetzt wirds chronisch. Richard: jetzt lass das gefurze und komm mal auf den punkt. Maik: pass auf, das wirst du kennen. wir können hier nichts machen, wir können hier aber auch nicht einfach weg. Richard: und. Maik: kennst du, was. Richard: ja. und. Maik: wusste ichs doch. Richard: und. Maik: wir kriegen lösegeld. mach den mund zu, die milchzähne werden sauer. Richard: du spinnst. Maik: vielleicht, aber doof bin ich ganz sicher nicht. wichtig ist, bei der übergabe keinen scheiß zu bauen und das mit den geiseln korrekt über die bühne zu kriegen. dann von mir aus abflug nach kabul. da kennst du dich doch aus. da ist es doch kein problem unterzutauchen, mohnfelder pflanzen, oder was weiß ich. 114
Der kalte Kuss von warmem Bier. Ein Stück Scheißestaub
Richard: ich hab drogennester ausgehoben. Maik: dann eben was anderes. wir wir machen was sinnvolles, bauen was auf, was was auf baut. Richard: was auf baut. Maik: eine klinik, werkstatt, was weiß ich. Richard: security ist gut im rennen. Maik: security da haben wirs doch. Richard: aber nicht so. und nicht mit dir. Maik: du hast doch den fehlenden weitblick. Richard: moment mal, DU redest von weitblick. willst du mich/verarschen – Maik: du glaubst doch nicht im ernst, dass dir die bundeswehr jemals wieder eine waffe in die hand drückt. oder mal ein auto. glaubst du das. die lassen dich doch fallen wie ein ei in die pfanne. wenn sie das nicht längst gemacht haben. für die bist du doch ein kaputter. Richard: ich habe nichts falsch gemacht. Maik: kaputt, kolateralschaden. Richard: ich funktioniere bestens. Maik: du bist doch nicht mal mehr beim bund. Richard: kümmer dich um deinen dreck. Maik: zeig mal dein dienstausweis. na los. mach schon. zeig mal deine connections, deine sicherheit. Pause. Richard: du hast geschossen. Das Licht geht aus. Nur noch die Notbeleuchtung der Rollerkneipe und was von draußen so rein fällt. Richard: AAAAAAHHHH! Maik: das sind sie. Richard: was ist los. was ist das. Maik: das sind sie. Richard: was ist los, ich will das nicht, ich will das nicht mehr, macht die scheiße wieder an. Maik: die bullen. sie hat die bullen gerufen. Richard: was. du hast doch die bullen gerufen. Maik: sie hat die bullen gerufen. (zu Yvonne) hast du die/bullen gerufen. Richard: du hast ihr das handy weggenommen. das ist doch quatsch. das ist doch quatsch, das ist doch totaler quatsch. Maik: schon mal was von GPS gehört. Richard: das ist quatsch, totaler quatsch, das geht/doch nicht. Maik: Richard. Richard. soldat. Richard: jawohl herr leutnant. ich will das alles nicht. Maik: geh mal zum fenster und check die lage. 115
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Richard: zum fenster gehen, lage checken, herr leutnant. Maik: und. Richard: nichts. Maik: wie nichts. Richard nichts. ich will das nicht, ich geh kaputt.
11. Yvonne nicht gefesselt, nicht geknebelt, ohne Sack auf ihrem alten Platz. Maik säuft. Richard: einmal war ich dabei. da ist einem soldaten scheiße passiert. so richtig scheiße. ich hab mila gesagt, als ich nach hause kam, hab ich mila gesagt: einen deutschen soldaten wirst du nie so durch afghanische straßen gehen sehen. also gewehr am anschlag. einen deutschen soldaten erkennst du daran, dass er das gewehr so lässig an der seite trägt. es hängt so runter, ist mit dabei, aber halt lässig wie ein wie ein schirm bei sonnenschein. das ist gelogen. durchgeladen werden die gewehre schon im camp. entsichert, sobald du ein, sag ich mal, möglicherweise gefährliches gebiet betrittst. das ist sobald du aus dem camp fährst. du brauchst bloß noch abdrücken. eigentlich bin ich die ganze zeit so rumgelaufen. unser zug war von einem tcp zum andern tcp unterwegs. tcp ist temporary check point, straßensperre mit kontrollen auf waffen, drogen, bla. es lohnt sich nicht, die länger als eine halbe stunde zu machen, weil die taliban, die subversiven kräfte das eh spitz kriegen und anders fahren. egal. unser zug fährt so da lang. und vorne ist irgendwas, unfall oder so. jedenfalls gibt das einen stau. und nach hinten, der soldat im dingo, nach hinten muss immer einer sichern. gewehr hinten raus. durchgeladen ist eh. entsichert auch. wie der stau ist, dreht der sich nach vorne um, weil vielleicht gibts da ja was zu sehen oder so. nichts, nur stau. und dann dreht er sich zurück nach hinten und sieht da zig menschen vor sich, aus nächster nähe, auf ihn zu rennen. bums, er drückt ab. wars eine horde kinder, die stifte betteln wollten oder was weiß ich. eins hat er erwischt. und der hat jetzt die scheiße auf seinem prozessor. für immer. mila hat mich trotzdem weg geschickt. einmal kaffee trinken, neue wohnung ankucken, hier die restlichen fotos, das wars. Pause. Richard: ich hab mein zuhause im bett gehabt, stoppeld –, doppelstock, die ganze decke über mir mit fotos tapeziert, wie ein sternenhimmel, das war mein zuhause. Pause. 116
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Richard: ist weihnachten. weil ich hab weihnachten mal wache geschoben, mit einem italiener zusammen. wir haben uns die ganze nacht unterhalten, nur über eine sache nicht. weihnachten. ist jetzt weihnachten. Maik: war schon. Richard: die wichtigsten dinge lässt du automatisch aus. ich kann nichts mehr trinken. Eine einzelne Rakete kündigt Silvester an. Richard schrickt übermäßig zusammen. Maik: wir sind doch ein gutes team, wir beide. Richard: ja. Richard steht auf, falls er gesessen hat und reißt Yvonnes Sack in Streifen, bastelt dran rum. Maik: es gibt doch da, es gibt doch da sicher bedarf an so jungs wie uns. so sicherheitstechnisch. Richard: ja. Maik: ich hab mal einen bericht gesehen, da sind so sicherheitsfirmen unterwegs. da, und woanders auch. Richard: ja. Maik: lass uns doch, lass uns doch so was machen. Richard: ja. Maik: sicherheit hat zukunft. ich meine, was können wir denn sonst. Richard: ja. Richard hat den Strick fertig und geht raus, in den Schnee.
12. Grenze. Stacheldrahtmann: siehst du das, die sterne. wahnsinn, oder mensch. ich muss dir was erzählen, genosse wenzel. warum nennen dich eigentlich alle so. warum sagt keiner Maik. genosse wenzel ist so so austauschbar, find ich. Maik. Maik klingt. was ich sagen wollte. du kennst doch die langhaarigen, da auf der andern seite. und ob du die kennst. schiebt doch jeder am liebsten wache da drüben, die bäume haben schon wichsflecken, menschenskind. gestern kam ich da hin, da waren zwei von denen am zaun, von den langhaarigen. ganz nah. die haben da irgendwas gepflanzt. ich hab die waffe gehoben, die zwei starren mich an. das geht bestimmt so zehn sekunden lang. da hab ich die waffe wieder gesenkt. sollte ich denn da machen, die einfach abknallen. nee, nee, wenn du mich fragst, vorschrift hin oder her, der mensch hat immer noch ne freie wahl. und weißt du 117
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was, ich hab mit denen geredet. die haben mir sogar erzählt, was die da anbauen ist hanf, rauschgift. ich hab sie gefragt, warum sie das machen, obs denen da so beschissen geht, oder was. ich meine, du hast die ja gesehen, wie zerlumpt die rumlaufen. wir sind so richtig ins diskutieren gekommen, die paar minuten bevor ich wieder zurück musste. auf jeden fall die jungs haben einen ganz anderen begriff von von freiheit, sag ich mal. unsere freiheit beruht auf sicherheit und auf wohlstand möglichst vieler leute. ist bei denen auch so, sagen die, aber da scheißen die drauf. die wollen ihr ding machen. ich kann das jetzt nicht so wieder geben, aber das hat mich – das bin ich nicht losgeworden. ich hab die ganze nacht nicht geschlafen. immer sind mir diese jungs eingefallen. und ein foto von meinem cousin, das ich hab. der hat ein moped. kreidler florett. wenn ich son ding hätte, ich würde mir freiheit auf den tank schreiben und nicht mehr aufhören rum zu fahren. und heute, Maik, heute war doch frisör. da bin ich nicht hingegangen. weil ich hab mir überlegt, Maik, ich mach da rüber. nicht weils das bessere system ist oder so, sondern weils so was wie die typen da zu lässt. was sagst du dazu, Maik. du sagst doch nichts, oder. du wirst doch nichts sagen. gut. klingt irre, was mensch. wo ich herkomme, gibts das jede nacht. meine eltern sind landwirte. ich hab mein leben lang solche sterne gehabt. und dann in der kaserne waren sie plötzlich weg. das ist weil wir uns hier unten selber licht machen, mit laternen und schweinwerfern und nachtsichtgeräten. und dabei merken wir gar nicht, je mehr licht wir überall machen, merken wir gar nicht, was bei unserm licht mit drauf geht.
13. Entzugsklinik. Gesprächstherapie. Maik: diese frau kriegt einfach auf die fresse. nicht mal von ihrem mann, ihrem bruder oder so, das war einfach nur ein typ. und einfach nur weil mein vorgesetzter mit ihr geredet hat, mein zugführer. ich hab genau gesehen, was sich hinter seinen augen abspielt, dass er diesem typen, den schläger jetzt zusammenfalten könnte, dass das aber einen aufstand gäbe, von seiten der bevölkerung, den wir gar nicht abschätzen können. wir können das gar nicht kapiern. und ich sag zu meinem vorgesetzten, der richtige entschluss ist der überhaupt einen zu treffen. und mein vorgesetzter hebt die hand. wir sollen aufsitzen und fahren los während hinter uns die burka von der frau blutig getreten wird. da muss sie wohl gewesen sein, die heiße herdplatte, die ich gesucht hab. ich war lange zeit reservist gewesen. erst NVA, dann bund, im 118
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bund dann reservist. was soll ich sagen, ich ich wollte es nochmal wissen. das ist wie die heiße herdplatte als kind. du fi ndest einfach nicht raus, was heiß ist, wenn du dich nicht verbrennst. und dann hast du dich verbrannt und bist zurück in der kaserne, hockst in deiner stube, nervst die anderen kameraden nicht, sie machen einen bogen um deine augenränder, und denkst du musst zurück, rufst dauernd unten an, bei denen die noch da sind, weil die jetzt dein zuhause sind, und machst das erste bier statt frühstück auf. Maik »gibt weiter« an Yvonne. Yvonne: ich. ich jetzt. Maik sieht sich um. Richard und Stacheldrahtmann sitzen hinter ihm. Maik: naja, wie gesagt, ich schätze das ist mein problem. ich schätze deswegen bin ich hier. entschuldige. Yvonne: ich glaub nicht ans reden. Maik lächelt. Stacheldrahtmann schießt mit einer imaginären Maschinenpistole auf Maik. Maik lächelt weiter. Ende Gelände.
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Ein Fuchs reißt Kaninchen Juliane Kann
Aushalten, dass man da ist. Im Kern erzählen die meisten Melodramen nicht vom großen Scheitern, sondern davon, wie Menschen durchstehen, was ihnen unerträglich schien, nicht von den Toten, sondern den Überlebenden. Das hat etwas Tröstliches, auch wenn am Ende die Dinge nicht zur ungetrübten Glückseligkeit führen. Es geht um das was kommt, wenn das Eigentliche schon vorüber ist. Personen Nico (bewegt sich zwischen extremer Erwachsenheit und kindlicher Naivität, wie jemand, der nicht entscheiden kann und will, was er lieber sein möchte) Ina (Nicos Mutter) Krankenschwester Mädchen Junge Frau mit totem Kind Mädchen: liest Draußen fängt der Tag vermutlich erst an. Vögel zwitschern um die Wette, Blumen blühen wie wild auf der gerade grünen Wiese. Ein Fuchs reißt ein Kaninchen, das den Weg aus seinem Stall gefunden hat. Es wollte nicht eingesperrt sein, das hat es jetzt davon. (Pause) Draußen macht jemand den Fehler und gibt den Spatzen ein Stück von seinem Kuchen. (Pause) Es kommen immer mehr Spatzen angeflogen. (Pause) Spatzen sind auch nur die Ratten der Luft. *** Das Geräusch eines Beatmungsgerätes zur künstlichen Aufrechterhaltung der Herz-Kreislauff unktion. Es ist laut. Zu laut für die Ohren von Nico. Immer wieder ist er versucht, die Hände über die Ohren zu legen. Manchmal aber 120
Ein Fuchs reißt Kaninchen
auch, um die Stimme und das Atmen der anderen nicht mehr hören zu müssen. Nico: zur Schwester Weißt du wie das klingt? Schwester: – Nico: Weißt dus? Schwester: – Nico: hört genau auf das Geräusch, atmet stark ein und pustet Luft aus. Schwester: – Nico: Wie wenn du in einem Zug liegst und der fährt an. Dieses Rauschen auf den Schienen, der Druck, der abgelassen wird. Zieht Luft an (macht es), gibt Luft ab (macht es). Und zwischendurch gibt es ein Signal. In regelmäßigen Abständen. Ina: Hör auf. Nico: zur Schwester Mach mal. Zieh durch den Mund ein, durch die Zähne, und lass die Luft raus, aus den geschlossenen Zähnen. Schwester: – Nico: Mach mal. Zieh sie an die Luft. Nico zieht die Luft an. Lass sie raus. Bläst sie aus. Und zwischendurch. Piep. Ina: Bitte. Nico: Piep. Ina: (hält sich die Ohren zu.) Unter Inas Augen sind Schatten. Tief wie Krater. Nico prellt seinen Tennisball immer mal wieder auf dem Boden ab. Ina hält sich irgendwann die Ohren zu. Nico hört auf mit dem Ball zu prellen und beobachtet seine Mutter. Eigentlich ist er noch ein ziemlich kleiner Junge, aber er steckt in einem viel zu großen Körper. Ina nimmt die Hände nach einer Weile wieder von den Ohren. Nico: Fick dich streckt den Mittelfinger zum Himmel. Ina: Er hat deinen Vater nicht aus dem Fenster gestürzt. Nico: Er hat ihn auch nicht davon abgehalten. *** […]
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Anfang: Ina: Maitanz. Ich war mit meinen Freundinnen da. Ich tanze nicht gern. Im ganzen Raum gab es nur einen Mann, der auch nicht getanzt hat. Er hat den ganzen Abend an den Türrahmen gelehnt gestanden und hat mich angesehen. Vor dem letzten Lied ist er zu mir gekommen und hat mich gefragt, ob ich tanzen möchte, ich hab gesagt, dass mir lieber wäre wenn nicht. Er hat gesagt, dass er den ganzen Abend damit verbracht hat, sich Mut zuzureden, und wenn ich nicht tanzte, würde er ein sehr einsamer Mann. Später hat er zu mir gesagt, er sei ein schwacher Mann und ich seine starke Frau. *** Nico: Wir sind hergezogen, weil mein Vater eine neue Stelle an der Schule bekommen hat. Sie konnten ihn da nicht ausstehen, haben gesagt, dass er n Idiot ist. Er hatte die Macke, dass er immer will, dass alle ihn mögen. Niemand kann von allen gemocht werden. *** Mädchen: Es heißt doch immer, man soll das Beste aus etwas machen. Aus Scheiße Gold machen. Diese Sprüche sind zynisch. Sie sind böse. *** Nico: Mein Vater war ziemlich dünn geworden. Meine Mutter hat gesagt, dass das nicht normal ist. Er ist zum Arzt gegangen, nach Hause gekommen und hat gesagt, dass er Krebs hat. Der hat im Magen angefangen. Tabletten, Bestrahlung, das ganze Programm. Scheiße. Wir waren noch nicht mal richtig angekommen. *** […] – Auf dem Weg nach Hause hat sich Nico Folgendes vorgestellt: Sein Vater hätte den Krebs besiegt, er hätte Nicos Mutter ein zweites Mal geheiratet und sie hätten die Hochzeit mit einem Sommerfest gefeiert, so wie sie es sich bei der ersten Hochzeit gewünscht hatten, aber keinen Termin bekommen haben auf dem Standesamt. Sie hätten nur die Menschen eingeladen, die ihnen wirklich was bedeuten. Jemand hätte eine Torte gebacken 122
Ein Fuchs reißt Kaninchen
und sie wären nach dem dritten Tanz zur Hochzeitsreise aufgebrochen. Sie wären auf Kamelen geritten, hätten die Seen in Schweden bestaunt, hätten versucht zu klettern, sein Vater hätte Tigerhoden probiert in Thailand, oder hätte seine Passion fürs Fischen entdeckt und hätte fortan immer nur von Ködern geredet, seine Mutter hätte sich, wie man sagt, selbst gefunden. Sie hätten das Haus verkauft, ihr früheres, wie sie gefunden hätten spießiges Leben aufgegeben, sie hätten Nico gefragt, wo er leben und seine restliche Jugend verbringen möchte, er hätte sich für England entschieden, weil er mit der Zeit eine Liebe zu Uniformen entwickelt hatte, er hätte sich kultiviert unterhalten, hätte in englischen Pubs englische Bands gehört, und zwar vor ihrem weltweiten Hype, er hätte eine englische Freundin mit einem breiten Lachen gefunden, die sich mehr für Fußball interessiert als für Klamotten, die als einziges Mädchen, das ihm bis jetzt begegnet ist, nicht versucht hätte die Pausen in Gesprächen mit blödem Kichern zu überspielen. *** Nico: Jemand hat auf meine rechte Schulter gefasst und gesagt, dass ich stehen bleiben soll. Ich hab gefragt, wieso, er hat auf die Krankenwagen gezeigt, die vor unserem Haus standen. Ich hatte die bis dahin gar nicht gesehen. Wie schnell ist ein Körper im Fall bei dieser geringen Höhe? Reicht das Adrenalin aus, um den Schmerz des Aufpralls nicht zu spüren? *** Das Geräusch der Beatmungsgeräte endet abrupt. Die Stille im Raum erscheint jetzt noch unerträglicher als die lauten Geräusche zuvor. Pause Nico fängt unauffällig an, an seinem Vater zu riechen. *** Die Junge Frau mit ihrem Kind im Arm. Sie setzt sich und genießt einen Moment die Ruhe, wie nach einer langen Reise. Sie schreibt einen Zettel. RUHE steht darauf. Sie stellt ihn, sichtbar für alle Vorbeikommenden, vor ihre Füße. Sie fängt an, das Kind in ihrem Arm hin- und herzuwiegen. *** Mädchen: liest Draußen verdunkelt sich der Tag. Ein Schatten zieht über den Himmel, so, als würde: es nie mehr hell. Pause Häuser fallen ein, als hätte jemand den falschen Stein im Jenga-Spiel gezogen. Jetzt fällt er ein, der Turm. 123
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*** Ina sieht erschöpft aus. Vermutlich hat sie seit Tagen nicht geschlafen. Sie hat sich daran gewöhnt, nicht mehr zu schlafen. Sie kann wach bleiben, ohne Probleme, nur verstecken kann sie die Müdigkeit nicht. Normalerweise gilt der Trauerzustand nicht als Krankheitszustand, unverständlicherweise. Die Krankenschwester holt aus ihrer Tasche einen Zettel und liest ihn. Sie geht zu einem Schränkchen und nimmt eine Medikamentenschachtel heraus. Nico beobachtet die Szene aus einer gewissen Distanz. Schwester: Schlucken Sie die bitte. Ina: – Schwester: Schlucken, ok? Ina sieht durch die Schwester hindurch. Als könne sie sie gar nicht sehen. Als würde sie sehen, was hinter der Schwester ist. Die Schwester tut so, als würde sie schlucken. Intensiver, als man es normalerweise machen würde. Sie versucht zu demonstrieren, wie Schlucken geht. Schwester: Schlucken. Sie wissen, wie das geht. Ina: – Schwester: Schlucken. Die Schwester schluckt noch einmal intensiver, als man es normalerweise machen würde. Schwester: Schlucken Sie die jetzt. Bitte. Ina: presst die Lippen ganz fest aufeinander. Schwester: Bitte. Ina: – Nico: Scheiße. Ina: – Schwester: Kommen Sie schon. Schlucken. Bitte.
*** Ina hätte mit der Tablette die ganze Trauer mit runtergeschluckt, wäre aufgesprungen und ins Auto gestiegen, hätte im Baumarkt vier Eimer Farbe gekauft, Flieder vielleicht, und hätte die Wände im Wohnzimmer damit gestrichen, was sie früher nicht hatte tun können, weil Wolff allergisch auf die Farbwahl reagiert hätte. Sie hätte zu Nico gesagt, dass es auch andere Möglichkeiten gibt sich an Verstorbene zu erinnern.
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*** […]
Mädchen: liest Sterben ist was anderes als der Tod. Ein Sterbender kann uns Dinge noch mitteilen. Aber man kann mit keinem Menschen sprechen, der tot ist. Pause Fragen: Wie entsteht Kraft in einem schwachen Körper? Kann man jemanden lieben und hassen zur selben Zeit? Wie kann man ein Wort für ein Gefühl finden, das nicht ein Gefühl ist, sondern von jedem anders empfunden werden kann? Warum muss es immer einen Singular Überbegriff geben – warum kann es nicht heißen die Lieben, statt die Liebe? Warum kann man Gefühle so schlecht in Worte packen? Warum vermisst man etwas erst, wenn es nicht mehr da ist? Warum sieht man manchmal den Wald vor lauter Bäumen nicht? Ist Schicksal ein anderes Wort für Gott? Warum fehlen einem im richtigen Moment die Worte? Warum erkennt man immer zu spät den richtigen Moment? Warum kann man jemanden lieben, ohne von dem zurückgeliebt zu werden? Warum liebt jemand jemand anderes nicht zurück, obwohl er weiß, dass er von dem anderen geliebt wird? Welches Körperteil magst du an dir am meisten? Worauf achtest du als erstes bei einem anderen Menschen? Warum bist du gern mit den Menschen zusammen, die dich umgeben? Kann man den Tod feiern wie die Geburt eines Kindes? Pause Wenn plötzlich jemand stirbt, aus Ihrem engeren Bekanntenkreis, wüssten Sie, wie der Raum aussähe, den der Tote sich als Sterbender zum Sterben gewünscht hätte? Pause Wie sollte der Raum aussehen, wenn Sie sterben? Pause Nimmt jeder Mensch ein Geheimnis mit in den Tod? Gibt es den Himmel oder die Hölle? Warum macht den Menschen der Gedanke an die Hölle Angst, aber sie nicht automatisch zu besseren Menschen? Wer entscheidet darüber, wohin man kommt? Gibt es ein Leben nach dem Tod? Warum kann man es manchmal nicht abwarten, etwas als normal zu bezeichnen? Welche Rolle spielt Automatismus in unserem Leben? Wie viel kann ein Menschen aushalten, wer hat den höchsten Maßstab dafür gesetzt? Sammlung fortsetzen! *** Nico liegt auf seiner Matratze. Der überdimensional große Hund kommt und leckt an seinem Fuß. Nico wacht davon auf und schreckt angstvoll zurück. Auch der Hund weicht einen Schritt zurück. Nico blickt den Hund neugierig an, der 125
Zwischenspiele: Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume
Hund blickt zurück. Zwei noch Unbekannte, verbunden über den Moment, sich einig zu sein, wie zwei Verschworene über einem Geheimnis. Nach einer Weile legt sich der überdimensional große Hund vorsichtig ans Ende der Matratze. Die Schwester betritt das Zimmer. Sie setzt sich neben Nico. Die Schwester sieht den Hund nicht. Schwester: Hier. Für dich. Gibt Nico einen Teller mit Essen. Nico: nimmt den Teller und stellt ihn zur Seite. Schwester: Du bist schon ganz bleich. Warst du überhaupt schon mal draußen? Nico: – Schwester: Du musst mal rausgehen. Irgendwann glaubt wirklich noch jemand, hier lebt ein Gespenst. Nico: – Schwester: Komm schon, du musst was essen. Nico: Ich hab kein Hunger. Mir ist schlecht. Schwester: Ich hab nicht viel Zeit. Aber ich geh nicht, bevor du nicht was gegessen hast. Nico: Ich hab aber kein Hunger. Schwester: Ich bleib hier sitzen. Wenn die wegen dir zu lange in ihrer Scheiße liegen müssen. Nico: – Schwester: Fliegt dein Versteck auf. Nico: – Schwester: Alle werden mich fragen. Und ich werde sagen, da versteckt sich jemand, um den ich mich kümmern muss. Nein, der ist nicht krank, aber der verhungert, wenn ich nicht aufpasse. *** Die Schwester hätte noch fünf Minuten auf den Teller geschaut in der Hoffnung, dass Nico plötzlich der Hunger ergreift, das wäre nicht passiert, sie wäre wütend aufgestanden, hätte die Tür geknallt, hätte den ganzen Tag keine Lust mehr gehabt, sich um irgendwen zu kümmern, sie wäre den ganzen Tag mit dem Gedanken rumgelaufen, dass ihr sowieso niemand niemals Dankbarkeit zeigen würde für das, was sie tut, sie hätte die Klinik früher als gewohnt verlassen, ohne nochmal bei jedem Patienten nachzusehen, sie hätte auf der Straße einen Mann getroffen, der immer um diesel126
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be Uhrzeit an dieser Stelle vorbeiging, den sie bisher immer verpasst hatte, sie wären ineinandergelaufen und hätten zusammen festgestellt, dass es für beide keinen besseren Moment hätte geben können einander zu begegnen. Er hätte das Schicksal erwähnt. Er hätte ihr erzählt, dass er neben dem Studium als Wachmann arbeitet, dass er heute gekündigt wurde, aber aus Gewohnheit und weil er sich bei der Arbeit so wunderbar konzentrieren kann, weitergearbeitet hätte. Sie wären über ihre Nachfrage, was er denn studierte, zu dem Entschluss gekommen, dass es zu viel zu erzählen gab, als dass sie sich jetzt voneinander verabschieden könnten. *** […] Mädchen: (liest) Jemand zieht einen Stein aus einem Haus. Es fällt zusammen. Das Grün der Wiesen verbrennt, und die Blumen. Der Fuchs frisst genüsslich sein Kaninchen. Noch ein Haus fällt zusammen, als wär es nur aus Karten gebaut. Draußen nehmen die restlichen Bäume ihre Beine in die Hand. Doch egal, wohin sie flüchten, das Feuer hat sie umzingelt. Und weiter wütet die Welt, solange, bis kein Platz mehr bleibt, sich zu verstecken. *** Die Junge Frau sitzt und hält ihr Kind im Arm. Sie wiegt es hin und her. Die Schwester setzt sich neben sie. Die Junge Frau legt ihr Kind auf die andere Seite, also dorthin, wo die Schwester nicht sitzt. Sie fängt an, das Kind zu wickeln. Hin und wieder blickt sie über ihre Schulter zur Schwester. Diese spürt den Blick, schaut zurück und lächelt sie an. Schwester: Junge oder Mädchen? Junge Frau: Junge. Schwester: Ein ruhiges Kind. Junge Frau: lächelt, nickt. *** Mädchen: liest Das Schlaraffenland ist umgeben von einer riesigen Mauer aus Grießbrei. Man muss sich erstmal durchfressen, wenn man hinein will. Das Paradies ist nicht umgeben von einer Mauer. Und es ist viel leichter hineinzukommen. Wenn du ein guter Mensch bist und stirbst, dann kommst du dahin. Ins Schlaraffenland kommst du nicht. Das ist ein Märchen. Du kommst nicht hin, weil du beim Fressen stirbst.
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*** Die Junge Frau schreibt auf einen Zettel: LASST MICH IN RUHE. Dann stellt sie den Zettel, für Vorbeikommende sichtbar, vor ihre Füße. *** Mädchen: liest Da wir nicht wissen, wann wir sterben, ich rede nicht von Freitod, würde ich den Raum zum Sterben so bauen, dass man ihn jederzeit auf bauen könnte. Er wäre mobil. Transportabel. Pause Wäre das nicht eine tolle Möglichkeit? *** Nico: Pass auf. Das ist meine Mutter wenn es ihr gut geht. Zieht eine Grimasse. Schwester : – Nico: Das ist, wenn es ihr ein bisschen schlecht geht. Zieht die gleiche Grimasse. Schwester: – Nico: Das ist sie, wenns ihr richtig beschissen geht. Zieht wieder die gleiche Grimasse. Schwester : – Nico: lacht Hast dus nicht verstanden? Schwester: Ich fand es nicht witzig. Nico: Bist du jetzt schockiert? Schwester: Imitation ist ein Prozess, den Menschen, den man nachmacht, zu verstehen. Imitation ist ein Ausdruck von Zuneigung. *** Ina: Auf Geburtstagsfeiern hat die Verwandtschaft Nico immer gebeten, bekannte Sketche aus dem Fernsehen nach- oder bestimmte Macken der in der Runde anwesenden Menschen darzustellen. Nico hatte eine Begabung auf ungewöhnliche oder lustige Begebenheiten zu achten und sie abzuspeichern, damit er sie in einer solchen Runde darstellen konnte. Er liebte es im Mittelpunkt zu stehen, er liebte es Menschen zu unterhalten. Er liebte das vielfältige Geräusch des Lachens. Wenn wir zu dritt am Abendbrottisch saßen, imitierte Nico immer die Bewegungen seines Vaters. Niemandem wäre aufgefallen, dass diese komische 128
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Nuance hatten, aber durch Nicos winzige Übertreibung war es wahnsinnig komisch. *** […] Mädchen: liest Was ist es, was sich in den geschlossenen Räumen abspielt, fragt die Welt. Und warum kann man niemals abwarten, der Normalität die Hand zu schütteln? Ich wette, jeder könnte auf die Gewöhnungsphase verzichten, die so kräftezehrend ist. *** Nico: Es ist hell. Ina: Lass mich in Ruhe. Nico: Zeit aufzustehen. Ina: Ich hab gar nicht geschlafen. Nico: – Ina: Gib mir eine von den Tabletten. Nico: Die sind für die Nacht, nicht den Tag. Ina: Gib mir eine Tablette. Nico: – Ina: Ich muss schlafen. Nico: – Ina: Es geht mir schlecht. Nico: Du hast gesagt, du bist nicht krank. Ina: Ich will nur schlafen, Nico. Nico: Ich hab die Schnauze voll. Ina: – Nico: Verstehst du das? Ich hab kein Bock mehr Krankenschwester zu spielen. Pause Ina: Warum hat er nichts gesagt? Nico: Hör auf. Ina: Warum hat er nie was gesagt? Nico: Was fragst du mich das? Ina: fängt an, auf Nico einzuschlagen. Gib mir die Tablette. Nico: Ich hab keine Tablette. Ina: Gib mir jetzt eine verdammte Tablette. Nico: Nimm gleich ein paar mehr, dann hat das auch ein Ende. 129
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Ina: schlägt wieder auf Nico ein. Nico: gibt ihr eine Ohrfeige. Was willst du denn von ihm hören? Ina: – Nico: – Ina: – Nico: will seine Mutter umarmen. Ina: Ich hab dir gesagt, dass ich das nicht will. *** […] Ina sitzt neben der Schwester. Sie sehen in den Garten. Schwester: Das ist wirklich ein schöner Garten. Ina: nickt Schwester: Was ist das, was da blüht? Ina: Ein Rhododendron. Schwester: Der ist schön. Ina: Kein Hybride. Schwester: – Ina: Das ist keiner, den Sie beim Gärtner kaufen können. Kein gezüchteter Strauch. Wir haben ihn von unserer letzten Reise mitgebracht. Überlebt fast nie in heimischen Gärten. Schwester: Bei Ihnen schon. Ina: Ich hab eigentlich keinen grünen Daumen. Schwester : lächelt Ina: Nico hat den Teich vergrößert. Er war zu klein für die vielen Fische, sie hatten zu wenig Sauerstoff. Er hat mir irgendwas erzählt von Eutrophierung. Schwester: nickt Ina: Es hat einen kleinen Springbrunnen in der Mitte. Schwester: Wieso ist der nicht an? Ina: Ich kann das nicht mehr hören. Schwester: – Ina: Ich hab überlegt den Rhododendron aufs Grab zu setzen. Einen Hybriden kann ich ihm nicht antun. *** Der Hund liegt tot. 130
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Mädchen: Ich hab ihn gefunden. Nico: – Mädchen: Bist du sauer? Nico: – Mädchen: Wie wärs, wenn wir ihm eine richtig gute Geschichte erfinden. Zum Abschied. Nico: Er hatte nicht mal einen Namen. Mädchen: Der Hund ohne Namen. War er ein guter Hund? Nico: nickt Mädchen: Hat er gut gefressen? Nico: Wie ein Schwein. Mädchen: Ein Hund ohne Namen hat gefressen wie ein Schwein. Kann eine Grabrede besser anfangen? Nico: steht auf und will geht. Mädchen: Hey. Solln wir ihn nicht begraben? *** Nico wäre aufgestanden, hätte die Kamera des Mädchens genommen und ein Foto vom Hund gemacht. Sie hätten fortan nur noch Fotos von toten Tieren gemacht, hätten eine Ausstellung in der Schule organisiert, mit dem Titel: Ein Fuchs reißt Kaninchen, die Ausstellung wäre auf Unverständnis gestoßen, Nicos Mutter hätte einen Anruf von der Schule bekommen, Ina hätte sich Sorgen gemacht und hätte Nico nach dem Sinn dieser Veranstaltung gefragt, er hätte geantwortet, dass er zeigen wollte, dass man den Tod nicht hässlich finden muss, das Mädchen hätte dabei seine Hand gehalten und hätte kommentiert, dass man viel zu viel Angst hat, die Mutter hätte das Mädchen gefragt, ob sie überhaupt wüsste, wovon sie da redet, und hätte Nico den Umgang mit dem Mädchen verboten. *** Nico: Erstens: Wie heißt du? Zweitens: Wieso machst du so eigenartige Fotos? Drittens: Wieso freust du dich so über den Tod? Mädchen: Tu ich nicht. Nico: Viertens: Was schreibst du da in dein Buch? Mädchen: – Nico: Steht da auch was über mich drin? Mädchen: Vielleicht. 131
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Nico: Lies es mir vor. Pause Mädchen: Wenn du drei Wünsche frei hättest, an drei Tagen, also ein Wunsch für jeden Tag, welche wären das? Nico: Jetzt lenk nicht ab. Mädchen: Ich lenk nicht ab. Deine Antworten schreib ich ins Buch. Nico: Ich möchte einen Tag nach Island. Ich möchte einen Tag mehrere Menschen gleichzeitig sein. Einen Tag mit dir verheiratet sein. *** Das Mädchen hätte ihn geküsst, sie wären zum Bahnhof gegangen, hätten ein Ticket gelöst zur nächsten Fähre, hätten die Fähre bestiegen und den alten Erinnerungen gewunken und hätten sich gefreut auf das, was kommt, das Mädchen hätte gesagt, dass es ihm den Wunsch mit den mehreren Menschen gleichzeitig zu sein, nicht erfüllen kann, dass es aber eine Sache wisse, die ihn sich selbst überhaupt wieder als Mensch fühlen lässt. Sie hätten in Island den Gedanken an ihre Ausstellung aufgenommen und wären diesmal behutsamer mit der Veröffentlichung ihrer Idee umgegangen, sie hätten in vielen Interviews erklärt, warum sie sich mit dem Tod beschäftigen, Nico hätte erzählt, dass ein persönlicher Schicksalsschlag ihn dazu gebracht hätte, intensiver darüber nachzudenken, dass Tabus meistens ein Fehler sind, die Mutter hätte ihren Sohn in den Nachrichten gesehen und hätte es als beschämend empfunden, im Fernsehen darüber zu reden, wie der Tod des Vaters in Verbindung mit den toten Tieren auf den Fotos steht. *** Das Mädchen küsst Nico auf die Wange und geht. *** Nico: Hast du geschlafen? Ina: nickt Es ist schön, dich wieder im Haus zu haben. Nico: – Wann bist du aufgestanden? Ina: Um sechs. Nico: Konntest du nicht mehr schlafen? Ina: Wir sind doch immer um sechs aufgestanden. Nico: Ja. 132
Ein Fuchs reißt Kaninchen
Ina: Hab ich Kaffee gemacht oder Tee? Nico: Für dich Kaffee, für mich und Papa Tee. Ina: Hast du ihn getrunken? Nico: Fast nie. Ina: Isst du nichts? Nico: Du musst das nicht mehr machen. Ina: Aber was denn sonst? Pause Ina: Du musst in die Schule. Nico: Ich bin befreit. Solange bis wir die Beerdigungsangelegenheiten geklärt haben. Ina: Wir setzen den Rhododendron aufs Grab. Nico: nickt *** Nico hätte seiner Mutter die Hand auf die Schulter gelegt und ihr gesagt, dass er eine Weile fortgehen würde. Er hätte seine Sachen gepackt und dabei an einen Aufenthalt in Island gedacht, er hätte das Geld von seinem Konto abgehoben und wäre damit nach Island gefahren. Er hätte auf der Fähre ein Mädchen getroffen, welches das Gegenteil des Mädchens gewesen wäre, welches er vor ihr kennen gelernt hatte. Er hätte sich mit ihr in ein Abenteuer gestürzt, hätte Isländische Fjorde bewundert und hätte die Gedanken an und über seinen Vater aufgeschrieben, und hätte diese an seine Mutter geschickt. Irgendwann hätte er nicht mehr genug Erinnerungen gehabt, die für einen Brief ausgereicht hätten, und er hätte es gänzlich vergessen zu schreiben. *** […] Ina und Nico mit einer Urne im Arm im Gebirge. Ina: Am ersten Tag sind wir in die Pension und haben den ganzen Tag geschlafen, weil es so warm gewesen ist. Was haben wir am Abend gemacht? Nico: Wir sind ins Restaurant gegangen und haben Muscheln bestellt. Ina: Wir haben uns gewundert, warum so viele Menschen so früh am Morgen Watt-Spaziergänge machen. Dein Vater hat uns aufgeklärt, dass sie die Muscheln suchen, die wir am Abend essen werden. Nico: Es war köstlich. Ina: Ja, das wars. 133
Zwischenspiele: Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume
Was haben wir am zweiten Tag gemacht? Nico: Du wolltest in die Stadt. Postkarten kaufen. Wir haben uns über dich lustig gemacht, weil du schon am zweiten Tag Postkarten schreiben wolltest und noch nichts erlebt hattest, wir wussten nicht, wovon du erzählen wolltest. Am dritten Tag haben wir ein Auto gemietet und sind ein paar Stunden in den Norden gefahren. Ina: Hier wars. Genau an dieser Stelle, erinnerst du dich? Nico: nickt Ina: Ich mach ein Foto. Ich glaube, du musst noch ein Stück nach links. Nico: Dann stürz ich ab. Ina: Nur noch ein kleines Stück. Und du musst in diese Richtung schauen. Dein Vater stand nämlich da und hat Grimassen gemacht. Du musstest wahnsinnig lachen. Du musst genau nach da schauen. Nico: Von da blendet mich die Sonne. Ina: Und jetzt lachen. Nico: Kannst du nicht einfach das Foto machen? Ina: Noch ein kleines Stück nach links. Und guck in die andere Richtung. Und lachen nicht vergessen. Nico: geht ein kleines Stück nach links und schaut in die andere Richtung, lacht aber nicht. Ina: macht das Foto. Wortlos gehen sie weiter. *** Mädchen: liest Der Fuchs nimmt vor dem Wolf reißaus. *** Die Krankenschwester wäscht sich die Hände. Immer, wenn sie mit einem Durchgang fertig ist und die Hände abgetrocknet hat, fängt sie wieder von vorne an. *** Nico: In einem Film hab ich gesehen, dass ein Junge nichts gegessen hat, als er neu auf die Schule gekommen ist. Er hat nie ein Wort darüber 134
Ein Fuchs reißt Kaninchen
verloren, dass es ihm schlecht damit geht, er hat einfach nichts gegessen. Irgendwann haben die Eltern einen Anruf von einem Lehrer bekommen und der hat gesagt: ›Er hat etwas gegessen.‹ Und: ›Menschen können sich jeder Situation anpassen.‹ Ende
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8 Väter Tina Müller
Fassung 17.12.08 Auf der Bühne sind V, P und N. Prolog Nico (N): Er wusste nicht, dass es mich gibt. (Rosa,) meine Mutter, hat mir das gesagt. Schon als ich ganz klein war. Und ich glaube es ihr, habe es ihr immer geglaubt, warum sollte ich es ihr nicht glauben? Er wusste nicht, dass es mich gibt. (Rosa,) meine Mutter, hat ihm nie von mir erzählt. Er ist abgereist, bevor ich eingetroffen bin. Er ist abgereist und nur einmal, ein einziges Mal zur Abgabe der Wohnungsschlüssel wieder gekommen. (Rosa,) meine Mutter, hat es nicht übers Herz gebracht, ihm im Augenblick des kalten Händeschüttelns von mir zu erzählen. Sie hat mich verschwiegen. Hat mich ihm, so sagt es (Rosa,) meine Mutter, nicht gegönnt. Nach seinem angeblich unbegreiflich feigen Abgang war mein leiblicher Vater nur noch das Objekt ihrer tiefen Ablehnung. Ich selbst allerdings, ich muss es zugeben, hatte nie ein besonders schlechtes Bild von ihm. Er wusste ja nicht, dass es mich gibt. Und deshalb hat er auch nie nach mir gesucht. 1 V: Ein Reihenhaus. P: Ein ganz normales Reihenhaus. In einer Wohngegend am Rande einer kleinen Stadt. N: Nico steht vor einem Reihenhaus, das aussieht wie jedes andere in dieser Straße auch. V: In einem neuen Mantel steht Nico vor der Haustür eines Reihenhauses, das aussieht wie ein ganz normales Familienhaus. 136
8 Väter
P: Vor der Garage einer dieser Citroën Berlingo. V: Gepflegter Rasen. Nicht gerade ein englischer Rasen. Aber ein normaler, gepflegter Rasen. P: ironisch Gepflegte Hecken. Gepflegte Rosen. Gepflegte Gartenzwerge. N: Die Fenster sind mit Gardinen behängt. P: Natürlich. V: Nico schaut auf einen zerknitterten Zettel. Sie vergleicht ihren Standpunkt mit der mit dickem Filzstift notierten Adresse. N: Nicos Hände zittern. V: Stimmt, ihre Hände zittern. P: Natürlich zittern ihre Hände. Sie friert und schwitzt, in ihrem Schädel pocht das Blut. V: Nico, die doch sonst nicht eine ist, die zittert, die von sich selbst nicht einmal wusste, dass sie überhaupt zittern kann, zittert am ganzen Körper und als sie das Namensschild über der Klingel sieht, bleibt ihr neunzehnjähriges Herz für einen Augenblick stehen. P: Das ist er, das ist er, das ist er. N: Das ist der Mann, den Nico schon ein Leben lang sucht. V: Ein Mann, von dem sie nichts weiß. Sie kennt nur seinen Namen und hat durch monatelange Nachforschungen im Internet und diversen Einwohnermeldeämtern seine Adresse herausgefunden. N: Nico weiß: Er ist mein Vater. P: Sie weiß, dass er ihr Erzeuger ist, das weiß sie. Aber jetzt, jetzt wo sie endlich hier steht, weiß sie gar nicht mehr, was sie eigentlich jemals hier wollte. V: Nico will den Mann, der in diesem Haus wohnt, fragen, was vor 19 Jahren passiert ist und dann will sie ihn kennen lernen und ihn nett finden und ab und zu was mit ihm machen. N: Nico will sich ein Bild von ihm machen. V: Sie will lächeln, sie will sich freundlich vorstellen, sie will die etwas verworrene Situation mit ruhiger Stimme möglichst übersichtlich darstellen und sich von ihrer besten Seite zeigen. N: Nico setzt sich. Setzt sich auf die Betonstufen des Treppenaufgangs und packt eine Thermoskanne aus. V: Eine Thermoskanne? P: Die hat Nerven. N: Packt eine Thermoskanne aus, gießt sich eine Tasse heißen Tee ein und denkt erst mal nach. Denkt über den Verlauf der Dinge nach.
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Zwischenspiele: Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume
2 Nico (V): Du und ich, wir sind ein Team. Rosa (P): Und dazwischen kommt keiner. Dazwischen kommt keiner. Hörst du, Nico. Dazwischen kommt keiner. Nico (V): Aye, aye, Kapitän Rosa. Rosa (P): Wir haben zwar keinen Mann im Haus, dafür hat jede die andere. Was will ich mit einem Mann, wenn ich doch dich hab? Ich habe mir mein Leben auch ein bisschen anders vorgestellt. Aber jetzt habe ich ja dich. Auch wenn ich vielleicht noch etwas jung bin für so ein Fräulein. Jetzt hab ich dich. Johnny Cash kommt ja doch nicht. Cash (N): Ich nehm dich mit, my sunshine. Eines Tages fahre ich mit meinem neuen, schwarzen Cadillac an and gonna drive everybody wild, because I’ll have the only one there is a round. And it burns, burns, burns. The ring of fire, the ring of fire. Rosa (P): Dann sind wir eben die Familie. Du und ich. Nico (V): Und Omama und der dicke Opa und Claudia von oben drüber und der liebe Briefträger und Suse und mein Meerschweinchen gehören nicht dazu? Rosa (P): Auch zu zweit kann man eine richtige Familie sein. Oder denkst du, dazu braucht es immer einen Vater? Immer unbedingt noch einen Vater? Mein Gott, es braucht nicht für alles immer ums Verrecken noch einen Vater. Nico (V): Mir ist es schon recht so. Rosa (P): Du kannst nicht alles haben, mein Schatz. Nico (V): Stimmt auch wieder. Rosa (P): Wenn uns alle sitzen lassen. Nico (V): Ich lass dich nicht sitzen. Nicht für einen ganzen Koffer weiße Schokolade, ohne Nüsse. Rosa (P): Ich weiß, mein Schatz. Die Männer sind die Schweine. Nico (V): O.K. Rosa (P): Merk dir das fürs Leben, Süße. Meine Süße. Männer sind Schweine. Ich weiß gar nicht wie du so süß werden konntest. Mit so einem. Nico (V): singt ein Lied zum Trösten. Rosa (P): Ich habe auch mal gedacht, bei den Männern gibt es Ausnahmen. Und als ich dann gemerkt habe, dass das gar nicht stimmt, da war ich auch traurig. Rosa weint fast unsichtbar. 138
8 Väter
Nico (V): Zu zweit passen wir im Bus wenigstens bequem auf eine Bank. Deswegen muss man nicht weinen. Ist doch bequem. Rosa (P): Ich wein gar nicht. Nico (V): Nur weil wir nur zu zweit sind, weint eine Mutter nicht. Rosa (P): Ich weiß. Nico (V): Wein nicht, sagt das kleine Schwein, wein nicht. Rosa lächelt. Rosa (P): Ich muss jetzt ein bisschen alleine sein.
4 P: In Nicos früher Kindheit nahmen Omama und der dicke Opa einen unbescheidenen Platz ein. N: Omama und der dicke Opa waren jeden Mittwoch, Donnerstag und Freitagnachmittag, jedes zweite Wochenende, sowie mindestens drei Urlaubswochen pro Jahr für Nico »zuständig«. P: Also ständig zuständig. V: Aber Nico mochte ihre Großeltern, weil sie beim Mensch-Ärgere-DichNicht neue Regeln erfunden hatten. Mit rückwärts spielen und ums Eck. N: Nico mochte die Großeltern, weil sie im kältesten Winter noch im Park spazieren gingen. Und dann so taten als ob sie einen Hund hätten und immer pfi ffen. P: Nico mochte vor allem den dicken Opa, weil er im Garten immer die Maulwürfe abstach. Mit Heringen. N: Und weil er immer sagte: Opa (P): Es kommen bessere Zeiten. Das ist die Regel der Natur. Bei jedem kommen von Zeit zu Zeit bessere Zeiten. : V: Kurz darauf blieb sein Herz stehen. Hörte von einem Augenblick auf den anderen auf zu pochen. P: Man legte ihn in eine Holzkiste und verbuddelte ihn unter der Erde. N: Nico konnte diese Gemeinheit noch Jahre später nicht begreifen.
5 Rosa (P): Das ist Marudur. Er kommt aus Sri Lanka, das ist weit weg. In Sri Lanka sprechen die Leute kein Deutsch und essen keine Knödel. Wir müssen uns alle ein wenig daran gewöhnen, dass Marudur nicht aus unserem und wir nicht aus seinem Land kommen. Aber auch wer sich nicht versteht, kann sich gut verstehen. Deshalb hat er jetzt in seiner und ich in meiner Sprache gesagt, Marudur bleibt bei uns. Und jetzt bleibt er. 139
Zwischenspiele: Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume
Nico (V): Wie lange? Rosa (P): Wenn es gut läuft, sagst du eines Tages noch Papa zu ihm. Wir haben uns doch immer einen richtigen Vater für dich gewünscht. Jetzt tu nicht so, als ob die große Nico niemanden mehr brauchen würde. Nico (V): Alles was ich können will, kann ich auch alleine, wenn ich wollte. Rosa (P): Und wer spielt den Räuber am Kindergeburtstag? Nico (V): Hättest dir besser einen bestellt, der wenigstens deutsch spricht. Rosa (P): Wir erfinden eine Geheimsprache. Die verstehen dann nur wir drei. Wenn wir uns lange genug kennen, müssen wir uns nur noch ansehen und wissen dann ganz genau, was der andere meint. Nico reißt eine Angst erregende Grimasse. Rosa (P): Das versteh ja nicht mal ich. Nico (V): Siehst du.
6 N: Obwohl Nico anfangs nicht an bessere Zeiten glaubte, wurden sie besser. Wurden sie richtig gut. Marudur lernte Nicos Sprache. Nico lernte Marudurs Sprache. Und Rosa, Nicos Mutter trug im Sommer Kleider mit Blumen drauf und ihr langes, rotes Haar wehte in alle Richtungen, wenn die Dreierbande mit ihren Rädern über Feldwege fuhr. P: Heißt, Nico war hammerglücklich. V: Heißt, Rosa war hammerglücklich. N/V/P: Heißt, jetzt war alles gut. P: Wie lange? N: Jetzt. War einfach mal alles gut.
12 Bernt (N/P/V): Ich brauche einen Einfall, ich brauche einen Einfall, Ruhe bitte, ich brauche einen Einfall, könntet ihr ein klitzekleines bisschen ruhiger sein, danke, ich brauche einen Einfall, Kinder, Bernt muss arbeiten, er braucht einen richtig guten Einfall, Kinder habt ihr denn kein Kinderzimmer, Kinder, Kinder, Kinder, Ruuuuuuuuuuuuuuuhe, nein, ich bin nicht die Mama, ich bin der Bernt und der Bernt braucht einen Einfall, einen richtig guten Einfall und dafür muss sich der Bernt jetzt ein klitzeklitzeklitzekleines bisschen konzentrieren, also scheiß auf deine verdammte Blockflöte, Bernt hat jetzt Migräne, dankeschön.
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8 Väter
13 Rosa (P): Das ist jetzt eben Bernt. Nico (V): Ich dachte, du wartest wenigstens auf Johnny Cash. Cash (N): Because you’re mine, I walk the line. Ich hätte dich in meinen schwarzen Cadillac gepackt, my sweetest friend. You never know, dear, how much I love you. But everyone I know, goes away. In the end. Nico (V): Was wohl Marudur gerade macht? Der schaut sich bestimmt im Fernsehen Sachen an. Sachen, die ihn gar nicht interessieren.
17 Nico (N): Ich habe Schallplatten gefunden. Auf dem Dachboden neben meinem Bett. In einer verstaubten Kiste. Eine Art Cowboy-Musik. Ein Mann, der singt. Er singt traurige Lieder. Sie sind englischsprachig, aber ich weiß, dass sie traurig sind und von der Liebe handeln. Ich weiß, wie’s mit der Liebe ist. Sie funktioniert nicht. Die Leute gehen an der Liebe zu Grunde. Die Schallplatten sind von meinem Vater. Ich weiß es deshalb, weil Rosa mir einmal gesagt hat, Nico, die verstaubten Kisten auf dem Dachboden, die sind für dich verboten. Der Mann, der singt, heißt Johnny Cash. Er hat eine dunkle, kratzige Stimme und die Töne sprudeln nur so aus ihm heraus. Was er da singt, mit dem ganzen Schlamassel um die Liebe, das kennt der nämlich alles auch. Und darum klingt es so schön. Wie ein kleines Wunder.
22 Rebel (N): Familie ist ne Erfindung, die haben sie in einem brodelnden Kessel hier unter uns, ein paar Erdschichten tiefer gezaubert. Da hatte der Herr Teufel seine Finger höchstpersönlich im Spiel. Boris Blauauge (P): Mein Alter ist nicht mehr da, seit meine Mutter den Weihnachtsmann zwischen den Schenkeln meiner Adoptivschwester stecken sah. Rebel (N): Ne Utopie. N beschissenes Billigangebot Glück. Du kaufst es, stellst es zu Hause auf, freust dich und schon kracht es ein. Haus, Kind, Hund hat doch ne Lebensdauer wie n Akku von nem Uralthandy. Ohne Drei-Jahres-Garantie, wohlverstanden. Mehmet Bin Laden (V): Meine Schwestern und Brüder haben sich wegen nem Erbe von, Allah sei mit euch, 10.000 Euro so dermaßen die Köpfe eingeschlagen, dass sich jeder geschworen hat, den anderen bis über den Tod hinaus zu verachten. 141
Zwischenspiele: Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume
Der Doppelte Kevin (P): Man hat uns aus dem Bauch gezogen und gesagt, das ist jetzt eure Mutter, ihr seht sie heute zum letzten Mal, weil eure Mutter hat ne Öffnung wie n Walfisch, da flutscht jedes Jahr im Minimum ein Wurm raus, der, wenn’s das liebe Jugendamt nicht gäbe, in wenigen Wochen in ihrer Wohnung verrecken würd. Rebel (N): Die haben uns reingelegt. Haben uns was von Sicherheit erzählt und Liiiiebe, haben uns kleine, fröhliche Kinder gezeigt. Und gut gekleidete Daddys, die sich mit ihnen im Garten austoben. In Wahrheit bleibt alles, wie es nie war. Alles nur ein Werbegag für n spießigen Renault Kangoo. She-She II (V): Ich hab meine Alten gefragt, warum macht ihr es nicht wie alle anderen vernünftigen Menschen und lasst euch einfach scheiden? Aber sie wollen nicht, wollen um alles in der Welt zusammenbleiben, wollen es der Menschheit beweisen: Heiko und Ursula von der Leyen und ihre sieben Kinder sind das letzte überlebende Familienglück im Zeitalter des Hyperindividualismus. Verarschen können sie sich alleine. Rebel (N): Von dem Tag an, als mein Vater erfahren hat, dass er gar nicht mein Vater ist, hat er nie wieder ein Wort mit mir geredet. She-She II (V): Nie wieder? Rebel (N): Nicht mal »Hallo« oder so.
29 N: Dann kam Hermann. V: Dann kam Hermann? Es war doch Samanta, Rosas Lebensabschnittspartnerin, die kam. N: Nur, für Samanta hatte Nico nie besonders viel Interesse. Sondern für Hermann. In den nächsten Monaten war Hermann allein Antwort auf alle großen Fragen. Da war plötzlich einer, der Nico Orientierung lieferte. Und zwar zu 100 Prozent. V: Samanta war studierte Germanistin. Eine interessante Person. Sie kannte die deutsche Literaturgeschichte von hinten bis vorne. N: Natürlich kannte sie deshalb auch Hermann. Und als sie Nico kennen lernte und Nico doch so schweigsam war, dachte sich Samanta, vielleicht wär doch der Hermann was und zog den Steppenwolf aus dem Bücherregal. V: Demian, Siddhartha, Narziss und Goldmund. : N: Hermann nahm Nico mit in eine Welt, zu der weder Rosa noch Shanti, geschweige denn irgendeine Deutschlehrerin jemals Einlass fanden. In eine höhere Welt. Jenseits von dem, mit dem sich Kindermenschen abzugeben vermochten.
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8 Väter
V: Nicht einmal Samanta, die Hermann selbst seit ihrer Jugend kennt, konnte den beiden folgen? N: Nico wollte Hermann für sich alleine haben.
30 Nico (N): Jene kalte Jahreszeit verbrachte ich in innerer Unruhe, die ich wohl keinem Menschen jemals vollständig beschreiben kann. Ans Alleinsein war ich längst gewöhnt, es quälte mich nicht mehr. Ich lebte mit einem Fantasiebild, das meine Zukunft war. Orgelspieler (V): Wir fassen den Rahmen unseres Wesens viel zu klein. Viel zu klein. Nico (N): Aber keine meiner Ideen, keiner meiner Wünsche gehorchte mir, keinen konnte ich zu mir bitten, keinem nach meinem Geschmack eine Farbe geben. Orgelspieler (V): Unsere Persönlichkeit aber bildet sich aus dem ganzen Geschehen der Erde. Vogel (P): Abraxas! Abraxas! Orgelspieler (V): Alles Gute und Böse, das je einmal auf der Welt war, alles ist bei uns, in uns, ist da, als Traum, als Zukunft, als Ausweg. Vogel (P): Der Vogel kämpft sich aus dem Ei. Nico (N): Ich verbrachte meine Tage in der Hitze ungelöschter Begierde und ungeduldiger Erwartung, die mich nun vollkommen wild und wirr machte. Vogel (P): Der Vogel kämpft sich aus dem Ei. Nico (N): Ich wollte ja nichts als das zu leben versuchen, was von selber aus mir heraus wollte. Vogel (P): Der Vogel kämpft sich aus dem Ei. Nico (N): Warum war das so sehr schwer? Vogel (P): Das Ei ist die Welt. Wer geboren werden will, muss eine Welt zerstören. Der Vogel fliegt zu Gott. Der Gott heißt Abraxas. Orgelspieler (V): Wir leben in unserem Wesen mit allem, was in Menschenwesen jemals gelebt hat. Vogel (N): Kennen Sie diesen Gott, der gleichzeitig Gott und Teufel ist?
36 John F. Jr. (N): Hermann Hesse ist kein Gott. Man müsste seine Bücher auf die Liste Jugend zerstörender Literatur setzen. Nico (P): Junior: ich will ein Kind von dir.
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Zwischenspiele: Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume
John F. Jr. (N): Es ist eben so, kein Mensch auf der Welt kann dir die ideale Ethik vermitteln. Keiner. Hesse war doch auch nur ein Nachkomme Tolstois. Nico (P): Hörst du, ich will ein Kind. John F. Jr. (N): Oder Gandhis. Nico (P): Von dir. John F. Jr. (N): Aber sicher, Hesse ist nach wie vor einer der meist gelesenen Schriftsteller weltweit. Nico (P): Du tust jetzt so, als ob du mir nicht zuhörst. John F. Jr. (N): Da fragt man sich natürlich schon, was den Leuten eigentlich fehlt. Nico (P): Aber eigentlich willst du es auch. John F. Jr. (N): Der heilige Vater im Himmel fehlt ihnen. Aber den können sie vergessen. Der hat sich längst in seine Luxusresidenz verzogen. Und lässt sich dort seine Rente auszahlen. Nico (P): Junior: ich will ein Kind. Von dir. John F. Jr. (N): Hörst du mir überhaupt noch zu? Nico (P): Ich weiß, ich bin noch ziemlich jung. Aber mir ist das egal. Ich bin jetzt in der Wirklichkeit angekommen. Ich liebe dich und will ein Kind von dir. John F. Jr. (N): Nur, weil du von der Liebe gelesen hast, weißt du nicht, was Liebe ist. Nico (P): Ein Kind.
39 P: Nico steht da wie blöd. Steht vor einer Einfamilienhaustüre wie all diese blöden, kleinen Mädchen in den Privatsendern, die verzweifelt nach ihren Erzeugern suchen. V: Wenn sie jetzt klingelt und beispielsweise seine Frau die Türe öff net. Nico würde sich schämen. N: Nico fragt sich, ob diese fremden Menschen wohl ein perfektes Leben führen. V: Oder wenn jetzt plötzlich Kinder vor ihr stehen würden. Seine Kinder, sein ganzer Stolz, diejenigen, die seine ganze, unerschöpfliche Liebe abgekommen haben. Nico würde sich vorkommen wie ein vergessener Koffer. P: Diesem normalen Mann, dieser normalen Frau und diesen normalen Kindern, die in diesem normalen Haus wohnen und ihr normales Leben führen, fehlt nichts, ihnen fehlt überhaupt nichts. N: Nico denkt darüber nach, was einem ohne Vater eigentlich wirklich fehlt und ob einem eigentlich wirklich was fehlt. 144
8 Väter
V: Dieses Haus, das ist ein richtiges Zuhause. Wo Menschen gerne hinkommen und gerne wohnen. Wo Menschen am Ende des Tages hinkommen, gemeinsam essen und den Tag gemeinsam beenden. P: Nico wird klar, dass da in ihrem frühen Leben was eindeutig gefehlt hat und dass das auch in Zukunft nicht aufhören wird zu fehlen. Eine Leerstelle. Ein schwarzer Fleck. Ein Loch, das sich nicht einfach stopfen lässt. Mit einem kurzen Besuch bei Mr. Unbekannt. V: Vor diesem großen Haus, diesem Zuhause, dieser überdimensional großen, warmen Stube fühlt sich Nico plötzlich ziemlich klein. P: Viel zu klein, um noch irgendetwas zu unternehmen. Zum Beispiel so was wie das Betätigen der Klingel unter diesem scheußlichen Messingschild. N: Andererseits, fragt sich Nico jetzt, wem fehlt eigentlich nichts?
40 […] Rosa (P): Ist es nicht ein Elend mit den Müttern? Ich habe mir doch geschworen, dich diesmal zum Teufel zu jagen. Geschworen habe ich. Und jetzt? Nico (N): Nicht aufregen, Rosa. Du musst dich schonen. Rosa (P): Hast du wirklich gedacht, du kannst hier kommen und gehen, wann du willst? Hotel Mama? Wo ist der Zusammenhalt geblieben? Nico (N): Wir waren doch gar nie wirklich zusammen. Was hätte ich da halten sollen? Rosa (P): Wir waren eben nicht wie andere, wir waren eben wie wir. Wie wir es für richtig hielten. Eine schräge Bande halt. – Nico (N): Erzählst du mir von meinem Vater? Rosa (P): Ein anderes Mal. Nico (N): Jetzt. – Rosa (P): Wir wollten dich auf den Rücken binden und einmal um die Welt reisen. Nico (N): Wirklich? Rosa (P): Aber dann ist dein Vater doch alleine gefahren. Der Weltenbummler. Nico (N): Wir sind alle Nomaden.
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Zwischenspiele: Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume
41 Nico (N): Manche Leute fragen mich, warum ich immer so ein ernstes Gesicht mache. Ich weiß es nicht. Das bin wohl einfach ich, Nico Katz, 19 Jahre alt, Kind von Rosa, die meine Mutter ist und der ich nicht entkommen kann. Mit 19 war Rosa schwanger. Ein Unfall, wie man so sagt. Von da an wurde es kompliziert. Kann es sein, dass mein Leben nur eine Wiederholung ist? Dass das eigene Verhalten, die eigene Persönlichkeit, das, was einem so ausmacht, eine Schablone ist, ein vorgefertigtes Muster, ein genetischer Fahrplan, den man, ob man ihn mag oder nicht, befolgen muss? Meine Mutter ist durchgeknallt. Sie hält es mit keinem Menschen aus. Sie trinkt und raucht. Sie flippt rum und lacht viel zu laut und kann nicht singen. Sie ist die stärkste und die schwächste Frau, die ich kenne. Sie ist die wärmste und die kälteste. Dunkel und hell. Sie ist überall. Sie ist in mir drin. Sie ist mein Haar, meine Haut. Mein größtes Vorbild, meine Schreckensvision, mein Zuhause, mein Käfig, meine Liebe, meine ganze, unzähmbare Wut, mein Herz, mein Blut, ich kann ihr nicht entkommen. Sie ist immer dabei.
42 V: Jetzt klingelt Nico. P: Sie klingelt nicht. V: Sie klingelt, sie klingelt, sie klingelt. P: Sie hat längst entschieden, nicht zu klingeln. V: Die Klingel klingt laut und tief und klassisch. N: Vielleicht kommt Nico aber auch morgen noch einmal oder in einem Jahr. Und klingelt dann. V: Aber sie ist doch aus einem einzigen Grund hierher gekommen. Sie ist hierher gekommen, um zu klingeln. Warum klingelt sie denn jetzt nicht? N: Eines Tages wird geklingelt. V: Eines Tages? N: Aber Nico wartet noch ein wenig ab. Wartet den richtigen Tag ab. Und klingelt dann.
E PILOG Shanti (V): Mama muss dir was sagen, Nico. Was unglaublich aufregendes. 146
8 Väter
Na, Mama? Nico (N): Was denn? Shanti (V): Dass sie auf diesem Konzert war. Als junge Frau. Rosa (P): Verschon uns, Shanti, verschon uns. Shanti (V): Und dann am Ausgang auf ihn gewartet hat. Na, Mama? Na? Wie er raus kam und direkt auf dich zu gekommen ist. Rosa (P): Hätt ich’s dir doch nicht erzählt. Shanti (V): Mama. Dein großer Held. Rosa (P): Da war doch gar nichts. Shanti (V): Nichts? Was nichts? Und dann? Rosa (P): Niiichts. Shanti (V): Wie ist die Nacht verlaufen? Rosa (P): Dafür bist du noch viiiiel zu jung. Shanti (V): Was, was, was, was, was? Nico (N): Shanti, auf was willst du eigentlich hinaus? Shanti (V): Du willst es doch auch wissen, Nico, tu doch nicht so. Rosa (P): Give my love to Rose please won’t you mister Take her all my money, tell her to buy some pretty clothes Tell my boy his daddy’s so proud of him And don’t forget to give my love to Rose Shanti (V): Es war Johnny Cash, nicht wahr? Johnny Cash ist Nicos Papa. Alle drei lachen. Nico (N): Vielleicht bin ich auch das Jesuskind. Rosa (P): Wer weiß. Shanti (V): Oder du bist die Tochter von Einstein. Oder dem Erfinder von diesem Milchschaumgerät, das Mama so begeistert. Nico (N): Das hoff ich doch sehr. Rosa (P): Ach Shanti, von wem hast du nur deine durchgeknallte Fantasie? Shanti (V): Du hast es gut, Nico. Nico (N) : Ich hab es gut. Nico legt Rosa vorsichtig den Arm um die Schultern. Shanti (V): Mit deinen vielen Vätern. *** 147
der hang zum grundsätzlichen Georgia Doll
utopien sind immer nur scheintot. gustav landauer, 1907 à nous, aude
Personen Nathalie, jüngste Rieke, älteste Mario, in der mitte
theoretisch ist es die nacht des 1. april 2008, ein datum wie ein witz, 40 jahre nach der gründung der RAF. praktisch ist heute.
vor mitternacht. das aquarium. an der theke. Rieke: vietnam die kulturrevolution die berliner mauer das hat alles leichter gemacht Nathalie: das und lsd Rieke: und gelassen haben sie cohn-bendit und den neo-liberalismus
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der hang zum grundsätzlichen
Nathalie: und uns die produkte ihrer kollektiventjungferungen auf dem hochbett Rieke: mal im ernst unsere triste epoche nannten sie damals ihre »zukunft« was wird unsere? Nathalie: darauf trink ich macht ein zeichen zur bar. hey kellner keine antwort. heho kellner. Mario: ich? Nathalie: zwei wodka oder bring uns besser gleich ne flasche wir haben eine zukunft zu ersaufen Mario: wir haben nur kurze Nathalie: da stehn doch flaschen. Mario: die dürfen wir nicht rausgeben ist gegen die hausordnung. Nathalie: und warum? Mario: wir haben halt kein recht will gehen. Nathalie: ihr habt kein recht? jemand nimmt dir ein recht weg und du fragst noch nicht mal nach, warum? Mario: ich hab da grad keinen kopf für geht und schreibt wieder in sein buch. Nathalie: hat seinen kopf nicht zum denken … wofür hat er ihn dann? Rieke: um uns mit seiner schönheit zu verzücken. sie lachen. Nathalie: findest du? Rieke: was? Nathalie: ihn schön. Rieke: trinken wir nun? Nathalie: hey hübscher kellner Mario: kommt zurück ja? Nathalie: bring trotzdem wodka. im rahmen deiner rechte. mario bringt ihnen zwei kurze. 149
Zwischenspiele: Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume
Nathalie: besten dank herr kellner. richtig nett herr kellner. Mario: ja, ja. geht wieder weg. Nathalie: trinken wir auf 2048 wenn wir nicht mehr die hände hissen müssen zum bestellen unsere getränkeliste wird automatisch runtergeladen aus dem chip im kopf Rieke: wenn wir nicht mehr trinken müssen um die träume von gestern zu vergessen das gedächtnis wird abgeschaff t sein sie stoßen an. Nathalie: 2048 runter damit. sie trinken. Nathalie: steht auf. hoffentlich werden sie uns wenigsten selbstreinigende blasen implantieren. nathalie ab. eine weile. rieke schaut zu mario der zu rieke schaut und lächelt. rieke wird rot, ohne zurückzulächeln. Mario: entschuldigung, – ich hab aus versehen mitgehört, warum 2048? Rieke: wir trinken auf die zukunft weil sie das einzige ist, was uns bleibt Mario: ihr seid wohl russen? Rieke: russen? Mario: der wodka die nostalgie Rieke: der wodka, ja das ist, weil wir den einzug der revolution ins geschichtshistorische museum feiern Mario: die revolution? welche? Rieke: na, die letzte. Mario: ah – schweigen. auftritt nathalie. und, was macht ihr sonst so, im leben? Nathalie: kuck mal 150
der hang zum grundsätzlichen
der hat seinen kopf jetzt doch zum fragen stellen Mario: sagt mal Rieke: ich studiere angewandte soziologie Mario: was macht man da? Rieke: Analyse und bearbeitung sozialer probleme Mario: welche probleme bearbeitet ihr? Rieke: bis jetzt ists mehr analyse systemforschung und so Mario: und dubist du auch studentin? Nathalie: ich bin gasthörerin pause. ich war mal so was wie du wir feiern meine freilassung Rieke: du meinst, deinen rauswurf Mario: du wurdest gefeuert? warum? Nathalie: ich habe eine wodkaflasche verkauft Mario: das wird zur fi xen idee. Nathalie: hast wohl angst, auch gefeuert zu werden? Mario: mir ist das egal. das hier ist ja nicht mein leben – Nathalie: und was machst du in deinem echten leben? bestimmt schauspieler. sie lachen. Mario: ich schreibe. Rieke: ein Poet! drum! der will sich nicht bemerkbar machen seine geheime identität bewahren Nathalie: wie superman, was Mario: ich muss mir nichts beweisen. solang mir zeit zum schreiben bleibt – Rieke: und du denkst, das macht dich schon zum besseren menschen? Mario: das hab ich nicht gesagt. Rieke: denkst du aber. du bist nicht nur Kellner 151
Zwischenspiele: Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume
du bist obendrein Künstler deine waffe ist der stift Mario: mit euren pseudo-parolen seid ihr nicht gerade im richtigen laden Rieke: wir wenigstens spielen hier nicht die sklaven im frack Mario: ihr spielt die konsumenten ja pause aber schon klar wer bringt heutzutage noch haltung und handlung zusammen geht weg. Rieke: komm wir haun ab. Nathalie: aber bevor wir abhaun – sie steigt über den tresen und greift nach einer flasche wodka. Mario: kommt zurück hey was machst du da? Nathalie: seelenruhig ich breche das siebte gebot. Mario: und was soll ich jetzt machen? Nathalie: du kannst hier bleiben und weiter zeit gegen geld tauschen oder auf was härteres umsteigen (sie hebt die flasche und betrachtet den pegel) die ist voll genug für drei. stimmt’s? Rieke: wenn du meinst. Nathalie: traust dich, kellner? Mario: darum geht’s nicht und hör auf, mich kellner zu nennen. Nathalie: traust dich nicht, kellner!? nach einer sekunde des zögerns steigt mario über den tresen. alle drei rennen zur tür hinaus. /schneller übergang/
der pakt. eine straßenkreuzung. Rieke: frag ihn 152
der hang zum grundsätzlichen
Mario: mario. Rieke: frag mario moretti was er machen will Mario: ich bin ab sofort arbeitslos und verfügbar Nathalie: ja los lass uns was machen Rieke: und was? Nathalie: scheißegal, was machen halt … sie singt: die nacht ist jung sie altert schnell der mond steht schräg die zukunft kommt wir rennen voran die schatten folgen auf dem fuß Rieke: wir könnten eine empirische studie machen so als selbstversuch Mario: wie meinst du das? Rieke: die nacht zusammen verbringen … Mario: ja Rieke: alle drei die ganze nacht Mario: ja Rieke: ein kollektivexperiment machen Mario: ja, ja … Rieke: zur widerlegung deiner theorie Mario: meiner theorie? Rieke: ja über die unvereinbarkeit von tat und wort Mario: meine theorie klar Rieke: bis morgen früh 5 uhr 37 – sonnenaufgang laut internet – müssen wir versuchen zumindest einmal konzept und umsetzung, vorstellung und wirklichkeit zusammen zu bringen 153
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kurze pause. das heißt wir müssen’s tun wie wir’s denken und wenn wir’s denken müssen wir’s tun – auf der grundlage eines gemeinsamen handlungskonsens einverstanden? Mario: okay. Nathalie: klingt lustig. Rieke: vorschlag einschlägig angenommen. Nathalie: wann geht’s los? Rieke: jetzt. pause. sie schauen sich an. Nathalie: wodka?
die welle auf einer brücke. Mario: ich wusste, dass du das sagst. Rieke: ein déjà-vu Nathalie: vielleicht sind wir schon mal da gewesen der gleiche ort, die gleichen leute aber etwas ist anders als will uns wer testen Rieke: das würd ich paranoia nennen Nathalie: hievt sich auf die brüstung das ist die Matrix Mario: hab ich nicht gesehen Nathalie: du hast nicht die matrix gesehen? sie balanciert auf der brüstung. dann hast du nichts gesehen … Mario: hast du lust zu sterben? Nathalie: heut grad nicht. setzt sich auf die brüstung. schau mal da sind schwäne eine ganze herde Rieke: das sind gänse Nathalie: wo die hinschwimmen so mitten in der nacht 154
der hang zum grundsätzlichen
Rieke: als wenn gänse wohin müssen die baden mario notiert sich etwas in seinem heft. Nathalie: was schreibst du, mario? Mario: ist was persönliches. nathalie schnappt ihm das buch aus der hand spinnst du gib das sofort wieder Nathalie: ihn mit einem arm auf abstand haltend zwei mädchen, fremd die eine hell leuchtet die andere dunkel verborgen eine nacht, ungeschrieben sie sind zwei er/ich – der blick nach dem grund wuchert hervor aus unterschwelligen affinitäten blickt ihn vielsagend an. Mario: gib her sie gibt ihm das buch mit einem lächeln. das ist mein geistiges eigentum du hast kein recht, das öffentlich zu lesen. Nathalie: ist doch lustig Rieke: spionierst du uns aus? Mario: das war privat Rieke: das sind nicht wir die dunkle und die blonde das bist nicht du der protagonist/poet? Mario: es geht euch nichts an, was ich in mein buch schreibe Rieke: du hältst uns wohl für laborratten Mario: die Autofi ktion ist das genre der zukunft Rieke: muss bequem sein immer so auf abstand zum leben zu stehen Mario: ich weiß nicht, was du damit sagen willst. Rieke: du recherchierst, was? du erfährst nicht, du beobachtest 155
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du lebst nicht, du sammelst ich wette, du kannst einen authentischen augenblick gar nicht erkennen Mario: aber du, ja? rieke ergreift das buch und wirft es ins wasser. mein buch! meine ganzen gedanken sind da drin. Rieke: da schwimmt sie hin die geschichte … Mario: hol mir das wieder ich will, dass du mir das zurückholst, verstehst du? Rieke: willst du, ja? Mario: du springst in die brühe rein und fischt mir mein buch raus! Rieke: wenn du willst … springt von der brüstung Nathalie: endlich action. im springen: RETTET DIE GESCHICHTE ! Mario: das ist eine leihuniform. zieht sich die jacke aus und hängt sie auf den brückenpfeiler. wartet! ich komme jaer steigt auf die brüstung. ICH KOMME! er springt.
der spielgrund. zwischen plattenbauten. zwei schaukeln. einer lehnt. Nathalie: freie zeiteinteilung für alle Rieke: was hast du eigentlich genommen? Nathalie: stimmt doch die menschen sind traurig wie sie abends in der ubahn stehen ihre hände kommen sich auf der haltestange nah doch sie sehen sich nicht ihre augen fi xieren die Tafeln Mario: man hat doch noch die freizeit wo man tun und lassen kann, was man will Nathalie: die Freizeit! 156
der hang zum grundsätzlichen
als wär man die restliche zeit eingesperrt »vollzeit« oder »teilzeit« Rieke: grinsend du bist doch eh arbeitslos Nathalie: wenn das ist die offizielle definition meines zeitvertreibs ist … noch das fahnenflüchtigste dasein braucht ein etikett »wochenende« »ferien« »mutterschaftsurlaub« »in rente« »im grab!« ich rede von zeit die ganz sich gehört befreit von ihrem nutzwert Rieke: sonst noch was? Nathalie: steht im schaukeln auf ja die liebe auch seit sie die zeit domestiziert haben, klappt die liebe nicht mehr ansonsten wäre vielleicht das liebespaar eine echte gefahr für die ordnung der gesellschaft denn das liebespaar braucht nichts als zeit Rieke: über die vorbeifliegende nathalie hinweg zu mario sie ist eine Anarchistin eine echte Nathalie: nein danke ich brauche keinen begriff für mein denken mir reicht ein vorname Mario: warum tust du so, als wenn worte immer automatisch einschränken? ein wort kann ein innenleben haben Nathalie: begriffe fesseln einem das denken Mario: im gegenteil ohne worte hat man keinen gedanken und ohne gedanken ist man überhaupt niemand man muss sich bloß die worte wieder zu eigen machen sich seinen eigenen sinn schaffen 157
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Rieke: ihr wollt also die zeit und die wörter befreien abstrakter geht’s nicht? Mario: du hast ständig was zu kritisieren und selbst nicht viel zu sagen Rieke: ganz weit oben man muss sich zu gehör bringen springt von der schaukel. Mario: du meinst so was wie konzerte für den weltfrieden lichterketten schweigeminuten Rieke: das einzig wirklich hörbare ist das, was genauso gewaltsam ist wie die gewalt des systems das nur vorgibt uns zuzuhören Nathalie: zu mario. sie ist eine terroristin eine echte springt hinterher. Rieke: bomben sind nicht aussagekräftig man muss das anders angehen beim geld muss man ansetzen Mario: willst du die ezb sprengen? Rieke: das ist nur kleingeld im umlauf in den netzwerken da liegt das echte geld Rieke: alles alles spielt sich zwischen den nullen und den einsern ab die banken die großkonzerne das kapital schwarze ziffern auf weißen bildschirmen Nathalie: rittlings auf dem dach des spielplatzhauses cyberpirat muss man sein die börse sprengen bill gates über nacht zum sozialfall machen Rieke: die schulden der armen länder löschen 158
der hang zum grundsätzlichen
Nathalie: die bankgesperrten befreien Mario: redet ihr von heute nacht oder sehen wir uns dann nach zehn jahren im trainingslager von microsoft? Rieke: ohne was gehts nicht? von was hängt alles ab? Nathalie: ein bankkonto Rieke: strom das ist das blut der stadt sie steigt auf die drehschreibe kennt ihr das e-werk im süden auf dem hügel Nathalie: der reaktor ja den seh ich jeden morgen wenn ich aus dem fenster schau Rieke: läuft los wir waren da mal drin mit der schule am wandertag »um uns das tschernobyl-trauma zu nehmen« während der führung hab ich mich mit ner klassenkameradin weggeschlichen und wir haben in den gängen verstecken gespielt dann kam das chaos alarm, sirenen, es hat nicht gedauert, sie haben uns nach ein paar minuten gefunden der lehrer hat geheult aus angst vor einem disziplinarverfahren der führer hat uns angebrüllt und danach hat er mit ernster stimme gesagt dass das hätte böse ausgehen können dass wir hätten sterben können die klasse elektrisch erschlagen oder die region verseuchen weil in einem system immer lücken sind und manchmal reicht eine ausgekippte flasche cocacolasie bleibt stehen und dreht sich rückwärts zurück. wochenlang hab ich geträumt die stadt in schutt und asche und ich und gudrun spielen verstecken in den ruinen und kichern Mario: wann war das? 159
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Rieke: in den frühen neunzigern Mario: dann war’s nicht am netz meinst du, sonst hätten die kinder da rein gelassen? Rieke: was sagst du? sie springt auf den boden. die scheibe dreht sich langsam aus. Mario: das werk nach dem brand 89 wurde es abgestellt erst wollten sie’s schließen dann haben sie’s grundsaniert nathalie beginnt hinunterzuklettern. Nathalie: was für’n brand Rieke: woher weißt du das alles? Mario: mein alter hat da gearbeitet Rieke: dein vater? Mario: ja mein vater und ich auch Nathalie: du? Mario: als nachtwächter mein alter wollte, dass ich mich bekannt mache um nach der penne einen job klarzumachen kurze pause. am tag der zeugnisvergabe hab ich ihm gesagt dass ich schreiben will und er mir dass er krebs hat damit war das thema dann vom tisch – […] der hang. der gleiche ort, die gleichen leute. etwas später. […] Rieke: man muss sich entscheiden leute wir haben eine deadline Mario: wenn wir uns entscheiden, gemeinsam weiter zu denken ist das nicht auch handlung? Rieke: nein. Mario: vielleicht doch Rieke: was soll das? du bringst uns hier her wolltest du dich mal lebendig fühlen und jetzt reicht’s, du hast genug gefühlt 160
der hang zum grundsätzlichen
du willst nach hause, echte sätze in dein buch schreiben? oder hast du einfach keinen saft mehr in den eiern? pause. mario berührt ihre lippen mit den fingern. Rieke: was – was soll das? Mario: auch wenn du ihn als waffe benutzt der mund ist weich Rieke: du du bist – Mario: was? ich bin was? pause. Rieke schwach bekloppt. mario lächelt. pause. sie sehen sich an. Nathalie: was ist’n jetzt los? heiratet ihr unterm hochspannungsmast und kriegt kinder zusammen Rieke: gar nicht. Nathalie: hast doch selbst gesagt, dass er dir gefällt Mario: das hast du gesagt? Rieke: spinnst du der da das ist ein weichei ein luxusträumer Nathalie: glaubt dir keiner aber das ist auch typisch eben noch revolte schreien und bei der ersten gelegenheit trautes heim, glück allein, und jede menge nachwuchs, was? Rieke: bestimmt nicht und kinder schon gar nicht schon aus prinzip nicht kinder sind die keimzelle des kapitalismus Mario: was redest du da? Rieke: ist doch klar sobald kinder kommen, ist alles im arsch im namen der mutterliebe dem kaufrausch freien lauf lassen unter dem vorwand »sie sollens mal besser haben« den weltfrieden gegen festes gehalt tauschen 161
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kinder sind ein plärrender einkaufszettel, mit der babynahrung, der schiebekarrne, den zahnarztbesuchen, den ponyhof-ferien, den kindergeburtstagen bei macdonalds, dem ganzen verdammten scheiß Mario: jetzt redest du echt nur müll Rieke: der anfang des abstiegs in die kleinbürgerlichkeit pause. Mario: für wen? Rieke: für wen was? Mario: für wen will man was tun? Rieke: na für die menschen Mario: und wer ist das? Rieke: na wir. Mario: wir sind hier ein grad noch paar jahre. man muss doch auch was in die welt tragen nicht immer alles runterreißen niedermachen auf bauen auf dem bestehenden Rieke: das wäre was? zwei weltkriege und eine klimakatastrophe? Mario: ein bild vom menschen ich weiß nicht ein satz ein wort Rieke: bla bla bla Mario: was bliebe von uns was bliebe von meinem vater ein paar hunderten durchlöcherter stempelkarten in den firmenarchiven die bezeugen, dass er da war montags bis freitags von acht bis achtzehn uhr was bliebe von ihm Rieke: und irgendwann stirbst auch du das ist das leben, junge Mario: weißt du was? 162
der hang zum grundsätzlichen
es sind leute wie du, die die welt zu fall bringen denn deine schönen reden, die wirst du mit dir beerdigen wenn du glaubst, wir sind die letzten dann steh hier nicht und red von verantwortung geh ans ende deiner logik lass die champagnerkorken knallen fackel den regenwald ab fahr in die dritte welt und zeig den armen, wie sie schneller sterben aber dann meine liebe rieke dann bist du das leibhaftige letzte gericht wenn du nicht an den menschen glaubst spreng die bohrtürme aber spreng auch die greenpeace-schiffe geh in die vollen wenn du keine kinder willst, warte nicht mach krieg gegen den menschen aber den ultimativen damit es ein für alle mal zu ende geht mit der misslungenen spezie, die wir sind
[…]
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das geisterschiff Margareth Obexer
»Wir haben vielleicht das Brett vor dem Kopf, das der Wand fehlt.« Hans Henny Jahnn Personen 1 Journalistin – jung 1 Journalist – jung 1 Kuratorin – jung bis Mitte Ende dreißig Passagier 1 – mittleres Alter oder älter Passagier 2 – mittleres Alter oder älter Fischer, jung bis Ende dreißig Assessore, mittleres Alter Bürgermeister, mittleres Alter bis älter Pfarrer, älter Kurze Bemerkung: Obwohl es unterschiedliche und wechselnde Schauplätze gibt, empfiehlt es sich, sie nicht naturalistisch, sondern in einem einzigen Bühnenraum darzustellen. Die Figuren sind teils schon anwesend oder bleiben nach Auftritt auf der Bühne, was dem Charakter eines zwar fi ktiven, aber auf Dokumentation begründeten Theaters Rechnung trägt, das auch die Möglichkeit einer »Verhandlung« birgt. Film- und Videomaterial, das das Schiffswrack sowie andere Schiffe und Flüchtlingsboote visualisiert, sowie Live-Cams, die den Zuschauer als Zuschauenden zeigen, können gern in Erwägung gezogen werden.
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das geisterschif f
4. S ZENE Am Hafen Journalistin: Ins Mikrophon sprechend Wir befinden uns am Hafen von Portoceleste, der die typische Idylle eines kleinen Mittelmeerhafens aufweist. Das Gleißen der grellen Wintersonne auf den Wellen spiegelt sich unruhig in den Fensterscheiben des nahegelegenen Fischrestaurants. Hier gelangt der Fisch direkt von den Händen der Fischer in die Hände der Köche, die ihn fangfrisch zubereiten. Nichts deutet darauf hin, dass an diesen Händen Blut klebt. Die Spuren sind verwischt und vergeblich sucht das Auge nach Hinweisen darauf, dass sich an diesem Ort eine der größten menschlichen Fehlentwicklungen zutrug. Mit misstrauischem Blick wird das Kameraauge wahrgenommen. Ein erster Fischer kehrt uns den Rücken. Galt die Spucke des Fischers auf den Müll, der mit den Wellen gegen die Mauern des Hafens schwappt, womöglich uns? Unverhohlen stochert ein anderer in seiner Backenzahnlücke. Sein schwarzer Hund, der eben noch manierlich dalag, dreht sich auf den Rücken und zeigt uns unerschrocken seinen rosaroten (…) Ein breites Grinsen huscht über die Boote. Dicht am Mikrophon vorbei schlug gerade die flüssige Hinterlassenschaft einer Möwe vor uns nieder. Es liegt auf der Hand: Journalisten sind hier nicht gern gesehen. Schaltet das Gerät aus So. Mir knurrt der Magen. Lass uns essen gehen.
5. S ZENE Passagier 2: Ich habe die Gewohnheit, einen Globus bei mir zu haben, der nachts im blauen Licht leuchtet. Passagier 1: Was wollen Sie damit sagen? Passagier 2: Eine Gewohnheit. Nichts weiter. Passagier 1: Gehässig beleidigt Wie aufregend. Passagier 2: Gestern Nacht strich ich mit dem Finger darüber, über die Ozeane und Kontinente und die kleinen punktuellen Erhebungen eingetrockneter Fliegenscheiße, und ich dachte: während sich die Erde dreht und dreht, fallen die Toten von ihr ab, beinahe wie die Fliegen, möchte man meinen, während sie sich weiter dreht und dreht. Pause Passagier 1: Helfen Sie mir weiter. Passagier 2: Neben dem Globus lag die Einladung zum Kongress – ich suchte im Netz nach dem untergegangenen Kutter und ihren fast 300 Leichen, dem Anlass für diese Zusammenkunft. Gemeint ist doch 165
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wohl das Unbehagen an den Toten, oder les ich da etwas falsches heraus, bei »Erscheinungen«. Ich suchte, etwas in Richtung Unbehagen zu empfinden. Passagier 1: Diese Empfindungssuche. Ich würde gerne fortfahren. Passagier 2: Ich dachte, Sie wären am Ende. Passagier 1: Am Ende??? Passagier 2: Sie sind noch nicht am Ende? Passagier 1: Ob ich am Ende bin?? Sie stellen seltsame Fragen. Wenn Sie fragen. Passagier 2: Was meinen Sie? Passagier 1: Nichts. Gar nichts. Kurze Pause Mangel an Aufmerksamkeit. Damit fängt alles an. Jede Katastrophe beginnt mit Gleichgültigkeit und Ignoranz, setzt sich fort über Gleichgültigkeit und Ignoranz und endet schließlich: Mit Gleichgültigkeit und Ignoranz! Das könnte direkt ein neuer Aufsatz sein. Also. Passagier 2: Also was? Passagier 1: Sie haben noch nicht gesagt, wie Sie meine These finden. Passagier 2: Ich sagte, angesichts der fast dreihundert Toten suchte ich etwas in Richtung Unbehagen zu empfinden – wie es der Kongress den Teilnehmern nahe legt oder auferlegt – je nach Gusto. Passagier 1: Je nach Gusto?! Passagier 2: Von solcherlei Katastrophenmeldungen, meist nicht länger als Berichtigungen, nehme ich sonst kaum Notiz, es sei denn, die Einladung zu einem Kongress fällt zufällig damit zusammen. Passagier 1: Was ist jetzt mit Ihrem Unbehagen. Passagier 2: Ich blickte auf den Globus, dann auf die Einladung, und ein Gedanke ging mir durch den Kopf: Sie starben genauso beiläufi g, wie das Leben zufällig ist. Er zieht röchelnd am Strohhalm Passagier 1: Und dafür haben Sie mich unterbrochen?? Passagier 2: Ich denke an den Zufall, der es allen, die sind, ermöglicht hat, zu sein: angefangen von der idealen Sauerstoffzusammensetzung, dem nötigen Klima, einem genügenden Abstand zur Sonne, um nicht zu verbrennen, der erforderlichen Nähe, um nicht zu erfrieren – bis hin natürlich zur Vereinigung von Ei- und Samenzelle und: der idealen Gleichschaltung der Hirnregionen für das Bewusstsein des eigenen Ich – um beim Gröbsten zu bleiben. Eine galaktische Zufälligkeit. Er stochert im Glas Wir jedoch kehren nicht mit derselben Beliebigkeit ins Nichts zurück, zumindest hat man sich darauf geeinigt, diese siebzig, achtzig Jahre 166
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mit einem feierlichen Abgang zu vollziehen. Einem Begräbnis. Möchten Sie noch einen? Passagier 1: Ich mag nicht mehr. Passagier 2: Sie hingegen nicht. Passagier 1: Wen meinen Sie. Passagier 2: Diese Toten. Passagier 1: Ach die. Passagier 2: Sie haben sich mit derselben Zufälligkeit, Beiläufigkeit und Beliebigkeit ins Nichts zurückfallen lassen, aus der wir kommen. Ganz, als ob sie zwischen der Möglichkeit zu sein, und der, nicht zu sein, keinerlei Unterschied erkannten. Sie haben sich so freimütig dem Tod überlassen, dass der Tod selbst sie noch einmal freigegeben hat! – sie nach oben gespült hat, weil auch er nichts damit zu tun haben wollte! Doch auch die Lebenden wollten nichts damit zu tun haben! Daraus ist mir nach einigem Nachdenken ein Unbehagen entstanden. Passagier 1: Ironisch Bravo! Passagier 2: Danke. Ich könnte mich richtig ärgern, sogar. Um genau zu sein: als Bestattungsunternehmer könnte ich direkt aus der Haut fahren! Überlegen Sie mal! Fast dreihundert Leichen! Das wären dreihundert Begräbnisse! Eine Villa! Verstehen Sie! Eine weiße Villa im Grünen! Passagier 1: Mir wird gleich schlecht. Passagier 2: Irgendein Unbehagen sollte man doch mitbringen – wenigstens, um zu wissen, wogegen man ist, vielleicht sogar, um etwas zu tun. Meinen Sie nicht? Passagier 1: Etwas tun?? Passagier 2: Etwas tun. Passagier 1: Und wie wollen Sie Katastrophen verhindern?! Passagier 1: Ich sage das nur um Ihnen zu verraten, wie ich am Ende doch noch zu einer sehr pfi ffigen Idee gekommen … Passagier 1: Ich war noch nicht am Ende! Ich hatte meine These noch nicht … noch nicht hieb- und stichfest gemacht. Ich wollte Ihnen nur mit einer Denkpause Gelegenheit geben, auf sie zu antworten, auf sie einzugehen, darüber zu befinden … Passagier 2: Kommen Sie, ich lade Sie zum Essen ein.
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6. S ZENE Im Restaurant. Sie hebt das Glas. Journalistin:Auf die Toten, das Wrack, den Totenschein! Auf die Wahrheit, und darauf, dass wir hier sind! Journalist: Auf den Preis. Sie stoßen an Journalist: Wie wollen wir das angehen, aufrollen, einteilen, das Ganze … und wieder loswerden? Journalistin Mmh. Journalist: Wo ist der Feind, der Schurke, der Betrüger? Wenn nicht alle? Der Kapitän? Die Schmuggler? Die Fischer? Die Politik? Europa? Die ganze Welt? Also niemand? Journalistin: Mmh. Investigativ. Wir machen das ganz investigativ. Journalist: Mmh. Journalistin: Ja genau, festnageln, Pistole an die Brust und ab gehts … Journalist: Sollten wir nicht lieber vorher fragen? Journalistin: Was fragen? Journalist: Ob ihnen das recht ist, wenn wir investigativ sind. Journalistin: Du hast das Seminar geschwänzt, nicht wahr. Du Idiot.Sonst würdest du jetzt wissen, was investigativ heißt, das ist Bohren wie beim Zahnarzt, Ausquetschen, Kitzeln, verstehst du? Also: Würden Sie es wieder tun? Oder gibt es ein Bedauern? Eine Einsicht? Einen Fehler, bis dahin, dass es sogar leid tut? Haben die weggeworfenen Toten Sie verändert? Könnten sie uns alle verändern? Benötigen wir Tote, um bessere Menschen aus uns zu machen? Würden Sie sagen, die Toten hatten einen Sinn? Als eine Art Reinigungsprozess? Würden Sie solche Art Reinigungsprozesse befürworten? Regelmäßig, am besten? Was wird sich ändern? Wird sich etwas ändern? Und dann: Wie halten Sie es mit der Bergung!? Mit einem Totenschein? Mit! Überhaupt! Mit allem, was man so tut?? Journalist: Calamari fritti. Der Wein ist hervorragend. Was wirst du mit dem Preisgeld machen? Journalistin: Mmh, verschleudern, eine Reise, vielleicht? Du? Journalist: Ich leg es an. Journalistin: Du legst es an? Journalist: Altersrente. Ich geb es in die Altersrente. Journalistin: Hätt ich nicht gedacht. Journalist: Eben. Also aufpassen, dass wir den Preis nicht nicht kriegen! Journalistin: Sag ich doch. Also los. Journalist: Schnell jetzt. Journalistin: Aber dalli. 168
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Journalist: Er schaut sich um Es ist alles so abwesend! So wahnsinnig abwesend! Wo sind sie denn alle? Journalistin: Tot. Journalist: Könnten wir nicht die fragen, die es wissen? Journalstin: Die es wissen, sind tot. Journalist: Die nicht tot sind. Journalistin: Sind illegal und sprechen nicht, oder wurden abgeschoben. Journalist: Vielleicht ist alles ganz banal, in Wirklichkeit. Einfach nur banal, schon fast poetisch. Weißt du? Die sind auf einem Boot, die Sonne lacht ihnen zu, schwangere Frauen, schön anzuschaun, die Zukunft im Glück und sie denken: ach, wie leicht und fröhlich ist die Welt, und bald sind wir an Land. Journalistin: Und dann? Journalist: Dann? Dann hört man nichts mehr. Sie rülpst. Sie schweigen Journalistin: Sie spricht ins Mikrophon Sie hören Motorengeräusche, sie drohen jederzeit auszufallen. Rostlöcher, durch die das Wasser dringt – Europa, noch zwölf Kilometer. Frauen, die gebären, zu früh gebären, exakt zwölf Kilometer zu früh. Der sichere Eintritt ins kinderarme Europa wie wertlose Schlacke zwischen den Beinen der verblutenden Frau. Verdurstend. Inmitten eines Ozeans voller Wasser. Flüssiges Gift. Durchfall, Dehydrierung, Siechtum bis zum Ende, Diarrhöe, der Tod. Journalist: Diarrhöe – so ein schönes Wort. Ich vergesse immer, was es heißt. Journalistin: Schon mal Meerwasser getrunken – und gespuckt? Journalist: Geschleckt, ich habe es als Kind aus dem Nabel meiner Mutter geschleckt.
7. S ZENE Beim Essen. In Teppichbodenlautstärke spielt eine Anlage Evergreens wie »Felicità« oder »Strangers in the night«. Passagier 1: Nervös und angespannt Ich sage Ihnen etwas. Der Fliegende Holländer durchsegelt noch heute die Ozeane! Vor unseren Küsten schippert sein Boot durch die Stürme, über Sandbänke und unterseeische Felsenriffe in der Hoffnung, in einer günstigen Gelegenheit Land zu betreten. Das nebelverhangene Kap von einst ist heute die Meeresenge von Gibraltar, die Insel Lampedusa, die Hafenstädte von Sizilien – der Übertritt nach Europa! Überlegen Sie. Wer sind die greisen Götter von heute? Wer setzt die Grenzen?
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Wer bestimmt, wer Zugang hat und wem er untersagt ist? Wer macht sie zu Verfluchten?! Passagier 2: Lassen Sie doch meinen Arm los. Passagier 1: Verzeihung. Wir wissen nicht, wie viele auf den Wogen dahintreiben, wir wissen nicht, wie viele längst auf dem Meeresgrund liegen, deren Angehörige auf Lebenszeichen warten – oder auf den Totenschein. Herumirrende Seelen. Warum sehen Sie mich so an? Passagier 2: Wie schmeckt Ihnen der Fisch? Passagier 1: Geisterschiffe! Ohne Namen, ohne Geschichte, ohne Aussicht auf Erlösung. Und vergessen Sie nicht: Wer auf sie triff t, wird selbst zu einem Verfluchten! Passagier 2: Mit weißem Bart und Silberblick. Passagier 1: Es sind die Fischer, die auf ihre Boote treffen, dazu verdammt, die Hilfe zu verweigern, nichts zu unternehmen, bei sterbenden Körpern, zuzusehen, wie es das Gesetz vorschreibt, untätig verharrend, mit ihnen treibend, ewig wartend auf eine Weisung der Behörden, die nicht eintriff t, die nie eintriff t! Er sieht ihn erwartungsvoll an Der Fisch ist vorzüglich, fangfrisch, nehme ich an. Sie essen schweigend weiter Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen. Passagier 2: Weil ich Sie zum Essen einlade? Passagier 1: Ich habe Sie gelangweilt. Ich dachte, es hätte Sie interessiert. Es kam mir so vor, als hätten Sie mir gerne Ihr Ohr geliehen. Aber Sie waren natürlich nicht ein Gran interessiert. Passagier 2: Sie müssen sich keine Gedanken machen. Passagier 1: Dann bin ich beruhigt. Man hat so seine Zweifel, wissen Sie. Pause Passagier 2: Ich halte es für Unfug. Passagier 1: Ja, man sollte sie in den Wind schießen. Sie halten es für Unfug? Er schluckt Passagier 2: Sie nannten mir Namen wie Bartolomeo Diaz, Vasco da Gama. Sie sprachen von Europäern. Von Helden. … Schauen Sie mich nicht so entgeistert an. Passagier 1: Verzeihung. Passagier 2: Mit Dreimastern brachen sie auf, die vollen Segel führten das Wappen von Königen. Passagier 1: Schön, dass Sie mir zugehört haben. Passagier 2: Sie bringen sie mit den Verfluchten unserer Zeit in Zusammenhang, wie es sie schon immer gab: zur falschen Zeit am falschen Ort geboren. Das ist, wie es ist. Erschreckend beliebig. Beliebig erschreckend. 170
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Passagier 1: Würden Sie dann bitte auch die Sonnenbrille abnehmen, wenn sie mit mir sprechen? Passagier 2: Sie sind nackt, sobald sie das Schiff eines Todeskupplers besteigen. Nackt, durch die Tatsache, dass sie es besteigen. Da sie es besteigen, haben sie nichts zu verlieren. Mehr müssen wir nicht wissen, um sie als Nackte zu sehen. Mehr wollen wir nicht wissen, als dass sie nackt sind. Als Nackte nehmen wir billigend in Kauf, dass sie bereits tot sind. Passagier 1: Nein! Passagier 2: Er ist nackt – so wie Sie blass, also seekrank sind. Passagier 1: Ich bin nicht seekrank! Passagier 2: Jeder legt seinen Wert selbst fest – ein Deal, eine Vereinbarung. Passagier 1: Merkantile Vereinbarungen! Wir sprechen nicht von Ware! Passagier 2: Er verhält sich wie Ware. Passagier 1: Ich möchte nicht länger mit einer verdunkelten Sonnenbrille reden. Passagier 2: Sicher ist eines: Für Keinen wird dafür, dass er abwesend bleibt, so viel Geld ausgegeben. Passagier 1: Ich verachte es. Passagier 2: Das glaube ich Ihnen. Passagier 1: Jetzt nehmen Sie endlich Ihre Sonnenbrille ab! Sie unhöflicher Mensch! Passagier 2: Verzeihung. Aber wenn ich Sie abnehme, sehe ich nichts. Passagier 1: Dann muss ich nicht weiter mit Ihnen reden. Passagier 2: Welchen Gefallen tun Sie denen, die in 108 Meter Tiefe auf ungelüftetem Meeressand liegen, sie mit Mythen aus dem Mittelalter zu verwechseln? Passagier 1: Neuzeit! Passagier 2: Was ändert das? Sollte man nicht etwas tun? Passagier 1: Ich bin Wissenschaftler. Passagier 2: Was ändert das? Passagier 1: Ich ändere Sichtweisen. Passagier 2: Sichtweisen? Passagier 1: Schauen Sie nicht so. Passagier 2: Sie sollten eine Sonnenbrille tragen. Die UV-Strahlen schaden Ihren Augen. Passagier 1: Ich seh nichts mit einer Sonnenbrille. Schweigen Passagier 2: Nach Ihrer Rede werden Sie Applaus erhalten und vielleicht mit etwas Glück einen Lehrstuhl für Mythenforschung, hab ich Recht? Spülen Sie den Fisch mit diesem wunderbaren Wein hinunter, er ist 171
Zwischenspiele: Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume
schwerer als der gewöhnliche Fisch. Sie haben gerade mit großem Genuss einen pesce cannibale verschluckt, einen Kannibalenfisch. Passagier 1: Einen Kannibalenfisch? Passagier 2: Einen Kannibalenfisch, der menschliches Fleisch verdaut hat. Sie sehen, es wird immer Gewinner und Verlierer geben, eine Frage der Ausbalancierung. Passagier 1: Das ist geschmacklos. Passagier 2: Wie schnell kann es gehen, den Schmutz anderer zu verinnerlichen, finden Sie nicht auch? Einen Happen von einer unschuldigen Gabel zu sich genommen und schon tragen auch Sie es in sich. Passagier 1: Zischend Sie werden kommen. Die Fliegenden Holländer. Sie werden sich erheben von ihren nassen Gräbern, über die Strände ziehen, über die braungebräunten Körper ihre nassen Fetzen schleifen, unaufhaltsam – SIE! wird man an den Haaren ziehen, bis Ihr Spott zu einer hässlichen Grimasse wird, um Gnade bettelnd, für jedes einzelne Wort die Haare strähnenweise ausreißen! Passagier 2: Meine? Passagier 1: Ja! Ihre! Passagier 2: Würde es Sie freuen?
8. S ZENE Telefonierend Kuratorin: (…) Hör zu. Ich habe einen Ersatz gefunden. Eine multimediale mindmapping globalmobile Künstlergruppe die sich High End nennt und ihr Projekt: »Das hässliche Päckchen!«. Sie haben die Aktion so beschrieben. Zwei Päckchen, auf dem einen steht »Hass«. Es ist leer und öde, schwarz und stinkt erbärmlich. Eine Art Miniatursarg in der Fäulnis. Nichts jedenfalls, womit man es gerne zu tun haben will. Das andere Päckchen: golden, wie eine kleine Goldschatulle, jeder will es haben, jeder will wissen, was drin ist, doch der Schlüssel fehlt. Warum? Weil wir ihn nicht besitzen. Weil den Schlüssel jene besitzen, die im Lagerraum des Fischkutters skelettieren. Denkbar einfach. Kern ist: Die Gruppe hat sich gefragt, was uns noch fehlt. Was fehlt uns, unter all den Gütern auf der Erde, die wir besitzen? Was fehlt uns? Was gehört uns nicht? Noch nicht? Was müssen wir besitzen, schon allein, weil es den anderen gehört? Und? Nichts? Doch. Es gibt etwas. Es fehlt uns an Gästen. Ja. An Gästen. Und warum fehlt es uns an Gästen? Jajajaja. Weil wir geizig sind. Wir sind geizig, gierig, geil, knauserig, ewig knapp und kurz: wir leiden an einem eklatanten Mangel an Gastfreundschaft. Wir, das sind: Vergreiste Menschen ohne Lachen, ohne 172
das geisterschif f
Höflichkeit, ohne Gruß und ohne Liebe überall und nirgends. Jeder schlägt den anderen in die Flucht und flieht selbst vor der eigenen Gehässigkeit. Wir sind das eigene Unbehagen, uns ist so unbehaglich vor uns selbst, dass wir vor Unbehagen ersticken. Wir sind das hässliche Päckchen, vor dem jedem graut. Lustig, nicht? Der Punkt ist: Die Gruppe hat die Herkunftsländer der Toten studiert und sich gefragt, was sie mitgebracht hätten, wenn sie lebend angekommen wären. Herausgefunden haben sie, dass allen eine durchwegs formidable Kultur der Gastfreundschaft gemeinsam war. Jedes einzelne ihrer Herkunftsländer kultiviert die Gastfreundschaft! Also genau das, was uns fehlt! Verrückt? Nicht? Also hat sich die Gruppe überlegt, ein kommerzielles Importgut daraus zu kreieren. Wir importieren die Ware Gastfreundschaft, indem wir die Träger der Gastfreundschaft importieren. Wir betrachten sie als den Import einer Ware, die wir selbst nicht fähig sind herzustellen. Gastfreundschaft. Nach neuer alter liberaler Tradition: was uns noch fehlt, müssen wir haben, mit dem geringsten Aufwand, der besten Qualität, bis die, die es ursprünglich besaßen, nicht mehr auszumachen sind. Wir kaufen sie ein – und schaffen by the way das Unbehagen ab, dass sie sich ungefragt und ungeniert selbst importieren wollen. Kein Unbehagen mehr auf keiner Seite. Keine Toten überall und nirgends. Händler wir alle. Alles ein Deal. Das hat was, ich sags dir. Eine nicht unoriginelle Sache und für den Utopienpark genau richtig.
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Die Verstörung Falk Richter
»Der emotionale Kapitalismus ist eine Kultur, in der sich emotionale und ökonomische Diskurse und Praktiken gegenseitig formen, um so jene breite Bewegung hervorzubringen, die Affekte einerseits zu einem wesentlichen Bestandteil ökonomischen Verhaltens macht, andererseits aber auch das emotionale Leben – vor allem das der Mittelschichten – der Logik ökonomischer Beziehungen und Austauschprozesse unterwirft.«1 Eva Illouz
GAYROMEO INTERNETDATE. Gayromeo: Das bist du? Tom: Ja Gayromeo: Aha Tom: Ja Gayromeo: Aha Tom: Noch kann ich … gehen, wenn du … wenn du das willst, kann ich Gayromeo: Nein nein komm rein. Tom: Sicher? Gayromeo: Nein Tom: Was? Gayromeo: Komm rein Kurze Pause. L sagtest du? Tom: Was? Gayromeo: L? Tom: Ja 1. Vgl. Eva Illouz: Gefühle im Kapitalismus. Frankfurter Adorno-Vorlesungen, Frankfurt a.M. 2007 (S. 13).
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Die Verstörung
Gayromeo: Eher XL oder SL? Tom: Was? Gayromeo: Ich frag nur, ich will keine Enttäuschung später Tom: Küsst du? Gayromeo: Weiß noch nicht Tom: Nein? Das stand aber … Gayromeo: Da stand »nach Absprache«, klar, »nach Absprache« stand da – also, haben wir eine Absprache getroffen? Nein, noch nicht. Tom: Nein Gayromeo: Kannst gleich wieder gehen Tom: Nein nein ist nur Gayromeo: Ich brauche niemanden Tom: Nein nein Gayromeo: Ich bin nicht einsam oder so, bin ich nicht Tom: Nein klar Gayromeo: Ich will auch nichts Tom: Nein Gayromeo: Kapiert? Tom: Ja ja Gayromeo: Das bedeutet nichts, verstehst du, absolut nichts. Tom: Ja Gayromeo: Wie alt bist du wirklich? Tom: Was? Gayromeo: Du siehst, Mann, du siehst nicht aus wie auf den, du siehst überhaupt nicht aus wie auf den Fotos, wann wurden die gemacht? Tom: Letztes Jahr Gayromeo: Aha, und was ist da passiert … in der Zwischenzeit, darf man das fragen? Hattest du n Unfall oder irgendwas? Tom: Nein Gayromeo: Was machst du? Tom: Ich? Gayromeo: Nein, der Typ neben dir, mein Gott – ja, natürlich du. Tom: Also Gayromeo: Was machst du den ganzen Tag lang. Tom: Ich stehe auf und … ich … Gayromeo: »Athletisch« stand da, stimmt das? Tom: Küsst du denn, wenn du jemanden kennst? Gayromeo: Ich kenne niemanden Tom: Nein? Gayromeo: Also küsse ich auch nicht Tom: Ich denk »nach Absprache«
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Zwischenspiele: Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume
Gayromeo: Ja, die treffen wir noch, später, wenn ich will, ich hab ja geschrieben, dass ich nichts mache, was ich nicht will, das ist ja nicht so schwierig zu verstehen, oder … Tom: Soll ich gehen? Gayromeo: Nein, bleib hier … jetzt wo du schon mal da bist, jetzt ist der Abend sowieso gelaufen, ich krieg da keinen mehr, ist jetzt zu spät Tom: Dafür ist es doch nie zu spät Gayromeo: Doch. Ab einer bestimmten Uhrzeit sind da nur noch die Wahnsinnigen, die Kranken, die sich gegenseitig anstecken wollen, Leute, die so kaputt sind, dass die einfach nur noch danach suchen, infiziert zu werden, damit sie ein Anrecht auf Krankengeld bekommen, damit sie irgendwo im Lager rumliegen können, weil sie es zu Hause nicht mehr aushalten, und mit denen will ich nichts zu tun haben, keine Lust, mich freiwillig »pozen« zu lassen, so was mach ich vielleicht mal mit 50, wenn alles vorbei ist und man keinen Anspruch auf gar nichts mehr hat, dann, dann lass ich mich auch infizieren, dann braucht man ja auch seinen Körper nicht mehr, aber jetzt, jetzt … das hier ist A-meat, klar, der hier, meiner Tom: Ja habs auf den Fotos gesehen Gayromeo: Da steckt viel Arbeit drin Tom: Glaub ich Gayromeo: Ich weiß, dass ich gut aussehe Tom: Aha Gayromeo: Weit über dem Durchschnitt Tom: Ja, schön Gayromeo: Ja, ist auch schön, den darf nicht einfach jeder anfassen, der ist was wert, verstehst du? Tom: Müssen wir so viel reden, ich dachte, wir haben einfach Gayromeo: »Einfach«? nee, einfach geht das nicht, einfach geht gar nichts, jedenfalls bei mir nicht, da musst du dir n anderen suchen, weißt du, ich mach alles my way, klar? Und einfach ist das schon mal gar nicht. Da stand »eher aktiv« Tom: Ja Gayromeo: Was heißt das? Tom: Na, das heißt »eher aktiv« Gayromeo: Ich frage nur, weil ich später nicht enttäuscht sein will, ich will nur wissen: warum »eher«, das klingt so unentschlossen, heißt das, dass du auch mal passiv bist oder Tom: Ja, das kommt drauf an Gayromeo: Wieso »drauf an«, auf was? Wieso kommt das drauf an, so was muss man doch vorher wissen? Ich will keine Enttäuschungen Tom: Klar 176
Die Verstörung
Gayromeo: Weder bei dir noch bei mir Tom: Ja Gayromeo: Ich will unkompliziert Spaß haben, mehr nicht, unkompliziert, verstehst du, ohne Komplikationen Tom: Ja Gayromeo: Bisschen Zeitvertreib, mehr nicht Tom: Nein Gayromeo: Muss ja schließlich noch arbeiten Tom: Ja Gayromeo: Viel arbeiten Tom: Klar Gayromeo: Und das ist anstrengend Tom: Ja Gayromeo: Arbeit ist anstrengend, macht müde und man will was erleben danach Tom: Klar Gayromeo: Du bleibst hier nicht anschließend liegen und erzählst mir von deinem Scheißleben, heulst rum, nachdem du gekommen bist, davon hatte ich schon zu viele, brechen alle zusammen nach dem Sex, liegen da, zusammengekrümmt, und hören nicht mehr auf zu weinen. Das will ich nicht mehr, klar. Unkompliziert Spaß haben, das ist doch ne klare Anweisung, der kann man ja wohl mal Folge leisten, ohne gleich durchzudrehen, oder? Tom: Was? Ach so, ja, natürlich Gayromeo: Hörst du mir überhaupt zu? Tom: Was? Ja klar Gayromeo: Es bedeutet nichts Tom: Klar Gayromeo: Es bedeutet absolut nichts, ist das klar? Tom: Ja Gayromeo: Ob das klar ist Tom: JA Gayromeo: Du rufst mich nicht nachher an Tom: Nein Gayromeo: Du kommst auch nicht wieder hierher Tom: Nein Gayromeo: Ich bin nicht einsam oder so, ich komm sehr gut allein zurecht, verstehst du, ich brauch niemanden, ich brauch nichts, ich suche nichts, deshalb stand in dem grünen Kästchen bei mir auch »nix«, das heißt, ich bin da zwar, ich bin da zwar in diesem Portal, aber ich suche nix, verstehst du, ich suche dich nicht. Tom: Darf ich dich anfassen? 177
Zwischenspiele: Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume
Gayromeo: Noch nicht Tom: Küssen? Gayromeo: Ich will erst mal gucken, also … zieh mal dein Hemd aus. Tom: Kannst du mir nicht das Hemd ausziehen? Gayromeo: Hör zu, wir können das auch lassen, ja Tom zieht das Hemd aus. Gayromeo schaut ihn an, lange, begutachtet ihn genau, sagt nichts. Tom: Und? Gayromeo: Weiß noch nicht … kannst du … kannst du den Rest … äh … zieh mal den Rest auch aus, bitte Tom: Hier? Gayromeo: Wo denn sonst, Mann, es gibt nur hier, sonst gibt es nichts. Tom: Okay Gayromeo: Also Tom: Ja gleich Pause. Ist ein bisschen kalt hier Gayromeo: Nun mach schon Tom zieht sich langsam aus, der andere guckt ihm dabei zu, dann steht er nackt da, der andere begutachtet ihn lange. Wie alt bist du denn wirklich? Tom: Was? Gayromeo: Na ja, da stand irgendwas von 26, das kann ja wohl nicht ganz stimmen. Tom: Doch Gayromeo: Aha Tom: Ja Gayromeo: ironisch: »Ehrlich« Tom: Wirklich Gayromeo: Vergiss das Wort, es bedeutet nichts
2 GAYROMEO DATE. Gayromeo: Wir lassen das. Tom: Was? Gayromeo: Wir lassen das. Tom: Wieso denn? Gayromeo: Es geht nicht … ich weiß nicht … Tom: Was suchst du denn?
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Die Verstörung
Gayromeo: Sind vielleicht die Fotos, du siehst nicht aus wie auf den Fotos, tut mir Leid, geht nicht. Tom: Ich bin einfach n bisschen nervös, ich mach das nicht so oft, warte. Gayromeo: Nein. Tom: Warte! Gayromeo: Nein, du gehst jetzt, okay. Tom: Ist viel zu kalt draußen, warte, ich schaff das, du musst mir n Moment Zeit geben, ist ja schon spät Lacht. Ich krieg den noch hoch, du musst mir einfach n bisschen dabei helfen. Gayromeo: Lass mal gut sein. Tom: Nein. Gayromeo: Doch. Tom: Nein. Gayromeo: Doch. Tom: Ich schaff das schon noch, warte. Gayromeo: Ey, ich wollte n geilen FICKER, da stand was von XXL Kolben, athletischer Stecher, was weiß ich, das ist doch totaler Unsinn, Alter, Mann, verarsch dich selbst, wieso soll das hier Zeigt auf seinen Körper. mit dem da Zeigt auf Toms Körper. irgendetwas anfangen, erklär mir das mal, ich bin US Dollar und du bist Złoty oder irgend so ne Scheißwährung aus Bangladesh oder so nem Land, wo alle in Lagern rumliegen und auf Hilfstrupps warten, so n Körper bist du, verstehst du, du bist Vierte Welt, ich Erste, also geh, geh und leg dich in dein Lager, wo du hingehörst, lass mich in Ruhe, piss off. Tom: Du bist doch mein Freund. Gayromeo lacht. Du bist mein Freund ab jetzt oder, ich brauch doch einen. Gayromeo: Hör auf damit. TOM singt: Schneeflöckchen, Weißröckchen, wann kommst du geschneit? Gayromeo: So du gehst jetzt du Freak. Tom: »Du wohnst in den Wolken, dein Weg ist so.« Wieso liebst du mich nicht??! Gayromeo: Lass das. Tom: Du bist doch mein Freund, oder? Ich pass auf dich auf, keine Angst, du darfst aber keine anderen Freunde haben, das mag ich nicht, das mag ich gar nicht, nein, ich möchte nicht, dass du… dass du mich wegschickst, ich bleib hier, hier bei dir, wir können doch morgen essen gehen oder so was, nein, oder einen Spaziergang Gayromeo: Du bist einfach nicht mein Typ, so was kann doch mal vorkommen. Tom: Nein … kann nicht … ich WERD jetzt dein Typ, an so was kann man ARBEITEN, weißt du … man muss sich ja erst mal kennen lernen, zu179
Zwischenspiele: Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume
sammen sein, ZEIT miteinander verbringen, dann wird man auch erst der TYP VON JEMANDEM, du KENNST mich ja gar nicht, du KANNST mich ja noch gar nicht lieben, das kannst du ja erst, wenn du ein paar Nächte mit mir verbracht hast. Gayromeo: Okay, bitte, wir vergessen einfach, dass Ein dumpfer Schlag, Gayromeo fällt zu Boden.
3 Tom: Jetzt kannst du gar nichts mehr sagen, was. Jetzt bist du ganz still und guckst nur, jetzt bist du friedlich … ich kann lieben, weißt du … man muss mir nur endlich ne Chance geben, ich kann das, ich will das auch, ich will lieben, verstehst du … wenn man liebt, dann wird man eins, der andere wird ein Teil von einem, man ist nicht mehr allein … du wirst jetzt ein Teil von mir, wir beide … wir werden jetzt eins … du und ich … ich bleib bei dir, ich … Gayromeo: Du Freak, Mann, bitte, du bist krank. Tom: haut einfach ein paar Mal auf den anderen drauf, auf seinen Kopf, mehrmals, sagt dann ganz sanft, ruhig, fast sachlich : Du wolltest doch arschig behandelt werden, hast du doch in deinem Profi l geschrieben: Mit Zwang geht vieles. Hast du doch, oder? Gayromeo: kraftlos: Ja Tom: Und, das mach ich doch jetzt, oder? Gayromeo: Ja Tom: Dann hast du doch jetzt auch, was du wolltest, oder? Du hast bekommen, was du dir gewünscht hast … das ist Weihnachten, weißt du, jeder bekommt das, was er sich wünscht. Gayromeo: Bitte Tom: Bitte? Noch ne Bitte? Hast du noch nen Wunsch? Gayromeo: Mach mich los bitte Tom: Nein Gayromeo: Bitte Tom: Nein, du musst sagen: Pause, er spricht jetzt für den Gefesselten. Küss mich Und küsst ihn. fass mich an, bitte, schlaf mit mir, sei für mich da – LIEBE MICH – sei da, wenn ich dich brauche – jetzt hast du doch alles, was du wolltest, jetzt müsstest du doch glücklich sein, oder? Liebst du mich? Bist du mein Freund? Bleibst du bei mir, wenn ich dich jetzt losbinde, bleibst du dann hier … ich will nicht allein sein, heute Nacht, verstehst du? Verstehst du nicht? Verstehst du gar nichts? Haut nochmal auf ihn drauf. Das ist doch nicht so schwer zu verstehen, das ist doch ganz einfach – man muss auch mal was geben, und, wenn man was geschenkt bekommt, wie du 180
Die Verstörung
jetzt, dann schmeißt man das nicht einfach weg, dann behält man das, das ist doch nicht so schwer zu verstehen. Pause, streichelt ihn. Bist du jetzt schon ich geworden? Siehst du die Welt jetzt schon durch meine Augen? Sing was für mich, komm, sing was, sing: Schneeflöckchen, Weißröckchen, komm Gayromeo: Schneeflöckchen, Weißröckchen, wann kommst du geschneit? Du wohnst in den Wolken, dein Weg ist so weit. Dabei spuckt er Blut.
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4. Zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung. Interkulturelle Bühnenprojekte Wie reagiert man im Theater auf die gesellschaftlichen Veränderungen, die in Mitteleuropa durch Migrationswellen bereits seit Jahrzehnten im Gange sind und durch das Fallen des Eisernen Vorhangs und durch die Balkankriege verstärkt wurden? Lange wurde diesem Umstand innerhalb der Theaterpraxis überhaupt keine Bedeutung beigemessen, nun gibt es erste vielversprechende Versuche, in denen nicht nur einmalige Ereignisse wie Gastspiele oder Festivals, sondern der interkulturelle Prozess selbst im Mittelpunkt des Interesses steht. Es geht nicht mehr nur darum, das Andere, das Fremde wahrzunehmen und unterschiedliche Ästhetiken zu konstatieren. Es geht darum, das Andere gleichberechtigt mit dem Eigenen zuzulassen. Ziel dieser Bestrebungen ist es, Interkulturalität zu leben. Erstrangig ist das »Zwischenspiel«, das Spiel zwischen den Kulturen. Zweitrangig ist dabei, ob man das Eigene mit dem Fremden verbindet, fusioniert oder in seinen Widersprüchen belässt. Das Schauspiel Köln, unter der Intendanz von Karin Beier, hat als erstes Stadttheater 2007 konsequent auf die Tatsache reagiert, dass in Köln jede dritte Einwohnerin, jeder dritte Einwohner einen Migrationshintergrund hat. Rita Thiele, die Chefdramaturgin, erörtert in ihrem Beitrag Schauspiel Köln: Theater für eine multikulturelle Stadt wie das künstlerische Konzept in Besetzung und Spielplan umgesetzt wird. Wichtig erscheint Thiele, dass das Kölner Theater seiner eigenen künstlerischen Initiative folgt und keinen Kulturauftrag, keinen Dienstleistungsauftrag der Politik erfüllt. Künstlerischen Motiven folgen auch die beiden Wiener, der Regisseur Hans Escher und der Dramatiker Bernhard Studlar. Aus dem Unmut heraus, dass bis zur Jahrtausendwende die Situation für lebende DramatikerInnen im Theaterbetrieb äußerst unerfreulich war und die Theater die demografischen Veränderungen, die Wien seit 1989 zur multiethnischen Stadt machen, nicht wahrnahmen, 183
Zwischenspiele: Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume
kreierten sie 2005 das Autorentheaterprojekt »wiener wortstaetten« für DramatikerInnen nichtdeutscher Muttersprache, die in Wien leben und auf Deutsch schreiben. Hans Escher skizziert in seinem Aufsatz das einzigartige, von Praktikern entwickelte, interkulturelle Schreibprojekt, das die DramtikerInnen bis zur Auff ührung begleitet und auch mal exklusiv Theater nur für sie macht! In seinem Text finden sich Ausschnitte von noch nicht veröffentlichten Stücken der Ukrainerin Julya Rabinowich und der Tschechin Rhea Krcmarova. Sandra Noeth macht in Hospitality is not equal. Über Choreographie als gastfreundschaftlichen Raum darauf aufmerksam, in welch kompliziertem Feld sich interkulturelle künstlerische Arbeit bewegt. Sie nennt die Folgen, welche die »Entdeckung« der südosteuropäischen Tanzszene nach dem Ende des Kommunismus und nach den Balkan-Kriegen für die südosteuropäischen TänzerInnen hatte. Die Förderung durch mitteleuropäische Tanzinstitutionen und Festivals und der sich einstellende Erfolg provozierten eine verstärkte Überprüfung der eigenen künstlerischen Identität der südosteuropäischen KünstlerInnen. Da die Rezeption des Tanzes aus einer mitteleuropäischen Perspektive erfolgt, erscheint es besonders notwendig, die Gradwanderung zwischen Eigenem und Fremdem, traditionell gewachsenem, künstlerischen Selbstverständnis und Einflüssen anderer Kulturkreise zu beobachten und immer wieder aufs Neue zur Diskussion zu stellen. E.D.-S.
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Schauspiel Köln : Theater für eine multikulturelle Stadt Rita Thiele
Die Einsicht ist so banal wie verspätet: Deutschland ist ein Einwanderungsland – diese Tatsache ist wirklich nicht neu, wurde aber jahrzehntelang hartnäckig verdrängt – von Deutschen, von Einwanderern selber, von Politikern, Journalisten, auch Künstlern. In Westdeutschland war spätestens seit Anfang der achtziger Jahre erkennbar, dass viele »Gastarbeiter« und ihre Familien dauerhaft hier bleiben würden. Doch noch einmal vergingen Jahrzehnte, bis sich die Leugnung dieser Wirklichkeit so konfliktreich bemerkbar machte, dass heute Einwanderung und ihre Folgen ganz oben auf der politischen Tagesordnung stehen. Entsprechend erfreut reagieren Politiker, wenn Künstler und Kulturinstitute versprechen, sich dieser Themen »anzunehmen«. Doch es lauern Fußangeln: Multi-Kulti-Kitsch, paternalistische Anmaßung, Exotismus, problematische Erwartungen gegenüber dem, was Theater zu leisten haben, falsch verstandene »political correctness«. Köln ist eine Stadt, in der viele Menschen mit »Migrationshintergründen« leben. Zurzeit sind es über 300.000, verrät die Statistik, d.h. jeder dritte Kölner Bürger hat (jüngere) internationale Wurzeln. Es ist also im wahrsten Sinne des Wortes naheliegend, dass das Schauspiel Köln unter der neuen Intendanz von Karin Beier ein künstlerisches Profil entwickelt hat, das diese unübersehbare Realität aufgreift und spiegelt. Damit zusammenhängend haben wir uns für internationale Kooperationen und Koproduktionen geöffnet, um unseren Blick auf heimische Realitäten durch Impulse anderer europäischer Theatermacher zu erweitern. Im Folgenden werde ich versuchen, konzeptuelle Überlegungen der Kölner Theaterleitung nachzuzeichnen. Es ist eine Skizze, die nicht verdecken soll, dass wir noch auf dem Weg sind; unsere Entscheidungen als experimentell zu verstehen sind.
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Zwischenspiele: Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume
Das Ensemble Bei der Zusammenstellung unseres Ensembles stand von Anfang an eine Entscheidung: Den sozialen Wirklichkeiten Kölns entsprechend soll etwa ein Drittel unseres Ensembles »Migrationshintergründe« aufweisen. Also haben wir gezielt nach solchen Schauspielern gesucht, zum Beispiel Vorsprechen mit Anfängern aus Zuwandererfamilien der zweiten und dritten Generation organisiert. Eine solche Zusammensetzung ist eher ungewöhnlich in der deutschen Theaterlandschaft, obwohl auf eine möglichst breite Verteilung von Geschlecht, Alter, Aussehen und Ausstrahlung der Schauspieler meistens geachtet wird. Da macht es ebenso Sinn, verschiedene kulturelle Biografien zu berücksichtigen, nicht zuletzt als Identifikationsangebot für dementsprechende Zuschauer. Aber Quotenregelungen bieten immer Angriffsflächen. Und gerade im Falle von künstlerischen Engagements muss das wichtigste Kriterium natürlich die schauspielerische Kraft bleiben. Selbstverständlich liebt unser Publikum Patrycia Ziolkowska und Carlo Ljubek, weil sie großartige Schauspieler sind. Wie viele Zuschauer sich für ihren »migrantischen Hintergrund« interessieren, bleibt dagegen Spekulation. Bei schwächeren Schauspielern, etwa bei Anfängern, die sich noch entwickeln müssen, stellt sich die Frage nach dem Sinn des Engagements sehr viel schneller. Das triff t auf alle Schauspieler zu, also könnte man gelassen bleiben. Aber bei Kollegen mit »Migrationshintergründen« (denen man diese auch noch »vordergründig« ansieht) kann es besonders peinlich auffallen, wenn sie hauptsächlich kleine Rollen spielen. Das gründet auf bisherige Besetzungsklischees.
Besetzungen Drogenhändler, Prostituierte, Zuhälter, Putzfrauen: im Fernsehen waren das lange Zeit die Rollen für Schauspieler aller Einwanderungsgenerationen. Es hat sich verbessert: Dass Migranten auch eigene Restaurants und Geschäfte betreiben, dass es Polizisten, Rechtsanwälte, Künstler, ja sogar Tierärzte unter ihnen gibt, ist seit geraumer Zeit in den Castingbüros angekommen. Doch Häme ist nicht angebracht, das Theater hinkt hinterher. Sicher: »Vorboten« der demografischen Verhältnisse gibt es mittlerweile in vielen deutschen Stadttheatern. Das hängt auch damit zusammen, dass auf die Schauspielschulen immer mehr Studenten aus eingewanderten Familien gelangen. Und Besetzungen, die migrantische »Merkmale« von Schauspielern für künstlerische Konzepte nutzen, sind mittlerweile üblich und grundsätzlich legitim. Ein Kölner Beispiel findet sich in der Inszenierung, mit der Karin Beier 186
Schauspiel Köln: Theater für eine multikulturelle Stadt
ihre Intendanz programmatisch eröff nete: Hebbels Nibelungen. Gegen die Tradition der deutschtümelnden Vereinnahmung dieses Stücks als Nationalepos ist die Burgunderfamilie hier »international« besetzt: mit Patrick Gusset, einem farbigen Schweizer, der den Gerenot spielt, mit Omar El Saedi, einem jungen Schauspieler aus einer ägyptischen Familie als Giselher, mit Patrycia Ziolkowka, aus Polen stammend, die die Kriemhild spielt, und Michael Weber, ein Deutscher ohne Zuwanderungsgeschichte als Gunther. Diese Entscheidung ist auch als polemischer Hinweis darauf zu verstehen, dass der Nibelungenmythos die europäische Völkerwanderung des 5. Jahrhunderts n. Chr. spiegelt. Schwierig bleibt die Besetzung von Migranten in deutschen Klassikern, ohne dass damit eine spezifische Interpretation des Stoffes verfolgt wird. Es müsste heute aber möglich sein, beispielsweise Ferdinand in Kabale und Liebe von einem farbigen Schauspieler spielen zu lassen, ohne dass Migration oder »rassische« Abstammung explizit zu Themen der Inszenierung werden. Auch um solche Besetzungen, die in der Oper und im Tanz bereits selbstverständlich sind, zu ermöglichen, haben wir uns für eine deutliche Quote von »Migranten« im Schauspielensemble entschieden. Denn hat man nur wenige zur Verfügung, werden dementsprechende Rollenzuweisungen immer als »exotisch« und »bedeutungsvoll« interpretiert. Nach fast zwei Jahren Besetzungsgeschichte in Köln muss man allerdings anmerken, dass es mitunter nicht einfach ist, Regisseure in diesem Sinne zu Mitstreitern zu machen.
Theoretische Voraussetzungen Theoretisch orientieren wir uns an einem erweiterten Kulturbegriff (in etwa dem der Deutschen UNESCO-Kommission entsprechend), der angesichts weltweiter Migration und einem nahezu unbegrenzten Austausch von Informationen von Menschen und Gruppen von zugleich mehrfachen, vielfältigen und dynamischen kulturellen Identitäten ausgeht. In diesem Sinne kann es nicht um die Integration von Fremden oder Fremdem in das Theater, auch nicht um ein unbewegliches Nebeneinander kultureller Vielfalt gehen. Es ist vielmehr wichtig zu begreifen, dass wir alle das Produkt einer schwer zu definierenden städtischen Hybridkultur sind, inhomogene Wesen mit verschwimmenden, unsicheren Konturen und Merkmalen, die in Deutschland leben, aber beispielsweise im Internet arbeiten, italienisch kochen und asiatische Sportarten betreiben. Ryszard Kapuściński drückt es so aus: Jeder Mensch setzt sich gleichsam aus zwei Wesen zusammen. Eines dieser Wesen ist ein Mensch wie jeder von uns; er hat seine Freuden und seine Trauer, seine guten und schlechten Tage, ein Mensch, der nicht 187
Zwischenspiele: Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume
gern hungert, der es nicht gern kalt hat, der Schmerzen als Leid und Unglück empfindet und sich seiner Erfolge freut. Das zweite Wesen, das sich mit diesem verbindet, ist der Mensch als Träger »rassischer« Merkmale, einer bestimmten Kultur, eines Glaubens und bestimmter Überzeugungen. Dieses in jedem von uns existierende Verhältnis ist nicht starr, unbeweglich, statisch und ein für allemal gegeben, sondern im Gegenteil: Es zeichnet sich durch Dynamik und Veränderlichkeit aus. Es kommt zu einem Prozess der Fusion, der Verbindungen und Entlehnungen, eine unablässige Kommunikation läuft ab, ein lebendiger und komplexer Austausch, eine vielstimmige, auch kontroverse Auseinandersetzung.1 Dies mag allgemein klingen, hat aber ganz praktische Konsequenzen: Erst mit einem Ensemble, das der Aktualität dieser Situation Rechnung trägt, kann das faszinierende Potential der aus dem interkulturellen Kontakt entstehenden Hybridität genutzt werden. Und nur auf der Basis eines solchen Denkmodells wird der »Migrant« weder paternalistisch eingemeindet noch ausgegrenzt, sondern auf Augenhöhe integriert.
Spielpläne In diesem Sinne entwickeln wir unsere Spielpläne. Von Anfang an gab es ein deutliches Bedürfnis, sich nicht zu eng und illustrativ den Themen unserer Hybridkultur zu nähern, sondern sie in unseren Setzungen – sowohl was Stücke wie beteiligte Künstler anbelangt – möglichst weit zu »umspielen«, durch größtmögliche Komplexität zu überraschen. Wir meiden Spielplanentscheidungen, die die Lebenswelten von Migranten und Nichtmigranten künstlich umzäunen, ja womöglich eine Art »Artenschutz« betreiben. Uns interessieren keine Stücke, die sich in »fürsorglicher« Perspektive der Probleme von Migranten »annehmen«. Stücke über Ehrenmord, den Kopftuchstreit, den xenophoben Deutschen wären uns in der ersten Spielzeit zu plakativ gewesen, da sie Wahrnehmungsklischees eher bestätigen. Uns geht es aber auch nicht um eine tolerante Multikulti-Pluralität. Zur Lebendigkeit eines kulturellen Austauschprozesses gehören dagegen Opposition, Provokation, spielerische Ironie, auch produktiver Streit. Toleranz ist ein eher konservativer Begriff. Ihr ist jene Offenheit nicht eigen, in der das Danebenliegende nicht nur passiv »toleriert«, sondern auch aktiv bejaht oder abgelehnt, auf jeden Fall angeeignet, zum Inhalt des Eigenen erhoben würde. Es geht folglich darum, mehrere Dinge auf einmal zu tun: möglichst kontroverse Herangehensweisen an Themen unserer Hyperkultur zu präsentieren: Deshalb finden so unterschiedliche 1. Vgl. Ryszard Kapuscinski: Der Andere, Frankfurt a.M. 2008.
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Schauspiel Köln: Theater für eine multikulturelle Stadt
Autoren wie Feridun Zaimoglu und Nuran David Calis in unserem Spielplan ihren Platz. Die Urauff ührungen Schattenstimmen (Zaimoglu) und Stunde Null (Calis) repräsentieren zwei Stimmen zum Thema Migration, die sich inhaltlich und formal radikal unterscheiden: Zaimoglu will mitleidige Einfühlung auf Seiten der Zuschauer vermeiden: daher sein aggressiv-zynischer Humor. Nuran David Calis sucht dagegen eher Identifikation: seine Figuren sind eng mit eigenen Familiengeschichten verknüpft. Darüber hinaus geht es uns darum, neue Erfahrungsräume, auch ästhetische Räume zu öff nen, welche bestehende Grenzen auflösen und neue Verbindungen auslösen. Dazu gehören in unserem Spielplan innovative Grenzgänge wie die der dänischen Performance Gruppe SIGNA, die in ihren Kölner Installationen Die Erscheinungen der Martha Rubin und Die Hades Fraktur die Grenzen zwischen Fiktion und Realität verwischen und die Zuschauer zu Koakteuren machen. Und semi-dokumentarisch-theatralische Formate wie zum Beispiel Fordlandia von Kühnel/Kuttner, die sich mit dem berühmten Streik der türkischen Fordarbeiter in den siebziger Jahren beschäftigt haben. Ein weiteres Resultat des Bedürfnisses, nicht zu eng und klein zu denken, ist die Ergänzung lokal orientierter Spielplanprojekte durch die Einladung europäischer Regisseure und internationale Kooperationen und Koproduktionen, die auf einer anderen Ebene das Thema der kulturellen Vielfalt und Reibung durchspielen. Dazu gehören die bilinguale Trilogie der Sommerfrische, inszeniert von Antonio Latella, mit italienischen Schauspielern und unserem Ensemble, Transit inszeniert von Viktor Bodó mit Schauspielern seiner Budapester »Sputnik Company« und unserem Ensemble, und die kontinuierliche Zusammenarbeit zwischen dem Schauspiel Köln und dem NT Gent, die in der Spielzeit 2009/10 ebenfalls in einer Koproduktion mündet: Johan Simons inszeniert Horváths Kasimir und Karoline. Darüber hinaus haben wir den Letten Alvis Hermanis, den Franzosen Laurent Chétouane, und die deutsch-englische Performance Gruppe Gob Squad gewinnen können, regelmäßig an unserem Haus zu arbeiten. Auf inhaltlicher Ebene öffnet sich ein großes Spektrum, denkt man darüber nach, dass jeder in sich das Ich und das Nicht-Ich, sich und den Anderen, das Eigene und das Fremde vereint. Das können universale Themen sein, die die ganze Menschheit betreffen (Kapuścińskis »erstes Wesen«); das kann unsere Hyperkultur selbst sein (Deutsche Realitäten werden sich natürlich immer in unserem Spielplan widerspiegeln. In der Spielzeit 2008/09 haben wir uns anlässlich der 60 Jahre Nachkriegsdeutschland aber schwerpunktmäßig mit diesem Thema beschäftigt). Und auch in Hinblick auf einzelne Stücke ist diese Sicht inspirierend: so wurde uns z.B. Grillparzers Entdeckung im Goldenen Vlies wichtig, dass es eine Täu-
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Zwischenspiele: Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume
schung ist zu meinen, das Entfernte sei unbedingt fremd, und das Nahe immer vertraut.
Aufgaben Kultur ist gewiss kein machtfreier Raum. Und da der gesellschaftliche »Integrationsstau« massive soziale Probleme verursacht hat, wird auch von Theaterschaffenden gerne erwartet, dass sie möglichst fi xe Lösungen dieser Probleme anzubieten haben. Erwartet werden Beiträge zum Abbau gesellschaftlicher Spannungen. Polarisierung und Provokation sind eher unerwünscht. Neue Publikumsschichten sollen erschlossen werden, z.B. durch Laienprojekte mit Migranten, die »auch Angehörige ins Theater locken«. Nun gibt es soziale Projekte am Theater, die viel Sinn machen, aber nicht zu verwechseln sind mit Kunst (dazu gehören theaterpädagogische Projekte mit Laien, alten wie jungen Menschen, wie z.B. die vorbildliche Sozial- und Kulturarbeit von Planet e.V. in Köln mit Jugendlichen aus Migrationsmilieus). Und es gibt den Einbruch des Dokumentarischen, »Authentischen« in den Kunstbereich, der mehr ist als Theaterpädagogik. (Dazu zähle ich z.B. die Projekte des Kölner Künstler Duos »Hofmann und Lindholm«, die mit ihren Komplizen des Alltags verschiedene Interventionsprojekte betreiben. Für das Schauspiel Köln planen sie eine Aktion über die umfassende Beobachtung, der wir alle ausgesetzt sind: noch nicht wird die Spielzeit 2009/10 in unserer Schlosserei eröff nen). Selbstverständlich ist es wichtig, als Stadttheater auf soziale Wirklichkeiten auch der unmittelbaren Umgebung zu reagieren. Aber einer Vereinnahmung durch die Politik oder einem Dienstleistungsdenken dürfen sich die Theater keinesfalls verschreiben. Die Freiheit, sich von allem »Zwang, auch im Moralischen entbunden« äußern zu können, wie Schiller es formuliert, muss erhalten bleiben. Es geht nicht um die Aufgaben der Kunst, sondern um die, die sie stellt.
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wiener wor tstaetten. Ein interkulturelles Autorentheaterprojekt von Hans Escher und Bernhard Studlar Hans Escher
»Mann: Wissen sie vielleicht wie spät es ist Frau: Halb zwölf Mann: Gut zu wissen, wann genau man gestorben ist Frau: Bitte töten sie mich nicht, bitte.«
So lauten die ersten Sätze in Dimitré Dinevs Haut und Himmel. Klar und knapp die Situation. Karg und rau die Sprache. Sätze wie aus einem Western. Inmitten von Verwesungsgeruch, Geschützlärm und Hunger begegnen sich ein müder, zynischer Söldner und eine junge Frau, die von den Abfällen des Krieges lebt. Unsentimental und schnörkellos entwickelt sich zwischen beiden eine Liebesgeschichte, die durch beider Tod, ausgelöst durch eine Mine, ihr Ende findet. Dinev erzählt in seinem Stück eine kurze Geschichte der Liebe in den Zeiten des Krieges. Und trotz der kargen Sprache und des verstörenden Endes verströmt dieses Stück eine zarte Poesie und lässt so etwas wie tröstliche Hoff nung aufkeimen. Vollkommen konträr in Stil und Inhalt lässt Ewald Palmetshofer die Protagonisten in seinem Stück hamlet ist tot. keine schwerkraft am Ende folgenden Dialog führen. »Oli: Also. Gott ist tot. Und das Problem ist, dass dann der Himmel leer, weil ja Gott tot und drum steht der Himmel so die ganze Zeit einfach leer da und das kann sich bitte auch keiner lange leisten, dass man den Himmel so ganz ungenützt leer stehen lässt, und drum hat sich der Himmel gedacht, bevor ich da so leer in der Gegend herum, also nicht ›herumstehe‹, weil der Himmel steht ja nicht herum, also bevor ich da so leer und nutzlos in der Gegend ›herum-irgendwas‹,
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da hätt ich bitte schon gern ein Möbelstück oder irgendwas, was ich da reinstellen kann, damit da jetzt auch irgendwas, weil seit Gott tot, bin ich ja scheiß leer und das kann einen schon auch in eine komische Stimmung bringen, so leer herum bis in alle Ewigkeit und drum hat sich der Himmel was reingestellt und ein Möbelstück wär eine blöde Idee gewesen, weil ja da niemand drauf sitzen kann, wo Gott tot, wer soll denn da drauf sitzen oder so, und dann hat er sich einfach eine Maschine, der Himmel. Bine: bei uns ist übrigens was im Kommen Oli: ja Bine: und das freut uns total echt.«
So heiter die Sprache seiner Figuren ist und so idyllisch die ländliche Landschaft, in die Palmetshofer die Handlung setzt, so gnadenlos pessimistisch ist sein Befund. Seine Figuren treiben orientierungslos durch das Leben. Der traurige Anlass ihres Zusammentreffens und Auslöser ihres Versuchs miteinander zu sprechen, der Tod und die Beerdigung eines gemeinsamen Freundes, spült nichts als abgerissene Satzfetzen und Sprachklischees an die Oberfläche. Darunter verbirgt sich ein Krater der Hoffnungslosigkeit. Im Sprachwulst offenbaren sich Menschen, die keinen Weg zum Du finden und sich in merkwürdigen Monologgestrüppen verheddern. Seltsam fleischlos sind sie, eingesponnen in einen Kokon zerschlissener Sprache, die Tiefsinniges als Geschwätz enttarnt und Banales zu Philosophischem überhöht. Zwei Stücke, zwei Sprachen, zwei Welten. Da die minimalistische Poesie Dinevs, dort die ironische Sprachgewalt Palmetshofers. Der eine, in Plovdiv, der zweitgrößten Stadt Bulgariens aufgewachsen und nach Wien als Flüchtling gekommen, der andere aus einem Dorf im tiefsten Mühlviertel, einer idyllisch ländlichen Gegend in Oberösterreich, den das Studium nach Wien verschlagen hat. Der eine, ein Autor nichtdeutscher Muttersprache, der auf Deutsch schreibt, der andere ein Autor, der im Begriff ist, seine Muttersprache Deutsch zu einer Kunstsprache zu entwickeln. Das sind Ausgangspunkte des Schreibens, die sowohl inhaltlich als auch formal zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Die Spannbreite der Möglichkeiten dramatischen Schreibens im Rahmen der wiener wortstaetten wird damit bestens markiert. Das Projekt wurde ursprünglich als Schreibprojekt für Autoren, die nichtdeutscher Muttersprache sind, aber auf Deutsch schreiben, konzipiert, öffnete sich aber im Laufe des zweiten Jahres seines Bestehens auch für Autoren mit deutscher Muttersprache. Es zeigte sich, dass die Erweiterung der 192
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möglichen Teilnehmer das Anliegen des interkulturellen Dialogs stärkte. Die Idee zu den wiener wortstaetten entsprang dem Wunsch nach einem Autorentheater, das die Wiener Topografie aufnimmt und mehr als bloße Abspielstätte sein sollte. Nachdem Bernhard Studlar und ich uns nach längeren Auslandsaufenthalten 2003 durch Zufall in Wien wieder getroffen hatten, kreisten unsere Gespräche um zwei Themen: die Situation des Autors am Theater und die Veränderungen Wiens nach 1989. Aus der grauen Stadt meiner Kindheit, in der Pizza eine exotische Speise und ein Farbiger eine Sensation war und alles andere als die deutsche Sprache in ihrer Wiener Ausprägung eine nicht zu verstehende Fremdsprache war, war eine bunte, vielsprachige Stadt geworden. Aus einer Stadt mit fast ausschließlich deutschsprachiger Bevölkerung war, durch den Fall des eisernen Vorhanges und der damit verbundenen Öff nung der Grenzen, die Vertriebenen aus den Kriegen der benachbarten südosteuropäischen Ländern, eine von vielen Ethnien bewohnte Stadt geworden. Der Klang verschiedenster slawischer Sprachen mischte sich mit romanischen Sprachmelodien und natürlich dem Deutschen und dem Englischen. Ein neuer Wiener Sound entstand. Hatte man Soma Morgensterns, Joseph Roths oder Stefan Zweigs Erinnerungen an Wien vor 1914 im Gedächtnis, bekam man eine Ahnung, wie es einst in dieser Stadt gewesen sein muss, bevor der nationalsozialistische Wahnsinn alles zerstörte und die Stadt in ein graues judenreines deutsches Provinznest verwandelte. Wien war im Begriff von einer überdimensionierten Provinzstadt mit imperialer Vergangenheit am Rande der westlichen Welt wieder zu einer multiethnischen Stadt in der Mitte Europas zu werden. Aber auf Wiens Bühnen war davon nichts zu bemerken. Dass es in dieser Stadt eine Vielzahl von Autoren nichtdeutscher Muttersprache gab, die auf Deutsch schrieben, wurde von den Wiener Theatern nicht wahrgenommen und die Autoren hatten keine Lobby, die das ändern wollte. Das zweite große Thema unserer Gespräche war die Analyse der Stellung des Autors im Theaterbetrieb. Denn seine gängige Situation am Theater ist kurz gesagt unerfreulich. Kontinuierliche, konstruktive Autorenförderung findet nicht statt. Denn entweder wird ein fertiger Text über einen Vermittler (Verlag oder Regisseur) oder direkt vom Autor an den Produzenten (Theater) heran getragen oder ein Produzent gibt einen Schreibauftrag an einen Autor und sucht einen Regisseur. Kurzsichtiges Ziel beider Varianten ist der Erfolg, sprich die Urauff ührung. Nicht, dass sich der Autor nicht auch über eine solche freuen würde, aber durch den Druck der bevorstehenden Konfrontation mit der Öffentlichkeit ist das Überprüfen des Textes und das Experimentieren mit dem Text nur sehr eingeschränkt möglich. 193
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Wir beschlossen aus diesen Beobachtungen und Analysen ein Konzept für ein Autorentheaterprojekt zu entwickeln. Dieses sollte dem Autor – und zwar dem Autor nichtdeutscher Muttersprache, der auf Deutsch schreibt – den Zugang zum Theater öffnen und seinem Schreiben einen sanften, fließenden Übergang vom Schreibtisch auf die Bühne, aber auch wieder retour, ermöglichen. Um ihm die Gestaltungshoheit nicht zu nehmen, sollte der »point of no return der Inszenierung« so weit als möglich nach hinten geschoben werden. Die Struktur sollte so flexibel sein, dass sie niemals die Hoheit über den Schreibprozess erlangen und es erlauben würde, schnell und gewandt zu agieren. Daraus entwickelten wir folgendes Konzept:
wor tstatt 1 Ein in regelmäßigen Abständen (etwa alle zwei Wochen) stattfindendes Zusammentreffen aller am Projekt beteiligten Autoren, Lektoren und Regisseure. Dabei steht die Arbeit jeweils eines Autors im Mittelpunkt. Sein Text wird von allen Anwesenden gemeinsam gelesen. In der anschließenden Diskussion arbeiten ihm alle, mit ihrer Kritik, ihrer Analyse, ihrer Phantasie zu. Julya Rabinowich, eine aus St. Petersburg stammende Autorin, arbeitete an einem Stück, in dem die Traditionen einer archaischen Gesellschaft die Herrschaft über das Individuum ausüben, obwohl dieses sie längst verlassen hat: Eine Familie aus Tschetschenien, vertrieben aus der Heimat, wartet in einer kleinen Pension in Niederösterreich auf den Asylbescheid des österreichischen Staates. Obwohl dieser positiv ausfällt und der Familie damit das Bleiben ermöglicht, durchkreuzt ein Brief aus der Heimat die Pläne eines Lebens in Frieden und Freiheit. Die Verwandtschaft in Tschetschenien fordert die Rückkehr des Vaters, um die Ehre der Familie wiederherzustellen. Die Frage für Rabinowich war, ob dieser Brief aus der Heimat vor oder nach dem positiven Asylbescheid eintreffen sollte. Sie war sich unsicher, welche der Varianten dem Konfl ikt eine größere Schubkraft geben könnte und welche Auswirkungen auf das dramatische Geschehen durch die unterschiedliche Abfolge ausgelöst werden. Die möglichen unterschiedlichen Abläufe wurden in der Gruppe erarbeitet, besprochen und analysiert. Dabei konnten die unterschiedlichen Fallhöhen eingehend dargestellt werden. Es bildeten sich zwei Lager. Jedes versuchte die Vorteile der eigenen Sicht herauszustreichen. Die Gemüter erhitzten sich und dies führte zu heftigen Wortgefechten. Die Autorin lauschte und 194
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konnte durch ihre außenstehende Position einen neuen Blick entwickeln. Später, alleine am Schreibtisch, fällte sie die Entscheidung, erst den Brief aus der Heimat und danach den Brief der österreichischen Asylbehörde zustellen zu lassen. Die Vorbereitung des Familienoberhauptes auf die Rückkehr mittels eines Rituals wurde so beinahe grotesk komisch gebrochen.
Tagf insternis 3. A K T Vater liegt auf ausgebreitetem Leintuch am Boden, Mutter und Kinder waschen ihn mit Tüchern, und ölen ihn ein. Die Prozedur umfasst mehrere Durchgänge, in denen er immer wieder abwechselnd gereinigt und mit Tüchern belegt wird. – Schweigen. Ab und an bewegt er sich, Mutter wickelt ihn in weitere Tücher ein. Rundum aufgestellte Kerzen. Raum ist ansonsten dunkel. Hin und wieder singt die Mutter vor sich hin. Nach einiger Zeit kommt Zargan hinein. Will sich dazugesellen, nimmt ein Tuch. Vater wehrt sie ab. Vater: Nicht! Du bist unrein! Zargan: Ich will dich auch auf die Reise vorbereiten, Eli. Vater: Warte draußen. Du verdirbst alles – Zargan ab. Zeremonie weiter. Zargan streckt den Kopf wieder hinein. Alle halten inne. Zargan: Lass uns doch Frieden schließen, bevor es zu spät ist … Mutter: Zargan, warte lieber – Zargan: Ich kann über die Kerzen wachen … Vater: Nein … Zargan: – Ich war drei Stunden im Bad. Zeremonie geht weiter. Zargan: Ich will dir auch meine Ehrerbietung erweisen! Vater: Also … gut. Aber fass mich nicht an. – Zargan: Danke Vater: Setz dich da hinten hin. Zeremonie geht weiter, sie reiben ihn mit Öl ein und belegen ihn mit ge195
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tränkten Stoff bahnen. Mutter summt ein Lied. Madina stimmt ein. Zargan murmelt Gebete lautlos vor sich hin. Nach einer Weile klopft es an der Tür. Stimme: Herr Eli! Zeremonie stockt, dann weiter. Klopfen heftiger. Stimme: Herr Eli! Frau Petimat! Ich hör sie doch da drin! Mutter: Der Chef! Stimme: Machen Sie auf! Es ist ein Brief für Sie da! Pause. Klopfen. Stimme: Es ist wichtig! Vater: Madina, mach auf! Chef: Da ist ein Brief für Sie, von der Behörde! Madina zur Tür, macht sie auf. Chef: Bitte unterschreiben Sie, Herr Eli! – Was – zum Teufel – ist denn hier los?! Mutter: Er ist krank …Wir machen Wickel … Vater steht fluchend auf, wirft Tücher ab, geht zur Tür. Nimmt den Brief in Empfang. Unterschreibt. Chef: Sie machen ja alles ölig! – Danke. Und das mir diese Schweinerei dann wegkommt! Bitte! So was kriegt man ja nie wieder sauber! Tür zu. Schweigen. Schließlich macht Vater den Brief auf. Mutter: Was ist es, Eli? Vater schweigt. Madina sieht ihm über die Schulter. Madina: Da ist jetzt alles voller Flecken – Wart. – Papa! Mama! Das ist unser Bescheid! Wir können dableiben! Wir können alle dableiben!
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wor tstatt 2 Ist das Stück zu einer Rohfassung gediehen, geht es um die Überprüfung des Textes auf seine Umsetzbarkeit und Spielbarkeit. Mit Hilfe von professionellen Schauspielern soll er sich verselbstständigen und in alle denkbaren Richtungen ausgelotet werden. Nicht für ein öffentliches Publikum, sondern ausschließlich für den Autor arbeitet das Team. Daher ist auch keine öffentliche Präsentation dieses Arbeitsschrittes vorgesehen.
Das Theaterplanquadrat Die Idee des Planquadrats ist es, den Rechercheprozess von Autoren auf einer anderen als der Stückebene künstlerisch sicht- und nutzbar zu machen. Wie, wird einzig vom Autor bestimmt. Er bestimmt die Mitarbeiter, die Örtlichkeit und den Zeitraum. Im Gegensatz zu wortstatt 1 und wortstatt 2 verlangt dieser Schritt schnelles Arbeiten und definiert sich wie folgt: »Theaterplanquadrat ist ein auf Recherche basierender Prozess, der in einem vorher zeitlich wie auch räumlich begrenzten Rahmen stattfindet und an dessen Ende eine einmalige theatralische Aktion steht«. Zur Verdeutlichung eine kurze Beschreibung des Theaterplanquadrats Schönheit zum Quadrat von Rhea Krcmarova, einer aus Tschechien zugewanderten Autorin. Sie arbeitete an dem Thema Partnersuche im Internet. Dabei lehnte sie sich strukturell an Der Reigen von Schnitzler an. Also steter Partnerwechsel, aber ohne Vollzug des Geschlechtsverkehrs. Einer der darin verhandelten Konflikte war der Umgang von Frauen mit dem von der Gesellschaft oktroyierten Schönheitsideal. Um darüber mehr zu erfahren, startete Krcmarova ein Theaterplanquadrat. Im Zeitraum von Mitte März bis Mitte April sprach sie Frauen im Raum Kettenbrückengasse, Wienzeile, Operngasse an und bat sie um ein Interview über ihre persönlichen Erfahrungen mit diesem Thema. Diese Berichte verarbeitete sie zu kurzen Prosatexten und Gedichten. Von ihr ausgewählte Künstler aus den Bereichen Musik, Malerei und Fotografie reagierten darauf mit ihren künstlerischen Mitteln. Die Resultate dieser Interaktionen wurden in einer Galerie des Planquadrats ausgestellt und von Krcmarova bei der Eröffnung mittels einer Performance erweitert.
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Reigen reloaded 1. S ZENE spiritsoulmate steht vor einem lokal, wartet. spiritsoulmate: (ins handy): perfekt. einfach nur perfekt, sag ich dir! der mann ist perfekt. nach all den enttäuschungen. aber ich sag dir, das warten hat sich ausgezahlt. der mann ist wie für mich gemacht. schön groß … fast einsneunzig sogar …wunderschöne grüne augen … dieses lächeln. diese stimme. so schön tief und rau und dunkel … glaubt an die große liebe, sagt er … an bis dass der tod und alles … akademiker, natürlich … zahnarzt. maler und alles, genau … wunderschöne ausstrahlung … männlich … sehr männlich … charisma … oh ja … und im anzug … lecker, lecker … und kinder will er auch … so alt wie ich … ja, sicher, katzen liebt er auch, dass ist ja essenziell …. na online … himmel … hab ich dir doch … sicher. sicher bin ich mir sicher, ich … ist er das? da fährt … nein, ist er nicht … na wegen seines autos … porsche … und außerdem, weil er sich prinz porsche nennt … ich? na spiritsoulmate … nein, das ist nicht albern, das ist ein guter nick! ich will doch nicht, dass die kerle glauben, ich suche nur sex … nein, ich will meine zweite hälfte finden … meinen spirituellen gefährten … wo bleibt der … zehn minuten schon … aber sicher hab ich das. woher ich das habe? ich hab uns doch die karten gelegt. ich weiß alles. alles. er ist laut karten könig der stäbe … die perfekte karte für mich … ich bin ja die königin der kelche … immer schon gewesen … ja, der könig, genau … alles, was für mich gut ist … alles, was ich mir wünsche … stark … gute energie … und die schamanin hat ja auch gesagt … genau … beim lezten heilkreis … und außerdem … ich hab mir seine mails ausgedruckt und ausgependelt … also energetisch … ich doch nicht … warte, wie hat er sich … kann gut sein … ich bin ja schließlich auch … ja genau … nicht so wie meine schwester … diesen loser … diesen fliesenverkäufer … der ist ja … warte! gott! da! auf der anderen seite! ein dunkleblauer … oh mein gott, ist der fesch … du, ciao … ich muss jetzt … (steckt handy ein.) … hi… prinz … prinz porsche. hallo … hi… hier … hier bin ich … nein … hier … du … hallo … hallo, hier! was denn? was … hallo! ha! llo! hej! nein? nein. nein! neeeeeeeeinnnn! (sinkt auf die gehsteigkante.) nein … nein … nein … (nimmt ihr handy. drückt wahlwiederholung.) hi… du, ich … was. nein, er. ich … das glaubst du jetzt nicht … er ist … er kommt … parkt … steigt aus … sieht mich nicht … sieht mich … und … steigt ein … steigt ein … steigt wieder ein … und … fährt … los … weg … weg … 198
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einfach weg … einfach so … genau … hat sich umgedreht … weg. nein! das glaub ich nicht. er ist einfach … der kann doch nicht … der kann doch nicht einfach … nicht einfach, ohne mich … was sagst … das kann nicht, der nicht! nicht noch einer! nicht noch einer! neeeeeein!!!!. an mir? bist du wahnsinnig? an mir? was soll den an mir … ich meine, ich bin akademikerin … gute familie … natürlich bin ich kein blondes puppi … gut, das photo ist ein bissi … entschuldige, so sehr hab ich mich seit der sponsion auch nicht verändert … was soll das heißen? du weißt doch, wie sie sind, verdammt noch mal … ja, oberflächlich halt! und wenn er mich erst besser kennt … beim letzten mal hätt das doch auch … na gut, fast … nein … was? wie? … jetzt! na jetzt! jetzt hätte ich ihn endlich kennenlernen sollen ! nein! nein! ich weigere mich! ich weigere mich! und jetzt gehe ich. was. aber ich … was … ja, ich weiß, dass du. mich, mehr … sicher gibt´s die … astrodate online und so … und du meinst … nein, ich mach das nicht. nie wieder. nie nie wieder. das tue ich mir nicht an. noch so einen verkrafte ich nicht … (beginnt zu weinen) noch so einen … ich kann nicht mehr … jedes mal das selbe … ja … wahrscheinlich … war wohl eh falsch … aber warum? ich hab ihn doch bestellt … beim universum … und er ist mir doch prophezeit worden … wo ist er? wo ist er, verdammt? wo? ich … ich … nein … sicher nicht … das tue ich mir nicht mehr an … sicher nicht … nie wieder … nie wieder ein blind date … sicher bin ich sicher … ciao … (legt auf). (sinkt weinend auf den boden.) ich will nicht alleine sterben!!! Der letzte Abschnitt des Schreibens ist auch bei uns die Veröffentlichung, Produktion und Präsentation der entstandenen Stücke. Die Formen sind vielfältig und hängen natürlich auch von den verfügbaren finanziellen Ressourcen ab. Sie finden in Eigen, Ko- oder Fremdproduktionen statt. Neben Stückentwicklung und Präsentation versuchen wir auch experimentelle Schreibprozesse zu initiieren. So veranstalteten wir nach einer Idee von Bernhard Studlar gemeinsam mit dem Literarischen Quartier »Alte Schmiede« ein Symposium unter dem Titel »Donaudrama«. Aus jedem an der Donau gelegenen Land luden wir je eine/n AutorIn nach Wien ein. Ziel war es, ein gemeinsames Stück zu schreiben. Es sollte die Veränderungen in Europa seit 1989 reflektieren. In einem ersten Schritt legten die Geladenen im Rahmen eines Diskussionsprozesses die Regeln dazu fest: jede/r schreibt eine Episode; in ihr muss entweder ein Gegenstand in die Donau geworfen oder aus der Donau geholt werden; die Besetzung wurde mit drei Personen begrenzt. Kerstin Specht, Robert Woelfl, Anna Gruskova, Akos Nemeth, Ugljesa Sajtinac, Nina Mitrovic, Youri Datchev, Stefan Peca, Pavel 199
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Paduraru und Oleksandr Irvanets machten sich ans Werk und am Ende des siebentägigen Symposiums gab es eine Rohfassung dieses Donaudramas, die im Laufe der kommenden Saison realisiert werden soll. Ein ähnliches Vorhaben: Astrit Alihajdaraj, Ana Bilic, Seher Cakir, Jasmina Eleta, Ursula Knoll, Rhea Krcmarova und Bruno Pellandini, sieben in Wien lebende Autoren, schreiben im Rahmen der wiener wortstaetten an dramatischen Episoden unter dem Titel Mein Wien. Ziel ist es ein Mosaik unterschiedlichster Wienbilder abseits gängiger Klischees zusammenzufügen. Die Auff ührung findet im Rahmen des »Roten Oktober 2009« im neu eröffneten Palais Kabelwerk statt. Eine gänzlich andere Herausforderung stellte die von Prof. Evelyn DeutschSchreiner initiierte Zusammenarbeit des Instituts für Schauspiel der Universität für Musik und darstellende Kunst, Graz mit den wiener wortstaetten dar. Gemeinsam mit der Dramafakultät der Universität Skopje, WUS Austria (World University Service) und der Austrian Developement Agency entwickelten wir ein multilinguales Projekt, das im Herbst 2008 realisiert wurde. Dabei ging es um den Versuch, Verhalten und Konflikte, die beim Aufeinandertreffen von Menschen unterschiedlicher Kulturen und Sprachen auftreten, darzustellen. Die Schauspielstudierenden aus Graz reisten nach Skopje. Sie waren aufgefordert vor Ort ihre gegenwärtige Situation zu reflektieren und unter meiner Leitung in Improvisationen zu verarbeiten. Die bei diesem Prozess anwesenden Autoren, die Mazedonierin Dragana Lukan und der Österreicher Volker Schmidt, entwickelten aus diesem Material ein multilinguales Theaterstück. In den Sprachen Mazedonisch, Albanisch, Deutsch, Englisch, Türkisch und Romanes entspann sich eine Geschichte über Möglichkeiten der Überwindung von sprachlichen und kulturellen Grenzen. Mittlerweile gibt es uns seit dreieinhalb Jahren. Am Beginn hätten wir nicht zu träumen gewagt, dass unsere Idee so schnell solche Resultate zeitigt: In Zusammenarbeit mit der »Edition Exil« bringen wir jährlich eine Anthologie heraus, in der die neuen Stücke veröffentlicht werden.1
1. Hans Escher/Bernhard Studlar (Hg.): worstaetten n°1-3. Anthologie. das buch zum interkulturellen autorentheaterprojekt »wiener wortstaetten«, Wien 2006-2008.
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In Eigenproduktion produzieren wir seit 2007 jährlich das Festival »Roter Oktober«. In diesem Rahmen entstanden bisher Auff ührungen von Das Stück von Alma Hadzibeganovich und Orpheus im Nestroyhof von Julya Rabinowich. Als permanente Einrichtung hat sich bei uns die Veranstaltung »Buchstabensuppe« etabliert. Dazu laden wir eine/n AutorIn zum Suppekochen in unser Büro. Dafür lesen ihm/ihr und dem Publikum Schauspieler einen seiner/ihrer Texte vor. Danach wird gemeinsam Suppe gegessen und das Gehörte beredet. Es gab schon russischen Borschtsch, österreichische Hühnersuppe, bulgarische Joghurtsuppe, bosnische Maissuppe, slowakische Krautsuppe um nur einige zu nennen. Sie findet in unregelmäßigen Abständen, je nach Appetit etwa zehnmal im Jahr statt.
Koproduktionen mit Theatern und Gastspiele Mit dem Wiener Rabenhoftheater produzierten wir 2006 unter meiner Regie Dimitré Dinevs Haut und Himmel. Das Stück wurde 2007 mit dem bulgarischen Theaterpreis Askeer ausgezeichnet und mittlerweile in Rumänien, Bulgarien, Slowenien, Italien nachgespielt. Mit dem Wiener Volkstheater veranstalteten wir 2006 unsere erste »Wortstattnacht« und seitdem eine Reihe von szenischen Lesungen. Auch das Projekt »Mein Wien« erfolgt in Zusammenarbeit. Mit den Wiener Festwochen produzierten wir Bernhard Studlars Durch die Schluchten des Balkan, mit dem wir mehr als zwanzig Gastspiele gaben. Mit dem Schauspielhaus Wien wurde Hamlet ist tot. keine Schwerkraft von Ewald Palmetshofer inszeniert (Regie: Felicitas Zeller). Ewald Palmetshofers Stück Hamlet ist tot. keine Schwerkraft wurde nach Mühlheim zu den Theatertagen und zur Biennale in Wiesbaden eingeladen. Auch sein Stück wird mittlerweile an vielen Häusern nachgespielt. Die wiener wortstaetten wurden für ihr Festival »Roter Oktober« zum Nestroy-Preis 2008 in der Kategorie Spezialpreis nominiert. Die Autorinnen Julya Rabinowich, Seher Cakir, Rhea Krcmarova und Ursula Knoll bekamen Preise, Einladungen zu Festivals wie zur Bonner Biennale, dem Stückemarkt des Berliner Theatertreffens und Stipendien. Astrit Alihajderaj wurde mit seinem Skript nach einer Einladung zum Filmfestival Rotterdam nach Cannes eingeladen. Das Neue und Einmalige der wiener wortstaetten ist, den Autor/die Autorin in ein Kollektiv schreibender Kollegen einzubetten, die den Schreibprozess 201
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aktiv begleiten, ohne ihn/sie in einen kollektivistischen Schreibprozess zu zwingen. Und die Gefahr, die mancher oft und gern im Konzept der wiener wortstaetten erkannt zu haben glaubte, und die wir auch selbst ein wenig fürchteten, die der Nivellierung verschiedener Autorenhandschriften, wurde auf das Schönste widerlegt. Das kann man, wenn man nicht die Möglichkeit hat, die szenischen Realisierungen zu sehen, in den Anthologien 1-3 lesenderweise nachprüfen.
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Hospitality is not equal. Über Choreographie als gastfreundschaftlichen Raum Sandra Noeth
»Reine und unbedingte Gastfreundschaft, die Gastfreundschaft selbst, öffnet sich, sie ist von vorneherein offen für wen auch immer, der weder erwartet noch eingeladen ist, für jeden, der als absolut fremder Besucher kommt, der ankommt und nicht identifizierbar und nicht vorhersehbar ist, alles andere als das.«1
Als kulturelle Praxis widmet sich die Gastfreundschaft dem Willkommen Heißen des Fremden. In der Kulturgeschichte oft religiös eingebunden oder als ›Kitt‹ des sozialen Lebens praktiziert, beschreibt sie eine kodierte und zugleich überraschende Begegnung mit dem Anderen. Sie definiert eine Gemeinschaft von Fremden – von Gast und Gastgeber – und erinnert uns damit an die Bedeutungsgeschichte des Wortes ›Gast‹, das ›Fremdling‹ meint. Das Konzept der Gastfreundschaft ist janusköpfig: In ihrem offenen und verbindenden Gestus, der dem Fremden Unterkunft, Schutz und Gastrecht bietet, ist die Verhandlung von Macht, Recht und Territorium implizit, erlegt sie Rechte und Pflichten auf und lässt uns die Ungleichheit der Begegnung spüren. Mit der Ankunft des Gastes tritt ein Geflecht individueller und geteilter Geschichte und Geschichten auf den Plan und Gast und Gastgeber schließen im Dazwischen von vorherrschenden Symbolismen und nicht-sichtbaren Verweisen – »Hidden Histories,«2 wie die Philosophin Bojana Kunst dieses Abwesende nennt – einen temporären Vertrag. 1. Jacques Derrida/Jürgen Habermas: Philosophie in Zeiten des Terrors, Berlin 2004, S. 170. 2. Bojana Kunst: »Autonomy on display: Subversion and the Dancing Body«, in: Performance Research 8(2) (2003), S. 61-68, hier S. 65.
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In diesem Modus der Begegnung stellt sich die Frage nach dem Gemacht-Werden und dem Gemacht-Sein des gastfreundschaftlichen Raums und der spezifischen Rolle des Körpers in diesen Prozessen der Auseinandersetzung: Wie kann dieses Miteinander beschrieben werden? Wer ist Gast in wessen Raum? Wie sind die Regeln und Pfl ichten der Begegnung? Beruhen sie auf Gegenseitigkeit? Ist die Gastfreundschaft mit einer Einladung verbunden? Und lädt sie wirklich ein zum Bleiben? Dieser Beitrag möchte über Choreographie als gastfreundschaftlichen Raum nachdenken: Über die Parameter der Begegnung von Körpern, ihre vielfachen Einschreibungen ebenso wie ihr Verhältnis zu Rezeption und Geschichtsschreibung. Der Körper zeigt sich in der Figur der Gastfreundschaft, so die Annahme, als kritischer Agens eines spezifischen Wissens, das sich im Dazwischen von Durchlässigkeit und Gerichtet-Sein von Choreographie artikuliert. Ausgangspunkt für eine so verstandene mögliche Situation von Gastfreundschaft und Rahmen für die folgenden Überlegungen sind unterschiedliche Entwicklungen und Initiativen in den Tanz- und Performanceszenen verschiedener vormals kommunistischer Länder. Unabhängig voneinander und zugleich in engem Austausch sind vor allem in Slowenien, Rumänien, Serbien und Kroatien unabhängige Kunstszenen entstanden, wurden innovative infrastrukturelle Projekte für den Tanz ins Leben gerufen und im Schnittpunkt von Ästhetik, Gesellschaftsentwicklung und Geschichte dezidierte künstlerische wie auch gesellschaftspolitische Positionen formuliert, beziehungsweise, haben seit dem Einschnitt 1989 an Sichtbarkeit gewonnen.
Bestandsaufnahme »Über die postkommunistische Situation zu sprechen bedeutet […], das historische Ereignis des Kommunismus ernst zu nehmen und sich ernsthaft zu fragen, welche Spuren vom Kommunismus geblieben sind, inwieweit die Erfahrung des Kommunismus unsere eigene Gegenwart immer noch prägt. […] Diese Fragen betreffen übrigens nicht allein die vormals kommunistischen Länder, sondern die ganze Welt, die sich gegenwärtig in einer Situation befindet, die man als postkommunistisch bezeichnen kann.«3
3. Boris Groys: »Die postkommunistische Situation«, in: Ders./Anne von Heiden/Peter Weibel (Hg.), Zurück aus der Zukunft. Osteuropäische Kulturen im Zeitalter des Postkommunismus, Frankfurt a.M. 2005, S. 36-47, hier S. 36.
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Über Choreographie al s gastfreundschaf tlichen Raum
Über alle notwendigen künstlerischen, nationalen und historischen Unterschiede und Differenzierungen hinweg lassen sich für den benannten Kontext einige Voraussetzungen und Beobachtungen formulieren, die die zeitgenössische Tanz- und Performancekunst betreffen: Die Entwicklung von Tanz und Choreographie innerhalb anderer Künste, die Problematik einer nationalen und universalen Tanzgeschichtsschreibung und die Konfrontation der osteuropäischen Kunstszenen mit kapitalistisch orientierten Markt- und Produktionsstrukturen.
Bedingte Gastfreundschaf t 4 Die Vorstellung und die Gestaltung des öffentlichen Raums in den kommunistischen Ländern wurden vom politischen System geprägt und verwaltet. Das darin wirksame »Bild- und Informationsregime« und die »totale Wirklichkeitsinszenierung des Kommunismus« schaff ten Rahmenbedingungen, auf die »die Kunst sich direkt oder indirekt, bewusst oder unbewusst«5 bezog. Auch die offizielle Bewegungskultur war Teil der staatlichen Repräsentation und als solche aufgeladen mit und ausgerichtet auf propagierte und protegierte Inhalte. Die Bereiche, in denen choreographische Praktiken offiziell ›beheimatet‹ waren, war die vom sozialistischen Staat unterstützte Amateur-Bewegungspraxis – Militär-, Armee- und Feiertagsparaden, Techniken und Traditionen der Folklore und Gymnastik, choreographische Inszenierungen von Sport – sowie das klassische, an der russischen Schule ausgerichtete Ballett.6 Gemeinsam waren ihnen das Konzept des Kollektivs, zumal was die Vorstellung vom Körper als auch was die Form des Tanzes betriff t: Im Mittelpunkt stand die Idee, den individuellen – sportlichen wie auch tänzerischen Körper – als kollektiven, sozialen Körper zu formen. Andere, experimentelle choreographische Praktiken waren in diesem Panorama nicht willkommen und wurden, außerhalb des institutionellen Rahmens, mit Skepsis betrachtet und ausgeschlossen. 4. Vgl. Jacques Derridas Differenzierung zwischen ›bedingter‹ und ›unbedingter‹ Gastfreundschaft in: Ders./Jürgen Habermas: Philosophie in Zeiten des Terrors. 5. Boris Groys: »Westliche Indoktrination und östliche Analytik. Ein Interview mit Boris Groys über postkommunistische Gegenwart und ihre Kunst«, http://www.postcommunist.de, gesehen am 27. November 2008. 6. Vgl. Eszter Salamon: »Geschichte und Subjektivität – Ein Interview«, in: Performance Studies Hamburg/Tanzplan Bremen (Hg.), tanzheft eins – OstEuropa, Januar 2007, S. 22-30 und Janez Jansa: »Piercing Through: Tanz, der gesellschaftliche Choreographien durchdringt«, ebd., S. 42-50.
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Zwischenspiele: Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume
Sie existierten meist in Form von individuellen Werkgeschichten und Initiativen einzelner ChoreographInnen und TänzerInnen. Proben- und Auftrittsmöglichkeiten, finanzielle Unterstützung und öffentliche Repräsentanz waren ihnen jedoch weitestgehend verwehrt, sodass diese Arbeiten größtenteils kaum Sichtbarkeit erlangten. In dieser Situation und diesem Zwang folgend, suchten sich Tanz und Performance während des Kommunismus ›andere Orte‹ außerhalb der offiziellen Bewegungskultur, wie ein Arbeitspapier verschiedener TheoretikerInnen und PraktikerInnen aus dem Jahr 2005 deutlich macht.7 Experimentelle zeitgenössische Bewegungsformen fanden sich in anderen künstlerischen Sprachen wie z.B. dem (alternativen) Theater, dem Tanztheater, der Performance Art, den Happenings und der Body Art der 1960er und 70er Jahre, der Musik oder auch der Bildenden Kunst wieder, entwickelten sich innerhalb derer und übernahmen aus diesen Kontexten wichtige Einflüsse.8 Die Gastfreundschaft zwischen den Künsten war, in den Begriffen Jacques Derridas, dennoch nur eine bedingte. Für die Künstler bedeutete sie zudem das Erfinden künstlerischer und politischer Übertragungs- und Übersetzungsstrategien und die Verlagerung des Tanzes und des Körpers ins Imaginäre.
Zu Gast im Diskurs »dem Fremden ist zuallererst die Sprache des Rechts fremd, in der die Pflicht zur Gastfreundschaft, das Recht auf Asyl, seine Grenzen, seine Normen, seine Polizei usw. formuliert sind. Er muß die Gastfreundschaft in einer Sprache erbitten, die per definitionem nicht die seine ist, in derjenigen, die ihm der Hausherr auferlegt, der Gastgeber, der König, der Herr, die Macht, die Nation, der Staat, der Vater usw. Dieser zwingt ihn zur Übersetzung in seine eigene Sprache, und das ist die erste Gewalttat. Hier beginnt die Frage (nach) der Gastfreundschaft: Sollen wir vom Fremden, bevor und damit wir ihn bei uns aufnehmen können, verlangen, uns zu verstehen, unsere Sprache zu sprechen, in allen Bedeutungen des Ausdrucks, in all seinen möglichen Extensionen? Wenn er – mit all dem, was dies impliziert – unsere Sprache spräche, wenn wir bereits alles teilten, was mit der Sprache geteilt wird, wäre der Fremde dann noch ein Fremder, und könnte man dann noch von Asyl oder Gastfreundschaft sprechen? Das ist das Paradox […].«9 7. Vgl. »East – Dance – Academy«, unveröffentlichtes Arbeitspapier von Janez Jansa, Bojana Kunst, Aldo Milhonic und Goran Sergej Pristas, 2005. 8. Vgl. Ana Vujanovic: »Not Quite-not right Eastern Western Dance«, http://www.tkh-generator.net, gesehen am 21. Dezember 2007. 9. Jacques Derrida: »Frage des Fremden: vom Fremden kommend. Vierte
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Über Choreographie al s gastfreundschaf tlichen Raum
Die Kunstformen, die dem zeitgenössischen Tanz ›Gastgeber‹ waren, zeichneten sich dadurch aus, dass sie institutionalisiert waren und damit über ein vielgliedriges, offiziell repräsentiertes System verfügten.10 Dazu gehörte neben Proben- und Auftrittsmöglichkeiten eine stabile Ausbildungssituation, die abgesehen von den Ballett-Akademien für zeitgenössische Formen des Tanzes nicht existierte und meist an die individuellen Exil-Erfahrungen und Vermittlungsaktivitäten einzelner Künstlerpersönlichkeiten gebunden war. Vor allem aber betraf diese Verortung auch die Rezeption und Diskussion der existierenden choreographischen Arbeiten. Am Beispiel Serbiens beschreibt Ana Vujanovic rückblickend: »what we can identify as local dance history is a lateral non-teleological network of past traces of various ›bodily movement traces.‹ […] There is rather an archeology of more or less isolated or indirectly connected points, lost tracks, ruptures, parallel steams, accidents, breaks, a genealogy of discontinuity of beginnings.«11
Was darin zum Ausdruck kommt, ist der Verweis auf ein Geschichtsmodell und dessen Einfluss auf die Ausformung einer nationalen Identität. Die Diskontinuität und Hierarchie der Rezeption und der Archivierungen der verschiedenen Tanzpraktiken, die damit verbunden ist, ist dabei auch in nicht-kommunistischen Ländern auszumachen. Das Primat des Repräsentationssystems aber nahm dem Tanz die Sichtbarkeit innerhalb der Tanzgeschichtsschreibung: Während sich die Dokumentation des zeitgenössischen Tanzes in Nordamerika und Westeuropa entlang verschiedener Stränge, Medien und Konzepte wenn auch fragmentarisch so doch kontinuierlich entwickelte, fanden die KünstlerInnen in den kommunistischen Ländern in den entstehenden Tanz- und Kulturgeschichten, Rezensionen und Biographien kaum Raum und Berücksichtigung. Das Sprechen über zeitgenössischen Tanz beinhaltete eine Synchronisierung mit dem ›westlichen‹ Tanz und eine Prägung der europäischen Tanzgeschichtsschreibung durch eine Diskursmacht, in der sich die Präsenz der Sprache als das epistemologisch ›Andere‹ der Bewegung als Ausdruck übergreifender (macht-) politischer Verhältnisse zeigt. Dies verweist bereits auf das Spannungsverhältnis von Peripherie und Zentrum, das in seinen Dynamiken den Blick
Sitzung (am 10. Januar 1996)«, in: Ders., Von der Gastfreundschaft, Wien 2007, S. 20f. 10. Vgl. Janez Jansa: »Piercing Through«, a.a.O. 11. Ana Vujanovic: »Not Quite-not right Eastern Western Dance«, a.a.O.
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auf die Kunst bestimmte und sich aktuell politisch wie auch künstlerisch in einer Phase der Revision und Re-Definition befindet.
Gast-Freunde? Die Notwendigkeit, neue Räume für den Tanz zu finden bzw. sich den öffentlichen Raum als Raum für zeitgenössische choreographische Kunst wieder anzueignen, wurde mit dem Niedergang des Kommunismus erneut eine dringliche, weil politische Frage. Nicht das Überdenken von Institution oder Erbe steht im Mittelpunkt der seither entstandenen choreographischen Arbeiten, sondern die an die politische und gesellschaftliche Situation gebundenen Themen und Inhalte. Dafür kann exemplarisch das 2006 entstandene Solo Preview des rumänischen Choreographen Manuel Pelmus stehen, das Hierarchien und Strategien von Wahrnehmung thematisiert. Während die Auff ührung komplett im Dunkeln stattfindet, konfrontiert Pelmus das Publikum mit der Vorherrschaft des Blicks, dem Problem von Subjektivität und der Dar- und Herstellung von Identität. Oder die performative Installation Triglav, die die OHO-Gruppe 1968 entwickelte und die 2004 und 2007 rekonstruiert wurde. Neben dem Titel, der Bezug auf den höchsten Berg des Landes nimmt, können diese Rekonstruktionen als Kommentare zu einer sich politisch und gesellschaftlich verändernden Problematik der nationalen slowenischer Identität begriffen werden.12 Zwar nahm die Sichtbarkeit der osteuropäischen Tanz- und Performanceszenen in den Jahren nach 1989 zu: Internationale Festivals und Veranstalter wie u.a. Tanz im August13 nahmen die künstlerischen Entwicklungen in den Fokus oder initiierten wie vor allem das »Tanzquartier Wien« dialogische und differenzierte Austausch- und Residenzprogramme14. Ausländische Ko-Finanzierungen für Produktionen wurden bereitgestellt; internationale Veranstalter machten sich – zum Teil – auf die Suche nach einer neuen ›Ost-Ästhetik;‹ choreographische Plattformen
12. Mt Triglav, Aktion der OHO-Gruppe, Park Zvezda, Ljubljana, 30.12.1968; Like to Like/Mount Triglav, Rekonstruktion durch IRWIN 2004; Mount Triglav on Mount Triglav, Janez Jansa, Janez Jansa und Janez Jansa im Rahmen des Projektes »RE:akt!«, 2007. 13. U.a. in Form des Choreographen-Abends Sol.East im Rahmen des Festivals 2002. 14. So z.B. das Projekt correspondances von Tanzquartier Wien und KulturKontakt Austria, das 2007 am Ende eines 5-jährigen gemeinsamen Programms mit Künstlern aus Ost- und Südosteur opa stand.
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wurden als Präsentationsforen vor Ort organisiert.15 Damit gewannen auch internationale Markt- und Produktionsstrategien zunehmend an Relevanz und die KünstlerInnen waren mit dem Einstieg in eine kapitalistisch geprägte Ökonomie konfrontiert, die die Begegnung mit dem ›Anderen‹ auf verschiedenen Ebenen professionell – und auch jenseits der Ebene des Ästhetischen – betrieb. Bezogen auf seine Erfahrungen mit verschiedenen Residenzprogrammen beschreibt der rumänische Choreograph und Tänzer Mihai Mihalcea die Ambivalenz der Situation: »it had created for me a sort of schizoid situation, being supported to show my work in different countries, but not being able to work and to perform at home. I was living between brackets, neither here not there. What I was bringing with me from here was never ›valid‹/›up-to-date‹ or in trend there, what I was contaminated with from there was never adequate for home. At home, it was ›too early‹ for what was up-to-date there. I never created for ›here‹ or for ›there‹, but I felt that my discourse needed to be adapted both here and there. But I couldn’t have been coherent if I hadn’t taken the risk for things to not be fully understood due to the inevitable cultural differences.«16
Für die Akteure der Szenen war die neue Aufmerksamkeit mit einer neuen Herausforderung der künstlerischen und gesellschaftlichen Selbst-Positionierung verbunden, wenn in der einladenden, gastgebenden Geste zugleich etwas Territoriales verhandelt wird, das sie zum Gast, zum Fremden, in ihrer eigenen Tanzgeschichte macht: Eine Perspektive, die den zeitgenössischen Tanz als primär ›westlichen‹ Tanz annimmt, und ihm eine Vorgängigkeit vor den künstlerischen Programmen und Praktiken in den Ländern im Osten Europas zuschreibt.
»Piercing Through. Wenn Choreographie Gesellschaf t durchdr ingt«17 Trotz der wachsenden Aufmerksamkeit im Ausland waren die kulturpolitischen, infrastrukturellen und finanziellen Rahmenbedingungen für Tanz in den verschiedenen Ländern vor Ort in vielen Fällen weiterhin wenig
15. Wie z.B. Tanzplattformen in Rumänien, Polen, Tschechische Republik. 16. Mihai Mihalcea, Gesprächsbeitrag in: KulturKontakt Austria/MASKA/ Tanzquartier Wien (Hg.), »correspondances«, Wien 2007, o.S. 17. Vgl. gleichnamigen Artikel im tanzheft eins, a.a.O.
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unterstützend bzw. kaum vorhanden.18 In diesem zum Teil paradoxalen Klima wurden viele KünstlerInnen selbst zu Akteuren einer Bewegung, die vielfältige Modelle von Selbstorganisation entwarf und durch politisches Handeln geprägt ist. Beispielhaft dafür steht die Geschichte des »Nationalen Tanzzentrums« in Bukarest, das 2004 nach massiven politischen und öffentlichen Initiativen eines Teils der Künstlerszene und mit Hilfe der Unterstützung der Medien eröff net werden konnte.19 Während dieser Prozesse wurden Rollen neu verteilt und alternative Weisen künstlerischer Produktion und transnationaler Zusammenarbeit wie die »East Dance Academy«20 oder die »Plattform für interdisziplinäre Dramaturgie« entstanden. Auch Ausbildung wurde durch die neu gewonnene Mobilität und in Form verschiedener nationaler und transnationaler Projekte als reflexives und kontinuierliches Konzept möglich. Neue Formen des Lernens durch Tanz und Performance wurden vorgeschlagen, wie z.B. das Lernen durch Rekonstruktion oder verschiedene Projekte eines lebendigen Tanzarchivs21 . Theoriebildung als »materielle Praxis«22 begleitete in Form der drei Magazine Maska (Slowenien), Frakcija (Kroatien) und Walking Theory/TkH23 (Serbien) von Beginn der 1990er Jahre an die ästhetischen und theoretischen Diskurse und entwickelte sie mit. Fokus dieser Initiativen war und ist dabei vor allem die Auseinandersetzung mit der 18. Siehe zur Situation in Rumänien: Manuel Pelmus: »Die Landschaft verändert sich«, in: tanzheft eins – Ost-Europa, a.a.O., S. 4-12. 19. Vgl. Centrul National al Dansului, http://www.cndb.ro, gesehen am 15. Mai 2009. 20. Die East Dance Academy ist eine nicht-institutionelle Initiative von KünstlerInnen und TheoretikerInnen aus verschiedenen ehemals kommunistischen Ländern im Osten Europas. Das Netzwerk bearbeitet und diskutiert u.a. die jeweils eigene aktuelle und historische (Tanz-)Geschichtsschreibung, ihr Verhältnis zum so genannten ›Westen‹ und alternative Modelle des Lernens und der Vermittlung von Wissen. 21. Vgl. u.a. eine Gruppe von KünstlerInnen und TheoretikerInnen um das Magazin TkH in Belgrad, die sich mit der Entwicklung und Umsetzung verschiedener Formate der ›Self-Education‹ beschäftigen, verschiedene Aktivitäten im Feld des »Lernens durch Geschichte«, die sich mit Rekonstruktion, Re-Enactment und Analyse auseinandersetzen oder die Aufarbeitung privater (Tanz-)Archive wie sie z.B. in Bukarest im Zusammenhang mit dem Aufbau eines Archivs rumänischer Performances stattfindet. 22. Bojana Kunst: »The Practice of Thinking«, in: tanzheft eins – Ost-Europa, a.a.O., S. 53-61. 23. Vgl.: http://www.maska.si; http://www.tkh-generator.net; http://www. cdu.hr, gesehen am 15. Mai 2009.
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eigenen lokalen, nationalen und europäischen Geschichtsschreibung und im Speziellen die Bearbeitung und Vermittlung der historischen wie aktuellen Tanzgeschichte.
Déposition – Choreographie als Aussage Die beschriebenen künstlerischen, gesellschafts- und kulturpolitischen Transformationen werden im Rahmen dieses Textes als exemplarischer Ausgangs- und Übertragungspunkt verstanden, der den Blick auf die weiter gefasste Frage nach dem Verhältnis von Choreographie, von Körper, und der Figur der Gastfreundschaft stellen will. Was sich dabei zeigt, ist der Körper als ein Ort der Auseinandersetzung mit vielfältigen Spuren, die jenseits des Individuellen verhandelt werden. Der in der Körpergebundenheit des Mediums begründete stetige Prozess der Aktualisierung betriff t auch das Verhältnis von Gast und Gastgeber. Der choreographierte Körper öffnet imaginäre und reale Räume der Begegnung, die – dynamisch und mäandernd – in der Konfrontation mit dem Publikum beglaubigt, verworfen oder abgegrenzt werden. In und durch seine interkonnektive Textur scheinen im tanzenden Körper eine Vielzahl versteckter Geschichten auf, wie verschiedene Hautschichten einer selben Aussage: politisch, sozial und geschlechterspezifisch, national und biographisch fließen sie ineinander, stehen sich gegenüber, widersprechen sich und kommunizieren in der Durchlässigkeit eines lange für stumm gehaltenen Körpers. Der Körper situiert sich in diesen Räumen im Dazwischen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und ist in diesen Prozessen Träger und Produzent eines vielumworbenen ›Anderen‹. Darin eingelagert sind ein potentielles Unbehagen in der Begegnung mit dem Anderen und zugleich ein Begehren, die Suche danach. Von Choreographie zu sprechen meint in diesem Sinne keine Notation im Sinne einer Festlegung von Bewegung. Vielmehr befragt es die im Begriff selbst angelegte Idee des Schreibens und nimmt zugleich die etymologisch ebenso benannte Bewegung des Chors als Bewegung einer Gruppe, einer Gemeinschaft, in den Blick. Die alltägliche Geste des Schreibens ist dabei doppelseitig und meint das Be-Schreiben der Körper durch die Gesellschaft, das Soziale, die Kultur, und gleichermaßen das Ein-Schreiben derselben in die letzteren. Der Raum- und Strukturbegriff Choreographie öffnet sich in der Folge für die Erfahrung und bezieht auch die Imagination und die Erkenntnis des Zuschauers, des ›Anderen‹, mit ein. Damit wird eine Verschiebung von einer strukturschaffenden Be-Schreibung (frz.: »dé-scription«) hin zu einer 211
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raumschaffenden Aussage (frz.: »dé-position«)24 benannt. Dieser Schritt, der sich von der Sprache, von der Schrift, hin zu vielfältigen Resonanzen bewegt, verweist auch auf die strukturelle und dynamische Beziehung zwischen Schreiben und Erfinden als relationalen Raum. Wie mit Blick auf den gewählten Kontext deutlich wird, treten zwei Merkmale von Choreographie hervor: Zum einen kommt die Qualität des Gerichtet-Sein von Bewegung in besonderer Weise zum Tragen und realisiert sich – analog zur Bewegung des Chors – als gerichtete Einschreibung und gerichtetes Eingreifen choreographischer Praktiken in gesellschaftliche Prozesse. Zum anderen tritt die Durchlässigkeit des choreographischen Wissens und des Körpers in spezifischer Weise in den Vordergrund und der Körper bewegt sich durch die Erfahrungen, Einflüsse, Geschichte des ›Anderen‹, verweist auf das Unsichtbare, das das Sichtbare begleitet, auf den blinden Fleck, der das Sehen erst ermöglicht. Der (choreographische) Blick liegt auf seinen Einlagerungen. Und findet sich in mannigfaltigen Bewegungen und multiplen Perspektiven des Ab- und Loslösens, der Überlagerung, Übertragung und Beheimatung, im Umgang mit den eigenen Mitteln und in einem Prozess der intersubjektiven Identitätskonstruktion wieder. Fiktionale und historische Räume treten in Erscheinung, eigene und imaginäre Gegenwelten werden aufgerufen, eingelagert, geöffnet und aufgebrochen. Bei den zitierten Entwicklungen geht es dabei nicht um die Abschottung von zeitgenössischem Tanz und Performance von anderen künstlerischen Ausdrucksformen oder um die Affirmation geographisch definierter Kulturkreise. Mehr als eine vielleicht westlich konnotierte Geste des ›Eigenen‹25 oder die Suche nach einer eigenen identifizierbaren Bewegungsästhetik, macht sich der zeitgenössische Tanz sein historisch erzwungenes und erprobtes Potential der Übertragung zu Nutzen, oder das »Gefühl des Vorübergehens, des Geliehen, des Zufälligen«26, das Boris Groys für die ehemals kommunistischen Gesellschaften ausmacht. Weit über eine Geschichte der Sichtbarkeit von zeitgenössischem Tanz und ihrer historisch relevanten Erklärungsmuster hinaus tritt eine innere Qualität von 24. In dem französischen Wort »déposition« (Aussage) liegt eine weitere
Dimension, die das Ändern einer Position, das Wegrücken und zugleich die Verbindung mit einer solchen meint; die die Idee des Neben-Sich-Stehens ebenso wie die Nähe zum Anderen markiert und einen Schritt zur Seite (»dé-position«) impliziert, der an Jacques Derridas »Schritt der Gastfreundschaft« denken lässt. 25. Boris Groys: »Westliche Indoktrination und östliche Analytik«, a.a.O. 26. Ebd.
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Öffnung und Übertragung in den Fokus, die den zeitgenössischen Tanz in Ost-Europa historisch kennzeichnet. In diesem Modus des Unabgesicherten, des Zuführens und Zulassens von Einflüssen, liegt die Möglichkeit von Choreographie, Gesellschaft zu durchdringen, sich den öffentlichen Raum wieder anzueignen und die Performance-Kunst als kulturelle Praktik und soziales Feld zu entwickeln. Die Verantwortung der Künstler tritt damit in den Vordergrund. Sie definiert die Gastfreundschaft weniger über Rechte, Pflichten und Territorium, sondern über den realen oder erfundenen Moment von Begegnung.
Grenzgänge »Schritt der Gastfreundschaft. Wir gehen. Wir bewegen uns fort: von Überschreitung zu Überschreitung, aber auch von Abschweifung zu Abschweifung. Was bedeutet das, dieser ›Schritt zu viel‹, die Überschreitung, wenn das Überqueren der Schwelle für den Eingeladenen wie für den Besucher stets ein Schritt der Überschreitung bleibt? Wenn er es sogar bleiben muß? Und was bedeutet dieser Schritt zur Seite, diese Abschweifung? Wohin führen diese seltsam-befremdlichen Prozesse der Gastfreundschaft? Es ist, als würden wir von Schwierigkeit zu Schwierigkeit schreiten. Besser oder schlechter, oder schlimmer noch, von Unmöglichkeit zu Unmöglichkeit. Es ist, als wäre Gastfreundschaft unmöglich: als würde das Gesetz der Gastfreundschaft diese Unmöglichkeit selbst definieren, als könnte man es nur übertreten, als würde das Gesetz der unbedingten, hyperbolischen Gastfreundschaft, als würde der kategorische Imperativ der Gastfreundschaft erfordern, all die Gesetzte der Gastfreundschaft zu übertreten, das heißt, die Bedingungen, Rechte und Pflichten, die sich sowohl Gastgeber und Gastgeberinnen als auch Gäste, die Aufnahme gewähren wie denen, die Aufnahme finden, auferlegen. Es ist, als würden die Gesetze der Gastfreundschaft, indem sie Grenzen, Befugnisse, Rechten und Pflichten markieren, darin bestehen, das Gesetz der Gastfreundschaft herauszufordern und zu übertreten, jenes Gesetz, das fordert, dem Ankömmling bedingungslos Aufnahme zu gewähren.«27
Die Lesart von Choreographie als gastfreundschaftlichen Raum weist uns Grenzen auf, die die Praxis und die Wissenschaft vom Tanz zeichnen: Gastfreundschaft ist nicht gleich und sucht nicht nach Gleichheit. Sie zeigt sich als zähmende Geste, die den Fremden zu assimilieren sucht. Ist Zuschreibung und Abbildung dessen, was uns selbst nicht Eigen ist. Konfrontiert uns mit dem Einfall unserer eigenen Fremdheit. Sie wirft die 27. Jacques Derrida: »Schritt der Gastfreundschaft. Fünfte Sitzung (am 17. Januar 1996)«, in: Von der Gastfreundschaft, S. 59f.
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Frage auf, wie wir den Gast willkommen heißen können, ohne ihn auf das Eigene zu reduzieren – und öff net zugleich einen realen wie imaginären Raum der Begegnung mit dem Anderen. Als Grenzgänger des Hör-, Seh- und Spürbaren setzen sich die ChoreographInnen und TänzerInnen dem Fremden aus und suchen – zwischen Durchlässigkeit und Gerichtetsein von Bewegung – nach Formulierungsweisen und Aktionen, nach dem, was sich Symbolik, Repräsentation und Geschichtsschreibung entzieht. Die Frage nach der Wirkweise von Tanz und Bewegung, ihren künstlerischen Sprachen und ihrer Geschichte, würde dann vielleicht weniger lauten: »Was ist Choreographie?« – im Sinne einer abgrenzenden, definitorischen Geste, sondern: »Was tut sie?« – in ihrer künstlerischen und sozialen Theorie und Praxis.
Literatur Baxmann, Inge: »Der Körper als Archiv. Vom schwierigen Verhältnis zwischen Bewegung und Geschichte«, in: Sabine Gehm/Pirkko Husemann/Katharina von Wilcke (Hg.), Wissen in Bewegung. Perspektiven der künstlerischen und wissenschaftlichen Forschung, Bielefeld 2007, S. 217-227. Derrida, Jacques/Habermas, Jürgen: Philosophie in Zeiten des Terrors, Zwei Gespräche, geführt, eingeleitet und kommentiert von Giovanna Borradori, Berlin 2004. Derrida, Jacques: Von der Gastfreundschaft, Wien 2007. Groys, Boris: »Die postkommunistische Situation«, in: Ders./Anne von der Heiden/Peter Weibel (Hg.), Zurück aus der Zukunft. Osteuropäische Kulturen im Zeitalter des Postkommunismus, Frankfurt a.M. 2005, S. 36-47. Ders.: »Westliche Indoktrination und östliche Analytik. Ein Interview mit Boris Groys über postkommunistische Gegenwart und ihre Kunst«, in: http://www.postcommunist.de, gesehen am 27. November 2008. Hugonnet, Yasmine: »Thema #7: Was ist Choreography?«, in: http://www. corpusweb.net, gesehen am 25. November 2008. Jansa, Janez: Piercing Through: »Tanz, der gesellschaftliche Choreografien durchdringt«, in: tanzheft eins – Ost-Europa, hg. von Tanzplan Bremen/ Performance Studies Universität Hamburg, Januar 2008, S. 42-51. Jansa, Janez/Kunst, Bojana/Milohnic, Aldo/Pristas, Goran Sergej: EastDance-Academy, unveröffentlichtes Arbeitspapier 2005. Kunst, Bojana: »Autonomy on display: Subversion and the Dancing Body«, in: Performance Research 8(2) (2003), S. 61-68. Dies.: »The Practice of Thinking«, in: tanzheft eins – Ost-Europa, a.a.O. S. 53-59. 214
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Mihalcea, Mihai: »Gesprächsbeitrag«, in: KulturKontakt Austria/MASKA/ Tanzquartier Wien (Hg.), correspondances, Wien 2007, o.S. Pelmus, Manuel: »Die Landschaft verändert sich«, in: tanzheft eins – OstEuropa, hg. von Tanzplan Bremen/Performance Studies Hamburg, Januar 2008, S. 4-12. Salamon, Eszter: »Geschichte und Subjektivität – Ein Interview«, in: tanzheft eins – Ost-Europa, hg. von Tanzplan Bremen/Performance Studies Hamburg, Januar 2008, S. 22-30. Vujanovic, Ana: »Not Quite-not right Eastern Western Dance«, in: http:// www.tkh-generator.net, gesehen am 21.12.2007.
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5. Zwischen den Künsten, zwischen den Formen Theodor W. Adorno konstatiert im Jahr 1967 eine »Verfransung der Künste«, damit bezieht er sich auf zunehmend ineinander übergreifende Genres wie Musik oder Malerei. Dreißig Jahre später prägt der französische Kunsthistoriker Nicolas Bourriaud den Begriff der »relationalen Kunst«, der Begegnungen von Menschen als künstlerisches Ereignis bezeichnet, jedoch auch auf die Verhältnisse der Künste und ihrer Formen zu übertragen ist.1 »Zwischen den Künsten, zwischen den Formen« schließt daher sowohl die Zeichenebenen eines Genres als auch die Wechselwirkungen mehrerer Kunstformen und die ästhetischen Weisen, wie sie ihrem Publikum gegenüber treten, ein. Wie also organisieren Kunstwerke ästhetische Formen als Relationen (Dirk Baeker)? So lautet die Frage, die die vorliegenden Beiträge bündelt, sie zielt auf Zwischenspiele künstlerischer Genres und ästhetischer Formen ab. Die folgenden vier Beiträge gehen (historischen und) gegenwärtigen Übertragungsbewegungen zwischen Theater, Performance und den Bildenden Künsten, zwischen Tanz und Schrift, zwischen Sprache und Bewegung, und zwischen Theater, Buch und Film nach. Zuerst widerspricht Eléonore Bak anlässlich der Vorstellung ihrer Audiodrawings im urbanen Raum und ihrer akustischen Zeichnungen einer Einteilung der Arbeiten in Genres wie Bildende Kunst oder Rauminstallation. »Kunst im Rohzustand« erzählt sich vielmehr aus einem Rückblick in Baks (Aus-)Bildungsgenealogie und aus ihren Standpunkten zur Lehre und Produktionsweise von Kunst. Wie kann Kunst vermittelt werden? In einer Kritik des Selbst1. Aus Bourriauds Formulierung erwächst bei dem Kongress der Gesellschaft für Theaterwissenschaft (2008) in dem Panel »Die Relationalität der Künste« Nachdenken über die Relationalität von Kunstwerken. Sie knüpft auch an das interdisziplinäre Graduiertenkolleg Interart Studies am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin an.
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vermarktungs- und Identifizierungsgebots an KünstlerInnen nimmt die Autorin Themen aus dem Kapitel – ›Dialoge zwischen den Systemen‹ erneut auf. Deutlich wird darin der Zusammenhang des »Zwischen« der Genres und der ästhetischen Formen. Eléonore Baks Vorschlag und ihre langjährige Praxis münden in den Klangraum als geteiltem Begegnungsraum. Erzählt Eléonore Bak zu einem Resonanzraum zwischen Menschen hin, so erschaffen sich deufert & plischke bereits als interpersonaler Zwischenraum. Dieser wird optisch durch das grafische Zeichen & markiert. Selbst ein relationales Gebilde, führt der Künstlerzwilling in seinem Beitrag ein Gespräch mit dem Tanz, der seinerseits abwesend ist (und bleibt). Darin werden weniger Definitionen des Tanzes geleistet, sondern der Tanz wird als historisch spezifische Fiktion befragt, erzählt wird beispielsweise von kollektiven Arbeitsweisen. »Verfransungen der Künste« werden in der schriftlichen Fassung des Beitrags deutlich, die den Monolog, den Dialog und den Botenbericht bündelt und transformiert: Vom Zwilling aus gedacht, ist es ein Monolog, von K und T (den sprechenden Positionen) aus gedacht, ein Dialog, und von der Szene des abwesenden Tanzes aus, ein Botenbericht. Dramatische Konventionen kreisen den Tanz ein, der sich einer Identifizierung in Schriftlichkeit jedoch permanent entzieht, weshalb er auch als Projektionsfläche ausgewiesen wird. Ist der Tanz also in eine theaterspezifische Schriftlichkeit übersetzbar, die sich der Fiktion bedient? Funktioniert die Texttheatralität von Notice me! über den monologischdialogischen Botenbericht, so untersucht Susanne Foellmer das Oszillieren von Zeichenebenen (Text und Körper, respektive Sprache und Bewegung) im zeitgenössischen Tanz. Die Autorin befragt das Wechselspiel von Bewegung und Sprache, wobei sie die Des-Organisation des Sprachlichen im Tanz aufzeigt. Die Sprache wird, beispielsweise in einer Tanz-HörspielTrilogie Martin Stiefermanns und in einer künstlerischen Auff ührung William Forsythes, zum »haptischen Gewebe«. Indem Susanne Foellmer die mehrfache Ursprünglichkeit des zeitgenössischen Tanzes aus Körper, Bewegung und Sprache aufzeigt, beantwortet sie die Frage, warum eine vermeintliche Dichotomie von Körper versus Text oder Bewegung versus Sprache deutlich zu kurz greift. Wie sind nun im Theater die Wechselverhältnisse zwischen den Künsten und ihren Formen gestaltet? Dies bespricht Annette Storr in ihrem Beitrag zum »allmählichen Verschwinden dramatischer Figuren«, dieser ist exemplarisch für den »State of the Art« einer Theaterwissenschaft, die ihren Gegenstand gleichzeitig entgrenzt und präzise fasst. Auch hier ist am Beginn bereits, in einem Gespräch zwischen Jean-Luc Godard und Maguerite Duras zu der Frage, was den Film, das Buch und das Theater unterscheidet, das Dialogische 218
Zwischen den Künsten, zwischen den Formen
maßgeblich. Von diesem Zwischenraum der Künste aus fokussiert die Autorin das Theater, wobei sie den roten Faden der Personalisierung in einem Theater, das nicht notwendig traditionellen dramatischen Konventionen folgt, aufrollt. So stellt sie u.a. die gleichsam rückwirkende Personalisierung eines dokumentarischen Textes durch die Verwandlung in eine Theaterauff ührung bei Hans-Werner Kroesinger und die Texttheatralität eines Romans von Virginia Woolf fest, um mit Gerhard Hauptmann zu einer inner-personalen Dramaturgie zu gelangen. Ist das Theater also ein Ort, von dem aus die Dramaturgien unzähliger anderer Kunstformen aufgerollt werden können? K.P.
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Kunst im Rohzustand Eléonore Bak
»Die Kunst ist der Ausdruck unwiderruflicher menschlicher Freiheit. Selbst in unserer Zeit der rasenden Produktivität, wo das Ideal des Konsumenten die Menschheit einem objektiven Prozess unterwerfen möchte, ist dies nicht auszulöschen. Die Kunst ist durch ihren inneren Sinn ein energischer Protest gegen diese Form von menschlicher Knechtung. Genau weil sie keine Randfigur der Aktualität ist, weil sie kein künstliches Paradies ist, hat sie die Fähigkeit, die intimste Not unserer Zeit auszudrücken, sogar mehr noch als jegliche Form von spiritueller Aktivität.«1 Jan Patocka »Aber im Un-Objektiven wird ein Anfang sein.« Kasimir Malevitch
Anlass des folgenden Textes ist eine Begegnung mit Katharina Pewny in Trier während des Theaterfestivals Maximierung Mensch (2008), wo ich eine Einführung in meine künstlerische Arbeit mit Klang gab. In diesem Vortrag hatte ich unsichtbare Architekturen auf der Bühne thematisiert.2 Das Kolloquium analysierte Ökonomisierungsprozesse im zeitgenössischen Theater.3 Kontakte zwischen Institution und Kunstschaffendem vollziehen sich 1. Übersetzung: Eléonore Bak. 2. Ist Landschaft nur zum Sehen da? Mit dieser Frage Augoyards öffnet sich
eine neue Perspektive auf den polysensoriellen Raum. Mit Hörzeichnungen und Audiodrawings versuche ich einen Ansatz zum Lebendigen zu skizzieren. 3. Die wissenschaftliche Konferenz konzentrierte sich auf Projekte, die sich der globalen Expansion von Wirtschaftsprozessen samt ihrer sozialen Konsequenzen widmete, der Flexibilisierung des Menschen, seiner Inszenierung als Unternehmer. Im Fokus standen neben Theatertexten, die in formaler Hinsicht nicht
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Kunst im Rohzustand
oft in Form von parallelen Perspektiven. Auch anlässlich dieses Zusammentreffens in Trier hatte ich zunächst den Eindruck, mit meinem Beitrag aus dem Rahmen zu fallen. Bei dem Versuch, künstlerische Methoden und deren artspezifisches Vokabular zu skizzieren, ging ich nur am Rande auf die gestellte Thematik ein und beschrieb mehr den Prozess der Findung. Das scheint mir im Nachhinein aber besonders wichtig, weil der Künstler ohnehin ständig seinem eigenen inneren Drang Ausdruck verleihend die Kunst auch ohne Auftraggeber produziert und weiterdenkt. 4 Durch die Demokratisierung der Kunst ist das traditionelle Atelier als Loft, als Lagerstätte, als Welt der strengen Regelmäßigkeit des ComputerBildschirms mit seinen vier Ecken gewichen. Dabei scheint die Werkstatt Neuland zu erschließen, dessen Horizonte sinnlich aber kaum greif bar und in sehr bescheidener Weise mit dem körperhaft erfahrbaren Raum im Dialog stehen. Das zeitgenössische Atelier begreift sich mehr denn je durch ein singuläres intellektuelles Konzept. Durch den Bildschirm dazu verurteilt, eine Maske zu werden, erlebt man es als Artefakt. Der Mangel an dauerhaften, physischen und direkten Konfrontationen ist Grund für eine gewisse Vereinsamung des Künstlers. Der Autor verläuft sich im allgegenwärtigen Netz, dem Schönen als Versatz, tausendfach austauschbar und deswegen immer jetzt, kaum gestern und auch nicht morgen. Das bedeutet, ein zum Sitzen verdammter Nomade zu sein. Welche Auswirkungen hat dies auf die Kunst und die Begegnung mit ihr? Im prozesshaften, künstlerischen Begreifen gibt es für mich keine Grenze. Stetig neue Hörsituationen regenerieren seinen ursprünglichen Sinn, machen ihn aktuell fassbar. Kunst und spezifisch Klang sind lebendig.
Kunst hat mit Überraschung zu tun Als ich mit der Kunst anfing, hatte dies präzise Beweggründe. Kunst ist leibhaftig, präsent und weder symbolischer noch metaphorischer Ausdruck meiner selbst. Ihre Energie und die sich auftuende Möglichkeit, etwas grundlegend Neues zu entdecken, bewegen mich. Kunst hat mit Überraschung zu tun, mit Vision und eröffnet sich mir gleichzeitig mit so hoher Schlichtheit, dass mein eigenes Weltbild herausgefordert wird und ich mich gleichzeitig in dieser Einfachheit aufgehoben fühle. Ich begann als Webgesellin und habe lange damit gekämpft, wie und wo das Handwerkliche (im Sinne der Idylle »Kunst kommt von Können«) der sozialen Dramatik neuer Couleur zugerechnet werden können, Performances und Happenings sowie postdramatische Theaterexperimente. 4. Die im Ursprung bestehende Widersprüchlichkeit.
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einzuordnen wäre. Dann entdeckte ich später, dass meine künstlerische Arbeit und ihr Interesse am Prozesshaften durch die Methodik des Webens weiter aus einem Vokabular schöpfte, dem ich bis heute viele plastische Begriffe entlehne, besonders den der Elastizität. Es war aber auch die an den Gesellen gestellte Erwartung, sich auf den Weg zu machen, immer wieder neu zu lernen, die mich formte. Auf diese Weise war ich zur Entscheidung gezwungen, entweder Meister zu werden oder nie das Gesellentum abzulegen. Ersteres bedeutet, aufzuhören mit dem Suchen und das Erlernte zu vertiefen. Meister zu werden, heißt anderen Platz zu machen. In der Akzeptanz des Weitergebens liegt die Akzeptanz der eigenen Endgültigkeit. Die zweite Option zielt darauf hin, immer mehr neue Kenntnisse zu erreichen, potentiell mehr zu wissen, als der Meister selbst und ihn in der Mehrzahl trotzdem zu brauchen, um mehr Wissen aufzubauen. Das Rollenspiel zwischen Lehrenden und Lernenden ermöglicht, Dialogformen zu provozieren. Die gegenseitige Abhängigkeit von Meister und Geselle ist ein Modell, welches von der Gesellschaft antagonistisch zum Künstler immer noch auf viele Situationen des Kunstschaffens übertragen wird. Es endet in einer Form von Hierarchisierung. Die Situation aber als mögliche Perspektive – in der sowohl Meister wie Geselle nie als Konkurrenten, sondern immer in einer Form von Mitwisserschaft stehen – bietet sich besonders im Umfeld der fundamentalen Kunst an, im Zusammenhang mit dem Künstler als Forschenden.
Laufbahn und Identität Ich bin zu einer Zeit geboren, die keine elektronische Unterhaltung kannte, quasi vor dem Erscheinen des Fernsehbilds. Die Angst vor unkontrollierbaren Informationen und Bildern trennte die Welt der Eltern von der der Kinder. In der kindlichen Welt aber gestalteten Taschenlampen bewegliche Bilder. Deren Lichtstrahl ließ, wie die Spitze eines Bleistiftes, spielerisch virtuos auf der dunklen Wand Bilder und Schatten entstehen. Die Welt geschah nicht innerhalb eines Bilderrahmens als einziger Möglichkeit der Evasion und Entfaltung. Der Körper verlor sich außerhalb seiner physischen Kontur, bewegte sich frei dort, wo ihn die Beine nie tragen können, an die Decke des Zimmers, dahin auch, wo die Augen ihm nicht folgen, ins Dunkel. Kreatives Hören übt sich in ständiger Nacht. Nach der Weberei arbeitete ich im Theater. Dies war überhaupt der Anfang von beweglichem Raum, der Konfrontation mit Tanz. Ich lauschte verbotenerweise den Proben des Balletts hinter der Tür des Tanzsaals. Befehle, Schritte, Vibrationen dehnten den Raum auch ins Unsichtbare aus, da 222
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nun kein Boden mehr als Referenz für mich bestand. Es war das wundervollste der Welt, in dieser akusmatischen Situation vor der Tür Geschehen und Körper, Bewegungen und Perspektiven herauszuahnen, es entstand irgendwie Platz für die eigene Welt. Hören, was passiert, lauschen, ob jemand kommt, die Gefahr entdeckt zu werden, gespannt zu erwarten, dass die Tür aufgeht, also Hören in all seinen Funktionen, aufs Höchste zugespitzt, zwischen zwei Welten, analytisch, kontemplativ. Katharina Pewny spricht von der Dramaturgie des Scheins, die vor allem eine Dramaturgie des Seins im Hier und Jetzt sei.5 In der europäischen Kultur bindet sich Hören an Worte: erhören, gehorchen, gehören. Im »sei still, hör mir zu« liegt ein Zwang. Hören hat aber überhaupt nichts mit Gehorchen zu tun. Wir können die Augen zu machen, aber nicht die Ohren. Wir können uns dem Hören nicht entziehen, auch nicht wenn wir zur Stille gezwungen werden. Das Erkennen dieser Stille ist unter Anderem der Christianisierung zu verdanken. In den frühen Klöstern wurde zur lautlosen Beschäftigung aufgefordert. Dies machte dem Gläubigen seine Individualität bewusst. Während er nur für sich selbst und ohne Zeugen betete, konnte er etwas anderes denken als das, was man ihm auftrug.6 Diese Situation führt uns zu Kategorien des Raums, mit denen wir unbehindert umgehen oder sterben müssen, wie Kafka es in der Straf kolonie beschreibt. Hören, mehr als andere Sinne, platziert uns örtlich, wie phänomenologisch im Zentrum des Geschehens. Das wurde mir noch einmal deutlich während des Attentats am 11. September 2001 in New York. Da, wo die Bilder uns gehorchen ließen, uns in der ständigen Wiederholung zum Misstrauen ob ihrer Wahrhaftigkeit im Stich ließen, waren die von den Handys gesandten letzten Nachrichten der Opfer jedes Mal schauerlich nah, untrüglich. Ein Bild ist dem Schein ausgesetzt, der Klang kann sich weniger gut verstecken. Die Perspektive des »Sichtbaren«, die uns immer weiter nach vorwärts drängt, immer monströser wird, hält nicht mitten auf dem Weg an in einer Vertiefung des Seins, welches je nach technologischem Ansatz schnell obsolet werden kann. Sie ist Moment eines kosmischen Narzissmus in der Weiterführung des Egoismus, »die Natur ist schön weil ich schön 5. Vgl. Katharina Pewny: »Theatrum Europaeum Precarium. Rimini Protokolls Dramaturgie der Ökonomie«, in: Schößler, Franziska/Bähr, Christine (Hg.), Ökonomie im Theater der Gegenwart. Ästhetik, Produktion, Institution, Bielefeld 2009. 6. Wie man weiß, las man in der Antike immer mit lauter Stimme. Sankt Augustin war darüber erstaunt, dass sein Freund Sankt Ambrosius, den Bischof von Mailand, diese mentale Lektüre (stille Lektüre) ausübt. Vor dieser Zeit wären Lektüre und auferlegte Stille nicht dissoziierbar gewesen. Vgl. Pierre Riché: Education et Culture dans l’Occident Barbare, Paris 1962, S. 98.
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bin,… des individuellen Narzissmus ohne weltliche Polarität…« Wenn man sich in der Selbstbetrachtung verliert, dann erinnert das tatsächlich an ein in der Zeit stillstehendes Bild, Rahmen einer dunklen Todesmeditation.7 Piranese hat eine erstaunliche Reihe von Stichen brennender Kamine gemacht. Der darin dargestellte Rauch bleibt für uns Dekor im Bild. Im Zeitalter der elektrischen Heizung ist das nicht besonders erstaunlich. Im 17. Jahrhundert aber konnte jeder die Rauchzeichen interpretieren, davon die Art des Kamins und seiner Zugkraft ableiten. Auf einmal wissen wir plötzlich, dass der wirkliche Kamin (als Luftschacht) nicht mehr im Bild zu finden ist, weder sinngemäß noch physisch. Der Rauch zeigt ihn in Form eines Phantoms. Nur der Wandel unserer Bedürfnisse verändert und relativiert unsere Vorstellungen und Interpretationen. Kultur ist gedächtnisträge und vergisst leicht, im Gegensatz zur Kunst, die unser Gedächtnis ständig neu provoziert. Die Utopie des Körpers beim modernen und zeitgenössischen Schauspiel, nämlich eines Körpers ohne Organe, instrumentalisiert und mit Prothesen versehen, eines Körpers im geteilten unterteilten Universum, dessen Sichtbarkeit vom Computer gesteuert und überwacht wird, ist parametriert und zur Sprachform geworden (beispielsweise in Meyerholds Biomechanik und in Miriam Gourfinks virtuellen Choreographien). Sie ist soweit interessant, wie das Analysieren des Körpers durch die Künstlichkeit kein Unbild von ihm ergibt. Von welchen Körpern sprechen wir da eigentlich? Die Kunst der Gestik geht weit über die Dramaturgie, die Simulation, die Technik des Illusionismus hinaus, sie ist eine Kunst der Verwandlung.8 Wir gehen schließlich immer nur von unserem eigenen Körper aus, er ist unumwindlich, er ist Modell für die Körperhaftigkeit des Anderen. Mit der Immersion wurde schon im Mittelalter experimentiert. Hier spielte man in den Kirchen Musik für Doppeltrompetenchor, das Publikum hörte im 360° Radius. Ich möchte hier daran erinnern, dass wir diese 360° tatsächlich hören, dass die Zisterziensichen Abteien hallen, wenn der Priester spricht. Es ist nicht nur seine Stimme, es ist der ganze Raum, der schwingt. Dieses Hören findet im inneren Ohr seinen Widerhall. Es reicht also nicht aus, wenn man sich nur für das Dispositiv interessiert, unsere Hörpalette ist viel komplexer. Als Prätext für das Sensible verändert sie auch unser Schauen, Erkennen und für »wahr« nehmen. 7. Gaston Bachelard, zit. n.: Eléonore Bak: Son/Espace, comment développer une nouvelle pensée spatiale à partir de la transmission sonore (= mémoire de DEA, Université Nice, Ecole doctorale). Nice 2001, S. II. 8. K. Pewny: Theatrum Europaeum Precarium, in: Schößler, Franziska/Bähr, Christine (Hg.), Ökonomie im Theater der Gegenwart. Ästhetik, Produktion, Institution, Bielefeld 2009.
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Als Renzo Sicco Il piccolo principe (Der kleine Prinz, Inszenierung, nach St. Exupéry) entwirft, eine Darstellung, die aus Kinderzeichnungen im Sand komponiert ist, beendet er das Stück mit dem Satz »Das Wichtigste ist für die Augen unsichtbar«. Hier reklamiert das Spiel die Aufwertung des Seins in der Verpersönlichung des Imaginären, des Extralogischen und Extralinguistischen.9
Atelier Während des Studiums bin ich im Umgang mit der tragbaren Skulptur (Kostümobjekte) und der Performance 1986 zum Klang gekommen. Diese Arbeit unterteilt sich in Installation, Klanglandschaft, Audio-Performance und visuellen Übersetzungen des Klanges. Abbildung 1: Eléonore Bak: Audiodrawing, Foto: Olivier Garcin
Von Anfang an fragte ich mich ständig wie die Werkstatt heute zu begreifen sei, welchen Status sie hat. Eines ist sicher, das Atelier, sei es mental oder praktisch, hat immer noch seinen zentralen Platz für den Künstler. Für mich entfaltet es sich in der geistigen Auseinandersetzung. Jede Ausstellung wird zu dessen Aus- und Umbau. Es ist unbedingt beweglich und ausschließlich ein Wanderndes. 9. Siehe auch: Audiovisuel et holographie au service des Arts de la scène. Le potentiel créatif des nouvelles techniques. Vgl. www.ffmjc.org/IMG/rtf/ Colloque_29_Avril.rtf, gesehen am 5. Mai 2009.
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Hier möchte ich einige Beispiele geben, die mein Atelier umschreiben.
I) A UDIODR AW INGS Mit Audiodrawing10, Chemin des Fontaines, Toulon, F 2003, wollte ich im urbanen Raum thermodynamische akustische Phänomene testen. Das zu versuchen, ist sehr schwierig auf einem Platz mit vielen Leuten, die ständig dazwischen laufen. Auch hat der von mir ausgewählte Zeitpunkt, nämlich in der vollen Mittagsstunde, wo die Sonne am heißesten und die Schatten am kühlsten sind, den Platz nicht leerer gemacht. Durch die Tradition des sich im Ring um mich herum aufstellenden Publikums entstand plötzlich eine freie Arena. Das erschuf eine ideale Position, akustisch vektoriell, vom Zentrum unten am Boden zu den Wänden nach oben zu arbeiten. Sogar das Brunnengeräusch kam in der nun entstehenden Stille durch und entkam dem normalen urbanen Geräuschpegel und dessen Maskeneffekt. Das Publikum wurde Zeuge meines Experiments. Aber was viel wichtiger war, es half mir gleichzeitig den Platz zu konstruieren, den Atelier-Raum freizumachen den öffentlichen Raum für mich zu potenzieren.11
II) A KUS T I SCHE Z E ICHNUNGEN Ich untersuche seit einigen Jahren, in wiefern sich mein Schauen geändert haben könnte durch die ständige Beschäftigung mit Klang und habe Hörzeichnungen entwickelt, die mir zunächst als Reiseskizzen dienen.12 10. Audiodrawings beziehen sich auf akustische Situationen im Ausstellungs-
raum. Klänge werden gestisch im Raum bewegt und bereichern sich durch die dort vorhandenen Materialien. Akustisch reagierende Strukturen gestalten die ausgestrahlte »Klanglandschaft« partizipativ mit, die Komposition erzeugt so ein elastisches Gebilde. Die Tragfl ächen vibrieren und werfen Bewegungsmuster in den Raum zurück. Sie sind immer direkt gelebtes Atelier. 11. Siehe auch die Ausstellung Perceptions im Museum für Moderne Kunst in Dubrovnik, Kroatien 2002. Hier entdeckte ich an mehreren Stellen gleichzeitig ein Abweichen des natürlichen Halls. Keinerlei architektonische Elemente konnten dies erklären, bis ich mir die Frage stellte, ob nicht ein Riss das Gebäude durchziehe, was sich bestätigte. Ich kennzeichnete diesen Spalt durch optische Klangzeilscheiben. Es war erstaunlicherweise überhaupt nicht notwendig, dem Publikum den akustischen Riss erklären zu müssen. Das wiederaufgebaute, scheinbar vollkommen reparierte Dubrovnik, vertuschte kaum zwei Jahre nach Ende des Krieges die innere Zerissenheit der Bevölkerung, die verschwundenen Heime. Man konnte es nicht mehr sehen, man musste dem nur zuhören. 12. Hörzeichnungen sind eine Art manuell hergestellte Echographie. Klang-
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Im Sommer 2008 reiste ich nach Bayonne, um mir eine Corrida anzuschauen. Natürlich machte ich außerdem Hörzeichnungen, wie so oft, um mir einen Begriff über Geschichte und Raumkultur zu machen. Zufällig stieß ich dabei auf die Kathedrale Saint Jean-Baptiste in St. Jean-de-Luz. Hier zeichnete ich auf einmal nicht mehr nach meinem vertrauten Stil, sondern sehr graphisch und zwar auf eine Weise, dass sich ein Emblem erkennen ließ. Ich besuche die gezeichneten Räume zunächst immer im Rohzustand, ohne vorher wissen zu wollen, um was es sich dabei handelt. Das Emblem ähnelte dem Abzeichen des Médoc. Aufgrund meiner späteren Nachforschungen entdeckte ich, dass diese Ikone Ludwig dem XIV. zugeordnet wird und dass die Kathedrale nicht nur der Ort seiner Hochzeit mit der spanischen Infantin war, aber speziell für dieses Ereignis umgebaut worden war. Auch bestehen Ähnlichkeiten des Emblems zu den Wahrzeichen der Stierzüchterfamilien. Es stellt eigentlich nichts anderes dar, als die Bewegung der Hörner des Stiers in der Arena, den Kampf in seiner räumlichen Körperhaftigkeit, die Bezüglichkeit zwischen der Vertikalität des Toreros und der Horizontalität des besiegten Stiers. Während einer Künstlerresidenz an der Kunstakademie im Herbst 2008 in Krakau versuchte ich mich am Zeichnen von öffentlichen Plätzen. Die Kultur unseres Hörens ist oft an geschlossene Räume gebunden, also wollte ich untersuchen, ob diese Plätze Zonen und Räume im Raum erstellen, ob man auch da von akustischer Architektur sprechen kann. Auf dem Platz Aleja Ròz in Krakau, zentraler Platz der sozialistischen Musterstadt Nowa Hutta, kam es mir so vor, als hätte ich erneut meine vertraute Zeichenpraxis verloren, nichts war organisch, alles war diagonal, bestimmte Motive, wie das Nachklingen von Skateboardern, die sich gerne auf hallenden Plätzen austoben, schienen sich über alles andere hinwegzusetzen. Ich war besonders neugierig auf diesen Platz geworden während eines früheren Besuchs in Nowa Hutta im Frühjahr 2008, weil mir damals aufgefallen war, dass man in den umgebenden Höfen auf einmal das Gefühl von Privatsphäre hatte, wie ein Flüstern im Vergleich zu dem allzu laut hallenden Aleja Ròz. Beim Analysieren der Zeichnungen brauchte ich ein Hilfsmittel. Ich skizzierte die Grundrisse des Platzes, der eigentlich selber ein weiter Hof ist. Diese Idee kam mir, weil ich sah, wie die Leute den Platz überquerten. Es gab mehrere Qualitäten von Schrittgeräuschen, gerade ausholende schnelle, diagonal mittelgroße schlendernde und kürzere schlurfende im motive in situ werden stereophon dargestellt. Oft als Paar (dasselbe Klangmotiv vor und rücklings zur Klangquelle), manchmal auch in der Serie als Darstellung der gesamten Peripherie. Durch das Überlappen erhält man Durchschnitte von »Klangwolken«, die in der Vervielfältigung und dem Übereinandersetzen eine Simulation ihrer spezifischen Morphologie erlauben.
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Umfeld der Tore zu den Innenhöfen. Ich zog Diagonalen des Bewegungspotentials zwischen den Öffnungen des Platzes nach außen wie zu den Innenhöfen hin. Außerdem wusste ich, dass da, wo die Skater sich aufhielten, ursprünglich ein Lenindenkmal gestanden hatte, welches nach einem Attentat nicht mehr ersetzt worden war. Die so vernetzten Linien erzeugten fast den Grundriss einer Kathedrale, einer Kathedrale des Volkes. Der Kommunismus war immer bestrebt, die Gesellschaft zu idealisieren. Da wo die Skater waren, ergab sich außerdem ein akustisch perfekter vierarmiger Stern. Dieser Platz ist also durch und durch konstruiert und erzeugt nicht nur eine Form der Optimierung von Bewegungen, sondern repräsentiert gleichzeitig ein perfektes Überwachungssystem, man weiß jederzeit, wer wo ist und wie viele da sind, auch wenn man sie nicht sieht. Eine Anekdote aus der Zeit Stalins lässt uns diese zur Paranoia gewordene Idealisierung besser verstehen. In seiner Sommerresidenz hallte es sehr. Ein Bediensteter wollte ihn nicht mit seinen Schrittgeräuschen stören und beklebte die Sohlen seiner Schuhe mit Filz. Als Stalin dies erfuhr, ließ er ihn erschießen. Die Erfahrung mit dieser Art von Atelier macht aus dem Publikum und dem öffentlichen Raum einen entscheidenden Faktor für die Arbeit. Wir erarbeiten Protokolle, die dem Werk als Resultat nicht vorauseilen, es aber durchaus manchmal überholen. Sie sind gleichzeitig Spielfeld für Erfahrungen und Auseinandersetzungen, die nicht ausschließlich aus persönlichen Behauptungen entstehen. Gerade Begriffe wie Elastizität funktionieren nur im Zusammenspiel und der oft zufälligen Begegnung mit dem Anderen. Das ist für mich zur Kultur geworden. Und trotzdem können wir uns auf die von Lévinas so poetisch geschilderte »Seltsame Gleichheit des Seins« verlassen. Wir reagieren nicht einseitig, wir agieren nicht aus einer isolierten Position heraus. Den Begriff der Grenze dürfte es in der Kunst nicht geben. Ich gebrauche gerne das Wort Entgrenzung oder vielleicht der radikalen Konfrontation mit dem Nichts. Robert Barry hat einmal gesagt: »Mir scheint, dass das Nichts die mächtigste Sache der Welt ist«. Lawrence Weiner bezeichnet es als Verdrängung (displacement). Der Kunstgegenstand verdrängt ein bestimmtes Ausmaß an Raum aus der Umgebung, aus unserer Wahrnehmung, das dann wieder zurückkommt. Er fragt auch, ob der Raum, den diesen Gegenstand verdrängt, in Beziehung zu einem steht oder nur verschwendeter Raum sei.13 Die Problematik des Raums, lange nach Brentano und Husserl, ein halbes Jahrhundert nach Merleau-Ponty, ist weit davon entfernt, gelöst zu 13. Vgl. Gerti Fietzek/Gregor Stemmrich (Hg.): Gefragt und Gesagt, Schriften und Interviews von Lawrence Weiner 1968-2003, Osterfildern-Ruit 2004, S. 14.
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sein. Sie ist von Natur aus evolutiv. Wir werden nie aufhören, Raum weiterzudenken. Nicht er kann also definitiv Anlass sein für eine Hypothese, sondern eher die Prozesse und Formen, die ihn sich entwickeln lassen.14 Aber so denke ich auch über das mir künstlich erscheinende RaumZeit-Gefüge nach. In les Bras de la Venus de Milo, Urauff ührung Scène Nationale Grand Bleu, Lille 2003, war mein größtes Bestreben, aus dem Zeitraum von 45-50 Minuten eine Form zu schaffen, die nichts mehr mit dem Ablaufen von 45 Minuten zu tun hatte, sondern nur Raum an sich blieb. Das Symbolische der Zeit im europäischen Theater macht das sehr schwierig, es fängt da an und hört dort auf, auch heute noch. Ich erfand einen Klangwebstuhl, den ich leider nicht wirklich realisieren konnte, zu meiner großen Frustration. Der Kampf mit den Technikern im Theater, der Kampf mit der Truppe, die in mir schließlich doch die Komponistin suchte, die Langsamkeit, mit der ich im Theater vorging, behinderten die Arbeit. Das optische Modell ist ein Versuch, diesen Prozess zu erklären. Durch die Visualisierung der Lautsprecherperspektive, also der Klangstrahlung in ihrem Radius, entstehen sechs Ebenen, die helfen, Szene für Szene zu simulieren und die unsichtbare Klangarchitektur zu zeigen. Die manuell herausziehbaren Zeichenpläne vermitteln sowohl die globale Form der akustischen Konstruktion, als auch ihre Varianten. Es handelt sich nicht um ein Akusmonium, sondern ein bewegliches Gebilde, welches strahlend, wenn auch leider nur mechanisch, eine mehrdeutige generative Bühne im Publikumsraum erschaff t. Es gäbe da noch viel zu tun, um die Ansätze zu ändern. Ein Kunstwerk baut oder holt sich die Perspektiven, die ohne es nicht existieren würden. Und dann auf einmal sind sie so selbstverständlich da, dass sich niemand mehr Gedanken darüber macht, wie sie gekommen sind, sondern oft überlebt nur das Dispositiv, sozusagen als archäologischer Artefakt.
Institution Mir kommt es oft so vor, als sei die Welt des Künstlers »Streitgegenstand« für eine sich verwaltende, institutionell und marktwissenschaftlich gemanagte Welt. Die Kultur des Projektes, welches gleichzeitig Idee, Konzeption, Finanzierung, Produktion, Vertrieb und Veröffentlichung bedeutet und das Schaffen in Arbeitsetappen zerlegt, reduziert die Kunst. Projektkultur verleugnet sie sogar in ihrer sensiblen Verankerung. Technische und funktionelle Aspekte, Machbarkeit, Förderwürdigkeit entziehen der Kunst aber
14. Vgl. E. Bak: Son/Espace, S. III.
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alles, was das Prozesshafte in ihr ausmacht. Wir sollten eher über die Art, wie der künstlerische Gedanke zum Objekt, zur Welt wird, nachdenken. Abbildung 2: Eléonore Bak: Optisches Modell Klangwebstuhl zu Les Bras de la Venus de Milo; Foto: Eléonore Bak
Begriffe und Zugehörigkeiten sind eine Erfindung der Institutionen und werden von dem Künstler eher als Herausforderung begriffen als direkt assimiliert. Sprachkonzeption als Struktur der Unterschiede, der perfekt autonomen Niveaus, die sich nicht berühren, entfremden Künstler und Institution. Für mich ist Pluralität, Polysemie, eine Notwendigkeit, und Widerspruch eine ganz wesentliche Kultur. »Bildende Kunst«, »Rauminstallation«, sind überholte Bezeichnungen vor allem da, wo wir mit einer offeneren Form von Klassifizierung konfrontiert werden, die weit über das traditionelle Inventar hinaus geht (Googlesuchmotoren, Ausleseverfahren, Vertauschbarkeit der Autoren, Sampling …) und eigentlich keinen ableitenden Sinn mehr machen. Leider bestreitet der Begriff des Dispositivs den des Œuvres. Der Künstler wird zu einem gewissen Materialismus gezwungen, er soll sensibilisieren, seine Arbeit pädagogisch vermitteln, medientechnisch betreuen. Er betreut die eigene Baustelle. Er soll materiell präzisieren, was doch absolut unmateriell ist. Die ständige Beschäftigung mit all den unsichtbaren Strukturen, die die künstlerische Produktion umgeben, hindert den Künstler selber, 230
Kunst im Rohzustand
sich gegen das Gewicht dieser Strukturen zu wehren. Der Sonderstatus des Auftrags, dessen technische Dimension, wird zur Falle für die Kunst. Der Künstler kann nur gegen diesen Prozess ohne Um-und Ausweg verstoßen. Das industrielle, institutionelle Wohlwollen bewertet die Kunst und richtet über sie. Der Widerstand bestünde darin, diese Patenschaft vollkommen zu trivialisieren und deren Auf- und Abwertungsmethoden zu ignorieren. Die Erfahrung mit Theater gehört zu meiner Kultur, das Kollektiv führte dazu, mich nicht nur als Einzelne zu verstehen. Das bereicherte meinen Begriff von Zeit und Raumbindung, forderte plastische Lösungen heraus, die immer wieder eins bestätigen, ich arbeite mit dem lebendigen Raum. Bildende Künstler sind keine Interpreten. Manchmal erfordert ihre Arbeit eine gewisse Rhetorik der Vermittlung, deren Didaktik oft zum Konflikt mit dem künstlerisch Singulären führt. Ich persönlich kultiviere die »contradiction originelle«, die im Ursprung der Konfrontation befi ndliche Widersprüchlichkeit, sie ist direkte Emotion, Psychogramm, mehr als methodologische Auseinandersetzung. Weil ich mich auf den Kontakt konzentriere, vielleicht um zwischen mir und dem Anderen unterscheiden zu können, ist nichts so wundervoll wie das erfüllte Hören. Wenn in einem intensiven Gespräch das Eingrenzen des Selbst und des Anderen keine Rolle mehr spielt, entsteht eine für sich schwingende Zone, die beiden gleichzeitig gehört. Sie ist nicht reine Überschneidung, sondern Konnektion und wirkliche Erweiterung, warum nicht tatsächlich Maximierung, und da macht sie uns vielleicht unsterblich. (Metz, 2009)
Literatur Bak, Eléonore: Son/Espace, comment développer une nouvelle pensée spatiale à partir de la transmission sonore (= mémoire de DEA, Université Nice, Ecole doctorale). Nice 2001. Pewny, Katharina: »Theatrum Europaeum Precarium. Rimini Protokolls Dramaturgie der Ökonomie«, in: Schößler, Franziska/Bähr, Christine (Hg.), Ökonomie im Theater der Gegenwart. Ästhetik, Produktion, Institution, Bielefeld 2009. Riché, Pierre, Education et Culture dans l’Occident Barbare, Paris 1962. »Audiovisuel et holographie au service des Arts de la scène. Le potentiel créatif des nouvelles techniques«, in: www.ff mjc.org/IMG/rtf/ Colloque_29_Avril.rtf, gesehen am 5. Mai 2009. Gerti Fietzek/Gregor Stemmrich (Hg.): Gefragt und Gesagt, Schriften & Interviews von Lawrence Weiner 1968-2003, Ostfi ldern-Ruit 2004. 231
Notice Me! Ein Zwillingsdialog von deufer t (K) + plischke (T) I T: Hamburg auf Kampnagel, 13. November 2007 K: Lieber Tanz. Sollte dieser Brief jemals bei Dir persönlich ankommen, T: so hoffen wir, dass Du ihn lesen und ihn nicht ungeöff net an den Absender zurückschicken wirst, K: auch wenn wir ihn nicht an Deine private Adresse verschicken konnten. T: Denn leider kennen wir weder Deinen aktuellen Wohnsitz, K: noch deinen richtigen Namen T: und wählen deshalb diesen öffentlichen Umweg für unsere Kommunikation. K: Ein guter Freund hat uns vor kurzem erzählt, dass Du Deine Einsamkeit momentan sogar genießen kannst, T: weil es Einsamkeit ist, die Dich über Dein Alter und Dein Aussehen hinwegtäuschen kann. K: Hältst Du Dich im Untergrund auf, damit niemand Dich mehr aus Deiner Heimat vertreiben kann?
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Notice Me! Ein Zwillingsdialog von deufer t (K) + plischke (T)
T: Lebst Du dort verborgen und im ewigen Zwist mit Deinen nächsten Verwandten? K: Wie ein ungezogenes Kind, das von allen noch mehr geliebt werden will, leugnest und verachtest Du Deine vielen Geschwister, weil sie die einzigen sind, die Dich auf Dein wahres Alter und Deine eigentliche Gestalt zurückverweisen könnten. T: Das Spiel um Liebe und Anerkennung, um Reichtum und Macht hat Dich alt und müde gemacht, noch bevor Du angefangen hast, selbst auf beiden Füßen stehen zu können. K: Was hättest Du uns nicht alles sagen können, wenn Du nur einmal ehrlich gestanden hättest, dass es in Deiner Familie schwieriger war, laufen und sprechen zu lernen, als all die Tricks, die nötig sind, um nur das Spiel nicht als Spiel zu entlarven. T: Wir wollen Dir aber gar nicht einreden, dass wir Zeugen eines Tricks oder eines Spielbetrugs wurden. K: Es gibt so viele Geschichten, die zunächst etwas und dann wieder das Gegenteil beweisen. T: Vermutlich ist Dir deshalb auch so langweilig geworden in den letzten Jahrzehnten. K: Nein, wir schreiben Dir, damit unser Brief fast schon wie ein Wesen aus Fleisch und Blut bei dir ankommt, T: Du ihn öffnen und lesen kannst und schon bei den falschen Worten »Lieber Tanz« ahnst, dass es hier um etwas anderes geht. K: Lassen wir auch für einen Moment das Grübeln darüber, was hätte sein und werden können, wären wir uns vielleicht niemals oder erst in ferner Zukunft begegnet. T: Wie geht es Dir, Tanz? Lachst Du noch ab und an über die kleinen Alltäglichkeiten und dummen Missgeschicke, die Dir passiert sind? K: Träumst Du noch immer von Deinen Schwestern, die Dich auf Deiner Couch besuchen kommen, ihre Stöckelschuhe in die Ecke werfen, den Fernseher ausschalten, Dir das Bier aus der Hand nehmen, 233
Zwischenspiele: Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume
T: Dich aus der Diagonale am Blumenbeet vorbei und an den vielen mehr oder weniger möblierten Zimmern mit oder ohne Badewanne entlang führen und Dich zum Tanz auffordern? K: Aber ehrlich, lieber Tanz, das sind doch nur falsche Träume, atme tief durch, wenn Du aufwachst T: und lass Dir endlich zum Geburtstag gratulieren. K: Vergiss nicht, uns eine Postkarte zu schreiben, wenn Du an dem Ort deiner Träume angekommen bist. T: Wir kommen Dich dann gerne besuchen. K: Dein Zwilling.
II T: Tanz, Tanz, Tanz, das klingt wie Akzeptanz, Substanz, Glanz oder Distanz, Kontrollinstanz oder Repräsentanz oder Bausubstanz, Militanz … K: Nun, mit all Deiner von uns in Deinem Namen erfundenen Geschichte, T: all Deiner von uns in deinem Namen gesprochenen Sprachlosigkeit, K: all Deinem von uns in Deinem Namen gezeigtem Ausdruck, T: all Deinen von uns in deinem Namen gefundenen Projektionsmöglichkeiten, K: all Deinen von uns in Deinem Namen unternommenen Analysen, T: all Deinen von uns in Deinem Namen getanen Anstrengungen, K: all Deinen von uns in Deinem Namen gesetzten Formen, Hierarchien und Normen. T: All deinem Tun als ob, K: Deiner als ob Berührung, T: Deiner als ob Bewegung, 234
Notice Me! Ein Zwillingsdialog von deufer t (K) + plischke (T)
K: Deiner als ob Bedeutung, T: Deiner als ob Kunst. K: Mit all Deinen von uns in Deinem Namen verordneten Wiederholungen, T: all Deinen von uns in Deinem Namen erzählen Witzen, K: all Deinen von uns in Deinem Namen gesehenen Peinlichkeiten, T: all Deinem von uns in Deinem Namen erlebten Verschwinden und Auftauchen, K: all Deinem von uns in Deinem Namen behaupteten Glamour, T: all Deinen von uns in Deinem Namen getanen Gesten, K: all Deinem von uns in deinem Namen missbrauchten Rhythmus, T: und Deiner Dir von uns verordneten Virtuosität,
K: Anorexie T: Ordnung K: Zwang T: Disziplinierung K: Abrichtung T: Konditionierung K: Betrug T: Stereotypen … K: Stereotypen … K: Mit all Deiner Stereotypisierung machst Du mich ganz traurig.
III K: In künstlerischen Zusammenarbeiten prallen oft Überzeugungen und scheinbar unüberwindliche Differenzen aufeinander. T: Diese werden, je nach Position der Sprecher als Machtinstrument missbraucht und machen Zusammenarbeit oft kontraproduktiv oder sogar unmöglich. 235
Zwischenspiele: Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume
K: Es werden Befindlichkeiten diskutiert, wo eigentlich ein Diskurs entstehen sollte. T: Der Connaisseur entscheidet den Kurs, K: was wann T: wie K: wozu T: und wie lange gesagt werden darf. K: Am Anfang unserer gemeinsamen Arbeit als Künstlerzwilling stand deshalb … T: … nicht ohne das Wissen um die schiere Unmöglichkeit der Aufgabe K: … im Zwischen von Theorie und Praxis T: eine Arbeitsweise zu finden, K: die nicht einfach nur gegen die üblichen Methoden opponiert, T: denn jede Opposition ist eine unausgesprochene Bestätigung, K: eine Affirmation der Welt der Tatsachen. T: Kunst kann immer nur K: als Kunst T: eine politische Bedeutung bekommen. K: Aber sie muss sich unweigerlich und ständig T: der Ordnung des Politikmachens entziehen. K: Auch wollen wir niemanden zur Partizipation zwingen. Uns geht es darum, in der Kunst eine Arbeitsweise zu finden,
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Notice Me! Ein Zwillingsdialog von deufer t (K) + plischke (T)
T: die eine ständige Alternative zu gängigen repräsentativen Formen, Hierarchien und Normen sein kann. K: Unsere Faszination für Bewegung als Kunstform, T: also nicht Tanz als Kunsthandwerk – gut gemacht aber belanglos –, K: unsere Faszination für Bewegung als Kunst liegt in dem gemeinsam geteilten Risiko des Arbeitsprozesses, das seine Heimat hat T: im Leben, K: in der Ansteckung, T: in der Verschwörung, K: in der Selbstverschwendung, T: in der Kopflosigkeit, K: im Anfangen, T: in der Behauptung, K: in der Selbstüberschätzung … T: Wir suchen die Verwandtschaft mit Künstlergruppen, K: die Bewegungen immer auch als Selbstintoxikation mit dem Leben jenseits der etablierten Kunst erfanden. T: In dieser Entwicklung steht Bewegung K: für uns T: persönlich K: für die Behauptung einer Realität, für eine Provokation im Realen, T: die sich dem Regime ihrer eigenen Hermetik stellen kann und darf K: und keine Nachahmung braucht. T: So als werfe man ständig ein Betttuch in die Welt K: in der Hoffnung einmal ein Gespenst zu treffen T: Ein Gespenst
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Zwischenspiele: Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume
K: das in unserer Mitte spukt. T: Eine ständige Bewegung und keine Darstellung oder Spiegelung K: von Machtverhältnissen und ihrer Regeln für Körper, Raum T: und Zeit. K: Kennst Du die Fragen, die sich Christian Wolff und John Cage Anfang der 50er Jahre gestellt haben? T: Was passiert, wenn ich 32 Fragen stelle? K: Was ist, wenn ich hier und dann aufhöre zu fragen? T: Würde das die Dinge klären? K: Ist Kommunikation Klärung? T: Was ist Kommunikation? K: Ist Musik nur Klang? T: Ist ein vorbeifahrender Lastwagen Musik? K: Was ist musikalischer: ein Lastwagen, der an einer Fabrik vorbeifährt oder der, der an der Musikschule vorbeifährt? T: Wenn die im Inneren nicht so gut hören können, würde das die Frage verändern?
IV T: Fernando Pessoa schreibt in Das Buch der Unruhe: Leben heißt Strümpfe stricken aus einer Absicht der Mitmenschen. K: Dabei sind die Gedanken frei, und alle verzauberten Prinzen können in ihren Parks spazieren gehen, T: während die Elfenbeinnadel mit der umgekehrten Spitze wieder und wieder eintaucht.
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Notice Me! Ein Zwillingsdialog von deufer t (K) + plischke (T)
K: Häkelei der Dinge … Abstand … Nichts. T: Für uns ist künstlerische Arbeit eine Einladung zum selbst verantwortlichen Handeln. K: Aus einem einzelnen Faden T: wird etwas komplexes. K: Jede Schlaufe immer nur verbunden mit der nächsten Schlaufe, Loch an Loch gereiht. T: An Stelle einer Repräsentation von Zuständigkeiten K: tritt eine Konspiration der Teilhabe. T: Leben heißt Strümpfe stricken behauptet Fernando Pessoa K: und zusammen mit ihm behauptet Rosemarie Trockel: T: Leben heißt Strumpfhosen stricken. K: Beide standen für uns Pate, für einen Anspruch, eine Selbstüberschätzung, einen Arbeitsprozess verstanden als Häkelei der Dinge … Abstand … Nichts. T: Also bieten wir den Gespenstern ein Betttuch an, K: damit sie sich nicht gleich wieder entfernen. T: Anstatt sie beim Namen zu rufen, laden wir sie zu uns nachhause ein.
V T: Unsere Kompositionsweise, K: die in den letzten sechs Jahren T: zusammen mit Fernando Pessoa, John Cage und Rosemarie Trockel entstand, K: nennen wir (Re)formulieren. 239
Zwischenspiele: Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume
T: Hierfür arbeiten wir mit Notizbüchern, K: und zwar jeweils genau so vielen, wie es Teilhabende am Arbeitsprozess gibt. T: Wichtigstes Element ist die ständige Weitergabe und das ständige Reformulieren, K: Kontextualisieren, T: Erweitern, K: Reflektieren, T: dieser Notizbücher. K: Es erlaubt ein diszipliniertes Arbeiten in Stille, in dem jede Teilnehmerin ihre Stimme T: unabhängig von ihrer Lautstärke K: und Wissensposition einbringen kann. T: Partizipation entsteht durch konspirative Teilhabe und nicht durch K: Selbstpositionierung der Teilnehmer. T: Mit (Re)formulieren benennen wir also einen Arbeitsprozess der einen Diskurs in Stille, im Schreiben miteinander entstehen lassen kann. K: An die Stelle des einzelnen Arguments, tritt die Instanz der Vielstimmigkeit, ähnlich der des cadavre exquis. T: CADAVRE EXQUIS – K: Spiel mit gefaltetem Papier, in dem es darum geht, einen Satz oder eine Zeichnung durch mehrere Personen konstruieren zu lassen, T: ohne dass ein Mitspieler von der jeweils vorhergehenden Mitarbeit Kenntnis erlangen kann. K: Das klassisch gewordene Beispiel, das dem Spiel seinen Namen gegeben hat,
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Notice Me! Ein Zwillingsdialog von deufer t (K) + plischke (T)
T: bildet den ersten Teil eines auf diese Weise gewonnenen Satzes: K: Le-cadavre-exquis-boira-le-vin-nouveau. T: Der-köstliche-Leichnam-wird-den-neuen-Wein-trinken. K: Im Unterschied zu dieser 1925 erstmals versuchten Methode, T: verdecken wir das Vorausgehende nicht. K: Für uns ist es geradezu die Aufforderung, mit den gedanklichen Vorgaben der Anderen selbst ins Weiterdenken zu geraten, T: Ideen und Vorschläge zu erweitern, K: Entwürfe zusammenzufassen, T: einen möglichen nächsten Arbeitsschritt vorzuschlagen: K: wesentlich ist es in diesem Prinzip der formalen Strenge, T: Entscheidungen selbst zu verantworten sowie den jeweils anderen mit Behauptungen zu konfrontieren und eine Kommunikation und Produktion in der Gemeinschaft der Fremden zu entwickeln. K: (Re)formulieren soll jedem die Teilhabe am Prozess ermöglichen. Ähnlich dem Stricken bildet sich aus einem Faden, T: dem gemeinsamen Thema, K: und einem Strickmuster, T: der ständigen Weitergabe, K: ein komplexes Gefüge, das die Arbeit gestaltet. T: Die Arbeitsweise wird von uns für den jeweiligen inhaltlichen Kontext K: sowie für die sozialen Voraussetzungen der Arbeitssituation T: in ihrer konkreten Umsetzung selbst immer wieder neu formuliert.
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Imaginäre Verstr ickungen und sinn-lose Laute. Zum Verhältnis von Bewegung und Text/ Sprache im zeitgenössischen Tanz Susanne Foellmer
Der Einsatz von Sprache und die Auseinandersetzung mit Texten auf der Tanzbühne sind in Deutschland besonders seit Beginn der 70er Jahre unter anderem markiert durch das Tanztheater Pina Bauschs. Das Sprechen auf der Bühne verweist hierbei einerseits auf die Selbstermächtigung des tanzenden Subjekts, das nicht mehr nur ausführende Tanzmaschine ist.1 Darüber hinaus ist nun Narration im Tanz kein ausschließlich pantomimisches Versatzstück mehr, im Zwischenraum virtuos getanzter Szenen wie im klassischen Handlungsballett, sondern wird zum stringenten Faden, der gesprochene Texte und szenische Bilder miteinander verwebt und folglich auch ästhetische Auswirkungen auf das Sprechtheater hat. Exemplarisch für solche inszenatorischen Paradigmenwechsel ist das Tanztheater Johann Kresniks mit seiner »[…] radikalen Antiballetthaltung […]«.2 Der Choreograph verwendet häufig dramatische Vorlagen für seine Stücke oder setzt diese selbst in Szene, so etwa in Der auf haltsame Aufstieg des Arturo Ui (1981). Mit dem Zusammentreffen von Tanz, Text und Schauspiel sowie der Etablierung eines oft bilderreich assoziativen Bühnenraums lehnen sich ChoreographInnen wie Bausch und Kresnik über enge Spartengrenzen hi1. Vgl. Susanne Schlicher: TanzTheater. Traditionen und Freiheiten. Pina Bausch, Gerhard Bohner, Reinhild Hoffmann, Hans Kresnik, Susanne Linke, Reinbek bei Hamburg 1987, S. 124. 2. Ebd., S. 53.
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Imaginäre Verstr ickungen und sinn-lose Laute
naus und stellen grundsätzlich die Frage danach, was Kunst und speziell Tanz in ihrem zeitgeschichtlichen Kontext bedeuten, wie er neu gedacht und erfahren werden kann.3 Im Tanztheater der 70er Jahre treffen zudem die kontrastierenden Ansätze Antonin Artauds und Bertold Brechts zusammen, wie die Tanzwissenschaftlerin Susanne Schlicher darlegt: In der Verbindung von körperlicher Bewegung und sprachlichem Ausdruck wird der tanzende Körper zum Austragungs- und Möglichkeitsort, sinnlich aufgeladene Gehalte und Entgrenzungserfahrungen mit einer kritisch distanzierten Haltung gegenüber dem Dargebotenen zu verknüpfen. 4 Das Sprechen auf der Tanzbühne dient dabei häufig gerade nicht der Vereindeutigung dessen, was sich in der Bewegung womöglich nicht erschließt, sondern fügt vielmehr dem offenen Bedeutungsrahmen Tanz noch einen weiteren, das Körpergeschehen deplatzierenden Spiel-Raum hinzu.5 Seit Beginn der 90er Jahre verändert sich der mittlerweile etablierte Einsatz von gesprochenen Texten im Tanz. Stellte Bausch die Tanzenden in ihrer biographischen und gesellschaftlichen Verfasstheit in den Mittelpunkt der Stücke, im Sinne eines »Warum?«, so fragen viele Projekte des zeitgenössischen Tanzes nach dem »Wie?« der choreographierten Bewegung und untersuchen den Körper selbst als verformbare, dehnbare und bisweilen metamorphe Matrix. Die verbale Ebene dient dabei immer seltener dem Transport nachvollziehbarer Geschichten, sondern gerät zur Textur, die, ähnlich wie die Körperbewegungen selbst, verfremdet, dekonstruiert und verzerrt wird. Der Tanz ist in diesem Zusammenhang kein entzifferbarer Text, der über eine genaue Aufreihung und Analyse seiner Bewegungen segmentiert, ›gelesen‹ und kontextualisiert werden könnte.6 Er ver-äußert sich vielmehr in verbal-körperlichen Verschränkungen, in
3. Vgl. ebd., S. 56ff. 4. Vgl. ebd., S. 22ff. 5. Vgl. Laurence Louppe: Poétique de la danse contemporaine, Brüssel 1997, S. 310. 6. Zum Verfahren der »Inventarisierung von Bewegung« (IVB) vgl. Claudia Jeschke: Tanz als Bewegungstext. Analysen zum Verhältnis von Tanztheater und Gesellschaftstanz (1910-1965), unter Mitwirkung von Cary Rick, Tübingen 1999. Mark Franko hingegen perspektiviert den Körper selbst als »[…] textual entity […]« im höfischen Ballett, die Muster auf die Bühne zeichnet. Abweichung und Emanzipation von festgelegten Bedeutungen werden hier allerdings mitgedacht: Als Ausnahme hebt er in diesem Zusammenhang die burlesken Tänze hervor, die für eine sehr kurze Zeitspanne (1624-1627) die Lesbarkeit des Körpers verweigerten, etwa in der Überhöhung der Figur durch proliferierende Kostüme. Vgl. Mark Franko: Dance as Text. Ideologies of the Baroque Body, Cambridge/USA 1993, S. 15, 81.
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denen beispielsweise die Sprache in ihrer Materialität betont und mit Bewegung und Raum auf eine Ebene gestellt wird. Die Verfahren, durch die Texte oder Sprache als haptisches Gewebe in den Bühnenraum entlassen werden, variieren dabei zwischen der Integration narrativer Strukturen in das Bühnengeschehen – wobei sich Text und Körper in Überlagerungen aneinander reiben – und der fast vollständigen Auflösung von Sprache als sinnhafte Einheit in lautlich verstümmelten Äußerungen. Exemplarisch ist anschließend aus der Vielzahl von Auseinandersetzungen mit Tanz und Text/Sprache je eine Auff ührung der Choreographen Martin Stiefermann und William Forsythe ausgewählt, die unter der Perspektive der parallelen Verschiebung von Text und Körper sowie der Destruktion von Sprache als Übertragungsmedium untersucht werden. Durch diese Betrachtungen zieht sich als Grundidee das Konzept des grotesken Körpers, wie es Michail M. Bachtin im Rahmen seiner Studien zu François Rabelais’Romanwerk Gargantua und Pantagruel (1532-1552) entwickelt, das hier sehr ausschnitthaft auf seine Idee der Verschlingung von Körper und Um-Welt rekurriert: Ein überbordender Leib, der einen hermetischen Kunstkanon bürgerlicher Provenienz mit geglätteten und geschlossenen Flächen opponiert.7
Parallelwelten. Choreographie zw ischen Körper, Text und inneren Bildern Martin Stiefermanns in Szene gesetztes Hörspiel Das Lewskow-Manuscript von Matthias Wittekindt (2004) – choreographisch realisiert mit der Compagnie MS Schrittmacher – ist Teil einer Tanz-Hörspiel-Trilogie (2004-2007)8 und verschränkt mehrere Ebenen miteinander: Gesprochenen Text und getanzte Bewegung sowie Körper und Raum. Das Bühnenbild gleicht einer laborartigen Versuchsanordnung, bestehend aus einem großen, rechteckigen Kasten aus Plexiglas, in dem sich die TänzerInnen, 7. Vgl. Michail M. Bachtin: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur (1965), übersetzt von Gabriele Leupold, Frankfurt a.M. 1995, S. 358ff. Zum Phänomen des Grotesken im Tanz vgl. außerdem Susanne Foellmer: Am Rand der Körper. Inventuren des Unabgeschlossenen im zeitgenössischen Tanz, Bielefeld 2009. 8. Zu ihr gehören weiterhin die Produktion Memotrip (Staatstheater Oldenburg 2005) und die szenische Installation Begeben Sie sich (Akademie der Künste, Berlin 2007), die jeweils gemeinsam mit dem Autor Matthias Wittekindt entstanden sind.
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ausgestellt wie in einem Aquarium, bewegen. Rechts und links davon sind Publikumstribünen angeordnet, auf denen die ZuschauerInnen – und ZuhörerInnen – sitzen, jeweils ein Paar Kopf hörer auf den Ohren, über die Wittekindts Text zu vernehmen ist.9 Der Text spielt in der Atmosphäre einer simulierten, von multiplen Informationsreizen überfluteten Welt, deren Charaktere und ihre Umgebung an eine Mixtur aus George Orwells 1984, Aldous Huxleys Brave New World 10 und den Film Matrix erinnern. Erzählt wird die surreale, zwischen Wachen und Träumen changierende Geschichte eines namenlosen Mannes aus der Ich-Perspektive, der als Zensor an ein geheimnisvolles Manuskript gerät, das er eigentlich vernichten soll, dann aber in den Sog seiner Worte gezogen wird. Zweck des Schriftstücks ist es, den Protagonisten zur Suche nach der ›Realität‹ zu verführen, die er mithilfe einer befreundeten Zensorin (Lisa) und angeleitet durch das Manuskript im Durchgang durch seine gewohnte, virtuelle Umgebung am Rand der Welt entdeckt – das ›Echte‹ oder ›Authentische‹ ergibt sich fern ab vom bunt schillernden Zentrum, in der von Trümmern beherrschten Peripherie, eine apokalyptischen Szenerie, in der sich der Mann und die Frau begegnen: »Die Schaufenster waren längst zu Bruch gegangen. Feuchtigkeit war eingedrungen und hatte die Ladeneinrichtung zerstört. Ich trat ein. Es roch muffig. […] Es war vollkommen still. Keine Informationssendungen, keine Farbeinspielungen, keine Simultangespräche, keine Parallelmeinungen. Nichts.«11
Wittekindt schildert die virtuelle Welt als einen Raum polyphoner Möglichkeiten, in dem Systematik zur Verwirrung gerät, etwa als der Erzähler nach der Nummer des Hauses sucht, in dem er, laut Lewskows Manuskript, seine Freundin Lisa antreffen soll: »Ich hatte Schwierigkeiten, die Nummer zu finden. Bei uns sind die Hausnummern nach einem Zufallsprinzip angeordnet. Jede Straße hat ihren Song in dem die Nummern nach einem komplizierten Verteilungsmodus aufgerufen werden. Hier in der Koolhaaschaussee jedoch folgte man einem System, das mich zunächst sehr verwirrte. Das erste Haus hatte die Nummer eins. Das erste Haus auf der anderen 9. Ich habe die Produktion im Februar 2004 im Berliner Dock 11 gesehen.
Für die Analyse lagen mir die Videoschnittfassung sowie die Textversion des Hörspiels vor. 10. Vgl. Hartmut Regitz: »Im Kopf von Lewskow. Das ›Lewskow-Manuscript‹ in Berlin«, in: BalletTanz 4 (2004), S. 50. 11. Matthias Wittekindt: Das Lewskow-Manuscript, Textfassung des Hörspiels, 2004, S. 12f.
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Straßenseite die Nummer zwei. Und so ging das immer weiter. Ganz ohne Break und Umkehrgroove. […] Das System hatte immerhin einen eindeutigen Vorteil. […] Man musste nicht ständig ganze Blöcke hin- und herrennen, nur weil es jemandem gefallen hatte, die Straße mit mehreren Umkehrgrooves zu pichen.«12
Orientierung im Raum gibt sich also zunächst als komplexe Choreographie, die an die Konvention des Unkonventionellen in einer durchweg medialisierten Umgebung gebunden ist. Die ihr innewohnenden synkopierten Wendungen entfalten sich in den Bewegungsmöglichkeiten der beiden Protagonist/innen, die sie in der ›Realität‹ jedoch mit einem Mal nicht mehr besitzen: »Es gelang mir, nach Lewskows Methode ohne meine Gehhilfen aufzustehen. Und zwar einfach indem ich aufstand und es unterließ gleichzeitig zwanzig Handlungen und Bewegungen zu machen. Natürlich zitterten meine Beine und ich musste mich sehr konzentrieren der Versuchung zu widerstehen, in sechs verschiedene Richtungen gleichzeitig zu gehen […] Manchmal fielen unsere Körper in altvertraute Muster zurück. Dann versuchten unsere Beine in zwei verschiedene Richtungen zu gehen oder wir schlackerten mit den Armen in der Luft herum.«13
In einer motilen Umkehrung wird ein auf Analogie und Schwerkraft abgestimmtes Gehverhalten zu einer entfremdeten Erfahrung, da der Körper zuvor an die Multiplizität und scheinbare Unkoordiniertheit des Synchronen gewöhnt war. Die buchstäbliche Gelenkstelle des Textes bildet eine Körper verschlingende Wand aus menschlichen Leibern, die wiederum den Mittelpunkt in Martin Stiefermanns tänzerischer Adaption darstellt. Im Text versucht der Erzähler, den Ausgang aus seiner simulierten Welt in die ›Realität‹ zu finden und gelangt in einen Raum der, einem grotesk ornamentalen Dekor gleich, von Schlingpflanzen überwuchert ist, die sich in den bröckelnden Wänden eingenistet haben.14 Er begegnet einer »Körperwand«, die sich ihm als Barriere in den Weg stellt und welche er durchdringen muss, um an den anderen Ort zu gelangen – ein Erlebnis, das zu einer lustvollen Verkopplung in gegenseitiger Verschmelzung gerät: »Diesen Moment nutzten die Leiber und begannen in mich einzudringen.«15 12. Ebd., S. 11 (die Interpunktion folgt dem Originalmanuskript von Matthias Wittekindt). Eine Anlehnung an die Songlines aus Bruce Chatwins gleichnamigem Buch deutet sich hier an. Vgl. Bruce Chatwin: The Songlines, London 1988. 13. M. Wittekindt: Das Lewskow-Manuscript, S. 14. 14. Vgl. ebd., S. 7. 15. Ebd., S. 8.
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Stiefermann hat ein Bewegungsrepertoire komponiert, das den Text in weiten Teilen illustrierend begleitet. Zu Beginn tragen die TänzerInnen Hosen und Westen aus grobem, steifem Stoff, der die Bewegungen ausbremst, da sie sich nicht im Gewebe der Kostüme fl ießend fortsetzen. Entsprechend eckig und geometrisiert sind die Motionen der Akteure, mit abgewinkelten Armen, oft paarig zueinander angeordnet oder gegen die transparenten Wände knallend und sich unabgefedert auf den Boden werfend. Die Szene der lebenden Wand ist wiederum in ein sinnliches Bild umgesetzt, die aus der sonst nüchternen Anordnung des Stücks herausfällt: Der weitgehend durchsichtige Kasten-Raum besteht an der Stirnseite aus einer dunklen Schaumstoff fassade. Nachdem die TänzerInnen ihre Vitrine verlassen haben, tauchen kurze Zeit später aus der Schwärze der Wand fragmentierte Körperglieder auf, erst eine Hand, die sich suchend und tastend bewegt, dann eine zweite. Die Körperfragmente vermehren sich, Arme und Beine erscheinen, die wie wimmelnde, zerstückelte Teilchen im Raum schweben, sich zurückziehen, um an anderen Stellen wieder hervorzulugen. Abbildung 3: Martin Stiefermann/MS Schrittmacher »Das Lewskow-Manuscript«, Foto: Andreas J. Etter
Ein ›ganzer‹ männlicher Körper schiebt sich seitlich ins Bild und wird von den Händen sogleich ergriffen, umfasst, in der Schwebe gehalten und zur 247
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anderen Seite der Wand getragen, in der er wieder verschwindet. Das gleiche geschieht mit einer nackten Frau, die aus der Wand hervorquillt, von den Körperteilen zur gegenüberliegenden Seite hinübergereicht wird und schließlich in der Schwärze abtaucht. Eine letzte Hervorbringung folgt: Nun sind Mann und Frau halbiert in der Wand steckend hervorgehoben, wie schwebende Körperhälften in einem Schlachthaus, die wiederum an Bilder in Bacon’scher Manier erinnern. Die gesamte Szene ist, gemäß des zu hörenden Textes, wie ein rankendes Dekor aus Körperteilen zusammengesetzt, die den Rand der Bühnenfassade überschreiten und in den Raum hinausgreifen. Mit Bachtin kann hier eine groteske Verschlingung von Körper und Umraum konstatiert werden, die die Begrenzung beider Sphären tendenziell auflöst.16 Das insgesamt bewegte Bild gerät zu einer Plastinierung der Wand, die sich in einer Durchflechtung von Körpern und Umgebung verlebendigt. Wird hier der Rahmen des Raums buchstäblich verkörpert, so scheinen sich die TänzerInnen wiederum im Dekor selbst tendenziell aufzulösen, fusionieren mit dem sie umgebenden schwarzen Gewebe und verharren in einer Art Zwischenzustand. Text ebenso wie choreographiertes Bild zeigen die leibliche Durchdringung als sinnliche Verstrickung, die das Imaginäre vom ›Realen‹ trennt. Ein Übergang von der einen Welt in die andere kann nur durch den Körper erfolgen, der sich als zerstückelte Schaltstelle zwischen Simulakrum und Erkenntnis schiebt.17 Im Durchgang durch das körperlich Imaginäre treffen die beiden Protagonist/innen im Text schließlich in der rauen ›Realität‹ aufeinander, um sich in einer Lacanesken Spiegelszene selbst zu erkennen: »Was wir im Spiegel sahen wich so sehr von all dem ab, was wir kannten, dass uns augenblicklich klar wurde, dass wir im Begriff standen die Welt neu zu entdecken. Ich sah eine Frau, die neben mir stand, Lisa sah den Mann neben sich. Die Tatsache, dass wir ganz real vor dem Spiegel standen, mussten wir erst einmal verdauen. […] Ich war so gerührt, als ich Lisas Gesicht im Spiegel sah, dass ich nicht anders konnte, als das Bild zu berühren.«18
Diese Erkennungsszene, die der simulierten Welt der beiden Akteure die ›wirkliche‹ Welt zeigen soll, erweist sich jedoch letztlich auch als eine pro16. Vgl. M. Bachtin: Rabelais und seine Welt, S. 358. 17. Didier Anzieu spricht in diesem Sinne von einer »[…] Erotisierung der Grenzen des Körpers und des Ichs […]« im Individualisierungsprozess des Kleinkindes. Ein solcher Abgrenzungsvorgang wird in Das Lewskow-Manuscript für Momente aufgehoben. Vgl. Didier Anzieu: Das Haut-Ich, Frankfurt a.M. 1996, S. 59. 18. M. Wittekindt: Das Lewskow-Manuscript, S. 14f.
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jiziert verschobene, die mit Jacques Lacan nur im spiegelnden Blick des Anderen das Ich als Phantasma einer Ganzheit zu entdecken vermag – das freilich ein idealer Entwurf ist.19 In einer Wende, die das Reale und das Imaginäre ineinander verdreht, wird in Wittekindts Text mithin das buchstäblich reflektierte Idealbild eines ›authentischen‹ Körpers zum Kairos eines ›realen‹ Augenblicks. Zu diesem Verwirrspiel trägt auch die Hörebene des Stücks bei. Von einer direkten akustischen Wahrnehmung durch die aufgesetzten Kopfhörer abgetrennt, verselbstständigt sich der Text immer wieder und koppelt sich von der visuellen Ebene der Choreographie ab. Gerade weil Stiefermann die Bewegungen seiner Tänzer/innen im engen, teils fast mimetischen Nachvollzug an den Text bindet, löst sich das Auge vom Gesehenen und driftet in die Sphäre des Hörens und Imaginierens hinüber, eine Sensation, die sich auch beim Lesen einer Geschichte einstellt. Eigene Bilder zum Gehörten entstehen, Vorstellungswelten schieben sich in die Wahrnehmung, die eine persönliche Szenerie vor dem inneren Auge entstehen lassen, in der die ProtagonistInnen individuell ausgestaltet werden. Doch dringen immer wieder die Tanzenden in diese schweifenden Bilder ein und lenken die eigene Vorstellungs-Welt zurück zur Vorstellung auf der Bühne. Jene Doppelungen erzeugen prismatische Verschiebungen, die die im Text bereits angeregten Wechselspiele von ›realer‹ und ›virtueller‹ Welt zur Reflexion über die eigene Wahrnehmung im Theater werden lassen: Das, was ich sehe, ist ebenso wenig ›real‹ und immer schon von eigenen Imaginationen durchzogen,20 wie das, was ich höre. Die TänzerInnen verstricken sich in das je eigene Zuschauer-Repertoire theatraler Seherfahrungen und werden von Körperbildern überlagert, die der Text mit anregt und welche das Gesprochene wiederum zu einer fleischlichen Textur transmutieren lassen, die sich in einer weiteren Kehre mit der Materialität der tanzenden Körper verbindet. Die gesamte Raumanordnung Stiefermanns gerät überdies zu einer umfassenden Projektionsfläche. Die TänzerInnen, die nach der Körper19. Vgl. Lacan, Jacques: »Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion« (1949), in: Ders., Schriften I, herausgegeben von Norbert Haas, Frankfurt a.M. 1975, S. 61-70, hier S. 64. 20. Mit Daniel Sibony versteht Gerald Siegmund den Körper auf der Bühne grundsätzlich als einen imaginären, der aus Begehrensstrukturen heraus entstehe, die sich besonders im Tanz durch den permanenten Entzug in der Flüchtigkeit der Bewegung ergäbe: »Jeder Körper ist mithin immer schon ein imaginäres Modell des Körpers.« Gerald Siegmund: Abwesenheit. Eine performative Ästhetik des Tanzes. William Forsythe, Jérôme Bel, Xavier Le Roy, Meg Stuart, Bielefeld 2006, S. 44.
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wand-Szene wieder in den Glaskasten hineingespült werden, bewegen sich nun fluider und flüssiger, mit langsamen Motionen wie unter Wasser, und weichen von den zuvor streng angeordneten choreographischen Mustern ab. Authentische Erfahrungen werden jedoch auch hier nicht ermöglicht: Die steifen Kostüme sind nun Unterhosen und Rollkragenpullovern gewichen, die Frauen und Männer in stereotyp trennendes Rosa oder Hellblau kleiden und den Glaskasten wie ein großes, transparentes Laboratorium für Versuche am lebenden Objekt erscheinen lassen, denen ein neugieriges Publikum an den Seiten beiwohnen darf. Was aufweicht und verkörpert wird, ist mithin auch dieser spezielle Ort der Inszenierung selbst, der wie ein großer durchscheinender Organismus als Raum im (Theater-) Raum steht und viele wimmelnde, lebende Organismen in sich trägt. Werden in Stiefermanns teils distinkter szenischer Anordnung Text, Körper und Raum durch Parallelschaltungen gegen- und zuweilen ineinander gekippt, die jeweiligen Ebenen im Sinne eines Fragmentierens jedoch nur wenig angetastet, so fokussiert William Forsythe in einigen seiner jüngeren Produktionen besonders auf die Stimme als körperlichen Träger von Sprache, die er dekonstruiert und bis an den Rand des Unkenntlichen zersetzt.
Stimme als dismorphes Mater ial : William Forsythe Seit einigen Jahren überschreitet Forsythe zunehmend die Grenzen der Tanzbühne und hält sich mit seiner Compagnie in Zwischenräumen von Choreographie, Installation und Performance auf,21 in denen er sich unter anderem mit der De- und Rekonstruktion der Stimme als Körper- und Zeichenmaterial auseinandersetzt – so etwa in der Produktion Heterotopia (2006), die auf Michel Foucaults gleichnamigen Begriff als temporäre oder spatiale Zwischen-Orte anspielt.22 Heterotopia ist in zwei Räume aufgeteilt, die frei begangen werden können: Der erste Raum ist fast vollständig mit einer etwa hüfthohen Plattform ausgefüllt, welche aus einer Vielzahl von Podesten zusammengesetzt und von einigen Aussparungen labyrinthartig durchzogen ist und die das Publikum wie in einer Arena umrunden kann. Der zweite Raum dagegen, 21. Vgl. Patrick Primavesi: »Was schreibt die Geste«, in: Ballet Tanz 1 (2007), S. 54-57, hier S. 56. 22. Vgl. Michel Foucault: »Andere Räume« (1967), in: Karlheinz Barck u.a. (Hg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1993, S. 34-46, hier S. 39ff.
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ein schwarzer Kubus, stellt eine Frontalsituation mit einer großen Bühne her, auf der links ein Klavier steht, und an deren Rand sich die Zuschauer/ innen, meist stehend, aufhalten. Es ist nicht möglich, beide Räume gleichzeitig zu sehen, so dass man immer etwas versäumt, je nachdem wo man sich gerade aufhält, denn beide Bühnenorte werden zeitgleich bespielt.23 Die Situation einer Topik der Ungleichzeitigkeit des eigenen Rezeptionsvermögens wird hergestellt24, eine Heterotopie, die Foucault als »[…] System von Öffnungen und Schließungen […]« umschreibt, Orte, an denen man nie gänzlich anwesend sein kann: »Jeder kann diese heterotopischen Plätze betreten, aber in Wahrheit ist es nur eine Illusion: man glaubt einzutreten und ist damit ausgeschlossen.«25 Zu Beginn der Vorstellung ist der Darsteller David Kern am Rande des Podests damit beschäftigt, Buchstaben zu sortieren. Er stellt sie nebeneinander in kleineren Gruppen auf und ordnet sie immer wieder um, vertauscht ein paar, so dass Kombinationen entstehen, die meist wort-los sind und nur selten einen Sinn erkennen lassen. Bisweilen taucht ein Begriff auf, wie etwa »usine« (Fabrik), der jedoch rasch wieder dekomponiert wird. Das System dieser (Des-)Organisation erschließt sich nicht, vielmehr scheint es sich um ein freies Spiel fragmentierter A/Signifi kanten zu handeln. Forsythes Ästhetik ist insgesamt von linguistischen Prinzipien durchzogen, wie Gerald Siegmund betont, die ihren Ansatzpunkt in der Auseinandersetzung mit dem Ballett als syntaktische Struktur fi nde, welche dekonstruiert und wieder anders, neu zusammengesetzt werde oder gesprochene und getanzte Vokabulare miteinander konfrontiere, so in Artifact (1984). Hierbei ergäben sich durch Reduktion eine Vielzahl von möglichen Wort- und Bewegungskombinationen.26 Einflüsse aus Alltags- und 23. Ich habe das Stück 2007 im Festspielhaus Hellerau in Dresden gesehen. 24. Bereits in Endless House (1999) spielt Forsythe mit der Unmöglichkeit einer Gesamtschau und überlässt es den Zuschauer/innen, die Entscheidung zu treffen, was gesehen werden will. Vgl. Gerald Siegmund: »Tanz im Blick: Die Wiederentdeckung des verkörperten Zuschauers«, in: Christopher B. Balme/Erika Fischer-Lichte/Stephan Grätzel (Hg.), Theater als Paradigma der Moderne? Positionen zwischen historischer Avantgarde und Medienzeitalter, Tübingen, Basel 2003, S. 417-428, hier S. 421f. 25. Vgl. M. Foucault: »Andere Räume«, S. 44. Foucault bezieht sich hier auf das islamische Hammam, das man zwar als Badender betreten könne auch ohne der Religion anzugehören, jedoch von der spirituellen Bedeutung des Reinigungsritus’ ausgeschlossen bleibe. 26. Vgl. G. Siegmund: Abwesenheit, S. 235 und 243. Zum Einsatz von Sprache als Tabubruch auf der Ballettbühne vgl. auch William Forsythe/Roslyn Sulcas: »How William Forsythe has both subverted and enlarged the boundaries of classi-
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Popkultur werden dabei ebenso in ihrer sprachlichen Qualität integriert wie Elemente aus der künstlerischen ›Hochkultur‹.27 Abbildung 4: William Forsythe »Heterotopia«, Foto: Dominik Mentzos, Tänzer: Cyril Baldy, Ander Zabala
In Heterotopia wiederum treibt Forsythe das Spiel mit sprachlichen Visualisierungen weiter, die er schon in dem Stück Kammer/Kammer (2000) begonnen hat, das ebenso vom Prinzip der räumlichen Unüberschaubarkeit geprägt ist. Auch hier finden sich Buchstaben am Bühnenrand, die allerdings (noch) als Worte erkennbar sind und die Situation des Stücks doppeln, etwa in der wörtlichen, da performativ gewendeten Handlung »je traduis« (ich übersetze).28 Die Idee des Übersetzens tritt auch in Heterotopia in Erscheinung: Die TänzerInnen im Podest-Raum benutzen immer wieder ein Objekt, das einer Salatschüssel aus transparentem Plastik ähnelt und in der ein Mikrofon befestigt ist. Von Zeit zu Zeit ergreifen die TänzerInnen die Schüssel, in die sie stammelnde Laute und gestotterte Wortfragmente hineinwürgen. Erst nach einer Weile erschließt sich, dass das optische Gegenstück der Klangschale im schwarzen Kubus einen Empfänger darstellt, der die Wortstörungen aus dem angrenzenden Nebenraum überträgt. Bisweilen scheint es, als versuchten die sich im Kubus auf der Bühne bewegenden, die einzelnen Körperteile immer wieder in cal dance through the consistent use of language«, in: Forsythe. Bill’s Universe, Jahrbuch BalletTanz (2004), S. 44-51, hier S. 47. 27. Vgl. Hanne Seitz: Räume im Dazwischen. Bewegung, Spiel und Inszenierung im Kontext ästhetischer Theorie und Praxis, Essen 1996, S. 249. 28. Vgl. G. Siegmund: Abwesenheit, S. 313.
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extreme Verdrehungen bringenden TänzerInnen an den Lautfragmenten zu orientieren, doch die Synchronisationsversuche scheitern. Bewegung und Sprache befinden sich in fortwährenden, voneinander abweichenden Torsionen, unterstrichen durch die räumliche Entkopplung von Wortfetzen und Körpergliedern. In einer späteren Situation nimmt ein Tänzer einzelne Buchstaben und steckt sie unter sein T-Shirt, wobei er etwa ein »i« senkrecht auf seinem Bauch aufsetzt und das Hemd damit ausbeult, als gehe er mit den Lettern schwanger. Buchstabe auf Buchstabe folgt, der ihm jeweils durch einen anderen Akteur, dem Zeichen-Träger die Hosen herunterziehend, wieder entrissen wird. Diese Konstellation erinnert an eine Szene aus der Commedia dell’Arte, die Bachtin (mit Heinrich Schneegans) erzählt und in der Harlekin einem Stotterer hilft:29 »Dem Stotterer will es in einem Gespräch mit dem Harlekin einfach nicht gelingen, ein schwieriges Wort auszusprechen; er macht ungewöhnliche Anstrengungen, erstickt fast an diesem Wort, der Schweiß tritt ihm aus allen Poren, das Gesicht bläst sich auf, die Augen treten aus den Höhlen, ›es scheint bis zu Krämpfen und Geburtswehen zu kommen‹ […] Schließlich kommt der Harlekin, der es leid ist, auf das Wort zu warten, dem Stotterer auf unerwartete Art zu Hilfe: er nimmt Anlauf, stößt ihm den Kopf in den Bauch, und das schwierige Wort wird endlich geboren.«30
Bachtin beurteilt diese Episode als eine groteske, da sie der »Logik der Umkehrung« folge, die Kopf und Geist in ein »Drama des Körpers« umwandle und den »geistige[n] Akt« zu einer Wort-Geburt degradiere.31 Die Choreographin Meg Stuart greift in ihrem Stück Alibi (2001) fast analog, so scheint es, auf diese Anekdote zurück.32 Ein Tänzer (Valéry Volf) spricht im Duktus eines plaudernden Telefonats den Liedtext von Frank Sinatras berühmtem »I Did It My Way«. Die Tänzerin Joséphine Evrard schließt sich an als Volf geendet hat, kommt jedoch über das »I« nicht hinaus. Sie würgt und spuckt, keucht und hustet, stottert immer wieder das 29. Die Episode wird häufig als Beispiel in der Literatur zur grotesken Theorie angeführt, angefangen bei Carl Friedrich Flögel (1784), der diese wiederum nach G. W. Moores »Abriss des Lebens und der Sitten in Italien« zitiert. C. F. Flögel, 1784, vgl. in Wilhelm Fraenger: Formen des Komischen. Vorträge 19201921, Dresden 1995, S. 220. 30. M. Bachtin: Rabelais und seine Welt, S. 346, Hervorhebungen ebd. 31. Ebd., S. 351, 350. 32. Ich habe Alibi im Jahr 2002 an der Berliner Schaubühne, im Rahmen des Festivals Tanz im August gesehen.
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»I« hervor, das ihr im Halse stecken bleibt, hält sich mit den Händen an der Gurgel fest und versucht, die übrigen Worte herauszuzwingen. Anders als in Bachtins Erzählung hilft sie sich jedoch selbst und verfällt in ein Geburtshecheln, das schließlich in einem gellenden Schrei mündet und den Satz »I’ve got five points« hinaus schleudert. Evrard zählt nun unter anderem die Aspekte Freundschaft und Liebe auf, jedoch sind es nur vier Punkte statt der angekündigten fünf: Sozialer Austausch und Kommunikation sind genauso zersetzt und gestört wie die Selbstversicherung des eigenen Ichs als artikulierendes Subjekt. In Heterotopia werden Worte ebenfalls unter großen Anstrengungen ausgestoßen, sind jedoch selbst dann nur als akustisches Kauderwelsch vernehmbar, als wörtliche Bruchstücke des hervorstoßenden und sich in sich selbst einrollenden, das Ich/»I« als Identitätsmarke unter der Kleiderhülle einverleibenden Subjekts. Diese grotesken Situationen überziehen die von Bachtin formulierte Umkehrung von Geist und Körper allerdings noch. Ist das geborene Wort für Harlekin schlussendlich verstehbar und zeugt von einem, wenn auch unter langem Ringen und mittels eines Gewaltaktes herbeigeführten Gelingen der Kommunikation, verschließt sich dieser Zugang in Forsythes Stück, denn was zum Vorschein kommt, sind nur Fragmente einer Artikulation, die sich nicht mehr zusammenfügen und die Übertragungen und Übersetzungen ins Leere laufen lassen. Solchermaßen enthüllt zeigt sich jedoch die Haptik von Sprache und Sprechen selbst – Linguistisches schreibt sich nicht mehr als System den Körpern der Tänzer/innen ein, wie Patrick Primavesi es postuliert,33 sondern entwindet sich ihnen und dreht sich in den (Bühnen-)Raum hinein, um dort ein verkörpertes, gleichwohl dismorphes Eigenleben zu führen. So entstehen Momente von Fremdheit im Augenblick des Hervorbringens von Lauten, welche Stimme und verstotterte Worte in einer unfasslichen Erscheinung flüchten lassen: Die Fremdheit wohnt der Stimme immer schon ein, wie Bernhard Waldenfels betont – etwa wenn man die eigene Stimme als Tonaufnahme hört und beinahe nicht wieder erkennt.34 Forsythe bringt nun, so meine These, nicht nur das Aisthetische der Stimme, sondern auch ihre Selbst-Fremdheit ins Spiel, setzt bereits in der Produktionsebene an und verwebt (sprachliche) Entfremdungserfahrungen in den (improvisierten) Kreationsprozess der TänzerInnen selbst, an dem die Zuschauenden und -hörenden, als zweite Instanz einer verunsicherten Wahrnehmung beteiligt sind. Nicht nur linguistische Materialien sind mithin ein fortwährendes The33. Vgl. P. Primavesi: »Was schreibt die Geste«, S. 56. 34. Vgl. Bernhard Waldenfels: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, Frankfurt a.M. 2006, S. 198f.
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ma in William Forsythes Arbeiten, sondern auch die Effekte des Fremden, die das Zerlegen und Rekomponieren oder Destruieren mit sich bringen. Anhand seiner Choreographie Alie/NA(c)Tion (1992) bemerkt Gabriele Brandstetter: »Es geht hier […] wie auch in den anderen Choreographien Forsythes um diesen Akt der Fremdheit ›desselben‹, als Modus des Nicht-Wissens, um die Erfahrung der Andersheit, Fremdheit und Entfremdung, als Performanz: als ›Action‹ und als Prozess.«35
Verwendet Forsythe Methoden der Entfremdung, um den Körperspeicher von festsitzenden Gewohnheiten zu entleeren und Platz für neu zu komponierendes Bewegungsmaterial zu schaffen,36 verlagert sich diese Strategie in Heterotopia ins Material selbst, das sich jedoch nicht mehr als formbare Matrix bereithält. Das Podest im ersten Raum ist von Lücken und großen Abständen durchzogen, in denen die TänzerInnen immer wieder verschwinden, und so erweisen sich Körper, Stimme und Raum selbst als löchriges choreographisches Gewebe, durch das scheinbar nur noch Forsythe selbst, am Rand stehend und die ›Partitur‹ für den Abend in der Hand haltend,37 ab und zu einen Faden schlingen kann. Dekonstruierte Forsythe in seinen früheren Arbeiten die Ästhetik des Balletts als tanzsprachliches System, wird in der Installation die verbale Sprache selbst verstümmelt und verdreht. Sowohl die Stücke Martin Stiefermanns als auch William Forsythes zeigen, dass Körper, Text/Sprache und auch Raum im Tanz zunehmend zu gleichberechtigten Elementen werden, die in regelrecht kollektiven Verbünden als jeweiliges Material dienen, das nicht mehr in primär narrativen, sondern choreographischen Strukturen miteinander verknüpft oder gegeneinander verschoben wird. Ob Sprache dabei explizit Sinn demontierend und als lautgewebliche Auslassung aus dem Körper nahezu autonom agiert oder in vordergründig noch geschlossenen Textblöcken, eingelagert in die je private Hörsphäre des Publikums verbleibt, jedoch Dargestelltes 35. Gabriele Brandstetter: »Defigurative Choreographie. Von Duchamp zu William Forsythe«, in: Gerhard Neumann (Hg.), Poststrukturalismus: Herausforderung an die Literaturwissenschaft, Stuttgart, Weimar 1997, S. 598-623, hier S. 601. 36. Vgl. Christiane Berger: Körper denken in Bewegung. Zur Wahrnehmung tänzerischen Sinns bei William Forsythe und Saburo Teshigawara, Bielefeld 2006, S. 86, 54. 37. Forsythe steht mit den Tänzer/innen über portable Mikrofone in Kontakt, über die er ab und zu Anweisungen für Auftritte, Abgänge oder Raumwechsel gibt, die den ansonsten durchweg improvisierten Abend strukturieren.
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dem Imaginierten annähert und prismatisch verrückt – beide Choreographen rühren an der Selbstversicherung des Subjekts auf der Bühne und fordern die Wahrnehmung der Zuschauenden heraus, die, auf sich selbst verwiesen, letztlich auch zum Nachdenken über die theatralen Mittel von Körper und Text angeregt werden, welche nicht mehr selbstverständlich in denen ihnen traditionell zugewiesenen Kategorien verharren.
Literatur Anzieu, Didier: Das Haut-Ich, Frankfurt a.M. 1996. Bachtin, Michail M.: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur (1965), übersetzt von Gabriele Leupold, Frankfurt a.M. 1995. Berger, Christiane: Körper denken in Bewegung. Zur Wahrnehmung tänzerischen Sinns bei William Forsythe und Saburo Teshigawara, Bielefeld 2006. Brandstetter, Gabriele: »Defigurative Choreographie. Von Duchamp zu William Forsythe«, in: Gerhard Neumann (Hg.), Poststrukturalismus: Herausforderung an die Literaturwissenschaft, Stuttgart, Weimar 1997, S. 598-623. Foellmer, Susanne: Am Rand der Körper. Inventuren des Unabgeschlossenen im zeitgenössischen Tanz, Bielefeld 2009. Forsythe, William/Sulcas, Roslyn: »How William Forsythe has both subverted and enlarged the boundaries of classical dance through the consistent use of language«, in: Forsythe. Bill’s Universe, Jahrbuch BalletTanz (2004), S. 44-51. Foucault, Michel »Andere Räume« (1967), in: Karlheinz Barck u.a. (Hg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1993, S. 34-46. Fraenger, Wilhelm: Formen des Komischen. Vorträge 1920-1921, Dresden 1995. Franko, Mark: Dance as Text. Ideologies of the Baroque Body, Cambridge/ USA 1993. Jeschke, Claudia: Tanz als Bewegungstext. Analysen zum Verhältnis von Tanztheater und Gesellschaftstanz (1910-1965), unter Mitwirkung von Cary Rick, Tübingen 1999. Lacan, Jacques: »Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion« (1949), in: Ders., Schriften I, herausgegeben von Norbert Haas, Frankfurt a.M. 1975, S. 61-70. Louppe, Laurence: Poétique de la danse contemporaine, Brüssel 1997. Primavesi, Patrick: »Was schreibt die Geste«, in: BalletTanz 1 (2007), S. 54-57. 256
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Regitz, Hartmut: »Im Kopf von Lewskow. Das ›Lewskow-Manuscript‹ in Berlin«, in: BalletTanz 4 (2004), S. 50. Schlicher, Susanne: TanzTheater. Traditionen und Freiheiten. Pina Bausch, Gerhard Bohner, Reinhild Hoff mann, Hans Kresnik, Susanne Linke, Reinbek bei Hamburg 1987. Seitz, Hanne: Räume im Dazwischen. Bewegung, Spiel und Inszenierung im Kontext ästhetischer Theorie und Praxis, Essen 1996. Siegmund, Gerald: »Tanz im Blick: Die Wiederentdeckung des verkörperten Zuschauers«, in: Christopher B. Balme/Erika Fischer-Lichte/Stephan Grätzel (Hg.), Theater als Paradigma der Moderne? Positionen zwischen historischer Avantgarde und Medienzeitalter, Tübingen, Basel 2003, S. 417-428. Ders.: Abwesenheit. Eine performative Ästhetik des Tanzes. William Forsythe, Jérôme Bel, Xavier Le Roy, Meg Stuart, Bielefeld 2006. Waldenfels, Bernhard: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, Frankfurt a.M. 2006. Wittekindt, Matthias: Das Lewskow-Manuscript, Textfassung des Hörspiels, 2004.
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Beobachtungen zum allmählichen Verschwinden dramatischer Figuren – auf dem Theater Annette Storr
I. Einleitung : Transformation zum Zw ischenspiel Am Ende des Kongresses in Rouen stand ein Podium unter der Frage: »Was zwischen den Künsten liegt, ist Theater? Relations- und Fluchtpunkte von Theater, Tanz, Performance, Film und bildender Kunst«. Der Herausgeber und die Herausgeberinnen haben inzwischen ihre Schlüsse gezogen, und das Buch zum Kongress heißt nun nicht »Dramatische Transformationen II«, sondern »Zwischenspiele«. Was zwischen den Künsten spielt, ist das also Theater? Ich erinnere mich wieder an ein Fernseh-Gespräch: Paris 1987, Jean-Luc Godard besucht Maguerite Duras in ihrer Wohnung 1. Im Rahmen des Schlusspodiums in Rouen hatte ich davon gesprochen und möchte nun darauf zurückkommen: »D: Fangen wir an? G: Haben wir ja schon. D: Dein Film ist sehr schön.2 G: Du drückst dich immer positiv aus, ich kann besser Negatives sagen. D: Das darfst du nicht, wenn du nicht so denkst. Der Film ist sehr schön. Manchmal sehe ich keinen Grund für den Text. Warum nicht ein Film ohne Worte? 1. Colette Fellous/Pierre-André Boutang: Oceaniques: Duras – Godard, FR3 (08.12.1987). Ich zitiere im folgenden nach den Untertiteln von Sigrid Vagt. 2. Jean-Luc Godard: Soigne ta droite (Schütze deine Rechte), F 1987.
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Beobachtungen zum allmählichen Verschwinden dramatischer Figuren
G: Das läuft nicht. Garrel hat es versucht. Mein Film ist eher ein Stummfilm, aber mit viel Ton. Der Text hat keine Bedeutung. Wie wagen es die Schriftsteller zu schreiben? Ich habe es nicht gewagt. Ich war froh, dass ich ein mechanisches Ausdrucksmittel entdeckt habe, bei dem man nicht viel tun muss. D: Du füllst doch den Ton mit Worten. G: Ja, ich liebe sie. Aber sie sind wie die Kobolde bei Shakespeare. Bei dir dagegen oder bei Beckett sind es die Könige. D: Nicht unbedingt. Ich fülle den Film auch mit Worten, aber es muss begründet sein. G: Gut, ich hätte keinen Text nehmen sollen. Aber was dann? D: Musik, Gesichter.«
Der Film ist hier Austragungsort für ein Gespräch über Poetik. Er bietet aufgrund seiner Technizität benennbare Orte, unterscheidbare Schichten, getrennte Kanäle für Auge und Ohr. Damit ist er geeignet als Schauplatz für eine Debatte über poetische Strategien. Der Film ist nicht Metapher, sondern Topographie, die Karte für das Gespräch. Zugleich sind es die konkreten Filme von Godard und Duras, über die und anhand deren über Literatur – oder vielleicht besser: eine Poetik des Worts, des Dialogs, der Stimmen – gesprochen wird. »G: Ich bin sicher der einzige Filmemacher, der oft Bücher verwendet. D: Ja, du nimmst ein Buch und betrachtest es. […]«
So die Polemik von Seiten Duras’, die Godard eine Flucht vor dem Schreiben attestiert: »Aber das Schreiben hat etwas, was dir unerträglich ist. Es zieht dich an und jagt dich zugleich in die Flucht. Du hältst ihm nicht stand.« Dieser Attacke hält Godard stand, indem er auf den »Zwischenspielen« beharrt: »G: Warum hattest du das Bedürfnis, irgendwann auch Filme zu machen? Es ist ja mühsamer. D: Das lässt sich genau datieren. Es war nach 68. Ich schrieb Romane in zehn und drehte Filme in acht Tagen. Aber meine Filme sind Bücher. Alle! G: Ja. D: Deine dagegen wären Kino schlechthin, wenn darin nicht gesprochen würde. G: Das schöne an ihnen [deinen] ist, es sind echte Bücher. D: Meine Filme sind Bücher? G: Ein Buch, das spricht oder das betrachtet und dadurch spricht. Es versteckt sich nicht. […] D: In meinen Büchern (hat sich versprochen und korrigiert sich), in meinen Filmen spricht niemand. Es gibt Stimmen.
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Zwischenspiele: Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume
G: Cocteau, Guitry, Pagnol – meine Lieblingsautoren neben dir – sie machten echtes Theater. Ich kann es sonst nicht ausstehen. […]«
Filme sind Bücher – echtes Theater. Mit einer großen Abwehr gegen jede praktische Übersetzung des einen ins andere erarbeiten sich Godard und Duras diese Übereinkunft, diese höchste Forderung. »Ein Buch, das spricht«, »niemand«, selbstverständlich, der in ihm/der in Duras’ Filmen spricht. Es kann nur Stimmen geben, getrennt von den Körpern, wie in der Schrift. »D: Schreiben heißt Verschwinden, hinter etwas sein. Aber körperlich ausgedrückt war es fragwürdig. Es war fast unmoralisch. Danach zu sprechen, das machte mich krank. Das Schweigen, das beim Lesen einen Text umgibt, entsteht durch das Sprechen. Wenn es einen Ort der Frau gibt [la femme existe], ich bin nicht sicher, dann ist er nicht weit davon entfernt. Ein Ort der Kindheit. Weit mehr als der des Mannes. Der Mann ist kindischer, aber weniger kindlich.«
Getrennt – wie sieht das aus im Theater? Am Ende gibt Godard noch einen Hinweis, als Fazit auch bezogen auf das Gespräch mit Duras vor den Fernsehkameras: »G: Menschen können nicht miteinander reden. Deshalb schreiben und filmen sie. Man kann Dialoge schreiben, aber nicht sprechen. Nur in der Liebe manchmal, aber das ist etwas anderes.«
Es scheint, als fiele das letzte Zitat aus dem Rahmen meiner Einleitung zur »Transformation zum Zwischenspiel«. Aber es liefert die Klammer. Das Gespräch mit Duras, das Godard trauernd zusammenfasst: »Menschen können nicht miteinander reden«, lässt sich am Bildschirm verfolgen, in all seinen Windungen, Missverständnissen, Korrekturen, Ignoranzen. Es ist ein Film, es ist ein Theater, gerade in seinen Verfehlungen. Und doch liebt Godard die Worte, wie Duras. Es ist dem Leben geschuldet, dass die geschriebenen Dialoge, die Filme, die Bücher immer nur von ihrer Kehrseite begleitet sprechen – »das Lesen vom Schweigen umgeben« bei Duras –, es ist dem Wissen geschuldet, dass es nicht einfach so geht, das Dialogisieren – »nur in der Liebe manchmal« –, deshalb verlangen sie Bücher für Dialoge, Filme statt Worte, Stimmen neben Figuren –, und nur dann, so die beiden, ist es »echtes Theater.« Ein Theater der Trennungen, wie im Leben, außer … »aber das ist etwas anderes.«
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Beobachtungen zum allmählichen Verschwinden dramatischer Figuren
II. Hauptteil : Verschw indedramen – eine dramatische Transformation In meiner Habilitationsschrift Regieanweisungen – Beobachtungen zum allmählichen Verschwinden dramatischer Figuren3 habe ich als besonderen Typus einer »dramatischen Transformation« Dramen des Verschwindens beobachtend aufgesucht. Aufgesucht, weil es sich bei dem Untersuchten gerade nicht um Dramentexte, sondern um – fast – alles andere handelt: Die Erzählung Bartleby, der Schreiber von Melville und Alexander Kluges Poetik-These von der »Zweiten Welt der Nacherzählung«, der Roman Between The Acts von Virginia Woolf und Sarah Kanes Stück 4.48 Psychosis, Kafkas Amerika im Fadenkreuz zwischen den Lektüren von Benjamin und Deleuze, Mozarts Zauberflöte auf der Piazza del Popolo in Rom und Schlingensiefs Kunst und Gemüse, ein Kaspertheater-Vortrag zu Mal vu mal dit von Beckett, Renoirs Film La règle du jeu und eine Goya-Ausstellung, schließlich ein Hörspiel, Friederike Mayröckers Gertrude Stein hat die Luft gemalt. Die bunte Aufzählung ist das Inhaltsverzeichnis. Ich untersuche die Bedingungen, die Umstände, die Regeln, die Regieanweisungen, unter denen Figuren mehr oder weniger dramatisch verschwinden. Das Verschwinden selbst als Drama, Auflösung als Vorgang in unterschiedlichsten Darstellungsweisen, aber kaum auf der Bühne, sondern unter den Umständen verschiedener Künste und Medien. Ich untersuche gerade nicht das Verschwinden dramatischer Figuren in Dramen oder insgesamt aus der Dramatik. Wenn ich auch ursprünglich einen solchen Ausgangspunkt hatte. Denn es gibt ja Stücke, in denen keine Figurenrede mehr auftaucht, sondern ausschließlich Regieanweisungen. So zum Beispiel, um einige ältere zu nennen, Handkes Stück Die Stunde, da wir nichts voneinander wußten4, John von Düffels Die Unbekannte mit dem Fön 5 oder Wunschkonzert 6 von Kroetz. Und auch Roland Schimmelpfennigs Push up 1-3 7, das sich speziell an Schauspielschulen großer Beliebtheit erfreut, arbeitet mit der Differenz 3. Annette Storr: Regieanweisungen – Beobachtungen zum allmählichen Verschwinden dramatischer Figuren, Berlin 2009. 4. Peter Handke: Die Stunde da wir nichts voneinander wußten, Frankfurt a.M. 1995. 5. John von Düffel: Die Unbekannte mit dem Fön. Ein Stück in Regieanweisungen, Gifkendorf 2001. 6. Franz Xaver Kroetz: Stallerhof. Geisterbahn. Lieber Fritz. Wunschkonzert. Vier Stücke, Frankfurt a.M. 1973. 7. Vgl. Roland Schimmelpfennig: »Push up 1-3«, in: Theater heute (11/2001), S. 58-67.
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der beiden Textsorten, wenn die Figuren wechseln zwischen »dramatischer« Rede, mit vierter Wand, und einer Art »Regieanweisungstext«, zumeist an der Rampe plaziert gesprochen: Beschreibungen von Vorgängen und Umständen anstelle von Monologen. Diese exzentrischen dramatischen Formen sind aufschlussreich für die Bühne: bei Handke für die Möglichkeiten, Figuren und Situationen, Rhythmen von Bildfolgen ohne Figurenrede zu erzählen, eine Herausforderung für Bühnenbild und Kostüm; und Schimmelpfennigs Stück ist offenbar besonders attraktiv für Schauspiel-Studien, durch den klaren Wechsel von Spielweisen, der in der Regel recht konventionell aufgefasst wird: dramatisch identifiziert, innerszenisch »spielt« der Schauspieler, außerszenisch berichtet er und gibt Beschreibungen der Vorgänge. Der Zuschauer freut sich über den Wechsel der Darstellungsebenen und der zugehörigen Stile, der Schauspieler profitiert vom Kontrast im Text, der seine jeweilige Spielart unterstreicht. Das Stück Schimmelpfennigs, das von Konventionen handelt, bleibt, so inszeniert, konventionell im Umgang mit den Möglichkeiten der Bühne: »innerszenisch« (in der szenischen Handlung, im dialogischen Spiel) wird betrieben, was »außerszenisch« (an der Rampe, der traditionellen Position des Monologs) beklagt wird. Diese Anmerkung zu Push up ist ein kleiner Exkurs an die Universität der Künste Berlin, Studiengang Schauspiel, Semesterendpräsentation 2008. Man muss vielleicht erwähnen, dass von den Kollegen betont wird, es handele sich nicht um Inszenierungen, es gebe Szenen-Studien zu betrachten. Und doch triff t die Bemerkung einer Studentin, ich schaute mir diese Präsentationen ja wie Inszenierungen an, einen bestimmten Punkt. Wenn es auf der Bühne ist, und auch wenn nicht, muss ich sagen, ich kann nicht anders. Ich sehe immer mit, wie die Sache in den Raum gesetzt ist, wie die Spielweisen wechseln, wo sich Form und Inhalt wann und wie die Klinke in die Hand geben.8 Und, was dieses über die Figurenrede, die Charakterzeichnung, das mehr oder weniger geschaff te schauspielschülerische Zusammenspiel hinausgehende – »Zwischenspiel« – ergibt. Es ergibt Unterschiedliches: mal ganz entschieden eine Figur, die das gesamte Geschehen in sich aufgesogen hat und durch die eigene Darstellung alles erzählt, dramatisch, vielleicht noch im Dialog mit dem Partner; im anderen Fall entsteht jenseits der Figuren ein schwer zu beschreibendes Surplus: wenn die Szene, der Anblick, den die Figur bietet, mitspielen, wenn Einstellungen entstehen, Bilder, Konstellationen, Rhythmen, Wiederholungen sichtbar
8. Zur Frage der fehlenden, bzw. der mehr oder weniger stark frequentierten Klinke, des Wendepunkts von inhaltlicher und formaler Aussage, komme ich später in einem Exkurs zu Roman Jakobson.
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werden, ohne dass sie in der dramatischen Aktion der Figuren aufgehen würden.9 »Ein Buch, ein Film, echtes Theater« – würden Godard und Duras wohl zum zweiten Fall sagen. Und der zweite Fall ist der, in dem »Verschwinden« geschehen kann. Was ich also benutzt habe für meine Untersuchung von Verschwindeszenen in den verschiedensten Künsten, ist das Fadenkreuz »Regieanweisung – Figur«, das Theresia Birkenhauer in unterschiedlichen Abhandlungen und auch im Rekurs auf einige theaterwissenschaftliche Positionen genau bestimmt hat. Sie spricht von dem Aspekt der »doppelten Perspektivierung«: »Grundlegend für das Theater, darin kommen alle Theorien überein, ist eine Doppelung der Perspektiven; beschrieben wird sie unterschiedlich: als ›doppelte Funktion‹ dramatischer Rede, die immer zweifach adressiert ist: an die Figur und an das Publikum (Pierre Larthomas); als ›Überlagerung von innerem und äußerem Kommunikationssystem‹ (Manfred Pfister); als ›latente Spaltung‹ zwischen der ›innerszenische[n] Achse der Kommunikation‹ und der außerszenischen Achse ›der Kommunikation zwischen der Bühne und dem davon (real oder strukturell) unterschiedenen Ort des Zuschauers‹ (Hans-Thies Lehmann). Welche Konsequenzen hat aber diese Doppelung für den Text? Traditionell weist man die Figurenrede als ›Haupttext‹ dem ›inneren‹ Kommunikationssystem, den ›Nebentext‹ (vor allem Sprecherangaben, Regieanweisungen, Akt- und Auftrittsbezeichnungen) dem ›äußeren Kommunikationssystem‹ zu (Herta Schmid), als sei die Figurenrede nicht ebenso einem Darstellungskalkül unterworfen.«10
Die Auffassung des »Szenischen« und des »Dramatischen« als zwei unterschiedliche, getrennte Darstellungskalküle findet sich im Verlauf des Aufsatzes wieder in der Rede von den zwei »Achsen« der »doppelten Perspektivierung dramatischer Rede – die innerszenische und die außerszenische«. Das Verhältnis der beiden Achsen, der beiden Darstellungskalküle zueinander, ist laut Birkenhauer von neuen Lektüren, von neuen Inszenierungen jeweils bestimmbar. Inszenierungen arbeiten an und mit diesem Verhältnis, am »Spiel des Zwischen«. 9. Die Aufführung von Kroetz‹ Wunschkonzert des Schauspiels Köln (Premiere am 05.12.08, theatertreffen 2009), ist ein Beispiel für die Ausstellung dieser ›epischen‹ Erzählweise als »filmische«. Auf der Bühne ist zu sehen, wie die Einstellungen und Töne einer Filmerzählung bewerkstelligt werden. Das Stück in Regieanweisungen wird in diesem Film realisiert. 10. Theresia Birkenhauer: »Verrückte Relationen zwischen Szene und Sprache«, in: dies., Theater/Theorie. Zwischen Szene und Sprache, Berlin 2008, S. 162-174, hier S. 169f.
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Was mir gefällt an dieser Auffassung, ist die Rede von zwei unterschiedenen Darstellungskalkülen: zunächst scheinbar stillgestellt als »gerahmte Fiktion«, wenn man das Bild der vierten Wand bemüht, jedoch ist dessen Inneres, die dramatische Figur, keineswegs auf »fi ktiven«, gerahmten Realismus festgelegt, sondern frei besetzbar im Spiel mit der szenischen Ordnung.
Freiheiten dramatischer Figuren Eine solche freie Nutzung der Konvention dramatischer Figuren betreibt Hans-Werner Kroesinger, wenn er Schauspieler im Stück Die Kindertransporte Berliner Kinder auf dem Weg nach London11 mit Kostümen und Requisiten als Figuren ausstattet, ihre psychologische Spielweise jedoch so stark einschränkt, dass die Figuren der Schauspieler durchlässig bleiben für die Projektion verschiedener Lebensalter. Sie sind nicht festgelegt auf die Gegenwart der Erzählsituation, sondern transparent für den Inhalt ihrer Erzählung. Die Fiktion dessen, was sie erzählen, ihre Vergangenheit, als sie als Kinder verschickt wurden, kann sich an ihnen abspielen, weil die Schauspieler die psychorealistische Bebilderung ihrer aktuellen seelischen Präsenz unterlassen. Die gesprochenen Texte sind Dokumente, erfahren aber durch die Inszenierung und die Bindung an Schemen dramatischer Figuren, an Schauspieler mit Kostümen, die den Grad der Beglaubigung ihrer Figur kontrollieren können, die Entfaltung ihrer Lebensgeschichte: die fiktive Kraft der Bühne, ein Textdokument durch die bloße Setzung einer Figur in gelebte Geschichte zu transformieren. Im Blick des Zuschauers wird der kostümierte Schauspieler zu dem gealterten Kind, von dessen Lebensweg er berichtet. Ohne Schauspieler, die den Grad der Identifikation mit der gesprochenen Erzählung beherrschen können, wäre das nicht möglich. Das Beispiel akzentuiert, was ich betonen möchte: dass sogar im Umgang mit rein dokumentarischem Material als Figurenrede das Fiktionspotential des Theaters, hier durch das präzise Aufstellen von umrisshaften Theaterfiguren, eine Transformation zur Figur bewirkt, ohne dass sich die Schauspieler den dokumentarischen Text »aneignen« würden. Dieses Beispiel wäre ein Unterbleiben dramatisch vollwertiger Figuren zugunsten des »dramatischen« Sichtbar- und Kenntlichwerdens eines Menschen in all seinen Lebensaltern. Man könnte sagen, die dramatische Achse der psychologischen Figurenrede wird zurückgenommen und die szenische Achse ermöglicht dennoch die Fiktion einer Personifi kation, einer Aktua11. Theater an der Parkaue, Berlin (Premiere am 22.04.2006). Brüder-GrimmPreis des Landes Berlin 2007.
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lisierung von Erzählinhalten an der Bühnenfigur in fortschreitender Projektion des Gesagten auf ihre Oberfläche, ihre kostümierte Kontur. Auf diese Weise »projektiv«, man kann es sich vielleicht vorstellen, arbeitet auch Virginia Woolf in ihrem Roman Between The Acts mit den perspektivischen Unterschieden des Theaters und der Romanerzählung.12 Die Auff ührung, die im Roman vor sich geht, ermöglicht Woolf, ihren Figuren etappenweise den Wahrnehmungsmodus des Theaterzuschauers zu unterstellen. Man hat es dabei mit mehreren Bühnen zu tun, dem Kammerspiel des Ehepaares und seiner Verwandten und der des Aufführungsgeschehens auf der Terrasse und im Garten. Es ist eine Schachtelung von Bühnen, in deren Übergängen sich die Personen von Zuschauern zu Akteuren und zurück verwandeln. Diese Übergänge sind die Handlung, die radikalen Perspektivwechsel, mit denen eine Zersplitterung der Zeit und eine zeitweilige Auflösung des Personals einhergeht. Das Buch endet mit den Worten: »Dann hob sich der Vorhang. Sie sprachen.« Es gibt hier eine inverse Korrespondenz zu Sarah Kanes Stück 4.48 Psychosis: »Bitte öffnet den Vorhang« ist das Ende der Rede, und es verweist auf den Anblick als dem letzten, das die Figur noch bietet, wenn sie mit diesen Worten verstummt. Ein ausdrücklicher Verweis auf die Sichtbarkeit des Verschwindens im Verstummen, nur möglich im Theater, als Ort der Sichtbarkeit und Öffentlichkeit.13 Man erlebt den Anblick als Verschwinden, weil mit dem letzten Wort das Leben aus dem sprechenden Körper weicht. Man sieht und erlebt dieses Ende.
Tode des Subjekts Ich möchte nun auf einen zweiten Aspekt eingehen, der meine Untersuchung betriff t. Die Frage nach dem Subjekt. Das Verschwinden dramatischer Figuren erschien mir interessant, weil ich die philosophische Rede vom »Tod des Subjekts« als eigentümlich »posthum« empfunden habe. In der Kunst vermutete ich den Ort seiner Kämpfe ums Überleben, die Bühne für diesen fragilen Prozess. Nun behauptete Peter Szondi, das neuzeitliche Subjekt sei selbstbewusst und handlungsfähig, agiere im Zwischenmenschlichen, sein Metier sei die dialogische, konflikthafte Aussprache und diese Konstitution nenne
12. Vgl. A. Storr: Regieanweisungen, S. 56ff. 13. Besonders eindrücklich wurde dieser Aspekt durch die Inszenierung von Claude Régy mit Isabelle Huppert und Gérard Watkins (Premiere am 01.10.2002 Théâtre des Bouffes du Nord, Paris).
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er zu heuristischen Zwecken »dramatisch«.14 Im Verlauf der Geschichte des modernen Dramas trete an die Stelle des Subjekts der »epische Erzähler«, der von dessen Untergang berichte. Dieser, vielleicht plaziert an der Bühnenrampe. Ähnlich Foucault, der sagt, die Helden müssten tot sein, damit ihr Lied gesungen werden könne,15 kontrastiert Szondi zwei Gattungen. Er veranschlagt eine sukzessive poetische Transformation der einen in die andere und beschreibt als Spielformen dieses Spannungsverhältnisses die Dramen der »Klassischen Moderne«. Theo Girshausen hatte einen Einwand gegen meine Bevorzugung der Moderne als Bühne des sich auflösenden Subjekts. Er machte darauf aufmerksam, dass solche Auflösungstendenzen auch vor dieser Zeit Thema des Theaters waren. Ich möchte dazu eine Stelle zum Antiken Theater zitieren: »Was Solon stellvertretend für viele seiner Zeitgenossen irritiert, ist die Dopplung von Wirklichkeit und Möglichkeit als Grundstruktur und Grundspannung des Theaters. Was ihn provoziert, ist die Zweideutigkeit des Ereignisses, die in seiner Scheinhaftigkeit liegt. Was im Schein des Theaters aber aufzuscheinen vermag, was in ihm und durch ihn sichtbar wird, das zeigt uns jede Tragödie. Zuerst aber mußte es (und muß es immer noch) den wahren Skandal erregen: Unter den Eindeutigkeiten des Politischen, des Religiösen zeigt es die tiefe Zweideutigkeit des Wirklichen, die die Menschen, im Leben, zu zerreißen vermag.«16
Die Stelle hat ein Echo in einem Text Theresia Birkenhauers: »So thematisiert die Tragödie prekäre Identitäten ebenso wie vielfache Erfahrungen von Männlichkeit und Weiblichkeit jenseits der Geschlechtergrenzen: Antigone erwartet männlichen Ruhm, Kreon weint am Ende wie – und das heißt als – eine Frau. Dieses Wissen um die zweideutige Struktur – der Psyche, des Rechts, des Religiösen, der Sprache – ist keineswegs archaisch, wie die Philosophen, vor allem Platon, der Tragödie vorwarfen. Im Gegenteil: Das Theater zeigt, im Raum des Spiels, unter den Eindeutigkeiten des Religiösen, unter den Eindeutigkeiten des Politischen, die tiefe Zweideutigkeit des Wirklichen, die die Menschen, im Leben, zu zerreißen vermag.«17 14. Vgl. die einleitenden Kapitel in: Peter Szondi: Theorie des modernen Dramas (1880-1950), Frankfurt a.M. 1963, S. 9-21. 15. Michel Foucault: Schriften zur Literatur, übers. von Karin von Hofer, Annemarie Botond, Frankfurt a.M. 1988, S. 11f. 16. Theo Girshausen: Der Ort des griechischen Theaters, in: Die Antigone des Sophokles. Ein Thema, Programmheft Schillertheater NRW, Wuppertal 1997, S. 13. 17. Theresia Birkenhauer: »Tragödie: Arbeit an der Demokratie. Auslotung eines Abstands«, Theater der Zeit (11/2004), S. 27-28, hier S. 28.
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»Zerreißen« ist hier das Wort und »Mensch« statt Subjekt, auf der Bühne thematisiert sind »prekäre Identitäten«. Auch hier das Thema der angefochtenen Identität, des Kampfes um so etwas wie Subjektmächtigkeit oder »gegen das Verschwinden«, aber als Thema, weniger als Vorgang in der Darstellung. Man müsste untersuchen, welche Darstellungsvorgänge dem korrespondieren. Ich mache einen Sprung zu Gerhart Hauptmann. »Ursprung des Dramas ist das zwei-, drei-, vier-, fünf- und mehrgespaltene Ich.«18
Vielleicht klingt so die Sache mit den »prekären Identitäten« im künstlerischen Dispositiv des späten 19. Jahrhunderts, im Jargon der Dramatik, die sich anschließt an Lessings Dramaturgie. Hauptmann druckt in der Jubiläumsausgabe zu seinem 80. Geburtstag auf das Titelblatt des Stückes Das Friedensfest. Eine Familienkatastrophe (1889) ein Zitat Lessings aus Abhandlungen über die Fabel: »Sie finden in keinem Trauerspiele Handlung, als wo der Liebhaber zu Füßen fällt … Es hat ihnen nie beifallen wollen, daß auch jeder innere Kampf von Leidenschaften, jede Folge von verschiedenen Gedanken, wo eine die andere aufhebt, eine Handlung sei; vielleicht weil sie viel zu mechanisch denken und fühlen, als daß sie sich irgendeiner Tätigkeit dabei bewußt wären. – Ernsthafter sie zu widerlegen, würde eine unnütze Mühe sein.« 19
Und unter dem Stichwort »Dramaturgie« findet sich unter »Einsichten und Ausblicke. Aufzeichnungen« bei Hauptmann: »Sucht die Elemente der Dramaturgie in der menschlichen Psyche zusammen! Dort stecken sie.«20 Hauptmann akzentuiert die Haltlosigkeit äußerer Handlung, im Anschluss an Lessing verlegt er das »Drama« in seelische Regungen: »Es gibt einen psychischen Akt. Auch der Dramatiker muß vor allem Akt zeichnen können. Viele sogenannte Dramatiker sind leider nur bestenfalls Kostümschneider.«21
18. Gerhart Hauptmann: Das Gesammelte Werk, Erste Abteilung, Siebzehnter Band, Berlin 1942, S. 425. Durch Marianne Streisands Vortrag beim Symposium Wege des Erzählens zu Ehren von Kristin Wardetzky (Universität der Künste Berlin, September 2007) bin ich auf diese Passagen bei Hauptmann aufmerksam geworden. 19. Gerhart Hauptmann: Das Gesammelte Werk. Erste Abteilung. Erster Band, Berlin 1942, S. 373. Die Auslassungen sind übernommen. 20. G. Hauptmann: Das Gesammelte Werk. Siebzehnter Band, S. 425. 21. Ebd., S. 427.
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Studien der Figur – Studien der Szene Ich bin damit beim Missing Link, der Türklinke, die sich in der Universität der Künste Berlin in einer der Semesterendpräsentationen 2008 tatsächlich in die Hand gegeben wurde, weil es die »echte« Türklinke der Tür des Raumes war, in einer anderen Vorführung gab es explizit Gassen, Bühne war gebaut, mit Rampe und Tiefe. Beides Räume, Szenen, Umgebung für die Figuren, man könnte Regieanweisungen dazu verfassen. In zwei anderen Szenenstudien dienten Stellwände mit einer oder zwei Lücken der Simulation von Ortlosigkeit, der Abwesenheit von Szene, der Auf hebung des Systems Bühne, sie waren und sollten nur noch praktische Möglichkeiten um abzugehen sein, in ein Nichts. Hier konnte man reinste »dramatische Figuren« sehen, alleinige Erzähler, begleitet von Toneinspielungen, die Atmosphäre schaff ten und abschaff ten, je nach Stimmungsbedarf. Es waren genaugenommen »Figuren-Studien«. Man hätte diese Figuren filmen können (oder müssen), um ihnen einen Rahmen, einen Spielraum, eine Bedeutung zu geben. So blieben sie Handlung – innere und äußere – im undefinierten Zeige-Ausschnitt. Es wird klar, was gespielt wird, aber nicht, was es über das Gesagte und Vorgeführte hinaus heißen könnte. Der Möglichkeitshorizont ist weg. Es fehlt diesen Figuren, die alles, was der Text hergibt, zumeist schauspielerisch recht gelungen für sich vereinnahmt haben, radikal an Perspektivierung: an der zweiten, der szenischen Perspektivierung, die auf einer zweiten, einer unabhängigen Achse liegen müsste, damit sich »Wirklichkeit und Möglichkeit« begegnen.22
III. Schlussteil : unendliche Exposition Ich bin beim Missing Link Roman Jakobson. Dem ausstehenden Zitat zum Wendepunkt von Form und Inhalt, als dem Umschlagspunkt von Dargestelltem in Darstellung und umgekehrt. In seinem Aufsatz Über den Realismus in der Kunst (1921)23 erklärt Jakobson minutiös, wie »Wahrheitssuche« und »Wirklichkeitsstreben« der Künstler immer wieder zur »Deformation von Ideogrammen« (etablierten künstlerischen Formen) führen, zu diesen – einem beständig neuen 22. Theresia Birkenhauer fasste die Frage nach Regieanweisungen in die offene Formulierung: »Wie sich die Spur der nicht sichtbaren Bühne für den Zuschauer darstellt …«. Zitiert nach: A. Storr, Regieanweisungen, S. 9. 23. Roman Jakobson: »Über den Realismus in der Kunst«, in: Elmar Holenstein/Tarcisius Schelbert (Hg.), Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921-1971, Frankfurt a.M. 1979, S. 129-139, hier S. 136f. Hervorhebung im Original.
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Streben nach Realismus geschuldeten – Revolutionen. Es gibt dort eine Passage zum Abbau der Intrige, der äußeren Handlung, im Verlauf der stoßweisen Entwicklungsgeschichte des Romans: »Wir sprachen von dem fortschrittlichen Realismus als von einem Charakterisieren durch unwesentliche Merkmale. Eines der Verfahren derartigen Charakterisierens […] ist die Verdichtung des Erzählens mit Hilfe von Bildern, die aufgrund ihrer Korrespondenz herangezogen werden, d.h. also der Übergang vom eigentlichen Terminus zur Metonymie und Synekdoche. Diese ›Verdichtung‹ wird gegen die Intrige verwirklicht oder hebt die Intrige völlig auf. Nehmen wir einmal ein grobes Beispiel: zwei literarische Selbstmorde, den der armen Liza und den der Anna Karenina. Der Selbstmord Annas wird von Tolstoj dargestellt, indem er hauptsächlich über ihr Täschchen schreibt. Dieses unwesentliche Merkmal wäre Karamzín sinnlos erschienen, obwohl auch die Erzählung Karamzíns verglichen mit dem Abenteuerroman des 18. Jahrhunderts eine Folge von unwesentlichen Merkmalen darstellt. Wenn im Abenteuerroman des 18. Jahrhunderts der Held einen Passanten traf, so handelte es sich just um den, den er oder zumindest die Intrige brauchte. Bei Gogol oder Tolstoj oder Dostojewskij aber wird der Held unter Garantie zuerst einen nicht nötigen, vom Standpunkt der Fabel überflüssigen Passanten treffen, wird mit ihm ins Gespräch kommen, was für die Fabel ohne Folgen bleibt. […] ein derartiges Verfahren [wird] häufig realistisch genannt […]«
Ich will darauf hinaus, dass auch hier die Intrige, der bevorzugte Bauplan des Abenteuerromans, einen Gegenspieler hat: die Verdichtung durch angrenzende Bilder, die Assoziation. Im einen System (Intrige) ist unwichtig (Nachbarn, Umstände), was im anderen System (Assoziation) Transportmittel wird. Es gibt auch hier zwei Achsen, zwei Perspektivierungen, von jeweils unterschiedlicher Dominanz. Hauptmann ist auf einer ähnlichen Spur, wenn er mit Lessing jeder äußeren Handlung den »dramatischen« Sinn abspricht. Und doch treten seine Figuren auf und ab, tanzen und sprechen miteinander, um sich dem Zuschauer vorzustellen: »Ein Drama, das nicht bis zum letzten Wort Exposition ist, besitzt nicht die letzte Lebendigkeit.«24 Es ist mir nun unter der Überschrift »Transformation zum Zwischenspiel« etwas unterlaufen, was ich nicht vermutet hätte. Ich habe im Unterschied zu meiner Untersuchung Regieanweisungen – Beobachtungen zum allmählichen Verschwinden dramatischer Figuren heute von Dramen und vom Theater geredet und nur am Rand von Verschwinde-Szenen in den anderen Künsten. Es ging mir um die ausstehende Verbindung zwischen diesen Gegenstandsbereichen. Sie liegt in der Betrachtungsweise: »Film, 24. G. Hauptmann: Das Gesammelte Werk. Siebzehnter Band, S. 427.
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Buch – echtes Theater« und ist, wie ich meine, am Theater geschult. Die zweite unterlaufene Merkwürdigkeit besteht darin, dass die Beispiele mehr vom Sichtbarwerden, den Dramen der Erschaff ung und Behauptung von Figuren handeln, also ihrer umkämpften »Exposition«, wie sie Hauptmann beschreibt. Vermutlich, entnehme ich daraus, ist das im Theater der interessantere Vorgang.
Literatur Birkenhauer, Theresia: Theater/Theorie. Zwischen Szene und Sprache, Berlin 2008. Birkenhauer, Theresia: »Tragödie: Arbeit an der Demokratie. Auslotung eines Abstands«, in: Theater der Zeit (11/2004), S. 27f. Fellous, Colette/Boutang, Pierre-André: Oceaniques: Duras – Godard, FR3 (08.12.1987). Foucault, Michel: Schriften zur Literatur, übers. von Karin von Hofer, Annemarie Botond, Frankfurt a.M. 1988. Girshausen, Theo: »Der Ort des griechischen Theaters«, in: Die Antigone des Sophokles. Ein Thema, Programmheft Schillertheater NRW, Wuppertal 1997. Godard, Jean-Luc: Soigne ta droite (Schütze deine Rechte), F 1987. Handke, Peter: Die Stunde da wir nichts voneinander wußten, Frankfurt a.M. 1995. Hauptmann, Gerhart: Das Gesammelte Werk. Erste Abteilung. Erster Band; Siebzehnter Band, Berlin 1942. Jakobson, Roman: »Über den Realismus in der Kunst«, in: Elmar Holenstein/Tarcisius Schelbert (Hg.), Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921-1971, Frankfurt a.M. 1979, S. 129-139. Kroetz, Franz Xaver: Stallerhof. Geisterbahn. Lieber Fritz. Wunschkonzert. Vier Stücke, Frankfurt a.M. 1973. Schimmelpfennig, Roland: »Push up 1-3«, in: Theater heute (11/2001), S. 5867. Storr, Annette: Regieanweisungen – Beobachtungen zum allmählichen Verschwinden dramatischer Figuren, Berlin 2009. Szondi, Peter: Theorie des modernen Dramas (1880-1950), Frankfurt a.M. 1963. Von Düffel, John: »Die Unbekannte mit dem Fön. Ein Stück in Regieanweisungen«, Gifkendorf 2001.
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6. Bild- und Wahrnehmungsräume Dass Bild und Bühne ein ständiges Amalgam bilden sollen, kommt einer Zwangsehe gleich. […] Ich finde, ein Bild ist eher eine Bühne als die Bühne ein Bild.1 Johannes Schütz
In den letzten Jahren ist der Grenzverkehr zwischen der Theater- und Kunstwissenschaft sowie den Performance Studies durch die jeweils aus der Bildwissenschaft abgeleiteten Diskurse und angewendeten Modelle stark angewachsen. Handelt es sich bei diesen Grenzüberschreitungen und Grenzauflösungen lediglich um Zwischenspiele, die transdisziplinären Trends und ausgerufen Turns folgen oder um längerfristige avancierte theoretische Ansätze, die versuchen, zeitgenössischen Kunstformen, Aufführungs- und Spielästhetiken möglichst auf Augenhöhe zu begegnen? Die Öffnung der Theater- zur Bildwissenschaft, so zeigen die in diesem Kapitel versammelten Beiträge, erweisen sich gerade dann als fruchtbar, wenn in den bildtheoretischen Diskursen auch die Räume geöffnet werden, der Bühnenraum mit seinen Dramaturgie- und Regiefunktionen in seiner Dreidimensionalität beleuchtet wird und die Bewegungen der Körper und der Sprache als ein diskursives Zusammenspiel verstanden wird. Dabei ist der Schauplatz des Sehens immer als eine zweifach inszenierte Blickachse zu begreifen. Die Inszenierung des Sehens bzw. die Blickregie beinhaltet sowohl das von den (bespielten) Bühnenräumen angeblickte Publikum als auch die in die Bühnenräume blickenden Zuschauer, deren Blicke aus fi xierten Positionen gelöst und in Bewegung gesetzt werden womit es zu »Blickoszillationen« (Kati Röttger/Alexander Jacob) kommt, die als Zwischenspiele zwischen Text und Bild, Medium und Körpern, sichtbaren Dingen und Bildern sowie zwischen dem Moment der Abwesenheit und Anwesenheit ästhetisch erfahrbar werden. In diesem Sinne verstehen 1. Vgl. Johannes Schütz: »Gute Bühnen sind oft leer. Siegfried Gohr im Gespräch mit Johannes Schütz«, in: Johannes Schütz (Hg.), Bühnen Stages 20002008, Nürnberg 2008, S. 6-25.
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Kati Röttger und Alexander Jacob Theater programmatisch als ein »inszeniertes Spiel mit verschiedenen Sichtweisen« und verfolgen dabei (historische) Funktionsbestimmungen der »Theatralität des Sehens« indem sie nachweisen, dass Gotthold Ephraim Lessing in Emilia Galotti eine höchst reflexive Dramaturgie des Blicks entwickelt, die durch das Zusammentreffen von Porträttafel und Bühne für den Leser noch intermedial aufgeladen wird und das Drama damit, so die Autoren, die im Laokoon geleistete Differenzierung zwischen Poesie und Malerei (Wort und Bild) exemplarisch für die Bühne im Zusammenspiel erprobt. In einem nächsten Schritt wird am Beispiel der Porträt-Szene in Inszenierungen von Andrea Breth, Thomas Langhoff und Michael Thalheimer danach gefragt, in welchen Sehordnungen sich der Körperbegriff als Schnittstelle oder Schwelle zwischen verschiedenen Bild- und Bewegungs-Räumen erweist, in denen sich das Spiel mit den Bildern im Theater ereignet. Ulrike Hass, die in ihrem Beitrag ebenso historische Grundrisse des »Dramas des Sehens« vermisst und dabei elementare Paradigmenwechsel diagnostiziert, stellt sich am Beispiel von Bildbeschreibung die Frage, inwieweit Müllers Text bereits das Bühnenbild ersetzt und die gesprochene, in Bewegung gesetzte Sprache in Laurent Chétouanes Tanzstück # 1: Bildbeschreibung von Heiner Müller zu einem »Auge« (Theresia Birkenhauer) transformiert. Spricht der Tänzer Frank James Willens mit seinem Körper im Zustand des Tanzes den Text bzw. lässt »sich den Text sprechen«, wäre danach zu fragen, so Ulrike Hass, in welcher Weise das Publikum selbst zum (Mit-)Schreibenden wird, sich der Körper des Tänzers am Rand des (Un-) Sichtbaren verflüssigt und sich damit die Figur von ihrem Grund ablöst. Thematisiert die Arbeit Chétouanes das Verhältnis von Körper und Bild bzw. stellt dieses radikal aus, so ließe sich fragen inwieweit sich hier nicht Bezüge auf Max Imdahls Modell des »sehenden Sehens« und Mitchells Modell des »showing seeing« herstellen lassen oder Analogien zu Maurice Merleau Ponty bestehen, der dazu auffordert mit den »Augen zu denken«.2 Genia Schulz, deren Beitrag Beschreibung einer Bühne. Zu Jourdheuils/ Peyrets Inszenierung der Bildbeschreibung erstmals in deutscher Sprache erscheint, interessiert in diesem Kontext gleich mehrfach. Einerseits wird hier eine durch Michel Foucault beeinflusste Lesart deutlich, indem die beiden Regisseure »eine Landschaft unter Aufsicht« stellen und damit die Textvorlage als eine »Versuchsanordnung über Blickrichtungen und Blick2. Vgl. Max Imdahl: Giotto-Arenafresken. Ikonographie – Ikonologie – Ikonik, München 1980 und W.J.T. Mitchell: »Das Sehen zeigen: Eine Kritik der visuellen Kultur«, in: Gustav Frank (Hg.), W.J.T. Mitchell, Bildtheorie, Frankfurt a.M. 2008, S. 312-346 (313).
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steuerungen« deuten. Andererseits lenkt die Autorin das Interesse auf den für diese Zeit ästhetisch auff ällig avanciert wirkenden Bühnenraum, der sie an eine Dunkelkammer oder einen Senderaum erinnert, in dem sich die Künste und Medien wie auf einer »Schwelle« reflexiv begegnen und komplexe Wahrnehmungsmuster bzw. neue Formen der Publikumsdramaturgie begründen. Handelt es sich hier wie auch bei Laurent Chétouanes um eine Inszenierung eines »Nicht-Bildes«, die eine Visualisierung bzw. Bebilderung des Textes kategorisch ausschließt? Welche Rolle spielen hier die Oszillationen der Blicke der Akteure und des mitspielenden Publikums? Benjamin Wihstutz stellt sich in seinem Beitrag dagegen in Anlehnung an Michel Foucault die Frage, inwieweit Bühnenräume mittels der Einbildungskraft der Zuschauer zu Heterotopien transformieren können, lenkt dabei sein Interesse auf synästhetische Wahrnehmungsprozesse, auf das (imaginierte) Spiel von Anwesenheit und Abwesenheit und entwickelt daraus eine Theorie der (Ein-)Bildung von Atmosphäre, die er an Arbeiten von Janet Cardiff/Georges Bures Miller, Jürgen Gosch/Johannes Schütz und Michael Thalheimer veranschaulicht. Dabei kommt dem aktivierten Zuschauer als »zweitem metteur en scène« wieder eine auff ällige mitkompositorische (Bild-Regie)Funktion zu, die, so Wihstutz, speziell in vom Publikum entwickelten »inneren Bildern« zum Ausdruck kommt. Triff t diese Diagnose gerade auch am Beispiel von the murder of crows, der neuesten mixed media sound installation von Cardiff/Bures Miller zu, die fast ohne Bilder auskommt, jedoch beim Rezipienten eine starke audiovisuell geprägte atmosphärische Landschaft mittels innerer Bilder erzeugt, stellt sich speziell am Beispiel der Arbeiten von Jürgen Gosch und Johannes Schütz die Frage, inwieweit atmosphärische und vom Publikum phantasievoll aufgeladene Schauplätze tatsächlich intendiert werden und ob mit der »Ergänzungsenergie des Publikums« (Johannes Schütz) nicht primär eine radikale Auseinandersetzung mit den szenischen Realitäten und dem Kunstcharakter im Spielraum gemeint ist und somit die Phantasie von Gosch und Schütz radikal abgebaut wird und die inneren Bilder der Zuschauer (zunächst) programmatisch zugunsten des »sehenden Sehens« (Max Imdahl) bzw. des transparenten Entstehungsprozesses von Bildlichkeit und Räumlichkeit ausgelöscht werden.3 André Eiermann untersucht hingegen eine performative Installation 3. Die Arbeit The murder of crows, die aus 98 Lautsprechern, 20 Verstärkern, einem Trichterlautsprecher, einem Computer, einem Tisch sowie aus mehreren Stühlen besteht, wurde im Rahmen der Reihe »Musikwerke bildender Künstler« vom 14.3. bis 17.5. 2009 im zentralen Ausstellungsraum des Hamburger Bahnhofs in Berlin gezeigt.
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von Heiner Goebbels, die im Programmheft als »ein Klavierstück für fünf Klaviere ohne Pianisten, ein Theaterstück ohne Schauspieler, eine Performance ohne Performer« bezeichnet wird. In Stifters Dinge, so die zentrale These, gehe es vor allem um das Moment der Unkörperlichkeit und der Abwesenheit (der Darsteller). Damit stellt Eiermann den phänomenologisch-performativitätstheoretischen körperzentrierten Diskursen, die vor allem die »leibliche Co-Präsenz von Akteuren und Zuschauern« (Erika Fischer-Lichte) fokussieren, ein alternatives Modell gegenüber, das speziell Formen der Zeitlichkeit und Räumlichkeit beleuchtet und sich jenseits eines atmosphärischen Überschusses gegen die wiederholt formulierte »Unmittelbarkeits- und Präsenzemphase« wendet. Über seine Arbeit, die sich als eine subtile Spielkonstellation zwischen Bildender Kunst/Installation, Musik, Literatur und Theater erweist, in der die Theatermittel im brechtschen Sinne autonom auftreten und das Sehen und Hören (wie in den letzten Arbeiten Chétouanes) getrennte Wege gehen, sagt Heiner Goebbels, dass es ihm vor allem darum gehe, »Bilder zu finden, die den Blick weder verstellen noch einengen, sondern die den Blick öff nen« und er durch die Abwesenheit der Darsteller in Stifters Dinge die Möglichkeit von »Projektionen« vermeiden wolle. 4 Hans Belting, der davon ausgeht, dass das »Wie« die genuine Mitteilung, d.h. die echte Sprachform des Bildes sei, bringt einen der zentralen Diskursschauplätze dieses Kapitels (als auch aller auff ührungsanalytischer Methoden) auf den Punkt: »Im Tausch der Blicke kann man kein Betrachter sein, weil man Mitspieler ist.«5 S.T.
Literatur Belting, Hans: Bild-Anthropologie, München 2006. Belting, Hans: »Zur Ikonologie des Blicks«, in: Christoph Wulf/Jörg Zirfaß (Hg.), Ikonologie des Performativen, München 2005. Imdahl, Max: Giotto-Arenafresken. Ikonographie – Ikonologie – Ikonik, München 1980.
4. Vgl. »Der Zuschauer als Souverän. Heiner Goebbels im Gespräch mit Dorte Lena Eilers und Frank Raddatz«, in: Theater der Zeit 12 (2007), S. 8-15. 5. Vgl. Hans Belting: Bild-Anthropologie, München 2006, S. 12 und ebd.: »Zur Ikonologie des Blicks«, in: Christoph Wulf/Jörg Zirfaß (Hg.), Ikonologie des Performativen, München 2005, S. 51.
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Mitchell, W.J.T.: »Das Sehen zeigen: Eine Kritik der visuellen Kultur«, in: Gustav Frank/W.J.T. Mitchell (Hg.), Bildtheorie, Frankfurt a.M. 2008, S. 312-346. Schütz, Johannes: »Gute Bühnen sind oft leer. Siegfried Gohr im Gespräch mit Johannes Schütz«, in: Johannes Schütz (Hg.): Bühnen Stages 20002008, Nürnberg 2008, S. 6-25. Eilers, Dorte Lena/Raddatz, Frank: »Der Zuschauer als Souverän. Heiner Goebbels im Gespräch mit Dorte Lena Eilers und Frank Raddatz«, in: Theater der Zeit 12 (2007), S. 8-15.
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Zwischen Blick und Bild : Emilia Galotti gestern und heute Kati Röttger und Alexander Jackob
Einleitung Dass das Bild keine isolierte Erscheinung ist, wurde in bildwissenschaftlichen Studien schon verschiedene Male betont: W.J.T. Mitchell etwa hat immer wieder auf das dialektische Verhältnis von Bild und Text hingewiesen, Hans Belting auf die Relation von Bild, Körper und Medium, und Gottfried Boehm hat sich ausdrücklich mit dem besonderen Verhältnis von Bild und Zeit befasst. Dem Theater wurde in diesen Studien erstaunlicherweise kaum Beachtung in seiner Funktion als Bildmedium geschenkt, obwohl sich die Erscheinungsweisen von Bildern hier grundsätzlich im Verhältnis zu Raum, Zeit, Text, Körpern und anderen Medien vollziehen. Sie sind Resultate von Inszenierungen des Sehens, die die den Zuschauerblick voraussetzen und aktiv in die Prozesse der Bildwerdung im Theater einbeziehen.1 Dieser Gedanke ist nicht neu. Wir möchten ihn aber dennoch an den Anfang stellen, weil das Verhältnis von Blick und Bild im Theater in den Nachbarwissenschaften auffallend oft aus einer eher einseitigen Perspektive wahrgenommen wird. Meistens findet man einen metaphorischen Gebrauch bestimmter Theaterbegriffe zur Illustration von theoretischen Szenarien vor. In diesen Fällen steht – meistens ohne dass explizit darauf hingewiesen würde – eine historisch begrenzte Form des Theaters Modell, nämlich das Drama, das im 18. Jahrhundert seine Blütezeit erlebte. Es zieht eine Ästhetik der Illusionierung von Handlungen, Figuren und tragischem Höhepunkt nach sich, die ohne ikonische Differenzierung auszukommen 1. Siehe dazu ausführlich Kati Röttger, Alexander Jackob (Hg.): Theater und Bild. Inszenierungen des Sehens, Bielefeld 2009.
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scheint und den Zuschauer in das Totalbild, das die Bühne abgibt, hineinzieht. Ein bekanntes Beispiel hierfür ist Michael Frieds viel zitierte Studie über Painting and Beholder in the Age of Diderot (1980). Hier bedient er sich der Theatermetapher, um zwei konkurrierende Blicksituationen zwischen Bild und Betrachter zu beschreiben: Absorption und Theatralität. Während Absorption – unter direkter Bezugnahme auf das Konzept der Vierten Wand von Diderot 2 – die Selbstvergessenheit bzw. Ausblendung des Zuschauers bei der Betrachtung einer sich autonom darstellenden Szenerie im Bild bezeichnet,3 spricht Fried dann von einem theatralischen Verhältnis, wenn sich das Gemälde als zu betrachtendes vor dem Zuschauer inszeniert. Von entscheidender Bedeutung ist hier, dass er das dramatische Konzept der Wechselwirkung zwischen der Absorption der Figuren im Gemälde und der Absorption des Betrachters vor dem Gemälde mit einem positiven Werturteil belegt, während er den Blick, der die Aufmerksamkeit auf die Theatralität der Beobachtersituation lenkt, abwertet. 4 Auch Tom Mitchell bedient sich der Theatermetapher, wie zwei Zitate belegen sollen. Im ersten lässt er die Bilder noch nach den Maßgaben des Dramas auf der Weltbühne auftreten: »Bilder sind nicht bloß eine spezielle Art von Zeichen, sie sind vielmehr so etwas wie ein Schauspieler auf der Bühne der Geschichte, eine Gestalt oder ein Charakter von legendärem Status in einem historischen Zusammenhang, der den Geschichten entspricht und an ihnen beteiligt ist, die wir uns über den Gang unserer Entwicklung erzählen: eine Entwicklung von Geschöpfen, die ›nach dem Bilde‹ eines Schöpfers geschaffen sind, zu Wesen, die sich selbst und ihre Welt nach ihrem eigenen Bilde schaffen.«5 2. Denis Diderot: »Von der dramatischen Dichtkunst«, in: Gotthold Ephraim Lessing, Das Theater des Herrn Diderot. Stuttgart 1986, S. 283-404, hier S. 340: »Man denke also, sowohl während dem Schreiben als während dem Spielen an den Zuschauer ebenso wenig, als ob gar keiner da wäre. Man stelle sich an dem äußeren Rand der Bühne eine große Mauer vor, durch die das Parterre abgesondert wird. Man spiele, als ob der Vorhang nicht aufgezogen würde.« 3. Michael Fried: Absorption and Theatricality. Painting and Beholder in the Age of Diderot, New York and London, 1980, S. 5: »[…] The paintings […] treated the beholder as if he were not there.« 4. Ebd., S. 5: »In several essays on recent abstract painting and sculpture I […] argued that much seemingly difficult and advanced but actually ingratiating and mediocre work of those years sought to establish what I called a theatrical relation to the beholder, whereas the very best recent work […] were in essence anti-theatrical.« 5. W.J.T. Mitchell: Iconology, Chicago 1986, S. 19.
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Zehn Jahre später allerdings, anlässlich seiner Verkündung des pictorial turn, appelliert er an die Räumung der Bühne (der Wissenschaften), um auf diese Weise die inszenierte Begrüßung zwischen einem sehenden und einem sprechenden Subjekt, der Ikonographie (nach Panofsky) und der Ideologie (nach Althusser), als Verbrechen der Beherrschung des je Anderen aufdecken zu können: »[Das Verbrechen] wird nicht unmittelbar für uns in Szene gesetzt; die Figuren führen bloß mehr oder weniger konventionelle soziale Begrüßungen aus. Um das ›Verbrechen‹ zu sehen, müssen wir die Figuren entfernen und diese selbst untersuchen, ebenso den Raum des Sehens und des Wiedererkennens, den Grund, der den Figuren zu erscheinen erlaubt.«6
Wir möchten den letzten Gedanken aufgreifen und weiterführen, indem wir auf das Spiel mit verschiedenen Sichtweisen hinweisen, die das Theater zu inszenieren tatsächlich in der Lage ist. Davon ausgehend, dass Theatralität, auf den kleinsten Nenner gebracht, zunächst nichts anderes bezeichnet als den Zusammenhang von Strukturen, die Theater konstituieren, werden wir uns in erster Linie auf eine strukturale Verwendung des Begriffs als Denkmodell konzentrieren,7 um den Blick des Zuschauers aus seiner fi xierten Position zu lösen und in Bewegung zu versetzen: Eine Bewegung, die wir als Blickoszillationen bezeichnen, da sie sich aktiv zwischen Text und Bild, Medien und Körpern, sichtbaren Dingen und sichtbaren Bildern, Abwesenheit und Anwesenheit vollzieht. Um diesen Ansatz näher zu erläutern, beginnen wir unseren Beitrag mit einer Funktionsbestimmung der Theatralität des Sehens im späten 18. Jahrhundert, um dann eine blicktheoretische Annäherung an die Ordnungen des Sehens und der Bilder anzuschließen. Wir fragen grundsätzlich nach den Ordnungen, in denen sich Blick-Bewegung als Teil eines Spiels zwischen sichtbaren Dingen und sichtbaren Bildern ereignen. Damit kommen neben Fragen der Aisthesis (Wahrnehmungsprozesse) und der Semiosis (Zeichenprozesse) auch die kinetischen Prozesse zur Sprache, die für das Sehen in Bildern für uns hier von Interesse sind.8 Im zweiten Schritt werden wir zeigen, wie diese Bewegung auch in einem Dramentext aus dem 18. Jahrhundert angelegt sein kann. Denn Gotthold Ephraim Lessing, so unsere These, appelliert im Anschluss an 6. W.J.T. Mitchell: »Pictorial Turn«, in ders., Bildtheorie, Frankfurt a.M. 2008 [orig.1994], S. 101-136, hier S. 131. 7. Helmar Schramm: Karneval des Denkens. Theatralität im Spiegel philosophischer Texte des 16. und 17. Jahrhunderts, Berlin 1996. 8. Vgl. dazu abermals Schramm 1996.
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die Grundlegung seiner ästhetischen Theorie über die Differenz zwischen Poesie und Malerei in Laokoon (1766)9 mit seinem bürgerlichen Trauerspiel Emilia Galotti (1768-1772) durchaus an den Betrachter, eine bild- und medienreflexive Haltung einzunehmen. Damit möchten wir gleichzeitig eine Erweiterung des Theatralitätsbegriffs von Michael Fried vornehmen. Im dritten und letzten Schritt werden wir drei aktuelle Inszenierungsbeispiele des bürgerlichen Trauerspiels Emilia Galotti vorstellen, um zu dokumentieren, dass der Text verschiedene Ebenen des Umgangs mit dem Bild im Theater ermöglicht. Damit werden wir gleichzeitig erläutern, wie diese verschiedenen Ebenen des Umgangs mit dem Bild auf der gegenwärtigen Bühne ausgelegt werden.
Zur Theatralität des Sehens im späten 18. Jahrhunder t Helmar Schramm hat als Mitbegründer der Theatralitätsforschung mit seinem 1996 vorgelegten Buch Karneval des Denkens. Theatralität im Spiegel philosophischer Texte des 16. und 17. Jahrhunderts einen der exponiertesten Beiträge zur Definition und wissenschaftstheoretischen Funktionalisierung des Theatralitätsbegriffs geliefert. Schramm beschreibt Theatralität als ein historisch veränderliches Gefüge, das aus drei Faktoren besteht: Aisthesis (Wahrnehmung), Kinesis (Bewegung) und Semiosis (Sprache). Diese bilden ein ›architektonisches Dreieck‹ als dynamisches Bezugsfeld, das sich wie eine erkenntnistheoretische Kartographie jeweils auf historisch bedingte Repräsentationsweisen projizieren lässt. Damit bezeichnet Theatralität nicht nur einen Wahrnehmungsmodus, sondern wird gleichzeitig zu einer zentralen Figur von Repräsentationen und ein Beschreibungsmodell für Repräsentationskrisen, die auf Veränderungen von materiellen Grundlagen von Sprachverhalten, Wahrnehmungskulturen und Denkweisen zurückgehen. Was Schramm in erster Linie dazu veranlasst, Theatralität als interdisziplinäres Diskurselement zu etablieren, ist ein philosophisches Interesse daran, die heuristischen Energien des Theatermodells in ein historisch nachweisbares ›Schauspiel des Denkens‹ 10 zu überführen. Das Theater der Aufklärung erhält nun innerhalb des von Schramm entwickelten Modells eine Schlüsselfunktion, denn es war besessen von der Su9. Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie, Stuttgart 1964. Emilia Galotti entstand in den Jahren 1768-1772, also sehr bald nach der Publikation des Laokoon im Jahr 1766. 10. Schramm: Karneval des Denkens, S. 36.
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che nach der wahrhaftigen Repräsentation von Wirklichkeit. Dass diese Suche letztlich auf die Übereinstimmung mit einem fiktiven Modell von Wirklichkeit abzielte, hat Diderot in aller Deutlichkeit formuliert: »Was also ist das Wahre auf der Bühne? Es ist die Übereinstimmung der Handlungen, der Reden, der Gestalt, der Stimme, der Bewegung, der Gebärde [der vom Schauspieler dargestellte Figur] mit einem vom Dichter erdachten ideellen Modell […].«11
Diese Übereinstimmung mit einem fiktiven Modell von Wirklichkeit blendet Theatralität tatsächlich nur vermeintlich aus. Denn jeder Hinweis darauf, dass hier Theater gespielt wird, sollte vermieden werden. Dennoch möchten wir behaupten, dass dieser Repräsentationsmodus auf verdeckte Weise gänzlich von Theatralität durchzogen ist. Um dies deutlich zu machen, möchten wir Diderots Definition der Vierten Wand erneut betrachten. Diderot scheint die Vierte Wand als Garant für eine möglichst naturnahe und wahrhaftige Illusionierungstechnik auf der Bühne einzuführen, die nur dann ideal zu nennen ist, wenn sie gänzlich auf den Zuschauer verzichtet, eine Auffassung, von der auch Michael Fried ausgeht. Dem widerspricht Johannes Friedrich Lehmann in seiner Untersuchung über Der Blick durch die Wand. Zur Geschichte des Theaterzuschauers und des Visuellen bei Diderot und Lessing12 aufs Entschiedenste. Johannes Friedrich Lehmann macht auf erhellende und plausible Weise deutlich, dass es Diderot nicht in erster Linie um die Naturwahrheit des Schauspielers und des Gebärdenausdrucks geht, wie in der theaterhistorischen Forschung oft angenommen wird,13 sondern um dessen Beobachtung und darüber hinaus: um die Beobachtung des Beobachters 14:
11. Denis Diderot: »Das Paradox über den Schauspieler« [1770-1773], in ders., Ästhetische Schriften Bd. 2, hg. von Friedrich Bassenge, Frankfurt a.M. 1968, S. 492. 12. Johannes Friedrich Lehmann in seiner Untersuchung über Der Blick durch die Wand. Zur Geschichte des Theaterzuschauers und des Visuellen bei Diderot und Lessing, Freiburg i.Br., 2000. 13. Herbert Dieckmann: Studien zur europäischen Aufklärung, München 1974, S. 284. 14. Diese These belegt er an unterschiedlichen doppelten Beobachtungssituation, die Diderot sowohl theoretisch als dramatisch immer wieder herstellt. Vgl. dazu den »Brief über die Blinden« [frz. »Lettre sur les aveugles«] und den »Brief über die Taubstummen« [frz. »Lettre sur les sourds et les muets]. Ersterer
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»[Die] Vierte Wand [ist] nicht als Mittel zur Illusionierung und aufklärerischen Propagierung des vrai de nature zu verstehen, sondern als Mittel, Beobachtungsverhältnisse […] herzustellen und ihre Effekte zugleich als hergestellte zu reflektieren.«15
Am eindrücklichsten belegt Lehmann diese These am Beispiel von Diderots Bijoux indiscrets.16 Er beschreibt Diderots Experimente mit dem vermeintlich unschuldigen Auge des (unwissenden) Fremden folgendermaßen: »Die Idee, das Theater mit einem unbeobachteten Beobachter zu konfrontieren, begegnet einem zuerst – in der Form einer Vierten Wand – in den Bijoux Indiscrets. Hier soll ein Fremder Zuschauer sein und, versteckt in einer besonderen Loge, die Bühne beobachten, glaubend, er sei heimlicher Zeuge von Vorgängen im Palast des Sultans. […] Der Zuschauer soll Fiktion für Wirklichkeit halten, woran wiederum die Perfektion der Fiktion gemessen wird. […] An diesem Bewusstsein, Zuschauer zu sein, hat jede ästhetische Illusion ihre Grenze. Und die Vierte Wand ist kein Versuch, diese Grenze aufzuheben, sondern ein Mittel zur Herstellung eines Beobachtungsverhältnisses, das gerade eingedenk dieser Grenze eine spezifische ästhetische Erfahrung ermöglicht.«17
Diese spezifische ästhetische Erfahrung führt nicht nur zur Frage des ›Wie‹ der Darstellung 18 und ihrer spezifischen Mittel, sondern auch zur Frage nach der Differenz der Sinne, mit denen wir wahrnehmen, wie Diderot dies in seinen Briefen über den Taubstummen und über den Blinden darlegt. Johannes Friedrich Lehmann folgert daraus: Diderot setzt die Wahrnehmungsweisen der einzelnen Sinne zueinander in Beziehung, indem er die Sinnesorgane (Auge und Ohr) zwar isoliert, aber gegenseitig unter Beobachtung stellt. Für die Wahrnehmungssituation im Theater bedeutet dies: Die Relation von Zuschauerblick und Schauspielerkörper, von Beobachtung und Darstellung, die durch die Vierte Wand erzeugt wird, wird Diderot zufolge auf der Bühne des Illusionstheaters zugleich ausgestellt und reflektiert.19 Insofern ist diese Bühne unseres Erachtens nach in in: Diderot 1968 (Bd. 1), S. 27-69; weiter in: Diderot, Philosophische Schriften. 2 Bde. Hg. von Theodor Lücke, Frankfurt a.M. 1967, Bd. 1, S. 50-110. 15. J.F. Lehmann: Blick durch die Wand, S. 86. 16. Frz. 1748. Vgl. die deutsche Übersetzung: Denis Diderot: »Aus den ›Geschwätzigen Kleinodien«, in Diderot, Ästhetische Schriften Bd. I, S. 6-16. 17. J.F. Lehmann: Blick durch die Wand, S. 89. 18. J.F. Lehmann: Blick durch die Wand, S. 102. 19. Wie diese Relation in Diderots Theaterstücken reflektiert wird, siehe bei J.F. Lehmann, Blick durch die Wand, S. 88-110.
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höchstem Maße theatralisch zu nennen und nicht allein absorbierend. Um diese These zu erläutern, ist es notwendig, den zugrunde gelegten Theatralitätsbegriff näher zu erläutern. Theatralität appelliert an das Subjekt, eine ›andere‹ Perspektive zur Welt, zu den Dingen einzunehmen.20 So gesehen fungiert der Begriff auch als diskursives Element, denn er steht nicht nur für Verstellung oder Täuschung, sondern verhandelt auch das Verhältnis zwischen Wahrheit und Täuschung, zwischen Realität und Fiktion von Realität. Als operationales Element steht Theatralität somit für die Regulierung und Deregulierung von Wahrnehmungsverhältnissen, indem sie einen Spalt zwischen Beobachter und Beobachtetem treibt und das Verhältnis mit Fremdheit durchzieht: entweder in Bezug auf den Status des Beobachters selbst – in der Eröff nung einer anderen, einer Außenseiterperspektive, oder aber in Bezug auf den Status des Beobachteten, das dann ›aus dem Rahmen fällt‹, wenn es theatralisch genannt wird. Der Dreh- und Angelpunkt ist dabei das Verhältnis von Wahrheit und Täuschung in der Ökonomie der Glaubensgegenstände, denn Theatralität setzt die Grundkonstituenten des Wahrnehmungsglaubens, die »Tiefenschicht stummer Meinungen, die unserem Leben inhärent sind«,21 aufs Spiel. Diese Konstituenten sind untrennbar mit dem verbunden, was wir glauben zu sehen, wenn wir die Welt sehen, wie wir die Welt sehen und in welchen Medien wir die Welt sehen. Das Diskurselement Theatralität operiert somit auf epistemologischer, phänomenaler und medialer Ebene, also auf der Schneide dieses Glaubens, indem es die Frage aufwirft, »was dieses Wir, dieses Sehen, das Ding oder die Welt sei«22 und wie sie sich vermitteln. Theatralität, so lässt sich schlussfolgern, stellt somit einen Grenzwert (im Spiel) von Erkenntnis und Anschauung im Kantschen Sinne dar, denn Theatralität verwaltet den Zweifel der Sinnen-Täuschung: entweder um ihn auszuräumen oder um ihn zu bestätigen, je in Abhängigkeit von den diskursiven (und ideologischen) Formationen, innerhalb derer der Strukturbegriff zum Tragen kommt. Theatralität ist somit im Herzen der Differenz wirksam, als Trieb20. Elizabeth Burns: Theatricality. A Study of Convention in the Theatre and in Social Life, London 1972, S. 11 und S. 13: »The theatrical quality of life taken for granted by nearly everyone, seems to be experienced most concretely by those who feel themselves on the margin of events […] Theatricality is not therefore a mode of behaviour or expression., but attaches to any kind of behaviour perceived and interpreted by others and described (mentally or explicitly) in theatrical terms.« 21. Maurice Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare. Gefolgt von Arbeitsnotizen. Hg. von Claude Lefort, München 1986, S. 17. 22. M. Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 17.
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feder der Theorie der Repräsentation. Das Theater erhält als Leitmedium des Sehens im späten 18. Jahrhundert – ein paradigmatischer Status, den auch Michael Fried ihm einräumt – deshalb eine so bedeutende Tragkraft, weil es die diesem Denken implantierte Doppelbödigkeit der Welt architektonisch abbildet und zudem ästhetisch diskursiviert. Es tritt als Vermittler auf, als Medium zwischen der Vorstellung im Geist und der Vorstellung im Raum. Es institutionalisiert den Wahrnehmungsbetrug als notwendige Täuschung, um den Wahrnehmungsglauben einzuüben und zu festigen. Es bildet den prekären Ort der Aufklärung, indem es Augenzeugen aufruft, um die ›Natur‹ (des Menschen) in Übereinstimmung von Vorstellung und Darstellung mittels der ›Nachahmung‹ eines idealen Modells, das in der Vorstellung existiert, als ›Wahrheit der Natur‹ mittels Naturalisierungsverfahren zur Erscheinung zu bringen. In Weiterführung von Johannes Friedrich Lehmann könnte man daher behaupten, dass die Vierte Wand das abbildet, was sich als Kernproblem der ›Theatralität der Aufklärung‹ erweist: ein mimetisches Paradox 23, das den Chiasmus zwischen Wahrnehmungsglauben und Wahrnehmungszweifel, zwischen Fiktion und Wahrheit, Wirklichkeit und Täuschung beschreibt.
Der Zuschauer als Gelenkstelle zw ischen Ordnungen des Sehens und der Bilder Welche Rolle spielt nun der Blick der Zuschauer im Ereignis des theatralischen Sehens, das Sehen in Bildern mit einschließt? Welches sind die Bedingungen, unter denen wir eine bestimmte Schwelle im Sehen überschreiten und etwas als Bild wahrnehmen, bzw. anerkennen? Als eine erste mögliche Bedingung kann das Phänomen der Rahmung des Blicks in einem bestimmten Medium genannt werden, in dem sich ein ausgegrenztes Geschehen von einer unspezifischen und im Hintergrund mitarbeitenden Umgebung absetzt. In diesem zeitweiligen Ereignis des Sehens, das man auch als Seh-Akt bezeichnen kann, entsteht jener wesentliche Kontrast oder Unterschied zur Um-Welt, in der sich ein Bild zeigt. Wir haben
23. Wir beziehen uns mit diesem Begriff auf Wesley Trimpi: Muses of One
Mind, Princeton, New Jersey, 1983, S. 97f. Trimpi führt aus, dass dieses Paradox einem Dilemma zwischen Wissen und Repräsentation geschuldet ist, das die Ästhetikdebatte seit Platon durchzieht. Es stellt sich im Wortlaut folgendermaßen dar: »It is helpful to formulate the dilemma as a distinction between the excellence of the object to be represented and the accuracy with which the mind may know the object.«
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es mit einer ikonischen Differenz24 zu tun, die auf theatralische Vorgänge und Seh-Akte im Theater ausgedehnt werden kann. Bereits hier lässt sich von der Inszenierung des Blicks als Blickgeschehen in einem bestimmten als auch durch ein bestimmtes Medium sprechen. Was sich dabei im Vollzug des theatralischen Geschehens als Rahmen erweist, das lässt sich dann als eine spezifische Ausgrenzung von Raum und Zeit und einer (sich daraus ergebenden) Inszenierung des Blicks bezeichnen. Dieses Blickgeschehen und Blickereignis erweist sich als eine Blicklenkung, in der ein Blick auf das Bild in einen inszenierten Blick des Bildes umschlagen kann und – gleichsam umgekehrt – schließlich auch wieder aus dem Rahmen des Bildes zurücktreten und in andere Bildwelten wechseln kann. Diese oszillierende Bewegung des Blicks und dessen Inszenierung durch das Bild lässt sich, in Bezug auf die Frage nach dem Verhältnis von sichtbaren Bildern und sichtbaren Dingen, letztlich nicht von der Präsenz eines wahrnehmenden Körpers trennen.25 Wenn sein Blick inszeniert wird, lässt sich von Bildern sprechen, die intersubjektiv wahrnehmbar (im Hinblick auf ihrer Wahrnehmungsbedingungen) sind. Das gilt auch für Bilder, die wir am Körper anderer sehen oder am eigenen Körper ausführen. In dieser Verschränkung von Blick und Ding-Welt und der inszenierten Spannung zwischen Blick und Bildwelt, ereignet sich so schließlich das, was man mit Maurice Merleau-Ponty das Rätsel des Sichtbaren nennen könnte.26 Mit Merleau-Ponty und dessen Konzentration auf die körperliche Wahrnehmung zeigt sich, dass das Verhältnis zwischen sichtbaren Dingen und sichtbaren Bildern zugleich und unauflösbar mit dem Unsichtbaren, dem Unbestimmten und dem Abwesenden in unserem Blick verbunden ist. Allein gehört hier das Unsichtbare nicht mehr in den Erkenntnisbereich eines geistigen Auges oder in einen reinen Ideenhimmel. Stattdessen begegnet sich bei Merleau-Ponty (mit einem unübersehbaren Blick auf Husserl) dieses Unsichtbare und Unbestimmte in der sichtbaren Welt selbst. Denn zur Eigenart des Sichtbaren gehört es, »mit einem im strikten Sinne Unsichtbaren unterfüttert zu sein, das es als bestimmte Form der Abwe-
24. Vgl. hierzu den von Gottfried Boehm geprägten Begriff der »ikonischen Differenz«. Gottfried Boehm: »Die Wiederkehr der Bilder«, in ders., Was ist ein Bild?, München 1994, S. 29. 25. Es gilt anzumerken, dass der Körperbegriff hier vornehmlich nicht den biologischen Körper meint, sondern sich auch auf die kulturellen und durch die Kultur bestimmten Einstellungen zum Körper und zu körperlicher Präsenz bezieht. 26. Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966, S. 82.
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senheit anwesend sein lässt.«27 Und: »Das Unsichtbare ist also keine Unsichtbarkeit jenseits der Welt, sondern das Unsichtbare dieser Welt.«28 Von entscheidender Bedeutung erweist sich hier, dass Merleau-Ponty die Spannung zwischen dem Sichtbaren und dem Verborgenen nicht einseitig zugunsten eines abstrahierenden Wissens, einer reinen Logik, oder einer Ideenlehre auflöst. Vielmehr bleibt das körperliche Sein und die jeweils gegebene Einstellung zur Welt das eigentliche Gravitationszentrum, in dem sich die Existenz der Bilder erst vollzieht. So gesehen zeigen sich Bilder als die elementaren Berührungspunkte zwischen der physischen Gegenstandsart der sichtbaren Dinge (in ihrem »für-sich«) und der Gegebenheitsweise, die sich dem jeweiligen Betrachter im körperlichen Vollzug der Wahrnehmung zeigt (in einem »für-mich«). Die Rolle des Körpers im Ereignis der körperlichen Wahrnehmung wird so zu einer Gelenkstelle zwischen den Bildern und den unterschiedlichen Medien, in denen sie sich zeigen und inszeniert werden.
Lessings Emilia Galotti zw ischen Bild und Bühne Mit seinem bürgerlichen Trauerspiel Emilia Galotti hat Lessing eine ästhetische Programmatik für das Theater seiner Zeit vorgelegt, welche die im Laokoon geleistete Differenzierung zwischen Poesie und Malerei (Wort und Bild) exemplarisch für die Bühne im Zusammenspiel erprobt. Deshalb soll im Folgenden gezeigt werden, in welcher Weise Lessing im Anschluss an Laokoon die Frage nach der Differenz von Bild, Wort und Körper als Medien verhandelt, in denen Emilia zur Erscheinung gebracht wird. Die hier entfaltete Frage nach der Angemessenheit der Medien in Bezug auf die wahre Repräsentation der Figur schließt, so die These, eine Ökonomie des Sehens ein, die an ein theatralisches Sehen appelliert. Zentraler Ausgangspunkt für die Erläuterung dieser These wird die bekannte kunsttheoretische Auseinandersetzung sein, die sich zwischen dem aristokratischen Verführer der Bürgerstochter, Prinz Gonzaga, und seinem Maler Conti am Bild der Emilia entzündet.
27. M. Merleau-Ponty: Das Auge und der Geist. Philosophische Essays, Hamburg 1964, S. 64. Vgl. hierzu auch die Darstellung von Bernhard Waldenfels zu Merleau-Ponty und zum beunruhigten Blick: Bernhard Waldenfels: Sinnesschwellen. Studien zur Phänomenologie der Fremden, Frankfurt a.M. 1999, S. 124-147. 28. M. Merleau-Ponty: Das Auge und der Geist, S. 198.
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Emilia zw ischen Tausch und Täuschung »Wenn sie’s nicht wert wäre, was ich für sie tun will?«29 lautet die Inschrift unter einem Porträt des Schauspielers Friedrich Ludwig Schröder in der Rolle des Odoardo, Vater von Emilia. (Abb. 1) Sie drückt nicht nur einen moralischen Zweifel am Motiv für die mörderische Tat aus, die der Vater am Ende des Stückes an der Tochter ausführen wird. Sie verweist gleichzeitig auf den ästhetischen Zweifel, von dem das prekäre Verhältnis zwischen verbaler und visueller Repräsentation durchzogen ist. Es wird in Emilia Galotti im Kreuzpunkt des Porträts auf der Bühne des Theaters verhandelt. Abbildung 1: Portät von Friedrich Ludwig Schröder in der Rolle des Odorado aus Emilia Galotti, Theatermuseum Schloss Wahn, Köln
Denn nicht nur das Problem der Anwesenheit oder Abwesenheit von Körpern (bzw. Personen) in verschiedenen Medien der Darstellung wird hier thematisiert. Auch die Frage nach dem Wert des jeweiligen Gegenstandes (bzw. Person) im medialen Vergleich von Bild, Körper und Wort und der durch sie hervorgerufenen Arten von Repräsentationen wird gestellt. Dabei 29. Gotthold Ephraim Lessing: »Emilia Galotti«, in: Dramen, Frankfurt a.M., 1984, S. 511-592, V, 6., S. 587.
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geht es nicht nur um Echtheit und Wahrhaftigkeit, Original und Kopie, sondern auch um das Besitzrecht. Emilia bildet hier das unsichtbare Zentrum, über das diese Fragen verhandelt werden. Das Verfahren, das Lessing dazu anwendet, besteht darin, die Medien des Sichtbaren und des Sagbaren, in denen der Gegenstand der Darstellung (Emilia) erscheint, in ein permanentes Konkurrenzverhältnis (Kollision) zu versetzen. Mittels dieses Konkurrenzverhältnisses bemisst sich der (Tausch)Wert des ›Gegenstandes‹ im Wechsel zwischen den Medien, in denen er erscheint, am Maßstab der (gelungenen) Täuschung bzw. Ähnlichkeit. Schon der Name des ›Gegenstandes‹ führt auf diese Spur. Emilia leitet sich von aemulatio ab, ein Begriff, den Michel Foucault in Die Ordnung der Dinge als eine der vier Kategorien des Denken in Ähnlichkeiten definiert. Dieses Motiv wird direkt in der Exposition des Stücks im Ersten Aufzug eingeführt. Emilia tritt nicht ›leibhaftig‹ auf, sondern als arbiträres Zeichen: »Emilia? – Eine Emilia?« fragt der Prinz, der einen Stapel Bittschriften durcharbeitet. Im selben Moment erweist sich dieses erste verbale Indiz für die Figur als Irrtum. Es handelt sich zwar um den ›richtigen‹ Namen, aber die ›falsche‹ Person: »Aber eine Emilia Bruneschi – nicht Galotti. Nicht Emilia Galotti!« Die somit erwiesene Willkürlichkeit des Zeichens erweist sich um so mehr durch die darauffolgende Willkürlichkeit der Handlung: »Was will sie, diese Emilia Bruneschi? (Er liest) Viel gefordert; sehr viel. – Doch sie heißt Emilia. Gewährt!«30 Auch wenn es sich um die ›falsche‹ Emilia handelt, so ist durch das arbiträre Zeichen doch die Imagination der ›richtigen‹ Emilia aufgerufen – und damit das Begehren des Prinzen sie zu sehen. In Konkurrenz zum inneren Bild der Vorstellung von Emilia, die der Name beim Prinzen ausgelöst hat, folgt nun in der anschließenden Szene die piktorale Repräsentation der Figur. Der Maler Conti bietet dem Prinzen ein Porträt von Emilia an. Dass die Bilder zum Verwechseln ähnlich sind, zeigt die erste Reaktion des Prinzen: »Was seh‹ ich? Ihr Werk, Conti? Oder das Werk meiner Phantasie? – Emilia Galotti!« Und wenig später: »Bei Gott! Wie aus dem Spiegel gestohlen!«31 Allmählich kristallisiert sich heraus, worin das Objekt des Tausches eigentlich besteht: Es ist das zu Beginn noch unbestimmte innere oder geistige Bild von Emilia, das im Verlauf des Stücks verschiedene Stufen der Materialisierung (Naturalisierung) in den konkurrierenden Medien des Zu-Sehen-Gebens (Malerei und Theater; Porträt und Schauspielerkörper) durchläuft, um am Ende, den Vorgaben des Laokoon zufolge, in Ablösung der Imagination von der sichtbaren Oberfläche
30. G.E. Lessing: Emilia Galotti, S. 513. 31. G.E. Lessing: Emilia Galotti, S. 517.
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in eine erneute »Geistigkeit des Bildes«32 transformiert zu werden. Die Ununterscheidbarkeit zwischen Bild und körperlicher Realität der Figur soll auf dem Schauplatz des Theaters im ›Wettkampf‹ um das bessere Gelingen der Täuschung zwischen den Künsten problematisiert und schließlich zu in einem prägnanten Augenblick gesteigert werden. Damit triff t Lessing gleichzeitig eine Aussage, die insbesondere zu Diderots Schriften eine klare Stellung bezieht. Wie ist das zu verstehen?
Lessings Antwor t auf Diderot Lessing kannte Diderots Texte sehr genau, 1760 hatte er Das Theater des Herrn Diderot herausgegeben. In Laokoon rezipiert er kritisch die semiotischen Fragen, die Diderot im Brief über die Taubstummen und in seiner Studie zum Paradox über den Schauspieler aufgeworfen hatte. Er kannte also Diderots Auseinandersetzung mit der Frage nach dem ›Wie‹ der Darstellung und ihren spezifischen Mitteln, und Diderots Auseinandersetzung mit der Relation von Zuschauerblick und Schauspielerkörper, von Beobachtung und Darstellung. Was Lessing in Kenntnis dieser Schriften und der darin aufgeworfenen Probleme in Emilia Galotti weiterverfolgt, ist die Frage nach der Ökonomie der angemessenen Zeichen, die er im Hinblick auf Tausch und Täuschung durch die Vorführung des Medienwechsels zwischen Körper, Bild und Wort überprüft. Wie bereits festgestellt ist der (fiktive und der performative) Körper der Emilia in wechselnde Trägermedien (Schrift, Schauspielerin, Porträt, Leinwand, Bühne) eingelassen. Über den damit ausgelösten Medienwechsel – also den Austausch des Gegenstandes Emilia zwischen den verschiedenen Medien – werden die Medien selbst in Konkurrenz (›Kollision‹) versetzt und verhandelt. Das heißt: Lessing eröff net den Blick auf die Medien der Darstellung, um das Paradox der Sichtbarkeit des Schauspielerkörpers im Verhältnis zur täuschenden Nachahmung von Natur im Schau-Raum Theater unter Beobachtung zu stellen und in Antwort auf Diderot – einer Lösung zuzuführen.
Die Bühne des Por träts Dies tut Lessing, indem er die Figur Emilia als Schauplatz einer ästhetischen Debatte auf der Bühne des Porträts einführt. Gleich in der ersten Porträtszene nämlich eröff net Lessing ein Diderotsches Beobachtungsverhältnis auf den Körper der Frau mit dem Mittel des ›kunstrichterlichen‹ 32. G.E. Lessing: Laokoon, S. 54.
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Vergleichs von dessen Darstellung. Interessanterweise wird zu diesem Vergleich ein zweites Porträt herangezogen, das der Gräfin Orsina. Sie ist die ehemalige Geliebte des Prinzen, im Gegensatz zur Bürgertochter Emilia eine Aristokratin und – Intrigantin. Während der Prinz am Porträt der Gräfin Orsina nur Blendwerk statt Ähnlichkeit feststellt (»ihr Bild, ist sie doch nicht selber«33), findet er im Porträt der Emilia das »Meisterstück der Natur«, das dem kunsttheoretischen Ideal seiner Zeit entspricht, d.h. eine bis zur Verwechslung gehende Ähnlichkeit oder Täuschung. Dieses Ideal aber erschließt sich nur dem »zergliedernden Blick«, der »dem Verfahren [geschuldet ist], die schönsten Teile verschiedener Modelle zu einem ganz neuen idealen Ganzen zusammenzusetzen.«34 Die ästhetischen Implikationen der kunsttheoretischen Debatte, die damit von Lessing aufgerollt wird, sollen an dieser Stelle nicht diskutiert werden.35 Von Interesse ist im gegeben Zusammenhang vielmehr der theatralische Blick, den Lessing auf die Medien selbst richtet, die (die Körper der Figuren) zu sehen geben: das Medium des Porträts und das Medium der Bühne. Um diesen Zusammenhang deutlicher zu machen, möchten wir auf Hans Beltings Untersuchung über die historische Konstitution des Körperbegriffs in der Bildkultur zwischen Neuzeit und Auf klärung hinweisen.36 Ausgehend von der Ähnlichkeitsproblematik zeigt Belting den Unterschied zwischen der höfischen Repräsentation eines standesgemäßen Körperzeichens und der bürgerlichen Repräsentation eins Körperbilds auf. Während das Zeichen in heraldischer Abstraktion auf dem Wappenschild abgebildet wurde, erschien das Bild im Porträt. Dabei kommt er zu einer im gegebenen Zusammenhang besonders aufschlussreichen Feststellung über die mediengeschichtliche 33. G.E. Lessino: Emilia Galotti, S. 515. 34. Sigrid Schade, Silke Wenk: »Inszenierungen des Sehens. Kunst, Geschichte und Geschlechterdifferenz«, in: Hadumod Bussmann, Renate Hof (Hg): Genus. Zur Geschlechterdifferenz in den Kulturwissenschaften, Stuttgart 1995, S. 340-407, hier S. 374. 35. Ich verweise auf die ausführlichen Diskussionen in u.a. Neil Flax: »From Portrait to Tableau Vivant: The Pictures of Emilia Galotti«, in Eighteenth Century Studies 19, 1985, S. 39-55. In diesem Zusammenhang wäre es lohnend, der in dieser Szene möglicherweise implizierten Kritik Lessings an Winckelmann (vgl. dazu auch seine Ausführungen in Laokoon) und an Lavater als Winckelmann-Schüler nachzugehen. Vgl. zum Verhältnis Winckelmann und Lavater: Ingrid Goritschnig: »Faszination von Porträts«, in: Das Kunstkabinett des Johann Caspar Lavater, hg. von Gerda Mraz und Uwe Schögl. Wien 1999, S. 138-151, hier S. 142. 36. Hans Belting: »Wappen und Porträt. Zwei Medien des Körpers«, in: Hans Belting Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001, S. 115-142.
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Interrelation zwischen beiden Repräsentationsweisen. Konstitutiv sowohl für das Wappen als auch für das Porträt sei das Medium eines selbständigen Trägers gewesen, also das Wappenschild einerseits und die Porträttafel andererseits. Dabei bildete der Bild– bzw. Wappenträger nicht nur einen Körper ab, sondern besitzt als Objekt selbst einen physischen Körper: einen Funktionsträger für das Ritual der Repräsentation.37 Seinen Sinn, eine Person zu repräsentieren, erfüllte es allerdings erst in der autonomen Bildtafel. »Dabei löste die Ähnlichkeit mit der dargestellten Peron, im Falle des Bürgers, das Emblem des Standes und des Herrschaftsgebietes ab, das einem Angehörigen des Adels unterstand.«38 Gleichzeitig bleibt aber die Holztafel oder das Holzbrett als materielles Medium der Darstellung an das Besitzrecht des Fürsten gebunden, denn »das Bildnis empfing seinen Rechtscharakter aus der Funktion der Bildnistafel als Geschenk– und Tauschobjekt der Fürsten oder als Glied in einer genealogischen Reihe.«39 Der damit verbundene Begriff der ›Repräsentation‹ »bezeichnete somit mehr das Darstellungsrecht als die Darstellungsleistung, die wir im modernen Blick als ›Ähnlichkeit‹ isolieren.« 40 Genau diese Ambivalenz zwischen Darstellungsrecht als Besitzrecht und Darstellungsleistung kommt im Stück zu tragen, und zwar im doppelbödig gemeinten Recht auf den Besitz der Emilia. Lessings Kritik am doppelten Besitzanspruch des Prinzen muss hier als eine vehemente Stellungnahme zur Funktion des Theaters seiner Zeit verstanden werden: nämlich für die Programmatik des bürgerlichen Nationaltheaters und gegen die höfischen Theaterkonventionen. Das wird zudem deutlich, wenn man sich Folgendes vor Augen führt: »Die Bildtafel, sobald sie die Profilansicht einer heraldisch starren Figur aufgab, führte die Fenstermetapher ein, um die Fläche des Mediums zu überwinden und unseren Blick durch den Raum zu schicken. Die Wendung in die Frontalität führte das Porträt gerade vom Wappen weg, da es einen echten Körperbegriff ausbilden musste, der auch den Bildbegriff konsequent veränderte […]«41
Um den hier suggerierten Zusammenhang zwischen Porträttafel und Bühne nachvollziehbar zu machen, möchten wir noch einmal auf die erste Porträtszene zurückkommen. Besonders auffallend ist hier die unterschiedliche Behandlung der zwei Porträttafeln durch den Prinzen. Wäh37. H. Belting: Wappen und Porträt, S. 120f. 38. Hans Belting, Christiane Kruse: Die Erfindung des Gemäldes: das erste Jahrhundert der niederländischen Malerei, München 1994, S. 40. 39. H. Belting: Wappen und Porträt, S. 122. 40. H. Belting: Wappen und Porträt, ebd. 41. H. Belting: Wappen und Portrait, S. 126.
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rend er dazu auffordert, für das geschmähte, täuschende Bild der Orsina »einen Rahmen darum zu bestellen«, damit es »in der Galerie aufgestellet werde« 42 – die opake, sichtbare Bildfläche also im Rahmen der fürstlichen Intrigenkultur, von der Orsina im Stück einen entscheidenden Teil ausmacht, den Blicken preisgegeben wird – erblickt der Zuschauer von der Tafel, auf der Emilia abgebildet ist, zunächst nur die Rückseite, als leere Fläche. Erst wenn Conti dem Prinzen das Porträt vorführt, wird es umgedreht. Dies wiederholt sich nach dem Gespräch mit Conti. Bevor dessen Berater Marinelli hereinkommt, dreht der Prinz das Bild zur Wand. 43 Die sichtbare Bildfläche wird nur preisgegeben, um anhand der Debatte über den Grad von Täuschung und Ähnlichkeit in der Nachahmung eine theoretische Perspektive auf das Bild zu eröffnen. Was bezweckt Lessing, indem er dem Zuschauer die Rückseite, also die leere Seite der Bildtafel vor Augen führt? Mit der Fokussierung des Zuschauerblicks auf das Medium der leeren Fläche bricht Lessing unseres Erachtens mit der Illusionierungstechnik der Malerei und des Theaters, indem er den Blick auf deren Medialität eröffnet. Denn er gibt die mediale Bedingung der Illusionierung sichtbarer Phänomene in der Malerei und im Theater zu erkennen. Das ist nun die Voraussetzung, um die Gefahr der Ununterscheidbarkeit, die Verwechselbarkeit, die bereits in Emilias Namen liegt, in Differenz aufzulösen: Bild und Körper werden sich trennen. Die Inszenierung des Blicks auf die leere Fläche der (Porträt-Tafel) könnte eindeutiger nicht realisiert sein. Sie lenkt die Aufmerksamkeit auf das Medium des Bildes in seiner Gegenständlichkeit und Materialität. Gleichzeitig aber verweist sie auch auf den leeren Bühnenraum des Theaters. Denn sie schickt den Blick nicht nur durch das Fenster der Vierten Wand, sondern verweist auch auf den leeren Raum als deren Bedingung. Die damit verbundene Frontalität (des Zuschauerblicks) ruft eine Analogie zur Idee vom leeren Raum der Vorstellung im Geiste auf. Die Sichtbarkeit des Bildes wird also in die Einbildungskraft des Zuschauers verwiesen. Damit wird zwar die Forderung nach der Geistigkeit des Bildes, die Lessing im Laokoon formulierte, eingelöst. Voraussetzung aber ist nicht die Absorption des Blicks in das Bild, sondern ein theatralisches Verhältnis des Blicks zum Bild, bzw. zur Bühne. Das betrifft nicht nur die Erkenntnis des Zuschauers über den eigenen Beobachterstatus, sondern vor allem die Erkenntnis über die Angemessenheit der Medien, in denen das Bild erscheint.
42. G.E. Lessing: Emilia Galotti, S. 519. 43. G.E. Lessing: Emilia Galotti, S. 520.
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Drei Inszenierungsbeispiele Aus dieser bereits im Dramentext angelegten Blickdramaturgie leiten sich die folgenden Fragen zur Inszenierung des Sehens im Theater ab: In welcher Weise vermag das Theater den Zuschauerblick konkret anzusprechen? Und weiter: In welchen Sehordnungen erweist sich der Körperbegriff als Schnittstelle oder Schwelle zwischen verschiedenen Bild-Räumen und Bewegungs-Räumen, in denen sich das Spiel mit den Bildern im Theater ereignet? Hinweise zur Beantwortung dieser Fragen suchen wir im Folgenden zunächst bei drei neueren Inszenierungen der Emilia Galotti von Gotthold Ephraim Lessing. Grundsätzlich ist dabei noch einmal daran zu erinnern, dass es sich hier um Bearbeitungen eines geschichtlichen und theoretischen Textes handelt, dessen Bedeutung unter anderem darin liegt, dass er – im Kontext von Lessings Gesamtwerk – einen gezielten und zugleich weit über die Grenzen des Theaters hinausgehenden Umgang mit dem Bild dokumentiert. In welcher Weise verfährt nun das Theater jeweils mit ein und der selben Szenenfolge des dramatischen Texts von Lessing? Wir konzentrieren uns im Folgenden erneut auf die bereits erwähnte Porträt-Szene. Interessant ist nun, in welcher Form drei verschiedenen Inszenierungen die Begegnung des Prinzen mit dem Bild zeigen. Es handelt sich um Emilia Galotti in der Inszenierung von Andrea Breth (2002, Burgtheater Wien), in der Inszenierung von Thomas Langhoff (1984, Münchner Kammerspiele) und in der Inszenierung von Michael Thalheimer (2001, Deutsches Theater). Das erste Inszenierungsbeispiel von Andrea Breth verweigert dem Zuschauer den Blick auf das Bild der Emilia. Ihr Bild bleibt unsichtbar und verborgen. Was die Zuschauer stattdessen zu sehen bekommen, das ist lediglich die Rückseite des Portraits, die Leinwand als Bildträger. Insofern ist das Bild von Emilia auf zwei Ebenen ›anwesend‹. Erstens erscheint sie im (inszenierten) Blick des Prinzen und des Malers Conti, wobei der Zuschauer letztlich nicht weiß, was die beiden tatsächlich sehen. Zweitens fordert Breth in der Lessingschen Tradition die Phantasie und vor allem die Einbildungskraft des Zuschauers heraus, ein Aspekt, der nicht weit vom Textgeschehen oder auch von der Leseerfahrung entfernt ist, wie sie zu Lessings Zeiten üblich war. Sofern man hier auf der einen Seite von einem Spiel mit der Einbildungskraft des Zuschauers sprechen kann, wird auf der anderen Seite deutlich, dass diese Herausforderung des freien Imaginationsvermögens ganz unmittelbar mit dem Hinweis auf die vermittelnde und mit-inszenierende Ebene verschiedener Medien verbunden ist, in die schließlich auch der physische Leib der Emilia, bzw. ihrer Darstellerin auf fatale Weise eingeschlossen wird. Dass hier auch für den Zuschauer kaum noch zu entscheiden ist, wo der Körper der Emilia auf hört und wo dessen Bilder anfangen, erweist sich schließlich auch als ein Grundproblem, 292
Zwischen Blick und Bild: Emilia Galotti gestern und heute
welches über die ästhetische Erfahrung des Theatererlebnisses hinaus schließlich auch ein moralisches Urteil provoziert (Abb. 2, 3, 4). Abbildung 2-4: Emilia Galotti in der Inszenierung von Andrea Breth, Burgtheater Wien 2002
Was sich bei Breth zunächst im Bereich des Imaginären andeutet, wird bei Thomas Langhoff zum Thema der Szene selbst. Den Blicken des Prinzen und der Zuschauer wird ein Porträt der Emilia präsentiert, das, wie sich später zeigen wird, unübersehbar die Züge ihrer Darstellerin trägt. Hier schlägt die Frage nach der ›echten‹ Emilia bis auf die letzte Instanz ihrer Verkörperung durch die Schauspielerin Sunnyi Melles durch. Je weniger hier zu entscheiden ist, was ›echtes‹ Bild, ›wirkliche‹ Person (Maske) oder ein identischer, nur sich selbst zugeeigneter Körper ist, desto eindeutiger wird dem Zuschauer vor Augen geführt, dass das Spiel zwischen den Bildern und seinen Medien hier einem eindeutigen Zweck dient: mehr als einer Figur, einer Person oder einem Bild der Emilia begegnet der Zu293
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schauer eben jenem Objekt von Tausch und Täuschung, dessen Bestimmung schließlich darin besteht, der Figur (auf der fi ktionalen Ebene wie auf der Ebene der (Re-)Präsentation) ihre physische Eigenleiblichkeit und Bewegungsfähigkeit zu entziehen. Sofern sie dann nur noch in wenigen distinkten Medien existieren kann, kommt hier insbesondere die Frage zum Tragen, wer über diese Medien als Medien der Reproduktion verfügt, also: wer ›sie‹ besitzt und als Klischee fi xiert (Abb. 5, 6, 7). Abbildung 5-7: Emilia Galotti in der Inszenierung von Thomas Langhoff, Münchner Kammerspiele 1984
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Bei Michael Thalheimer schließlich scheint das Spiel mit den Grenzen und Schwellen zwischen den Medien und den Verkörperungen in Bildern aufgehoben zu sein. Indem er Regine Zimmermann als Emilia über einen stilisierten Laufsteg gleich zu Beginn direkt vor das Publikum treten lässt, um sie anschließend den Blicken des Prinzen (Sven Lehmann) auszusetzen, problematisiert er das Bild- und Medienthema ganz im Hinblick auf einen Moment, der als ein genuiner Aspekt des Theaters gilt: die reale, körperliche Anwesenheit von Darstellern auf einer Bühne und die notwendige Co-Präsenz von Zuschauern. Dies wird umso deutlicher, als Thalheimer nicht nur die ersten vier Szenen des Stücks, also den raumzeitlichen Verlauf, sondern auch die erste Begegnung des Prinzen vor dem Beginn des Trauerspiels in einem Augenblick einfriert und so aus der Bewegung reißt. In diesem An-Blick, den Zuschauer und Darsteller gemeinsam teilen, geht das theatralische Sehen »als ob« zeitweilig in ein unmittelbares »Sehen als« (z.B. den Köper als Bild) über (Abb. 8). Abbildung 8: Emilia Galotti in der Inszenierung von Michael Thalheimer, Deutsches Theater Berlin 2001
Dabei stellt sich die Frage, ob es außerhalb des Theaters nicht auch umgekehrt sein könnte: Aus dem »Sehen als« ist in der heutigen Medienpräsenz längst ein »Sehen als ob« eingewoben, das sich durch den Rückzug in einen fortwährenden Monolog der Bilder der Reflexion zu entziehen wünscht. So stirbt denn auch Emilia am Ende von Thalheimers Inszenierung nicht den üblichen Theatertod. Statt einen Körper zu Boden gehen zu lassen, entzieht ihn der Regisseur den Blicken der Zuschauer. Begleitet von den sich im Hintergrund scheinbar unendlich wiederholenden Walzerklängen aus Wong Kar Wai’s Film In the mood for love umtanzen anonyme Paare Emilia auf der Bühne so lange, bis das Licht ganz heruntergefahren ist. In diesem kurzen Augenblick schweigen die Bilder auf der Szene.
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Literatur Belting, Hans/Kruse, Christiane: Die Erfindung des Gemäldes: Das erste Jahrhundert der niederländischen Malerei, München 1994. Belting, Hans: »Wappen und Porträt. Zwei Medien des Körpers«, in: ders., Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001, S. 115-142. Boehm, Gottfried: Was ist ein Bild?, München 1994. Burns, Elisabeth: Theatricality. A Study of Convention in the Theatre and in Social Life, London 1972. Diekmann, Herbert: Studien zur europäischen Auf klärung, München 1974. Diderot, Denis: »Aus den geschwätzigen Kleinodien«, in: ders., Ästhetische Schriften Band 1, o.J., S. 6-16. Diderot, Denis: »Brief über die Blinden«, in ders., Band 1, hg. von Theodor Lücke, Frankfurt a.M. 1968, S. 27-69. Diderot, Denis: »Brief über die Taubstummen«, in: ders., Band 2, hg. von Theodor Lücke, Frankfurt a.M. 1967, S. 50-110. Diderot, Denis: »Das Paradox über den Schauspieler (1770-1773), in: ders., Ästhetische Schriften Band 2, hg. Von Friedrich Bassenge, Frankfurt a.M. 1968. Diderot, Denis: »Von der dramatischen Dichtkunst«, in: Gotthold Ephraim Lessing (Hg.), Das Theater des Herrn Diderot, Stuttgart 1986, S. 283404. Flax, Neil: »From Portrait to Tableau Vivant: The Pictures of Emilia Galotti, in: Eighteen Century Studies 19 (1985), S. 39-55. Fried, Michael: Absorption and Theatricality. Painting and Beholder in the Age of Diderot, New York/London 1980. Goritschnig, Ingrid: »Faszination von Porträts«, in: Gerda Mraz/Uwe Schlögl (Hg.), Das Kunstkabinett des Johann Lavater, Wien 1999, S. 138-151. Lehmann, Johannes Friedrich: Der Blick durch die Wand. Zur Geschichte des Theaterzuschauers und des Visuellen bei Diderot und Lessing, Freiburg i.Br. 2000. Lessing, Gotthold Ephraim: Emilia Galotti, in: ders., Dramen, Frankfurt a.M. 1984, S. 511-592. Lessing, Gotthold Ephraim: Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie, Stuttgart 1964. Merleau-Ponty, Maurice: Das Auge und der Geist. Philosophische Essays, Hamburg 1964. Merleau-Ponty, Maurice: Das Sichtbare und das Unsichtbare. Gefolgt von Arbeitsnotizen, hg. von Claude Lefort, München 1986. 296
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Das Gesehene und das Gelesene : Die unendliche Kreuzung. Laurent Chétouane inszenier t Heiner Müllers Bildbeschreibung mit dem Tänzer Frank James Willens Ulrike Hass
Die Apriori unserer modernen Wahrnehmungsstrukturen sind auf das Engste mit denen der modernen Bühne verknüpft. Diese Aussage ist heute schon fast ein Gemeinplatz. Dennoch hat sie nichts von ihrer Aktualität, Dringlichkeit und Komplexität im Hinblick auf mögliche Lösungen verloren. In ihrer speziellen Problematik geht sie auf jenen neuzeitlichen Umbruch in der Ordnung der Dinge zurück, demzufolge das Sehen und die Sichtbarkeit ausschließlich dem Bild zugeordnet wurden, während Sprache und Schrift ausschließlich dazu da sein sollten, zu sagen und zu bezeichnen. In seinem Portrait dieses Umbruchs hält Foucault fest: »Die tiefe Zusammengehörigkeit der Sprache und der Welt wird dadurch aufgelöst. Der Primat der Schrift wird aufgehoben, und damit verschwindet jene uniforme Schicht, in der sich unendlich das Gesehene und das Gelesene, das Sichtbare und das Aussagbare kreuzten. Die Sachen und die Wörter werden sich trennen. Das Auge wird zum Sehen und nur zum Sehen bestimmt sein; das Ohr lediglich zum Hören. Der Diskurs wird zwar zur Aufgabe haben zu sagen, was ist, aber er wird nichts anderes mehr sein, als was er sagt.«1
1. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a.M. 1974, S. 75f.
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Das gewaltsame Auseinanderreißen von Sichtbarem und Sagbarem zieht eine ganze Phalanx von weiteren Vereinseitigungen und Binarismen nach sich – vor allem solche, die das Verhältnis des Körpers zu seiner Umgebung neu ordnen: Die Umgebung wird mit einer vermeintlich objektiv vorliegenden, äußeren Wirklichkeit identifiziert. Im Umkehrschluss dazu wird der menschliche Körper als physische Entität aufgefasst und einer Darstellung durch die Programmatik der abbildenden Ähnlichkeit zugeführt. Die Entfaltung des gesamten Unterfangens, die Welt im Bild und als Bild zu behaupten, wird von den problematischen Re-Lektüren der Antike begleitet, mit denen sich die Renaissance als Erfinderin einer neuen, prosaischen Welt strahlend ins Werk setzte. Ich möchte diesen Umbruch, an dem das westeuropäische Theater nicht nur Anteil hatte, sondern der sich zutiefst im Theater kristallisierte und sich in seinen dramatischen Formen fortentwickelte, hier zunächst in zweierlei Hinsicht etwas genauer konturieren. Zum einen möchte ich betonen, nicht inwiefern – dafür ist hier nicht der Raum – sondern dass das System der Zentralperspektive an einer völlig neuartigen Bestimmung des Horizonts arbeitete. Zum zweiten möchte ich darauf hinweisen, mit welchen Konsequenzen für den Begriff und die Bestimmungen der Figur dies geschah, wie also die Bestimmung des Horizonts auf das BestimmtWerden der Figur umschlug. Zum dritten möchte ich im Anschluss daran eine Frage aufnehmen, die Maurice Merleau-Ponty in seinen letzten Arbeiten mit denkbarer Klarheit folgendermaßen formuliert hat: »Ich behaupte, die Perspektive der Renaissance ist ein kulturelles Faktum, die Wahrnehmung selbst ist polymorph« […] Von daher die Frage: wie kann man von dieser kulturell überformten Wahrnehmung zur ›rohen‹ oder ›wilden‹ Wahrnehmung zurückgelangen? Worin besteht die Überformung (information)? Von welcher Art ist der Akt, mit der man sie entformt?«2
Dieser Frage möchte ich anhand der inzwischen viel beachteten Produktion Tanzstück #1: Bildbeschreibung von Heiner Müller nachgehen, die von Laurent Chétouane als Regisseur und dem Tänzer Frank James Willens als Beschreibenden am 7. Februar 2007 in Essen (PACT Zollverein) uraufgeführt wurde.
2. Maurice Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare/gefolgt von Arbeitsnotizen. Aus dem Französischen von Regula Giuliani und Bernhard Waldenfels. München 1994, S. 270f.
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1. Hor izonte In Bezug auf den Stellenwert und den Status der Zentralperspektive wäre viel gewonnen, würde sie nicht länger unter dem Kürzel transportiert, sie sei ein Instrument oder Mittel, um dreidimensionale Körper auf einer zweidimensionalen Fläche abbilden zu können. Anstelle dieser teleologischen Grundannahme, welche die vorgebliche ›Dreidimensionalität‹ von Körpern oder Räumen als vermeintlich objektive Gegebenheit annimmt und es unterlässt, sie als artifizielle Konstruktion der Neuzeit ohne Entsprechung in der Realität zu kennzeichnen, führt es hingegen weiter, die Zentralperspektive als ein Dispositiv oder Denken zu charakterisieren, das auf eine völlig neue Konzeption des Horizonts hinausläuft. Während in der Antike der Horizont als Umgebung gedacht wurde, die den menschlichen Körper multivektoriell umgibt und sich feinstofflich mit ihm austauscht, wurde im langen christlich geprägten Mittelalter der Horizont in der Höhe angenommen, im Blau des Himmels (Georges Bataille) über unseren Köpfen, das in der menschlichen Welt als die sichtbare »Grenze des Unbegrenzten«3 galt. Der Horizont als dasjenige, was sich in der Vertikale, ›über uns‹, unzugänglich und uneinholbar entzieht, wird im Verlauf der Renaissance zunehmend der Erschließung des Sichtbaren im Bild überantwortet; es wird der Abbildung zugeführt. In Folge der Zentralperspektive geht es fürderhin um einen Horizont, der als Linie auf einer Bildfläche in Augenhöhe dem Betrachter gegenüber behauptet wird. Die von den Apriori der Bildwerdung abhängige und in ihnen geschulte moderne Wahrnehmung überträgt ihre Strukturen auf die vermeintlich natürliche Umgebung: Mit den Augen das Weite suchend, wird der Horizont auch heute noch mit dem ausgestreckten Zeigefinger in der Horizontale, dem Betrachter gegenüber liegend, bedeutet. Die jeweilige Bestimmung des Horizonts hat Konsequenzen für den Begriff der Figur. Nicht in Analogie zum Horizont, sondern als der ihm eingelagerte, inhärente Gegenpol ist die Figur vom Horizont abhängig. Figur und Horizont bilden eine Struktur.
2. Konsequenzen für den Begr if f der Figur Die Konsequenzen, die der horizontal, in Augenhöhe gegenüber verortete Horizont für die Figur bedeutet, werden in den entwickelten bürgerlichen Bühnen des 18. Jahrhunderts ausbuchstabiert und, wenn man so 3. Michel Foucault: »Vorrede zur Überschreitung«, in ders., Von der Subversion des Wissens, Frankfurt a.M. 1996, S. 30.
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will, zur Reife gebracht. Diese Bühnen galten weniger der nachahmenden Spiegelung von menschlichem Leben und Empfinden, als dass sie Produktionsstätten darstellten. Sie waren Orte einer autonomen Erfindung differenzierter mitmenschlicher Affekt- oder Gefühlswelten. Voraussetzung für die Möglichkeit der personalen Darstellung waren Schauspieler, deren vermeintlich von innen nach außen projizierter Ausdruck ein äußerlich geschlossenes Körperbild voraussetzte. Nur ein Körper, der abgeschlossen ist, kann zum Gegenstand einer bildhaften Darstellung oder Vorstellung werden. Ein Körper, der mit lesbaren Haltungen und Gesten von seinen Gefühlen handeln soll, muss, um zum Objekt des Blicks avancieren zu können, einen Rand, eine Kontur haben. Wie hinter Mauern herrscht im Innern dieses umrandeten Volumens das Phantasma einer unsichtbaren ›Natur‹, die unbestimmt bleibt, aber dennoch (oder gerade deswegen) unentwegt zum körperbildlichen Ausdruck gezwungen werden soll. Die Figur der personalen Darstellung ist völlig davon abhängig, von außen definiert und bestimmt zu werden. Mit anderen Worten: Zur Darstellung auf diesen Bühnen kann nur das gelangen, was »sich eines gegebenen kreatürlichen Körpers bemächtigt und dessen krude Materialität mit seinem Geist durchdringt, gestaltet und mit Bedeutung auflädt« 4 . Der Schauspieler wird körperbildlich isoliert, inventarisiert und sistiert. In einer zur Sichtbarkeit entschlossenen Welt bildet seine äußere Kontur eine jähe Unterbrechung in der Umgebung. Ihr Rand ist Abgrund, extremer Verschluss gegen ihre Umgebung – nur dadurch wird der sichtbare Umriss zur Gestalt. Diese äußere Umschließung nährt indessen die wahnhafte Idee einer inneren Geschlossenheit und narrativen Kontinuität der Figur in Form ihrer Biographie. Sie erzwingt den inneren Ausdruck. Mit der Verschlossenheit gegen ihre Umgebung geht einher, dass sich der Ort dieser Figur durch die unterschiedlichsten Umgebungen bezeichnen lässt. Im bürgerlichen Theater stellt der bildhafte Hintergrund den Ort dar, an dem sich die Figur befindet. Dabei kann die Dekoration von Szene zu Szene wechseln, von Innenräumen zu Außenräumen, vom Wald zum Rand eines Kornfeldes, von einer städtischen Szenerie zu einem Kabuff/ Innen. Immer bezeichnet sie lediglich akzidentiell und additiv den Ort, den die Figur, äußerlich abgeschlossen und gleichsam unversehrt durchläuft, bis auf jene Zeichen der Verwüstung, die gemäß der Rolle aus ihrem Innern über sie hereinbrechen sollen. Diese Figur ist von ihrem Grund abgelöst worden – mit der schwer wiegenden Folge, dass sie gezwungen ist, ihren Grund, ihren szenischen An4. Günther Heeg: »Szenen«, in: Heinrich Bosse/Ursula Renner (Hg.), Literaturwissenschaft. Einführung in ein Sprachspiel, Freiburg 1999, S. 251-269, hier S. 255.
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lass aus sich selbst heraus zu finden, ihn in sich selbst zu suchen und zu offenbaren. Der bildhafte Hintergrund ist kein bloß dekoratives Beiwerk, vielmehr korrespondiert der Hintergrund mit dem Grund einer Figur im Sinne ihrer szenischen Bestimmung. Eine Figur, die ebenso gut hier oder da sein könnte, muss selbst erklären, warum sie sich ›jetzt, hier‹ befindet. Da sie in keinem Zusammenhang mit ihrer Umgebung steht, muss sie diese Erklärung aus ihrer inneren Verfasstheit, dem Innern ihrer seelischen Eingeweide schöpfen. Sie wird gezwungen sich zu entblößen. Einar Schleef schreibt: »Die 4. Wand, die das sich entwickelnde bürgerliche Theater für den Zuschauer wegnimmt, um in die ›Rattenlöcher‹ z.B. der Ratten Hauptmanns zu sehen, verwenden noch heute Tierfilmer, die sich für die Tiere unsichtbar eingraben, hinter Glasplatten mit Kameras lauern, um so das Balz- und Brutpflegeverhalten seltener Nagetiere zu erforschen. Die so ausspionierten Tiere kommen zu oft an die Glaswand, zeigen sich an deren Glätte unbeholfen ungeschützt, geben dem Zuschauer ihren Unterleib frei, den er bei diesen Tieren nie zu Gesicht kriegen würde. Ähnlich verhalten sich die Figuren des bürgerlichen Theaters, die nicht nur ihre körperlichen oder seelischen Eingeweide raushängen lassen, sondern in der Geschlechtsteil-Entblößung mehr über sich zu erfahren meinen. Je mehr man in das bürgerliche Theater eindringt, um so mehr erkennt man diese Entblößung als seine Bedingung.«5
Diese Entblößung als seine Bedingung, in welche die äußerliche Verschlossenheit der Figur gegen ihre Umgebung, gegen ihren Grund als unabdingbare Voraussetzung eingeht. Diese Ablösbarkeit der Figur von ihrem Grund ist das relativ späte Produkt einer Entwicklung der Bildwerdung des Grundes, die vordringlich im 16. Jahrhundert ausgearbeitet und etabliert wird. In den langen Epochen zuvor, die den Horizont in der Vertikalen verorteten oder als selbst körperliche Umgebung der Körper annahmen, war es nicht möglich, eine Figur aus ihrer Umgebung zu lösen. Stets musste man sich an den Ort begeben, an dem die Figur vorhanden war, wenn man ihrer gewahr werden wollte. Sie war mit ihrer Umgebung, mit ihrem Grund verwoben. Der neuzeitliche Umbruch ersetzt den Horizont in der Vertikalen durch die optische Vertikale im Darstellungsraum, die uns mittels einer waagerechten Linie auf einer Leinwand über den Horizont informiert. Es handelt sich daher für das Theater (und vielleicht für alle darstellende Kunst) um ein doppeltes System, um eine zweifache Aufgabe: Zum einen um den optisch erschlossenen Darstellungsraum, von dem man nicht auf hört zu 5. Einar Schleef: Droge Faust Parsifal, Frankfurt a.M. 1996, S. 74f.
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behaupten, dass er dreidimensional sei. Und zum anderen um die Figur/ den Darsteller, der in diesem Raum stets in Gefahr ist, auf seine Sichtbarkeit reduziert zu werden und in der Zweidimensionalität des Bildes, seiner bildhaften Kontur, zu erstarren. Von daher noch einmal die Frage MerleauPontys: Von welcher Art ist der Akt, mit dem man diese Überformungen »entformt (und zum Phänomenalen, zur ›vertikalen‹ Welt, zum Erlebten zurückgelangt)?«6 Es ist die entscheidende Frage, denke ich, vor der wir heute im und mit dem Theater stehen.
3. Bildbeschreibung von Laurent Chétouane und Frank James Willens Ich will versuchen, diese Arbeit in einigen ihrer Aspekte zu beschreiben. Der Tänzer Frank James Willens befindet sich in dem dekorationslosen Raum einer alten Industrieanlage, in dem es außer ihm noch einen gewöhnlichen, billigen und abgenutzten weißen Plastikstuhl gibt sowie eine achtlos irgendwo liegende Tafel, groß und unhandlich wie ein Türblatt. Scheinwerfer sind installiert, der Raum weist bis zu halber Höhe die alten weißen Kacheln eines Arbeitsraumes auf, dessen Fenster auf den Hof gehen. Von der hinteren Grenze des Raumes in einer weiten Ellipse eher nach vorn kommend, beginnt er den Text zu sprechen. Er spricht diesen Text von Heiner Müller innerhalb von etwa 100 Minuten in fl ießendem Gleichmaß. Manchmal entsteht in diesem Gleichmaß ein Schweigen, das eine Pause im Sprechen bildet, kein bedeutungsheischendes Schweigen, sondern eines, das dem Körper eine gewisse Zeit lässt, die er benötigt. Er spricht mit einer wohlklingenden, den Wohlklang jedoch nicht suchenden Stimme, mit der nicht ausgebildeten Stimme eines Tänzers und einem leichten amerikanischen Akzent, der den deutschen Worten eine kleine Fremdheit zufügt: BIELD, so als würde das Wort mit ›ie‹ geschrieben und BESCHREIBUNK, so als würde dieses Wort mit ›k‹ enden. Er skandiert den Text entlang der Kommata, die ihn spicken, ohne die Stimme jedoch am Ende der kurzen Phrasen zu senken. Der dieserart gesprochene Text fließt und gleichzeitig ›steht‹ er in seiner Hermetik neben einem Körper in Bewegung, der liegt, sitzt und sich beugt, der stürzt, fällt und torkelt, zuckt, sich dehnt, sich dreht und verdreht. Niemals artistisch, niemals das harte Training verratend oder ausstellend, sondern beiläufig, alltäglich, nahezu unlesbar. Dieser Körper ist in der gesamten Inszenierung immer auf dem Weg einer unvollendeten Inkarnation. Der Körper dieses Tänzers ist nicht der sichtbare Körper, er verweigert in jedem Moment seine Abge6. Maurice Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 271.
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schlossenheit in einer sichtbaren Kontur. Er ist ein Körper im Zustand des Tanzes, der sich aus seiner äußeren Kontur entfernt, ein flüssiger Körper. Der Tänzer spricht nicht den Text. Er lässt sich den Text sprechen. Fast schon ist in diesem Satz das »sich« zu viel, so wenig hat seine Darstellung mit »sich« und »selbst« zu tun. Gesucht wird ein ursprungsloses Sprechen. Er, der Tänzer Frank James Willens, lässt den Text sprechen. Es ist ein Wunder, wie gut man diesen Text Müllers in dieser Auff ührung hören kann. Er ist nicht kryptisch, sondern alltäglich wie die Geschichten zwischen Mann und Frau, die sich in einer Umgebung, gegenseitig in einem Geschlechtsakt oder einem Mord (»oder beides in einem«) austauschen, wobei mehrere Vögel eine Rolle spielen – diese gejagten, verzehrten oder selbst jagenden und angreifenden Himmelsboten. Gleichzeitig geraten die Bilder, die der Text eines nach dem anderen hervorzieht, übereinander legt oder übermalt, fortschreitend außer Kontrolle. Zwischen dem Körper in Bewegung und den Setzungen des Textes gibt es keinen Übergang. Der Text von Heiner Müller ist so gebaut, dass er die Sichtbarkeit der Bühne (anhand der Bühnenbildskizze einer Bühnenbildstudentin) vollständig in und mit seiner Sprache abbildet. Müllers Text ersetzt das Bühnenbild und setzt sich an dessen Stelle. Von daher schließt sich eine Bebilderung oder Visualisierung dieses Textes kategorisch aus. Die Inszenierung Chétouanes fügt ihm daher nichts hinzu, sondern aktualisiert ihn denkend in und mit dem Körper eines Tänzers, Frank James Willens, der diesen Text mit seinem Körper im Zustand des Tanzes spricht. Theresia Birkenhauer hat ihre Auseinandersetzung mit diesem Text von Heiner Müller »Das Auge der Sprache«7 betitelt. Und wirklich ist im Theater dieses Textes der Text die einzige Stelle, an der sich das Sichtbare einstellt. In der Inszenierung Chétouanes wird die gesprochene Sprache des Textes daher konsequenterweise zum Auge, das den Körper des sprechenden Tänzers Willens punktuell ins Licht der Wahrnehmung der Zuschauer holt. Einige Beispiele: Der Text setzt ein mit der Beschreibung einer Landschaft, des Himmels und zweier Wolken, die darin schwimmen, die »linke größere könnte ein Gummitier« sein, heißt es. Bei dieser Textstelle löst sich die linke Schulter des Tänzers und wächst einen Moment über ihre Kontur hinaus. Das »Haus im Vordergrund, wahrscheinlich Beton«, heißt es im Text: Der Tänzer legt sein halbes Gesicht auf den Boden des Raumes, in dem wir 7. Theresia Birkenhauer: »Bild – Beschreibung. Das Auge der Sprache«, in: Ulrike Hass (Hg.): Heiner Müller Bildbeschreibung. Ende der Vorstellung. Berlin 2005, S. 93-111.
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sind. Müllers Text hat recht gesehen: Das ist Beton. Das »Haus im Vordergrund« erhält durch diese momenthaft hergestellte Tautologie eine merkwürdige Bedeutung: Es ist das Haus, in dem wir/das Publikum gerade sind – im Vordergrund, d.h. nicht im Hintergrund, den das Theater, wo es nur kann, abschließt, ausschließt, verhängt oder den Zutritt verbietet. Das Textfragment »die Sonne im Zenit« wird auf dem Rücken liegend gesprochen, das Gesicht zur Decke. Das im Text in Versalien geschriebene Wort »HIMMEL« wird mit Kleinbuchstaben flächendeckend auf die Tafel geschrieben. Diese Tafel wird vom Tänzer an einen anderen Ort der Bühne getragen und senkrecht hingestellt. Das Wort »himmel« ist jetzt in der Vertikalen der Darstellung, auf der Tafel ausgestellt, während die Tafel augenblicklich zum Türblatt wird, wenn nämlich der Text fortfährt und (übergangslos) den Mann beschreibt, der aus dem Haus tritt. Willens spricht diesen Text, vor dem Türblatt stehend, während er – diese Tafel/ dieses Türblatt kann im Raum der Darstellung, wie wir wissen, alles sein – zuvor, ruhig hinter der Tafel stehend, wie ein Lehrer mit dem Text Müllers die Frau beschrieben hat, von der, wie es im Text heißt, »die linke Bildhälfte beherrscht wird«. Die genannten Beispiele sind Miniaturen einer demonstrativen Haltung. Sie wechseln mit solchen, in denen sich der Körper des Tänzers selbst mit dem Zitat verwebt und sich als anschaubarer Körper durchstreicht. Bei den Worten »das Gesicht der Frau« fährt sich die rechte Hand des Tänzers durch das eigene Gesicht, verknautscht es, durchpflügt und verzerrt es. Dieses Gesicht ist nicht zum Anschauen da, es ist ein Körperteil. Ruhig vorne stehend folgt die weitere Beschreibung der Frau. Der Tänzer steht nicht unbedingt gerade, aber auch nicht schlaff. Der eine Arm hängt länger herab als der andere, seine Hand: geöff net. Blut staut sich während der langen Beschreibung der Frau in dieser Hand, färbt sie etwas dunkler. Wenn der Text den Arm dieser Frau beschreibt, hebt Willens diese Hand und schaut sie an wie ein Fremder. Der Arm dieser Frau, heißt es im Text, »ist vom Bildrand abgeschnitten«. Der Tänzer weißt seine Hand, in der sich zuvor das Blut gestaut hatte, mit Kreide. Es entsteht eine Selbständigkeit dieser Hand – sie »kann eine Klaue sein, ein Stumpf oder ein Haken« heißt es im Text – eine Autonomie dieser Hand. Ihr beiläufiges Theater der Veränderung und Maskierung durch die Kreide lässt die Ungewissheit dieser Reihung im Text in vollem Umfang zu. Unmöglich zu sagen, was diese Hand ist oder darstellt. An dieser Stelle lässt sich der Übergang in die Unsichtbarkeit des Bildes als ein Prinzip dieser Inszenierung erkennen: Der Text Heiner Müllers thematisiert sich hier als Beschreibung eines Bildes, dessen Rand die dargestellten Figuren abschneidet – im Unterschied zu einem gerahmten Bild, das den Anblick der Figuren einfasst. Die Ungewissheit über das Aus305
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sehen der abgeschnittenen Gliedmaßen, Gebirgszüge etc. beruht auf der selbstbewussten Begrenztheit des Tableau, auf dem diese zur Erscheinung kommen. Die bildhafte Darstellung kann immer nur Ausschnitt sein und was in diesen nicht eingeht oder nicht aufgenommen wird, bleibt unsichtbar, weil es nicht gemalt, gezeichnet usw. worden ist. Entlang des Materialträgers trennt die bildliche Darstellung das Gemalte und das Nicht-Gemalte in zwei Welten, die nichts voneinander wissen. Heiner Müllers Bildbeschreibung ist jedoch ein Text anstelle eines Bildes, das gesehen worden ist, unsichtbar für uns, in einem anderen Raum und zu einer anderen Zeit. Sehen wir durch die Beschreibung ein Bild? Zweifellose nicht. Aber einzelne Worte, Phrasen oder Zeilen rufen Vorstellungen hervor, die permanent, sprunghaft, plötzlich und übergangslos unterbrochen werden. So dass die Vorstellung sich verdunkelt, verlischt, an anderer Stelle neu auf blitzt usw. Es ist mehrfach bemerkt worden, dass diese sprunghafte Bewegung der Sprache diejenige der Blicke nachbildet (oder ist?), die zwischen dem Betrachter und einem Bild hin- und hergehen und die ihn dann vergessen lassen, dass er vor einem Bild steht und mit seinen Blicken in ihm herumwandert, in ihm ist. Zweifellos sieht der Text diesen Betrachter, und gleichzeitig bildet der Text die einzige Stelle, durch die dieser etwas sieht. Das Mittel oder Medium, durch das dieses Paradoxon möglich wird, ist die Bewegung der Sprache. In diesem Theater bildet sie die einzige Stelle, die etwas sieht. In der Inszenierung Laurent Chétouanes ist die Sprache des Textes zweierlei: Zum einen wirkt sie wie ein Lichtkegel, wie ein Auge, das aufnimmt. Momenthaft beleuchtet sie einen Betrachter, der zugleich der Schreibende ist (wie Heiner Müller). Der Tänzer Frank James Willens nimmt diese Wahrnehmungsbewegung des Schreibenden auf, übersetzt sie in die unsichtbaren Graphien, die seine Bewegungen in diesem Raum schreiben. Oder macht sie punktuell sichtbar, wenn er mit einem Stück Kreide in der Hand, die Wände entlang torkelt, gleitet und die Spur seiner körperlichen Bewegung Kreidespuren auf Fensterglas, Heizungsrohren, dem Putz hinterlässt. Dieser ganze Raum ist »Bildbeschreibung«. Die Sprache des Textes beleuchtet den Betrachter, macht ihn zum Wahrnehmenden, den Tänzer Willens und uns, das Publikum. Zum anderen und von der Hermetik der Sprache dieses Textblocks zu unterscheiden, ist die Bewegung dieser Sprache, von der es heißt, dass sie diejenige von Blicken nachahmt. Gemäß dieser Bewegungsform arbeitet ihr Licht momentan, punktuell und sprunghaft, wie ein eigenwilliges Spotlicht. Was in sein Licht gerät, kann nicht stehen, kann nicht stillgestellt werden, widersetzt sich jeder bildhaften Kontur. Es rückt vor-zurück, gleitet in jede Richtung, so wie die Blicke eines Lesenden, der im Bild ist. 306
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Momenthaft beleuchte sie einen Lesenden, der zugleich der Beschreibende ist (wie den Tänzer Frank James Willens und uns, das Publikum, das zu lesen versucht). Lesen-Schreiben in einer Bewegung. Der Körper des Tänzers/Performers Frank James Willens »ist in einer unauf hörlichen Bewegung, die den Rahmen sprengt«, hier in diesem Zusammenhang, auch den Rahmen des Bildes. Er überformt und unterläuft den belichteten Moment sofort im nächsten. Die durchsichtige Fläche der optischen Vertikale stellt sich nicht ein. Es gibt keinen durchsichtigen Rahmen, durch den ich diesen Körper innerlich fi xieren könnte. Dieser Körper ist der fluktuierende Umriss eines Körpers, den man nicht sieht. Auf diese Weise gleitet er 100 Minuten lang vor unseren Augen auf dem Rand von Sichtbarem und Unsichtbarem. Es gibt zwei Stellen in der Inszenierung, in der sie ihre Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Körper und Bild selbst thematisiert und ausstellt. Zum einen in der einzigen Pose, die der Performer für einen längeren Moment einnimmt – im PACT Zollverein Essen zudem vor den glatten, weißen, quadratischen Kacheln dieses Raumes, deren Fugen ein dunkles Karogitter bilden wie bei Rechenpapier: »das Stahlnetz die Laune eines nachlässigen Malstifts« fragt der Text. Der Tänzer zieht die Hose zu seinen Fesseln herunter, sie fesselt damit seine Beine. Er beugt sich vor, zieht den Pulli über den Kopf, so dass damit auch Kopf und Arme gefangen sind. Er verharrt einen Moment lang unbeweglich: »eine Versuchsanordnung«, sagt der Text: »die Rohheit des Entwurfs ein Ausdruck für die Versuchstiere Mann, Vogel, Frau«. Diese Stelle wird hörbar als Kritik an der optischen Einrichtung der Neuzeit, welche die Körper zur Sistierung in ihrer Kontur zwingt. Der Vorgang ›vom Körper zum Bild‹ opfert die Bewegung der Körper. Er mortifiziert sie in ihrer Kontur und verachtet sie als Versuchstiere einer optischen Einrichtung. Gleichzeitig ist diese Stelle jedoch auch zu hören als die Selbstthematisierung des neuzeitlichen Theaterraums und seiner Apriori, den Theaterraum in seiner optischen Erschlossenheit, die der Text Bildbeschreibung ebenfalls in Gänze meint.8 Dessen Bedingungen werden angeklagt: »die fehlbare Aufsicht« des Publikums, der »Plan« einer Auff ührung, der Akt des Zusehens, der in die Nähe zum »Mord« gerät. Das ICH des Textes wandert durch die Protagonisten »Mann Vogel Frau«. Die Apriori der Exis8. Die im Folgenden genannten Aspekte zur Möglichkeit, Bildbeschreibung als ›Vorführung‹ des neuzeitlichen Theaterraumes zu lesen, verdanke ich Alexander Kerlin, der diese Produktion als Regieassistent begleitete. Ebenso die schöne, im Folgenden mitgeteilte Beobachtung zum eröffnenden »Ei« und schließenden »m« des Textes.
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tenz eines Theaters, das auf der Verschmelzung der Szene mit dem Bild (tableau) beruht, werden vorgeführt, verurteilt und zu einem »Nullpunkt« gebracht. Das Beispiel für den Nullpunkt ist in dieser Inszenierung der Diaprojektor. Der Theaterraum, unabhängig davon, ob eine Auff ührung in ihm statt findet oder nicht, liegt als optisch erschlossener Raum vor. Sucht man nach einem Bildtypus, der diesem Raum gleicht, so ist es das Fotonegativ oder das Dia. Sie sind die beiden einzigen Bildträger, die von beiden Seiten geschaut werden können oder auch: von vorne belichtet und von hinten gelesen werden können. Wenn die Darstellung, hier der Text von Bildbeschreibung endet, sehen wir, was bleibt. Ein leeres Quadrat, das Licht. Der Tänzer sitzt darin, sein Kopf wirft einen Schatten an die Wand. Ein opaker Körper, lichtundurchlässig, mehr nicht. Der Projektor wird noch einmal angefasst und gegen das Publikum gerichtet. Wir blinzeln in das Licht und sind opake Körper, die Schatten hinter sich werfen. Mehr nicht. Von diesem Raum ist auszugehen. Dazwischen legt sich der Text Bildbeschreibung in den Mund des Tänzers, ohne dass es am Ende etwas zu schlucken gäbe. Der Text beginnt mit einem unreinen Vokal, der den Mund beiläufig öffnet: »Ei« – »Eine Landschaft« – und endet mit demjenigen Konsonanten, der die Lippen schließt: »m« – »Sturm«, ohne Punkt. Dazwischen das Auge der Sprache und der gleitende, flüssige Körper im Zustandes des Tanzes, der Blicke tanzt, die von einer Sprachbewegung nachgeahmt werden und, wie dieser Körper im Zustand des Tanzes, einen ›Winkel‹ von 360° haben. Dieser Körper kann alles sein. Seine ganze Haut ist eine Fläche. Er hat die Quadratur zwischen Zwei- und Dreidimensionalität verlassen. Das Gesehene und Gelesene beginnen wieder, wie es eingangs im Zitat von Foucault hieß, ›sich unendlich zu kreuzen‹. Wir sind im Raum vor der Perspektive angekommen, in der Vertikalen des Erlebten und des Erlebens. Am Ende, wenn er sich verbeugt, kann man in das Gesicht des Tänzers Frank James Willens sehen. Es ist von solch ergreifender Durchsichtigkeit, so bar jeglichen Selbstschutzes, dass mir augenblicklich klar wurde, wie erbärmlich all unsere Versuche und Mühen einer theoretischen Durchdringung verlaufen. Es lehrte mich an diesem Abend, neben der ganzen Anstrengung des Verstehens, nicht alles verstehen zu wollen.
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Literatur Birkenhauer, Theresia: »Bild-Beschreibung. Das Auge der Sprache«, in: Ulrike Hass (Hg.), Heiner Müller. Bildbeschreibung. Ende der Vorstellung, Berlin 2005, S. 93-111. Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a.M. 1974. Foucault, Michel: »Vorrede zur Überschreitung«, in: ders., Von der Subversion des Wissens, Frankfurt a.M. 1996. Heeg, Günther: »Szenen«, in: Heinrich Bosse/Ursula Renner (Hg.), Literaturwissenschaft. Einführung in ein Sprachspiel, Freiburg 1999, S. 251269. Merleau-Ponty, Maurice: Das Sichtbare und das Unsichtbare. Gefolgt von Arbeitsnotizen. Aus dem Französischen von Regula Giuliani und Bernhard Waldenfels, München 1994. Schleef, Einar: Droge Faust Parsifal, Frankfurt a.M. 1996.
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Beschreibung einer Bühne. Zu Jourdheuils/Peyrets Inszenierung der Bildbeschreibung Genia Schulz
Was ist das für eine Szene? In eine Landschaft unter Aufsicht haben die Übersetzer den Originaltitel Bildbeschreibung verrückt, verschoben.1 Unter Aufsicht (Bewachung?) steht: die Bühne. Ihr Bild wird gesehen, kontrolliert, korrigiert. Wo Müllers Text, eine Bildvorlage beschreibend, ein inneres Bild beschwört, als könne er es nicht vergessen, setzt die Inszenierung in Bobigny ein Nicht-Bild in Szene. Unbelichtetes Material wird entwickelt, zuletzt flackert eine Skizze auf, zeigen sich Umrisse und versinken wieder im Dunkel, aus dem sie eine Theaterzeit profiliert wurden. Ist die Szene eine des Theaters? Wir betreten den Raum der Veranstaltung wie ein Kino, eine Konzerthalle, eine Dunkelkammer, einen Konferenzsaal, einen Senderaum. Jeder Zuschauersitz ist mit einem MiniBildschirm versehen. Dieses Theater spielt nicht gegen das Medium, – es schert sich nicht darum, macht seine eigene Sache. Wem es nichts sagt, nichts zu sagen hat, der mag sich ablenken lassen von den winzigen plötzlich aufflackernden Filmbildern an der Armlehne, die das Theater nicht erklären, nicht ergänzen, sondern einfach eine Geschichte für sich erzählen: die Schauspieler als Paar im Alltag, nebeneinander aufgenommen, bewegliche Erinnerungsfotos für das Heimkino. Einige Pornofetzen huschen hinterher, aber erst gegen Ende des Abends. Noch vor Beginn sitzen vier Musiker auf der Bühne, spielen vor sich hin. Es klingt, als wollten sie ihre Instrumente stimmen, aber vielleicht ist es auch schon die Musik. Es ist ein seriöses Streichquartett, unaufdring1. Frankreich EA, Paysage sous surveillance, Regie: Jean Jourdheuil/JeanFrancois Peyret, Paris Théatre Bobigny, 13.01.1987.
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Zu Jourdheuil s/Peyrets Inszenierung der Bildbeschreibung
lich, gepflegt. Kultur ist angesagt. Wenn der Mann im Mantel die Bühne betritt, kann man eine ernste Ansprache erwarten: Tiefe. Was man für eine Bühne halten kann, ist mit Scheinwerfern vollgestellt. Kein Wunder, dass die Szene dunkel bleibt, intim und indirekt beleuchtet: was die Szene erhellen sollte, ist selbst Gegenstand der Darstellung; »was immer Licht auf diese Gegend wirft«, ist ein Bestandteil von ihr, keine Aufsicht von oben. Die Bühne zeigt sich selbst vor: ihre Maschinerie, Schnürboden, Lautsprecher, ihre Umgrenzungen, Ränder, Seitenbühnen, Kulissen, Geräuschproduzenten. Theater pur. Dafür genügen ein Mann, eine Frau, ein Text, ein Raum. Ein »Publikum« braucht dieses Theater nicht. Jeder Zuschauer ist einzeln da, kann sich, wenn er will, in sein Video vertiefen. Ist gleichsam ruhiggestellt, damit er den Bühnenablauf nicht stört, den er vielleicht nicht versteht, aber beaufsichtigt. Jede Maschine hat ihre Zeit, ihre Dynamik; der leere Blick, ohne Deutungstrieb, bewacht am besten. Es ist eine Landschaft, entstanden unter der Aufsicht zweier Regisseure. Ihr Blick auf den Text wird gezeigt – und auf der Bühne in Gestalt des lesenden Mannes noch einmal reflektiert. Ein Mann liest – und wird dabei gestört, in eine Aktion verwickelt. Neben den an den Rand versetzten Musikern (dem Ausgang am nächsten) in der Mitte der Bühne steht ein Tisch, eher ein Stehpult mit Mikrophonen wie in einem Radiosenderaum. Auf der Ablage steht ein Tonband, oben auf der Platte ein Wasserglas. Vielleicht wird ein anderes Stück gegeben: Krapps last tape. Hinter dem Tisch der Mann mit dem Mantel, stumm in einen Text vertieft, scheinbar verständnislos. Er studiert ihn, entziffert ihn mit Mühe, bereitet sich auf den »Auftritt« vor – oder ist das schon der Auftritt? Die Grenze, die der »Anfang« markiert, ist überspielt, ausgespielt, dargestellt – der Rest ist Gratwanderung. Wenn der Mann laut zu lesen beginnt, hören die Musiker auf zu spielen, man kommt sich nicht in die Quere, jeder tönt zu seiner Zeit mit Rücksicht auf den anderen. Hat der Mann den Text verstanden und kann deshalb beginnen oder ist er nur ein kompetenter Sprecher, der einen fremden Text zum Besten geben kann? Liest er eine schwer entzifferbare Handschrift, mühsam und dankbar, wenn die Musik ihn unterbricht; liest er den Text wie Musik, seinem Klang nachgehend, nicht der Bedeutung, fremd in diesem Textkörper? Der Ton des Mannes erinnert an den Vortrag eines Professors in einem leeren Saal, manchmal an einen Prediger in einem Dom: Verkündigung einer Botschaft, für die es kein Publikum gibt. Oder ist es nur eine Sendeprobe: Wie klingt der Text, wenn ich ihn lese? Beim Stichwort »Sonne« gerät der Mann in Bewegung, verliert seine distinguierte Haltung, steigt auf den Tisch. Auch Müllers Text fängt harmlos beschreibend an und wird dann zunehmend aggressiver. Bunte Licht311
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flecken entstehen im Raum, beim Stichwort »Blinzeln« geht das Licht aus – als gäbe es eine kleine technische Panne. Als es wieder aufleuchtet, steht der Mann wieder hinter dem Pult, als wäre nichts geschehen, ein kleiner Ausrutscher, alles in Ordnung. Aber plötzlich kommt eine Stimme aus einem der Lautsprecher, die auf der Bühne stehen. Aus dem Reich der Toten? Sie beginnt beim Stichwort »Friedhöfe«. Die Stimme wiederholt den Text, seinen Text – oder ist es ihrer, der ihr vom Mann entwendet worden war? Die Stimme der Technik, anonym und weiblich, ist ein Konkurrent, der sich nicht zu erkennen geben will. Als sei er in Panik oder Wut geraten, wirft sich der Mann auf den Lautsprecher, von dem er glaubt, dass hier die Stimme ihren Sitz hat. (Hat man als kleines Kind nicht einen wirklichen Menschen im Radiokasten vermutet?) Magische Beschwörung, eine Stimme abzuwürgen; warum kommt ihm nicht in den Sinn, den Strom zu unterbrechen? So fährt die Stimme fort und spricht, sei es auch gedämpft, den Text weit über die Stelle hinaus, wo der Mann abgebrochen hatte. Sie wiederholt ihn also nur scheinbar, tatsächlich kennt und besitzt sie ihn auch. Ist es das, was den Mann so wütend macht? Worüber er selbstherrlich zu verfügen meinte, »sein Text«, ist nicht auf ihn zentriert; es gibt ihn auch anderswo. Oder empfindet er die Stimme als ungehöriges Echo seiner Rede (warum spricht sie nicht einen anderen Text?), als technische Störung bei einer schwierigen Aufnahme? Tatsächlich gerät der Text von nun an in Unordnung, die Sätze wiederholen sich, überschneiden sich, die Stimmen überlagern sich, bekämpfen sich – wer spricht schneller, lauter, länger? »Vielleicht ist er blind«, erklärt der Text von dem Mann, der noch einmal versucht, die Stimme im Kasten zu ersticken, indem er seinen Mantel über den Lautsprecher wirft. Will er Ruhe oder will er als einziger sprechen? Der Kasten pariert auf seine Weise und sendet beim Stichwort »Tanzschritt« Musik, übersetzt den Text eigenmächtig, provoziert Bewegung, jetzt ein Konkurrent der auch immer aparte anwesenden Musiker. Sie reagieren prompt und gehen ab. Auf einen Kampf mit der tönenden Maschine lassen sie sich nicht ein. Oder ahnen sie, was kommt? Die Hinterwand der Bühne öff net sich, das Theater gibt den Blick frei auf die Stadt, in der es steht, beleuchtete Betonklötze in kalter Nacht: Bobigny. Coup de théâtre: von draußen, aus der Tiefe an einem Kran (mechane) in die Höhe der Bühne gezogen, kommt eine neue Stimme herauf und herein. Diesmal hat sie eine menschliche Gestalt. Es ist eine junge schöne Frau mit langen blonden Haaren, ein Engel, eine Windsbraut, eine »Mata Hari der Unterwelt«, ein Geschöpf der Luft? – Ein Produkt des Theaters. Den Beginn ihrer Rede übertönt das Maschinengeräusch des Krans. Die Frau ist modisch und sportlich gekleidet wie eine Motorradfahrerin; der Mann am Lesepult dagegen zeitloser, eine Gestalt aus dem 19. oder 20. 312
Zu Jourdheuil s/Peyrets Inszenierung der Bildbeschreibung
Jahrhundert, gepflegt und kulturbewusst. Die Technik, die Maschine ist ihm keine Hilfe, sondern ein Ärgernis, er weiß sie nicht zu bedienen und sie dient ihm nicht. Seine Welt ist der Innenraum. Des fremden Textes hat er sich durch die Annäherung versichert, untermalt von einer Musik, die unverkennbar von Hand erzeugt wird. Die Frau hingegen zerreißt durch ihren Auftritt, ihre Landung, das abgeschlossene Innen, begleitet von technischem Lärm, Rumor. Sie benötigt nicht gleich festen Boden unter den Füßen, sie kann auch schwebend reden, und ihr ist es gleichgültig, ob es ein gestohlener Text ist oder ihr eigener: sie spricht ihn, als höre er ihr zu, holt ihn aus ihrem Körper. Sie liest nicht (später wird sie ein bisschen malen, schreiben, Zeichen an die Wand machen), sie spricht. Oder hat sie ihre Rolle auswendig gelernt, ist als besser vorbereitete Akteurin auf der gemeinsamen Probe erschienen? Hängend zwischen Himmel und Erde spricht sie mit Affekt den Text zu jemandem, spricht den Mann an. Ihm erzählt sie eine Geschichte, die der Mann noch nicht zu kennen scheint – obwohl er den Text vorher selbst gesprochen hat. Aber jetzt erst ist der Text Mitteilung, kommt aus einem Körper, während der Mann ihn als eine ihm ganz fremde Wirklichkeit entzifferte, die er nur mit Hilfe seines Artikulationsvermögens beherrschte. Waren die Lautsprecher Vorläufer, Stellvertreter der Frau? Jedenfalls haben beide Stimmen die Lesung des Mannes unterbrochen. Während die Frau unschuldig schwebend wie ein Rauschgoldengel mit dem Verkündungsband in den Händen den Liebesakt aus Bildbeschreibung mit gesteigerter Begeisterung erzählt, wird der Mann, der Leser nervös, ist peinlich berührt. Schließlich legt er ein Messer auf den Tisch – wem will er etwas ab- oder durchschneiden? Was will er durchbohren? Droht er der Frau (dann merkt sie es nicht) oder bereitet er seinen Abgang vor? Er spricht nun den Text der Frau so wie er es kann: dozierend, erklärend, unbeteiligt. Er berichtet, »was sich zugetragen hat«. Der Lautsprecher mischt mit, die Frau scheint zu entschwinden, die Wand öff net sich wieder; als sie sich schließt, leuchtet im Vordergrund der Bühne das Spielzeugmodell eines modernen Hochhauses auf: das Spiel von Innen/klein und Außen/ groß spiegelt das Prinzip der Inszenierung, die sich systematisch auf der Schwelle auf hält, im Zwischenraum, im Niemandsland der Künste und Medien, zwischen Realität und Wirklichkeit, Textsprechen und ihn (ver-) schweigen. Dieses Spiel ist nicht zu identifizieren, es hält sich bedeckt, liebt das Dunkel, die hingetuschten Zeichen. Viele Künste haben sich an einer Stelle versammelt, wo sie ihren Übergang erproben können, sich austauschen, sich gegenseitig erledigen wollen (»Der Mord ist ein Geschlechtertausch«). Am Ende hat der Text ausgespielt und übergibt sich der Pantomime. 313
Zwischenspiele: Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume
Die Frau, die man verschwunden wähnte, ist noch da: man hört sie wieder als Lautsprecherstimme, dann erkennt man zwei Frauenpuppen im Schnürboden. Eine rast herunter, der Mann wirft sich auf sie, spricht mit zunehmender Wut, die »wirkliche« Frau antwortet, auf einem Stuhl sitzend. Beim »Blinzeln zwischen Blick und Blick« schließt sich die Tür, durch die der Mann die Frau-Puppe in den Abgrund wirft. Jetzt – nach der offen demonstrierten, handgreiflichen Gewalt – tritt die Frau in den Hintergrund, bemalt ihn mit Graffiti gleichsam als Hinweis: ich war hier. Das Quartett hat sich wieder eingeschlichen und geht seiner Stimme nach – für den Mann Anlass, die Musiker genau zu beobachten, schließlich auf sie einzureden. Will er sie von seiner Version des Sachverhalts überzeugen? Schließlich waren die Männer Zeugen eines »Mordes«. Über tragbare Mikros, selber zum Laut-Sprecher geworden, redet der Mann schnell, engagiert, mit dem Gestus der Entschuldigung (»… der Mord ist nur ein Geschlechtertausch, – kein Grund zur Aufregung«) auf die ungerührten Streicher ein. Mit einer Leine aus dem Schnürboden in der Hand, als sei er selbst eine Marionette des Theaters, verlässt er – alles ist gesagt – die Bühne, und jetzt hat die Frau ihren Auftritt auf den Brettern, sie kommt in den Vordergrund, die Musik steigert sich und verstummt dann, die Musiker entfernen sich nacheinander. Leer und still, ist der Raum für die Frau bereit, scheint jetzt ihr zu gehören. Sie geht an den Pult und – fängt an, den Text zu lesen: sicher, sachlich, nach vorn. Löst sie den Mann nur ab? Übernimmt sie seine Rolle/seine Funktion, imitiert sie ihn oder geht sie an ihren angestammten Platz, der ihr zusteht und der ihr entwendet worden war? Ihren Text hatte sie zurückgelassen, jetzt nimmt sie ihn wieder auf. Was dann geschieht (war nicht schon Schluss?), ist zweite Coda, ein anderes Ende. Wie ein flüchtiges Schemen im Dunkel, wie eine Pantomime im Zeitraffer, ein rascher Sexualakt auf dem Stuhl, ein Mord und am Ende ein Gelächter der Frau – also kein Mord? Vielleicht hat der Zuschauer gar nichts gesehen, den zweiten Schluss kaum wahrgenommen, nicht beaufsichtigt, weil sein Blick gerade zufällig auf dem Bildschirm weilte, wo die Geschlechtsteile in Großaufnahme wie eine Maschine arbeiten. Fliegen/Stehlen – die Frau hat die Arbeit des Mannes gestört, seine Arbeit am Text, von dem wir nicht wissen, wem er gehört. Der Versuch des Mannes, die Frau zum Schweigen zu bringen, ist misslungen, sie hat alle Anschläge auf ihre Stimme, ihren Körper, ihr Leben überstanden, – z.B. indem sie sich vervielfacht hat: als Puppe, als Lautsprecher hat sie unterschiedliche Existenzweisen angenommen, hat sich im Raum verteilt, seine Grenzen gesprengt, seine Mitte aufgebrochen. Als der Mann abgetreten war, hat sie seinen Platz eingenommen, kampflos und ungeschwächt. Sie 314
Zu Jourdheuil s/Peyrets Inszenierung der Bildbeschreibung
hat Zeichen gegeben: große Figuren sind an der hinteren Bühnenwand, dem Tor nach Draußen, zu sehen. Die Existenz des Mannes, der zu Beginn so selbstverständlich die Bühne beherrschte, hat keine Spuren hinterlassen. Das letzte Wort – ist kein Wort. Es ist das Lachen der Frau. Der Text wurde im Mai 1989 in Théâtre public Nr. 87 auf französisch abgedruckt und erscheint hier erstmals in deutscher Sprache. Es wurden vom Herausgeber kleine sprachliche Eingriffe vorgenommen, die von Hans-Thies Lehmann durchgesehen wurden.
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Heterotopie der Sinne. Überlegungen zur Einbildungskraft des Zuschauers Benjamin Wihstutz
Was hat der Foucaultsche Terminus der ›Heterotopie‹ mit der Einbildungskraft des Zuschauers zu tun? Zweierlei, wie ich zeigen möchte: Zum einen ermöglicht die Einbildungskraft des Zuschauers als eine Art zweiter metteur en scène eine Überlagerung des Bühnenraums mit Räumen des Imaginativen, die sich aus den Vorstellungen, Phantasien, Abschweifungen, Erwartungen und Assoziationen der Zuschauer konstituieren. Der Bühnenraum wird mittels der Einbildungskraft zur Heterotopie, zu einem realen, der Wahrnehmung zugänglichen Ort, der mehrere andere Orte und Zeiten zugleich repräsentiert. Zum anderen lässt sich das Imaginative aber auch selbst als ein Zwischenraum verstehen, als Heterotopie der Sinne, die dychotomische Wahrnehmungsmuster und -kategorien wie Subjekt und Objekt, Körper und Geist oder Reales und Imaginäres in Frage zu stellen vermag. Dieses besondere Potenzial einer liminalen ästhetischen Erfahrung ist der Imagination im Theater eingeschrieben. Die Theaterbühne aus der Sicht des wahrnehmenden und imaginierenden Zuschauers als Heterotopie aufzufassen, impliziert schließlich drittens die These, dass Inszenierungen nicht allein der Präsenz der Auff ührung einerseits und der Repräsentation einer dargestellten Handlung andererseits eine Form geben, sondern auch höchst subjektiven Zuschauerphantasien und -assoziationen einen Rahmen abstecken. Hier lohnt es sich, den Fokus auf das Bühnenbild zu richten, korrespondiert dieses doch direkt mit inneren Bildern der Vorstellung. Drei Beispiele sind Gegenstand der folgenden Analyse. Als Ausgangspunkt der Überlegungen dient keine Theaterinszenierung, sondern ein Videowalk des Künstlerpaares Janet Cardiff und George Bures Miller, der 316
Heterotopie der Sinne. Überlegungen zur Einbildungskraf t des Zuschauers
2005 im Berliner Theater »Hebbel am Ufer« (HAU 1) realisiert wurde und das Verhältnis von Imagination und Theaterraum auf bemerkenswerte Weise reflektierte und in Szene setzte. Daran anknüpfend zeigen die Aufführungsanalysen von Tschechows Onkel Wanja1 in der Regie von Jürgen Gosch und Michael Thalheimers Inszenierung von Hauptmanns Die Ratten2 auf je unterschiedliche Weise, wie insbesondere das Bühnenbild als Inszenierung und Formgebung einen Rahmen vorgibt, innerhalb dessen sich die Einbildungskraft des Zuchauers bewegt. Nicht ohne Grund betriff t die Auswahl zwei eher zeichenarme, reduktionistische Inszenierungen, scheint doch gegenwärtig im deutschsprachigen Theater eine Tendenz beobachtbar, sich auf eine Reduktion auf Sprache, Körper und Raum zurückzubesinnen, was zweifellos die Rolle der Einbildungskraft umso mehr ins Blickfeld rückt.3
I. Der Theaterraum als Heterotopie Beim Videowalk Ghost Machine von Janet Cardiff und George Bures Miller begeben sich die Zuschauer einzeln im Zwei-Minuten-Takt mit Kopf hörern und Videokamera auf einen Spaziergang durch das Berliner Hebbel-Theater. Insgesamt dauert der Videowalk eine knappe Stunde. Über das Display der Kamera und über die Kopfhörer wird der Zuschauer bei seinem Weg mittels Bild und Ton eines zuvor gedrehten Videos durch die Räume und Gänge des Theaters geleitet. Das Video synchronisiert somit die reale Umgebung und choreographiert zugleich den Zuschauer, indem dieser aufgefordert ist, mit seinem Gang der Kameraperspektive zu folgen. Bewegt sich der Zuschauer beispielsweise durch das Treppenhaus, zeigt auch das Bild auf dem Display das Treppenhaus aus seiner Perspektive, aufgezeichnet zu einem früheren Zeitpunkt. Wird eine Tür geöff net, knarrt sie über die 1. Premiere am 12.01.2008 am Deutschen Theater Berlin. 2. Premiere am 06.10.2007 am Deutschen Theater Berlin. 3. Mangels Beweisen hielte diese pauschale Behauptung wohl nur schwer einer kritischen Prüfung stand. Ich berufe mich lediglich auf Beobachtungen, wonach die Zeichenüberfülle und mediale Überfrachtung, die insbesondere um die Jahrtausendwende durch die Volksbühnen-Regisseure Castorf und Schlingensief einen starken Einfluss auf die deutschsprachige Theaterszene hatte, in den letzten Jahren an Popularität eingebüßt hat. Zeichenärmere Theaterästhetiken, die vor allem Text und Raum auf neue Weise ins Zentrum rücken, scheinen zunehmend an Bedeutung zu gewinnen. Neben den hier besprochenen Arbeiten von Thalheimer und Gosch, ließe sich beispielsweise auch an viel beachtete Produktionen von Laurent Chétouane oder Dimiter Gotscheff denken.
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Zwischenspiele: Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume
Kopfhörer genau so wie in der Wirklichkeit. Jedoch verschiebt sich diese wahrgenommene Wirklichkeit zu einem gespenstischen Zwischenraum von Fiktivem und Realem sobald Geräusche oder Stimmen über die Kopfhörer zu hören oder auf dem Display Dinge und Personen zu sehen sind, die der Wirklichkeit widersprechen. So scheint bereits zu Beginn das Foyer des Theaters von einer Atmosphäre erfüllt, die mit der Gegenwart dieses Ortes kaum etwas gemein hat: Stimmengemurmel, Lachen, Zuschauer, die hereinströmen und sich begrüßen vermitteln den illusionären Eindruck, als befände man sich hier kurz vor einer Auff ührung. Zu diesem Zeitpunkt lässt sich auch zum ersten Mal die Stimme von Janet Cardiff beziehungsweise, in der deutschen Version, von Sophie Rois vernehmen, die den Zuschauer den gesamten Videowalk lang begleitet: »Wo bin ich? In einem Theater in Berlin. […] Das passiert mir in letzter Zeit öfter. Ich denke, die Dinge verschwinden einfach so, sie entgleiten dem Raum für einige Momente, um einige Augenblicke später wieder aufzutauchen. Ich denke schon länger, dass wir Menschen das auch machen – von Zeit zu Zeit verschwinden. Wir schalten uns in einen anderen Raum, in eine andere Falte der Zeit.«
Die Sätze sprechen an, worum es hier geht: um eine Erfahrung des Übersinnlichen, Gespenstischen, des Phantastischen. Nicht allein die Geschichte, die erzählt wird, handelt von Geistern und von Menschen, die plötzlich verschwinden. Der Zuschauer selbst ist es, der sich in dieser Stunde mittels der Kamera als Ghost Machine in einen anderen Raum begibt, in eine andere Falte der Zeit 4. Und doch ist dieser Raum zugleich real. Man schreitet tatsächlich durch das Foyer, man befindet sich in denselben Räumen und 4. Janet Cardiffs Erwähnung der Falte lässt hier zweifellos an Gilles Deleuze denken, der die Falte als Paradigma des Barock und als Prinzip beständiger Re-formierung und Re-formulierung, in den Worten Deleuzes als »Zwiefalt«, als »differenzierende und sich differenzierende Falte« beschrieben hat (Gilles Deleuze, Die Falte. Leibniz und der Barock, Frankfurt a.M. 2000, S. 53). Mit der Übertragung des räumlichen Begriffs der Falte auf die Zeit, thematisiert auch der Text von Ghost Machine die eigentümliche Verdoppelung der Raum-Zeit durch den Videowalk. Die Falte scheint insofern eine treffende Metapher zu sein, da sich der Videowalker mittels der Kamera gleichzeitig in eine andere, jedoch mit der Gegenwart noch verbundene Raum-Zeit, gewissermaßen ein- und auszufalten vermag. Sich in eine andere Falte der Zeit zu begeben bedeutet also weniger, die Grenze in ein Jenseits zu überschreiten, in eine vollkommen andere Sphäre der Zeit hinüberzuwechseln. Vielmehr ist die Falte eine stoffliche Ausprägung des Gegebenen, die als Ergebnis einer Transformation immer auch Potenzial neuer Faltenbildungen und beständiger Verwandlung ist.
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Heterotopie der Sinne. Überlegungen zur Einbildungskraf t des Zuschauers
Fluren des Hebbel-Theaters, die auf dem Kameradisplay zu sehen sind, nur zu einer anderen Zeit. Es ist die Überlagerung des realen mit einem fi lmischen Raum des Imaginären, die die bemerkenswerte liminale Erfahrung des Videowalks ermöglicht – eine Erfahrung, bei der sich Imaginäres und Reales nicht mehr klar auseinander halten lassen und man sich in einem merkwürdigen Zwischenraum wiederfindet. So beschreibt auch Janet Cardiff selbst ihre Entdeckung der für ihre Audio- und Videowalks grundlegenden Aufnahmetechnik des Binaural Recordings als irritierende Raum-Erfahrung zwischen den Zeiten: »When I first used binaural recording unit and listened to the results, I was immediately hooked, but I couldn’t imagine any way of using it that wasn’t gimmicky. It was only after I literally stumbled upon the format while recording and walking that I got really excited. I had found a way to be in two different places at once. I was able to simulate space and time travel in a very simple way.«5
Reale Orte, die mehrere andere Orte und Zeiten zugleich repräsentieren und zugänglich machen, nennt Michel Foucault in seinem Aufsatz Des espaces autres Heterotopien. Heterotopien sind demnach Orte, »die gleichsam Gegenorte darstellen, tatsächlich verwirklichte Utopien, in denen die realen Orte, all die anderen realen Orte, die man in der Kultur finden kann, zugleich repräsentiert, in Frage gestellt und ins Gegenteil verkehrt werden. Es sind gleichsam Orte, die außerhalb aller Orte liegen, obwohl sie sich durchaus lokalisieren lassen.«6 Die merkwürdige liminale Erfahrung von Ghost Machine, sich gleichzeitig innerhalb und außerhalb der Wirklichkeit zu bewegen, – »to be in two different places at once«, wie Janet Cardiff schreibt, ließe sich demnach treffend als heterotopische Erfahrung bezeichnen. Mittels der Kamera und der Kopfhörer begibt man sich an einen Ort, der irgendwie »außerhalb der Zeit zu stehen scheint«, eine Beschreibung, die Foucault für Heterotopien der Zeit wie dem Museum, dem Archiv oder dem Jahrmarkt verwendet. Und in der Tat erinnert dieser Gang durchs Labyrinth des Theaters an bestimmte Jahrmarktattraktionen wie dem Spiegelkabinett oder der Geisterbahn. Für den Theaterzuschauer ist die Erfahrung, zwei Orte an einem Ort wahrnehmen zu können, jedoch genau genommen gar kein Sonderfall. Aufgrund seiner Doppelungsstruktur von Präsenz und Repräsentation stellt die Bühne sogar äußerst häufig zwei Orte zugleich da, nämlich in all 5. Mirjam Schaub (Hg.): Janet Cardiff. The Walk Book, Wien 2005, S. 4. 6. Michel Foucault: »Von anderen Räumen«, in: ders.: Schriften Bd. 4, Frankfurt a.M. 2005, S. 931-942, S. 935.
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Zwischenspiele: Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume
jenen Situationen, in denen eine fiktive Handlungsebene existiert. Zudem können auf diese Weise unterschiedliche Szenen denselben präsenten Ort mit unterschiedlichen Orten und Zeiten verknüpfen. Genau aus diesem Grund hat Michel Foucault die Theaterbühne als Heterotopie bezeichnet: »Heterotopien besitzen die Fähigkeit, mehrere reale Räume, mehrere Orte, die eigentlich nicht miteinander verträglich sind, an einem einzigen Ort nebeneinander zu stellen. So bringt das Theater auf dem Rechteck der Bühne nacheinander eine ganze Reihe von Orten zur Darstellung, die sich gänzlich fremd sind.«7
Das, was sich bei Ghost Machine für den Videowalker auf besonders intensive Weise erleben lässt, scheint mithin gewissermaßen der Zuschauerwahrnehmung in jeder Theaterauff ührung zu entsprechen. Allerdings werfen die Sätze Foucaults diesbezüglich die Frage auf, ob es tatsächlich allein der Aspekt der Repräsentation ist, der die Heterotopie des Theaters ermöglicht, oder ob nicht darüber hinaus von der Präsenz und Repräsentation der Auff ührung ausgehende Assoziationen und Phantasien der Zuschauer ebenfalls eine Rolle spielen. Es lohnt sich diesbezüglich, einen genaueren Blick auf die Zuschauerwahrnehmung im Theater zu werfen und dabei insbesondere auf die Gestaltung der Bühnenräume zu achten.
II. Die Einbildung der Atmosphäre Bei den Bühnenbildern von Johannes Schütz handelt es sich zumeist um große, einfarbige Kästen; Bühnenräume ohne Türen und Fenster, die aufgrund der sparsamen Verwendung von Requisiten dem Schauspiel auf engem Raum einen größtmöglichen Entfaltungsspielraum gewähren. Für Jürgen Goschs Inszenierung von Tschechows Onkel Wanja am Deutschen Theater in Berlin, hat der Bühnenbildner einen großen lehmfarbenen Kasten von geringer Tiefe direkt an die Rampe gebaut, der über eine eingebaute Stufe zum Sitzen an der Rückwand verfügt. Einzige Requisiten sind ein Samowar und ein Tablett mit einer Wodkaflasche sowie einigen Gläsern.8 Der reduktionistische Inszenierungsstil betriff t ebenso Jürgen Goschs Umgang mit Musik. Ähnlich wie in den Dogmafi lmen wird sie, wenn überhaupt, nur innerhalb der dargestellten Handlung eingesetzt, beispielsweise durch das Spielen eines Instruments oder das Abspielen eines Plattenspielers auf der Bühne. Angesichts dieser minimalistischen 7. Ebd., S. 938. 8. Lediglich in der Schlussszene werden noch einmal einige Aktenordner verwendet, ansonsten bleibt die Bühne bis auf die Schauspieler leer.
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Heterotopie der Sinne. Überlegungen zur Einbildungskraf t des Zuschauers
Zeichenverwendung könnte man meinen, Goschs Inszenierungen verzichteten durch Konzentration auf Sprache und Schauspiel weitgehend auf atmosphärische Effekte. Und doch scheint es bei Onkel Wanja erstaunlicher Weise gerade das Atmosphärische zu sein, das die Auff ührungsrezeption in entscheidendem Maße prägt. Die Wahrnehmung dieses Atmosphärischen aber, basiert, wie sich zeigen wird, auf der Einbildungskraft des Zuschauers. Vor allem der erste Akt der Auff ührung ist von der Stimmung eines für Tschechows Stücke charakteristischen und immer wieder thematisierten Müßiggangs geprägt. Ullrich Matthes sitzt als Onkel Wanja mit blauem Anzug und alten dreckigen Turnschuhen an die Bühnenrückwand gelehnt auf der Stufe, isst einen ganzen Teller Gurken leer, »irgendein scharfes Zeug«, wie er sagt, und nörgelt mit vollem Mund und behäbiger Stimme über den Professor und die Trägheit des Landlebens. Der Arzt Astrow, gespielt von Jens Harzer sitzt gemütlich neben ihm, streut hier und da einen Kommentar ein und trinkt seinen Wodka. Ebenfalls auf der Stufe platziert ist Bernd Stempel als verarmter Gutsbesitzer Telegin, der leise und unmotiviert auf einer Gitarre herumzupft. Elena, von Constanze Becker im blumigen Sommerkleid gespielt, lehnt barfuß an der linken ebenfalls goldenen Seitenwand, die alte Kinderfrau Marina (Christine Schorn) läuft mit Kopftuch und in gebückter Haltung langsam auf und ab und füttert mit »Putt putt putt«-Lauten unsichtbare Hühner. Immer wieder sind die Dialoge von langen Pausen unterbrochen, nur das Gitarrengeklimper und vereinzelte Laute wie das »Putt putt putt« Marinas sind dann zu hören. Bewegungen gibt es kaum, visuell ist die Szene vor allem von den hell angestrahlten fleckigen Wänden des Bühnenraums geprägt, der in dieser Szene in ein goldenes Licht getaucht ist. Der Farbeindruck der Bühne wird dabei in entscheidendem Maße von der Lichtregie hervorgebracht, die die Raumwahrnehmung der gesamten Auff ührung prägt.9
9. Im ersten Akt kommt ein großer Scheinwerfer zum Einsatz, der vorne im ersten Rang montiert ist und den Raum in ein helles sand- bis goldfarbenes Licht taucht. In der Nachtszene im zweiten Akt erscheint die Bühne wesentlich dunkler und fleckiger in einem goldgrünlichen Farbton, der vom Licht eines Scheinwerfers erzeugt wird, der im ersten Rang hinten befestigt ist. Im dritten Akt erscheint die Bühne in einem ähnlich sandgoldfarbenem Farbton wie im ersten Akt. Im vierten Akt erzeugt zusätzlich zum hinteren Scheinwerfer im ersten Rang eine Bodenlichtreihe an der Rampe große unscharfe Schatten der Schauspieler an den Wänden. Zudem wird der gesamte Bühnenboden nicht mehr beleuchtet und taucht ins Schwarze ab, was ebenso den Dramenverlauf widerspiegelt.
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Zwischenspiele: Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume
Die Sommerschwüle, von der auch im Text die Rede ist, lässt sich hier fast schon spüren, erinnern die Flecken der sandig goldenen Wände doch an Schimmel- oder Wasserflecken feuchter heißer Räume. Das Gitarrengeklimper, die Helligkeit und die trägen Bewegungen der Protagonisten verdichten diesen Farbeindruck zu einer den Raum ausfüllenden statischen und schweren Atmosphäre. Das ›synästhetische‹ Spüren dieser Atmosphäre, das Ineinanderfließen der verschiedenen Sinneseindrücke wird dabei von subjektiven Assoziationen und Bildern der Phantasie wie beispielsweise der assoziierten Schimmelflecken ergänzt. Sie sind es, die die Leerstellen der Inszenierung ausfüllen. Dabei werden die Assoziationen immer wieder durch Präsenzmomente der Bühnenmaterialität entscheidend unterstützt. So lehnen sich Schauspieler beispielsweise wiederholt an die Wände, was an ihren Kostümen teilweise sichtbare lehmfarbene Flecken hinterlässt, die sich wie Abdrücke des Landlebens lesen lassen. Die Materialität der Bühne verweist somit immer wieder zugleich auf äußere, abwesende Räume, die mittels der Einbildungskraft den präsenten Bühnenraum bildhaft überlagern. Der anti-illusionistische Bühnenraum vermag auf diese Weise andere Räume anklingen zu lassen, Präsenz und ›eingebildete‹ Repräsentation vermischen sich. Die Wahrnehmung des goldenen Farbeindrucks lässt unmittelbar an Gernot Böhmes Begriff der »Ekstasen der Dinge« denken, führt dieser doch als Beispiel die blaue Farbe einer Tasse an, die auf ihre Umgebung ausstrahlt. Auch das durch das Bühnenlicht hervorgebrachte Gold der Bühne erscheint dem Zuschauer nicht allein als Eigenschaft des Bühnenbildes, vielmehr scheint es unmittelbar auf die Atmosphäre des gesamten Raumes einzuwirken, sie buchstäblich einzufärben. Zugleich lässt sich die ›goldene‹ Atmosphäre imaginativ aufladen. So steht das wahrgenommene fleckige Gold zum Zeitpunkt der Wahrnehmung bereits in subjektiven und objektiven Zusammenhängen, die die Einbildungskraft teilweise aufzudecken und zu verknüpfen vermag. Maurice Merleau-Ponty hat in seinem postum veröffentlichten Fragment Das Sichtbare und das Unsichtbare genau auf dieses Verhältnis von Einbildungskraft und Sinneswahrnehmung hingewiesen, wenn er von der Wahrnehmung eines roten Kleides sagt, die Farbe Rot sei nicht einfach eine »Haut des Seins ohne Dichte«, sondern »vollgestopft mit Sichtbarkeit«. Als »Zeichensetzung im Feld der roten Dinge, das die Dachziegel, die Fahne der Grenzwärter und der Revolution, gewisse Böden bei Aix oder auf Madagaskar umfasst«10, sei es immer auch »ein Fossil, hervorgeholt aus dem Untergrund imaginärer Welten«. Auch das Gold von Johannes Schütz kann als ein Fossil solch imaginärer Welten wahrgenommen werden, das 10. Maurice Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare, München 2004, S. 174f.
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an die Phantasie der Zuschauer appelliert. Sei es die Erinnerung an eine ähnliche Farbwahrnehmung im Theater, die Assoziation der Wasser- oder Schimmelflecken oder die Imagination einer unerträglichen Sommerhitze, der Sinneseindruck wird zwangsläufig mit Bedeutungen durch die Einbildungskraft des Zuschauers aufgeladen, die einerseits willkürlich-subjektiv, andererseits allesamt von der objektiven Farbwahrnehmung der großen sand- bis goldfarben erscheinenden Bühne ausgelöst werden. In diesem Zusammenhang erstaunt, dass Gernot Böhme in seinen Texten zur Atmosphäre nicht in Betracht zieht, näher auf die Rolle der Einbildungskraft einzugehen.11 Sabine Schouten hat in ihrer Studie zur atmosphärischen Wahrnehmung bereits darauf hingewiesen, dass Böhme mit seiner einseitigen Zuordnung des Atmosphärischen zur Aisthesis und der damit einhergehenden Ausklammerung jeglicher Bedeutungskonstitution Gefahr läuft, dem alten Cartesischen Dualismus zu verfallen, den er eigentlich selbst für überwunden hält.12 Allerdings versäumt auch Schouten die zwischen Sinneswahrnehmung und Bedeutungskonstitution vermittelnde Rolle der Einbildungskraft in ihre Überlegungen einzubeziehen, was insofern überrascht, als bereits Böhmes Definition der Atmosphäre als ein Zwischenphänomen – Atmosphären seien weder objektive Dingeigenschaften noch subjektive Seelenzustände13 – an die Einbildungskraft denken lässt, wurde sie doch von zahlreichen Philosphen seit Aristoteles’ phantasia immer wieder als ein zwischen Perzeption und Kognition angesiedeltes synthetisches Vermögen bestimmt. Wahrnehmungseindrücke und imaginative Prozesse scheinen sich für den Zuschauer in einer Art Chiasmus zu verschränken. So wie einerseits abschweifende Phantasien an die Sinneswahrnehmung der Auff ührung rückgebunden werden und die atmosphärische Wahrnehmung prägen, steckt andererseits das inszenierte Auff ührungsgeschehen den Rahmen des Imaginativen ab. Die Inszenierung gibt vor, in welche Richtung und inwieweit sich das Spiel der Einbildung als Austausch innerer und äußerer Bilder zu entfalten vermag. Wolfgang Iser hat in Bezug auf die Literatur das Verhältnis vom Fiktivem zum Imaginären in aufschlussreicher Weise beschrieben: »Die Akte des Fingierens bringen die Phantasie unter Formzwang, damit die von ih-
11. Vgl. Gernot Böhme: Atmosphären. Essays zu einer neuen Ästhetik, Frankfurt a.M. 1995. 12. Vgl. Sabine Schouten: Sinnliches Spüren. Wahrnehmung und Erzeugung von Atmosphären im Theater, Berlin 2007. 13. Gernot Böhme: Atmosphären, S. 35.
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nen eröffnenden Möglichkeiten vorstellbar werden können.« 14 Das Fiktive, so Iser, fungiere dabei als »Medium des Imaginären«15, es gebe demnach einen Rahmen vor, innerhalb dessen sich die Vorstellungen des Lesers entfalten. Nun ist das Fiktive keineswegs mit dem rezeptierten Auff ührungsgeschehen im Theater gleichzusetzen, vielmehr treten hier neben die repräsentierte literarische Fiktion gleichberechtigt die Akte des Inszenierens. Neben der dargestellten Dramenhandlung sind es vor allem diese, die die Phantasie des Zuschauers in der Auff ührung unter Formzwang bringen. Aufgrund der Tatsache, dass Produktion und Rezeption in der Auff ührung immer zeitgleich stattfinden, die Zuschauerwahrnehmung also nicht allein auf das Nachvollziehen einer Fiktion, sondern zugleich auf eine präsente Auff ührungssituation gerichtet ist, tritt die Einbildungskraft im Theater umso deutlicher als in der Literatur als eine zwischen Wirklichkeit und Fiktion, zwischen Realem und Imaginärem vermittelnde Kraft hervor. Phantasien, Assoziationen und Erwartungen, die sich sowohl auf die repräsentierte Fiktion als auch auf die Wahrnehmungsebene der Präsenz beziehen, stehen im permanenten Austausch mit der wahrgenommen Wirklichkeit. Dabei sind die imaginativen Bestandteile der Aufführungswahrnehmung keineswegs allein visueller Natur. So wecken im Verlauf der Auff ührung unterschiedliche, auf der Bühne erzeugte Töne und Geräusche gezielte Imaginationen hervor. Gegen Ende des vierten Akts deutet beispielsweise das Ensemble mit Kastagnetten und dem Erklingen eines Glöckchens das Geklapper von Pferdehufen an, als der Professor und seine Frau das Gut verlassen haben. Aber auch hinsichtlich solcher musikalischen Mittel vermögen höchst subjektive Assoziationen das Auff ührungsgeschehen zu ergänzen. So könnte zum Beispiel in der oben beschriebenen Szene des ersten Aktes das die Dialoge begleitende Zupfen auf der Gitarre Erinnerungen an Lagerfeuerabende längst vergangener Jugendreisen oder an Gitarrenunterricht in der Musikschule wachrufen. Wären Gerüche im Spiel, könnten auch diese bestimmte subjektive Assoziationen und Phantasien evozieren. Jedes sinnlich wahrnehmbare Detail der Auff ührung vermag Auslöser der begleitenden imaginativen Prozesse zu werden. Eine neutrale, rein-objektive Wahrnehmung ohne diese imaginative Aufladung gibt es nicht. Die Atmosphäre einer Auff ührung entfaltet sich zwischen Wahrnehmung und Denken, zwischen Präsenz und Repräsentation als ein Raum des Imaginativen, der sich als ein anderer Ort der 14. Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt a.M. 1991, S. 394. 15. Vgl. Wolfgang Iser: »Das Fiktive. Kein isolierbares Phänomen«, in: Dieter Henrich/Wolfgang Iser (Hg.): Funktionen des Fiktiven, München 1983, S. 479486, S. 486.
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Wahrnehmung, als Heterotopie der Sinne verstehen lässt. Heterotopisch ist er, da er sich nicht auf der Seite eines der Realität gegenübergestellten Imaginären verorten lässt, sondern von realen Sinneswahrnehmungen ausgeht, die mit imaginativen Eindrücken verknüpft werden. In diesem Zwischenraum hat die Einbildungskraft freies Spiel und ermöglicht mithin einen reziproken Austausch innerer und äußerer Bilder.
III. Einfühlung als verkörper te Einbildung Ähnlich wie bei Goschs Onkel Wanja ist es auch bei Michael Thalheimers Inszenierung von Die Ratten das Bühnenbild, das die Imagination des Zuschauers im entscheidenden Maße beeinflusst. Olaf Altmann hat einen Raum gebaut, den Gerhard Stadelmeier folgendermaßen beschreibt: »Ein riesiger schräg geschnittener Holzquader drückt vom Bühnenhimmel herab. Ein zweiter riesiger schräg geschnittener Holzquader presst sich von der Bühnenhölle herauf. Dazwischen lässt der Bühnenbildner Olaf Altmann gerade so viel Raum, dass sich die Figuren darin nur bewegen können, wenn sie die Köpfe einziehen. Lauter Gespenster mit Genickstarre. Gekrümmte, Gepresste. Aber nicht manieriert, ausgestellt, denunziert. Sondern in tiefer Not. Aus der heraus spielen sie.«16
Die Beschreibung des Kritikers lässt keine Zweifel: Von Beginn an verleiht die Präsenz des beeindruckenden und zugleich bedrückenden Bühnenbildes der Auff ührung eine bestimmte Bedeutung, die sich auch auf die Rezeption der dargestellten Handlung niederschlägt, ja ihr buchstäblich einen Rahmen vorgibt. Die enge Lage, in der sich die Figuren befinden, ist nicht allein metaphorisch, sondern für das Publikum sichtbar in Szene gesetzt. Etwa eineinhalb Meter misst der horizontale Spalt, in dem sich alles abspielt. Dabei scheint es für die Zuschauerwahrnehmung zunächst kaum von Relevanz zu sein, ob es sich bei diesem Zwischenraum um die Repräsentation von Frau Johns Wohnung oder des Dachbodens von Theaterdirektor Hassenreuter handelt. Vielmehr drängt sich dem Publikum zwangsläufig eine ganz andere Frage auf, die sich direkt auf das Spiel der Schauspieler in der Enge bezieht: Wie mag es sich wohl anfühlen – wie anstrengend muss es wohl sein, eine ganze Auff ührung lang in dieser gebückten Haltung zu spielen? Die Wahrnehmung der gebückten Akteure ist unangenehm, man 16. Gerhard Stadelmeier: »Genickstarre für Gespenster mit Muttertierpass«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8.10.2007, S. 40.
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sehnt sich förmlich danach, die Schauspieler sich einmal ausstrecken und aufrecht gehen zu sehen. Dieser Wunsch wird den Zuschauern verwehrt; im Gegenteil verstärkt sich eher der Eindruck der einzwängenden Enge im Verlauf der Auff ührung und kulminiert schließlich in einem Wutanfall von Herrn John kurz vor dem Ende, als die niedrige Bühnendecke zum Objekt der Aggression wird. Während der Schauspieler Sven Lehmann, der Herrn John spielt, die Worte brüllt »bei solchet Jesindel bleib ick nich … Aliens is hier morsch! Aliens unterminiert, von, Unjeziefer, von Ratten und Mäuse zerfressen!« haut er mit voller Wucht in seiner gebückten Haltung mehrmals mit der Faust an die niedrige Bühnendecke, als versuche er sich mit Gewalt aus dieser beklemmenden Enge und von den Lebenslügen seiner Frau zu befreien. Als Zuschauer fällt es nicht schwer, sich in diese Szene einzufühlen, visualisieren die Schläge des Herrn John gegen die niedrige Bühnendecke doch genau das, was man angesichts dieser gebückt spielenden Akteure empfindet: ein beklemmendes Körpergefühl räumlicher Enge. Das Bemerkenswerte an dieser Art ›Einfühlung‹ ist jedoch, dass es sich hier offenbar nur bedingt um eine Identifi kation mit der Figur des verzweifelten Herrn John handelt. Vielmehr scheint die Einfühlung auf einer verkörperten Vorstellung und Identifi kation mit dem auf der Bühne real anwesenden Schauspieler Lehmann zu beruhen. Einfühlung zielt hier nicht auf Repräsentation, sondern auf Präsenz. Die Imagination des Zuschauers bedeutet in diesem Fall nichts anderes, als sich vorzustellen oder besser vor-zuspüren, wie es wäre, selbst in der gekrümmten Haltung auf der Bühne zu stehen. Jede Vorstellung der Einbildungskraft gründet sich auf ein verkörpertes Erfahrungswissen, das jeder Zuschauer individuell mit in die Auff ührung hineinträgt. So wie die Einbildungskraft niemals allein auf der Seite der Repräsentation oder der Fiktion zu verorten ist, ist sie ebenso wenig ein rein kognitives Vermögen. Hingegen zeigt sich im Beispiel der Bühnenwahrnehmung hier genau das, was die Kognitionswissenschaft als ›embodied mind‹ bezeichnet.17 Unser Denken und unsere Imagination sind immer schon verkörpert, da jeder (kognitive) Zugang zur Welt auf einem körperlichen Erfahrungswissen basiert, das wir permanent während der gegenwärtigen Wahrnehmung unbewusst abrufen. Die Einfühlung als verkörperte Einbildung des Gefühls, wie sie im Auff ührungsbeispiel beim Zuschauen des Schauspielers Lehmanns erfolgt, ist allein aufgrund dieses verkörperten Wissens möglich; einem Wissen darüber, wie sich eine solche gebückte Haltung oder eine solche räumliche Enge anfühlt. Ob das Spiel den Schauspieler tatsächlich derart anstrengt, wie es sich der eine 17. Siehe hierzu: George Lakoff und Mark Johnson: Philosophy in the Flesh. The Embodied Mind and its Challenge to Western Thought, New York 1999.
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oder andere Zuschauer vorzustellen vermag, ist dabei letztendlich nebensächlich. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang viel eher, dass die Einbildungskraft hier eine weitere Dichotomie außer Kraft setzt: nämlich den Gegensatz vom Wahren und Falschen. Eingebildete Gefühle des Zuschauers im Sinne ›falscher‹ Gefühle gibt es nicht. Jede Einfühlung ist echt und zugleich eingebildet, da sie auf Imagination beruht. Damit bleibt sie in einem Zwischenraum, der sich nicht mit Kategorien wie wahr und falsch begreifen lässt. Versteht man die Einbildungskraft als das basale verkörperte Grundvermögen, in der Gegenwart Abwesendes vorzustellen, ist sie an jeder Wahrnehmung und jedem Denken beteiligt. Leib und Welt, Subjekt und Objekt, Sichtbares und Unsichtbares verschränken sich im verkörperten Imaginativen. Bei Maurice Merleau-Ponty wird dieser Chiasmus von Leib und Welt mittels des Begriffes des ›Fleisches‹ [chair] umrissen. Das Fleisch ist die Dichte dieser Welt, die all die latenten Bedeutungen, Querverweise und unsichtbaren Phantasien der Dinge unterfüttert. Das Fleisch ist die Schnittstelle, an der sich Leib und Welt treffen: »Die gesehene Welt ist nicht ›in‹ meinem Leib, und mein Leib ist letztlich nicht ›in‹ der sichtbaren Welt: als Fleisch, das es mit einem Fleisch zu tun hat, umgibt ihn weder die Welt, noch ist sie von ihm umgeben. […] Es gibt ein wechselseitiges Eingelassensein und Verflochtensein des einen ins andere.«18
Im Theater wird genau dieser verkörperte Zugang zur Welt, dieses Verflochtensein von Leib und Welt mittels der Einbildungskraft erfahren. Wenn die Akteure auf der Bühne in gebückter Haltung spielen und sie selbst beim Verbeugen am Ende keine Gelegenheit bekommen, aufrecht zu stehen, so erfahre ich die Auff ührung als Zuschauer weder als etwas rein objektives, als ein von mir getrenntes Sein, noch als rein subjektive gedankliche Vorstellung. Abschließend lohnt es sich, noch einmal zum Eingangsbeispiel Ghost Machine zurückzukehren und eine besonders nachhaltige Szene zu fokussieren. Sie spielt in einer der hintersten, intimsten Ecken des Theaters, einer Dusche im Umkleideraum für die Schauspieler. Der Videowalk führt den Zuschauer direkt an die Dusche heran. Sie befindet sich in einer Nische, eine gekachelte Wand versperrt den Blick. Doch lässt sich bereits aus der Ferne das Geräusch des plätschernden Wassers vernehmen – es duscht jemand darin. Je näher man an die Dusche herankommt, desto lauter ist das Rauschen zu hören. Schließlich scheint die duschende Person nur noch einen knappen Meter entfernt zu sein. Das Wasser spritzt, die audio18. M. Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 182.
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visuelle Wahrnehmung über Display und Kopf hörer lässt die Nässe fast schon spüren. Doch auch aus dieser Nähe lässt sich in die Dusche noch nicht hineinsehen – es ist nicht zu erkennen, wer sich darin befindet. Kurz lugt ein Arm, ein anderes Mal eine Schulter hervor – sie gehören einer Frau. Ihre Präsenz ist unheimlich, auf merkwürdige Weise scheint sie da und nicht da zu sein. Die Realität verschiebt sich zum Imaginären: Ist sie wirklich nicht wirklich? Es bleibt nur ein einziger Weg, die Frage zu beantworten: die Kamera sinken lassen und für einen kurzen Moment den Blick hinter die gekachelte Wand wagen. Der Anblick ist enttäuschend: Nichts außer dem weiß gekachelten Raum der Dusche ist zu sehen: gähnende Leere der Gegenwart. Es ist die nackte Wahrheit, die dem Zuschauer beim Abwenden des Blickes vom Display entgegenschlägt und die mit einem Augenblick jeden noch so unbegründeten Zweifel der Wahrnehmung auslöscht. Fast scheint es, als hätte jemand für einen kurzen Moment die Einbildungskraft ausgeschaltet und jeden Zugang zur Dichte der Welt verschlossen. Der weiße karge Raum der Wirklichkeit vermag hier als Sinnbild einer nüchternen Wahrnehmung ohne Imagination, eines Theaters ohne Einbildung dienen. Dass eine solche ›nackte‹ Wahrnehmung tatsächlich gar nicht möglich ist, wird selten bewusst, zu sehr ist unser Denken Dichotomien verhaftet. Subjekt und Objekt, Innen und Außen, Imaginäres und Reales bilden in unserer Kultur unvereinbare Gegensätze, ihr Zwischen bleibt in der Regel unerkannt. Die künstlich erzeugte Dichte des Videowalks lässt ein solches Zwischen erfahren und stößt dabei bei aller Einbildung auf etwas ganz Reales, auf ein grundlegendes Spiel zwischen Fiktion und Wirklichkeit, zwischen Wahrnehmung und Imaginärem, kurz: auf eine Heterotopie der Sinne. Denn die Welt ist nicht allein das Anwesende, Gegenwärtige, Sichtbare. Sie ist immer auch das Abwesende, das Was-wäre-wenn, das Vergangene und Zukünftige, das Fiktive und Phantastische, das Unverstandene und Unverfügbare. Die Einbildungskraft vermag dieses Abwesende zum Vorschein zu bringen und somit die Dichte der Welt zugänglich zu machen. Gerade weil die Einbildungskraft heimatlos ist, wie Heidegger es treffend anmerkte, weil sie wie eine Fähre zwischen zwei Ufern pendelt und dabei nie anlegt oder zur Ruhe kommt, lässt sie die Welt als Dichte erfahren. Auch Michel Foucault spricht in seinem Aufsatz Des espaces autres von Schiffen. Als Ort ohne Ort, als ins sich geschlossener, schwimmender Raum im endlosen Meer bezeichnet er das Schiff als Heterotopie par excellence. Zugleich sei das Schiff aber auch »das größte Reservoir für die Phantasie«. In »Zivilisationen ohne Schiffe«, so Foucault, »versiegen die Träume«. Vielleicht vermag uns das Theater als eine Art Schiff diesbezüglich einen Dienst erweisen.
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Heterotopie der Sinne. Überlegungen zur Einbildungskraf t des Zuschauers
Literatur Böhme, Gernot: Atmosphären. Essays zu einer neuen Ästhetik, Frankfurt a.M. 1995. Deleuze, Gilles: Die Falte. Leibniz und der Barock, Frankfurt a.M. 2000. Foucault, Michel: »Von anderen Räumen«, übersetzt von Michael Bischoff, in: ders., Schriften Bd. 4, Frankfurt a.M. 2005, S. 931-942. Iser, Wolfgang: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt a.M. 1991. Iser, Wolfgang: »Das Fiktive. Kein isolierbares Phänomen«, in: Henrich Dieter/Wolfgang Iser (Hg.), Funktionen des Fiktiven, München 1983, S. 479-486. Lakoff, George/Johnson, Mark: Philosophy in the Flesh. The Embodied Mind and its Challenge to Western Thought, New York 1999. Merleau-Ponty, Maurice: Das Sichtbare und das Unsichtbare, übersetzt von Bernhard Waldenfels, München 2004. Schaub, Mirjam (Hg.): Janet Cardiff. The Walk Book, Wien 2005. Schouten, Sabine: Sinnliches Spüren. Wahrnehmung und Erzeugung von Atmosphären im Theater, Berlin 2007. Stadelmeier, Gerhard: »Genickstarre für Gespenster mit Muttertierpass«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8.10.2007, S. 40.
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Die Szene des Unkörperlichen. (Trans-)Formationen von Zeit, Raum und Text in Stifters Dinge von Heiner Goebbels André Eiermann
Das Rauschen, welches wir früher in den Lüften gehört hatten, war uns jetzt bekannt; es war nicht in den Lüften, jetzt war es bei uns. In der ganzen Tiefe des Waldes herrschte es ununterbrochen fort, und entstand, wie die Äste und Zweige krachten und zur Erde fielen. Es war umso fürchterlicher, da alles Andere unbeweglich stand. Von dem ganzen Geglizzer und Geglänze rührte sich kein Zweig und keine Nadel, außer wenn nach einem Eisfalle irgendein Ast empor schlug. Dann war es wieder ruhig. Wir harreten, und schauten hin, ich weiß nicht, war es Bewunderung oder Furcht, in das Ding hinein zu fahren.1 Adalbert Stifter
Vom Theater – und gerade vom postdramatischen – wird für gewöhnlich erwartet, dass es seinen Zuschauern eine besondere Erfahrung von Körperlichkeit, von Materialität, von phänomenaler Leiblichkeit und von unmittelbarer Präsenz verschaff t. Und betrachtet man die einschlägigen theaterwissenschaftlichen Veröffentlichungen der letzten Jahre – insbesondere die Beiträge zur Entwicklung einer ›Ästhetik des Performativen‹ –, so entsteht leicht der Eindruck, dass es genau dies auch tut. Doch während im aktuellen theaterwissenschaftlichen Diskurs solche Stimmen die Oberhand gewonnen haben, die nach wie vor als cutting edge ausgeben, was vor nunmehr fast einem halben Jahrhundert den subversiven Charak1. Adalbert Stifter: Die Mappe meines Urgroßvaters (Auszug), Programmheft Stifters Dinge, Théatre Vidy-Lausanne, 2007.
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ter der Neo-Avantgarden ausmachte, mittlerweile jedoch längst im Programm von Sendern wie MTV angekommen ist 2, sind zahlreiche Auff ührungen entstanden, die gerade nicht mehr auf die Betonung vermeintlich unmittelbarer Präsenz setzen. Vielmehr wird im zeitgenössischen Theater inzwischen in zunehmendem Maße Mittelbarkeit, Abwesenheit, Unterbrechung und – wie im Folgenden gezeigt werden soll – Unkörperlichkeit ausgespielt. Die Notwendigkeit, im Sinne des vorliegenden Bandes wie auch seines Vorgängers theaterwissenschaftliche Alternativen zur »Methodik und Rhetorik der gängigen Rezeptionspraxis«3 sowie der »fast ausschließlich postdramatisch und performativ geprägten Untersuchungen« 4 der letzten Jahre zu erschließen, wird mit Blick auf diese Entwicklung besonders deutlich. In diesem Sinne wird eine Arbeit fokussiert, aus deren Untersuchung sich insbesondere hinsichtlich der Frage, wie sich die neben und mit dem Text in die Transformationsprozesse der zeitgenössischen szenischen Kunst involvierten Parameter der Zeitlichkeit und der Räumlichkeit verhalten, entscheidende Konsequenzen ziehen lassen. Bei diesem Beispiel handelt es sich um Stifters Dinge von Heiner Goebbels – eine Arbeit, die geradezu danach verlangt, nicht anhand jenes »vor allem performativ«5 geprägten Vokabulars beschrieben zu werden, aus welchem sich in den letzten Jahren »eine neue Fachsprache konstituiert hat«6, die zugunsten einer Unmittelbarkeits- und Präsenzemphase nicht nur »avancierte fundierte Ansätze einer Theorie des Textes […] vernachlässigt«7, sondern auch die Aspekte der Zeitlichkeit und der Räumlichkeit in einer Weise ans Primat der Körperlichkeit zurückbindet, die zahlreichen Arbeiten des zeitgenössischen Theaters nicht mehr gerecht wird. Als terminologische Alternative ist in diesem Zusammenhang der auf die Stoiker zurückgehende Begriff des Unkörperlichen geradezu prädestiniert. Genauer gesagt: Nicht der Begriff des Unkörperlichen im Singular – ein, so Anne Cauquelin, »allgemeiner und hohler Begriff«8 –, sondern der Begriff der Unkörperlichen bietet sich auf besondere Weise als Alternative 2. Hier sei auf die Selbstverletzungs- und andere Grenzüberschreitungspraktiken von Jack Ass, Mindfreak oder der Bloodhound Gang verwiesen. 3. Stefan Tigges: »Dramatische Transformationen. Zur Einführung«, in: ders. (Hg.), Dramatische Transformationen – Zu gegenwärtigen Schreib- und Aufführungsstrategien im deutschsprachigen Theater, Bielefeld 2008, S. 10. 4. Ebd., S. 9. 5. Ebd. 6. Ebd. 7. Ebd., S. 10. 8. Anne Cauquelin: Verkehr mit den Unkörperlichen, Berlin 2007, S. 17.
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zu jener Körperlichkeitsemphase an, welche den aktuellen theaterwissenschaftlichen Diskurs dominiert. Denn den Stoikern zufolge gibt es, wie Cauquelin betont, vier Unkörperliche, nämlich die Zeit, den Ort, die Leere und das Ausdrückbare.9 Und dieser Plural, so Cauquelin weiter, ändere alles.10 In der Tat ändert dieser Plural insbesondere in Bezug auf die zeitgenössische szenische Kunst alles. Denn er ermöglicht, die (Trans-)Formationen von Zeit, Raum und Text in ihren Zusammenhängen zu beschreiben, ohne sie – wie es vor allem in Erika Fischer-Lichtes Ästhetik des Performativen der Fall ist – auf Grundlage der Prämisse einer »leiblichen Ko-Präsenz« von Akteuren und Zuschauern allein im Hinblick auf eine »Hervorbringung von Materialität« und eine daraus lediglich als Sekundärphänomen resultierende »Emergenz von Bedeutung« zu untersuchen.11 Insbesondere die Vernachlässigung der textuellen bzw. sprachlichen Dimension von Auff ührungen zugunsten der Betonung einer puren Lautlichkeit bzw. Materialität der Stimme12 lässt sich durch einen in den Plural gesetzten Begriff des Unkörperlichen überwinden. Denn Zeit, Ort, Leere und Ausdrückbares sind jeweils, so Cauquelin, »abhängig von den anderen.« 13 Was ihr zufolge die Einzigartigkeit der stoischen These ausmacht, ist »die Hinzufügung dieses Ausdrückbaren, lekton, und seine Verschmelzung mit den drei anderen Begriffen«14. Der Begriff der Unkörperlichen ermöglicht somit, die Erfahrung von Zeitlichkeit und Räumlichkeit als solche zu beschreiben, die immer schon mit Sprachlichkeit verwoben ist. Wie notwendig – um nicht zu sagen: längst überfällig – eine solche Veränderung des theoretischen Ansatzes ist, verdeutlicht die in Bezug auf die Texte des Romantikers Adalbert Stifter betitelte Arbeit Stifters Dinge von Heiner Goebbels auf besondere Weise.15 Denn diese Arbeit zeigt, dass bereits die Prämisse einer leiblichen Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern, die Fischer-Lichte gleichsam als wesentliches Merkmal wie als Bedingung der Auff ührung beschreibt, nicht haltbar ist. Stifters Dinge ist 9. Ebd. 10. Ebd. 11. Vgl. Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M.
2004. 12. Vgl. ebd., S. 209-227, insbesondere S. 219-227. 13. Anne Cauquelin: Verkehr mit den Unkörperlichen, S. 28. 14. Ebd., S. 27. 15. Die Premiere fand am 13.09.2007 am Théâtre Vidy Lausanne statt. Ich habe die Arbeit dort am 12.09.2007 als Voraufführung gesehen – sowie als Generalprobe am 15.11.2007 im Rahmen des Festivals Spielart in der Muffathalle München.
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nämlich, so das Programmheft, »ein Theaterstück ohne Schauspieler, eine Performance ohne Performer – eine no-man-show also«16. Und in der Tat sind die einzigen Personen, die in Stifters Dinge auf der Bühne agieren – und zwar lediglich zu Beginn der Auff ührung –, zwei Theatertechniker, die im buchstäblichen Sinne den Boden für den Auftritt der eigentlichen Protagonisten bereiten, bei denen es sich nun gerade nicht um menschliche Akteure handelt. Vielmehr bekommt es das Publikum in der folgenden Stunde mit einem Ensemble umtriebiger Gegenstände zu tun, das sich insbesondere aus fünf mutierten Klavieren sowie aus diversen Blechen und Rohren zusammensetzt, die sich immer wieder ohne erkennbare Ursachen in Bewegung setzen und auf diese Weise die unterschiedlichsten Klänge erzeugen. Dies geschieht im Zusammenspiel mit wechselnden Lichtstimmungen, mit Bild- und Schriftprojektionen, mit sich senkenden und hebenden, halbtransparenten Leinwänden, mit fließendem und tropfendem Wasser, das in drei rechteckigen Becken aufgefangen wird, die fast den gesamten Bühnenboden bedecken, mit immer wieder auftauchendem Nebel, der hier und da in Schwaden durch den Raum zieht oder aus den Wasserbecken hervorblubbert, sowie mit den Stimmen von u.a. Claude Lévi-Strauss, Malcolm X und William S. Burroughs, die aus kleinen Lautsprechern am Bühnenrand zu hören sind. Abbildung 1: Text: Heiner Goebbels: Stifters Dinge (Théâtre Vidy. Lausanne 2007), Foto: Mario del Curto
16. Zitiert aus dem Programmtext zu Stifters Dinge, Lausanne 2007.
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Anhand der Darbietung einer derart menschenleeren Bühne stellt Stifters Dinge nun aber nicht allein die gängige, an der leiblichen Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern festgemachte Definition des Auff ührungsbegriffs infrage. Darüber hinaus zeigt die Arbeit auch, dass sich das zeitgenössische Theater dort, wo es anstelle von Akteuren Gegenstände inszeniert, keinesfalls allein an einer Hervorbringung von Materialität abarbeitet, die sich an einer angeblich besonderen Präsenz des menschlichen Körpers orientiert. Denn weil sich die Ursachen jener Umtriebigkeit, welche die Gegenstände in Stifters Dinge an den Tag legen, nie vollständig erschließen lassen, treten diese Gegenstände nicht als jene »ekstatischen Dinge« auf, als welche Erika Fischer-Lichte im Anschluss an Gernot Böhme solche Gegenstände beschreibt, deren Inszenierung einer vermeintlichen Unmittelbarkeit menschlicher Präsenz gleichsam nacheifert wie hinterherhinkt, weil die Gegenwärtigkeit von Gegenständen »nicht als Alsembodied-mind-in-Erscheinung-Treten beschrieben werden«17 könne und weil ein Gegenstand somit im Gegensatz zu einem menschlichen Akteur nicht dazu in der Lage sei, »Energie zu erzeugen, die zwischen ihm und den Zuschauern zirkuliert und auf diese unmittelbar einwirkt.« In der Tat: Zwischen Gegenständen und Zuschauern kann nicht jener Kausal- bzw. Wechselwirkungszusammenhang entstehen, welchen Fischer-Lichte als »autopoietische feedback-Schleife« der gegenseitigen Wahrnehmungen von Akteuren und Zuschauern sowie gleichsam als wesentliches Charakteristikum der Auff ührung beschreibt. Gerade weil jedoch eine solche feedback-Schleife zwischen Gegenständen und Zuschauern nicht zustande kommen kann, ist Stifters Dinge so aufschlussreich, d.h. verdeutlicht diese Arbeit so nachdrücklich, dass sich Auff ührungen eben nicht allein aufgrund solcher feedback-Schleifen ereignen. Die Auff ührung von Stifters Dinge ereignet sich als etwas, das sich – um mit Slavoj Žižek zu sprechen – »auf der Ebene körperlicher Ursachen und Effekte nicht angemessen beschreiben läßt.« 18 Statt aus einer autopoietischen feedback-Schleife hervorzugehen, ist sie vielmehr ein Ereignis, das – weil die »Kette seiner körperlichen Ursachen nicht vollständig ist« 19, d.h. weil die Ursachen der in seinem Rahmen auftretenden Bewegungen und Klänge weder vollständig wahrnehmbar noch Teil eines Wechselwirkungszusammenhangs mit den Wahrnehmungen der Zuschauer sind – jene Quasi-Kausalität ins Spiel bringt, die Gilles Deleuze auf Grundlage 17. Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 173 u. S. 169. 18. Slavoj Žižek: Körperlose Organe – Bausteine für eine Begegnung zwischen Deleuze und Lacan, Frankfurt a.M. 2005, S. 47 (Hervorhebungen übernommen). 19. Ebd., S. 46.
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der stoischen Philosophie als Exzess einer unkörperlichen Wirkung über ihre körperlichen Ursachen beschreibt20 – und den Žižek mit Jacques Lacans Begriff des »Objekt a«, d.h. mit der sich stets entziehenden ObjektUrsache des Begehrens verbindet.21 Stifters Dinge eröffnet in diesem Sinne eine Szene des Unkörperlichen, auf der die Gegenstände nicht als ekstatische Dinge, sondern vielmehr als exzessive Objekte auftreten. Die Gegenstände legen es sozusagen nicht darauf an, »dem Wahrnehmenden in besonderer Weise als gegenwärtig [zu] erscheinen, sich seiner Aufmerksamkeit auf[zu]drängen«22 oder gar im Sinne Dieter Merschs »im aufmerksamen Gewahren […] vermenschlicht«23 zu werden. Statt die Wahrnehmenden gewissermaßen zu spiegeln und ihr Begehren vermeintlich zu befriedigen, bringen Goebbels’ Gegenstände jene Dimension ins Spiel, welche sich mit Georges Didi-Huberman als diejenige des Objekt[s] »im radikalen, metapsychologischen Sinne des Begriffs« beschreiben lässt, d.h. als Dimension eines Entzugs, der als »Motor […] des Begehrens« fungiert.24 Statt sich ihrer Vermenschlichung anzubieten, legen die Gegenstände die »Unmenschlichkeit einer autonomen Form« an den Tag, »die ihr Eigenleben als reines Objekt ›lebt‹, das voller Wirkungskraft ist«25 – und zwar voller unkörperlicher, ihren körperlichen Ursachen gegenüber exzessiver Wirkungskraft. Dabei ist es nun nicht allein die Unabhängigkeit ihrer Umtriebigkeit vom Wechselwirkungszusammenhang einer autopoietischen feedbackSchleife, die diese Exzessivität zum Tragen bringt, sondern auch das Verhältnis der Gegenstände untereinander. Zwar gehen deren Wirkungskräfte immer wieder in audiovisuelle Zusammenspiele ein, in denen beispielsweise die Bleche und Rohre den Rhythmus klopfen, während die Klaviere Akkordfolgen erklingen lassen. Doch ändert dies nichts daran, dass die 20. Vgl. Gilles Deleuze: Logik des Sinns, Frankfurt a.M. 1993. 21. Vgl. S. Žižek: Körperlose Organe, S. 46. 22. Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 202. 23. Dieter Mersch: Ereignis und Aura – Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M. 2002, S. 51. 24. Georges Didi-Huberman: Was wir sehen blickt uns an: Zur Metapsychologie des Bildes, München 1999, S. 127 u. S. 115. Die von Stifters Dinge eröffnete Szene des Unkörperlichen lässt sich somit auch als »phantasmatischer Schauplatz« in jenem Sinne beschreiben, in welchem Žižek diesen Begriff erläutert: »Was das Phantasma inszeniert, ist nicht ein Schauplatz, an dem unser Begehren erfüllt, vollkommen befriedigt werden könnte, sondern im Gegenteil ein Schauplatz, der als solcher das Begehren realisiert und inszeniert.« (Slavoj Žižek: Mehr-Genießen. Lacan in der Populärkultur (Wo Es war No 1), Wien 2000, S. 15. 25. G. Didi-Huberman: Was wir sehen blickt uns an, S. 220f.
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Gegenstände jeweils von einer auff älligen ›Eigensinnigkeit‹ gekennzeichnet sind: Weder lassen sie sich auf visueller Ebene in ein statisches Tableau einbetten, noch fügen sie sich auf akustischer Ebene je endgültig in die zustande kommenden Arrangements ein. Vielmehr verhalten sie sich den audiovisuellen Zusammenhängen gegenüber ebenso exzessiv, wie sie dem Wechselwirkungszusammenhang einer feedback-Schleife äußerlich sind. Sowohl ihre Bewegungen als auch ihre Klänge verselbständigen sich immer wieder und widersetzen sich so kontinuierlich der Einbeziehung in ein homogenes Ganzes. In Stifters Dinge kommen im Sinne von Deleuze »überhaupt keine Dingzustände oder Mischungen in der Tiefe der Körper mehr« zum Tragen, »sondern unkörperliche Ereignisse auf der Oberfläche«26. Und dies ist gleichermaßen auf zeitlicher, räumlicher sowie textueller Ebene der Fall. Genauer gesagt: In Stifters Dinge kommt es zu jenem »Verkehr mit den Unkörperlichen« im Sinne Cauquelins, d.h. zur Erfahrung der Verwobenheit von Zeit, Ort, Leere und Ausdrückbarem. Aufgrund dieser Verwobenheit stellt sich nun allerdings auf den ersten Blick das selbe Problem, auf das auch Cauquelin zu Beginn ihrer Beschreibung der Unkörperlichen stößt: »Wir können sie nämlich nicht isolieren, um sie einzeln zu behandeln, jedes von ihnen ist abhängig von den anderen. […] Wir können auch nicht alles auf einmal und gleichzeitig präsentieren: die Ordnung des Diskurses entzieht sich dem. Was tun also, außer mit einem Teil zu beginnen, ganz gleich welchem?«27
Doch ganz gleich ist es im hier eröff neten Kontext nun nicht, mit welchem Teil der Unkörperlichen begonnen wird, und zwar deshalb nicht, weil es im Fall von Stifters Dinge der Aspekt der Zeit ist, der sich noch am ehesten anhand eines performativ gelenkten Vokabulars beschreiben zu lassen scheint. Tatsächlich kommen in Stifters Dinge keine, so Fischer-Lichte, »Verfahren der zeitlichen Strukturierung« zur Anwendung, die »das Auftauchen eines Elementes auf bestimmte Ursachen zurückzuführen suchen und es so als Glied einer Kausalkette ausweisen«28. Auch spricht auf den ersten Blick nichts dagegen, in Bezug auf das Auftauchen und Verschwinden der Bewegungen und Klänge von jenen diskontinuierlichen »Zeit-Inseln« zu sprechen, welche Fischer-Lichte zufolge »die Erfahrung einer spezifischen
26. G. Deleuze: Logik des Sinns, S. 21. 27. A. Cauquelin: Verkehr mit den Unkörperlichen, S. 28. 28. E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 228.
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Zeit-losigkeit« bzw. »die Erfahrung von Diskontinuitäten, von Brüchen, von Zusammenhangslosigkeit«29 hervorrufen.30 Entscheidend ist in diesem Zusammenhang jedoch, dass in Stifters Dinge nicht bloß die Kausalkette des Ablaufs einer dramatischen, »zusammenhängenden Handlung […] und psychologischen Entwicklung von Figuren«31 fehlt, sondern auch und gerade der Wechselwirkungszusammenhang einer autopoietischen feedback-Schleife. Ein auf der Prämisse einer sowohl leiblichen Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern als auch einer autopoietischen feedback-Schleife beruhender Begriff von ›Zeit-Inseln‹ wird deshalb der in Stifters Dinge zum Tragen kommenden Zeitlichkeit nur teilweise gerecht. Genauer gesagt: Anhand dieses Begriffs lässt sich lediglich das Körperliche der Zeit beschreiben, d.h. »der Moment […], der dem Zeitlosen einen Körper gibt und es zur Zeit werden läßt.«32 Doch die von Stifters Dinge ausgespielte Zeitlichkeit erschöpft sich nicht in diesem körperlichen Aspekt der Zeit. Sie besteht nicht nur darin, dass sich Zeit in Form von ›Zeit-Inseln‹ verkörpert bzw. – wie Fischer-Lichte schreibt – verräumlicht.33 ›Zeit-losigkeit‹ besteht in Stifters Dinge nicht bloß im postdramatischen Fehlen von »Zeit-Schichten« wie derjenigen einer »Zeit des Dramas« oder einer »Zeit der fiktiven Handlung« im Sinne Hans-Thies Lehmanns.34 Vielmehr wird in Stifters Dinge – weil die ›Zeit-Inseln‹ nicht aus dem Kausalzusammenhang einer autopoietischen feedback-Schleife hervorgehen – jene »zeitlose Zeit« erfahrbar, welche im Sinne Cauquelins »den gegenwärtigen Augenblick mit einem unkörperlichen Halo«35 umgibt. Die Bewegungen und Klänge treten als unkörperliche Wirkungen ohne die körperlichen Ursachen einer autopoietischen feedback-Schleife auf, d.h. sie halten sich jeweils als »Wirkung […] allein, ohne daß es nötig wäre, nach Ursachen 29. Ebd., S. 230 u. S. 231. 30. Vgl. auch die ähnliche Diagnose zur postdramatischen Zeitästhetik, die Hans-Thies Lehmann in Form des folgenden Zitats stellt: »Brüche und Diskontinuitäten zerstören die glatte Oberfl äche der Kunstwerke und gewähren einer Präsenz Raum, die nicht die der verfließenden Gegenwart im Zeit-Kontinuum ist, sondern vielmehr ihre Unterbrechung.« (Georg Christoph Tholen/Michael Scholl (Hg.): Zeit-Zeichen. Aufschübe und Interferenzen zwischen Endzeit und Echtzeit, Weinheim 1990, S. 13; zitiert in H.-Th. Lehmann, Postdramatisches Theater, Frankfurt a.M. 2005, S. 345.) 31. E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 230. 32. A. Cauquelin: Verkehr mit den Unkörperlichen, S. 100. 33. Vgl. E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 231. 34. Vgl. H.-Th. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 309-313. 35. A. Cauquelin: Verkehr mit den Unkörperlichen, S. 103.
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oder Fortsetzungen zu suchen«36. Vielmehr stehen sie zueinander in umkehrbaren Beziehungen der Quasi-Kausalität.37 Sie sind »reine Ereignisse« im Sinne Deleuzes, die weniger eine besondere, ekstatische Gegenwärtigkeit erfahrbar machen, als vielmehr »die Gleichzeitigkeit eines Werdens, dessen Eigenheit es ist, sich dem Gegenwärtigen zu entziehen« und »weder die Trennung noch die Unterscheidung von Vorher und Nachher, von Vergangenem und Künftigem« zu vertagen, weil es »in beide Richtungen gleichzeitig verläuft«38. So werden Goebbels’ Gegenstände in diesem Sinne, d.h. sie werden aufgrund ihrer exzessiven Umtriebigkeit zur gleichen Zeit anders, als sie waren, und anders, als sie sind. Neben Deleuzes Begriff des Werdens bietet sich in diesem Kontext auch Henri Bergsons Begriff der ›Dauer‹ als Alternative zu Fischer-Lichtes Rede von einer ›Zeit-losigkeit‹ – und ebenso als Alternative zu Cauquelins Begriff einer ›zeitlosen Zeit‹ – an, vor allem aber als Alternative zur Beschreibung einer Verräumlichung der Zeit in Form von ›Zeit-Inseln‹. Denn der Begriff der Dauer steht für die Durchdringung vergangener und gegenwärtiger Bewusstseinszustände bzw. für die Verschmelzung nachträglicher Erinnerung und aktueller Erfahrung. Zeit hingegen wird von Bergson als »eine dem Raum entlehnte symbolische Vorstellung von der Dauer«39 beschrieben, die deren Heterogenität in die Homogenität zählbarer Augenblicke übersetzt. Gerade dies ist nun in Stifters Dinge nicht der Fall. Statt zählbare ›Zeit-Inseln‹ zu präsentieren, statt ein Nebeneinander körperlicher Ursachen und (Wechsel-)Wirkungen darzubieten, das – in den Worten Bergsons – »den Raum einschmuggelt« 40 und so den qualitativen Charakter der Dauer in den quantitativen Charakter der Zeit überführt, entfaltet Stifters Dinge ein heterogenes Geschehen unkörperlicher Wirkungen und reiner Ereignisse, in dessen Wahrnehmung es zu jener Durchdringung vergangener und gegenwärtiger Bewusstseinszustände, zu jener Verschmelzung nachträglicher Erinnerung und aktueller Erfahrung kommt, für welche der Begriff der Dauer steht.
36. Ebd., S. 110. 37. Zwar spricht auch E. Fischer-Lichte im Rahmen ihrer Überlegungen zum Rhythmus in Aufführungen von einer »Art feedback-Schleife […], welche die Frage nach Ursache und Wirkung obsolet werden läßt.«. Doch koppelt sie diese paradoxerweise gleich im nächsten Schritt ihrer Argumentation wieder an ein »unmittelbares wechselseitiges körperliches Einwirken von Akteuren und Zuschauern« zurück. Vgl. E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 238f. 38. Gilles Deleuze: Logik des Sinns, S. 15. 39. Henri Bergson: Zeit und Freiheit, Hamburg 2006, S. 84. 40. Ebd., S. 80.
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Wenn so beispielsweise das Tableau der fünf mutierten Klaviere, das sich die meiste Zeit im Hintergrund der Bühne befi ndet, nach einer Weile beginnt, sich – zunächst fast unmerklich – dem Publikum zu nähern, sich über die Wasserbecken nach vorne zu schieben und sich dabei auch in seiner eigenen Tiefe zu dehnen, so werden die Klaviere im selben Moment sowohl kleiner als auch größer, sprich: sie werden gleichzeitig als näher erfahren und als ferner erinnert. Und dies ist auch dann noch der Fall, wenn die Geschwindigkeit sowohl der Vorwärtsbewegung des Tableaus als auch der Einzelbewegungen der Gegenstände zunimmt und die Klaviere sich schließlich an der Rampe – gewissermaßen hysterisch – verausgaben. Auch in dieser Nähe bleibt eine Ferne enthalten, auch die gemeinsame Hyperaktivität der Klaviere bleibt ein Verhältnis unkörperlich-unmenschlicher, autonomer Wirkungskräfte. Spricht Heiner Goebbels in Bezug auf Stifters Dinge selbst von einer »Entschleunigung« – die er auch in Stifters Erzählungen sieht und die den Anknüpfungspunkt der Inszenierung an diese Erzählungen darstellt 41 –, so ist dies also weniger im Sinne einer Verlangsamung zu verstehen, als vielmehr im Sinne einer Enträumlichung der Dauer, die sowohl anhand von Beschleunigungen als auch anhand von Verlangsamungen umgesetzt wird. Diese Entschleunigung gibt den Dingen keinen quantitativen Zeit-Raum, sondern lässt sie qualitativ dauern. Sie ermöglicht die Erfahrung einer qualitativen, heterogenen Dauer anstelle einer quantitativen, homogenen Zeit. Dass sich in Stifters Dinge eine solche Enträumlichung der Dauer vollzieht, bedeutet nun jedoch keineswegs, dass der Raum in dieser Arbeit keine Rolle spielt. Vielmehr tritt auch er als Unkörperliches auf, genauer gesagt als Verhältnis der beiden Unkörperlichen des Ortes und der Leere – die, so Diogenes Laertios, »ein und dasselbe [sind], das ›Leere‹ genannt wird, wenn kein Körper sie besetzt, und ›Ort‹, wenn es von irgendeinem Körper besetzt wird.« 42 Auf besondere Weise wird dies in einer Szene deutlich, in der eine kleine Leinwand auf der ansonsten dunklen Bühne durch die Projektion des Gemäldes Jagd bei Nacht von Paolo Uccello ›schwebt‹ und auf diese Weise Projektions-Fragmente sichtbar macht, während sich die bildliche Umgebung dieser Fragmente allenfalls dunkel und verzerrt auf den übrigen Gegenständen abzeichnet. 43 Sowohl im Bühnen- als auch im Bild41. Vgl. Dorte Lena Eilers/Frank Raddatz: »Der Zuschauer als Souverän« (Interview mit Heiner Goebbels), in: Theater der Zeit 12 (2007), S. 8-15. 42. Vgl. Diogenes Laertios: Leben und Lehre der Philosophen, Stuttgart 1998, S. 346. Zitiert in A. Cauquelin: Verkehr mit den Unkörperlichen, S. 32. 43. Auf diesem um 1460 entstandenen Gemälde ist eine reitende Jagdgesellschaft mit Hunden sowie gejagtes Wild in einem nächtlichen Wald zu sehen.
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Raum entstehen so permanent sowohl neue Leeren als auch neue Orte, weil der Leinwand-Körper aufgrund seiner Bewegung stets gleichzeitig einen Ort besetzt und eine Leere hinterlässt. Und diese Gleichzeitigkeit der Besetzung eines Ortes und der Eröffnung einer Leere findet ebenfalls statt, wenn einzelne Elemente des Bühnenbilds separat beleuchtet werden, wie beispielsweise die Tastaturen der Klaviere – wobei in diesem Fall gewissermaßen die Beleuchtung einen Ort besetzt, indem sie einen Körper sichtbar macht, und eine diesen Ort umgebende Leere eröffnet, indem sie andere Körper nicht sichtbar macht. Wie Zeitlichkeit, so kommt also auch Räumlichkeit in Stifters Dinge nicht allein in ihrer körperlichen Dimension zum Tragen. Ihre Erfahrung erschöpft sich keineswegs in der Erfahrung jener »Atmosphären« bzw. »Sphären der Anwesenheit«, welche Fischer-Lichte ebenfalls – d.h. wie im Fall ihrer Beschreibung der Gegenwärtigkeit von Gegenständen als »Ekstase der Dinge« – im Anschluss an Böhme und als Charakteristikum der sich in Auff ührungen entfaltenden Räumlichkeit beschreibt. 44 Und dass es Goebbels eben darum geht, mit seinen Inszenierungen nicht allein Sphären der Anwesenheit, sondern vor allem auch Sphären der Abwesenheit zu schaffen, wird besonders deutlich, wenn er auf Böhmes Beschreibung »akustischer Atmosphären« Bezug nimmt. Denn wie Goebbels betont, muss insbesondere »[b]eim Hören […] die Frage nach der Präsenz anders gestellt werden« 45, und zwar aufgrund der Eigenschaft von Klängen und Stimmen, sich von ihren Ursachen zu lösen und sich diesen gegenüber exzessiv zu verhalten. Von Interesse ist für ihn in diesem Zusammenhang zunächst folgende Beobachtung Böhmes: »[D]as Charakteristische von Stimmen, Tönen, Geräuschen ist, dass sie von ihren Ursprüngen getrennt werden können bzw. sich selbst von ihnen trennen.« 46 Doch ausgehend von dieser Feststellung liest Goebbels die Überlegungen Böhmes zu akustischen Atmosphären nun gerade nicht im Sinne einer selbstbestätigenden Erfahrung körperlicher Anwesenheit. Vielmehr geht er mit Böhme über Das Waldmotiv stellt in Stifters Dinge – in Bezug auf Stifters Natur- und insbesondere Waldbeschreibungen – ein Leitmotiv dar. 44. Vgl. E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 200-209, sowie Gernot Böhme: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt a.M. 1995. 45. Heiner Goebbels: »Was wir nicht sehen zieht uns an – Vier Thesen zu Call Cutta«, in: Miriam Dreysse/Florian Malzacher (Hg.), Experten des Alltags. Das Theater von Rimini Protokoll, Berlin 2007, S. 122. 46. Gernot Böhme: »Akustische Atmosphären. Ein Beitrag zur ökologischen Ästhetik«, in: Institut für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt (Hg.), Klang und Wahrnehmung: Komponist, Interpret, Hörer, Mainz/London/Madrid u.a. 2001, S. 46f. Vgl. H. Goebbels: »Was wir nicht sehen zieht uns an«, S. 122.
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Böhme hinaus, indem er eine alternative Lesart des Begriffs der akustischen Atmosphäre vorschlägt. Zunächst bezieht er sich dabei auf die folgende Diagnose Böhmes, in der das Hören verselbständigter Stimmen noch an die Erfahrung körperlicher Anwesenheit zurückgebunden ist: »Im Hören, das Ton, Stimme und Geräusch nicht auf die Gegenstände, von denen sie herrühren, überspringt, spürt der Hörende Stimme, Ton, Geräusch als Modifikation des Raumes seiner eigenen Anwesenheit. Wer so hört, ist gefährlich offen, er lässt sich hinaus in die Weite und kann deshalb von akustischen Ereignissen getroffen werden.[…] Hören ist ein Außer-Sich-Sein, es kann gerade deshalb das beglückende Erlebnis sein, zu spüren, dass man überhaupt in der Welt ist.«47
Goebbels geht es jedoch gerade darum, die von Böhme betonte »gefährliche Offenheit« nicht durch das »beglückende Erlebnis« eigener Anwesenheit wieder aufzufüllen und somit zu schließen. Anders formuliert: Das ›beglückende Erlebnis‹ besteht für Goebbels nicht in der Erfahrung eigener Anwesenheit, sondern gerade in derjenigen jener ›gefährlichen Offenheit‹. Entsprechend formuliert er: »Eine erste These könnte also sein […]: Ein Theater, das wesentlich über das Hören definiert ist und dieses Hören vom Sehen zu trennen vermag, lässt wichtige Freiräume für die je individuelle Wahrnehmung aller – jedes Zuschauers, jeder Zuschauerin. Eine weitere These könnte sein: In diesem beunruhigenden Freiraum […], den eine Aufführung hinterlassen mag, die zwar durch große akustische Präsenz, aber durch konsequente szenische Zurückhaltung und ein leeres Zentrum geprägt ist –, in diesem merkwürdig schillernden ›Außersichsein‹ liegt eine Chance. In dieser ›Abwesenheit‹ liegt die Chance für die Wahrnehmung von etwas, das wir noch nicht kennen, da die narzisstische Bestätigung durch ein Spiegelbild an der Rampe verweigert wird.«48
Tatsächlich umstellen die in Stifters Dinge auftretenden Körper – sowohl als Klang- oder Stimmkörper49 auf akustischer Ebene als auch als proji47. G. Böhme: »Akustische Atmosphären«, S. 47. Zitiert in H. Goebbels, »Was wir nicht sehen zieht uns an«, S. 122. Goebbels betont anhand einer Einfügung in das Zitat, dass sich Klänge nicht nur von Gegenständen, sondern auch von Personen trennen können. 48. H. Goebbels: »Was wir nicht sehen zieht uns an«, S. 122f. 49. Zum Begriff des Stimmkörpers vgl. Helga Finter: »Der imaginäre Körper: Text, Klang und Stimme in Heiner Goebbels’ Theater«, in: Wolfgang Sandner (Hg.), Heiner Goebbels – Komposition als Inszenierung, Berlin 2002, S. 108-113.
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zierte Wort- und Bildkörper sowie Bühnenbildelemente auf visueller Ebene – vielmehr ein Zentrum, als dass sie es besetzen. Genauer gesagt: Entweder umstellen die von den Körpern besetzten Orte eine zentrale Leere, oder sie eröffnen dann, wenn sie – wie die kleine ›schwebende‹ Leinwand – das Zentrum doch besetzen, eine dieses umgebende Leere, die für die Erfahrung von Räumlichkeit eine gleichermaßen entscheidende Rolle spielt wie der besetzte Ort. Insbesondere in Bezug auf die Stimmkörper bzw. körperlosen Stimmen50, die in Stifters Dinge zu hören sind, lässt sich nun aber auch die Frage stellen, welche Rolle der Text in dieser Arbeit spielt. In Bezug auf diese Stimmen lässt sich damit zeigen, dass auch der Text in dem Sinne inszeniert wird, ein Unkörperliches erfahrbar zu machen, und zwar das Ausdrückbare. Wie in den Fällen der Zeitlichkeit und Räumlichkeit geht es Goebbels mit dem Einsatz körperloser Stimmen – wie auch mit der Projektion von Schrift – nicht allein um den körperlich-materiellen Aspekt von Sprache und Text. Zwar betont er, dass beispielsweise, »wenn wir William Burroughs sagen hören ›You have the wrong name and the wrong number, Mr. Luce-Getty Lee-Rockefeller‹«, ihn neben dieser Aussage »mindestens ebenso dessen ironisch beschwörende, metallisch klingende Stimme [interessiert]« und alle Texte und Stimmen, die in Stifters Dinge auftreten, auch »in ihrer Materialität […] eine ästhetische, eine utopische Dimension [haben].«51 Doch geht es ihm eben nicht allein um diese Dimension, geschweige denn um jene Ablösung der Stimme von der Sprache zugunsten einer puren Lautlichkeit, durch welche laut Fischer-Lichte »ein leibliches In-derWelt-Sein sich ausspricht«52. Vielmehr findet auch und gerade der Einsatz von Stimmen, die sich in Sprachen ausdrücken, welche für das Publikum in der Regel unverständlich sind – wie Stimmen aus Papua-Neuguinea, Kolumbien oder Griechenland – in dem Sinne statt, gerade den Prozess des Sinn-Machens im Wechselspiel von Verstehen und Nicht-Verstehen erfahrbar zu machen – und so insbesondere die Frage aufzuwerfen, »wie wir uns zu dem verhalten, was wir noch nicht oder nie verstehen.«53 Text hat in Stifters Dinge damit nicht die Funktion, etwas bestimmtes auszudrücken. Vielmehr besteht seine Funktion darin, jenen »Raum des Ausdrückbaren« im Sinne Cauquelins zu eröffnen, welcher »ein Raum der 50. Vgl. H. Goebbels in D.L. Eilers/F. Raddatz: »Der Zuschauer als Souverän«, S. 11. 51. Ebd., S. 8 u. S. 10. 52. E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 226. 53. H. Goebbels in D.L. Eilers/F. Raddatz: »Der Zuschauer als Souverän«, S. 10.
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Möglichkeit für die Wörter, einen Ort zu finden und ausgedrückt zu werden«, und gleichzeitig ein »Raum der leeren Möglichkeit [ist], der nicht unbedingt gefüllt werden muß.«54 Wenn in Stifters Dinge Stimmen in teils verständlichen, teils unverständlichen Sprachen zu hören sind, oder wenn eine Gruppe von Worten aus einem Text Stifters in weißer Schrift aufs Bühnenbild projiziert wird, ohne dabei den Zusammenhang des Textes aufrechtzuerhalten, so entstehen einerseits Orte, an denen etwas zum Ausdruck kommt, sowie andererseits immer auch Leerstellen, die einen Möglichkeitsraum für den Ausdruck von etwas anderem eröff nen, ohne dessen Füllung durch ein bestimmtes Ausgedrücktes nahezulegen. Wie die Gegenstände stets gleichzeitig einen Ort besetzen und eine Leere öffnen, und wie sie stets gleichzeitig anders werden, als sie waren, und anders, als sie sind, so eröffnen auch die Stimmen und Worte einen Raum, in dem sich Sinn nie nur in einer Richtung erschließen lässt. Text bringt in Stifters Dinge vielmehr die Möglichkeit ins Spiel, im selben Moment unterschiedliche »Sinn-Richtungen«55 einzuschlagen. Seine Funktion besteht damit darin, dem »gesunden Menschenverstand« als, so Deleuze, »der Behauptung, daß es in allem eine genau bestimmbare Richtung, einen genau bestimmbaren Sinn gibt«, zu widersprechen und Sinn als solchen zu reflektieren, der »niemals Prinzip oder Ursprung« sondern »hergestellt« ist, der »nicht zu entdecken, wiederherzustellen oder neu zu verwenden«, sondern »durch neue Maschinerien zu produzieren« ist.56 Sinn wird in Stifters Dinge als solcher deutlich, der nicht von sich aus einen Körper hat, sondern ein unkörperliches Ausdrückbares ist, dem nur in jeweiligen und kontingenten Ausdrücken Körper verliehen werden kann. Und als dieses Ausdrückbare ist Sinn nun nicht bloß das Sekundärphänomen einer ›Verkörperung‹ im Sinne Fischer-Lichtes.57 Vielmehr ist er die andere, unkörperliche Seite der selben Medaille, die sich gerade dann auf besondere Weise bemerkbar macht, wenn – wie in Stifters Dinge – die ›Verkörperungen‹ auch aus jenem Kausalzusammenhang einer autopoietischen feedback-Schleife gelöst werden, welchen Fischer-Lichte ihrer Beschreibung einer »Hervorbringung von Materialität« und einer »Emergenz von Bedeutung« auch dann noch zugrunde legt, wenn sie »Auff ührungen seit den 60er Jahren« attestiert, ihre »Mittel […] aus jeder Art von kausaler Verkettung zu befreien.«58 In Stifters Dinge geht diese Befreiung aus kausalen Verkettungen weiter, 54. A. Cauquelin: Verkehr mit den Unkörperlichen, S. 111. 55. Vgl. zu diesem Begriff G. Deleuze, Logik des Sinns. 56. Ebd., S. 15 u. S. 99. 57. Vgl. E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 130-160. 58. Ebd., S. 243.
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als es vom postdramatischen Theater für gewöhnlich angenommen wird. Zwar lässt sich in Bezug auf die Rolle des Textes in dieser Arbeit durchaus an Lehmanns These einer postdramatischen ›Restitution von Chora‹ anschließen, d.h. einer Verwendung von Text und Sprache, die in einer »De-Konstruktion der auf den Sinn zentrierten Rede und Erfindung eines Raums, der sich dem Gesetz des Telos und der Einheit entzieht«, besteht.59 Doch ist diese Chora-graphie in Stifters Dinge denkbar weit davon entfernt, »das Jetzt der fleischlichen Präsenz des Körpers« vor den Logos treten zu lassen.60 Vielmehr ist gerade im Zusammenhang des Widerspruchs, den die Arbeit gegen den ›gesunden Menschenverstand‹ erhebt und der mit Deleuzes gesprochen auch ein »Bestreiten der persönlichen Identität« bzw. eine Zerstörung der »Zuweisung festgelegter Identitäten« impliziert, nochmals auf Goebbels’ Interesse hinzuweisen, den Zuschauern gerade keine Präsenz gegenüberzustellen, in der sie sich, ihre Identität bespiegelnd, wiedererkennen können.61 So betont er ausdrücklich, dass es ihm in Stifters Dinge darum geht, Bilder zu zeigen, die sich dem Wunsch der Zuschauer widersetzen, »sich in den Protagonisten der Bühne zu spiegeln, sich mit ihnen zu identifizieren« und »in jedem Regentropfen Subjekte zu sehen.«62 Und dies ist auch der Grund dafür, dass in Stifters Dinge – außer den erwähnten Technikern – keine Akteure auf der Bühne stehen: »Durch die Abwesenheit von Darstellern«, so Goebbels, »wollte ich die Möglichkeit zu diesen Projektionen vermeiden.«63 Diese Vermeidung einer Möglichkeit spiegelbildlicher Projektionen ist nun entscheidend für die Art und Weise, wie Sinn in Stifters Dinge als unkörperliches Ausdrückbares erfahrbar wird. Denn indem weder menschliche Darsteller auftreten noch die Gegenstände sich ihrer Vermenschlichung anbieten, fällt die Möglichkeit weg, im Sinne Emmanuel Lévinas »[a]lle Sprache als Austausch verbaler Zeichen«64 auf ein im menschlichen »Antlitz« verkörpertes »ursprüngliches Ehrenwort«65 zu beziehen. Entgegen Merschs These von einer sich »im aufmerksamen Gewahren«66 vollziehenden Vermenschlichung, aufgrund welcher das, was sich zeigt, ein 59. H.-Th. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 263. 60. Ebd. u. S. 262. 61. Gilles Deleuze: Logik des Sinns, S. 17 u. S. 18. 62. H. Goebbels in D.L. Eilers/F. Raddatz: »Der Zuschauer als Souverän«,
S. 11 u. S. 12. 63. Ebd., S. 11. 64. Emmanuel Lévinas: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg/München 1987, S. 291. 65. Vgl. ebd. 66. Dieter Mersch: Ereignis und Aura, S. 51.
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Antlitz im Sinne Lévinas’ trage67, zeigt sich ein solches Antlitz in Stifters Dinge gerade nicht. Mit Žižek formuliert: In Stifters Dinge fehlt eben jener »nichtsprachliche Bezugspunkt« des Antlitzes, »der es uns […] ermöglicht, den Teufelskreis der symbolischen Ordnung aufzubrechen und ihr das ultimative Fundament, die ›absolute Authentizität‹ zu geben.«68 Was den Zuschauern begegnet, ist gerade nicht jener »ultimative Fetisch«, welchen das Antlitz Žižek zufolge darstellt, d.h. Stifters Dinge präsentiert den Zuschauern kein »Objekt, das das ›Kastriertsein‹ (die Inkonsistenz, den Mangel) des großen Anderen wettmacht, den Abgrund seiner Zirkelhaftigkeit zuschüttet, indem es all das verschleiert.«69 Vielmehr ist es diese abgründige Inkonsistenz der symbolischen Ordnung, die in Stifters Dinge erfahrbar wird, und zwar gerade als »die Bedingung für ihr wirkungsvolles Funktionieren.«70 Anders formuliert: Indem sich den Zuschauern kein Antlitz zeigt, angesichts dessen die Inkonsistenz der symbolischen Ordnung verkannt werden könnte, reflektiert Stifters Dinge, dass das Zustandekommen von Sinneffekten gerade auf dem Fehlen eines authentischen Fundaments beruht, d.h. auf einer prinzipiellen Sinn-Losigkeit des Symbolischen. Nicht nur befreit Stifters Dinge die inszenierten Texte also aus dem Kausalzusammenhang einer dramatischen Handlungslogik. Darüber hinaus entzieht die Arbeit dem Prozess des Sinn-Machens auch und gerade jenes Fundament, welches bezüglich des postdramatischen Theaters für gewöhnlich von einer nach dem Motto ›Präsenz-statt-Repräsentation‹ argumentierenden Rhetorik in Anschlag gebracht wird, nämlich das vermeintlich authentische Fundament des Antlitzes eines menschlichen oder vermenschlichten Gegenübers. Sinn wird somit als solcher deutlich, der weder als dramatischer Sinn noch als »ursprüngliches Ehrenwort« gegeben ist, sondern stets gestiftet werden muss, und zwar aufgrund jener Kurzschließung, die Žižek wie folgt beschreibt: »Damit der Sinneffekt eintreten kann, muß eine Kurzschließung zwischen den beiden Reihen, der des Signifikanten und der des Signifikats, erfolgen. Diese Kurzschließung ist das, was Lacan als den ›Steppunkt‹ bezeichnet, die direkte Einschreibung des Signifikanten in die Ordnung des Signifikats als ein ›leerer‹ Signifikant ohne Signifikat. Dieser Signifikant repräsentiert die (signifizierende) Ursache innerhalb der Ordnung ihrer Effekte und unterminiert auf diese Weise
67. Ebd. 68. Slavoj Žižek: Die politische Suspension des Ethischen, Frankfurt a.M. 2005, S. 25. 69. Ebd. 70. Ebd.
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die (v)erkannte ›natürliche‹ Ordnung, innerhalb derer der Signifikant als Effekt/ Ausdruck des Signifikats erscheint.«71
So unterminieren die in Stifters Dinge auftretenden Signifi kanten die ›(v) erkannte‹ Ordnung des Signifi kats, indem sie dieser ihr Fundament entziehen – d.h. indem sie sich nicht auf das »ursprüngliche Ehrenwort« eines »Antlitzes« zurückbeziehen und als dessen Ausdruck verstehen lassen. Stattdessen treten sie als ›leere‹ Signifi kanten auf, die das sprachlich Ausgedrückte zum Raum des Ausdrückbaren hin öffnen. Was so erfahrbar wird, ist jenes von Deleuze beschriebene Paradox des Unsinns als Bedingung des Sinns, welches einerseits, so Žižek, in einem »Überschuß des Signifi kanten über das Signifi kat (der leere Signifikant ohne Signifikat)« und andererseits in einem »Mangel des Signifi kats (der Punkt des Unsinns im Feld des Sinns)« besteht.72 Auch auf der Ebene des Textes tritt in Stifters Dinge das Unkörperliche auf, und zwar – entsprechend der Gleichzeitigkeit von Ort und Leere sowie von Vorher und Nachher – als Gleichzeitigkeit von überschüssigem Signifi kant und fehlendem Signifi kat, von Sinn und Unsinn. Auf allen Ebenen, so die Bilanz, kommt das Unkörperliche zum Tragen. Stifters Dinge eröff net eine Szene, auf der Zeit, Raum und Text in Formationen treten, die deren unkörperliche Aspekte erfahrbar machen – eine Szene des Unkörperlichen also, die gleichsam die Transformation etablierter Begriffl ichkeiten herausfordert.
Literatur Bergson, Henri: Zeit und Freiheit, Hamburg 2006. Böhme, Gernot: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt a.M. 1995. Böhme, Gernot: »Akustische Atmosphären. Ein Beitrag zur ökologischen Ästhetik«, in: Institut für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt (Hg.), Klang und Wahrnehmung: Komponist, Interpret, Hörer, Mainz/ London/Madrid u.a. 2001, S. 38-48. Cauquelin, Anne: Verkehr mit den Unkörperlichen, Berlin 2007. Deleuze, Gilles: Logik des Sinns, Frankfurt a.M. 1993. Didi-Huberman, Georges: Was wir sehen blickt uns an: Zur Metapsychologie des Bildes, München 1999.
71. Ebd. 72. Ebd., S. 128.
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Eilers, Dorte Lena/Raddatz, Frank: »Der Zuschauer als Souverän«, in: Theater der Zeit 12 (2007), S. 8-15. Finter, Helga: »Der imaginäre Körper: Text, Klang und Stimme in Heiner Goebbels’ Theater«, in: Wolfgang Sandner (Hg.), Heiner Goebbels – Komposition als Inszenierung, Berlin 2002, S. 108-113. Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M. 2004. Goebbels, Heiner: »Der Raum als Einladung – Der Zuschauer als Ort der Kunst«, in: Angela Lammert/Michael Diers/Robert Kudielka u.a. (Hg.), Topos Raum: Die Aktualität des Raumes in den Künsten der Gegenwart, Berlin/Nürnberg 2005, S. 255-272. Goebbels, Heiner: »Was wir nicht sehen zieht uns an – Vier Thesen zu Call Cutta«, in: Miriam Dreysse/Florian Malzacher (Hg.), Experten des Alltags. Das Theater von Rimini Protokoll, Berlin 2007, S. 118-127. Laertios, Diogenes: Leben und Lehre der Philosophen, Stuttgart 1998. Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, Frankfurt a.M. 2005. Lévinas, Emmanuel: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg/München 1987. Mersch, Dieter: Ereignis und Aura – Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M. 2002. Théâtre Vidy Lausanne (Hg.): Programmheft zu Stifters Dinge, Lausanne 2007. Théâtre Vidy Lausanne (Hg.): Programmheft zu I went to the house but did not enter, Lausanne 2008. Tholen, Georg Christoph/Scholl, Michael (Hg.): Zeit-Zeichen. Aufschübe und Interferenzen zwischen Endzeit und Echtzeit, Weinheim 1990. Tigges, Stefan: »Dramatische Transformationen. Zur Einführung«, in: ders. (Hg.), Dramatische Transformationen – Zu gegenwärtigen Schreib- und Auff ührungsstrategien im deutschsprachigen Theater, Bielefeld 2008, S. 9-27. Žižek, Slavoj: Mehr-Genießen. Lacan in der Populärkultur (Wo Es war No 1), Wien 2000. Žižek, Slavoj: Körperlose Organe – Bausteine für eine Begegnung zwischen Deleuze und Lacan, Frankfurt a.M. 2005. Žižek, Slavoj: Die politische Suspension des Ethischen, Frankfurt a.M. 2005.
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7. Körperbilder und/im Medien-Transfer Die beiden Beiträge in dem nun folgenden Kapitel spannen einen Bogen von den frühen 70er Jahren bis in die Gegenwart, sie umfassen somit die gesamte kurze Geschichte der Medien Video und DVD. Annette Jael Lehmanns und Jörg von Brinckens Artikel sind daher als exemplarisch für Körper und/im Video, bzw. Körper und/im DVD-Theater zu lesen. Beider theoretisches Verständnis zeigt einen gegenwärtigen medienanalytischen »State of the Art«, der jede vermeintliche Dichotomie von »Körper« versus »Medien«, bzw. »Liveness« versus »Medialität«, die in den 90er Jahren, vor allem anhand von Publikationen der Performancetheoretikerin Peggy Phelan, kontrovers debattiert wurden, überschritten hat. Deutlich wird also, dass Körper, oder »Live«-Performances, nicht ihrer medialen »Abbildung« voraus zu setzen sind, sondern vielmehr aus derselben erst entstehen – und vice versa. Somit erweist sich die genannte Dichotomie als Fiktion, und die spezifische Performativität der unterschiedlichen Medien rückt in den Blickpunkt der vorliegenden Analysen. Sie ist ein Zwischenspiel zwischen den Körpern und den genannten Medien, das die Wahrnehmung des Gezeigten hervorbringt und prägt. So unterscheiden sich die Medien Video und DVD nicht unbedingt durch ihre Performanzen, möglicherweise jedoch sind ihre Körperbilder different: Wird in den älteren Videoarbeiten eher ein Körper, dessen Umrisse und Grenzen Material der künstlerischen Auseinandersetzungen sind, inszeniert, so ist es gegenwärtig ein organloser, verflüssigter Körper, der gleichsam zwischen dem Bild und den ZuschauerInnen hin und her schwappt. Annette Jael Lehmann befragt Videoarbeiten aus den 70er Jahren (von Bruce Nauman, Joan Jonas und Dan Graham) nach dem Zusammenspiel von »Körperinszenierung und Videoeinsatz« darin. Dabei stellt sie die Spezifität des Mediums in den Vordergrund, seine Performanz, weniger seine (vermeintlich) dokumentarischen Qualitäten. Lassen sich die Videoarbeiten, beispielsweise von Bruce Nauman, auf eine Quelle – nämlich das Medium, oder den Körper – zurückführen, oder sind die beiden gleich ursprünglich für die entstehenden Arbeiten? 349
Zwischenspiele: Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume
Sind die Beispiele in Annette Jael Lehmanns Beitrag in den 70er Jahren angesiedelt, so bewegt sich Jörg von Brinckens Analyse in der Gegenwart, er betrachtet den Tragödienzyklus Tragedia Endogonidia (2002-2007) der Socìetas Raffaello Sanzio. Das »Wahrnehmungsgeschehen« der ZuschauerInnen gerät dabei letztendlich in den Vordergrund, dieses zielt auf eine sich beständig transformierende und hervorbringende Zwischenräumlichkeit des gezeigten und des zuschauenden Körpers. Werden im Medium (DVD) Körper ohne materielle Grundlage geschaffen, und wenn ja, wie? K.P.
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Bouncing in the Corner: Video und Körper inszenierung Annette Jael Lehmann
Die Videokamera ist um 90 Grad auf die Seite gekippt. Ihre Einstellung zeigt einen bekleideten männlichen Torso, einen Rumpf ohne Gesicht und Füße. Mit dem Rücken zur Wand, lehnt er sich leicht nach vorne und federt wieder zurück. Hände und Körper produzieren beim Aufprall ein dumpfes Schlaggeräusch gegen die Wand und markieren den Rhythmus der gefi lmten Aktivität. Da der Kopf nicht zu sehen ist, könnte der Akteur in der Videoaufzeichnung anonym bleiben. Bouncing in the Corner No. 1 war jedoch die letzte Performance, die Bruce Nauman 1969 im Whitney Museum of American Art für die Ausstellung Anti-Illusion: Procedures/Materials öffentlich wiederholt hat. Für diese Arbeit spielt also die Differenz von Performance und Medienbild, von gleichzeitiger An- und Abwesenheit des Publikums eine Rolle. Bouncing in the Corner, No. 2: Upside Down variiert die gleichnamige erste Arbeit mit einer veränderten Kameraeinstellung, findet aber ohne ein Publikum als Studioperformance statt. Anstelle der seitlich um 90 Grad gekippten Kamera in Nr. 1 zeigt Nr. 2 den Blickwinkel kopfüber um 180 Grad gedreht und ist in eine Raumecke auf die Person im Anschnitt ohne Füße und Gesicht gerichtet. Ausschnitthaftigkeit und Verfremdung prägen auch hier das Körperbild. Hinzu kommen eine Folge monotoner Bewegungsabläufe: Mit dem Rücken zur Wand lässt sich Nauman hier zurückfallen und federt wieder nach vorne. In der Naheinstellung von oben wird daraus ein konstantes Heben und Senken. Hände und Körper produzieren beim Aufprall einen gleichmäßigen dumpfen Schlagrhythmus, eine Bewegungsabfolge, die sich über 60 Minuten wiederholt. Nauman kommentierte diese Arbeiten erstaunlicherweise weniger unter formal-ästhetischen oder experimentellen Gesichtspunkten, sondern hielt in einem Interview fest:
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Zwischenspiele: Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume
»It is about how we commonly get ourselves into and out of tight corners and how much pressure the space of corners can exert on our sense of ourselves. But there is much more to it.«1
Die wichtigste Frage, die mit dieser Arbeit zusammenhängt, lautet, wie hier Köperinszenierung und Videoeinsatz zusammenspielen, und zwar vor dem Hintergrund apparativer Experimente, die zur Etablierung von Videokunst als eigenständiger Kunstform in den frühen 70er Jahren geführt haben. Zur Beantwortung dieser Frage können exemplarische Arbeiten der Pioniere der Videokunst Bruce Nauman, Joan Jonas und Dan Graham untersucht werden, die die Videokunst aus dem Einsatz ihrer Körper und der medialen Inszenierung von Körperbildern entwickelten. Wie reflektieren diese Künstler die medialen Dispositive, die technischen, gesellschaftlichen und ästhetischen Gegebenheiten des neuen Mediums, und in welcher Weise bestehen ihre Performances und Bildinszenierungen aus der Darstellung dieser Auseinandersetzung? Meine Ausführungen gehen dabei von folgender These aus: Der Gebrauch von Video dient nicht der Aufzeichnung oder Dokumentation einer Performance vor einem gleichzeitig anwesenden Publikum, sondern es handelt sich um körperbezogene Videoarbeiten, die zwar maßgebliche Elemente der Performance-Kunst aufgegriffen haben, aber in einer neuen, eigenen Präsentationsform gezeigt werden. Denn in der Regel werden diese Arbeiten auf einem Fernsehbildschirm gezeigt und dabei in Galerien oder Museen ausgestellt. Am Beispiel dreier thematischer Schwerpunkte können der gezielte Einsatz von Körpern und die bildtechnischen Experimente mit dem damals neuen Medium Video thematisiert werden: Anhand von ausgewählten Arbeiten von Bruce Nauman wird die Rolle der Kamera als Instrument fokussiert, die so eingesetzt wird, dass objekthafte, skulpturale Körperbilder entstehen. Am Beispiel von Joan Jonas’ Vertical Roll soll der Entzug kohärenter Sichtbarkeit als Kritik massenmedialer Repräsentationsweisen in den Blick kommen. Schließlich gilt bei Dan Grahams Arbeit Body Press das Interesse der Doppelung und Spiegelung von Körperbildern, bei der die eingesetzten Medien der technischen Reproduktion nicht ihre herkömmliche Funktion, nämlich die vermeintlich wirklichkeitsgetreue Wiedergabe, erfüllen, sondern ein anderes Sehen zu provozieren suchen. Die Geburtsstunde von Videokunst wird zu Recht eng mit der Verfügbarkeit der ersten tragbaren Videokamera 1967 in Verbindung gebracht.
1. Bruce Nauman, in: Willoughby Sharp: »Nauman Interview«, in: Arts Magazine 44/5 (1970), S. 26-30, hier S. 26.
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Bouncing in the Corner: Video und Körper inszenierung
»Initially the immediacy of video’s medium interested me.«2 Nauman und andere Künstler dieser Zeit fasziniert die Unmittelbarkeit der Videoaufzeichnung vor allem aus zwei Gründen: Zum einen kann die Kamera außerordentlich flexibel manuell eingesetzt und gehandhabt werden, was insbesondere bei der Aufnahme von Körpern und Bewegungsabläufen von Vorteil ist. Zum anderen besteht sie in der Übertragungsleistung des Gerätes, die in Echtzeit stattfindet. Dies schließt vor allem die direkte Wiedergabemöglichkeit auf einem Bildschirm ein, der das Videoband in der Regel ungeschnitten und kaum bearbeitet präsentiert. Beide Aspekte spielen eine besondere Rolle für die Entwicklung der frühen Videoästhetik von Bruce Nauman. Denn er verschränkt aufs engste die Kameraführung mit der Inszenierung des Körpers als bewegliches Objekt im Raum, wobei körperliche Aktionen nach überwiegend formalen Prinzipien – wie obenunten, rechts-links, bewegt-unbewegt – ausgeführt werden. Dementsprechend beschreibt Nauman die streng kalkulierten Bewegungsabläufe in seinem Video Wall-Floor-Positions (1968): »Standing with my back to the wall for about forty-five seconds or a minute, leaning out from the wall, then bending at the waist, squatting, sitting and finally lying down. There were seven different positions in relation to the wall and floor. Then I did the whole sequence again standing away from the wall, facing the wall, then facing left and right. There were twenty-eight positions and the whole presentation lasted about half an hour.«3
Einen besonderen Effekt erzielt Nauman in seiner Arbeit Slow Angle Walk (Beckett Walk) (1968), die auf einer ähnlichen Konzeption basiert, durch die Positionierung der Kamera: Sie steht auf dem Kopf bzw. ist um 90 Grad gedreht und zeichnet dabei für etwa 60 Minuten auf, wie der Künstler mit hinter dem Rücken verschränkten Armen und gestreckten Beinen auf einem auf den Boden gezeichneten Quadrat läuft und zwar mit einem jeweils gebeugten oder gestreckten Oberkörper. Die Kameraeinstellung prägt die Wahrnehmung der räumlichen Gegebenheiten und der Bewegungsabläufe. Es entsteht der Eindruck, als würde der Künstler an der Wand laufen. Das Kameraauge verschiebt und verfremdet die herkömmlichen Dimensionen von oben und unten und legt den Wahrnehmungsrahmen des Gezeigten fest. Ausgangspunkt der körperlichen Aktionen von Nauman ist also eigentlich eine unbegehbare Raumsituation, wobei die inszenierten 2. Bruce Nauman, in: Robert C. Morgan: »Eccentric Abstraction«, in: Flash Art 144 (1989), S. 77-79, hier S. 77. 3. Bruce Nauman, in: Coosje van Bruggen: Bruce Nauman, New York 1988, S. 115.
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Bewegungen sich vor dem Hintergrund eines simplen apparativen Effekts des Mediums, nämlich der erwähnten Positionierung der Videokamera im Raum, vollziehen. Erneut folgen die Bewegungsabläufe einer strengen und minutiös geplanten Choreographie. In den Worten Naumans: »[…] The body then falls forward onto the raised foot and the other leg is lifted to again make a straight line with the body (which now forms a T over the support leg). The body swings upright with the non-support leg swinging through the vertical and into the 90-degree position, as at the beginning. Three step-turns to the right and then three step turns to the left will advance you two paces—each three steps advances you one step.«4
Der irritierende Effekt dieser Aufnahmen, vor allem die Verschiebung der Gesetze der Schwerkraft, ist eine Täuschung, die vor allem deshalb funktioniert, weil Wand und Boden des Studios fast identische, wenig konturierte Flächen darstellen. Horizontale und Vertikale des Bildes sind nur durch eine dunkle Horizontlinie voneinander unterschieden. Charakteristisch für die Videoästhetik ist demzufolge, dass Nauman stets formale Strukturprinzipien der Raumorganisation und Bildkomposition mit einer Aktion kombiniert, bei der der Körper als bewegtes Objekt im Raum inszeniert wird. Durch den Einsatz der Videotechnik wird es möglich, dass verfremdete Bilder entstehen, die eine Serie von plastischräumlichen Möglichkeiten des Körpers durchexerzieren. Dies geschieht auf der Grundlage eines performativen Einsatzes des Körpers, der als bewegliche Skulptur in Szene gesetzt wird, wobei durch die Verwendung des Bildmediums der lebendige Körper zu einer objekthaften Figur transformiert wird. Diese Figur stellt gerade in der Bewegungsfolge ein extrem verfremdetes Köperbild dar, dessen absonderliche motorische Aktivität durch die Kameraführung in Szene gesetzt wird. So wird die Akzentverschiebung deutlich, die der Gebrauch von Video bei Nauman impliziert: Nicht die unmittelbare Aktion und die leibliche Präsenz des Körpers stehen im Vordergrund, sondern seine bildliche Repräsentation, genauer Transformation. Im Unterschied zur traditionellen Skulptur, die durch Bewegungslosigkeit charakterisiert ist, werden die Körperskulpturen Naumans durch die medialen Eigenschaften des Videos, insbesondere seine prozessuale und (echt)zeitorientierte Aufzeichnungsweise, dynamisiert und in Bewegung versetzt. In anderen Worten: Der Körper des Akteurs vollzieht kalkulierte Bewegungen, die als Bildsequenzen vom Medium Video aufgezeichnet und stark verfremdet wiedergegeben werden. Die materielle Präsenz des Körpers wird somit durch die mediale Repräsentation transformiert. 4. Ebd.
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Bouncing in the Corner: Video und Körper inszenierung
Entscheidend ist also, dass das Video weniger als reproduktives oder als abbildendes Medium fungiert, sondern vielmehr erlaubt, ein autonomes Körper- und Bewegungsbild zu inszenieren, das die herkömmlichen räumlichen Dimensionen und Bewegungsmöglichkeiten und insbesondere die Schwerkraft überschreitet. Dabei ist Naumans künstlerische Praxis und ästhetische Konzeption ganz auf die medialen Dispositive des visuellen Aufzeichnungsgeräts bezogen; mit anderen Worten: Der Künstler kann die Möglichkeiten der Körperinszenierungen nur durch den Einsatz der Videotechnologie so verwirklichen, dass sie zur Irritation von Wahrnehmungsgewohnheiten, insbesondere des perspektivischen Sehens führen. Videokunst bei Nauman vollzieht sich also als eine offene Zirkulation verschiedener Dimensionen künstlerischer Praxis – wie performativer Körpereinsatz, formal-skulpturale Bildsprache und Nutzung der technischen Gegebenheiten des Mediums Video – die nicht voneinander zu trennen sind, sondern in wechselseitiger Abhängigkeit voneinander stehen. Mit dem Kauf der ersten tragbaren Videokamera (Sony Portapak) um 1970 begann die damalige Performancekünstlerin Joan Jonas in ihrem Studio Kunst vor der Videokamera zu entwickeln. Bei der Exploration von Video in den 70er Jahren rückt bei Jonas in Vertical Roll (1972) insbesondere eine technische Eigenschaft des Mediums in den Vordergrund. In dieser Arbeit experimentiert sie mit einem technischen Einstellungsfehler des Videos, der das Bild weiter »rollen« lässt, das heißt, permanent quer über den Bildschirm ziehende schwarze Rollbalken durchkreuzen die Bildfläche und stören die Kontinuität der Bildfolge. Technisch handelt es sich dabei, wie Jonas festhält, um eine Asynchronizität: »A vertical roll results from two out-of-sync frequencies, the frequency signal sent to the monitor and the frequency by which it is interpreted.«5 Der Rhythmus des angedeuteten Rollvorgangs wird in dem circa 17-minütigen Tape durch einen staccatoartigen Takt, eine Art metallisches Klopfgeräusch, akzentuiert. Das Videobild wird zugleich in seinen Begrenzungen als ›Box‹ und in der zeitlichen Dimension eines linearen Ablaufs sichtbar. Diese strukturellen Eigenschaften der medialen Bildwiedergabe nutzt Jonas nun, um das eigene Körperbild zu inszenieren und zu dekonstruieren. Die Fragmentierung des Videobildes durch das hier nicht säuberlich getrennte Bildformat ermöglicht es, den Körper als zerstückelt und artifiziell zusammengesetzt zu entwerfen. Das Video besteht aus insgesamt sieben Teilen, wobei in den Eingangs- und Ausgangssequenzen jeweils eine Porträtaufnahme des Gesichts der Künstlerin zu sehen ist. Zu Beginn bewegt sich das Gesicht von Jonas zur Rollbewegung gegenläufig und strebt vom unteren Bildrand nach 5. Joan Jonas, in: David Ross/Douglas Crimp (Hg.), Joan Jonas, Scripts and Descriptions 1968-1982, Berkeley 1983, S. 74.
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Zwischenspiele: Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume
oben, bis es die gesamte Monitorfläche einnimmt und auch eine Hand erkennbar wird, die mit einem Löffel den erwähnten Rhythmus auf eine harte Oberfläche schlägt. In die jeweils folgenden Sequenzen wird durch die Technik des Fadings übergeleitet; hier wird der Körper einer maskierten Frau in einer Satinhose und einem Bustier erkennbar – eine Figur, die für Eingeweihte als Organic Honey aus der gleichnamigen früheren Arbeit aus dem Jahr 1972 von Jonas wiederzuerkennen ist. Die Figur bewegt sich aus einer sitzenden in eine liegende Position, eine Bewegung, die von der Bewegung des Rollbalkens permanent gegenläufig durchbrochen wird. Diese Gegenläufigkeit führt zu einer Bildstörung und Wahrnehmungsirritation, die sich im dritten Teil des Tapes noch intensiviert. Denn das um 90 Grad verschobene Standbild einer sitzenden, nackten Frau erhält durch die Rotation den illusionären Effekt, als würde sie ihre Position verändern. Das technische Verfahren dient aber nicht nur zur Manipulation von Bewegungen im Bild, sondern auch zur Montage von Körperteilen, wie etwa ein Beinpaar, das vom Körper abgeschnitten wirkt und eine hüpfende Bewegung auszuführen scheint. Ähnliches gilt auch für die Aufnahmen des weiblichen Torsos, der spärlich bekleidet in einer Achsendrehung präsentiert wird. Hier wird die von den Rollbalken provozierte Bildstörung noch durch die zunehmende Unschärfe des Bildes intensiviert. Dieses Video inszeniert den Entzug, die Verweigerung einer kohärenten Sichtbarkeit des weiblichen Körpers. Dies geschieht aber nicht primär, so meine These, um eine voyeuristische Rezeption zu verhindern, sondern vielmehr um sich gegen eine Rezeptionshaltung zu richten, die in der fi lmtheoretischen Begriffsbildung als »Suture« bezeichnet wird. Unter »Suture« versteht man die technisch evozierte, illusionistische Identifikation mit dem Gezeigten, die insbesondere durch den Eindruck von Kohärenz und Geschlossenheit erreicht wird. Jonas’ Arbeit zeigt demgegenüber ein formales ästhetisches Interesse an einer anderen Repräsentation von Bewegungsabläufen, die die konventionelle Wahrnehmung von Bewegungsbildern unterminiert. Damit füllt sie einen Zwischenraum aus, zwischen einer synchronen Bildfolge einerseits und dem fi xierten und stillgestellten Bild andererseits, zwischen dem Enthüllen und Verbergen des Körpers und seiner maskierten Repräsentation, zwischen Verfügbarkeit und Entzug des Gezeigten. Und dies obwohl die Aktion oder Performance, die zu den Aufnahmen führt, diesem ästhetischen Anliegen der Inszenierung von Bildern bzw. Bildsequenzen untergeordnet ist. Der weibliche Körper wird von Jonas’ verfremdetem Bewegungsbild in Szene gesetzt und zwar mit einem veränderten und erweiterten Aktionsradius. Der Raum, in dem diese Aktion stattfindet, ist der virtuelle, technisch manipulierte Raum, den das Medium Video bereitstellt. Der Arbeit liegt also nicht die ästhetische Prämisse einer vorgängigen und unmittelbaren Körperlichkeit zugrunde, 356
Bouncing in the Corner: Video und Körper inszenierung
die die technischen Medien zwar aufzeichnen, aber nicht adäquat einholen können, sondern gerade eine explizite Verschränkung der körperlichen Handlungen mit technischen Bedingungen, Möglichkeiten oder auch, wie in diesem Fall, Störungen. Erst der technische Kunstgriff eröffnet einen veränderten Bewegungs- und damit auch Repräsentationsraum für die Visualisierung von körperlichen Aktionen. In Jonas’ Vertical Roll löst sich die fi xierbare Oberfläche eines Körperbildes auf zugunsten der Sichtbarmachung von Grenzen, die wahrnehmbar und zugleich überschritten werden. Damit entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen der Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit der körperlichen Ganzheit. Der Bildraum des Videos wird zum Spielraum, der keine vorgegebene Außengrenze besitzt und Aktionen der Überschreitung und Verschiebung mit der Konsequenz zulässt, dass die Parameter der Selbstinszenierung zugunsten einer autonomen ästhetischen Eigenwertigkeit der Bilder abgeschwächt werden. Demzufolge treten auch die vielfach in der Forschung herausgestellten Aspekte der Selbstinszenierung, Selbstbespiegelung und damit auch die Exploration der künstlerischen oder weiblichen Identität meines Erachtens mehr in den Hintergrund der Arbeit. Das Video wird gerade im Unterschied zur klassischen Spiegelsituation nicht mehr überwiegend als Monitor der Inszenierung eines Selbstbildes oder Porträts genutzt, sondern als Medium der Produktion neuer, beweglicher Körperbilder. Diese Medialisierung der ästhetischen Strategie löst ein künstlerisches Konzept ein, das theatrale Aktionen mit der Produktion von Bildern aufs engste zu verknüpfen sucht. Damit korrespondiert, dass die Frames, die Rahmen der Begrenzung des Bildschirms immer wieder überschritten werden. Diese Überschreitung des vorgegebenen Bildraumes und die Verschiebung eines kohärenten Körperbildes bilden die Voraussetzung für die Präsentation von fragmentierten Körperbildern, die wortwörtlich aus dem Rahmen fallen. Damit werden die Binnengrenzen der Betrachterperspektive verschoben und in ihrer herkömmlichen Funktion außer Kraft gesetzt. Jonas’ Video Vertical Roll verwirklicht eine Körperinszenierung des Entzugs und zugleich des im wörtlichen Sinne Aus-der-Rolle-Fallens. Der amerikanische Künstler Dan Graham erprobt seit den frühen 70er Jahren in Performances und Installationen, wie das Verhältnis von Raum/ Architektur und Publikum mit Hilfe des Einsatzes von Film– und Videotechnologien neu gestaltet werden kann. Seine Arbeiten involvieren oftmals die Zuschauer, deren körperliche Präsenz in der Regel Bestandteil der künstlerischen Konzeption und Arbeit ist. Nicht zuletzt aufgrund der Konstruktion von komplexen Umgebungsräumen entwickelt sich dabei eine Wechselwirkung zwischen medialen und performativen Aspekten der Installationen. 357
Zwischenspiele: Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume
Bei der Arbeit Body Press handelt es sich um eine frühe Filminstallation mit zwei synchron projizierten Farbfi lmen ohne Ton aus den Jahren 1970-1972. Die Interaktion zwischen Akteuren, Medien und Zuschauern in einem komplex konstruierten Umgebungsraum bildet den Ausgangspunkt dieser Arbeit. Zwei Kameraleute stehen in einem sie umschließenden, völlig verspiegelten Zylinder. Während ihre Körper unbeweglich bleiben, führen ihre Hände jeweils eine Kamera, mit der Rückseite flach gegen die Oberfläche ihres eigenen zylindrischen Körpers gedrückt, in langsamen Rotationen um diesen herum. Eine erste Rotation umschreibt den Umfang des Körpers, jede folgende windet sich in einer Spirale allmählich aufwärts. In den aufeinanderfolgenden Rotationen werden die Felder der Körperoberfläche vollständig beschrieben und bedeckt wie von einem negativen Abdrucksmodell, bis die Rückseite der Kamera die Augenhöhe (Blick des Kameramannes durch die Kamera) erreicht hat. Daraufhin beginnt eine umgekehrte, rückwärtslaufende Bewegung, bis der Ausgangspunkt wieder erreicht ist. Die Rotationen sind in ihrer Geschwindigkeit aufeinander abgestimmt: Wenn beide Kameras auf den Rücken gedreht werden, liegen sie sich genau gegenüber und fi lmen sich gegenseitig, während sie ausgetauscht werden; somit wechselt die Identität der Kamera ›die Hände‹, und folglich handhabt jeder Performer/Kameramann eine neue Kamera. Die Kameras haben verschiedene Maße und Gewichte. Während dieses Aufnahmeprozesses wird von den Performern erwartet, dass sie sich auf diese gleichzeitig existierende Identität der Kameras konzentrieren, die sie und ihre Körper beschreiben. Optisch nehmen die beiden Kameras das Bild auf, das sich im Spiegelzylinder reflektiert, bestehend aus der Oberfläche der Kamera (und des Objektivs) und ihrer fünf sichtbaren Seiten, dem Körper des Darstellers und (unter Umständen) seinen Augen im Spiegel. Der Richtungswinkel der Kamera, die Ansicht eines bestimmten Ausschnitts aus dem reflektierenden Bild des Spiegels, wird festgelegt durch die Position der Kamera auf der Kontur des Körpers in jedem gegebenen Moment. Dieser visuelle Erkundungsprozess akzentuiert auch ein taktiles Wahrnehmungselement: Die Kamera fungiert als Verlängerung des Armes und erweitert den Sehsinn durch das Abtasten des Kamerakörpers. Dabei wird vor allem die Oberfläche der Haut sichtbar. Zugleich zeichnet sich die Muskulatur der Kameraleute ab, wenn sich die Kamera in die Oberfläche des Körpers eindrückt (innen nach außen ziehend). Gleichzeitig kann die Handhabung der Kamera durch den Performer vom Betrachter kinästhetisch als Oberflächenspannung wahrgenommen werden, wenn die verborgene Seite der Kamera unter Druck über die Haut ›geführt‹ wird. Die Filme werden gleichzeitig auf Loop-Projektoren vorgeführt, mit großem Bildformat auf zwei in einem Raum sich gegenüberliegenden Projektionswänden, 358
Bouncing in the Corner: Video und Körper inszenierung
die ziemlich nahe beieinander stehen. Männer oder Frauen aus dem Publikum könnten sich, so Graham in einem Kommentar zur Arbeit, mit dem einen oder anderen Bild aus der Kamera oder mit dem einen oder anderen Körper identifizieren, indem sie jeweils ihre Blickrichtung ändern und die andere Leinwand betrachten, wenn die Kameras ausgetauscht worden sind.6
Entscheidend ist, dass sich der geschlossene Spiegelraum visuell verdoppelt: Die runden Spiegelwände begrenzen und öff nen den Raum zugleich mit dem Effekt, dass auf der Leinwand ein verwirrendes Spiel von Reflexionen und Doppelungen zu sehen ist. Der simultane Einsatz von Spiegeln und Kamera erzeugt eine verzerrte Doppelung der Körperbilder, die vom Spiegel reflektiert, von der Kamera ertastet und von beiden gemeinsam fragmentiert und neu fusioniert werden. Spiegel und Kamera kommen somit in Grahams Installation gleichwertige Funktionen zu: Sie fungieren als visuelle Übertragungsmedien eines Körperbildes mit einem schwer zu lokalisierenden Status. Denn bei den Körperbildern handelt es sich um visuelle Sequenzen, die den Blick nicht mehr um ein stabiles geschlossenes Zentrum organisieren, sondern ihn auf wechselnde, fragmentarische Perspektiven hin anlegen. Im Hin- und Her zwischen den neu verschränkten Dimensionen der Sichtbarkeit implodiert das gewohnte Wahrnehmungsprinzip von Körpern. Bemerkenswerterweise leisten hier also gerade die Medien, denen herkömmlicherweise die Funktion der Eins-zu-Eins-Abbildung (Spiegel) oder der technischen Reproduktion (Film, Video) unterstellt wird, die Abkehr von einer Repräsentationsästhetik des Köpers hin zu einer neuen Präsentation von Körperbildern, die sich in variablen und offen Neukonstellationen im Prozess der Aufzeichnung selbst ereignen. Der Akt der Aufzeichnung und seine im wortwörtlichen Sinne simultane Widerspiegelung entwerfen das Körperbild neu als visuelles Kaleidoskop, das zugleich eine neue Seherfahrung provoziert. Eine Seherfahrung, die ähnlich wie bei den Beispielen von Bruce Nauman und Joan Jonas, durch den performativen Einsatz von Körpern und die Verwendung experimenteller Videotechnik Angebote zu einem abweichenden Sehen macht und einen Blick provoziert, der seinerseits aus dem Rahmen fällt. Ein Blick, der, wie Bernhard Waldenfels einmal formuliert hat, »Züge vom tremendum wie vom fascinosum an sich hat«7.
6. Dan Graham: »Essay on Video, Architecture and Television« (1979), in: Birgit Pelzer/Mark Francis/Beatriz Colomina (Hg.), Dan Graham, London 2001, S. 120-133, hier S. 123. 7. Bernhard Waldenfels, Sinnesschwellen. Studien zur Phänomenologie des Fremden 3, Frankfurt a.M. 1999, S. 162.
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Zwischenspiele: Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume
Literatur Bruggen, Coosje van: Bruce Nauman, New York 1988. Morgan, Robert C.: »Eccentric Abstraction«, in: Flash Art 144 (1989), S. 7779. Ross, David/Douglas Crimp (Hg.), Joan Jonas, Scripts and Descriptions 1968-1982, Berkeley 1983. Pelzer, Birgit/Francis, Mark/Colomina, Beatriz (Hg.), Dan Graham, London 2001. Sharp, Willoughby: »Nauman Interview«, in: Arts Magazine 44/5 (1970), S. 26-30. Waldenfels, Bernhard, Sinnesschwellen. Studien zur Phänomenologie des Fremden 3, Frankfurt a.M. 1999.
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›DVDeformazione‹. Zur ästhetischen Transformation der Tragedia Endogonidia im digitalen Videoformat Jörg von Brincken
Tragedia transformativa Die Socìetas Raffaello Sanzio hat unter der Leitung ihres Regisseurs Romeo Castellucci seit dem Jahre 2002 in verschiedenen europäischen Städten den schließlich elf Teile umfassenden Tragödienzyklus der Tragedia Endogonidia erarbeitet. Den eigentlichen Schlusspunkt unter das serielle Theater-Experiment setzte im Jahre 2007 eine von den Videokünstlern Cristiano Carloni und Stefano Franceschetti erstellte DVD-Dokumentation. 1 Die Praxis der Weitergabe eines einmal geschaffenen ästhetischen Objekts an andere kreative Instanzen und seine Freigabe zur Bearbeitung in einem differenten ästhetischen Feld ist in Zeiten des Intermedialen Usus. Im Hinblick auf die von raumzeitlicher Kopräsenz und Unmittelbarkeit geprägte Auff ührungskunst des Theaters, die, anders als das scheinbar konservatorische Medium des Films, weniger objekthaft denn als von Liveness geprägter Erfahrungsmodus diskutiert wird, bleibt sie jedoch ein problematisches Unterfangen.2 Dabei bezieht die in Rede stehende Transformation der Tragedia durch Carloni/Franceschetti ihre Brisanz vor allem 1. Socìetas Raffaello Sanzio: Tragedia Endogonidia di/by Romeo Castellucci. Memoria video di/memory video by Cristiano Carloni, Stefano Franceschetti. Musica originale di/original music by Scott Gibbons, Italien 2002 (2007). 2. Vgl. Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M. 2004. Hierin den Abschnitt ›Liveness‹: S. 114-126.
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Zwischenspiele: Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume
daraus, dass sie sich auf die theatertheoretisch bedeutsame Konstellation ›Auff ührung vs. (dokumentarisches) Artefakt‹ in besonderer Weise einlässt, indem sie das strukturbildende genealogisch-evolutionäre Konzept der Tragedia weiterschreibt: Die einzelnen Filme gerieren sich als ›sporenhafte‹ Verlängerung des seinerseits auf verschiedene Städte, Schauplätze und Motive distribuierten und innerhalb seines eigenen ästhetischen Generierungsprozesses beständig transformierten Theaterzyklus.3 Es geht sowohl den beiden Videokünstlern als auch Romeo Castellucci selbst beim DVD-Transfer mithin um eine gleichsam rhizomatische Fortschreibung des theatralen Ausgangsphänomens, welches als Feld von ästhetischen Ausstrahlungen und ihnen komplementären perzeptiven Vektoren aufgefasst wird, die sich im fi lmischen Milieu auffangen, bündeln und intensivieren lassen, wobei jedoch das fi lmische Medium selbst eine Transformation erfährt. Mit anderen Worten: Nicht nur verändert der Film das Theater, sondern gefi lmtes Theater verwandelt den Film. All dies setzt freilich eine spezifische, jedoch – betrachtet man den Film als bloß konservierende Größe – keineswegs selbstverständliche Affinität und produktive Interaktion beider Medien voraus. Zum Verständnis des DVD-Tranfers ist es also nötig, zunächst eine Relationierung von Castelluccis Theaterästhetik und Film auf einer theoretischen und philosophischen Basis vorzunehmen. Maßgeblich dafür wird die gegen klassische Filmkonzepte gerichtete Film- und Bildtheorie von Gilles Deleuze sein, zu der Castelluccis eigenes ästhetisches Konzept auffällige Affinitäten unterhält. Anzusetzen ist bei der besonderen generativen Struktur, welche Castellucci seinem Tragödienexperiment verleiht. Das Titelattribut »endogonidisch« bezieht sich auf einzellige Organismen, welche sich selbst durch Zellteilung reproduzieren, unsterblich sind. »Endogonidische Tragödie« entwirft ein Oxymoron aus Mythos und Biologie. Die im ekkyklematischen Bild des Helden-Leichnams kulminierende tragische Finalität wird, wie die von Castellucci gewählte Betitelung anzeigt, durchdrungen von Parthogenese, von der Dynamik unendlicher Autoreproduktion. 4 Die Tragedia 3. Vgl. zum Begriff der ›Spore‹ und der ›Transformation‹: DVD-DigipackBooklet, in: Societas Raffaello Sanzio: Tragedia Endogonidia di/by Romeo Castellucci. Memoria video di/memory video by Cristiano Carloni, Stefano Franceschetti. Musica originale di/original music by Scott Gibbons, Italien 2002 (2007), S. 59f. 4. Vgl. Digipack-Booklet, S. 59; vgl.: Trois interviews de Romeo Castellucci sur la ›Tragedia Endogonidia‹ conduites par Thomas Crombez et Wouter Hillaert (mai 2003, décembre 2004, avril 2005): www.zombrec.be/srs/interviewsfr.pdf, gesehen am 1. November 2008.
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›DVDeformazione‹. Zur ästhetischen Transformation der Tragedia Endogonidia
Endogonidia darf als generativ-transformative Maschine betrachtet werden, die einmal gesetzte semiotische Objekte kontinuierlich in neue Kontexte überführt, wobei nicht nur jeder Teil des Zyklus sondern jede Episode darin neue Konstellationen von Bildern, Körpern und Klängen gebiert, das Vorausgehende wie durch Mutation fortschreibend.5 Castellucci verbannt konsequent jedes narrative, d.h. erklärende Schema. Die Figuren sind nicht in einer Story lokalisierbar. Die explizite Extrapolation des Stasimons führt zu einer Verabsolutierung der Episode, die jedoch weder als post-historisches Fragment eines zerfallenen Mythos gelesen, noch als plausible Metonymie einer äußeren Realität erfasst werden kann. Vielmehr betreibt Castelluccis Theater eine radikale Transformation, es gewinnt gerade aus seiner offensiv inszenierten Spannung zu Empirie, Historie und Bios seine formalästhetische und atmosphärische Wucht. Wie Castellucci sagt, führen seine Episoden weder Ideen noch Gewicht mit sich, sie seinen wie ein ›Meteor, der an der Oberfläche kratzt, ohne Wurzeln zu schlagen‹.6 Szenische Präsenz bedeutet ontologische Absenz. Der Tragedia-Zyklus inszeniert insofern eine ewige, jedoch selektive Wiederkunft formal inkonsistenter Motive und sich wandelnder Ereignisse7, deren Gewaltsamkeit, jenes eigentliche Substrat von Tragik, sich jeweils vorrangig von ihrer visuellen und akustischen Erscheinungsqualität, ihrer Plötzlichkeit herleitet8: Anti-Aristotelische Bilder, die ihren eigenen Mythos zerstückeln und darin das archaische Moment erneut bloßlegen. Das gilt insbesondere dort, wo Castellucci ein Theater der Grausamkeit inszeniert. Die radikale, stets in der Identität von Ereignis und Vergänglichkeit, gleichsam im ›Vergängnis‹ zu Buche schlagende Präsenzwirkung von Gewaltbildern wird forciert durch den Verzicht auf eine diskursiv vorgetragene Ätiologie des Gewaltsamen.9 5. Vgl. Wouter Hillaert/Thomas Crombez: Cruelty in the Theatre of the Socìetas Raffaello Sanzio: http://homepages.ulb.ac.be/~rgeerts/inlthewet/castelluci.pdf, gesehen am 1. November 2008. 6. Vgl. Digipack-Booklet, S. 59; vgl. zu Castelluccis Absage an das klassische Narrationsprinzip ebd. S. 61. 7. Vgl. Romeo Castellucci/Thomas Crombez/Wouter Hillaert: Trois Interviews. 8. Man vergleiche zum Paradigma der Plötzlichkeit und seiner Bedeutung für eine performative postdramatische Ästhetik Hans-Thies Lehmanns Adaption des Theorems des ›absoluten Präsens‹, welches von Karl Heinz Bohrer in literaturwissenschaftlichem Kontext entwickelt wurde: Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, Frankfurt a.M. 1999, S. 260. Vgl. Karl Heinz Bohrer: Das absolute Präsens. Die Semantik ästhetischer Zeit, Frankfurt a.M. 1994. 9. Zur Technik des ›Rahmung‹ bei Castellucci vgl. Wouter Hillaert/Thomas Crombez: Cruelty, S. 7f.
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Zwischenspiele: Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume
Wo die herkömmliche Tragödie ihren Effekt aus der Dialektik zwischen Realität und Potentialität, zwischen Geschichte und Mythos bezieht, greift Castellucci die tradierten, in Realität und Ästhetik zum Klischee geronnenen Zeichen der Gewalt auf, er deformiert, verwischt und entsubstantialisiert sie, um sie solchermaßen als integrale Partikel in einem tragisch-transformativen Framework zu verorten, welcher die Tragödie als erzählendes Medium, als Mythos ersetzt und an deren Stelle einen sich beständig wandelnden Bilder-Mythos generiert.10 Die gezeigten Aktionen werden dabei aus dem habituellen figurativen Rahmen isoliert, was zu einem Verlust ihrer Innerlichkeit und zu einer gleichsam flächigen Verteilung führt – sie werden, um mit Deleuze zu sprechen, figural.11 Kein narrativer, illustrativer, psychologischer, kein sozialer, kein humaner Gestus ist mehr erkennbar. Der Verlust des menschlichen Profi ls wird jedoch aufgewogen durch die intensive Ausstrahlung der gleichsam in pikturale Stimmungen aufgelösten Figuren. Angesprochen auf das damit gegebene Problem der Entfremdung entgegnet Castellucci, es sei die Aufgabe einer zukünftigen Tragödie, die bisherige Erfahrung des Körpers zu nullifizieren.12 Es gehe vielmehr um die Entdeckung eines tragischen Körpers, der nur im Augenblick kurz vor seiner Vernichtung, mithin im Prozess seines Übergangs ins Nichtmehr-Menschliche, Anorganische aufscheint. Castellucci betont, gerade die Tragödie sei ein nicht-mystischer oder narrativ interpretierbarer Theatertypus, der weder aus der Distanz noch zu einem späteren Zeitpunkt rezipiert werden könne, sondern sich in actu innerhalb des Zuschauers selbst manifestiere.13 Der Moment der ästhetischen Desintegration und die prekäre Perzeption der freigesetzten Bilder müssen also unmittelbar aufeinander bezogen werden.
Castellucci/Deleuze : Das Passieren der Bilder Dieses tragische Programm einer neuen in- bzw. transhumanen Sensibilität, das zentral auf den Augenblick zwischen der Auflösung körperlicher Integrität und der Genese eines Ungekannten abzielt, ist bereits von Gilles Deleuze vorgedacht worden. Einmal in seiner berühmten Studie zu der 10. Vgl. ebd., S. 7. 11. Vgl. zu dem Gegensatz ›figurativ – figural‹ (und seiner Herleitung von Lyotard): Gilles Deleuze: Francis Bacon: Logik der Sensation, München 1995, S. 3ff, S. 9ff und S. 31. 12. Vgl. Digipack-Booklet, S. 70. 13. Vgl. Digipack-Booklet, S. 60.
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Ästhetik des englischen Malers Francis Bacon, und dann ganz zentral in seiner Theorie des Films, welchen er als Kunst der Beschreibung fasst, die ihren Gegenstand bzw. dessen Realität ersetzt. Dabei wird das sogenannte filmische Zeitbild dem auf natürlicher Wahrnehmung beruhenden Klischee gegenübergestellt: Letzteres ist Ergebnis einer bequemen Wahrnehmung, aus »psychologischen Bedürfnissen« heraus. Diese natürlichen psychologischen Bedürfnisse erklärt Deleuze unter Rückgriff auf ein Bergsonsches Theorem mit »sensomotorischen Zusammenhängen«14: Die emphatische Beobachtung einer Aktion schlussfolgert automatisch auf ein organisches Miteinander der in Bewegung gesetzten Körperteile und darin auf ein implizites Bild vom Lebendigen, das in sich organisch konsistent, funktional vorhersagbar und vor allem: ontologisch integer ist. Bereits am Beginn aller Perzeption werden somit sensomotorische Schemata von möglichen und wahrscheinlichen Abläufen auf das Wahrgenommene projiziert und reduzieren es auf Kausalität. Man könnte sagen, der Urgrund aller Narration und Identifikation, auch im Theater, ist nicht das ideologische Subjekt, sondern der ideologische Organismus. Deleuze entwirft dagegen einen neuen Bildtypus, der Vorgänge und Körper in Opto- und Sonozeichen auflöst und darin ein transorganizistisches perzeptives Feld konstituiert, das die Kategorien von human-inhuman, organisch-anorganisch, individuell-allgemein usw. übersteigt. Der Film arbeitet für Deleuze die Präsenz eines intensiven, gleichsam verflüssigten Körpers heraus, der sich der organischen Repräsentation entzieht und die Tendenz besitzt, sich mit dem umgebenden Bildraum und seinem materiellen Fond zu verbinden. Dies führt auch zu einer Störung der Parameter organischer Wahrnehmung. An deren Stelle setzt Deleuze die Idee eines ›haptischen Sehens‹, welches nicht mehr erkennen und begreifen will, sondern auf das bloße, von Moment zu Moment sich entfaltende, urteilsfreie Berühren beschränkt ist.15 Das eine geschieht durch das andere: Der Bild-Körper erzeugt ein vom organischen Diktat, d.h. vom Zwang des Erkennens befreites Auge und dieses geht eine intime, körperliche, reflexiv nicht abgegoltene Liaison mit dem Bild und seiner Dynamik ein. Die Idee einer präsentischen Rohwahrnehmung ohne Umweg über das Bewusstein existiert auch bei Castellucci. Sein Plädoyer für die Tragödie als unmittelbarste aller Theaterformen setzt auf die Fähigkeit des Nervensystems, auf externe Stimuli noch vor deren Bewusstwerdung zu reagieren.16 14. Vgl. Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt a.M. 1997, S. 35 und
64ff. 15. Vgl. ebd. S. 25; vgl. außerdem: Gilles Deleuze: Logik der Sensation,
S. 33f. 16. Vgl. Digipack-Booklet, S. 71.
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Außerdem fügt er hinzu, der gesamte Körper, nicht nur das Auge werde durch die Szene affiziert.17 Auch er erteilt also dem organischen Schema von Wahrnehmung, nach dem alle Vermögen am geordneten Platz zu sein haben und darin eine Ordnung der Perzeption sowohl konstituieren wie abbilden, eine Absage. Das Auge fungiert als reine Körperöffnung für die Aufnahme intensiver Reize, die sich dann im ganzen Körper verteilen. Castelluccis Konzept tragischer Auflösung zielt mithin, wie die Deleuzsche Vorstellung, auf eine analoge Desintegration von angeschautem und anschauendem Körper. Dies wird bei ihm zur eigentlichen Voraussetzung einer grenzenlosen transhumanen Vergemeinschaftung, welche er im tragischen Ritus avisiert: Castellucci weist explizit darauf hin, tragische Energie könne nur befreit werden, wenn sich Menschliches und Nichtmenschliches, Humanes und Inhumanes auf einem gemeinsamen Grund träfen.18 Eine solche transgressive Tendenz setzt in Castelluccis Theater auf formalästhetisch-atmosphärischer Ebene an19: Theatrale Mechanismen regieren in ihrer eiskalten Schönheit das Körper-Bild-Kontinuum und lassen den dort platzierten Menschen zum Teil einer umfassenden Bühnen-Skulptur werden, innerhalb derer reine, vom miserabilistischen Kommentar befreite Aktion ›passiert‹.20 Castelluccis »principle of inhumanity«21, wie es Hillaert/Crombez zutreffend nennen, führt zur Einschreibung der Akteure in klaustrophobische, anonyme Bühnentopographien aus reflektierenden Wänden, technischen Apparaten, fi lmischen Projektionen, halbtransparenten Screens, Lichtkerkern und Soundkammern, die die Körper optisch verwischen, in die formale Ununterscheidbarkeit drängen, zur Unkenntlichkeit verzerren oder gänzlich ersetzen. Die Götter der antiken Tragödie sind hier gleichsam zu anonymen Technikern geworden, die Körper erleiden ein fatum machinarium innerhalb eines theatrum pictum. Castellucci inszeniert einen Prozess beständiger Bild- und Skulpturwerdung seiner Figuren, der noch in ihren sublimsten und delikatesten Momenten zu Buche schlägt: Die masturbierende Mutter zerfließt hinter milchigem Vorhang in dünstende Farbformen, der bluttriefende männliche Körper wird unter 17. Castellucci: »The whole body is affected by the scene of the stage.«: Digipack-Booklet, S. 72. 18. Vgl. Romeo Castellucci/Thomas Crombez/Wouter Hillaert: Trois Interviews; vgl. Digipack-Booklet, S. 73. 19. Zur Ästhetik der Transgression bei Castellucci vgl.: Thomas Crombez: »La Transgression dans la Tragedia Endogonidia de la Socìetas Raffaello Sanzio«, in: Paul Vande Berghe/Christian Biet/Karel Vanhaesebrouck (Hg.): Œdipe contemporain? Tragédie, tragique, politique, Brüssel 2007, S. 275-294. 20. Vgl. Digipack-Booklet, S. 73. 21. Wouter Hillaert/Thomas Crombez: Cruelty, S. 3.
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den Schlägen der Peiniger zur rotgetünchten figura furiosa, Lichtwände verschlucken Leiber und speien sie als groteske Schlagschatten wieder aus, menschliche Stimmen verstummen in mechanischen Klangspuren. All dieser Manierismus dient keineswegs dazu, organische Klischees in einer Bewegung der Abstraktion aufzulösen, die ihrerseits metaphorischen oder gar sozialkritischen Mehrwert erlangte. Vielmehr geht es darum, dem theatralen Bild im Moment seiner Wahrnehmung »enorme Kräfte zuzuführen«22. Diese entspringen, wie das Deleuzsche Filmbild, nicht einfach einem »organischen Vorurteil, einem intellektuellen oder gar einem gesellschaftlichen Bewusstsein«23, sondern einer intuitiven Affinität zum ›Passieren des Bildes‹ in einer darin auf blitzenden Heteronomität.
Filmische Deformation und theatrales Def izit Die gezeigten Affinitäten zwischen Deleuze’s Filmtheorie und Castellucis Ästhetik bilden eine Basis für die Diskussion des filmischen Transfers der Tragedia. Castellucci weist die Vorstellung, es handele sich bei den Filmen um ein autonomes Werk, ebenso zurück, wie diejenige, sie wären bloße Dokumentation. Sie seien vielmehr Sporen der »Tragedia«. Er spricht außerdem von »deformazione«.24 Sie wäre als umformendes Kräftespiel zwischen Theater und Film aufzufassen, welches Reversibilitäten und Rückkoppelungen gestattet – anders als eine Abgeschlossenheit implizierende Transformation. Insofern stellt sich die brisante Frage nach der ästhetischen Höher- oder Minderwertigkeit von Theater oder Film nicht. Deformation meint die Distribution und Verarbeitung vom Theater gesetzter Impulse in einem anderen technisierten Feld, das jedoch des Liverlebnisses als Basis der Deformation bedarf. Die gemeinsame Kontur, auf der videotechnisches Medium und Castelluccis Theater interagieren, ist die der An-Organisierung und Enthumanisierung. Wie gezeigt, betriff t dies bei Castellucci über die formalen Mittel hinaus vor allem die Relation von Geschehen und Wahrnehmung.25 Bereits Castelluccis Theaterästhetik hat eine ungeheuer hohe Affinität zum Film, einige Episoden erscheinen als nur salopp kaschierte Anleihen 22. Gilles Deleuze: Zeit-Bild, S. 37 23. Ebd. 24. Vgl. Digipack-Booklet, S. 59f. 25. Vgl. Digipack-Booklet, S. 60. Castellucci betont immer wieder, die Wirkung der Tragödie entfalte sich nicht auf der Szene, sondern innerhalb des von ihr affizierten Zuschauers. Dessen Sinne und Bewusstsein werden gleichsam mit dem Ereignis immersiv kurzgeschlossen.
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bei David Lynch, es gibt projizierte Abspänne wie im Film, die Castellucci mit dem dezidierten Verweis auf die Macht des Filmes rechtfertigt, Realitäten aufzulösen, und die letzte Episode der Tragedia kommt sogar als Abbild des Films daher, sie inszeniert einen Filmkrimi mit theatralen Mitteln. Über diese augenscheinlichen Affinitäten hinaus ist an Castelluccis Theater ein merkliches Bestreben spürbar, räumliche Relationen und damit dreidimensionale, sensomotorisch aufladbare Tiefenwirkungen zu verwischen. Durch milchige Vorhänge oder Spectrographen, die vor dem eigentlichen Bühnengeschehen platziert sind, durch Licht- und Schattenwirkungen, durch Überbelichtungen und Stroboskopeffekte. Alle diese Effekte zerbrechen gleichsam das dreidimensionale, gefühlsaffine Theaterbild auf der Retina des Zuschauers in optische Wirkungen. Darin besteht die eigentliche tragische Wucht der Inszenierungen, ein faszinierender Clash von Figurativem und Figuralem, von Mitgefühl und unpersönlicher Wahrnehmung. Bereits Castelluccis ästhetisches Programm zielt auf die Überwindung eines wesentlichen Defizits des Theaters. Aufgrund der realen Kopräsenz in einem gemeinsam geteilten Raum ist Theater verstärkt an sensomotorische Zusammenhänge zurückgebunden. Der durch Bühnenwände und das Proszenium begrenzte Raum impliziert ein reales Außen. Körper und Gegenstände besitzen eine geschichtliche Konsistenz, die bereits mit dem materiellen und biologischen Faktum gesetzt ist. Daraus ergeben sich theatrale Konstellationen, die (zu) stark an Leben, an Gefühle, an bequeme Gewissheiten und an sensomotorische Plausibilitäten gebunden sind. In der Phantomhaftigkeit fi lmischer Projektion dagegen verliert die massive Außenwelt ihr Gewicht nie ganz, aber sie ist medial deformiert: »Eine Kamera auf einen Körper richten«, das heißt, wie Deleuze schreibt, nicht mehr nur, »den alltäglichen Körper zu verfolgen und zu jagen« (das ›shooting‹), sondern »ihn in ein Kristall einzuführen« um schließlich das gänzliche« Verschwinden des Körpers zu erreichen«26.
Geisterblick und f ilmische Per formanz Carloni und Franceschetti weisen darauf hin, ihr Film sei abhängig vom Theater, aber er sei für das Theater auch das, was das Theater für das Leben sei.27 Das heißt, sie tragen der ebenso irritativen wie faszinierenden Anorganisierungsdynamik Castelluccis dezidiert Rechnung und schreiben sie durch die Spezifi k ihres Mediums fort. Aber: Sie intensivieren sie im Zuge 26. Gilles Deleuze: Zeit-Bild, S. 245. 27. Vgl. Digipack-Booklet, S. 57ff.
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dessen. Das bedeutet für den Film, dass er nicht in seinen herkömmlichen konservierenden Mechanismen befangen bleiben darf. Die beiden Videokünstler betonen daher, mit den Filmen nicht den subjektiven »point of view« eines Regisseurs auf ein Geschehen festschreiben zu wollen, sondern in Form von »Erinnerungsvideos« (»memoria video«28) die Perspektive eines »Geistes«29 zu inszenieren, d.h. den Zuschauern ein vergangenes Geschehen durch die Vermittlung eines anderen Körpers und durch den Filter einer technifizierten Erinnerung zu vermitteln. Es geht also nicht um die Darbietung eines bestimmten individuellen Erinnerungsbildes als eines abgeschlossenen Artefakts, sondern darum, in der Rezeption des Films die Wahrnehmung des Unpersönlichen und das Erleben der Enthumanisierung in einem anderen medialen Feld zu ermöglichen, welchem das entfremdende Moment stärker eingeschrieben ist, als das beim Theater der Fall ist. Die Videokünstler perspektivieren damit den Film selbst zu einem zutiefst präsentischen, weil verstörenden Erlebnis ›haptischen Sehens‹, da er nicht in erster Linie das vergangene Theatergeschehen wiedergibt, sondern sich deformierend bzw. entpersonalisierend auf aktuelles Wahrnehmungsgeschehen en proces der Rezeption des Videos bezieht. Welcher Strategien bedienen sich Carloni/Franceschetti, um diese Performanzdimension des Filmes zu erschließen? Zunächst schlagen die einzelnen Tragedia-Filme die Autonomie der Rezeption gleichsam in Ketten. Wesentliche Mechanismen dessen sind die ständig zwischen Zuschauerraum und Bühnenort wechselnde Positionierung der Kamera, sowie die fragmentierende, über Montage, Schnitt und den Wechsel zwischen Totale, Halbnahe, Groß- und Detailaufnahme hinund herspringende Perspektive, schließlich die Objektannäherung über den Zoom und das lange, kontemplative Verweilen in bestimmten Einstellungen. Es geht nicht darum, Fragmente eines vormals Ganzen zu schaffen, sondern zwingende Aufmerksamkeitsaffinitäten zu setzen, in denen sich scheinbar Hauptsächliches der Inszenierung mit scheinbar Nebensächlichem verbindet. Der Zuschauer, der die Perspektive nicht mehr frei wählen kann, sieht sich nicht nur einer fremden Erinnerung gleichsam tragisch ausgeliefert, er blickt durch die leeren Augenhöhlen einer entpersonalisierten Instanz und geht in ihr auf. Die Ränder dieser Augenhöhlen evozieren ein Begehren, nach außen zu blicken, aber es kann, anders als auf dem Theater, nicht durch die Drehung des Kopfes oder sogar den potentiell möglichen Blick in die Seitenbühnen befriedigt werden. Die Bewegung des Kamerabildes konstituiert ein flächiges Feld, in dem jede Er28. Digipack-Booklet, S. 57. 29. Digipack-Booklet, S. 75.
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scheinung aus einem nicht-existenten Außen in die Kadrierung eintritt, eine geisterhafte Wiedergängerei, der Fluchtpunkt und Ziel gleichermaßen abhanden gekommen sind. Bereits Bela Balázs hat in seinem Text über den »absoluten Film« auf die radikale Bildjenseitigkeit von Kausalzusammenhängen im Film hingewiesen.30 Dieser Kausalzusammenhang ist im Theater jedoch immer auf der untersten Ebene präsent. Es genügt der schlechte Rest rein funktionaler Bewegungen, um die Dramentheorie sich seit jeher bemüht hat, hinreichend zu motivieren: Dies beginnt bereits bei der Organisation von Auf- und Abtritten der Akteure sowie beim dramaturgischen Einbringen neuer Gegenstände, Personen, Konstellationen und Situationen in den szenischen Raum. Für das Theater Castelluccis, welches das narrative Prinzip zu eskamotieren trachtet, sind sie von besonderer Prekarität, weil sie die Beziehung des Kunstraumes zu einem alltäglichen Außen des Bühnenbetriebes und der historischen Realität markieren. Wo Castellucci sichtbar darum bemüht ist, die Präsenz der Gegenstände und Akteure als ein frappantes Erscheinen zu inszenieren oder mittels Licht und Vorhängen die Unerträglichkeit der banalen Realität zu verschleiern, setzt der Film auf die radikale Auslassung. Die Schnittmontage Carlonis und Franceschettis lässt für Alltägliches keinen Raum, sie schaff t Bildgründe für die Isolation von optisch-akustischen Figuren. Die unterlegten Klangspuren legen den 30. »In einer Begebenheitsfolge ist nämlich immer etwas, was bildjenseitig bleibt und auch im Film nie reine Gestalt, reine Erscheinung werden kann: das ist der Kausalzusammenhang. […] Der kausale Zusammenhang bleibt jenseits, als eine Tatsache, von der wir wissen, die wir aber im Bilde nicht sehen.« Bela Balázs: Der Geist des Films, Frankurt/Main 2001, S. 87. Bereits Mitte der 1980er Jahre monierte Tom Gunning, die Filmgeschichte konzentriere sich zu stark auf das Prinzip der Narration und vernachlässige weitgehend die Tatsache, dass im ersten Film-Jahrzehnt nicht-narrative und akausale Formen dominant gewesen seien. Etwa zur selben Zeit wie Gunning hat Kristin Thompson ein strukturalistisches Modell geliefert, in dem sie den Film als Streit oppositioneller Kräfte beschreibt, wobei einige dieser Kräfte zur narrativen Einheitlichkeit des Films beitrügen, andere wiederum dieser zuwider arbeiteten. Letztere bezeichnet Thompson als »exzessiv«: Sie markierten eine Lücke in der Motivationsstruktur und damit innerhalb der begründenden Kausallogik der Handlung. Vgl. Tom Gunning: »The Cinema of Attractions: Early Film, Its Spectator and the Avant-Garde«, in: Wide Angle 8.3/4 (1986), S. 63-70; Kristin Thompson: »The Concept of Cinematic Excess«, in: Philip Rosen (Hg.): Narrative, Apparatus, Ideology: A Film Theory Reader, New York 1986, S. 130-142, hier S. 130 und S. 134; vgl. Roberta Pearson: »Das Kino des Übergangs«, in: Geoffrey Nowell-Smith (Hg.), Geschichte des Internationalen Films, Stuttgart, Weimar 1998, S. 25-42, v.a. S. 17.
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Bildsequenzen entsprechend einen gleichsam mechanischen Rhythmus unter und verstärken dadurch den Entfremdungseindruck. Der Film sucht in seiner Emanzipation vom Kausalprinzip und durch die Extraktion des Theaterbildes aus seinem humanen dreidimensionalen Format ein Intensitätspotenzial zu erarbeiten, das sich vor allem im Prinzip frappierenden, instantanen Erscheinens von Bildensembles niederschlägt. Die einzelnen Einstellungen werden – unterstützt von der unheimlichen Eindringlichkeit der Tonspur – gleichsam blickdicht, sie arbeiten das Fremde am Bild heraus, zumal in den Nahaufnahmen generieren sie visuelle Kraftfelder, die die Sache »als solche, gleichsam buchstäblich, in ihrem Übermaß an Grausamkeit oder Schönheit, in ihrer radikalen und nicht zu rechtfertigenden Eigenart hervortreten […] lassen.« Mehr noch als bei Castellucci »bedarf […] das Gezeigte […] keiner [menschlichen] Rechtfertigung mehr, im guten oder bösen Sinne …«31. Das beständige, von vielen Auslassungen geprägte Ineinandermontieren von, in Castelluccis Theater aufeinanderfolgenden, Szenen durchbricht die Chronologie der schieren Ereigniszeit. Die Filme sind jeweils um zwei gute Drittel kürzer als die eigentliche Auff ührung. Zeit ist hier nicht mehr das unweigerliche Maß einer realen Abfolge, das fi lmische Inbewegungsetzen des realen Theaterereignisses widerspricht oftmals dessen eigener Bewegung, es entsteht eine Zeitlichkeit, die nicht mehr nachvollziehbar ist, sondern intuitiv und in actu erlebt sein will. Die beständige Kombination von Echtzeit, Zeitraffer und Zeitlupe erlauben es dem fi lmischen Zeitbild an keiner Stelle, sich in irgendeiner Form noch in irgendeiner Richtung zum Klischee zu verfestigen. Die Aktionen verteilen sich gerade durch die Kombination vielfältiger optischer Tricks in variierenden Vektoren und in unterschiedlichen Intensitätsgraden der Deformation flächig über den Bildschirm bzw. die Leinwand. Der Screen wird selbst zu einer Skulptur der Bewegung, die ihre Dynamik aus der Kristallisierung und Prismisierung des realen Vorbilds bezieht und dessen in der Realität nicht gänzlich entfaltbares Verwandlungspotenzial veranschaulicht. Letzteres vor allem in Form von reversiblen Aggregatzuständen des Körperbildes. Unter anderen filmischen Tricks wie dem teilweisen oder völligen Verschwinden von Körpern durch Überblendungen und Überbelichtungen ist die digitale Verwischung von Bewegungen und Körpern sowie das ›Ausfasern‹ von Aktionsvollzügen zu nennen: Diese Verwischungen deformieren nicht eigentlich den Körper, sondern das fi lmische Bild vom Körper. Der reale Körper auf Castelluccis Szene wurde durch den Zugriff der Kamera zum gefi lmten Körper und dieser entweicht oder entkommt 31. Gilles Deleuze: Zeit-Bild, S. 35.
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seinerseits in das nicht mehr auf Abbildungsverhältnissen beruhende digitale Bild, er vereinigt sich mit der Lichtgestalt des Filmbildes als solchem, wird Filmkörper. Das, was man als scheinbare Deformationen des Körpers wahrnimmt, ist im Eigentlichen als interaktive Einwirkung von technischen Kräften auf das Körperbild und vice versa zu beschreiben. Wo solche Kraft auf eine Partie des Bildkörpers triff t, lässt sie keine abstrakte oder metaphorische Figur entstehen und ebenso vollzieht sie keine dynamische Kombination sinnlicher realer Formen. Im Gegenteil, sie macht aus all diesen Bereichen eine Ununterscheidbarkeitszone, die mehreren Formen – anorganisch und organisch, technisch und lebendig – zwar gemeinsam, aber auf keine davon reduzierbar ist: Ein technobiologischer Hybrid, der sich als Möglichkeit und Vorläufigkeit auf der materiellen Struktur des Filmbildes abzeichnet. Diese materielle Struktur selber tritt in höchstem Maße dort hervor, wo Carloni/Franceschetti besondere Lichteffekte setzen, die das Taktile des Films ausspielen, so etwa in Stroboskopgewittern, welche ein Tabu derjenigen Theorie ist, die das Medium rein als distanzierendes auffasst und ihm eine eigene, performative Lebendigkeit abspricht.32 Vor allem aber ist mit der Digitalisierung bzw. mit der digitalen Bearbeitung ein neues Feld eröffnet, welches die ursprüngliche fi lmische Konstellation einer auf einen realen Körper gerichteten Kamera unterläuft bzw. diese überschreibt. Digitale Effekte benötigen kein repräsentierbares Außenobjekt mehr, sie markieren die technische Utopie reinen seduktiven Bildflimmerns, welches nicht mehr abbildet, sondern produziert. Gerade die Zuordnung von gefilmtem Körper und digitaler ›Mutilation‹ führt damit erneut eine tragische Dimension ein, denn anders als das herkömmliche Filmbild ist das digitale Verwischungsfeld selbst nicht deformierbar, da es nie eine organische Konsistenz besaß. Der Akt seiner Wahrnehmung stellt die ontologische Stabilität und das phänomenologische Profil des agierenden Körpers rundweg in Frage, sein Leben und seine Auflösung im Tode sind gewissermaßen kongruent. Den Tragedia-Filmen geht es nicht um die Wiederherstellung einer vergangenen Realpräsenz der Körper, sondern darum, eine ursprüngliche Genese der Körper aus dem Nichts tanzender Schatten, aus der Inkonsistenz elektronischen Staubes zu bewirken, einen erneuten Anfang des Sichtbaren zu setzen, das noch keine Figur oder keine Handlung hat. Die Filme stehen für den – von Castellucci geteilten – Glauben, »der in der Lage ist, uns die Welt und den Körper von dem aus, was ihr Abwesenheit bezeichnet, zurückzugeben.«33 Wo das tragische Theater Castelluccis seinen Fluchtpunkt hat, fängt 32. Vgl. Gilles Deleuze: Zeit-Bild, S. 259. 33. Gilles Deleuze: Zeit-Bild, S. 260.
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die Kunst Carlonis und Franceschettis an. Film fungiert nicht mehr als technisches Medium der Transformation, sondern als Schöpfungs-Technik, als Technik von Göttervätern.
Literatur Balázs, Bela: Der Geist des Films, Frankfurt a.M. 2001. Bohrer, Karl Heinz: Das absolute Präsens. Die Semantik ästhetischer Zeit, Frankfurt a.M. 1994. DVD-Digipack-Booklet, in: Societas Raffaello Sanzio: Tragedia Endogonidia di/by Romeo Castellucci. Memoria video di/memory video by Cristiano Carloni, Stefano Franceschetti. Musica originale di/original music by Scott Gibbons, Italien 2002 (2007). Castellucci, Romeo/Crombez, Thomas/Hillaert, Wouter: Trois interviews de Romeo Castellucci sur la ›Tragedia Endogonidia‹ conduites par Thomas Crombez et Wouter Hillaert (mai 2003, décembre 2004, avril 2005): www.zombrec.be/srs/interviewsfr.pdf, gesehen am 1. November 2008. Crombez, Thomas/Hillaert, Wouter: Cruelty in the Theatre of the Socìetas Raffaello Sanzio: http://homepages.ulb.ac.be/~rgeerts/inlthewet/castelluci. pdf, gesehen am 1. November 2008. Crombez, Thomas: »La Transgression dans la Tragedia Endogonidia de la Socìetas Raffaello Sanzio«, in: Paul Vande Berghe/Christian Biet/Karel Vanhaesebrouck (Hg.): Œdipe contemporain? Tragédie, tragique, politique, Brüssel 2007, S. 275-294. Deleuze, Gilles: Francis Bacon: Logik der Sensation, München 1995. Deleuze, Gilles: Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt a.M. 1997. Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M. 2004. Gunning, Tom: »The Cinema of Attractions: Early Film, Its Spectator and the Avant-Garde«, in: Wide Angle 8.3/4 (1986), S. 63-70. Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, Frankfurt a.M. 1999. Pearson, Roberta: »Das Kino des Übergangs«, in: Geoffrey Nowell-Smith (Hg.), Geschichte des Internationalen Films, Stuttgart, Weimar 1998, S. 25-42. Thompson, Kristin: »The Concept of Cinematic Excess«, in: Philip Rosen (Hg.), Narrative, Apparatus, Ideology: A Film Theory Reader, New York 1986, S. 130-142.
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DVD-Verzeichnis Socìetas Raffaello Sanzio: Tragedia Endogonidia di/by Romeo Castellucci. Memoria video di/memory video by Cristiano Carloni, Stefano Franceschetti. Musica originale di/original music by Scott Gibbons, Italien 2002 (2007).
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8. Durch die Geschichte(n) gehen : Politische Zwischenspiele in Theater und Per formance Man muss die Toten ausgraben, wieder und wieder, denn nur aus ihnen kann man Zukunft beziehen.1 Heiner Müller
Spielen seit einigen Jahren (neo-)dokumentarische Spielformen (wieder) eine Rolle in den Spielplänen der Theater, so rufen diese zwangsläufig auch Brechts Programm des epischen Theaters bzw. des Lehrstücks mit auf, das längst in erneuerter Form im 21. Jahrhundert angekommen ist und ästhetisch differenziert auftritt.2 René Pollesch formulierte in einem Gespräch die Hoff nung, dass sich das Theater zunehmend von einem literaturgeprägten Theaterbegriff entferne, er Brecht noch primär als einen Produzenten von Theaterliteratur sehe und der Dramatiker vielleicht eines Tages primär mit seiner Theatertheorie ins Blickfeld rücken werde.3 Armin Petras vermutet dagegen, dass Brechts Zukunft in Heiner Müller liegen könne, womit zwei zentrale Pole dieses Kapitels markiert und zwei entscheidende Fragen gestellt sind. 4 In den hier versammelten Beiträgen spielen Brecht und Müller (in-) 1. Heiner Müller: Jenseits der Nation. Heiner Müller im Interview mit Frank M. Raddatz, Berlin 1991, S. 31. 2. Vgl. Frank-M. Raddatz (Hg.): Brecht frisst Brecht. Neues Episches Theater im 21. Jahrhundert, Berlin 2007. 3. Vgl. »Penis und Vagina, Penis und Vagina, Penis und Vagina. René Pollesch über Geschlechterzuschreibungen, das Normale als Konstruktion und die Theoriefähigkeit des Alltags«, in: ebd., S. 195-213 (S. 201). 4. Vgl. Ich habe in Brecht einen Partner gefunden. Armin Petras über das Labor, den Strukturalismus und die Lust am Narrativen, in: ebd., S. 185-194 (S. 194).
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direkt eine wichtige Rolle, sei es in Form der sich an einem spezifischen (Werk-)Abdruck reibenden réécriture untereinander (Jourdheuil), sei es in Form von noch freieren Fortschreibungen, die sich weniger oder gar nicht mehr an einer (dramatischen) Vorlage reiben und stattdessen Brechts oder/ und Müllers ästhetische Programme (gespensterhaft) als Echoräume aufblitzen lassen, möglicherweise auch miteinander verschränken, wie es auf sehr unterschiedliche Weise in den Texten von Evelyn Annuß, Jan Linders und der andcompany&Co zum Ausdruck kommt. Im Sinne des dem Kapitel vorangestellten Zitates unterstreichen alle Beiträge, dass das Theater als auch ein Theatertext immer als ein (öffentlicher) Verhandlungsraum von Geschichte(n) zu verstehen ist, in dem nach historischen Spuren gesucht wird, historische Schichten freigelegt werden und historisches (dramatisches) Personal unter anderen gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen neu befragt und neu aufgerufen wird. Dabei stellt sich auch die Frage, ob die Gegenwartsbezüge unmittelbar von einer künstlerischen Arbeit ausgehen – oder wie von Evelyn Annuß am Beispiel von Hans Werner Krosingers Vorsicht Schusswaffen aufgezeigt –, die Gegenwartsbezüge ausschließlich der Rezeption überlassen werden. Jean Jourdheuil belichtet in seinem Beitrag die diskursive (ost-)deutsche Rezeption von Philoktet und erkennt in Müllers Überschreibung ein »experimentelles Dispositiv«, das ihn sowohl an Antonin Artauds Theater der Grausamkeit als auch in der Anlegung des Theaterraumes an Foucaults Modell der (geschlossenen) Heterotopie bzw. des espace autre erinnert.5 Dabei stellt sich insbesondere die Frage, inwieweit Müller in seiner Fassung die Fragen und Probleme der Brecht’schen Lehrstücktheorie überdenkt, welche Brücken Müller hinüber zu Shakespeare und Beckett baut und mit welchen Strategien Müller der Sophokles’schen Vorlage den griechischen Boden bzw. die Form der Tragödie entzieht und sich damit von der Tradition der philosophischen Tragödienrezeption des deutschen Idealismus löst. Interessant ist auch die Frage des Einzugs der Geschichte in die Fassung Müllers, durch die der Dramatiker, so die These, wie durch eine »Linse« schaut, um den historischen Raum von Perikles bis zum zweiten Weltkrieg zu vermessen. Die unter dem Namen andcompany&Co auftretenden Performer Bini Adamczak und Alexander Karschina fokussieren in der Relektüre ihrer Tempodrom-Trilogie des »Wiedersehens mit dem 20. Jahrhundert« speziell die Figur der Temponautin, die im Zeitraffer durch die Geschichte rast 5. Der Text erschien erstmalig als Vorwort der neuen Übersetzung von JeanLouis Besson und Jean Jourdheuil. Vgl. Philoctète, Les éditions de minuit, Paris 2009. Nicole Kandioler, die das von Jean Jourdheuil für diesen Band leicht abgewandelte Vorwort übersetzte, gilt unser besonderer Dank.
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und wie ein Echo auf Müllers Argonauten erscheint. Ziel ihrer Arbeit ist es, so die Künstler, die Geschichte frei begehen zu können, in all ihren Optionen auszuloten und vorzustellen, wobei sich in der »Achromie« bzw. in der »Streuung der Zeitachse« möglicherweise die »Utopie eines Theaters jenseits des Dramas« abzeichnet. Dabei vermengen sich in spielerischen Konstellationen, die ästhetisch mit popkulturellen Techniken des Samplings und Remixes operieren, zahlreiche philosophische, künstlerische Referenzpunkte mit Splittern historischer Figuren und Schlüsselereignissen des letzten Jahrhunderts. Ist, so ließe sich fragen, mit dem radikalen Mittel der Dekonstruktion überhaupt eine Rekonstruktion der in der Performance programmatisch aus der Zeit- und Raumrahmung springenden Geschichte möglich oder wird hier versucht eine künstlerisch-wissenschaftlich avancierte Spielästhetik zu begründen, die zugleich Ansätze eines neuen Geschichtsverständnisses entwickelt? Evelyn Annuß analysiert dagegen drei im Rahmen des Festivals Endstation Stammheim entstandene Arbeiten über die Geschichte der RAF von René Pollesch, Rimini Protokoll und Hans Werner Kroesinger auf ihr politisches Potenzial und formuliert damit eine für die nicht- oder postdramatisch geprägten Theaterformen grundlegende Frage, die dahin zielt inwieweit die zunehmende künstlerische Fixierung auf die Kritik an personalen Darstellungsformen zu einer Entpolitisierung beiträgt obwohl sich die Künstler gerade politisch positionieren und mit epischen Formen experimentieren. Jan Linders begibt sich in seinem Stadtrundgang ebenso auf eine Zeitreise, die jedoch durch die Stadt Köln eindeutig lokalisierbar ist und untersucht am Beispiel einer Arbeit von Matthaei & Konsorten Formen der Zeit- und Raumdramaturgie, die das Publikum immer wieder in Zwischenspiele verwickelt. Operieren Hannah Hofmann & Sven Lindholm an der Schnittstelle von szenischer, bildender und akustischer Kunst und erforschen in ihren »delegierten Interventionen« und »Re-lektüren historischer Referenzbilder« Strategien der »gesellschaftlichen Aneignung und individuellen Selbstbehauptung«, so sucht Lukas Matthaie in seiner »begehbaren Fälschung im wahren Leben« nach »symbolischen und imaginären Achsen des Sozialen, Historischen und Architektonischen« wobei trotz aller ästhetischen Differenzen deutlich wird, dass auch hier mit dem kollektiven Gedächtnis gespielt, dieses subversiv fiktionalisiert bzw. dramatisiert wird und Zwischenräume spielerisch besetzt werden.6 6. Vgl. Programmheft »Echt. 7. Festival Politik im freien Theater.« 13.23.1.2008/Köln. Hofmann & Lindholm stellten hier auch die Etappe Köln/Bonn aus ihrer Serie Deutschland vor, in der sie 177 BürgerInnen zur kollektiven Stellvertretung und aktiven Auseinandersetzung mit deutscher Geschichte nach 1945
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In Kurz nachdem ich tot war, so der Titel von Matthaies Arbeit, werden nun mehr als sechzig Jahre Stadtgeschichte über/mit Laien und professionellen Darstellern polyphon aufgerufen, deren Alter im Verlauf des Parcours anwächst und sich die überlieferten und vom Publikum zunehmend mitkomponierten Geschichte(n) bei allen Beteiligten nachhaltig ablagern. Wie kommt es nun dazu, so eine abschließende Frage von Jan Linders, dass sich die vom Publikum erlebten und inszenierten Geschichten in der Erinnerung realer erweisen als die von den Performern rekonstruierte Geschichte? Erscheint der Transport des Publikums somit rückblickend zugleich als eine dramatische Transformation? S.T.
Literatur Müller, Heiner: Jenseits der Nation. Heiner Müller im Interview mit Frank-M. Raddatz, Berlin 1991. Müller, Heiner: Philoctète, Vorwort von Jean Jourdheuil, Paris 2009. Petras, Armin: »Ich habe in Brecht einen Partner gefunden. Armin Petras über das Labor, den Strukturalismus und die Lust am Narrativen«, in: Frank-M. Raddatz, Brecht frisst Brecht. Neues Episches Theater im 21. Jahrhundert (2007), S. 185-194. Pollesch, René: »Penis und Vagina, Penis und Vagina, Penis und Vagina. René Pollesch über Geschlechterzuschreibungen, das Normale als Konstruktion und die Theoriefähigkeit des Alltags«, in: Frank-M. Raddatz (Hg.), Brecht frisst Brecht. Neues Episches Theater im 21. Jahrhundert, (2007), S. 195-213. Raddatz, Frank-M. (Hg.): Brecht frisst Brecht. Neues Episches Theater im 21. Jahrhundert, Berlin 2007. Programmheft Echt. 7. Festival Politik im freien Theater. 13.-23.1.2008/ Köln. einluden und vor laufender Kamera historische Referenzbilder an Originalschauplätzen nachstellen ließen. Vgl. auch die Erläuterungen zu den einzelnen Festivalproduktionen der bpb. Schorsch Kamerun, der für die Wiener Festwochen 09 mit Bei aller Vorsicht einen »musikalischen Überprüfungsspaziergang unter professioneller Anleitung« durch den 2. Bezirk entwickelte, zitierte verschiedene Formmerkmale des dokumentarisch-protokollarischen Theaters, die er anschließend »anarchistisch« kurzschloss und damit, möglicherweise, bereits einen ironischen Nachruf auf die für ihn ästhetisch überholten inszenierten Stadtrundgänge leistete.
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Heiner Müllers Philoktet. Ein Palimpsest Jean Jourdheuil
Die Gedichte Heiner Müllers, die am Anfang und am Ende seiner schriftstellerischen Karriere besonders zahlreich sind, ergeben (zusammen mit den im Archiv der Akademie der Künste auf bewahrten Manuskripten1) das Bild einer Notizen- und Skizzenlandschaft. Es scheint, als ob sie den Raum des Schreibens, insbesondere den des dramatischen Schreibens, neu erfinden wollten. Erste Intuitionen und literarische Experimente, diverse Register und Zeitlichkeiten sammeln sich in einem Schreibatelier, das in gewisser Hinsicht wie ein Malatelier funktioniert: Gedanken, Überlegungen und skizzierte Projekte werden dort auf bewahrt und warten auf eine Gelegenheit, auf eine Notwendigkeit, auf eine Dringlichkeit, zu werden, ein bisschen so als würden sie sich durch die Person des Autors hindurch schreiben. Bereits in den 50er Jahren beginnt Heiner Müller, sich für das Sophokles-Stück und seine »Figuren« zu interessieren. Im Gedicht Philoktet 1950 ist Philoktet der reintegrierte Ausgeschlossene, der gegen seinen Willen wieder in die Gemeinschaft aufgenommen werden soll und zwar von jenen, die ihn zuvor ausschlossen. Wenn dieses Gedicht schon damals zu einem Stück geführt hätte, so wäre sehr wahrscheinlich eine Adaptation/ Aktualisierung des Textes von Sophokles im Stil Brechts daraus geworden. Herakles, der die Wiederaufnahme Philoktets im Stück von Sophokles vorantreibt, wäre hier als ein Zeus-Substitut aufgetreten, als eine Art kommunistischer Parteisekretär zur Zeit Stalins, eine Vaterfigur, die das Individuum dazu auffordert, seinen Platz im Kollektiv wieder aufzunehmen. Das gegen Ende der 50-er Jahre verfasste Gedicht Ulyss ist von ganz anderer Machart. Es erweckt einen Odysseus zum Leben, der nur teilweise 1. Cf. Manuscrits de Hamlet-machine, éditions de Minuit, Paris 2003.
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der homerschen Figur entspricht, einen Seemann, der sich von den Haltetauen losgemacht hat, der von der Neugierde getrieben wieder in See sticht, nachdem er vom Trojanischen Krieg zurück gekehrt ist; Dante hat ihn auf seinem Weg durch das Inferno gesehen. Schon in diesem frühen Gedicht emanzipiert sich Heiner Müllers Odysseus vom klischeehaften Bild des listigen griechischen Manipulators. Kurz nach dem Bau der Berliner Mauer im August 1961 erhält Heiner Müllers Stück Die Umsiedlerin Auff ührungsverbot und der Autor wird aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen. Aus der intellektuellen und künstlerischen Welt verbannt, beginnt für Heiner Müller eine schwierige, jahrelange Zeit des Ostrazismus und der Ungewissheit, die sehr wahrscheinlich zu den Selbstmordversuchen und zum Selbstmord seiner Frau, der Dichterin Inge Müller, 1966, beigetragen hat.2 In diesen Jahren, zwischen 1958 und 1964, schreibt Heiner Müller Philoktet. Die Erfahrungen dieser Zeit sind den Worten, den Formulierungen, dem Rhythmus und den Versen von Philoktet ohne Zweifel eingeschrieben, einem Philoktet, der jenen von Sophokles neu schreibt und gleichzeitig Fragmente seines Lebens vermittelt: es handelt sich weder um eine wörtliche Übersetzung noch korrespondieren Müllers Verse eindeutig mit jenen der Vorlage. Müllers Philoktet ist nicht etwa eine »brechtsche« Adaptation der Tragödie von Sophokles, sondern das Ergebnis eines merkwürdigen und bemerkenswerten künstlerischen Verfahrens, dem methodische Versatzstücke von literarischem Kannibalismus, ebenso wie von Demontage, Extraktion und Réécriture eingeschrieben sind. Auf kryptische Weise deutet der Prolog die Situation an, in der sich die Ostdeutschen und Heiner Müller mit ihnen nach dem Bau der Mauer befinden. Eine gleichermaßen abstrakte und allgemeine Allegorie tritt in Erscheinung, gerade so als handelte es sich um eine Möglichkeit, eine Variation des Theaterraums, des Theaters als geschlossener Heterotopie, als espace autre (im Sinne von Michel Foucault), eines Raums, der wie ein Gefängnis scheint.
2. Cf. die Novelle » Avis de décès » (Todesanzeige), in: Heiner Müller: Hamlet-machine et autres pièces, éditions de Minuit, Paris 1979/85.
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Heiner Müllers Philoktet. Ein Palimpsest
Darsteller des Philoktet, in Clownmaske Damen und Herren, aus der heutigen Zeit Führt unser Spiel in die Vergangenheit Als noch der Mensch des Menschen Todfeind war Das Schlachten gewöhnlich, das Leben eine Gefahr. Und dass wirs’ gleich gestehn: es ist fatal Was wir hier zeigen, hat keine Moral Fürs Leben können Sie bei uns nichts lernen. Wer passen will, der kann sich jetzt entfernen. Saaltüren fliegen auf. Sie sind gewarnt. Saaltüren zu. Der Clown demaskiert sich: Sein Kopf ist ein Totenkopf. Sie haben nichts zu lachen Bei dem, was wir jetzt miteinander machen.
Philoktet, eine klassische Tragödie? Trotz des persönlichen Drucks, unter dem er in den 60er Jahren stand, scheint die Figur des Philoktet für Heiner Müller keine Identifi kationsfigur gewesen zu sein. Ganz im Gegensatz dazu begreift Wolfgang Harich Müllers Stück als eine »klassische Tragödie«, aus welcher er seine eigene »Erfahrung des Haftvollzugs« herausliest. Wolfgang Harich, marxistischer, von Lukacs geprägter Philosoph und Freund Brechts3, verbrachte acht Jahre, von 1956 bis 1964, im Gefängnis. Er hatte die Reform- und Liberalisierungsversprechungen Chruschtschows am 20. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 zu ernst genommen und versuchte, die »Demokratisierung« der DDR-Regierung durch persönliche Initiativen voranzutreiben. Das sollte ihm schlecht bekommen. Als der Aufstand in Budapest (Oktober-November 1956) losging, wurde er nach einem der wenigen Schauprozesse in Ostdeutschland verhaftet. Seine Haltung bei diesem Prozess erinnerte mutatis mutandis an die tragische Haltung Bucharins anlässlich seines Prozesses 1938. »Erfahrung des Haftvollzugs«, »klassische Tragödie« – Harichs Lesart des Philoktet von Müller ähnelt stark jener, die Peter Hacks in seinem 1966 entstandenen Essay Unruhe angesichts eines Kunstwerks formuliert. In diesem Essay rühmt Hacks die Perfektion des Stücks von Müller und bemerkt: Keiner behandelt so souverän wie Müller den Vers als Grenzereignis. Der ›Umsiedlerin‹-Vers, das war die äußerste Gewalt, die man einem Vers antun konnte, ohne 3. Brecht stirbt im August 1956.
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dass er aufhörte ein Vers zu sein. Der ›Philoktet‹-Vers, das ist das Höchstmaß an innerer Spannung, das man einem Vers anmuten kann, ohne ihn der Qualität erlesener Reinheit zu berauben. 4
Peter Hacks fragt sich außerdem, was in der DDR der 60er Jahre eine Poetik der Tragödie leisten konnte, leisten sollte: »Folgt Tragik allein aus der geschichtlichen Konstellation des Vorgangs oder folgt sie nicht vielmehr aus dem geschichtlichen Bewusstsein des Beschreibers?« Die Lektüre des Stücks von Müller führt ihn zu der Frage, welche Fabel, welche Art von Held einer Tragödie abzuverlangen sind, die im Kontext der 60er Jahre auf der anderen Seite der Berliner Mauer geschrieben wird. Heiner Müller lernte Wolfgang Harich im Haus des französischen Regisseurs Guy de Chambure kennen, der Philoktet am Berliner Ensemble inszenieren wollte. Das Bühnenbild von Karl von Appen5 war bereits entworfen, als das Projekt von Guy de Chambure auf den Widerstand von Helene Weigel sowie des Ensembles stieß und an einem abschlägigen Bescheid der Kulturabteilung der SED scheiterte6. Abgesehen von ein paar Unterschieden in der Akzentuierung ihrer jeweiligen Interpretation des Stücks von Müller, teilten Wolfgang Harich, Peter Hacks und Guy de Chambure die Ausgangsposition der ästhetischen Philosophie Georg Lukacs´, die einerseits wohl als neoklassisch mit einem starken Hang zum Orthodoxen und in Opposition zu Brecht zu lesen ist, die aber andererseits im Vergleich zur stalinistischen Mittelmäßigkeit, zu der die DDR verurteilt war, durchaus kritisches Potential birgt.7 Für Harich, Hacks und de Chambure war Philoktet ein Stück mit Hauptfigur, ein Stück, das zur edlen Gattung zu zählen ist, eine Tragödie mit einem Opfer, Philoktet. Guy de Chambure übersetzte den Text in französische Alexandriner; als er erfuhr, dass er das Stück in Berlin auf Deutsch nicht inszenieren können würde, überlegte er kurzfristig, das Stück 1966 in Nancy im CUIFERD8 auf Französisch aufzuführen.
4. Unruhe angesichts eines Kunstwerks, verfasst 1966, wurde erst 1969 in Theater Heute veröffentlicht, nach der Aufführung von Philoktet am Residenztheater in München (1968) in der Inszenierung von Hans Lietzau. 5. Vgl. Friedrich Dieckmann: Karl von Appens Bühnenbilder am Berliner Ensemble, Berlin Henschelverlag 1971. 6. Im Dezember 1965 hielt die SED, Regierungspartei der DDR, ihren ersten Kongress ab. Dieser folgte direkt auf den Fall Kruschtschows (1964). 7. Siehe auch seinen Essay zum »kritischen Realismus« und seine Stellungnahmen zum Aufstand in Budapest, die ihn nach der Niederschlagung durch die russischen Panzer dazu zwangen, ins rumänische Exil zu gehen. 8. CUIFERD – Centre universitaire de formation et de recherche dramati-
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Diese historischen und biographischen Angaben lassen erahnen, wie die Erstrezeption des Philoktet von Müller vonstatten ging. Seine eigene Reflexion über das Stück fand sich durch diese Rezeption angeregt. Er begann sich dafür zu interessieren, was seine ersten Leser in ihrem Enthusiasmus vernachlässigt hatten. Auf ihre Lektüre reagierend, fokussierte er die satirischen und clownesken Aspekte seines Schreibens und unterstrich das »Modellhafte« der Struktur, das »experimentelle Dispositiv«, das er dem Stück von Sophokles entnommen hatte. Müllers Philoktet radikalisiert in der Tat, was bei Sophokles nur als Andeutung bzw. als Möglichkeit vorkommt: das Stück ohne Hauptfigur, in dem drei ähnliche Figuren auftreten, die durch ein tragisches und grausames Spiel miteinander verbunden sind. Heiner Müller versteht Philoktet, Odysseus und Neoptolemos wohl eher als »Archetypen« oder als »anthropologische Typen« denn als Figuren. Erst 1968, als anlässlich der Inszenierung von Hans Lietzau im Residenztheater (1969) ein kurzer Text von ihm erscheint, Drei Punkte (ZU PHILOKTET)9, wird er explizite Korrekturen an der »lukacsschen« Interpretation seines Stückes vornehmen.
Philoktet, ein Lehrstück? Die Handlung gehorcht der Ordnung des »Modells«, ihre Darstellung verlangt einen Spielstil, der vom »Gestus des Zitierens« ausgeht, ohne »Intensität« zu verweigern. Das »Komische« liegt darin, das in diesem »Modell« präsente »System« in Frage zu stellen: »Komik in der Darstellung provoziert die Diskussion seiner Voraussetzungen (des Systems, Anm. N.K.). Nur der Clown stellt den Zirkus in Frage. Philoktet, Odysseus, Neoptolemos: drei Clowns und Gladiatoren ihrer Weltanschauung«. 10 Die Behauptung, dass der Clown den Zirkus in Frage stellt, ist rätselhaft, konkret, vielsagend, sie öffnet einen Reflexionsraum. Aber die daraus resultierende Konsequenz »Philoktet, Odysseus, Neoptolemos: drei Clowns und Gladiatoren ihrer Weltanschauungen« kann zu einem Missverständnis führen. 1968 in München kam es scheinbar zu diesem Missverständnis:
que (Lehrgang für Dramatik), gegründet von Jack Lang. Damaliger Studienleiter: Jean-Marie Villégier. Das finanziell riskante Projekt wurde nie durchgeführt. 9. Drei Punkte (ZU PHILOKTET) (1968), in: Frank Hörnigk (Hg.): Heiner Müller Material. Texte und Kommentare, Leipzig 1989, 2. Aufl. 1990 und Göttingen 1989, S. 61. 10. Ebd.
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»Die Inszenierung von Hans Lietzau am Münchner Residenztheater gab den Blick auf einen Zirkus frei, in dem drei (blutige) Clowns sich und einander ihre Weltanschauung um die Ohren schlagen. Da der Widerstand der Körper gegen den Text nicht organisiert war, konnte der Darsteller des Odysseus die Tragödie der Figur nicht lesbar machen.«11
Die Auff ührung Philoktets im Westen, im anderen Deutschland, zur Zeit der Ereignisse rund um 1968 und des Prager Frühlings, war von einer grundlegend ideologischen Interpretation bestimmt. Im Kontext des Kalten Kriegs wird Odysseus als stalinistischer Manipulator interpretiert. Heiner Müller machte sich also daran, seiner persönlichen Vorstellung der Figur Ausdruck zu verleihen; sukzessive charakterisierte er ihn (in dem Brief an Gotscheff ) als »den »Grenzgänger« und schließlich als »die tragische Figur, den Grenzfall«.12 Diese Neuauswertung der Figur führt zu einer Frage und öff net einen Reflexionsraum: inwiefern ist Odysseus im Stück Müllers eine tragische Figur? Um welche Tragik handelt es sich? Zur Beantwortung dieser Frage ist die Untersuchung der kombinatorischen Beziehungen zwischen Odysseus, Neoptolemos und Philoktet notwendig, die aus dem Stück von Heiner Müller ein Stück ohne Protagonisten machen. Eine diskrete Bemerkung aus der an das Stück Mauser angehängten »Anmerkung« (1970) entpuppt sich als wertvoller Hinweis: »MAUSER, geschrieben 1970 als drittes Stück einer Versuchsreihe, deren erstes Philoktet, das zweite Der Horatier, setzt voraus/kritisiert Brechts Lehrstücktheorie und Praxis.« 13 Dieser Philoktet, der ein paar Jahre zuvor im Osten noch als Tragödie durchging, der kurz darauf im Westen zur brechtschen, anti-stalinistischen Sophokles-Adaptation im Stil einer mehr oder weniger grotesken Commedia dell´Arte verkam, wurde nun plötzlich von seinem Autor als Teil einer Trilogie ausgewiesen. In dieser Konstellation von drei Stücken, in dieser »experimentellen Serie«, nahm Müller die Frage und Problematik des »didaktischen Stückes«, des »Lehrstücks« wie Brecht es gegen Ende der 20-er Jahre und zu Beginn der 30-er Jahre kurz vor seinem Gang ins Exil praktiziert hatte, wieder auf und hinterfragte dieses damit kritisch. Worum geht es hier? Was macht Heiner Müller mit dem Sopho11. »Brief an den Regisseur der bulgarischen Erstaufführung von Philoktet«,
in: Heiner Müller: Herzstück, Berlin 1983, S. 102-103. 12. In seinem autobiographischen Werk Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen. Eine Autobiographie, Hg. von Frank Hörnigk: Heiner Müller – Werke, Bd. 9, Frankfurt a.M. 2005, S. 148. Vgl. Jean-Pierre Morel: »Grenzfall Odysseus«, in: W. Storch und K. Ruschkowski, Die Lücke im System, Theater der Zeit, S. 292. 13. Vgl. Hamlet-Machine et autres textes, op. cit., S. 65.
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kles-Stück? Indem er die Figuren vom Raum der Tragödie in den Raum des »Lehrstücks« versetzt, entzieht er ihnen den Boden der griechischen Kultur und einer hypothetischen Geschichte eines Krieges mit Troja, die Sophokles der Illias folgend in seinem Stück erzählt. Müllers Philoktet ist kein griechisches Stück. Es spannt ein abstraktes, aber dennoch glühendes Modell in einem verknappten, in einem toten Universum auf. Der trojanische Krieg ist für Müller mythische Erzählung und nicht historisches Ereignis. Während Sophokles’ Stück sich auf den mythischen Hintergrund des Trojanischen Kriegs einerseits und andererseits auf den historischen Hintergrund der Peloponnes Kriege bezog 14, bezieht sich Heiner Müllers Stück auf keines von beiden. Die literarische Geste Heiner Müllers besteht darin, das Sophokles-Stück zu skelettieren, zu demontieren und neu zusammen zu fügen. Was bei Sophokles auf die Trojanischen Kriege als historisches Ereignis, bzw. auf die Insel Lemnos als »authentischen Ort« verweist, ist aus Müllers Stück verschwunden: »Die Handlung ist Modell, nicht Historie« 15. Diese Verknappung und Abstraktion erlauben es Müller, durch die »Linsen« seines Philoktet die Geschichte seit dem Griechenland des Perikles bis zum Zweiten Weltkrieg aufzurollen: »Der Kessel von Stalingrad zitiert Etzels Saal (Nibelungen)«16 Sein Stück verstümmelt und rekonfiguriert das Material des Stücks von Sophokles, in seinem Stück erscheint das verzerrte Gesicht der jüngsten sowie der literarischen Geschichte. Der trojanische Krieg eröff net nun nicht mehr das Zeitalter der Griechen, sondern führt gleich zur Gründung Roms und beendet die griechische Ära. Odysseus, Philoktet und Neoptolemos sind nicht nur griechische Römer, sondern auch Preußen, Amerikaner und Russen. Shakespeare wird Sophokles aufgesetzt: Das ist das literarische Verfahren. Die Ästhetik des »Lehrstücks« ermöglicht insofern diesen durch die geologischen Schichten der Geschichte verlangsamten Wirbel, als sie im Sinne Benjamins dazu beiträgt eine (Versuchs-)Anordnung17 herzustellen. Wenn man das »Lehrstück« unter den vereinten Vorzeichen von Brecht und Benjamin als »nicht identifiziertes theatralisches Objekt« versteht, bezeichnet es jenen Teil des Werks von Brecht, der mit Kafka und Antonin Artaud zusammen gedacht werden kann. Die »experimentelle Serie« Philoktet, Der Horatier und Mauser, lässt sich an ebendieser Verbindungsstelle verorten. Philoktet von Heiner Müller ist weder 14. Vgl. Thukydides und Plutarch. 15. Vgl. Drei Punkte (ZU PHILOKTET), S. 61. 16. Vgl. Drei Punkte (ZU PHILOKTET), S. 61. 17. Die Versuchsanordnung bzw. das »experimentelle Dispositiv« als Dispositiv für Imagination und Verständnis, zu unterscheiden von technologischen Dispositiven, die inter-aktive Spiele ermöglichen.
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Tragödie, noch griechisches Stück, noch Adaptation der Tragödie von Sophokles, Philoktet ist ein Palimpsest. Die Figuren des Stücks sind nicht als »menschliche, nur zu menschliche« Figuren eines Theaters zu lesen, das undeutlich zwischen Naturalismus und Symbolismus oszilliert.
Raum, Körper, Sprache Das Nachdenken des Autors über sein Stück erweitert und wandelt sich sukzessive. Die Etappen der Rezeption mit ihren aufeinander folgenden Inszenierungen und Missverständnissen markieren die Entwicklungsmomente: 1964-66, das gescheiterte Projekt von Guy de Chambure am Berliner Ensemble Theater; 1968, die erste Inszenierung im Westen, am Residenztheater in München von Hans Lietzau; 1970 die »relecture« des Philoktet durch Heiner Müller und die Verquickung des Stoffes mit zwei späteren Stücken, Der Horatier (1968) und Mauser (1970), im Spiegel des »Lehrstücks«; 1977, die Inszenierung des Philoktet in Ostberlin, am Deutschen Theater, mit drei Schauspielern18 im Rahmen einer kollektiven Regie; 1983 die Inszenierung von Mitko Gotscheff in Sofia, Bulgarien.19 Die Reflexion des Autors über sein Stück ist zum Zeitpunkt, das er das Stück fertig stellt, noch lange nicht an ein Ende gelangt. Und das Stück selbst besteht nicht einfach in der Umsetzung eines dramaturgischen Programms. Ein gelungenes Stück widersteht immer der Interpretation. Die Jahre andauernde Reflexion des Autors über sein Stück erlaubt es ihm schließlich, Bedingungen und Ergebnisse seines Textes und seiner Dramaturgie zu klären. Die Inszenierung von Mitko Gottscheff bietet Heiner Müller die notwendige Gelegenheit, sein Stück wenn schon nicht vollständig, so doch wenigstens fundiert zu beschreiben und zu analysieren. Der Brief an den Regisseur der bulgarischen Erstauff ührung von Philoktet20 ist diesbezüglich ein Meilenstein.21 Mehrere Aussagen dieses Briefes, mehrere Ausdrücke, die wie linguistische Erfindungen anmuten, bleiben jedoch rätselhaft und 18. Alexander Lang, Christian Grashof, Roman Kaminski. 19. Das Stück wurde in der Übersetzung von Bernhard Sobel und Jean Dufour 1970 in Genevilliers/Frankreich aufgeführt. 1984 inszenierte Sobel das Stück in der Übersetzung von Francois Rey erneut. Auf dessen Übersetzung griff auch Matthias Langhoff 1994 in seiner Inszenierung in Rennes zurück. 20. Vgl. »Brief an den Regisseur der bulgarischen Erstaufführung von Philoktet«, in H. Müller, 1993. 21. Die Aufführungsgeschichte geht jedoch noch weiter. Als Müller 1995 in seinem Todesjahr allein das Berliner Ensemble leitete, beauftragte er Josef Szeiler mit der Inszenierung von Philoktet. Das Bühnenbild dazu gestaltete Mark
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führen zu diversesten Interpretationen; zum Beispiel, wenn Müller das Stück als das »Negativ eines kommunistischen Stückes« charakterisiert. Müllers Philoktet wurde in Bulgarien zunächst verboten, dann wurde die Aufführung doch erlaubt, allerdings sollte sie erst um 23.00 Uhr stattfinden. Eine nächtliche, denkbar geisterhafte Erfahrung. Der Zuschauerraum war leer, die Zuschauer – ihres Platzes verwiesen – befanden sich auf der Bühne. Das Publikum war auf etwa 120 Personen reduziert, die Schauspieler besetzten den leeren Platz zwischen den Zuschauern. Da sie bei sich zu Hause waren, in einem leeren Theater, erlaubten sie sich, die Maschinerie des Theaters, die Drehbühne, auszunutzen. Vor einem Publikum, das von woher auch immer erschienen war. Die Auff ührung hatte einen verschwörerischen und unwahrscheinlichen Charakter. Trotz alledem fand das Stück seinen Raum, nicht nur seinen Bühnenraum, sondern seinen sozialen Raum, den metaphorischen Raum im Resonanzraum des »realen Sozialismus«, den »anderen Raum«, im Sinne Michel Foucaults, einen Ort der Relegation, eine Theaterbühne am Rande eines leeren Zuschauerraums in der bulgarischen Nacht, die Insel Lemnos in einer Metropole des Ostblocks. Der Text Müllers theoretisiert das Spiel der Schauspieler nicht, er beschreibt und triff t Unterscheidungen so, als ob er in diesem Raum die Anatomie der Körper definierte: Odysseus ist der Mann der Métis, d.h. der List und des Verstands, ein Riss ist seiner Figur eingeschrieben wie es auch bei einigen Figuren Kleists der Fall ist. Er ist »der Macher und der Liquidator der Tragödie«22. Philoktet, zwischen Bogen und Fuß, ist der »brüllende Kommentar des kranken Glieds«.23 Neoptolemos ist die Statue, die zerstört und deren Teile wieder zusammengefügt werden, von Blut besudelt. Die Beschreibung der Aufführung in Sofia ist nicht durch ein für das »Lehrstück« übliches brechtsches Vokabular gekennzeichnet, sondern vielmehr durch ein Vokabular, das mit seiner Körper- und Raumterminologie dem Vokabular Artauds verwandt ist. Müller beschreibt damit seinen Philoktet als ein geisterhaftes »Lehrstück«, als eine post-brechtsche Variation des Theaters der Grausamkeit. Jede der drei Figuren, Philoktet, Neoptolemos und Odysseus, ist durch ihr Verhältnis zur Sprache gekennzeichnet.24 Seit zehn Jahren allein auf einer Insel, wo er der immer lauernden Gefahr der Geier ausgesetzt ist, Lammert. In der Szenographie Lammerts wurde das ganze Theater zur Insel Lemnos. 22. Vgl. »Brief an den Regisseur der bulgarischen Erstaufführung von Philoktet«, ebd., S. 104. 23. Ebd., S. 104. 24. Vgl. Rainer Nägele: »Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn«, in: Die Lücke im System, op.cit., S. 268-280.
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hat Philoktet die menschliche Sprache verlernt. Sein verbales Register erschöpft sich im Schrei und in der Klage: aus Schmerz, den sein kranker Fuß verursacht, brüllt er und in Anwesenheit von Odysseus oder Neoptolemos schreit er seinen Hass auf die Griechen aus sich heraus, er ist sein eigener Gefangener. In einem Gespräch mit Neoptolemos gesteht er für einen kurzen Moment seine Sehnsucht nach der menschlichen Sprache ein, ein Zeichen von Schwäche.25 Da er den Bogen des Herakles besitzt, ist er unverletzbar, sein Hass gegen die Griechen schützt ihn vor den Worten des Neoptolemos und des Odysseus, der Hass ist sozusagen seine Identität. Wie gelingt es den beiden anderen dennoch, ihn mitsamt seines Bogens nach Troja zurückzubringen, ihn in die Gemeinschaft der Griechen zu reintegrieren und ihn an einem Krieg zu beteiligen, den – wenn man der Vorhersage glaubt – er selbst durch die Ermordung des Paris und durch die Verursachung des Untergangs von Troja beenden muss? Neoptolemos hat mehrere Gründe, Odysseus zu hassen, der die Waffen des Achilles geerbt hat, er überwindet aber seinen Hass im Namen der gemeinsamen Sache der Griechen. Er möchte seine Mission erfüllen, Philoktet und den Bogen zurückbringen, sich mutig und stark wie ein Held verhalten. Ist er nicht der Sohn des Achilles? Sein Verständnis von Sprache ist einfach und einseitig, er kann sich nicht vorstellen, dass die Sprache eine Waffe sein könnte, ein Täuschungsmittel. Erst Odysseus lehrt ihn List und Lüge und überredet ihn dazu, Worte zu benutzen, um zu erreichen, was weder durch Mut noch durch Kraft erreicht werden kann. Neoptolemos gelingt es schließlich, Philoktet den Bogen zu entwenden, aber aus Liebe zur Wahrheit, gibt er ihn schließlich doch wieder zurück. Als Philoktet den Bogen wieder hat, droht er, Odysseus zu töten. Neoptolemos, der seine Lüge und seinen Betrug wieder gut machen wollte, muss also Philoktet töten. Das Stück endet wie Hamlet mit einem Blutbad. Bei Müller wird Neoptolemos zunächst zu einem Double von Ajax, bevor er zu schließlich demjenigen wird, der in Shakespeares Hamlet Pyrrhus, der Schlächter von Troja, genannt wird.26 Odysseus hat eine sehr komplexe Auffassung von Sprache, er weiß, dass das Attribut der menschlichen Sprache die Lüge ist. Er weiß, dass das Konzept der Wahrheit, bzw. das der Lüge sprachlich bestimmt ist und nicht einem moralischen Urteil, das Wahrheit und Lüge in klarer Opposition zueinander sieht, unterworfen werden kann. Odysseus kennt die Wahrheit der Situation. Wenn Philoktet durch List und Trug nach Troja zurückgebracht hätte werden können, sein Fuß verheilt wäre und er in die Gemeinschaft der Griechen wieder aufgenommen worden wäre, wäre der Tro25. Vgl. Philoktet, Zeilen 275-306. 26. Vgl. das Hamlet-Zitat, in: »Brief an den Regisseur der bulgarischen Erstaufführung von Philoktet«, op. cit., S. 106-107.
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janische Krieg durch den Fall Trojas beendet worden und Neoptolemos hätte sich des Mordes an Philoktet nicht schuldig machen müssen. Die Tragik der Figur des Odysseus liegt möglicherweise darin, dass alle seine Berechnungen scheitern und in einem Blutbad münden, einem Blutbad, das jenes, das Neoptolemos/Pyrrhus, der neue, blutrünstige Ajax, in Troja anrichten wird, bereits ankündigt. Und wenn Odysseus zugleich »Macher und Liquidator der Tragödie« ist, so nicht nur deshalb, weil er gleichzeitig die Hauptfigur der Odyssee, des Stücks von Sophokles und der Göttlichen Komödie ist, sondern auch, weil er jene emblematische Figur der Aufklärung darstellt, die Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Auf klärung anführen.
Sophokles Hölderlin Brecht Müller Nachdem in einem ersten Schritt versucht wurde, die Differenz zwischen Müllers Philoktet und dem Stück des Sophokles aufzuzeigen, soll nun gezeigt werden, was das Stück mit Sophokles’ Philoktet vereint. Die Figuren, die Anfangssituation und das Thema sind identisch: Philoktet auf seiner Insel, Odysseus und Neoptolemos, die auftauchen, um ihn nach Troja zurückzuholen. Das sprachliche Register ist unterschiedlich, obgleich einige Themen beiden Stücken gemein sind: die Natur bei Sophokles hat sich bei Müller »beckettisiert«. Weiter unterscheiden sich in beiden Stücken: der Text, die Repliken, die Argumentation, die theatralische Form, die der jeweilige Text induziert, die Dramaturgie. Die Lyrik – Montage der Wörter, Rhythmen, Sätze und Verse – ist nicht dieselbe. Heiner Müller streicht den Chor und den Auftritt des Herakles als Deus ex machina; er ändert das Ende, das künstliche happy end wird durch einen Mord ersetzt. Müller verwendet das Stück von Sophokles wie Material, das er fragmentarisiert und in ein neues formales Register umarbeitet, in das Register des »Lehrstücks«, das zu einem »Theater der Grausamkeit« wird. Diese réécriture richtet sich gegen die Interpretation Philoktets in den Vorlesungen über die Ästhetik von Hegel. Müller leiht sich von Hölderlin dessen Vision des WortMords27, um die hegelianische Bildhauerkunst28 zu untergraben; die Worte in Müllers Philoktet sind Pfeile. Schreibt sich diese Réécriture direkt in die Tradition der Tragödienrezeption der Philosophen des deutschen Idealismus und ihrer Nachkom-
27. Vgl. »Brief an den Regisseur der bulgarischen Erstaufführung von Philoktet«, op. cit., S. 103. 28. Vgl. der »PLASTISCHE GRIECHE«, in: »Brief an den Regisseur der bulgarischen Erstaufführung von Philoktet«, op. cit., S. 105.
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men ein, von denen Jean Bollack sagt29, dass sie »(ihr) Griechenland erfunden hätten«? Ich denke, nein. Und zwar nicht nur deshalb nicht, weil Müller Hegel und Schelling Hölderlin entgegensetzt und somit die Partei des Dichters und nicht jene des Philosophen ergreift. Ich denke, dass sich Müller auch deshalb nicht dieser Tradition zuordnen lässt, weil man in der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts zwei Momente in der Rezeption und der Verwendung griechischer Tragödien unterscheiden muss: das »pseudo-griechische« Moment eines Hegel, Schelling, Nietzsche, Heidegger und, nach dem 2. Weltkrieg, das »pseudo-römische« Moment eines Bertolt Brecht und eines Heiner Müller. 1948, nach der Rückkehr aus dem amerikanischen Exil und kurz bevor er sich in Berlin niederlässt, inszeniert Bertolt Brecht gemeinsam mit Caspar Neher30 Antigone in Chur, in der Schweiz. Diese Auff ührung kann heute als einer der Gründungsakte31 einer brechtschen Ästhetik seiner späten Jahre gesehen werden, wie er sie in Berlin in den ersten Jahren des Berliner Ensembles entwickelte. Auf Anraten von Caspar Neher32, der wohl auch an der literarischen Arbeit beteiligt war, wurde die Hölderlin-Übersetzung als Folie für die Brecht-Adaptation gewählt. Einerseits aufgrund der Qualität des hölderlinschen Textes, andererseits, im Kontext der unmittelbaren Nachkriegszeit, aufgrund der politischen und republikanischen Couleur des sprachlichen Registers und des Imaginären von Hölderlin. Um das Stück in einen aktuellen Rahmen zu stellen, fügte Brecht einen Prolog hinzu, der historisch in den letzten Kriegsmonaten verortet ist33. Das Konzept der Auff ührung, der Auff ührungsstil, die Ästhetik Brechts/Nehers, der Hang zum diskret spektakulärem Kunstgriff und vor allem der brechtsche Wille zur politischen Aktualisierung, sind der »ontologischen« Perspektive Hegels, Schellings und ihrer Nachfolger, die Griechenland neu erfi nden wollen, grundlegend fremd. 29. La Grèce de personne, Editions du Seuil, 1998. Mayotte und Jean Bollack heben in ihren Sophokles- und Euripides- Übersetzungen (Editions de Minuit) diese philosophische Vormundschaft bewusst auf. 30. Sein Kollege und Freund aus den 30er Jahren, der Deutschland während der Nazi Zeit nicht verließ und namentlich bei den Salzburger Festspielen arbeitete. Brecht setzte die Zusammenarbeit mit Neher nach seiner Rückkehr aus dem Exil fort. 31. Vgl. das Antigonemodell (1948), das von Ruth Berlau redigiert wurde. Mit dieser Aufführung kehrte Helene Weigel auf die deutsche Bühne zurück. 32. Neher hatte das Bühnenbild für die Inszenierung Heinrich Kochs der Antigone (in der Hölderlin-Übersetzung) in Hamburg 1946 entworfen. 33. Heiner Müller wird sich an diesen Prolog wieder erinnern, als er Die Schlacht schreibt.
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Heiner Müllers Philoktet. Ein Palimpsest
Wenn Brecht die Antigone von Sophokles/Hölderlin im Sinn seiner Poetik des epischen Theaters rhetorisch argumentierend adaptiert, erschreibt sich Heiner Müller, achtzehn Jahre später, den Philoktet von Sophokles über das Verfahren des Palimpsests. Müller stellt mit seinem Philoktet die Grundfesten der klassischen, hegelianischen Interpretation des SophoklesStücks in Frage: Das Tragische wird radikalisiert (Hölderlin versus Hegel), das »Lehrstück« wird formal als Theater der Grausamkeit konzipiert, das Komische und das Groteske erhalten in Müllers Stück Einzug; diese literarische und theatralische Praxis führt Müller zur ultimativen Verschiebung: jener von Neoptolemos zu Pyrrhus, von Sophokles zu Shakespeare. 1966, nachdem die Qualität und die Einzigartigkeit des Müllerschen Philoktet Müller wieder auf die Bühne zurückholten, von wo er ein paar Jahre zuvor verbannt worden war, bot ihm Benno Besson, der künstlerische Leiter des Deutschen Theaters an, den Text König Ödipus zu bearbeiten. Heiner Müller erklärt sich bereit, den Text Ödipus Tyrann von Hölderlin-Sophokles für die epochale Inszenierung von Benno Besson34 zu »arrangieren« (wie die Musiker sagen). Die Ästhetik Bessons und seines Bühnenbildners Horst Sagert huldigt mehr noch als Brecht und Neher der Künstlichkeit des Spektakulären. Müller versucht erst gar nicht, den Text Hölderlins ins Komische-Groteske-Zynische zu ziehen wie er es mit »seinem« Philoktet gemacht hatte. Er schreibt hingegen ein satirisches Drama, Herakles 535, das Benno Besson seiner Inszenierung von Ödipus Tyrann anhängen hätte können; was er schließlich doch nicht riskierte. Philoktet ist einzigartig in Heiner Müllers Werk. Es ist das Stück des Übergangs, der Köder der »experimentellen Serie« Philoktet, Der Horatier, Mauser und gleichzeitig eine Brücke von den Griechen zu Shakespeare. Ein paar Jahre später sollte Müller mit seiner »Shakespeare Serie« beginnen: Macbeth (1972), Hamletmaschine (1977), Anatomie Titus Fall of Rome (1984). Sein ursprüngliches Ziel, das brechtsche Vorhaben nach dessen Tod und nach dem Aufstand in Budapest weiter zu entwickeln, hat Heiner Müller letztlich umgekehrt.
34. Premiere am 31. Januar 1967. 35. Auf frz. veröffentlicht in Hamlet-Machine et autres textes.
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Zwischenspiele: Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume
Literatur Bollack, Jean: La Grèce de personne, Paris 1998. Dieckmann, Friedrich: Karl von Appens Bühnenbilder am Berliner Ensemble, Berlin 1971. Morel, Jean-Pierre: »Grenzfall Odysseus«, in: W. Storch/K. Ruschkowski (Hg.), Die Lücke im System, Berlin 2005. Müller, Heiner: »Avis de décès«, in: ders.: Hamlet-machine et autres pièces, Paris 1979/85. Müller, Heiner: »Brief an den Regisseur der bulgarischen Erstauff ührung von Philoktet«, in: ders.: Herzstück, Berlin 1983, S. 102-103. Müller, Heiner: »Drei Punkte (ZU PHILOKTET)«, in: Frank Hörnigk (Hg.): Heiner Müller Material. Texte und Kommentare, Leipzig 1989, 2. Aufl. 1990 und Göttingen 1989. Müller, Heiner: »Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen. Eine Autobiographie«, in: Frank Hörnigk (Hg.): Heiner Müller – Werke, Bd. 9, Frankfurt a.M. 2005. Müller, Heiner: La Déplacée (Die Umsiedlerin), Vorwort von Irène Bonnaud, Paris 2007. Müller, Heiner: Manuscrits de Hamlet-machine, Paris 2003. Nägele, Rainer: »Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn«, in: Storch/Ruschkowski (Hg.), Die Lücke im System, Berlin 2005.
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TEMPODRAM : performing communism against space & time Andcompany&Co.
1. Zeit versus Raum : »little red (play): ›herstor y‹« Ob Theater nicht immer eine Zeitreise sei, fragte Alexander Kluge einmal Heiner Müller.1 In little red (play): ›herstory‹2, dem ersten Teil einer Trilogie des Wiedersehens mit dem 20. Jahrhundert wurde daher die Figur der Temponautin geschaffen, die im Zeitraffer durch die Geschichte rast: Protagonistin ist eine sozialistische Pionierin aus West-Deutschland, die in den Schulferien immer ins Kinderferienlager in die DDR fuhr statt wie ihre Schulfreundinnen in die Toskana oder nach Spanien. Diese ›Alice aus dem Wonderland‹ versucht nun – zugleich vorwärts und zurück – ins Jahr 2000 zu gelangen zu einer Verabredung mit östlichen Pionierfreundin1. Vgl. Alexander Kluge, Heiner Müller: »Wer raucht sieht kaltblütig aus«, in: dies.: Ich bin ein Landvermesser. Gespräche Neue Folge, Hamburg 1996, S. 91-97, S. 95. 2. Das Stück wurde im Herbst 2006 von Bini Adamczak, Alexander Karschnia, Nicola Nord, Sascha Sulimma & Co. im Theater Gasthuis (Amsterdam) für das Freischwimmer Festival entwickelt. Deutschland-Premiere war am 10.10.06 in den Sophiensaelen (Berlin), es folgten Aufführungen in Kampnagel (Hamburg), FFT (Düsseldorf), Gessnerallee (Zürich) und danach quer durch Europa u.a. auf dem Kunstenfestivaldesarts 07 in Brüssel und den Wiener Festwochen. Das westdeutsche red diaper baby ist Nicola, das Stück ihr final project (FP) bei DasArts (The Amsterdam School for Performing Arts). Ein Jahr zuvor hatte sie als individual trajectory (IT) das »automobile archive for utopias, lost and found« in einem roten VW-Bus eingerichtet, in dem Interviews mit (ehemaligen) DKP-Aktivistinnen zu hören waren (u.a. beim off-limits Festival in Dortmund).
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nen. Als Rotkäppchen-Verschnitt mit roten Kopftuch und falschen Zöpfen rennt sie kreuz und quer über die Bühne, während ihre Geschichte von drei Bühnenkolleginnen erzählt und musikalisch kommentiert wird.3 Allen Performerinnen sind Masken zugeteilt aus roten und schwarzen Styroporbällen: ein Temponautin-Helm mit halbrundem Sichtfenster, eine Uhr mit spiegelverkehrtem Ziffernblatt, eine abstrakte Mickey Mouse und ein Ball mit Spitze und aufgespießter kleiner roten Kugel als Berliner Fernsehturm. Der Raum-Zeit-Ort oder »Chronotopos« (Michail Bachtin) dieser Geschichte ist der Alexanderplatz in der Nacht vom 31.12.1999 auf den 01.01.2000, jene Silvesternacht also, in der die gesamte Welt den Beginn des neuen Millenniums feierte als globale Stunde Null 4: »Null Null, Null Null«, sagt die rückwärtslaufende Uhr: »Die Zeit bleibt stehen! Little red looks into many laughing faces, there is firework in the air and the people are dancing. Everybody is happy. Alle jubeln: Permanent Midnight!«5
Light-Cut: Die Uhr stellt alle Lichter an und eröffnet ein neues Plateau. Die Figur der Temponautin, die bis dahin stumm über die Bühne gerannt ist, steht jetzt unter der zentralen Glühbirne und spricht zum ersten Mal: »But who is the party? …« Der Text ist ein »alienated sample« aus Brechts Lehrstück Die Maßnahme, wird jedoch durch die Übersetzung ins Englische so verfremdet, dass sich eine neue semantische Ebene erschließt in der Doppeldeutigkeit von »party« als Partei/Feier. Der eindringliche Appell des Brechtschen Kontrollchors an den Jungen Genossen, nicht alleine den richtigen Weg zu gehen, spricht nun von der Verlassenheit jener jungen Genossinnen, deren heile linke Welt mit der ›Wende‹ ein jähes Ende nahm. In diesem Kurzschluss von Motiven wird das Bühnen-Plateau selbst zu einem Chronotopos, in dem sich Zeiten und Räume verschlingen: Das 3. Um Thema und Titel des Stückes auch in der nachträglichen Reflexion gerecht zu werden, wird in diesem Text ausschließlich die weibliche Form benutzt. 4. Es handelt sich um eine regionale Stunde, versteht sich: während die Mathe-Nerds debattierten, ob die Feier kalenderwidrig und Null Null nicht eigentlich erst Null Eins sei, war verloren gegangen, ob nicht der Kalender selbst vernunftwidrig ist – weil er einsetzt mit der Geburt von einem, der vom Himmel gefallen sein soll: In der DDR hieß das noch schamhaft n.u.Z., jetzt schnarcht es wieder schamlos n. Chr., n. Chr. 5. Dieses Zitat entstammt – wie alle folgenden Zitate, die nicht gesondert ausgewiesen sind – dem Skript des Stückes, das während der Proben in Ko-Autorschaft entstanden ist. In der Kollaboration und Kooperation mit unterschiedlichen Künstlerinnen besteht die praktische Utopie von andcompany&Co. als politisch-künstlerischem Kontext.
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Jahr 2000 mit dem deutschen Schlussstrich-Mythos einer ›Stunde Null‹ am 8. Mai 1945 und dem Ende dieser Nachkriegs-Ära, dem Beginn einer Vorkriegs-Ära mit dem Fall der Mauer am 9. November 1989. Die Szenografie ist geprägt durch die Kollaboration mit bildenden KünstlerInnen, die sich für das Zusammenspiel von Raum (Bühne) und Maschine (Installation) in einer Auff ührungssituation (Performance) interessieren: So entstanden die Masken in Zusammenarbeit mit der Animationskünstlerin und Puppenspielerin Hila Peled (alias Flashkes), die auch das Bühnenbild aus Pappbuchstaben entwarf, das von futuristischen Visionen für zukünftigen Städtebau inspiriert war und fragmentarisierte Phrasen enthält: KOMM – HÖRT – HOCH DIE – SPUTNIK – BACK – REPUBLIK – USSRA – BRDDR. Das Lichtdesign stammt vom bildenden Künstler Noah Fischer, der einen sog. ›Cranker‹ konstruierte, eine Kurbel, die Lichter in allen Ecken des Raumes in schneller Abfolge so aktiviert, dass ein rasantes Spiel mit den Schatten der Buchstaben entsteht. Das Gerät wurde für die site-specific performance revolutionary timing erfunden, die im Frühjahr 2006 in Manhattan als &Co.LAB stattfand. Das Bühnenlicht wurde auf nackte Glühbirnen reduziert, die von der Bühne aus betätigt werden. Grundlage der Kollaboration war das gemeinsame Interesse für Sergej Eisenstein, der vor seinen monumentalen Filmen am Prolet-Kult-Theater mit Sergej Tretjakow zusammen gearbeitet hatte. In den Performances sollte die Technik des Filmschnitts für die Bühne zurück gewonnen werden durch die Verwendung von Fußschaltern, mit denen die Performerinnen hinter ihren Köpfen befindliche Birnen an- und ausschalten können nach einem simplen On/Off-Prinzip: »Let’s discuss the greatness and retardedness of John Lennon now.« Antwort: »He’s okay, but I like Jesus better.« – Zwischenruf: »Jesus died like a thousand years ago, get over it, buddy!« – Einwand: »I think all of the problems we are facing today are because of religion.« – »But Josef Stalin was an atheist!« – »I think Josef Stalin was an atheist the John Lennon type!« … Mit diesem Wortwechsel startet ein Bühnenchat als Spiel im Dunklen: Die Performerin, die sich zu Wort meldet, tritt auf den Schalter; schalten sich zwei Mitspielerinnen gleichzeitig an, müssen sich beide wieder ausknipsen; springen die beiden andren gleichzeitig ein, gilt dasselbe. Dadurch entsteht eine Spieldynamik, die dem realen Chatten im Netz ähnlich ist, die es ermöglicht, die Diskussionsgegenstände (Kommunismus, Antikommunismus, Atheismus etc.) in immer neuen Improvisationen zu rekombinieren: »I think the Beatles brought down the wall.« – »I think Yoko Ono brought down the wall.« – »I think Yoko Ono brought down the Beatles!« etc. Plötzlich werden alle Lichter eingeschaltet und das Verhör beginnt: »Mr. Disney, is it right that your full name is Walt E. Disney?« Es handelt sich um das Verhör vor dem Ausschuss für unamerikanische Umtriebe, in dem Disney als ›friendly wit395
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ness‹ aussagte und mehrere Mitarbeiter seiner Firma bezichtigte, Kommunisten zu sein. Diese Befragung, in denen nur mit yes oder no geantwortet wird, geht über in ein improvisiertes Interview vor einem imaginären Komitee (dem Publikum). Nicht nur fanden die großen Schauprozesse des 20. Jahrhunderts in einem theaterhaften Setting statt, sondern die etymologische Verwandtschaft von »theatron«, »theoria« und »theasthai« (sehen, schauen) legt nahe, das Theater selbst als »Schauprozess« zu beschreiben – ein Procedere jedoch, in dem kein Urteil gefällt, sondern der Wahn des Urteilens in Frage gestellt wird wie im letzten Teil der Trilogie Mausoleum Buffo: Schluss mit dem Gottesgericht! 6
2. Raum versus Zeit : Time Republic 2.1 E XODUS In Time Republic7, dem zweiten Teil der Trilogie, stehen sieben Temponautinnen im Halbkreis auf der Bühne, jede an einer Station, die konstruktivistischen Skulpturen gleichen, Rednerinnen- und Lichtpult in einem. Ein Duchamp’s »Großem Glas« nachgebildeter Chocolate Grinder spendet der letzten Szene psychedelisches Licht für ein abschließendes Mantra. Auf der Bühne soll eine Zeitrepublik errichtet werden gegen das Reich der Geschichte. Während Historikerinnen stets bemüht sind, im Verlauf der Ereignisse strukturierende Zusammenhänge zu erkennen, werden hier Fakten aus dem Zusammenhang gerissen/in den Zusammenhang geschmis6. Gilles Deleuze: »Schluss mit dem Gottesgericht«, in: ders.: Kritik und Klinik, Frankfurt a.M. 2000, S. 171-183. Der Titel ist eine Referenz auf Artaud, außerdem werden Spinoza, Nietzsche, D.H. Lawrence und Kafka genannt. Zum Zusammenhang von Theater und Theorie vgl. Theresia Birkenhauer: Theater … Theorie. »Ein unstoffliches Zusammenspiel von Kräften«, in: Primavesi, Patrick, Olaf A. Schmitt (Hg.): AufBrüche. Theaterarbeit zwischen Text und Situation, Festschrift zum 60. Geburtstag Hans-Thies Lehmanns, Berlin 2004, S. 292-301. 7. Das Stück wurde im Herbst 2007 von Bini Adamczak, Noah Fischer, Alexander Karschnia, Vettka Kirillowa, Nicola Nord, Sascha Sulimma, Serjoscha Wiemer & Co. in Amsterdam und Graz entwickelt und am 28.09.07 auf dem Steirischen Herbst zur Uraufführung gebracht, kurz vor dem fünfzigsten Jahrestag des Sputnik-Starts. Dem voraus ging erneut ein &Co.LAB mit Noah in New York. Eine weitere Vorarbeit war die lecture performance cosmic communauts mit Serjoscha und Vettka, die am 30.09.06 auf dem homo futuris Festival im Theater Vooruit (Ghent) stattfand und sich u.a. mit der Sekte der kosmischen Kommunistinnen beschäftigte.
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sen wie Samples in elektronischer Musik, um die Geschichte so gegen den Strich zu bürsten, wie es sich laut Walter Benjamin für historische Materialistinnen gehört. Möglicherweise besteht in der Achronie, in der Streuung des Zeitstrahls die Utopie eines Theaters jenseits des Dramas, für das die Einheit der Zeit nicht länger gegeben ist: Theater is deconstruction. Werfen wir also einen Blick zurück nach vorn auf das, was vergangen ist ohne zu geschehen – und das, was geschehen ist, ohne zu vergehen: die Attentate auf Vladimir Lenin 1918 und auf John Lennon 1980, die KubaKrise 1962, der Sputnik-Schock 1957, Juri Gagarins Raumfahrt 1961, das Desaster der Space Shuttle Challenger 1986 und der Columbia 2003, die erste Mondlandung 1969 und das so genannte Chicago 7 Trial 1968: History in the mix! Dabei folgt die Grundstruktur der Trilogie zunächst der Deutung des britischen Historikers Eric Hobsbawm vom 20. als ›kurzem Jahrhundert‹, das 1917 mit der russischen Revolution begann und 1991 mit der Auflösung der UdSSR endete. 8 Dieser alles strukturierende ideologische Konflikt, laut Heiner Müller der »Clinch zwischen Revolution und Konterrevolution«9, manifestierte sich militärisch, enthielt jedoch latente utopische Spuren, die heraus zu lesen sind aus den Science Fiction Fantasien eines Auf bruchs der Menschheit ins All. So hat die Forschung von Boris Groys zur postkommunistischen Kondition gezeigt, dass schon zur Zeit der Revolution russische Futuristen wie die Bio-Kosmisten die Besiedlung ferner Planeten gefordert haben. 10 Nicht in Form einer utopischen Träumerei allerdings, sondern in der eines streng logischen Schlusses einer sozialistischen Argumentation: 1. Der Sozialismus ist die zukünftige Realisierung gesellschaftlicher Gerechtigkeit als Resultat aller fortschrittlichen Kämpfe. 2. Weil der Sozialismus sich aber erst in der Zukunft realisiert, kommen die fortschrittlichen Kämpferinnen (Sozialistinnen) aus Vergangenheit und Gegenwart nicht in seinen Genuss 3. Dann basierte dieser Sozialismus auf der Ausbeutung der Vergangenheit durch die Zukunft und wäre keine wirklich gerechte Gesellschaft, also kein Sozialismus. 4. Deswegen müssen alle, die für den Sozialismus gekämpft haben und – weil es Rache und Strafe dann ja nicht mehr gibt – nach und nach auch 8. Vgl. Eric Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1999. 9. Heiner Müller: »Shakespeare eine Differenz«, in: ders.: Werke 8, Schriften, Frankfurt a.M. 2005, S. 334-337, S. 335. 10. Vgl. Boris Groys, Michael Hagemeister unter Mitarbeit von Anne von der Heiden (Hg.): Die Neue Menschheit. Biopolitische Utopien in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 2005, insbesondere die Schriften Aleksandr Svjatogors über die biokosmische Poetik, S. 393-398 und »Die Doktrin der Väter und der Anarcho-Biokosmismus«, S. 399-409.
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alle anderen Toten wieder zum Leben erweckt werden. 5. Dann wird es eng auf der Erde. 6. Also müssen die Welträume besiedelt und Apfelbäume auf dem Mars gepflanzt werden: »And Lenin realized that as long as there is death the Communism of the future will be based on the exploitation of the past. And so he decided to live forever.«
2.2 E X I T US Von diesen lichten kosmischen Visionen führt ein kurzer Weg zurück zu den trüberen eugenischen Selektionsvorstellungen des proto-futuristischen Freaks Konstantin Ziolkowski. Bis vor kurzem wurden seine Vorstellungen einer kosmischen Auslese in russischen Archiven unter Verschluss gehalten, um dem Ruf des ›Vaters der sowjetischen Raumfahrt‹ nicht zu gefährden – galt doch der Sputnik-Start in dessen 100. Geburtsjahr als sein verspätetes Werk. Sowjetische Komsomolzen schrieben damals das Jahr Null – für sie begann am 4. Oktober 1957 eine neue Zeitrechnung. Von diesem Nullpunkt geht Time Republic aus: Mit diesem »Schritt der Jahrhundertmitte«11 schien sich die UdSSR im Wettrennen in den Weltraum in der Pole Position zu befinden. Die Geschichte endet jedoch 1991 mit dem letzten Kosmonauten, der einsam seine Runden um den Planeten drehte und, weil sich tief unter ihm die Sowjetunion in Auflösung befand, mitten im Kapitalismus landete.12 Den USA jedoch hatte der Sputnik einen Schock versetzt und zugleich die Sehnsucht geweckt nach einer ›new frontier‹: De- und reterritorialisierende Bewegungen werden ununterscheidbar in diesem Konflikt, dessen ambivalentes Symbol die Rakete ist – zugleich Utopie und Dystopie eines Zeitalters zwischen kollektivem Exodus und kollektivem Exitus. Im Oktober 1962 schien der Zeitpunkt gekommen, als US-Spionageflugzeuge auf Kuba Vorrichtungen für Nuklearraketen entdeckten: »Mr. President, there are Soviet bases on Cuba with missiles pointing directly at the United States.« Mit diesen Worten beginnt der so genannte warroom, ein Plateau, in dem sich die Performerinnen spielerisch gegenseitig überbieten müssen, in dem sie Diskussionen des ›Ex11. Johannes R. Becher: Schritt der Jahrhundertmitte. Neue Dichtungen, Berlin 1960. Es handelt sich um Bechers letzte Gedichte, die mit einem Ausblick auf die Feiern zum Jahr 2000 enden: »Jahrtausendwende«. Im »Planetarischen Manifest« heißt es: »Du Sowjetstern, empor in das Weltall geschossen,/Umkreist unser Dasein, rotierst in uns selbst als Signal./Unendliche Gründe hat deine Lichtspur erschlossen,/Du allesumkreisender, allesdurchdringender Strahl.«, S. 182-188, S. 186. 12. Vgl. den Dokumentarfilm Out of the present von Anatoli Arzebarski und Sergei Krikaljow von 1997.
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komm‹-Krisenstabes im Weißen Haus zu einem immer länger werdenden Satz verketten wie in dem »Ich-packe-meinen-Koffer-und-nehme-mit«Kinderspiel, das jeweils beginnt mit den Worten: »If there are Soviet bases on Cuba with missiles pointing directly at the United States, then…« Dadurch entsteht ein Diskurs im lateinischen Wortsinn von »dis-currere«: ein Hin- und Herlaufen, das im Gegensatz zum dramatischen Format, welches Aussagen festen Charakteren zuschreibt, die Darstellung eines Phänomens ermöglicht, das die politische Psychologie als »grouping« beschrieben hat, eines kollektiven, nicht länger individuierbaren Denkprozesses, der wie folgt endet: »If there are soviet bases on Cuba with missiles pointing directly at the United States and these missiles are equipped with nuclear warheads then we have to take them out with one hard crack otherwise the god-damn joker Fidel Castro will get his dirty fingers on the big RED BUTTON but then we SHOULD consider an invasion and NOT write a letter to Krushchev, otherwise he will grab Berlin and that will activate the European Defense Plan and that means NUCLEAR WAR.«
Auf das gemeinsame DO IT!, DO IT! folgt (in historisch verkehrter Abfolge) Teil Zwei: »Mr. General Secretary, there are American bases on Turkey with Jupiter missiles pointing directly at the Soviet Union.« Und das Spiel beginnt von vorne … es findet jedoch nicht nur zwischen den Performerinnen statt, sondern dank der frontalen Spielweise auch zwischen Bühne und dem Publikum, auf welches sich so die Anspannung der Situation überträgt, der Stress wird so eher her- als dargestellt, unterstützt durch fiepende Alarmsounds. Historisch fanden diese polit-strategischen Überlegungen, die den »Kennedy Tapes«13 entnommen wurden und den 13. Eine Abschrift von Kennedys geheimen und im Übrigen illegalen Tonbandmitschnitten aus jenen 13 Tagen: Ernest R. May, Philip D. Zelikow (Hg.): The Kennedy Tapes. Inside The White House during the Cuban Missile Crisis. Cambridge, London, 1997. »Thirteen days« ist auch der Titel einer HollywoodVerfilmung der Kuba-Krise aus dem Jahr 2000, Regie: Roger Donaldson, Drehbuch: David Self. Kevin Costner spielt darin Kenneth ›Kenny‹ O’Donnell, den Berater von Präsident Kennedy. In diesem Film zeigt sich deutlich die Limitierung des Dramenformats für die Darstellung eines solchen Gruppenprozesses. So zeichnet sich die Dynamik der Gespräche des Krisenstabes gerade dadurch aus, dass Positionen eben nicht an Personen festzumachen sind, da die Rollen zwischen ›Falken‹ und ›Tauben‹ ständig wechseln. Eine umfassender Darstellung findet sich im Buch zur ZDF-Dokumentation von Stefan Brauburger: Die Nervenprobe. Schauplatz Kuba: Als die Welt am Abgrund stand, Frankfurt a.M., New York, 2002.
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umstrittenen Erinnerungen Nikita Chruschtschows14, ein Echo in den schizophrenen Phantasien Mark Chapmans, Lennons Mörder. Time Republic beginnt in seinem Kopf: »I used to fantasize that I was a king, and that I was the president of the United States of America, and that I had all those little people around me, and that they lived in the walls. And that I was their hero and they all kind of worshiped me. It was like I could do no wrong. And sometimes, when I’d get mad, I’d blow some of them up. I would have this push-button thing, and if I’d get mad, I would blow out part of the wall and a lot of them would die. But the little people would still forgive me for that, and everything got back to normal.«15
2.3 R HY THM Zu Beginn setzt der Beat ein als Auftakt zu einer Adaption von Lennon’s rapförmigen Passagen aus Give Peace A Chance: »Everybody’s talking about…« Das Intro markiert nicht nur Stimmung und Thematik des Abends, sondern führt zugleich die Arbeitsweise vor: Alle Bestandteile des Stückes, sämtliche Samples, Versatzstücke aus Reden US-amerikanischer Präsidenten, schizophrenen Bekenntnissen von Attentätern, futuristischen Fantasien, der russischen Morgengymnastik von Wyssozki, absurden Gerichtsprotokollen, populären Notstandsübungen für den Ernstfall eines Atombombenabwurfs (›duck & cover‹), den Songs der Brüder Gagarins oder den parodierten pädagogischen Erzählungen à la Soschtschenko über den ›kleinen Lenin‹ werden derselben eingreifenden Behandlung unterzogen. Durch die Verfahren des Sampeling & Remixes nähert sich die Text-Arbeit dem DJ-ing. So beginnt DJ Spooky aka Paul Miller’s Buch »Rhythm Science«: »Once you get into the flow of things, you’re always haunted by the way that things could have turned out. This outcome, that conclusion. You get my drift. The uncertainty is what holds the story together.«16
14. Vgl. Nikita S. Chruschtschow: Chruschtschow erinnert sich. Herausgege-
ben von Strobe Talbott, Stuttgart 1971. 15. Vgl. Jack Jones: Let Me Take You Down: Inside the Mind of Mark David Chapman, the Man Who killed John Lennon, New York, 1992. (www.trutv.com/ library/crime/terrorists_spies/assassins/chapman/1.html, gecheckt am 22.11.08). 16. Paul Miller aka DJ Spooky that subliminal kid: Rhythm Science, Cambridge, Mass. 2004, S. 4.
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Mehrere Stichworte sind hier von Bedeutung: Erstens der ›Fluss der Dinge‹, sowohl für den musikalischen DJ-Mix, als auch für die Praxis der Performance entscheidend, wird in Time Republic auditiv erzeugt von durchgängigen Loops: Die so genannten Story-telling-Plateaus trägt ein Grundrhythmus, der sich später als Auftakt zu einem Lied zu erkennen gibt, das gemeinsam gesungen wird: »Die große Welt« aus dem sowjetischen Sci-Fi-Film »Moskau – Kassiopeia« 17, in dem eine Gruppe junger Kosmonautinnen Abschied nimmt von der Erde. Musikalisches Leitmotiv ist jener Give Peace A Chance-Loop, der sich am Anfang des Stückes mit Kurt Weill’s Klavierklängen zur »Seeräuber-Jenny« und Elektro-Beats, am Ende mit Sounds von Xenakis und Lennons Song God mischt: »I don’t believe in…« Wie beim Intro, so werden am Ende aktuelle Anspielungen in die Aufzählungen gemischt: »… McCain, Freedom Fries, …« etc. Lennons Musik und Lyrik triff t auf die Geschichten vom ›kleinen Lenin‹, der mit seiner Hündin Laika durch den Himmel über Moskau spaziert: »Laika in the sky with diamonds«. Eine Erzählung des letzten Jahrhunderts, die mit den Schüssen auf Lenin in Moskau beginnt und mit jenen auf Lennon am 8. Dezember 1980 in New York endet – auf den Tag genau elf Jahre vor der offiziellen Bekanntmachung der Auflösung der UdSSR. Lenin überlebte das Attentat um nur wenige Jahre, der Anschlag der Sozialrevolutionärin Fanny Kaplan jedoch löste die erste Terrorwelle aus; die Schüsse auf Lennon dagegen markieren das Ende einer ganzen Ära genau in jenem Jahr, das Chruschtschow einmal als Datum genannt hatte, in dem die Menschheit im Kommunismus leben würde: »Imagine…« Wenige Monate später machte sich ein Nachahmungstäter auf den Weg nach New York, doch blieben seine Schüsse folgenlos: Sein Ziel war der frisch gewählte US-Präsident Ronald Reagan. Zweitens immer heimgesucht zu werden davon, wie die Dinge auch hätten ausgehen können, schreibt DJ Spooky: In Time Republic wird dazu eine Rede von Richard Nixon verwendet, die sein Ghost-Writer vorsorglich für den Fall des Scheiterns der Mondmission verfasst hatte: »Fate has ordained that the men who went to the moon to explore in peace will stay on the moon to rest in peace.« 18 Der Friede, den die beiden Astronauten erst als Tote im Weltraum gefunden hätten, war für russische Futuristen schon zur Zeit der Revolution das eigentliche Ziel der Mission: »Den großen Krieg durch den ersten Flug zum Mond beenden«, hatte sich Velimir 17. Moskau-Kassiopeia, Regie: Richard Viktorov, 1973. 18. Während der Rede wurde ein Schild hochgehalten: »Nixons ungehaltene Rede«. Die Rede wurde erst 1999 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht und ist online zu finden unter: www.americanrhetoric.com und www.watergate.info. Sie wurde ebenfalls in Noahs Installation verwendet.
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Chlebnikov einmal notiert.19 Als ›Präsident des Erdballs‹ hatte er im April 1917 verkündet: »Raumstaaten erzittert! Selbstmord des Staates, rotes Lächeln des Jahrhunderts!«20 Der Zynismus der Realhistorie wollte es, dass ausgerechnet der größte Flächenstaat der Erde zum Schauplatz des ersten sozialistischen Experiments werden sollte – Take One: Staatssozialismus21. Doch hat sich die utopische Spur im Namen erhalten laut Jacques Derrida, der nach seiner Moskau-Reise im Frühjahr 1990 konstatierte, die UdSSR sei als ›Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken‹ frei gewesen von jeglicher Referenz auf ein real-existierendes Territorium22: »Imagine there’s no countries …« U-Topie als Nicht-Ort der Gemeinschaft freier und gleicher Menschen, Traum des 20. Jahrhunderts, der in einem Alptraum endete: Es ist die Geschichte des Verrats an einer Hoffnung, die sich seit Oktober 1917 auf ein Ende des weltweiten Krieges richtete. Auf dieser Linie liegt auch Lennons Engagement in der Anti-Kriegs-Bewegung, deren Höhepunkt die Proteste zur Democratic National Convention in Chicago im August 1968 waren, die zum Chicago 7 Trial gegen die angeblichen Anstifter der Unruhen führte. »The uncertainty is what holds the story together …« Die Affirmation dieser Ungewissheit, die unabstellbar ist, weil sie sich aus der Struktur der Zeit selbst ergibt, aus ihrer ewig währenden Unabgeschlos19. Velimir Chlebnikov: Vorschläge, in: ders.: Werke 2. Prosa. Schriften. Briefe. Hg. v. Peter Urban. Rowohlt. Reinbek bei Hamburg 1972, S. 227. 20. Zusammengestellt aus den »Thesen für ein öffentliches Auftreten«, in: Ders.: Werke 2, a.a.O., S. 264. 21. In Bini Adamczak’s Buch: Kommunismus. Kleine Geschichte, wie endlich alles anders wird, Münster 2004. Dessen kindliche Sprache (ursprünglicher Titel: »Kommunismus für Kinder«), die einen Strang in den Erzähltechniken little red’s bildet, wird die Geschichte des Kapitalismus und seiner Abschaffung in sechs Versuchen erzählt. Kontrahistorisch ist der Realsozialismus dabei als der Sozialdemokratie im Staatsfetischismus verwandter Versuch Nr. 3 zu erkennen – der Herrschaft der Topfmenschen: »Nur nennen sie den Topf nicht Topf, sondern Staat, weil das besser klingt«, S. 33. 22. Jacques Derrida: Rückkehr aus Moskau, Wien 2005. In Moskau erfuhr Derrida von Philosophie-Studierenden, dass der Umbau der SU, die sog. Perestroika, exakt dem von ihm entwickelten Konzept der ›Dekonstruktion‹ entspreche. Unmittelbar nach seiner Rückkehr aus der UdSSR in die USA verfasste er einen Reisebericht für die Critical Theory Group. Dabei hatte er die Beatles im Ohr: »Back in U.S., back in the U.S., back in the U.S.S.R.« Während die Beatles den Song im Abbey Road Studio 2 am 21. August 1968 aufnahmen, rollten sowjetische Panzer in der Tschechoslowakei ein und beendeten den Prager Frühling mit militärischer Gewalt. Vier Tage später wurde in Chicago die Nationalgarde gegen die Proteste der Vietnamkriegsgegnerinnen eingesetzt.
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senheit, hat Derrida als das zu rettende Erbe des Marxschen Messianismus ausgerufen. Nicht länger ginge es darum, jene 13 Tage aufzuholen, die der julianische dem gregorianischen Kalender hinter her hinkte, wie es die Bolschewiki für den Jahreswechsel 1917/18 verordneten. Sondern um eine euphorische Erwartung in eine unverfugte Zeit, die sich für eine Zukunft öffnet, von der wir nicht wissen können, welche kommunistische Flaschenpost sie mit der nächsten Rakete auf der Erde landen lassen wird: »Allzeit bereit!« riefen die Pioniere deswegen in Richtung der Sonne, die im Weltraum ja tatsächlich »ohn’ Unterlass« scheint, weil sie wussten, dass nur eine kommunistische Gesellschaft die Produktivkräfte weit genug entwickelt haben könnte, um UFOs hervorzubringen. Die Ungewissheit ist aber auch eine Unsicherheit, gegen die weder ein Gott noch eine marxistische Fortschrittsteleologie eine Versicherung anbieten könnte: jeder nächste Tag kann die Krise bringen, den Verlust des Erreichten, die Entwertung aller Werte, die globale Finanzkrise etc. Gespenstische Wiederkehr des Verdrängten und allseitige Angst vor dem Atomkrieg. Ohne Angst in die Zukunft schauen, hätte Marx gesagt, können nur die, die nichts zu verlieren haben als ihre Ketten. Die Auf hebung der Angst ist deshalb auch das zentrale Ziel des ›kleinen Lenins‹, wie er in der Time Republic zu Leben erweckt wird: »When Lenin was little he knew no fear. And so he decided to abolish fear all together, because he realized: Where there is no fear, there is also no terror.«
3. Zw ischen Raum & Zeit Es kam bekanntlich anders und »Das Jahrhundert der Angst« ist deswegen auch der treffende Titel, den der russische Schriftsteller Daniil Granin seinem Rückblick auf ein Jahrhundert gibt, das die ausgestopfte Leiche Lenins als eines ihrer Zentren hatte.23 Aber, wie Majakovski mit leicht kontrafaktischem Klang schon zur feierlichen Beisetzung des Revolutionsführers in seinem Komsomolzenlied schrieb: »Lenin lebte, Lenin lebt, Lenin wird leben«. Und eine der Fragen, die die Trilogie stellt, ist eben, welche veränderten Möglichkeiten der Wiederkehr und Heimsuchung sich für dieses Gespenst jetzt ergeben, nachdem die Parteiführer abgedankt haben, welche auf dem Mausoleum stehend, den Massen der Feier- und Trauermärsche zuwinkten, »als bezögen sie, Wächter der Zwischenwelt, von dort ihre Autorität, ihre Legitimation als einzig legitime Erben«24. 23. Vgl. Daniil Granin: Das Jahrhundert der Angst. Erinnerungen, Berlin 1999. 24. Bini Adamczak: gestern morgen. Über die Einsamkeit kommunistischer Gespenster und die Rekonstruktion der Zukunft. Münster 2007, S. 128.
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»Alle kommen von früher, aber little red kommt von später. Alle kommen aus der Vergangenheit, aber little red kommt aus der Zukunft. Wann ist ihre Ankunft?« Der Marxsche Messianismus, den Derrida in »Marx‹ Gespenster« retten will, kann gegenüber dieser Ankunft keine rein abwartende Haltung einnehmen, wie etwa der Attentismus der deutschen Sozialdemokratie von Kautsky & Bebel, die meinten, der Sozialismus würde sich schon von selbst einstellen – mit der finalen Krise des Kapitalismus, dem großen Kladderadatsch. Diese Vorstellung basiert auf eben jenem teleologischen Geschichtsmodell einer linearen, historistischen Fortschrittserzählung, das es zu dekonstruieren gilt. Allerdings nimmt sich diese Dekonstruktion gegenüber der biokosmistischen Forderung, den Zeitstrahl ganz aufzuheben und die vollkommen Reversibilität aller Entscheidungen zu realisieren, um nicht nur den gesamten Weltraum, sondern auch die ganze Weltzeit frei besiedeln zu können, wie eine bürgerliche Kapitulation gegenüber einem gewissen Realitätsprinzip aus: »Die Welt wird als Strahl verstanden. Ihr – seid ein Gebilde des Raumes. Wir – ein Gebilde der Zeit.«25 wurde den Besucherinnen von Time Republic von den Temponautinnen zugerufen: »Wir sind sieben!«26 – genau wie die Crew der explodierten Space Shuttle Challenger. Es sind solche Zitate, die eingewoben in die Textur der Performance, auf der Bühne auf der Lauer liegen, um des Publikums Gewissheiten anzuspringen wie Walter Benjamins Wegelagerer. Zugleich sind sie Teil eines Soundscapes, dessen message according to the rhythm scientist immer auch ist: »there could be another way«. Diese Potentialität entsteht nicht allein durch die Verwendung von Musik im Theater, sondern ebenso durch jenes Theater, das sich innerhalb der Musik abspielt: »Music like hip hop and electronica ist about theater: how people live to sounds.«27 So verbindet sich in Saschas Klangcollagen in Time Republic z.B. der weltberühmte Ton des Sputnik mit den DO IT!-Rufen im warroom und kreiert eine eigne, nicht immer bewusst wahrnehmbare Ebene der Geschichtsnarration durch Sounds und Samples: »Sampling as a kinesthetic theater of memory?«28 Die Geschichte frei begehen zu können, in ihr alle Optionen auszuloten und vorzustellen, ist die Aufgabe der Temponautinnen aus little red und Time Republic, jener subversiven Geschichtstouristinnen, die nur übergangsweise auf den Bühnen Europas hausen.29 Es ist dies die Utopie des Re-Mixes & des Samplings, von der DJ Spooky redet und die für Benjamin 25. Chlebnikov: Vorschläge, a.a.O., S. 232. 26. Chlebnikov: Trompete der Marsianer, a.a.O., S. 250. 27. Miller aka DJ Spooky: Rhythm Science, a.a.O., S. 16. 28. Ebd., S. 33. 29. Vgl. Alexander Karschnia: Temponauten-Theater. Es wird Zeit, dass es Zeit
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den Kommunismus beschreibt: »Erst der erlösten Menschheit ist ihre Vergangenheit in jedem ihrer Momente zitierbar geworden.«30
K OMMUNI S T I SCHE S P OS T SKR IP T UM – DEN P E S SIMI SMUS ORGANI SIEREN ! Fraglich ist jedoch, ob für eine solche Menschheit das Theater noch eine Rolle spielen würde, da es laut Heiner Müller die Kommunikation zwischen Lebenden und Toten herstellt und damit Solidarität zwischen ihnen und untereinander erst ermöglicht. Auf Kluges eingangs gestellte Frage antwortete er: »Das Wesentliche am Theater ist die Verwandlung. Das Sterben. Und die Angst vor dieser letzten Verwandlung ist allgemein, auf die kann man sich verlassen, auf die kann man bauen. Und das ist auch die Angst des Schauspielers und die Angst des Zuschauers. Und das Spezifische am Theater ist eben nicht die Präsenz des lebenden Schauspielers, sondern die Präsenz des potentiell Sterbenden.«31
Im Oktober 1962 hat allgemeine Todesangst die Welt in Atem gehalten; das Bannen der Gefahr hat die Grundlage gelegt für die friedliche Koexistenz in den kommenden Jahren. Doch ist das Verschwinden der beiden Protagonisten dieses Konflikts nur wenig später, das Attentat auf John F. Kennedy am 22. November 1963 und die Absetzung Chruschtschows im folgenden Jahr, vielleicht Anzeichen dafür, dass die Menschheit mit dieser Gewissheit nicht leben wollte? Für Müller bedeutete Kommunismus die Entlassung des Einzelnen aus den todesverdrängenden Kollektiven in radikale Einsamkeit.32 Das Theater als Trainingscamp für Sterbliche: Wer gelernt hat, mit der eignen Endlichkeit umzugehen, dem wird es gelingen, sich zu freuen »Alles Amselgesanges nach mir auch«.33 Oder wie Franz
wird, in Berliner Gazette: www.berlinergazette.de/index.php?pagePos=12&id_ text=53814&id_language=1&bereich=&aktiv=, gecheckt am 22.11.08. 30. Walter Benjamin: »Über den Begriff der Geschichte«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. I, 2, Frankfurt a.M. 1991, S. 693-704, S. 694. 31. Müller, Kluge: »Wer raucht sieht kaltblütig aus«, a.a.O. 32. Vgl. Alexander Karschnia: »Zum Zeitvertreib zwischen Krieg und Frieden«, in: ders.: Oliver Kohns, Stefanie Kreuzer, Christian Spies: Zum Zeitvertreib, Bielefeld 2005, S. 33-46. 33. Bertolt Brecht: Als ich in weissem Krankenzimmer der Charité in: ders.: Gedichte 5, Große und kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe Bd. 15, Berlin, Frankfurt a.M. 1993, S. 300. Dieses Gedicht wurde von Müller gerne zi-
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Kafka lächelnd zu Max Brod sagte: Es gibt »unendlich viel Hoffnung – nur nicht für uns!«34
Literatur Adamczak, Bini: gestern morgen. Über die Einsamkeit kommunistischer Gespenster und die Rekonstruktion der Zukunft, Münster 2007. Adamczak, Bini: Kommunismus. Kleine Geschichte wie endlich alles anders wird, Münster 2004. Becher, Johannes R.: Schritt der Jahrhundertmitte. Neue Dichtungen, Berlin 1960. Benjamin, Walter: »Über den Begriff der Geschichte«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. I, 2, Frankfurt a.M. 1991. Benjamin, Walter: »Franz Kafka«, in: ders.: Gesammelte Schriften Bd. II, 2, Frankfurt a.M. 1991. Brauburger, Stefan: Die Nervenprobe. Schauplatz Kuba: Als die Welt am Abgrund stand, Frankfurt a.M., New York 2002. Brecht, Bertolt: Gedichte 5, Große und kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe Bd. 15, Berlin, Frankfurt a.M. 1993. Brecht, Bertolt: »Als ich in weissem Krankenzimmer der Charité«, in: ders.: Gedichte 5, Große und kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe Bd. 15, Berlin, Frankfurt a.M. 1993, S. 300. Chlebnikov, Velimir: Werke 2. Prosa. Schriften. Briefe. Hg. v. Peter Urban. Reinbek bei Hamburg 1972. Chlebnikov, Velimir: »Vorschläge«, in: ders.: Werke 2. Prosa. Schriften. Briefe. Hg. v. Peter Urban. Reinbek bei Hamburg 1972, S. 232. Chlebnikov, Velimir: »Trompete der Marsianer«, in: ders.: Werke 2. Prosa. Schriften. Briefe. Hg. v. Peter Urban. Reinbek bei Hamburg 1972, S. 250. Chlebnikov, Velimir: »Thesen für ein öffentliches Auftreten«, in: ders. Werke 2, Prosa. Schriften. Briefe. Hg. v. Peter Urban. Reinbek bei Hamburg 1972, S. 264. Chruschtschow, Nikita S.: Chruschtschow erinnert sich. Hg. v. Strobe Talbott, Stuttgart 1971. Derrida, Jacques: Rückkehr aus Moskau, Wien 2005. Granin, Daniil: Das Jahrhundert der Angst. Erinnerungen, Berlin 1999. tiert, um Brechts ›Sterbelehre‹, seine veränderte Haltung zum Tode zu demonstrieren. 34. Überliefert von Walter Benjamin in: ders.: »Franz Kafka«, in: ders.: Gesammelte Schriften Bd. II, 2, Frankfurt a.M. 1991, S. 409-438, S. 414.
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Groys, Boris/Hagemeister, Michael unter Mitarbeit von Anne von der Heiden (Hg.): Die Neue Menschheit. Biopolitische Utopien in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 2005. Svjatogor, Aleksandr: »Die biokosmische Poetik«, in: Groys, Boris/Hagemeister, Michael unter Mitarbeit von Anne von der Heiden (Hg.): Die Neue Menschheit. Biopolitische Utopien in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 2005, S. 393-398. Svjatogor, Aleksandr: »Die Doktrin der Väter und der Anarcho-Biokosmismus«, in: Groys, Boris/Hagemeister, Michael unter Mitarbeit von Anne von der Heiden (Hg.): Die Neue Menschheit. Biopolitische Utopien in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 2005, S. 399409. Jones, Jack: Let Me Take You Down: Inside the Mind of Mark David Chapman, the Man Who killed John Lennon, New York, 1992. Karschnia, Alexander u.a. (Hg.): Zum Zeitvertreib, Bielefeld 2005. Karschnia, Alexander: »Zum Zeitvertreib zwischen Krieg und Frieden«, in: ders. u.a.: Zum Zeitvertreib, Bielefeld 2005, S. 33-46. Kluge, Alexander/Müller, Heiner: Ich bin ein Landvermesser. Gespräche Neue Folge, Hamburg 1996. Kluge, Alexander/Müller, Heiner: »Wer raucht sieht kaltblütig aus«, in: dies.: Ich bin ein Landvermesser. Gespräche Neue Folge, Hamburg 1996, S. 91-97, S. 95. May, Ernest R./Zelikow, Philip D. (Hg.): The Kennedy Tapes. Inside The White House during the Cuban Missile Crisis, Cambridge, London, 1997. Miller, Paul aka DJ Spooky that subliminal kid: Rhythm Science, Cambridge Mass. 2004. Müller, Heiner: Werke 8, Schriften, Frankfurt a.M. 2005. Müller, Heiner: »Shakespeare eine Differenz«, in: ders.: Werke 8, Schriften, Frankfurt a.M. 2005, S. 334-337.
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An der Beschreibung von Rouen in Gustave Flauberts Madame Bovary zeigt Roland Barthes, wie Realitätseffekte in der Literatur hergestellt werden. Vorlage für Flauberts Rouen ist, wie Barthes verdeutlicht, weniger das reale Modell als die gemalte Szene, das heißt, es sind bestimmte kulturelle Regeln der Darstellung.1 Nun fokussiert Barthes nicht die literarische Zeichnung der Figur, sondern ihren Grund. Doch lässt sich seine Einsicht in die Erzeugung referenzieller Illusion auch auf das Erfinden von Personen beziehen und auf das Theater des Dramas übertragen; Madame Bovary, c’est moi – die Figur wird in der dramatischen Darstellung allerdings nicht mit der persona des Autors, sondern mit dem Körper des Schauspielers kurzgeschlossen. Wenn dieser im Guckkasten auftritt, als sei er der ›leibhaftige‹ Referent einer literarisch erfundenen Person, tut auch er dies – frei nach Barthes – keineswegs im Modus unseres ›alltäglichen Theaters‹, sondern indem er spezifischen Konventionen szenischer Darstellung folgt. Nun wird die Grenze zwischen Realität und Fiktion, zwischen Schauspieler und Figur längst mittels anderer, nichtdramatischer Spielformen von der Bühne aus neu vermessen. Sie verweigern die Möglichkeit gestalthafter Verkörperung: durch die Reflexion szenischer Darstellungsbedingungen, die fi lmische Übertragung hinterszenischer Vorgänge, Figurenmorphing oder den Ready-Made-Einsatz von so genannten Alltagsexperten, die sich auf die Bühne zitiert selbst vertreten. Manchmal scheint es, als fingiere inzwischen jedes bessere Stadttheater den ›Ausnahmezustand 1. Vgl. Roland Barthes: »DER REAL(ITÄTS)EFFEKT«, in: Kathrin Tiedemann/ Frank Raddatz (Hg.), Reality Strikes Back. Tage vor dem Bildersturm. Eine Debatte zum Einbruch der Wirklichkeit in den Bühnenraum, Berlin 2007, S. 12-20, hier S. 15-16.
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Al s-Ob, Alltagsexper ten, Akten. Über Ausnahmezustände im Theater
dramatischer Darstellung‹, um deren Bedingungen und Regeln zu offenbaren. Genau dieses Moment nichtdramatischer Spielformen, die reflexive Unterbrechung leibhaftiger Repräsentation, wurde nicht zuletzt im Kontext akademischer Konjunkturen über mindestens ein Jahrzehnt hinweg als Zäsurierung personalisierter Politik und damit als das Politische des Gegenwartstheaters begriffen.2 Wie steht es – von heute aus betrachtet – mit dem kritischen Potenzial postdramatischen Theaters? Im Rahmen der vom Staatstheater Stuttgart initiierten dreiwöchigen Projektwochen Endstation Stammheim, die mit ihren 33 Produktionen zugleich als eine Art Werkschau aktueller Bühnenexperimente operierten, waren 2007 Inszenierungen von René Pollesch, Rimini Protokoll und Hans-Werner Kroesinger zu sehen. In gänzlich unterschiedlicher Weise verschränken deren Produktionen den ›Ausnahmezustand dramatischer Darstellung‹ mit dem Verweis auf den politisch fingierten Ausnahmezustand. An ihnen lässt sich die Frage nach der Politizität des gegenwärtigen Theaters spezifizieren und möglicherweise neu stellen.
Liebe ist kälter als das Kapital Stammheim geriet schon seit den 70er Jahren zum Reflexionsmodell des dramatischen Theaters und seiner Bedingungen.3 In der zweiten Szene von Heiner Müllers Hamletmaschine (1977) wird die Isolationszelle ebenso wie in Elfriede Jelineks Wolken.Heim. (1987) und Ulrike Maria Stuart (2005) als Double des Guckkastens anzitiert, jenes in sich geschlossenen Schauplatzes, von dem das Theater des Dramas bestimmt ist. Hier wird das Regelwerk dramatischer Darstellung auf deren framing hin untersucht.
2. Mit Blick auf den ›Ausnahmezustand der Darstellung‹ im Theater siehe u.a. Hans-Thies Lehmann: »Wie politisch ist postdramatisches Theater? Warum das Politische im Theater nur die Unterbrechung des Politischen sein kann«, in: Ders.: DAS POLITISCHE SCHREIBEN. Essays zu Theatertexten, Berlin 2002, S. 11-21. 3. Zum Theater der 1970er Jahre, das weniger auf die Destruktion der theatralischen Illusion setzte als auf die Dekonstruktion der Bedingungen von Hören und Sehen im theatralischen Prozess, vgl. etwa Helga Finter: »Das Kameraauge des postmodernen Theaters«, in: Christian W. Thomsen (Hg.), Studien zur Ästhetik des Gegenwartstheaters, Heidelberg 1985, S. 46-70. Zur Isolationszelle als Reflexionsmodell des Guckkastens siehe Evelyn Annuß: »Shakespeare nach Stammheim. Versuch über Guckkasten und Isolationszelle«, in: Inge Stephan/Alexandra Takke, (Hg.), Nach-Bilder der R.A.F., Köln 2008, S. 246-267.
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Thematisch gekoppelt ist dies an jene Politik der Maßnahmen 4, die in den 70er Jahren die bundesdeutsche Justizgeschichte zäsuriert. Müllers und Jelineks ihrerseits postdramatische Arbeiten verweisen so vom Theater aus auf den arbiträren Untergrund des politisch-juridischen Modells. An die Engführung von Stammheim und Darstellungsreflexion knüpft René Pollesch in seiner die Stuttgarter Projektwochen eröff nenden Inszenierung von Liebe ist kälter als das Kapital für die große Bühne des dortigen Staatstheaters implizit an; doch der Bezug auf 1977 bekommt eine andere Funktion. Polleschs für den Spielplan produzierte Arbeit verwendet den Bühnenraum in einer Weise, die über die Auftrittsform der Schauspielerinnen und Schauspieler die Grenzziehung zwischen Realität und Fiktion als solche zu denken gibt: »Ich hab meinen Kontakt zur Wirklichkeit verloren. Die Wirklichkeit kommt mir einfach nicht mehr wirklich vor. […] Hier hinter der Bühne wurde doch nicht immer schon gefilmt! Oder doch? […] Was ist denn mit der Realität passiert? Die war doch immer hier hinten. Weißt du, es ist wie wenn wir beide Tic Tac Toe spielen und du radierst immer meine Kreuze aus. Ich kann so nicht spielen, wenn du immer die Regeln kaputt machst, auf denen unsere Realität basiert. Man konnte doch mal von einer Bühne abgehn, das war doch Tradition.«
Das sagt Katja Bürkle in die Kamera, nachdem sie von einem Geldautomaten aus mehrmals durch ein Fenster auf die Hinterbühne gesprungen ist. Von dort aus wird ihr hinterszenischer Auftritt auf einen über der Vorderbühne hängenden Screen übertragen. So inszeniert Pollesch am Stuttgarter »Polizeistaatstheater«, wie es immer wieder heißt, noch einmal den Verlust der Hinterbühne in postgoff manschscher Manier.5 Hinter den Kulissen befindet man sich nicht in einer klar vom Fiktionsraum abgrenzbaren Wirklichkeit, sondern auf dem Filmset und zugleich nach dem Film 4. Zur Unterscheidung von Gesetz und Maßnahme vgl. den 1932 erstmals publizierten Text von Carl Schmitt: »Legalität und Legitimität«, in: ders.: Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924-1954. Materialien zu einer Verfassungslehre. Berlin 1958, S. 263-350, hier bes. S. 319-335. 5. Stuttgarter Staatstheater, Premiere im Schauspielhaus am 21. September 2007. Vgl. zum Verlust der Hinterbühne als Reflexionsgegenstand von Polleschs Theater bereits Diedrich Diederichsen: »Maggies Agentur«, in: Aenne Quin ones (Hg.), Prater-Saga, Berlin 2005, S. 7-19, hier S. 10. Der Text erschien ebenso in überarbeiteter Form in Stefan Tigges (Hg.), Dramatische Transformationen. Zu gegenwärtigen Schreib- und Aufführungsstrategien im deutschsprachigen Theater, Bielefeld 2008, S. 101-110.
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– also im Re-Produktionsprozess vorfindlicher Bilder, die man gleichzeitig auf der Vorderbühne betrachten kann. In permanenter Wiederholung werden Szenen aus John Cassavetes’ Opening Night von 1977 noch einmal gedreht – Szenen aus jenem Film, der die vermeintlich privaten, zugleich durchaus funktionalen Off-Inszenierungen der von Gena Rowlands gespielten Broadway-Schauspielerin Myrtle Gordon zeigt. Im Film bleibt es unentscheidbar, inwiefern deren hysterische Anfälle und ihre Weigerung, sich auf der Bühne ohrfeigen zu lassen, nur dazu dienen, ihren Exmann und Kollegen schließlich an die Wand zu spielen. Die Grenzen zwischen Schauspielerin und Rolle sind im zitierten Film bereits aus den Fugen geraten. Anja Streiter liest das im Sinne einer »Reflexion über das Schauspielen als Matrix menschlicher Existenzweise.«6 Es gibt in Cassavetes’ Opening Night keine klare Trennung zwischen Filmrealität und Bühnenfi ktion. Pollesch greift dies auf, um unser Wissen um den Zitatcharakter des Selbst zu exponieren. Die szenische Fiktion ist bei ihm gewissermaßen zum Hochsicherheitstrakt geworden, aus dem es kein Entkommen gibt. Bereits in einer ganzen Reihe früherer Produktionen hat Pollesch Cassavetes’ fi lmisch hergestellte Ausdehnung des Fiktionsraums auf ›unserer Hinterbühne‹ ausgeschlachtet und gegen das dramatische Theater, gegen das geregelte Verhältnis von Schauspieler und Rolle, gewendet. In Stuttgart wird der Rekurs auf Opening Night nun in den Stammheimer Verweisungskontext gestellt. Pollesch zitiert dabei weniger die Sonderhaftbedingungen oder den Tod der Stammheimer Gefangenen 1977 als jene kleinen Erzählungen, die von der Roten Armee Fraktion in der immer gleich auf bereiteten Rezeption nach über dreißig Jahren übrig bleiben. In einer Art Ouvertüre, einer wunderbaren Slapstick-Szene, lassen sich neben Katja Bürkle auch Silja Bächli, Christian Brey, Florian von Manteuffel und Bijan Zamani in mehrfacher Wiederholung vom Geldautomaten aus durchs Kulissenfenster auf die Hinterbühne fallen. Der ›geloopte‹ Absprung aus dem Guckkasten dauert über eine Viertel Stunde, bevor Bürkle schließlich von dort hinten, leibhaftig also gar nicht sichtbar, das erste Mal das Wort ergreift und – wie oben zitiert – den Verlust ihres Wirklichkeitsbezugs vor der Kamera kommentiert. Szenisch spielt Pollesch hier auf das an, was als Gründungsszene der RAF kolportiert wird: die legendären Fenstersprünge während der Baader-Befreiung am 14. Mai 1970. Ulrike Meinhof setzte damit bekanntlich ihrer bürgerlichen Existenz ein Ende, weil sie plötzlich nicht mehr so tat, als ob sie nur zu Forschungszwecken mit dem Gefangenen Andreas Baader im Dahlemer Institut für Soziale Fragen auftreten würde. Seiner fast vierzigjährigen Rezeptionsgeschichte Rechnung tra6. Anja Streiter: Das unmögliche Leben. John Cassavetes, Berlin 1995,
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gend transponiert Pollesch den Fenstersprung, der den Weg in den Untergrund bedeutete, ins seriell eingesetzte Tableau. In Verknüpfung mit der Cassavetes-Zitation wird der Name RAF dann in den Titel eines Kriegsfi lms überführt, der die Biographie Erwin Rommels erzählt und schon in den 1950er Jahren den Afrika-Feldzug der Nazis zur Unterhaltung aufbereitet hat: »Raf, der Wüstenfuchs. […] Und bitte!« 7, sagt Brey an zwei Stellen. Die RAF wird hier – ähnlich wie in Nicolas Stemanns 2006er Inszenierung von Jelineks Ulrike Maria Stuart am Hamburger Thalia Theater – als Rezeptionsfigur und austauschbares Produkt einer Massenkultur behandelt, die politische Geschichte ins dramatisierte Bildschirm-Format übersetzt. Später erklärt Brey entsprechend die Ununterscheidbarkeit der RAF-Darstellungen vom Leben der Anderen 8: »Alles, was gedreht wird, sind nur Erfolgsgeschichten. Es ist ganz egal, was so ein Film erzählt. Wenn er Erfolg hat, erzählt er nur die Erfolgsgeschichte der Beteiligten. Egal, ob’s um die Stasi geht, Auschwitz oder die RAF!«
Polleschs Inszenierung zielt auf die Kritik einer »Beeindruckungsmaschine« personalisierter Darstellung, deren Gegenstand letztlich unerheblich ist; denn sie neutralisiert – wie es in der Inszenierung heißt – alles »dauernd mit Psychologie […] und mit Moral!« Seine Stuttgarter Arbeit reiht sich ein in jene Widerstandsakte, mit denen Pollesch das Theater der Personalisierung, des Dramas, immer schon konfrontiert. Doch gerade an dieser Inszenierung zeigen sich auch die Grenzen seines dekonstruktiven Einsatzes. »Liebling! Und vielleicht brauchen wir Guantánamo und noch eines und noch eines, damit wir das sehen, das Diff use an der Vereinigung von Körper und Seele und das Praktische an seiner Trennung!«, ruft Bürkle im aktualisierten Che-Guevara-Zitat an einer Stelle. Zwar verwendet Pollesch die Kritik der politischen Reduktion aufs Physische, wie sie etwa Giorgio Agamben oder mit anderer Akzentsetzung Judith Butler unternehmen;9 doch diese theoriepolitischen Interventionen werden bloß provokativ ins 7. Vgl. den deutschen Titel von Henry Hathaways The Desert Fox. The Story of Rommel (1951). 8. So wiederum der Titel von Florian Henckel von Donnersmarcks Oscarprämiertem IM-Drama (2006), das Pollesch schon in seiner Berliner Volksbühnen-Inszenierung L’affaire Martin! Occupe-toi de Sophie! Par la fenêtre, Caroline! Le mariage de Spengler. Christine est en avance exzessiv verwertet. 9. Vgl. Giorgio Agamben: Ausnahmezustand (Homo sacer II.1), Frankfurt a.M. 2004; Judith Butler: Precarious Life. The Powers of Mourning and Violence, London 2004.
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Spiel gebracht, um die Frage nach dem Verhältnis von Körper und Rolle im postdramatischen Theater zu stellen. Pollesch nimmt sozusagen einen Einstellungswechsel vor: »Aber die Trennung von Körper und Seele, die hatte doch eine Praxis, bei den Nazis und in Guantánamo, dass da zwei biologisch-menschliche Körper voreinander sitzen und einem von beiden wurden die Menschenrechte entzogen. Warum kümmern wir uns nicht um das Praktische dieser Trennung, sondern immer nur um das geheimnisvoll Diff use ihrer Vereinigung«, lässt er Bijan Zamani fragen. Pollesch übersetzt also gängige Theoretisierungen des Ausnahmezustands und der politischen Herstellung nackten Lebens in die Reflexion leibhaftiger Repräsentation, um im Zitat von 1977 den ›Ausnahmezustand des dramatischen Theaters‹ zu spiegeln. Im Interview mit Theater der Zeit betont Pollesch die Beschränkung auf die Reflexion szenischer Darstellung: Es ginge darum, gerade nicht zum »Dienstleister« 10 am Thema zu werden und den Betrieb zu bedienen, indem man mit wichtigtuerischem Gestus noch etwas aus der RAF herauszupressen versuche. Vielmehr müsse man als Künstler den eigenen Berührungspunkt mit dem Thema suchen. Von der Kritik einer bestimmten Darstellungsfunktion ausgehend, verweigert Liebe ist kälter als das Kapital, wie Pollesch die Schauspieler denn auch immer wieder sagen lässt, konsequenterweise das Zeigen des Polizeistaats durch die Kunst. In Anspielung auf einen neueren lokalen Zeitungsbericht über den Freigang Brigitte Mohnhaupts, die sich von einem Polizisten erst einmal vorführen lassen musste, wie ein Geldautomat funktioniert, meint Brey schließlich: »Frau Ullmann! Wir haben jetzt leider keinen Polizisten, der Ihnen zeigen kann, wie man diesen Automaten bedient … Obwohl das eigentlich die Szene gewesen wäre. Und das ist vielleicht eine Enttäuschung, weil man jetzt den Polizeistaat nicht mehr sehen kann. Und jetzt ist nicht der Polizist, sondern die Kunst zum Zeigen verdammt.«
In dieser ironisierenden Wendung bezüglich der Zeigefunktion ausführender Organe der Disziplinarmacht – Polizei und (dramatischer) Kunst – wird das politische Potenzial des Theaters in spezifischer Weise auf die 10. Frank Raddatz: »Der Selbstwiderstand fängt da an, wo du entdeckst,
dass du ein Befehl bist.‹ Interview mit René Pollesch«, in: Theater der Zeit, 10 (2007), S. 23. Als verweise er durch Müllers Hamletmaschine hindurch auf eine an Barthes anknüpfende Flaubert-Relektüre, erläutert Pollesch das schließlich so: »Jeder, der sagt, Hamlet bin ich, hat keinen Selbstwiderstand, denn er unterliegt einer Partitur. Erst der Schauspieler, der sagt: ›Ich will nicht Hamlet spielen, weil mich das nichts angeht!‹, der ist radikal.« (Ebd.)
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Formkritik und den reflexiven Entzug der personalen Darstellungsfunktion reduziert. Damit aber bedient Pollesch den Betrieb möglicherweise umso mehr als Dienstleister. Sein Prinzip der Darstellungskritik nämlich wird nicht ausschließlich eingesetzt, um die Arbitrarität und Mittelbarkeit des Dargestellten vorzuführen, sondern um die Kontingenz des gewählten Gegenstands zu behaupten; Formkritik und Material haben so verlinkt keine Reibungsfläche mehr. Was Pollesch durch diese Selbstbeschränkung verstellt, ist die Auseinandersetzung mit politischen Strukturen, staatlichen Interessen und jenen gespenstischen, potenziell außer Kontrolle geratenden Akteuren des Exekutivapparats, die im gängigen Umgang mit dem Phänomen RAF sowieso latent gehalten wird. Indem Polleschs Theater die Frage nach Stammheim im Zitat auf personalisierte Repräsentationsformen verengt, reproduziert es letztlich in negativer Fixierung das von ihm angegriffene Regelwerk dramatischer Darstellung. Dadurch bleibt Polleschs Inszenierung im vermeintlich radikalen, zugleich jedoch längst etablierten Gestus darstellungspolitischer Revolte gegen das Illusionstheater des Dramas und seines Fortlebens auf dem Bildschirm stecken.
Peymannbeschimpfung In anderer Weise als bei Pollesch wird auch in Peymannbeschimpfung – ein Training unter dem Label Rimini Protokoll die Verflüssigung der Grenze zwischen Realität und Fiktion auf der Bühne in längst bewährter Manier noch einmal vorgeführt. 11 Im Titel an Handkes Publikumsbeschimpfung von 1966 erinnernd, greift diese Produktion von Helgard Haug und Daniel Wetzel in einer dreigliedrigen Versuchsanordnung auf ›Alltagsexperten‹ zurück, um das Verhältnis von Stammheim und Stuttgarter Staatstheater auszuloten. Bezugspunkt ist der medienwirksam inszenierte Skandal um das Staatstheater von 1977: Claus Peymann wurde damals als Stuttgarter Intendant berühmt, weil er einen offenen Brief von Gudrun Ensslins Mutter, die um Unterstützung für eine Zahnbehandlung der RAF-Gefangenen bat, ans schwarze Brett des Theaters gehängt und selbst eine recht unbedeutende Spende beigesteuert hatte. Haug und Wetzel haben ihr Material aus vier Aktenordnern voller Briefe ausgewählt, die in Reaktion darauf an das Staatstheater geschickt wurden:
11. Stuttgarter Staatstheater, Premiere im Schauspielhaus am 22. September 2007; siehe hierzu www.rimini-protokoll.de/website/de/project_897.html, gesehen am 20. November 2008.
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Politische Zwischenspiele in Theater und Per formance
»An den Bluthund Peymann! Du Dreckschwein kommst als nächster dran. Vergasen sollte man Dich, am besten mit Chlor und Phosgen.«
Brief eines Mannes aus Karlsruhe am 7.9.77. Als Absender zeichnet, unleserlich, ein Doktor. »Die Pastorenmatratze Ilse Ensslin, die das Tier geboren hat, es heißt Gudrun, hat sich an Sie gewandt. Sie Rotverkommener, 10.000 Mark für solch ein Mistvieh zu sammeln, da muß man schon Sympathisant sein. Anstatt diesem Luder die Restzähne einzuschlagen… Sie wahrhaftes Scheusal … […] Lassen Sie sich die Sauhaare schneiden – oh mein Gott –, sonst werden Sie an diesem Gesinnungssymptom als Sauroter auf Anhieb erkannt… Sie gehören nach Asien, zu den Dschingis Khan!«
Brief eines Mannes mit Namen und Anschrift aus Chicago (peng, peng). »Wir Bürger wollen nicht, daß Sie bis zum 31.8.79 als Schauspieldirektor in Stuttgart bleiben. […] Sollten Sie, sehr geehrter Herr Peymann, bis 1979 in Stuttgart bleiben wollen, werde ich alle Theaterfreunde zum Boykott des kleinen Hauses aufrufen. […]«
Brief einer Frau mit Namen und Anschrift aus Ludwigsburg: Herrschaftsweg 31. Die Form der szenischen Präsentation dieser Briefe untersucht von Anfang an, wer da im Theater spricht. Auf einem Videoscreen sieht man Peymann die an ihn adressierten Beschimpfungen im Namen der Autoren lesen. Aus seinem Mund also werden sie in einer gespenstischen Installation nachträglich an die Zuschauer zurückgesendet und so augenzwinkernd in eine Art ›Publikumsbeschimpfung zweiter Ordnung‹ übersetzt. Die Einblendungen von ›Peymanns Geist‹ dirigiert auf der Bühne per Computer Rolf Otto, der Rüstmeister des Staatstheaters, den wiederum in späteren Auff ührungen der Inspizient Bernd Lindner vertritt. Ein weiterer Screen rechts daneben zeigt dann jeweils über Google Earth, also über das popularisierte Abfallprodukt neuerer Überwachungstechnologien, die damalige Adresse des Absenders an.12 Deutlich wird hier die Frage nach dem Ort der Rede, ihrer Mittelbarkeit und Zeitlichkeit im Theater gestellt und auf das leibhaftige Fingieren einer sprechenden Person bezogen.
12. Rimini Protokoll haben bereits 2002 im Rahmen von Theaterformen mit dem Einsatz von Google Earth experimentiert. Zur Frage neuer Überwachungstechnologien und dem Moment der Sichtbarkeit siehe Manfred Schneider: Panopticum im 21. Jahrhundert. Von Bentham zu Google Earth, 2008, http://blogs. mewi.unibas.ch/archiv/167, gesehen am 15. Juli 2008.
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Vor diesem Hintergrund tritt in Peymannbeschimpfung der Stammheimer Turnverein auf der leeren Bühne auf. Haug und Wetzel haben also Ortsansässige, Anwohner, als Experten des Stammheimer Alltags gecastet und als Parallelgesellschaft auf die Bühne zitiert. Dort lassen sie die Turner abwechselnd von ihrem Leben im Stuttgarter Vorort neben der Justizvollzugsanstalt erzählen und kollektiv, ein wenig ungelenk, ihre Übungen vorführen.13 Damit wird nun weniger gegenstandsbezogen Realität ins Theater eingetragen, wie manche Rimini Protokoll unterstellen. Authentizitätsfetischistische Phantasmen werden in Sachen Stammheimer Hochsicherheitstrakt allenfalls ironisch aufgerufen. Die Turner fungieren in Peymannbeschimpfung vielmehr als Verfremdungseffekte.14 Sie stellen das Theater um das Staatstheater und seinen vermeintlichen Stammheimbezug als Nebenschauplatz aus, indem sie es mit den Alltagsgeschichten von Ortsansässigen konfrontieren. Dieser Funktion als leibhafter Irrealitätseffekt entsprechend lassen Haug und Wetzel ein Mitglied des Turnvereins die »Regeln für Schauspieler«15 aus Handkes Publikumsbeschimpfung zitieren und dann im Modus der Publikumsansprache16 weiterspinnen: »Über innere Sicherheit im Gebiss nachdenken«, sagt Ursula Ernst aus der Yogagruppe durchs Mikroport, über »Ordnung im Mund den Zahnarzt fragen«. Im Zitat wird reflektiert, wie ihr Sprechen auf der Bühne des Staatstheaters das geregelte Verhältnis zwischen Schauspieler und Publikum durcheinander bringt.
13. Siehe Dirk Pilz’ Kritik daran, wie die Turner auf der Bühne ihrer Hilflosig-
keit überlassen werden (»Claus Peymann und die RAF-Zähne«, Berliner Zeitung vom 25.9.2007, www.rimini-protokoll.de/website/de/article_2577.html, gesehen am 15. Juli 2008). Dies im Unterschied zu Malzachers These von den Dramaturgien der Fürsorge; vgl. Florian Malzacher: »Dramaturgien der Fürsorge und der Verunsicherung. Die Geschichte von Rimini Protokoll«, in: Miriam Dreysse/Ders.: Rimini Protokoll. Experten des Alltags. Das Theater von Rimini Protokoll, Berlin 2007, S. 14-43. 14. Vgl. Daniel Wetzel über Alltagsexperten als »eine Art personifizierter V-Effekt« (Frank Raddatz: »Das Theater ist nicht die Dienerin der Dichtung, sondern der Gesellschaft. Rimini Protokoll (Helgard Haug und Daniel Wetzel) über den Laien als Experten und Verfremdungseffekt«, in: Ders.: Brecht frißt Brecht. Neues Episches Theater im 21. Jahrhundert, Leipzig 2007, S. 214-224, hier 219). 15. Siehe Peter Handke: »Publikumsbeschimpfung«, in: ders.: Publikumsbeschimpfung und andere Sprechstücke, Frankfurt a.M. 1966, S. 5-48, hier S. 9-10. 16. Vgl. Jens Roselt: »In Erscheinung treten. Zur Darstellungspraxis des Sich-Zeigens«, in: Miriam Dreysse/Florian Malzacher, Rimini Protokoll, S. 46-63.
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Ans viel gescholtene ›Unterschichtsfernsehen‹ und seine Castingshows anknüpfend, haben Rimini Protokoll – das ist ihr Einsatz – das Verhältnis von Realität und Fiktion fürs Theater von Anfang an neu ausgelotet. Über alle möglichen Produktionen wurde dieser Einsatz inzwischen flächendeckend platziert. Ausgangspunkt ist jeweils die Präsentation alltäglicher Biografien. Die Art und Weise der Vorstellung zitiert – in Peymannbeschimpfung wortgetreu – das Präsentationsformat der RTL-Castingshow Deutschland sucht den Superstar mit Dieter Bohlen, dessen eitle Auftrittsform der Peymanns verwandt sein mag. Haug und Wetzel spielen mit biografischen Simulationen, deren Mechanismen bereits im Fernsehen durch den dort ausgestellten Selbstdarstellungsmodus offenbar werden. Schon in Deutschland sucht den Superstar nämlich ist der Auftritt vermeintlich authentischer Personen in Anführungszeichen gesetzt.17 Inwiefern bleiben Rimini Protokoll in Peymannbeschimpfung und anderen Produktionen den modernisierten Formaten personalisierter Darstellung mithin einfach verhaftet? In ihrer Stuttgarter Versuchsanordnung geht es um Standortbestimmungen: um die Relation von Alltagsleben, medialer Inszenierung des vermeintlich Politischen in personalisierter Form, wie sie vom Theater- als PR-Betrieb reproduziert wird, und um das Nachleben nationalsozialistischer Ideologeme, das in den zitierten Briefen zutage tritt. Die ›hinterszenischen‹ Praxen eines seit Stammheim ausgebauten Ermittlungsapparats werden allenfalls über den Einsatz von Google Earth angedeutet. Ansonsten bleibt Peymannbeschimpfung, darin Liebe ist kälter als das Kapital vergleichbar, in der Nabelschau der eigenen Apparatur befangen. Überspitzt formuliert machen Rimini Protokoll – wie Pollesch – in Stuttgart letztlich entspanntes Wohlfühltheater für ein TV-geschultes Publikum, das das bildungsbürgerlich besetzte Dramenformat langweilt und das sich lieber über die reflexive Transposition von Fernsehformaten auf die Bühne amüsiert als sich eine konventionelle Hamlet-Adaption nach der anderen anzusehen. Verstörend sind an Peymannbeschimpfung vielleicht die zitierten Briefe; doch deren Schreibweise zeugt nur mehr von einer inzwischen fast ausgestorbenen Spezies, die mit unserer politischen Gegenwart, auch mit den real existierenden Neonazis und deren Aktionsformen, kaum noch etwas zu tun hat. Liest man die Projektwochen Endstation Stammheim hingegen als Versuch, vom Theater als einem Verlautbarungs- und öffentlichen Verhandlungsraum aus zu fragen, inwiefern uns die politische Zäsur 17. Siehe unter anderem Mit Blick auf Rimini Protokoll Alexander Karschnia: »THEATeRReALITÄT. REALITY CHECK ON STAGE: Wirklichkeitsforschungen im zeitgenössischen Theater«, in: Kathrin Tiedemann/Frank Raddatz (Hg.): Reality Strikes Back, S. 146-159, hier besonders S. 152-153.
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von 1977 heute betriff t, so tragen weder Rimini Protokoll noch Pollesch viel dazu bei.
Vorsicht Schusswaf fen! Anders verhält sich das mit einer kleinen Regiearbeit, die innerhalb von drei Wochen für die Stuttgarter Hinterbühne produziert und insgesamt nur viermal gezeigt wurde. Geht man den ästhetischen Transformationen szenischer Darstellung in den letzten Jahren nach, kommt Hans-Werner Kroesingers neodokumentarisches Theater im Vergleich mit Pollesch und Rimini Protokoll eher traditionalistisch daher. Einsatz seiner Arbeiten ist es, von dürrem Aktenmaterial zum Sprechen auf der Bühne zu kommen und das Politische dieses Materials über seine szenische Präsentation verhandelbar zu machen. In Vorsicht Schusswaffen! hat Kroesinger mit seinem Stuttgarter Dramaturgen Christian Holtzhauer, Annekathrin Fischer und den Schauspielern die wieder entdeckten Tonbänder samt den zugehörigen Stammheimer Prozessakten durchgearbeitet. 18 Daraus wurde eine Spielfassung erstellt, die der damaligen Auff ührung im Gerichtssaal nachträglich den Prozess macht. Zunächst kann man die flimmernden, an alte Familienaufnahmen erinnernden Bilder von Testfilmen auf dem eisernen Vorhang betrachten, die mit den ersten Überwachungskameras der Stammheimer Polizei gedreht wurden: In einem verlängerten Loop fährt ein kleines Kind auf einem Rad durch eine ansonsten abgeriegelte Straße neben der Justizvollzugsanstalt; dann sieht man eine Skizze, auf der jemand mit einem Zeigestock auf die einzelnen Gebäude deutet. Interessant daran ist die räumliche Nähe des damals eigens erbauten Gerichtssaals zur JVA und damit zum Exekutivapparat. So deutet das Filmmaterial auf das voraus, was im Prozess und schließlich 1977 an Nachrichtensperre und Aussetzung der parlamentarischen Kontrolle durch den Krisenstab offenbar wird: wie schnell sich das Regelwerk des Rechtsstaats durch eine Politik der Maßnahmen außer Kraft setzen und dann nachträglich juristisch legitimieren lässt. Erst nach dem aus den 70er Jahren stammendem Film, der heute 18. Stuttgarter Staatstheater, Premiere im Schauspielhaus am 11. Oktober 2007. Mit der bundesdeutschen Justizgeschichte und der Sonderbehandlung von RAF-Gefangenen hat sich Kroesinger bereits seit Jahren beschäftigt; u.a. in Die Waffe Mensch – 9. November 1999 an der Berliner Volksbühne, einer Veranstaltung zum Todestag von Holger Meins. Siehe hierzu Initiative Libertad!: »›Die Widersprüche sind nach wie vor da‹. Interview mit dem Regisseur Hans-Werner Kroesinger über Geschichtsarbeit und RAF im Theater«, in: So oder So. Die Libertad!Zeitung Nr. 5, Januar 2000, S. 5.
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zugleich fremd und vertraut wirkt, wird der Prozess wie eine Art Zeremonie vor einem laufenden Tonband aufgeführt. Kroesinger reduziert die Präsentation der Prozessakten auf das Geplänkel zwischen Gericht, Bundesanwaltschaft und Verteidigung. Eine Stärke seiner Inszenierung – in diesem Punkt den Produktionen von Pollesch und Rimini Protokoll durchaus verwandt – besteht gerade im Verzicht darauf, den RAF-Gefangenen eine Stimme zu verleihen.19 Vorsicht Schusswaffen! aber schlägt eine gänzlich andere Perspektive als die beiden genannten Inszenierungen vor. Kroesinger konzentriert sich auf die Frage nach der Selbstauflösung des Rechtsstaats, deren Möglichkeit an der Stammheimer Prozessführung zu Tage trat. Dreh- und Angelpunkt der zitierten Rededuelle zwischen dem Vorsitzenden Richter Theodor Prinzing, der später wegen Befangenheit seinen Stuhl räumen musste, und der blasierten Selbstinszenierung von Rechtsanwalt Otto Schily ist die Aussetzung geltenden Rechts im laufenden Verfahren. Wie in einem brechtschen Lehrstück bringen Boris Burgstaller, Katharina Ortmayr, Elmar Roloff, Mandy Rudski und Peter Sikorski den Kampf um die Voraussetzungen eines ›Rechtsgesprächs‹ zur Sprache. Immer wieder die Position und Rolle versuchsweise wechselnd, zitieren sie die konträren Haltungen der beteiligten Juristen hinter den eisernen Vorhang. Referierend stellen die Schauspieler die Vorgänge wie in einer Art Mannschaftssport gemeinsam heraus. So wird die Distanz zur Rolle vergleichsweise einfach markiert. Wenn Kroesinger die Akten in dieser Weise auf der Bühne präsentieren lässt, geht es im Unterschied zum traditionellen dokumentarischen Theater nicht um den Anspruch, uns mit einer »absoluten […] Wirklichkeit«20 zu konfrontieren. Stattdessen wird beispielsweise das eingangs verwendete Filmmaterial als V-Effekt eingesetzt, um die Mittelbarkeit des szenisch Dargestellten auszustellen. Und anders als 1968 von Peter Weiß gefordert, wird hier auch nicht der Versuch unternommen, das »Abbild«21 von einem aus der lebendigen Kontinuität herausgerissenen Stück Wirklichkeit zu liefern und auf der Bühne eindeutig Stellung zu beziehen. Vorsicht Schusswaffen! faltet vielmehr in einer relativ schlichten Anordnung, die das Dar19. Das unterscheidet alle drei Produktionen vom personalisierenden Eintheatern der RAF, wie sie beispielsweise Christian Hockenbrincks Umschluss im Rahmen der Projektwochen unternimmt (Staatstheater Stuttgart, Premiere im Schauspielhaus am 22. September 2007). 20. So Piscator 1929 (Erwin Piscator: »Das dokumentarische Theater«, in: Manfred Brauneck (Hg.), Theater im 20. Jahrhundert. Programmschriften, Stilperioden, Reformmodelle, Reinbek bei Hamburg 1982, S. 265-270, hier S. 269). 21. Peter Weiß: »Notizen zum dokumentarischen Theater«, in: Manfred Brauneck (Hg.), Theater im 20. Jahrhundert, S. 293-300, hier S. 296.
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stellungsmoment doch permanent erinnerbar hält, das Aktenmaterial szenisch auf. Die Inszenierung konzentriert sich auf ihren Gegenstand; und dieser ist nicht das Theater um den Trivialmythos RAF. Zitiert wird die Änderung der Strafprozessordnung im laufenden Verfahren, die 1975 schließlich erstmals in der bundesdeutschen Justizgeschichte zum Ausschluss von Angeklagten aus einem Prozess führte und auf die Bankrotterklärung demokratischer Prinzipien vorausdeutete.22 In Vorsicht Schusswaffen! werden die Akten, die von heute aus nach der potenziellen Selbstdemontage des Rechtsstaats fragen lassen, am Ende wie in einer Echoinstallation mit Kafkas Parabel vom Geier verschränkt.23 Vom leeren Zuschauerraum aus sprechen die Schauspieler am Ende, weit entfernt vom Publikum unter dem Bundesadler sitzend, den Bericht über jenen Geier, der im Blut seines von ihm erzählenden Opfers untergeht. So wird jener Prozess, dessen Verlauf die Eskalation des deutschen Herbstes einläutete, in eine Konstellation gebracht, die das Theater im besten Sinn wieder zum öffentlichen Verhandlungsraum macht. Kroesinger setzt an jenem Trauerspiel bundesdeutscher Justizgeschichte an, das vor dem Hintergrund des heute globalisierten war on terror Aktualität erhält. Denn die damalige Maßnahmenpolitik, seit den späteren 70er Jahren nachträglich in Rechtsform gegossen, lebt in den heutigen Anti-Terrorgesetzen und Ermittlungsparagrafen als Präventivschlagslogik fort. Die Bedingung der Möglichkeit für die Ausdehnung überwachungsstaatlicher Bedürfnisse im Namen der inneren Sicherheit wurde, darauf weist Kroesingers Umgang mit seinem Material hin, im Rahmen des Stammheimer Verfahrens allmählich geschaffen und nach dem 11. September 2001 weiter ausgebaut. Inzwischen ließ selbst der ehemalige Innenminister Gerhard Baum verlauten, der Ausnahmezustand sei auch hierzulande zur Regel geworden.24 Die Herstellung von Gegenwartsbezügen bleibt in Vorsicht Schusswaffen! allerdings der Rezeption überlassen. Kroesingers Inszenierung nimmt die verwendeten Akten ernst und überantwortet die Bezugnahme auf unse22. Siehe mit Blick auf die Zäsur in der bundesdeutschen Rechtsgeschichte der 1970er Jahre bereits Erwin-Wolfgang Böckenförde: »Der verdrängte Ausnahmezustand. Zum Handeln der Staatsgewalt in außergewöhnlichen Lagen«, in: Neue Juristische Wochenschrift 38 (1978), S. 1881-1890. 23. Vgl. Franz Kafka: »Der Geier«, in: ders.: Sämtliche Erzählungen, hg. von Paul Raabe, Frankfurt a.M. 1970, S. 318-319. 24. »Seit den RAF-Gesetzen gibt es eine schleichende Erosion unserer Grundrechte, verstärkt seit dem 11. September 2001. Der Ausnahmezustand wurde zur Regel«, so der Befund des früheren Innenministers Gerhard Baum (»Wir haben aus der RAF das Falsche gelernt«. Gerhard Baum im Gespräch mit Stefan Reinecke, die tageszeitung vom 23.2.2007).
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re politischen Verhältnisse dem Publikum. Möglich ist dies, weil Vorsicht Schusswaffen! die Reflexion der Darstellungsmittel nicht als Selbstzweck behandelt. Anstatt sich in immer gleicher Weise den vermeintlichen Hyperkomplexitäten postdramatischer Spielmöglichkeiten zu ergeben, sich auf die Kritik personalisierter Darstellung zu beschränken und es sich politisch bequem zu machen, wird hier gerade der Abgrund zwischen Kunst und Politik bespielt. In Stuttgart löste Vorsicht Schusswaffen! schließlich ganz unspektakulär und auf traditionelle Weise das erklärte Programm von Rimini Protokoll ein: das Publikum zum Sprechen zu bringen. Nach einer Auff ührung wurde im Zuschauergespräch heftigst gestritten. Der darstellungspolitische Einsatz gegen authentifizierende Personalisierungen ist längst im Stadt- wie Staatstheater angekommen. Diese ästhetische Transformation greift nicht zuletzt auf gängige Film- und Fernsehformate zurück. Auch in harmlosen Blockbustern à la Matrix, in Casting- und Big-Brother-Shows werden das Regelwerk dramatischer Darstellung und die klare Trennung von Realität und Fiktion reflexiv durchbuchstabiert. Das heißt keineswegs, dass der auf der Bühne inszenierte ›Ausnahmezustand dramatischer Darstellung‹ nun ausgerechnet deshalb problematisch sei. Postdramatisches Theater aber trägt vielleicht dort zur Entpolitisierung bei, wo es sich in der Kritik personaler Darstellungsformen behaglich einrichtet und der radikalen Ausblendung etwa der politisch-juridischen Apparatur und ihrer jeweiligen gesellschaftlichen, historischen Bedingungen in den zitierten TV-Formaten folgt.
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Roselt, Jens: »In Erscheinung treten. Zur Darstellungspraxis des Sich-Zeigens«, in: Miriam Dreysse/Florian Malzacher (Hg.), Rimini Protokoll. Experten des Alltags. Das Theater von Rimini Protokoll, Berlin 2007, S. 46-63. Schmitt, Carl: Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924-1954. Materialien zu einer Verfassungslehre, Berlin 1958. Streiter, Anja: Das unmögliche Leben. John Cassavetes, Berlin 1995. Weiß, Peter: »Notizen zum dokumentarischen Theater«, in: Manfred Brauneck (Hg.), Theater im 20. Jahrhundert. Programmschriften, Stilperioden, Reformmodelle, Reinbek bei Hamburg 1982, S. 293-300.
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Synästhetisches Gehen. Eine Köln-Er fahrung mit matthaei & konsor ten Jan Linders Gehen bedeutet, den Ort zu verfehlen. Es ist der unendliche Prozess, abwesend zu sein und nach einem Eigenen zu suchen. Das Herumirren, das die Stadt vervielfacht und verstärkt, macht daraus eine ungeheure gesellschaftliche Erfahrung des Fehlens eines Ortes.1 Michel de Certeau
Brüsseler Platz Ein kalter Novembernachmittag im Szenecafé ›Hallmackenreuther‹ im Belgischen Viertel von Köln. Drinnen mischen sich Festivalbesucher mit Stammgästen des Lokals im Original 60er Jahre Look, draußen stehen Raucher, darunter drei Vorstellungsteilnehmer, die darauf warten, dass sie zum Stadtrundgang KURZ NACHDEM ICH TOT WAR von häusern und menschen abgeholt werden, ein Auftragswerk des Festivals »Politik im Freien Theater 2008« der Bundeszentrale für politische Bildung an die Berliner Gruppe »matthaei & konsorten«2. Wir drei erkennen einander an großen Patchwork-Kletten, einer Art Buckeln oder Warzen, die wir als An1. Michel de Certeau: Kunst des Handelns (1980), übersetzt von Ronald
Voullié, Berlin 1988, S. 197. Zitiert nach: Patrick Primavesi: »Zuschauer in Bewegung – Randgänge theatraler Praxis«, in: Jan Deck, Angela Sieburg (Hg.): Paradoxien des Zuschauens. Bielefeld 2008, S. 100. 2. Weitere Informationen zur Gruppe auf deren Website www.matthaei-und-konsorten.de. Die Produktion wurde im Dezember 2008 mit dem Kölner »Kurt-Hackenberg-Preis 2008 für politisches Theater« ausgezeichnet.
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hänger zu tragen gebeten sind. Sie sind nicht schön, aber auch nicht peinlich wie Anstecker mit eindeutigen Sprüchen oder Bildern; also spielen wir mit. Schließlich müssen wir auch für die Darsteller erkennbar sein, die uns wohl im Laufe des Abends erwarten. Wir Weggenossen des Zufalls kommen ins Gespräch, über das Festival, politisches und dokumentarisches Theater allgemein, die Schwierigkeiten von inszenierten Stadtrundgängen. Die Wartezeit wird länger, wir schauen immer wieder auf die Straße und den Platz, um den Performer zu entdecken, der uns abholen soll. Ist es der Radfahrer, der hinter der neoromanischen Kirche erscheint? Oder der alte Herr am Stock weit hinten an der Straßenecke? Der Taxifahrer, der aus dem Imbiss kommt? Oder die junge Frau mit dem Kinderwagen? Exemplarisch ließ sich dieser Effekt der Autotheatralisierung des Gesichtsfeldes in Matthias Lilienthals X-Wohnungen (Theater der Welt, Duisburg 2002, seitdem öfter in Berliner Stadtteilen und in Istanbul) erleben. Dort wird man allerdings nicht abgeholt oder geführt, sondern bekommt lediglich ein Programmblatt mit Adressen in die Hand und muss sich seinen Weg selber suchen bzw. erfragen; auch gibt es keine Soundcollagen, die die Wege zwischen den von verschiedenen Künstlern inszenierten Wohnungen in zeitverschobene Filme verwandeln – dazu später mehr. Natürlich hat unsere Vorstellung in Köln von Köln längst begonnen – drei einander unbekannte Zuschauer in Erwartung von Theater sind genug, um die gesamte Situation als möglicherweise inszenierte erscheinen zu lassen, auch wenn die Verspätung im Ablauf gar nicht geplant ist. Plötzlich kommen zwei Mädchen im Laufschritt auf uns zu, stupsen uns kurz an: »Kommen Sie mit!«. Die beiden gehen schnell vor uns her und ziehen munter plappernd über ihre Freundinnen und Freunde her, aus den armen und reichen Vierteln Kölns.
Antwerpener Straße Schließlich gelangen wir in ein altes Schulgebäude, gehen Treppen hoch zu einer »Umkleide für Knaben«, werden aufgefordert, die Schuhe auszuziehen: Üblicher Brauch in einer Turnhalle, aber für Theaterzuschauer ein unüblicher Akt der Grenzüberschreitung. In der Turnhalle können wir uns auf eine Bank setzen und bekommen jeder einen Kopf hörer und einen mp3-Player, den wir synchron starten. Während ein Dutzend Kinder vor uns, aber nicht für uns klassische Kinderspiele spielt, darunter »Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?«, hören wir Erinnerungen aus dem historischen Köln irgendwann im letzten Jahrhundert. Kinder erzählen in kölscher Diktion aus ihrer Familie, genauer, sie sprechen die Tonaufnahmen 425
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von verschiedenen Zeitzeugen-Erinnerungen an ihre Kindheit nach, zu erkennen an Wiederholungen und Ellipsen: Bei einer Bäckerfamilie gab es gestern den ersten Eintopfsonntag, die Anwaltfamilie will an den Stadtrand ziehen, und die Lehrerfamilie musste ihr Haus am Rathenauplatz verlassen und in eine schlechtere Gegend ziehen. In dieser akustischen Re-Inszenierung überlagern sich also drei statt der üblichen zwei Zeitebenen, die des erinnerten Geschehens, die des Augenblicks der Erinnerung und, im Nachsprechen kenntlich gemacht, derjenige der (künstlerischen) Bearbeitung. Hinzu kommt noch die Gegenwart der Wahrnehmung, die sprechenden Kinder, die wir hören, sind wahrscheinlich die spielenden Kinder, die wir sehen, also doppelte Doubles der mittlerweile erwachsenen Zeitzeugen. Als Schlusspunkt gibt es noch eine Originalaufnahme eines dadaistischen Prosatextes über Glocken, Kanonen und hungrige Mäuler; er könnte vom Wahlkölner Hans Arp sein. Wir wissen noch nicht, dass wir auf die Spur der Geschichten dieser Familien durch Köln geschickt werden, aus den 30er Jahren in die nahe Zukunft; dass die Darsteller von Station zu Station immer älter werden; dass manche von ihnen Laien sind, manche professionelle Performer, manche Zeitzeugen; dass aber keiner sich selber spielt, sondern ältere Zeitzeugen doubelt. Natürlich stellt gerade in diesen episch-dokumentarischen Formaten jeder auch sich selber dar, jeder ist sein eigener Zeitzeuge, ein lebendiges, nicht objektivierbares Dokument seiner selbst. Diese Aufgabe der Darstellung im doppelten Sinne wird den ganzen Abend über mitlaufen. Nach etwa zehn Minuten endet die Tonspur, die Kinder laufen aus der Turnhalle, ein Mädchen von vorhin schickt uns zurück in die Umkleide. Wir ziehen die Schuhe wieder an und stellen uns vor das Schultor. Auf der Straße kaum ein Mensch bis auf eine junge Frau mit Mountainbike, die offensichtlich rauchend auf jemanden wartet. Wir werden bestimmt abgeholt – und versuchen derweil, uns die erste Szene zusammenzureimen. Einer von uns ist Kölner und weiß ein wenig mehr über das Belgische Viertel.
Neumarkt Die Frau mit Bike gehört doch zur Inszenierung. Als sie ihre Zigarette aufgeraucht hat, kommt sie auf uns zu und bedeutet uns, unsere die Ohren umschließenden Kopfhörer wieder aufzusetzen. Während sie uns, ihr Fahrrad schiebend, über die breite Schneise des Hohenzollernrings führt und dabei rätselhaft stumm bleibt, spielt eine zwanzigminütige Toncollage. Diesmal hören wir die Originalstimmen von Zeitzeugen, vielleicht von den ehemaligen Kindern aus der Turnhalle; sie erzählen vom Alltag in den 40er Jahren, von Untaten der Nationalsozialisten, an den sie aber jeweils 426
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nicht aktiv beteiligt waren, sondern als bloße Beobachter. Unfreiwillig thematisieren die heute alten Menschen auch die bewusste oder unbewusste Filterung von Erinnerungen, bis hin zur Legende, Hitler habe die Stadt nie betreten. Ein Zeitzeuge erinnert sich aber an Fotos, die das Gegenteil belegen: dem Führer zujubelnde Massen. Physikalisch fi xierte Bilder sind, zumal in der Agfa-Stadt Köln, dann doch noch wirklicher als durch das Wieder- und Weitererzählen fi xierte Erinnerungen. Tenor aller Erinnerungen ist das kölnische Sprichwort: »Es ist noch einmal jut gegangen«; also die Moral von Erinnerungen, die erst mit erträglichem Ende erzählbar werden. Kleiner Exkurs mitten im Gang durch die Geschichte der Inszenierung: Auch wenn der Begriff »Mitläufer« auf der Tonspur nicht fällt – so meine Erinnerung als Mitläufer des inszenierten Rundgangs, der zumindest im Theater das macht, was ihm gesagt wird –, gehören die Zeitzeugen zu eben dieser Einstufungskategorie der Entnazifizierung. Diese schreibt also die Selbststilisierung der Nazis als »Bewegung« fort, wo sie doch vorgibt, für ihr Verschwinden zu sorgen. Zurück zum Rundgang: Die reale, gegenwärtige Stadt im Blickfeld verwandelt sich durch die Tonspur in Szenen, und diese wirken historisch, nicht nur, weil der Sound offenbar vorproduziert ist und mit Tondokumenten arbeitet. Die Entkopplung der Wahrnehmungen von Auge und Ohr führen zu einer surrealen Synästhesie: Der akustische eröff nete, uns begleitende Raum wirkt näher, unmittelbarer, gegenwärtiger; die vorbeiziehende Stadt erscheint immer schon vom Verschwinden tangiert, als Futur zwei. Der Zeitungsaushang von heute wird schon morgen für immer Vergangenheit sein; die Warenauslage, das Werbeplakat, der Lieferwagen, die Passanten: Sie alle sind im Moment ihrer Wahrnehmung schon Erinnerung. Kein Mensch wird die Stadt je wieder so sehen. Die akustische Geschichte dagegen ist Dokument, ist wiederholbar, ist eine vielfach gesicherte und gespeicherte mp3. MP steht übrigens kurz für MPEG = Motion Picture Experts Group – die Tonkompression ist also technikgeschichtlich an die Kompression von laufenden Bildern gekoppelt. Die jüngere Geschichte von Theaterprojekten im Stadtraum ist voll von Arbeiten gerade im akustischen Feld: System Kirchner hieß in Frankfurt im Jahr 2000 die maßstabsetzende Arbeit von Bernd Ernst und Stefan Kaegi (Hygiene Heute), in der jeweils ein Zuschauer durch einen Sprecher außer Atem durch die Stadt gehetzt wurde, mit einfachen, nicht abschließenden Kopfhörern. In Call Cutta (Berlin 2005) arbeitete Rimini Protokoll mit einer live aus einem Call-Center in Indien zugeschalteten Stimme am Mobiltelefon. Ein Ohr blieb also frei; die akustische Aufmerksamkeit wurde geteilt. Das Straßenbahn-Projekt Müller fährt von Gesine Danckwart am Nationaltheater Mannheim 2007 verwendete geschlossene Kopfhörer für 427
Zwischenspiele: Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume
größere Gruppen von Zuschauern/Zuhörern mit einem als solchen gekennzeichneten Führer. matthaei & konsorten experimentierte u.a. bei Vom richtigen Leben 1 in Düsseldorf 2006 und bei Unterm Radar (Theater der Welt 2008 auf dem Flughafen Leipzig-Halle) mit Funk-Kopf hörern, in denen sich nahe von Sendestationen der Soundtrack wie von Geisterhand einschaltete. Die Hamburger Gruppe LIGNA arbeitet mit Radioempfängern, die größere Menschengruppen via lokalem Veranstaltungsrundfunk zu Radioballetten synchronisieren, z.B. bei der Demonstrations-Performance Das Unbewusste der Sterne (Berlin 2008 im Rahmen des Kongresses »Prognosen über Bewegungen«). Am Neumarkt endet die Tonspur dieses Zwischenspiels; die Radfahrerin schickt uns in ein Bürohaus, wo wir bei »Rücker« klingeln sollen. Sie steckt sich ihre Kopfhörer ins Ohr und radelt musikhörend zurück ins Belgische Viertel, wohl um die nächste Gruppe abzuholen. Wir gehen über den belebten Platz zum Bürohaus, das wie eine der nachkriegsmodernen Wiederauf bauten wirkt. Der erst im Nachhinein ausgeteilte Abendzettel eröffnet uns eine weitere Bedeutungsebene: Das Haus wurde schon Mitte der 30er Jahre entworfen und gebaut von Wilhelm Riphahn, dem großen Architekten der Nachkriegszeit: Oper, Schauspielhaus und viele weitere bedeutende Bauten stammen von ihm. Die viel gescholtene Moderne war also keine Entgegnung auf die Zerstörung der städtebaulichen Gemütlichkeit durch den Zweiten Weltkrieg, sondern neben dem mittelalterlichen Grundriss eine die Stadt zusammenhaltende Kontinuität. Als wir klingeln, kommt uns unsere Vorgänger-Gruppe entgegen; wir sind also richtig – in der Inszenierung. Durch die Sprechanlage (ein weiterer Sound der Stadt) werden wir in den dritten Stock gebeten und landen in einer leerstehenden Anwaltspraxis, ausgestattet mit Möbeln aus Wellpappe. Wir werden von sechs jungen Frauen empfangen, die uns drei Männer untereinander aufteilen und in drei verschiedene Räume führen. Die Spielsituation wird also intimer, unangenehmer. Wir müssen mitspielen; zunächst müssen wir Zeitzeugen-Erinnerungen aus den 40er Jahren vorlesen, leihen der Erinnerung also unsere Stimme, hören uns selber zu; davon ausgehend werden wir von den jungen Frauen nach unserer rechten Gesinnung befragt: Was wir für den Staat zu tun bereit sind, was wir beobachtet haben, wie wir zu den »anderen« stehen. Historische Fakten, die die Spielszene eindeutig zur Zeit des Nationalsozialismus verorten würden, umspielen die jungen Frauen. Deutsche Zuschauer sind keine Spielverderber, und so beantworten wir brav die Fragen, als wären wir Figuren der Fiktionsebene und nicht mehr bloße Beobachter. Anders würde das Spiel nicht funktionieren; damit verfangen wir uns zum wiederholten Male in der Inszenierung. Dass dieses Spiel nicht beliebig ist, erfahren wir, als unsere Antworten gewertet werden; ich bekomme statt eines grünen einen 428
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schwarzen Punkt, weil meine letzte Antwort meine Befragerin hat stutzen lassen. Einer meiner Mitwanderer hat einen roten Punkt angesteckt bekommen, weil er sich einigen Fragen verweigert hat. Er hat das Spiel aber überlistet und sich in einem unbeobachteten Moment Punkte in allen Farben besorgt, die er nun auch uns anbietet – sicher ist sicher.
Große Telegraphenstraße Wir werden aus der unheimlichen Praxis entlassen und haben auf der Straße Zeit, unsere Einzel-Erfahrungen zu kommunizieren. Die Zeitschiene, auf die wir gesetzt sind, ist nun klar erkennbar. Während wir ganz brav und mittlerweile schon routiniert auf den nächsten Führer warten, hat der Kölner noch Zeit, uns die Spuren des Zweiten Weltkriegs am Neumarkt und darüber hinaus zu erklären. Dass die Stadt zu 90 % zerstört war und man vom Neumarkt 1945 bis zum Westerwald schauen konnte, wussten wir nicht. Nach diesem – nicht inszenierten – Gespräch wird die Architektur des Wiederauf baus auf dem mittelalterlichen Stadtgrundriss nun viel klarer lesbar. Ein Student holt uns ab, bringt uns ins nächste Viertel und verwickelt uns in eine Plauderei: Er will uns zu einer Studentenparty mitnehmen. Auf einer Kreuzung übernimmt eine Studentin und bringt uns zu »Werner«, der uns in seiner Wohnung in einem geschwungenen 50er-Jahre-Haus empfängt. Wir helfen ihm dabei, Wurstsalat mit Mohrrüben für die Party vorzubereiten – nun sind alle unsere Sinne ins Spiel einbezogen. Dabei erzählt er uns von der tollen Studentenzeit in der Gegenwart der 50er Jahre. Alle Träume scheinen auf einmal möglich: eine unbeschwerte Liebe, Spaß im Studium, ein guter Beruf, eine eigene Wohnung mit der Freundin, eine Familiengründung im Wohlstand – und jede Menge aufregende, neue Musik: Jazz und Rock’n’Roll around the Clock, auch wenn die Eltern das nicht mögen. »Werner« spielt seine Rolle gut, fast zu routiniert; auch wenn er, wie ich dem Programmzettel entnehme, ein echter Student ist, erkenne ich ihn doch als Performer Max Pross der spektakulären Produktionen von Signa Sørensen wieder, mit dem ich intensiv interagiert habe, als Insasse der Niemandsland-Stadt Ruby Town am Schauspiel Köln und als Irren im Dorine Chaikin Institute im Berliner Ballhaus Ost. Seine drei fi ktiven Biographien überlagern sich für mich, doch will ich kein Spielverderber sein und ihn nach seinen Zwillingsfiguren fragen. Die Wohnung hat noch den Grundriss der 50er Jahre, aber ist von seinen derzeitigen Bewohnern neu eingerichtet, augenscheinlich privat und nicht dekoriert, nur dass im eigentlich anachronistischen Fernseher ausgerechnet Die Sünderin mit Hildegard Knef läuft, dürfte kein Zufall sein. 429
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Poststraße Wir werden aus der Wohnung geschickt und unten wieder einmal abgeholt; diesmal ist es ein Mann mit Fahrrad, der uns in die nächste Zeitschicht bringt, während wir wieder eine Tonspur hören, diesmal einen vielleicht aufgrund von Zeitzeugen-Aussagen konstruierten Dialog zwischen einem Mann und einer Frau. Sie erzählt von den Schwierigkeiten, als Frau Jura zu studieren und wie sie dann, als sie schwanger wird, das Studium doch aufgeben muss. Er berichtet über das katholische Nachkriegsköln, wo man als Gymnasiallehrer noch an der Fronleichnams-Prozession eine tragende Rolle spielte und wo die Nonnen im Krankenhaus den Mann hinters Licht führten und ihm verunmöglichten, bei der Geburt dabei zu sein. Es ist also gut vorstellbar, dass man »Werner« und »Ingeborg« hört, die nun aus heutiger Perspektive rückblickend von ihren jungen Jahren berichten und wie es mit ihnen weiterging. Es ist dunkel und kalt geworden, doch aus dem »Kiosk met Hätz« strömt auch am Sonntagabend noch Wärme und Licht. Zwei linke Politaktivisten mit Lederjacke empfangen uns und verwickeln uns in ein Gespräch, das hier Anfang der 70er Jahre genau so stattgefunden haben könnte. Die Studentenbewegung hat zu einem Wechsel in der Regierung geführt, Willy Brandt ist Bundeskanzler, aber nicht sozial genug. In der Schokoladenfabrik Stollwerk ist aus Protest wieder ein Arbeitskampf geplant, gesucht sind noch Flugblatt-Verteiler und, so stellt sich nach kurzem, vertraulichem Gespräch heraus, neue Mitglieder bei der DKP. Ich werde draußen überredet, einen Mitgliedsantrag mitzunehmen und auszufüllen, während ein politischer Flüchtling aus Chile versucht, drinnen im Kiosk meine Mitzuschauer zu politisieren. Zusammen skandieren wir noch ein chilenisches Kampflied. So verlassen wir den Kiosk, diese typisch rheinländische Nahtstelle von öffentlichem und privatem Raum, von Wirtschaft und Kommunikation, in dem man Erinnerungen und Vergessen kaufen kann, Zeitschriften und Alkohol.
Kar täuser Wall In seinem Aufsatz über »Zuschauer in Bewegung – Randgänge theatraler Praxis« beschreibt und analysiert Patrick Primavesi diverse Formen inszenierter Wanderungen und Fahrten: »Solche Rundgänge durch Stadtlandschaften machen nicht zuletzt eine Überlagerung von historischen Schichten und konträren Nutzungsweisen sichtbar, die in der offiziellen Selbstdarstellung und Vermarktung öffentlicher Räume gar
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nicht vorkommt. […] An die Stelle des zweckgerichteten Gehens treten neue Beziehungen des Körpers zur Stadt und zur Landschaft, durch Grenzgänge zwischen privaten und öffentlichen Erfahrungsräumen wie zwischen Kunst und alltäglichem Verhalten. Gehen eröffnet Potenziale theatraler Bewegung, die das Zuschauen über sich selbst hinausführen, zum aktiven Prozess machen, ohne dass dazu noch Erklärungen oder Aufforderungen nötig wären.«3
Unser Kölner Stadtrundgang fügt dem Gehen auf dem Weg zur nächsten Station noch eine weitere Bewegungsperspektive hinzu, die weitere Wahrnehmungs- und Fiktionsräume öffnet: das Zwischenspiel als Autofahrt. Wir sollen Flugblätter für die Demo am nächsten Tag abholen; diesmal hat unser Gang also eine konkrete Aufgabe. Wir werden über eine große, geschwungene Fußgängerbrücke aus den 60er Jahren geschickt, die eine breite Autoschneise überquert, die ersichtlich nach dem Krieg in die gewachsene Stadtstruktur geschlagen wurde. Auf der anderen Seite wartet ein Mann im Auto auf uns, ohne Flugblätter, dafür mit laufendem Autoradio. Easy Listening aus den 60er Jahren ist heutzutage kein sicheres Indiz für eine bestimmte Zeit mehr, sondern eher ein Zeichen für die gegenwärtige Aufsplitterung von Moden und Stilen. Doch dann kommen die Nachrichten, die übliche sonore Stimme eines anonymen Sprechers, der Neuigkeiten von der Kießling-Aff äre meldet. Wir erinnern uns dunkel an den Anfang der 80er Jahre: Kießling war doch der NATO-General, der wegen angeblicher homosexueller Kontakte in Kölner Szenelokalen aus dem Dienst entlassen wurde, zu Beginn der Regierung von Helmut Kohl. Wir fahren durch das Severinsviertel, wie unser Kölner bemerkt, mit kleinteiliger Architektur der 60er Jahre, und halten schließlich vor einem Industriegebäude aus der vorletzten Jahrhundertwende. Wir werden in eine Art Trödelladen geschickt, einer hohen Fabrikhalle aus der Jahrhundertwende, in die rückwärtig eine Empore mit Küche und Sitzecke eingezogen ist. Oben empfangen uns zwei Frauen, bieten uns einen Kräutertee an und erzählen uns über ihre Wohn- und Arbeitskommune. Sie gehören zu den Besetzern dieser alten Brauerei, die in den 80er Jahren abgerissen werden sollte. Seitdem war sie wie die nahegelegene Stollwerk-Fabrik Dauerthema der kommunalpolitischen Diskussion. Augenscheinlich hat die Besetzung Erfolg gehabt und eine Räumung nicht stattgefunden. Hier musste wirklich nichts umdekoriert werden, es ist – wie man zu sagen pflegt –, als wäre die Zeit stehen geblieben. Der Laden erinnert an die Multiplikation einer Garage, in die man alles räumt, was man nicht mehr benutzt: Möbel, Werkzeuge, Spielzeug, Geschirr, Küchenmaschinen, Bücher … Je greifbarer die Dinge noch sind, des3. Primavesi: »Zuschauer in Bewegung«, a.a.O. S. 104.
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to jüngeren Lagerdatums sind sie. Was überlagert wird, wird unbeweglich, wird vergessen – bis jemand das Ding entdeckt und es für seine Zwecke neu benutzt oder wiederverwendet. Naturgemäß erscheint auf unserem Stadtrundgang – von dem wir noch nicht wissen, ob er wirklich am Ausgangspunkt endet und somit ein Rund-Gang ist – ein derartiges Lager als Metapher für Geschichte, als Bild für die vergessenen, unerlösten Geschichten, die auf ihre Ent-Deckung und Auferstehung hoffen. Insofern ist jedes Lager ein Stadt-Archiv; gerade seine Ordnung durch die Konstanten Zeit und Schwerkraft macht es lesbarer als die nach einem wohlüberlegten, letztlich aber arbiträren System geordneten und weggesicherten Archive. 4 Die jüngere Frau, Karla, schickt uns zu ihrer Mutter, die ausgerechnet am Sonntag mit ihrem Stiefvater und ihrer Tante aufgetaucht ist und jetzt in ihrer Wohnung auf sie wartet. Wir sollen schon mal vorgehen und Karla ankündigen, die noch das Plenum zum Um- und Ausbau der besetzten Fabrik organisieren muss. Karlas Wohnung ist über eine Folge von verwinkelten Treppen zu erreichen, es ist ein mit einfachen, mediterran anmutenden Mitteln aufgestocktes Haus. In der Wohnung liegen bunte Teppiche, Ethno-Wandtücher verkleiden den rohen Beton. Die älteren Herrschaften empfangen uns und bitten uns, auf den Korbmöbeln Platz zu nehmen. Die Tante aus West-Berlin ist sich nicht immer einig mit den Eltern von Karla, sie verteidigt ihre politische Aktivität und hoff t, sie bald wieder mit ihren linken Freunden in der geteilten Stadt zusammenbringen zu können. Das zwanglose Gespräch gerät überzeugend, weil die drei älteren Menschen ihre eigene Geschichte nachspielen oder zumindest die ihrer Generation. Sie sind also keine Doubles wie die Kinder in der Schule, die Studenten in der Partywohnung oder der junge DKP-Aktivist, sondern Zeitzeugen. Daher brauchen wir Gäste auch kein Spiel mitzuspielen, in dem wir selbst eine historische Rolle einnehmen. Diesmal können wir aus der eigenen, gegenwärtigen Perspektive fragen und Antworten jenseits von Rollenmustern erwarten.
Bayenwer f t Viel zu schnell müssen wir die Wohnung wieder verlassen, unten vor der Fabrik wartet ein Fahrer in einem alten Mercedes, der uns an den Rhein bringt. Er redet nicht viel, aber wieder läuft das Autoradio, diesmal ohne Musik, also nicht als Rundfunk getarnt, sondern, wir kennen das Mittel ja 4. Dieser Text entstand nach dem Einsturz des Kölner Stadtarchivs im März 2009.
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nun schon, eindeutig als für uns inszeniertes Zeitzeugen-Hörstück. Zunächst erzählt ein Linker im breitesten Kölsch von den Demos der 80er Jahre, dem Schwarzen Block, dem Mauerfall und wie politisch egal ihm die Ossis waren. Ein anderer Mann erinnert sich an die Hochzeit der schwulen Szene in Köln, als man jedes Wochenende mit einer festen Route durch die gleichen Läden zog. Durch Aids und Internet habe sich alles verändert, sagt er. Was er nicht sagt: natürlich auch durch das Altern der Partygeneration der 80er Jahre. Schließlich berichtet ein Bestatter, wie Aids sein Berufsbild verändert hatte, als Anfang der 90er Jahre plötzlich junge Männer vor ihm saßen, die die nahende eigene Beerdigung planten. Wir Fahrgäste haben das Gefühl, dass uns der Wagen nicht direkt ans Ziel bringt, sondern auf sehenswerten Umwegen. In Gedanken an die letzten Dinge wirkt die draußen hinter den Autoscheiben sich vorbeibewegende Welt wie eine Kulisse des Abschieds, eine Gegenwart, die nicht zu wiederholen ist, sondern im Moment ihrer Geschichtswerdung verschwindet. Unser bewegter Blick ist vergleichbar mit Walter Benjamins Engel der Geschichte, nur ist der Fortschritt mittlerweile kein Wind mehr, sondern ein Automotor. Vor zwei brandneuen Hochhäusern aus Stahl und Glas, gleißend erleuchtete Zeugen des Booms vor der aktuellen Finanzkrise, hält unser Fahrer und bittet uns auszusteigen und schickt uns auf den Steg im Hafenbecken. Der frische Wind riecht nach Rhein, der Steg schwankt und damit unser Zeitgefühl. Wir sind nun schon über drei Stunden unterwegs; zur Nachtzeit verirrt sich kein Mensch in die Hafengegend neben der Schnellstraße – ein großer Gegensatz zum Brüsseler Platz, in dem jeder Passant im Auge des Zuschauers Teil der Inszenierung wurde. Hier gibt es keine Zweideutigkeiten mehr, hier ist Ebbe: Der Tidenhub der Stadt wird sichtbar, die nächste Menschenflut scheint unendlich fern. Wer sich um diese Stunde hier auf hält, steht gewissermaßen außerhalb der Zeit. Aus einer angelehnten Tür eines schwimmenden Clubheims aus Holz dringt Licht; wir öff nen die Tür und sehen ein freundliches altes Paar am Kopfende einer langen, U-förmigen Tafel sitzen. Sie laden uns auf einen Keks und einen wärmenden Tee ein und blättern ihre Sammlung von Todesanzeigen für uns auf. Ist dies eine Hochzeitstafel? Ein Leichenschmaus? Sind wir die letzten oder die ersten an der Tafel, die Platz für mindestens dreißig Gäste hat? Die beiden Alten wollen uns nicht antworten; sie lächeln versonnen und bringen uns dazu, uns unsere eigene Todesanzeige vorzustellen, den Schlusspunkt unserer eigenen Geschichte. Die beiden müssen also Figuren aus der Zukunft sein – aus dem Jahr 2011, wie ich später dem Programmzettel entnehme.
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Brüsseler Platz Ein weiterer PKW wartet mit laufendem Motor auf uns und nimmt uns auf. Wahrscheinlich geht es zum Ausgangspunkt unserer Stadt- und Zeitreise zurück. An Bord des Wagens gibt es wieder eine 20minütige Toncollage zu hören. In einen elektronischen Klangteppich werden Ansagen auf einen Anruf beantworter geblendet: Eine junge Frau meldet sich viele Male, wohl bei ihrem Exfreund, offenbar ist er aus ihrem Leben verschwunden und meldet sich nie zurück. Die Frau erinnert sich an die gemeinsame Zeit, in dem sie von jüngst gemachten Erlebnissen erzählt, die sie an die Vergangenheit erinnert haben: eine Radfahrt an seiner ehemaligen Wohnung in der Telegraphenstraße vorbei, in der noch Licht brannte; Eiskonfekt im Kino; Karlas besetztes Haus, das jetzt verschwunden ist; ein Treffen mit seiner Tante und seinem Onkel, die wie ein junges Paar wirkten … Die Frau meldet oder verabschiedet sich nie mit Namen; ihre Stimme kommt uns bekannt vor: Vielleicht war es eine der Befragerinnen in der Anwaltspraxis aus den 40er Jahren, vielleicht ist es Ingeborg, die Verlobte von Werner, dem Studenten aus den 50er Jahren, oder eine Freundin von Karla aus den 80ern. Die Erinnerungen werden immer stockender, brüchiger – ein Abschied auf Raten. Zugleich scheint die Fiktionsebene durch, die Konstruktion nicht nur der jeweils persönlichen Vergangenheit aus Erinnerungen und Anlässen, sondern auch der theatralisierten Erinnerungssituation: Man hört die Frau mehrfach ansetzen; wahrscheinlich improvisiert also eine Schauspielerin in einem Tonstudio. Studiotonband, Autoradio und Anruf beantworter, diese drei Tonmedien sind ineinander überblendet. Bevor die Musik wieder hochgezogen wird und das Auto am Brüsseler Platz hält, ist noch ganz kurz der Regisseur des ganzen Abends zu hören, der Rechercheur der Erinnerungen und Arrangeur der Geschichte. Lukas Matthaei sagt: »Ok. Gut.«. Und findet damit einen Ausstiegspunkt aus den Geschichten des Abends, die sich jetzt, nach über dreieinhalb Stunden, in Erinnerungen von uns Zuschauern transformiert haben. Den Sachkommentar, die Fußnoten zu diesen Erinnerungen bekommen wir erst am Ende in die Hand gedrückt: eine ausführlichen Abendzettel, der alle menschlichen und architektonischen Zeitzeugen und ihre Doubles nennt und beschreibt. Bei der Lektüre dieses Programms baut sich also noch eine weiteres Zeitgeschoss auf, das die erinnerte Performance als inszenierte kennzeichnet und abschließt. Primavesi zitiert in seinem schon erwähnten Aufsatz Richard Schechners Unterscheidung von umkehrbarem Transport und substantieller Transformation:
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»I call performances where performers are changed ›transformations‹ and those where performers are returned to their starting places ›transportations‹. ›Transportation‹ because during the performance the performers are ›taken somewhere‹ but at the end, often assisted by others, they are ›cooled down‹ and re-enter ordinary life just about where they went in.«5
Auf uns Zuschauer, Mithörer, Mitfahrer, Mitgeher angewendet, arbeiten matthaei & konsorten mit der theaterkonventionell abgesicherten Methode des Transports. Die Zeitreise war eine Schleife, die uns wohlbehalten wieder in der Gegenwart hat ankommen lassen. Anders als in dem gegen die Außenwelt abgeschotteten Raum des Illusionstheaters mit Guckkasten und Zuschauerraum oder auch in einer einzelne Elemente der Welt versuchsweise herausstellenden Black Box haben wir die Gegenwart nie ganz verlassen. Und wir werden von den synästhetischen Erlebnissen dieser Stadterfahrung nie ganz loskommen, die sich besonders in den Zwischenspielen, den Gängen und Fahrten zwischen den inszenierten Innenräumen ereignet hat. Schon zurück am Brüsseler Platz merken wir: Die Stadt hat sich unwiederbringlich verändert. Den Orten, denen wir in den letzten Stunden begegnet sind, wird die Erinnerung an diese Begegnung für uns zukünftig anhaften. In unserer Erinnerung sind die von uns erlebten, inszenierten Geschichten realer als die Geschichte, die sie künstlerisch rekonstruiert haben. So erscheint unser Transport im Rückblick zugleich als dramatische Transformation.
Literatur Certeau, Michel de: Kunst des Handelns, übersetzt von Ronald Voullié, Berlin 1988. Primavesi, Patrick: »Zuschauer in Bewegung – Randgänge theatraler Praxis«, in: Jan Deck/Angela Sieburg (Hg.), Paradoxien des Zuschauens, Bielefeld 2008. Schechner, Richard: »Performers and Spectators transported and transformed«, in: The Kenyon Review, New Series, 3 (1981), H. 4, S. 83-113.
5. Primavesi: »Zuschauer in Bewegung«, a.a.O. S. 89. Quelle: Richard Schechner: Performers and Spectators transported and transformed, in: The Kenyon Review, New Series, 3 (1981), H.4, S. 83-113.
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9. Zwischenspiele : Die Suche nach dem Körper und das Drama der Präsenz Laurent Chétouane im Dialog mit Nikolaus Müller-Schöll
(1) N. M.-S. Lange Zeit hat Deine Arbeit wie die Arbeit wenig anderer derzeit aktiver Regisseure im deutschsprachigen Theater das Publikum und die Presse gespalten. Enthusiastische Zustimmung auf der einen Seite, Proteste, knallende Türen und vernichtende Kritiken auf der anderen Seite gehörten jedes Mal zur Tagesordnung, wenn eine neue Inszenierung von Dir auf dem Programm stand. In Deiner Inszenierung des Faust I in Köln war dies erstmals anders. Das Premierenpublikum war trotz der Überlänge von fünf Stunden und der Tatsache, dass Ihr viele gewohnte Muster des Umgangs mit diesem Text durchkreuzt habt, begeistert, die Kritiken sehr positiv. Wie erklärst Du Dir dieses Echo? L. C. Da das deutsche Publikum seinen Faust kennt, ist es in der Lage, die Verschiebungen sowie Verdichtungen, die wir am Text vorgenommen haben, zu verstehen und anzuerkennen. Dies hat zur Folge, dass sich die Zuschauer in einem permanenten Dialog befinden, d.h. ihr Wissen über den »Mythos« Faust mit dem kommuniziert, was sie während der Auff ührung sehen und hören. Zwischen dem, was das Publikum erwartet, und dem, was es ästhetisch wahrnimmt. Damit begründet und verdichtet sich inmitten des Publikums leicht ein Dialog zwischen den vom Text ausgehenden mythologischen Variationen und dem von uns im Hier und Jetzt szenisch Angebotenem. Der Zuschauer, dessen Gedächtnis ihm permanent Informationen zuspielt und er damit denkt, ohne es unmittelbar zu erfahren, 437
Zwischenspiele: Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume
vergleicht diese und ist somit äußerst aktiv, womit er seinen Platz findet. Meine anderen Arbeiten verlangen übrigens vom Publikum dieselbe Reflexionsarbeit. Jedoch fehlt den Zuschauern wiederholt der Bezug, womit sich bei ihnen eine Orientierungslosigkeit einstellt. Jedoch ist gerade das Moment der Entdeckung, die Geburt einer Idee, die sich entwickelnde Lektüre einer Auff ührung – wenn das Publikum noch nicht weiß, wohin die Reise geht – das Schönste, was dem Publikum widerfahren kann. Mit dem Vorgang des Sehens sind immer auch Reflexionsprozesse verbunden und Reflexion bedeutet Hervorbringung, Herstellung, Erschaffung von etwas Neuem. Damit wird der Zuschauer selbst zum créateur. Wenn der Text, die Fabel dem Zuschauer nicht bekannt sind hat dies zur Folge, dass sie während meiner Auff ührungen nicht wissen, was sie sehen und aggressiv werden, anstatt sich darauf einzulassen ihren Standpunkt zu verlieren und sich damit für neue Sichtweisen zu öffnen. Bei Faust sind die Bilder jedoch bereits in den Köpfen des Publikums präsent, d.h. entwickelt. Die Bilder liegen praktisch vor ihren Augen, womit das Publikum immer etwas sieht. Damit findet das »Erblinden« nicht statt. Die Situation ist weniger irreführend, als sie erscheint. In diesem Fall werden lediglich die bereits existierenden (mentalen) Bilder der Zuschauer bewegt, d.h. transformiert, womit die Bilder wesentlich einfacher zu transportieren sind. Scheinbar gibt es aber noch andere Gründe, die die Auff ührung »konsumierbarer« machen. Von der im Zentrum stehenden Tragödie Gretchens geht ein dermaßen großer Grad an emotioneller Intensität aus, dass das Publikum gar nicht anders kann, als nicht von ihrem Schicksal berührt zu sein, wenn es Gretchen zuhört. Ich meine hier noch gar nicht die Aufführungssituation, sondern den Text selbst. Der Text ist extrem gewaltig und berührt unmittelbar das Nervensystem des Zuschauers; er dringt direkt in die Unterschichten des Gehirns ein und konstituiert damit unser affektives und emotionales System. Die besondere Qualität Goethes liegt für mich gerade darin, dass er zugleich von Außen beobachtet und im Innenraum des Textes präsent ist. Genau dieses Moment interessiert mich in meiner Theaterarbeit. Damit begegne ich dem Autor äußerst emotional und diese Begegnung überträgt sich ebenso auf die Zuschauer. Ich bewundere die Werke Goethes, da sie mich sehr berühren. Diese Gefühle finden sich unmittelbar in der Aufführung wieder. Ich empfinde den Schmerz, der sich permanent durch den Text zieht, – der Schmerz, der Grenzen erfahrbar macht – und das Leiden, das darin besteht, keine neuen Wege aufzuzeigen, als sehr stark. Für mich stellt der Text eine große Anklage dar, einen Schrei gegen unsere Grenzen. Das Publikum ist deswegen so berührt, da der Schmerz sehr groß und konkret ist.
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Die Suche nach dem Körper und das Drama der Präsenz
N. M.-S. Natürlich können wir beide nur spekulieren, warum das Publikum so oder so reagiert. Mein Eindruck war aber, dass Du im Faust sehr viel narrativer inszeniert hast als in allen Inszenierungen, die ich bisher von Dir gesehen habe. Zumindest in der zweiten Hälfte, also in der »Gretchen-Tragödie«. War das eine bewusste Entscheidung – oder eher der identifi katorischen Lektüre geschuldet, die Du andeutest? L. C. Nach der ›Hexenküche‹ beginnt ein anderes Drama. Gretchen taucht als Person auf. Faust hat zuvor das Bild der Frau im Spiegel gesehen, jetzt sieht er auf der Straße die Verkörperung dieses Bildes in einer Frau namens Gretchen. Goethe entwirft hier ein Drama innerhalb des Faustdramas, ein Stück im Stück. Ein Stück um dieses Mädchen. Es fiel mir plötzlich schwerer zu abstrahieren. Ich dachte immer, dass ich das Schicksal dieses Mädchens nicht wegtheoretisieren darf. Ich hatte ein schlechtes Gewissen gegenüber Gretchen, wenn ich versuchte im Text etwas anderes zu fi nden als die narrative Situation. Gretchen war als Text nicht zu analysieren, zu hinterfragen, ohne dass ich mich schuldig fühlte, weil ich im Begriff war das Schicksal dieser Person zu löschen oder dieses nicht wahrnehmen zu wollen. Ich bin über sie gestolpert. Sie war wie ein Gespenst, das in mir verlangte, dass man von ihm erzählt. Ich muss heute immer noch darüber nachdenken, warum es mir mit dieser Figur so ging – zum ersten Mal. N. M.-S. Du meinst, weil Du sonst Texte nicht in diesem Sinne liest: Dass da Figuren mit einem Schicksal vor uns stehen, das man nicht verraten darf? Das finde ich insofern bemerkenswert, als ja die Radikalität etwa Deiner Psychose 4.48-Inszenierung oder Deines Lenz nicht zuletzt darin lag, dass die Darsteller nie vergessen ließen, dass es eine Kluft zwischen ihnen und dem Text wie auch zwischen dem Text und dessen referentiellen Potential, also einer Figur des Lenz oder des Kane’schen »Ich«, gibt. Was unterscheidet Gretchen von Lenz oder diesem »Ich«? L. C. Eine sehr gute Frage. Ich weiß nicht, ob ich sie direkt beantworten kann bzw. wirklich will. Ein Versuch: Es gibt Texte, die einfach keine Diskurse sind. Es wird nicht mehr über etwas geschrieben bzw. gesprochen, sondern der Text ist wie eine Laute, wie ein Geschrei, wie ein Klang, der aus einem Körper rauskommt. Gretchen redet nicht über die Liebe. Sie empfindet sie und hat keine Worte dafür. Sie spricht nur das Notwendigste. Vielleicht sind das eher stumme Figuren, die stumm bleiben, auch wenn sie zum sprechen kommen. Stumme Texte könnte man vielleicht sagen. Matte Texte. Diese Qualität hat auch die Sprache von Woyzeck – ich meine die Figur Woyzeck – im Gegensatz zum Hauptmann. Der Hauptmann verkörpert vielleicht das ganze gewöhnlichere Theater. Es werden Diskurse 439
Zwischenspiele: Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume
gehalten, die einverleibt werden und die man dann für Naturgesetze hält. Siehe Schiller. Gretchen redet eigentlich nicht. Sie spricht laut, was im Moment für Gedanken entstehen. Funken sind das. Sie horcht in sich. Da ist noch kein Diskurs. Es ist Musik. Da kann man nicht, soll man nicht, die Trennung zwischen » Ich » und Text zeigen. Es gibt noch keinen Text! Die Gretchen zu vervielfachen war schon ein Versuch, weg vom Drama einer einzelnen Figur zu kommen. Gretchen als ein »Prinzip«, ein »Symptom« zu verstehen. Ich hätte es gerne gehabt, dass die Männer auch Gretchen spielen. Es ist mir nicht gelungen. Ich habe sehr früh aufgegeben. Es liegt bestimmt an privaten Gründen. N. M.-S. Das finde ich äußerst interessant, was Du da entwickelst: Könnte man sagen, dass Gretchens Sprechen letztlich ein Sprechen ist, das wie das »Es lebe der König« der Lucile in Dantons Tod im Grunde nichts als die Unterbrechung der (leeren) Rede ist? Eine, um es mit Celans Formulierung zu sagen, Huldigung an die Majestät des Absurden? Du weißt ja, Celan schrieb über diesen Satz: Nach all den Worten ein Schritt – und gab mit zu bedenken, dass da ein »pas« getan wird, also vom französischen her gedacht: ein Schritt und ein nicht. L. C. Büchner hat viel von Goethe gelernt. Ich glaube, dass es da zwischen den Frauenrollen in Dantons Tod und Gretchen eine Ähnlichkeit gibt, was das Betrachten des Sprechvorgangs angeht. Gretchen redet nicht. Sie spricht nicht einmal. Sie sagt. Ja. Sie sagt nur. Und das ist sehr schwer zu spielen, weil man immer reden möchte, statt nur zu sagen. N. M.-S. Schleef hat ja am Faust in seiner Studie Droge Faust Parsifal und seiner Frankfurter Poetik-Vorlesung den zerstörerischen Humanismus des Stückes hervorgehoben: »Margarethe bringt ihre ganze Familie um, Fausts Vater experimentiert mit Menschen, sein Sohn errichtet einen Sklavenstaat. Das ist Humanismus.«, schreibt er. Ich hatte das Gefühl, dass Dich und Deine Schauspieler diese Dimension im Faust II sehr interessiert hat, in Faust I nicht. Oder stört diese Perspektive, wenn man sich entschließt, die Gretchentragödie als Tragödie identifi katorisch zu lesen? L. C. Der zerstörerische Humanismus ist sicher in Faust I zu finden. Es ist das politischere Stück. Da werden Utopien entwickelt und ausprobiert. Unter anderem der Humanismus. Sie führen alle in die Katastrophe. In Faust II geht es mehr um die Frage der Religion und des Glaubens. Es geht um die Angst vor Gott und seinem Blick – als einzige existierende Instanz. Der Humanismus hat da nichts zu suchen. Es ist noch Mittelalter. Dunkel.
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N. M.-S. Das mag mit Blick auf die Zeit der Handlung im Stück stimmen. Aber Schleef spricht da ja vom Humanismus, wie er sich im Jahrhundert der bürgerlichen Aufklärung entwickelt hat. Und er legt nahe, dass die Ideale dieser Zeit, wie sie etwa im Faust zu erkennen sind, schon in Goethes Stück als Ideale gezeigt werden, für die sterben muss, wer nach Maßgabe des Bürgertums kein »Mensch« ist. L. C. Gretchen auch? N. M.-S. Gute Gegenfrage. Ich weiß nicht, wie Schleef darauf geantwortet hätte. Denn sie ist ja tatsächlich eine Grenzfigur: Opfer und Täterin zugleich, und ich würde sagen, dass sie zumindest am Ende kein »Mensch« mehr ist – weil da ja gewissermaßen der Wahnsinn spricht. Das Problem dabei scheint mir zu sein, dass diese Art von Frauenfiguren in dieser Zeit geprägt werden: Die bedauernswerten Opfer der Männer, beschrieben von Männern in einem Medium, in dem Frauen nur als Beschriebene, nicht als Schreibende auftreten können, in der Literatur. L. C. Es ist doch gerade das besondere an der Sprache von Gretchen. Sie schreibt, indem sie die Sprache des anderen unterbricht. Es ist sehr klar zu lesen, in den verschiedenen Gesprächen zwischen Faust und ihr. Faust ist völlig überfordert, weil er nur mit Diskursen redet. Wunderschöne zwar, aber er spricht ein Programm. Er weiß gar nicht, was er ihren Bemerkungen entgegenstellen könnte. Und der Wahn am Ende des Stücks ist meiner Meinung nach als TAT zu lesen. Als Entscheidung in den Wahn hineinzusteigen, der Weg zur Freiheit für sie. Da findet sie sogar eine Sprache, mit Blick auf die man sie als Schreibende definieren kann. Sie schreibt ihre eigene Geschichte, die sich Faust anhören muss und welche Rolle er in dieser gespielt hat. Er hat nie verstanden, was das heißt, dass sie nicht darf. Es ist für mich der Satz überhaupt in dieser Kerkerszene: »Ich darf nicht!«. Da ist Faust schuldig. Da hätte er sie schützen müssen. Er hat nur aus seiner männlichen Freiheit heraus gedacht. Sie durfte nicht. Er hat nicht wahrnehmen wollen: »ich darf nicht«. Da ist er schuldig ihr gegenüber. Nur darin. N. M.-S. Nun ist der Faust in Deutschland sehr stark narzisstisch besetzt, er gilt als eine Art von Nationaleigentum. Bei der Premiere Deiner Weimarer Faust II-Inszenierung konnte man das an den Reaktionen des dortigen Publikums studieren, das Eure Arbeit ganz offensichtlich nur als Provokation verstehen wollte. Etliche Zuschauer gingen raus, andere störten durch Zwischenrufe, der Intendant setzte – wohl mit Blick auf seine Hoff nung auf Vertragsverlängerung – die Inszenierung nach wenigen Vorstellungen ab. Kannst Du Dir im Rückblick erklären, was für die Leute in Weimar so 441
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unerträglich war und warum in Köln ein entspannterer Umgang mit dem Faust möglich ist? L. C. Ich glaube, dass der Hauptgrund für den Skandal in Weimar war, dass die Zuschauer den Text von Faust II nicht kennen. Sie haben keine Ahnung, was darin eigentlich steht, projizieren aber ihr Wissen von Faust I auf Faust II, sie glauben sogar, dass die Geschichte des ersten Teils einfach weitergeht. Die Zuschauer wollen nicht Faust II, sie wollen die Fortsetzung von Faust I sehen. Es ist ein großer Irrtum. Faust II ist ein extrem komplexes System aus Wissen, Poesie und der Formulierung von Utopien, die ständig scheitern. Es ist ein sehr philosophischer Text. Ein sehr desillusionierender Text über den Lauf der Geschichte. Psychologische Figuren haben da nichts zu suchen. Es ist verkörpertes Wissen! Goethe sagt es selbst in seinen Tagebüchern. Wir haben konsequenterweise die Rolle von Mephisto und Faust als durch das Stück erkennende Figuren gestrichen. Und das war der erste Punkt, den die Zuschauer kritisiert haben. Ohne Figuren können sie keiner Theaterauff ührung folgen. Ein anderer Grund für diese Aufregung war, wie ich vermute, der zweite Akt: die klassische Walpurgisnacht. Ich habe sie mit Tänzern umgesetzt, weil es für mich darin um die Suche nach dem »Körper« ging, und zwar nach drei Körpern: dem realen biologischen Körper (Homunkulus), dem begehrten Körper (Faust/Helena) und dem Repräsentationskörper (Mephisto). Tänzer wissen, wovon man spricht, wenn man »Körper« sagt. Es ist ihr konkretes Material, mit dem sie sich auseinandersetzen müssen. Sie als Suchende eines Körpers, den sie zu haben glauben, zu inszenieren, fand ich reizvoll. Als Suchende verschiedener Körper waren sie noch spannender. Wir haben wenig Text behalten, den ausländische Tänzer gesprochen haben, und natürlich kam es zu einem Aufstand, weil sie die Sätze nicht richtig und deutlich genug sprachen. Ein Aff ront für Weimar und die deutsche Klassik – man nahm es als Provokation und reagierte aggressiv. Diese latente Gewalt des Abends spürte ich schon während der Proben in Weimar. Diese Stadt ist eine einzige Katastrophe. Eine Horrorvorstellung. Mir ist selten soviel Hass entgegengeschlagen wie an diesem Ort. Eine gefährliche Mischung aus Provinzialität und Rassismus. Das Zusammenprallen des 19. (Weimarer Klassik) mit dem 20. Jahrhundert (Buchenwald) ist dort nicht auszuhalten. Die Weimarer ignorieren komplett das 20. Jahrhundert, streichen es einfach aus und springen direkt ins 19. Jahrhundert. Auf das 20. Jahrhundert hinzuweisen, war der beständige geheime Motor der Arbeit während der Proben. Buchenwald war immer im Hintergrund bei den Proben, geographisch schon – nur ein paar Kilometer entfernt! – und auch bei jeder Entscheidung, die ich als Regisseur während dieser Produktion traf. Die Auff ührung ist eigentlich aufgeladen von dieser Energie, die den 442
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Weimarern sagt: Schaut! Ich glaube, dass sie unbewusst darauf reagiert haben. Sie wollen nicht schauen. Die Auff ührung zwang sie aber dazu. Sie haben es abgelehnt. N. M.-S. Wobei ja eine Pointe dabei ist, dass ein CDU-Politiker, der bis vor einigen Jahren für die »Junge Freiheit« und ähnliche Postillen am äußersten rechten Rand des Meinungsspektrums schrieb und aufgrund massiver Proteste nicht Kultusminister in Thüringen werden konnte, gleichwohl unbehelligt im Aufsichtsrat des Nationaltheaters sitzt und aus dieser Position heraus die Absetzung Deiner Faust II-Inszenierung verlangt hat. L. C. Das wusste ich ja nicht mal. N. M.-S. Inszenierungen transportieren ja auch das Gedächtnis anderer Inszenierungen mit – bei den Spielern wie beim Publikum. Die bis heute bei einem breiteren Publikum bekannteste Inszenierung des Faust ist ja aufgrund der Filmaufzeichnung diejenige von Gründgens. Könnte man behaupten, dass alle ernst zu nehmenden Faust-Inszenierungen der letzten 20 Jahre an der Dekonstruktion der mit dieser Inszenierung verbundenen Theatervorstellung gearbeitet haben? Einer Idee des Theaters, die gleichwohl weiter in den Köpfen vieler Kritiker wie vieler, vor allem älterer Besucher haust? L. C. Bestimmt. Aber als Franzose habe ich natürlich zunächst nicht dieses Gedächtnis. Als Franzose, der jetzt bereits seit zehn Jahren in Deutschland lebt, habe ich ein anderes Gedächtnis. Ich bin viel freier im Umgang mit dem Material, viel unbelasteter. Ich habe es nicht in der Schule gelesen, wo die Texte den Leuten zu oft verleidet werden. Ich merke es bei der Leseprobe: die Schauspieler sagten immer, dass man diese Sätze nicht mehr sprechen kann. Ich verstand nie, was sie meinten und pochte darauf, dass diese Sätze in unserer Fassung bleiben. Natürlich merkten sie nach einer Weile, dass, was ich in den Sätzen höre, etwas völlig anderes ist als das, was man automatisch als Deutscher liest. Meine Interpretation des Faust liegt mehr in der Sprech- und Betonungsart des Textes als in einer visuellen Interpretation. Ein kurzes Beispiel. Gretchen stellt sich mit dem Schmuck vor den Spiegel, betrachtet sich und sagt: »man sieht doch ganz anders aus«. Die Schauspielerinnen verstanden und spielten, dass Gretchen im Spiegel sieht, wie schön sie wäre, wenn sie so einen Schmuck tragen und besitzen würde. Mit leichter Trauer und Schüchternheit. Es punktet sofort bei den Zuschauern! Ich habe ihnen erklärt, dass man das »doch« betonen müsste. Lange haben sie es bei den Proben nicht geschaff t, das so auszusprechen. Ich musste wochenlang darauf pochen, dass sie sagen: man sieht DOCH 443
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ganz anders aus. Denn dadurch erreicht man ein denkendes Gretchen. Sie wusste schon davor, was sie erst jetzt im Spiegel sieht. Sie hatte es sich schon gedacht, dass Schmuck bzw. Gold eine Frau schöner macht, aber die Moral, die Religion usw. predigen das Gegenteil. Gretchen entdeckt vor dem Spiegel die Bestätigung dessen, was sie schon dachte und unterdrücken musste, weil es der Macht nicht passte. In dem »doch« drückt sie ihr Denk- und Reflexionsvermögen aus. Dabei schwingt leichte Wut mit. Sie ähnelt hier der Marie in Büchners Woyzeck. Dann entdeckt man im Text, dass Gretchen ständig »doch« benutzt. Gretchen ist die Doch-Figur. Diese Arbeit am Text ist meine Art, mit Faust umzugehen. Mehr als mit den Inszenierungen der letzten Jahrzehnte. Was aber nicht heißt, dass es nicht automatisch, unbewusst stattfindet. Das Ende zum Beispiel (Gretchen im Kerker) hat mich, nachdem es entstanden war, plötzlich an Einar Schleefs Gretchens erinnert. N. M.-S. Zu den Auff älligkeiten Eures Umgangs mit dem Faust-Text gehört ja, dass es keine Aufteilung des Textes auf Figuren gibt, jede(r) spricht Textpassagen aller auftretenden Figuren. Wie kamt Ihr zu diesem Umgang mit Goethes Text? L. C. Ich hatte dieses Prinzip schon bei Faust II verwendet. Als wir den Text mit den Schauspielern zusammen lasen, dachte ich, dass es nicht möglich wäre, den Text so von einem Schauspieler zum nächsten springen zu lassen. Wie ein Fluss, der durch einen Raum geht. Faust I scheint zuerst figurativer, ist zum Beispiel mehr auf eine Person konzentriert, Faust in der Nachtszene am Anfang. Ich habe mich besonders auf diese Szene konzentriert, um den Umgang mit Faust zu finden. Ich las und las diese Szene ohne Ende und es tauchte immer eine Art Wahn in mir auf, der nicht mehr aufhören wollte. In meinem Kopf hörte ich ständig Stimmen, die sich abwechselten, den Stab übergaben, um weiter diesen Text herauszutragen. Ohne Unterbrechungen. Bis zur totalen Erschöpfung. Bis zur Grenze. Da fängt man schon an, Gespenster zu sehen! Pudel sogar! Der Text ist durchdrungen von so vielen Zuständen und Stimmen, dass kein Schauspieler den Reichtum an Facetten erreichen kann, der in diesem Monolog steckt. Dieser Text ist eine Anhäufung von Schichten, die nicht von einem Darsteller allein annähernd getroffen werden können. Oder vielleicht, wenn er wahnsinnig wäre. Ich meine pathologisch wahnsinnig. Eine Person, die keine Identität besitzen und nur von einer zur nächsten springen würde. Sich treiben ließe. Man braucht für diesen Text mehrere Grundfarben, eine Gruppe von Schauspielern, die dann zusammen FAUST herausbilden, FAUST zusammenstellen, und jeder ist dann nur ein Teil davon. Ein achtel Faust sozusagen! 444
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Der zweite Punkt für diese Idee war der Satz Mephistos: »ich bin ein Teil des Teils, der anfangs alles war«. Das war der wichtige endgültige Impuls für dieses Konzept: jeder Schauspieler auf der Bühne ist nur ein Teil des Teils. Der Unterschied zu Faust II ist aber der folgende: in Faust II gibt es keinen Faust mehr zu erkennen. In Faust I sind alle zusammen Faust. Man hat Faustteile, die zusammen einen Faust bilden. Der Kritiker von der »Frankfurter Rundschau« schrieb: 8 Fauste auf der Bühne. Es ist falsch: es sind 8 Teile eines möglichen Faust auf der Bühne. Wenn man von 8 Fausten redet, ist man wieder bei einem traditionellen Theaterschema. Dann können die Kritiker wieder schreiben. Sonst sind sie verloren. N. M.-S. Hat dabei auch eine Rolle gespielt, was Schleef einmal am Theater kritisierte, dass es davon absehe, dass alle Figuren ihre Rede von einem Autoren erhalten haben, dass also die Einheit einer wie auch immer variationsreichen Sprache im Theater des dramatischen Dialogs verloren gehe? L. C. Dass ein Theatertext meist von einem Autoren geschrieben worden ist, heißt für mich, dass hinter einem Theatertext das Begehren von einer Person am Funktionieren war, während dieser Text geschrieben wurde. Dadurch entsteht eine gewisse Poesie, eine Form, ein Stil. Ich will, dass die Darsteller sich an dieser Form reiben. Egal, ob Gretchen, Faust oder Mephisto spricht. Hinter diesen ganzen Figuren verbirgt sich ein Autor. Dem bzw. seiner Sprache wollen wir begegnen und sehen, was der Akt der Vergegenwärtigung (Auff ührung genannt) dieses Textes an Gedanken, Visionen, Möglichkeiten produziert. Aber man muss den Autor treffen, nicht die Figur. Deswegen kann es einen Dialog geben auf der Bühne, aber letztendlich spricht dieselbe Person in einem Dialog mit sich! Zwei Teile derselben Person. Aber nicht zwei Figuren. Die Schrift rennt durch alle Körper hindurch, springt von einem zum nächsten und benutzt die Körper der Schauspieler, um sich hörbar zu machen. Das Bild kommt erst danach. N. M.-S. Habt Ihr bzw. hast Du im Verlauf der Vorbereitung Eurer FaustInszenierung die Arbeit Schleefs studiert? Also seine verschiedenen FaustInszenierungen oder seinen Essay Droge Faust Parsifal? L. C. Wir haben uns Schleefs Frankfurter Inszenierung angeschaut. Die Hälfte davon. Nur angeschaut und kurz darüber gesprochen, sie aber nicht studiert. Mir hat die Geschichtlichkeit des Stoffes sehr imponiert: wie Schleef die Traumata Deutschlands mit dem Drama verbindet. Kollektivbilder werden gemeinsam mit den Zuschauern bearbeitet. Sehr beeindruckend. Aber die Energie zum Impuls für so einen Umgang mit dem Stoff ist verlorengegangen oder verschwunden. Die Spuren der Geschichte hin445
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terlassen in uns keine spürbaren Wunden mehr. Es ist nicht einfach, diese »Lautstärke« herauszufinden. Man denkt eher darüber nach, wenn man so etwas schaut, was damals ein politisches Subjekt gewesen ist: Eine gefangene Möglichkeit, die zwischen Unterdrückung und kritischer Haltung oszillieren konnte. In seinem Essay Droge Faust Parsifal mochte ich seinen Gedanken, dass in Faust II die Sprache die Droge ist, deswegen brauchen sie keinen Trunk mehr. Es stimmt, dass in Faust I ständig irgendwelche Flüssigkeiten eingenommen werden. Es gibt ein Begehren nach allem, was fließt. Sogar ein Begehren, fließendes Material zu werden: Luft, Wasser, Lyrik. Das hat mich sehr interessiert, als Spiel mit der eigenen Begrenztheit. Das ist aber in der Inszenierung nicht wirklich als Thema präsent geblieben. Die Flasche verwandelt sich durch das Stück hindurch. Sie bleibt als einzige Requisite immer da. Aber wer sieht das schon? N. M.-S. Du hast mir einmal mit Begeisterung von Grübers Berliner FaustInszenierung erzählt. Kannst Du präzisieren, was Du an ihr mochtest? Mir fiel beim Betrachten des Videos auf, dass darin speziell die wenigen Sätze, die von den so genannten »Nebenpersonen« gesprochen werden, also etwa der eine Satz Wagners, der in der Strichfassung übrig geblieben ist, eine große Affinität mit der Art und Weise haben, wie in Deiner Inszenierung gesprochen wird. L. C. Ich will nur eines zu dieser Auff ührung sagen, die ich nur als Aufzeichnung kenne. Grüber schaff t es, dass die Schauspieler wie Tote miteinander reden. Sie benutzen das Drama von Goethe, um das schon abgespielte Drama, sich als etwas Gewesenes zu erzählen. Es ist sehr beeindruckend und es triff t einen wesentlichen Punkt der Lebensphilosophie von Goethe, und zwar sein Verhältnis zur Geschichte, zur Frage des Schicksals, was für viele unerträglich ist, was ihnen konservativ vorkommt: Man muss annehmen, was kommt, es beobachten, analysieren und schauen, wohin es einen mitnimmt, und dabei weiter analysieren. Man muss gleichzeitig drinnen und draußen sein. Es ist aber nicht fatalistisch, wofür viele es halten, denn die Analyse im Sinne Goethes beeinflusst selbstverständlich den Lauf der Dinge. Auf jeden Fall schaff t es Grüber dadurch, dass die berühmte Textpassage »meine Ruh ist hin« eine ungeheuerliche Kraft gewinnt. Es ist kaum auszuhalten: dadurch, dass diesen Text eine Tote spricht, ist die Unruhe, die Gretchen auseinander nimmt, ewig. Es ist nicht zurückzudrehen. Sie ist ja tot. Die Frage des Schicksalhaften bei dieser Figur wird dadurch auf den Punkt gebracht. Ich hatte sogar den Darstellerinnen gesagt, wir sollten es genau so machen, es sei nicht besser zu kriegen. Sie haben mich dabei komisch angeschaut. Also, der Tod ist die Stimme, die bei Grü446
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ber spricht. Es hat Ähnlichkeiten mit meiner Denkart über den Sprechvorgang, ja. Erst nachdem ein Text in einen Raum hinein gesprochen wurde, kann er lebendig werden, im Augenblick wo er den Körper der Darsteller umhüllt und verwandelt. Aber zuerst spricht in den Schauspielern eine tote Seite, die will wiederbelebt werden. Die Schrift will Sprache werden. Das findet man bei Grüber immer. Es ist phänomenal, was er damit gemacht hat. N. M.-S. Heiner Müller sprach ja einmal davon, dass das Fatzer-Fragment Brechts Faust sei. Mein Eindruck bei Deinem Faust war, dass Du das Stück im Grunde so behandelt hast, als wäre es Goethes Fatzer – also in einer übrigens ganz und gar brechtischen Manier ein »fertiges« Stück in ein unfertiges aufgelöst hast, in ein Stück szenischer Recherche, in etwas, das einer zur »Selbstverständigung« geschrieben hat. L. C. Es stimmt schon, dass ich mich in meinen letzten Arbeiten weniger um das Gesamte kümmere, als vielmehr um jede Szene. Ich nehme sie als Übungsstücke, jede Szene für sich, und wir montieren am Ende, was wir gefunden haben. Wir sehen dann, welche Art von Dispositiv entsteht. Es ermöglicht zu entdecken, welche Mechanismen in einem funktionieren, die doch eine Logik schaffen, ohne dass man sie von Beginn an kennt. Ich entdecke die Art der Begegnung zwischen Autoren, Darstellern und mir am Ende der Proben. Was haben wir in unserem Kessel zusammengebraut? Ich will uns die Chance gönnen, etwas zu entdecken, und nicht umsetzen, was man schon weiß und im Text lesen kann. Ich denke da sehr als Chemiker, der Saucen mischt und danach entdeckt, was daraus entsteht. Das Produkt ist aber immer ein Zwischenprodukt, das man weiter mit anderen vermischt. Ich nenne diese Produkte »Segmente«, die wir dann montieren, neu zusammenstellen. Die Proben liefern uns Sequenzen, die wir zusammenbauen. Ich inszeniere nicht einen Text, der Text ist nur eine Komponente einer Mischung, einer Explosion. N. M.-S. In Patrick Kochs Bühnenbild gibt es, der vermeintlichen Schlichtheit entgegenlaufend, eine äußerst interessante Setzung, nämlich die des großen, die ganze Bühne überspannenden Runds. Ich habe es als eine Art von Auge gedeutet, vielleicht das Auge Gottes, das die Spieler beobachtet, vielleicht aber auch eine Art von Verweis auf dessen im 18. Jahrhundert stattfindende Ersetzung durch jene unzähligen Mechanismen der Überwachung, die Foucault unter dem paradigmatischen Begriff des »Panopticons« zu beschreiben versucht hat.
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L. C. Es geht in der Tat darum, dass man immer unter dem Blick von jemandem ist. Im Theater scheint es eine Banalität zu sein, es zu sagen, aber die Schauspieler und die Zuschauer vergessen es immer gerne. Man will nicht der Blickende sein. Ein Satz von Gretchen war für mich ausschlaggebend für diese Bühne. Sie sagt in der Schmuckszene: »Gott im Himmel, schau!« ich habe die Schauspielerinnen darum gebeten, diesen Satz eins zu eins zu nehmen. Und in der Tat, sie zeigen Gott den Schmuck und bitten ihn herunterzuschauen. Auf sie. Auf die Situation. Auf die Bühne. Was der Zuschauer schon tut. N. M.-S. Beim Zusehen fällt auf, dass die Spieler in einer Art beständiger Gruppendynamik mit- und gegeneinander spielen. Man hat den Eindruck, dass sie sich immer wieder die Aufmerksamkeit der Betrachter erarbeiten müssen, dabei mit anderen konkurrieren, Pakte eingehen, um stärker zu werden, sich verbünden gegen Dritte, die sie ausgrenzen. In toto scheint mir, dass Du da Arbeitsweisen, die ich eher dem Tanztheater zuordnen würde, aufs Sprechtheater übertragen hast. Kann man das so sagen? L. C. Ich wollte, dass zwei Tänzer dabei sind, sich bei den Proben immer zwischen/mit den Schauspielern bewegen und eine Unruhe in den Raum bringen. Eine Art Instabilität, die es den Schauspielern schwer machte sich an eine feste Position zu gewöhnen. Die Tänzer sind wie Luft, eine Kraft, die die Darsteller zum flackern bringt. Ich wollte im Raum die ganze Zeit flackernde Bilder sehen, die sich immer neu positionieren, gruppieren, arrangieren. Die Arbeit besteht darin, diese neuen Konstellationen, die jede Sekunde entstehen, erscheinen, wahrnehmen zu können, um sie dann performativ »fürs Spiel« zu benutzen. Eine Dauerimprovisation erweist sich als Ort der Kristallisierung von Situationen, die man einfangen, sehen muss. Da liegt die Arbeit: festhalten, ohne das Flackern zu verlassen. Nicht fest werden. Im Fluss der entstehenden Bilder bleiben. Dafür müssen die Performer diese Doppelpräsenz haben: in sich sein, um den Körper wahrzunehmen, aber gleichzeitig draußen, um die Bilder sehen zu können. Diese doppelte Aufgabe ist im Schauspiel sehr ungewöhnlich, gar lähmend für die Schauspieler. Man muss fühlen und sich dabei zuschauen. Schon irritierend.
(2) N. M.-S. Deine Arbeit wurde lange Zeit eher als eine Arbeit in der Tradition eines sehr stark rhetorisch orientierten Sprechtheaters gesehen, vielleicht vergleichbar der Arbeit von Claude Regy oder – allerdings im Film – Straub/Huillet in Frankreich. Tatsächlich zählte aber, wenn ich es richtig 448
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erinnere, von Beginn an – zumindest auch – die Arbeit William Forsythes zu den wichtigsten Orientierungspunkten Deines Arbeitens. Kannst Du beschreiben, wie Du diese beiden Pole zusammengebracht hast? L. C. Es stimmt, dass mich in meinen frühen Arbeiten Fragen des Textes, der Stimme und der Sprache wesentlich stärker beschäftigten als das Moment der bewegten Körper. Der Körper als solches hat mich dagegen schon immer interessiert. Man kann sich nicht mit der Sprache im Bühnenraum beschäftigen, ohne den sprechenden Körper zu sehen. Das u.a. von Kritikern (noch immer) stereotypisch geprägte Dualismusmodell – auf der einen Seite das stark rhetorisch orientierte Sprechtheater in Frankreich und auf der anderen Seite das extrem körperlich geprägte Theater in Deutschland – erscheint mir absurd. Es existiert keine Rhetorik ohne Körper, wie es bereits klassische römische Abhandlungen und Lehrbücher zeigen. Mein Problem lag vielmehr darin, wie ich den Körper im szenischen Raum in Bewegung setzen konnte. Warum und wie bewegt sich ein Körper von Punkt A zu Punkt B? Lange Zeit habe ich keinen Sinn darin gesehen, die Schauspieler zu einem Ortswechsel zu bewegen. Wenn ich in anderen Auff ührungen beobachtete, wie sich die Körper der Schauspieler bewegen, kamen mir die Bewegungen zumeist falsch, unmotiviert und störend vor, was sicherlich daran lag, dass kaum zwischen dem Körper des Schauspielers und dem Körper der Figur unterschieden wurde. Die Auff ührungen öffneten lediglich einen Raum zwischen den beiden Körpern, in dem sich die Verschiebung ereignete. Wer bewegt sich nun? Der Schauspieler oder die Figur? Ist es der Schauspieler der seine Figur an einen anderen Ort im Bühnenraum transportiert oder ist es die Figur die einen Positionswechsel im Dienst der theatralen Illusion vollzieht? Oder findet hier eine fortlaufende Oszillation zwischen beiden statt? Es ist genau diese Oszillation, die ich in meinen Arbeiten sichtbar machen möchte, d.h. die beiden Körper in ihren Zuständen der Bewegung szenisch zu markieren. Die Suche nach ästhetischen Strategien, diese Oszillation transparent werden zu lassen, drückt sich auch in meinem Interesse an den Arbeiten von William Forsythe aus, der – wie du sagst – einen wichtigen Orientierungspunkt im Rahmen meiner künstlerischen Suchbewegungen bildet. Ich erkannte jedoch erst während einer Zusammenarbeit mit Fabian Hinrichs, wie sich die beiden Körper zueinander verhalten, d.h. wie sich der Körper eines Schauspielers fortbewegt und dabei das Bild seiner Figur zu einem anderen Ort transportiert. In diesem Augenblick wurde mir klar, warum ich zuvor die Schauspieler in meinen Arbeiten nicht bewegt habe. Bis dahin hatte ich nicht diesen anderen Körper im Körper gesehen und dementsprechend auch nicht vorgehabt diesen heraus treten zu lassen. 449
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Durch dieses Schlüsselerlebnis gelangte ich zu der Grundeinsicht, dass Bewegungen im Bühnenraum nur dann spannend sind, wenn ich in meiner Arbeit die Trennung/Abspaltung des repräsentierten Körpers und des Körpers der repräsentiert, also das Verhältnis von Bild/Bildlichkeit und Material/Materialität diskursiv ins Zentrum setze. N. M.-S. Nun steht Forsythe innerhalb des Tanztheaters für eine Tendenz, die man als Dekonstruktion des traditionellen Tanzes beschrieben, zugleich aber auch in den Kontext der Performance Art eingereiht hat. Welche Elemente der Performance-Kunst waren für die Herausbildung Deiner Arbeitsweisen interessant? Könnte man sagen, dass Deine Fragen nach dem zweifachen Körper wie nach dem Sprechen der Sprache im Sprechen des Schauspielers denjenigen verwandt sind, die in den meisten Performance-Theorien zentral zu sein scheinen, nämlich denen nach dem hic et nunc der Auff ührung? Denn eben dieses hier und jetzt zeigt sich ja in dem Maße, wie ich im Körper der Person noch denjenigen unterscheiden kann, der sie verkörpert, bzw. im Sprechen einer Person noch das Sprechen der Sprache hören kann. L. C. Ich glaube, dass der Wunsch des »Hier und Jetzt« das konstituierende Paradox aller szenischen Künste darstellt. Ob man diesen Moment vernachlässigt oder sucht, er ist vielleicht die Grundfrage die man an das Theater stellt. Vergessen wir nicht die ersten Worte von Shakespeares Hamlet: »Wer ist da?« An dieser Stelle spielt sich die Repräsentation von etwas ab. Ab da beginnt und kreist die Arbeit, um mit unterschiedlichen Strategien dem »Hier und Jetzt« möglichst nahe zukommen. Ob Regisseur, Choreograph oder Performer – jeder von ihnen wird über diesen Moment nachdenken müssen, diesen Augenblick des Ortes oder der Zeit, den er szenisch bewohnen möchte. Was mich bei Forsythe beeindruckt ist, dass das Moment der Repräsentation den gleichen Stellenwert hat wie das Moment des Entstehens bzw. Hervorbringens szenischer Ereignisse. Dies hat zur Folge, dass jeder Akt der Repräsentation einer Geburt, einer création oder einem Tod, einem Verschwinden gleicht. Darin sehen wir nun die Tänzer, die mit Hilfe der von ihnen gelernten Regeln daran arbeiten, ihre Körper zu bewegen. Darin ähneln sie Arbeitern, die sich durch erlernte Techniken ihr jeweiliges Handwerk aneignen. Diese Arbeit bzw. diese Produktion ereignet sich im unmittelbaren »Hier und Jetzt«. Es handelt sich nicht darum, eine ideale Form zu sehen bzw. zu finden, die mehr oder weniger berührt. Dagegen geht es darum, einen »Arbeiter der Bewegung« dabei zu beobachten, wie er szenisch eine Form entwickelt. Hiermit meine ich eine ganz andere Beziehung zur Zeit, die ich durch William Forsythe gefühlt, gesehen und verstanden habe. Um nicht 450
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im Moment der Repräsentation stecken zu bleiben, muss man komplexe Techniken beherrschen, die einen avancierte Präsenz-Formen erreichen lassen. Dies setzt eine wirkliche Ausbildung voraus, woran ich aktuell mit verschiedenen Tänzern arbeite. Forsythe benutzt als ästhetischen »Rohstoff« für seine Produktion von Präsenz die Sprache des klassischen Balletts. Der Ausgangspunkt meiner eigenen Arbeit bildet das Verhältnis von Sehen und Gesehenem. Kurz gesagt: Vor jeder Sprache auf der Bühne und vor jeder Produktion von Bewegung hat bereits ein erstes Drama stattgefunden, das ich mit ins Theater nehme, wenn ich die Bühne betrete: das Drama des Gesehen-Werdens – hier spielt sich das Drama der Präsenz ab. Das Drama des hic et nunc. N. M.-S. In dem, was Du beschreibst, fällt mir ein gewisser Widerspruch auf. Vielleicht kannst Du ihn auflösen: Einerseits stellst Du Produktion und Repräsentation einander entgegen, so als ob es zwei komplett zu trennende Register oder Kategorien wären, andererseits sprichst Du aber vom Drama der Präsenz, das immer schon begonnen hat. Wäre dann nicht entsprechend vom Drama der Repräsentation und vom Drama der Produktion zu sprechen? Wäre nicht zu präzisieren, dass man weder die Repräsentation ganz verlassen, noch die reine Produktion im hic et nunc je erreichen kann aufgrund der medialen Verfasstheit, die Du beschreibst? Also deshalb, weil ein Tänzer auf der Szene in gewisser Hinsicht immer schon auf einer Szene steht, in einem Medium, das er eben deshalb nicht restlos zu kontrollieren vermag? L. C. Ich stelle nicht Produktion und Repräsentation einander entgegen, jedoch differenziere ich zwischen beiden Operationen – in Kenntnis, dass sie sich jeweils immer durchkreuzen. Diesen Zustand meine ich übrigens wenn ich von Oszillation spreche. Für mich gibt es einen fundamentalen Unterschied, wenn ein Künstler versucht etwas zu repräsentieren und damit beabsichtigt, hinter dem Repräsentierten zu verschwinden, oder wenn ein Künstler versucht das Produzierte bzw. den Prozess des Produzierens öffentlich zu machen und er damit im Akt des Hervorbringens bzw. der création sichtbar wird. Er kann u.a. Momente der Repräsentation sichtbar machen – jedoch nicht nur diese. Andere Momente sind z.B. die Zeit/die Zeitlichkeit, die Materialität oder der Raum/die Räumlichkeit. Gilles Deleuze spricht in Bezug auf künstlerische Kompositionsprozesse in wunderbarer Weise von der Hervorbringung von purer/reiner Zeit. Es ist nicht die Frage der Repräsentation, die offen bleibt, sondern die der Präsenz. Für mich stellt das Drama der Präsenz ein wesentlich komplexeres Forschungsfeld dar als das der Repräsentation. Das Drama der Präsenz beinhaltet immer schon das Drama der Repräsentation, das dort ein eigenes 451
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Kapitel konstituiert. Und die Frage der Produktion (u.a. auch der Repräsentation), in der man zwischen einer gewünschten Produktion, einer ausgewählten, einer unbewussten sowie einer unausweichlichen Produktion differenzieren müsste – hier würde man dann von Präsenz und nicht von Repräsentation sprechen –, wäre dementsprechend eine andere, die als unausweichliches Phänomen jede gewünschte Produktion betriff t. Das Drama der Präsenz ist für mich folgendes: Alles hat längst begonnen, bevor ein Künstler sich dazu entschieden hat, etwas zu produzieren. Man sollte sich als Künstler über seine Unfähigkeit zu sehen und über die Unmöglichkeit alles Produzierte zu kontrollieren bewusst sein. Dies bedeutet nichts anderes, als seine Blindheit auf der Bühne zu akzeptieren, womit unmittelbar das hic et nunce spürbar wird. N. M.-S. Das finde ich sehr interessant: Denn damit bestimmst Du ja das Theater oder die Performance nicht länger vom souveränen Akteur/Spieler her, der präsent ist, sondern vielmehr von einem Tun oder Agieren her. Könnte man in Anlehnung an Lacan sagen, dass dieses Tun immer nur im Futur Perfekt dem Spieler als seines bewusst wird? Wenn dem so wäre, dann würde das ja eigentlich alle vermeintlichen Oppositionen geläufiger Theater- und Performance-Theorien auflösen, insofern Du gewissermaßen an einer Präsenz vor der Unterscheidung von Präsenz und Repräsentation, an einem Ereignis vor der Unterscheidung von Ereignis und Wiederholung und einer Anwesenheit vor der Unterscheidung von An- und Abwesenheit interessiert bist. Aber wer oder was nimmt dann die Stelle ein, die bis dato das Subjekt innehatte? L. C. Die Instanz, die zusieht und empfindet. Und diese Instanz befindet sich sowohl auf der Bühne als auch sitzend im Zuschauerraum. N. M.-S. Was hat Dich bewegt, mit Frank James Willens zu arbeiten? L. C. Ich habe ihn gesehen, als er in Replacement von Meg Stuart tanzte. Er bewegte sich wie ein freies Elektron, ganz für sich und mit seinen Bewegungen beschäftigt. Das war für mich sehr beeindruckend. Die Fähigkeit vor einem Publikum bei bzw. mit sich zu sein hat mich sehr berührt. Er war zugleich ein Mann, ein Vogel und eine Frau – sozusagen das Müller’sche infernale Triangel. N. M.-S. Welche Art von Fremdheit bringt ein aus der Performance-Szene kommender Tänzer wie Willens – der zuvor mit Meg Stuart und anderen gearbeitet hat – in eine solche Arbeit?
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L. C. Der Körper ist für einen Tänzer solchen Typus’ etwas, was man (als Zuschauer) permanent hinterfragt. Etwas, in dem sich viele unserer emotionalen Zustände ablagern bzw. einnisten. Die Zuschauer erwarten immer eine feste Antwort und setzen damit den Tänzer durch ihren Erwartungsdruck selbst unter Druck. Der Tänzer, der dadurch selbst die Rolle eines Opfers streifen kann, wird vom Publikum dahingehend analysiert, in welcher Weise dieser als Reaktion psychologische Signale sendet. Ab diesem Punkt möchte das Publikum dem emotional produzierten Zustand beiwohnen und verstehen. Die zuletzt skizzierten Aktions- und Reaktionsmuster erscheinen mir nicht nur problematisch, sondern stören mich auch, da hier die zuvor geöffneten Türen – damit meine ich die vom Publikum mitkomponierte Öffnung – wieder zugeschlagen werden und alles viel zu schnell fest wird. Ein solcher Tänzer flieht immer vor der Festlegung und bedient sie. N. M.-S. Was hat Dich bewogen, Bildbeschreibung von Heiner Müller ins Zentrum Eurer Performance zu stellen? L. C. Hier ist ein Gerinnen unmöglich, da es immer fließt. Eine reine, unendliche Öffnung… Man weiß nicht, wer sieht, und wenn man etwas sieht, verschwindet es sofort wieder. Erscheinen, Verschwinden, »Decreation« (Forsythe). Ein zeitliches und räumliches permanentes Gleiten, das automatisch die Präsenz des Performers hinterfragt. Der Performer kann in diesem Sinne gar nicht da sein, weil er durch die Bewegung des Textes, der ihn mitnimmt, immer schon woanders ist. Hier erscheinen zwei Zeiten: die Zeit des Körpers, den man sieht, d.h. der Körper, der eine Position sucht und dabei Bilder sendet, und die Zeit des Textes, der Gedanken, der Imagination, die unaufhörlich fließt, den Körper mitnimmt, transportiert und von den Bewegungen überschritten wird. Es ließe sich hier auch von unvermuteten Sprüngen sprechen, d.h. plötzlichen Stößen, die in Müllers Visionen zum Ausdruck kommen. Ein überaus produktiver Chiasmus um Orte, an denen sich etwas künstlerisch ereignet, zu suchen als auch zu »produzieren«. N. M.-S. Performance umfasst ja, wenn man von Richard Schechners Definition ausgeht, den weitest denkbaren Bereich, in dem eine Auff ührung stattfindet: Also speziell auch das Publikum. Welche Rolle spielt das Publikum für Euch in dieser Arbeit? L. C. Ein Zeuge, der feststellt. Frank ist auf Zuschauer angewiesen, damit er seine Handlungen legitimieren kann. Die Zuschauer sehen ihn, sehen ihm zu, was er für sie macht, und hören ihm zu, was er sagt. Sie können 453
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entweder diese Art von Affirmationen übersehen, ignorieren, verneinen oder diese als Möglichkeiten wahr- sowie ernstnehmen. Das sehende Publikum sieht einem sehenden Performer in seinen Handlungen zu. Entweder legitimiert es seine Handlungen oder nicht. Das theatrale Ereignis realisiert sich erst im Zusammenspiel mit dem Publikum. Frank stellt etwas zur Verfügung, sie, d.h. die Zuschauer, zu denen Frank dazugehört, vereinigen sich, um etwas hervorzubringen bzw. zu kreieren. Die Zuschauer verhandeln jeden einzelnen produzierten Moment und entscheiden gemeinsam über dessen Legitimität. N. M.- S. Du hast die Arbeit in sehr unterschiedlichen Räumen eingerichtet. Wie hat der jeweilige Raum, die jeweilige Akustik und Sichtsituation die Performance verändert? L. C. Ich muss immer wieder neu untersuchen, wie der Raum mit dem vom Text ausgehenden imaginären Potential in einen Dialog gesetzt werden kann. Wird der Raum mit Frank kommunizieren oder gerät der Raum in die transformatorische Falle von Text und Bild? Mir fehlt es hier noch an Erfahrungen, aber einige Punkte scheinen sich herauszukristallisieren: Ein dunkler Raum scheint mir weniger dafür geeignet zu sein, den realen und imaginären Raum miteinander in den Dialog zu setzen. Die »Black Box« fokussiert zu stark den Performer. Gegenüber dem Körper droht sie im architektonischen Kontext zu verschwinden. Ein Ort mit Fenstern oder Türen halte ich deshalb für geeigneter. Man benötigt Rahmen bzw. Rahmungen. Solche Orte beeinflussen vor allem sowohl die Fähigkeit des Performers Bilder zu inszenieren als auch die Möglichkeit des Publikums selbst Bilder zu entwickeln. Bei natürlichem Licht kann die Auff ührung ihr ganzes Potential entfalten, d.h. sie kann aufzeigen, ab welchem Punkt die traditionelle Trennung von Sein und Schein keinen Sinn (mehr) macht. N. M.-S. Nach Studie 1 hast Du mit einer Studie zum dritten Akt des Faust II auf dem Gebiet des Tanztheaters bzw. der Performance weitergearbeitet. Was bedeutete dabei für Dich das Arbeiten mit mehreren Akteuren? L. C. Eine Reflexion über die Gruppe oder die Erkenntnis einer kollektiven Erfahrung. Jedoch nicht über die Gemeinschaft – diesen Begriff mag ich nicht. Ich bevorzuge den Begriff der kollektiven Existenz. Es stellt sich für mich die Frage, wie man als Individuum als aktives und gruppenkonstituierendes Element nicht mitten in der Gruppe verschwindet. Die Frage der Anwendung bzw. Realisierung der Reflexion über das Verhältnis eines Performers zu einer Gruppe wird im Mittelpunkt meiner nächsten 454
Die Suche nach dem Körper und das Drama der Präsenz
Arbeiten stehen. Dies zu leiten wird nicht einfach sein. Es ist vergleichbar mit folgender Situation: Verschiedene Solos finden zeitgleich statt, wobei jedes Solo jeweils Bestandteil des anderen Solos ist und dieses in seinem realen sowie mentalen Raum strukturell mitbegründet. Dieser Zustand ist als System sehr irritierend und erzeugt bei den Performern schmerzhafte Erfahrungen.
Der zweite Teil dieses Gesprächs erschien zunächst in französischer Sprache unter dem Titel »Le drame de la présence. Studie I zur Bildbeschreibung. Laurent Chétouane/Nikolaus Müller-Schöll«, in: Théâtre/Public, 191 (2008), S. 75-77 und wurde von Stefan Tigges für diesen Band übersetzt. Der erste Teil stellt einen Originalbeitrag für diese Publikation dar.
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Autor innen und Autoren Jörg Albrecht geboren 1981 in Bonn, lebt in Berlin, war Preisträger beim Open Mike der Literaturwerkstatt Berlin 2005 und erhielt den Literaturförderpreis NRW 2007; seine Romane erschienen 2006 (Drei Herzen) und 2008 (Sternstaub, Goldfunk, Silberstreif ) im Wallstein Verlag; mit dem Musiker Matthias Grübel bildet er die Band phonofi x (Konzerte, Videoperformances, Hörspiele u.a. 2009 Moon Tele Vision und du kannst nicht immer schimmern, mein Spatz!); derzeit promoviert Albrecht über Abbrüche in Prosa und Hörspiel und nimmt am Lehrgang Szenisches Schreiben von uniT Graz teil; seine Stücke wurden u.a. am Maxim Gorki Theater Berlin und an den Münchner Kammerspielen gezeigt; Albrecht ist Teil des Theaterkollektivs copy & waste (2007 und 2009 am Maxim Gorki Theater Berlin Wir Kinder vom Hauptbahnhof (Lehrter Bahnhof), Berlin Ernstreuterplatz; 2008 Gropiopolis am HAU, 2009 ANDY GIRLS). www.fotofi xautomat.de, www.copyand waste.de. Andcomapany&Co. ist ein internationales Performance-Kollektiv, das 2003 von Alexander Karschnia, Nicola Nord und Sascha Sulimma gegründet wurde, um an der Schnittstelle von Theater & Theorie, Politik & Praxis zu arbeiten. Der vorliegende Text ist in Ko-Autorschaft von Alex Karschnia & Bini Adamczak entstanden: Ersterer ist Theaterwissenschaftler und -macher, Mitherausgeber von Zum Zeitvertreib (Bielefeld, 2004) und NA(AR) HET THEATER – after theatre? (Amsterdam, 2007); letztere das unstete Bündnis zänkischer Gespenster (dekonstruktivistischer Feminismen und adornitischer Wertkritik), unerwünschter Erbschaften und nächtlicher Reproduktionsläufe. Sie ist die Autorin von kommunismus. kleine geschichte wie endlich alles anders wird (Münster, 2004) und gestern morgen. über die einsamkeit kommunistischer gespenster und die rekonstruktion der zukunft (Münster, 2007). Beim Kunsten festival des arts 07 feierte andcompany&Co. als artists-inresidence Karl Marx’ 189. Geburtstag am ›Europa-Tag‹ vor deren Parla457
Zwischenspiele: Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume
ment und brachten zur Geisterstunde die Wünsche der Bürgerinnen Brüssels zu einstimmigen Abstimmungen: EURORA – States of the Union. Dabei wurde die Abschaff ung von Geld, Arbeit, blauen Polizeiuniformen, Zwangsheterosexualität und der Europäischen Union beschlossen: www. andco.de. Evelyn Annuß Theater-, Literaturwissenschaftlerin und Kuratorin. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theaterwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum; DFG-Forschungsprojekt: Der Chor im Thingspiel. Derzeitige Ausstellung zu Möglichkeitsräumen anderer Gebrauchsweisen von Fotografie im postkolonialen Kontext: Stagings Made in Namibia (Berliner Bethanien und National Art Gallery of Namibia, Windhoek; Katalog dt./ engl., b_books 2009). Promotion 2005 zu Prosopopoiia und Postdramatik (Elfriede Jelinek – Theater des Nachlebens, 2. Aufl. Fink 2007). Forschungsund Lehrtätigkeit u.a. in Berlin, New York, Wien und Windhoek. Veröffentlichungen zu nichtprotagonistischen Darstellungsweisen und kollektiven Auftrittsformen; Dramentheorie und Formzitat; kulturwissenschaftlicher Geschlechterforschung; Rhetorik und Dekonstruktion. Eléonore Bak Nach einer Ausbildung als Webgesellin und einer kurzen Theaterpraxis studiert Eléonore Bak an der FHS Köln für Kunst und Design bei E. Umberg/ Vary (Performance und Kostümobjekte). Ein Stipendium des OFAJ erlaubt die weiterführende Forschung in der Villa Arson und 1983 ein Studium der Elektroakustik bei Michel Pascal, CIRM, Nizza. Seit 1986 ausschließlich klangorientiert (bis hin zu Simulationstechniken, ACROE, Grenoble). Nach einem Magister für Freie Kunst in Aix-en-Provence (1994) beendet sie auch ein DEA Doktorvordiplom (Intermedia) an der Universität Nizza bei Norbert Hillaire. Seit 1994 Professorin für Klang und Multimedia (u.a. Kunsthochschule Mc, ISTS Nizza), seit 2004 ordentliche Professur an der Kunsthochschule Metz. Ihre Arbeiten situieren sich zwischen Klanginstallation, Performance und Zeichnung. Zahlreiche internationale Ausstellungen in Frankreich, Ungarn, Deutschland, Kroatien und Australien. Ihre aktuellen Projekte, Filme und Klangbühnen siehe: www.eleonorebak.eu/ Laurent Chétouane Geb. 1973 in Soyaux/Frankreich, absolvierte nach einem Ingenieurstudium ein Studium der Theaterwissenschaft in Paris an der Sorbonne und der Theaterregie an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt a.M. Seit 2000 zahlreiche Sprechtheater-Inszenierungen (Goethe, Schiller, Büchner, Heiner Müller, Jon Fosse, Sarah Kane, Jelinek) 458
Autor innen und Autoren
an großen deutschen Bühnen wie in Hamburg, München, Weimar, Köln. Daneben seit 2006 tänzerische Projekte – die Tanzstücke. Zuletzt Uraufführung von Tanzstück #3: Doppel/Solo/Ein Abend im PACT Zollverein Essen, Mai 2009, mit Auff ührungen bei tanz nrw 09, beim Springdance Festival, Utrecht, bei den Rencontres Chorégraphiques Internationales de Seine-Saint-Denis, Paris, den Sophiensaelen Berlin und dem Tanzquartier Wien. Gastprofessur in Gießen, Gastdozenturen in Frankfurt a.M., Hamburg, Leipzig, Bochum. 2008 erhielt er die »Wild Card« der RUHR.2010 und den Förderpreis des Landes Nordrhein-Westfalen für hervorragende junge Künstler. www.laurentchetouane.com Kattrin Deufert Geb. 1973, war Gründungsmitglied von Breakthrough, der Diskursiven Poliklinik (DPK) Berlin sowie der frankfurter küche. In dieser arbeitet Kattrin Deufert seit 2003 mit Thomas Plischke als Künstlerzwilling deufert + plischke an verschiedenen Theaterprojekten, Dia- und Video-Installationen, sowie Text- und Video-Publikationen. Im Jahr 2000 promovierte sie sich an der FU Berlin mit ihrer Dissertationschrift John Cages Theater der Präsenz. In den 90ern studierte sie Theater-, Film- und Medienwissenschaft in Frankfurt, London und Brüssel, arbeitete am Hessischen Rundfunk im Programmbereich Neue Musik sowie für das Goethe Institut Brüssel. Thomas Plischke geb. 1971, Gründungsmitglied von B.D.C. sowie der frankfurter küche. In dieser arbeitet Thomas Plischke seit 2003 mit Kattrin Deufert als Künstlerzwilling »deufert + plischke« an verschiedenen Theaterprojekten, Diaund Video-Installationen, sowie Text- und Video-Publikationen. Thomas Plischke erhielt im Jahr 1998 die Phillip Morris Scholarship als »most outstanding Performer« und 2000 den Tanz Förderpreis der Stadt München. In den 90ern choreographierte Thomas Plischke die drei Solostücke Fleur, Demgegenüber Borniertheit und l’homme A SORTIR AVEC son corps sowie u.a. das Gruppenstück Events for Television (again). deufert + plischke erarbeiteten seit 2001 die Bühnenstücke inexhaustible (RW) (2003), Sofia Sp – science is fiction (2004), As if (it was beautiful) (2004), Ich lebe selbst in (diese Stadt) (2007) sowie die Trilogie Directories (2003-2006). Als Künstlerzwilling unterrichten sie regelmäßig Komposition, Ästhetik und Dramaturgie an der Universität Hamburg sowie an europäischen Kunsthochschulen. Im Jahr 2006 waren sie Gastprofessoren im Studiengang Performance Studies (Universität Hamburg), im Jahr 2008 übernehmen 459
Zwischenspiele: Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume
sie die Gastprofessur am Institut für angewandte Theaterwissenschaft der Universität Gießen. Evelyn Deutsch-Schreiner Professorin für »Dramaturgie, Theater- und Literaturgeschichte« und Leiterin des Instituts Schauspiel an der Universität für Musik und Darstellende Kunst, Graz. Sie lehrte an den theaterwissenschaftlichen Instituten der Universität Wien und der Ludwig-Maximilians-Universität München, internationale Vortragstätigkeit. Forschungsschwerpunkte: Theatergeschichte im 20. Jahrhundert, Avantgarden, Dramaturgie. Neue Tendenzen im Drama; – dazu zahlreiche Aufsätze. Buchpublikationen: Karl Paryla. Ein Unbeherrschter, Salzburg 1991. Theater im Wiederauf bau. Zur Kulturpolitik im österreichischen Parteien- und Verbändestaat, Wien 2001. Theater m.b.H. und Theaterpolitik im Wien der 80er und 90er Jahre, Wien-Bozen 2003. Herausgeberin Volkstheater. Theater-Zeit-Geschichte, Wien 1989. Mitherausgeberin: Vom Drama zum Theatertext? Zur Situation der Dramatik in Ländern Mitteleuropas. Tübingen 2007. Georgia Doll Studiert seit 2008 Szenisches Schreiben an der Universität der Künste Berlin. Eigene Arbeiten u.a.: Les Pays Sombre im Théatre Ouvert Paris (szenische Lesung von Michèle Foucher, 2008). Miss Europa va en Afrique (UA Théâtre Bobigny Paris, Inszenierung der Autorin), szenische Lesungen am Théâtre de l´Odéon Paris und am Schauspielhaus Graz. Der hang zum grundsätzlichen (Werkstattinszenierung Robert Hartmann/David Czesienski, BAT Berlin 2008). Lorenzos Rückkehr (Auftragswerk Schauspielhaus Graz 2009). Edith Draxl Geboren 1957. Viel studiert, viel probiert. Nach dem Studium der Germanistik, Theologie und Psychologie Arbeit in der Schule und in der Lehrerfortbildung, ab 1993 als Psychotherapeutin. Ab 1987 Mitarbeit in Theaterprojekten, Teilnahme an Workshops und Weiterbildungen im Bereich Theater. In weiterer Folge eigene Regiearbeiten. Ab 1996 Betreuung der Theaterleiste für junges Publikum für das Kulturzentrum bei den Minoriten, Lehraufträge für Theater an der KF Uni Graz. 2000 Gründung von uniT. Verein für Kultur an der Karl Franzens Universität Graz. Seit 2000 Leitung der Initiative und in diesem Zusammenhang Konzeptarbeiten für Projekte Kunst im sozialen Feld, für den Lehrgang Szenisches Schreiben, für Projekte und szenische Arbeit mit Texten junger AutorInnen.
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Autor innen und Autoren
André Eiermann Ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft an der Universität Gießen sowie als Künstler und Kurator tätig. Er hat am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen promoviert und forscht zur zeitgenössischen szenischen Kunst. Publikationen: u.a. Postspektakuläres Theater – Die Alterität der Auff ührung und die Entgrenzung der Künste, Bielefeld 2009. Hans Escher geboren 1956 in Wien, absolvierte am Max-Reinhardt-Seminar in Wien eine Ausbildung zum Schauspieler. Nach diversen Engagements als Schauspieler u.a. am Stadttheater Ingolstadt, dem Landestheater Linz und dem Burgtheater, gründete er 1987 die Gruppe »Stark besetzt«. Von 1990-1998 arbeitete er als Regisseur am Theater der Jugend, von 1999-2002 gehört er zum Leitungsteam am Theater Freiburg. Escher inszenierte u.a. am Ulmer Theater, dem Stadttheater Bern, dem Schauspielhaus Zürich, dem Staatstheater Kassel und am Volkstheater Wien. Zwischen 1993 und 2006 hatte er diverse Gastprofessuren an der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz inne, von 2002 – 2004 unterrichtete er an der Schauspielschule Krauss in Wien. Im Bereich Kinder- und Figurentheater war Hans Escher als Autor tätig. 2005 rief Hans Escher mit Bernhard Studlar das interkulturelle Autorenprojekt »wiener wortstaetten« ins Leben. Für das »wortstaetten«-Projekt »Roter Oktober« erhielten Escher und Studlar 2008 den Nestroypreis. Susanne Foellmer studierte Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen und ist derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin, bei Prof. Dr. Gabriele Brandstetter. Von 20032007 war sie Mitglied des Graduiertenkollegs Körper-Inszenierungen der FU Berlin und promovierte 2008 zum Phänomen grotesker Körper im zeitgenössischen Tanz. Seit 2001 arbeitet sie außerdem als freie Dramaturgin u.a. mit Tanzcompagnie Rubato, Compagnie Isabelle Schad und Jeremy Wade. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in ästhetischer Theorie und Diskursen von Tanz und Theater der Avantgarde sowie zeitgenössischem Tanz und seine Verschränkungen mit den anderen Künsten. 2006 erschien das Buch mit CD-ROM Valeska Gert sowie 2009 Am Rand der Körper. Inventuren des Unabgeschlossenen im zeitgenössischen Tanz. Ulrike Hass Professorin für Theaterwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum, Autorin und Herausgeberin zahlreicher Buchpublikationen u.a. Militante Pastorale. Zur Literatur der antimodernen Bewegungen im frühen 20. Jahr461
Zwischenspiele: Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume
hundert (1993); Zur Zukunft des Politischen, 1: Gott gegen Geld (Hg. 2002); 2: Krieg der Propheten (Hg. 2004); Heiner Müller – Bildbeschreibung. Ende der Vorstellung (Hg. 2005); Das Drama des Sehens. Auge, Blick und Bühnenform (2006); Schauplatz Ruhr (Hg. 2007, 2008 und 2009). Alexander Jacob Studierte Theater-, Filmwissenschaft und Kunstgeschichte an der Johannes Gutenberg Universität Mainz und promoviert über Theater zwischen Bild und Vorstellung. Geschichte des Blicks – Gegenwart des Sehens. Seit 2007 Doktorand an der Amsterdam Scholl for Cultural Analysis (ASCA) im Fach Philosophie. Seit 2008 Lehrbeauftragter am Institut für Theaterwissenschaft Amsterdam. Annette Jael Lehmann Seit 2007 Professorin für Visual Culture und Theater an der Freien Universität Berlin. Nach dem Studium der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte, Amerikanistik und Philosophie in Berlin, Oxford und Berkeley promovierte sie 1996 an der Freien Universität Berlin. Zwischen 1995 und 1998 war sie Gastprofessorin in den USA an der University of California (UCLA), Los Angeles, an der University of Southern California (USC), Los Angeles, sowie im Critical Studies Department am California Institut of the Arts, Valentia. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Performance und Medienkunst, die Beziehung von Theatralität und Visualität, Visuelle Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts sowie Gender and Queer Studies. Sie wurde unter anderem mit dem 1. Preis der Jungen Akademie an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften ausgezeichnet (2002) sowie mit einem Fellowship an der University of Oxford (2004). Jean Jourdheuil Dozent an der Universität Paris-Nanterre, Autor, Übersetzer und Dramaturg. Seit 1970 macht er deutsche Dramatiker wie Brecht, Büchner, Heiner Müller, Lothar Trolle in Frankreich bekannt. Zusammenarbeit als Ausstatter mit den Malern Gilles Aillaud, Titina Maselli und Lucio Fanti für Stücke über Rousseau, Montaigne und Spinoza. Eigene Inszenierungen von Kleists Die Hermannsschlacht, Heiner Müllers Hamletmaschine, Verkommenes Ufer, Medeamaterial/Landschaft mit Argonauten und Germania 3 (Bühne: Mark Lammert). Philoktet (Bühne Mark Lammert) hatte am 05.11. 2009 im Théâtre des Abesses (Paris) Premiere.
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Autor innen und Autoren
Nicole Kandioler Lebt und arbeitet in Wien. Studium der Theaterwissenschaft, Romanistik und Polonistik in Wien. Seit 2008 Koordinatorin des Initiativkollegs Sinne – Technik – Inszenierung: Medien und Wahrnehmung am Institut für Theater-, Film und Medienwissenschaft an der Universität Wien. 2004-2008 Deutschlektorin am Institut für Germanistik an der Universität Rouen und Mitglied der Forschungsgruppe CR2A. 2006 Förderung der Stadt Wien für die Übersetzung von Olivier Cadiots Theaterstück Fairy Queen aus dem Französischen. Derzeit kulturwissenschaftlich orientiertes Dissertationsprojekt über österreichischen, tschechischen und polnischen Film seit 1989. Juliane Kann Geboren 1982 in Magdeburg, Studium Szenisches Schreiben an der UDK Berlin. Werke: Blutiges Heimat (UA Maxim Gorki Theater Berlin, 2006), 17 (UA Schauspielhaus Düsseldorf), The kids are alright (UA Staatstheater Stuttgart), Birds (UA 2009/10 Theater Osnabrück), Piaf. Keine Tränen (UA Schauspielhaus Düsseldorf), Exit. Dinge bei Licht (UA Nationaltheater Mannheim). Ein Fuchs reißt Kaninchen (UA Ruhrfestspiele Recklinghausen/Thalia Theater Hamburg, 2009). Sie wurde jüngst mit dem Dramatikerpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft ausgezeichnet. Ein Fuchs reißt Kaninchen ist bei schaefersphilippen theater&medien erschienen. Rolf Kemnitzer Geboren 1964 in Scheinfeld. Er wuchs in Belgien auf und absolvierte eine Theaterregieausbildung an der Ulmer Theaterakademie. Seit 1988 arbeitet er als Regisseur, Autor und Schauspieler für Off-Gruppen, Stadt- und Landestheater. Seit 1997 ist er als freier Autor in Berlin tätig. Alle Veröffentlichungen beim Verlag der Autoren. Die Stücke wurden u.a. in Dresden, Saarbrücken, Stuttgart und Hannover uraufgeführt. Er wurde zu vielen Autorentheaterwochen eingeladen und hat mehrere Stipendien erhalten u.a. das Döblin-Stipendium der Akademie der Künste Berlin. Seine Inszenierung von Magic Afternoon wurde 2004 zum »Theaterpreis der Stuttgarter Zeitung« eingeladen. Seit 2003 arbeitet er als Radioautor u.a. für den WDR, den BR und das Deutschlandradio. Dirk Laucke Geb. 1982 Schkeuditz. 2004 von Tankred Dorst als Nachwuchsdramatiker eingeladen zu den Salzburger Festspielen: szenische Lesung von Symptom. Mit dem Stück alter ford escort dunkelblau (UA Theater Osnabrück 2007) nominiert für den Mülheimer Dramatikerpreis 2007, von »Theater heute« zum Nachwuchsdramatiker des Jahres gewählt. Danach u.a. ein Drehbuch 463
Zwischenspiele: Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume
zu dem Kinofi lm Zeit der Fische. Silberhöhe gibt’s nicht mehr (UA Regie Thalia Theater Halle, 2008 in einer Inszenierung des Autors), Wir sind immer oben (UA Schauspiel Essen 2008), Der kalte Kuss vom warmen Bier (UA Stadttheater Heidelberg 2009) und Für alle reicht es nicht (UA Staatsschauspiel Dresden 2009) sowie in eigener Regie Ultras (Thalia Theater, Halle, 2009). Dirk Laucke wird von der Gustav Kiepenheuer Bühnenvertriebs GmbH vertreten. Jan Linders Geboren in Hamburg, studierte in Hamburg und an der Johns Hopkins University, Baltimore. Schwerpunkte waren Germanistik, Philosophie, Theater und Medien sowie Musikwissenschaft. Hospitanzen und Assistenzen u.a. bei Andrea Breth, Achim Freyer, Heiner Müller, Niels-Peter Rudolph, George Tabori, Robert Wilson. Dramaturg an den Hamburger Kammerspielen und am Musical Theater Neuschwanstein (Intendant jeweils Stephan Barbarino). Seit 2000 Arbeit als freier Dramaturg, Autor, Regisseur (HAU, sophiensaele, Maxim Gorki Theater etc.). Mitglied des Produktionskolletkivs lunatiks produktion. Lehraufträge über Theater, Bildende Kunst und Medien in Hamburg, Berlin und Zürich. Publikationen vor allem über Robert Wilson in (inter-)nationalen Fachzeitschriften. Seit 2003 im Vorstand der Dramaturgischen Gesellschaft. Seit Herbst 2009 Schauspieldirektor am Theater und Philharmonischen Orchester der Stadt Heidelberg. Tina Müller Schreibt vorwiegend für das Kinder- und Jugendtheater. Bikini: Deutscher Jugend-theaterpreis 2008. Türkisch Gold: Inszenierungen an vielen deutschsprachigen Theatern. Jugendstücke Filmriss und 8 Väter. Ihr erstes Stück für Erwachsene: Verlassen (UA Schauspielhaus Düsseldorf 2009). Mit dem Kollektiv Magic Garden auch als Performerin tätig. Tina Müller wird vom Rowohlt Theaterverlag vertreten. Nikolaus Müller-Schöll Professor für Theaterforschung an der Universität Hamburg. Zu seinen Publikationen gehören Das Theater des »konstruktiven Defaitismus«. Benjamin, Brecht, Heiner Müller. Frankfurt/Basel 2002. Ereignis, Bielefeld 2003 (Hg.); Kleist lesen, Bielefeld 2003 (Mhg.); Politik der Vorstellung. Theater und Theorie, Berlin 2006 (Mhg.); Schauplatz Ruhr, Berlin 2007 (Mhg.); Heiner Müller sprechen, Berlin 2009 (Mhg.).
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Autor innen und Autoren
Sandra Noeth studierte Kultur-, Kunst- und Tanzwissenschaft und Romanistik in München, Paris und Bremen. Seit 1999 arbeitet sie als Dramaturgin und Organisatorin für verschiedene internationale Projekte, Institutionen und Künstler u.a. die Festivals TANZ Bremen, Europäisches Theater: Polen und Veronika Blumstein – Moving Exiles, den Künstlerzwilling deufert+plischke oder K3 – Zentrum für Choreographie/Tanzplan Hamburg und Tanzplan Bremen. Von 2006-2009 war sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Hamburg/Zentrum für Performance Studies und bereitet zurzeit ihre Dissertation zu einer Theorie des Solos im Tanz vor. Seit Juli 2009 ist Sandra Noeth Dramaturgin am Tanzquartier Wien. Margareth Obexer wurde 1970 in Brixen, Italien, geboren. Sie lebt in Berlin als Autorin von Theaterstücken, Hörspielen, Erzählungen und Essays. In Eigenproduktionen für die Bühne und für den Rundfunk sowie in Ausstellungen und anderen künstlerischen Projekten erlebt man M. Obexer häufig in der Zusammenarbeit mit anderen Künstlern, Komponisten und Regisseuren. Sie erhielt für ihre Arbeiten zahlreiche Preise und Stipendien u.a. vom Literarischen Colloquium, von der Akademie der Künste sowie der Akademie Schloss Solitude. Ihr letztes Stück Lotzer. Eine Revolution, eröffnete im Herbst 2009 die Spielzeit am Landestheater Schwaben. Das Geisterschiff (UA Jena 2008), wird demnächst im Schauspiel Basel zu sehen sein. Sie lehrte Dramatik am Dartmouth College in New Hampshire, USA, und unterrichtet zu Zeit an der Universität der Künste Berlin »szenisches Schreiben«. Margareth Obexer wird vom Verlag Hartmann & Stauffacher verteten. Ewald Palmetshofer 1978 zu Mariä Himmelfahrt im Mühlviertel (OÖ) zur Welt geholt. Kindheit ebendort. Studium der Theaterwissenschaft, Germanistik, Theologie und Philosophie/Psychologie in Wien. Ebendort Auff ührung der ersten beiden Theaterstücke Der Seher (2000. Text, Regie, Hauptrolle) und DAS LETZTE:ABEND-MA(h)L. Ein Kammerspiel für zwei… (2003. Regie: Erich Hof bauer). Beitrag zum »Scriptbrunch« bei der diagonale05. Stipendium für das 17. Internationale Theaterfestival »Luaga & Losna« in Nenzing (Vorarlberg). 2005 Retzhofer Literaturpreis für sauschneidn. ein mütterspiel. Lesungen in Wien, Oberösterreich und Graz. Szenische Lesung des Stückes Helden beim Steirischen Herbst 2005, uni-T-Schreibfieber (Regie: Dieter Boyer). 2007/08 war Palmetshofer Hausautor am Schauspielhaus Wien und wurde mit hamlet ist tot. keine schwerkraft für den Mühlheimer Dramatikerpreis 2008 und mit wohnen. unter glas für den Nestroy nominiert. 465
Zwischenspiele: Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume
2008 wurde er in der KritikerInnenumfrage von »Theater heute« zum Nachwuchsdramatiker des Jahres ernannt. 2009 wurde das Auftragswerk faust hat hunger und verschluckt sich an einer grete am Schauspielhaus Wien uraufgeführt (Regie: Felicitas Brucker). Patrice Pavis Momentan Professor für Theaterwissenschaft in Canterbury und lehrte zuvor u.a. an der Universität Paris 8 sowie 2008 als Humboldtpreisträger auf Einladung von Christopher Balme an der Ludwig Maximilians Universität München. Ab 2010 Professor an der Korean National University of the Arts. Letztes Buch: Le théatre contemporain (Armand Colin). Das französische Theater der Gegenwart, epodium Verlag. Paul Pechmann Mag. Phil., geb. 1964 in Wagna. Studium der Germanistik und Klassischen Philologie in Graz. Von 1993-2007 wiss. Mitarbeiter am Franz Nabl Institut für Literaturforschung, am literatur h aus graz und am stadtmuseumgraz. Lehrbeauftragter an den Instituten für Germanistik der KF-Uni Graz und der Univ. Shkodra/Albanien. Seit 2006 Literaturkritiker für die Zeitschrift Falter, seit 2008 programmverantwortlicher Lektor des Ritter Verlags (Klagenfurt/Wien/Graz), seit 2009 als Redakteur für uniT tätig. Mitglied mehrerer Preisjurien, kulturpolitischer Berater. (Mit-)Herausgeber und Autor zahlreicher Publikationen zur österreichischen Gegenwartsliteratur (u.a. zu W. Bauer, W. Schwab, E. Jelinek, G. Jonke, G. Rühm). Katharina Pewny P.D. Dr. phil., Professorin für Performance Studies an der Universität Gent, Theater- und Literaturwissenschaftlerin, Philosophin. Nach der Promotion zum Thema Theatertexte und Inszenierungen der Gegenwartsdramatik an der Universität Wien Forschungsaufenthalte an der University of California Los Angeles, am Graduiertenkolleg Körper-Inszenierungen der FU Berlin und am Zentrum für Performance Studies der Universität Hamburg. 2009 Habilitation in dem Fach Dramaturgie und Theaterwissenschaft am Institut Schauspiel der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz zum Thema Theater und Ethik – Performances des Prekären. Rezente Publikationen in dem Sydney Journal for Literature and Aesthetics, dem Modern Austrian Literature Journal und der Revista de Estudios Sociales. Anne Schulz-Lorenz/Anne Rabe Das erste Stück über Martin: Beitrag zum Projekt Deutschlandsaga der Schaubühne Berlin 2008. Achtzehn Einhundertneun-Lichtenhagen: Kleistförderpreis für junge Dramatik der Stadt Frankfurt/Oder. Teilnehmerin 466
Autor innen und Autoren
des Autorenlabors am Düsseldorfer Schauspielhaus 2008/09. Schreibt auch Kurzgeschichten, Gedichte und Essays. Anne Rabe wird vom Verlag Kiepenheuer Bühnenvertrieb vertreten. Falk Richter Geb. 1969 in Hamburg, ist einer der wichtigsten deutschen Dramatiker und Regisseure seiner Generation. Seine Theaterstücke, darunter Gott ist ein DJ, Electronic City, Unter Eis, Die Verstörung, Im Ausnahmezustand sind in mehr als 25 Sprachen übersetzt und werden weltweitgespielt. Falk Richter war zwischen 2000 und 2004 Hausregisseur am Schauspielhaus Zürich bei Christopf Marthaler, ebenfalls seit 2000 arbeitet er regelmäßig an der Berliner Schaubühne, wo er seit 2006 Hausregisseur ist. Als Regisseur arbeite Richter u.a. am Burgtheater Wien, Salzburger Festspiele, Wiener Staatsoper, Theatre National Brüssel, Oper Frankfurt, Nationaltheater Oslo, Ruhrtriennale. Im Oktober 2009 bringt Falk Richter gemeinsam mit der Choreografin Anouk van Dijk sein neues Stück TRUST zur Urauff ührung. Das hier in Ausschnitten vorliegende Stück Die Verstörung wurde in Berlin unter der Regie des Autors 2005 uraufgeführt. Texte von und über Falk Richter gibt es auf der homepage www.falkrichter.com zu lesen. Inszenierungsausschnitte auf www.youtube.com. Kati Röttger Seit 2007 Lehrstuhlinhaberin und Leiterin des Instituts für Theaterwissenschaft an der Universität Amsterdam. Promotion über Neues Kolumbianisches Theater (1992). Vorstand der Theater- und Mediengesellschaft Lateinamerika, Habilitation an der Johannes Gutenberg Universität Mainz über Theater als Medium des Sehens. Lehrtätigkeiten u.a. an der Humboldt Universität Berlin, Ludwig Maximilians Universität München. Seit 2007 Mitglied des Editorial Board von Forum Modernes Theater. Jüngste Veröffentlichung u.a. Theater und Bild. Inszenierungen des Sehens (Hg. Mit Alexander Jacob). Katharina Schlender Geboren 1977 in Neubrandenburg. Studierte an der Universität der Künste Szenisches Schreiben und arbeitet seit 2000 als freischaffende Autorin in Berlin. Alle Veröffentlichungen bei henschel Schauspiel Theaterverlag Berlin sowie bei Whale Songs Communications Verlagsgesellschaft Hamburg. Sie erhielt zahlreiche Preise und Stipendien u.a. 2008 das Stipendium zum Deutschen Kindertheaterpreis. 2005 den Publikumspreis der St. Galler Autorentage. 2003 den Autorenpreis des Heidelberger Stückemarktes, Stipendium Deutscher Literaturfonds. 2002 und 2000 den Baden-Württembergischen Jugendtheaterpreis. 2001 Kleist-Förderpreis 467
Zwischenspiele: Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume
für junge Dramatik, Stipendium der Preußischen Seehandlung. Aufenthalte im Stuttgarter Schriftstellerhaus, Künstlerhaus Schloß Wiepersdorf u.a. Johannes Schrettle wurde 1980 in Graz (Österreich) geboren. Studierte Germanistik, Romanistik und Soziologie in Graz und Wien und nahm am Uni-T-Projekt »Szenisches Schreiben« in Graz teil. Autor des Kollektivs Eigenbau des Theater im Bahnhof. Stücke: u.a. fliegen/gehen/schwimmen (Retzhofer Literaturpreis, 2003 eingeladen zu den Werkstatttagen am Burgtheater,; UA 2005, Städtische Bühnen Osnabrück), dein projekt liebt dich (UA 2005, Schauspielhaus Graz; Literaturförderpreis der Stadt Graz 2004; eingeladen zum Stückemarkt des Berliner Theatertreffens), Lisa D. (UA 2007, Kasino Burgtheater), Lisa auf Zeitausgleich (UA 2007, Wiener Festwochen), boat people™ – das Leben ist schön (UA 2007, Kasino Burgtheater), wie ein leben zieht mein koffer an mir vorüber (UA 2007, Städtische Bühnen Osnabrück), Ich habe King Kong zum Weinen gebracht (UA 2008, Kasino Burgtheater), Tod und Tourist (UA 2008, Pathos Transporttheater München). Genia Schulz (1951-2001) Literaturwissenschaftlerin. Publikationen u.a.: Heiner Müller, Stuttgart 1980; Die Ästhetik des Widerstands. Versionen des Indirekten in Peter Weiss´ Roman, 1986. Bernd Stegemann Geb. 1967 in Münster (Westf.) Professor für Theatergeschichte und Dramaturgie an der Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch« in Berlin. 1999-2002 Chefdramaturg am TAT in Frankfurt a.M. 2004-2007 Dramaturg am Deutschen Theater in Berlin. Seit Sommer 2009 Chefdramaturg an der Schaubühne am Lehniner Platz in Berlin. Mitherausgeber der »Blätter des Deutschen Theaters«. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Theatergeschichte und Dramaturgie. Zuletzt erschienen: Die Gemeinschaft als Drama. Eine Systemtheoretische Dramaturgie (2001), Stanislawski-Reader (Berlin 2007) und Dramaturgie und Regie in der Reihe »Lektionen« bei Theater der Zeit 2009. Annette Storr PD Dr. phil., Studium der Philosophie, Theater- und Literaturwissenschaft in Frankfurt a.M., Wien, Berlin. Wiss. Mitarbeiterin am Institut für Theaterwissenschaft der Freie Universität Berlin, Dissertation: Die Wiederholung, Gertrude Stein und das Theater. Lektüren der Zeit als bedeutender Form. Wiss. Hochschulassistentin an der Universität der Künste Berlin, Fakultät 468
Autor innen und Autoren
Darstellende Kunst, Habilitation: Regieanweisungen Beobachtungen zum allmählichen Verschwinden dramatischer Figuren. Arbeit als Dramaturgin, Gastprofessur für Dramaturgie am Mozarteum Salzburg, Forschungsaufenthalte in New York und Rom. Weitere Publikationen: Haben Gertrude Steins Stücke etwas mit Theater zu tun? Berlin 1995,Zeitlichkeiten – Zur Realität der Künste. Theater, Film, Photographie, Malerei, Literatur, (Hg. Mit Theresia Birkenhauer), Berlin 1998. Rita Thiele Geboren 1954 in Essen, studierte in Köln Geschichte, Germanistik und Theaterwissenschaft. Sie arbeitete u.a. als Dramaturgin mit Claus Peymann am Wiener Burgtheater sowie am Berliner Ensemble. Von 2001 bis 2006 Chefdramaturgin am Düsseldorfer Schauspielhaus wo sie wiederholt mit Jürgen Gosch/Johannes Schütz zusammenarbeitete. Seit der Spielzeit 2007/08 Chefdramaturgin am Schauspiel Köln unter der Intendantin Karin Beier. Stefan Tigges Dr. phil. Studium der Kultur- und Kunstwissenschaft an der Universität Bremen, lehrte 2003-2004 an der Universität Avignon, von 2004-2008 als DAAD-Lektor am Institut für Germanistik an der Universität Rouen, promovierte 2007 über Anton Cechov und übernahm danach theaterwissenschaftliche Lehraufträge an den Universitäten Mainz, Bochum sowie Wien. Mitglied der franz.-österr.-dt. Forschungsgruppe CR2A. Zur Zeit wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für Theaterwissenschaft an der Ruhr Universität Bochum wo er im Rahmen eines DFG-Projektes über Theater als Raumkunst arbeitet. Weitere Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte: deutschsprachige Gegenwartsdramatik, Ästhetik des zeitgenössischen Theaters und der Performancekunst, Aufführungsanalyse. Publikationen u.a.: (Hg.) von Dramatische Transformationen. Zu gegenwärtigen Schreib- und Auff ührungsstrategien im deutschsprachigen Theaters, Bielefeld 2008; Von der Weltseele zur Über-Marionette. Cechovs Traumtheater als avantgardistische Versuchsanordnung (erscheint 2010). Jörg von Brincken Dr. phil. Studium der Theater-, Kommunikationswissenschaft, Komparatistik und Soziologie in München. Promotion zur Groteskästhetik der französischen Pantomime im 19. Jahrhundert. Akademischer Rat der Theaterwissenschaft München LMU. Forschungsschwerpunkte: Film, Performance Art, Postdramatisches Theater, Videospiele. Leiter eines theaterwissenschaftlichen LMU- Excellenz-Ideenfonds-Projekts zu Game Culture als Performance. Gründer des Performance-Projekts OKA. Pub469
Zwischenspiele: Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume
likationen und Edition u.a. zu August Stramms und Oskar Kokoschkas vorexpressionistischen Dramenentwürfen, postdramatischem Theater, neuerer internationaler Dramatik, Performance Art, Filmgenres, Filmästhetik, Filmgeschichte, Videospielen. Zuletzt: Tours de force – Die Ästhetik des Grotesken in der französischen Pantomime des 19. Jahrhunderts (Tübingen 2006). Mit A. Englhart: Einführung in die moderne Theaterwissenschaft (Darmstadt 2008). Demnächst: Mit Horst Konietzny Hg.v.: Emotional Gaming (München 2010). Benjamin Wihstutz Geb. 1978 in Berlin, studierte Theater- und Erziehungswissenschaft in Berlin und Paris. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Sonderforschungsbereich 626 »Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste« an der FU Berlin. Aktuell arbeitet er über politische Dimensionen des Ästhetischen im Gegenwartstheater. Publikation u.a.: Theater der Einbildung. Zur Wahrnehmung und Imagination des Zuschauers, Berlin 2007.
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Kultur- und Medientheorie Matthias Bauer, Christoph Ernst Diagrammatik Einführung in ein kultur- und medienwissenschaftliches Forschungsfeld Juni 2010, ca. 250 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1297-4
Christof Decker (Hg.) Visuelle Kulturen der USA Zur Geschichte von Malerei, Fotografie, Film, Fernsehen und Neuen Medien in Amerika Oktober 2010, ca. 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1043-7
Erika Fischer-Lichte, Kristiane Hasselmann, Alma-Elisa Kittner (Hg.) Kampf der Künste! Kultur im Zeichen von Medienkonkurrenz und Eventstrategien Juni 2010, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-89942-873-5
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Kultur- und Medientheorie Barbara Gronau, Alice Lagaay (Hg.) Ökonomien der Zurückhaltung Kulturelles Handeln zwischen Askese und Restriktion Juni 2010, ca. 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1260-8
Annette Jael Lehmann, Philip Ursprung (Hg.) Bild und Raum Klassische Texte zu Spatial Turn und Visual Culture Juli 2010, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1431-2
Karlheinz Wöhler, Andreas Pott, Vera Denzer (Hg.) Tourismusräume Zur soziokulturellen Konstruktion eines globalen Phänomens Juli 2010, ca. 330 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1194-6
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Kultur- und Medientheorie Cristian Alvarado Leyton, Philipp Erchinger (Hg.) Identität und Unterschied Zur Theorie von Kultur, Differenz und Transdifferenz
Marcus Maeder (Hg.) Milieux Sonores/ Klangliche Milieus Zum Verhältnis von Klang und Raum
Januar 2010, 332 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1182-3
Juli 2010, ca. 180 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 23,80 €, ISBN 978-3-8376-1313-1
Barbara Eder, Elisabeth Klar, Ramón Reichert, Martina Rosenthal (Hg.) Theorien des Comics Ein Reader
Peter Mörtenböck, Helge Mooshammer Netzwerk Kultur Die Kunst der Verbindung in einer globalisierten Welt
Juni 2010, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1147-2
April 2010, 156 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 17,80 €, ISBN 978-3-8376-1356-8
Erika Fischer-Lichte, Kristiane Hasselmann, Markus Rautzenberg (Hg.) Ausweitung der Kunstzone Interart Studies – Neue Perspektiven der Kunstwissenschaften
Christoph Neubert, Gabriele Schabacher (Hg.) Verkehrsgeschichte und Kulturwissenschaft Analysen an der Schnittstelle von Technik, Kultur und Medien
Juli 2010, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. farb. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1186-1
Juni 2010, ca. 250 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1092-5
Daniel Gethmann (Hg.) Klangmaschinen zwischen Experiment und Medientechnik
Susanne Regener Visuelle Gewalt Menschenbilder aus der Psychiatrie des 20. Jahrhunderts
Juni 2010, ca. 260 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1419-0
Juni 2010, ca. 220 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-89942-420-1
Albert Kümmel-Schnur, Christian Kassung (Hg.) Bildtelegraphie Eine Mediengeschichte in Patenten (1840-1930)
Roberto Simanowski Textmaschinen – Kinetische Poesie – Interaktive Installation Studien zu einer Hermeneutik digitaler Kunst
August 2010, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1225-7
Mai 2010, ca. 320 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-89942-976-3
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