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German Pages 414 [416] Year 2014
Christian Hißnauer, Stefan Scherer, Claudia Stockinger (Hg.) Zwischen Serie und Werk
Christian Hissnauer, Stefan Scherer, Claudia Stockinger (Hg.)
Zwischen Serie und Werk Fernseh- und Gesellschaftsgeschichte im »Tatort«
Drucklegung mit freundlicher Förderung durch die Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung.
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Inhalt E INLEITUNG Zwischen Serie und Werk: Fernseh- und Gesellschaftsgeschichte im Tatort
Christian Hißnauer/Stefan Scherer/Claudia Stockinger | 7
DER TATORT ALS REFLEXIONSMEDIUM DER ZEIT - UND GESELLSCHAFTSGESCHICHTE Die kommunikative Figuration der Tatort-Reihe und die Darstellung der Protagonisten
Thomas Weber | 29 Alltagskonstruktionen und soziale Rolle Eine soziologische Perspektive auf den Tatort
Carsten Heinze | 41 Zwischen Fakten und Fiktionen Gesellschaftspolitische Themen in der Krimireihe Tatort
Hendrik Buhl | 67 Der Tatort als Spiegel gesellschaftlicher Entwicklungen am Beispiel der Veränderung von Täterprofilen
Joan Kristin Bleicher | 89 40 Jahre Leichenshow-Leichenschau Die Inszenierung des Todes im Tatort und der soziale Umgang mit Sterben und Tod
Stephan Völlmicke | 109 Vehikel, Charakter-Pendant und Mittel zur Raumerkundung Das Auto als multifunktionales Strukturelement im Tatort
Rolf Parr | 129
ZUR LOGIK DES ÖFFENTLICH-RECHTLICHEN FERNSEHKRIMIS Stahlnetz + Kommissar = Tatort? Zur Frühgeschichte bundesdeutscher Krimiserien und -reihen
Christian Hißnauer | 147
Entscheidungsprozesse in der Redaktion Interview mit Melanie Wolber, Redakteurin des Lena-Odenthal-Tatort beim SWR
Melanie Wolber/Stefan Scherer (Interview)/Herausgeber (Fragen) | 219 Autoren und Rezipienten Zu einem distanzierten Verhältnis
Regina F. Bendix/Christine Hämmerling | 243 Raum als Metapher. Exemplarisches und Exzentrisches am Beispiel des Münster-Tatort Münster als Raum exzessiver Selbstreflexion des Tatort-Formats
Andreas Blödorn | 259 Zwischen Wortwitz und Klamauk Der Tatort Münster als Dramedy
Thomas Klein | 283 Kunde aus dem Osten der vereinigten Republik Der MDR-Tatort in den Jahren 1992 bis 2007
Tina Welke | 299
DIE FILMKÜNSTLERISCHEN ASPEKTE DER SPEZIFISCHEN TATORT-SERIALITÄT Filmdramaturgie vs. Reihennarration Liebe, Sex, Tod (1997) und der Tatort der 1990er Jahre
Hans Krah | 321 Bewohnbare Strukturen und der Bedeutungsverlust des Narrativs Überlegungen zur Serialität am Gegenwarts-Tatort
Moritz Baßler | 347 Wertevermittlung im Tatort Die Heilige (2010) und der bayerische Tatort
Dennis Gräf | 361 Zwischen deutschem Gesellschaftsroman und The Wire Das Werk-Potential des Tatort im Kontext internationaler Referenzen
Julika Griem | 385 Autorinnen und Autoren | 407
Zwischen Serie und Werk: Fernseh- und Gesellschaftsgeschichte im Tatort Einleitung C HRISTIAN H ISSNAUER , S TEFAN S CHERER UND C LAUDIA S TOCKINGER
Das Format des Tatort als einer Reihe von Serien entwickelte die ARD 1970 in Reaktion auf die ZDF-Kriminalserie Der Kommissar (1969-1976) – und damit aus einer Konkurrenzsituation heraus. Seitdem hält sich dieses Reihen-Konzept der verschiedenen ARD-Sender (zeitweilig ergänzt um Produktionen des Schweizer und Österreichischen Fernsehens) bei gleich bleibendem Vorspann am Sonntagabend zur Hauptsendezeit. Schon die über 40-jährige Laufzeit des Tatort ist bemerkenswert: Keinem anderen fiktionalen Format im deutschen Fernsehen ist es bislang gelungen, sich so nachhaltig auf Dauer zu stellen. Vergegenwärtigt man sich die Entwicklung der Reihe, so liegt ein überaus erfolgreiches serielles Konzept vor, das als eines der letzten kollektiven Erlebnisse die bundesrepublikanische Gesellschaft regelmäßig erreicht. Mit bis zu zwölf Millionen Zuschauern für einzelne Folgen im Jahr 2013 und durchschnittlichen Zuschauerzahlen zwischen sieben und (oft über) zehn Millionen spricht die ARD alle Altersgruppen und Milieus der Bevölkerung an.1 In jüngster Zeit stabilisierte sich die Quote nach verschiedenen Einbrüchen
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Vgl. dazu die Gesamtzuschauerzahl über 3 Jahre: 2013 war der Tatort mit durchschnittlich 8,84 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauern und einem Marktanteil von 25,4% die erfolgreichste Reihe im Abendprogramm (vor Polizeiruf 110, seit 1971, mit durchschnittlich 8,07 Millionen und Stubbe – Von Fall zu Fall, 1995-2014, mit durchschnittlich 6,19 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauern). Zwar war die Übertragung des Campion-League-Finales zwischen dem Ballspielverein Borussia Dortmund und dem 1. FC Bayern München die mit Abstand zuschauerstärkste Sendungen des Jahres 2013 (21,61 Millionen), in der Rangliste der zehn meistgesehenen Sendungen finden sich neben Fußball und dem sog. Kanzlerduell aber auch drei Tatort-Folgen. »Und wie schon im
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(insbesondere in den 1980er und gegen Ende der 1990er Jahre) auf einem Niveau,2 das sogar die Tagesschau stets übertrifft. Ein Ende dieser Erfolgsgeschichte ist nicht abzusehen. Vorliegender Band geht auf eine – von der Fritz Thyssen Stiftung großzügig finanzierte – Tagung zurück, deren Beiträge sich aus unterschiedlichen disziplinären Perspektiven für eine fernseh- und gesellschaftsgeschichtliche Verortung des Formats interessieren und dabei zudem dessen spezifische Produktions- und Organisationslogik mit in den Blick nehmen. Betrachtet man nämlich den durch den Tatort gestalteten ›Föderalismus in Serie‹, der von den einzelnen Sendeanstalten je eigen(sinnig) bedient wird, eröffnet gerade die Reihe aus Serien3 ganz unterschiedliche Spielräume gegenüber ›konventionellen‹ Serien. Diese wirken sich auch auf die ästhetischen Verfahrensweisen aus und bilden zugleich die Möglichkeiten sowie Grenzen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens ab. Wir gehen demnach davon aus, dass sich das Format Tatort nur dann angemessen beurteilen lässt, wenn man es zum einen auf die Eigenlogik des öffentlichrechtlichen Fernsehens im historischen Prozess bezieht und zum anderen die Qualitäts-, ja Kunstansprüche der Reihe ›zwischen Serie und Werk‹ berücksichtigt. Die
letzten Jahr ist die Liste der meistgesehenen Filme stark vom Tatort geprägt […]. Unter den 30 meistgesehenen Fernseh- und Spielfilmen des Jahres finden sich 25 Episoden der Tatort-Reihe.« (Zubayr/Gerhard 2014: 153) 2
»In Zeiten, in denen Senderchefs ihre rückläufigen Quoten mit der zunehmenden Fragmentierung des Marktes zu erklären versuchen, ist der Tatort eine echte Ausnahme. Während es den meisten langjährigen Formaten nicht mal gelingt, ihre Zuschauerzahlen stabil zu halten, legt der Tatort aktuell sogar zu. In diesem Jahr verzeichneten die 15 gezeigten Tatort-Folgen [bis zur am 21. April 2013 ausgestrahlten Folge Trautes Heim mit Ballauf/ Schenk; Verf.] im Schnitt bislang 9,53 Millionen Zuschauer und einen fulminanten Marktanteil von 25,8 Prozent. Will heißen, dass sich Woche für Woche mehr als jeder vierte Fernsehzuschauer für die Krimireihe im Ersten entscheidet. Zum Vergleich: Der Jahresschnitt 2012 lag knapp 700.000 Zuschauer darunter, 2011 wurden im Schnitt ›nur‹ 8,41 Millionen Zuschauer erreicht. Und selbst das waren noch sehr gute Werte, wenn man bedenkt, wo der Tatort herkommt. Ende der 90er Jahre sah es nämlich so aus, als hätte der Sonntags-Krimi der ARD seine besten Zeiten langsam, aber sicher hinter sich. Im Jahr 1998 schalteten im Schnitt weniger als sieben Millionen Zuschauer ein.« (Alexander Krei. »Ein echtes Quoten-Phänomen. Wunderwaffe ›Tatort‹: Ein Erfolg gegen den Trend.« dwdl.de, 28. April 2013 (http://www.dwdl.de/magazin/40590/wunderwaffe_ tatort_ein_erfolg_gegen_den_trend/)
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Zu einer abweichenden begrifflichen Abgrenzung siehe die Beiträge von Andreas Blödorn, Dennis Gräf und Hans Krah in diesem Band.
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bisherige Tatort-Forschung hat diese Perspektive zumeist weitgehend vernachlässigt. Erst in jüngster Zeit nehmen (wenige) Arbeiten die Reihe Tatort von 1970 bis zu einem bestimmten Zeitpunkt in ihrer Gesamtheit in den Blick:4 Zu nennen sind die Monographien von Dennis Gräf, der den Tatort als »kultureller Speicher« für historische Mentalitäten begreift (Gräf 2010: 11-28), von Björn Otte (2013) über die Milieudarstellungen im Tatort und von Stephan Völlmicke (2013) über den sich wandelnden Umgang mit Sterben und Tod. Ansonsten fallen die Forschungen zum Tatort in ihrer Anlage und ihrer Perspektive sehr unterschiedlich aus. In den 2000er Jahren interessierten sie sich in Gender-Perspektive etwa für die Rolle weiblicher Ermittlerfiguren im deutschen Fernsehkrimi (Dietze 2004). Einen kurzen Streifzug durch die »Sittengeschichte« des ›Tatort‹ unternahmen Dennis Gräf und Hans Krah 2010; sie richteten ihre Aufmerksamkeit dabei v.a. auf das Verhältnis von Verbrechen und Sexualität sowie auf die darin zum Ausdruck kommenden Konstruktionen von ›Normalität‹ und ›Abweichung‹. Nicole Karczmarzyk stellte eine »Strukturformel« (2010: 15) des Tatort mit allgemeingültigem Anspruch auf, untersuchte dafür aber nur Folgen der Jahre 2000 bis 2008; Mathias Dell (2013) ging in einem schmalen Bändchen der Frage nach, inwiefern der Humor der Thiel/Boerne-Folgen aus Münster subversiv ist oder einen ›inkorrekten‹ Gestus nur vorgibt; und Arne Freya Zillich (2013) analysierte die Tatort-Rezeptionsform in der Gruppe (im häuslichen Umfeld oder beim Public Viewing). Darüber hinaus standen immer wieder einzelne thematische Felder im Mittelpunkt der Forschung, so z.B. die Darstellung von Wirtschaftsthemen in Folgen aus den Jahren 2002 bis 2011 (Castendyk/Krüger 2013), die Inszenierung von Religion im Tatort (Stockinger 2013) oder die Thematisierung der bundesdeutschen NSVergangenheit (Hißnauer 2014). Ein aktueller, eher essayistisch orientierter Sammelband diskutiert das Verhältnis der ARD-Reihe zu prominenten philosophischen, soziologischen und medientheoretischen Positionen im 20. Jahrhundert (Eilenberger 2014). Mehrere Arbeiten befassten sich außerdem mit dem für den Tatort so wichtigen Aspekt Lokalkolorit/Regionalität: Eine »medienpsychologische Untersuchung« zur Reihe konzentrierte sich dabei auf die Frage nach der Erzeugung von »Heimat im Fernsehen« (Mously 2007); Björn Bollhöfer (2007) beschränkte sich bei seiner topographischen Rekonstruktion einer Stadt im Film auf das Beispiel des Kölner Tatort; und der Sammelband von Julika Griem und Sebastian Scholz (2010)
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Zum Forschungsstand siehe auch Hißnauer/Scherer/Stockinger 2012: 146-154; Buhl 2013: 37-40; Otte 2013: 82-88; Völlmicke 2013: 28f. – In erster Linie dominieren allerdings entweder journalistisch oder essayistisch angelegte Überblicksdarstellungen und Einzelstudien das Feld (dabei immer noch sehr erhellend der Sammelband von Eike Wenzel, 2000a).
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rückte die spezifische Eigenlogik der Städtedarstellung im Tatort in den Blick, bezog dabei aber ebenfalls kaum ältere Folgen mit ein. In dieser historischen Perspektive untersuchten dagegen Stefan Scherer und Claudia Stockinger die mediale Topographie der Krimireihe, indem sie eine »Typologie der Raumordnungen im Tatort« aufstellten (2010: Abschn. 4). Maximilian Schneider (2012) behandelte die Rolle des Dialekts, Tina Welke (2012) analysierte die Inszenierung ostdeutscher Identitäten im MDR-Tatort, und Christina Ortner (2007) sowie Anna-Caterina Walk (2011) erschlossen die Themenbereiche Einwanderung/Migration bzw. Das Andere im Tatort. Wie der Tatort Themen überhaupt in Form eines ›institutionalisierten Interdiskurses‹ aushandelt, arbeitete Hendrik Buhl (2013) in seiner Dissertation über Gesellschaftspolitische Themen in der Krimireihe heraus, bezog sich aber aus forschungsökonomischen Gründen im Wesentlichen auf Folgen aus dem Jahr 2009. Auch neuere Forschungsarbeiten nehmen demnach lediglich Einzelaspekte in den Blick, nicht aber die Reihe als Konzept in der Ganzheit aller damit verbundenen Fragestellungen. Wenn sich die Forschung diesen Merkmalen widmete, dann entweder in der eher allgemein bleibenden Diskussion des Reihen-Konzepts (Aktualität, Realismus, Regionalität, Aufklärung) oder bezogen auf die gleichermaßen gesellschaftsabbildende wie gesellschaftskritische Funktion des Tatort. In historischer Perspektive interessierte man sich bislang lediglich für den Wechsel der Ermittlerfiguren (Pajonk 2010).5 Auch die historische Einbettung des Tatort in die Geschichte des Fernsehkrimis (Brück/Guder/Viehoff/Wehn 2003) beschränkte sich auf einzelne Gesichtspunkte, klammerte die »Gesamtvorstellung« (Hickethier 1991: 10) des Tatort also weitgehend aus. Nach wie vor wenig beachtet werden außerdem filmische Darstellungslogiken (Bildersprache, Kameraführung, Genrevarianten usw.), und die Vermittlung von medien- mit gesellschaftsgeschichtlichen Zusammenhängen im historischen Verlauf kommt ebenfalls noch immer zu kurz. Anders gesagt: Dass es sich beim Tatort um einen (oder den) ›wahren Gesellschaftsroman‹ handelt (Vogt 2005), ist hinlänglich bekannt. Allerdings wurde dies bislang mehr behauptet als untersucht. Zusammengefasst fehlen in der bisherigen Tatort-Forschung 1. der Blick auf das Ganze bzw. die ›Gesamtvorstellung‹ Tatort wegen der vorherrschenden Aufmerksamkeit auf einzelne Aspekte,
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Zu einigen wenigen Kommissar-Figuren gibt es eigene Veröffentlichungen, so z.B. zu Trimmel (Radewagen 1985), Schimanski (Villwock 1991; Harzenetter 1996) oder Stoever (Pundt 2002).
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2. eine genauere gesellschaftsgeschichtliche Rekonstruktion der Reihe in der historischen Abfolge der Jahrzehnte, eingebettet in fernseh- und medienkulturgeschichtliche Entwicklungen, 3. eine vertiefende Reflexion der spezifischen Medialität und ästhetischen Qualitäten der Reihe zwischen Serienproduktion und Kunstanspruch einzelner Folgen, 4. nicht zuletzt Forschungen in produktions- und rezeptionsästhetischer Perspektive. Diese Defizite der Tatort-Forschung gehen wir von zwei Seiten an: Parallel zu vorliegendem Sammelband erscheint eine Monographie unter dem Titel Föderalismus in Serie. Die Einheit der ARD-Reihe ›Tatort‹ im historischen Verlauf (Hißnauer/ Scherer/Stockinger 2014),6 in deren Zentrum das serienspezifische Verhältnis von Schema und Variation in der historischen Genese des Tatort von 1970 bis heute steht. In erster Linie rekonstruieren wir dabei eine Verlaufsgeschichte der Ästhetik des Seriellen im Tatort, die auch die Rückkopplungen zwischen Rezeption und serieller Ästhetik einbezieht. Was die Monographie nicht leisten kann, bietet der Sammelband: den interdisziplinären Blick auf über 40 Jahre Tatort-Geschehen. Er bündelt fernsehwissenschaftliche, literaturwissenschaftliche sowie sozialwissenschaftliche Beobachtungen in medienkulturwissenschaftlicher Perspektive und lässt dabei auch eine ›Praktikerin‹ des Tatort ausführlich zu Wort kommen,7 deren Arbeit wiederum – wenigstens vermittelt – aus kulturanthropologischer Sicht beleuchtet wird. Da die Reihe Tatort in erster Linie als nationales Phänomen gilt (ins Ausland wurden immer nur einzelne Folgen und eine geringe Auswahl an Serien verkauft), diskutiert der letzte Beitrag des Bandes die ARD-Reihe unter dem Aspekt der Internationalität und versteht sich durchaus als Ausblick auf weitere Forschungen zu dieser Thematik. Im ersten Teil des Bandes wird der Tatort als Reflexionsmedium von über 40 Jahren bundesrepublikanischer (und teils österreichischer und Schweizer) Zeit- und
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Zu dem diesen Untersuchungen zugrunde liegenden Analyseraster siehe Hißnauer/ Scherer/Stockinger 2012; zur Fundierung des Tatort-Projekts in der Rahmentheorie der DFG-Forschergruppe 1091 Ästhetik und Praxis populärer Serialität vgl. die Beiträge in Kelleter 2012; zu den einzelnen Projekten der Forschergruppe siehe http://www.popular seriality.de/projekte/index.html.
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Zudem war François Werner, der Initiator und Redaktionsleiter des Internet-Portals tatort-fundus.de, mit einem Vortrag zum Thema Mehr als Zahlen, Daten, Fakten – ein Rückblick auf über 40 Jahre ›Tatort‹ auf der Tagung anwesend. Auf seine mündlichen Einlassungen und Hinweise beziehen sich einige Beiträge im Band.
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Gesellschaftsgeschichte behandelt. An den Filmen der Reihe lässt sich nachzeichnen, wie sich Wohnungseinrichtungen, Moden oder Krimidramaturgien verändern, welche neuen Technologien in den Alltag einziehen, welche Themen als gesellschaftlich relevant erachtet wurden und wie sich die Geschlechterrollen verschoben haben. Der Tatort ›dokumentiert‹ so u.a. auch, wie anders unsere Städte und Landschaften im Vergleich zu den 1990er, den 1980er oder den 1970er Jahren heute aussehen oder wie sich das Bild von Kriminalität gewandelt hat. Entsprechend wurde er deshalb als »Archiv der Gegenwartsgeschichte« (Wenzel 2000b: 7) oder als »populäres Gedächtnis unserer Gegenwartskultur« (ebd.) bezeichnet. Die Reihe fungiert dabei sowohl als eine Art Brennspiegel, der Themen in den gesellschaftlichen Fokus rückt, als auch als eine Art Zerrspiegel – aber nie als neutrale Beobachterin. Sie bildet bundesrepublikanische Lebensverhältnisse nicht ab, sondern konstruiert Vorstellungen, die man als deren Abbilder akzeptieren kann. An unterschiedlichen Beispielen und aus verschiedenen Perspektiven analysieren die Beiträge in diesem Zusammenhang, wie der Tatort mentalitäts- und gesellschaftsgeschichtliche Veränderungsprozesse der jeweiligen Jahrzehnte aufnimmt und reflektiert. Dass dabei Kontinuitäten wichtiger sind als die Veränderungen, lautet die Ausgangshypothese des Beitrags Die kommunikative Figuration der ›Tatort‹-Reihe und die Darstellung der Protagonisten von Thomas Weber. Er legt damit ein Konzept von Norbert Elias zugrunde, das Vorstellungen beschreibt, die der Einzelne von kommunikativen Handlungen und performativen Wirkungen bekommt, um sich mit seiner Gesellschaft zu arrangieren. Die gemeinschaftliche Rezeption des Tatort bietet Gesprächsanlässe, auf die der Zuschauer sein eigenes Verhalten ausrichten kann. Drei Aspekte werden im Blick auf den Tatort als einer kommunikativen Figuration beleuchtet: (1) Der Realismus gehe als Anspruch darauf zurück, dass die Reihe seit ihrer Begründung durch die ARD zum Spiegel der Gesellschaft erklärt wird. Das Konzept werde jedoch bewusst im Vagen gehalten, um den realistischen Charakter unstrittig erscheinen zu lassen. Die Protagonisten sind entsprechend kaum als realistische Ermittler einzustufen. Sie stehen vielmehr für gesellschaftliche Phantasmen, die mit der Wirklichkeit – etwa den hohen Anteil weiblicher Ermittler oder die Größe der Ermittlungsteams betreffend – wenig zu tun haben. (2) Der Tatort perspektiviere kommunikative Handlungsmöglichkeiten nach verschiedenen Modellen, bei den Ermittlern etwa zwischen Vaterfigur, bürokratischen Teams und Individualisten. Vielfalt wird auch hier als entscheidende Kontinuität angesehen, zumal die Figuren Wunschvorstellungen repräsentieren, in denen sich die Zuschauer spiegeln können. (3) Ein besonderer Trend der Reihe liege darin, dass Absprachen zwischen den Sendern im Vergleich zu früher nachlassen. ›IchThemen‹ (Todorov) nehmen in dem Maße zu, wie das etwa durch Drogen gestörte Verhältnis zwischen Wahrnehmung und Bewusstsein in Formen der subjektiven Grenzauflösung nach dem Modell des Kinofilms Memento (2000) auch filmisch umgesetzt wird (Wir sind die Guten, 2009; Tango für Borowski, 2010; Unverges-
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sen, 2013; Er wird töten, 2013). Die Murot-Folge Das Dorf (2011) erweist sich dabei als effektvolle Darstellung der Verunsicherungen und bedient mit metafiktionalen Konstruktionen zugleich die Sehinteressen eines Publikums, das die Kino-Zitate erkennt. Carsten Heinzes Beitrag Alltagskonstruktionen und soziale Rolle: Eine soziologische Perspektive auf den ›Tatort‹ eröffnet mit der sozialen Rollentheorie filmsoziologische Perspektiven auf die ARD-Reihe. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie sich die Werte und Normen des Tatort theoretisieren lassen. Heinze argumentiert, dass im Tatort unterschiedliche soziale Gruppen miteinander idealtypisch und stereotypisiert interagieren. Dabei werden einseitig bestimmte Aspekte des sozialen Handelns hervorgehoben, wodurch die Komplexität des Sozialen auf eine überschaubare Zahl von Merkmalen reduziert wird. Realistisch sei in diesem Sinne nicht die Darstellung im Tatort allgemein (als Spiegelbild der Gesellschaft), sondern die soziale Typisierung, die das Format vornimmt. Die Rollentheorie geht davon aus, dass soziale Positionen und soziale Rollen zwischen Individuum und Gesellschaft vermitteln. An diese Positionen werden bestimmte Rollenerwartungen herangetragen, die sich in Kann-Normen (kaum/gar nicht sanktioniert), Soll-Normen (verbindlich/konformitätsstiftend) und Muss-Normen (rechtlich sanktioniert) differenzieren lassen. Da soziale Rollen nur funktionieren, wenn sie sich komplementär aufeinander beziehen (Polizistin vs. Verdächtiger), werde auch im Tatort in Rollen-Oppositionen gedacht und gehandelt. Zudem treten immer wieder Intra- und Interrollenkonflikte auf, d.h. Konflikte, die sich innerhalb einer Rolle aufgrund unterschiedlicher Anspruchsgruppen und entsprechender Erwartungen ergeben, und solchen, die zwischen unterschiedlichen Rollen und den jeweiligen Erwartungen, die jemand einnimmt (z.B. Polizistin, Ehefrau und Mutter), entstehen. Heinze legt dabei zugrunde, dass sich gewollte/ungewollte Handlungsweisen analytisch über die Rollentheorie erfassen lassen: An den (inszenierten) Lösungsstrategien der Rollenkonflikte können demnach Normen- und Wertstrukturen abgelesen werden. Hendrik Buhl untersucht in seinem Beitrag Zwischen Fakten und Fiktionen. Gesellschaftspolitische Themen in der Krimireihe ›Tatort‹ auf der Basis der Erstausstrahlungen des Jahres 2009 (34 Folgen), wie gesellschaftlich relevante Themen in der Krimireihe verarbeitet werden. Es geht ihm v.a. darum, die aktuellen Modi der Thematisierung und die Spezifik der Inszenierung von Themen zu analysieren. Wie werden Wissensbestände durch den Tatort strukturiert? In Anlehnung an die Cultural Studies, an das Politainment-Konzept von Andreas Dörner und die Interdiskurstheorie von Jürgen Link begreift Buhl den Tatort (v.a. in seiner Ausprägung als ›Themen-Tatort‹) als institutionalisierten Interdiskurs, der dazu dient, Wissensbestände von Spezialdiskursen (z.B. der Medizin oder Wirtschaft) in eine fiktionale Handlung zu integrieren. Die damit einhergehende Komplexitätsreduktion wird am Beispiel der Folge Kassensturz (2009) aufgezeigt. Hier wird die Figur des Experten dazu genutzt, wirtschaftliche Zusammenhänge auf verständliche Weise für die Zu-
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schauerinnen und Zuschauer ›herunterzubrechen‹, um diese sowohl zu vermitteln als auch zu kontextualisieren. Thementräger können Betroffene und Experten sein. In diesem Fall erscheinen die Ermittlerinnen und Ermittler als unwissendes Gegenüber. Ihr Nachfragen hat sich als stereotypes interdiskursives Verfahren verfestigt. Gleichzeitig zeigt sich, dass gerade in Dialogen mit Experten Formen der ironischen Brechung des interdiskursiven Ernstes für den Tatort wichtig werden können. Auch Ermittler- oder Nebenfiguren, die sich entweder kundig gemacht haben, selbst betroffen sind oder sich aus anderen Gründen in dem Themenfeld bereits auskennen, können als Thementräger in Frage kommen. Insbesondere die Kommissarinnen und Kommissare der Reihe haben dabei, wenn sie als Thementräger funktionalisiert werden, eine besondere Bedeutung für die Perspektivierung und Bewertung von Wissensbeständen, da sie als Norminstanz mit Definitionsmacht über das Sagbare auftreten. Insgesamt macht der Beitrag deutlich, dass der Tatort in der Regel konsensuell ausgerichtet ist. Er bietet eine sinnliche Erfahrbarkeit abstrakter Themen, aber kaum wirkliche Provokation. Joan Kristin Bleichers Beitrag Der ›Tatort‹ als Spiegel gesellschaftlicher Entwicklungen am Beispiel der Veränderung von Täterprofilen nimmt deren Verhältnis zu den Invarianten in der über 40-jährigen Laufzeit der Reihe in den Blick. Kernthese ist die Beobachtung, dass sich v.a. die visuellen Charakterisierungen der Täterinnen und Täter (bspw. durch Kleidung oder Requisiten) sowie die Biographie und das berufliche und private Lebensumfeld verändern, so dass man an dieser Personengruppe bestimmte Zeitbezüge ablesen kann. Die Täterprofile selbst dagegen blieben wie die Tatmotive unverändert und würden so aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen lediglich angepasst. Dabei begreift Bleicher als ›Täter‹ nicht (nur) die Mörder (und andere Verbrecher) im eigentlichen Sinn. Vielmehr umfasst diese Kategorie auch eine Art ›moralischer Täterschaft‹. In dieser Weiterung des Begriffes sind Täter als Prototypen negativ empfundener Entwicklungen und Verhältnisse inszeniert: als Retter konservativer Weltordnungen, Vertreter von Unternehmen oder Institutionen etc. Darin zeige sich eine personalisierte Form der Gesellschaftskritik, die von Bleicher in ihrer historischen Entwicklung analysiert wird. Am Ende symbolisiert die Strafe der Figur die Bestrafung des Problems. Stephan Völlmicke sieht in der ARD-Reihe 40 Jahre Leichenshow-Leichenschau, wenn er Die Inszenierung des Todes im ›Tatort‹ und den sozialen Umgang mit Sterben und Tod analysiert. Er geht dabei von einem Paradoxon aus: zwischen der strukturellen Verdrängung des Todes, der in der realen Lebenswelt dem Blick zumeist entzogen wird, und den zunehmenden medialen Erfahrungen mit dem Tod, der in Film/Fernsehen und damit in der medialen Lebenswelt der Menschen omnipräsent erscheint. Die Darstellung des Todes in der ARD-Reihe wird am Beispiel von 81 Tatorten von NDR und WDR zwischen 1970 und 2010 (d.h. eine Folge pro Jahrgang, ausgewählt nach den höchsten Marktanteilen), mithilfe einer qualitativquantitativen Filmanalyse untersucht; einbezogen sind u.a. die visuelle, die auditive
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und die räumliche Ebene der Darstellung (Handlungsorte). Es zeigt sich, dass in besagtem Zeitraum die Anzahl der Einstellungen und Subsequenzen, in denen eine Leiche zu sehen ist, stark angestiegen ist; zugleich ist eine Tendenz zur direkten Abfilmung der Leiche (Groß-, Nah- und Detaileinstellung) zu beobachten. Darüber hinaus rekonstruiert der Beitrag eine allgemeine Tendenz zur Verwissenschaftlichung und Medikalisierung im Umgang mit Leichen/Tod, die sich, wie Völlmicke zeigt, im Tatort spiegelt. Das primär naturwissenschaftliche Todesbild, das technisch-hygienische Rationalisierungen in den Vordergrund rückt, entspricht demzufolge der distanzlosen Darstellung im Tatort, weil es diese allererst ermöglicht. Zugleich wirkt die Darstellung des Todes im Film auf die Todesbilder der Gesellschaft zurück. Damit wird die Prägekraft der Reihe, ihre kulturelle Arbeit, an diesem spezifischen Diskurs offenkundig. Rolf Parrs Überlegungen zu Vehikel, Charakter-Pendant und Mittel zur Raumerkundung. Das Auto als multifunktionales Strukturelement in der ARD-Reihe ›Tatort‹ gehen der Frage nach, welche funktionale, gesellschaftsgeschichtliche und serielle Rolle dem (in quantitativer Hinsicht zweifellos bedeutsamen) Requisit ›Auto‹ in und für die ARD-Reihe zukommt. Auffällig ist dabei v.a. die Anthropomorphisierung dieses Gefährts, weil es dem Charakter der ihm zugeordneten Figur korreliert und dabei zum einen, wie etwa am Beispiel Borowski gezeigt wird, serielle Effekte (Kontinuitäten und Minimalvariationen) erzeugt. Zum anderen übernimmt das Auto auch Regionalisierungsleistungen für die jeweiligen Serien der Sendeanstalten, etwa indem Nummernschilder, Autofahrten durch Landschaften oder Automarken Regionalitätseffekte erzielen. Darüber hinaus zeichnet das Auto für die Raumdramaturgien der einzelnen Folgen insofern verantwortlich, als es zwischen Innen- und Außenwelten zu differenzieren auffordert, Tatort und Büro verkoppelt, Kommunikation zwischen den Kommissaren erzwingt und Landschaften in Szene setzt. In einzelnen Tatort-Folgen wird es gleichsam therapeutisch verwendet; es konzentriert antagonistisch eingesetzte Rollen auf engem Raum (Täter, Ermittler); es verknüpft Sichtbares und Unsichtbares, Dynamisches und Stillstand; schließlich wird es gelegentlich eingesetzt, um das Serienende zu markieren (›Ende einer Dienstfahrt‹). Der zweite Teil des Bandes widmet sich der spezifischen Logik des öffentlichrechtlichen Fernsehkrimis: Wie keine andere Reihe spiegelt die Reihe Tatort das föderale System der ARD wider – nicht nur als »föderale Handlungsstruktur«, wie dies schon bei Stahlnetz (1958-1968) der Fall war, sondern auch (und das ist das Neue) in der »Produktionsstruktur« (Otte 2013: 63). Die Reihe ist daher durch ein Zusammenwirken unterschiedlicher, regional ausgerichteter Senderlogiken bestimmt, die auf Autorschaftskonzepte und Produktion einwirken. Im Fokus der Beiträge stehen deshalb intraserielle Distinktionsstrategien, durch die sich einzelne Tatort-Serien von anderen Serien der Reihe (und damit auch von anderen Sendern)
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unterscheiden – u.a. durch die Rauminszenierung oder durch Komik, durch redaktionelle Entscheidungsprozesse oder durch das wie auch immer distanzierte Verhältnis zwischen Autoren und Zuschauern (bezogen etwa auf die Frage, welche Vorstellungen sich Autoren und Zuschauer vom jeweils anderen machen und wie sich diese Fremdbilder auf Produktion und Rezeption auswirken). Gefragt wird z.B. danach, wie der MDR die Beobachtung einer sich wandelnden regionalen Mentalität funktionalisiert, um einerseits länderspezifische Erkennbarkeit zu generieren und andererseits die ›fünf neuen Bundesländer‹ einem westdeutschen Publikum näher zu bringen. Die eingängige, aber nur in Ansätzen belegte These von der Funktion des Tatort als »Landeskunde« im Thriller-Format (Vogt 2005: 117) wird so einer Überprüfung unterzogen. Christian Hißnauer rekonstruiert in seinem Beitrag ›Stahlnetz‹ + ›Kommissar‹ = ›Tatort‹? Zur Frühgeschichte bundesdeutscher Krimiserien und -reihen die Entwicklungsgeschichte des bundesdeutschen Fernsehkrimis seit den 1950er Jahren bis zur Etablierung des Tatort-Konzepts 1970. Die fernsehhistorische Einordnung erfolgt dabei nicht – wie es die Regel ist – nur hinsichtlich der Serien und Reihen in der Prime Time; sie umfasst vielmehr stärker die auf Unterhaltung hin orientierten Serien des sog. Werberahmenprogramms. Dabei wird deutlich, wie sehr ARD und ZDF Krimiserien und -reihen zunehmend auch vor dem Hintergrund der Programmkonkurrenz strategisch genutzt haben. Hißnauer zeigt damit, dass bisherige Thesen zur Programmgeschichte des Fernsehkrimis oftmals unzulässig verallgemeinern, und öffnet den Blick für eine differenzierende historische Betrachtung. So gibt es z.B. nicht erst mit der ZDF-Serie Der Kommissar (1969-1976) durchgängige Ermittlerfiguren in bundesdeutschen Serien. Insbesondere im werbefinanzierten Vorabendprogramm sind solche Figuren schon lange vorher zu sehen, um Zuschauerinnen und Zuschauer an das Programm zu binden. Auch das föderale Prinzip des Tatort findet sich als Handlungsstruktur schon früh in anderen ARD- und ZDFReihen. Um dem überaus erfolgreichen Kommissar aber einen eigenen, regelmäßig ausgestrahlten Fernsehkrimi entgegenzusetzen, müssen die ARD-Sendeanstalten kooperieren. Nur unter der Ausnutzung der föderalen Produktionsstruktur kann garantiert werden, dass der Tatort in gleichmäßigen Intervallen (zunächst) einmal im Monat läuft, zumal der Sendeplatz wechselnd von allen Landesrundfunkanstalten beansprucht wird. Das Interview mit SWR-Redakteurin Melanie Wolber diskutiert Entscheidungsprozesse in der Redaktion. Es bietet Einblicke in die konkrete Redaktionsarbeit, indem thematische, ästhetische sowie institutionelle Entscheidungen und individuelle Vorlieben der Redakteurin in Hinsicht auf den von ihr verantworteten Odenthal-Tatort deutlich werden. Im Konzept dieser Serie spielt demnach die landschaftsbezogene Darstellung wie in Konstanz oder die Action-Dramaturgie des Stuttgarter Tatort eine geringere Rolle, weil der Odenthal-Tatort primär themenorientiert angelegt sei. Gesellschaftspolitische Aspekte stehen für Wolber dabei im
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Vordergrund: Bei den eingehenden Drehbüchern zähle der erste Eindruck im Blick auf thematische und gesellschaftliche Relevanz. Mit aktuellen Themen wie z.B. in der Folge Kassensturz (2009) wolle man den Nerv der Zeit treffen und den Zuschauer an Milieus teilhaben lassen, die er nicht kennt. Zugleich legt dieses Konzept Wert auf die emotionale Motivation der Handlung und rückt deshalb die Figuren in den Fokus. Auch Gender-Aspekte spielen in die individuellen Entscheidungsprozesse hinein: Rollenklischees aufzubrechen wird nach wie vor als wichtig angesehen. Davon ausgehend formuliert Wolber ein Konzept des ›Visionären‹, wonach der Tatort nicht nur gesellschaftsabbildend, sondern auch gesellschaftsbildend sein soll, so wie sich dies ihrer Meinung nach mit den frühen weiblichen Ermittlern beim SWF/SWR bewährt habe. Die kulturanthropologische Sicht auf die ARD-Reihe Tatort liefert der Band mit einem Beitrag, der die Wechselwirkungen zwischen Autoren und Rezipienten im deutschen Fernsehen erklärt. Regina F. Bendix und Christine Hämmerling zeigen darin, dass Zuschauer in deutschen Produktionskontexten (im Gegensatz zu USamerikanischen) eher nur in ihrer rezipierenden Rolle beachtet werden. Daran offenbaren sich die Grenzen von ›Prosumenten‹, die zwar die neuen Medien nicht ablehnen, aber den habitualisierten Praktiken ihrer Mediensozialisation unterliegen: Man will sich den Film ansehen, ohne sich tatsächlich interaktiv einzubringen. Dieses ritualisierte Zuschauerverhalten geht auf die jeweiligen Biographien zurück. Entsprechend fallen die verschiedenen Arten der Tatort-Rezeption aus: Wer darauf sozialisiert ist, hält sich an den Termin am Sonntagabend im heimischen Wohnzimmer. Man reproduziert demnach eine Selbstverpflichtung innerhalb einer generationellen Verhaltensweise: Der Tatort funktioniert als verbindendes Element zwischen Eltern und Kindern und wird so zum Indikator der Verlässlichkeit familiärer Praktiken (cultural intimacy). Tatort-Fundus-Kommentatorinnen und -Kommentatoren geben sich dabei gern als Kenner aus, machen aber ebenfalls keine Vorschläge für die Gestaltung der Narration. Der Beitrag verbindet diese Überlegungen mit Hinweisen auf das Nachfolgeprojekt in der DFG-Forschergruppe Ästhetik und Praxis populärer Serialität, das Serienschreiben als Beruf untersucht: Produzierende achten demnach auf die Quote, nicht auf Kommentare der Zuschauer, denen man eine lediglich konsumierende Rolle einräumt. Andreas Blödorn rekonstruiert in seinem Beitrag Raum als Metapher. Münster als Raum exzessiver Selbstreflexion des ›Tatort‹-Formats den besonderen Stellenwert einer Tatort-Serie, die durch ausgestelltes Spiel, Entnarrativierung, Komisierung und Selbstthematisierung die Dehnbarkeit des Formats austeste. Insofern sei die Serie aus Münster als Extremfall einer Abweichung in Serie konzipiert, die andere Sender allenfalls in einzelnen Folgen praktizierten. Nachgestellte Zitate und Anspielungen (z.B. auf Agatha Christi in der Schlussaufstellung von Das ewig Böse, 2006) weisen den Münsteraner Tatort als Inszenierung eines Tatorts aus, erkennbar auch an den Übertreibungen in der Darstellung von Leichen. Die Verknüp-
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fung von Privatem und Öffentlichen wird hier ins Extrem getrieben: Boerne obduziert Frauen, mit denen er ein Verhältnis hatte; alle Figuren sind in die Serie involviert, keine ist unverdächtig. Am Tatort Münster kann daher die Ausbildung einer Serie innerhalb der Reihe zu einem folgenübergreifend gemeinsamen Weltmodell beobachtet werden: Eine serialisierte Raummetaphorik (oben vs. unten, vorne/ außen/nah vs. fern) dient dazu ebenso wie die Aufdeckung des Verborgenen, visualisiert z.B. an scheinhaften Fassaden in der horizontalen Achse gegenüber dem Sumpf in der vertikalen Achse (Moor/herausragende Leichenhand). Münster erscheint so als abgründiger Ort, der verborgene Geheimnisse auf unsicherem Boden birgt, die in einem konservativen Milieu in der westfälischen Provinz ›ausgegraben‹ werden. Diese übergeordneten Raummetaphoriken werden auch im Bezug auf Genres wie die schwarze Komödie variiert: Die groteske Verzerrung der Realität durch dominierende Kamerauntersichten wirft die Perspektive des Todes auf die Lebenden. Abweichende Kameraperspektiven demonstrieren die Dominanz der Form über den Inhalt. Wie das ironisch-komödiantische Spiel mit Genres dienen sie der Metareflexion auf Elemente des Krimis und seiner medialen Bedingungen. Durch Rücknahme des sozialen Bezugs demonstriert der Tatort Münster Möglichkeiten der Kunst. Darüber hinaus unterscheidet sich der Münsteraner Tatort von anderen Serien der Reihe durch die ungewöhnliche Paar-Konstellation Kommissar/Gerichtsmediziner sowie durch die offensive Komik der Folgen, die hier bewusst als Distinktionsstrategie eingesetzt wird. Thomas Kleins Beitrag Zwischen Wortwitz und Klamauk. Der ›Tatort‹ Münster als Dramedy geht zunächst davon aus, dass zu viele komische Elemente die Funktionalität des Tatort als Krimi stören. Zugleich werden diese Störfaktoren aber auch als innovative Genre- und Formatbrüche wahrgenommen, die zur großen Beliebtheit der Thiel/Boerne-Tatorte führen. In diesem Zusammenhang spielt Dialog- und Körperkomik (slapstick) eine eigene Rolle. Insbesondere die Wiederholung wird zum typischen Merkmal der Komik, so dass das Zusammenspiel von Wiederholung und Varianz im seriellen Verlauf an den zahlreichen Running Gags entfaltet werden kann. Mit Blick auf die Genregenese der dramedy verortet der Beitrag den Tatort in der allgemeinen Seriengeschichte (im anglo-amerikanischen Sprachgebrauch bezeichnet dramedy eine Mischung aus Drama und Komödie). In den 1990er Jahre wurden dramedies – anders als heute – noch nicht als neuartige, hybride Form des sog. Quality-TV goutiert. Im Tatort in Münster erlangt die dysfunktionale Wirkung des Komischen im Krimi eine neue serielle Funktion, die aus der nunmehr nobilitierten Hybridisierung hervorgeht. Damit wird, so die These des Beitrags, das Tatort-Konzept transzendiert. Tina Welke betrachtet in ihren Überlegungen Kunde aus dem Osten der vereinigten Republik: Der MDR-›Tatort‹ in den Jahren 1992 bis 2007 die sog. neuen Bundesländer nicht als regionalen, sondern als sozialen Raum, der durch den ›Ost‹Tatort zunächst relativ undifferenziert geschaffen werde. Eine genauere spezifizier-
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te Darstellung ostdeutscher Regionen werde erst ab 2007 sichtbar; sie etabliert sich letztlich erst 2013/2014 mit den neuen, parallel zu den Keppler/Saalfeld-Tatorten laufenden Serien. Die These des Beitrags ist, dass der MDR die Tatort-Serie um die Kommissare Ehrlicher und Kain zweckentfremdet habe, um Einblicke in den Osten ermöglichen zu können. Insbesondere die gesellschaftlichen Transformationsprozesse werden, so Welke, in den Folgen thematisiert und verhandelt. Dabei lassen sich fünf Phasen unterscheiden: Zwischen 1992 und 1996 werden soziale Verwerfungen und Themen wie Kontinuitätsbruch und Neuorientierung fokussiert. Zwischen 1997 und 1999 spielen Aspekte wie Resignation und der Konflikt zwischen Tradition und Neuem eine große Rolle. Zwischen 2000 und 2002 wird die Angleichung der Lebensverhältnisse suggeriert, wenn vermehrt Ost-West-Begegnungen vorkommen. Zwischen 2003 und 2005 geht es um die Implementierung und Evaluation der aktuellen Lebenssituation. Schließlich wird zwischen 2006 und 2007 der vollzogene Wandel im Sinne stabilisierter Lebensverhältnisse dargestellt. Der ›Osten‹ sei im Prinzip seitdem nicht mehr existent. An zwei konkreten Beispielen, die thematisch und ästhetisch die ermittelten Handlungsphasen repräsentieren, geht der Beitrag den ostdeutschen Identitätsinszenierungen im MDR-Tatort genauer nach: an der Folge Tödlicher Galopp (1997), die zur Steigerungsphase gehört und eine deutsche ›Lebens‹geschichte mit west- und ostdeutschen Anteilen erzählt, sowie an der Folge Abseits (2004) aus der Retardierungsphase, der zufolge ostdeutsche Identitätsvergewisserung in den Erinnerungsraum einzelner verschoben ist, aufs Ganze gesehen aber keinerlei Relevanz mehr hat. Im dritten Teil des Bandes geht es um die filmkünstlerischen Aspekte der spezifischen Tatort-Serialität. Die Beiträge diskutieren und kontextualisieren die historisch variablen Qualitätsstandards der Reihe sowie die Kunstansprüche, mit denen sich einzelne Folgen immer wieder vom Gros des ganzen Formats abheben. Diese ästhetischen Qualitäten scheinen insbesondere in spezifischen filmischen Verfahren, in Genreanspielungen und Genreparodien, in intertextuellen und intermedialen Bezügen sowie in selbstreferentiellen Verweisen seit den 1990er Jahren auf. Im Mittelpunkt stehen daher das Spannungsverhältnis von Filmdramaturgie und Reihennarration sowie der Bedeutungsverlust des Narrativen durch ein vordrängendes ludisches Dispositiv. In der Serienforschung bzw. Forschung zum Fernsehkrimi wird der Tatort bisher nicht mit europäischen Fernsehkrimi-Formaten (England, Schweden, Dänemark) oder amerikanischen Serien verglichen. Erstmals nimmt der Band daher im Anschluss an die Debatte über das sog. Quality-TV auch eine international vergleichende Perspektive ein. In seinem Beitrag Filmdramaturgie vs. Reihennarration. ›Liebe, Sex, Tod‹ (1997) und der ›Tatort‹ der 1990er Jahre führt Hans Krah drei aus seiner Sicht maßgebliche Tendenzen der Reihe in diesem Jahrzehnt vor: (1) Einzelne Folgen (die nicht zuletzt an der Dramaturgie des Kinofilms partizipieren) werden zum ei-
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nen als singuläres Werk gesetzt und dadurch aus dem Reihenganzen isoliert. Zum anderen erweist sich gerade an solchen Folgen das spezifische serielle Format der Reihe Tatort, wenn über das hartnäckige Festhalten insbesondere am Konzept der Volksaufklärung jene Komplexität zugleich wieder reduziert wird, die einzelne Serien und Folgen über eine zunehmende Dynamik der Figurensemantik oder offensichtliche Genreanbindungen gerade in diesen Jahren auszeichnet. Etwa wird deshalb die Brisanz gesellschaftlicher Grenzthemen (wie z.B. Inter- und Transsexualität) dadurch aufgefangen, dass diese von gesellschaftlich unumstrittenen, allgemein interessierenden Fragen überlagert und so entschärft werden (wie z.B. die Singleproblematik). (2) Die Ermittlerfiguren werden emotional stärker involviert, indem das Thema der Folge nicht nur im Fall, sondern auch an diesen Figuren selbst verankert wird. Für die serielle Fortsetzungslogik bleibt dies aber bedeutungslos: Das Ende einer Folge stellt mit der (Rechts-)Ordnung auch den Ausgangszustand in der psychischen Disposition der Ermittlerfiguren wieder her, und die Abweichung, die in der Folge selbst thematisiert wurde, wird damit in die ›Normalität‹ rücküberführt. (3) Dass es sich dabei im Fall von Liebe, Sex, Tod um ein explizit filmisches Filmende (den Kinofilm The Silence of the Lambs/Das Schweigen der Lämmer, 1991, zitierend) handelt, bestätigt die in den 1990er Jahren gestiegene Tendenz der Reihe zur Metareflexivität. Moritz Baßlers Thesen-Beitrag Bewohnbare Strukturen und der Bedeutungsverlust des Narrativs. Überlegungen zur Serialität am Gegenwarts-›Tatort‹ unternimmt den ambitionierten Versuch einer strukturalistischen Serienbestimmung im Gefolge der poetischen Funktion von Roman Jakobson, indem er die Logik des short cuts (nach dem Vorbild von Robert Altmanns gleichnamigem Film) serientheoretisch reformuliert. In Episodenserien stehen die Folgen zueinander im Verhältnis der Äquivalenz, wenn die Leiche, Verdächtige und der Täter wiederkehren. Der Pol der Äquivalenz resultiert folglich aus immer derselben diegetischen Ausgangslage. Mit Bezug auf Ecos Überlegungen zu James Bond verbindet Baßler diesen Befund mit der Äquivalenz narrativer Spielzüge. Bei der Fortsetzungsserie machten sich short cuts geltend: Der ständige Szenenwechsel in Game of Thrones (seit 2011) etwa zerschneidet die Handlung in Sequenzen; die Neukombination lässt Äquivalenz-Verhältnisse zwischen den Schnipseln desselben Handlungsstrangs durch short cuts entstehen. Darin erkennt Baßler das Re-Entry des Serienprinzips ins serial: Äquivalente short cuts produzieren eine Narration durch die Selbstähnlichkeit von Handlungssträngen. Dies bedeutet eine Schwächung der Einzelnarrative, die keinen Erzähltext mehr tragen. An deren Stelle tritt das »spektakulär selbstreferentielle Spiel«, das serienspezifische Diegesen produziert. Die Einheit ist nicht mehr narrativ im Sinne einer übergeordneten Erzählung konzipiert, sondern als eine Art ›Meta-Kontiguität‹ in Panoramen wie New York in Dos Passos’ Roman Manhattan Transfer (1925), Baltimore in der TV-Serie The Wire (2002-2008) oder Neumünster in Falladas Roman Bauern, Bonzen und Bomben (1931). Auch beim
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Tatort interessiere weniger die narrative Spannung, weil hier der Kriminalfall als tragendes Narrativ entwertet werde, wenn das Interesse mehr auf Figuren als auf den Fall gelenkt wird. ›Spektakuläre Selbstreferenz‹ dominiere so auch hier gegenüber dem Narrativ. Darin macht Baßler ein strukturales Element von LangzeitSerialität aus: Diese wird zum dominanten Modus, wenn das Narrativ an der Schwelle zu einem ludischen Dispositiv (als Erfindung von Spielwelten) geschwächt werde. Der Tatort präsentiert insofern eine panoramatische Meta-Kontiguität namens Deutschland (keine reales, sondern ein Deutschland als ikonisches Zeichen der Diegese), das in diesem Spiel für den Zuschauer als ›bewohnbare Struktur‹ funktioniert. Dennis Gräf verfolgt in seinen Überlegungen zur Wertevermittlung im ›Tatort‹. ›Die Heilige‹ (2010) und der bayerische ›Tatort‹ einen mediensemiotischen Ansatz, der es ihm erlaubt, innerhalb der ARD-Reihe Tatort die Serie des Bayerischen Rundfunks (für die ein Sonderstatus vorausgesetzt wird) auf die inhärenten Wertevermittlungsstrategien hin zu befragen. Wie es dem Genre ›Krimi‹ allgemein eigen ist, so konstituiert die Doppelung von Ordnungsverletzung und deren Sanktionierung auch die Filmkrimireihe Tatort. Indem sie Störung und Wiederherstellung der Ordnung thematisieren, also in eine Handlung einbetten, transportieren die Filme zugleich bestimmte, die jeweilige Ordnung fundierende und stabilisierende Werte, auf deren Geltung sie zum je eigenen Zeitpunkt der Produktion und Erstausstrahlung beharren und die sie dem Publikum als handlungsleitendes Muster nahebringen möchten. Dass die BR-Serie ein über die gesamte Laufzeit gleichbleibendes Werteset vermittelt (wodurch sie sich von anderen Serien der Reihe unterscheide), stellt die leitende These der Untersuchung dar, die dafür einzelne Filme im historischen Verlauf kursorisch und die Folge Die Heilige (2010) im Detail untersucht. Julika Griem Beitrag Zwischen deutschem Gesellschaftsroman und ›The Wire‹: Das Werk-Potential des ›Tatort‹ im Kontext internationaler Referenzen betrachtet den Tatort als ein potentiell werkartiges Objekt bzw. eine ›Werkbaustelle‹ und fragt danach, unter welchen Bedingungen die ARD-Reihe ein Objekt zwischen Serie und Werk ist. Im Unterschied zu The Wire (2002-2008) sei beim Tatort die Werkperspektive bislang v.a. hinsichtlich einzelner, herausragender Folgen eingenommen worden – mit impliziten Aussagen über das Ganze der Reihe. So werde etwa Samuel Fullers Tatort-Film Tote Taube in der Beethovenstraße (1973) als ›Experiment‹ in die Reihe eingepasst. Internetforen wie tatort-fundus.de organisierten dabei den Tatort als ein Ganzes. Anhand auktorialer Selbst- und paratextueller Fremdbeschreibungen, die sich sowohl beim Tatort als auch bei The Wire duplizieren, wird gezeigt, dass The Wire ebenso wie einzelne Tatort-Serien Merkmale sowohl rhetorischer als auch emphatischer Werkkonzepte aufweisen. Vorliegender Band geht auf eine von der Fritz-Thyssen-Stiftung geförderte Tagung in Göttingen (20.-22. Juni 2013) zurück. Wir möchten uns auch an dieser Stelle
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nochmals für die ebenso großzügige wie unkomplizierte finanzielle Unterstützung bedanken, ohne die dieses Projekt nicht möglich gewesen wäre. Für die tatkräftige Hilfe bei der Organisation und Durchführung der Tagung danken wir Philipp Böttcher, Lea Fricke, Janna Kroh, Björn Lorenz, Kai Matuszkiewicz, Karin Peschke, Jonathan Stemmann und Mareike Timm.
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B EHANDELTE T ATORT -F OLGEN Tote Taube in der Beethovenstraße, 7. Januar 1973 (WDR, R: Samuel Fuller) Liebe, Sex, Tod, 6. April 1997 (BR, R: Peter Fratzscher) Tödlicher Galopp, 26. Juni 1997 (MDR, R: Wolfgang Panzer) Abseits, 28. November 2004 (MDR, R: Hajo Gies) Das ewig Böse, 5. Februar 2006 (WDR, R: Rainer Matsutani) Kassensturz, 1. Februar 2009 (SWR, R: Lars Montag) Wir sind die Guten, 13. Dezember 2009 (BR, R: Jobst Christian Oetzmann) Tango für Borowski, 4. April 2010 (NDR, R: Hannu Salonen) Die Heilige, 3. Oktober 2010 (BR, R: Jobst Oetzmann) Das Dorf, 4. Dezember 2011 (HR, R: Justus von Dohnànyi) Trautes Heim, 21. April 2013 (WDR, R: Christoph Schnee) Unvergessen, 20. Mai 2013 (ORF, R: Sascha Bigler) Er wird töten, 9. Juni 2013 (RB/Degeto, R: Florian Baxmeyer)
ANDERE R EIHEN
ZITIERTE
F ILME , M EHRTEILER , S ERIEN UND
Der Kommissar (BRD, 1969-1976 [ZDF]) Game of Thrones (USA, seit 2011 [HBO]) Memento 2000 (USA, R: Christopher Nolan) Polizeiruf 110 (DDR/D, seit 1971 [DFF/ARD]) Short Cuts 1994 (USA, R: Robert Altman) Stahlnetz (BRD, 1958-1968 [NWRV/NDR])
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Stubbe – Von Fall zu Fall (D, 1995-2014 [ZDF]) The Silence of the Lambs/Das Schweigen der Lämmer 1991 (USA, R: Jonathan Demme) The Wire (USA, 2002-2008 [HBO])
Der Tatort als Reflexionsmedium der Zeit- und Gesellschaftsgeschichte
Die kommunikative Figuration der Tatort-Reihe und die Darstellung der Protagonisten T HOMAS W EBER
E INLEITUNG In den letzten Jahren ist die Tatort-Reihe verstärkt in den Fokus einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung geraten, da sie aufgrund ihrer langen Laufzeit eine Art kulturelles Archiv oder Spiegel der bundesrepublikanischen Gesellschaft zu sein scheint (siehe Gräf 2010: 13). V.a. die Hauptfiguren werden immer wieder als Indikatoren für neue gesellschaftliche Trends und Entwicklungen angesehen. Doch lässt sich das tatsächlich belegen? Im Folgenden möchte ich der Entwicklung der Figurenprofile der Protagonisten der Tatort-Reihe anhand von drei Fragen nachgehen: 1. Spiegeln die Hauptfiguren die gesellschaftliche Realität, und wenn ja, haben sie sich mit dieser verändert? Sind sie also realistisch? 2. Welcher Art von kommunikativen und dramaturgischen Handlungsmodellen folgen die Protagonisten? 3. Gibt es Trends, die sich bei der Darstellung der Protagonisten beobachten lassen?
D IE T ATORT -R EIHE ALS KOMMUNIKATIVE F IGURATION DES Z USCHAUERHANDELNS Wenn man sich die Entwicklungsgeschichte des Tatort anhand der Figurenprofile der Protagonisten betrachtet, dann fallen in einem Langfristvergleich v.a. die Kontinuitäten der Reihe auf. Die Figuren scheinen weniger ein Spiegel der gesellschaftlichen Veränderung der Bundesrepublik Deutschland zu sein als vielmehr ein Spie-
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gel der dramaturgischen Grundkonzeption der Tatort-Reihe selbst, die sich als erstaunlich stabil erwiesen und sich zu einer ›Kommunikativen Figuration‹ entwickelt hat. Der Begriff der ›Kommunikativen Figuration‹ ist ein in Anlehnung an den Begriff der »sozialen Figuration« von Norbert Elias gebildeter Neologismus. Elias bezeichnete damit »das gedankliche Modell, das Menschen vor Augen haben, wenn sie über das Verhältnis ihrer selbst zu der ›Gesellschaft‹ nachdenken [...]« (Elias 1991: 10). Es ging ihm dabei weniger um manifeste soziale Verhältnisse als vielmehr um eine Vorstellung, die es dem Individuum ermöglicht, sich mit der Gesellschaft zu arrangieren. Im Gegensatz zu sozialen Figurationen, nach denen die Menschen ihre sozialen Beziehungen ausrichten, dienen kommunikative Figurationen v.a. der Strukturierung der kommunikativen Verhältnisse. Diese werden inzwischen insbesondere von mediatisierten Formen der Kommunikation geprägt. Kommunikative Figurationen können daher beschrieben werden als durch Medien vermittelte und imaginierte Strukturen sozialer, kultureller und nicht zuletzt auch medialer Ordnung (vgl. Weber 2013: 11-33). Kommunikative Figurationen beschreiben also nicht mehr soziale Verhältnisse, sondern mediale Prozesse, die die kommunikativen Verhältnisse regulieren. Sie müssen eine ritualisierte oder zumindest repetierbare Form annehmen, um als Modell einer solchen Ordnung zu funktionieren, an dem sich das mediale Verhalten der an der Mediennutzung beteiligten Akteure orientiert. Bei kommunikativen Figurationen sind nun zwei Aspekte zu unterscheiden: Sie umfassen sowohl eine performative Struktur als auch eine kommunikative Funktion. Während die performative Struktur die ästhetische Struktur des Präsentierten beschreibt, ergibt sich die kommunikative Funktion aus der Art und Weise, wie das Medium ein kommunikatives Verhältnis zu seinem Publikum aufbaut. Der Aspekt der kommunikativen Funktion in der kommunikativen Figuration ergibt sich aus dem Umfang der Tatort-Reihe, ihrer Einbettung ins Programmschema und den Presse- und Publikationsreaktionen: Es gibt inzwischen mehr als 890 gesendete Tatort-Folgen (Stand: Ende 2013), die seit 1970 mit einer gewissen Regelmäßigkeit ihren Sendeplatz am Sonntagabend behaupten und sich durch unzählige Wiederholungen im Abendprogramm der ARD und der angeschlossenen Dritten Programme im Bewusstsein der Zuschauer fest verankert haben. Der Tatort ist zu einer Art Institution geworden. Matthias Dell merkte kürzlich dazu an: »Der nächste Tatort wird auch dann angeschaut, wenn der letzte langweilig war.« (Dell 2012: 9) Der Tatort ist heute eine der letzten Fernsehsendungen, die – ähnlich wie große Sportereignisse – im Familien-, Freundes- oder Kollegenkreis noch gemeinschaftlich rezipiert werden: im heimischen Wohnzimmer, in Kneipen oder – so der neueste Trend – medial vermittelt via second screen. Letzteres heißt, dass man sich während der Sendung über soziale Netzwerke wie Facebook oder stellvertretend über
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Portale wie spiegel.de mit kurzen, oft im Minutentakt geposteten Kommentaren über das Gesehene austauscht – also ähnlich wie bei einer gemeinsamen physischen Präsenz. Der Tatort dient immer auch als Gesprächsanlass, genauer gesagt als Möglichkeit, ein unverbindliches Gespräch zu beginnen. Bereits im Vorfeld, aber auch noch am nächsten Tag wird über den Tatort gesprochen, entweder im Bekanntenkreis oder in der Presse. Der Tatort ist eine kommunikative Figuration, weil sich das Verhalten der Zuschauer auf diese etablierten und ritualisierten Formen der Kommunikation ausrichtet.
D ER R EALISMUS
DER KOMMUNIKATIVEN
F IGURATION
Im Folgenden möchte ich mich v.a. auf den zweiten Aspekt der kommunikativen Figuration konzentrieren: ihre performative Struktur. Bei ihr ist zu beachten, dass sie ja Figuren darstellt, die ihrerseits in kommunikativen Figurationen agieren. D.h. das Verhalten der dargestellten Figuren orientiert sich an Modellen oder Leitbildern von kommunikativen Verhältnissen, die durch gesellschaftliche Vorstellungen ebenso geprägt werden wie von dramaturgischen Konventionen. Die Frage nach dem realistischen Charakter einer solchen kommunikativen Figuration der dargestellten Protagonisten lässt sich daher vielleicht nicht ganz so leicht beantworten, wie es zunächst nach Aussagen in einer ersten Annäherung an die Tatort-Reihe scheinen mag. Denn das Handeln der Protagonisten galt im Diskurs über den Tatort seit der ersten Folge Taxi nach Leipzig (1970) als besonders realistisch. Nicht zuletzt haben Aussagen von Verantwortlichen wie etwa Horst Jaedicke – zu Beginn der Tatort-Reihe Programmdirektor des SDR – schon früh zu diesem Verständnis beigetragen: »Die Stoffe, die unserer Tatort-Reihe zugrunde liegen, sind dokumentarisch und fiktiv. Das Dokumentarische ist in der Regel so verändert, daß sich niemand daran erinnert fühlen muß, wenn er nicht will. Und das Fiktive ist so realistisch, daß es gewesen sein könnte, auch wenn es nicht war. Wir waren überhaupt sehr großzügig in der Auslegung unserer gemeinschaftlichen Prinzipien, weil wir nicht wollten, daß sich die produzierenden Sender und die Autoren allzusehr einschnüren lassen. Die Farbigkeit der Beiträge sollte unter allen Umständen als oberstes Gebot erhalten bleiben.« (Zit. nach Weber 1992: 134)
Vielleicht gerade weil der Realismusanspruch der Tatort-Reihe ganz bewusst im Vagen gelassen worden ist, um ihre Vielfalt nicht zu gefährden, scheint im journalistischen und wissenschaftlichen Diskurs über den Tatort dessen realistischer Charakter unstrittig zu sein. Knut Hickethier etwa schreibt 2010 resümierend: »Dass die
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Tatorte die bundesdeutsche Realität abbilden, ist seit den 1970er Jahren Konsens unter den Zuschauern und Kritikern [...].« (Hickethier 2010: 46) Dabei stellt sich jedoch die Frage, mit welcher Art von Abbildung, mithin von Realismus wir es überhaupt bei der Tatort-Reihe zu tun haben. Hier gibt es eine gewisse Bandbreite an Positionen: Dennis Gräf etwa hebt darauf ab, dass der Tatort ein Modell für Gesellschafts- und Kulturgeschichte sei (vgl. Gräf 2010: 13). Er schreibt: »Die Welten des Tatort weisen grundsätzlich, auch wenn es sich um ästhetische Konstruktionsleistungen handelt, einen mimetischen Charakter auf.« (Ebd. 2010: 13) Hickethier betont dagegen eher den normierenden, man möchte sagen ›normalistischen‹ Charakter der Bilder. Er schreibt: »Der Tatort wie auch die Lindenstraße liefern permanent verlässliche Bilder von der bundesdeutschen Gesellschaft, die inzwischen längst ihre Standards und damit Maßstäbe für andere geschaffen haben – Bilder, die fiktional aufbereitet, zugespitzt, überhöht sind. [...] Sie liefern Deutungsmuster, wie diese bundesdeutsche Wirklichkeit zu verstehen ist, was im Hintergrund passiert – oder doch zumindest passieren kann.« (Hickethier 2010: 46)
Bei dieser Position – wie auch bei anderen Normalismus-Ansätzen (vgl. Link 2006) – stellt sich jedoch die Frage, ob der Tatort überhaupt eine Art ›Informationsprogramm‹ über den bundesrepublikanischen Alltag ist oder ob er nicht vielmehr eine mediale Eigendynamik entfaltet, die eher den Unterhaltungs- und Kommunikationsbedürfnissen des Publikums entgegenkommt. Auch wenn eine gewisse Form der Mimesis für die Nebenfiguren im Milieu der Verdächtigen, über das zeichenhaft verkürzte Lokalkolorit, den Wechsel von Kleidermoden oder durch Auto- oder Telefonmodelle festzustellen ist – ich hatte das vor gut 20 Jahren einmal ›äußerlichen‹ oder ›peripheren Realismus‹ genannt (siehe Weber 1992: 126-156) –, so gilt dies ganz sicher nicht für die ermittelnden Protagonisten. Diese lassen sich kaum als reale Vertreter von Polizeiarbeit auffassen, selbst dann nicht, wenn man von einer dramaturgischen Überhöhung oder Überspitzung der Charaktere ausgeht. Die Protagonisten stehen eher für allgemeine gesellschaftliche Phantasmen, die das Spannungsverhältnis von Büro-Alltag und Privatleben thematisieren, mithin von Gesellschaft und Individuum insgesamt, womit wir wieder bei einer kommunikativen Figuration als Vorstellung und Modell wären. Dass dies nur wenig bis gar nichts mit der faktischen gesellschaftlichen Realität zu tun hat, möchte ich hier nur kurz an einem Beispiel erläutern: der Tendenz hin zu weiblichen Ermittlern als Hauptfiguren. Im Juni 2013 gibt es 19 Ermittlerteams. Davon sind in elf Teams Frauen in leitender oder gleichberechtigter Position tätig. Mit der gesellschaftlichen Realität hat dies in der Tat nichts zu tun. Es handelt sich weder um eine Überhöhung noch um eine Überspitzung, denn weder in Führungspositionen ganz allgemein im deutschen Arbeitsalltag noch ganz speziell bei der Polizei gibt es einen derart hohen Frauenanteil. D.h. nun nicht, dass dies nicht wün-
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schenswert oder vorstellbar wäre. Es handelt sich um ein Phantasma, wie übrigens auch die sog. Mordkommission selbst, die eher aus dramaturgischen Gründen eingeführt wurde und im Tatort meist aus zwei oder drei Kommissaren besteht und nicht – wie bei tatsächlichen Mordermittlungen gebildeten Sonderkommissionen – aus 30 bis 40 Ermittlern.
K OMMUNIKATIVE F IGURATIONEN DER P ROTAGONISTEN UND IHR H ANDLUNGSRAUM Sieht man von den phantasmatischen Darstellungen der Figuren einmal ab, die v.a. aus gesellschaftlichen Idealbildern und Klischeevorstellungen abgeleitet werden, finden sich auch dramaturgische Konventionen, die die Tatort-Reihe von Anfang an prägten und die kommunikativen Handlungsmöglichkeiten der Protagonisten determinierten. Schon früh hat es in Deutschland in Kriminalfilmen eine Privilegierung von Polizisten und deren rollenbedingten Handlungsschemata gegeben. Privatdetektive, Verbrecher, Anwälte, Journalisten und selbst Gerichtsmediziner spielen dagegen quantitativ nur eine untergeordnete Rolle. Innerhalb der Polizistenrollen gibt es verschiedene Typen, die sich in diversen Mischverhältnissen durch ihre Position zum Polizeiapparat unterscheiden: 1. über dem Apparat schwebende Vaterfiguren, die v.a. in den Anfangsjahren noch gehäuft auftraten, 2. teamfähige Bürokraten, die die große Masse der Ermittler stellen und 3. die Individualisten, die regelmäßig in Konflikt mit dem Polizeiapparat geraten als rebellische oder einfach nur mürrische Einzelgänger. Je mehr wir uns der Gegenwart nähern, desto mehr sehen wir zum einen Teams und zum anderen eine verstärkte Darstellung des Privatlebens der Protagonisten. Man erfährt viel über ihre Familienverhältnisse, ihre Beziehungen, ihre Krankheiten oder Hobbies. Allerdings ist diese Typologie keineswegs so eindeutig, wie es bei einem Blick auf kurzfristige (und daher übrigens auch mentalitätsgeschichtlich irrelevante) Zeiträume vielleicht zunächst scheinen mag. Die These von Jaedicke, dass die Vielfalt im Vordergrund stehen sollte, hat sich in der Tat von Anfang an als prädominant für die Gestaltung der Reihe erwiesen. Hinzukommt, dass die jeweiligen Ermittlerteams in den allermeisten Folgen immer wieder von anderen Autoren und Regisseuren gestaltet werden. Diese nutzen die Gestaltungsspielräume der Tatort-Reihe, um ihre persönliche Handschrift erkennbar werden zu lassen. Dadurch kann ein und dieselbe Figur in unterschiedlichen Folgen ganz verschiedene Facetten zeigen. Im Allgemeinen scheint es keine eindeutigen Trends bei der Entwicklung der Figuren zu geben. Tatsächlich – das lässt sich durchaus belegen – überlagern sich ganz unterschiedliche Ansprüche und Vorstellungen von Political Correctness, von
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Rebellentum, von Restglauben an die Aufklärung oder von basaler Identifikation mit den gebrochenen Helden des Alltagslebens. Diese Vorstellungen werden innerhalb des medialen Milieus ausgehandelt von Redaktionen, Produktionsgesellschaften, Aufsichtsgremien der Rundfunkanstalten, von der Presse, von Drehbuchautoren, Regisseuren und ggf. selbst Schauspielern (die, wenn sie bekannt sind, ein gewisses Mitspracherecht haben). So kommen fragmentierte, an der Spannung zwischen Beruf und Privatleben leidende Protagonisten heraus, die sich als Identifikationsfiguren und als Projektionsfläche für die Wünsche und Bedürfnisse der Zuschauer durchaus eignen. Man erkennt sich wieder in diesen allzu menschlichen Helden und Heldinnen des Alltagslebens, die an Epilepsie leiden oder an Alkoholproblemen, die Eheprobleme haben oder mit ihrem Geld nicht auskommen. Was sich darin widerspiegelt, ist also nicht der Alltag der Gesellschaft selbst, sondern eher eine Projektion, in der Wunschvorstellungen und kollektive Erfahrungen der Zuschauer sich mischen mit Interessen und Vorstellungen der verschiedenen Akteure des medialen Milieus.
S UBJEKTIVIERUNG
ALS
T REND
Hat sich über die Jahrzehnte an der kommunikativen Figuration der Tatort-Reihe etwas geändert? Gibt es so etwas wie einen Trend? Vor dem skizzierten Hintergrund ist die Frage schwer, schon gar nicht eindeutig zu beantworten. Die Sendeanstalten sprechen sich – folgt man den Aussagen von Akteuren des Milieus – untereinander immer weniger ab, ja konkurrieren stärker miteinander als früher. Entsprechend gibt es Bestrebungen, mit den auch für den Tatort knapp gehaltenen Budgets von 1,3 Mio. Euro pro Folge möglichst auffällige Sendungen und d.h. auch markante Figuren zu gestalten, die geeignet sind, als ›Markenzeichen‹ zu fungieren. Was sich in den letzten Jahren dabei vielleicht eher en passant als Trend abzeichnet – und ich sage das mit aller Vorsicht und unter Vorbehalt einer umfassenderen statistischen Vertiefung –, ist das Aufkommen sog. Ich-Themen, wie Todorov sie einmal nannte. Diese werden nicht explizit ausformuliert, sondern ergeben sich aus der ästhetischen Gestaltung. Todorov hat den Begriff der Ich- oder auch BlickThemen einmal mit Bezug auf die fantastische Literatur eingeführt. Gemeint sind Themen, die die Beziehung zwischen Mensch und Welt, also das System ›Wahrnehmung-Bewusstsein‹ zum Gegenstand haben (vgl. Todorov 1972: 125). Mit ihnen wird das Verhältnis des Erkenntnissubjekts zu seinem Erkenntnisvermögen thematisiert – meist indem seine Erkenntnisfähigkeit als gestört dargestellt wird. Die Wahrnehmung des Subjekts wird dabei also durch entsprechend inszenierte Störungen – verwackelte Kameras, Fehlbelichtungen, Fehlfarben, schiefe Kamera-
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perspektiven, Unschärfen usw. – als eine Form der subjektiven Perspektive medial korporalisiert. Man kennt diese Art der Darstellung eher aus neueren Kino-Filmen, aus Filmen wie z.B. Memento (2000) von Christopher Nolan. Diese haben historische Vorläufer, die sich in die erste Blütezeit des Tonfilms zurückverfolgen lassen – worauf insbesondere Christiane N. Brinkmann in ihrem Buch Die anthropomorphe Kamera (1997) hingewiesen hat.1 Diese Form der Subjektivierung kannte man in Kriminalfilmen bislang v.a. in Bezug auf die Täter, deren subjektivierte Perspektive etwa bei einem Geständnis in Form einer Rückblende fast schon ritualisiert inszeniert wurde. In den 2010er Jahren kommt es nun immer häufiger zu Szenarien, in denen auch die Subjektivität der Ermittler aisthetisch inkorporiert wird. Es geht hier nicht allein nur um Individualität, nicht nur um die Darstellung ihres Privatlebens, sondern um ihre subjektive Wahrnehmung. Der Eindruck von Subjektivität wird dabei durch die erwähnten inszenierten medialen Störungen erreicht, womit der Protagonist als leidendes, gebrochenes, körperlich empfindsames Subjekt konturiert wird. Er leidet an Verletzungen, Krankheiten oder ist ungewollt unter Drogen gesetzt worden. Die Tatort-Reihe vollzieht hier eine Wendung hin zu einer körperzentrierten filmischen Darstellung, die eine unmittelbar affektiv-sinnlich Erfahrungsebene anspricht. Am 20. Mai 2013 wurde die Folge Unvergessen vom ORF mit Oberstleutnant Eisner ausgestrahlt. Der Film beginnt damit, dass Eisner von einem Unbekannten angeschossen wird: Er erwacht im Krankenhaus, und man teilt ihm mit, dass sich noch Fragmente der Kugel in seinem Kopf befinden. Er ist schwer traumatisiert und kann sich an den Tathergang nicht mehr erinnern. Das lässt ihm keine Ruhe, und er versucht – nun vom Dienst beurlaubt –, am Ort des Geschehens mehr über die Hintergründe der Tat zu erfahren. Dabei hat er immer wieder Schwächeanfälle und leidet unter merkwürdigen Wahrnehmungsstörungen und verschiedenen Halluzinationen. Wichtiger als die Handlung und die darin thematisierten Verbrechen (ein vertuschtes Massaker an der Zivilbevölkerung in der NS-Zeit sowie ins Ausland ausgelagerte, illegale Medikamententests) wird hier der Eindruck der Subjektivität selbst, also eine Form der affektiven Einfühlung. Der alleinerziehende Eisner wird in dieser Folge durch seine Beziehung zum Mordopfer, der Journalistin Maja, persönlich in die Vorgänge verstrickt. Eindrucksvoller als diese private Verbindung wirkt die Darstellung der durch den Kopfschuss verunsicherten Wahrnehmung des Protagonisten. Seine v.a. in der ersten Hälfte des Films gehäuft auftretenden Sprachstörungen, die assoziative Montage, die Jump Cuts, die vielfältig durch Flou oder Fehlfarben gestörten Bilder, die als Ausdruck seiner gestörten Wahrnehmung konnotiert wer-
1
Vgl. auch Bolter/Grusin 2000 und Weber 2008.
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den, lassen den Eindruck korporal-affektiver Betroffenheit und Verletzlichkeit entstehen, wie es in mehreren, z.T. recht kurzen Sequenzen deutlich wird (z.B. Unvergessen, 01:22:30-01:23:07, 01:26:31-01:27:07, 01:47:35-01:47:50).
Abb. 1: Screenshot aus der Folge Unvergessen
Ohne hier einen vollständigen Überblick geben zu können, ist auffällig, dass sich diese Art der Darstellung in den letzten Jahren gehäuft findet. Selbst bei einem eingespielten Team wie Batić und Leitmayr kam es zur Aufnahme von Ich-Themen. Ich erwähne hier nur die Folge Wir sind die Guten (2009), in der Batić durch einen Verkehrsunfall zunächst sein Gedächtnis verloren hat. Auf der Suche nach der eigenen Identität stößt er auf Machenschaften in den Reihen der Polizei. Zunächst aber halluziniert Batić und sieht einen Unbekannten, vor dem er sogar aus dem Krankenhaus flüchtet; dieser Fremde erscheint ihm immer wieder, und es wird ihm nicht klar, ob er sich diesen nur einbildet oder ob der Fremde wirklich existiert. Im Ergebnis entstand dann eine Folge, in der die subjektivierten Sequenzen immer wieder auch die Korporalität der Figuren betonten, mithin auch deren physische Verletzlichkeit. Halluzinationen finden sich auch in der Folge Tango für Borowski (2010), in der Borowski in Finnland ermittelte. Durch verschiedene Umstände befindet er sich plötzlich in einem menschenleeren Wald abseits der Zivilisation. Aus Hunger isst er unbekannte Pilze, die ihm einen heftigen Drogenrausch bescheren. Auch beim Team von Radio Bremen, Lürsen und Stedefreund, finden sich Tendenzen zur Subjektivierung, etwa in der Folge Er wird töten (2013). Sowohl bei der Täterin wie bei Ermittler Stedefreund, der mit einem Trauma aus einem Afghanistan-Einsatz zurückgekehrt ist, werden subjektivierte Szenen eingesetzt.
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Abb. 2: Screenshot aus der Folge Er wird töten
Vergleicht man die Folge mit dem Tatort Taxi nach Leipzig von 1970 (in beiden Filmen geht es übrigens um einen Kindsmord), dann werden allein schon in der Täter- bzw. der Tatdarstellung die Unterschiede deutlich: Während in Taxi nach Leipzig Trimmel durch suggestive Fragen den Täter zum Nachspielen des Tathergangs motiviert – wobei die Kamera in einer neutralen Außensicht auf den Täter bleibt –, wird in Er wird töten die Innensicht der Täterin evoziert und durch verstellte, verschwommene, einander überlagernde Bilder dargestellt. Dabei kommen dann noch die evozierten Traumabilder von Stedefreund vom Afghanistan-Einsatz hinzu. Abschließend möchte ich noch die Folge Das Dorf (2011) erwähnen, in der diese Tendenz vielleicht eine Art vorläufigen ›Höhepunkt‹ gefunden hat und zugleich deutlich wird, in welche Richtung sie sich bewegt: LKA-Kommissar Murot wird in ein kleines hessisches Dorf im Taunus gerufen und um Mithilfe bei Ermittlungen gebeten. Ein vermeintlicher Selbstmord erscheint dubios, viel größere Probleme bereiten Murot aber die Nebenwirkungen eines Gehirntumors, die ihn halluzinieren lassen. Einmal glaubt er, die Leiche des Selbstmörders wieder lebendig zu sehen, ein andermal erscheinen ihm die Kessler-Zwillinge, und er fängt an, mit ihnen zu tanzen. Dass es in diesem Tatort auch um einen Fall von Organhandel und weitere Morde geht, tritt dagegen fast in den Hintergrund. Diese effektvolle Darstellung der Verunsicherung der Wahrnehmung des Protagonisten prägt den Film ebenso wie ein ausgewiesener Wille zum Stil, der bei Kriminalgrotesken eines Edgar Wallace ebenso Anleihen macht wie beim Film Noir. Entsprechend zwiespältig waren dann auch die Pressereaktionen. Viele sahen sich um ihr Tatort-Erlebnis gebracht. Christian Buß von spiegel.de hält die Folge
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gar für einen Absturz, er schreibt: »Ein Krimi, dessen Handlung aus der Perspektive eines wahrnehmungsgestörten Ermittlers entwickelt wird, dessen Plot komplett der Sanges- und Tanzlust seines Hauptdarstellers unterworfen ist, kann natürlich nicht aufgehen.«2 Jochen Hieber bringt es in faz.net auf den Punkt, indem er befindet, »dass es dem Regisseur Justus von Dohnányi unter dem Deckmantel des Tatorts um etwas ganz anderes ging: eine surreale und ziemlich skurrile Komödie voller ironischer Anspielungen etwa auf die noch in Schwarz-Weiß gedrehten Krimis der fünfziger Jahre.«3
Tatsächlich markiert Das Dorf damit anschaulich, was sich als Trend in vielen anderen Tatort-Folgen schon zeigte: eine Tendenz zu metafiktionalen Konstruktionen, die immer stärker extradiegetische oder nur noch schwach durch die fiktionale Handlung motivierte Szenen aufweisen. Zwar hat es auch schon früher derartige Szenen gegeben – ich erinnere nur an die Musikeinlagen der NDR-Tatorte mit den Kommissaren Stoever und Brockmöller –, diese treten aber gehäuft erst in den letzten Jahren auf.
F AZIT Die beschriebenen Tendenzen zur Darstellung der subjektivierten Sichtweise der Protagonisten lassen sich in den Kontext metanarrativer Erzählstrategien stellen. Sie stehen dann in einer Reihe mit den ironisch-witzigen Sprachspielen der MünsterTatorte oder dem grotesken Aktionismus des neuen Saarland-Tatort. Es geht ihnen kaum mehr um eine Verbrechensaufklärung nach dem Whodunit-Schema als primärem dramaturgischen Muster, sondern um eine metanarrative Konstruktion, die sich an ein informiertes Publikum wendet, das sich an einem bekannten medialen Horizont aus Fernsehen und Kino orientiert, d.h. Anspielungen und Zitate erkennt. Es geht nicht mehr allein nur um immersiv rezipierbare Erzählungen von Kriminalgeschichten, sondern um die Konstruktion von Gesprächs- und Kommunikationsanlässen. Es entsteht eine kommunikative Figuration, in der die dramaturgischen Konventionen und die mediale Darstellungsweise Teil der performativen Struktur ist, die sich durch ihren metanarrativen Charakter an die kommunikative Funktion
2
Christian Buß. »Ulrich Tukur im ›Tatort‹: Beinchen hoch, Bulle!« spiegel.de, 5. Dezember 2011 (http://www.spiegel.de/kultur/tv/ulrich-tukur-im-tatort-beinchen-hochbulle-a-800803.html).
3
Jochen Hieber. »Das Spukschloß im Hintertaunus.« faz.net, 5. Dezember 2011 (http:// www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/tatort-das-spukschloss-im-hintertaunus-11548766. html).
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anschließt, d.h. an das Bedürfnis der Zuschauer nach gemeinsamer Rezeption und Redeanlässen. In diesem Sinne löst die Tatort-Reihe keine Probleme, sie spiegelt auch nicht einfach die Gesellschaft wider (schon gar nicht durch ihre Hauptfiguren). Sie bietet aber aufgrund ihres phantasmatischen Potentials Anlass zum Gespräch – und trifft damit auf ein Publikum, dessen kommunikative Bedürfnisse sich offenbar nicht mehr allein auf einen unterhaltsamen Kriminalfilm am Sonntagabend beschränken lassen.
L ITERATUR Brinckmann, Christine. Die anthropomorphe Kamera und andere Schriften zur filmischen Narration. Zürich: Chronos, 1997. Bolter, J. David und Richard Grusin. Remediation. Understanding new media, Cambridge, Mass.: MIT Press, 2000. Dell, Matthias. »Herrlich inkorrekt«. Die Thiel-Boerne-›Tatorte‹. Berlin: Bertz + Fischer, 2012. Elias, Norbert. Was ist Soziologie? 6. Auflage. Weinheim: Juventa, 1991. Gräf, Dennis. ›Tatort‹. Ein populäres Medium als kultureller Speicher. Marburg: Schüren, 2010. Hickethier, Knut. »›Tatort‹ und ›Lindenstraße‹ als Spiegel der Gesellschaft.« Aus Politik und Zeitgeschichte o.Jg. (2010), H. 20: 41-46. Link, Jürgen: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. Bonn: Vandenhoeck & Ruprecht, 2006. Todorov, Tzvetan. Einführung in die fantastische Literatur. München: Hanser, 1972. Weber, Thomas. Die unterhaltsame Aufklärung. Ideologiekritische Interpretation von Kriminalfernsehserien des westdeutschen Fernsehens. Bielefeld: Aisthesis, 1992. Weber, Thomas. Medialität als Grenzerfahrung. Futurische Medien im Kino der 80er und 90er Jahre. Bielefeld: transcript, 2008. Weber, Thomas: »Der Normalfall des Fernsehens. Das Reality TV als kommunikative Figuration.« Dunkelzonen und Lichtspiele. Festschrift zu Lutz Ellrichs 65. Geburtstag. Clemens K. Stepina (Hg.). St. Wolfgang: Edition Art & Science, 2013. 11-33.
B EHANDELTE T ATORT -F OLGEN Taxi nach Leipzig, 29. November 1970 (NDR, R: Peter Schulze-Rohr) Wir sind die Guten, 13. Dezember 2009 (BR, R: Jobst Oetzmann)
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Tango für Borowski, 4. April 2010 (NDR, R: Hannu Salonen) Das Dorf, 4. Dezember 2011 (HR, R: Justus von Dohnányi) Unvergessen, 20. April 2013 (ORF, R: Sascha Bigler) Er wird töten, 9. Juni 2013 (RB, R: Florian Baxmeyer)
ANDERE R EIHEN
ZITIERTE
F ILME , M EHRTEILER , S ERIEN UND
Memento 2000 (USA, R: Christopher Nolan)
Alltagskonstruktionen und soziale Rolle Eine soziologische Perspektive auf den Tatort C ARSTEN H EINZE »Die Probleme der Soziologie führen auf eine Tatsache zurück, die unserer naiven Erfahrung ebenso zugänglich ist wie die Naturtatsachen unserer Umwelt. Das ist die Tatsache der Gesellschaft, an die wir so oft und so intensiv gemahnt werden, daß sie sich mit gutem Grund auch als die ärgerliche Tatsache der Gesellschaft beschreiben läßt.« (Dahrendorf 1974 [1958]: 17)
E INLEITENDE B EMERKUNGEN Mein Beitrag verfolgt das Ziel, eine soziologische Perspektive auf das TVPhänomen Tatort zu entwerfen. Diese Perspektive kann angesichts des soziologischen Forschungsstandes nur eine vorläufige sein und beschränkt sich auf Beobachtungen und Bemerkungen zur ARD-Reihe Tatort. Ich werde einen klassischen soziologischen Zugang vorstellen, von dem ich meine, dass er als eine Möglichkeit zur systematischen soziologischen Analyse des Formats geeignet ist, ohne diese Analyse jedoch in aller erforderlichen Ausführlichkeit hier durchführen zu können. Dafür wären intensivere empirische Untersuchungen notwendig. Im Folgenden werde ich mich mit der soziologischen Kategorie der sozialen Rolle, den Begriffen Werte und Normen sowie mit dem Bereich der soziologischen Lebens- und Alltagswelt auseinandersetzen. Diese oder ähnliche soziologische Grundlagen werden auch in der Tatort-Forschung zur Beschreibung verwendet (etwa bei Otte 2013: 2934; Gräf 2010: 23). Die Diskussion dieser Kategorien soll einzulösen versuchen, was als die gesellschaftliche oder soziale Dimension des Tatort bezeichnet werden kann (Hißnauer/Scherer/Stockinger 2012: 143; dazu auch Buhl 2013:13f.). Ohne
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eine genauere Berücksichtigung dieser sozialen Dimension ist der Tatort m.E. in seiner Verbindung von Figuren, Milieus und Fällen sowie seiner Rezeption und Einschätzung durch die Zuschauer und Zuschauerinnen kaum in seiner gesellschaftlichen Bedeutung zu verstehen. Mir scheint, dass an den Schnittstellen des Sozialen und Alltäglichen zum Medialen ein Erklärungsgrund für die Beliebtheit des Tatort (und vieler anderer Serien) liegt: Der Tatort ist anschlussfähig an verschiedene Lebenswelten und damit an das Alltagswissen der Zuschauer, ohne jedoch ein »Abbild« oder gar eine Dokumentation zu sein. Ein Blick in die Foren zu diesem Fernsehkrimi zeigt aber, dass die Zuschauer vielfach über den »realistischen Gehalt« diskutieren bzw. urteilen und damit eine Einschätzung der sozialen Dimension vornehmen.1 Die Darstellung sozialer Rollen, Lebenswelten und Milieus ist offenbar verbunden mit den (medialen wie sozialen) Vorerfahrungen, dem Vorwissen des Publikums, ohne dass man dabei genau bestimmen kann, wo dieses Vorwissen, diese Einstellungen, Haltungen und Ideologien ihren Ursprung haben. In diesem Zusammenhang gilt es weiter, einen kritischen Blick darauf zu werfen, was in den soziologischen, aber auch in den medien- bzw. kulturwissenschaftlichen Diskussionen als ›realistische‹ Dimension des Tatort bezeichnet wird: Wie realistisch ist der Tatort? Wie wird soziale Realität medial in Szene gesetzt und wie ist diese Darstellung aus soziologischer Sicht zu beurteilen? Auch wenn der Tatort eine dramaturgisch modulierte TV-Reihe darstellt, die nach den Regeln und Bedingungen von regionalen Sendeanstalten produziert wird und durch einige Besonderheiten ausgewiesen ist, ist der Erfolg dieses Formats und die Wahl der Themen sicherlich nicht ohne Berücksichtigung der sozialen Dimension, der sozialen Rollen und der sozialen Lebenswelten, in denen die einzelnen Fälle eingebettet sind, zu verstehen. Felix Huby, der die Kommissar-Figuren Bienzle und Palu erfunden hat, merkt dazu an: Der Rahmen des Krimiplots erlaube es, zum Alltag der Menschen durchzudringen (Huby/Wenzel 2000: 218). Durch den gewählten Zugang werde ich nur bedingt auf die Cultural Studies eingehen, die in erster Linie bei den Rezeptionsformen und -möglichkeiten des Films und Fernsehens ansetzen. Hieraus ergeben sich für den Tatort weitere spannende und relevante (film-)soziologische Fragestellungen und Forschungsperspektiven bezüglich des kulturellen Kontextes der Rezeption, die ich allerdings hier lediglich am Rande berücksichtigen werde. So haben sich, was aus Sicht der Cultural Studies einen wichtigen Untersuchungsbereich darstellt, Fankulturen und Rezeptionsweisen unterschiedlicher Art herausgebildet – etwa das Public Viewing in Kneipen oder das gemeinsame Zuschauen im Privaten sowie die Online-Fanseiten,
1
Vgl. dazu etwa die ersten Beiträge im Forum zur Folge Gegen den Kopf (2013) am Sonntag, 8. September 2013 (http://tatort-forum.de/viewtopic.php?f=8&t=2756 [13. Oktober 2013]).
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auf denen Wissen und Diskurse rund um die beliebteste Krimiserie Deutschlands gepflegt werden.2 Der Tatort führt somit ein gesellschaftliches Eigenleben. Damit bettet er sich nicht nur inhaltlich, sondern auch praktisch als TV-Phänomen in die Lebens- und Alltagswelten der Zuschauer ein, indem er soziale Handlungen nach sich zieht. Auch hier werden die Schnittstellen zwischen angebotenen Deutungsmustern und dem Alltagsvorstellungen des Publikums relevant. Diese Aspekte sind soziologisch von großem Interesse bei der Beantwortung der Frage, was das Publikum mit Film- und Fernsehangeboten macht (siehe Fiske 1989). Was und wie wahrgenommen wird, woraus sich die große Beliebtheit des Tatort ergibt, ist eine Frage, die nur über die (qualitative) Rezeptionsforschung herausgefunden werden kann.3 Mittlerweile gibt es auch die Möglichkeit des synchronen Twitterns auf den Seiten der ARD während der Ausstrahlung einer Sendung, was das qualitative Erkenntnispotential über die Rezeptionsweisen und Interpretationen des Tatort durch das Publikum noch erweitert. Ebenso werden Tatort-Themen gerahmt von Anschlusssendungen wie Talkshows, die sich z.B. mit besonders brisanten Themen (Frauenhandel im Rotlichtmilieu)4 auseinandersetzen und damit das Motiv als Thema der sozialen Wirklichkeit diskutieren. Als Erstes werde ich den Tatort aus einer soziologischen Perspektive behandeln, die nach dem ›realistischen Gehalt‹ der Darstellung fragt, um zu diskutieren,
2 3
Siehe dazu den Beitrag von Regiana Bendix und Christine Hämmerling in diesem Band. Der Tatort erreicht hohe Zuschauer-Zahlen (bis zu 10 Millionen und mehr) aller Altersschichten: Laut Statista sahen 25% aller 45-59-Jährigen und aller über 60-Jährigen häufig den Tatort im Jahr 2010. Immerhin noch 16% der 30-44-Jährigen schauen regelmäßig diesen Fernsehkrimi (http://de.statista.com/statistik/daten/studie/169756/umfrage/profilder-zuschauer-der-krimiserie-tatort/). Damit liegt Tatort deutlich unter dem relativen Altersdurchschnitt der Zuschauer bei der ARD von 60 Jahren (http://de.statista.com/ statistik/daten/studie/183279/umfrage/durchschnittsalter-der-fernsehzuschauer-nachsender/). Das beliebteste Ermittler-Duo ist derzeit der Münsteraner Tatort mit Thiel/ Boerne, gefolgt von Lindholm aus Hannover und Ballauf/Schenk aus Köln (Sv. »Thiel und Boerne sind beliebteste Tatort-Ermittler.« welt.de, 3. Januar 2011 [http:// www.welt.de/fernsehen/article11951437/Thiel-und-Boerne-sind-beliebteste-Tatort-Er mittler.html]).
4
Vgl. dazu den zweiteiligen Hannoveraner-Tatort mit Charlotte Lindholm (Wegwerfmädchen, 2012; Das goldene Band, 2012), der mit mehr als 10 Mio. Zuschauern sehr erfolgreich war. Die Hälfte dieser Zuschauer sah im Anschluss daran Günther Jauchs Talkshow mit dem Titel Tatort Rotlichtmilieu – Wie brutal ist das Geschäft mit dem Sex? (Björn Wirth. »Rekordquoten für Furtwängler und Jauch.« fr-online.de, 16. Dezember 2012 [http://www.fr-online.de/tatort-spezial/tatort-und--talkshow--rekordquoten-fuer-furt waengler-und-jauch,20719658,21120130.html]).
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was unter der Realität des Tatort verstanden werden kann und inwieweit dieser in Bezug zur gesellschaftlichen bzw. sozialen Realität steht. Anschließend sollen die Begriffe Lebens- bzw. Alltagswelt und common sense erläutert werden. Da der Tatort immer wieder die alltäglichen sozialen Bezugsrahmen unserer Erfahrungen aufruft und seine Plots darin eingebettet sind und weil über die Problematisierung brisanter Themen immer wieder unsere Alltagsvorstellungen und -stereotypen angesprochen werden, scheint eine Klärung dieses Aspekts im Rahmen der Sozialphänomenologie angezeigt. Im dritten und letzten Teil stelle ich das soziologische Konzept der sozialen Rolle sowie die Begriffe Werte und Normen vor und werde diese in ihrer soziologischen Relevanz für den Tatort diskutieren. Davon erhoffe ich mir, soziologische Kategorien für einen analytischen Zugang zum Phänomen Tatort fruchtbar machen zu können.
T ATORT –
EINE › REALISTISCHE ‹ D ARSTELLUNG GESELLSCHAFTLICHER W IRKLICHKEIT ?
Kultur- und medienwissenschaftliche Untersuchungen schreiben dem Tatort direkt oder indirekt eine gesellschaftliche Bedeutung zu, diskutieren seinen realistischen Gehalt oder setzen diesen einfach voraus. Dies scheint angesichts seiner thematischen und darstellerischen Vielfalt – der sowohl ironischen als auch ernsthaften Form, in denen soziale Phänomene verhandelt und Lebens- und Alltagswelten vorgestellt werden – ein zentraler Aspekt auf Seiten der Produktion wie der Rezeption zu sein.5 Möglicherweise liegt in diesem Aspekt der Grund für den hohen Beliebtheitsgrad des Tatort bei den Zuschauern. Dabei ist keineswegs geklärt, worin das Realistische dieses Fernsehkrimis besteht, also wo Realität in Bezug zum Tatort festzustellen ist. Obwohl die narrative Struktur und die Modulation der (Serien-)Figuren im Kriminalfilm zweifellos fiktional sind, wird den Folgen gleichzeitig ein realer Gehalt zugeschrieben.6 Dies mag auf den ersten Blick verwundern, da
5
Da der Tatort eine ganze Bandbreite von Kommissaren und Kommissarinnen, Tätern und Täterinnen, Opfern sowie Lebenswelten aufweist und die Erzählweisen und Inszenierungsformen stark variieren (zwischen Ernsthaftigkeit, Betroffenheit und Sozialengagement bis hin zu Ironie, Humor und zum Komödiantischen), lässt sich der allgemeine ›realistische Gehalt‹ nur sehr pauschal diskutieren.
6
Dazu muss angemerkt werden, dass der Tatort seit einigen Jahren immer wieder auch Motive und Themen aufweist, die selbst innerhalb der prozentual kleinen Kriminalitätsrate ›Mord‹ in der Realität kaum relevant sind. Dazu zählen (zwanghafte) Serienmörder oder Täter mit abnormen oder perversen Neigungen (so etwa in Tango für Borowski, 2010, oder Es ist böse, 2012). Hinzu kommt, dass der Tatort zunehmend inhaltliche wie
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die wenigsten Zuschauer oder Produzenten mit den dargestellten Lebenswelten und dem dargestellten Kapitalverbrechen aus ihrem Alltag unmittelbar vertraut sein dürften. Außerdem lebt der Tatort gerade davon, Einblicke in weithin unbekannte oder nur bedingt zugängliche gesellschaftliche Bereiche (Wissenschaft, Elite), geschlossene (subkulturelle, klandestine mafiaähnliche) Strukturen oder abseitige (Serientäter, sexuell perverse Täter) Milieus zu liefern. Dennoch ist Realismus ein stilistisches Kennzeichen des Tatort, das die Konzeption der Produktion von Anfang an bestimmt hat (Weber 1992: 134-156).7 Die Vorstellung, der Tatort sei eine Wiedergabe oder gar ein reales Abbild deutscher Gesellschaftsgeschichte, wäre einer genaueren Betrachtung zu unterziehen. Ist der Tatort ›realistisch‹? Und wenn ja, in welcher Hinsicht? Handelt es sich um eine Darstellung von Realität oder um eine realistische Darstellung? Welche gesellschaftlichen Realitäten werden (wie) gezeigt? Worin liegt der realistische Gehalt des Tatort? Worauf baut dieser auf? Liegt er in der Themenwahl, in der Themenbearbeitung oder in der Modulation der Figuren und ihrer Handlungen, den dargestellten Milieuzusammenhängen oder Mordfällen? In seinen sozialen und topographischen Raumkonstruktionen? Liegt die Realität des Tatort in seiner Diskursivität und Verarbeitung latenter (moralischer) Wirklichkeitsvorstellungen? Ist der Tatort letztlich ein Spiegelbild deutscher Befindlichkeiten oder – im Sinne Siegfried Kracauers – eine unbewusste Projektionsfläche für Ängste und Unsicherheiten in Zeiten der »(Welt-)Risikogesellschaft« (Beck 1986, 2007)? Untersuchungen zu Themen wie Religion (Stockinger 2012), Migration (Ortner 2007; Walk 2011) oder Stadt (Griem/Scholz 2010) verweisen auf die gesellschaftlich-diskursive Dimension des Tatort im Blick auf einzelne soziale Aspekte. Ist das Realistische des Tatort überhaupt auf der Ebene der Darstellung zu suchen? Oder ist die Zuschreibung eines realen Gehalts nicht eher einer Einschätzung der Zuschauer geschuldet, die die Darstellung mit ihren allgemeinen Vorstellungen, ihrem Alltagswissen, dem common sense in Beziehung setzen? Wie auch immer man diese Fragen beantworten mag,
ästhetische Elemente des amerikanischen Thrillers aufgreift und dadurch noch stärker fiktionalisiert bzw. irrealisiert erscheint. 7
Ein ungewöhnlicher Tatort, der das Realistische als Formfrage inszeniert, ist die 1973 produzierte Folge Ein ganz gewöhnlicher Mord (vgl. dazu auch Hißnauer 2011). Dieser Tatort spielt mit dokumentarischen Mitteln, indem in Interviews verschiedene Positionen zu einem abgeschlossenen und vergangenen Fall aus unterschiedlichen Perspektiven referiert werden (Anlass ist ein Revisionsverfahren des Falls). Ungewöhnlich ist auch der eher beobachtende Stil sowie die stellenweise eingesprochenen Off-Kommentare, die ebenfalls aus dem dokumentarischen Film bekannt sind. Insofern spricht ein Kommentar auch von einer »Krimidokumentation« (http://tatort-fans.de/tatort-026-ein-ganz-gewoehn licher-mord/ [13. Oktober 2013]).
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das Reale scheint offenbar ein wichtiger Faktor nicht nur in der Wahrnehmung der Zuschauer, sondern auch in der feuilletonistischen oder wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Tatort zu sein. Genau genommen stehen wir damit interdisziplinär vor einem Problem, das der Filmsoziologie Manfred Mai (2006: 26) folgendermaßen formuliert: »Die Arbeitsteilung der organisierten Wissenschaft führt dazu, dass entweder das Gesellschaftliche in den semiotischen oder ästhetischen Studien unreflektiert vorausgesetzt wird oder dass eine elaborierte Gesellschaftstheorie den Eigenwert des filmischen Kunstwerks verfehlt und in ihm nur ein Abbild der gesellschaftlichen Strukturen und Konflikte sieht.«
Wenzel (2000b: 7) vermutet, dass es kein besseres Archiv für die Kultur- und Gegenwartsgeschichte der Bundesrepublik gibt als den Tatort. Unfreiwillig schreibe dieser an einer »unbewussten« Gesellschaftsgeschichte, es handele sich um »so etwas wie das populäre Gedächtnis unserer Gegenwartskultur«. Demnach ließen sich aus dem Tatort sozial- wie kulturhistorische Veränderungen ablesen – eine Perspektive, die ebenso von Koebner (1990: 24-31) vertreten wird.8 Rüdiger Dingemann (2010: 10) leitet den Erfolg des Tatort aus seinem »konsequenten Realismus« ab. Gunther Witte (Witte/Wenzel 2000: 28), der Erfinder des Tatort, merkt an, dass dieser ein »Bild von Jahrzehnten bundesrepublikanischer Wirklichkeit wiedergibt«. Dies scheint der »Idee der Wirklichkeitsdarstellung« zu entsprechen, die Giesenfeld (1990: 5) dem Tatort anlässlich seines 20-jährigen Bestehens in Bezug auf die »Komplexität des bundesrepublikanischen Lebensraums« zumisst. Henrik Buhl (2013) beschäftigt sich mit verschiedenen gesellschaftspolitischen Thematiken im Tatort (vgl. dessen Beitrag im vorliegenden Sammelband). Auch Knut Hickethier (2010: 42) ordnet die im Tatort verhandelten menschlichen Beziehungen und Wirklichkeiten in einen gesellschaftlichen Bezugsrahmen ein, in dem soziale Wirklichkeit auf eine »komprimierte[ ] wie gleichzeitig überdeutliche[ ] Form« in den Serienfiguren reflektiert werde. Für Hickethier erscheinen die gesellschaftlich virulenten Probleme gerade in der Überspitzung – oder Stereotypisierung – der Serienfiguren, die dazu anregten, über herrschende Werte und Normen nachzudenken. Dabei werden soziale Probleme über personalisierte Konflikte zwischen Individuen und
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Die kulturhistorische Perspektive findet sich im Detailrealismus bereits in der Veränderung äußerer Anzeichen: So trägt Frau Krause in der Folge Pleitegeier (1988) eine schwarze Armbinde zum Zeichen ihrer Trauer um ihren (durch Selbstmord umgekommenen) Mann. In traditionellen Trauerritualen wird dieses Zeichen bis zu einem Jahr getragen, ist aber heute weitgehend aus dem Alltag verschwunden. Am bekanntesten ist die schwarze Armbinde als Zeichen der Trauer noch im Bereich des Fußballsports, dort allerdings meist nur für die Dauer eines Spiels.
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Normen dargestellt. Durch die Schaffung serieller »paralleler Welten« sind die Zuschauer über Jahre hinweg mit erwünschten wie unerwünschten Werten und Normen konfrontiert, die zur Disposition gestellt werden und nach Auflösung des Konflikts wieder einer erneuten Orientierung dienen könnten (Hickethier 2007: 642). Allgemein unterscheidet Hickethier (2005: 27f.) dabei die strukturelle wie die mentale Ebene im Realismus-Prinzip des Kriminalfilms. Die strukturelle Ebene beinhaltet sämtliche gesellschaftliche Bereiche, in denen sich relevante Entwicklungen und Veränderungen (in der Wirtschaft, den Medien, den gesellschaftlichen Sicherungssystemen etc.) abzeichneten. Sie werden im Kriminalfilm aufgegriffen, verarbeitet, letztlich moralisch bewertet und damit zur Diskussion gestellt. Aktuelle Trends werden in den Plot eingebaut und über die Erzählmodulation verhandelt. Die mentale Ebene dagegen beinhaltet mögliche Weltentwürfe und allgemeine Vorstellungen, die darauf hinweisen, wie bestimmte Ereignisabläufe bzw. -verläufe sein könnten, was nicht ausschließt, dass sie auch teilweise so ablaufen. Die mentale Ebene gibt einen Einblick in die Vorstellungs- und Lebenswelten verschiedener sozialer Gruppen. Damit greift der Tatort elementar auf Alltagswissen und Sinnkonstruktionen der Gesellschaft zurück: Schließlich sind auch die Redakteure und Drehbuchschreiber Teil der Lebenswelt und projizieren ihre Geschichten in vorgestellte gesellschaftliche Sinnzusammenhänge. Dieser Aspekt verweist darauf, dass Produzenten und Rezipienten gemeinsam in der »natürlichen Einstellung«, den »Selbstverständlichkeiten« und Gegebenheiten der Lebenswelt verankert sind und in einem größeren gesellschaftlichen Zusammenhang gemeinsame Sinn- und Deutungshorizonte herausbilden und teilen.9 Aus beiden Ebenen lässt sich nach Hickethier der Realitätsbezug des Kriminalfilms ableiten. Eine verstärkte und eindrücklichere Vermittlung wird durch die Emotionalisierung der Darstellung erreicht. Dennis Gräf (2010: 8) erkennt im Tatort einen ›Seismographen‹ deutscher Befindlichkeiten und Mentalitäten. Er bezeichnet ihn als ›kulturellen Speicher‹. Nach seiner Lesart handelt es sich beim Tatort um einen »Beobachter der Gesellschaft«. Gräf weist jedoch darauf hin, dass es sich keineswegs um bloße Abbildungen oder direkte Referenzen des Gesellschaftlichen handle, sondern um medial hergestellte Konstruktionen von Zeichensystemen, mit denen bestimmte Milieus erfasst werden. Ähnlich wie Hickethier spricht Gräf von »möglichen Welten« des Tatort, die innerfilmisch nach eigenen Regeln und Gesetzen aufgebaut seien und nicht als »wahr« oder »falsch« bewertet oder gar direkt mit der außerfilmischen Wirklichkeit abge-
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Unter »natürlicher Einstellung« versteht der Sozialphänomenologe Alfred Schütz die unhintergehbare und als selbstverständlich empfundene, nicht hinterfragte biologische, soziale, kulturelle und historische Verankerung des Menschen in seiner Lebens- und Alltagswelt und die sich daraus ergebenden Einstellungen und Gewissheiten gegenüber seinem Umfeld (Schütz/Luckmann 1994: 25f.).
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glichen werden dürften (ebd.: 11). Vielmehr müssten die einzelnen Produktionen in ihrer innerfilmischen Logik rekonstruiert und die Lösungsvorschläge für die dargestellten Probleme hinsichtlich ihrer Aussagen über das Selbstverständnis der Kultur (zur jeweiligen Zeit) untersucht werden. Damit schlägt Gräf eine interdisziplinäre Brücke zwischen den Sinnkonstruktionen im Tatort und den zugrunde gelegten gesellschaftlich-sozialen Zusammenhängen. Gräf bezieht sich somit implizit auf die Sozialphänomenologie bzw. die Wissenssoziologie, wenn er Text, Kultur und Gesellschaft im Tatort unter Berufung auf das »All-Gemeinwissen« (Krah zit. nach Gräf 2010: 23f.) miteinander in Beziehung setzt. Diese Perspektive scheint mir für eine Verbindung zwischen soziologischen und medien-/kulturwissenschaftlichen Ansätzen vielversprechend zu sein, um den von Manfred Mai konstatierten Hiatus zu überwinden. Thomas Weber (1992) setzt sich kritisch mit dem Realismus des Tatort auseinander. Grundsätzlich geht er davon aus, dass der Kriminalfilm zu den realistischen Genres gehört, auch wenn sein Realismus häufig auf wenige Wesensmerkmale und Typisierungen verkürzt werde. Das sich daraus ergebende Paradox, dass durch die realistische Form Wirklichkeit gerade ausgegrenzt oder reduziert werde, erklärt Weber damit, dass die realistische Darstellung Unterhaltungszwecken untergeordnet sei und so über ein bestimmtes schematisiertes Maß nicht hinauskomme (ebd.: 135f.). Weber differenziert jedoch den Begriff des Realismus und weist damit auf weitere wichtige Aspekte hin.10 Zum einen erlangen die Serienfiguren Realität bei den Zuschauern, indem sie zum ständigen medialen Begleiter und Bestandteil ihrer Lebenswelt werden (etwa in der sozialen Kommunikation über sie mit Freunden und Bekannten oder in den Social Networks). Sie führen damit ein Eigenleben auch außerhalb der filmischen Rezeption, da sie uns zunehmend vertraut erscheinen (ebd.: 142) und wir an ihrem »realen« Altern zuschauend teilhaben.11 Ebenso haben wir über die einzelnen Sendungen hinweg teil an Veränderungen in den Lebenswel-
10 Weber (1992) unterscheidet den äußerlichen Realismus (126-137), das Lokalkolorit und den Realismus en détail (138-140), den Abbildrealismus (140f.), den Realismus des Zusammenhangs (142-144), den Realismus der inneren Werte, inneren Einstellungen und Ideologien (144) und den Realismus der Konflikte (146-156). Es wäre soziologisch ein lohnenswertes Unterfangen, diese Realismus-Konzepte weiter auszubauen und auf die Darstellungen sozialer Wirklichkeiten im Tatort der letzten Jahre zu übertragen. 11 Es lässt sich vermuten, dass langjährige prägnante Ermittlerfiguren über diese Rolle auch in anderen Sendungen wahrgenommen werden. Inwieweit es zu Verwechslungen im Alltag kommt, wie an Beispielen mit Klaus-Jürgen Wussow alias Professor Brinkmann aus der Schwarzwaldklinik (1985-1989) gezeigt werden kann, ist eine offene Frage. Jedoch kann es zu Vermischungen der ›realen‹ Person mit der dargestellten Figur kommen, wie Wachtveitl/Leitmayr im Interview bestätigt (vgl. Wachtveitl/Wenzel 2000: 246f.).
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ten der Kommissare, wie etwa am Zustandekommen und Zerbrechen von Beziehungen oder am allmählichen Aufwachsen von Kindern (wie im Fall von Charlotte Lindholm), am Ausstieg von Kollegen wie in der Folge Wer das Schweigen bricht (2013), in der Conny Mey als Frankfurter Team-Partnerin von Kommissar Frank Steier das letzte Mal auftritt, oder am Tod eines Kollegen wie in Er wird töten (2013), wo Inga Lürsens Geliebter Leo Uljanoff ermordet wird. Zum anderen knüpfen die durch den Tatort vermittelten Werthaltungen und Vorstellungen an gesellschaftliche Ideologien bezüglich ihrer Problemdiagnosen und Problembehebungen an (ebd.: 144f.). Damit ist der Tatort weniger realistisch in der Auswahl seiner Fälle (es handelt sich zumeist um Mord, ein kriminalstatistisch eher weniger relevantes Problemfeld12) und in der Darstellung der Personen und Ereignisse (diese sind nach Weber zumeist verkürzt und schematisiert). Realistisch aber scheint der Tatort im Aufgreifen und Verhandeln des Alltagswissens, des common sense als Sinn- und Deutungsperspektive zu sein (die mit Hickethiers ›mentaler Ebene‹ einiges gemein zu haben scheint), also allgemein vertrauter Vorstellungen über die Welt und die Gesellschaft. Die Sozialphänomenologie von Alfred Schütz und im Anschluss daran die Wissenssoziologie Berger/Luckmanns haben das Beziehungsgefüge von Alltagswissen und wissenschaftlichem Wissen zum Thema. Durch diese Differenzierung lässt sich die Betrachtung des Tatorts als wissenschaftlicher Gegenstand vom Tatort als Form der Sozialkommunikation über Alltagswissen unterscheiden. Die Frage, was realistisch oder nicht realistisch an den Folgen ist, entscheidet sich somit nicht allein an der Angemessenheit der Darstellung in der Beurteilung durch die wissenschaftliche Analyse. Sie zielt vielmehr darauf ab, die Common-SenseVorstellungen der in den einzelnen Folgen verhandelten Themen und deren Bewertungen sowie Lösungen zu untersuchen. Das Konzept des Realismus und die Frage nach der Realität des bzw. im Tatort kann also unterschiedlich dargestellt bzw. beantwortet werden. Fest steht, dass der Tatort weder ein Abbild gesellschaftlicher Verhältnisse liefert noch die Komplexität und Kontingenz sozialer Wirklichkeit angemessen wiederzugeben in der Lage ist. Gleichwohl erzeugt er ›Wirklichkeitseffekte‹ (Roland Barthes), wenn auch nicht im Sinne des funktionslosen literarischen Detailrealismus (Barthes 2006: 164-166). Realistisch im Sinne der künstlerischen Realismus-Debatten ist der Tatort vielmehr in der Wahl seiner alltäglichen Sujets, des Bezugsrahmens Alltag und in der Darstellung menschlicher Handlungszusammenhänge.13 Real ist der Tatort in der Wahl
12 Laut Polizeikriminalstatistik (PKS) 2012 betragen die »Straftaten gegen das Leben« lediglich 0,1%. Über schwere Verbrechen, seine Ursachen, Hintergründe und Motive erfahren die meisten Menschen nur aus den Medien (Lüdemann/Ohlemacher 2002: 9). 13 Nicht nur, dass kulturhistorisch der Alltag ein wichtiges Sujet darstellt, der Realismus versucht auch, die Ordnung und Unordnung hinter der Oberfläche der Dinge zu themati-
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seiner Orte (auch wenn Drehort und Spielort nicht immer übereinstimmen müssen). Real wird der Tatort zudem in der Rezeptionssituation der Zuschauer, entweder im individuellen oder kollektiven Zuschauen und in den parallelen oder anschließenden Kommentaren und Diskussionen sowie im seriellen Weiterleben der Figuren – hier verschiebt sich allerdings die Frage der Realität von der Darstellungsebene hin zur Wahrnehmung durch das Publikum. Soziologisch entscheidend ist, welche sozialen Handlungs- und Erklärungsmuster herangezogen werden (die außerhalb der Darstellung als Wissensvorrat zirkulieren), um den Ablauf der Geschichte und die unterschiedlichen sozialen Wirklichkeiten und Milieus glaubhaft miteinander in Verbindung zu bringen.14 Realistisch sind in dieser Perspektive die Erklärungen von Handlungen und deren Abläufe, nicht die thematische Darstellung oder die Wahl des Themas selbst. Auch können einzelne zwischenmenschliche oder ›intersubjektive‹ Beziehungsformen als real empfunden werden, ohne damit den Plot in toto als solchen einzustufen. Inwieweit der Tatort zu einer realistischen Darstellung der gezeigten Milieus und Lebensverhältnisse vordringt, ist sicherlich eine strittige Frage und liegt ›im Auge des Betrachters‹. Grundsätzlich kommt Weber zu dem Schluss, dass durch das Format der Reihe und die 90 Minuten Spielzeit der Aufbau eines realistischen Plots (im Gegensatz zu kürzeren Sendeformaten) durchaus möglich ist, wenn dies auch nur selten gelingt (Weber 1992: 126-135).15
sieren (wie dies der Tatort in Form des Krimi-Genre ebenfalls tut): »Realismus berührt hinter der Darstellung der Oberflächen stets die Frage nach der Definition von Wirklichkeit, ihrer Ordnung und Unordnung.« (Ohlsen 2010: 18) 14 Alfred Schütz entfaltet das »Problem der Realität« (2003a [1955]: 289) in seiner Analyse des Romans Don Quijote von Cervantes. Er zeigt an diesem Beispiel auf, wie Fiktionalität Realität werden kann, obwohl es sich um einen Roman handelt. Damit kommt Schütz zu einem für das Realismus-Problem entscheidenden Punkt: Die Realität der Darstellung muss sich an plausiblen Erklärungsmustern orientieren, die zu bestimmten Zeitpunkten (bei den Lesern) als real gelten und als solche akzeptiert werden, um als realistisch eingeschätzt zu werden. 15 Ein Spiel mit subjektiven Realitätsvorstellungen, wie es aus verschiedenen Kinofilmen bekannt ist, betreiben die Folgen Unvergessen (2013) und Vergessene Erinnerung (2010). In beiden Fällen sind die Ermittlerfiguren, Moritz Eisner und Charlotte Lindholm, durch körperliche Angriffe bzw. Unfälle zeitweilig in ihrem Erinnerungsvermögen eingeschränkt, wobei Vorstellung und Realität zu verschwimmen scheinen. Hier eröffnet sich noch einmal ein ganz anderes Feld der Frage von ›Realität‹ (siehe dazu ausführlich den Beitrag von Thomas Weber in diesem Band).
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L EBENSWELT , ALLTAGSWISSEN UND COMMON SENSE – D IE GESELLSCHAFTLICHE P ERSPEKTIVE DES T ATORT In der Soziologie werden Realität bzw. Wirklichkeit verständlicherweise anders behandelt als in den Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaften. Während es dort um die literarischen, künstlerischen oder medialen Entwürfe von (möglichen) Wirklichkeiten und die Modulation (möglicher) Situationen und Figuren geht, reflektiert, inszeniert und erzählt durch ästhetische Erwägungen und die Wahl spezifischer Ausdrucksmittel (Sprache, Bild, Film), handelt es sich bei der Untersuchung gesellschaftlicher Wirklichkeiten durch die Soziologie um die Analyse sämtlicher Lebensbereiche und deren Bedeutung für gesellschaftliche Zusammenhänge. Dabei spielen Medien bei der Herausbildung und Vermittlung symbolischer Ordnungen und Orientierungen, in denen Identitäten und soziale Konflikte eingelassen sind, eine zunehmend bedeutende Vermittlungsrolle (Willems 2008, Band 2). Medien bringen uns mit gesellschaftlichen Lebensbereichen in Kontakt, zu denen wir ansonsten keinen Zugang hätten. Damit wird eine Position angedeutet, in der Medienanalyse gleichzeitig Gesellschaftsanalyse darstellt, die eingebettet ist in einen soziokulturellen Zusammenhang (Winter 1992; Marchart 2008). In den Darstellungen von Medien geht es immer auch um Identitätsaushandlungsprozesse und die Zuschreibung sozialer Positionen. Medien- und Filmanalyse können in dieser Perspektive somit gesellschaftskritisch betrieben werden (Winter 2013). Unterhaltungsfernsehen wie der Tatort wird in diesem Ansatz nicht als eine »harmlose Form« aufgefasst, sondern über dieses werden zentrale gesellschaftliche Themen aufgegriffen und soziale Positionen und Rollen in sozialen Figurationen zugewiesen. Auch im Tatort finden sich immer wieder offen oder versteckt Positionszuweisungen und sozialkritische Ansätze (vgl. Huby/Wenzel 2000: 215-218).16 Wie aber entstehen soziale Deutungen und Interpretationen, worauf basieren Darstellung und Interpretation von Lebens- und Alltagswelten sowie der in ihnen handelnden Akteure im Tatort? Der sozialphänomenologische und wissenssoziologische Beschreibungsansatz verfolgt eine umfassende mundane Theoretisierung der Grundstrukturen der Lebenswelt, unseres Alltagswissens und der darin angelegten Wirklichkeitsauffassungen sowie ihrer Herleitungen (Schütz 1974 [1932]). Die Begriffe Realität und Wirklichkeit werden dabei oft synonym verwendet,17 auch wenn
16 Beispiele, in denen auf Defizite und Schattenseiten der modernen Gesellschaft angespielt und für bestimmte soziale Gruppen um Verständnis geworben wird, sind Legion. Die Einsamkeit und Isolation des Alters sind immer wieder Thema, so etwa direkt in der mit dem Grimme-Preis ausgezeichneten Folge Herzversagen (2004) oder indirekt in Tod einer alten Frau (1993). Die Welt der Obdachlosen wird zum Thema in der Episode Platt gemacht (2009).
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sie Verschiedenes bedeuten: Realität meint die physische Äußerlichkeit der Dinge in der Welt unabhängig vom Standpunkt des Betrachters, Wirklichkeit spielt auf die jeweiligen Zugänge zur Realität in Abhängigkeit des Betrachter-Standpunkts und seiner sozialen Position an. Realität wird als Ausgangspunkt alles Erkennens und Wissens hypothetisch vorausgesetzt, Wirklichkeiten dagegen werden kulturell und sozial konstruiert und variieren als Einstellungen, Lebensstile, Werte und Normen sowie Ideologien zwischen verschiedenen sozialen Gruppen innerhalb der Gesellschaft. Sie basieren auf sozialen Wissenskonstruktionen des Alltags, den sozialen Spielregeln und Alltagsvorstellungen, die aus verschiedenen Quellen gespeist werden. Gesellschaftliche Wirklichkeit wird in Anknüpfung an Peter A. Berger und Thomas Luckmann (1999 [1966]) als sozial(kommunikativ) konstruiert und damit historisch veränderbar und variabel betrachtet. Medienprodukte wie der Tatort mit ihrer spezifischen und bewusst hergestellten Bezugnahme zu Alltagsthematiken und typisierten Rollenverhalten der Kommissare, der Opfer, Täter und Nebenfiguren bilden vor diesem Hintergrund eine wichtige und wirksame kommunikative Vermittlungsinstanz gesellschaftlicher Ordnung in Form von Werten, Normen und Leitbildern, ohne dabei eine Realität an sich zu adressieren, sondern vielmehr – im Mittelpunkt des Plots oder nebenbei – gesellschaftliche Phänomene wie Beruf und Familie, Geschlechterverhältnisse, kulturelle, politische, ökonomische Fragen u.v.m. über die Aushandlung von Alltagswissen zu verhandeln. Dabei werden auch immer die Grenzen des Erlaubten ausgetestet und moralisch bewertet, etwa, wenn der (offenbar verzeihliche) Bruch rechtsstaatlicher Normen durch die Kommissare zur Aufklärung eines Mordes durch den späteren Aufklärungserfolg legitimiert wird18 oder wenn Straftaten als nachvollziehbar oder gar berechtigt dargestellt werden, sofern die Motive ehrenhaft erscheinen. Allerdings werden Alltagsthematiken und ihre Lösungen nicht nur in Bezug zur Tat diskutiert, sondern finden sich bereits in den Dialogen und sozialen Beziehungen zwischen den einzelnen Figuren wieder. Die Differenzierung zwischen einer physischen Realität und den sozialen Wirklichkeitskonstruktionen des Alltagswissens und seiner Auslegungen ist in Bezug zum Tatort insofern aufschlussreich, als es weniger um die physisch-materiellen Realitäten noch um eine ›Realität an sich‹ gehen kann, auch nicht um etwas Wahres oder objektiv außerhalb der medialen Präsentation Liegendes, ebenso wenig um eine wie auch immer aussehende ›tatsächliche‹ Realität. Vielmehr geht es um die sozialen
17 Im Englischen findet sich diese Differenzierung nicht: Dort wird von ›reality‹ gesprochen, womit beide Aspekte gemeint sind. 18 Normübertretungen der Kommissare werden zum Erreichen eines legitimen Ziels – Aufdeckung des Verbrechens und Überführung eines Mörders – meist positiv sanktioniert, wohingegen Polizeigewalt und -willkür negativ sanktioniert werden, wie in der TatortFolge Macht und Ohnmacht (2013).
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Lebenswirklichkeiten, das Alltagswissen und die dort angelegten sozialen Rollen, die vermittels unterschiedlicher Inszenierungsformen und moralischer Diskurse im Tatort durch (Stereo-)Typisierungen und Interpretationen konstruiert und gedeutet werden.19 Mit anderen Worten: Die Dinge sind nach Berger/Luckmann nicht so, wie sie sind, sondern wie sie von gesellschaftlichen Instanzen und Institutionen – also den Sendern, ihren Redakteuren und Drehbuchschreibern und schließlich den Zuschauern – sinnhaft interpretiert werden. Dabei reklamieren diese Institutionen für sich, Teil dieser Lebens- und Alltagswelt zu sein und deshalb ›authentisch‹ von ihr berichten zu können.20 Die Sozialphänomenologie Alfred Schütz’ (2004 [1953]) setzt als Forschungsperspektive beim common sense, also dem gemeinsam geteilten Alltagswissen an; er bezieht damit wissenschaftliche und alltägliche Erklärungsansätze aufeinander: »Unser gesamtes Wissen von der Welt, sei es im wissenschaftlichen oder im alltäglichen Denken, enthält Konstruktionen, das heißt einen Verband von Abstraktionen, Generalisierungen, Formalisierungen und Idealisierungen, die der jeweiligen Stufe gedanklicher Organisation gemäß sind. Genau genommen gibt es nirgends so etwas wie reine und einfache Tatsachen. Alle Tatsachen sind immer schon aus einem universellen Zusammenhang durch unsere Bewußtseinsabläufe ausgewählte Tatsachen.21 Somit sind sie immer interpretierte Tatsachen.« (Ebd.: 158)
19 Nicht ausführlich dargestellt werden kann hier die auf den Pragmatismus zurückgreifende Zeichen- und Symboltheorie der Sozialphänomenologie im Anschluss an Schütz (1974 [1932]: 165ff.). Hier verbinden sich pragmatische Zeichentheorie und Alltagssoziologie auf eine für die Analyse medialer Produkte fruchtbare Weise. 20 So beruft sich der Tatort-Autor Felix Huby (Huby/Wenzel 2000: 215 und 221) zum einen auf seine politische Sozialisation, zum anderen auf seine allgemeinen Erfahrungen durch Recherche und Teilnahme anverschiedenen Lebenswelten, um seine realitätsnahen Erzählungen zu erklären. Hajo Gies, um einen Regisseur zu erwähnen, möchte den Zuschauern nicht seine Meinung aufdrängen, sondern ihnen die Möglichkeit geben, Menschen in ihrem sozialen Verhalten zu beobachten (Gies/Wenzel 2000: 163f.). 21 Hierzu sei angemerkt, dass die Relevanzstrukturen dieser »ausgewählte[n] Tatsachen« im Alltagswissen von Alfred Schütz (1982) an einer anderen Stelle untersucht werden. Die dort vorgenommene Differenzierung der »Um-zu-« als prospektive und der »Weil-«Motive als retrospektive Erklärungen sozialen Handelns wären auf die innere Erzählstruktur des Krimi-Genres und seine sich aufeinander beziehenden Handlungsabläufe für die soziologische Detailanalyse zu übertragen. Nebenbei bemerkt belegen die literaturorientierten Schriften von Alfred Schütz, dass die Soziologie (bzw. Sozialphänomenologie) keineswegs allein an den sozialen oder alltäglichen Realitäten interessiert ist, sondern auch,
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Beide Bereiche, Wissenschaftswissen und Alltagswissen, arbeiten demnach mit ähnlichen, wenn auch unterschiedlich motivierten Generalisierungen und Abstraktionen und sind durch die Analyse alltagsweltlicher Sinndeutungen miteinander verbunden. Die interpretativen Sozialwissenschaften produzieren in Bezug auf die Untersuchung des Alltagswissens »Konstruktionen 2. Ordnung« (ebd.: 159): Damit ist, ähnlich wie bei Dennis Gräf angedeutet, die Rekonstruktion der (inszenierten) Verstehensleistungen »1. Ordnung« der Alltagsakteure gemeint. Es geht in der alltagsweltlichen Tatort-Analyse aber nicht darum, die Gesellschaft ›hinter‹, ›vor‹ oder ›außerhalb‹ der medialen Darstellung zu untersuchen oder den Tatort mit anderen Befunden über die Gesellschaft abzugleichen, den Tatort etwa kulturkritisch als Verblendungszusammenhang zu kritisieren oder gar ›besser‹ zu verstehen, sondern vielmehr das dort implizit vermittelte Alltagswissen als pragmatische Erklärung für gesellschaftliche Zusammenhänge herauszuarbeiten. Hans-Georg Soeffner (2004: 39-47) unterscheidet dabei den »kognitiven Stil der Praxis«, womit er die (unzweifelhaften) Wirklichkeitsauffassungen im Alltagswissen meint, von der Konzeptualisierung des Alltags in der Wissenschaft, in der Wirklichkeit als instabiles, variierendes und zweifelhaftes Konstrukt verstanden wird. Der alltagsweltliche Ansatz im Blick auf den common sense bei Alfred Schütz beruht auf der Intersubjektivität der Akteure, ihren interpretativen Auslegungen und gemeinsam geteilten Vorstellungen und Werthaltungen. Intersubjektivität ist die Grundlage alles Gesellschaftlichen, ohne sie wäre ein sinnvoller kommunikativer Austausch und eine gesellschaftliche Ordnung nicht möglich. Im Wissenshaushalt der Gesellschaft wird nicht nach letzten überprüf- oder begründbaren Gewissheiten gesucht, das im Alltag wirksame soziale Wissen basiert vielmehr auf der ›natürlichen Einstellung‹, Typisierungen, Vereinfachungen, Vor-Urteilen und Ideologien. Dabei hat Schütz die Differenz unterschiedlicher Erfahrungs- und Wissenshintergründe in der pluralen Gesellschaft zwar im Blick; er ist aber der Überzeugung, dass sich in einem gegebenen soziokulturellen Kontext ein soziales Wissen herausbilden muss, das zu gemeinsamen oder besser nachvollziehbaren und verständlichen Deutungen und Interpretationen der Lebens- und Alltagswelt führt – auch wenn die Einschätzungen darüber durchaus kontrovers sein können: Ohne diese Möglichkeit wäre ein sinnvoller Austausch über soziale Phänomene nicht möglich.22 Gerade im Tatort werden solche Erklärungsansätze für soziales Verhalten über die Konstruktion von Milieus erprobt; es wird versucht, sich einen ›Reim‹ auf zunächst unerklärliche Ereignisse zu machen. Bei Interpretationen der Alltagswelt
wie Schütz (2003b [1945]) bspw. in seinem wegweisenden Aufsatz über die »mannigfaltigen Wirklichkeiten« belegt, an literarischen oder fiktiven Wirklichkeiten. 22 So etwa, wenn über den ›realistischen‹ und ›authentischen‹ Gehalt der einzelnen TatortFolgen in der Öffentlichkeit oder Presse diskutiert wird.
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und deren Einschätzung ist es demnach weniger wichtig, ob die dort getroffenen Aussagen darüber richtig, ›wahr‹ oder zutreffend sind, sondern vielmehr, ob sie in Einklang mit unserem Alltagsverständnis und den in ihm angelegten sozialen Regeln gebracht werden können, ob sie sozial (d.h. intersubjektiv) praktikabel sind (Schütz 2004 [1955]: 178). In modernen Kulturen sind diese Erklärungsansätze als soziale Regeln durch Rationalität, Alltagslogik und ›sinnvolle‹ Nachvollziehbarkeit geprägt.23 Erkennen Zuschauer eine derart vertraute Rationalität und Alltagslogik im Ablauf und den typisierten Erklärungen von Handlungen im Tatort, so können sie sich und ihre Alltagsvorstellungen wiederfinden, können diese somit als relevant bestätigen oder ablehnen. Eine derartige Hinwendung zum Alltagswissen und den sozialen Spielregeln, den pragmatischen »Alltagstheorien«, mit denen sich die Alltagsakteure die Gesellschaft erklären und wechselseitig bestätigen, überbrückt die Kluft zwischen Alltagswelt und Wissenschaft und führt letztere an gemeinsam geteilte Common-Sense-Auffassungen heran, in denen sich auch Wissenschaftler außerhalb ihrer Profession bewegen (Soeffner 2004: 15). Die Alltagswelt ist somit ein idealtypisch gedachter Ort, in dem über soziales Wissen und alltägliche Handlungspraktiken Wirklichkeit bestätigt, reproduziert und letztlich verändert wird. In diesem Sinne ist der Tatort tatsächlich, wie Dennis Gräf schreibt, ein »kultureller Speicher« und »›Seismograph‹« (Gräf 2010: 8) gesellschaftlicher Verhältnisse. Alltagswissen beruht auf »Normalitätskonstruktionen«: Etwas wird als »normal« empfunden, wenn es frühere Erfahrungen bestätigt und gewöhnlich als bekannt erachtet wird. In alltäglichen »Normalitätskonstruktionen«, die von Soeffner (2004: 22) als »kognitiver Stil der Praxis« bezeichnet werden, sind latente Typisierungen eingelassen, die sich aus früheren Erfahrungen gebildet und als praktikabel erwiesen haben. Typisierungen sind geronnene soziale Wahrnehmungsmuster, die, aus Einzelbeobachtungen gewonnen, zu allgemeinen Generalisierungen einiger hervorstechender Merkmale transformiert werden. Durch die Herstellung von ›Normalitäten‹ lassen sich außergewöhnliche Situationen darstellen, über die wiederum die Normalitäten des Alltags hinterfragt und herausgefordert werden. Diese Herausforderungen unser »Normalitätsvorstellungen« finden sich immer wieder im Tatort, wenn die Perspektive von Außenstehenden oder außergewöhnlichen Situationen eingenommen wird. So wird die Alltagswelt gleich auf ganz unterschiedlichen Ebenen in der Folge Fette Hunde (2012) herausgefordert. In diesem Tatort geht es um ein aktuelles Thema: um deutsche Soldaten in Afghanistan zwischen Heimataufenthalt und neu-
23 Werden diese Alltagsrationalitäten und -logiken im Ablauf der Handlung des Tatort verletzt, so wird dies in Foren oder anderen Kommentaren angemerkt. So kann ein Tatort nur funktionieren, wenn er in sich stimmig ist, was nichts anderes heißt, als dass er mit den Vorstellungen und Einschätzungen der Zuschauer weitgehend übereinstimmt.
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em Einsatz. Darüber hinaus geht es um Drogenschmuggel und die Suche nach einer gesicherteren Lebensform seitens (illegaler) Migrantinnen und Migranten, personifiziert in den beiden afghanischen Drogenschmugglern Amina und Milad Rahmini, die mit den heimkehrenden Soldaten a) durch eine Liebesbeziehung der weiblichen Protagonistin zur Hauptfigur Sebastian Brandt und b) durch den Drogenschmuggel gemeinsam mit dem heimkehrenden Soldaten Matthias Jahn verbunden sind. Die Alltagswelt der Familien, die zwischenmenschlichen Beziehungen, die Freundschaften in Deutschland werden kontrastiert durch eine außerhalb dieser Normalität liegende Welt des militärischen Konflikts in Afghanistan und die Traumatisierungen, die damit verbunden sind und eine Integration in den heimischen Alltag erschweren oder verunmöglichen.24 Durch die Kontrastierung von Alltagswelt und einer ›wie immer‹ ablaufenden Normalität in Deutschland auf der einen und der kriegerischen und zerstörerischen Welt des Afghanistan-Krieges auf der anderen Seite wird nicht nur der Auslandseinsatz der Soldaten hinterfragt, sondern umgekehrt auch die Alltagswelt mit all ihren Routinen und Bequemlichkeiten in Deutschland relativiert. Letztlich zielt die Darstellung auch auf eine Kritik des Alltagswissens von oder der Ignoranz gegenüber den sich im Auslandseinsatz befindlichen Soldaten ab, an deren Ende die (Er-)Lösung durch einen erneuten Einsatz Sebastian Brandts steht. Dass der Alltag mit all seinen Routinen und Gewissheiten Sicherheiten, Orientierung und Einordnung von Erfahrungen und damit Komplexitätsreduktion verspricht, ist eine Sache. Die andere Sache ist, dass oftmals gerade diese Routinen zu langweilig und langatmig sein können. Die heute bekannten schnellen Schnitte und Situationswechsel in der Medienästhetik, die Steigerung der Komplexität von Ereignissen im Tatort durch das Aufgreifen unterschiedlicher narrativer Stränge, wirkt dieser Langeweile entgegen. Das Langsame und Behäbige früherer Tatorte ist einer oftmals an den amerikanischen Thriller erinnernden Form der Action (und stellenweise dem amerikanischen Thriller entlehnten Irrealisierung) gewichen. Entfernen sich die medienästhetischen Umsetzungen wie auch die Umsetzungen der thematischen Kontextuierungen sowie die Wahl der Mordgeschichten in diesen neueren Sendungen stellenweise von realistischen Bezugsrahmen, so bleiben doch die sozia-
24 So ist der Hund der Familie Brandt immer wieder Auslöser für traumatische Bilder toter Soldaten bei Sebastian Brandt, da dieser ihn an die zwischen den Leichen herumstreunenden Hunde in Afghanistan erinnert. Ebenso wenig ist Sebastian Brandt in der Lage, sich auf eine ›normale‹ Stelle zu bewerben oder im Privaten mit seiner Frau sexuell zu verkehren. Als Soldat wird er von seinem Sohn abgelehnt. Auch bei den anderen Heimkehrern gibt es Probleme mit der ›Normalität‹: Die Freundin von Thomas Klages hat die gemeinsame Wohnung verlassen, Matthias Jahn versucht sich mit Hilfe der Geschwister Rahmini seinen Lebensunterhalt mit Drogenschmuggel zu verdienen.
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len Einbettungen der einzelnen Handlungen in ihre Alltags- und Lebenswelten, das Aufgreifen des common sense, die Sozialität der Akteure und ihre Kommunikationen über alltagsspezifische Themen »real«. Dagegen setzten, so lässt sich vermuten, ältere Tatorte noch auf eine sehr viel langsamere und bedächtigere Form der Erzählung, wie etwa in den Folgen Pleitegeier (1988) oder Tod einer alten Frau (1993), um die Bewegungen und Vollzüge alltäglicher Handlungen sinnfällig ins Bild zu setzen. Inwieweit hier, neben der Historizität medialer Erzählstile und ihrer Veränderungen, auch Erwägungen mit hineinspielen, den Alltag der Protagonisten bewusst als langsam und bedächtig darzustellen, kann hier nicht diskutiert werden. Jedoch kommt eine solche Form der Darstellung möglicherweise den unterschiedlichen Zeitempfindungsformen des Alltags und ihrer Veränderungen nahe und sagt auch etwas darüber aus, wie mit Zeit zu unterschiedlichen Zeitpunkten in der alltäglichen Wahrnehmung sowie in der medialen Darstellung umgegangen wird.
E IN SOZIOLOGISCHES R OLLENMODELL FÜR DEN T ATORT ? D IE SOZIALE R OLLE ALS V ERMITTLER VON W ERTEN UND N ORMEN Soziale Wahrnehmungen von uns und anderen in der Alltagswelt finden über soziale Rollen statt. Wir identifizieren Menschen in Handlungszusammenhängen in und über soziale Rollen im Alltag, die auf (Stereo-)Typisierungen beruhen, deren Ursprung wiederum vielfache Ursachen – im hohen Maße mediale Darstellungen – haben kann. Deshalb ist die soziale Rollentheorie ein Kernbestandteil soziologischer Gesellschaftsanalyse. Unsere Vor-Urteile, Erwartungen, Interpretationen und letztlich (Stereo-)Typisierungen des Verhaltens von Menschen in der Alltagswelt werden über soziale Rollen und die mit ihnen verbundenen Merkmale geprägt: Zwischen Individuen und Gesellschaft steht die soziale Rolle als zentrale Vermittlungsinstanz (Nassehi 2008: 55). Wir internalisieren soziales Rollenverhalten bereits in der frühen Kindheit und bilden dort Erwartungen über das Verhalten in diesen Rollen heraus (Mead 1969): Ein Kind lernt bereits früh zu verstehen, was es heißt, ein ›Polizist‹ zu sein, indem es sich in diese soziale Rolle spielerisch hinein imaginiert. Die soziale Rolle – wiewohl ein wichtiger Begriff der Soziologie hinsichtlich der Herstellung reziproker Verhaltenserwartungen an den Inhaber einer sozialen Position und hinsichtlich der Frage nach den Erwartungen und Erwartungserwartungen des Verhaltens anderer in einer bestimmten sozialen Position – ist zugunsten von poststrukturalistischen Subjekt- und Selbstinszenierungstheorien ein wenig in den Hintergrund geraten. Während auf der einen Seite die soziale Rollentheorie von der »ärgerlichen Tatsache der Gesellschaft« (Dahrendorf 1974: 17) ausgeht und damit auf die normativen Zwangsmechanismen des Gesellschaftlichen,
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die der sozialen Rolle inhärent sind, anspielt, werden auf der anderen Seite soziale Rollen als notwendige Schauspiele der Gesellschaft, als subjektive »Theaterbühnen« des Gesellschaftlichen (Goffman) konzeptualisiert (Fischer 2010: 80). In den Subjektivitätsmodellen wird der normative Charakter der sozialen Rolle relativiert und die Eigenmächtigkeit des Subjekts betont.25 Dennoch gilt: »›Soziale Position‹ und ›soziale Rolle‹ funktionieren als Schlüsselbegriffe für die Soziologie, weil sie kategorial zwischen Individuen und Gesellschaft vermitteln. Das einzelne Subjekt nimmt demnach am gesellschaftlichen Leben nur im Medium sozialer Positionen teil (als Kind, Frau, Bekennender, Freund, Berufstätiger, Vereinsmitglied, Staatsbürger etc.), indem es deren soziale Rollen zur Darstellung und darin auch sich vor anderen zur Geltung bringt. Wird das Individuum Träger einer sozialen Position, verwandelt es sich in den (Schau-)Spieler der dazugehörigen sozialen Rolle. Umgekehrt verteilt die jeweilige Gesellschaft die große Masse ihrer sanktionsbewehrten Verhaltenserwartungen an bestimmte soziale Positionen, lotst die Einzelnen in die Benehmens- und Darstellungsvorschriften der entsprechenden sozialen Rollen und steuert über Belohnungen und Bestrafungen die kulturelle Modellierung und normative Kontrolle der Individuen.« (Ebd.: 82)
Der Tatort baut insofern auf sozialen Rollenmustern auf, als Täter, Opfer und Ermittler in einem wechselseitigen, durch die Tat hervorgerufenen sozialen Verhältnis und Handlungskontext zueinander stehen. Man spricht in diesem Zusammenhang von komplementären Rollen, die ohne den jeweiligen Gegenpart keinen Sinn machen würden (Henecka 2008: 99f.): Wo kein Kläger ist, gibt es auch keinen Angeklagten. Die sozialen Beziehungen im Tatort basieren auf der Tat, aus der heraus sich die Konstellationen zwischen den einzelnen sozialen Rollen ergeben. Idealtypisch bezieht sich der Krimi auf soziale Rollenmuster, die unabhängig von der jeweiligen Rollenbesetzung existieren. Nach Karczmarzyk (2010) laufen die Ereignisse im Tatort nach einer bestimmbaren Struktur ab, in der jede Person und jeder
25 Im Übergang von der traditionalen zur (post-)modernen Gesellschaft findet eine Verschiebung vom »role-taking« zum »role-making« statt (Schimank 2000: 55-67): Das »role-taking« basiert auf dem normativen Paradigma, in dem die Normen die soziale Rolle und ihre Handlungsspielräume determinieren und Erwartungssicherheit schaffen, das »role-making« spielt auf das interpretative Paradigma an, in dem Menschen in postmodernen Gesellschaften immer mehr vor ambivalente und komplikationsreiche Aufgaben gestellt werden, zu denen sie eine nicht konfliktfreie Lösung finden müssen und damit ihre soziale Rolle offener und freier gestalten können. Der Tatort bietet hinsichtlich der Besetzungen von Ermittlerrollen ein ideales Feld, in dem zwischen »role-taking« als normativer Vorgabe des Berufs und »role-making« als individueller Ausgestaltung der sozialen Rolle unterschieden werden kann.
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Gegenstand eine spezifische Funktion besetzt. Jedoch besetzen erst ganz bestimmte individuelle Figurentypen die sozialen Rollen und müssen sich zu den äußeren Anforderungen der sozialen Rollenerwartungen ins Verhältnis setzen. Zahlreich sind die Beschreibungen und Porträtierungen der einzelnen Kommissare des Tatort in ihren verschiedenen Rollen-Konstellationen; dazu gehört auch die Frage nach der geschlechtsspezifischen Differenzierung in der wissenschaftlichen Literatur (Koebner 1990; Holtgreve 2000) oder in den Fan-Foren. So ist etwa Schimanski eine wichtige Figur des Tatort, über die soziale Rollenerwartungen an das Verhalten eines Kommissars bestätigt oder irritiert werden und über die sich ganz bestimmte Merkmale heraus entwickeln: in diesem Fall etwa das impulsive, alltagsnahe, ein wenig rüpelhafte Auftreten, das sich aber bis zum Ende dieser Figur im Großen und Ganzen im Rahmen des Rechts bewegt und lediglich auf der Ermittlungsebene kleinere Rechtsübertretungen begeht (vgl. Wenzel 2000a). Mit Schimanski wurde eine typisierte männliche Figur des Tatort-Kommissars etabliert, der sich von den gediegen-bürgerlichen Verhaltensformen seiner Vorgänger deutlich unterschied und damit seine soziale Rolle neu ausfüllte. Obwohl es bereits Kommissarinnen im Tatort vor 1989 gab (Buchmüller, Wiegand), ist es die bis heute existierende Figur Lena Odenthal, die die soziale Rolle der Frau als Ermittlerin besonders prägte. Heute haben wir mit Lürsen, Saalfeld, Blum, Brandt, Dorn, Fellner, Lindholm u.v.m. eine Vielzahl weiblicher Kommissare, die ebenso wie ihre männlichen Kollegen unterschiedliche Persönlichkeits-Varianten in ihre soziale Rolle einbringen. Im Tatort lassen sich viele weitere Rollenmuster differenzieren, die auf der jeweils dargestellten Alltagswelt und dem Milieuzusammenhang beruhen. Die sozialen Rollen, die auf dem Institutionen-Zusammenhang der Polizei basieren, und die mit ihnen verbundenen Rollensegmente im Zeichen beruflicher Bezugsgruppen ergeben sich verständlicherweise aus der staatlichen Repräsentationsfunktion des Rechts: Kommissare, Staatsanwälte, uniformierte Polizisten, Rechtsanwälte, Zeugen, Schöffen usw. Diese sozialen Rollen strukturieren die sozialen Beziehungen innerhalb ihres jeweiligen Berufes, gleichzeitig aber werden diese Personen häufig in diesen Rollen als Privatpersonen dargestellt. Familiäre Hintergründe – ein Kind (ohne Vater) bei Lindholm, eine (selten auftauchende) Tochter bei Borowski, die (selten auftauchende) Familie bei Schenk, der Alt-Hippie als Vater bei Thiel, eine burschikose Mutter bei Boerne – verdeutlichen dabei immer wieder den Konflikt zwischen der beruflichen und der privaten sozialen Rolle, die in den meisten Fällen zugunsten der beruflichen Rolle, der Notwendigkeit der Herstellung der gesellschaftlichen Ordnung, zurückstehen muss. Die Berufsrolle dominiert auf Seiten der Kommissare (bis spät in die Nacht und darüber hinaus) den Alltag und lässt das Privatleben in den Hintergrund rücken. Private und berufliche soziale Rollen verschwimmen, wenn es sich um (ehemalige) Beziehungspartner handelt, wie bspw. beim ehemaligen Ehepaar Saalfeld und Keppler oder bei der sich im Laufe der Folgen anbahnenden Affäre zwischen Borowski und Frieda Jung, die mittlerweile wieder aus dem Kieler Tatort
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ausgestiegen ist. Zerbrechende Beziehungen im Hintergrund, wie bei Sebastian Bootz im Stuttgarter Tatort, unterstreichen die Brüchigkeit menschlicher privater Beziehungen. Um die Bewältigung der Erwartungshaltungen in einer sozialen Rolle zu beschreiben, wurden die Begriffe Inter- und Intra-Rollenkonflikte entwickelt (Henecka 2008: 108-114). Intra-Rollenkonflikte basieren auf Konflikten, die sich aus dem Innehaben einer sozialen Rolle ergeben. Zieht man wieder das Beispiel der Kommissare heran, dann sind diese in eine Rollenkonfiguration eingebunden, aus der sich verschiedene, oftmals nicht miteinander zu vereinbarende Erwartungen und Anforderungen ergeben. Kommissare stehen in einer Beziehung zu ihren Vorgesetzten, zur Staatsanwaltschaft, zu den Opfern und Tätern, zu deren sozialem Umfeld, zur Öffentlichkeit usw. Daraus ergeben sich zwangsläufig Ambivalenzen und Unvereinbarkeiten im Handeln, die in dieser einen sozialen Rolle ausagiert werden müssen. Der Tatort ist voll von Beispielen, die Intra-Rollenkonflikte widerspiegeln: Die Kommissare müssen verschiedenen Anforderungen an ihre Person gerecht werden: gegenüber den Vorgesetzten, den Opfern, den Tätern, ihren Kollegen usw. Für die Rekonstruktion der vorgeschlagenen Lösungen, in denen sich das Alltagswissen sowie seine Wert- und Normvorstellungen, also der common sense zeigt, ist es notwendig, die einzelnen Entscheidungen (und deren mögliche Veränderungen über die Zeit) näher zu untersuchen. Die Inter-Rollenkonflikte basieren entsprechend auf Konflikten, die sich aus dem Innehaben mehrerer sozialer Rollen und den mit ihnen verbundenen Erwartungen ergeben. In plural differenzierten Gesellschaften nehmen die verschiedenen Rollen, die eine einzelne Person besetzt, permanent zu. Im Fall des Tatort kommt es etwa zu den o.g. Rollenkonflikten zwischen Privatsphäre, der sozialen Rolle als Mutter, Vater, Freund, Vereinsmitglied, Verwandter und dem Beruf. Dies scheint mir auf den ersten Blick die Hauptform des Inter-Rollenkonflikts im Tatort zu sein, wobei jedoch andere Konstellationen denkbar sind. Auch über die Inter-Rollenkonflikte lassen sich gesellschaftliche Konfliktkonstellationen und aus einer historischen Perspektive die resultierenden gesellschaftsgeschichtlichen Veränderungen verhandeln. Über rollenkonformes oder rollenabweichendes Handeln vergegenwärtigen sich Gesellschaften ihre gesellschaftlichen Werte und Normen. Durch Devianz – im Tatort zuallererst über den Mordfall manifestiert, für den es zwar häufig Verständnis, jedoch keine Entschuldung oder Exkulpation gibt – werden soziale Regeln ins Bewusstsein der Zuschauer gehoben, verhandelt und damit auch die Täter-/OpferKonstellationen differenziert und infrage gestellt. Dabei kann es zu Bestätigungen der herrschenden Werte und Normen kommen, oder aber die herrschenden Werte und Normen können aufgeweicht, verändert oder relativiert werden. In der Theorie der sozialen Rolle wird das idealtypische Schema der Kann-, Soll- und MussNormen unterschieden (Dahrendorf 1974 [1958]: 35-42). Muss-Normen sind die ju-
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ristisch sanktionierte Form der Normen, die durch Rechtsinstitutionen abgesichert werden. Der Mordfall ist ein Verstoß gegen die Muss-Normen und wird unabhängig von seiner Motivation juristisch geahndet. Soll-Normen sind eine sozial, jedoch nicht zwingend juristisch sanktionierte Form. Nichteinhalten zieht soziale Konsequenzen nach sich, es kommt zum sozialen Ausschluss, das Einhalten dagegen wird mit Zustimmung und Sympathie positiv unterstützt. Die Kann-Normen schließlich werden bei Nichteinhalten kaum negativ sanktioniert, es kommt lediglich zur »Antipathie« (ebd.: 39). Umgekehrt wird das Einhalten von Kann-Normen durch Schätzung des Verhaltens positiv unterstützt.26 Die Muss-, Soll- und Kann-Normen stehen durch die Erwartungshaltungen an eine bestimmte soziale Position mit der sozialen Rolle in Verbindung, wobei diese Normen Grundbestandteil der sozialen Spielregeln (des Alltagswissens) einer Gesellschaft sind. Muss-, Soll- und Kann-Normen unterliegen einem ständigen sozialen Wandel und verdeutlichen soziale Veränderungen in der Erwartungshaltung gegenüber sozialen Rolleninhabern. So können, auf den Tatort bezogen, bestimmte Verhaltensformen auftauchen bzw. wieder verschwinden, worin sich der soziale Wandel mal implizit, mal explizit ausdrückt. So wird, um ein Beispiel zu nennen, ein wachsendes Gesundheitsbewusstsein über das Verschwinden der früher als obligatorisch empfundenen Zigarette oder Zigarre aus dem Tatort deutlich, spätestens mit dem Verbot des Rauchens in öffentlichen Räumen. Auch das äußere Auftreten der Kommissare von Trimmel, Finke, Haferkamp über Schimanski, Brinkmann, Stoever/ Brockmöller, Wiegand, Odenthal bis hin aktuellen Ermittlerfiguren ist ein Gradmesser der Veränderung von Normen auf allen drei Ebenen und symbolisiert daher den sozialen Wandel. Eine gesellschaftsgeschichtlich motivierte Frage könnte lauten, inwiefern sich das vorgestellte und erwartbare Normengefüge im Verlauf der Tatort-Reihe gewandelt hat, welche sozialen Themen auftauchen, immer wieder aufgegriffen werden oder verschwinden, welches Rollenhandeln positiv oder negativ sanktioniert wird und wie sich dieses in einem bestimmten Zeitraum verändert. Über den sozialen Rollenbegriff lassen sich auch soziale Positionierungen in der Gesellschaft und der damit verbundene Status sozialer Gruppen analysieren und über die Darstellung von Handeln kritisieren oder bestätigen. Auch dies ist eine
26 Die Unterscheidung von positiven Sanktionen und negativen Sanktionen ist idealtypisch zu verstehen und in der Realität schwer zu treffen: Positive Sanktionen als Zuspruch finden oftmals nur latent oder gar nicht statt, sondern werden vorausgesetzt. Hinzu kommt, dass positiven Sanktionen oftmals das Brechen der Normerwartungen vorausgeht, diese sich also mit Verhaltensnormen nicht decken (Popitz 2006 [1967]: 142). Dafür lassen sich – als Rechtsbruch bspw. gegen individuelle Personenrechte (Schutz von Verdächtigen) für das höhere Ziel der Aufklärung – im Verhalten der Tatort-Kommissare zahlreiche Beispiele finden.
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zentrale soziologische Deutungsdimension des Tatort und seiner Veränderungen oder Kontinuitäten in gesellschaftsgeschichtlicher Perspektive.
AUSBLICK Der Ausgangspunkt dieses Artikels war der Versuch, eine soziologische Perspektive auf den Tatort zu entwickeln und die in den Diskussionen häufig zu findenden soziologischen Begriffe vorzustellen. Dem Grundproblem, das Manfred Mai über die konzeptuelle Leerstelle der Soziologie in Hinsicht auf medien- und filmästhetische Inszenierungen und über die gesellschaftstheoretische Leerstelle der Medienwissenschaften formuliert hat, sollte hier mit einer Konzeptualisierung der Alltagswelt und des Alltagswissens sowie der sozialen Rolle als Modulationsform der medialen Figuren im Tatort begegnet werden. Darüber hinaus sollte über die Diskussion des Realitätsgehalts oder des Realismus im Tatort eine Schnittstelle zwischen Soziologie und Medienwissenschaften gefunden werden. Inwieweit dies hier gelungen ist und inwieweit Sozialphänomenologie und Wissenssoziologie einen geeigneten analytischen Zugang zum Tatort bzw. zum Krimi-Genre auf der Produktionsseite bieten, kann an dieser Stelle nicht weiter diskutiert werden. Eine m.E. unumstößliche Tatsache bleibt jedoch, dass wir uns zwingend über soziale Rollen und den mit ihnen verbundenen Erwartungen in sozialen Handlungszusammenhängen erkennen und damit ein typisiertes Verhalten unterstellen. Das Wissen darüber ist in unseren sozialen Spielregeln des Alltags festgelegt und wird dort immer wieder reproduziert und modifiziert. Ich denke, dass der Tatort seine Figurenmodulation auf diesem sozialen Alltagswissen aufbaut und ›realistisch‹ in die Handlungskontexte einfließen lässt. Nur dann rechtfertigen sich die immer wieder hergestellten gesellschaftlichen Bezugsrahmen. Durch diesen in der Inszenierung gelungenen oder misslungenen Alltagsbezug erhält der Tatort seine Zustimmung oder Ablehnung beim Publikum.
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ANDERE R EIHEN
ZITIERTE
F ILME , M EHRTEILER , S ERIEN UND
Schwarzwaldklinik (BRD, 1985-1989 [ZDF])
Zwischen Fakten und Fiktionen Gesellschaftspolitische Themen in der Krimireihe Tatort H ENDRIK B UHL
D ER T OTE
UND DAS
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»Tatrazin intus? Kannste mal so sprechen, dass ich es auch verstehen kann?« fragt der unwissende Kommissar den Pathologen bei dessen Bericht zu Beginn des Themen-Tatorts Borowski und eine Frage nach reinem Geschmack (2010). Die Antwort des kundigen Mediziners erfolgt prompt: »Tatrazin nennt man auch E 102.« [Borowski] »E 102. Das kommt mir bekannt vor.« [Pathologe] »Ja, ist ein zugelassener Lebensmittelfarbstoff.« (00:04:03-00:04:16) Das Opfer der bösen Tat, die die Detektionshandlung dieses Krimis auslöst, starb an einer 40-fachen Überdosis besagten Farbstoffs. Dabei enthielt eine Flasche des fiktiven Energy-Milchdrinks namens Vitanale jene tödliche Dosis, die dem Allergiker zum Verhängnis wurde. Sein ausgestellter, lebloser Körper enthält erste Spuren, die den Weg zum Täter weisen, und stellt von Anfang an die Verbindung von Genre und Thematik, Ermittlungshandlung und Interdiskursivität her (vgl. Völlmicke 2013: 248; Wulff 2007: 2). Seine Nachforschungen führen Kommissar Borowski (Axel Milberg) im Zuge der weiteren Krimihandlung in einen modernen Molkereibetrieb, aus dem das tödliche Getränk stammte. Borowski wird mit konträren Auffassungen über gutes Essen konfrontiert, da er einerseits mit Verdächtigen spricht, die die industrielle Lebensmittelproduktion öffentlichkeitswirksam vertreten, und andererseits mit ihren Gegnern, einzelnen Repräsentanten des Öko-Aktivismus und Bio-Paradigmas sowie mit Experten auf beiden Seiten. Der Ermittler sieht sich genötigt, selbstkritisch über den eigenen Umgang mit Lebensmitteln nachzudenken und bietet damit auch den Krimizuschauern »Reflexionsanlässe« (Dörner 2001: 157). Zudem lernt er seine zukünftige Partnerin Sarah Brandt (Sibel Kekilli) kennen, die bei sich zu Hause mit Biogemüse Suppe kocht, selten Fleisch isst und – ebenso wie Borowski – als »Vor-
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bild-Protagonist[in]« (Wulff 2001: 256) in der Textperspektive des Krimis erstrebenswertes Verhalten vorführt. Borowski und eine Frage nach reinem Geschmack (2010) ist eine hybride Mixtur aus Krimi, Familiendrama – das Motiv des Täters ist im Bereich intergenerationaler Konflikte zu finden – und »unterhaltsame[r] Aufklärung« (Weber 1992) öffentlich-rechtlicher Provenienz. Die in der modernen Lebensmittelindustrie angesiedelte Spielhandlung der Folge ist eine Fiktion mit faktualen Anteilen, ein Fernsehkrimi zwischen Information und Unterhaltung, Ernst und Unernst, konventionalisierter Genredramaturgie und ambitioniertem Aufklärungsfernsehen. Als »politische Unterhaltung« (Dörner 2001: 31) war der ausgesprochen themenlastige Krimi zum Zeitpunkt seiner Erstausstrahlung an einem Sonntagabend im Herbst des Jahres 2010 Teil des Fernsehflusses, den die ARD, dem medienkulturellen Allgemeinwohl im Sinne ihres Auftrages verpflichtet, Integrations-, Forums-, Komplementärund Vorbildfunktionen (vgl. Lucht 2006) zu erfüllen, einem Millionenpublikum als Sinnangebot zur Bedeutungsproduktion zur Verfügung stellte. Im Anschluss an den Krimi sendete Das Erste eine thematisch kompatible Ausgabe der Talkshow Anne Will mit dem Titel Aus dem Labor auf den Tisch – aber ist Bio wirklich besser?1 Darin diskutierte die Gastgeberin mit dem Moderator und Biobauern Dieter ›Max‹ Moor, dem Backwarenindustriellen Heiner Kamps, Politikern von SPD, Grünen und CSU sowie mit Anja Reschke, der Autorin der ökokritischen PanoramaReportage Geheimsache Bio.2 Auf »politische Unterhaltung« folgte »unterhaltsame Politik« im Rahmen groß angelegten, öffentlich-rechtlichen Politainments (Dörner 2001) zur besten Sendezeit. Beide Sendungen, der Krimi zur Prime Time wie auch die anschließende Talkshow, wurden im Rahmen der ARD-Themenwoche Essen ist Leben ausgestrahlt, worauf die Einblendungen des Themenwochen-Logos am oberen linken Bildrand durchgehend verwiesen.
›P OLITAINMENT ‹ UND I NTERDISKURSIVITÄT Tatort-Krimis sind realitätsbezogene Fiktionen. Seit über 40 Jahren liefern sie Erlebnis- und Weltverständnisangebote, die nicht nur unterhalten, sondern auch informieren sollen. Spezifisch deutsche (sowie gelegentlich schweizerische und österreichische) Problemlagen, Identitäten, Milieus und Konflikte werden in vielen Krimis der Reihe qua »Personalisierung, Narrativisierung und Dramatisierung« (Mül-
1
Anne Will: Aus dem Labor auf den Tisch – Aber ist Bio wirklich besser?, 24. Oktober 2010 (ARD).
2
Geheimsache Bio. Panorama – Die Reporter, 7. Oktober 2009 (ARD, B+R: Anja Reschke).
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ler 2011: 22) ausgewählt, aufbereitet, implizit oder explizit perspektiviert und eingeordnet (vgl. u.a. Schnake 2004; Lorenz 2005, 2012; Ortner 2007; Griem/Scholz 2010). Die erfolgreichste Krimireihe im deutschen Fernsehen ist dem populärkulturellen Mainstream (vgl. Hügel 2007) der Millionen zuzuordnen, weshalb an ihren sonntäglichen Televisionen Horizonte eines jeweils aktuellen, weitgehend konsensuellen Normen- und Wertegefüges ablesbar sind. Was zu einem bestimmten Zeitpunkt eine weit verbreitete Ansicht, allgemein zustimmungsfähig oder -pflichtig, achtens- oder verachtenswert, sag- und wissbar ist, findet sich im Tatort wieder oder wird darin mit den Mitteln der Fiktion für richtig und wichtig erklärt. Die Inszenierung von Konsens gehört zu den wesentlichen Merkmalen von ThemenTatorten. Die Krimis arbeiten machtvoll am »Agenda Pushing« (Gansel/Gast 2007) sowie an der »Organisation von Zustimmung« (Marchart 2008: 80) mit, der Bildung und Reflexion von Konsonanz auf dem Feld der sich stets wandelnden Medienkultur (vgl. Hepp/Höhn/Wimmer 2010) in der Unterhaltungsrepublik Deutschland (Dörner/Vogt 2012). Daran beteiligt sind Tatorte über die Verabscheuungswürdigkeit von häuslicher Gewalt (Schwarzer Peter, 2009) oder von Jugendgewalt und mangelnder Zivilcourage (Gegen den Kopf, 2013), über Sekten à la Scientology (Glaube, Liebe, Tod, 2010) oder Genitalverstümmelungen junger Mädchen (Tod einer Lehrerin, 2011), über die Leiden von Scheidungskindern (Schmale Schultern, 2010) oder von Kriegsheimkehrern (Heimatfront, 2011; Fette Hunde, 2012). Seltener verhandelt die Reihe Themen, über deren Deutung sowie Beurteilung in der Öffentlichkeit nicht bereits Konsens besteht. Ebenso ungewöhnlich wie herausragend gleichermaßen ist deshalb die mit vielen Genreregeln brechende Folge Nie wieder frei sein (2010), die nach dem ›richtigen‹ Umgang mit Sexualstraftätern fragt. Ähnlich zu bewerten ist die Folge Altlasten (2009), in der die erwachsenen Kinder einer dementen Frau über das Für und Wider einer Heimunterbringung ihrer Mutter diskutieren. Doch bei weitem nicht jeder Tatort enthält gesellschaftspolitische Themen. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an konventionelle Genrenarrative, bspw. in Klassentreffen (2010) mit der Marketing gefälligen Inszenierung des regionalen Kultur-Events Ruhr.2010, in der es die genretypischen Motive Habgier und Eifersucht sind, die verbrecherisches Treiben begründen. Begründungszusammenhänge für Mord und Totschlag, wie sie in Themen-Tatorten gängig sind – Zwänge und Verstrickungen führen zur Schuld eines an sich schwachen Individuums, wodurch Genre und Thematik miteinander verknüpft werden – finden sich in solchen Episoden nicht (vgl. Pinseler 2006: 19). Des Weiteren genannt seien beispielhaft die »völlig unpolitische Rachegeschichte«3 aus Stuttgart mit dem Titel Das erste Opfer (2011) sowie Borowski und der stille Gast (2012) mit Lars Eidinger, der
3
Matthias Dell. »Gestern beim Frühstück.« freitag.de, 9. Oktober 2011 (http://www. freitag.de/autoren/mdell/gestern-beim-fruhstuck).
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bereits in Hauch des Todes (2010) als Serienkiller sein Unwesen trieb und hoch spannende, aber gesellschaftspolitisch substanzlose Krimis mit seinem Spiel veredelte. Die für ihre Zeit typischen und weit verbreiteten Lebensstile, Einstellungen und Haltungen kulturhistoriografisch zu rekonstruieren oder Gegenwärtiges re-präsentiert zu sehen ist mittels aufmerksamer Tatort-Lektüren möglich. Was in den 1970er Jahren à la mode war, noch in den 1980ern über Minderheiten als sagbar galt, in den 1990ern wissenswert schien, zwischenzeitlich dem Vergessen anheim gegeben wurde und neuerdings wieder auf der Agenda steht, findet sich im Tatort wieder – die Reihe hat chronikalische und seismographische Qualitäten (vgl. Vogt 2005; Hickethier 2010). In vielen, aber längst nicht allen Tatort-Sendungen finden sich gesellschaftspolitische Themen neben der ebenso schematisierten wie variantenreichen Grundstruktur aus Mord – Detektion – Aufklärung (vgl. Brück/Guder/ Viehoff/Wehn 2003: 9) und den entsprechenden Genrebestandteilen (zumeist eine Rätselstruktur – whodunit?, Ermittlungen in der Regel im offiziellen Auftrag und unter Zuhilfenahme eines großen Apparats aus Institutionen, Mitteln und Personal, die Tendenz zur Genrehybridisierung etc.; vgl. Hickethier 2005). Sie sollen in der »mediale[n] Erlebnisgesellschaft« (Dörner 2001: 40) im öffentlich-rechtlichen Sinne Politisches – verstanden als »Be- und Verarbeitung von gesellschaftlichen Problemen« (Nieland 2009: 33) – für viele leicht und relativ voraussetzungslos zugänglich machen, Aufmerksamkeiten auf Problemlagen lenken und Diskussionsstoff bereitstellen. Tatort-Krimis mit thematischen Bezügen sind damit Politainment im besten Sinne, eine Mischung aus Politik und Entertainment. Andreas Dörner definiert sein Kompositum folgendermaßen: »Politainment bezeichnet eine bestimmte Form der öffentlichen, massenmedial vermittelten Kommunikation, in der politische Themen, Akteure, Prozesse, Deutungsmuster, Identitäten und Sinnentwürfe im Modus politischer Unterhaltung zu einer neuen Realität des Politischen montiert werden.« (Dörner 2001: 31)
Die weitgehend anstrengungslose Zugänglichkeit und Verständlichkeit von Politischem ist eine Grundfunktion von Politainment. Abstraktes wird auf ein Maß des Verstehbaren heruntergebrochen und die schlüssige Einordnung selbst komplizierter Sachlagen angeboten bzw. etabliert. In politischer Unterhaltung wie der Lindenstraße (seit 1985), Borgen (2010-2013) oder dem Tatort dienen »Figuren, Themen und Geschehnisse als Material zur Konstruktion […] fiktionaler Bildwelten« (Dörner 2001: 32), um diese interessanter zu machen. Dabei ist politische Unterhaltung keineswegs immer und ausschließlich kulturindustrieller Verkaufsoptimierung verpflichtet. Es geht nicht nur darum, Plots lebensweltlich zu verankern, um sie realitätsnah und plausibel erscheinen zu lassen und mit attraktiven Schauwerten zu versehen. Im spannenden Fall Tatort ist es der öffentlich-rechtliche Auftrag, zu bilden,
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zu informieren und zu unterhalten (und weniger zu beraten), der Politisches und Populäres weisungsgemäß miteinander verschmelzen lässt. Zahlreiche Sendungen der viel gesehenen Krimireihe sind als Destillate dieses Auftrages lesbar. Politainment arbeitet an der Konsonanzbildung und -reflexion, popularisiert Standpunkte und festigt Werte und Normen. Es schafft u.a. in den unterhaltungskulturellen Modi »feel good« und »feel bad« (Dörner 2001: 67, 223) emotionale Zugänge zu komplizierten Sachlagen, so z.B. bei der launig-humorigen Annäherung an das Thema profitlicher Esoterik im Gesang der toten Dinge (2009; vgl. Stockinger 2013) oder in dem bitteren Krimi und Identitätsdrama um Transsexualität mit dem Titel Altes Eisen (2011; vgl. dazu auch Liebe, Sex, Tod, 1997). Die »emotionale Dimension« (Dörner 2001: 240) spielt in politischer Unterhaltung eine entscheidende Rolle: In ihren fiktionalen Existenzen als feingeistige Sympathieträger, bemitleidenswerte Nichtsnutze oder abscheuliche Ekel in thementragenden Funktionen, d.h. als »Thementräger« (Eder 2008: 711) gezeichnete Figuren können Ablehnung, trauriges Mitleid, unbedingte Zustimmung und vieles mehr bei den Krimisehern hervorrufen. Sie geben den signifizierten Problemlagen Gesichter und Geschichten in konkreten Handlungssituationen, deren Referenz in außerfilmischen Lebens- und Sozialwelten liegt. Die emotionale Dimension politischer Unterhaltung ist in den »personalisierten und auf einfache Grundkonstellationen reduzierte[n] Wirklichkeit[en]« (Dörner 2001: 239) des Politainment deshalb von großer Bedeutung. Die Zeichnung von Sympathie, Verständnis oder Antipathie verkörpernden Figuren, die thementragenden Funktionen haben, prägt überdies maßgeblich die Textperspektive, also die »Haltung des Textes zu seinem eigenen Gegenstand des Erzählten« (Borstnar/Pabst/Wulff 2008: 178). Eine weitere Dimension von Politainment ist dessen Funktion als »MoralAgentur« (Ziemann 2011: 268) in Form des exemplarischen Vorführens von Modellidentitäten, die sich durch Propagierung von moralischer Integrität, von Engagement und anderen Formen der Sittlichkeit – eingedenk ihrer negativen Gegenteile – auszeichnen (vgl. Dörner 2001: 241). Dabei obliegt die ethische Dimension politischer Unterhaltung in den Spielhandlungen der Krimis v.a. den Ermittlerfiguren und ihren Helfern, da sie Sprechakte und Verhaltensweisen von Thementrägern moralisch evaluieren (vgl. Wulff 2005: 285). Das Repertoire reicht hierbei von der hochgezogenen Braue bis zur wortreichen Zurechtweisung. Mit dieser Funktion von Politainment verbunden ist jene, ein »zentrales Forum zur Vermittlung politischkultureller Traditionsbestände und Selbstverständlichkeiten« (Dörner 2001: 243) zu bieten. Hierzu zählen bspw. die unmissverständliche Ächtung von harten Drogen (Im Sog des Bösen, 2009), von Kindesmissbrauch (Der letzte Patient, 2010), der sensible Umgang mit Juden (Ein ganz normaler Fall, 2011), Empörungen über Auswüchse auf den internationalen Finanzmärkten (Die Ballade von Cenk und Valerie, 2012) sowie die Verdammung von Menschenhandel in Verbindung mit Prostitution (Angezählt, 2013).
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Neben der Forums- ist auch die Integrationsfunktion von Politainment in der Unterhaltungsöffentlichkeit (Göttlich 2009; vgl. Dörner 2001: 108) relevant. Integration heißt in diesem Zusammenhang, dass es um Erlebnisangebote geht, die die Diskussion anregen (können) und auf bestehende Normen und Werte Bezug nehmen. Hierzu zählen zivilgesellschaftlich fest verankerte Toleranz- und Anerkennungsnormen, deren Geltung Tatort-Krimis zuweilen beiläufig, aber auch themenschwer und mit entsprechend deutlich nahegelegten Lesarten unterstreichen. Figuren mit ungewöhnlichen sexuellen Identitäten, Behinderte oder Vertreter anderer Minderheiten bzw. »vormalige[r] Problemgruppen« (Dörner 2001: 191) können sich sicher sein, nicht von den ermittelnden Protagonisten stigmatisiert oder benachteiligt zu werden, wenngleich auch sie in der Regel als Täter in Frage kommen. Mit diesem Aspekt verbunden ist das (häufig beklagte) Phänomen der Political Correctness in Politainment-Tatorten. Zum Kampfbegriff ›PC‹ bekennt sich niemand gern, wenngleich PC implizit häufig eingefordert und dieser in Tatort-Krimis auch in Form sensibler Annäherungen an gesellschaftspolitische Themen Genüge getan wird (vgl. Lorenz 2011). Das geschieht gelegentlich unter Verkehrung der Vorzeichen, wenn nämlich PC als Mittel benutzt wird, um alte Stigmatisierungen und Schmähungen unter dem Deckmantel von PC weiterzutreiben, so die These von Matthias Dell am Beispiel der stets quotenträchtigen Münsteraner Krimikomödien (vgl. Dell 2012). Ein wesentliches Merkmal von Politainment in Tatort-Krimis ist ihre Funktion, als institutionalisierte Interdiskurse zu fungieren. Populäre Interdiskurse tragen Jürgen Link zufolge der zunehmenden Segmentierung und Fragmentierung von Wissen in modernen Gesellschaften Rechnung und dienen in der Unterhaltungskultur »einer gegenläufige[n], entdifferenzierende[n], partiell reintegrierende[n] Tendenz der Wissensproduktion« (Link 2006: 411). In den Worten Andreas Dörners: »Der Interdiskurs bildet einen gemeinsamen Zeichenraum, über den die verschiedenen Teilsysteme einer Gesellschaft und deren Spezialdiskurse miteinander verbunden sind« (Dörner 2000: 79). In spezialisierten Wissensbereichen, den Linkschen »Spezialdiskursen« entwickeltes Wissen ist hochgradig komplex und nur von damit bestens vertrauten Experten versteh- und anwendbar. Es wird in ganz verschiedenen Bereichen entwickelt und verwendet, bspw. in der Makroökonomie oder in der Jurisprudenz, von Gentechnikern, Kulturwissenschaftlern oder Arbeitssoziologen. Damit steht es im Gegensatz zu elementardiskursiv-unspezifischem Alltagswissen, denn »Spezialdiskurse« sind »eng begrenzte Sagbarkeits- und Wissbarkeitsräume« (Link 2006: 411); sie verfügen über eigene Wissensvorräte, ein Fachvokabular und spezifische Regelwerke. Populären Interdiskursen wie dem Tatort kommt die Funktion zu, selektiv und symbolisch, komprimiert und einfach verständlich Brücken zwischen den voneinander abgegrenzten Feldern der ›Spezialdiskurse‹ zu bauen. Dies tun sie im Fall Tatort mit Hilfe eines einfachen narrativen Genreschemas, beispielhafter Geschichten und Szenarien sowie kulturell fest verankerter Sinnbilder:
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den Kollektivsymbolen. Es handelt sich dabei um kulturelle Stereotype, die allgemein bekannt und weit verbreitet sind, so z.B. das Auto als Symbol für Dynamik oder Freiheit, das auch im Tatort häufig für die Charakterisierung von Figuren funktional ist: Man denke an die Fortbewegungsmittel von Luden, Bauern oder Managern in den Krimis.4 Ohne vereinfachende Kulturmuster in Form inszenatorischer und figuraler Stereotype sind gesellschaftspolitische Themen im Tatort nicht denkbar. Das zu Unrecht oft gescholtene Stereotyp als Mittel audiovisuellen Erzählens ist ein nicht wegzudenkender Teil realitätsbezogener Fiktionen (vgl. Schweinitz 2006). Orte, Szenen und Figuren in ihren Milieus (vgl. Otte 2013) sind mittels einschlägiger Stereotype in kurzer Zeit und mit einfachen Mitteln erzählbar und von den Zuschauern ebenso leicht zu decodieren: »Es geht um ›Typen‹ aus der Lebenswelt, um konventionelle und schematische Alltagsvorstellungen über den Amerikaner, den Russen, den Türken, den Deutschen oder in anderen Kontexten den Homosexuellen, die Hausfrau ... Also um Vorstellungen, die – wie fragwürdig sie auch sein mögen – für sich selbst dennoch eine gewisse Gültigkeit in der Lebenswelt beanspruchen.« (Schweinitz 2006: 49)
Verbleibt das Stereotyp jedoch an der bloßen Oberfläche ohne Graubereiche, Differenzierungen und Feinheiten, so birgt seine Verwendung die Gefahr einer Aufkündigung des kommunikativen Vertrags zwischen Krimisehern und Krimisendung. Diese und andere Gratwanderungen machen die Einbindungen gesellschaftspolitischer Gehalte in Sendungen der Reihe zu televisuellen Herausforderungen, deren Gelingen stets von neuem in Frage steht und für die es keine mit Sicherheit publikumswirksame Rezeptur gibt (vgl. Karczmarzyk 2010). Brisanz gibt es nicht zum Nulltarif titelt der Fernsehkritiker Christian Buß und schreibt des Weiteren: »Doch es bedarf nicht nur eines relevanten Stoffes, sondern auch einer klaren narrativen Positionierung, die über unverbindliche Empörungs- und Betroffenheitsrituale hinausgeht. Jeder Ort hat seine spezifische Geschichte, jedes Thema bedarf zu seiner Aufarbeitung einer eigenen Ästhetik.« (Buß 2007: 30)
Wenn Stoffwahl, Figurenzeichnung, Ästhetik und ein austariertes Verhältnis von Themenbezügen und Spannungsdramaturgie stimmen, dann gelingt politische Unterhaltung im Krimiformat. Dies funktioniert aufgrund des heterogenen Produktionszusammenhangs der Reihe bei weitem nicht immer. Jede der neun Landesrundfunkanstalten produziert ihre Tatort-Krimis mit verschiedenen Redakteuren,
4
Vgl. dazu den Beitrag von Rolf Parr in diesem Band.
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Drehbuchautoren, Regisseuren, Schauspielern etc. Deshalb gibt es neben primär spannender Unterhaltung verschriebenen Tatort-Folgen sowohl gesellschaftspolitisch ambitionierte als auch haltungslose oder unterkomplexe Beiträge. Dennoch hat die Tatort-Reihe immer wieder aus der Masse an Fernsehkrimis im deutschen Fernsehen herausragende, ebenso unterhaltsame wie informative Beiträge hervorgebracht (vgl. exemplarisch Blutdiamanten, 2005; Mit ruhiger Hand, 2009; Kassensturz, 2009; Der illegale Tod, 2011; Skalpell, 2012).
T HEMEN -T ATORTE Fraglich ist, wie Tatort-Sendungen Gesellschaftspolitisches signifizieren, d.h. wie auf der Produktionsseite Thematiken, die für gesellschaftspolitisch relevant gehalten werden, in die Genrenarrative einzubinden sind. Darüber hinaus stellt sich die Frage, was sie an Wissenswertem samt textperspektivisch nahe gelegten Interpretationen und Einordnungen in den Prozess der diskursiven Zirkulation und Bedeutungskonstitution einbringen. Das Erkenntnisinteresse an Tatort spezifischen »Signifikationspolitiken« (vgl. Marchart 2008: 164) betrifft damit die Frage, wie das von den Rundfunkgebühren zahlenden Fernsehzuschauern finanzierte und getragene Großprojekt Tatort in den Kampf um Bedeutungen auf dem Feld der populären Kultur eingreift (vgl. Hügel 2003; Jacke/Ruchatz/Zierold 2011). Damit verknüpft sind wiederum stets Fragen nach machtvollen Produktionsweisen und Bewirtschaftungen von Wissensbeständen, denn millionenfach (ob beiläufig oder gebannt betrifft andere Fragestellungen) gesehene Tatort-Krimis mit gesellschaftspolitischen Inhalten sind Manifestationen spezifischer Diskurse (vgl. Mikos 2008: 285; Hepp 2004: 276). Themen im Tatort sind von potentieller Aktualität und gesellschaftlicher Relevanz (vgl. Hickethier 2001: 114; Buhl 2013: 67). Themen-Tatorte sind Fernsehkrimis, in denen konsensuelle oder konfliktäre Wissensbestände selektiv, komplexitätsreduziert, exemplarisch und zugespitzt mit genretypischen Detektionshandlungen verwoben werden. Es handelt sich um brisante Felder von Aussagen von und über Themen tragende Figuren (vgl. Eder 2008: 711, 722) sowie um Inszenierungen ihres Lebens und Leidens, Strebens und Scheiterns in realitätsbezogenen, aber stets fiktionalen Fernsehwelten. Sie zu verstehen, ist daher zu einem wesentlichen Teil mittels Figurenanalysen zu leisten, denn ohne Figuren gäbe es in Fernsehsendungen nicht nur »keine Erzählung, keinen Plot und keine Geschichte« (Mikos 2008: 163), sondern ebenso wenig eine Detektionshandlung und eine damit verknüpfte Thematik. Es gibt verschiedene Grade des Thematisierens von Gesellschaftspolitischem in Tatort-Krimis. Reine Themen-Tatorte sind inhaltlich besonders dicht erzählt, be-
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leuchten ihren Gegenstand von mehreren Seiten und zeichnen sich dadurch aus, dass in ihnen Krimihandlung und gesellschaftspolitische Thematik besonders eng miteinander verwoben werden. In den meisten ihrer audiovisuellen Sequenzen gibt es Themenbezüge, die Detektion kann gegenüber der Thematik sogar partiell in den Hintergrund treten. Ein Großteil der Figuren ist dann ebenso detektions- wie thementragend. So werden in der eingangs erwähnten Folge Borowski und eine Frage nach reinem Geschmack (2010) in den meisten Sequenzen Bezüge zum Thema Ernährung hergestellt: beim Bericht des Pathologen, in der Auseinandersetzung mit einem der Tat verdächtigen Öko-Aktivisten oder beim selbstkritischen Studium der Inhaltsangaben auf der Verpackung eines Schokoriegels im Polizeipräsidium durch Borowski: »[…] hydrolosiertes Milcheiweiß […]. Du isst etwas, von dem du nicht weißt, was sich darin befindet.« (00:22:43-00:22:58) Die Ermittlerfigur befasst sich mit der außerfilmisch relevanten Thematik und appelliert indirekt an die Zuschauer, es ihm gleichzutun. Ebenfalls gibt es Themen-Tatorte, die zusätzlich zum Hauptthema über ein oder mehrere Subthemen verfügen. Dies lässt sich bspw. beobachten in der ästhetisch anspruchsvoll gestalteten ersten Episode mit Ulrich Tukur als Ermittler Murot Wie einst Lilly (2010), in der neben dem Hauptplot über das mörderische Nachwirken des RAF-Terrorismus und die fragwürdigen Mittel seiner Bekämpfung durch staatliche Stellen in zwei Sequenzen auch die Bankenkrise und außerfilmisch konkrete Fälle von Anlagebetrug fiktionalisiert werden. Die Figur der Assistentin des Ermittlers ist es, die hier als Betroffene in besonderem Maße thementragend ist. Sie berichtet ihrem Chef zunächst im Präsidium erbost von einem ärgerlichen Banktermin: »Hä? Das ist also ein ganz normaler Vorgang, dass wir unsere gesamten Ersparnisse für ‘nen Fetzen Papier ausgeben, mit dem ich mir jetzt gerade noch den Arsch abwischen kann? […] Ja, weil sein Tipp für die Lebensversicherung war nämlich das, was uns reingeritten hat. Kapital bildend hieß es, todsichere Bankenzertifikate. Tödlich vielleicht.« (00:41:50-00:42:27)
Die exemplarisch durch schlechte Beratung um ihr Vermögen gebrachte Mitarbeiterin bringt ein für die Auflösung des Kriminalfalls irrelevantes Thema im Duktus der Empörung zur Sprache und rekurriert dabei auf die sog. Zertifikate als Finanzprodukte von zweifelhaftem Ruf, die aus dem Diskurs um die Auswüchse des Finanzwesens bekannt sind. Im weiteren Verlauf des Krimis wird das Thema noch einmal aufgenommen und Assistentin Wächter (Barbara Philipp) als Wortführerin einer Gemeinschaft von Bankgeschädigten gezeigt, die eine Sammelklage anstreben. Die Figur des Anwalts der Gruppe sagt bei dem Treffen Folgendes: »Meine Kanzlei wird sich jeden Falles annehmen und prüfen, aber eines muss ihnen klar sein: Moralisches Verhalten ist nicht einklagbar, leider.« (01:11:40-01:11:56) Das Anprangern von Amoralität – eine deutliche Form der moralischen Bewertung – in einem unge-
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hemmt-grenzenlosen Finanzkapitalismus, dessen Opfer allzu oft ›die kleinen Leute‹ sind, ist eine weitgehend konsensfähige Position, der zuzustimmen der Krimitext in seiner Vorzugsbedeutung nahelegt. Gerade der Finanzkapitalismus und seine Auswüchse sind ein Thema, das in Tatort-Folgen des Öfteren im Sinne der Realismus- und Aktualitätsgebote der Reihe genutzt wurde, um Sendungen lebensweltlich zu erden. Gesellschaftspolitisch substanziell, im Sinne von Einordnungen und Perspektivierungen informativer Aspekte zum Thema, hingegen waren sie selten und kamen meist nicht über den Rang von Diskurspartikeln hinaus (u.a. Kinderwunsch, 2009). Solcherlei Bezugnahmen haben weniger den Status von Sub-Themen; sie sind vielmehr als kleine und kleinste Themenaspekte zu betrachten, die zumeist nur angedeutet, aber selten tiefer gehend mit Inhalt gefüllt werden. Auch die Themen-Tatorte sind nicht dazu angelegt, allumfassend und lückenlos zu informieren. Die Krimis verschreiben sich in erster Linie dem Primat der Unterhaltung und müssen dies auch tun, wenn sie die Zuschauer für gesellschaftspolitische Inhalte interessieren wollen.
T HEMENKONJUNKTUREN Bevor im Folgenden weitere, das Reihenganze betreffende Modi des strategischen Arbeitens mehr oder weniger themenlastiger Tatort-Krimis beispielhaft erläutert werden, sei auf aktuelle Themenkonjunkturen in der Reihe verwiesen. Ein konjunkturell im Tatort auftretender Themenkomplex ist ab dem Jahr 2009 Alkoholismus in verschiedenen Milieus, d.h. im Ärzte-, Angestellten-, Hartz IV- sowie im Bahnhofskneipenmilieu (Mit ruhiger Hand, 2009; Schön ist anders, 2010; Jagdzeit, 2011; Im Namen des Vaters, 2012), eingedenk der häufigen Alkoholprobleme von Ermittlern, bspw. von Frank Steier (Joachim Król) in bis dato sechs Frankfurter Folgen. Ein anderer Schwerpunkt liegt in der wiederkehrenden Thematisierung von Flucht, Asyl und Einwanderung (Thiele 2005) sowie weiterer Migrations- und Integrationsthematiken in Episoden wie Baum der Erlösung (2009) und Familienaufstellung (2009) mit Aspekten von Ausländerhass, Zwangsheirat und möglichem Ehrenmord. Die Unsichtbare (2010) erzählt von illegal in Deutschland Lebenden und Der Weg ins Paradies (2010) mit dem verdeckt ermittelnden Cenk Batu (Mehmet Kurtulus) von islamistischen Konvertiten. Der illegale Tod (2011) handelt von Bootsflüchtlingen und informiert ebenso unterhaltsam wie kritisch über die europäische Grenzschutz-Einheit Frontex. Eine weitere Folge handelt von mazedonischen Schwarzarbeitern, die um ihren Lohn der Arbeit (2011) gebracht werden. ThemenTatorte rund um das deutsche Gesundheitswesen mit den Schwerpunkten Demenz und Fragen nach den Bedingungen häuslicher Pflege (Altlasten, 2009; Gestern war kein Tag, 2011) sowie der sog. Zweiklassenmedizin (ebenfalls in Altlasten und der
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das Thema fortschreibenden Folge Edel sei der Mensch und gesund, 2011) gab es in der jüngsten Vergangenheit häufiger. Ein weiterer Themenstrang findet sich in vielen Folgen zu DDR-Unrecht in Vergangenheit und Gegenwart in Tatort-Fällen des MDR, z.B. in den Episoden zu Zwangsadoptionen und Zerstörungen von Kulturgut (Falsches Leben, 2009) sowie Stasi-Morden (Nasse Sachen, 2011; vgl. Welke 2012). Ein großer Themenkomplex ist jener, der sich unterschiedlicher sexueller Identitäten annimmt: Bi-, Homo-, Inter- und Transsexualität. Tote Männer (2009) sind in Bremen die ermordeten Liebhaber eines bisexuellen Handwerkers und werdenden Familienvaters. Ein Mord in der ersten Liga (2011) stellt die Frage nach der Existenz von Homosexuellen im Profifußball – was den Teammanager der deutschen Fußball-Nationalmannschaft, Oliver Bierhoff, unter Verkennung des Unterschieds zwischen Fiktion, außerfilmischen und wünschenswerten Realitäten zu empörtem Protest veranlasste. Die Folge endet mit einer positiven Utopie der Toleranz, inszeniert mit den Mitteln des Sportdramas (siehe auch Endspiel, 2002; Im Abseits, 2011). Neben dem intraseriellen Sub-Plot über die heterosexuelle Liebesbeziehung von Ermittler Ballauf und Polizeipsychologin Lydia Rosenberg (Juliane Köhler) ist es in der Folge Altes Eisen (2011) die fiktionale Existenz einer Transsexuellen, die vor dem Hintergrund der Gentrifizierung in einem Kölner Stadtteil in einen Mord verstrickt wird. Das Thema Intersexualität liefert sogar den Stoff für zwei Tatort-Episoden: Zwischen den Ohren (2011) ist eine Münsteraner Krimikomödie mit dem ernsten Themenkern der Zweigeschlechtlichkeit eines jungen Tennistalents, ebenso wie der »Gender-Krimi«5 Skalpell (2012), in dem exemplarisch das Leid derjenigen zur Sprache kommt, deren vormals uneindeutiges Geschlecht frühzeitig und falsch operativ festgelegt wurde. Konjunkturell wiederkehrende Themen treten in den einzelnen Serien der Reihe (der Kölner, Schweizer, Bremer usw. Tatort) übergreifend auf. Sie lenken die Aufmerksamkeit regelmäßiger sonntäglicher Krimiseher wiederholt und in Variationen auf Themenkomplexe, die die größte fiktionale Aufklärungssendung im öffentlichrechtlichen Auftrag auf die unterhaltsame Agenda bringt. Die Signifikationspolitiken der ARD erscheinen in diesem Licht nicht nur als Bemühungen einzelner Landesrundfunkanstalten, einzelne Krimis zu einzelnen Thematiken zum Reihenganzen beizusteuern, sondern im Sinne eines übergeordneten und forcierten Aufklärungswillens zu allgemein drängenden und bisher unterrepräsentierten oder immer wieder von neuem zu thematisierenden Konflikten und Problemlagen.
5
Christian Buß. »Schweizer Tatort über Intersexualität: Junge, Mädchen, Mord.« spiegel.de, 25. Mai 2012 (http://www.spiegel.de/kultur/tv/schweizer-tatort-ueber-intersexua litaet-mit-reto-flueckiger-a-834309.html).
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K ONZEPTIONEN VON T HEMENTRÄGERSCHAFT : E RMITTLER , B ETROFFENE , E XPERTEN Der zentrale Schlüssel zum Verständnis seiner gesellschaftspolitischen Gehalte und Funktionen liegt im Figureninventar des Tatort. Alle Haupt- und Nebenfiguren leisten ihren spezifischen Beitrag zur Signifikation des jeweiligen Themas. Ihr Handeln und Interagieren in themenadäquat ausgestatteten Handlungsräumen und detailreich gestalteten sozialen Sphären ist der Nukleus von Politainment im Tatort, denn die narrative Wissensvergabe in Themen-Tatorten hängt in stärkstem Maße von ihnen und von dem ab, was von ihnen und über sie gesagt, geschrieben und gezeigt wird (vgl. Mikos 2008: 169, 233). Die zentralen Agenten sowohl der Detektion als auch der narrativen Erschließung gesellschaftspolitischer Themenfelder sind, wie erwähnt, die Ermittler. Ihnen obliegt es, mithilfe des ihnen zur Verfügung stehenden Polizeiapparats, das Verbrechen aufzuklären. Bei ihren Ermittlungen im Umfeld des Toten erfahren sie – den Krimizuschauern daheim vor den Flachbildschirmen oder beim Public Viewing in der Kneipe diese Bereiche mit erschließend – in Ausschnitten Wissenswertes von Arbeitskollegen und Vorgesetzten des Opfers, über bestimmte Berufsbilder und Tätigkeitsfelder, über Krankheiten und ihre Symptome, medienethische Problemfelder und vieles mehr. Sie treten in ihnen zuvor unbekannte Arbeits- und Sozialwelten ein und erkunden zuweilen fasziniert und mit Interesse oder nur beiläufig während der Erfüllung ihrer kriminalistischen Pflicht oder sogar ausgesprochen missmutig und widerwillig, wohin ihre Detektionsarbeit sie führt. Die narrative Perspektivierung und Einordnung des Gezeigten hängt in starkem Maße von den Protagonisten der Aufklärung ab (vgl. Borstnar/Pabst/Wulff 2008: 176). Die Kommissare evaluieren Figuren, Konflikt- und Problemlagen moralisch und fassen in genretypischen Reflexionssequenzen – z.B. im Auto, auf dem Weg zurück ins Präsidium – nicht nur den aktuellen Stand der Ermittlungen zusammen, sondern ordnen und bewerten (auch gefühlsbezogen) themenspezifisches Wissen. So zitiert Sonderermittler Eisner in Glaube, Liebe, Tod (2010) hämisch das mehrmals auf Wänden zu lesende Motto einer fiktiven Sekte und beurteilt es gleichzeitig eindeutig negativ mit den Worten: »Löse dich von deiner Vergangenheit – so a Blödsinn!« (00:10:2100:10:35, 00:27:12-00:27:19) Als »Vorbild-Protagonisten« (Wulff 2001: 256) führen Ermittlerfiguren ›richtiges‹ und ›gutes‹ Verhalten in exemplarischen Situationen modellhaft vor (vgl. Dörner 2001: 188). Dies erfolgt bspw. am Ende der im Umfeld einer jüdischen Gemeinde in München spielenden Folge Ein ganz normaler Fall (2011), als Kommissar Leitmayr sich von seinem Partner Batić mit den Worten »Es gibt ein paar Sachen, die ich endlich mal erledigen muss« (01:27:30-01:28:25) verabschiedet und danach mit dem Auto nach Dachau fährt, um die dortige KZGedenkstätte zu besuchen. Während seiner Fahrt schaltet der nun ernste Ermittler
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das Autoradio ab und eine extradiegetisch erklingende, traurig-elegische Musik unterstreicht die andächtige Stimmung des thematisch aufgeladenen Krimi-Epilogs (vgl. Mikos 2008: 239). Zum festen Repertoire bei der Thematisierung von Gesellschaftspolitischem gehören seit langem persönliche Betroffenheiten von Ermittlern qua Lebenskrisen, Verwandtschafts-, Freundschafts- oder Liebesbeziehungen sowie weiteren Verstrickungen (Krah 2004: 129). Diese sind entweder rollenbiographisch-langfristig angelegt, wie etwa der Alkoholismus der Ermittlerin Bibi Fellner (Adele Neuhauser) in Wien, oder kurzfristig konstruiert, den Erfordernissen von (Einzel-)Fall und Thema entsprechend. So gerät die Sinn suchende Tochter Eisners in Glaube, Liebe, Tod (2010) in die Fänge oben erwähnter Sekte, Ermittler Stark fühlt sich in Edel sei der Mensch und gesund (2011) ebenfalls krank und der Chef der Kölner Mordkommission, Max Ballauf, setzt seine überarbeitete Assistentin Franziska in einem Tatort über das »Beraterunwesen und die Medienkrise«6 wiederholt Unter Druck (2012): »Franziska, bitte! Ist doch für keinen leicht. Ich kann auch nicht mehr. Du musst eines nach dem anderen wegarbeiten. Eins nach dem anderen [...].« (00:12:45-00:12:55) Die Kommissarinnen und Kommissare befinden sich in den fiktiven Welten der Themen-Tatorte im Modus eines doppelten Erkenntnisgewinns: Bei der Aufklärung der die Detektion auslösenden bösen Tat sammeln sie einerseits sachdienliche Hinweise, um (in der Regel) das Täterrätsel zu lösen und den Mörder zu fangen. Dabei werden sie andererseits mit ihnen zuvor unbekannten Sphären des Wissens konfrontiert, in die sie sich weitgehend unbedarft und unwissend hinein begeben. Sie sind in dieser Doppelfunktion die zentralen Agenten von Interdiskursivität im Tatort. Ihre Fragen an wissende Thementräger ist neben ihrem Betreten und Betrachten themenspezifischer Arbeits- und Sozialwelten das wichtigste inszenatorische Stereotyp in Themen-Tatorten (vgl. Buhl 2013: 316). Es kommt in Variationen immer wieder vor und fördert für die Zuschauer Wissenswertes zutage. So fragt Ermittler Ballauf den letztlich als Mörder überführten Geschäftsführer des Medienhauses in Unter Druck (2012) beim ›walk and talk‹: »Beratung im Betrieb, wie läuft das ab?« (00:08:23-00:08:30) Sein Partner Schenk wiederum stellt der Transsexuellen in Altes Eisen (2011) die Frage nach ihrer Identität: »Was sind Sie denn?« (00:16:4800:16:58) In der Episode Edel sei der Mensch und gesund (2011) erfahren die Ermittler, beim Bericht des Pathologen und seiner studentischen »Gäste von der Humboldt-Uni«, den »Befund der Blutuntersuchung: Hohe Konzentration von Immunsuppressiva im Blut«. Kommissar Stark fragt nach: »Immun-Was?« (00:08:2800:10:42), um sofort darüber aufgeklärt zu werden, worum es sich dabei handelt.
6
Matthias Dell: »Und jetzt?« freitag.de, 9. Januar 2011 (http://www.freitag.de/autoren/ mdell/und-jetzt).
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Die Antworten auf ihre Fragen erhalten die Ermittler von Betroffenen, von Problem-Protagonisten in ihren fiktionalen Existenzen und von ausgewiesenen Experten, unter ex- oder impliziter Angabe ihrer Statusposition und der thementragenden Funktionen (vgl. Mikos 2008: 165). In Unter Druck (2012) antwortet der Geschäftsführer auf die Frage Ballaufs, wie Beratung im Betrieb ablaufe: »Die erhalten freien Zugang zu allen Abteilungen, sehen sich das selbstständig an, prüfen auf Wirtschaftlichkeit und präsentieren uns dann ihre Analysen, ihre Ideen zur Effizienzsteigerung.« (00:08:23-00:08:35) Die in Altes Eisen (2011) betroffene Transsexuelle – in Nylonstrümpfen, geschminkt und mit Perücke – antwortet dem Ermittler auf seine Frage nach ihrer geschlechtlichen Identität: »Früher war ich ein Mann, heute bin ich eine Frau. Jedenfalls dem Namen nach. Es steht sogar in meinem Personalausweis.« (00:16:48-00:16:58) Später gibt sie Ballauf/Schenks Assistentin Franziska auf dem Präsidium, das Thema vertiefend, Auskunft zu einer weiteren Frage, nämlich wie lange sie schon eine Frau sei: »Seit über 30 Jahren. Gespürt hab ich’s schon immer. Aber erst 1980 mit dem Transsexuellengesetz konnte ich mich amtlich als Trudi Hüttner registrieren lassen.« (00:41:40-00:42:57) Ein Blick in den Spezialdiskurs der Transgender-Gesetzgebung belegt, dass es sich um ein belastbares Faktum im Rahmen der unterhaltsamen Fiktion handelt. Die weitere Aussage der transsexuellen Thementrägerin – »Das musst Du Dir mal vorstellen: Bis vor kurzem musste man für die Änderung des Geschlechtseintrags fortpflanzungsunfähig sein und die OP gemacht haben.« (00:41:40-00:42:57) – war zum Zeitpunkt der Erstausstrahlung des Krimis im September 2011 aktuell, da das Bundesverfassungsgericht im Januar desselben Jahres das Transsexuellengesetz in seiner alten Form für verfassungswidrig erklärt hatte.7 Die Frage des Berliner Ermittlers in Edel sei der Mensch und gesund (2011) schließlich muss ebenfalls nicht lange darauf warten, von kundiger Seite beantwortet zu werden: Immunsuppressiva sind »Medikamente, die die eigene Körperabwehr runter drücken, damit das Immunsystem nicht den eigenen Körper bekämpft« (00:08:28-00:10:42) – so klärt der blaue Arbeitskleidung tragende Pathologe den Fragenden im Kreise seiner Studenten auf. Ausgewiesene Experten sind wichtige Träger von themenbezogenem, belastbarem Faktenwissen in kleinen Dosen und damit ebenfalls Agenten von Interdiskursivität im Tatort. In besagtem Ernährungs-Krimi Borowski und eine Frage von reinem Geschmack (2010) ist es der zum Ausweis seiner Expertenschaft promovierte Leiter eines ›unabhängigen‹ Forschungsinstituts, den der Ermittler bei seinen Recherchen während der Produktion eines Imagefilms zu treffen meint. Die thematisch dichte Sequenz beginnt mit einem Fernsehbild im Fernsehen, auf dem ein weiß bekittelter
7
Heribert Prantl. »Gericht kippt Transsexuellengesetz. Das gefühlte Geschlecht.« sueddeutsche.de, 28. Januar 2011 (http://www.sueddeutsche.de/politik/verfassungsgerichtkippt-transsexuellengesetz-das-gefuehlte-geschlecht-1.1052344).
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Mann mit einem Wissenschaft symbolisierenden Mikroskop neben sich inmitten eines Labors zu sehen ist und sich an ein imaginäres Publikum wendet. Seine Rede ist an tatsächlich existierende (Image-)TV-Werbungen von Firmen angelehnt, die Lebensmittel produzieren. Die rückwärtige Kamerabewegung offenbart, dass es sich um ein Filmset handelt. Darin steht der vermeintliche Namensgeber des Gütesiegel vergebenden Goldmann-Instituts vor einem grünen Hintergrund, auf den der Laborhintergrund projiziert wird. Lediglich der Tresen und das Mikroskop sind ›echt‹. Als Borowski »Dr. Goldmann«, so steht es auf seinem im Close-up gezeigten Namensschild, befragen möchte, stellt sich heraus, dass dieser nach eigenen Angaben »nur der Schauspieler« ist (00:35:40f.). Die medienreflexive Sequenz, in der das Fernsehen sich selbst zum Gegenstand des Interesses macht, ist eine unter vielen in dieser Episode und weist auf den Aspekt des Kampfes um mediale Bewirtschaftungen von Aufmerksamkeiten in Lebensmittelfragen hin. Mit dem ›richtigen‹ »Dr. Goldmann« isst Ermittler Borowski in der unmittelbar anschließenden Sequenz in einem gediegenen Luxusrestaurant mit Blick auf die Kieler Förde zu Mittag. Der Fachmann für den Lebensmittelmarkt klärt Borowski und die Zuschauer über die Gründe für den hohen Anteil an chemischen Zusätzen im Essen auf: [Borowski] »Warum mischt man überhaupt so viel Chemie in Lebensmittel?« [Goldmann] »Weil es billiger ist. 1960 hat man mehr als 25 Prozent seines Einkommens für Lebensmittel ausgegeben. Heute sind es elf Prozent. Der Verbraucher bekommt, was er bezahlen will.« [Borowski] »Oder bezahlen kann.« [Goldmann] »Die Leute wollen zu viel. Essen soll billig und gesund sein. Es soll satt, aber nicht dick machen. Und dann muss es auch noch schnell gehen. Das funktioniert nur mit Chemie.« [Borowski] »Stimmt es, dass Herr Beauvier für sie gearbeitet hat? […].« (00:36:39-00:38:22)
Mit seiner zweiten, für die interdiskursive Informationsvergabe dysfunktionalen Frage treibt der Ermittler die Detektion voran und kommt der Aufklärung des Verbrechens ein Stück näher. Experten definieren Fachtermini, referieren Faktisches und erklären komplizierte Zusammenhänge aus spezialdiskursiven Wissensfeldern einfach und für Laien verständlich, müssen allerdings in ihrem Übereifer mitunter gebremst und darum gebeten werden, sich auf das Wesentliche zu beschränken, denn sie sind häufig die ›mad scientists‹ (vgl. Krause/Pethes 2007) der Interdiskursivität. Damit ist ein wesentliches Merkmal der Tatort-Reihe, insoweit sie als institutionalisierter Interdiskurs funktioniert, benannt: die komplexitätsreduzierte, beispielhaft-verkürzte und personalisierte Signifikation von Wissen im Rahmen konventionalisierter Genreunterhaltung. Informationsvermittlung in ungebrochener Reinform tritt, das haben die Beispiele gezeigt, im Tatort niemals auf, denn das Krimigenre verlangt stets nach einer Einbindung von Wissenspartikeln, die dem Primat der Unterhaltsamkeit ent-
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spricht (vgl. Hügel 2007). Deshalb sind Experten sonderbar und kauzig, wie derjenige von der Gewerbeaufsicht in Kassensturz (2009). Ermittler flirten mit ProblemProtagonistinnen wie Kommissar Ballauf es in Unter Druck (2011) mit der Unternehmensberaterin tut, die ihn kurz zuvor über die Karrierewege in ihrer Branche informiert hat; und Sondermittler Eisner sorgt für leichte Komik, wenn er sein Wissen über die offensichtlich abgesprochenen Alibis der Sektenmitglieder in Glaube, Liebe, Tod (2010) mit »göttliche[r] Eingebung« (00:26:49-00:27:03) begründet.
Z WISCHEN F AKTEN
UND
F IKTIONEN – F AZIT
Gesellschaftspolitische Themen sind ein fester Bestandteil von Sendungen der bedeutendsten Krimireihe im deutschen Fernsehen. Als Fiktionen mit faktualen Anteilen bieten viele Tatort-Krimis ihren Zuschauern spannende Geschichten, die zugleich in Ausschnitten und zugespitzt über Konfliktlagen und Probleme informieren. Es gibt mittlerweile ein festes Repertoire an inszenatorischen Mitteln, mittels derer gesellschaftspolitische Themen und Genrenarrative im Tatort miteinander verknüpft werden. Die Versatzstücke dieses Inszenierungsstils sind in vielen Sendungen der Reihe, ihre einzelnen Teilserien übergreifend, festzustellen. Dazu gehören u.a. die Auftritte von thementragenden Figuren, audiovisuelle Stereotype von Arbeits- und Sozialwelten sowie Verfahren, die den thematischen Ernst entschärfen. Wie ich gezeigt habe, sind gesellschaftspolitische Themen im Tatort prototypisches Politainment im Fernsehen und in ihrer Funktion als Verarbeitungsinstanzen von Wissensvorräten institutionalisierte Interdiskurse von spezifischem Leistungsvermögen. Gleichwohl können Themen-Tatorte nicht mehr leisten, als kleine Wissenspartikel aus großen Themenkomplexen zur Verfügung zu stellen. Sehr wohl aber können sie im Modus der Unterhaltung Aufmerksamkeiten auf gesellschaftspolitische Fragestellungen und Problembereiche lenken, wenn ihre stets neuen Gratwanderungen zwischen Ernst und Unernst, Fiktion und Wirklichkeit, Spannung und Themenschwere gelingen. Die Thematisierungsfunktion der Reihe ist mit spezifischen Interpretations- und Deutungshoheiten verbunden. Das Flaggschiff der ARD macht davon Gebrauch, indem es konsensuelle Positionen zu gesellschaftspolitisch relevanten Thematiken inszenatorisch befestigt und für allgemeingültig erklärt. Gänzlich neue Themen setzt der Tatort nicht. Brisantes wird mit zeitlicher Verzögerung in die Kriminarrationen aufgenommen und darin verarbeitet.
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Unter Druck, 9. Januar 2011 (WDR, R: Herwig Fischer) Heimatfront, 23. Januar 2011 (SWR/Degeto, R: Jochen Alexander Freydank) Mord in der ersten Liga, 20. März 2011 (NDR, R: Nils Wilbrandt) Edel sei der Mensch und gesund, 3. April 2011 (RBB, R: Florian Froschmayer) Jagdzeit, 10. April 2011 (BR, R:Peter Fratzscher) Der illegale Tod, 15. Mai 2011 (RB/Degeto, R: Florian Baxmeyer) Gestern war kein Tag, 5. Juni 2011 (BR, R: Christian Görlitz) Nasse Sachen, 13. Juni 2011 (MDR, R: Johannes Grieser) Lohn der Arbeit, 28. August 2011 (ORF, R: Erich Hörtnagel) Altes Eisen, 4. September 2011 (WDR, R: Mark Schlichter) Tod einer Lehrerin, 11. September 2011 (SWR, R: Thomas Freundner) Zwischen den Ohren, 18. September 2011 (WDR, R: Franziska Maletzky) Das ersten Opfer, 9. Oktober 2011 (SWR, R: Nicolai Rohde) Ein ganz normaler Fall, 27. November 2011 (BR, R: Torsten C. Fischer) Der Weg ins Paradies, 18. Dezember 2011 (NDR, R: Lars Becker) Die Ballade von Cenk und Valerie, 6. Mai 2012 (NDR, R: Matthias Glasner) Skalpell, 28. Mai 2012 (SF, R: Tobias Ineichen) Fette Hunde, 2. September 2012 (WDR, R: Andreas Kleinert) Borowski und der stille Gast, 9. September 2012 (NDR, R: Christian Alvart) In Namen des Vaters, 26. Dezember 2012 (HR, R: Lars Kraume) Gegen den Kopf, 8. September 2013 (RBB, R: Stephan Wagner) Angezählt, 15. September 2013 (ORF, R: Sabine Derflinger)
ANDERE R EIHEN
ZITIERTE
F ILME , M EHRTEILER , S ERIEN UND
Borgen/Borgen – Gefährliche Seilschaften (DNK, seit 2010 [DR1]) Lindenstraße (BRD/D, seit 1985 [WDR])
Der Tatort als Spiegel gesellschaftlicher Entwicklungen am Beispiel der Veränderung von Täterprofilen J OAN K RISTIN B LEICHER
Im Vergleich zum restlichen Genreensemble des Fernsehens gelten Krimiserien als realitäts- und zeitnahe Form der Fernseherzählung (vgl. Eisenhauer 1998). Der Fernsehkritiker Fritz Wolf fragt »wer überhaupt sonst in den vergangenen Jahren Geschichten aus dieser Gesellschaft und über sie erzählt hat. So ziemlich jeder emotional bewegende Stoff, der in unserer Gesellschaft umgeht, wird in Krimistoff umgeformt und [...] aus der Perspektive von Ordnungshütern erzählt« (Wolf 1997: 452).
Mit der gleichbleibenden Kausalkette »Täter – Motiv – Opfer«, so Georg Seeßlen (1997: 28), vermittelt der Krimi eine besondere Übersichtlichkeit seiner spezifischen Weltordnung. Diese Weltordnungen in sich geschlossener Erzählungen implizieren: »So funktioniert Gesellschaft.« Zentrale Basis dieses gesellschaftlichen Funktionssystems sind Wertekonstellationen und Moralvorstellungen. Innerhalb des kulturellen Angebotsspektrums erweist sich der Krimi bereits in der Literatur als populäres Genre der Wertevermittlung durch den klaren Dualismus von Gut und Böse. Figurenensembles aus den für die eigentliche Tat oder andere ›Verfehlungen‹ (moralisch) verantwortlichen Personen, Tätern, Opfern und Ermittlern personifizieren diesen Dualismus. Das Fernsehen schließt an diese Traditionslinie an und nutzt Kriminalfilme und -serien als zentrale Genres der polaren Kontingenzreduktion bei der Vermittlung von Wertekonstellationen. Dieser Beitrag will dies in unterschiedlichen Phasen der Fernsehgeschichte am Beispiel der Täterkonstruktion in der Krimireihe Tatort (ARD) illustrieren.
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D ARSTELLUNGSELEMENTE DER G ESELLSCHAFTS KONSTRUKTION IM G ENRE F ERNSEHKRIMI Gleichbleibende und variierende genrespezifische Erzählcharakteristika der Konfliktdarstellung ermöglichen es, den gleichbleibenden Konflikt von Gut und Böse in Kombination mit zeitbezogenen Thematiken, Krimiplots als beispielhaft für gesellschaftliche Entwicklungen erscheinen zu lassen (vgl. Holzmann 2005). Mit dem spannungsvollen Wechselspiel aus Standardisierung und Innovation in Fernsehkrimiserien und -reihen wie dem Tatort lassen Themen, Handlungen und Figuren unterschiedliche Bezüge zu gesellschaftlichen Veränderungen erkennen. Personen- und Handlungsstereotypen transportieren unterschiedliche Bewertungen der jeweiligen Wirklichkeits- und Wertkonzepte: etwa »die Uneinigkeit, die Zerrissenheit, das Fragmentarische und Vorläufige der bürgerlichen, kapitalistischen Gesellschaft« (ebd.: 26). Der Fernsehkrimi konstruiert mit seinen Mitteln ein Gesellschaftsbild, das der Handlungslogik und den dramaturgischen Anforderungen des Genres unterworfen ist. Sowohl die Personalisierung als auch die Kausalität der Plotstruktur fungieren als zentrale Elemente der Kontingenzreduktion. Handlungsorte und dargestellte Milieus schaffen zeitbezogene Orientierung. In der deutschen Fernsehkrimigeschichte bis zur Wiedervereinigung im Jahr 1990 wurde die Spiegelung gesellschaftlicher Realität auf den jeweils anderen deutschen Staat erweitert. Beide Gesellschaftssysteme waren an einem Selbsterhalt interessiert und nutzten ihre Fernsehkrimis auch zur wechselseitigen Systemkritik. Das reicht bis ins Detail des Täterprofils. Ostdeutsche Agenten mussten ebenso als Antagonisten herhalten wie skrupellose westdeutsche Handlanger des Kapitalismus. Die Krimireihen des DDR-Fernsehens wurden von den Programmverantwortlichen von Anfang an als Reaktionen auf bestehende bundesdeutsche Reihen konzipiert. Das verdeutlichen Peter Hoff und Knut Hickethier an unterschiedlichen Entwicklungsphasen der Fernsehgeschichte etwa in den 1960er und 1970er Jahren (Hickethier/Hoff 1998). Peter Hoff konstatiert in seiner Analyse von 150 Polizeiruf 110Folgen: »Es handelt sich bei den rund einhundertfünfzig Vorwende-Folgen der 110Krimireihe ausnahmslos um ›Verstöße gegen die sozialistische Sicherheit und Ordnung‹ und gegen das ›sozialistische Eigentum‹.« (Hoff 1996: 11) Mit den Täterprofilen wurde immer wieder auch Kritik an westlichen Kultureinflüssen geübt. Der Gesellschaftsbezug blieb nicht nur auf den Bereich deutscher Eigenproduktionen beschränkt. In den Vorabendprogrammen und zur Prime Time stieg seit den 1960er Jahren die Zahl an US-Krimiserien, die ihren eigenen Gesellschaftsbezug aufweisen.1 So zieht der Medienwissenschaftler Todd Gitlin einen Zusammenhang
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Siehe zur Entwicklungsgeschichte des bundesdeutschen Fernsehkrimis auch den Beitrag von Christian Hißnauer in diesem Band sowie Hißnauer/Scherer/Stockinger 2014.
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zwischen der historischen Entwicklung der Fernsehgenres und der jeweiligen zeitgenössischen politischen Realität in den USA: »With the rise of the Camelot mystique, and the vigorous ›long twilight struggle‹ that John F. Kennedy personified, spy stories like Mission Impossible and The Man from Uncle were well suited to capitalize on the macho CIA aura.« (Gitlin 1987: 516)
US-Krimiserien fungierten im deutschen Fernsehen seit der verstärkten Ausstrahlung von Kaufproduktionen in den 1960er Jahren als mediale Schnittstelle des kulturellen Anschlusses an den großen Bruder USA. Diese mediale Schnittstelle ist auch im Verhältnis beider deutscher Fernsehsysteme zu beobachten. Seit den 1970er Jahren kam es zum kontinuierlichen OstWest-Duell aus ›West-Tatort‹ und ›Ost-Polizeiruf 110‹ (Ausstrahlungsbeginn 27. Juni 1971 mit der Folge Der Fall Lisa Murnau), die mit der Folge Unter Brüdern am 28. Oktober 1990 die Vereinigung der deutsch-deutschen Krimiseriengeschichte vollzogen. Zuvor nutzten die Programmverantwortlichen des DDR-Fernsehens die Geschichten des Polizeiruf 110, um den Zuschauern den Eindruck zu vermitteln, »[d]aß sie gut regiert werden und für ihre Ordnung und Sicherheit zuverlässig gesorgt sei« (zit. nach Hoff 1996: 48). Nun schien sich das bisherige Spiegelverhältnis der Täterprofile umzukehren. Die sozialistische Kritik am kapitalistischen System etablierte sich in der gesellschaftlichen Selbstbeobachtung bundesdeutscher Krimireihen. Handlungsorte und -milieus und ihre symbolischen Requisiten (frei nach dem Werbeslogan ›mein Auto, mein Haus, mein Boot‹) sind neben Körperbau, Verhalten und Dialogen zentrales Darstellungselement der Tätercharakterisierung: Entweder sitzen sie in den Chefetagen von Unternehmen oder sie agieren im privaten Lebensumfeld in großen Villen oder schlecht ausgestatteten kleinen Wohnungen. Hier zeigt sich die in der Dissertation von Björn Otte (2013) untersuchte Bedeutung der Milieuzuordnung. Die realistische Darstellung der Arbeitswelt von Geringverdienern findet nicht nur 2009 in der Tatort-Episode Kassensturz, der Aufarbeitung des Lidl-Skandals, statt, sondern bereits 1975 in Tod im U-Bahnschacht, der aufgrund der langen Darstellung des brutalen Todes eines Bauarbeiters zunächst nicht wiederholt werden durfte.
D AS F ERNSEHEN ALS K ATALYSATOR GESELLSCHAFT LICHER V ERÄNDERUNGEN IN DEN 1970 ER J AHREN Die Gründung der Reihe Tatort 1970 als Gemeinschaftsproduktion der ARDSendeanstalten fiel in eine Zeit, in der sich das Medium in Deutschland als Kataly-
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sator gesellschaftlicher Veränderung und Instrument umfassender kritischer Reflexion verstand (vgl. Bleicher 1997: 29f.). Der föderalen Struktur der ARD entsprechend lässt der Tatort das Prinzip regional differenzierter Wirklichkeitsbezüge erkennen, die auch Erzählstruktur und die Figurendarstellung beeinflusst. Drehbuchautor Frank Göhre verweist auf die Figurenbindung bei der Addition von Erzählperspektiven.2 Jeder Handlungsstrang ist etwa in seinem durch eine Episodenstruktur gekennzeichneten Roman St. Pauli Nacht (1993) an eine Figur geknüpft. Der Fokus wechselt zwischen den jeweiligen Ermittlerfiguren, potentiellen Tätern und Opfern. Den ZuschauerInnen wird suggeriert auf unterschiedliche Weise implizit an den Ermittlungen beteiligt zu sein. Sie können aus den vorhandenen Erzählperspektiven und Figurenmotivationen eine aus ihrer Sicht gültige Plotstruktur auswählen. Gunther Witte betont als Fernsehspielleiter des WDR, der Tatort habe »immer wieder auch gesellschaftliche und menschliche Konflikte der Gegenwart und brisante Lebensfragen der Epoche dargestellt« (zit. nach Hoff 1996: 57). Witte stellte auch gleich einen Katalog gesellschaftlich bedeutsamer Themen vor, die im Tatort behandelt wurden: »Da ging es unter anderem um Organschmuggel (Rechnen Sie mit dem Schlimmsten, 1972), Wohnungsbau-Skandal (Tote brauchen keine Wohnung, 1973), Umweltverschmutzung (Gift, 1974, Kielwasser 1984), Ausländerproblematik (Tod im U-Bahnschacht, 1975, Voll auf Hass, 1987), Kinderpornografie (Kinderlieb, 1991) oder Homosexualität und Aids (Mord in der Akademie, 1994).« (Witte 1994: 24-28)
Doch lässt das Senderspektrum unterschiedliche Profile der Darstellung von Straftaten erkennen. Gesellschaftskritische Stoffe sind etwa im HR oder in SDRTatorten deutlich seltener als etwa beim WDR. ORF und SRG zeigten keine weit abweichenden Täterprofile, auch hier gab es persönliche Tatmotive ebenso wie wirtschaftliche. Im Verlauf der Ausstrahlungsgeschichte des Tatort wurden unterschiedliche Erscheinungsformen sozialer und psychologischer Realität entwickelt. Die Erzählweise passte sich dem Lebensgefühl der jeweiligen Region an und wechselte zwischen der Langsamkeit des Landes (Das Zittern der Tenöre, 1981) und den schnellen Technobeats der Großstadt (Berliner Weisse, 1998). Ein weiteres Experimentierfeld war die Übernahme von Erzählmustern und Figurenelementen unterschiedlicher Filmgenres wie des Western, des Melodrams oder des Psychothrillers. Die Anpas-
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Vgl. Frank Göhre. Hamburg als Standort in Kinofilmen. Vortrag in der Ringvorlesung »Film- und Fernsehstandort Hamburg« am 10. Dezember 2012 an der Universität Hamburg.
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sung der ARD an die Erfolgsmuster kommerzieller Sendeanstalten schlug sich in einer Vereinheitlichung und Popularisierung der Erzählweisen nieder.
Z UR E RLEBNISORIENTIERUNG DER K ONTINGENZREDUKTION Fernsehkrimis wie der Tatort bedienen erlebnishaft die Orientierungsinteressen der Zuschauer, indem sie die alltägliche Erfahrung einer nicht mehr durchschaubaren, immer komplexer werdenden Wirklichkeit in die ordnende Struktur serieller Erzählung überführen. Mittels gleichbleibender Realismusstrategien, Handlungsstrukturen, Dramaturgien und der Personalisierung gesellschaftlicher Entwicklungen und Wertekonstellationen in Protagonisten und Antagonisten lässt sich eine erlebnisorientierte Komplexitätsreduktion erreichen. Neben der gleichbleibenden Plotstruktur sind dabei das Verhalten und die Kommunikation des Figurenensembles von Tätern, Opfern, Ermittlern und Zeugen als gleichsam personalisierte Bedeutungsvermittlung entscheidend. Hier findet sich ein sehr enges Wechselspiel aus Stereotyp und Innovation, Klischee und Variation, Konstanz und Veränderung. Bei der Täterdarstellung sind in unterschiedlichen Jahrzehnten stereotype Darstellungen anzufinden. Dazu zählen etwa skrupellose Unternehmer, Pädophile und Serienkiller (Der tiefe Schlaf, 2012). Freiheitliebende Rocker oder Hooligans werden immer wieder als Gegenmodelle der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung thematisiert.3 Gruppen erhöhen die Komplexität der Täterermittlung. Gleichbleibend sind stereotype Genderkonstruktionen etwa im Bereich der Polarisierung männlicher Gewalt und weiblicher Ohnmacht, von denen sich neue Formen der Genderidentität abgrenzen lassen. Der SR-Tatort Eine Handvoll Paradies (2013) zeigt die gewalttätige Abwehr alternativer sexueller Orientierungen durch gewaltbereite Rockerbanden. Die Tatort-Episoden Zwischen den Ohren (2011) und Skalpell (2012) beschreiben die psychologischen Dimensionen von Inter- und Transsexualität.
D ER E INFLUSS KULTURELLER UND MEDIALER R EALISMUS KONZEPTE AUF DEN T ATORT Medien galten in der Kommunikationswissenschaft lange als Abbilder oder Spiegel gesellschaftlicher Wirklichkeit. Bereits Peter Bergers und Thomas Luckmanns
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In vergleichbarer Form traten Rocker auch im DDR-Pendant des Tatort – Polizeiruf 110 – auf.
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Standardwerk Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit (1969) befasst sich mit medialen Wirklichkeitskonzeptionen. Berger/Luckmann betrachten die gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit als sprachliche und kommunikative Konstruktion. Kommunikation erfolge immer als wechselseitige Sinnkonstruktion, als ein auf »Wechselseitigkeit angelegtes zeichenhaftes Wirkhandeln« (Knoblauch 1995: 51). Die Vis-a-Vis-Situation gilt bei Berger/Luckmann als Prototyp aller gesellschaftlichen Interaktion. Somit lassen sich Dialoge als Ausdrucksform innerhalb des Krimis als Nucleus gesellschaftlicher Kommunikation werten. Die Tatort-Reihe kombiniert verschiedene etablierte kulturelle und mediale Realismuskonzepte, um die Authentizität der Fiktion zu steigern. Wie der psychologische Realismus setzen die Drehbuchautorinnen und -autoren auf die Nachvollziehbarkeit von Motivation und Handlung des Figurenensembles. Aus dem Bereich des bürgerlichen Realismus wiederum stammen die den gesellschaftlichen Strukturen angepassten sozialen Rollen. Bereits innerhalb zeitgenössischer Romane wie etwa Thomas Meineckes The Church of John F. Kennedy (1996) erhöhen Realismuspartikel wie etwa der Bezug auf die mediale Präsentation bekannter historische Ereignisse oder Persönlichkeiten in der Fiktion die Authentizität literarischer Texte. Aus Sicht dieser traditionellen Realismuskonzepte etablierten sich Medien nicht als Abbilder, sondern als Berichterstatter und Erklärer der Wirklichkeit. Aus der Perspektive des Konstruktivismus sind Medien Urheber des für ein gesellschaftliches Kollektiv gültigen Wirklichkeitsmodells. Sie bilden damit ein wichtiges Bindeglied innerhalb der bestehenden Vielfalt individueller Wirklichkeitskonstruktionen.4 Nicht nur bei den Tatort-Ermittlern, sondern bei den Tätern ist das Ensembleprinzip zu beachten. So sind häufig die Antagonisten der Kommissare, etwa skrupellose Unternehmer oder Ärzte, gar nicht die jeweils gesuchten Straftäter. Unternehmer etwa fungieren vielmehr als personifizierte Kritik am Kapitalismus. Somit ist häufig auch der Mord aus moralischer Perspektive nicht die eigentlich relevante Straftat. Diese wiederum wird trotz der Verhaftung des Mörders häufig nicht geahndet. So wird bspw. in der Folge Blindekuh (1992) Jakov Samow wegen Mordes an Irene Frevert verhaftet, während Luger Frevert, der seine Tochter vergewaltigte und dies auch noch filmte, offenbar straffrei ausgeht. Der Zuschauer bleibt in diesem Fall mit dem Gefühl verletzter Moral zurück. An die Seite der Unternehmer – das Spektrum reicht von Vertretern der Pharmaindustrie bis zum Immobilienmakler – im Zeichen der Kapitalismuskritik treten Neonazis und Ex-Stasi-Mitarbeiter5 zur Kritik des politischen Extremismus in Erscheinung. Bei gleichbleibenden Täterprofilen ändern sich im Verlauf der histo-
4
Zum Realismus im Tatort vgl. auch den Beitrag von Carsten Heinze in diesem Band.
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Vgl. hierzu die Täterprofile, die Tina Welke in ihrer Dissertation Tatort Deutsche Einheit. Ostdeutsche Identitätsinszenierung im ›Tatort‹ des MDR (2012) herausgearbeitet hat.
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rischen Entwicklung v.a. die visuellen Charakterisierungen wie etwa Kleidung oder Requisiten. Sie markieren als historisch variables Zeichensystem, darauf hat Pierre Bourdieu in Die feinen Unterschiede (1983) hingewiesen, soziale Zugehörigkeit. Auch das Lebensumfeld in Beruf und Privatleben ist zeitbezogen.
B IOGRAPHIEN UND L EBENSENTWÜRFE Die Biographien der Täter markieren in verschiedenen Formen des zeitlichen Rückbezugs durch Ermittler, Zeugenaussagen oder Verhöre gelungene oder misslungene Lebensentwürfe, die in gesellschaftliche Hierarchien eingebunden sind. Biographische Elemente sind wesentliche Indizien für die interaktive Fahndung durch die Zuschauer, die daraus mögliche Motive ableiten: Täter kämpfen gegen oder nehmen Rache für ihre soziale Degradierung, etwa wenn Lehrer nach der Wende auf Hilfsarbeitertätigkeiten angewiesen sind oder Polizisten wegen des Verdachts der Stasi-Verstrickung in einem Gebäudereinigungsunternehmen arbeiten (vgl. Welke 2012: 147f.). Unterschiedliche thematische oder narrative Kontexte variieren die gleichbleibenden Täterprofile und tragen zu ihrer Aktualisierung bei. So werden skrupellose Ärzte oder Pharmaunternehmer in unterschiedliche Kontexte der medizinischen Forschung eingebunden. Die Betroffenheit der Zuschauer wird durch weit verbreitete Krankheitsbilder wie Krebs oder Alzheimer adressiert (so z.B. in Altlasten, 2009). Die Biographie der Täter bildet in den meisten Fällen die Kausalgrundlage der Tätermotivation, die im Tatort zwischen gleichbleibenden persönlichen und zeitbezogenen Motiven wechseln. Die Konstruktion von Tätern und Opfern umfasst neben der psychologischen Dimension auch die körperliche Erscheinung, die Motivation und das Handeln. Hinzu kommen individuelle und gesellschaftliche Konflikte, die etwa durch kontrastive Milieuzuordnungen (Konflikte zwischen Reich und Arm) bedingt sind. Die Ermittler, die vergleichbare Konstruktionsmuster erkennen lassen, erscheinen jedoch in ihrer institutionellen Zugehörigkeit als Vertreter der gesellschaftlichen Ordnung, die es wieder herzustellen und künftig zu sichern gilt.
S TRUKTUREN DER T ÄTERERMITTLUNG Innerhalb der genrespezifischen Handlungsstruktur wird die Täterermittlung in einem Zusammenspiel aus Dialog, Monolog und Handlung (etwa den Verfolgungsjagden) inszeniert. Wie bereits im Kriminalroman kann der Zuschauer investigativ an der Ermittlung teilhaben. Jedoch verhindern gezielte Desinformationen und fal-
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sche Hinweise die private Ermittlungsarbeit zugunsten der Ermittlungstätigkeit der Fernsehkommissare. Zentraler Faktor der dialogischen Ermittlung ist die Frage nach der Tätermotivation und dem Ablauf der Straftat. ›Washup-Dialoge‹ ermöglichen auch dem zappenden Zuschauer die Orientierung im Handlungsverlauf und über den Stand der Ermittlungen. Die Süddeutsche Zeitung zitiert und kritisiert einen typischen ›Washup-Dialog‹ des Kölner Ermittlerduos aus der Folge Trautes Heim (2013): »›Der Wiegand wird Zeuge von ‘ner Entführung. Er verfolgt den Täter. Der Täter hätte doch einfach wieder an dem Wiegand vorbeifahren können, rückwärts aus der Straße raus. Aber nein, er überfährt ihn. Muss sich sicher sein, dass der Wiegand nicht gegen ihn aussagt. Und warum?‹ Oder, dieser hier, unterbrochen nur von einem Wieso? des Kollegen Schenk: ›Wenn der Wagen sowieso geklaut ist und der Täter das hier vorhatte, den Wagen abzufackeln – dann ist es ja noch viel irrer, dass er den Wiegand umgebracht hat. Weil es dem Täter scheißegal sein konnte, ob der Wiegand sich die Nummernschilder merkt oder nicht. Und trotzdem überfährt er ihn und bringt ihn um.‹«6
Trotz der kontinuierlichen Kritik an der redundanten Informationsvermittlung ist dieses Wiederholungsprinzip für die Nutzungsform des Zapping geeignet und ermöglicht den späteren Einstieg in die Diegese.
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UND I DEOLOGIETRÄGER
Seit seiner Gründung fungiert der Tatort als reflexiver Spiegel gesellschaftlicher Entwicklungen. Dabei wird die Reflexion personalisiert, indem dialogisch vermittelte Meinungen und Folgenabschätzungen auf positiv und negativ charakterisierte Figuren verteilt werden.7 Sympathie und Antipathie werden zu affekt- und erlebnisorientierten Trägern impliziter Ideologien und Wertekonstellationen. Mit der Veränderung der Erzählweisen gehen auch Veränderungen der Figurencharakterisierungen und ihrer Bedeutungsdimensionen einher. In Anlehnung an das komplexe serielle Erzählen aktueller US-Produktionen brechen auch in Deutschland Serien wie KDD – Kriminaldauerdienst (ZDF, 2007-2010) mit etablierten einfachen Schemata von Gut und Böse. Damit werden die Fahnderfiguren vielschichtiger und wi-
6
Holger Gertz. »Zerschlagenes Déjà-vu.« sueddeutsche.de, 21. April 2013 (http://www.
7
Vgl. Joan Kristin Bleicher. Der spannende Blick auf die Wirklichkeit. Die Figur des Er-
sueddeutsche.de/medien/koelner-tatort-trautes-heim-zerschlagenes-dej-vu-1.1653479). mittlers in der neueren Fernsehgeschichte. Aktuelle Entwicklungen und historische Rückblicke. Vortrag beim 6. Fernsehkrimi-Festival Wiesbaden am 4. März 2010.
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dersprüchlicher. KDD – Kriminaldauerdienst zeigt nicht nur die wenig heldenhafte Realität des deutschen Polizeialltags, sondern kombiniert sie mit Charakterschwächen und privaten Problemen der Ermittler. Durch Verwendung der Handkamera und schnelle Schnitte steigern sich auch die optischen Authentisierungssignale. Carsten Heidböhmer verglich die ZDF-Serie Kriminaldauerdienst mit der ARDReihe Tatort und betonte dabei neben der Beschleunigung v.a. die Komplexität: »[...] Das Neuartige an der Serie war die Dichte und das Tempo, in dem erzählt wurde. Wer hier mal kurz aufs Klo ging, hatte den Anschluss verpasst. Nicht ein oder zwei – nein: bis zu zehn parallele Handlungsstränge liefen hier parallel ab. Die Themen, die hier verhandelt wurden, hatten es in sich: Zwangsehe, Sterbehilfe, Rationalisierungswahn, Alkoholismus, Sex am Arbeitsplatz, Adoption von Flüchtlingskindern, Vergewaltigung, Kindergeldbetrug, Spielsucht – in einer einzigen Folge KDD bekam man so viele gesellschaftliche Probleme serviert wie in fünf Jahren Tatort, wo die heißen Eisen dem Zuschauer in homöopathischen Dosen präsentiert werden – nie mehr als ein Problem pro Sonntag.«8
In der Dissertation Tina Welkes (2012: 123) zur Darstellung ostdeutscher Identitätsinszenierungen im Tatort werden Figuren als Symptome und Symbole bezeichnet. Daran lässt sich die These anschließen: Die historische Entwicklung der Täterprofile im Tatort fungiert dem Gesamtkonzept der Sendereihe entsprechend auch als personalisierte Gesellschaftskritik. Täter sind häufig als Prototypen negativ empfundener Entwicklungen und Verhältnisse konzipiert. Im Fokus stehen dabei sowohl Veränderungen von Wertekonstellationen etwa hinsichtlich der Sexualmoral als auch die Beobachtung und Bewertung negativ wahrgenommener Machtverhältnisse und anderer gesellschaftlicher Entwicklungen. Auch reale Ereignisse, wie etwa die Überwachung von Mitarbeitern durch Discounter (Kassensturz, 2009) lassen sich im Spiegel der Fiktion durch Täter-Opfer-Konflikte reflektieren. Täter und Ermittler bilden zwei Seiten einer Medaille. Die Ermittlung des Täters ist Teil der nicht in allen Episoden gesellschaftskritischen Diagnose, die Strafe der Figur sei die Bestrafung des Normverstoßes, der auf gesellschaftliche Ursachen zurückgehen mag. Mit diesen Formen des Gesellschaftsbezugs wendete sich der Tatort bereits in seiner ursprünglichen Konzeption gegen die moralinsauren Strafpredigten des seit 1969 ermittelnden, damals trotz seines hohen Alters erfolgreichen ZDF-Kommissars Keller. Insbesondere der Lebensstil von Zollfahnder Kressin war ein absoluter Gegenpol zu der von den Drehbüchern Herbert Reineckers vermittelten ZDF-Moral in Der Kommissar (1969-1976) und der späteren Serie Derrick
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Carsten Heidböhmer. »›KDD – Kriminaldauerdienst.‹ In der Qualitätsfalle.« stern.de, 12. Januar 2010 (http://www.stern.de/kultur/tv/kdd-kriminaldauerdienst-in-der-qualitaets falle-1535120.html).
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(1974-1998).9 Mit Kressin etablierte sich im Tatort zudem der Themenschwerpunkt der Wirtschaftskriminalität. Zollfahnder Kressin musste sich in den 1970er Jahren nach dem Vorbild James Bond im schicken Gewand auch mit einfachen Schmugglern herumschlagen, wofür er nur ungerne seine Flirtaktivitäten unterbrach. Der Aspekt Wirtschaftskriminalität begleitet die Entwicklung des Tatort. Die ARD musste als öffentlich-rechtliche Sendeanstalt keine größere Rücksicht auf möglicherweise empfindlich getroffene Werbekunden nehmen. Als Vorläufer der heutigen gebrochenen Helden tauchte in den 1980er Jahren mit Horst Schimanski als Kommissar des WDR-Tatorts ein Gegenmodell zu den bis dahin dominierenden Gutmenschen der deutschen Fernsehkrimis auf. Kai Kolwitz und andere Medienhistoriker bewerten im Rückblick Schimanski als Zäsur in der Fernsehgeschichte: »Die Krimirevolution im deutschen Fernsehen begann im Sommer 1981 mit zwei rohen Eiern zum Frühstück. Als Duisburger Tatort-Kommissar Horst Schimanski fegte Götz George wie ein Wirbelwind durch die reichlich angestaubte deutsche TV-Krimilandschaft. ›Schimmi‹ war ein waschechter Prolo-Ermittler, für ihn waren Dienstvorschriften höchstens eine Art unverbindlicher Benimmratgeber. Er ging seinen eigenen Weg – und der führte ihn nicht selten schnurstracks in seine Stammkneipe. Besonders in den frühen Folgen konnte man sich deswegen nie sicher sein, ob der Kommissar nicht wahlweise in der Gosse landen, selber kriminell werden oder bei einer seiner irrwitzigen Ermittlungsaktionen bleibende Schäden davontragen würde.«10
Der von Götz George verkörperte Horst Schimanski charakterisiert sich bereits in der ersten Folge Duisburg-Ruhrort (1981) nicht allein durch seine schmuddelige Kleidung und durch sein aggressives Auftreten, sondern auch durch das demonstrativ lässige Schuhe-Zubinden an einer Plakatwand, auf der Hanjörg Felmy (dem Publikum als Darsteller des Schimanski-Vorgängers Haferkamp ein Begriff) für einen Fotoapparat wirbt. (01:02:58-01:03:07) Schimanskis Partner Thanner fungierte mit seiner seriösen Erscheinung als Bindeglied zu den Kommissare-Figuren der 1970er Jahre. Der Kontrast unterschiedlicher Lebensmodelle von Ermittlerpaaren blieb auch in der weiteren Tatort-Entwicklung erhalten.
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Siehe dazu Strobel 1992 und den Beitrag von Christian Hißnauer in diesem Band.
10 Kai Kolwitz. »TV-Krimis. Die derben Detektive.» spiegel.de, 23. Oktober 2008 (http:// einestages.spiegel.de/static/topicalbumbackground/2975/die_derben_detektive.htm).
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Trotz der Veränderungen von Ermittler und Täterprofilen lassen sich zwei Pole der Tätermotivationen unterscheiden: zum einen persönliche Motive wie etwa Rache für in der Vergangenheit erlittenes Unrecht oder Eifersucht, zum anderen politische, ökonomische Motive wie Machterhalt oder finanzieller Gewinn wie bereits in Tote brauchen keine Wohnung (1973) in der frühen Phase der Tatort-Entwicklung. Die Probleme auf dem Wohnungsmarkt haben sich seitdem noch gesteigert. Eine Kontinuität seit dem ersten Tatort Taxi nach Leipzig (1970) bilden Straftäter und Verdächtige aus dem Osten Deutschlands. Schrittweise sind aus den Spionen die (Ex-)Stasi-Mitarbeiter geworden, die selbst in Österreich agieren wie etwa in der Episode Tödliche Habgier (2007). Die kritische Sicht auf den Kapitalismus findet in Verdächtigen und Straftätern ihren Ausdruck, was das Verständnis und v.a. das Erlebnis ökonomischer Kontexte erleichtert. Täter sind Repräsentanten des Verbrechens. Sie erleichtern den Zuschauern die Orientierung in unüberschaubaren gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnissen. Als Antagonisten der Kommissare sind Täter häufig kontrastiv zu den Ermittlern gestaltet. Als Alternative sind Alter-Ego-Konstellationen möglich, etwa wenn sich die Täter in vergleichbaren Problemlagen befinden wie die Kommissare. Das ist bspw. häufiger bei den Kölnern Ermittler Ballauf und Schenk der Fall. In der Folge Mit ruhiger Hand (2009) wird die Alkoholsucht des Täters mit dem Alkoholproblem des Ermittlers Ballauf kombiniert. Die in den folgenden Absätzen beschriebenen Tatmotive lassen sich als exemplarisch für eine ganze Anzahl weiterer Beispiele von Tatort-Episoden werten. Veränderungen bei familiär motivierten Straftaten Insbesondere bei familiär motivierten Straftaten findet seit den 1990er Jahren im Rahmen der allgemeinen Psychologisierung eine thematische Grenzauflösung zwischen Tätern und Ermittlern statt. So thematisiert die Folge Frauenmorde (2003) die Abgründe, »die sich hinter der Fassade von bürgerlicher Ordnung und scheinbarer Familienidylle oft verbergen. Alle Beteiligten, ob Täter, Opfer oder Ermittler, werden mehr oder weniger davon betroffen und müssen sich mit ihrer Art des Lebensentwurfs auseinander setzen. Ähnlich wie im ersten Tatort ›Oskar‹ des neuen hr-Ermittlerteams, geht es auch bei diesem Film um ein privates Drama, das in die Katastrophe führt.«11
11 http://www.daserste.de/unterhaltung/krimi/tatort/sendung/2009/frauenmorde-100.html.
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Familiäre Straftaten im Umfeld von Politikern markieren eine personalisierte Form der Herrschaftskritik. Die Differenz zwischen propagierter und gelebter Moral steht im Fokus der SWR-Folge Das Mädchen Galina (2009), indem die junge Geliebte eines Politikers ermordet wird. Auch bei den Opfern lassen sich Personifizierungen zeitbezogener Moralvorstellungen beobachten. So wurde im Polizeiruf 110 sozialistische Moral visuell anschaulich vermittelt. War die Kleidung des Vergewaltigungsopfers in der Episode Der Mann im Baum (1988) zunächst deutlich an westlichen Vorbildern orientiert, so hat sie sich im Schlussbild der geltenden Moral entsprechend zum sozialistischen Einheitslook gewandelt und hebt sich nicht mehr von der sie umgebenden Masse ab. Der Retter konservativer Weltordnungen Die 1978 ausgestrahlte Tatort-Episode rot.. rot..tot steht für die Bestrafung, die auf die damals sich verändernden Wertekonstellationen in Sachen Sexualmoral zurückgeht. Ein reicher Versicherungsmathematiker (dargestellt von Curd Jürgens) versucht, die eigenen konservativen Wertvorstellungen in Zeiten sich verändernder Geschlechterrollen ausgerechnet dadurch zu verteidigen, dass er neben seiner eigenen Ehefrau auch weitere rothaarige Frauen, die für ihn sexuell besonders attraktiv sind, ermordet, um eine Serientat vorzutäuschen. Der Kontrast zwischen alt und jung, aber auch zwischen der Ober- und Unterschicht unterstützt in dieser und weiteren Folgen die moralische Bewertung des Täterprofils und seiner konservativen Wertekonzepte und Lebensmodelle. Der Mörder vom Amt oder aus der Vorstandsetage Im Unterschied zu familiär oder moralisch motivierten Straftaten personalisieren Täter, die sich gegen Vertreter gesellschaftlicher Institutionen richten, die Kritik an Machtverhältnissen und Einflussnahmen. Soziale Missstände etwa in der Arbeit gesellschaftlicher Institutionen wie Jugendämter (Kaltes Herz, 2010) oder der Altenbetreuung (Heimwärts, 2010) werden durch Straftaten pointiert in das öffentliche Bewusstsein gerückt. Dabei erweitert sich das Täterprofil, da die Schuld des Mörders häufig geringer erscheint als das schuldhafte Fehlverhalten der Behördenmitarbeiter. Die vom Tatmotiv ausgelöste emotionale Betroffenheit der Zuschauer ist eine Grundlage der Konstruktion öffentlicher Diskurse, die seit der Jahrtausendwende häufig in den Talkshows direkt im Anschluss an den Tatort im Fernsehstudio einsetzen. Hier werden die angesprochenen Missstände am Fallbeispiel des Fernsehkrimis konkretisiert.
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Das kontrastive Prinzip der Figurengestaltung umfasst nicht nur Kommissar und Täter, sondern innerhalb der Diegese auch den Oben-Unten-Kontrast sozialer Hierarchiebildung. Der ›Schmuddelkommissar‹ Schimanski aus einfachen Verhältnissen steht skrupellosen Managern in Nadelstreifen aus der Oberschicht gegenüber. Schimanski kämpft engagiert gegen seine Gegner, die vorzugsweise aus den Vorstandsetagen von Wohnbau oder Chemieunternehmen stammen. »Als er im Juni 1981 mit Duisburg-Ruhrort sein Debüt gab, war die Jugend radikal – friedensbewegt wie ökologisch. Schimanski wurde der erste Greenpeace-Aktivist mit Polizeimarke; für ihn war Politik nicht Reden, sondern Handeln.«12
Seine Gegner waren jedoch häufig nicht die Täter der gerade in Ermittlung befindlichen Straftat, so dass die eigentlichen, in den Chefetagen sitzenden Verbrecher zumeist ungeschoren davon kamen. Schimanskis Antagonisten saßen nicht nur in den Vorständen, sondern auch in der Verwaltungshierarchie des eigenen Hauses. Dominik Graf konstatiert: »Leider sind ihre Chefs seit den 80er Jahren alle gleich. Die müsste man mal hintereinander schneiden, wenn sie die Bürotür aufmachen und sagen: So geht das aber nicht, Frau oder Herr Sowieso.«13 Thomas Koebner erkennt einen Prozess der ethischen Systematisierung des Straftatenprofils in den Tatorten der 1980er Jahre: »Es beginnt zwar in den jüngeren Tatorten wie früher meist mit der individuellen Tat, die aufgedeckt und erklärt werden muss. Doch der Hintergrund, langsam erhellt, enthüllt vorwiegend Abhängigkeit, Verstrickung, Zwang. Das Verbrechen systematisiert sich im Tatort allmählich, nicht in allen Fällen in den achtziger Jahren zur negativen Ethik einer Gegengesellschaft, die sich bedenkenloser Gewinnsucht unterwirft. Die Gruppe der Täter bietet ein überscharfes Abbild der auf Vorteile aller Art erpichten Wettbewerbsgesellschaft, die sich von Idealen sozialen Ausgleichs oder dem Gebot der Gerechtigkeit nicht mehr behindern lässt.« (Koebner 1990: 28)
12 Tilmann P. Gangloff. »Deutscher Dauerläufer. Zwischen Mythos und Marke: Die Nummer eins der Krimiszene blickt auf eine gewaltig umstrittene und dennoch grandiose Erfolgsgeschichte.« Rheinischer Merkur 20 (16. Mai 2002): o.P. 13 Christopher Keil und Dominik Graf (Interview). »Mit Schimanski zerbrach die Nachkriegswelt.« Süddeutschen Zeitung 114 (18. Mai 2002): o.P.
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Auch bei den Opfern lassen sich Spiegelungen gesellschaftlicher Entwicklungen wiederfinden. So betont Georg Seeßlen: »Ermordet werden in deutschen Fernsehkrimis vorzugsweise Menschen, von denen wir annehmen müssen, dass sie es durch ihren unmoralischen Lebenswandel oder durch ihren sozialen Status ›irgendwie‹ doch verdient haben.«14
Diese Diagnose unterstützt etwa Dieter Hoss in seiner Kritik zum MDR-Tatort Schön ist anders (2010), dass die präsentierte Tragödie auch 20 Jahre nach dem Mauerfall deutsch-deutsche Ressentiments offenbare. So fungierte nicht der Mörder, sondern das Mordopfer als der eigentliche Bösewicht: »Hier gibt es nur Verlierer: Der Wessi ist tot, die Ossis landen im Gefängnis – neben Mertens auch der am Leben verzweifelnde Uwe Fischer (Martin Brambach), der half, die Leiche wegzuschaffen. Fischers Familie – die trinkende Frau, der alkoholkranke Sohn und die kleine Tochter – bleibt im Ungewissen zurück. Eine vollkommene Tristesse, die umso alltäglicher und unausweichlicher wirkt, weil sie im sonnigen Leipziger Sommer spielt und nicht – klischeehaft – in einem frostigen Winterszenario.«15
Aus Sicht von Georg Seeßlen (1997: 34) fungiert als Meta-Täter »die Gesellschaft, die nun freilich das Böse produzierte, und ihre Repräsentanten, die ihm nicht widerstehen können«. Doch auch diese Positionierung des Meta-Täters Gesellschaft ist historischen Veränderungen unterworfen, die Tendenzen zur Konkretisierung etwa durch Personalisierung und zum Aufgreifen jeweils aktueller Thematiken und Problembereiche erkennen lassen. So steigt bspw. seit der Einführung des Dualen Rundfunksystems 1984 nach meiner Beobachtung der Anteil medienkritischer Themen und Tatverdächtigenprofile aus dem Bereich der Medienwirtschaft, erkennbar etwa an der Werbeagentur in der Episode Im Herzen Eiszeit (1995). Dabei geraten auch Erscheinungsformen der Unterhaltungskultur (Volksmusik in der Folge …und die Musi spielt dazu, 1994, das Münchner Oktoberfest, aber auch die Oper) in den Fokus. Bei der Thematisierung der Medien sind unterschiedliche Aspekte zu beobachten. Dazu zählt die Selbstinszenierung quotenträchtiger Nachrichten durch skrupellose Fernsehjournalisten in Bombenstimmung (1997): Quotenorientierte Fernsehproduzenten werden
14 Georg Seeßlen. »Whodunit (Wer hat es getan?). Über das Kriminalgenre.« getidan.de, 24. April 2001 (www.getidan.de/kolumne/georg-seesslen/1115/whodunit-wer-hat-esgetan). 15 Dieter Hoß. »Tödlicher Ost-West-Konflikt.« stern.de, 28. Juli 2013 (http://www.stern.de/ kultur/tv/tatort-kritik-toedlicher-ost-west-konflikt-1633120.html).
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durch Täterfiguren in ihren Produktionskontexten entlarvt. Es zeigt sich, auch die Mediengesellschaft und ihre Wirkungsmechanismen etwa im Bereich der Aufmerksamkeitsökonomie werden im Tatort kritisch thematisiert.
H YBRIDISIERUNGEN VON T ÄTERN SEIT DEN 1980 ER J AHREN
UND
E RMITTLERN
Die mit dem bereits erwähnten Wechsel der traditionellen Kommissare wie Haferkamp zu Schimanski offensichtlich werdende Veränderung der Kommissare führt in der weiteren Entwicklung zu verschiedenen Hybridisierungen von Tätern und Ermittlern. Selbstjustiz bildet dabei einen Fokus, aber auch die Differenz zwischen eigenen Rechtsvorstellungen und staatlicher Rechtsprechung etwa in Nie wieder frei sein, einem 2010 ausgestrahlten justizkritischen Tatort des BR. In dieser Folge erreicht eine Anwältin durch dubiose Methoden den Freispruch für ihren Mandanten. Schließlich ermordet sie ihn, nachdem er ihr für die Möglichkeit dankte, noch mehr Frauen vergewaltigen zu können. Eine besonders enge Beziehung zwischen Tätern und Ermittlern realisierte die Tatort-Episode Macht und Ohnmacht (2013), in der Polizisten auf der Suche nach Gerechtigkeit selbst zu Mördern werden: »›Wer im Dreck spielt, macht sich schmutzig‹, so bringt Jimmy McNulty in der HBO-Serie The Wire das Polizisten-Dasein auf den Punkt. McNulty ist ein Superbulle, dem jedes Mittel recht ist. Im Tatort gibt der Polizist Lechner diesen Typus: skrupellose Methoden sind sein Ding, er will Gerechtigkeit um jeden Preis und setzt doch nur eine Spirale der Gewalt in Gang.«16
In der unzuverlässig erzählten Tatort-Episode Wir sind die Guten (2009) gilt Kommissar Batić als Tatverdächtiger im Mord an einer Polizistin. Die aus seiner subjektiven Perspektive gemeinsam mit dem Zuschauer wahrgenommene Bedrohung durch einen Killer erweist sich dank der Übernahme einer spezifischen visuellen Erzählweise des Kinospielfilms aus Fight Club (USA 1999), die durch die objektiv wirkenden Bilder einer Überwachungskamera die ursprünglich gezeigte visuelle Wahrnehmung des Protagonisten als subjektive Konstruktion entlarvt. Diese Komplexität des Erzählens und der Figurengestaltung lässt Einflüsse narrativer Konventionen von US-Krimiserien erkennen.
16 Christoph Cöln. »Der aussichtslose Kampf gegen das Schlechte.« welt.de, 1. April 2013 (http://www.welt.de/vermischtes/article114898862/Der-aussichtslose-Kampf-gegen-dasSchlechte.html).
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P SYCHOLOGISIERUNG DER E RMITTLER - UND T ÄTERPROFILE SEIT DEN 1990 ER J AHREN Waren insbesondere in den 1980er Jahren gesellschaftskritische Produktionen des Bösen im Tatort etwa im Bereich Unternehmensführung auffällig häufig vorhanden, so ist in den 1990er Jahren eher eine Ausblendung gesellschaftspolitischer Kontexte zu beobachten. In den 1990er Jahren gewinnt die psychologische Dimension der Täter parallel zur mit der britischen Serie Cracker/Für alle Fälle Fitz (1993-1995) symptomatischen Psychologisierung der Ermittler an Bedeutung. Die stets leidend wirkende Kommissarin des HR-Tatort Charlotte Sänger findet in einem psychisch kranken Serienkiller, verkörpert von Ulrich Tukur, ihren Meister (Das Böse, 2003). Serienkiller wie er lassen den Einfluss von Täterprofilen USamerikanischer Serien erkennen. Auch ist eine Steigerung der Emotionalisierung zu beobachten, die gesellschaftliche Missstände in Abkehr von der kritischen Reflexion in Dialogen gefühlvoll vermitteln. So macht die episodenübergreifende Betroffenheit der beiden Bayerischen Kommissare Batić und Leitmayr die Abstraktion der Fälle wie etwa organisierter Kindesmissbrauch in der ungewöhnlich poetisch visualisierten Folge Frau Bu lacht (1995) konkret emotional erlebbar. Ausländer (v.a. Kinder) als Opfer lösen etablierte Feindbilder der Gesellschaft auf. Die Poesie der Bilder wird durch die Poesie der Sprache unterstützt, etwa wenn ein Kind den Selbstmord seiner Mutter gegenüber den beiden Kommissaren an der Wohnungstür mit den Worten »Mama schläft an der Decke« (1:05:53f.) beschreibt. Der ostdeutsche Beamte Ehrlicher sieht sich auch in seiner privaten Lebenswelt mit der organisierten Kriminalität der Mafia (Laura mein Engel, 1994) oder der Stasi konfrontiert (vgl. Welke 2012). Mittlerweile dominieren Ermittlerteams mit unterschiedlichen senderspezifischen Profilen. Christoph Cöln konstatiert hinsichtlich der BR Ermittler Batić und Leitmayr: »Die beiden spielen das kauzige Buddy-Duo inzwischen sehr lässig und mit einer authentischen Prise Alterszynismus, die nicht so bemüht wirkt, wie beim Kieler Borowski und schon recht nicht so unerträglich albern wie bei den Münsteraner Quotenkönigen. ›Ich mag meinen Beruf‹, schnurrt Batic einmal über eine Leiche gebeugt. Und Leitmayr bestätigt: ›Ich auch. Es gibt überhaupt nichts Schöneres, als morgens um neun mit dem Kugelschreiber im Schädel eines Teenagers herumzustochern.‹«17
Die Kombination aus Buddies oder ungleichen Paaren und pointenorientierten Dialogen trägt zum Unterhaltungscharakter bei. Damit bleibt die ARD konkurrenzfähig
17 Ebd.
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mit den unterhaltungsorientierten Programmangeboten kommerzieller Sendeanstalten. Als Teil der subjektiven Tätermotivationen spielen seit einigen Jahren vermehrt Aspekte queerer Identitäten, die an die Seite der bisherigen Heteronormativität treten. Homosexuelle, Transsexuelle und intersexuelle Täter wie in Zwischen den Ohren (2011) oder Skalpell (2012) häufen sich seit der Jahrtausendwende. Hier wird auf die Vielfalt aber auch die Problematik multipler Identitätskonstruktion hingewiesen. Körperliche Merkmale und das Rollenimage des jeweiligen Schauspielers ist ein zentraler Faktor der Täterkonstruktion. Lange Zeit gab bspw. Martin Semmelrogge in Krimiserien den jugendlichen Rebell auf der Suche nach Freiheit und Abenteuer. Pierre Frank hingegen fungierte seit den 1970er Jahren in Der Kommissar oder Derrick als Dauerpsychopath. In der Giftschrankepisode Der gelbe Unterrock (1980) zeigte sich Rolf Zacher von seiner unmotiviertesten Seite, etwa indem er Formen der sprachlichen Äußerung vermied, so dass Nicole Heesters als Darstellerin der Kommissarin beide Seiten eines Verhörs selbst sprechen musste. Das Rollenimage der Schauspieler ist ein zentraler Faktor des Erkenntnisinteresses der Zuschauer und Zuschauerinnen bei ihrer Tätersuche während der Sendungsrezeption. So stellte Roeland Wiesnekker nicht nur in der Serie Dr. Psycho (2007-2008) einen alkoholkranken Polizisten dar, sondern spielte in der Tatort-Folge Mit ruhiger Hand (2009) einen alkoholabhängigen Chirurgen.
F AZIT Horace Newcomb und Paul M. Hirsch (1994) beschreiben das Fernsehen als Bühne des »Nichtnormalen« (Hickethier 1994: 19),18 das die Verständigung über eigene Normen und Wertvorstellungen erleichtere. Im grenzüberschreitenden, abweichenden Verhalten der »Ungeheuer« (ebd.) werden Grenzen erkennbar, in denen sich das eigene Normverhalten bewegt. Täterprofile lassen im historischen Rückblick ein Spannungsfeld aus gleichbleibend menschlichen Handlungsmotivationen wie Eifersucht oder Rache und zeitabhängigen Profilen wie kapitalistische Gewinnsucht in global agierenden Unternehmen oder die Sicherung von Menschenversuchen für die Leukämie- (Häschen in der Grube, 2008) oder Alzheimerforschung (Unvergessen, 2013) erkennen. In dieser Kombination aus menschlicher Lebensnähe und der Spiegelung gesellschaftlicher Problembereiche, der erlebnisorientierten Nähe und
18 Die Abweichung dient der Bestätigung der Norm. Dies wurde bereits für den Bereich der Talkshows beschrieben.
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der reflexiven Distanz liegt eine der Gründe für den trotz der langen Sendungsgeschichte weiterhin wachsenden Erfolg des Tatort.
L ITERATUR Berger, Peter L., und Thomas Luckmann. Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt a.M.: Fischer, 1969. Bleicher, Joan Kristin. Fernsehprogramme in Deutschland. Konzepte, Diskussionen, Kritik. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1997. Bourdieu, Pierre. Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1983. Eisenhauer, Bertram. »›Tatort‹ Deutschland. Sozialgeschichte und Mentalitäten im Spiegel des Kriminalfilms.« Das Mord(s)programm. Krimi und Action im deutschen Fernsehen. Claudia Cippitelli und Axel Schwanebeck (Hg.). Frankfurt a.M.: Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik, 1998. 63-87. Gillan, Jennifer. Television and New Media. Must Click TV. New York, London: Routledge, 2011. Gitlin, Todd. »Prime Time Ideology: The Hegemonic Process in Television Entertainment.« Television – The Critical View. Horace Newcomb (Hg.). New York, Oxford: Oxford University Press, 1987. 507-532. Hickethier, Knut. »Methodische Probleme der Fernsehanalyse.« Aspekte der Fernsehanalyse. Methoden und Modelle. K. H. (Hg.). Hamburg: LIT, 1994. 10-28. Hickethier, Knut (unter Mitarbeit von Peter Hoff). Geschichte des deutschen Fernsehens. Stuttgart: Metzler, 1998. Hißnauer, Christian, Stefan Scherer und Claudia Stockinger. Föderalismus in Serie. Die Einheit der ARD-Reihe ›Tatort‹ im historischen Verlauf. Paderborn: Fink, 2014. Hoff, Peter. Das große Buch zum ›Polizeiruf 110‹. Berlin: Das Neue Berlin, 1996. Holzmann, Gabriela. »Von Morden und Medien. Wie neue Medien ein altes Genre immer wieder neu erfinden.« MedienMorde. Krimis intermedial. Jochen Vogt (Hg.). München: Fink, 2005. 13-32. Knoblauch, Hubert. Kommunikationskultur. Die kommunikative Konstruktion kultureller Kontexte. Berlin, New York: de Gruyter, 1995. Koebner, Thomas. »›Tatort‹ – zu Geschichte und Geist einer Kriminalfilm-Reihe.« Augen-Blick. Marburger Hefte zur Medienwissenschaft 9: ›Tatort‹. Die Normalität als Abenteuer (Dezember 1990). 7-31. Meinecke, Thomas. The Church of John F. Kennedy. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1996.
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B EHANDELTE T ATORT -F OLGEN Taxi nach Leipzig, 29. November 1970 (NDR, R: Peter Schulze-Rohr) Rechnen Sie mit dem Schlimmsten, 24. September 1972 (NDR, R: Peter SchulzeRohr) Tote brauchen keine Wohnung, 11. November 1973 (BR, R: Wolfgang Staudte) Gift, 21. Juli 1974 (NDR, R: Peter Schulze-Rohr) Tod im U-Bahnschacht, 9. November 1975 (SFB, R: Wolf Gremm) rot..rot..tot, 1. Januar 1978 (SDR, R: Theo Mezger) Der gelbe Unterrock, 10. Februar 1980 (SWF, R: Kristian Kühn) Duisburg-Ruhrort, 28. Juni 1981 (WDR, R: Hajo Gies) Das Zittern der Tenöre, 31. Mai 1981 (NDR, R: Hans Dieter Schwarze) Kielwasser, 25. März 1984 (WDR, R: Hajo Gies) Voll auf Haß, 8. November 1987 (NDR, R: Bernd Schadewald) Unter Brüdern, 28. Oktober 1990 (WDR/DFF, R: Helmut Krätzig) Kinderlieb, 27. Oktober 1991 (WDR, R: Ilse Hofmann) Blindekuh, 20. April 1992 (NDR, R: Werner Masten) Mord in der Akademie, 24. April 1994 (WDR, R: Ulrich Stark) Laura mein Engel, 1. Mai 1994 (MDR, R: Ottokar Runze) …und die Musi spielt dazu, 11. Dezember 1994 (BR, R: Hanns-Christian Müller) Im Herzen Eiszeit, 2. April 1995 (BR, R: Hans Noever) Frau Bu lacht, 26. November 1995 (BR, R: Dominik Graf) Bombenstimmung, 12. Oktober 1997 (WDR, R: Kaspar Heidelbach) Berliner Weisse, 22. November 1998 (SFB, R: Berno Kürten)
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Frauenmorde, 9. März 2003 (HR, R: Niki Stein [Nikolaus Stein von Kamienski]) Das Böse, 21. Dezember 2003 (HR, R: Niki Stein [Nikolaus Stein von Kamienski]) Tödliche Habgier, 24. Juni 2007 (ORF, R: Wolfgang Murnberger) Häschen in der Grube, 23. November 2008 (BR, R: Dagmar Knöpfel) Kassensturz, 1. Februar 2009 (SWR, R: Lars Montag) Das Mädchen Galina, 21. Juni 2009 (SWR, R: Thomas Freundner) Mit ruhiger Hand, 23. August 2009 (WDR, R: Maris Pfeiffer) Wir sind die Guten, 13. Dezember 2009 (BR, R: Jobst Christian Oetzmann) Altlasten, 27. Dezember 2009 (SWR, R: Eoin Moore) Kaltes Herz, 21. März 2010 (WDR, R: Thomas Jauch) Heimwärts, 6. Juni 2010 (MDR, R: Johannes Grieser) Schön ist anders, 12. Dezember 2010 (MDR, R: Judith Kennel) Nie wieder frei sein, 19. Dezember 2010 (BR, R: Christian Zübert) Zwischen den Ohren, 18. September 2011 (WDR, R: Franziska Meltzky) Der Wald steht schwarz und schweiget, 13. Mai 2012 (SWR, R: Ed Herzog) Skalpell, 28. Mai 2012 (SF, R: Tobias Ineichen) Der tiefe Schlaf, 30. Dezember 2012 (BR, R: Alexander Rudolph) Macht und Ohnmacht, 1. April 2013 (BR, R: Thomas Stiller) Eine Handvoll Paradies, 7. April 2013 (SR/Degeto, R: Hannu Salonen) Trautes Heim, 21. April 2013 (WDR, R: Christoph Schnee) Unvergessen, 20. Mai 2013 (ORF, R: Sascha Bigler) Spiel auf Zeit, 26. Mai 2013 (SWR, R: Roland Suso Richter)
ANDERE R EIHEN
ZITIERTE
F ILME , M EHRTEILER , S ERIEN UND
Cracker/Für alle Fälle Fitz (GB, 1993-1995 [ITV]) Der Kommissar (BRD, 1969-1976 [ZDF]) Derrick (BRD/D/AUS/CH, 1974-1998 [ZDF]) Dr. Psycho (D, 2007-2008 [ProSieben] Fight Club 1999 (USA, R: David Fincher) KDD – Kriminaldauerdienst (D, 2007-2010 [ZDF]) Polizeiruf 110 (DDR/D, seit 1971 [DFF/ARD] ‒ Der Fall Lisa Murnau, 27. Juni 1971 (DFF, R: Helmut Krätzig) ‒ Der Mann im Baum, 13. März 1988 (DFF, R: Manfred Mosblech) The Wire (USA, 2002-2008 [HBO])
40 Jahre Leichenshow-Leichenschau Die Inszenierung des Todes im Tatort und der soziale Umgang mit Sterben und Tod1 S TEPHAN V ÖLLMICKE
D AS P ROBLEM Der Fundus wissenschaftlicher Schriften zum privaten und öffentlichen Umgang mit Sterben und Tod ist fast unüberschaubar geworden, doch zum Thema ›Tod und Medien‹ liegen – im Gegensatz zur Alltäglichkeit und hohen Publikumsresonanz medialen Sterbens – erst seit wenigen Jahren nennenswerte Arbeiten vor.2 Da diese jedoch aus der Fülle von Möglichkeiten nur wenige Aspekte aufgreifen, ist dieses Forschungsfeld noch weitgehend terra incognita. Selbst zur traditionsreichen Fernsehkrimi-Reihe Tatort wurden zwar mittlerweile zahlreiche Studien3 publiziert, aber noch keine zur Darstellung des Todes, um den sich immerhin die meisten Folgen drehen. Dieses Forschungsdesiderat behebt der vorliegende Aufsatz. Er beschränkt sich dabei nicht auf die Sammlung und Beschreibung von Daten, sondern spürt Wechselbeziehungen zwischen massenmedialen Todesdarstellungen und gesellschaftlichen Kontexten auf. Im Fokus steht v.a. der Zusammenhang zwischen Todesdarstellungen im Fernsehen (Tatort) und deren Bedeutung für die Gesellschaft sowie der Beeinflussung der Medieninhalte (Todesdarstellungen) durch gesellschaftliche Bedingungen (Kontexte). Die deutliche Zunahme an Todesdarstellungen in den audiovisuellen Medien verlangt nach Erklärungsmustern, die ansatzweise
1
Der Aufsatz entspricht in Teilen meinen Ausführungen (Völlmicke 2013: 13-18, 91-95, 150-154, 243-247, 255-258). Ich danke dem Peter Lang Verlag für die freundliche Kooperation.
2
Zum Forschungsstand siehe Völlmicke 2013: 25-27.
3
Einen aktuellen Überblick liefert Buhl 2013: 37-40.
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Antworten auf Symptome einer soziokulturellen Gesellschaftsentwicklung bereitstellen können. Für die Kommunikationswissenschaft stellt sich die Frage, welche Rolle die Medien in diesem Prozess spielen. In der modernen Gesellschaft haben sich die Rahmenbedingungen des Sterbens und des Todes im Vergleich zu vormodernen Gesellschaften deutlich verändert. Der 4 Tod wird in unserer Gesellschaft strukturell verdrängt, das konkrete Sterben und v.a. der Leichnam dem alltäglichen Blick entzogen. Stattdessen erfolgen diese Erfahrungen für viele Menschen heute größtenteils medial, und der Tod und der Leichnam existiert für sie nur in seiner medialen Repräsentation. V.a. im Fernsehen ist der Tod als visuelles Phänomen omnipräsent und begleitet kontinuierlich das Leben der Zuschauer. »Der wahrscheinlich größte Teil fiktionaler Medienunterhaltung thematisiert Tod und Sterben« (Klimmt 2009: 416). Der rezeptive Umgang mit dem medial reproduzierten Tod ist den meisten Menschen deshalb vertrauter als der ›reale‹ Tod (vgl. Richard 1995: 67; Hurth 2004: 58). Der Zuschauer hat es folglich mit einer veritablen Paradoxie zu tun: auf der einen Seite einer strukturellen Verdrängung des Todes im persönlichen Umfeld (der eigenen ›realen‹ Lebenswelt) und auf der anderen Seite mit einem ›Totenboom‹ in 5 den Medien (der eigenen ›medialen‹ Lebenswelt). Im Folgenden wird versucht, diesen –nur vordergründigen – Widerspruch zu entschlüsseln, um zu zeigen, dass die fiktionale Darstellung des Todes im Fernsehen auf spezifische Weise unserem alltäglichen Umgang mit Sterben und Tod in der Gesellschaft korrespondiert. Und weil ich um das heuristische Problem weiß, Mediendarstellungen unmittelbar mit Lebenswelten zu vergleichen (deren Beschreibung ja ebenfalls beobachterabhängig ist), verknüpfe bzw. kontextualisiere ich die Darstellungen des Todes im Tatort und deren Entwicklung mit der aktuellen soziologischen Debatte über den Umgang mit Sterben und Tod in unserer Gesellschaft. Dabei sollen drei Fragen im Mittelpunkt stehen: 1. Wie hat sich die Darstellung von Tod in der ARD-Reihe Tatort verändert? 2. Wie sieht beim Großteil der Bevölkerung das Wissen über den ›realen‹ Tod im Kontext der Lebenswelt vermutlich aus?
4
Die Verwendung der bisherigen Verdrängungsthese lehne ich – wie dies auch in der neueren deutschen Soziologie geschieht – ab. Der Begriff der strukturellen Verdrängung soll in diesem Beitrag als Metapher für eine weitreichende (institutionelle) Auslagerung des Todes aus der Lebenswelt des modernen Menschen stehen (vgl. Knoblauch 2007: 191). Damit verbunden ist eine pragmatische, rationalisierte, technische, nüchterne und auf ökonomische Effizienz bedachte Art des Umgangs mit Sterben und Tod.
5
Die Begriffe ›reale‹ und ›mediale‹ Lebenswelt werden hier nur verwendet, um diese beiden Erfahrungswelten terminologisch handhabbar zu machen.
D IE I NSZENIERUNG
DES
T ODES IM TATORT │111
3. Lässt sich ein konkreter Zusammenhang zwischen der Darstellung von Toten in der Krimireihe und dem lebensweltlichen Umgang mit Sterben und Tod feststellen?
D IE V ERÄNDERUNG DER AUDIOVISUELLEN D ARSTELLUNG DES T ODES AM B EISPIEL T ATORT In einer strukturell-funktionalen Filmanalyse habe ich die audiovisuellen Veränderungen in der Darstellung des Todes in der Fernsehreihe Tatort über einen Zeitraum von 40 Jahren analysiert. Der Tatort eignet sich durch seine nunmehr 44-jährige Laufzeit für eine Analyse langfristiger Veränderungen in der filmischen Gestaltung des Todes. Bei der Auswahl von 81 WDR- und NDR-Tatorten aus den Jahren 1970 bis 2010 wurden insgesamt 273 Sequenzen mit Leichendarstellungen, bestehend aus 2220 Einstellungen in 273 Filmprotokollen, erhoben und ausgewertet. Analysiert wurden u.a. die Anzahl der Sequenzen, in denen Leichen dargestellt werden, die Einstellungslängen der Leichenabfilmungen, die Einstellungsgrößen der Kamera, die Geräusche und Musik bei der Leichendarstellung sowie die Handlungsorte der Sequenzen. Die Kategorien der Kameraarbeit wurden für die Analyse zusätzlich spezifiziert, so dass untersucht werden konnte, in welcher Art und Weise die Leiche konkret abgefilmt wurde: Zeichnet sich die Darstellung durch eine aufwändige Maske aus, sind also Blut, Gewaltspuren wie Einschusslöcher, Hämatome und Verwesungserscheinungen zu sehen, wurde diese Ausprägung bspw. als ›Leiche Spezialeffekt‹ definiert. Ist das Gesicht der Leiche deutlich zu erkennen, wurde die Ausprägung als ›Leiche‹ betitelt. Diese Ausprägungen wurden von weiteren Aspekten unterschieden – die Leiche liegt auf der Seite, sie liegt im Hintergrund, das Gesicht der Leiche ist nicht zu erkennen usw. Darüber hinaus wurde eine Frequenzanalyse medizinischer Termini innerhalb der Dialoge in den Sequenzen durchgeführt. Die Analyse auf der Ebene der Ästhetik und Gestaltung zeigt, dass sich die Art der Leichenabfilmung innerhalb von 40 Jahren signifikant verändert hat und dass (fiktive) Leichen inzwischen sehr direkt und detailliert dargestellt werden. So beweist der Vergleich der vier Tatort-Dekaden (1970-1980; 1981-1990; 1991-2000; 2001-2010), dass sich die filmische Distanz zu den Leichen im Tatort im Laufe von vier Jahrzehnten enorm verringert hat. Die wichtigsten Charakteristika der aktuellen Leichendarstellungen im Tatort im Einzelnen:
Anzahl [N]
112 │V ÖLLMICKE 18 16 14 12 10 8 6 4 2 0
Anzahl der Subsequenzen Anzahl der Einstellungen
1970-1980
1981-1990
1991-2000
2001-2010
Dekade
Abb. 1: Durchschnittliche Häufigkeiten der Leichendarstellung im Tatort (WDR+NDR) über
Prozent
vier Dekaden6 100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0
Leiche + Leiche Spezialeffekt andere Abfilmungsarten
1970-1980 1981-1990 1991-2000 2001-2010 Dekade
Abb. 2: Anteil der Arten der Leichenabfilmung (Leiche/Leiche Spezialeffekt versus andere) im Tatort (WDR+NDR) über vier Dekaden7
6
Mittelwerte beziehen sich jeweils auf den durchschnittlichen Tatort. Anova-Ergebnisse für Faktor Dekade und Linearen Trend: Anz. Sequenzen: Faktor (F=16.88; df=3; p=0.000***); Trend (F=49.81; df=1; p=0.000***). Anz. Einstellungen: Faktor (F=18.38; df=3; p=0.000***); Trend (F=54.08; df=1; p=0.000***). Diese Ergebnisse der Zwischensubjekteffekte zeigen, dass beide Faktoren sowohl für die Anzahl der Sequenzen als auch für die Anzahl der Einstellungen hochsignifikant sind.
7
Häufigkeiten = Häufigkeiten von Einstellungen. Ergebnisse des Chi-Quadrat-Tests: Unterschiede zwischen den Arten der Leichenabfilmung bezüglich ihrer Häufigkeiten im zeitlichen Verlauf der Dekaden: Chi-Quadrat=140.72; df=3; p=0.000*** Cramer‘s
D IE I NSZENIERUNG
DES
T ODES IM TATORT │113
Es ist erkennbar, dass die Anzahl der Subsequenzen und die Anzahl der Einstellungen (vgl. Abb. 1) sowie die Dauer (Einstellungslängen) innerhalb von 40 Jahren signifikant zugenommen haben. Der Darstellung von Leichen wird heute somit deutlich mehr Sendezeit zur Verfügung gestellt als in früheren Dekaden. Die Leichenabfilmungen finden 2001-2010 zu 88% mit der Ausprägung ›Leiche‹ und ›Leiche Spezialeffekt‹ statt (vgl. Abb. 2). Das bedeutet, dass die Leiche für den Zuschauer sehr direkt und deutlich zu erkennen ist, weil ihm zusätzlich Verletzungen, Hämatome usw. in Form von Spezialeffekten präsentiert werden. Dabei sind die mittleren Einstellungslängen bei dieser Art der Abfilmungen in der vierten Dekade (2001-2010) doppelt so hoch wie in der ersten Dekade (1970-1980). Die Leiche wird somit für den Zuschauer sehr lange in dieser direkten Abfilmung sichtbar gemacht.
Prozent
100 90 80 70 60 50 40
Weite bis Halbnah Nah bis Detail
30 20 10 0 1970-1980
1981-1990
1991-2000
2001-2010
Dekade Abb. 3: Anteil der Einstellungsgrößen (Weite bis Halbnah versus Nah bis Detail) bei der Leichenabfilmung im Tatort (WDR+NDR) über vier Dekaden8
Diese Entwicklung wird weiterhin durch die Verwendung der großen Einstellungsgrößen ›Nah‹, ›Groß‹ und ›Detail‹ unterstützt (vgl. Abb. 3). 64% aller Leichenabfilmungen im vierten Intervall werden mit diesen großen Einstellungsgrößen ge-
V=0.46. Da das Zusammenhangsmaß Cramer’s V relativ groß ist, kann von einem hochsignifikanten Zusammenhang zwischen den Variablen ausgegangen werden. 8
Häufigkeiten = Häufigkeiten von Einstellungen. Ergebnisse des Chi-Quadrat-Tests: Unterschiede zwischen den Einstellungsgrößen bezüglich ihrer Häufigkeiten im zeitlichen Verlauf der Dekaden: Chi-Quadrat=65.34; df=3; p=0.000*** Cramer‘s V=0.31. Da das Zusammenhangsmaß Cramer’s V relativ groß ist, kann von einem hochsignifikanten Zusammenhang zwischen den Variablen ausgegangen werden.
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filmt. In den ersten Dekaden wurden meistens (88%) die Einstellungsgrößen ›Weit‹ bis ›Halbnah‹ genutzt. Die filmische Distanz zu den Leichen hat sich folglich enorm verringert. Heute fokussiert die Kamera die Leiche, führt sehr nah an das Gezeigte heran und beschränkt sich nicht mehr wie in früheren Intervallen auf distanzreiche Einstellungen bzw. auf indirekte Verweise. Die Kamera rückt dabei, räumlich gesehen, näher an den Toten heran, als dies unter natürlichen realen Umständen für einen Unbeteiligten möglich wäre. Vor dem Hintergrund der filmischgestalterischen Mittel ist das ein klares Indiz für eine ›sensationellere‹ Darstellung der Toten. Zusammenfassend ist im Bereich der Kameraaktivität eine offensichtliche Tendenz zu immer längeren und gleichzeitig sehr nahen, distanzarmen Todesdarstellungen zu belegen, die eine bis dahin ungewohnte, sehr direkte und detailreiche Perspektive auf den toten Körper offeriert. Um die Distanz zum Geschehen zu mindern und die Wahrnehmung der Bilder affektiv aufzuladen, werden zudem 69% aller Leichenabfilmungen musikalisch unterstützt. Zusätzlich erhält der Zuschauer weitere Eindrücke von der Leiche, indem er diese oftmals auf Leichenfotos während der Ermittlungen ein weiteres Mal präsentiert bekommt. Daneben sind sehr häufig Leichenrequisiten zu sehen. Der Anteil an Abfilmungen von Särgen, Leichenwagen und v.a. Leichentüchern erreicht im vierten Intervall (2001-2010) ihren bisherigen Höhepunkt. Ebenfalls wird zunehmend die Ermittlungstechnik der Polizei in den Fokus der Kamera gerückt. Bei den Handlungsorten fällt besonders auf, dass die Rechtsmedizin seit den 1990er Jahren ein fester Bestandteil des Tatort geworden ist. Sowohl in der Anzahl der Sequenzen, den Häufigkeiten der Einstellungen und der Gesamtzeit der Leichenabfilmung in der Rechtsmedizin lässt sich erkennen, dass diese Darstellung einen enormen Stellenwert bekommen hat. Dabei werden die Leichen innerhalb der Rechtsmedizin zu einem überwiegenden Anteil von 81,6% mit der Ausprägung ›Leiche‹, ›Leiche Spezialeffekt‹ und mit den großen Einstellungsgrößen ›Nah‹, ›Groß‹ und ›Detail‹ gefilmt. Für den Zuschauer ist der Tote somit auch in der Rechtsmedizin sehr direkt, ohne große Distanz und visuell intensiv wahrnehmbar. In diesem Kontext sind besonders die gestiegenen Redeanteile der Rechtsmediziner und der damit verbundene deutliche Anstieg an medizinischem Fachvokabular hervorzuheben (vgl. Abb. 4). Die Ergebnisse der Frequenzanalyse medizinischer Termini bestätigen, dass im Tatort die Redebeiträge der Rechtsmediziner in vier Jahrzehnten zugenommen haben und dass das medizinische Vokabular (allgemein gebräuchliche Begriffe sowie medizinische Fachtermini) innerhalb der Leichenabfilmung eine hohe Relevanz erlangt hat. Werden im ersten Intervall noch keinerlei Fachtermini, sondern nur allgemein gebräuchliche Begriffe von Kommissaren und Rechtsmedizinern in Monologen oder Dialogen verwendet, erlangt die Verwendung von medizinischem Fachvokabular in den 1990er und 2000er Jahren eine signifikant hohe Relevanz. Durchschnittlich werden pro Folge 4,8 (1990er Jahre) bzw. 5,4 (2000er Jahre) medizinische Fachtermini verwendet. Der Rechtsmediziner spricht
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in diesem Fall also z.B. von Thorax anstatt von Brustkorb, von Uterus anstatt von Gebärmutter und von Intoxikation anstatt von Vergiftung. Der Zuschauer bekommt somit Einblick in das medizinische, biologische und anatomische Fachvokabular der Spezialisten. Die Verwendung allgemein gebräuchlicher Begriffe steigt ebenfalls über vier Jahrzehnte hinweg an. 14 12 Anzahl [N]
10 Anzahl Redebeiträge
8 6
Anzahl allgemein geb. med. Termini
4
Anzahl medizinische Fachtermini
2 0 1970-1980 1981-1990 1991-2000 2001-2010 Dekade
Abb. 4: Frequenzanalyse: Durchschnittliche Häufigkeiten der Redebeiträge des Pathologen und der verwendeten medizinischen Termini im Tatort (WDR+NDR) über vier Dekaden9
In Kombination von Handlungsort Rechtsmedizin, gestiegenen Redeanteilen der Rechtsmediziner, Steigerung der medizinischen Termini sowie gestiegene Relevanz der Ermittlungsarbeit ist eine eindeutige Verwissenschaftlichung bzw. Medikalisierung im Umgang mit den Toten im Tatort zu konstatieren. Die Todesdarstellungen sind somit über vier Jahrzehnte hinweg immer mehr in einen naturwissenschaftlich geprägten Kontext gerückt. In einem nächsten Schritt sollen die Ergebnisse der Filmanalyse mit gesellschaftlichen Entwicklungen im Umgang mit Sterben und Tod kontextualisiert wer-
9
Anova-Ergebnisse für Faktor Dekade und Linearen Trend: Anz. Redebeiträge: Faktor (F=3.45; df=3; p=0.027*); Trend (F=6.82; df=1; p=0.013*). Anz. allgemein gebräuchlicher medizinischer Termini: Faktor (F=4.66; df=3; p=0.007**); Trend (F=12.64; df=1; p=0.001***). Anz. Medizinische Fachtermini (F=4.22; df=3; p=0.009**); Trend (F=9.72; df=1; p=0.006**). Diese Ergebnisse der Zwischensubjekteffekte zeigen, dass beide Faktoren sowohl für die Anzahl der Redebeiträge als auch für die Anzahl allgemein gebräuchlicher medizinischer Termini und für die Anzahl medizinischer Fachtermini (sehr) signifikant sind.
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den. Dafür ist zunächst ein kleiner Exkurs zur Modellierung der Begriffe Fernsehen, Lebenswelt und Kultur wichtig.
D ER Z USAMMENHANG UND K ULTUR
VON
F ERNSEHEN , L EBENSWELT
Fernsehen ist von zentraler Bedeutung für die meisten Menschen, die es erreicht, also auch für die Kultur, in der wir leben (vgl. Jurga 1999: 2). Fernsehsendungen können als Medien der Kommunikation betrachtet werden, wenn sie rezipiert und verstanden werden: »Soll die Kommunikation mit dem Rezipienten gelingen, muss im Prozess des Filmemachens bereits auf mögliche Erwartungen des Publikums sowie auf kognitive und emotionale Fähigkeiten der Rezipienten Bezug genommen werden. Fernsehtexte […] erhalten somit ihre Bedeutung erst in der Interaktion mit ihren Zuschauern.« (Mikos 2003: 53)
Diese Interaktion vollzieht sich nicht in einem gesellschaftsfreien Raum, sondern findet in historischen, ökonomischen, juristischen, kulturellen und sozialen Kontexten statt, die sich wiederum konkret auf die ›Fernsehtexte‹ auswirken (vgl. ebd.). Fernsehen trägt somit zur symbolischen Verständigung der Gesellschaft über sich selbst bei und reproduziert immer zugleich Kultur (vgl. ebd.). Da die Produktion einer Bedeutung durch den Rezipienten nicht unabhängig von jenen Kontexten gesehen werden kann, ist auch die Darstellung des Todes im Fernsehen an sie gebunden, sonst wären die entsprechenden ›Fernsehtexte‹ nicht anschlussfähig. Fernsehsendungen greifen dementsprechend kontextuelle Veränderungen in gesellschaftlichen Teilsystemen auf und liefern Darstellungen von Sterben und Tod, die zumindest partiell mit der Lebenswelt der Zuschauer korrespondieren. Deshalb muss das mediale Darstellungsspektrum von Tod vor dem Hintergrund dieser Kontexte betrachtet werden. Für die Bedeutungsproduktion der Zuschauer ist v.a. der Kontext ihrer Lebenswelt zentral, deren Semantik sie auf die textuelle, mediale und soziokulturelle Ebene von Film- und Fernsehtexten anwenden (vgl. ebd.: 57). Laut Mikos kann die Lebenswelt bestimmt werden als die »subjektive sinnhafte Erscheinungsform des Wissens von der Welt, die im Rahmen der täglichen Lebenspraxis intentional die Handlungen der Subjekte steuert« (Mikos 1992: 532) und in der sich das Subjekt die eigene Welt erschließt. Sie stellt den für den Alltag relevanten Ausschnitt von Kultur dar. Damit definiert die Lebenswelt die Rahmenbedingungen alltäglicher Erfahrungen und Handlungen. Die Strukturen der Lebenswelt legen folglich auch die Formen von Intersubjektivität und Verständigung fest. Aus diesem Grund müssen
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Medien den lebensweltlichen Kontexten verhaftet bleiben, wollen sie im »Rahmen der gesellschaftlichen Kommunikation Sinn machen, weil Verständigung nur innerhalb der lebensweltlichen Horizonte möglich ist« (Mikos 2003: 58). Die Lebenswelt hat für Film- und Fernsehtexte insofern eine enorme Bedeutung, als sie – neben Genrewissen u.a. – ein wichtiges Bezugssystem darstellt, auf das sich Rezipienten bei ihrer Bedeutungs- und Sinnproduktion beziehen. Die Theorie der Lebenswelt verdeutlicht, dass unsere Konstrukte von Sterben und Tod und unser Umgang damit auf soziokulturell vermittelten Grunderfahrungen, Werten und Normen basieren und so Perspektiven entstehen, aus denen Sinn produziert wird. Aus den Rahmenbedingungen moderner Gesellschaften ergeben sich spezifische Todesverständnisse und Todesdeutungen, die im Kontext von Lebenswelten gebündelt und akzentuiert werden. Daher sollen im Folgenden der Wissens- und Sinnhorizont, der Bezugs- und Orientierungsrahmen sowie der Handlungs- und Erfahrungsraum in Bezug auf Sterben und Tod erörtert werden, in denen sich die meisten Mitglieder unserer Gesellschaft im Alltag bewegen.10
D ER › REALE ‹ T OD
IM
K ONTEXT
DER
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Der Umgang mit den Themen Sterben und Tod steht in einem stetigen gesellschaftlichen Definitionsprozess. In den letzten 20 Jahren hat sich ein neues gesellschaftliches Todesbewusstsein entwickelt. »Der Tod in der demographisch veränderten, mobilen Gegenwartsgesellschaft, aber auch die Kulturen und Rituale des Abschieds haben sich erheblich verändert.« (Robertson-von Trotha 2008: 9) Auf einer Makroebene kann zunächst auf allgemeine Prozesse der Privatisierung, Institutionalisierung, Technologisierung, Hospitalisierung und Individualisierung der Todeserfahrung verwiesen werden, die sich unmittelbar auf den Umgang mit Sterben und Tod auswirken (vgl. Lammer 2005: 28). Das Todesverständnis und der gesellschaftliche Diskurs über den Tod werden dabei immer stärker zu einem Großteil durch die ständigen naturwissenschaftlich-medizinischen Entwicklungen bedingt, und es hat sich eine wissenschaftlich technische Rationalität im Umgang mit Sterben und Tod etabliert. Mit diesem heutigen Todesbild werden Materialismus, Ablösung der Metaphysik durch die Wissenschaft, wissenschaftlicher Fortschritt und eine rein naturwissenschaftlich biologische Vorstellung vom Tod bzw vom Leichnam konnotiert. Der Tod bedeutet lediglich noch das biologische Ende. Die Leiche ist aus die-
10 Dabei handelt es sich lediglich um einen exemplarischen Ausschnitt der durchgeführten Gesellschaftsstrukturanalyse in Bezug auf den Umgang mit Sterben und Tod. Zur ausführlichen Beschreibung der Veränderung der gesellschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingen siehe Völlmicke 2013: 45-100.
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ser Perspektive auch nur ein Ding und reine Materie (vgl. Vischer 2000: 81). Der Umgang mit Sterben und Tod in Institutionen wie Krankenhäusern kann demnach mit den Schlagwörtern Bürokratisierung und Institutionalisierung des Todes bezeichnet werden (vgl. Daxelmüller 1996: 151; Feldmann 2004: 162). Damit verbunden ist die technisch-hygienische Rationalität im Umgang mit den Sterbenden und Toten (vgl. Chun 2000: 54; Feldmann 1997: 151). Durch das technikorientierte, hochorganisierte und strategisch-instrumentelle Handeln in Naturwissenschaften und Medizin wird eine radikale Versachlichung des Lebens und des Todes herbeigeführt, die durch die Wissenschafts- und Technikgläubigkeit in der heutigen Medizin zwangsläufig eine Reduzierung des sterbenden Menschen auf seine physische Disposition generiert. Die eigene Berührung von Toten und der persönliche Umgang mit ihnen sind bei den meisten Angehörigen unerwünscht und äußerst selten. Die Toten werden von professionellem Personal auf die Bestattung vorbereitet. Dieses soll als Segregation des Todes bezeichnet werden. Auch das Sterben wird aufgrund der Verlängerung von Lebenszeit, geringer Kindersterblichkeit, kleiner Kernfamilien und des Sterbens vieler Menschen in Institutionen selten von den Angehörigen selbst erlebt. Die konkrete Wirklichkeit des Todes und des toten Körpers wird den betroffenen Hinterbliebenen damit entzogen. Dieses soll als Verlust der Primärerfahrung des Todes (vgl. Feldmann 1990: 112; Fischer 1997: 38) bzw. als Desozialisierung des Todes (vgl. Richard 1995: 37) beschrieben werden. Die Reduktion persönlicher Zuwendung, Medikalisierung und Technisierung führen also insgesamt zu einer Entfremdung vom Tod und dem Leichnam. Sowohl in der Bestattungskultur als auch im Bereich der Trauerrituale lassen sich eindeutige Entwicklungen zu einer Privatisierung des Todes sowie eine Affektkontrolle des Todes konstatieren (vgl. Brandt 2004: 23; Kahl 2007: 152; Happe 2000: 741). Begräbnisse und Totenkulte sind in modernen Gesellschaften nur noch periphere Ereignisse. Außerdem gibt es keine allgemein verbindlichen Trauerrituale mehr, wofür der Begriff der Verkümmerung von Ritualen steht (vgl. Lorenz 2000: 34).11 Die zunehmende anonyme Beisetzung gilt als neuer Höhepunkt dieser Entzauberung des Todes (vgl. Fischer 2001: 3). Durch den Rückzug in ihre Privatsphäre verlieren Menschen außerdem oft die soziale Fähigkeit, eine emotionale Anteilnahme für Ereignisse zu entwickeln, die außerhalb der eigenen Familie liegen. Diese Tendenz soll als Verlust der emotionalen Anteilnahme am Tod anderer, außerhalb der privaten Lebensumgebung stehender Menschen, beschrieben werden. Traditionelle Formen der Sinngebung des Todes wie die Religion geraten damit immer mehr ins Abseits. Der Verlust des Jenseitsglaubens in der modernen Gesell-
11 Vgl. Anne Lorenz. »Das Tabu ums Sterben ist noch nicht gebrochen.« Frankfurter Rundschau 275 (25. November 2000): 34.
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schaft hat dabei zu einem gravierenden Sinngebungsproblem geführt, und der Tod ist damit zu einem sinnfremden, sinnentleerten oder sinnlosen Leiden geworden (vgl. Feldmann 2004: 66). Rationales Denken, das dem Zweck-Mittel Schema folgt, hat sich auch im Umgang mit Tod durchgesetzt (vgl. Chun 2000: 51). Diese Form der Auseinandersetzung führte letztlich zu einer Verdinglichung bzw. Profanisierung des Todes (vgl. Pöhlmann 1991: 45). Ein allgemein gültiges symbolisches Todesbild kann in einer solchen Kultur nicht mehr entstehen und folglich kann sich auch kein einheitliches Todesverständnis mehr ausbilden (vgl. Nassehi/Weber 1989: 71). Das Todesverständnis hat sich durch soziale, technische und kulturelle Kontexte gewandelt. Für die Summe all dieser Entwicklungen wird das Schlagwort der strukturellen Verdrängung des Todes verwendet. Die hier skizzierte soziologische Modellierung der modernen Lebenswelt in Bezug auf den Umgang mit Sterben und Tod soll später den nun zu erörternden medialen Erfahrungen gegenüber gestellt werden.
D ER MEDIALE T OD IM K ONTEXT
DER
L EBENSWELT
Aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht werden das Wissen vom und die Erfahrungen mit medialem Sterben und Tod laufend in die Lebenswelt integriert, denn die Medien und besonders das Fernsehen sind heute zentrale Elemente der Lebenswelt und mächtige Agenturen einer symbolisch vermittelten Realität. Vor dem Hintergrund einer zunehmenden Sozialisation durch Medien und der Mediatisierung des Todes können Medien(-inhalte) als »Bestandteile von Sinnwelten« (Hitzler 1989: 34) der Rezipienten betrachtet werden. In Anlehnung an ein berühmtes Zitat von Luhmann12 können heute sogar »Lebenswelten als Medienwelten« (Baacke/ Sander/Vollbrecht 1990: 80) charakterisiert werden. »Dabei kommt den Mediensymboliken eine besondere Bedeutung zu, liefern sie doch das Material für das implizite Wissen über bestimmte Handlungsmuster.« (Mikos 2007: 38) Als das bedeutendste Kommunikationsmittel unserer mediatisierten Welt gilt zwar das Fernsehen, unbestritten ist aber, dass »Medien aller Art den Lebenszyklus von Heranwachsenden in allen Situationen begleiten als symbolisch über Zeichen und Zeichensysteme allgegenwärtige Sozialisationsagenturen« (Vollbrecht 2003: 13), so dass diese in Medienwelten aufwachsen (vgl. Bachmair 2007: 69). Die Medien stellen somit bestimmte Zugänge zu Wissensbeständen, Orientierungen, Erfahrungen und Erlebnissen her und werden durch ihre unterschiedliche Nutzung zu Bestandteilen verschiedener Sinnwelten. Dies wirkt sich nachweislich
12 »Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien.« (Luhmann 1996: 9)
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auf unser individuelles Wissen und unsere Wirklichkeitsdefinitionen, Meinungen, Gefühle und Argumente aus (vgl. Krotz 2001: 200). »Medien bilden […] ein Feld oder Felder der gesellschaftlichen Wirklichkeit, die wiederum Wirklichkeit schafft.« (Bachmair 2007: 69) Mediendiskurse werden als soziales, gesellschaftliches Handeln verstanden. Mediendiskurs und Alltagspraxen sind somit »[…] nicht als unabhängige Sphären der Bedeutungsproduktion zu konzeptualisieren, sondern als miteinander verwobene Formen der Produktion geteilten Sinns zu betrachten.« (Thomas 2007: 63) So etwa glauben viele Fernsehzuschauer zu wissen, wie es in der Rechtsmedizin aussieht. Aus einer Mischung von Alltagswissen und medialer Wirklichkeit, die der eigenen Erfahrung entzogen ist, konstituiert sich eine Wirklichkeit neuen Typs. Fernsehdarstellungen liefern damit Wirklichkeitsmodelle, die man durchaus als »soziale Realität« (Früh 1994: 14) bezeichnen kann. Die Wirklichkeitsmodelle des Fernsehens können bisweilen »sogar noch glaubwürdiger sein als die Realität vor unserer Tür« (Kunkel 1998: 111). Das trifft besonders dann zu, wenn wir die inszenierte Realität (wie bspw. der Toten in der Rechtsmedizin im Tatort) nicht durch Primärerfahrungen kennen. Dieser Trend der vermehrten Präsentation von Leichen ist bspw. auch in anderen Fernsehformaten zu beobachten.13 Rechtsmediziner sind die neuen Stars des Krimigenres. Die Zunahme von Rechtsmedizinern und Naturwissenschaftlern in US-amerikanischen (z.B. CSI, seit 2000; Crossing Jordan, 2001-2007; etc.) und deutschen Serienkrimis ist innerhalb des letzten Jahrzehnts auffallend. Dabei haben sich die Rollen der Rechtsmediziner selbst auch in Vorabendserien (z.B. Soko 5113, seit 1978) oder den erfolgreichen Samstagabendkrimis im ZDF (z.B. Stubbe – Von Fall zu Fall, 1995-2014; Rosa Roth, 1994-2013; Kommissarin Lucas, seit 2003; Ein starkes Team, seit 1994; Das Duo, 2002-2012; oder Bella Block, seit 1993) von der Statistenrolle zur Nebenrolle und in einigen Fällen sogar zu Hauptrollen (z.B. Der letzte Zeuge, 1998-2007) entwickelt. »Seit geraumer Zeit ist der Rechtsmediziner, der am Tatort beherzt in den Eingeweiden des Opfers stochert und während der Leichenöffnung ungerührt in seine Butterstulle beißt, ein fester Topos innerhalb des Genres.«14 (Brunst 2005: 57)
13 Neben Film- und Fernsehserien sind Rechtsmediziner als Protagonisten in jüngster Zeit auch zunehmend in die Bestsellerlisten der Krimiliteratur eingezogen (siehe die Millionenerfolge von Kathy Reichs, Patricia Cornwell und Simon Beckett). Auch hier verfolgt der Leser die realistische und sehr detailreiche forensische Aufklärungsarbeit durch Rechtsmediziner. 14 Klaudia Brunst. »Forensik. Verweste Wasserleiche? Egal, die Stulle muss dabei sein.« Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 31 (7. August 2005): 57.
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Rechtsmediziner erleben somit einen regelrechten Boom. »Sie zeigen, was zuvor nur einem Spezialpublikum zugemutet werden durfte: Leichen, Obduktionen, Balsamierungen und Bestattungen.« (Macho 2007: 23) Im Blick auf fiktionale Fernsehangebote weist Tina Weber auf die zunehmende Vielfalt von Todesdarstellungen in jüngster Zeit hin (Weber 2008: 212) und konstatiert besonders für USamerikanische Serienformate, dass die Beschäftigung mit Leichen immer mehr zur eigentlichen Handlung der Serien wird. Dabei gleichen sich alle Formate, indem sie »[...] explizit den Tod, tote Körper und das Sterben fokussieren. [...] So werden in vielen Szenen detaillierte Beweisaufnahmen am toten Körper, das Nachstellen eines Tathergangs oder die Rekonstruktion des konkreten Sterbemoments gezeigt. [...] Diese neuen, differenzierenden Entwicklungen bedeuten eine einschneidende Sichtbarmachung des Todes in Fernsehbildern.« (Weber 2007: 542)
So hat sich im Fernsehen in den letzten Jahren – ganz im Gegensatz zur strukturellen gesellschaftlichen Verdrängung – geradezu eine »Geschwätzigkeit des Todes« (Armin Nassehi, zit. nach Hetzel 2007: 160) und der Toten selbst in allen Spielarten entwickelt. Dabei handelt es sich allerdings um spezifische Wirklichkeitsentwürfe eines in der Regel gewaltsam herbeigeführten Todes, die mit Sterben und Tod im Alltag und den üblichen Todesarten nicht direkt übereinstimmen. Wenn die Lebenswelt die subjektiv sinnvolle Erscheinungsform des Wissens von der Welt ist und sie sich durch kulturelle Reproduktion und Sozialisation erschließt, dann ist es in einer Mediengesellschaft unabdingbar, diese Wirklichkeitsentwürfe des Todes, die Medien im Tatort und anderen Serien liefern, ebenfalls als Bestandteil der Lebenswelt zu betrachten, denn Lebenswelt ist als Einheit zu begreifen, die inhaltlich die unterschiedlichen Erfahrungswelten, also die ›reale‹ und die ›mediale‹ Lebenswelt, bündelt und integriert. Wie passen diese Entwicklungen nun zusammen? Inwiefern korrespondieren die auf den ersten Blick derart gegensätzlichen Entwicklungen des ›Totenbooms‹ im Fernsehen und der strukturellen Verdrängung des Todes in der Gesellschaft miteinander?
Z UM Z USAMMENHANG UND STRUKTURELLER
VON MEDIALEM ›T OTENBOOM ‹ V ERDRÄNGUNG DES T ODES
Der soziale Kontext und der Umgang mit Sterben und Tod in diesem Kontext haben einen erheblichen Einfluss auf den Umgang der Zuschauer mit den Darstellungen des Todes im Fernsehen. Unmittelbare Erfahrungen, aus denen sich maßgeblich ihr Wissen, ihre Emotionen und ihre Sinngebung speisen, können sie nur innerhalb ih-
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rer Lebenswelt machen. Dabei werden freilich Erfahrungsmuster miteinbezogen, die in Medientexte eingegangen sind. Besonders dann, wenn Vergleichsmöglichkeiten im eigenen Umfeld fehlen wie bei der Rechtsmedizin, können mediale zu realen Erfahrungsmustern werden. Deshalb wird im Folgenden versucht, die Darstellung des Todes, wie sie sich in der sozialen Praxis der Rezipienten positioniert, in lebensweltlichen Bezügen des Todes im Tatort wiederzufinden. Dafür wird nach Indizien gesucht, die Aufschluss darüber geben, wie und warum die Todesdarstellungen im Tatort in der Lebenswelt von Rezipienten verhaftet sind. Die zunehmende Darstellung von Leichen in der Rechtsmedizin korrespondiert auf verschiedene Weise mit der ›realen‹ Lebenswelt der Rezipienten. Es ist nicht nur der visuelle Reiz des Ungewohnten, der den Rechtsmediziner und die Leiche vermehrt in den Mittelpunkt der Handlung rückt, sondern auch die streng anatomische Betrachtung des toten Körpers. Der Rechtsmediziner ermittelt an der Materie eines zum Gegenstand gewordenen Menschen – ein Indiz für das primär naturwissenschaftliche Todesbild in der Gesellschaft. Außerdem korrespondiert die ausgeprägte Leichendarstellung in der Rechtsmedizin insofern mit der ›realen‹ Lebenswelt der Rezipienten, als eine technisch-hygienische Rationalität im Umgang mit den Toten gezeigt wird. Die medizintechnischen Verfahren geschuldete Reduzierung des Menschen auf seine physische Disposition in Institutionen korrespondiert mit der distanzlosen Präsentation von Leichen in der Rechtsmedizin. Es wird folglich von einem zunehmend rationalen und naturwissenschaftlichen Todesbild in der Gesellschaft ausgegangen. Die filmische Darstellung der Rechtsmedizin ist dann genau der Ort, mit dem die Rezipienten die o.g. Aspekte des Umgangs mit Sterben und Tod assoziieren können. Somit stehen die Todesdarstellungen in Beziehung zu den lebensweltlichen Horizonten der Rezipienten. Ein weiterer Aspekt ist erwähnenswert: Durch die Desozialisierung des Todes und den Verlust von Primärerfahrungen mit ihm fehlen vielen Rezipienten in der eigenen Lebenswelt Anknüpfungspunkte für eine sinnvolle Antizipation des Todes. Außerdem hat der Tod durch den Verlust tradierter Deutungsmuster an ›Bedeutung‹ verloren. Er wird damit gleichsam ›nackt‹, schmucklos und jeder Bedeutung entkleidet. Vor diesem Hintergrund ist zu fragen, ob dem Tod im Tatort und anderen Serien ebenfalls weniger Bedeutung beigemessen wird. Wenn das Wissen um Sterben und Tod sowie die Erfahrung mit dem Tod anderer Grundlage für die Bedeutung ist, die die Rezipienten den Todesdarstellungen zuweisen, dann darf angenommen werden, dass sie dies heute eher aus einer rationalen, sachlichen und naturwissenschaftlichen Perspektive tun. Eine logische Konsequenz daraus wäre, dass der fiktive Tod immer schockierender bebildert werden kann. Machen Zuschauer in ihrer ›realen‹ Lebenswelt keinerlei Erfahrungen mit dem Tod und v.a. mit dem Leichnam, aus denen sich ihr Wissen, ihre Emotionen und ihr Sinn speisen kann, dann können Todesdarstellungen immer drastischer werden, ohne große Emotionen zu wecken, denn der Tod behält seine primär rationale, sachliche Qualität. Auch in
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dieser Hinsicht korrespondieren die Todesdarstellungen im Fernsehen der ›realen‹ Lebenswelt der Rezipienten. Aufgrund der langjährigen Mediensozialisation vieler Zuschauer liegt schließlich die Vermutung nahe, dass die Rezeption medialer Todesdarstellungen inzwischen denselben Erlebnis- und Wirklichkeitsstatus haben kann wie die Erfahrungsbildung im persönlichen Bereich. Dies kann dazu führen, dass die Darstellung einer Leiche in der Rechtsmedizin als realistisch, also als der Realität nachgebildete Darstellung, empfunden wird. Obwohl die meisten Rezipienten selbst noch kein Mordopfer gesehen haben, gehen sie vermutlich davon aus, dass eine Leiche in der realen Rechtsmedizin und der Umgang mit ihr genauso aussehen wie diese im Tatort dargestellt werden. Schlussfolgernd sind das Wissen von und die Erfahrungen mit dem medialen Tod zum Bestandteil der Lebenswelt vieler Rezipienten geworden die medialen Erfahrungen mit Sterben und Tod, die die Rezipienten in ihre Lebenswelt integrieren, entsprechen dann zum größten Teil ihrer rationalen, sachlichen und naturwissenschaftlichen Betrachtung des Todes. In diesem Punkt verdoppelten sich gleichsam ihre Erfahrungen, denn die ›reale‹ Lebenswelt würde von medialen Erfahrungen konstant flankiert und kanndaher als zusätzliche sinnstiftende Erscheinungsform des Wissens von der Welt in Bezug auf Sterben und Tod betrachtet werden. Ich vermute, dass die audiovisuelle Darstellung von Leichen und der Umgang mit Toten in der Rechtsmedizin in immer deutlicheren Formen mittlerweile fest in der Lebenswelt der Rezipienten verhaftet ist, weil ich davon ausgehe, dass die Todesdarstellungen in unmittelbarer Beziehung zu den ›realen‹ lebensweltlichen Horizonten der Zuschauer stehen und gleichzeitig Teil ihrer (›medialen‹) Lebenswelt sind. Sollte dies zutreffen, wären sie zugleich Basis für und Ergebnis von Bedeutungsproduktionsprozessen der Zuschauer.
R ESÜMEE Im vorliegenden Beitrag habe ich versucht, drei Fragen nachzugehen: Im ersten Schritt wurde auf die Frage, wie sich die Darstellung von Tod im Fernsehkrimi verändert hat, Ergebnisse der Filmanalyse zum Wandel der Darstellung des Todes in der Reihe Tatort präsentiert. In einem weiteren Schritt wurde auf die Frage, wie das Wissen der Allgemeinheit über Sterben und Tod heute aussehen könnte, zunächst mit einer ›kurzen‹ soziologischen Strukturanalyse die Lebenswelt mutmaßlich nicht weniger Mitglieder der Gesellschaft in Bezug auf den Umgang mit Sterben und Tod nachgezeichnet. Dann wurde versucht, die aus den Medien resultierenden Erfahrungen und das durch Mediensozialisation erlangte Wissen vom Umgang mit Sterben und Tod kommunikationstheoretisch als Bestandteil der Lebenswelt zu fassen,
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in die der mediale Tod integriert wird. Die Wirklichkeitsentwürfe des Todes in den Medien wurden dabei als mögliche soziale Realität der Lebenswelt der Rezipienten charakterisiert. In der Annahme, dass Medien den lebensweltlichen Kontexten verhaftet bleiben, um im Rahmen der gesellschaftlichen Kommunikation ›Sinn zu machen‹, und aufgrund der Vermutung, dass der Tatort vielfach als ein die gesellschaftliche Wirklichkeit widerspiegelnder Krimi angesehen wird, wurde davon ausgegangen, dass die audiovisuelle Darstellung des Todes im Tatort in enger Beziehung zur Lebenswelt der Zuschauer steht und dieser verhaftet ist. Ausgehend davon ließe sich schlussfolgern, dass sich sozialer Wandel und Fernsehinhalte gegenseitig bedingen und diese sich damit selbst verändern. Medieninhalte wie fiktive Todesdarstellungen würden durch gesellschaftliche Bedingungen (Kontexte) generiert und wären gleichzeitig Lieferant von spezifischen Wirklichkeitsentwürfen des Todes. In einem letzten Schritt wurde versucht, Indizien für mögliche Korrespondenzen zwischen den Todesdarstellungen im Tatort und der Lebenswelt der Rezipienten zu ermitteln. Dabei wurde angenommen, dass die Gründe für die zunehmenden und drastischeren Todesdarstellungen im Fernsehen nicht ausschließlich auf ihren hohen Unterhaltungswert und ökonomische Faktoren (Einschaltquoten) zurückzuführen sind, sondern dass die sich wandelnden lebensweltlichen Kontexte der Rezipienten, speziell die gesellschaftlichen Veränderungen im Umgang mit Sterben und Tod, vermutlich einen wesentlichen Einfluss auf die Art und Weise der Todesdarstellungen im Fernsehen haben. Treffen diese Vermutungen zu, wären der darstellbare Tod im Fernsehen und dessen Gestaltung eng mit dem Tod in der Gesellschaft verflochten – der eine wäre ohne den anderen nicht denkbar. Die Erzählungen vom Tod in den Medien lassen sich als symbolische Objektivationen von Tod verstehen. Als solche kommt ihnen eine besondere Rolle im gesellschaftlichen Kommunikationsprozess zu: Sie thematisieren die in der Gesellschaft vorherrschenden Definitionen von Tod. Fernsehsendungen, die vom Tod handeln, haben keine Bedeutung an sich, sondern erhalten lediglich ein Bedeutungspotential, das die Zuschauer in ihrer Rezeption und Aneignung mit eigenen Bedeutungen versehen. Da Fernsehtexte ihre Welten nur in Bezug auf das Wissen der Zuschauer konstruieren können, ist das Wissen um den Tod die Grundlage für die Bedeutung, die die Rezipienten den Todeserzählungen zuweisen. Im Prozess symbolischer Vermittlung stehen die Darstellungsweisen von Tod in den Fernsehtexten stets in spezifisch gesellschaftlichen Kontexten und sind als symbolische Objektivationen Ausdruck derselben. ›Tod im Fernsehen‹ und ›Tod in der Realität‹ haben auf den ersten Blick nicht viel miteinander zu tun. Auf den zweiten Blick jedoch ist auch der fiktive Tod im Film immer ein Produkt des Umgangs mit dem Tod in der Gesellschaft und umgekehrt. So hat jede Zeit ihre Todeserzählungen.
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ZITIERTE
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Vehikel, Charakter-Pendant und Mittel zur Raumerkundung Das Auto als multifunktionales Strukturelement im Tatort R OLF P ARR
B ITTE
EINSTEIGEN
Wenn es einen Gegenstand gibt, der in nahezu jeder Tatort-Folge (und im Weiteren in nahezu jeder populären Fernsehserie) präsent ist, dann ist es das Auto. Das könnte man zunächst einmal rein statistisch sehen und auf Heike Klippel und Hartmut Winkler zurückgreifen, die festgestellt haben, dass »[z]wei Prozent aller Fernsehbilder an- oder abfahrende Autos« zeigen, »wobei auf ein abfahrendes Auto mit signifikanter Häufigkeit eine Überblendung und dann die Ankunft an einem anderen Ort folgen wird« (1994: 129). Das mag stimmen, und die Prozentzahl mag seit 1994 mit der allgemeinen Tendenz zu mehr und zu schnellerer Bewegung in Fernsehfilmen sogar noch etwas angewachsen sein. Ein solcher Befund sagt jedoch noch nichts über das breite Spektrum an Funktionen aus, die Autos in einer Krimireihe wie Tatort übernehmen können, und auch nichts über ihre Einbettung in gesellschaftsgeschichtliche Kontexte und schon gar nichts darüber, was Autos möglicherweise mit dem seriellen Charakter des Tatort zu tun haben.1 Autos sind nämlich nicht nur weitverbreitete Alltagsgegenstände mit instrumenteller Funktion. Vielmehr stellen sie als gesellschaftlich-kulturelle Dinge stets auch hochgradig mit ›Bedeutung‹ aufgeladene Zeichenkomplexe mit vielfach alltagsweltlichem Bezug dar, die besonders gut für Analogierelationen jeglicher Art her-
1
Da die Verwendung von ›Reihe‹ und ›Serie‹ in Bezug auf den Tatort in der Forschung alles andere als einheitlich ist, soll hier unter der ›Reihe Tatort‹ der Gesamtzusammenhang aller lokalen/regionalen Tatort-Serien verstanden werden; von einer einzelnen Sendung wird als ›Folge‹ gesprochen.
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angezogen werden können, v.a. in Form von Metaphern und kollektiv versteh- und benutzbaren Symbolen (vgl. Link/Reinecke 1987; Parr 1998, 1999, 2012). So kann es im Alltagsgespräch etwa heißen, man habe im Urlaub endlich einmal ›innerlich abgebremst‹, in den Medien, dass die Bundeskanzlerin ›in der Euro-Frage Gas gegeben habe‹ oder dass für diesen oder jenen Minister das ›Ende seiner Dienstfahrt‹ drohe, und in einem Drama wie Horváths Kasimir und Karoline, dass »ein Weib« wie »ein Auto« funktioniere (Horváth 1994: 132). Zudem können Autos gerade in Fernsehkrimis und speziell solchen des Typs Tatort vielfältige dramaturgische Funktionen übernehmen, die von der Figurencharakterisierung und der Entwicklung der Handlung über die regionale Verankerung und die Erkundung von Räumen bis hin zur Herstellung imaginärer Einheiten des Ortes reichen, so dass die Vehikel insgesamt zu multifunktionalen Strukturelementen werden, auf die kaum ein Regisseur verzichten mag. Was für den Drehbuchschreiber im Ermittler-Büro das Telefon ist (vgl. Bierbaum 2001), nämlich eine Art dramaturgischer Joker, über den beliebige Inhalte und Figuren sowie Vorkommnisse in das Geschehen eingebracht werden können, das ist außerhalb des Büros das Auto. Beides zusammen, die Übersemantisierung von Autos und Autofahrten und ihre dramaturgische Nutzung, erklärt dann auch, warum es kaum eine Folge ohne Autofahrt, kaum einen Täter ohne Fluchtwagen, kaum einen Kriminalkommissar ohne zu ihm passendes Auto (mit Ausnahme des fast durchweg Fahrrad fahrenden Palu in Saarbrücken, den dann der Münsteraner Thiel beerbt hat) und kaum einen Polizeibeamten gibt, der nicht hinter einem Auto in Deckung geht. ›Harry, hol schon mal den Wagen!‹2 ist der wahrscheinlich bekannteste Satz zur Fernsehserie Derrick (1974-1998), wenn auch nicht aus ihr, denn er ist so nie gesagt und schon deshalb gar nicht so oft wiederholt worden, wie man immer annimmt. Allerdings würde er den Stellenwert, den Zuschauer, Drehbuchschreiber und Regisseure dem Auto im Serienkrimi beimessen, sehr gut illustrieren, denn sonst würde das ›Wagenholen‹ nicht in anderen Krimiserien immer wieder einmal adaptiert. So spielt in Borowski und der coole Hund (2011) die Assistentin Sarah Brandt darauf an, wenn sie – in einer ihr entgleitenden Verhörsituation gebeten, schon einmal hinauszugehen – die Rolle des Derrick-Assistenten ironisch auf sich selbst anwendet und sagt: »Ich fahr’ dann schon mal den Wagen vor.« (00:23:38-00:23:50) Eine ganz ähnliche Stelle findet sich auch 1998 in Bildersturm. Hier bittet Max Ballauf seinen Kollegen Freddy Schenk, schon einmal vorzugehen. Der erwidert ironisch: »Ach, Harry, hol schon mal den Wagen, oder was?« (00:21:20) Fortgeführt wird die damit aufgemachte Analogie zu Derrick dann noch einmal eine Minute später, als Schenk Ballaufs Hinweis auf sein zu schnelles Fahren mit »Entschuldigung, Stephan!«
2
Vgl. dazu Legal/Saure 1998.
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(00:22:24) kontert.3 Solche Bezugnahmen im Tatort sind serienübergreifende Formen der Selbstthematisierung des seriellen Charakters. Wie das Spektrum der Funktionen, die Autos im Tatort einnehmen, genauer aussieht, soll im Folgenden aufgezeigt werden, wobei stets begleitend zu fragen sein wird, inwiefern das Strukturelement ›Auto‹ über die filminternen Funktionen und seine gesellschaftsgeschichtliche Einbettung hinaus auch etwas mit der Serialität des Tatort zu tun hat.
F AHRT
AUFNEHMEN :
K OMMISSARE
UND IHRE
AUTOS
Durch Analogien, die – wie in den eingangs angeführten Beispielen – Autos und Menschen bzw. menschliches Verhalten in Relation zueinander setzen, werden nicht nur Menschen durch die Brille des Vehikels angeschaut, sondern in Umkehr der Blickrichtung stets auch die Autos anthropomorphisiert. Von daher verwundert es nicht, dass beide Bereiche immer wieder aufeinander abgebildet werden: dies nicht nur im Fernsehkrimi, sondern auch in allen anderen medialen und literalen Genres, beginnend bei Bilderbüchern wie Hoppla Hugo, der Geschichte eines kleinen Taxis, mittels dessen die lafontaineschen Fabeln für Kinder ›automobil‹ nacherzählt werden (Guillaume/Roca 2003). Die Abbildung von Autos auf Menschen und umgekehrt macht es möglich, dass die Vehikel der Tatort-Kommissarinnen und -Kommissare bevorzugt zur Charakterisierung ihrer Fahrer dienen.4 Das leuchtet unmittelbar ein, wenn man für die Kölner Tatort-Serie an Kommissar Freddy Schenk und seine Vorliebe für große amerikanische Youngtimer denkt, die für seinen Partner Max Ballauf völlig undenkbar wären. Mit dem üppigen Körper Schenks korrespondieren die mit nicht minder üppiger Körperlichkeit daherkommenden amerikanischen Wagen, und zwar stets solche, die im kriminellen Milieu konfisziert wurden und jetzt auf der anderen Seite des Gesetzes den Kommissar zieren. Mal ist das »eine 64er Corvette«, mal ein »1966 Plymouth Valiant Signet Convertible«.5
3
Für den Hinweis auf diese Stelle danke ich François Werner von www.tatort-fundus.de.
4
Vgl. Frank Rauscher. »›Tatort‹-Kommissare und ihre Autos. Nur manche mögen’s heiß« (http://www.tatort-fundus.de/web/lexikon/autos-der-ermittler.html). Konsequent zu Ende gedacht hat das Prinzip der Anthropomorphisierung von Autos die US-amerikanische Serie Knight Rider (1982-1986), in der besondere Autos sprechen und gelegentlich sogar quasi-emotional reagieren können.
5
[Anon.] »Dienstwagen-Affären – Die Karossen der ›Tatort‹-Kommissare.« klamm.de, 5. Dezember 2011 (http://www.klamm.de/news/dienstwagen-affaeren-die-karossen-dertatort-kommissare-30N855248765.html).
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Gelegentlich gibt es sogar regelrechte Testsituationen darauf, wie stabil die Kopplung von Auto und Kommissar für die Fernsehzuschauer ist. In dem in Köln und Leipzig spielenden Tatort-Doppel Kinderland und Ihr Kinderlein kommet von 2012 fährt Schenk zusammen mit seiner Leipziger Kollegin Eva Saalfeld zunächst in seinem amerikanischen Straßenkreuzer (Ihr Kinderlein kommet, 01:03:4801:04:10), was diese sichtlich goutiert, nicht aber ihr Leipziger Partner und ExEhemann Keppler. Später überlässt Schenk ihr dann sogar den Wagen, was im Falle seiner Kölner Kollegen undenkbar gewesen wäre, denn denen gegenüber hätte Schenk mit dem Auto auch etwas von seinem – wie Klaus Theweleit sagen würde – ›Körperpanzer‹ (vgl. Theweleit 2000) abgegeben. Dass Schenk einfach in einen solchen amerikanischen Schlitten hineingehört, zeigt dann wenig später besonders deutlich eine Szene, in der er sich notgedrungen den Mini von Mitarbeiterin Franziska ausleiht (01:17:56-01:18:05), was zu komödienartigen Effekten der vollständigen Innenraumausfüllung des kleinen Wagens führt (01:20:46-01:21:04). Ergebnis dieses Permutationstests: Schenk ist in seinen Straßenkreuzern schon richtig aufgehoben, genauso wie Kollege Ballauf im biederen blaugrauen VW-Passat Kombi. Der ist immerhin neueren Baujahrs, was man für das Vehikel gleichen Typs des Kieler Ermittlers Klaus Borowski nicht sagen kann. Dessen Dienstwagen, liebevoll »mein Brauner«6 genannt, ist ein seit längerer Zeit nicht mehr gebauter VW PassatKombi, der den etwas verschrobenen und durch seine Kollegin vom psychologischen Dienst unter ständiger latenter Beobachtung stehenden Kommissar als Charakterpendant jahrelang begleitete. Doch wie den Wagen wechseln, ohne damit zugleich auch das Charakterduo von Auto und Kommissar insgesamt infrage zu stellen? Die Lösung zeigt die Folge Borowski und der stille Gast (2012), in der gleich zu Beginn der Innenspiegel des geliebten Wagens abfällt (00:04:13-00:04:45). Nach rund einem Drittel der Handlung will dieser dann zunächst gar nicht mehr anspringen, fährt aber schließlich doch noch einmal, ehe er kurz vor Ende der Folge endgültig stehen bleibt, ja regelrecht zum Erliegen kommt. Kommissar und Zuschauer wissen sofort, dass hier nichts mehr zu machen ist. Folgerichtig erhält Borowskis Wagen in intertextueller Anspielung auf eine Konvention des Western-Genres von seinem Fahrer wie ein treues Pferd den Gnadenschuss (01:01:07-01:02:00). Ist das Charakterdouble von Ermittler und Vehikel damit geschieden? Keineswegs, denn gleichsam postum löst das Auto indirekt den Fall, da Borowski mit dem inzwischen in seinem Schreibtisch liegenden Innenspiegel eine seitenverkehrt geschriebene Adresse entziffern kann, die ihn zum Täter führt. Es bleibt aber die Frage, ob mit dem ›Tod‹ von Borowskis Wagen auch der Charakter des Kommissars gefährdet ist. Er ist es nicht, denn sein temporärer Er-
6
Ebd.
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satzwagen ist ein mausgrauer Ford (01:21:25-01:22:27), der zumindest keine neuen Charaktermerkmale für seinen Besitzer evoziert. In den danach gesendeten Folgen nutzt Borowski dann einen älteren roten Volvo (so in Borowski und der brennende Mann, 2013), von dem man annehmen darf, dass er dem Charakterbild seines Fahrers peu à peu mehr entsprechen, dessen filmische Fortsetzungsgeschichte schreiben und damit zu einem Element der Serialität werden wird. Der Dreischritt von ›mein Brauner‹ zum indifferenten mausgrauen Ford und dann zum roten Volvo, der allmählich wieder zum mit Borowski korrespondierenden Charakter aufgebaut wird, erinnert strukturell an die drei Stadien des liminalen Initiationsprozesses, wie Victor Turner sie beschrieben hat, nämlich erstens Krisenphase der alten Identität mit allmählicher Ablösung von bestehenden Strukturen (›mein Brauner‹ gibt auf); zweitens Zwischenphase der Liminalität oder Transformation, in der bisherige Konventionen und Verhaltensmuster aufgelöst und neue ausprobiert werden (›mausgrauer Ford‹); drittens Phase der postliminalen Festigung einer neuen Communitas (›roter Volvo‹) (vgl. Turner 2005: 94-158). Vor dem Hintergrund dieser vielfachen Korrelation von Kommissaren und Vehikeln erklärt sich dann auch schnell, warum die Fahrer nicht so einfach wechseln können, warum immer ein bestimmter Ermittler fährt, sehr viel seltener aber sein Partner oder seine Partnerin. Ausnahmen bestätigen dabei die Regel, da sie nur ausgesprochen selten vorkommen. Denn wenn die Autos und die Charaktere so stark aneinander gekoppelt sind, dann wäre ein Austausch zwischen beiden für die Serie ziemlich fatal. Nur Mario Kopper gehört eben in einen 1970er-Jahre-Fiat, nur Freddy Schenk in die diversen amerikanischen Youngtimer. Diese Auto/CharakterKombinationen tendieren zudem in manchen Tatorten zur paradigmatischen Expansion. So kommen im Falle des Münsteraner Pathologen Boerne, der de facto die Rolle eines Co-Ermittlers einnimmt, zum stets exquisiten Oberklasse-Fahrzeug auch noch Opernmusik (bevorzugt Wagner) und teurer Rotwein hinzu. Haben die gefahrenen Wagen – wie im Falle von Lena Odenthal – einmal keinen ›Charaktermehrwert‹, dann können immerhin die Nummernschilder semantisiert werden. In der Folge Die Neue (1989) lautet es bspw. »LU-PA 618« (01:19:48), wenn man so will also ›Wölfin‹, wobei das »PA« im Kontext der Handlung auch als ›Penthesilea‹-Anspielung gelesen werden kann.7 Und wie sieht es bei den anderen Ermittlerteams aus? Die Frankfurter Kommissarin Conny Mey fährt – passend zum stets etwas schrägen Outfit und insbesondere zu den roten Lackstiefeln – einen roten Golf GTI; Ulrich Tukur als verschroben-exotischer Kommissar Murot seit der ersten Folge Wie einst Lilly (2010) einen nicht minder exotischen, seit 1977 nicht mehr gebauten NSU Ro 80 mit Wankelmotor.8 Der Duisburger KultErmittler Horst Schimanski fuhr demgegenüber meist gar nicht, sondern ließ den
7
Ich danke Stefan Scherer für diesen Hinweis.
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verkappten Ästheten und Spießbürger Tanner chauffieren. Sah man Schimanski aber doch einmal am Steuer, dann war es in den ersten Folgen das eines wuchtigen Ford Granada, später das eines Citroen CX.9 Dann gibt es da noch die Wiener Kommissarin Bibi Fellner, die schon mal mit dem 94iger Pontiac ihres Freundes ›Inkasso Heinzi‹ aus dem Zuhältermilieu aufkreuzt. Wie systematisch, ja geradezu schulbuchmäßig das Auto dabei als Mittel zur Charakterisierung der Figur eingesetzt wird, zeigt die Folge Vergeltung (2011), in der Fellner als neue, alkoholabhängige, vorher bei der ›Sitte‹ tätige Assistentin von Kommissar Moritz Eisner eingeführt wird. Als auch für die Zuschauer ganz neue Figur kommt sie gleich zu Beginn dieser Folge mit dem getunten und auffällig lackierten amerikanischen Sportwagen im Zuhälterstil ins Bild. In engstem zeitlichem Rahmen leistet das mehr als längliche Charaktererläuterungen, aufwändige Rückblenden oder der zeitraubende Aufbau eines Charakters durch typische Handlungen. Über die gesamte Folge hinweg wird dieses Auto und mit ihm auch hier wieder das Charakterbild der Ermittlerin dann immer wieder einmal thematisiert, und zwar so, als sollte die Charakterkombination Auto/Ermittlerin mit den Zuschauern regelrecht eingeübt werden (Vergeltung, 00:09:07-00:10:08, 00:13:2600:14:28, 00:17:56-00:18:06, 00:26:23-00:27:35, 00:32:15-00:33:12, 01:08:2501:08:55). Im Gegensatz zu seiner Assistentin fährt Kommissar Moritz Eisner selbst einen vergleichsweise unscheinbaren weißen Golf III, den er bei einem dramaturgisch notwendigen Unfall zu Schrott fährt,10 was auch hier die Frage des Ersatzes aufwirft: Wieder ein Golf, aber diesmal ein dunkelblauer GTI. Die Charakterkorrespondenz Kommissar/Auto bleibt bestehen und mit ihr die Interesse und Spannung erzeugende Distanz zwischen den Charakteren von Kommissar und Assistentin, die ebenso gestärkt wird wie diejenige zwischen Golf und ›Milieu‹Vehikel. Egal ob einer der beiden Wagen oder eine der beiden Ermittlerfiguren in
8
Vgl. Claudia Arthen. »Murots Oldtimer: Das Beste an Tukurs ›Tatort‹.« news.de, 5. Dezember 2011 (http://www.news.de/medien/855248765/dienstwagen-affaeren-dieautos-der-tatort-kommissare/1/); [Anon.] »Mey, Murot & Co. Die Autos der ›Tatort‹Ermittler.« ksta.de, 11. Juni 2013 (http:www. ksta.de/ratgeber/mey--murot---co--dieautos-der--tatort--ermittler,15189524,12027466.html).
9
Florian Gerber. »Reihe: ›Tatort‹-Kommissare und ihre Autos. Heute: Horst Schimanski alias Götz George.« auto.de, 17. Januar 2012 (http://www. auto.de/blog/showblog/ entryId/1978/Reihe-Tatort-Kommissare-und-ihre-Autos-Heute-Horst-Schimanski-aliasGoetz-George).
10 Gegenstand der Folge sind Morde an als gewalttätig aufgefallenen Jugendlichen in der UBahn, an Bushaltestellen etc. Damit der Kommissar dieses Umfeld selbst kennenlernt, muss er gleich zu Beginn einen Unfall haben und zum Busfahrer werden.
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den kommenden Folgen auftaucht: Immer wird die gesamte Viererstruktur mit thematisiert. Bleibt nach Österreich noch der Blick in die Schweiz. Die am Bodensee spielenden Konstanzer Tatort-Folgen haben vor einiger Zeit ein Schweizer Pendant mit dem Handlungsort Luzern bekommen, wohin der vormals am Bodensee tätige Schweizer Kommissar Reto Flückiger versetzt wurde. In der zweiten Folge dieses neuen Tatort-Tatortes mit dem Titel Skalpell (2012) trat seine zuvor in Los Angeles tätige Assistentin Liz Ritschard mit für die Schweiz neuen amerikanischen Ermittlungsmethoden auf, brachte sie doch ein Notebook mit an den Tatort (und der war immerhin im Wald). Stück für Stück wurde ihr Charakterbild in dieser Folge als ›amerikanisch‹ aufgebaut, und zwar mit – wie könnte es anders sein – dem Kulminationspunkt der fast schon an ein Geständnis erinnernden Offenlegung des von ihr gefahrenen Autos. Denn als Flückiger mit seiner Assistentin verabredet, dass sie ihn abholt, kurvt sie mit einem geradezu riesig anmutenden Chevrolet Coupé durch die engen Gassen der Luzerner Altstadt. Größer könnte der Charaktergegensatz von modern-amerikanisch ermittelnder Assistentin und traditionell-schweizerisch vorgehendem Kommissar (der auch hier wieder einen älteren Passat-Kombi nutzt) kaum inszeniert werden. Und wenn dann sowohl Kommissar als auch Assistentin jeweils kulturpsychologisch philosophieren: »Zeige mir Dein Auto und ich sage Dir, wer Du bist« (Skalpell, 00:20:55-00:21:15 und 00:49:00-00:50:03), dann hat auch der letzte Zuschauer verstanden, dass Kommissare und ihre Autos eine semantische Einheit bilden.11 Auf einer subdominanten Ebene, die noch eine eigene Untersuchung wert wäre, kommt bisweilen noch der Fahrstil hinzu, der immer wieder Anlass bietet, die Charaktere innerhalb der Ermittlerteams gegeneinander abzugrenzen. Und ganz gelegentlich gibt es auch so etwas wie Auto-Zweikämpfe, die in der Regel ebenfalls an die antagonistischen Charaktere der Fahrer bzw. Ermittler zurückgebunden sind.12 All das ließe sich auch noch auf der Ebene der Nebenfiguren fortsetzen. Zugespitzt formuliert: Der böse reiche schwule Architekt und Mörder fährt einen nagelneu glänzenden schwarzen Bentley, und der aus völliger sozialer Verzweiflung heraus
11 Die ist im Falle von Liz Ritschard auch dadurch nicht mehr aufzuheben, dass sie am Ende des Dialogs darauf verweist, das Auto gehöre ihrem Bruder. 12 Wie in einem Showdown stehen sich in Letzte Tage (2013) die Autos der deutschen Kommissarin und des Schweizer Ermittlers gegenüber; ihr silberfarbener MercedesKombi und sein sandfarbener Geländewagen (Letzte Tage, 00:13:00-00:15:00); in Tödliche Tarnung (2009) gibt es eine Zweikampf-Situation an einer Ampel, die Kommissar Thorsten Lannert dadurch löst, dass er das Blaulicht auf das Dach seines rostbraunen Porsches stellt und betont langsam anfährt (00:11:45-00:12:15) (für diesen Hinweis danke ich Christian Hißnauer).
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einen kleinen Lottoladen überfallende Familienvater einen notdürftig zusammengeflickten Opel Kadett undefinierbarer Farbe. Schließlich gibt es auch Übergänge von den human-automobilen Charakteren zur Handlungsebene, und zwar in Form von Korrespondenzen zwischen gescheiterten Autos und gescheiterten Menschen. Es sind immer die gescheiterten Existenzen, die mit eigentlich schon längst im Verkehr gescheiterten alten Autos dieses Scheitern noch einmal performativ durchspielen.13 Der nicht-normale Lebenslauf der Opfer wird so zur symbolisch lesbaren nicht-normalen Autofahrt, zum automobilen Lebensweg.14 Das wird bisweilen als regelrechter Kreislauf inszeniert, was der Köln-Leipziger Doppel-Tatort Kinderland/Ihr Kinderlein kommet (2012) fast schon zu plakativ aufzeigt: Mit vom Schrottplatz gestohlenen Autos werden Mädchen entführt, umgebracht, dann wie Müll im Rhein entsorgt oder mit den zugleich als Tatwerkzeugen wie auch als Tatorten fungierenden Autos wieder auf den Schrottplatz zurückgebracht. Was bedeutet all das nun für die Frage der Serialität? Die Autos in Kombination mit den sie jeweils fahrenden Ermittlern bilden im Tatort eine Art gesamtgesellschaftliche Matrix von intuitiv nachvollziehbaren Charakter- und Sozialpositionen, die bereits im medialen Alltag regelrecht eingeübt werden und die im Tatort nur noch abgerufen bzw. aktualisiert werden müssen. Dieses System der Charakteranalogien zwischen Autos und Ermittlern beruht auf relativ strikt durchgehaltenen Distinktionen. Eine einmal besetzte Kombination kann nicht an einem anderen Ort ein zweites Mal genutzt werden (was im öffentlich-rechtlichen Fernsehen tendenziell sogar serienübergreifend gilt).15 Auf diese Weise ist mit einer bereits realisierten Position im Hintergrund aber stets das ganze System der schon vergebenen Positionen als Wissensfundus präsent, was aus Rezipienten-Perspektive einen Zusammen-
13 In der NDR-Folge Kurzschluß (1975) bleibt das Fluchtauto eines Bankräubers wegen einer defekten Benzinleitung stehen (00:07:00-00:07:28). Daraufhin wechselt er in den verbeulten Ford Taunus Kombi eines abgetakelten Vertreters und zwingt diesen, ihn zu fahren. 14 Vgl. zum Narrativ der ›nicht-normalen Fahrt‹ die Beiträge in Gerhard/Grünzweig/ Link/Parr (2003). – Auf einem Schrottplatz (der Geschichte?) beginnt auch die erste Folge des MDR-Ermittlerteams Ehrlicher/Kain (Ein Fall für Ehrlicher, 1992, 00:00:0100:02:10). 15 Über die Vielzahl der Ermittlerteams der letzten vierzig Jahre hinweg ist es immer schwieriger geworden, noch originelle Kombinationen von Ermittlern und Autos zu finden. Daher wird – wie im Falle von Tatort-Münster und Tatort-Saarbrücken – das Spektrum der Vehikel erweitert: Thiele ermittelt in Münster mit dem Fahrrad, dem Taxi seines Vaters und den Edelkarossen des Pathologen Boerne; Stellbrink in Saarbrücken mittels Motorroller und Auto.
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hang über die einzelnen Folgen und die einzelnen regionalen Tatort-Serien hinweg auch für den Tatort als Reihe aus Serien insgesamt stiftet, und zwar sowohl im synchronen Schnitt durch die je aktuellen Tatort-Serien als auch in der diachronen Perspektive ihrer 40-jährigen Geschichte. Jedes Thematisieren von Autos (oder der Ersatzvehikel) im Tatort ist damit immer auch eine Form der Reflexion des Seriencharakters. Denn als Formen »variierende[r] Wiederholung« als Basis von Serialiät (vgl. Kelleter 2012: 12; Krah 2010: 87; Cuntz 2012: 242), sind Autos Teil desjenigen ›Kitts‹, der Tatort auf beiden Ebenen zusammenhält. Krah (2010: 87f.) hat darauf hingewiesen, dass serielles Erzählen v.a. die Frage nach der/den Textgrenze/n bzw. deren Überschreitung aufwirft. Das ›Auto‹ wäre dann ein Element, das genutzt wird, um Sub-Narrationen in Form von fortlaufend lesbaren short cuts16 zu realisieren, die mehrere Folgen übergreifen und im Tatort auf der Ebene der je regionalen Serien angesiedelt sind. Gleichzeitig wird auf einer nicht-narrativen Ebene aber durch den die regionalen Serien übergreifenden Charakter der ›Auto-Matrix‹ auch die Grenze in Richtung Gesamtreihe Tatort und sogar darüber hinaus überschritten. Das ist u.a. möglich, weil die Matrix der Auto-Charaktere mit Blick auf die Gesamtgesellschaft als eine Art Pars-pro-toto-Modell der Gesellschaft in der Ausdifferenzierung ihrer nicht immer nur feinen Unterschiede (vgl. Bourdieu 1988) fungiert. Damit aber sind Autos nicht unwichtige Elemente auch der Personalisierung von Werten und derjenigen Ideologien, in die sie eingebunden sind.17
S PRITZTOUR
IN DIE
R EGIONALITÄT
Eine weitere, ganz andere Funktion von Autos im Tatort ist diejenige der regionalen räumlichen Verankerung. Sie erfolgt erstens dadurch, dass mit Vorliebe dann Nummernschilder von Autos eingeblendet werden, wenn gezeigt werden soll, wo in einer Region man sich gerade befindet. Dieses Verfahren wurde stärker in den 1970er und 1980er Jahren genutzt als in den 2000er Jahren. In jüngster Zeit wird darauf – nachdem es für einige Zeit eher vermieden wurde – aber wieder stärker zurückgegriffen. Derselbe Effekt regionaler Lokalisierung wird durch das signifikante In-Szene-Setzen regional verorteter Automarken erzielt: Im Münchener Tatort wird BMW gefahren, in Stuttgart nutzt der Kommissar einen 1974er Porsche 911 Targa, der in fast jeder Folge wenigstens einmal in Großaufnahme vor Stuttgarter Kulisse
16 Vgl. zu short cuts und seriellem Erzählen den Beitrag von Moritz Baßler in diesem Band sowie Krah 2010: 93 und Nies 2007. 17 An Autos festgemachte soziale Unterschiede werden z.B. in Feuerteufel (2013) thematisiert.
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im Hintergrund zu sehen ist. Diese Form der Regionalisierung18 hat dem Tatort gelegentlich den Vorwurf des Produkt-Placements eingebracht,19 was zur Folge hatte, dass die Marken – etwa im Bremer Tatort – ausgetauscht wurden: Mercedes gegen Audi.20 Weiterhin kann die Funktion der regionalen Verankerung dadurch erfüllt werden, dass bei Autofahrten durch Städte nicht die direkten Wege genommen werden, sondern solche, auf denen die touristischen ›most famous view points‹ abgearbeitet werden, um dann von den Zuschauern vor dem Bildschirm wiedererkannt werden zu können. Das lässt sich besonders gut an den Kölner, etwas weniger an den Münchner und besonders deutlich an den Berliner Tatort-Serien beobachten: Egal wohin es geht, wiedererkennbare ›landmarks‹ wie die Feldherrnhalle, der Kölner Dom oder der Alexanderplatz werden wenigstens kurz gezeigt,21 und zwar auch dann, wenn es im Falle von Berlin gilt, von – zugespitzt formuliert – Zehlendorf nach Dahlem zu fahren. Das lässt sich generalisieren: »Das ARD-Format Tatort bildet mit der Realität unterschiedlicher Räume die Eigenlogik deutscher Städte ab, die es in der Abbildung selbst erst erzeugt.« (Scherer/Stockinger 2010: 31) Regionalisierungseffekte durch Autos können aber auch sehr viel indirekter evoziert werden. So kann man die Tatsache, dass Schenk als Polizeibeamter im Kölner Tatort mit Vorliebe amerikanische Wagen fährt, die zuvor beschlagnahmt wurden, unter regionalem Aspekt auch als eine recht gelungene Illustration dessen ansehen, was der Volksmund ›Kölner Klüngel‹ zu nennen pflegt, nämlich die zwar
18 Prinz und Wiendl 2010 haben gezeigt, dass Tatorte umso erfolgreicher sind, je besser die Verankerung in der Regionalität gelingt. 19 Vgl. dazu Joachim Schmitz. »Die Kommissarin und das Auto – Produktplatzierung im Tatort?« noz.de, 19. Dezember 2011 (http://www.noz.de/deutschland-undwelt/kultur/fern sehen/59570025/die-kommissarin-und-das-auto-produktplatzierung-im-tatort);
Kathrin
Buchner. »Kritik an der ARD. Schleichwerbung beim ›Tatort‹?« stern.de, 26. Februar 2009
(http://www.stern.de/kultur/tv/kritik-an-der-ard-schleichwerbung-beim-tatort-655
979.html). 20 Für die Auswahl der Autos verantwortlich sind – so Melanie Wolber vom SWR BadenBaden im Rahmen ihres Konferenz-Vortrags – die jeweiligen Redakteurinnen und Redakteure, wobei zum einen nach dem Charakterbild der Ermittler selektiert, zum anderen dem Prinzip der Markenstreuung gefolgt wird. Um dem Vorwurf des Produkt-Placements vorzubeugen, benutzte der SWR zudem seit einiger Zeit nur Automodelle, die aktuell nicht mehr im Handel sind. – Andere Sender wechseln inzwischen vermehrt die Fahrzeuge und Marken. 21 Vgl. zu den »Geographien des Fernsehens« mit Blick auf die Kölner Tatorte Böllhofer 2007; siehe generell Griem/Scholz 2010 sowie zum Münchner Tatort Scherer/Stockinger 2010.
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offiziell nicht vorgesehenen, aber dennoch allerorten praktizierten Verbindungen zwischen Öffentlichkeit und Privatheit, formellen und informellen Institutionen und Instanzen, die eigentlich nicht zusammenarbeiten dürfen, es unter der Hand dann aber doch tun. Über das Auto wird der ›kölnische‹ Charakter somit in der Region verankert.
AUTOMOBILE R AUMDRAMATURGIEN Zu den räumlich-dramaturgischen Funktionen von Autos im Fernsehkrimi gehört zunächst einmal, dass Autos als mobile Tatorte dienen, die zwischen verschiedenen Räumen hin und her bewegt werden können. Hier haben wir es zugleich mit der Einheit und Verschiedenheit von Orten im Sinn der aristotelischen Dramaturgie zu tun. Weiter dienen Autos der Trennung bzw. Unterscheidung einer Innen- von einer Außenwelt (etwa im Falle der immer wieder vorkommenden mobilen Abhörstationen in Kleintransportern). Auch hier sind es wieder zwei Orte, derjenige des verlängerten Polizeibüros und derjenige der jeweils beobachteten Wohnung bzw. des jeweils beobachteten Tatorts, die im Inneren des Kleintransporters durch die Abhörtechnik, die heute stets auch eine Abseh-Technik ist, zusammengeführt werden können: wiederum die gleiche Dramaturgie der Einheit und zudem auch noch gleichzeitigen Präsenz zweier verschiedener Orte, rückgebunden an das Vehikel Auto (vgl. stellvertretend Spuk aus der Eiszeit, 1988, 01:07:50-01:13:26; Herzversagen, 2004, 01:19:40-01:22:06). Eine andere dramaturgische Funktion von Autos im Tatort ist es, das Büro mit dem Tatort zu verkoppeln. Die Polizeikommissare des Fernsehens scheinen nämlich entweder im Büro zu sitzen und dort zu telefonieren, oder im Auto, um dort ebenfalls zu telefonieren. Das Auto wird so zum verlängerten Büro, in dem begonnene Dialoge fortgeführt werden können. Wenn das Auto aber auch Büro ist, dann ermöglicht es in dramaturgischer Hinsicht hier ebenfalls wieder so etwas wie Bewegung im Raum bei gleichzeitiger Wahrung der Einheit des Ortes und der Handlung. Auf diese Weise gelingt dem Fernsehkrimi etwas, um das ihn eigentlich mancher (traditionelle) Theatermacher beneiden müsste. Und schließlich ist der Wagen noch der Ort, an dem sich niemand der Kommunikation so einfach entziehen kann. Symptomatisch sind dafür die sehr langen ›Im-Auto-Dialoge‹ in den Frankfurter Tatorten mit dem Ermittlerteam Dellwo/Sänger (bspw. in Oskar, 2002, 01:11:5001:13:00). Schließlich werden mit Hilfe von Autofahrten Landschaften und Räume nicht nur in Szene gesetzt, sondern auch als semantisch distinkte Räume im Sinne Jurij M. Lotmans (1972: 311-329) etabliert. Das ist gleich 1970 in Taxi nach Leipzig der Fall, wenn der westdeutsche Kommissar aus seinem Ford 17M in einen Wartburg
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der Volkspolizei wechselt und erst dann den Sonderraum der Transitstraße verlässt und ins ländliche Niemandsland der DDR fährt (00:44:00-00:46:00). Regelmäßig trifft man diese Form der semantischen Konstitution von Räumen durch Autofahrten in den Hannoveraner Tatorten an, die weitläufigere ländliche Schauplätze durch Autofahrten als Bühne des Geschehens etablieren, wodurch »die Realität unterschiedlicher Räume« nicht lediglich abgebildet wird, sondern diese Räume überhaupt erst hervorgebracht werden (Scherer/Stockinger 2010: Abschn. 4). D.h., Räume sind »nicht nur Bühne«, sondern auch »kollektive[ ] Akteur[e]« (Griem/ Scholz 2010: 20), aktive Mitproduzenten. Bei den Hannoveraner Tatorten wird das dadurch deutlich, dass sie vielfach zwischen den beiden Raumkonzepten, die Scherer und Stockinger als »Realismus des Ländlichen« und als »Realismus des […] Mythischen« (2010: 4) unterschieden haben, hin und her wechseln, ja nicht selten sogar das eine gegen das andere ausspielen, etwa indem sich entgegen der im Alltag üblichen Semantisierungen gerade die ländliche Idylle als Raum der Kriminalität entpuppt. An der Konstitution beider haben Autos und Autofahrten keinen geringen Anteil, denn sie übernehmen es häufig, die Perspektive für den Establishing Shot von Landschaften und Räumen herzustellen.
AUSROLLEN LASSEN : W AS AUTOS IM T ATORT NOCH
LEISTEN
Einige Auto-Funktionen sollen abschließend nur noch kurz aufgezählt werden. Dazu gehört erstens die therapeutische Verwendung des Autofahrens in Form von normalisierenden Autofahrten mit Mensch/Maschine-Symbiosen, wie man sie in der Literatur seit Erich Maria Remarques Roman Drei Kameraden kennt (Remarque 1938; dazu Parr 1998). Dabei gewinnt eine Figur mit der Kontrolle über das technische Vehikel auch die über die eigene Psyche zurück. Typischer Dialog im TV-Krimi: ›Und dann sind sie einfach so durch die Gegend gefahren?‹ ›Ja, um mich zu beruhigen.‹ ›Hörst du, er ist einfach so durch die Gegend gefahren.‹ ›Ja, um sich zu beruhigen.‹ Zweitens sind Autos besonders geeignete Orte, um Antagonismen auf engstem und zudem geschlossenem Raum zusammen zu bringen, etwa Entführer und Entführte, Verdächtige und Kommissar, Kommissar und Opfer. Drittens entspricht dem Stopp des Autos in der Dramaturgie oft das, was Heinrich Böll noch als Ende einer Dienstfahrt bezeichnet hätte (Böll 1966): Kommissare, die frustriert von ihrem Job oder anderweitig psychisch angeschlagen sind, steigen häufig symbolisch aus einem Auto aus. Autos sind viertens Orte der Verknüpfung des Sichtbaren mit dem eigentlich Unsichtbaren (Entführter im Kofferraum, Entführer am Steuer). Fünftens leisten sie häufig Kopplungen von ›Dynamik‹ und
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›Stillstand‹, d.h. auf dem Weg über Autos kann hochgradig plausibel zwischen diesen beiden Zuständen gewechselt werden und zwar durchaus auch ad hoc. Sechstens und letztens: Autos sind häufig die dramaturgischen Schnittpunkte zwischen der eigentlichen Krimihandlung, der Dienstgeschichte und den sporadisch in kurzen Einschüben erzählten Privatgeschichten der Ermittler, sofern diese nicht ohnehin als Parallelgeschichten angelegt sind, die die Ermittler auch mit ihrer privaten Seite in den Fall involvieren (vgl. als Beispiel Letzte Tage, 2013, 00:00:3000:01:30). Da die Privatgeschichten eher folgenübergreifend realisiert werden, also fortlaufende Handlungsstränge darstellen (vgl. Hißnauer/Scherer/Stockinger 2012: 147), sind es auch hier wieder die Autos, die zugleich die konzise Verankerung im Geschehen der einzelnen Folge garantieren, über mehrere Folgen hinweg aber auch Serialität im Sinne des von Lorenz Engell beschriebenen ›operativen Gedächtnisses‹ einer Serie. Denn die Serie ist im Fernsehen »dasjenige Format, in dem das Fernsehen seine Funktion als operatives Gedächtnis erstens ausübt und implementiert, zweitens erprobt, variiert und, in einem durchaus evolutionären Sinne, fortentwickelt und drittens reflektiert. Für das Fernsehen ist die Serie mithin schließlich das funktionale Äquivalent zu einer Theorie des Gedächtnisses« (Engell 2010: 116).
ABBREMSEN ,
EINPARKEN
Auch wenn Autos im Tatort vielfältige Funktionen übernehmen, wird man doch einschränkend sagen müssen, dass Automobile genutzt werden können, aber nicht genutzt werden müssen, denn die aufgezeigten Funktionen können auch in anderer Form und mit anderen Mitteln erzielt werden. Weiter wäre über die lange Laufzeit der Reihe Tatort hinweg inzwischen auch historisch zu differenzieren: hinsichtlich der ästhetischen Entwicklungen und Vorlieben, hinsichtlich der technischen Möglichkeiten und im Hinblick auf den Status von Serien im öffentlich-rechtlichen Fernsehen usw. So zeigen viele der älteren Folgen aus den frühen 1970er Jahren durchaus lange Autofahrten in der Landschaft. In den mittleren und späten 1970er und noch in den 1980er Jahren gibt es dann immer wieder eine Tendenz zum Kammerspiel (vgl. Leder 1997: 8), v.a. bei den Haferkamp-Tatorten aus Essen oder den Veigl-Tatorten aus München, in denen in der Regel hauptsächlich im und vom Polizeibüro aus agiert wird. Autos werden damit zu eher randständigen Gegenständen. Das ändert sich mit Schimanski, einem Kommissar für ›draußen‹, der – wenn nicht gerade betrunken – ständig in irgendeiner Form von Bewegung ist und »eine neue Bewegungsfreiheit« geradezu »vorzuführen« scheint (Koebner 1990: 22) – nicht zuletzt im und mit dem Auto. Der Wechsel vom »Kammerspiel« zum »motion picture«, wie ihn Leder (1997: 10) anhand des Übergangs von Haferkamp zu Schi-
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manski für den Ruhrgebiets-Tatort konstatiert, hat damit auch zur Vervielfältigung derjenigen Funktionen geführt, die Autos im Tatort übernehmen können. Aber diese historische Entwicklungslinie aufzuzeigen, würde einen eigenen Beitrag nötig machen.
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ANDERE R EIHEN
ZITIERTE
F ILME , M EHRTEILER , S ERIEN UND
Derrick (BRD/D/AUS/CH, 1974-1998 [ZDF]) Knight Rider (USA, 1982-1986 [NBC])
Zur Logik des öffentlich-rechtlichen Fernsehkrimis
Stahlnetz + Kommissar = Tatort? Zur Frühgeschichte bundesdeutscher Krimiserien und -reihen C HRISTIAN H ISSNAUER »Unter einer Kriminalserie versteht man diejenige Art drahtloser Zerstreuung, die Menschen aller Intelligenz- und Bildungsgrade dazu zwingt, an bestimmten Wochentagen fernzusehen. Ohne Rücksicht auf Gemütsverfassung, lieben Besuch oder schöngeistige Vorsätze.«1
V OM ›R OTATIONSPRINZIP ‹ E RMITTLERFIGUR
ZUR WIEDERKEHRENDEN
Der Andere (1959) markiert für Telemann, den Fernsehkritiker des Spiegel, den Beginn von ›Gewalt‹ des Fernsehens: »Wie aber bringt man andere dahin, zuzuschauen? Bis vor kurzem hatte sich das Deutsche Fernsehen darauf verlassen, daß seine Abonnenten dieser Tätigkeit aus freien Stücken obliegen. […] Doch muß da unlängst etwas passiert sein, was dieses Vertrauen erschüttert und ernste Zweifel an des Volkes bedingungsloser Schaubereitschaft hervorgerufen hat. Und zwar muß es im Bereich des Nord- und Westdeutschen Rundfunkverbands passiert sein. Denn diese Sendergruppe wendete – statt unsere Neugier wie bisher auf gütliche Weise zu wecken – erstmals rohe Gewalt an: Sie startete die Kriminalserie Der Andere.«2
1
Telemann: »Mit Gewalt.« Der Spiegel 44 (28. Oktober 1959): 91.
2
Ebd. Telemann übersieht jedoch, dass der Nord- und Westdeutsche Rundfunkverband (NWRV) bereits im Januar/Februar 1959 den ersten Krimimehrteiler ausgestrahlt hat: Gesucht wird Mörder X. Der Andere lief erst im Oktober. Der Nord- und Westdeutsche
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Telemann lässt zwar kein gutes Haar an dem, was er »Abstottern von Räubergeschichten«3 nennt, doch er kommt nicht umhin, den Erfolg der Serie zu konstatieren: »Indes, was tat’s? – Das Fernsehvolk, weit davon entfernt, die sechsteilige Gewaltmaßnahme als Tort zu empfinden, reagierte wunschgemäß: Es pfiff aufs ›Kino nebenan‹, tauschte Dienstmädchen-Ausgang und Nachtdienste, sagte Kegelabende ab, ließ Telephone und Hausglocken klingeln – ja, in einer Wilhelmsburger Maschinenfabrik führten Unstimmigkeiten hinsichtlich der Person des Mörders zu einer soliden Schlägerei. […] Der deutsche Fernsehzuschauer will gar kein Zuckerbrot, er will die Peitsche.«4
Im Folgenden werde ich die Frühgeschichte des serialisierten Fernsehkrimis in der Bundesrepublik Deutschland5 der 1950er und 1960er Jahre skizzieren. Es geht dabei v.a. um die Etablierung verschiedener Modelle seriellen Erzählens und den fernsehhistorischen Kontext, in dem der Tatort 1970 entsteht.6 Der Beginn des Deutschen Fernsehens »Am 12.7.1950 sendete der NWDR das erste Fernsehbild, ein Testbild.« (Bleicher 1993:11) Das eigentliche – noch unregelmäßige – Versuchsprogramm des Nordwestdeutschen Rundfunks (NWDR)7 startete am 25. September 1950 unter dem
Rundfunkverband (NWRV) organisierte nach der Auflösung des Nordwestdeutschen Rundfunks (NWDR), der ursprünglich die Sendeanstalten Norddeutscher Rundfunk (NDR), Westdeutscher Rundfunk (WDR) und Sender Freies Berlin (SFB) umfasste, von 1956 an bis 1961 das Fernsehprogramm von NDR und WDR (vgl. Hickethier 1998: 93f.; Hißnauer/Schmidt 2013: 20). Der SFB, der sich bereits 1954 vom NWDR abspaltete, fusionierte 2003 mit dem Ostdeutschen Rundfunk Brandenburg (ORB) zum Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB). 3
Telemann: »Mit Gewalt.« Der Spiegel 44 (28. Oktober 1959): 91.
4
Ebd.
5
Zur Entwicklung des Fernsehkrimis in der DDR siehe Guder 2000, 2003; Brück/Guder/
6
Die Entwicklungslogik des Tatort innerhalb der sich verändernden Fernsehlandschaft der
Viehoff/Wehn 2003. 1970er bis 2000er Jahre wird ausführlich in Hißnauer/Scherer/Stockinger 2014 (Kap. 3) beschrieben. 7
Der NWDR war zu jener Zeit die finanzstärkste Sendeanstalt, da er aufgrund des großen Einzugsgebiets über sehr hohe Gebühreneinnahmen verfügte und so »auch finanziell als einzige Anstalt in der Lage [war], den Aufbau des Fernsehens in Gang zu setzen« (Hickethier 1980: 11).
Z UR F RÜHGESCHICHTE BUNDESDEUTSCHER K RIMISERIEN UND - REIHEN │ 149
Namen Nordwestdeutscher Fernsehdienst (NWDF); dies »nahezu unter Ausschluß der Öffentlichkeit (denn es gab noch keine Fernsehempfänger in Privathaushalten)« (Dussel/Lersch 1999: 376).8 Bereits zwei Monate später, am 27. November 1950, ging das regelmäßige Versuchsprogramm von Hamburg aus auf Sendung.9 Später beteiligten sich auch die Sender Berlin und (zumindest für wenige Tage im Jahr 1952) Köln an diesem Programmversuch (vgl. Hickethier 1980: 11). Allerdings konnte kein gemeinsames Programm ausgestrahlt werden, da die dazu benötigten Richtfunkstrecken fehlten (vgl. Bleicher 1993: 11). Das Programm war zunächst auf zwei Stunden am Tag beschränkt: montags, mittwochs und freitags von 20 bis 22 Uhr (vgl. Bleicher 1993: 46; Hickethier 1998: 73).10 Bereits 1951 kam es zu einer Programmausweitung in den Nachmittag hinein. Während der Deutschen Industrieausstellung vom 6. bis 21. Oktober 1951 sendete der NWDR-Berlin sogar täglich zwischen 10 und 19 Uhr.11 Nach Ende der Ausstellung strahlte NWDR-Berlin weiterhin ein tägliches Zwei-Stunden-Programm aus. Damit gab es zwei regional empfangbare NWDR-Versuchsprogramme (vgl. Hickethier 1998: 75).
8
Bereits ab 1929 gab es in Deutschland – noch tonlose – Versuchsübertragungen. Die Geschichte des Fernsehfilms geht bis 1930 zurück, als der Stummfilm Morgenstund’ hat Gold im Mund produziert wurde (nach Hickethier 1998: 31: Morgenstunde hat Gold im Munde). Ab 1934 ist es technisch machbar, Bild und Ton drahtlos zu übertragen, so dass am 22. März 1935 »in Berlin der erste regelmäßige Fernseh-Programmdienst« starten konnte (Bleicher 1993: 10). Die Angaben über die Einstellung des Programmbetriebs divergieren: »Das Ende des nationalsozialistischen Fernsehens kann nicht eindeutig datiert werden. Der Berliner Fernsehsender scheint nach und nach durch Bombenschäden ausgefallen zu sein. Spätestens im Herbst 1944 gab es kein Programm mehr. Das erste Kapitel des deutschen Fernsehens war beendet.« (Dussel 1999: 124)
9
Bei Hickethier (1980: 11) ist jedoch noch von einer unregelmäßigen Ausstrahlung die Rede. Da es aufgrund von Umbauten immer wieder zu Sendepausen kam (z.B. beim NWDR-Hamburg vom 2. bis 26 Januar 1951; vgl. Bleicher 1993: 47) ist dies im Endeffekt nicht ganz falsch, angestrebt war jedoch das regelmäßige Programm.
10 Werner Pleister – seit dem 1. April 1952 der erste bundesdeutsche Fernsehintendant – hatte schon vor Sendebeginn für eine solche Programmbeschränkung nach britischem Beispiel plädiert und sich somit gegen das amerikanische Vorbild entschieden, »nämlich von morgens bis abends pausenlos zu senden« (zit. nach Hickethier 1998: 73): »Die Beschränkung erschien also nicht als Resultat begrenzter Möglichkeiten, sondern als Ergebnis kulturell verantwortlichen Handelns.« (Hickethier 1998: 73; Hervorhebung Verf.) 11 Parallel dazu strahlte die Deutsche Bundespost quasi ein Konkurrenzprogramm aus (vgl. Riek 1995: 80).
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Am 25. Dezember 1952 startete das offizielle tägliche NWDR-Fernsehprogramm. Am 1. Januar 1953 schalteten sich die drei NWDR-Sender zusammen, um ein gemeinsames Programm für dessen Sendegebiet auszustrahlen (vgl. Dussel/ Lersch 1999: 376). Doch bereits am 22. Januar mussten Hamburg und Berlin wieder eigene Programme zeigen, da die Sendekapazität nicht ausreichte, um das Hamburger Programm nach Berlin zu übertragen (vgl. Hickethier 1993: 187; Hickethier 1998: 77f.). »So sahen zwar bereits im Herbst 1952 die Hamburger das Berliner Programm, die Berliner jedoch nicht das Hamburger Programm.« (Hickethier 1998: 78f.) Erst im Herbst 1953 gab es auch in Westdeutschland einen leistungsstarken Sender, so dass ein gemeinsames NWDR-Programm über die drei Sender ausgestrahlt werden konnte.12 Nach dem sukzessiven Anschluss weiterer Sender und der Fertigstellung der Richtfunkstrecken über das gesamte Bundesgebiet hinweg (Oktober 1954) ging am 1. November 1954 »bundesweit das gemeinsame ARD-Programm Deutsches Fernsehen auf Sendung« (Hickethier 1998: 79), an dem sich die einzelnen Sendeanstalten mit unterschiedlicher Gewichtung beteiligten. Die Zeit der ›Straßenfeger‹ Mit Der Andere beginnt die Ära der sog. Straßenfeger.13 Darunter werden in der bundesdeutschen Fernsehgeschichte die vom NWRV bzw. WDR produzierten Krimimehrteiler zusammengefasst, die zwischen 1959 und 1971 nach Vorlagen des britischen Autors Francis Durbridge realisiert wurden (vgl. Brück 2004: 234-237; Brück/Guder/Viehoff/Wehn 2003: 108; Strobel 1999: 476f.).14 Zu den bekanntesten
12 Aber nicht nur aufgrund technischer Probleme produzierte der NWDR nicht immer ein einheitliches Programm; z.B. »schaltete sich Köln aus dem NWDR-Gemeinschaftsprogramm aus, um die Kölner Fastnacht zu übertragen, die bei den Norddeutschen auf wenig Gegenliebe stieß« (Hickethier 1998: 79). 13 Vgl. dazu auch die zeitgenössische Fernsehdokumentation Fernsehfieber (1963). – Sieht man sich jedoch die Entwicklung der Zuschauerzahlen an, so scheint die Bezeichnung ›Straßenfeger‹ insbesondere für die frühen, erfolgreichsten Durbridge-Mehrteiler gemessen an späteren Einschaltquoten doch etwas überzogen zu sein, auch wenn sich das Fernsehen in den 1960er Jahren in der Bundesrepublik zu einem Massenmedium entwickelte: 1954 gab es etwas mehr als 84.000 von der Bundespost erteilte Fernsehgenehmigungen. 1960 waren es bereits 4,6 Millionen. Bis 1969 stieg die Zahl auf ca. 16 Millionen an. 1972 war der Markt mit 18 Millionen angemeldeter Fernseher gesättigt: 94% der bundesdeutschen Haushalte verfügten über mindestens ein Fernsehgerät (vgl. ZDF 1973: 180). 14 Spätere Durbridge-Verfilmungen wie Die Kette (1977), Kein Alibi für eine Leiche (1986) oder Tagebuch für einen Mörder (1988) werden in der Forschung nicht mehr zu den
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Produktionen zählen Das Halstuch (1962) und Tim Frazer (1963). Das ZDF versuchte 1967 bis 1970 an diese ›Straßenfeger‹ mit aufwändigen, international ausgerichteten Krimimehrteilern nach Drehbüchern von Herbert Reinecker (Der Tod läuft hinterher, 1967; Babeck, 1968; 11 Uhr 20, 1970) anzuknüpfen (vgl. Strobel 1999: 477; Aurich/Beckenbach/Jacobsen 2010: 254). 11 Uhr 20 war z.B. 1970 mit einer Einschaltquote von im Schnitt 83% die erfolgreichste Produktion im Bereich Dokumentar- und Kriminalspiel, gefolgt von Der Fall Regine Krause mit 67% (vgl. Faulstich/Strobel 1986: 290). In der deutschen (Krimi-)Serienforschung werden diese ›Straßenfeger‹ – und andere Krimimehrteiler wie bspw. Zu viele Köche (1961) – kaum berücksichtigt. Dies liegt v.a. daran, dass Mehrteiler eher als ›zerteilte‹ Fernsehfilme wahrgenommen werden (vgl. Giesenfeld/Prugger 1994: 353).15 So wird der erste Mehrteiler der bundesdeutschen Krimiseriengeschichte, Gesucht wird Mörder X (1959), z.B. im Abspann schlicht als »Fernsehfilm« bezeichnet.16
›Straßenfegern‹ bzw. den als solchen etikettierten ›Durbridge-Mehrteilern‹ gezählt. Sie wurden nicht mehr vom WDR, sondern von anderen Sendeanstalten realisiert. 15 So finden auch in den Bänden Deutschland auf der Mattscheibe. Die Geschichte der Bundesrepublik im Fernsehspiel (Wiebel 1999) und Klassiker des Fernsehfilms (Bräutigam 2013) u.a. folgende Mehrteiler, Serien und Tatort-Folgen Erwähnung: Die Unverbesserlichen (1965), Der Tod läuft hinterher (1967), Babeck (1968), Acht Stunden sind kein Tag (1972-1973), Einmal im Leben (1972), Berlin Alexanderplatz (1980), DuisburgRuhrort (1981; Tatort), Die zweite Heimat (1992) und Im Angesicht des Verbrechens (2010). 16 In der Frühzeit des Fernsehens wurden mehrteilige Literaturadaptationen (Soweit die Füße tragen, 1959; Am grünen Strand der Spree, 1961) auch als Fernsehromane bezeichnet (vgl. z.B. [Anon]. »Roman-Serien. Geteilte Unterhaltung.« Der Spiegel 44 [28. Oktober 1959]: 89-91). Diese Fernsehromane wurden – trotz mancher (z.T. heftiger) Kritik – als eine besondere Qualität gegenüber dem Kino betrachtet: »Das Fernsehen kann Romane erzählen; ausführlicher, werktreuer als die Filmindustrie. Es kann sich Zeit nehmen: ein Jahr für die Vorbereitung, zehn Wochen (mit 14tägigen Pausen) fürs Senden.« (Telemann. »Imperfektion.« Der Spiegel 14 [30. März 1960]: 61) Dies positive Sicht galt nicht gleichermaßen für die mehrteiligen Krimis: »Die erfolgreichste Erfindung des Fernsehens ist dagegen ein Genre, das so gut wie alle langwierigen Diskussionen über den Haufen geworfen hat: der Fernsehroman in Fortsetzungen. […] Als ein illegitimer Bruder dieses Fernseh-Fortsetzungsromans geht auch der Fernseh-Fortsetzungskriminalfilm auf Bücher, nicht auf Stücke zurück, ist auch er in Teile zerhackt, freilich nicht ganz so langwierig: statt fünf Folgen läßt er’s mit drei sein Bewenden haben. Die Sache hat ihr gutes Recht. Auch derlei gehört ins Programm, wenn es dadurch natürlich auch dem Illustrierten-Niveau angeglichen wird, dem die verfilmten Detektiv-Geschichten ja ebenfalls meist
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Ein weiterer Grund ist, dass sich die Bezeichnung mini-series, wie sie im angloamerikanischen Sprachgebrauch gebräuchlich ist, in Deutschland wenig durchgesetzt hat (vgl. Hickethier 1991: 8f.).17 Mehrteiler haben daher für die Serien- und Serialitäts-Forschung einen merkwürdigen Zwitterstatus: Zwar werden sie per definitionem als serielle Form inkludiert,18 dann aber oftmals bei konkreten Forschungsprojekten und Betrachtungen exkludiert. Laut Strobel (1999: 476) zeigte der NWDR bereits 1953 seine erste Krimiserie: Der Polizeibericht meldet… (1953-1961).19 Eine solche Einschätzung ist jedoch
entstammen.« (lupus. »Kriminalfilm – künstlerisch kriminell.« Die Zeit 8 [17. Februar 1961]: 22) 17 Lothar Mikos versteht unter Mehrteiler »eine narrative Programmform mit einer abgeschlossenen Geschichte, die von Anfang bis Ende erzählt wird« (1994: 136). Die Begriffe ›Mehrteiler‹ und ›Mini-Serie‹ sind aber nicht unproblematisch, da das Abgrenzungskriterium ›Folgenanzahl‹ unbestimmt bleibt (vgl. Klein/Hißnauer 2012: 10). Mikos (1994: 137) weist zudem darauf hin, dass bspw. Telenovelas ebenfalls abgeschlossene Geschichte erzählen – mit zum Teil weit über 100 Folgen. Auch einige US-amerikanische Serien wie z.B. Lost (2004-2010) sind von vornherein auf ein bestimmtes Ende nach mehreren Staffeln hin konzipiert (vgl. Klein/Hißnauer 2012: 10f.). Giesenfeld/Prugger (1994: 353) betonen demgegenüber jedoch: »Weist aber eine Serie trotz finalen Handlungstyps sehr viele Folgen auf, […] so wird sie von den Rezipienten als eine offene Serie empfunden.« Zudem gilt bei langlaufenden Serien, dass sie sich parallel zur Rezeption entfalten und entwickeln (selbst wenn das Ende schon geschrieben sein sollte: der Weg dorthin ist es bei teilweise über 100 Folgen nicht). Sie können – und müssen – somit als »bewegliche, wachsende Erzählungen«/»moving targets« betrachtet werden (so Frank Kelleter, Sprecher der DFG-Forschergruppe 1091 Ästhetik und Praxis populärer Serialität, auf der Abschlusstagung zur ersten Förderperiode vom 6. bis 8. Juni 2013 in Göttingen). Für Mehrteiler entfällt dieses Kriterium in der Regel. 18 Lohmann (1992: 49) bezeichnet den Mehrteiler bspw. als »Kompakt- und Edelserial«. 19 Auch Giesenfeld/Prugger (1994: 359f.) und Hickethier (1985: 191) bezeichnen Der Polizeibericht meldet… als Krimiserie. – Strobel nennt den Sendestart 5. Oktober, während Brück ihn auf den 22. Januar 1953 datiert (vgl. Brück 2004: 75), da es offenbar einen entsprechenden Programmhinweis in der Hörzu (3/1953) gab (vgl. dazu die Online-Datenbank »TV-Programm von Gestern und Vorgestern.« http://www.tvprogramme.net). Die ARD verweist in ihrer Chronik ebenfalls auf den 5. Oktober 1953 als Sendebeginn (vgl. http://web.ard.de/ard-chronik/index/5615?year=1953). Im NDR-Archiv sind nicht alle Folgen erfasst (siehe die folgende Fußnote), so dass die Archivangaben zur Klärung dieser Frage nicht beitragen können. Ein erster Beitrag ist dort für den 4. November 1953 nachweisbar. Insgesamt wurden (inklusive der Stahlnetz/Der Polizeibericht meldet…Folge Mordfall Oberhausen; siehe unten: 156f.) mindestens 32 Folgen offenbar in unre-
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nicht ganz richtig, weil der Reihe sowohl »eine durchgängige Spielhandlung als auch eine konsequente Detektion fehlt« (Brück 2004: 76). Vielmehr war Der Polizeibericht meldet… eine journalistische Live-Produktion aus dem Studio, die mit Filmeinspielungen arbeitete (vgl. Brück/Guder/Viehoff/Wehn 2003: 108-110).20 Man kann sie sich als eine Mischung aus Vorsicht Falle! (1964-2001) und Aktenzeichen XY…ungelöst (seit 1967) vorstellen. Sie diente in erster Linie der Verbrechensprävention, nutzte das Fernsehen aber auch für die Fahndung und stellte Taten in Spielszenen nach (vgl. Peulings 1995: 142f.).21 Das Bundeskriminalamt empfahl ausdrücklich die Zusammenarbeit mit dem Fernsehen, aber dies nutzten, wie Der Spiegel 1958 zu berichten weiß, in erster Linie Hamburg und Nordrhein-
gelmäßigen – und zum Teil sehr langen – Abständen und auf verschiedenen Sendeplätzen ausgestrahlt, spätestens ab Mai 1961 im NDR-Regionalprogramm (Brück 2004: 75; Krimihomepage [http://krimiserien.heimat.eu/p/der_polizeibericht_meldet.htm]; eigene Recherche und Ergänzung). Jürgen Roland (1957: 457) spricht schon 1957 von »über 40 Sendungen«, so dass deutlich mehr Ausgaben der Reihe produziert worden sein müssen. – Ich danke Helmut Bruger vom Fernseh-Archiv des NDR für die großzügige Bereitstellung der Informationen zu Der Polizeibericht meldet… 20 Im Archiv des NDR sind (wenn überhaupt) nur diese – in der Regel stummen – Einspielfilme überliefert, da es zunächst noch keine Aufzeichnungsmöglichkeiten (außer das Abfilmen vom Bildschirm) gab. Aber auch bei späteren Folgen (nach Einführung der magnetischen Aufzeichnung MAZ) sind lediglich diese Einspieler archiviert worden. Die Angaben des NDR-Archivs sind bezüglich Der Polizeibericht meldet… daher unvollständig. Insbesondere gibt es außer für die Stahlnetz/Der Polizeibericht meldet…-Folge Mordfall Oberhausen in den sog. Vollinformationen keinerlei Hinweise auf eine Beteiligung Wolfgang Menges. Dies ist insofern überraschend, als in allen Quellen und auch in den meisten Nachrufen auf Menges Tod 2012 hervorgehoben wird, dass Roland und Menge bereits beim Polizeibericht zusammen gearbeitet haben. – Zu den Aufzeichnungsmöglichkeiten im frühen Fernsehen siehe Ellenbruch 2011. 21 Brück (1996: 14) sieht in der US-amerikanischen Produktion Rackets are my Racket, die in den 1940er Jahren ausgestrahlt wurde, den Vorläufer zu Der Polizeibericht meldet… Bereits im Fernsehen des ›Dritten Reichs‹ (offizieller Sendebetrieb von 1935 bis 1944; siehe Hickethier 1990; Dussel 1999) gab es jedoch mit Die Kriminalpolizei warnt! (1939?) eine Fahndungssendung, die Toby Miller (2010: 162) sogar als »[t]he origins of reality television« bezeichnet. Auch Der Polizeibericht meldet… lässt sich als Vorläufer des Reality TV sehen. So betont Brück (2004: 77): »Der Polizeibericht kann als Prototyp der Sendeformen angesehen werden, die sich dem Thema Kriminalität auf eher journalistische Weise nähern, aber fiktionale Elemente in die Gestaltung der Sendung einbeziehen.« Im nationalsozialistischen Fernsehen spielte das Krimigenre nur in seiner Ausformung als Kriminalkomödie eine – allerdings unbedeutende – Rolle (vgl. Hickethier 1994a: 280f.).
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Westfalen.22 Für Hickethier (1994a: 282) entspricht die Idee »des Polizeikrimis mit präventiven Zielsetzungen […] ganz […] der kulturverpflichteten und bewahrpädagogisch ausgerichteten Programmkonzeption der fünfziger Jahre.« Die erste Krimireihe im Abendprogramm stellt somit die siebenteilige – nicht überlieferte – SWF-Produktion Die Galerie der großen Detektive (1954-55) dar.23 Strobel (1999: 476) bezeichnet sie als die »zweite wichtige Krimiserie [!] in der Frühzeit der deutschen Fernsehgeschichte«. Die Anthologie basiert auf literarischen Vorlagen u.a. von Arthur Conan Doyle, Edgar Allen Poe oder Agatha Christie (vgl. Brück/Guder/Viehoff/Wehn 2003: 108). Die erste langlaufende – und stilprägende – Krimireihe war dann Stahlnetz (1958-1968; siehe unten: 155-167).24 Die wohl erste Krimiserie Eine Geschichte aus Soho umfasst lediglich drei Teile, die von 1958 bis 1960 in jährlichem (!) Abstand ausgestrahlt wurden.25 Für Gerd Hallenberger zeigen diese ersten Krimiproduktionen einen spezifischen Umgang mit ›Unterhaltung‹ im bundesdeutschen Fernsehen. Mit Bezug auf ein Adolf Grimme zugeschriebenes Zitat (»Wir senden, was die Leute sehen wollen sollen«26) geht Hallenberger davon aus, dass es in den 1950er Jahren für das Fern-
22 [Anon.] » Bilder eines Unbekannten.« Der Spiegel 44 (29. Oktober 1958): 59-61, hier 61. 23 Obwohl Brück in ihrer Dissertation auch Die Galerie der großen Detektive erwähnt, begreift sie Stahlnetz als »die erste westdeutsche Krimiserie oder -reihe« (2004: 84). Auch in dem gemeinsamen Abschlussbericht zum Projekt Die Programmgeschichte des deutschen Fernsehkrimis in Ost-, West- und Gesamtdeutschland nennen die Autorinnen und Autoren Stahlnetz »die erste Krimireihe im Abendprogramm«, verweisen aber auf der gleichen Seite auf die bereits vier Jahre zuvor gesendete Reihe Die Galerie der großen Detektive (Brück/Guder/Viehoff/Wehn 2003: 107). Sie lief ebenfalls im Abendprogramm, wie die Sendedaten zeigen (vgl. ebd.: 108). Brück/Guder/Viehoff/Wehn (ebd.: 107) sehen in dieser Reihe lediglich »ein Beispiel für erste Ansätze zu serieller Präsentation.« Die Gründe für diese Einschätzung bleiben unklar. 24 Zwischen 1999 und 2002 gab es eine kurzlebige Neuauflage der Reihe im ARDProgramm, bei der sechs Folgen ausgestrahlt wurden. 25 Bereits sehr früh findet sich auch eine Justizserie im Programm. Wer hat recht? (ein Vorläufer von Wie würden Sie entscheiden?, 1974-2000) lief von 1956 bis 1958. Über die serielle Form lässt sich beim jetzigen Stand der Forschung keine Aussage machen. 26 Zit. nach Freddie Röckenhaus. »Wie viele Programme erträgt 1 Mensch?« Die Zeit 48 (26. November 1993): 13-15, hier 14. – In den gesammelten Reden von Adolf Grimme findet sich eine solch griffige Formulierung leider nicht. Dort heißt es: »Und dieses Fernseh-Soll erfüllt sich, wenn wir als Richtsatz für das Programm das Goethe-Wort beherzigen: ›Man soll den Leuten nicht die Gefühle erregen, die sie haben wollen, sondern die sie haben sollen.‹« (Grimme 1955: 74) Da Röckenhaus keine Quellenangabe zu dem
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sehen ein Problem gewesen sei, »Unterhaltung bieten zu sollen, ohne eigentlich Unterhaltung bieten zu wollen« (Hallenberger 1998: 47). Quizshows seien so z.B. von den Zuschauerinnen und Zuschauern als Unterhaltung wahrgenommen, »von den Programmachern aber als Bildungsprogramm in unterhaltsamer Form präsentiert« worden (Hallenberger 1998: 48). Der Krimi legitimierte sich hingegen u.a. durch den Rückgriff auf die Kriminalliteratur. »Die zweite, wichtigere Strategie griff die zeitgenössische Vorstellung auf, daß das Fernsehen vor allem live und authentisch sein sollte, im Idealfall ein ›Fenster zur Welt‹ in Echtzeit. Sie führte zum ›dokumentarischen‹, besser: dem para-dokumentarischen Fernsehkrimi, der ›Realismus‹ über ›Fiktionalität‹ stellte.« (Hallenberger 1998: 48)
Von daher lässt sich mit einiger Berechtigung sagen: »Der (west)deutsche Fernsehkrimi hat seine Ursprünge im Fernsehdokumentarismus […].« (Knott-Wolf 1999: 31) Spätestens mit den Durbridge-Mehrteilern und dem Ankauf US-amerikanischer Serienfolgen27 emanzipiert sich der Fernsehkrimi aber zunehmend als Unterhaltung – was auch mit der Einführung des Werberahmenprogramms sowie der Programmkonkurrenz mit dem ZDF ab 1963 zusammenhängt (siehe unten: 168-171; vgl. auch Hallenberger 1998: 49). Stahlnetz und der journalistisch-dokumentarische Ansatz »Wir nehmen eben mal Kriminalfälle und dokumentieren sie.« (Proske zit. nach Brück 2004: 85)
Stahlnetz gilt gemeinhin als Vorläufer der ARD-Reihe Tatort (vgl. z.B. Brück/ Guder/Viehoff/Wehn 1998: 406; Völlmicke 2013: 162).28 Für die Fernsehge-
Grimme-Zitat angibt, liegt die Vermutung nahe, dass es sich um eine Paraphrasierung dieser Textstelle handeln könnte. 27 Gemeinhin gilt die US-Produktion 77 Sunset Strip (1958-1964), die ab 1960 im Deutschen Fernsehen gezeigt wurde, als erste US-Krimiserie im Programm, »die sich nicht am Trend zum Realismus orientierte« (Völlmicke 2013: 162; vgl. auch Hallenberger 1998: 49; Giesenfeld/Prugger 1994: 361-365 und allgemein Brandt 1995). 28 Laut Brück (2004: 84) wird Stahlnetz erstmals in der taz vom 30. August 1994 als »Urkrimiserie« bezeichnet. In den zeitgenössischen Rezensionen zum Tatort in den 1970er Jahren wird dieser Bezug (Stahlnetz als Vorlage des Tatort bzw. der Krimiserie allgemein) jedoch nicht gesehen (vgl. Lorenz 2014: 539). Auch Tatort-Erfinder Gunther Witte widerspricht der Einschätzung des Vorläuferstatus: »Ich muss sagen, an Stahlnetz habe
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schichtsschreibung ist Stahlnetz deshalb so wichtig, weil sie die »älteste deutsche Fernsehkrimiserie [ist], von der Aufzeichnungen vorhanden sind« (Strobel 1999: 476).29 Doch noch 2004 stellt Ingrid Brück (84) fest: »Die Sonderstellung, die Stahlnetz aufgrund seines Status als Prototyp zukommt […], schlägt sich bis jetzt nicht im wissenschaftlichen Diskurs nieder.«30 Stahlnetz ist unmittelbar aus Der Polizeibericht meldet… hervorgegangen. Dies sieht man nicht nur in der personellen Kontinuität (Jürgen Roland als Regisseur und Wolfgang Menge als Drehbuchautor prägten beide Reihen maßgeblich).31 Die erste
ich gar nicht gedacht, das kannte ich auch nicht, da ich ja erst spät, 1961, in die Bundesrepublik gekommen war.« (Witte/Wenzel 2000: 28) Da Stahlnetz aber immerhin bis 1968 im Programm war, ist fraglich, ob Witte als ehemaligen Fernsehspiel-Redakteur und -Dramaturg hier nicht die Erinnerung trügt. Witte selbst stellt immer wieder eine Hörfunkreihe des Rias – Es geschah in Berlin (1951-1972) – als wesentlichen Impulsgeber heraus (vgl. Fuchs/Witte 2007: 39). Die Kriminalhörspiele basierten (wie später Stahlnetz) auf authentischen Fällen. 1965 gab es von Es geschah in Berlin auch eine dreiteilige Episodenserie im Vorabendprogramm des ZDF. 29 Das hängt auch damit zusammen, dass Stahlnetz bereits auf Film gedreht wird – für das frühe Fernsehen keine Selbstverständlichkeit (vgl. Brück 2004: 87; allg. zur Produktionspraxis auch Ellenbruch 2011). Als erster Fernsehfilm (also nicht als elektronisch produziertes Fernsehspiel) gilt Der Richter und sein Henker (1957). – Der Begriff Fernsehspiel wurde in der Fernsehpraxis auch als umfassender Gattungsbegriff verwendet, der Fernsehspiele im engeren Sinne und Fernsehfilme umschloss. 30 Bislang setzen sich lediglich zwei Monographien mit der Stahlnetz-Reihe auseinander: Christiane Hartmanns Von ›Stahlnetz‹ zu ›Tatort‹. 50 Jahre deutscher Fernsehkrimi (2003) fokussiert dabei die Neuauflage der Reihe von 1999 bis 2003 (sie spricht dabei fälschlich von einem »Remake«; vgl. Hartmann 2003: 29). Nora Hilgerts Studie Unterhaltung, aber sicher! Populäre Repräsentationen von Recht und Ordnung in den Fernsehkrimis ›Stahlnetz‹ und ›Blaulicht‹ (2013) ist v.a. ein deutsch-deutscher Kulturvergleich, der die unterschiedlichen west- bzw. ostdeutschen Ideologien in den Blick nimmt. 31 Oft werden Roland und Menge als alleinige Macher von Stahlnetz bezeichnet (z.B. bei Strobel 1999: 479 und Gräf 2010: 42). Wolfgang Menge hat in der Tat fast alle Drehbücher verfasst: Für 20 der 22 Folgen zeichnet er als alleiniger Autor, für eine als Co-Autor (zusammen mit Karl Heinz Zeitler). Eine Folge schrieb Thomas Keck. Neben Jürgen Roland (neun Filme) inszenierten nach Brück (2004: 286; so bspw. auch zitiert in Otte 2013: 62) auch Günter Haase (acht), Fritz Lehmann (zwei), Wolfgang Zeh (zwei) und Bernd Eismann (eine). Laut Archivunterlagen des NDR zeichneten Haase, Lehmann, Zeh und Eismann (und andere) jedoch nur für Kamera verantwortlich. In den ›Vollinformationen‹ ist jeweils Jürgen Roland als Regisseur erfasst. – Ich danke Helmut Bruger vom FernsehArchiv des NDR für diese Informationen.
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Stahlnetz-Folge Mordfall Oberhausen lief am 14. März 1958 noch unter dem Signet Der Polizeibericht meldet… (vgl. Brück/Guder/Viehoff/Wehn 2003: 112f.; Brück 2004: 85f.).32 Bis 1968 wurden 22 Folgen in unregelmäßigem Rhythmus ausgestrahlt. In der Forschungsliteratur wird oftmals darauf verwiesen, dass der erste Stahlnetz-Teil zugleich die letzte Ausgabe von Der Polizeibericht meldet… sei. So schreibt z.B. Hickethier, dass »Jürgen Roland […] – seine bis dahin eher didaktisch verstehende – Reihe Der Polizeibericht meldet zur Krimiserie [!] Stahlnetz […] umformte« (vgl. z.B. Hickethier 1994b: 317). Da Folgen von Der Polizeibericht meldet… aber noch bis 1961 nachweisbar sind (siehe Fußnote 19), ist dies so nicht richtig. Sendeplatz und Sendelänge der einzelnen Folgen variierten stark (vgl. Brück 2004: 285). Dies war aber in der Früh- und Etablierungsphase des bundesdeutschen Fernsehens nicht ungewöhnlich,33 da sich feste Programmplätze mit starren time slots, wie wir sie heute kennen, noch nicht etabliert hatten. D.h. nicht, dass es keine Programmschemata gab. Bereits seit dem 1. April 1958 ist das ARD-Programm Deutsches Fernsehen offiziell strukturiert.34 Doch das »Programmschema wies noch
32 Der Spiegel (10/1958) kündigt die Sendung aber bereits als Stahlnetz-Folge an und beschreibt dazu auch den entsprechenden Vorspann samt Titelmusik. Im NDR-Archiv ist der Film sowohl unter dem Reihentitel Stahlnetz als auch unter dem Titel Der Polizeibericht meldet… erfasst. – Interessant ist, dass laut den ›Vollinformationen‹ des NDRArchivs in der Polizeibericht-Folge vom 11. Dezember 1957 (in Der Fall Erwin Gosch) bereits die Stahlnetz-Titelmusik verwendet wird. 33 Siehe z.B. die Serie Die Firma Hesselbach/Die Familie Hesselbach/Herr Hesselbach und… (1960-1967). Die Folgen weisen eine Länge zwischen 40 und 76 Minuten auf. 34 Nach Bleicher (1993: 16) gab es ab 1954 ein erstes Programmschema und auch im Versuchsprogramm seien »bereits Ansätze einer Programmstruktur erkennbar«. Basierend auf einer Auswertung der Programmankündigungen in der Fernsehzeitschrift Hörzu stellen Hirsch/de Cruppe/Bleicher/Hickethier jedoch für das werktägliche Fernsehprogramm 1953 bis 1959 fest: »Sind in den ersten Jahren keine gleichbleibenden Abfolgerhythmen erkennbar, so zeichnet sich ab 1957 bereits ein – nicht immer konsequent durchgehaltenes – Muster ab: Nach der Tagesschau wird eine Bildungs- bzw. Informationssendung gezeigt, danach wird eine Unterhaltungssendung bzw. eine Sendung mit Spielhandlung ausgestrahlt. Vereinzelt wird danach – quasi zum Programmausklang – noch eine kürzere Bildungs- oder Informationssendung gebracht. Unterhaltung bzw. Fiktion bilden damit – auch von der zeitlichen Struktur her – den Schwerpunkt des Programms. Der Montag unterscheidet sich von diesem Muster innerhalb einiger Jahre (1955, 1957, 1958) durch eine andere Struktur: Er wird durch einen Block von mehreren nacheinander platzierten Bildungssendungen bestimmt und bietet eine programmpolitisch wichtige Abwechslung nach dem spiel- und unterhaltungsdominierten Wochenendprogramm.« (Hirsch/de Crup-
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nicht jene differenzierte Festlegung auf, wie sie die späteren Schemata kennzeichnet« (Hickethier 1980: 29), sondern bezeichnete lediglich den jeweiligen Schwerpunkt des abendlichen Programms.35 Es sah in dieser Zeit folgendermaßen aus: Programmschema des Deutschen Fernsehens ab 1. April 1958 Sonntag
1. Woche
2. Woche
Unterhaltung
Unterhaltung
(leichtes Spiel) Montag
Information
Information
Dienstag
Unterhaltung
Fernsehspiel
Mittwoch
Information
Unterhaltung
Donnerstag
Anspruchsvolles Fernsehspiel
Fernsehspiel
Freitag
Information
Information
Samstag
Operette, Komödie
Unterhaltung
Tabelle 1: Programmschema des Deutschen Fernsehens ab 1. April 1958 (zit. nach Hickethier 1980: 30)
Eine ›strategische‹ Programmplanung, die auf Erwartbarkeit für die Zuschauerinnen und Zuschauer durch Serialisierung des Programms abzielt, wird erst mit zunehmendem Wettbewerb wichtig (vgl. zur Programmplanung Eick 2007). Vor diesem Hintergrund ist die Etablierung des ersten Programmschemas 1958 nicht überraschend: Bereits in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren gab es Bestrebungen, eine privatwirtschaftlich organisierte, kommerzielle Konkurrenz zum Deutschen Fernsehen aufzubauen (vgl. ausführlich Steinmetz 1996). Mit der Strukturierung des Programms reagiert die ARD quasi proaktiv auf die letztendlich gescheiterten Bemühungen. Formal ist Stahlnetz als Krimireihe zu betrachten, da »die serielle Verknüpfung überwiegend auf der konzeptionellen Ebene realisiert wird« (Giesenfeld/Prugger 1994: 360).36 Jede Folge hat ein neues Figureninventar und ist in einer anderen
pe/Bleicher/Hickethier 1990: 59) Die Stichprobe dieser Programmanalyse umfasst jeweils eine Januarwoche. Die Ergebnisse sind aber kaum auf das Jahresprogramm übertragbar, weil diese Stichprobe sehr klein ist und Programmschemen zu jener Zeit weitestgehend fehlten. Als Tendenzaussage sind sie jedoch gültig. 35 So hieß es dazu 1957 in einem Artikel in der Zeitschrift Fernsehen: »Dieses Schema soll jedoch nicht den Charakter eines ganzen Abends festlegen. Es besagt lediglich, daß etwa an einem mit ›Information‹ bezeichneten Abend die Hauptsendung informativen Charakter tragen soll. Noch am selben Abend wird das Grundthema kontrastiert – etwa durch einen kleinen Film oder eine andere Sendung.« (N.N. 1996 [1957]: 74) – Bleicher (1993: 18) bezeichnet dieses Schema als ›detailliert‹.
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Stadt angesiedelt, was ich hier als das ›Rotationsprinzip‹ der Reihe bezeichnen möchte. Ricarda Strobel merkt mit Blick auf Stahlnetz einschränkend an: »Manche Städte, und damit die jeweiligen Ermittler, kamen allerdings in der Reihe mehrfach vor, so trat zum Beispiel Heinz Engelmann als Stuttgarter Kriminalpolizist in sieben Folgen auf.« (Strobel 1999: 479) Strobel hat zwar durchaus Recht damit, dass Engelmann in sieben Stahlnetz-Produktionen ermittelt. Sie übersieht dabei aber, dass Heinz Engelmann jeweils andere Ermittlerfiguren darstellt,37 die zudem in unterschiedlichen Städten agieren wie z.B. Essen (E…605), Düsseldorf (In der Nacht zu Dienstag) oder Hamburg (In jeder Stadt…). In Stuttgart ist nur die Folge Rehe angesiedelt. Das gleiche gilt für andere Darsteller, die öfter mitspielen. Es gibt somit in Stahlnetz keine Figurenkonstanz (dies gilt im Übrigen auch für Schauplätze wie Dienststellen, Büros etc.).38 Die Ermittlerfiguren waren in der Regel »Funktionsträger ohne Privatleben« (Brück/Guder/Viehoff/Wehn 2003: 140) und ohne spezifische Charaktereigenschaften oder persönliche Konflikte – und damit austauschbar.
36 Mikos (1994: 137) versteht unter Reihe hingegen »eine Programmform, in der einzelne Episoden aus dem Leben der Protagonisten erzählt werden«. In der aktuellen Serienforschung wird in diesem Zusammenhang hingegen von series bzw. Episodenserien gesprochen (vgl. Klein/Hißnauer 2012: 11; die Unterscheidung zwischen series/Episodenserie und serial/Fortsetzungsserie findet sich bereits bei Williams 2008 [1974]: 56f. und Hickethier 1976: 178f.). In der derzeitigen Produktions- und Fernsehpraxis wird die Bezeichnung Reihe zudem »unterschiedslos auf serielle Programme mit einer Episodenlänge von 90 Minuten verwandt« (Weber/Junklewitz 2008: 22; vgl. auch Eick 2007: 63), unabhängig davon, ob es sich um eine Episodenserie oder eine Anthologie handelt. Daher werden v.a. eher unregelmäßig ausgestrahlte Produktionen wie Bella Block (seit 1993), Rosa Roth (1994-2013) oder Unter Verdacht (seit 2002) heute in der Regel als Reihen wahrgenommen und bezeichnet, obwohl es sich um – lose – Episodenserien handelt. In diesem Beitrag wird unter Reihe eine anthologische serielle Form verstanden, deren Folgen lediglich durch ein gemeinsames Titelsignet und ein Thema, Sujet bzw. Konzept verbunden sind (vgl. Klein/Hißnauer 2012: 11f.) – nicht aber durch Figurenkonstanz oder Kontinuität der Schauplätze (vgl. bereits Schöberl 1980: 423). Zur Diskussion unterschiedlicher Begriffsbestimmungen in der deutschsprachigen Serienforschung siehe auch Liebnitz 1992 und Weber/Junklewitz 2008. Zu abweichenden begrifflichen Abgrenzung siehe die Beiträge von Andreas Blödorn, Dennis Gräf und Hans Krah in diesem Band. 37 Die Rollennamen sind: Dressler (Aktenzeichen: Welcker – u. a. wegen Mordes), Opitz (E…605), Kiesel (In der Nacht zum Dienstag), Bade (In jeder Stadt…), Semmler (Spur 211), Berenthin (Rehe) und Schilling (Ein toter zuviel). Auch in der ZDF-Reihe Das Kriminalmuseum kommt es vor, dass ein Schauspieler verschiedene Ermittler darstellt. 38 Hickethier (1985: 192) behauptet sogar, dass nur Nebenrollen von denselben Schauspielern verkörpert worden seien.
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Lediglich Nebenfiguren wie der Polizeimeister Henry Wohlers in Saison (1961) werden auch im privaten Umfeld (bspw. beim Geschirrabtrocknen) gezeigt. Dass Stahlnetz dabei ein eigenes serielles Bewusstsein entwickelt, zeigt ein selbstreflexiver Voice-Over-Kommentar in derselben Folge, der direkt das regelmäßig zuschauende Reihenpublikum adressiert: »Dieses Bild kennen Sie: die Arbeit der Mordkommission. Heute unterscheidet es sich nur durch die Kulisse […].« (Saison, 00:06:32-00:06-38) Auch inhaltlich steht Stahlnetz in einem Bezug zu Der Polizeibericht meldet… Im Mittelpunkt der lose auf dem US-amerikanischen Vorbild Dragnet/Polizeibericht (verschiedene Serien 1951-2004 [mit Unterbrechung])39 basierenden Reihe stehen ›authentische‹ Kriminalfälle, die in einer Spielhandlung nacherzählt werden. Stahlnetz ist somit eine fiktionale Krimireihe, zeichnet sich aber durch einen offensiv zur Schau getragenen journalistisch-dokumentarischen Anspruch aus. »Dieser Fall ist wahr! Er hat sich so zugetragen wie wir es zeigen. Nur Namen von Personen und Strassen [!] wurden geändert, um Unschuldige und Zeugen zu schützen« lauten z.B. Textinserts zu Beginn der Folgen (Mordfall Oberhausen, 00:00:34-00:00:56).40
39 Dragnet unterscheidet sich wesentlich in der seriellen Struktur von Stahlnetz, denn es handelt sich um eine Episodenserie. Diese erste Fernsehserie (1951-1959) ist in Los Angeles angesiedelt. (Ursprünglich war Dragnet eine Radioserie, die von 1949 bis 1955 gesendet wurde.) Als Ermittler fungiert durchgängig Sergeant Joe Friday (Jack Webb). Die Folgen haben eine Länge von ca. 25 Minuten. Viele Aufnahmen – v.a. Außenaufnahmen und solche an Originalschauplätzen – sind ohne Ton gedreht. Dominant ist daher der personale Voice-Over-Erzähler (ebenfalls Sergeant Joe Friday), der die Narration vorantreibt. Darin lässt sich eine Konzession an den Ursprung der Serie im Radio erkennen, auch wenn der Voice-Over-Erzähler zumindest teilweise produktionstechnisch begründet ist. – Ausführlich beschreibt Der Spiegel kurz vor Sendestart von Stahlnetz das Vorgehen des amerikanischen Originals ([Anon] »Im Schleppnetz.« Spiegel 10 [5. März 1958]: 5760). In dem Artikel begründet Roland auch die von Dragnet abweichende serielle Konstruktion von Stahlnetz: »Das ›Deutsche Fernsehen‹, das die amerikanische Sendung ›Dragnet‹ in ›Stahlnetz‹ umkopieren möchte, wird allerdings auf eine Zentralfigur wie den Sergeanten Friday verzichten müssen. ›Wir können uns wegen der Verhältnisse in Deutschland nicht auf eine Stadt und auf einen Kriminalbeamten beschränken‹, erklärt der Hamburger Fernseh-Kriminal-Spezialist Jürgen Roland, der in der deutschen Fassung Regie führen wird. ›Eine Stadt, in der genügend für das Fernsehen geeignete Kriminalfälle bearbeitet werden, gibt es bei uns nicht.‹« (Ebd.: 59) Eine einfache Kopie des amerikanischen Vorbildes ist Stahlnetz – anders als Duzak (1979: 87) nahelegt – also nicht. Vielmehr wurde die serielle Form bewusst und systematisch auf die föderalen Begebenheiten der Bundesrepublik Deutschland hin angepasst und adaptiert.
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Dass es sich dabei mehr um eine Inszenierung von Authentizität handelte, machte Wolfgang Menge selbst in einem Interview von 1970 deutlich: »Ja, ich habe mich mit der Kripo unterhalten und informiert. Aber dokumentarisch war es dennoch nicht ganz, weil ich oft was verändern mußte. Schon weil die Polizei, unvermeidlich oft […] Fehler macht. Und wenn ich die komplett zeigen würde, würden sich die Leute totlachen. Dagegen ist prinzipiell nichts einzuwenden, aber es hätte dem Sinn der Sendung nicht unbedingt entsprochen. Jürgen [Roland] und ich hatten eigentlich immer eine letzte StahlnetzSendung vor Augen. Da sollte es dann nicht mehr heißen wie sonst immer ›Dieser Fall ist wahr‹, sondern ›Dieser Fall ist wirklich wahr‹.« (Menge 1970: 25)41
Dennoch setzte dieser offensiv zur Schau getragene journalistisch-dokumentarische Anspruch Maßstäbe für den bundesdeutschen Fernsehkrimi – zumindest für Fernsehkrimis im Abendprogramm, deren Handlung in der Bundesrepublik angesiedelt war.42 Es galt, durch eine semi-dokumentarische Orientierung dem öffentlichrechtlichen Anspruch gerecht zu werden.43 Der Krimi sollte nicht als pure Unterhaltung daher kommen. Die »stark didaktische Ausrichtung der Reihe […] ist […] ideal, um die Krimireihe vom Verdacht des Sensationismus zu befreien und für das
40 Die Inserts unterscheiden sich bei den einzelnen Folgen zum Teil leicht in der Formulierung. Im Original Dragnet ist ein voice over zu hören: »Ladies and gentlemen: the story you are about to see is true. The names have been changed to protect the innocent.« (The Human Bomb, 00:07-00:14) 41 Dazu Hickethier (1985: 192): »Natürlich war, was gezeigt wurde, nicht authentisch, sondern war dramatisch konstruiert, auf Spannung hin angelegt. Doch dies war damals noch kein Kritikpunkt. Die Kritik am Authentizitätsschein in der Fiktion entzündete sich erst zu Beginn der 70er Jahre und dann v.a. am Dokumentarspiel.« Zur Kritik am Dokumentarspiel siehe Delling 1975, 1976 und 1982; Hickethier 1979. Zum Dokumentarspiel aus heutiger Perspektive siehe Hißnauer 2010 und 2011b. 42 Wie wirkmächtig dieser Anspruch war und wie sehr sich diese Tradition in den Köpfen der Zuschauerinnen und Zuschauer verankert hat, zeigt sich, wenn Magnus Klaue in einem Artikel für die Zeitschrift Jungle World noch 2013 die ZDF-Produktion Der Kommissar (1969-1976) als die »erste[ ] rein fiktionale[ ] Krimiserie« im bundesdeutschen Fernsehen bezeichnet (Magnus Klaue. »Der Kommissar geht um.« jungle-world.com, 16. Mai 2013 [http://jungle-world.com/artikel/2013/20/47716.html]). 43 Die journalistisch-dokumentarische Tradition nehmen ›scripted reality‹ Produktionen wie K11 – Kommissare im Einsatz und Niedrig und Kuhnt – Kommissare ermitteln (jeweils Sat1 seit 2003) mit umgekehrten Vorzeichen wieder auf: Sie adaptieren formal die Gestaltungsweise von Reportagen, sind aber inhaltlich fiktiv (während Stahlnetz vom Gehalt her faktual ist, in der Form aber fiktional).
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Fernsehen akzeptabel zu machen« (Brück 2004: 85). Diese Ausrichtung verdeutlicht Jürgen Roland in einem Artikel für das Fachorgan Fernsehen: »Ihre besondere Bedeutung aber erhält diese Sendung dadurch, daß im Mittelpunkt der Handlung nicht etwa das Verbrechen und der Verbrecher stehen, sondern die Kriminalpolizei und ihr Kampf gegen das Verbrechen. So ist denn stets das Fazit, unausgesprochen und doch deutlich genug, die alte immer gültige Erkenntnis ›Verbrechen lohnt nicht‹. […] Dabei ist für die Auswahl eines Stoffes einzig und allein die Frage entscheidend, ob bei den betreffenden Verbrechen die Arbeit der Kriminalpolizei interessant, eindrucksvoll ist. Der Zuschauer soll ein Gefühl von der Engmaschigkeit des ›Stahlnetzes‹ erhalten, das die Polizei auswirft, um die Verbrecher zu fangen. […] Den Fernsehzuschauern davon zu berichten, nicht um der Sensation willen, sondern um die Gültigkeit des Satzes vom Verbrechen, das nicht lohnt, immer wieder zu beweisen, das ist die Aufgabe aller, die an dieser Sendung mitarbeiten.« (Roland 1958: 526f.)44
Dieses ›Stahlnetz‹ bezieht sich aber nicht nur auf die Ermittlungsarbeit im engeren Sinne. Breiten Raum nehmen in den Folgen immer wieder auch kriminaltechnische Untersuchungen, neue forensische Methoden etc. ein, die helfen, Täter zu überführen. Giesenfeld/Prugger sehen in den frühen Krimireihen einen didaktischpolitischen Kern, der nach der Nazidiktatur auf Integration und Vertrauensbildung in staatliche Institutionen abzielte:45 »Diese Serien sind durch das Bemühen charakterisiert, die aus der Verbrechensbekämpfung stammenden spannenden Geschichten46 zur Bildung von Gemeinschaftsgefühl in der jungen
44 Daher kommt auch Brück (2004: 89) zu dem Schluss: »Dem staatstragenden Ansatz gemäß wird aufgeklärt und belehrt über die Polizeiarbeit, nicht über die Ursachen der Entstehung von Kriminalität. Soziale Verantwortung wird nur im Hinblick auf eine Zusammenarbeit der Bevölkerung mit der Polizei propagiert, nicht im Sinne einer Mitverantwortung für gefährdete Mitmenschen.« Explizit formuliert dies in der Folge In der Nacht zum Dienstag Oberkommissar Kiesel: »Was für’n Grund hatte er, Einbrüche, Raubüberfälle und schließlich einen Mord zu begeh’n? Die Suche nach einem vernünftigen Motiv erschwert unsere Arbeit immer wieder; weil es oft eben gar keins gibt, das wir halbwegs normalen Menschen begreifen.« (01:06:09-01:06:19) – Anders ist dies bspw. in dem dreiteiligen Kriminaldrama Rebellion der Verlorenen (1969), in dem ausführlich die sozialpsychologische Entwicklung und die Folgen einer Gewalttat beschrieben werden. Dabei werden auch die gesellschaftlichen Umstände als Motiv für einen tödlichen Banküberfall benannt. 45 Strobel (1999: 480) bezeichnet Stahlnetz auch als »einen Werbefilm für die Polizei«.
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Bundesrepublik und Vertrauen in ihre Institutionen zu nutzen.47 Deshalb steht ganz eindeutig der Polizeiapparat im Vordergrund, und zwar nicht irgendein historischer oder exotischer, sondern der gegenwärtige, aktuelle.« (Giesenfeld/Prugger 1994: 359f.)
»Das ist insofern neu«, hebt Brück (2004: 79) hervor, »als die Thematisierung von Kriminalität bis dahin vor allem in klassischen Krimi-Kontexten amerikanischer, britischer oder französischer Prägung abgehandelt worden ist.« Hierzu findet sich eine Vielzahl von Beispielen in der frühen Fernsehgeschichte, die ihre Handlung außerhalb des deutschen Rahmens stellen, wie Inspektor Tondi (1952), Kopf oder Zahl (1953), Der Hexer (1956), Bei Anruf Mord (1959), die Durbridge-Mehrteiler (ab 1959) oder die Galerie der großen Detektive (1954-1955). Noch bis weit in die 1960er Jahre hinein wurden immer wieder amerikanische, englische, französische u.a. Kriminalromane adaptiert, siehe z.B. Kopf in der Schlinge (1960), Schritte in der Nacht (1961), Detective Story – Polizeirevier 21 (1963) oder Spuk im Morgengrauen (1969). Dass die Geschichte – wie in Franz Peter Wirths Konto ausgeglichen (1959) – dabei in die Bundesrepublik verlagert wurde, war eher ungewöhnlich. Mit Blick auf die Durbridge-Mehrteiler schreibt Hallenberger (1998: 50): »Trugen Programmimporte zur Internationalisierung des Fernsehkrimis in Deutschland bei, internationalisierte sich hier der deutsche Fernsehkrimi.« Die früheren Beispiele zeigen jedoch, dass der deutsche Fernsehkrimi von jeher ›internationalisiert‹ war. Es gibt aber auch Beispiele für Krimis, deren Handlung in der Bundesrepublik angesiedelt sind: Die Nacht im Jägerhaus (1956), Zehn Jahre und drei Tage (1956) oder Tod auf dem Rummelplatz (1958). Aus heutiger Sicht erscheint es kurios, aber Stahlnetz wurde zunächst von der Abteilung Zeitgeschehen betreut – ansonsten für Dokumentation und Berichterstat-
46 Hickethier (1985: 192) stellt heraus, dass Stahlnetz bereits die »typischen Bestandteile der Krimiunterhaltung, die Spannungserzeugung in der Aufdeckung des Täters, in dessen Verfolgung und dem Showdown zwischen Kommissar und Täter« benutzt. Diese sind zum Teil für die damalige Zeit sehr actionreich inszeniert (siehe z.B. E…605, 1960; In der Nacht zum Dienstag, 1961). Das kritisierte die Fernsehzeitschrift Gong zur Erstausstrahlung von In jeder Stadt… (1961) deutlich: »Obwohl die Stahlnetzserie [!] in Zusammenarbeit mit der Kriminalpolizei produziert wird, beginnt sie mehr und mehr ihre ursprüngliche Zielsetzung zu verleugnen, weil es anscheinend wichtiger ist, nach sensationellen Effekten zu haschen, als nüchtern zu informieren und zu warnen. Diese Beobachtung im Zusammenhang mit dem äußerst heiklen Thema der heutigen Folge berechtigt zu der zusammenfassenden Beurteilung: für Erwachsene, mit erheblichen Vorbehalten.« (Zit. nach http://krimiserien.heimat.eu/s/stahlnetz_15.htm) 47 Kameramann Carsten Diercks betont, dass die »Popularisierung des Polizeiapparates« bereits die Intention von Der Polizeibericht meldet… war (zit. nach Brück 2004: 77).
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tung zuständig. Rüdiger Proske, der damalige Leiter der Abteilung, hatte ein recht pragmatisches Verhältnis dazu. Er begriff Stahlnetz als »neue Form der Dokumentation« (zit. nach Brück 2004: 85):48 »Dass der Krimi unter der Flagge des Aktuellen ›fährt‹, ist ein Zufallsprodukt, verweist aber auf seinen dokumentarischen Ansatz, der die Reihe im Aktuellen nicht völlig deplatziert erscheinen lässt.« (Brück 2004: 85)49 Erst ab 1961 wird Stahlnetz von der Fernsehspiel-Abteilung produziert (vgl. Brück/Guder/Viehoff/Wehn 2003: 112f.; Brück 2004: 138f.).50 Insgesamt betrachtet wird Authentizität v.a. durch die Textinserts und detaillierte Orts-, Datums- und Zeitangaben im voice over inszeniert. Zum Teil kommen auch explizite Authentizitätsver- bzw. -zusicherungen vor. So betont eine Sprecherstimme in der Folge Saison (1961), als Polizeimeister Wohlers in eine BMW Isetta (ein kleines Rollermobil) steigt: »Vielleicht muss ausdrücklich darauf hingewiesen werden: Das ist ein Streifenwagen der Polizei. Keine von uns ausgedachte Schnurpeiperei, sondern die Wirklichkeit.« (Saison, 00:56:42-00:56:52)
Viele Aufnahmen sind – v.a. bei den früheren Folgen – erkennbar im Studio entstanden, nur vergleichsweise wenig wurde an Originalschauplätzen gedreht (z.T. indizieren nur wenige Schnittbilder die Städte, in denen das Geschehen angesiedelt ist). Auf visueller/ästhetischer Ebene gibt es also – mit wenigen Ausnahmen – keine Entsprechung zum semi-dokumentarischen Ansatze.51 Eine dieser Ausnahmen ist
48 Nach Strobel (1999: 480) »muß man in dem Bemühen um faktische Authentizität auch den Versuch sehen, eine mediengerechte Form des Krimis zu entwickeln, galt doch in den fünfziger Jahren der Dokumentarismus noch als eigentlich medienspezifisches Kennzeichen des Fernsehens«. Fernsehen wurde als ›Fenster in die Welt‹ begriffen (vgl. Hißnauer/Schmidt 2013: 15-17). 49 Brück weiter: »Dieser [Ansatz] ist offenbar nützlich, um Vorbehalte dem Genre gegenüber auszuhebeln. Werner Pleister ist angeblich gegen Krimis im Programm (Roland, Interview), mit dieser Einstellung befindet sich der Intendant des NDR im Einklang mit der zeitgenössischen Etikettierung des Fernsehens als kulturell hochstehendes, belehrendes und erbauendes Medium.« (2004: 85) Stahlnetz orientiert sich mit seinem journalistischdokumentarischen Anspruch aber auch an dem populär-literarischen Faction-Trend der 1950er Jahre (vgl. Strobel 1999: 480). 50 Die Fernsehspiel-Abteilung des NDR hatte in den 1960er Jahre ebenfalls ein sehr breites Verständnis von Fernsehspiel: Klaus Wildenhahn und Eberhard Fechner realisierten dort ihre ersten dokumentarischen Arbeiten (vgl. Hißnauer/Schmidt 2013). 51 Der ›Realismus‹ der Reihe lässt sich auch an der Art der dargestellten Verbrechen festmachen: »Stahlnetz places itself in the centre of the everyday life of its viewers: the small
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die zweite Folge Bankraub in Köln (1958). Am Anfang werden echte (oder als echt inszenierte) Nachrichtenaufnahmen aus der Tagesschau verwendet. Der damalige Chef der Kriminalpolizei von Köln führt in den Fall ein (an einem Studiotisch sitzend – so wie es zu jener Zeit bei Fernsehdokumentationen durchaus typisch war). Die vier Kinder, die maßgeblichen Anteil an der Erfassung der Täter hatten, spielen sich – so wird zumindest behauptet – selbst. Herausstechend ist in vielen Folgen, dass Jürgen Roland immer wieder nach auffälligen, interessanten Einstellungen und Perspektiven sucht. Der Kamerastil und die Kamerastrategie sind also nicht einem dokumentarischen look verpflichtet. Somit ist der Einschätzung von Brück/Guder/Viehoff/Wehn (2003: 114) zu widersprechen, dass Stahlnetz durch einen »›Quasi-Reportage-Stil‹ […] das anfänglich als fernsehspezifisch erklärte Prinzip des unmittelbaren Dabeiseins gewissermaßen simuliert«. Der semi-dokumentarische Anspruch von Stahlnetz (und später auch der ZDF-Reihen Das Kriminalmuseum, 1963-1968; Die fünfte Kolonne,52 1963-1968; und Interpol,53 1963-1964) bezieht sich in erster Linie auf die behauptete Authentizität der dargestellten Fälle. Nach Giesenfeld/Prugger »wurde diese als speziell deutsch identifizierte Ausrichtung des Krimigenres [vom Publikum] den zur selben Zeit bereits laufenden amerikanischen Krimiserien vorgezogen, obwohl diese mit spannungsbetonteren und spektakuläreren Geschichten aufwarteten« (1994: 360).
bank nextdoor is robbed, the department store around the corner is broken into, the owner of the petrol station on the other side of the street is killed. The victims are average and ›ordinary‹-type-of-people: Mr. and Mrs. Everybody. It is in this seemingly close and direct world of television that the viewers experience norm violations which they are afraid of in their own ›authentic‹ world. […] The demand for realism in Stahlnetz is not accomplished in terms of a reproduction of crime statistics, but in terms of the placing of the fictional action in the present reality of the viewers.« (Brück/Viehoff 1998: 6f.) 52 In Die fünfte Kolonne geht es ausschließlich um Spionage-Fälle: »Die Ausweitung der Kriminalgeschichte in die Spionage- und Agentengeschichte […] war nicht spezifisch deutsch, wie vor dem besonderen Hintergrund der deutschen Teilung und der akuten Stimmungslage des abebbenden Kalten Krieges zu vermuten ist, sondern entsprach durchaus den internationalen Genretendenzen.« (Hickethier 1994a: 285) Genannt seien nur die Filme um den britischen Geheimagenten James Bond (seit 1962) oder Fernsehserien wie Danger Man/Geheimauftrag für John Drake (1960-1966), The Avengers/Mit Schirm, Charme und Melone (1961-1969), The Man from U.N.C.L.E./Solo für O.N.C.E.L. (1964-1968), Agent Tegtmeier (1966), Mission Impossible/Kobra, übernehmen Sie! (1966-1973) oder The Prisoner/Nummer 6 (1967-1968). 53 Interpol trug dabei den vielsagenden Untertitel Nach den Akten von Interpol. Die Reihe wurde zwischen 1963 und 1964 im ZDF ausgestrahlt – auf dem für Dokumentarspiele vorgesehenen Sendeplatz (vgl. Brück/Guder/Viehoff/Wehn 2003: 130).
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Die Programmkonkurrenz mit diesen Serien habe aber – so Hickethier (1994a: 282) – zu einem freieren Umgang mit den authentischen Fällen und somit zu einer deutlichen Fiktionalisierung in den 1960er Jahren geführt, die bereits in den ZDFProduktionen erkennbar ist: »Das amerikanische Serienangebot trug dazu bei, daß die Erzählweisen stärker handlungsbetont wurden, daß schneller geschnitten und rascher geschossen wurde. Die präventive, vor allem auf verbale Vermittlung setzende Aufklärungsarbeit der deutschen Polizeikrimis der fünfziger Jahre wirkten demgegenüber zunehmend ›altmodisch‹. Die Erwartungshaltungen wurden langfristig transformiert. Diese Veränderung steht im Kontext vergleichbarer Veränderungen in anderen Medienangeboten und Alltagsstrukturen, so daß die Konnotation ›modern‹, ›weltoffen‹, ›dynamisch‹ bei der amerikanischen Krimi-Action und ›altmodisch›, ›bieder‹, ›langweilig‹ mit deutschen Krimis in einem größeren kulturellen Umschichtungsprozeß zu sehen ist. Diese Verschiebung schloß nicht aus, daß große Teile des deutschen Fernsehpublikums gerade deswegen die deutschen Kriminalfilme bevorzugte, weil sie für eine ›Vertrautheit‹ mit den überkommenen Mustern standen und eine ›Geborgenheit‹ der gezeigten Verhältnisse signalisierten.« (Hickethier 1994a: 283)54
Brück/Guder/Viehoff/Wehn betonen – bezogen auf deutsche Produktionen – die Einzigartigkeit von Stahlnetz in der bundesdeutschen Programmgeschichte: »Fernsehen hatte in den ersten Sendejahren noch Ereignischarakter. Bis 1963 war Stahlnetz außerdem konkurrenzlos. Es gab zwar Einzelkrimis und Mehrteiler sowie die Gerichtsreihe Das Fernsehgericht tagt,55 aber keine weitere Krimireihe oder -serie, bis das ZDF auf Sendung ging.« (Brück/Guder/Viehoff/Wehn 2003: 113)
54 Diese längerfristige Veränderung in den Publikumserwartungen führte auch dazu, dass die Durbridge-Mehrteiler Mitte der 1960er Jahre immer mehr an Zuschauergunst verloren (vgl. Hickethier 1994a: 284). Stahlnetz reagiert in seiner zehnjährigen Laufzeit zunehmend mit stärker actionorientierten Folgen, um sich diesen Publikumserwartungen anzupassen. Die differenzierte Sichtweise Hickethiers scheint plausibler die unterschiedlichen Publikumsgeschmäcker zu berücksichtigen als pauschalisierende Urteile, wie sie z.B. bei Burbach (1999: 12) zu finden sind, der behauptet, die Zuschauerinnen und Zuschauer seien der amerikanischen Krimiserien Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre überdrüssig geworden. In einer Beliebtheitsskala der Zeitschrift Bild und Funk führte z.B. 1978 The Streets of San Francisco/Die Straßen von San Francisco (USA 1972-1977) vor Derrick (vgl. Hampel 1999: 28). 55 Das Fernsehgericht tagt (1961-1978) demonstrierte bereits den improvisierten Charakter der Gerichtsshows aus den 2000er Jahren, für die es keine festen Drehbücher gibt. Während sich für die Gerichtsshows Richter vom Dienst freistellen ließen, fungierte im Fern-
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Dieser Befund bedarf einer mehrfachen Präzisierung und Korrektur: So liefen z.B. zwischen 1958 und 1960 – allerdings in jährlichem Abstand – drei Folgen der Serie Eine Geschichte aus Soho, in denen jeweils Inspektor Pink ermittelt. Inspektor Pink war dabei die erste durchgängige Ermittlerfigur im Programm des bundesdeutschen Fernsehens. Joseph Offenbach schlüpfte für den Fernsehfilm Nerz ist in der kleinsten Hütte (1961) noch einmal in die Rolle des Inspektors Pink. Der Fernsehfilm lief jedoch nicht unter dem Serientitel. Der vierteilige Krimi Inspektor Hornleigh greift ein wurde 1961 im monatlichen Rhythmus ausgestrahlt.56 Hier wird bereits im Titel auf die durchgängige Ermittlerfigur verwiesen. Die Episodenserie animierte ähnlich wie später Krimi-Quiz – Amateurdetektive im Wettstreit/Kommissar-Kollin-Klub – Amateure als Kriminalisten (ZDF 1964-1965) oder Dem Täter auf der Spur (NDR 1967-1973)57 das Publikum zum Mitraten, indem kurz vor Lösung des Falles die eigentliche Spielhandlung
sehgericht ein Amtsgerichtsdirektor a. D. (Werner Bokelberg) als Richter. Wie später in der ZDF-Sendung Streit um Drei (1999-2003) gab es bereits eine Gerichtsreporter-Figur, die Prozessbeteiligte und -beobachter nach ihren Meinungen und ihren Eindrücken befragte (vgl. Brück 2000: 223). Die Produktionsbedingungen beim Fernsehgericht sind denen heutiger Gerichtsshows sehr ähnlich: »Angeklagte und Zeugen […] werden drei Tage lang mit dem Part der Juris-Fiktion, der sie betrifft, vertraut gemacht: Der Angeklagte erfährt, ob und auf welche Weise er straffällig geworden ist, den Zeugen und Gegenzeugen wird einzeln mitgeteilt, inwieweit sie in den Fall verstrickt sind und welche Marschroute sie einzuschlagen haben. Richter und Anwälte hingegen kennen nur die Gerichtsakten und treffen ihre Entscheidungen im Rahmen des geltenden Rechts völlig frei. So kommt eine Art Kampfspiel zustande, bei dem das Risiko des Unvorhersehbaren sich in schicklichen Grenzen hält« (Morlock 2006 [1963]: 137). Nach einem solchen Muster wurde auch die Reihe Ehen vor Gericht (1970-2000) produziert (vgl. Krummacher 1978: 282f.). – Daher ist es problematisch, wenn Sabrina Brauer von den Gerichtsshows als einem »neue[n] Genre« spricht (2007: 34). 56 Brandt erfasst Inspektor Hornleigh greift ein als britische Produktion (1989: 118). Zwar entstand die Serie als Remake nach englischen Drehbüchern, es handelt sich aber um eine Sendung des WDR. Eine Geschichte aus Soho ist offenbar ebenfalls eine Adaptation. Als Vorlage dient die BBC-Serie Tales from Soho (1956). 57 Dem Täter auf der Spur ist eine Adaptation der französischen Serie Les cinq derniers minutes (1958-1996). Der Handlungsort ist deshalb Frankreich. Günther Neutze spielt in allen 17 Folgen Kommissar Bernard (auf der 2005 erschienenen DVD-Box ist als vierter Teil Jürgen Rolands Fernsehfilm Einer fehlt beim Kurkonzert aus dem Jahr 1968 enthalten, der eigentlich nicht zur Serie gehört; die DVD-Box umfasst daher 18 Folgen). Wie bereits bei Inspektor Hornleigh greift ein wurden auch hier – zumindest teilweise – die Originaldrehbücher neu verfilmt.
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durch einen Moderator unterbrochen wurde.58 Auch die letztgenannten Produktionen weisen eine durchgängige Ermittlerfigur auf (allerdings wechselt der Darsteller von Kommissar Kollin einmal). Auch im (werbefinanzierten) regionalen Vorabendprogramm59 der einzelnen Landesrundfunkanstalten gab es bereits Anfang der 1960er Jahre – anders als es jüngst erst wieder Otte (2013: 75) schreibt – Krimiserien mit durchgängigen, deutschen Ermittlerfiguren60 wie Es geschah an der Grenze (1960-1961), Funkstreife
58 So gab es bereits 1953/54 im NWDR-Fernsehen den Versuch eines Ratekrimis mit telefonischer Publikumsbeteiligt, den Hickethier (1985: 191) jedoch als »halbherzig[ ]« bezeichnet. Diese ›Fernsehspiele für Kriminalisten‹ von Kurt Paqué (Signale aus dem Äther 1953, Sie kommen (immer) in der Nacht 1954 und Zwischenfall im Roxy 1954) adaptierten US-amerikanische Vorbilder (vgl. auch Hickethier 1994: 281; Brück 1996: 9). »Bei den weiteren Kriminalstücken (z.B. Daniel ist mein Feind v. 4.5.1954) verzichtete man jedoch bereits auf eine Beteiligung der Zuschauer. Wahrscheinlich konnte man die Probleme der Beteiligung nicht bewältigen. Mit Beginn des ARD-Gemeinschaftsprogramm am 1.11.1954 verschwand diese Form der Kriminalstücke jedoch aus dem Programm« (Hickethier 1994: 281) – Auch im NS-Fernsehen (und zuvor schon im Radio) wurde mit einer Form der Publikumsbeteiligung (damals noch mit Postkarten) experimentiert. So wurde am 18. Mai 1940 – und danach mindestens noch 15-mal – unter der Regie von Hanns Farenburg die Produktion Überfall auf Zelle 7 – Ein Kriminalfall, den Sie aufklären sollen von Peter A. Horn gespielt (vgl. Hickethier 1994: 280). 59 Werbung gibt es im bundesdeutschen Fernsehen bereits seit 1956 – zunächst im Regionalprogramm des BR. Wobei der NWDR Berlin schon 1951 vorschlug, einen »Wirtschaftsfunk« im Fernsehprogramm zu etablieren (vgl. Witting-Nöthen 2000: 18). Bis 1959 integrierten alle Landesrundfunkanstalten Werbung in ihr regionales Fernsehprogramm, das so zum Werberahmenprogramm wurde (vgl. Hasselbring 1997; allgemein zu Vorabendserien siehe Hickethier 1975; Giesenfeld/Prugger 1994; Bleicher 1999). Nur in den ersten Jahren (teilweise bereits ab 1954) waren die Regionalprogramme – damals als »Gegenpol zum norddeutschen Akzent der Nachrichtenberichterstattung durch die ›Tagesschau‹« gedacht (Hickethier 1998: 135) – werbefrei. Die Bezeichnung ›Vorabendprogramm‹ hat sich erst in den 1970er Jahren – aus strategischen Gründen – etabliert: »[D]ieser Etikettenwechsel soll den Anteil der Werbung an diesem Programm verschleiern helfen. […] Nichts weist im Titel auf die Werbung als zentralen Bestandteil dieser Programmeinheiten hin, wie auch in den Programmzeitschriften der Zuschauer nirgends erfährt, wann ihm Werbung vorgesetzt wird.« (Hickethier 1975: 139) 60 Serien wie Gestatten, mein Name ist Cox (1961/1965), Privatdetektiv Harry Holl (19631964), John Klings Abenteuer (1965-1966/1969-1970), Die Tintenfische – Unterwasserdetektive greifen ein (1966), Von null Uhr eins bis Mitternacht (1967) oder Diamantendetektiv Dick Donald (1971) spielten aber auch weiterhin an internationalen – z.T. exo-
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Isar 12 (1961-1963),61 Kommissar Freytag (1963-1966), Die seltsamen Methoden des Franz Josef Wanninger (1965-1970) oder Kommissar Brahm (1967), in der Vater und Sohn als ungleiches Paar die Fälle lösen: Damit wird der Krimi »mit Elementen der Familienserie angereichert« (Brück 2004: 251).62 Allerdings findet sich auch ein – eher seltenes – Beispiel für eine anthologische Reihe: IntercontinentalExpress (1966). In der Entwicklungsgeschichte des bundesdeutschen Fernsehkrimis wurden die Vorabendserien bisher kaum berücksichtigt.63 Eine der wenigen Ausnahmen stellt die medienpädagogisch orientierte Arbeit von Wackermann (1977) dar. Wackermann untersucht jedoch nur die Serie Polizeifunk ruft, so dass verallgemeinerbare Aussagen über die sehr unterschiedlichen Produktionen nicht ableitbar sind. Die Vorabendserien wurden zunächst nur von einzelnen Sendeanstalten gezeigt, da das Werberahmenprogramm bis in die 1990er Jahre hinein von den entsprechenden Landesrundfunkanstalten verantwortet wurde – unabhängig voneinander (erst ab 1993 wird ein einheitliches Vorabendprogramm ausgestrahlt). Vorabendserien konnten zwar von anderen Sendeanstalten übernommen werden, dies geschah aber bis 1972 eher sporadisch: Erst ab 1972 liefen zumindest an zwei Tagen die gleichen Serien in allen Regionalprogrammen (vgl. Reufsteck/Niggemeier 2005: 136). Entsprechend prägten sie das kollektive Gedächtnis bzw. die kollektive Medienbiographie der Bundesrepublik deutlich weniger stark als Reihen und Serien, die im Abendprogramm liefen. Das erklärt vielleicht auch, warum Brück noch 2004 (131) schreibt: »Die deutschen Krimis sind bis 1969 ja bestenfalls sporadisch gesendete Reihen mit wechselndem Personal und verschiedenen Schauplätzen.« Zudem waren
tischen – Schauplätzen und stellten auch nicht-deutsche Figuren in den Mittelpunkt der Handlung. – In der Regel handelt es sich bei Vorabendserien um Episodenserien. Eine Ausnahme stellt hier Gestatten, mein Name ist Cox dar. Die erste Staffel ist als Fortsetzungsserie angelegt, in der Paul Cox (Günter Pfitzmann) versucht, seine Verlobte Elena Morrison (Ellen Schwiers) zu finden, die unter mysteriösen Umständen verschwunden ist. Die zweite Staffel präsentiert sich dann als Episodenserie, in der Cox als privater Ermittler pro Folge einen Fall aufklärt. 61 Funkstreife Isar 12 etablierte dabei ein oft kopiertes Serienkonzept, in dem sich Streifenpolizisten um Bagatelldelikte, kleinere Straftaten und die Alltagsprobleme der Bürger kümmern. Dies findet sich z.B. wieder in Polizeiinspektion 1 (1977-1988), Großstadtrevier (seit 1986) oder Notruf Hafenkante (seit 2006). 62 Für Compart (2000: 207) handelt es sich dabei um ein »[g]emütliches ZDF-Vorabendprogramm […], das mitten im Generationskonflikt der sechziger Jahre den konservativen Wunschtraum eines engen Vater-Sohn-Verhältnisses abfeiert«. 63 Ein Forschungsdesiderat ist auch die Programmpräsenz und Genreentwicklung von Krimireihen und -serien in den Dritten Programmen.
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die Vorabendproduktionen – wie es zu jener Zeit durchaus typisch für das bundesdeutsche Fernsehen war – in der Regel keine langlaufenden Serien. Oftmals gab es nur eine Staffel mit 13 Folgen. Einige Serien blieben jedoch über Jahre im Programm: Die seltsamen Methoden des Franz Josef Wanninger z.B. – mit achtjähriger Unterbrechung und Umbenennung in Die unsterblichen Methoden des Franz Josef Wanninger – von 1965 bis 1982. Nur hinsichtlich bundesdeutscher Produktionen im Abendprogramm lässt sich vor diesem Hintergrund die Einschätzung von Brück/Guder/Viehoff/Wehn (2003: 109) aufrechterhalten, dass sich Krimireihen ab den 1960er Jahren und Krimiserien erst ab 1969 bzw. den 1970er Jahren im Fernsehprogramm etablierten. Nowak/Schneider stellen fest: »Ein gesonderter Serien-Termin wurde […] mit dem ab 1. Juni 1961 gültigen Programmschema eingeführt: Am Mittwoch von 20.20 bis 21.00 Uhr und am Samstag von 21.30 bis 20.50 Uhr gab es eine KrimiSerie im ARD I-Programm, am Freitag von 21.40 bis 22.40 Uhr eine weitere KrimiSerie im ARD II-Programm64 […].« (1989: 96) Krimi-Serien waren somit zwar sehr präsent, ausgestrahlt wurden allerdings hauptsächlich amerikanische Serienfolgen. Diese Kaufproduktionen waren erst ab 1959/60 regelmäßig im Programm vertreten; zuvor liefen sie nur sporadisch, teilweise nur einzelne Folgen einer Serie (vgl. Hickethier 1985: 191). In der Regel wurden die Serien aber auch dann nicht komplett übernommen, sondern nur ausgesuchte Folgen – oft auch gekürzt und bearbeitet – ausgestrahlt (vgl. Schmalisch 1974). Alles in Allem war zumindest das Abendprogramm trotz der nun vorgesehenen festen Sendeplätze nicht systematisch auf Serien ausgerichtet, wie dies im kommerziellen US-amerikanischen Fernsehen bereits der Fall war (vgl. Nowak/Schneider 1989: 95). Laut Strobel wurden in »den frühen sechziger Jahren, als sich die Gründung einer zweiten deutschen Fernsehanstalt abzeichnete, […] Krimiserien im Programm als Konkurrenzmittel zwischen ARD und ZDF zunehmend wichtig.« (Strobel 1999: 476)65 Dies gilt insbesondere (aber nicht nur) für das Werberahmenprogramm – das
64 Nachdem Konrad Adenauers Pläne für einen staatsnahen Fernsehkanal gescheitert waren, wurde bis zum Sendestart des ZDF (1. April 1963) von der ARD ein zweites Fernsehprogramm ausgestrahlt (1. Juni 1961 bis 31. März 1964), das aber gerade zu Beginn nur von wenigen Fernsehzuschauerinnen und -zuschauern überhaupt empfangen werden konnte. Zur kurzen Geschichte der Freies Fernsehen GmbH siehe Steinmetz 1996. Die verschiedenen Dritten ARD-Programme gingen zwischen 1964 und 1969 auf Sendung (vgl. Hickethier 1992: 167 und 1998: 225f.). 65 Überspitzt betont daher Grefe: »Keineswegs erst die Bedrohung durch die kommerziellen Veranstalter, sondern, was häufig vergessen wird, vorher schon die Konkurrenz mit dem ZDF führte zum Terror-Regime der Einschaltquote, das mit dem Aufkommen des Privatfernsehens höchstens noch an Schärfe gewann.« (Grefe 1986: o.P.) Die Formulierung
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beim ZDF bereits seit 1967 nahezu ausschließlich aus Serien unterschiedlicher Genres besteht (vgl. Nowak/Schneider 1989: 97).66 So startete das ZDF in seiner ersten Sendewoche die Vorabendserie Die Karte mit dem Luchskopf (1963-1965). In diesem ›Crime-Comedy-Hybrid‹ geht es um eine Privatdetektivin, die ihren Kunden einen männlichen Chef vorgaukelt. Im Abendprogramm ging die Reihe Das Kriminalmuseum (1963-1968; zunächst noch unter dem Reihentitel Das Kriminalmuseum erzählt) auf Sendung. Das Kriminalmuseum orientierte sich, wie die später im Jahr angelaufene Reihe Die fünfte Kolonne (1963-1968), an dem Stahlnetz-Modell:67 Vorgeblich authentische Fälle wurden in eine Spielhandlung überführt, die Ermittlerfiguren wechselten von Folge zu Folge. Während Die fünfte Kolonne auch den jeweiligen Schauplatz
»Terror-Regime« findet sich bereits 1963 in einem Artikel der Zeitschrift epd Kirche und Fernsehen (N.N. 1996 [1963]: 91). 66 So betont Hickethier (1975: 140): »Durch die Konkurrenz von ARD und ZDF um die täglich ausgezählten Einschaltquoten zur Werbezeit dient […] besonders das Werberahmenprogramm dazu, eine längerfristige Zuschauerbindung an ein Programm zu erzeugen und den Zuschauer zum Einschalten des Geräts zur Werbezeit zu bringen.« Hickethier betont dabei schon 1975 (141f.; auch 1976: 176f.), dass werbefinanzierte Sendungen der Beeinflussung durch die werbetreibende Industrie unterliegen (können). Es überrascht daher nicht, dass Hickethier bereits 1976 schreibt: »Kein anderer Teil der Programme der öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten gleicht in seinem Erscheinungsbild so sehr privatwirtschaftlich organisierten Medien wie das sogenannte Vorabendprogramm mit seiner spezifischen Verbindung von Werbung und Werberahmen.« (Hickethier 1976: 173) In gewissen Maßen ist die Ausrichtung und Formierung des Programms an die Anforderungen der werbetreibenden Industrie also kein Aspekt, der erst mit dem Aufkommen kommerzieller Sendeanstalten in den 1980er Jahren einsetzt. Der oft beschworene ›Programmauftrag‹ spielt für die Vorabendserien eine untergeordnete Rolle, so dass sich das Serienangebot je nach Sendezeit unterschied: »Der eher ambitionierten für das Abendprogramm steht jetzt eine bewußt auf Unterhaltung und ›Trivialität‹ orientierte Serienproduktion gegenüber. Für den neuen Typus der Werberahmenserie gilt, daß er eng an US-amerikanische Muster angelehnt ist und somit Eigenschaften aufweist, von denen man sich zuvor durch die eigene Produktion hatte absetzen wollen.« (Giesenfeld/Prugger 1994: 362f.) Vorabendserien wurden daher oft auch als qualitativ minderwertig betrachtet (vgl. Faulstich 1982: 127). 67 Brück/Viehoff/Pfau (2009: 155) schränken aber ein: »Das Kriminalmuseum nimmt die Stahlnetz-Vorlage zunächst auf, schwankt aber zwischen einer behaupteten journalistischdokumentarischen und einer tatsächlich literarisch-fiktionalen Ausrichtung hin und her. Dieser Unentschiedenheit ist es wohl anzulasten, dass die Reihe sang- und klanglos in den Archiven verschwunden ist.«
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für jeden Film änderte, spielten die Folgen von Das Kriminalmuseum jedoch alle erkennbar in München und Umgebung. Der hier übernommene journalistischdokumentarische Ansatz wird auch darin erkennbar, dass die ersten großen ZDFKrimireihen und -serien (neben Das Kriminalmuseum und Die fünfte Kolonne68 sind hier auch Der Kommissar, Derrick und Aktenzeichen XY…ungelöst zu erwähnen) ab 1964 von der Hauptredaktion Dokumentarspiel betreut wurden (vgl. Waldmann 1977: 64; Krummacher 1978: 277-284; Kirfel 1994: 42f.; Brück 2004: 139143; Email des ZDF-Archivs vom 31. Mai 2013 sowie vom 4. Juli 2013).69 Spektakuläre Kriminalfälle wurden auch als ›reguläre‹ Dokumentarspiele verfilmt (z.B. Der Fall Rohrbach, 1963; Der Fall Vera Brühne, prod. 1966). Da dabei – anders als im Stahlnetz oder beim Kriminalmuseum – Namen von Beteiligten und Orten nicht verändert wurden, gab es oftmals rechtliche Auseinandersetzungen, die im Fall Der Soldatenmord von Lebach (prod. 1972) sogar bis vor das Bundesverfassungsgericht gingen und zu einer Schärfung der Persönlichkeitsrechte führten (1 BvR 536/72, BVerfG-Urteil vom 5. Juni 1973). Der Soldatenmord von Lebach wurde daher ebenso wenig ausgestrahlt wie Der Fall Vera Brühne. Strobel vertritt die Auffassung, das ZDF habe mit dem Sendestart von Das Kriminalmuseum »bereits damals den noch heute gültigen Sendetermin für den ›Freitagabendkrimi‹ [etabliert]« (Strobel 1999: 477). Dies stimmt so allerdings nicht. Ein Blick in alte Programme zeigt vielmehr, dass v.a. Unterhaltungssendungen und Dokumentarspiele ausgestrahlt wurden. Erst mit dem Serienstart von Der Kommissar (1969-1976) werden vornehmlich Krimis und Justizsendungen wie Aktenzeichen XY…ungelöst auf dem Freitagstermin gesendet. Die Bezeichnung ›ZDF Freitagskrimi‹ wurde erst 1978 nach Anregung durch Produzent Helmut Ringelmann eingeführt (vgl. Hampel1998: 28). In den 1960er und frühen 1970er Jahren war der ›Freitagabendkrimi‹ selbstverständlich im Ersten Deutschen Fernsehen zu sehen (1964 bis 1973).70 Dabei handelte es sich aber üblicherweise um amerikanische Kaufpro-
68 Hickethier bezeichnet die beiden Reihen auch als »deutsche Dokumentarspielserien« (1998: 237). 69 Auch Vorabendserien wurden – zumindest teilweise – von der Hauptredaktion Dokumentarspiel betreut (vgl. Waldmann 1977: 64) und dort von der Abteilung Kleines unterhaltendes Spiel realisiert (vgl. Brück 2004: 139). Laut Aussagen des ZDF-Archivs (Email vom 31. Mai 2013) waren für Vorabendserien jedoch verschiedene Redaktionen verantwortlich. – Ich danke Veit Scheller vom Unternehmensarchiv für diese Informationen. – Ab 1966 gibt es unter dem Dach der Hauptredaktion eine Redaktion Kriminalspiel, aus der 1973 die Redaktion I entsteht (vgl. Brück 2004: 143). Nach Information des ZDFArchivs (Email vom 31. Mai 2013) wird Aktenzeichen XY…ungelöst ab 1989 von der Hauptredaktion Fernsehspiel und Film (Reihe und Serien III) betreut, Derrick erst ab 1990.
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duktionen wie 77 Sunset Strip (1958-1964), The Defenders/Preston & Preston (1961-1965), 87th Precinct/Polizeirevier 87 (1961-1962) oder Mission Impossible/ Kobra, übernehmen Sie! (1966-1973; vgl. auch Brandt 1995: 77). Dazu Hickethier: »Zum Ritual des Krimisehens wurde der Freitagabend, an dem nach Programmbeginn des ZDF die ARD ihren Kriminalfilmtermin plazierte. Dieser Termin war programmstrategisch optimal. Am Ende einer Arbeitswoche schuf er mit seinem Programmangebot von ›langen Jagden‹ und ›kurzen Verhören‹ einen [!] psychische Entlastung und einen Einstieg in ein langes Wochenende. Dieser ›Gebrauchswert‹ in Sachen Spannung/Entspannung in Verbindung mit seiner regelmäßigen Erscheinungsweise begünstigte die Ritualisierung des Krimischauens.« (Hickethier 1994a: 283f.)
Wie wichtig Kriminalspiele, -reihen und -serien im Konkurrenzkampf waren, erkennt man nicht nur an dem ›umkämpften‹ Freitagabend,71 sondern auch daran, dass das ZDF seinen Krimi-Output bereits für 1964 um 55% erhöhte – die ARD um immerhin 45% (vgl. Strobel 1992: 113). Es war »[d]er erste große Krimi-Boom im deutschen Fernsehen«, wie Brigitte Knott-Wolf konstatiert (1999: 33). Das zunehmende Angebot an Eigen- und Kaufproduktionen führte zu einer »Ausdifferenzierung des Angebots, damit auch [zu] eine[r] Ausdifferenzierung des Genres« (Hickethier 1994a: 285). Eine 1965 durchgeführte Umfrage bestätigte nicht nur die große Beliebtheit des Genres, sondern lässt auch Rückschlüsse auf den Publikumsgeschmack zu:72 »Unbeliebt waren: Parodien oder Kriminalkomödien sowie Geschichten um Bagatellverbrechen. Der Zuschauer wünschte: Fairness gegenüber dem Publikum bei der Aufklärung, ein einfaches intellektuelles Anspruchsniveau, Spannung und einen Sieg des Guten, eine kleine Dosis Brutalität, den Anschein von Realismus und die Serienform.« (Strobel 1992: 113)
Allerdings scheint es gerade bei den Vorabendkrimiserien vermehrt Parodien (Agent Tegtmeier), Komödien (Die Karte mit dem Luchskopf) und Fälle um Bagatellverbrechen (Funkstreife Isar 12) gegeben zu haben. Es ist daher naheliegend,
70 Zunächst ab 21.00 Uhr, später ab 21.30 Uhr. Bereits im zweiten Programm der ARD gab es einen festen Sendetermin für Krimis am Freitag (siehe oben: 170). 71 Das ZDF tritt erst ab 1969 (mit dem Serienstart von Der Kommissar) regelmäßig in direkte Programmkonkurrenz und gewinnt damit letztendlich den Kampf um den KrimiFreitag. 72 Bereits Ende der 1950er Jahre gaben 73% der Zuschauerinnen und Zuschauer an, ein starkes oder sehr starkes Interesse an Krimis im Fernsehen zu haben (vgl. Brück/Guder/ Viehoff/Wehn 2003: 109).
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dass sich die erfassten Zuschauerwünsche in erster Linie auf den Krimi im Abendprogramm bezogen. Dafür spricht insbesondere auch der Wunsch nach »eine[r] kleine[n] Dosis Brutalität« – eine Forderung, die für das Vorabendprogramm der 1960er Jahre kurios wäre. Krimiserien des Vorabendprogramms setzen schon recht früh auf ungewöhnliche Ermittlerfiguren (Privatdetektive, Agenten, Versicherungsdetektive, Reporter, Pfarrer und sogar Putzfrauen) und auf mehr Exotik und Genrehybride aus Krimi und Comedy. Beispiele73 sind: Der brave Herr Sebastian (1960), Die Karte mit dem Luchskopf (1963-1965), Der Nachtkurier meldet… (1964-1966), Gewagtes Spiel (1964-1967), Das ist Stern schnuppe (1965), Agent Tegtmeier (1966), Cliff Dexter (1966-1968), Pater Brown (1966-1972), Ein Fall für Titus Bunge (1967), Graf Yoster gibt sich die Ehre (SWF 1968-1971; WDR 1974-1977) oder Miss Molly Mill (1970). Jörg Preda (1966; 1977-1980) war dabei nach Angaben Der Krimihomepage die erste im Ausland produzierte Serie.74 Mit Blick auf die ersten ZDF-Vorabendserien zwischen 1963 bis 1969 (ohne Kaufproduktionen) stellt Brück (2004: 253) fest: »Die Mehrzahl der Ermittler/innen sind Privatdetektive im weitesten Sinne […].« Nur die wenigsten Serien weisen »deutsche Polizisten oder Kriminalbeamte als Protagonisten auf – was in den Serien oder Reihen des Abendprogramms der Normalfall ist«. Allerdings finden sich ungewöhnliche Ermittlerfiguren zum Teil auch in Kriminalspielen und Krimimehrteilern wie bereits der unschuldig des Mordes verdächtige Journalist Heinz Helten im ersten bundesdeutschen Krimimehrteiler Gesucht wird Mörder X (1959). Die Vorabendserie Hafenpolizei (1963-1966) ist ein Gegenbeispiel für die Trends des Vorabendprogramms, da sie ähnlich wie Stahlnetz einem eher journalistisch-dokumentarischen Ansatz verpflichtet ist. Auch im ZDF findet sich dafür ein – wenn auch kurzlebiges – Beispiel: die dreiteilige Serie Es geschah in Berlin, (1965). Die Episodenserie ist nach »Unterlagen der Hamburger Wasserschutzpolizei« entstanden – so zumindest die Voice-Over-Stimme im Vorspann bspw. der ers-
73 Ein eher seltenes – und zugleich frühes – Beispiel einer (nicht gerade subtil) humoristischen Krimiserie im Abendprogramm ist Macky Pancake. Die Abenteuer eines Unwahrscheinlichen (SFB 1961). Die drei Kurzkrimis liefen im zweiten ARD-Programm. Ein Running Gag der Serie ist, dass der sehr von sich eingenommene Inspektor Pancake keinen Fall selbst löst. Es sind v.a. der Reporter Jacky Smith und Pancakes Sekretärin Pimpinelle, die die Täter überführen. 74 http://krimiserien.heimat.eu/j/joerg_preda.htm. Die Serie lief zunächst unter dem Titel Jörg Preda; in einigen Regionalprogrammen auch unter Jörg Preda reist um die Welt oder Unterwegs mit Jörg Preda. Die zweite und dritte Staffel (nach einer elfjährigen Unterbrechung!) wurden dann mit dem Sendetitel Jörg Preda berichtet ausgestrahlt (vgl. auch Reufsteck/Niggemeier 2005: 620).
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ten Folge Marihuana (00:01:00-00:01:06). Bezeichnenderweise wurde die Serie im Auftrag des NDR produziert. Auch bei der Nachfolgerproduktion Polizeifunk ruft (1966-1970)75 wird durch einen Sprechertext im Vorspann darauf verwiesen, dass die Fälle in Zusammenarbeit mit der Polizei entstanden seien. In Polizeifunk ruft wurde das Berufliche bereits mit dem Privaten verquickt: »Die Soap-OperaElemente waren durch die Dauerverlobte gegeben, die nach 38 Folgen zum Altar geführt wurde.« (Compart 2000: 317f.)76 Die insgesamt zum Ausdruck kommende Unterhaltungsorientierung der Vorabendserien (auch bei Serien wie Hafenpolizei spielt sie eine große Rolle) resultiert aus der Funktion als Werbeumfeld: »Da kein Zuschauer nur Werbung sehen will, Werbung als selbständiges Programmangebot für ihn nicht sehenswert ist, braucht Werbung ein für den Zuschauer attraktives Programm um sich herum, das zum Zuschauen animiert. Der Zweck dieses Programms liegt nicht im Programm selbst, nicht in der Unterhaltung, Information oder Belehrung, sondern einzig und allein, eine möglichst hohe Zahl von Zuschauern vor den Fernsehempfänger zu bringen.« (Hickethier 1975: 141)
Das erklärt auch die frühere Serialisierung des Vorabendprogramms und die größere Bedeutung durchgängiger Figuren in den Krimiserien des Werberahmenprogramms als Mittel zur Zuschauerbindung. Reihen stellen hier eine Ausnahme dar.77 Ein ›neues‹ Krimimodell für das Abendprogramm: Der Kommissar Die erste langlaufende Krimiserie im Abendprogramm ist Der Kommissar, die zwischen 1969 und 1976 im ZDF lief:78 »Ein deutscher Kriminalbeamter als Protago-
75 Hafenpolizei und Polizeifunk ruft sind durch die Figur des Polizisten Koldehoff verbunden, so wie später die Figur des Polizisten Walter Hartmann aus Polizeifunk ruft in Hamburg Transit (1970-1974) weitergeführt wird. 76 Auch in den ZDF-Vorabendserien Alarm in den Bergen (1965) und Kommissar Brahm (1967) nimmt zu dieser Zeit das Privatleben der Ermittler einen gewissen Stellenwert ein. 77 In der Werbebranche bestimmt der sog. Tausenderkontaktpreis die Kosten für einen Werbespot, so dass Hickethier bereits Mitte der 1970er Jahre festhält, dass die Einschaltquoten im Vorabendprogramm nicht unwesentlich die finanzielle Situation der einzelnen Sendeanstalten bestimmen (vgl. Hickethier 1976: 175). 78 Mit Unsere Nachbarn heute Abend: Familie Schölermanns (1954-1960) gab es aber bereits sehr früh eine populäre, langlaufende Familienserie. Die noch (zumeist) live ausgestrahlte Serie bemühte sich dabei, die »dargestellte Serienwelt […] als reale Parallelwelt erscheinen« zu lassen (Hickethier 2012: 358).
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nist einer deutschen Krimiserie ist heute ein ganz selbstverständliches Phänomen. 1969 ist es eine Novität.« (Brück 2004: 2002) An solchen Aussagen wird deutlich, wie stark auch die wissenschaftliche Wahrnehmung durch das Prime-TimeProgramm geprägt ist. Brück selbst erwähnt an anderer Stelle ihres Buches (251) die ZDF-Vorabendserien Alarm in den Bergen (1965) und Kommissar Brahm (1967), in der bereits bundesdeutsche Grenzpolizisten bzw. ein Kripobeamter ermitteln. Mit Blick auf das ARD-Programm muss man die Etablierung durchgängiger ›offizieller‹ bundesdeutscher Ermittlerfiguren – also nicht etwa Privat- oder Hobbydetektive – sogar noch früher ansetzen: Bereits in Funkstreife Isar 12 (19611963) und Hafenpolizei (1963-1966) ermittelten Streifenpolizisten, in Kommissar Freytag (1963-1966) ein Beamter der Kriminalpolizei (siehe auch Burbach 1999: 810). Von daher ist Der Kommissar zwar in der bundesdeutschen Fernsehgeschichte eine sehr wirkmächtige Serie, stellt aber kein wirklich neues Serienmodell dar.79 Ursprünglich waren 13 Teile80 geplant (vgl. Brück/Guder/Viehoff/Wehn 2003: 149; Brück 2004: 197), doch schnell wurde die Produktion »in der Folgezeit geradezu zu einem Synonym für ›die deutsche Fernsehkrimiserie‹« (Strobel 1999: 477). Insgesamt kam die Serie auf 97 Folgen, die allesamt noch in Schwarz-Weiß produziert und ausgestrahlt wurden, obwohl das Farbfernsehen bereits 1967 eingeführt war.81 Für Hickethier (1985: 190) ist Der Kommissar ein »Gelenkpunkt der deutschen Krimiserien-Entwicklung«: »Der Anspruch, die Arbeit der Polizei zu zeigen, blieb erhalten, nur fiel der für die Heldenkonstruktion hinderliche dokumentarische Gestus weg.« (Ebd.: 193) Dieser Gestus spielte aber bereits in den Vorabendkrimiserien kaum noch eine Rolle. Der Kommissar ist eine klassische Episodenserie. Im Mittelpunkt steht Kommissar Keller (Erik Ode) und seine Assistenten.82 Mit der erfolgreichen Etablierung dieses Serienmodells im Abendprogramm ist beim ZDF eine Abkehr von der Pri-
79 Selbst im Abendprogramm gab es schon die oben erwähnten, wenige Teile umfassenden Vorläufer Eine Geschichte aus Soho (1958-1960) und Inspektor Hornleigh greift ein (1961), die allerdings noch keine deutsche Ermittlerfiguren kannten. 80 Strobel (1999: 477) spricht nur von zwölf Teilen. Laut Grote (2010: 28) sei zunächst ein Auftrag über sechs Folgen erteilt worden. 81 Im Anschluss an die Serien waren drei Spielfilme geplant (vgl. Strobel 1992: 133), die jedoch nicht realisiert wurden. 82 Ab 1974 lief The Streets of San Francisco/Die Straßen von San Francisco (USA 19721977) auf dem Freitag-Sendeplatz im zweiwöchigen Wechsel mit Der Kommissar. In der deutschen Synchronfassung wurde daher aus Inspector Steve Keller (dem jüngeren Partner von Lieutenant Mike Stone) Inspector Steve Heller, um Verwechslungen und Irritationen beim Publikum zu vermeiden (vgl. Weber, Tanja 2012: 71).
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me-Time-Krimireihe mit wechselnden Ermittlern zu beobachten: »Dieses neue, für das deutsche Fernsehen innovative Konzept [!] war bei den Zuschauern derart erfolgreich, dass es auch in den nachfolgenden Jahren beibehalten wurde.« (Weber, Thomas 2012: 88) So starteten noch in den 1970er Jahren die überaus erfolgreichen ZDF-Serien Derrick (1974-1998)83 und Der Alte (seit 1977). Langlaufende Serien wurden damit auch im Abendprogramm als Mittel der Zuschauerbindung im Konkurrenzkampf eingesetzt – zumindest beim ZDF. Die ARD tat sich hingegen aus institutionellen Gründen schwer, im Hauptprogramm ebensolche regelmäßig ausgestrahlten Serien zu etablieren (siehe unten: 187-189). Mit Der Kommissar ist beim ZDF ebenfalls eine Abkehr vom journalistischdokumentarischen Anspruch der Reihen Das Kriminalmuseum und Die fünfte Kolonne zu beobachten.84 Der Kommissar orientiert sich v.a. an den Romanen von Georges Simenon und der darauf basierenden BBC-Serie Maigret/Kommissar Maigret (1959/1960-1963), die ab 1965 wöchentlich vom ZDF ausgestrahlt wurde (vgl. Giesenfeld/Prugger 1994: 360f.; Brück 2004: 203).85 – Mit Der Kommissar schuf das ZDF ein Erfolgsmodell:86
83 Die Fernsehkritik sah dies zuweilen anders. Der Spiegel schrieb z.B. kurz nach dem Sendestart von Derrick: »Der klassischen Wer-war’s?-Spannung beraubt, tappert dieser Dressman von einem deutschen Oberinspektor ziemlich ratlos durch die Klischees und Ungereimtheiten ziemlich stereotyp konstruierter Fälle, langweilt den Zuschauer, der es längst besser weiß, mit der Verfolgung falscher Spuren, schnauzt mal barsch, guckt mal streng, hat aber insgesamt wenig zu sagen und zu fragen.« (Rolf Becker. »Mieser Eindruck. ›Derrick‹, Krimi-Serie von Herbert Reinecker. ZDF.« Der Spiegel 49 [2. Dezember 1974]: 164) 84 Ähnlich wie bei der ARD (aber im deutlich stärkeren Maße) spielte dieser Anspruch bei den ZDF-Vorabendkrimiserien in der Regel keine Rolle. Sie adaptierten »vor allem angelsächsische Serienformate […], deren Realitätsgehalt eher gering war« (Brück/Guder/ Viehoff/Wehn 2003: 132) und die auf eine »Rätseldramaturgie« setzen. 85 Herbert Reinecker, Erfinder von Der Kommissar, schrieb schon das Drehbuch für den Spielfilm Maigret und sein größter Fall (1966), in dem Heinz Rühmann die Titelrolle spielte. 86 Auch international war Der Kommissar ein großer Erfolg. Erik Ode deutet in einem Interview mit der Zeit an, dass die Serie in 60 Länder verkauft wurde (siehe Ben Witter. »Der Kommissar und die gestellte Ruhe. Ein Gespräch mit Erik Ode.« Die Zeit 29 [11 Juli 1975]: 34). Rolf Becker spricht im Spiegel hingegen von 27 Ländern (Rolf Becker. »Ich danke euch. ›Der Kommissar‹. TV-Serie von Herbert Reinecker; 97. Folge; ZDF.« Der Spiegel 6 [2. Februar 1976]: 135-137, hier 136).
178 │HISSNAUER »Mit der Serie gelang es erstmals, an Quoten aus der Vor-ZDF-Zeit heranzukommen: 1969 erreichte Der Kommissar im Jahresdurchschnitt eine Sehbeteiligung von 69 Prozent. Bis zur Einführung von Derrick 1974 blieben die Quoten um die 70 Prozent stabil. Als Grund für den Erfolg wurde angegeben, dass mit Keller nun endlich eine konkurrenzfähige Kontrastfigur zu den US-amerikanischen Serienhelden geschaffen worden sei […]. Behilflich dabei war der Verzicht auf Brutalität, vor allem aber der insgesamt deutsche Zuschnitt – im Gegensatz zu den vorherigen Angeboten nun erstmals als ein in jeder Hinsicht verlässlicher Programmbestandteil etabliert.« (Brück/Guder/Viehoff/Wehn 2003: 148; vgl. auch Krummacher 1978: 278)87
Allerdings stieß der »altväterliche Kommissar« in der Fernsehkritik auch auf Vorbehalte: »Sie warf ihm die Restauration von autoritär-reaktionären Denkmustern vor, so psychologisch verständnisvoll er sich auch gab.« (Weber, Thomas 1992: 132)88 Otte sieht aber zumindest durch einzelne Folgen die »KonservativismusThese« (2013: 80) in Frage gestellt, da es Beispiele gebe, in denen »[d]as alte System der Jugendpflege […] als dringend reformbedürftig« erscheine oder in denen »eine progressive Grundhaltung« vorherrsche (ebd.: 81). Hier müssten umfassende und tiefergehende Analysen zeigen, inwiefern es sich dabei lediglich um Einzelfälle handelt bzw. inwiefern solche Folgen nur vordergründig ›progressiv‹ sind, letztendlich aber doch konservative Werte widerspiegeln.
87 Der Kommissar war 1970 die mit Abstand erfolgreichste Krimi- oder Westernserie im ZDF-Programm. Sie erreichte im Schnitt eine Sehbeteiligung von 68%, die zweitplatzierte US-amerikanische (Western-)Serie High Chaparral (1967-1971) ›lediglich‹ 53% (vgl. Faulstich/Strobel 1986: 289). – Warum Faulstich/Strobel in der hier zitierten Statistik Krimi- und Westernserien gemeinsam aufführen, wird nicht näher begründet. 88 Durzak (1979: 87) bezeichnet die Serie Der Kommissar gar als »die deutsche Variante einer Soap Opera mit unterlegter Krimihandlung […], vollgestopft mit abgestandenen patriarchalischen Verhaltensklischees und -mustern.« Nach Waldmann (1977: 49) erinnert die Mordkommission in Der Kommissar mehr an einen Familienbetrieb als an ein Kommissariat: »Das Büro wird als Familienwohnung mit mütterlicher Sekretärin geschildert. Die Assistenten verehren den Chef bedingungslos, fühlen sich praktisch als seine Söhne. Der Chef strahlt patriarchalische Würde aus, Ruhe, Gelassenheit und eine Intelligenz, die unfehlbarer Weisheit nahekommt.« Karl Bädekerl schrieb bereits 1971 in der Zeit, ironisch auf eine beliebte Familienserie der 1960er Jahre anspielend, vom »Kommissar Hesselbach«: »Die Mordkommission erweist sich bei ihm [Reinecker] als ein Familienbetrieb unter der patriarchalischen Herrschaft des Kommissars, eine Art Firma Hesselbach zur Verbrechensbekämpfung.« (Karl Bädekerl. »Alte Hüte in neuen Serien. Die Fiktionen und Vorurteile deutscher Krimi-Folgen im Fernsehen.« Die Zeit 9 [26. Februar 1971]: 13)
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Insbesondere für das ZDF wurde Der Kommissar mit seiner konservativen Haltung stilprägend.89 Derrick und Der Alte etablierten das Modell Mitte der 1970er Jahre endgültig im Abendprogramm. Dabei gleichen sich – bei aller Unterschiedlichkeit – die Ermittlerfiguren in wichtigen Aspekten, wie Hickethier betont: »Wir finden also bei allen drei Figuren ein sehr ähnliches Rollenschema, das Amtsgewalt mit patriarchalischer Haltung und menschlichem Verständnis verbindet. Zugleich verkörpern sie die Ordnung, das Recht, die Norm und lösen die Fälle vor allem durch gedankliche Arbeit und Präsenz zur rechten Zeit.« (Hickethier 1985: 194)90
89 Die in den 1970er Jahren einsetzende Kritik am ZDF-Dokumentarspiel macht sich gerade auch an der sehr konservativen Haltung der Hauptabteilung und ihrer Produktionen – zu denen ja auch die Krimireihen und -serien gehören – fest (Delling 1975, 1976 und 1982; Hickethier 1979). So betonen Aurich/Beckenbach/Jacobsen (2010: 268): »Während die Bundesrepublik in den 1960er und 1970er Jahre eine Phase des politischen und kulturellen Aufbruchs durchlief, in der etablierte Leitbilder, tradierte Autoritätsmuster und gesellschaftliche Werte innerhalb weniger Jahre umgestoßen und verändert wurden, etablierte sich im ZDF, exponiert in der Serie Der Kommissar, eine Insel des Konservatismus […].« Der Spiegel bezeichnet Reinecker in einem längeren Artikel als »Mann von konservativem Zuschnitt« ([Anon.] »Scharfes Auge.« Der Spiegel 11 [6. März 1972]: 131132, hier 131). Es mag daher nicht überraschen, dass Reinecker der wichtigste ZDFKrimiautor der 1970er Jahre wurde (auch wenn dies sicherlich nicht nur aufgrund seiner konservativen Haltung der Fall war, sondern v.a. wegen des Erfolges der von ihm geschriebenen Serien). – Laut Netenjakob (1971: 9) genierte sich Reinecker noch in den 1970er Jahren nicht für seine Arbeit für die NS-Filmindustrie. 90 Allerdings lässt sich »der Alte« Erwin Köster als Figur mit »durchlöcherter Moral« (Aurich/Beckenbach/Jacobsen 2010: 258) begreifen, da er mit Tätern, die aufgrund gesellschaftlicher Umstände oder von Schicksalsschlägen mehr oder weniger unverschuldet zu Verbrechern werden, auffällig nachsichtig umgehe. (Aurich/Beckenbach/Jacobsen verwenden konsequent den inkorrekten Namen Küster.) – Insgesamt ist auffällig, dass das ZDF sich – eher erfolglos – bemühte, seine neuen Serienfiguren in der Positionierung deutlich von Der Kommissar abzuheben: »Es sollte alles ganz anders werden. Einen deutschen Polizisten mit Humphrey-Bogart-Touch, einsam, zynisch, zur Not auch brutal, das werde er spielen, ließ Derrick-Darsteller Horst Tappert wissen; einen Anti-Kommissar sozusagen. […] Selten stand die Werbung in einem derart krassen Mißverhältnis zum Produkt. […] Horst Tappert, der so brav und geschniegelt aussieht, als laufe er Reklame für das deutsche Herrenmodeinstitut, ist nicht einmal ein Schmalspur-Bogart. […] Und sein seelenvoller Hundeblick erinnert stark an Erik Ode.« (Hans C. Blumenberg. »Gestörte Triebe. ZDF, Sonntag, 20. Oktober: ›Derrick – Waldweg‹ von Herbert Reinecker und Dietrich Haugk.« Die Zeit 44 [25. Oktober 1974]: 24) – Stießen die unlauteren Ermitt-
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Gesellschaftliche Zusammenhänge als Ursache für Kriminalität interessieren in Der Kommissar ebenso wenig wie in Stahlnetz, Das Kriminalmuseum oder Die fünfte Kolonne (vgl. Netenjakob 1971: 8): »In dem Gesellschaftsbild, das die Serie Der Kommissar vermittelt, wird der Mord als individuelle Fehlleistung dargestellt, herbeigeführt durch eine Kette unglückseliger Konstellationen. Die Verbrecher erscheinen nicht als quasi naturgesetzliche Fehlbildungen der menschlichen Natur, wie in der Stahlnetz-Serie. Obgleich die Schuldzuweisung an den Mörder gebrochen ist – auch die Opfer haben eine Teilschuld, und auch die Mörder haben menschliche Qualitäten – herrscht in den Folgen des Kommissar [!] doch eine klare Wertordnung, die sich in der Figur des Kommissars artikuliert. Er personifiziert die Autorität der Wertordnung einer bürgerlichen Gesellschaft, die dem Verbrechen moralische Integrität entgegensetzt. Kommissar Keller ist in diesem Sinne als Antwort des verunsicherten Kleinbürgertums auf die gesellschaftlichen Erschütterungen im Gefolge der Studentenrevolte von 1968 zu verstehen.91 Der Anspruch auf Wahrheit, den die Krimiserie Der Kommissar implizit erhebt, läßt sich als ›moralische Authentizität‹ bezeichnen.« (Strobel 1999: 481f.)92
Diese »moralische Authentizität« bzw. der »psychologische Realismus« (Weber, Thomas 1992: 132), dem Der Kommissar folgt, hängt auch mit der Arbeitsweise von Herbert Reinecker – Autor sämtlicher (!) Folgen93 von Der Kommissar und
lungsmethoden des Alten zu Beginn noch auf heftige Kritik seitens der Polizei (siehe [Anon.] »Geistig zurück.« Der Spiegel 20 [9. Mai 1977]: 233-235), schliff sich auch hier der unkonventionelle(re) Gestus der Figur recht bald ab. Hickethier (1994a: 286f.) sieht gesellschaftliche Gründe dafür, dass es in den 1970er Jahre oft zu massiven Protesten kam, wenn die Polizei (oder andere Berufsstände) nicht in einer idealisierenden Weise dargestellt wurden: »Doch dürfte für eine solche Einschätzung auch eine zeitspezifische gesellschaftliche Gereiztheit (Vorboten des ›Deutschen Herbstes‹) und eine allgemeine Kritik am Fernsehen die Ursache gewesen sein. Es stellte sich hier wieder das tradierte Wechselspiel zwischen gesellschaftlichem Sicherheitsempfinden und dem Vergnügen an der Verunsicherung durch die Darstellung von Verbrechen ein: Weil die Gesellschaft durch Terror und Terroristenverfolgung verunsichert und irritiert war, bestand sie auf Korrektheit im Darstellungsdetail, ließ weniger fiktionale Phantasie zu. Die Kritik an den Krimiserien ließ in den späteren Jahren deutlich nach, nicht so sehr weil sich die Krimiunterhaltung geändert hatte, sondern weil der fiktionale Charakter der Kriminalfilme deutlicher akzeptiert wurde.« 91 Ähnlich auch Hickethier (1985: 193f.): »Der Eindruck von deutscher Biederkeit war allgemein und gerade zu Beginn der Serie auch vom Publikum erwünscht. Denn das biedere Normale galt es zu verteidigen, es stand gegen das Außergewöhnliche, gegen die Abweichung.« Werner Faulstich sieht es gar als »kulturhistorische Konstante« an, dass um 1970
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Derrick94 – zusammen.95 Ein Drehbuch schrieb er in zwei bis drei Wochen.96 Bei seinen Recherchen verließ er sich auf die Tageszeitung und seine Phantasie (vgl.
Vaterfiguren wieder restituiert wurden: »[D]ie Väter, die bei der Protestbewegung Ende der 60er Jahre gestürzt waren, [wurden] wieder aufs Podest gehoben, […] die Autoritäten wiederhergestellt […]. Gewinnt da die erfolgreiche Einführung des Kommissars just um 1970, unübersehbar als einer Vaterfigur, nicht ihre tatsächliche kulturelle Werthaftigkeit, ihren plausiblen historischen Sinn?« (Faulstich 1994: 54; vgl. auch Faulstich/Strobel 1987: 186-190) 92 Der Nachfolgeserie Derrick schreibt Strobel demgegenüber eine »psychologische Authentizität« zu (Strobel 1999: 483). 93 Es war im bundesdeutschen Fernsehen der 1960er und 1970er Jahre durchaus üblich, dass eine Serie von einem Drehbuchautor verfasst wurde (das gilt aber bspw. nicht für die Reihen Das Kriminalmuseum und Die fünfte Kolonne). Allerdings waren Serien in der Regel oft auch nur auf eine Staffel hin angelegt. Erst mit Der Alte ist bei den ZDF-Krimiserien des Abendprogramms eine Abkehr von der ›Autorenserie‹ erkennbar (vgl. Weber, Thomas 1992: 133). Spiegel-Autor Peter Stolle hebt diesen Sachverhalt in seiner Kritik zum Pilotfilm Die Dienstreise positiv hervor: »Um den Verschleiß des Alten-Serials [!] zu verhüten, haben die Mainzer ein Team ausgebuffter TV-Autoren engagiert. Der Fließbandarbeiter Herbert Reinecker, dem schon zu seinem Derrick nichts mehr einfällt, wird vom Alten weitgehend ferngehalten.« (Peter Stolle. »Gewisse Brechung.« Der Spiegel 16 [11. April 1974]: 196-197, hier 197) 94 Der Spiegel bezeichnete Reinecker schon 1973 als »fleißigste[n] Szenarist[en] im deutschen TV-Business« ([Anon.] »Wege ins Verbrechen. Das ZDF baut einen neuen Kommissar auf: Horst Tappert, der dem Hollywood-Idol Humphrey Bogart nacheifern will.« Der Spiegel 24 [11. Juni 1973]: 147-148, hier 147). Zwischen 1963 und 1989 verfilmte das ZDF 385 (!) seiner Drehbücher. Einige wenige wurden auch von ARD-Anstalten realisiert (vgl. Strobel 1992: 100). 95 Reinecker schrieb bereits einige Folgen für Die fünfte Kolonne. Aurich/Beckenbach/ Jacobsen (2010: 251) sehen darin »vorbereitende[ ] Übungen zum seriellen Schreiben für das Fernsehen«. 96 Die Drehzeit betrug 13/14 Tage (vgl. Aurich/Beckenbach/Jacobsen 2010: 278). Auch für eine Derrick-Folge standen 12 bis 14 Drehtage zur Verfügung (vgl. Tappert 1999: 211). Daran hat sich auch später nichts geändert: Nach Aussagen der Neuen Münchner Fernsehproduktion (Email vom 1. Juli 2013) wird eine Folge von Der Alte auch heute noch im Schnitt an 14 Tagen gedreht. Mit Blick auf Ein Fall für Zwei (seit 1981) verdeutlicht Franciska Kließ (1992: 17), dass sich diese 14 Drehtage auf ca. drei Wochen verteilen, da hauptsächlich unter der Woche gedreht werde. Dem gegenüber steht für eine ca. 50minütige Folge Mord mit Aussicht (seit 2008) mittlerweile weniger als neun Drehtage zur Verfügung (vgl. Markus Ehrenberg. »Die Produktionsbedingungen stehen zunehmend in
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Hampel 1998: 62f.; Brück/Guder/Viehoff/Wehn 2003: 149; Brück 2004: 199).97 Damit einher ging ein hohes Maß an (dramaturgischer) Standardisierung (vgl. Netenjakob 1971: 8; Strobel 1992: 137-144 und 1999: 481; Brück/Guder/Viehoff/ Wehn 2003: 151), die es in diesem Maße bei den langlaufenden Krimireihen sonst nicht gegeben hat.98 Milieus sind oft klischeehaft gezeichnet, und auch »auf ein besonderes Lokalkolorit [wird] nicht viel Nachdruck gelegt« (Strobel 1999: 481). Reinecker fokussierte vielmehr menschliche (besser: moralische) Konflikte, für die es keiner großen Recherchen bedarf. Reineckers Krimis waren daher beim Publikum beliebter als in der Fernsehkritik.99 So schreibt z.B. Egon Netenjakob: »Hier wird Krimiunterhaltung auf eine solide Art gemacht, die von Greueleffekten und plumper Hochstapelei ebenso frei ist wie von intellektuellen und kulinarischen Raffinessen. Es sind Krimis für die bürgerliche Familie.« (Netenjakob 1971: 9)
der Kritik.« tagesspiegel.de, 12. Januar 2014 [http://www.tagesspiegel.de/medien/film branche-die-produktionsbedingungen-stehen-zunehmend-in-der-kritik/9321282.html]). Vorabendserien wie SOKO 5113 müssen mit sechs bis sieben Tagen auskommen (vgl. [Anon.] »Das Tatörtchen. Kein Werktag im ZDF ohne SOKO. Jetzt durchbricht ein Special die Krimi-Routine am Vorabend.« TV Spielfilm 20 [13. September 2013]: 12). 97 »Man muss sich Herbert Reinecker als einen traurigen Einsamen in seiner ›Fabulierstube‹ am Starnberger See vorstellen, der seine Inspirationen vorrangig Zeitungslektüre und eigenen Erfahrungen verdankte und beides mithilfe seiner frappierenden Fantasiefähigkeit zu immer wieder neuen ähnlichen Geschichten verdichtete«, schreiben auch Aurich/ Beckenbach/Jacobsen (2010: 264). Sie weisen aber ebenso darauf hin, dass Reinecker selbst in zeitgenössischen Interviews auch von (wissenschaftlichen) Büchern und Dokumenten als wichtig(st)en Quellen spricht (282). In der Reinecker-Forschung wird dies offenkundig als nicht sonderlich glaubwürdig erachtet – was man auch daran erkennen kann, dass Aurich/Beckenbach/Jacobsen diesen Hinweis in einer Fußnote verstecken. 98 Zum Vergleich: Von Der Kommissar wurden in sieben Jahren 97 Folgen ausgestrahlt (also ca. 14 pro Jahr). Von Das Kriminalmuseum und Die fünfte Kolonne wurden in fünf Jahren 40 bzw. 23 Filme gezeigt (acht bzw. fünf Folgen im Jahr), die zudem von unterschiedlichen Drehbuchschreibern verfasst wurden. Erik Ode habe sich daher bereits 1973 beklagt, »daß er für jede Story nur noch neue Namen lernen müsse, die Dialoge seien ohnehin immer gleich« ([Anon.] »Wege ins Verbrechen. Das ZDF baut einen neuen Kommissar auf: Horst Tappert, der dem Hollywood-Idol Humphrey Bogart nacheifern will.« In: Der Spiegel 24 [11. Juni 1973]: 147-148, hier 148). 99 Die Krimis erzielten nicht nur hohe Einschaltquoten, sondern wurden auch vom Publikum positiv bewertet. So erreichte Der Kommissar laut eines Spiegel-Artikels regelmäßig Zuschauervoten des damals noch erfassten Index von +6 (bei einer Skala von -10 bis +10). Herbert Reinecker sei damit »zum populärsten deutschen TV-Serienschreiber auf-
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Rolf Becker kritisiert im Spiegel anlässlich der ersten Derrick-Folge: »Reineckers plot ist zumeist von der Raffinesse einer Lotto-Ausspielung, seine Charakterzeichnung kann es mit der Subtilität von Was bin ich? aufnehmen, sein Dialog ist so originell wie der Wetterbericht.«100 Zu Beginn von Der Kommissar ist Keller – ähnlich wie bereits Ermittler in der Vorabendserie Polizeifunk ruft (1966-1970; siehe oben: 175) – noch mit einem Privatleben ausgestattet. Er wird – völlig unüblich für den bundesdeutschen Polizeikrimi jener Zeit – in der ersten Folge Toter Herr im Regen sogar im privaten Umfeld eingeführt: Rotwein trinkend und rauchend sortiert er im Wohnzimmer seine Briefmarkensammlung. Ehefrau Franziska (Rosemarie Fendel) telefoniert währenddessen mit Kellers Kollegen Walter Grabert (Günther Schramm), der den Kommissar von einem Leichenfund unterrichten will.101 Nach 24 Folgen und acht »meistens recht kurzen und daher für sie [Rosemarie Fendel] unbefriedigenden Auftritte[n]« (Grote 2010: 34) verschwindet Franziska einfach aus der Handlung bzw. kam, »unter dramaturgisch nie geklärten Umständen, unterwegs abhanden«.102 Der Kommissar bleibt eine strikte Episodenserie. Eine Entwicklung wird auch auf der privaten Ebene nicht erzählt.103 Im Vorabendprogramm sah dies durchaus anders aus. Hier versuchte das ZDF, bereits episodale und fortgesetzte Narrationen miteinander zu verbinden. So werden in Polizeistation (1973) jeweils einzelne Fälle pro Folge gelöst und dabei auch die Entwicklungsgeschichte zweier Brüder fortlaufend erzählt (vgl. Staab 1974: 10). Für das Hauptabendprogramm steht Der Kommissar – wie bereits erwähnt – auch für eine deutliche Abkehr vom journalistisch-dokumentarischen Anspruch des Fernsehkrimis, die v.a. für das ZDF stilprägend wurde:
gerückt« ([Anon.] »Scharfes Auge.« In: Der Spiegel 11 [6. März 1972]: 131-132, hier 131). 100 Rolf Becker. »Mieser Eindruck. ›Derrick‹, Krimi-Serie von Herbert Reinecker. ZDF.« Der Spiegel 49 (2. Dezember 1974): 164. 101 Franziskas wenig erfolgreiche Versuche, ihn dazu zu bringen, wegen des starken Regens Galoschen anzuziehen, kommentiert Keller liebevoll (aber aus heutiger Sicht wenig schmeichelhaft) mit den Worten: »Du bist dumm, aber lieb.« (Toter Herr im Regen, 00:03:40f.) 102 Rolf Becker. »Ich danke euch. ›Der Kommissar‹. TV-Serie von Herbert Reinecker; 97. Folge; ZDF.« Der Spiegel 6 (2. Februar 1976): 135-137, hier 136. 103 Auch Derrick wird selten privat gezeigt. Zweimal hat er (jeweils für zwei nicht aufeinander folgende Teile) eine Geliebte. Auch diese Geliebten sind schnell wieder verschwunden. Dazu Produzent Ringelmann: »Bei 59 Minuten Sendezeit pro Folge […] fallen diese Frauenrollen der beigefügten Geliebten, der zukünftigen Lebensgefährtin
184 │HISSNAUER »Der Krimierzählung stand seit ihren Anfängen ein breites Spektrum an Inszenierungsmustern zwischen den beiden Polen der Referentialität und Fiktionalität zur Verfügung. […] In der ›prime-time‹-Krimiserie oder -reihe des öffentlich-rechtlichen Fernsehens formiert sich dieses Spektrum zu zwei grundlegenden Inszenierungsstrategien: der eher journalistischdokumentarisch ausgerichteten ARD-Linie104 und der eher literarisch-fiktional105 ausgerichteten Linie des ZDF. Beide Traditionen blieben über Jahrzehnte hin stabil. Erst in den 90er Jahren, als die privaten Sender massiv mit Eigenproduktionen auf den Krimimarkt drängten, wurde das Bild vielfältiger und schwerer zu klassifizieren.« (Brück/Guder/Viehoff/Wehn 2003: 109f.)106
oder, wie bei Ode, der Ehefrau im Schneidetisch immer der Schere zum Opfer. Entsprechend eingekürzt werden sie dann leider uninteressant.« (zit. nach Hampel 1998: 41) 104 Als Beispiele lassen sich dafür anführen die hauptsächlich von Robert Adolf Stemmle verantworteten Reihen: zum einen Recht oder Unrecht?, die von 1970 bis 1971 im Abendprogramm der ARD lief (mit einer Folgenlänge von ca. 90 Minuten; einige Folgen waren sog. Doppelfolgen, also Zweiteiler), zum anderen Unter Ausschluss der Öffentlichkeit, die 1974 im Werberahmenprogramm gezeigt wurde. Die Folgen basieren – wie auch die Anwaltsserien Gestern gelesen. Aus den Akten eines Strafverteidigers (1969-1975) und Der Anwalt (1976-1978) – auf realen Fällen, die jedoch mehr oder weniger stark fiktionalisiert wurden. Mit Ausnahme der Doppelfolgen von Recht oder Unrecht? gab es keine durchgängigen Figuren. 105 Mit dem literarisch-fiktionalen Ansatz ist hier v.a. die britische Tradition der WhodunitDramaturgie gemeint, die »näher an den ›Rätsel‹-Formen des Kriminalromans [ist], aus dessen Lösung sie in erster Linie die Spannung aufbau[t]« (Brandt 1989: 127). Dabei stehen die Figurencharakterisierung und die Ermittlungsarbeit (also das tatsächliche Rätsellösen) stärker im Vordergrund als handlungsorientierte Action, die eher amerikanisch konnotiert ist (vgl. auch Hickethier 1994a: 284). 106 Thomas Weber (1994: 261) betont dabei zu Recht, dass mit der Abkehr von dem semidokumentarischen Anspruch und der Hinwendung zur fiktional(er)en Gestaltung der Krimiserien und -reihen kein Verzicht auf einen Anspruch nach ›realistischer‹ Darstellung einherging. Realismus bezeichnet Weber gar als »Leitkategorie der Kriminalfernsehserie« (1992: 126): »Sie bezeichnet das ausgeprägteste und typischste Merkmal der deutschen Kriminalfernsehserien. Aber weder die Presse noch die Produzenten, [!] noch das Publikum geben eine klare Antwort auf die Frage, was sie präzise unter Realismus verstehen. Der Realismus der Kriminalfernsehserien ist mehrdeutig und kann auf ganz unterschiedliche Konzepte angewandt werden. Die rege Produktion ganz verschiedener realistischer Kriminalfernsehserien ist hierfür nur ein Indiz. Diese Serien wurden im Übrigen ebenso regelmäßig bei ihrem Start als realistisch gelobt, wie vor ihrem Ende als unrealistisch verworfen.«
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Eine solche Dichotomisierung ist jedoch stark vereinfachend107 – wenn nicht gar fernsehhistorisch falsch, wenn man das Krimiangebot in den 1960er und 1970er Jahren allgemein berücksichtigt – und sieht bspw. von den Durbridge-Mehrteilern,108 vielen handlungsorientierten Vorabendserien und v.a. der Vielzahl an kriminalistischen Fernsehspielen im ARD-Programm sowie den auf realen Justizfällen basierenden Dokumentarspielen im ZDF-Programm (insbesondere der 1960er Jahre) völlig ab.109 So betont z.B. auch Hickethier gegen diese Lehrmeinung: »Wesentliches Moment, aber jetzt als eine eigenständige Qualität des Kriminalfernsehfilms herausgestellt, war die angebliche Authentizität der vorgeführten Geschichte. Sie wurde vor allem im ZDF gepflegt […].« (Hickethier 1994a: 285; Hervorhebung Verf.)
Die Dichotomisierung zeigt auch, dass die Programmgeschichte des bundesdeutschen Fernsehkrimis bislang v.a. hinsichtlich der Serien und Reihen im Abendprogramm aufgearbeitet wurde. Was Waldmann bereits 1977 konstatierte, gilt heutzutage mit Blick auf die Forschungsliteratur immer noch: »Kriminalfilm im Fernsehen meint in der Regel das Kriminalstück als Serienproduktion.« (Waldmann 1977: 46)110 Insbesondere die 1960er Jahre waren für die Entwicklung des Krimis im bundesdeutschen Fernsehen eine wichtige Zeit, weil sich grundlegende Serienmodelle etablierten und sich der Krimi als unterhaltungsorientierter Programmbestanteil emanzipierte. So betont Hickethier: »Insgesamt müssen vor allem die sechziger Jahre als die Blütezeit der Krimiunterhaltung im deutschen Fernsehen angesehen werden. Auch wenn es in späteren Jahren durchaus einen
107 Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn man sich nur (wie Brück/Guder/Viehoff/ Wehn 2003) auf Prime-Time-Serien und -Reihen bezieht. 108 Nach Hickethier (1994a: 284) haben diese dialoglastigen Mehrteiler »die Struktur […] eines Konversationsstückes«. 109 Auch im ZDF-Vorabendprogramm finden sich – zumindest in den 1970er Jahren – Produktionen wie Kläger und Beklagte (1978-1979), die – so wie die ARD-Serien Unter Ausschluss der Öffentlichkeit und Recht oder Unrecht? – auf authentischen Gerichtsfällen basieren (siehe Fußnote 104). 110 Auch Brück (1996: 19) betont in Der westdeutsche Fernsehkrimi: Anmerkungen zur Forschungslage: »Die Geschichte der Fernsehkrimis wird in der Sekundärliteratur in erster Linie als Geschichte der Krimiserien bzw. -reihen geschrieben.« (Brück 1996: 19) Für ihre eigene Arbeit zieht sie daraus aber keine Konsequenzen. Auch sie fokussiert die Reihen und Serien in der Prime Time.
186 │HISSNAUER größeren Umfang an Kriminalfilmen im Fernsehen gegeben hat, so prägten sie in den sechziger Jahren, von ihrem Anteil am sehr viel kleineren Programmumfang her und ihrem Kontrast zu den deutschen Fernsehspielproduktionen, das Unterhaltungsinteresse des Publikums.« (Hickethier 1994a: 284; Hervorhebung Verf.)
Ende der 1960er Jahre verliert der Fernsehkrimi in der ARD – mit Ausnahme des Werberahmenprogramms – allerdings an Bedeutung, wie Brück/Guder/Viehoff/ Wehn nahelegen: »Mit dem Ende von Stahlnetz 1968 lagen die Aktivitäten in Sachen Krimi bei der ARD im Grunde brach. Man kann diese Tatsache als Indiz dafür werten, dass der Krimi in den Fernsehspiel-Abteilungen keinen guten Stand hatte.« (Brück/Guder/Viehoff/Wehn 2003: 159)
Zwar gab es immer noch die Krimiserien im Vorabendprogramm. Im Abendprogramm läuft aber nur noch die NDR-Mitrate-Reihe Dem Täter auf der Spur (19671973). Die meisten Sender haben sich bis dahin »nicht mit dauerhaften KrimiBeiträgen für das Abendprogramm hervorgetan« (Brück/Guder/Viehoff/Wehn 2003: 159). Präsent sind jedoch immer noch Mehrteiler wie Rebellion der Verlorenen (1969), Bitte recht freundlich, es wird geschossen (1969) oder Tage der Rache (1970) und Einzelstücke wie Kurzer Prozeß (1969) oder Mord nach der Oper (1969), so dass diese Einschätzung insgesamt etwas fragwürdig oder zumindest überzogen erscheint. Hier fehlt es v.a. an Studien, die die damaligen Redaktionspolitiken der einzelnen ARD-Sender vergleichend in den Blick nehmen, um zu differenzierteren Sichtweisen zu gelangen.
D ER T ATORT
ALS FÖDERALES
S ERIENMODELL
»Und selbst die Vielzahl der Kommissare scheint sich eher positiv auszuwirken. Geht einer (oder wird gegangen), wächst der nächste nach wie der abgeschlagene Kopf einer Hydra – sie ist unbesiegbar.« (Witte 1979: 2)
Seit Der Kommissar »auf die Verbrecherjagd geht […], sind Durbridges blasse Messer-Helden, sind Mannix, der Einzelgänger, McGarrett vom Dezernat Hawaii Fünf-Null und all die anderen ARD-Krimistars nur noch halb so attraktiv«111 – so Der Spiegel 1972. Auch Gunther Witte, Erfinder des Tatort-Konzepts und langjäh-
111 [Anon.] »Scharfes Auge.« Der Spiegel 11 (6. März 1972): 131-132, hier 131.
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riger Koordinator der Reihe, erinnert sich: »Wichtig ist, dass der Tatort in einer bestimmten Zeit entstanden ist, nämlich als die ARD mit Schrecken feststellen musste, dass es eine Konkurrenz gibt, die in der Lage ist, einen zu überflügeln.« (Witte/Wenzel 2000: 26)112 Auf den Erfolg des Kommissars mit einer regelmäßig ausgestrahlten eigenen Krimi-Serie zu reagieren, ist für die ARD nicht so einfach. Die ARD ist nicht wie das ZDF ein zentral gesteuerter Sender, sondern die Arbeitsgemeinschaft der Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland.113 Sie besteht in den 1970er Jahren aus neun eigenständigen Landesrundfunkanstalten, die unter dem Dach der ARD ein gemeinsames Fernsehprogramm verantworten.114 Die einzelnen Anstalten haben dabei – je nach Leistungsfähigkeit – einen bestimmten Prozentsatz an Sendungen bzw. Sendeminuten für das gemeinsame Programm beizusteuern (je nach Größe/Gebührenaufkommen). Das Ungleichgewicht (die großen Anstalten BR, NDR, WDR steuern mehr zum Programm bei als kleine Sender wie Radio Bremen oder der SR)115 führt dazu, dass es keine regelmäßigen Sendeplätze für einzelne Sendeanstalten gibt. Für eine rhythmisiert auszustrahlende, langlaufende Serie ist dies eine denkbar ungünstige Ausgangssituation – und eine Erklärung dafür, warum bishe-
112 »Das war die Zeit, in der das ZDF die größten Anstrengungen machte, der ARD die Zuschauer wegzunehmen. Die große Unterhaltungswelle rollte […]. Tatort war also zuerst einmal konzipiert gegen die massiven Unterhaltungsanstrengungen des ZDF.« (Wiebel/ Witte 1979: 250). 113 Später Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland. Die ARD wurde bereits 1950 gegründet. 114
waren: Bayerischer Rundfunk (BR), Hessischer Rundfunk (HR), Norddeutscher Rundfunk (NDR), Radio Bremen (RB), Süddeutscher Rundfunk (SDR), Südwestfunk (SWF), Sender Freies Berlin (SFB), Saarländischer Rundfunk (SR), Westdeutscher Rundfunk (WDR). Das Programm hieß ursprünglich Deutsches Fernsehen, später dann Erstes Deutsches Fernsehen. Heute wird es schlicht Das Erste betitelt.
115 So lieferten zum Sendebeginn des Deutschen Fernsehens 1954 NWDR 46% des Programms, BR 18% und HR/SFB/SDR/SWF je 9%. Radio Bremen wurde ein Anteil von 4% in Aussicht gestellt, da der Sender sich noch nicht am gemeinsamen Programm beteiligte (vgl. Bleicher 1993: 63f.). 1956 wurde der Programmschlüssel neu festgelegt: NDR und WDR jeweils 23%, BR 18%, HR/SFB/SDR/SWF jeweils 8% und RB 4% (vgl. ebd.: 78). Allerdings schreibt Bleicher, dass sich Radio Bremen erst 1960 zu einer Beteiligung am ARD-Programm zum 1. Januar 1961 verpflichtet habe, was zu einer Neuausweisung der Programmanteile 1960 geführt haben soll. Sie nennt aber die gleichen Zahlen wie für 1956 (vgl. Bleicher 1993: 97). – Der SR wird erst 1957 als öffentlich-rechtliche Anstalt gegründet, nach dem Anschluss des Saarlands an die Bundesrepublik. Vorläufer war die Saarländische Rundfunk GmbH (gegründet 1952) und nicht
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rige ARD-Serien und -Reihen nur unregelmäßig im Abendprogramm erschienen. Zum Vergleich: Die NDR Krimiserie Sonderdezernat K1 bringt es (ähnlich wie bereits Stahlnetz) in zehn Jahren (1972-1982) auf gerade einmal 23 Folgen.116 Der 100. Tatort läuft dagegen bereits 1979. Aufgrund der föderalen Struktur der ARD sind die Sendeanstalten aber auch (vergleichsweise) klein. So war es nicht möglich, dass ein einzelner Sender eine ebenso stark im Programm präsente Serie wie Der Kommissar dauerhaft garantieren konnte. »Weder Produktionskapazitäten noch Redaktionsbudgets gaben das her.« (Brück/Guder/Viehoff/Wehn 2003: 160) Hier muss man allerdings einschränken, dass die größeren Anstalten (WDR, NDR oder BR) durchaus dazu in der Lage gewesen wären, dann aber hätten sie auf andere Programmteile (z.B. Einzelfilme und Mehrteiler) verzichten oder deren Produktion zumindest stark zurückfahren müssen.
die ebenfalls 1952 gegründete Saarländische-Fernseh-AG (vgl. Bünte/Cahn/Dörr/ Dussel/Hickethier/Schmitt 2007: 52-54, 65-67). Auch die Angaben bezüglich des Saarländischen Rundfunks sind bei Bleicher (1993: 90) inkonsistent: So schreibt sie zum einen, dass der SR zwar ab dem 9. November 1959 ein regionales Werberahmenprogramm mit Unterstützung anderer Sendeanstalten realisiere (später erwähnt sie auch ein Nachmittagsprogramm), sich aber nicht am Gemeinschaftsprogramm beteiligen müsse. Zum anderen erwähnt sie in ihrer Chronik zur Programmgeschichte des deutschen Fernsehens, dass der SR seit dem 22. September 1959 mit zum ARD-Programm beitrage (ebd.: 92). Einen Programmanteil weist sie jedoch nicht aus – auch nicht bei den Zahlen für 1961. Es finden sich auch keinerlei Einträge in der Chronik, die auf eine Beteiligung am Programm schließen lassen. Nach Bünte/Cahn/Dörr/Dussel/Hickethier/ Schmitt (2007: 77) leistete der SR 1960 den ersten Programmbeitrag für das Gemeinschaftsprogramm der ARD. – Erst für 1962 notiert Bleicher eine Veränderung im Programmschlüssel: WDR/NDR jeweils 22,5% (ab 1964 WDR 25%, NDR 20%), BR 17%, HR/SFB/SDR/SWF jeweils 8% und RB/SR jeweils 3% (vgl. Bleicher 1993: 111, 122). 1978 kommt es erneut zu einer Veränderung bei den Programmbeiträgen. Der NDR muss ab 1979 nur noch 19% zum Gemeinschaftsprogramm beisteuern, während der Anteil des SWF auf 9% steigt (vgl. ebd.: 196, 205). 116 Sonderdezernat K1 ist eine klassische Episodenserie um vier Kriminalbeamte. In der Serie steht v.a. die Teamarbeit der Ermittler im Vordergrund. Der journalistischdokumentarischen Tradition folgend, basieren die Fälle (laut Booklet zur DVDVeröffentlichung) lose auf tatsächlichen Fällen.
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Die spezifische Tatort-Serialität Im Tatort werden zwei etablierte Serienmodelle zusammengeführt und in der Kombination an die spezifischen Anforderungen und die föderale Struktur der ARD angepasst: die Reihe und die Episodenserie. Dazu Gunther Witte in einem Interview: »Ich habe einfach die Schwächen, die die ARD nun mal hat, und unter denen wir ja auch genug leiden, versucht, in Stärke umzuwandeln. Ich dachte, warum sollte es nicht möglich sein, daß diese neun Sender […] ihre Regionalität und ihre regionalen Eigenheiten und Besonderheiten einbringen in eine gemeinsame Serie?« (Witte/Wiebel 1979: 251)
Daraus entsteht ein neues, lange Zeit solitäres Serienkonzept.117 Jeder Sender (sowie der Österreichische Rundfunk und später auch – zeitweise – das Schweizer
117 Es gibt nur wenige Versuche, Varianten des Konzepts zu etablieren: So lief im Vorabendprogramm von 1980 bis 1981 Achtung Zoll, einer Produktion, an der sich neben NDR, HR, SWF, WDR und SDR auch der französische Sender TF1 mit einer eigenen Serie beteiligte. Zwischen 1988 und 1993 zeigte das ZDF die – vom Publikum kaum angenommene – europäische Co-Produktion Eurocops, die das Tatort-Modell auf europäischer Ebene adaptierte. Realisiert wurde die Reihe von ZDF, ORF, SRG, RAI, France 2, Channel 4 und TVE. Die ARD selbst stellte nach der Wiedervereinigung und der Integration des ehemaligen Deutschen Fernsehfunk/Fernsehen der DDR in die ARD die Serie Polizeiruf 110 (seit 1971) 1993 auf das föderale Reihen-Muster um. Neben dem MDR und dem ORB steuerten auch westdeutsche Rundfunkanstalten und zweitweise der ORF eigene Serien zur Reihe bei. Bereits zuvor berücksichtigte der Polizeiruf sämtliche Regionen der DDR. Zwar gab es auch verschiedene Ermittlerfiguren, doch um sie bildeten sich keine eigenen Serien heraus. Vielmehr agierten die Ermittler teilweise gemeinsam, teilweise getrennt, so dass der Polizeiruf zur Zeit der DDR als eine Episodenserie betrachtet werden muss (zum Polizeiruf 110 siehe Hoff 2001). – 1995 versuchte Sat.1 das Tatort-Modell auf eine Gerichtsserie zu übertragen: Die Reihe Schwurgericht – in direkter Konkurrenz zum Tatort sonntagabends programmiert – war aber ein Misserfolg, so dass bereits produzierte Folgen, teilweise ohne die ursprüngliche Reihenkennung, schlicht als »Der Mordsfilm und [mit] grell-marktschreierischen Einzelfolgentiteln wie Saskia – Schwanger zum Sex gezwungen und Bruder, ich brauche dein Blut« ausgestrahlt wurden (Wehn 2000: 21f.). Für Wehn (2000: 22) ist der ZDFSamstagskrimi im weiteren Sinne ebenfalls eine Adaptation des Modells: »Ungefähr zur gleichen Zeit etablierte das ZDF incognito – und vielleicht war das auch gerade klug – eine Variante des so erfolgreichen Konzepts: Unter dem Label Samstagskrimi laufen seit September 1995 zahlreiche 90minütige Einzelfilme oder Miniserien […] auf dem 20.15 Uhr-Sendeplatz am Samstag. […] Anders als der Tatort hat der Samstags-
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Fernsehen) beteiligt sich mit einer eigenen Episodenserie an der Gemeinschaftsproduktion Tatort, die quasi als Dachmarke fungiert und zunächst nur für zwei Jahre projektiert wurde (vgl. Witte 1979: 2). Manfred Durzak nennt das Tatort-Konzept daher auch etwas abfällig »ein Rahmenprogramm für Fernseh-Kriminalfilme« (1979: 87).118 Wie die Beispiele Stahlnetz, Das Kriminalmuseum und Die fünfte Kolonne zeigen, begründet jedoch nicht die föderale Struktur der ARD ›zwingend‹ das serielle Prinzip des Tatort, wie man manchmal beim Blick in die Forschungsliteratur den Eindruck gewinnen könnte (zumal es rückblickend so folgerichtig erscheint). Bereits die NWDR/NWRV-Produktion Stahlnetz etablierte das Modell der – bundesländerübergreifend – wechselnden Schauplätze und Ermittlerfiguren. Otte spricht dabei von einer »föderale[n] Handlungsstruktur«, die sich aber (noch) nicht in der »Produktionsstruktur« spiegelte (2013: 63). Auch das zentralistisch organisierte ZDF adaptiert zunächst – zumindest teilweise – diese föderale Handlungsstruktur. Das Neue beim Tatort ist also zum einen die föderale Produktionsstruktur und zum anderen die (daraus zum Teil resultierende) Verbindung zweier Serienmodelle zu einer hybriden Form. Aus dem bisher Gesagten wird deutlich, dass sich die föderale Produktionsstruktur aus der programmstrategischen Überlegung ergibt, dem Kommissar ein eigenes, dauerhaftes Serienmodell entgegenzusetzen. Nur unter der Ausnutzung der
krimi jedoch keinen gemeinsamen Vorspann, nur eine Bildtafel bzw. einen Kurztrailer.« Die Samstagskrimis werden entsprechen auch als jeweils eigene Serien und nicht als eine gemeinsame Reihe (wie der Tatort) wahrgenommen. – Die Etiketten Der Mordsfilm und Samstagskrimi stehen dabei für einen Trend Mitte der 1990er Jahre, unabhängig voneinander produzierte Einzelfilme verstärkt als Quasi-Reihen zusammenzufassen (z.B. als Der große TV-Roman o.ä.). Dies ging u.a. darauf zurück, dass Reihen öfter durch Werbung unterbrochen werden dürfen als Fernsehfilme, was es v.a. für die privatwirtschaftlich organisierten Programmanbieter lukrativ erscheinen ließ, solche QuasiReihen zu etablieren (vgl. Hickethier 1998: 459). 118 Keine zehn Jahre nach Start der Reihe schildert Durzak die Tatort-Historie dabei völlig verzerrt: »Ursprünglich als typisches Serial [!; Durzak meint hier eine series] angelegt mit einer farbigen Mittelpunktfigur, dem Zollfahnder Kressin, einer James-BondAusgabe im Kleinformat, der als ruppiger schlagkräftiger Inspektor ebenso erfolgreich war wie als Ladykiller zwischendurch, wurde die Serie in dieser Form schon bald, trotz großen Erfolgs beim Publikum, zum Zankapfel der entsprechenden Programmgremien, was den raschen Exitus Kressins auf dem Bildschirm nach sich zog. Ersetzt wurde er von einem regional operierenden Ensemble von Kriminalkommissaren […].« (Durzak 1979: 87) Kressin und der tote Mann im Fleet lief am 10. Januar 1971 erst als dritte Folge der Reihe.
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föderalen Struktur kann – auch ökonomisch – garantiert werden, dass der Tatort regelmäßig (zunächst) einmal im Monat läuft, denn der Sendeplatz wird ungleichmäßig wechselnd von allen Landesrundfunkanstalten beansprucht.119 Die Kombination des ›Rotationsprinzips‹ der Reihe mit der Idee der fortlaufenden Ermittlerfigur der Episodenserie führt immer wieder zur Konfusion darüber, ob der Tatort als Reihe oder als Serie zu betrachten sei: »Wir benutzen für den Tatort die Bezeichnung ›Reihe‹, weil viele und verschiedenartige Detektivtypen vorgestellt werden, verschiedene Anstalten und Produktionsteams mit unterschiedlichen Konzepten120 beteiligt sind. Da diese aber mit ihren jeweiligen KommissarFiguren mehrere Folgen produzieren, haben sich innerhalb der Reihe Serien gebildet.121 Tatort wäre demnach eine Reihe aus Serien.« (Giesenfeld/Prugger 1994: 367; vgl. auch Giesenfeld 1994: 36; Kließ, W. 1994 und 1996)122
Dabei ist zu berücksichtigen, dass ein Sender auch mehrere Episodenserien parallel zueinander realisieren kann (so z.B. der NDR bereits in den 1970er Jahren mit Folgen um Trimmel, Finke und Brammer).123 Gerade in den 1970er bis 1990er Jahren
119 Auch die ARD-Serie Peter Strohm (1989-1996) wurde daher später von mehreren Sendeanstalten (neben sechs ARD-Sendern auch ORF und SRG) realisiert. Sie war »die erste lang laufende, wöchentliche Krimiserie im Abendprogramm« (Brück/Guder/ Viehoff/Wehn 2003: 214; Hervorhebung Verf.). 120 Wenn Giesenfeld/Prugger (1994: 368) »die Tatort-Reihe als Beispiel für eine fast ausschließlich auf einem Konzept beruhende Serialität« beschreiben, so ist dies zumindest vereinfacht gedacht. Zu dem Eindruck mag allerdings beitragen, dass bis in die 1990er Jahre hinein lediglich 11 bis 12 Tatort-Erstausstrahlungen im Jahr liefen. Jede Sendeanstalt steuerte also jährlich ein bis zwei Beiträge zur Reihe bei. In den 2000er Jahren laufen rund 31 neue Produktionen im Jahr, seit 2010 wurde auf 35 Erstausstrahlungen erhöht. Einige Ermittlerteams kommen daher auf drei (maximal vier) Einsätze (die Kölner WDR-Kommissare Ballauf und Schenk schafften es 2000 sogar, fünf Fälle aufzuklären). Allerdings dominierten NDR und WDR in den Anfangsjahren deutlich mit ihren Produktionen die Reihe, so dass sie überdurchschnittlich oft vertreten waren und als Serien somit sicherlich wahrnehmbarer waren als die – als vereinzelt wahrgenommenen – Beiträge kleiner Sender (siehe dazu ausführlich das Kapitel Der ›Tatort‹ in der Fernsehlandschaft der Bundesrepublik Deutschland in Hißnauer/Scherer/Stockinger 2014). 121 Zu einem abweichenden Begriffsverständnis, das sich weniger an der Figurenkonstanz als dem durch eine Serie konstruierten konsistenten Weltbild festmacht, siehe die Beiträge von Andreas Blödorn, Dennis Gräf und Hans Krah in diesem Band. 122 Das unterscheidet den Tatort auch von sog. spin offs bzw. Serien-›Franchises‹. So sind bspw. die CBS Produktionen CSI: Crime Scene Investigation/CSI – Dem Täter auf der
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ist auch das Phänomen der sog. Eintagsfliegen zu beobachten. Dabei handelt es sich um Figuren, die nur in einer Folge ermitteln wie bspw. Horst Pflüger in Wenn Steine sprechen (1972) oder Nagel in Alles umsonst (1979).124 Zum Teil stellen solche Einzelfolgen eher reiheninterne spin offs dar und setzen damit die Vorgängerserie fort: Dies ist zum einen etwa der Fall, wenn für eine Folge der (ehemalige) Assistent zum Hauptermittler wird (wie z.B. Willi Kreutzer in Herzjagd, 1980). Zum anderen gibt es die Möglichkeit, dass eine ›Eintagsfliege‹ den oder die Assistenten (oder andere Nebenfiguren) seiner Vorläufer aufgreift wie Paul Enders in Der Zeuge (1980) oder Max Becker in Mein ist die Rache (1996). Auch unterläuft die anfangs stark genutzte Figur des ›Gastkommissars‹, bei der ein Ermittler eines anderen Senders bzw. einer anderen Tatort-Serie den Kollegen der laufenden Folge bei seinen Ermittlungen unterstützt, die klare Trennung/ Zuordnung von Reihe und Serie. Durch solche seriellen Verfahren entsteht eine gemeinsame Tatort-›Storyworld‹.125
Spur/CSI: Las Vegas (seit 2000), CSI: Miami (2002-2012) und CSI: New York (20042013) trotz gelegentlicher Überschneidungen eigenständige Serien (mit jeweils eigenem Vorspann und eigener Titelmusik), während die einzelnen Tatort-Serien gemeinsam eine Reihe bilden. Im Falle von CSI entsteht nur eine (mehr oder weniger) kohärente ›Storyworld‹, also ein Serienuniversum, das von mehreren Serien geteilt und getragen wird (dies sieht man v.a. an den Cross-Over-Folgen). 123 Aktuell hat der NDR sogar vier Ermittler(teams) im Einsatz: Charlotte Lindholm (seit 2002), Klaus Borowski (seit 2003; die Figur wurde bereits 2002 in der Stahlnetz-Folge PSI eingeführt), Nick Tschiller und Thorsten Falke (jeweils seit 2013). 124 Der Begriff ›Eintagsfliege‹ findet sich z.B. bei Brück/Guder/Viehoff/Wehn 2003: 168. Ausführlich beschrieben und diskutiert wird dieses Phänomen in Hißnauer/Scherer/ Stockinger 2014. 125 Durch die Figur des Oberinspektor Marek gehört auch Der Kommissar zu dieser ›Storyworld‹ des Tatort: Bevor dieser österreichischer Tatort-Kommissar wurde (19711987), lief bereits im Österreichischen Rundfunk (ORF) die achtteilige Serie Oberinspektor Marek (1963-1970), die allerdings ohne den heute gebräuchlichen Serientitel ausgestrahlt wurde (als Sendetitel fungierten die Titel der einzelnen Filme). In der Kommissar-Folge Drei Tote reisen nach Wien (1970) unterstützt Marek Kommissar Keller bei dessen Ermittlungen in Wien. Der Gedanke lässt sich weiterspinnen: Kommissar Kellers Assistent Harry Klein (Fritz Wepper) wechselte 1974 zu Derrick. In Ein Koffer aus Salzburg (1975) unterstützt Markes Assistent, Bezirksinspektor Wirtz, die Münchner Polizei, so dass hier direkt Tatort- und Derrick-Welt verknüpft werden. In der letzten Derrick-Folge Das Abschiedsgeschenk (1998) wiederum sieht man bei einem Empfang auch das damals aktuelle Ermittlerteam aus Der Alte – Leo Kress (Rolf Schimpf, der die Titelrolle nach dem Ausscheiden von Sigfried Lowitz von 1986 bis
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V.a. in den letzten Jahren ist eine verstärkte Tendenz zur Serialisierung der einzelnen Tatort-Serien zu beobachten, wie sie in Ansätzen bereits bei Kressin, Schimanski oder Stoever und sehr deutlich bei Bienzle zu sehen war. Damit hybridisieren sich die Tatort-Serien, indem sie selbst Elemente der Fortsetzungsserie – zumindest bezüglich ihrer Nebenhandlungen – annehmen. Mit Blick auf die mögliche Rezeption in der heutigen Medienlandschaft bezeichnet Jochen Vogt Tatort auch als ›Hyperserie‹: »Natürlich können wir uns nicht, wie in einem ›richtigen‹ Hypertext, ganz frei zwischen den […] Folgen hin- und her bewegen. Faktisch ist unsere Auswahl durch das wöchentliche Programmangebot limitiert […]. Doch gibt es immerhin, Woche für Woche, ein relativ breites Angebot gerade von älteren Folgen, so dass wir diese oder jene Episode auswählen können und zwar auf nichtlineare, nichtchronologische, also wirklich hypertextuelle Weise. […] Anders gesagt: Man kann mit Hilfe von Tatort von Fall zu Fall und durch all diese Jahre und Jahrzehnte ›surfen‹ […].« (Vogt 2005: 127)
Für die 1970er bis (mindestens) 1990er Jahre greift eine solche Beschreibung jedoch nicht. Sie bezieht sich zudem weniger auf den Serientext und die serielle Form als auf die aktuelle (Wieder-)Aufführungspraxis.
2007 spielte), Gerd Heymann (Michael Ande) und Axel Richter (Pierre Sanoussi-Bliss): eine sender- und länderübergreifende ›Storyworld‹ seit 50 Jahren! – Und die Verzweigungen dieser ›Storyworld‹ gehen noch weiter: Über die Figur Klaus Borowski (siehe Fußnote 123) gehört auch Stahlnetz dazu, der hessische Tatort-Kommissar Fritz Dellwo und Schimanskis Partner Christian Thanner agieren auch im Polizeiruf 110 (Thanners neuer Job, 1991; Die Mutter von Monte Carlo, 2006); zuvor gab es bereits eine TatortPolizeiruf-110-Cross-Over-Folge (Unter Brüdern, 1990). Hannelore Elsners Figur Lea Sommer, aus der (zunächst am Vorabend gezeigten) Serie Die Kommissarin, ermittelte zweimal im Tatort. Das Duo Thiel/Boerne taucht als ironische Karikatur in dem Wilsberg-Comic von Jürgen Kehrer und Jörg Hartzmann (Wilsberg: In alter Freundschaft, 2012) auf. Ihre Namen sind auch auf einem Klingelschild zu lesen, das in einer Folge der ZDF-Serie zu sehen ist (Die Bielefeld-Verschwörung, 2012; 00:45:43-00:46:10). Ein selbstreflexiver Cameo-Auftritt von Batić und Leitmayr am 11. Dezember 1994 zum bevorstehenden Tatort-Jubiläum am selben Abend in der Lindenstraße (Folge 471: Fluchten) verknüpft auch diese ›Storyworld‹: Sie stehen mit Unicef-Spendenbüchsen vor der Tür von Amelie von der Marwitz, die sichtlich davon irritiert ist, die ihr bekannten Fernsehkommissare vor der eigenen Haustür zu sehen: »Aber sie gehör’n doch gar nicht in diese Straße!? Sie gehören doch in … in den 300. Tatort.« (00:22:54-00:23:03; man kann in diesen Formulierungen auch einen intermedialen Verweis auf Ludwig Tieck Theaterstück Der gestiefelte Kater von 1797 heraushören)
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In den 1960er und 1970er Jahren war die Bezeichnung ›Fernsehspielserie‹ noch geläufig. Für den Tatort (und ähnliche Reihen) wäre sie – in Abwandlung der damaligen Begriffsverwendung126 – durchaus angebracht: Von den sonst eher üblichen Episodenserien unterscheidet sich der Tatort auch durch seine Folgenlänge, die – nach anfänglichen Schwankungen – bei ca. 90 Minuten liegt.127 In dieser ›klassischen‹ Fernsehspiel- bzw. Fernsehfilmlänge sind nicht nur komplexere Figurenzeichnungen oder narrative (Spannungs-)Bögen möglich. Die einzelnen Beiträge sind ästhetisch und dramaturgisch auch deutlich weniger standardisiert, als dies in der Regel bei 45- oder 60-minütigen Serienfolgen der Fall ist. »Tatort ist Fernsehspiel.« (Witte 1987: 4)128 Jede Folge ist wie ein kleiner Film: »Tatsächlich handelt es sich bei der seit 1970 ausgestrahlten Sendereihe um einen Grenzfall im Krimimilieu, denn Machart und Ausstrahlungsrhythmus siedeln die einzelnen Produktionen irgendwo in der Mitte zwischen Serienepisode und Autorenfilm an. An die Serienepisode erinnert das Grundmotiv der aufzuklärenden ›Fälle‹, erinnern aber auch die wiederkehrenden Protagonisten (unter ihnen der bekannteste und umstrittenste: Horst Schimanski, gespielt von Götz George). Vom Autorenkino her stammt die Unberechenbarkeit der jeweiligen ›Lösung‹ und ihrer Urheber, stammt die (häufig) erkennbare Handschrift eines Machers und stammt nicht zuletzt der Ehrgeiz jeder Folge, sich inhaltlich und formal abzuheben vom Vorgängermodell.«129 (Ganz-Blättler 1995: 38)
126 Der Begriff bezog sich grundsätzlich auf fiktionale Fernsehserien – unabhängig von Länge und Ausstrahlungsrhythmus der einzelnen Folgen. 127 Bereits Stahlnetz hatte ab 1960 eine Folgenlänge von über 70 Minuten. Die längste Einzelfolge, Rehe (1964), hatte eine Länge von 109 Minuten (der Zweiteiler Spur 211 kam insgesamt in der Originalausstrahlung auf 128 Minuten; siehe zu dieser Folge auch Fußnote 155). Das Kriminalmuseum und Die fünfte Kolonne hatten in der Regel Sendelängen zwischen 60 und 75 Minuten. 128 Witte weiter: »Dieselben Redaktionen, die gelegentlich elitäre Kunstprodukte für Minderheiten auf den Bildschirm bringen, wenden sich mit dem Tatort an ein großes Publikum.« Witte verwendet hier den Begriff Fernsehspiel als Gattungsbezeichnung, wie dies früher üblich war. In diesem Sinne umfasst der Begriff sowohl die elektronisch produzierten Fernsehspiele im engeren Sinne als auch Fernsehfilme. 129 Die frühen Tatorte waren deutlich weniger standardisiert als heutige Produktionen. Das gilt nicht nur für die Dramaturgie (die oft beschworene Tatort-›Regel‹, die Leiche müsse in den ersten 10 Minuten erscheinen, ist eine vergleichsweise neue Entwicklung in der Tatort-Geschichte; genauer dazu Hißnauer/Scherer/Stockinger 2014: 69f., 95, 118f., 135f.). Auch die Sendelänge, die heute starr bei 88-89 Minuten liegt, schwankt noch zwischen 57 Minuten bei Der Boss (1971) und 120 Minuten bei Der Richter in Weiß (1971).
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Das Tatort-Konzept Mit diesem Anspruch zwischen ›Serie und Werk‹ unterscheidet sich der Tatort nicht nur von den üblichen Krimiserien und -reihen, die bis dahin im bundesdeutschen Fernsehen zu sehen waren. Bis heute gehört dies zu seinen wichtigsten Alleinstellungsmerkmalen (siehe dazu ausführlich das Kapitel Serie und/oder Werk? in Hißnauer/Scherer/Stockinger 2014: 199-243). Zusammengehalten werden die Beiträge der Reihe durch ein Konzept: »Der Kern dieses Konzepts ist eine Idee der Wirklichkeitsdarstellung, die ihre Wurzeln in der deutschen Seriengeschichte hat.« (Giesenfeld/Prugger 1994: 368) Darin ist der Tatort den »Themen-Serien« (Storz 1979: 291) der 1960er Jahre verwandt.130 Zum Sendestart des Tatort schrieb der damalige Fernsehspiel-Koordinator der ARD, Horst Jaedicke, z.B.: »Die Stoffe, die unserer Tatort-Reihe zugrunde liegen, sind dokumentarisch und fiktiv. Das Dokumentarische ist in der Regel so verändert, daß sich niemand daran erinnert fühlen muß, wenn er nicht will. Und das Fiktive ist so realistisch, daß es gewesen sein könnte, auch wenn es gar nicht war.131 Wir waren überhaupt sehr großzügig in der Auslegung unserer gemeinschaftlichen Prinzipien, weil wir nicht wollen, daß sich die produzierenden Sender und die Autoren allzusehr einschnüren müssen.« (Jaedicke 1987 [1970]: 3)132
Im Rückblick auf 100 Folgen der Reihe schreibt Gunther Witte (1979: 2) über das Tatort-Konzept: »Wir hatten außer der Regionalität der Stoffe und den Kommissar-
130 Storz bezieht sich hier auf Krimireihen wie Das Kriminalmuseum (1963-1968) oder Die fünfte Kolonne (1963-1968). Das Thema selbst ist dabei völlig offen (z.B. Spionage in Die fünfte Kolonne). 131 Bspw. schreibt die Süddeutsche Zeitung über die NDR-Folge Strandgut (1972): »So ist es wieder ein Tatortfilm zwischen Dichtung und Wahrheit, zwischen Vorgängen, wie sie sich immer wieder abspielen und Geschehnissen, die nach der Notwendigkeit gestaltet sind, dem Zuschauer neue Effekte zu bieten.« (Annemy Falkner. »Strandgut auf Sylt. Neue ›Tatort‹-Folge von Herbert Lichtenfeld.« Süddeutsche Zeitung 142 [24. Juni 1972]: 20) 132 Nach Gunther Witte war Auf offener Straße zunächst ein »Dokumentarfilm über Mannheim« (Witte/Wenzel 2000: 27; vgl. auch Fuchs/Witte 2007: 39). An anderer Stelle bezeichnet er die schließlich gesendete Folge als »einen eher sozio-dokumentarischen Film über einen Täter in Mannheim« (Witte 1994: 22). Reinhart Müller-Freienfels (1979: 25) vom SDR beschreibt die Entstehungsgeschichte von Auf offener Straße aber als klassische Fiktionalisierung eines authentischen Falles. Somit wäre der Film als semi-dokumentarisch zu begreifen: »Zu Beginn der Tatort-Reihe beabsichtigten wir
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Figuren im Mittelpunkt der Geschichte ein drittes Charakteristikum der Tatorte vereinbart: Die Storys sollten realitätsbezogen bzw. möglich sein.«133 Dabei standen einige der frühen Folgen wie Auf offener Straße (1971), Frankfurter Gold (1971), Ein ganz gewöhnlicher Mord (1973) oder Mordgedanken (1975) noch sehr deutlich in der journalistisch-dokumentarischen Tradition des bundesdeutschen Fernsehkrimis, was zum Teil zu juristischen Auseinandersetzungen führte (vgl. Hißnauer 2011a),134 so dass man davon weitgehend Abstand genommen hat.135 Das Gros der Beiträge orientiert sich an einem – wenn man so will – ›fiktionalen Realismus‹ und
mehr oder weniger authentische Fälle zu zeigen. […] Unsere Autorin [der ersten Folge; Anmerkung Verf.] kaprizierte sich auf eine Begebenheit, die sich vor Jahren tatsächlich abgespielt hatte und bei der ein Matrose ohne ersichtliches Motiv einen Mann erschlagen hatte. Obwohl wir die näheren Umstände, die Namen der Personen und die Drehorte veränderten, gab es bereits vor der Ausstrahlung so viele Beschwerden und Androhungen einstweiliger Verfügungen, daß der Film nur nach langen Verhandlungen gesendet werden konnte.« Daher wurde Auf offener Straße auch nicht, wie ursprünglich vorgesehen, als erste Tatort-Folge ausgestrahlt. Dies war offenbar vorgesehen, da der damalige Fernsehprogrammdirektor des SDR, Horst Jaedicke, gleichzeitig Fernsehspiel-Koordinator der ARD war. So wurde Taxi nach Leipzig zum ersten Tatort. – Auch Eike Wenzel, der sich auf Witte bezieht, macht deutlich, dass es sich um eine semidokumentarische Produktion und nicht, wie verschiedentlich zu hören ist, um einen ursprünglich geplanten oder gar realisierten Dokumentarfilm gehandelt hat: »So ist Auf offener Strasse [!] (das Drehbuch lieferten Leonie Ossowski und Gunther Solowjew) eher eine Milieustudie des Mannheimer Hafens geworden und das traurige Soziogramm eines Matrosen […]. Ursprünglich, teilt Gunther Witte mit, war das Drehbuch gar nicht für einen Tatort vorgesehen, sondern wurde erst nachträglich zum Krimi umfrisiert.« (Wenzel 2000: 11f.) – Die Frankfurter Allgemeine Zeitung schreibt über Auf offener Straße, die Folge sei »so vollgesogen von Realität […] und dabei irreal wie ein Alptraum« (C.M. »Geldschrank auf zwei Beinen. Tagebuch des Fernsehens.« Frankfurter Allgemeine Zeitung 33 [9. Februar 1971]: 2). 133 In einem Interview nennt Witte als zentrales Kriterium auch die Gastkommissare: »Da es so viele Kommissare gab und ich Angst hatte, ob man eine Reihe mit so vielen Hauptpersonen machen könne, beschlossen wir, in jeder Folge kurz einen zweiten Kommissar von einem anderen Sender auftreten zu lassen.« (Witte/Wenzel 2000: 27) Später bezeichnete er dieses Konzept rückblickend als ein »eher amüsant wirkende[s] dramaturgische[s] Hilfsmittel«, das sich schnell erschöpft habe (Witte 1994: 24). – Auch hier entfernt sich der WDR sehr früh von dem Konzept. Während Kressin noch als Gastkommissar auftritt, ist dies bei Haferkamp nicht mehr der Fall. 134 Siehe dazu auch [Anon.] »Kampf gegen Keller.« Der Spiegel 39 (23. September 1974): 129-133, hier 130f.
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vermittelt darüber »emotionale und soziale Authentizität« (Strobel 1999: 484).136 Somit wurde der »semi-dokumentarische Anspruch von Stahlnetz […] in eine zeitgemäße Realitätsnähe umgemünzt […]« (Brück/Guder/Viehoff/Wehn 2003: 162). Der Spiegel schrieb 1974 anerkennend: »Realismus, Aktualität und ein Schuß Sozialkritik verschafften der Serie eigenes Profil.«137 Mit Blick auf 40 Jahre Tatort-Geschichte bilden stichwortartig zusammengefasst folgende Aspekte den Kern des Tatort-Konzepts:138 • • • • •
Aktualität Alltäglichkeit Realismus139 Regionalität140 Aufklärung
Als Alleinstellungsmerkmal – gegenüber anderen hier bereits erwähnten oder auch später entwickelten Serien und Reihen – kann sicherlich der Aspekt Regionalität gelten (auch wenn dessen Bedeutung für den Erfolg der Reihe oftmals überschätzt wird). Jochen Vogt (2005: 117) spricht gar von einer »Landeskunde als Thriller«. Eine Vielzahl von Orten und Regionen wird zum Schauplatz des Tatort. Die Handlungsräume variieren zwar aufgrund des Reihencharakters von Folge zu Folge,
135 Interessanterweise setzt der HR in seinen Tatorten um das Ermittlerteam Frank Steier und Conny Mey (2011-2013) wieder stärker auf einen solchen Ansatz. Die Folgen basieren – wenn auch deutlich fiktional überhöht – auf authentischen Fällen des Profilers Axel Petermann. Nach dem Ausstieg von Nina Kunzendorf wurde dieses Konzept aber für die ›Solo-Folgen‹ Steiers aufgegeben. 136 Für Burbach (1999: 23) ist das der zentrale Unterschied zum »sich der gesellschaftlichpolitischen Realität weitgehend verweigernden Freitags-Krimis des ZDF«. 137 [Anon.] »Kampf gegen Keller.« Der Spiegel 39 (23. September 1974): 129-133, hier 130; vgl. auch Wacker 1998: 8. 138 Vgl. Brück/Guder/Viehoff/Wehn 2003: 159-167; sowie Stockinger 2013: 50f. Für Stockinger (2011: 839) steht »[d]ie Forderung nach Aufklärung […] in der ARD-Reihe Tatort an erster Stelle«. 139 Realismus muss hier als Konstrukt verstanden werden: »Nicht die Wirklichkeit schlechthin wird auf ein Schema vereinfacht und variiert, sondern über Gestaltzusammenhänge, die durchaus reale Hintergründe haben (können), wird frei verfügt, und so werden Beziehungen organisiert, die vielfältige Verweisungen beinhalten. So gesehen gibt es keine realistischen Serien, sondern nur Konstruktionen und Verknüpfungen, die aus der Sicht einer Interpretation realistisch erscheinen können.« (Juretzka 1992: 43f.) 140 Ausführlich dazu Stockinger/Scherer 2010 und Scherer/Stockinger 2010.
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können aber innerhalb der einzelnen, alternierend laufenden Serien wiederholt erkundet werden, was neue Blicke auf das bereits Bekannte ermöglicht. Andere Städte und Regionen werden durch neue Ermittlerserien integriert oder durch Ausflüge etablierter Kommissare. Immer wieder erlaubt es die 90-minütige Sendelänge, tief in einzelne Milieus einzudringen. Insgesamt wird damit nicht nur das Bild einzelner Städte und Regionen immer facettenreicher, sondern ebenso dasjenige der Bundesrepublik in der Gesamtschau. Dennoch gab und gibt es auch immer wieder Fälle, in denen es keinen oder kaum Lokalkolorit gibt.141 Bereits zum Start der Reihe mit der Folge Taxi nach Leipzig (1970) kommentiert der Fernsehkritiker der Zeit ironisch: »[…] die Pointe liegt darin, daß sich die Lokalität des Verbrechens – so war es angekündigt – im Raum der jeweils produzierenden Anstalt befindet. Der NDR-Film spielte deshalb vor allem in Leipzig.«142
Und auch die Frankfurter Allgemeine Zeitung stellt nach drei Folgen fest: »Der Film Kressin und der tote Mann im Fleet […] kommt aus Köln und spielt – fast möchte man sagen: natürlich – nicht dort. Außer bei dem Saarbrückener Beitrag, in dessen Licht die bisherigen Kommissare sich anscheinend im Urlaub und irgendwo fern der Heimat betätigen, diesmal in Hamburg.«143
Für mehr als die Hälfte der zwischen 1970 und 2010 produzierten Folgen unserer Stichprobe144 (53,7%) ist dieses ›mangelnde‹ Lokalkolorit festzustellen.145 Beispiel-
141 »Eine eigenständige Qualität«, so Terkessidis (2007: 26), »erhielt der Regionalbezug erst zu Beginn der 1980er Jahre […].« Aber schon 1971 schrieb Die Zeit: »Was aber die Kriminalserie Tatort angeht, so scheint es sich dabei um eine Kulturfilmreihe zu handeln, der Rechtens der Titel gebührt: Städte und Mundarten unserer Heimat.« (Momos [Walter Jens]. »Lessing am Tatort.« Die Zeit 7 [12. Februar 1971]: 24) 142 Momos (Walter Jens). »Vom Kalten Krieg.« In: Die Zeit 49 (4. Dezember 1970): 24. 143 C.M. »Tatort drei.« Frankfurter Allgemeine Zeitung 9 (12. Januar 1971): 2. 144 Im Rahmen der DFG-Forschergruppe 1091 Ästhetik und Praxis populärer Serialität haben wir von 2010 bis 2013 im Teilprojekt Formen und Verfahren der Serialität in der ARD-Reihe ›Tatort‹ (Leitung: Claudia Stockinger) alle 411 von WDR, BR, SWF/SDR/ SWR, SR und RB von 1970 bis 2010 ausgestrahlten Tatorte inhaltsanalytisch ›gerastert‹ (siehe dazu die Projekt- und Methodenbeschreibung in Hißnauer/Scherer/ Stockinger 2011 und ausführlich Hißnauer/Scherer/Stockinger 2014). Die angegebenen Werte beziehen sich auf diese Stichprobe.
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haft dafür kann man die Filme um den Zolloberinspektor Kressin nennen (19711973). Kressin, dargestellt von Sieghardt Rupp, ist zwar eigentlich beim Kölner Zoll angestellt,146 Köln sieht man in den Folgen aber eher selten. Bereits die erste Folge Kressin und der tote Mann im Fleet (1971) spielt ausschließlich in Hamburg, Kressin und der Laster nach Lüttich (1971) zeigt v.a. ein Niemandsland aus Autobahnen, Rasthöfen und nicht näher bestimmbaren Landschaften, Kressin stoppt den Nordexpress (1971) ist nahezu ausschließlich in einem fahrenden Zug lokalisiert. Ohnehin zeigen die Kressin-Filme, dass bereits von Beginn an immer wieder einzelne Folgen oder Figuren aus dem ohnehin nicht engen Tatort-Konzept ausbrechen. Mit Sievers, dem nahezu allmächtigen und nicht fassbaren Hintermann einer Verbrecherorganisation, einer action- und handlungsorientierten Dramaturgie, einer Internationalisierung der Fälle (mit ständigen Schauplatzwechseln) und immer wieder neuen Frauen an Kressins Seite zeigen die Filme eine deutliche Nähe zu den seit den 1960er Jahren überaus erfolgreichen James-Bond-Filmen. – Gunther Witte, der an der Entwicklung der Figur mit beteiligt war, bezeichnet Kressin auch als »Märchenfigur« (Witte/Wenzel 2000: 27). Es überrascht daher nicht, dass nach der Ausstrahlung des ersten Kressin-Tatort, in dem die Hauptfigur gleich mit zwei jungen (angeblich verheirateten) Frauen das Bett teilte, die Bewerberzahlen beim Kölner Zollamt in die Höhe schnellten. Mit einer realistischen Darstellung und einem aufklärerischen Anspruch hatten die Folgen dann aber doch relativ wenig zu tun. Der vergleichsweise jugendliche Zollfahnder Kressin – der »Lümmel vom Zoll« (Eisenhauer 1998: 76) – war eher ein Gegenentwurf zu den ›Vaterfiguren‹, die ansonsten den Tatort und andere Fernsehkrimis beherrschten.147 Daher kommen Brück/Guder/Viehoff/Wehn (2003: 189) zu dem Schluss: »Als Figur hätte Kressin besser ins Vorabendprogramm gepasst oder ins
145 In den 1980er Jahren sinkt der Anteil von Folgen ohne oder mit nur geringem Lokalkolorit (z.T. auch verbunden mit weiteren Formatbrüchen) von 43,4% auf 37,5% und bestätigt damit die Einschätzung von Terkessidis (siehe Fußnote 141). Er steigt dann in den 1990er jedoch deutlich auf 64,4% und liegt in den 2000er Jahren bei 57,3%. Am stärksten ist das Lokalkolorit beim BR ausgeprägt. Hier sind nur ein Viertel der Folgen (25,3%) nicht oder wenig regional geprägt (WDR: 48,9%; SR: 65,5%; RB: 69,5%; SWR/SDR/SWF: 70,1%). 146 Zu Beginn war beabsichtigt, dass die Ermittlerfiguren nicht nur aus dem Mord-Dezernat kommen, um auch andere Delikte und Verbrechen behandeln zu können (vgl. Koebner 1990: 9). Dies hat sich jedoch nicht durchgesetzt. 147 Knott-Wolf beschreibt diese ›Vaterfigur‹ als »Kleinbürger und Anti-Held, der qua Amt dennoch große Autorität verströmt.« Diese sei »eine durchaus demokratische, aber auch eine sehr konservative Identifikationsfigur« (Knott Wolf 1999: 35). Im Tatort zeigen sich diese Figuren sehr unterschiedlich. Während bspw. die Kommissare Gerber, Ka-
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Unterhaltungskino, den Vorstellungen vom öffentlich-rechtlichen Abendprogramm entsprach er eindeutig nicht.« Auch Gunther Witte bekennt rückwirkend: »[D]as Kriterium der Realitätsbezogenheit, das war eigentlich das scharfe Schwert, das unseren WDR-Kommissar hätte killen können.« (Witte/Wenzel 2000: 27)148 Andere Fälle sind eher aufgrund ihrer Dramaturgie ungewöhnlich. So spielt der ermittelnde Kommissar in Der Boss (1971) lediglich eine Nebenrolle. Vom eigentlichen Mord am Ende erfährt er überhaupt nichts. In Kindergeld (1982) erscheint Kommissar Piper gar erst in Minute 84.149 Der Kommissar steht also bei weitem
sulke und Lutz durchaus Charakteristika einer solchen Vaterfigur aufweisen, gehört Trimmel »zwar der Generation der Väter an […], [handelt] aber gemäß seines eigenen Wertesystems« (Brück/Guder/Viehoff/Wehn 2003: 168). Er wirkt daher unbarmherzig und selbstgerecht: »Trimmel ist einer, in dem sich die Abscheu vor der Gemeinheit des Menschen verbindet mit einer rüpelhaften Gleichmacherei, die die Egalitätsvorstellungen der frühen siebziger Jahre reflektiert – die Zweifel an der formierten Gesellschaft der breiten Mittelschichten, die erhöhte Sensibilität für Schichtenunterschiede, die ungleiche Verteilung von Macht und Ohnmacht; zugleich aber enthält die Figur auch eine gehörige Portion kleinbürgerlichen Ressentiments gegen die Oberschicht.« (Eisenhauer 1998: 75) 148 Es ist schon fast eine Ironie der Fernsehgeschichte, dass ausgerechnet KressinMitentwickler Witte versuchte, mit dem Tatort-Konzept solche ›Auswüchse‹ abzuwehren: »Ich wollte nur verhindern, was wir anfangs selbst mit dem Kressin gemacht haben, dass Krimiformen entstehen, die mit der Realität überhaupt nichts zu tun haben.« (Witte/Wenzel 2000: 28) – Und offenbar hat der WDR daraus nicht viel gelernt, wie Witte selbst zugibt: »Da haben wir später sehr darauf geachtet, wenn man auch sagen muss, dass unser Schimanski auch wieder eine gewisse Abweichung war.« (Ebd.) 149 Insgesamt verschiebt sich der Zeitpunkt, an dem der/die Ermittler in die Folge eingeführt wird/werden deutlich (gemessen an unserer in Fußnote 144 erläuterten Stichprobe). In den 1970er Jahren tritt der Kommissar im Schnitt nach Min. 9:36 Spielzeit (mit Vorspann) auf: Spitzenreiter dabei die Folge Auf offener Straße von 1971, in der Kommissar Lutz erst bei Min. 42:10 erscheint. Lediglich in 35,0% der Folgen wird der Ermittler in den ersten fünf Minuten eingeführt. In 36,7% der Tatort-Filme dauert es mehr als 10 Minuten, bis die ermittelnde Figur erscheint. – Der Durchschnittswert sinkt von 6:27 Minuten 1980ern und 4:16 Minuten in den 1990ern auf 3:03 Minuten in den 2000er Jahren. In 82,0% der Produktionen aus den 2000er Jahren wird/werden der/die Ermittler bereits innerhalb der ersten fünf Minuten gezeigt. – Lediglich in fünf Folgen (2,6%) dauert es (wenig) mehr als 10 Minuten, bis der/die Kommissar/e auftauchen. Am längsten lassen sich Zeit: Kalte Wut von 2001 (11:38 Minuten) und Mutterliebe von 2003 (11:42 Minuten). – Es gibt aber auch in den 1970er Jahren Produktionen, in denen die Ermittler mehr oder weniger unmittelbar eingeführt werden: Ein ganz gewöhnlicher
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nicht immer im Mittelpunkt der Fälle. Beide Folgen sind Beispiele dafür, dass auch der Gangsterfilm zuweilen seinen Platz im Polizeikrimi Tatort hat; als Abweichung von der Tatort-Regel. Tote Taube in der Beethovenstraße (1973) ist schließlich eine ›Hardboiled‹-Detektivgeschichte. Hier fokussiert die Geschichte den New Yorker Privatdetektiv Sandy (Glenn Corbett), der den Tod seines Kollegen und Freundes Johnson rächen will. Zolloberinspektor Kressin taucht nur am Anfang kurz auf, weil er einen Drogendeal hinter dem Mord an Johnson vermutet. In Min. 6 wird er bei einer Verfolgung angeschossen und spielt für die Handlung – mit Ausnahme einer kurzen Szene im Krankenhaus – keine Rolle mehr. Als formale Experimente kann man gar die beiden frühen Produktionen Frankfurter Gold (1971) und Ein ganz gewöhnlicher Mord (1973) auffassen. Beide Filme sind streckenweise wie ein Fernsehbericht inszeniert (vgl. dazu Hißnauer 2011a). Im Unterschied dazu orientieren sich die ersten Marek-Folgen wie z.B. Mordverdacht (1971) noch sehr stark an der – zu jener Zeit noch nicht völlig überholten – Fernsehspieldramaturgie der 1950er und 1960er Jahre: Es dominieren Innenaufnahmen. Die Handlung ist auf wenige Handlungsorte konzentriert und entfaltet sich über Dialoge (›Kammerspielästhetik‹). Es wird mit elektronischer Kamera aufgezeichnet (nur die wenigen Außenaufnahmen sind auf Film gedreht). Der Formatbruch150 durch einzelne Folgen gehört in gewisser Weise von Anfang an mit zum Programm.151 Dies liegt allerdings – zumindest in der Frühphase –
Mord (1973), Weißblaue Turnschuhe (1973), Das fehlende Gewicht (1973), Spätlese (1977) und v.a. die sehr auf die Hauptfigur zugeschnittenen Kressin-Folgen Kressin und der tote Mann im Fleet (1971), Kressin und der Laster nach Lüttich (1971), Kressin und der Mann mit dem gelben Koffer (1972) und Kressin und die zwei Damen aus Jade (1973). 150 Formatbrüche können dabei in zweierlei Weise eine Rolle spielen: Zum einen als Bruch mit dem Tatort-Konzept oder mit den allgemeinen Genreregeln des Krimis. 151 In der Rückschau scheinen Witte viele der frühen Formatbrüche allerdings nicht mehr präsent zu sein – oder sie werden rückblickend auf 40 Jahre Reihengeschichte nicht mehr als Bruch wahrgenommen: »Ernstzunehmende Ausbrüche aus dem Seriellen hat es in den Anfangsjahren nicht gegeben. Die ›Regelverletzungen‹ waren eher kleinkariert.« (N.N./Witte/Henke 2010: 8) Insgesamt betrachtet waren die 1980er Jahre das ›konformste‹ Tatort Jahrzehnt: Mehr als die Hälfte (51,6%) der Folgen zeigten keinerlei Formatverletzungen (zur Stichprobe siehe Fußnote 144). In den übrigen Jahrzehnten liegt dieser Wert unter einem Drittel (1970er Jahre: 31,7%; 1990er Jahre: 29,0%; 2000er Jahre: 31,4%). Bei den Sendeanstalten zeigt sich v.a. der Bayerische Rundfunk als ›Tatort konform‹: 63,9% der Folgen zeigen keinerlei Formatverletzungen. Beim WDR sind es 33,8%, bei Radio Bremen 26,1%, beim SR 24,1% und bei SWR/SDR/ SWF lediglich 19,7%. An Formatverletzungen überwiegt allgemein das mangelnde Lo-
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auch in der Entstehungsgeschichte der Reihe begründet. Als der Tatort sehr kurzfristig auf Sendung gehen sollte, fehlten schlicht die entsprechenden Filme: »Da haben dann alle sehr pragmatisch reagiert und haben gesagt, wir kucken mal, was wir im Schrank haben, das geben wir alles in die Reihe Tatort rein.« (Witte/Wenzel 2000: 27)152 Erste Darstellungskonventionen bilden sich v.a. mit der HaferkampSerie Mitte der 1970er Jahre heraus. Die historisch bedingte Offenheit des Konzepts verfestigt sich damit im Tatort zu dem, was Hißnauer/Scherer/Stockinger (2014: 11) als die »heterogene Homogenität, die sich permanent erneuert«, beschreiben. Fortsetzung folgt …153
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kalkolorit, obwohl die regionale Verankerung der Geschichten zu den wesentlichsten Aspekten des Tatort-Konzepts gehört (siehe oben: 195-198), obwohl dem Tatort dieser Regionalismus von Beginn an als wichtiges Merkmal zugeschrieben wird. 152 Bspw. wurde die Figur Paul Trimmel bereits 1969 in dem Film Exklusiv! eingeführt, der 1971 noch einmal – quasi unter falscher Flagge – als neunter Tatort gezeigt wurde. Die Figur des Oberinspektor Viktor Marek hatte im ORF bereits seit 1963 eine eigene Episodenserie (siehe Fußnote 125). 153 Zur Entwicklungsgeschichte der bundesdeutschen Krimiserie nach 1970 siehe das Kapitel Der ›Tatort‹ in der Fernsehlandschaft der Bundesrepublik Deutschland in Hißnauer/ Scherer/Stockinger 2014 (57-146).
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ANDERE R EIHEN
ZITIERTE
F ILME , M EHRTEILER , S ERIEN UND
11 Uhr 20 (BRD, 1970 [ZDF]) 77 Sunset Strip (USA, 1958-1964 [ABC]) 87th Precinct/Polizeirevier 87 (USA, 1961-1962 [NBC]) Acht Stunden sind kein Tag (BRD, 1972-1973 [WDR]) Achtung Zoll (BRD/F, 1980-1981 [NDR/HR/SWF/WDR/SDR/TF1]) Agent Tegtmeier (BRD, 1966 [WDR]) Aktenzeichen XY…ungelöst (BRD, seit 1967 [ZDF]) Alarm in den Bergen (BRD, 1965 [ZDF]) Am grünen Strand der Spree (BRD, 1960 [NWRV] Babeck (BRD, 1968 [ZDF]) Bei Anruf Mord, 21. Februar 1959 (SDR, R: Rainer Wolffhardt) Bella Block (BRD/D, seit 1993 [ZDF]) Berlin Alexanderplatz (BRD, 1980 [WDR]) Bitte recht freundlich, es wird geschossen (BRD, 1969 [WDR]) Bruder, ich brauche dein Blut, 14. April 1996 (Sat1, R: Erwin Keusch) Cliff Dexter (BRD, 1966-1968 [ZDF]) CSI: Crime Scene Investigation/CSI – Dem Täter auf der Spur/CSI: Las Vegas (USA, seit 2000 [CBS]) CSI: Miami (USA, 2002-2012 [CBS]) CSI: New York (USA, 2004-2013 [CBS]) Danger Man/Geheimauftrag für John Drake (GB, 1960-1966 [ITV]) Daniel ist mein Feind, 4. Mai 1954 (NWDR, R: Hans-Waldemar Bublitz) Das Fernsehgericht tagt (BRD, 1961-1978 [NDR]) Das Halstuch (BRD, 1962 [WDR]) Das ist Stern schnuppe (BRD, 1965 [SR]) Das Kriminalmuseum (erzählt) (BRD, 1963-1968 [ZDF]) Das Messer (BRD, 1971 [WDR]) Dem Täter auf der Spur (BRD, 1967-1973 [NDR]) Der Alte (BRD/D, seit 1977 [ZDF]) Der Andere (BRD, 1959 [NWRV]) Der Anwalt (BRD, 1976-1978 [ZDF]) Der brave Herr Sebastian (BRD, 1960 [SFB]) Der Fall Regine Krause, 13. Februar 1970 (ZDF/ORF, R: Arnulf Jörg Eggers) Der Fall Rohrbach (BRD, 1963 [ZDF]) Der Fall Vera Brühne, produziert 1966; aus rechtlichen Gründen nicht ausgestrahlt (ZDF, R: Rudolf Jugert) Der Hexer, 7. April 1956 (SDR, R: Franz Peter Wirth) Der Kommissar (BRD, 1969-1976 [ZDF]) ‒ Toter Herr im Regen, 3. Januar 1969 (ZDF, R: Wolfgang Becker)
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‒ Drei Tote reisen nach Wien, 18. Dezember 1970 (ZDF, R: Dietrich Haugk) Der Nachtkurier meldet… (BRD, 1964-1966 [SDR]) Der Polizeibericht meldet… (BRD, 1953-1961 [NWDR/NWRV/NDR]) ‒ Der Fall Erwin Gosch (Beitrag), 11. Dezember 1957 (NWRV, R: Jürgen Roland) ‒ Mordfall Oberhausen, 14. März 1958 (NWRV, R: Jürgen Roland) Der Richter und sein Henker, 7. September 1957 (SDR/SFDRS, R: Franz Peter Wirth) Derrick (BRD/D/AUS/CH, 1974-1998 [ZDF]) ‒ Ein Koffer aus Salzburg, 24. August 1975 (ZDF, R: Alfred Weidenmann) ‒ Das Abschiedsgeschenk, 16. Oktober 1998 (ZDF, R: Dietrich Haugk) Der Soldatenmord von Lebach, nicht gesendet (BRD, 1972 [ZDF]) Der Tod läuft hinterher (BRD, 1967 [ZDF]) Detective Story – Polizeirevier 21, 28. April 1963 (SDR, R: Theo Mezger) Diamantendetektiv Dick Donald (BRD, 1971 [ZDF]) Die fünfte Kolonne (BRD, 1963-1968 [ZDF] Die Galerie der großen Detektive (BRD, 1954-55 [SWF]) Die Karte mit dem Luchskopf (BRD, 1963-1965 [ZDF]) Die Kette (BRD, 1977 [SWF]) Die Kommissarin (BRD/D, 1994-2006 [HR]) Die Kriminalpolizei warnt! (D, 1939-? [Reichsrundfunkgesellschaft RRG])154 Die Nacht im Jägerhaus, 26. April 1956 (SFB, R: Werner Völger) Die seltsamen Methoden des Franz Josef Wanninger (BRD, 1965-1970 [WDR]) Die Tintenfische – Unterwasserdetektive greifen ein (BRD, 1966 [ZDF]) Die unsterblichen Methoden des Franz Josef Wanninger (BRD, 1978-1982 [WDR]) Die Unverbesserlichen (BRD, 1965-1971 [NDR]) Die zweite Heimat. Chronik einer Jugend. (BRD, 1992 [ARD u.a.]) Dragnet/Polizeibericht (USA, verschiedene Serien 1951-2004 mit Unterbrechung [NBS/ABC]) ‒ The Human Bomb, 16. Dezember 1951 (NBC, R: Jack Webb) Ehen vor Gericht (BRD/D, 1970-2000 [ZDF]) Ein Fall für Titus Bunge (BRD, 1967 [ZDF]) Ein Fall für Zwei (BRD/D, seit 1981 [ZDF]) Eine Geschichte aus Soho (BRD, 1958-1960 [HR]) Einer fehlt beim Kurkonzert, 28. Dezember 1968 (NDR, R: Jürgen Roland) Einmal im Leben. Geschichte eines Eigenheims (BRD, 1972 [NDR]) Es geschah an der Grenze (BRD, 1960-1961 [SWF]) Es geschah in Berlin (BRD, 1965 [ZDF])
154 Nach Reiss (1979: 134) lief die 15-minütige Sendung ab dem 5. Juni 1939. Das Enddatum ist unbekannt.
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Eurocops (BRD u.a., 1988-1993 [ZDF u.a.]) Exklusiv!, 26. Oktober 1969 (NDR, R: Peter Schulze-Rohr) Die Firma Hesselbach/Die Familie Hesselbach/Herr Hesselbach und… (BRD, 1960-1967 [HR]) Fernsehfieber. Bemerkungen über das Massenmedium und sein Publikum, 25. Juni 1963 (SDR, R: Dieter Ertel/Georg Friedel) Funkstreife Isar 12 (BRD, 1961-1963 [WDR]) Gestatten, mein Name ist Cox (BRD, 1961/1965 [WDR]) Gestern gelesen. Aus den Akten eines Strafverteidigers (BRD, 1969-1975 [WDR]) Gesucht wird Mörder X (BRD, 1959 [NWRV]) Gewagtes Spiel (BRD, 1964-1967 [SWF]) Graf Yoster gibt sich die Ehre (BRD, 1968-1977 [SWF (1968-1971)/WDR (19741977)]) Großstadtrevier (BRD/D, seit 1986 [NDR]) Hafenpolizei (BRD, 1963-1966 [NDR]) ‒ Marihuana, 7. Oktober 1963 (NDR, R: John Olden) Hamburg Transit (BRD, 1970-1974 [NDR]) Hawaii Five-0/Hawaii Fünf-Null (USA, 1968-1980 [CBS]) The High Chaparral/High Chaparral (USA, 1967-1971 [NBC]) Im Angesicht des Verbrechens (D, 2010 [ARD/ARTE]) Inspektor Hornleigh greift ein (BRD, 1961 [WDR]) Inspektor Tondi, 11. August 1952 (NWDR, R: Hanns Farenburg) Intercontinental-Express (BRD, 1966 [NDR]) Interpol. Nach den Akten von Interpol (BRD, 1963-1964 [ZDF]) James Bond (GB/USA, seit 1962 [Filmreihe]) Jörg Preda (berichtet)/Jörg Preda reist um die Welt/Unterwegs mit Jörg Preda (BRD 1966; 1977-1980 [WDR]) John Klings Abenteuer (BRD, 1965-1966/1969-1970 [ZDF]) K11 – Kommissare im Einsatz (D, seit 2003 [Sat1]) Kein Alibi für eine Leiche, 19. Oktober 1986 (ZDF, R: Wolf Dietrich) Kläger und Beklagte (BRD, 1978-1979 [ZDF]) Kommissar Brahm (BRD, 1967 [ZDF]) Kommissar Freytag (BRD, 1963-1966 [HR]) Konto ausgeglichen, 25. Juli 1959 (SDR, R: Franz Peter Wirth) Kopf in der Schlinge, 15. November 1960 (SDR, R: Walter Knaus) Kopf oder Zahl, 3. Januar 1953 (NWDR Berlin, R: Werner Schöne) Krimi-Quiz – Amateurdetektive im Wettstreit/Kommissar-Kollin-Klub – Amateure als Kriminalisten (BRD, 1964-1965 [ZDF]) Kurzer Prozeß, 1. Juni 1969 (BR/ORF, R: Michael Kehlmann) Les cinq derniers minutes (F 1958-1996 [verschiedene Sender]) Lindenstraße (BRD, seit 1984 [WDR]) ‒ Fluchten (Folge 471), 11. Dezember 1994 (WDR, R: George Moorse)
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Lost (USA, 2004-2010 [ABC]) Macky Pancake. Die Abenteuer eines Unwahrscheinlichen (BRD, 1961 [SFB]) Maigret und sein größter Fall (AUS/I/F, 1966; Alfred Weidenmann) Maigret/Kommissar Maigret (GB, 1959/1960-1963 [BBC]) Mannix (USA, 1967-1975 [CBS]) Miss Molly Mill (BRD, 1970 [ZDF]) Mission Impossible/Kobra, übernehmen Sie! (USA, 1966-1973 [CBS]) Mord mit Aussicht (D, seit 2008 [ARD]) Mord nach der Oper, 8. Mai 1969 (WDR, R: Michael Braun) Morgenstund’ hat Gold im Mund/Morgenstunde hat Gold im Munde, Produktion 1930; Sendedaten unbekannt (Reichsrundfunkgesellschaft RGG, R: unbekannt) Nerz ist in der kleinsten Hütte, 30. Oktober 1961 (HR, R: Danielo Devaux) Niedrig und Kuhnt – Kommissare ermitteln (D, seit 2003 [Sat1]) Notruf Hafenkante (D, seit 2006 [ZDF]) Oberinspektor Marek (AUS, 1963-1970 [ORF]) Pater Brown (BRD, 1966-1972 [WDR]) Peter Strohm (BRD, 1989-1996 [NDR u.a.]) Polizeifunk ruft (BRD, 1966-1970 [NDR]) Polizeiinspektion 1 (BRD, 1977-1988 [BR]) Polizeiruf 110 (DDR/D, seit 1971 [DFF/ARD]) ‒ Unter Brüdern, 28. Oktober 1990 (DFF/WDR, R: Helmut Krätzig) ‒ Thanners neuer Job, 22. Dezember 1991 (DFF, R: Bodo Fürneisen) ‒ Die Mutter von Monte Carlo, 29. Januar 2006 (HR, R: Titus Selge) Polizeistation (BRD, 1973 [ZDF]) Privatdetektiv Harry Holl (BRD, 1963-1964 [ZDF]) Rackets are my Racket; Sendedaten nicht ermittelbar (USA) Rebellion der Verlorenen (BRD, 1969 [SDR]) Recht oder Unrecht? (BRD/CH, 1970-1971 [SWF/SRG]) Rosa Roth (D, 1994-2013 [ZDF]) Saskia – Schwanger zum Sex gezwungen, 3. Mai 1997 (Sat1, R: Erwin Keusch) Schritte in der Nacht, 18. Oktober 1961 (SDR, R: Theo Mezger) Schwurgericht (D, 1995 [Sat1]) Sie kommen (immer) in der Nacht, 12. und 19. Januar 1954 (NWDR, R: Hans Waldemar Bublitz) Signale aus dem Äther, 24. November 1953 (NWDR, R: Hans Waldemar Bublitz) Sonderdezernat K1 (BRD, 1972-1982 [NDR]) Soweit die Füße tragen (BRD, 1959 [NWRV]) Spuk im Morgengrauen, 28. September 1969 (SDR, R: Dieter Munck) Stahlnetz (BRD, 1958-1968 [NWRV/NDR]) ‒ Mordfall Oberhausen, 14. März 1958 (NWRV, R: Jürgen Roland) ‒ Bankraub in Köln, 23. April 1958 (NWRV, R: Jürgen Roland)
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‒ Aktenzeichen: Welcker – u. a. wegen Mordes, 6. November 1959 (NWRV, R: Jürgen Roland) ‒ E…605, 3. Oktober 1960 (NWRV, R: Jürgen Roland) ‒ Saison, 24. April 1961 (NDR, R: Jürgen Roland) ‒ In der Nacht zum Dienstag, 7. November 1961 (NDR, R: Jürgen Roland) ‒ In jeder Stadt…, 6. April 1962 (NDR, R: Jürgen Roland) ‒ Spur 211 (2 Teile), 28. und 30. November 1962 (NDR, R: Jürgen Roland)155 ‒ Rehe, 16. Juni 1964 (NDR, R: Jürgen Roland) ‒ Ein toter zuviel, 14. März 1968 (NDR, R: Jürgen Roland) Stahlnetz (D 1999-2003 [NDR]) ‒ PSI, 5. Mai 2002 (NDR, R: Markus Imboden) Streit um Drei (D, 1999-2003 [ZDF]) Tage der Rache (BRD, 1970 [SDR]) Tagebuch für einen Mörder, 4. Juli 1988 (ZDF, R: Franz Josef Gottlieb) Tagesschau (BRD/D, seit 1952 [NWDR/NWRV/NDR] Tales from Soho (GB, 1956 [BBC]) The Avengers/Mit Schirm, Charme und Melone (GB, 1961-1969 [ITV]) The Defenders/Preston & Preston (USA, 1961-1965 [CBS]) The Man from U.N.C.L.E./Solo für O.N.C.E.L. (USA, 1964-1968 [NBC]) The Prisoner/Nummer 6 (GB, 1967-1968 [ITV]) The Outsider/Der Einzelgänger (USA 1968-1969 [CBS]) The Streets of San Francisco/Die Straßen von San Francisco (USA, 1972-1977 [ABC]) Tim Frazer (BRD, 1963 [WDR]) Tod auf dem Rummelplatz, 28. September 1958 (NWRV, R: Joachim Hess) Überfall auf Zelle 7 – Ein Kriminalfall, den Sie aufklären sollen, 18. Mai 1940 (Reichsrundfunkgesellschaft RRG, R: Hanns Fahrenburg)
155 In der Straßenfeger-Edition der ARD wurde 2012 eine einteilige Fassung von Spur 211 veröffentlicht. Sie hat eine Länge von ca. 109 Minuten. Auf www.youtube.de findet sich eine zweiteilige Version mit einer Länge von 68 Minuten und 48 Minuten (also insgesamt 116 Minuten), die so auch bei einer früheren DVD-Veröffentlichung (2005) verwendet wurde. Der Laufzeitunterschied erklärt sich v.a. durch eine fast 5-minütige Zusammenfassung zu Beginn des zweiten Teils (Jürgen Roland im on, die für den Einteiler ebenso herausgeschnitten wurde wie der Abspann von Teil 1. – Die Originalfassung hatte laut den Angaben im NDR-Archiv eine Länge von 128 Minuten (Teil 1: 75 Min.; Teil 2: 53 Min.). Dort ist vermerkt, dass die Produktion Fremdfilmmaterial beinhaltet und deshalb am 13. November 2008 gesperrt wurde. Ob Spur 211 für die DVDVeröffentlichung um dieses Material gekürzt wurde, ist unklar. – Ich danke Helmut Bruger vom Fernseh-Archiv des NDR für die großzügige Bereitstellung der Informationen zu Stahlnetz.
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Unsere Nachbarn heute Abend: Familie Schölermanns (BRD, 1954-1960 [NWDR/NWRV]) Unter Ausschluss der Öffentlichkeit (BRD, 1974 [SWF]) Unter Verdacht (D, seit 2002 [ZDF]) Von null Uhr eins bis Mitternacht (BRD, 1967 [ZDF]) Vorsicht Falle! Nepper, Schlepper, Bauernfänger (BRD/D, 1964-2001 [ZDF]) Wer hat recht? (BRD, 1956-1958 [NWRV]) Wie würden Sie entscheiden? (BRD/D, 1974-2000 [ZDF]) Wilsberg (D, seit 1995 [ZDF]) ‒ Die Bielefeld-Verschwörung, 18. Februar 2012 (ZDF, R: Hans-Günther Bücking) Zehn Jahre und drei Tage, 21. November 1956 (NWRV, R: Fritz Umgelter) Zu viele Köche (BRD, 1961 [NWRV]) Zwischenfall im Roxy, 16. und 23. März 1954 (NWDR, R: Hans-Waldemar Bublitz)
Entscheidungsprozesse in der Redaktion Interview mit Melanie Wolber, Redakteurin des Lena-OdenthalTatort beim SWR S TEFAN S CHERER (I NTERVIEW ) / H ERAUSGEBER (F RAGEN )
Was interessiert Sie am ›Tatort‹ einerseits persönlich, andererseits beruflich in Ihrer Tätigkeit als Redakteurin für den Odenthal-›Tatort‹? Mich persönlich interessieren immer Menschen, menschliche Nähe und existenzielle Geschichten. Wenn ich in eine Welt eintauche, wenn mich die Figuren interessieren, die ich sehe, dann interessiert mich der Fall. Was mich persönlich weniger interessiert, ist der reine Krimi: Am Anfang passiert ein Mord, am Ende hat die Kommissarin oder der Kommissar den Fall gelöst. Das weiß ich, und daher ist das nichts, was mich überrascht, und das ist auch das Versprechen, das wir dem Zuschauer geben: Der Fall wird am Schluss gelöst sein. Von daher interessieren mich persönlich, wie schon gesagt, mehr die emotionalen, menschlichen Komponenten. Jeder Fall wird ja gelöst, wie Sie sagen. Aber es gibt auch beim SWR Folgen wie ›Tod im All‹, da wurde der Fall nicht wirklich aufgeklärt. Ist das für Sie eine Option, oder wollen Sie erst einmal das Normalmodell, demzufolge der Fall zum Schluss geklärt ist? Das ist in der Tat das Versprechen des Normalmodells. In Ausnahmefällen lassen wir eine Folge schon einmal offen enden: In Tod im All (1997) oder in Romeo & Julia (2003) wurden die Täter laufen gelassen: Der Fall war zwar klar, aber die Täter wurden nicht überführt. Bei Der Wald steht schwarz und schweiget (2012) hatten wir fünf Verdächtige, die verhaftet wurden, das wurde im Film dann auch nicht aufgelöst. Das war aber auch Konzept des Films.1 Es sind die Ausnahmefälle, die die Regel bestätigen.
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Das persönliche Interesse verbindet sich dann mit den beruflichen? Gibt es da Kongruenzen? Ja, das ist dann auch das Recht oder vielleicht auch das Glück der Redakteurin, dass sie auch ihre persönlichen Visionen oder Ideen in die Filme integrieren kann. Das ist der Charme der redaktionellen Arbeit, und gerade beim Tatort, wo viele Redaktionen dran arbeiten, macht das die Qualität des Formats aus, dass es eben so viele unterschiedliche Ansätze gibt: Das ist das Spannende. Und ich kann mein Faible für die Figuren und bei Lena Odenthal auch stärker das Milieu mit einbringen. Schauen Sie sich eigentlich auch ›Tatorte‹ der Konkurrenten an? Das ist Pflicht. Das gehört zu meinem Job. Wenn ich es mal nicht schaffe, am Sonntagabend zu schauen, hole ich das aber möglichst schnell nach, denn ich muss wissen, welche Geschichten die anderen Kolleginnen und Kollegen erzählen, wie sie die Filme gestalten, auch um zu sehen, mit welchen Autor/innen und Regisseur/innen die anderen Sender zusammenarbeiten, wie die anderen Sender die Bücher umsetzen und was es an inhaltlichen Veränderungen gibt. Gehen wir noch einmal einen Schritt zurück: Wie wird man Redakteurin für den ›Tatort‹? Welche besonderen Kompetenzen sind dafür nötig? Wie sieht eine ›Sozialisation‹ in Richtung auf dieses Berufsfeld aus? Zuerst einmal die ganz normale journalistische Ausbildung: Also ein Studium, ein Volontariat, und dann entscheidet man sich im Laufe der Arbeit hier im Haus, welche Richtung man genau einschlagen möchte. In einem Volontariat durchläuft man ja verschiedene Stationen: Nachrichten, Hörfunk, Dokumentarisches und eben auch
1
[Melanie Wolber genauer dazu:] Die Idee des Films war, dass Lena Odenthal als Geisel genommen wird und die Spannung des Films entwickelte sich durch die parallelen Erzählstränge: Auf der einen Seite musste Kopper seine Kollegin suchen und retten, auf der anderen Seite befand sich Lena Odenthal in der Hand von gewaltbereiten Jugendlichen. Sie musste also auf sich selbst aufpassen – und gleichzeitig wollte sie natürlich herausfinden, wer den Gruppenleiter getötet hatte. Am Schluss wird Lena Odenthal gerettet, aber die Jugendlichen haben zusammengehalten nach der Devise ›Einer für Alle – Alle für Einen‹. Keiner hat den anderen verraten. Später haben wir aus der Grundidee das Crossmedia-Projekt TatortPlus entwickelt: Die Online-Nutzer konnten nach der Ausstrahlung in einem point&click-adventure den Mörder ermitteln. Das war aber für das Verständnis des Films nicht zwingend notwendig. Es war mehr eine Art Geschenk an die große Tatort-Fangemeinde im Netz.
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Fiktionales. Nach dem Volontariat kann man sich entscheiden, welcher Bereich einem am meisten liegt. Mir persönlich liegt der Hörfunk überhaupt nicht. Ich mag die Teamarbeit des Fernsehens: Hörfunk ist eine sehr einsame Arbeit, da läuft man mit dem Tonbandgerät herum und führt Interviews, und mittlerweile schneiden die Autor/innen meines Wissens sogar selbst. Fernsehen dagegen ist in ausgeprägtem Maße Teamarbeit: Ich schneide nicht, ich drehe nicht usw. Ich mag mit der Teamarbeit auch das Langfristige. Ich arbeite ja bis zu zwei Jahren an einem Projekt, und diese gründliche Entwicklungsarbeit liegt mir sehr. Aber das sind Dinge, die jede/r für sich selbst herausfinden muss. Ich mag es eben, Geschichten zu erzählen. Seit wann betreuen Sie den Lena-Odenthal-›Tatort‹? Ich habe das Tatort-Format 2000 übernommen, und der erste Dreh fand 2002 statt, das war Leyla (2003). Es gab ja zu diesem Zeitpunkt schon elf Jahre Lena Odenthal. Wie haben Sie sich selbst ihr Bild vom ›Tatort‹ gemacht, als Sie eingestiegen sind? Als ich die Redaktion übernommen habe, habe ich erst einmal alle bisher gedrehten Lena-Odenthal-Folgen angeschaut, das war für mich Pflichtprogramm. Ich musste ja wissen: Was haben wir schon erzählt? Wie haben wir die Geschichten erzählt? Was ist das für eine Figur? Ich musste mich selbst dieser Figur annähern. Ich habe mit der Redakteurin, die vorher viele Odenthal-Tatorte betreut hatte, darüber gesprochen, wie sie das Format sieht. Es gab damals auch eine Lena-Odenthal›Bibel‹, die ich natürlich gelesen habe. Ich selber habe auch einmal den Versuch gemacht, eine ›Bibel‹ zu schreiben, habe das dann aber schnell wieder aufgegeben. Ich dachte zunächst, es macht Sinn, wenn ich den Drehbuchautor/innen erzähle: Odenthal ist als Persönlichkeit so disponiert wie z.B. in Folge XY, so dass die Autor/innen sich den jeweiligen Film ansehen konnten, um zu erkennen, wie Lena Odenthal geführt wurde. Dieser Versuch ist nicht gelungen, weil die Autor/innen dann immer wieder die gleichen Geschichten vorgeschlagen haben. Da habe ich gemerkt: Wenn ich Beispiele gebe, führt es nur zur Duplikation. Deswegen gibt es bei mir jetzt keine ›Bibel‹ mehr, die Autor/innen müssen sich die letzten Folgen ansehen und selbst ein Gespür für die Figuren entwickeln. Was stand denn so in der ›Bibel‹? Ganz grob gesagt, dass Lena Odenthal ein androgyner Typ ist, dass sie sich sehr stark mit Opfern solidarisiert, dass sie Opfer auch mal nach Hause mitnimmt – solche allgemeinen Merkmale. Was in der Odenthal-›Bibel‹ nicht drin stand, was für mich aber immer ganz klar gegeben war, ist, dass sich Lena Odenthal immer mit
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gesellschaftspolitischen Themen beschäftigt. Das habe ich in irgendeiner Form verinnerlicht, ich weiß gar nicht, woher das kam, aber ich habe das sehr stark gefördert. Dann kam die Zeit, in der die Münsteraner Tatorte begannen und sehr erfolgreich gesendet wurden. Da haben wir in der Redaktion diskutiert, ein bisschen mehr Humor in die Lena-Odenthal-Folgen reinzubringen. Allerdings muss ich gestehen, dass mir das schwer fällt, weil ich finde: Das Odenthal-Team ist ernster, realistischer geworden. Die komischen Seiten, die v.a. Kopper früher bedient hat, haben sich mit den Jahren etwas abgeschliffen – der ständige Umgang mit Verbrechen, die Lebenserfahrung – man kann einem Format den Humor nicht einfach ›aufpfropfen‹, das muss gut entwickelt werden. Kopper aber ist doch eine komische Figur? Ja, zu Beginn war er es mal. Aber mit der Zeit war auch Andreas Hoppe [der Schauspieler von Mario Kopper; Hg.] gar nicht mehr glücklich mit der komischen Figurenführung von Mario Kopper. Er wollte, dass die Figur ernster genommen wird, damit klar wird: Mario Kopper nimmt seinen Job ernst. Mit der Zeit ist die Figur Kopper also ernster geworden – und damit hatten wir das Problem, dass sich Mario und Lena immer ähnlicher wurden. Beide nehmen ihren Job ernst, beide leben für ihren Job, beide haben kaum Privatleben usw. Daher versuchen wir seit einiger Zeit, die Figuren wieder unterschiedlicher zu führen, etwa in den letzten Folgen [Kaltblütig, 2013], in denen Kopper Musik macht und auf den Feierabend besteht, während Lena immer noch Tag und Nacht arbeitet. Kopper entwickelt also eigene Ideen, etwa mit dieser Band, in der er spielt? Sind solche Veränderungen redaktionell konzipiert? Die Idee, dass Kopper Musik macht, kam von der Produzentin. Sie hat uns [der Redaktion; Hg.] die Idee vorgetragen, und wir waren angetan – auch Andreas Hoppe hat sich über die neue Farbe für Mario Kopper sehr gefreut. Wir alle waren Zeugen, wie Andreas Hoppe beim 20-jährigen Jubiläum von Lena Odenthal mit seiner Band gesungen hat. Wir wussten, dass er es kann. Da fiel uns die Entscheidung nicht schwer. Es ist ein Zusammenspiel zwischen Redaktion, Produzent und Schauspieler/innen: Wenn Vorschläge, Ideen oder auch Wünsche von den Schauspieler/innen kommen, überlegen wir erst, ob wir sie gut finden und wenn ja, schauen wir, wie wir sie umsetzen können.
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Was zeichnet den Lena-Odenthal-›Tatort‹ für Sie aus? Was unterscheidet ihn von anderen ›Tatort‹-Serien? Ist es das Gesellschaftspolitische, von dem Sie gesprochen haben? Lena Odenthal ist nicht das einzige Format, das gesellschaftlich relevante Themen aufgreift, aber bei uns ist es auf jeden Fall ein sehr wichtiger Bestandteil. Die Unterschiede einzelner Formate ergeben sich m.E. v.a. durch die Figuren der Kommissare: Wie handeln sie? Was für Charaktereigenschaften haben sie? Welche Besonderheiten haben sie? Ich persönlich mag die starke Frau, die Lena Odenthal verkörpert, die sich nicht einschüchtern lässt, die ihre Ziele konsequent verfolgt – und das schon in einer Zeit, in der sie es v.a. mit Männern um sich herum zu tun hatte. Wie stark beobachten Sie dabei die Aktivitäten des eigenen Senders SWR mit zwei weiteren Serien? Ist ›Ihr‹ ›Tatort‹ hausintern abgestimmt? Oder verfolgen Sie Ihre Folgen in Eigenregie, speziell auf den SWR bezogen? Jede Redaktion macht ›ihren‹ Tatort in Eigenregie, aber natürlich reden wir miteinander über Stoffe, über Autor/innen und über Regisseur/innen. Meine Chefs koordinieren die verschiedenen SWR-Tatorte zusammen mit uns Redakteur/innen und der Produktionsfirma Maran-Film, eine Tochtergesellschaft von Bavaria und SWR, die unsere Eigenproduktionen betreut. Sowohl die Redaktionen als auch die Produktionsfirma entwickeln Stoffe, im Gespräch miteinander natürlich. Wir versuchen uns gerade in den Themen oder Besonderheiten in den Filmen nicht zu doppeln. Wir haben erst kürzlich eine Redaktionsleitung eingerichtet, um die Entwicklungsarbeit der verschiedenen SWR-Tatort-Formate noch besser koordinieren zu können. Mein Kollege Ulrich Herrmann nimmt diese Aufgabe wahr. Unterscheiden sich die drei SWR-›Tatorte‹, z.B. in den Themen? Die unterschiedlichen Profile der Tatort-Kommissare, das Setting mit den unterschiedlichen Möglichkeiten, Milieus und Kriminalfälle realistisch zu erzählen, geben den Rahmen für die Themen vor. Das ist natürlich im eher ländlichen Raum am Bodensee etwas ganz anderes als in der Landeshauptstadt Stuttgart oder in Ludwigshafen. Dann wird die Stoffauswahl natürlich auch von den einzelnen Redakteur/innen geprägt, denn jede/r hat eine Vision für das eigene Format. Mich interessieren z.B. besonders gesellschaftspolitische Themen im Tatort. Meine Kollegin Brigitte Dithard, die den Stuttgarter Tatort betreut, hat früher die Bienzle-Tatorte verantwortet. Beim neuen Tatort-Team (Lannert/Bootz) setzt sie sehr stark auf aktionale Folgen, die auch Thriller-Elemente enthalten können. Bucharbeit ist immer sehr individuell. Geben Sie ein Drehbuch fünf Redakteur/innen und Sie bekommen fünf verschiedene Meinungen.
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Wie schätzen Sie denn z.B. den Bodensee-›Tatort‹ mit Klara Blum in Konstanz ein? Der Bodensee-Tatort setzt sehr stark auf die Region. Im Dreiländereck und an den Ländergrenzen können wir Fälle ansiedeln, wie es sie in Berlin oder München nicht geben kann. Außerdem bemühen wir uns, die Mentalität der Leute in der Region mitzuerzählen. Am Bodensee ist das Leben langsamer als in der Großstadt. Die Redaktionen sind also eher autonom? Wir entwickeln die Tatorte in der Redaktion mit unserem Redaktionsleiter und der Maran-Film, in Abstimmung mit unserem Abteilungsleiter Manfred Hattendorf und unserer Hauptabteilungsleiterin Martina Zöllner. Bei uns gilt das Vier-AugenPrinzip, d.h. mehrere Kolleg/innen schauen auf eine Idee, einen Stoff. Das verhindert inhaltliche Einseitigkeit, und auch Verstrickungen, wie es sie im NDR mit Doris Heinze gegeben hat. [Fernsehspielchefin des NDR, die im Herbst 2009 entlassen wurde; Hg.]. Und da wurde noch einmal klar, warum wir das [die Abstimmung mit den Vorgesetzten; Hg.] so machen, also unbewusst haben wir es immer richtig gemacht, dass keine persönlichen Verflechtungen vorkommen und immer ganz deutlich wird: Unsere Entscheidungen sind inhaltlich begründet und mit unseren Vorgesetzen abgestimmt. Gibt es ein ›Tatort‹-Konzept des SWR gegenüber anderen ARD-Sendern, z.B. im Blick auf das eigene Traditionsverhalten, insofern, als der SWF die ersten Kommissarinnen (Buchmüller, Wiegand) hatte? Es gab meines Wissens nie ein Konzept, das sagte: »Wir als SWR wollen immer weibliche Kommissarinnen haben.« Und ich kann leider nicht sagen, was dazu führte, dass der SWF2 als erster Sender eine weibliche Tatort-Kommissarin etablierte, und auch nicht, warum es immer wieder Kommissarinnen-Figuren gab. Ich denke, es lag stark an dem Engagement einzelner Redakeur/innen bzw. Abteilungsleiter/innen, die sich diese Figuren ausgedacht und Visionen entwickelt hatten. Aber ich bin sehr stolz darauf, dass wir mit Lena Odenthal und Klara Blum zur Zeit zwei starke Frauenfiguren haben. Und ich folge dieser Tradition sehr gerne. Mit dem Stuttgarter Team wurde dann in Nachfolge von Bienzle bewusst ein Männerteam eingeführt, um nicht nur weibliche Kommissarinnen im SWR zu haben.
2
[Hinweis der Hg.] Der SWR entstand durch die Fusion der Sender SWF und SDR im Jahr 1998.
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Das ist dann aber schon eine bewusste Entscheidung: ein Männerteam gegen zwei Frauen zu setzen? Ja, das war eine bewusste Entscheidung, dass in Stuttgart nicht noch ein Frauenteam eingesetzt werden sollte, obwohl es da sicher tolle Figuren gegeben hätte, auch tolle Schauspielerinnen. Als der Bodensee-Tatort entwickelt wurde, war es ein dezidiertes Votum für die Schauspielerin Eva Mattes. Als klar war, dass neben Ludwigshafen und Stuttgart ein weiteres Tatort-Team im SWR etabliert werden konnte, haben alle Redakteur/innen Ideen für das neue Konzept entwickelt. Ulrich Herrmann hatte dann die Idee für den Bodensee-Tatort und die Besetzung mit Eva Mattes. In Stuttgart lief die Entwicklung der Bienzle-Nachfolge stark über die Redakteurin Brigitte Dithard. Sie wollte nicht nur an die Erfolge von Bienzle anknüpfen, sondern hat gezielt einen anderen, moderneren Ansatz gewählt. Im RedaktionsTeam fiel dann die Entscheidung für das neue Duo Richy Müller und Felix Klare. Und von dem Konzept haben sich auch der Fernsehdirektor und unser Intendant schnell überzeugen lassen. Mit dem Stuttgarter ›Tatort‹ setzt ja eine Tendenz zur Action-Dramaturgie ein, die sich auch bei anderen Sendern um 2010 beobachten lässt? Ich denke, dass es sich um eine Welle handelt. Man kann immer wieder Wellenbewegungen entdecken: Erst kam die Welle der weiblichen Ermittlerinnen so um 2002, dann die Humoroffensive mit dem Münsteraner Team und schließlich eine Welle der Action-Ermittler. Wenn ein neues Team etabliert werden soll, schaut man sich ja in der Tatort-Landschaft um und versucht, ein neues Konzept zu entwickeln, das es bisher noch nicht gab. Da die Entwicklungen aber nicht innerhalb weniger Tage abgeschlossen sind, kommen Parallelentwicklungen zustande, die dann in mehr oder weniger kürzeren Abständen im Fernsehen zu sehen sind. Man merkt ja auch, dass sich jetzt z.B. der Dortmunder wieder ganz stark absetzt, mit seiner gebrochenen Ermittler-Figur. Wie gesagt, wir versuchen immer wieder etwas Anderes zu erzählen. Das führt dazu, dass die Tatort-Landschaft heute ungeheuer vielfältig ist. Und dabei auch Trends zu bedienen? Es gab ja diese Privatisierung in ruhigeren, epischen Folgen in den 2000er Jahren. Ich glaube, es ist anders herum. Wir bedienen nicht den Trend, sondern der Trend kommt nach dem, was wir machen. Wenn wir mehr Frauenfiguren entwickeln, dann ist das der Trend.
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Aber andere Sender knüpfen daran an, wenn man damit Erfolg hat? Ich glaube nicht, dass das ein Anknüpfen ist, denn: Eine Entwicklung geht ja nicht von heute auf morgen. Ich denke, dass es eine Zeitgleichheit ist, die passiert. Es ist so etwas wie ein Zeitgeist, der reif für bestimmte Figurenkonstellationen und -dispositionen ist. Genauso, wie sich manchmal Stoffe zu einem bestimmten Zeitpunkt doppeln; beim Thema ›Ehrenmord‹ gab es z.B. plötzlich vier Sender, die sich im weiteren Sinn mit dem Thema beschäftigt haben. Genauso gibt es Wellen mit der Tendenz: Machen wir gebrochene Figuren oder Filme mit mehr Action, wobei der Hamburger Tatort mit dieser Tendenz [Til Schweiger/Niklas Tschiller; Hg.] natürlich sehr viel später gekommen ist als der Stuttgarter. Das sind Wellen, die sich, ich sage mal, in der Welt bewegen. Jeder schaut: Was ist denn auf dem Markt und überlegt sich, was gerade fehlt. Hat das etwas mit Überdruss zu tun, dass sich zunächst eine langsamere Dramaturgie flächendeckend durchgesetzt hat und dass man dann etwas anderes machen will? In meinen Augen hat das nichts mit Überdruss zu tun, sondern eher mit dem Impuls, das inhaltliche und formale Spektrum beständig zu erweitern. Wir wollen ja auch unseren Zuschauer/innen Vielfalt und nicht immer das Gleiche bieten. Wie kam es zu der Entscheidung für das ›Tatort‹-Haus in Baden-Baden? Wie verändert ein solches Studio-Gebäude die Drehbuchentwicklung? Welchen Einfluss hat es für die konkreten Dreharbeiten? Die Entscheidung hatte pragmatische Gründe. Früher wurden die Wohnungsszenen mit Lena Odenthal in einer in Ludwigshafen angemieteten Wohnung gedreht, und nur das Kommissariat war in Baden-Baden. Als die einzelnen Drehorte nicht mehr zur Verfügung standen, weil die Mietverträge ausgelaufen waren und es die Möglichkeit gab, das Haus anzumieten, in dem wir jetzt drehen, hat sich der SWR dazu entschieden, alles in ein Haus zu verlegen. So fiel die Entscheidung für das TatortHaus. Natürlich hatte es auch finanzielle Gründe: Es ist billiger, die Innenszenen in Baden-Baden zu drehen, und so können wir möglichst viele Außendrehs an den Originalschauplätzen in Ludwigshafen, Stuttgart und Konstanz realisieren. Hat das Konsequenzen für die Drehbücher? Nein, wir sind frei in der Motivwahl. Wir achten nur darauf, dass wir nicht zu viele Motive im Drehbuch haben, denn jeder Motivwechsel bedeutet Zeit; und die fehlt uns dann beim Drehen.
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Außenaufnahmen sind ja teuer. Zugleich waren genau diese ein Alleinstellungsmerkmal des ›Tatort‹ gegenüber dem ›Kommissar‹ um 1970. Liegt es denn an den Kosten, dass z.B. beim Odenthal-›Tatort‹ viel in Karlsruhe gedreht wird? Das weiß ich nicht. Außenaufnahmen sind bei den Kosten aber nicht grundsätzlich ein Problem. Das Problem sind die Reise- und Übernachtungskosten: Ludwigshafen bedeutet für uns ein Reisetag mit Übernachtungskosten oder sehr kurzen Drehzeiten. Und das ist der Unterschied. Karlsruhe liegt direkt bei uns vor der Haustür, da sparen wir Reisezeit und Übernachtungskosten, wenn wir von Baden-Baden aus fahren. Wir sind aber dabei, den Ludwigshafen-Anteil der Schauplätze deutlich zu erhöhen. Wie sieht Ihre redaktionelle Arbeit konkret aus? Ich bin eine Redakteurin, die weniger mit eigenen Ideen an die Autoren herantritt. Ich habe das einige Male versucht, und es ging immer schief: Ich hatte eine Vision von einem Film, und die Autoren haben ihre eigene Idee daraus entwickelt und was ganz anderes draus gemacht. So haben wir nicht zusammen gefunden. Dann gibt es natürlich die Fälle, dass mir ein Autor/eine Autorin einen Stoff anbietet, der mir gut gefällt. Und das, was ich vorhin gesagt habe, dass das Mehr-Augen-Prinzip ein Vorteil ist, weil es zu starke Verknüpfungen einzelner Personen verhindert, kann sich bei der Stoffentwicklung als Nachteil herausstellen. Will heißen: Bei uns im Haus entscheide nicht allein ich darüber, ob ein Stoff entwickelt wird oder nicht. Es schauen mehrere Menschen drauf. Und dann kann es vorkommen, dass ein Stoff nicht weiter verfolgt wird, obwohl ich ihn mit einem Autor vereinbart hatte. Ich glaube, dass es früher anders war, da hat man sich mit dem Autor bei einer Flasche Wein zusammengesetzt, hat sich was ausgedacht und dann wurde der Vertrag für das Drehbuch gemacht. Vielleicht ist das aber auch nur ein Aberglaube von der guten alten Zeit. Blockiert die Gremienstruktur eines Senders oder der ARD? Das hat mit der ARD erst mal nichts zu tun, was ich beschrieben habe, sind ja senderinterne Strukturen. Ich sag mal so: Sie blockiert nur dann, wenn es eine weiche Soße wird, weil alle ihre persönlichen Interessen oder Vorlieben vertreten. Sofern nur ein kritischer Blick von außen auf das Projekt geworfen wird, ist es förderlich, wenn mehr Kolleg/innen auf einen Stoff schauen, dann kann man sich gegenseitig ergänzen. Ich schätze es sehr, wenn ich einem Kollegen oder meinen Chefs was zu lesen geben und sie fragen kann, was sie davon halten, und wenn ich dann ein Feedback zu dem Stoff bekomme. Das ist hilfreich für das Projekt. Es ist im Grunde
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immer eine Absprache, wie weit die Freiheit des Einzelnen in der Projektentwicklung gehen kann. Ist es ein Problem, wenn die Folge zu provokativ wird, wenn eine ›Bild‹-Schlagzeile daraus wird? Nein, das hat keine Konsequenzen, ehrlich gesagt, es ist ja fast förderlich und kann eine große Werbewirkung haben. So war es z.B. bei unserem ersten TatortPlusSpiel zur Folge Der Wald steht schwarz und schweiget (2012).3 Der Film war immer mit einem offenen Ende geplant, also mit der Verhaftung der fünf Jugendlichen, die Lena Odenthal entführt hatten. In einem Online-Spiel konnten die User dann einen Täter, der den Mord begangen hatte, selbst ermitteln. Damals gab es einen Riesenaufschrei in der Bild-Zeitung, dass die Zuschauer jetzt den Täter selbst ermitteln müssten. Es war ein Missverständnis, aber es hatte für das Spiel eine große Werbewirkung. Etwas anderes ist es, wenn ein Film aus Jugendschutzgründen auf 22.00 Uhr verlegt werden muss, und es kommt deswegen zu Zeitungsschlagzeilen. So wie in der ›Polizeiruf‹-Folge ›Denn Sie wissen nicht, was sie tun‹ (2011) oder in der WDR-Folge ›Franziska‹ (2014)? Genau, das ist uns bisher erspart geblieben, weil wir den Jugendschutz in der Redaktion bei der Entwicklung und der Abnahme in den Filmen sehr ernst nehmen. Wir hatten bisher nur mit einem Lena-Odenthal-Tatort Probleme. Bei dem Film Hauch des Todes (2010) haben wir vor der Ausstrahlung gemeinsam mit unserem Jugendschutzbeauftragten sehr stark an Schnitt und Ton gearbeitet, weil dieser in der ersten Schnittfassung sehr kritisch war. Meines Wissens ist es dem SWR noch nie passiert, dass ein Film aus Jugendschutzgründen auf 22.00 Uhr verlegt wurde. Wie gesagt, wir sprechen immer frühzeitig mit unserem Jugendschutzbeauftragten und zeigen ihm den Film. Das ist auch ein Punkt, in dem ich ein Feedback unter Kollegen schätze: Es gibt immer Dinge, die ich als Redakteurin übersehen kann, wo ich sozusagen ›betriebsblind‹ geworden bin. Ich würde gar nicht für mich beanspruchen wollen, dass ich alles sehe oder jede Schwäche erkenne, und da finde ich es angenehm, wenn ich ein Feedback bekommen kann. Das ist für mich eben auch Teil einer Teamarbeit.
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[Hinweis der Hg.] Der Aufmacher gleich am Montagmorgen lautete: »Was war das denn gestern? Tatort ohne Mörder. Zuschauer müssen Fall im Internet lösen.« (Bild, 14. Mai 2012, o.P.)
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Wenn Sie nun einen Stoff entwickeln: Wie sind die einzelnen Schritte? Ich bekomme einen schriftlichen Pitch, treffe mich mit Autor und Produzent (bei SWR-Eigenproduktionen mit der Maran-Film), oft ist auch mein Chef dabei, dann reden wir über den Stoff, der Autor geht nach Hause. Wir bekommen kurze Zeit später ein Exposé, das sind so vier bis fünf Seiten, in der die Geschichte ausgefeilter beschrieben wird und verständlich wird, worum es gehen soll. Dann kommt nach weiteren Gesprächen das Bilder-Treatment, das ist schon fast ein Drehbuch: in Szenen aufgeteilt – aber ohne Dialoge. Im Bilder-Treatment steht in den einzelnen Szenen drin, was passieren soll. Das ist die schwierigste Arbeit und auch die wichtigste Schnittstelle, denn hier entscheidet sich: Wie läuft der Film? Haben wir alles bedacht? Haben wir alle Geschichten zu Ende erzählt? Haben wir alle Figuren psychologisch glaubwürdig erzählt? Das ist für den Autor die größte Arbeit, dies dann inhaltlich zu füllen. Und als letzter Schritt kommt das Drehbuch. Meistens werden noch mal zwei, drei, vier Fassungen geschrieben, je nachdem, wie viel am Detail gefeilt werden muss. Schlimmstenfalls muss das Drehbuch irgendwann noch einmal komplett umgeschrieben wenn, wenn wir merken, dass es nicht richtig funktioniert. Das ist aber zum Glück eher der Ausnahmefall. Arbeiten da verschiedene Autoren auf den verschiedenen Stufen? Die Regel in Deutschland ist noch immer, dass nur ein Autor bzw. ein Autorenpaar an einem Drehbuch arbeiten. Die einzige Ausnahme ist, wenn wir merken, dass wir nicht weiter kommen. Wenn ein Autor unsere Erwartungen an einen Stoff nicht umsetzen kann. Dann kann es schon mal passieren, dass wir einen Autor auswechseln oder einen anderen hinzuziehen müssen. Aber das ist der worst case. Wie stark ist die Rolle des Regisseurs gegenüber dem Autor? Früher, also in den 1970er Jahren, wurde ja der Drehbuchautor bei den Credits an erster Stelle genannt, so z.B. bei den ›Tatorten‹ von Wolfgang Menge. Die Rezensionen gingen dann auch genau darauf ein und kritisierten Menge z.B. für die Folge ›Gefährliche Wanzen‹ (1974) und nicht den Regisseur Theo Mezger. Wie sieht das Ihrer Meinung nach heute aus? Ich kann nicht sagen, wie in anderen Sendern gearbeitet wird. Ich habe am Anfang die Erfahrung gemacht, das Drehbuch nicht zu weit ohne die Regie zu entwickeln. Es ist vorgekommen, dass ich die Regie erst sehr spät mit einbezogen habe, und dann fing die Diskussion im Grunde von vorne an: »Ja aber, die Figur XY ist für mich doch ganz wesentlich, wieso taucht die nur so selten auf?« Und dann haben wir wieder von vorne angefangen. Deswegen nehme ich jetzt die Regisseure so früh wie möglich dazu, denn sie müssen den Film später umsetzen. Je früher sie dabei
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sind, desto besser können sie ihre Vision des Films mit einbringen. Der Regisseur/die Regisseurin hat eine ganze andere Sichtweise auf das Drehbuch wie ich als Redakteurin. Ich sehe das Drehbuch v.a. unter dramaturgischen Gesichtspunkten, die Regie sieht die Bilder schon bei der Drehbuchentwicklung vor sich. Bei uns sind die Regisseur/innen dann bei den Drehbuchgesprächen immer dabei und bringen sich als vollwertige Partner mit ein. In einem späten Stadium gebe ich das Drehbuch auch unseren Schauspielern zu lesen, also Andreas Hoppe und Ulrike Folkerts, weil sie wieder eine ganz andere Sicht auf das Drehbuch haben und auch aus ihrer Sicht Veränderungen bei den Figuren oder Varianten des Verhaltens usw. vorschlagen. Ich prüfe immer sehr genau, was sie mir zu den Drehbüchern sagen: Was stimmt daran? Wo sind ihre Ideen eine Bereicherung für das Buch? Wo bin ich anderer Meinung? Wenn ich der Meinung bin, dass sie Recht haben, dann versuchen wir, diese Ideen noch ins Buch zu integrieren. Die Themen kommen ja auf Sie zu, die setzen Sie nicht? Sie prüfen also die Vorschläge und wählen danach aus? Genau. Entscheidend ist die Frage: Spricht mich der Pitch an? Wir bekommen unheimlich viele gut strukturierte Vorschläge: Es stimmt alles von A bis Z. Und trotzdem kann es sein, dass ein Stoff nicht weiter verfolgt wird, obwohl das zu Grunde liegende Thema interessant ist. Ich denke, dass es vielen anderen Kolleg/innen da ähnlich geht wie mir. Das Problem ist dann meistens, dass die Figuren nicht interessant sind. Und wenn ich schon sage: Das ist mir doch egal, ob XY einen Mord begangen hat oder nicht, dann wird es die Zuschauer später auch nicht bannen. Von solchen Vorschlägen nehme ich dann Abstand. Wie wählen Sie den Regisseur aus? Zuerst schaue ich: Welches Drehbuch habe ich? Das besprechen wir dann im Team (mein Redaktionsleiter, die Maran-Film und ich). Wir schauen, was wichtig für den Stoff ist: Ist es ein emotionaler Stoff? Beschäftigt er sich sehr stark mit Jugendlichen? Ist er eher actionreich? Was sind die inszenatorischen Besonderheiten für uns an dem Stoff? Die Regisseure haben ja ihre Qualitäten, jeder hat seine Spezialität, das sehe ich, wenn ich mir ihre Filme ansehe: Der eine Regisseur kann gut mit Kindern inszenieren, eine andere Regisseurin kann gut Räume erzählen, andere wiederum können gut Figuren intensiv erzählen, wieder andere sind besser in Milieustudien. Ich frage auch gerne mal die Drehbuchautor/innen selbst: Welchen Regisseur/welche Regisseurin stellt Ihr Euch für Euren Stoff vor? Denn die Autor/innen haben ja auch Erfahrungen mit bestimmten Regisseurinnen und Regisseuren. Wir haben auch bestimmte Teams, bei denen Autor und Regie sagen: Wir würden das gerne zusammen machen. Wenn wir beide kennen, machen wir das gerne;
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denn dann wissen wir auch, dass es später funktioniert und es keine großen Probleme bei der weiteren Drehbuchentwicklung gibt, sondern es ein kreatives Miteinander wird. Nichts ist für mich schlimmer, als wenn ein Regisseur sagt, naja, das war ja alles ganz nett, aber ich schreib’ jetzt noch mal komplett um. Wäre für den Odenthal-›Tatort‹ eigentlich ein Regisseur wie Dominik Graf interessant, der ja einen gewissen avancierten Kunstfilm-Anspruch bei gut gemachtem Handwerk trägt? Oder wäre das für einen Odenthal-›Tatort‹ eher keine Option? Das kann durchaus spannend sein, das Schöne beim Tatort ist ja: Es ist alles möglich. Deswegen finde ich auch Dominik Graf oder andere hochkarätige Regisseur/innen unheimlich spannend. Die Frage ist dann nur: Sind sie bereit, einen Tatort mit den Mitteln umsetzen, die wir ihnen bieten können? Reichen ihnen 24 Drehtage, reicht ihnen der Etat, der uns für einen Tatort zur Verfügung steht? Sind die Regisseure selbst unterschiedlich teuer? Regisseur/innen werden in der Branche durchaus unterschiedlich bezahlt. Aber wir haben als öffentlich-rechtliche Anstalt ein Honorar-Limit, an das wir uns halten. Und das ist ein bisschen das Problem, denn eine Produktionsfirma muss sich nicht an dieses Limit halten, die muss ihr Geld verdienen mit dem Film und ist, glaube ich, variabler mit den Honoraren, die sie zahlen kann. Ist das abhängig von der Quote? Kann man damit mehr einspielen? Nein, das hat mit der Quote nichts zu tun. Es gibt einen Honorar-Rahmen, an den wir uns halten müssen. Beim Film gibt es nicht viele Variablen, mit denen wir jonglieren können, um den Etat einzuhalten. Das sind v.a. die Anzahl der Schauspielertage oder die Ausstattung. Wir müssen halt aufpassen, dass man es hinterher dem Produkt nicht ansieht, denn der Tatort ist immer noch ein Hochglanzprodukt. Wie kommen Sie zu den Darstellern? Ist Prominenz ein Auswahlkriterium? Haben diese ein Mitspracherecht? Wir haben ja ein eigenes Casting-Büro im Haus. Unsere Casterin liest das Drehbuch, redet mit der Regie, welche Schauspieler er oder sie sich vorstellt; dann legt sie uns Beispiele vor. Und dann reden wir auch wieder im Team darüber, wer diese Figur am besten ausfüllen würde. Wir im SWR sagen immer, unsere Hauptdarsteller/innen sind unsere Promis. Wobei das natürlich auch ein Luxus beim Tatort ist: Den Tatort schalten die Zuschauer/innen weniger wegen eines Episodendarstellers,
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sondern viel mehr wegen der ermittelnden Kommissare ein, d.h. die Zuschauer/innen schauen bestimmte Formate an, weil sie die Ermittlerteams lieben. Und der Regisseur ist dann weniger interessant, der Drehbuchautor und die Darsteller auch nicht? Für die Zuschauenden schon – auch wenn das die genannten Beteiligten wahrscheinlich nicht so gerne hören. Manchmal ist es aber auch sehr wichtig, eine starke und prominente Schauspielerin als Gegenspielerin für Lena Odenthal zu haben, wie z.B. Anna Loos in Kaltblütig (2013) oder Corinna Harfouch in Vermisst (2009), dann setzen wir auch das um. Eine Frage zur Figurenentwicklung: Eine Serienfigur macht nicht wirklich im strikten Sinn eine Entwicklung durch. Odenthal war 28 Jahre alt, als sie begann, und es gibt einen Figurenkern, der soweit konstant bleibt, auch wenn die Figur älter wird. Spielt das und das Älterwerden für die Themenwahl eine Rolle? Sagen wir mal so: Wir haben ja nie damit gerechnet, dass das Lena-OdenthalFormat so lange laufen würde. Ulrike Folkerts ist davon ausgegangen, dass sie das zwei, drei Jahre macht, und dann ist es vorbei. Dass es nun grundsätzlich so lange läuft, ist ja nur ein Glück für uns. Wir haben nicht bewusst darauf gesetzt, dass sich die Figur entwickelt, aber die Figur hat sich schon verändert: Sie ist natürlich älter geworden, und sie ist schlicht souveräner geworden. Was wir jetzt aber immer wieder gern in den Drehbüchern heraus kitzeln, ist, dass sie immer noch die ihr eigene Grundenergie von früher hat. Machen deshalb ›Tatort‹-Figuren immer wieder dieselben Fehler, um sie etwa bei ähnlichen Konflikten dramaturgisch zu plausibilisieren? Genau. Die Figur Odenthal verschiebt sich im Verlauf der Serie ins Feminine. Wer ist dafür eigentlich verantwortlich? Die Darstellerin? Dafür ist mehr die Redaktion verantwortlich. Wir wollten Lena Odenthal ein bisschen weicher führen. Dem kam entgegen, dass Ulrike Folkerts mittlerweile auch selber die Haare länger trägt. Wir haben ihr das nicht auferlegt, dass sie das tut, es kam von ihr aus, so haben sich unsere Wünsche und ihre persönliche Entwicklung wunderbar ergänzt.
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Während sie früher ja eher sei es androgyn, sei es burschikos gewesen ist oder sich auch einmal Männern bzw. Serienmördern unterworfen hat? Ja, aber das wird auf Dauer albern, wenn eine gestandene Frau immer noch die Fehler einer 28-Jährigen macht. Der Markenkern Odenthal heißt aber schon, dass sie im Grunde dieses Jungenhafte, das Sportive, Sportliche und das forciert Affektbesetzte bewahrt? Eine Änderung würde man der Figur auch nicht abnehmen: Sie ist ja sehr emotional und auch sehr ambitioniert. Das wird auch so bleiben. Nun gibt es eine jüngere Entwicklung, etwa im Rostocker ›Polizeiruf‹ oder im Dortmunder ›Tatort‹, dass folgenübergreifend erzählt, also eine Art Storyline entwickelt wird. Das findet sich bei Odenthal und auch sonst im ›Tatort‹ eigentlich nicht. Ist das eine Perspektive für Sie? Wir haben jetzt angefangen, darüber nachzudenken. Dieses Kalkül prägt dann aber doch die Dramaturgie? Dennoch muss jeder Film für sich und in sich abgeschlossen sein, das schließt nicht aus, dass wir immer wieder überlegen, welche Veränderungen es geben könnte, die dem Format gut tun könnten. So kann ich jetzt schon sagen, dass es noch in diesem Jahr eine Veränderung im Team geben wird, von der wir hoffen, dass die Zuschauenden sie genauso mögen wie wir im Redaktions- und Produktionsteam. Sie hatten ja einmal eine Kontinuität mit Kopper, der von seiner ›Mama‹ verlassen wurde. Das Moment trat dann zurück. Genau, die Mama ist nicht mehr dabei; eine andere Kontinuität haben wir beibehalten: Lena und Kopper wohnen immer noch zusammen, aber es hat sich verändert, dass wir Frau Keller [Sekretärin; Hg.] und Herrn Becker [Spurensicherung; Hg.] weiter nach vorne geholt haben, aber nicht im seriellen Sinne, sondern inhaltlich in jeder einzelnen Folge. Die beiden Figuren standen früher eher am Rande, jetzt sind sie mehr in die Mitte des Teams getreten. Es gibt eher Überlegungen, ob man kleinere Nebenstränge über mehrere Folgen erzählt. Dies sollte aber die Reihenfolge, in der die Tatorte dann wiederholt werden können, nicht entscheidend beeinflussen.
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Die Folgen würden aber abgeschlossen sein? Bei der Doppelfolge mit Lindholm – ›Wegwerfmädchen‹, ›Das goldene Band‹ (2012) – war der Mord nach der ersten Folge geklärt. Kommt das Modell ›Kommissarin Lund‹ nicht in Frage, also ein Fall über mehrere Folgen hinweg? Das Beispiel vom NDR zeigt, wie gut und wichtig es von Zeit zu Zeit ist, etwas Neues zu wagen und die eingespielten Tatort-Regeln einmal zu verlassen. Das wird aber nie die Regel, sondern immer die Ausnahme bleiben. Über ›House of Cards‹, von ›Netflix‹, einem Netzanbieter, produziert, wird gesagt, das Format könne im Fernsehen, wöchentlich ausgestrahlt, nicht funktionieren, weil die Zuschauer das im Netz anschauen. Sind solche sich ändernden Sehgewohnheiten eine Gefahr für den ›Tatort‹? Nein, das sehe ich nicht, weil wir ja abgeschlossene Folgen haben. Da sehe ich überhaupt keine Gefahr. Wir haben uns natürlich Gedanken gemacht, ob das Netz überhaupt eine Gefahr für das lineare Programm ist. Aber das sehe ich auch nicht. Die Medienforschung merkt schon: Programme sind nur dann im Netz erfolgreich, wenn sie an ein lineares Programm anknüpfen. In Deutschland war noch kein Programm nur im Netz erfolgreich. Netflix hat eine andere Philosophie, wenn sie sich damit durchsetzen, und dieses Konzept sozusagen von den Zuschauerinnen und Zuschauern akzeptiert wird, dann kann das ein Erfolgsmodell sein. Aber die Frage ist ja auch: Über welche Zahlen sprechen wir? 10 Millionen Menschen mit einem Tatort zu erreichen ist kein Problem: Das Programm wird einmal ausgestrahlt und erreicht alle, die das Programm sehen wollen. Die Philosophie des Internets ist aber: Ich schaue etwas zu einer mir genehmen Zeit. Deswegen muss im Netz jeder Programm-Abruf einzeln ›beantwortet‹ werden: Die Abrufe finden nicht zeitgleich, sondern zeitversetzt statt, d.h. das Programm muss für jeden Abrufer ins Netz geschickt werden. Wir haben derzeit aber noch nicht die technischen Kapazitäten, um diese Datenmengen einzeln zu verschicken. Der Sonntagabend-Termin ist wichtig und wird wichtig bleiben. Nicht zuletzt deshalb, weil man sich berechenbar am nächsten Tag bei der Arbeit über den ›Tatort‹ unterhalten kann. Ja, das bleibt. Der Tatort ist einer der wenigen Lagerfeuer-Termine, die so verlässlich sind. Viele andere Termine sind mittlerweile leider sehr austauschbar.
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Spielen US-amerikanische und europäische Serien (z.B. aus dem dänischen Fernsehen) eine Rolle? Beobachten Sie die? Gehen die in die Konzepte ein? Ja, die skandinavischen Serien haben in den vergangenen Jahren eine große Rolle gespielt. Das merkt man ja auch beim Kieler Tatort, bei dem Henning Mankell selbst mitgearbeitet hat. Ich glaube auch, dass der Dortmunder Tatort von den Skandinaviern beeinflusst wurde, weil sie eine derart gebrochene KommissarsFigur etabliert haben [Kommissar Faber; Hg.]. Da sind die Ausländer oft Vorbilder. Auch bei Tschiller [Hamburg; Hg.] kommt ja das Action-Geladene sehr amerikanisch daher. Und bei Ihnen im SWR? Nun, wir beobachten natürlich auch die ausländischen Serien und wägen dann ab, was für unsere Teams passt und was nicht. Im Blick auf die bildästhetischen Mittel fällt z.B. auf, dass ›Breaking Bad‹ eine ›televisuality‹ etwa gegenüber ›The Wire‹ ausstellt, dass hier also Kino im Fernsehen gemacht wird. In Hinsicht auf die ARD-Reihe ist Dominik Graf ein Beispiel für diese Möglichkeit, mit filmischen Mitteln im Fernsehen zu arbeiten. Lassen Sie sich davon beeindrucken? Durchaus immer wieder. Ich persönlich glaube aber, zu viele Experimente wären gefährlich, weil sich die Zuschauenden dann vielleicht doch irgendwann abwenden und sagen würden: »Das wird mir zu versponnen oder zu kompliziert.« Beim letzten Tatort von Dominik [Aus der Tiefe der Zeit, 2013; Hg.] habe ich im Haus oft gehört: »Ich habe ihn nicht verstanden.« Wenn das, ich sag’ mal, zehnmal hintereinander passiert, dann würden sich die Zuschauerinnen und Zuschauer vermutlich doch abwenden, weil ihnen die Filme zu kompliziert und zu experimentell würden. Auf der anderen Seite: So ein Film wie Tod im All (1997) hat auch funktioniert. Der Odenthal-›Tatort‹ war in den 1990er Jahren ja durchaus experimentell. Absolut. Und das ist dann zurückgegangen? Mit der Zeit ja. Aber es ist nie ganz verschwunden. Fettkiller (2007) und Hauch des Todes (2010) sind durchaus Beispiele von experimentelleren Tatorten. Wir haben uns aber vorgenommen, unsere Tatorte formal und ästhetisch wieder freier und offener zu gestalten.
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Ist also ein experimenteller ›Tatort‹ zur Zeit bei Odenthal denkbar? Oder eher nicht? Denkbar ist es, es müsste aber auch passen. Die Form darf den Inhalt nicht konterkarieren oder darf nicht über dem Inhalt stehen. Also die Form muss dem Inhalt entsprechen. Wenn man irgendeinen spannenden Stoff hat, der sich dafür anbietet, und auch die Regisseure, die sich dafür anbieten und die sagen: »Ich hätte da mal eine neue Idee«, dann sind wir offen. Die Serie mit Odenthal ist die am längsten laufende im ›Tatort‹ (seit 1989), neben Batić und Leitmayr (BR) seit 1991, die laut einem Interview in der FAZ noch im Rollator ermitteln sollen.4 Wie sieht das bei Odenthal aus? Naja, ein Rollator passt jetzt nicht unbedingt zu unserer Lena-Odenthal-Figur. Aber wir entwickeln die Figur intensiv mit Ulrike Folkerts weiter. Es geht darum, den Markenkern zu erhalten und immer eine Prise Neues bereit zu halten. So halten wir es auch mit dem bevorstehenden Lena-Odenthal-Jubiläum in diesem Jahr. Kann eine Figur wie Odenthal überhaupt altern? Auch das ist eine interessante Frage: Wie geht so eine sportliche Frau damit um, dass sie älter wird? Wie fühlt sie sich, wenn sie plötzlich merkt, dass ihr Körper anders reagiert, als sie es gewohnt war? Eine andere Frage betrifft die Rezeption der Figur: Wird eine älter werdende Frau von den Zuschauer/innen akzeptiert? Frauen zwischen 50 und 60 Jahren finden im deutschen Fernsehen weniger statt. Dass Ulrike Folkerts so lange so populär geblieben ist, ist ein großer Erfolg, und die Themen des Alterns muss man einfach auch einmal angehen. Also wie fühlt sich so eine Frau, die extrem sportlich ist und plötzlich merkt, es geht dann doch nicht immer so? Das ist eine spannende Frage. Ist sie dabei an Kopper gebunden? Oder ist da auch ein Austausch möglich? Es ist kein Austausch im Team geplant, denn es ist ein erfolgreiches Team. Man muss ja immer abwägen: Was hat die Figurenkonstellation für sich? Und Lena Odenthal und Mario Kopper sind ein erfolgreiches Team.
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Jörg Michael Seewald. »Die Kommissare bleiben Singles. Ein Gespräch mit der SerienChefin des Bayerischen Rundfunks, Stephanie Heckner, zum ›Tatort‹.« faz.net, 4. September 2013 (http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/die-serien-chefin-des-brzum-tatort-die-kommissare-bleiben-singles-12558541.html).
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Sie haben vorhin gesagt: Die Sekretärin und Becker von der Spurensicherung werden ausgebaut. Hat das damit zu tun, dass jetzt insgesamt das Team eine größere Rolle spielt? Oder gehört das eher zum Lokalkolorit der Serie? Beide Figuren sprechen ja hörbar Dialekt. Wir haben die beiden Figuren stärker ausgebaut, weil wir sie sehr mögen, und beide haben viel Potential, das bisher nicht ausgeschöpft worden ist. Gerade bei Peter Becker merkt man das ganz enorm: Er ist so toll und witzig geworden in den letzten Folgen, weil er sich mehr ausleben konnte. Es hat natürlich aber auch mit dem Lokalkolorit zu tun, das wir im Ludwigshafener Tatort stärken wollen. Das spielt in Ludwigshafen ja eher keine Rolle? Bisher weniger, richtig. Aber das soll sich ändern. Dafür gibt es Gründe? Der Lena-Odenthal-Tatort ist in seinem Ursprung als sehr urbaner Tatort angelegt worden. Da wollte man sich weniger auf die Region festlegen, sondern eher das Allgemein-Großstädtische betonen. Erst mit Frau Keller und Herrn Becker kam die Wende, das Format auch stärker in der Pfalz anzusiedeln. Genauso, wie wir seit einigen Folgen auch die Stadt Ludwigshafen stärker ins Bild rücken. Aber es gibt doch auch, denken Sie an den Bodensee oder München, so eine Art Lokal- bzw. Regionallogik. Da gibt Ludwigshafen einfach nicht so viel her? Das stimmt, glaube ich, nicht. Man muss die Stadt dafür nur besser kennen. Die Stadt besteht zu einem Drittel aus der BASF, dort durften wir bisher nicht drehen. Damit mussten wir schon mal etwas ganz Wesentliches ausgrenzen. Wir hoffen, dass sich dieses kategorische ›No Go‹ langsam ändert und wir das Zentrale der Stadt, die Chemieindustrie, stärker in den Mittelpunkt rücken können. Ein zweites Problem ist für uns, dass es nicht wirklich viele Schauspieler/innen gibt, die pfälzisch sprechen, so dass wir doch immer wieder auf Hochdeutsch ausweichen müssen. Das macht die Verortung in der Stadt etwas schwieriger für uns, da wir ja, wie vorher schon gesagt, aus Kostengründen nicht den ganzen Film in Ludwigshafen drehen können.
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Es gibt ja auch eine gewisse Gefahr: Bienzle war zu schwäbisch. Das führte dann zu Aversionen bei den Zuschauern. Das mag vielleicht im gesamten Bundesgebiet so gewesen sein, bei uns im Sendegebiet ist Bienzle sehr beliebt. Aber was ich bei Ludwigshafen ganz wichtig finde und wo ich großen Wert darauf lege, ist die Multinationalität der Stadt. Wir müssen mehr türkisch-stämmige und Schauspieler/innen mit anderen Migrationshintergründen besetzen, denn die Stadt ist ein melting pot der Nationen. Das versuche ich auch durchzusetzen, was nicht immer so einfach ist, denn es gibt z.B. viel weniger Menschen mit Migrationshintergrund, die sich bei den Komparsen-Agenturen melden, so dass es nicht so einfach ist, die Multi-Kulti-Atmosphäre der Stadt im Bild einzufangen. Kopper ist ja auch einer der ersten Kommissare mit Migrationshintergrund. Ja, es hat zwar längere Zeit keine große Rolle mehr gespielt, aber auch hier spielen wir seit einiger Zeit wieder stärker drauf an in den Büchern. Was ist der ›Tatort‹ für Sie unter dem Aspekt der Serialität, denn Sie haben ja schon gesagt: Der ›Tatort‹ ist keine Serie? Ja, der Tatort ist keine Serie, er ist eine Reihe. Wir haben jeden Sonntag eine in sich abgeschlossene Folge. Und auch die Folgen der einzelnen Teams sind in sich abgeschlossen. Es gibt nur einzelne groben Linien, die von Folge zu Folge Bestand haben (z.B. dass Lena und Kopper in einer WG wohnen). Aber es gibt keine Erzählbögen, die in der jeweiligen Folge nicht abgeschlossen werden. Was erwarten Sie von Programmen wie ›Tatort‹ für das deutsche Fernsehen? Gehen diese Erwartungen auf? Welche Erweiterungen, Verbesserungen halten Sie für denkbar oder haben Sie vor? Meine Erwartung und Hoffnung ist wirklich, die Vielfalt zu erhalten. Wir dürfen nicht in ein Schema verfallen. Das ist das Schöne des föderalen Systems, weil wir in den Sendern so viele unterschiedliche Menschen haben, die für das Programm arbeiten. Das ist ein großes Plus für den Tatort. Das schützt uns am besten vor Wiederholungen und vor Langeweile. Und das muss in einem guten Sinne weiter fortgeführt werden.
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Das wird ja auch nicht abbrechen. Der ›Tatort‹ wird weiter produziert werden? Oder sehen Sie ihn gefährdet? Nein, aber ich finde es schon interessant, zu beobachten, wie das in den nächsten Jahren wird. Im Moment hat er ein Hoch. Ich weiß nicht, wie oft wir die 10Millionen-Grenzen in diesem Jahr geknackt haben. Sonst waren wir immer so bei 8 bis 9 Millionen, jetzt sind wir immer bei 9 bis 10 Millionen. Wohl ja auch, weil junge Zuschauer mit jungen Ermittlern rekrutiert werden? Ja, vielleicht, ich weiß es nicht. Man müsste dazu mal das Durchschnittsalter der Zuschauer überprüfen. Also Herr Tschiller ist nicht mehr der Jüngste [Til Schweiger ist 50 Jahre alt geworden; Hg.] und hat trotzdem die jüngsten Zuschauer erreicht. Es ist aber das Kinopublikum von Til Schweiger. Ja genau, die sind jünger, und die hat er offensichtlich zum Tatort rüber gezogen. Ob aber jetzt jüngere Teams jüngere Zuschauer generieren oder ob es mehr daran liegt, welche Teams entwickelt werden, kann ich nicht sagen. In der letzten Zeit wird immer öfter kritisiert, dass weniger Drehtage für den ›Tatort‹ zur Verfügung stehen und die Budgets seit Jahren nicht mehr gestiegen sind. Glauben Sie, dass sich das negativ auf die Qualität der einzelnen Folgen auswirkt? Wie versuchen Sie, dennoch die Qualität zu halten? Im SWR können wir seit vielen Jahren kontinuierlich 23 bis 24 Drehtage halten, damit haben wir im Vergleich zu den anderen Sendern mit die meisten Drehtage. Und das ist gut so. Ansonsten stimmt es, dass die Budgets nicht gestiegen sind. Die Herausforderung besteht darin, zu sparen, wo es geht, aber nur soweit, dass man es dem Produkt hinterher nicht anmerkt. Eine sportliche Aufgabe. Was macht eine moderne Frauenfigur aus? Eine spannende Frage. Auf jeden Fall ist es nicht die Alleskönnerin, die Job, Familie und vieles andere mehr mit einem Lächeln auf den Lippen meistert. Aber es ist eine Frau, die so hart sein kann wie ein Mann, so weich wie eine Frau. Sie kann technisch versiert sein, kann aber auch andere Dinge gut. Sie wird eben weder auf weibliche noch auf männliche Attribute festgelegt. Interessant bei der Drehbuchentwicklung ist ein Test: Ersetze Mann durch Frau und spüre nach, ob sich die Figur verändert – und wie sich die Figur verändert. Das ist wirklich sehr spannend –
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und dann sollte man schauen, ob man der Veränderung nachgibt oder nicht. Wir haben dies beim Tatort Kassensturz (2009) einmal durchexerziert. Die Gebietsleiter sind in Deutschland durchgängig Männer, das ist die Realität, so hatten wir es lange im Drehbuch stehen. Erst beim Besetzungsgespräch habe ich einen Vorstoß versucht: Warum ist der Gebietsleiter keine Gebietsleiterin? Nach dem ersten Aufschrei, dass das nicht realistisch sei, hatte der Regisseur Lars Montag eine Vision: »Ja, es ist eine Frau« – und sie ist genauso, wie wir es für die Männerfigur geplant hatten. Und ein Satz wie: »Ganz ehrlich hat sich damit [mit dem Tod des Opfers; Hg.] ein großes Problem quasi von selber gelöst« klingt aus dem Mund einer Frau komplett anders als bei einem Mann; und trotzdem: Warum soll eine Frau nicht auch so denken? Sind Frauen auf emotionale Nachsichtigkeit gepachtet oder können sie nicht genauso ihre Ziele verfolgen wie Männer? Solches Umdenken führt für mich zu modernen Frauenfiguren. Welche Rolle spielt die Fernsehkritik? Nimmt man sie wahr? Reagiert man darauf? Ärgert man sich über Kritik? Um ehrlich zu sein, lese ich nicht mehr viele Kritiken, da es ja immer persönliche Meinungsäußerungen Einzelner sind und sie mir nur selten einen Mehrwert bieten – also wirkliche neue Erkenntnisse über die Filme. Richtig gute Analysen der Filme lese ich selten. Ich schätze es mehr, die Meinung von Kolleginnen und Kollegen zu meinen Tatorten zu hören, denn das gibt mir meistens den notwendigen Mehrwert, da ich die Kollegen kenne, kann ich deren Kritik auch besser einordnen als von einer Person, die ich nicht kenne. Spielt der Ausstrahlungstermin im Jahresrhythmus eine Rolle? Gibt es jahreszeitliche Präferenzen der Ausstrahlung im Blick auf die Quote? Da wir zwei Lena-Odenthal-Tatorte im Jahr senden, mag ich es persönlich, wenn ein Film sehr früh nach der Jahreswende gesendet wird und der zweite dann im Herbst. Am liebsten natürlich nach den Sommerferien. Es gibt viele Philosophien, wann Filme unter bestimmten Gesichtspunkten besonders gut laufen, aber es gibt nicht den einen Sendeplatz, der besonders gut oder schlecht ist. Insgesamt ist die Planung auch ein Puzzle von fertigen und nicht-fertigen Filmen, von Jahreszeiten und vielen anderen Aspekten. Worin Sehen Sie die größte Herausforderung für den ›Tatort‹ in der Zukunft? Insgesamt gesehen, dürfen wir von Senderseite nie vergessen, dass wir bei jedem Film, den wir ausstrahlen, auch eine gesellschaftspolitische Verantwortung tragen. Nichts ist einfach nur ›Unterhaltung‹ oder nur ›ein Film‹. Jeder Fernsehfilm, den
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wir senden, behauptet auch ein Stück Wirklichkeit. Aus diesem Grund ist es wichtig, sich nicht nur auf die Realität zurückzuziehen. Wir müssen auch visionär sein. Der SWR hat diese Verantwortung sehr früh übernommen, indem er in einer Zeit die ersten Kriminalkommissarinnen im Tatort etabliert hat (damals noch als SWF), als sie in der Realität noch weit entfernt waren. In diesem Sinn müssen wir heute auch visionär in unseren Rollenfiguren sein. Wir müssen öfter Chefinnen statt Chefs erzählen, wir müssen Sekretäre statt Sekretärinnen und Wissenschaftlerinnen statt Wissenschaftler erzählen. Studien in Amerika haben ergeben, dass der run auf forensische Studiengänge seit den CSI-Serien (seit 2000) enorm angestiegen ist, d.h., dass das Fernsehen eine große Auswirkung auf die Berufswünsche junger Leute hat. In diesem Sinn müssen wir Berufe für alle Geschlechter hin öffnen und moderne Gesellschaftsbilder erzählen. Das ist meiner Meinung nach unsere gesellschaftspolitische Verantwortung als Fernsehsender – und ich hoffe und denke, dass wir sie praktizieren und ernst nehmen. Frau Wolber, wir danken Ihnen für das Gespräch.
B EHANDELTE T ATORT -F OLGEN Gefährliche Wanzen, 29. September 1974 (SDR, R: Theo Mezger) Tod im All, 12. Januar 1997 (SWF, R: Thomas Bohn) Romeo & Julia, 5. Januar 2003 (SWR, R: Nicole Weegmann) Leyla, 31. August 2003 (SWR, R: Martin Weinhart) Fettkiller, 30. Dezember 2007 (SWR, R: Ute Wiegand) Kassensturz, 1. Februar 2009 (SWR, R: Lars Montag) Vermisst, 11. Oktober 2009 (SWR, R: Andreas Senn) Hauch des Todes, 22. August 2010 (SWR, R: Lars Montag) Wegwerfmädchen, 9. Dezember 2012 (NDR, R: Franziska Meletzky) Das goldene Band, 16. Dezember 2012 (BDR, R: Franziska Meletzky) Der Wald steht schwarz und schweiget, 13. Mai 2012 (SWR, R: Ed Herzog) Kaltblütig, 13. Januar 2013 (SWR, R: Andreas Senn) Aus der Tiefe der Zeit, 27. Oktober 2013 (BR, R: Dominik Graf) Franziska, 5. Januar 2014 (WDR, R: Dror Zahavi)
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ANDERE R EIHEN
ZITIERTE
F ILME , M EHRTEILER , S ERIEN UND
Breaking Bad (USA, 2008-2013 [AMC]) CSI: Crime Scene Investigation/ CSI: Den Tätern auf der Spur/ CSI: Vegas (USA, seit 2000 [CBS]) Forbrydelsen/Kommissarin Lund – Das Verbrechen (DNK u.a., 2007-2012 [DR1]) House of Cards (USA, seit 2013 [Netflix; Webserie]) Polizeiruf 110 (DDR/D, seit 1971 [DFF/ARD] ‒ Denn sie wissen nicht, was sie tun, 23. September 2011 (BR, R: Hans Steinbichler) The Wire (USA, 2002-2008 [HBO])
Autoren und Rezipienten Zu einem distanzierten Verhältnis R EGINA F. B ENDIX UND C HRISTINE H ÄMMERLING
V ORSPANN : W ENN EIN
NEUER TATORT BEGINNT
Am 14. April 2013 wurde Wer das Schweigen bricht ausgestrahlt.1 Es war der letzte Frankfurter Tatort mit Hauptkommissarin Conny Mey, gespielt von Nina Kunzendorf, an der Seite von Hauptkommissar Frank Steier (Joachim Król). Manche Tatort-Fans im sozialen Netzwerk Facebook kommentierten mit Trauer, Conny Mey habe gefallen. Das Bedauern wird in verschiedenen Posts schon vor und in weiteren während der Ausstrahlung geäußert.2 Nur fünf Folgen haben diese beiden Ermittler zusammen bestritten, nachdem das Team Dellwo und Sänger abgesetzt worden war. Und als Conny Mey zum ersten Mal auftrat, zeigten sich etliche Zuschauer skeptisch: Was hatten Schuhe mit Absatz im Dienst verloren? Warum musste sich Mey so aufreizend kleiden? Und wozu diente die ostentativ auf der Hüfte getragene Pistole? Andere fanden diese Frauenfigur klasse, frech, selbstsicher, genau die Richtige als Gegenpart zu dem verschlossenen, launischen, alkoholsüchtigen Steier, dessen Figur kaum Publikumswertungen dieser Art verzeichnete.3
1
Der Beitrag fußt auf den Ergebnissen aus dem Teilprojekt Alltagsintegration und soziale Positionierung von Heftroman- und Fernsehserien der von der DFG geförderten Forschergruppe 1091 Ästhetik und Praxis populärer Serialität. Allen Gewährspersonen sei hiermit herzlich gedankt. Nota bene: Zitate aus online Quellen werden verbatim übernommen, ohne mittels [!] darauf zu verweisen.
2
Vgl. Facebook, Tatort-Posts zu Wer das Schweigen bricht vom 14. April 2013 (https:// www.facebook.com/Tatort [15. April 2013]).
3
Vgl. Facebook, Tatort-Posts zu Todesstrafe vom 8. Mai 2011 (https://www.face book.com/Tatort [15. April 2013]).
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Auf der Fanseite tatort-fundus4 kommentierte etwa Häschen007 zur genannten letzten Folge von Steier/Mey, die (laut ARD-Zählung) zugleich die 800. Folge der Reihe Tatort insgesamt darstellte: »Nina Kunzendorfist schön wie immer. Als Conny Mey für eine Ermittlerin zu (billig) sexy angezogen. Hat ein guter Tatort nicht nötig!« Schubadahugaz dagegen meinte: »Erst Mai, aber ich bin fast sicher, der beste Tatort des Jahres! 10 Punkte für eine fulminate Eröffnung des neuen Teams. Fr. Mey ist eine tolle Figur die herausragend gespielt wird. Hoffentlich wird Steier nicht zum 1000mal gesehen gescheiterten Cowboy.« Frankfurtcop wiederum gab von 10 nur 0.5 Punkte und schrieb: »So ein Schwachsinn! Die ganzen Ungereimtheiten und Fehler (z.B. Polizeimeister statt -kommissar) kann man gar nicht aufzählen! Blöde Lacherei von Mey. Team harmoniert nicht. Habe nach 42 min ausgeschaltet.« Mathias gab 6 Punkte und erklärte: »Eher ungelungener Einstand: Trotz Tragik laesst einen die Geschichte kalt, kaum Spannung. Viele Straenge haengen in der Luft. Soll Frau Mey die deutsche Antwort auf Lara Croft sein? Positiv: das Privatleben der Kommissare wird nicht ausgewalzt.«5 Beim letzten Zusammenspiel war zwar Bedauern ob des erneuten Frankfurter Wechsels präsent, aber die beiden Meinungsstränge über Hauptkommissarin Mey, die sich von Anfang an etabliert hatten, blieben bestehen: Um 20.18 Uhr postete S.H.6 auf Facebook: »zum glück der letzte mit cowboystiefellady und wackelärschle ;))« Dafür freute sich F.M. schon um 18.20 Uhr: »..endlich Feierabend mit dem Mannweib..gut so!«7 Mehr als bei Facebook werden bei tatort-fundus das Drehbuch, KameraEinstellungen und der Schnitt als Aspekte der Produktionsdimensionen mit einbezogen. Insgesamt jedoch sind Tatort-Zuschauer Rezipienten, d.h.: Tatort-Zuschauer fühlen sich im allgemeinen nicht dazu berufen, neue Plot-Linien vorzuschlagen, durch Fanfiction in die Biographien von Tatort-Figuren einzugreifen oder ihre Rolle mittels anderer, unter dem in der Serienforschung genutzten Konzept »Produsage« (Bruns 2008) gefassten Praxen zu erweitern.8 Damit bildet der Tatort einen Gegensatz zur – zumindest gemäß der Forschungsliteratur – dichten, kreativen Invol-
4
Bei tatort-fundus handelt es sich um eine Fanseite; sie ist seit 2002 online, wird von François Werner als Administrator betrieben und beinhaltet ein Ranking aller TatortFolgen (http://www.tatort-fundus.de/web/startseite.html [12. Juni 2013]).
5
Zitate nach der Tatort-Fundus-Rangliste zu Wer das Schweigen bricht, 14. April 2013 (http://www.tatort-fundus.de/web/rangliste/folgen-wertungen/rangliste-auswertung/nachusern.html?folge=800&Nr=9 [14. April 2013]).
6
Da es sich bei Facebook um eine Plattform handelt, deren Posts erst für eingetragene Nutzer sichtbar werden, sind die Namen hier nicht ausgeschrieben.
7
Facebook, Tatort-Posts zu Wer das Schweigen bricht vom 14. April 2013 (https:// www.facebook.com/Tatort [15. April 2013]).
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vierung von Serienfans im US-amerikanischen Unterhaltungskontext, aber auch zu sukzessive um Fans erweiterten Autorisierungspraxen im Bereich gedruckter Comicserien (Kelleter/Stein 2012) sowie zur deutschen Langzeit-Heftromanserie Perry Rhodan (Nast 2013a/b). Nach einer neuen Folge fällen Tatort-Zuschauer oft harte Urteile oder sprechen überschwängliches Lob aus. Bisweilen geraten sie sich – insbesondere in sozialen Netzwerken – in die Haare oder stören sich an den Meinungsäußerungen anderer. Sie üben Kritik an neuen Tatort-Teams, an zu viel oder zu wenig Handlung, zu intensiven oder mangelnden Einblicken in das Private, an zu viel oder zu wenig ›klassischer Polizeiarbeit‹. Aber selbst wer kritisch urteilt oder gar vor dem Fernseher einschläft, schaltet mit hoher Wahrscheinlichkeit am nächsten Sonntag wieder ein. Als Reihe mit einer über 40-jährigen Geschichte kommt dem Tatort zwar sicher ein Sonderstatus im deutschsprachigen Serienschaffen und -rezipieren zu. Dennoch lassen sich – so glauben wir behaupten zu können – über das distanzierte Verhältnis zwischen Tatort-Schaffenden und -Rezipierenden auch allgemeinere Aussagen zu diesem Verhältnis im deutschsprachigen Raum treffen. Aufbauend auf gut zwei Jahren der qualitativ-empirischen Forschung insbesondere zu und mit Tatort-Schauenden, aber auch mit Produzierenden und Autoren wird unser Beitrag zeigen, 1.) wie sich Tatort-Rezeption in den Alltag integriert und welche Rolle darin der Blick auf die Produzierenden einnimmt. 2.) Umgekehrt wird der Blick auf die Rezeption seitens der Kreativberufler, die in die Entstehung von Tatort involviert sind, zeigen, dass sich Produzierende des Tatort v.a. für Zuschauerzahlen interessieren und deren Äußerungen selbst nur selektiv zur Kenntnis nehmen. Wo dies dennoch geschieht, wird nur selten darauf reagiert. Gründe hierfür liegen, wie wir argumentieren wollen, in den überlappenden wirtschaftlichen und inhaltlich-ästhetischen Logiken, innerhalb welcher seriell erzählt und produziert wird. Entsprechend hat die Wahrnehmung von Zuschauerpräferenzen, wenn überhaupt, nur latenten Einfluss auf die inhaltliche Gestaltung von Tatort-Produktionen. Die ARD freut sich sicher über die nicht abebbende Lust am Tatort-Gucken. Sie fördert mit Webpage samt Mediathek und Facebook-Seite die Verdichtung der Tatort-Nutzung. Sie unterstützt mit Werbung auf Bierdeckeln, Werbepostern und der Integration einer Liste von Kneipen, die den Tatort ausstrahlen, auf der offiziellen Tatort-Page der ARD9 auch das Phänomen Tatort im sog. Public Viewing. Seit der Fußball WM 2006 besitzen viele Kneipen Großbildschirme oder Beamer, die auch
8
Auch zu Tatort gibt es Fanfiction; doch gemessen an den Möglichkeiten, die auch dem deutschen Publikum mittlerweile zur Verfügung stehen, um zur Konvergenz von Medieninhalten beizutragen, werden diese bisher wenig genutzt.
9
Vgl. daserste.de, Wo schauen Sie »Tatort«? (http://www4.daserste.de/publicviewing/ [2. Februar 2014]).
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genutzt werden wollen, und neben Sport und Shows wie Germany’s Next Topmodel (seit 2006) ist seither auch der Tatort Teil der Kneipenunterhaltung geworden – wozu es wiederum immer mehr Medienberichterstattung gibt, was das Rezeptionsformat bekannter macht und damit auch fördert. Die Durchlässigkeit zwischen Tatort-Zuschauern und -Produzierenden wird dadurch, zumindest was konzeptionelle und inhaltliche Entscheidungen betrifft, bisher kaum gelockert. Die Produktionskultur im deutschen Sprachraum ist nach außen hin eher geschlossen; und dies gilt nicht nur für die prestigeträchtige Reihe Tatort. Wenn – zumindest gemäß US-Medienwissenschaftlern wie Henry Jenkins (2006: 4) – die US-amerikanische Produktionskultur ein offenes Ohr und Auge für die Ideen und Launen von Zuschauern hat und insbesondere die transmedialen Erweiterungen von Serienuniversen als Befruchtung des eigenen Schaffens wahrnimmt, so scheint die deutschsprachige Zuschauerkultur in ihrer rezipierenden Rolle umgekehrt mehr als gefestigt. Dass es in dieser Rolle Distinktionen gibt, vom einfachen ›Ich mag Tatort‹ bis zum differenzierten Connaisseur, der Drehbuch, Kameraeinstellungen und schauspielerische Leistungen kritisch kommentiert, werden wir belegen. Überschreitungen der Trennwand sind allerdings kaum wahrnehmbar.
D IE G RENZEN
DES
›P ROSUMENTEN ‹
Am 18. Mai 2013 schreibt Elke Kühn auf zeit.de: »Das Crossmedia-Fieber geht um und hat nun auch den Tatort erwischt: Während die Stuttgarter Kommissare Lannert und Bootz erst am 26. Mai in der Folge Spiel auf Zeit auf Fahndung gehen, können die Fans schon eine Woche vorher nach dem Täter suchen. Am Samstagabend können sich die Spieler beim Tatort+ registrieren und bis zur Ausstrahlung am kommenden Sonntag das Verbrechen aufklären.«10
Wie viele der sieben bis zwölf Millionen deutschen Tatort-Zuschauer steigen in dieses zusätzliche Vergnügen tatsächlich ein? Ein richtiger Ansturm auf das Onlinespiel ergibt sich erst nach der Ausstrahlung der Folge, was auch prompt zu dessen temporärem Absturz führt. Für viele scheint das Teilnehmen wenig Reiz zu haben, was Facebook-Nutzer D.W. pointiert wie folgt postet: »Können die nicht allein ohne uns ermitteln? Früher hat man einfach den Tatort angeschaut und danach einfach den Fernseher aus gemacht. Heute muss immer alles interaktiv sein!«11
10 Elke Kühn. »›Tatort+‹ aus Stuttgart: Ermittlungen im Netz.« zeit.de, 18. Mai 2013 (http://blog.zeit.de/netzfilmblog/2013/05/18/tatort-plus-online-ermittlung-swr/).
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Es ist nicht etwa die Ablehnung neuer Medien und kommunikativer Optionen, die hier aufscheint: Denn dann wären Facebook, tatort-fundus und Twitter auch nicht Plattformen des regen Tatort-Gesprächs. Vielmehr ist es die in einer über 40jährigen Reihengeschichte habitualisierte Praxis des sonntäglichen Tatort-Guckens, die Zuschauenden am Herzen liegt und die ein quasi traditionelles, wenn auch in seiner Ausgestaltung durchaus breit gefächertes Rezipieren zum Genuss macht. Aus unseren Interviews mit Mediennutzern im Alter von 11 bis 70 Jahren lassen sich eine Reihe von Praktiken und Befindlichkeiten belegen, die das »appointment-based viewing«12 – das Fernsehen während der tatsächlichen Sendezeit – als bevorzugten Modus fürs Tatort-Schauen verdeutlichen. Dazu gehört die Stellung des Sonntagabends als Abschluss des Wochenendes, wodurch die Reihe die Stellung eines säkularen Rituals erhält. Das kommt auch in dem in Zeitungsberichten gern verwendeten Slogan ›Tatort ist Kult‹ zum Ausdruck. Ob alleine, ob mit einem Partner, als Familie oder in einer WG (Zillich 2013a/b) – viele Zuschauer gestalten diesen Abend mit Sorgfalt, bemüht um Komfort und Annehmlichkeiten wie etwa ein schönes Glas Wein; das Telefon klingelt nicht, weil der Freundeskreis weiß, dass Tatort die persönliche ›holy time‹ darstellt. Manche Nutzer schauen Tatort auf dem oder im Bett, womit er den Übergang zwischen freiem Wochenende und Wochenbeginn und damit der Arbeit begleitet.. Diese ritualisierten Praktiken rund um die feste Sendezeit sind zudem biographisch relevant: Jugendliche, die Tatort gemeinsam mit Eltern oder Großeltern schauten, halten sich auch nach dem Auszug aus dem Elternhaus weiterhin an den Termin: Dies wird medienbiographisch als eine Art der Beheimatung empfunden. Sie beinhaltet sowohl die Treue zur Reihe, wenn nicht gar eine Verpflichtung gegenüber dem Tatort-Universum als auch die generationelle Verbindung. Aus Interviews mit Jugendlichen lässt sich schon im Ansatz erkennen, wie über das gemeinsame Schauen sowie durch Erklärungen und Verweise auf populärkulturelle Anleihen die Wahrnehmung der Eltern erweitert und vertieft wird.13 Junge Erwachsene wiederum nennen neben der Lindenstraße (seit 1985), den US-amerikanischen Gilmore Girls (2000-2007) und verschiedenen anderen Serien gerade die Tatort-Reihe als verbindendes Element mit den Eltern. Im Gespräch über Reihencharaktere und deren Fortentwicklung entsteht eine Konstante der intergenerationellen Beziehung;
11 Facebook-Post zur Online-Erweiterung Tatort+, 26. Mai 2013, 22.00 Uhr (https:// www.facebook.com/Tatort/posts/10151452267176693 [10. September 2013]). 12 Henry Jenkins. »Imagining Television’s Futures: An Interview with Intel’s Brian David Johnson (Part Two).« Confessions of an Aca-Fan. The Official Weblog of Henry Jenkins, 20. Juni 2011 (http://henryjenkins.org/2011/07/imagining_televisions_futures_1.html). 13 Vgl. das Transkript des Interviews mit Tatort-Zuschauerin Bettina Anders vom 21. März 2011.
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bei seltener werdenden Wochenendbesuchen wird das gemeinsame Seriengucken zu einem Indikator der Verlässlichkeit hergebrachter familialer Praktiken. Dass Tatort-Inhalte wohl kaum potenter platziert sein könnten als zur Sendezeit um 20.15 Uhr unmittelbar nach den Nachrichten, trägt zu seiner vergemeinschaftenden Wirkung bei. Zu wissen, dass Millionen von Menschen im deutschen Sprachraum zur gleichen Zeit die gleiche Ausstrahlung konsumieren generiert was Benedict Anderson »imagined community« (1983) genannt hat.14 Public Viewing ebenso wie digitale soziale Netzwerke konkretisieren ausschnittweise diese imaginierte in eine real erlebte Gemeinschaft. Der rituelle Charakter wird durch die zeitliche Platzierung erhöht und verfestigt sich weiter dadurch, dass Zuschauerkommentare zu den Inhalten selbst meist ausbleiben. Immerhin behandelt Tatort oft höchst aktuelle Themen, von Nahrungsmittelskandalen über Kinderprostitution und Menschenhandel bis hin zu rücksichtslosen Bankern. Tatort verdeutlicht, wo wir leben und was wir willens sind auszuhalten. Der Kulturanthropologe Michael Herzfeld hat für letzteres den Begriff »cultural intimacy« (2005) geprägt, bezogen auf Dinge, die man innerhalb einer nationalen Gemeinschaft weiß, aber die man in der Außenrepräsentation lieber nicht gewusst sähe, und bezogen auf Dinge, über die es streitbare Meinungen gibt, die man aber am Sonntagabend nicht thematisiert. Denn thematisiert werden sie ja vom Tatort, und entsprechend sehen die Rezipienten davon zunächst meist ab.15 Tatort am Sonntag, Tatort gleich Predigt: Gemeindemitglieder werden selten den Inhalt einer Predigt kritisieren, wohl aber die Art, wie gepredigt wurde – und dies wiederum tun Tatort-Zuschauende mit Gusto. Was bei der mündlichen Predigt konstituiert wird durch die Performanz, kann für eine einen Tatort unter den Begriff der ›Erzählweise‹ gefasst werden – die vom Drehbuch über
14 Vgl. den Aufsatz von Joan Kristin Bleicher in vorliegendem Band, der den Tatort als Spiegel gesellschaftlicher Entwicklungen untersucht. 15 In der Anschlusskommunikation zum Tatort nach ›Public Viewings‹ wird, wenn es überhaupt weiter um den Krimi geht, häufig die weniger streitbare Ebene der Beziehungsgeschichte zwischen Ermittelnden aufgegriffen; es werden Witze sowie Unklarheiten oder Logikfehler thematisiert, während die Besprechung sozial-politischer Thematiken oder komplexer Kontroversen auf spätere Zeitpunkte verlegt wird oder ganz ausbleibt. Vgl. bspw. die Feldtagebuchnotizen zur teilnehmenden Beobachtung von Sehgemeinschaften am 11. Dezember 2011 (Schwarze Tiger, weiße Löwin) wie von Public Viewings, etwa am 9. November 2013 (Schmanski-Folge: Loverboy), aber auch die Rückmeldungen unserer Interviewpartner dazu, worüber sie sich im Anschluss an Tatort-Folgen unterhalten. Zuschauer Ingo Fuhrberg etwa beklagt seit Jahren, dass nach dem Tatort nie jemand mit ihm darüber diskutieren wolle, vgl. das Transkript zum Interview mit Tatort-Zuschauer Ingo Fuhrberg vom 27. September 2011.
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Inszenierung und Schauspielerischem bis zu Schnitt und Musikauswahl alles inkludiert. Sowohl aus Interviews als auch (noch deutlicher) aus Facebook-Posts und Tatort-Fundus-Wertungen ergeben sich mehr oder weniger differenzierte Kritiken der Erzählweise einer Folge. Dabei lassen sich verschiedene Zugriffe unterscheiden, an welchen auch Distinktionsansprüche seitens der Nutzer deutlich werden: Neben einfachen Einordnungen wie ›gefällt mir‹, ›war ein guter Tatort‹ oder eben ›war ein schlechter Tatort‹ gibt es differenziertere Verweise auf narrative Aspekte wie Spannung, Charaktervertiefungen oder, im negativen Spektrum, auf inhaltliche Unklarheiten. Viele Kommentare verbleiben nicht auf der Ebene der einzelnen Folge, sondern öffnen den Blick auf das Tatort-Universum, und sei es auch nur in stetig wiederkehrenden Lobpreisungen eines besonders favorisierten Teams, an welchem ein gerade laufender Tatort etwa seitens Facebook-Nutzern gemessen wird. Die Rezeption adressiert außerdem Aspekte der Produktion. Es gibt schlichte Kritik, wie diejenige von Facebook-Nutzer S.B., der den Kieler Tatort vom 6. November 2011 wie folgt kommentiert: »Fällt den Tatort-Drehbuchautoren denn nichts mehr ein, dass sie bei Mankel abkupfern müssen?!? Wie langweilig ist das denn?«16 Daneben gibt es Posts, in denen gerade die Kooperation mit dem schwedischen Krimiautor Henning Mankell begeistert aufgenommen wird, bis hin zu – wenn auch eher selten – mehr oder weniger differenzierten Verweisen auf Kameraarbeit und auf Musik. Schwenkt man zu den Evaluationen auf Tatort-FundusBewertungsseiten über, so sammeln sich hier einige Kommentatoren, die ihren cinematografischen Hang gerne mit in ihre Bewertung einbringen. Das Evaluieren unterschiedlicher, zu benennender Aspekte einer Folge lässt sich allerdings aus den umfangreichen Regeln zur Bewertungspraxis auf tatort-fundus ableiten.17 Insoweit die Nutzer hierauf eingehen, untermauert jedoch unsere Argumentation, dass manche Tatort-Nutzer sich auf diese Weise gern als Kenner ausweisen, deren Rezeptionsrepertoire über das Inhaltliche hinausgeht und die über differenzierte Vokabularien verfügen, ihre Kenntnisse auch kund zu tun. Reaktionen auf Tatort-Folgen bleiben also nicht aus und scheinen zahlenmäßig ständig zuzunehmen. Es gibt zudem das, was andere Nutzer als Meckereien abtun – etwa die stete Kritik an Kommissarin Saalfeld aus Leipzig oder den Wunsch, dass Kommissarin Odenthal endlich offen lesbisch sein möge. Allerdings: Nach Aussa-
16 Vgl. Facebook, Tatort-Posts zu Borowski und der coole Hund vom 6. November 2011 (https://www.facebook.com/Tatort [2. Februar 2014]). 17 Vgl Tatort-Rangliste: »Grundregeln für alle Benutzer der Rangliste« (http://www.tatortfundus.de/web/rangliste/administration/benutzerregeln.html). Hier wird den Usern nahegelegt, ihre Bewertungen anhand nachvollziehbarer Kriterien zu gliedern, wozu Vorschläge gemacht werden.
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gen, die einen alternativen Erzählstrang oder eine andere Charakterentwicklung vorschlagen, sucht man hier vergeblich. Tatort-Nutzer genießen den engagierten Konsum und im Zeitalter der ›Multiscreen‹-Nutzung die Möglichkeit, sich vor, während und nach dem Tatort digital darüber zu äußern. Sich selbst aktiv in die Gestaltung der Narration einzubringen, kommt den Online-Kommentatoren aber selten in den Sinn. Bei aller Kritik – die eindeutig auch Teil des Tatort-Genusses ausmacht – ist die Interviewaussage von Zuschauer Ullrich18 wohl charakteristisch für das Gros der Rezipienten: »Aber ich glaube grundsätzlich, dass jetzt Leute, die da mit Tatort zu tun haben, dass das sehr professionelle Leute sind, dass die aufgrund dessen, dass Tatort nun schon seit vielen, vielen Jahren läuft, sehr viel Erfahrung sammeln konnten und aufgrund der Einschaltquoten […] sich ein Bild davon machen konnten: Was war jetzt gut, was hätten wir besser machen können, oder was sollten wir in Zukunft anders machen? Ich glaube das sind sehr, sehr fähige Leute.«
AUTORISIEREN
UND PRODUZIEREN
Diese »sehr sehr fähigen Leute« sind eingespannt in die komplexen Arbeitslogiken televisionärer Produktion. Um einen Film in der Reihe Tatort zu generieren, sind eine Vielzahl von Arbeitsschritten und eine noch größere Anzahl von Personen mit jeweils unterschiedlichen Qualifikationen und Talenten notwendig. Lässt man die Schauspieler und alles an Personal, was den Dreh und anschließenden Schnitt unterstützt, außen vor, so bleibt ein dichtes Gewebe von Anfragen und Verhandlungen zwischen Redaktionsleiter und Produzent, Drehbuch- und Dialogautoren sowie Regisseuren. Aus einem ersten Exposé entwickelt sich ein zweites und ein drittes, eine Autorin hat genug, ein anderer steigt ein, bis im Lauf von sechs oder eher auch mehr Monaten ein Drehbuch entsteht. Muss der Produzent die wirtschaftlichen Parameter im Auge behalten, so beeinflusst dies die kreativen Möglichkeiten von Autor und Regisseur. Ein befragter Tatort-Autor schilderte diese Abläufe, das Erfahrungswissen und die Schreibpartner, die ihm dabei helfen, sein Material von Pitch zu Step-Outline und Exposé zu entwickeln, in epischer Breite und kommentiert die beständige Rückversicherung gegenüber Produktion und Regie: »Du hast ja keinen autonomen Job da als Drehbuchautor. Das ist ja bisschen anders wie bei Prosa.« (Transkript: Michael Proehl 2012: 7) Als Kreativberufler ist er sich inzwischen seiner eigenen Verletzlichkeit bewusst; er
18 Interviewpartner erscheinen hier unter einem Pseudonym, sofern sie nicht als Experten angesprochen wurden.
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beschäftigt eine Agentin, die ihm viele direkte Gespräche abnimmt und so Honoraransprüche und Zeitplanungen für ihn verhandelt und ihm dann deren Inhalte so vermittelt, dass er mit gutem Gefühl weiterarbeiten kann. Jeder und jede, die an einem Tatort mitarbeitet, ist – wenn auch in unterschiedlicher Weise – von den in serieller Produktion kombinierten Elementen Kreativität, Wirtschaftlichkeit, Zeitmanagement und Kooperation betroffen. Im Gegensatz zum zitierten Autor, für den die kreativen Möglichkeiten die Probleme des unsicheren Einkommens wettmachen, berichtet ein Produzent, dass er dem Schreiben das Produzieren vorziehen musste, weil er als Familienvater das verlässlichere Einkommen brauchte. Das lässt ihn gegenüber kreativen Entscheidungen nicht kalt, verändert aber seine Verantwortlichkeit (vgl. Transkript: Tatort-Producer Ellermann 2011: 4, 9; Feldtagebuch zum Interview mit Ellermann). In einer derart dichten Arbeitswelt sind die Befindlichkeiten von Rezipienten verständlicherweise nicht vorrangig. Der bereits zitierte Autor berichtet von einer inhaltlich etwas wagemutigen Tatort-Redaktion, die sich des Öfteren mit negativer Fanpost konfrontiert sieht: »Ja:a, es ist unglaublich, wie die Leute ausrasten, wenn sie mal ‘n Film sehen, der nicht in die Reihe scheinbar reinpasst. Der unangenehmer vielleicht ist, oder so. Da gibt’s wirklich E-Mails so, mit Hinrichtungs... Also unter aller Sau einfach, wenn man das so mal sagt. Oder dass es so’n Film [. . .] zersetzend ist.« (Transkript: Proehl 2012: 2)
Wenn es aber um Fragen der Qualität geht, orientieren sich Produzierende vermutlich doch an Zuschauerpost und Online-Diskussionen. An erster Stelle hören Tatort-Schaffende auf die Quote. Kerstin Ramcke, Produzentin im Studio Hamburg, betont die Bedeutung der Quote für die ARD: »Denn Tatort ist eine Massenunterhaltung für das ganz breite Publikum. Das ist das Kernziel natürlich. Und wir können da kein Spartenprogramm draus machen.« (Lange 2010: 12) Auch NDRProducer Holger Ellermann kommt sofort auf die Quote zu sprechen und betont die interne Konkurrenz. Der Sender gucke sehr genau darauf, wie populär sein eigener Tatort sei. Dann wolle man im Gesamtmarktanteil gut da stehen und auf jeden Fall besser sein als das ZDF (vgl. Transkript: Ellermann 2011: 6). So sehr die Sender auch mit der Quote argumentieren mögen, innerhalb der Redaktionen ist zudem die Ansicht verbreitet, dass sich intellektueller Anspruch und Quote weitgehend widersprechen. Melanie Wolber vom SWR etwa erzählt von Serien wie der Lindenstraße, bei denen zu viel Wert auf die Quote gelegt werde und bei denen der inhaltliche Anspruch dann gegen Null gehe. Man müsse differenzieren: Was ist auf Quote hin produziert und was hat einen intellektuellen Anspruch? (Vgl. Transkript: TatortRedakteurin Melanie Wolber 2012: 6) Auch Christian Granderath, NDR-Redaktionsleiter und Programmchef, betont, dass man sich auf sein eigenes Verständnis von Wert verlassen müsse, ohne dabei
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allzu sehr auf Zuschauerreaktionen zu achten (vgl. Transkript: Granderath 2011: 14). Von Freunden und Familie werde man mit Wertungen traktiert, die dürften die Arbeit aber nicht beeinflussen (vgl. Transkript: Wolber 2012: 1, 7). Autor Michael Proehl ist ebenfalls dieser Ansicht. Er meint, die Quote mache bei öffentlichrechtlichen Sendern wenig Sinn. Er fragt sich: »[…] Wie ist der Braten fett, wenn sieben statt acht Millionen Leute zugucken? Ist das wirklich so wichtig im Öffentlich-Rechtlichen? […] selbst wenn acht Millionen zugeguckt haben, haben noch immer 72 Millionen nicht zugeguckt, ja? Also: Was soll das? […] Ich finde aber, dass gerade die Öffentlich-Rechtlichen ‘n großes Spektrum anbieten müssen. Egal, was der Zuschauer sagt. […].« (Transkript: Proehl 2012: 10)
Neben der Quote stehen, zumindest für öffentlich-rechtliche Sender, Presse und Preise als Messlatten für die Qualität des eigenen Schaffens. Über eine hymnische Kritik in der Süddeutschen Zeitung freut sich der Senderredakteur besonders (vgl. Transkript: Ellermann 2011: 21). Auch ein Autor berichtet, dass er sehr gerne Kritiken lese. Mit Preisen, insbesondere Grimme-Preisen, werde man eher angesprochen, erläutert er (vgl. Transkript: Proehl 2012: 4). Damit ist der relevante Rezeptionskreis für einen Kreativberufler mit filmischer – eher als serieller! – Drehbuchaspiration wiederum anhand der Logik des Wirtschaftens verdeutlicht. Die limitierte Wahrnehmung des Publikums dient zudem dem Selbstschutz. Interviewpartner sprechen von »unglaublichen Beleidigungen« (Transkript: Proehl 2012: 24), die bisweilen in der Zuschauerpost vermittelt würden – was im vorherigen Zitat ebenfalls deutlich wurde. Diesbezüglich mögen Facebook-Fanseiten und Twitter hilfreich sein für die im kreativen Arbeiten besonders ausgeprägte Empfindlichkeit, was die eigenen Schöpfungen betrifft: Kritik und Beleidigungen stehen dann zwar in der digitalen Öffentlichkeit, sie tauchen aber nicht im persönlichen Briefkasten auf. Dadurch wird eine deutliche Trennlinie zwischen Produzenten und Konsumenten gezogen. Schließlich ist das Arbeiten an Serien als Grund für die spürbare Distanz vom Publikum zu nennen.19 Die Arbeitswelt von Serienschaffenden zeichnet sich durch intensive, durch den seriellen Produktionsdruck enorm schnell getaktete, aber dennoch finanziell höchst unzuverlässige Bedingungen aus. Das wenige, was bisher etwa zur Arbeit im Writers Room vorliegt (Henderson 2011; Phalen und Osellame 2012), verdeutlicht die harten, bisweilen lustig-anregenden, aber auch Identität er-
19 Das Folgeprojekt Serienschreiben: Zur Arbeitskultur im gegenwärtigen deutschen Unterhaltungsfernsehen der von der DFG geförderten Forschergruppe 1091 Ästhetik und Praxis populärer Serialität wird diesen Aspekt vertieft und über den Tatort hinausgehend verfolgen.
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und ausschöpfenden Arbeitssituationen. Einzelne müssen sich hier beständig um neue Werkaufträge bemühen, da feste Verträge kaum existieren. John Caldwells »Production Culture« (2008) vermittelt das Bild einer vielfältig differenzierten, kompetitiven Arbeitskultur, in der wirtschaftliche und ästhetische Parameter aufs Engste verknüpft sind und in der ein Einlassen auf den Zuschauer ob der Notwendigkeit, sich selbst über Wasser zu halten, wenig Raum hat. Schließen möchten wir mit zusammenfassenden Thesen dazu, warum das »Prosumententum[ ]« im Sinne Tofflers (1980) für die ARD-Reihe nicht zutrifft; außerdem mit einigen Überlegungen zum Verhältnis von Rezipienten und Produzenten im Seriell-Medialen aus Sicht der Performanztheorie, die in ihrer Fokussierung auf das Können des Vortragenden immer auch die Kompetenz des Rezipienten, dieses Können zu beurteilen, mitbetrachtet.
S ERIELLES
PRODUZIEREN UND REZIPIEREN : NATIONALE KULTUREN DES MEDIALEN GEBENS UND NEHMENS ?
Wie kommt es, dass eine (insbesondere aus US-amerikanischen Forschungen hergeleitete) Kultur der Konvergenz zwischen Rezeption und Produktion seriell angelegter populärer Narrative, wie sie etwa Henry Jenkins (2006), Axel Bruns (2008), Alvin Toffler (1980) oder Frank Kelleter (2012) vertreten, bei deutschen Gesprächspartnern ebenso wie Online-Nutzern von Tatort nicht zu erkennen ist? Aus den Interviews und Beobachtungen ergeben sich – zumindest für die Reihe Tatort – folgende Erkenntnisse: 1. GEWÖHNUNG: Tatort illustriert eine im deutschen Sprachraum nach wie vor stärker ausgeprägte genießende, konsumierende Zuschauerrolle. Der Wandel, der durch Viewing-on-Demand-Technologien auch im deutschen Sprachraum Einzug hält,20 scheint die Bindung an die feste Tatort-Sendezeiten kaum aufzubrechen. Neue Optionen des Serienkonsums, so etwa das Binge Viewing von vielen Episoden hintereinander bleiben unter Tatort-Zuschauern die Ausnahme. Im Sinne der Unterschidung des »appointment-based« und des »engagementbased« television nach Jenkins, ist das Ausstrahlungsgebundene Fernsehen mit weniger Aktivität konnotiert, ungeachtet der teilweise hohen Aufmerksamkeit, die Zuschauende dem Krimi zuwenden.21 2. GENRE und FREQUENZ: Tatort als Reihe, noch dazu im Krimigenre, lädt kaum zu einer aktiven Fankultur ein. Obwohl die föderale Struktur in pluralen Episodenserien mit Orten und Figuren, die regelmäßig wiederkehren, die An-
20 Vgl. dazu Sulimma 2013 in Bezug auf den Vortrag von Weber und Junklewitz.
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mutung des Seriellen fördert, bleiben die einzelnen Ausstrahlungen inhaltlich fast immer abgeschlossen. Das Tatort+-Spiel mag – in durch den SWR stark geleiteter Form – einen ›Mitmach-Effekt‹ fördern, und die sog. Public Viewings tragen zum Gefühl einer Zuschauer-Community bei. Doch die Distanz zur Produktion bleibt bestehen, nicht zuletzt weil die Fan-Aktivitäten durch die Sender angeleitet bzw. diszipliniert werden. Fan Fiction ist für Tatort eher eine Rarität, und es ist auch nicht zu erwarten, dass z.B. der WDR Interesse an Thiel/BoerneSlash-Fiction22 entwickelt. 3. MEDIENWIRTSCHAFT UND ALLTAG DER PRODUZIERENDEN: Der 90minütige Spielfilm ist für Kreativberufler im deutschen Fernsehbetrieb die Königsform. Es mag im Bereich von Daily Soaps oder Reality Shows eine etwas intensivere gegenseitige Einflussnahme von Rezipierenden und Produzierenden geben, doch gerade das Format und das Renommee des Tatort macht diesen zu einem besonders geschützten Mediengut. Aus kulturanthropologischer Perspektive scheint es lohnenswert, das Verhältnis von Zuschauern und Produzenten durch die etablierte Sicht der Performanzforschung zu reflektieren. Erarbeitet anhand mündlicher Erzählpraxen hat Richard Bauman Performanz als »Modus […] der gesprochenen verbalen Kommunikation« gefasst, die darin besteht, »dass der Performer Verantwortung für die Darstellung kommunikativer Kompetenz gegenüber einem Publikum einnimmt. Diese Kompetenz beruht auf der Fähigkeit, in sozial angemessener Art und Weise zu sprechen. Aus der Sicht des Vortragenden bedeutet Performanz die Annahme der Verantwortung gegenüber einem Publikum für die Art, in welcher Kommunikation über den mitzuteilenden Inhalt hinaus durchgeführt wird. Das Publikum wiederum kann aus seiner Sicht den Akt des Ausdrucks in Bezug auf Können und Wirksamkeit auswerten« (Bauman 1977: 11; Übersetzung Verf.).
Betrachtet man das Performanz-Kompetenz-Zusammenspiel im seriellen, weit über das Unmittelbare der Mündlichkeit hinausgehenden Erzählen, so erkennt man, dass der wesentliche Begriff in Baumans Definition – »Verantwortung« – sich auf sehr
21 Henry Jenkins. Imagining Television’s Futures: An Interview with Intel’s Brian David Johnson (Part Two), 20. Juni 2011 (http://henryjenkins.org/2011/07/imagining_tele visions_futures_1.html). 22 »Tatort-Münster:
Fanfiction-Update.«
livejournal.com
(http://tatort-fandom.live
journal.com/220868.html [18. Juni 2013]). ›Slash-Fiction‹ beschreibt ein verbreitetes Genre der Fanfiction, das eine sexuelle oder romantische Anziehung zwischen Charakteren des gleichen Geschlechts behandelt.
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viele Akteure in interdependenten Hierarchien aufteilt. Die Verantwortung für die kommunikative Leistung, hier das serielle Erzählen, ist nicht mehr dem Zuschauer geschuldet – wie auch unsere Daten beweisen. Vielmehr ist es die Serie oder Reihe an sich, deren Ästhetik, narratives Universum und Produktionslogik die kompetente Performanz einfordert; es ist deren erfolgreich fortlaufende Dynamik, die all jenen, die sie gestalten, Arbeitsplätze erhält. Die Zuschauer in Baumans Modell müssen die Kompetenz besitzen, die Qualität einer Performanz einzuordnen und zu bewerten. Aber während das mündliche Face-to-face-Performanz-Setting, etwa in einer Runde von Anekdotenerzählern, einen Wechsel in der Rolle von Zuhörer und Performer oft geradezu herausfordert, ist die Reihenrezeption an sich bereits eine komplexe Aufgabe, verteilt auf verschiedene Akteure und interdependente Rezeptionsweisen: Zwischen der fast sakralstummen Rezeption auf dem heimischen Sofa und der eloquenten Besprechung in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gibt es ein Spektrum von Inszenierungen zuschauender Kompetenz, die selbst bereits ans Performative grenzt. Im Vergleich zu der in der populären Serialität systemisch angelegten Nähe zwischen Produzenten und Rezipienten (vgl. Kelleter 2012) besteht dafür im Tatort-Universum, wie wir zu zeigen versuchten, kaum Bedarf.
L ITERATUR Anderson, Benedict. Imagined Communities. 2., erweiterte Ausgabe. London: Verso, 1989. Bauman, Richard: Verbal Art as Performance. Rowley, Mass.: Newbury House Publ., 1977. Bruns, Axel. Blogs, Wikipedia, Second Life, and Beyond: From Production to Produsage. New York: Peter Lang, 2008. Caldwell, John Thornton. Production Culture. Industrial Reflexivity and Critical Practice in Film and Television. Durham, N.C.: Duke University Press, 2008. Herzfeld, Michael. Cultural Intimacy. Social Poetics in the Nation-State. Second Edition. New York, London: Routledge, 2005. Henderson, Felicia D. »The Culture Behind Closed Doors: Issues of Gender and Race in the Writers’ Room.« Cinema Journal 50 (2011), H. 2: 145-152. Jenkins, Henry. Imagining Television’s Futures: An Interview with Intel’s Brian David Johnson (Part Two), 20 Juni 2011 (http://henryjenkins.org/2011/07/ imagining_televisions_futures_1.html). Kelleter, Frank. »Populäre Serialität. Eine Einführung.« Populäre Serialität. Narration – Evolution – Distinktion. Zum seriellen Erzählen seit dem 19. Jahrhundert. F.K. (Hg.). Bielefeld: transcript, 2012. 11-46.
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Kelleter, Frank und Daniel Stein. »Autorisierungspraktiken seriellen Erzählens. Zur Gattungsentwicklung von Superheldencomics.« Populäre Serialität. Narration – Evolution – Distinktion. Zum seriellen Erzählen seit dem 19. Jahrhundert. F.K. (Hg.). Bielefeld: transcript, 2012. 259-290. Lange, Mareike. ›Tatort‹-Viewing. Analyse eines alltagskulturellen Phänomens. Unveröffentlichte Masterarbeit, Tübingen: Eberhard-Karls-Universität, 2010. Nast, Mirjam. »›Leichte‹ Lektüre? Zum Umgang mit Heftromanen zwischen Anstrengung und Vergnügen.« Unterhaltung und Vergnügung: Beiträge der Europäischen Ethnologie zur Populärkulturforschung. Christoph Bareither, Kaspar Maase und M.N. (Hg.). Würzburg: Königshausen & Neumann, 2013. 167-182. [Nast 2013a] Nast, Mirjam. »Invasion ins Perryversum? Praktiken der Aneignung einer populären Serie.« Kultur_Kultur: Denken, Forschen, Darstellen. 38. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde in Tübingen 2011. Reinhard Johler, Christian Marchetti, Bernhard Tschofen und Carmen Weith (Hg.). Tübingen: TVV, 2013. 160-165. [Nast 2013b] Phalen, Patricia und Julia Osellame. »Writing Hollywood. Rooms With a Point of View.« Journal of broadcasting & electronic media 56 (2012), H. 1: 3-20. Sulimma, Maria. »Popular Seriality. Internationale Konferenz der DFG Forschergruppe ›Ästhetik und Praxis populärer Serialität‹.« Zeitschrift für Medienwissenschaft, August 2013 (http://www.zfmedienwissenschaft.de/?TID=93). Toffler, Alvin. The Third Wave. New York: Morrow, 1980. Zillich, Arne Freya. »Die Bedeutung von Gruppenprozessen für das Unterhaltungserleben. Eine Typenbildung am Beispiel der gemeinsamen Krimirezeption.« Medien & Kommunikationswissenschaft 2 (2013): 202-220. [Zillich 2013a] Zillich, Arne Freya. Fernsehen als Event. Unterhaltungserleben bei der Fernsehrezeption in der Gruppe. Köln: von Halem, 2013. [Zillich 2013b]
Q UELLENNACHWEISE Transkript des Interviews mit Tatort-Drehbuchautor Michael Proehl, vom 12. März 2012. Transkript des Interviews mit NDR-Tatort-Producer Holger Ellermann, vom 3. August 2011. Transkript des Interviews mit NDR-Programmchef Christian Granderath, vom 27. Oktober 2011. Transkript des Interviews mit SWR-Tatort-Redakteurin Melanie Wolber, von 21. Februar 2012. Transkript des Interviews mit Tatort-Zuschauer Klaus Ullrich, vom 9. September 2011.
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Transkript des Interviews mit Tatort-Zuschauerin Bettina Anders vom 21. März 2011. Transkript des Interviews mit Tatort-Zuschauer Ingo Fuhrberg vom 27. September 2011. Transkript zum Interview von Mareike Lange mit Kerstin Ramcke, Produzentin des Tatort im Studio Hamburg, vom 27. Mai 2010. Feldtagebuch zur teilnehmenden Beobachtung einer Sehgemeinschaft am 11. Dezember 2011 (Schwarze Tiger, weiße Löwin). Feldtagebuch zur teilnehmenden Beobachtung eines Public Viewings am 9. November 2013 (Schmanski-Folge: Loverboy).
B EHANDELTE T ATORT -F OLGEN Wer das Schweigen bricht, 14. April 2013 (HR, R: Edward Berger)
ANDERE R EIHEN
ZITIERTE
F ILME , M EHRTEILER , S ERIEN UND
Germany’s Next Topmodel (D, seit 2006 [PRO7]) Gilmore Girls (USA, 2000-2007 [The WB/The CE]) Lindenstraße (BRD/D, seit 1985 [WDR])
Raum als Metapher. Exemplarisches und Exzentrisches am Beispiel des Münster-Tatort Münster als Raum exzessiver Selbstreflexion des Tatort-Formats. Thesen A NDREAS B LÖDORN
Als ›Schuss in den Spiegel‹ ließe sich – in Anlehnung an Nicole Rafters Studie Shots in the Mirror. Crime films and Society (2006) – die Konzeption des Tatort aus Münster pointiert zusammenfassen. Und dies in einem doppelten Sinne: Denn nicht allein die im Tatort übliche Reflexion aktueller gesellschaftlicher Probleme wird hier am Beispiel von Kriminalfällen gespiegelt, sondern zuallererst, so meine These, die Reflexion der Behandlung dieser Probleme im Tatort. Die Reflexion letztlich der Tatort-Reihe selbst steht folglich im Mittelpunkt des Münsteraner Ablegers vom langlebigsten Krimiformat im deutschen Fernsehen. Die in Münster lokalisierte Selbstbespiegelung des Genres dient dabei seit 2002 in mehrfacher Hinsicht dazu, die filmästhetischen Genregrenzen und die ideologisch-semantischen Möglichkeiten des Tatort-Formats durch ›Übertreibung‹ zu überprüfen. Die Selbstreflexion des Genres und Formats, die ausgestellte Fiktionalität des Krimis als ›Spiel‹, die Auflösung der Krimihandlung in eine groteske ›Schwarze Komödie‹,1 die ästhetisch-artifizielle Überformung durch Selbstreferenz, Semiotisierung und Entnarrativierung des Krimiplots kennzeichnen, wie gezeigt werden soll, den Münster-Tatort.2 Mit seinem deutlich als Abweichung von der Norm markierten
1
Zum Münster-Tatort als dramedy siehe auch den Beitrag von Thomas Klein in diesem
2
In diesen Zusammenhang gehört auch die von Matthias Dell beschriebene – und in ihrer
Band. Bedeutung für Ästhetik und Diskurs des Münster-Tatort m.E. überschätzte – »Diskussion um ›politische Korrektheit/Inkorrektheit‹«, welche die Folgen aus Münster in den Tatort
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übergeordneten Konzept ist er innerhalb der ARD-Reihe somit als Extrembeispiel und Experiment konzipiert. Nicht das Werte- und Normenkonzept des Tatort aus Münster und auch nicht sein Realitätsbezug im Kontext der verhandelten gesellschaftlichen Problematiken sollen daher im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen stehen, sondern der ästhetische und fernseh- bzw. filmgeschichtliche Kontext der Münster-Tatorte in Auseinandersetzung mit dem Tatort-Format einerseits sowie dem deutschen (Fernseh-)Krimi andererseits. Denn der Münster-Tatort ist im Rahmen einer Mediengeschichte des Krimis zugleich selbstreflexiv auf das Genre insgesamt bezogen. Bereits im ersten Fall Der dunkle Fleck (2002), der alle grundlegenden, in den späteren Folgen immer wieder aufgerufenen und variierten Semantiken und Metaphoriken einführt, wird dieses Thema mittels einer übergeordneten – und in der Folge Mörderspiele (2004) etwa auch titelgebenden – Spielmetaphorik etabliert. Die Inszenierung des Fernsehkrimis als ›Spiel‹ greift dabei nicht nur auf einen der ältesten Topoi der Mediengeschichte des Krimis zurück, sondern verweist auf die Tradition des Krimis als intellektuellen Rätselspiels, wie es im Anschluss an Edgar Allan Poes Romane, die Sherlock-Holmes-Geschichten Arthur Conan Doyles oder die Ära des pointierten Rätselromans (v.a. Agatha Christies) gattungs- resp. genrekonstitutiv geworden ist. Wenn der Tatort aus Münster sich nun selbstreflexiv als ›Spiel‹ mit dem Genre inszeniert, dann geschieht dies zunächst explizit auf der visuell konkretisierten Handlungsebene sowie in der Figurenrede, etwa zwischen Hauptkommissar Frank Thiel und Pathologie-Professor Karl-Friedrich Boerne: [Thiel beim Kickerspiel mit Boerne] »3:2. Konzentrieren Sie sich mal lieber auf Ihr Spiel.« [Boerne] »Spiel? Was ist denn das Spiel, Ihrer Meinung nach? Ich darf Ihnen aus der Tiefe meines Kellers die brillanten Pässe liefern, aber um Himmels willen nie mit nach vorne – da, wo das Match entschieden wird.« (Der dunkle Fleck, 00:54:19-00:54:48)3
einspeisen (vgl. dazu Dell 2012: 23). Aus meiner Sicht stellt dieser Aspekt lediglich ein weiteres Element der Selbstreflexion des Formats dar. 3
Die Spielmetaphorik realisiert sich zugleich auch auf indirekte Weise über das intertextuelle Spiel mit Verweisen bzw. über das Spiel mit Bildzitaten, welche die Bildinszenierung auf der Ebene von mise-en-scène und mise-en-cadre nach Vorbildern bekannter Kriminalfilme gestalten. So werden bspw. in Das ewig Böse nicht nur Anspielungen auf Werke Agatha Christies in die Dialoge eingeflochten, sondern auch die finale Auflösungsrunde wird im Stil der erfolgreichen Agatha-Christie-Verfilmungen der 1970er und 1980er Jahre (wie etwa in Murder on the Orient Express/Mord im Orient-Express, 1974; Death on the Nile/Tod auf dem Nil, 1978; Evil under the Sun/Das Böse unter der Sonne, 1982) inszeniert.
R AUM
ALS
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In Rede steht damit nun zugleich auch die discours-spezifische Konzeption der Fallermittlung in der kriminalliterarischen Tradition eines Ermittlerduos, das die funktionale Zuordnung von dominantem (hier als proletarisch charakterisiertem) Ermittler und begleitender (hier als akademisch-konservativ ausgewiesener) Watson-Figur spielerisch unterläuft: Nicht selten ist es eben gerade Professor Boerne, der mit seinen »brillanten Pässe[n]« aus dem ›Untergrund‹ forensischer Vergangenheitsforschung Entscheidendes zutage fördert.
F ALLKONSTITUIERUNG
UND
W ELTBILD
Seit dem ersten Fall Der dunkle Fleck (2002) bis zum Fall Die chinesische Prinzessin (2013) hat sich der Münster-Tatort in mittlerweile 24 Folgen den Abgründen der westfälischen Provinz verschrieben. Und das, obwohl Münster – wie Björn Bollhöfer mit Blick auf die tatsächlichen, häufig in der Rheinmetropole angesiedelten Drehorte ausführt – nur »[d]as schönere Köln« ist, denn neben der Einfügung einiger »referenzialisierende[r] Orte« wie dem Prinzipalmarkt, dem Buddenturm, der Promenade und dem Aasee wurde ein Großteil der Drehorte in den ersten Jahren nach Köln verlegt, »so dass die Verwendung von Motivimporten zur Dauereinrichtung« wurde (Bollhöfer 2007: 200f.). So deutet bereits die Raumkonstruktion auf den kaum verdeckten Montagecharakter des »synthetischen«4 Filmraums Münster hin. Die stereotype Charakterisierung des damit verbundenen Weltbilds unterstreicht den (auch für die mediale Topographie der Tatort-Reihe von Scherer/ Stockinger generell konstatierten)5 Konstruktcharakter zusätzlich. Ein summarischer Blick auf die Fälle, Täter und Opfer genügt hier, um das relativ einheitliche Bild, das diesen Tatort prägt, zu skizzieren. Die Fälle sind in einem als konservativ und traditionsverbunden ausgewiesenen Münster angesiedelt: Sie spielen im Milieu konservativer Studentenverbindungen (Satisfaktion, 2007), im katholischen Milieu (Tempelräuber, 2009), im Milieu ländlichen Geldadels (Der dunkle Fleck, 2002), im provinziellen Bauernmilieu (Mörderspiele, 2004) und sogar in der lokalen Gothic-Szene (Ruhe sanft!, 2007), womit zuletzt die komödiantisch-schwarze Todesobsession des Münster-Tatorts auch auf plot-Ebene ihren Niederschlag findet. Die den skizzierten Milieus entstammenden Leichen der Ermordeten (u.a. Corpsstudenten, Priester, Bauern und Bestatter) werden nun signifikant häufig nicht (wie
4
Durch die Montage von an unterschiedlichen geographischen Orten gefilmtem Material, so Bollhöfer, errichte Film generell eine »imaginäre« Topographie der Stadt im Sinne eines »synthetische[n] Raum[s]« (Bollhöfer 2005: 142).
5
Das Tatort-Format, so Scherer und Stockinger, »erzeugt allererst jene Räume, als deren Abbildung es sich dann versteht« (Scherer/Stockinger 2010: Abschn. 4).
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im Tatort zumeist üblich) äußerlich weitestgehend unversehrt aufgefunden, sondern als skurril entstellte Leichen: als Moorleiche (Der dunkle Fleck), als Mumie (Der Fluch der Mumie, 2010), als Skelett (Satisfaktion), tiefgefroren (Das zweite Gesicht, 2006), verbrannt und verkohlt (3 x schwarzer Kater, 2003), mazeriert und konserviert (Eine Leiche zuviel, 2004), zerstückelt auf dem Aasee treibend (Mörderspiele) oder als »abbe[r] Fuß« (Zwischen den Ohren, 2011, 00:01:45). Variierend zum Paradigma der skurril entstellten Leiche wird, wenn diese sich in noch erkennbarem Zustand befindet, zumindest die Auffindesituation grotesk überzeichnet: z.B., wenn der Ermordete den Ermittlern aus einem Fenster direkt auf das Autodach fällt (Der Frauenflüsterer, 2005). Auch die Münsteraner Verbrechen folgen in mehrfacher Hinsicht dem Hang zu gesteigerter Übertreibung und stellen »Perversionen der verschärften Art« aus, wie Dennis Gräf und Hans Krah dies in ihrem Streifzug durch die »Sittengeschichte« des ›Tatort‹ am Beispiel von Der dunkle Fleck (nicht wertend, sondern beschreibend) formulieren (Gräf/Krah 2010: 89). Familientragödien (Der dunkle Fleck; Sag nichts, 2003), Sexualmorde (Wolfsstunde, 2008) und Inzest (zwischen Stiefmutter und minderjährigem Stiefsohn in Das ewig Böse, 2006) stellen Motive und Hintergründe zur Verfügung, die Münster in Westfalen konstant als Ort des im Privaten verorteten ›ewig Bösen‹ markieren, zusätzlich authentifiziert durch das Aufgreifen historisch-realer Hintergründe, Kontexte und Mordfälle. Ein doppelt gesteigerter Inzest eröffnet bereits die Münster-Reihe des Tatort in Der dunkle Fleck (2002): Der Vater Hermann Alsfeld hat ein Verhältnis mit seiner Tochter – und später eines mit seiner Enkelin, die zugleich ebenfalls seine Tochter ist. Im Rahmen der Kriminalermittlung wird neben dem Mörder im strafrechtlichen Sinn (hier: die Mutter) daher auch der Täter im moralischen Sinn gesucht und angeklagt (hier: der Vater). Das ursächlich ›Böse‹ in der dargestellten Welt wird somit gleich doppelt auf die Elterngeneration zurückgeführt. Nicht die im Tatort üblichen gesellschaftspolitisch aktuellen und brisanten Konfliktfelder (z.B. Kindesmissbrauch, Drogenkriminalität usw.), sondern familieninterne Konflikte und Fälle stehen so im Vordergrund und werden für den Ort Münster als paradigmatisch gesetzt, erscheinen dessen Bewohner doch immer wieder metaphorisch als eine große ›Familie‹. Hier, so suggerieren die aufgedeckten Verflechtungen, kennt letzten Endes jeder jeden, steht jeder mit jedem in Beziehung – wie Staatsanwältin Wilhelmine Klemm betont: [Thiel] »Woher wissen Sie denn das schon wieder?« [Klemm] »Ich weiß es vom Chefredakteur der WZ – mit dem hab’ ich die Schulbank gedrückt.« [...] [Thiel] »Gibt es hier in Münster eigentlich irgendeinen Menschen, mit dem Sie nicht zur Schule gegangen sind?« [Klemm] »Wenige.« (Mörderspiele, 00:32:04-00:32:19)
V.a. das Personal von Fallgeschichte (Täter, Opfer, Zeugen) und Ermittlungsgeschichte (Staatsanwaltschaft, Ermittler) wird über die private Beziehungsebene mit-
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ALS
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einander verknüpft. Damit verschwimmen auch die Grenzen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit. So ist in Mörderspiele etwa Staatsanwältin Klemm in den Fall involviert, weil sie einst die Jugendliebe der jetzigen Täterin war, was schließlich zum ausschlaggebenden Moment im vorliegenden Mordfall wird. Auch Professor Boerne unterhielt in mehreren Fällen in der Vorgeschichte private Beziehungen und Liebesverhältnisse mit Personen, die später als Opfer auf seinem Seziertisch landen, so in Der dunkle Fleck, Zwischen den Ohren und Hinkebein (2012).6 Die Involvierung der Ermittler und ihres Privatlebens in die Fallgeschichte folgt dabei der insgesamt zu beobachtenden Tendenz zur Parallelisierung von Privatem und Öffentlichem in Kriminalroman und Kriminalfilm der 2000er Jahre. Die dargestellten Konflikte werden somit als Probleme positioniert, welche die ›guten‹ Ermittler (und mit ihnen: Gesetz und Moral) mit den ›bösen‹ Tätern (also mit Kriminalität und vermeintlicher ›Un-‹ oder ›Amoral‹) gemeinsam haben. Wenn sich ›gut‹ und ›böse‹ in dieser Hinsicht nur durch ihren Umgang mit vergleichbaren Problemen voneinander unterscheiden, wird die ursprünglich genrekonstitutive disjunkte Abgrenzung von Tätern vs. Ermittlern im (nicht nur gesellschaftskritischen) Krimi der Gegenwart zunehmend zugunsten einer nur graduell unterscheidenden Skalierung von Moralgrenzen suspendiert.7 Die verhandelten Probleme erscheinen somit als latent universale und dauerhafte Probleme einer Gesellschaft im Ganzen, deren einzelne Mitglieder diese Probleme nie ganz lösen, sondern nur eine adäquate Weise des Umgangs mit ihnen suchen können. Der Tatort aus Münster übersteigert diese allgemeine Tendenz ins Extrem, wenn die Grenzen zwischen ›Norm‹ und ›Abweichung‹ zusätzlich destabilisiert werden. Der beschauliche Kosmos der Provinzidylle wird auch durch eine Strategie der Vervielfältigung kriminellen Geschehens als Hort des Verbrechens enttarnt: Im Lauf der Ermittlungen treten regelmäßig in der Vorgeschichte angesiedelte Parallelfälle zum aktuellen Mordfall zutage, die das öffentliche Mordereignis auf der privaten Ermittlungsebene flankieren (so muss Boerne etwa in Das ewig Böse den ermordeten Hund seiner ehemaligen Lehrerin unters Skalpell nehmen, woraus sich schließlich jedoch die entscheidende Spur zur Lösung des Falles ergibt). Mit dieser Strategie der Offenlegung weiterer nicht ordnungskonformer Begleitfälle wird Münster von Folge zu Folge zu einem Raum se-
6
In Zwischen den Ohren ist das Opfer eine frühere Klassenkameradin Boernes, in Hinkebein ist die Tote seine frühere Geliebte, und schon in Der dunkle Fleck war Boerne als Jugendlicher mit der in der Gegenwart als Moorleiche wieder auftauchenden Tochter der Familie Alsfeld befreundet.
7
Darauf weisen für Der dunkle Fleck bereits Gräf und Krah hin, wenn sie das Bindeglied der »reparaturbedürftigen Familien« in diesem Fall benennen: »alle Familien [haben] in diesem Tatort einen dunklen Fleck, der eine ist allerdings etwas dunkler als der andere« (Gräf/Krah 2010: 93f.).
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mantisiert, in dem niemand moralisch oder kriminell ›unverdächtig‹ ist und in dem niemand völlig ordnungskonform lebt. Sei es der allgegenwärtige Fahrraddiebstahl und der anschließende ›Rückklau‹ ([Vater Thiel] »Die machen das alle. Bei über 200.000 Rädern hier hebt sich sowas statistisch quasi auf«; Mörderspiele, 00:07:0400:07:09), seien es auf den Straßenverkehr bezogene, auf die Zuschauersympathie zielende Kavaliersdelikte oder der ironisch karikierte Drogenanbau im heimischen Garten: Die Vielzahl kleinerer Verfehlungen, welche die großen Verbrechen spiegeln, verweisen stets v.a. auf einen omnipräsenten (und filmintern als sympathisch gesetzten) laxen Umgang mit Gesetz, Ordnung und gesellschaftlichen Normvorstellungen. Die inhärente Ideologie des im Münster-Tatort entworfenen Weltbilds kennt somit keine qualitativ-disjunkten Moralräume von ›gut‹ vs. ›böse‹. Verbrechen und gesellschaftliche Ordnung sind nur mehr graduell unterschieden und auf einer Achse angesiedelt, auf der es nur ein quantitatives Mehr oder Weniger an Kriminalität gibt.8 Das Personal von Fall- und Ermittlergeschichte ist somit in homologer Weise aufeinander bezogen: Die Straftäter verhalten sich zu den Rechtsnormen wie die Bürger und Ermittler zu den Moralnormen. Dem entspricht in der Konzeption des Münster-Tatorts, dass sich Pathologie-Professor Karl Friedrich Boerne mit seiner kleinwüchsigen Assistentin Silke Haller (alias »Alberich«) ganz legal (und von Siegfrieds »Todesmarsch« aus Wagners Götterdämmerung lustvoll musikalisch untermalt) dem beruflich legitimierten, fortgesetzten Zerstückeln von Leichen hingeben darf (in Sag nichts). Die für die dynamische Erzählhandlung konstitutive Spaltung der dargestellten Realität in die Sphären von gegebenem ›Schein‹ vs. aufzuklärendem ›Sein‹, von sichtbarer ›Fassade‹ und verborgendem ›Abgrund‹ dahinter (und darunter), wird dabei immer wieder auf selbstreflexive Weise im Münster-Tatort thematisch, wenn Phänomene der Spiegelung und der Doppelung auf der Histoire-Ebene der Fälle durchgespielt werden: in Form der Hellseherei (Das zweite Gesicht), durch die Aufdeckung eines Doppellebens der Verdächtigen, durch ›Parallelfälle‹ im privaten Bereich der Ermittler oder mittels des Doppelgänger-Motivs in Der doppelte Lott (2005).
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Damit steht das den Münster-Tatort prägende Denkmodell gleichwohl im Zeichen des von Jürgen Link beschriebenen und sich im 19. Jahrhundert auch bereits im deutschen literarischen Realismus abzeichnenden Denkens des (Proto-)Normalismus. Vgl. zum Normalismus generell Link 1997 und 2002.
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In seiner Systematik des seriellen Erzählens führt Hans Krah als eines der zentralen Kriterien zur Unterscheidung von ›Reihe‹ und ›Serie‹ die Konstruktion eines einheitlichen konstanten Weltbildes auf.9 Legt man – abweichend von der formalen Bestimmung des Tatort als Reihe aus Serien, wie Scherer und Stockinger dies vorschlagen – die Begrifflichkeit Krahs und das Kriterium des konstanten Weltbilds zu Grunde, so tendiert der Münster-Tatort in dieser Hinsicht zur Ausbildung einer Serie innerhalb der Reihe.10 Denn obwohl die Autonomie der Folgen wie die einer Teilreihe formal gewahrt bleiben, etabliert der Tatort aus Münster folgenübergrei-
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Zur Unterscheidung von ›Serie‹ und ›Reihe‹ schlägt Krah als eines der zentralen Kriterien das (Nicht-)Vorhandensein eines einheitlichen Weltbildes vor (vgl. Krah 2010). Während die Serie ein solches einheitliches, der Einzelfolge übergeordnetes Weltmodell als konstitutives Merkmal etabliere, die einzelnen Folgen somit in einer Welt spielen und als »paradigmatische Manifestationen« zu verstehen seien (ebd.: 97f.), bilde die Reihe autonome, narrativ abgeschlossene Einzel-Einheiten aus, deren Reihenzusammenhang einzig über formale Gestaltungselemente (Musik, Paratext, Vorspann) und nicht über ein (der Reihe fehlendes) folgenübergreifend konstantes gemeinsames Weltmodell gewährleistet wird (ebd.: 95-97; vgl. auch Gräf 2010: 12 und den Beitrag von Hans Krah in diesem Band). Für die Tatort-Reihe gelte dabei, so Krah, dass sie weitere »Teilreihen« enthalte (Krah 2010: 97), wobei »eine Gesamtkohärenz, das jeweilige Modell von Welt«, auch hier »bei den Tatorten am gleichen Ort und dem gleichen Ermittlerteam pro Folge neu konstruiert« werde (ebd.): »So sehr etwa die Folgen, gerade in den 1990er Jahren, in ihren Geschichten eine Vergangenheitsdimension relevant setzen, so wenig gibt es eine allgemeine, ›verbindliche‹, vor der betreffenden Folge existierende diegetische Vergangenheit.« (Ebd.) Wenngleich dies für die Tatort-Reihe bis zum Jahr 2000 generell zutreffen mag, so ist doch ab 2002 – insbesondere für den Tatort aus Münster – eine gegenläufige Tendenz zur Etablierung eines gemeinsamen Weltbildes festzustellen, das auf der Rückbezüglichkeit auf einmal eingeführte Paradigmen basiert. Insofern kann ein gemeinsamer »Bezugsrahmen« hier eben doch Einfluss auf die Konstruktion von Ideologie und Semantik der Einzelfolgen haben (dagegen Gräf 2010: 13).
10 Dies bezeichnet eine Tendenz, die m.E. – wenngleich mit Einschränkungen – auch schon für frühere Teilreihen des Tatort sowie für parallele Tatort-Neugründungen der 2000er Jahre gelten kann, etwa für den Kieler Tatort (seit 2003) sowie für die Folgen aus Hannover (seit 2002) und Konstanz (seit 2004), bedingt auch für den Tatort aus Bremen (seit 1997). Von anderen Bestimmungen des Seriellen ausgehend, konstatieren innerhalb der Debatte um den Serien- oder Reihencharakter des Tatort-Formats generell auch Griem/ Scholz eine »gewisse Serialisierung über die Kontinuität bestimmter Schauplätze und Ermittlerfiguren« (2010: 16); dgl. auch Dell (2012: 24).
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fend ein mehr oder weniger konstantes gemeinsames Weltmodell und eine zumindest latente Chronologie, und zwar v.a. dadurch, dass zu Beginn eingeführte, das Weltbild prägende Semantiken und Metaphoriken immer wieder folgenübergreifend aktualisiert und variiert werden. Die einzelnen Folgen stellen daher durchaus »paradigmatische Manifestationen« (Krah 2010: 98) eines übergeordneten Konzepts dar. Deutlichstes Kennzeichen für diese Einheitlichkeit und Konstanz ist die zu Beginn der ersten Folge eingeführte und dann immer wieder aktualisierte und variierte Raummetaphorik. Die Raumdarstellung kodiert dabei semiotisch eine spezifische Realitätskonzeption, und zwar entlang zweier topologisch-semantischer Achsen: der Vertikalen (oben vs. unten) und der Horizontalen (vorne/nah vs. hinten/fern). Beide Achsen sind der dominanten und in der Genretradition des 19. und 20. Jahrhunderts stehenden Realitätskonzeption des Krimis funktional zugeordnet; eine Realitätskonzeption, die zwischen einer ›heilen‹, schönen Oberflächenwelt des Scheins (Außenansicht) und einem ›hässlichen‹, kriminellen Sein dahinter (verborgenes Innen) einen zentralen Widerspruch setzt, den es dann in der Folge aufzudecken und aufzuklären gilt. Die zeitlich organisierte, logisch-chronologisch orientierte »Rekonstruktion« des »Unerzählte[n]«, die Ernst Bloch (1998: 45) als narratives Ziel der Kriminalerzählung identifiziert hat, ist in dieser Hinsicht auf die Aufdeckung moralisch und juristisch sanktionierter, aber zu Handlungsbeginn verborgener Ordnungsstörungen gerichtet, mithin auf die Offenlegung des zunächst NichtSichtbaren ›unter‹ der sichtbaren Oberfläche. Ausdruck dieser Spannung zwischen Sichtbarkeit und Verborgenheit (und im Verbund damit: zwischen Wissen und Nicht-Wissen über einen diegetisch als ›wahr‹ gesetzten Sachverhalt) sind nun zwei visuelle Raummetaphern, die der Münster-Tatort etabliert – und zwar unmittelbar im ersten Fall Der dunkle Fleck. In diesen Raummetaphern sind Zeit und Raum der Tatort-Diegese auf chronotopische Weise im Sinne Bachtins verknüpft: »Die Zeit verdichtet sich hierbei, sie zieht sich zusammen und wird auf künstlerische Weise sichtbar; der Raum gewinnt Intensität, er wird in die Bewegung der Zeit, des Sujets, der Geschichte hineingezogen. Die Merkmale der Zeit offenbaren sich im Raum, und der Raum wird von der Zeit mit Sinn erfüllt und dimensioniert.« (Bachtin 2008: 7)
Neben der ›schönen Fassade‹ (auf der horizontalen Achse) wird so der ›Sumpf‹ (auf der vertikalen Achse) zum Chronotopos, wenn er gleich zu Beginn im Vorspann auf die Stadt Münster überblendet (und diese somit durch ihn charakterisiert) wird: Die ganze Stadt Münster erscheint dann als ein ›Sumpf des Verbrechens‹ (Der dunkle Fleck, Eingangssequenz, 00:00:33-00:02:20).11 Dies wird visuell inszeniert, indem
11 Der Chronotopos verweist insbesondere in Kriminalroman und -film auf eine spezifische Relationierung von Zeit und Raum, bei der Formationen der ›Ferne‹ (zeitlich: ›vergan-
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aus einem sumpfigen Moor zunächst sichtbar eine Leichenhand ragt (Abb. 1). Etabliert wird damit ein Bild, das Spuren eines vergangenen Verbrechens im Raum der Gegenwart sichtbar werden lässt – und das durch Überblendung (Abb. 2) auf das vogelperspektivische Stadtbild Münsters (Abb. 3) die ganze Stadt zum unsicheren, abgründigen Ort semantisiert, an dem unter der Oberfläche, in der Tiefe von Raum und Zeit, ›dunkle‹ Geheimnisse und Verbrechen verborgen liegen, deren Zeichen nun in der Gegenwart im Wortsinne ›auftauchen‹. Mit dieser visuellen Korrelation von Stadt und Sumpf, von ›Fassade‹ und ›Abgrund‹, wird das semantische Feld ›Sumpf/Abgrund/Tiefe‹ als verborgene Realität unterhalb der sichtbaren ›Normalebene‹ des Raums eingeführt, wobei, der Metaphorik inhärent, den Handelnden der sichere Boden unter den Füßen entzogen und der Untergrund durch Bedrohungen aus der räumlichen und zeitlichen ›Tiefe‹ brüchig und unsicher wird. Diese Metaphorik der ›Tiefe‹ wird in ihrer auf dem »untrennbare[n] Zusammenhang von Zeit und Raum« (Bachtin 2008: 7) basierenden Raumzeitlichkeit von Folge zu Folge – und damit fallübergreifend – variiert, wobei sie immer wieder ins Konkrete rückübersetzt wird, wenn etwa Leichenteile, Skelette und Schädel ausgegraben, aus dem See geangelt oder auf der Wasseroberfläche angetrieben werden.
Abb. 1: Der dunkle Fleck: Von der Moorleiche im Sumpf...
gen‹, räumlich: ›unten‹, ›außen‹) korreliert sind. Dabei gilt, was Bachtin für den Chronotopos in der Literaturwissenschaft allgemein als »fast […] eine[r] Metapher« formuliert: »Die Merkmale der Zeit offenbaren sich im Raum, und der Raum wird von der Zeit mit Sinn erfüllt und dimensioniert« (Bachtin 2008: 7). Zum Chronotopos speziell im Kriminalgenre vgl. Spörl 2006.
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Abb. 2: Der dunkle Fleck: ... durch Überblendung...
Abb. 3: Der dunkle Fleck: ...zur Stadt Münster
Nun bezeichnet die für die brüchige Oberfläche gefährliche, abgründige Tiefe (häufig des Wassers) ein Erzählmodell, das insbesondere vom deutschen Realismus im 19. Jahrhundert als ein räumliches und über seine Vertikalsemantik auch (vorfreudianisch) psychologisches Modell der Person entwickelt und das insbesondere von Kriminalliteratur und -film aufgegriffen wurde (prominent etwa in Theodor Fontanes Unterm Birnbaum, aber auch in den populären Kriminalerzählungen des westfälischen Schriftstellers und Juristen Jodocus D. H. Temme). Der Münster-Tatort
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koppelt es gleich in der ersten Folge lokalpatriotisch an eben jene frührealistische Zeit der (ebenfalls westfälischen) Annette von Droste-Hülshoff, deren Ballade Der Knabe im Moor am in der Eröffnungssequenz eingeführten Sumpf von einer Schulklasse rezitiert wird. Mit dieser Korrelation von ›Literatur‹ und ›Verbrechen‹ weist der Tatort aus Münster von Beginn an seine dargestellte Realität als bereits fiktionalisierte Reflexion auf die Literatur- und Medienkulturgeschichte (nicht nur Westfalens) aus. Die zweite Raummetapher der nicht länger aufrechtzuerhaltenden ›Fassade‹, hinter welcher der ›abgründige‹ Verfall einer äußerlich ›schönen‹ bürgerlichen Ordnung nur noch mühsam verborgen werden kann, konzipiert Münster als fassadenhaften Raum gesellschaftlicher Normeinhaltung. Der Münster-Tatort führt mit dem ›Bröckeln‹ der jeweiligen Fassade(n) von Haus, Familie und bürgerlicher ›Normalität‹ dann aber im Verlauf der einzelnen Folgen vor, dass sich die Normverletzungen nicht dauerhaft hinter jene Fassaden zurückdrängen lassen. Die Fassaden-Metapher (Abb. 4-6 aus der Schlusssequenz von Der dunkle Fleck, die Täterin und ›schöne Fassade‹ wieder verschmilzt) wird ebenfalls bereits in der ersten Folge eingeführt, und zwar am Beispiel des ländlichen Herrenhauses Alsfeld, das dort zur Kennzeichnung der Scheinheiligkeit und der Verlogenheit jener Gutsbesitzerfamilie dient, die dann in den anschließenden Folgen durch weitere Beispiele aus der ländlichen Adelswelt, des Münsteraner Bildungsbürgertums, des Geldadels, der Burschenschaften usw. und deren quasi-›inzestuösen‹ Strukturen variiert werden. Diese übergeordneten Raummetaphern von ›Sumpf‹ und ›Fassade‹ werden in den weiteren Tatorten aus Münster rekurrent aufgerufen, so dass jede einzelne Folge auch zu einem Variationsspiel mit bekannten Versatzstücken wird (ein spielerisches Element, das im Übrigen auch die Variation der an die hard boiled school des Krimis erinnernden Wortgefechte Thiels und Boernes einschließt). Raum und Realität sind damit im Münster-Tatort – um in der filmintern verwendeten Metaphorik zu bleiben – als äußerliche, oberflächliche Scheinwelt ausgewiesen, hinter deren bröckelnder Fassade und unter deren zunehmend unsicher werdendem Boden ein tödlicher, abgründiger Sumpf aus Kriminalität, Unmoral und Korruption präsentiert wird.
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Abb. 4: Der dunkle Fleck (Schlusssequenz)
Abb. 5: Der dunkle Fleck (Schlusssequenz)
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Abb. 6: Der dunkle Fleck (Schlusssequenz)
Die daran gekoppelte, narrationsauslösende Handlungsstruktur des ›Auftauchens‹ von Überresten und Folgen krimineller Machenschaften (also von Leichen, Leichenteilen, Spuren und Indizien) auf der Histoire-Ebene wird nun als Stilprinzip auch auf die Discours-Ebene der Kameraführung übertragen – in deutlicher Anlehnung an die deutsche Edgar-Wallace-Reihe der 1960er Jahre.12 So tauchen auch im Münster-Tatort Leichen(teile) oft aus dem Wasser (des Aasees, eines Sumpfgebietes u.ä.) auf oder aber aus der Tiefe der Stadtgeschichte, wenn etwa bei innerstädtischen Bauarbeiten Skelette ausgegraben und in den Zusammenhang mit den Münsteraner Wiedertäufern des 16. Jahrhunderts gebracht werden (3 x schwarzer Kater). Im übertragenen Sinne geschieht dies auch dort, wo sich ein Mordfall als Adaption eines historischen Verbrechensfalls in der Gegenwart erweist (wie etwa der Rekurs auf den Rohrbach-Mord von 1957 in Mörderspiele). Innerhalb der Tatort-Landkarte Deutschlands wird die Provinzstadt Münster so zu einer Metropole des hinter/unter dem schönen Schein verdeckten Verbrechens, wobei die Differenz Stadt (Münster) vs. Land (Westfalen) zugleich intern noch einmal funktionalisiert wird, um Münster als ›große‹ Stadt innerhalb der westfälischen, von Bauern und Landadel bevölkerten Provinz zu semantisieren. So wie dabei dann das schöne Außen (die Fassade) und der sichere Boden Zug um Zug als Schein, als brüchig und unsicher entlarvt werden, so wird die intradiegetische Realität des Raums Münster Stück für Stück weiter verunsichert, bis sich die westfälische Welt als eine quasi geisterhaft-ausgehöhlte, morbide ›Hülle‹ zu erkennen gibt: Die als wahr gesetzte Realität dahinter
12 Zur narrativen Struktur der Edgar-Wallace-Reihe und deren dominanten Semantiken vgl. auch Blödorn 2007.
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und darunter, der ›Sumpf des Verbrechens‹, wird so zur eigentlichen Realität, die ans Tageslicht drängt. Würde dies nicht – und dies ist nun das tatsächlich stilprägende Element des Münster-Tatort, mit dem dieser einmal mehr an die EdgarWallace-Reihe anknüpft13 – im Rahmen einer grotesken, karikierend auf »Übertreibung, Hyperbolik, Übermaß, Überfluß« (»nach allgemeiner Auffassung eines der wichtigsten Merkmale des grotesken Stils«, Bachtin 1998: 345) setzenden ›Schwarzen Komödie‹ präsentiert, bliebe am Ende jeweils ein Beunruhigungspotential bestehen. Denn die Lösung des Mordfalls wäre dann nur die momentane Aufklärung eines Einzelfalls, der die aus den Fugen geratene Ordnung keinesfalls restituieren, den ›Sumpf‹ keinesfalls trockenlegen würde. Die Präsentation des Ganzen als ironisch bis satirisch groteske, »zwischen Komik und Grauen oszillierende«14 ›Schwarze Komödie‹ aber erzeugt gerade das Gegenteil: Suggeriert wird durch die unernste Präsentation von historie und discours, dass hier die Welt gerade aufgrund ihres laxen Umgangs mit Rechtsnormen in Ordnung – und der jeweils zentrale Mordfall daher umso leichter aufzuklären – ist. Nun ließe sich einwenden, dass nicht nur der Tatort aus Münster, sondern die meisten Fernsehkrimis nach wie vor prinzipiell dem Muster der klassischen Detektivgeschichte verpflichtet sind und die ›Rekonstruktion des Unerzählten‹ von der initialen Falldarstellung, dem Leichenfund als zentralem Problem der Narration, bis zur finalen Auflösung auf der dominanten Opposition von falschem ›Schein‹ vs. wahrem ›Sein‹, mithin auf der »für das Kriminalsujet« an sich relevanten Achse »›öffentlich, erkennbar, erlaubt, legitim‹ vs. ›heimlich, verborgen, verboten, tabuisiert‹« (Gräf/Krah 2010: 8) beruhen. Doch gilt auch hier, dass der Tatort aus Münster nur in Extremform und selbstreflexiv gesteigert offenlegt, was über ihn hinaus auch für die Tatort-Reihe (und andere Fernsehkrimis) gelten mag. Deutlich wird dies in der diskursiven Umsetzung der Schein/Sein-Differenz mittels kameratechni-
13 Für diese Reihe war die strukturelle, durch die Semantisierung unterschiedlicher Kameraeinstellungen und Bildinszenierungen erzeugte Stilmischung aus Sequenzen der Bedrohung (mittels Dunkelheit, Untersicht und der Dominanz der Diagonalen) vs. solcher der Beruhigung (mittels Helligkeit, Normalsicht und der Dominanz der Horizontalen) kennzeichnend (vgl. dazu Blödorn 2007: 140-146). 14 So das zentrale Definitionskriterium der Groteske im Reallexikon (Sorg 1997: 748). Haaser und Oesterle weisen dort zudem darauf hin, dass das Groteske als »Prinzip ästhetischer Gestaltung« Heterogenitäten »zwischen dem Ornamentalen und dem Monströsen, zwischen Grauen und Verspieltheit« kombiniere und einem »Wechselspiel sich störender, gegenseitig aufhebender Perspektiven, Modi und Diskurse« unterworfen sei, so dass es in der Rezeption zu einer »Schaukelbewegung zwischen Illusions- und Desillusionsbildung« komme, wie sie mir gerade auch für den Münster-Tatort prägend zu sein scheint (Haaser/Oesterle 1997: 745).
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scher Inszenierung und Perspektivierung von Geschehen und dargestellter (intradiegetischer) Realitätswahrnehmung. Denn das prägende Stilmerkmal des MünsterTatort ist die groteske Überzeichnung bis hin zur ›Verzerrung‹ der Realität, mit welcher sich das ironische und komödiantische Spiel mit dem Krimigenre auch als konstitutiver Erzähl- und Wahrnehmungsmodus vermittelt. So ist das auffälligste Merkmal des filmischen discours die diegetisch funktionalisierte, omnipräsente Untersicht, aus der heraus das Geschehen und die Welt wahrgenommen und präsentiert werden. Der für TV-Formate häufige Hang zur leichten Untersicht wird nun im Tatort aus Münster funktionalisiert: zum einen dadurch, dass er kameraperspektivisch der Semantik des Auftauchens von unten folgt, zum anderen dadurch, dass daran zugleich die Position und Perspektive des Todes gekoppelt wird, der hier (s)einen grotesken Blick auf die Lebenden wirft. So blickt der Zuschauer nicht selten mit den Augen der Toten auf die skurrile Welt der (noch) Lebenden in der westfälischen Metropole – etwa, wenn die Kamera wie in 3 x schwarzer Kater aus einem ausgegrabenen Totenschädel heraus auf die herabblickenden Arbeiter gerichtet ist (Abb. 7-9; Eingangssequenz, 00:00:37-00:02:14).
Abb. 7: 3 x schwarzer Kater (Eingangssequenz)
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Abb. 8: 3 x schwarzer Kater (Eingangssequenz)
Abb. 9: 3 x schwarzer Kater (Eingangssequenz)
Von der Warte des Todes, der Ermordeten und Opfer aus wird hier in allegorischer Sicht auf die westfälische Welt geblickt. Einmal eingeführt, schwingt diese Perspektive eines Lebens, das immer schon vom Tode entstellt ist, auch dann latent mit und indiziert ›tödliche Gefahr‹, wenn Untersicht und Kamerawinkel nicht unmittelbar diegetisch funktional auf den Tod bezogen sind. Dieser auffällige Einsatz der Untersicht und der dadurch vermittelte grotesk ›verzerrte‹ Blick auf die Realität
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tendiert dabei zu dem, was nach Kristin Thompson im neoformalistischen Sinne als stilistischer ›Exzess‹ (»cinematic excess«) bezeichnet werden kann.15 Durch eine solchermaßen auffällige, scheinbar ›überschüssige‹ Betonung filmischer Gestaltungsmittel (im Münster-Tatort v.a. auf den Ebenen von Kamerapositionen, Kamerawinkeln, Einstellungsgrößen, Raumkonstruktionen und point of view) wirke, so Thompson, filmischer Exzess dabei als »counternarrative« (Thompson 1977: 57).16 Mit der Dominanz der scheinbar nicht-motivierten Form über den Inhalt wird das Narrative dabei immer wieder zeitweilig ausgesetzt, die Krimihandlung folglich einer Entnarrativierung unterzogen. Hans Jürgen Wulff hat diesen Effekt des »exzessartigen Gebrauchs filmischer Mittel« als »filmische Verfahren« qualifiziert, »die Wahrnehmungsqualitäten jenseits ihrer funktionalen Bestimmung betont hervortreten lassen« (Wulff 2011). Wichtiger als die auf den Handlungsgang gerichtete narrative Dimension ist in diesem Sinne im Münsteraner Tatort der ironische Blick auf die dargestellte Welt, der insbesondere Mittel grotesker kameratechnischer Perspektivierung immer wieder auch dann einsetzt, wenn diese nicht unmittelbar diegetisch funktionalisiert sind. Indem der Tatort aus Münster nun die leichte Untersicht in der Kombination mit der halbnahen Einstellung als favorisierte Kameraeinstellung, mithin als den ›normalen‹ Wahrnehmungsmodus der dargestellten Welt, etabliert und damit die leichte Abweichung von der Normalität zur wahrnehmungsbezogenen Norm erhebt, wird umso augenfälliger, dass sich von hier aus die Entlarvung der brüchigen Oberflächen- und Fassadenrealität als weitere, demgegenüber aber deutlich abweichende ›Verzerrung‹ des wahrnehmenden Kamerablicks (aus der extremen Auf- oder Untersicht auf das Geschehen) realisiert. Diese mit dem Raum Münster im Tatort verbundene Realitätswahrnehmung steigert sich bis in ihre Extreme der Frosch- und Vogelperspektive hinein in immer neue, das Groteske der Situation ausstellende
15 Mit Bezug auf Viktor Shklovski bezeichnet Kristin Thompson überschüssige, zunächst unverständliche Elemente im Film als »excess«, da sich diese nicht in einheitsbildende Bedeutungsstrukturen einfügen ließen (1977: 56). »More precisely«, so Thompson weiter, »excess implies a gap or lag in motivation« (ebd.: 57) und beinhalte somit nichtmotivierte, d.h. nicht funktional auf Handlungspräsentation, Erzählfolge und Stil (»plot«, »story«, »style«) bezogene Elemente des Films: »[W]here motivation fails, excess begins« (ebd.: 58). Filmischer Exzess suspendiert somit die diegetisch-narrative Motivation bzw. die »symbolischen oder dramaturgischen Funktionen« filmischer Gestaltungsmittel und lenkt die Aufmerksamkeit auf die eigene filmische Form, wie Hans Jürgen Wulff (2011) dies expliziert. 16 Das Narrative der präsentierten Handlung werde dabei, so Thompson, durch »excessive elements« zugunsten einer Aufmerksamkeitslenkung auf die filmischen Mittel selbst ausgesetzt (ebd.).
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Kameraperspektiven, mit denen der verhandelte, dem Tatort-Format entsprechende ernste Kriminalfall dem unernsten Modus der ›Schwarzen Komödie‹ untergeordnet wird. Dabei funktionalisiert der Münster-Tatort die Abweichung in die extreme Auf- und Untersicht folgenübergreifend immer wieder aber auch, um eine Dissoziation der Wahrnehmungsperspektive auf dargestellte Figuren und Räume zu indizieren,17 die das Auseinandertreten von Schein und Sein und damit verbunden die Ankündigung bevorstehender Bedrohung bzw. Todesgefahr für den Zuschauer auf der Bildebene augenfällig sichtbar werden lässt. Die damit vom eingeführten Normalmodus abweichenden Kameraeinstellungen auf der Ebene von Bildkomposition, Kadrierung und Montage thematisieren nicht zuletzt selbstreflexiv die Realitätswahrnehmung an sich, die im Tatort aus Münster gewissermaßen mit einem Augenzwinkern als ironisch groteske, leicht ›entstellte‹ Sicht auf Diegese und Genre präsentiert wird. Diese zunehmende Derealisierung filminterner Realität weist Münster zusammenfassend als Raum einer doppelbödigen Realität aus, in der zwei Sichtweisen nebeneinander existieren und gegeneinander ausgespielt werden, ohne sich gegenseitig aufzuheben:18 (a) eine realistisch funktionalisierte Handlungsebene des Krimis auf der Histoire-Ebene der Fallgeschichte, die dem Schema der Tatort-Reihe vordergründig treu bleibt (vom initialen Leichenfund über die Ermittlungen und die Rekonstruktion der Vorgeschichte bis zur finalen Fallauflösung) und zahlreiche, wenngleich stereotype, Referenzen an die empirisch-reale Welt Münsters enthält, und (b) die ironisch-groteske Darstellungsebene des discours, die den MünsterTatort als genrebezogen selbstreflexives Spiel im Stil einer ›Schwarzen Komödie‹ präsentiert und dabei auch das Personal der Ermittlergeschichte als eine Gemeinschaft skurriler Sonderlinge einschließt, in der Thiels hanfanbauender Vater, Taxifahrer und Aussteiger ebenso Platz hat wie die kleinwüchsige Silke Haller oder die als verrucht dargestellte Staatsanwältin Klemm. So sind die Münster-Tatorte insge-
17 Ein Stilmittel, das insbesondere Alfred Hitchcock zum Aufbau von suspense im Thriller eingesetzt hat, um die Entfremdung von der vertrauten Wahrnehmungsrealität, das Erkenntnismoment des Auseinandertretens von Schein und Sein, anzudeuten (bspw. in The Man who knew too much/Der Mann, der zuviel wußte (1956), als die McKennas begreifen, vom Ehepaar Drayton betrogen worden zu sein). 18 »Die Fälle aus Münster«, so konstatieren auch Scherer und Stockinger, »unterlaufen das Realismus-Gebot von Beginn an, indem neben der Konstruiertheit des Plots das Komödiantische ausgestellt wird« (Scherer/Stockinger 2010: Abschn. 75). Folgerichtig ordnen sie den Tatort aus Münster daher dem von ihnen beschriebenen »Typus des romantischen bzw. mythischen Raums« zu, in dem ein realistisches Raumkonzept zwar aufgerufen, aber zugleich unterlaufen wird (ebd.: Abschn. 4 und 74f.).
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samt als persiflierende Metareflexion auf Elemente der Literatur- und Mediengeschichte des Krimis lesbar.19
»M ÜNSTERLAND IST M ONSTERLAND « 20 S CHLUSSFOLGERUNGEN Nicht durch den für das Tatort-Format andernorts obligatorischen Realitätsbezug zur aktuellen gesellschaftlichen Lage der Bundesrepublik, sondern durch das ausgestellt artifizielle und ironisch gebrochene Spiel mit den medialen Bedingungen und historischen Kontexten des Krimigenres ist der Tatort aus Münster gekennzeichnet. Von Folge zu Folge löst sich die dargestellte ›Fassaden‹-Realität Münsters dabei zunehmend auf in das selbstreflexive und intertextuelle Spiel mit den Genretraditionen des Krimis (sowie in das intratextuelle Variationsspiel mit den eingeführten Regularitäten des Münsteraner Tatort-Ablegers selbst). Die Raummetaphern der ›Fassade‹ und des ›Sumpfs‹ verweisen dabei paradigmatisch auf fiktionale Werke und Vorbilder der Genregeschichte seit dem 19. Jahrhundert. Der ›Image-Raum‹ Münster, den die hier angesiedelten Tatort-Folgen somit konturieren, ist v.a. durch die Fähigkeit geprägt, eine mit Todesgefahr korrelierte Realität spielerisch in morbide Selbstironie, den Ernst in den Unernst einer ›Schwarzen Komödie‹ und ihrer skurril ›entstellten‹ Welt aufzulösen. Dem entspricht auch, dass die finale Ordnung eine partiell ungeordnete bleibt: Die Abgründe der rekurrent durch Inzucht und Scheinheiligkeit gekennzeichneten Provinz bleiben, der jeweiligen Einzelfalllösung zum Trotz, prinzipiell weiter bestehen. Die Ordnung restituiert sich, in deutlichem Unterschied zum Chronotopos des klassischen ›whodunit‹,21 somit nur partiell: Krisenhafte Gegenwart und ›umgekehrte‹, auf ein verborgenes Vergangenes zielende Zeitperspektive sind nur auf individueller Ebene beendet und gelöst, auf kollektiver Ebene dauern Krisenhaftigkeit und Vergangenheitsorientierung der präsupponierten Gegenwart über den Einzelfall hinaus an. Im Münster-Tatort dominieren dabei im
19 Neben den bereits genannten Verweisen auf den pointierten Rätselroman im Stil Agatha Christies (sowie auf Verfilmungen von deren Werken der 1970er und 1980er Jahre), auf die Edgar-Wallace-Filme der 1960er und 1970er Jahre und auf die Tradition der hard boiled novel sei außerdem noch einmal auf die ›westfälische‹ Tradition der Kriminalerzählung des 19. Jahrhunderts hingewiesen (Droste-Hülshoff, J. D. H. Temme). 20 Das Zitat entstammt der Figurenrede in Mörderspiele, genauer: derjenigen von Hauptkommissar Thiels Vater Herbert (00:07:17). 21 Spörl definiert den »Chronotopos des klassischen ›Whodunit‹« als »krisenhafte Gegenwart mit ›umgekehrter Zeitperspektive‹ und einer ›aufgelösten‹, wiederherzustellenden Ordnung eines abgeschlossenen Lebensraums« (Spörl 2006: 7).
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Innerfamiliären angesiedelte, privat-erotische Verwicklungen und Verbrechen, die rekurrent die ›Provinzialität‹ des Verhandelten betonen, das stets als über Münster hinaus nicht Verallgemeinerbares präsentiert wird. Kleinstadtkosmos, sexuelle Abweichungen, ins ›Pathologische‹ abgleitende Obsessionen sowie skurrile Verwicklungen prägen somit eine im Kern vergangene, hinsichtlich ihrer Wertvorstellungen »vergangenheitszentrierte[ ]«22 und abgeschlossene Welt des filmischen Münster, das sich an Motiven aus Kriminalgeschichten des 19. Jahrhunderts orientiert. Zugleich werden ›Sumpf‹ und ›Fassade‹ im Tatort aus Münster als genrebezogene Chronotopoi reflektiert, an denen deutlich wird, dass es – im Unterschied zur von Bachtin postulierten zeitlichen Dominierung des Chronotopos in der Literatur23 – im Film gerade der Raum ist, dessen visuelle Ausgestaltung den filmischen Chronotopos des Krimigenres dominiert. Für die Tatort-Reihe insgesamt fungiert damit der Münster-Tatort als Experiment und Ausnahme, welche die Regel bestätigt, als denormalisierende, »mit normalisierender Rückkehr« ausgestattete »Fahrt[ ] ins Abseits«24 im doppelten Sinne: Komik entsteht hier gerade erst vor dem Hintergrund einer Abweichungspoetik und einer gesteigerten Selbstreflexion von Format und Genre, die nur im Bezug auf eine Norm als Abweichung erkennbar bleibt. Der Blick auf einen historischen Vorläufer, die deutsche Edgar-Wallace-Reihe der 1960er Jahre zeigt, welch hohem Abnutzungseffekt dieses Erzählmodell unterliegt. Die dortige Kombination von Sex und Gewalt, von komödiantischen Gags und gruseligen Schockeffekten bildete das Erfolgsrezept der Wallace-Filme. Ab Mitte der Sechziger Jahre, parallel zum Wechsel zur Farbe in Der Bucklige von Soho (1966), wurden allerdings die um sex and crime zentrierten Gegensätze von Gruselspannung und Komik immer weiter ins Extrem gesteigert, bis Anfang der 1970er Jahre der Bogen überspannt und die Reihe schließlich eingestellt wurde. Der Münster-Tatort tendiert nach zehn Jahren zu einer vergleichbaren Entwicklung, wie der Jubiläumsfall Das Wunder von Wolbeck (2012) gezeigt hat. Ins Fäka-
22 Zu diesem Urteil gelangen auch Gräf und Krah (2010: 90). Gräf sieht darüber hinaus in der im Münster-Tatort rekurrenten Vergangenheitsorientierung eines der beiden zentralen narrativen Modelle der Tatorte der 2000er Jahre verwirklicht, das »in den dargestellten Welten eine Historizität« schaffe, »die grundlegend und bindend für das gesellschaftliche Verständnis der Welten« gesetzt werde (Gräf 2010: 316f.). 23 »In der Literatur ist der Chronotopos für das Genre von grundlegender Bedeutung. Man kann geradezu sagen, daß das Genre mit seinen Varianten vornehmlich vom Chronotopos determiniert wird, wobei in der Literatur die Zeit das ausschlaggebende Moment des Chronotopos ist.« (Bachtin 2008: 8). 24 Begrifflichkeit nach Jürgen Link, der damit den v.a. auch im populären Krimigenre häufigen »Narrationstyp der ›(nicht) normalen Fahrt‹« beschreibt (Link 2002: 551f.).
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lische gesteigerter Slapstick und ein nochmal gesteigertes intertextuelles Spiel mit Filmgenres über die Mediengeschichte des Krimis hinaus lassen die zu Grunde liegende Fallgeschichte (und mit ihr die Narration insgesamt) noch weiter in den Hintergrund treten. So ereignet sich, durch Filmmusik und Slowmotion-Bilder unterlegt, im westfälischen Provinzdorf schließlich ein Showdown nach den Regeln einer amerikanischen Western-Inszenierung. Das Tatort-Format insgesamt vermag solche Ausflüge ins Komische, Intertextuelle und Selbstreflexive auszuhalten. Dem Tatort aus Münster aber ist von Beginn an als Herausforderung eingeschrieben, in der Variation der anfangs eingeführten Elemente von Übertreibung, Komik und Selbstreflexion des Tatort-Formats den Bogen von Spannung und Komik zu halten, ohne ihn zu übersteigern.
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B EHANDELTE T ATORT -F OLGEN Der dunkle Fleck, 20. Oktober 2002 (WDR, R: Peter F. Bringmann) 3 x Schwarzer Kater, 19. Oktober 2003 (WDR, R: Buddy Giovinazzo) Sag nichts, 14. Dezember 2003 (WDR, R: Lars Kraume) Mörderspiele, 25. April 2004 (WDR, R: Stephan Meyer) Eine Leiche zu viel, 5. Dezember 2004 (WDR, R: Kaspar Heidelbach) Der Frauenflüsterer, 3. April 2005 (WDR, R: Kaspar Heidelbach) Der doppelte Lott, 20. November 2005 (WDR, R: Manfred Stelzer) Das ewig Böse, 5. Februar 2006 (WDR, R: Rainer Matsutani) Das zweite Gesicht, 12. November 2006 (WDR, R: Tim Trageser) Ruhe sanft, 18. März 2007 (WDR, R: Manfred Stelzer) Satisfaktion, 28. Oktober 2007 (WDR, R: Manuel Flurin Hendry) Wolfsstunde, 9. November 2008 (WDR, R: Kilian Riedhof) Tempelräuber, 25. Oktober 2009 (WDR, R: Matthias Tiefenbacher) Der Fluch der Mumie, 16. Mai 2010 (WDR, R: Kaspar Heidelbach)
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Zwischen den Ohren, 18. September 2011 (WDR, R: Franziska Meletzky) Hinkebein, 11. März 2012 (WDR, R: Manfred Stelzer) Das Wunder von Wolbeck, 25. November 2012 (WDR, R: Matthias Tiefenbacher) Die chinesische Prinzessin, 20. Oktober 2013 (WDR, R: Lars Jessen)
ANDERE R EIHEN
ZITIERTE
F ILME , M EHRTEILER , S ERIEN UND
Death on the Nile/Tod auf dem Nil 1978 (GB, R: John Guillermin) Der Bucklige von Soho 1966 (BRD, R: Alfred Vohrer) Evil under the Sun/Das Böse unter der Sonne 1982 (GB, R: Guy Hamilton) Murder on the Orient Express/Mord im Orient-Express 1974 (GB, R: Sidney Lumet) The Man who knew too much/Der Mann, der zuviel wußte 1956 (USA, R: Alfred Hitchcock)
Zwischen Wortwitz und Klamauk Der Tatort Münster als Dramedy T HOMAS K LEIN
Dem deutschen Gegenwartsfernsehen wird seit Jahren vorgeworfen, mit neuen Formen seriellen Erzählens nicht Schritt halten zu können. Dabei wird meist auf das US-amerikanische sog. Quality TV verwiesen. In nahezu blindem Aktionismus haben Praktiker auf diese Misere deutscher Serienproduktion reagiert, indem sie Imitationen von US- oder auch britischen Serien konzipierten bzw. produzierten. Die Ergebnisse waren überwiegend katastrophal. Stromberg (2004-2012) als Adaption von The Office (2001-2003) ist eher eine Ausnahme. Davon abgesehen stellt sich aber die Frage, ob ästhetische, narrative und speziell serielle Veränderungen nicht doch im Detail einen gewissen und nicht unbedingt negativen Einfluss auf die deutsche Serienproduktion ausgeübt haben. Zu diesen narrativen und seriellen Modifikationen gehört die Hybridisierung von Genres, Formaten und anderen narrativen und seriellen Formen. Eine entsprechende Variante besteht im »Wechselspiel zwischen episodischem und fortsetzungsorientiertem Erzählen« (Mittell 2012: 106). Der Mischung aus series und serial kann als weitere Zutat die Struktur der Soap Opera hinzugefügt werden, wie es Glen Creeber festgestellt und dafür die Bezeichnung »flexi-narrative« eingeführt hat (Creeber 2004: 12). Eine weitere Hybridisierung findet sich in der Kombination von Komik und melodramatischen Elementen, wie es paradigmatisch in Ally McBeal (1997-2002) praktiziert wurde (vgl. hierzu Groß 2012: 275). Für diese Form – »hour-long television programmes that seek to fuse elements of comedy and drama, resulting in a drama with comic elements or a comedy with dramatic elements« (Feasey 2012: 71) – hat sich ein Terminus gefunden, in den sich die Vermischung im wahrsten Sinne des Wortes eingeschrieben hat: Dramedy. Die ersten Dramedies, hierzulande auch Dramödien genannt, erschienen in den 1980er Jahren. Moonlighting/Das Model und der Schnüffler (1985-1989) gilt als erstes prägnantes Beispiel in der Seriengeschichte. Eine konzeptionell sehr ähnliche
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Serie war Remington Steele (1982-1987), die als Wegbereiter für Moonlighting gilt.1 Um das Ausgangsgenre (in diesen Fällen die Detektivgeschichte) kenntlich zu machen, das mit Elementen des Komischen durchdrungen wird, ist bei diesen Serien auch von comedic dramas die Rede. Eine weitere, sehr naheliegende Spielart der Dramedy ist die Kombination von Familienserie und Comedy. Dass diese beiden Formen miteinander harmonieren können, zeigt die domestic comedy, die aber überwiegend komische Anteile aufweist. Wenn Familienserie und Comedy mit einer großen Schnittmenge von dramatischen und komischen Anteilen vermischt werden sollen, so erscheint eine deutlichere Abweichung von der Kernfamilie vonnöten. Tatsächlich ist dies auch zu beobachten. Rebecca Feasey: »[...] recent examples of the genre tend to focus on a number of alternative family codes, conventions and complications« (2012: 71). Als Beispiele nennt sie Gilmore Girls (2000-2007) und v.a. Desperate Housewives (2004-2012). Davon ausgehend ist die Figurenkonstellation im Tatort Münster für eine Dramedy bestens geeignet: Der Kommissar lebt in Scheidung und ermittelt mit einem unkonventionellen ›Team‹, dessen Mitglieder alle alleinstehend sind, darunter die junge blonde Assistentin, ein Gerichtsmediziner, dessen kleinwüchsige Assistentin, eine Staatsanwältin mit Reibeisenstimme und der Taxi fahrende Vater des Kommissars. Den Tatort Münster im Kontext des Hybridgenres Dramedy zu betrachten, erfordert jedoch die Berücksichtigung einer weiteren Ebene, denn es handelt sich um eine Serie innerhalb einer übergeordneten Reihe. Es muss also darum gehen, wie im Thiel/Boerne-Tatort das Wechselverhältnis von Drama bzw. Kriminalserie und Komik im Kontext einer Reihe (des Tatort) strukturiert wird, von der angenommen werden kann, dass nicht jede Form von Modifikation funktioniert, sondern unter Umständen als »Genre- bzw. Formatverletzung« (Hißnauer/Scherer/ Stockinger 2012: 151) wahrgenommen wird.
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2003 ins Leben gerufen, handelt es sich beim Thiel/Boerne-Tatort des WDR zugleich um den derzeit quotenstärksten Tatort, der in den neuesten Folgen Rekordzahlen erreichte.2 Zugleich hat sich mit den 14- bis 49-Jährigen eine Zuschauerschaft gefunden, die lange Zeit nicht zur Klientel des Tatorts zählte, was sich aller-
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Der Produzent Glenn Gordon Caron war bei beiden Serien beteiligt. Die Folgen 22 und 23, Das Wunder von Wolbeck (2012) und Summ, summ, summ (2013), erreichten über 12 Mio. Zuschauer (http://www.tatort-fundus.de/web/folgen/chrono/ab2010/2012/851-das-wunder-von-wolbeck.html und http://www.tatort-fundus.de/web/fol gen/chrono/ab-2010/2013/867-summ-summ-summ.html).
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dings auch für andere Tatort-Serien geändert hat. Dass dieser Erfolg mit den auf eine komische Wirkung abzielenden Dialogen, mit gezielt als Typen konzipierten wiederkehrenden Haupt- und Nebenfiguren sowie Elementen der situation comedy zu tun hat, daran besteht kein Zweifel. Doch wie kommt es, dass eine Reihe, die als der »wahre deutsche Gesellschaftsroman« (Vogt 2005) bezeichnet wurde, die trotz einiger Zäsuren und temporärer Brüche letztlich doch eine bemerkenswerte Kontinuität hinsichtlich einer gewissen Ernsthaftigkeit im Umgang mit Kriminalität zunächst in der Bundesrepublik und dann in Deutschland aufweist, eine Serie, die dergestalt »Einblicke in die sozial- und mentalitätsgeschichtlichen Verhältnisse der Bundesrepublik Deutschland« (Hißnauer/Scherer/Stockinger 2012: 143) bietet, einen solchen Erfolg verbuchen?
Abb. 1: Prof. Karl-Friedrich Boerne in Der dunkle Fleck
Folgen wir Christian Hißnauer, Stefan Scherer und Claudia Stockinger weiter, so spielen Distinktionsmerkmale für den Tatort prinzipiell eine wichtige Rolle (ebd.: 153). Diese Merkmale bedingen auch eine Trennung in die Bezeichnung Reihe, wenn vom Tatort insgesamt, und Serie, wenn von den Tatort-Folgen um bestimmte Kommissarfiguren einer Sendeanstalt die Rede ist. Bezüglich Ermittler bzw. Ermittlerpaar stellte in den 1980er Jahren der Tatort des WDR mit Schimanski und Thanner die erste auffällige Zäsur dar. Fall und Privatleben rückten oft sehr nahe zusammen, die Diskrepanz zwischen dem medial repräsentierten Polizisten zur außerfilmischen Polizisten-Realität nahm deutlich zu (und wurde entsprechend diskutiert); und in der Figur des von Eberhard Feik gespielten Thanner wurde das Stereotyp des Assistenten aufgebrochen, indem er zum gleichberechtigten Kollegen avan-
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cierte. Die Ausnahmestellung des Schimanski-Tatort zeigte sich auch darin, dass zwei Kinofilme entstanden. Der Thiel/Boerne-Tatort, wieder vom WDR produziert, stellt in vieler Hinsicht eine zweite deutliche Zäsur dar. Und abermals besteht das zentrale Distinktionsmerkmal in einer starken Variation des Ermittlerpaares. Mit Prof. Karl-Friedrich Boerne (Abb. 1) ist zum ersten Mal ein Rechtsmediziner zweite Hauptfigur. Mit Der letzte Zeuge (1998-2007) wurde dieser Figurentyp zuvor bereits in einer deutschen Serie als Protagonist eingesetzt: hier war der Kommissar eher Nebenfigur.3 Während Kolmaar eindeutig der Protagonist ist, sind Hauptkommissar Frank Thiel (Abb. 2) und Boerne gleichwertige Hauptfiguren. Aus diesem Distinktionsmerkmal geht das zweite hervor, die Komik, die aus der Kontrastrelation zwischen Boerne und Thiel resultiert, aber auch in anderen Figurenrelationen auftritt. Diese bedarf eines spezifischen Sinns für Humor beim Zuschauer, zumal nicht davon ausgegangen werden kann, dass er diesen im Tatort ohne weiteres goutiert.
Abb. 2: Hauptkommissar Frank Thiel in Der dunkle Fleck
P OLITICAL C ORRECTNESS , W ITZ UND K OMIK In seinem Buch »Herrlich inkorrekt«. Die Thiel-Boerne-›Tatorte‹ (2012) hat Matthias Dell, Kulturredakteur der Wochenzeitung Freitag, bereits Funktionen des Komischen im Münsteraner Tatort aufgezeigt. Dabei fokussiert er solche Momente,
3
Ulrich Mühe spielt Dr. Robert Kolmaar, der in Scheidung lebt und mit seiner Tochter Anna zusammenwohnt.
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die sich auf den ›PC‹-Diskurs beziehen, also darauf, wie die Thiel/Boerne-Tatorte das Thema Political Correctness für die Erzeugung von Komik einsetzen. Am offensichtlichsten tritt dies in Boernes Anspielungen auf die geringe Körpergröße von Silke Haller zutage, die er in Anspielung an eine Figur aus der germanischen Mythologie (den Elfen- bzw. Zwergenkönig) mit dem Beinamen ›Alberich‹ belegt. Ein anderes Beispiel gibt Dell mit einer Äußerung Boernes in der Folge 3 x Schwarzer Kater (2003): »Schade, dass das Vierteilen politisch nicht mehr korrekt ist. Speziell im Falle jenes britischen Genies, der diese Software programmiert hat. Den würde ich gerne persönlich teeren, federn, rädern und anschließend kreuzigen, und zwar genau in der Reihenfolge.« (00:41:38-00:41:53) (Ein britischer Softwareprogrammierer möchte von Boerne persönlich nach Münster gebeten werden, um ein von ihm entwickeltes schadhaftes Computerprogramm zu reparieren.) Dell zeigt, wie der Witz funktioniert: »Auch wenn Witze-Erklären immer schrecklich dröge rüberkommt: Die Übertreibung funktioniert, weil das Genervtsein von Boerne über sein schadhaftes Programm und das SichZieren des Progammierers in keinem Verhältnis zu den mittelalterlichen Folter- und Hinrichtungspraxen steht, die Boerne sich ausmalt.« (Dell 2012: 82f.)
Dell hat recht, dass Witze erklären selten witzig ist. Allerdings hat (wie Dell deutlich macht) Boernes Äußerung weniger mit Political Correctness zu tun, als es die explizite Thematisierung verspricht. Für Dell ist der Sprachwitz daher auch weniger gelungen denn in anderen von den beiden Drehbuchautoren Jan Hinter und Stefan Cantz geschriebenen Dialogen (ebd.: 84). Das Problem sieht er als Teil der Debatte um politische Korrektheit: »Die Verwendung von ›politisch korrekt‹ macht aus dem Witz ein unangenehmes Programm; die Pointe ist nur der Vorwand, nebenher ordentlich auszuteilen.« (Ebd.) Dells Befund hinsichtlich des Humors fällt letztlich nicht eben positiv aus. Als Kollateralschäden der ›PC‹-Analyse finden sich Begriffe wie »Kadettenhumor« (ebd.: 90) oder die Beobachtung, dass Witze auf der Basis hanebüchener Konstruktionen von Szenen stattfinden (ebd.: 103). Indem Dell aber auf den (deutschen) ›PC‹-Diskurs eingeht, bezieht sich seine Analyse des Komischen im Tatort Münster auf das, was ohnehin als typisch für den Tatort im Allgemeinen betrachtet wird: dass der Tatort »Einblicke in die sozial- und mentalitätsgeschichtlichen Verhältnisse der Bundesrepublik Deutschland« (Hißnauer/Scherer/Stockinger 2012: 143) gibt. Diese Perspektive gibt Dell selbst als Leitlinie seiner Darstellung an: »Dieses Buch [...] versucht [...] zu beschreiben, wie Münster von einer bestimmten, immer wiederkehrenden Debatte der Jetztzeit handelt.« (Dell 2012: 23) Alle witzigen Elemente, die mit Political Correctness zu tun haben, schaffen demzufolge keine Inkohärenz innerhalb der Tatort-Reihe, weil sie auch auf längere Sicht vom Publikum als
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Variationen des Konzepts ›Tatort‹ rezipiert werden können, das darin besteht, aktuelle gesellschaftliche Debatten in die Handlung zu integrieren. Indes stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis Witz und Komik im Thiel/ Boerne-Tatort zueinander stehen. Gemeinhin gilt der Witz als Spielart der Komik. Nach Sigmund Freud ist der Unterschied in der Art und Weise der Kommunikation zu finden: »Der Witz wird gemacht, die Komik wird gefunden, und zwar zu allererst an Personen [...].« (Freud 1958: 147) Das überzeugt insofern, als man darin durchaus eine gängige Form der kommunikativen Äußerung eines Witzes wiedererkennen kann. In medialen Darbietungen von Witzen entstehen jedoch weitere Ebenen, weil dann ein Witz nicht nur einer oder mehreren anderen Person erzählt wird, sondern der Zuschauer im Kino oder vor dem Fernseher hinzukommt. So kann ein Witz, der im Film erzählt wird, auch die Funktion haben, den WitzeErzähler als nicht besonders witzig darzustellen, indem keiner seiner Zuhörer innerhalb der Diegese auf den Witz lachend reagiert. Das schließt jedoch nicht aus, dass wir als Fernsehzuschauer über den Witz lachen. Übertragen auf Boerne könnte das bedeuten, dass er Witze macht, die für die anderen Figuren fast nie witzig sind, während wir Zuschauer vor dem Fernseher darüber lachen sollen. Die Zuschauer müssen also die in Boernes Äußerungen implizierte Komik finden. Wenn Boernes Äußerungen tatsächlich als Witze bezeichnet werden sollten, in denen der ›PC‹-Diskurs zur Sprache kommt, dann wären sie unter der Kategorie zu subsumieren, die Freud als »tendenziöse Witze« bezeichnet, weil sie sich in den Dienst einer Absicht stellen (ebd.: 72). Es ist jedoch nötig, einen Schritt weiter zu gehen. Eine Stellung zwischen dem Witz und dem Komischen weist Freud dem Naiven zu. Dieses ist v.a. bei Äußerungen von Kindern anzutreffen. Der Naive wirkt komisch, ohne dass er dies selbst wahrnimmt. Er erzählt einen Witz, hegt aber nicht die Absicht dazu. Die komische Wirkung fiktionaler Figuren, ob auf der Bühne, in Film oder Fernsehen, hängt stark mit dem Naiven zusammen. Schauspieler spielen eine Figur dergestalt komisch, dass die Figur den Eindruck erweckt, nicht zu merken, dass sie komisch ist, selbst dann, wenn die Komik als Witz daherkommt. Sie verhalten sich gespielt naiv. Der berühmte Schlusssatz »Niemand ist vollkommen!« in Some Like It Hot/Manche mögen’s heiß (1959) ist dafür ein sehr passendes Beispiel. Allerdings nehmen wir diese Aussage nur deshalb als komisch wahr, weil sie aus der Narration hervorgeht. Ohne den Kontext des Spiels mit Gender, das der Film betreibt, wäre die Aussage kaum komisch. Daraus ergibt sich aber die Frage, in welchem Verhältnis Boernes Äußerungen als Witze zur komischen Wirkung im Kontext einer Tatort-Narration stehen. Wenn Boerne sich etwa über die Körpergröße von Silke Haller lustig macht, dann sind dies in der Tat intendierte Witze. Diese sind aber kaum in die Narration eingebettet, und sie richten sich ausschließlich an den Fernsehzuschauer. Andere Figuren lachen über seine Witze fast nie, und wenn jemand lacht, dann meist über Boerne und nicht über dessen Witz, geschweige denn über dessen Humor. Darüber hinaus wird Ko-
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mik in Dialogen freigesetzt, die weder den Charakter von Witzen aufweisen noch mit der Debatte um Political Correctness zu tun haben. Die Komik, die von Boerne in vielen anderen Situationen ausgeht, entspricht zuvorderst einer komischen Figurenkonzeption, die darauf beruht, dass Boerne sich der von ihm ausgehenden Komik nicht bewusst ist. Er agiert im o.g. Sinne naiv. »It is not [...] just the content of comedy that is significant but also its ›conspirational‹ relationship with the viewer (reader).« (Horton 1991: 9) Eine Funktion hinsichtlich des Konspirativen hat interessanterweise gelegentlich Nadeshda, die als ›normalste‹ Figur hin und wieder Mittlerin zwischen Diegese und Zuschauer ist, so etwa, wenn sie und Thiel in einer Folge die Staatsanwältin zu Hause aufsuchen und überraschenderweise Thiels Vater frisch geduscht mit einem Handtuch um die Hüften auftritt. Nadeshda kann ein Lachen kaum unterdrücken, Hauptkommissar Thiel hingegen ist nicht zum Lachen zumute (Das zweite Gesicht, 01:16:49-01:17:20). Dass komische Figuren eine merkwürdige Stellung zwischen dem Bewusstsein, komisch zu sein, und der erwähnten Naivität haben können, wird insbesondere in Sitcoms deutlich. Wenn die verheirateten Lily und Marshall in How I Met Your Mother (seit 2005) darüber sprechen, dass es noch nie bei der Verrichtung seiner Notdurft im selben Zimmer war (Zip, Zip, Zip/Nur nichts überstürzen, Staffel 1, Episode 14), so tut es das im Brustton der Überzeugung eines Beziehungsdramas und zugleich im Modus des Komischen, der Äußerungen und Handlungen impliziert, die in den Ausführungen bewusst überzeichnet sind. Besonders interessant wird es, wenn man einen Blick darauf wirft, wie andere Figuren in der Diegese auf komische Figuren reagieren. Gerade weil sie die komische Figur eigentlich ernst nehmen oder allenfalls sonderbar oder verhaltensauffällig, entsteht der komische Effekt. Noch einmal How I Met Your Mother: Keiner seiner Freunde lacht über Barney Stinson. Nie schließt sich eine andere Figur in der emotionalen Reaktion an eine Lachkonserve an. Es sind im Übrigen gerade die Lachkonserven, die deutlich machen, wie konspirativ gerade Sitcoms vorgehen. Bei Dramedies werden sie aber in der Regel nicht eingesetzt. Wie die Sitcom erweckt auch der Thiel/Boerne-Tatort den Eindruck, es würden Witze erzählt – resultiert die Komik doch überwiegend aus dem Dialog. Nicht umsonst ist dann auch von Wortwitz die Rede. Doch weder eine Sitcom noch eine Dramedy noch der Thiel/Boerne-Tatort erschöpfen sich darin, wenn sie Komik anwenden. Deshalb sollen weitere Merkmale des Komischen herausgestellt werden, darunter auch solche des Slapstick, die ebenfalls in Sitcoms vorkommen, im Tatort jedoch eher als Klamauk und damit als zu starke serielle Inkohärenz wahrgenommen werden (können).
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E LEMENTE
DER
S ITCOM
Die Sitcom als TV-Destillat der Situationskomödie hat sich im Fernsehen nicht zuletzt durchgesetzt, weil sie besonders gut mit Serialität harmoniert. Wichtig ist eine Grundsituation, ein Status Quo, auf den von Folge zu Folge immer wieder zurückgekehrt werden kann. Dabei handelt es sich überwiegend um Relationen zwischen statisch konzipierten Figuren. Die Figuren entwickeln sich nicht weiter. Für den Tatort gilt dies in vieler Hinsicht generell, weswegen die Kombination mit der Sitcom auch gelingen kann. Im Thiel/Boerne-Tatort weisen die Hauptfiguren zudem deutliche Züge von Figurentypen auf. V.a. Boerne ist als eindimensionale und stereotype Figur konzipiert, die nur wenige, aber dafür prägnante Eigenschaften besitzt. So kann er als Karikatur des Bildungsbürgers mit akademischem Hintergrund bezeichnet werden, der mit seinem bildungsbürgerlichen Wissen prahlt. Münster mit seiner altehrwürdigen Universität ist hierfür das geeignete Setting. Thiel wiederum affirmiert den kleinen Mann aus dem Volk auf übertriebene Weise: eine Figurenkonzeption, die der Schauspieler Axel Prahl bereits in seinen Filmen mit Andreas Dresen entwickelt hatte.4 Diese Figurenkonzeptionen prallen mit anderen aufeinander: Boerne auf Haller, deren Hauptmerkmal ihre Kleinwüchsigkeit ist, Thiel auf seinen Vater Herbert, dessen Hauptmerkmal sein Alt-68er-Gestus ist. Die kettenrauchende Staatsanwältin Wilhelmine Klemm wiederum kann mit allen Figuren konfrontiert werden. Von Elementen der Figurentypisierung ausgenommen ist Thiels junge Assistentin Nadeshda, die Jugendlichkeit, berufliches Engagement und weibliche Attraktivität repräsentiert. Prinzipiell kommen auf Komik zielende Dialoge in allen Situationen vor, auch am Tatort zu Beginn der Ermittlungen. Gezielt darauf verzichtet wird in der vierzehnten Folge Wolfsstunde (2008), indem Boerne Thiel nur kurz im Vorübergehen ›Morgen‹ wünscht. Weil es um einen brutalen Sexualmord geht, wurde der Anteil komischer Elemente in dieser Folge ohnehin reduziert. In der zweiundzwanzigsten Folge Das Wunder von Wolbeck (2012), wo komische Elemente viel Raum einnehmen, streiten Thiel und Boerne bereits am Tatort über Spielschulden in Höhe von 120 Euro, die Boerne bei einem Schachspiel mit Thiel gemacht habe und kommunizieren dabei über einen anderen Mitarbeiter. Hier wird von einem komischen Element Gebrauch gemacht, das sich in der Beziehungskomödie findet: Zwei eigentlich ineinander Verliebte, die sich ihre Gefühle noch nicht offenbaren konnten, geraten in einen Streit, der aus diesen noch ambivalenten Gefühlen resultiert und zu einer unvernünftigen, ja nahezu infantilen Kommunikations-Umleitung
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Auf diese Figurenkonzeptionen geht auch Matthias Dell (2012: 26-44) ein, er kommt aber später, wenn es um ›PC‹ geht, nur noch bedingt darauf zurück.
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führt. Diese komische Situation kann demzufolge auch in Relationen zwischen männlichen Figuren eingesetzt werden. Meistens wird eine komische Verwicklung zwischen Thiel und Boerne schon vor den ersten Ermittlungen etabliert. In der zehnten Folge Das zweite Gesicht (2006) wird dies geschickt dazu benutzt, Nadeshda mehr Raum in der Ermittlung zu geben. So trifft sie allein am Tatort ein, während Thiel in einem An- und VerkaufGeschäft ein Tisch-Heizgerät kaufen will. Als Thiel die Umdrehungszahl erhöht, kommt Qualm aus dem Gerät und es schaltet sich aus. Darauf erwidert der Verkäufer, dass man über den Preis noch reden könne. Das erste Aufeinandertreffen von Thiel und Boerne findet in der Gerichtsmedizin statt, und in dem sofort erfolgenden Streitgespräch erfahren wir, dass in Boernes Haus, und damit auch in Thiels Wohnung, die Heizung ausgefallen ist. Das Problem der Heizung eskaliert zusehends und nach 70 Minuten sieht sich der Mieter Thiel gezwungen, in Boernes Wohnung umzuziehen, was zu weiteren komischen Situationen führt.
Abb. 3: Die erste Begegnung von Thiel und Boerne in Screenshot aus Der dunkle Fleck
Hier wird deutlich, dass der Handlungsort eine wichtige Funktion für die Anwendung von Komik einnimmt. Das Polizeipräsidium ist dafür nur bedingt einsetzbar, weil sich hier mehr die dramatischen Anteile abspielen. Wenn Thiel sich in Das zweite Gesicht (2006) im Präsidium an einem Heizungsrohr mit Bewegungen aufwärmt, als handele es sich um eine Tanzstange, ist dies des Komischen schon fast zu viel. Vorstellbar wäre diese Situation allenfalls in den überdrehten GenreParodien David Zuckers, wie etwa in der Naked Gun/Die nackte Kanone-Reihe (1988-1994). Thiel ist als Figur so angelegt, dass sich das Verhältnis von Komik
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und Ernsthaftigkeit zum Ziel der Glaubwürdigkeit als Tatort-Ermittler die Waage halten muss. Komische Situationen finden also v.a. an anderen Orten statt, und hierfür wurde auch die dramaturgische Konstruktion entwickelt, dass Boerne und Thiel im gleichen Haus und dort vis-à-vis wohnen. Der Gag in der ersten Folge Der dunkle Fleck (2002), als die beiden sich zum ersten Mal begegnen, ist denn auch als kleine Slapstick-Nummer umgesetzt (00:07:39-00:07:59). Thiel steht mit einer großen Verkaufsverpackung, in der sich eine Matratze befindet, vor seiner neuen Wohnung und will gerade aufschließen. Boerne kommt, von Thiel ungesehen, aus seiner Wohnung gegenüber und grüßt Thiel. Der dreht sich mit der Verpackung um. Boerne duckt sich geschickt und tritt zur Seite. Er spricht Thiel erneut an, der sich abermals mit seiner Verpackung umdreht. Diesmal gelingt es Boerne nicht, sich rechtzeitig zu ducken und die Verpackung schlägt ihm mitten ins Gesicht (Abb. 3).
Abb. 4: Boerne mit neuer Krone in Der dunkle Fleck
Es handelt sich um eine altbekannte Slapstick-Nummer, die in Verbindung mit einem Objekt eingesetzt wird. In diesem Thiel/Boerne-Tatort wird aus dem Schlussgag der Slapstick-Szene zusätzlich ein Running Gag gemacht. Denn Boerne verliert zentral zwischen den Schneidezähnen eine Krone, die er im weiteren Verlauf der Handlung mal ersetzt bekommt, dann wieder verliert, um sie schließlich wieder anbringen zu lassen (Abb. 4-6). Es stellt sich die Frage, ob ein solcher Running Gag als Distinktionsmerkmal goutiert wird oder nicht. Die Kritik von epd zeigt, dass eine andere dem Tatort adäquatere Komik erwartet wurde:
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»Und es reichte Buch und Regie offenbar nicht, dass Professor Boerne eine Krone aus dem Mund geschlagen wird. Nein, wenig später muss ihm das Gleiche noch mal passieren, wahrscheinlich, damit Liefers so schön übertrieben weiterlispeln kann.«5
Der Tenor der Rezension weist darauf hin, dass eine derartige Form von Komik im Tatort nicht akzeptabel sei. Sie sieht den Running Gag offenbar als dysfunktional an. Das hat vielleicht auch damit zu tun, dass es sich um die erste Folge des Tatort in Münster handelte, das Konzept der Serie zu diesem Zeitpunkt also noch nicht bekannt gewesen sein mag.
Abb. 5: Boerne verliert erneut die Krone (Der dunkle Fleck)
Allerdings werden Running Gags häufig eingesetzt – und zwar binnenepisodisch und folgenübergreifend. Folgenübergreifende Running Gags sind etwa Boernes Anspielungen auf Hallers Körpergröße. Ein binnenepisodisches Beispiel ist das erwähnte Heizgerät in Das zweite Gesicht (2006): Am Anfang will Thiel ein altes Heizungsgerät kaufen, es funktioniert aber nicht. Später bringt ihm Boerne als Vermieter eben dieses Gerät zur Überbrückung, bis die richtige Heizung repariert ist. Thiel führt ihm vor, dass der Heizlüfter defekt ist, doch als Boerne es wieder bedient, läuft er plötzlich. Als wiederum einige Szenen später Thiel zu Hause das Gerät benutzen will, funktioniert es wieder nicht, woraufhin er in Boernes Wohnung umzieht, der natürlich zwei supermoderne Heizkörper in seinem Wohnzimmer
5
Andrea Kaiser. »›Tatort‹: ›Der dunkle Fleck‹.« epd/Kirche und Rundfunk 84 (26. Oktober 2002): 2.
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stehen hat. Running Gags sind also konstitutiv für die Komik im Thiel/BoerneTatort. Von größerer Bedeutung erscheint mir aber, und damit will ich abschließend auf die Spezifik der Konzeption des Thiel/Boerne-Tatorts als Dramedy eingehen, dass der Anteil und die Form der Komik die kriminalistische Handlung nicht unterminiert. Dabei will ich zuerst darauf zu sprechen kommen, inwiefern sich der Münsteraner Tatort auch Elemente anderer neuer Serienkonzepte angeeignet hat.
Abb. 6: Erneut mit Krone (Der dunkle Fleck)
D RAMEDY Eine sehr bekannte US-amerikanische Serie, die im Kontext des Quality TV diskutiert wurde und Züge einer Dramedy trägt, ist Six Feet Under, die von 2001 bis 2005 produziert und in Deutschland ab 2003 auf Premiere ausgestrahlt wurde. »Familienserie, Melodram, romantische und schwarze Komödie« (Eder 2012: 301) vermischend, kann die Serie über das Bestattungsunternehmen und die Familie der Fishers wegen ihres spezifischen surreal-grotesken Umgangs mit dem Thema Tod als dark soap opera bezeichnet werden (vgl. Klein 2007: 109). Zu Beginn jeder Folge wird ein Todesfall gezeigt, der zwischen den Polen Tragik und Komik vielfältig ausgestaltet ist. Wenn zu Beginn der siebten Thiel-Boerne-Folge Der Frauenflüsterer (2005) eine Leiche völlig unvorbereitet auf das Dach eines Autos kracht, könnte es sich auch um den Anfang einer Episode in Six Feet Under handeln. Viele Szenen in der Gerichtsmedizin, die Boerne bei der Arbeit zeigen, sind zwar bei weitem nicht so drastisch wie hier, aber der schwarze Humor erinnert durchaus an den
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für die Fishers arbeitenden Thanato-Praktiker Federico Diaz, für den Leichen Objekte seiner Kunst sind. Der Tatort macht generell immer wieder Anleihen bei anderen Genres. Beim Thiel/Boerne-Tatort ist dies auffallend oft der Fall. Der Anfang der ersten Folge Der dunkle Fleck (2002), in der es um eine Moorleiche geht, ist wie Gothic-Horror gefilmt. In Das Wunder von Wollbeck (2012) taucht Boerne im Westernhut auf einer Farm auf, wo er sich um ein krankes Rind kümmern will und in Der Frauenflüsterer (2005) wird eine Schlägerei in einer Kneipe wie eine Saloon-Prügelei inszeniert; am Ende findet eine Verfolgungsjagd zu Pferd statt. Entscheidend ist, ob sich diese Anleihen bei anderen Serienkonzepten und anderen Genres letztlich in das Konzept ›Tatort‹ einfügen und auch die Figurenkonzepte für das Publikum nicht sprengen. Das gilt eben auch für die Komik. Wenn es sich beim Thiel/Boerne-Tatort um eine Dramedy handelt, dann dürfen die Gags den dramatischen Gehalt nicht aus den Angeln heben. In Das Wunder von Wollbeck (2012) könnte man den Anteil der Komik als zu hoch einschätzen. Der Handlungsstrang mit der Ziege, die ein Beweismittel verspeist hat und fortan bei Boerne in der Gerichtsmedizin verweilt sowie das als Abschied von einer Geliebten inszenierte Zurückbringen der Ziege auf die Weide am Ende der Folge ist zu wenig an das Konzept der Figur Boernes gebunden und lebt auch nicht vom Wortwitz in Dialogen. Mit dem PC-Diskurs hat das ebenfalls wenig zu tun. Es handelt sich um das, was im allgemeinen Sprachgebrauch als Klamauk bezeichnet wird. Zwar hatte die Folge sehr hohe Einschaltquoten. Auf der Fan-Webseite tatort-fundus fällt die Wertung hingegen sehr schlecht aus. Hier finden sich Äußerungen wie »Purer Klamauk« und »Das war so lustig, dass es schon nicht mehr lustig war«.6 Auch negative Kritiken in der Tagespresse sind nur schwer für die Argumentation hinzuzuziehen, weil ein Argument, das in einer Besprechung als Grundlage eines Verrisses Verwendung findet, in einer anderen Kritik genau entgegengesetzt eingesetzt werden kann. Sinnvoller ist demnach eine genaue dramaturgische Analyse der Einbindung von Komik. Dabei kann festgestellt werden, dass Komik am sinnvollsten über den Dialog transportiert wird, aber nur bedingt über eine Körperkomik, wie sie etwa den Slapstick auszeichnet. Diese ist für eine starke erste Begegnung wie zu Beginn der ersten Folge sinnvoll. Des weiteren ist Komik, wenn sie nicht im Dialog (auch während der Ermittlungen) verortet wird, tendenziell besser außerhalb der expliziten polizeilichen Ermittlungen einzusetzen. Hierzu eignet sich das Konzept, dass Boerne und Thiel im selben Haus wohnen, aber auch deren private Lebenssituation, dass beide Figuren alleinstehend sind und diese Situation gerne ändern würden. Hieraus lassen sich gerade in einem Konzept, das sich ohnehin durch Hybridität
6
http://www.tatort-fundus.de/web/rangliste/folgen-wertungen/rangliste-auswertung/nachusern.html?folge=851&Nr=9 [6. Dezember 2013].
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auszeichnet, immer wieder Elemente der filmischen romantic comedy einbauen. Zu diesen Elementen gehören die Akzentuierung des Sentimentalen und trotz einer komischen Grundstimmung eine Neigung für das Melodramatische (vgl. Gehring 2002: 67). In der jüngeren Folge Die chinesische Prinzessin (2013) wurde davon Gebrauch gemacht. Boerne hat zu Beginn eine erotische und nur dezent mit Mitteln der Komik inszenierte Begegnung mit der Titelfigur, die ihm fast zum Verhängnis wird. Er selbst wird bewusstlos und die Chinesin ermordet in seinem Labor gefunden. Boerne kann sich an nichts erinnern und wird in nahezu der gesamten Folge kaum als komische Figur, sondern vielmehr als melodramatisch Leidender inszeniert. Es gibt jedoch einen weiteren Aspekt, der für das langfristige Funktionieren des Thiel/Boerne-Tatort eine wichtige Rolle spielt. In seinem Artikel From discourse to Discord: Quality and Dramedy at the End of the Classic Network System geht Philip W. Sewell auf eine Debatte Ende der 1980er Jahre in den USA ein, in der es um neue Serien ging, die als dramedies bezeichnet wurden (z.B. Hooperman/Inspektor Hooperman, 1987-1989). Diese Debatte wurde explizit in einem Quality-TVDiskurs geführt. Die neuen Serien wurden kritisiert und funktionierten auch nicht besonders gut. Die Hybridisierung wurde als problematisch angesehen. In der oben zitierten epd-Rezension zum ersten Thiel/Boerne-Tatort wird ein ähnlicher Eindruck erweckt. Komik ja, aber derart dosiert, dass nicht der Eindruck einer Comedy entsteht. Nun ist es so, dass Sitcoms und auch Dramedies in der Regel fast nie eine Laufzeit von mehr als zehn Jahren haben. Wenn demnach einige Kritiken zu den neuesten Folgen des Thiel/Boerne-Tatort darauf verweisen, dass das Konzept nichts mehr hergebe,7 dann ließe sich das als durchaus nachvollziehbares Zeichen werten, diese Serie der Reihe Tatort einzustellen, wie es eben auch bei anderen Serien der Fall ist. Allerdings geht diese Argumentation an den immens hohen Einschaltquoten der neuesten Folgen vorbei. Thiel, Boerne und Co. werden der TatortZuschauerschaft wohl noch eine Weile erhalten bleiben.
L ITERATUR Creeber, Glen. Serial Television. Big Drama on the Small Screen. London: BFI, 2004. Dell, Matthias. »Herrlich inkorrekt«. Die Thiel-Boerne ›Tatorte‹. Berlin: Bertz + Fischer, 2012.
7
Siehe z.B. Christian Buß. »Münster-›Tatort‹ mit Roland Kaiser: Mord und tote Schlager.« spiegel.de, 22. März 2013 (http://www.spiegel.de/kultur/tv/tatort-aus-muenster-mit-gast star-roland-kaiser-a-889697.html).
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Feasey, Rebecca. From Happy Homemaker to Desperate Housewives. Motherhood and Popular Television. London, New York: Anthem Press, 2012. Freud, Sigmund. Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten. Frankfurt a.M.: Fischer, 1958 [1905]. Gehring, Wes D. Romantic Vs. Screwball Comedy: Charting the Difference. Lanham, Md: Scarecrow Press, 2002. Groß, Florian. »›Ally McBeal‹.« Klassiker der Fernsehserie. Thomas Klein und Christian Hißnauer (Hg.). Stuttgart: Reclam, 2012. 274-279. Hißnauer, Christian, Stefan Scherer und Claudia Stockinger. »Formen und Verfahren der Serialität in der ARD-Reihe ›Tatort‹.« Populäre Serialität: Narration – Evolution – Distinktion. Zum seriellen Erzählen seit dem 19. Jahrhundert. Frank Kelleter (Hg.). Bielefeld: transcript, 2012. 143-167. Horton, Andrew S. (Hg.). Comedy/Cinema/Theory. Berkeley, Los Angeles: University of California Press, 1991. Klein, Thomas. »Sterben in Serie: Die HBO-Produktion ›Six Feet Under‹.« Medien – Zeit – Zeichen. Beiträge des 19. Film- und Fernsehwissenschaftlichen Kolloquiums. Christian Hißnauer und Andreas Jahn-Sudmann (Hg.). Marburg: Schüren, 2007. 108-115. Mills, Brett. The Sitcom. Edinburgh: Edinburgh University Press, 2009. Mittell, Jason. »Narrative Komplexität im amerikanischen Gegenwartsfernsehen.« Populäre Serialität. Narration – Evolution – Distinktion. Zum seriellen Erzählen seit dem 19. Jahrhundert. Frank Kelleter (Hg.). Bielefeld: transcript, 2012. 97-122. Sewell, Philip W. »From Discourse to Discord: Quality and Dramedy at the End of the Classic Network System.« Television and New Media 11 (2009), H. 4: 235259. Vogt, Jochen. »›Tatort‹ – der wahre deutsche Gesellschaftsroman. Eine Projektskizze.« MedienMorde: Krimis intermedial. J.V. (Hg.). München: Fink, 2005. 111129.
B EHANDELTE T ATORT -F OLGEN Der dunkle Fleck, 20. Oktober 2002 (WDR, R: Peter F. Bringmann) 3 x Schwarzer Kater, 19. Oktober 2003 (WDR, R: Buddy Giovinazzo) Der Frauenflüsterer, 3. April 2005 (WDR, R: Kaspar Heidelbach) Das zweite Gesicht, 12. November 2006 (WDR, R: Tim Trageser) Wolfsstunde, 9. November 2008 (WDR, R: Kilian Riedhof) Das Wunder von Wolbeck, 25. November 2012 (WDR, R: Matthias Tiefenbacher) Summ, summ, summ, 24. März 2013 (WDR, R: Kaspar Heidelbach) Die chinesische Prinzessin, 20. Oktober 2013 (WDR, R: Lars Jessen)
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ANDERE R EIHEN
ZITIERTE
F ILME , M EHRTEILER , S ERIEN UND
Ally McBeal (USA, 1997-2002 [FOX]) Der letzte Zeuge (D, 1998-2007 [ZDF]) Desperate Housewives (USA, 2004-2012 [ABC]) Gilmore Girls (USA, 2000-2007 [The WB]) Hooperman/Inspektor Hooperman (USA, 1987-1989 [ABC]) How I Met Your Mother (USA, seit 2005 [CBS]) Moonlighting/Das Model und der Schnüffler (USA, 1985-1989 [ABC]) Remington Steele (USA, 1982-1987 [NBC]) Six Feet Under (USA, 2001-2005 [HBO]) Some Like It Hot/Manche mögen’s heiß 1959 (USA, R: Billy Wilder) Stromberg (D, 2004-2012 [ProSieben]) The Naked Gun: From the Files of Police Squad!/Die nackte Kanone 1988 (USA, R: David Zucker) The Naked Gun 2½: The Smell of Fear/Die nackte Kanone 2½ 1991 (USA, R: David Zucker) Naked Gun 33⅓: The Final Insult/Die nackte Kanone 33⅓ 1994 (USA, R: Peter Segal) The Office (GB 2001-2003 [BBC Two])
Kunde aus dem Osten der vereinigten Republik Der MDR-Tatort in den Jahren 1992 bis 2007 T INA W ELKE
Anhand von zwei Beispielen aus dem MDR-Tatort der Jahre 1992 bis 2007 wird illustriert, wie in den Filmen dieser Serie ostdeutsche Identität inszeniert wird. In den analysierten Filmen sind sowohl auf inhaltlich-thematischer Ebene als auch in Bezug auf ihre dramaturgische und ästhetische Gestaltung Veränderungen der Identitätsvergewisserung feststellbar, die auf die Zeit ihres jeweiligen Hervorbringens verweisen.
D ER MDR
UND SEIN
T ATORT
Januar 1992, im Jahre zwei der deutschen Einheit, strahlte die ARD den ersten vom neu gegründeten Sender MDR verantworteten Tatort Ein Fall für Ehrlicher aus. Bis 2007 folgten diesem Film 44 weitere Folgen mit den ermittelnden Kommissaren Bruno Ehrlicher und Kain.1 Der MDR-Tatort veränderte die bis dahin bundesrepublikanische Tatort-Landschaft nicht allein hinsichtlich ihrer räumlichen Ausdehnung, sondern führte darüber hinaus in den Osten Deutschlands als sozialen Handlungsraum ein.2 In ihm agieren Protagonisten und Figuren, geprägt von einer Erfahrungswelt, die sich von den westdeutschen Pendants unterscheidet: zum einen was ebenso generationenabhängige wie gruppenspezifische Sozialisationshintergründe
1
Der vorliegende Beitrag basiert auf einer umfassenden Untersuchung dieser 45 MDR-
2
Dies gilt ansatzweise auch für den SFB, der ab 1991 Ost-Berlin als Handlungsraum er-
Tatort-Folgen (Welke 2012). schloss.
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anbelangt, zum anderen aber auch den politischen Umbruch der Wende und der Vereinigung Deutschlands betreffend. Die Gründung des Mitteldeutschen Rundfunks wurde 1991 im Staatsvertrag festgelegt. Sein Vorläufer war der 1991 aufgelöste Deutsche Fernsehfunk (DFF).3 Der MDR ist die Sendeanstalt der drei Länder Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Mit Jahresbeginn 1992 wurde die Länderkette DFF durch die zwei neuen Landesrundfunkanstalten ORB (Ostdeutscher Rundfunk Brandenburg) und MDR (Mitteldeutscher Rundfunk) ersetzt. Seit der Fusionierung des ORB mit dem Sender Freies Berlin zum Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB) 2003 ist der MDR der einzige ostdeutsche Sender der Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland. Die Konzeption der Ermittlerfiguren Bruno Ehrlicher und Kain geht noch auf DFF-Zeiten zurück. Bei den ersten beiden Filmen Ein Fall für Ehrlicher (1992) und Tod aus der Vergangenheit (1992) handelt es sich um Übernahmen aus dem DFF (vgl. Wehn 2002: 271). Bis 1995 sendete die ARD zwei, später dann drei MDRTatorte jährlich. Mit einer Dienstzeit von 16 Jahren und 45 Ermittlungseinsätzen gehörten die beiden Ermittler 2007, was Dauer und Zahl der Auftritte anbelangt, zu den am stärksten präsenten Tatort-Kommissaren. Nachdem Ehrlicher und Kain acht Jahre lang in Dresden bzw. im weiten Einzugsgebiet des MDR ermittelten, übersiedelten sie im Jahr 2000 gemeinsam mit dem Sender nach Leipzig. Mehrfach führten dienstliche und private Gründe sie im Laufe ihrer 16-jährigen Tätigkeit in die östlichen Nachbarstaaten Polen und Tschechien,4 darüber hinaus kam es zu zwei Koproduktionen mit dem WDR-Tatort-Team Max Ballauf/Freddy Schenk und gemeinsamen Ermittlungen in Leipzig und Köln.5 2007 schickte der MDR seine bisherigen Kommissare in den Ruhestand bzw. ließ sie den Dienst quittieren, um 2008 mit einem neuen Protagonistenpaar (Eva Saalfeld/Andreas Keppler) die Leipziger Spurensuche wieder aufzunehmen. Eine regionale Ausdifferenzierung des MDRTatort mit weiteren Schauplätzen (Weimar und Erfurt) fand Ende 2013 statt.
3
Der DFF firmierte zwischen 1972 und 1990 unter dem Namen Fernsehen der DDR.
4
Die Reise in den Tod (1996), Fluch des Bernsteinzimmers (1999), Heiße Grüße aus Prag (2002).
5
Quartett in Leipzig (2000; vgl. für eine genaue Analyse dieses Films Welke 2005), Rückspiel (2002).
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E RZÄHLUNG
EINES
T RANSFORMATIONSPROZESSES
Neben den 45 Geschichten von Tätersuche und Verbrechensaufklärung gewähren die untersuchten MDR-Tatorte durch Gegenwartsbezug und regionale Verankerung Einblicke in den im Laufe der Zeit sich vollziehenden Wandel im Osten Deutschlands und damit auch in die identitätsbezogenen Verunsicherungen der agierenden Figuren. In der Abfolge ihrer Erstausstrahlung können die Filme als linear verbundene Erzählreihe betrachtet werden, in der ausschnitthaft Momente fiktionaler Zustandsbeschreibungen über einen Zeitraum von 17 Jahren aneinander gefügt sind. Die Produktion der ersten beiden MDR-Tatorte fand bereits 1991 statt. Der Zusammenhalt der 45 Folgen wird durch die ermittelnden Protagonisten gewährleistet. Über diese Funktion hinaus jedoch durchleben die Kommissare, eingebettet in ein soziales Netz, eine biographische Entwicklung, die mit der Darstellung des Transformationsprozesses in Wechselwirkung steht. Die serielle Verknüpfung durch wiederkehrende Ermittlerfiguren weist den 45 Filmen den Status von Episoden einer chronologisch voranschreitenden Erzählung zu, die durch Anfangs- und Endepisode gerahmt und abgeschlossen ist. Zu Beginn dieser Erzählung ist Ehrlicher etwa 55 Jahre alt. Er diente bereits im Polizeiapparat der DDR, während der 30 Jahre jüngere Kain erst am Beginn seines Berufslebens als Polizist steht. In den ersten MDR-Tatorten werden noch Abbruchhäuser, desolate Straßenzüge, stillgelegte Tagebau-Stätten usw. gezeigt, mit fortschreitender Narration sind die Ergebnisse des Aufbaus Ost zu sehen. Wesentliche Merkmale der Erzählung sind das Protagonistenpaar, das zwei in der DDR sozialisierte Generationen repräsentiert, die Geschlossenheit der Handlung einer Episode, die sukzessiv veränderte Raumgestaltung sowie das variierende soziale Figurenspektrum. Die Gegenwartsorientierung der Erzählung beinhaltet Elemente, die auf eine Ankunftsdramaturgie hinweisen (vgl. u.a. Krützen 2004). Wenn der Sender MDR für das ab 2008 ermittelnde Ermittlerteam Saalfeld und Keppler ein »Angekommen« beansprucht, wie das in überregional geschalteten Bild-Text-Anzeigen mit einem Foto der neuen Protagonisten im Leipziger Hauptbahnhof geschah,6 müsste das Leitthema des MDR-Tatort von 1992-2007 ›Unterwegs-Sein (im vereinigten Deutschland)‹ lauten. Erzählt wird hier von den Folgen des politischen, gesellschaftlichen und sozialen Umbruchs der Jahre 1989/90 (Wende, Mauerfall, Deutsche Vereinigung) im Osten Deutschlands und nicht von deren Ursachen. Zentrales Moment der MDR-Tatort-Episoden sind bis in die 2000er Jahre hinein Vereinigungskriminalität bzw. Handlungen, deren Motive aus der Vereinigung abgeleitet werden. Die Erzählung stellt den Transformationsprozess dar, der in die allmähliche
6
Quelle: Spiegel 27 (2008); Leipzig Tourismus und Marketing GmbH. Die Anzeige ist auch abgedruckt in Welke 2012: 397.
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Konsolidierung des Ostens mündet, begleitet von den Herausforderungen der Globalisierung. Die Veränderungen sind in einen größeren Kontext eingebettet und betreffen nicht allein den Osten Deutschlands. Für den Osten jedoch macht die Vereinigung jedoch eine identitätsbezogene Neuverortung notwendig, die zurückliegende und aktuelle Gegebenheiten und Erfahrungen umfasst. Dementsprechend thematisieren die Folgen mit Ehrlicher und Kain immer wieder in jeweils abgewandelter Form, aber in modifizierter Deutlichkeit und Relevanz, Fragen ostdeutscher Identitätsbestimmung und Zugehörigkeit(en). Die Inszenierung dieser ostdeutschen Identität(en) erfolgt über die Darstellung von Differenz zur westdeutschen Bevölkerung in ökonomischen, soziokulturellen und lebensgeschichtlichen Aspekten. Eine strukturelle Analyse der Erzählung zeigt, dass diese einen fünfphasigen Aufbau hat – vergleichbar den fünf Akten dramatischer Texte. Die Phasen variieren in der Anzahl der Episoden und der beanspruchten Erzähldauer. Die Exposition (Phase 1) umfasst zwölf Episoden und erstreckt sich über fünf Jahre (1992 bis 1996), die Neutralisierung (Phase 5) dagegen lediglich sechs Episoden über zwei Jahre (2006 bis 2007); die mittleren Phasen der Erzählung – Steigerung (Phase 2, 1997 bis 1999), Höhepunkt/Umschwung (Phase 3, 2000 bis 2002) und Retardierung (Phase 4, 2003 bis 2005) – bestehen konstant aus neun Episoden in jeweils einem Zeitraum von drei Jahren (vgl. auch Welke 2012: 335). Episoden einer Phase stehen in Ähnlichkeitsrelation zueinander. Sie sind in ihrer thematischen Orientierung wesensverwandt und konstituieren so bestimmte Abschnitte der Erzählung. Der Übertritt in eine neue Erzählphase erfolgt gebunden an das Protagonistenpaar. Das Ermittler-Duo unterliegt dabei einer einschneidenden Änderung in seiner biographischen Gestaltung und/oder vollzieht einen nachhaltigen Wechsel des Handlungsortes. Die aufeinander folgenden Phasen der Erzählung bilden Stadien eines voranschreitenden Transformationsprozesses ab. Sie unterscheiden sich durch mehr oder minder explizit dominante Themensetzung. Zentral für die gesamte Erzählung sind Arbeit als Feld sozialen Handelns und die Thematisierung von Veränderungen, denen die Figuren in ihren Räumen unterworfen sind. Dies geht für sie einher mit der Gegenüberstellung von Gegenwart und Vergangenheit sowie einer als Zäsur aufgefassten Referenz. In den Jahren 1992 bis 1996, in der Exposition, sieht sich ein breites Figurenspektrum unterschiedlicher Altersgruppen und Schichten damit konfrontiert, dass bisherige Gewissheiten in nahezu allen Lebensbereichen ihre Gültigkeit verloren haben. Daraus ergibt sich für die Figuren die Herausforderung, sich neu orientieren zu müssen. Der Kontinuitätsbruch bedeutet zugleich soziale Verwerfungen. Vorruhestand und Arbeitsplatzverlust (z.B. in Tod aus der Vergangenheit 1992; Jetzt und Alles, 1994; Ein ehrenwertes Haus, 1995; Falsches Alibi, 1995) stehen neben völligem Neubeginn (z.B. in Bauernopfer, 1993; Falsches Alibi, 1995). Letzterer basiert häufig auf kriminellen Handlungen, wie z.B. Mädchenhandel, Schutzgelderpressung. Daneben gibt es in mehreren Filmen den Typus des Rückkehrers (z.B. in
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Bauernopfer, 1993; Ein ehrenwertes Haus, 1995; Wer nicht schweigt muß sterben, 1996). Diese Figuren sind nach der Vereinigung aus den ›alten‹ Bundesländern zurück in den Osten gekommen, wo ihre familiären Wurzeln liegen. In den nächsten drei Jahren von 1997 bis 1999, in der Steigerung, überwiegen Innenschau und Resignation. Häufig geschieht dies mit der Darstellung von (geschlossenen) Gemeinschaften. Die Figuren versuchen Normen und Werte ihrer exterritorialen Welten gegen das von außen kommende Neue zu bewahren. Die Konflikte sind als Auseinandersetzung zwischen Tradition und Moderne gezeichnet, wobei das Alte bzw. Bewahrenswerte oft auf Vorkriegszeiten zurückweist (z.B. das Ballhaus Watzke7 in Bierkrieg, 1997, die Galopprennbahn8 in Leipzig bzw. Dresden in Tödlicher Galopp, 1997, das Karl-May-Museum Radebeul9 in Auf dem Kriegspfad, 1999, das Bernsteinzimmer10 in Fluch des Bernsteinzimmers, 1999). Eine Szene aus dieser Erzählphase dient im zweiten Teil des Textes zur Illustration der von den MDR-Tatorten reflektierten Identitätsvergewisserung. Für die Höhepunkt-/Umschwungphase der Jahre 2000 bis 2002 ist das Nebeneinander von Ost- und Westdeutschen charakteristisch. Beide Gruppen beziehen ihre Konturierung durch die Begegnung miteinander. Die Lebensverhältnisse haben sich normalisiert, und der Osten beansprucht Teilhabe an Entscheidungsprozessen. Exemplarisch hierfür sind Quartett in Leipzig (2000), in dem die Westkommissare Ballauf und Schenk in den Osten ›reisen‹, um einen Fall zu klären,11 und Rückspiel (2002), wo der ›Gegenbesuch‹ der Leipziger Kommissare in Köln erfolgt. In Totenmesse (2001) wird am Beispiel der (neuen) ›Alten Messe‹ in Leipzig die Deutungshoheit über die Vergangenheit des Ostens ausgehandelt. Die Jahre 2003 bis 2005, die Retardierungsphase der Erzählung, zeigen die Implementierung der neuen Ordnung. Die Figuren evaluieren vor ihrem spezifischen Sozialisationshintergrund ihre aktuelle Lebenssituation. Auf der Basis von DDRBiographien wird ostdeutsche Herkunft wieder stärker thematisiert. Wesentlich bei
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1838 als Brauerei gegründet und 1889 als Ballhaus Watzke neu errichtet, wird das Gebäude ab 1950 als Lagerhalle für Sportartikel genutzt und 1996 als Brau- und Ballhaus wiedereröffnet (http://www.watzke.de).
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Gezeigt wird die Galopprennbahn Scheibenholz in Leipzig, die im Ausstrahlungsjahr des
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Das Karl May-Museum in Radebeul wurde 1928 gegründet und besteht seitdem bis heute
Films (1997) ihr 130-jähriges Jubiläum feierte (http://galoppimscheibenholz.de). (http://karl-may-museum.de). 10 Das Bernsteinzimmer, aus baltischem Bernstein für das Schloss Charlottenburg 1701 geschaffen, gilt seit 1945 als verschollen. Es wurde auf Grund seiner wechselhaften Geschichte zum Mythos (vgl. u.a. Remy 2003). 11 Zu einer genaueren Analyse der Ost-West-Annäherung in dieser Jubiläumsfolge vgl. Welke 2005: 65-105.
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der Selbstvergewisserung der Figuren ist ihr Bezug zur Arbeit und die Auffassung, dass diese mit einem ethischen Anspruch verbunden ist, wie in Atlantis (2003) und Tiefer Fall (2005) oder im kontrovers verhandelten Selbstdarstellungsversuch des Lebensweges eines ehemaligen Kadersportlers in Freischwimmer (2005). In der letzten Phase der Erzählung, der Neutralisierung der Gegensätze 2006 bis 2007, scheinen die Unterschiede zwischen Ost und West eingeebnet. Transformation und Identitätsvergewisserung erfahren keine weitere Fortschreibung und können somit intendiert als abgeschlossen gelten. Im Vordergrund steht nun die Thematisierung des im Osten zu verortenden Teils des kulturellen Erbes. Belege dafür bieten die Weimarer Klassik in Schlaflos in Weimar (2006), Leipzig als Bücherstadt und die Leipziger Buchmesse in Blutschrift (2006) und Racheengel (2007). Die in diesem Rahmen nur knapp vorgestellte Entwicklung der MDR-TatortErzählung soll die Verschiebung der Themen deutlich machen, die vom Sender, gebunden an ihre Entstehungszeit, als erzählwürdig betrachtet wurden. Die Erzählung greift dabei dezidiert nicht die im öffentlich-medialen Ostdiskurs dominanten Themen wie Aufarbeitung von DDR-Geschichte und Stasi-Verwicklungen auf. Ebenso vermeidet sie die Darstellung des demographischen Wandels in Folge von Abwanderungsprozessen und langfristigen Fehlinvestitionen. Transformation und Identitätsbestimmung erscheinen in der erzählten Welt des MDR-Tatort als linear geordnete Prozesse über Zäsuren hinweg. Kennzeichen der Erzählung vom Wandel im Osten Deutschlands ist das Nebeneinander von Kontinuität(en) und Brüchen.
ANALYSE
OSTDEUTSCHER I DENTITÄTSINSZENIERUNGEN
Im Folgenden werden zwei Beispiele ostdeutscher Identitätsinszenierung im MDRTatort genauer vorgestellt. Sie stehen aufgrund ihrer thematisch-inhaltlichen Fokussierung, ihrer ästhetisch-dramaturgischen Gestaltung sowie der dialogischen Realisierung stellvertretend für die ermittelten Handlungsphasen. Ihre Gegenüberstellung kann neben einer punktuellen bzw. phasenbezogenen Aussage auch Aufschlüsse über die Veränderungen in den filmischen Angeboten ostdeutscher Identitätsbestimmung und -vergewisserung geben. Während mit dem ersten Beispiel ein Ausschnitt aus einer Episode der Steigerungsphase (Tödlicher Galopp, 1997) vorliegt, stammt das zweite Beispiel aus einer Episode der Retardierungsphase (Abseits, 2004).12 Die Erstausstrahlung von Tödlicher Galopp13 erfolgte im sechsten, die von
12 Analysebeispiele aus der Höhepunktphase finden sich in Welke 2012: 304-331. 13 Plot: »Eine junge Reiterin wird nach einem Galopprennen in Dresden vergiftet, weil sie hinter den Deal einer internationalen Investorengruppe mit der Stadt Leipzig gekommen
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Abseits14 im dreizehnten Jahr der MDR-Tatort-Erzählung ›Unterwegs-Sein (im vereinigten Deutschland)‹. Ostdeutsche Identitätsinszenierung im siebten Jahr nach der Vereinigung Die im Folgenden analysierte Szene aus der Episode Tödlicher Galopp findet in Anschluss an eine Befragung des Zeugen Karsunke in seinem Wohnhaus statt. Der Befragte, ein 67 Jahre alter Mann, war der väterliche Mentor der Toten – einer viel versprechenden Jockey-Reiterin. Karsunke hat Ehrlicher in seiner Kutsche zur Leipziger Rennbahn mitgenommen, wo dieser mit dem Präsidenten des Rennvereins verabredet ist, um Hintergrundinformationen einzuholen. Für die bisherige Kriminalhandlung selbst hat das Gespräch keine Relevanz; es dient lediglich dazu, das bereits etablierte soziale Handlungsfeld ›Galopprennbahn und Pferdesport‹ visuell und narrativ zu beglaubigen und mittels der Kutsche die zwischen beiden Orten zurückgelegte Wegstrecke und das Wesen Karsunkes anzudeuten. Für die Filmhandlung hat das Gespräch nach der Fahrt die Funktion, der Hauptfigur Karsunke15 biographische Tiefe zu verleihen. Die Szene dauert etwas mehr als zwei Minuten (00:44:40-00:46:44) und gliedert sich in Einleitung, zwei Hauptteile und Abschluss. Diese Teile sind durch Kameraeinstellungen deutlich voneinander getrennt. Vor der Gesprächseinleitung nähert sich eine offene Pferdekutsche mit den beiden Männern, vom hinteren linken Bildrand einen Bogen Richtung vorderen linken Bildrand fahrend. Pferd und Kutsche halten, als Karsunke einen Schnalzlaut von sich gibt und die Zügel anzieht. Die Kutsche ist am Vorplatz der Zuschauertribüne einer Pferderennbahn in der rechten Bildhälfte zum Stehen gekommen. Ehrlicher verlässt die Kutsche und bedankt sich bei Karsunke. Mit dem persönlichen Bezug auf eine vage biographische Erinnerung setzt der Protagonist den Rahmen des nun
ist. Leipzig möchte die Rennbahn – ein zentrumsnahes Filetstück – veräußern, um die leere Stadtkasse aufzufüllen. Die dafür notwendige und unpopuläre Umwidmung des Geländes bereitet ein Privatbankier vor, der vom väterlichen Freund der Reiterin erschossen wird. Der Pferdenarr alter Schule will den Verkauf der Rennbahn um jeden Preis verhindern.« (Welke 2012: 160) 14 Plot: »Die junge Personalchefin des neuen Leipziger Zentralstadions wird zwei Tage vor dessen Eröffnung beim alten Teil des Sportkomplexes erschlagen aufgefunden. Sie hatte, um den langjährigen Stadionwart zu schikanieren, dessen geplante öffentliche Ehrung aus dem Eröffnungsprotokoll gestrichen und war deswegen von seinem Sohn, dem technischen Direktor des Stadions, getötet worden.« (Welke 2012: 209) 15 Die Figur Karsunke wird von dem renommierten und international bekannten DDRSchauspieler Rolf Hoppe (geb. 1930) verkörpert (http://www.defa.de/cms/Biografien).
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folgenden Gesprächs (»Ah, schön, dass Sie mich mitgenommen haben. Hatte ich seit meiner Kindheit nicht«). Visuell ist der Rahmen aus Nostalgie, Tradition, aber auch Attraktion und Schaulust bereits durch die Tribüne vorbereitet. Karsunke greift die Gesprächseinleitung auf, ohne jedoch die privaten Bezugnahmen zu würdigen. Der gestisch unterstützte Hinweis – Karsunke dreht sich nicht zum gemeinten Schauobjekt um – stellt das Folgende in einen historisch-dokumentierten Rahmen (»Die Tribüne da ist von 1905«). Das Bauwerk referiert auf den Anfang des 20. Jahrhunderts, eine Zeit, die vor der Kindheit Ehrlichers und lange vor der filmischen Gegenwart liegt. Karsunke entpersonalisiert so seinen weiteren Gesprächsbeitrag. Während Ehrlicher ihn durch eine nachfragende Interjektion (»ah ja«) zur Antwort ermuntert, zeigt die Kamera Karsunke in Großaufnahme. Beide Figuren werden während des Gesprächs abwechselnd in dieser Einstellungsgröße präsentiert. Mit einer Märchenformel (»war einmal«) eröffnet er seine Erzählung. Die Referenz auf Paris unterstreicht die Bedeutung des materialisierten Gedächtnisinhalts Tribüne für das nationale Selbstverständnis (»war einmal mit der von Paris verglichen«). Dass diese Zeit schon lange zurück liegt, bringt sein nachgesetztes wehmütiges Lachen zum Ausdruck. Als externes Speichermedium ist die Tribüne geeignet, an Inhalte des kulturellen Gedächtnisses zu appellieren, so dass diese dann in eine aktualisierte Identitätskonstruktion eingebunden werden kann (vgl. Erll 2005). Die Tribüne dient dann einerseits als Symbol einer längst vergangenen Zeit und wird filmisch auch als solches inszeniert, andererseits könnten gegenwartsbezogene Handlungen, wie z.B. eine Wiederherstellung, implizit an die einstige Relevanz anknüpfen. Karsunke verweilt in seinen Erinnerungen aber nicht bei der Tribüne, sondern erweitert die Rückschau um das zur Rennbahn gehörende Lokal. Das Namenschild des Lokals (»Rennbahngaststätte« in Fraktur) war bereits vorher zu sehen (00:14:53). (»Die Gaststätte war früher mal ‘ne Goldgrube für’n Verein, man soll’s nicht glauben.«) Wiederum verwendet er das Tempus der erzählten Welt, das Präteritum, aber diesmal bleibt die Zeitangabe ungefähr. Im Unterschied zur filmischen Gegenwart war die Vergangenheit ökonomisch erfolgreich. Der Besitz befand sich in den Händen mehrerer Gleichgesinnter, die sich zusammengeschlossen hatten und über einen Ort der Begegnung verfügten, an dem sie ihre Interessen pflegten und von dem aus sie ihre Ziele verfolgten (»Hier feierten die Leipziger, auch außerhalb der Renntage«). Dass diese Zeiten schon lange zurück liegen und heute kaum mehr erinnert werden, weiß auch Karsunke. Seine anschließenden Bemerkungen sollen die Bedeutung des Schauplatzes untermauern und belegen, inwiefern dieser zum finanziellen Erfolg und zum Ruf des Rennbahnlokals beigetragen hat und warum die Tribüne auch einen Platz im kommunikativen Gedächtnis inne hat (dazu Assmann/ Assmann 1994). Die Ausführung ist durch die wiederholte Verwendung der lokalen Deixis »hier« strukturiert. Parallel dazu wird dieses »hier« in Leipzig verortet und so den Einwohnern eine kollektive Identität zugeschrieben. Im ersten Teil der Auf-
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zählung hat sich gesellschaftlicher und politischer Wandel eingeschrieben. Karsunke reiht von der frühen Vergangenheit Richtung Gegenwart voranschreitend offizielle soziale Ereignisse und Rituale aneinander, die einerseits neutral Lebensabschnitte markieren, andererseits religiös oder politisch motiviert sind bzw. auf Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen verweisen (»Hochzeiten, Jubiläen, Konfirmationen, Jugendweihen, Brigadefeiern«). Die letzten beiden Lexeme der Aufzählung stellen einen expliziten DDR-Bezug her (vgl. Welke 2012: 288-304). Der zweite Teil seiner Ausführungen zur Bedeutung des Schauplatzes zielt auf die Ambivalenz durch das Sozialprestige des Ortes ›Rennbahn‹ ab. Karsunke attestiert diesem eine gewisse Exterritorialität, abseits sozialer Kontrolle (»Hier trafen sich die Pärchen, die sich in der Stadt nicht sehen lassen wollten, konnten»). Da Karsunke die Zeit nicht eingrenzt, dürfte sich die zweite Charakteristik auf die gesamte zuvor umklammerte Epoche beziehen. Der scheinbare Widerspruch zwischen dem (bourgeoisen) Hobby Pferderennsport und dem (kleinkriminellen) Umfeld von Wettbüros und dessen Bewertung während verschiedener politischer Ordnungen bleibt ausgespart. Diese Zeit des Lokals ist nun aber vorüber, wie Karsunke sich und seinem Zuhörer mit einem Lachen bestätigt. Karsunkes Erzählung von diesem Ort ›Rennbahn‹ ist beendet. Die Rollenverteilung bleibt trotzdem aufrecht, Ehrlicher fungiert weiterhin als Zuhörer. Ein einleitendes »Ja« Karsunkes kündigt eine Verschiebung des Gesprächsinhalts an. Zugleich bestätigt es die nun folgende gegenwartsorientierte Ausführung. Strukturell knüpft er mit der nochmaligen Verwendung des »hier« an das zuvor Erzählte an. Der museale Kontext unterstreicht die historische Dimension des Erzählten (»Ja, man könnte ein Museum hier einrichten, das Skelett von Birkhahn steht in Hannover, man könnte es zurück holen«). Die scheinbar zusammenhanglose Erwähnung des Namens eines unbekannten toten Individuums weist Karsunke als Experten für das Thema aus. Sie provoziert ein Nachfragen Ehrlichers (»Birkhahn?«) und wird Karsunke später die Gelegenheit geben, ins Detail zu gehen. Daneben hat Karsunke in seiner Überlegung dem Leipziger »hier« ein unausgesprochenes dort »in Hannover« zur Seite gestellt. Zwischen der ostdeutschen Stadt Leipzig und der westdeutschen Stadt Hannover existiert demzufolge eine Verbindung, die historischen Gehalt hat (»Ein Stück deutsch-deutscher Turf-Geschichte«). Die handelnden Subjekte der angedachten (Trans)Aktionen sind nicht spezifizierte Personengruppen. Bei Bereitschaft stehen einer Realisierung keine Hindernisse entgegen. Warum und wie das potentielle Ausstellungsstück »Skelett« von Leipzig nach Hannover gelangte, erklärt Karsunke noch nicht. Dramaturgisch wird die Lösung des Geheimnisses um Birkhahn aufgeschoben. Die zeitgeschichtliche Rahmung wird erst in Karsunkes Antwort auf Ehrlichers überraschte Frage (»Deutsch-deutsch?«) durch den Verweis auf die Zweistaatlichkeit Deutschlands gesetzt. Der Name Birkhahn und seine Überreste sind mit dieser vergangenen Epoche verknüpft. Bevor der Verweis näher
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ausgeführt wird, präsentiert die Kamera nochmals die Zuschauertribüne, um die Einbettung des Gesprächs in die Filmhandlung zu aktualisieren. Motiviert ist der Schnitt durch die Kontaktaufnahme des auf der Zuschauertribüne wartenden Präsidenten mit Kommissar Ehrlicher. Die Unterbrechung hat zudem verzögernde Funktion, da das begonnene Gespräch nach der Unterbrechung fortgesetzt wird. Ehrlicher ist es, der es wieder aufnimmt, er akzeptiert die Verschiebung des Gesprächsthemas durch erneutes Nachfragen. Im Mittelteil des analysierten Filmausschnitts dienen die kurz gehaltenen Redebeiträge Ehrlichers lediglich dazu, ein Informationsbedürfnis oder Zuhörerschaft zu signalisieren. Es sind Wiederholungen von Namen oder Begrifflichkeiten, die es Karsunke erlauben, seine Ausführungen fortzusetzen. Die Gültigkeit der Ausführung wird nicht durch Einsprüche Ehrlichers in Frage gestellt. Karsunke bestätigt die zeitgeschichtliche Einbettung der Geschichte von Birkhahn. (»Ja, Birkhahn, er ist 1947 aus der britischen Besatzungszone zu uns nach Leipzig gekommen. Hier ist er groß geworden. Er hat 16 von 22 Rennen gewonnen, die ersten zwölf in Folge, darunter das deutsche Derby in Hamburg, darunter [unverständlich] den großen Preis der Dreijährigen in Hoppegarten«). In einem biographischen Abriss reiht er die Lebensstationen des Pferdes aneinander, er setzt dabei nach dem Zweiten Weltkrieg ein. Gleichzeitig benennt er die politischen Konsequenzen für die staatliche Einheit Deutschlands, indem er die Aufteilung Nachkriegsdeutschlands in Besatzungszonen in Erinnerung ruft. Karsunke konstituiert eine Wir-Gruppe unter Zuhilfenahme der Stadt Leipzig, ohne die damalige politische Zugehörigkeit des Teils Deutschlands, auf den er sich bezieht – Leipzig lag in der sowjetischen Besatzungszone – auszusprechen. Er vermeidet damit nicht zuletzt hinsichtlich der Sowjetunion die Bezeichnung ›Besatzungsmacht‹. Im konkreten Fall ist diese Nicht-Verbalisierung anschlussfähig an den offiziellen Sprachgebrauch zu DDR-Zeiten. Anfänglich nutzt er analog zur Erzählwelt über die Alltagswelt der Leipziger im ersten Teil des Gesprächs zur Strukturierung seiner Geschichte über das Pferd Birkhahn die lokale Deixis »hier«. Dann aber misst er der möglichen räumlichen Zuordnung von Birkhahn und indirekt damit der Zuordnung zu einem politischen Staatsgebiet keine Relevanz mehr bei. In Karsunkes Erzählung gewinnt das Pferd das deutsche Derby, es startet in Hamburg und in Hoppegarten16 – also in West und Ost. Birkhahns Geschichte schließt jede nachträgliche zweistaatlich orientierte politische Instrumentalisierung der zahlreichen sportlichen Erfolge sowie der Qualitäten
16 Die Galopprennbahn Hoppegarten vor den Toren Berlins wurde 1868 eröffnet und existierte auch zu DDR-Zeiten mit Renntagen und dem »Meeting der sozialistischen Länder« (http://www.hoppegarten.com).
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seiner Nachkommenschaft aus (»Dann war er Zuchthengst im volkseigenen Gestüt Graditz, man hat ihn 1959 wieder ausreisen lassen. Er kam in Deutschlands ältestes Privatgestüt, zu Schlenderhahn«). Wiederum bleiben die Personengruppen, die über Aufenthaltsort und Aktionsradius des Pferdes entschieden haben, unspezifiziert. Zehn Jahre nach der Gründung der BRD und der DDR (1949), aber noch zwei Jahre vor dem Bau der Mauer 1961 darf das Pferd ins unbenannte ›Dort‹ zurückkehren. Karsunke verwendet als Bezeichnung des Vorgangs das Lexem ›ausreisen‹, d.h. Birkhahn verließ die DDR endgültig auf legalem Wege Richtung Bundesrepublik, ausgestattet mit Dokumenten der DDR-Behörden (vgl. zu diesem Sprachgebrauch Wolf 2000: 14). Karsunke individualisiert das Pferd und breitet einen Ost-WestInterpretationskontext aus, der durch die Gegenüberstellung der jeweilig charakteristischen Eigentumsformen ›volkseigen‹17 vs. ›privat‹ konturiert wird. Das Lexem ›ausreisen‹ referiert auf eine deutlich spätere Phase deutsch-deutscher Beziehungen als die der erzählten Zeit. Mit der Kategorisierung von Birkhahns letztem Aufenthaltsort (»Deutschlands ältestes Privatgestüt, zu Schlenderhahn«) tätigt Karsunke nochmals einen unbestimmten historischen Verweis. Der Rückgriff auf Geschichte und Tradition betont das Gemeinsame und verhindert eine identitätsbezogene Aufspaltung von Ost und West. Karsunke gebraucht im zweiten Teil seiner Ausführung ein Tempus der ›besprochenen Welt‹, das Perfekt. »Denn im Gegensatz zum Präteritum bringt das Perfekt vergangene Zustände und Ereignisse nicht erzählend zur Sprache, sondern spielt sie im Rückgriff auf das Gedächtnis in den Informationshaushalt einer besprechenden Situation.« Es hat raffende Eigenschaften und wird eingesetzt, wenn Vergangenheit und Gegenwart für eine Situation von gleicher Bedeutung sind. »Die Vergangenheit, auf die man sich mit dem Perfekt beziehen kann, ist folglich eine Vergangenheit, die zur Gegenwart gehört, weil sie zu deren Geltungsbereich gehört und in ihr nachwirkt.« (Weinrich 1993: 223f.). Die Gründung von BRD und DDR im Jahre 1949 und die Zugehörigkeit beider Staaten zu verschiedenen Hemisphären, die mit der Vereinigung 1990 außer Kraft gesetzt wurde, ist nicht zuletzt Folge der Aufteilung Deutschlands in alliierte Besatzungszonen, was durch die perfektive Realisierung Karsunkes zum Ausdruck kommt. Zweimal nimmt Karsunke einen erzählenden Einschub vor, der der Beglaubigung seiner Argumentation dient (»Zuchthengst«, »er kam zu Schlenderhahn«). Der Bezug zur nicht benannten Vorkriegszeit Deutschlands findet sich also rahmend sowohl am Anfang von Karsunkes Redebeiträgen (»Die Tribüne ist von 1905«) als auch an deren Abschluss (»Er kam in Deutschlands ältestes Privatgestüt«). Rhetorisch beginnt und beendet er sie mit Vergleichen, die das Außerge-
17 Nach Wolf bedeutet ›volkseigen‹: im staatlichen Eigentum stehend und zum Bereich der Wirtschaft gehörend (Wolf 2000: 240).
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wöhnliche des Erzählten hervorheben (»Paris« – »Ein Traum von einem Pferd«). Die Einlassung Ehrlichers »Schlender Jan« ist wohl extemporiert, d.h. aus dem Stegreif; er versucht das Pathos Karsunkes zu ironisieren. Auch in der abschließenden Gesprächsphase bleiben die Ausführungen Karsunkes unkommentiert und unwidersprochen. Ehrlicher wiederholt seinen einleitenden Dank und entfernt sich nach rechts Richtung Zuschauertribüne zu seinem nächsten Gesprächspartner, dem Präsidenten des Leipziger Rennvereins, während Karsunke in seiner Kutsche sein Pferd liebevoll auffordert, nach links zu fahren (»Komm, mein Schatz«). Ostdeutsche Identitätsinszenierung im 14. Jahr nach der Vereinigung Bei dem Beispiel aus Abseits (2004) handelt es sich um vier Szenen, die in einem Sinnzusammenhang stehen und eine narrative Einheit bilden, aber in ihrer filmischen Präsentation nicht unmittelbar aneinander anschließen. Sie werden dort von Sequenzen anderer Sinnzusammenhänge unterbrochen. Bezogen auf die Erzählzeit des Films setzt die narrative Einheit in Minute 00:42:01 ein und erstreckt sich fast bis zu deren Ende 01:24:28. Die Länge der einzelnen Szenen beträgt: 1:47 Minuten (1. Szene), 1:28 Minuten (2. Szene), 0:16 (3. Szene), 1:28 Minuten (4. Szene). Der inhaltlich-thematische Sinnzusammenhang besteht in der vorgenommenen Darbietung von Variationen einer Rede. Die Rede unterliegt einem mehrstufigen Prozess von Umformulierungen und gehört als Erinnerungsverbalisierung zu den Formen ostdeutscher Identitätsinszenierungen im MDR-Tatort (vgl. dazu Welke 2012: 287-304). An ihr sind die Figuren Georg Bracht, Utz und Daniel Bracht beteiligt. Der Stadionwart Georg Bracht18 ist Angehöriger einer älteren, in der DDR sozialisierten Personengruppe, er hat sein gesamtes Berufsleben im Leipziger Fußballstadion verbracht. Im vereinten Deutschland wird ihm, der mittlerweile am Ende seiner Arbeitstage steht, die gesellschaftliche Anerkennung und Würdigung seiner Lebensleistung vorenthalten. Die zweite Figur Utz ist Geschäftsführer des neuen Leipziger Zentralstadions. Vor der Wende war er ein erfolgreicher DDRFußballspieler. Seine Bekanntheit soll dem Stadion internationale Aufmerksamkeit sichern und dessen Vermarktung befördern. Für die Vita dieser Figur dürfte der DDR-Fußballer Jürgen Sparwasser zum Vorbild genommen worden sein: Er schoss 1974 während der Fußball-Weltmeisterschaft in der Bundesrepublik im Spiel gegen die westdeutsche Mannschaft das Siegestor für die DDR und setzte sich 1988 in die BRD ab (vgl. Welke 2012: 230). Auf der Tonebene des Films wird an dieses Fußballspiel mehrfach durch eingespielte ›Live-Radioübertragungen‹ erinnert. Daniel
18 Georg Bracht wird vom aus der DDR stammenden bekannten Theater- und Filmschauspieler Günther Junghans (geb. 1941) verkörpert (http://www.defa.de/cms/Biografien).
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Bracht ist der Sohn des Stadionwarts Georg. Daniel ist in der DDR aufgewachsen und ebenfalls im Stadion tätig. Er ist Ingenieur und arbeitet als technischer Direktor. Daniel Bracht versucht gegen den Widerstand der Verantwortlichen, seinem Vater zu öffentlicher Anerkennung und moralischer Wertschätzung zu verhelfen. Schauplatz der Szenen ist in chronologischer Reihenfolge: das Büro von Utz im neuen Leipziger Zentralstadion, das Spielfeld und die Tribüne des Stadions. Die Adressaten der Rede sind die Zuschauer eines deutsch-französischen Freundschaftsspiels anlässlich der offiziellen Eröffnung des Fußballstadions, d.h. eine breite Öffentlichkeit. Da aber die Beteiligten die Eröffnung lediglich proben, wird sie vor leeren Zuschauerrängen gehalten und allein Daniel Bracht und die ermittelnden Kommissare Ehrlicher und Kain wohnen ihr bei. Die Aneinanderreihung der einzelnen komplex ausgeformten Redebeiträge enthält erzählende, resümierende und aushandelnde Passagen. In Anlehnung an Ricœur (1991: 397) kann die Rede in ihrer Gesamtheit als Beispiel für das gemeinschaftliche Hervorbringen von »narrativer Identität« dienen. Der Begriff zielt auf den prozesshaften Charakter von Identitätskonstruktionen ab. Um Kontinuität bei zeitlicher Ordnung zu wahren bzw. zu behaupten, arbeiten Sprecher ursprünglich heterogene Elemente in ihre Erzählung ein und bringen sie so in eine kohärente Darstellung: »Man trägt den anderen die eigene Identität in Form eines Narrativs an und kann dabei die vergangenen Ereignisse im eigenen Leben narrativ arrangieren und interpretieren, re-arrangieren und re-interpretieren.« (Wodak/de Cillia/Reisigl/Liebhart/Hofstätter/Kargl 1998: 56) Die Handlung der MDR-Folge Abseits spielt zu weiten Teilen im neuen Leipziger Zentralstadion. Das Zentralstadion wurde auf den Fundamenten des in den Filmausschnitten zitierten »Stadion der Hunderttausend« (z.B. 00:28:30 und 00:43:25) errichtet, das 1956 erbaut worden war. Im Film sind Osttor und Tunnelsystem des alten DDR-Stadions als Fundort der Leiche sichtbar. Im Folgenden wird gezeigt, wie die Figuren schrittweise Narrative an die Anwesenden und die RezipientInnen herantragen. Der Prozess gibt zum einen Auskunft darüber, welche Erzählwürdigkeit dem Erzählten zugebilligt wird, zum anderen unterbreitet er auf diese Weise verschiedene Deutungsangebote (vgl. dazu die Interpretation in Welke 2012: 292-293). In der ersten Szene im Büro (00:42:01-00:43:48) trägt Georg Bracht stehend dem hinter seinem Schreibtisch sitzenden Utz aus dem Gedächtnis heraus memorierte Versatzstücke seiner schriftlich ausformulierten Rede vor. Die Redepassage selbst hat Probencharakter. Bracht wird weder von Utz aufgefordert noch ermuntert zu referieren, sondern geht von der Bereitschaft sowie dem Interesse seines Gegenübers aus, ihm zuzuhören. Raumzuordnung, Kleidung und Körpersprache zeugen von sozialer Hierarchie zwischen den Gesprächspartnern. Gleichzeitig agieren die Figuren wie alte Bekannte; es herrscht ein Missverhältnis von Distanz und Vertrautheit. Die verwendeten Anredeformen stehen nicht in Einklang, ebenso wenig die familiäre Bezeichnung des Sohnes in diesem Kontext (»der Junge«). Utz unter-
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bricht Brachts Redeauszug genau an jenem Punkt, an dem der Sprecher zum eigentlichen Thema kommen will – nämlich seinem persönlichen Werdegang bzw. der Darstellung der Leistung, worauf sich die für ihn geplante Ehrung gründet (»Als die Leipziger das Stadion der Hunderttausend erbauten, waren Utz und ich schon als Freiwillige dabei. Zu DDR-Zeiten wurde aus ihm ein großer Sportler und ich …«). Das Ungesagte ist also wesentlich für das Selbstverständnis der Figur Bracht. Mit seiner Unterbrechung stellt Utz aber genau die Erzählwürdigkeit dessen, was vorgebracht werden soll, in Frage. Er beendet die Privatvorstellung, ohne Bracht tatsächlich zu Wort kommen zu lassen und enthält ihm so die Anerkennung vor. Die bereits vorgetragenen Sätze jedoch sprechen für sich. Bracht stellt mit direkten Verweisen auf die DDR einen unmittelbaren Vergangenheitsbezug her, der sowohl etwas über die Herkunft der beiden Männer aussagt als auch die Entstehungsgeschichte des Stadions thematisiert. Er benennt explizit die vergangene Zeit und Elemente eines gemeinsam erfahrenen Sozialisationsraums. Bracht schildert eine abgeschlossene Zeitphase, ohne diese narrativ beenden zu dürfen. Die zweite Szene (01:17:51-01:18:39) ist eine Mikrofonprobe von Utz auf dem leeren Spielfeld. Neben ihm steht der Stadionwart Georg Bracht. Oben bei den Rängen in der Tonanlage wacht Daniel Bracht über die Technik. In seiner improvisierten, offiziellen Ansprache reformuliert Utz den Redeauszug von Georg Bracht aus der ersten Szene. Er tilgt sämtliche dort vorgenommenen direkten Verweise auf die DDR und auf die eigene Sozialisation. Utz zielt auf die Darstellung der Gegenwart ab. Die Existenz eines neuen Stadions setzt nicht notwendigerweise die eines alten voraus. (»Liebe Fußballfreunde, ich begrüße Sie alle voller Stolz in unserem neuen Leipziger Zentralstadion. Stellvertretend für alle diejenigen, die nicht im Rampenlicht stehen, steht Georg Bracht neben mir«). Die Gegenwartsorientierung seiner Ansprache ist durch die Bezugnahme auf Georg Bracht nicht beeinträchtigt. Georg Bracht ist in seiner Eigenschaft als Vertreter einer größeren Gruppe von Menschen anwesend, die es braucht, damit ein Bauwerk wie das Stadion funktioniert. Gewöhnlich tritt diese Gruppe nicht in Erscheinung und erhält keine öffentliche Aufmerksamkeit. Die Anwesenheit von Georg Bracht erklärt sich allein aus dieser Vertretungsfunktion. Sein Alter kann dabei als Indiz für das zugrunde liegende Auswahlkriterium gelten. Utz würdigt in der Rückschau Dauer und Zuverlässigkeit von Brachts Arbeit sowie dessen Belastbarkeit, vermeidet jedoch jede Konkretisierung. (»Sein ganzes Leben lang hat er treu seinen Dienst versehen und war sich für keine Arbeit zu schade«). Ein Rückkoppelungsgeräusch in der Tonanlage entbindet Utz von der Notwendigkeit, die Leistung von Georg Bracht näher zu erörtern und die Würdigung fortzusetzen. Abrupt wendet er sich an den oben in den Rängen zuhörenden Ton-Verantwortlichen der Mikrofonprobe, den Sohn Brachts, und bezweifelt dessen fachliche Kompetenz (»Nennen Sie das funktionieren?«). Nach dieser »technischen« Unterbrechung und während der Neujustierung der Tonanlage durch Daniel Bracht kommt es im zweiten Teil der Szene zu einem Ge-
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spräch zwischen dem wartenden Utz und Georg Bracht. Dabei ist es Bracht, der das Wort an Utz richtet und eine persönliche Ebene herstellt, indem er die Erfolge und die darauf erhaltene öffentliche Anerkennung des einstigen Fußballspielers thematisiert (»Was is’n das für’n Gefühl von so vielen Menschen bejubelt zu werden?«). Bracht spricht hier direkt die Emotionen von Utz an, der geschmeichelt in seinen Erinnerungen schwelgt, aber Bracht nicht daran teilhaben lassen will. In seiner Antwort markiert Utz nochmals den Unterschied zwischen sich und Georg Bracht. (»Das kann man nicht beschreiben, das muss man erlebt haben, das ist besser als alles andere, was du dir je vorstellen kannst. So ist das.«) Ungeduldig beendet er den Versuch von Bracht, Gemeinsamkeit herzustellen und individuelle Vergangenheit im Vier-Augen-Gespräch zu verbalisieren. (»Ja, was ist jetzt?!«) Die nachdrückliche Zurückweisung des Gegenübers erfolgt mit den Mitteln der Klanggestaltung; ein Loop erzeugt einen Nachhall (»Was ist jetzt, was ist jetzt«). Die dritte Szene (01:22:40-01:22:56) wird von Georg Bracht getragen und ist wieder zweigeteilt. Bracht befindet sich allein auf dem Spielfeld des Stadions. Im ersten Teil spricht er frei und hält mit beiden Händen das Mikrofon. Im zweiten Teil der Szene liest er von einem Zettel ab. Die dritte Fassung der Rede enthält sowohl Elemente der ursprünglichen als auch der von Utz präsentierten Variante. Die vorgenommenen Umformulierungen modifizieren ein weiteres Mal den Aussagegehalt des filmisch aufbereiteten Identitätsangebots. Die Figur Bracht bezeichnet sich nun nicht mehr als einer von vielen, sondern individualisiert sich. Die vormals direkten Verweise auf Herkunft und Geschichte entfallen. Ebenso unterlässt es der Sprecher, die damals erbrachte Leistung zu benennen und zu qualifizieren. Zur Sprache kommt Brachts Identifikation mit dem Stadion als Arbeitsplatz und die dort erlebte Verschmelzung von Arbeit und Freizeit (»Ich habe ein ganzes Leben im alten Stadion gearbeitet und es war mir zur Heimat geworden«). Wie umfassend die erfahrene Prägung für die Figur ist, kann nur aus der mitgeteilten Dauer geschlossen werden (»ein ganzes Leben«). Zwar nahm auch Utz darauf Bezug (»Sein ganzes Leben lang hat er treu seinen Dienst versehen«), Bracht jedoch verbindet sie mit dem alten Stadion als Sozialisationsraum, dessen Erwähnung Utz konsequent vermied. Im nächsten Erzählschritt wendet sich Bracht der jüngeren Vergangenheit zu. Er markiert die Zäsur zwischen beiden Lebensphasen, ohne diese auszuführen (»Dann kam eine neue Zeit«). Der präteritale Gebrauch des Verbs ›kommen‹ gewährt dem Sprecher Aufschub, Bracht nutzt die Möglichkeit auf Detaillierung jedoch nicht. Es bleibt ein Appell an die Rezipienten, das Ungesagte zu ergänzen. Im Unterschied zur ersten Redefassung, in der die Subjekte und Akteure des Stadionbaus von Bracht benannt worden waren (»als die Leipziger das Stadion der Hunderttausend erbauten«), entfällt dies nun beim neuen Stadion. Die ehemals aktive Personengruppe und Besitzer des alten Stadions sind zu Adressaten einer Zuwendung, des neuen Stadions, geworden (»und hat uns ein neues Stadion gebracht«).
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Die Realisierung des abgelesenen zweiten Teils der Rede erfolgt unvollständig. Bracht schränkt hier die eigene Bedeutung ein, betont, dass sein Beitrag nicht maßgeblich gewesen sei (»obwohl ich nur ein kleines Rädchen im großen Gefüge gewesen bin«) und beschreibt sich als Teil einer umfassenden sozialen Struktur. Mit der Verwendung der konzessiven Konjunktion ›obwohl‹ will er aber nicht darauf verzichten, diesen wahrgenommen und berücksichtigt zu wissen. Letztlich erhebt die Figur Bracht Einspruch, wogegen aber, wird dem Rezipienten vorenthalten, da er seine Äußerung nicht beendet. Die vierte und die narrative Einheit abschließende Szene (01:23:40-01:24:28) zeigt Daniel Bracht auf den Stufen der Zuschauertribüne sitzend. Er war außer den Kommissaren der einzige, der Georg Brachts zweite Redefassung hörte. Daniel Bracht erklärt den Kommissaren, wie es zum Tod der Personalchefin kam und was der Auslöser seiner Affekthandlung war. In seinem Geständnis schwächt er den Wunsch des Vaters nach Anerkennung und Würdigung ab. (»Einmal wollte er neben seinem großen Idol Utz stehen und alle jubeln ihm zu, das war sein größter Traum.«) Georg Bracht ging es demnach einzig darum, vorübergehend an der Aufmerksamkeit, die dem berühmten ehemaligen Fußballspieler Utz zuteil wird, zu partizipieren. Wenn, wie in Daniels Darlegung, Utz und Georg Bracht beim Eröffnungsspiel einfach nebeneinander im Stadion stehen, bliebe aber offen, wem der Jubel gilt und worüber gejubelt wird. Bei diesem Deutungsangebot erschließt sich nicht, wieso der öffentlichkeitsungewohnte Vater dann auch noch eine Rede zu seiner eigenen Ehrung angefertigt hat und diese mehrfach revidiert vorträgt bzw. vorgetragen wird. Die Frage, die Georg Bracht vom Spielfeld herauf an den Sohn richtet (»War alles gut so Daniel?«), kann sich sowohl auf die Art der Präsentation beziehen als auch auf den Redeinhalt. Sie kann so zugleich auf die Bestätigung des Erzählten abzielen. Der Sohn hat dem Vater erst die Möglichkeit verschafft, sein Leben und die dabei gesammelten Erfahrungen in einem ›öffentlichen‹ Auftritt darzustellen. Daniels Bestätigung und Lob klingt aus dem Echo der Tonanlage dreimal nach. (»Ja, Vater, es war gut – gut, gut, gut«). In der visuellen und tonalen Inszenierung wird Georg Bracht zum Star. Wie einen erfolgreichen Fußballer nach errungenem Sieg umrundet die Kamera den mikrofonhaltenden Georg Bracht und erkennt so die Erzählwürdigkeit seines Lebens an. Applaus begleitet den Rundumschwenk, der die leeren Zuschauertribünen des Stadions erfasst.
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Z USAMMENSCHAU Die vorgestellten Ausschnitte zeigen, dass die MDR-Erzählung über den Osten des vereinigten Deutschland Biographien und symbolisch inszenierte Bauwerke präsentiert, unter deren Zuhilfenahme identitätsbezogene Fragestellungen aufgeworfen und diskursiv bearbeitet werden. Identitätsbestimmungen und bereitgestellte Deutungsangebote unterliegen im Laufe der Erzählung einem Wandel. Strategien der dem gesellschaftlichen Wandel angepassten Identitätsinszenierungen sind neben den Verbalisierungen und der Besetzung der Figuren mit bekannten DDRDarstellern die filmischen Bild- und Tonarrangements. Die Biographie des Pferdes Birkhahn aus Tödlicher Galopp (1997) ist eine deutsche ›Lebens‹geschichte, sie enthält west- und ostdeutsche Anteile. Karsunkes Erzählung über den visualisierten Schauplatz evoziert eine vorvergangene Epoche. Seine eigene Biographie enthält keine expliziten Sozialisationshinweise (»Ich bin seit 50 Jahren im Geschäft, von der Pike auf, Lehrling, Bereiter, Jockey, Trainer und dann Veterinär«, 00:14:41). Sie lässt sich allenfalls aus dem Kontext der Filmhandlung erschließen. Bei den drei Figuren aus Abseits (2004), Georg und Daniel Bracht sowie Utz, liegen direkte Angaben zu ihrer ostdeutschen Sozialisationsgeschichte vor. Sie wird aber durch den Darsteller der dritten Figur aufgehoben: genauer durch ihre Weigerung, eine Klärung der Identitätsbestimmung vorzunehmen. Während die Zuschauertribüne der Leipziger Galopprennbahn herangezogen wird, um vorzuführen, welchen Bestandswert das historisch Bedeutungsvolle in Zeiten von Finanztransfers und Globalisierung hat, ist das Leipziger Fußballstadion seiner zeitgeschichtlichen Verankerung beraubt und als solches nur mehr in den Erinnerungen einzelner gegenwärtig. Der MDR-Tatort der Jahre 1992 bis 2007 erzählt Geschichten aus einer Region Deutschlands, deren historische, industrielle und politische Entwicklungen Teil der deutschen Geschichte sind. In der fiktionalen Reflexion der unmittelbaren Veränderungen infolge der deutschen Einheit gibt die MDR-Erzählung fragmentarische Einblicke in ostdeutsche Alltagswelten und leistet damit einen integrativen Beitrag zur Annäherung von Ost und West.
L ITERATUR Assmann, Aleida und Jan Assmann. »Das Gestern im Heute. Medien und soziales Gedächtnis.« Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft. Klaus Merten, Siegfried Schmidt und Siegfried Weischenberg (Hg.). Opladen: Westdeutscher Verlag, 1994. 114-140.
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Atlantis, 9. November 2003 (MDR, R: Hajo Gies) Abseits, 28. November 2004 (MDR, R: Hajo Gies) Tiefer Fall, 21. Juni 2005 (MDR, R: Thomas Freundner) Freischwimmer, 30. Oktober 2005 (MDR, R: Helmut Metzger) Blutschrift, 5. Juni 2006 (MDR, R: Hajo Gies) Schlaflos in Weimar, 17. Dezember 2006 (MDR, R: Uwe Janson) Racheengel, 28. Mai 2007 (MDR, R: Hannu Salonen)
Die filmkünstlerischen Aspekte der spezifischen Tatort-Serialität
Filmdramaturgie vs. Reihennarration Liebe, Sex, Tod (1997) und der Tatort der 1990er Jahre H ANS K RAH »Insgesamt beschäftigen sich die Filme der 90er Jahre mit dem bislang derart nicht installierten Thema der Medialität.« (Gräf 2010: 277)
K INO UND F ERNSEHEN – E RZÄHLKONZEPTIONEN Audiovisuelle Formate unterscheiden sich bezüglich ihrer semiotischen Dimension nicht grundsätzlich, wie dies für die technische Dimension oder die institutionelle Dimension von Medien sehr wohl gilt. Ein Kinospielfilm und eine Fernsehproduktion weisen bezüglich letzterer zentrale Unterschiede auf, die bei einer Betrachtung des Gegenstandes unter einem solchen Fokus, etwa der Rezeption, einzubeziehen sind. Geht es um den Fokus Semantik, so konstituieren Texte ihre Bedeutung zunächst unabhängig von der apparativen und sozialen Dimension, aufgrund von Textualität, Medialität und Kulturalität als den Eigenschaften medialer Kommunikation.1 Eine Tatort-Folge und ein Spielfilm lassen sich also prinzipiell mit Hilfe derselben Beschreibungskategorien analysieren, wie sie auch prinzipiell äquivalent
1
Siehe zu den Dimensionen von Medien Gräf/Großmann/Klimczak/Krah/Wagner 2011: 14f., zu den Eigenschaften medialer Kommunikation aus semiotischer Perspektive vgl. Decker/Krah 2011: 71f. Der Textbegriff wird generell im weiten Sinn als strukturelles Gebilde verwendet, er gilt also mithin auch für audiovisuelle Zeichenkomplexe (vgl. etwa Krah 2013: 24f.). Für den Aspekt der Kulturalität und seine Anwendung auf das TatortUniversum sei auf Gräf 2010 verwiesen, an dessen Zugangsweise ich mich prinzipiell orientiere, auch wenn hier in meinem Beitrag andere Aspekte im Fokus stehen.
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konzipiert sein können. Dennoch lassen sich auch für die semiotische Verfasstheit von Texten unterschiedliche semantische Ausgangslagen ausmachen, die zu Distinktionen führen und (Erzähl-)Konzeptionen beeinflussen. Hier betrifft dies das serielle Format einerseits, das Dispositiv (bundesdeutsches) Fernsehen andererseits.2 Das Versus in meinem Titel fokussiert auf diese implizierte Problematik unterschiedlicher Erzählkonzeptionen, die sich durch das Interferieren von Fernsehformaten mit dem Hollywoodspielfilm ergibt und die ich am Beispiel der 356. TatortFolge Liebe, Sex, Tod (1997) aufzeigen möchte. Liebe, Sex, Tod vom Bayerischen Rundfunk mit den Kommissaren Batić und Leitmayr situiert sein Geschehen im Münchner Hochsommer. Der transsexuelle Lukas lebt inkognito das Leben seiner verstorbenen Schwester Judith, die bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist. Er will sich das Geld für die operative Geschlechtsanpassung im Sexclub Hot Souls als Domina Cocoon verdienen bzw. wird dazu (wie andere auch) von seinem Therapeuten Dr. Seebaum-Lang genötigt, der gleichzeitig Betreiber von Hot Souls ist. Bei einem seiner Dates, bei denen es immer um »Thrill« (00:42:47) geht, eskaliert die Situation, als sein Kunde, der Streifenpolizist Felix Rust, Cocoon berühren will. Lukas/Cocoon ersticht ihn. Batić und Leitmayr stoßen bei den Ermittlungen sowohl auf ›Judith‹ als auch auf Ira Berg, die Aufmerksamkeit einfordert und sich deshalb als Verdächtigte, vermeintliches Opfer und ›Detektivin‹ wichtig macht, als auch auf Hot Souls und Dr. Seebaum-Lang, der zwar im betreffenden Fall unschuldig ist, aber doch bezüglich seiner Machenschaften einer gerechten Strafe zugeführt wird. Als Judith, die in einem Spielzeugladen arbeitet, bringt Lukas schließlich noch einen Verehrer um, wobei durch einen Speicheltest die männliche Identität des Täters festgestellt werden kann. In einem Showdown, in dem Lukas als Judith Ira Berg in seine Gewalt bringt, wird Judith gestellt und Ira Berg für ihre Thrill-Sucht durch den Moment der tatsächlich lebensbedrohlichen Situation sanktioniert (und geheilt). Liebe, Sex, Tod eignet sich für meine Fragestellung, da diese Folge zum einen bestimmte Strukturen enthält, die ich als repräsentativ ansehe und die nicht nur für diesen Tatort gelten, sondern tendenziell für die 1990er Jahre generell zu beobachten sind – nämlich an einer Filmdramaturgie zu partizipieren und sich damit nicht als Teil einer Reihe zu verstehen, sondern als singuläres Werk zu setzen. Zum anderen wird diese Bezugnahme selbst thematisiert und ›reflektiert‹ bzw. durch Referenzen geradezu zu einem medialen Vergleich aufgerufen. Wenn diesbezüglich die Folge in ihrer expliziten Weise zwar eher eine Ausnahme darstellt, so werden dadurch aber gewisse Konfliktlinien und Kollisionen deutlich, die der Konzeption insgesamt inhärent sind.
2
Begriff (in Anlehnung an Foucault) nach Decker/Krah 2011: 80f.
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N ARRATION UND D RAMATURGIE – E RZÄHLVARIABLEN Bevor ich dies zu entwickeln versuche und am Beispiel konkretisiere, möchte ich kurz umreißen, wie ich die Begriffe im Titel meines Beitrags verstehe bzw. welche Aspekte ich darunter subsumiere. Dimensionen des Erzählens Unter Narration verstehe ich alle Dimensionen des Erzählens, wie sie sich aufbauend auf der Unterscheidung von histoire und discours strukturieren lassen: Auf der Ebene des discours sind die basalen Erzählmittel, wie erzählt wird, situiert. Der discours in diesem Sinne bestimmt sich ganz allgemein als die sich durch Selektion aus den medial möglichen Erzähltechniken ergebende Präsentation des Geschehens. Ebenso auf der Ebene des discours ist hiervon als eigenständige Ebene die Vermittlung des Erzählten zu unterscheiden, also der Erzählakt als kommunikativer Prozess des Erzählens. Dieses ›wer erzählt‹ lässt sich unter dem Begriff des point of view zusammenfassen. Auf der Ebene der histoire ist situiert, was erzählt wird, die Handlung. Als narrative Struktur wird dabei bezeichnet, welche Geschichte aus den Daten des discours abstrahierbar ist. Hiervon zu unterscheiden ist der Aspekt der Dramaturgie, der die Vermittlung und Präsentation nicht des allgemeinen Geschehens, sondern der narrativen Struktur selbst meint und sich aus der Funktionalisierung und Interaktion der obigen Aspekte ergibt. Schließlich lassen sich als eine weitere Dimension auf einer textübergreifenden Ebene ›Reihenbildungen‹ fassen: Zum einen konstituieren sich auf der Basis obiger Aspekte Genres. Die Narration trägt dazu bei, sei es bezüglich der narrativen Strukturen und eines genrekonstituierenden narrativen Programms, sei es bezüglich bestimmender Point-of-View-Strukturen, sei es bezüglich wiederkehrender discoursKonstellationen oder dramaturgischer Elemente und Effekte. Genres bilden Erzählkonventionen aus, durch die Einzeltexte zu einem Korpus zusammengefasst werden und die vor der Folie des jeweiligen Modells als je spezifische Konkretisation beschrieben werden können. Diese gehen v.a. als Wissensreservoir wieder in die Semantik des Einzelfilms ein und können dort Erwartungshaltungen generieren wie beeinflussen. Zum anderen beziehen sich solche textübergreifenden ›Reihenbildungen‹ auf serielle Formate und spezifische Formen seriellen Erzählens. Im Folgenden beziehe ich mich auf ein Modell von Fortsetzungszusammenhängen, wie ich es unter Verwendung gegebener Begrifflichkeiten zu systematisieren versucht habe.3 Als Kategorien, auf deren Basis sich die Kriterien seriellen Erzählens in diesem Modell bilden lassen, sind das Weltmodell, die Sukzession, die Ereignishaftigkeit und spezifi-
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sche Formen der narrativen Struktur angesetzt. Das Schema (aus Krah 2010: 110) zeigt die sich darauf aufbauenden Unterscheidungen:
Abb. 1: Formen seriellen Erzählens (Krah 2010: 110)
3
Siehe hierzu ausführlich Krah 2010, wo dieses Modell als ›work in progress‹ aus früheren Überlegungen heraus entwickelt wird. Der Hauptunterschied zu anderen Klassifikationen dürfte dabei darin bestehen, dass ein semiotisches Verständnis von Texten (vgl. Decker/ Krah 2011: 69f.) genutzt und versucht wird, v.a. bei der Bestimmung von Serie mit dem Konzept des Weltmodells zu argumentieren. Das Kriterium des Weltmodells ersetzt und integriert das Kriterium des feststehenden Personeninventars, wie es zumeist in der Forschung anzutreffen ist. Hier ist nicht der Ort, dies ausführlich vorzustellen oder zu diskutieren und in Bezug zu anderen Modellierungen seriellen Erzählens (vgl. etwa die Beiträge in Kelleter 2012) zu setzen.
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Filmdramaturgie Dramaturgie bezieht sich zum einen auf der Mikroebene auf die textstrukturellen Strategien der Inkorporierung des Zuschauers und bildet die Schnittstelle von Text und Rezeption. Neben Spannungsaufbau und action bzw. allgemeiner der Vermittlung von Attraktions- und Schauwerten dient sie der Sympathielenkung wie der Lenkung der je spezifischen Aufnahme der narrativen Struktur. Durch dramaturgische Mittel kann die Ideologie, die einer Geschichte inhärent ist und sich gerade durch den Gang der Handlung artikulieren kann, kaschiert oder erträglich gemacht, aber auch verstärkt werden. Die Mittel der Dramaturgie, zu denen neben Montage und Musik insbesondere der Umgang mit Zeit und Wissen/Information gehören, sind es, die eine eigentlich banale, simple Geschichte (erst) interessant gestalten lassen und diese damit (erst) erzählenswert machen (oder von dieser Banalität ablenken). Zum anderen ist die grundsätzliche Konzeption von zuschauerbezogener Handlung zentraler Teil der Dramaturgie, der auf der Makroebene erst deren Zusammenhang stiftet. Zur Konstruktion der Handlung gehört sowohl deren spezifischer Ablauf als auch die Form einer adäquaten Inszenierung im discours: adäquat in Hinblick auf das intendierte (Rezeptions-)Ziel. Anhand eines Ausschnitts aus The Silence of the Lambs/Das Schweigen der Lämmer (1991) lassen sich für beide Ebenen einige zentrale Aspekte aufzeigen.4 In der Sequenz (01:33:20-01:36:58) geht es um den vermeintlichen Zugriff des FBI auf den Serienmörder Buffalo Bill, wobei bezüglich des Spannungsaufbaus mit einer Pointenstruktur operiert wird (Abb. 2-9). Über die Montage wird die Variante der ›falschen Gewissheit‹ installiert (vgl. Gräf/Großmann/Klimczak/Krah/Wagner 2011: 302f.). Zu sehen ist ein Haus, das von FBI-Agenten umstellt wird. In Alternation ist Buffalo Bill zu sehen, der sich mit seinem Opfer, das in einem Brunnenschacht im Keller gefangen ist, auseinanderzusetzen hat, da dieses seinen kleinen Hund zu sich herunter gelockt hat. Die gezeigten Daten lassen sich kohärent in dem eingeführten, räumlich fixierten Geschehenszusammenhang integrieren und können aus diesem heraus verstanden werden: Während drinnen der Mörder mit dem Opfer beschäftigt ist, wird draußen der Zugriff vorbereitet. Insbesondere der Raumbezug
4
Jonathan Demmes mit fünf Oscars prämierter Thriller (bester Hauptdarsteller, beste Hauptdarstellerin, bestes Drehbuch, beste Regie, bester Film) gilt als Meilenstein und Klassiker des Genres und darf sicher als Beispiel eines sowohl qualitativ hochwertigen als auch ästhetisch-dramaturgisch gelungenen Hollywoodfilms angesehen werden. Die Ausführungen orientieren sich an Gräf/Großmann/Klimczak/Krah/Wagner 2011: 292f. und Wagner 2013; eine ausführliche Analyse seiner dramaturgischen Struktur unter etwas anderen Schwerpunkten bietet Krützen 2004.
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›innen – außen‹ wird durch eine spezifische, klassisch-konventionelle Montage indiziert. Einer Einstellung, in der der Druck auf einen Klingelknopf gezeigt wird, folgen die Einstellungen einer schellenden Klingel und der Reaktionen darauf in einem Inneren, wodurch durch die Grundrichtung der Kontinuität, der Kohärenzannahme, dass sich die Einstellungen auf denselben Geschehenszusammenhang beziehen, davon ausgegangen werden kann, nun das Innere des zuvor eingeführten Außen zu sehen. Die zusätzliche Wiederholung dieser Klingeleinstellungen stützt diese Interpretation und forciert als retardierendes Moment Spannung, wie der Einsatz ablaufen wird. Nun folgt aber im Syntagma die Einbeziehung einer im Blick auf den bisherigen Geschehenszusammenhang neuen Figur: Als Buffalo Bill auf das Klingeln reagiert und die Tür öffnet, befindet sich draußen nicht das FBI und der gesamte Polizeiapparat, sondern allein die Agentenanwärterin Clarice Starling. Dementsprechend kann das Bisherige als Täuschung erkannt und anerkannt werden, so dass nun eine Neuinterpretation der Daten gefordert ist, durch die sich diese unter Einbeziehung der neuen Information kohärent auflösen lassen. Dies ist mit Hilfe der Grundrichtung der Alternation, die die der Kontinuität substituiert, zu erreichen: Das bisher Gezeigte bezieht sich nicht auf einen Schauplatz, sondern wechselt zwischen zweien, bei denen jeweils ein Klingelvorgang dominiert. Mit dem jeweiligen Außen resp. Innen korrespondiert also jeweils ein anderes Innen resp. Außen, das zunächst nicht visualisiert ist. Diese Interpretation wird dann am Ende der Sequenz durch das Zeigen des zweiten Handlungsortes von außen in der Totalen explizit und unmissverständlich bestätigt. Damit verlagert sich aber auch der Spannungseffekt nicht nur von suspense zu surprise, sondern auch bezüglich der fokussierten Figur und der eigentlich zentralen Frage des Films (vgl. ebd.: 366f.).
Abb. 2-9: The Silence of the Lambs
Denn diese Art der Informationsvergabe ist als ›überraschende Wendung‹ kein dramaturgischer Selbstzweck, sondern funktional in Hinblick auf die Makroebene der Dramaturgie. Hier ist es als ein wesentliches Merkmal die Figur, die eine ›Heldenreise‹ (Vogler 1997; Krützen 2004) bzw. eine ›Entwicklung im Raum‹ (Wagner 2013) durchmacht.
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Es geht nicht nur um einen Kriminalfall, den es zu lösen gilt – den des Serienmörders James Gumb alias Buffalo Bill, der seinen weiblichen Opfern die Haut abzieht, um sich selbst als zweite Haut ein Kleid daraus zu nähen, und dessen ›transsexuelle‹ Metamorphose –, sondern v.a. auch um die Entwicklung der aus kleinen Verhältnissen stammenden, mit einem Kindheitstrauma versehenen FBI-Agentenanwärterin Clarice Starling und deren Reifung. Und dazu muss sie allein, auf sich gestellt, in den Extremraum des Gegners, den dunklen Keller, ohne auf die Hilfe väterlicher Instanzen zurückgreifen zu können. Genau dies wird durch die obige Sequenz vermittelt, durch die ›verspätete‹ Hinzufügung genau dieser Figur, wobei der Fokus auf den erkennenden Blick des Einsatzleiters Jack Crawford – der vermittelt, dass er sich bewusst ist, dass er sich am falschen und Clarice wohl am richtigen Ort befindet – sich homolog auf den Zuschauer übertragen lässt: als Wissen, dass bei dem, was nun als Showdown folgt, Clarice auf sich gestellt ist. Dadurch wird der Zuschauer in besonderer Weise affiziert und inkorporiert, denn die Sympathielenkung war den Film über bereits auf Clarice fokussiert. Der Tatort als Reihe/Reihennarration Der Tatort ist im Spektrum möglicher Fortsetzungszusammenhänge (siehe Krah 2010) als Reihe klassifiziert: Dieses serielle Format zeichnet sich dadurch aus, dass es kein gemeinsames folgenübergreifendes Weltmodell (wie bei der Serie) gibt; die einzelnen Folgen sind zudem in sich autonom und narrativ abgeschlossen, sie stehen unverbunden nebeneinander und sind nicht in einem linear-chronologischen Zusammenhang über die Einzelfolge hinaus verbunden. Die vorherige Folge bildet mit der nachfolgenden Folge also keinen chronologischen Zusammenhang aus, keine gemeinsame histoire.5 Verbunden sind sie über den gemeinsamen Handlungsträ-
5
Hier sei schon vorausgeschickt, dass die in Krah 2010 vorgestellten Serialitätsformate als Grundtypen zu verstehen sind, die als Raster fungieren, konkrete Texte in ihrem ganz spezifischen Fortsetzungszusammenhang zu beschreiben. Zudem muss innerhalb eines Textganzen nicht notwendig dasselbe Serialitätsformat beibehalten werden; der Fortsetzungszusammenhang kann sich ändern oder sich einer anderen Form annähern. Für den Tatort heißt dies, dass zum einen die einzelnen Teilreihen bezüglich ihres seriellen Formats unterschiedlich ausgeprägt sind und dass zum anderen sich im historischen Wandel von den 1970er zu den 2010er Jahren Transformationen auch auf dieser Ebene ergeben. Gerade die Beobachtungen zum Münsteraner Tatort der 2000er Jahre (vgl. den Beitrag von Andreas Blödorn in vorliegendem Band) legen es nahe, dass sich dieser Tatort der Serie angenähert hat, da nun eher die Folgen innerhalb eines gemeinsamen Weltmodells situiert sind. Analoges gilt auch für die Chronologie, die in Einzelfällen immer wieder einmal erzeugt sein kann. Siehe hierzu auch Anmerkung 24.
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ger, den Kommissar, und das gemeinsame Sujet, das des Verbrechens und der Verbrechensaufklärung, und dabei über den gleichen Fokus und die gleiche Perspektive. Überdies signalisieren sie ihre Reihenzusammengehörigkeit über formale Gestaltungselemente auf der Ebene des discours wie Musik und Vorspann. Innerhalb dieses Reihenzusammenhangs ist eine weitere Ordnung etabliert, insofern sich innerhalb der Tatort-Reihe zusätzlich einzelne Teilreihen ausbilden. Aber auch hier, bei den Tatorten am gleichen Ort und mit dem gleichen Ermittlerteam, gilt, dass eine Gesamtkohärenz, das jeweilige Modell von Welt, in jeder Folge neu konstruiert wird. So sehr die Folgen gerade in den 1990er Jahren in ihren Geschichten eine Vergangenheitsdimension als relevant setzen, so wenig gibt es eine allgemeine, ›verbindliche‹, vor der betreffenden Folge existierende diegetische Vergangenheit. Die Biographie, die in einer bestimmten Folge etabliert wird, ergibt sich also nicht aus dem (Vor-)Wissen über vorangegangene Folgen, sondern ist davon unabhängig und relativ autonom in ihrer spezifischen Semantik. Dies heißt, dass die Art, wie welche Themen mit welchen anderen Ebenen verbunden werden, auf paradigmatischer Wahl beruht. Das jeweilige Modell von Welt ist bedeutungstragend für den Fall und für dessen Lösung, da es sich unmittelbar darauf bezieht. So ist Liebe, Sex, Tod zwar der 16. Tatort aus München mit den Kommissaren Batić und Leitmayr; was aber in den erzählten Geschichten der Folgen zuvor etabliert wird, spielt dafür keine Rolle. Stattdessen ist es von konfigurativer Relevanz für genau diese Folge, wenn die Figur der Chefpathologin Kathrin eingeführt wird, mit der Leitmayr eine Beziehung hatte. Dies geht aus der Folge selbst hervor, in deren discours nun Batić eine Beziehung mit Kathrin eingeht, die allerdings zugleich wieder problematisiert und beendet wird. Von einer Kathrin ist weder in den Folgen zuvor, Perfect Mind. Im Labyrinth (1996) und Schattenwelt (1996), die Rede noch in den darauf folgenden Episoden Der Teufel (1997) und Bluthunde (1997). Wichtig ist Kathrin allein für Liebe, Sex, Tod, da so das Paradigma ›Beziehungen bzw. gescheiterte/problematische Beziehungen‹ nicht nur die Figurenkonstellationen der fallbeteiligten Figuren der Folge charakterisiert, sondern auch auf das Ermittlerteam ausgeweitet wird, das damit in dieses Paradigma integriert und involviert wird. Die Lösung findet also nicht wie bei der Serie innerhalb einer vorgegebenen Weltordnung statt; diese wird stattdessen für die jeweils gewünschte oder als wünschenswert erachtete Lösung und den (damit) kommunizierten Problemdiskurs konstruiert. Diese Ebene gehört zur Verhandlung des konkreten Falls notwendig dazu und ist nicht davon zu trennen, wird sie doch für jede Folge aufs Neue modelliert. Insofern gilt es bei der Reihe, den Blick auf diese Weltmodelle und die sie strukturierenden Kategorien zu richten, da sie nicht zufällig mit dem Fall koinzidieren, sondern notwendig auf diesen bezogen sind. Unabhängig von den erzählten Geschichten der einzelnen Folgen gehören zur Reihennarration aber durchaus konstante, paradigmatische Profile dazu. Im Tatort beziehen sich diese folgenübergreifenden, präfigurierten Profile auf das Rollen- und
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Teammodell bezüglich der ermittelnden Kommissare und auf die Fall- und Ermittlungslogik bezüglich der zu ermittelnden Delikte.6 Profil ist dabei zum einen bezüglich einer Positionierung der jeweiligen Teilreihe innerhalb des Tatort-Universums im Ganzen zu sehen, zum anderen meint es die Profilierung, die als Referenzrahmen und Kontextwissen für die einzelnen Fälle und Folgen relevant ist, insofern sie die Erwartungshaltungen regelt bzw. beeinflussen kann. Solches Wissen über die (Ermittler-)Figuren lässt sich dramaturgisch funktionalisieren, beeinflusst aber auch die Spezifik solcher Dramaturgie.
F ILMDRAMATURGIE
UND
T ATORT – E RZÄHLSTRATEGIEN
Während nun Geschichten zu erzählen in allen audiovisuellen Formaten gleichermaßen möglich ist, insbesondere deren Rekonstruktion und Modellierung mit Hilfe des auf Lotman zurückgehenden Instrumentariums (Semantische Räume, Grenzüberschreitung, Ereignis; siehe einführend Krah 2010: 89f., ausführlich Gräf/Großmann/Klimczak/Krah/Wagner 2011: 334f.), ist die Dramaturgie, die Inszenierung der Handlung über die drei zu Grunde liegenden Dimensionen abhängig von den jeweiligen Textsorten, -gattungen und -formaten. Auch einer Reihe bzw. einem Fernsehformat im Allgemeinen kommt selbstverständlich eine je spezifische Dramaturgie zu. Wenn ich im Folgenden Dramaturgie verwende, ist damit aber diejenige des Spielfilms Hollywoodscher Prägung gemeint. (Analoges gilt für die Verwendung von ›Film‹ und ›filmisch‹.) Insbesondere sind die Verfahren und Strategien der Dramaturgie abhängig von einem grundlegenden Merkmal, dem Status des jeweiligen Textes hinsichtlich der Kategorien, die im Titel dieses Bandes mit »zwischen Serie und Werk« ausgedrückt sind. Als Reihe, und damit als pro Folge narrativ abgeschlossenes und eine eigene Welt konstruierendes serielles Format, weist der Tatort (im Vergleich zu anderen seriellen Formaten) grundsätzlich eine Nähe zum Spielfilm auf.7 Dennoch ergeben sich so, gerade durch die Abhängigkeit von einem bzw. durch die Integration in einen seriellen Kontext und die damit vorhandenen textübergreifenden Konfiguratio-
6
Zu nennen wäre hier im Speziellen auch das Autoprofil (siehe den Beitrag von Rolf Parr
7
Anzumerken wäre hier aber bereits, dass es, auch wenn das Weltmodell in jeder Folge
in vorliegendem Band). neu konstruiert wird, dennoch Unterschiede bezüglich der Möglichkeiten der Konzeption des Raums gibt. Dieser ist in der Reihe nicht frei semantisierbar, sondern determiniert durch Vorgaben, die sich aus den Profilen und der Reihensemantik insgesamt ergeben. Gerade in Dramaturgiemodellen, die den Raum fokussieren (siehe Wagner 2013), werden derartige Einschränkungen ersichtlich.
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nen, die Profile bzw. andere Möglichkeiten bezüglich des Einsatzes von dramaturgischen Mitteln, als dies im Unterschied zu/im Vergleich mit einem singulären, autonomen Text der Fall ist.8 Der Kommissar als involvierter Protagonist Handlung basiert (außer auf Zeit und Raum) auf Handlungsträgern und dient zumeist einer Entwicklung der Protagonisten; Handlung korreliert mit dem Subjekt. Im Tatort ist nun im Spektrum der möglichen discours-Variablen bezüglich des Sujets Verbrechensaufklärung die Figur des Ermittlers fokussiert, in der Variante des institutionell-öffentlich agierenden Kommissars. Der Kommissar ist dabei, egal, was er noch ist, im Tatort immer auch Norminstanz. Es ist nicht seine Aufgabe, die (erste) Tat zu verhindern, sondern vielmehr für Gerechtigkeit zu sorgen und Vermittler (von Werten und Einstellungen) zu sein. Er ist in das Verbrechen involviert, aber auf spezifische, sakrosankte Weise – er ist in der Regel gefeit vor Lebens- wie Moralverlust.9 So sehr in Liebe, Sex, Tod Ira Berg mit Leitmayr ein Spiel spielen will, diesen Anfechtungen ist er niemals ernsthaft ausgesetzt. Auch Batić kann sich der beiden maskierten Damen vom ›Homeservice‹, die ihn überfallartig in der Wohnung von Rust an die Heizung fesseln, problemlos erwehren und ist schnell Herr der Lage. Impliziert ist also eine Statik der Person. Diese Figurenkonzeption erschwert nun wesentlich die Übernahme einer Filmdramaturgie, wie sie hier umrissen wurde. Zu konstatieren ist zunächst, dass filmische dramaturgische Mittel der Mikroebene in das Tatort-Universum durchaus Eingang gefunden haben (wie sie für bestimmte serielle Formate in spezifischen Formen schon immer konstitutiv waren, wie in amerikanischen Krimiserien etwa). Spannungsaufbau durch Zeitregie, last minute rescue, action, spezifische Informationsstrategien dürften sich ab den 1980er Jahren vereinzelt, in den 1990er Jahren flächendeckend im Tatort durchgesetzt haben. Dies wird auf der Figurenebene damit begleitet, dass die Ermittler zwar nicht einer Transformation, aber doch einer systematischen Perpetuierung ihrer eigentlichen Konzeption unterworfen sind und damit die Frage nach einer (psychologischen, moralischen, personalen) Entwicklung virulent wird. Denn damit auch die
8
Hier ist anzumerken, dass auch der Spielfilm Reihenbildungen ausprägt, zumeist in der Form des sequels. Dieses funktioniert aber anders als die Reihe in einer Dramaturgie der Überbietung (vgl. Krah 2010: 105f.).
9
Howalds Fall (1990), der erste Schweizer Tatort, bestätigt dies als Ausnahme. Hier ist zwar der Ermittler, Kommissar Howald, der Verbrecher, doch damit scheidet er aus dem Tatort-Universum auch gleich bei seinem ersten Fall wieder aus.
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Makroebene von Dramaturgie in Anlehnung an den Film funktionalisiert werden kann, bedarf es einer Modifikation der Figurenkonzeption, die diese für Parameter wie Emotionalisierung, Nähe und Mitfühlen öffnet, die aber die über die Profile installierten Erwartungen nicht wirklich brechen darf. Eine solche Strategie ist im Tatort der 1990er Jahre durchgehend zu beobachten. Zentral geschieht dies dadurch, dass die Statik der Figurensemantik aufgelockert wird, indem gerade über Figurenbeziehungen neue Semantiken zusätzlich etabliert werden und die geschlossenen Figuren der Kommissare zu offenen, potentiell veränderlichen werden. Dies ist häufig kombiniert damit, dass die Ermittlerfiguren in den Fall nicht nur professionell als Kommissare, sondern auch persönlich involviert sind bzw. eine solche emotionale Betroffenheit inszeniert ist.10 In Liebe, Sex, Tod sind Batić und Leitmayr sujetlos durch Kathrin ›Beziehungsbetroffene‹, wie eine solche Dimension durch das Verhältnis zwischen Leitmayr und Ira Berg sowie Batić und Judith sujethaft angedeutet ist. Insbesondere ist es der Dritte im Team, Carlo Menzinger, anhand dessen diese Verflechtung zelebriert wird: Dieser ist, wie sich herausstellt, Mitglied des Sexclubs Hot Souls und wird nicht nur seinen Kollegen, sondern auch dem Zuschauer visuell, ›inflagranti‹, vorgeführt. Auch die beliebte Undercoverermittlung lässt sich in diesen Zusammenhang verorten, da sie es erlaubt, andere Personenkonzepte, zumindest als Maske, zu realisieren. Dies ist in Liebe, Sex, Tod mit der Teilnahme am blind date und der Flirtschule für Batić und Leitmayr inszeniert. Genrepartizipation Neben dieser Partizipation an filmischer Dramaturgie über die Figuren lässt sich auch eine anhand filmischer Themen im Sinne von Genreanbindungen an das Hollywood-Kino konstatieren, da auch Genres eine spezifische Dramaturgie bedingen. Versucht wird, an Themen anzuknüpfen, die außergewöhnlich sind und Genrenähe aufweisen oder zumindest geeignet sind, sich an solchen Genrestrukturen anzulagern. So ist Liebe, Sex, Tod durch die Thematik von S/M-Spielen und Transsexuali-
10 Insbesondere in den Folgen der 1990er Jahre des Kölner Teams Ballauf und Schenk wird dies exzessiv inszeniert, wenn regelmäßig Schenks Verwandtschaft für eine Betroffenheit herhalten muss; sei es, dass sein Onkel als ehemaliger Wehrmachtsoffizier sowohl mit den Verbrechen der Wehrmacht als auch mit den aufzuklärenden Morden in Verbindung steht wie in Bildersturm (1998), sei es dass seine 15-jährige Tochter Sonja schwanger wird und damit der Mord an Abtreibungsdoktor Dr. Muster eine private Dimension erhält wie in Licht und Schatten (1999). Sowohl der Onkel als auch die Schwangerschaft der Tochter werden nach den jeweiligen Folgen wieder ›gelöscht‹, zur Mutterschaft kommt es nicht (auch eine Art Abtreibung).
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tät dem Erotikthriller angenähert und versucht sich zusätzlich, durch Referenzen auf The Silence of the Lambs im Serienmördergenre zu profilieren. Diese filmische Adaption kollidiert aber wiederum mit einem Modus der Narration, der genuin den Tatort kennzeichnet. Denn im Tatort der 1990er Jahre geht es verstärkt auch um die Verhandlung aktueller Themen und Problematiken, die an den Fällen durchexerziert werden. Ist sie nicht vorhanden, wird eine solche allgemeine Dimension dennoch an den Fall angelagert. Im Sinne von Normalität (im Verständnis von Link 1996) werden eine spezifische Referenz zur Wirklichkeit und eine Erdung in der BRD-Realität installiert. Das allzu Individuelle bedarf dabei immer einer Rechtfertigung und Einbindung, das allzu Abweichende muss im Sinne einer ›symbolischen Volksaufklärung‹ begreiflich gemacht werden – konsensuale Einbindung und Komplexitätsreduzierung durch Modulation von Gefühlen und Befindlichkeitsrhetorik sind dabei entsprechende Rezepte. Auch in Liebe, Sex, Tod wird die Exzeptionalität von abweichender Sexualität aufgefangen, insofern der Film sie repräsentativ und paradigmatisch einbindet, um doch wieder ›nur‹ ein Bild der ›Lage der Nation‹ zu geben, nämlich wie Singles sich so verhalten, ganz allgemein. So heißt es, wenn bei dem ermordeten Rust Pornos gefunden werden, nur lapidar: »war halt a Singl’« (00:11:01). Diesem wird generell attestiert, »immun gegen den normalen Sex« (01:04:35) zu sein, denn »Einsamkeit macht pervers« (00:12:15). Eingebunden wird der Fall also in einen Diskurs über das Leben an sich bzw. zumindest in der Großstadt (München), geboten wird ein Blick ins ›Singlemilieu‹, wobei einer Ontologisierung des ja eigentlich noch nicht einmal sozialen, sondern individuell-privaten Singlestatus das Wort geredet wird.11 Einerseits soll es (in der Handlung) um Thrill und den außergewöhnlichen Kick gehen, andererseits wird dies nicht dargestellt und vorgeführt, sondern gleichzeitig selbstreflexiv besprochen, d.h. ›Thrill zu suchen‹ (und deshalb abzuweichen) dient als explizite Beschreibungskategorie sowie Erklärungsmuster für Figurenverhalten (als quasi biologische Konstitution eines jeden Singles) und gehört zum Wortschatz
11 Unterstellt ist, dass erstens alle Singles gleich sind, dass zweitens alle Singles einsam sind, dass drittens alle Dasselbe wollen, nämlich keine Singles mehr sein, und dementsprechend alle ihre Bemühungen danach ausrichten, jemanden zu finden (gilt tendenziell für Frauen; so macht Kathrin bei einem blind date mit, obwohl sie doch mit Batić zusammen ist), dass viertens dies zudem damit korreliert, aus dem ›normalen‹ Sex ausgegrenzt zu sein und diesen Zustand nur durch die Zuführung von ›Thrill‹, gleich einer Droge, durchstehen zu können (gilt tendenziell für Männer). Und schließlich wird das Singlesein mit Nicht-Erwachsensein gleichgesetzt, korreliert also mit einer Infantilisierung. Derart komplexitätsreduziert ist die menschliche Psyche durchschaubar, kann der Kommissar gleichzeitig Analytiker sein.
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der Ermittler. Versucht wird, gleichzeitig Spannung zu erzeugen und die Mechanismen hierzu offen zu legen, gleichzeitig ein Sich-Einlassen und somatisch Affiziert-Werden zu provozieren und dies doch als Einblick in eine andere Welt zu deklarieren (und den Zuschauer didaktisch-distanziert darüber aufzuklären), gleichzeitig also ›innen‹ und ›außen‹ zu sein und dabei das Andere, Fremde doch bei den ›anderen‹ zu lassen. Das dramaturgische Konzept besteht aus einem dramaturgischen Spagat, steht also immer auf der Kippe. So korrelieren mit diesen Rückführungen auf den Alltag weitere Aspekte, an denen sich mehr oder weniger dominant Bruchlinien des Konzepts festmachen lassen: etwa die Anbindung an Genrestrukturen damit, dass es symbolische Lösungen gibt, mithin symbolische Ordnungen wiederhergestellt werden. Der Nachteil daran ist, dass dieser Problemlösung das Merkmal der Zeichenhaftigkeit inhärent ist. Es ist eine spezifisch filmische Lösung (im Sinne des Hollywoodfilms) und damit eine, die die Fiktionalität des Geschehens betont und die Frage einer realen Übertragbarkeit von vornherein nicht aufkommen lässt (dies gilt bereits durch die zumeist hyperbolische Anlage von Fall und Verbrechen). Wenn der Tatort für sich aber in seinen Geschichten den Anspruch auf ›Authentizität‹, auf Abbildung von Wirklichkeit als Grundkonzept postuliert, dann ist deutlich, dass eine solche Lösung hier per se weniger geeignet erscheint, da sie mit anderen Paradigmen, die ebenso ›verkauft‹ werden sollen, kollidiert. Entweder also, der Tatort nähert sich dramaturgisch einem Genre wie dem Erotikthriller an, vollzieht den Sprung ins Filmische und verlässt so seine üblichen Grenzen – Der kalte Tod (1996) als fast perfekter Horrorfilm wäre ein Beispiel hierfür –, dann konfligiert dies mit dem obigen Anspruch und wird auch als Grenzfall verhandelt und wahrgenommen (siehe Pruys 2000). Oder diese Annäherung wird, wie oben beschrieben, von einer Metaebene begleitet, die in die Strukturen hineinverlagert, darauf projektiert, von der aus reflektiert und das Vorgeführte als für den Tatort tauglich rückgeführt wird. Dann aber läuft dies immer Gefahr, dass sich eine Bewusstheit auch über diesen Spagat einstellt, der dann dramaturgisch nicht mehr gelingt.12
12 Am besten scheint dies dort zu funktionieren, wo bereits das Figurenprofil die Voraussetzung für solche Konstellationen liefert, so in einigen frühen Folgen mit Lena Odenthal (etwa Nahkampf, 1997, oder Die Zärtlichkeit des Monsters, 1993), bei denen sich über die Kommissarin-Täter-Relation eine metaphorische (und gestörte) Tochter-VaterBeziehung stülpen lässt und die Ermittlung als Psycho-Machtkampf semiotisiert werden kann. Auch die Tatsache, dass Odenthal (wohl da Frau) in Lagen gerät, aus denen sie gerettet werden muss/kann (was für ihre männlichen Kollegen so eher nicht gilt), scheint ihr Profil für Dynamik und damit zumindest imitierte ›Entwicklung‹ zu prädestinieren. Dass dies aber nicht automatisch so sein muss, zeigen andere Folgen von Odenthal, etwa Kriegsspuren von 1999 (siehe Krah 2004).
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Zudem scheint die Übernahme filmischer Stoffe durch das Dispositiv Fernsehen bezüglich der Programmstruktur Unterhaltung begrenzt zu sein. Strategie hierfür, dem entgegentreten zu können, ist ein spezifischer Einsatz von Komik, mit dem sich die Schwere und Ernsthaftigkeit eines Themas auffangen lässt. Um eine (zu) ernste (oder zu anrüchige, zu komplexe, zu tabuisierte, zu fremde) Thematik erträglich zu machen, operieren die Filme als Ventil mit einer hinsichtlich ihres Anwendungsbereichs notwendig streng begrenzten komischen Dimension, die im Kontext eines Oszillierens zwischen Distanz und Nähe zu sehen ist. In Liebe, Sex, Tod sind dies das als Running Gag fungierende geeiste Hemd in der Kühlbox, mit dem Batić die Hitze ohne Schweißflecken überstehen kann, ebenso wie zwei der potentiellen Partnerinnen im blind date, die in ihren Ansichten über Beziehungen fast als Karikaturen gezeichnet sind, schließlich die Anmachübung in der Flirtschule. Der Umgang mit Anfang und Ende Mit dem dramaturgischen Entwicklungsmodell, bei dem sich über spezifische Raumbindungen des Protagonisten eine plausible und insbesondere im zeitlichen Ablauf motivierte Geschichte erzählen lässt, die Wagner 2013 als »Dramaturgie im Raum« bezeichnet,13 werden auch gleichzeitig die Kategorien Anfang und Ende als relevant aufgerufen. So mag die Konzeption der Öffnung des Figurenprofils und der Inszenierung einer Dynamik der (Ermittler-)Person in einem Tatort funktionieren, sie konterkariert sich aber in der Wiederholung im Reihenparadigma (das als Wissensfundus bereits bei der Rezeption einer Tatort-Folge zur Verfügung steht): Da nur über Beziehungen oder Familienmitglieder eine Anfechtung installiert wird und nicht dadurch, dass die Ermittler tatsächlich in ihren Selbst-/Fremdbildern oder Wert-
13 Wagner 2013 skizziert ein dramaturgisches Entwicklungsmodell, bei dem sich über spezifische Raumbindungen des Protagonisten eine plausible und insbesondere im zeitlichen Ablauf motivierte Geschichte erzählen lässt. »Dramaturgie im Raum« meint dabei eine Konzeption, bei der dem Protagonisten ein eigener Raum zugeordnet ist, in Konfrontation mit diesem er einen Weg beschreitet, bei dem Grenzen sichtbar werden. Der Protagonist, und mit ihm der Rezipient, erkennt in der Grenzüberschreitung das Merkmal, das die Grenze konstituiert, so dass dadurch eine Veränderung des Individuums hin zu einem Selbstbild katalysiert wird. Während hier diese Wege durch den Raum Grenzen wahrnehmbar machen, wird in der »Arena-Dramaturgie« (Wagner 2013: 158) genau dies verhindert. Indem in einer Art Umleitung ein Raum zentral gesetzt wird, der bezüglich des Protagonisten reiner Funktionsraum ist und als metaphorische Arena fungiert, werden Erkenntnisprozesse substituiert und wird durch Attraktions- und Schauwerte davon abgelenkt.
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und Normensystemen betroffen wären, werden auch nur Pseudokonflikte initiiert, die nicht die ›Psyche‹ der Ermittler tangieren. Damit verbleiben diese aber immer dieselben, zumal am Ende einer Folge diese Pseudokonflikte aufgelöst und abschließend beendet werden. Das semantische Potential kann auf den Ausgangszustand zurückgestellt werden (um dann wieder in der nächsten Folge aufs Neue perpetuiert zu werden). So endet Liebe, Sex, Tod damit, dass Batić, Leitmayr, Menzinger und Kathrin gemeinsam in einer Art Epilog14 über die Situation räsonieren und den Fall damit auch kommunikativ für sich zum Abschluss bringen. Menzinger erkennt (aus der Aktenlage heraus) die Machenschaften Seebaum-Langs und kündigt seinen Austritt bei Hot Souls an. Die Ermittler sind in ihrem Büro und damit an ihrem professionellen Raum vereint. Auch Kathrin, die als Pathologin eigentlich hier nichts zu suchen hat, ist dabei und sinniert in dieser Runde über Einsamkeit. Signalisiert wird damit zum einen, dass die (erotisch-privaten) Beziehungen, aber auch die daraus resultierenden und in der Folge vorgeführten Beziehungsprobleme zwischen Batić, ihr und Leitmayr beendet sind, und zwar harmonisch bzw. im gegenseitigen Einvernehmen, denn niemand ist gekränkt oder belastet. Zum anderen signalisiert gerade das ›Zeigen‹ von Kathrin hier in der Schlusssequenz auch, dass diese Figur ausgespielt hat. Am Ende stehen alle noch einmal auf der Bühne und dürfen sich verabschieden. Die Ermittler steigen aus dem Fall und aus der Welt dieser Folge aus, einige verlassen das Tatort-Universum ganz. Mit dieser Artikulation von Einsicht und Überblick über das Gewesene wird nicht nur ein verbaler Abschluss in Szene gesetzt; vielmehr geht dem einher, dass in diesem Ende eine spezifisch filmische Dramaturgie bedient wird. Der Tatort endet damit, dass es zu regnen beginnt. Etwas, was es zuvor nicht getan hat, und etwas, was einen gegebenen Zustand beendet: Im dargestellten Zeitraum herrscht eine extreme Hitzewelle mit Hitzerekorden, wie immer wieder von Anfang an im discours betont wird und wie dies durchgängig die Diegese bestimmt.15 Liebe, Sex, Tod situiert seine Kriminal-Geschichte vor dem Hintergrund eines Geschehens, das sich parallel ereignet und auf dem zusätzlich ein Abschluss vorgeführt wird: Indem das Ende des Falls mit dem Ende der Hitzeperiode korreliert, wird dadurch ein Rahmen etabliert, der als Deutungsraster fungiert: Der vorgeführte Zustand der Welt ist semantisch als extreme Ausnahmesituation gesetzt, die zudem ursächlich das Gesche-
14 Zur Relevanz von Epilogisierung für spezifische Formen von Dramaturgie siehe Wagner 2013: 190. 15 Dass diese ›extreme‹ Hitzewelle Ende Juli, die als apokalyptisch stilisiert wird, mit Gradwerten von 30 Grad Celsius symbolisiert wird, mag die Kulturabhängigkeit von Texten unterstreichen. Heutzutage könnten diese Temperaturen sicher nicht mehr für derart Außergewöhnliches herhalten.
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hen mit katalysiert (schuld ist immer wieder »die Hitze«, 00:09:26). Dementsprechend ist durch diese Beendigung auch präsupponiert, dass nun alles wieder normal ist, dass alle wieder normal und in der Zukunft (dieser Folgenwelt) gefeit davor sind, abzuweichen. Um diese Struktur zu beschreiben, sei auf die unterschiedlich möglichen Enden und qualitativen Grenzen eines Textes verwiesen: »(1) Die pragmatisch-formale Textgrenze bezieht sich darauf, dass bei jedem Text Anfang und Ende vorhanden sind und immer gesetzt werden können, unabhängig von der konkreten Textstruktur. (2) Die textuell-semantische Textgrenze bezieht sich auf eine Abgeschlossenheit, die sich aus der Kohärenz der Textstruktur ergibt. (3) Die kulturell-narrative Textgrenze impliziert die kulturellen Vorstellungen und Erwartungen, wie (d.h. in welchem Text, in welcher Textsorte) ein Textende auszusehen hat; dies ist zumeist über die Narration geregelt. (4) Die semantisch-ideologische Textgrenze verweist auf eine Abgeschlossenheit, die als solche selbstreflexiv durch die Textstrukturen selbst inszeniert ist, so dass dadurch die Einheit des spezifischen Textes als genau diese Einheit verstärkt und bestätigt wird.« (Krah 2010: 87)
Der Tatort spannt also einen zusätzlichen Bogen und installiert über diesen Wetterbezug eine Symbolisierung seiner Handlung, durch die die Kategorien Anfang und Ende eine andere Qualität erhalten. Sein kulturell-narratives Ende wird von einem semantisch-ideologischen Ende überlagert, einem Ende also, das zeichenhaft deutlich macht und markiert, dass es/etwas zu Ende ist und wie es zu Ende ist, als ›Reinigung‹. Festgelegt wird dieser Rahmen bereits in der Initialstruktur, der filmischen Exposition, die wiederum als Teil von Dramaturgie prinzipiell nach anderen Regularitäten funktioniert als in einer Reihe. Auch hier versucht Liebe, Sex, Tod an filmischer Dramaturgie zu partizipieren, indem zu Beginn des discours eine eher filmtypische Exposition geboten wird, die mit dem ›korrupten‹ Cop Rust und dem Auftritt der ledermaskierten Cocoon Konnotationen zu Filmgenres evoziert (erst dann treten die Kommissare in Aktion und Erscheinung).
E RZÄHLEN
ALS INTERMEDIALE
AISTHESIS
Dass es am Ende regnet, wird in der oben skizzierten Schlusssequenz diegetisch eingeleitet (01:28:10-10:28:25): Auf Menzingers »In jedem anständigen Hollywoodfilm dat’s jetzt regna … Verbrechen, Hitze, Fall gelöst, Regen; is ganz einfach«, erwidert Batić: »Man müsste Feuer und Wasser zusammenbringen, dann
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gäb’s Regen«, worauf sich Kathrin mit den Worten »scheiß Konjunktiv« eine Zigarette anzündet und das Zündholz in einen Pappbecher mit Wasser wirft; gleichzeitig beginnt ein Gewitterregen. Hier artikuliert sich eine weitere Dimension medialer Bezüge in Liebe, Sex, Tod. Indem diegetisch expliziert wird, dass das Ende ein typisches Film-Ende ist, kommt neben der Ebene der Übernahme von Elementen filmischer Dramaturgie als eine weitere die der expliziten Bezugnahme auf und damit Thematisierung von Film hinzu. Dies wird nicht erst am Schluss eingeführt, sondern durchzieht die gesamte Folge, insbesondere über die Figur der Ira Berg und die Videothek, in der sie arbeitet. Markiert wird dies auch, wenn der Name »Cocoon« als Filmtitel ausgewiesen wird (00:11:35).16 Verstärkt wird dies durch weitere Allusionen und Konnotationen zu The Silence of the Lambs, etwa wenn der Vater von Judith/Lukas Schmetterlinge sammelt oder durch den Sachverhalt der Transsexualität an sich. Bezeichnend für die Bezugnahme auf gerade diesen Film ist aber eine Sequenz des Tatort, bei der es um den vermeintlichen Zugriff auf Lukas geht (01:20:06-01:21:56). Hier wird deutlich, dass Liebe, Sex, Tod nicht nur auf allgemeinen Ebenen der Dramaturgie und über thematische Bezugnahmen am Film zu partizipieren versucht, sondern auch strukturell durch simulierte Referenz.17 Bis in die einzelnen Einstellungen hinein (Abb. 10-17) kopiert der Tatort die Sequenz aus The Silence of the Lambs, die ich oben als Beispiel filmischer Dramaturgie skizziert habe (Abb. 2-9). Wieder steht die Polizei mit ihrem gesamten Aufgebot vor einem Haus, in dem Lukas vermutet wird, wieder wird auf die Klingel gedrückt, wieder ist im Inneren eines Hauses eine Klingel zu hören und Lukas zu sehen, der sich gerade als Judith abschminkt und nach wiederholtem Klingeln die Türe öffnet, vor der nun aber nicht die Polizei steht, sondern Ira Berg – während die Polizei eben ein anderes Haus stürmt und sich einer verdutzten Wirtin mit ihrem neuen Mieter gegenüber sieht.
16 Über den Inhalt des Films Cocoon (1985) selbst lässt sich kein semantischer Bezug etablieren; signifikant ist rein der Titel, der das Verweispotential zu The Silence of the Lambs eröffnet. 17 Bei der simulierten Referenz kann der Bezug zu einem konkreten Text anhand von Strukturanalogien identifiziert werden; vgl. zu dieser Systematisierung von Referenzbeziehungen Krah 1997 und Gräf/Großmann/Klimczak/Krah/Wagner 2011: 232.
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Abb. 10-17: Liebe, Sex, Tod
In welchem Verhältnis stehen nun diese Referentialität und die dadurch potentiell ermöglichte Reflexivität zueinander, insbesondere bezüglich medialen Erzählens?18 Der Tatort setzt sich einerseits als Film selbst, indem er an filmischer Dramaturgie partizipiert, und versucht sich damit dessen symbolischen Status (im Verhältnis der Medienkonkurrenz von Hollywoodkino und Fernsehproduktion) anzueignen. Andererseits wertet er gleichzeitig in seiner Diegese Film ab. Denn so sehr Anleihen am Film gemacht werden, so sehr wird dennoch aus einer Perspektive des Fernsehens argumentiert. So fungiert die Figur der Ira Berg mit ihrem übersteigerten Aufmerksamkeitsbedürfnis gerade als Exempel für eine nicht adäquate Wirklichkeitsaneignung, die ursächlich an ihre Filmleidenschaft geknüpft wird. Sie rezitiert Filmdialoge und stellt Todesszenen nach. Bringt sie sich durch ihre Filmaffinität in Gefahr, so ist es dann die Fernbedienung, mit der Leitmayr einen Fernseher anschaltet, die sie aus dieser Gefahr rettet. Distanz zwischen den Medien wird aufrechterhalten
18 Dass Wenzel hier medientheoretische Anklänge an Luhmann erkennen will und als Quintessenz postuliert: »Unterscheidungen brechen zusammen« (Wenzel 2000: 272), lässt sich nicht nachvollziehen. Gerade am Ende ist jede Irritation wieder ausgeräumt, falls es sie überhaupt gegeben hat. Insbesondere die Unterscheidung »Mann/Frau« (ebd.) wird durch die bemühte transsexuelle Semantik eher zementiert als aufgeweicht, wobei eben auch hier mit medialen Versatzstücken gearbeitet wird, die eine Irritation nicht wirklich aufkommen lassen (siehe Anm. 19). Anstatt die Struktur des Gegenstandes zu hinterfragen, wird sie eher selbst zur Interpretationsgrundlage gemacht. So ist auch nicht zu sehen, wo »Schockeffekte, die sich auf den Körper des Zuschauers übertragen« (ebd.: 271) zu finden wären oder wo »[d]er Krimi […] zur somatischen Erfahrung« wird (ebd.: 270). Solches wird ja immer wieder verhindert, indem der Bezug zum Film und die Übernahme von filmischen Verfahren expliziert werden. Wie diese ja gleichfalls postulierte postmoderne mediale Selbstreflexion einhergehen kann mit einer solchen pragmatischen somatischen Affizierung bleibt analytisch ein Rätsel; dass der Tatort semantisch genau dies darstellt, ist etwas anderes. Im Kontext von Selbstreflexion sicher interessanter ist Perfect Mind. Im Labyrinth (siehe Gräf 2010: 286f.), ein Tatort, der hinsichtlich seiner Thematik von Allmacht und Weltherrschaft wieder ein Beispiel für einen Grenzfall im oben skizzierten Sinne darstellt.
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und implizit eine Debatte der Medienkonkurrenz geführt, anstatt sich vollständig ins Filmische zu integrieren. Dass dadurch teilweise dann auch die eigenen Strukturen konterkariert werden, ist nachvollziehbar. Wenn expliziert wird, dass es jetzt im Kino regnen müsste, werden sowohl Bewusstheit um mediale dramaturgische Strategien als auch eine gewisse Distanz davon für die eigene Diegese artikuliert. Wenn es dann aber tatsächlich regnet, wird ja gerade das am anderen Kritisierte selbst erfüllt. Tatort funktioniert also doch wie ein Kinofilm – Kinorezeption wurde zuvor in diesem Film aber abgewertet. Auch die integrierte ›Silence of the Lambs‹-Sequenz ist in diesem Spannungsfeld zu sehen und verdeutlicht diese Oszillation. Denn ob es sich hier um die Übernahme eines filmischen Mittels zur Spannungserzeugung handelt – und damit eine Funktionalisierung filmischer Dramaturgie für das eigene Geschichtenerzählen – oder um eine Referenz auf einer Metaebene und damit um eine Reflexion solcher Dramaturgie, lässt sich rein semantisch nicht bestimmen und ist zudem pragmatisch abhängig vom Wissen des einzelnen Rezipienten – ob und wie er die Referenz goutiert. Auf einer analytischen Ebene können durch den dadurch erst provozierten Vergleich zwischen Film und Fernsehen aber diese in ihren Strukturen verglichen werden. Als Ergebnis ist dabei zu konstatieren, dass die im Film ermöglichte Inkorporierung und Affizierung durch Spannungssteigerung nicht funktioniert; hier bleibt das auf der Mikroebene eingesetzte Potential Selbstzweck und reiner Effekt, da es nicht auf die Makroebene rückgebunden wird, aufgrund der spezifischen ReihenNarration im Tatort nicht rückgebunden werden kann: Unabhängig davon, ob die Referenz erkannt wird oder nicht, leistet dieses Geschehen nicht das Gleiche wie im Film, da die Figuren in ihren Rollen nicht funktional äquivalent sind. Judith ist nicht Buffalo Bill, Ira Berg nicht Clarice Starling, auch gibt es bezüglich dieser Figuren zuvor im Tatort keine auch nur annähernd vergleichbare Sympathielenkung, eher im Gegenteil. V.a. kommt es nicht zu einem Showdown unter Ausschluss der übrigen, insbesondere nicht unter Ausschluss von Batić und Leitmayr. Es sind dann doch die Kommissare, die im Tatort im Unterschied zum Einsatzleiter Jack Crawford im Film rechtzeitig am anderen, richtigen Ort erscheinen und den Konflikt lösen – ohne dabei auf filmdramaturgische Mittel zurückzugreifen. Das Anschalten eines Fernsehers mittels einer Fernbedienung würde einen Buffalo Bill jedenfalls nicht von seiner Geisel ablenken, für eine fernsehformatierte ›Transe‹ wie Judith reicht diese Deus-ex-machina-Lösung allemal.19
19 Siehe zu medialen Repräsentationsformen von Transsexualität Krah 2002. Liebe, Sex, Tod integriert sich hinsichtlich Darstellung und Umgang völlig in diese Paradigmen und Diskursformationen, stellt diesbezüglich also nichts Besonderes dar.
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L IEBE , S EX , T OD F AZIT
UND DER
T ATORT DER 1990 ER J AHRE –
Was lässt sich anhand der Befunde zu Liebe, Sex, Tod für den Tatort der 1990er Jahre hochrechnen (bzw. aufgrund der Kenntnis weiterer Filme aus dem Korpus abstrahieren)?20 In den 1990er Jahren ist der Tatort einerseits durch ›mehr Film‹ geprägt, sowohl, was die Dramaturgie im Speziellen, als auch, was die Thematisierung von Medien im Allgemeinen betrifft (vgl. Gräf 2010: 277). Medialität erscheint dabei zumeist im Kontext von Massenmedien und Medienmissbrauch, wobei das eigene Medium Fernsehen davon ausgegrenzt wird bzw. innerhalb des Mediums ›feine‹ Unterschiede gezogen werden. Letztlich exkludiert sich der Tatort von einer Anwendung des massenmedialen Status auf sich und seiner eigenen Medialität. Er geriert sich als nicht medial und solchen Gesetzmäßigkeiten nicht unterworfen. Wo dies glückt, können Tatort-Kommissare als Experten zu Kinderprostitution dann auch in ›dokumentarischen‹ Formaten auftreten, wie anhand von Manila (1998) zu verfolgen war. Gleichzeitig also gibt es andererseits zu mehr Film auch ›mehr Realität‹ in dem Sinne, dass die Bilder der Filme ihre Vorbilder in der Realität haben und dort andocken:21 Die Themen sind aktuell öffentliche, sie sind solche, die nicht erst erfunden werden müssen, sondern vorgefunden werden – präsente Themen, die gerade durch die Medien im öffentlichen Bewusstsein sind. Sie sind bereits Themen vor ihren Repräsentationen im Tatort und haben bereits vor diesen einen hohen kollektiven Affektwert, entweder, weil sie kontrovers diskutiert werden und hochemotionalisierten Debatten entstammen, wie Wehrmachtsausstellung oder Abtreibung, oder, weil sie sich konsensfähig an so etwas wie ein ›gesundes Volksempfinden‹ anbinden lassen, wie etwa am Thema ›Kinderschänder‹ zu sehen ist.
20 Im Folgenden werden solche Befunde destilliert, die sich aus den Beobachtungen zu Liebe, Sex, Tod extrahieren bzw. daran anbinden lassen; vgl. zum Tatort der 1990er Jahre auch Krah 2004. Inwieweit der Tatort des BR zudem einen genuin eigenen Teilkosmos mit eventuell eigenen Regularitäten ausbildet und die Befunde dementsprechend zu relativieren wären, kann hier nicht abschließend beantwortet werden; siehe zu einer solchen bayernspezifischen ›Problematik‹ bzw. Repräsentation auch Krah 2007 und den Beitrag von Gräf in vorliegendem Band. 21 Siehe hierzu immer noch grundlegend die Ausführungen von Bauer 1992, auch wenn sich zum einen innerhalb des Tatort-Universums neue Formen der Integration von Realität ausgebildet haben und zum anderen dies vor dem Hintergrund einer deutlich veränderten Fernsehlandschaft zu sehen ist, gerade was Formate des Reality-TV betrifft.
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Damit dabei die Transferleistung einer Inkorporierung funktionieren kann, muss eine emotionale Betroffenheit des Protagonisten innerhalb der Diegese arrangiert sein; darüber hinaus ist eine emotionale Verflechtung mit dem Protagonisten im Verhältnis zum Rezipienten zu inszenieren. Dies ist eine Leistung, die in der medialen und populärkulturellen Verhandlung in einem Filmgenre ohne weiteres zu erbringen ist. In einer Reihe wie dem Tatort aber, bei der die Protagonisten über ihre Profile definiert sind, ist dies nicht ohne weiteres zu installieren. Zum einen nicht, da diese Profile semantisch konstant sind – gerade das macht den Mehrwert aus –, zum anderen aber auch deshalb nicht, da im Tatort der 1990er Jahre diese Profile zudem mit einer didaktisch-pädagogischen Pragmatik koinzidieren: Volksaufklärung braucht nicht nur einen innerhalb der Handlung (bezüglich Wertvorstellungen und Gerechtigkeitsgefühl) integren Ermittler, sondern auch einen, der aus der Handlung heraus reflektiert und vermittelt. Um diese Position einnehmen zu können, bedarf die Involvierung einer ganz bestimmten, symbolischen Qualität – und nicht mehr. Um diese Position des ›wahrhaften‹ Vermittlers wahrnehmen zu können, darf der Tatort zudem selbst aber keine tatsächliche Position beziehen. Dann würde er sich ja in die kritisierten medialen Formate einreihen. Das Oszillieren und Lavieren hinsichtlich von Aussagen, die einerseits postuliert werden, dann aber doch wieder hinsichtlich ihres Wahrheitsstatus dadurch zurück genommen werden, dass ihre Bedingtheiten implizit erkannt werden können, ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Was in Liebe, Sex, Tod bezüglich der Medialität durchgespielt wird, kann als typisch für die 1990er Jahre angesehen werden: Auf ein Statement an sich wird nicht verzichtet, aber was es inhaltlich soll bzw. wie es zu verstehen ist, bleibt offen.22 Für den Tatort der 1990er Jahre gilt also, dass hohe Affektwerte nicht erst durch Dramaturgie als textuelles Verfahren, durch eine spezifische Textualität also, erzielt werden, sondern bereits durch Anbindung an die Realität, also durch Kulturalität. Der Versuch, beides zu verbinden und beides zusammen zu realisieren, und damit an beiden Diskursen zu partizipieren, ›beißt‹ sich aber. Dabei ist das Prinzip der Betroffenheit, bei dem die Kommissare menschlich berührt und auch über ihre Bürostunden hinaus am Fall interessiert sind, eines, das dem Profil eines Ermittlers der 1980er Jahre entspricht: Schimanski. Dieser führt
22 Sehr deutlich, da prominent im discours verankert, ist dies in Kriegsspuren (1999) zu sehen (vgl. die Argumentation in Krah 2004). Hier wird ein explizites Statement über Kriegsberichterstatter gemacht und damit eine ideologische Position bezogen; diese Aussagen werden aber jemandem in den Mund gelegt, der nicht wirklich integer ist. Somit bleibt es strukturell offen, ob diese Aussagen von dieser Perspektive zu lösen sind und als Aussagen des Filmes gelten können/sollen, ob dieser sie sich also zu eigen macht oder gerade nicht.
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zwar das, was in den WDR-Tatorten der 1970er Jahre durchaus schon vorhanden ist, fort, aber auf sehr eigene, gesteigerte Weise und v.a. diegetisch dar- und ausgestellt. Die affektiv-emotionale, geradezu körperlich signifizierte Dimension von Betroffenheit ist der Figurenkonzeption von Schimanski geradezu eingeschrieben (siehe Gräf/Großmann/Klimczak/Krah/Wagner 2011: 177f.). Hier war die obige Ideologie über das Figurenkonzept Schimanskis also adäquat zu installieren, da dessen spezifisches semantisches Potential gerade dafür geeignet war, filmische Dramaturgie in die Reihe zu integrieren. Das, was in den 1980er Jahren anhand eines Ermittlers (unter Rekurs auf Vorgänger) kondensiert in das Tatort-Universum integriert wurde, wird dann in den 1990er Jahren zum generellen Prinzip erhoben und auf alle Serien ausgeweitet. Dies muss aber nicht für alle Ermittler gleichermaßen funktionieren, zumal nun durch die neue Präsenz und Relevanz von Medien und Medialität einerseits, durch die dadurch forcierte stärkere Distanzierung und Selbstbeobachtung des Tatorts hinsichtlich seines Status andererseits auch das Schimanski-Prinzip nicht wirklich zum Tragen kommen kann. Dieser bezog ja durchaus Position, ohne sich selbst dauernd zu relativieren.23 Ordnet man die Befunde also historisch ein, dann etabliert der Tatort der 1990er Jahre ein Erzählmodell, das sich aus Traditionen der 1970er und 1980er Jahre speist und diese auf eigene Weise fortsetzt (Gräf 2010: 277f. spricht von Diskursmodulationen). Diese eigene Weise kann dabei als ›multiple Extremisierung‹ beschrieben werden, die sich der Einbeziehung und Synthese verschiedener Denkkategorien und der damit einhergehenden Implikationen verdankt. M.E. ist es deshalb nicht verwunderlich, dass, wie es scheint, diese zentralen Konstituenten des Tatort der 1990er Jahre keine Fortführung in den 2000er Jahren finden oder finden können.
23 Diese Konzeption von Schimanski wird dann in der eigenständigen Schimanski-Reihe ab 1997 fortgeführt. Anzumerken ist hier, dass auch innerhalb von Fernsehformaten Unterschiede zu konstatieren sind, was in Reihen möglich ist und was nicht. Dies gilt auch innerhalb des gleichen Sujets der Verbrechensaufklärung. Gerade der Tatort scheint sich hier durch stärkere Restriktionen auszuzeichnen, gerade was eine genuine Fernsehdramaturgie betrifft. Das wäre etwa im Unterschied zu Schimanski zu zeigen (vgl. Krah 2004), das ist für Liebe, Sex, Tod im direkten Vergleich mit Beckmann und Markowski: Im Zwiespalt der Gefühle (1996) zu sehen. Auch hier geht es um einen transsexuellen Mörder, aber hier realisiert dieser das, was Judith in Liebe, Sex, Tod nur kommuniziert. Denn dort entzieht sich der Mörder seiner Festnahme tatsächlich durch Selbstmord, indem er sich sein Geschlecht herausschneidet – und sich, wie von den Kommissaren kommentiert wird, damit selbst ›erlöst‹. Beide Texte partizipieren am gleichen Diskurs, die narrative Umsetzung hängt dann aber doch von einem institutionell-pragmatischen Faktor ab: Der Tatort steht nicht neben anderen Formaten, sondern ist selbst zum Zeichen für das bundesdeutsche Fernsehdispositiv geworden.
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Hier haben sich einige Diskursformationen grundlegend geändert, hier werden andere Konzeptionen als Lösung aus diesem Spagat gesucht, wobei sich diese Änderungen auch auf die Narration, in Hinsicht der Ausprägung des seriellen Formats, auswirken: Nicht mehr die Handlung interessiert, sondern die Welt, in der sie sich ereignet.24 Damit kippt die Reihe in die Serie, was Konsequenzen für den Status des Erzählten hat. Denn wenn es die Welt ist, die in einem fiktionalen Format interessiert, dann doch nur, wenn diese (bezüglich unserer Realität) einen Mehrwert bietet und als spezifisch eigene Ordnung zu goutieren ist. Der Tatort gleicht sich dann Unterhaltungsformaten an und reduziert bzw. ästhetisiert seine didaktische Komponente. Damit stellt sich auch die Frage nach einer filmischen Dramaturgie hier anders.
L ITERATUR Bauer, Ludwig. Authentizität, Mimesis, Fiktion. Fernsehunterhaltung und Integration von Realität am Beispiel des Kriminalsujets. München: diskurs film, 1992. Decker, Jan-Oliver und Hans Krah. »Mediensemiotik und Medienwandel.« Medien und Wandel. Institut für interdisziplinäre Medienforschung (Hg.). Berlin: Logos, 2011. 63-90. Gräf, Dennis. ›Tatort‹. Ein populäres Medium als kultureller Speicher. Marburg: Schüren, 2010. Gräf, Dennis, Stephanie Großmann, Peter Klimczak, Hans Krah und Marietheres Wagner. Filmsemiotik. Eine Einführung in die Analyse audiovisueller Formate. Marburg: Schüren, 2011.
24 Auch hier ist das in Anm. 5 Angemerkte zu beachten: Die einzelnen Teilreihen können unterschiedlich konzipiert sein und sind jeweils für sich zu betrachten (insofern kann es in einigen auch durchaus zu eher kontinuierlichen Fortsetzungen kommen). Allerdings scheint gerade diejenige Teilreihe dominant wahrgenommen zu werden, die symptomatisch für diese Entwicklung steht: der Münsteraner Tatort. Was sich dabei strukturell ändert, ist, dass das Verhältnis von Involvierung und Fall seine Richtung umkehrt. Ist zunächst der Fall vorrangig – und deshalb muss eine (Ermittler-)Figur darin involviert werden, um die Relevanz des Falles und der damit transportierten populären Konzeption kultureller Erfahrung zu erhöhen –, so ist nun der Fall selbst nurmehr deshalb interessant, da er eine Figur betrifft, da eine Figur der Welt darin involviert ist. Baßler in vorliegendem Band spricht in diesem Kontext vom Konzept des ›bewohnbaren Raums‹. Die Erwartungshaltung hat sich von der Narration auf die Welt verschoben. Handlung fungiert nur noch als deren Bestätigung und Dokumentation; primär geht es um ein ›Eintauchen‹ in die Welt.
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B EHANDELTE T ATORT -F OLGEN Howalds Fall, 16. April 1990 (SF, R: Urs Egger) Die Zärtlichkeit des Monsters, 31. Oktober 1993 (SWF, R: Hartmut Schoen) Schattenwelt, 22. September 1996 (BR, R: Josef Rödl) Der kalte Tod, 6. Oktober 1996 (SWF, R: Nina Grosse) Perfect Mind. Im Labyrinth, 15. Dezember 1996 (BR, R: Friedemann Fromm)
F ILMDRAMATURGIE VS. REIHENNARRATION │345
Liebe, Sex, Tod, 6. April 1997 (BR, R: Peter Fratzscher) Der Teufel, 14. September 1997 (BR, R: Thomas Freudner) Nahkampf, 19. Oktober 1997 (SWF, R: Thomas Bohn) Bluthunde, 21. Dezember 1997 (BR, R: Peter Schulze-Rohr) Manila, 19. April 1998 (WDR, R: Nikolaus Stein von Kamienski) Bildersturm, 21. Juni 1998 (WDR, R: Nikolaus Stein von Kamienski) Licht und Schatten, 4. Juli 1999 (WDR, R: Wolfgang Panzer) Kriegsspuren, 10. Oktober 1999 (SWF, R: Nina Grosse)
ANDERE R EIHEN
ZITIERTE
F ILME , M EHRTEILER , S ERIEN UND
Beckmann & Markowski (D, 1994-1999 [ZFD]) ‒ Im Zwiespalt der Gefühle, 21. Juni 1996 (ZDF, R: Kai Wessel) Cocoon 1985 (USA, R: Ron Howard) Schimanski (D, seit 1997 [WDR]) The Silence of the Lambs/Das Schweigen der Lämmer 1991 (USA, R: Jonathan Demme)
Bewohnbare Strukturen und der Bedeutungsverlust des Narrativs Überlegungen zur Serialität am Gegenwarts-Tatort M ORITZ B ASSLER
I Auf einer Skala, deren linker Pol die reine Episodenserie, die series à la The Simpsons markiert, während der rechte Pol die reine Fortsetzungsserie, das zwar in Episoden gestückelte, aber kontinuierlich durcherzählte serial à la Game of Thrones bezeichnet, wäre der Tatort ziemlich weit links in Richtung Episodenpol zu verorten. Während die einzelnen Folgen eines serials in einem Kontiguitätsverhältnis zueinander stehen, in dem die Ereignisse einer Folge auf denen der vorhergehenden aufbauen, an diese anknüpfen und sie fortsetzen, stehen die einzelnen Folgen einer Episodenserie zueinander im Verhältnis der Äquivalenz. Bei identischer Diegese und Konstellation der Kern-Figuren beginnt die Handlung jedesmal sozusagen bei Null, bei den Simpsons auf dem Sofa, beim Prisoner No. 6 in seinem Bett etc. Äquivalent zueinander sind dann v.a. die Narrationen im engeren Sinne, die sich aus dieser diegetischen Konstellation entwickeln: beim Tatort also z.B. die Leiche, die Verdächtigen, der Täter und der Weg zur Lösung des Falles. Den Episodenpol dieser Skala könnte man demnach auch als Pol der Äquivalenz bezeichnen. Serialität im engeren Sinne ist hier zu Hause, einerseits als Wiederkehr der immergleichen diegetischen Ausgangslage, andererseits als Äquivalenz der narrativen Spielzüge, die aus dieser heraus erfolgen. Umberto Eco hat die ars combinatoria, die mit diesem Format aufgerufen wird, bereits 1964 in seiner Analyse der James-Bond-Romane von Ian Fleming expliziert. Er unterscheidet diese dabei vom klassischen Detektivroman: Während dort
348 │B ASSLER »das unveränderliche Schema sich immerhin durch die Person des Polizisten und seine Umgebung, durch seine Arbeitsmethode und seine Ticks konstituiert und innerhalb dieses Schemas sich die von Mal zu Mal unvorhergesehenen Ereignisse aneinanderreihen (wobei die Figur des Schuldigen kaum im voraus absehbar ist), enthält das Schema in Flemings Romanen zwar die gleiche Kette von Ereignissen und die gleichen Charaktere der Nebenfiguren, aber von Anfang an ist der Schuldige mit seinen Merkmalen und seinen Plänen bekannt. Das Vergnügen des Lesers besteht somit darin, an einem Spiel teilzunehmen, dessen Figuren und Regeln – und sogar dessen Ausgang – er kennt; er zieht es aus der Beobachtung der minimalen Variationen, durch die der Sieger sein Ziel erreicht.« (Eco 1994: 294)
Interessant ist, dass Eco hier das Erzählen am Episodenpol bereits einem ludischen Dispositiv zuordnet (»an einem Spiel teilzunehmen«); er vergleicht es weiterhin mit einem Fußballspiel, dessen Sieger bereits feststeht – und das zu einer Zeit, als der Siegeszug des Computerspiels noch gar nicht begonnen hatte. Im heutigen Computer-Rollenspiel, das ebenfalls aus variierten Narrativen innerhalb einer festgelegten Diegese mit identischem Ausgangs- und zumeist auch Zielpunkt besteht, kommt diese Form sozusagen zu sich selbst.
II Episodenserien verkörpern mit diesen Eigenschaften das Serielle derart prototypisch, dass man sich ernsthaft fragen könnte, was eigentlich an Fortsetzungsserien am anderen Ende des Spektrums überhaupt serienhaft ist – abgesehen von der Portionierung des Erzählkontinuums in fernsehabendtaugliche Häppchen. Game of Thrones z.B. verfilmt das vielbändige und vielsträngige Fantasy-Epos A Song of Ice and Fire (seit 1996) von George R.R. Martin. Bereits die Romanvorlage ist nach dem Short-Cuts-Prinzip gebaut, d.h., sie »fragmentiert […] verschiedene, voneinander unabhängige Geschichten bzw. Handlungsstränge in kurze Segmente, die alternierend montiert und an bestimmten Knotenpunkten des Geschehens temporär zusammengeführt werden« (Nies 2007: 110). Abschnitte von je ungefähr zehn Seiten fokalisieren auf eine Figur, mit deren Namen sie überschrieben sind. Erst nach zahlreichen weiteren Abschnitten wird der jeweilige Handlungsstrang fortgesetzt. Ein Band von 800 Seiten enthält so ca. 80 Abschnitte aus der Sicht von acht Reflektorfiguren. In der Umsetzung als HBO-Serie fällt nun auf, dass die Frequenz dieser short cuts erheblich zunimmt. Pro Folge kommt jeder der zunehmend diversifizierten Erzählstränge in der Regel zumindest einmal, oft auch mehrmals vor. Die Szene wechselt ständig, längeres Verweilen an einem Ort ist die Ausnahme. Dieses Verfahren zeitigt interessante, durchaus nicht-triviale Folgen. Kurz gesagt: Die Zerschneidung und Neukombination von Narrativen im Short-Cuts-Ver-
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fahren erhöht die Äquivalenzeffekte eines Textes. Obwohl sich dies zwangsläufig aus dem Verfahren ergibt, ist es dennoch nicht auf den ersten Blick ersichtlich: Durch die bloße Unterbrechung entsteht zwischen Teilen eines Stranges, die zunächst bloß in einem Kontiguitätsverhältnis zueinander stehen, plötzlich auch ein Äquivalenzverhältnis. Wir sehen bei Wiederaufnahme des Stranges also nicht nur, dass und wie die Handlung um Arya Stark oder Daenerys Targaryen, um zwei Lieblingsfiguren zu nennen, fortgesetzt wird, wir freuen uns erst einmal, dass wir überhaupt wieder bei genau dieser Figur in ihrem spezifischen Teil der Diegese sind. Der entsprechende Schnipsel wird damit nunmehr nicht mehr bloß als kontig, sondern auch als äquivalent zu den Schnipseln desselben Handlungsstranges empfunden. Vor der Zerschneidung des Erzählstranges und seiner Unterbrechung durch andere war diese Äquivalenz als bloße Selbstähnlichkeit der Diegese nicht auffällig, nun aber beginnt sie als solche zu wirken. Indem das Short-Cuts-Prinzip auf diese Weise das Äquivalenzprinzip am Kontiguitätspol stärkt, leistet es eine Art Re-Entry des Serienprinzips ins serial und überhaupt in narrative Großformen. Das Gesetz der Serie ist daher ganz allgemein wie folgt zu formulieren:
DAS GESETZ DER SERIE SERIALITÄT BESTEHT IN GENAU DEM MASSE, IN DEM ÜBER DEN TEXT VERTEILTE ABSCHNITTE EINES SYNTAGMAS NICHT MEHR ALS KONTIG, SONDERN ALS ÄQUIVALENT AUFGEFASST WERDEN.
Darüber wäre nun freilich genauer nachzudenken. So fällt auf, dass das Gesetz der Serie in dieser Formulierung eng mit der poetischen Funktion nach Jakobson verwandt ist. Die Frage ist nur: Ist es eine ihrer Reformulierungen oder bezeichnet es eher ihr Gegenteil? »Die Äquivalenz wird« in beiden Fällen »zum konstitutiven Verfahren der Sequenz erhoben.« Allerdings projiziert »die poetische Funktion […] das Prinzip der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination« (Jakobson 1979: 94). Elemente eines Paradigmas ergeben, selbst wenn man sie syntagmatisch hintereinanderschaltet, eine Liste, einen Katalog. Äquivalente short cuts dagegen ergeben eine Narration, Selektion ist hier nicht im Spiel. Das Short Cuts-Prinzip bleibt damit verwendbar als ein Verfahren realistischen Erzählens, das auf metonymische Zusammenhänge wie konsistente Diegesen und Handlungen zielt, und bleibt darin zugleich von der modernistischen Tmesis unterschieden, wie Roland Barthes sie dazu in Opposition setzt. »Als eine discoursTechnik«, so Martin Nies, »beruhen die Short Cuts mit Schnitt und Montage we-
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sentlich auf syntaktischen Prinzipien der Bedeutungskonstituierung« (Nies 2007: 114). Der paradigmatische Aspekt der Serialität ist in diesem Fall also immer ein sekundärer gegenüber der Syntagmatik des Narrativs. Führt die Tmesis, die Zerschneidung metonymischer Zusammenhänge, Frames und Skripte, bei traditionell poetisch übercodierten Texten zu metaphorischen Zumutungen und somit zu tendenziell ›schwierigen‹ Texten, so lenkt die Tmesis der short cuts zwar ebenfalls »das Augenmerk auf die Spürbarkeit der Zeichen« (Jakobson 1979: 93) – Steven Johnson hat nachdrücklich darauf hingewiesen, dass Fernsehzuschauer die Komplexitätsbewältigung, die dieses Verfahren verlangt, über Dekaden hinweg erst lernen mussten (vgl. Johnson 2005: 62-84). Die Hauptäquivalenz bleibt dabei aber die Selbstähnlichkeit zwischen den Stücken gleicher Handlungsstränge (›wieder x‹), während sich die Äquivalenzen zwischen verschiedenen Strängen zunächst eher auf sekundäre Überformungen wie match cuts beschränken. Insofern verwundert es nicht, wenn short cuts auch in der Praxis zumeist ein zwar auffälliges, aber eben doch eindeutig ein Verfahren realistischen Erzählens bleiben.1 Sie bilden geradezu eine Möglichkeit, traditionell realistisches Erzählen beizubehalten und doch formal interessant zu gestalten. Insofern ist es vielleicht kein Zufall, dass dieses Verfahren literaturgeschichtlich erstmals in einer Phase neuen realistischen Schreibens nach dem Durchgang durch die emphatische Moderne (Dos Passos, Fallada, Lampe, Koeppen) und dann noch einmal nach dem Durchgang durch die Postmoderne im Populären Realismus unserer Tage reüssiert hat. Mit etwas schlechtem Willen könnte man hier eine Midcult-Strategie erkennen: Der nach-moderne Realismus, der ob seiner Unterkomplexität häufig von einem schlechten Gewissen geplagt wird, verkompliziert hier seine traditionellen Syntagmen ein wenig und gibt sich dadurch den Anstrich formaler Raffinesse.
III Nun ist dieser Zugewinn an poetischer Äquivalenz, bei aller Dominanz des Metonymischen, aber doch nicht ganz ohne Kosten zu haben. Hatte Robert Altman seinen Film Short Cuts (1994) noch aus Kurzgeschichten von Raymond Carver zusammengesetzt, die auch für sich stehen konnten, ist in vielen Short-Cuts-Formaten heute tendenziell eine Schwächung der Einzelnarrative zu bemerken. Traditionellerweise wird eine Erzählung von der Handlung getragen, vom Muster der Helden-
1
Realismus wird hier in der formalistischen Tradition als ein dominant metonymisches Verfahren verstanden, das mit eingeführten Frames und Skripten arbeitet und dadurch leichte Lesbarkeit erzeugt, weil es den Übergang von der Textebene zur Darstellungsebene automatisiert und die erzählte Welt somit naturalisiert (vgl. auch Bode 1988: 148f.).
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reise, von Spiel und Gegenspiel oder zumindest von einem hermeneutischen Code von Frage und Antwort, Rätsel und Lösung. Die Erzählung ist darin, so Barthes, »dem Bild entsprechend konstruiert, das wir uns von dem Satz machen«, ihre Wahrheit »steht am anderen Ende des Wartens«, »und wenn das Prädikat (die Wahrheit) kommt, sind Satz und Erzählung beendet, die Welt ist adjektiviert (nach soviel Angst, daß sie es nicht sein könnte)« (Barthes 1987: 79f.). Sinntragend im traditionellen Narrativ wirken also v.a. Aufschub und Schließung. Gerade diese Art syntagmatischer Sinnstrukturen wird jedoch durch den seriellen Aspekt der short cuts geschwächt. Die einzelnen Erzählstränge in Friedo Lampes Septembergewitter (1937), Andreas Dresens Nachtgestalten (1999), in Desperate Housewives (2004-2012) oder Helmut Kraussers Einsamkeit und Sex und Mitleid (2009) könnten nur noch selten einen eigenen Erzähltext tragen. Katalysen und Kerne im traditionellen Sinne sind kaum noch unterscheidbar. Überdies schwächt die Vielfalt der Stränge und Personen das identifikatorische Potential, das einen sonst mit den Hauptfiguren verbindet, sowie auch das Mitleid, das man für entsorgte Figuren aufzubringen bereit ist. Und bei Game of Thrones weicht das genuin narrative Interesse am Fortgang der Handlung über hermeneutische Codes – Wer wird König? etc. – eben zumindest teilweise der Freude, einfach bei bestimmten Figuren, in bestimmten Teilen der Diegese zu sein. Dazu gehört insbesondere auch das Vergnügen an Ausstattung, aber auch an Dialogen, Sex- oder Gewaltszenen, die verstärkt um ihrer Eigenqualität willen genossen werden2 und kaum noch als Lotmansche grenzüberschreitende Ereignisse oder schwere, sinntragende Zeichen.3 Diese Tendenz zur »spektakulären Selbstreferenz« (vgl. Venus 2013: 65-67), um einen glücklichen Ausdruck des Medienwissenschaftlers Jochen Venus zu adaptieren, scheint mir ganz generell für die dominante Epik unserer Zeit charakteristisch zu sein. Aufwertung der Diegese und Abwertung der Narration – man denke nur ans Computerspiel – ist eines ihrer Merkmale. Die vorherrschenden FantasyDiegesen unserer Zeit beziehen sich dabei nicht einmal mehr referentiell auf unsere Wirklichkeit, auch eine allegorische Übertragung der Handlungen auf unsere eigene Welt ist ausdrücklich nicht mehr vorgesehen. Im Rollenspiel kann ich ohne Bedeu-
2
»Es geht in populären Kulturen um das Packende per se […]: Figurationen des Erregenden, des Schockierenden, des Tabuisierten, des Niedlichen, des Virtuosen […] – alle Qualia werden hochgetrieben.« (Venus 2013: 67)
3
Das lässt sich prototypisch ablesen an der Serie American Horror Story (seit 2011). Horror setzt normalerweise auf Spannungsbögen und entsprechende Struktureffekte. Diese lassen sich jedoch nicht auf Serie stellen. So kommt es in der ersten Staffel dazu, dass das Geisterhaus am Ende nur noch von (Un-)Toten bewohnt ist und das, was nach Lotman der grenzüberschreitende Bedeutungseffekt wäre, zur Norm geworden ist, die denn auch kaum noch Grusel hervorrufen kann.
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tungsunterschied die Guten wie die Bösen spielen. V.a. aber liegt die Wahrheit des Textes nicht mehr am Ende des Wartens – das wäre auch medienspezifisch schwierig, denn Fortsetzungsserien werden ja oft genug ins Offene hinein produziert. Allein der Zwang zur Fortsetzung führt häufig schon dazu, dass einem Figuren, die zunächst nach allen Regeln der Hollywoodschen Kunst als böse gezeichnet sind, allmählich sympathisch erscheinen (wie Al Swearengen in Deadwood, 2004-2006, oder Jaime Lannister in Game of Thrones) und strahlende Helden allmählich dubios (wie Jax Teller in Sons of Anarchy, seit 2008), ohne dass dies eine spezifische ›höhere‹ Aussage des Gesamttextes, etwa im Sinne einer Revision ethischer Maßstäbe, implizieren würde. Im Gegenteil: Wenn es denn überhaupt zur Schließung kommt, wirkt diese oft enttäuschend und sozusagen nicht auf der Höhe der Komplexität des Ganzen (Lost, 2004-2010; How I Met Your Mother, 2005-2014). Schwächung traditioneller Narration heißt also v.a.: Der Weg ist das Ziel. Spektakuläre Selbstreferenz eben.4
IV Es lässt sich also eine Art Dreischritt beobachten: Die einzelnen Erzählstränge sind kontig, metonymisch und d.h.: realistisch konstruiert. In ihrer Kombination zum Short Cuts-Text wird dies zu einem serienspezifischen Äquivalenzprinzip genutzt, das nun innerhalb des Metonymisch-Realistischen eine Umwertung vornimmt: Es vergrößert die Qualitäten der Diegese und narkotisiert die im engeren Sinne narrativen Qualitäten der Handlung. Es überrascht daher kaum, dass auch die Einheit, die diesem zusammengestückelten Text am Ende als Ganzem zukommt, nicht mehr zwangsläufig narrativ ist: Selbst wenn es in Short Cuts-Texten fast immer auch zu Überschneidungen zwischen einzelnen Erzählsträngen kommt, ergibt das Ganze in der Regel keine übergeordnete klassische Erzählung mehr. Die finalisierende Adjektivierung der Welt bleibt aus. Mit anderen Worten: Die einzelnen Narrationen tragen nicht mehr, und das Ganze ist keine Narration mehr. Was aber dann? Ich würde zögern, hier mit Nies gleich einen »übergeordnete[n] gemeinsame[n] Sinn« (Nies 2007: 116), eine einheitliche, alles überwölbende Bedeutungsebene anzusetzen – auch wenn einige Short Cuts-Texte, insbesondere solche, die nicht seriell angelegt sind, das sicher anstreben. Vielmehr scheint mir das
4
Bereits Venus notiert (angesichts eines Donald-Duck-Bilds) die damit verbundene Inversion klassisch-referentieller Darstellungslogik: »Die referentielle Ansicht rückt an die Stelle, die eigentlich die darstellerischen Mittel besetzen sollen: Sie wird Mittel zum Zweck. Die darstellerischen Mittel werden dagegen im Duktus einer selbstgenügsamen spektakulären Artistik ausgestellt.« (Venus 2013: 65)
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Ganze zunächst eine Art Meta-Kontiguität zu formieren, die oft die diegetische Gestalt eines Panoramas annimmt: Manhattan, Neumünster, Bremen, München, SüdLos-Angeles, Wisteria Lane, Baltimore, um ein paar Klassiker zu nennen, oder eben Fantasy-Welten wie Mittelerde, Aventurien oder Westeros. Sozialrealistisch akzentuiert kann dieses Panorama als Gesellschafts- oder Sittenbild, als Modell eines Gemeinwesens gestaltet sein, wie in Falladas Bauern, Bonzen und Bomben (1931) oder David Simons emphatisch realistischer Serie The Wire (2002-2008). Den losen Enden, dem nicht Integrierten, nicht Sinntragenden der vielen Binnenerzählungen käme dann die Funktion des Realitätseffektes zu. Allerdings liefe man, wenn man die Einheit des Werks in der Realität Neumünsters oder Baltimores suchte, selbst Gefahr, solchen realistischen Naturalisierungseffekten aufzusitzen. So könnte man bspw. für Ulrich Seidls verstörenden Film Hundstage (2001) einerseits annehmen, dass er ein im Wesentlichen realistisches Bild von Niederösterreich und seinen Bewohnern zeichnen will. Andererseits stellen die Äquivalenzen, die den vielsträngigen Film zusammenhalten, das Schwarz-Weiß, der Krach, die Hitze, die Gewalt sowie die oppositionslose Hässlichkeit von Körpern und Orten ja zuallererst auch die Kohärenz und poetische Dichte des Films selbst her, als Einheit des Kunstwerks. Alle Elemente, die diegetisch gelesen Realitätseffekte wären, sind dabei höchst funktional. Und dieser double bind neuerer Epik ist kein Zufall: Die perfekte Mischung aus reiner Artifizialität und diegetischer Geschlossenheit sind dann die Welten der Fantasy-Serien und Computerspiele. Zwischen der realistischen Referenzbehauptung und dem l’art pour l’art realisieren sie sozusagen die spektakuläre Selbstreferenz in Reinform. An die Stelle von bedeutungstragenden Narrationen, die man oft in identifikatorischer Nähe mit den Protagonisten durchlebt, treten also in serieller Epik, so meine These, diegetische Strukturen, denen, wie im Computerspiel, jede in ihnen spielende Narration systematisch nachgeordnet ist. (Sie verfahren demnach signifikant anders, als es Genette in seiner an Proust geschulten Narratologie entworfen hatte, wo die Erzählung die Diegese ja erst hervorbringt.) Die Aufwertung der Diegese gilt sowohl produktionsseitig – in Serien und Spielen ist die Diegese sozusagen die Geschäftsidee – als auch semiotisch: Die Narrationen sind nicht mehr die primären Sinnträger in dieser Epik. Gerade noch hat Albrecht Koschorke »Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie« vorgelegt, die die kulturprägende Kraft von Narrationen beschreibt (Koschorke 2012). Mir scheint, das war einmal. Im ludischen Dispositiv, im Medienverbund unserer Gegenwart, nimmt die Bedeutung von Narrationen als Sinnträgern systematisch ab gegenüber diegetischen Strukturen, Spiel- und Serienwelten, für die a fortiori gilt, was Roland Barthes über Strukturen allgemein sagt: »[J]ede Struktur ist bewohnbar, und das ist sogar ihre treffendste Definition.« (Barthes 1988: 76)
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V Blicken wir von den Fortsetzungs- jetzt wieder zurück zu den Episodenserien, so erkennen wir deren Diegesen nunmehr als Spielwelten reinsten Wassers: Hier hat Matt Groening (oder sonst jemand) eine gute Idee für eine Welt, ein Setting, eine Figurenkonstellation gehabt, die für eine unendliche Zahl von Narrationen den Rahmen gibt. Die Narrationen selbst werden im Rahmen dieses Formates sozusagen zu Elementen der Amplifikation, was im klassischen Erzähltext dem Katalog oder eben der abschweifenden Beschreibung diegetischer Phänomene (Landschaft, Ausstattung etc.) vorbehalten war – das spiegelt genau die neue Paradigmatik des Metonymischen wider, die wir oben an den short cuts beobachtet haben. Und wir schalten eine Serie wie die Simpsons ja nicht wegen einer speziellen Geschichte ein, sondern wegen dieser Konstellation und um, mit Eco, an jenem »Spiel teilzunehmen, dessen Figuren und Regeln – und sogar dessen Ausgang –« wir kennen, und um unser Vergnügen »aus der Beobachtung der minimalen Variationen« zu ziehen (Eco 1994: 294). Sie werden Kenny in jeder South-Park-Folge (seit 1997) erneut umbringen, die Frage ist nur wie. Die spezifische Semantik der Episodenserie entsteht genau in dieser Paradigmatik. Natürlich könnte man hier mit jeder beliebigen Folge beginnen, aber der Witz ergibt sich, nach dem Muster des Running Gag, oft erst in der Abfolge mehrerer Episoden. Jede series etabliert sozusagen ihre eigenen Genreregeln, die als Modell für alle weiteren Folgen gelten – als bewohnbare Strukturen im o.g. Sinne.
VI Was hat das nun alles mit dem Tatort zu tun? Nun, auch wenn die Frage ansteht, ob man am Sonntagabend den Tatort anschauen soll, lautet die Rückfrage in der Regel nicht: Worum geht’s denn? Was für ein Fall steht an? Sondern: Welcher ist es denn? Wenn wir uns aber freuen, dass wieder ein Münster- oder ein Kiel-Tatort ausgestrahlt wird, dann entspricht das genau dem beschriebenen Short-Cuts-Effekt, der Freude des Game-of-Thrones-Guckers, dass wieder Arya kommt – es hat wenig mit narrativer Spannung und alles mit wiedererkennbaren, bewohnbaren Diegesen und Personenkonstellationen zu tun. Wenn das Short Cuts-Verfahren der Re-Entry des Episodischen in die Fortsetzungsserie ist, dann praktiziert der Tatort sozusagen den Re-Entry der short cuts am Episodenpol, und zwar als Makrostruktur (als Struktur der einzelnen Episoden wären short cuts in der Regel ja auch überflüssig). Für die Gesamtserie gilt dann, was Eco über den klassischen Krimi sagt, während der einzelne Lokal-Tatort tendenziell die James-Bond-Qualität aufweist.
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Der je einzelne Kriminalfall wird also auch hier als tragendes Narrativ entwertet. Gerade die Tatsache, dass es sehr wohl kontige Zusammenhänge gibt, die sich über mehrere Folgen desselben Tatorts spannen, belegt diese These. Anstelle des für Kriminalliteratur typischen hermeneutischen Codes des whodunnit fragen wir uns hier nämlich Dinge wie: Was wird geschehen, wenn Sarah Brandts Epilepsie in höheren Etagen bekannt wird (Kiel)? Wird die Frau von Sebastian Bootz ihn für den Rollstuhlfahrer verlassen (Stuttgart)? Kommt Stedefreund ins Bremer Team zurück, jetzt wo Uljanoff, sein Ersatz und Lürsen-Lover, tot ist? Kommen womöglich Kepler und Saalfeld in Leipzig sich allmählich wieder näher? In keinem dieser Fälle ergeben sich die Anknüpfungspunkte und Spannungsmomente aus dem jeweiligen Kriminalfall, sondern ausschließlich innerhalb der Personenkonstellation, die die Einzelserie definiert. Das personal interest für Personen des Teams, die wir, wie für Serien typisch, inzwischen schon lange und gut kennen, ist von den eigentlichen Kriminalnarrativen nahezu abgekoppelt. Zugespitzt formuliert wirken diese nurmehr amplifikatorisch bzw. als bloße Lizenz zur immer neuen Inszenierung der Diegese – in Umkehrung traditioneller epischer Verhältnisse. Flaggschiff dieser Tendenz ist sicher der Münster-Tatort, dessen Team um die beiden Hauptfiguren Boerne und Thiel mit Alberich, Assistentin Nadeshda, Staatsanwältin und taxifahrendem Vater noch weiteres festes Personal enthält, das jedes Mal ein teilimprovisiertes Feuerwerk abbrennt, über das der Fall zur Nebensache gerät. Ja, die Entwicklung geht inzwischen geradezu umgekehrt dahin, den Fall mit Interesse auszustatten, indem man regelmäßig und wider alle Wahrscheinlichkeit ein oder zwei Personen des Teams persönlich in diesen verwickelt sein lässt: »Thiels Vater entdeckt bei Aufräumarbeiten in einer alten Villa eines verstorbenen Archäologen eine Mumie« (763/10). »Im strengkatholischen Münster wird ein Priester überfahren und tödlich verletzt. Professor Boerne wird als Zeuge des Unfalls selbst verletzt.« (745/09). »Prof. Boerne nimmt an einem Golfturnier teil. Das Freizeitvergnügen vermischt sich sehr schnell mit seinem Beruf, als ein einflussreicher Münsteraner Bankier tot aufgefunden wird.« (727/09) usw. – so beginnen die Inhaltsangaben zum Münster-Tatort in der Regel (vgl. Dingemann 2010: 401, 393, 385). Man sollte meinen, Polizisten und Gerichtsmediziner seien von Berufs wegen mit Kriminalfällen befasst und müssten nicht noch persönlich oder familiär darin verstrickt sein. Die hier praktizierte Übermotivierung ist lesbar als ein weiteres Zeichen für den Bedeutungsverlust der eigentlichen Kriminalhandlungen in der Serie. Die Ermittler, denen der Zuschauer sozusagen als Privatpersonen, als Elementen der Diegese, die er seit Jahren verfolgt, mehr Interesse entgegenbringt als der kontingenten Kriminalhandlung, müssen eben auch privat, in ihrem Nahbereich, der inzwischen das Zentrum der Seriendiegese ausmacht, in den Fall involviert sein. Das wird nachgefragt, schlägt sich positiv auf die Quote nieder und ist in Serien außerhalb des Tatorts eher schon weiter verbreitet (z.B. Wilsberg, seit 1995; Der letzte
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Bulle, seit 2010). Es ist keine geringe Verschiebung der Gattungsregeln, deren Zeugen wir hier werden. Was sich beim Münster-Tatort im Genre der Krimikomödie vollzieht, kann auch andere Spielarten der Gattung bedienen. So wurde der neue Dortmund-Tatort gleich von Anfang an mit einem vierköpfigen Team besetzt, wie man es aus amerikanischen Serien kennt (die CSI-Teams sind in der Regel sogar noch größer): Hier sind, v.a. durch die Charakterzeichnung des grenzpsychotischen Hauptkommissars Faber mit seiner ungelösten familiären Vorgeschichte, von Anfang an Konflikte, Spannungen und Entwicklungsmöglichkeiten in die Serie eingeschrieben, die vom je zu lösenden Fall völlig unabhängig ausgespielt werden können. In eine ähnliche Richtung geht die Besetzung der Kommissarrolle mit etablierten Stars wie Ulrich Tukur, Devid Striesow oder Til Schweiger. Deren Rollen, mal komödiantisch, mal thrillerhaft gestaltet, verkörpern darin, dass die genialen Einzelgänger vom polizeilichen Routinebetrieb kaum noch zu bändigen geschweige denn zu kontrollieren sind, dass sich ihre Methoden gegenüber der Norm verselbstständigt haben, sozusagen intrinsisch die Dominanz der spektakulären Selbstreferenz gegenüber dem Narrativ. (Vorläufer war hier Schimanski.) Wie viele Ganoven Nick Tschiller in einer Folge wie Willkommen in Hamburg (2013) ums Leben bringt, ist zweitrangig gegenüber der Frage, ob es ihm gelingt, seiner Tochter ein akzeptables Frühstücksei zu kochen, oder gegenüber dem komisch-coolen Rollstuhleinsatz seines deutschtürkischen Sidekicks Gümer.
VII Die beschriebenen Effekte ergeben sich aus strukturalen Aspekten von Serialität, v.a. von Langzeit-Serialität. Sie können durchaus im Gegensatz zu den von den Machern intendierten Wirkungen einer Serie stehen. Selbstverständlich gibt es ja immer wieder auch das Bemühen, gesellschaftlich relevante Themen im Tatort aufzugreifen und sie z.B. im Anschluss zu betalken. Serialität scheint mir jedoch nicht zufällig ein dominanter, vielleicht der dominante Modus populär-realistischen Erzählens nach der Moderne zu sein. Ihr kulturpoetisch interessantester Effekt ist der einer Schwächung des im engeren Sinne Narrativen zugunsten des Entwurfs bewohnbarer Diegesen. Und wenn es stimmt, dass wir auf der Schwelle zu einem ludischen Dispositiv stehen – siehe die Dominanz der Fantasy-Literatur, siehe Computer- und andere Spielwelten – dann scheint der Serialität auch hier eine Leitfunktion zuzukommen. Stärker als andere Formate können Serien schließlich auf die Nachfrage, auf den sich mit ihnen entwickelnden Erwartungshorizont der Rezipienten reagieren, und sie tun dies auch. Hier käme auch die Kultur des Web 2.0, der Blogosphäre etc. ins
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Spiel. Wir haben es mit einer populären, gewissermaßen demokratischen Gebrauchskunst unter Marktbedingungen zu tun, an der sich die Art und Weise, wie unsere Kultur insgesamt in den letzten Jahrzehnten funktioniert, vielleicht besonders gut ablesen lässt. Die spektakuläre Selbstreferenz der Serienwelten – Jochen Venus hat das an Donald Duck beschrieben – scheint dabei einem semiotischen Modell von Ikonik zu entsprechen, bei dem (nach Dean MacCannell) die Rezipienten nicht mehr primär hermeneutisch zu verstehen suchen, was Autor und Werk ihnen sagen wollen, sondern bei dem sie, eher in der Art eines Kultes, gemeinsam mit den Produzenten dabei sind, das Werk als Ikone hochzuhalten. Wie bei einem Popkonzert funktioniert das nur, wenn und solange beide Seiten aktiv dazu beitragen, das Spektakel zu einem als bedeutsam empfundenen, sinntragenden Zeichen zu machen. Auf dem Gebiet der Epik ginge es dann nicht mehr darum, narrative Botschaften zu entschlüsseln und auf Wahrheit oder Referenz hin zu prüfen, sondern darum, Spielwelten zu erfinden und auf Dauer bzw. Serie zu stellen, die man gern bewohnt, in die man immer gern zurückkehrt (und für die man zur Not auch zu zahlen bereit ist). Um noch einmal Venus zu zitieren: »Die Selbstreferenz populärer Kulturen konstituiert (und stimuliert!) – und zwar gemäß ihres ästhetischen Prinzips – ein selbstähnliches Formenrepertoire. Wann immer populäre Kulturen einen Aufmerksamkeitserfolg erzielen, kristallisiert an diesen Erfolg sofort ein Konvolut ähnlicher Produkte. Jedes Faszinosum geht unmittelbar in Serie, strahlt aus, metastasiert und bezieht immer mehr Rezipienten in die spezifische Form spektakulärer Selbstreferenz ein. Auf diese Weise emergieren Stilgemeinschaften normalisierten Spektakels.« (Venus 2013: 67)
Genau in diesem Sinne hält das deutsche Fernsehpublikum, als »Stilgemeinschaft[ ] normalisierten Spektakels«, gemeinsam mit den Sendeanstalten der ARD die Ikone Tatort schon erstaunliche vier Dekaden hoch. Was ist das Ganze, das Einheitsprinzip dieser vielsträngigen Episodenserie? Aus den genannten Überlegungen heraus liegt es nahe, dass es sich erneut um eine Art panoramatische Meta-Kontiguität handelt, die man wohl vorläufig nicht anders bezeichnen kann als: ›Deutschland‹. Würde man dies allerdings als Referenzbeziehung verstehen, nach dem Motto: ›Der Tatort stellt Deutschland mehr oder weniger zutreffend dar‹, hätte man eben die Rückkopplung übersehen, die die Grundbedingung für Diegesen spektakulärer Selbstreferenz, für popkulturelle Welten ist. Was Udo Lindenberg jeden Sonntagabend eintrommelt, ist ›Deutschland‹ als ikonisches Zeichen, eine epische Diegese im ludischen Dispositiv der Nachmoderne, die zu bewohnen uns lieb geworden ist.
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L ITERATUR Barthes, Roland. S/Z. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1987 [1970]. Barthes, Roland. Fragmente einer Sprache der Liebe. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1988 [1977]. Bode, Christoph. Ästhetik der Ambiguität. Zu Funktion und Bedeutung der Mehrdeutigkeit in der Literatur der Moderne. Tübingen: Niemeyer, 1988. Dingemann, Rüdiger. ›Tatort‹. Das Lexikon. Alle Fakten. Alle Fälle. Alle Kommissare. München: Knaur, 2010. Eco, Umberto. »Die erzählerischen Strukturen im Werk Ian Flemings [1964].« Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur. Frankfurt a.M.: Fischer, 1994. 273-312. Jakobson, Roman. »Linguistik und Poetik [1960].« Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921-1971. Elmar Holenstein und Tarcisius Schelbert (Hg.). Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1979. 83-121. Johnson, Steven. Everything Bad Is Good for You. How Popular Culture Is Making Us Smarter. London: Lane, 2005. Koschorke, Albrecht. Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt a.M.: Fischer, 2012. Nies, Martin. »Short Cuts – Great Stories. Sinnvermittlung in filmischem Erzählen in der Literatur und literarischem Erzählen im Film.« Kodikas/Code. Ars Semeiotica 30 (2007), H. 1-2: 109-135. Venus, Jochen. »Die Erfahrung des Populären. Perspektiven einer kritischen Phänomenologie.« Performativität und Medialität Populärer Kulturen. Theorien, Ästhetiken, Praktiken. Marcus S. Kleiner und Thomas Wilke (Hg.). Wiesbaden: Springer VS, 2013. 49-73.
B EHANDELTE T ATORT -F OLGEN Willkommen in Hamburg, 10. März 2013 (NDR, R: Christian Alvart)
ANDERE R EIHEN
ZITIERTE
F ILME , M EHRTEILER , S ERIEN UND
American Horror Story/American Horror Story – Die dunkle Seite in dir (USA, seit 2011 [FX]) Deadwood (USA, 2004-2006 [HBO]) Der letzte Bulle (D, seit 2010 [Sat.1]) Desperate Housewives (USA, 2004-2012 [ABC]) Game of Thrones (USA, seit 2011 [HBO])
Ü BERLEGUNGEN ZUR S ERIALITÄT
How I Met Your Mother (USA, 2005-2014 [CBS] Hundstage 2001 (AUS, R: Ulrich Seidl) Lost (USA, 2004-2010 [ABC]) Nachtgestalten 1999 (D, R: Andreas Dresen) The Prisoner/Nummer 6 (GB, 1967-1968 [ITV]) Short Cuts 1994 (USA, R: Robert Altman) Sons of Anarchy (USA, seit 2008 [FX Network]) South Park (USA, seit 1997 [Comedy Central]) The Simpsons/Die Simpsons (USA, seit 1989 [Fox]) The Wire (USA, 2002-2008 [HBO]) Wilsberg (D, seit 1995 [ZDF])
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Wertevermittlung im Tatort Die Heilige (2010) und der bayerische Tatort D ENNIS G RÄF »Die brauchbaren Dramen dieser Zeit kommen […] aus dem Erstaunen ihrer Schreiber über die Vorgänge des Lebens. Die Lust, etwas Ordnung in sie zu bringen, Vorbilder und einige Traditionen im Überwinden von Schwierigkeiten zu machen, ergibt die Dramen einer Zeit, die vom Einzug der Menschheit in die großen Städte erfüllt wird.« (Brecht 1992: 113)
Die wissenschaftliche sowie die nicht-wissenschaftliche Beschäftigung mit der Kriminalfilmreihe Tatort ist ungebrochen. Der Tatort ist gerade vor der Folie seriellen Erzählens ein mittlerweile virulenter Untersuchungsgegenstand innerhalb der Literatur- und Medienwissenschaften.1 Vielzitiert ist die Bezeichnung Wenzels, der Tatort sei ein »Dauertext des deutschen Fernsehens« (Wenzel 2000: 7). Gemeint ist damit nicht nur die Tatsache, dass der Tatort seit nunmehr 43 Jahren produziert und ausgestrahlt wird, sondern dass er eine Vielzahl von Bundesbürgern2 in ihren (diskursiven) Alltagspraktiken begleitet (Austausch des Gesehenen, Abgleich mit der Realität).3 Gerade darin liegt auch seine Besonderheit. Nicht der Tatort an sich ist
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Siehe dazu jüngst Hißnauer/Scherer/Stockinger 2012.
2
Laut statista handelt es sich in der Regel um ca. neun Millionen Zuschauer (http:// de.statista.com/statistik/daten/studie/169503/umfrage/durchschnittliche-einschaltquoteder-tatort-ermittler/ [27. Oktober 2013]).
3
Siehe dazu den Beitrag von Regina Bendix und Christine Hämmerling in vorliegendem Band.
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eine Ausnahmeerscheinung in der deutschen Fernsehlandschaft – er ist zunächst eine Kriminalfilmreihe, wie es sie sowohl im öffentlich-rechtlichen als auch im privaten Fernsehen Dutzende gibt –, sondern die sich über Jahrzehnte erstreckende kontinuierliche Produktion und Rezeption im Rahmen einer Reihe. Diese macht eine historisch-diachrone Untersuchung eines Textes (im mediensemiotischen Sinne) interessant und fruchtbar.4 Was den Kriminalfilm im Allgemeinen und den Tatort im Besonderen interessant für (historische) Analysen macht, ist die dem Krimi inhärente Ordnungsverletzung und deren Sanktionierung. Die jeweiligen Ordnungen der dargestellten Welten haben stets ein implizites Set von Normen und Werten, das Aufschluss über grundlegende kulturelle Denk- und Handlungsmuster der Produktionskultur gibt, wie auch der Verstoß gegen solche Werte in seiner medialen Vermittlung signifikant für die jeweilige Kultur ist. Im Folgenden soll es daher um filmische Strategien der Wertevermittlung und deren Relevanz für das Verstehen von filmischen Systemen gehen, wobei der bayerische Tatort, der im gesamten Tatort-Kosmos durchaus eine Sonderstellung einnimmt, im Fokus stehen soll.
D ER T ATORT
ALS KULTURELLER
S PEICHER
Implizite Wertesets: Ordnung, Abweichung und Sanktionierung Filme etablieren spezifische Weltentwürfe, die als symbolische Welten zu verstehen und dementsprechend hinsichtlich ihrer jeweiligen Bedeutung zu rekonstruieren sind.5 Solche konstruierten Welten beinhalten – weil sie eben eigene, von der außerfilmischen Realität zu unterscheidende Welten sind, denen eigene Regularitäten und Basisannahmen zugrunde liegen – auch stets implizite Wertesets. An diesen lassen sich die ideologischen Prämissen der dargestellten Welten ablesen: Welche Werte werden als zentral und ranghoch installiert, welche sind weniger relevant und dürfen verletzt werden? In diesem Sinne entwirft jeder Film eine spezifische Ordnung mit einem ebenso spezifischen Werte- und Sinnstiftungsmodell. Kriminalfilme führen stets Störungen innerhalb solcher Ordnungen vor, weil sie von Verbrechen erzählen, also von Verletzungen der pragmatischen Regeln des gesellschaftlichen Miteinanders, von einer Übertretung der Grenze hin zum Nicht-
4
Mit Gräf 2010 liegt eine umfassende historische Modellierung des Tatort von seinen Anfängen bis zu den 1990er Jahren vor. Andere historische Untersuchungen setzen einen Fokus auf konkrete Ermittlerteams, so z.B. Welke 2012, die den Leipziger Tatort untersucht hat.
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Ausführlich zur Filmsemiotik siehe Gräf/Großmann/Klimczak/Krah/Wagner 2011.
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Konsensualen,6 wobei jeder Film selbst aushandelt, was genau als Ordnung und was als Störung zu verstehen ist bzw. welche Problemlösungsstrategien zur Behebung der Ordnungsstörung legitim sind.7 Insofern erzählen Kriminalfilme immer auch von einer latenten Krise der Normen und Werte sowie (in der Regel) ihrer Bewältigung. Dem Kriminalfilm ist nun nicht nur das paradigmatische Muster der Reinstallierung einer semantischen Ordnung inhärent, sondern ebenso ein narratives Muster, das die Ordnungswiederherstellung auf der Discours-Ebene abbildet: Nach der Tat beginnt ein Prozess der Detektion, in dessen Rahmen nach dem Motiv der Tat sowie nach dem Täter gesucht wird und an dessen Ende (in der Regel) die Sanktionierung steht.8 Dabei sind die spezifischen Modalitäten dieser beiden Muster von Fall zu Fall zu analysieren: Die Art und Weise sowohl der Detektion als auch der Sanktionierung des Täters sind signifikant für die Bedeutungskonstituierung des gesamten Films und damit auch für die Modellierung des Wertesets. So kann bspw. eine defizitäre Detektionsarbeit als semiotischer Marker auf die zentrale Paradigmatik des Films verweisen. Wenn in rot..rot..tot (1978) die Ermittler betonen, dass sie das Motiv für die Tat partout nicht erkennen, dann liegt das nicht an der Unfähigkeit der fiktionalen Kommissare, sondern es ist semantisch funktional an das Thema des Films rückgebunden: Die Ermittler, die selbst nicht dem Großbürgertum entstammen, können die Denk- und Handlungslogik des daraus entstammenden Täters nicht erkennen. Damit markiert der Film seine eigene Perspektive auf das Dargestellte: Indem die Ermittler per se eine Funktion als Norminstanz aufweisen und sich damit in einer moralisch übergeordneten Position befinden, erscheint die großbürgerliche Denkweise in diesem Film als überhaupt nicht kompatibel mit dem als allgemein gültig gesetzten Werteset. Im Fall des Tatort kommt hinzu, dass wir es mit einer Reihe, nicht mit einer Serie zu tun haben, und darin liegt ein fundamentaler Unterschied. Während die Serie ein folgenübergreifendes, kontinuierliches und kohärentes Weltbild (inklusive der ideologischen Basisprämissen) aufweist, stellen die einzelnen Filme innerhalb einer Reihe eigenständige Filme dar, denen nicht prinzipiell eine Gemeinsamkeit unterstellt werden darf.9 Gerade diese Tatsache ist heuristisch interessant: Zwar sind alle Tatort-Filme unter einem Label Tatort versammelt, dennoch dient das Reihenmodell »dem Aufbau jeweils unterschiedlich organisierter Leitdifferenzen und damit unterschiedlichen Modellen von Welt« (Krah 2004: 104-105). Gerade diese Struktur ermöglicht auch das Identifizieren von Neuem, von Andersartigem: Durch das
6
Linder/Ort (1999: 16) bezeichnen die Übertretung als »Bruch der Ordnung«.
7
Vgl. dazu Gräf 2011: 133-135.
8
Kanzog (1997: 60) spricht von »konventionalisierten Merkmalskomplexionen«.
9
Ähnliche Sichtweisen finden sich bei Vogt 2005 und Hickethier 1985.
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gemeinsame Label und die damit zusammenhängenden Parameter (z.B. mehr oder weniger kontinuierliche Ermittlerteams) sind die unterschiedlichen Weltmodelle durchaus in gewisser Hinsicht vergleichbar. Unter dieser Prämisse werden dann Abweichungen sichtbar, die sich der durch die Reihenkonstruktion gegebenen Erwartungshaltung entziehen. Kriminalfilme und damit auch der Tatort beinhalten demnach implizite Ideologien, wobei dieser Begriff wertfrei im Sinne eines operationalen und relationalen Konstrukts der Sinnstiftung zu verstehen ist (vgl. dazu Krah 2004: 11). Diese ideologischen Konstrukte sind nun aber nicht auf der Oberflächenebene des Films angesiedelt und sofort zu erkennen; sie müssen in einem Akt der Analyse rekonstruiert werden, weil sie sich erst durch die spezifische Kombination von Zeichen in den unterschiedlichen Ebenen eines Films (vorgeführt in Abschnitt Der ›Tatort‹ als Gegenstand der Mediensemiotik) ergeben. Der Tatort als Gegenstand der Mediensemiotik Der integrative Ansatz der Mediensemiotik ist in der Lage, die im Tatort produzierten Ideologien zu modellieren. Die Mediensemiotik – darunter subsumiert und für unseren Kontext relevant die Filmsemiotik – beschäftigt sich mit der »kulturellen Relevanz der Textsemantiken, […] die für die Produktion von kulturellen Werteund Normensystemen von Bedeutung« ist (Decker/Krah 2011: 66). Es geht demnach nicht nur um die Wertekonstruktionen innerhalb eines spezifischen Medienproduktes, sondern auch und gerade um die Distribution solcher Wertesets aus dem filmischen Kontext hinaus. Die in Filmen gespeicherten und verbreiteten Ideologien setzen sich ihrerseits in der jeweiligen (Produktions-)Kultur/Gesellschaft als Wissensmenge fest und werden damit integraler Bestandteil gesellschaftlicher Diskurse, sowie diese ihrerseits – bewusst oder unbewusst – Bestandteil medialer Produkte werden (können). Die Mediensemiotik ist zudem in der Lage, durch die Rekonstruktion von Textsemantiken einen historischen Wandel zentraler Diskurse zu diagnostizieren.10 Solch eine historische Modellierung ist ein zentrales Anliegen der Mediensemiotik: Medienanalyse ist stets als integrative Rekonstruktion von Kultur-, Sozial- und Mentalitätsgeschichte zu verstehen. Eine diachrone Rekonstruktion der TatortWelten und ihrer Ideologien ist dann auch als (mediale) Geschichte des Wertewandels der Bundesrepublik zu lesen. Da wir es mit fiktionalen und narrativen Texten, eben mit Wirklichkeitskonstruktionen zu tun haben, ist der häufig gebrauchte Begriff des ›Spiegels‹ zur Mo-
10 Zur Modellierung kulturellen Wandels innerhalb der Medien- und Kultursemiotik vgl. Nies 2011.
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dellierung des Tatort als Repräsentation mentalitätsgeschichtlicher Aspekte außerfilmischer Realität nicht angebracht. Die im Film etablierten Welten inklusive ihrer zugrundeliegenden Wertesets wären dann ›ungefilterte‹ Realität, kann ein Spiegel doch nur das abbilden, was sich vor ihm befindet. Mediale Konstruktionen sind allerdings per definitionem Konstruktionen, die schon aufgrund ihrer spezifischen Medialität11 grundsätzlich (heuristisch) von der Realität zu unterscheiden sind; sie stellen eine eigene Realität dar, die zunächst in einem analytischen Akt in ihren Strukturen und Semantiken zu beschreiben ist. Das Ergebnis einer solchen Analyse kann dann seinerseits in einen Abgleich mit der außerfilmischen Realität gebracht werden. Der Tatort kann dann tatsächlich außerfilmisch virulente Diskurse insofern integrieren und darstellen, als er auf sie aufmerksam macht und Perspektiven auf diese Diskurse verhandelt. Der Tatort wäre dann ein Seismograf bzw. ein Speicher, der auf Aspekte der gesellschaftlichen Realität hinweisen kann. Neben der Untersuchung von konkreten Medienprodukten integriert die Mediensemiotik auch den institutionellen Aspekt der Distribution von medialen Botschaften und ihren Semantiken. So ist gerade bei einer Beschäftigung mit dem Tatort ein Blick auf die Institutionengeschichte bzw. die Institution überhaupt lohnenswert: Die föderale Struktur der ARD mit einzelnen Sendeanstalten sowie die Aufgaben der Produktionsfirma Degeto wirken sich nicht nur auf die Gestaltung der Reihe insgesamt (Ermittler-Charaktere, behandelte Themen etc.) aus, sondern auch auf die transportierten Ideologien. Daraus ergeben sich außerdem regionale Unterschiede in der (ideologischen) Konstitution der einzelnen Ermittlerteams. Heuristische Abgrenzung: öffentlich-rechtlich vs. privat Der Fernsehkrimi der öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten unterscheidet sich hinsichtlich eines zentralen Aspekts von Krimiformaten des Privatfernsehens – was als Regel zu verstehen ist, von der es auch Ausnahmen geben mag. Gemeint ist die Funktionalisierung filmischer Zeichen. Der System- und Konstruktcharakter und die damit einhergehende Kohärenzannahme filmischer Systeme bietet die Möglichkeit, Daten eines Films in semantische Relationen zu anderen Daten des Films zu setzen, wobei solche Strategien Ausdruck der spezifischen Verfasstheit eines Films sind: Dabei bleibt es jedem Film überlassen, in welchem Ausmaß er von solchen Strategien Gebrauch macht; aus der jeweils konkreten Realisierung ergibt sich eine niedrige oder hohe Komplexität des Films. Krimiformate im Privatfernsehen treten oft als Actionfilme auf,12 in denen Gewalt dann ein Mittel zum einen zur Steigerung der Spannung, zum anderen zur Äs-
11 Zum Begriff der Medialität siehe Gräf/Grossmann/Klimczak/Krah/Wagner 2011: 27. 12 So z.B. Alarm für Cobra 11 (seit 1996) oder Der Clown (1996-2001; beide RTL).
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thetisierung des Gezeigten ist; weiterhin erfüllen sie innerhalb der Narration nicht unbedingt eine Funktion für andere Ebenen des Films. Im Tatort hingegen sind v.a. Sexualität und Gewalt in der Regel narrativ motiviert, indem sie als semantische Marker auf die zentralen Paradigmen des Films verweisen.13 Sie erfüllen damit eine konkrete Funktion für die jeweilige Bedeutungskonstituierung eines Films. Sexualität und Gewalt sind im Tatort somit semiotische Phänomene, die auf übergeordnete Grundannahmen der dargestellten Welten verweisen.14 So hat jedes TatortJahrzehnt15 seine spezifischen impliziten Gewaltkonzeptionen: Bspw. führen die 1980er Jahre häufig Gewalt im intimen Bereich des Körpers vor wie die Verstümmelung von Prostituierten (Leiche im Keller, 1986) oder den Missbrauch von Kindern (Blindekuh, 1992). Dies entspricht der grundsätzlichen Modellierung der Tatort-Welten im ungefähren Zeitraum der 1980er Jahre: Dominantes Paradigma ist hier die Gefährdung und Bedrohung der Gesellschaft von außen, sei es durch internationale, undurchschaubare Wirtschaftskriminalität (Der Fall Schimanski, 1991) oder internationalen Drogen- (Gefährliche Träume, 1979) und Waffenschmuggel (Duisburg-Ruhrort, 1981). Daneben hat sich im Tatort in den letzten Jahrzehnten sukzessive eine zweite Handlungsebene im Kontext des Privatlebens des Ermittlers etabliert. Die Probleme des Privatlebens bilden hier äquivalent die Problematik des Kriminalfalles ab. Dies bietet die Möglichkeit für die Etablierung unterschiedlicher Lösungsstrategien oder -modelle ein und desselben Problems: Während auf der Ebene der Kriminalität die Verbrecher den pragmatischen und moralischen Regeln des Zusammenlebens zuwiderhandeln, wird auf der Ermittlerebene ein thematisch äquivalentes Problem derart erzählt, dass es solche Regeln nicht verletzt bzw. zu einer – zumindest einigermaßen – zufriedenstellenden Lösung kommt. Das Aufzeigen von (Handlungs-)Alternativen entspricht dann der Präsentation unterschiedlicher moralischer, anthropologischer bzw. sozialer Praktiken. Der Film Erntedank e.V. (2008) führt eine Kleingartensiedlung vor, in der es vor 16 Jahren zu einem Mord kam. Der Mord wird 16 Jahre lang von der Gemeinschaft der Kleingärtner geheim gehalten: Es wird ein Kollektiv inszeniert, das hermetisch abgeschlossen ist und auch nur als Kollektiv funktioniert. Würde eine Figur das Geheimnis ausplaudern, wären alle Kleingärtner, so der Film, mitschuldig. Die private Handlung um Kommissarin Lindholm führt nun genau das Gegenteil vor: Sie ermittelt während ihres Mutterschutzes gegen den Willen ihres Vorgesetzten und kann den Fall schlussendlich lösen. Individualität wird hier als positiver Wert hervorgehoben und über den Wert
13 Siehe dazu Gräf 2011. 14 Zur Funktionalisierung von Sexualität und Gewalt im Tatort siehe Gräf/Krah 2013, zur Semiotisierung von Gewalt im Tatort siehe Gräf 2011. 15 Zur historischen Systematisierung des Tatort siehe Gräf 2010.
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des absoluten Kollektivs gesetzt. Angestrebt wird allerdings insgesamt ein Mittelweg: Lindholm muss sich zwar von ihrer Mutter bei der Kinderbetreuung helfen lassen, sie kann aber die ranghohe Aufgabe der Reinstallierung der Ordnung durchaus kompetent wahrnehmen, auch wenn sie dafür das Baby mit zum Tatort nehmen muss.
S EMIOTISCH - TEXTUELLE S TRATEGIEN DER W ERTEVERMITTLUNG Die Bedeutungskonstituierung innerhalb eines Films ergibt sich aus der Selektion und Kombination von Zeichen. Dies bezieht sich auf die Parameter der Darstellungsweise (Bildstrukturen, Einstellung, Kamerahandlung, Montage etc.), auf die Konstitution der filmischen Wirklichkeit sowie auf narrative Strukturen.16 Im Folgenden wird der Tatort anhand dieser Aspekte untersucht, wobei auch eine historische Komponente integriert wird, um so einen potentiellen Wertewandel innerhalb des Tatort modellieren zu können. Dabei nimmt der bayerische Tatort eine Sonderstellung ein und wird hier in den Fokus gerückt, weil er sich einem grundlegenden Wertewandel entzieht. Raum, Figur, Ordnung Jeder Film entwirft eine ihm eigene Ordnung, die per se aufgrund ihrer Medialität von der Realität zu unterscheiden ist. Sie ist aber hinsichtlich ihrer Konstitution zu analysieren und zu beschreiben. Eine solche Ordnung der dargestellten Welt äußert sich in den raumsemantischen Strukturen, der Konzeption der Figuren sowie der syntagmatischen Bedeutungskomponente, also dem Teil der Argumentation des Films, der aufgrund der Sukzession entsteht. Der im Münchener Gefängnis Stadelheim angesiedelte Film Die Heilige (2010) erzählt die Geschichte der Justizvollzugsbeamtin Marie Hoflehner, die dem algerischen Häftling Hassan Adub zur Flucht verhilft. Dieser ermordet nach seiner Flucht einen ehemaligen Mittäter, der ihn verraten hatte. Parallel dazu wird die Geschichte des Mordes an Häftling Nick Schuster erzählt, der von Mithäftling Charly Bause umgebracht wird. Die Insassen Stadelheims lassen sich in zwei Klassen einteilen, die bereits die zentrale Paradigmatik des Textes abbilden: Charly Bause ist Dialekt sprechender Bayer, alle anderen Häftlinge sind Nicht-Bayern. Dabei ist auch hier die Auswahl
16 Zu den einzelnen aufgezählten Aspekten der Bedeutungskonstituierung siehe ausführlich Gräf/Grossmann/Klimczak/Krah/Wagner 2011.
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der Nicht-Bayern signifikant. Es treten auf: ein Russe, ein Vietnamese, ein weiterer Algerier, ein Hochdeutsch und ein Berlinerisch Sprechender. Kommissar Leitmayr stellt fest, dass alle Insassen in »fremden Zungen« (00:41:15) sprechen und markiert damit den für diesen Film zentralen Parameter der Andersartigkeit bzw. der Abweichung. Die hier abweichenden Figuren sitzen nun alle im Gefängnis, womit eine Korrelation von Ausländern bzw. Nicht-Bayern und Kriminalität hergestellt wird. Dies wird durch das restliche Figureninventar gestützt: Hassans ehemalige Mittäter heißen Fatih Güney, Alexis Karamanlis und Günther Öttinger. Auch diese saßen im Gefängnis und betreiben nun ein Geschäft, dessen Sortiment ebenfalls signifikant ist: Es handelt sich um einen Ramschladen, den geschäftstüchtig zu führen die drei Männer zudem nicht in der Lage sind. Statt sich um Kunden zu kümmern, spielen sie Fußball auf ihrer Playstation. Auch diese Figuren reihen sich damit in das Paradigma der Abweichung ein. Der Film installiert Strategien, die Figur des Charly Bause zu einer innerhalb der dargestellten Welt exzeptionellen Figur zu machen. Prämisse dafür ist, dass Bause bis zum Ende seines Lebens einsitzt (»Der hat nix mehr zu verlieren«, 01:14:40). Dadurch kann er innerhalb des Gefängnisses kriminelle Handlungen vollführen, ohne für ihn schwerwiegende Folgen erwarten zu müssen (»Respekt. Jetzt ham’s aus am Dreifachmörder an Vierfachmörder g’macht. Ich gfrei mi scho auf’n Prozess. Endlich mal a bisserl a Abwechslung«, (01:16:35-01:16:37). So ist es Bause, der der Vollzugsbeamtin Hoflehner bei der Flucht Adubs hilft. Seine Motivation für die Fluchthilfe erläutert er folgendermaßen: »Wie i da rei kumma bin [ins Gefängnis; Verf.], da hab i eigentlich g’meint, mei Leben is vorbei. […] Und dann is die Marie zu mir kumma. Und die, die hod mir zoagt, dass mer da, da herin, auf dene paar Quadratmeter no am Leben bleibt. Und dass i trotz allem immer no a Mensch bleib. Die Marie, des is nämlich a Heilige. Und das die do is, des is a Wunder.« (01:18:25-01:18:35)
Davon abgesehen, dass hier durch die Figurenrede zunächst eine potentielle Bedeutung des Filmtitels erläutert wird (Marie als »Heilige«), wird Marie durch Bause als ebenfalls exzeptionelle Figur etabliert, die innerhalb der Ordnung des Gefängnisses eine lebenswerte, humane Welt zu errichten versucht, was als eindeutig positiv gesetzt wird. Dass dies als positiv zu interpretieren ist, wird dadurch bekräftigt, dass Bause selbst eben kein grober Gefangener ist, sondern eine Art Künstler: Bause malt und zeichnet Portraits und wird zudem als feinsinniger, emotionaler Mann vorgeführt: In einer Unterhaltung mit Leitmayer und Batić zeigt er sich reflektiert und gar nicht männlich, sondern ängstlich. Mit Hilfe dieser Strategie der Figurenkonzeption wird die einzige bayerische Figur des Gefängnisses positiv aufgeladen. Selbst der Mord an Nick Schuster wird schlussendlich in diesem Kontext legitimiert: Schuster wollte Marie Hoflehner als Fluchthelferin auffliegen lassen (»ent-
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weder du bringst mi a da raus oder i machs dir kaputt, dei Marie« [01:20:4001:20:42], paraphrasiert Bause Schusters Rede), wenn sie nicht auch ihm zur Flucht verhilft. Aus der Angst heraus, Marie könnte dadurch nicht mehr im Gefängnis arbeiten, tötet Bause Schuster. Somit ist dieser Tötungsakt, der die Aufrechterhaltung eines humanen Daseins im Gefängnis garantieren soll, schließlich ein positiver Akt der Ordnungsstabilisierung, ausgeführt von einer bayerischen Figur. Signifikant ist zudem das Verhältnis Bauses zum Raum des Gefängnisses: Während es das Bestreben aller Figuren der dargestellten Welt ist, diesen Raum wieder zu verlassen, so hat sich Bause mit Hilfe von Marie mit dem Raum arrangiert. Dahinter verbirgt sich das Akzeptieren der Strafe, mit dem die prinzipielle Gültigkeit des Rechtssystems und der Aufenthalt im Raum des Gefängnisses durch einen Gefangenen selbst zementiert wird. Der Film macht zudem deutlich, dass es sich bei diesem Raum nicht um ein beliebiges Gefängnis handelt, wie ein Vollzugsbeamter ausführt: »Des san historische Hallen da. Der Ludwig Thoma war a scho hier. Und da gegenüber, des is die berühmte Zelle 70. Da war der Hitler drin, und Eisner auch. Sophie Scholl war a hier in Stadelheim« (00:25:35-00:25:40). Stadelheim wird dadurch insgesamt aufgewertet, es wird zu einem historischen Ort, der Verbrecher (Hitler), aber eben auch Künstler (Thoma) und Helden (Scholl) beherbergt hat. Bayerische Geschichte ist somit im Raum Stadelheim nicht nur präsent, sie ist ein hervorstechendes Merkmal dieses Raums, der inhaftierte Bause wird dadurch Teil eines integrativen und sinnstiftenden Konzepts ›Bayern‹. Durch die lebenslange Haftstrafe ist er des Weiteren tatsächlich ein Leben lang an diesen Raum gekoppelt. In der Logik des Films scheint dies dann nicht weiter tragisch zu sein. Hinsichtlich der Figurenkonzeption liegt mit dem Algerier Hassan Adub nun eine Bause entgegengesetzte Figur vor. Signifikant ist hier die Sequenz, in der Marie Hassan nach der Flucht im Haus ihres Vaters frisiert und ihm neue Kleidung bereit stellt. Hassan ist nach dem Frisieren und im Anzug nicht mehr wiederzuerkennen (vgl. die Abb. 1 und 2). Vor der Folie Bauses wird hier die Opposition von Authentizität (Bause) auf der einen, Inszenierung und Maskierung (Adub) auf der anderen Seite installiert.17 Es kommt hinzu, dass Adub in der Folge zum Mörder wird, so dass hier sprichwörtlich von einem ›Wolf im Schafspelz‹ die Rede sein kann, wie – signifikanterweise – Charly Bause feststellt: »Der Hassan, des is ja a bloß a Arschloch […], a Arschloch mit scheene Augen halt.« (01:21:50-01:21:52) Des Weiteren legt er im Laufe der Handlung sukzessive sein gutes Benehmen gegenüber Marie ab, bis es am Ende zu einer Gewaltorgie gegen Marie kommt, weil er sich in seiner männlichen Ehre gekränkt fühlt, da Marie ihm zwei Ohrfeigen gegeben hatte
17 Hassans Merkmal der Inszenierung und Maskierung wird durch Fatihs Cousin Deniz gestützt: »Du siehst ja dem Hassan gar nicht an, was für ‘ne Kraft der hat, wie schnell der sein kann« (01:26:25-01:26:27).
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(»Mach das nie wieder, hast du mich verstanden? Mach das nie wieder«, 01:20:1501:20:17).
Abb. 1: Hassan Adub vor seiner Verwandlung
So ist auch die spezifische Art, wie Adub seinen ehemaligen Mittäter Alexis Karamanlis tötet, signifikant: Er schneidet ihm die Kehle durch und vollzieht damit eine Tötungsart, die an eine (u.a.) muslimische Art des Tötens von Tieren erinnert, an das Schächten. Hier liegt eine Semiotisierung des Gewaltaktes vor, es wird an Adub ein Merkmalsset angelagert: Nicht nur, dass er brutal ist, Menschen wie Tiere behandelt, zudem feige ist, da er sein Opfer von hinten ersticht, er wird v.a. mit dem Islam korreliert. Zudem ist er ein Lügner, weil er Marie versprach, unmittelbar nach der Flucht nach Algerien auszureisen. Gegenüber Marie, die ihn immerhin aus dem Gefängnis befreit hat, handelt er rücksichtslos, indem er seine ehemaligen Mittäter zu ihr nach Hause einlädt – und er damit ein Auffliegen Maries riskiert. Marie selbst hat sich darüber hinaus von Hassan insgesamt täuschen lassen, war er doch nie der nette Mensch, für den sie ihn gehalten hatte: Er hat im Gefängnis von seinem Zellennachbarn Nick Schuster Schutzgeld erpresst. Für die dargestellte bayerische Welt ist er damit nicht tragbar und wird am Ende des Films von Marie erschossen (dazu mehr im Abschnitt Narration).
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Abb. 2: Hassan Adub nach seiner Verwandlung
Das Ermittlerduo Leitmayer und Batić erfährt in diesem Film eine Funktionalisierung hinsichtlich seiner ethnischen Konstitution. Batić als Kroate ist ebenfalls nicht genuin ein Bayer wie Bause oder Leitmayr. Hier argumentiert der Film implizit: Ausländer, die kriminell sind, werden als Abweichung gesetzt; ein Ausländer, der sich vollständig integriert und Repräsentant des Gesetzes ist, stellt kein Problem dar. Die Ordnung der dargestellten Welt wird u.a. über architektonische Zeichen um ein relevantes Merkmal erweitert: Der vorgeführten Ordnung liegt ein christliches Weltbild zugrunde, das zum einen über einen spezifischen point of view visuell installiert wird. Insgesamt dreimal sind christliche Kirchenhäuser zu sehen, wobei Hassan signifikanterweise zweimal an den Kirchen vorbeiläuft bzw. auf der Flucht ist, wodurch die Oppositionsbildung ›Christentum vs. Islam‹ etabliert wird. Neben der Architektonik wird diese Struktur zudem über andere Zeichen verstärkt: Charly Bause hat in seiner Zelle eine von ihm angefertigte Zeichnung einer jungen Frau in madonnenhafter Ikonografie hängen. Konsequenterweise bleibt Marie genau vor dieser Zeichnung stehen (vgl. Abb. 3), womit ihre Verwurzelung im christlichen Glauben als Katalysator für ihre soziale und aufopfernde Handlungsweise etabliert wird. Als kleines Zeichen am Rande wird das Gefängnis stets – wie auch in der außerfilmischen Realität – mit seinem Spitznamen »St. Adelheim« bezeichnet. Innerhalb des Films erlangt aber auch diese Bezeichnung eine semiotische Funktion und verortet das Gefängnis in einem Raum, dem eine prinzipielle christliche Ordnung (der auch das Prinzip von Sühne inhärent ist) zugrunde liegt.
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Abb. 3: Marie in Charlys Zelle
Die Figur der Marie Hoflehner sowie der Titel des Films selbst markieren diese Ordnung; der Name Marie verweist auf die Jungfrau Maria und damit auf die Relevanz des christlichen Kontextes. Der Titel seinerseits, gekoppelt an die filminternen Strategien der Semantisierung, installiert das Heilig-Sein an sich und damit den gesamten christlichen Kontext als ranghohen, erstrebenswerten Wert. Da Filme das Ergebnis von Selektion und Kombination von Zeichen sind, sind es gerade auch die nicht-selegierten Zeichen, über die Bedeutung transportiert wird. So zeigt der point of view zwar christliche Kirchen einerseits und muslimisches Leben in München andererseits, aber er zeigt keine Moscheen. Die visuelle Verweigerung des religiösen Aspekts muslimischen Lebens, der im Alltagsleben eine größere Rolle spielt als im Christentum, ist signifikant: Einen Lebensraum für Muslime scheint es in dieser dargestellten Welt zu geben, der existenzielle Aspekt der Religion allerdings findet keinen visuellen Platz. Hier äußert sich filmisch latent die Angst vor einer Islamisierung der deutschen Gesellschaft. Darstellungsweise Wie die Kirche als integraler Bestandteil der dargestellten Welt vorgeführt wird, so zeigt der Film auf der visuellen Ebene in kurzen Sequenzen Szenen muslimischen Lebens in München (vgl. die Abb. 4 und 5). Gezeigt werden Türken und Araber beim täglichen Einkauf in der Landwehrstraße/Schwanthalerstraße in München, in der tatsächlich viele Migranten ihre (Lebensmittel-)Geschäfte betreiben. Abbildung 5 zeigt einen Fleischtransporter, aus dem geschlachtete Hammel abtransportiert werden. Hier werden durch den point of view scheinbar kommentarlos Bilder in den
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discours integriert, die zunächst nichts mit beiden Handlungssträngen des Films zu tun haben. Sie allerdings sind es, die den Fokus auf das zentrale Problem des Films lenken: Nicht der Mord an Nick Schuster ist das Problem, auch nicht der Mord Hassans an Alexis; das Problem liegt insgesamt im Aufeinandertreffen der bayerischen Kultur mit dem Islam. Dabei können zunächst die montierten Sequenzen auf der Oberflächenebene als Integration des Islam in die bayerische Welt gelesen werden. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall: Indem alle ausländischen Figuren kriminell sind sowie Hassan als Drogendealer (sein Initialdelikt), Lügner und feiger Mörder vorgeführt wird, wird der Islam in diesem Film zum Problem. Gerade die Kombination der Zeichen ist es demnach, die im Film Bedeutung organisiert.
Abb. 4: Gemüsehändler in der Landwehrstraße in München
Dies wird wiederum durch die Brieffreundin Schusters, Traudl, gestützt, die von Batić und Leitmayr zu Hause aufgesucht wird. In der Figurenrede führt sie Folgendes aus: »Weil wenn er raus ist, dann kummt er zu mir, da her. Da hob i auf amoi Angst kriagt, dann bin i zu meiner Schwester g’fahrn. Des is des oane, wenn ma sich liebe Briefe schreibt und a bissl träumt. Aber dass der Nick dann auf amoi do steht, i moan, des war mir einfach zu vui« (01:08:40-01:08:55). Neben ihr steht eine Putte aus Porzellan mit Flügeln, die von der Kamera fokussiert und in einer Großaufnahme präsentiert und damit explizit relevant gesetzt wird. Auch an dieser Stelle wird die Ablehnung des Abweichenden mit einer Verwurzelung innerhalb des christlichen Systems argumentiert.
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Abb. 5: Fleischlieferant in der Landwehrstraße in München
Das Verweissystem Farbe18 unterstützt zusätzlich die Relevantsetzung des christlichen Glaubens: Die Darstellung des Gefängnisses ist überwiegend in dunklen, grau-grünen Tönen gehalten. Dies verdeutlicht zum einen die Absenz von metaphorischem ›Leben‹, das Gefängnis wird aber zum anderen in Relation zur Farbe gesetzt: Das Leben außerhalb des Gefängnisses ist ›normalfarbig‹. Zudem gibt es aber auch einen einzigen Raum des Gefängnisses, der explizit mit Farbe korreliert wird: die Zelle von Charly Bause. Zum einen hängen hier von Bause selbst gemalte bunte Gemälde, zum anderen schenkt Marie ihm ein Set mit Künstlerfarbstiften der Firma Faber Castell (vgl. 00:39:10). Wenn Bause nun insgesamt zwei madonnenhaft stilisierte Frauenportraits in seiner Zelle aufhängt, die beide mit Marie korreliert werden – vor dem einen hält sich Marie direkt auf, das andere wird über die Verlagerung der Tiefenschärfe fokussiert, wenn Bause Maries Vorzüge preist –, dann wird erstens ›Buntheit‹ mit Charly Bause korreliert; zweitens wird Bause durch die Korrelation von Farbe und dem Leben außerhalb des Gefängnisses zur ranghohen Figur, die trotz Inhaftierung die zentralen und positiv besetzten Werte der Weltordnung repräsentiert; und drittens wird das Christentum als gültiges Ordnungssystem bestätigt. Dies korrespondiert mit einer Detail- (00:27:20) und einer Großaufnahme (00:40:55) der St.-Paul-Kirche in München, die als über der mit Migranten korrelierten Landwehrstraße regierend inszeniert wird. Die letzte Einstellung des Films modifiziert nun die darin sukzessive installierte Ablehnung vom Fremden durch eine Darstellung der Dominanz des westlichen
18 Zum Verweissystem Farbe siehe grundsätzlich Blödorn 2008.
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Kulturkreises insgesamt. Gezeigt wird Marie vor einem Bild füllenden Sonnenuntergang über der Stadt München. Der Sonnenuntergang als Symbol des westlichen Abendlandes (Okzident) – im Gegensatz zum logischerweise absenten Sonnenaufgang, der symbolisch für den Orient steht – wird durch seine Exponiertheit im filmischen Syntagma (letztes Filmbild) als symbolische Manifestation der Verortung der bayerischen Grundwerte im ›Westen‹ gesetzt. Die Gefährdung eben dieser Ordnung wird durch die Kamerahandlung in Bezug auf Hassan hervorgehoben. So ist er im gesamten Film in der Regel in einer (latenten) Aufsicht zu sehen.19 Diese setzt ihn als Bedrohung in Szene, weil sich bei der Aufsicht die Kamera gegenüber dem Objekt in einer untergeordneten Position befindet. Narration Ein zentraler Aspekt der Bedeutungskonstituierung liegt im jeweils spezifischen Akt der Narration bzw. der Verteilung der Informationen auf der syntagmatischen Ebene. So existiert – wie eingangs bereits erwähnt (Abschnitt Implizite Wertesets) – ein Muster des Kriminalgenres, das als Folie dient, von dem aber auch abgewichen werden kann. So ist die Sanktionierung des Täters durch eine andere Figur als der Gruppe der den Staat repräsentierenden Polizisten jeweils signifikant und markiert eine Relevanz für die gesamte Bedeutung des Films. In Die Heilige ist es Marie Hoflehner, die Hassan Adub am Ende des Films erschießt. Diese Sanktionierung ist gekoppelt an das Selbstverständnis Maries: »Ich hab gedacht, du bist was Besonderes. Einer, für den es sich lohnt. Ich servier’ dir dein Leben auf einem goldenen Teller, und du? Was machst du? Du bist zu dumm und zu feige, was draus zu machen. Genau das bist du: ein dummer, feiger Arsch, der nicht weiß, was er mit seiner Freiheit anfangen soll. Du bist es gar nicht wert gerettet zu werden.« (01:23:20)
Marie möchte einem Menschen, der es ihrer Meinung nach verdient, zur Freiheit verhelfen. Sie erkennt im Laufe des Films, dass Hassan doch nicht ihren Vorstellungen eines guten Menschen entspricht. Es kommt nun aber erschwerend hinzu, dass Marie selbst als Justizvollzugsbeamtin eine bayerische Beamtin ist, die damit im filmischen Weltmodell den bayerischen Freistaat repräsentiert. Somit findet hier eine Äquivalentsetzung von Marie und Freistaat statt. Dementsprechend wird hier postuliert, der Freistaat Bayern wolle eigentlich nur Gutes in Bezug auf die Integration von Ausländern und diese seien selbst schuld, wenn sie ihre Freiheiten in Bay-
19 Belegstellen: 00:30:35, 00:32:35, 00:33:00, 00:34:30, 00:39:45, 00:43:50, 00:47:20, 01:00:25, 01:20:00, 01:21:10.
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ern nicht nutzen. Signifikant häufig wird Hassan in Maries Wohnung über den Dächern von München gezeigt, so dass auch auf der Ebene der mise-en-scène vorgeführt wird, was Hassan hier konkret verspielt: seine Freiheit, ein bayerisches Leben zu führen. Marie durchläuft nun aber einen Erkenntnisprozess, der durch die Narration abgebildet wird: Indem der Film sukzessive Hassans Gewaltbereitschaft und seine moralischen Fehler vorführt, wodurch Hassan die zentrale Grenze des Weltmodells von Akzeptanz und Ausgrenzung von Abweichendem mehrfach überschreitet, steht am Ende für Marie die Erkenntnis, dass Hassan nicht integrationsfähig ist. Ihre Sanktionierung Hassans ist demnach auch als eine emotional-affektiv stark aufgeladene Reaktion auf sein Fehlverhalten (und seinen Gewaltausbruch) inszeniert, sowie sich Marie im Laufe der Narration zunehmend enttäuscht von ihm zeigt. Nach seiner Flucht haben beide zunächst leidenschaftlichen Geschlechtsverkehr, was die Massivität seiner sukzessiven Enttarnung noch zementiert. Das an Marie angelagerte Merkmal der ›Heiligen‹ wird nun semantisch konkretisiert: Wenn Marie Hassan nach ihrem Erkenntnisprozess erschießt, dann eliminiert sie damit einen potentiellen Gewalttäter, der die ›bayerische‹ Freiheit gefährdet. Dadurch wird auch der Titel des Films in seiner eigentlichen Lesart ersichtlich. Marie ist eine ›Heilige‹, weil sie den Freistaat vor Gewalttaten eines Algeriers schützt, für diese Tat freilich ihrerseits sanktioniert werden und ins Gefängnis gehen wird. Vor der Folie des im Film angelegten christlichen Weltbildes, das dem Raum München/Bayern zugrunde liegt, wird die Heiligenmetaphorik um Marie noch gesteigert, weil sie dadurch zur Märtyrerin wird; sie opfert sich selbst für die Reinstallierung der bayerisch-christlichen Ordnung, steht sie doch als Vollzugsbeamtin auch im Dienst dieser Ordnung. In narrativer Hinsicht weicht dieser Film zudem insofern latent, wie andere Tatorte auch, von den üblichen Tatort-Narrationen ab: Er verweigert das nach der Falllösung übliche get together der Ermittler, in dessen Rahmen der Fall häufig auf einer humorvollen Ebene als verarbeitet, abgeschlossen und damit handhabbar inszeniert wird. Dies hat in jedem Film per se eine unterschiedliche Funktion und kann hier als Verstärkung der Ernsthaftigkeit des Themas gelesen werden.
B AYERN
UND
T ATORT : K ONTINUIERLICHE W ERTE
Während im Abschnitt Semiotisch-textuelle Strategien der Wertevermittlung eine einzelne Tatort-Folge des BR eingehend hinsichtlich ihrer Strategien der Wertevermittlung analysiert wurde, so eignet sich der bayerische Tatort insgesamt, v.a. im historischen Verlauf, zur Modellierung einer Wertevermittlung. Der bayerische Tatort nimmt eine Sonderstellung im gesamten Tatort-Kosmos ein, weil er sich von
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Beginn an den für die jeweiligen Jahrzehnte dominanten Themen des Tatort widersetzt.20 In den 1970er Jahren, in denen sich das Bürgertum im Tatort an seinen Abgrenzungs- und Scheinwahrungsproblemen abarbeitete, um die durch die 68er Revolution gezeitigten Transformationen von Gesellschaft und Kultur aufzuhalten, entwirft der bayerische Tatort mit den Folgen Münchner Kindl (1972) und Weißblaue Turnschuhe (1973) zwei Filme, die den Raum Bayern zum Wert an sich stilisieren und auch zentral ein ›Bayerisch-Sein‹ als Wert installieren. Das Bürgertum spielt in diesem Zeitraum in Bayern eine nur marginale Rolle (z.B. in Usambaraveilchen, 1981). Interessanterweise sind gerade diejenigen Themen von Bedeutung, die im Tatort der 1970er Jahre sonst nicht verhandelt werden, wie z.B. die Auseinandersetzung mit Gastarbeitern (Wohnheim Westendstraße, 1976). Allerdings steht in diesem Film nicht eine diskursive Verhandlung sozialer Konflikte im Zentrum der Narration, vielmehr werden die Gastarbeiter durch ihr enormes emotional-affektives Potential, das zu zwischenmenschlichen Problemen und kriminellen Handlungen führt, als problematisch inszeniert; der Raum München und die Gastarbeiter scheinen zwei nicht vereinbare Pole zu sein. Der bayerische Tatort der 1980er Jahre führt das Programm der Verfechtung des bayerischen Raums weiter: Der Film Schicki-Micki (1985) erzählt von Modernisierungsbestrebungen in Münchner Kneipen. Alte, traditionelle Wirtshäuser sterben aus und/oder werden zu modernen Discos umgebaut, was von den älteren Figuren sowie von Ermittler Lenz stark kritisiert wird. Dominantes Paradigma ist hier die Aufrechterhaltung von Tradition, die Abwehr von Veränderung und Neuerung. Auch die 1990er Jahre verwenden diese Strukturen weiterhin. Filme wie Die chinesische Methode (1991) oder Frau Bu lacht (1995) inszenieren massive Fremdheitserfahrungen der bayerischen Ermittler gegenüber der asiatischen Kultur. Auch wenn in Frau Bu lacht die thailändische Ehefrau eines ihr Kind missbrauchenden Bayern diesen umbringt und natürlich das Verständnis auf ihrer Seite ist, so ist es doch signifikant, dass Batić und Leitmayr die Frau nicht verhaften, sondern nach Thailand entkommen lassen: Das abweichende Fremde wird aus dem eigenen Raum eliminiert, denn schlussendlich sind die Probleme – so absurd diese Argumentation des Films auch erscheinen mag – ja erst durch den die sexuelle Begierde des Mannes erweckenden Exotismus von Frau und Kind entstanden. Der Film Der Prügelknabe (2003) verlagert dieselbe Struktur der Ausgrenzung des Fremden in den eigenen Raum hinein, was auf eine innerbayerische, in der bayerischen Alltags- und Diskurskultur verankerte Sichtweise rekurriert: Es geht um die Binnendifferenzierung von Bayern und Franken. Franken, darin eingeschlossen
20 Zum bayerischen Tatort siehe Gräf 2010: 137-143, 184-190, 286-297, sowie den Beitrag von Hans Krah in vorliegendem Band.
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Unter-, Mittel- und Oberfranken (also eigentlich drei von sieben bayerischen Regierungsbezirken), wird im nicht-fränkischen Bayern gerne als nicht zu Bayern gehörig bezeichnet. Innerhalb des Raumes Bayern wird eine Grenze zwischen Franken und Bayern installiert, die ausschließlich in Alltagsdiskursen präsent ist. Dieser Tradition folgend, wird ein zusätzlicher Ermittler aus Franken von den bayerischen Ermittlern hochgradig gemobbt, bis es am Ende des Films zu einer Körperverletzung kommt, die zudem als Schlussgag inszeniert wird. Der fränkische Ermittler wird vom point of view selbst als inadäquat für die Lösung eines bayerischen, eben nicht-fränkischen Falles vorgeführt: Dieser Tatort übt sich offensichtlich in einer Franken-Diskriminierung.21 Eingedenk des im Abschnitt Semiotisch-textuelle Strategien der Wertevermittlung analysierten Films Die Heilige, der insgesamt als durchaus repräsentativ für den bayerischen Tatort der 2010er Jahre gelten kann,22 lässt sich festhalten, dass wir es mit einer historisch relativ konstanten Vermittlung von Werten zu tun haben: Dominant ist erstens das Bewahren alter, traditioneller Strukturen sowie zweitens die Abgrenzung des eigenen, bayerischen Raumes nach außen gegenüber allem Anderen. Daraus ergibt sich schlussendlich die massive Verteidigung des Eigenen gegenüber dem Fremden. Dabei können die Themen freilich variieren, die Struktur bleibt aber in der Regel – mal mehr, mal weniger – präsent. Dabei ließe sich stets argumentieren, die Filme führten lediglich diskursiv unterschiedliche Positionen zu einem bestimmten Thema vor, tatsächlich wird aber das Fremde stets auf einer Ebene des Films ausgegrenzt, so dass die Themen letztlich beliebig sind und über die Narration das eigentliche Anliegen des bayerischen Tatort verhandelt wird. Mit diesem Verhalten nimmt der bayerische Tatort einen Sonderstatus ein, verfährt doch der restliche Tatort nicht ganz so konservativ-bewahrend. Dieser hat im Laufe der Jahrzehnte seine Wertesets der Zeit angepasst und stilisiert die Handlungsräume nicht zum Wert an sich. Gerade aufgrund dieses Sonderstatus lässt sich anhand des bayerischen Tatort eine zentrale Strategie der Wertevermittlung zeigen: Nicht nur die einzelnen Filme vermitteln ein Werteset von ›Kontinuität‹, ›Tradition‹ und ›Eigenem‹, eben diese Kontinuität bildet der bayerische Tatort im historischen Verlauf selbst durch das kontinuierlich gleiche, abstrakte Werteset innerhalb der
21 Die Auseinandersetzung mit diesem Fall fand auf höchster Ebene sowohl in der bayerischen Politik als auch in der ARD statt. Siehe dazu [Anon.] »Streit über piefige Franken: Wie der ›Tatort‹ die Bayern spaltet.« spiegel.de, 22. April 2003 (http://www.spiegel.de/ kultur/gesellschaft/streit-ueber-piefige-franken-wie-der-tatort-die-bayern-spaltet-a-245 673.html). 22 Siehe u.a. auch die Folge Der traurige König (2012), die einen traditionellen Eisenwarenladen dem modernen Baumarkt gegenüberstellt, sowie die Folge Ein ganz normaler Fall (2011), in der es um jüdisches Leben in München geht.
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Reihe ab. Kontinuität und Tradierung werden dadurch zum zentralen Wert des bayerischen Tatort.
I NSTITUTIONELLE S TRATEGIEN
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Neben der Verortung des Tatort in den einzelnen Sendeanstalten der ARD liegt eine Verflechtung auch mit anderen Institutionen vor. So wird der Tatort in den letzten Jahren häufig von der Degeto koproduziert, einer Einkaufs- und Produktionsfirma, die ein 100%iges Tochterunternehmen der ARD ist. Die Degeto übernimmt »auch die technische und redaktionelle Aufbereitung der Programme«,23 wie auf der Homepage der ARD zu lesen ist. Nun sind die Degeto-Produktionen dafür bekannt, dass sie extrem konservative Weltmodelle mit überholten Geschlechterrollenbildern produzieren.24 So verwundert es nicht, dass einzelne, von der Degeto produzierte Tatorte in die Nähe der Wertesets der üblichen Degeto-Produktionen (z.B. Von ganzem Herzen, 2009; Wer zu lieben wagt, 2010) rücken. Gleiches gilt für die Produktionsfirma Tellux, die Folgen für den Tatort produziert: Mehrheitsgesellschafter dieser Firma sind Bistümer der katholischen Kirche.25 So wären die betroffenen Folgen konkret daraufhin zu analysieren, inwiefern die Themenkomplexe ›Kirche‹ und ›Glaube‹ installiert und welche Werte dort vermittelt werden. Zu den institutionellen Wertvermittlungsstrategien können auch Modalitäten der Ausstrahlung zählen, die im Fall von Die Heilige auffällig sind. Der Film wurde am 3. Oktober 2010 zum ersten Mal und damit am ›Tag der deutschen Einheit‹ ausgestrahlt. Die Auswahl gerade dieses Termins ist signifikant: Dieser Feiertag gedenkt der deutschen Wiedervereinigung im Jahr 1990 und steht von daher für Integration und Integrativität. Gerade diese beiden Werte repräsentiert Die Heilige nicht. Aus dieser Terminierung zu ziehende Schlüsse wären spekulativ und sollen dem Leser überlassen bleiben.
23 http://www.ard.de/intern/die-ard/gemeinschaftseinrichtungen/degeto-film/-/id=54504/ 1aeoegx/index.html. 24 Siehe dazu einen Artikel der Frankfurter Rundschau über den ehemaligen Chef der Degeto von Jan Freitag. »›Wir pilcherisieren nicht.‹ Schnulzen und Christine Neubauer: Hans-Wolfgang Jurgan ist Chef der ARD-Degeto.« fr-online.de, 28. Oktober 2009 (http://www.fr-online.de/medien/-wir-pilcherisieren-nicht-,1473342,3073048.html),
der
aber selbstverständlich keine konkreten Analysen der entsprechenden Filme ersetzen kann. 25 Matthias Drobinski und Klaus Ott. »Vom Wasser und vom Wein.« sueddeutsche.de, 16. Oktober 2013 (http://www.sueddeutsche.de/panorama/katholische-kirche-vom-was ser-und-wein-1.1795534).
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Die institutionelle Rückbindung muss sich nicht zwangsläufig auf die Sendeanstalten, sie kann sich auch auf konkrete Filme und deren Produktionsbedingungen und -modalitäten beziehen. Für den Film Die Heilige lässt sich dies an einem kleinen Detail ablesen, das aber auch nicht überwertet werden soll: Die Figur des Charly Bause lässt sich explizit als ›Charly‹ von den Ermittlern anreden, nicht mit dem Nachnamen ›Bause‹. Gespielt wird diese Figur von Schauspieler Heinz-Josef Braun, der sich als Künstler ebenfalls nur ›Charly Braun‹ nennt. Hier liegt eine über die Diegese des Films und den Film selbst hinaus gehende Authentifizierungs- und Beglaubigungsstrategie vor: Der Schauspieler Braun als ein in der bayerischen Kultur verankerter und bekannter Künstler beglaubigt mit seinem eigenen Namen den Wert, den er in der Fiktion repräsentiert.
D ER T ATORT IN
DER
G ESELLSCHAFT
Der Tatort ist nicht nur als Kriminalreihe im Fernsehen präsent, er ist es auch in Diskursen der Tagespresse, des Feuilletons und v.a. des Internet; zudem steht er im Mittelpunkt sozialer Praktiken wie den Public Viewings in vielen deutschen Städten. Damit besitzt er innerhalb der deutschen Gesellschaft im Allgemeinen sowie der populären Kultur im Besonderen einen hohen Stellenwert, der zudem stets – vorwiegend im Internet – verteidigt wird. Im Zuge der modenhaften Konvergenz medialer Formate betreibt auch die ARD selbst eine dem Tatort gewidmete Internetseite. Daneben existiert eine Reihe von Fanseiten im Internet (z.B. tatort-fundus, Rubycon, Tatort-Fans), auf denen Trivia zum Tatort bereitgestellt werden, auf denen jede Folge aber auch bewertet werden kann. Der im Abschnitt Semiotisch-textuelle Strategien der Wertevermittlung analysierte Tatort ist nun nicht gerade als integrativ hinsichtlich einer wünschenswerten, wachsenden Toleranz von Ausländern in der deutschen Gesellschaft zu bezeichnen. Hier liegt es nahe, die Bewertungen von Die Heilige auf dem Forum tatortfundus.de zu analysieren, um herauszufinden, wie dieser Tatort bei den Rezipienten aufgenommen wird. Aus den 136 Bewertungen, die einen Bewertungstext verfasst haben – es gibt auch reine Notenbewertungen – hier eine signifikante Auswahl (das Ende eines Kommentars ist durch einen doppelten Schrägstrich kenntlich gemacht; alle Rechtschreibfehler wie im Original): »Ein schnörkelloser, spannender Krimi mit richtig guten, normalen Dialogen. In diesem Stil sehr gerne mehr in der Reihe!!//Aktuelles Knast Thema aufgegriffen.//klasse Schauplatz, klasse Schauspieler, klasse Optik … fast perfekt//Packend – der beste Münchner Tatort seit langem//Endlich mal wieder ein richtig guter neuer Tatort!//Spannender, aber zugleich deprimierender Fall um Männerwelt, in der Frauen nur verlieren können, wenn sie mitspielen wol-
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len.//Intensive Charakterzeichnung und eindringliche Darstellung der Täuschung und Ausnutzung des Gutmenschentums.//Super Tatort. Gute Story, Spannend und witzig.//Hier hat alles gestimmt: anspruchsvolle Handlung, starke Schauspieler und die richtige Prise Humor.// Gelungenes Knast-Drama, wenn sich auch der Charakter der ›Heiligen‹ irgendwie nicht ganz erschließt//ein wirklich sweh [!] guter Tatort, der viel menschliche Facetten widerspiegelt und so auch sehr realitätsnah ist.«26
Hier lässt sich nun konstatieren, dass die Kommentarschreiber die Bedeutung des Films nicht erkannt haben. Im Falle dieses Films ist das durchaus besorgniserregend. Die ausgrenzend-konservative Weltmodellierung bedient sich gängiger Stereotype der Zeichnung von Ausländern und Muslimen und führt insgesamt die Angst vor einer Islamisierung der deutschen Gesellschaft vor. Wird dies als »gute Story« und »intensive Charakterzeichnung« bewertet, so ist zu befürchten, dass hier lediglich Stereotype bezüglich der filmischen Darstellung von Ausländern zementiert werden, die Stereotypenbildung an sich scheint überhaupt nicht als solche negativ aufzufallen. Lediglich ein einziger Kommentar auf der genannten Seite sieht den Film hinsichtlich seiner Paradigmatik, nicht aufgrund ästhetischer oder dramaturgischer Sachverhalte, kritisch (»Ach ja. Die bösen heißen Hassan, schächten ihre Freunde und schlagen Frauen. ARD, das war mal wieder ganz miese Propaganda!«). Es wäre nun zu hoffen, dass die Filmkritik des Feuilletons profunder operiert, allerdings wird man auch hier enttäuscht. So schreibt der Stern in seiner InternetKritik: »JVA-Angestellte liebt Häftling und verhilft ihm zu einem Leben in der Freiheit. Ihr Motiv: nicht nur Liebe, auch Menschlichkeit und Mitleid. Denn das System Knast ist brutal. […] Es ist dieser weiche Kern, der sie zur Fluchthelferin werden lässt.«27 Nun wäre an dieser Stelle zu Recht einzuwenden, dass nicht jeder Fernsehzuschauer über profunde Kenntnisse der Filmanalyse verfügen muss (für den Filmkritiker wäre es aber ratsam). Die Kommentare sowie die Filmkritik zeigen demnach die Relevanz einer umfassenden und integrativen Medienkompetenz. Das Problem – liest man die oben aufgeführten Kommentare – scheint nicht so sehr in einer mangelnden Bewusstheit bezüglich des Konstruktionscharakters von medialen Produkten zu liegen, sondern eher in einer mangelnden Fähigkeit, einzelne Filmdaten kohärent aufeinander zu beziehen, den Systemcharakter eines Films einschließlich
26 http://www.tatort-fundus.de/web/rangliste/folgen-wertungen/rangliste-auswertung/nachusern.html?folge=774&Nr=9 [27. Oktober 2013]. 27 Lea Wolz. »Klischee-Krimi im Knast.« stern.de, 3. Oktober 2010 (http://www.stern.de/ kultur/tv/tatort-kritik-klischee-krimi-im-knast-1609199.html).
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der daraus resultierenden Bedeutung zu erkennen und dieses Gesamtpaket schließlich mit der Realität abzugleichen: »Medienkompetenz in diesem Sinne bedeutet dabei die Fähigkeit zum adäquaten Verstehen der Bedeutung medialer Äußerungen und zum Erkennen, wie diese Bedeutung zustande kommt; sie bedeutet zudem auch die Fähigkeit, die Bedeutung der medialen Äußerung in Beziehung zur sozialen und kulturellen Wirklichkeit zu setzen, das Verhältnis von vorgängiger sozialer/kultureller und medialer Wirklichkeit zu erkennen und somit bewusst den Eigenwert der medialen Wirklichkeitskonstruktion umzugehen.« (Decker/Krah 2011: 85f.-86)
Filme, das soll hier betont werden, vermitteln unter allen Umständen, allein aufgrund ihrer Medialität und ihres Konstruktionscharakters, Werte, die in Beziehung zu außerfilmischen Vorstellungen über die Welt und die (eigene) Gesellschaft stehen. Dabei ist das zentrale Problem, dass diese Wertevermittlung gerade nicht offensichtlich geschieht, sondern erst durch die Kombination von Zeichen unter der Oberfläche des Textes sichtbar wird. Damit korrespondiert ein weiterer Sachverhalt: der Erfolg des Labels Tatort. Dieses scheint einen (medialen) Eigenwert zu besitzen, der Name und damit die Reihe an sich garantieren Qualität, was auch immer im Einzelfall darunter verstanden wird. In Foren des Internet findet man immer wieder Äußerungen und Kommentare, die die Reihe Polizeiruf 110 ganz grundsätzlich ablehnen, einfach weil es sich dabei nicht um den Tatort handelt. Faktisch unterscheiden sich die beiden Reihen in keinem einzigen Punkt, in einem Teil des gesellschaftlichen Diskurses wird aber immer noch eine scharfe Grenze zwischen den beiden Reihen gezogen. Dies spricht, von der absoluten Vernachlässigung der Filmsemantiken und dementsprechend auch der vermittelten Werte einmal abgesehen, für einen eher unreflektierten Konsum des Medienprodukts einerseits und den Erfolg des Tatort-Labels andererseits.
L ITERATUR Blödorn, Andreas. »Verweissystem Farbe. Semiotisierung und Referentialisierung von ›Sehen‹ und ›Erkennen‹ am Beispiel von Nicolas Roegs ›Don’t look now‹ (1973).« Zeichen(-Systeme) im Film. Jan-Oliver Decker und Hans Krah (Hg.). Tübingen: Narr, 2008. 321-353. Brecht, Bertolt. Werke. Schriften I. Frankfurt a.M: Suhrkamp, 1992. Decker, Jan-Oliver und Hans Krah. »Mediensemiotik und Medienwandel.« Medien und Wandel. Institut für interdisziplinäre Medienforschung (Hg.). Berlin: Logos, 2011. 63-90.
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Gräf, Dennis. ›Tatort‹. Ein populäres Medium als kultureller Speicher. Marburg: Schüren, 2010. Gräf, Dennis. »Entwicklung der Darstellung und Erzählmuster von Gewalt im ›Tatort‹.« Medien – Ethik – Gewalt. Neue Perspektiven. Petra Grimm und Heinrich Badura (Hg.). Stuttgart: Franz Steiner, 2011. 133-155. Gräf, Dennis und Hans Krah. Sex & Crime. Ein Streifzug durch die Sittengeschichte des ›Tatort‹. Berlin: Bertz + Fischer, 2010. Gräf, Dennis und Hans Krah. »Sex, Crime und Gewalt im ›Tatort‹. Speicher deutscher Sittengeschichte.« Medienconcret 1 (2014): 34-37. Gräf, Dennis, Stephanie Großmann, Peter Klimczak, Hans Krah und Marietheres Wagner. Filmsemiotik. Eine Einführung in die Analyse audiovisueller Formate. Marburg: Schüren, 2011. Hickethier, Knut. »Die umkämpfte Normalität. Kriminalkommissare in deutschen Fernsehserien und ihre Darsteller.« Der neue deutsche Kriminalroman. Beiträge zu Darstellung, Interpretation und Kritik eines populären Genres. Loccumer Kolloquien (Hg.). Loccum: Evangelische Akademie, 1985. 189-206. Hißnauer, Christian, Stefan Scherer und Claudia Stockinger. »Formen und Verfahren der Serialität in der ARD-Reihe ›Tatort‹. Ein Untersuchungsdesign zur Integration von Empirie und Hermeneutik.« Populäre Serialität. Narration – Evolution – Distinktion. Zum seriellen Erzählen seit dem 19. Jahrhundert. Frank Kelleter (Hg.). Bielefeld: transcript, 2012. 143-167. Kanzog, Klaus. Einführung in die Filmphilologie. 2. Auflage. München: diskurs film, 1997. Krah, Hans. »Krieg und Krimi. Der Bosnienkrieg im deutschen Fernsehkrimi. ›Tatort: Kriegsspuren‹ und ›Schimanski: Muttertag‹.« Zeichen des Krieges in Literatur, Film und den Medien. Christer Petersen (Hg.). Kiel: Ludwig, 2004. 96131. Linder, Joachim und Claus-Michael Ort. »Zur sozialen Konstruktion der Übertretung und zu ihren Repräsentationen im 20. Jahrhundert.« J.L. und C.-M.O. (Hg.). Verbrechen – Justiz – Medien. Konstellationen in Deutschland von 1900 bis zur Gegenwart. Tübingen: Niemeyer, 1999. 3-81. Nies, Martin. »Kultursemiotik.« Interkulturelle Kommunikation und Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Wissenschaftsdisziplinen, Kulturräume. Christoph Barmeyer, Petia Genkova und Jörg Scheffer (Hg.). 2. Auflage. Passau: Stutz, 2011. 207-225. Vogt, Jochen. »›Tatort‹ – der wahre deutsche Gesellschaftsroman. Eine Projektskizze.« MedienMorde. Krimis intermedial. J.V. (Hg.). München: Fink, 2005. 111129. Welke, Tina. Tatort Deutsche Einheit. Ostdeutsche Identitätsinszenierung im ›Tatort‹ des MDR. Bielefeld: transcript, 2012.
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B EHANDELTE T ATORT -F OLGEN Münchner Kindl, 9. Januar 1972 (BR, R: Michael Kehlmann) Weißblaue Turnschuhe, 24. Juni 1973 (BR, R: Wolf Dietrich) Wohnheim Westendstraße, 9. Mai 1976 (BR, R: Axel Corti) rot..rot..tot, 1. Januar 1978 (SDR, R: Theo Mezger) Gefährliche Träume, 23. September 1979 (SFB, R: Günter Gräwert) Duisburg-Ruhrort, 28. Juni 1981 (WDR, R: Hajo Gies) Schicki-Micki, 29. Dezember 1985 (R: Hans-Reinhard Müller) Leiche im Keller, 31. Februar 1986 (NDR, R: Pete Ariel) Die chinesische Methode, 10. November 1991 (BR, R: Maria Knilli) Der Fall Schimanski, 29. Dezember 1991 (WDR, R: Hajo Gies) Blindekuh, 20. April 1992 (NDR, R: Werner Masten) Frau Bu lacht, 26. November 1995 (BR, R: Dominik Graf) Der Prügelknabe, 21. März 2003 (BR, Thomas Jauch) Erntedank e.V., 30. März 2008 (NDR, R: Angelina Maccarone) Die Heilige, 3. Oktober 2010 (BR, R: Jobst Oetzmann) Ein ganz normaler Fall, 27. November 2011 (BR, R: Torsten C. Fischer) Der traurige König, 26. Februar 2012 (BR, R: Thomas Stiller)
ANDERE R EIHEN
ZITIERTE
F ILME , M EHRTEILER , S ERIEN UND
Alarm für Cobra 11 – Die Autobahnpolizei (D, seit 1996 [RTL]) Der Clown (D, 1996/1998-2001 [RTL]) Von ganzem Herzen, 22. März 2009 (ARD, R: Berno Kürten) Wer zu lieben wagt, 5. Januar 2010 (ARD, R: Wolf Gremm)
Zwischen deutschem Gesellschaftsroman und The Wire Das Werk-Potential des Tatort im Kontext internationaler Referenzen J ULIKA G RIEM
T HEORETISCHE V ORAUSSETZUNGEN Unter welchen konzeptionellen Bedingungen ist der Tatort überhaupt zwischen Serie und Werk anzusiedeln? Blickt man auf die Begriffsgeschichte zurück, scheint diese nahezulegen, dass ›Serie‹ und ›Werk‹ zwei einander ausschließende Konzeptbegriffe markieren. Wie Wolfgang Thierse ausgeführt hat, liegt dies u.a. in zwei historisch folgenreichen Tendenzen der organizistischen Phase dieser Begriffsgeschichte begründet: Man verblieb erstens lange Zeit in der ›künstlerischen‹ Sphäre, die populäre Phänomene wie den Tatort de facto ausschloss; und man sah zweitens davon ab, die Kriterien von Ganzheit und Geschlossenheit analytisch zu trennen, so dass es sich als nahezu unmöglich erweisen musste, seriellen ästhetischen Phänomenen Werkartigkeit zuzugestehen (Thierse 1990: 386, 410). Gegen das aristotelische Erbe traditioneller Werk-Konzepte (Thierse 1990: 408) sind natürlich längst Gegenentwürfe formuliert worden. In einer jüngeren Studie hat Steffen Martus vorgeschlagen, von einer ontologischen auf eine diskursanalytische Perspektive umzustellen und damit nicht mehr nach den immanenten Eigenschaften und Sinnpotentialen gegebener Werke zu suchen, sondern im Namen einer »Werkpolitik« zu fragen, wie Effekte von Abschließung und Homogenisierung erzeugt und genutzt werden. Ein solcher Ansatz begreift das Werk als normative, regulative und performative Kategorie, die Werkartigkeit nicht voraussetzt, sondern als Zuschreibungseffekt hermeneutischer und philologischer Praktiken auffasst (Martus 2007: 1-51).
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Aus einer diskursanalytischen Perspektive sind Ganzheit und Geschlossenheit nicht mehr unhinterfragt verbunden, wenn von Werkhaftigkeit die Rede ist. Es kann vielmehr auch das emergierende, »entlagerte« Ganze (Kelleter 2012a: 27) einer nicht abgeschlossenen Serie oder Reihe zur Werk-Baustelle, oder, in Martus’ Worten, zum »Ausstellungsstück für Kompetenzen der Detailbeobachtung wie der Ganzheitswahrnehmung« werden (Martus 2007: 14). Dass auch der Tatort bereits als potentiell werkartiges Objekt in den Blick genommen wurde, zeigt Günter Giesenfelds Einleitung zu einem 1990 publizierten Beitrag zur Tatort-Forschung. Giesenfeld sucht hier nach einem Konzept, das die offene Krimi-Reihe als Ganzes erscheinen lässt, und lobt anschließend als Methode der philologischen Erschließung dieses Ganzen, was Martus als die werk-relevante »Doppelbewegung der Zentrierung und Dezentrierung« (Martus 2007: 15) beschrieben hat: »Was die Reihe zusammenhält, ist eher ein Konzept. […] Diese inzwischen weit über 200 Filme einigt eine Idee der Wirklichkeitsdarstellung, die ihnen, entsprechend der Komplexität dieses bundesrepublikanischen Lebensraums (zu dem auch die Blicke über die Mauer von Anfang an gehörten) eine ganz unserielle und untriviale Vielgestaltigkeit verleiht, die aber doch dafür sorgt, daß jeder einzelne Film wieder erkennbar ein Tatort ist. […] Dadurch, daß sie jeden einzelnen Film genauso ernst nehmen wie das Publikum, das die Folgen ja auch als einzelne rezipiert, lassen sie sich zunächst einmal auf ihn ein, entwickeln sein dramaturgisches Gerüst von innen heraus, leiten daraus Aussagen und Intentionen ab, und sammeln schließlich die Indizien ein, die, als nach und nach entstehendes Mosaik, die Konturen der Gesamtidee erscheinen lassen.« (Giesenfeld 1990: 5f.)
Giesenfeld bezieht die Teile und das Ganze der Tatort-Reihe aufeinander, indem er Denkfiguren der Schließung und Öffnung, der Vereinheitlichung und Fragmentierung so anordnet, dass sich Teile und Ganzes, Mosaiksteine und Gesamtidee auf eine quasi gestalttheoretische Weise verbinden, in der »Vielgestaltigkeit« und »Erkennbarkeit« einander nicht widersprechen. Diese gestaltbildende Konstellation schreibt der »Gesamtidee« eine platonisch anmutende Rolle zu: In der seriellen Weiterentwicklung des Tatort entfaltet und bestätigt sich, folgt man Giesenfeld, was in der zugrundeliegenden Idee bereits enthalten ist; und diese Beschreibung der Evolution der Tatort-Reihe stellt eine traditionelle Voraussetzung bereit, um das föderal aufgefächerte »Mosaik« der Tatort-Filme überhaupt als Gesamtwerk betrachten zu können. Aus der von Martus vorgeschlagenen Perspektive basiert Werkartigkeit dagegen nicht auf einer vorgegebenen Gesamtidee, die allmählich zu erscheinen vermag, sondern sie entsteht durch die Interaktion eines in Produktions- und Rezeptionsprozessen verbundenen Akteur-Netzwerks und seiner vielfältig verteilten Kompetenzen der Detailbeobachtung und Ganzheitswahrnehmung. Christian Hißnauer, Stefan Scherer und Claudia Stockinger haben bereits darauf hingewiesen, dass Giesenfelds
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Überlegungen zur »Gesamtidee« zu kurz greifen, weil der Tatort sich als »sehr viel variabler und verfahrensoffener als übliche Krimiserienformate« erweist, so dass die Ausdifferenzierung der Reihe nicht durch statische Konzeptmetaphern zu erfassen ist (Hißnauer/Scherer/Stockinger 2012: 144, 147). Claudia Stockinger schließt in ihren Überlegungen zur Werkhaftigkeit des Tatort ebenfalls an Martus’ Überlegungen an, indem sie ein Werk nicht als »ontische Größe« definiert, sondern eine Werkartigkeit zuschreibende »Praxis des Umgangs« mit der offenen Reihe des Tatort rekonstruiert (Hißnauer/Scherer/Stockinger 2014: 211f.). Ausgehend von Rezeptionseffekten, die Martus als Produktion von »relativer Geschlossenheit« differenziert hat, bleiben für Stockinger auch im Umgang mit dem Tatort Werkartigkeit konstituierende Operationen im Spiel, die Formen von »›Einheit‹, ›Stimmigkeit‹, ›Folgerichtigkeit‹, ›Geschlossenheit‹ oder ›Ganzheit‹« hervorbringen (ebd.: 212).1 Diese Operationen folgen allerdings weniger, wie noch von Giesenfeld suggeriert, einer additiven, als vielmehr einer differentiellen Logik. Sie illustrieren damit weniger eine vorhersehbare Gestaltbildung, sondern die Möglichkeiten der Veränderung des Gesamtsystems und seiner Teile. Adressiert wird daher nicht allein die Ganzheit des Gesamtsystems Tatort, sondern verschiedene Varianten von unterschiedlich skalierter Ganzheit und binnendifferenzierender Schließung: Auf der Grundlage von programmatischen intra- und interseriellen Abweichungen und Vernetzungen können, folgt man Stockinger, in der offenen Reihe des Tatort Einzelfilme, an einzelne Städte und/oder Ermittlerfiguren gebundene Serien sowie das gesamte Format als werkartige Phänomene wahrgenommen werden.2 Konkreter gesprochen: Durch generische Abweichungen haben sich bspw. die Einzelfilme mit Ulrich Tukur als exzentrischem LKA-Ermittler Murot sowie die gesamte MünsterSerie in werkartiger Weise etablieren können (vgl. die Beiträge von Andreas Blödorn und Thomas Klein in diesem Band). Gemeinsame Ermittlungen, der dramaturgische Kunstgriff der Amtshilfe, metaserielle Bezugnahmen und der Vergleich z.B. mit dem Konkurrenz-Format Polizeiruf 110 (seit 1971) haben darüber hinaus dazu geführt, dass auch die offene Reihe des Tatort als Komposition aus werkartigen Bestandteilen bzw. als werkartiges Gesamt-Projekt wahrgenommen werden kann (vgl. Hißnauer/Scherer/Stockinger 2014: 231). In diesen als potentiell werkförmig aufgefassten Konfigurationen offenbaren sich weniger, wie Giesenfeld nahegelegt hat, die Konturen einer die Reihe stabilisierenden Gesamtidee, sondern die »Beweglichkeit des Formats«: »Sie ist Effekt
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Stockinger bezieht sich hier nicht allein auf Martus, sondern auch auf die Überlegungen
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Vgl. Hißnauer/Scherer/Stockinger 2014: 207; und bereits Hißnauer/Scherer/Stockinger
zu »philologischen Werkfunktionen« (vgl. Spoerhase 2007: 288). 2012: 150, wo von einer »intraseriellen« und einer »interseriellen Gesamtvorstellung« die Rede ist.
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eines praktischen Umgangs mit historisch variierenden Formatbedingungen und lässt sich zugleich auf den Ebenen der Folge, der Serie und der Reihe als werkförmig beschreiben.« (Ebd.: 238) Der Evolutionsprozess des seriellen populären Phänomens Tatort lässt sich damit nicht nur als Aufgabe erfassen, ein erfolgreich etabliertes Konzept in seinen anfänglich definierten Grenzen zu reproduzieren. Zum Erfolgsmodell konnte die Reihe werden, weil das Organisationsprinzip eines föderal strukturierten Wettbewerbs von Ermittler-Teams, Städten, Sendeanstalten und Bundesländern einen Spielraum für Differenzierungen eröffnet, mit denen der Tatort immer wieder neue Grenzen markieren kann. Diese Grenzen sind in jüngerer Zeit von Fans, Kritikern und selbst Mitwirkenden wieder verstärkt thematisiert worden, wenn es die Einführung neuer Standorte und Teams wie z.B. in Weimar und in naher Zukunft auch in Franken, Berlin und Frankfurt zu kommentieren galt: So sorgte sich die in Bremen agierende Sabine Postel um »inflationär« ansteigende »Einzelauftritte«, und auch der für Dortmund tätige Jörg Hartmann beklagte einen zu hochfrequenten Ermittler- und Standortwechsel: »Wenn alle zwei Wochen neue Kommissare spielen, schalten vielleicht einige Fans gar nicht mehr ein.«3 Gerade die Sorge, mit Ermittlern wie dem von Devid Striesow gespielten Saarbrücker Kommissar oder dem neuen, von Nora Tschirner und Christian Ulmen verkörperten Weimarer Paar mute sich das System Tatort zu viele und zu viele querschießende Variationen zu, muss indessen nicht unbedingt als Indiz einer bedrohten Produkt-Identität gelesen werden. Sie stellt vielmehr einen Topos der Rezeption dieses »Urgesteins des bundesdeutschen Fernsehens« dar (Hißnauer/Scherer/Stockinger 2012: 143) und demonstriert den Erfolg eines seriellen Erzähl- und Unterhaltungsmodells, um das es sich zu streiten lohnt. Die zunehmend reflexive Beobachtung bzw. die »Rückkopplungseffekte zwischen Rezeption und Ästhetik« (ebd.: 145) der jüngeren Reihen-Entwicklung können zudem als diskursive Operationen mit werkförderlichem Potential betrachtet werden: Je intensiver der Zustand des Ganzen im Tatort angesichts der Variationsmöglichkeiten seiner Teile diskutiert und berücksichtigt wird, desto deutlicher kann dieses Ganze überhaupt als werkförmiges Projekt hervortreten. Um diese Potentiale von Werkförmigkeit genauer zu beleuchten, sollen im Folgenden am Beispiel von The Wire (2002-2008) und dem
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Sabine Postel äußerte die Sorge um eine mögliche »Verwässerung« des Formats in der Programmzeitschrift auf einen Blick 9 (2014), 6. Mai 2014 (http://www.bauermedia.com/ de/presse-aktuelles-single/back178/page/4/hash/6a278d4bae/news/xuid3008-tv-star-sabi ne-postel-hat-angst-um-den-tatort-zu-viele-neue-emrittler.html). Jörg Hartmanns Einlassungen wurden im Magazin IN – Das STAR & STYLE Magazin, 46/12 publiziert (zit. nach [Anon.]. »Jörg Hartmann: Zu viele Kommissare vergraulen Zuschauer« fr-online.de, 6 Mai 2014 [http://www.fr-online.de/leute/joerg-hartmann--zu-viele-kommissare-ver graulen-zuschauer,9548600,20821672.html]).
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Tatort Aspekte der Rezeption erörtert werden, die als werkkonstituierende Praktiken rekonstruiert werden können. Am Ausgangspunkt dieser Erörterung steht die Annahme, dass sich die werkästhetischen und werkpolitischen Potentiale von populären seriellen Erzählungen nur erfassen lassen, wenn man eher Prozesse als Produkte in den Blick nimmt, nicht Geschlossenheit voraussetzt, sondern Schließungen beobachtet und Fragen nach Bezügen auf verschiedene Figurationen von Ganzheit zulässt.
V ERGLEICHSEFFEKTE UND Ü BERBIETUNGSLOGIKEN : T HE W IRE ALS › RHETORISCHES ‹ UND › EMPHATISCHES ‹ W ERK Die Frage nach einem möglicherweise werkförmigen Ganzen der offenen Reihe Tatort stellt sich, wie oben ausgeführt, nicht nur als Frage nach Integration, sondern ebenso als Frage nach Adaption und Evolution durch Differenzierung. Wie Claudia Stockinger gezeigt hat, spielen – als ein spezifischer Modus von Differenzierung – vergleichende Verweise in einem Feld konkurrierender Serienformate eine zentrale Rolle für die Ausbildung werkartiger Strukturmuster und -effekte. Spätestens mit der Erfolgsgeschichte der sog. neuen amerikanischen Qualitäts-Serien sind solche Vergleiche nicht mehr auf einen deutschen Kontext beschränkt. In der wissenschaftlichen und v.a. auch in der publizistischen Beobachtung gegenwärtiger serieller Formate artikulieren sich die von Martus anvisierten »Kompetenzen der Detailbeobachtung wie der Ganzheitswahrnehmung« und die mit ihnen vorgeführte Expertise häufig in Formaten intermedialer und internationaler Abgrenzungen und Überbietungen.4 Dass die amerikanische Serie The Wire (2002-2008) in diesem auch in Deutschland seit längerem gepflegten Diskurs längst eine zentrale Rolle spielt,5 zeigt sich in der folgenden Interview-Äußerung Dominik Grafs, in der er seine geschlossene Mafia-Serie Im Angesicht des Verbrechens (2010) zur aktuellen amerikanischen Serien-Produktion in Bezug setzt: »Homicide fand ich auch überragend. The Wire empfinde ich dagegen als sehr ambitioniert und oft ein wenig mühsam. Die Serie ist enorm sophisticated und durchdacht, sie hat sozusagen einen großartigen Beat in der Erzählform, ich sehe den Polizisten ganz gerne zu, aber es
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Die »Dynamik serieller Überbietung« haben Jahn Sudmann/Kelleter (2012) am Beispiel
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Stockinger erinnert daran, dass Gunther Witte bereits im Jahr 2000 den Tatort im Kontext
neuerer amerikanischer Serien exemplarisch untersucht. des amerikanischen Quality TV thematisiert hat (Hißnauer/Scherer/Stockinger 2014: 209).
390 │G RIEM fehlt ihr ein bestimmter Glamour, es fehlt gewissermaßen die umwerfende Melodie in den Figuren und den Konflikten.« (Graf/Sievert 2010: 46)
Grafs Äußerung führt vor Augen, dass er sein Produkt in einem als kompetitiv aufgefassten internationalen Feld positioniert. Zudem spricht er The Wire durch einige seiner Formulierungen jene Werkhaftigkeit ab, die er für die eigene Serie reklamiert hat: Indem The Wire aus seiner Sicht zwar über einen »großartigen Beat«, aber eben nicht über eine zusammenhängende und -haltende Melodie verfüge, scheinen dem amerikanischen Konkurrenzprodukt gerade Aspekte jener kohärenten Komposition abzugehen, für die Im Angesicht des Verbrechens von vielen Kritikern ebenso begeistert gelobt wurde. Grafs auktoriale Positionierungen können aber nicht verdecken, dass die Macher von The Wire eine Selbstbeschreibung produziert haben, mit der der amerikanischen Serie auf ebenso ambitionierte wie erfolgreiche Weise ebenfalls WerkQualitäten zugeschrieben werden konnten. David Simon – der Haupt-Autor von The Wire – hat allerdings auf andere Strategien intermedialer Legitimation zurückgegriffen, um seine Serie zum Werk zu adeln. Wo nämlich für Graf der Film den entscheidenden Referenzrahmen darstellt, präsentiert sich The Wire in seiner visuellen Anmutung einerseits gerade als Fernsehen und nicht als Film, andererseits aber auch als Fernsehen, das sich selbst nicht zuletzt dadurch übertrifft, dass es an die Literatur anknüpft: The Wire »is not television, it’s HBO«, und kann – so Simons erfolgreiche Überbietungs- und Distinktionsstrategie – seine Freiheiten nutzen, um an verschiedene literarische Erzähltraditionen anzuschließen.6
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Simon ist als ›Balzac unserer Zeit‹ gepriesen worden, und Charles Dickens wurde nicht nur in der Serie selbst ins Spiel gebracht: »If Charles Dickens were alive today, he would watch The Wire, unless, that is, he was already writing for it.« (Nicholas Kulish. »Television You Can’t Put Down.« nytimes.com, 10. September 2006 [http://www.nytimes.com/ 2006/09/10/opinion/10sm3.html?_r=0]) Joe Klein hat kurzerhand den Nobelpreis für Literatur gefordert (zit. nach Jane Heopla. »Five Reasons The Wire is the Sexiest Show on TV.« nerve.com, 15. Januar 2008 [http://www.nerve.com/tv/five-reasons-the-wire-is-thesexiest-show-on-tv]), und David Simon selbst hat immer wieder die klassische Tragödie als Referenz beschworen. Vgl. auch Margaret Talbot. »Stealing Life: The Crusader behind ›The Wire‹.« newyorker.com, 22. Oktober 2007 (http://www.newyorker.com/ reporting/2007/10/22/071022fa_fact_talbot?currentPage=all); ähnliche Selbstbeschreibungen Simons finden sich in David Simons Interview mit Nick Hornby (»›My standard for verisimilitude is simple and I came to it when I started to write prose narrative: fuck the average reader.‹ Some things television is good for: Catharsis; depicting the ›other‹ America, pissing off the mayor.« believermag.com, August 2007 [http://www.believer
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Schon allein Simons literarisierende Selbstbeschreibungen sind gattungstheoretisch alles andere als konsistent. Indem sie nur kanonisierte Autoren aufrufen, liefern sie aber eine Nobilitierungsstrategie, die dem neueren und populäreren Medium Fernsehen die Reputation sowie die Werkförmigkeit des älteren – der Literatur – einschreibt.7 Frank Kelleter hat ausgeführt, wie viele begeisterte Rezensenten David Simons Selbstdarstellung unhinterfragt übernommen haben (Kelleter 2012b). Dieser Modus der »Duplikation« kennzeichnet auch viele jener Kommentare, die sich The Wire nicht literarisierend, sondern sozial- und medienwissenschaftlich angeeignet haben.8 Duplizierend operieren solche sozialwissenschaftlichen Zugriffe v.a. dann, wenn sie, wie Kelleter gezeigt hat, den soziologischen Gebrauchswert der Serie feiern, ohne ihre narrativen Strategien zu reflektieren; und wenn Zuschauer sich mit den progressiven politischen Anliegen und afro-amerikanischen Figuren der Serie identifizieren, ohne die formalen und diskursiven Bedingungen solcher Identifikationsprozesse zu hinterfragen (Kelleter 2012b: 40-55). Die literarische und die soziologische Aneignung von The Wire treffen sich damit an jenem Punkt, an dem beide Perspektiven sich auf Figuren der (intermedialen und interdisziplinären) Überbietung verlassen: Wer der Serie die Qualität von Balzac oder Dickens im 21. Jahrhundert zuschreibt, suggeriert, dass Simons Fernseh-Epos die urbane Gesellschaft besser erzählt als die Literatur; wer sie zum soziologischen Lehrbuch adelt, konzediert eben diesem Fernsehen, dass es die urbane Gesellschaft besser erklärt als die Soziologie. Dupliziert wird indessen Unterschiedliches: im Fall der unhinterfragten Literarizität auch der Werkanspruch der aufgerufenen kanonisierten Referenztitel; im Fall der unhinterfragten sozialwissenschaftlichen Relevanz das realistische Pathos von David Simons engagiertem ethnographischen Journalismus.9
mag.com/issues/200708/?read=interview_simon]). Zum griechischen Drama als wiederkehrender Referenz vgl. auch Love 2010. 7
Diese Strategie des Distinktionsgewinns erläutert auch Mittell; er verbindet dies mit der Aufforderung, die Serie nicht als Literatur, sondern als Fernsehen zu analysieren (Mittell 2009: 430).
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Eine der Initialzündungen für diese Ansätze lieferte der Harvard-Soziologe William Julius Wilson, der bereits 2008 eine Tagung zu The Wire organisierte und Simons systemischen Ansatz lobte, weil dieser das Versagen städtischer Institutionen umfassender, verständlicher und eindringlicher als die Sozialwissenschaft selbst darstelle. Dieses Lob fand ein vielfältiges Echo, u.a. in einem Themenheft von Critical Inquiry. Jens Schröter hat vor kurzem gezeigt, dass The Wire auch noch eine gesellschaftliche Selbstbeschreibung liefert, die nicht allein an soziologische, sondern auch an medientheoretische Theorien und – schon allein im Titel der Serie – insbesondere an die gegenwärtige Konjunktur von Netzwerk-Modellen anschließt (vgl. Schröter 2013: 77, 88).
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Dass auch die soziologische Duplizierung der Selbstbeschreibungen von David Simons Serie werkpolitische Implikationen hat, erschließt sich erst auf einen zweiten Blick und mit Hilfe einer weiteren begriffsgeschichtlichen Differenzierung, die wiederum Steffen Martus vorgenommen hat. Er unterscheidet zwischen zwei historischen Werkformen, die sich m.E. auch systematisch für nicht-literarische Phänomene seriellen Erzählens in Anschlag bringen lassen: »Während das rhetorische Werk als Regulator und Katalysator von Beziehungen dient, die außerhalb seiner selbst liegen und gleichsam an der Oberfläche des Werks markiert werden, determiniert das emphatische Werk Innerlichkeiten und öffnet der hermeneutischen Tiefsinnigkeit unauslotbare Räume.« (Martus 2007: 30)
Wenn The Wire als urbane Ethnographie gefeiert wird, welche die Anliegen unterprivilegierter afro-amerikanischer Innenstadtbewohner sowie die ebenso scheiternden Reformen ihrer politischen Vertretung wesentlich wirkungsvoller vor Augen führe als eine sozialwissenschaftliche Studie, bringt diese Form der Rezeption Aspekte des von Martus so genannten »rhetorischen Werks« ins Spiel: Die Serie gerät hier zur »Schnittstelle von überindividuellen literarischen, politischen und sozialen Fertigkeiten, von allgemein verfügbaren Traditionen, Normen und Interessen« (Martus 2007: 26); sie wird als »Durchgangsstation« in einem Diskurs aktiviert, in dem sich, wie Kelleter es formuliert hat, Amerika über sich selbst verständigen kann (Kelleter 2012b: 60). Gleichzeitig ist aber The Wire auch als »emphatisches« Werk rezipiert worden. Hier hilft es ebenfalls weiter, Martus’ Beschreibung von historischen Ausprägungen unterschiedlicher Werk-Typen auch systematisch zu nutzen: Gerade im Fall von The Wire ist der Autor David Simon »allmählich genialisiert« und sein Werk »enigmatisiert« worden, so dass »hermeneutische Kompetenzen fürs Besondere«, »Beobachtungsgenauigkeit« und »die Versenkung in Kleinigkeiten« gefragt scheinen (Martus 2007: 29), um der vielbeschworenen Komplexität von The Wire gerecht zu werden. Diese Komplexität lässt sich – v.a. dann, wenn sie unhinterfragt dupliziert wird – natürlich ebenfalls als Effekt einer Überbietungslogik analysieren. Sie lässt sich aber auch auf formale Eigenschaften von Serien wie nicht allein The Wire zurückführen, die Jason Mittell als »ludic narrative logic« beschrieben hat (Mittell 2009). Serienerzählungen wie The Wire oder bspw. auch Lost operieren mit gezielt eingesetzten kognitiven Dissonanzen und Inkongruenzen wie z.B. den gerade nicht Über-
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Ähnliche Überlegungen habe ich auch schon in Griem 2014 angestellt. Dieser Aufsatz beschäftigt sich allerdings nicht mit dem Werkpotential von The Wire, sondern mit der quasi-soziologischen und intertextuellen Inszenierung von Baltimore als Gründungsort.
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sicht und Kohärenz stiftenden Rekapitulations-Sequenzen in The Wire, um eine Rezeptionshaltung zu provozieren, die als hermeneutisch hyperaktiv charakterisiert werden kann: Hier wird mit Hilfe sehr großer Figuren-Ensembles, extrem langgezogener Erzählbögen und einer auch in der diegetischen Welt ausgestellten Herausforderung, rätselhafte Teile zu einem sinnhaften Ganzen zusammenzuführen, bereits innerhalb der Serien-Erzählung jene Beobachtungsgenauigkeit und Versenkung in Kleinigkeiten vorgeführt, die auch für die Rezeption emphatischer Werke Voraussetzung sind. In The Wire ist diese Form der forensischen Hermeneutik von dem Polizisten Lester Freaman zu einem vielzitierten Sentenz verdichtet worden: »It’s all the pieces that matter.«10 Mittell betont mit seiner Formulierung der »ludic narrative logic« die spielerischen, partizipativen und interaktiven Aspekte emphatischer Rezeption, die auch in der für The Wire zentralen Formel »It’s all in the game« schon angelegt scheinen. Dass sich die »forensic fans« aber auch an einer exegetisch intensivierten Form von Wissensproduktion erfreuen, hat Gabriele Schabacher am Beispiel von Lost beschrieben. Hier wird die gezielt eingesetzte Problematisierung von Zeitvorstellungen genutzt, »um die Fangemeinde in einen Prozess der Epistemologisierung zu verwickeln, der das Wissensuniversum stetig ›erarbeitet‹« (Schabacher 2010: 229). Die Fangemeinde von The Wire ist offenkundig anders zusammengesetzt als z.B. die von Lost (2004-2010). Für beide Serien kann aber konstatiert werden, dass sich Formen und Formate der Rezeption entwickelt haben, die diese »vast narratives« (Harrigan/Wardrip-Fruin 2009) nicht mehr allein durch räumlich strukturierende Archivierung und thematische Navigation zur »Schnittstelle« von allgemeineren Belangen machen. Beide Serien evozieren für viele Zuschauer eine umfassendere Welt, ein größeres Ganzes, aber sie bilden auch eine Welt für sich, die wiederum als komplex strukturiertes Ganzes wahrgenommen werden will. Sie laden damit ein, sich durch wiederholte Lektüren akribisch in Kleinigkeiten zu versenken und eine Fernsehserie so, noch einmal in Martus’ Worten, »zum privilegierten Kontext ihrer selbst« zu machen. (Martus 2007: 27)
W ERKPOLITIKEN UND W ERKÄSTHETIKEN IN DER T ATORT -R EZEPTION Dass die oben beschriebene ›emphatische‹ Rezeption von The Wire durch die Distribution als DVD befördert wurde, muss nicht weiter erläutert werden. Dass sich in ihr wissenschaftliche und quasi-wissenschaftliche, philologische und quasiphilologische Praktiken und Ideale vermischen, sollte berücksichtigt werden, wenn
10 Vgl. auch Eschkötter 2012: 24.
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man danach fragt, ob auch in der Rezeption des Tatort Formen der Detailbeobachtung und Ganzheitswahrnehmung erkannt werden können, die sich zu den von Martus als ›rhetorisch‹ und ›emphatisch‹ charakterisierten Werk-Konzeptionen in Beziehung setzen lassen. Was die Vergleichbarkeit von The Wire und dem Tatort betrifft, konstatiert Claudia Stockinger eine deutlich zu unterscheidende Rezeptionssituation: Während David Simons Baltimore-Epos ein Publikum mobilisierte, das diese geschlossene Langserie vorwiegend auf DVD rezipierte und als Inbegriff von Qualität und Komplexität publizistisch und akademisch nobilierte, richtet sich der Tatort an ein weitaus heterogener zusammengesetztes Publikum, das trotz zahlreicher Wiederholungen und des Angebots der ARD-Mediathek mit dem alltagsweltlich verankerten Sendeplatz am Sonntagabend verbunden bleibt (Hißnauer/Scherer/ Stockinger 2014: 210f.). Fragt man nach den werkpolitischen Implikationen der gegenwärtigen, in die Netz-Kommunikation expandierende Tatort-Rezeption, ergeben sich indessen weitere Vergleichsmöglichkeiten. Zunächst kann festgehalten werden, dass sich auch in den digitalen Foren jene diskursiven Praktiken der werkförmigen Bewertung finden lassen, die sich bereits in der klassischen Publizistik finden. Wo in traditionelleren Rezensions-Formaten Einzelfolgen wie Tote Taube in der Beethovenstraße (1973), Frau Bu lacht (1995) oder Der oide Depp (2008) aufgrund gattungspoetologischer und ästhetisierender Abweichungen zu herausragenden Einzelbeispielen geadelt wurden, findet sich diese werkförderliche Rhetorik auch in zahlreichen OnlineKommentaren der Netz-Foren: Auch die Fans in diesen Foren gehen auf der Ebene des einzelnen Films völlig selbstverständlich und eindeutig normativ mit der Kategorie des Werks um und thematisieren die einzelne Folge als potentiell werkästhetisch geschlossenes Ganzes innerhalb der Reihe (vgl. dazu Hißnauer/Scherer/Stockinger 2014: 210). Angeregt durch die Wissensproduktion und -verwaltung auf FanSeiten wie tatort-fundus haben sich zudem quantifizierende Zugriffe auf werkförmig exponierte Einzelfolgen wie z.B. Reifezeugnis (1977) etabliert: »25 Millionen Menschen, 67 Prozent aller deutschen Fernsehzuschauer wurden am 22. März 1977 erstmals Zeuge einer Göttin lolitahafter Melancholie. Väter und Söhne waren gleichermaßen fasziniert von der animalisch-kindlichen Erotik der 15-Jährigen. Nastassja Kinski war in aller Munde. Roman Polanski wurde auf sie aufmerksam, veranstaltete eine Foto-Session für Vogue und schickte sie auf eine Schauspielschule in die Staaten. Und noch für einen Zweiten bedeutete das Reifezeugnis die Fahrkarte zum Erfolg: den Regisseur Wolfgang Petersen (Das Boot), der bis dahin schon mehrere Tatort-Fälle verfilmt hatte. Die Kinski, die im Folgenden lange Jahre mit dem Image der Kindfrau (›Nasti‹) kämpfte, spielt die Schülerin Sina. […] Ein Tatort-Meisterwerk, dessen Lolita-Affären-Bilder mit Kinski und Quadflieg unvergessen bleiben. 55 Prozent aller deutschen Männer gaben, laut Spiegel, in einer Umfrage zu, nach der Ausstrahlung den Wunsch nach Sex mit ›Nasti‹ verspürt zu haben.«11
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Ähnlich wie Lostpedia oder auch die HBO-Seite zu The Wire organisieren NetzForen wie der tatort-fundus das Ganze der Tatort-Reihe archivierend, indem verräumlichende Möglichkeiten der Navigation und Suche angeboten werden. Daneben bietet der tatort-fundus unter dem Reiter ›Rangliste‹ verschiedene Rankings, die als flexible und aktualisierende Gradmesser für den Stand der Fan-Kommunikation dargestellt werden und dabei nicht allein Einzelfolgen, sondern auch das Ganze der Reihe im Blick zu behalten versprechen. Die Ranglisten werden als »feiner Seismograph« beworben, der unterschiedliche Faktoren der Bewertung sichtbar macht und zu illustrieren vermag, wie kenntnisreiche und historisch argumentierende User den Gesamtzustand des Tatort beurteilen: »Die Gesamtauswertung gibt immer den aktuellen Wertungsstand wider«, so dass sich im »Gesamtbild« immer wieder »ein ganz anderes Bild« zu zeigen vermag.12 Solche quantifizierenden Verfahren im Umgang mit dem Ganzen des Tatort stehen keineswegs im Widerspruch zu etablierten qualitativen Formen der Markierung von Werkförmigkeit. Dies zeigt z.B. der folgende Kommentar zur bereits erwähnten Folge von Sam Fuller, in der ein Bonner Zuschauer Tote Taube in der Beethovenstraße (1973) mit Bezug auf die Rangliste und das Archiv des tatortfundus als ungewöhnliches Einzelwerk mit Lokalbezug empfiehlt: »Während die Story eher schwächelt, ist Fullers Tatort vor allem wegen ungewöhnlicher Kameraeinstellungen und dem merkwürdigen Schnitt interessant und nicht zuletzt auch wegen der Musik der Band Can. Filmhistorisch ist Tote Taube in der Beethovenstraße also mehr als einen flüchtigen Blick wert, als Abendunterhaltung taugt er nur bedingt. In der TatortRangliste ist diese Folge nur auf den hinteren Plätzen zu finden, doch sortiert nach Varianz liegt sie auf Platz 4. Ein Zeichen, wie stark dieser Tatort das Publikum spaltet. […] Zuletzt lief der Bonner Tatort am 26. Dezember 2012 im WDR. Falls er demnächst wiederholt wird, sollte man sich das als Bonner nicht entgehen lassen. Wer sich ausführlich über den Film informieren will, kann sich im Tatort-Fundus umsehen. Dort gibt es zahlreiche Artikel, Interviews und Hintergründe zu einem der außergewöhnlichsten Tatorte aller Zeiten. Und wer sich gleich die DVD zulegen will, der sollte vielleicht noch ein wenig warten. Vor kurzem wurde der 128-minütige Director’s Cut gefunden, der viele zusätzliche Szenen gegenüber der derzeitigen Fassung (98 Minuten) enthält, und der bald auf DVD veröffentlicht werden könnte.«13
11 Kai-Oliver Derks und Frank Rauscher. »Die großen Geschichten. Die zehn besten ›Tatorte‹ aller Zeiten – eine Sammlung.« stimme.de, 12. November 2010 (Update: 13. Dezember
2010)
(http://www.stimme.de/deutschland-welt/panorama/report/Die-grossen-Ge
schichten,art4336,1986371). 12 http://www.tatort-fundus.de/web/rangliste/rangliste20140225.html.
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Vorgeführt wird in diesem Beitrag, wie eine einzelne Folge aus dem Ganzen herausgelöst und zum Einzelwerk erklärt wird, das auch durch eine cineastische Nobilitierung samt DVD-Auftritt im aktuellen Medienverbund beglaubigt ist. Diese diskursive Operation wird mit quantitativen Möglichkeiten des Überblicks und der statistischen Sortierung in Verbindung gebracht, deren Möglichkeiten der Messung von Abweichungen durch Kriterien einer etablierten formalistischen Werkästhetik ergänzt werden: »Ungewöhnliche Kameraeinstellungen« und ein »merkwürdiger Schnitt« werden attestiert, um auch im Tatort-Format ein filmhistorisches Zeichen zu erkennen. Zusätzlich zu den werkästhetischen Routinen der klassischen Tatort-Publizistik haben sich somit in der Fan-Kommunikation im Netz längst Kombinationen aus qualitativen und quantitativen Bewertungs-Strategien entwickelt, mit denen auf der Grundlage einer gesteigerten Frequenz und Dichte von wiederholten und zugänglichen Einzelfolgen neue Formen des emphatischen Wiedersehens und der ReLektüre entstanden sind. In diesem Kontext werden, wie der folgende Beitrag aus dem Forum des tatort-fundus zeigt, nicht nur Einzelfolgen und die gesamte Reihe, sondern auch ihre professionelle Kritik gemeinschaftlichen Formen des ›close reading‹ unterzogen: »Doch ich frage mich, welchen Hintergrund manche der Kritiker haben. Den Tatort muss man immer im Kontext der ganzen Reihe, mit seinen zahlreichen Ermittlern sehen die seit 1970 aufgetreten sind. Der Tatort soll verschiedene Geschmäcker bedienen und auch Experimente sollen erlaubt sein. Gefährlich wird es erst, wenn Verantwortliche in der ARD zu sehr auf diese Kritiken eingehen und nur die populistischen, negativ verfassen beachten und danach handeln. Denn dann gerät die Vielfalt, für das der Tatort steht, in Gefahr. Um Missverständnissen vorzubeugen, es geht mir hier um die ›professionellen‹ Kritiker, nicht um Zuschauer die ihre Meinung, nachdem sie den Tatort gesehen haben, in Foren kundtun. Aus Liebe zum Tatort.«14
Neben den Möglichkeiten einer qualitativen und quantitativen »Detailbeobachtung« und »Ganzheitswahrnehmung« (Martus 2007: 14), die ein Forum wie der tatortfundus bietet, um einzelne Folgen, Serien und die gesamte Reihe als potentiell emphatisches Werk zu rezipieren, haben sich im Netz Kommunikationskontexte etabliert, die den Tatort eher als ›rhetorisches‹ Werk beurteilen. Zu diesen gehören der
13 Vaclav Demling. »Bonn im Film – Tote Taube in der Beethovenstraße.« bundes stadt.com, 6. Dezember 2013 (http://www.bundesstadt.com/orte/bonn-im-film-tote-taubein-der-beethovenstrasse/). 14 http://www.tatort-fundus.de/diskussionsforum/.php?f=31&t=2863&sid=bbfb51736983fe 9d04d808e2bd22c [17. März 2014].
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›Tatort-Schnellcheck‹, mit dem auf spiegel.de die neuen Folgen in kompakter Form angekündigt werden, sowie das Twitter-Forum TatortWatch, in dem sich eine Gruppe von Abgeordneten der Partei Bündnis 90/Die Grünen versammelt hat, um den Sonntagabend-Krimi der ARD einem rechtspolitischen Haltbarkeitstest zu unterziehen. Unter der Überschrift »Grüne Rechts- und InnenpolitikerInnen twittern aus Freude am #tatort über fiktive BürgerInnenrechtsverletzungen« tauschen sich die Teilnehmer von TatortWatch nach der neuesten Folge über Themen wie Ermittler-Alleingänge, Informationsvergabe, Kronzeugenregelung, Sitzungsgewalt, Zeugen- und Beschuldigtenrechte und Videospeicherung aus. Obwohl die Darstellung dieser Aspekte als ›fiktiv‹ anerkannt und gelegentlich die Kunstfreiheit in Rechnung gestellt wird, sind die Beiträger dieses Twitter-Forums nicht an generischen und ästhetischen Eigenlogiken interessiert: Hier geht es vielmehr darum, die neueste Tatort-Folge mit lebensweltlichen »Normen und Interessen«, »politischen und sozialen Fertigkeiten« (Martus 2007: 26) abzugleichen und als politische Intervention zu bewerten, deren Fiktionscharakter weitestgehend ignoriert wird. Ähnliches gilt für den ›Tatort-Schnellcheck‹ auf spiegel.de. Diese rezensorische Dienstleistung vernachlässigt in ihrer Abfrage alltagstauglicher Anschlussmöglichkeiten ebenfalls ästhetische und formale Kriterien: »Was ist das Thema?«, »Wie blutig ist die neue Folge?«, »Gibt es einen gesellschaftspolitischen Auftrag?«, »Und: Können wir dies alles glauben?« Diese beiden Foren der Tatort-Fan-Kommunikation setzen ganz auf den programmatischen Realismus, dessen Bestandteile Claudia Stockinger als »›soziopolitische[ ]‹ Ausrichtung« und »wirklichkeitsnahe[ ] Darstellung« beschrieben hat (Hißnauer/Scherer/Stockinger 2014: 229). Und obwohl mit diesen tradierten Konzeptideen der Reihe vorrangig eine rhetorische Werkvorstellung aktiviert werden kann, eröffnet der Service auf spiegel.de doch auch einen Zugang zu Perspektiven, die ein emphatischeres Engagement erlauben. So führt die letzte Frage »Und wenn ich mehr wissen will« im Fall der Hamburg-Folge Kopfgeld (2014) bspw. zu einer ausführlicheren Besprechung, in der auch inter- und intraserielle Vernetzungen und Abweichungen zur Sprache kommen, die werkästhetisch genutzt werden können. Hier ist z.B. die Rede von einem »klugen dramaturgischen Dreh«, der es erlaubt, die von Til Schweiger gespielte Ermittlerfigur Nick Tschiller ironisch zum Image dieses Schauspielers in Beziehung zu setzen. Diese Distanzierung werde allerdings nicht durch Tschiller selbst, sondern durch die Figur des türkischen Ko-Ermittlers geleistet, dessen hoch gelobter Auftritt mit seinem Hamburger Vorgänger Cenk Batu verknüpft und als Modernisierungsversprechen für die gesamte Reihe präsentiert wird: »Über die Hintertür wird auf diese Weise ein Typ in die Krimi-Reihe eingeführt, dessen Einzug über die Vordertür einst nicht wirklich geklappt hat. Von 2008 bis 2012 agierte in Hamburg Mehmet Kurtulus als Kommissar Cenk Batu und lieferte extrem moderne Krimis, die in
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In dieser Rezension zeigt sich ebenfalls, wie rhetorische und emphatische Werkpolitiken zusammenspielen können. Es griffe an diesem Punkt aber zu kurz zu vermuten, dass sich die Thematisierung ethnischer Konflikte durch Ermittler mit Migrationshintergrund besonders gut eignet, um nicht allein die gesellschaftspolitische Relevanz neuer Tatort-Folgen abzuprüfen, sondern diese auch hinsichtlich der formalen Erzeugung von Effekten von Vielschichtigkeit, Mehrdeutigkeit und Tiefe zu bewerten. Abschließend soll daher diskutiert werden, ob es nicht eher der neue Tatort-Trend zu prekären Ermittlerfiguren und Ermittlungsmethoden erlaubt, Zuschauer inhaltlich und formal, und damit auch im Sinne einer Verschränkung rhetorischer und emphatischer Werkpolitiken, zu engagieren. Dass solche Werkpolitiken auch auf Vergleichseffekte und Überbietungslogiken in einem internationalen Referenzsystem zählen können, soll im Folgenden gezeigt werden.
R ELEVANZ UND T IEFE : D AS W ERKPOTENTIAL GEFÄHRDETER E RMITTLERFIGUREN Am Beispiel der kontrovers diskutierten zweiten Hamburger Tatort-Folge mit dem von Til Schweiger gespielten Ermittler Nick Tschiller lässt sich zunächst studieren, wie engmaschig und reflexiv die ARD-Reihe mittlerweile beobachtet wird: Kontrovers wurde dieser Film nicht allein in den klassischen Rezeptionsformaten diskutiert, sondern diese nahmen, quasi in einer zweiten Runde, auch wiederum auf die zahlreichen Twitter-Beiträge Bezug. In der solchermaßen verlängerten Diskussion stand spiegel.de mit dem Versuch, Kopfgeld durch die Präsentation von Ironiesignalen werkästhetisch zu nobilitieren, allerdings auf einsamem Posten. Auf der Rangliste des tatort-fundus errang der zweite Schweiger-Tatort Platz 883,16 und die in den positiven Kommentaren am häufigsten genannten Argumente lobten Kopfgeld
15 Christian Buß. »Neuer Schweiger-›Tatort‹: Lass das mal den Türken machen.« spiegel.de, 7. März 2014 (http://www.spiegel.de/kultur/tv/til-Schweriger-neuer-Hamburgertatort-um-kurden-mafia-a-956070.html). 16 6. Mai 2014 (http://.www.tatort-fundus.de/web/rangliste/folgen-wertungen/rangliste-aus wertung/aktuell-zeitpunkt.html).
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als Hommage an das Action-Genre. Die gezielte generische Abweichung durch Tatort-fremde Anleihen wurde allerdings noch häufiger als Qualitätsverfall identifiziert und mit einem ›RTL II-Etikett‹ versehen, das mit werkästhetischen Zuschreibungen nicht kompatibel ist.17 Auch auf sueddeutsche.de wurde die Folge mit Hilfe des Slogans »Jack Bauer im Nachthemd« nicht als Beitrag goutiert, welche dem Tatort-Prinzip Kontinuität und Kontur verleihen konnte: »Tschiller zeigt Tschillers Hintern, der fraglos auch Schweigers Hintern ist – Bild hatte ihn vorab gerade im Blatt. Aber was verrät schon ein Hintern über den Mann, der dranhängt? Das ist der Unterschied zu einigen der großen NDR-Folgen mit Cenk Batu, der ein Cop war, aber ein berührbares Inneres hatte. […] Nick Tschillers zweiter Fall ist vieles: ein bisschen Breaking Bad, ein bisschen Homeland, viel Terminator. Nur von einem Tatort ist dieser Tatort weit entfernt.«18
Es ist zudem kein Zufall, dass weder in den Tatort-Fundus-Kommentaren noch in dieser Auflistung international vergleichbarer Formate The Wire als Distinktion spendende Referenz genannt wird, obwohl dieser Vergleich angesichts des Themas Drogenkriminalität durchaus nahe gelegen hätte. Um die mit einer Serie wie The Wire assoziierbare Komplexität und ihr Werkpotential aufrufen zu können, reicht es offenbar nicht aus, der organisierten Drogenkriminalität einen Wiedergänger von Bruce Willis oder Mel Gibson entgegenzustellen. An weiteren neuen Tatort-Folgen lässt sich ebenfalls beobachten, dass die mit generischer Abweichung spielende Destabilisierung der Ermittlerfigur sich nicht in individualistischem Haudegentum er-
17 »Mel Gibson für Arme. Wer A sagt wie Actionfilm, muss auch B sagen wie Budget. Wenn man aber mit einem leicht aufgeblasenen Tatortbudget an die Action-Ikonen der 80er (es gab reichlich Filmzitate) anknüpfen möchte, dann kommt man halt mit etwas daher, dass eher nach Alarm für Cobra 11 aussieht«; vgl. zudem den folgenden Kommentar: »Für RTL-II-Fans super, für Arte-Fans (zu denen ich mich zähle) kaum anzusehen. Selbst ein kameratauglicher Schweiger und ein sehr guter Yardim (ohne die dieser Tatort total unterirdisch gewesen wäre) können phantasielose Regie, teils sehr schlechte andere Schauspieler, nervig seichtes Script (mit Logikfehlern etc.) nicht rausreißen. Bitte bitte nicht mehr davon, sondern anspruchsvolle, clevere und künstlerisch wertvolle TatortProduktionen, die auch in 10 oder 50 Jahren gerne noch mal gesehen werden.« Beide Kommentare 6. Mai 2014 (http://www.tatort.fundus.de/web/rangliste/folgen-wertungen/ rangliste-auswertung/einzelwertung-einer-tatort-folge.html?Nr=98user=&jahrgang= &folge=903&ermitt). 18 Holger Gertz. »Leichen pflastern seinen Weg.« sueddeutsche.de, 9. März 2014 (http:// www.sueddeutsche.de/medien/tatort-hamburg-kopfgeld-leichen-pflastern-seinen-weg-1.1 907045).
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schöpfen muss. Werkpolitische und werkästhetische Brisanz erhalten problematische Ermittlerfiguren, wenn ihre Gefährdung nachhaltiger ist; wenn diese als systemische Gefährdung inszeniert wird, die nicht allein einen Nick Tschiller auf vorhersehbare Weise rot sehen, sondern eine ganze Gesellschaft als undurchdringlich, unregulierbar und unrettbar erscheinen lässt. Um diese nachhaltige Gefährdung narrativ ausspielen zu können, wird auch im Tatort nicht nur an The Wire angeknüpft, sondern zunehmend häufiger auf jene produktiven Pathologien zurückgegriffen, die in international erfolgreichen Produktionen wie House, M.D./Dr. House (2004-2012), Dexter (2006-2013), Homeland (seit 2011) oder auch Broen/Bron/Die Brücke – Transit in den Tod (seit 2011) schwer auslotbare psychisch prekäre Figuren zu erfolgreichen Protagonisten machen. Diese männlichen und weiblichen Protagonisten zeichnen sich nicht unbedingt durch physische Hemmungslosigkeit, sondern durch eine operativ flexible Intelligenz aus. Sie sind selbst nur schwer auszurechnen und können als vielseitig einsetzbare Figuren in Ermittlungsprozessen agieren, deren moralische und epistemische Unübersichtlichkeit die kathartischen und schließenden Möglichkeiten einzelner Tatort-Folgen zunehmend herausfordern: Gesellschaftliche Aufklärung vollzieht sich in diesen Folgen eines neuen ›prekären‹ Typs nicht mehr im Modus des clue puzzles und des whodunit, des kognitiv unterhaltsamen Mitermittelns, sondern als Vorführung unlösbarer sozialer und politischer Dilemmata. Dass diese Herausforderung mit größeren Erzählbögen einhergeht und auf verschiedenen Ebenen der Tatort-Reihe werkförmige Strukturen und Effekte hervorbringt, soll noch an drei Beispielen vorgeführt werden, die alle – wenn auch auf unterschiedliche Weise – als relevant und brisant markierte Themen mit Voraussetzungen für eine emphatische Rezeption verbinden. Aufschluss kann in diesem Zusammenhang ein Vergleich zwischen der bereits erwähnten Hamburger Folge Kopfgeld und der kurz zuvor gesendeten Bremer Folge Brüder (2014) bieten. Beide Folgen wurden aufgrund des gemeinsamen Themas einer clan-förmig organisierten Bandenkriminalität verglichen, aber nur der Bremer Film wurde mit dem Vorbild The Wire in Beziehung gesetzt. Im tatort-fundus hieß es: »Ein Hauch von The Wire in Bremen, mitreißend spannend und brisant, es geht doch«;19 auf spiegel.de lobte man die »Druck-Dramaturgie und Psychologisierungs-Ökonomie« des »US-SerienVorbilds«.20 Mit ähnlichem Tenor konstatiert Regisseur Floran Baxmeyer, die Au-
19 6. Mai 2014 (http://www.tatort-fundus.de/web/rangliste/folgen-wertungen/rangliste-aus wertung/einzelwertungen-einer-tatort-folge.html?Nr=98user=8jahrgang=8folge=901er mitt). 20 Christian Buß. »Bremen-›Tatort‹ über Araber-Mafia: Mit Brausepulver gegen Bushidos Brüder.« spiegel.de, 6. Mai 2014 (http://www.spiegel.de/kultur/tv/bremer-tatort-net-ara ber-mafia-mit-sabine-postel-als-inga-luersen-a-954243.html).
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toren Dagmar Gabler und Wilfried Huismann hätten mit Brüder »ein sehr komplexes Buch vorgelegt und ich möchte nicht ausschließen, dass sie Fans von z.B. The Wire sind«.21 Auf stern.de machte man die Anleihen bei The Wire für eine komplexe Darstellung des Verhältnisses von Ermittlern und Kriminellen verantwortlich: »Zieht dieser Tatort also einfach mal so richtig plump gegen Ausländerkriminalität in [!] zu Felde? Nein. Zum einen deshalb, weil auch die Staatsmacht schlecht wegkommt. Polizisten vermasseln den Schutz wichtiger Zeugen, auf der Dienststelle wird gemobbt, ein Richter lässt sich einschüchtern. Zudem wenden die Tatort-Macher einen Kniff an: Wie in der der legendären US-Krimiserie The Wire bekommt der Zuschauer einen Einblick in das Milieu der Großfamilie. Dadurch werden die Familienmitglieder zwar nicht zu Sympathieträgern, aber man versteht immerhin, wie diese Parallelwelt funktioniert.«22
Tatsächlich enthält die Bremer Folge Brüder konzeptionelle Elemente, die zu einem Vergleich mit The Wire eher einladen als Kopfgeld. Zu diesen Elementen zählt weniger das Foto des tragisch ums Leben gekommenen neuen Kollegen Leo Uljanoff, in den Inga Lürsen sich in einer früheren Folge verliebt hatte – für eine den Einzelfilm überschreitende Thematisierung privater Konflikte wird auch im Umfeld Nick Tschillers genügend Material geliefert. Relevanter erscheint, dass auch der zweite Ermittler Stedefreund wie Inga Lürsen in dieser Folge in den Hintergrund gerückt wird, damit ein Streifenpolizist in den Mittelpunkt treten kann, dessen Überforderung gerade nicht allein durch private Probleme zu erklären ist. Dieser aus politischen Gründen überlastete Polizist entpuppt sich als Freund eines abtrünnigen ClanMitglieds, das mittlerweile mit der Polizei kooperiert. Und es ist diese transgressive Freundschaft, die die Bremer Folge nun gerade nicht zum affektiven Motor einer multikulturellen Polizei-Reform macht, sondern einem Ende aussetzt, das die Einflussmöglichkeiten von Individuen dekonstruiert: Die alten Freunde haben keine Gelegenheit zum tragischen Opfer, sondern der abtrünnige Bruder kehrt zum Clan zurück und steigt zum absehbar mächtigen Gegenspieler der Ermittler auf. Dieses Ende betont, ähnlich wie die Dramaturgie von The Wire, die serielle Produktivität des organisierten Verbrechens, und es überrascht daher auch nicht, dass dieser Tat-
21 So Florian Baxmayer im Interview mit Anna Tollkötter (http://www.daserste.de/unter haltung/krimi/tatort/specials/tatort-bremen-brueder-interview-regisseur-florian-bax meyer-100.html). 22 Annette Berger »Gesetzlos in Bremen. Ein krimineller arabischer Clan von mehreren hundert Mitgliedern terrorisiert Bremen, die ›Tatort‹-Kommissare schrumpfen zu Nebenfiguren. ›Brüder‹ ist politisch völlig unkorrekt – und hochspannend.« stern.de, 23. Februar
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men-2091065.html).
(http://www.stern.de/kultur/tv/tatort-kritik-brueder-gesetzlos-in-bre
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ort-untypische Verzicht auf moralische und epistemische closure unter den Teilnehmern eines Online-Forums diskutiert wurde, das Radio Bremen direkt im Anschluss an die Ausstrahlung von Brüder organisiert hatte. Florian Baxmeyer, der Regisseur dieser Bremer Folge, hat auch an der bereits abgeschlossenen Hamburger Batu-Serie mitgewirkt. Wie bereits oben erwähnt, wurde dem verdeckten türkischen Ermittler Cenk Batu ebenfalls zugestanden, das Tatort-Format auf anspruchsvolle Weise für amerikanische Genre-Vorbilder zu öffnen: »Ein Auftragsmord am Bundeskanzler, eine untergetauchte Profikillerin, verstörende Szenen aus dem Blickwinkel der autistischen Valerie, ein Ermittler, der bis zum Äußersten geht und die Seiten wechselt – das alles ist im amerikanischen Genrekino gang und gäbe, wird auch in US-Serien anstandslos goutiert, stellt jedoch für den Tatort-Zuschauer harte Kost dar. Einem knallharten Realitätsabgleich hält diese Folge nicht stand. Wenn man sich jedoch auf diesen amerikanischen Traum einlässt, wird man mit einem packenden Thriller belohnt, ein Tatort, wie er verstörender nicht sein könnte.«23
Die nur aus sechs Einzelfolgen bestehende Batu-Serie war damit zwar kein Quotenerfolg, aber sie wurde gerade aufgrund ihrer gezielten Abweichungen als »ein geschlossenes Gesamtbild« wahrgenommen, bei dem »der Zuschauer aktiv zum Nach- und Mitdenken aufgefordert war« und an das »man sich lange erinnern wird«.24 Auf klassisch werkästhetische Weise konnten also im Fall der Batu-Serie generische Abweichung und formale Dichte, mangelnde Popularität und hermeneutischer Anspruch verknüpft werden, um innerhalb des Ganzen der Tatort-Reihe eine einzelne Serie kanonisierend herauszuheben. Diese Möglichkeit einer werkästhetischen Schließung auf mittlerer Ebene verdankt sich aber auch einer programmatischen ›Gefährdung‹ der Ermittlerfigur. Anders als der überforderte Polizist in Brüder ist Cenk Batu allerdings nicht aufgrund mangelhafter Ausstattungs- und Arbeitsbedingungen symptomatisch überfordert. Als verdeckter Ermittler besetzt er stattdessen die prekäre ›Planstelle‹ im kriminologischen Figuren-Inventar: Es ist sein Job, gezielt und systematisch Mimikry an den Gegner zu betreiben und normierende Grenzen permanent zu überschreiten. Der Typus des verdeckten Ermittlers kann nur durch Undurchschaubarkeit überleben, und diese funktionale Undurchschaubarkeit kann als ›Tiefe‹ psychologisch, hermeneutisch und politisch ausgespielt werden. Es ist daher nicht ihr Nebeneffekt, sondern ihre zentrale Auf-
23 Heinz Zimmermann. »Die Ballade von Cenk und Valerie. Der amerikanische Traum.« tatort-fundus.de, ohne Datum (http://www.tatort-fundus.de/web/folgen/chrono/ab-2010/ 2012/837-die-ballade-von-cenk-und-valerie/der-amerikanische-traum.html). 24 Ebd.
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gabe‚ Gut und Böse so ineinander zu spiegeln, dass, ähnlich wie in The Wire, eher Ähnlichkeiten als Unterschiede zutage treten und das Urteilsvermögen der Zuschauer stimulieren. Als letztes Beispiel für die werkpolitische und werkästhetische Produktivität prekärer Tatort-Ermittler unter internationalem Einfluss kann schließlich der neue Dortmunder Ermittler Peter Faber, gespielt von Jörg Hartmann, angeführt werden. Nach mittlerweile vier Folgen wurde der neuen Dortmund-Serie auf spiegel.de und im tatort-fundus erfolgreiches ›horizontales Erzählen‹ im amerikanischen Stil bescheinigt: »Es hat sich ausgezahlt, dass der WDR den jüngsten Tatort in seinem Revier trotz aller planerischen und dramaturgischen Zumutungen nach dem Vorbild von US-Serien in der Horizontalen erzählt, dass also eine Episode auf die andere aufbaut. Ohne sich in den Vordergrund spielen zu müssen, entfalten alle wiederkehrenden Charaktere ein komplexes Eigenleben.«25
Diese ›horizontale‹ Erzeugung von Komplexität auf der Figurenebene verdankt sich auch größeren Erzählbögen, die über die Einzelfolge hinausreichen und werkartige Strukturen auf der Ebene der Serie ermöglichen. So wurde den neuen DortmundFolgen, obwohl noch keine Schließung wie im Fall der Cenk-Batu-Serie stattgefunden hat, ebenfalls schon die werkartige Einheit eines ›Zyklus‹ zugestanden: »Der vierte Fall des Dortmunder Ermittler-Teams markiert eine Zäsur. Er löst die Konflikte, die den Figuren zugrunde liegen auf. Das junge Polizistenpaar muss die erste echte Beziehungskrise bewältigen, Bönisch ihr brisantestes Geheimnis offenbaren und Faber endlich sein existenzielles Trauma auflösen. Dieser Fall wirkt wie das Ende eines Zyklus, den der WDR gemeinsam mit Autor Werner vier Folgen lang vorbereitet hat. Die Dortmunder wären jetzt bereit für neue Entwicklungen, für neue Konflikte, denn die alten sind auserzählt. Und Neues ist das, was der Tatort braucht.«26
25 Christian Buß. »Faber-›Tatort‹ über Missbrauch: Bis in die finstersten Abgründe.« spiegel.de, 31. Januar 2014 (http://www.spiegel.de/kultur/tv/dortmund-tatort-ueber-miss brauch-mit-joerg-hartmann-als-faber-a-944633.html). In ähnlicher Manier hieß es in Frank Rauschers auf tatort-fundus eingestelltem Kommentar: »Mehr als bei jeder anderen Tatort-Truppe beschäftigt einen hier die Frage, wie es im Leben der vier Kommissare weitergeht. Die Charaktere bekommen Konturen, und es kristallisieren sich Zusammenhänge heraus, auf dass man fast schon an die großen US-Serien denken möchte.« (Frank Rauscher. »Psychokrieg auf höchstem Niveau.« tatort-fundus.de, ohne Datum [http:// www.tatort-fundus.de/web/folgen/chrono/ab-2010/2014/898-auf-ewig-dein/psychokriegauf-hoechstem-niveau.html])
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Mit Dortmund setzt der WDR also offenbar auf eine Vertiefung, die über das Ende der Einzelfolgen hinweg zu beunruhigen und zu beschäftigen vermag. Als liminale Ermittlerfigur kann Faber dabei an bekannte Vorgänger und vergleichbare Mitstreiter anschließen: Von Schimanski borgt er sich nicht allein eine bereits vielkommentierte, Parka-ähnliche Jacke als Markenzeichen; mit dem Leipziger Ermittler Kepler und dem noch tätigen Thorsten Lannert in Stuttgart verbinden ihn private Traumata, die seine Arbeit ebenso behindern wie befeuern. Fabers transgressiv einsetzbare Gefährdung wird indessen weitaus forcierter ausgestellt als die verwandter TatortKollegen: Mehrfach sehen wir ihn buchstäblich am Rand, weil am Rand eines Hochhaus-Daches stehen; und seine Neigung, Verbrechen durch ein beunruhigendes Talent zur rekonstruierend-nachempfindenden Empathie aufzuklären, verbindet ihn mit internationalen Vorbildern wie z.B. dem Profiler Tony Hill aus der auf Val McDermids Romanen basierenden BBC Serie Wire in the Blood/Hautnah – Die Methode Hill (2002-2008). – Als Überbietung der mittlerweile zur Routine gewordenen Privatprobleme der Tatort-Ermittler fungiert Fabers nachhaltiger gestörte Psyche als veritabler Serien-Motor: »Hartmann kam als Stasi-Ekel in Weißensee groß raus – ist seitdem abonniert auf die zwiespältigen Rollen. Und auch den Kommissar Faber gibt er gnadenlos doppelmoralisch. Das beweist noch ein Spruch gegenüber seiner Kollegin: ›Von mir ist man nichts anderes gewohnt als verrückt zu sein, von ihnen schon. Zwei von meiner Sorte können wir uns nicht leisten.‹ Das stimmt – aber von dem einen wollen wir noch viel mehr sehen. Das aber lässt der listige Hartmann bewusst offen: ›Wir gehen zwar alle von einem fünften Dortmunder Tatort aus, aber können wir wirklich sicher sein, dass Faber nicht springt?‹«27
Das Gesamtprojekt Tatort leistet sich gegenwärtig mehr als eine Ermittlerfigur, die den öffentlich-rechtlichen Auftrag einer Gesellschaftsbeobachtung im KrimiFormat nicht mehr im 90-Minuten-Takt zu erledigen vermag. Auch mit dieser Absage an Schließungen auf der Ebene der Einzelfolge verdichten sich die Werkpotentiale der gesamten Reihe.
26 Christoph Cöln. »Herr Kommissar, ich bin ihr Mörder.« welt.de, 6. Mai 2014 (http://www.welt.de/print/wams/kultur/article124451638/Herr-Kommissar-ich-bin-ihrmoerder.html). 27 Bernd Peters. »Dieser Kommissar ist eine Zeitbombe.« express.de, 4. Februar 2014 (http://www.express.de/promi-show/so-wird-der-tatort--dieser-kommissar-ist-eine-zeit bombe,2186,26064308.html).
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ANDERE R EIHEN
ZITIERTE
F ILME , M EHRTEILER , S ERIEN UND
Alarm für Cobra 11 – Die Autobahnpolizei (D, seit 1996 [RTL]) Breaking Bad (USA, 2008-2013 [AMC]) Broen/Bron/Die Brücke – Transit in den Tod (DNK u.a., seit 2011 [SVT1]) Das Boot 1981 (BRD, R: Wolfgang Petersen) Dexter (USA, 2006-2013 [Showtime]) Im Angesicht des Verbrechens (D, 2010 [Arte/ARD]) Homeland (USA, seit 2011 [Showtime]) Homicide: Life on the Street/Homicide (USA, 1993-1999 [NBC]) House/House, M.D./Dr. House (USA, 2004-2012 [Fox]) Lost (USA, 2004-2010 [ABC]) Polizeiruf 110 (DDR/D, seit 1971 [DFF/ARD] The Terminator/Der Terminator 1984 (USA, R: James Cameron) The Wire (USA, 2002-2008 [HBO]) Wire in the Blood/Hautnah – Die Methode Hill (GB, 2002-2008 [ITV]) Weißensee (D, seit 2010 [ARD])
Autorinnen und Autoren
Moritz Baßler, Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Münster. Mitglied des Schlüsselthemen-Projektes »Konsumästhetik« (VW-Stiftung) und des DFG-Graduiertenkollegs »Literarische Form«. Monographien: Die Entdeckung der Textur (1994), Der deutsche Pop-Roman (2002), Die kulturpoetische Funktion und das Archiv (2005). Forschungsschwerpunkte: Deutsche Literatur vom Realismus bis zur Gegenwart, Verfahrensgeschichte, Literaturtheorie, Popkultur. Mitherausgeber der Zeitschrift POP – Kultur und Kritik. Regina F. Bendix, Professorin für Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie an der Georg-August-Universität Göttingen; Sprecherin der DFG-Forschergruppe »Die Konstituierung von Cultural Property«; Leiterin eines Teilprojekts in der DFGForschergruppe »Ästhetik und Praxis populärer Serialität«. Monographien: Backstage Domains (1989), In Search of Authenticity (1997). Forschungsschwerpunkte: Kultur zwischen Wissenschaft und Politik, kulturanthropologische Kommunikations- und Erzählforschung, Wissens- und Wissenschaftsgeschichte. Joan Kristin Bleicher, Professorin für Medienwissenschaft an der Universität Hamburg. Jüngste Publikationen: Die mediale Zwangsgemeinschaft. Der deutsche Kinofilm zwischen Filmförderung und Fernsehen (2013), Sexy Media? Gender/ Queertheoretische Analysen in den Medien- und Kommunikationswissenschaften (2014; Hg. zus. mit Sigrid Kannengießer, Skadi Loist und Katja Schumann). Forschungsschwerpunkte: Mediengeschichte, Medientheorie, Programmtheorie, Fernsehforschung, Internetentwicklung, Internetangebote, aktuelle Fernsehentwicklungen, Internetfernsehen. Andreas Blödorn, Professor für Neuere deutsche Literatur und Medien an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Monographie: Zwischen den Sprachen. Modelle transkultureller Literatur bei Christian Levin Sander und Adam Oehlenschläger (2004). Forschungsschwerpunkte: deutsche Literatur- und Medien-
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geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Mediengeschichte des Krimis, Intermedialität und Epochenwandel vom Realismus zur Frühen Moderne. Hendrik Buhl, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Medienwissenschaft der Universität Regensburg, studierter Kulturwissenschaftler, gelernter Drucker und Musiker. Monographie: ›Tatort‹. Gesellschaftspolitische Themen in der Krimireihe (2013). Forschungsschwerpunkte: Krimireihe Tatort, Fernsehserien, NS und Holocaust in Film und Fernsehen, Populärkultur und Medien, Druckmedien. Dennis Gräf, Akademischer Rat am Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Passau. Monographien: ›Tatort‹. Ein populäres Medium als kultureller Speicher (2010), Sex & Crime. Ein Streifzug durch die Sittengeschichte des ›Tatort‹ (2010; zus. mit Hans Krah), Filmsemiotik. Eine Einführung in die Analyse audiovisueller Formate (2011; zus. mit Stephanie Großmann, Peter Klimczak, Hans Krah, Marietheres Wagner). Forschungsschwerpunkte: Wertevermittlung in den (populären) Medien, Film der 1960er Jahre. Julika Griem, Professorin für Anglistische Literaturwissenschaft an der GoetheUniversität Frankfurt; Monographien: Brüchiges Seemannsgarn. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Werk Joseph Conrads (1995), Monkey Business: Affen als Figuren anthropoloigscher und ästhetischer Reflexion 1800-2000 (2010); Forschungsschwerpunkte: Literatur-, Erzähl- und Gattungstheorie, Kriminalliteratur, Serialität, Gegenwartsliteraturforschung, Stadtforschung, Figurationen des Ganzen, Animal Studies. Christine Hämmerling, Assistentin mit Abschluss am Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft an der Universität Zürich; zuvor wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie an der Georg-August-Universität Göttingen. 2010 bis 2013 wissenschaftliche Mitarbeiterin in der DFG-Forschergruppe »Ästhetik und Praxis populärer Serialität«. In diesem Kontext Arbeit an einer Dissertation über die TV-Krimireihe Tatort als Medium sozialer Positionierung. Monographie: »Today is a Holiday«. Freizeitbilder in der Fernsehwerbung (2011). Forschungsschwerpunkte: Mediennutzungsforschung, -theorie und -analyse, Konsum- und Werbeforschung sowie Vorurteilsforschung bezüglich Minderheiten in Europa. Carsten Heinze, Lehrkraft für besondere Aufgaben am Fachbereich Sozialökonomie der Universität Hamburg; Organisator der AG Filmsoziologie in der Sektion Medien- und Kommunikationssoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (zusammen mit Alexander Geimer und Rainer Winter); Kurator des Dokumentarfilmprojekts dokART im Metropolis Kino Hamburg. Monographien: Identität und
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Geschichte in autobiographischen Lebenskonstruktionen (2008), Herausgeberschaft: Perspektiven der Filmsoziologie (2012; zus. mit Stephan Moebius und Dieter Reicher), Medialisierungsformen des (Auto-)Biographischen (2013; zus. mit Alfred Hornung). Forschungsschwerpunkte: Filmsoziologie, Geschichte und Theorie des dokumentarischen Films, Erinnerungskulturforschung, (Auto-)Biographieforschung, Jugend- und Musikkulturen. Christian Hißnauer, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Deutsche Philologie der Georg‐August‐Universität Göttingen; Leiter eines Teilprojekts in der DFG‐Forschergruppe »Ästhetik und Praxis populärer Serialität«. Monographien: Fernsehdokumentarismus: Theoretische Näherungen, pragmatische Abgrenzungen, begriffliche Klärungen (2011), Wegmarken des Fernsehdokumentarismus: Die Hamburger Schulen (2013; zus. mit Bernd Schmidt), »Vergangenheitsbewältigung« im ›Tatort‹? NS-Bezüge in der ARD-Krimireihe (2014), Föderalismus in Serie. Die Einheit der ARD-Reihe ›Tatort‹ im historischen Verlauf (2014; zus. mit Stefan Scherer und Claudia Stockinger). Forschungsschwerpunkte: Fernsehgeschichte, Theorie, Geschichte und Ästhetik dokumentarischer und hybrider Formen in Film und Fernsehen, Serialitätsforschung. Thomas Klein, Film- und Medienwissenschaftler; Leiter des DFG-Projekts »Western global – Interkulturelle Transformationen des amerikanischen Genres par excellence« (2010-2013) an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz; Mitglied im DFG-Forschernetzwerk »Erfahrungsraum Kino« (2011-2014); Habilitation am IMK der Universität Hamburg im Fach Medienwissenschaft (2014); Monographien: Ernst und Spiel: Grenzgänge zwischen Bühne und Leben im Film (2004); Forschungsschwerpunkte: Serialität, Genre Studies, Erfahrungsraum Kino, Method Acting, Schauspielen/Darstellen im digitalen Zeitalter, Adaptation Studies. Hans Krah, Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Passau; Sprecher des DFG-Graduiertenkollegs »Privatheit. Formen, Funktionen, Transformationen«. Monographien: Einführung in die Literaturwissenschaft/Textanalyse (2006), Sex & Crime. Ein Streifzug durch die Sittengeschichte des ›Tatorts‹ (2010; zus. mit Dennis Gräf), Filmsemiotik. Eine Einführung in die Analyse audiovisueller Formate (2011; zus. mit Dennis Gräf, Stephanie Großmann, Peter Klimczak und Marietheres Wagner), Medien und Kommunikation. Eine interdisziplinäre Einführung (2006, 3. Aufl. 2013; Hg. zus. mit Michael Titzmann). Forschungsschwerpunkte: Narratologie, Medien- und Kultursemiotik, Privatheit, Fantastik, NS-Film. Rolf Parr, Professor für Germanistik (Literatur- und Medienwissenschaft) an der Universität Duisburg-Essen; Leiter des Masterstudiengangs »Literatur und Medien-
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praxis«. Monographien: Strukturen und Funktionen der Mythisierung Bismarcks (1860-1918) (1992); Interdiskursive As-Sociation. Studien zu literarisch-kulturellen Gruppierungen (2000); Autorschaft. Eine kurze Sozialgeschichte der literarischen Intelligenz (2008; zus. mit J. Schönert); Die Fremde als Heimat. Heimatkunst, Kolonialismus, Expeditionen (2014). Forschungsschwerpunkte: Literatur-, Medien und Kulturtheorie/-geschichte des 18. bis 21. Jahrhunderts, Diskurstheorie, Kollektivsymbolik, Mythisierung historischer Figuren, Literatur/Medien-Beziehungen. Stefan Scherer, Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft am Karlsruher Institut für Technologie; Fellow in der DFG‐Forschergruppe »Ästhetik und Praxis populärer Serialität«. Monographien: Richard Beer‐Hofmann und die Wiener Moderne (1993), Witzige Spielgemälde: Tieck und das Drama der Romantik (2003), Einführung in die Dramen‐Analyse (2010, 2. Aufl. 2013), Föderalismus in Serie. Die Einheit der ARD-Reihe ›Tatort‹ im historischen Verlauf (2014; zus. mit Christian Hißnauer und Claudia Stockinger). Forschungsschwerpunkte: Mediensozialgeschichte der literarischen Form, Gattungstheorie, Dramatologie, Literatur‐ und Kulturzeitschriften, »Synthetische Moderne« (1925‐1955). Claudia Stockinger, Professorin für Neuere deutsche Literatur und Mediengeschichte an der Georg‐August‐Universität Göttingen; Sprecherin des DFGGraduiertenkollegs »Literatur und Literaturvermittlung im Zeitalter der Digitalisierung«; Leiterin eines Teilprojekts in der DFG‐Forschergruppe »Ästhetik und Praxis populärer Serialität«. Monographien: Das dramatische Werk Friedrich de la Motte Fouqués (2000), Das 19. Jahrhundert: Zeitalter des Realismus (2010), Föderalismus in Serie. Die Einheit der ARD-Reihe ›Tatort‹ im historischen Verlauf (2014; zus. mit Christian Hißnauer und Stefan Scherer). Forschungsschwerpunkte: deutsche Medien und Populärkultur, deutsche Literatur‐ und Kulturgeschichte (insb. 19.‐21. Jh.), Literatur und Religion, Intertextualitätsforschung, Theorien der Kanonbildung und Autorschaft, Polemiologie. Stephan Völlmicke, wissenschaftlicher Koordinator des DFG-Graduiertenkollegs »Vertrauen und Kommunikation in einer digitalisieren Welt« an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Monographie: 40 Jahre Leichenshow – Leichenschau. Die Veränderung der audiovisuellen Darstellung des Todes im Fernsehkrimi ›Tatort‹ vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Wandels im Umgang mit Sterben und Tod. (2013). Forschungsschwerpunkte: Todesdarstellungen in audiovisuellen Medien, Filmanalyse und Filmtheorie. Thomas Weber, Professor für Medienwissenschaft an der Universität Hamburg; Leiter des Teilprojekts »Themen und Ästhetik des Dokumentarischen« des DFGProjekts »Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland 1945-2005«.
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Monographien: Die unterhaltsame Aufklärung. Ideologiekritische Interpretationen von Kriminalfernsehserien des westdeutschen Fernsehens (1992), Medialität als Grenzerfahrung (2008). Forschungsschwerpunkte Medientheorie, Film- und Fernsehwissenschaft. Tina Welke, Head of German Departement der Diplomatischen Akademie Wien; Universitätslektorin am Institut für Germanistik im Fachbereich Deutsch als Fremdsprache/Zweitsprache der Universität Wien. Monographien: Der ›Tatort‹ als gesamtdeutscher Tatort. Analyse einer inszenierten deutsch-deutschen Annäherung (2005), Tatort Deutsche Einheit. Ostdeutsche Identitätsinszenierung im ›Tatort‹ des MDR (2012). Forschungsschwerpunkte: Diskursanalyse, Film, Film- und Mediendidaktik, Filmvermittlung. Melanie Wolber, Fernsehfilm-Redakteurin im Südwestrundfunk (SWR). Arbeitsschwerpunkte: seit 2000 verantwortlich für Lena-Odenthal-Tatorte und seit 2011 zuständig für Crossmedia-Projekte und Crossmediales Erzählen (Tatort+) im SWR.
Kultur- und Medientheorie Erika Fischer-Lichte, Kristiane Hasselmann, Alma-Elisa Kittner (Hg.) Kampf der Künste! Kultur im Zeichen von Medienkonkurrenz und Eventstrategien Dezember 2014, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-89942-873-5
Kai-Uwe Hemken Exposition / Disposition Eine Grundlegung zur Theorie und Ästhetik der Kunstausstellung Mai 2015, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-8376-2095-5
Annette Jael Lehmann, Philip Ursprung (Hg.) Bild und Raum Klassische Texte zu Spatial Turn und Visual Culture Februar 2015, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1431-2
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Kultur- und Medientheorie Hermann Parzinger, Stefan Aue, Günter Stock (Hg.) ArteFakte: Wissen ist Kunst – Kunst ist Wissen Reflexionen und Praktiken wissenschaftlich-künstlerischer Begegnungen November 2014, 544 Seiten, Hardcover, zahlr. z.T. farb. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2450-2
Johannes Springer, Thomas Dören (Hg.) Draußen Zum neuen Naturbezug in der Popkultur der Gegenwart März 2015, ca. 250 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1639-2
Marc Wagenbach, Pina Bausch Foundation (Hg.) Tanz erben Pina lädt ein Mai 2014, 192 Seiten, kart., zahlr. Abb. , 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2771-8
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Kultur- und Medientheorie Hermann Blume, Elisabeth Großegger, Andrea Sommer-Mathis, Michael Rössner (Hg.) Inszenierung und Gedächtnis Soziokulturelle und ästhetische Praxis September 2014, 298 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2320-8
Vittoria Borsò (Hg.) Wissen und Leben – Wissen für das Leben Herausforderungen einer affirmativen Biopolitik (unter Mitarbeit von Sieglinde Borvitz, Aurora Rodonò und Sainab Sandra Omar)
Vincent Kaufmann, Ulrich Schmid, Dieter Thomä (Hg.) Das öffentliche Ich Selbstdarstellungen im literarischen und medialen Kontext August 2014, 226 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb. , 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2409-0
Christopher F. Laferl, Anja Tippner (Hg.) Künstlerinszenierungen Performatives Selbst und biographische Narration im 20. und 21. Jahrhundert
Dezember 2014, 356 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2160-0
Oktober 2014, 278 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2215-7
Frédéric Döhl, Renate Wöhrer (Hg.) Zitieren, appropriieren, sampeln Referenzielle Verfahren in den Gegenwartskünsten
Tobias Nanz, Johannes Pause (Hg.) Politiken des Ereignisses Mediale Formierungen von Vergangenheit und Zukunft
Januar 2014, 288 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2330-7
Januar 2015, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1993-5
Alexander Fleischmann, Doris Guth (Hg.) Kunst – Theorie – Aktivismus Emanzipatorische Perspektiven auf Ungleichheit und Diskriminierung
Michael Niehaus, Wim Peeters (Hg.) Rat geben Zu Theorie und Analyse des Beratungshandelns
Mai 2015, ca. 260 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2620-9
Gerald Kapfhammer, Friederike Wille (Hg.) »Grenzgänger« Mittelalterliche Jenseitsreisen in Text und Bild
Januar 2014, 328 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2359-8
Brigitte Obermayr Datumskunst Zeiterfahrung zwischen Fiktion und Geschichte Dezember 2015, ca. 160 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 17,80 €, ISBN 978-3-89942-921-3
Februar 2015, 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., 31,80 €, ISBN 978-3-89942-888-9
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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Gudrun Rath(Hg.)
Zombies Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2014
Mai 2014, 120 Seiten, kart., 14,99 €, ISBN 978-3-8376-2689-6 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Wenn die Toten zum Leben erwachen: Die Figur des Zombie ist nach wie vor populär. Aber was genau ist ein Zombie und woher rührt seine Faszinationskraft? Das aktuelle Heft der ZfK geht dem auf den Grund. Lust auf mehr? Die ZfK erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 15 Ausgaben vor. Die ZfK kann auch im Jahresabonnement für den Preis von 25,00 € (international 30,00 €) bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]
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