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German Pages 298 [295] Year 2015
Christine Hanke Zwischen Auflösung und Fixierung
Christine Hanke (Dr. phil.) lehrt Europäische Medienwissenschaft am Institut für Künste und Medien der Universität Potsdam und ist Mitherausgeberin von »Nach dem Film«. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Diskursanalyse, Bildtheorie, Science Studies, Film und digitale Medien.
Christine Hanke
Zwischen Auflösung und Fixierung. Zur Konstitution von ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ in der physischen Anthropologie um 1900
Die Arbeit wurde im Rahmen des DFG-Graduiertenkollegs »Identität und Differenz. Geschlechterkonstruktion und Interkulturalität (18.-21. Jahrhundert)« der Universität Trier gefördert.
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
© 2007 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Macnamara, N[ottidge] C[harles]: Studien über den prähistorischen Menschen und sein Verhältnis zu der jetzigen Bevölkerung Westeuropas. In: Archiv für Anthropologie 27. 1902: Tafel XXI, Ausschnitt Layout & Satz: Marc Ciabattoni Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-626-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt Vorwort und Dank
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Einführung Perspektivverschiebung Wissenschaftsforschung Zum epistemischen Status der Körper Aufbau der Studie
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Vermessung von ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ Normalismus Mechanische Objektivität Perspektivität Konstitution von ›Rasse‹ Das exemplarische Material Genauigkeitsgrade Datenerhebungen an Schädeln Erste vergleichende Betrachtungen Ein ›klareres Bild der Verhältnisse‹ – Häufungsschemata Physisch-anthropologische Unschärfen Identifikation von ›Rassen‹ Ausdifferenzierungen und Vervielfältigungen der Kategorien Konstitution von ›Geschlecht‹ ›Geschlecht‹ um 1900 Physisch-anthropologische Konstitution von ›Geschlecht‹ Vergeschlechtlichte Körperteile Vom ›Pathologischen‹ zum ›Normalen der Rasse‹ Flexibilisierungen Probleme bei der Identifizierung
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›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ – Verflechtungen und Überschneidungen Überlagerung von Onto- und Phylogenese Zwei Beiträge zur Überkreuzung von ›Geschlecht‹ und ›Rasse‹ Datenanordnungen ›Rassische‹ Fragmentierungen Der ›sexuelle Unterschied‹ Nabelhöhe, Symphyse und Körpermitte Das ›normale Becken‹ Anthropologische Konzeptionen des ›Juden‹ Weissenberg: »Die südrussischen Juden« Profilierung des statistisch-empirischen Zugangs ›Kultur‹ und ›Natur‹ Ausdifferenzierungen ›des Juden‹ Weissenbergs Einsatz der Kategorie ›Geschlecht‹ Schiff: »Anthropologische Untersuchungen an jüdischen Kindern in Jerusalem« Sukzessives Aussortieren von Gruppen Hinwendung zu den ›Mädchendaten‹ Haar- und Augenfarben-Differenzen Tschepourkovsky: »Anthropologische Studien« ›Rassedifferenz‹ in einer Zahl ›Geschlechterähnlichkeit‹ ›Russische Mädchen‹ und ›jüdische Knaben‹ Objektivität und Urteil Anthropologische Visualisierungen Tabellen, Kurven, Häufungsschemata Tabellen Kurven Kurvenvorformen Häufungsschemata Umrisszeichnungen Umrisse und Linien – geometrisch und morphologisch Übereinander/Ineinander Übergänge Fotografien Schädelfotografien Mediale Lücken – Fridolin Serielle Repräsentationen – Nyström Visualisierung des ›Typus‹ – Reche Freistellungen – Asmus Fotografische Narration – Macnamara
79 80 84 88 92 97 103 109 114 116 117 119 123 127 131 132 135 137 140 142 147 151 153 167 171 172 178 182 188 191 192 201 209 211 215 216 222 226 228 231
Plastische Visualisierungen Kollmann/Büchly: Die ›Frau von Auvernier‹ Merkel: Ein Bewohner des Leinegaues und ein ›Neuholländerinnen‹-Kopf Eggeling: Ein erhängter 30-Jähriger Bildgebung
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Schluss
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Abbildungsnachweise
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Literaturverzeichnis
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Vor wor t und Dank
Die vorliegende Studie ist Ergebnis meiner mehrjährigen ›Reise‹ durch verschiedene disziplinäre Perspektiven. Von einem Studium der Film- und Literaturwissenschaften kommend erhielt ich 1996-2000 die Gelegenheit im soziologischen DFG-Forschungsprojekt »Die Ordnung der Geschlechterverhältnisse« an der Universität Paderborn mitzuarbeiten, aus dem ich die zwei Grundzüge meiner hier präsentierten Forschung gewann: Im Rahmen unserer Methodendiskussionen um Michel Foucaults Diskursanalyse entwickelte ich zum einen erste Ansätze meines methodischen Zugangs, Michel Foucaults und Jacques Derridas Perspektiven miteinander zu verbinden. Zum anderen eröffnete sich im Rahmen des Projekts ein für mich ganz neues Forschungs-Feld: die anthropologische Konstruktion von ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ im Kontext der ›Kulturkrisen‹-Debatten um 1900. Die Frage, wie die in der Anthropologie wissenschaftlich, metrisch-objektiv abgesicherten Identifizierungen von ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ analysiert, kritisiert und dekonstruiert werden könnten, war dabei von Beginn an der treibende Motor meiner Arbeit – ging es mir doch darum, die Gemachtheit der Kategorien auf eine Weise in den Blick zu bekommen, die darüber hinausgehen sollte, einfach von einer ›wahre(re)n‹ Position des ›Außen‹ oder der ›heutigen Forschung‹ zu postulieren, dass es ›Rassen‹ nicht gibt (trotz meiner Nähe und politischen Sympathie zu dieser Position). Die Entdeckung der ›Leere‹ inmitten der wissenschaftlichen Identifikation selbst gab mir einen ersten Hinweis für meine weiteren Analysen, die ich durch Erkundungen der aktuellen Wissenschaftsforschung und Geschichtsschreibung zu unterfüttern suchte. Inspirierende Anregungen boten mir dabei insbesondere die Lektüre von Hans-Jörg Rheinbergers »Experiment, Differenz, Schrift«
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(1992) und Philipp Sarasins methodologische Überlegungen zu einer Verbindung von Foucault, Lacan und Derrida für die Geschichtswissenschaft (2001b). Bei Rheinberger traf ich verblüfft auf eine Beschreibung wissenschaftlicher Wissensbildung als immer schon dekonstruktiver Prozess – während ich mittels dekonstruktivistischer Perspektive ja versuchte, die Evidenz von ›Rasse‹ in der Anthropologie zu erschüttern –; Sarasins Perspektive wiederum bestärkte mich weiter in meinen Zusammendenken von Diskursanalyse und Dekonstruktivismus. Der theoretische, methodische wie inhaltliche Anspruch einer Dekonstruktion naturwissenschaftlicher Kategorien ›von Innen‹ war mir Herausforderung wie intellektuelles Abenteuer und Experiment mit offenem Ausgang – insbesondere auch als mir klar wurde, dass die Performativität anthropologischer Visualisierungen in die Analyse mit einzubeziehen war. Ohne die Kommentare, Inspirationen, Gespräche und Unterstützung von einer ganzen Reihe von Personen, die meine Analysen und methodischen Reflexionen durch Lektüre von Textteilen, kritische Fragen und Hinweise begeleitet haben, hätte diese Studie nicht die Form, in der sie jetzt vorliegt. Ihnen allen möchte ich ganz herzlich danken! Für die ›frühe‹ Phase danke ich den ›Paderborner‹ Kolleginnen Hannelore Bublitz, Andrea Seier, Andrea D. Bührmann, Sabine Mehlmann, für Kommentare zu frühen Textteilen darüber hinaus Sabine Nessel in Berlin. Finanziell gefördert wurde meine Arbeit 2001-2003 durch ein Promotionsstipendium der DFG im Rahmen des interdisziplinären Graduiertenkollegs »Identität und Differenz. Geschlechterkonstruktion und Interkulturalität« an der Universität Trier, wo sie 2005 als Promotionsarbeit angenommen wurde. Inhaltlich gefordert und gefördert wurde ich in diesem Kontext durch die am Kolleg beteiligten StipendiatInnen und Lehrenden – insbesondere sei meinen beiden Gutachtern Herbert Uerlings und Christoph Antweiler gedankt. Für die kritische und produktive Lektüre und Diskussion einzelner Kapitel und ihre moralische Unterstützung im gesamten Verlauf der Arbeit danke ich Birgit Kohler, Judith Keilbach, Markus Stauff und Kathrin Peters sehr herzlich. Ebenso danke ich Melanie Ulz, meiner ›Diss-Gefährtin‹, mit der ich ein Jahr der Höhen und Tiefen des Schreibens in der Staatsbibliothek Berlin geteilt habe. Dieter Mersch danke ich für das Eröffnen neuer Perspektiven, die wesentlich zum Abschluss der Arbeit beigetragen haben. Weitere KollegInnen und FreundInnen verschiedener Arbeitsgruppen – v.a. der Berliner AG Diskursanalyse, der BFSSW und der BIGEB –, waren mir eine hilfreiche Begleitung. Die VeranstalterInnen diverser Tagungen und Summer Schools haben mir ermöglicht, Arbeitsschritte meiner Studie zu präsentieren – die Kommentare und Fragen zu meinen Vorträgen halfen dabei zur Schärfung und Erweiterung meines Blicks. Die MitarbeiterInnen der Staatsbibliothek Berlin und des Teams von Biblio Copy ha-
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Vorwort und Dank
ben durch ihre Unterstützung und Kooperation dazu beigesteuert, dass mir das erforderliche Material zur Verfügung stand und das »Haus 2« am Potsdamer Platz in Berlin wie zu einem zweiten ›Zu Hause‹ wurde – stellvertretend für alle Abteilungen sei hier Oliver Berggötz gedankt, der unbürokratisch meinen Arbeitsplatz immer wieder verlängerte. Meine Freundinnen und Freunde haben mir nicht zuletzt durch ihre unendliche Geduld in jenen Hochphasen, in denen ich kaum für Privates ansprechbar war, den Rücken frei gehalten und waren mir große moralische Unterstützung; hierfür danke ich vor allem Beate Ratz, Chris Langela, Brigitte Loose, Sybille Bauriedl, Oliver Teuber und Rita Vázquez Fernández. Meine Eltern bewahrten mich durch ihre großzügige finanzielle Unterstützung in der Schlussphase vor nervenaufreibenden Ämtergängen und Nebenjobs; dafür und für die Übernahme der Druckkosten danke ich sehr. Marc Ciabattoni schließlich hat mir durch professionellen Satz und Layout eine große Last von den Schultern genommen. Ganz besonderer Dank geht an Susanne Bauer, mit der ich seit Jahren anregende Diskussionen zu naturwissenschaftlicher und datenförmiger Wissensproduktion führe. In den Jahren, in denen diese Arbeit entstand, hat sie mich in all meinen Höhen und Tiefen begleitet und meine Launen mit viel Geduld und Humor ertragen, wofür ich mich sehr glücklich schätze.
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Einführung
»Ich nützte die[…] Gelegenheit nach Kräften aus, ich belohnte jeden Malaier, der mir einen Kubu zuführte; jeden Kubu entließ ich mit reichen Geschenken und bat ihn, mir seine Verwandten zuzuführen oder mich zu ihnen zu bringen. So ist es mir während meines etwa zweimonatigen Aufenthaltes dort gelungen, gegen 30 Angehörige dieses aussterbenden, an Seelenzahl vielleicht kaum einige tausend Individuen betragenden Stammes zu Gesicht zu bekommen. Ihrer 17 konnte ich messen und anthropologisch aufnehmen, einige auch photographieren bzw. zeichnen.« (Volz 1909: 89)
Diese Passage eröffnet einen Blick in die anthropologische Praxis der Datenerhebung zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Mit Belohnungen und ›Vermittlungsgebühren‹, mit mal mehr, mal weniger Druck versuchen Anthropologen, Ethnologen, Mediziner, Geographen, Kolonialbeamte und andere Forscher auf den kolonialen Reisen in ›fremde Länder‹, aber auch in der eigenen Bevölkerung möglichst vieler Menschen habhaft zu werden, um sie zu vermessen, zu beschreiben, zu zeichnen oder zu fotografieren. Wurden bereits seit Anfang des 18. Jahrhunderts zunehmend gezielt Sammlungen konzipiert, wird die Sammlung von Körper-Daten und ‑Materialien mit Gründung anthropologischer und ethnologischer Gesellschaften unterstützt und weiter forciert. So führt beispielsweise die »Deutsche Ge
Weltweit entstehen im 19. Jahrhundert anthropologische Gesellschaften, zum Beispiel 1859 in Paris, 1863 in Moskau, 1863/1871 in London, 1870 in Italien, 1871 in Wien, 1875 in Spanien, 1879 in Washington, 1882 in Brüssel, 1884 in Tokio, 1888 in St. Petersburg usw. In Deutschland bildet sich in Berlin 1864 unter dem Dach der 1822 gegründeten »Versammlungen deut-
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sellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte« in den Jahren 1874 bis 1884 eine umfangreiche Studie zu Haar-, Augen- und Hautfarben der Schüler des Deutschen Reiches durch, der eine Reihe weiterer Schul- aber auch Militärerhebungen folgen. Neben Aufrufen zur Datensammlung erscheinen eine Reihe von Anleitungen zur Datenerhebung für reisende Laien und Anthropologen, wie etwa Paul Brocas »Instructions générales pour les recherches anthropologiques à faire sur le vivant« (Broca [1864]) und Paul Topinards »Instructions anthropométriques pour les voyageurs« (Topinard 1885), die »Notes and Queries on Anthropology« der British Association for the Advancement of Science (British Association for the Advancement of Science 1874) und die von Georg von Neumayer herausgegebene »Anleitung zu wissenschaftlichen Beobachtungen auf Reisen« (Neumayer 1875) mit Sammel-Richtlinien von Rudolf Virchow (Virchow 1875) und Anleitungen zur Fotografie von Gustav Fritsch (Fritsch 1875). Die Institutionalisierung der Anthropologie geschieht im Kontext der Durchsetzung neuer Verfahren: Im Gefolge vor allem von Adolphe Quételet gelten Vermessung und metrisch-statistische Datenbearbeitungen als die neuen Garanten naturwissenschaftlicher Objektivität (vgl. Porter 1986; Link 1996: insbes. 185-312). Die Euphorie über diese empirischen Formen der Wissensproduktion führt zu einem wahren »Sammeleifer« (Wiener 1990: 74) nicht nur allgemein von anthropologischem Material, sondern vor allem von Messdaten. Der ungarische Anthropologe Aurel von Török schlägt – gewissermaßen als ›Höhepunkt‹ dieser ›Erhebungswut‹ – allein für die Behandlung des Schädels um die 6000 Einzelmaße vor (Török 1890). Angesteckt von der Euphorie, mittels metrisch-statistischer Verfahren ›die Welt‹ zu erfassen, und orientiert an empfohlenen Mess- und Beschreibungsschemata entstehen riesige Sammlungen von Daten und von (Körper‑)Material. Auf diese Weise wächst ein umfassendes Archiv mit Ausgangsdaten für die weitere anthropologische Bearbeitung heran. Unzählige Menschen werden gerastert und als Daten in die Ordnung des europäischen physisch-anthropologischen Diskurses überführt. Neben den riesigen Datenmengen wandern aber auch gekaufte und entwendete Knochen,
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scher Naturforscher und Ärzte« eine Sektion für »Anthropologie und Ethnologie« unter dem Vorsitz Rudolf Virchows, aus der 1870 die »Deutsche Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte« hervorgeht (vgl. u.a. Mühlmann 1986: 96; Stölting 1987: 130). Geleitet wurde die Studie von Rudolf Virchow, die Ergebnisse wurden publiziert in Virchow 1886. Berichte von weiteren Studien etwa: Schliz 1902; Montgomery West 1894; Birkner 1902a. Ein beeindruckendes Bild dieses Sammeleifers hinterließ der Raum »Das Archiv – Die Inventarisierung des Menschen« in der Ausstellung »Der Neue Mensch« im Hygienemuseum Dresden im Jahr 1999 (vgl. Lepp/Roth/Vogel 1999: 114-141).
Einführung
Schädel und Kulturgegenstände in die europäischen Archive und Museen, während Händler lebende Menschen für Völkerschauen nach Europa verschiffen, die dann wiederum von Anthropologen untersucht und vermessen werden (vgl. u.a. Thode-Arora 1989; Benninghoff-Lühl 1984; Fischer 1981; Dreesbach 2005). All dieses Material wird in anthropologischen Instituten, Sammlungen oder Museen sortiert und archiviert, auf Sitzungen und Tagungen der Fachgesellschaften vorgestellt, in Fachzeitschriften publiziert, in Museen, Ausstellungen, Vorträgen und populärwissenschaftlichen Büchern präsentiert, von wo aus es in den Alltagsdiskurs fließt. Die anthropologische Sammlung von Körpern, Daten und Visualisierungen stellt der Anthropologie die Arbeitsobjekte, an denen sie ihre Identifizierungen vornehmen kann – ähnlich wie auch anatomische Atlanten den Wissenschaften die Arbeitsobjekte schaffen (vgl. Daston/Galison [1992]: 37). Das Hauptaugenmerk der physischen Anthropologie richtet sich dabei auf die Identifizierung von ›rassischen‹ und ›sexuellen‹ Differenzen. Beide Kategorien erscheinen der physischen Anthropologie selbstverständlich und evident, allerdings bleibt vor allem die Kategorie ›Rasse‹ eher ›unscharf‹. Sie kann in Anlehnung an die wissenschaftshistorische Konzeption von Susan Leigh Star und James R. Griesemer als boundary object verstanden werden: »[Boundary objects] both inhabit several intersecting social worlds and satisfy the informational requirements of each. Boundary objects are both plastic enough to adapt local needs and the constraints of the several parties employing them, yet robust enough to maintain a common identity across sites. They are weekly structured in common use, and become strongly structured in individual-site use. They may be abstract or concrete. They have different meanings in different social worlds but their structure is common enough to more than one world to make them recognizable means of translation.« (Star/Griesemer [1988]: 509)
Eine solche Offenheit besitzt auch der Begriff ›Rasse‹: Weder ist er selbst genau definiert, noch wird er einheitlich oder konzeptionell unterschieden von Begriffen wie ›Varietät‹, ›Spezies‹, ›Volk‹ usw. Gleichzeitig geistert er gerade in dieser Unschärfe durch viele Wissensbereiche bzw. Diskurse um 1900 und erweist eine bemerkenswert hartnäckige Evidenz: Sowohl ›rassische‹ als auch ›sexuelle‹ Differenzen gelten (nicht nur) der physischen Anthropologie als selbstverständlich und als am Körper sicht- und messbar. Im Hinblick auf solch ontologische Konzeptionen von ›Geschlecht‹ oder ›Rasse‹, die im Zuge metrisch-statistischer Identifizierungen ›nur noch‹ erfasst werden, muss die Praxis des Rasterns als mediale Technologie ver-
Vgl. auch Ilana Löwy, die die Produktivität dieser unscharfen Begriffe im Feld der Immunologie untersucht (Löwy 1993).
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standen werden, die gegenüber der Wirkmächtigkeit der durch sie hergestellten Fakten in den Hintergrund tritt (vgl. Bauer 2003: 212-217). Die vorliegende Studie tritt an, die Raster der physischen Anthropologie zur Erscheinung zu bringen, sie unternimmt gewissermaßen eine ›Ausgrabung‹ der hinter der Ontologie von ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ verschwundenen Raster. In einer Diskursanalyse der physisch-anthropologischen Wissensproduktion wird danach gefragt, wie ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ im Zuge der hier vorgenommenen metrischen, textuellen und visuellen Rasterungen erst konstituiert werden. Zu diesem Zwecke wende ich mich einem gedruckten anthropologische Archiv zu: der Zeitschrift Archiv für Anthropologie im Zeitraum von 1890 bis 1915. Bei dieser Fachzeitschrift handelt es sich um das Organ der »Deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte«, in dem ein äußerst heterogenes Konglomerat unterschiedlichster Gegenstands- und Wissensbereiche präsentiert wird. In ihr kreuzen sich anthropologischer, ethnologischer, archäologischer und prähistorischer Diskurs. Die Publikationen des Archiv umfassen unter anderem Vermessungen verschiedener Körperteile und verschiedener ›Rassen‹, Besprechungen archäologischer Knochen- und Schädelfunde, Beschreibungen der ›Kultur‹ von ›Naturvölkern‹, Datenpräsentationen in Tabellenform und nicht zuletzt eine Reihe verschiedener weiterer Visualisierungsformen. Als Zentralorgan der »Deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte« stellt das Archiv für Anthropologie neben der von Rudolf Virchow
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Bauer bezieht sich in diesem Zusammenhang auf die Medienphilosophie Sybille Krämers (Krämer 1998). »Raster verschwinden in ihrer Ausführung und müssen unter der ›Ontologie‹, zu der sie geworden sind, erst wieder ausgegraben werden.« (Bauer 2003: 216) Mit der Überschneidung ›ethnischer‹ und ›sexueller‹ Differenz beschäftigte sich im bundesdeutschen Kontext von Januar 2001 bis Dezember 2005 das von der DFG eingerichtete Graduiertenkolleg »Identität und Differenz. Geschlechterkonstruktion und Interkulturalität (18.-21. Jahrhundert)« an der Universität Trier. Die vorliegende Studie ist in diesem Rahmen gefördert worden und wurde in den Fächern Germanistik und Medienwissenschaft als Promotionsschrift angenommen. Archiv für Anthropologie. Zeitschrift für Naturgeschichte und Urgeschichte des Menschen. Organ der Deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, begründet von A. Ecker und L. Lindenschmidt, hg. u. editiert von Johannes Ranke; Neue Folge: Archiv für Anthropologie. Organ der Deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, hg. von Johannes Ranke und Georg Thilenius. Braunschweig: Vieweg und Söhne; erschienen: 1866-1935; Erscheinungsverlauf: 1.1866/67 - 28.1902/03; N.F. 1=29.1903/04 - 23=51.1935; Fortsetzung: Archiv für Anthropologie und Völkerforschung. Eingesehen wurden die Bände in der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Berlin.
Einführung
herausgegebenen Zeitschrift für Ethnologie – dem Organ der »Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte« (BGAEU) – einen wichtigen diskursiven Ort der sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland herauskristallisierenden und institutionalisierenden physischen Anthropologie dar, der in der bisherigen Forschung in der hier vorgenommenen Konzentration bisher nicht berücksichtigt wurde.
Perspektivverschiebung Den theoretisch-methodologischen Ausgangspunkt dieser Diskursanalyse der Konstitution von ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ in der physischen Anthropologie um 1900 bildet die Auseinandersetzung mit Michel Foucault, dessen diskursanalytischer Ansatz durch weitere performativitäts-theoretische Ansätze ergänzt wird und auf diese Weise den methodologischen Rahmen meiner Analysen und Lektüren bildet.10 Im Zuge einer sprachphilosophischen Orientierung, die davon ausgeht, dass Sprache nicht Dinge beschreibt, sondern sie erst hervorbringt, akzentuiert Foucault die diskursive Produktivität: Diskurse bringen Effekte der Wahrheit, des Wissens und der Macht hervor. Sie beschreiben nicht einfach die Dinge, die vorgängig bereits vorhanden sind, sondern bringen ihre Gegenstände erst hervor. Diskurse sind – und hier kann Foucaults Konzeption der Sprechakttheorie Austins angenähert werden – performativ: In dem Moment, in dem sie etwas benennen, bringen sie es hervor (Austin [1962/1975])11. Eine solche Diskurskonzeption ermöglicht es, sich von
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Die bisherige Forschung wendet sich mit Vorliebe der Zeitschrift für Ethnologie zu – vermutlich aufgrund der Popularität ihres Gründers und Herausgebers Rudolf Virchow (vgl. jüngst wieder Dreesbach 2005). Doch möchte sich die vorliegende Analyse gerade nicht einzelnen – bis heute – prominenten Forscherpersönlichkeiten zuwenden, sondern die diskursive Formation des physisch-anthropologischen Diskurses, an der eine Menge an anthropologischen Beiträgen ›mitstrickt‹, in den Blick bekommen. Gerade das um 1900 sehr große Gebiet von Aussagen um den anthropologischen Gegenstand ›Rasse‹ ließ aber eine klare äußere Umgrenzung des Analysegebietes sinnvoll erscheinen. Die Beschränkung auf eine Zeitschrift, die in sich bereits eine breite Heterogenität an Gegenstandsbereichen und Positionen darbietet und im wissenschaftshistorischen Kontext bisher kaum berücksichtigt wurde – das Archiv für Anthropologie – erschien für dieses Vorhaben als geeignete Grundlage. Für eine ausführliche Darstellung meines Verständnisses von Foucault’scher Diskursanalyse und die vorgenommenen Anschlüsse an ein poststrukturalistisches Denken vgl. Hanke 2003a; vgl. außerdem Hanke 1999 und Hanke/ Seier 2000. Judith Butler entwickelt in ihrer Bezugnahme auf Austin, inwiefern auch die ›konstativen‹ Äußerungen als performative begriffen werden können (vgl. Butler 1997).
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Zwischen Auflösung und Fixierung
der Selbstverständlichkeit und scheinbaren Offensichtlichkeit der physischanthropologischen Gegenstände ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ (als Naturgegebenheit) zu distanzieren. Die körperlichen Differenzen ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ geraten vielmehr als performativ hervorgebrachte Gegenstände in den Blick. Das Spezifische einer diskursanalytischen Perspektive besteht also darin, diese Produktivität des Diskurses ins Visier zu nehmen. Die um 1900 (natur)wissenschaftlich akzeptierten und bis heute in unserer Wahrnehmung eine Rolle spielenden Kategorien ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹12 werden im Zuge performativitäts-theoretischer Überlegungen in ihrem GewordenSein analysiert. Auf diese Weise wird das, was zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt an einem bestimmten Ort als ›wahr‹ gilt, hinterfragbar – und zwar ohne dass mit den Begriffen ›falsch‹ oder ›ideologisch‹ und damit einer neuen Position der Wahrheit operiert werden müsste. Diskursanalyse zeichnet Formationen des Wissens und ihre Machteffekte nach. Auf diese Weise deontologisiert sie Evidenzen und entreißt Wissen und Wahrheiten aus ihrer Selbstverständlichkeit. Das Besondere an Foucaults Diskursbegriff ist darüber hinaus, dass ihm eine hohe Dynamik und Heterogenität eingeschrieben ist. Diskurse sind keine homogenen, statischen, abgeschlossenen Gebilde. Zudem oszilliert ihr Verhältnis zu (symbolischer) Ordnung und Macht zwischen zwei Perspektiven (vgl. a. Bürger 1992): In der »Archäologie des Wissens« wird der Diskurs eher auf Seiten der Macht verortet und »als kontrollierte und geregelte Sprachpraxis begriffen« (Bürger 1992: 125). In der »Ordnung des Diskurses« hingegen erscheint er auf der Seite des »Gewalttätige[n], Plötzliche[n], Kämpferische[n], Ordnungslose[n] und Gefährliche[n]« (Foucault [1970]: 33). Dort ist die Rede vom »großen Wuchern« (Fou12
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Seit die UNESCO das Konzept ›Rasse‹ 1950/51 verworfen hat (vgl. Weingart/Kroll/Bayertz 1992: 602-622; Müller-Wille 2003), wurde der Begriff in vielen wissenschaftlichen Studien durch den der ›Ethnie‹ ersetzt. Doch fällt in den letzten Jahren gerade auch im deutschsprachigen Raum die – oft wie nebenbei geschehende – Wiederkehr des ›Rasse‹-Begriffs auf: Sei es im Zuge einer unreflektierten und damit biologisch vereindeutigenden Übersetzung des Wortes »race« aus dem US-amerikanischen Kontext, sei es im Zuge aktueller Biologisierungen gesellschaftlicher Phänomene, sei es durch TV-Serien, in denen Opferreste identifiziert werden (»Medical Detectives«, »Bones«), sei es durch die explizite Verwendung und Verteidigung des Begriffs »Rasse« durch Biologen und Anthropologen (vgl. AG gegen Rassenkunde 1998; Kaupen-Haas/Saller 1999) – das auf den Menschen bezogene Konzept »Rasse« scheint auch im deutschsprachigen Raum wieder hoffähig zu werden. Auch im Hinblick auf die Kategorie ›Geschlecht‹, die ohnehin nie grundlegend verabschiedet worden war, lässt sich solch ein biologisierender Backlash beobachten: Die Differenz der ›Geschlechter‹ und ihre Effekte für das Zusammenleben sind wieder ›hoch im Kurs‹.
Einführung
cault [1970]: 33), von »Kräfte[n] und […] Gefahren«, vom »unberechenbar Ereignishafte[n]« und vom »unaufhörlichen und ordnungslosen Rauschen des Diskurses« (Foucault [1970]: 11). Gerade im Hinblick auf diesen zweiten Aspekt des Diskurses lässt sich an Performanzkonzepte Lacans und Derridas anschließen (vgl. a. Sarasin 2001b). Ausgegangen wird dabei von einer endlosen Verweiskette der Signifikanten und dem ungeregelten Dahin-Gleiten des Signifikats unter dem Signifikanten. In die Produktion von Bedeutung schreibt sich in dieser Perspektive immerfort eine différance ein (Derrida [1968]). Diskursive Produktivität ist vor diesem Hintergrund als differantieller Prozess zu begreifen, in dem eindeutige Wahrheiten, Bedeutungen und Sinn konstitutiv immer auch durchkreuzt werden. Der methodische Anspruch der vorliegenden Studie besteht vor diesem Hintergrund darin, das Schillernde dieser Diskurskonzeption im Blick zu behalten und beide Seiten zusammen zu denken: Die Analyse ist darauf bedacht, dem diskursiven Spannungsfeld von Regelmäßigkeit und Ereignishaftigkeit Rechnung zu tragen.13 Demnach gilt es, die Regelmäßigkeiten diskursiver Formationen herauszufinden, im gleichen Atemzug jedoch dem Wuchernden und Differentiellen des Diskurses auf der Spur zu bleiben. Mitzureflektieren ist dabei immer, inwieweit dem Wuchern des Diskurses Raum gegeben oder inwiefern es gebändigt wird – mit letzterem würde die Analyse womöglich selbst als »diskursive[…] ›Polizei‹« agieren (Foucault [1970]: 25). Vor diesem Hintergrund werden nicht nur die ›großen Linien‹ der Macht- und Wissenseffekte verfolgt, sondern auch Brüchigkeiten und Details anvisiert, um von hier aus die diskursanalytischen Ergebnisse ›gegen den Strich‹ zu lesen. Anregungen kann sich das Vorgehen hier von dekonstruktivistischen Lektüreverfahren wie etwa bei Jacques Derrida, Judith Butler oder Samuel Weber holen (u.a. Derrida [1976]; Butler [1993]; Weber 1989). Die Analyse fragt – orientiert an dem in der »Archäologie des Wissens« (Foucault [1969]) aufgespannten Koordinatensystem, das selbst wie ein Raster den diskursanalytischen Blick strukturiert – nach der Formation der Begrifflichkeiten,14 der Gegenstände,15 der strategischen Wahlen16 und
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Meine ersten experimentellen Überlegungen hierzu vgl. Hanke 1999. Man versucht »zu bestimmen, gemäß welchen Schemata (der seriellen Anordnung, der gleichzeitigen Gruppierung, der linearen oder reziproken Modifizierung) die Aussagen miteinander in einem Diskurstyp verbunden werden können« (Foucault [1969]: 89). Analysiert werden die »Oberflächen ihres Auftauchens«, die »Instanzen der Abgrenzung« und die »Spezifikationsraster« (Foucault [1969]: 62, 63 und 64; kursiv i.O.). Es werden »regulierte Weisen […], Diskursmöglichkeiten anzuwenden«, analysiert (Foucault [1969]: 102).
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der Sujektpositionen17 – Gilles Deleuze spricht treffend von »Subjekt-›Stellen‹« (Deleuze [1986]: 13).18 Diese Koordinaten geben Richtungen der Diskursanalyse an, sie sind – wie Andrea Seier hervorhebt – als »Analyseraster«, als »Kategorien der Entzifferung« zu verstehen (Seier 1999). In diesem Sinne werden in der vorliegenden Studie die anthropologischen Identifizierungsverfahren im Hinblick auf die Effekte metrisch-mechanischer Objektivität analysiert. Nachgezeichnet wird, wie in diesem Zusammenhang die konstituierten Gegenstände ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ zwischen Auflösung und Fixierung oszillieren. Es geraten aber auch die Polyvalenzen strategischer Wahlen in den Blick und es wird gefragt, wo auf diese Weise alternative oder sogar widerständige Diskurspositionen eingenommen werden können. Die angestrebte Bewegung der Lektüre besteht darin, die diskursiven Konstruktionsprozesse von ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ genau nachzuzeichnen und auf diese Weise die Produktivität physisch-anthropologischer Identifizierungsverfahren zu zeigen. Performativitäts-theoretisch zugespitzt geht es im Hinblick auf die anthropologischen Identifikationen also darum, wie das vermeintlich Vorgängige – ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ – im Zuge dieser Identifizierungen erst diskursiv und visuell hervorgebracht wird. Die Wirkmächtigkeit der Kategorien ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ ergibt sich dabei aus dem Wahrheitsanspruch naturwissenschaftlicher Verfahren und aus der Insistenz der permanenten Hervorbringung. Meine Analyse ist darum bemüht, diese Wirkmächtigkeit aufzubrechen, gegen den Strich zu lesen und damit in Bewegung zu bringen.
Wissenschaftsforschung Eine weitere Inspirationsquelle neben der diskursanalytischen Ausrichtung an Foucault gewinnt die vorliegende Arbeit aus Hans-Jörg Rheinbergers und Bruno Latours Ansätzen der Wissenschaftsgeschichte. Rheinberger beschäftigt sich seit den 1990er Jahren mit der Konfiguration von »Experimentalsystemen« (v.a. Rheinberger/Hagner 1993; Hagner/Rheinberger/ Wahrig-Schmidt 1994; Rheinberger/Hagner/Wahrig-Schmidt 1997). Er beschreibt die Dynamik naturwissenschaftlicher Erkenntnisprozesse in Anlehnung an Derrida als einen fluktuierenden und konstitutiv unabgeschlossenen Prozess von Bedeutungsherstellung und -verschiebung (Rheinberger 1992). Der französische Wissenschaftsforscher Bruno Latour wiederum – auf den auch Rheinberger sich bezieht – gilt als ›Diskursbegründer‹ der 17 18
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Sie geraten als »ein Feld der Regelmäßigkeit für verschiedene Positionen der Subjektivität« in den Blick (Foucault [1969]: 82). Es geht dabei also nicht um ein autonomes Subjekt, sondern um die im und durch den Diskurs ermöglichten Positionen, die zu einem bestimmten his torischen Zeitpunkt überhaupt eingenommen werden können.
Einführung
vor allem im anglo-amerikanischen Raum vertretenen Actor Network Theory (ANT). In einer – nicht zuletzt auch polemischen – Wendung interveniert Latour in den wissenschaftspolitischen Streit zwischen radikal-konstruktivistischen sowie sozialhistorischen Ansätzen auf der einen Seite und naturalistisch-ontologischen Ansätzen auf der anderen. Gegen die dort jeweils formulierten Asymmetrien entwirft er ein »Modell einer symmetrischen Anthropologie«, in der ›Kultur‹, ›Technik‹, ›Institutionen‹ usw., aber auch ›Natur‹ – menschliche wie nicht-menschliche – als eigenständige Aktanten in der Produktion von Wissen gelten (Latour 1998). Trotz berechtigter Skepsis, ob Latour hier womöglich einer Re-Ontologisierung von ›Natur‹ nahe kommt,19 scheint mir sein Ansatz insofern produktiv, als er – wie auch Rheinberger zeigt – dass die Produktion naturwissenschaftlichen Wissens nicht zielgerichtet – von Forschern, der Gesellschaft oder Ideologien kontrolliert – funktioniert, sondern vielmehr von unerwarteten und unberechenbaren Ereignissen bestimmt wird. Zudem kann im Hinblick auf die Naturkonzeption Latours formuliert werden: So wie er die Materialität (wieder) in die Wissenschaftsforschung einführt, kann sie – Latour weitergedacht – gerade nicht als vorgängige bestimmt werden. Das Netz der Aktanten ist so eng ›gestrickt‹, dass weder ›Natur‹, noch ›Kultur‹, noch ›Technik‹ usw. klar voneinander losgelöst werden könnten.
Zum epistemischen Status der Körper Die Einbeziehung der Latour’schen Perspektive ermöglicht, vorab den epistemischen Status der in das Visier der physisch-anthropologischen Identifizierungsmaschinerie gelangenden Körper zu umreißen. Verdeutlicht werden soll dies durch einen kurzen ›Zoom‹ in das Untersuchungsmaterial der vorliegenden Studie: Im Anhang zu den »Studien über den prähistorischen Menschen und sein Verhältnis zu der jetzigen Bevölkerung Westeuropas« von Nottidge Charles Macnamara (Macnamara 1902) finden sich zwei Fototafeln (Abb. 1, 2), die exemplarisch als Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen dienen sollen.20 Ohne an dieser Stelle genauer auf die visuelle Produktivität anthropologischer Fotografien und ihre Anordnung einzugehen – darauf komme ich im zweiten Abschnitt der Studie detailliert zurück, geht es 19 20
Vgl. in produktiver Hinsicht Geimer 2002b. Der Beitrag enthält drei Tafeln, auf die ich im Kapitel über die fotografischen Visualisierungen noch detaillierter zu sprechen kommen werde. Bei einigen der hier berücksichtigten Beiträgen des Archiv für Anthropologie werden außer dem Nachnamen des Verfassers entweder kein Vorname oder nur dessen Initialen angegeben. Soweit es mir gelang, die Vornamen zu recherchieren, habe ich sie in eckigen Klammern hinzugefügt. Die divergente und von heute abweichende Rechtschreibung der historischen Texte wurde in allen Zitaten beibehalten.
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Abb. 1: Epistemische Dinge der Anthropologie (Macnamara 1902: Tafel XXI, Ausschnitte)
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Abb. 2: Epistemische Dinge der Anthropologie (Macnamara 1902: Tafel XXII, Ausschnitt) hier vorerst nur darum, was auf diesen Tafeln visualisiert wird: Zu sehen ist eine Reihe von Schädeln und Schädelresten – hierbei handelt es sich um das in der Anthropologie bevorzugte Körperteil zur Identifizierung von ›Rassen‹ und ›Geschlechtern‹. Doch sind auf den reproduzierten Fotografien neben den Schädeln auch die Halterungen visualisiert, die den Schädel bzw. Schädelrest ›in Position‹ bringen.21 Die Fotografien präsentieren auf diese Weise nicht nur Knochenreste, sondern wirken hier gleichzeitig wie eine Ausstellung von Schädelaufstell-Techniken. Bemerkenswert an einigen dieser Apparaturen ist nun, dass sie nicht nur den Schädel in Position bringen, sondern sich förmlich an ihn anschmiegen und seine Konturen nachzeichnen – sie formen ihn gewissermaßen visuell mit. Besonders deutlich ist dies in der Seiten-Ansicht des Tilbury-Schädeldaches auf Tafel XXI (vgl. Abb. 1) und jener des Cro-Magnon-Schädels auf Tafel XXII (vgl. Abb. 2).
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Angemerkt sei hier bereits, dass die Position, in die der Schädel gebracht wird, sich nicht ›von selbst‹ versteht, also nicht evident ist, sondern viel diskutiert wird – darauf komme ich zurück (vgl. S. 34ff).
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In dieser engen Verbindung von Knochen und Gestell erscheinen die auf den Fotografien visualisierten Schädel als hybride Artefakte, in denen ›Technik‹ und ›Natur‹ ineinander übergehen und sich vermischen.22 In Macnamaras Text wird außerdem mehrfach ganz beiläufig mitgeteilt, dass es sich bei einigen dieser Schädel und Fragmente um Abgüsse handelt (Macnamara 1902: 368-370). Die Differenz zwischen Gipsabdruck und Originalfundstück spielt für die Anthropologie dabei kaum eine Rolle: Weder ist sie den Fotografien anzusehen, noch wird an den Fotos auf sie verwiesen. Gipsabdrücke oder -abgüsse gelten der physischen Anthropologie ganz selbstverständlich als Stellvertreter der ›Originale‹ – obwohl vereinzelt auf die Differenz von Vorlage und Abdruck eingegangen wird. Macnamara nennt – wie viele seiner Kollegen – seine anthropologischen Arbeitsobjekte »Präparate«;23 diese Einordnung ermöglicht eine Lektüre unter Anknüpfung an Rheinbergers wissenschaftstheoretische Forschungen zum Labor: Im Hinblick auf Laborpräparate verweist dieser nämlich darauf, dass es sich bei ihnen nicht einfach um ›Natur‹ handelt, sondern um komplizierte Zurichtungen, in denen Natur und Technik bereits amalgamiert sind (Rheinberger 2001).24 Mit solch einer Konzeption können die in der Anthropologie identifizierten Körper nicht einfach einer vorgängigen ›Natur‹ zugeschlagen werden. Doch wird ›Natur‹ gleichzeitig auch nicht einfach ausgestrichen oder negiert, unterlaufen wird vielmehr ihre Vorgängigkeit und Unabhängigkeit von wissenschaftlich-technisch-gesellschaftlichen Prozessen. Mit dieser und Bruno Latours Perspektive – die auch Rheinbergers Bezugspunkt ist – kann im Hinblick auf die Präparate der physischen Anthropologie also von einem Zusammenspiel verschiedener Akteure ausgegangen werden: Die von der Anthropologie identifizierten ›Objekte‹ sind nicht vor der Identifizierung bereits da, sondern entstehen erst in einem Zusammenspiel von Schädel, Technik, Abdruckmaterial, Positionierung, Visualisierung, Identifizierung usw. Gleiches gilt auch für die lebenden Körper, die ins Visier der anthropologischen Erfassung geraten: 22
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Während der Begriff »Hybridität« – vorangetrieben insbesondere durch Homi Bhabha – in den Post Colonial Studies als Zeichen der Produktivität der kolonialen Macht, als Möglichkeitsbedingung ihrer strategischen Umwertung gedacht wird, kursiert er in der Wissenschaftsforschung mit dem Ziel, die Grenzen von ›Natur‹ und ›Technik‹ aufzubrechen, so etwa von feministischer Seite (anhand der Figur des Cyborgs) und von Seiten der Actor Network Theory (Bhabha [1985]; Haraway [1985]; Latour [1991]). »Wir werden an den in unserem Museum vorhandenen Präparaten sehen […]« (Macnamara 1902: 366). In Rheinbergers Konzeption – sein Ausgangspunkt ist das DNA-Sequenzgel, das zugleich Aufbereitung und Repräsentation der DNA ist – sind Laborpräparate darüber hinaus ihre eigene Visualisierung: »Präparate sind paradoxe Gebilde. Sie sind gewissermaßen ihre eigenen Bilder, materielle Me tonymien.« (Rheinberger 2001: 58)
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Sie werden aufgestellt, ihren Körpern wird mit verschiedenen Messinstrumenten zu Leibe gerückt, sie werden mit anthropologisch geschultem Augenschein anvisiert, Augen- und Haarfarbtafeln werden an ihre Gesichter angelegt. Was die Anthropologie sieht, misst, beschreibt, analysiert, abbildet, ist auf diese Weise immer schon durch die ›anthropologische Brille‹ zugerichtet und in den Diskurs eingeführt. In diesem umfangreichen Prozess des Rasterns, Vermessens, Beschreibens sowie Typisierens kann der Referent nicht mehr als der Identifizierung vorgängiger gedacht werden. Allenfalls begegnen wir – allerdings wiederum diskursiv ›eingefangenen‹ – Spuren des Entziehens oder des Widerstands: »Leider war hier das Entgegenkommen nicht derart, dass es mir möglich gewesen wäre, Messungen vorzunehmen. Ueberhaupt ist es […] ausserordentlich schwierig, die Leute zu bewegen, sich messen zu lassen. […] Erst nach längerer persönlicher Bekanntschaft ändert sich dies einigermaassen, wenn auch eine Abneigung gegen derartige ihnen unbegreifliche, im besten Falle zwecklos erscheinende Handlungen selten ganz verschwindet. Dadurch wird die Möglichkeit zu Messungen stark beschränkt. Ein anderes hinderndes Moment ist die verhältnissmässig lange Zeitdauer einer Messung; es ist ihnen lästig, so lange ruhig sein zu müssen, und so verschwinden oft Leute, die vorher bereit waren, sich messen zu lassen, unbemerkt in der umgebenden Menge.« (Volz 1899b: 717f)
Aufbau der Studie Für die hier vorliegende Studie zur Konstitution von ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹, welche die Produktivität naturwissenschaftlicher, insbesondere metrisch-statistischer Verfahren nachzeichnen will, wurde eine Bestandsaufnahme all jener Beiträge des Archiv für Anthropologie von 1889-1915 vorgenommen, die in diese physisch-anthropologische Wissensproduktion verstrickt sind.25 Um 1900 haben sich in der physischen Anthropologie die neuen, ›mechanisch-objektiven‹ Identifizierungsverfahren bereits weitgehend durchgesetzt, jedoch ohne dass einheitliche Methoden fixiert worden wären. So bietet sich der gewählte Untersuchungszeitraum an, um die spezifisch naturwissenschaftliche Konfiguration der Identifikation von ›Rassen‹ und ›Geschlechtern‹ und deren Effekte detailliert zu analysieren. Einerseits unternimmt die Studie dabei einen ›Bohrprobe‹ der physischen Anthropologie ›um 1900‹, andererseits ermöglicht der Rahmen von 24 Jahrgängen auch die Berücksichtigung historischer Verschiebungen – wo dies für die Argumentation sinnvoll erscheint, wird zudem auf frühere Texte zurückge25
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Ethnologische Beiträge, die sich vornehmlich mit der ›Kultur fremder Völker‹ beschäftigen, wurden nur dann berücksichtigt, wenn sie auch einen Schwerpunkt auf ›somatische‹ Aspekte legten.
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griffen. Da sich der hier präsentierte Ansatz als qualitativer versteht, wurde auf eine quantitative Erfassung von Argumentationssträngen, Begriffen usw. verzichtet. Im Rahmen einer diskursanalytischen Studie, die den Rahmen ihres Materialbereiches durch die Konzentration auf ein Fachorgan über 24 Jahrgänge absteckt, kann allerdings nicht auf alle relevanten Beiträge des Archiv eingegangen werden. Um das in methodologischer Hinsicht erörterte Spannungsfeld auch in der Analyse aufzuspannen, werden in exem plarischen, vom Material ›abgesicherten‹ Einzelanalysen die anthropologischen Identifikationsprozesse detailliert nachgezeichnet, werden in der Zusammengruppierung von Materialausschnitten Regelmäßigkeiten herausgearbeitet und wird durch die Fokussierung von Details und ›Rändern‹ des Materials Ereignishaftem Raum gegeben. Die Studie gliedert sich nach dieser Einleitung in zwei Abschnitte: In einem ersten Abschnitt wird die spezifische Produktivität der metrisch-statistischen Verfahren der physischen Anthropologie für die konstituierten Gegenstände ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ analysiert. Um die Funktionsweise dieser Identifikationsverfahren und ihre Effekt nachzuzeichnen, werden ausgewählte Beiträge des Archiv für Anthropologie vorgestellt und diskutiert – gestützt sind diese exemplarischen Analysen durch die in der Bestandsaufnahme gemachten Beobachtungen und Lektüren. Untergliedert ist dieser erste Abschnitt nach den beiden zentralen Kategorien der Anthropologie und ihren Verflechtungen: Nach einer Einführung in die Konzeption von Normalismus und mechanischer Objektivität geht es um die Konstitution von ›Rasse‹, um jene von ›Geschlecht‹, um die Verflechtungen von ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ und um die spezifische Ausformung dieses Verhältnis in der Konstitution des ›Juden‹. Diesen Abschnitt abschließend wird erörtert, inwiefern die metrisch-mechanische Objektivität der physischen Anthropologie um 1900 konstitutiv mit interpretativ-urteilenden Herangehensweisen verquickt ist. Der zweite Abschnitt steht gewissermaßen diagonal zum ersten: Hier werden das Sichtbarkeitspostulat der physischen Anthropologie und die damit verbundenen Visualisierungen im Hinblick auf ihre Effekte untersucht. In der Analyse werden Materialausschnitte zusammengruppiert und nach verschiedenen bildgebenden Verfahren angeordnet: Nach einer Einführung werden kursorische Analysen von Datenvisualisierungen (Tabellen, Häufungsschemata, Kurven), von Umrisszeichnungen, von Fotografien und von Rekonstruktionen vorgenommen. Mit der hier unternommenen Diskursanalyse der physisch-anthropologischen Wissensproduktion im Hinblick auf die Generierung der Kategorien ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ und der Berücksichtigung medienspezifischer Effekte von Vermessungen, Beschreibungen und Visualisierung verortet sich die vorliegende Studie in einem transdisziplinären Feld zwi-
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schen Wissenschaftsgeschichte, Literaturwissenschaften, Medienwissenschaften und Kulturwissenschaften. Angesichts der diskursanalytischen und performativitätstheoretischen Ausrichtung der Studie stand die Frage im Raum, wie mit den anthropologischen Kategorien begrifflich umgegangen werden sollte. Zwei Möglichkeiten standen zur Debatte: Alle entsprechenden Begriffe werden zur Distanzierung und zur Visualisierung ihres konstruierten Charakters in einfache Anführungszeichen gesetzt. Oder: Da methodologisch fundiert von der Performanz des anthropologische Diskurs ausgegangen wird, alle Gegenstände also als performativ hervorgebrachte gelten, kann grundsätzlich auf die Anführungszeichen verzichtet werden. Nachdem im Verlaufe der Verschriftlichung beide Varianten im Hinblick auf die Performanz des hier präsentierten Textes überprüft wurden, muss konstatiert werden, dass keine der beiden Varianten eine befriedigende Lösung für dieses Problem darstellt. Nach langem Abwägen wurde entschieden, der ersten Variante zu folgen – ohne allerdings zu glauben, damit sei eine deontologisierende Kontrolle tatsächlich gewonnen. Explizit davon ausgenommen werden Begriffe, die selbst auf den Konstruktionscharakter abheben, oder Zusammensetzungen mit eben solchen, wie: Vergeschlechtlichung, Rassifizierung, Geschlechterdifferenzierung, Typisierung, Identifizierung, Bestimmung, Zuschreibung usw.26 Ergebnis dieses Vorgehens ist die starke Häufung von Anführungszeichen und das Auftreten diverser Zweifelsfälle, bei denen der distanzierende Gebrauch oder gerade der Verzicht auf Anführungszeichen irritiert oder womöglich bemängelt werden könnte. Die Entscheidung für die Anführungszeichen führt also zu einer doppelten Störung des vorliegenden Textes: Die Selbstverständlichkeit der solchermaßen behandelten Begriffe wird in Frage gestellt.27 Gleichzeitig führt die Masse an Anführungszei26
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Worte wie ›Frauen‹- und ›Männerdaten‹ sowie ›Frauen‹- und ›Männermessungen‹ hingegen werden aus ästhetischen Gründen als Ganze in Anführungszeichen gesetzt. Zum – wie oben – ›verlegen angehängten usw.‹ schreibt Judith Butler, dass dieses »ebenso ein Zeichen der Erschöpfung wie ein Zeichen für den unbegrenzbaren Bezeichnungsprozeß selbst« ist (Butler [1990]: 210). So wurde angesichts dessen, dass einer der Schwerpunkte der vorliegenden Studie darin besteht, die anthropologische Zuweisung von ›Geschlecht‹ zu analysieren, das Wort ›Frau‹ durchgängig in Anführungszeichen gesetzt. Konsequenterweise steht es dann aber auch dort in Anführungszeichen, wo es am Rande um das Studium von ›Frauen‹ an europäischen Universitäten geht (vgl. Fn. 91). Aufgeworfen ist damit die Frage, ob der Begriff ›Frau‹ in diesem Zusammenhang einfach selbstverständlich und ohne Anführungszeichen verwendet werden könnte. Die Beschäftigung mit der physisch-anthropologischen Konstitution von ›Geschlecht‹ steckt auf diese Weise auch die Konzeption ›Frau‹ in einer ihrer, auch heute noch selbstverständlichsten Verwendungsweisen an. Hier eröffnet sich ein weites Feld zur Diskussion.
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chen und möglicherweise ihr Fehlen an anderen Stellen zu weitergehenden Irritationen in der Lektüre – in diesem Kontext wird gerne die ›Lesbarkeit eines Textes‹ angerufen. Im Wissen darum, dass im aktuellen Macht-Wissens-Komplex keine der beiden Varianten völlig überzeugt, seien die durch die Anführungszeichen entstehenden Störungen als produktiver Effekt ihrer Performanz verstanden, die streit- und diskutierbar bleiben und weitere Felder zur Lektüre und Rezeption eröffnen.
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Vermessung von ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹
Seit etwa Mitte des 19. Jahrhunderts setzen sich in der anthropologischen Identifizierung von ›Rassen‹ zunehmend Verfahren der Messung und Statistik durch. Im Zuge dieses positivistischen Schubes werden riesige Mengen an Körperdaten erhoben, gesammelt, ausgewertet und bearbeitet. Die Auswertung der Vermessungsdaten geschieht dabei zunehmend mittels metrisch-statistischer Verfahren – die Dominanz solcher Methoden geht in der Wissensproduktion bis heute mit einer enormen Evidenzkraft einher. Metrisch-statistische Verfahren können wie folgt charakterisiert werden: Sie sind quantifizierend, darum werden möglichst viele Merkmale zahlenförmig ausgedrückt. Vom Prinzip her werden an zufälligen Stichproben Daten erhoben statt aus einer Gruppe jene auszuwählen, die vorab schon repräsentativ oder ›typisch‹ erscheinen. Aus diesem Grunde eignet der Statistik eine Form der Nachträglichkeit an: Sie setzt ihre Ergebnisse, also etwa ›Typen‹, nicht normativ voraus, sondern stellt sie normalistisch erst her. In der metrisch-statistischen Form der Typusbildung werden aus einer Datenreihung einer bestimmten Anzahl von Individuen kollektive Merkmale ermittelt. Auf diese Weise abstrahiert die statistische Identifizierung vom Einzelnen. In der Datenauswertung richten sich statistische Verfahren auf die Verteilung von Werten. Mit der Frage, wie groß die Gruppe jedoch sein muss, um die ermittelten Ergebnisse als aussagekräftig bzw. repräsentativ gelten zu lassen, wird im hier bearbeiteten Material allerdings ganz unterschiedlich umgegangen. Betont wird immer wieder die Notwendigkeit, das Datenmaterial zu vervollständigen. Die Datenerhebungen und ‑bearbeitungen scheinen auf diese Weise unabschließbar – was die Verdatungen allerdings wie ein Motor antreibt. Das schnell anwachsende ›Daten-Archiv‹
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hält auf diese Weise eine wissenschaftliche Dynamik in Gang, in der unentwegt Differenzen menschlicher Körper generiert werden. Die unter dem Diktum von Vermessung und Statistik stehende physische Anthropologie um 1900 ist in zwei zusammenhängenden Feldern zu situieren: dem von Jürgen Link beschriebenen flexiblen Normalismus und der von Lorraine Daston und Peter Galison erörterten mechanischen Objektivität.
Normalismus Im Zusammenhang mit der Verbreitung und Konjunktur metrisch-statistischer Verfahren in Europa entsteht das ›Phänomen‹ des Normalismus – Jürgen Link spricht in seiner Geschichte und Systematik dieses diskursiven Ereignisses von einem »normalistische[n] Archipel« (Link 1996: 13). Link fokussiert die spezifische Produktivität statistischer Verfahren vor allem für die Subjektivierung und beschreibt sie als eine Umordnung von einer Normativität hin zu einer Normalität. Während erstere ex ante funktioniert, das Handeln also ›vor-schreibt‹, d.h. normiert, kann zweitere erst nachträglich festgestellt werden: Statistische Verfahren zeigen dann, ob man im Bereich des Normalen liegt bzw. lag, also als normal gelten kann. Der kollektivsymbolisch durch die Gauß’sche Messfehlerkurve repräsentierte statistische Modus der Wissensherstellung kennt keine Wesensgrenzen mehr, sondern stellt eine prinzipielle Kontinuität zwischen ›anormal‹ und ›normal‹ her, was aber wiederum »Denormalisierungsangst« auslöst, denn: »Wenn die Normalitätsgrenze auf einer homogenen und kontinuierlichen Skala liegt, dann kann jeder prinzipiell über die Grenze geraten« (Link 1996: 211). Link beschreibt zwei unterschiedliche diskursive Strategien28 der Festlegung von Grenzen im Normalitätskontinuum: Während der bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hereinragende »Proto-Normalismus« zur Anlehnung an vornormalistische Ausgrenzungen qua Exklusion tendiert, also um eher fixe und stabile Grenzziehungen bemüht ist, zeichnet sich der »flexible Normalismus« durch dynamische Grenzziehungen und gleitend-kontinuierliche Binnendifferenzierungen aus (Link 1996: 75-82). Sowohl Proto- als auch flexibler Normalismus wirken also der Denormalisierungsangst entgegen, und auch wenn der erste dem zweiten historisch vorangeht, so existieren doch beide in einer Gesellschaft gleichzeitig und können miteinander kombiniert werden. Link spricht in diesem Zusammenhang – um »die Untrennbarkeit von zwei Richtungen einer
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Auch der Link’sche Strategie-Begriff ist an Michel Foucaults diskursanalytischer Perspektive orientiert, zielt also nicht auf strategisch geplant vorgehende Subjekte.
Vermessung von ›R asse‹ und ›Geschlecht‹
Gabelung zu suggerieren« – von einer »›aporetischen siamesischen Bifurkation‹« (Link 1996: 82; kursiv i.O.). Der hier analysierte Diskurs der physischen Anthropologie kann – unter Bezugnahme auf diese Konzeption Jürgen Links – im flexiblen Normalismus situiert werden: Im Zuge der Produktivität der in der physischen Anthropologie eingesetzten metrisch-statistischen Verfahren erscheinen ›rassische‹ und ›sexuelle‹ Differenzen nunmehr als graduelle Differenzen in einem kontinuierlichen Feld der Abstufung. Damit verbunden ist eine Auflösung klarer Kategoriengrenzen, gegen die wiederum Bestrebungen der Refixierung zu beobachten sind, die in der Link’schen Terminologie als protonormalistische Strategien gefasst werden könnten. Doch während Link beide normalistische Strategien als funktionstüchtige Reaktionen auf Denormalisierungsangst beschreibt und der Normalismus auf diese Weise als machtvolles und ‑wirksames umfassendes Netz erscheint, ›ver-rückt‹ die vorliegende Studie die Fragestellung: Das Augenmerk wird auf die Auflösung von Kategoriengrenzen im Zuge des Normalismus gelenkt. Von hier ausgehend können die physisch-anthropologischen Identifizierungen von ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ als differantieller, also fluktuierender und kon stitutiv unabgeschlossener Prozess der Wissensproduktion voller unerwarteter Ergebnisse und Rekonfigurationen beschrieben werden – ähnlich wie Rheinberger dies im Hinblick auf Experimentalsysteme ausführt.
Mechanische Objektivität Mit der Durchsetzung metrisch-statistischer Verfahren in den anthropologischen Identifizierungen von ›Rassen‹ und ›Geschlechtern‹ begibt sich der physisch-anthropologische Diskurs in einen Modus mechanischer Objektivität im Sinne von Lorraine Daston und Peter Galison (Daston/ Galison [1992]). Daston und Galison schlagen eine historische Spezifizierung und Ausdifferenzierung von Objektivitätskonzeptionen vor: Am Beispiel der Visualisierungen in naturwissenschaftlichen Atlanten beschreiben sie, wie sich im neunzehnten Jahrhundert die Vorstellung dessen, was als objektiv gilt, verschiebt. Während bis dahin ein Prinzip der Naturtreue dominierte, taucht »erst im mittleren neunzehnten Jahrhundert« eine neue Form wissenschaftlicher Objektivität auf: »die ›nichtintervenierende‹ oder ›mechanische‹ Objektivität«, als deren Wahrzeichen die fotografische Visualisierung gilt (Daston/Galison [1992]: 32, 31). Die mechanische Objektivität zeichnet sich durch den zunehmenden Einsatz von Apparaturen der Aufzeichnung aus, sie folgt dem Anspruch einer »Eliminierung der menschlichen Intervention zwischen Objekt und Abbildung. Interpretation, Selektivität, Kunst und das Urteilsvermögen selbst begannen alle als subjektive Versuchungen zu gelten, die mechanischen oder technischen Schutz erforderlich machten« (Daston/Galison [1992]: 57).
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Was Daston und Galison hier im Hinblick auf wissenschaftliche Visualisierungsverfahren entwerfen, gilt als symptomatisch für den gesamten naturwissenschaftlichen Bereich. In der Perspektive der vorliegenden Arbeit situiert sich das physisch-anthropologische Vorhaben, zum Zweck einer exakten und objektiven Identifikation von ›Rassen‹ und ›Geschlechtern‹ auf metrisch-statistische Verfahren zu setzen, in eben jenem Feld der mechanischen Objektivität. Umfangreiche Verdatungen und statistische Auswertungsverfahren mechanisieren und objektivieren die anthropologischen Körperidentifizierungen. Vor diesem Hintergrund kann von einer metrisch-mechanischen Objektivität der physischen Anthropologie gesprochen werden. Mit der Situierung der physischen Anthropologie in Normalismus und metrisch-mechanischer Objektivität erhalten die von ihr produzierten Ergebnisse angesichts des Vertrauens auf metrisch-statistische Verfahren einen Status von Evidenz: Die Mechanisierung der Anthropologie durch Vermessung und Statistik lässt ihre Ergebnisse objektiv und evident erscheinen – so, als würde Natur sich selbst schreiben. Die Wirkmächtigkeit der physischen Anthropologie besteht also in ihrer Herstellung der Evidenz und Selbstverständlichkeit ›rassischer‹ und ›sexueller‹ Differenzen.29 Doch bleibt die Anthropologie auch im Zuge dieser Entsubjektivierung an eine bestimmte Perspektivität gebunden: Durch die Mechanisierungen der Anthropologie ist nämlich die Frage der einzunehmenden Perspektive keineswegs verabschiedet, wie im Folgenden anhand der anthropologischen Problematisierungen um die ›Schädelhorizontale‹ ausgeführt wird.
Perspektivität In langjährigen Auseinandersetzungen wird in der physischen Anthropologie darüber diskutiert, wie Schädel im Raum – in welcher ›Horizontalen‹ – zu positionieren bzw. in welcher Ebene sie zu orientieren seien. 1877 wurde auf der »kraniometrischen Konferenz« in München zur Vereinheitlichung der vielfältigen Aufstellpraktiken die ›Ohr-Augen-Ebene‹ als Horizontallinie festgesetzt, »nach der in Zukunft alle Abbildungen von Schädeln gemacht werden sollen, um sie untereinander vergleichbar zu machen« (Lüthy 1912: 15).30 Diese Regelung wird 1884 in das kraniometrische System der 29
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Die Frage der Evidenz ist in kulturwissenschaftlichen Forschungen derzeit wieder virulent, vgl. die Sammelbände Cuntz/Nitsche/Otto/Spaniol 2006 und Peters/Schäfer 2006, die in die vorliegende Studie nicht mehr eingearbeitet werden konnten (vgl. a. Nohr 2004). Hermann Klaatsch schreibt im Hinblick auf den Unterkiefer: »Die erste Bedingung für eine Vergleichung von Unterkiefern miteinander ist doch naturgemäß, daß man dieselben nach einem festen Prinzip alle in gleicher Weise orientiert. Genau wie für das Cranium, so erhebt sich auch für die Mandi-
Vermessung von ›R asse‹ und ›Geschlecht‹
»Frankfurter Verständigung« (Frankfurter Verständigung 1884) – die eine Standardisierung anthropologischer Datenaufnahmen zum Ziel hat – aufgenommen und kursiert seitdem als »Frankfurter Horizontale«. Während diese, auch als »deutsche Horizontale« benannte Ebene vor allem – aber nicht nur – von deutschen Anthropologen verwendet wird, wird im französischen Kontext eine von Paul Broca vorgeschlagene Ebene anvisiert (vgl. Lüthy 1912: 3). Im Hinblick auf diese Standardisierungen des anthropologischen Diskurses zeichnen sich zwar nationale Differenzen ab, doch eine Homogenisierung wird nicht erreicht. Trotz aller Standardisierungsversuche gibt es in der anthropologischen Praxis bis zum Ende des hier berücksichtigten Untersuchungszeitraumes keine Durchgängigkeit oder Einigkeit in den Verfahren.31 Die Heterogenitäten in der Schädelorientierung können also offenbar nicht so leicht gebändigt werden: Keine der Horizontalen setzt sich als selbstverständlich durch. Diese Perspektivenproblematisierung betrifft ganz grundsätzlich die Aufstellung und Präsentation von Schädeln und anderen Körperteilen für die anthropologische Identifizierung über ihre Visualisierungen etwa in Form von Fotografien oder Zeichnungen bis hin zu anthropologischen und prähistorischen Sammlungen und Museen. Der augenscheinliche Eindruck eines Schädels kann sich durch seine Positionierung im Raum möglicherweise gravierend verändern,32 so wie auch der fehlende Unterkiefer einen anderen Eindruck produziert. Auch kann die Verschiebung der Perspektive auch für die Vermessung Konsequenzen nach sich ziehen. Darüber, dass je nach Positionierung des Körpers jeweils unterschiedliche Ansichten, also jeweils unterschiedliche Effekte hervorgebracht werden, ist sich die physische Anthropologie dabei durchaus im Klaren. Hier wird hier ein konstitutives Moment der anthropologischen Identifizierung von ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ deutlich, denn die Frage der Perspektivität findet sich auf diese Weise grundlegend in den physischanthropologischen Diskurs eingeschrieben und wird auch durch seine metrisch-mechanischen Objektivierungen nicht aufgelöst. Die Brisanz dieser anthropologischen Perspektivität liegt in der spezifischen strategischen Ausrichtung: Neben Praktibilitäts-Argumenten wird mehrfach formuliert, dass
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bula das Problem der Horizontale« (Klaatsch 1909b: 102). Nach Lüthy sollte statt des Begriffs »Horizontale« besser von »Orientierungs- oder Vergleichs ebenen« gesprochen werden (Lüthy 1912: 20). Noch 1912 formuliert Lüthy: »[U]nd heute noch weiß der Anthropologe nicht mit Sicherheit, welchem Messverfahren er bei seinen Untersuchungen den Vorzug geben soll« (Lüthy 1912: 16). So schreibt beispielsweise Frey: »Die bildliche Darstellung dieser Schädelansicht lässt einige in der Beschreibung aufgeführten Züge vermissen oder nicht scharf zum Ausdruck kommen. Der Schädel war bei der photographischen Aufnahme etwas zu weit nach vorn gesunken.« (Frey 1899: 334)
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jene Schädelanordnungen zu favorisieren seien, in denen »die größten Rassendifferenzen« hervorgebracht werden (Lüthy 1912: 65). Nach einem Vergleich verschiedener Orientierungslinien konstatiert beispielsweise Lüthy für die Augen-Ohr-Horizontale des Schädels: »Sie ergibt die konstantesten Resultate innerhalb einer Rasse und läßt zugleich vorhandene Rassendifferenzen am deutlichsten hervortreten.« (Lüthy 1912: 24) Es wird also von einer Vorannahme ›rassischer‹ Differenzen ausgegangen, die nun am deutlichsten sichtbar gemacht werden sollen: »[D]ie Horizontale [ist] umso vorteilhafter, je schärfer sie die rassialen Verschiedenheiten eines auf sie bezogenen Merkmals hervortreten lässt, d.h. je größer zwischen verschiedenen Rassen die Differenzen der Mittelwerte sind.« (Lüthy 1912: 20)33 In dieser bemerkenswerten Passage tritt ein im anthropologischen Diskurs existierendes Wissen um die eben angesprochene Perspektivität und deren performative Effekte an die ›Oberfläche‹: ein Wissen darum, dass die ›Rasse‹-Differenzen selbst Effekte einer bestimmten Orientierung bzw. Anvisierung des Schädels sind. Die physisch-anthropologischen Positionierungen und Anordnungen von Körpern können vor diesem Hintergrund als Differenz-Erzeugungs-Maschinen begriffen werden, die gezielt zur Identifizierung von ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ in Anschlag gebracht werden: In der anthropologischen Suche nach Differenz werden Körper derart zurechtgerückt, dass (überhaupt) Differenzen erscheinen. Diese perspektivische Konfiguration der physischen Anthropologie eröffnet einen breiten Spielraum im Hinblick auf die Größe, Anzahl und Relevanz der hervorgebrachten Differenzen. Im Folgenden soll nun an ausgewählten Beiträgen des Archiv für Anthropologie exemplarisch dargestellt werden, auf welche Weise im physisch-anthropologischen Diskurs ›rassische‹ und ›geschlechtliche‹ Differenzen erzeugt werden. Die Analyse der hier vorwiegend interessierenden metrisch-statistischen Identifikationsverfahren und ihrer Effekte wird in diesem Abschnitt der Studie entlang der hervorgebrachten ›Gegenstände‹ strukturiert: In einem ersten Kapitel wird anhand von vier Texten von Wilhelm Volz das Prinzip metrisch-statistischer Identifizierungen von ›Rasse‹ nachgezeichnet. Darauf folgt ein Kapitel, das die Effekte anthropologischer Verfahren im Hinblick auf die Herstellung von ›Geschlecht‹ umreißt, um dann in einem dritten Kapitel die Überkreuzungen, Verflechtungen und Übereinanderlagerungen der Kategorien ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ vorzustellen. Daran schließt sich ein Kapitel zur anthropologischen Konstitution des ›Juden‹ an, an dem sich spezifische Überschneidungen der Kategorien ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ abzeichnen. Insofern der hier vor allem 33
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Gleiches gilt im Übrigen auch für die zu berücksichtigenden Maße: So werden zum Beispiel bestimmte Geschichtswinkel für »rassendiagnostische Zwecke« für wertvoller erachtet als andere (Lüthy 1912: 53).
Vermessung von ›R asse‹ und ›Geschlecht‹
fokussierte Beitrag von Samuel Weissenberg mit seiner ›Anthropologie der Juden‹ explizit gegen antisemitische Strömungen antritt, werden in der Analyse auch die strategischen Operationsmöglichkeiten und die Flexibilität anthropologischer Identifizierungsverfahren diskutiert. Das fünfte Kapitel wirft eine Frage nach der Konfiguration der für die physische Anthropologie konstatierten metrisch-mechanischen Objektivität auf. Unter kritischer Bezugnahme auf den Wissenschaftshistoriker Peter Galison wird für die physische Anthropologie um 1900 der konstitutive Eingang einer urteilend-interpretativen Perspektive in den metrisch-mechanischen Modus nachgezeichnet.
Konstitution von ›Rasse‹ Im Folgenden sollen das Prinzip der statistischen Datenbearbeitung und seine Effekte nachgezeichnet und analysiert werden. Hauptfokus ist dabei die Konstitution von ›Rasse‹. Auf die Identifizierung von ›Geschlecht‹ und die Verknüpfungen beider Kategorien wird in den nächsten beiden Kapiteln eingegangen. Da es zur Darstellung statistischer Verfahren und ihrer performativen Effekte unerlässlich erscheint, sehr nahe an das Material heranzutreten und dichte Lektüren vorzunehmen, werden exemplarisch die im Archiv für Anthropologie vertretenen Beiträge eines Autors herangezogen (Volz 1895; Volz 1899b; Volz 1906; Volz 1909), deren Präsentation jedoch vor dem Hintergrund des im Archiv für Anthropologie versammelten Materials geschieht. Im Sinne der methodischen Perspektive der vorliegenden Arbeit wird jedoch auf eine werk- oder autorbetonte Analyse verzichtet, Wilhelm Volz steht hier nur exemplarisch für die metrisch-statistischen Identifizierungsweisen der Anthropologie. Auch erhebt die Analyse nicht den Anspruch auf vollständige Erfassung der Argumentationen, vielmehr geht es um eine Charakterisierung metrisch-mechanischer Verfahren der physischen Anthropologie, deren Signifikanz sich vor dem Hintergrund der berücksichtigten Beiträge herauskristallisiert hat. Die in den Analysen und Lektüren von Volz entwickelten Fragen und Problematisierungen sind damit also nicht einfach als Einzelfälle oder Ausnahmen zu begreifen – obwohl sie das im Sinne des différance-Prinzips natürlich gleichzeitig wiederum bleiben müssen34 –, sondern hätten an vielen anderen Texten ebenso entfaltet werden können. Die folgenden Analysen zielen sozusagen auf die Prinzipien anthropologischer Identifizierungsverfahren.
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Vgl. die methodischen Ausführungen in der Einleitung, S. 19ff.
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Das exemplarische Material Die Beiträge von Wilhelm Volz bewegen sich im Hinblick auf die anthropologischen Identifizierungen – legt man die statistischen Begrifflichkeiten auf das im Archiv für Anthropologie versammelte Material selbst an – gewissermaßen im großen Bauch der Gauß’schen Glockenkurve: Als ausgebildeter Geograph, Völkerkundler und Geologe35 unternimmt Volz um die Jahrhundertwende und Anfang des 20. Jahrhunderts eine Reihe an Forschungsreisen, die ihn v.a. in den sogenannten ›Ostindischen Archipel‹, also nach Sumatra, Borneo und Java führen.36 Dort erhebt er sowohl geographisch-geologische als auch ethnographische, völkerkundliche und anthropologische Daten. Seine Forschungsergebnisse werden – je nach Gegenstand – in geographisch-geologischen bzw. anthropologisch-ethnographischen Zeitschriften und Monographien publiziert. Obwohl er kein ausgewiesener Statistiker und Anthropologe ist, bewegen sich seine Datenerhebungen und -analysen – im Vergleich zu zahlreichen reisenden Laien – auf metrisch-statistischem Fundament. Im Archiv für Anthropologie erscheinen zwischen 1890 und 1914 vier Aufsätze, die anthropologische und ethnologische Ergebnisse gemeinsam präsentieren. Von diesen im Rahmen des Archiv erschienenen Beiträgen wendet sich der erste allerdings ausschließlich Schädeln aus dem Gebiet der sogenannten »Südsee« zu, während die anderen drei sich aus den von Volz selbst unternommenen geographisch-geologischen, anthropologischen und ethnologischen Forschungsreisen in Indonesien speisen. 35
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Volz (geb. 1870 Halle/Saale, gest. 1958 bei Leipzig) ist als studierter Geograph, Völkerkundler und Geologe ab 1894 Assistent am Geologischen Ins titut in Breslau, wo er 1895 zum Dr. phil. promoviert, und wird 1899 mit einer Arbeit »zur geologischen Kenntnis von Nord-Sumatra« für Geologie habilitiert. Seit 1904 außerordentlicher Professor, folgt er 1908 einem Ruf als ordentlicher Professor der Geographie nach Erlangen, um 1918 wieder nach Breslau zurückzukehren. Ab 1922 lehrt er dann in Leipzig und wird 1925 ordentliches Mitglied der Sächsischen Akademie der Wissenschaften. In den 1920er und 1930er Jahren publiziert er dann zur Wirtschaftsgeographie Schlesiens, ist Herausgeber der »Schlesischen Jahrbücher für Geistesund Naturwissenschaften« – von denen meines Wissens nur ein Jahrgang erschienen ist – und des »Schrifttum[s] zur Erforschung des grenz- und auslanddeutschen Volks- und Kulturbodens« und widmet sich 1942 einer »anthropogeographischen Untersuchung« zur »Besitznahme der Erde durch das Menschengeschlecht« (Biobibliographische Angaben aus: DBE 1999: 252, vervollständigt durch eigene Recherchen. Ausgewählte Literatur von Volz: Volz 1899a; Volz 1921; Volz/Lehmann 1923; Volz 1930; Volz 1931; Volz 1942). Reisen u.a.: 1897/98 Sumatra (Ostküste sowie Zentral-Sumatra); 1899/1901 zweite malaiische Reise, v.a. Südost-Borneo, Java, Süd- u. West-Sumatra; 1904-1906 Reise nach Nord-Sumatra im Auftrag der Humboldt-Stiftung der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften.
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Diese drei Texte wiederum stellen sich im Rückblick als Serie der »Beiträge zur Anthropologie und Ethnographie von Indonesien« dar.37 Dass sich Volz’ erster Beitrag mit Resten toter Körper, die anderen drei mit lebenden Körpern beschäftigen, macht – was die physisch-anthropologische bzw. somatische Identifizierung mittels metrisch-statistischer Verfahren angeht – keinen Unterschied. Volz bringt bereits im ersten Text ein mathematisch-statistisches Verfahren in Anschlag, das in seinen späteren Texten im Hinblick auf die Bestimmung ›typischer‹ Maße weiter ausdifferenziert wird. In der Reihung der vier Beiträge ist dabei eine zunehmende Sicherheit und Selbstverständlichkeit des Einsatzes statistischer Verfahren zu beobachten. An Volz’ erstem Text im Archiv für Anthropologie sei im Folgenden exemplarisch die Funktionsweise und Produktivität metrisch-statistischer Verfahrensweisen vorgestellt und diskutiert. Die Präsentation der folgenden Beiträge beschränkt sich auf signifikante Verschiebungen und zeichnet bei dem dritten und vierten die Konzeption ›rassischer Typen‹ und ihre unvorhergesehenen Effekte nach. Vorangestellt seien dem jedoch noch einige Anmerkungen zur Frage des ›richtigen‹ oder ›falschen‹ Einsatzes statistischer Verfahren.
Genauigkeitsgrade Betrachtet man die metrisch-statistischen Argumentationen von Volz genau, wird man in allen vier Beiträgen eine Reihe von mathematischen Ungenauigkeiten, Fehlern und Heterogenitäten finden, wie zum Beispiel nicht kohärente oder nicht nachvollziehbare Auf- und Abrundungen von Messwerten. In seinem viel beachteten Buch »Der falsch vermessene Mensch« nimmt Stephen Jay Gould an einer Reihe von einflussreichen anthropologischen Texten genaue Überprüfungen der metrischen Verfahren vor und fragt nach den Daten-Manipulationen und unkorrekten Einsätzen statistischer Verfahren (Gould [1981]). Goulds starke These, dass in der Anthropologie regelrecht gezielte und womöglich bewusste ›Manipulationen‹ von Daten vorgenommen wurden, um die Ergebnisse passend zu machen, kann mit Bezug auf die Beiträge im Archiv für Anthropologie nicht ohne Weiteres gestützt werden. So lassen sich den ›Unregelmäßigkeiten‹ bei Volz nach meiner Beobachtung keine jeweils (ver)eindeutigen(den) Ursachen oder Beweggründe unterlegen – etwa dass immer zum Nutzen eindeutiger ›Rassen‹-Abgrenzungen gerundet worden wäre. Am Beispiel Volz ist – ohne dies hier en 37
Offenbar waren sie nicht von Anfang an als Serie gedacht, denn der erste Beitrag (Volz 1899b) wird erst nachträglich in einer Fußnote des folgenden Textes als »Beitrag I« tituliert und auf diese Weise in die Reihe gestellt (Volz 1906: 93, Fußnote).
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détail nachzeichnen zu können – meines Erachtens eher zu sehen, dass hier Statistik angewendet wird, ohne allzu vertraut mit deren Verfahren zu sein – zumal diese ja um 1900 auch noch methodologisch diskutiert und weiterentwickelt werden. An den vielen Inkohärenzen ist zu sehen, dass sich statistische Verfahren in der physischen Anthropologie noch nicht vollständig etabliert haben. Die Analyse anthropologischer Texte, die sich der Statistik bedienen, hinterlässt dabei den Eindruck, als ob hier mit den neuen Verfahren noch experimentiert würde. Der bei Gould – wie auch in vielen halbpopulären Statistik-Büchern (u.a. Krämer [1997]; Gigerenzer 2002) – impliziten optimistisch- und affirmativ-positivistischen Perspektive, Statistik könne und müsse nur ›richtig‹ angewendet werden, wäre in einer diskurs analytischen Perspektive entgegenzusetzen, dass die metrische Objektivität der Statistik selbst auf ihre Effekte zu befragen ist, aber auch dass die Statistik kein feststehendes Feld ist. So haben sich in der Anthropologie um 1900 ausgewiesene verbindliche Methodologien und erlernte Kompetenzen d.h. eine fundierte statistische Ausbildung, noch nicht herausgebildet. Im diskursiven Feld der physischen Anthropologie kristallisieren sich erst bestimmte Verfahren heraus und verfestigen sich – und werden bis heute immer wieder überarbeitet oder neu konfiguriert. Bereits in den späteren Texten von Volz zeigt sich mehr Souveränität im Umgang mit den verwendeten Verfahren und die Herausbildung bestimmter ›Vorlieben‹, wie etwa der Einsatz der Häufungsschemata. Dass statistische Verfahren trotz Unsicherheiten – keineswegs nur bei Volz – exzessiv zum Einsatz kommen, deutet aber auf die Unabdingbarkeit von Statistik für die Wissenshervorbringung der physischen Anthropologie um 1900 hin: Statistische Verfahren sichern die eigenen anthropologischen Forschungen ab und machen ihre Ergebnisse vertrauenswürdig und akzeptabel. Effekt der neuen Verfahren ist – obwohl sie noch nicht durchweg souverän oder kohärent eingesetzt werden – die Glaubhaftmachung der produzierten Ergebnisse; die statistischen Verfahren geben ihnen gewissermaßen Kredit. Kommen wir nun zur genaueren Analyse der bei Volz eingesetzten Identifikationsverfahren.
Datenerhebungen an Schädeln Volz’ 1895 erschienener Text »Beiträge zur Anthropologie der Südsee« befasst sich mit 49 Schädeln, die vom Forschungsschiff »Hyäne« der »Kaiserlichen Admiralität« mitgebracht worden waren, das sich 1882 auf Wunsch des Direktors der Ethnologischen Abteilung der Königlichen Museen, Adolf Bastian, zu ethnologischen Forschungen auf die ›Oster-Insel‹ begeben hatte. Mitgebracht wurden – so ist dem Bericht zur Forschungsmission zu entnehmen – v. a. ethnographische Gegenstände, die zum Teil ausgegraben wor-
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den waren, als »Fundstücke« deklariert oder den Bewohnern der Insel abgekauft wurden, außerdem wurden einige Schädel aus alten Grabstätten der Bewohner ausgegraben ([Geiseler] 1883).38 25 dieser Schädel waren dann in die kraniologische Sammlung des königlichen Museums für Völkerkunde zu Berlin, die anderen 24 in das königliche Museum für Zoologie, Ethnographie und Anthropologie in Dresden gebracht worden. Volz untersucht diese bereits inventarisierten 49 Schädel, die im Zuge ihrer Aufnahme in die Museen durchnummeriert und dort vermutlich auch mit einer ›geschlechtlichen‹ Zuschreibung versehen wurden.39 Von Volz werden diese Schädel nun ausführlich beschrieben und vermessen. Seine Mess-Daten werden zunächst in einer zwei Doppelseiten langen Tabelle präsentiert, wobei er die Schädel neu durchnummeriert und in einer Reihe von links nach rechts dem ›Geschlecht‹ und Alter nach anordnet (Volz 1895: 98-101). In dieser tabellenförmigen Präsentation der Vermessungsdaten wird bereits eine erste Ordnung des Datenmaterials vorgenommen. Bei einigen Maßen, welche aufgrund von defekten Stellen an den Schädeln nicht genommen werden konnten, finden sich Fragezeichen und Leerstellen. Auch bei den Geschlechtsbestimmungen werden – wie im anthropologischen Diskurs durchaus geläufig – einige Fragezeichen eingesetzt, auf die ich noch zu sprechen kommen werde. Auf diese umfangreiche Tabelle folgen zehn Seiten protokollarische Beschreibungen der 49 Schädel (Volz 1895: 102-113). Auch in diesen Beschreibungen, die darauf beruhen, dass der Anthropologe sie in Augenschein nimmt, werden bereits ordnende Differenzen gesetzt, zum Beispiel finden sich hier »kaum mittelstark ausgebildete«, »nur sehr schwach« oder »kräftig entwickelte« und »gut ausgeprägte« Stellen und »flache, fast platte« Nasen – um nur ein paar Charakterisierungen herauszugreifen (Volz 1895: 102).40 38
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Der Kapitän der »Hyäne« berichtet dazu: »Da es außerdem wichtig erschien, für anthropologische Zwecke und zu Vergleichungen eine möglichst große Anzahl Schädel zu erwerben, hatte es Herr Salmon [der sich sehr kooperativ zeigende tahitische Vertreter der Firma Brandner; C.H.] übernommen, von den Eingeborenen eine Kiste voll von etwa 50 Stück zusammenbringen zu lassen, für welche der verhältnismäßig geringe Preis von 10 Lstrl. gezahlt werden musste.« (Geiseler 1883: 44) Im von Volz herangezogenen Vergleichsmaterial scheint dies nicht überall der Fall zu sein, so dass er manchmal das Geschlecht »nach den Maassen (Cap., L, B, H, Jochbreite etc.) erst annäherungsweise bestimmen musste, was ja, wenn der genauere Typus bekannt ist, nicht ganz unmöglich ist« (Volz 1895: 120). Hier deutet sich das gegenseitige Abhängigkeitsverhältnis von ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ in der physischen Anthropologie an, auf das ich noch ausführlich zurückkomme (vgl. S. 79ff). Da es mir hier zunächst um die Effekte der metrisch-statistischen Identifikationsweisen geht, komme ich auf die Nähe der Beschreibung zum so ge-
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Erste vergleichende Betrachtungen Anschließend unternimmt Volz anhand ausgewählter Schädelteile bereits eine kurze »vergleichende[…] Betrachtung dieser Schädelserie« (Volz 1895: 113) und zieht erste Schlüsse bezüglich der Herkunft der ›Oster-Insulaner‹ – die Herkunftsfrage beschäftigt den anthropologischen Diskurs, insofern in der Identifizierung und Klassifizierung von ›Rassen‹ meist auch die Entwicklungsgeschichte des Menschen problematisiert wird. Der Blick auf ›niedrig entwickelte fremde Rassen‹ dient dabei als ›historische‹ Folie zur Selbstreflexion und ‑behauptung des ›Europäers‹ als ›hoch entwickelte Rasse‹.41 Nach einigen kurzen vergleichenden Ausführungen zu morphologi schen Formen (»Nase«, »Gaumenbeinendigung«, »Stirnfortsatz und Stenocratypie«, »Anomalien des Gebisses«; Volz 1895: 113-115) grenzt Volz in einer Fußnote die untersuchte Schädelgruppe auf die 37 Schädel der Erwachsenen ein (Volz 1895: 115, Fußnote). Seine erste Beobachtung an dieser Schädelserie lautet: »Zunächst zeigt sich, dass wir es keineswegs mit einer einheitlichen Bevölkerung zu thun haben, dass vielmehr mehrere Rassen hier nebeneinander vorkommen. Dies geht deutlich schon aus den Hirnkapselmaasen hervor.« (Volz 1895: 116) Im Versuch einer (typenbildenden) Identifizierung ›scannt‹ der anthropologische Blick offenbar eine Körperserie (die zu einer »Bevölkerung« gezählt wird) zunächst nach ihrer Homogenität. In diesem Zusammenhang wird von einer impliziten Grundannahme der somatischen Gleichförmigkeit von Bevölkerungsgruppen ausgegangen, die gleichgesetzt wird mit ›Rassereinheit‹. Die hier betrachtete Gruppe scheint jedenfalls nicht so viel Homogenität zu zeigen, wie für eine einzige ›Rasse‹ erwartet. Ein bestimmtes Maß an Uneinheitlichkeit führt also geradewegs zur Annahme, dass man es mit mehreren ›Rassen‹ zu tun habe. Unformuliert bleibt allerdings, wie viel Uneinheitlichkeit sich eine »einheitliche Bevölkerung« leisten kann und ab wie viel Heterogenität bzw. Differenz nicht mehr von ›Einheitlichkeit‹ ausgegangen wird.42 41
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nannten ›Augenschein‹ und das Verhältnis von Vermessung und Beschreibung am Ende dieses Abschnittes zurück (vgl. S. 153-165). Auf die anthropologische Verkopplung synchroner und diachroner Perspektiven und die Überlagerungen phylo- und ontogenetischer Konzeptionen, in der sich auch ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ überlagern, komme ich zurück (vgl. S. 80-84). Hier deutet sich bereits die Gradualität und Arbitrarität der anthropologisch gesetzten Differenzen an und weist voraus auf ein zentrales Charakteristikum metrisch-statistischer Identifizierungen, das ich in diesem Kapitel vorstelle. Außerdem scheint durch Volz’ Formulierung »[z]unächst zeigt sich« und »[d]ies geht deutlich schon aus den Hirnkapselmaassen hervor« der an-
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Die »Hirnkapselmaasse« bzw. die Schädel-Indexe, in denen drei Maße des Schädels (Breite, Länge, Höhe) zueinander ins Verhältnis gesetzt werden, sind – bei Volz wie in den meisten anthropologischen Argumentatio nen – das zentrale Kriterium zur Bestimmung von ›Rassetypen‹. In den genaueren Ausführungen von Volz wird dieses Kriterium durch Einbeziehung anderer Kriterien weiter ausdifferenziert, dabei wird es jedoch gleichzeitig auch relativiert: Es wird nach ›Geschlecht‹ ausdifferenziert, es werden reihenweise Ausnahmen formuliert, den gebildeten Gruppierungen werden zusätzliche Schädel hinzugefügt usw. Doch zunächst werden auf einer Seite die »Hirnkapselmaasse«, die Volz zur Annahme des ›Rassen‹-Nebeneinanders führen, grob umrissen, und zwar mittels einer ganzen Bandbreite verschiedener Darstellungsformen, Kategorisierungen und Genauigkeitsbzw. Exaktheitsgrade (Abb. 3). Diese Heterogenität auf engstem Raum erscheint zunächst verblüffend, zumal die Unterschiede vom Gegenstand her nicht begründet werden. Allenfalls die zwischen der ersten Liste und der Tabelle überleitende Formulierung »oder genauer nach dem Index geordnet« lässt ahnen, dass für die weitere anthropologische Analyse des Materials bestimmte Genauigkeitsgrade, später aber auch eine Differenzierung der ›Geschlechter‹ benötigt zu werden scheinen. Gleichzeitig spiegeln sich in dieser unentschieden wirkenden Bandbreite aber auch die unabgeschlossenen Debatten in der Anthropologie: Ein Standard der Darstellungsweise von Ergebnissen hat sich (noch) nicht umfassend gebildet und durchgesetzt – verschiedene Formen stehen nebeneinander. In diesem Kontext kann die hier vorgestellte Seite aus Volz’ Text als paradigmatisch für das im Archiv für Anthropologie herrschende Nebeneinander verschiedener Präsenta tionsformen gelten. Die sich daraus für die anthropologischen Autoren ergebende Unentschiedenheit kann in diachroner Hinsicht auch an Volz’ unterschiedlichen Präsentationsweisen der erhobenen Daten in den hier analysierten vier Texten gezeigt werden: 1895 werden die Vermessungsdaten – die für die neu gewonnene und positivistische Wissenschaftlichkeit des anthropologischen Diskurses stehen – in Tabellen präsentiert, während die ausführlichen Beschreibungen der einzelnen Schädel protokollarisch absatzweise als ›Fließtext‹ erscheinen. 1899 werden sowohl Vermessungs- als auch Beschreibungsdaten als »positives Beobachtungsmaterial« bezeichnet (Volz 1899b: 719) und in Tabellenform notiert, was mit einer Formalisierung und damit Objektivierung der Beschreibung in Stichworten einhergeht. 1906 erscheinen ausschließlich die metrischen Daten als »positives Beobachtungsmaterial in Tabellenform« (Volz 1906: 96), protokollarische oder tabellarische thropologische Primat der Sichtbarkeit hindurch, der im zweiten Abschnitt der Studie noch explizit in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rücken wird (vgl. S. 167-258).
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Abb. 3: Verschiedene Datenpräsentationen (Volz 1895: 116)
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Beschreibungen finden sich gar nicht. 1909 werden die Daten aus Beschreibung und Vermessung wieder beide tabellarisch dargeboten – diesmal gelten sie als »anthropologische[s] Beobachtungsmaterial« (Volz 1909: 91), wobei das Wort ›positiv‹ dabei nicht genannt wird. Was sich hier – mit Vorsicht gesagt – abzeichnet, sind Ungewissheiten und Unschärfen der Kategorie Positivität, aber auch Verschiebungen im Status von vermessenden und beschreibenden Datenerhebungen. Hat Positivität etwas mit neuen Datenformen zu tun (dann wären die Maße das ›positive Material‹) oder aber mit neuen Formen ihrer Präsentation (also Tabellen) und damit bestimmten (An‑)Ordnungsmustern von Daten (dann erscheinen alle tabellarisch präsentierten Daten als ›positives Material‹)? Während Positivität zunächst und vor allem ganz unproblematisch der Vermessung zuzukommen scheint, kann sie auch Daten aus Beschreibungen umfassen, insofern diese entsprechend (in typisierenden Stichworten) formalisiert worden sind. 1906 ist bei Volz die Positivität jedoch wieder in Richtung metrisch gewonnener Daten ›gekippt‹, sie allein gelten nun als »positives Beobachtungsmaterial«. Wie eine Art Kompromiss, die aber die Thematisierung der Positivität umgeht, gibt sich Volz’ Text von 1909: Das »anthropologische Beobachtungsmaterial« beider Datensorten wird tabellenförmig präsentiert.
Ein ›klareres Bild der Verhältnisse‹ – Häufungsschemata Die in Volz’ Beitrag zu den ›Südsee-Schädeln‹ unterschiedlich präsentierten Verteilungen der erfassten Individuen nach verschiedenen Schädelindizes scheinen aber noch keine ›Übersicht‹43 der ›Rassen‹-Verteilung zu geben; explizit erwünscht wird ein ›klareres Bild‹: »Ein klareres Bild der Verhältnisse wird eine Zusammenstellung der Schädel nach zwei Indices geben.« (Volz 1895: 116) Nach der vergleichenden ersten Datenpräsentation, in der die bearbeitete Schädelgruppe bereits nach ›Typen‹ (in Breite, Höhe, Länge) klassifiziert wurde, wird nun die ›rassische‹ Zusammensetzung der Schädelgruppe identifiziert. Bezeichnenderweise wird diese Datenanalyse durch visualisierende Verfahren eingeführt – Volz präsentiert hier (Abb. 4) sein favorisiertes Verfahren: das Häufungsschema.44
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Dass es hier um Übersicht geht, entnehme ich Volz’ Begründung für die berechneten Schädel-Indexe: der Breiten-Höhen-Index sei dem Längen-Höhen-Index vorzuziehen, da er »alle Schädel, bei denen das Verhältnis von [100 Länge zur Höhe / Länge zur Breite] gleich ist, in eine Reihe rückt und so die Uebersicht wesentlich erleichtert« (Volz 1895: 117; Hervorhebung C.H.). Das Folgende greift dem Visualisierungsabschnitt der vorliegenden Studie zwar vor, ist für die Erläuterung des statistischen Prinzips an dieser Stelle jedoch unerlässlich.
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Abb. 4: Häufungsschema (Volz 1895: 117) Auf der vertikalen Achse dieser Datenanordnung ist der Breiten-Höhen-Index der Schädel eingetragen, auf der horizontalen der Längen-Breiten-Index; an den jeweiligen Kreuzungspunkten in der Tabelle wird jeweils die Schädelanzahl mit entsprechenden Index-Verhältnissen eingetragen.45 Auf diese Weise werden drei Maße – die Breite, Länge und Höhe der Schädel – zueinander ins Verhältnis gesetzt. Das Visualisierungspotential solcher Häufungsschemata wird explizit formuliert: »In die Augen fallend tritt uns auf der Tabelle wegen der verhältnismässig kleinen Schädelzahl nur ein Typus entgegen; er zeigt die Indices von ca. 72 und ca. 106.« (Volz 1895: 117) Der ›Typus‹ zeigt sich in solchen Schemata also als Häufung von Einträgen. Angesprochen wird hier außerdem die Frage des zu vervollständigenden Materials – 37 Schädel scheinen eine »verhältnismäßig kleine Schädelzahl« darzustellen und grenzen die Aussagefähigkeit offenbar ein. Dies hält Volz aber nicht davon ab, dennoch Aussagen zu treffen und auf diese Weise Wahrheiten zu produzieren. Relativierung, Einschränkung bzw. Problematisierung der Ergebnisse noch vor ihrer Präsentation, aber auch die Formulierung weiteren Forschungsbedarfs zum Beispiel durch neue Daten erhebungen gehören zu den üblichen, sogar notwendigen Bestandteilen (natur)wissenschaftlicher Argumentationsverfahren. Während das Häufungsschema an dieser Stelle des Textes nur als eine Art Blickfang dient – »es fällt ein Typus in die Augen«, gleichzeitig wird 45
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Bemerkenswerterweise wird hier die Kategorie ›Geschlecht‹ nicht berücksichtigt, obwohl Volz an anderen Stellen wiederholt betont, wie notwendig eine solche Differenzierung sei.
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aber auch die Existenz mindestens eines zweiten bereits durch die punktierten Halbkästen vorweggenommen –, wird die Funktionsweise und die Bedeutung solcher Häufungsschemata in den Analysen von Volz erst wesentlich später im Text, nämlich auf den Seiten 137 bis 140 deutlich. Hier findet sich ein »kleine[r] Excurs« zu »78 Schädel[n], von denen 65 in ihren Hauptmaassen vorliegen«, in dem Volz ausführt, »dass australoïde Elemente sich auch in Neu-Seeland vorfinden« (Volz 1895: 137). Bezug genommen wird dabei auf Forschungen anderer Wissenschaftler, die auf der Grundlage von Schädelindizes und deren Mittelzahlen »die Einheitlichkeit der NeuSeeländer« konstatiert hatten. Volz bemerkt dazu: »Aehnliche Mittelzahlen würden ja auch vorliegende 65 Schädel ergeben, aber eine genauere Untersuchung dieses immerhin beträchtlichen Materials führt doch zu völlig entgegengesetzten Resultaten, dass nämlich eine intensive Rassenmischung stattgehabt hat.« (Volz 1895: 137; Hervorhebung C.H.)46 Volz profiliert auf diese Weise seine eigenen Analysen als »genauere Untersuchung«. Der Unterschied zu dem von ihm eingesetzten Verfahren besteht allerdings nicht einfach in einem anderen Grad an ›Genauigkeit‹, sondern es handelt sich hier um ein alternatives Verfahren, nämlich eines, das statistische Verteilungen statt Mittelwerte in den Blick nimmt und das mit der beginnenden Herstellung von Kurven verknüpft ist. Dieses Verfahren löst sukzessive jenes der Mittelwerte ab. Die ›Rassetypen‹ werden hierbei eben nicht nach einer Datengruppierung um einen Mittelwert bestimmt, sondern nach den Häufungen bestimmter Maße47 – der Begriff des ›Typus‹ erhält auf diese Weise seine spezifisch statistische Profilierung. Auch wenn bei Volz die Daten von Anfang an auf diese Weise analysiert wurden, findet sich dieses Profil erst im Beitrag von 1909 formuliert: »[A]ls typische Zahlen nahm ich die absolute Häufung der Einzelzahlen (sie sind also nicht von ›typischen Köpfen‹ hergeleitet – das wäre Willkür!)« (Volz 1909: 96).
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Während 37 Schädel noch eine Einschränkung der Aussagefähigkeit nach sich zog, gelten 65 Schädel wiederum als »beträchtliche« und aussagekräftige Anzahl. Die Grenze zur notwendigen Anzahl für eine wissenschaftlich haltbare Aussage liegt – zumindest für Volz – offenbar irgendwo dazwischen – explizite Angaben dazu finden sich nicht. In späteren Texten (insbesondere Volz 1909) reichen ihm wesentlich weniger Schädel zur Bestimmung von ›Typen‹ – allerdings wird immer wieder eine Notwendigkeit zur Erweiterung und Vervollständigung der Daten betont. Der Mittelwert ist hier das arithmetische Mittel, d.h. die Summe der betrachteten Maße aller Schädel geteilt durch deren Anzahl. Zur Veranschaulichung: Die Ziffernreihe »1-1-1-1-2-3-3-4« hätte einen arithmetischen Mittelwert von 2 (alle Zahlen addiert und dann durch die Ziffernanzahl geteilt: 16:8=2), aber zwei Häufungen: bei 1 und bei 3. Zu verschiedenen statistischen Varianten – allerdings mit gezielter Perspektive auf die Häufung von Daten – vgl. zusammenfassend Czekanowski 1907: 52-61.
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Der ›Typus‹ wird also nicht mehr mittels ›augenscheinlicher‹ Identifizierung »typischer Köpfe« ermittelt – dies wird hier sogar als »Willkür« gebrandmarkt. Das normalistisch-statistische Prinzip wird als Mittel gegen diese »Willkür« formuliert.48 Zur Identifizierung solch statistischer Häufungen fertigt Volz zwei kleine Tabellen an, in deren jeweils oberer Zeile die Index-Maße und in der jeweils unteren die Anzahl der Individuen mit diesen Maßen angegeben werden. So kann an den Zahlen der unteren Zeilen jeweils die Menge der ›Treffer‹ abgelesen werden: zum Beispiel ›14 Schädel haben den Längen-Breiten-Index 72‹ oder umgekehrt formuliert – was der metrisch-statistischen Perspektive mehr entsprechen würde: ›Der Längen-Breiten-Index 72 wird durch 14 Schädel repräsentiert‹. Die höchsten ›Treffer‹-Anzahlen hat Volz in den Tabellen durch Fettsetzung hervorgehoben und bildet von hier ausgehend nun Gruppen (Abb. 5):
Abb. 5: Kleine Tabellen im Fließtext (Volz 1895: 137) Im Hinblick auf die wiederum zur Debatte stehende Frage der Einheitlichkeit der Serie wird die Mehrzahl der durch die Anordnung sichtbar gemachten statistischen Häufungen als Hinweis auf ›Rassenmischung‹ gedeutet. Da sich über diese beiden tabellarischen Kurven unterschiedliche Anzahlen von Gruppen ergeben haben, fragt Volz, wie die Gruppen des LängenBreiten-Indexes und die des Breiten-Höhen-Indexes (einmal zwei, einmal drei) zusammenhängen. Für die Analyse dieses Zusammenhangs greift er wiederum zu einem visuellen Verfahren, in dem die beiden tabellarischen Kurven gemeinsam ins Bild gesetzt werden: Sie werden in einem 90°-Winkel zueinander positioniert, so dass die erste zur x-Achse und die zweite zur y-Achse wird – auf diese Weise entsteht ein Häufungsschema (Abb. 6), wie wir es bereits kennen gelernt haben. 48
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Diese Betonung von statistischer Typenbildung gegenüber Vor-Annahmen von ›Typizität‹ verweist auf ein Spannungsfeld zwischen mechanisch-objektiven und interpretierend-subjektiven Identifizierungsverfahren im anthropologischen Diskurs, auf das ich noch zu sprechen komme.
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Abb. 6: Häufungsschema (Volz 1895: 138) In einem solchen Häufungsschema (heute wird diese statistische Datenanordnung »Streudiagramm« genannt) werden – ohne komplizierte Berechnung – zwei Messdaten visuell zueinander ins Verhältnis gesetzt. Ganz einfach kann abgelesen werden, durch wie viele Schädel beispielsweise der Längen-Breiten-Index 72 und gleichzeitig der Breiten-Höhen-Index 100 vertreten werden. Auch wenn in diesem speziellen Fall beide Maße miteinander zusammenhängen,49 funktioniert dieses Prinzip auch bei Maßen, die sich nicht überkreuzen: Beliebige Maße können mit solchen Häufungsschemata ins Verhältnis gesetzt werden, ob Ohrgrößen, Jochbogenbreiten oder Fußlängen. Über diese Ansammlung und Anordnung von Daten hinaus werden von Volz nun von den Punkten aus, an denen sich Einträge häufen, Gruppen gebildet: »Die Schädel treten deutlich zu einer Reihe von Gruppen zusammen. Die Grenze zwischen Dolichocephalie und Mesocephalie bildet eine klare Schranke; weitere Grenzen sind in der Dolichocephalie die Indices 101 und 102, in der Mesocephalie 99. Wir unterscheiden also eine dolicho-hypsistenocephale Gruppe, eine dolicho-suborthostenocephale Gruppe, eine meso-orthostenocephale Gruppe, eine meso-brachystenocephale Gruppe, denen sich wenige brachycephale Schädel anschliessen.« (Volz 1895: 138)50 49 50
Die Schädel-Breite geht in beide Indexe ein. Beim jeweils ersten Teil der zusammengesetzten Begriffe (»dolicho«-, »meso«- »brachy«-) handelt es sich um Kategorisierungen des Längen-
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Deutlich wird hier, dass ein Auge anthropologisch und statistisch geschult bzw. geübt sein muss, um die Gruppen so klar zu identifizieren wie Volz. Der Blick muss also trainiert werden, Dinge zu sehen, die er sonst nicht sehen würde. Volz ›schält‹ die Schädelgruppen gewissermaßen aus den im Häufungsschema angehäuften Ziffern und leeren Stellen heraus. Die zwei Obergruppen ›Dolicho‹- und ›Mesocephalie‹ werden durch bereits typologisierte Index-Bereiche vorbestimmt. Auch in diesem Prozess werden nicht Dinge sichtbar, die bereits existieren, sondern sie werden erst ins Licht und damit in die Sichtbarkeit und in das Sagbare gehoben. Die Evidenz der Gruppenbildung – »die Schädel treten deutlich zu Gruppen zusammen« – ist dabei eng mit der Sicht- und Darstellbarkeit im Rahmen solcher Häufungsschemata verknüpft. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang die Behauptung und Betonung deutlicher Gruppen und einer klaren Schranke (zwischen ›Dolicho‹- und ›Mesocephalie‹). Die Klarheit dieser Schranke wird letztendlich aus bereits konventionalisierten Index-Typologien um 1900 gewonnen, die auch das Häufungsschema strukturieren: Hier werden die Gruppen des Längen-Breiten-Indexes durch senkrechte Linien in Fünfer-Schritten getrennt, die ›Dolichocephalie‹ von der ›Mesocephalie‹ von der ›Brachycephalie‹ usw. Durch die Visualisierung wird diese Klarheit gleichzeitig aber auch unterlaufen, denn aus ihr sind nur zahlenmäßige – und damit graduelle – Differenzen zwischen verschiedenen Index-Kombinationen zu ersehen. Die vertikale Trennlinie zwischen den Indices 74 und 75 betont die besagte Grenze zwar visuell, sichtbar werden aber auch die fließenden Übergänge zwischen verschiedenen Häufungen. Eine qualitative Differenz zwischen den Indices 74 und 75 ist auch von der im Häufungsschema präsentierten Verteilung her nicht zu sehen – die zwei Gruppen könnten mit gleicher Berechtigung auch zwischen 73 und 74 ähnlich ›scharf‹ getrennt werden. Springen wir nach dieser Skizze der Funktionsweise von Häufungsschemata anhand von Volz’ Exkurs wieder zurück zu den von ihm selbst vermessenen ›Südsee-Schädeln‹ und zu dem Schema, das deren Analyse eröffnete (vgl. Abb. 4). Wie bereits erwähnt, wird mit diesem Häufungsschema die genauere Datenanalyse und Identifizierung der ›rassischen Typen‹ eingeführt. Das Visualisierungspotential wird explizit: Dort, wo all die anderen schriftlichen und Tabellen-Formen den Anthropologen offenbar noch in Unklarheit ließen, gibt das Häufungsschema ein »klareres Bild der Verhältnisse« (Volz 1895: 116). Was die durch Häufungen signifizierten ›Typen‹ – Volz wird vier identifizieren – angeht, tritt uns aber »[i]n die Augen fallend […] wegen der verhältnismässig kleinen Schädelzahl nur ein Typus entgegen; er zeigt die Indices von ca. 72 und ca. 106« (Volz 1895: 117). Dennoch Breiten-Indexes und beim zweiten Teil (-»hypsisteno«-, -»suborthosteno«usw.) um solche des Breiten-Höhen-Indexes.
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können die anderen drei ›Typen‹, die auf den folgenden Seiten aus den Zahlen extrahiert werden, bereits auf dem Häufungsschema ausgemacht werden, einer wird sogar bereits durch zwei gepunktet eingezeichnete Seiten eines Rahmens markiert. Zu den Markierungen durch punktierte Linien bemerkt Volz in einer Fußnote erläuternd: »Die punktirten Linien dienen zur Abgrenzung der im Folgenden aufgestellten Gruppen.« (Volz 1895: 116, Fußnote) Diese Linienform in Text wie Bild ist verblüffend: Sie dient, wie Volz formuliert, zur Abgrenzung der bestimmten Gruppen und lenkt den Blick, der auf das Häufungsschema fällt. Sie macht die Gruppen sichtbar – die Punktierung macht diese Linien aber gleichzeitig auch durchlässig. Laut Volz fällt in diesen Häufungen der eine ›Typus‹ in die Augen, auffällig ist zugleich aber auch, dass dieser ›Typus‹ nicht mit einem klaren mittleren oder Häufungswert bezeichnet wird, sondern nur ungefähr sichtbar wird: »[E]r zeigt die Indices von ca. 72 und ca. 106.« (Volz 1895: 117; Hervorhebung C.H.) Und für die anderen noch zu identifizierenden Gruppen gilt: »Doch lassen sich auch die übrigen Schädel zu abgerundeten Gruppen zusammenfassen, wie wir später sehen werden.« (Volz 1895: 117; Hervorhebung C.H.) Zudem liegen die Grenzen der beiden punktierten Gruppen diesmal nicht direkt an der Grenze der Schädelformen von ›Dolicho‹- zu ›Mesocephalie‹. Die Typenbestimmung ist hier insofern nicht in der gleichen Weise von der Nomenklatur bestimmt wie oben. An den hier auftauchenden Randbereichen wird deutlich, dass die Bestimmung der jeweiligen Häufungsgrenzen und der daraus abgeleiteten ›Typen‹ – auch außerhalb der Nomenklatur – eine Setzung ist. Die Entscheidung, warum beispielsweise die zwei einzelnen Schädel der Spalte 74 nicht zu den beiden punktiert gerahmten Gruppen gezählt werden, sondern aus diesen Häufungen herausfallen, ist arbiträr. Im Rahmen dieser statistischen Konzeption wird die Grenze nicht qualitativ, sondern quantitativ bestimmt. In dieser Konzeption gibt es keine absolute und klare, qualitative Grenzziehung zwischen den verschiedenen ›Rassetypen‹. Damit wird die Konzeption von ›Rassen‹ – aber auch von ›Geschlechtern‹ – in der physischen Anthropologie tendenziell unterlaufen. Gleichzeitig machen diese unscharfen Ränder aber auch die Effektivität naturwissenschaftlicher Wissensproduktionen aus: Flexibel können die Grenzen der Kategorien je nach Bedarf verengt oder gedehnt werden – das beschreibt Jürgen Link als Machteffekt des flexiblen Normalismus. Hier kann man wiederum die Konzeption der unscharfen Objekte und Begriffe aufrufen (Star/Griesemer [1988]; Löwy 1993) – denn in den englischen Begriffen boundary objects bzw. concepts wird die Grenze explizit aufgerufen. In dieser wissenschaftshistorischen Perspektive liegt die Produktivität unscharfer Objekte und unscharfer Begriffe in der Ermöglichung einer Zusammenarbeit von heterogenen interdisziplinären wissenschaftlichen Arbeitszusammenhängen und der Herausbildung neuer Wissensfelder. Im
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Zwischen Auflösung und Fixierung
Hinblick auf die Frage der (diskursiven und experimentellen) Produktivität ähneln sich die wissenschaftstheoretische Konzeption der unscharfen Objekte und Jürgen Links Konzeption des flexiblen Normalismus – wenn sie auch auf ganz unterschiedlichen Ebenen ansetzen. Beide scheinen mir aber auf das machtvolle Funktionieren des Diskurses abzuheben und lassen dessen gleichzeitige Unterhöhlungen aus dem Blick. Nimmt man den Begriff jedoch wörtlich, bezieht er sich auf die Randbereiche der gebildeten Gegenstände. Nicht nur die Unschärfen in der Verwendungsweise des Begriffs ›Rasse‹, sondern auch Unschärfen der ›rassischen‹ Kategorien stellen Motoren des dynamischen Prozesses der anthropologischen Identifizierungen dar, die ihn unablässig in Bewegung halten und nicht zur Ruhe kommen lassen.
Physisch-anthropologische Unschärfen Um die spezifische Form von ›Unschärfe‹ eines statistisch erzeugten Gegenstandes genauer in den Blick zu bekommen, werden im Folgenden die anderen Texte von Volz im Archiv für Anthropologie mit einbezogen. Dabei wird besonders auf die Rand- und Grenzbereiche der gebildeten Kategorien zu achten sein – der Begriff boundary object wird in diesem Zusammenhang also ganz wörtlich verstanden. In Volz’ Beitrag »Zur somatischen Anthropologie der Battaker in Nord-Sumatra« von 1899 werden Häufungsschemata – wie im oben erläuterten Fall – als Instrument zur Herausbildung von ›rassisch‹ bestimmten Gruppen eingesetzt. Auch hier wird gleichzeitig aus den Streuungsbreiten der Daten auf »fremde Blutsbeimischung« geschlossen, auch hier trifft man auf vage Formulierungen (»Die typischen Indices gruppiren sich etwa folgendermaassen«) und Einschränkungen (dass eine »eingehende Betrachtung beider Gruppen […] bei dem doch recht geringen Material zu keinen sicheren Ergebnissen führen« kann) (Volz 1899b: 725). Aus den durch Häufungsschemata umrissenen Gruppen werden über eine Berechnung die jeweiligen Mittel der entworfenen beiden ›Rassetypen‹ errechnet. Genauer erläuterungsbedürftig erscheinen die Häufungsschemata nicht mehr, die Kommentierung beschränkt sich auf die Formulierung: »Gruppiren wir unsere 25 Battaker […] nach ihren Längen-Breiten- und Längen-Ohrhöhen-Indices in eine Tabelle zusammen, so ergiebt sich folgendes Bild.« (Volz 1899b: 724) Erst im 1906 erschienenen nächsten Beitrag (»Zur Kenntnis der Mentawei-Inseln«) scheint Volz das statistische Verfahren des Häufungsschemas nicht nur zur groben Gruppenbildung einzusetzen, sondern vielmehr zur Ermittlung aller charakteristischen Maße des identifizierten ›Rassetypus‹ (diesmal wird aus der ›Einheitlichkeit‹ des Materials auf nur einen ›Typus‹ geschlossen). Die relative Homogenität dient außerdem als Legiti-
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Vermessung von ›R asse‹ und ›Geschlecht‹
mation dafür, trotz der wesentlich geringeren Anzahl an Vermessenen Aussagen über den ›Typus‹ machen zu können: »Obgleich das Material immerhin ein ziemlich beschränktes ist (19 Männer und 6 Frauen), erscheint eine kurze vergleichende Betrachtung doch ersprießlich, da wir es augenscheinlich mit einem sehr einheitlichen Material zu tun haben; so wird es möglich sein, ein Bild des Typus zu gewinnen.« (Volz 1906: 97)
Abb. 7: Häufungsschema (Volz 1906: 97) Diese postulierte Einheitlichkeit wird gestützt mithilfe eines Häufungsschemas (Abb. 7), das Längen-Breiten- und Längen-Ohrhöhen-Index zueinander ins Verhältnis setzt. Auch hier werden die Daten wieder derart angeordnet, dass Felder der Häufung entstehen, wobei das Häufungszentrum das Feld des ›Typischen‹, des ›Normalen‹ anzeigen soll. Aus dem sich ergebenden Häufungszentrum erschließt Volz dann die ›typischen‹ Schädel-Indizes »L:B=78–82 u. L:H=65–69« (Volz 1906: 97). Um nach statistischen Prinzipien die ›typischen‹ Einzelmaße und Indizes zu erhalten, hat Volz alle Maße solchen Häufungsprozeduren unterworfen – exemplarisch führt er es am Beispiel der Jochbogenbreite vor (Abb. 8). Seine Schlussfolgerung lautet: »Ich habe in diesem Falle als typisch für die Jochbreite 138 bis 142 mm angenommen.« (Volz 1906: 98)
Abb. 8: Häufungen der Jochbogenbreite (Volz 1906: 98)
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Die Häufung in der kleinen Tabelle zeigt also ›Typizität‹ der Jochbreiten-Maße für die hier identifizierte ›Rasse‹ an.51 Die spezifische Produktivität einer solchen Anordnung besteht auch hier darin, dass das Feld der Häufung scheinbar ›auf den ersten Blick‹ erkannt wird. Nun zeigt die von Volz exemplarisch angeführte Tabelle zur Jochbogenbreite an den Randbereichen der angenommenen Häufung – ›zum Glück‹ für die Konzeption – einen klaren ›Abfall‹ zu jeweils 0 Individuen mit den Maßen 137 und 143. Die Abgrenzung scheint hier – visuell zumindest – unkompliziert. Betrachtet man das genannte erste Häufungsschema, erscheinen die Grenzbereiche der Häufungen problematischer. (vgl. Abb. 7) Hier befindet sich der von Volz identifizierte Bereich der Häufung im Abschnitt 78-82 auf der Horizontalen und 65-69 auf der Vertikalen. Am Randbereich dieser von Volz identifizierten Häufung ist zu sehen, dass gerade die Grenzmarkierung solcher Häufungen eine Setzung ist. Die Entscheidung, ob beispielsweise die Punkte (82;70) oder (82;69) noch der Häufung zugeordnet werden, oder aber aus ihr herausfallen, ist arbiträr. Das herauskristallisierte ›typische‹ Maß ist in solchen Konzeptionen immer ein Bereich des ›Typischen‹, also kein einzelner Wert, sondern ein Wertebereich. Außerdem wird in solchen mathematisch-statistischen Verfahren der Datenanordnung und -auswertung wie dem Häufungsschema oder der Gaußkurve52 das ›typische‹, normale Maß gleichzeitig mit dem ›untypischen‹, abweichenden hervorgebracht. Die Identifizierung des ›Rassetypus‹, die darin besteht, eine Grenze zwischen normalen und abweichenden Maßen zu ziehen, ist alles andere als ›natürlich‹ oder ›evident‹. Sie ist arbiträr und wird durch statistische Gepflogenheiten gesetzt: »Es zeigt sich nun, dass die Tabellen der absoluten Maße wie der Indices fast ausnahmslos um gewisse Zahlen eine derartige starke Anhäufung von 60 bis 80 Proz. aller Nummern zeigen.« (Volz 1906: 98) Diese Häufung von »60 bis 80 Proz.« dient als Indikator dafür, dass Volz es mit einem ›Rassetypus‹ zu tun hat. Diese Konzeption stützt sich auf die – für viele Bereiche der Natur, aber auch der Technik angenommene – Voraussetzung einer Normalverteilung: Dass sich die Daten in einer Erhebung von einer – vorab bereits angenommenen – ›Rasse‹ ›normal verteilen‹ heißt, dass eine hohe Prozentzahl der Daten in einer Datensammlung ›normal‹ bzw. ›typisch‹ ist. Gleichzeitig dient diese Häufungsannahme aber gerade zur Bestimmung der ›typischen‹ Maße und 51 52
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Diese Anordnung kann als ›gestapelte Kurvenvorform‹ begriffen werden (vgl. S. 185ff). Die Gaußkurve bzw. die Normalverteilung als Idealbild statistischer Verfahren der Datenanordnung ist im Archiv für Anthropologie um 1900 auch anzutreffen. Das Feld der Häufung – in der Gaußkurve werden die Daten jeweils nur nach einem Maß bzw. Index angeordnet – wird hierbei durch den ›Bauch der Glocke‹ angezeigt. Darauf komme ich im zweiten Abschnitt der Studie zurück (vgl. S. 178ff).
Vermessung von ›R asse‹ und ›Geschlecht‹
Indices: Die Grenzen des ›typischen‹ Wertebereiches werden entsprechend der jeweiligen Vorgabe (bei Volz offenbar zwischen 60 und 80%) durch ›Abschneiden‹ des Häufungsbereiches bestimmt. Wir haben es hier mit einem merkwürdig zirkulären Verfahren zu tun: Einerseits ermittelt die Statistik erst im Nachhinein – setzt also axiomatisch keine ›Typen‹ voraus –, andererseits aber liegt ihr immer die Grundannahme einer bestimmten ›normalen‹ Streuung vor allem von ›Naturphänomenen‹ zugrunde. Im Rahmen einer statistischen Konzeption wird also die Grenze zwischen ›typisch‹ bzw. ›normal‹ und ›untypisch‹ nicht qualitativ, sondern in statistischen Konventionen und Praktiken der Normalverteilung begründet. In dieser Konzeption gibt es keine absolute und klare, qualitative Grenzziehung zwischen ›typischen‹ Vertretern einer ›Rasse‹ und abweichenden Personen. Neben diesen graduellen Abweichungen, die ohne Umstände in den ›Typus‹ miteinbezogen werden, finden sich aber auch immer wieder regelrechte Ausnahmen, denen nicht einfach nur eine graduelle Differenz zugeschrieben wird. So formuliert Volz: »Es zeigt sich nun, dass die Tabellen der absoluten Maße wie der Indices fast ausnahmslos um gewisse Zahlen eine derartige starke Anhäufung von 60 bis 80 Proz. aller Nummern zeigen, mit alleiniger Ausnahme von den Gesichtshöhen A und B […] Ganz aus fällt nur Nr. 19« (Volz 1906: 98; Hervorhebung C.H.). Solche ›Ausnahmen‹ finden sich in dem hier behandelten Text von Volz, aber auch in all den anderen analysierten Texten des Archiv für Anthropologie wiederholt, so dass es sich hierbei nicht etwa nur um ›Ausrutscher‹ im System handelt, sondern eher um ein konstitutives Moment anthropologischer Identifizierungen und Typisierungen von ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹. Auch wenn im Alltagsdiskurs behauptet wird »Ausnahmen bestätigen die Regel«, so soll hier doch eine andere Lesart vorgeschlagen werden: Die gebildeten Gruppen stellen Felder der Häufung dar – selbst die als Gemeinsamkeiten identifizierten Merkmale treffen dann aber nicht auf alle zugeordneten Schädel zu – die Gruppen fransen an ihren Rändern aus bzw. beinhalten immer auch Ausnahmen, die eigentlich aus den Gruppen herausfallen, gleichzeitig aber mit eingeschlossen werden. Deutlich wird hier der historisch-systematische Übergang von normierenden zu normalisierenden Konzeptionen, der sich in einem Übergang vom Abnormen zur Ausnahme ausdrückt: In einer Perspektive der Norm wird das Abnorme ausgeschlossen, im Zuge des Normalismus gelten Ausnahmen als Teil der Normalität – auch wenn sie bei Berechnung von Mittelwerten oder der Angabe von Gesamtschwankungen manchmal den Gesamteindruck zu ›verzerren‹ scheinen (vgl. Teumin 1902: 39753). Unklar bleibt insbesondere, wie viele 53
Teumins Beitrag wird noch genauer analysiert (vgl. S. 84-113).
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Ausnahmen eine anthropologische Typenbildung eigentlich ›verträgt‹ bzw. duldet, bevor sich eine Typenbildung ›verbietet‹ bzw. der gebildete ›Typus‹ gesprengt wird. Vor diesem Hintergrund scheinen solche Ausnahmen eine Typenbildung tendenziell zu unterlaufen bzw. sie in Frage zu stellen, statt die Normalität zu bestätigen.
Identifikation von ›Rassen‹ Nun geht Volz’ Beitrag von 1906 – wie auch der von 1909 – nach der Bestimmung der ›Rasse-typischen‹ Maße noch einen Schritt weiter: Nachdem aus den vermessenen Individuen mithilfe von Häufungsverteilungen die ›typischen‹ Werte ermittelt wurden, werden – wie in einer Art Gegenbewegung – die Vermessenen im Hinblick auf ihre ›Typizität‹ diesem statistisch konzipierten ›Rassetypus‹ zugeordnet. Die Daten werden in diesem Zusammenhang wieder in einer Tabelle angeordnet (Abb. 9).
Abb. 9: Vergleichende Tabelle der Männer (unsortiert) (Volz 1906: 98) Die Ziffern der oberen Zeile dieser Tabelle repräsentieren die durchnummerierten Individuen; die Spalte »Typus« gibt die statistisch ermittelten ›typischen‹ Maße an. In der Tabelle wird angegeben, ob der individuelle Wert im identifizierten Bereich (»1«) liegt oder ob er größer (»+«) oder kleiner (»–«) ist – angezeigt ist damit die ›Typizität‹ der Individuen. Diese Tabelle zeigt also für alle vermessenen (›männlichen‹) Individuen an, wie ›typisch‹ jeweils die an ihr erhobenen Daten sind, und veranschaulicht gleichzeitig ihre etwaigen Abweichungen. Im unteren Tabellen-Abschnitt wird für jedes Individuum aufgelistet, wie viele ›typische‹ und wie viele ›abweichende‹
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Vermessung von ›R asse‹ und ›Geschlecht‹
Maße und Indices es vorweisen kann. Aus der Summe ›typischer‹ und ›abweichender‹ Maße wird nun das Verhältnis der Individuen zum ›Typus‹ bestimmt: Je mehr ›typische‹ Maße das Individuum sammeln kann, als desto ›typischer‹ gilt es: »Die Nummern 12, 7, 15, 16, 17 und 8 repräsentieren den Typus am reinsten; dazu gesellen sich noch Nr. 13 mit sehr großem Kopf und Nr. 1 und 4 mit sehr kleinem Kopf aber typischen Proportionen. Das sind 9 von 19! Ganz aus fällt nur Nr. 19; Nr. 10 und 6 schwanken allerdings auch recht erheblich. Die übrigen Nummern hingegen, besonders Nr. 2, 3, 5 und 11 schicken sich sehr gut in den Typus.« (Volz 1906: 98)
Deutlich wird hier, dass ›Rasse‹ im Rahmen der Vermessungen der Anthropologie eine mathematische Konstruktion ist, der sich die einzelnen Individuen – die hier nur noch als Nummern auftauchen – ›zugesellen‹, in die sie sich ›schicken‹ oder aus der sie ›ausfallen‹. Aus der Kopplung der Einzelmaße in ihrem jeweiligen Verhältnis zur ›Typizität‹ entstehen in dieser Konstruktion die ›typischen‹ oder auch ›normalen‹ Individuen und die Abweichenden. Der ›Typus‹, oder aber auch der ›typische Vertreter einer Rasse‹, entsteht dabei gleichzeitig mit dem Abweichenden. Dabei gibt es auch hier keine qualitativ begründete Grenze zwischen ›typisch‹ und ›abweichend‹, sondern nur eine der Annäherung bzw. Entfernung vom ›Typus‹. Prinzipiell ist in einer solchen statistischen Konzeption der oder die ›Abweichende‹ nie ganz anders, sondern nur graduell unterschieden – manchmal in nur einem ›typischen‹ Index zu viel oder zu wenig. Diese im (räumlichen) Modus von Nähe und Distanz operierende graduelle Konzeption hat Konsequenzen für die gegenseitige Abgrenzung verschiedener ›Rassen‹. Im Zuge der metrisch-statistischen Identifizierung entsteht ein Raum zwischen den ›Rassen‹ – ein Raum des Übergangs, der Hinneigung und der Uneindeutigkeit, der eine Übergangsmöglichkeit von einer zur anderen ›Rasse‹ beinhaltet, aber gleichzeitig auch die gesetzten Umgrenzungen anzugreifen und zu überschreiten droht. Dies soll an Volz’ drittem »Beitrag zur Anthropologie und Ethnographie von Indonesien« verdeutlicht werden. Volz präsentiert hier die Ergebnisse seiner Untersuchungen an den »Kubus«, die er »als die letzten in den Urwald zurückgedrängten Reste einer sumatrischen uralten Bevölkerungsschicht« einordnet (Volz 1909: 89). Auch hier treffen wir auf die Identifizierung einer Bevölkerungsgruppe als ›rassisch‹ gemischter, allerdings ist dies offenbar erst Ergebnis von Volz’ »eingehenderer Prüfung«, denn nach den in Tabellen zusammengestellten Daten der Beschreibungen und Vermessungen formuliert er:
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»Diese Serie macht auf den ersten Blick einen leidlich einheitlichen Eindruck, wenn auch vielfach die Variationsbreite der einzelnen Maße etwas groß ist; nach eingehenderer Prüfung aber, glaube ich, wird man zwei Varietäten unterscheiden müssen: eine mesokephale mit hohen Gesichtern (A) und eine brachykephale mit niedrigen Gesichtern (B).« (Volz 1909: 96)
Der formulierte (erste) Blick behält also nicht Recht – weswegen dessen Evidenzkraft bereits in der Formulierung zurückgenommen wird: »einen leidlich einheitlichen Eindruck, wenn auch vielfach die Variationsbreite der einzelnen Maße etwas groß ist«. Doch oszilliert diese Aussage mit zwei Bezugnahmen von Volz auf seine Reisetagebuch-Einträge, in denen er bereits die zwei ›Varietäten‹ der ›Kubu‹ erkannt haben will, »lange bevor ich den ersten Index berechnete« (Volz 1909: 98, Fußnote; vgl. Volz 1909: 97). Den ›ersten Blick‹ scheint es also zweimal gegeben zu haben, doch wurde dabei Gegensätzliches sichtbar. Bemerkenswert erscheint außerdem, dass sich Vermessung und (erster) Augenschein in beiden Fällen gegeneinander absichern: Im ersten Fall wird eine Notwendigkeit formuliert, sich statt auf den Augenschein auf die Vermessung zu stützen; im zweiten Fall legitimiert und bestätigt der Augenschein hingegen die Vermessung.54 Der von Volz als ›Mischrasse‹ identifizierten Gruppe wird wiederum besondere ›Reinrassigkeit‹ zugesprochen, die allerdings aus ethnologischem Wissen um die Kolonisierungen Sumatras geschlossen wird – die Legitimation, hier von ›Reinrassigkeit‹ zu reden, scheint dabei in der langen Zeitspanne seit der ›Vermischung‹ verortet: »Dass die Kubu-Mischrasse so rein als möglich sich erhalten hat, ist sicher; wenn eine Mischung mit malaiischem Blut stattgefunden hat, so muß das in vormohammedanischer Zeit geschehen sein.« (Volz 1909: 89) Die angenommene Mischung der ›Kubu‹ aus zwei ›Rassen‹ und ihre ›Reinerhaltung‹ habe jedoch zwei ›rassische Varietäten‹ zur Folge, die von Volz nun statistisch ausdifferenziert – gewissermaßen ›metrisch entmischt‹ – werden sollen. Doch wird dieses Vorhaben mit einem Vorbehalt versehen: »Das Material ist ja leider recht spärlich, zumal wenn wir bei genauerer Prüfung feststellen müssen, daß Nr. 10 und 12 als zu jugendlich außer Betracht bleiben müssen, so daß also nur 10 Männer und 5 Weiber übrig bleiben. Versuchen wir dennoch Maße und Indices einer vergleichenden Betrachtung zu unterziehen, so müssen wir immer im Auge behalten, daß der Versuch in Anbetracht des geringen Materials etwas gewagt ist und die Resultate mit allem Vorbehalt aufzunehmen sind.« (Volz 1909: 96)
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Vgl. auch S. 155ff
Vermessung von ›R asse‹ und ›Geschlecht‹
Die Identifizierungen von Volz werden auf diese Weise als vorsichtige, zurückgenommene Ergebnisse präsentiert. Die statistische ›Entmischung‹ der Daten der ›Mischrasse‹ in zwei ›Varietäten‹ wird wieder durch Häufungsverteilungen vorgenommen, wobei diesmal aus jeweils zwei Häufungszentren die jeweiligen ›typischen‹ Einzelmaße ermittelt werden. Darauf werden die Einzelindividuen wiederum den beiden ›Varietäten‹ zugeordnet, was in Form einer – diesmal sortierten – »Vergleichende[n] Tabelle der Männer« präsentiert wird (Abb. 10).
Abb. 10: Vergleichende Tabelle der Männer (sortiert) in Volz 1909: 96 In dieser Tabelle sind in der zweiten Spalte von links die ›typischen‹ Zahlenbereiche der ›Varietät‹ A und in der rechten die ›typischen‹ Zahlenbereiche der ›Varietät‹ B eingetragen, die jeweils statistisch aus den Vermessungsdaten konzipiert worden sind. Als linke und rechte Spalte rahmen die beiden visuell-statistisch konzipierten Maße der ›Varietäten‹ A und B die Tabelle, und die Buchstaben in der Tabelle zeigen die jeweilige Zuordnung der Einzelmaße zu den ›Varietäten‹ A und B an. Die Maße der Individuen werden auch hier nicht in absoluten Zahlen wiedergegeben, sondern es wird nur noch angezeigt, inwiefern sie den Maßen der ›Varietäten‹ A und B entsprechen oder von ihnen abweichen: »A bezeichnet, daß die Zahl innerhalb der typischen Werte der Varietät A liegt, B dasselbe für die Varietät B, +A, –B, daß eine Annäherung an die betreffende Varietät stattfindet, + daß der Wert zu groß, – daß er zu klein ist.« (Volz 1909: 96) Im unteren Tabellenbereich werden jeweils die Summen der ›typischen‹ Maße und Indices für jedes Individuum angegeben. Die Anordnung der vermessenen Personen in der Tabelle folgt – entsprechend ihrer Menge an ›typischen‹ Maße und Indizes – einer stetigen graduellen Abstufung von
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›Varietät‹ A zu ›Varietät‹ B. Diese Platzierung veranschaulicht auf den ›ersten Blick‹ die Entfernung bzw. Nähe zur jeweiligen ›Varietät‹ und damit den Grad an ›Typizität‹ jeden Individuums: Je weiter links ein Individuum steht, desto näher ist es der ›Varietät‹ A und je weiter rechts, desto näher der ›Varietät‹ B. Ins Bild gesetzt ist hier wiederum ein gradueller Übergang von einer ›rassischen Varietät‹ zur anderen. Anzumerken ist allerdings – betrachtet man die vorher tabellarisch angegebenen entsprechenden individuellen Werte (Volz 1909: 94f) –, dass es sich bei den hier mit einem Vorzeichen versehenen Buchstaben jeweils um Werte handelt, die eigentlich aus dem Rahmen der beiden Säulen ›herausfallen‹: Weder tendieren die Maße –A und +A in Richtung der Maße B noch –B und +B in Richtung A – wie etwa der Augenschein auf die ›Varietätentabelle‹ von Volz vermittelt –, sie bewegen sich vielmehr in entgegen gesetzter Richtung noch weiter von ihnen weg. Durch die Art der Anordnung jedoch werden diese ›Ausreißer‹ wieder in die Rahmung zwischen die ›Varietäten‹ A und B eingeschlossen, so dass ein visueller Effekt gradueller Übergänge zwischen beiden ›Varietäten‹ entsteht. Und auch hier ist die Grenzziehung zwischen den Individuen, die der ›Varietät‹ A zugeordnet, und jenen, die B zugewiesen werden, arbiträr: »Die Tabelle zeigt, daß die Varietät A durch die Nr. 6, 8 und 7, 3 rein repräsentiert wird, während gute Vertreter der anderen Varietät nur Nr. 9 und auch noch Nr. 11 sind; von den anderen neigen Nr. 5 und 1 mehr zu A; Nr. 4 und 2 mehr zu B.« (Volz 1909: 96) Dass Volz hier schreibt »die Tabelle zeigt«, verweist im selben Moment auf das Gegenteil, nämlich darauf, dass die visualisierende Tabelle offenbar einer Lesehilfe bedarf, einer textuellen Erläuterung. Fokussiert man den unteren Teil der Tabelle mit den Summen der ›typischen‹ Indices und Maße zusammen mit Volz’ Klassifizierung im Text, wird deutlich, dass die Grenze zwischen den zu ›Varietät‹ A oder B zugeordneten Individuen nicht qualitativ begründet ist, sondern quantitativ bestimmt wird: Hat nämlich eine Person ›genug typische Maße‹ einer ›Varietät‹ (hier zum Beispiel ›Nr.11‹ mit 6 ›typischen Maßen‹ und 5 ›typischen Indizes‹ B), wird sie als ›guter Repräsentant‹ identifiziert; hat sie nicht genug – wie zum Beispiel ›Nr. 2‹ mit ebenfalls 6 ›typischen Maßen‹, aber nur 3 ›typischen Indizes‹, ähnlich auch ›Nr. 4‹, ›1‹, und ›5‹ –, scheint sie in eine Sphäre der ›Hinneigung‹ zwischen den beiden ›Varietäten‹ hinein zu gleiten. ›Nr. 5‹, ›1‹, ›4‹ und ›2‹ scheinen also von der einen Seite der Grenze zur anderen zu fließen, und schweben dabei in einem merkwürdigen Zustand bzw. Feld der ›Hinneigung‹ und Uneindeutigkeit. Volz’ Konfiguration von Tabelle und Text weist die vermessenen Personen auf diese Weise ›rassischen Varietäten‹ zu – gleichzeitig unterläuft sie damit aber auch die Möglichkeit, ›rassische Varietäten‹ oder ›Rassen‹ überhaupt bestimmen zu können. Denn Übergänge zwischen den ›Rassen‹ sind nicht nur möglich, sondern konstitutiver Bestandteil anthropologischer metrischer Klassifizie-
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Vermessung von ›R asse‹ und ›Geschlecht‹
rungen und ihrer systematischen Differenzierungsversuche um 1900. Zugespitzt gesagt löst diese ›Mathematisierung‹ das Konzept ›Rasse‹ auf.
Ausdifferenzierungen und Vervielfältigungen der Kategorien Ein solches Verschwimmen der Grenzen lässt sich nicht ausschließlich bei Volz beobachten. Während dieser versucht, seine Daten im Hinblick auf zwei ›Varietäten‹ zu fragmentieren, sehen wir an anderen Stellen eine weitergehende Ausdifferenzierung und Vervielfältigung von ›Rassen‹. So beispielsweise bei den Schädelformen: In der Kraniologie werden über die Index-Setzung von Schädelmaßen zwei verschiedene Schädelformen – ›Brachykephalie‹ und ›Dolichokephalie‹ – hervorgebracht.55 Die genaue Abgrenzung beider Gegenstände scheint aber zu verschwimmen, was durch die ›Mesokephalie‹ als Form zwischen den beiden anderen ›Schädeltypen‹ gebändigt wird.56 Doch bleibt es nicht bei dieser einen Zwischenform: Die Anzahl der Klassen des Längen-Breiten-Indexes des Schädels soll – da rauf verweist Poniatowski – sogar bis auf acht gestiegen sein (Poniatowski 1911a: 51). »[D]ie reine Kraniometrie vervielfältigt […] die Rassen«, formuliert Sergi (Sergi 1905: 120). Damit ist er dem Effekt des physisch-anthropologischen Diskurses auf der Spur: Die mathematischen Verfahren und das kontinuierliche Zahlenfeld produzieren eine Vervielfachung von Differenzen, die im Prinzip unendlich ist, denn zwischen jedem Kategorienpaar kann es immer wieder neue Zwischenstufen geben. Diese eingefügten anthropologischen Zwischenstufen können verstanden werden als »das supplément, der Überschuß, der zwangsläufig jeden Versuch, die [›Rassen‹; C.H.] ein für allemal zu setzen, begleitet«, um eine Formulierung Judith Butlers, die sich auf die Setzung von Identität bezieht, im Hinblick auf die Konstitution von ›Rassen‹ abzuwandeln (Butler [1990]: 210). In der physischen Anthropologie werden also ›Rasse‹ – ebenso auch ›Geschlecht‹ – mittels metrisch-statistischer Verfahren auf mechanischobjektive Weise hervorgebracht. Gleichzeitig schreiben sich dabei immer auch Übergänge zwischen den konzipierten Kategorien ein. Zugespitzt könnte man sagen, dass diese Übergänge die Grenzen zwischen den ›Rassen‹ und folglich auch zwischen den ›Geschlechtern‹ verschwimmen lassen. Im Grunde wird damit das anthropologische Vorhaben, das sich auf Identifizierungen von ›Rassen‹ richtet, unterlaufen. Die Identifizierungs55 56
Eingeführt wurden diese beiden, aus dem Schädel-Index entworfenen Schädelformen 1844 von Andres Retzius (vgl. Stepan [1982]: 97). Die Einführung der Zwischenform wird Broca zugesprochen (vgl. Török 1906: 110 und Poniatowski 1911a: 51).
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verfahren der physischen Anthropologie, welche ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ hervorbringen, beinhalten auf diese Weise gleichzeitig die Tendenz, diese Kategorien aufzulösen bzw. zu unterlaufen. Der Versuch ›Rasse‹ zu vereindeutigen hat auf diese Weise den gegenteiligen Effekt, nämlich die Vervielfältigung von ›Rassen‹. Es handelt sich hier um eine zirkuläre Bewegung: Zum einen werden die Differenzen vervielfältigt, zum anderen ruft diese Vervielfältigung gleichzeitig Versuche der Stabilisierung hervor, die aber wiederum weitere Differenzierungen produzieren. Dieser Prozess muss unabgeschlossen bleiben, er kann kein Ende finden. So gesehen verweisen die Vervielfältigungen der Kategorien auf einen Mangel, der innerhalb der ontologischen Annahme von ›Rasse‹ auszumachen ist und der durch die anthropologischen Identifizierungen ausgeräumt, kompensiert werden soll. Doch vervielfältigt sich ›Rasse‹ in dieser Kompensation tendenziell ins Unendliche, bis sich die Kategorie auflöst. Diese vervielfältigenden Effekte bringen wiederum immer neue Versuche der Bestimmung und Vereindeutigung von ›Rasse‹ hervor. Denn auch die tendenzielle Vervielfältigung von ›Rassen‹ führt ja nicht zu einem Stoppen der Bestimmungsversuche, sondern reizt diese gerade weiter an. Auf diese Weise etabliert sich ein immer umfassenderes und detaillierteres Wissensfeld, das die Evidenz von ›Rassen‹ nicht etwa zum Verschwinden bringt, sondern immer wieder hervorbringt (auch wenn man ausgehend von diesem ›immer wieder‹ diese Evidenz dekonstruieren kann). Die Evidenz wäre dann nicht auf eine womöglich vorgängige Existenz von ›Rasse‹, sondern paradoxerweise gerade auf die Leere dieser ontologischen Größe zurückzuführen – es wäre dann diese Leere, die das Begehren der Vereindeutigung in Gang setzen und halten und in dieser diskursiven Produktivität ›Rasse‹ immer wieder hervorbringen würde.
Konstitution von ›Geschlecht‹ Kommen wir nun zur Konstitution der Kategorie ›Geschlecht‹. Den historischen Horizont hierfür bildet die Konzeption einer angenommenen ›Zweigeschlechtlichkeit‹ des Menschen, die (erst) gegen Ende des 18. Jahrhunderts herausgebildet wird (vgl. Laqueur 1990: 149-192). Davor wurde in biologischer, oder besser: in körperlich-morphologischer Hinsicht von einer strukturellen Homologie ›männlicher‹ und ›weiblicher Geschlechtsorgane‹ und damit von der ›Eingeschlechtlichkeit‹ des Menschen ausgegangen: Vagina, Eierstöcke und Gebärmutter galten als nach innen gestülpter Penis und Hoden. In diesem Zusammenhang wurde zwar durchaus von zwei sozialen ›Geschlechtern‹ ausgegangen, aber von nur einem biologischen ›Geschlecht‹. Diese Vorstellung wandelt sich Ende des 18. Jahrhunderts: Nun erst werden zwei fundamental verschiedene Körper – der ›männliche‹ und der ›weibliche‹ – konzipiert. Von diesen zwei grundsätzlich verschiedenen
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Vermessung von ›R asse‹ und ›Geschlecht‹
Körpern wurde auf zwei verschiedene soziale ›Geschlechter‹ geschlossen. Hier erst werden eine Ableitungslogik von sex und gender und eine Binarität der ›Geschlechter‹ installiert. Sex erscheint dabei als natürliche Körperdifferenz, die durch sozial und kulturell konzipiertes Gender überformt werden. Mit dem Rückschluss von verschiedenen Körpern auf verschiedene soziale ›Geschlechter‹, organisiert sich hier eine »biologisch-moralische Totaldifferenz« der ›Geschlechter‹ (Bührmann 1998: 89). Der ›Mann‹ gilt dabei als das Allgemeine, während für die ›Frau‹ eine ›weibliche Sonderanthropologie‹ entworfen wird (vgl. Honegger 1991). Diese Fundamentaldifferenz gerät um 1900 ins Wanken, die Grenzen zwischen den ›Geschlechtern‹ verwischen sich und auch der ›Mann‹ erhält ein ›Geschlecht‹, d.h. erstmals wird auch er als ›geschlechtliches‹ Wesen konstituiert (vgl. Mehlmann 1998; kürzlich: Mehlmann 2006). Im Folgenden seien einige Beispiele skizziert, in denen sich Auflösungserscheinungen auch des biologischen ›Geschlechts‹ (sex) beobachten lassen.
›Geschlecht‹ um 1900 Eine schon sehr frühe Relativierung der Eindeutigkeit zweier ›Geschlechter‹ findet sich bei dem Sexualwissenschaftler Karl Heinrich Ulrichs, der 1865 in seinen Texten gegen die Pathologisierung der homosexuellen Liebe die Figur des ›Urnings‹, der als ›dritte Geschlechtsnatur‹ eine ›weibliche‹ Seele im ›männlichen‹ Körper enthalte, entwirft (vgl. Mehlmann 1998: 110f). Später differenziert Ulrichs die zwei ›Geschlechter‹ in bis zu 14 weitere ›Geschlechtsnaturen‹ aus. Als bekanntester Autor im Hinblick auf eine Vervielfältigung der ›Geschlechter‹ um 1900 dürfte Otto Weininger gelten, der 1903 seine Dissertation mit dem Titel »Geschlecht und Charakter« publiziert (Weininger [1903]). In dieser Arbeit geht Weininger davon aus, dass es sich bei ›Mann‹ und ›Frau‹ um Ideale handele, die in der Realität nicht erreicht werden. Die empirischen Personen würden sich vielmehr durch verschiedene Mischungsverhältnisse von W und M (Platzhalter für ›Weib‹ und ›Mann‹) zusammensetzen, in der Form, dass z.B. eine Person ¼ W und ¾ M beinhalte, während eine andere ½ W und ½ M sei usw. (die Summe von W und M ergibt dabei jeweils 1). Weininger schreibt im ersten Teil seines Buches: »Es gibt unzählige Abstufungen zwischen Mann und Weib, ›sexuelle Zwischenformen‹.« (Weininger [1903]: 9) Dabei geht er von »dauernder Doppelgeschlechtlichkeit« des Menschen aus (Weininger [1903]: 10). Alle ›geschlechtlichen Mischformen‹ gelten ihm als Normalfälle, so wird beispielsweise ›Homosexualität‹ nicht mehr als Anomalie beschrieben. Wir finden hier also eine Extremform der Flexibilisierung der ›Geschlechterdifferenz‹, auch wenn Weininger im zweiten Teil seines Buches die ›Geschlechterdifferenz‹ wieder metaphysisch zurückbindet, und auf der
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Wesenhaftigkeit des ›Geschlechtsunterschiedes‹ beharrt.57 Die Quantifizierung der ›geschlechtlichen‹ Mischungsverhältnisse führt aber – auch wenn Weininger diese Konsequenz nicht zu Ende denkt – zu einer Kontinuierung der Skala zwischen ›Mann‹ und ›Frau‹. Die Grenze zwischen beiden wird unaufhörlich verwischt und bleibt fluktuierend. Selbst Paul Julius Möbius, der vor allem durch seinen misogynen Text »Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes« (Möbius [1901]) bekannt ist, bezieht sich in einem Text im Archiv für Anthropologie auf die Annahme einer ›andauernden Bisexualität‹, d.h. einer ›Zweigeschlechtlichkeit‹ des Menschen.58 Allerdings werden bei Möbius – zumindest was seine Broschüre »Geschlecht und Entartung« angeht – Überschreitungen der ›Geschlechtergrenze‹ pathologisiert, und damit die Grenze zwischen den ›Geschlechtern‹ wieder stabilisiert (vgl. Mehlmann 2000: 38-40). Diese Beispiele prominenter Flexibilisierungen der ›Geschlechterdifferenz‹ sollen genügen, um für die Zeit um 1900 ein Potential zu konstatieren, in der sich die historisch erst relativ junge ›Bipolarität der Geschlechter‹ tendenziell wieder auflöst – und zwar in Richtung eines Kontinuums von Mischungsverhältnissen.59 Gleichzeitig gibt es – um 1900 wie auch heute – gegen diese Flexibilisierungen Versuche, die Binarität und Wesenhaftigkeit des ›Geschlechterunterschiedes‹ wieder festzuschreiben, zu refixieren – wie bereits in Bezug auf Weininger erwähnt wurde. Im Sinne von Jürgen Links Normalismus-Konzeption könnten diese Auflösungstendenzen und die Refixierungen als Hin- und Herpendeln zwischen flexibelund protonormalistischen Strategien beschrieben werden. Doch muss neben der Machtförmigkeit auch der Flexibilisierungen gleichzeitig berücksichtigt werden, dass die als evident angenommene ›Zweigeschlechtlichkeit‹ und die Selbstverständlichkeit der Annahme vom ›Männern‹ und ›Frauen‹ damit in Frage steht. Im Hinblick auf das Pendeln zwischen Auflösung und Fixierung könnte – wie die Feministischen Studien dies tun – geradezu von einem »Geschlechterstreit« um 1900 gesprochen werden, der in engem Zusammenhang mit den gleichzeitig geführten Debatten über den Zustand der eigenen ›Kultur‹ steht (Feministische Studien 2000).60 Im Zuge dieser ›Kulturkrisen‹Debatte, die unter vergeschlechtlichten Vorzeichen geführt wurde, fand ein Selbstverständigungs- und Stabilisierungsprozess der für ›Europa‹ kon
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Zu dieser metaphysischen Refixierung der ›Geschlechterdifferenz‹ vgl. auch Link-Heer 1998: 57-62. Auf diesen Text komme ich noch zurück (vgl. S. 71-76). Die im Zuge der Queer-Bewegung Mitte der 1990er Jahre in der BRD sich ereignende Flexibilisierung der ›Geschlechterdifferenz‹ findet hier ihre bis heute kaum wahrgenommenen Vorläufer. Vgl. zum Diskurs um die ›Kulturkrise‹ Bublitz/Hanke/Seier 2000.
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statierten ›Hochkultur‹ statt. Die ›Feminisierung der Kultur‹ ist dabei das Schlagwort, an dem sich das Spannungsfeld dieser Debatten pointieren lässt: Gegen die im Zuge der Industrialisierung zunehmende Ausdifferenzierung und Spezialisierung von Arbeitsbereichen, die Vereinzelung und Durchrationalisierung der Gesellschaft wird eine ›Verweiblichung‹ der Kultur angerufen. Für die Kehrseiten der ›Hochkultur‹ steht in dieser Diskursposition ›das männliche Prinzip‹, die ›Feminisierung‹ dagegen als Rettung. Auf der anderen Seite markiert die ›Feminisierung der Kultur‹ aber gerade auch das Untergangsszenario: Bürgerliche und sozialistische Frauenbewegung um 1900, die sich für die ökonomische Unabhängigkeit der ›Frau‹ einsetzen, Forderungen nach der Zulassung von ›Frauen‹ zu den Hochschulen und nach dem Wahlrecht führen zu vehementen Abwehrpositionen, in denen die ›Frau‹ wieder eindeutig auf Reproduktion und Mutterschaft festgeschrieben werden soll. In diesem Kontext wurde u.a. auf eine entwicklungstheoretische Konzeption Bezug genommen, die davon ausgeht, dass sich die Ausdifferenzierung der ›Geschlechter‹ erst im Zuge der fortschreitenden Entwicklung zur zivilisierten, ›europäischen Hochkultur‹ ergeben hat. Diese Position, wonach geschichtlicher Fortschritt sich durch die zunehmende Polarisierung der ›Geschlechter(verhältnisse)‹ auszeichnet, welche dann wiederum als Indikator für die ›Höhe der Kultur‹ gelten kann, wurde prominent vertreten in Heinrich Riehls 1855 zuerst erschienenen, populären und in vielen Auflagen verbreiteten Buch »Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Social-Politik« (Riehl 1854). Eine Verwischung der ›Geschlechtergrenze‹ – also schon der Anspruch der Frauenbewegung auf gleiche Bildung und ökonomische Selbstständigkeit erscheint vor dem Hintergrund dieser entwicklungstheoretischen Konzeption als Rückfall auf eine ›niedere‹ kulturelle Stufe. Solche Pathologisierungen als ›Atavismus‹-Konzeptionen finden sich vermehrt in medizinischen, kriminologischen und psychiatrischen Diskursen. Vor allem in Argumentationen gegen die Forderungen der Frauenbewegung, wie etwa im Text »Feminismus und Rasse« von Sebald Rudolf Steinmetz (Steinmetz 1904) wird die ›Frau‹ wieder festgeschrieben auf ihren Status der Mutter. Eine berufliche Tätigkeit der ›Frau‹ erscheint hier zum Einen als ›widernatürlich‹ und zum Zweiten als ›hemmend‹ in Bezug auf ihre reproduktive Aufgabe zum Erhalt der ›Rasse‹, des ›Volkes‹. Doch wird die These des Auseinandertretens der ›Geschlechter‹ im Zuge der Entwicklungsgeschichte des Menschen auch explizit im Hinblick auf die körperlichen Differenzen formuliert. Für verschiedene Körperteile findet sich diese Position in Havelock Ellis’ »Mann und Weib« (Ellis [1894]). Als wichtigste Quelle des Auseinanderdriftens ›männlicher‹ und ›weiblicher‹ Schä-
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del gilt eine Untersuchung des Gründers der ersten anthropologischen Gesellschaft in Paris, Paul Broca aus dem Jahre 1862.61 So weit zunächst zu den historischen Eckpunkten der diskursiven Konzeptionen der ›Geschlechterdifferenz‹ um 1900. Kommen wir nun zur Konstitution von ›Geschlecht‹ im Archiv für Anthropologie.
Physisch-anthropologische Konstitution von ›Geschlecht‹ In den bisherigen Ausführungen zur Konstitution von ›Rassen‹ im Archiv für Anthropologie ist die Kategorie des ›Geschlechts‹ nicht dezidiert in den Blick genommen worden. Diese ›Geschlechtsneutralität‹ verdoppelte zunächst jene des anthropologischen Diskurses, der dies jedoch nur auf den ersten Blick ist. Es kann zunächst pauschal festgehalten werden, dass die Konstitution von ›Rassen‹ vornehmlich an als ›männlich‹ identifizierten Individuen vorgenommen wird – das ›Normale der Rasse‹ wird in der Regel durch Identifizierung ›männlicher‹ Körper konstituiert.62 In dieser vertrauten ›Geschlechtsneutralität‹ erscheint ›der Mann‹ wie in der ganzen abendländischen Tradition als Vertreter ›des Menschen‹. So finden sich beispielsweise Tabellen, in denen ausschließlich die Daten von ›Frauen‹ mit dem ›Frauen‹-Symbol versehen sind, womit die als nicht ›geschlechtlich‹ markierten Daten der ›Männer‹ zum ›Normal‹- und die der ›Frauen‹ zum ›Sonderfall‹ werden.63 In diesem Kontext werden die Maße der ›Frau‹ manchmal relativ zu jenen der ›Männer‹ ausgedrückt, und zwar in der Form, dass in einer Tabellenspalte »angegeben ist, wie gross jede mittlere Maass- und Verhältnisszahl der weiblichen Schädel wäre, wenn die betreffende Zahl der männlichen Schädel 100 betrüge« (Die anthropologischen Sammlungen. XI Heidelberg 1897: XVI). In den vier besprochenen Texten von Wilhelm Volz wird beispielsweise nur am Rande auf Messungen an ›Frauen‹ eingegangen. Eine »Vergleichende Tabelle der Frauen« erscheint hier als Anhängsel, das die aus der ›Männer-Tabelle‹ abgeleiteten ›Varietäten‹ bestätigt bzw. »erhärtet« (Abb. 11): »Wenn dieser Tabelle auch alle Mängel dürftigen Materials anhaften, so ist sie doch nicht ganz nutzlos; sie erhärtet das aus den Männern Hergeleitete immerhin; dieselben Varietäten mit denselben Indices treten uns hier wie dort entgegen.« (Volz 1909: 97)
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Paul Broca: Sur la capacité des cranes parisiens des divers époques. In: Bulletin de la Société d’Anthropologie de Paris. 1862, 3: 102-116 nach Stepan 1986: 270. Auf Beiträge, in denen Vermessungen von ›Frauen‹ in den Mittelpunkt rü cken, gehe ich in den nächsten Kapiteln noch ein. Vgl. etwa die Tabellen in Waruschkin 1899.
Vermessung von ›R asse‹ und ›Geschlecht‹
Abb. 11: Vergleichende Tabelle der Frauen (Volz 1909: 97) Die Messungen an ›Frauen‹ supplementieren also die aus den ›Männerdaten‹ konstituierten ›Rassen‹. Dies verweist aber gleichzeitig darauf, dass das an vermessenen ›Männern‹ konstituierte ›Normale der Rasse‹ offenbar noch zu »erhärten« ist, obwohl es gleichzeitig schon »hergeleitet« zu sein scheint. Bezieht man die Frage nach der Konstitution und der Funktionalität von ›Geschlecht‹ in der Identifizierung von ›Rassen‹ in die Analyse mit ein, wird deutlich, dass die Identifizierung von ›Geschlecht‹ wie jene von ›Rasse‹ den anthropologischen Diskurs konstitutiv durchzieht. Im Folgenden sollen die verschiedenen Aspekte, in denen ›Geschlecht‹ für die physische Anthropologie eine Rolle spielt, skizziert werden, bevor im nächsten Kapitel die anthropologischen Überkreuzungen von ›Geschlecht‹ und ›Rasse‹ untersucht werden. Historisch ist festzuhalten, dass – obwohl die Vermessung ›weiblicher‹ Schädel bis in die 1850er Jahre zu den etablierten Bestandteilen der Kraniometrie zählte (vgl. Stepan 1986: 270) – keineswegs alle anthropologischen Beiträge ihre Daten durchgängig nach ›Geschlecht‹ differenzieren. In der Erhebung wird das ›Geschlecht‹ der Identifizierten zwar meist mit angegeben, bei der weiteren Datenbearbeitung ist eine ›sexuelle‹ Differenzierung jedoch nicht immer selbstverständlich. Doch wird immer wieder angemahnt, dass die statistischen Bestimmungen von ›Rasse‹ getrennt nach ›Geschlechtern‹ zu erfolgen haben.64 Die hier postulierte Notwendigkeit der Geschlechterdifferenzierung beinhaltet dabei die Annahme, dass sich die 64
Vgl. z.B.: »Naturgemäß müssen männliche und weibliche Schädel gesondert betrachtet werden.« (Volz 1895: 119)
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›Geschlechter‹ systematisch unterscheiden. ›Rassedifferenzen‹ würden – so die offensiven Vertreter eine strikten Geschlechterunterscheidung bei der Datenerhebung, wie -auswertung – verwischt, wenn die Daten ohne Trennung nach ›Geschlecht‹ statistisch untersucht würden. Die Kategorie ›Geschlecht‹ würde die Identifizierung von ›Rasse‹ also stören, ihr in die Quere kommen, indem sie z.B. Häufungsfelder mitproduzieren, oder Durchschnitte ohne Aussagekraft für die Spezifika der ›Rasse‹ schaffen würde. Doch finden sich auch Positionen, in denen in den Datenauswertungen keine Unterscheidung nach ›Geschlecht‹ vorgenommen wird, wie etwa bei Stanislaw Poniatowski: »Das untersuchte Material ist ebenfalls ungenügend [26 Anthropoiden und 87 Menschen; C.H.], um die Geschlechtsunterschiede sicher nachzuweisen; deshalb habe ich in jeder Gruppe beide Geschlechter zusammen betrachtet und die statistische Bearbeitung nur auf die Verhältnismaße, Indices und Winkel, beschränkt. Selbstverständlich bestehen Geschlechtsunterschiede in den absoluten Maßen des Sprungbeines, die durch den allgemeinen Unterschied in der Körpergröße bedingt werden, aber die Form des Talus wird dadurch nur wenig beeinflusst. Deshalb können wir die Verhältnismaße für die beiden Geschlechter gemeinsam betrachten.« (Poniatowski 1915: 25)
Vergeschlechtlichte Körperteile Dort, wo ›Geschlecht‹ in den physisch-anthropologischen Körperidentifizierungen mitberücksichtigt wird, erscheint die (morphologische) – noch an den bloßen Knochen identifizierbare – Differenz von ›Mann‹ und ›Frau‹ als selbstverständlich und vorausgesetzt. Problemlos gerät sie in den Beschreibungen und Vermessungen mit in den Blick, insofern ›Männer‹ und ›Frauen‹ vermessen werden. Auf diese Weise schreibt der physisch-anthropologische Diskurs ›Geschlecht‹ immer wieder neu in die Körper ein. Die Körper selbst werden vergeschlechtlicht, indem ihnen ein ›Geschlecht‹ zugewiesen wird. Damit wird ›Geschlecht‹ immer wieder als evidente Kategorie hervorgebracht. Das wird besonders deutlich bei den Identifizierungen von Knochenresten des Körpers: In Untersuchungen an vorwiegend prähistorischen, aber auch jüngeren Funden aus Gräbern und anderen Ausgrabungen erhalten Knochen und Schädel jeweils ein ›Geschlecht‹. Dieser Prozess der Geschlechtszuschreibung scheint aber nicht unkompliziert oder gar evident, wie am Beispiel Paul Möbius noch gezeigt werden wird. Grundsätzlich und unhinterfragt wird zunächst von der Existenz zweier biologischer ›Geschlechter‹ (sex) – ›Mann‹ und ›Frau‹ – ausgegangen. Wie selbstverständlich wird angenommen, dass nicht nur an ›primären Geschlechtsorganen‹, sondern am ganzen Körper – manchmal an nur einem einzigen Körperteil – ›Geschlecht‹ abgelesen werden kann. ›Geschlecht‹ durchzieht in der Perspektive der physischen Anthropologie den ganzen
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Körper, denn neben den als besonders ›geschlechtssignifikant‹ ausgezeichneten Körperteilen des Beckens und des Schädels werden auch alle anderen Körperteile, ihre Formen und ‑größenverhältnisse vergeschlechtlicht. Morphologische Formen und Größen des Körpers werden auf diese Weise zu ›sekundären Geschlechtsmerkmalen‹. Während einige Texte die ›weiblichen Rassetypen‹ zur Vervollständigung der an den ›männlichen‹ Daten konzipierten ›Typen‹ herstellen, werden in anderen Texten die Daten ›männlicher‹ und ›weiblicher‹ Körper getrennt präsentiert, um dann miteinander verglichen zu werden. Dabei gerät die Differenz der ›Geschlechter‹ explizit in den Blick und es werden ›geschlechtlich‹ ausdifferenzierte ›Rassen‹ konzipiert.65 Doch werden auch einzelne Körperteile, morphologische Strukturen und Größenverhältnisse vergeschlechtlicht. Dies geschieht durch ein mit ›Weiblichkeit‹ bzw. ›Männlichkeit‹ assoziiertes Register an Zuschreibungen, das sich durch den gesamten Diskurs zieht. So wird der ›weibliche‹ Schädel im Kontext der Identifizierung oft mit den Adjektiven ›schwach‹, ›dünnwandig‹ und ›grazil‹ verknüpft, während ›männliche‹ Schädel als ›kräftig‹, ›dickwandig‹, ›deutlich entwickelt‹ und ›schwer‹ gelten (vgl. Reche 1909: 224 und die Beschreibungen in Kunike 1911). Bis heute sind in der Anthropologie Geschlechtsbestimmungen von Knochen und Schädeln üblich, die auf den ersten Blick erfolgen und mit Kategorien wie ›Grazilität‹ (für ›weiblich‹) und ›Dickwandigkeit‹ (für ›männlich‹) operieren.66 Manchmal können aber Zuschreibungen wie etwa die auf ›Weiblichkeit‹ verweisende ›Grazilität des Schädels‹ in Widerspruch zu anderen als ›männlich‹ identifizierten Formen geraten, so dass die Geschlechtsbestimmung eine abwägende und gewagte bleibt.67 Doch werden auf diese Weise weite Teile des Körpers zu ›sekundären Geschlechtsorganen‹, an denen sich das ›Geschlecht‹ bestimmen lässt.
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Darauf komme ich noch genauer zurück (vgl. S. 97ff). Vgl. zum Beispiel Herbert Ullrich: Identifikation von Gebeinen historischer Persönlichkeiten. Vortrag am Rechtsmedizinischen Institut der FU Berlin, 22.11.2002. Solche Widersprüchlichkeiten werden auch noch in aktuellen Geschlechts identifizierungen von Schädeln formuliert. Vgl. z.B. Ulrich Creutz: Ein Menschenschädel erhellt längst vergangenes Stammesleben. Vortrag im Rahmen der Reihe »Das besondere Objekt« im Medizinhistorischen Museum der Charité Berlin, 26.11.2002.
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Vom ›Pathologischen‹ zum ›Normalen der Rasse‹ Im Zuge der Herausbildung des Normalismus werden – wie bereits ausgeführt – normierende Konzeptionen des ›Pathologischen‹, des ›Abnormen‹, des ganz ›Anderen‹ verschoben zu Abweichungen als Bestandteile des ›Normalen‹. Im untersuchten Zeitraum des Archiv für Anthropologie (1890 bis 1914) erscheinen noch Spuren dieser normalistischen Transformation: Es zeichnet sich eine Bewegung vom Interesse für das ›Pathologische‹, ›Abnorme‹ hin zur Erfassung des ›Normalen‹ von ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ ab, wobei allerdings auch das ›Abnorme‹ oft bereits als gradualisierte Abweichung gilt. In den 1890ern finden sich beispielsweise Beiträge zu Sonderanthropologien wie der Kriminalanthropologie (Lombroso), in der ›unweiblichen Frauen‹ die Neigung zur Kriminalität zugesprochen wird oder von ›Missbildungen‹ der ›Geschlechtsteile‹ die Rede ist, Beiträge die sich mit ›Mikrokephalie‹, mit ›Schwanzbildung‹ beim Menschen und der ›Polymastie‹ (Phänomen von mehr als zwei Brustwarzen) beschäftigen (Hölder 1889; Frey 1898; Schmidt 1891/92; Schaeffer 1891/92; Evelt 1891/92; Hennig 1891). ›Polymastie‹ erscheint dabei als ›Rückschlag in ältere Stammformen‹, als ›Atavismus‹. In den späteren Jahrgängen nimmt die Zahl solcher Beiträge ab. Die ›Atavismus‹- und ›Degenerations‹-Konzeption scheint in der physischen Anthropologie zugunsten der ›Normalität‹ ›fremder Rassen‹ und der ›Geschlechterdifferenz‹ abgelöst – das heißt allerdings nicht, dass dies in allen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Bereichen geschieht und dass diese Konzeptionen nicht jederzeit wieder reaktiviert werden können. Aus den erhobenen Daten werden ›Rassen‹ in ihren ›normalen Typen‹ konzipiert. An dieser Beobachtung kann die Durchsetzung des Normalismus abgelesen werden, wie sie Jürgen Link für umfassende Wissensbereiche seit dem 19. Jahrhundert gezeigt hat. In dem sich hier herausbildenden »›Archipel‹« des Normalismus (Link 1999: 30) verschiebt sich auch in Bezug auf das Verhältnis der ›Geschlechter‹ die Norm, die das Abweichende ausschließt und pathologisiert, in eine Normalität, in der die Grenzen zwischen ›normal‹ und ›abweichend‹ tendenziell beweglich sind.
Flexibilisierungen Im Zuge der Metrisierung der physischen Anthropologie wird ›Geschlecht‹ in denselben Begrifflichkeiten konzipiert wie ›Rasse‹, nämlich insbesondere via Vermessung und statistischer Datenbearbeitung. Im Hinblick auf die Konstruktionsweisen von ›Geschlecht‹ und ›Rasse‹ können also ähnliche Effekte für die Bildung der Kategorie beobachtet werden. In den physisch-anthropologischen Erfassungen der ›Normalität‹ der ›Geschlechterdifferenz‹ gerät diese also wiederum zu einer graduellen Dif-
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ferenz – jene Effekte des Verschwimmens der ›Geschlechtergrenzen‹ wie sie für die ›Rassen‹-Identifizierung bereits nachgezeichnet wurde, sind auch hier zu finden. Das Verhältnis der ›Männer‹- und ›Frauenkörper‹ wird als graduelles Verhältnis insbesondere im Hinblick auf die Größen konzipiert. Diese Gradualisierung der ›Geschlechterdifferenz‹ zieht sich durch viele Texte – dabei gelten zumindest die absoluten Maße der ›Frau‹ als fast durchgehend kleiner als die des ›Mannes‹. Auch hier kann von einem gradualisierten Raum der Hinneigung gesprochen werden. In ihm verschiebt sich die Annahme einer qualitativen bipolaren Differenz der ›Geschlechter‹ hin zu einem ›Normalitätskontinuum‹ gradueller Differenzen. Der ›Frauenkörper‹ erscheint nicht grundsätzlich anders als der ›Männerkörper‹, sondern nur graduell unterschieden (und eine Reihe von Körpermaßen eignen sich offenbar gar nicht als ›sekundäre Geschlechtsmerkmale‹, da an ihnen keine bedeutsame Differenz produziert werden kann). Diese diskursive Wende zur Normalität von ›Rasse‹- und ›Geschlechts typen‹ hat Effekte für die Identifizierbarkeit von ›Geschlecht‹, denn die Anthropologie hat es nunmehr mit fließenden Grenzen zu tun und die Identifizierungen des ›Geschlechts‹ bereiten Schwierigkeiten. Dieses Phänomen soll im Folgenden etwas ausführlicher am Beispiel des Beitrags »Über die Verschiedenheit männlicher und weiblicher Schädel« von Julius Paul Möbius vorgestellt werden, der 1907 im Archiv für Anthropologie erschienen ist und sich ausschließlich mit der Identifizierung von ›Geschlecht‹ beschäftigt (Möbius 1907). Möbius erweitert hier einen Beitrag über die »Geschlechtsverschiedenheiten der tierischen Schädel« um das Feld der menschlichen Schädel, und zwar um »jetzt etwas genauer über eine bestimmte Eigentümlichkeit des Schädels des menschlichen Weibes [zu] reden« (Möbius 1907: 1). In der Formulierung einer »Eigentümlichkeit« schwingt die Konzeption einer qualitativen Differenz des ›weiblichen‹ zum ›männlichen‹ Schädels mit, doch gerät auch Möbius’ Konzeption in den flexibel-normalisierenden Schub, in dem die Abgrenzbarkeit der ›Geschlechter‹ gerade in Frage steht. Möbius’ Beitrag ist also situiert in einem Spannungsfeld von tendenzieller Kategorienauflösung und Kategorien fixierung. Diese diskursive Verschiebung hin zu flexibel-normalistischen Strategien wird von Möbius selbst beobachtet. Um seine Konsequenzen und Argumentation nachzuzeichnen, sei er hier zunächst ausführlicher zitiert: »Im allgemeinen war bisher das Streben der Anatomen und Anthropologen darauf gerichtet, ›pathognostische Symptome‹ zu finden, wie es in der Medizin heißt, d.h. Formeigentümlichkeiten, die es gestatten, mit Bestimmtheit einen weiblichen von einem männlichen Schädel zu unterscheiden, und oft wird das Bedauern darüber ausgesprochen, daß doch alle Unterschiede täuschen können, daß keiner in jedem Falle jeden Zweifel ausschließe. Etwas anders muß man die
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Sache ansehen, wenn man zu der Einsicht gelangt ist, daß es keine absoluten Männer, keine absoluten Weiber gibt, daß in der Regel auch am Manne einzelne weibliche Eigentümlichkeiten vorhanden oder doch angedeutet sind, beim Weibe einzelne männliche. Die ›andauernde Bisexualität‹ erklärt es, daß auch am Schädel des Weibes männliche Bildungen, an dem des Mannes weibliche Bildungen vorkommen. Damit verlieren die Geschlechtsunterschiede nicht an Bedeutung, männliche Form bleibt männlich und weibliche weiblich, aber wir erfahren, daß zwischen die beinahe rein männlichen und die beinahe rein weiblichen Schädel Zwischenformen eingeschaltet sind, bei denen der Form des einen Geschlechtes einzelne oder mehrere Kennzeichen des anderen eingefügt sind, so daß als Mittelpunkt der ganzen Reihe ein hermaphroditischer Schädel zu denken ist. Die Aufgabe des Untersuchers wird nun die sein, anzugeben, inwieweit ein Schädel männliche oder weibliche Formen hat; und es ist ersichtlich, daß damit sehr viel mehr geleistet ist als mit der bloßen Geschlechtsbestimmung. Das erste bleibt diese natürlich, und trotz aller Schwankungen macht sie in der Regel keine Not. Denn natürlich wird sich niemand auf ein einzelnes Zeichen verlassen, fasst man aber alle wichtigen Merkmale ins Auge, so bleiben unter 100 Schädeln immer nur einige, bei denen die Geschlechtsdiagnose nicht mit Sicherheit zu stellen ist.« (Möbius 1907: 1)68
Möbius hat also offenbar die Zweifel an der ›Bestimmtheit‹ von Unterscheidungen der ›Geschlechter‹ durch pathognostische Verfahren69 beobachtet und scheint sich darum der »Einsicht« einer flexiblen ›Geschlechterdifferenz‹ zuzuwenden. In dieser Passage, in der Möbius sich vermutlich auf die bei Weininger konzipierte »andauernde Bisexualität« bezieht, tritt also ganz deutlich die Vorstellung eines Normalitätskontinuums zwischen ›männlich‹ und ›weiblich‹ zu Tage. Es ist die Rede von »Zwischenformen« zwischen ›männlich‹ und ›weiblich‹, den Mittelpunkt der Reihe bildet der »hermaphroditische Schädel«.70 Die zwei Extrempole »absolute Männer« und »absolute Weiber« werden in diesem Kontinuum gradueller Abstufungen nicht besetzt, die äußersten bei Möbius vorkommenden Formen sind »die beinahe rein männlichen« und die »beinahe rein weiblichen Schädel« – dazwischen ist eine im Prinzip unendliche Reihe von Misch- bzw. Zwischenformen geschaltet. Gegen diese Aufweichung klarer Grenzen versucht Möbius durch das Postulat, dass damit »die Geschlechtsunterschiede nicht an Bedeutung« verlieren, die irritierenden Auflösungen gleichzeitig 68 69 70
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Die optimistische Prognose des letzten Satzes stützt Möbius auf Untersuchungen von Schaaffhausen, Rebentisch und anderen. Pathognostik ist die »Lehre von den Zeichen und der richtigen Beurteilung von Krankheiten« (Meyers Konversationslexikon, Lexem »Pathognostik«). Das Symbol für diese Zwischen- bzw. Übergangsform, die als ›hermaphroditische‹ Figur angenommen wird, finden wir u.a. in den Tabellen von Otto Reche: Zwei der ›geschlechtlich‹ nicht eindeutig bestimmbaren Schädel (Nr. 38 und 63) erhalten es in den kleineren Tabellen (Reche 1909: 234-237).
Vermessung von ›R asse‹ und ›Geschlecht‹
wieder einzufangen. Zumindest die Körperteile und ‑formen scheinen eindeutig ›sexuell‹ identifizierbar zu sein: »männliche Form bleibt männliche und weibliche bleibt weibliche«.71 Daneben bringt Möbius die bereits erwähnte »bestimmte Eigentümlichkeit« des ›weiblichen‹ Schädels in der Identifizierung in Anschlag. Dabei geht es um eine »eigenartige Form des weiblichen Hinterhauptes«, die der Vermessung nicht zugänglich zu sein scheint: »Einer direkten Messung entzieht sich die fragliche Vorwölbung.« (Möbius 1907: 7) Durch diese Betonung eines spezifischen Merkmals des ›weiblichen‹ Schädels spricht im Grunde noch die Vorstellung einer ›weiblichen‹ Sonderanthropologie. Wir begegnen hier einer Bewegung zwischen Auflösung und Fixierung, durch die sich der physisch-anthropologische Normalismus auszeichnet. Mit Jürgen Link – der von einer Bifurkation und dem immer wieder neuen Auspendeln der flexiblen und der proto-normalistischen Strategie ausgeht – ließe sich in diesem Zusammenhang vermutlich vom durchbrechenden Protonormalismus von Möbius – der bis heute insbesondere durch seinen misogynen Text »Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes« bekannt ist (Möbius [1901]) – sprechen. Doch findet sich in der Beschreibung dieser »Eigentümlichkeit« wiederum das Eingeständnis von Zwischenformen: »Der Hinterkopf des Mannes ist ein Kugelabschnitt, und ist das Männliche sehr ausgeprägt, so gehört dieser Abschnitt zu einer Kugel, die viel größer ist als der Kopf, d.h. der Hinterkopf ist zwar gleichmäßig gewölbt, aber flach. Der Hinterkopf des Weibes dagegen ist nicht nur durch das Vorspringen der Stelle zwischen Lambdaspitze und Inion, sondern auch dadurch anscheinend verlängert oder zugespitzt, daß die Region um den hinteren unteren Winkel des Scheitelbeines herum eingezogen ist, daß die Gegend unterhalb des Inion weniger gewölbt ist als beim Manne, und daß sich oberhalb der Lamdaspitze eine mehr oder weniger tiefe Einsenkung findet. Natürlich entsprechen dieser Schilderung nur Schädel mit ausgeprägtem Geschlechtscharakter. Alle Stufen zwischen dem typischen Weiberschädel und dem typischen Männerschädel findet man besetzt.« (Möbius 1907: 3)
Dieses Schwanken der diskursiven Strategie zwischen – um in der Link’schen Terminologie zu bleiben – protonormalistischer und flexibel-normalistischer Orientierung, das trotz Eingeständnis der letzteren Perspektive sich doch stark in Richtung der ersten neigt, ist bei Möbius besonders ausgeprägt. In 71
›Geschlechtliche‹ Markierungen von Schädelformen werden auch in anderen Beiträgen des Archiv vorgenommen, so z.B. bei Otto Reche: »Die Hyperdolichokephalen scheinen die ausgesprochen männliche Form, ich möchte sagen, den ›Muskelschädel‹ dieses Typs zu repräsentieren, während die Dolichokephalen mehr den schwächeren, weiblichen, darstellen.« (Reche 1909: 224)
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der offensiven Betonung qualitativer ›Geschlechterdifferenzen‹ stellt er – am ehesten vielleicht neben Carl Heinrich Stratz, auf den ich unten noch eingehen werde – gewissermaßen eine ›Ausnahme‹ dar. Zudem geht es ihm nicht einfach nur um eine Identifizierung, sondern sein expliziter Beweggrund liegt in einem »psychologischen Interesse«: »[I]ch würde mich nicht genauer mit der Schädelform befaßt haben, ohne die Überzeugung, daß das Innere dem Äußeren entspreche, daß die Unterschiede der Form seelische Verschiedenheiten ausdrücken. Sähe ich in der Schädellehre nur ein Mittel zur Unterscheidung verschiedener Rassen, so wäre sie mir ziemlich gleichgültig.« (Möbius 1907: 2)
Möbius reformuliert72 hier klar und deutlich eine physiognomische Perspektive des späten 18. Jahrhunderts – die Betonung qualitativer Differenzen und die sonderanthropologischen Züge des Textes passen dabei ganz gut ins Gesamtbild. Latent schwingt in der physisch-anthropologischen Fixierung auf die Vermessungen von Schädeln natürlich weiterhin die Vermutung des Zusammenhangs von Körperformen und Charaktereigenschaften, vor allem auch der Intelligenz, mit, doch von expliziten Formulierungen dieser Art halten sich die Beiträge im Diskursfeld des Archiv für Anthropologie eher fern. Bemerkenswert erscheint mir in diesem Zusammenhang aber auch Möbius’ randständige Behandlung metrischer Verfahren und seine explizite Kritik an der anthropologischen Fokussierung auf die Index-Zahlen: Er legt großen Wert auf die »Urzahlen, aus denen sie [die Index-Zahl; C.H.] entsteht« (Möbius 1907: 4). Möglicherweise hängen diese Distanzierung von der Vermessung, das von ihm hingegen praktizierte Verfahren des tastenden Identifizierens und das starke Kippen seines Textes zu protonormalistischen Strategien miteinander zusammen, denn über die »Eigentümlichkeit« des ›weiblichen‹ Schädels schreibt er: »Das Auge erfasst die Eigentümlichkeit mit Sicherheit, aber die Messung ist nicht anwendbar. Daher sollte die Tatsache, daß beim weiblichen Hinterkopfe Augenschein und Messung im gleichen Sinne sprechen, nicht dazu führen, der Messung in diesen Dingen eine Bedeutung zuzuschreiben, die sie nicht hat.« (Möbius 1907: 7)
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Auch wenn diese Formulierung nahe legt, die Physiognomie sei vorher abgeschafft worden und werde nun ganz neu wieder formuliert, so ist in dis kursanalytischer Perspektive nicht von einer sprunghaften und völligen Ablösung physiologischer Perspektiven auszugehen. Sie scheinen vielmehr im ›kulturellen Gedächtnis‹ zu schlummern und unter bestimmten Vorzeichen jederzeit wieder abrufbar zu sein – in diesem Fall als Gegengewicht zu den Flexibilisierungen der ›Geschlechterdifferenz‹.
Vermessung von ›R asse‹ und ›Geschlecht‹
Doch sehen wir zunächst, wie weit Möbius’ Versprechen trägt, dass trotz Eingeständnis der ›Bisexualität‹ des Menschen »unter 100 Schädeln immer nur einige [bleiben], bei denen die Geschlechtsdiagnose nicht mit Sicherheit zu stellen ist« (Möbius 1907: 1).
Probleme bei der Identifizierung Möbius bestimmt in seiner Identifizierungsprozedur das ›Geschlecht‹ von Schädeln aus der Sammlung von Emil Schmidt, denen von Schmidt bereits ein ›Geschlecht‹ zugeschrieben worden waren. Möbius’ Identifizierung orientiert sich an den sogenannten »Außenwerken« des Schädels.73 Er lässt die Schädel bis auf den Hinterkopf mit einem Tuch abdecken, befühlt diesen dann zuerst mit geschlossenen Augen74 und sieht ihn sich dann an. Die Präsentation seiner Ergebnisse liest sich wie folgt: »Bei 211 Schädeln von 300 habe ich die richtige Diagnose gemacht, 44mal habe ich mich geirrt, 45mal bin ich im Zweifel geblieben. Die Diagnose auf Männerschädel war 149mal richtig, 24mal falsch, die auf Weiberschädel 62mal richtig, 20mal falsch, zweifelhaft war ich bei 15 männlichen, 30 weiblichen Schädeln. Nach Enthüllung des Schädels musste ich in der Regel die Diagnose Schmidts anerkennen. In zwölf Fällen jedoch, in denen ich nach Schmidt falsch diagnostiziert hatte, blieb mir das Geschlecht des Schädels zweifelhaft.« (Möbius 1907: 4)
Trotz des zunächst taktilen Zugangs werden die zweifelhaften Identifizierungen durch den Blick auf die enthüllten Schädel überprüft – auf diese Weise wird das anthropologische Sichtbarkeitspostulat wieder in sein Recht gesetzt. Gleichzeitig kann hier der wissenschaftliche Prozess der Abarbeitung an Daten anderer – ihre Bestätigung oder Falsifizierung durch andere Verfahren – beobachtet werden, denn die vorherige Geschlechtsbestimmung Schmidts wird als nachträgliches Korrektiv für die eigene »Diagnose« herangezogen, das aber selbst wiederum korrigiert bzw. ergänzt werden kann (zweien der von Schmidt selbst nicht bestimmbaren Schädel wird von Möbius nachträglich ein ›Geschlecht‹ zugeschrieben). Doch beziehen wir den anfänglichen Optimismus Möbius’ mit ein, so scheint das Ergebnis sei73
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»[Es] ist ersichtlich, daß die sofort in die Augen fallenden Geschlechtsmerkmale, die, auf denen die Diagnose auf den ersten Blick zu beruhen pflegt, den Außenwerken angehören: Größe der Muskelfortsätze (Hinterhauptfortsatz, Warzenfortsatz, Griffelfortsatz, Schläfenlinie), Größe und Form des Gesichtes und besonders des Unterkiefers, Beschaffenheit des Stirnrandes.« (Möbius 1907: 2) Hierbei handelt es sich im physisch-anthropologischen Diskurs, der dem Primat von Sichtbarkeit unterliegt, um einen mehr als ungewöhnlichen ers ten Zugang! (vgl. Fn. 200)
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Zwischen Auflösung und Fixierung
ner Identifizierung doch ernüchternd – auch wenn ihn das nicht zu stören scheint: Eine »richtige«, d.h. mit jener von Schmidt übereinstimmende »Diagnose« ist ihm in weniger Fällen als erhofft, gelungen. Und selbst nach dem Abgleich mit Schmidts Geschlechtszuschreibungen und dem Einbeziehen des Blicks bleiben immer noch einige weiterhin zweifelhafte Fälle. Die Unsicherheiten in der ›Geschlechtsdiagnose‹ Möbius’ sind also nicht vollständig auszuräumen – ein unbestimmbarer Rest bleibt. Diese Schwierigkeit, eindeutig das ›Geschlecht‹ zu bestimmen, korrespondiert mit Möbius’ Ausführungen zur flexiblen ›Geschlechterdifferenz‹, dass es keine »absoluten Männer, keine absoluten Weiber« gibt. Trotz dieses Eingeständnisses verfolgt Möbius aber dennoch das Ziel einer eindeutigen Bestimmung von ›Geschlecht‹ – dort wo sie misslingt, taucht aber hinterrücks die Unsicherheit über die Kategorie ›Geschlecht‹ wieder auf. Mit solchen Unsicherheiten in der Identifizierung von ›Geschlecht‹ steht Möbius nicht alleine da: Im Archiv für Anthropologie finden sich eine ganze Reihe von unklaren Geschlechtsbestimmungen an Schädeln und anderen menschlichen Knochenresten. Zweifel an der ›sexuellen‹ Klassifizierung und Sorge vor einer möglichen Willkürlichkeit wirft beispielsweise auch Adolph Lüthy auf: »Bei den meisten Gruppen war das Geschlecht der Schädel nicht bestimmt, und um nicht willkürliche und daher zweifelhafte Trennungen zu machen, habe ich von einer sexuellen Unterscheidung abgesehen. Ich sah mich dazu umso eher veranlaßt, als eine Prüfung der sekundären Geschlechtsmerkmale an sicher bestimmtem außereuropäischen Material [!] bis jetzt noch nicht durchgeführt ist. Daß allerdings auch eine willkürliche Trennung in den Resultaten zu ›sexuellen Differenzen‹ führen kann, ist mehr als wahrscheinlich; ob sie aber wirklichen Formunterschieden der Geschlechter entsprechen, ist fraglich.« (Lüthy 1912: 16)75
Explizit formuliert auch Rudolf Asmus: »Gewisse Schwierigkeiten machte die Bestimmung des Geschlechts. Leider liessen sich aus der Bestattung selbst und der Art der Grabbeigaben so gut wie in keinem Falle irgend welche sicheren Schlüsse in dieser Hinsicht ziehen. Auch die Beckenknochen waren in den meisten Fällen nicht mehr zu beschaffen. Die Bestimmung erfolgte daher nach den bekannten Geschlechtsmerkmalen am Schädel, die freilich neuerdings fast sämmtlich von Bartels auf Grund eines grösseren Materials als unzuverlässig hingestellt worden.« (Asmus 1902: 4)76
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Ausgeräumt sind solche Sorgen in der Prähistorie bis heute nicht: immer wieder wird das ›Geschlecht‹ bereits bestimmter Schädel wieder hinterfragt oder geändert. Asmus bezieht sich hier auf Bartels: Ueber Geschlechtsunterschiede am Schädel. Berlin 1897.
Vermessung von ›R asse‹ und ›Geschlecht‹
Dennoch operiert Asmus weiterhin mit zwei ›Geschlechtern‹. Ähnliches ist auch bei Nicolaus von Zograf zu beobachten, der trotz Problemen in der Geschlechtsbestimmung (»Von den 63 Schädeln konnte ich nur bei 41 das Geschlecht mehr oder weniger genau, bei 12 Schädeln konnte man das Geschlecht nur annähernd bestimmen, 7 adulte und 4 Kinderschädel konnten nicht bestimmt werden … «; Zograf 1897: 42) seine weiteren Ausführungen dennoch durchgängig nach ›Geschlecht‹ unterteilt. Trotz der Identifizierungsschwierigkeiten bleibt der Glaube an die Evidenz der ›Geschlechterdifferenz‹ offenbar unerschütterlich. Ganz grundsätzlich liegt er auch anthropologischen Beiträgen zu Grunde, die ›Rassen‹ an ›Frauendaten‹ ermitteln, wie im folgenden Kapitel gezeigt wird. Dennoch bleibt die Bedrohung klarer ›Geschlechter‹-Kategorien immer präsent: Am offensichtlichsten drückt sich dies in jenen Tabellen aus, in denen statt oder neben der Angabe zum ›Geschlecht‹ ein Fragezeichen positioniert oder sogar eine Fusion beider Zeichen eingetragen wird.77 Diese Frage- und Mischzeichen verweisen darauf, dass die physische Anthropologie hier an die Grenzen ihres Anspruches der exakten Identifizierung zu gelangen scheint: Die Körper entziehen sich der Erfassung ihres ›Geschlechtes‹. Hier gibt sich der Konstruktionscharakter der physischen Anthropologie selbst zu erkennen. Diese Passagen stören die Selbstverständlichkeit und Evidenz der Kategorie ›Geschlecht‹, sie machen sie fragwürdig. Hier wiederholt sich eine Verunsicherung, die – wie bereits beschrieben – auch bei der Identifizierung von ›Rasse‹ zu beobachten ist. Den gesamten physisch-anthropologischen Diskurs durchzieht also das Spannungsfeld von tendenzieller Kategorienauflösung und Kategorienfixierung – es hinterlässt in allen Beiträgen zur Identifizierung von ›Rassen‹ und ›Geschlechtern‹ Spuren. Man könnte sagen, dass die physische Anthropologie um 1900 damit beschäftigt ist, die normalistische Flexibilisierung der ›Geschlechterdifferenz‹ einerseits zu übersehen, andererseits aber pragmatisch in den Griff zu bekommen. In vielen Texten wird versucht, das Verschwimmen klarer Grenzen zwischen ›Mann‹ und ›Frau‹ zu bändigen. Das geschieht zum Beispiel durch Formulierungen einer scharfen Abtrennung oder durch die Postulierung morphologisch differenter Formen: Otto Reche z.B. findet bei der »größten Schädellänge einen auffallenden Unterschied zwischen den Geschlechtern« (Reche 1909: 221),
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Vgl. z.B. die mit den Nummern 22, 24, 33, 36, 38, 63 und 68 gekennzeichneten Schädel bei Reche 1909: 232-237, vgl. auch den Hinweis von Zograf auf einen Schädel, der »in meinen [allerdings nicht mit abgedruckten; C.H.] Messungstabellen mit einem Zeichen ♂? designiert ist« (Zograf 1897: 43). Bei der Schädelsammlung Heidelberg kann »ein Sechstel derselben in Bezug auf Geschlecht nicht genau bestimmt werden (Die anthropologischen Sammlungen. XI. Heidelberg 1897: XV).
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Zwischen Auflösung und Fixierung
Franz Bauer findet »absolut längere« Werte (Bauer 1904: 159), Möbius macht am ›weiblichen‹ Schädel eine »Eigentümlichkeit« in der Form aus (Möbius 1907: 7) usw. In Fällen, wo eine ›geschlechtliche‹ Identifizierung von Schädeln nicht ausschließlich anthropologisch – also mit Blick auf den Körper – gelingt, werden ›außeranthropologische‹ Aspekte zur Unterstützung mit herangezogen, wie vor allem die Frage nach Begräbnisformen und Grabbeigaben. Im besten Fall bestätigen sich beide Zugangsweisen gegenseitig. Doch manchmal müssen sie gegeneinander abgewogen werden, und es steht zur Debatte, welchem mehr Aussagekraft zukommt, welchem mehr zu trauen ist. Statt einer Bestätigung entsteht so manchmal weitere Verwirrung, zum Beispiel reichen bei Reche allein die Grabbeigaben für ein Zweifeln an der physisch-anthropologischen Geschlechtsidentifizierung eines Schädels: Der Schädel Nr. 33 wird bezeichnet als »Männlicher Typus, im Grabe aber ›Weiberschmuck‹« und erhält auf diese Weise ein Fragezeichen (Reche 1909: 233).78 Auf solche Weise findet sich auch dort, wo ›Geschlecht‹ eingeprägt werden soll, immer auch die Kategoriengradualisierung und tendenzielle Auflösung mit formuliert. So sind die anthropologischen Beiträge aufgespannt zwischen relativer, gradueller ›Geschlechterdifferenz‹ und qualitativer Kategorisierung. Eine der prominenten und insistierenden Gegenpositionen zur ›Geschlechter‹-Flexibilisierung, die sich nach wie vor um eine klare qualitative Differenz der ›Geschlechter‹ bemüht, ist der viel rezipierte Gynäkologe Carl Heinrich Stratz, der mit mehreren Artikeln im Archiv vertreten ist. Er findet in der Kreuzgegend ein »fundamentales Unterscheidungsmerkmal« zwischen ›Mann‹ und ›Frau‹, an der eine »scharfe Trennung« möglich ist und entwirft einen »Normalkanon« der Proportionen für den ›Mann‹ und gesondert davon, einen für die ›Frau‹ (Stratz 1902: 122f; vgl. a. Stratz 1911a.). Möbius und Stratz nehmen also beide eine eher aggressiv protonormalistische Positionen ein, die im Archiv für Anthropologie wenig verbreitet ist – hier überwiegt vielmehr die ›weiche‹ Variante flexibler, gradueller Abstufungen. ›Geschlecht‹ wird dabei meist nicht in Frage gestellt, sondern einfach pragmatisch weiterverwendet. Der Konflikt zwischen flexibler und fixer Bestimmung von ›Geschlecht‹ verläuft allerdings nicht zwischen zwei Parteien. Als Spannungsfeld durchzieht er vielmehr – wie bereits bei Möbius selbst – alle Beiträge des physisch-anthropologischen Diskurses.
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Eine Skizzierung des Verhältnisses von gegenseitiger Abgrenzung, aber auch Ansteckung von anthropologischem und ethnologischem Diskurs im Zuge der disziplinären Ausdifferenzierung beider findet sich in Hanke 2000a: 126226.
Vermessung von ›R asse‹ und ›Geschlecht‹
›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ – Ver f lechtungen und Überschneidungen Auf eine enge Verbindung von ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ in den Naturwissenschaften hat bereits 1986 Nancy Leys Stepan in ihrem Aufsatz »Race and Gender: The Role of Analogy in Science« (Stepan: 1986) hingewiesen. Das Verhältnis beider Kategorien in der Anthropologie wird hier als Metapher, als Verbindung zweier unterschiedlicher Dinge begriffen, die aber in der Zusammenführung miteinander agieren und aufeinander reagieren, also »active together« sind: »[B]y their interactions and evoked associations both parts of a metaphor are changed.« (Stepan 1986: 268)79 Dieses Aufeinanderwirken der Kategorien ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ in ihrer Überkreuzung ist auch im hier analysierten Material zu erkennen: ›Rasse‹ wird vergeschlechtlicht und ›Geschlecht‹ wird rassifiziert. Stepan betont die Produktivität solcher Verbindungen: »Metaphors create new knowledge.« (Stepan 1986: 271) Sie generieren Wissen, machen Neues sichtbar und stiften Sinn bzw. Bedeutung. Aber sie reizen auch zu weiteren Forschungen – insbesondere zu weiteren Datenerhebungen: »The metapher, in short, served as a program of research.« (Stepan 1986: 272) Die von Nancy Leys Stepan als Metapher gefasste Verbindung von ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ wird als komplexer Zusammenhang beschrieben, in dem beide Kategorien miteinander interagieren. In diskursanalytischer Perspektive treten die Strukturanalogien von ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ hervor,80 die letztendlich daraus resultieren, dass ihre Generierung denselben anthropologischen Identifizierungsverfahren – v.a. der Vermessung – unterliegt und dass diese sich jeweils gleichermaßen auf die Morphologie der Körper richten. Doch auch darüber hinaus sind beide Kategorien in der physischen Anthropologie nicht nur eng miteinander verknüpft, sondern konstitutiv aufeinander bezogen. Besonders augenfällig wird dies an den anthropologischen Identifizierungen von Schädel- und Knochenresten, in denen
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Stepan bezieht sich hier auf ein Metaphernkonzept, das ausführlicher zu diskutieren den Rahmen der vorliegenden Studie sprengen würde. Es kommt mir hier auf Stepans strategischen Einsatz an, der mit der Betonung, die Metapher sei produktives, sogar konstitutives Element der Naturwissenschaften, deren Anspruch auf Objektivität und Neutralität zu durchkreuzen sucht. Auf die Potentiale literaturwissenschaftlicher Verfahren und Perspektiven für die Wissenschaftsgeschichte und ‑forschung hat Sigrid Weigel vor einem wissenschaftsphilosophischen Publikum hingewiesen (Sigrid Weigel: Literaturforschung und Wissenschaftsgeschichte. Gastvortrag im Rahmen des Kolloquiums »Praktiken, Formen und Dynamiken des Wissens« an der TU Berlin 14.1.2003). Zum Begriff der Strukturanalogien in Bezug auf die Kategorien ›Geschlecht‹ und ›Ethnizität‹ vgl. Urban 2005.
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die ›rassische‹ und ›geschlechtliche‹ Bestimmung in einem zirkulären Prozess stattfindet: Da davon ausgegangen wird, dass sowohl ›Geschlecht‹ als auch ›Rasse‹ den Körper markieren, muss vor der Identifizierung des ›Geschlechts‹ von z.B. prähistorischen Schädeln ihr ›Rassetypus‹ bekannt sein und andersherum: Bevor der ›Rassetyp‹ bestimmt wird, müssen die Knochen schon mit einem ›Geschlecht‹ versehen worden sein. Wie sehr bis heute die Analyse von menschlichen Knochenresten in diesem Zirkel gefangen ist und wie treffend Judith Butlers Überlegungen zur Vergeschlechtlichung und Materialisierung von Körpern gerade hier beobachtet werden können, führt Cathy Gere in ihrem Text: »Bones That Matter: Sex Determination in Paleodemography 1948-1995« (Gere 1999)81 pointiert vor. Ihre Beobachtung einer »sexing practice that is always racialised« (Gere 1999: 460) muss im Hinblick auf die Fragestellung der vorliegenden Arbeit allerdings um die dazugehörige zweite Perspektive erweitert werden, nämlich dass es sich auch um eine »racialising practise that is always sexed« handelt. Die diskursiven Überlagerungen von ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ haben Effekte der Vergeschlechtlichung der ›Rassen‹ und der Rassifizierung der ›Geschlechter‹: Grob gesagt erscheinen die ›niederen Rassen‹ tendenziell verweiblicht, während die ›Frau‹ wiederum als ›niederer Typus‹ gilt, der noch nicht die ›typischen Rassemerkmale‹ ausgeprägt hat.82
Überlagerung von Onto- und Phylogenese Diese Verflechtung geschieht vor dem Hintergrund einer Überlagerung von Onto- und Phylogenese, in welche die Kategorie des Alters und der fortschreitenden Entwicklung mit hineinwirkt (vgl. auch Lévi-Strauss [1952]).83 Die menschliche Entwicklungsgeschichte (Phylogenese) wird mit der individuellen Entwicklungsgeschichte (Ontogenese) parallel geführt, so dass die Schädel der menschlichen Entwicklungsgeschichte dieselbe Bewegung durchzumachen scheinen wie jene der individuellen Entwicklung.84 So wird 81 82 83
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Gere lehnt ihren Titel an Judith Butlers Buch »Bodies That Matter« (Butler 1993) an. Für den Hinweis auf diesen Text danke ich Marianne Sommer. Zu beiden Positionen finden sich aber auch ›Abweichler‹ bzw. ›Ausnahmen‹, auf die unten noch eingegangen wird. Diese Konzeption von Entwicklung und Fortschritt mit ihren Möglichkeiten des Aufsteigens, des Verharrens auf einer Stufe, des Zurückfallens usw. schwirrt um 1900 durch viele Diskurse, gesellschaftlich am auffälligsten vermutlich im Diskurs der ›Kulturkrise‹ um 1900, vgl. dazu Bublitz/Hanke/ Seier 2000 und darin v.a. den Beitrag von Andrea Seier (Seier 2000). Zum ›historischen Modus‹ der physischen Anthropologie und zu den Überlagerungen synchroner und diachroner Perspektiven vgl. Hanke 2000a: 203216.
Vermessung von ›R asse‹ und ›Geschlecht‹
in einer Rezension zu Haberers »Ueber die Norma occipitalis bei Mensch und Affe« formuliert: »Das Studium der Entwickelungsgeschichte des menschlichen Schädels im Zusammenhalte mit der Entwickelungsgeschichte der Orangutanschädel […] er gab, dass thatsächlich alle diese verschiedenen Formen als Stufen der fortschreitenden individuellen Ausbildung jedes einzelnen menschlichen Schädels von der frühen Jugend […], zum mittleren erwachsenen Alter […], bis zum vollen erwachsenen männlichen Alter […] angesprochen werden müssen.« (Birkner 1902b: 276f)
Hier werden zwei verschiedene Formen von Differenz, die sowohl Raum wie Zeit strukturieren, übereinander gelagert: Die (phylogenetische) Entwicklung vom Tier (Affe) zum Menschen und die (ontogenetische) Entwicklung vom Kleinkind über die Jugend zum Erwachsenen. In der Überlagerung der Konzeptionen von individueller und menschlicher Entwicklungsgeschichte, also der Entwicklungslinie vom Kind zum Erwachsenen, aber auch der morphologischen Entwicklung der ›Rassen‹, erhält der Körper der ›Frau‹ den morphologischen Status eines Kindes und einer ›niederen Rasse‹. Gleichzeitig werden in dieser Überlagerung die ›niederen Rassen‹ verweiblicht: Birkner schreibt von den »kindlichen (weiblichen) Schädelformen des Negers« bei Haberer und davon, dass die Schädel der ›Frauen‹ nie den »extremen männlichen Typus erreichen« (Birkner 1902b: 277). Hier erhält neben den Differenzen Tier-Mensch und KindErwachsener eine dritte Differenz – die der ›Geschlechter‹ – einen historisierenden Schub: Die ›Geschlechterdifferenz‹, die primär den Raum (in ›Männer‹, ›Frauen‹ und evtl. diverse ›Zwischenstufen‹) fragmentiert, also synchron organisiert ist, erscheint nun als eine Differenz der Entwicklungsgeschichte. Diese verläuft ausgehend vom ›Affen‹ über die ›Frau‹/das ›Kind‹ hin zum ›Menschen‹/›Mann‹/›Erwachsenen‹. ›Frauen‹ werden damit auf einer niedrigeren Stufe der Entwicklung situiert. Aber auch bei ›Männern‹ »finden sich solche vom kindlichen (weiblichen) Typus« (Birkner 1902b: 277). Eine Überlagerung von Onto- und Phylogenese finden wir auch bei Giuseppe Sergi. Sergi reduziert die in Europa vorfindlichen ›Rasseformen‹ auf zwei: die »lange« und die »kurze Form« (Sergi 1905: 111). Jede dieser beiden »sehr klare[n] und deutliche[n] Kategorien« (Sergi 1905: 111) wird in sich nach je drei Formvarietäten differenziert: den »Pentagonoides«, den »Ovoides«, den »Ellipsoides« auf der einen Seite, den »Platykephalus«, den »Sphenoides oder Cuneiformis«, den »Sphäroides« auf der anderen (Sergi 1905: 112). Die Konzeption dieser ›Schädeltypen‹ und -›varietäten‹ fragmentiert den (europäischen) Raum: Diese verschiedenen Schädelformen Erwachsener sind – so Sergi – bei allen europäischen Menschengruppen
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Zwischen Auflösung und Fixierung
zu finden (Sergi 1905: 113). Unter Einbeziehung einer ontogenetischen Perspektive85 werden diese Schädelvarietäten mit einer zeitlichen Markierung versehen: Die Schädelformen Erwachsener werden auf diese Weise auf einer Skala eingeordnet, die von ›fötal‹ bzw. ›uterin‹ hin zu ›definitiv‹, ›erwachsen‹, ›typisch‹ reicht. In Sergis Konzeption kann die ›definitive Form‹ erreicht werden, aber es kann auch die ›fötale Form‹ teilweise oder in weiten Teilen erhalten bleiben. Die als ›fötal‹ eingestufte Schädelvaria tion beim Erwachsenen wird mit den Stichworten »Fortdauer der fötalen Form in ihrer Gesamtheit« (Sergi 1905: 118) charakterisiert, für die mittlere Schädelform schreibt Sergi, dass dieser Schädel »seine Wachstumsphasen nicht vollständig überwunden hat«, in Bezug auf die ›fötale‹ Form sei er noch »larviert« geblieben (Sergi 1905: 116). Auch hier ist es wieder der ›weibliche‹ Schädel, der einer niedrigeren onto- wie phylogenetischen Stufe zugeordnet wird: »Was die Stirnhöcker [der fötalen Form; C.H.] betrifft, so ist es besonders der weibliche Schädel, der sie mehr oder weniger stark und klar beibehält.« (Sergi 1905: 116) Die hier konzipierten Varietäten von Hinterhauptsformen werden von Sergi als gültig für die gesamte menschliche Spezies gesetzt, mit der Betonung, dass sie »nicht Anzeichen verschiedener Rassen sind, wofür sie einige Anthropologen glaubten ansprechen zu dürfen« (Sergi 1905: 116). Die jeweiligen Varietäten und Untervarietäten fänden sich – ähnlich wie bei Haberer – immer vereinigt, wenn auch zu jeweils unterschiedlichen Prozentsätzen. Der historische Modus wird hier also strategisch gegen die Konzeption von ›Rassen‹ und gegen deren Zuordnung zu verschiedenen Entwicklungsstufen eingesetzt. Trotz dieses expliziten Einwandes Sergis werden seine Kategorien von anderen Autoren durchaus im Zusammenhang mit ›Rasse‹-Bestimmungen verwendet.86 Für eine Hierarchisierung der Menschen ist diese Konzeption ausgesprochen produktiv: Die Parallelisierung der Ontogenese mit der Phylogenese fragmentiert die Menschheit unter einer entwicklungsgeschichtlichen Perspektive und fragt nach ihrem onto- wie phylogenetischem Stand: Hat ein Schädel den ›fötalen Typus‹ überwunden und damit die ›definitive Form‹ erreicht oder bleibt die ›fötale Form‹ erhalten? ›Frauen‹ werden dabei wiederum auf den morphologischen Status des ›Kindes‹ verwiesen. Solche Koppelungen, in denen ›weibliche‹ Schädel wie jene der ›niedrigen‹ Rassen auf der kindlichen Stufe verortet werden, sind anschlussfähig an die unter anderem bei Havelock Ellis formulierte Ausdifferenzierung im 85 86
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»So gründet sich die von mir aufgestellte Klassifikation der Schädel […] hauptsächlich auf die individuelle Entwickelung.« (Sergi 1905: 116) Vgl. z.B. Alfred Schliz, der sich explizit auf Sergis Schädeltypen bezieht und sie für seine »prähistorische Schädeltypologie« verwendet (Schliz 1909a und 1910).
Vermessung von ›R asse‹ und ›Geschlecht‹
Verlaufe der Entwicklungsgeschichte – die im hier analysierten Material selbst allerdings nicht auftaucht. Eine Ausdifferenzierung der ›Geschlechter‹ wäre dann nicht als gleichzeitige Auseinanderentwicklung in zwei extreme (›männliche‹ und ›weibliche‹) Richtungen geschehen, sondern die Bewegung des morphologischen Fortschritts wäre alleine dem ›Mann‹ zugekommen. Die Kopplung von synchroner und diachroner Perspektive ist also von spezifischer Produktivität: Wir haben es mit einer entwicklungshistorischen Klassifizierung auf synchroner Ebene zu tun, in der die Entwicklung vom Kind über die ›Frau‹ zum ›Mann‹, vom ›Tier‹ zum ›Menschen‹, von ›niederen‹ zu ›höheren‹ Rassen parallelisiert wird. Die Entwicklungsgeschichte versieht die in synchroner Hinsicht konzipierten ›Rassen‹, aber auch die ›Geschlechter‹ mit einer zeitlichen Markierung – so können sie auf einer Skala des Fortschritts situiert werden. ›Rassen‹ und ›Geschlechter‹ sind auf diese Weise dann nicht nur morphologisch unterscheidbar, sondern werden in verschiedenen Stadien der Entwicklungsgeschichte situiert. Kindliche Schädel werden entsprechend dieser diskursiven Überlagerung in den Identifizierungen von ›Rassen‹ in der Regel außen vor gelassen, denn sie haben dieser Konzeption zufolge noch nicht die jeweilige ›rassische Typizität‹ ausgebildet – außer es soll explizit die Entwicklung vom kindlichen zum erwachsenen Körper mit einbezogen oder eigens erforscht werden. In Dina Jochelson-Brodskys Studie, auf die ich gleich noch ausführlicher zurückkomme, werden für die zu berücksichtigenden ›Männer‹ und ›Frauen‹ sogar unterschiedliche Alter angesetzt.87 Dieses hier skizzierte Verhältnis von ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ liegt der Selbstverständlichkeit zugrunde, nach der die anthropologische Konzeption von ›Rassen‹ vor allem an ›männlichen‹ Individuen, an denen die ›Rasse‹ am ausgebildetsten scheint, vorgenommen wird. Das ›Normale der Rasse‹ wird durch den ›Mann‹ repräsentiert – dagegen erscheinen die Identifizierungen von ›Frauen‹ nur als Ergänzungen, als Anhängsel, welche die anderen Messungen vervollständigen oder bestätigen. Die Bearbeitungen der ›Frauendaten‹ sind in dieser Hinsicht eine Supplementierung des ›Normalen der Rasse‹. Doch finden sich auch einige Positionen, die sich explizit der Vermessung von ›Frauen‹ widmen – wie um ein Gegengewicht zu den sonst eher an ›Männern‹ erhobenen Daten zu schaffen. In gewisser Weise eine Sonderrolle nehmen im Archiv für Anthropologie die Studien von Carl Heinrich Stratz ein, in denen die ›Frau‹ zur ›typischen‹ Vertreterin der ›Rasse‹ wird: Er bestimmt den ›Rassetypus‹ gerade an ›Frauen‹, da sich nämlich »beim Weibe die Individualität dem Rassencharakter un87
»Bei der Bearbeitung […] schloß ich bei Männern alle Individuen unter 20 und über 60 Jahren aus, und von Frauen nahm ich nur solche im Alter von 18 bis 50 Jahren.« (Jochelson-Brodsky 1906: 3)
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terordnet, also die Gattung in viel reinerer Form repräsentiert« (Birkner 1902c: 648).88 In diesen supplementierenden Bewegungen funktioniert das ›Geschlechterverhältnis‹ nach wie vor als dichotomische Ordnung. Von den Gradualisierungs- und Flexibilisierungstendenzen scheinbar unberührt, bleibt die Annahme der ›Zweigeschlechtlichkeit‹ des Menschen intakt. Wie ein Block der Fixierung und Evidenzsicherung steht diese Selbstverständlichkeit (die zwei ›Geschlechter‹ unabhängig voneinander zu identifizieren und dabei meistens das ›männliche‹ als das ›Normale der Rasse‹ zu behandeln) den Flexibilisierungen der ›Zwei-Geschlechter-Ordnung‹ entgegen: Auf einer ›Makroebene‹ scheinen die Auflösungserscheinungen so gar nicht zum Tragen kommen zu können. Während die physisch-anthropologische Konstitution von ›Rasse‹ exemplarisch anhand von Volz’ Datenauswertungen von ›Männermessungen‹ vorgeführt wurde, und damit die scheinbare ›Geschlechtsneutralität‹ des Diskurses mimetisch wiederholt wurde, sollen zur Analyse der Überkreuzung von ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ zwei Beiträge des Archiv für Anthropologie herangezogen werden, die sich der Identifizierung von ›weiblichen‹ Körpern zuwenden und beide von Autorinnen stammen.89
Zwei Beiträge zur Überkreuzung von ›Geschlecht‹ und ›Rasse‹ Bei beiden Texten, an denen im Folgenden das anthropologische Verhältnis von ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ exemplarisch genauer untersucht werden soll, handelt es sich um im Archiv für Anthropologie veröffentlichte Dissertationen aus dem Anthropologischen Institut der Universität Zürich unter Leitung Rudolf Martins: Sarah Teumins »Topographisch-anthropometrische Untersuchungen über die Proportionsverhältnisse des weiblichen Körpers« (Teumin 1902) und Dana Jochelson-Brodskys »Zur Topographie des weiblichen Körpers nordostsibirischer Völker« (Jochelson-Brodsky 1906). Beide Beiträge weisen im Hinblick auf die dort diskutierten anthropologischen Fragen Parallelen auf, auch bezieht sich Jochelson-Brodsky explizit auf Teumins Text. Doch obwohl beide Beiträge nur ein paar Jahre auseinander liegen, weisen sie doch einige bemerkenswerte Differenzen auf, an denen die Möglichkeitsbedingungen und Möglichkeiten des anthropologischen Dis88 89
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Auf die Sonderstellung von Stratz im physisch-anthropologischen Diskurs komme ich noch genauer zurück (vgl. S. 157ff). Ob diese Anordnung exemplarischer Beiträge den Ergänzungsstatus der ›Frau‹ bzw. die Konzeption von ›Geschlechtsspezifität‹ an der ›Frau‹ wiederholt und damit womöglich erneut den verallgemeinerten Status des ›Mannes‹ bestätigt, bleibt hierbei ambivalent.
Vermessung von ›R asse‹ und ›Geschlecht‹
kurses sichtbar werden. Vor diesem Hintergrund werden beide Beiträge im Folgenden parallel präsentiert und diskutiert. Auch hier besteht mein Anspruch nicht darin, beide Aufsätze in Gänze zu erfassen. Vielmehr konzen trieren sich die folgenden vergleichenden Ausführungen auf einige zentrale diskursive Muster beider Beiträge. Sara Teumins Beitrag90 beruht auf einer Datenerhebung an 100 ausländischen Kommilitoninnen. Auf diese Weise geraten die an der Universität studierenden ausländischen ›Frauen‹ wie in einer Form des Selbstversuchs zum Untersuchungsgegenstand der Anthropologie: von den vermessenen »Ausländerinnen« studierten »80 Medicin, 8 Naturwissenschaften, 8 Philosophie und 4 Staatswissenschaften« an der Universität Zürich (Teumin 1902: 379).91 Der ›weibliche‹ Körper wird anhand von Daten von ›Osteuro90
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Sarah Teumin ist außer über diesen Text nicht weiter öffentlich in Erscheinung getreten. In den unten genannten ›Frauenforschungs‹-Publikationen zur Hochschulgeschichte (vgl. Fn. 91) – die auch Einzelbiographien bzw. Daten zu Immatrikulation und Studienabschluss umfassen – taucht Teumin nicht auf. Über den hier behandelten Text hinausgehende biobibliographische Angaben für den Zeitraum 1890 bis 1914 fanden sich darüber hinaus weder in der DBE, noch im [Dietrich] 1909-1944. Die einzige weitere Spur einer Verortung verdankt sich der im Internet aufbereiteten Zusammenstellung der Immatrikulationsdaten an der Universität von Zürich. Dem dortigen Eintrag »Teumin, (Frl.) Chaie Sarra *1875 w« kann ihre Immatrikulationsnummer »10988 (Medizin, WS 1895)«, ihre Herkunft aus Romny im Russischen Reich und ihr Abgang mit Zeugnis am 13.3.1901 entnommen werden (Matrikeledition der Universität Zürich). Zürich war nach Paris die zweite europäische Hochschule – und damit die erste deutschsprachige Hochschule – überhaupt, an der ›Frauen‹ studieren durften (1867 wurde die erste Studentin in Medizin ordentlich immatrikuliert). In Deutschland war das Studium für ›Frauen‹ regulär erst ab 1908 möglich (vgl. Rohner 1972: 90). Betrachtet man Zusammenstellungen der Studentinnen-Zahlen um 1900, legt Teumins Dissertation ein physisch-anthropologisches Zeugnis vermutlich fast aller ›russischen‹ Medizinstudentinnen um 1900 in Zürich ab. Erschließen kann man dies aus den Daten zur Entwicklung des Studiums von ›Frauen‹, die im Zuge der ›Frauenforschungs‹-Literatur der 1970er und 1980er Jahre zusammengetragen wurden: Die von Teumin bereits vermessenen Studentinnen und deren Kommilitoninnen wurden auf diese Weise ein weiteres Mal – und zwar wiederum nach ›Geschlecht‹ und nationaler Herkunft (bzw. ›Ethnizität‹) – verdatet. Aus den auf diese Weise zusammen gestellten Statistiken wird auf einen ersten Boom von Studentinnen aus dem russischen Reich in den 1870er Jahren geschlossen (vgl. Neumann 1987: 12; dazu auch Bankowski-Züllig 1988: 127-146). In Bezug auf die Daten wird hervorgehoben, dass es unter den Studentinnen aus dem russischen Reich einen großen Anteil von ›Jüdinnen‹ gab: »In den Jahren von 1880 bis 1914 betrug der Anteil der Jüdinnen an der russischen Studentinnenschaft in der Schweiz je nach Universität zwischen 60 und 80%.« (Neumann 1987: 51; zu den historischen Hintergründen vgl. besonders 69-92) Einer Graphik von Hanny Rohner ist außerdem zu entneh-
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päerinnen‹ identifiziert, deren interne Fragmentierung zunächst entlang der Grenzen von ›jüdisch‹, ›russisch‹ und ›polnisch‹ vorgenommen wird: Die vermessenen ›Frauen‹ werden von Teumin vorab wie folgt sortiert: »47 Jüdinnen (31 kleinrussische, 16 polnische Jüdinnen), 32 Russinnen (4 kleinrussische, 20 grossrussische Russinnen), 14 Polinnen, 3 Lithauerinnen, 3 deutscher Herkunft, 1 Armenierin« (Teumin 1902: 379). Ausschließlich im Hinblick auf die ›Jüdinnen‹ wird dabei die Frage der ›Reinrassigkeit‹ angesprochen, nach der die Probandinnen offenbar gefragt worden waren. Unter Bezugnahme auf deren Genealogien und auf die russische Gesetzeslage (die bei gemischt-religiösen Eheschließungen den Übertritt zur orthodoxen Kirche erzwingt und Übertritte zur jüdischen Religion ausschließt) verweist Teumin darauf, »dass wir also berechtigt sind, die kleinrussischen Jüdinnen als einer durchaus reinen Rasse angehörend zu betrachten« (Teumin 1902: 379). Für die ›Polinnen‹ hingegen konnte aufgrund einer anderen Gesetzeslage »der Nachweis der Reinerhaltung der Rasse nicht geliefert werden« (Teumin 1902: 380).92 Dina Jochelson-Brodsky hingegen hat gemeinsam mit ihrem Ehemann Waldemar Jochelson an der von Franz Boas koordinierten Jesup North Pacific Expedition des American Museum of Natural History teilgenommen, die vor allem die Verwandtschaft von nordamerikanischen und sibirischen ›Eskimos‹ klären sollte.93 Dabei beschäftigte sich Waldemar Jochelson ausführlich mit ethnographischen Fragen,94 während Dina Jochelson-Brodsky
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men, dass im Jahr 1900 etwa 85 von knapp über 120 Studentinnen der Medizin ›Russinnen‹ waren (Rohner 1972: 77). In Bezug auf die 1870er Jahre eignet sich Rohner in ihrer Dissertation von 1972 affirmativ den Begriff der »Russenüberschwemmung« (Rohner 1972: 72) aus dem bereits 1928 erschienenen deutsch-französischen Band mit Statistikauswertungen zum ›Frauenstudium‹ in der Schweiz an (Schweizerischer Verband der Akademikerinnen 1928: 9). Mit statistischen Daten operieren auch Texte zur Anzahl ›jüdischer‹ Medizinstudentinnen und -studenten in Deutschland und Österreich (vgl. Efron 2001: 234-236). In den anthropologischen Diskussionen um die Körper der ›Juden‹ und ihre Geschichte spielte die Frage der ›Reinrassigkeit‹ und ›Vermischung‹ eine große Rolle. Dabei wird die Konzeption ›jüdischer Reinrassigkeit‹ tendenziell aufgelöst zur Annahme eines ›Mischvolkes‹. Darauf komme ich zurück (vgl. S. 114ff). Die Ergebnisse dieser umfangreichen Expedition sind in zahlreichen Bänden publiziert worden (u.a. Jochelson 1924-1926). Im Kontext des bis heute renommierten New Yorker American Museum of Natural History ist außerdem ein Sammelband erschienen, der sich insbesondere dem photographischen Erbe der Expedition widmet (Kendall/Mathé/Miller 1997). Eine anthropologische Thematisierung von Körpern nimmt er nur ganz am Rande vor, wobei er sich zum Einen auf die bei Jochelson-Brodsky präsentierten Zahlen bezieht, zum Anderen kurze typisierende Beschreibungen einwirft und prozentuale Verteilungen von Haut-, Haar- und Augenfarben an-
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offenbar für die physisch-anthropologische, d.h. insbesondere die vermessende Bestandsaufnahme der Körper v.a. der ›Frauen‹ der untersuchten Gruppen, aber auch für die Fotografien zuständig war (vgl. Jochelson 192426: 2; Kendall/Mathé/Miller 1997: 17). Dina Jochelson-Brodsky hat auf ihren Forschungen 720 »Korjaken, Tungusen und Jukagiren (Männer, Frauen und Kinder)« – vermessen, und »120 spezielle Frauenmessungen von Jukagirinnen, Tungusinnen und Jakutinnen« durchgeführt (Jochelson-Brodsky 1906: 1). Eine Vorauswahl – wenn auch unter anderen Vorzeichen als bei Teumin – bezieht sich auch bei Jochelson-Brodsky auf die ›Rassereinheit‹ der Individuen: »Zur Bearbeitung der Messungen der Tungusinnen und Jakutinnen habe ich nur reine Typen genommen. Ich schloß nämlich diejenigen aus, in deren Genealogie irgendwelche Beimischung fremden Blutes zu finden war. Das konnte bei den Jukagiren nicht geschehen. Die Jukagiren sind gegenwärtig in physischer Hinsicht ein entschiedenes Mischvolk; […] deshalb muß in bezug auf die Jukagiren vorangeschickt werden, daß, wenn wir von einem physischen Typus desselben sprechen, ihr gegenwärtiger, nicht ihr ursprünglicher Typus gemeint ist, welch letzterer von dem gegenwärtigen wohl abweichen kann.« (JochelsonBrodsky 1906: 3)
Während bei Teumin die Frage der ›Reinrassigkeit‹ zwar nur auf die ›Jüdinnen‹ bezogen wird, aber für die Auswahl offenbar keine Rolle spielt, werden hier die Individuen nach vorheriger Bestimmung ihrer ›Rassereinheit‹ ausgewählt. Wie bereits bei Wilhelm Volz taucht hier also die Annahme von ›Rassenmischung‹ auf. Doch statt wie Volz die Mischung statistisch in ›rassische Varietäten‹ auszudifferenzieren, wird bei den ›Jukagiren‹ einfach vom ›gegenwärtigen Typus‹ ausgegangen – die Mischung scheint nicht zu stören, vielmehr gilt der ›gegenwärtige Typus‹ pragmatisch als ›reine Rasse‹. Im Hinblick auf die ›Tungusinnen‹ und ›Jakutinnen‹ hingegen werden jene, »in deren Genealogie irgendwelche Beimischung fremden Blutes zu finden war«, ausgeschlossen. Ob dies durch ein Abfragen der Familiengeschichte, durch irgendwelche Akten oder womöglich durch den einfachen Augenschein, der die jeweils ›unvermischten‹ Individuen zu sehen gibt, fundiert wird, bleibt dabei unklar. Bei Teumin wird im Durchgang durch die verschiedenen Maße ›weiblicher‹ Körper vorrangig der ›russische‹ Körper konstituiert, im Zuge von Vergleichen mit Daten anderer Autoren zu ›Männern‹ wird dabei jedoch – aber eher am Rande – auch eine ›innerrassische sexuelle‹ Differenz anvisiert. In Jochelson-Brodskys Aufsatz findet ebenfalls eine Überkreuzung von ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ statt: Während im zweiten Teil – welcher die ›Togibt (die sich bei Jochelson-Brodsky nicht finden) (Jochelson 1924-1926: 20-23).
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pographie des weiblichen Körpers‹ behandelt – ›rassische‹ Differenzen am ›weiblichen‹ Körper konzipiert werden, wird in den ersten Kapiteln – die das »Verhältnis zwischen Frauen- und Männermaßen« (Jochelson-Brodsky 1906: 5) fokussieren – bei der Identifizierung ›rassischer‹ Differenzen immer auch die ›Geschlechterdifferenz‹ mitberücksichtigt.
Datenanordnungen Betrachten wir im Folgenden die Anordnungen und Bearbeitungen der Daten.95 Bei Teumin finden wir verschiedene Datenanordnungen/-bearbeitungen und ‑präsentationen. Die Einzelmaße der vermessenen Individuen werden in der Publikation im Archiv nicht präsentiert. Vielmehr werden in »Häufigkeitsreihen«96 jeweils für die einzelnen Maßeinheiten (cm oder mm) eines Maßes angegeben, an wie vielen Individuen dieser Wert gemessen wurde. Praktischerweise kann dort, wo alle hundert Individuen einbezogen wurden, die Einzelanzahl der Individuen gleich zur prozentualen Verteilung verallgemeinert werden.97 Aus solchen Häufigkeitsreihen bildet Teumin die ›Hauptvariation‹, zu der jeweils angegeben wird, wie viel Prozent der Vermessenen von dieser umfasst werden (Teumin 1902: 382ff). Dieses Verfahren ist nicht Ergebnis einer klaren Regelung, sondern eher eines Abwägens zwischen einer möglichst engen »Hauptvariation« auf der einen Seite und einer möglichst hohen Prozentzahl von Individuen, die im Rahmen dieser »Hauptvariation« liegen, auf der anderen Seite. Die jeweilige Entscheidung für die Bestimmung dieser beiden zusammenhängenden Werte ist arbiträr.98 95
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Bei Teumin wie bei Jochelson-Brodsky folgen die Datenpräsentationen – wie auch schon bei Volz beobachtet wurde – nicht einer kohärenten Form, sondern sie werden in verschiedenen Tabellen, aber auch mittels Fließtext vorgenommen (vgl. S. 43f). Den Begriff beziehe ich aus Sawalaschin 1909: 303. Sawalaschins Text ist ebenfalls am Züricher Anthropologischen Institut unter Rudolf Martin entstanden. »Da gerade 100 Individuen gemessen wurden, bezeichnen die Zahlen der Individuen gleichzeitig die Procente des Vorkommens. Wo die Individualbeobachtungen kleiner als 100 sind, werden im Folgenden die Procentzahlen besonders beigefügt.« (Teumin 1902: 382) Sie scheint nicht im Vorhinein festzustehen, sondern wird offenbar erst im Einzelfall gefunden. Unklar bleibt dann z.B. in einer Tabelle zum Verhältnis von Körpergewicht und Körpergröße (Teumin 1902: 399, Tab. 37), warum die »Hauptvariation« als »32-38 (in 64,7 Proc.)« angegeben wird und nicht auch auf die vier Individuen, die 31 »Gramm auf cm« erfüllen, oder sogar auf die drei mit 30, ausgedehnt wird. Ein ähnliches Abwägen – diesmal zwischen Wert und Prozentzahl – findet sich in Volz’ Einsatz des hier nicht weiter behandelten ›Oszillations-Index‹ (vgl. Volz 1895: 118-128).
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Neben der »Hauptvariation« wird zudem der »mittlere Wert« ermittelt und das jeweils erhobene »Maximum« und »Minimum« angegeben (Teumin 1906: 382ff). An den beiden letzteren kann die Gesamtschwankung des jeweiligen Maßes abgelesen werden, wobei zu große Schwankungen erläuterungsbedürftig zu sein scheinen: »Die relative Brustwarzenhöhe schwankt zwischen 64 und 83. Diese bedeutende Schwankung ist aber nur durch einige Ausnahmefälle bedingt.« (Teumin 1902: 397)99 Ab wann eine Schwankung so bedeutend erscheint, dass sie erklärungsbedürftig wird, bleibt offen. Aber auch hier begegnen wir den bereits angesprochenen Ausnahmefällen, die auch hier wieder eine schillernde Position einnehmen: Zunächst werden sie eingeschlossen, aber dennoch als Ausnahmefälle behandelt, die das hier interessierende Maß beeinflussen. In Teumins statistisch inspirierter ›Hauptvariation‹ wiederum werden dann die maximalen und minimalen Größen – und damit auch potentielle Ausreißer – außen vor gelassen. Eine weitere bei Teumin und dann auch bei Jochelson-Brodsky prominente Form der Datenanordnung besteht darin, ›Index-Kombinationsgruppen‹ zu bilden und deren Verteilungen zu analysieren. Hierbei wird nicht mehr die Verteilung einzelner Maßeinheiten berücksichtigt, sondern es werden mehrere Werte zusammengefasst und entweder in (meistens) Fünferschritten oder gleich mit Begriffen aus Konventionen der Index-Bildung benannt. So findet sich z.B. eine Tabelle namens »Schädeltypen nach drei Indices«, in der vier Kategorien des Kopf-Indexes (=Längen-Breiten-Index), drei des Längen-Höhen-Indexes und drei des anatomischen Gesichts-Indexes miteinander kombiniert werden, wie etwa »Dolichochamäcephal-chamäprosop«, »Meso-hypsicephal-leptoprosop«, »Hyperbrachy-orthocephal-mesoprosop« usw. – dabei werden alle kombinatorisch in Frage kommenden Gruppen angegeben, auch wenn sie keinen Treffer erzielen (Teumin 1902: 386).100 Jochelson-Brodskys Text führt diese beiden Verfahren – Häufigkeitsverteilungen und Index-Gruppierungen – in überarbeiteter Form fort. Im ersten Teil des Beitrags finden sich eher prozentuale Angaben zu Wertegruppen, aber auch wie bei Teumin Angaben zum Mittel, Minimum und Maximum. Das »arithmetische Mittel« – dieser Begriff gibt klarer dessen Berechnung an101 – wird allerdings durch ein moderneres statistisches »Korrektiv« – die »mittlere Abweichung« – ergänzt, denn: 99
Auch bei den »Cristalbreiten im Verhältnis zur Akromialbreite« werden große Schwankungsbreiten auf Ausnahmefälle zurückgeführt (Teumin 1902: 409). 100 Eine Seite weiter findet sich eine Tabelle nach dem gleichen Prinzip mit Kombinationen von drei Gesichts- und fünf Nasenindices (Teumin 1902: 387). 101 Addition aller an den Individuen abgenommenen Maße, dann Teilung dieser Summe durch die Anzahl der Vermessenen (vgl. Fn. 47).
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»Das arithmetische Mittel aus den Körpermessungen gibt uns nämlich nur eine abstrakte Vorstellung von der Größe und den Proportionen des Körpers dieses oder jenes Volkes, da das arithmetische Mittel keinen Schluß auf die Schwankungen der einzelnen Größen um den gegebenen Mittelwert zulässt.« (Jochelson- Brodsky 1906: 5)
Es werden zwar immer noch die minimalen und maximalen Werte genannt – die einen Eindruck von der ganzen Spannweite des Maßes geben sollen –, doch der Fokus liegt nun auf der »mittleren Abweichung«, welche die Schwankung um den Mittelwert anzeigt. Deren Berechnungsweise wird unter Bezugnahme auf den »sogenannten ›Oscillationsexponent‹ von Ihering« in einer kleinen Formel102 präsentiert und mit einer Lesehilfe für die so gewonnenen metrischen Ergebnisse versehen, die den Zahlen Bedeutung zuschreibt: »A zeigt uns also die durchschnittliche Schwankung der Messungen um das arithmetische Mittel an. Je kleiner A, um so kleiner die Abweichungen vom Mittel und desto gleichmäßiger das anthropologische Material.« (Jochelson-Brodsky 1906: 5) Der Umgang mit den Daten ist hier – zumindest was die ersten Berechnungen Jochelson-Brodskys angeht – also nicht mehr durch ein Abwägen seitens der Forscherin, sondern durch klare Regeln bzw. Formeln bestimmt. Dies kann – auch wenn die beiden Texte nur einige Jahre auseinander liegen – als Anzeichen für die fortschreitende Mechanisierung und Objektivierung der physischen Anthropologie gelesen werden. Doch wird die Berechnung der mittleren Abweichung nur für die ersten fünf Tabellen unternommen,103 denn während ihrer Berechnungsarbeiten ist Jochelson-Brodsky eine noch neuere Methode der statistischen Abweichung bekannt geworden, nämlich »die moderne Art der Variationsbestimmung […]: man addiert nicht die absoluten Beträge der einzelnen Abweichungen, sondern die Quadrate derselben, berechnet das mittlere Quadrat und extrahiert die Quadratwurzel. Die so gewonnene Zahl wird in der englischen Literatur als ›Standard deviation‹ bezeichnet« (Jochelson-Brodsky 1906: 5).104
Jochelson-Brodsky hat sich also offenbar im Laufe ihrer Datenbearbeitung weiterhin mit Statistik-Methodologie beschäftigt und in diesem Zusammenhang die neueste amerikanische Literatur gelesen, in der die – übrigens
102 A = ±S/n (Jochelson-Brodsky 1906: 5). 103 Vgl. die Tabellen in Jochelson-Brodsky 1906: 6, 7, 15 , 17 (2 Tab.). 104 Jochelson-Brodsky bezieht sich hier auf C[harles] B[enedict] Davenport: Statistical Methods. New York 1899.
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bis heute gebräuchliche – Standardabweichung eingeführt wird. Was hier durchscheint, ist der prozessuale Charakter der Wissensproduktion und die historische Veränderlichkeit statistischer Methoden. Doch die bisher von Jochelson-Brodsky eingesetzten Verfahren verlieren dadurch nicht einfach ihre Aussagekraft, vielmehr steht der »Ihering’sche Oszillationsexponent« sogar in einem konstanten mathematischen Zusammenhang zur »Standard deviation« – zumindest »wenn die Zahl der beobachteten Individuen hinreichend groß ist« (Jochelson-Brodsky 1906: 5). Ohne auszuführen, was genau »hinreichend groß« meint, ist hiermit der von Jochelson-Brodsky gewählte methodische Zugang für die auf ›alte‹ Weise bereits hergestellten Daten, in denen das »Mittel« und die »mittlere Abweichung« angegeben wurden, weiterhin legitimiert. Allerdings wird nach diesen ersten fünf Tabellen auf die weitere Berechnung der »mittleren Abweichung« verzichtet. Ab dem zweiten Teil des Textes, in dem die ›Frauenmessungen‹ in den Mittelpunkt geraten, kehrt Jochelson-Brodsky – statt auf die »moderne standard deviation« umzuschwenken – merkwürdigerweise sogar zu Teumins Verfahren der »Hauptvariation« zurück (Jochelson-Brodsky 1906: ab 21). In Jochelson-Brodskys Beitrag stehen also drei Verfahren nebeneinander, die mit verschiedenen Zeiten assoziiert sind: die anti-›abstrakte‹ und Teumins Mittelwert korrigierende ›mittlere Abweichung‹, die Erwähnung der modernen ›Standard deviation‹ und Teumins ›altes‹ Verfahren der ›Hauptvariation‹. Obwohl das ›neue‹ Verfahren der Standard deviation rechnerisch in ihr bisher praktiziertes Verfahren umwandelbar wäre, setzt Jochelson-Brodsky es nicht sofort ein. Stattdessen greift sie zurück auf das vorher bei Teumin verwendete Verfahren der Bereichsangabe. Es scheint so, als wäre sie durch die Lektüre neuester Statistik-Methodologie in ihrer eigenen ›Neuerung‹ der mittleren Abweichung verunsichert und müsste in einem älteren, bei Teumin bereits erprobten Verfahren Halt suchen. In Jochelson-Brodskys Datenpräsentationen finden sich des Weiteren prozentuale Verteilungen der Daten auf Kategoriengruppen,105 auf deren Bildung ich gleich noch genauer eingehe. In diesem Zusammenhang wird auch das Zusammenspiel der bei Jochelson-Brodsky mehrmals nebeneinander stehenden Datenformen des Mittelwerts und der Kategoriengruppen-Verteilung im Hinblick auf die Identifizierungen von ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ in den Blick geraten.
105 Bei den Angaben zu Körpergröße, Längen-Breiten-Index des Kopfes, anatomischem Gesichts-Index sowie im zweiten Teil des Textes beim LängenHöhen-Index des Kopfes und Nasen-Index in Tabellen.
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›Rassische‹ Fragmentierungen Betrachten wir jedoch zunächst, wie die ›rassische‹ Fragmentierung des erhobenen Datenmaterials bei Teumin und Jochelson-Brodsky vorgenommen wird. Teumins Gruppe wird in vielen Fällen nicht nach ›Rassen‹ ausdifferenziert – allerdings werden nicht sämtliche hundert Vermessenen in alle Berechnungen einbezogen.106 Ein Grund dafür ist vermutlich in Schwierigkeiten bei der Erhebung einzelner Maße zu suchen.107 Ein weiterer Grund für Teumins Verzicht auf die durchgehende ›rassische‹ Fragmentierung der vermessenen Gruppe wird in der Unmöglichkeit, ›Rassen‹ an ›zu geringem Material‹ zu identifizieren, situiert: »[B]ei dem Vorhandensein von verschiedenen Rassen unter meinen 100 Individuen [halte] ich es nicht für angängig […], Rückschlüsse auf Rasseneigenthümlichkeiten zu ziehen; die einzelnen Rassen sind in meiner Statistik nicht stark genug vertreten. Es müssten vielmehr hierzu einige hundert Messungen an Individuen gleicher Rasse vorgenommen werden.« (Teumin 1902: 391)
Was hier geäußert wird, ist die im anthropologischen Diskurs oft formulierte Notwendigkeit großer Datenmengen. Das hat allerdings eine ganze Reihe anderer Forscher wie etwa auch Volz nicht davon abgehalten, dennoch ›Rassen‹ zu konzipieren. Möglicherweise hat Teumins Vorsicht etwas zu tun mit der anthropologischen Ausbildung am Institut Rudolf Martins, der selbst auch anthropologische Methodologie betrieben hat. Doch auch Jochelson-Brodsky wird sich später über zu geringe ›Frauenmessungen‹ kaum Sorgen machen: Dort wird eine viel stärkere Ausdifferenzierung nach ›Rassen‹ vorgenommen. Teumin nimmt vor allem Identifizierungen der ›gesamtrussischen‹ Gruppe vor, doch wird diese auch als ›jüdisch geprägte‹ identifiziert: »Bei den von mir vermessenen Individuen ist also, wie wir sehen, die Brachychamäcephalie-Mesoproposie die charakteristische Kopfform. […] Weissenberg giebt an, dass bei den südrussischen Juden Chamäbrachyce106 Manchmal werden offenbar die drei ›Litauerinnen‹, die drei ›Frauen deutschen Ursprungs‹ und die eine ›Armenierin‹ ausgeschlossen – was allerdings nur einmal explizit erwähnt wird (Teumin 1906: 383). Darüber hinaus scheinen aber noch andere aus dem Raster zu fallen, wie die unterschiedlichen Gesamtsummen von 80, mehrmals 87, aber auch 89 ergeben. 107 Ein vager Hinweis darauf findet sich bezüglich eines Messpunktes – des Dornfortsatzes des 7. Halswirbels, der offenbar nicht bei allen »leicht durchfühlbar[…]« gewesen ist, sondern nur bei »fast allen Gemessenen« (Teumin 1906: 395).
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phalie vorherrscht, was mit meinen Resultaten übereinstimmt, da die Mehrzahl der von mir Untersuchten Jüdinnen waren.« (Teumin 1902: 386)108
Allerdings wird die Kombination von ›Brachycephalie‹ und ›Chamäcephalie‹ bei Teumin nicht nach den ›Russinnen‹ und ›Jüdinnen‹ ausdifferenziert, so dass die Parallele zwischen Weissenbergs Aussage zu den ›südrussischen Juden‹ und Teumins Aussage zum Gesamtsample aus statistischer Sicht nicht so ohne weiteres der ›Mehrzahl Jüdinnen‹ in dieser Gruppe zugeschrieben werden kann. Aus dem Bezug auf Weissenberg könnte mit gleicher Berechtigung auch der Schluss auf eine fehlende Differenz zwischen ›Jüdinnen‹ und ›Nicht-Jüdinnen‹ gezogen werden. Beim anatomischen Gesichts- und Nasen-Index wiederum unternimmt Teumin sehr wohl eine solche Trennung nach ›Großrussinnen‹ und ›Jüdinnen‹ – den »zwei Hauptrassen« (Teumin 1902: 386) – vor, doch hier bleibt die Relevanz dieser Trennung für die Argumentation unklar. Werden beide Gruppen zusammengefasst, bildet sich jedenfalls die gleiche Abstufung der Häufigkeiten bestimmter Kombinationen wie in der Ausdifferenzierung der beiden »Hauptrassen«. Eine metrische Differenz zwischen ›Großrussinnen‹ und ›Jüdinnen‹ ist hier nicht in Sicht. Möglicherweise reagiert Teumins Unterscheidung auf die populäre Annahme einer spezifisch geformten ›Judennase‹, die durch ihre Daten – ohne dass dies explizit würde – nicht belegt wird. Stärker fragmentiert Teumin das von ihr erhobene Datenmaterial erst, wenn es um die Extremitäten geht, offenbar weil »[d]ie Verschiedenheit der Extremitäten« als »eines der wichtigsten Rassenmerkmale« begriffen wird (Teumin 1902: 410). Ob es um absolute und relative Armlängen, Oberarmlängen, Unterarmlängen, Handlängen, Armlängen ohne Hand, Unterarmlängen zur Oberarmlänge geht, jedes Mal werden die Daten nach »Grossrussinen«, »kleinrussischen Jüdinnen« und »polnischen Jüdinnen« differenziert und mit Daten anderer Autoren verglichen (Teumin 1902: 410-418). Merkwürdig an diesen internen Fragmentierungen der vermessenen ›Frauengruppe‹ erscheint jedoch, dass sich deren Mittelwerte für die genannten Maße kaum – allenfalls um ein bis maximal 2 cm bzw. Prozentpunkte – voneinander unterscheiden und damit die vorgenommene Differenzierung nach ›Rassen‹ eigentlich ad absurdum geführt wird, ohne sie jedoch explizit in Frage zu stellen. Im Gegenteil: Auch wenn Teumin an einigen Stellen auf die gegenseitige ›Nähe‹ der Daten verweist, so finden sich doch auch di108 In die Gruppe »Brachy-Chamäcephalie« werden zudem noch – berücksichtigt man die Gesichtsindices, also den dritten Term, nicht mit – zehn weitere Individuen einbezogen. Auf Samuel Weissenberg gehe ich – da von ihm ebenfalls Beiträge im Archiv für Anthropologie publiziert wurden, im folgenden Kapitel genauer ein (vgl. S. 116-131).
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verse Passagen, in denen die – kleine – Differenz der verschiedenen Gruppen explizit hervorgehoben wird, mit Formulierungen wie: »Sowohl absolute, als auch relative Länge des Oberschenkels war bei den Grossrussinen und polnischen Jüdinnen am beträchtlichsten. Der Unterschied war gegenüber den Individuen anderer Provenienz nicht sehr bedeutend (ungefähr 1 cm).« (Teumin 1902: 422; Hervorhebung C.H.) Hier zeichnet sich ganz deutlich die Strömung des anthropologischen Diskurses ab, der – womöglich insistierend personifiziert durch den Doktorvater Rudolf Martin – zur Erzeugung ›rassischer‹ Differenzen zu drängen scheint. Auch wenn im nächsten Kapitel anthropologische Problematisierungen des ›Juden‹ ausführlich besprochen werden, soll doch hier kurz auf Teumins Umgangsweise mit der Thematik eingegangen werden. Teumin greift die These »einiger Forscher« auf, dass »die Körpergröße der Juden […] von der Körpergröße des Volkes, in dessen Mitte sie leben«, abhängig sei (Teumin 1902: 383).109 Diese Annahme steht im Widerspruch zur Annahme einer ›rassischen‹ Spezifität ›der Juden‹. Teumin schickt voraus, dass »Klima«, »Oertlichkeit« und »sociale Verhältnisse dabei ins Gewicht fallen«, doch insistiert daneben auch: »Sicher aber ist die Vererbung ein wesentlicher Factor für die Entwickelung einer bestimmten Körpergrösse.« (Teumin 1902: 383) Zur Überprüfung dieser Frage stellt Teumin die eigenen Daten und solche anderer Forscher in einer kleinen Tabelle zusammen (Abb. 12) und verweist darauf, dass ihre ›Grossrussinnen‹-Daten zu jenen von Rosdestwensky eine Differenz von 8 cm aufweisen, die Daten ihrer ›kleinrussischen
Abb. 12: Zusammenstellung von Vergleichsdaten (Teumin 1902: 384) 109 Formuliert wird diese These beispielsweise bei Samuel Weissenberg, auf dessen Studie ich im nächsten Kapitel noch eingehe (Weissenberg 1895: 401).
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Jüdinnen‹ hingegen jenen von Weissenberg nahe kommen. Daraufhin ermittelt Teumin aus den vergleichenden Daten die ›rassisch‹ spezifischen Differenzen der ›Geschlechter‹: »Beim Vergleiche der von mir gemessenen Frauen mit den Männern gleichen Stammes findet sich, dass die Grossrussinnen im Mittel um 3,2 cm kleiner sind als die Grossrussen (Rosdestwensky); die kleinrussischen Jüdinnen sind um 8,5 cm kleiner als ihre männlichen Stammesgenossen (Talko-Grinzewitsch); die Polinnen sind um 2,3 cm kleiner als die Polen (Elkind).« (Teumin 1902: 384)
Trotz der Differenz zwischen Rosdestwenskys und ihren eigenen ›Frauendaten‹ – die vielleicht die Vergleichbarkeit der beiden Datensätze grundsätzlich in Frage stellen könnte – dienen Teumin dessen ›Männerdaten‹ durchaus zur Bestimmung der ›Geschlechterdifferenz‹ zwischen ›Großrussen‹ und ›Großrussinnen‹. Die von Rostdestwensky angegebenen ›Frauendaten‹ werden auf diese Weise durch jene von Teumin gewissermaßen überschrieben. Bei den ›Kleinrussinnen‹ vergleicht Teumin dagegen ihre Daten mit jenen von Talko-Grinzewitsch, dessen ›Männerdaten‹ wiederum von Weissenbergs abweichen – obwohl Teumin die Nähe ihrer Daten zu jenen Weissenbergs zuvor explizit anmerkt. Ist es Zufall, dass ausgerechnet die jeweils von Teumin gewählten Vergleiche eine kleinere ›sexuelle‹ Differenz hervorbringen als in den anderen – von der Argumentationslogik her eigentlich näher liegenden – Vergleichen? Aus weiteren Vergleichen von Daten zwischen jeweils ›weiblich‹/ ›männlich‹ und ›jüdisch‹/›nicht-jüdisch‹ markierten ›Kleinrussen‹ schließt Teumin dann: »Diese kleine Zusammenstellung zeigt uns, dass die Körpergrösse der kleinrussischen Jüdinnen, die ich gemessen habe, und derjenigen von Weissenberg mit den Maassen der Kleinrussen [aus dem Zusammenhang geht hervor, dass hier die Kleinrussinnen gemeint sind; C.H.] nach Talko-Grinzewitsch fast übereinstimmt. Ein anderes Resultat ergiebt die Vergleichung der kleinrussischen Juden und der Kleinrussen (nicht-jüdischen Ursprungs) nach Talko-Grinzewitsch. Hier sehen wir zwischen nicht-jüdischen und jüdischen Kleinrussen eine Differenz von etwa 4 cm (Talko-Grinzewitsch), resp. etwa 2 cm (Weissenberg). Man kann also in diesem Falle nicht sagen, dass die Körpergrösse der Juden von der Grösse des Volkes, in dessen Mitte sie leben, abhängig ist. Wahrscheinlicher ist vielmehr, dass die Rassenzugehörigkeit den Ausschlag giebt.« (Teumin 1902: 385)
Die zu überprüfende These wird damit also abgewiesen und ›Juden‹ – ganz im Tenor der Zeit110 – als eigenständige ›Rasse‹ (re)konstituiert. Was an die110 Darauf komme ich zurück (vgl. S. 114-153).
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ser Stelle gleichzeitig fast unbemerkt passiert, ist die Schlussfolgerung der zentralen Aussagen aufgrund der ›Männerdaten‹. Anhand der ›Frauendaten‹ könnten bzw. müssten womöglich andere Konsequenzen gezogen werden: Der erste Absatz obigen Zitats würde nämlich diese These fehlender Differenzen in den Körpergrößen zwischen ›jüdischen‹ und ›nicht-jüdischen Kleinrussinnen‹ stützen. Die Körpergröße ›jüdischer‹ und ›nicht-jüdischer‹ Individuen würde damit zur Deckung kommen – was die Annahme eines spezifischen ›jüdischen Körpers‹ zurückweisen und die zu prüfende These stützen würde. Doch wird diese Konsequenz bei Teumin nicht gezogen – vermutlich da es sich um die Ergebnisse aus den ›Frauendaten‹ handelt. Stattdessen wird aus den ›Männerdaten‹ eine Bestimmung unterschiedlicher ›Rassenzugehörigkeiten‹ vorgenommen, womit sowohl die Annahme einer ›jüdischen Rasse‹ als auch die Praxis, ›Rassen‹ vornehmlich am ›Mann‹ zu identifizieren, untermauert werden. Im Hinblick auf ›rassische‹ Fragmentierungen bei Jochelson-Brodsky sei zunächst nur darauf verwiesen, dass im ersten Teil des Beitrags – wie in vielen anderen anthropologischen Texten – Daten nach ›rassischen‹ Fragmentierungen präsentiert werden. Insbesondere geraten hier ›nordostasia tische‹ Gruppen sowie – Boas’ besonderem Interesse an den ›amerikanischen‹ und ›russischen Eskimo‹ folgend – ›Eskimo‹-Gruppen in den Blick. Ab dem VI. Abschnitt wertet Jochelson-Brodsky ihre ›Frauenmessungen‹ an ›Jukagirinnen‹, ›Tungusinnen‹ und ›Jakutinnen‹ aus. Dabei werden ›rassische‹ Differenzen an ›weiblichen‹ Körpern konzipiert, 111 wobei – wie bereits ausgeführt – ›Jukagirinnen‹ und ›Tungusinnen‹ zu einer Gruppe zusammengefasst werden: »Da bei der Bearbeitung der Frauenmessungen mit Bezug auf einzelne Körperteile und das Becken sich herausgestellt hat, daß die mittleren Größen der absoluten und relativen Zahlen für die Gischiga-Tungusinnen und Jukagirinnen fast gleich sind – der Unterschied übersteigt selten Bruchteile von Millimetern – so habe ich von dem letzten Kapitel (VII. Die Nase) an Jukagirinnen und Tungusinnen in eine Gruppe zusammengefaßt, und nur die Jakutinnen getrennt behandelt. Nach der Körpergröße […] der Frauen dieser Völkerschaften kann man schon vermuten, daß sie mit Bezug auf die Entwickelung der einzelnen Körperteile zwei Gruppen bilden.« (Jochelson-Brodsky 1906: 22)
Doch ähneln sich auch diese beiden angenommenen Gruppen im Hinblick auf viele der Daten. Im weiteren Verkauf des Beitrages werden jeweils Differenzen zwischen diesen beiden Gruppen bestimmt und darüber hinaus Differenzen zu anderen ›Völkerschaften‹. Vor einer genaueren Analyse von
111 Es finden sich aber hier durchaus auch ein paar Einsprengsel von ›Männerdaten‹ z.B. Jochelson-Brodsky 1906: 27, 29, 36.
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Jochelson-Brodskys ›Rasse‹-Bestimmungen soll im Folgenden auf die Konzeptionen ›sexueller Differenz‹ beider Texte eingegangen werden.
Der ›sexuelle Unterschied‹ Die Differenz der ›Geschlechter‹ ist Teumins und Jochelson-Brodskys Untersuchungen vorausgesetzt, insofern bereits bei Datenerhebung nach ›Geschlecht‹ differenziert wird und eigene ›Frauenmessungen‹ vorgenommen werden. Teumin weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass »dieselbe Frage, die ich hier für den weiblichen Körper meiner Landsleute durchzuführen bestrebt war, auch einmal am Körper westeuropäischer Frauen, ebenso am männlichen Geschlechte zu prüfen« sei (Teumin 1902: 380). Doch wird dabei den ›Frauenmessungen‹ keineswegs pauschal die Aussagekraft für Identifizierungen von ›Rassen‹ abgesprochen. Die von Teumin herangezogenen, tabellarisch präsentierten Vergleichsdaten anderer Autoren enthalten zwar Spalten für ›Mann‹ und ›Frau‹, eine etwaige ›sexuelle‹ Differenz gerät – im Gegensatz zu Jochelson-Brodsky – im Zuge ihrer Identifizierungen allerdings nur wie zufällig und nur am Rande in den Blick, nämlich im Kontext von Teumins Problematisierung der Vergleichbarkeit von Daten: Obgleich sich Teumin mit der Problematik unterschiedlicher Maßerhebungen beschäftigt, scheint sie in einzelnen Tabellen Daten ungeachtet ihrer Erhebungsweise zusammenzustellen und erzeugt auf diese Weise einen Effekt von Vergleichbarkeit. Doch wird zum Beispiel nach einem Vergleich der von ihr gemessenen Oberschenkellängen mit jenen von Jakowenko im Hinblick auf die festgestellten Differenzen der Vorbehalt unterschiedlicher Messpunkte geäußert: »Die Differenzen können auch durch den Umstand bedingt sein, dass Jakowenko das Maass vom Trochanter bis zum unteren Rande des Epicondylus externus genommen hat.« (Teumin 1902: 422) In Bezug auf die Unterschenkellänge hingegen nimmt Teumin nur einen Vergleich mit den Daten Iwanowskys vor, »da nur die Technik dieses Forschers mit der meinen übereinstimmt« (Teumin 1902: 424).112 Doch wird auch dieser explizit legitimierte Vergleich wieder eingeschränkt – diesmal mit einem Hinweis auf die Differenz der ›Geschlechter‹: »Jedoch haben auch hier die Zahlen nicht besondere vergleichende Bedeutung, weil Iwanowsky nur die Maasse von Männern angiebt.« (Teumin 1902: 424) Ein ›sexueller Unterschied‹ wird bei Teumin zwar nie explizit identifiziert, doch wird er hier als störendes Moment für einen Datenvergleich aufgerufen. In dieser merkwürdigen Gleichzeitigkeit zwischen Nicht-Expliziertheit und Störung spiegelt sich möglicherweise die Vagheit des anthropologischen Diskurses in der Zeit, in der die Überkreuzungen von ›Rasse‹ 112 Ich übernehme Teumins und Jochelson-Brodskys Schreibweise »Iwanowsky«.
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und ›Geschlecht‹ noch nicht selbstverständlich Separierungen des Materials nach ›Geschlecht‹, geschweige denn Metrisierungen ›sexueller‹ Differenzen – wie bei Jochelson-Brodsky angelegt – zur Folge haben. An anderer Stelle produziert Teumin dann doch allgemeingültige Ergebnisse im Hinblick auf die ›Geschlechterdifferenz‹: »Es haben unter allen Völkern die Frauen eine kleinere Fusslänge als die Männer.« (Teumin 1902: 425) Im nächsten Satz wird allerdings auch für diese Aussage eine mögliche Relativierung angedeutet, die – für die physische Anthropologie der Zeit und die Texte im Archiv für Anthropologie überraschend – die Kategorie Arbeit, und damit soziale Verhältnisse einbezieht: »Leider war mir keine reichere Literatur über Fusslänge bei den Frauen verschiedener Völker und besonders verschiedener Classen zugänglich. Es ist zweifellos, dass bei der Fusslänge ebenso wie bei der Handlänge die Beschäftigung eine enorme Rolle spielt. Interessant wäre auch eine vergleichende Betrachtung über Fusslängen von Frau en und Männern desselben Berufs. Man könnte dann mit Sicherheit entscheiden, inwieweit der Geschlechtsunterschied eine Rolle spielt.« (Teumin 1902: 425)
Gerade am Körperteil des Fußes – das in der physischen Anthropologie als ›Rassenmerkmal‹ eher keine Rolle spielt, im Mythos vom besonders großen ›jüdischen Fuß‹ aber durch den Diskurs der Zeit geistert (vgl. Gilman 1992; Hödl 1998: 11-13) – wagt Teumin die Einführung der Kategorie Arbeit als Einfluss, der diese Körperformen möglicherweise verändert. Hier schiebt sich eine Perspektive der sozialen Formung von Körpern in den Vordergrund und lässt die ›rassische‹, d.h. die essentialistische Konzeption in den Hintergrund treten. Mit ihr steht aber letztendlich nicht nur die ›rassische‹ Bestimmung der Fußlänge, sondern auch der »Geschlechtsunterschied« in der Fußlänge in Frage: Möglicherweise würde die Fragmentierung der Daten nach ›Klassen‹ statt nach ›Rassen‹ alle biologisch-ontologischen Körperdifferenzen ins Abseits verbannen. Vielleicht deutet sich in diesen Windungen des Textes ein diskursiver Widerstand gegen die Bio logisierungen der physischen Anthropologie an.113 Bei Jochelson-Brodsky ist die ›sexuelle‹ Differenz wesentlich prominenter ausgestellt, sie wird sogar messbar. Gerade in den ersten Seiten des Beitrages, in denen es um die Identifizierung ›rassischer‹ Differenzen geht, wird immer auch ein Unterschied der ›Geschlechter‹ in Anschlag ge113 Die Kategorie Arbeit zur Einbeziehung sozialer Verhältnisse wird bei Anton Nyström, der explizit ein antirassistisches Interesse verfolgt, und bei Samuel Weissenberg, mit einer Wendung gegen biologisierende antisemitische Positionen, ins Spiel gebracht (Nyström 1902; auf Samuel Weissenberg komme ich im folgenden Kapitel zurück).
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bracht: In den Tabellen werden die Vermessungsergebnisse getrennt nach ›Geschlecht‹ präsentiert, ›Männer‹- und ›Frauendaten‹ erhalten grundsätzlich je eigene, getrennte Spalten oder in den Kurven je eigenen Graphen.114 In vielen Fällen findet sich darüber hinaus eine Spalte mit der Bezeichnung »Sexueller Unterschied«, in der die ›Geschlechterdifferenz‹ zahlenförmig – als Subtraktion der ›Frauenmaße‹ von den ›Männermaßen‹ – angegeben wird (Jochelson-Brodsky 1906).115 Es findet sich sogar eine Tabelle, in der ausschließlich die »sexuelle Differenz« hinsichtlich Länge und Breite des Kopfes – getrennt nach ›anthropologischen Typen‹ – notiert wird (Jochelson- Brodsky 1906: 15).116 Das ›Geschlechterverhältnis‹ wird in diesen Fällen zu einem rein zahlenmäßig, metrisch identifizierbaren – der »sexuelle Unterschied« wird zu einer berechenbaren Größe. Doch wird der »sexuelle Unterschied« nicht nur berechenbar, sondern er fließt gleichzeitig auch in die Kategorienbildung mit ein. Dies soll exemplarisch an einer Tabelle und den dazugehörigen textuellen Erläuterungen genauer dargelegt werden, in denen bereits bearbeitetes, sortiertes, gruppiertes, geformtes Material präsentiert wird (Abb. 13).
Abb. 13: ›Sexuelle Differenz‹ (Jochelson-Brodsky 1906: 6, Ausschnitt) Im Hinblick auf die Körpergröße werden die Messdaten hier nach Körpergrößen-Gruppen zusammengefasst: Für zehn verschiedene ›Völker‹ werden deren Körpergrößen-Verteilungen nach den Gruppen »Klein«, »Unter-
114 Vgl. auch S. 171-190 115 In der ersten präsentierten Tabelle noch in etwas anderer Form, nämlich eine Zeile »Das Mittel der Frauen ist kleiner um mm« (Jochelson-Brodsky 1906: 6: Tabelle 1); »Sexueller Unterschied« in Tab. 2 (7), Tab. 3 (11), Tab. 5 (12), kleine Tab. (17), kleine Tab. (18), Tab. 10b (20), Tab. 41, 42 (36), Tab. 49 (39). 116 Jochelson-Brodsky verwendet statt des Begriffs ›Rasse‹ jenen der ›anthropologischen Typen‹ oder spricht von ›Völkern‹.
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mittelgroß«, »Übermittelmittelgroß« und »Groß« unterschieden117 und dann jeweils prozentual der Anteil der verschiedenen ›anthropologischen Typen‹ an diesen Gruppen angegeben. Da jede Gruppe wiederum nach ›Geschlecht‹ ausdifferenziert wird, ist der Tabelle zu entnehmen, wie die Verteilung dieser Körpergrößengruppen nach ›Geschlecht‹ variiert. Für die im Text vorgestellten Ergebnisse scheinen diese prozentualen Verteilungen – also Häufungen – allerdings keine Rolle mehr zu spielen: Die präsentierten Ergebnisse – laut Jochelson-Brodsky sind sie »zu ersehen« – werden vielmehr daraus bestimmt, in welcher Kategoriengruppe sich das arithmetische Mittel verortet. Sie lauten, »[d]aß die Jukagiren (1560 mm), Tungusen (1565, 1574 und 1588 mm) und Korjaken von Gischigga (1596 mm), laut den von Topinard vorgeschlagenen Kategorien, zu den kleinen Völkern, und daß Kamtschadalen (1601 mm), Korjaken von Kamtschatka (1620 mm), Tschuktschen (1622 mm) und asiatische Eskimo (1623 mm) zu den untermittelgroßen Völkern gehören« (Jochelson-Brodsky 1906: 6).
In dieser Zuordnung der ›Völker‹ zu Körpergrößen-Gruppen – wie etwa der ›Kamtschadalen‹ zu den ›Untermittelgroßen‹ – werden die prozentualen Angaben der Tabelle – 44,4% der ›Kamtschadalen-Männer‹ und 53,9% der ›Kamtschadalen-Frauen‹ waren dort in die Gruppe »Klein« platziert worden – nicht mehr berücksichtigt. Ähnliches geschieht bei den anderen als ›untermittelgroße Völker‹ identifizierten, die nach den Prozentangaben nicht so einfach in diese Kategorie einsortiert werden könnten. Bei den Daten der ›weiblichen Kamtschadalen‹ ist aus der Tabelle ›zu ersehen‹, dass sowohl prozentuale Verteilung als auch Situierung des Mittelwertes in Richtung der hier vorgenommenen Kategorisierungen nach mittleren Größen der Gruppe »Klein« weist. Doch von diesen aus der Tabelle ›ersichtlichen‹ Spuren widersprüchlicher Typenbildungen – die Konzeption aus den Mittelwerten statt aus den prozentualen Verteilungen ist nicht ›falscher‹ oder ›richtiger‹, sondern Entscheidungssache hinsichtlich der Prioritätensetzung – lässt sich die Erläuterung Jochelson-Brodskys nicht tangieren. Unklar bleibt, warum in den Tabellen mit prozentualen Verteilungen operiert wird, diese in die schriftliche Ergebnis-Präsentation jedoch gar keinen
117 In diesen Kategoriennamen erscheinen wiederum die Kategorienübergänge und die Einfügung von immer mehr Zwischengruppen. Vgl. a. die noch nicht so stark ausdifferenzierten Größen nach Johannes Ranke, wie sie etwa bei Alfred Kirchhoff in Anschlag gebracht werden: »Mindermässige«, »Kleine«, »Mittelmässige«, »Grosse«, »Uebergrosse« (Kirchhoff 1892/93). Vgl. auch Dubois: »Uebermässige«, »Grosse«, »Mittelgrosse«, »Kleine«, »Mindermässige« (Dubois 1898b: 242).
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Eingang finden – zumindest nicht in der hier analysierten Stelle.118 Hinzu kommt, dass sich diese erste Ergebnisgenerierung ohnehin auf die ›Männerdaten‹ zu stützen scheint, die in Klammern angegebenen Zahlen jedenfalls sind jene mittleren Werte der ›Männer‹. Bei den ›Jakuten‹, wo JochelsonBrodsky selbst nur ›Frauen‹ vermessen hat, mag sie aus diesen Daten gar nicht ›Rassen‹ konzipieren, sondern zieht dazu lieber ›Männerdaten‹ von anderen Autoren zu Rate (Jochelson-Brodsky 1906: 6). Selbst in diesem Ansatz, der beide ›Geschlechter‹ berücksichtigt und dessen Schwerpunkt die Messungen an ›Frauen‹ sind, wird das ›Normale der Rasse‹ also offenbar zunächst am ›Mann‹ gebildet. Erst in einem zweiten Schritt werden die aus der Tabelle ›ersehbaren‹ ›Geschlechterdifferenzen‹ der Körpergrößen, die sich nach ›anthropologischen Typen‹ unterscheiden, vorgestellt. Es folgen Zusammenstellungen aus der Literatur über Größenunterschiede der ›Geschlechter‹: Bunt zusammengewürfelt finden sich hier Literaturverweise auf Studien, in denen eine ›Rassendifferenz‹ berücksichtigt wird (Topinard, Deniker), auf solche, die je nach Körpergröße unterschiedliche Differenzen ansetzen (Boas), und solche, in der die ›Geschlechterdifferenz‹ nach ›anthropologischen Gruppen‹ differenziert wird (Jochelson-Brodsky 1906: 6f). Im Hinblick auf die hier interessierende Verflechtung von ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ können diese drei Varianten wie folgt analytisch gefasst werden: In jenen Konzeptionen, die gar keine ›Geschlechterdifferenzierung‹ vornehmen, werden die Daten meist wie selbstverständlich an ›Männern‹ erhoben. Dann gibt es jene, in denen die Frage des ›Geschlechts‹ mit einbezogen wird, hier wird eine generalisierte ›sexuelle‹ Differenz angesetzt (wie etwa: ›Frauen sind kleiner als Männer‹). Eine Überkreuzung von ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ jedoch findet sich in der Variante, in der die ›sexuelle‹ Differenz entgeneralisiert wird, indem sie nach ›Rassen‹ bzw. ›anthropologischen Typen‹ ausdifferenziert wird. Hier wird eine ›Geschlechterdifferenz‹ konzipiert, die ›rassisch‹ fragmentiert ist – eine ›rassisch‹ fragmentierte ›sexuelle Differenz‹. Es könnte auch gesagt werden: In der ›Geschlechterdifferenz‹ wird hier eine ›Rassen118 Um nicht den Eindruck zu erwecken, diese diskursive Strategie JochelsonBrodskys würde sich konsequent durch den ganzen Text ziehen, wurden zu den hier und im Folgenden vorgestellten exemplarischen Detailbeobachtungen an den anderen Tabellen und dazugehörigen Erläuterungen Parallellektüren vorgenommen, auf deren Präsentation an dieser Stelle verzichtet wird. Als Resultat dieser Vergleiche lässt sich aber festhalten, dass dabei innerhalb dieses methodologisch durchaus reflexiven Beitrages ganz unterschiedliche Verhältnisse beider Formen von Datenbearbeitung präsent sind. So bringen manchmal prozentuale Verteilung und Mittelzahlen das gleiche Ergebnis hervor und bestätigen sich auf diese Weise gegenseitig, manchmal differenziert ein Verfahren die Ergebnisse des anderen usw. Eine kohärent, ›zielgerichtete‹ Vorgehensweise ist dabei nicht zu beobachten.
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differenz‹ ausgedrückt, denn der ›Geschlechtsunterschied‹, die ›sexuelle Differenz‹ wird für jede ›Rasse‹ als unterschiedlich angenommen. In Jochelson-Brodskys Fokussierung auf die ›sexuelle Differenz‹ werden die zur Identifizierung in Anschlag gebrachten Kategorien (von Körpergrößen und -Indexen) hier selbst nach ›Geschlecht‹ spezifiziert:119 Die Kategorien ›klein‹, ›untermittelgroß‹ usw. umfassen bei den ›Frauen‹ ein anderes Zahlenspektrum als bei den ›Männern‹ (vgl. Abb. 13). Diese ›sexuelle‹ Differenzierung der Kategorien ergibt sich dabei nicht aus einer universalen Annahme der ›sexuellen Differenz‹, sondern zunächst aus einer Überkreuzung von ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹. Allerdings wird diese ›rassische‹ Fragmentierung ›sexueller Differenz‹ dabei gleichzeitig nivelliert und dadurch letztendlich doch generalisiert. In einer Fußnote zur Tabelle erläutert Jochelson-Brodsky: »Für die Einteilung der Körpergröße der Frauen […] in Kategorien, die den für die Körpergröße der Männer aufgestellten Kategorien entsprechen, habe ich die Zahlen sämtlicher männlicher Kategorien um 100 mm kleiner angenommen, da die Differenz zwischen der mittleren Körpergröße der von mir untersuchten Männer und Frauen, wie aus der Tabelle 1 ersichtlich ist, sich ungefähr um diese Zahl (100 mm) herum bewegt.« (Jochelson-Brodsky 1906: 6f, Fußnote)
Eigentlich scheinen – wie bereits ausgeführt – Mittelwert und die zur Identifizierung der Verteilung von Körpergrößen ermittelten Gruppen – in einer Tabelle einfach nur nebeneinander zu stehen, doch diese Formulierung stellt sie in einen direkten Zusammenhang: Die für ›Frauen‹ um 100 mm kleiner angesetzten Körpergrößengruppen legitimieren sich nämlich durch die ›rassisch‹ spezifischen ›sexuellen Differenzen‹ der arithmetischen Mittel, die – wie in der untersten Tabellenzeile abzulesen – eine ›Geschlechterdifferenz‹ ergeben, die »sich ungefähr um diese Zahl (100 mm) herum bewegt«. Bemerkenswert ist dabei, wie die ›rassisch‹ fragmentierten ›sexuellen Differenzen‹ offenbar ohne methodologische Probleme und ohne statistische Berechnung eines arithmetischen Mittels auf 100 nivelliert werden. Dabei könnte die Formulierung des ›sich ungefähr um diese Zahl herum bewegen‹ – wenn schon alle ›sexuellen Differenzen‹ zusammengefasst und deren ›rassische‹ Fragmentierung wieder nivelliert werden soll – auch eine statistische Bearbeitung dieser ›sexuellen Differenz‹ nahe le119 Dies geschieht jedoch nicht für alle berücksichtigten Kategorien. So finden sich auch Passagen, in denen keine nennenswerten Unterschiede festgestellt werden, wo z.B. »[d]er Unterschied zwischen den Indices beider Geschlechter so unbedeutend [ist], daß bei Frauen die Einteilung der Indices in mesokephale und brachykephale dieselbe wie bei den Männern bleibt« (Jochelson-Brodsky 1906: 11).
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gen. Dies scheint für Jochelson-Brodsky jedoch offenbar gar nicht in Betracht zu kommen. Rein intuitiv wird aus den sich in der Tabelle zwischen 90 und 105 mm bewegenden Differenzen – im Text werden noch größere Unterschiede genannt – eine Art ›augenscheinlicher Mittelwert‹ (»wie aus der Tabelle 1 ersichtlich ist«) von 100 mm gebildet, ohne auch nur einen Hauch von Statistik in Anschlag zu bringen. Fassen wir kurz zusammen, was an diesem Beispiel aus JochelsonBrodsky beobachtet werden kann: Die physisch-anthropologische Verflechtung der Kategorien ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ erscheint selbst bei Detail analysen keineswegs gradlinig oder konsequent, sondern in sich heterogen und widersprüchlich. Im Hinblick auf die Konzeption der ›Geschlechterdifferenz‹ schwankt Jochelson-Brodskys Text zwischen einer ›rassisch‹ indifferenten und einer rassifizierten ›sexuellen Differenz‹. Die erste rührt vermutlich aus den Körpergrößen-Kategorien Topinards, die selbst nicht von vorneherein ›rassisch‹ spezifiziert bzw. markiert ist. Neben diesem Modell werden gleichzeitig auch nach ›Rassen‹ differente ›Geschlechterdifferenzen‹ entworfen. Eine methodologische Reflexion dieses Zusammenhangs findet sich bei Jochelson-Brodsky nicht.
Nabelhöhe, Symphyse und Körpermitte Wenden wir uns zwei Stellen zu, an denen die umfangreiche Datenpräsentation mit weitergehender Sinngebung verknüpft ist, und zwar sowohl bei Teumin als auch bei Jochelson-Brodsky: im ersten Fall geht es um eine Verknüpfung ontogenetischer und phylogenetischer Perspektiven, im zweiten Fall um eine Generalisierung des ›europäischen Normalbeckens‹. Sowohl Teumin als auch Jochelson-Brodsky beschäftigen sich mit dem Verhältnis von Symphyse und Körpermitte – einer Frage, die schon in Ästhetik-Diskursen der Antike um die Proportionen des schönen menschlichen Körpers auftaucht. In der hier vorliegenden anthropologischen Aufnahme dieses Ästhetik-Diskurses findet eine Überlagerung von ›Geschlecht‹, ›Rasse‹ und Alter statt, die einen Effekt von Hierarchisierung mit sich bringt. Teumin führt folgendermaßen in die Fragestellung ein: »Eine genaue Definition der anthropologischen Beziehungen für die Körpermitte zu geben, ist wegen mangelnden Materials sehr schwierig. Nach den Untersuchungen von Prof. Metschnikow fällt die Körpermitte der Mongolen mit der Höhe der Symphysis ossium pubis [der Schambeinfuge; C.H.] zusammen; dieser Umstand ist nach seiner Ansicht ein wichtiges Merkmal der mongolischen Rasse, welche sich hierdurch dem kindlichen Zustande der europäischen Rassen nahegerückt erweist. Prof. Ketle hat nämlich gezeigt, dass die Körpermitte der Kinder europäischer Rassen im 13. Altersjahre mit dem oberen Rande der Symphysis ossium pubis zusammenfällt.« (Teumin 1902: 391)
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Überlagert werden hier also auch eine ontogenetische und eine phylogenetische Perspektive. Ausgangspunkt des hier genannten Metschnikow120 ist Alphonse Quételet, der bei Teumin zu »Prof. Ketle« wird.121 In Quételets 1870 erschienenem Buch »Anthropométrie« (Quételet 1870)122, die Normalität und Gaußkurve kombiniert (vgl. Link 1996: 220) und laut Jürgen Link »den ersten spektakulären Durchbruch des Normalismus im Interdiskurs« erbrachte (Link 1996: 205), werden unterschiedliche Körpermaße und ‑proportionen von der Geburt bis zum 40. Lebensjahr untersucht. Im Hinblick auf die Körpermitte finden wir dort folgende Aussage: »En effet, pour l’homme, la hauteur du pubis au-dessus du sol vaut, à partir de l’âge de 13 ans, plus de la moitié de la taille, tandis qu’elle est moindre avant cette époque.« (Quételet 1870: 240) Die Symphysenhöhe in Relation zur Körperhöhe – Quételet trifft diese Aussage nur für den ›Europäer‹ – verschiebt sich demnach mit zunehmendem Alter von unten über die Körpermitte nach oben, wobei die Mitte im 13. Lebensjahr erreicht wird. Diese ontogenetische Perspektive der individuellen Entwicklung wird im physisch-anthropologischen Diskurs nun einfach phylogenetisch gewendet, mit der Konsequenz, dass die konzipierten ›Rassen‹ hinsichtlich ihres Entwicklungsstandes eingeordnet werden können. Der hier nicht weiter ausdifferenzierte Körper des ›Europäers‹ gilt dabei als Maßstab, als Folie, von der aus die anderen ›Rassen‹ beurteilt werden können. Bei Metschnikow – so Teumin – erscheint im Zuge dieser Überlagerung zweier Entwicklungslinien die ›mongolische Rasse‹ dem »kindlichen Zustande der europäischen Rassen nahegerückt« – er scheint gewissermaßen noch nicht ausgewachsen. Teumin stellt aus dem von ihr erhobenen Zahlenmaterial tabellarisch Daten zu Körper- und Symphysenhöhe und zur Differenz von Symphysenhöhe und Körpermitte zusammen, »um zu prüfen, in wie weit Metschnikows Beobachtungen einer allgemei120 Ilja Metschnikow war führender russischer Bakteriologe, dessen anthropologische Publikation zu den ›Kalmücken‹ (Metschnikow 1876) in der russischen Anthropologie viel zitiert wurde. 121 Dies ist vermutlich durch die Rückübertragung aus der kyrillischen Schreibweise des sehr wahrscheinlich russischen Textes von Metschnikow in die lateinische Schrift geschehen (Teumin verweist am Ende ihres Textes darauf, dass die für ihre Arbeit berücksichtigte Literatur fast ausschließlich aus russischen Texten bestand; Teumin 1902: 432). Ob Teumin die Identität von »Ketle« mit Quételet, auf dessen Datensammlung sie später unter richtiger Namensschreibung Bezug nimmt (z.B. Teumin 1902: 399), klar war, muss hier im Dunkeln bleiben. 122 Dieses Buch wird später bei Jochelson-Brodsky explizit genannt, die in diesem Zusammenhang zudem Iwanowskys Kritik an Metschnikow einbezieht (Iwanowskys Text ist im sparsamen Literaturverzeichnis von Teumin zwar präsent, dessen Kritik an Metschnikow findet jedoch keine Berücksichtigung).
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nen Anwendung fähig sind« (Teumin 1902: 392). Diese Datenbearbeitung führt Teumin zu folgendem Schluss: »Aus diesen Vergleichen können wir sehen, dass Metschnikow’s Beobachtungen in meinem Falle keine Anwendung finden können. Es hat sich gezeigt, dass nur in drei (von 100) Fällen die Höhe der Symphyse mit der Körpermitte zusammenfällt. In den übrigen 97 Fällen findet sich eine mehr oder minder erhebliche Differenz. – Bei 80 Individuen lag die Symphyse höher als die Körpermitte (4 cm im Durchschnitt) und nur bei 17 Individuen tiefer (2 cm im Durchschnitt). – Diese Resultate lassen keinen Schluss auf eine constante Beziehung von Symphyse und Körpermitte im Sinne Metschnikow’s zu, welche als Rassenmerkmal dienen könnte. Für die mir als Material dienenden Individuen ist jedoch charakteristisch, dass die Körpermitte um durchschnittlich 4 cm tiefer als die Symphyse liegt.« (Teumin 1902: 393)
Teumin argumentiert also mit ihren eigenen Daten – die hier explizit nicht weiter nach ›Rassen‹ ausdifferenziert werden – gegen eine Übertragung von Metschnikows These zum ›kindlichen Zustand‹ der ›Mongolen‹-Körper. Dies geschieht durch eine erste Fokussierung darauf, dass »nur in drei (von 100) Fällen« ihrer Daten beide Maße zusammenfallen und auf die »mehr oder minder erhebliche Differenz« bei den anderen 97 Individuen, die dann weiter ausgeführt wird. In Teumins Datenpräsentation werden diese in Richtung einer daraus gerade nicht ableitbaren »constant[en] Beziehung« gedeutet und somit eine Übertragbarkeit von Metschnikows These verneint. Doch sind zwei weitere Varianten denkbar, wie Teumin – in der Eigenlogik des anthropologischen Diskurses – ihre Daten auch hätte vorstellen können: Zum Beispiel hätte die Differenz zu Metschnikow wesentlich stärker betont werden können, indem in den Vordergrund gestellt wird, dass die Daten sogar dahin interpretierbar wären, dass die ›Russinnen‹ die ›Europäer‹ im Hinblick auf das Verhältnis von Symphyse und Körpermitte in ihrer Reife sogar überholt zu haben scheinen. In einer anderen Variante wäre denkbar gewesen, zu versuchen, die 17 Fälle, bei denen die Symphyse unter der Körpermitte liegt, einer bestimmten ›Rasse‹ zuzuordnen – doch eine »Trennung nach Rassen« war von Teumin aufgrund einer zu geringen Anzahl von Individuen nicht vorgenommen worden (vgl. Teumin 1902: 391). Doch bleiben diese beiden Varianten im Ungesagten. Teumin lehnt eine Übertragung von Metschnikows These also eher auf ›sanfte Weise‹ ab und unternimmt keine weiteren – eigenen – Zuordnungen im Rahmen der Überlagerung von Onto- und Phylogenese. Verweigert wird auf diese Weise die Anwendung der sich aus der Überlagerung ergebenden Bewertungs‑ optionen. Erkennbar wird hieran die Flexibilität von anthropologischer Datenpräsentation und daraus gefolgerten Schlüssen.
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Teumins angehängte Feststellung: »Für die mir als Material dienenden Individuen ist jedoch charakteristisch, dass die Körpermitte um durchschnittlich 4 cm tiefer als die Symphyse liegt«, liest sich in diesem Zusammenhang wie eine im Rahmen einer Doktorarbeit notwendige Schlussfolgerung, die aber nicht ohne weiteres als ›Rassenmerkmal‹ ausgewiesen wird. Merkwürdig erscheint in diesem Zusammenhang der formulierte Höhenunterschied von 4 cm, der sich nun nur noch auf die Individuen mit einer unter der Symphyse liegenden Körpermitte (womit die Symphyse also über der Körpermitte liegt) bezieht und selbst für diese Fälle mit ›sehr großem Schwung‹ aufgerundet ist.123 Haben wir es hier mit einem strategischen ›Aufpolieren‹ zu tun, welches das Ergebnis Metschnikows noch stärker in die Schranken weisen soll? Bemerkenswerterweise kommt die Argumentation Teumins hier außerdem ganz ohne Bezugnahme auf das ›Geschlecht‹ aus – womit ja beispielsweise die Differenz ihrer Daten zu denen von Metschnikow auch hätte begründet werden können. Diese Verweigerung lässt eine potentielle Übertragbarkeit oder gar Anwendbarkeit von Metschnikow zusätzlich einfach ins Leere laufen. Erst in der Zusammenfassung am Ende des Textes, in der in sechs Zeilen noch einmal ausgeführt wird, dass die Beobachtung von ›Metschnikoff‹124 mit ihren Resultaten nicht übereinstimmt, findet sich die Einschränkung von Teumins Ergebnis auf ein ›Geschlecht‹: »Damit ist die Behauptung Metschnikoff’s wenigstens für ›russische‹ Individuen ›weiblichen Geschlechts‹ widerlegt.« (Teumin 1902: 431) In Jochelson-Brodskys Text stoßen wir noch einmal auf diese bei Teumin schon diskutierte Frage des Verhältnisses von Körpermitte und Symphysenhöhe. Neben der Referenz auf Quételet und Metschnikoff125 wird hier zudem auf die Kritik Iwanowskys Bezug genommen. Jochelson-Brodsky beginnt in ihrem Kapitel »XII. Höhe der Symphyse« mit einer tabellarischen Zusammenstellung der absoluten Symphysenhöhe bei ihren beiden Gruppen im Vergleich mit jener der »Ainofrauen nach Koganei«126 und den »Russinnen und russ. Jüdinnen nach Teumin«, einer Aufstellung der Symphysenhöhe im Verhältnis zur Körpermitte bei »Tungusinnen-Jukagirinnen« und »Jakutinnen« (Jochelson-Brodsky 1906: 28) und der Auswertung dieser Daten, die zu folgendem Ergebnis führt:
123 Ein Nachrechnen aus den in der entsprechenden Tabelle präsentierten Daten ergibt allenfalls einen arithmetischen Durchschnitt von 3,175 cm (vgl. Teumin 1902: 392, Tabelle 20). 124 In Teumins Text finden sich zwei unterschiedliche Transkriptionen dieses russischen Namens. 125 Jochelson-Brodskys durchgängige Schreibweise. 126 So die Schreibweise des Namens »Koganeï« bei Jochelson-Brodsky.
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»Dieser Tabelle entnehmen wir, daß von den von mir untersuchten TungusinnenJakutinnen bei 57,4 Proz. (35 Individuen) die Symphysenhöhe unter der Körpermitte, bei 41 Proz. (25 Individuen) über der Körpermitte liegt, während bei 1,6 Proz. (1 Individuum) die Symphysenhöhe mit der Körpermitte zusammenfällt. Bei den Jakutinnen dagegen lauten die entsprechenden Zahlen für die Symphysenhöhe folgendermaßen: unter der Körpermitte 41 Proz. (23 Individuen), über der Körpermitte 57,2 Proz. (32 Individuen) und gleich der Körpermitte 1,8 Proz. (1 Individuum). Somit ist die Symphysenhöhe bei der Mehrheit der Jakutinnen größer und bei der Mehrheit der Tungusinnen-Jukagirinnen kleiner als die Körpermitte. Im Mittel ist die Symphysenhöhe bei den Jakutinnen um 4 mm größer und bei Tungusinnen-Jukagirinnen 6 mm kleiner als die Körpermitte.« (Jochelson- Brodsky 1906: 29)
Dieses Mal weisen die Ergebnisse der prozentualen Zusammenstellung und die der mittleren Zahlen in die gleiche Richtung. Die diskursive Position, aus einer 57% zu 41%-Verteilung der Zahlen und aus einer Differenz der Mittelzahlen von gerade 10 mm ein solches Ergebnis (»Somit ist die Symphysenhöhe bei der Mehrheit der Jakutinnen größer und bei der Mehrheit der Tungusinnen-Jukagirinnen kleiner als die Körpermitte.«) zu generieren, verdankt sich dem physisch-anthropologischen Begehren, Differenz zu erzeugen. Ausgehend von den genannten Zahlen wäre durchaus vorstellbar gewesen, beiden Gruppen eine nennenswerte Differenz gerade abzusprechen. Es folgt eine kleine Tabelle, in der Mittelwert, Maximum, Minimum und Hauptvariation der relativen Symphysenhöhe (in prozentualem Verhältnis zur Körpergröße) für die beiden Gruppen angegeben werden, während im Textfluss die entsprechenden Angaben für »Ainofrauen« und »russische Frauen« (Jochelson-Brodsky 1906: 29) gemacht werden. »Da die Messung der Symphysenhöhe von mehreren Anthropologen als eine sehr wichtige angesehen wird« (Jochelson-Brodsky 1906: 29), stellt Jochelson-Brodsky darüber hinaus – unter Bezugnahme auf Iwanowsky – noch entsprechende Daten zu Männern zusammen (Abb. 14).
Abb. 14: ›Männer‹-Daten nach Iwanowsky (Jochelson-Brodsky 1906: 29)
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Nun führt auch sie in die Thesen Quételets und Metschnikoffs – die sie offenbar beide von Iwanowsky bezieht – ein: »Laut den Ausführungen von Ad. Quételet soll die Symphysenhöhe bei neu geborenen Europäern unter der Körpermitte liegen, bei Kindern von 13 Jahren gleich sein und bei Erwachsenen über die Körpermitte fallen. Ferner vermutet Prof. Metschnikoff auf Grund einiger Kalmückenmessungen, bei welchen er die Symphysenhöhe gleich der Körpermitte gefunden hat, daß in dieser Hinsicht der mongolische Körper dem kindlichen, provisorischen Zustande des Körpers der kaukasischen Rasse entspricht. Auf Grund oben genannter Daten bestreitet Iwanowsky mit Recht Metschnikoffs Anschauung.« (Jochelson-Brodsky 1906: 29)
In ihren Ausführungen zu Quételet und Metschnikoff erwähnt Jochelson- Brodsky auch eine Kritik Iwanowskys, der sie sich hier anschließt. Diese Kritik »aufgrund oben genannter Daten« richtet sich nicht nur gegen Metschnikoffs Einordnung der ›Kalmücken‹, sondern offenbar grundsätzlicher gegen die Überlagerung von onto- und phylogenetischer Perspektive. Die Daten zeigen nämlich bei einer ganzen Reihe von ›Völkern‹, denen gemeinhin ein niedrigerer Entwicklungsstand zugesprochen wird, Zahlen über 50%.127 Die durch die Erwähnung von Metschnikoff mögliche Diskursposition für die Daten der ›Frauenmessungen‹ von Jochelson-Brodsky (dass nämlich die ›Tungusinnen-Jakutinnen‹ dem kindlichen ›europäischen‹ Körper entsprechen) wird nicht formuliert – ohne allerdings die Überlagerung explizit als solche anzugreifen. Stattdessen werden die Daten zu den von Iwanowsky genannten ›Männerdaten‹ in Beziehung gesetzt: »Wir sehen, daß mit Bezug auf die Symphysenhöhe unsere Tungusinnen-Jukagirinnen [49,5%] den Samojeden [48,65%] und Metscherjaken [49,90%], die Jakutinnen [50,3%] dagegen den Mongol-Türken (Kalmücken [50,16%], Torgouten [50,43%], Karakirgisen [50,39%] und Kirgisen [50,73%]) entsprechen.« (Jochelson-Brodsky 1906: 29; Einschübe C.H.)128
127 Einen grundsätzlichen methodologischen Kritikpunkt Iwanowskys greift Jochelson-Brodsky jedoch nicht auf: »Darf ein Anthropolog [sic!], welcher nur acht Messungen an nur 30 Individuen irgend einer Rasse vorgenommen hat, aus dem Vergleich dieser Messungen mit denjenigen einer gleichen Zahl Individuen einer anderen Rasse Schlüsse ziehen, welche für die ganze Rasse gelten sollen? und [sic!] darf er die auf diese Weise gefundenen Merkmale als etwas Feststehendes betrachten?« (Iwanowski 1897: 76) 128 Um Jochelson-Brodskys Grade der Annäherung leichter lesbar zu machen, habe ich hier in eckigen Klammern die in den entsprechenden Tabellen genannten Prozentzahlen eingefügt.
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Vermessung von ›R asse‹ und ›Geschlecht‹
Die in den wiedergegebenen Zahlen von Iwanowsky genannten ›Belgier‹ mit einem Maß von 50,70 und die ›amerikanischen Seeleute‹ mit 50,30 (vgl. Abb. 14) werden hier nicht weiter genannt. Das mag damit zu tun haben, dass sich Jochelson-Brodsky nur für Vergleichsgruppen interessiert, die auch in geographischer und kultureller Nähe zu den von ihr Vermessenen verortet werden. Doch ignoriert sie dabei gleichzeitig auch den irritierenden Effekt der von ihr selbst wiedergegebenen Daten: Wenn in den Zahlen von Iwanowsky plötzlich ›Europäer‹ mitten in einer Reihe von ›niederen Rassen‹ landen, wirbelt das entweder die üblichen ›Rassengruppierungen‹ durcheinander – die ›Jakutinnen‹ müssten dann auch an die ›amerikanischen Seeleute‹ und ›Belgier‹ angenähert werden – oder stellt den Sinn der auf diese Weise erzeugten ›Rassedifferenzen‹ – und damit auch das Vorhaben JochelsonBrodskys – insgesamt zur Disposition. Das Ignorieren solcher Effekte zeugt von der Hartnäckigkeit des Begehrens der Differenz-Erzeugung, das bestimmte Zusammenhänge unsichtbar zu machen scheint. Gleichzeitig erscheint jedoch bemerkenswert, dass auch an dieser Stelle keine ›sexuelle‹ Differenzierung vorgenommen wird, sondern die Daten von ›Männern‹ und ›Frauen‹ offenbar ohne Probleme miteinander verglichen werden. Bei Quételet selbst war dagegen im Hinblick auf die Symphyse eine signifikante ›sexuelle‹ Differenz eingeführt worden: »Pour la femme au contraire, le pubis reste toujours au-dessous de la demi-hauteur moyene. Ce point est très remarquable.« (Quételet 1870: 240) Wir haben hier nun sowohl bei Teumin als auch bei Jochelson-Brodsky durchscheinen sehen, wie der ›europäische‹ Körper zur Folie der Einordnung von ›Rassedifferenzen‹ wird. Noch expliziter wird dies in beiden Texten, wenn es um das ›normale Becken‹ geht.
Das ›normale Becken‹ Mehrere Abschnitte von Teumins Aufsatz beschäftigen sich mit der Vermessung der Beckengegend und dem Verhältnis anderer Körperteile zu ihr. Das Becken gilt als das Organ, an dem eine ›sexuelle‹ Differenz am signifikantesten identifizierbar sein soll – da geht es dann um die »[v]ordere und hintere Spinalhöhe im Verhältnis zur Körpergröße«, um die »[g]egenseitige Höhenlage von Spina anterior und Spina posterior«, um die »Beckenneigung«, um das »Verhältniss der Nabel-Symphysenlänge zum Nabel-Manubriumabstand«, den »Sitz der Brustwarze gegenüber Akromion und Manubrium«, die »Brustwarzendistanz absolut und relativ zur Becken- und Akromialbreite«, die »Cristalbreite (Abstand beider Cristae) im Verhältniss zur Spinalbreite« und schließlich um die »Beckenbreite im Verhältniss zur Schulterbreite« (Teumin 1902: 400-409). Im Hinblick auf die Spinal- und Cristalbreiten setzt Teumin als Vergleichsmaßstab die Werte des »normalen weiblichen Beckens« an:
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»[D]as normale weibliche Becken hat eine Spinalbreite von 26 cm und eine Cristalbreite von 29 cm. Bei meinen Individuen sind Spinalbreite und Cristalbreite um 1,3 cm kleiner als die entsprechenden Breiten des Normalbeckens. Diese Beobachtung kann für eine Verengung des Beckens bei meinen Untersuchungsobjecten sprechen; jedoch sind Spinal- und Cristalbreite nicht allein hierfür maassgebend. Von den Jüdinnen ist schon lange bekannt, dass sie ein enges Becken haben, was, da wir es hier zum großen Teil mit Jüdinnen zu thun haben, als Bestätigung dafür dienen könnte, dass hier wirklich eine Beckenverengung vorliegt.« (Teumin 1902: 408)129
Als Bezugspunkt für den Vergleich dient der ›(west)europäische Frauenkörper‹ – das normalistisch gewonnene ›europäische weibliche Normalbecken‹ wird zur Norm, an der andere Körper gemessen werden. Hier deutet sich an, was neben der Normalisierung dennoch immer auch mitschwingt und bei Jochelson-Brodsky noch expliziter wird: die Verallgemeinerung der Maße von ›Europäern‹ zu ›Normalwerten‹, die als Maßstab für die Identifizierung anderer Gruppen dienen. Mag der Wert für das ›normale weibliche Becken‹ vielleicht noch auf statistische und normalistische Weise gewonnen sein – doch spielt hier eine ästhetische Perspektive sicherlich auch eine Rolle –, so wird er doch in dieser Verallgemeinerung zu einer fixierten Norm, an der sich die Becken anderer ›Frauen‹ zu messen haben. Von einem nach ›Rassen‹ spezifizierten ›Normalmaß‹ z.B. des ›normalen russischen weiblichen‹ Beckens – wie etwa bei der ›rassischen‹ Unterscheidung ›sexueller‹ Differenz bei Jochelson-Brodsky – ist hier keine Rede. Gerade im Hinblick auf den ›weiblichen‹ Körper scheint es ein größeres Beharrungsvermögen einer normierenden Perspektive gegenüber normalisierenden Tendenzen zu geben. Das Erscheinungsbild der hier konstatierten Differenz wird durch die bei Teumin sonst nicht übliche Nennung der ersten Dezimalstelle (»1,3 cm«) noch vergrößert. Auffällig ist aber eine gewisse Vorsicht in der Formulierung »kann dafür sprechen« und der Verweis, dass die hier in Betracht gezogenen Maße dafür »nicht allein maassgebend« seien – sind dies Spuren einer Scheu vor dem Fixieren von Ergebnissen? Gleichzeitig wird aber als mögliche Bestätigung für die identifizierte Beckenverengung auf den großen Anteil von ›Jüdinnen‹ in Teumins Sample verwiesen. Dies geschieht durch einen Rückgriff auf anthropologische Allgemeinplätze (»es ist schon lange bekannt, dass Jüdinnen« usw). Teumin scheint sich aber nicht ganz sicher zu sein, ob sie diese Bestätigung der Beckenverengung leisten will oder nicht, wie an der Formulierung »als Bestätigung dienen könnte« deutlich wird. Diese Scheu vor einer allzu harten diskursiven Position ist möglicherweise auch auf den Umstand zurückzuführen, dass Teumin von der 129 Im Hinblick auf die ›Jüdinnen‹ wiederholt sich hier eine Argumentationsstruktur, auf die ich bereits eingegangen bin (Teumin 1902: 386).
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eher unsicheren Diskursposition einer Studentin, die den Doktortitel erlangen will, schreibt. Was allerdings ihre Vorschläge zu alternativen Erhebungsmöglichkeiten einiger Einzelmaße an anderen Stelle ihres Textes angeht, scheut Teumin noch nicht einmal vor einer Zurechtweisung Topinards, dem Nachfolger des Gründers und Leiters der französischen Anthropologischen Gesellschaft, Paul Broca (Teumin 1902: 418f). Von daher scheint es mir auch möglich, dass sich hier eine gewisse Skepsis innerhalb dieser diskursiven Positionierung artikuliert. Betrachten wir nun die Becken-Konzeption bei Jochelson-Brodsky. Dem ›normalen Becken‹ der ›Europäerin‹ begegnen wir auch hier. Neben Spinal- und Cristalbreiten werden außerdem die sogenannten Trochanterbreiten zusammengestellt und dann wird – diesmal unter expliziter Bezugnahme auf andere Messungen – der Vergleich mit dem ›weiblichen Normalbecken‹ unternommen: »Da das europäische weibliche Becken nach Runge und Bumm im Mittel eine Spinalbreite von 26 cm, eine Cristalbreite von 29 cm und eine Trochanterbreite von 31 bzw. 31,5 cm hat, so zeigt ein Blick auf die genannte Tabelle, daß das Becken der von mir untersuchten Frauen im Mittel absolut enger ist als das europäische Mittel- oder Normalbecken. Die Mittelzahlen der drei Messungen des Beckens der Jakutinnen sind ungefähr um 1 cm, diejenigen des Beckens der Tungusinnen-Jukagirinnen fast um 2 cm kleiner als die entsprechenden Breiten des europäischen weiblichen Normalbeckens.« (Jochelson-Brodsky 1906: 30)
Der Blick auf diese drei Maße ist bei Jochelson-Brodsky also bereits hinreichend, um von einem »absolut enger[en]« Becken zu sprechen. Bemerkenswert erscheint außerdem, dass die konstatierten absoluten Differenzen nur annähernd angegeben werden: »ungefähr um 1 cm« und »fast um 2 cm kleiner«. Neben der Bestimmung dieser ›rassischen‹ Differenzen werden in einer weiteren Tabelle die von Jochelson-Brodsky identifizierten ›Jakutinnen‹ und ›Tungusinnen-Jukagirinnen‹ hinsichtlich ihrer individuellen Schwankungen in den Spinal-, Cristal- und Trochanterbreiten prozentual in drei Kategorien einsortiert, die in einer direkten Übertragung des normierenden europäischen Normalmaßes »normal«, »unter« und »über« benannt werden (Jochelson-Brodsky 1906: 31). In dieser Fragmentierung des Datenmaterials werden die Maße der beiden Gruppen also direkt am verallgemeinerten Normalmaß gemessen und es kann leicht abgelesen werden, wie viele der ›nordostsibirischen Frauen‹ in diesem Sinne ›normal‹, ›über‹- oder ›unternormal‹ sind. In dem sich auf diese Tabelle beziehenden Text ist trotz Verallgemeinerung die Kopplung dieser ›Normalität‹ an ›europäische Frauenkörper‹ jedoch weiterhin expliziert:
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»Es geht aus dieser Tabelle hervor, daß die große Mehrzahl der von mir untersuchten Frauen kleinere äußere Beckenmaße aufweist als diejenigen, die man für europäische Frauen als normale annimmt, und ferner, daß der Prozentsatz der Frauen mit unternormalen Distanzen aller drei Breiten bei den TungusinnenJukagirinnen größer ist als bei den Jakutinnen, derjenige mit übernormalen Werten dagegen kleiner.« (Jochelson-Brodsky 1906: 32)
Im Vergleich mit den Messungen anderer ›Völker‹ wird unter anderem Bezug genommen auf Teumin, wobei auch hier die spezifische Positionierung der ›jüdischen‹ Körper durchschimmert: Jochelson-Brodsky merkt nämlich an, dass ihr die Zahlen von Teumin in diesem Zusammenhang als ›zu klein‹ erscheinen und führt dies nicht etwa auf andere Messverfahren zurück wie in anderen Passagen (z.B. Jochelson-Brodsky 1906: 23), sondern vielmehr auf die ›rassische‹ Zusammensetzung der von Teumin identifizierten Gruppe: »Mit Bezug auf Teumins mittlere Größe erlaube ich mir zu bemerken, daß, wenn wir die oben erwähnten normalen Zahlen für das Becken europäischer Frauen in Betracht ziehen, diese Größen mir zu klein scheinen. Möglicherweise kann das darauf zurückgeführt werden, daß unter den 100 von Teumin untersuchten Frauen 47 Jüdinnen waren, welche letzteren, wie angenommen wird, auffallend kleine Becken haben.« (Jochelson-Brodsky 1906: 32)
Die drei Becken-Maße werden im weiteren Verlauf metrisch zueinander, aber auch zu den Körpergrößen in Beziehung gesetzt. Die oben erst kon stituierten Differenzen zwischen ›Jakutinnen‹ und ›Tungusinnen-Jukagirinnen‹, aber auch zu den ›Europäerinnen‹ werden nun doppelt relativiert, wobei auch die Kategorie ›normal‹ selbst problematisiert wird: »Daraus folgt, daß, wenn auch gewisse Individuen von größerer Statur als ihre Stammesgenossinen kleinere Becken als die letzteren haben können und umgekehrt, im allgemeinen das Verhältnis der Beckenbreiten zur Körpergröße fast konstant ist. Demnach ist der Begriff ›normal‹ mit Bezug auf die Beckendistanzen ganz relativ.« (Jochelson-Brodsky 1906: 33)
Die errechneten ›relativen Werte‹ der Beckenmaße erscheinen nun für die beiden ›nordostsibirischen‹ Gruppen und die anderen ›Frauen‹ (wiederum bis auf eine Ausnahme) als »fast gleich« – sie umfassen Variationen zwischen 16 und 16,6, von 17,9 bis 18,6 und von 19,8 zu 20,4% (JochelsonBrodsky 1906: 33 und Tabelle 35).130 Dieses Mal also werden zahlenmäßige 130 Der Wert 19,22 für die ›Süd-Tungusinnen‹ wird von Jochelson-Brodsky als Ausnahme verstanden und außen vorgelassen.
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Differenzen nivelliert statt sie als Differenzen zu begreifen. Die Relativierung der absoluten Maße im Verhältnis zur Körperhöhe ermöglicht die Relativierung des Begriffs und der Konzeption des ›Normalen‹. Doch steht damit nicht ganz grundsätzlich die Normalitätskonzeption auf dem Spiel. So wird sie zum Beispiel im späteren Verlauf des Beitrags im Hinblick auf die relative Spannweite noch einmal aufgegriffen – doch diesmal erscheint eine Differenz von 0,5 Prozentpunkten gerade als Differenz erwähnenswert: »Die mittlere relative Spannweite der Jakutinnen (104) entspricht vollständig dem Werte für diese relative Größe, den Topinard und Deniker als normal bezeichnen. Etwas kleiner finden wir die relative Spannweite bei den TungusinnenJukagirinnen (103,5).« (Jochelson-Brodsky 1906: 42f)
Deutlich wird hier, wie unterschiedliche Wahrnehmungen von metrischen Differenzen ein Feld verschiedener Diskurspositionen eröffnen – ohne dass explizite oder methodologisch-theoretische Positionierungen notwendig sind. Das sind die Potentiale einer diskursiven Formation, die also keineswegs die in ihr Operierenden zwangsförmig dominiert, ihnen vorschreibt, was zu sagen ist, sondern immer auch verschiedene Optionen ermöglicht. Die dann ausgeführten Positionen sind mit Foucault als »diskursive Strategie« zu begreifen, deren Möglichkeiten im Diskurs selbst angelegt sind. Darüber hinaus war an Teumin und Jochelson-Brodsky zu ersehen, dass das Verhältnis von ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ in der physischen Anthropologie immer wieder verhandelt wird und dabei verschiedene Verflechtungen mit sich bringt: Von der rassifizierten ›sexuellen‹ Differenz, mit der Jochelson-Brodsky ›sexuelle‹ Differenzen nach ›Rassen‹ ausdifferenziert, über vergeschlechtlichte ›Rassedifferenzen‹ im Zuge der Überlappung onto- und phylogenetischer Perspektive, hin zur Trennung ›sexueller‹ und ›rassischer‹ Differenzen, in der beide unabhängig voneinander zu agieren scheinen. Auch innerhalb dieser Varianten zeigt sich jeweils die hohe Flexibilität und Polyvalenz physisch-anthropologischer Aussagen. Im folgenden Kapitel soll eine spezifische Ausformung der Verflechtungen von ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ – die anthropologische Konstitution der ›Juden‹ – in den Blick genommen werden.
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Anthropologische Konzeptionen des ›Juden‹ Die Figur des ›Juden‹ taucht bereits in der obigen Diskussion von Sara Teumins und Dina Jochelson-Brodskys Beiträgen auf, gerät aber auch in anderen Beiträgen des Archiv für Anthropologie explizit in den Blick. Da in der Forschung zur Konstitution des ›Juden‹ unter anderem auch von einer Kopplung von ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ die Rede ist, sollen im Folgenden einige Texte zur Anthropologie der ›Juden‹ im Archiv daraufhin untersucht und diskutiert werden, wie sie sich angesichts eines im historischen Kontext erstarkenden Antisemitismus positionieren.131 Im Hinblick auf die stereotype Konstitution des ›Juden‹ um 1900 zeigt Sander L. Gilman eindrücklich, wie diese mit Konzeptionen von Körperlichkeit und Sichtbarkeit verbunden ist. Im Zuge der »Macht des Bildes vom ›schwarzen Juden‹« wird der ›jüdische‹ Körper als »sichtbarer Körper« konzipiert (Gilman 1995: 170, 168). Darüber hinaus erscheint er als »beschädigter männlicher Körper« und als »veränderlicherKörper« (Gilman 1995: 171, 174). Christina von Braun verweist ebenfalls darauf, dass die antisemitischen Stereotype vom ›Juden‹ mit dem Körper verknüpft sind und in diesem Zusammenhang eng mit ›Weiblichkeit‹ konnotiert werden: »[S]ein Körper selbst gilt als ›falsch‹. Die Zuweisung von Weiblichkeitsbildern dient wiederum der Untermauerung der rassistischen Theorien von der ›anderen‹ Beschaffenheit des jüdischen Körpers. […] Im säkularen Diskurs des Antisemiten hingegen dienen die ›weiblichen Anteile‹, die dem Juden zugewiesen werden, als Beweis dafür, daß der ›Jude‹ – und damit die Sünde oder das ›böse Blut‹ – nicht dem Bereich des Imaginären angehört, sondern daß sie ›Fleisch‹ geworden sind.« (Braun 1995: 181)132
Im Hinblick auf die Geschichte der anthropologischen Beschäftigung mit den ›Juden‹ werden diese von Beginn an in physisch-anthropologischen Studien wie selbstverständlich als eigene Gruppe behandelt.133 Auch das 131 Vgl. zur historischen Situation um 1900 aus der Vielzahl an Studien: Heid 1995; Schildt 1995; für den russischen Kontext (die meisten anthropologischen Studien um 1900 beschäftigen sich mit Osteuropa bzw. stammen von osteuropäischen Forschern): Boysen 1999; zur Situation ›jüdischer‹ Akademiker in Deutschland und Österreich: Efron 2001: 234-264. 132 Zur ›Verweiblichung‹ der ›Juden‹ vgl. auch Hödl 1997 und Hödl 1998. Die Literaturwissenschaften und die Kunstgeschichte fokussieren Überschneidungen der Kategorien ›Jude‹ und ›Frau‹ in Literatur und Kunst, vgl. z.B. Uerlings 2002; Schmidt-Linsenhoff 2001. 133 Für genauere Ausführungen sei hier insbesondere auf die umfassende Darstellung bei Annegret Kiefer verwiesen (Kiefer 1991). Die medizinhistorische Arbeit zeichnet auf klare Weise die Argumentationsmuster und Kon-
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Archiv für Anthropologie ist hier involviert: Bereits in der ersten Ausgabe (1866) berichtet Hermann Welcker von seiner Untersuchung von 15 Schädeln von ›Juden‹ (Welcker 1882: 12). Doch ausführlich fokussiert werden die ›Juden‹ noch nicht. »Dies ändert sich nach 1880 fast schlagartig: die Anthropologie ›entdeckt‹ die Juden.«, so Annegret Kiefer (Kiefer 1991: 18). Während ›Juden‹ vorher eher wie zufällig oder als individuelle ›Exemplare‹ in den Blick zu geraten schienen, beginnen nun systematischere Identifizierungen an größeren Gruppen. Drei der wichtigsten Texte in diesem Zusammenhang sind im Archiv für Anthropologie erschienen – zwei davon allerdings vor dem hier berücksichtigten Untersuchungszeitraum: 1882 veröffentlichte Ludwig Stieda seinen »Beitrag zur Anthropologie der Juden«, in dem er anhand der Daten von 67 ›Juden‹ aus dem Gouvernement von Minsk zwei ›Schädeltypen‹ extrahiert und bereits – entgegen dem Stereotyp des ›Juden‹ – eine große Variabilität konstatiert (Stieda 1895: 362). In der von der Deutschen Gesellschaft für Anthropologie durchgeführten, von Rudolf Virchow geleiteten und 1866 im Archiv publizierten Studie zu Haar-, Augen- und Hautfarben der Schüler des Deutschen Reiches von 1874 bis 1884 (Virchow 1886) wurden die Daten getrennt nach ›Juden‹ und ›NichtJuden‹ erhoben. Virchow konstatierte (erstmals) einen für die Zeitgenossen überraschend großen Anteil blonder ›Juden‹.134 1895 schließlich findet sich hier Samuel Weissenbergs erste große Studie zur Anthropologie der ›südrussischen Juden‹ (Weissenberg 1895), die gleich ausführlich vorgestellt werden soll.135 John Efron kennzeichnet die anthropologische Beschäftigung ›jüdischer‹ Wissenschaftler mit ›Juden‹ – zu denen auch Weissenberg zu zählen wäre – als »an attempt at reversing the European gaze«: »In late-nineteenth- and early-twentieth-century Europe, access to knowledge allowed Jewish scientists to engage the dominant discourse about race and the socalled Jewish question as well as to mount a sustained campaign of self-defense, self-assertion, and ethnic identity building.« (Efron 1994: 3)
zepte der anthropologischen Beschäftigungen mit ›Juden‹ nach. Allerdings liegt ihr eine Unterteilung von Ideologie und Wissenschaft zu Grunde, die ich aus diskursanalytischer Perspektive nicht teile. Zur Anthropologie der ›Juden‹ vgl. außerdem Hödl 1997: 233-274; Efron 1994; Lilienthal 1993. 134 Vgl. hierzu die ausgezeichnete Analyse Christoph Geulens, der Virchows Studie im Hinblick auf Möglichkeiten antirassistischer Positionen um 1900 mit einem Projekt von Franz Boas vergleicht und dabei die jeweiligen Überkreuzungen von ›Rasse‹ und ›Kultur‹ in den Blick nimmt (Geulen 2000). 135 Neben diesen drei im Archiv publizierten Texten ist zudem noch eine Reihe von ›jüdischen‹ Anthropologen zu nennen, die sich mit der Anthropologie der Juden beschäftigten: u.a. Joseph Blechmanns durch Stieda betreute Dissertation (Blechmann 1882) und der Brite Joseph Jacobs (vgl. zu letzterem Efron 1994: 58-90).
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Auch wenn diese Beschreibung meines Erachtens etwas sehr optimistisch ausfällt – auf die ›double binds‹ dieser Anthropologien des ›Juden‹ komme ich im Zusammenhang mit Weissenberg noch zu sprechen –, so ist hier vor allem der wissenschaftliche Anspruch im Kontext der beginnenden zionistischen Bewegung (in Deutschland) formuliert, in der die (positiv bewertete) anthropologische ›Absonderung‹ des ›Juden‹ als Ausgangspunkt einer neu zu begründenden ›jüdischen‹ Identität dient.136 Doch betrachten wir im Folgenden die Studie Weissenbergs, um die Funktionsweisen, Ambivalenzen und Effekte dieses »reversing the gaze« exemplarisch genauer zu diskutieren. Im Anschluss an die Analyse dieser umfassenden Studie werden außerdem noch zwei spätere Untersuchungen anderer Autoren vorgestellt.
Weissenberg: »Die südrussischen Juden« Samuel Weissenberg hat im Archiv für Anthropologie mehrere Beiträge publiziert, deren ausführlichster und am stärksten Weg weisende hier nun analysiert werden soll (Weissenberg 1895; Weissenberg 1909; Weissenberg 1911a; Weissenberg 1915).137 Die Studie »Die südrussischen Juden« (Weissenberg 1895) positioniert sich mit ihrer ausführlichen Datenproduktion als ambivalenter Versuch, körperliche Differenzen als soziale und kulturelle zu fassen und das Bild des ›Juden‹ auszudifferenzieren, um damit antisemitischen Strömungen entgegenzutreten. In seiner Studie über die ›südrussischen Juden‹ entwirft Samuel Weissenberg ausgehend von umfangreichem, selbst erhobenem Datenmaterial eine Anthropologie der ›Juden‹. Im Vordergrund steht dabei zunächst eine Analyse des Wachstums des Menschen, die 1911 in das Buch »Das Wachstum des Menschen nach Alter, Rasse und Geschlecht« mündet (Weissenberg 1911b). Der Text tritt nicht allein als Anthropologie der ›Juden‹ an, sondern als allgemeiner Beitrag zur körperlichen Entwicklungsgeschichte des Menschen und behandelt in diesem Zusammenhang auch grundlegende methodologische Probleme der Anthropologie. Die Entwicklungsgeschichte des 136 Dass auch diese zionistischen Konzeptionen mit einer äußerst problematischen Differenzierung des ›Juden‹ in den vorbildhaften West- (›Sephardim‹) und den durch Hygienemaßnahmen erst zu erhebenden Ost-›Juden‹ (›Aschkenasim‹) einhergehen, führt Klaus Hödl provokativ aus (Hödl 1996; vgl. a. Efron 1993). 137 Auf Weissenbergs umfangreiche Forschungen zur Geschichte der ›Juden‹ – zu denen die drei letztgenannten kürzeren Beiträge zu zählen sind – wird hier nicht genauer eingegangen. Es sei in diesem Zusammenhang auf die ausführlichen Studien bei Annegret Kiefer und John M. Efron verwiesen (Kiefer 1991: 39-52; Efron 1994: 91-122).
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Körperwachstums wird an ›südrussischen Juden‹ exemplifiziert, die hier nicht als Sonderfall, sondern als Normalfall gelten. Gleichzeitig werden ihre Daten immer mit denen von anderen Gruppen – hier den ›Belgiern‹, ›Engländern‹ und anderen ›Juden‹ – verglichen, doch werden ›Juden‹ dabei nicht als besonders ›eigentümliche‹ Gruppe herauspräpariert.
Profilierung des statistisch-empirischen Zugangs Weissenberg profiliert seinen und andere empirische Ansätze der ›Massenuntersuchungen‹ deutlich gegen Quételet, der als Mathematiker als erster umfassende Messungen von Körpern verschiedener Altersstufen – so auch von Neugeborenen – vorgenommen und aus diesen Daten mathematische Wachstumsgesetze herausgearbeitet hat (Weissenberg 1895: insbes. 393-401; Quételet 1870). Die entworfenen Gesetze Quételets machen – so Weissenberg – das Wachstum als »eine regelmässige Curve darstellbar«: »[D]ie jährliche Wachstumscurve [zeige] einen regelmässigen Verlauf« (Weissenberg 1895: 393). Doch gerade diese Regelmäßigkeit der Kurve steht in Frage, denn nach den neueren Datenerhebungen sei »das Wachstum eigentlich kein regelmässiges« (Weissenberg 1895: 394), sondern weise diverse »Perturbationen« auf (Weissenberg 1895: 367). Visualisiert wird diese Differenz an Kurven des ›Jahreszuwachses‹, die bei Weissenberg sehr gezackt sind, bei Quételet hingegen leicht hügelig abfallen – Weissenberg zeichnet Quételets Kurve zum Vergleich in seine Kurvenanordnungen ein (Abb. 15). So wird Quételets methodisches Vorgehen und seine Ableitung von mathematischen Gesetzen einer Kritik unterzogen, die ihm »einen bedeutenden Fehler« unterstellt, denn er habe eine »vorgefasste[…] Idee der mathematischen Regelmässigkeit der Entwickelung« auf seine Daten angewandt (Weissenberg 1895: 394). Dieses ›Vor-Urteil‹ erscheint aus metrisch-objektiver Perspektive als starrer mathematischer Rahmen: »Er [Quételet] bannte den Menschen in den starren Rahmen der Mathematik.« (Weissenberg 1895: 354) Dem stellt Weissenberg die anthropologische ›Massenuntersuchung‹ gegenüber: »Quételet operirte an einer kleinen Zahl ausgewählter Individuen und putzte noch dazu nach einer im Voraus bestimmten Richtung die gewonnenen Resultate, während es eben Massenuntersuchungen sind, die seinen Fehler klarlegten.« (Weissenberg 1895: 395)138 Was Quételet als Mathematiker und als einer der Vorreiter der metrischen Anthropologie 1870 noch unproblematisch erschien – Vorauswahl 138 Allerdings gibt es – wie mehrfach erwähnt – keine durchgängige Einigung über die Mindestanzahl zu vermessender Personen. Das hier genannte Prinzip von ›Massenuntersuchungen‹ steht vielmehr für den metrisch-statistischen Zugang der Jahrhundertwende.
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Abb. 15: Wachstumskurven (Weissenberg 1895: 367) von »nur ›regelmäßig‹ gebaute[n], d.h. seinem Ideale entsprechenden Individuen« (Weissenberg 1895: 354),139 kleine Anzahl von Vermessenen und metrische Glättung der Ergebnisse – scheint aus positivistischer Perspektive nun undenkbar. Dem Selbstverständnis metrisch-mechanischer Anthropologie des Jahrhundert-Endes unterliegen mittlerweile ›Massenuntersuchungen‹ und ›unbereinigte‹ Daten. Quételets Arbeit wird nur noch in historischer Hinsicht gewürdigt: »Quételet hat aber das Verdienst, die Anthropometrie auf eine breite Basis gestellt, ihr neue Wege und Aufgaben geöffnet und ihr neue Methoden in die Hand gegeben zu haben; im 139 An anderer Stelle rückt Weissenberg dieses Vorgehen in die Nähe »mehr der Aesthetik als der Wahrheit« (Weissenberg 1895: 404).
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Uebrigen haben seine Arbeiten nur einen historischen Werth.« (Weissenberg 1895: 354) Auch wenn die Daten Quételets grundsätzlich in Frage stehen, so werden sie gleichzeitig dennoch als Vergleichsdaten verwendet – manchmal um die von Quételet entwickelten Regeln zu widerlegen, manchmal als Folie, um vor ihrem Hintergrund zum Beispiel antisemitische Stereotypen zu widerlegen, manchmal aber auch schlicht, weil Weissenberg andere Daten zum Vergleich bzw. zur Kontrolle fehlen.140
›Kultur‹ und ›Natur‹ Im Hinblick auf die anthropologische Identifizierung des ›(südrussischen) jüdischen‹ Körpers wendet sich Weissenberg explizit gegen zeitgenössische antisemitische Strömungen. Dabei bewegt sich sein Ansatz in einem paradoxen Feld: Einerseits unternimmt er Datenerhebungen, »um den mittleren Juden allseitig zu charakterisieren« (Weissenberg 1895: 401), also eine Anthropologie des ›Juden‹ zu entwerfen. Andererseits jedoch betont Weissenberg die fehlenden Differenzen zu anderen ›europäischen Völkern‹: »Auch haben wir […] überall wo es möglich war, die Entwickelung der Juden mit derjenigen anderer Völker verglichen, welcher Vergleich uns eine vollkommene Uebereinstimmung in der Entwickelung der in Rede gestandenen Völker zeigte. Da wo sich Abweichungen herausstellten, wie z.B. bei dem Brustumfang und der Körperkraft, waren es nicht die Rasseneinflüsse, sondern schädliche Einwirkungen äusserer Umstände, die zu einer abweichenden Entwickelung geführt haben. Und so glaube ich mich berechtigt, zu sagen, dass der Entwickelungsgang der südrussischen Juden im Großen und Ganzen mit demjenigen der europäischen Völker übereinstimme.« (Weissenberg 1895: 401)
In den ›äußeren Umständen‹ ist Weissenbergs Ansatz angesprochen, körperliche Differenzen auf soziale Verhältnisse zurückzuführen, die eine Distanzierung von biologisch-ontologischen ›Rasse‹-Konzeptionen der physischen Anthropologie ermöglicht. Vor diesem Hintergrund ist auch Weissenbergs Positionierung im Hinblick auf den Streit von Polygenisten und Monogenisten zu sehen: »Die Ehre, diesen Streit beigelegt zu haben, gebührt hauptsächlich der Anthropometrie. Es wurde nachgewiesen, dass die Verschiedenheiten in den Körperproportionen der verschiedenen Rassen gar nicht so gross sind, um dieselben als 140 So z.B. bei den Extremitäten, wo Weissenberg seine Daten nur mit jenen von Quételet abgleichen kann, allerdings mit dem wiederum dezidierten Hinweis auf die Differenz: »Beide fallen aber nicht zusammen, da Quételet auch für die Extremitäten, wie für den Körper überhaupt, eine gleichmäßige curvenartige Entwickelung angiebt.« (Weissenberg 1895: 383)
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verschiedene Arten aufzufassen, und dass die vom allgemeinen Schema abweichenden Formen entweder Kummer- oder pathologische Bildungen sind. Auf Grund des gesammelten Materials konnte gezeigt werden, dass die Schwankungen in den Körperproportionen bei verschiedenen Ständen eines und desselben Volkes grösser sind als bei verschiedenen Völkern.« (Weissenberg 1895: 349)
Hier treffen wir auf ein Diskursmuster, das im Zuge der Genomforschung von den 1950er Jahren bis heute als Argument gegen die Kategorie ›Rasse‹ eingesetzt wird. Die Perspektive, dass die Variationen innerhalb einer Bevölkerungsgruppe größer sind als jene zwischen zwei Gruppen, womit einer ›rassischen‹ Fundierung von Differenzen widersprochen wird, ist also keineswegs eine ›Entdeckung‹, die erst durch die Molekularbiologie ermög licht wurde. Als Diskursposition ist sie – wie hier deutlich wird – um 1900 durchaus auch innerhalb der physischen Anthropologie gegen dort formulierte ontologische ›Rasse‹-Konzeptionen möglich. Neben der Negation polygenetischer Konzeptionen wendet sich Weissenberg aber auch gegen die Annahme einer biologischen Fortschrittskategorisierung von niedrigen zu höheren Formen, wie in der physischen Anthropologie oft formuliert:141 »Die Menschenrassen sind weder selbstständige, an verschiedenen Punkten ent standene Arten, noch bilden sie eine geschlossene, von einer relativ niedrigen zu einer relativ höheren Form aufsteigende Reihe. Wilde Menschen gibt es nur in Beziehung auf den Culturstand, nicht aber auf die Formbildung. Das Dogma von der Einheit des Menschengeschlechtes findet zum Wohle der Menschheit (die amerikanischen Sclavenbesitzer stützten sich eine Zeit lang, wie bekannt, auf die wissenschaftliche Doctrin der Polygenisten) schon Eingang in das Laien publicum.« (Weissenberg 1895: 349)
Eine biologische Hierarchisierung wird auf diese Weise in eine kulturelle Hierarchisierung überführt. Von der in der Anthropologie üblichen Biologisierung von Differenz wird das Gewicht hin zu kulturellen und sozialen Faktoren verschoben – allerdings wird damit eine universalisierte, europäisch-aufklärerische Fortschrittskonzeption (vgl. hierzu Seier 2000) aufgerufen. Gleichzeitig verweist Weissenberg dabei am Rande auch auf politische Implikationen und Anknüpfungspunkte polygenetischer und monogenetischer Diskurspositionen. Diese Fokussierung kultureller und sozialer Zusammenhänge kennzeichnet auch Weissenbergs argumentativen Umgang mit in »äusseren Umständen« begründeten körperlichen Differenzen (Weissenberg 1895: 368). An äußeren Einflüssen auf die Körperproportionen macht Weissenberg verschiedene Faktoren aus, doch hebt er jenen der Beschäftigung beson141 Vgl. zu dieser Argumentationsweise Hanke 2000a: 209-216.
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ders hervor: Sie bestimme den täglichen Einsatz von Muskulatur, was wiederum befördernden bzw. hemmenden Einfluss auf die Ausprägung des Körpers habe (Weissenberg 1895: 413-417).142 Diese Konfiguration ermöglicht die Verortung der Ursache körperlicher Differenzen in sozialen Zusammenhängen und die Fokussierung von körperlichen Merkmalen als erworbenen statt als angeborenen (Weissenberg 1895: 352). Weissenberg bringt außerdem die Hygiene der Lebensumstände mit ins Spiel: gute Nahrung und reine Luft; moniert wird außerdem »die antihygienische Ausrichtung der jüdischen Volksschule« (Weissenberg 1895: 389). Mit diesen Formulierungen situiert sich Weissenbergs Ansatz im Diskurs der modernen Hygiene des 19. Jahrhunderts.143 Betrachten wir exemplarisch, auf welche Weise bei Weissenberg äußere, also soziale Umstände aufgerufen werden.144 Nach einer internen Differenzierung der von Weissenberg vermessen ›Juden‹ vergleicht er sie mit den ›Belgier‹-Daten Quételets – die er nebeneinander in einer Tabelle präsentiert – und entkräftet das antisemitische Stereotyp: »Dass dieselben [die von Weissenberg vermessenen Juden; C.H.], was den Brustumfang anbelangt, sich nur wenig von den Belgiern unterscheiden, zeigt zur Evidenz die Tabelle IV. Auch weisen die jüdischen und russischen Schüler in dieser Beziehung keinen nennenswerthen Unterschied auf: beider Brustumfang ist bedeutend vermindert in Folge der gleichen schädlichen Einwirkungen der Schule. Die Enge der Brust der Juden als ein Rassenmerkmal derselben scheint in das Reich der Fabel zu gehören. Ich will nicht leugnen, dass der Brustumfang der Juden in manchen Gegenden viel tiefer steht, als derjenige der übrigen Bevölkerung; es sind aber immer äussere ungünstige Verhältnisse, die ihn herabsetzen (siehe Körperproportionen der Erwachsenen).« (Weissenberg 1895: 374)
In Weissenbergs Einsatz der – zuvor wegen der Vor-Auswahl nach Idealitäts-Maßstäben als unbrauchbar bewerteten – Daten Quételets geraten die von ihm vermessenen ›Juden‹ in ihrem Brustumfang in die Nähe der Daten 142 Ausgangspunkt dieser physiologischen Konzeption ist »das allgemeine physiologische Wachstumsgesetz«, nach dem jeweils jene Organe stärker wachsen, die stärker beansprucht und deswegen stärker ernährt werden (Weissenberg 1895: 350). Die physiologische Perspektive spielt im Archiv für Anthropologie kaum eine Rolle. Zum physiologischen Diskurs vgl. Sarasin/Tanner 1998. 143 Zur Hygienebewegung vergleiche Philipp Sarasins Diskursgeschichte der Hygiene (Sarasin 2001a). Im Umfeld dieser Hygienebewegung ist zudem die Freikörper- und Turnsportkultur zu verorten, die auch von zionistischer Seite vorangetrieben wurde (vgl. Hödl 1996). Zur Hygienebewegung im Kontext der Konstruktion eines ›modernen‹ und ›westlichen‹ Israel vgl. Hirsch 2002. 144 Weissenbergs Daten waren bereits nach verschiedenen Wohlstandsgruppen und Berufen untergliedert worden (Weissenberg 1895: 360f).
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der ›Belgier‹. Mit diesem Vergleich tritt Weissenberg gegen die Konzeption ›mangelnder jüdischer Wehrtauglichkeit‹ an. Für die von ihm erhobenen Daten ›südrussischer Juden‹ stellt er fest, dass sie sogar »das gewünschte Maass [der Brustumfang darf nach Militärnorm nicht weniger als die Hälfte der Körpergröße betragen; C.H.] noch etwas überschreiten«, was aber – entsprechend einer von ihm zusammengestellten tabellarischen Anordnung – nicht auf alle Gruppen zutreffe: »[N]ach dieser Tabelle haben wir einerseits im Süden und Norden Juden mit verhältnismässig guter Brust und andererseits im Centrum solche mit einem unter der Norm stehenden Brustumfang. Es lassen sich also überhaupt keine allgemein gültigen Schlüsse ziehen, jedenfalls ist die Behauptung von der absoluten Untauglichkeit der Juden zum Militärdienst falsch. Die schlechte Entwickelung der Brust der Juden in einem grossen Theile Russlands sowie in Galizien ist nach den vorstehenden Zahlen eine Thatsache, die man nicht leugnen kann. Die Ursache liegt aber nicht in der Rasse, sondern sie ist in den schlechten, ja, nach den neueren Schilderungen zu urtheilen, schrecklichen socialen und ökonomischen Zuständen, in dem unbeschreiblichen Elend und Schmutz der Juden dieser Provinzen zu suchen. Davon ausgehend, dass die Juden nach dem 20. Lebensjahre noch an Brustumfang zunehmen, schlägt Blechmann vor, dieselben erst nach zurückgelegtem 23. Lebensjahre zum Militär zu berufen. Ich glaube aber, dass die gute militärische Kost und der militärische Drill die Körperentwickelung der Juden viel schneller als das Alter zu bessern im Stande sind, und möchte von diesem Standpunkte aus das von den Juden in Russland bei der Aushebung verlangte Mindermaass an Brustumfang rechtfertigen.« (Weissenberg 1895: 374f)
Weissenberg weist mit dem Hinweis auf soziale Zusammenhänge die von Joseph Bechmann vorgeschlagene variable Abstufung der (fixen) Normen (des Militärs) für die ›Juden‹ ab. An anderer Stelle präsentiert er zudem »sich theilweise widersprechende Resultate« zum Brustumfang, aus denen er auf eine Veränderlichkeit dieses Merkmals schließt: »Diese Veränderlichkeit giebt uns das Recht, zu vermuthen, dass die Engbrüstigkeit der Juden kein contantes Rassenmerkmal, sondern eine zufällige, erworbene Besonderheit ist.« (Weissenberg 1895: 405) Weissenberg unternimmt darüber hinaus auch eine Charakterisierung der ›südrussischen Juden‹, in der diese durchaus von ›europäischen‹ Körpern unterschieden werden, die Differenzen aber durchgängig auf soziale statt auf ›rassische‹ Faktoren zurückgeführt werden (zusammengefasst in Weissenberg 1895: 410 und 549). Weissenberg bezieht sich in diesem Zusammenhang ausführlich auf Johannes Ranke,145 der in seiner Publikation »Der Mensch« (Ranke 1894) bereits externe Gründe für die Proportionen des Körpers ausgemacht hatte (vgl. Weissenberg 1895: 411f). In diesem Kontext präsentiert Ranke zwei ›Typen‹, deren Körperproportionen sich aufgrund 145 Johannes Ranke ist Herausgeber des Archiv für Anthropologie.
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ihrer unterschiedlichen Muskelbeanspruchung unterscheiden: den »mechanisch allseitig durchgebildeten« und jenen, der »für mechanisch nicht arbeitende Leute charakteristisch ist« (Weissenberg 1895: 412). Rankes Position ist dabei im Kontext der um 1900 stattfindenden Debatten um eine ›Kulturkrise‹ zu situieren146 und spricht der ›Kultur‹ einen weit reichenden Einfluss auf die Ausbildung des Körpers zu: »Ranke nennt deshalb den zweiten, entwickelungsgeschichtlich niedrigeren Typus die Culturform des Menschenkörpers und schreibt der Cultur in dieser einen Beziehung (Ausbleiben der mechanischen Durcharbeitung in Folge von socialen Classenunterschieden und Maschinenarbeit) einen hemmenden Einfluss auf die volle Ausbildung der typisch-menschlichen Entwickelung zu. Mit diesem Schlüssel gelingt es Ranke, die Verschiedenheiten in den Körperproportionen der einzelnen Stände, sowie auch ganzer Völker leicht zu erklären.« (Weissenberg 1895: 412)
Vor dieser Folie spitzt Weissenberg seine Überführung ›rassisch‹ konnotierter Merkmale in ›kulturelle‹/soziale Merkmale zu: »Kehren wir nach diesem längeren Excurs, den zu machen ich der Wichtigkeit der Körperproportionen und ihrer Missdeutung wegen für nöthig hielt, wieder zu den Juden zurück, so wird es uns jetzt ein leichtes sein, ihre vom allgemeinen europäischen Typus abweichenden Körperproportionen zu begreifen. Die Juden gehören mit ihren kurzen Armen, kurzen Beinen und langem Rumpf zu der Culturform, was durch die geringe Verbreitung unter ihnen solcher Gewerbe, die grosse Muskelkraft voraussetzen, und durch das Ueberwiegen solcher, die viel geistige Arbeit verbunden mit sitzender Lebensweise fordern, genügend erklärt wird. Und so ist das anfangs ethnische Problem in ein sociales überführt worden. Die Körperproportionen sind in letzter Instanz nicht die Folge innerer Rasseneinflüsse, sondern äusserer Umstände.« (Weisenberg 1895: 413)
Was also im ›Kulturkrisen‹-Diskurs als negative Kritik ›Degeneration im Kulturfortschritt‹ gilt, trägt bei Weissenberg gerade zur Entbiologisierung des ›Juden‹ und zur sozialen Erklärung seiner körperlichen Erscheinungsform bei. Doch wird das Stereotyp des Juden dadurch nicht prinzipiell unterwandert, sondern letztendlich nur ›kulturell‹/sozial statt ›rassisch‹ erklärt.
Ausdifferenzierungen ›des Juden‹ Kommen wir nun zu Weissenbergs Ausdifferenzierung ›des Juden‹. In seinem Schlusskapitel »Die Juden als Rasse« (Weissenberg 1895: 561-579) 146 Zum Diskurs um die ›Krise der Kultur‹ um 1900 vgl. Bublitz/Hanke/Seier 2000.
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greift Weissenberg die Frage nach der Unveränderlichkeit des ›jüdischen Typs‹ und die Konzeptionen zweier ›jüdischer Typen‹ (›Sephardim‹ und ›Aschkenasim‹) auf und entwirft dagegen die »selbstständige Meinung […] dass die Juden (speciell die südrussischen) aus mehreren anthropologisch verschiedenen Typen zusammengesetzt sind« (Weissenberg 1895: 566). Zunächst fokussiert er die »auffallendsten Merkmale« Farben, Kopf-Index, Nasenform und Behaarung, um »nachzuweisen, dass dieselben nicht homogen sind, sondern sich in verschiedenen Formen auflösen« (Weissenberg 1895: 568). Im Anschluss daran unternimmt er, »nach der Gesammtheit der Formen der Gesichtstheile und der Farben diejenigen Typen herauszufinden und zu charakterisieren, die als integrirende Elemente der heutigen osteuropäischen Juden betrachtet werden können« (Weissenberg 1895: 568). Theoretische Grundlage für diese Suche nach den Elementen ist die – als aktueller Stand der Wissenschaft gekennzeichnete – Position, dass eine »Typenmehrheit unter einem Volke nur auf stattgefundene Mischung zurückzuführen« ist (Weissenberg 1895: 576). Ähnlich wie in der Konzeption der ›Kubu‹ als ›Mischrasse‹ bei Volz geht Weissenberg bei den ›osteuropäischen Juden‹ davon aus, dass sie »nicht rein, sondern stark gemischt sind« (Weissenberg 1895: 576). Die »einzelnen Bestandtheile« (Weissenberg 1895: 576) werden nun aber nicht, wie bei Volz, auf mathematisch-statistische Weise als jeweils ›typische‹ Einzelmaße herausdestilliert. In der Vorgehensweise Weissenbergs werden vielmehr verschiedene ›typische Gesichter‹, die nach dem Augenschein identifiziert werden, als die verschiedenen sich integrierenden Bestandteile dargeboten. Die Charakterisierungen werden durch die Benennungen der ›Typen‹ und durch jeweils medaillonförmige Portrait-Fotografien von ein bis zwei Personen vorgenommen, die – jedoch nicht in allen Fällen – von einer kurzen Beschreibung begleitet werden (Weissenberg 1895: 568-573). Der so genannte »grobe jüdische Typus« wird zum Beispiel wie folgt charakterisiert: »Dieser Typus zeichnet sich hauptsächlich durch die im Ganzen grosse und dicke Nase und die wulstig aufgeworfenen Lippen aus. Der Nasenrücken ist stark gekrümmt, die Spitze nach unten gebogen. Die Formen sind im Allgemeinen wenig edel, sogar abstossend. Es ist der Typus, der am häufigsten in den Witzblättern und am seltensten unter den Juden, wenigstens unter den südrussischen, zu finden ist. Es gelang mir leider nicht, Bilder von prägnanten Vertretern dieses Typus zu bekommen. Die Photographien I und IX geben uns eine schwache Vorstellung von denselben, und zwar sind die Besonderheiten dieses Typus am weiblichen Bilde deutlicher als am männlichen ausgeprägt.« (Weissenberg 1895: 568)
Diese Beschreibung ist höchst ambivalent: Zwar wird die antisemitische abwertende Vorstellung des ›Juden‹ als ein Klischee gekennzeichnet, gleichzeitig jedoch als ein möglicher ›Typus‹ wiederholt. Bezeichnenderweise räumt Weissenberg ein, keine »Bilder von prägnanten Vertretern dieses
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Typus« bekommen zu haben – dennoch wird das Visualisierungsbegehren nicht ausgesetzt, sondern dieser ›stereotype Typus‹ wird – wenn auch mit »schwache[r] Vorstellung« – zu bebildern versucht.147 Für den »feine[n] jüdischen Typus« heißt es dagegen: »Es giebt Gesichter, die man auf den ersten Blick als jüdische erkennen kann und wenn sie auch in allerfremdester Tracht erscheinen. Und dennoch zeigen dieselben keine in die Augen springenden, schreienden Eigenthümlichkeiten. Das Gesicht ist im Allgemeinen schön, die Gesichtszüge sind edel, die Gesichtstheile fein proportionirt. Es sind Physiognomien, die ein Künstler mit nur ein paar Strichen kenntlich machen kann, zu deren Definition und Beschreibung aber die Mittel der heutigen Anthropologie nicht ausreichen.« (Weissenberg 1895: 569)148
Hierzu werden drei Photographien abgebildet: jeweils ein frontales Portrait eines ›Mannes‹ und einer ›Frau‹ und eine Profilansicht der ›Frau‹ (Abb 16). Auch wenn Weissenberg von der Seltenheit des »groben jüdischen Typus« ausgeht, so wird doch in der Gegenüberstellung beider Beschreibungen eine klare Favorisierung mittels ästhetischer Wertungen deutlich. Die Betonung, dass der »feine jüdische Typus« auf den ersten Blick erkannt werden kann, steht in deutlichem Widerspruch zu Weissenbergs Ausführungen, die sich gegen eine anthropologische Erkennbarkeit des ›Juden‹ richteten – auch die ausnehmend positive Zeichnung dieses ›Typus‹ und die konstatierte Unmöglichkeit einer korrekten anthropologischen Identifizierung hebt das nicht auf. Tritt Weissenberg zwar mit seiner Anthropologie der ›(südrussischen) Juden‹ gegen eine antisemitisch besetzte Differenz von ›Juden‹ und ›Nicht-Juden‹ an, so ist doch fraglich, ob er nicht in diesen Kurzcharakterisierungen einer augenscheinlichen Identifizierung ›auf den ersten Blick‹ und unter Heranziehung ästhetischer Kriterien wieder Tür und Tor öffnet – zumal er die ›einzelnen Bestandteile‹ der ›stark gemischten osteuropäischen Juden‹ durch Fotografien einzelner Individuen repräsentiert.149 Fraglich erscheint mir, ob die Vervielfältigung ›des Juden‹ in viele verschiedene, dann 147 Auch hier wird die Typisierung »am weiblichen Bilde deutlicher«! Auf das Visualisierungsbegehren der physischen Anthropologie komme ich im zweiten Abschnitt zurück. 148 Hier zeichnet sich eine Favorisierung ästhetischer Identifizierungsweisen ab (vgl. hierzu S. 153-165). 149 Diese Hinwendung zum Augenschein, in der die ›typischen Gesichter‹ mit Fotografien visualisiert werden, erscheint bemerkenswert, denn Weissenberg hatte einige Seiten vorher von einem Experiment berichtet, in dem er zwei Testpersonen Fotografien von ›Russen‹ und ›Juden‹ vorgelegt hatte, mit der Aufgabe diese jeweils richtig zuzuordnen. Die vorgenommenen richtigen augenscheinlichen Identifizierungen hatte er dabei als eher gering eingeschätzt (Weissenberg 1895: 563f).
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Abb. 16: Fotografien ›jüdischer Typen‹ (Weissenberg 1895: 569) aber doch wieder stärker fixierte Typisierungen150 die diskursive Macht hat, antisemitische Stereotypisierungen wirksam zu bekämpfen. Vielleicht muss im Hinblick auf ›pro-jüdische‹ Anthropologien ein grundsätzlicher Zwiespalt angemerkt werden: Sobald mittels anthropologischer Verfahren neue Identifizierungen vorgenommen werden, mit denen anti-semitische Stereo 150 Weissenberg charakterisiert noch fünf weitere ›Haupttypen‹, die in die Körperform der ›(südrussischen) Juden‹ einfließen sollen: der »slavische«, der »südeuropäische«, der »nordeuropäische«, der »allgemein kaukasische« und der »mongoloide Typus« (Weissenberg 1895: 569-573).
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type widerlegt werden sollen, droht gleichzeitig immer auch eine erneute Festschreibung. Doch geht es Weissenberg nicht so sehr um eine eindeutige Fixierung verschiedener ›Typen‹, die das Aussehen des zeitgenössischen ›russischen Juden‹ bestimmen. Vielmehr könnten die groben Typisierungen auch als ›Arbeitsinstrumente‹ verstanden werden für das von Weissenberg über alle Jahre seiner weiteren Forschungen verfolgte Ziel, nämlich einer anthropologischen Geschichtsschreibung der ›Juden‹ und der Suche nach ihrem »Urtypus« und dessen Veränderungen und Mischungen im Laufe seiner Wanderungen (Weissenberg 1895: 574; vgl. Weissenberg 1909; 1911a; 1915). Andererseits charakterisiert Weissenberg im Laufe dieses Textes, aber auch in späteren Texten immer wieder den ›jüdischen Typus‹. »Obgleich die Juden ein Conglomerat von mehreren Typen darstellen, so se hen wir doch einen hervortreten, der die übrigen beherrscht und der die ganze osteuropäische Judenschaft als eine im Gesammten anthropologisch mehr oder weniger einheitliche Masse erscheinen lässt. Dieser Typus wird durch die Mittelzahlen, die die feineren Einzelheiten verwischen und nur das quantitative stärkere Element hervortreten lassen, repräsentirt.« (Weissenberg 1895: 574)
In dieser bemerkenswerten Konfiguration wird der metrisch-statistischen Identifizierungsweise die Herausbildung eines ›Typus‹ zugesprochen – während der Augenschein noch sieben ›Haupttypen‹ differenzierte. Doch scheint es gerade jener einebnende Effekt einfacher Mittelwerte zu sein, an dem sich Weissenberg im weiteren Verlauf seiner Arbeiten orientiert.151
Weissenbergs Einsatz der Kategorie ›Geschlecht‹ Trotz der bereits formulierten Ambivalenzen tritt Weissenberg explizit gegen antisemitische Stereotypisierungen an – ›geschlechtsspezifische‹ Typisierungen hingegen werden nicht aufgebrochen. Weissenberg hebt explizit hervor, dass sich die Anthropologie mit beiden ›Geschlechtern‹ zu beschäf151 Vgl. zum Beispiel in seinem Buch von 1911: »Was mich eben die Juden vorziehen ließ, ist der Umstand, daß sie nach Rasse und Beschäftigung unter allen europäischen Völkern am einheitlichsten aufgebaut sind, was für anthropometrische Untersuchungen doch einen gewissen unabwendbaren Vorzug bietet.« (Weissenberg 1911b: 8) Auch Kiefer verweist in ihren medizinhistorischen Ausführungen auf eine Diskrepanz zwischen der bei Weissenberg immer wieder konstatierten Einheitlichkeit des ›jüdischen Typus‹ und den Heterogenitäten in den von ihm präsentierten Daten. Zudem merkt sie an, dass sich um 1900 bei Glück und Jacobs/Spielman auch Positionen finden, welche die populäre anthropologische Differenz zwischen ›Aschkenasim‹ und ›Sephardim‹ gerade negieren (Kiefer 1990: 45-47 und 177, Fußnote 122).
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tigen habe: »Die Anthropometrie hat beide Geschlechter zu berücksichtigen, sie muss mit dem Neugeborenen anfangen und seine allmälige Entwickelung zum Erwachsenen von Stufe zu Stufe verfolgen.« (Weissenberg 1895: 350) Doch unternimmt er die oben beschriebenen Identifizierungen an ›männlichen‹ Körpern, und präsentiert seine Messungen an ›Frauen‹ in einem eigenen Kapitel »Die Geschlechtseigenthümlichkeiten der körperlichen Entwickelung« (Weissenberg 1895: 417-423). An dieser Betitelung ist der Sonderstatus der ›Frau‹ bereits zu erahnen, denn die Berücksichtigung von ›Frauen‹ scheint hier nur zur Erfassung des ›Geschlechtseinflusses‹ auf die Maße erforderlich zu sein. »Auch ist auf den Einfluss des Geschlechtes auf die körperliche Entwickelung mehr zu achten, und die Entstehung der weiblichen Eigentümlichkeiten, die ihrer seits die ganze Rasse beeinflussen können, bleibt noch zu erklären.« (Weissenberg 1895: 350)
Weissenberg interessieren also die »weiblichen Eigenthümlichkeiten« – wobei die ›Frau‹ wieder zum Besonderen wird. »Um den Einfluss des Geschlechts auf die Körperentwickelung festzustellen und um die Besonderheiten an Bau und Leistungen des weiblichen Körpers zu studiren«, hat Weissenberg Messungen an ›Frauen‹ ausgeführt (Weissenberg 1895: 360). Auf diese Weise erscheint auch hier die ›Frau‹ als Sonderfall – während der ›Mann‹ das Normale, Allgemeine darzustellen scheint. Die allgemeinen ›Rasse‹-Daten werden an ›Männern‹ erhoben, während die ›Frau‹ das ›Geschlecht‹ repräsentiert – damit geht Weissenberg wie andere Anthropologen konform mit der im 19. Jahrhundert verbreiteten diskursiven Konzeption der ›Frau als Geschlechtswesen‹, die um die Jahrhundertwende allerdings – wie ausgeführt – zu bröckeln beginnt.152 Doch in der physischen Anthropologie auf etwaige ›geschlechtliche Eigentümlichkeiten des Mannes‹ zu treffen, geschieht allenfalls in Beiträgen zu ›pathologischen‹ Bildungen z.B. mehrfacher Brustwarzen (Hennig 1891; Evelt 1891/92). Diese Konzeption wird auch in metrischer Hinsicht umgesetzt: Neben der Präsentation der absoluten Maße und Angabe der Differenzen zu den ›Männerdaten‹ werden die ›Frauenmaße‹ an jenen der ›Männer‹ orientiert: Das entsprechende ›männliche‹ Maß wird als 100 gesetzt, und das ›weibliche‹ Maß im Verhältnis dazu berechnet (Weissenberg 1895: 422 und 553).153 Dies führt 152 Vgl. hierzu S. 63-66. 153 In seinem 1911 erschienenen Buch zum Wachstum des menschlichen Körpers gesteht Weissenberg für den hier analysierten Text ein, dass es ihm »damals unmöglich [war], auch das weibliche Geschlecht in den Bereich meiner Studien in genügender Weise hineinzuziehen« (Weissenberg 1911b: 2). Doch am systematischen Stellenwert von ›Weiblichkeit‹ und ›Geschlecht‹
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dann zu Formulierungen wie etwa: »Die Körpergrösse des Weibes beträgt nur 93 Proc. der männlichen.« (Weissenberg 1895: 553) Im Hinblick auf den Entwicklungsgang des ›weiblichen‹ Körpers hebt Weissenberg eine Beobachtung besonders – nämlich als ›Überraschung‹ – hervor: »Vergleichen wir das Wachsthum des Weibes mit demjenigen des Mannes, so stellt sich, allen Erwartungen entgegen, die überraschende Thatsache heraus, dass das Weib während der fünfjährigen Periode vom 11. bis zum 15. Lebensjahre deutlich grösser ist als der Mann, während es vor dieser Zeit etwas kleiner und nach ihr bedeutend kleiner ist als der letztere.« (Weissenberg 1895: 417)
Hier wird Quételet These, dass »die Frauen immer kleiner sind als die Männer«, dezidiert gebrochen (Weissenberg 1895: 417). Dennoch bleibt die These, »dass die Frau im Allgemeinen kleiner, leichter und bedeutend schwächer ist als der Mann«, bestehen (Weissenberg 1895: 422). Nach kurzem Abriss zur Hubkraft stützt Weissenberg zudem ein vertraute Vorstellung in physiologischer Perspektive: »Aus diesem Gesichtspunkte ist also die Zurechnung des Weibes zum schwächeren Geschlecht vollkommen gerechtfertigt.« (Weissenberg 1895: 422) Im gesonderten Kapitel zu den Kopf- und Gesichtsmaßen der ›Jüdinnen‹ (Weissenberg 1895: 550-554) finden sich ästhetisierende Beschreibungen wie »Der Mund war im Allgemeinen schön und regelmässig« und die Rede von der »grössere[n] Feinheit und Regelmässigkeit der Conturen«, wie sie für die Identifizierung von ›Frauen‹ stereotyp in Anschlag gebracht werden (Weissenberg 1895: 422). Während bei den Farben des Körpers ein fehlender Einfluss von ›Geschlecht‹ konstatiert wird (Weissenberg 1895: 561), formuliert die abschließende Rekapitulation der Kopfmaße eine Überlagerung der Kategorie Alter und ›Geschlecht‹, wie ich sie bereits umrissen habe: »[S]o ist der weibliche Kopf im Ganzen relativ grösser und der Gehirntheil prävalirt bei ihm über den Gesichtstheil mehr als beim männlichen, – Merkmale, die für den kindlichen Kopf charakteristisch sind […] und die also ein Stehenbleiben auf einer individuell niederen Entwickelungsstufe anzeigen. Der weibliche Kopf trägt Zeichen des kindlichen Habitus deutlich ausgeprägt.154 scheint sich auch nach 16 Jahren nichts Grundlegendes geändert zu haben: Es geht weiterhin um den »abweichenden Entwicklungsgang des Weibes« und wiederum werden »die höchst interessanten sexuellen Erscheinungsformen« untersucht, »indem wir die weiblichen Maße auf die männlichen als Einheit genommen beziehen« (Weissenberg 1911b: 136). 154 »Ein Stehenbleiben in physischer auf einer individuell niedrigeren Ent wickelungsstufe braucht nicht immer ein solches in intellectueller Bezie-
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Es bleibt aber noch zu erforschen, inwiefern diese Kopfbildung eine Geschlechtseigenthümlichkeit und inwiefern sie nur Folge des geringeren Wachstums ist.« (Weissenberg 1895: 554)
Weissenberg scheint sich doppelt vor dieser Überlagerung von ›Weiblichkeit‹ und ›Kindlichkeit‹ zu scheuen: Er lässt die Möglichkeit offen, dass es sich dabei nicht notwendig um eine »Geschlechtseigenthümlichkeit« handeln muss, und in der zugehörigen Fußnote distanziert er sich vorsichtig von einer linearen Ableitung psychischer Fähigkeiten aus physischem Erscheinungsbild. Die Stellung dieser Vorbehalte ist ambivalent: Sie beunruhigen die ›Frau‹-›Kind‹-Überlagerung vom Rande her, doch dringen sie nicht wirklich so in den Vordergrund des Textes, dass die Überlagerung grundsätzlich in Frage gestellt wird. Während die ›rassische‹ Konzeption des ›Juden‹ explizit in eine ›kulturelle‹/soziale verschoben wird, steht die Konzeption von ›Weiblichkeit‹ längst nicht so deutlich in Zweifel. Zusammenfassend ließe sich formulieren: Weissenbergs diskursive Strategie besteht aus mehreren Elementen. Er greift antisemitische Stereo typen auf und versucht sie mit anthropologischen Mitteln auszuhebeln, indem er Ergebnisse hervorzubringen sucht, die innerhalb der scientific community der physischen Anthropologie akzeptabel sein können. Gleichzeitig operiert Weissenberg innerhalb des physisch-anthropologischen, metrisch-mechanischen Modus und trägt so die Biologisierung von Körpern – und auch des ›jüdischen‹ Körpers – weiter. Die Aussagekraft anthropologischer Daten wird dabei nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Und so können selbst die nach ›Vor-Urteilen‹ erhobenen Daten Quételets strategisch für die Argumentation nutzbar gemacht werden. Weissenbergs Dateninterpretation tendiert dahin, die erhobenen Daten – zumindest was einige virulente antisemitische Figuren angeht – im Vergleich mit denen anderer Gruppen eher in Richtung Identität zu lesen statt mit dem Fokus auf Differenz. Metrische Differenzen erscheinen dann als eher klein und werden als nicht bedeutsame bzw. als »nicht nennenswerthe« beschrieben. Die Beschreibung einer Differenz als Differenz und ihre Bewertung als klein oder hung nach sich zu ziehen. Wir haben im siebenten Capitel gesehen, dass diejenigen Körperformen, welche am meisten an kindliche erinnern, von Ranke als Culturformen bezeichnet werden. Ich habe es für nothwendig gehalten diese Bemerkung einzuschalten, damit aus den oben unterstrichenen Worten keine falschen Folgerungen gezogen werden.« (Weissenberg 1895: 554, Fußnote) Ich wiederum habe es für notwendig befunden, diese Fußnote Weissenbergs als Fußnote in meinem Text einzuschalten, um die Form und den performativen Effekt von Weissenbergs Form der Einschränkung vorzuführen. Über diese Fußnote Weissenbergs wird im Übrigen die körperliche Erscheinungsform des ›Juden‹ – die »Culturform« nämlich – mit ›Weiblichkeit‹ lose verkettet.
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groß (gestärkt durch Formulierungen wie »nur«, »sogar«, »deutlich« usw.) legt Zeugnis von der strategischen Polyvalenz anthropologischer Identifizierungen ab, wie auch in meinen Ausführungen zur Überkreuzung der Kategorien ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ bereits deutlich wurde. Im Hinblick auf die Einschätzung metrischer Ergebnisse eröffnet sich hier ein heterogener Raum des Sagbaren, in dem eine Differenz von 1 cm weder zwangsläufig als groß, als klein noch überhaupt als Differenz erscheinen muss. In diesem diskursstrategischen Spielraum fluktuiert die Wissensproduktion zwischen großen – manchmal sogar qualitativen – und kleinen – manchmal gar nicht nennenswerten – Differenzen.
Schiff: »Anthropologische Untersuchungen an jüdischen Kindern in Jerusalem« Nachdem in den 1880er Jahren im Archiv für Anthropologie einige Beiträge zur Anthropologie der Juden erschienen, auf die dann 1895 Samuel Weissenbergs umfangreiche erste Untersuchung zu den ›südrussischen Juden‹ folgte, finden sich erst wieder nach 1910 Beiträge, die sich explizit mit ›Juden‹ beschäftigen. Aus diesen sollen zwei herausgegriffen und vorgestellt werden: Fritz Schiffs »Anthropologische Untersuchungen an jüdischen Kindern in Jerusalem« (Schiff 1915) und Ethyme Tschepourkovskys »Anthropologische Studien« (Tschepourkovsky 1911), die im Hinblick auf ihre metrisch-statistischen Verfahren und im Hinblick auf die dort vorfindlichen Überkreuzungen von ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ umrissen werden sollen. Friedrich Schiff ist Schüler155 von Felix von Luschan, der 1892 auf der Jahresversammlung der Deutschen Anthropologischen Gesellschaft über die von ihm vorgenommenen 60.000 Einzelmessungen und einer daraus gefolgerten prähistorischen ›Mischrasse der Juden‹ berichtet hatte (vgl. Kiefer 1991: 31-34; Hödl 1997: 265-268). Schiffs hier umrissener Beitrag, in dem Daten aus Messungen an Kindern vorgestellt werden, reiht sich ein in die Forschungen zur Anthropologie der ›Juden‹ und widmet sich wie Weissenberg der Vermessung des Körpers im Verlauf seiner (ontogenetischen) Entwicklung. Schiff geht von einer anthropologischen Vielfältigkeit aus und unterscheidet neben den »Hauptzweigen[n] der Juden« (Schiff 1915: 352) – den »Aschkenasim« und den »Sephardim« – noch »Grusiner«, »Jemeniten«, »Aleppiner«, »Marokkaner«, »Bucharen«, »Perser« und »Mesopotamier (Urfa und Bagdad)« sowohl in anthropologischer wie in ethnologischer (kultureller) Hinsicht (Schiff 1915: 349). Seine Forschung zur »anthropologische[n] Stellung der verschiedenen Gruppen der Juden zueinander« unternimmt er in Jerusalem, denn: »Nirgends treten die eth155 Vgl. u.a. Schiff selbst (Schiff 1912: 252).
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nischen Gegensätze, die sich innerhalb des Judentums herausgebildet haben, so greifbar vor Augen wie in Jerusalem.« (Schiff 1915: 348)156 Sein Ansatz besteht darin, »eine möglichst große Anzahl von Individuen zu untersuchen«, an ihnen aber »nur ganz wenige Merkmale« zu erheben, und zwar Kopflänge und -breite, Körpergröße – die aber aufgrund zu geringer Daten für Wachstumskurven nicht ausführlicher behandelt wird (Schiff 1915: 354) –, und Haar- und Augenfarbe (Schiff 1915: 349). Die Daten erhebt er gestaffelt nach Herkunft, Alter und ›Geschlecht‹ an insgesamt 604 Schulkindern. Eine Vergleichbarkeit mit Daten, die an Erwachsenen erhoben wurden, schließt Schiff vor diesem Hintergrund aus, doch können »die Schlüsse, die ich aus meinem Material über die Stellung der Gruppen zueinander ziehe, mit dem verglichen werden, was sonst über das gegenseitige Verhältnis der Gruppen bekannt ist« (Schiff 1915: 349). Methodisch operiert Schiff bei den metrischen Daten neben dem Mittelwert und der Standardabweichung mit dem mittleren Fehler – die Selbstverständlichkeit dieser Verfahren um 1915 bereits voraussetzend. Ein paar Aspekte seiner Untersuchung seien im Fogenden kurz umrissen.
Sukzessives Aussortieren von Gruppen In Schiffs Ausführungen zum Längen-Breiten-Index findet ein schrittweises Aussortieren von Daten aufgrund koinzidierter ›Sonderstellungen‹ statt – ein ›Aussondern‹ von Daten also: Zunächst gibt Schiff für die neun von ihm ethnisch vorab identifizierten Gruppen die Mittelwerte und mittleren Fehler des Kopf-Indexes, die jeweilige Standardabweichung und die Anzahl der jeweils Vermessenen tabellarisch an. An der Gruppe der »Grusiner«, die den Mittelwert 86,7 erhalten, findet sich die einschränkende Fußnote: »Berechnet unter Fortlassung zweier völlig aus der Reihe fallender Geschwister mit dem Index 72.« (Schiff 1915: 351, Fußnote) Noch vor statistischer Herstellung von Mittelwert und Abweichung werden die einzelnen Gruppen also offenbar einer Prüfung ihrer Regelmäßigkeit unterzogen. Doch dient diese Überprüfung hier nicht wie bei Volz dazu, eine mögliche Gemischtheit der Gruppe zu identifizieren und diese in Untergruppen auszudifferenzieren. Statt dessen lassen zu große Datenabweichungen einzelne Individuen oder Gruppen ›völlig aus der Reihe fallen‹ und führen zu einem expliziten Ausschluss ihrer Werte aus der Berechnung. Diese erste Prüfung wird – zumindest soweit es den Anschein hat – selbst nicht metrisch durchgeführt und scheint eher auf so etwas wie dem Augenschein zu beruhen. In einem nächsten Schritt berechnet Schiff die jeweiligen Differenzen der Mittelwerte und wiederum deren mittlere Fehler und ordnet 156 Der Begriff »ethnisch« wird hier von Schiff für die anthropologischen und ethnologischen Merkmale eingesetzt.
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diese Daten in einer Tabelle an, in der die Entfernung der verschiedenen Mittelwerte voneinander angegeben wird (Schiff 1915: 351). Die Typenbildung findet bei Schiff also nicht in Form einer Identifizierung einzelner ›Typen‹ statt, sondern im Zuge einer Differenzierung, in der das Verhältnis der ›Typen‹ zueinander als relatives Verhältnis von mehr/weniger und größer/kleiner gefasst wird.157 Auch in diesem Schritt der In-Relation-Setzung der vermessenen Gruppen werden weitere Daten aussortiert – wiederum mit dem Argument zu hoher Divergenzen: »Die drei letzten Gruppen sind wegen der Größe der mittleren Fehler nicht berücksichtigt.« (Schiff 1915: 351) Die hier monierten mittleren Fehler betragen 1,05, 0,94 und 0,71, während sich die akzeptierten Fehler im Feld zwischen 0,21 und 0,59 bewegen. Die Akzeptabilitätsgrenze, die über die Einbeziehung einer Gruppe in die nächste ›Rechenrunde‹ entscheidet, scheint also irgendwo zwischen 0,59 und 0,71 zu liegen – wiederum ohne dass dies weiter begründet wird. Der von Schiff noch akzeptierte mittlere Fehler von 0,59 kommt dabei ausgerechnet den vorher ›bereinigten‹ Daten der ›Grusiner‹ zu. Bei Einbeziehung der zwei ausgesonderten Geschwister wäre der Wert möglicherweise sehr nahe an oder sogar mitten in die Werte der ausgeschlossenen drei Gruppen geraten und hätte somit zum Ausschluss der ›Grusiner‹ geführt. Doch statt diese Gruppe ganz auszusortieren, werden sie für die weitere Textargumentation offenbar noch gebraucht, und zwar um ihnen später wiederum eine »Sonderstellung« zuzuschreiben (Schiff 1915: 352). Doch zunächst geht es um die Frage der Zuverlässigkeit der Unterschiede in den Mittelwerten, die wiederum metrisch dargestellt werden: »Eine Vorstellung von ihrer Zuverlässigkeit gibt das Verhältnis der Differenz zu ihrem mittleren Fehler.« (Schiff 1915: 351) Es wird also eine Tabelle zusammengestellt, in der die »Differenz der Mittelwerte ausgedrückt [wird] als Vielfache ihrer mittleren Fehler« (Schiff 1915: 352). Aus dieser und den anderen Tabellen formuliert Schiff dann eine merkwürdige Passage, in der sich zwei »Sonderstellungen« herauskristallisieren, die aber beide in ihrer »Sonderstellung« wiederum durch Ausnahmen relativiert werden: »Es geht aus den Tabellen hervor, daß einige Gruppen nach ihrem Längen-Breiten-Index eine Sonderstellung einnehmen. Es sind dies die Grusiner und die Jemeniten, von denen bekannt ist, daß ihre Sonderstellung sich nicht auf die Eigentümlichkeiten der Kopfform beschränkt. Die Grusiner unterscheiden sich von sämtlichen Gruppen der Tabelle (mit Ausnahme der Leute aus Buchara) durch
157 Möglicherweise handelt es sich bei dieser Fokussierung ›rassischer‹ Abstände um eine Reaktion auf die bereits erörterten Probleme in der Identifizierung, im Umreißen von ›Typen‹.
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ihre extreme Kurzschädligkeit, die Jemeniten von allen außer den Marokkanern durch ihre extreme Langschädligkeit.« (Schiff 1915: 352)
Zunächst einmal ist festzuhalten, dass die »Sonderstellung« diesmal nicht zum Ausschluss der Gruppen führt, vielmehr scheinen die beiden solchermaßen klassifizierten Gruppen zwei Pole einer Skala einzunehmen: »extreme Kurzschädligkeit« und »extreme Langschädligkeit«. Obwohl bei Schiff der Schädel-Index – wie bei vielen anthropologischen Beiträgen – als ausreichend signifikant für eine ›Typen‹-Bestimmung erachtet wird, wird die konstatierte »Sonderstellung« der ›Jemeniten‹ gleichzeitig noch dadurch unterstützt, dass von ihnen »bekannt ist, daß ihre Sonderstellung sich nicht auf die Eigentümlichkeiten der Kopfform beschränkt«. Sowohl der Allgemeinplatz dieser Formulierung als auch die Eigentümlichkeiten der anderen Körperteile scheinen diese postulierte »Sonderstellung« also zu stützen – fast als wäre dies notwendig. Doch beide »Sonderstellungen« werden durch ›Ausnahmen‹ mit offenbar ebenfalls als »extrem« beschreibbaren Kopfindices relativiert: die ›Leute aus Buchara‹, die allerdings bereits nach der ersten Berechnung aussortiert worden waren, und die ›Marokkaner‹. Die verschiedenen ›jüdischen‹ Gruppen umfassen in dieser Konzeption also das ganze Spektrum anthropologischer Schädelformen – wobei eine angenommene ›Eigentümlichkeit des Juden‹ geschickt unterlaufen werden könnte. Gleichzeitig werden die Ränder des Spektrums durch ihre »Sonderstellungen« aber ausgesondert: Schiff nimmt alle diese ›Sonderformen‹ aus den Überlegungen heraus, so dass neben ›Aleppinern‹ wie zufällig nur noch ›Aschkenasim‹ und ›Sephardim‹ übrig bleiben – die beiden in der Literatur zum ›Judentum‹ um 1900 ausgemachten Hauptgruppen: »Es verbleiben noch die Aschkenasim und Sephardim. Die anthropologische Stellung dieser beiden Hauptzweige der Juden zueinander ist von besonderem Interesse.« (Schiff 1915: 352) Zunächst werden zwar noch die ›Marokkaner‹ »zwischen den Jemeniten und den Sephardim« positioniert und die ›Aleppiner‹ in der Nähe der ›Aschkenasim‹ verortet (Schiff 1915: 352), doch dann konzentriert sich die weitere Analyse nur noch auf die beiden konventionalisierten ›Hauptzweige‹. Diese Fokussierung ist Effekt der hier skizzierten Aussonderungsprozesse, die nun fast wie ein zielstrebiges ›Subtrahieren‹ von weiteren hin zu nur zwei Gruppen erscheint. Nun stellt Schiff bei Betrachtung seiner Daten aber fest: »Die Differenz im Mittelwert der beiden Gruppen ist absolut genommen nur gering: sie beträgt nur zwei Einheiten.« (Schiff 1915: 352) Schiff erscheint diese absolute Differenz zwar als gering, aber das ›neuere‹ Verfahren des mittleren Fehlers macht sie dennoch zu einer bedeutsamen Differenz: »Der mittlere Fehler ist aber annähernd siebenmal kleiner als die Differenz, so daß sie trotz ihres geringen absoluten Betrages nicht gut als zufällig betrach-
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tet werden kann.« (Schiff 1915: 352) Dass der mittlere Fehler so klein ist, stellt also die Nicht-Zufälligkeit und damit die Bedeutsamkeit der mittleren Differenz erst her – dabei scheint mir der Begriff des mittleren Fehlers geradezu selbst produktiv zu werden: Der mittlere Fehler gibt hier seine Genealogie aus der Messfehler-Bestimmung bei Gauß preis. Obwohl er in Bezug auf die anthropologische Identifizierung nicht tatsächlich den Messfehler, sondern eine Variation von Körpern eines ›Types‹ anzeigt, scheint in dieser Formulierung doch evident, dass – wenn der Fehler so gering ist – die Zahlen wirklicher und wahrhaftiger erscheinen, und die kleine absolute Differenz eben nicht nur als zufällige betrachtet werden kann. Im Anschluss an diese Ausführungen kommt in drei kleinen Absätzen und Kurven die Kategorie ›Geschlecht‹ mit ins Spiel.
Hinwendung zu den ›Mädchendaten‹ Die soeben bestimmte Differenz wird im weiteren Textverlauf weiter als ›typensignifizierende‹ Differenz erhärtet, und zwar indem negiert wird, dass es andere Ursachen wie etwa ›Geschlecht‹ oder Alter für sie gäbe: »Es ist auch ausgeschlossen, die Differenz auf Unterschiede in der Verteilung auf die Altersklassen oder Geschlechter zurückzuführen.« (Schiff 1915: 352) Dass eine fehlende Ausdifferenzierung der Daten nach Alter oder ›Geschlecht‹ die Ergebnisse verschieben und verfälschen könnte, ist hier impliziert, wird aber abgewiesen – die Ergebnisse seien also allgemeingültig und nicht vergeschlechtlicht. Schiffs Strategie, die ›sexuelle‹ Differenz aus der ›Typen‹-Bestimmung auszuklammern – um eine ›rassenspezifische‹ Differenz erst konturieren zu können –, besteht darin, über die Anfertigung von Kurven des Kopf-Indexes der beiden Gruppen »für die Mädchen allein« eine bedeutsame ›rassische‹ Differenz zu visualisieren, d.h. eine sichtbare Differenz herzustellen (Abb. 17): In Figur 1 werden in ein nach LängenBreiten-Index und Alter gerastertes Feld je eine Kurve für die ›aschkenasischen‹ und die ›sephardischen Mädchen‹ eingetragen; die Differenz wird an der Höhendifferenz – also dem Abstand der beiden Kurven – abgelesen: »Der Unterschied im Längen-Breitenindex besteht also in demselben Sinne in sämtlichen Altersklassen« (Schiff 1915: 352). Die Eliminierung der ›sexuellen‹ Differenz durch Fokussierung nur auf ein ›Geschlecht‹ dient hier also zur Bestätigung ›rassischer‹ Differenz, wobei der zweite in den Kurven berücksichtigte Aspekt – das Alter – nur zur weiteren Bestätigung dieser Differenz dient. In einem zweiten Satz wird diese Differenz – der Unterschied im Längen-Breiten-Index – außerdem vor allem einem seiner beiden Bestandteile zugeschrieben: »Er beruht im wesentlichen nicht auf Unterschieden in der absoluten Länge, sondern in der absoluten Breite des Kopfes, wie die beiden folgenden Kurven zeigen.« (Schiff 1915: 352f) Im Auseinanderdivi-
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Abb. 17: Index-Kurven (Schiff 1915: 353) dieren des Indexes in Kurven der Kopflänge und der Kopfbreite, wird in der zweiten Kurve ein breiterer Abstand zwischen den Kurven der beiden ›Mädchen‹-Gruppen sichtbar: Schiff führt dazu aus: »Zuverlässige Differenzen der Kopflänge bestehen nicht. Dagegen ist in jeder Altersklasse die Breite bei den sephardischen Kindern (Mädchen) im Durchschnitt geringer als bei den aschkenasischen.« (Schiff 1915: 353) Hier wiederum wird – zum Abschluss dieser Ausführungen – durch das in Klammern eingefügte Wort »Mädchen« das Augenmerk doch auf die ›Geschlechtsspezifik‹ der eigenen Argumentation gelenkt, die doch darum bemüht war, diese gerade
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außen vor zu lassen – fast als wäre die Gültigkeit des Ergebnisses doch nur ›eingeklammert‹ zu akzeptieren. Doch trotz dieser herumgeisternden ›sexuellen‹ Differenz wird weiterhin keine Ausdifferenzierung der Daten nach beiden ›Geschlechtern‹ vorgenommen – analog zu den ausdifferenzierten Kurven der Länge und Breite wären ja auch Kurven von ›Jungen‹ und ›Mädchen‹ denkbar gewesen, um zu sehen, ob die als signifikant erkannte Differenz zwischen ›Aschkenasim‹ und ›Sephardim‹ nicht vielleicht doch – wenn auch in anderem Sinne – »auf die Geschlechter zurückzuführen« wäre (Schiff 1915: 352): Vielleicht hätten sich die Kurven der ›Jungen‹ viel stärker aneinander angenähert. Doch eine solche Variante vorstellbar und sagbar zu finden, benötigt die Diskursmöglichkeit einer ›rassisch spezifizierten sexuellen Differenz‹ – wie etwa bei Jochelson-Brodsky –, die bei Schiff aber nicht ins Gesagte gehoben wird. Hier ist ›Geschlecht‹ eher als gleichmäßige, nicht quantifizierte und in sich nicht weiter ausdifferenzierte Differenz impliziert – als ein Instrumentarium zur besseren ›Typen‹Bestimmung, deren eigene Produktivität allenfalls im eingeklammerten Wort »Mädchen« erahnt wird.
Haar- und Augenfarben-Differenzen Nach einigen vererbungsbezogenen Ausführungen158 zu den Daten von Kindern aus Mischehen, wertet Schiff seine Daten zu Haar- und Augenfarben mit Fokus auf die Differenz der beiden Hauptgruppen aus. Obwohl die Farben selbst nicht metrisch, sondern durch Zuordnungen in Farbgruppen erhoben werden, wird ihre Präsentation anhand von Kurven analog zum KopfIndex metrisiert und zwar durch kurvenförmigen Eintrag in prozentuale Verteilungen zweier Haar- und zweier Augenfarbgruppen. Die Farbgebung des Körpers dient hier zu einer – offenbar doch notwendigen – Bestärkung der bereits am Kopf-Index ausgemachten Differenz von ›Aschkenasim‹ und ›Sephardim‹: »Für die Frage nach der Stellung der verschiedenen Gruppen zueinander sind die Verhältnisse der Haar- und Augenfarbe besonders für das Verhältnis der Aschkenasim und Sephardim von Interesse, weil hier die Untersuchung des LängenBreitenindex zwar sichere aber nur geringe Unterschiede ergab.« (Schiff 1915: 354)
Für die Erhebung der Farben verweist Schiff auf ein von ihm bereits früher angewandtes Verfahren,159 da er »zu meinem Bedauern Farbenproben nicht 158 Vgl. Fußnote 168. 159 Hierbei scheint es sich in Anlehnung an Luschan um eine Eingruppierung von Farben in neun Stufen zu handeln, die bei Schiff dann allerdings durch Zusammenfassungen von Gruppen in weniger Abstufungen reduziert wer-
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zur Hand hatte« (Schiff 1915: 354). Für die Darstellung in Kurven jedoch bezieht er nur die als Extreme ausgemachten Farben »blond« und »dunkelhaarig« sowie »helläugig« und »dunkeläugig« ein: »In den folgenden Kurven sind nur die Extreme der Skalen, also die ganz hellen und die ganz dunklen Töne berücksichtigt, weil hier das subjektive Urteil am wenigsten stört. Zweifelhafte Färbungen, wie sie bei Kindern ja ganz besonders häufig sind, wurden eben in die mittleren hier nicht angeführten Kategorien gestellt.« (Schiff 1915: 355)160
Angesprochen findet sich hier, dass anthropologische Farbbestimmungen offenbar Störungen durch das ›subjektive Urteil‹ unterworfen sind. Auch die Körperfarben werden als Kontinuum gradueller Abstufungen konzipiert – doch gelten sie in der Anthropologie als Merkmale des Augenscheins und der Beschreibung und werden selbst nicht gemessen.161 Der Augenschein als Mittel der Datenerhebung erscheint im anthropologischen Diskurs als mit der Subjektivität des Anthropologen verbunden, die in der obigen Formulierung explizit als störendes Element gefasst wird.162 Diese prinzipielle Störung scheint in den Farbbereichen, die als ›mittlere‹ konzipiert sind, besonders ins Gewicht zu fallen, so dass Schiff einfach nur die extremen Pole einbezieht und das gesamte mittlere Feld ausblendet. Wieder treffen wir also auf ein Wegstreichen von Vielfalt und eine Dezimierung von Differenz auf zwei deutlich unterscheidbare Bereiche.163 Die Reduktion auf die Vertei-
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den – was Schiff gleichzeitig mit einem Versprechen auf einen Ausgleich von potentiellen Ungenauigkeiten verbindet: »Ungenauigkeiten in der Bezeichnung, die bei dieser ziemlich fein differenzierten Skala von neun Stufen leicht möglich sind, werden sich nur auf feinere Abstufungen beziehen und ganz ausgeglichen werden, wenn ich die sicher Hellhaarigen und ebenso die unzweifelhaft Dunklen zu je einer Gruppe zusammenfasse. Das hat bei dem kleinen Material auch den Vorteil, daß ich größere Einzelgruppen erhalte. Es bleibt dann noch die mittlere Gruppe, die der Braunen. Auch hier fasse ich alle hellen Augen (blau, blaugrau, grau, graugrün) und alle dunklen (braun, dunkelbraun) zu je einer Gruppe zusammen, zwischen denen als mittlere Gruppe die ›hellbraunen‹ stehen.« (Schiff 1914: 23) In einer dazugehörigen Fußnote wird angegeben, dass »dunkelhaarig« »›[b]raun‹, ›dunkelbraun‹, ›schwarz‹« umfasst. Allerdings gibt es auch hier Metrisierungsbestrebungen – ich komme darauf zurück (vgl. S. 162f). Auf das Verhältnis von Metrisierung und Augenschein sowie von Vermessung und Beschreibung und ihre verschiedenen Anordnungen im physischanthropologischen Diskurs komme ich im nächsten Kapitel zurück. Addiert man die in den Tabellen angegebenen Verteilungen der Haarfarben blond und dunkel für ›Sephardim‹ und ›Aschkenasim‹, ergibt sich, dass bei den Haaren auf diese Weise 20-35% (bei den ›Aschkenasim‹ fast 40%) außen vor gelassen wurden, vermutlich weil sie den ›mittleren Gruppen‹ zugerechnet wurden.
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lung von nur mehr zwei Merkmalsgraden dient nun einer zügigen Profilierung der beiden Hauptgruppen, die ›markante Differenzen‹ zwischen beiden hervorbringt: »Es zeigt sich, daß die Unterschiede in den Altersklassen bei ein und derselben Gruppe nur gering sind und daß die Unterschiede zwischen Aschkenasim und Sephardim in allen Klassen gleich deutlich hervortreten. Das gilt sowohl für die Blondhaarigen wie für die Dunkelhaarigen. Die Aschkenasim haben einen sehr hohen Prozentsatz ganz hellhaariger Kinder, einen sehr geringen dunkelhaariger Kinder; bei den Sephardim ist es umgekehrt. Für die Augenfarbe gilt das entsprechende, wie die folgenden Kurven zeigen. Es bestehen also in Haar- und Augenfarbe markante Differenzen zwischen asch kenasischen und sephardischen Kindern.« (Schiff 1915: 355)
In dieser Argumentation wird nun auch das Alter zum Bedeutungsträger und zwar in Form einer diskursiven Figur, die zwei verschiedene Differenzen gegeneinander ausspielt: Die Differenzen zwischen den verschiedenen Altersstufen innerhalb einer Gruppe erscheinen nämlich als geringer als die Differenzen zwischen den beiden Gruppen (diesem Abwägen geht die Zusammenfassung von Individuen zu Gruppen grundsätzlich voraus). Wieder treffen wir hier auf die diskursive Figur, die im Zuge der Genomforschung allerdings mit umgekehrtem Ergebnis eingesetzt wird: Dort heißt es, dass die (genetischen) Differenzen innerhalb einer Gruppe wesentlich größer seien als die Differenzen zwischen verschiedenen angenommenen ›Rassen‹. Die gleiche Diskursfigur, die Schiff in seiner Konstatierung einer markanten Differenz zwischen ›aschkenasischen‹ und ›sephardischen Juden‹ bestärkt, dient also heute in ›umgekehrter‹ Weise gerade zur Negation ›rassischer‹ Differenzen. Zum Abschluss der Diskussion von Schiff sei im Hinblick auf seinen Umgang mit den ›Mädchendaten‹ in diskursanalytisch-methodologischer Hinsicht noch Folgendes angemerkt: Die in meiner Arbeit verfolgte Fragestellung nach der Konstitution von ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ legt nahe, Schiffs Auswahl gerade der ›Mädchen‹ als Testgruppe für die ›geschlechtsneutrale‹ Verallgemeinerbarkeit seiner Ergebnisse für ›Aschkenasim‹ und ›Sephardim‹ noch weiter zu befragen. Diese Auswahl mag einfach pragmatisch motiviert sein, denn es wurden jeweils an deutlich mehr ›Mädchen‹ als ›Jungen‹ Daten erhoben.164 Es könnte mit guten Gründen nun konstatiert werden, dass die Selbstverständlichkeit, kommentarlos mit den Daten der ›Mädchen‹ zu argumentieren, überrascht: So etwas kommt zwar im Untersuchungsmaterial durchaus vor, aber doch so selten, dass auffällt [?], dass die Typendifferenzierung hier ganz selbstverständlich an ›Mädchen‹ vor164 Und zwar für die ›Aschkenasim‹ 178 ›Mädchen‹ zu 27 ›Jungen‹ und für die ›Sephardim‹ 114 zu 36 (entnommen der Tabelle 1 in Schiff 1915: 349).
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genommen wird.165 Doch soll diese Beobachtung der Selbstverständlichkeit gezielt mit einem Fragezeichen versehen werden, weil die eben vorgenommene Betonung der überraschenden Selbstverständlichkeit sie aus der bei Schiff eher unaufgeregten ›Banalität‹ heraushebt. An dieser Stelle sei an die im Methodenkapitel ausgeführte diskursive Produktivität der Diskursanalyse bzw. jeder Analyse erinnert: Die Fragestellung nach der Konstitution der ›Geschlechter‹ fokussiert das Analysematerial stark in diese Richtung und bringt auf diese Weise ›Geschlecht‹ als bedeutsame Kategorie immer auch mit hervor. Auf diese Weise schreibt die Analyse möglicherweise selbst Bedeutungen in diskursive Strukturen ein, die vielleicht – strategisch und erkenntnispolitisch gesehen – besser in ›Bedeutungslosigkeit‹ verharren und damit die in Bezug auf Schiff konstatierte Banalität wissentlich reproduzieren sollten. Möglicherweise wäre es besser, die Auswahl ausgerechnet der ›Mädchen‹ gerade nicht zu betonen und damit auch die Selbstverständlichkeit zu wiederholen, in der zwar die ›Geschlechterdifferenz‹ eingeführt wird, aber die Auswahl des einen ›Geschlechts‹ zuungunsten des anderen nicht mit bedeutungsvoller qualitativer Zuschreibung belegt wird.166
Tschepourkovsky: »Anthropologische Studien« Im Folgenden sollen die »Anthropologische[n] Studien« von Ethyme Tschepourkovsky, der mit statistischen Korrelationsverfahren arbeitet, im Hinblick darauf vorgestellt werden, wie hier die Kategorie ›Geschlecht‹ zum Einsatz gebracht wird und wie sie sich mit ›Rasse‹ überkreuzt. Der in Russland einflussreiche Anthropologe Ethyme Tschepourkovsky (vgl. Levin 1960) orientiert sich methodisch an der neuen biometrischen Schule Englands und hat 1905 in der dort neu gegründeten Zeitschrift Biometrika zwei Beiträge publiziert (vgl. seine eigenen Angaben in: Tschepourkovsky 1911: 183).167 Zur Bestimmung der anthropologischen Zusammensetzung der Bevölkerung des russischen Reiches hat er umfangreiche eigene Datenerhebungen durchgeführt. Im hier vorgestellten Beitrag bezieht er sich auf Daten, die er zwischen 1900 und 1910 erhoben hat. Erfasst wurden »[r]und 800 Schädel, 3000 großrussische Bauernfrauen, 2000 Kinder, 5000 Männer, 164 russische Mädchen, 118 jüdische 165 In einem etwas früheren Beitrag (Schiff 1912) zeigte sich Schiff durchaus als ›geschlechterbewusst‹ und arbeitete dezidiert mit der ›Geschlechterdifferenz‹. 166 Wohl wissend, dass diese ausführliche Problematisierung selbst wiederum wie ein Ausrufezeichen funktioniert. 167 Biometrika (1901 von Francis Galton mitgegründet) versteht sich als Zeitschrift, die systematisch statistisches Know How für die Biologie zusammenträgt.
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Knaben und 80 Familien« (Tschepourkovsky 1911: 151). Die erreichte Zielvorgabe wird gleich zu Beginn des Textes angekündigt: »Das wichtigste Ergebnis ist die Feststellung der Typen der Bauernbevölkerung Großrußlands und ihre geographische Verteilung in 20 Gouvernements.« (Tschepourkovsky 1911: 151) Tschepourkovskys 35seitiger Beitrag umfasst eine große Menge an Datenbearbeitungen und ‑präsentationen: Er beinhaltet zwei Landkarten mit geographischen ›Typenverteilungen‹, 12 Kurven und über 50 Tabellen, in denen neben den von ihm erhobenen auch die Daten anderer Autoren präsentiert werden. Es finden sich außer einer ganzen Reihe von Gruppen, die hier als ›Völker‹ bezeichnet werden, wie selbstverständlich auch Einträge verschiedener ›jüdischer‹ Gruppen, z.B.: »Juden Warschau nach Elkind«, »Juden Südrussland nach Weissenberg« und »Juden Odessa nach Horoschenko« (Tschepourkovsky 1911: 155, Tabelle 9b). In der russischen Anthropologiegeschichte wird Tschepourkovsky mit einer dezidierten Kritik am Merkmals-kombinatorischen Ansatz des angesehenen und auch in den oben bereits analysierten Texten mehrmals zitierten Alexis Iwanowsky verbunden (vgl. Levin 1960: 132). Im hier analysierten Beitrag bezieht Tschepourkovsky selbst Stellung zu Iwanowsky, der in seinem Buch »Über die anthropologischen Bestandteile der Bevölkerung Rußlands« »die Titel von mehr als 850 anthropologischen Arbeiten über die Völker Russlands, welche bis zum Jahre 1903 verfaßt waren«, zusammen getragen haben soll (Tschepourkovsky 1911: 174). Etwas launisch gesteht Tschepourkovsky Iwanowskys Ansatz Bedeutsamkeit zu, aber nur insofern sich an ihm die Mängel der bisherigen Forschungen abzeichnen: »Die Arbeit Iwanowskys ›Über die anthropologischen Bestandteile der Bevölkerung Rußlands‹ hat eine große Bedeutung, weil wir daraus sehen, wie wenig sichere genetische Schlüsse wir aus den bis jetzt ausgeführten Messungen ziehen können. […] Die Ursache liegt nicht nur in der Methode für die Bezeichnungen des Verhältnisses der Völker zueinander, sondern in dem Mangel einer Analyse dieser Völker und überhaupt eines bestimmten Planes für die Untersuchungen dieser Art.« (Tschepourkovsky 1911: 179)168
168 Durch Tschepourkovskys Text geistert die Frage nach der Vererbung; womit er dem Feld diskursiver ›Vorboten‹ der Wiederentdeckung Mendels und der Verbreitung genetischer und vererbungstheoretischer Axiome zuzuordnen ist. Vereinzelt sind solche Passagen durch das Archiv für Anthropologie verstreut, allerdings ohne theoretisch bereits ausgearbeitet zu sein (vgl. auch Hanke 2000a: 210f). Da der Weg von diesem aufkeimenden Interesse an Vererbungsfragen hin zum genetischen Dispositiv den Rahmen der vorliegenden Studie sprengen würde, wurde diese Perspektive weit gehend ausgeklammert. Zum genetischen Dispositiv vgl. z.B. Sohn 1999.
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›Rassedifferenz‹ in einer Zahl Im Zuge seines metrischen Zugangs unternimmt Tschepourkovsky Berechnungen, um zwei Gruppen nicht mehr anhand mehrerer Maße zu bestimmen, sondern nur noch mittels einer einzigen Zahl zu unterscheiden.169 Diesem Vorgehen begegnen wir bei der von Tschepourkovsky vorgenommenen Klassifikation der Völker Russlands im Kontext des von ihm eingeforderten »uniformen internationalen Plan[s] der anthropologischen Untersuchungen der Völker« (Tschepourkovsky 1911: 182). Im Zuge dieses ›Masterplans‹ wird eine Richtlinie bezüglich der Mindestzahl sowohl an zu vermessenden Individuen als auch an Maßen formuliert: Für seine Berechnungen wählt Tschepourkovsky demzufolge aus den 850 bei Iwanowsky zusammengestellten Arbeiten nur die Daten jener »Völker, für welche nicht weniger als sieben Merkmale, an mindestens 27 bis 30 Individuen gemessen, vorhanden sind«, aus (Tschepourkovsky 1911: 174). Dieser gesetzte Standard lässt aus den vielen Arbeiten »nur die Data für 32 Völker« übrig, deren »Ähnlichkeit« über einen Vergleich der Mittelzahlen selbst metrisch ausgedrückt werden soll (Tschepourkovsky 1911: 174). Tschepourkovsky operiert hier mit einem Verfahren, das eng an eine tabellarische Datenpräsentation gebunden ist und ausführlich kommentiert wird (Abb. 18). Die Tabelle besteht aus neun Spalten für je ein Körpermaß. In diese Spalten werden die 32 Völker so eingetragen, dass die jeweilige Größe des Maßes von oben nach unten aufsteigt. Jede »Stufe« der Größenveränderung wird dabei durch die Ziffern 1, 2, 3 usw. so markiert, »daß jede Zunahme des Merkmals auf eine Einheit mit der Vergrößerung der Zahl ebenso auf eine Einheit korrespondiert« (Tschepourkovsky 1911: 175). Durch die zugewiesenen Ziffern 1, 2, 3 usw. wird jedes Merkmal in gleichmäßige »Stufen« zerlegt – ähnlich wie die cm-Einheiten eines Zollstocks. Die erhobenen Daten werden also nicht in vorab bestimmte Index-Gruppen eingeordnet, wie wir es zum Beispiel bei Volz (1895), Teumin (1902) und Jochelson-Brodsky (1906) gesehen haben. Vielmehr werden unter Absehung der absoluten Werte Klassen in Einer-Abständen gebildet. Am deutlichsten kann dieses Verfahren an der Spalte »Gesichtslänge« verfolgt werden, da hier nur ganze Zahlen im Spiel sind: Jede um einen Schritt höhere Maßeinheit (hier sind es 1cm-Schritte) wird von 1 aufsteigend mit einer um einen Schritt höheren Ziffer versehen, welche die nächste ›Stufe‹ des 169 Ähnliches fordert zum Beispiel auch Stanislaw Poniatowski: »Es ist klar, daß wenn wir einzelne Gruppen durch genaue zahlenmäßig ausgedrückte Werte charakterisieren wollen, wir auch die Unterschiede zwischen den einzelnen Gruppen genau in Zahlen ausdrücken müssen; mit anderen Worten: wie bedürfen einer Formel, um die Rassen- bzw. Typendifferenzen zahlenmäßig darzustellen.« (Poniatowski 1911b: 273)
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Abb. 18: Tabelle zur Ermittlung von ›Rassenähnlichkeit‹ (Tschepourkovsky 1911: 176/177, Ausschnitt) Maßes anzeigt. Die Gruppe mit dem kleinsten Gesicht (»Kleinr. (Kuban) 177 [cm]«) erhält so die Charakterisierung »1«, die um einen EinheitenSchritt größeren (»Ossetier«) die Charakterisierung »2«, die wieder nächst größeren (»Juden (Kowno)« bis »Tataren (Kaz.)«) die »3« usw.170 Dieses Verfahren interessiert sich nicht für die Maßzahlen selbst, sondern fokussiert ausschließlich Verhältnisse zwischen den vermessenen Gruppen und fragt, wann das Maß zur nächsten Einheit umspringt.171 Die charakteristischen Zahlen bilden also Gradmesser in einer metrischen Graduierung, die 170 Die Zuordnungszahlen werden in der Tabelle nicht jeder Gruppe, sondern nur jener vorangestellt, an der die nächst höhere ›Stufe‹ ›übersprungen‹ wird. Dabei dient der Fettdruck – der auf den ersten Blick die fett markierten Gruppen hervorzuheben scheint – hier nur der besseren Lesbarkeit dieser Umbruchstellen. 171 Für die anderen Spalten gilt im Prinzip dasselbe – trotz einiger kleinerer Ungereimtheiten, auf die hier nicht genauer eingegangen werden soll –, auch wenn die Schritte vielleicht nicht immer bei runden Zahlen angesetzt sind. An diesen ›ungeraden‹ Reihen, wo die Umbruchspunkte bei jeweils bestimmten Dezimalstellen angesetzt werden, sind weiterhin die bereits beschriebenen Übergangs- und Arbitraritäten festzustellen.
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von den konkreten Maßen abstrahiert – nur noch die Schrittweiten bzw. Abstände bleiben an die tatsächlichen Maße und Indices angebunden. In einem nächsten Schritt wird die Möglichkeit eröffnet, mittels dieser Gradmesser die berücksichtigten vermessenen Völker zu charakterisieren: »Da jedes Volk sieben bis neun Merkmale in einem bestimmten Grade besitzt, so ist dieses Volk mit sieben oder neun Zahlen charakterisiert.« (Tschepourkovsky 1911: 175) Die vorgenommene Gradmesserbildung dient hierbei zu einem einfachen – wiederum metrisierbaren und metrisierten – Vergleich verschiedener Völker, mit dem Ziel, »die Differenz zweier Völker mit einer einzigen Zahl folgenderweise zu charakterisieren« (Tschepourkovsky 1911: 175): Die Reihen charakteristischer Gradzahlen zweier Völker werden übereinander gestellt, um dann die jeweiligen Differenzen ihrer einzelnen Gradmesser per Substraktion zu errechnen. Die so erzeugten Differenzen von sieben bis neun Maßen werden addiert und als »Summa der Differenzen« angegeben, woraus dann wiederum die »[m]ittlere Differenz beider Völker« ermittelt wird. Als »Beispiel« greift sich Tschepourkovsky die Daten von ›Juden‹ heraus, nämlich der »Juden von Odessa« und der »Juden von Kowno«, und errechnet deren mittlere Differenz von 2,37 (Tschepourkovsky 1911: 175) (Abb. 19).
Abb. 19: ›Mittlere Differenz‹ zweier ›Völker‹ (Tschepourkovsky 1911: 175) Frappierend an dieser extremen Metrisierung ist die Angabe der Ähnlichkeit verschiedener Gruppen mittels einer einzigen Zahl – wo sich andere anthropologische Texte mit detaillierten Vergleichen einzelner Maße abmühen. Doch letztendlich erscheint dies fast wie eine logische Konsequenz aus dem Positivismusschub der Anthropologie. Bemerkenswert erscheint darüber hinaus, dass in der Konzeption von Graden in Einerschritten völlig von der Spezifik der vermessenen Körperteile abstrahiert wird: So wiegt z.B. die graduelle Differenz »2« gleich viel, egal ob es sich um den Nasen-Index oder um die Armlänge handelt. Vergleichsgrade hat Tschepourkovsky für die Kombinationen aller 32 Völker errechnet und erhielt dabei Werte »zwischen 0,5 und 7,5«, von denen er wiederum die »[m]ittlere Differenz« von 3,77 berechnet (Tschepourkovsky 1911: 175, 178). Doch bei der Bewertung der so ermittelten ›mittleren Dif-
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ferenzen‹ positioniert Tschepourkovsky sich ambivalent: Gegenüber der Frage, ob von geringen Unterschieden auf Ähnlichkeiten geschlossen werden kann und ob dieser Ähnlichkeit wiederum eine Annäherung der Völker in verwandtschaftlicher Hinsicht (Deszendenz) entspricht,172 verhält sich Tschepourkovsky einerseits abwehrend und skeptisch, nimmt andererseits dann aber doch Annäherungen vor: »Kann für die Völker, welche sehr kleine Unterschiede zwischen einander bieten, die historische oder ethnologische Wahrscheinlichkeit gemeinsamer Deszendenz nachgewiesen werden, oder werden wir ein Chaos erhalten? Es ergab sich folgendes: Die mittleren Unterschiede von 1,5 bis 2,0 verbinden die Völker, für welche die Wahrscheinlichkeit einer gemeinsamen Deszendenz sehr klein ist. Demgemäß habe ich nur die Differenzen zwischen 0,5 und 1,5 in Betracht gezogen (kleinere als 0,5 waren gar nicht vorhanden). Was ich erhielt, ist in der Tabelle 46 dargestellt und kann folgendermaßen resümiert werden: Sehr kleine Unterschiede (beinahe eine Einheit des Merkmales im Mittel) existieren zwischen den Völkern, welche linguistisch oder geographisch verwandt sind. Aber ebenso kleine Unterschiede existieren manchmal zwischen Völkern, für welche die Ähnlichkeit historisch nicht nachgewiesen kann; im Gegenteil sind manchmal die Völker, die linguistisch oder historisch ähnlich sein müssten, nicht somatisch verbunden. Warum sind z.B. nicht die Juden von Kowno mit anderen Juden und die Polen von Warschau mit Polen von Lublin verbunden? Noch einen Umstand: Ändern wir nur sehr wenig unser Kriterium, nehmen wir z.B. als mittlere Differenz 2,0 statt 1,5, so verwirrt sich das ganze Schema. Mit einem Worte: ein Chaos hat sich nicht ergeben, aber wir können keine sicheren Schlüsse betreffend die wirklichen Beziehungen zwischen Völkern ziehen.« (Tschepourkovsky 1911: 175)
Deutlich wird hier, wie Tschepourkovsky hin und her laviert, um die ermittelten zahlenförmigen somatischen Differenzen zur Deckung zu bringen mit linguistischem, historischem, ethnologischem und geographischem Vorwissen, aus dem auf Verwandtschaften geschlossen wird – dies will aber nicht so ganz gelingen. Trotz der methodologisch ausgefeilten statistischen Methode, die zwei Völker mittels nur einer einzigen Zahl vergleichbar macht, scheint Tschepourkovsky die anthropologische Produktivität dieser Berechnungen zu entgleiten. Außerdem wird in dieser Passage sogar die Arbitrarität von metrischen Grenzziehungen expliziert: Eine Verlagerung des Ähnlichkeitskriteriums von max. 1,5 auf 2 »verwirrt das ganze Schema« – das aus den metrischen Nähen entworfene stammbaumähnliche Gebilde, in denen die Annäherungen ins Bild bzw. besser: ins Schema gesetzt wer172 Eine deutliche Positionierung gegen die Ableitung von Verwandtschaft aus Ähnlichkeiten – die dann als »Konvergenz« bezeichnet wird – findet sich bei Kollmann 1906: insbesondere 220f.
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den.173 Die Zahlen können nicht nur verwirren, sondern womöglich sogar ins »Chaos« führen! Doch beruhigt Tschepourkovsky, nachdem er diese Drohung aufgebaut hat, bald wieder: »Ein Chaos hat sich nicht ergeben, aber wir können keine sicheren Schlüsse betreffend die wirklichen Beziehungen zwischen Völkern ziehen.« Obwohl er einige Seiten lang also metrische Differenzen zwischen den Völkern errechnet und zusammengestellt hat, scheint Tschepourkovsky diesen Berechnungen den Boden – nämlich die Datenbasis – wieder zu entziehen: »Wir vergleichen miteinander Mittelzahlen oder die physischen Merkmale einer Gruppe von Individuen, welche zufällig einer ethnischen Einheit (Volk) entnommen sind. Es ist aber schon lange bekannt, daß die Völker aus mehreren Rassen bestehen, und das gilt besonders für Russland, wo auf unendlichen Ebenen die Mischung sehr leicht war.« (Tschepourkovsky 1911: 175)
Auf diese Weise prangert Tschepourkovsky den »Mangel der Analyse der Völker« (Tschepourkovsky 1911: 175) an und wendet sich gegen die gerade eben noch umrissene Überlagerung ethnologischer, genealogischer und anthropologischer Perspektiven: »Nach somatischen Merkmalen ist nur die Klassifikation der Rassen, d.i. der anthropologischen Bestandteile der Völker möglich.« (Tschepourkovsky 1911: 176) In dieser Analyse der »anthropologischen Elemente« sei die Kopfform »wieder zur Anerkennung zu bringen«, dazu werden die Farben des Körpers (»die mit der Kopfform verbunden sind«) miteinbezogen (Tschepourkovsky 1911: 176). Dieser Vorschlag wird in Tschepourkovskys eigenen Datenerhebungen und -auswertungen realisiert und mündet am Ende in den großen von Tschepourkovsky dringlich eingeforderten Forschungsplan: »Ich gestatte mir, folgenden Plan auf Grund meiner eigenen Untersuchungen vorzulegen: 1. Die Erforschung der stabilen Merkmale (z.B. der Kopfform mit den Farben), d.h. die Bestimmung der Typen des Volkes; 2. die Entdeckung der geographischen Zentren der Konservation dieser Typen; 3. die detaillierte Untersuchung dieser Typen in ihren Konservationszentren (kombinierte Photographie); 4. der Vergleich dieser Typen mit gleicherweise gefundenen Elementen anderer Völker und mit ethnographischen, linguistischen und prähistorischen Daten.« (Tschepourkovsky 1911: 182)
173 Vgl. das Schema im Stile eines Stammbaums in Tschepourkovsky 1911: 179.
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›Geschlechterähnlichkeit‹ Im Zuge des von ihm entworfenen Plans stellt Tschepourkovsky die Daten der ›Bauernfrauen‹ in einer Anordnung als »bimodale Kurve« (Tschepourkovsky 1911: 159) – also als Kurve mit zwei Spitzen bzw. zwei Häufungszentren – dar und ordnet diese nach geographischen Häufungen an (vgl. Abb. 28). Hieraus entwirft er »zwei ganz deutlich ausgesprochene Zentren« zweier extremer Kopfformen, deren genauere geographische Zuteilung er dann vornimmt (Tschepourkovsky 1911: 160). Die Identifizierung ›rassischer Typen‹ wird auf diese Weise wie selbstverständlich an den Daten der ›Frauen‹ vorgenommen, wobei diese ›Geschlechtsspezifität‹ für Tschepourkovsky nun die Frage nach den ›Männertypen‹ aufwirft: »Nachdem ich in der weiblichen Bevölkerung Großrußlands die oben erwähnten zwei Typen und ihre Zentren der Konservation fand, fragte ich mich, welche Typen die Männer Großrußlands darstellten.« (Tschepourkovsky 1911: 161) Doch betont Tschepourkovsky nicht so sehr die Differenz der ›Geschlechter‹, sondern fokussiert eher auf deren »Ähnlichkeit«, die er mit Verfahren der Korrelation ›prüfen‹ möchte – er tituliert seine Datensammlungen als »einen Beitrag zu der Untersuchung der Ähnlichkeit beider Geschlechter« (Tschepourkovsky 1911: 161), die unter anderem ergibt: »Als ich die Männer und die Frauen bei einer großen Zahl der Rassen verglich, fand ich, daß im Mittel beide Geschlechter eine sehr große Ähnlichkeit aufweisen, deren Bedeutung im Kampf ums Dasein keineswegs eine und dieselbe ist: nach Körpergröße, Gesichtsform, Kopfindex, Nasenform, Kopflänge und relative Armlänge, sind nämlich beide Geschlechter (im Mittel von 22 bis 102 Rassen[völkern]) sehr ähnlich (Tabellen 24, 25, 26).« (Tschepourkovsky 1911: 161)174
Metrische Grundlage für Tschepourkovskys Vergleich von ›Männer‹- und ›Frauendaten‹ sind ausführliche tabellarische Daten-Zusammenstellungen, wobei die Formulierung »Rassen[völker]« als Hinweis auf die Unbestimmtheit der Kategorie ›Rasse‹ im anthropologischen Diskurs um 1900 gelesen werden kann. In dieser Tabelle erscheint, ähnlich wie bei JochelsonBrodsky, eine Spalte namens »Unterschied« (Tschepourkovsky 1911: 164, Tabelle 25). Die Ähnlichkeit der ›Geschlechter‹ wird metrisch via Korre174 Die rechteckigen Klammern stammen hier von Tschepourkovsky und können in diskursanalytischer Perspektive als weiterer Hinweis auf den Status von ›Rasse‹ als boundary object im Sinne Stars und Griesemers gelten. Die von ihm in runden Klammern angehängten Tabellennummern stellen eines der üblichen Verweissysteme vom Text auf Tabellen dar, das die Art des Verweises selbst nicht thematisiert.
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lation ermittelt. Dazu bringt Tschepourkovsky unter Bezugnahme auf den Mathematiker Pearson175 ein Verfahren in Anschlag, mittels dessen er Maße, die etwas über ›Rassenvariation‹ aussagen, von jenen unterscheidet, die individuelle Variationen innerhalb einer ›Rasse‹ anzeigen: »Alle anatomischen Beziehungen können von zwei Standpunkten aus betrachtet werden: wir können sie entweder im Bereich ein und derselben Rasse studieren (intrarassische Korrelation) oder zwischen verschiedenen Rassen (interrassische Korrelation). Die ersteren können manchmal in der interrassischen Korrelation ganz vernichtet oder umgekehrt werden und wir haben es dann mit echten Rassenmerkmalen zu tun, weil dann die Prozesse, welche die Rassen in der Menschheit differenziert haben, die anatomischen Beziehungen besiegt haben. Da aber in der interrassischen Korrelation die Beziehungen zwischen zwei Merkmalen dieselben bleiben wie in der intrarassischen, so haben wir keine echten Rassenmerkmale, sondern die rein anatomischen Verhältnisse vor uns. Zum Beispiel ist die relative Rumpflänge (im Bereich einer Rasse) bei großen Individuen kleiner, es gibt aber Rassen von hohem Wuchs, welche einen relativ langen Rumpf haben.« (Tschepourkovsky 1911: 151/153)
Diese Konzeption der Korrelation zum Aufspüren ›intra‹- und ›interrassischer‹ Differenzen wird nun auch im Hinblick auf die ›Ähnlichkeit der Geschlechter‹ produktiv gemacht: »Diese ›Rassenähnlichkeit‹ der Männer und der Frauen ist doppelt so groß (Korrelationskoeffizient = 0,8), wie die Ähnlichkeit zweier Mitglieder verschiedener Geschlechter im Bereich derselben Familie (z.B. zwischen Mutter und Sohn, Bruder und Schwester usw.).« (Tschepourkovsky 1911: 161)
Der hier erzeugte Korrelationskoeffizient dient auf diese Weise zur Feststellung, ob die ›zwischengeschlechtliche‹ Korrelation ›intrarassisch‹ größer ist als gewissermaßen ›intrafamiliär‹.176 Das Nebeneinanderstellen der errechneten Koeffizienten führt Tschepourkovsky zu dem Schluss, dass die ›Geschlechterähnlichkeit‹ innerhalb einer ›Rasse‹ – und das bei vielen der von ihm berücksichtigten ›Rassen[völker]‹ – größer ist als jene innerhalb der Familie. Die auf diese Weise hergestellte Ähnlichkeit der ›Geschlechter‹ innerhalb der ›Rasse‹ stützt Tschepourkovsky außerdem mit der Postulierung eines »deutlich ausgesprochenen Parallelismus [der Statur der Frauen; C.H.] mit der Statur der Männer« (Tschepourkovsky 1911: 161) 175 Pearsons statistische Methodologie wird präsentiert in Ranke 1906 und Ranke/Greiner 1904. 176 Die familiären Korrelationen kommen hier ins Spiel, da Tschepourkovsky eine Vererbung von Merkmalen unterstellt, die hauptsächlich innerhalb der Familien stattfinde.
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und einer »Kurve des Index, die sehr große Ähnlichkeit mit der der Frauen darstellt (Tabelle 29)« (Tschepourkovsky 1911: 163).177 Diese Ähnlichkeit scheint Tschepourkovsky umso bedeutungsvoller, als sie ausgerechnet in Merkmalen besteht, »deren Bedeutung im Kampf ums Dasein keineswegs eine und dieselbe ist« – wie er in oben bereits zitierter Passage zur ›Geschlechterähnlichkeit‹ eingefügt hatte. In dieser Formulierung scheint Darwins Konzeption der Auslese auf, das von einigen Anthropologen auch auf die Ausbildung von ›Rassen‹ und ›Geschlechtern‹ angewendet wird, im Archiv für Anthropologie aber selten explizit wird. Zugrunde liegt bei Tschepourkovsky demnach die Annahme einer ›Geschlechterdifferenz‹, die mit dem ›Kampf ums Dasein‹ und der ›natürlichen Auslese‹ verbunden ist. Einige Seiten später wird dies in einem in kleinerer Schriftgröße gesetzten Einschub178 wieder aufgegriffen und zwar in Form einer Befragung, ob diese Merkmale dann überhaupt mit der ›natürlichen Auslese‹ zu erklären seien: »Wenn z.B. die Armlänge die Folge der natürlichen Auslese wäre, warum erbten denn die Frauen dies für sie unnütze Merkmal (sie kämpfen doch auf eine ganz andere Art ums Dasein als Männer)?« (Tschepourkovsky 1911: 166) Impliziert wird hier eine klare ›geschlechtsspezifische‹ Arbeitsteilung in der Menschheitsgeschichte, die bis heute mit der Kurzformel ›Jäger und Sammlerinnen‹ kolportiert wird,179 und die Konzeption einer im Zusammenhang mit der ›natürlichen Auslese‹ rein funktionellen Gestaltung des Körpers. Diese Annahmen lassen eine ›Geschlechterähnlichkeit‹ in den berücksichtigten Körperteilen als unvereinbar mit der natürlichen Auslese erscheinen. Der offenbar verwunderte Tschepourkovsky schlägt darum fragend vor: »Ist es überhaupt die natürliche Auslese, die Verschiedenheiten der Rassenmerkmale hervorruft, wenn solch eine große Ähnlichkeit in so verschiedenen Merkmalen, die keineswegs ein und dieselbe Rolle im Kampf ums Dasein spielen (wie z.B. Nasenform und Armlänge), zwischen männlichen und weiblichen Elementen verschiedener Rassen existieren? Sollte es nicht einfacher sein, wenigstens für die eurasiatischen ›Rassen‹ die sexuelle Auslese als den Hauptfaktor der Rassendifferenz anzunehmen und die Rasse selbst als eine räumlich oder sittlich 177 Bei der Tabelle, auf die Tschepourkovsky hier als »Kurve« verweist, handelt es sich um eine tabellarische Kurvenvorform (Tschepourkovsky 1911: 165, Tabelle 29) – darauf komme ich im Zusammenhang mit den metrischstatistischen Visualisierungen zurück (vgl. S. 185f). 178 Absetzungen vom Fließtext durch kleinere Schriftgröße sind vor allem in wissenschaftlichen Lehrbüchern nach wie vor üblich. In ihnen werden Hintergründe, Komplikationen, Sonderfälle ausgeführt, die beim ersten Lesen ausgelassen werden können. Im vorliegenden Buch werden dagegen längere Zitate in kleinerer Schriftgröße abgedruckt. 179 Zu einer Dekonstruktion dieser Konzeption vgl. Haraway [1983].
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abgeschlossene Gruppe zu betrachten, in welcher die körperlichen Rassenideale und das instinktive Streben eine gewisse sexuelle Auslese hervorrufen und mittels Endohomogamie und uns noch nicht bekannter Gesetze der Vererbung den Typus dieser Gruppe bedingen (Pearson).« (Tschepourkovsky 1911: 165f)
Die Unvereinbarkeit der ›Geschlechterähnlichkeit‹ mit der Idee der ›natürlichen Auslese‹ hätte Tschepourkovsky verschiedene diskursive Strategien eröffnet: So hätte z.B. das Konzept der ›natürlichen Auslese‹ hinterfragt oder sogar die für die Entwicklungsgeschichte der Menschheit angenommene ›geschlechtliche‹ Arbeitsteilung in Frage gestellt werden können. Doch scheinen sich diese beiden diskursiven Positionen der ›natürlichen Auslese‹ und der ›geschlechtlichen‹ Arbeitsteilung möglicherweise als gefestigter und unangreifbarer erwiesen zu haben als die definitorisch eher unbestimmte Kategorie ›Rasse‹. So beinhaltet Tschepourkovskys Vorschlag stattdessen, die Relevanz der natürlichen Auslese – »wenigstens für die eurasiatischen ›Rassen‹« – zu zerstreuen und alternativ die ›sexuelle Auslese‹ als Erklärungsmodell heranzuziehen. Bemerkenswert ist dabei zweierlei: Zum Ersten wird dieser Vorschlag einschränkend für die »eurasiatischen ›Rassen‹« formuliert, deren »Rassen«-Status zum Zweiten durch die Apostrophierung in Frage gestellt wird. Weiter fragt Tschepourkovsky: »Sollen wir nicht diese Gruppe der Völker, in welchen die Charaktere meistens durch sexuelle Auslese und endogamische Erscheinungen hervorgerufen sind, unterscheiden von den eigentlichen ›Rassen‹, d. i. den großen Abteilungen der Menschheit, die geographisch verschiedene Gebiete bewohnen und in welchen (wie z.B. bei Negern) die Anpassung an die Natur mittels natürlicher Auslese durch eine lange Reihe der Generationen die charakteristischen Merkmale schafft?« (Tschepourkovsky 1911: 167)
Der Text präsentiert hier zwei mögliche Lesarten: In der Einen scheint der ›Rasse‹-Begriff nur noch für die »großen Abteilungen der Menschheit« – die »eigentlichen ›Rassen‹«– Gültigkeit zu erhalten, nicht mehr aber für die vielen anthropologisch hergestellten Untergruppierungen. Die andere Lesart hingegen wird durch die beispielhafte Einfügung der »Neger« und die vorherige Einschränkung auf die »eurasiatischen ›Rassen‹« ermöglicht: Wenn die körperlichen Merkmale via ›sexueller Auslese‹, die sich nur auf die Mitglieder der eigenen Gruppe richtet (Endogamie), weitertransportiert werden, scheinen die »eurasiatischen ›Rassen‹« ihren Status als ›Rassen‹ zu verlieren, doch die »Neger« – der andere Pol zum ›eurasiatischen Wir‹ – bleibt auf ihn festgeschrieben. Beeindruckend vorgeführt findet sich hier also die diskursive Produktivität der Unbestimmtheit der Kategorie ›Rasse‹. Sie offenbart sich hier als boundary object im Sinne Stars und Griesemers, die ganz besondere strategische Polyvalenzen ermöglicht.
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›Russische Mädchen‹ und ›jüdische Knaben‹ Kommen wir noch auf einen zweiten Text-Einschub in kleinerer Schriftgröße (der sich diesmal auf neun Tabellen bezieht) zu sprechen, in dem wieder Tschepourkovskys Verfahren der ›intra‹- und ›interrassischen‹ Korrelation in Anschlag gebracht wird. Zur Frage des Auftretens von ›Rassemerkmalen‹ bereits in der Kindheit vergleicht Tschepourkovsky die Daten zweier Gruppen, die sich im Hinblick auf sowohl ihr ›Geschlecht‹ als auch auf ihre ›Rassen‹-Zuordnung unterscheiden: 164 ›russische Mädchen‹ und 118 ›jüdische Knaben‹ verschiedener Altersstufen bzw. über mehrere Altersstufen hinweg. Bei diesem Vergleich verschiedener ›Geschlechter‹ verschiedener ›Rasse[völker]‹ handelt es sich um eine besonderes Form der anthropologischen Verwobenheit von ›Geschlecht‹ und ›Rasse‹. Zunächst nennt Tschepourkovsky drei Ergebnisse dieses Vergleichs: Die Körpergröße der ›Knaben‹ sei im Alter von 14 bis 15 Jahren geringer als bei den ›Mädchen‹ zwischen 13 und 14 Jahren; die oberen Extremitäten seien bei den ›Juden‹ relativ zur Körpergröße kürzer als bei den ›Großrussinnen‹; die Hand sei im Verhältnis zum Fuß größer bei den ›Mädchen‹ (Tschepourkovsky 1911: 167). Daraus wird – entsprechend dem anfangs genannten Verhältnis von ›intra‹- und ›interrassischer‹ Korrelationen – auf die ›rassische‹ Bestimmung dieser Körperverhältnisse geschlossen: »Die oben erwähnten Verhältnisse sind den sexuellen entgegengesetzt und können als Rassenmerkmale betrachtet werden.« (Tschepourkovsky 1911: 167) Dieses Ergebnis meint: Die (›intrarassischen‹) angenommenen ›Geschlechterverhältnisse‹ (›Jungen‹ seien in fast allen Verhältnissen größer als ›Mädchen‹) erscheinen in der ›interrassischen‹ Gegenüberstellung Tschepourkovskys umgekehrt. Ergebnis dieser ›Gegenüberstellung‹ von ›Geschlechterdifferenzen‹ und ›Rassedifferenzen‹ ist die Identifizierung von Differenzen als ›rassische‹ statt als ›sexuelle‹.180 Damit werden ›Juden‹ als eigene spezifische ›Rasse‹ identifiziert. Der Vergleich ausgerechnet von ›jüdischen Jungen‹ mit ›russischen Mädchen‹ erscheint bei Tschepourkovsky rein zufällig, schließt damit aber an die Annäherung und Überlagerung der Kategorien ›Jude‹ und ›Frau‹ an. Ganz nebenbei werden die Zuschreibungen des ›femininen Juden‹ in Tschepourkovskys Vergleich weiter getragen und anthropologisch gefestigt, denn in all den drei Vergleichen schneiden die ›jüdischen Jungen‹ als noch kleiner – also gewissermaßen ›noch weiblicher‹ – als die ›russischen Mädchen‹ ab. Nach diesem Korrelations-Ergebnis ›rassischer‹ Differenzen zwischen ›Russen‹ und ›Juden‹ greift Tschepourkovsky aus sei180 Tschepourkovskys ›Formel‹ lautete: »[E]chte rassische Merkmale [sind jene], für welche die interrassischen Korrelation der intrarassischen (anatomisch-physiologischen) entgegengesetzt ist« (Tschepourkovsky 1911: 183).
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nen umfangreichen tabellarischen Datenvergleichen noch vier weitere Gegenüberstellungen heraus und bringt dabei wie nebenbei Ergebnisse hervor, welche die im antisemitischen Diskurs postulierten Eigentümlichkeiten des ›jüdischen‹ Körpers – v.a. seiner spezifischen Nase und seinen ›negerähnlichen‹ Lippen – reproduzieren181: »4. Die Stirnhöhe […] ist bei Juden kleiner im Verhältnis zu der ganzen Gesichtshöhe und besonders zu Frontal minimum, d.h. in allen drei untersuchten Altersstufen haben die Juden keine so hohe Stirn als die Mädchen. […] 5. Die Nase ist bei den Juden länger im Verhältnis zu der gesamten Gesichtslänge […]. 6. Der Mund ist bei den Juden höher, d.h. die Dicke beider Lippen ist größer im Verhältnis zu seiner Breite. 7. Das Ohr ist bei den Juden breiter.« (Tschepourkovsky 1911: 172)
Auch im weiteren Verlauf des Textes und in der Zusammenfassung werden ›Juden‹ weiterhin beispielhaft für das Erscheinen von ›Rassenmerkmalen‹ und Differenzen zwischen den ›Völkern Russlands‹ genannt und werden vom Effekt her zum Vergleichsparadigma von Differenz. Selbst wenn Tschepourkovskys Beitrag sich nicht explizit mit der Anthropologie der ›Juden‹ beschäftigt, so bewegt sich doch gerade ein solches – fast nebensächliches, gleichzeitig aber für ›Rassendifferenzen‹ signifikantes – Aufrufen der Figur des ›Juden‹ ganz selbstverständlich im Rahmen des Diskurses über die ›Rasse-Eigentümlichkeiten‹ des ›Juden‹. Dieser wird durch solche Texte weiter performativ gefestigt. Stereotype Vorstellungen über den ›Juden‹ tauchen also auch im Kontext des Archiv für Anthropologie auf – allerdings eher nicht in Form offensiv herabsetzender Wertungen, sodern vor allem als metrisch-objektiv identifizierte ›rassische‹ Differenzen. Das für diese Identifizierung angelegte Raster wiederum besteht dabei aus den im Alltagsdiskurs kursierenden Konzepten über den ›Juden‹ – so dass in der von Tschepourkovksy eingesetzten Korrelationsanalyse ganz selbstverständlich ›jüdische Knaben‹ mit ›russischen Mädchen‹ verglichen werden. Im Zuge der durch dieses Verfahren bestätigten Vorstellung von der ›jüdischen Rasse‹ wird wie nebenbei ›der Jude‹ ein weiteres Mal feminisiert. Bei Schiff wiederum werden aus den – offenbar als zu heterogen wahrgenommenen – Daten Schritt für Schritt ›Sonderfälle‹ ausgeschlossen, bis mit den ›Aschkenasim‹ und den ›Sephardim‹ wie durch Zufall nur jene zwei im Hinblick auf den ›Juden‹ konventionalisierten und stereotypisierten ›Haupttypen‹ übrig bleiben. Auch in Schiffs Rasterungen manifestieren sich auf diese Weise konventio181 Zu diesen antisemitischen Stereotypen vergleiche Gilman 1999; Hödl 1997: 259-264.
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nalisierte Konzepte ›jüdischer Differenz‹. Die bei Weissenberg vorgenommene Ausdifferenzierung des ›Juden‹ in eine Vielfalt von ›Typen‹ tritt – wie auch seine Begründung körperlicher Differenzen durch soziale Kategorien – explizit gegen antisemitische Stereotype an. Statt einer Auflösung der ›rassisch‹ konzipierten Kategorie ›Jude‹ jedoch bringt Weissenberg ausdifferenzierte ›jüdische Typen‹ hervor, die letztendlich wieder in ›augenscheinliche‹ und stereotype Konzeptionen münden. Deutlich wird in diesen Analysen die Wirkmächtigkeit diskursiver Konzeptionen ›des Juden‹, die auch bei aller Flexibilität, »Diskursmöglichkeiten anzuwenden« und »verschiedene Positionen der Subjektivität« einzunehmen (Foucault [1969]: 102, 82), höchst ambivalent bleibt und das Feld, anti-essentialisierende Positionen innerhalb des physisch-anthropologischen Feldes einzunehmen, eher eng erscheinen lässt.
Objek tivität und Ur teil Bis hierher wurde – um die Funktionsweise und Produktivität metrisch-statistischer Identifizierungsverfahren zu analysieren – der physisch-anthropologische Diskurs unter der Perspektive metrisch-mechanischer Objektivität fokussiert. Die Kennzeichnung anthropologischer Identifizierungen von ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ als mechanisch-objektiv verdankte sich dabei einem Richtung weisenden Text von Lorraine Daston und Peter Galison, in dem die »erst im mittleren neunzehnten Jahrhundert« auftauchende weitmöglichste Ausschaltung der Forschersubjektivität durch die Mechanisierung wissenschaftlicher Verfahren und die damit einhergehende Herausbildung einer historisch-spezifischen Objektivität – der mechanischen Objektivität – beschrieben wird (Daston/Galison [1992]: 34). Die physische Anthropologie steht, wie bereits ausgeführt wurde, unter dem Diktum solch einer Mechanisierung – im Fall der Anthropologie geht sie mit einer Metrisierung und dem zunehmend selbstverständlichen Einsatz statistischer Verfahren einher. Für die physische Anthropologie könnte also formuliert werde: Die zuvor in Augenschein und Anschauung und damit im Anthropologen-Subjekt verankerte Fähigkeit, das ›Rassentümliche‹ zu sehen, wird in der mechanischen Objektivität metrisch-statistischer Verfahren nunmehr in das zwischengeschaltete Instrument der Statistik veräußert. Die Statistik distanziert vom Gegenstand und rückt ihm gleichzeitig mit ihren Messinstrumenten auf nie gekannte Weise auf den Leib. Was der Anthropologe vor diesem Hintergrund lernen muss, ist nicht mehr der typisierende Blick auf die Körper, sondern die korrekte Anwendung mathematisch-statistischer Verfahren. Der anthropologische Augenschein fällt
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nicht mehr auf die Körper, sondern auf Zahlen und auf die neuen Bildgebungen der Statistik.182 Doch finden sich neben dieser metrisch-mechanischen Perspektive im Archiv für Anthropologie ganz selbstverständlich auch Positionen, die einer durchgehenden Metrisierung zumindest skeptisch gegenüberstehen, sie manchmal sogar ganz ablehnen. Konturiert, aber auch konfrontiert werden kann diese anthropologische Perspektive mittels eines weiteren wissenschaftshistorischen Grundlagentextes von Peter Galison, der den Titel »Urteil gegen Objektivität« trägt (Galison [1998]). Galison beschreibt hier die historische Ablösung der mechanischen Objektivität durch Zugänge, die sich durch eine »explizite, nachdrückliche Forderung nach Urteil und Interpretation« auszeichnen (Galison [1998]: 391): »[I]n einem Fachgebiet nach dem anderen […] wichen Objektivität, Faktizität, Wissenschaftsmanagement einer neuen Welt der Einteilung der Natur, in der sich Urteil, Subjektivität, künstlerische Praxis und Theorie als entscheidendes Moment des wissenschaftlichen Projekts der visuellen Klassifikation zu Wort meldeten.« (Galison [1998]: 407)
Trotz wiederholter Betonung Galisons, diese Verschiebung habe sich nicht als Bruch ereignet, situiert er beide Verfahren in einer relativ strikten Chronologie, deren Umbruch für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts konstatiert wird.183 Im physisch-anthropologischen Diskurs der Jahrhundertwende jedoch ist die Dominanz metrisch-mechanischer und statistischer Zugänge im gesamten Untersuchungszeitraum begleitet von urteilenden und interpretierenden Zugangsweisen, die oft auch in jene mechanisch-objektiven Ansätze eingewoben sind. Zwar erscheint die ›anti-metrische‹ bzw. ›skeptische‹ Position in den meisten Fällen als Opposition und als Re-Aktion auf die anthropologische mechanisch-objektive Euphorie – doch scheint es eine klare Trennung beider Zugänge – zumindest für die Anthropologie – gar nicht gegeben zu haben. Umrissen seien im Folgenden einige ›Gegen‹182 Statistik kann in diesem Sinne als Instrument der Sichtbarmachung begriffen werden (zu den statistischen Visualisierungen vgl. S. 171-190). 183 Das früheste von Galison herangezogene Beispiel stammt von 1941. Allerdings bezieht sich Galison wie auch Daston/Galison [1992] auf naturwissenschaftliche Atlanten. Diese präsentieren – ähnlich wie Lexika – in einer Nachträglichkeit zu den aktuellen Entwicklungen und Strömungen eines Diskurses bereits konventionalisiertes und kristallisiertes Wissen und Verfahren, wohingegen in wissenschaftlichen Fachzeitschriften wie etwa dem Archiv für Anthropologie aktuelle Forschungen und Neuerungen präsentiert werden und somit den in den zeitgenössischen Atlanten präsentierten Kanon aufbrechen. Der von Galison konstatierte Umbruch könnte in der Forschung also schon wesentlich früher geschehen sein.
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bzw. alternative Positionen zu den metrisch-objektiven Absätzen, in denen oftmals auch eine Perspektive der Ästhetik gegenüber dem Primat der Vermessung stark gemacht wird. Beispielsweise findet sich bei Robert Lehmann-Nitsche eine Position formuliert, in der die Effektivität umfangreicher Messungen für die Identifizierung von ›Rassen‹ bezweifelt und vor einem Zahlenfetischismus gewarnt wird, denn: »Mit einer metrischen Methode, mit Zahlen und Indices lässt sich eben der Gesamteindruck eines Kunstwerkes nicht wiedergeben« (Lehmann-Nitsche 1906: 114). Die zu identifizierende ›Rasse‹ erscheint in dieser Sichtweise als Kunstwerk, so dass der Anthropologe zum Kunstkritiker und sogar selbst zum Künstler wird, der den ›Rassetypus‹ wie ein Kunstwerk aus den ihm vorliegenden Schädeln herausschält: »[A]us großen Serien springt der gemeinsame Charakter, das gemeinsame Gleiche ins Auge, wenn dieses eben richtig zu sehen versteht; mit dem Blick des Künstlers und Kritikers, mit bloßem Augenschein muß eben die Schädelform aufgefaßt werden, will man das Rassentümliche daran ersehen.« (Lehmann- Nitsche 1906: 114)
In dieser Perspektive genügt die metrisch-mechanische Objektivität der Vermessung gerade nicht zur Identifizierung von ›Rassen‹. Nur der geschulte und synthetisierende Augenschein – kombiniert mit ästhetischem Verständnis – scheint eine Erfassung der ›Kunst der Natur‹ und damit die Identifizierung von ›Rassen‹ zu garantieren. Der Konzeption des Anthropologen-Künstlers unterliegt zudem eine starke Subjektvorstellung. Auch bei Samuel Weissenberg wird einer künstlerischen Identifizierungsweise gegenüber der mit der metrischen Perspektive assoziierten Anthropologie der Vorzug gegeben: In seiner ›Anthropologie der Juden‹ betont er, dass ein Künstler die Physiognomie des ›feinen jüdischen Typus‹ besser erfassen könnte als die »Mittel der heutigen Anthropologie« (Weissenberg 1895: 269). Dieser Widerstand gegen den Positivismus geht einher mit einem Insistieren auf einer Perspektive der Ästhetik, die explizit mit Fragen von Anschaulichkeit und Blick verknüpft wird: Der AnthropologenKünstler benötigt zwar ebenso wie der Statistiker große ›Materialmengen‹, doch identifiziert er daraus die ›Rassetypen‹ einfach mittels Augenschein – dieser wiederum hat allerdings in der Übung des Auges seine notwendige Voraussetzung. Besonders deutlich wird dies in einem Beitrag von Giuseppe Sergi von 1892/93, der eine Serie von 400 Schädeln in elf Varietäten und diverse ›Subvarietäten‹ einordnet. Dies geschieht gerade nicht in einem metrisch-statistischen Modus, sondern primär via Augenschein, wie aus der folgenden Passage deutlich wird:
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»Ich habe die ganze Serie der 400 Schädel wie sie waren, ungeordnet nach der Form, aber in regelmässigen Reihen auf die Tische gestellt; immer wieder um sie herumgehend habe ich sie eine Zeitlang beobachtet, bis ich nach dem Augenmaass ohne Messung jene Schädel, welche einige Aehnlichkeit untereinander besassen, herausnahm und getrennte Gruppen bildete. Indem ich nun immer wieder die ersten und weiteren Gruppen verglich, habe ich jene Schädel ausgeschieden, welche das Auge getäuscht hatten, und so errichtete ich auch Unterabtheilungen aus jenen Elementen, welche von den Hauptgruppen divergirten. Das geschulte Auge erkennt bald die sich unterscheidenden typischen Formen an mehr oder weniger hervortretenden Spezialcharakteren. […] Aber dies ist erst die vorbereitende Arbeit, das Vertrauen auf sie allein führt leicht in Irrthum und Fehler. Ihr muss die Prüfung mit und Gewissheit mit dem Zirkel in der Hand folgen, denn mehrere dieser charakteristischen Eigenschaften müssen mittels Messung verificiert werden, und hier erkenne ich den Wert der Craniometrie an. […] Diese Prüfung mit dem Zirkel lässt die Eigenschaften besser hervortreten, weist sie mit Sicherheit nach und führt auch zur Eliminirung der fehlerhaft eingestellten Formen (forme illusorie) und jener, welche so gemischt sind, dass sie nicht in eine typische Serie eingereiht werden können.« (Sergi 1892/93: 341f)
Hier wird ein Zusammenspiel von Augenschein und Vermessung entworfen, bei welchem der metrische Zugang jenem Verfahren des »geschulten Auges«, das Urteil und Interpretation einbezieht, nachgeordnet ist.184 Selbst in euphorisch positivistischen Beiträgen blitzt eine Skepsis gegenüber einer Art ›übertriebener‹ Metrisierung auf. Stanislaw Poniatowski, der zwar auf der Suche nach einer Formel ist, »um die Rassen- bzw. Typendifferenzen zahlenmäßig darzustellen« (Poniatowski 1911b: 273), warnt in diesem Zusammenhang vor einer »nutzlos übertriebene[n] Genauigkeit der Indexwerte«, die »entirely fictitous«, »phantastische[s] Spiel«, »sinnlos« seien und nur einen »Scheine der Genauigkeit« erwecken würden (Poniatowski 1911b: 249-251). Der Vermessung wird also offenbar Anschaulichkeit abgesprochen. Der metrisch-mechanische Zugang wendet sich (mehr oder weniger) großen Serien zu – Zahlen, die an den Körpern erhoben und in Serien zusammengestellt werden. Doch diese fragmentierenden Datenansammlungen erscheinen als wenig anschaulich und ermüdend, es wird von Zahlentabellen gesprochen, »die einen angähnen« (Rieger 1885: 35).185 184 In diesem Kontext des Augenscheins steht vermutlich auch die reichhaltige Bebilderung der verschiedenen ›Varietäten‹ mittels Schädelfotografien und druckgraphischen Reproduktionen nach Fotografien. Alfred Schliz merkt bezüglich Sergis augenscheinlichem Verfahren an: »Daß diese Art des Anschauungsunterrichtes des subjektiven Moments nicht ermangelt, liegt in der Art des menschlichen Sehens überhaupt und der Schwierigkeit der Unterbringung der Grenzformen in das richtige Schema bei so vielen ›Specie e Varietà‹.« (Schliz 1909a: 240) 185 Auf diese Stelle bezieht sich Runge (Runge 1891/92: 317).
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Aus den Zahlenserien springt der gemeinsame Charakter – der gesuchte ›Rassetypus‹ – nicht so unvermittelt ins Auge, wie bei der Anschauung der Schädel durch den Künstler-Anthropologen. Als Vermittler zum Erkennen des ›Typischen‹ treten hier metrische und statistische Verfahren auf den Plan. Die Statistik muss vor diesem Hintergrund als Instrument des Sehens begriffen werden: In den Datenanhäufungen sieht sie das ›Normale‹, ›Typische‹ (vgl. auch Czekanowski 1907: 47).186 Mit ihren visuellen Verfahren hat sich die Anschaulichkeit, die dem mechanisch-objektiven Verfahren abgesprochen wurde, immer schon in diesem eingenistet und trägt so dem anthropologischen Primat der Sichtbarkeit Rechnung. Eine diskursive Position, die sich explizit auf der Ästhetik-Seite positioniert, aber dennoch auch um die metrische Objektivität nicht ganz umhin kann, findet sich in den Beiträgen des Gynäkologen Carl Heinrich Stratz, von dem im Archiv für Anthropologie eine ganze Reihe an Artikeln publiziert wurden – was vor allem auch auf die Akzeptanz solcher Positionen innerhalb der metrisch-mechanischen Objektivität der Anthropologie verweist (Stratz 1898;187 Stratz: 1902; Stratz 1904; Stratz 1905; Stratz 1909; Stratz 1911a; Stratz 1911b). Stratz hat außerdem diverse populärwissenschaftliche Bildbände zum Frauenkörper publiziert und damit bereits kunsthistorische und kulturwissenschaftliche Forschungen auf sich gezogen (Friedrich 1997188 u. a.), weswegen im Folgenden ausschließlich seine spezifische Stellung im Archiv für Anthropologie im Hinblick auf die Frage des Verhältnisses von ›Urteil und Objektivität‹ skizziert werden soll. Stratz stellt eine merkwürdige Zwischenposition dar, die zwar metrisch-statistische Verfahren einbezieht, aber primär auf einer Perspektive 186 Auf die Veranschaulichung von Daten komme ich noch zu sprechen (vgl. S. 171ff). 187 Zu diesem ersten Text im Archiv für Anthropologie war Stratz nach eigener Aussage von dessen Herausgeber Johannes Ranke eingeladen worden (Stratz 1898: 233). 188 Hier entsteht allerdings der Eindruck, dass Stratz’ Ansatz als Paradigma der zeitgenössischen Anthropologie gilt, was auf der Grundlage einer Auswertung des Archiv für Anthropologie nicht so ohne weiteres geteilt werden kann. Stratz nimmt hier vom Verfahren her eine Art Ausnahmestellung ein, die allerdings über Jahre hinweg im Archiv für Anthropologie präsent bleiben ›darf‹ – trotz heftiger Kritik an seinem subjektivistischen bzw. ästhetisierenden Ansatz, wie etwa bei Theodor Mollison: »Aber man betrachte einmal die Bilder, an denen andere Autoren, z.B. Stratz […], den Fritschschen Schlüssel anlegen! Die verwegenste Fechterstellung scheint da kein Hindernis zu bilden. Das mag vielleicht dem Laienpublikum, für welches solche Bücher berechnet sind, den Eindruck von Wissenschaftlichkeit machen; der Fachmann aber verlangt diejenige Exaktheit, die für ernste Untersuchungen unerlässlich ist, und diese scheint auch bei Aufnahmen in guter Stellung nur schwer erreichbar zu sein.« (Mollison 1910: 318.)
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des Augenscheins und der Ästhetik besteht. Entgegen der zeitgenössischen statistischen Konvention einer Datenaufnahme ohne ›Vor-Urteil‹ nimmt Stratz jeweils eine Vorauswahl der zu berücksichtigenden Frauen vor.189 Gegenüber dem statistischen »Durchschnittswerth« präferiert er den von ihm so genannten »Normalwerth«: »Wenn wir eine grössere Anzahl von Individuen ohne Wahl messen, und aus den gewonnenen Massen das Medium berechnen, so erhalten wir einen Durchschnittswerth, dessen Bedeutung und Genauigkeit ausschließlich abhängt von der Zahl der gemessenen Individuen. Wenn wir aber nur die jeweils schönsten Individuen nach sorgfältiger Untersuchung aus einer grösseren Zahl auslesen, und die Maasse derselben mit einander vergleichen, so ist der so gefundene Durchschnittswerth zugleich auch der Normalwerth. Die Genauigkeit und Bedeutung des Normalwerthes hängt also hauptsächlich ab von der Sorgfalt, mit der die schönsten Exemplare ausgesucht sind, die Zahl der Individuen spielt nur insofern eine Rolle, als man natürlich unter einer grösseren Anzahl leichter die geeigneten Exemplare finden kann.« (Stratz 1902: 121)
Der »Normalwerth« besteht also aus einem »Durchschnittswerth« einer vorher bereits nach Kriterien der »Schönheit« »sorgfältig« ausgewählten Gruppe. Er stellt gewissermaßen einen normierten Normalwert dar bzw. einen »Normalwerth«, in dem der Begriff »Normal« nicht im Sinne des Link’schen statistisch-normalistischen ›Archipels‹, sondern im Sinne der Norm verwendet wird. Im Hinblick auf diese Norm hatte Stratz für dieses Verfahren in einem früheren Text bezeichnenderweise den Begriff »Idealmaass« verwendet (Stratz 1898: 238). Während der »Durchschnittswerth« explizit an die »grössere Anzahl« gekoppelt wird, wird in obiger Passage dagegen eine prinzipielle Unabhängigkeit der ästhetischen Perspektive von der Anzahl der berücksichtigten Individuen formuliert.190 Die in diesem Kontext aufgerufene Ästhetik-Debatte mit ihrer langen historischen Genea logie äußert sich bei Stratz auch im Hauptfokus seiner Arbeiten auf den Proportionen des menschlichen Körpers. Hierzu werden historische und zeitgenössische Proportionskanons einbezogen und sowohl im Hinblick auf menschliche Entwicklungsgeschichte, als auch – in expliziter Parallelisie-
189 Als Gynäkologe untersucht und vermisst Stratz fast ausschließlich ›Frauen‹. Zu dieser konventionellen Kopplung von Fragen der Schönheit und ›Frauen‹ als Untersuchungsobjekte vgl. Friedrich 1997. 190 Der bereits zitierte Lehmann-Nitsche hatte hingegen – wie in Anlehnung an metrisch-mechanische Zugänge – auch für die Perspektive des Augenscheins Wert auf ›große Serien‹ gelegt (Lehmann-Nitsche 1906: 114).
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rung – auf das Verhältnis der ›Rassen‹ zueinander anlegt (vgl. Stratz 1909; Stratz 1911a; 1911b).191 Stratz reagiert also auf die metrisch-statistische Mechanisierung, insofern er durchaus »Durchschnittswerthe« ermittelt, doch werden hierfür nur Individuen vermessen, die er vorher nach subjektivem Augenschein ausgewählt hat. Für seine Konfiguration des Verhältnisses von Objektivität und Urteil könnte folgende Formulierung stehen: »Jedoch möchte ich betonen, daß ich in der zahlenmäßigen Feststellung lediglich eine Kontrolle der subjektiven Beobachtung erblicke« (Stratz 1905: 93). Wo Stratz’ Zugang in der bei Galison präsentierten historischen Abfolge von Naturwahrheit (17.18. Jahrhundert) über mechanische Objektivität (19. Jahrhundert) zu Urteil und Interpretation (20. Jahrhundert) platziert werden müsste, bleibt unklar. Bei Stratz erscheinen diese Kategorisierungen als verwischt, und ob sein ›Kippen‹ in Richtung einer subjektiv-interpretierenden Perspektive eher als anachronistisch zu bezeichnen wäre (insofern sie sich auf traditionsreiche Konzepte des Proportionskanons stützt) oder als zu seiner Zeit hochaktuelle (insofern sie die mechanische Objektivität schon verabschiedet hat), ist nicht einfach zu beantworten. Diese Unbestimmbarkeit deutet meines Erachtens in Richtung einer stärkeren Vermischung dieser verschiedenen Zugänge, die nicht so trennscharf voneinander unterschieden werden können, wie Galison nahelegt. Doch könnte Stratz, insofern er sich eben vom zeitgenössischen Primat metrisch-mechanischer Objektivität distanziert – egal nun in welche ›Richtung‹ – als ›Ausnahme‹ oder ›Sonderfall‹ innerhalb dieses metrisch-mechanisierten Diskurses gelten. Dass aber dennoch ganz selbstverständlich über mehrere Jahre immer wieder Beiträge von ihm im Archiv für Anthropologie erscheinen, deutet gleichzeitig auf eine Durchlässigkeit des anthropologischen Diskurses für die verschiedenen Herangehensweisen.192 Auch wenn nach Jahrzehnten der euphorischen Datensammlung vielleicht eine gewisse Ernüchterung im Hinblick auf ihren Nutzen für die Identifizierbarkeit von ›Rassen‹ eingetreten sein mag – Fritz Falkenburger schreibt: »Trotz endloser Messungen und Bestimmungen an lebendem und totem Material war die Ausbeute oft nur gering« (Falkenburger 1913: 81) – und eine Einseitigkeit der Methoden kritisiert wird, scheint sich die Dominanz metrisch-objektiver Zugänge nicht einfach aufzulösen, die das Feld
191 Effekt dieser Parallelsetzung ist wiederum eine Hierarchisierung von ›Rassen‹ nach dem Motto: »Auch der gelbe und schwarze Kanon stellt wegen des verhältnismäßig größeren Kopfes einen Zustand dar, der einer niedrigeren Wachstumsstufe der weissen Rasse entspricht.« (Stratz 1911b: 231) 192 Selbst wenn sich dies womöglich Johannes Ranke, dem Herausgeber des Archiv für Anthropologie, als gewichtigem Protegé verdankt.
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jedoch niemals ausnahmslos und vollständig beherrscht haben, wurden sie doch immer auch von widersprechenden Verfahren begleitet. Eine mögliche Kombination von metrisch-objektiven und interpretierend-subjektiven Zugängen in der physischen Anthropologie der Jahrhundertwende wird deutlicher, betrachtet man die beiden für die anthropologische Datenerhebung angesetzten Verfahren: Neben der Vermessung ist hier noch ein zweites Verfahren beteiligt: die Beschreibung von Körpern. Begreift man – für den Moment – beide Verfahren als jeweils paradigmatisch für die beiden Zugänge, wird deutlich, dass auch im Zuge der metrischmechanischen Objektivität ein subjektiver interpretierender und urteilender Zugang nie ganz ausgeschlossen wird: Die metrischen Verfahren beschäftigen sich mit Größen und anderen durch Messung erhebbaren Körperdaten. Sie versprechen Objektivität, Exaktheit und Wissenschaftlichkeit. Die Beschreibung hingegen identifiziert ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ an den ›augen-scheinlichen‹ und ›offen-sichtlichen‹ (morphologischen) Formen und Farben des Körpers. Mehr noch als die Vermessung basiert dieses Verfahren auf der Annahme, dass ›rassische‹ und ›geschlechtliche‹ Differenzen dem Körper einfach anzusehen seien. Mit ›bloßem Augenschein‹ werden Haar-, Haut- und Augenfarben, aber auch Beckenformen, Ohrformen, Nasen und andere Körperteile erfasst. Während die metrisch-statistischen Verfahren die Objektivität der Ergebnisse sichern, scheinen ihr – wie ich bereits ausgeführt habe – potentiell die klaren Konturen der ›Rassetypen‹ aus dem Blick zu geraten bzw. in den Zahlen zu zerrinnen. Vor diesem Hintergrund besteht die spezifische Produktivität beschreibender Verfahren möglicherweise gerade in deren synthetisierender Fähigkeit, aus den Zahlenreihen vieler fragmentierter Körper wieder den ›Rasse‹- bzw. ›Geschlechtstyp‹ erstehen zu lassen. Ihr produktives Potential wäre dann gerade die (Stereo‑)Typisierung.193 Diese kommt nicht nur in den Beschreibungen einzelner Körper zum Tragen, sondern vor allem auch in zusammenfassenden Beschreibungen, die einen aus der Datenauswertung gewonnen ›Rassen‹- bzw. ›Geschlechtstypus‹ charakterisieren. Doch kann diese Stereotypisierung allenfalls als Tendenz ausgemacht werden, denn das Zerrinnen fester Kategorienumgrenzungen ist auch in der Beschreibung anzutreffen, egal ob es hier um Abstufungen verschiedener Farbtöne wie etwa bei Schiff geht, oder um umfassendere Charakterisierungen wie etwa die Folgende: »Die Oberansicht des Schädels ist lang oval. Die Stirn ist nicht sehr voll entwickelt, oft sogar ziemlich flach und tritt zurück. Die Stirnwülste sind sehr kräftig ausgebildet, ebenso auch die Crista supramastoidales. Die Nasenform ist im 193 Damit würde sie an eine lange kunsthistorische Tradition der Typenbildung anschließen.
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Vermessung von ›R asse‹ und ›Geschlecht‹
Ganzen dieselbe bei fast allen Schädeln dieser Gruppe. Der Nasengrund, d.h. derjenige Theil der knöchernen Nase, welcher von den Frontalansätzen des Oberkiefers gebildet wird, ist ziemlich flach: die breiten, massigen, fast stets asymmetrischen Nasenbeine sind dachförmig aufgesetzt, sie sind nur mässig gesattelt und gehen in ihrem Ansatz über die Nasenfrontalnaht hinaus. Mehrfach findet sich eine etwas modificierte Nasenform, die man wohl als Verkümmerung auffassen darf. Sie unterscheidet sich von der oben genannten Form durch die Schmalheit der Nasenbeine, welche sich nach unten stark verbreitern und über die Nasenfrontalnaht nicht hinausgehen. (Nr. 4, 13, 26 und 27.) Diese verkümmerte Form tritt stets in Begleitung gut entwickelter Pränasalgruben auf, während für die typische Nasenform die Fossa innasales charakteristisch sind. Nur 1 Schädel, Nr. 30, weist überhaupt keine Nasalgruben auf.« (Volz 1895: 118)
Solche Beschreibungen wenden sich nicht mehr nur je einem Schädel zu, sondern synthetisieren die zu Gruppen zusammengeführten Schädel im Hinblick auf ihre morphologische Gestalt. Im Abriss der ›typischen‹ Merkmale von Schädelgruppen wird kein individueller Schädel (der etwa als ›typischer‹ diese Gruppe repräsentieren soll) beschrieben, sondern ein ›kollektiver Schädel‹, in dem die Gemeinsamkeiten mehrerer Schädel zu einem kollektiven ›zusammengekocht‹ sind. Gleichzeitig scheint der Prozess der Zusammenfassung durch die Beschreibung hindurch noch auf: Die Beschreibung wird im Singular als allgemeine Typisierung des Schädels (»Die Stirn ist nicht sehr voll entwickelt«) begonnen, doch dann auch ten denziell ausdifferenziert (»oft sogar ziemlich flach und tritt zurück«) oder eingegrenzt (»Die Nasenform ist im Ganzen dieselbe bei fast allen Schädeln dieser Gruppe« oder »die breiten, massigen, fast stets asymmetrischen Nasenbeine«) oder nur auf einige Schädel fokussiert (»Nr. 4, 13, 26 und 27«). Diese Typisierung, die bereits eine gewisse Wagheit beinhaltet, umschließt auch als ›abweichend‹ klassifizierte, dennoch aber einbezogene Formen (»Mehrfach findet sich eine etwas modificierte Nasenform«), deren eine allerdings als »Verkümmerung« klassifiziert wird und sich von der anderen Form »unterscheidet«. Diese »verkümmerte Form« – die bei vier Schädeln identifiziert wird – »tritt stets in Begleitung gut entwickelter Pränasalgruben auf, während für die typische Nasenform die Fossa innasales charakteristisch sind.« Der ›Typus‹ umfasst also eine Bandbreite an Formen, und innerhalb dieser Bandbreite selbst gibt es wiederum ›Typisches‹ und ›Abweichendes‹. Die Konzeption der ›Abweichung‹ als »Verkümmerung« macht diese – wie bei den metrischen Verfahren auch – zu einer nichtfixen, nicht-qualitativen, sondern zu einer Abweichung auf der graduell ansteigenden Trasse des Fortschritts der Entwicklungsgeschichte. Hieraus wird deutlich, dass für die Beschreibung als Datenerhebungs-, aber auch als Auswertungsverfahren eine ähnliche Flexibilität, Heterogenität und Polyvalenz gilt wie für die metrisch-objektiven Verfahren. Dies tritt beispielsweise auch bei Ernst Frizzi deutlich zum Vorschein:
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»Die Spina, wobei speziell die obere gemeint ist, kann die verschiedensten Formen annehmen. sie kann lang oder kurz, dick oder dünn sein. Sie kann geteilt, oft gabelförmig gespalten, sehr verbreitert und stumpf oder lamellenartig ausgebildet sein. Wenn sie gespalten sind, können sie mehrere Millimeter voneinander abstehen oder sich auch sehr nähern, so daß sie schließlich zu einem Stachel verschmolzen sind. Die verschiedensten Nuancierungen nach dieser oder jener Richtung hin habe ich gesehen. Das Insertionsfeld kann sich aber auch beschränkt halten, auf mehr oder minder kreisförmig umzogenen Rauhigkeiten, sonstige Unebenheiten, wie Höckerchen, kleine Leistchen u. dgl. m.« (Frizzi 1910: 271)
In einer positivistischen Perspektive, in der die Vermessung als objektives Verfahren zur richtigen Identifizierung gilt, gerät die Beschreibung aber manchmal in den Ruch, abhängig von der Verfassung des Beobachters, von der Schulung und Übung des Auges zu sein sowie von Licht und Schatten, die auf den Gegenstand fallen.194 Die Beschreibung erhält auf diese Weise einen problematischen Status im Hinblick auf die ›Realität‹ der von ihr identifizierten ›rassischen‹ und ›sexuellen‹ Differenzen. Sie kann sich irren, ist eine Frage der Perspektive und gerät zu einer Instanz, in die ein subjektiver und gestaltender Faktor einfließt – sie wird genau so gekennzeichnet, wie es Galison für den urteilenden und interpretierenden Zugang umreißt. Die metrischen Verfahren versprechen demgegenüber, Subjektivität, Perspektivität und Produktivität zugunsten von Objektivität, Exaktheit und Wissenschaftlichkeit hinter sich zu lassen. In der postulierten Wissenschaftlichkeit des anthropologischen Diskurses um 1900 – der über die mechanisch-objektiven Verfahren neuen Auftrieb erhält – stehen sich aber beide Perspektiven nicht diametral gegenüber, sondern spielen eng zusammen. Nicht nur stehen sie friedlich nebeneinander, sondern scheinen sich gegenseitig anzustecken. Vor allem die beschreibenden Zugänge werden einer Form von Mechanisierung unterworfen: Haar- und Augenfarbtafeln mit durchnummerierten Farbnuan194 So schreibt der französische Anthropologie Paul Topinard – etwa anderthalb Jahrzehnte vor dem Untersuchungszeitraum der vorliegenden Studie außerhalb des Archiv für Anthropologie: »Wie verführerisch manche dieser durch das Auge gelieferten Merkmale und die so a priori erkannten Formen auch sein mögen, sie genügen alle beide nicht, um als Grundlage einer exakten Wissenschaft zu dienen […]. In der That, die Schätzung […] ist in der großen Mehrzahl der Fälle ganz individuell und von der geistigen Verfassung des Beobachters, von seinen letzten Eindrücken, von der Stärke des Gedächtnisses, das seine Augen besitzen, abhängig. Die so gewonnenen Merkmale können ferner stets nur durch unvollkommene Umschreibungen ausgedrückt werden. Je nachdem das Licht auf den Schädel fällt, ändert sich die Physiognomie der Dinge, und Prof. Broca zeigt seinen Schülern täglich, wie man in der Kraniologie gegenüber einem Merkmal ersten Ranges ein Spielball von Illusionen sein kann.« (Topinard [1876]: 214)
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Vermessung von ›R asse‹ und ›Geschlecht‹
cen sollen die Farbbestimmungen anleiten,195 Beschreibungen erscheinen als ›protokollarische‹ Formen tendenziell vereinheitlicht, tabellarisch werden auch beschreibende Stichworte präsentiert und archiviert (z.B. Volz 1899b: 720f; Volz 1909: 90-95). Darüberhinaus sind jedoch beide Verfahren sogar in konstitutiver Weise miteinander verknüpft. Keines der beiden Verfahren genügt für sich allein zur Identifizierung. Vielmehr scheinen beide für das Vorhaben der Bestimmungen von ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ grundlegend aufeinander angewiesen: Die meisten Texte umfassen sowohl vermessene wie beschriebene Daten. Jene Texte, die vor allem Mess-Daten sammeln, überführen diese Vermessungsergebnisse meist in Beschreibungen – eine sehr deutliche Version dieser Transformation findet sich bei Ernst Frizzi: »Der Index steigt über 100 und erreicht bei einem männlichen Peruaner mit 114,4 Einheiten seine höchste Grenze. Wir haben es in solchen Fällen mit sehr breiten, aber kurzen und gedrungenen Unterkieferformen zu tun. Diese Formen verschmälern sich aber um so mehr, je geringer die Differenz zwischen den beiden Maßen wird, sie werden sehr schlank, je mehr diese Länge gegenüber der Angulusbreite an Vorsprung gewinnt. Ein Bakwiri mit einem Index von 69,9 stellt dieses zuletzt beschriebene Verhältnis in der von mir vorgefundenen, ausgesprochensten Form dar.« (Frizzi 1910: 268)
Selbst euphorisch positivistische Beiträge beinhalten meist – auf den Augenschein angewiesene – Beschreibungen, die als Surplus die Daten erklären, vervollständigen, zusammenfassen und illustrieren. Klaatsch etwa betont die Notwendigkeit, dass Zahlen durch »eingehende Beschreibung oder Abbildungen erläutert werden« müssen (Klaatsch 1909: 101).196 Die in erster Linie beschreibenden Texte wiederum beziehen meist auch Vermessungen mit ein, welche die Beschreibungen ›rassischer‹ und ›geschlechtlicher‹ Merkmale als wissenschaftliche ausweisen, sie absichern, beweisen, verifizieren. So verweist der oben bereits zitierte Sergi beispielsweise darauf, dass nach der Typisierung via »Augenmaass« »die Prüfung und Gewissheit mit dem Zirkel in der Hand folgen« muss, dass »mehrere [der] charakteristischen Eigenschaften […] mittels Messung verificiert werden« müssen (Sergi 1892/93: 342). Begreift man die Vermessung also als Repräsentantin des mechanischobjektiven Zugangs und die Beschreibung als jene eines (weiterhin oder wieder) tendenziell subjektiven und urteilenden, so dürfte an diesen Ausführungen deutlich geworden sein, dass auch bei einer Dominanz metrisch-me-
195 Vgl. z.B. Iwanowsky, der die Hautfarbe von Mongolen mit den Ziffern »29 bis 30 und 30« und »24, 26 und 24 bis 26« angibt (Iwanowski 1897: 68). 196 Auf das Erläuterungspotential von Abbildungen komme noch zurück.
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chanischer Objektivität zumindest in der physischen Anthropologie die subjektiven und interpretierenden Aspekte nie ganz ausgeschlossen waren. Doch kehren wir abschließend noch einmal zum wissenschaftshistorischen Text von Peter Galison zurück. Der durch die Metrisierung/Mechanisierung hindurchgegangene Diskurs der Anthropologie erscheint hier nämlich ausgerechnet als zeitgenössisches Paradigma jener von Galison nachgezeichneten urteilenden subjektiven Perspektive. In zwei von Galison herangezogenen Textstellen aus den von ihm analysierten historischen Atlanten wird gegen eine Perspektive der mechanischen Objektivität mit Bezugnahme auf die augenscheinliche Identifizierung von ›Rassen‹ der interpretierend-urteilende Zugang konfiguriert. Ich gebe die beiden Passagen aus einem Enzephalographie-Atlas und einem Atlas astronomischer Spektren wieder: »Wenn es um die Analyse komplexer Muster geht, sind solche [subjektiven] Kriterien äußerst nützlich. Auch wenn man zum Beispiel einen Eskimo von einem Indianer anhand der mathematischen Verhältnisse zwischen bestimmten Körpermaßen unterscheiden kann, so kann doch das geschulte Auge eine ganze Fülle solcher Maße auf einen Blick erfassen und zu einer weit besseren Differenzierung gelangen, als man sie aus einem einzelnen quantitativen Index oder selbst einer Gruppe solcher Indizes ableiten kann. Es wäre allerdings falsch, deshalb die Verwendung von Indizes oder objektiven Messungen zu desavouieren; sie sind nützlich und sollten, wo immer möglich herangezogen werden. Aber ein sehendes Auge, das sich aus vollständiger Vertrautheit mit dem Material entwickelt, ist das wertvollste Instrument, das der EEG [Elektroenzephalogramm]Diagnostiker besitzt; solange man sich dieses nicht erworben hat, ist man nicht kompetent.«197 »Um ein menschliches Gesicht mit Sicherheit erkennen oder festzustellen, zu welcher Rasse es gehört, braucht man keine Schädelvermessung vorzunehmen; ein sorgfältiger Augenschein integriert alle Gesichtszüge auf eine Weise, die sich durch Messungen nur schwer analysieren ließe. Der Beobachter ist sich der Grundlagen seiner Schlussfolgerungen nicht immer bewußt. So ähnlich funktioniert auch die Klassifikation von Spektren. Der Beobachter muß ein gutes Urteilsvermögen mitbringen, um zu entscheiden, mit welcher Bestimmtheit er die Identifikation aufgrund der verfügbaren Merkmale vornehmen kann; ein gutes Urteilsvermögen ist aber in jedem Fall vonnöten, ob die Entscheidung nun aufgrund des allgemeinen Erscheinungsbildes oder aufgrund objektiver Meßwerte getroffen wird.«198 197 Frederic A. Gibbs, Erna Gibbs: Atlas of Encephalography, Cambridge (Mass.) 1941: o.S. [Vorwort]. Zitiert nach Galison 2003: 394 (Einfügungen in eckigen Klammern und Hervorhebungen Peter Galison). 198 William Wilson Morgan, Philip C. Keenan, Edith Kellman: An Atlas of Stellar Spectra. Chicago 1943: 5. Zitiert nach Galison 2003: 402f.
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Vermessung von ›R asse‹ und ›Geschlecht‹
Die Anthropologie wird in diesen Atlanten der 1940er Jahre also als Paradigma nicht eines mechanisch-objektiven, sondern eines urteilend-subjektiven und interpretierenden Zugangs eingesetzt. Beide Passagen erinnern gleichzeitig deutlich an jene Beiträge aus dem Archiv für Anthropologie der Jahrhundertwende, in denen gegen die dominante Metrisierung eine Perspektive des Augenscheins stark gemacht wird. In meiner Argumentation habe ich solche Positionen herangezogen, um zu zeigen, dass in der Anthropologie das Feld zwischen Urteil und Objektivität selbst – bei einer Dominanz metrisch-mechanischer Zugänge – als umstrittenes Terrain erscheint. Galison wiederum verweist im Hinblick auf die obigen Passagen auf das Moment der Gestalterkennung via Augenschein, wie sie in der oben nachgezeichneten spezifischen metrisch-skeptischen Position, aber auch im Alltagsdiskurs zum Ausdruck kommt. Doch fragt er nicht, wie das Spannungsfeld Objektivität – Urteil in der Anthropologie der 1940er Jahre selbst konfiguriert war. Die historische Paradigmatisierung der Anthropologie zum urteilend-interpretativen Zugang wird vielmehr mimetisch weiter verwendet: In einer Zusammenfassung der im zitierten astronomischen SpektralAtlas umrissenen Merkmale des urteilenden Zugangs schreibt Galison, dass damit betont wird, dass »die Evaluation von Sternspektren […] nicht unbedingt ein bewusster Prozeß [ist]. Daß ein Stern rassisch der B-Klassse und nicht der F-Klasse angehört, erkennt man auf einen Blick, blitzartig.« (Galison [1998]: 404; kursiv i.O.) Auf diese Weise entsteht der merkwürdige Effekt, dass die fast paradigmatische Verallgemeinerung eines ganz spezifischen anthropologischen Zugangs weiter getragen wird statt sie etwa zu problematisieren. Aus der Perspektive des in der vorliegenden Arbeit analysierten Materials erscheint diese Einschätzung anthropologischer Identifizierungen angesichts der dezidierten und langjährigen Mechanisierungen der Anthropologie gerade nicht als selbstverständlich. Vielmehr müsste dagegen gerade die Verbreitung und die Langlebigkeit einer Vorstellung von anthropologischer ›Rasse‹-Identifizierung, sie geschehe durch den (geübten) Augenschein, als bemerkenswert hervorgehoben werden.199
199 Die Konfiguration der physischen Anthropologie der 1940er Jahre im Hinblick auf das Verhältnis mechanisch-objektiver und urteilend-subjektiver Zugänge zu untersuchen, eröffnet ein Forschungsfeld, das den Rahmen der vorliegenden Arbeit leider sprengen würde.
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Anthropologische Visualisierungen
»Wenn wir vor ein gutes Fernrohr ein schlecht poliertes Glas setzen, so wird das Bild trübe, die Konturen der Objekte und ihre räumlichen Verhältnisse unbestimmbar. Hier ist dieses Glas der Mangel der Analyse der Völker: Wir vergleichen miteinander die Mittelzahlen oder die physischen Merkmale einer Gruppe von Individuen, welche zufällig einer ethnischen Einheit (Volk) entnommen sind. Es ist aber lange bekannt, dass die Völker aus mehreren Rassen bestehen.« (Tschepourkovsky 1911: 175)
Ethyme Tschepourkovsky münzt diese visuelle Metapher auf die anthropologische Identifizierung von ›Rassen‹: Mit einem gut geschliffenen Glas – jener »Analyse der Völker« – würden, folgt man dem Bild, die Konturen und räumlichen Verhältnisse der ›Rassen‹ sichtbar und das »Fernglas« der Mittelzahlen und der Bestimmung der physischen Merkmale würde seinen wertvollen vergleichenden Identifikationsdienst erweisen. Tschepourkovskys Verortung der physischen Anthropologie im Feld des Sehens geht Hand in Hand mit zahlreichen Formulierungen in anthropologischen Texten, in denen »das Dunkel […] durch die exacte Forschung aufgeklärt« wird (Volz 1895: 147). Damit situiert sich die physische Anthropologie in der metaphysischen abendländischen Tradition der Bevorzugung des Blicks als Erkenntnissinn.200 200 Vgl. zur historischen Durchsetzung des Blicks in den Naturwissenschaften Kutschmann 1986; zur abendländischen Dominanz des Blicks Mersch 2003. Doch es ist nicht der Blick allein, der die Identifizierungen vornimmt: An einigen, wenn auch wenigen Stellen im Untersuchungsmaterial wird die
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Etwas weniger metaphorisch verstanden, impliziert die obige Passage zudem die in der physischen Anthropologie postulierte Sichtbarkeit von ›Rassen‹ und ›Geschlechtern‹. Durchgängig finden sich auch in den anderen Beiträgen Formulierungen aus dem Feld des Sehens: Da »fallen« Merkmale und Differenzen »sofort ins Auge« (Möbius 1907: 2), es geht um »augenscheinlich einheitliches Material« (Volz 1906: 97), um »augenfällige Abweichungen« (Frizzi 1910: 264), Zusammenhänge »zeigen sich unmittelbar« (Czekanowski 1907: 59) oder sind »ersichtlich« (Kollmann 1906: 210), anthropologische Gruppen können mit anderen »augenscheinlich verwandt« sein (Volz 1906: 95), einzelne Individuen können dabei aber auch »aus dem Bild herausfallen« (Volz 1895: 145). Angesichts dieses Sichtbarkeitspostulats richtet sich das Bestreben der physischen Anthropologie darauf, ›anschauliche‹ Ergebnisse zu produzieren und die postulierten Sichtbarkeiten selbst zu veranschaulichen.201 Vor diesem Hintergrund kann das Bild Tschepourkovskys noch direkter verstanden werden, denn zu fragen wäre: Durch welche Fernrohre und welche Gläser schaut die physische Anthropologie, was sieht sie dabei und welche Bilder werden dabei hervorgebracht? In diskursanalytischer Perspektive geht es dabei nicht einfach um Abbildung oder Repräsentation, sondern um die Produktivität visueller Verfahren, also um die Sichtbarmachung von ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹. Der Begriff der Sichtbarmachung bzw. der Visualisierung verweist dabei auf die eigenständige Produktivität und Performanz von anthropologischen ›Bildern‹, die spezifische Effekte der Evidenz hervorbringen. Es werden also nicht einfach Dinge sichtbar, die bereits existieren, sondern sie werden erst ins Licht und damit in die Sichtbarkeit und in das Sagbare gehoben. Der anthropologische Diskurs wendet sich nicht nur dem angeblich Sichtbaren zu, sondern er produziert selbst eine Reihe an Visualitäten und macht auf diese Weise überhaupt erst sichtbar. Er ist selbst um Sichtbarmachung, um Visualisierung bemüht – dabei bildet er nicht einfach ab, sondern bringt vorher nicht Gesehenes/Gewusstes hervor. Visualisieren heißt also, dass das Visualisierte im Visualisierungsprozess erst hervorge-
Identifizierung durch Tasten und Berührung erwähnt, z.B. bei Möbius 1907, bei Frizzi 1910. Bei Macnamara erscheint ein Zusammenspiel taktiler und visueller Verfahren: »Läßt man gleichzeitig Fingerspitzen und Augen über die Oberfläche der australischen und Javahirnschale gleiten und vergleicht man sie so miteinander, so kann man am besten die Ähnlichkeit ihrer Umrisse bezüglich der fraglichen Stellen würdigen.« (Macnamara 1905: 77) 201 Bei Jochelson-Brodsky 1906 wird zum Beispiel an diversen Stellen vom Veranschaulichen gesprochen. Vgl. außerdem Weissenberg 1895: 360; Kollmann 1906: 210; Czekanowski 1907; Schmidt 1910: 101; Schreiber 1910: 67 und viele mehr.
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A nthropologische Visualisierungen
bracht wird. Vor diesem Hintergrund können die Visualisierungen der physischen Anthropologie als bildgebende Verfahren verstanden werden.202 Visualisierungen machen Objekte transportabel und archivierbar und werden so zu eigenständigen Arbeitsobjekten (vgl. auch Latour [1986]),203 an denen Identifizierungen vorgenommen, wiederholt und überprüft werden können: »In solchen zweifelhaften Fällen [wie z.B. einem Streitfall über die Lage des Bregmas in einer zeichnerischen Abbildung; C.H.] können wir nur auf Grund des Studiums der Originalobjekte selbst, oder, wenn diese nicht zu haben sind, auf Grund von Abgüssen nach den Originalen, Photographien und guten Zeichnungen die Entscheidung treffen. So ausgerüstet können wir daran gehen, die Meinungen der Autoritäten über die betreffende Frage zu überprüfen und durch sie unsere eigenen Schlüsse bestätigen und modifizieren lassen.« (Macnamara 1905: 77)
Die anthropologischen Visualisierungen können die ›Originalobjekte‹ also ersetzen und werden auf diese Weise selbst zu Präparaten. Wie hier bereits angedeutet, finden sich im Archiv für Anthropologie ganz unterschiedliche Weisen der anthropologischen Sichtbarmachung: Am Übergang von Schrift und Zahl zur Grafik situieren sich Tabellen, Häufungsschemata und Kurven. Tabellen präsentieren gerasterte (individuelle und kollektive) Körper, Häufungsschemata und an der Gaußkurve orientierte Kurven visualisieren Daten und produzieren Bereiche der ›Normalität‹ und der ›Abweichung‹ des ›Geschlechts‹ und der ›Rasse‹. Fotografien, denen eine Spur des Authentischen, Unmittelbaren anhaftet, folgen kriminalanthropologischen Identifizierungsstrategien oder stellen ihre ›Objekte‹ in Posen der Schönheit aus. Diverse Apparate projizieren Körper als Umrisse, die dann wiederum vermessen und morphologisch verglichen werden können. Vereinzelt tauchen Röntgenaufnahmen auf, die den Blick durch den lebenden Körper hindurch auf dessen Knochen ermöglichen, doch muss ihre Entzifferung erst gelernt werden.
202 Die Produktivität naturwissenschaftlicher Visualisierungen gerät seit einigen Jahren in der Wissenschaftsgeschichte und -forschung, in den Medienwissenschaften, aber auch in der Kunstgeschichte verstärkt in den Blick. Vgl. unter den explosiv anwachsenden Publikationen beispielsweise folgende: Moser 1998; Stepan 2001; Heintz/Huber 2001, programmatisch darin der Beitrag Rheinberger 2001; Angerer/Peters/Sofoulis 2002, darin vor allem die Einleitung Peters 2002; Zimmermann 2005; Heßler 2006 u.v.a. 203 Melanie Ulz führt im Hinblick auf die Visualisierungen Ägyptens durch die naturwissenschaftliche ›Eroberung‹ im Zuge des Feldzugs von Napoleon (1788/89-1801) aus, dass hier eine Übersetzung des Sichtbaren in Zeichnungen stattfindet, die immer auch als Transformation zu begreifen ist (Ulz 2005).
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Im Falle des hier analysierten Materials sind all diese Visualisierungen jeweils in einen Text eingebettet oder ihm in Form von Bildtafeln angehängt. Visualisierungen sollen die Textaussagen stützen, während die Texte wiederum versuchen, den Blick auf die Visualisierungen zu lenken. Es finden sich im Archiv für Anthropologie zwar auch Beiträge ohne Visualisierungen, doch viele zeichnen sich durch eine Zusammenstellung verschiedener Verfahren aus: So finden sich zum Beispiel bei Krum Drontschilow, aber auch bei Friedrich Schiff, Dina Jochelson-Brodsky und vielen anderen Fototafeln, Datentabellen, Kurven und Häufungsschemata (Drontschilow 1913; Schiff 1912; Jochelson-Brodsky 1906). Bei Hermann Klaatsch und Otto Hauser werden Fotografien vom Schädel am Fundort, eine archäologische Zeichnung der Lagerungsstätte im Querschnitt, ein Schädelumriss von oben, eine kleine Datenpräsentation, ein Femur-Umriss und eine freigestellte Fotografie im Profil und fragmentarische Ausschnitte aus Fotografien in zwei Perspektiven abgedruckt (Klaatsch/Hauser 1909). Manchmal werden sogar textuelle Identifizierungen vom visuellen Modus angesteckt, denn manche Körperbeschreibungen lesen sich wie Landschaftsbeschreibungen, wie etwa bei Rudolf Martin: »Am stärksten erhebt sich die Rauhigkeit für das Caput externum des M. triceps, das bei den meisten Individuen einen hohen, oben rauhen und abgeflachten Kamm bildet, der durch seinen gekrümmten Verlauf von hinten oben nach vorn unten parallel mit der ebenfalls deutlichen lateralen Kante (Angulus lateralis [Henle]) die Torsion des Knochens scharf hervortreten lässt. Dadurch wird der Sulcus radialis zur tiefen Furche, wie er sich wohl nie beim Europäer findet. Auch die Rauhigkeiten für die Insertion des M. pectoralis major und deltoides sind, wenn auch in verschiedenem Grade, stark ausgesprochen und selbst die Insertionsstelle des M. teres major bildet meist eine erhabene, mehr oder weniger breite, umschriebene Stelle.« (Martin 1894: 180f; Einschub i.O.)
Doch geben die Visualisierungen immer auch anderes zu sehen, als der Text postuliert. Angesprochen ist hier eine Mediendifferenz zwischen Schrift und Bild: So wie der Text nicht im Bild aufgeht, geht die Visualisierung nicht im Text auf.204 Beide sind nicht Eins zu Eins ineinander übersetzbar. In den folgenden Ausführungen soll diese Mediendifferenz berücksichtigt und im Hinblick auf die Visualisierungen jeweils analysiert werden, was diese denn zu sehen geben. Mediale Differenzen müssen auch hinsichtlich der folgenden schriftlichen Analysen und Argumentationen in Rechnung gestellt werden: Der vorliegende Text erhebt nicht den Anspruch, die Visualisierungen im Medium der Schrift tatsächlich einfangen zu können – vielleicht verdoppelt sich in seinem Verhältnis zu den in den Abbildungen
204 Aus medienphilosophischer Perspektive vgl. hierzu Mersch 2002.
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visualisierten Visualisierungen der vorliegenden Studie jenes Verweisungsverhältnis der anthropologischen Texte zu ihren Abbildungen. Aus den verschiedenen Formen anthropologischer Visualisierungen sollen in diesem Abschnitt vier Sichtbarmachungen exemplarisch herausgegriffen werden, um an ihnen die Produktivität bildgebender Verfahren im Hinblick auf die anthropologischen Identifizierungen von ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ zu erörtern: In einem ersten Kapitel werden verschiedene Visualisierungsformen von Daten vorgestellt. In diesen metrisch-statistischen Sichtbarmachungen wiederholen sich vor allem die im ersten Abschnitt erörterten Effekte tendenzieller Kategorien-Auflösungen in visueller Hinsicht. In einem zweiten Kapitel geraten anhand von Schädel- und Knochenumrissen geometrische und morphologische Identifizierungsweisen der Anthropologie in den Fokus der Aufmerksamkeit. Neben der auch hier anzutreffenden Annäherung ›rassischer‹ und ›sexueller‹ Differenzen wird vor allem die strategische Variabilität von anthropologischen Visualisierungen deutlich. Im Kapitel zu den fotografischen Visualisierungen beschäftige ich mich vornehmlich mit Schädel-Fotografien. Ausgehend von einer exemplarischen Ausgabe des Archivs für Anthropologie, in dem verschiedene Foto-Text-Konfigurationen anzutreffen sind, werden Schritt für Schritt Spezifika anthropologischer Fotografien erörtert. Dabei liegt das Augenmerk vor allem auf den gegenseitigen Verweisungen von Fotografie und Text und auf den sich dabei ergebenden medienspezifischen Lücken. In einem vierten Kapitel schließlich wird eine Untersuchung dreier Ansätze anthropologischer Schädelrekonstruktionen unternommen. Fokussiert wird dabei insbesondere die Umgangsweise der Ansätze mit den dort selbst formulierten Bedenken bezüglich womöglicher Willkürlichkeiten und das Zusammenspiel verschiedener Visualisierungen, welche die dreidimen sionalen Schädelrekonstruktionen noch ein weiteres Mal visualisieren. Abschließend werden die Ergebnisse im Hinblick auf die Frage der Bildgebung zusammengefasst.
Tabellen, Kur ven, Häufungsschemata Mit der ›Metrisierung‹ der Anthropologie sind eine Reihe von Daten-Visu alisierungen wie etwa Tabellen, Kurven und Häufungsschemata verbunden, die im Folgenden hinsichtlich ihrer Konfigurationen, Funktionsweisen und Effekte analysiert werden sollen.
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Tabellen Als Ausgangspunkt dienen Tabellen, in denen das von Anthropologen, Ethnologen, Medizinern, Missionaren usw. gesammelte Zahlenmaterial als »rohes anthropologisches Material« (Jochelson-Brodsky 1906: 5) – in den meisten Beiträgen im Anhang – zusammengestellt und präsentiert wird (Abb. 20 und 21).
Abb. 20: Tabellarische Zusammenstellung von Messdaten (Reche 1909: 234/235, Ausschnitt) Tabellen können als Sinnbild des metrisch-mechanischen Zugangs der Anthropologie gelten. Sie geben der unter positivistischen bzw. metrisch-objektiven Vorzeichen stehenden physischen Anthropologie ihre wichtigsten Arbeitsobjekte: Die anthropologischen Daten werden tabellarisch archiviert und für eine analytische, statistische Auswertung bzw. Bearbeitung
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Abb. 21: Tabellarische Zusammenstellung von Messdaten (Volz 1899b: 723) verfügbar gemacht. Auch die Körper-Beschreibungen – die, wie bereits ausgeführt, eher interpretierende Aspekte beinhalten – werden vereinzelt ebenfalls in Tabellenform statt als »protokollarische[…] Beschreibungen« (Klaatsch 1909: 101) präsentiert. Bei dieser ›Ansteckung‹ durch die Mechanisierung werden Körperbeschreibungen durch rasternde Stichworte zu Morphologie und Farben vorgenommen (Abb. 22).
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Abb. 22: Tabellarische Zusammenstellung von Körperbeschreibungen (Volz 1899b: 720, Ausschnitt) Tabellen stellen eine erste Ordnungsstruktur zur Vergleichbarkeit der Daten bereit: Je nachdem ob ausgewählte Maße verglichen oder ob die Maße eines Individuums zur Kenntnis genommen werden, können sie horizontal oder vertikal gelesen werden. Sobald die Kategorie ›Geschlecht‹ in den Daten explizit mit berück sichtigt wird, erscheint sie als grundsätzliches Strukturierungskriterium von Tabellen, und zwar auf verschiedene Weisen: Manchmal werden die Daten gemeinsam präsentiert und es wird einfach das jeweilige ›Geschlecht‹ angegeben (z.B. Czekanowski 1907: 86-89). Doch erscheinen die Daten oft in nach ›Geschlecht‹ getrennten Tabellen oder Spalten, d.h.
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jede Tabelle(nspalte) wird für sich ›geschlechtlich‹ markiert (u.a. Schmidt 1892/93; Czekanowski 1907; Jochelson-Brodsky 1906: 46-51).205 Bei Tabellen, in denen ›typische‹ Maße verschiedener ›Rassen‹ aufgelistet werden, finden sich extra Spalten oder Zeilen für die ›männlichen‹ und die ›weiblichen‹ Maße, wobei in einer dritten dann oft noch der Mittelwert der beiden eingetragen wird (z.B. Martin 1894) (Abb. 23 und 24).
Abb. 23 und 24: Tabellen nach ›Geschlecht‹ differenziert (Martin 1894: 164) Falls diese Trennung nicht vorgenommen wird, dann werden manchmal – von links nach rechts oder von oben nach unten gesehen – zuerst »die Schädel erwachsener Personen vom jugendlichen Alter bis zum Greisenalter, und zwar zunächst wegen ihrer Aehnlichkeit mit den kindlichen Formen die weiblichen Schädel, dann diejenigen (♀ und ), deren Geschlecht nicht genau bestimmt werden konnte, endlich die männlichen Schädel« angeordnet (Die anthropologischen Sammlungen XI. Heidelberg 1897: VIII).206 Während bei den getrennten Tabellen die ›Zwei-Geschlechter-Ordnung‹ – als Effekt der tabellarischen Anordnung – aufrecht erhalten bleibt, ist in jenen Tabellen, in denen die Daten von den ›Männern‹ über die ›Frauen‹ bis hin zu den Kindern aufgeführt werden, ein Übergang von ›Mann‹ zu ›Frau‹ ohne scharfe Trennlinie zu sehen.
205 Manchmal wird noch das Mittel beider ›Geschlechter‹ angefügt (z.B. Sergi 1892/93: 339-383). 206 Vgl. auch: »In der Tabelle sind die Schädel nach prähistorischen Perioden und nach Fundorten und innerhalb dieser nach dem ›Geschlecht‹ und der Größe des Längen-Breiten-Index geordnet und aus praktischen Gründen fortlaufend nummeriert.« (Reche 1909: 221; vgl. a. Volz 1909: 90-95) Das Zeichen für ›männlich‹ besteht hier aus dem auf dem Kopf stehenden ›Frauen‹Zeichen.
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Neben metrischen und manchmal beschreibenden Daten finden sich in den Tabellen auch Hinweise auf eine unklare Geschlechtsidentifizierung – am auffallendsten visualisiert durch Fragezeichen oder andere Signale. Innerhalb der Tabelle verweisen sie auf die unsichere oder unmögliche Erhebung eines Maßes (zum Beispiel können an defekten bzw. unvollständigen Schädeln nicht alle vorgesehenen Maße erhoben werden). Bemerkenswert jedoch sind die Fragezeichen an jenen Stellen, an denen das ›Geschlecht‹ des Individuums, dessen Daten präsentiert werden, angegeben werden soll: Es wird zwar eine Zuordnung – mittels eines Symbols für ›Frau‹ oder für ›Mann‹ – vorgenommen, doch wird diese mit einem Fragezeichen versehen (vgl. Abb. 20); manchmal begegnet man auch einem Zeichen, das beide Symbole in sich vereinigt – doch ein Fragezeichen ganz ohne begleitende Angabe ist nicht anzutreffen.207 In diesen Fragezeichen, welche die Zuordnung von ›Geschlecht‹ begleiten, treten Unsicherheiten und Zweifel im Hinblick auf die Geschlechtszuschreibungen und damit auch an klaren Abgrenzungen der ›Geschlechter‹ deutlich vor Augen. Oft, aber nicht immer, sind diese Fragezeichen mit einer Thematisierung der Geschlechtszuschreibung im beschreibenden Textteil verbunden, in denen ein nicht immer einfaches Abwägen von Hinweisen durchscheint.208 Die tabellenförmigen Datenpräsentationen können also sowohl Effekte klarer Unterscheidungen hervorbringen, wie z.B. in der Trennung von Tabellen nach ›Geschlecht‹; in ihnen kann aber auch das Problem der Kategorienauflösung aufscheinen. Was in Form der Tabellen außerdem vor Augen tritt, und zwar sehr deutlich, sind die von der physischen Anthropologie vorgenommenen Rasterungen: Der Modus der Rasterung wird selbst visualisiert. Doch erscheinen diese fragmentierenden Datenansammlungen, diese (Zahlen-)Serien, aus Perspektive der Anthropologie wenig anschaulich, sondern ermüdend (vgl. Czekanowski 1907: 47). Aus den Zahlenserien springt der gemeinsame Charakter – der gesuchte ›Rassetypus‹ – nicht so unver-
207 So heißt es in den Tabellen des Katalogs zur anthropologischen Sammlung Erlangens an drei Schädeln: »wahrscheinl. ♀«. Allerdings tauchen die Bedenken in zweien der zugehörigen protokollarischen Beschreibungen nicht mehr auf, dort werden sie jeweils einfach als »[w]eiblicher Schädel« klassifiziert (Die anthropologischen Sammlungen VII. Erlangen 1908: 2 und 6, Beschreibungen Nr. 29 (8) und Nr. 114 (50)). Vgl. a. Reche 1909: 232-237; Widenmann 1898: 382. Bemerkenswert ist die Verwendung eines aus ♀ und ♂ zusammengesetzten Zeichens etwa bei Török 1899: Tabellen im Anhang 1-108. Manchmal sind Fragezeichen auch bei den Altersangaben anzutreffen. 208 Vgl. z.B. jenen mit »♂?« und der Anmerkung »Männlicher Typus, im Grabe aber ›Weiberschmuck‹« versehenen Schädel (Reche 1909: 233).
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mittelt ins Auge wie bei der Anschauung der Schädel durch den KünstlerAnthropologen.209 Als Vermittler zum Erkennen des ›Typischen‹ treten hier metrische und statistische Verfahren auf den Plan. Die metrisch-statistische Identifizierung von ›Rassen‹ geschieht in einem Gros der anthropologischen Beiträge in einem visuellen Modus – wie auch an den zahlreichen Begriffen aus dem Feld des Sehens im Material deutlich wird. So schreibt Teumin beispielsweise im Hinblick auf das Visualisierungspotential zweier Kurven: »Die beiden folgenden graphischen Darstellungen mögen die Größenverhältnisse veranschaulichen.« (Teumin 1902: 383) Das statistische Prinzip besteht darin, Daten-Häufungen zu identifizieren und zu diesem Zweck Daten derart anzuordnen, dass Häufungen entstehen. Ausgangspunkt hierfür ist die Umordnung der ›rohen‹ anthropologischen Daten nach einzelnen Messwerten, so dass für die einzelnen Messwerte jeweils eingetragen wird, durch wie viele Individuen sie repräsentiert werden: »Um sich über die vorkommende Größe eines Merkmales bei Individuen eines Aggregates zu orientieren, ist das Nächstliegende, dieselben der Größe des Merkmales nach in eine Reihe zu ordnen. Diese Umordnung der Beobachtungsergebnisse gibt nicht nur die extremen Größen, sondern sie erlaubt auch die Häufigkeit des Vorkommens einzelner Größen richtiger zu beurteilen.« (Czekanowski 1907: 47)
Ausgehend von solchen Anordnungen werden dann wiederum die ›Rasse‹oder ›Geschlechtstypen‹ bestimmt. Die Statistik kann vor diesem Hintergrund als Instrument des Sehens begriffen werden: In den Datenanhäufungen sieht sie das ›Normale‹/›Typische‹ – in übertragenem Sinne in der rechnerischen Statistik und im wörtlichen in den visuellen Statistik-Verfahren wie Häufungsschemata und Kurven.210 Der anthropologische Augenschein fällt also in diesem Zugang nicht auf die Körper, sondern auf Zahlen
209 Vgl. dazu meine Ausführungen im vorigen Kapitel. Vgl. z.B. auch Hermann Klaatsch: »Die einfachen Zahlen, wenn sie nicht durch eingehende Beschreibung oder Abbildungen erläutert werden, geben ja keine Grundlage für morphologische Beurteilungen.« (Klaatsch 1909: 101) 210 Die von mir vorgenommene Unterscheidung von rechnerischen und visuellen statistischen Verfahren ist in der Statistik nicht üblich und dient hier als Arbeits-Unterscheidung, die auf die eigenständige Produktivität statistischer Visualisierungen verweisen soll. Es kann nicht davon gesprochen werden, dass Ergebnisse ›zuerst‹ errechnet und ›danach‹ visualisiert werden, denn die Statistik beinhaltet immer schon Visualisierungen – wie vor allem am Häufungsschema deutlich wird.
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und auf die neuen Bildgebungen der Statistik.211 Während die Ansammlung von großen »Zahlenreihen« diese »unübersichtlich und für die Vorstellungskraft unfassbar« erscheinen lässt, also »kein klares Bild« ergibt – selbst die von Czekanowski umgeordnete »Reihe ist aber sehr wenig anschaulich« –, eignet sich »[z]ur Veranschaulichung der Eigenschaften eines [Daten‑]Aggregates […] am besten die graphische Darstellung« (Czekanowski 1907: 47). Wie bereits ausführlich dargelegt, geht es im Zuge statistischer Identifizierungen nicht um Durchschnitte von Daten, sondern um ihre Verteilungen im metrischen Feld – die Jürgen Link kollektivsymbolisch mit der Gaußkurve assoziiert sieht. Die Identifizierung von ›Rasse‹- oder ›Geschlechtstypen‹ erfolgt dabei aus Daten-Häufungen, die im anthropologischen Diskurs unter Zuhilfenahme von einer Reihe metrisch-statistischer Visualisierungen ermittelt werden.
Kurven Idealtypisch verkörpert – oder besser: verbildlicht – wird der metrisch-statistische Zugang durch die Gauß’sche Glockenkurve bzw. Normalverteilung, deren ›Bauch‹ das Feld des ›Typischen‹/›Normalen‹ anzeigt. Kurven sind in der physischen Anthropologie – und nicht nur dort – mit Sichtbarkeit konnotiert, an ihnen sollen auf den ersten Blick Gruppen identifiziert werden. Die Gauß’sche Glockenkurve stammt dabei ursprünglich aus einer Visualisierung der Verteilung von Messfehlern bei der Erhebung von Daten. Diese Messfehlerkurve wird übertragen auf alle möglichen Naturereignisse und setzt sich in konzeptioneller und visueller Hinsicht als zentraler Bestandteil des »operationale[n] Basis-Dispositiv[s]« des von Jürgen Link untersuchten Normalismus‹ durch (Link 1996: 329).212 Methodologisch diskutiert wird der Einsatz von verschiedenen Kurven in einem ausführlichen Beitrag zu Statistikfragen von Karl Ernst Ranke und Richard Greiner. Hier werden auch verschiedene Kurven im Hinblick auf ihre jeweiligen Gegenstandsbereiche unter anderem nach Pearson zusammengestellt. Die Zusammengruppierung jeweils unterschiedlichster Bereiche entlang ihrer Kurvenform – Figur 1 z.B. stellt die »Häufigkeitskurve« für »Kindersterblichkeit, Einkommen, Werte von Häusern, Variation von Kronenblättern usw. von Blumen, Cricket scores 211 In einer Annäherung an die mit dem urteilenden Blick verbundene augenscheinliche Identifizierung – oder vielleicht einfach in einer weiteren Komplizierung der bei Peter Galison so unkompliziert aussehenden Abgrenzung – könnte für den metrisch-statistisch-visuellen Zugang der Anthropologie behauptet werden: Auch in den metrisch-statistischen Visualisierungen sind die Felder des ›Typischen‹ wiederum auf den ersten Blick – via ›Augenschein‹ – sicht- und erkennbar (vgl. S. 153-165). 212 Zum dazugehörigen »Kurven-Kombinat« vgl. Link 1996: 329-333.
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usw., Größe der Londoner Schulklassen« dar (Ranke/Greiner 1904: 301) – erinnert an die bei Foucault zitierte chinesische Enzyklopädie (Foucault [1966]: 17) (Abb. 25). In einem weiteren methodologischen Beitrag zur Anwendung von Statistik von Stanislaw Poniatowski begegnet man der Überkreuzung von zwei Gaußkurven (Poniatowski 1911b) (Abb. 26).
Abb. 25: Kurventypologie (Ranke/Greiner 1904: 301)
Abb. 26: Zwei Gaußverteilungen unterschiedlicher ›Rassen‹ (Poniatowski 1911b: 274) Die hier abgebildeten sich überschneidenden Kurven visualisieren die Daten zweier angenommener ›Rassen‹ und werden bei Poniatowski angeführt, um an ihnen die augenscheinliche Bestimmung der ›Rassendifferenz‹ zu de-
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monstrieren: »Wenn wir zwei Gruppen A und B durch die Gaußschen Kurven charakterisieren (Fig. 1), so ist es klar, daß der Rassenunterschied zwischen diesen Gruppen um so größer erscheint, je kleiner das gemeinsame Feld F ist.« (Poniatowski 1911b: 273f) In einem weiteren statistik-methodologischem Text diskutiert der bereits zitierte Czekanowski verschiedene Formen und Schritte der visuellen Datenanordnung und bildet dabei unter anderem ein Häufigkeitspolygon nach der »Rechteckmethode« und eines nach der »Methode der Trapeze« ab (Czekanowski 1907: 50) (Abb. 27).
Abb. 27: Häufigkeitspolygon nach »Rechteckmethode« und nach »Methode der Trapeze« (Czekanowski 1907: 50) Visuell stehen solche Kurven also für das Verfahren der Häufungsverteilung: Der ›Bauch‹ der Kurve stellt dabei das Häufungsfeld dar. Doch wo genau der Randbereich der Abweichung und das Außerhalb des ›Typischen‹/›Normalen‹ beginnen, bleibt in dieser Datenbearbeitungs- und Visualisierungsform – wie auch in all ihren Vorformen und Varianten – arbiträr. Dies ist selbst geradezu einer der (unerwünschten) Effekte solch statistischer Visualisierungen, wie am Beispiel der Beiträge von Wilhelm Volz bereits vorgeführt wurde. In Ethyme Tschepourkowskys »Anthropologischen Studien« (Tschepourkovsky 1911) begegnen wir solchen an die Gaußkurve angelehnten Kurven in der anthropologischen ›Anwendung‹ (Abb. 28).213 In einer ersten Kurve werden die Kopfindizes der vermessenen ›grossrussischen Bauernfrauen‹ visualisiert. Poniatowski spricht hier von einer »bimodale[n] 213 Weitere Kurven u.a. bei Zbinden 1911; Jochelson-Brodsky 1906.
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Abb. 28: Ausdifferenzierung von Kurven (Tschepourkosky 1911: 184) Kurve« (Tschepourkovsky 1911: 159) – einer Kurve also mit zwei Maxima bzw. Häufungsspitzen, die in anthropologischer Perspektive als Visualisierung voneinander unterscheidbarer ›Typen‹ in einer undifferenzierten Datensammlung gelten. In einer zweiten Anordnung werden die präsentierten Daten nach Farbkomplexionen (»blonder« und »brünetter Typus« sowie »Übergangsgruppe«) ausdifferenziert, wobei im Text festgehalten wird, dass diese Kurven ebenfalls je zwei Maxima zeigen, »die Kurve des brünetten Typus jedoch mehr in Richtung Dolichokephalie« verläuft (Tschepourkovsky 1911: 159). In einer dritten Kurvenanordnung schließlich wird die bimodale, erste Kurve in zwei, nach geographischen Regionen differenzierte Kurven ›entzerrt‹, die nunmehr nur noch je ein Maximum enthält:
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»Als ich den Index […] nach Kreisen anordnete […], fand ich zwei ganz deutlich ausgesprochene Zentren beider extremen Formen« (Tschepourkovsky 1911: 159f). Wie bereits bei Poniatowski methodologisch vorgeführt, wird hier die ›Entfernung‹ der Kopfformen zweier ›Typen‹ als zwei Kurven mit unterschiedlichen Häufungen/Bäuchen visualisiert, deren Distanz aus der Überlappung beider Kurven, aber auch aus den vertikalen Abständen der Kurven ersehen werden kann.214
Kurvenvorformen Zu solchen graphischen Kurven finden sich im Archiv für Anthropologie verschiedene tabellarische ›Vorformen‹, die im Folgenden vorgestellt werden sollen. In dieser Zusammenstellung ›von der Tabelle zur Kurve‹ wird der von Hans-Jörg Rheinberger konstatierte »fließende Übergang« von graphischen Darstellungen zu Schrift und Formel deutlich (Rheinberger 2001: 58). Systematisch und historisch erscheint mir der Weg für die metrischstatistische Anthropologie jedoch in der umgekehrten Reihenfolge: von der Schrift/Zahl hin zur graphischen Darstellung. In einem weit verbreiteten tabellarischen Verfahren wird für graduell abgestufte Maßzahlen die jeweils zugeordnete Individuenanzahl eingetragen (u.a. Teumin 1902; Luschan 1891:215 38-40). Bei Koganeï 1894 geschieht diese Zuordnung noch ohne jede Hervorhebung (Abb. 29 und 30). Deutlich wird hier aber bereits, inwiefern für diese Anordnung das Feld selbst durch die Maßeinheiten (56,1–57,0 usw.) schon vorstrukturiert wird.216 In 214 Kurven verschiedener Indices einzeln und zum Vergleich mehrere ineinander bei Drontschilow 1913; zwei versetzte Kurven aus ›Männer‹- und ›Frauendaten‹, die laut Text aber nur »individuelle Schwankungen« visualisieren sollen, bei Jochelson-Brodsky 1906: 9f und 14; Wachstumskurven bei Weissenberg 1895; West 1894; Reuter 1903: 315, 319f, 331 (›Knaben‹ und ›Mädchen‹ in getrennten kleinen Kurven), 316 (ohne Geschlechterunterscheidung, aber zwei verschiedene Altersklassen), 333 (zwei Kurvenanordnungen mit ineinander gelegten ›Mädchen‹ und ›Knaben‹-Kurven); Kurven des Höhenwuchses bei Kirchhoff 1892/93; Seggel 1904; Rietz 1904: 34; umfangreiche Kurven auch bei Schiff 1912; Kurven zum Wachstum jeweils ›sephardischer‹ und ›aschkenasischer‹ Kinder bei Schiff 1915: 353, 355. Tabellarische Zusammenstellung von absoluten und relativen Fußlängen, doch dann graphisch als zwei sich kreuzende Graphen bei Hansen: »Es geht aus dieser Tabelle hervor, dass die absolute Fusslänge mit der Körpergrösse zunimmt, und dieses ergiebt sich noch deutlicher durch die beigefügte graphische Darstellung.« (Hansen 1891/92: 323) 215 Enthält auch eine ›echte‹ Kurve, allerdings mit weißer Linie vor schwarzem Hintergrund (Luschan 1891: 41). Solche tabellarischen Vorläufer zu Häufungsschemata finden sich außerdem auch bei West 1894. 216 Problematisiert wird dies in Czekanowskis methodologischem Beitrag. Dabei wird formuliert, »daß diese Differenz durch den Beobachter selbst bei
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Abb. 29 und 30: Zuordnungen zu Index-Gruppen (Koganeï 1894: 379, 380) der zweiten abgebildeten Anordnung werden außerdem durch Klammern bereits die konventionalisierten Gruppenbildungen (»Prognathie«, »Orthognathie«) angeschrieben, das Zahlenfeld also bereits weiter in sinngebende Kategorien strukturiert. Subtilere Sinngebungen entstehen durch die Quer- und Horizontal linien in solchen Datenanordnungen: Sie scheinen das Feld einfach in gleichmäßige Schritte zu unterteilen, welche die Lesbarkeit der Anordnung vereinfachen (Abb. 31). Doch untersucht man diese Liniensetzungen genauer, wird klar, dass ihre Orientierungsfunktion darüber hinaus darin besteht, die der Bearbeitung hineingetragen worden ist, da er über die Wahl der Grenzen verfügt« (Czekanowski 1907: 51).
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Abb. 31: Liniensetzungen in Tabelle (Volz 1895: 116) Grenzen zwischen den aus Index-Gruppen entworfenen ›Schädeltypen‹ ›hyperdolichokephal‹, ›dolichokephal‹ und ›mesokephal‹ zu markieren.217 Hierbei handelt es sich um eine rein quantitative Fragmentierung des bio logischen Kontinuums in Fünferschritten.218 Die Strukturierung der Tabelle selbst hat also bereits typisierende Effekte – der in Schädelkategorisierungen des Längen-Breiten-Indexes geübte Anthropologe wird in den waagerechten Linien wohl die Zuordnung zu den Index-Kategorien vornehmen können. Bemerkenswert ist aber auch die kleine Störung in dieser ordnenden Tabelle: In den unteren drei Zeilen (80, 82, 89) wird das Zahlenkontinuum unterbrochen. Auf den ›ersten Blick‹ erscheinen die unteren drei Zeilen als eine Index-Gruppierung, die zwei ›männliche‹ Schädel umfasst – der Tabelle ist diese Inkohärenz also zunächst nicht anzusehen. Die Zahl 80, der allerdings kein Schädel zugeordnet wird, markiert noch den regulären Übergang in die Kategorie der ›Brachykephalie‹ (80-84). Da für höhere Indizes aber nur bei 82 und 89 je ein Schädel eingetragen werden muss, ›spart‹ Volz mit diesem Zusammenziehen der Tabelle Zeilen, die doch nur ohne Einträge geblieben wären. Die Grenzlinie zur ›Hyperbrachyke217 Ich habe dies in den Analysen von Volz und Jochelson-Brodsky bereits angemerkt (vgl. S. 50, S. 89). 218 Im Zuge der Einführung dieser Kategorien wurde der Fünfer-Schritt zur bald allgemein verwendeten Konvention von Schädeltypisierungen, die später aber auch kritisiert und verschoben wurden (vgl. Lexeme zu den Schädelkategorien Meyers Großes Konversationslexikon).
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phalie‹, die gemäß Index-Konvention zwischen 84 und 85 gezogen werden müsste, wird einfach weggelassen. Die in der Tabelle selbst angelegte Kohärenz wird auf diese Weise unterlaufen. In einer weiteren tabellarischen Kurvenvorform im selben Beitrag von Volz werden die jeweils als Häufung identifizierten Anzahlen durch Fettsetzung hervorgehoben (Abb. 32).
Abb. 32: Tabellarische Kurvenvorform im Textfluss (Volz 1895: 137) Bereits solche tabellenförmigen Anordnungen werden »Curve« genannt – sie können als tabellarische Kurven (im Gegensatz zur ›Normalform‹ der eigentlichen Kurve – dem (geglätteten) Häufungspolygon) begriffen werden: In ihnen sollen »bedeutendes Ansteigen« und »gleichmässiges Anschwellen« beobachtbar sein. Durch die fett gesetzten Hervorhebungen lenkt Volz den Blick auf die identifizierten Häufungen und betont das Visualisierungspotential (»Ein Blick auf die Curve lehrt uns sofort schon zwei Gruppen sondern«).219 Eine ähnliche Tabelle mit fett gesetzten Hervorhebungen – hier werden Daten verschiedener ›Geschlechter‹ und ›Typen‹ zusammengestellt – wird auch bei Tschepourkovsky als »Kurve« bezeichnet: Im Hinblick auf das Verhältnis der ›Geschlechter‹ sieht er dort einen »deutlich ausgesprochenen Parallelismus [der Statur der Frauen; C.H.] mit der Statur der Männer« und spricht von einer »Kurve des Index, die sehr große Ähnlichkeit mit der der Frauen darstellt« (Tschepourkovsky 1911: 163) (Abb. 33). Auf einer weiteren ›Stufe auf dem Weg zur Kurve‹ können tabellarische Balkendiagramme bzw. gestapelte Kurvenvorformen mit dem visuellen Effekt von Histogrammen bzw. Stabdiagrammen220 platziert werden. Dabei wird nicht einfach nur die Anzahl der ›Treffer‹ angegeben, sondern die (Num219 Umfangreiche Häufungs-Hervorhebungen durch verschiedene Zeichenformate finden sich in den Häufungstabellen bei Erckert, in denen Prozentzahlen in den Tabellen je nach Größe des Anteils mit »gewöhnlichen Ziffern«, mit »kleinen Cursivziffern«, mit kleinen und mit großen »fetten Ziffern« gedruckt werden (Erckert 1891: 81-84 und 248f). 220 Zur Nomenklatur statistischer Visualisierungen vgl. Riedwyl 1975.
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Abb. 33: Tabelle mit Fettsetzungen (Tschepourkovsky 1911: 165) mern der) jeweils gemessenen Körper. So werden in der von Volz präsentierten Jochbogenbreiten-Tabelle, anhand derer er seine Bestimmung der ›typischen‹ Werte skizziert, nicht einfach die Anzahl der jeweils einem Maß zugeordneten Individuen angegeben, sondern ihre Nummern werden übereinander in die Tabelle eingetragen (Abb. 34).
Abb. 34: Gestapelte Kurvenvorform (Volz 1906: 98) Die untere Zeile stellt dabei das millimeterweise abgestufte ›Maßband‹ dar. Im Grunde handelt es sich bei dieser Kurvenvorform um eine ›eindimensionale‹ Häufungstabelle, in der die Streuung eines einzigen Maßes präsentiert wird. Abgelesen werden kann hier, dass jeweils drei Individuen die Maße 138, 139 und 142 mm haben, je zwei die Maße 131 und 132 usw. Durch die Übereinander- bzw. Nebeneinandersetzung der Schädelnummern in dieser Tabellenform entstehen ›Aufhäufungen‹ und die Linie der Kurve, welche die Gipfel dieser Nummernstapel verbindet, ist bereits zu erahnen. Systematisch gesehen handelt es sich hier also um eine ›geschriebene‹ Vorform der Kurve. Formuliert findet sich diese Kurveneigenschaft bei Otto Reche, der Individuen eines Maßes jeweils nebeneinander setzt: »[D]enkt man sich die am weitesten rechts liegenden Nummern durch Linien verbunden, so erhält man eine Kurve« (Reche 1909: 221) (Abb. 35).221 Bei Fritz Falkenburger finden sich umfangreichere und ausgeprägtere Balkendiagramme dieser Art (Abb. 36).222 221 Reche stellt zu zehn verschiedenen Maßen bzw. Indices solche kleinen Tabellen zusammen (Reche 1909: 221f). 222 Balkendiagramme finden sich auch bei Lüthy 1912: 41, 43, 46f. Ob die Individuennummern übereinander, untereinander oder nebeneinander eingetragen werden, spielt keine Rolle; es entsteht dabei immer eine Art Balkendiagramm.
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Abb. 35: Kurvenvorform (Reche 1909: 236)
Abb. 36: Balkendiagramm (Falkenburger 1913: 92) Bei solchen Gebilden handelt es sich um Mischformen von Tabelle und Kurve: Wie in einer Tabelle sind die Individuen mit den entsprechenden Maßen jeweils noch ablesbar, doch zeichnet sich visuell die Kurve bereits ab. Visualisiert werden ›hügelige‹ Verteilungslandschaften mit ›Bergen‹ und ›Tälern‹; visuell funktionieren solche Tabellen wie Kurven ohne Kurvenlinie. Auch wenn die Graphik sich als Tabelle ausgibt, ist sie also schon ›auf dem besten Wege‹ zur Kurve.
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Bemerkenswert an der abgebildeten gestapelten Kurvenvorform bei Reche ist zudem der Eintrag des ›Geschlechts‹ zur jeweiligen Individuennummer, denn hier werden beide ›Geschlechter‹ gemeinsam angeordnet.223 An die Nummern 38 und 63 – die in der tabellarischen Sammlung des Datenmaterial noch mit einem »♀( ?)« versehen worden waren (vgl. Abb. 20) – wird hier das aus beiden Symbolen zusammengesetzte Zeichen für ›Zweigeschlechtlichkeit‹ angehängt. Aus dieser Visualisierung zieht Reche folgenden Schluss: »Aus der Zusammenstellung geht hervor, daß von den 26 angeführten männlichen Schädeln nicht weniger als 19 eine Länge von 190 mm und darüber haben, daß sogar 4 über 200 mm, daß aber kein einziger weniger als 185 mm lang ist. Die Mehrzahl der männlichen Schädel hat also eine ganz außergewöhnliche Länge. Viel kürzer sind die Weiberschädel, die höchstens eine Länge von 183 mm erreichen und deren geringste Länge 176 mm beträgt. Wir haben also bezüglich der größten Schädellänge einen auffallenden Unterschied zwischen den Geschlechtern.«224 (Reche 1909: 221)
Auch in solchen Kurvenvorformen begegnet man also ähnlichen visuellen Überlappungen wie bei den Kurven Tschepourkovskys und Poniatowskis – diesmal treten jedoch die ›Geschlechter‹ auseinander (Reche 1909: 222).
Häufungsschemata Kurven und ihre ›Vorformen‹ ermitteln die Häufung einzelner Maße oder Indices. Doch begegnet man auch Verfahren zur Häufung zweier Maße, wie an einem Beispiel von Volz bereits gezeigt wurde und hier nochmals umrissen werden soll (Abb. 37). Häufungsschemata wie bei Volz setzen zwei Maße zueinander ins Verhältnis, wobei sie im Grunde aus zwei im 90°-Winkel ineinander projizierten tabellarischen Kurven bestehen.225 Solche Häufungsschemata (heute wird diese statistische Datenanordnung Streudiagramm genannt) sollen ein »klareres Bild der Verhältnisse« geben – im günstigsten Fall »fallen« uns die ›Typen‹ nun förmlich »in die Augen« (Volz 1895: 116, 117). 223 Eingeklammert sind dort die Daten der Kinder. 224 Bei der Anordnung der Daten zur größten Breite hingegen »finden wir keine derartige Trennung der Geschlechter« (Reche 1909: 221). Es ist allerdings daran zu erinnern, dass die Geschlechtsbestimmung der Schädel bereits entsprechend ihrer Formen und Größen vorgenommen wurde, es sich hier also um eine tendenziell zirkuläre Argumentation handelt. 225 Weitere Häufungsschemata bei Bauer 1904: 172f; Drontschilow 1913: 166, 171; in eher tabellarischer Form bei Weissenberg 1895: u.a. 364f, 370f; Schiff 1912: 260-269.
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Abb. 37: Häufungsschema (Volz 1895: 117) Im Beispiel von Volz werden zur Hilfe dieser Typenidentifikation punktierte Linien eingezogen. Diese Linienform in Text wie Bild ist verblüffend: Sie dient, wie Volz formuliert, »zur Abgrenzung der im Folgenden aufgestellten Gruppen« (Volz 1895: 116, Fußnote). Sie macht also die Gruppen sichtbar, hebt sie aus der Häufung heraus. Doch gleichzeitig macht die Punktierung die Linien auch durchlässig, die Abgrenzungen erscheinen auf diese Weise wie Provisorien, die im Zweifelsfall wieder ablösbar sein sollen. Auch sind die Abgrenzungen hier nicht (ab)geschlossen, sondern haben an einer Seite einen offenen Rand. An den hier auftauchenden Randbereichen und der Frage, warum die zwei einzelnen Schädel der Spalte 74 nicht auch in die beiden punktiert-gerahmten Gruppen einbezogen werden, sondern aus ihnen herausfallen, ist außerdem das Grundprinzip statistischer Identifizierungen deutlich zu sehen: Die Bestimmung der jeweiligen HäufungsGrenzen und der daraus abgeleiteten ›Typen‹ ist arbiträr. An den Datenvisualisierungen wird sichtbar, dass im Rahmen statistischer Konzeptionen Kategoriengrenzen nicht qualitativ, sondern quantitativ bestimmt werden. Effekt ist dabei, dass keine absolute und klare, qualitative Grenzziehung zwischen den verschiedenen ›Rasse‹- oder ›Geschlechtstypen‹ stattfindet. Die Identifikation von ›Rassen‹ und von ›Geschlechtern‹ wird auf diese Weise potentiell unterlaufen. Noch deutlicher wird dies an Häufungsschemata, in denen keine orientierenden Umgrenzungen eingezogen wurden und Ab- bzw. Umgrenzungen von Häufungen nicht derart evident erscheinen, wie in der physischen Anthropologie konstatiert (vgl. Abb. 6).
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Die Statistik kann also als Instrument des Sehens begriffen werden: In den Datenanhäufungen sieht sie das ›Normale‹, ›Typische‹. Das Potential, das ›Rassentümliche‹ zu sehen, wird in der mechanischen Objektivität der metrischen Verfahren in das zwischengeschaltete Instrument der Statistik veräußert. Der anthropologische Augenschein fällt in diesem metrisch-mechanischen Modus auf Zahlen und Datenanordnungen, auf die neuen Bildgebungen der Statistik. Kurven und Häufungsschemata visualisieren metrische Daten und identifizieren in den Häufungen Felder des ›Typischen‹.226 Sie sind mit Sichtbarkeit konnotiert, an ihnen sollen auf den ersten Blick Gruppen identifiziert werden. Doch gleichzeitig unterlaufen sie die Felder des ›Typischen‹ von den Rändern her auch wieder und visualisieren deren Verstreuungen, wie besonders gut an den umfangreicheren Häufungsschemata gesehen werden kann (Volz 1895: 156-159) (Abb. 38).227
Abb. 38: ›Sammel‹-Häufungsschema (Volz 1895: 159) 226 Ich selbst bin in einem früheren Text bei einer Erläuterung eines Häufungsschemas dem abgrenzenden und punktierenden Verfahren der Blickführung durch Linien ›auf den Leim gegangen‹, insofern ich dort selbst eine Linie eingetragen habe, um meinerseits Volz’ Typisierung zu visualisieren (Hanke 2000a: 195). 227 Gleichzeitig machen diese unscharfen Ränder aber auch die Effektivität naturwissenschaftlicher Wissensproduktionen aus: Flexibel können die Grenzen der Kategorien je nach Bedarf verengt oder gedehnt werden – das beschreibt Jürgen Link als Machteffekt des flexiblen Normalismus.
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Umrisszeichnungen Neben Kurven, die metrische Daten visualisieren, findet sich im anthropologischen Diskurs noch eine ganz andere Form von Kurven, nämlich Visualisierungen von Schädel- und Knochenumrissen, die vor allem zur geo metrischen und morphologischen Identifizierung dienen – sie werden als »Kurvensysteme, die sich ganz naturgemäß ergeben«, bezeichnet (Klaatsch 1909: 104). Zu ihrer Herstellung bedurfte es vormals offenbar ›invasiver‹ Methoden, die nun durch verschiedene ›nicht-invasive‹ Apparaturen ersetzt werden: »[W]ährend man früher zur Zersägung [des Schädels; C.H.] seine Zuflucht nehmen musste, um irgend welche Gestaltungen zu Papier zu bringen, ist es jetzt möglich, den vollkommen intakten Schädel mit der Nadel des diagraphischen Weisers nach allen Richtungen hin zu bestreichen und somit Kurven jeder gewünschten Art zu erhalten.« (Klaatsch 1909: 104)
Eingesetzt werden Apparate wie der Diagraph, der Kraniograph oder der Lucae’sche Zeichenapparat, mithilfe derer ein (individueller) Schädel bzw. Knochen auf eine zweidimensionale Fläche projiziert wird228 – alle diese Vorrichtungen werden immerzu überarbeitet und verbessert.229 Insofern die Apparate den Blick und den Zeichen-Stift anleiten, mechanisieren sie den Vorgang der Visualisierung, in dem dreidimensionale Objekte in zweidimensionale Zeichnungen transformiert bzw. übersetzt werden. Durch die Zeichenapparate werden offenbar vor allem die Unannehmlichkeiten des manuellen Zeichenvorgangs an zersägten Knochen umgangen: »Alle diese Unannehmlichkeiten fielen fort, nachdem es gelungen war eigens für diesen Zweck einen Zeichenapparat zu konstruieren, der die Umrisse auf einfache Weise zu Papier brachte, ohne daß der Knochen zerschnitten werden musste.« (Michel 1904: 110)
228 Auch die meisten Körper-Maße werden in einem Modus der Projektion abgenommen – ohne Umrisse auf Papier festzuhalten: Schon die Höhe des Schädels (im Vergleich zu seinem Umfang) muss über eine (›gedachte‹) Projektion in die zweidimensionale Fläche (und dann auf die Linie) ermittelt werden. 229 Vgl. z.B. Beschreibungen solcher Apparate unter den Lexemen »Kraniograph« und »Lucae’scher Zeichenapparat« in Meyers Großem Konversationslexikon. Auf die Funktionsweise der verschiedenen Apparate kann hier leider nicht eingegangen werde. Es soll aber darauf hingewiesen werden, dass sich auch im Zuge dieses Mechanisierungs-›Schubs‹ Positionen finden, sich lieber der »einfachsten Methoden« zu bedienen – diese sind noch stärker auf die Hand des Anthropologen, seinen »[s]charfe[n] Blick und feine Beobachtungsgabe« angewiesen (Klaatsch 1909: 103).
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Diese Mechanisierung geschieht unter dem Diktum von mechanischer Objektivität, die Apparaturen stellen die Glaubwürdigkeit der so hergestellten Zeichnungen sicher und garantieren ihre Wissenschaftlichkeit. Bei Kollmann/Büchly wird im Hinblick auf solche Zeichenapparate zum Beispiel formuliert: »Beide Linien sind mit optischen Hülfsmitteln hergestellt, welche eine Abweichung von dem Original ausschliessen. Die Profillinie des Schädels ist mit dem Orthoskop von Lucae gezeichnet, die Profillinie der Weichtheile mit dem Projectionsapparat von der Originalphotographie aus vergrössert worden.« (Kollmann/ Büchly 1898: 345)230
Doch da bei diesen Prozeduren die Hand des Anthropologen mit im Spiel ist und zum Beispiel mit einem Zeiger am Schädel entlangfahren muss oder durch die Apparaturen geleitet bzw. geführt wird, spreche ich im Folgenden von halbmechanischen Verfahren (im Unterschied zur fotografisch-mechanischen ›Selbstaufzeichnung‹).
Umrisse und Linien – geometrisch und morphologisch Die Zeichenapparate leiten die Projektion des Schädels in eine zweidimensionale Umriss-Zeichnung also (halb)mechanisch an. Hergestellt werden insbesondere Profilansichten, aber auch Basalumrisse des Schädels (Unteransichten) und Mediandiagramme der Mandibula (Querschnitte durch den Unterkieferknochen).231 An den auf diese Weise hervorgebrachten (flächigen) Arbeitsobjekten werden morphologische und geometrische Identifizierungen vorgenommen. Oft werden hierbei weitere – geometrisch erzeugte – Linien auf den Plan gerufen: Verbindungslinien zwischen verschiedenen Punkten oder auf Einzelpunkten konstruierte Vertikalen. Eine dieser Identifizierungsformen ist darum bemüht, am Schädel bestimmte Winkel, also geometrische Verhältnisse zu erheben.232 Diese 230 Auf den um 1900 durchaus üblichen Medienübergang von der Fotografie in die Zeichnung kann an dieser Stelle nur hingewiesen werden. 231 Für die Mandibula werden zum Beispiel drei Ansichten aus verschiedenen Perspektiven gezeichnet (Klaatsch 1909: 104-107, 109 und 115). Auf die Präsentation verschiedener Ansichten desselben Gegenstandes komme ich im Hinblick auf die Fotografien noch zu sprechen. 232 Erwähnt werden aber auch Techniken der Winkel-Identifizierung direkt – ohne den Weg über visualisierende Transformationen – am Schädel, z.B. durch Mortons erstes Goniometer (Lüthy 1912: 3), aber auch durch das Török’sche Gnathometer und das Broca’sche Goniomètre mandibulaire (Frizzi 1910: 268). Entsprechende Zeichnung zur Erläuterung solcher Winkelabnahmen u.a. bei Waruschkin 1899: 405 (textuelle und graphische Erläuterung Waruschkin 1899: 374).
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Winkelbestimmungen stehen in einer genealogischen Linie zu Campers Gesichtswinkel, in dem anhand verschiedener Gesichtswinkel starke Hierarchisierungen von Mensch, Tier und verschiedenen ›Rassen‹ vorgenommen wurden (vgl. z.B. Bormann 1994: 145-147). In der physischen Anthropologie um 1900 werden aber eine ganze Reihe weiterer Verbindungslinien zwischen verschiedenen – jeweils zu bestimmenden – anthropologischen Punkten am Schädel (z.B. Basion und Nasion, Glabella und Lambda, Bregma und Infraorbitalpunkt) gezogen, deren Winkel zueinander als Gradmesser bestimmter morphologischer Verhältnisse gelten. »Auf dem Profildiagramm trage ich eine Anzahl von Linien auf, deren Proportionen und Winkelbeziehungen zueinander die […] Eigentümlichkeiten einzelner Objekte wiedergeben.« – so formuliert Hermann Klaatsch (Klaatsch 1909: 107). Die Morphologie wird in diesen Prozeduren geometrisiert (vgl. a. Macnamara 1903: 249).233 Während die Abbildungen bei Falkenburger (Falkenburger 1913) eher skizzenhaft und auf die geometrischen Linien fokussiert erscheinen (Abb. 39), präsentiert Klaatsch um weitere Daten angereicherte Umrisse, nicht nur des Schädels, sondern v.a. auch der Mandibula (Klaatsch 1909). Vergleichend zum Umriss eines ›Europäerschädels‹ erscheinen auch zwei Umrisse eines ›männlichen‹ und eines ›weiblichen Australierschädels‹, die im Text beschreibend verglichen werden (Abb. 40-42). Diese ›elaborierte‹ Version von geometrisierten Schädelumrissen wird bei Klaatsch »Kranio trigonometrie« genannt (Klaatsch 1909: 121; vgl. a. Rauber 1907: Tafel II-V). Die durch die Einzeichnung ausgewählter Verbindungslinien in den Umriss identifizierten geometrischen Verhältnisse ›des Schädels‹ können wiederum vom Umriss losgelöst werden und als ausschließlich geometrische Figur weiter kursieren, in der nur noch das Verhältnis der Winkel dreier Verbindungslinien visualisiert wird, wie etwa die übereinander gelegten Gesichtsdreiecke bei Lüthy (Abb. 43). Aus ihnen werden bestimmte geometrische Verhältnisse ersichtlich – Lüthy formuliert: »wie der Augenschein lehrt« (Lüthy 1912: 37). Die Visualisierung geometrischer Verhältnisse führt Lüthy nach ihrer augenscheinlichen Rezeption dazu, das Maß einer der in der »Frankfurter Verständigung« vereinbarten Schädelkategorien zu korrigieren:
233 Vgl. außerdem den Beckenumriss mit eingezogenen Linien bei Martin 1894: 193; Schädelumrisse mit schraffierten Einfügungen und mit eingezeichneten Linien in verschiedenen Größen bei Schliz 1905: 192, 195, 199, 209; Umrisse mit Linien und Winkeln bei: Widenmann 1898: 366, 369; eine Reihe von Umrisszeichnungen des Sprungbeines mit Hilfslinien zur Visualisierung seiner Lage in Horizontaler und Vertikaler bei Poniatowski 1915; in den Text eingedruckte, zusammen gruppierte Schädelumrisse (Draufsicht und Profil) mit eingetragenen geometrischen Linien bei Schliz 1909a, 1910.
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Abb. 39: Geometrisierte Umrisse (Falkenburger 1913: 90/91)
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Abb. 40-42: »Kraniotrigonometrie« (Klaatsch 1909: 117-119)
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Abb. 43: Gesichtsdreieck (Lüthy 1912: 26) »Nach reiflicher Überlegung, und nachdem ich wiederholt und eingehend den Eindruck auf das Auge geprüft habe, habe ich mich entschlossen, die untere Grenze der Orthognathie von 82° [Vorgabe der Frankf. Verst.] auf 85° hinaufzuschieben. Für das geübte Auge können Schädel von unter 85° nicht mehr als orthognath gelten.« (Lüthy 1912: 39; Einschub i.O.)
Die losgelösten geometrischen Linien müssen nicht mehr auf individuelle Einzelschädel verweisen, sondern können zudem auch Mittelwerte und auf diese Weise ›typische‹ Winkelverhältnisse visualisieren.234 Außerdem erscheint die Ermittlung solcher Winkel als ein »wertvolles Mittel zur Rekonstruktion gefundener Schädelbruchstücke« (Falkenburger 1913: 95), und zwar v.a. zur Rekonstruktion des Typus: »Natürlich muß man stets in Erinnerung behalten, daß eine absolut genaue Konstruktion für manche Einzelfälle nicht möglich ist, aber trotzdem werden die gefundenen Beziehungen mit Glück zur Rekonstruktion des ›Typus‹ verwertet werden.« (Falkenburger 1913: 95) Doch werden durch Einzeichnen gerader Linien in die Umrisse nicht nur bestimmte Winkel sichtbar gemacht, sondern auch bestimmte Teile des Umrisses visuell abgetrennt. Die spezifischen Effekte solchen Vorgehens werden an einem Beitrag von Ernst Frizzi deutlich, der sich kritisch mit Klaatschs Unterkiefer-Identifizierungen auseinandersetzt (Frizzi 1910). 234 Vgl. auch die so genannten »Profilschemata« Lüthys, die in etwas anderer Gestaltung als die Gesichtsdreiecke ebenfalls geometrische Verhältnisse losgelöst vom Schädelumriss visualisieren, und zwar sowohl von ›Rassetypen‹ als auch von individuellen Schädeln (Lüthy 1912: 53f, Fig. 16 und 17).
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Klaatsch nutzt die für die Winkelgewinnung konstruierte so genannte »Incisionsvertikale« zusätzlich zur morphologischen Analyse: Je nachdem ob sie den im Umriss visualisierten Kinnvorsprung schneidet, unterscheidet er ein »Negativkinn«, ein »Positivkinn« und ein »Neutralkinn« (Klaatsch 1909: 108) (Abb. 44-46). Frizzi schlägt demgegenüber eine Korrektur an
Abb. 44-46: »Negativkinn«, »Positivkinn« und »Neutralkinn« (Klaatsch 1909: 104, 105, 107)
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Klaatschs Vertikale vor, und zwar »derart, daß man zu dieser eine Parallele zieht, bis sie in den hintersten Rand der alveolaren Einschnürung als Tangente schneidet.« (Frizzi 1910: 261) Diese Verschiebung verändert den Eindruck, den das jeweilige Kinn macht, radikal: »Auf diese Weise verlängere ich die ›Positiv‹-Kinne noch um ein beträchtliches, ich mache aus einem ›Neutral‹-Kinn ein Positivkinn, ja selbst ›Negativ‹-Kinne, wie Klaatsch (1909) diese Formen bezeichnet hat, werden zumeist in Unterkiefer mit einem wirklich vorspringenden Kinn umgewandelt werden können, sobald ich meine Korrekturvertikale konstruiert habe.« (Frizzi 1910: 261)
Doch wird diese ›Manipulation‹ im Dienste der anthropologischen Wahrheit vorgenommen, es geht Frizzi um die Frage, ob die Kinne, die er zuvor durch Tasten identifiziert hatte (Frizzi 1910: 258), in der Zeichnung überhaupt bzw. ›richtig zum Ausdruck kommen‹. Doch kann einem potentiel len ›Mangel‹ der Visualisierung durch verschiebende Korrekturen entgegengewirkt werden: »Da sämtliche von mir untersuchten Unterkiefer ein Kinn hatten, vielleicht dasselbe auf zeichnerischem Wege aber doch nicht so richtig zum Ausdruck kommen kann, so liegt das nicht im Fehlen eines Kinnes, sondern in der Mangelhaftigkeit der Darstellungsmöglichkeit. Da dieselbe aber in den meisten Fällen, insbesondere nach meiner Korrektur auf unsere Fragen genügenden Bescheid gibt, behalte ich trotz der Mängel des Verfahrens dasselbe bei.« (Frizzi 1910: 261)
Die (mechanisierte) Visualisierung bringt also nicht etwa ›von sich aus‹ den richtigen Ausdruck des Körpers hervor, sondern muss durch Korrekturen zumindest soweit verändert werden, dass auf die Frage nach dem Kinn »genügend Bescheid gegeben« wird: Erst die Verschiebung einer Linie bringt »den wahren Kinnvorsprung zur Darstellung« (Frizzi 1910: 261). Trotz hier angedeuteter, womöglich noch weitergehender Mängel wird das Visualisierungsverfahren selbst aber beibehalten. Frizzi visualisiert die Differenz der Effekte von Klaatschs Horizontaler und seiner Korrektur-Verschiebung unter anderem an einem MandibulaUmriss, an dem beide Linien eingetragen werden (Abb. 47).235 Aus diesem visuellen Vergleich folgert Frizzi: »Man sieht, wenn ich meine Korrekturvertikale gezogen habe, einen deutlichen Kinnvorsprung.« (Frizzi 1910: 273; vgl. a. Frizzi 1913: 267, Fig. 9) Ein Kinn wird in einer Umrisslinie also nicht einfach von selbst sichtbar, sondern muss durch bestimmte der Visualisie-
235 Vgl. auch die Mediandiagramme mit den beiden Vertikalen in Frizzi 1913: 267.
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A nthropologische Visualisierungen
Abb. 47: Korrekturvertikale (Frizzi 1910: 273) rung hinzugefügte Linien erst sichtbar gemacht werden – von deren Anordnung ist dann abhängig, ob etwas als Kinn sichtbar wird oder nicht. Auch wenn die Visualisierungen bei Frizzi eher als illustratives und veranschaulichendes Supplement von Identifikationen gelten – das zu visualisierende Wissen (die zuvor ertasteten Kinne) geht der Visualisierung zu einem gewissen Grad voraus –, so scheint mir an seiner ›Korrektur‹ doch Symptomatisches für die Produktivität und die performativen Effekte von Umrisszeichnungen – aber auch des wissenschaftlichen Prozesses überhaupt – abzulesen zu sein. Frizzis Korrektur erscheint nicht als ›Manipulation‹, sondern als wissenschaftlich akzeptiertes Mittel, das ›Richtige‹ sichtbar zu machen – Falkenburger z.B. korrigiert mit einer anderen Rekonstruktion Klaatsch und erntet dafür dessen Beifall.236 Je nach Darstellungsform wird Anderes sichtbar und damit existent/evident gemacht. Und so ist es vielleicht kein Wunder, dass die Visualisierungen Klaatschs und Frizzis auch mit unterschiedlichen anthropologischen Diskursposi tionen verbunden sind: Klaatsch unternimmt eine relativ strikte Fragmentierung der Unterkiefermorphologie in »Positivkinn« und »Negativkinn« (Kinn oder Nicht-Kinn), um dann die ›Europäer‹ mit ersterem und die ›niederen Rassen‹ mit zweiterem auszustatten. Der Kinnbildung wird dabei eine phylogenetische Bedeutung zugesprochen, die von einer ›Urform‹ zwei Wege eingeschlagen habe (Klaatsch 1909: 110), wobei – wie in vielen anderen entwicklungshistorischen Ansätzen – ›Australier‹ und andere sogenannte ›primitive Rassen‹ in enger Beziehung zu ›prähistorischen Rassen‹ 236 Eine zeichnerische Schädelrekonstruktion des Neandertalers von Klaatsch wird »durch Verlegung einzelner Punkte der Rekonstruktion […] mit den […] geltenden Werten in Einklang« gebracht (Falkenburger 1913: 94).
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verortet werden: »[B]eiden primitiven Menschen ist das zurückweichende ›fliehende Kinn‹ eigen.« (Klaatsch 1909: 108) Zwar deuten die Kategorie des »Neutralkinns« und die am Rande erwähnten »[v]ermittelnden[n] Zustände, die um das Neutralkinn variieren« (Klaatsch 1909: 110), auch auf Übergänge und flexible Grenzziehungen hin, doch erscheint die Differenz zwischen »Positiv«- und »Negativkinn« relativ groß – die Verhältnisse von ›Australier‹-Mandibula zu fossilen Kiefern werden als »überaus einfache und klare Resultate« gekennzeichnet (Klaatsch 1909: 108). Frizzi dagegen wandelt mittels seiner Korrekturvertikalen, »wonach […] bei sämtlichen Unterkiefern der stets tatsächlich vorhandene Kinnvorsprung so gut als möglich abgeschnitten in Erscheinung tritt« (Frizzi 1910: 267), alle Kinne zu »Positivkinnen« um und unterwandert damit die tendenziell dichotomische Konzeption Klaatschs. Mittels seiner Vertikalenverschiebung entfernt er auf diese Weise auch zwei ›Australier‹-Mandibula visuell von einem prähistorischen Unterkiefer (Frizzi 1910: 273, Fig. 6 und 7). Diese Umarbeitung von Klaatschs Zeichnungen geht bezeichnenderweise damit einher, dass Frizzi nunmehr – was das Kinn betrifft – ausschließlich individuelle Variationen zugeben will, nicht aber ›rassisch‹ eindeutig zuordenbare Kinnformen.237 Zwar werden auch bei Klaatsch individuelle Variationen erwähnt, doch fokussiert er deutlich stärker auf große und systematische ›Rasse‹-Differenzen – schließlich plant er eine »spezielle Rassenmorphologie der Kinnbildung auszuarbeiten« (Klaatsch 1909: 112). Demgegenüber verschiebt die Vertikalen-Verschiebung Frizzis auch die Sichtbarkeit von Differenz: Was vorher noch als grundlegende Differenz erschien, gruppiert sich nun zusammen, bei allen Schädeln wird ein Kinn sichtbar. Um an den in der Einleitung bereits ausgeführten Aspekt der strategischen Perspektivierung der Anthropologie zu erinnern, könnte Klaatschs Liniengebung in diesem Fall die Erzeugung möglichst großer Differenz zugesprochen werden, während Frizzi diesem Diktum zu entgehen oder ihm gegenüber resistent zu sein scheint. Angesprochen ist damit die strategische Polyvalenz anthropologischer Identifizierungsverfahren. Ohne definitiv entscheiden zu müssen, ob eine Position, individuelle Differenzen gegenüber ›rassischen‹ hervorzuheben, der Wahl der Mittel vorangeht, wird hier doch deutlich, dass andere Visualisierungen tatsächlich anderes zu sehen geben und damit andere Identifizierungsverfahren andere Wahrheiten und anderes Wissen hervorbringen können.238 237 Frizzi stellt – zur Visualisierung der seiner Ansicht nach gerade nicht ›rassisch‹ zuordenbaren Vielfalt an Kinnformen – am Ende seines Beitrages auf fünf Seiten eine ganze Reihe von Mandibula-Umrissen mit eingezeichneter Korrekturvertikale zusammen (Frizzi 1910: 277-281). 238 Lüthy selbst spricht in diesem Zusammenhang von »große[r] Mannigfaltigkeit« (Lüthy 1912: 9).
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Obwohl es sich also bei den Umrisszeichnungen um halbmechanische Gebilde handelt – aus der Mechanisierung gewinnen sie ihren objektiven Charakter –, ist ihnen weiterhin Perspektivität eingeschrieben und sie können ›mannigfaltig‹ modelliert und korrigiert werden – doch geschieht all das, ohne dass sie ihren objektiven Charakter einbüßen. Je nach Konfiguration und Anordnung der verschiedenen Elemente solch graphischer Visualisierungen können ganz unterschiedliche Dinge sichtbar und existent/ evident gemacht werden.
Übereinander/Ineinander Für die anthropologischen Identifizierungen der Umrisse werden neben Verbindungslinien auch weitere Umrisslinien hinzugezogen. Zu Vergleichszwecken ist es weit verbreitet, zu vergleichende Umrisse nicht nur nebeneinander zu setzen,239 sondern zwei (oder mehrere) Umrisse übereinander zu projizieren bzw. ineinander zu zeichnen – darin liegt ein besonderes Potential solcher Umrisszeichnungen. Die auf diese Weise hervorgebrachten Abstände zwischen den Linien – die meist nicht konstant sind – erzeugen Differenz, die mittels Augenschein identifiziert wird. Ähnlich wie bei den metrischen Kurven zeigt geringerer Abstand größere Nähe und damit (visuell) Ähnlichkeit an, größerer Abstand dagegen Unähnlichkeit. »Wir sehen daraus, wie weit diese Verhältnisse auseinanderliegen« (Frizzi 1910: 273) – die auf eine solche Visualisierung gerichtete Formulierung Frizzis kann als grundsätzliche Funktion dieses Vergleichsverfahrens verstanden werden. Das Ineinanderzeichnen von Umrissen wird für die Identifizierung verschiedener Zusammenhänge verwendet: Das (zweidimensional) räumliche Auseinanderliegen der Linien kann in der physischen Anthropologie als Visualisierung sowohl zeitlichen, wie auch räumlichen oder strukturellen Auseinanderliegens gelten. In der Übereinander-Projektion des rechten und linken Profilumrisses eines Unterkiefers bei Frizzi wird beispielsweise dessen Asymmetrie visualisiert: ›normal‹ und ›pathologisch‹ treten auseinander (Abb. 48). In zeitlicher Hinsicht können verschiedene Phasen der Entwicklungsgeschichte auseinander liegen, so z.B. in der Überlagerung der Mandibula-Diagramme von ›Homo Heidelbergensis‹ und ›Gorilla‹ wiederum bei Frizzi (Abb. 49).240 In synchroner Hinsicht dagegen können
239 Vgl. z.B. Wetzel, der auf einer Tafel perigraphische Umrisse des Kreuzbeines anordnet, die er im Text jeweils bestimmten Gruppen zuordnet (Wetzel 1915: Tafel IX); vgl. auch z.B. nebeneinander angeordnete Querschnittszeichnungen des Gesichtes bei Toldt jun. 1903a. 240 Vgl. auch die »Mediansagittalkurven des Hinterhauptes eines neolithischen Langkopfes […], des Schädels von Radim […] und eines juvenilen Gorillas« in: Reche 1911: 78; vgl. auch Macnamara 1903: 355.
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Abb. 48: ›Normales‹ und ›Pathologisches‹ via Überlagerung von Profilumrissen (Frizzi 1910: 263)
Abb. 49: Vorformen des ›Menschen‹ via Überlagerung von Mandibula-Diagrammen (Frizzi 1910: 273)
Abb. 50: ›Rassendifferenz‹ via Überlagerung von Mediansagittalkurven (Reche 1911: 74)
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verschiedene ›Rassen‹ auseinander liegen, wie etwa die Mediansagittalkurven eines ›Malaien‹ und eines ›Hamburgers‹ bei Otto Reche (Abb. 50).241 In einer Überlagerung von onto- und phylogenetischer Perspektive werden bei N.C. Macnamara die »Mediankurve des Craniums eines eingeborenen Australiers« und »des Java-Craniums« übereinander gelegt (Macnamara 1905: 78; vgl. a. Macnamara 1903: 352, 358).242 Bei Möbius wiederum, bei dem Umrisse eines ›Männerschädels‹ und eines ›Frauenschädels‹ nach Ecker ineinander projiziert werden, sind es die ›Geschlechter‹, die augenscheinlich voneinander Abstand nehmen (Abb. 51). Da in all diesen Fällen Umrisse des gleichen Körperteils ineinander liegen,243 sind die verschieden inhaltlich gefüllten Abstände ohne Weiteres ineinander überführbar – in dieser Visualisierungsform können Überlagerungen verschiedener Differenzen, Überlagerungen diachroner und synchroner, ontogenetischer und phylogenetischer Perspektiven, wie sie in den Linien ›Frau‹ – ›Mann‹, ›Kind‹ – ›Erwachsener‹ und ›niedere‹ – ›hochstehende Rasse‹ artikuliert werden, stattfinden. Ineinander gelegte Umrisse können aber auch Schädel und Kopf visualisieren, wobei der Abstand beider Linien die (räumliche) Schicht aus Haut und Fleisch zwischen Schädel und Kopf anzeigt, so etwa in KonstruktionsZeichnungen zur plastischen Rekonstruktion prähistorischer Schädel (z.B. Kollmann/Büchly 1898: Tafel VII und VIII, vgl. Abb. 73 und 74).244 241 Vgl. auch ineinander gelegte »Höhlenachse[n] des Kaffern- und des Tschuktschenschädels« bei Rauber 1907: 20. 242 Neben- und ineinander gezeichnete Umrisse von Knochen in verschiedenen Größen finden sich bei Klaatsch/Lustig 1915; Umrisse eines Orangutans und eines ›Hottentotten‹ bei Schwerz 1910: 51. 243 Bezüglich der Orientierungslinien oder -punkte, entlang derer die Umrisse aufeinander projiziert werden, formuliert Klaatsch: »Für die Vergleichung von Schädeln sowohl im ganzen Sagittalschnitt als in seinen Teilen bietet die Projektion der trigonometrischen Figuren aufeinander ein vortreffliches Hilfsmittel, wobei man je nach dem Gegenstande der Frage, um die es sich handelt, mit der Wahl der gemeinsam einzustellenden Linien und Punkte variieren kann.« (Klaatsch 1909: 121) Dementsprechend trifft man im Archiv für Anthropologie auf vielfältige Formen, die sich jeweils dem Pragmatismus verdanken, was sichtbar gemacht werden soll. Schwerz beispielsweise orientiert die Umrisse entlang einer gleich langen Schädelbasislänge (Schwerz 1910: 51); Frizzi legt sie einmal entlang der Incisionsvertikale und einmal entlang seiner Korrekturvertikale an, um die Effekte der Verschiebung sichtbar zu machen (Frizzi 1910: 273, Fig. 6 und 7); Möbius wiederum legt sie »Gehörgang auf Gehörgang, Jochbein auf Jochbein« (Möbius 1907: 6); Reche wählt »die Verbindungslinien der Ohrpunkte und die vom höchsten Punkte der Kurve auf diese Linien gefällten Senkrechten« (Reche 1909: 225). 244 Auf die Schädelrekonstruktion Kollmann/Büchlys komme ich zurück. Das Verfahren, Schädel- und Kopfumrisse ineinander zu projizieren, ist in der
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Abb. 51: ›Geschlechterdifferenz‹ via Überlagerung von Schädelumrissen (Möbius 1907: 6) Umrisslinien müssen nicht immer von der gleichen Betrachtungsebene, dem gleichen Schnitt stammen – sie können auch verschiedene Ebenen desselben Körpers visualisieren und auf diese Weise einen dreidimensionalen Raum eröffnen oder andersherum dessen Dreidimensionalität auf das zweidimensionale Nebeneinander mehrerer Linien reduzieren.245 So werden bei Klaatsch in den Basalumriss des Schädels zwei Umrisse des Kinns (auf verschiedenen Ebenen) eingezeichnet – in der Nebeneinanderstellung mit anderen solchen Zeichnungen sollen augenscheinliche ›Rassenverglei-
forensischen Anthropologie bis heute üblich und wird dort »Superprojektion« genannt (Herbert Ullrich: Identifikation von Gebeinen historischer Persönlichkeiten. Gastvortrag am Institut für Rechtsmedizin der FU Berlin am 22.11.2002). 245 Der Begriff der Reduktion wird hier nicht im Sinne eines moralischen Vorwurfs des Reduktionismus verwendet, sondern im Sinne einer spezifischen Strukturgebung.
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che‹ ermöglicht werden (Abb. 52). In zwei weiteren Basalumrissen des Kinns – die nur je zwei Linien umfassen – werden Unterschiede zweier Kinnformen visualisiert, die im Profilumriss keine Differenz gezeigt hatten (Abb. 53). Unterschiedliche Ansichten bringen also auch unterschiedliche Differenzen hervor. Bei Widenmann werden Umrisse zweier verschiedener Ebenen desselben Schädels – des Orbitabodens und des Jochbogens – ineinander gelegt, wobei im Text deren »eigenthümliche[…] Lageverhältnisse« hervorgehoben werden (Widenmann 1898: 365) (Abb. 54). Und in einem Beitrag von Frizzi werden vier Linien verschiedener Schädelebenen übereinander gelegt, die ein sogenanntes »Frontalkurvensystem des Schädels ergeben« (Frizzi 1913: 250) (Abb. 55).246 Bei Kunike wiederum werden jeweils Umrisse der Vorder- und der Seitenansicht ineinandergelegt, wobei der Umriss des Schädels »Nr. 110« im Text als einer jener beiden ›Typen‹ gekennzeichnet wird, »die bei weitem am häufigsten vorkommen« (Kunike 1911: 214)247 (Abb. 56; Schädel ›Nr. 110‹ rechts oben). Den Weg in Richtung einer Eröffnung von Dreidimensionalität von den Umrisszeichnungen aus schlägt Rudolf Michel ein (Michel 1904). Hier werden vom Femur248 in festgelegten Abständen Umrisse gezeichnet, die dann leicht versetzt, sich aber überschneidend angeordnet werden. Auf drei Tafeln werden dann solche ›Kurvensysteme‹ verschiedener ›Rassen‹, Affenarten und Altersstufen vergleichend nebeneinander gesetzt (Michel 1904: Tafel VI-VIII) (Abb. 57). Innerhalb eines ›Kurvensystems‹ entsteht durch gezielte Punktierungen bzw. durchgehende Linien der Eindruck einer teilweisen Überdeckung durch den nächsten Umriss. Da die einzelnen Umrisse jedoch nicht in perspektivischer Verkürzung, sondern als Draufsicht gezeichnet sind, wird der durch Punktierungen und seitliche Versetzungen angedeutete 3D-Effekt nicht vollständig ausgeführt. Dennoch deuten diese Zeichnungen den dreidimensionalen Raum an, insofern sie die Umrisse des Femur entlang seiner gesamten Länge zu visualisieren und visuell zu identifizieren suchen. Ein anderer Versuch, in Umrisszeichnungen dreidimensionale Aspekte anzudeuten, findet sich in den ›von Hand‹ eingetragenen Schraffuren in die Umrisse bei Frizzi – im Text erscheint die Schraffur als
246 Vgl. auch die ineinander gelegten ›Frontalkurvensysteme‹ jeweils zweier ›Ebenen‹ bei Reche 1909: 225. In Millimeterpapier eingezeichnete »Kurvensysteme« (horizontal, frontal und sagittal) finden sich auch bei Oetteking 1909: Tafel I-III. 247 Bei Kunike finden sich verschiedene anthropologische Verfahren zusammengruppiert: protokollarische Beschreibungen von 240 durchnummerierten Schädeln, Umrisszeichnungen wie die erwähnte, drei Fototafeln mit je fünf bzw. vier Ansichten freigestellter Schädel und Tabellen mit Zusammenstellung der erhobenen Maße. 248 Femur ist der Begriff für den Oberschenkelknochen.
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Abb. 52: Synchroner Vergleich via Horizontaldiagrammen der Mandibulae und Ansätze zur Dreidimensionalität (Klaatsch 1909: 115)
Abb. 53: Angedeutete Dreidimensionalität zweier Kinnformen (Klaatsch 1909: 109)
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A nthropologische Visualisierungen
Abb. 54: Zwei Ebenen von Schädeln (Widenmann 1898: 365)
Abb. 55: »Frontalkurvensysteme« von Schädeln (Frizzi 1913: 250)
Abb. 56: Ineinandergezeichnete Vorder- und Seitenansichten von Schädeln (Kunike 1911: 214)
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Zwischen Auflösung und Fixierung
Abb. 57: Dreidimensionale Umrisszeichnungen (Michel 1904: Tafel VI)
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A nthropologische Visualisierungen
»kräftiges Muskelrelief« (Frizzi 1910: 272; vgl. a. Klaatsch 1909: 117, Fig. 28 und 104, Fig.1) (Abb. 58).
Abb. 58: Relief durch Schraffur (Frizzi 1910: 272)
Übergänge Wie an der Diskussion um Kinnvorsprünge zu sehen ist, werden Umrisszeichnungen neben geometrischen vor allem zu morphologischen Identifizierungen herangezogen: Zwar gilt es dabei auch, Größenverhältnisse auf den ersten Blick sichtbar zu machen, aber es sollen auch unterschiedliche Formen identifizierend visualisiert werden. In diesem Kontext scheint es um eine Visualisierung qualitativer Unterschiede zu gehen, also etwa der An- oder Abwesenheit eines Kinns oder aber bestimmter Ausbuchtungen am Schädel. Möbius zum Beispiel betont in seiner Identifizierung von ›Geschlecht‹ an Schädeln die qualitativen Differenzen zwischen ›männlichen‹ und ›weiblichen‹ Schädeln: Die ineinander gezeichneten Umrisslinien zweier Schädel entfernen die ›Geschlechter‹ nicht nur im Hinblick auf allgemeine Größenunterschiede. Möbius leitet vielmehr aus einer relativen Annäherung der beiden Linien am Hinterkopf – im Vergleich zu anderen Stellen – eine »Eigentümlichkeit« des ›weiblichen‹ Schädels ab und verknüpft diese – bedeutungsvoll, aber ohne weitere Ausführungen – mit spezifisch ›weiblichen‹ Eigenschaften (Möbius 1907: 7). Doch kann selbst diese, in bestimmten Diskurspositionen als qualitativ betonte Differenz in konsequent metrisch-statistischer Manier quantifiziert werden. Ein solcher Versuch – allerdings außerhalb des Archiv für Anthropologie – wird vom ›Zahlenfetischisten‹ Francis Galton vorgenommen. In seinem 1888 erschienenen Aufsatz »Personal Identification and Description« (Galton 1888) versucht er, die Ähnlichkeit zweier Umrisslinien metrisch zu bestimmen. Zu diesem Zweck zeichnet er sie als Umriss A und Umriss B ineinander (Abb. 59). Dann zieht er eine Linie C ein, die den Abstand
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Zwischen Auflösung und Fixierung
Abb. 59: Annäherung von Umrisslinien (Galton 1888: 174) beider Umrisse halbiert, so dass »C will be more like A than B was« (Galton 1888: 174). Darauf zeichnet er eine weitere Linie D, die den Abstand zwischen A und C halbiert, und darum noch näher an A liegt. Diese Prozedur wiederholt er so lange, »until a stage is reached when the contour last drawn is undistinguishable from A« (Galton 1888: 174). Wenn beide Linien nicht mehr voneinander unterscheidbar sind, also soweit angenähert wurden, dass sie visuell zur Deckung kommen, ergibt sich aus der Anzahl der dazu notwendigen Schritte der Halbierung der Grad der Ähnlichkeit beider anfänglichen Umrisse. Diese von Galton vorgeschlagene Prozedur beruht auf der »least discernible difference«, also der letzten wahrnehmbaren Differenz (Galton 1888: 174; kursiv i.O.). Dabei ist sich Galton durchaus darüber im Klaren, dass in mathematischer Hinsicht diese Prozedur unendlich oft wiederholt werden müsste, da beide Linien sich auf diese Weise zwar unendlich nah, aber doch nie vollständig zur Deckung kommen können. Doch entgegnet Galton solch einer metrischen Perspektive: »There is no such thing as infinite unlikeness. A point as perceived by the sense of sight is not a mathematical point, but an object so small that its shape ceases to be discernible.« (Galton 1888: 174) Ziel von Galtons Vorgehens ist also die Auflösung von qualitativer morphologischer Differenzen in ein Kontinuum von metrisch erfassbaren Ähnlichkeiten – doch wird für diesen Metrisierungsversuch gleichzeitig die ›Wahrnehmung‹ in Anschlag gebracht: Die Bestimmung von Formenähnlichkeiten wird auf diese Weise trotz gleichzeitigem Anspruch der Metrisierung eng an einen augenscheinlichen Modus der Identifizierung gekoppelt – dessen Ergebnisse in dieser Methode ja allein schon abhängig von der verwendeten Liniendicke her variieren würden.249 Doch auch wenn die Metrisierung der Ähnlichkeit zweier unterschiedlicher geformter Kurven bei Galton an die Visualität, den Augenschein, die 249 Auch hier begegnen wir also einer Verquickung metrisch-mechanischer und urteilend-interpretativer Objektivität.
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Wahrnehmung gebunden bleibt, so werden doch vielfach Übergänge und Annäherungen zwischen verschiedenen Formen konzipiert: Auch im Hinblick auf die Umrisse ist in der physischen Anthropologie die Rede von »verschiedentlichen Übergangsformen« und davon, dass die einen Formen zu anderen »streben« (Frizzi 1910: 274) – unabhängig davon, ob der Abstand zwischen zwei Umrisslinien konstant ist oder variiert. Umrisszeichnungen visualisieren also Differenzen der Form und Größe, sie ermöglichen Identifikationen der Morphologie durch den Augenschein. Gleichzeitig können an ihnen Maße und Winkel abgenommen werden – oft sogar einfacher als an lebenden Körpern. Die Klaatsch’sche »Incisionsvertikale«, die von Frizzi wiederum verschoben wird, kann als Exempel für diese doppelte Produktivität der Identifikation durch und von Umrisslinien gelten: Sie dient zur geometrischen Gewinnung eines charakteristischen Winkels und gleichzeitig grenzt sie einen Teil des Umrisses vom anderen ab und ermöglicht auf diese Weise die morphologische Identifikation (ob ein Kinn vorhanden ist oder nicht). Die von Frizzi vorgenommene Verschiebung dieser Vertikalen ermöglicht außerdem einen Blick auf die polyvalenten Effekte dieser Sichtbarmachungen. Eine kleine Verschiebung einer dieser Hilfslinien kann unter Umständen bereits andere Dinge bzw. die Dinge ganz anders sichtbar machen und auf diese Weise auch andere Wissensinhalte hervorbringen bzw. ermöglichen.
Fotograf ien Die Fotografie gilt Lorraine Daston und Peter Galison als »Wahrzeichen […] der nichtintervenierenden Objektivität« (Daston/Galison [1992]: 93). Aufgrund der Mechanisierung des Aufnahmeverfahrens – die Natur scheint sich dabei selbst zu schreiben250 – erfüllt die Fotografie das Begehren mechanisch-objektiver Bestrebungen, die Forschersubjektivität und menschliche Intervention hinter sich zu lassen, auf besondere Weise: »Um 1900 übte die Fotografie als das Symbol von neutraler, extrem genauer Wahrheit eine mächtige ideologische Kraft aus.« (Daston/Galison [1992]: 78) Michael Wiener situiert in seiner »Ikonographie der Wilden« die Fotografie im Kontext des »Beginn[s] einer mechanisch-visuellen Gegenstands- und Welterfassung« im 19. Jahrhundert und betont, dass man von Fotografien 250 Wie der Titel von William Henry Fox Talbots »The Pencil of Nature« (1844) nahe legt. Allerdings oszilliert Talbots Text zwischen der Konzeption der Fotografie als ›Entdeckung‹ und als ›Erfindung‹ und impliziert damit bereits ein Spannungsfeld zwischen Ontologie und Konstruktion (vgl. Geimer 2002b: 187-189).
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»die mechanisch-objektive Wiedergabe der Wirklichkeit erwarten zu können« schien (Wiener 1990: 46, 35). Auch Ricabeth Steiger und Martin Taureg fokussieren in ihren »Anmerkungen zum ethnographischen Akt« den Objektivitätsanspruch der Fotografie: »[D]er Fotografie ging schon bald der Ruf unbestechlicher Exaktheit oder quasi wesenseigener Objektivität voraus. Fotografie wurde als automatischer, nach physikalischen und chemischen Gesetzmäßigkeiten immer gleich ablaufender Prozeß gesehen, frei von ›verfälschenden‹ Eingriffen durch den Fotografen.« (Steiger/Taureg 1985: 117)
Die Fotografie wurde vor diesem Hintergrund auch in Anthropologie und Ethnographie eingesetzt, denn sie hebt – darauf weist Thomas Theye hin – »sozusagen die räumliche Beschränkung der einzelnen Forschungsreisen auf« und ermöglicht »die Gleichzeitigkeit eines Albums, eines Tableaus, eines fotografischen Museums« (Theye 1989: 62).251 Mit der Konstruktion immer leichterer Fotoapparate wächst die Anzahl der auf Reisen angefertigten Fotografien, die ihren Weg nicht nur in diverse Publikationen, sondern auch in die Archive der anthropologisch-ethnologischen Gesellschaften finden. Innerhalb kürzester Zeit wächst auf diese Weise ein riesiges Archiv an ethnographischen und anthropologischen Fotografien heran.252 Im Zuge der metrisch-mechanischen Objektivität um 1900 zielen zahlreiche Aufrufe auf eine Standardisierung der Körperfotografien, um diese Körpersubstitute für die physische Anthropologie vergleich- und vor allem vermessbar zu machen. Gefordert wird die Aufnahme der (möglichst nackten) Körper aus mehreren Perspektiven, die Verwendung von Objektiven und Brennweiten mit geringeren Verzerrungen, ein festgelegter Abstand der Kamera zum fotografierten Objekt und nicht zuletzt, neben dem Foto251 Ein »photographische[s] Museum der Menschenrassen« anzulegen, war 1845 eine Utopie Etienne-Renaud Augustin Serres’, dem Präsidenten der französischen Akademie der Wissenschaften (Theye 1989: 61). Auf die Transportierbarkeit der Dinge via Visualisierungen verweist auch Latour 1986 (vgl. auch Fn. 203). 252 Richard Neuhauss berichtet 1915 zum Beispiel, dass sich im Archiv der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte (BGAEU) bereits 17.000 Fotografien befänden und beklagt, dass »[d]ie Verwertung photographischer Reiseaufnahmen […] immer noch beinahe alles zu wünschen übrig« lässt (Neuhauss: 1915: 335). Über die Fotoarchive des britischen Royal Anthropological Institute (RAI) vgl. Poignant 1992. Der von Edwards herausgegebene instruktive Sammelband (Edwards 1992) beschäftigt sich mit verschiedenen Aspekten der fotografischen Sammlung des RAI und wirft in mehreren Artikeln darüberhinaus auch theoretische und methodologische Fragen im Hinblick auf den heutigen Umgang mit dem Material auf.
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grafierten immer auch einen Maßstab mit abzubilden.253 Doch führten all diese Aufrufe nicht zu einer tatsächlichen Homogenisierung anthropologischer Körperfotografien. Im Hinblick auf die anthropologischen Fotografien wird in der Forschung – die sich allerdings vornehmlich mit der ethnographischen Fotografie beschäftigt – die »betont vorurteilslos wissenschaftliche, mitunter messende oder geradezu klinisch sezierende Sichtweise« hervorgehoben (Steiger/Taureg 1985: 124). Resümierend wird festgestellt: »Insgesamt haben wir es mit einem positivistisch sezierenden und inventarisierenden, aber eben auch teilnahmslosen Blick zu tun.« (Wirz 1982: 52) Gegen den der Fotografie in der physischen Anthropologie zugeschriebenen ontologischen Status – ihr wird eine mimetische Abbildfunktion von Wirklichkeit zugeschrieben – analysieren weite Bereiche der Kunst- und Kulturwissenschaften seit den 1980er Jahren die Fotografie als ideologische Überformung der Wirklichkeit und kontextualisieren sie in sozialen Situa tionen des Kolonialismus. Bei Marcel Zünd wird eine solche Position 1982 zugespitzt formuliert: In den ethnologischen Fotografien finde nämlich eine »Verzerrung unserer Bild-Welt« statt, da in die Fotografie das kolonial geprägte Herrschaftsverhältnis von Fotograf und Fotografierten, der »Klassenstandpunkt« einfließt, der allerdings in distanzierende Anführungszeichen gesetzt wird (Zünd 1982: 62; kursiv i.O.). Michael Wiener – wie vor ihm bereits Wirz – formuliert 1990 etwas abgeschwächter, dass ethnologische Fotografien der Jahrhundertwende eher etwas über die Weltsicht des Fotografen aussagten: Mit einem Verweis auf die inszenierten Arrangements ethnographischer Gruppenfotos argumentiert er, die Fotografie spiegele als soziales Artefakt gesellschaftliche Normen wider und sei darum als Instrument der Macht zu verstehen (Wiener 1990: 211, 144, 175, 126).254 Diese Positionen können als eine erfolgreiche, eine »triumphalist version« jener von Christopher Pinney beschriebenen Geschichte der Parallelsetzung von Anthropologie und Fotografie begriffen werden – die Fotografie scheint dabei dem Diskurs unterworfen und offenbar problemlos ihren Dienst für die koloniale Anthropologie zu erfüllen (Pinney 1992: 75). Bei Elizabeth Edwards dagegen deutet sich an, dass manchmal auch ein Misslingen zu beobachten ist, erwähnt werden fotografische Ambiguitäten und Unsicherheiten (Edwards [1997]). Auch wenn Edwards nicht so deutlich
253 Vgl. etwa Fritsch in einer Anleitung für wissenschaftliche Reisen (Fritsch 1875). Im Archiv für Anthropologie: Mortillet 1895 und Mollison 1910. In letzterem, methodischen Beitrag findet sich die einzige Fotografie im Archiv mit einem Maßstab (Mollison 1910: 319). Vgl. zu diesen Standardisierungsbestrebungen, vor allem mit Bezug auf Fritsch: Lederbogen 1989. 254 Ähnlich bereits bei Albert Wirz, auf den sich Wiener ausführlich bezieht (Wirz 1982: 47).
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auf den Konstruktionscharakter abhebt, fasst auch sie die Fotografie letztendlich als diskursiv: »Fotografien (publizierte wie unpublizierte), das Archiv und die Taxonomien, die es hervorgebracht haben und umgekehrt von ihm gestützt wurden, könnten allesamt als Textdepots wissenschaftlichen Denkens und wissenschaftlicher Verfahrensweisen betrachtet werden.« (Edwards 2002: 352; kursiv i.O.)
Ich möchte demgegenüber eine Perspektive einschlagen, in der deutlicher auf einer eigenständigen Performanz auch fotografischer Visualisierungen bestanden wird. Dem zu Grunde liegt die Annahme einer Mediendifferenz: Jedes Medium hat eine ihm eigene epistemologische Struktur und bringt je spezifisches Wissen hervor. Der Versuch, ein Medium in den Dienst des anderen zu nehmen, muss in dieser Hinsicht konstitutiv misslingen. Meine Analyse fragt vor diesem Hintergrund nach den gegenseitigen Verweisen zwischen Fotografien, Beschreibungen und Vermessungen und interessiert sich dabei vor allem für jene Aspekte, in denen sich die mediale Differenz ereignet. Im Anschluss an Peter Geimer ist dabei im Hinblick auf den materiellen Visualisierungsprozess der Fotografie ein Rauschen in Rechnung zu stellen, das sich jedweder Bedeutungszuschreibung verweigert (Geimer 2002b; vgl. a. Geimer 2002a) – und das natürlich auch im Zuge der hier vorliegenden Studie nur bedingt bzw. verschoben ›erfasst‹ oder ›eingefangen‹ werden kann. Gegenüber der bereits vorliegenden Literatur zur ethnographischen und anthropologischen Fotografie, die sich vor allem mit Fotografien lebender Körper beschäftigt, fokussiere ich im Folgenden die Fotografien von Schädeln – die im Archiv zudem auch verbreiteter sind. Die Produktivität von Fotografien im physisch-anthropologischen Diskurs, ihre Anordnungen und ihre Effekte sollen anhand von ausgewählten Beiträgen mit Schädelfotografien exemplarisch analysiert werden. Aufgrund des sehr umfangreichen fotografischen Materials im Archiv für Anthropologie wird sich die Diskussion dieser Visualisierungsform auf Beiträge aus nur einem: dem 27. Jahrgang des Archiv (AfA 27.1902 und ein Beitrag eines anderen Jahres – eine ›Ausnahme‹ also) beschränken; dieser Band liegt etwa in der Mitte des Untersuchungszeitraumes und weist eine Vielfalt verschiedener Konfigurationen von Schädelfotografien auf. Ausgehend von den in diesen Beiträgen vertretenen Varianten der anthropologischen Schädelfotografie und ihres Zusammenspiels mit vermessenden und beschreibenden Identifizierungen werden charakteristische Aspekte anthropologischer Schädelfotografien vorgestellt. Auch hier beruhen die exemplarischen Analysen auf
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der Bestandsaufnahme all jener Beiträge des Archiv, die Fotografien enthalten, und auf die in den Fußnoten verwiesen wird.255
Schädelfotografien Fotografien ersetzen Schädel und machen sie transportabel und zirkulierbar. Doch bleiben die anderen Visualisierungsformen daneben weiter bestehen. Auch wenn der Fotografie ein besonderer Status im Hinblick auf ihre – mechanische – Objektivität zugesprochen wird, verlieren die älteren Visualisierungsmedien nicht ihren Objektivitätsanspruch und ihre Gültigkeit. Neben den im Folgenden besprochenen fotografischen Visualisierungen von Schädeln findet sich zum Beispiel im selben Jahrgang ganz selbstverständlich ein Beitrag von Franz Bauer mit zeichnerischen Schädelreproduktionen (Bauer 1902).256 Als gemeinsames Charakteristikum anthropologischer Schädelfoto grafien ist eine Standardisierung der Ansichten zu konstatieren – in ähnlicher Weise findet sich dies auch in den Fotografien lebender Körper.257 Anthropologische Schädelfotografien fragmentieren den Schädel in der Regel in verschiedene Ansichten: die Norma frontalis/facialis (Vorderansicht), die Norma temporalis/lateralis (Profil/Seitenansicht von beiden Seiten), die Norma verticalis (Draufsicht/Scheitelansicht) und die Norma occipitales (Hinterhauptansicht) – manchmal kommt als fünfte Perspektive noch die Norma basalis/basilaris (Unteransicht) hinzu. In dieser Standardisierung schlägt sich Alphonse Bertillons in den 1880er Jahren in Frankreich eingeführtes und kurz darauf im Deutschen Reich praktizierten kriminalistische Identifikationssystem nieder. Der Angelpunkt dieses Systems besteht in der Standardisierung nicht nur von Vermessungs- und Beschreibungsdaten, sondern auch der Fotografien: Jede Identifikationskarte (Signalement) umfasst dabei eine Frontal- und eine Profilaufnahme des Kopfes.258 255 Eine Beschäftigung mit Visualisierungen in angrenzenden bzw. überlappenden Diskursen wie der Archäologie und Ethnologie – die auch im Archiv für Anthropologie anzutreffen sind – würde den Rahmen der vorliegenden Studie sprengen. Es sei hier aber erwähnt, dass bereits am Beispiel dieses Jahrganges die Relevanz der Fotografie auch für diese Diskurse deutlich wird: Es finden sich Fotografien von Tongefäßen, Steinskulpturen und ähnlichem bei Hedinger 1902; Vassits 1902; von Steinbeilen bei Mehlis 1902; und von Münzen bei Ujfalfy 1902. 256 Vgl. auch die Fotografien und Zeichnungen nach Fotografien bei Török 1897: Tafel III-VII. 257 Vgl. z.B. die Fototafeln bei Jochelson-Brodsky 1906. Aber selbst unter die ästhetisierten Studiofotografien in Stratz 1898 mischen sich solche ›objektivierten‹ Bilder. 258 Vgl. die fotografische Abbildung einer Bertillon’schen Identifikationskarte in Lepp/Roth/Vogel 1999: 123, Exponat 1/19.
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Das Bertillon’sche Verfahren zeugt von einer engen Verknüpfung von physischer Anthropologie, kolonialem Diskurs und Kriminologie und findet seine Fortläufer bis heute in Personalausweis und Steckbrief (vgl. Bertillon 1890).259 Kommen wir nun zu den spezifischen Ausprägungen der anthropologischen Schädelfotografie und ihrer Verortung im Verhältnis zum Text und den anderen Identifizierungsweisen.
Mediale Lücken – Fridolin In Julius Fridolins Beitrag »Burjäten- und Kalmückenschädel« (Fridolin 1902)260 stehen die Verfahren der Vermessung, der Beschreibung und der Fotografie eigenständig nebeneinander: In einer zweiseitigen Tabelle werden Schädelmaße und Indices präsentiert (Fridolin 1902: 304f),261 der Rest des Beitrags besteht aus mehreren Seiten protokollarischer morphologischer Beschreibungen der einzelnen Schädel, angehängt finden sich 14 Abbildungs-Tafeln. Statt wie in anderen Beiträgen, in denen nur ein oder zwei – offenbar als dem ›Typus‹ am nächsten kommende, ihn am ehesten ›repräsentierende‹ – Schädel fotografisch abgebildet werden, visualisiert Fridolin mit der – auch im Vergleich zu anderen Beiträgen des Archiv – sehr großen Anzahl von Fototafeln eine Vielfalt von jeweils ›geschlechtlich‹ ausdifferenzierten Schädelformen. Nach welchen Kriterien allerdings die Auswahl der Schädel vorgenommen wurde, wird nicht ausgeführt. Die drei Bestandteile des Beitrages (Vermessungstabellen, protokollarische Beschreibungen, Fotografien) werden durch gegenseitige Kurzverweise aufeinander bezogen, wobei die Koppelung der Beschreibungen und der Fototafeln enger angelegt scheint: Von der Beschreibung aus wird auf die entsprechende Tafel des abgebildeten Schädels, von der Fototafel aus wiederum auf die Seitenzahl der jeweils dazugehörigen Beschreibung verwiesen. Auf den Tafeln wird darüber hinaus eine ›geschlechtliche‹ und ›rassische‹ Zuordnung des Schädels vorgenommen, wie etwa: »Schädel einer Kalmückin« (Fridolin 1902: Tafel XVIII). Beschreibung und Vermes259 Noch enger ist die Koppelung dieser Felder in Francis Galtons Bestrebungen, im Anschluss an William Herschels kriminologisches Identifikationsverfahren im britisch kolonialisierten Indien den Fingerabdruck anthropologischstatistisch zu erforschen und seinen Einsatz in der Kriminologie voranzutreiben (Galton 1892). Vgl. zu diesem Kontext auch Sekula [1986]. 260 Im Hinblick auf den Aufbau und die im Folgenden umrissenen Konfigurationen bereits genauso: Fridolin 1899. Ganz ohne Fotografien dagegen bei ansonsten gleichem Aufbau: Fridolin 1903. 261 Für die Vermessungsdaten wird zusätzlich eine kleine statistische Auswertung (Verteilung auf die wichtigsten Index-Gruppen) vorangestellt (Fridolin 1902: 303).
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sung wiederum sind sowohl über die (laufende) Nummerierung der Schädel in Tabelle und Beschreibung, als auch über die jeweils angegebenen Katalognummern262 aufeinander verwiesen. Über den ›Umweg‹ der Beschreibung sind Fototafeln und Vermessungsdaten indirekt ebenfalls aufeinander bezogen. Dieses Verweissystem ermöglicht ein ›Nebeneinanderlegen‹263 und Abgleichen der verschiedenen Identifizierungen, wobei durch die engere Koppelung von Beschreibung und Fotografie das Augenmerk insbesondere auf die morphologischen Formen des Schädels gelegt wird. Während diverse Normierungsversuche eine Vermessbarkeit der Fotografien lebender Körper garantieren sollen (vgl. Mollison 1910), scheinen die Fotografien von Schädeln hingegen mehr auf die Morphologie denn auf exakte Größen(verhältnisse) abzuzielen. Betrachten wir genauer, was für einen Gegenstand die Fotografien Fridolins hervorbringen (Abb. 60). Die Schädel werden vor einem dunklen Hinter- und Untergrund platziert, vor dem sie sich abheben und Umrisse produzieren. In den Fotografien werden – wie bei den Zeichnungen auch – zweidimensionale Artefakte dreidimensionaler Schädel erzeugt. Es scheint gerade diese Dreidimensionalität zu sein, die verschiedene Ansichten erfordert, doch ist diese letztlich durch unendlich viele Ansichten nicht einzufangen.264 An Fridolins Schädelfotografien ist darüber hinaus zu sehen, dass in der Fotografie immer auch unintendierte, ungeplante Effekte hervorgebracht werden, die sich der Indexikalität der Fotografie und der Neutralität ihrer mechanischen Aufzeichnung verdanken, die nicht zwischen Schädel und Hintergrund unterscheiden. So drängt sich der Hinter- bzw. Untergrund – der doch nur eine dunkle Fläche für die bessere Konturierung der Schädel abgeben soll – manchmal geradezu in den Vordergrund und offenbart seine stoffliche Materialität, er wirft Falten und einmal verdeckt er sogar mit einer Ecke Teile des Schädels (Abb. 61).265 Auf diese Weise wird der Blick auf das ›In-Szene-Setzen‹ der Fotografie gezogen, das den anthropologischen Blick auf den fotografierten Gegenstand hier an kleinen Stellen sogar verstellt. Außerdem finden sich in Fridolins Fotografien vielfach Unschärfen. Dabei verschwimmen die klaren, zu visualisierenden Schä262 Die Schädel stammen aus einer bereits existierenden Sammlung. 263 Was durch den Druck im Archiv für Anthropologie allerdings viel Hin- und Herblättern erfordert. 264 Die um 1900 populären Stereoskopien/Stereofotografien und Moulagen versuchen beide in Konkurrenz zueinander, dieser Zweidimensionalität der Fotografie mit 3D-Effekten entgegenzuwirken. 265 Vgl. auch Fridolin 1899, besonders ›schöner‹ Faltenwurf in Tafel XVIII. Hier finden sich auch einige Schädelfotografien vor weißem, glattem Hintergrund, auf denen sich jeweils auch der Schädelschatten abzeichnet (Fridolin 1899: Tafel III, X, XIV, XVI).
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Abb. 60: Tafel mit Schädelfotografien (Fridolin 1902: Tafel XVI)
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Abb. 61: Schädelfotografie mit Faltenwurf der Unterlage (Fridolin 1902: Tafel VII)
Abb. 62: Unschärfen in der Fotografie (Fridolin 1902: Tafel VIII)
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del, doch sie lassen auch den potentiell störenden Hintergrund wieder in den Hintergrund verschwinden (Abb. 62). Bei dieser Form einer – aus heutiger Sicht – missglückten Visualisierungstätigkeit handelt es sich um einen Fotografie-spezifischen Effekt. Das Medium verweist gerade in dieser Störung auf seine Visualisierungstätigkeit, es visualisiert sich selbst gewissermaßen mit.266 Der Status dieser Unschärfen für die physische Anthropologie ist ambivalent. Einerseits scheinen sie den der anthropologischen Fotografie zugewiesenen mimetischen Abbildcharakter nicht zu stören, denn sie halten nicht vor Veröffentlichung und (damit) wissenschaftlicher Gültigmachung ab – im Gegenteil: Sie verleihen wie auch andere Störungen geradezu Glaubwürdigkeit, sie garantieren die Objektivität der fotografischen Selbstaufzeichnung, indem sie auf ihre mediale (mechanisch-objektive) Herstellung verweisen. Andererseits werden sie offenbar doch als Störungen wahrgenommen, zumindest wird ihnen an einer Stelle mit einer Retuschierung, in der sich Fotografie und Zeichnung überlagern, begegnet: Der Umriss der Schädeldraufsicht eines Schädels wurde nachträglich267 nachgezogen (Abb. 63).
Abb. 63: Nachgezeichneter Umriss in der Schädelfotografie (Fridolin 1902: Tafel XII) Das Nachzeichnen der Umrisse stellt nicht nur hier ein legitimes Verfahren bei Unschärfen im Bild dar, Retuschieren von Fotografien ist vielmehr von Beginn an in der wissenschaftlichen Fotografie üblich und tut dem
266 Etwas Ähnliches geschieht in den von Peter Geimer beschriebenen Störungen (Geimer 2002a). 267 An welchem Punkt zwischen abgeschlossenem Belichtungsprozess und Veröffentlichung im Archiv für Anthropologie (also etwa erst im Reproduktionsprozess) spielt für meine Argumentation keine Rolle.
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wissenschaftlichen mechanisch-objektiven Charakter fotografischer Abbildungen keinen Abbruch. Die oben beschriebenen Koppelungen von Fotografie, Vermessung und Beschreibung sind nicht im Sinne enger Abbildverhältnisse zwischen den einzelnen Bestandteilen zu verstehen. Alle drei anthropologischen Identifizierungsformen stellen jeweils eigene Arbeitsobjekte zur Verfügung, bringen den Körper jeweils auf spezifische Weise hervor. Betrachten wir in diesem Zusammenhang ein Beispiel, in dem ein geometrisches Analyseraster – das Fünfeck – zum Einsatz kommt:268 Auf die Schädelform/-umriss angelegt, werden in Foto und in Beschreibung dabei jeweils unterschiedliche Gegenstände hervorgebracht. So enthält die Beschreibung des Schädels 27 die Formulierung »[i]n der Hinteransicht ist der Schädel fünfeckig« (Fridolin 1902: 312), während für den Schädel 36 keine solche geometrische Rasterung vorgenommen wird. Die Fotografien aber plausibilisieren nicht, warum die Hintertansicht des Schädels 27 fünfeckig sein soll, jene des Schädels 36 jedoch nicht (Abb. 64 und 65).
Abb. 64 und 65: Fünfeckigkeit und Schädelfotografie bei Schädel 27 und 36 (Fridolin 1902: Tafel XVI, XVIII) Die Fünfeckigkeit der Schädel scheint in beiden Identifizierungsverfahren nicht deckungsgleich, sondern konträr zu sein. Zwischen dem durch die Beschreibung und dem durch die Fotografie hervorgebrachten Gegenstand 268 Eine solche Geometrisierung der Schädelform ist in der Anthropologie nicht einfach bedeutungs-los: Sergi z.B. entwirft im Kontext seiner entwicklungshistorischen Überkreuzung von Onto- und Phylogenese – allerdings von der Oberansicht ausgehend – geometrisierte Schädelformen, in denen er den nach seiner ›Fünfeckigkeit‹ »Pentagonoides« genannten Schädel als »fötale Form« klassifiziert (Sergi 1905: 113). Visualisiert werden die dort behandelten, geometrisierten Schädelformen durch freigestellte Fotografien in Ober- und Seitenansicht (Sergi 1905: Tafel VIII-X).
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Zwischen Auflösung und Fixierung
klafft auf diese Weise eine Lücke. Durchgängig finden sich solche ›Lücken‹ bezüglich der ›Fünfeckigkeit‹ von Schädeln in Fridolins früherem Beitrag zu den ›Südseeschädeln‹ (Fridolin 1899: Fototafeln III-XVIII und die jeweils zuordenbare Beschreibung). Ich möchte vorschlagen, solche Lücken nicht auf ›Fehler‹ (im Sinne von: Fridolin hätte etwa die ›deutlichere Fünfeckigkeit‹ des Schädels 36 einfach übersehen) zurückzuführen, denn eine solche – intuitiv naheliegende – Lesart würde den Realismuseffekt der Fotografie unproblematisiert affirmieren. Demgegenüber schlage ich die Perspektive vor, solche Lücken als Symptome einer Mediendifferenz von Fotografie und Beschreibung zu begreifen: Die von beiden Identifikationsverfahren hervorgebrachten Gegenstände sind nicht deckungsgleich. Der Schädel erscheint in einem Medium anders als in einem anderen, er kann in dem einen fünfeckig erscheinen, in dem anderen vielleicht gerade nicht. Explizit genannt werden Differenzen von Fotografie und Beschreibung darüber hinaus zum Beispiel bei Schiff, bei dem »[e]inige Merkmale, die an den Photographien schwächer hervortreten«, wie etwa die Pränasalgruben, im Text erwähnt und beschrieben werden (Schiff 1912: 271). Diese Heterogenität kann also – so mein Vorschlag – als Symptom für die Mediendifferenz zwischen Beschreibung und Fotografie gelesen werden. Dies lässt auch das gegenseitige Verweissystem beider Identifizierungsweisen als locker, fragil und geradezu brüchig erscheinen.
Serielle Repräsentationen – Nyström Enger als bei Fridolin erscheint das Verhältnis von Text und Fotografie in Anton Nyströms Beitrag »Ueber die Formveränderungen des menschlichen Schädels und deren Ursachen« (Nyström 1902). Die Fotografien werden hier in den Fließtext eingestreut und argumentativ einbezogen.269 Auf zwei
269 Ähnlich auch bei Martin 1894 (Schädel und andere Knochen). Zwei in den Text eingedruckte freigestellte Schädelprofil-Fotografien – deren zweite mit Schatten versehen – bei Kollmann 1906: 213, 218. Im selben Beitrag auch eine Zeichnung des Schädel(fragment)s von Kleinkems (Kollmann 1906: 211), was unter anderem darauf hindeutet, dass die Zeichnung neben der Fotografie nach wie vor als ebenfalls wissenschaftliche Visualisierung gilt, gleichzeitig aber auch auf Kollmanns ungewöhnliche Visualisierungspraktiken verweist (vgl. meine Ausführungen zu Kollmanns Visualisierungen einer Schädelrekonstruktion S. 239ff). Sergis Beitrag visualisiert jede seiner konzipierten elf melanesischen Menschenvarietäten mit in den Text eingedruckten verschiedenen fotografischen Schädelansichten (unter den Schädelvisualisierungen befinden sich hier – sehr wahrscheinlich aus technischen Gründen – auch einige druckgraphische Reproduktionen nach der Fotografie) (Sergi 1892/93). Die in den Text eingedruckten Beckenfotografien bei Mollison
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A nthropologische Visualisierungen
Seiten befinden sich in den Text eingedruckte freigestellte Schädelfotografien:270 zunächst zwei verschiedene Schädelansichten (Norma lateralis und Norma verticalis), auf der gegenüberliegenden Seite zwei Seitenansichten (Abb. 66). In der Nebeneinandersetzung der je zwei Bilder entstehen zwei kleine Serien – die Bildunterschrift teilt mit, dass es sich im ersten Fall um Ansichten ein und desselben Schädels handelt und im zweiten Fall um Ansichten von zwei verschiedenen Schädeln. Die erste Serie, bei der ein und derselbe Schädel aus zwei verschiedenen Perspektiven visualisiert wird, fordert zu einer Art Übersetzung beider fotografischer Ansichten in die dreidimensionale Vorstellung des Schädels auf. In der zweiten Anordnung hingegen werden zwei verschiedene Schädel in ein und derselben Perspektive abgebildet – diese Serie fordert zu einem Vergleich der Schädelansichten auf, zur visuellen Suche nach Differenz.271 Obwohl die Anordnung von nur je zwei Fotografien zunächst eine Lektüre als Oppositionspaare nahe legen würde, ist diese Form der Anordnung eher als Serie denn als Gegenüberstellung zu begreifen, denn solche Zweierpaare tendieren zu Serialität: Auf den Fototafeln der Beiträge des Archiv finden sich meistens mehrere Ansichten mehrerer Schädel. So sind wir den beiden genannten Serientypen zum Beispiel schon bei Fridolin begegnet: der Serie von vier Ansichten ein und desselben Schädels auf jeder der Tafeln und der Serie verschiedener Schädel in der Aneinanderreihung mehrerer Tafeln.272 Bei Nyström sind die Fotografien eng mit dem beschreibenden Text verknüpft: Die Bildunterschrift identifiziert die fotografisch visualisierten Gegenstände, und ihre Einbettung in den Text verknüpft beide noch expliziter. Während die Beschreibung in den Fotografien veranschaulicht wird, gibt sie gleichzeitig eine Sehhilfe, die den Blick lenkt: »Die Tendenz des Schädels, eine mehr oder weniger sphärische Form anzunehmen, tritt bei vielen brachycephalen Kinderschädeln, die oft, wie aus den nebenstehenden Abbildungen zu ersehen ist, eine beinahe sphärische Wölbung zeigen, zutage.« (Nyström 1902: 220)
enthalten eingezeichnete Linien zur Visualisierung geometrischer Verhältnisse (Mollison 1912: 142). 270 Auf die Freistellung von Schädeln komme ich im Zusammenhang mit dem Beitrag von Rudolf Asmus zurück (vgl. S. 228-231). 271 Zur seriellen visuellen Argumentation vgl. auch das Kapitel »Multiples in Space and Time« in Edward Tuftes Buch »Visual Explanations. Images and Quantities, Evidence and Narrative« (Tufte 1997: 105-119). 272 Eine deutliche serielle Anordnung – allerdings von Schädelzeichnungen im Halbprofil – findet sich etwa bei Bonin (Bonin 1912: 192). ›Doppelt serielle‹ Anordnungen von Fotografien (mehrere Ansichten mehrerer Schädel) auch bei Török 1897 und 1899 (druckgraphische Reproduktionen nach Fotografien und Zeichnungen); Widenmann 1898: Tafel X; Schliz 1909b: 277, 279, 281; Drontschilow 1913: Tafel IX-XII; Frizzi 1913: Tafel XIII.
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Zwischen Auflösung und Fixierung
Abb. 66: Schädelfotografien im Fließtext (Nyström 1902: 220/221)
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A nthropologische Visualisierungen
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ZWISCHEN AUFLÖSUNG UND FIXIERUNG
,P7H[WZLUGHLQIXQNWLRQDOHV9HUKlOWQLV]XU)RWRJUD¿HIRUPXOLHUW$XVLKU soll eine bestimmte Sache zu ersehen sein, nämlich die sich »oft zeigende VSKlULVFKH:|OEXQJ©'LH)RWRJUD¿HVWW]WXQGXQWHUPDXHUWLP*HJHQ]XJ GLH7H[WVWHOOHXQGYHUZHLVWGDEHLJOHLFK]HLWLJDXIGLH)UDJLOLWlWGHU$XVVDJH GHQQGLHVHEHGDUIRIIHQEDUHLQHUVROFKHQ¾6WW]XQJ½ 'RFK]HLJWHLQH)RWRJUD¿HLPPHUDXFKmehr oder anderes als der Text sagt. So werden die anderen beiden Schädelbilder vom Text als ›RepräsenWDQWHQ½SUlVHQWLHUW'LHEHLGHQ)RWRJUD¿HQUHSUlVHQWLHUHQGHPQDFKGHQ¾typisch‹ »brachycephale[n]« und den ›typisch‹ »dolichocephale[n]« Schädel 1\VWU|P+HUYRUKHEXQJL2 ±XQGGDPLWDQJHVLFKWVGHUPHWULVFKPHFKDQLVFKHQ2EMHNWLYWlWGHUSK\VLVFKHQ$QWKURSRORJLHDOVRHLQH statistische Figur.273*OHLFK]HLWLJDEHUJHEHQVLH±QLFKW]XOHW]WGDVLH)RWRJUD¿HQQLFKWHLQHU]XVDPPHQIDVVHQGHQ%HVFKUHLEXQJVRQGHUQLQGLYLGXHOOHU 6FKlGHOVLQG±QRFKDQGHUHV]XVHKHQ]%XQWHUVFKLHGOLFKH*UDXW|QXQJHQ XQG)OHFNHQGLHXDDOV6FKDWWHQZUIHLQGLYLGXHOOHU$XVEXFKWXQJHQXQG 'HOOHQLQWHUSUHWLHUEDUZlUHQ'HUIRWRJUD¿VFKDEJHELOGHWH6FKlGHOYHUKlOW VLFK±GDHULQGH[LNDOLVFKQXUDXIHLQHQLQGLYLGXHOOHQ6FKlGHOYHUZHLVW±]XU VWDWLVWLVFKHQ.RQ]HSWLRQGHV¾W\SLVFKHQ½6FKlGHOVDOVRDOOHQIDOOVLQMHQHP 0RGXVGHU$QQlKHUXQJZLHZLULKPLP=XVDPPHQKDQJPLW9RO]¶=XRUGQXQJGHU(LQ]HOQHQ]XPVWDWLVWLVFKHUPLWWHOWHQ¾7\SXV½EHJHJQHWVLQG274
Visualisierung des ›Typus‹ – Reche =LHKHQZLU]XU'LVNXVVLRQGHUIRWRJUD¿VFKHQ9LVXDOLVLHUXQJYRQ¾7\SHQ½ HLQHQ%HLWUDJDXVHLQHPDQGHUHQ%DQGGHVArchiv heran, der bereits mehrIDFKHUZlKQWZXUGHXQGLQGHPH[SOL]LW¾W\SLVFKH½6FKlGHOYLVXDOLVLHUWZHUGHQ2WWR5HFKHVª=XU$QWKURSRORJLHGHUMQJHUHQ6WHLQ]HLWLQ6FKOHVLHQ XQG%|KPHQ©5HFKH +LHU¿QGHWVLFKHLQH)RWRWDIHOPLWMHZHLOVYLHU $QVLFKWHQ]ZHLHU¾6FKlGHOW\SHQ½LQª>H@WZDóQDW*U|H©5HFKH 7DIHO; $EE 2755HFKHXQWHUVFKHLGHWLP=XJHVHLQHU,GHQWL¿]LHUXQJHQ prähistorischer Schädel »zwei sich recht scharf voneinander abhebende TySHQ©XQGPHUNW]XGHPDXIGHUREHUHQ7DIHOKlOIWHLQYLHU)RWRJUD¿HQYLVX DOLVLHUWHQ6FKlGHODQª(LQHQGHUUHLQUDVVLJVWHQ9HUWUHWHUGLHVHV>HUVWHQ &+@7\SXVGHQ6FKlGHO1U]HLJW)LJXU7DI; ©5HFKH 273 9JOGHPJHJHQEHUGLH)RWRJUD¿HQHLQHVQLFKWVWDWLVWLVFKJHZRQQHQHQ¾W\SLVFKHQ PlQQOLFKHQ½XQG ¾ZHLEOLFKHQ½ 6FKlGHOV LQ3UR¿O XQG 8QWHUDQVLFKW DXIGHU)RWR7DIHOEHL0|ELXV9RUMHZHLOVVFKZDU]HP+LQWHUJUXQG ZHUGHQGLH%LOGHUªQDFK(6FKPLGW©PLWHLQHU7DIHOXQWHUVFKULIWYHUVHKHQ GLHHLQLJHLQGLYLGXHOOH 0DHDQJLEWXQGDXIGLH¾)RUPHLJHQWPOLFKNHLW½ GHV¾ZHLEOLFKHQ½6FKlGHOVKLQZHLVWª$QGLHVHQEHLGHQ6FKlGHOQVLQGGLH *HVFKOHFKWVXQWHUVFKLHGHVHKUDXVJHSUlJW©0|ELXV7DIHO, 274 9JO6 275 Die hier abgebildete Reproduktion der Tafel ist noch einmal verkleinert.
226
A NTHROPOLOGISCHE VISUALISIERUNGEN
$EE7\SLVLHUHQGH6FKlGHOIRWRJUD¿HQ5HFKH7DIHO;
227
ZWISCHEN AUFLÖSUNG UND FIXIERUNG
,P7H[WZLUGGHU¾7\SXV½GDUDXIKLQEHVFKULHEHQZlKUHQGGLH1XPmernangabe auf die in den Tabellen und Kurvenvorformen zusammengeVWHOOWHQ9HUPHVVXQJVGDWHQYHUZHLVW5HFKH ,P+LQEOLFN DXIGHQ]ZHLWHQ6FKlGHOKHLWHVª'LH]ZHLWH*UXSSHGHU7\SXV,,LVW GROLFKRELVK\SHUGROLFKRNHSKDOOHSWRSURVRSPHVRƂ ELVK\SVRUUKLQ ƃ XQGRUWKR]XP7HLOVRJDUK\SHURUWKRJQDWK,KQ]HLJW)LJ7DI; © 5HFKH 'HUª7\SXV,,©ZLUGDOVRVHOEVWEHUHLWVJUDGXDOLVLHUWEHVFKULHEHQXQG]XGHP¾JHVFKOHFKWOLFK½DXVGLIIHUHQ]LHUW 9LVXDOLVLHUWZLUGGLHVHU¾7\SXV½QXQGXUFKYLHU$QVLFKWHQGUHLHUverschiedener 6FKlGHOGLH]ZDUDOVHLQ]HOQHQLFKWDOV¾W\SLVFK½EHQDQQWZRUGHQZDUHQDEHUGRFKMHZHLOVGHUJUDGXDOLVLHUWHQ.XU]FKDUDNWHULVLHUXQJHQWVSUHFKHQ'LH$QRUGQXQJOlVVWGLHVHYLHU$QVLFKWHQZLHGLH9LVXDOLVLHUXQJ nur eines einzigenLQGLYLGXHOOHQ 6FKlGHOVHUVFKHLQHQHUVWGLH/HNWUHGHU %LOGXQWHUVFKULIWHQYHUZHLVWDXIGLHXQWHUVFKLHGOLFKHQ6FKlGHO5HFKHV¾JHVFKOHFKWVVSH]L¿VFKH½$XVGLIIHUHQ]LHUXQJGLHVHV¾7\SXV½ZLUGQLFKWLQV%LOG JHVHW]W6FKOlJWPDQGHQ8PZHJEHUGLHWDEHOODULVFKH'DWHQVDPPOXQJXQG GLHGRUWYRUJHQRPPHQHQ*HVFKOHFKWV]XVFKUHLEXQJHQHLQLVW]XHUVHKHQ GDVVDOOHGUHLYLVXDOLVLHUWHQ6FKlGHOGRUWDOV¾PlQQOLFK½EH]HLFKQHWZRUGHQ ZDUHQ±KLHUUHSUlVHQWLHUWDOVRGHU¾PlQQOLFKH½6FKlGHOGHQ¾5DVVHW\SXV½ obwohl die Schädelformen im Text vergeschlechtlicht worden waren. ¾7\SLVFKH½6FKlGHOZHUGHQEHL5HFKHDOVRentweder in verschiedenen IRWRJUD¿VFKHQ$QVLFKWHQeines 6FKlGHOV¾UHSUlVHQWLHUW½±GLHVHYHUZHLVHQ DXIJUXQGGHU,QGH[LNDOLWlWGHU)RWRJUD¿HGDQQDEHUQXUDXIHLQHQindividuellen6FKlGHO±oderDEHULQYHUVFKLHGHQHQ$QVLFKWHQmehrerer Schädel. /HW]WHUHHUVFKHLQHQ]ZDUDXIGHQ(YLGHQ]VFKDIIHQGHQ ¾HUVWHQ%OLFN½HEHQfalls wie die Visualisierung eines einzigen ¾W\SLVFKHQ½6FKlGHOV±YHUZHLVHQDXIGHQ¾]ZHLWHQ%OLFN½DEHUDXIPHKUHUHLQGLYLGXHOOH6FKlGHODOVJHZLVVHUPDHQYHUVFKLHGHQH$VSHNWHHLQHV¾7\SV½$XIGLHVH:HLVHHUVFKHLQW GLH]ZHLWH$QRUGQXQJ5HFKHVZLHHLQH]ZHLIDFKH5HDNWLRQ]XP(LQHQDXI GLH*UDGXDOLVLHUXQJGHV¾7\SXV½GHUQXQQLFKWPHKUQXUeine Form hat, zum $QGHUHQDXIGLH,QGH[LNDOLWlWGHU)RWRJUD¿HGLHTXD0HGLXPHEHQQXULQGLYLGXHOOH*HJHQVWlQGHYLVXDOLVLHUHQNDQQ
Freistellungen – Asmus =XUFN]XP%DQGGHVArchiv,P%HLWUDJª'LH6FKlGHOIRUPGHUDOWZHQGLVFKHQ%HY|ONHUXQJ0HFNOHQEXUJV©YRQ5XGROI$VPXV$VPXV EHJHJQHQZLU]ZHLDQJHKlQJWHQ)RWRWDIHOQPLW±ZLHVFKRQEHLGHQ6FKl ª'LH+\SHUGROLFKRNHSKDOHQVFKHLQHQGLHDXVJHVSURFKHQPlQQOLFKH)RUP LFKP|FKWHVDJHQGHQ¾0XVNHOVFKlGHO½GLHVHV7\SXV]XUHSUlVHQWLHUHQZlKrend die Dolichokephalen mehr den schwächeren, weiblicheren, darstellen.« 5HFKH
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A NTHROPOLOGISCHE VISUALISIERUNGEN
GHOIRWRJUD¿HQ1\VWU|PV±IUHLJHVWHOOWHQ6FKlGHOQ9RP+LQWHUJUXQGIUHLJHVWHOOW±YHUPXWOLFKDXVJHVFKQLWWHQRGHUDEJHGHFNW±VLQGGRUWMHZHLOVIQI 3HUVSHNWLYHQHLQHV6FKlGHOVQHEHQGHQEOLFKHQYLHU3HUVSHNWLYHQ¿QGHW VLFKKLHUQRFKHLQ)RWRGHU1RUPDEDVDOLV $EE 277 Solche Freistellungen erzeugen den Effekt, hier sei wirklich nur ein, d.h. das interessieUHQGH2EMHNW]XVHKHQ'LH6FKlGHODQVLFKWHQVLQGGXUFKGLHVH)UHLVWHOOXQJ YRP.RQWH[WEHIUHLW±GHU+LQWHUJUXQGNDQQVLFKKLHUQLFKWZLHEHL)ULGROLQLQGHQ9RUGHUJUXQGVFKLHEHQ,PEHUWUDJHQHQ6LQQH:LHEHLGHQSXQNWLHUWHQ/LQLHQLQGHQ+lXIXQJVVFKHPDWDOHQNWGLHVHV)UHLVWHOOHQGHQ%OLFN XQGXPJUHQ]WGHQ6FKlGHODOVDQWKURSRORJLVFKHQ*HJHQVWDQG$OOHUGLQJV JHOLQJWGLHVHEHQQXUXPGHQ3UHLVGHV$XVVFKQHLGHQVGDVNRQWXULHUHQG bzw. gestaltend in die Schädelvisualisierung eingreift und seine Spuren an den Schnitträndern hinterlässt. %HL$VPXVZLUGYRP7H[WDXVDXIGLH)RWRJUD¿HQJDUQLFKWYHUZLHVHQ :HGHUZLUGH[SOL]LWDXIVLH%H]XJJHQRPPHQQRFK¿QGHWVLFKHLQH7DIHOHUOlXWHUXQJRGHU%LOGXQWHUVFKULIW±QXUXQWHUGHUhEHUVFKULIWGHV%HLWUDJHV ¿QGHWVLFKGHU=XVDW]ª0LW7DIHOQ6FKlGHODEELOGXQJHQ XQG7DEHOOHQ©$VPXV 279:lKUHQG1\VWU|PGLH]ZHLIRWRJUD¿VFKYLVXDOLVLHUWHQ6FKlGHODOV¾W\SLVFKH6WHOOYHUWUHWHU½]ZHLHU6FKlGHOIRUPNDWHJRULHQ ausgibt, bleibt bei den hier angehängten Illustrationen unklar, ob sie ›tySLVFKH½%HLVSLHOHGHUEHLGHQ¾*HVFKOHFKWHU½GDUVWHOOHQRGHUDEHUGLHLP7H[W LGHQWL¿]LHUWHQ]ZHL¾5DVVHW\SHQ½YLVXDOLVLHUHQVROOHQLP7H[WJHKWHVXP ]ZHL¾*HVFKOHFKWVW\SHQ½DEHUDXFKXP]ZHL¾5DVVHW\SHQ½ Dass es sich XP¾7\SHQ½%LOGHUKDQGHOWOHJW]ZDUGLH$Q]DKOGHU)RWRWDIHOQ±]ZHL± QDKHGRFKYRP7H[WKHUEOHLEWGLHVXQNODU'HUUH]LSLHUHQGH$QWKURSRORJH PVVWHDQKDQGGHU,GHQWL¿]LHUXQJHQLP7H[WXQGPLW+LOIHVHLQHUDQWUDL-
277 2EZRKOHLQH7DIHOHUOlXWHUXQJIHKOWYHUZHLVHQGLHXPHLQHIQIWH$QVLFKW HUZHLWHUWHQYLHU6WDQGDUG$QVLFKWHQGDUDXIGDVVHVVLFKXPGLHYHUVFKLHGHQHQ3HUVSHNWLYHQMHZHLOVeines6FKlGHOVKDQGHOW±DXFKZHQQPDQVLFK nach der Diskussion von Reche dessen nicht mehr sicher sein kann. Vgl. DXFKGLHGUHL)RWRWDIHOQPLWIUHLJHVWHOOWHQYLHUE]ZIQI6FKlGHODQVLFKWHQ EHL.XQLNHHLQHVROFKH)RWRWDIHOEHL2HWWHNLQJ7DIHO,9HLQH EHL0DUWLQ7DIHO, 6ROFKH)UHLVWHOOXQJHQ¿QGHQVLFKLQGHQ7H[WHLQJHGUXFNWXDDXFKEHL :HW]HOI.UHX]EHLQH IUHLJHVWHOOWH6FKlGHOXQG.QRFKHQDXI )RWRWDIHOQXDEHL.ODDWVFK/XVWLJ6HUJL'URQWVFKLORZ )RWRWDIHOQPLW$QVLFKWHQYRQYRUMHZHLOVVFKZDU]HP+LQWHUJUXQG¾VFKZHEHQGHQ½ 6FKlGHOQ XQG YHUPXWOLFK ZHJUHWXVFKLHUWHQ 6FKlGHODXIVWHOOKLOIHQEHL)DONHQEXUJHUEHL1\VWU|PVXQG.ROOPDQQV )UHLVWHOOXQJHQ ZLUGHLQ7HLOGHV6FKDWWHQZXUIHVXQGGHV8QWHUJUXQGHVVWHKHQJHODVVHQXQG EHL1\VWU|P±GLHVPDOZRKOHKHUDXVlVWKHWLVFKHQ*UQGHQ±UHWXVFKLHUW 1\VWU|PI.ROOPDQQ)LJYJO$EE 279 8QHUZlKQWEOHLEHQLQGHUhEHUVFKULIWKLQJHJHQGLHHEHQIDOOVDQKlQJHQGHQ KHUDXVNODSSEDUHQª&XUYHQWDIHO>Q@©$VPXV&XUYHQWDIHO,,,
229
ZWISCHEN AUFLÖSUNG UND FIXIERUNG
$EE)UHLJHVWHOOWH6FKlGHOIRWRJUD¿HQ$VPXV7DIHO,
230
A NTHROPOLOGISCHE VISUALISIERUNGEN
QLHUWHQDQWKURSRORJLVFKHQ3HUVSHNWLYHGLHEHLGHQ6FKlGHODXIGHQ)RWRWDIHOQVHOEVWLGHQWL¿]LHUHQXQG]ZDUYDKLQVLFKWOLFKGHVVHQREGLH)RWRJUD¿HQQXQ¾VH[XHOOH½RGHU¾UDVVLVFKH7\SHQ½YLVXDOLVLHUHQ
)RWRJUD¿VFKH1DUUDWLRQ±0DFQDPDUD (LQZHLWHUHU%HLWUDJGHV%DQGHVGHV Archiv enthält drei Tafeln mit 6FKlGHOIRWRJUD¿HQ1RWWLGJH&KDUOHV0DFQDPDUDVª6WXGLHQEHUGHQSUlKLVWRULVFKHQ 0HQVFKHQ XQG VHLQ9HUKlOWQLV ]X GHU MHW]LJHQ %HY|ONHUXQJ :HVWHXURSDV©0DFQDPDUD $XI LKQHQ ZHUGHQYRQ HLQHUGQQHQ VFKZDU]HQ/LQLHJHUDKPWH)RWRJUD¿HQYRQ6FKlGHOQXQG6FKlGHOUHVWHQ DQJHRUGQHW%HPHUNHQVZHUWDQ0DFQDPDUDV7DIHOQLVWGLHQDUUDWLYHVHULHOOH$QRUGQXQJYRQ)RWRJUD¿HQ3DUDOOHO]XU*HVFKLFKWHLP7H[WHU]lKOHQ sie entlang der diversen prähistorischen Schädelfunde eine Entwicklungsgeschichte des Menschen. 'HU7H[WVWHOOWHLQHPHUNZUGLJEUXFKVWFNKDIWHKHWHURJHQH0LVFKXQJ XQWHUDQGHUHPDXVHQWZLFNOXQJVJHVFKLFKWOLFKHU1DUUDWLRQDXV%HULFKWHQ XPGLHYHUVFKLHGHQHQ)XQGVWFNHDXV6LWXLHUXQJHQGHU3UlSDUDWH]ZLVFKHQ $IIHXQGKHXWLJHP0HQVFKHQXQGDXV9HUJOHLFKHQPLWDQGHUHQ6FKlGHOQ GDU,QLKPEHJHJQHQZLUGHQEHUHLWVHU|UWHUWHQhEHUNUHX]XQJHQRQWRJHQHWLVFKHUXQGSK\ORJHQHWLVFKHU3HUVSHNWLYHQ aber auch Figuren des EinGULQJHQVRGHU(LQKHLUDWHQV¾IUHPGHU5DVVHQ½0DFQDPDUD 'LH KLVWRULVFKHQ(LQRUGQXQJVYHUVXFKHGHU6FKlGHOIXQGHEHUXIHQVLFKDXHUGHP DXIªHUJlQ]HQGH=HXJQLVVH©EHLGHQ6FKlGHOQJHIXQGHQH*HJHQVWlQGHGLH HLQHUNXOWXUHOOHQ(QWZLFNOXQJVJHVFKLFKWH]XJHRUGQHWZHUGHQ ZHOFKHGLH SK\VLVFKDQWKURSRORJLVFKHQ,GHQWL¿]LHUXQJHQRIIHQEDUJDQ]HQWVFKHLGHQG DQOHLWHWHQ0DFQDPDUD 'LH2UGQXQJVYHUVXFKHGHU6FKlGHO LQHQWZLFNOXQJVJHVFKLFKWOLFKHQ/LQLHQVLQGPLWHLQHU)UDJPHQWLHUXQJGHU HQJOLVFKHQ%HY|ONHUXQJYHUEXQGHQGLHLQGHU$QQDKPH]ZHLHU¾7\SHQ½ PQGHWGHP¾WHXWRQLVFKHQ½ ª$QJHOVDFKVH>Q@©XQGGHQª1DFKNRPPHQ des alten britischen Stammes«, abstammend von der »iberischen Rasse« 0DFQDPDUD %HLGH¾7\SHQ½ZHUGHQEHUHLWVLQKLVWRULVFKIUKHUHU =HLWYHURUWHWZREHLGHUª$QJHOVDFKVH©GDVSRVLWLYNRQQRWLHUWH.RQ]HSWGHV ¾$ULHUV½DXIUXIW'LHPHQVFKOLFKH(QWZLFNOXQJVJHVFKLFKWHHUVFKHLQWKLHUMHGRFKHKHUDOVEUFKLJHUJHZXQGHQHUQLFKWOLQHDUHU:HJ
,QDOOHU.U]HPLWHLQHP=LWDW5XGROI9LUFKRZV]XVDPPHQJHIDVVWª'HU JU|VVWH$IIH EHKlOW VHLQ %DE\*HKLUQ© 9LUFKRZ ]LWLHUWEHL 0DFQDPDUD +LHUVWW]HQVLFKDQWKURSRORJLVFKHXQGHWKQRORJLVFKSUlKLVWRULVFKH3HUVSHNWLYH=XP9HUKlOWQLVYRQDQWKURSRORJLVFKHPXQGHWKQRJUD¿VFKHP'LVNXUV YJO+DQNHD
231
Zwischen Auflösung und Fixierung
Eine andere, viel klarere und lineare Geschichte erzählen dagegen die Fotografie-Anordnungen auf den doppelseitigen Bildtafeln (Abb. 69-71).282 Ihre Überschriften geben eine chronologische Abfolge hin zu »Heutigen Menschenrassen« vor. Auf den ersten beiden, im Querformat ›bespielten‹ Tafeln werden jeweils zwei zum selben Schädel gehörige, verschiedene Ansichten übereinander angeordnet.283 Die dritte Tafel hingegen wird im Hochformat gestaltet und erinnert an visualisierte Abstammungslinien.284 Aus der für die »Bronze-Periode« abgebildeten Profil-Ansicht nur eines Schädels scheinen ›auf den ersten Blick‹ zwei Zweige heutiger ›Menschenrassen‹ hervorzugehen, die in einer dichotomisierenden Visualisierung gegenübergestellt werden. Die Gegenüberstellung des »Australier-Schädel[s]« und des »Schädel[s] eines Engländers« wird dabei unterstützt durch die visuelle ›Schwarz-Weiß-Malerei‹ von Schädel und Hintergrund: Der »Australier-Schädel« erscheint vor dem weißen Hintergrund als schwarz – als würde sich die mit Wildheit konnotierte, ›schwarze‹ Hautfarbe auf dem Schädelknochen spiegeln, während auf dem Schädel des »Engländers« vor dem schwarzen Hintergrund das Zivilisiertheit aufrufende ›Weiß‹ besonders hervorsticht.285 Während die Schädelabbildungen der historisch vorgängigen Schädel auf den ersten beiden Tafeln eher Vielfältigkeiten präsentierten – die auf ihnen ebenfalls sichtbaren unterschiedlichen SchwarzWeiß-Gebungen erscheinen hier als nicht-bedeutungsvoll –, wird auf der dritten Tafel eine starke (visuelle) Typisierung der »Heutige[n] Menschenrassen« in zwei ›Prototypen‹ vorgenommen. In Anlehnung an die anderen Bild-Anordnungen (zusammengehörige Abbildungen werden untereinander gesetzt) erscheinen die hier jeweils untereinander gestellten Fotografien 282 Zwei der Tafeln habe ich in der Einleitung dieser Studie zur Erläuterung des epistemischen Status der anthropologisch gerasterten Körper bereits herangezogen (vgl. Abb. 1 und 2). 283 Abgebildet werden jeweils Seiten- und Vorderansicht – dort, wo das Fundstück nur die Schädeldecke umfasst, findet sich statt der Vorder-Ansicht die Scheitelansicht. Nur der sogenannte »Mentone-Schädel« auf der zweiten Tafel ist nicht in eine der üblichen ›Horizontalen‹ gebracht, die VorderAnsicht tendiert zudem eher zum Halbprofil. Durchgängig sind die Fotografien mit einer Bildunterschrift versehen, in der sowohl der Fundort des Schädels als auch in Klammern die jeweilige Ansicht notiert ist. 284 Diese assoziative Anordnung scheint mir kein Zufall zu sein, denn diese Tafel ist die einzige, die hochkant angeordnet ist. Eine Horizontalanordnung wie bei den anderen beiden Tafeln, die eher Vielfältigkeiten und Diachronien visualisieren, hätte also durchaus auch andere Figurenanordnungen und Geschichten ermöglicht. 285 Nicht geklärt werden konnte, ob dies ein Effekt des Fotomaterials und der Belichtungsvarianz ist oder ob für den »Australier-Schädel« ein besonders nachgedunkelter Schädel ausgewählt und vor kontrastierendem Hintergrund fotografiert wurde.
232
A nthropologische Visualisierungen
Abb. 69-71: Narration in doppelseitigen Fototafeln (Macnamara 1902: Tafel XXI, XXII, XXIII)
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Zwischen Auflösung und Fixierung
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A nthropologische Visualisierungen
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Zwischen Auflösung und Fixierung
ebenfalls als zusammengehörig. Die Fragmentierung in zwei ›Prototypen‹ der ›Menschenrassen‹ wird unversehens auf die darunter visualisierten zwei, für England ausgemachten ›Typen‹ übertragen: den »Iberische[n] Typus von North Bedfordshire« und den »Anglo-sächsische[n] Typus von Kent«. Ersterer wird dem »Wilde[n] (Australier)« – der in der zeitgenössischen Anthropologie meist als ›niedrigststehende Rasse‹ gilt – und der zweite ›englische Typus‹ dem »Civilisirte[n] (Engländer)« zugeordnet. Effekt dieser Anordnung ist eine hierarchisierende Fragmentierung der britischen Bevölkerung. Während sich die textuelle Narration deutlich heterogener und brüchiger, manchmal auch suchender gibt, wird durch die Anordnung der Abbildungen auf der letzten Tafel die Varianz der Schädel prähistorischer Perioden enggeführt auf die visuelle Narration einer Geschichte zweier sich gegenüberstehender, hierarchisch gewerteter Fragmentierungen. Eine solchermaßen funktionelle und zweckgerichtete Bilder-Geschichte durch serielle Fotoanordnungen – in der gleichzeitig die mögliche Produktivität visueller Argumentationen deutlich wird – ist zumindest im Kontext des Archiv für Anthropologie einmalig. Das Medium Fotografie gilt zwar als ›Wahrzeichen‹ der mechanischen Objektivität, in dem sich Natur einfach abzubilden scheint, doch klaffen – so zeigen meine Analysen exemplarischer Schädelfotografien – zu den textuell oder metrisch-statistisch hervorgebrachten ›rassischen‹ und ›sexuellen‹ Differenzen Lücken. Die mittels Fotografie, Vermessung und Beschreibung hervorgebrachten Gegenstände können zwar aufeinander verweisen, kommen aber nicht zur Deckung. Eine ›Repräsentation‹ von ›rassischen‹ oder ›sexuellen Typen‹ wird dabei in Form von seriellen Anordnungen verschiedener Ansichten und verschiedener Schädel bzw. Knochen versucht. Doch verweist die Fotografie in allen Versuchen, einen ›Typus‹ zu visualisieren, gleichzeitig immer wieder nur auf den einzelnen, individuellen Schädel. Dieser Medienspezifik der Fotografie begegnet – allerdings außerhalb des Archivs für Anthropologie – Francis Galton mit seinen Kompositfotografien: In seiner Überlagerung des fotografischen und statistischen Dispositivs ergeben sich aus Übereinanderprojektionen mehrerer standardisierter Gesichtsfotografien visuelle Häufungen, aus fotografisch erfassten Einzelköpfen werden ›Typen‹ fotografisch-statistisch hergestellt.286
286 Vgl. zu den beiden unterschiedlichen fotografischen Verfahren Francis Galtons und Alphonse Bertillons den instruktiven Grundlagentext von Alan Sekula (Sekula [1986]; auf die in Galtons Mischfotografien gleichzeitig erzeugten ›Gespenster‹ verweist Gunnar Schmidt (Schmidt 1999)).
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A nthropologische Visualisierungen
Plastische Visualisierungen Die physische Anthropologie ist neben dem Sammeln von Daten immer auch mit dem Sammeln von Körperteilen beschäftigt287 – doch gelten ihr Abgüsse (v.a. aus Gips) von Körperteilen Lebender oder von Knochen ebenso als Arbeitsobjekte wie die Körperteile und Knochen selbst (vgl. Kollmann 1906: 211; Macnamara 1905: 77). Die Selbstverständlichkeit, mit der solche Präparate die Körper ersetzen, wird daran offenbar, dass oft nur ganz beiläufig erwähnt wird, dass es sich überhaupt um Abgüsse handelt. Nur an wenigen Stellen wird eine Problematisierung dieser Ersetzung vorgenommen, die darauf zielt, eine Differenz zwischen Vorlage und Abdruck zu konstatieren, zum Beispiel schreibt Frizzi von »Gipsabgüsse[n …], welche alle aus technischen Gründen kleinere Abweichungen und dergleichen im Gegensatz zu den Originalen aufweisen. Wenn ich trotzdem mein Abgussmaterial hier und da zum Vergleiche heranziehen werde, so geschieht dies immer mit dem Vorbehalt des soeben geäußerten Bedenkens« (Frizzi 1910: 262).
Mit der Erwähnung dieses Vorbehaltes scheint die Problematik jedoch ausgeräumt.288 Abgüsse dienen aber nicht nur zur Datenerhebung und garantieren deren Wiederholbarkeit, wenn die zu Identifizierenden selbst nicht mehr zugänglich sind. Die Ergebnisse der Identifizierungen – die ermittelten ›Rassen‹ – sollen mit ihrer Hilfe auch veranschaulicht werden, und zwar sowohl für das wissenschaftliche wie für das populäre Publikum.289 In diesem Zusammenhang geht es vor allem um Visualisierungen von ›Typen‹ – so hat zum Beispiel »Klaatsch besonders typisch für die Australier [erscheinende; C.H.] Unterkiefer« in Gips gegossen, wie Frizzi erwähnt (Frizzi 1910: 273). Das Potential dieser dreidimensionalen Visualisierungen be-
287 Vgl. zum Beispiel auch die bereits 1875 dezidiert formulierten Aufforderungen zum Sammeln von Körpern und Körperteilen bei Virchow (Virchow 1875). 288 Zum Unvorhergesehen und der Differenz, die sich in jeden Abdruck einschreibt vgl. Didi-Huberman [1997]: 16-19. Ihm zufolge ist jeder Abdruck ein Experiment mit offenem Ausgang (auf diese Konzeption des Experiments bezieht sich auch Rheinberger 2001). Nicht nur die Abdrücke, sondern auch die Schädelrekonstruktionen könnten in diesem Sinne als Experimente gesehen werden – meine Studie verfolgt in deren Analyse das zu Tage tretende Unvorhergesehene und Nichtvorgesehene. 289 Zur Ausstellung von Abdrücken aber auch Nachbildungen ›fremder Rassen‹ in Kolonial- und Weltausstellungen vgl. Lepp/Roth/Vogel 1999; Lange 2003. Auf eine Differenz vom Abdruck zum Original verweist einer der drei vorgestellten Texte (darauf komme ich zurück).
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steht darin, dass sie eine augenscheinliche und spontane physiognomische Identifizierung von Körpern zu ermöglichen scheinen. Im Folgenden soll aber nicht der Abguss vorgestellt werden, der als Substitut des zu identifizierenden Körpers gilt, sondern eine ›gestaltendere‹ Form plastischer Visualisierungen, nämlich die Rekonstruktion von Köpfen und Gesichtern ausgehend von Schädeln. In der Präsentation von drei Beiträgen des Archiv für Anthropologie (Kollmann/Büchly 1898; Merkel 1900; Eggeling 1913) soll dabei das Zusammenspiel metrisch-anthropologischer Perspektiven mit ethnologischen und ästhetischen Verfahren fokussiert werden. Da (visualisierende) Rekonstruktionen in einer Zeitschrift zudem nicht als dreidimensionale Objekte in Erscheinung treten können, werden sie in Form von Zeichnungen und vor allem von Fotografien wiederum selbst visualisiert. Diese weitere Drehung der ›Medialisierungsspirale‹ wird in der Analyse ebenfalls in den Blick genommen. Ausgangspunkt von Schädelrekonstruktionen ist die Annahme, dass die Schädelform die Kopf- und Gesichtsform bestimmt, wobei jedoch berücksichtigt werden muss, dass die Fleischdicke an den verschiedenen Stellen des Schädels unterschiedlich ist.290 Die Beiträge zur Rekonstruktion reihen sich in eine Geschichte der Identifizierungen von Schädeln berühmter Persönlichkeiten ein. So hatten Kupffer und Bessel 1881 über den Schädel Kants geforscht und Hermann Welcker publizierte 1883 und 1888 Untersuchungen »über die Echtheit der Schädel von Schiller, Kant und Raphael« (Kollmann/Büchly 1898: 335). Welcker habe – so Kollmann /Büchly – »nachgewiesen, dass am Kopfprofil die Hautlinie zu der darunter liegenden Knochenlinie in einem bestimmten Lageverhältnis sich befindet« (Kollmann/Büchly 1898: 335). Vor diesem Hintergrund werden Vergleiche zwischen Totenmasken, Schädeln und zeitgenössischen Bildnissen der betreffenden Persönlichkeit vorgenommen, um diese zu identifizieren.291 Während diese Vergleiche offenbar zunächst mit Hilfe von Umrisszeichnungen des Schädel- und Kopfprofils vorgenommen wurden, wird Wilhelm His zugesprochen, er habe von Bach »nicht bloss ein Profilbild, sondern eine ganze Büste« erstellt (Kollmann/Büchly 1898: 336).292 290 Während bei Kollmann/Büchly diese Fleischdicken nach unterschiedlichen Ernährungszuständen differenziert werden, stellt Czekanowski in seinem historischen Rückblick anthropologische Untersuchungen zusammen, die ›rassische‹ Differenzen in der Fleisch- und Hautdicke erzeugen (Kollmann/ Büchly 1898: 356-358; Czekanowski 1907: 74-80). 291 Gemälden wird in diesem Zusammenhang ganz unproblematisch ein mimetischer Abbildcharakter zugesprochen (vgl. z.B. Herbert Ullrich: Identifikation von Gebeinen historischer Persönlichkeiten. Gastvortrag am Institut für Rechtsmedizin der FU Berlin am 22.11.2002). 292 His sei – so auch Merkel – der erste gewesen, der »bis zur Herstellung einer Büste vorschritt« (Merkel 1900: 449).
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A nthropologische Visualisierungen
Kollmann/Büchly: Die ›Frau von Auvernier‹ In diesem Kontext individualisierender Identifikationen von berühmten Persönlichkeiten nimmt Julius Kollmann zusammen mit dem Bildhauer Büchly die einflussreiche erste Rekonstruktion eines prähistorischen Schädels vor. Ausgangspunkt ist der mit Namen versehene Schädel der sogenannten ›Frau von Auvernier‹ – ein Fund, der auf die Steinzeit datiert wird. Profiliert wird das Vorhaben im Verhältnis zu den Identifizierungen berühmter Schädel:293 »Seine [Welckers; C.H.] Aufgabe war, zu den vorhandenen Profilen (Porträts) den zugehörigen Schädel zu finden; unsere Aufgabe bestand dagegen darin, zu einem gegebenen Schädel das zugehörige Porträt zu erstellen.« (Kollmann/Büchly 1898: 335) Kollmann präsentiert das Verfahren dieser plastischen anthropologischen Visualisierung, das er eng mit seinen Überlegungen zur ›Persistenz der Rassen‹, d.h. zu ihrer Unveränderlichkeit verknüpft, 1898 auf der Versammlung der Deutschen Anthropologischen Gesellschaft und publiziert seine Ausführungen im Archiv für Anthropologie.294 Im Vergleich zu einer früheren Rekonstruktion eines prähistorischen Schädels durch Schaaffhausen wird in Kollmanns und Büchlys Ansatz die Wissenschaftlichkeit bzw. die wissenschaftliche Untermauerung der Rekonstruktion besonders hervorgehoben.295 Ausdrücklich formulieren Kollmann/Büchly das Sichtbarkeits-Axiom des physisch-anthropologischen Diskurses, nämlich dass wir »in das Gesicht sehen […], um die Menschenrassen und ihre Varietäten zu unterscheiden« (Kollmann/Büchly 1898: 329). ›Rassische‹ und ›geschlechtliche‹ Differenzen scheinen dem Körper, insbesondere dem Gesicht, demnach einfach anzusehen zu sein. Kollmann und Büchly treten nun an, »mit wissenschaft293 Durch die Namensgebung, unter der er bis heute zirkuliert, erlangt der eigentlich anonyme Schädel fast selbst den Status einer ›berühmten Persönlichkeit‹. 294 Kollmann/Büchly 1898 und das Protokoll von Kollmanns Bericht über die Rekonstruktion auf der Versammlung der deutschen anthropologischen Gesellschaft, in der er die Büste und ihre Herstellungsweise vorführte (Kollmann 1898). Der im Archiv publizierte Text ist vermutlich nur durch Kollmann verfertigt, während Büchly als Künstler die Rekonstruktion unter dessen wissenschaftlicher Aufsicht vorgenommen hat. Da der Beitrag aber unter beider Autorschaft erschienen ist, werden im Folgenden beide Namen genannt. Dieser Beitrag wird bis heute als wichtiger Beitrag zur Rekonstruktion von Schädeln genannt (vgl. Prag/Neave 1997: 15f). 295 Schaffhausen habe bereits früher einmal einen »Mensch der Vorzeit […] in einer verwandten Nachbildung« rekonstruiert, da dies jedoch »nicht nach streng anatomischer Untersuchung« durchgeführt wurde, gilt dies Kollmann/ Büchly nur als nicht ermutigender »erste[r] Versuch« (Kollmann/Büchly 1898: 334).
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lichen Methoden […] das Angesicht der Rassen uns vor Augen zu führen« (Kollmann/Büchly 1898: 329). Impliziert wird, dass man dann vor dieses (re)konstruierte anschauliche Modell – das so erst erstandene »Portrait der Rasse« (Kollmann/Büchly 1898: 329) – treten kann und den ›Rassetypus‹ selbst ›in Augenschein nehmen kann‹. Anders als die identifizierenden Vergleiche von Künstlerschädeln wird in dieser Form der Rekonstruktion betont, dass nicht individuelle Züge plastisch rekonstruiert werden, sondern nur ›rassische‹ und ›geschlechtliche‹.296 Kollmanns und Büchlys Modellierung der Rekonstruktion bewegt sich zwischen Wissenschaft, Kunst und Handwerk: Vor der Rekonstruktion wurden Messungen der jeweiligen Dicke von Fleisch- und Hautschicht auf 23 verschiedenen Stellen des Schädels unternommen. Durchgeführt wurden diese an nach Ernährungszustand kategorisierten »28 Männer- und Frauenleichen« – »[f]ür die Reconstruction des Gesichtes der Frau von Auvernier wurden die Mittelwerthe von gutgenährten Frauen verwendet, darunter vier Selbstmörderinnen« (Kollmann 1898: 119).297 Entsprechend dieser Maße werden auf einer Nachbildung des Schädels dann Gipspyramiden in der jeweiligen Höhe aufgesetzt, die als Orientierung zur Modellierung dienen: »An den für die Messung ausgewählten Punkten wurden an dem in Gips nachgeformten Schädel die schon erwähnten Gipspyramiden errichtet, welche genau die Höhe der angegebenen Mittelwerthe besitzen. Der Schädel wurde dann bis zur Höhe der Marken mit Thon belegt und so von einem Punkte zum andern fortgefahren, bis schließlich an den 46 [2x23 pro Seite; C.H.] Punkten die Dicke der Weichtheile aufgetragen war.« (Kollmann 1898: 119) »Dann war das weitere Vorgehen folgender Art: die Weichtheile wurden mit Thon, wie ihn die Bildhauer verwenden, auf eine genaue Nachbildung des Schädels in der durch Gypspyramiden im Voraus gegebenen Dicke aufgetragen und auf solche Weise das Rassen-Porträt eines Menschen erhalten, der vor vielen tausend Jahren gelebt hat.« (Kollmann 1898: 118; heterogene Schreibweise »Gips« und »Gyps« i.O.)
Auf diese Weise ist also die ›Einkleidung‹ des Schädels in Ton (als Surrogat für Fleisch und Haut) durch metrische Verfahren wissenschaftlich abgesichert. Doch gleichzeitig wird eine Büste modelliert, die sich an ästhetischen
296 »Man darf nicht verlangen, dass das Porträt des Individuums wieder hergestellt werde, wohl aber dasjenige der Rasse und der Varietät.« (Kollmann 1898: 118) Vgl. außerdem die Beschreibung des Schädels, von dem gesagt wird, dass »in ihm die Merkmale der Rasse und des Geschlechtes enthalten sind« (Kollmann/Büchly 1898: 344). 297 Zusammenstellung der Maße und Mittelwerte in den Tabellen 1 bis 4 in Kollmann/Büchly 1898: 356-358.
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Stilvorgaben der Jahrhundertwende orientiert – mit leicht gehobenem und nach rechts gewendetem Kopf. Kollmann und Büchly begeben sich damit ganz bewusst aus der Normierung zweidimensionaler anatomischer Darstellungen von Schädeln hinaus. Sie betonen – und dieses Zitat umfließt das Foto auf der abgebildeten Seite aus dem Archiv für Anthropologie (Abb. 72) –, dass »diese Uebereinkunft nicht bindend ist für die Herstellung von plastischen Bildnissen, sondern nur für Zeichnungen, die eine einzige Fläche der Betrachtung darbieten und deshalb zum Zwecke der Vergleichbarkeit nach einem bestimmten Plane orientirt sein müssen« (Kollmann/Büchly 1898: 337). Kollmann/Büchly selbst zeigen jedoch zunächst eine Fotografie der rekonstruierten Büste und übersehen dabei, dass diese (im Vergleich zur Büste selbst) ja auch nur eine »einzige Fläche der Betrachtung« bietet und darum eigentlich auch »nach einem Plane orientirt« sein müsste. Auch von der Anlehnung anthropologischer Körperfotografien an die kriminalistischen Bertillonagen scheinen Kollmann und Büchly unberührt zu sein. Allerdings hätte die Anfertigung einer positivistischen Fotografie dieser ästhetisch gestalteten Büste angesichts ihrer Kopfhaltung wiederum Komplikationen für die Frage der Perspektive und der Ansicht aufgeworfen. In der Konzeption Kollmann/Büchlys gilt das abgedruckte Foto hier offenbar – wie der Status der Fotografie in der Anthropologie überhaupt – einfach als mimetisches Äquivalent der Büste, ganz ohne Berücksichtigung des mehrfachen Medienwechsels. Gleichzeitig jedoch scheint für den Verstoß gegen anthropologische Übereinkünfte eine Art ›Wiedergutmachung‹ notwendig zu sein, denn im Anhang finden sich auf drei Tafeln Umrisszeichnungen »im Anschluß an jene Uebereinkunft«, nämlich eine frontal und zwei im Profil (Kollmann/Büchly 1898: 337) (Abb. 73-75).298 An diesen Umrissen können nun die physisch-anthropologischen Identifizierungen vorgenommen werden – in die zweite Profilansicht sind zu diesem Zweck geometrische Linien zur Winkelbestimmung eingezeichnet. Auf den beiden anderen Tafeln wird durch ineinander gezeichneten Schädelumriss und Umriss der Kopfrekonstruktion das Verhältnis zwischen Rekonstruktion und Schädel veranschaulicht: Visualisiert wird die Dicke der aufgetragenen Schicht, selbst die hinzugefügten Haare gehen in diese Zeichnung ein. Die drei Umrisse gelten hier also offenbar als Visualisierungen, wel298 In einer Erläuterung zu den Tafeln wird nicht nur auf das Verfahren zur Herstellung der Umrisse verwiesen, sondern auch auf notwendige Abänderungen: »Das Schädelprofil [ebenso wie die frontale Ansicht; C.H.] wurde durch geometrische Projection mit dem Lucae’schen Orthographen gezeichnet. Diese im übrigen vortreffliche Methode zur Erreichung eines genau der natürlichen Grösse entsprechenden Bildes hatte für unseren Fall an drei Stellen kleine Abänderungen zur Folge.« (Kollmann/Büchly 1898: 355) Auf die produktive ›Manipulation‹ von Umrisslinien bin ich bereits eingegangen (vgl. S. 197-201).
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Abb. 72: Fotografie der rekonstruierten Büste im Textverlauf (Kollmann/Büchly 1898: 337)
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Abb. 73 -75: Profilumriss mit Haut und Haar (Kollmann/Büchly 1898: Tafel VII); Frontalumriss mit Haut und Haar (Kollmann/ Büchly 1898: Tafel VIII); Schädelumriss mit Winkellinien (Kollmann/Büchly 1898: Tafel IX)
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che die ästhetisierende Perspektive der fotografierten Büste kompensieren und die – womöglich bedrohte – Wissenschaftlichkeit des Ansatzes wieder herstellen. Der Haarschmuck allerdings – so schreiben Kollmann und Büchly – ist »selbstverständlich frei erfunden« (Kollmann/Büchly 1898: 336; Kollmann 1898: 120). Die Begründung für dieses illustrative Supplement scheint mir bemerkenswert: »Ein kurz geschnittenes Haar hätte die äussere Erscheinung wesentlich beeinträchtigt. Alle Naturvölker legen überdies auf den Haarschmuck einen besonderen Werth. Wir sind also jedenfalls berechtigt zu der Annahme, dass die Frau von Auvernier ihr Haupthaar in irgend einer Form, vielleicht in verwandter Art getragen habe.« (Kollmann/Büchly 1898: 336) 299
In dieser ›berechtigten Annahme‹ – einer sich selbst berechtigenden Spekulation – schwingen kulturelle Normen (nicht nur) der Jahrhundertwende mit, die das ›schöne Geschlecht‹ mit langen, hübsch hochgesteckten Haaren sehen möchten. Doch die Schmückung der Büste geht noch weiter, wie Kollmanns Bericht auf der Versammlung der anthropologischen Gesellschaft entnommen werden kann: »Die Drapierung der Brust, ebenso das Collier mit einem Eberzahn, Thronperlen u. dgl. ist ebenfalls frei erfunden, ebenso der Blick, die Wendung des Kopfes. Die Form des Halses ist der allgemeinen Form des Kopfes angepasst.« (Kollmann 1898: 120)300 Im Zuge der Rekonstruktion wird der anthropologische Diskurs hier also von einer ästhetischen Herangehensweise infiltriert, aber auch vom ethnologischen Diskurs angesteckt, obwohl dieser in einem der Texte, einige Seiten vorher, mit den Worten »die Vermengung anatomischer und ethnologischer Gesichtspunkte stiftet nur Unheil« abgetrennt worden war (Kollmann/Büchly 1898: 333, Fußnote). Was gerade noch als ›Unheilsstifter‹ erschien, ist in der Rekonstruktions- und Veranschaulichungspraxis gleichsam zum ›Heilmittel‹ geworden. Die Erscheinung der Büste – ihr ›Rasse‹- und ›Geschlechtstypus‹ – wäre wesentlich oder störend beeinträchtigt gewesen, wäre da nicht die 299 Im Protokoll von Kollmanns Bericht lautet diese Passage leicht abgewandelt: »Ein kurz geschnittenes Haar hätte die äussere Erscheinung störend beeinflusst, ich hielt es für erlaubt, irgend eine Form zu wählen, welche die Stirn freilässt. Alle Naturvölker legen überdies auf den Haarschmuck einen besonderen Werth. Wir sind also jedenfalls zu der Annahme berechtigt, dass die Frau von Auvernier ihr Haupthaar in irgend einer Form, vielleicht in verwandter Art getragen habe.« (Kollmann 1898: 120; Hervorhebung C.H.) 300 Dass diese Beigaben weder auf der Fotografie noch den Umrisszeichnungen im Archiv für Anthropologie mit visualisiert werden, ist sicherlich einer weiteren Absicherung der Wissenschaftlichkeit des Verfahrens geschuldet.
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Zuhilfenahme der ›richtigen Zuschreibung‹ und weiterer Zutaten, in der die ethnologisch-kulturelle Konzeption ›geschlechtlich‹ markierten Haarstils (sogenannter ›Naturvölker‹) die anthropologische Konzeption des (anatomischen) ›Geschlechts‹ überlagert. Der unerwünschte Effekt der Be einträchtigung scheint nun ausgerechnet durch den Unheilsstifter – das ethnologische Supplement, das vorher verbannt worden war – aufgehoben oder gar geheilt.301 Dass hier überhaupt die Sprache auf eine mögliche Beeinträchtigung und offenbar befürchtete Störung kommt, scheint des Weiteren der Aufmerksamkeit wert. Denn womöglich hat diese Befürchtung etwas mit den durch die metrischen Verfahren in Gang gesetzten Auflösungstendenzen klarer Kategorien zu tun. Im Hinblick auf die eindeutige Identifizierung des Schädels betonen Kollmann und Büchly: »Es ist nun werthvoll, dass dieses für die Reconstruction verwendete Gesichts skelett nicht etwa an der Grenze zwischen Lang- und Breitgesichtern mit seinem Index steht, sondern tief unter jener Grenze, welche die Craniometrie festgestellt hat. Dadurch ist jeder Zweifel über die zutreffende Bezeichnung als ›Breitgesicht‹ beseitigt, denn keine noch so abgeänderte Messungsmethode oder Verschie bung der Kategorie wird dieses Gesichtsskelett zu einem Langgesicht stempeln können. An den Jochbogen und den Wangenbeinen ist die Dicke der Weichtheile leicht und sicher bestimmbar […]. Wir können deshalb versichern, dass die Länge und Breite des Gesichtes an der Büste in jeder Hinsicht correct ist, und es kann kein Zweifel darüber aufkommen, dass nach diesen beiden Richtungen in der Büste ein getreues Rassenportrait durch uns hergestellt wurde und durch die Messung erkennbar ist.« (Kollmann/Büchly 1898: 342)
Kollmann und Büchly reagieren hier offenbar auf die im Zuge der metrischen Verfahren verschwimmenden Kategorien-Grenzen, welche die Zuordnung von ›Präparaten‹ zu Schädel-Kategorien in Zweifel stellen. Demgegenüber betonen sie vehement die Klarheit ihrer Identifikation des Schädels der ›Frau von Auvernier‹ als »Breitgesicht« – sie bringe dies in allen Maßen als »reine Form« zum Ausdruck (Kollmann/Büchly 1898: 333) –, und insistieren auf der Zweifellosigkeit, dass sich diese Klarheit auch in der Rekonstruktion ausdrückt. Diese Bemühungen um das Festklopfen von Typisierungen verweist – gegen den Strich gelesen – auf eine offenbar dringende Notwendigkeit der Selbstvergewisserung und unterläuft damit gerade die Evidenz der Identifizierung. Zugespitzt könnte man sagen, dass die Veranschaulichungspraxis Kollmann/Büchlys, die zunächst entgegen gesetzte Verfahren miteinander verschmilzt, das bedrohliche dekonstruktive Potential zu bändigen bzw. durch starke Fixierung oder ›Stereotypi301 Zum »pharmakon« – das Gift, das gleichzeitig auch Heilmittel ist – vgl. Derridas Platon-Lektüre (Derrida [1974]: 143).
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sierung‹ zu kompensieren sucht. Doch ob dies gelingen kann, bleibt unsicher: Ob die Rekonstruktion des Schädels der ›Frau von Auvernier‹, dieses »Porträt der Rasse«, wie es auf der Fotografie dargeboten wird, nun – unter Zuhilfenahme Unheil stiftender Heilmittel (das frisierte Haar) – augenscheinlich als ›Frau‹ zu erkennen, d.h. zu identifizieren ist, erscheint zumindest zweifelhaft. Doch steht die von Kollmann und Büchly in Ko-Autorschaft hergestellte Rekonstruktion im Dienste von Kollmanns vehement vertretener Position von der ›Persistenz der Rassen‹, die von einer auch im Zuge von Mischungen bleibenden Unveränderlichkeit durch die Jahrhunderte ausgeht. Begründet diese Argumentation zum Einen die Erhebung der Fleischdicken an heute lebenden Individuen (v.a. Kollmann 1898: 118) – die aufgrund der angenommenen ›Rassenpersistenz‹ ohne Probleme auf prähistorische Schädel zurückprojiziert werden –, wird sie durch die solchermaßen angeleitete Rekonstruktion gleichzeitig auch bestätigt, denn das im plastischen Porträt rekonstruierte Gesicht findet seine »Schwester […] (bezüglich der Übereinstimmung der Rasseneigenschaften)« in einem kürzlich gestorbenen »Mädchen aus dem benachbarten Baden« (Kollmann/Büchly 1898: 345). Der Ansatz befindet sich damit in einem merkwürdigen Zirkel der gegenseitigen Bestätigung: Das ›badische Mädchen‹ beglaubigt die vorgenommene Rekonstruktion, während die – vor allem für den Augenschein vorgenommene – Rekonstruktion wiederum die alten ›rassischen‹ Wurzeln des ›badischen Mädchens‹ bestätigt.302
302 In dieser Konzeption von Persistenz, die im Zuge der Rekonstruktion gleichzeitig vorausgesetzt und bestätigt wird, wird der ›Breitschädel‹ neben dem ›Arier‹ aufgewertet: »[W]enn er [Rudolf Virchow; C.H.] von den Schädeln von Auvernier mit Recht hervorhebt, sie könnten mit Ehren unter den Schädeln der Culturvölker gezeigt werden und durch ihre Capacität, ihre Form und die Einzelheiten ihrer Bildung stellten sie sich den besten Schädeln arischer Rasse an die Seite, so gilt dies auch von den Nachkommen dieser Varietät heute.« (Kollmann/Büchly 1898: 347)
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Merkel: Ein Bewohner des Leinegaues und ein ›Neuholländerinnen‹-Kopf Kurz nach Kollmann und Büchly unternimmt Friedrich Merkel zusammen mit dem Bildhauer Eichler die Rekonstruktion eines ›Männerschädels‹ aus einem Gräberfeld bei Rosfeld in der Nähe von Göttingen (Merkel 1900). Auch dieser Beitrag nimmt die Diskursposition der ›Rassenpersistenz‹ ein, und zwar auf ähnlich zirkuläre Weise: Er setzt sie für die Rekonstruktion voraus – so orientiert sich Merkel z.B. bei der Nasenrekonstruktion an Nasenformen der zeitgenössischen ›niedersächsischen‹ Bevölkerung – und findet gleichzeitig in der »Reconstruction […] zweifellos eine Bestätigung des von Kollmann mit allem Nachdruck aufgestellten Satzes, dass eine Abänderung der Rassen nicht anders stattfindet, als durch Kreuzung« (Merkel 1900: 455).
Abb. 76: Halbprofil- und Profilfotografie der Rekonstruktion (Merkel 1900: 450/451) Diente bei Kollmann/Büchly die Fotografie der fertigen Rekonstruktion offenbar als mimetische Visualisierung des Ergebnisses, trreten bei Merkel neben eine Halbprofil- und eine Profilaufnahme der rekonstruierten Büste (Abb. 76) noch zwei Fotografien, welche die »einzelnen Stadien der Herstellung« (Merkel 1900: 454) fotografisch visualisieren: Eine Profil-Fotografie der zur Hälfte bereits mit »Plastilina« (Merkel 1900: 453) überzogenen Schädelnachbildung visualisiert ähnlich wie eine Umrisszeichnung bei Kollmann die Materialdicke auf dem Schädel. Und eine Frontalaufnahme des
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Abb. 77: Fotografien der Rekonstruktionsstadien (Merkel 1900: 454/455)
»kahlen […] Stadium[s]« (Merkel 1900: 454f) visualisiert die Rekonstruktion noch vor Haarzusatz und Farbauftrag (Abb. 77). Merkels FotografieEinsatz scheint wie eine konsequente Weiterführung und Erweiterung von Kollmanns Praxis, insofern auch einzelne Produktionsstadien fotografisch visualisiert werden und auf diese Weise auch die Umrisse des Schädel-KopfVerhältnisses durch fotografische Visualisierungen ersetzt werden. Deutlich unterscheiden sich Merkel und Kollmann/Büchly hingegen hinsichtlich des ›Anhängsels‹ Haar: Bei Merkel wird die hinzugefügte Haartracht zunächst ethnologisch spezifischer ›berechtigt‹ und nicht eher assoziativ mit ›Naturvölkern‹ verbunden wie bei Kollmann: »Die Niedersachsen liessen in der Zeit, aus welcher der reconstruirte Schädel stammt, die Haare lang wachsen und gingen rasirt; auch dies wurde bei dem Formen der Büste berücksichtigt.« (Merkel 1900: 454) Während das Haar bei Kollmann/Büchly aber zur Absicherung des ›Rasse‹- und ›Geschlechtstypus‹ diente, scheint es bei Merkel demgegenüber geradezu zu stören: »In der That gleicht der Kopf sehr dem niedersächsischen Typus, wie er noch heute in der Göttinger Gegend vorkommt. Besonders frappant tritt dies an dem kahlen (zweiten) Stadium der Büste (Fig. 4) hervor. Die Haartracht der fertigen Büste, welche natürlich bei den modernen Männern eine andere ist, giebt dem Kopfe etwas Ungewohntes und Fremdes.« (Merkel 1900: 454f)
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Diente die Haartracht bei Kollmann/Büchly noch dazu, das gestörte ›rassische‹ und ›geschlechtliche‹ Erscheinungsbild zu ›heilen‹, so ist es hier nun umgekehrt: Die Ähnlichkeit des rekonstruierten alten Schädels tritt »besonders frappant« hervor, wenn die Haartracht noch nicht angebracht ist. Es ist die – historisch-ethnologisch spezifisch abgesicherte – Haartracht, die dem Kopf gerade »etwas Ungewohntes und Fremdes« gibt und auf diese Weise die Wahrnehmung der Gleichartigkeit des historischen und modernen Schädels zu stören scheint – und zwar wegen des Auseinanderklaffens historisch unterschiedlicher ›geschlechtlich‹ spezifizierter Haarmoden. Während bei Kollmann/Büchly die traditionelle Zuordnung langer Haare an die ›Frau‹ die ›geschlechtliche‹ Identifizierung der Rekonstruktion zu stützen scheint, stört die historische Zuschreibung langer Haare an den ›Mann‹ gerade seine augenscheinliche Identifizierung. Fast scheint es, als würden sich am Beispiel der Haare in beiden Ansätzen Reaktionen auf die zeitgenössischen Diskussionen um ›Männlichkeit‹ und ›Weiblichkeit‹ und ihrer Verschiebungen abzeichnen. Im Hinblick auf das Zusammenspiel von anthropologischer und ethnologischer Perspektive sind beide Ansätze darüber hinaus wie folgt zu unterscheiden: Während bei Kollmann/Büchly ein (zuvor verbanntes) ethnologisches Supplement die Identifizierung absichert, wird bei Merkel gerade durch seine Auslassung die Identifikation garantiert. Der Vergleich wird hier unter Absehung von kulturellen Zuschreibungen vorgenommen – doch scheinen diese gleichzeitig auch in diesem Fall wieder ›herumzugeistern‹ (zeitgenössische Geschlechterzuschreibungen ans Haar). Doch während Kollmann die Eindeutigkeit der ›rassischen‹ und ›geschlechtlichen‹ Zuordnung gewahrt sieht, geraten bei Merkel die gestalterischen Elemente einer solchen Rekonstruktion und damit verbundene Unsicherheiten deutlicher an die Oberfläche des Textes. So schreibt er freimütig von einem gewissen Variationsspielraum der Dicke der aufgetragenen Schichten und einer solchermaßen ausgeglichenen Asymmetrie des Schädels (Merkel 1900: 453), formuliert werden aber auch Unsicherheiten an diversen Stellen wie etwa der Nasenspitze, der Lippen, der Weite der Mund- und Augenspalten und nicht zuletzt der »Beschaffenheit des Blicks« (Merkel 1900: 454).303 Um die »Bedenken, dass bei der Reconstruction doch vielleicht gar zu viel Willkürliches mit unterlaufen sei«, zu zerstreuen, zu
303 Unsicherheiten bezüglich der Ohr-Rekonstruktion werden merkwürdigerweise nicht genannt. Eine solche Problematisierung findet sich in einem Artikel von Wolfgang Warda, in dem es mit Goethe wieder um eine historische Persönlichkeit geht (Warda 1905). Die anthropologische Beschäftigung mit dem Ohr steht im Kontext der kriminologischen Beschäftigung Lombrosos, aber auch Bertillons mit Ohrformen von Verbrechern. Zum Ohr finden sich im Archiv für Anthropologie außerdem: Karutz 1899; Schaeffer 1892/93.
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mildern oder gar auszuräumen, führt Merkel eine »Probe auf das Exempel« durch (Merkel 1900: 455). Allerdings unternimmt er aus Zeitgründen nicht das »Einfachste und Richtigste«, nämlich den Abguss und die Fotografie eines Leichenkopfes, um dann auf dem ›macerierten‹304 Schädel eine Büste zu formen, bei deren beider Vergleich sich herausstellen würde, »ob die Reconstruction mit der Natur Aehnlichkeit gehabt hätte« (Merkel 1900: 455f).305 Stattdessen ›testet‹ Merkel seinen (anthropologisch) »ungeübten künst lerischen Mitarbeiter« (Merkel 1900: 456), den »[f]ür die künstlerische Ausgestaltung« zuständigen Bildhauer Eichler (Merkel 1900: 451), indem er ihn eine Rekonstruktion auf dem Schädel eines ›Neuholländers‹ (Merkel 1900: 457) anfertigen lässt, ohne ihm dessen Herkunft oder irgendwelche anderen Daten mitzuteilen. Diese Rekonstruktion wird dann einem ausschließlich visuellen – und zwar fotografischen – Vergleich unterzogen: In Anlehnung an eine von Merkel zum Vergleich herangezogene Fotografie eines – ›weiblich‹ markierten – »echten Neuholländerkopf[s]« wird der rekonstruierte Schädel »in ähnliche Anordnung und Stellung gebracht« – insbesondere wurde ihm ein Tuch um den Kopf drapiert –, um ihn dann zu fotografieren (Merkel 1900: 457). Beide Fotografien werden im Fließtext nebeneinander gesetzt und Merkel formuliert, auf eine vergleichende Kommentierung verzichtend: »Ich meine, die Uebereinstimmung ist eine so grosse, dass eine Besprechung des Resultates unnötig ist.« (Merkel 1900: 457)306 (Abb. 78) Nur die Nase sei vom Bildhauer im letzten Moment verschönert worden, da ihm »die Physiognomie gar zu hässlich schien« (Merkel 1900: 457). Durch die Inszenierung der Schädelrekonstruktion und den Medienwechsel sowohl bei der ›Neuholländerin‹ als auch der Rekonstruktion in die Fotografie – die in beiden Fällen als mechanisch-objektiv und darum mimetisch-abbildend gilt – treten beide Köpfe in eine Ebene. Den Fotografien wird im Hinblick auf den Vergleich und die Identifizierung der beiden die alleinige Autorität zugesprochen – ganz unbekümmert ob der merkwürdigen Sichtbarkeit der In-Szene-Setzung der Schädelrekonstruktion und der ebenfalls visualisierten Differenzen beider Anordnungen: 304 Beim ›Macerieren‹ handelt es sich um eine Verfahren, mit dem der Schädel einer Leiche von Fleisch und Haut befreit wird. 305 Ein ähnliches Verfahren verwenden Kollmann/Büchly, allerdings nicht zur Verifizierung, sondern um überhaupt erst ihre Rekonstruktionsweise zu entwickeln und sich ihrer dann zu versichern. Die Fotografie des Leichenkopfes dient dort gerade zur Aufzeichnung und Ermittlung der Weichteile auf dem Schädel (Kollmann/Büchly 1898: 345). Eggeling hingegen wird diese Anregung Merkels 1913 für einen Test aufgreifen (darauf komme ich zurück). 306 Erwähnt wird nur das Statement des Bildhauers, der nach kurzer Zeit erklärt habe, der Schädel gehöre keinem ›Europäer‹ an (Merkel 1900: 457).
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A nthropologische Visualisierungen
Abb. 78: Fotografischer Vergleich von Rekonstruktion und »Neuholländerkopf« (Merkel 1900: 456) Die Aufmerksamkeit ziehen ebenso der Schädelhalter, die unterschiedlichen Färbungen des Kopfes oder das unbeholfen um den rekonstruierten Schädel geschlungene und verknotete Handtuch auf sich – fast erscheint das Handtuch als – herabsetzender? – visueller Kommentar zur auf der rechten Fotografie abgebildeten ›Frau‹. In diesem rein visuellen Vergleich, bei dem uns ein schriftlicher Kommentar so gut wie vorenthalten wird, tritt das Sichtbarkeitspostulat und die Visualisierungsmacht des anthropologischen Diskurses deutlich zu Tage: Erwünscht ist ein rein physiognomischer Vergleich beider Gesichter – ähnlich dem Motto Kollmanns, dass wir »in das Gesicht sehen […], um die Menschenrassen und ihre Varietäten zu unterscheiden« (Kollmann/Büchly 1898: 329) –, der ausschließlich auf dem anthropologisch gebildeten Augenschein basiert, aber auch anschlussfähig an alltägliche Sehweisen zu sein verspricht. Durch diesen ›geglückten‹ Test scheinen nun die befürchtete Subjektivität und gestalterische Willkür ausgeschaltet, denn »[d]a die Physiognomik eines Neuholländers von der eines Europäers himmelweit verschieden ist, so musste bei einer unbewusst subjectiven Ausführung der Reconstruction ein durchaus fehlerhaftes Resultat entstehen« (Merkel 1900: 456). Da das Resultat aber nicht als »fehlerhaft« erscheint, fällt Merkels Fazit der Probe außerordentlich optimistisch aus:
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Zwischen Auflösung und Fixierung
»Meine Bedenken in Betreff der [vorher rekonstruierten; C.H.] Büste des Rosdorfers wurden durch das gemachte Experiment ausserordentlich gemildert und ich bin der Meinung, dass Reconstructionen, wie die von Kollmann und mir versuchten, doch nicht allzu weit von dem Grundtypus, welchen der reconstruirte Kopf im Leben zeigt, abweichen dürfen.« (Merkel 1900: 457)
In diesem Ausschalten von Subjektivität, nicht durch einen metrisch-objektiven, sondern gerade durch einen augenscheinlichen physiognomischen Vergleich, wird deutlich, wie im anthropologischen Diskurs der mechanischobjektive Zugang – der die Subjektivität ausschließt – und ein urteilender Zugang – der sich auf den Augenschein beruft – innerhalb eines einzigen Textes Hand in Hand gehen, ja unentwirrbar ineinander verwoben sind. Auch wenn die Rekonstruktion Merkels deutlicher aus den Fugen zu geraten schien als noch bei Kollmann/Büchly – es tauchten ja explizit »Bedenken« auf –, so scheint sie doch durch die Inszenierung eines kleinen Experiments und die Verquickung ›entsubjektivierter‹ und ›subjektiver‹ Zugänge wieder in rechte Bahnen gerückt.
Eggeling: Ein erhängter 30-Jähriger Doch die Zweifel bohren weiter: So wird schon Merkels Optimismus nicht allerseits geteilt: Merkels Ausführungen werden 1907 von Jan Czekanowski kommentiert, insofern ihm »die Ähnlichkeit der beiden in der Arbeit angegebenen Bilder und infolgedessen der daraus gezogene Schluß zweifelhaft zu sein scheinen« (Czekanowski 1907: 79).307 13 Jahre nach Merkel greift ein Beitrag von Heinrich Eggeling die bei Merkel formulierte Unsicherheit auf und beschäftigt sich nun dezidiert mit der »Leistungsfähigkeit physiognomischer Rekonstruktionsversuche auf Grundlage des Schädels«, wobei auch die Gesichtsreproduktion in Form von Totenmasken problematisiert wird (Eggeling 1913). Eggeling kommt auf das von Merkel vorgeschlagene Experiment zurück und führt es »in etwas erweiterter Form« durch (Eggeling 1913: 44). Ausgangspunkt ist der Schädel »eines 30jährigen Mannes, der wenige Stunden nach seinem Tode durch Erhängen, allerdings noch in der heißen Jahreszeit, Ende August, in die Anatomie Jena eingeliefert wurde« (Eggeling 1913: 46). Doch vor der ›Macerierung‹ des Schädels wird von der Leiche noch eine Totenmaske abgenommen und, wie dann der Schädel selbst, für spätere Vergleichszwecke fotografiert. Auf dem Schädelabguss werden darauf durch zwei Künstler – »Frau Martha Bergemann-Könitzer in Jena und Herrn Prof. Gottlieb Elster, Direktor der Bildhauerabteilung der Groß307 Czekanowski diskutiert in seinem Beitrag ausführlich die verschiedenen Ansätze zur Fleischdicken-Bestimmung auf dem Schädel (vgl. Fn. 290).
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herzoglichen Kunstakademie in Weimar« (Eggeling 1913: 44) – unabhängig voneinander zwei Rekonstruktionen durchgeführt. Deren Rekonstruktionsarbeit erscheint wiederum als eher wissenschaftliche: Eggeling dankt ihnen für »das warme Interesse an der so wenig künstlerischen Aufgabe« (Eggeling 1913: 44). Die Rekonstruktionen orientieren sich an den Vorläufern His, Kollmann/Büchly und Merkel und verwenden die bei Kollmann/ Büchly angegebenen Maße. Ausführlich geht Eggeling auf »[d]ie Erfahrung unserer Vorgänger, daß die Bildung der Augen, des Mundes, der Nase und des Ohres trotz der vorliegenden Dickenmessungen großer Willkür ausgesetzt sind«, ein (Eggeling 1913: 45). Die Rekonstruktionen erhalten bei Eggeling keine Anhängsel wie etwa Haare oder Schmuck, doch scheint die nach wie vor bedrohliche Willkürlichkeit mit Nachdruck bis in die anatomische Modellierung vorgedrungen zu sein. Die Ergebnisse der beiden Rekonstruktionen werden auch hier wieder mittels fotografischer Visualisierungen veranschaulicht, die allerdings im Text beschreibend kommentiert werden. Andere Visualisierungen wie etwa Umrisszeichnungen fehlen bei Eggeling. Auf zwei in den Text eingehängten Tafeln werden Frontal- und Profilaufnahme der jeweils vier Präparate vergleichend nebeneinander gesetzt: jeweils links oben der ›macerierte‹ Schädel, rechts daneben die Rekonstruktion von Bergemann-Könitzer, links unten jene von Elster und rechts unten die Totenmaske des Erhängten (Abb. 79 und 80). Nach einer ergänzenden Erläuterung der einzelnen Rekonstruktionen nimmt Eggeling eine Bewertung dieses augenscheinlichen Vergleichs vor, die für anthropologische und physiognomische Rekonstruktionen – ganz entgegen der Euphorie Merkels anlässlich des ›NeuholländerinnenVegleichs‹ – eher niederschmetternd ausfällt: »Ein Vergleich der drei verschiedenen Masken en face und en profil zeigt, daß die durch Rekonstruktion erzielte Ähnlichkeit keine sehr große ist. Eine Übereinstimmung zwischen den drei Gesichtern zeigt sich nur in den gröberen Formverhältnissen, während in den feineren, eigentlich charakteristischen Zügen recht beträchtliche Unterschiede zutage treten. Namentlich wohlgelungen erscheint bezüglich der Ähnlichkeit mit der Totenmaske der zweite Rekonstruktionsversuch.« (Eggeling 1913: 47)
Doch wenn in diesem augenscheinlichen Vergleich die Reproduktion Elsters stärker der Totenmaske angenähert wird, ist damit noch längst nicht ge sichert, dass sie das Gesicht des Lebenden besser wiedergibt, denn: »Bei der Beurteilung des Ergebnisses darf nicht vergessen werden, daß die Totenmaske die Züge des lebenden Mannes nur in sehr unvollkommener Weise wiedergibt.« (Eggeling 1913: 47) Problematisiert werden sowohl »geringe Verzerrungen«, die sich »kaum vermeiden lassen«, als auch die Veränderung des »Leichenantlitz[es]« durch das Erhängen, nämlich »eine Quellung
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Zwischen Auflösung und Fixierung
Abb. 79: Vier Präparate in Frontalfotografie (Eggeling 1913: Tafel I)
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Abb. 80: Vier Präparate in Profilfotografie (Eggeling 1913: Tafel II)
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der Gesichtsweichtheile in geringem Grade« (Eggeling 1913: 47). Doch selbst die hier als »gering« titulierten Veränderungen scheinen einen eher großen Effekt hervorzurufen, denn das Gesicht des Lebenden wird offenbar »nur in sehr unvollkommener Weise« wiedergegeben. Was als die »gröberen Formverhältnisse« begriffen werden soll, für die Eggeling dagegen eine Übereinstimmung aller drei »Masken« konstatiert, bleibt undeutlich – als explizit ›rassische‹ Züge wie bei Kollmann werden sie nicht benannt. Obwohl sich Eggeling nicht explizit zum anthropologischen Interesse an ›Rassen‹ verhält, sieht er »[t]rotz des geringen Grades der bei unseren Versuchen erzielten individuellen Ähnlichkeit […] die Berechtigung der Versuche von Kollmann-Büchly, sowie von Merkel, den Gesichtstypus auf Grund der Schädel längst verstorbener Vertreter einer Menschenrasse zu rekonstruieren« erhärtet (Eggeling 1913: 47). Eggeling interessiert sich vor allem für die individuellen Züge, auf die er – noch einmal im Gegensatz zu Merkels Visualisierungen – in seinem augenscheinlichen Vergleich den Fokus legt.308 Hatte das bei Merkel unternommene Experiment die Frage, »ob die Reconstruction mit der Natur Aehnlichkeit gehabt hätte« (Eggeling 1913: 46), bejaht und damit die ›Rassenähnlichkeit‹ anvisiert, so legt Eggeling den Fokus auf die individuelle Ähnlichkeit und muss diese Frage durch sein Experiment verneinen. Er bestätigt auf diese Weise aber wieder das Postulat Kollmanns, dass durch solche Rekonstruktionen nur das ›Rasseporträt‹ geschaffen werden könne. Die Rekonstruktion von Schädeln scheint unter der hier vorgestellten Visualisierungsverfahren jenes zu sein, dass am stärksten durch Willkürlichkeiten bedroht wird: In dieser Herstellung dreidimensionaler Büsten – bei denen Künstler zur Hand gehen – bleibt offenbar ein großer, nicht metrisch absicherbarer Spielraum. Dieser wird zwar durch allerlei ›Test‹ verkleinert – doch scheint die Sorge vor Willkür immer wieder neu aufzutauchen. Verfahren der Schädelrekonstruktion werden bis heute in der Identifizierung von Schädeln ›berühmter Persönlichkeiten‹ angesetzt. Vor allem jedoch kommen sie in der Kriminalistik verstärkt zum Einsatz und finden mittlerweile gehäuften Eingang in den Populär-Diskurs von TV-Serien, wie etwa »Tatort«, »CSI« oder »Medical Detectives«. Während das Fernsehen und die Populärkultur solchen Rekonstruktionen einen hohen Evidenzgehalt zuspricht, scheint diese Frage in den professionellen Bereichen der krimi-
308 Den Hintergrund bildet hierbei die Frage der Identifizierbarkeit von Leichen in der Kriminalistik und so kreuzen sich an dieser Stelle – wie auch im Hinblick auf die standardisierten Fotografien – anthropologischer und kriminologischer Diskurs.
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nalistischen Anthropologie nach wie vor umstritten – die Gefahr der Willkürlichkeit lauert hier nach wie vor.309
Bildgebung In den hier präsentierten vier exemplarischen naturwissenschaftlichen Visualisierungsformen – statistische Visualisierungen, Umrisszeichnungen, Fotografien, plastische Rekonstruktionen – wurde deutlich, dass ›Bilder‹ und ›Figuren‹ in der physischen Anthropologie als Arbeitsobjekte gelten, welche die Objekte selbst ersetzen. Sie können Ausgangspunkte anthropologischer Identifizierungen sein, sie werden vermessen und beschrieben, sie dienen zur Veranschaulichung der Ergebnisse, aber es wird auch in rein visueller Hinsicht mit ihnen argumentiert. Im Hinblick auf die Rekonstruktionen von Köpfen ›auf‹ Schädeln wurde nachgezeichnet, wie mittels metrischer Absicherungen, mittels merkwürdig zirkulärer Argumentationen unter Einbeziehung auch ethnologischer Konzeptionen, mittels diverser Tests und Proben auftauchende Unsicherheiten über eine mögliche Willkür in der Rekonstruktion gebändigt werden sollen. In diesem Verfahren sind metrisch-objektive und urteilend-ästhetische Perspektive eng ineinander verwickelt, doch scheint gerade im Zuge dieser selbstverständlichen Zusammenarbeit die Sorge vor Willkür umso größer. Trotz optimistischer Postulate seitens der Anthropologen, bleiben – so meine Lektüren – die Befürchtungen jedoch bestehen; die Sorge kann nicht vollständig gebannt werden. In der Analyse der spezifischen Produktivität anthropologischer Schädelfotografien wurde vor allem die mediale Differenz zwischen Fotografie und anderen anthropologischen Identifizierungsverfahren fokussiert. Dabei konnte in den vorgestellten Beiträgen beobachtet werden, wie die durch das mechanisch-objektive Verfahren der Fotografie – das mit dem Versprechen antritt, ›die Natur schreibe sich in ihm selbst‹ – visualisierten Gegenstände nicht deckungsgleich mit jenen sind, die im Zuge von Vermessung und der sich ebenfalls auf die Morphologie richtenden Beschreibung konstituiert werden.
309 Anlässlich eines Vortrags zur Frage von Rekonstruktion und individueller (kriminologischer) Identifikation von Schädeln und Knochen entspann sich ein bezeichnender Streit zwischen dem Herausgeber der heutigen Mitteilungen der BGAEU Ullrich und dem Kriminalanthropologen Leopold: Während Ullrich eher skeptisch schien, vertrat Leopold eine sehr optimistische Perspektive (Herbert Ullrich: Identifikation von Gebeinen historischer Persönlichkeiten. Gastvortrag am Institut für Rechtsmedizin der FU Berlin am 22.11.2002).
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Zwischen Auflösung und Fixierung
Die Präsentation und Diskussion anthropologischer Schädel- und Knochenumrisse zeigte deren funktionale Polyvalenz und vielfältige strategische Optionen in der Hervorbringung von ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹. Durch Nebeneinander- oder Übereinanderlegen werden auf diese Weise Differenzen verschiedener Formen hergestellt, durch Einzeichnung von Geraden werden Winkelbestimmungen vorgenommen oder morphologische Differenzen hervorgebracht. Kleine Verschiebungen von Linien können dabei die Gegenstände ganz anders sichtbar machen. In den metrisch-statistischen Daten-Visualisierungen bringt die Anthropologie gewissermaßen den ›Idealtypus‹ mechanisch-objektiver Bildgebungen in Anschlag. Ihre visuelle Performativität besteht darin, durch bestimmte Datenanordnungen in Tabellen und Koordinatensystemen ›auf den ersten Blick sichtbare‹ Häufungen hervorzubringen, aus denen dann ›rassische‹ und ›sexuelle Typen‹ erstehen. Doch gleichzeitig fransen im Zuge solcher Typenbildungen gerade durch diese ›idealtypischen‹ Verfahren die Randbereiche der Kategorien in metrischer wie in visueller Hinsicht aus. ›Rassen‹ und ›Geschlechter‹ zeigen sich hier als boundary objects im buchstäblichen Sinne. Grundlegendes Ergebnis dieser Analysen physisch-anthropologischer Visualisierungsformen ist der performative Charakter anthropologischer – wenn nicht sogar allgemein naturwissenschaftlicher – Sichtbarmachungen. Die Abbildungen und Figuren des anthropologischen Diskurses bilden nicht ab, sondern bringen hervor – sie sind bildgebende Verfahren.
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Schluss
Die vorliegende Diskursanalyse der Konstitution von ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ im naturwissenschaftlichen Diskurs der physischen Anthropologie um 1900 hat sich mit der Produktivität anthropologischer Identifikationsverfahren im Kontext der metrisch-mechanischen Objektivität beschäftigt. Im Hinblick auf die hier hervorgebrachten Gegenstände wurde deutlich, dass ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ in diesem historischen Kontext und im Zuge dieser Verfahren als boundary objects in mehrerlei Hinsicht gelten: Vor allem der Begriff ›Rasse‹ und der damit zusammenhängende Begriffskomplex um ›Varietät‹, ›Spezies‹, ›Volk‹ usw. werden in der physischen Anthropologie um 1900 selten klar voneinander unterschieden. Gerade ihre Unschärfe jedoch – so die Argumentation der vorliegenden Arbeit – hält den Prozess der Wissensproduktion um diesen Gegenstand in Gang, sie ist einer der Motoren der anthropologischen Identifizierungen. Doch stellen ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ auch in einer weiteren – über Star und Griesemer hinausgehenden – Hinsicht boundary objects dar: Im Kontext der metrisch-mechanischen Verfahren des Normalimus werden die konstituierten ›Rassen‹ und ›Geschlechter‹ im Zuge ihrer Konstitution an den Rändern unscharf, sie fransen aus, Übergänge unterhöhlen die Klarheit der gebildeten Kategorien. Gleichzeitig werden solche Auflösungen immer wieder neue Fixierungen entgegengesetzt, deren Stabilität aber auch nicht gesichert bleibt. Die Unschärfen in beiderlei Hinsicht bilden also die Motoren der Produktivität anthropologischer Identifizierungen – diese bleiben konstitutiv unabschließbar. Die Forschungspraxis der physischen Anthropologie wurde vor diesem Hintergrund als fluktuierender und konstitutiv unabgeschlossener Prozess der Wis-
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Zwischen Auflösung und Fixierung
sensproduktion unerwarteter Ergebnisse und Rekonfigurationen in einem Spannungsfeld von Auflösung und Fixierung beschrieben. Im Verlaufe der Analyse wurden verschiedenste Konfigurationen dieses Verhältnisses von Auflösung und Fixierung nachgezeichnet. Dabei ging es im ersten Abschnitt der Studie vor allem um die konstituierten Gegenstände, also um ›Rasse‹, um ›Geschlecht‹, um die Überkreuzungen von ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ und um die spezifische Ausformung dieser Verflechtung in der Figur des ›Juden‹. In den ersten beiden Kapiteln wurde dabei vorgeführt, inwiefern im Verlaufe der Identifizierungen von ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ beide Gegenstände hervorgebracht, und doch immerfort wieder unterlaufen werden. In den beiden nächsten Kapiteln wurden anhand der Überkreuzungen von ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ und der Konzeption ›des Juden‹ sowohl die Vielfalt diskursstrategischer Optionen vorgestellt als auch die Ambivalenzen ›antirassistischer‹ Positionen innerhalb der physisch-anthropologischen Diskursformation erörtert. In diesem ersten Abschnitt der Analyse wurden die anthropologischen Verfahren im Hinblick auf ihre metrisch-mechanische Objektivität anvisiert und dabei die spezifische Produktivität vermessend-statistischer Identifikationen herausgearbeitet. In einem abschließenden Kapitel dieses Abschnittes zeigte sich, dass selbst im Rahmen der mechanischen Objektivität der physischen Anthropologie gleichzeitig immer auch eine urteilend-interpretative und ästhetisierende Perspektive eine Rolle spielt – die Annahme der Dominanz metrisch-mechanischer Verfahren der physischen Anthropologie um 1900 wurde dadurch korrigiert, aber auch kompliziert. Der zweite Abschnitt der Studie beschäftigte sich mit den Identifikationen ›rassischer‹ und ›sexueller‹ Differenzen im Zuge der Visualisierungen der physischen Anthropologie und analysierte die eigenständige Produktivität anthropologischer Bildgebungen. An Tabellen, Häufungsschemata und Kurven wurde gezeigt, inwiefern hier die Statistik auf der Grenze von Schrift/Zahl und Bild als Instrument des Sehens des ›Typischen‹ in Feldern der Verteilung fungiert. Im Hinblick auf das halbmechanische Verfahren der Umrisszeichnung wurde hingegen dessen Produktivität für die Identifikation morphologischer und geometrisierter Differenzen vorgeführt. Dass kleine Verschiebungen von Linien dabei bereits ganz anderes zu sehen geben können, macht die besondere Produktivität dieser Bildgebungen aus. Die Diskussion anthropologischer Schädelfotografien fokussierte wiederum die mediale Differenz von Text und Bild. Die Fotografie gibt immer auch anderes zu sehen, als der Text behauptet. Im Hinblick auf die plastischen Visualisierungen der Rekonstruktionen von Köpfen aus Schädeln sind gleich mehrere und mehrfache Medialisierungen und die damit einher gehenden Transformationen der Gegenstände besprochen worden. Gezeigt wurde hier, wie die sich eröffnenden Unsicherheiten und Sorgen vor Willkür im Zuge verschiedener Tests nur mühsam zu bändigen waren.
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Schluss
In beiden Abschnitten zeigte sich die pyhsisch-anthropologische Wissensproduktion als heterogener, beweglicher und unabgeschlossener Prozess, in dem ›rassische‹ und ›sexuelle‹ Differenzen gleichzeitig immer wieder hervorgebracht und unterlaufen werden – ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ oszillieren im Zuge der anthropologischen Identifizierungen zwischen Auflösung und Fixierung. Die vorliegende Diskursanalyse war um eine umfassende Identifizierung der Identifizierungen von ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ und deren Überkreuzungen bemüht. Dies geschah durch eine Rasterung des Materials, der selbst wiederum eine Fragestellung nach der Produktivität und Performativität anthropologischer Identifizierungsverfahren im Hinblick auf die Konstitution der Gegenstände ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ voranging. Damit unterliegt auch meiner Studie eine Perspektive, die durch das Forschungsinteresse und durch die in der Einleitung ausgeführte methodologische Orientierung bestimmt wurde – sich gleichzeitig aber auch immer wieder vom Material überraschen ließ. Unter Bezugnahme auf Foucault wurde von einer Diskurskonzeption ausgegangen, die ein oszillierendes Spannungsfeld von Regelmäßigkeiten und Ordnung auf der einen Seite und von Wuchern und Ereignis auf der anderen Seite eröffnete. Zugespitzt mit Derrida wurde der Diskurs als differantielle Struktur begriffen, in der beide genannten Aspekte konstitutiv aufeinander bezogen sind. Vor diesem Hintergrund könnte gesagt werden, dass jede Ordnung konstitutiv durch das Ereignis gebrochen oder unterlaufen wird, so dass Ordnung und Wirkmächtigkeit eigentlich unmöglich erscheinen. Umgekehrt aber könnte auch formuliert werden, dass gerade das Wuchernde, das Ereignishafte, das Unvorhergesehene konstitutiv sind für einen Motor diskursiver Ordnung und Wirkmächtigkeit – die Ereignishaftigkeit würde in dieser Perspektive also die Ordnung stützen oder gar fundieren. In der vorliegenden Studie ging es jedoch nicht um die Analyse eines strukturellen oder theoretischen Verhältnisses zwischen Fixierung und Auflösung im physisch-anthropologischen Diskurs – denn dies würde ihn statisch in einem bestimmten Verhältnis beider Diskursaspekte einfangen. Vielmehr wurde der physisch-anthropologische Diskurs historisch spezifisch als äußerst heterogenes Gebilde analysiert, das im Spannungsfeld von Auflösung und Fixierung nicht zum Stillstand kommt. In diesem Spannungsfeld situieren sich auch die physisch-anthropologischen Effekte: Im insistierenden Identifizieren ›rassischer‹ und ›geschlechtlicher‹ Differenzen wird diese Evidenz der Kategorien immer wieder neu hervorgebracht und gleichzeitig wird die Evidenz – liest man sie von der wiederholten Hervorbringung her – immer wieder unterlaufen und dekonstruiert. Diese ›andere Geschichte‹ der physischen Anthropologie – Diskurs analysen verschieben die Perspektive und fabrizieren ›andere Geschichten‹ – verdankt sich der methodologischen Orientierung der Studie und schließt
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damit an Ansätze der Wissenschaftsgeschichte an, in denen naturwissenschaftliche Diskurse nicht mehr als monolithische oder statische Blöcke beschrieben werden, welche geplante und erwünschte Ergebnisse produzieren, sondern als bewegliche Formationen voller unvorgesehener Effekte. Die physische Anthropologie wurde hier gewissermaßen als »Einheit anderen Typs« (Foucault [1969]: 71), nämlich als diskursiv-differantielle Formation, hervorgebracht – als Diskurs, in dem ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ immer wieder generiert, aber auch immer wieder dekonstruiert werden.
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Abbildungsnachweise
Abb. 1: Macnamara 1902: Tafel XXI, Ausschnitte. Abb. 2: Macnamara 1902: Tafel XXII, Ausschnitt. Abb. 3: Volz 1895: 116. Abb. 4: Volz 1895: 117. Abb. 5: Volz 1895: 137. Abb. 6: Volz 1895: 138. Abb. 7: Volz 1906: 97. Abb. 8: Volz 1906: 98. Abb. 9: Volz 1906: 98. Abb. 10: Volz 1909: 96. Abb. 11: Volz 1909: 97. Abb. 12: Teumin 1902: 384, Tabelle 4. Abb. 13: Jochelson-Brodsky 1906: 6, Tabelle 1, Ausschnitt. Abb. 14: Jochelson-Brodsky 1906: 29. Abb. 15: Weissenberg 1895: 367, Fig. 2. Abb. 16: Weissenberg 1895: 569. Abb. 17: Schiff 1915: 353. Abb. 18: Tschepourkovsky 1911: 176/177, Tabelle 44, Ausschnitt. Abb. 19: Tschepourkovsky 1911: 175. Abb. 20: Reche 1909: 234/235, Ausschnitt. Abb. 21: Volz 1899b: 723. Abb. 22: Volz 1899b: 720, Ausschnitt. Abb. 23: Martin 1894: 164. Abb. 24: Martin 1894: 164. Abb. 25: Ranke/Greiner 1904: 301, Fig. 1-5.
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Zwischen Auflösung und Fixierung
Abb. 26: Poniatowski 1911b: 274, Fig. 1. Abb. 27: Czekanowski 1907: 50, Fig. 2 und 3. Abb. 28: Tschepourkovsky 1911: 184, Kurve 1-3. Abb. 29: Koganeï 1894: 379. Abb. 30: Koganeï 1894: 380. Abb. 31: Volz 1895: 116. Abb. 32: Volz 1895: 137. Abb. 33: Tschepourkovsky 1911: 165, Tabelle 29. Abb. 34: Volz 1906: 98. Abb. 35: Reche 1909: 236, Tabelle 1. Abb. 36: Falkenburger 1913: 92. Abb. 37: Volz 1895: 117. Abb. 38: Volz 1895: 159, Figur 11. Abb. 39: Falkenburger 1913: 90/91. Abb. 40: Klaatsch 1909: 117, Fig. 28. Abb. 41: Klaatsch 1909: 118, Fig. 29. Abb. 42: Klaatsch 1909: 119, Fig. 30. Abb. 43: Lüthy 1912: 26, Fig. 1. Abb. 44: Klaatsch 1909: 104, Fig. 1 Abb. 45: Klaatsch 1909: 105, Fig. 3 Abb. 46: Klaatsch 1909: 107, Fig. 7 Abb. 47: Frizzi 1910: 273, Fig. 4. Abb. 48: Frizzi 1910: 263, Fig. 2. Abb. 49: Frizzi 1910: 273, Fig. 5. Abb. 50: Reche 1911: 74, Fig. 1. Abb. 51: Möbius 1907: 6, Fig. 5. Abb. 52: Klaatsch 1909: 115, Fig. 22-26. Abb. 53: Klaatsch 1909: 109, Fig. 8 und 9. Abb. 54: Widenmann 1898: 365, Fig. 4 und 5. Abb. 55: Frizzi 1913: 250, Fig. 2 und 3. Abb. 56: Kunike 1911: 214, Abb. 9-12. Abb. 57: Michel 1904: Tafel VI. Abb. 58: Frizzi 1910: 272, Fig. 3. Abb. 59: Galton 1888: 174, Fig. 1. Abb. 60: Fridolin 1902: Tafel XVI. Abb. 61: Fridolin 1902: Taf.VII, Fig. 1. Abb. 62: Fridolin 1902: Tafel VIII, Fig. 7. Abb. 63: Fridolin 1902: Tafel XII: Fig. 23. Abb. 64 Fridolin 1902: Tafel XVI, Fig. 40. Abb. 65: Fridolin 1902: Tafel XVIII, Fig. 48. Abb. 66: Nyström 1902: 220/221. Abb. 67: Reche 1909: Tafel X. Abb. 68: Asmus 1902: Tafel I.
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A bbildungsnachweise
Abb. 69: Macnamara 1902: Tafel XXI. Abb. 70: Macnamara 1902: Tafel XXII. Abb. 71: Macnamara 1902: Tafel XXIII. Abb. 72: Kollmann/Büchly 1898: 337. Abb. 73: Kollmann/Büchly 1898: Tafel VII. Abb. 74: Kollmann/Büchly 1898: Tafel VIII. Abb. 75: Kollmann/Büchly 1898: Tafel IX. Abb. 76: Merkel 1900: 450, Fig. 1 und 451, Fig. 2. Abb. 77: Merkel 1900: 454, Fig. 3 und 455, Fig. 4. Abb. 78: Merkel 1900: 456, Fig. 5 und 6. Abb. 79: Eggeling 1913: Tafel I. Abb. 80: Eggeling 1913: Tafel II.
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Literatur verzeichnis
Sigle: AfA = Archiv für Anthropologie AG gegen Rassenkunde (Hg.): Deine Knochen – Deine Wirklichkeit. Texte gegen rassistische und sexistische Kontinuität in der Humanbio logie. Hamburg/Münster 1998. Ammon, Otto: Genealogie und Biologie. In: Zeitschrift für Socialwissenschaften II. 1899: 496-505. Angerer, Marie-Luise/Peters, Kathrin/Sofoulis, Zoë (Hg.): Future Bodies. Zur Visualisierung von Körpern in Science und Fiction. Wien/New York 2002. Die anthropologischen Sammlungen Deutschlands. Ein Verzeichnis des in Deutschland vorhandenen anthropologischen Materials nach Beschluss der Deutschen Anthropologischen Gesellschaft zusammengestellt unter Leitung der zu diesem Zwecke ernannten Commission Johannes Ranke. XI. Heidelberg. Die Schädel in der grossherzoglichen anatomischen Anstalt zu Heidelberg mit Angabe der von Herrn Geheimrath Schaaffhausen gemachten Aufzeichnungen gemessen und beschrieben von Dr. med. Joseph Mies, Arzt in Köln am Rhein. In: AfA 24. 1897: Supplement. Die anthropologischen Sammlungen Deutschlands. Ein Verzeichnis des in Deutschland vorhandenen anthropologischen Materials nach Beschluss der Deutschen Anthropologischen Gesellschaft zusammengestellt unter Leitung der zu diesem Zwecke ernannten Kommission Johannes Ranke. VII. Erlangen. Katalog der anthropologischen
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