Zweihundert Jahre Homer-Forschung: Rückblick und Ausblick [Reprint 2015 ed.] 9783110974829, 9783598774126


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German Pages 563 [568] Year 1991

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Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
I Homer und die archäologische Forschung
Die archäologische Forschung im Zusammenhang mit Homer. Gesamtüberblick
Die dunklen Jahrhunderte – aufgehellt
Die archäologische Erforschung des griechischen Siedlungsbereiches im 8.Jh. v. Chr
Der gegenwärtige Stand der neuen archäologischen Arbeiten in Hisarlik (Troia)
II Homer und die althistorische Forschung
Die ,politisch-historischen‘ Beziehungen der Ägäis-Welt des 15.–13.Jh.s v. Chr. zu Ägypten und Vorderasien:einige Hinweise
Die Erforschung des Zusammenbruchs der sogenannten mykenischen Kultur und der sogenannten dunklen Jahrhunderte
Homerstudien und Orient
Zur homerischen Staats- und Gesellschaftsordnung:Grundcharakter und geschichtliche Stellung
Homer und die Geschichte des 8.Jh.s v. Chr
III.Homer und die Sprachwissenschaft
Schichten in der homerischen Sprache
Die Erforschung des Verhältnisses des mykenischen Griechisch zur homerischen Sprachform
Die homerischen Personennamen. Ihre Position im Rahmen der Entwicklung des griechischen Namenschatzes
IV.Mythenforschung und Religionswissenschaft im Zusammenhang mit Homer
Religion und Mythologie im Zusammenhang mit Homer:Forschung und Ausblick
V.Biographische Forschung zu Homer
Homer – ein großer Schatten? Die Forschungenzur Person Homers
VI.Die beiden homerischen Epen:Forschungen zu ihrer Struktur
Die Erforschung der Ilias-Struktur
Zur Erforschung der Strukturen in der Odyssee
VII Die beiden homerischen Epen:Methoden ihrer Interpretation
Ergebnisse der motivgeschichtlichen Forschung zu Homer (Neoanalyse)
Homer, Oral Poetry Theory, and Comparative Literature:Major Trends and Controversies in Twentieth-Century Criticism
Homerische Epen und Erzählforschung
Die Bedeutung der Kunstgeschichte für die Datierung der frühgriechischen Epik
Abbildungen
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Zweihundert Jahre Homer-Forschung: Rückblick und Ausblick [Reprint 2015 ed.]
 9783110974829, 9783598774126

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Colloquium Rauricum Band 2 Zweihundert Jahre Homer-Forschung Rückblick und Ausblick

Colloquia Raurica Herausgegeben von Jakob Frey-Clavel, Joachim Latacz, Hansjörg Reinau, Jürgen von Ungern-Sternberg

Die Colloquia Raurica behandeln aktuelle allgemein interessierende wissenschaftliche Fragestellungen, deren Schwerpunkt das Altertum mit seiner Wirkungsgeschichte bis zur Gegenwart bildet. Zur Erzielung möglichst vielseitig abgestützter wissenschaftlicher Erkenntnisse erörtern die eingeladenen Vertreter der thematisch betroffenen geisteswissenschaftlichen Disziplinen das Tagungsthema im gemeinsamen Gespräch. Die Ergebnisse werden in der Folge publiziert. Die Colloquia Raurica finden in der Römerstiftung Dr. Rene Clavel auf dem Landgut Castelen in Augusta Raurica bei Basel statt. Sie werden in zweijährigem Turnus abgehalten.

Colloquium Rauricum Band 2

Zweihundert Jahre Homer-Forschung Rückblick und Ausblick

Herausgegeben von

Joachim Latacz

S B. G. Teubner Stuttgart und Leipzig 1991

Gedruckt mit Unterstützung von Herrn und Frau Dr. Jakob und Antoinette Frey-Clavel, Basel

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Zweihundert Jahre Homer-Forschung Rückblick und Ausblick Hrsg. von Joachim Latacz. - Stuttgart ; Leipzig : Teubner, 1991 (Colloquium Rauricum Bd. 2) ISBN 3-519-07412-5 NE: Latacz, Joachim [Hrsg.]; Colloquium Rauricum: Colloquium Rauricum Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt besonders fur Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © B.G. Teubner Stuttgart 1991 Printed in Germany Gesamtherstellung: Passavia Druckerei GmbH Passau

Vorwort

Der vorliegende Band enthält die Vorträge, die beim zweiten Colloquium Rauricum gehalten wurden. Das Kolloquium hat vom 16. bis 19. August 1989 auf dem Landgut Castelen in Äugst (Augusta Raurica) bei Basel stattgefunden. Die meisten Vorträge sind unter dem Eindruck der intensiven Diskussionen, die dieser Tagung ihr Gepräge gaben, in den Folgemonaten von den Autoren überarbeitet, ausgebaut und mit einem ausführlichen Beleg-Apparat versehen worden. Die während des Kolloquiums entstandenen vielfältigen Kontakte haben dabei fruchtbar weitergewirkt. Der Herausgeber dankt der Römerstiftung Dr. Rene Clavel für die Möglichkeit, die Tagung in den Räumen des Landguts Castelen abzuhalten, den Mitgliedern des Collegium Rauricum für ihre tatkräftige Unterstützung in der Vorbereitungsphase, den Herren Walter Burkert und Wolfgang Kullmann für ihre hilfreiche Mitwirkung bei der Konzeption der Tagung, der Sekretärin der Römerstiftung Dr. Rene Clavel, Frau Anne-Marie Gunzinger, nicht nur für ihre unschätzbare Unterstützung in technischen Dingen, sondern auch für die Wärme und Freundlichkeit, mit der sie die Tagungsteilnehmer betreut hat, den wissenschaftlichen Hilfsassistenten Mauro Bagnaschi, Doris und Pia Degen, Rene N ü n list, Daniel Scherrer, Magdalene Stoevesandt und Pascal Wirth für ihren vorbildlichen Einsatz bei der Vorbereitung der Tagung, der Einrichtung des Band-Manuskripts und beim Mitlesen der Korrekturen, Frau lie. phil. Andrea Bollinger für Hilfe bei der Textverarbeitung — und nicht zuletzt dem Freunde Jürgen v. UngernSternberg für manche wirksame Ermutigung. Herrn Heinrich Krämer sei für sein großes verlegerisches und sachliches Interesse an unserer Arbeit in besonderem Maße gedankt. Daß die Tagung überhaupt stattfinden konnte und die Ergebnisse in der hier vorgelegten großzügigen Form publiziert werden können, verdankt die Homerforschung dem nie erlahmenden energischen Engagement von Herrn Dr. Jakob und Frau Antoinette Frey-Clavel, Basel/Riehen. Mit dem vorliegenden Band hoffen die Teilnehmer wenigstens einen Teil ihrer Dankesschuld abtragen zu können. Basel, den 1. September 1990

Joachim Latacz

Teilnehmer 1.

Referenten

Prof. Dr. Antonin Bartonek, o. Prof. für Klassische Philologie, Universität Brno, Haskova 5, C S - 6 3 8 0 0 B r n o Prof. Dr. Peter B l o m e , а. o. Prof. für Klassische Archäologie, Universität Basel, Konservator am Antikenmuseum Basel und Sammlung Ludwig, St. Alban-Graben 5, CH-4051 Basel Prof. Dr. Hans-Günter Buchholz, o. Prof. em. für Klassische Archäologie, U n i versität Gießen, Espenstraße 10, D - 6 3 0 6 Langgöns Prof. Dr. Walter Burkert, o. Prof. für Klassische Philologie, besonders Griechisch, Universität Zürich, Wildsbergstraße 12, C H - 8 6 1 0 Uster Prof. Dr. Sigrid Deger-Jalkotzy, o. Prof. fur Alte Geschichte mit besonderer Berücksichtigung der Vor- und Frühgeschichte des Mittelmeer- und Donauraumes, Universität Salzburg, Institut für Alte Geschichte und Altertumskunde, Residenzplatz 1, A - 5 0 2 0 Salzburg Prof. Dr. Bernhard Forssman, o. Prof. für Vergleichende Indogermanische Sprachwissenschaft und Indoiranische Philologie, Universität Erlangen—Nürnberg, Kochstraße 4, D - 8 5 2 0 Erlangen Prof. Dr. Fritz Graf, o. Prof. für Lateinische Philologie, Universität Basel, Seminar für Klassische Philologie, Nadelberg 6, CH-4051 Basel Prof. Dr. Fritz Gschnitzer, o. Prof. für Alte Geschichte, Universität Heidelberg, Am Blumenstrich 26, D - 6 9 0 3 Neckargemünd—Dilsberg Prof. Dr. Stefan Hiller, а. o. Prof. für Klassische Archäologie, Universität Salzburg, Institut fur Klassische Archäologie, Residenzplatz 1 /2, A-5020 Salzburg Prof. Dr. U v o Hölscher, o. Prof. em. für Klassische Philologie (Griechisch), Universität München, Institut für Klassische Philologie, Geschwister-SchollPlatz 1, D - 8 0 0 0 München 22 Prof. Dr. James P. Holoka, o. Prof. für Klassische Philologie, Eastern Michigan University, Department o f Foreign Languages, Ypsilanti/Michigan 48197, U S A Prof. Dr. Manfred Korfmann, Professor für Vor- und Frühgeschichte, Universität Tübingen, Institut für Vor- und Frühgeschichte, Schloß, D - 7 4 0 0 Tübingen 1 Prof. Dr. Wolfgang Kullmann, o. Prof. für Klassische Philologie (Griechisch), Universität Freiburg, Werthmannplatz 3, D - 7 8 0 0 Freiburg i. Br.

Teilnehmer und Gäste

VII

Prof. Dr. Joachim Latacz, o. Prof. für Griechische Philologie, Universität Basel, Seminar für Klassische Philologie, Nadelberg 6, CH-4051 Basel Prof. Dr. Gustav Adolf Lehmann, o. Prof. für Alte Geschichte, Universität Köln, Institut für Altertumskunde (Alte Geschichte), Albertus-Magnus-Platz, D-5000 Köln 41 Prof. Dr. Günter Neumann, o. Prof. em. für Vergleichende Sprachwissenschaft, Universität Würzburg, Residenzplatz 2/Südflügel, D-8700 Würzburg Prof. Dr. Kurt Raaflaub, o. Prof. für Alte Geschichte, Department of Classics, Brown University, Providence, Rhode Island 02912, USA Prof. Dr. Karl Schefold, o. Prof. em. für Klassische Archäologie, Universität Basel, Antikenmuseum Basel und Sammlung Ludwig, St. Alban-Graben 5, C H 4051 Basel Prof. Dr. Ernst-Richard Schwinge, o. Prof. für Klassische Philologie (Griechisch), Universität Kiel, Institut für Klassische Altertumskunde, Olshausen-Straße 40, D-2300 Kiel Prof. Dr. Ernst Vogt, o. Prof. fiir Klassische Philologie (Griechisch), Universität München, Institut für Klassische Philologie, Geschwister-Scholl-Platz 1, D-8000 München 22

2. Mitglieder

des Collegium

Rauricum

Dr. iur. Jakob Frey-Clavel, Delegierter der Römer-Stiftung Dr. Rene Clavel fiir Universitäre Anlässe, St. Alban-Graben 8, CH-4051 Basel Dr. Hansjörg Reinau, Universitätslektor in Klassischer Philologie, Universität Basel, Seminar fur Klassische Philologie, Nadelberg 6, CH-4051 Basel Prof. Dr. Jürgen v. Ungern-Sternberg, o. Prof. für Alte Geschichte, Universität Basel, Seminar für Alte Geschichte, Heuberg 12, CH-4051 Basel

3.

Gäste

Prof. Dr. Ernst Berger, а. o. Prof. für Klassische Archäologie, Universität Basel, Direktor des Antikenmuseums Basel und Sammlung Ludwig, St. Alban-Graben 5, CH-4051 Basel Prof. Dr. Josef Delz, o. Prof. em. fur Lateinische Philologie, Universität Basel, Seminar für Klassische Philologie, Nadelberg 6, CH-4051 Basel Priv.-Doz. Dr. Heiner Eichner, Privatdozent für Indogermanistik, Universität Basel, Seminar für Klassische Philologie, Nadelberg 6, CH-4051 Basel [jetzt:

VIII

Teilnehmer u n d Gäste

o. Professor fur Indogermanische Sprachwissenschaft, Universität Wien, Neustiftgasse 19/16, A-1070 Wien] Frau Antoinette Frey-Clavel, Rebenstraße 48, CH-4125 Riehen Prof. Dr. Felix Heinimann, o. Prof. em. für Klassische Philologie, Universität Basel, Seminar für Klassische Philologie, Nadelberg 6, CH-4051 Basel Herr Heinrich Krämer, Geschäftsführer des Verlags B. G. Teubner/Stuttgart, Industriestraße 15, D-7000 Stuttgart 80 Dr. phil. Georg Peter Landmann, Biascastraße 14, CH-4059 Basel Prof. Dr. M a r g o t Schmidt, а. o. Prof. für Klassische Archäologie, Universität Basel, Stellvertr. Dir. des Antikenmuseums Basel und Sammlung Ludwig, St. Alban-Graben 5, CH-4051 Basel Prof. Dr. Rolf Stucky, o. Prof. für Klassische Archäologie, Universität Basel, Archäologisches Seminar, Schönbeinstraße 20, CH-4056 Basel

Bartonek, Reinau, N e u m a n n , v. U n g e r n - S t . , Raaflaub, Blome, Forssman, Hölscher, Vogt Deger-J., Graf, L e h m a n n , Buchholz, Burkert Gschnitzer, Latacz, Kullmann, Holoka, Schefold, Hiller

Inhaltsverzeichnis Joachim Latacz Einleitung

1

I Homer und die archäologische Forschung Hans-Günter Buchholz Die archäologische Forschung im Zusammenhang mit Homer. Gesamtüberblick Peter Blome Die dunklen Jahrhunderte — aufgehellt

11 45

Stefan Hiller Die archäologische Erforschung des griechischen Siedlungsbereiches im 8.Jh. v. Chr

61

Manfred Korfmann Der gegenwärtige Stand der neuen archäologischen Arbeiten in Hisarlik (Troia)

89

II Homer und die althistorische Forschung Gustav Adolf Lehmann Die ,politisch-historischen' Beziehungen der Ägäis-Welt des 15—13.Jh.s v.Chr. zu Ägypten und Vorderasien: einige Hinweise

105

Sigrid Deger-Jalkotzy Die Erforschung des Zusammenbruchs der sogenannten mykenischen Kultur und der sogenannten dunklen Jahrhunderte . .

127

Walter Burkert Homerstudien und Orient

155

Fritz Gschnitzer Zur homerischen Staats- und Gesellschaftsordnung: Grundcharakter und geschichtliche Stellung

182

Kurt A. Raaflaub Homer und die Geschichte des 8.Jh.s v. Chr

205

χ

Inhaltsverzeichnis

III Homer und die Sprachwissenschaft Bernhard Forssman Schichten in der homerischen Sprache

259

Antonin Bartonek Die Erforschung des Verhältnisses des mykenischen Griechisch zur homerischen Sprachform

289

Günter Neumann Die homerischen Personennamen. Ihre Position im Rahmen der Entwicklung des griechischen Namenschatzes

311

IV Mythenforschung und Religionswissenschaft im Zusammenhang mit Homer Fritz Graf Religion und Mythologie im Zusammenhang mit Homer: Forschung und Ausblick

331

V Biographische Forschung zu Homer Ernst Vogt Homer — ein großer Schatten? Die Forschungen zur Person Homers

365

VI Die beiden homerischen Epen: Forschungen zu ihrer Struktur Joachim Latacz Die Erforschung der Ilias-Struktur

381

U v o Hölscher Zur Erforschung der Strukturen in der Odyssee

415

VII Die beiden homerischen Epen: Methoden ihrer Interpretation Wolfgang Kulimann Ergebnisse der motivgeschichtlichen Forschung zu Homer (Neoanalyse)

425

Inhaltsverzeichnis

XI

James P. Holoka Homer, Oral Poetry Theory, and Comparative Literature: Major Trends and Controversies in Twentieth-Century Criticism. .

456

Ernst-Richard Schwinge Homerische Epen und Erzählforschung

482

Karl Schefold Die Bedeutung der Kunstgeschichte fur die Datierung der frühgriechischen Epik

513

Abbildungen

527

J O A C H I M LATACZ

Einleitung Zweihundert Jahre Forschung, aufgewandt für einen einzigen antiken Autor: Erfüllung eines geisteswissenschaftlichen Bedürfnisses oder monomanischer Exzeß? Wer die Wirkung dieses Autors kennt, wird keinerlei Disproportion empfinden. Homer hat seit zweitausendsiebenhundert Jahren Europas Bildung mitgeprägt. Als Kosmos fein differenzierter Handlungs- und Verhaltensweisen haben Ilias und Odyssee den Späteren von Anfang an das Material geliefert, sich zu vergleichen, zu bestimmen und zu steigern. Als Wissens- und Erfahrungsschatz größten Verbreitungsgrades verkörperten die Epen die kanonische Bezugsinstanz, mit der man illustrieren, widerlegen und beweisen konnte. Als Wortkunstwerke höchster Qualität repräsentierten Ilias und Odyssee den künstlerischen Anspruch, dem sich die Poesie der Folgezeit in immer wieder neuer Auseinandersetzung stellen mußte und tatsächlich stellte — in Griechenland, R o m und Byzanz, und wieder in den neuen Nationalkulturen, die im Entdecken ihrer Vorgeschichte die alte Höhe wiederzuerlangen und zu übertreffen suchten. Die Wirkungsmacht Homers ist einzigartig.^ Verwunderlich kann daher eher umgekehrt erscheinen, daß die Erforschung der Homerischen Gedichte erst so spät begann. Der Grund ist: vorher fehlte der entscheidende Impuls. Zu stark regierte die Selbstidentifxkation des geistigen Europa mit Homer. Homer war bis ins 18.Jahrhundert hinein — wie schon für seinen überzeugtesten (weil vielleicht nüchternsten) antiken Bewunderer Aristoteles — der unerreichbar Göttliche. Er war der Inbegriff des Dichtertums — ό ποιητής. Der junge Goethe betete: Ich trete vor den Altar hier und lese, wie sich's ziemt, Andacht liturg'scher Lektion im heiligen Homer.

Zur Wirkungsgeschichte Homers s. G. Finsler, Homer in der Neuzeit von Dante bis Goethe (Italien, Frankreich, Deutschland [Schweiz], Leipzig/Berlin 1912 (repr. Hildesheim 1973); J. L. Myres/D. Gray, Homer and His Critics, London 1958; К. Simonsuuri, Homer's Original Genius. Eighteenth-Century Notions of Early Greek Epic (1688-1798), Cambridge 1979; Η. Clarke, Homer's Readers. A Historical Introduction to the Iliad and the Odyssey, Newark etc. 1981; J. Wohlleben, Die Sonne Homers. Zehn Kapitel deutscher Homer-Begeisterung. Von

2

Joachim Latacz

U n d G e o r g C h r i s t o p h Lichtenberg m a c h t e den Grad der inneren Verschmelzung mit einen Schlage deutlich d u r c h das S p o t t w o r t : „Er las i m m e r A g a m e m n o n statt . a n g e n o m m e n ' , so sehr hatte er den H o m e r gelesen." 2 ' Für die E r f o r s c h u n g der H o m e r i s c h e n Epen — E r f o r s c h u n g im Sinne eines planvoll-systematischen B e m ü h e n s u m Erkenntnis ihres Werdens, ihres Seins u n d ihrer W i r k u n g - b e d u r f t e es v o r diesem H i n t e r g r u n d eines veritablen D e n k m a l sturzes. N u r ein radikaler u n d zugleich in der Substanz seriöser A n g r i f f auf die sakrosankte Stellung dieses Dichterfürsten k o n n t e d u r c h die E v o z i e r u n g heftigster E m p ö r u n g die Energien freisetzen, die nötig w a r e n , u m Distanz zu schaffen u n d B e w u n d e r u n g durch Forschung zu ergänzen u n d w o m ö g l i c h abzusichern. Vorbereitet w a r dieser A n g r i f f d u r c h j e n e allgemeine europäische Literaturdebatte, die sich u m 1700 in der ,Querelle des Anciens et des M o d e r n e s ' aus einer literarästhetischen K o n t r o v e r s e zu einer Grundsatzdiskussion über den E i g e n w e r t neuzeitlichen Selbstverständnisses entwickelt hatte. In i h r e m Schoß w a r — ausgelöst d u r c h den Vergleich H o m e r : Vergil — die erste v o r d e r g r ü n d i g e Kritik H o m e r s herangewachsen, mit ihren V o r w ü r f e n der Roheit, P l u m p h e i t , Indezenz, j a U n kultur. Die Gegenseite, auf der Suche nach d e m G r u n d des Unterschieds, der eine so b e k l e m m e n d u n b e f r i e d i g e n d e Polarisierung ü b e r h a u p t ermöglichte, b e g a n n die Unausweichlichkeit historischer Betrachtungsweise zu entdecken: H o m e r , zu andrer Zeit d u r c h andere B e d i n g u n g e n determiniert, w a r folgerichtig auch mit anderen Kriterien zu messen als Vergil. D a m i t w a r eine erste Forschungsfrage a u f g e w o r f e n : W i e w a r e n die B e d i n g u n g e n H o m e r s k o n k r e t zu denken? D a nichts Authentisches darüber überliefert w a r - im Gegensatz zur Lage bei Vergil —, galt es aus späteren .Berichten' rückzuschließen. Weil hier j e d o c h die Resultate — auf subjektives K o m b i n i e r e n der .Testimonien' angewiesen — rein hypothetisch blieben, b e g a n n das Parallelisieren m i t m o d e r n e r e n Erscheinungen: w a n d e r n d e n Barden, die aus d e m Stegreif dichteten (Blackwell, Herder), extemporesingers (Parnell), italienischen D e k l a m a t o r e n unter freiem H i m m e l (Wood). 3 ' W e n n aber dies die angemessene H o m e r s i c h t war, wie k o n n t e n dann — bei improvisatorischer Dichtungstechnik — so u m f a n g r e i c h e u n d k o m p l e x e W o r t k u n s t b a u t e n wie Ilias u n d Odyssee entstanden sein? W a r nicht schon die Funktion der Schrift f ü r einen Barden eine gänzlich andere als f ü r einen an die Bibliothek g e w ö h n t e n Schreibtischdichter? U n d w a r die Schrift als solche ü b e r h a u p t zur Zeit H o m e r s bereits so allgemein verbreitet wie zur Zeit Vergib? — D e r D e n k m a l s t u r z b e g a n n sich a n z u b a h n e n . Winckelmann bis Schliemann, Göttingen 1990; J. Latacz, Hauptfunktionen des antiken Epos in Antike und Moderne, in: Dialog Schule - Wissenschaft 25, 1991, 88-109 (Resümee in: Der Altsprachliche Unterricht 34 (3), 1991, 8-17). 2 > Die Zitate aus Wohlleben (oben Anm. 1), 105 und 109. 3 ' Genaue Nachweise bei J. Latacz, Tradition und Neuerung in der Homerforschung, in: ders. (Hrsg.), Homer. Tradition und Neuerung, Darmstadt 1979 (Wege der Forschung, Bd. 463), 43 Anm. 10.

Einleitung

3

In den drei Jahrzehnten zwischen etwa 1760 und 1790 erfaßte diese neue Sicht Homers, die .historisch-kritische' Betrachtung, weithin auch die deutsche Bildungslandschaft. 1765 gab Macpherson ,The Works of Ossian' heraus, die auch in Deutschland stark beachtet wurden, 1773 erschien in Frankfurt die deutsche Ubersetzung von Wood's ,Essay on the Original Genius of Homer', 1776 in Leipzig die von Johann Heinrich Voss besorgte Übersetzung von Blackwell's ,Enquiry into the Life and Writings of Homer'. Zu den interessiertesten, zugleich jedoch selbständigsten der deutschen Leser gehörte damals Christian Gottlob Heyne, der seit 1763 in Göttingen als eine der markantesten Gestalten deutscher Universitätsgeschichte Griechisch lehrte. Was Heyne über die homerischen Probleme dachte und vermittelte, kann eine Vorlesungsmitschrift Wilhelm von H u m boldts aus dem Sommersemester 1789 zeigen, in der es u.a. heißt: „Homers Hauptwerke: Iliade, Odyssee. Von Homer nie aufgeschrieben, die Schreibekunst war noch zu wenig kultiviert [... ] Lange erhielten sich Homers Gedichte nur in Gesängen der Rhapsoden [...] Gesammelt und aufgezeichnet wurden Homers Gedichte erst spät; von wem, ist zweifelhaft . . . " Humboldts Kollegheft fand sich später im Nachlaß eines andren Heyne-Schülers wieder, „dem es Humboldt geliehen oder geschenkt hat": Friedrich August Wolfs. 4 ' Sechs Jahre nach diesem Heyneschen Homer-Kolleg wird Wolf, der seit 1777 bei Heyne gehört hatte, in Halle seine ,Prolegomena' veröffentlichen: Der Denkmalsturz war da. Daß Wolf nicht der Erfinder, sondern der Vollender war, bedurfte für die Zeitgenossen keiner Diskussion. Als Wolf bei Heyne 1778 in vier Monaten den ganzen Homer gelesen und sich die erste Sammlung kritischer Notizen angelegt hatte 5 ', war für Heyne und die vielen literarisch Interessierten, die damals noch ganz selbstverständlich Literatentum mit Griechenliebe gleichzusetzen pflegten, der Umriß dessen schon recht deutlich, was Wolf dann siebzehn Jahre später, 1795, in ein stimmiges System zu bringen suchte. 6 ' Verständlich daher, wenn gleich

4

' Genaue Nachweise dazu s. unten S. 401 Anm. 33. Einzelheiten dazu bei H. Funke, F.A. Wolf, in: Classical Scholarship. A Biographical Encyclopedia, N e w York/London 1990, 523-528, und in der reichen Wolf-Literatur, s. Grafton et al. (unten Anm. 6), .Bibliographical Essays. 1. Wolf and His Context', S. 250; dazu: J. Ebert, Friedrich August Wolfs Leben und Werk, in: Konferenz zur 200. Wiederkehr der Gründung des Seminarium philologicum Haiense durch Friedrich August Wolf am 15.10.1787, hrsg. v.J. Ebert u. H.-D. Zimmermann, Halle (Saale) 1989, 9-29 (mit reichen Lit.-Angaben in Anm. 1); in diesem Band weitere einschlägige Arbeiten von Zimmermann, Ritook, Rosier, Irmscher u. a. 6 ' Aus der reichen Literatur über die deutsche Literatenszene in der zweiten Hälfte des 18.Jahrhunderts seien hier genannt: E.M. Butler, The Tyranny of Greece over Germany. A Study of the Influence Exercised by Greek Art and Poetry over the Great German Writers of the Eighteenth, Nineteenth and Twentieth Centuries, (Cambridge 1935) Boston 21958; 5)

4

Joachim Latacz

nach dem Erscheinen der .Prolegomena ad Homerum' mit ihrem streckenweise messianischen Prophetenton bei manchem Alteren ein leicht gereizter U n m u t durchschlug. Herder an Heyne etwa (Brief vom 13.5.1795): „Die Haupt- und Grundpunkte, dünkt mich, wird ihm jeder zugeben; ja seit Blackwell und Wood hat beinahe niemand daran gezweifelt." U n d Heyne in einer öffentlichen Vorlesung am 1.8.1795: „ . . . Diese Vorstellungsart ward uns desto wahrscheinlicher, seitdem wir die Beyspiele von Ossians Gedichten hatten . . . " (d.h.: seit spätestens 1765).7) Wolf hat indirekt an vielen Stellen der .Prolegomena' auch selbst erkennbar werden lassen, daß, was er sagte, zumindest schon sein langem ,in der Luft gelegen' haben mußte; etwa in der berühmten Anmerkung 84 zum entscheidend e n K a p i t e l 2 6 : „ I a c t a est alea, ad quam certe поп imparatus sunt (et utinam

diu sint!)

memineruntque

fortasse

accessi. Superstites

duo litteratissimi

viri,

quid ego

adhuc annis

W. R e h m , Griechentum und Goethezeit. Geschichte eines Glaubens, München (1936) 4 1968; F. Wagner, Herders Homerbild, seine Wurzeln und W i r k u n g e n , Diss. Köln 1960; P. Szondi, Poetik und Geschichtsphilosophie, I: Antike und Moderne in der Ästhetik der Goethezeit. Hegels Lehre von der Dichtung, Frankfurt/M. 1974. - Z u Wolfs ,Vollender'-Funktion (die mit der von Milman Parry vergleichbar ist, s. Latacz [oben A n m . 3] 43 A n m . 9) vgl. etwa R . Volkmann, Geschichte und Kritik der Wolfschen Prolegomena zu H o m e r . Ein Beitrag zur Geschichte der Homerischen Frage, Leipzig 1874, 4: „Es finden sich in der That über die Entstehung der Homerischen Gedichte nur wenig Gedanken in diesem Buche, die nicht wenigstens im Keime schon früher von anderen ausgesprochen wären [...] erweist sich dies Buch als ein Kind seiner Zeit." A. G r a f t o n / G . W . Most/J.E.G. Zetzel, Introduction, in: dies. (Hrsg.), F. A. Wolf, Prolegomena to H o m e r 1795, Princeton 1985, 30: „Much that Wolf said was novel only in form." 7> Quellennachweise für die Zitate bei Latacz (oben A n m . 3) 23 A n m . 26; 43 A n m . 9. - Daß speziell bei Heyne ein Fall von Selbsttäuschung vorgelegen hätte (was jetzt wieder Grafton/ Most/Zetzel anzunehmen neigen: 15 A n m . 30), ist eher unwahrscheinlich: Wenn Heyne am 19.12.1795 in den G G A 203, 2025, erklärt, er habe seit 30Jahren seine von der communis opinio über Homers Gedichte abweichende „Vorstellungsart [...] im Vortrag, in Schriften, auch in diesen Anzeigen" in der A n n a h m e geäußert, daß diese Abweichung nicht so sensationell sei, und in dieser A n n a h m e sehe er sich jetzt dadurch bestätigt, daß diese seine (uralte) Meinung in vielen Punkten mit den ausfuhrlichen Darlegungen Wolfs in den Prolegomena übereinstimme, so sollte nicht übersehen werden, daß ihm nach Bentley's Tod (1742) v o m Trinity College Bentley's gesamtes Homer-Material für seine Homer-Ausgabe (die dann erst 1802 als achtbändige Ilias-Ausgabe erschienen ist) überlassen worden war (was auch Grafton/Most/Zetzel wissen: 7 A n m . 13); Bentley hatte aber - woraus Wolf in der A n m . 84 der Prolegomena ein Hauptstück seiner ganzen These machte — schon 1713 klar gesagt: „These loose Songs were not collected together in the Form of an Epic Poem, till about 500 years after." - Trotz aller bisher aufgewandten M ü h e scheinen die wirklichen Interdependenzen zwischen Wolf und Heyne i m m e r noch nicht so weit aufgehellt, wie es bei genauer Durcharbeitung der diversen einschlägigen Materialien möglich wäre (vgl. Grafton/Most/Zetzel selbst, S. 250: Reiter's Ausgabe des Wolfschen Briefwechsels in 3 Bänden von 1935 [ein vierter Band, besorgt von R . Sellheim, Halle/S., kam 1956 hinzu] sei „a vast f u n d of texts and informations, still in part unstudied"', auf noch gar nicht veröffentlichtes Briefmaterial weist Ebert [oben A n m . 5], S. 10 A n m . 1, hin).

Einleitung 1780 et ί 781 de hac re secum et sermonibus

et litteris egerim"

5 (die b e i d e n w a r e n H e y n e

selbst und ein „Berliner Gelehrter" 8 '). Dennoch bedeutete erst Wolfs Traktat die Wende. Hier waren die bis dahin weit verstreuten Argumente und Indizien erstmals zu einem logischen Geflecht verknüpft. Wolfs Fazit war: Selbst wenn Homer, der Sänger, als einziger in seiner Zeit die Schrift bereits gekannt und angewendet hätte, so hätte ihn doch nichts auf den Gedanken bringen können, vermittels dieses Werkzeugs ein so ungeheures ,Schiff' (ingens navigium), wie Ilias und Odyssee es sind, zu bauen (pertexere); denn da war ja kein Meer, auf dem es hätte schwimmen können: es gab ja keine Leser. Für Wolf war dieses Argument, nach dem die Möglichkeit von Schaffung aus der Rezipierbarkeit des Geschaffenen folgen würde, der Urgrund seines ganzen Thesenbauwerks: firmamentum causae nostrae (Kap. 26 Ende). D i e U m - u n d N a c h -

welt wurde weniger durch dieses Einzelargument beeindruckt als durch die ungewohnte Kohärenz des Ganzen. Die .Prolegomena' erschienen augenblicks als Manifest, Programm und Grundbauplan fur eine Wissenschaft vom Altertum. Im engeren Bereich, dem sie ja eigentlich gewidmet waren, mußte ihr stimulierender Effekt infolgedessen noch viel stärker sein: Im Lichte dieser souveränen Zusammenschau allen Quellenmaterials, das irgendwie verwertbar schien (Texte, Monumente, Münzen usw.), versank die frühere Homerdebatte im Dunkel eines liebenswerten, nicht länger mehr verantwortbaren Dilettantentums. Was nun vor Augen lag, das war der Weg zu einer wirklichen Homer-Erforschung. Zu untersuchen waren (1) der Text auf allen seinen Ebenen (Überlieferung; Sprache, Metrik, Stil, Komposition etc.), (2) der historische Hintergrund, dem das Werk entsprungen war, sowohl der gleichzeitige als auch der ferner stehende, vorangegangene (Autor, Publikum, geschichtliche Situation samt ihrer Genese, Position des Werks innerhalb der Kunst-, Literatur-, Religions-, Ideengeschichte usw.). Damit war die Entstehung der Einzeldisziplinen vorgezeichnet, die sich in den folgenden Jahrzehnten zu einer eigenen Homer-Gelehrsamkeit entfalten sollten: homerische Sprachwissenschaft (mit vielen Untergliederungen; als letzter Zweig kam 1952 die Linear B-Forschung hinzu), Homer-Archäologie,,Homer-Historie' (erneut mit vielen Untergliederungen, darunter auch Geschichte der Ideen, der Religion, des Mythos), als heftig expandierender Komplex auch die Erforschung der Gesetze epischen Erzählens, sowohl werkimmanent (hierher gehörte einst die

8 ' Wie aus dem 1. und 4. Brief an Heyne hervorgeht (in R . Peppmüllers Ausgabe der Prolegomena von 1884, repr. Hildesheim 1963, S. 230 bzw. 293, w o Wolf auch die ProlegomenaAngabe „1780 et 1781" in „1779 und 1780" korrigiert).

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Joachim Latacz

Analyse, mit ihrem Gegenstück, der unitarischen Struktur-Erhellung) als auch komparatistisch (Oral poetry-Forschung, motivgeschichtliche Forschung, Erzählforschung, Erforschung stilgeschichtlicher Zusammenhänge), und viele größere und kleinere Abzweigungen und Nebenläufe mehr. Die Geschichte ihres U r sprungs, im Zusammenhang des allgemeinen Auf- und Ausbaus der neuen Wissenschaft vom Altertum im 19.Jahrhundert, muß hier nicht nachgezeichnet werden; vieles Einzelne dazu, das in den wissenschaftsgeschichtlichen Kompendien gar nicht oder nur am Rande auftaucht, ist in den folgenden Darstellungen enthalten. Zweihundert Jahre sind seit jener ,Gründerzeit' vergangen. Die Neugründungen haben sich so kräftig fortentwickelt, daß die entstandenen Filialen heute nicht nur für Verfasser von Homer-Berichten, Kommentaren, griechischen Literaturgeschichten usw. kaum mehr überblickbar sind, sondern nicht einmal fur ihre voneinander und vom Zentrum, dem Homertext, im Gesamtkomplex oft weit entfernten Träger. Jede Filiale führt ihr reiches Eigenleben, mit Kolloquien und Kongressen, hochspezialisierten Fachzeitschriften, oft mit eigener Terminologie. Wenn der Konzern ,Homer-Erforschung' seine in zweiJahrhunderten gewachsene latente Leistungskraft in befruchtenden Gemeinschaftsproduktionen demonstrieren soll (ein umfassend orientierender moderner Kommentar fehlt beispielsweise immer noch 9 '), muß das Bewußtsein für die Einheit aller Glieder neu belebt, gestärkt, ermutigt werden. Mit diesem Ziel vor Augen wurden zwanzig führende Vertreter wichtiger Zweigdisziplinen darum gebeten, ihre Forschungsrichtung für Kollegen, Lehrer, Studierende und allgemein Interessierte darzustellen. In jedem Beitrag sollten drei Aspekte den roten Faden bilden: (1) die Entwicklung der Disziplin, (2) ihre Hauptprobleme zum gegenwärtigen Entwicklungszeitpunkt, (3) ihre Zukunftsperspektiven in der Sicht des Referenten. Für die Gewichtung dieser drei Aspekte war allein der Referent verantwortlich. Entsprechend vielgesichtig ist das Resultat. Es spiegelt gerade in der Setzung der Akzente die Befindlichkeit der Einzelrichtungen. Es spiegelt aber auch — und das ist der wohl wichtigste Effekt - die Freude der Verfasser über manche Weitung ihres Blickfelds wider, die sich durch die Verschränkung von Methoden, Frageweisen und Modellen während des Kolloquiums ergeben hat. Der Band, der so entstanden ist, mag trotz vieler Lücken und bei aller — gar nicht ungewollten — Skizzenhaftigkeit den angestrebten Überblick auch über relativ entlegene Dependancen (und damit über die Möglichkeiten

' Vgl. A. Heubeck in der Einleitung zum Odyssee-Kommentar der Fondazione Lorenzo Valla (Milano 1981), IX: „Le nostre brevi osservazioni, che devono spianare la via alla comprensione del testo dellOdissea . . . " ; G.S. Kirk im Vorwort zum zweiten Band seines Ilias-Kommentars, Cambridge 1990: „Yet the ,commentary for Europe for the 1990s' desiderated by one friend is obviously not to be found in these pages - if it could, or should, be found anywhere." Gemeinschaftswerke wie das vorliegende gehen von der Meinung aus: it should. 9

Einleitung

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10)

des Gesamtsystems) erleichtern helfen. Vielleicht kann er — mit seinen oft erregenden Erhellungen — auch neuen Mut vermitteln, nicht nur den Forschern selbst, die ihn gemeinschaftlich gestaltet haben und sich von ihm fur die Weiterarbeit einen besonderen Impuls erhoffen, sondern auch allen denen, die der Geisteswissenschaft gerade heute Selbstbehauptung wünschen.

10 ' Daß der Akzent dabei auf der Homer- Umgebungs-Vorsdmng liegt, erklärt sich aus der diesem Bande zugedachten weitergehenden Funktion: zusammen mit den beiden Wege-derForschung-Bänden ,Homer', die dem Text als Kunstwerk gelten (Darmstadt 1979 und 1991), kann sich so eine Gesamt-Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Homer-Gelehrsamkeit ergeben.

I Homer und die archäologische Forschung

HANS-GÜNTER

BUCHHOLZ

Die archäologische im Zusammenhang

Forschung mit

Homer

Einleitung Die Archäologie ist eine verhältnismäßig j u n g e Wissenschaft u n d hat von Anfang an die .Wiedergewinnung der Denkmäler' zu einer ihrer Aufgaben gemacht. D a m i t ist zweierlei ausgedrückt. Erstens: es gab vor ihr eine — weiter als heute gefaßte — Philologie, die sich — freilich nicht konsequent u n d systematisch — auch der ш'с/iischriftlichen Quellen des Altertums annahm. Zweitens: eine Archäologie als selbständige Wissenschaft k o n n t e überhaupt erst entstehen, als der grundsätzliche Unterschied in den Voraussetzungen erkannt war, die auch unterschiedliche Methoden nötig machen, also erst, als eine Zerlegung des Quellenmaterials in .philologische' und .archäologische' M o n u m e n t e erfolgte. Insofern das einzelne D e n k m a l archäologisch zunächst durchaus den Vorrang vor der D e n k m ä l e r k o m bination hatte und sich das wissenschaftliche Bestreben bei der W i e d e r g e w i n n u n g vorrangig auf Kunstdenkmäler richtete, stand eine mit historischen Zielen ausgrabende Archäologie keineswegs am Beginn der Entwicklung. Solange ein solches Ziel nicht formuliert war, waren m o d e r n e prähistorische Bodenforschung und ,Homerarchäologie', wie sie häufig verstanden wird, in ihren Entfaltungsmöglichkeiten beschnitten. So ist denn der entscheidende Anstoß erst von Heinrich Schliemanns Ausgrabungen in Troia (ab 1870), M y k e n e (ab 1874) und Tiryns (ab 1884) ausgegangen, sowie von Arthur Evans' bedeutenden archäologischen Entdeckungen u n d einprägsamen Rekonstruktionen in Knossos (ab 1900).^ Wenn die neue Epoche in der Homerforschung, die damit eingeleitet war, gelegentlich seitens der Philologie als einem äußeren Anstoß folgend e m p f u n den wurde, dann setzt das bereits die v o l l k o m m e n e Lösung der Archäologie,

Auflösung der bibliogr. Abkürzungen unten S. 43. ^ Zur Bedeutung Schliemanns für die Homerforschung s. unten S. 27 f. und G. Korres, in: .Archäologie und Heinrich Schliemann, 100 Jahre nach seinem Tode', Internationaler Kongreß Athen 1990 (in Druckvorbereitung [ = Korres 1990]).

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Hans-Günter Buchholz

insbesondere der Vorgeschichtsforschung, aus dem Verbund mit der Philologie voraus. Die Aufteilung in Philologie, Geschichte und Archäologie entsprach einer allgemeinen Tendenz in den Geisteswissenschaften des vergangenen Jahrhunderts. Bekanntlich sind Spezialisierungen dieser Art konsequent im Universitätsbetrieb durchgeführt worden. Allein vom Ägyptologen wurde und wird die Bewältigung des ungeteilten philologischen, historischen und archäologischen Forschens erwartet. Was Homer und seine Welt angeht, sind zwar die Grenzen zwischen den beteiligten Disziplinen nicht streng gezogen, doch bedeutet ,Homerarchäologie' fraglos eine weitere Einengung innerhalb der Archäologie, und außerdem muß auf den bedeutenden Anteil am Aufgabenspektrum hingewiesen werden, welcher der Alten Geschichte zufällt. Sie nutzt alle Vorarbeiten der Nachbarfächer und deren Quellen, die geschriebenen und die der materiellen Kultur. Wie keine andere Disziplin ist sie zuständig für das historische Umfeld des Dichters und der Dichtung. 2 ' Eine Standortbestimmung der .Homerarchäologie' wird allenfalls am Ende unserer Ausführungen möglich sein. Alles in allem ist davon auszugehen, daß der Archäologie als Anregerin der Homerforschung eine hohe Bedeutung nicht abzusprechen ist. Doch es muß auch hervorgehoben werden, daß ,Archäologie' nicht ohne weiteres mit der Tätigkeit des Ausgrabens gleichgesetzt und auf sie eingeengt werden kann. Ständige Grenzüberschreitungen im Bereich der beteiligten Disziplinen zeigen an, daß sie da, wo die eigenen Argumente versagen oder schwach ausfallen, gern die der Nachbarwissenschaften einsetzen. Die Archäologie ist da nicht auszunehmen. Was wirklich gefragt ist, ist dennoch die enge interdisziplinäre Zusammenarbeit. Gleichviel, ob wir vom Jahrhundert Homers, seiner Welt oder seinem Umfeld sprechen, Zeit und Raum, genauer: Kulturzustände, topographische Gegebenheiten, Realien und ein vielfältiges Geflecht von Daseinsbezügen werden der Archäologie eher zugänglich sein als die Person des Dichters.

1. Antike Ein elementares Interesse an der Vorzeit muß es bereits gegeben haben — wenigstens ansatzweise so etwas wie eine Prähistorie von Hellas —, bevor sich ,Homerarchäologie' zu bilden vermochte. 3 ' Wenn bereits in der Antike regelrechte histori-

2>

Vgl. die Beiträge unten S. 105 ff. K . Schirmeisen, Mythos und Prähistorie. Untersuchungen über die Stufen der Mythenbildung, Landskron o.J. (etwa 1932). Eine Studie umgekehrt zur ,Entmythologisierung' v o n Prähistorie und ihrer Einvernahme als Geschichte w i e bei Thukydides bleibt ein Desiderat. 3)

Die archäologische Forschung im Zusammenhang mit Homer

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sehe Fragestellungen wach wurden, als man aus ganz anderen Gründen Ausgrabungen vornahm, war ein erster Schritt auf eine solche Archäologie hin getan. Man denke an die oft zitierte Nachricht bei Thukydides, wo als Beweis flir die frühe Besiedlung der ägäischen Inseln durch Karer (und Phoiniker) angeführt wird, daß von den auf Delos geöffneten Gräbern über die Hälfte nach karischer Sitte angelegt und mit karischen Waffen ausgestattet gewesen seien.4' Erich Pernice bewertete die betreffende Textstelle wie folgt: „Das liest sich wie eine moderne archäologische Beweisführung und erweckt den Angaben des Thukydides gegenüber hohes Vertrauen, der geschickt archäologische Tatsachen als historische Quelle zu verwerten versteht." R . M. Cook hat auch die Aussagen des Thukydides über die Ruinen von Mykene einer kritischen Überprüfung unterzogen. 5 ' Bezüglich eines größeren Abschnittes (11-21) gelangte er zu dem Ergebnis, daß sich von dreizehn Quellen des antiken Historikers fünf auf Homer und andere Dichter, drei auf Volkstradition, zwei auf archäologische Befunde beziehen, drei weitere stellen Analogien seiner Epoche dar. 6 ' In der Volkstradition ruhende Aussagen vom Typus der siebentorigen boiotischen Stadt Theben gibt es so oder ähnlich weltweit. Es wäre freilich denkbar, daß — wie beim hunderttorigen ägyptischen Theben — hauptsächlich auf Größe und Rang abgehoben werden sollte.7' Die Siebenzahl war im alten Griechenland ein Symbol der Vollkommenheit. 8 ' Aber nicht dies macht den Sinn der sieben Tore aus, vielmehr deren Bezug auf die .Sieben gegen Theben', mithin der Zusammenhang zwischen Handlungsorten und der Zahl der handelnden Personen in der volkstümlichen Vorform hoher Dichtung. 9 ' Einer entsprechend korrespondierenden Zahl von Toren und Vorkämpfern begegnen wir unter anderem im mittelalterlichen Gudrunlied. 10 ' Thukydides I 8, dazu E. Pernice, Handbuch der Archäologie II, München 1969, 452f. Thukydides I 10, 1; s. R . M . Cook, Thukydides as Archaeologist, in: BSA 50, 1955, 266 ff. 6> Cook (Anm. 5 ) 269. 7) B. Mader, LfgrE, 12. Lieferung, Göttingen 1987, 665 s.v. έπτάπυλος. Vgl. ferner W. Burkert, Das hunderttorige Theben und die Datierung der Uias, in: Wiener Studien 89, 1976, 5-21. 8> F. Boll, RE VII 2 (1912) 2552ff. s.v. Hebdomas; auch F. Domseiff, Das Alphabet in Mystik und Magie, Leipzig-Berlin 2 1925, 33 und 82; K. Menninger, Zahlwort und Ziffer, eine Kulturgeschichte der Zahl, Göttingen 1958. - Zur Sieben im Orient: J. Hehn, Siebenzahl und Sabbat bei den Babyloniern und im Alten Testament, in: Leipziger semitistische Studien V 2, 1908, Teil 5. 9> Zur Zuordnung der Angreifer zu den sieben Toren Thebens bei Aischylos und Euripides s. Chr. Mueller-Goldingen, Untersuchungen zu den Phönissen des Euripides, Wiesbaden 1985, 175 ff., zu den Etymologien der Tornamen bereits U. v. Wilamowitz-Moellendorff, Hermes 26, 1891, 210ff. (Kleine Schriften V 45 ff.). 10) Vgl. W. Jungandreas, Die Gudrunsage in den Ober- und Niederlanden, eine Vorgeschichte des Epos, Göttingen 1948. 4)

5>

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Sozusagen das Paradebeispiel von ,Volkstradition', nämlich mündlicher W i e dergabe eines angeblich historischen Sagenkerns, bietet in der deutschen Vorgeschichte das Königsgrab von Seddin in der Westprignitz. 1 1 ' An ihm haftete die Uberlieferung, es sei in ihm ein König in drei Särgen begraben, von denen der innerste aus Gold gefertigt sei. M a n fand in dem zehn Meter hohen Hügel eine Steinkammer und in ihr eine tönerne U r n e , in welcher eine bronzene Situla mit dem Leichenbrand stand. In diesem Fall m ü ß t e konkretes Wissen u m einen ,goldenen' Sarg in zwei anders gearteten, größeren Särgen den Wandel von der vorgeschichtlichen Brand- zur Körperbestattung historischer Zeiten (Urne — Sarg), von tatsächlicher Bronze z u m Gold der Sage und vor allem von den Vorbewohnern zu den einwandernden Slawen u n d von diesen zu deutschen Kolonisten überdauert haben. A. Kiekebusch reimte sich die Sache wie folgt zusammen: „Zurückgebliebene Reste der germanischen Bevölkerung gingen wohl im W e n d e n t u m auf. So erklärt es sich, daß mündliche Überlieferungen (Sage v o m Königsgrab von Seddin) überdauert haben." 12 ) Die Sage kann andererseits durchaus j u n g sein: Ein unübersehbarer künstlicher Hügel wird mühelos als Grab erkannt, und es liegt dann ebenso nahe, ihn einem König zu geben, wie diesem den Goldsarg mit der doppelten U m m a n t e l u n g . In unserem Lande gaben auch ,Riesensteingräber' der Phantasie N a h r u n g , in ihnen ungewöhnlich große Tote zu vermuten 13 ^; so finden sich in den Parallelbeispielen bei Thukydides gelegentlich auch Zeugnisse für eine rege Volksphantasie, die lediglich den Eindruck eines tradierten exakten Wissens u m frühere Zustände erweckte. Antike Schriftsteller, insbesondere Verfasser von Scholien, lassen sich allenfalls als .Homerarchäologen' verstehen, wenn sie sich den Antiquaria zuwenden, die dem neuzeitlichen Begriff der ,Homer-Realien' entsprechen. Es ist hinlänglich bekannt, daß man dort auch auf Widersprüchliches, Abseitiges und Nichtiges stößt, was w o h l die moderne Homerarchäologie stärker als die Philologie v o m Gebrauch der Scholien abhält. Andererseits wird gerade in der antiken H o m e r f o r s c h u n g deutlich, in welch unlösbarer Einheit sich damals archäologisch-antiquarische, allgemeinhistorische und philologische Beobachtungen bewegten. Für einzelne Fragen solcher Art kann beispielsweise die Uberlieferung bei einem Periegeten wie Pausanias v o n Bedeutung sein: Im 9. Buch ist v o m Szepter des A g a m e m n o n — oder was m a n

n) Erstbericht von E. Friedel, Die Funde aus dem Königsgrab von Seddin, in: Festschrift des Märkischen Museums, Berlin 1901, 36 ff. Taf. 16-20; A. Kiekebusch, ReallexVorgesch 11 (1927/ 28) 444f. s.v. Seddin (mit weiterer Literatur); ders., Bilder aus der märkischen Vorzeit 35ff.; C. Schuchhardt, Vorgeschichte von Deutschland, München-Berlin 51943, 151 f. 12 > A. Kiekebusch, Märkisches Heimatbuch, Neudamm 1935, 188 f. und 220. 13) So werden auch Buchtitel wie M. Sharp, A Land of Gods and Giants, London 1989, vom Leser ohne weiteres auf die Megalithkultur bezogen.

Die archäologische Forschung im Zusammenhang mit H o m e r

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dafür hielt - die R e d e . M a n glaubte es in Chaironeia zu besitzen und behandelte es als Reliquie, der man täglich O p f e r darbrachte. Die gebotene Bezeichnung ist δόρυ, eine weitere Beschreibung fehlt. Andreas Alföldi hat mit den Studien , H a s t a - S u m m a Imperii' und , Z u m Speersymbol der Souveränität im Altertum' die Sinn-Zusammenhänge erhellt. 14 ) D e r genannte Gelehrte vertrat den Typus des in reichem M a ß e archäologische Quellen verwendenden Historikers; er ist damit aber natürlich noch nicht schlechthin zum ,Homerarchäologen' geworden.

2. Von W i n c k e l m a n n bis Schliemann D e r Begründer der Klassischen Archäologie, Johann Joachim Winckelmann (1717—1768), wird zugleich als Begründer der modernen Kunstwissenschaften gefeiert, nicht j e d o c h auch als Schöpfer einer speziellen ,Homerarchäologie'. Die von ihm geschaffene Kunstarchäologie sieht Kunstschöpfungen als vornehmste und edelste Verwirklichung jeglicher menschlichen Kultur an. D e r , E r s t e Antiquarius der Apostolischen K a m m e r und Präfekt aller Altertümer in und um R o m ' m u ß zwar auch einen Sinn für das Topographische, für ,Denkmalpflege' und ,Fundumstände' entwickelt haben, aber der Schritt hin zur Wertschätzung der unscheinbaren antiken O b j e k t e materieller Kultur außerhalb des Künstlerischen war damals weder vorbereitet noch machbar, j a deren Bedeutung für die Historie im Sinne der späteren Vorgeschichte schlechterdings nicht einsehbar. Daran ändert auch nichts, daß die Antiquare vor W i n c k e l m a n n „einem unbedeutenden geschnittenen Steinchen [ . . . ] , einem alten Schlüssel [ . . . ] eine Wichtigkeit beilegten, die sie nicht haben". 1 5 ' Die Zeit für ein modernes Archäologieverständnis war noch nicht reif. Es findet sich schließlich als Einsicht auch der Klassischen Archäologie erst seit den beiden Jahrzehnten zwischen den Weltkriegen. An die Stelle der damals gefundenen Formulierungen eines Kunstarchäologen hohen Ranges (1932) vermochte man selbst noch bei Neuauflage des Handbuches der Archäologie im Jahre 1969 nichts Bedeutenderes oder Neueres zu setzen. Dieser, Ernst Buschor, hatte geschrieben: „Archäologe ist jeder, der ein von Menschenhand geformtes D i n g einer vergangenen Epoche zurechnet [ . . . ] D i e D i n g e umfassen alle Rangstufen, sind von ver-

14> Pausanias I X 40,11; s. A. Alföldi, AJA 63, 1958, 1 ff.; ders., Festschrift für Percy Schramm, Wiesbaden 1964, 3ff.; vgl. auch F. Pfister, Der Reliquienkult im Altertum, Gießen 1909 (Nachdr. 1974), 3 3 6 f. und 536. Z u m Verständnis des Pausanias in archäologischer, religions- und kulturhistorischer Hinsicht vgl. Chr. Habicht, Pausanias und seine .Beschreibung Griechenlands', München 1985. 15)

1963.

C h . G . Heyne, 1778, s. Die Kasseler Lobschriften auf Winckelmann, Stendal (Jahresgabe)

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schiedener Bedeutung, aber für das Auge des vollkommenen Archäologen eben doch alle wirklich bedeutend, j a das geringste kann in bestimmtem Zusammenhang eine mittelbar größere Bedeutung erlangen. Die Stufenleiter beginnt mit unfreiwilligen oder rein zweckhaften Formen, man denke etwa an eine künstlich erweiterte Höhle, einen Fußpfad, einen Steinbruch, ein Pfostenloch. Sie steigt über geformtes und verziertes Gerät oder Bauwerk zu Gebilden höchster Form, von den schlichtesten .Abbildern' des Lebendigen zu seinen höchsten Sinnbildern empor. Die bildende Kunst steht als kostbarstes Vermächtnis, als die reinste Verewigung der vergangenen Menschen im Mittelpunkt der Betrachtung". 1 6 ' Man bedenke weiterhin, daß die Epoche Winckelmanns noch nicht einmal die Erkenntnis gewonnen hatte, daß Stein—Bronze—Eisen menschheitsgeschichtlich eine Abfolge von höchster Wichtigkeit bedeuten: Das ,Dreiperiodensystem' (Stein-, Bronze- und Eisenzeit) wurde erst 1836 als Gliederung der Vorgeschichte erkannt bzw. entwickelt. 17 ' Aus dem Gesagten ergibt sich, daß wir in Winckelmann einen Homerarchäologen nicht erwarten dürfen. Dennoch hatte sich der ausgesprochene Augenmensch nicht allein antiker plastischer Form und Farbe zugewandt, vielmehr ein feines Gehör für den Klang der Sprache entwickelt. 18 ' Der lebenslange U m g a n g mit den Worten, Gedanken und Gleichnissen der homerischen Dichtung hat Winckelmann zum Sprachschöpfer werden lassen. Seine sprachliche Leistung ist ohne die Homerlektüre seit den Homerausschreibungen in der Hamburger Zeit undenkbar. 19 ' Indem er von dem Dichter in leidenschaftlicher Weise Besitz ergriff, „die jede philologische Vorstellung übersteigt, [...] muß überraschen, daß er das

' In: U . Hausmann, Handbuch der Archäologie, München 1969, 3 f . ' C h . J . Thomsen, Ledetraad til Nordisk Oldkyndighed, Kopenhagen 1836; unabhängig davon, fast gleichzeitig: J . F . Dannehl und G . C h . F. Lisch. Zu letzterem s. Der Archäologe. Graphische Bildnisse aus dem Porträtarchiv Diepenbroick, Ausstellung Münster—Hannover-Berlin 1984, 334. - Einer der bedeutendsten Gegner des Dreiperiodensystems war L. Lindenschmit, Gründer und erster Direktor des Römisch-Germanischen Zentralmuseums in Mainz. Vgl. B . Trier, Die Entwicklung der vor- und frühgeschichtlichen Forschung bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, in: Der Archäologe 67 ff. 18> H. Koch, J . J . Winckelmann. Sprache und Kunstwerk, Berlin 1957 [ = K o c h 1957], 51: Winckelmann setzt Ton und Farbe gleich. 19) K. Krauß, Winckelmann und Homer, Berlin 1936, 78 mit Rez. von K. Schefold, G n o m o n 12, 1936, 510ff. - W. Richter, in: Festschrift G. v. Lücken, Wissenschaftliche Zeitschrift der Universität Rostock 17, 1968, 731-746 [ = Richter 1968]; W. Schadewaldt, Winckelmann und Homer, in: Hellas und Hesperien, Zürich/Stuttgart 2 II1970, 40: Homertexte waren nicht immer leicht zugänglich, innerhalb von 150 Jahren ist sein Werk nur ein einziges Mal gedruckt worden (1651 in Basel). — N o c h immer lesenswert: Friedrich August Wolf, Winckelmanns Studiengang, in: J . W . v. Goethe, Winckelmann und sein Jahrhundert, Tübingen 1805. 16 17

Die archäologische Forschung im Zusammenhang mit H o m e r

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Preislied seines Homer in lateinischen Distichen singt .. .".20> Bemerkenswert erscheinen die Umwandlungen des homerischen Stils in den Winckelmanns, die Verwendung von Gleichnissen im homerischen Sinne, sowie kraftvolle sprachliche Neuprägungen wie .Großheit', aber auch bizarre Metaphern wie ,der Schusterstil eines Scribenten', ,Steinkohlen-Seelen' oder ,Cathedral-Ernsthaftigkeit'. 21 ' In seinem ureigensten Metier, der antiken Plastik, war es für Winckelmann nicht leicht, einen Begriff von der Archaik oder noch Früherem zu gewinnen. Er hat sich da an Etruskischem zu orientieren gesucht. Mit Homer etwa gleichzeitige sardische Bronzen erschienen ihm barbarisch „mit ihren langen, storchmäßigen Hälsen". 22 ' Was ihm altertümlich vorkam, belegte er mit dem Begriff der „starren, steifen Form" und verglich mit unbelebten Gegenständen: „Ärmel sind in gebrochene Falten gelegt nach Art der in Deutschland bekannten Laternen von Papier", oder „Haare sind wie Schneckenhäuser gekräuselt". 23 ' In Göttingen fand die sich sodann als Universitätsfach bildende Archäologie ein frühes Zentrum. Dort lehrte der vielfältigen Anregungen offene, sich aus der spätbarocken Polyhistorie lösende Christian Gottlieb Heyne (1729—1812), dessen Lobschrift auf Winckelmann im Zusammenhang mit der Kasseler Preisaufgabe bereits erwähnt worden ist. Er war ein Freund Johann Gottfried Herders 24 ' und der akademische Lehrer des Homerinterpreten Friedrich August Wolf, des Homerübersetzers Johann Heinrich Voß, der Brüder Schlegel und des Begründers einer neuen Archäologie in Dänemark, Georg Zoega. 25 ' ZoSga wurde zu einem der bedeutendsten Systematiker unter den Archäologen. Friedrich Gottlieb Welcker hat sich als sein geistiger Erbe betrachtet und ist sein Biograph geworden. Beide lernten sich im Hause Wilhelm von Humboldts in R o m kennen. Wenn also Heyne in unserem Zusammenhang überhaupt eine Rolle spielt, dann die eines Anregers und Mittlers - auch im Hinblick auf Homer (Voß, Wolf, Welcker und andere). Immerhin hat der Göttinger Hofrat einen offenen Sinn für die seinerzeit besondere Art der Begegnung des Engländers Robert Wood (1717—1771) mit der Antike gezeigt, indem er dessen Reisen nach Kleinasien unter Einschluß von Troia und Ephesos sowie nach Chios und bis Syrien ausdrücklich als nützlich anerkannte: „Aus Reise- und Länderbeschreibungen der Wilden und

20)

Richter 1968, 736. Z u Winckelmanns Verhältnis zur griechischen Literatur s. auch C. Justi, Winckelmann und seine Zeitgenossen II (Leipzig 4 1943), Hildesheim 1983, 79. 21 > Koch 1957, 97 und 105. 22 > M . Cristofani, Winckelmann, Heyne, Lanzi e l'Arte Etrusca, in: Prospettiva 4, 1976, 16ff. 23) Hierzu Koch 1957, 116. Vgl. jetzt allgemein auch G . W . Most, Z u r Archäologie der Archaik, Antike und Abendland 35, 1989, 1 ff. 24) E. Kühnemann, Herders Leben, München 1895, 114 ff. 25) Zoega schrieb im Juli 1779 an Esmarch: „Herr Heyne will ein großes Subject aus mir machen [...] Ich habe mich nämlich freiwillig und m o t u proprio bei ihm zum Archäologisten anwerben lassen", s. Handbuch der Archäologie 6, 1 (1939), 38.

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anderer Völker, die in einer noch ungebildeten Gesellschafts- und Staatsverfassung leben, lernt man das meiste für Homer". 2 6 ' Als Klassischer Philologe war er seiner Zeit voraus, wenn er betonte, daß ein rechtes Verständnis der großen Dichter ohne Kenntnis der Umwelt, vor allem der Empfindungen, Meinungen und Sitten der griechischen Frühzeit nicht möglich ist. 27 ' Der bereits genannte eigenwillige Mecklenburger Johann Heinrich Voß (1751—1826, Abb. 1, unbekanntes Ölgemälde von Schöner aus der Eutiner Zeit; Gießener Privatbesitz) — acht Jahre jünger als W o l f und wie dieser Student bei Heyne in Göttingen - hat mit seiner Homerübersetzung eine neue Epoche der Breiten- und Tiefenwirkung des frühgriechischen Dichters eingeleitet (1781: Odyssee, 1793: Ilias). Eine 1769 erschienene Prosa-Ubersetzung von Christian Tobias bot wohl schon damals keinen sonderlichen Genuß. 2 8 ' Voß besaß einen ausgeprägten Sinn für das Reale. In Otterndorf, w o er die Odyssee-Übersetzung ausführte, begegnete er dem Meere und fand in einem Kapitän einen Fachmann, mit dem er das Floß des Odysseus im fünften Gesang erörtern konnte. Sein Werk läßt das erworbene gründliche Sachwissen weit über das gebotene Beispiel hinaus überall erkennen, besonders auf dem Gebiet der Realien — also auf archäologischem Felde —, ebenso Fleiß, gediegenes philologisches Können und vor allem sein Ringen um den treffenden Ausdruck. Die kräftigen niederdeutschen Elemente in der Sprache verbinden sich mit der tiefen Überzeugung von der sittlichen Größe des alten Dichters. 29 ' Goethes Worte zu Eckermann über den Übersetzer verdienen es, hier festgehalten zu werden: „Es haben wenig Andere auf die höhere deutsche Cultur einen solchen Einfluß gehabt als er. Es war an ihm alles gesund und derbe, weßhalb er auch zu den Griechen kein künstliches, sondern ein rein natürliches Verhältnis hatte, woraus denn für uns Anderen die herrlichsten Früchte erwachsen sind. Wer von seinem Werthe durchdrungen ist wie ich, weiß gar nicht, wie er sein Andenken würdig genug halten soll." 3 0 ' Voß hatte — ohne ausgebildeter

M . Wegner, Altertumskunde, Freiburg-München 1951, 103ff. [ = Wegner 1951]. W. v. Humboldt, Gesammelte Schriften VII, Berlin 1907, 550 ff. (Nachschrift von Heynes Vorlesung über die Ilias), s. auch Chr. G. Heyne, Opuscula academica collecta et animadversionibus locupletata I, Göttingen 1785, 210; dazu U . Muhlack, Philologie zwischen Humanismus und Neuhumanismus, in: R . Vierhaus, Wissenschaften im Zeitalter der Aufklärung, Göttingen 1985, l l l f . 26)

27>

2 8 ) Des Homerus Werke. Aus dem Griechischen neu übersetzt und mit einigen Anmerkungen erläutert von Christian Tobias D a m m , L e m g o 1769. Vgl. Richter 1968, 735. 29> G. Häntzschel, Johann Heinrich Voß, seine Homer-Ubersetzung als sprachschöpferische Leistung, München 1977; Chr. D. Hahn, Johann Heinrich Voß, Leben und Werk, Husum 1977, 28, u n d C h . Jenssen bei Hahn а. 0 . 3 9 ff; G. Häntzschel, Der deutsche H o m e r im 19.Jahrhundert, in: Antike und Abendland 29, 1983, 4 9 - 8 9 . 3 0 ) Dazu W . v. Humboldts Charakterisierung des Übersetzers in der Eutiner Zeit, abgedruckt in: B. Schubert-Riese, Das literarische Leben in Eutin im 18.Jahrhundert, Neumünster 1975.

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Archäologe zu sein — sowohl in dem, was später ,Homerarchäologie' genannt wurde, eigene Beobachtungen und Vorstellungen beizutragen als auch in der ,Homerischen Frage' im ganzen. Bei Friedrich Gottlieb Welcker lesen wir: „... Voß verstärkte in Jena das Ansehen, das er durch seine Arbeiten über mich behauptete, und flößte mir zugleich eine dauernde Anhänglichkeit ein, indem er mir als ein Geheimniß anvertraute, was erst mehrere Jahre nachher aufgehört hat, ein Geheimniß zu seyn, daß er mit Wolf, damals seinem Verbündeten und Freunde, hinsichtlich des Homer durchaus nicht übereinstimme." 31 ' Voß strebte, wie bekannt, zu Goethes großer Enttäuschung aus Jena fort. Das Ansehen, das er überall genoß, eröffnete ihm andere Möglichkeiten. Ich nehme hier die Gelegenheit wahr, ein unbekanntes, in meinem Besitz befindliches Schreiben aus Karlsruhe vom 9.Mai 1805 zu publizieren (S. 20f.). Ihm müssen eine Anfrage bei Voß seitens des Kurfürstlichen Hofes und Vossens Zusage vorausgegangen sein: Seither habe ich nun auch meinem gnädigsten Herrn, dem Kurfürsten, Ihr Schreiben vorgelegt und von höchst demselben den Auftrag erhalten, Ihnen die Versicherung Seines aufrichtigsten Wohlwollens und des herzlichen Vergnügens über Ihre Zusage zu erkennen zu geben [...] Bereiten Sie sich also bald in ein Land zu kommen, wo ein schöner Himmel, ein Kreis würdiger Männer, die Liebe Ihrer Bekannten, und die Verehrung aller gebildeter Menschen Sie erwartet . . . " Soviel zu unserem Homerübersetzer Voß und der Problematik des Ubersetzens im allgemeinen. Es ist nicht zuviel gesagt, wenn man postuliert: Je solider die archäologischen Kenntnisse, desto größer die Chance einer sachgerechten Übersetzung. Der Archäologe Roland Hampe stellt als Übersetzer der Odyssee fest: „Homer ist in allen technischen Dingen ungemein sachlich. Es galt dieser Sachlichkeit Homers in der Übersetzung gerecht zu werden .. ," 32 ' Friedrich August Wolf (1759-1824) sollte nach meinen ersten Vorstellungen hier ganz den Philologen überlassen bleiben. Die von ihm ins allgemeine Bewußtsein gerückte ,Homerische Frage' 33 ' ist aber nicht das einzige, das ihn in unserem Zusammenhang interessant macht: In den von ihm entworfenen Studienrichtlinien und einer erläuternden Schrift über ,die Altertumswissenschaft nach Begriff, Umfang, Zweck und Wert' findet man bereits die spätere Aufteilung in Disziplinen vorgebildet und zukunftsweisende Gedanken über deren Zusammenwirken: „Die gesamten Überreste sind von dreifacher Art, teils schriftliche Werke, wozu auch die vor der Verbreitung der Schreibkunst nur gesungenen, später erst aufge-

31

> F. G. Welcker, Der epische Cyclus oder die Homerischen Dichter, Bonn 21865; Nachdruck Hildesheim 1981, X f . 32) R . Hampe, Nachwort in: Odyssee, Stuttgart 1979, 421. Vgl. auch das Nachwort zur Ilias, Stuttgart 1979, u. a. wegen der Auseinandersetzung mit der Voßschen und der Schadewaldtschen Prosaübersetzung (Odyssee: 1958, Ilias: 1974). 33) Prolegomena ad Homerum, Halle/S. 1795.

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Hans-Günter Buchholz

Brief an Voß aus Karlsruhe v. 9.5.1805

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schriebenen Bardenlieder gehören, teils künstlerische, d. h. W e r k e der Z e i c h n u n g u n d Bildnerei, s o w o h l der mit der Poesie verschwisterten Kunst als der gemeinen Technik, teils Überbleibsel gemischter Art, an welcher Literatur u n d g e m e i n e Technik u n g e f ä h r gleichen Anteil haben. Hierzu gehören die meisten mit A u f schriften versehenen Steine, die sich weit m e h r den Schriften als den K u n s t p r o d u k ten nähern [ . . . ] Nachteilig j e d o c h w ü r d e m a n den U m f a n g des S t u d i u m s v e r e n gen, w e n n m a n — wie es bei der N o t i z der alten K u n s t w e r k e jetzt v o n den meisten geschieht — mit falschem Ekel b l o ß das Klassische u n d Schöne aushöbe, alles übrige aber sogenannten A l t e r t u m s k r ä m e r n überließe." 34 ^ Praktisch k ü n d i g t sich hier innerhalb der Altertumswissenschaften auch schon die Abspaltung v o n N u mismatik, Epigraphik u n d Paläographie an. In der T h e o r i e ist jedenfalls bereits 1807 die spätere Arbeitsteilung — u n d sie sogar in zwei A r t e n v o n Archäologien — g e f o r d e r t w o r d e n : Geschieden sind eine Klassische Archäologie mit S c h w e r p u n k t in der Kunstgeschichte u n d eine kulturgeschichtlich arbeitende Archäologie („gemeine Technik"). Es erübrigt sich der Hinweis, daß v o n hier aus Linien zur späteren , H o m e r a r c h ä o l o g i e ' f u h r e n . N o c h nicht in den Blick gefaßt ist hier allerdings die m e h r f a c h e V e r w e n d b a r k e i t derselben D e n k m ä l e r unter verschiedenen methodischen Gesichtspunkten, also etwa die B e h a n d l u n g v o n Wolfs Kategorie der „ Ü b e r r e s t e der K u n s t " e n t w e d e r unter ästhetisch-formenanalytischem Aspekt oder d a v o n u n b e r ü h r t unter bildinhaltlichen, m y t h o l o g i s c h e n , religionswissenschaftlichen u n d v o r allem antiquarischen Gesichtspunkten. Bei Fachgrenzen überschreitender Forschung k a n n m a n heute bereits in Buchtiteln oder U n t e r t i t e l n den Grad der Beteiligung beispielsweise der Archäologie erkennen: „Medeia u n d die Peliaden [ . . . ] Ein Versuch zur Sagenforschung auf archäologischer Grundlage". 3 5 ' D i e Vorstellung, daß auch j e d e r kunstlose archäologische Gegenstand — historische — Aufschlüsse geben kann, ist jedenfalls v o n da an nicht m e h r v e r l o r e n g e g a n gen: Im J a h r e 1827, anläßlich der G r ü n d u n g eines Akademischen K u n s t m u s e u m s in B o n n , m i t d e m er seinen Studenten den u n m i t t e l b a r e n Z u g a n g zu archäologischen Quellen verschaffen wollte, f ü h r t e auch Friedrich Gottlieb Welcker aus, daß die Beschäftigung m i t antiken K u n s t w e r k e n s o w o h l w e g e n ihres stofflichen u n d inhaltlichen Interesses b e f ü r w o r t e t w i r d als auch w e g e n ihres wissenschaftlichen Eigenwertes. Dieser b e d e u t e n d e M i t b e g r ü n d e r einer Universitätsarchäologie, der mit D e k r e t v o n 1809 auf einen in Deutschland erstmals als,Professor der griechischen Literatur u n d Archäologie' bezeichneten Lehrstuhl in Gießen b e r u f e n w o r den war, n a h m bei der Archäologie eine begriffliche Scheidung in Haupt- u n d

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F.A. Wolf, Darstellung der Altertumswissenschaft nach Begriff, Umfang, Zweck und Wert, Berlin 1807; dazu auch W. Körte, Leben und Studien Friedrich August Wolfs, des Philologen, Essen 1833; Wegner 1951, 143ff„ bes. 149ff. "> H. Meyer, Bonn 1980.

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/////^Wissenschaft vor — die die ,Homerarchäologie' dann ja doch später hauptsächlich gewesen ist. Er führte aus: „Spon wollte gewiß nichts anderes sein als Antiquar, und alles, was sich zeichnen läßt, zusammenfassen, ohne zu unterscheiden, was eine besondere selbständige Bedeutung in sich hat, von dem, was nur als Mittel zum Zweck des allgemeinen geschichtlichen Wissens dient." Hier ist doch in aller Deutlichkeit von einer historischen Zielsetzung die Rede, mithin von den Aufgaben der Geschichtswissenschaften an sich, folglich kann diese Art von Archäologie („als Mittel zum Zweck") gar nicht anders denn als Hilfswissenschaft verstanden werden. 36 ' Aufs Ganze gesehen, ist Welcker viel weniger von Winckelmann als von Heyne her zu verstehen. Eine umsichtige Standortbestimmung fand dann 1845 Ludwig Preller: „ . . . Der Unterschied der beiden τέχναι (Philologie und Archäologie) beruht auf dem Unterschied der beiden Hauptgattungen von Erkenntnisquellen des Altertums, den Literaturquellen und den Monumentalquellen. Sie stehen selbständig neben einander [...] Das allgemeine Objekt der technischen Philologie ist die klassische Literatur [...] Das allgemeine Objekt der technischen Archäologie ist das gesamte monumentale Altertum [...] Unter der Altertumswissenschaft aber verstehen wir überhaupt die systematische Behandlung des gesamten Altertums nach seinen historischen und geistigen Beziehungen, mit der allgemeinen Aufgabe der wissenschaftlichen Reproduktion dieses bestimmten Abschnittes aus der Geschichte der Menschheit .. ," 37 ' 38 Welcker — nacheinander Professor in Gießen, Göttingen und Bonn ' — haben wir bereits als Verehrer Wilhelm von Humboldts und des Homerübersetzers Voß kennengelernt. Er hat sich große Verdienste in der Homerforschung erworben, unter anderem mit der Studie ,Uber den homerischen Schild des Achilles und den hesiodischen des Herakles' 39 ', sodann mit den grundlegenden Büchern ,Der Epische Cyclus oder die Homerischen Dichter' ('1835, 21865) und ,Die griechischen Tragödien mit Rücksicht auf den epischen Cyclus geordnet' (drei Bände, 1841), sowie dem monumentalen Werk der .Griechischen Götterlehre' (1857—1863). Im .Epischen Cyclus', einem Druckwerk von über 1000 Seiten, ist lediglich an neun Stellen Archäologie zu Worte gekommen: Beobachtungen zur Lage Troias, Kunstwerke im Epos, Achill und Penthesileia auf einer rotfigurigen Kylix in München, Thron von Amyklai, der Maler Apelles, Amazonen und

36

> F.G. Welcker, Kleine Schriften III, Bonn 1850, 337. Zeitschrift für Geschichte und Auslegung der alten Kunst 1, 1818, 553 ff. 38) Dazu ausfuhrlich R . Kerkule von Stradonitz, Das Leben Friedrich Gottlieb Welckers mit Verzeichnis der Schriften Welckers, Leipzig 1880; Wegner 1951, 187ff.; W. Geominy, in: R . Lullies-W. Schiering, Archäologenbildnisse, Mainz 1988, 18 f. (mit Lit.) [ = Lullies/Schiering 1988]. 39) Zeitschrift für Altertumswissenschaft 3, 1845, Suppl. - Heft 1, 7; dazu H. Bulle, Handbuch der Archäologie, München '1913, 13 f. 37)

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Kerkopen in der Kunst, der sog. Kapaneus (Kopf in Neapel) und schließlich Bäume aus Metall in der persischen Kunst. Der vom Geist der Romantik geprägte, von Herders .Stimmen der Völker' beeindruckte, mit den märchensammelnden Brüdern Grimm befreundete Karl Otfried Müller (1797—1840) — zweiundzwanzigjährig 1819 nach Göttingen berufen, zweiundvierzigjährig in Griechenland gestorben — legte in seinem .Orchomenos und die Minyer' (1820) sowie dem zweibändigen Werk ,Die Dorier' (1824) dar, daß sich aus mythischer Dichtung tragfähige historische Nachrichten gewinnen lassen. Mit dieser Überzeugung wurde er, wenn auch nicht ausgrabend, zu einem Vorläufer Schliemanns. Er präsentierte sich in den genannten Werken als Pausanias-Kenner, historischer Geograph, griechischer Dialektforscher, in geringerem Maße als Epigraphiker, vor allem als historisch kombinierender Auswerter philologischer Quellen. Seine Zielsetzungen galten der Frühgeschichte ,Hellenischer Stämme und Städte' (so der Rahmentitel), dabei auch der Erhellung homerischer Themen. Doch beim näheren Hinsehen ergibt sich fur eine Homerarchäologie im engeren Sinne — auch wenn er ein ,Handbuch der Archäologie der Kunst', Breslau 1830, geschrieben hat — relativ wenig. Dennoch sollte die starke Hinwendung zum Frühen als wichtiger Impuls für die Homerforschung nicht unterschätzt werden. 40 ) Was den Basler Beitrag zur Archäologie und Homerforschung angeht, so darf ich hier im Kreis der Basler Kollegen auf kompetentere Kenner als mich verweisen. Ich denke vor allem an Karl Schefold, den K. Meuli unterstützenden Mitherausgeber der endgültigen Ausgabe von Johann Jakob Bachofens (1815—1887) gesammelten Werken. 41 ' Schefold hat sich besonders zur ,Religion im Werk Bachofens' 42 ) und zur,antiken Kunst im Werk Bachofens' g e ä u ß e r t . V o n Bachofen wie von Jakob Burckhardt (1818—1897) läßt sich ebenfalls sagen, daß sie nicht eigentlich zu den ,Homerarchäologen' zu zählen sind, wohl aber zu den befruchtenden Anregern in der ganzen Weite des kulturhistorischen, in Sonderheit reli-

40

' Zur Person: Carl Otfried Müller, Lebensbild in Briefen an seine Eltern mit dem Tagebuch seiner italienisch-griechischen Reise, herausgegeben von O. und E. Kern, Berlin 1908. 41 > Band II und III (1948): ,Das Mutterrecht' (Erstpublikation 1861; Erstpublikation der ,Gräbersymbolik' bereits 1859). Vgl. Karl Schefold, Bibliographie 1930-1990, mit zusammenfassenden Kommentaren des Autors, Basel 1990 [ = Schefold 1990], 25 Nr. 76 und 30 Nr. 222: Rezension von Band VII (1958): Die Unsterblichkeitslehre der orphischen Theologie. — Zur Person s. auch K. Schefold, in: Lullies/Schiering 1988, 41 f. - Seit dem 1.4.1989 wird die Bachofen-Edition am Seminar für Klassische Philologie der Universität Basel als Editionsprojekt des Schweizerischen Nationalfonds fortgeführt unter der Leitung von Fritz Graf (ζ. Z. in Arbeit: Band 9). 42) Bayerische Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. KL, Sitzungsberichte 1987, Heft 5; s. Schefold 1990, 46 Nr. 647. 43 ' J.J. Bachofen, eine Begleitpublikation zur Ausstellung im Historischen Museum Basel (1987) 79ff., s. Schefold 1990, 46 Nr. 648.

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gionshistorischen U m f e l d e s des frühen Dichters. ,Homerarchäologie' ist j a nicht allein in Basel zu einem wesentlichen Teil als Kulturgeschichte verstanden worden. Der dritte .Basier', Friedrich Nietzsche (1844-1900), 1869 an die Universität Basel berufen, widmete seine Antrittsvorlesung dem T h e m a , H o m e r und die Klassische Archäologie'. Mehr als hundert Jahre archäologischer Forschung von Winckelmann bis Schliemann haben nicht eigentlich zur Bildung einer Sonderdisziplin geführt; es läßt sich keineswegs ein geradliniger Fortschritt von wenig zu mehr , H o m e r archäologie' konstatieren. Selbst w o bestimmte Elemente der frühgriechischen Dichtung weiträumig mit möglichen Entsprechungen in Ä g y p t e n oder im Nahen Osten verglichen wurden, waren zunächst fast ausschließlich hier wie dort schriftliche Quellen gefragt. Z u denken wäre dabei an T h e m e n wie ,Erläuterungen der heiligen Schrift Alten und Neuen Testaments aus den Klassikern, besonders aus H o m e r ' von F. B . Köster, Kiel 1833, oder ,Die beiden Dulder Hiob und Odysseus' von K . F . Schönwälder, Gymnasial-Programm Brieg I860. 4 4 ) Erst M. Ohnefalsch-Richter hat bei ähnlicher Fragestellung das archäologische Material in seinem Werk .Kypros, die Bibel und H o m e r ' , Berlin 1893, in den Vordergrund geschoben und mit d e m Untertitel sein Anliegen verdeutlicht: ,Cultur-, Kunst- und Religionsgeschichte des Orients im Alterthume'. Daß H o mer im Titel steht, erweckt falsche Erwartungen, denn tatsächlich ist aus dem Buche alles andere als eine ,Homerarchäologie' geworden, selbst wenn hier B o denfunde den Ausgang weiträumiger Vergleiche bilden. E. O b e r h u m m e r hat gleich nach dem Erscheinen folgendes vermerkt: „ . . . Das Urteil über O . - R . ' s archäologische Arbeiten wird indessen verschieden ausfallen, j e nachdem nur die Gewinnung und Veröffentlichung des Materials oder die wissenschaftliche Verwertung desselben und die Einreihung in die Gesamtheit der antiken D e n k m ä ler in Frage k o m m t . O h n e ihm nach letzterer Richtung jedes Verdienst abzusprechen und zu verhehlen, daß er vielfach das R i c h t i g e erkannt und zu weiteren Studien die Anregung gegeben hat, ist doch nicht zu leugnen, daß der völlige Mangel philologisch-historischer und archäologischer Schulung ihn zu manchen bedenklichen Seitensprüngen und höchst gewagten Kombinationen veranlaßt hat .. ." 4 5 ) Interessant ist, daß a m Tage der Veröffentlichung der Todesnachricht Schliemanns Ohnefalsch-Richter einen Brief Dörpfelds erhielt, in dem er im N a m e n Schliemanns für das Frühjahr 1891 zur Teilnahme an der Grabungskampagne in Troia eingeladen wurde. 4 6 '

4 4 ' Z u diesen und zahlreichen weiteren Titeln zu den Themen ,Homer und die Bibel', .Horner und Ägypten', .Horner und die Keilschrifttexte' s. unten S. 155 ff. den Beitrag von W. Burkert. 4 5 ) E. Oberhummer, Kypros (Archäologie), in: Bursians Jahresberichte 21, 1893, 77f.; H.-G. Buchholz, M a x Ohnefalsch-Richter als Archäologe auf Zypern, in: Centre d'Etudes Chypriotes, Cahiers 11/12, 1989, 3ff. 46> Kypros, die Bibel und Homer, Berlin 1893, IX.

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Doch zurück zur Entwicklung hin zu Heinrich Schliemann (1822—1890): M a n war eigentlich zunächst i m m e r mit denselben Grundfragen, dem Fachverständnis einer sich erst bildenden Archäologie als Universitätsdisziplin befaßt. Eine wesentliche Voraussetzung für die Frühzeitarchäologie, nämlich die Entdeckung von Stein-, Bronze- u n d Eisenzeit (1836) w u r d e als historische Abfolge — wie bereits dargelegt - von den klassischen Fächern nicht einmal zur Kenntnis g e n o m m e n . Die erste wahrhaft wissenschaftliche Ausgrabung hatten 1873 O. Benndorf (1838-1907) zusammen mit A. Conze (1831-1914) und G. Niemann (1841-1912) auf Samothrake unternommen. 4 7 ' 1876 begann die bis heute andauernde, systematische Erforschung von Olympia. Bis dahin blieben aber die Möglichkeiten g r o ß flächiger Aufdeckungen i m antiken Terrain zur R ü c k g e w i n n u n g komplexer Kulturzusammenhänge ungenutzt, zumal die Motivation dazu fehlte. Das Auffinden von Kunstschätzen war bis dahin das unverhohlene Ziel des Ausgrabens. Allerdings hatten P.-E. Botta (1802-1870) und A.H. Layard (1817-1894) schon 1842/ 43 bzw. 1845 in Chorsabad (Dur-Scharrukin) und N i m r u d (Kalchu/Kalach) gewiß noch dilettantisch-unvollkommene, aber doch zukunftsweisende — U n t e r n e h m u n g e n praktischer Feldarchäologie in Gang gesetzt. 48 ' G e n a u g e n o m m e n begann die systematische Bodenforschung hier bereits 1798 mit Napoleons wissenschaftlicher Expedition im Z u s a m m e n h a n g mit seinem ägyptischen Feldzug. 49 ' Die Vorderasiatische Archäologie' hat sich im übrigen ähnlich wie die Klassische und die Homerische von einer philologischen Wissenschaft, in ihrem Fall der Assyriologie oder Altorientalistik, getrennt. In den Jahren 1926/27 schuf die Berliner Universität im R a h m e n des geographischen Seminars einen Lehrstuhl für .Vorderasiatische Archäologie' und besetzte ihn mit dem genialen Ernst Herzfeld. Im Jahre 1927 legte der aus London von Flinders Petrie k o m m e n d e Henri Frankfort der Universität Leiden eine Dissertation mit d e m T h e m a .Keramik Asiens, Europas und der Ägäis' vor, eine Studie, welche die altägäische Keramikforschung außerordentlich befruchtete. Frankfort w a r ab 1932 gleichzeitig Professor fur .Geschichte u n d Archäologie des Alten Orients' an der Universität Amsterdam und Forschungsprofessor am Oriental Institute in Chicago und schließlich ab 1949 Direktor des Warburg-Instituts in London sowie gleichzeitig an der dortigen Universität Professor fur .History of Preclassical Antiquity'. 5 0 ' Die Vor-

47

> Vgl. M. Wegner, Geschichte der Archäologie unter dem Gesichtspunkt der Methode, in: Studium Generale 17, 1964, 191 ff. 48) B. Hrouda, Vorderasien I, in: U . Hausmann, Handbuch der Archäologie, München 1971, 14ff. (mit älterer Literatur); F.M. Fales-B.J. Hickey (ed.), A . H . Layard tra l'Oriente e Venezia. Symposium Int., Venedig 1983. 49 > Description de l'Egypte, Paris 1809-1813. - W.F. Albright, Von der Steinzeit zum Christentum (deutsch: München 1949, lOff.), hat sein wissenschaftsgeschichtliches Kapitel ,Die archäologische Revolution' überschrieben. 50 > Die konsequente Verselbständigung mit der Ausrichtung des genannten Faches auf die Denkmäler in echt archäologischer Methodik war das hauptsächliche Verdienst von H. Frankfort

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derasiatische Archäologie haben wir hier zu erwähnen, weil von ihr die Ausgrabungen in Kleinasien betreut werden und etwa Bogazköy mit den gefundenen Archiven für die Hornerforschung eine beträchtliche Bedeutung gewonnen hat. Heinrich Schliemann hat — auch wenn man ihm wiederholt das Gegenteil zum Vorwurf machte — eine .systematische Bodenforschung' mit klarer historischer Zielsetzung angestrebt. Es leitete ihn die tiefe Uberzeugung von der Geschichtlichkeit der im Epos verarbeiteten Ereignisse. J . Burckhardt betonte mit Nachdruck in seiner Griechischen Kulturgeschichte, daß die alten Hellenen „Homer durchaus als Urkunde betrachtet hätten". 5 1 ' Der bereits erwähnte, im selben Jahr wie Winckelmann geborene Robert Wood (1717—1771) ist seit seiner 1742 erfolgten Reise nach Troia nicht müde geworden, „Homers Treue gegen die Wahrheit und die Übereinstimmung seiner Beschreibungen mit dem Original" zu verteidigen. 52 ' Daran gemessen, mutet die historische Nüchternheit eines Nichtphilologen und Nichtarchäologen, nämlich des später berühmten preußischen Offiziers, des Grafen Helmuth von Moltke, geradezu erstaunlich an. Er schrieb in einem B r i e f vom 3 1 . 1 . 1 8 3 7 unter dem Eindruck einer Reise nach Troia: „Man muß bei der Ilias die Wahrheit der Begebenheit von der des Gedichts unterscheiden. O b unter Pergamons Mauern alle die Fürsten gefochten, von denen Homer berichtet, mag ebenso zweifelhaft wie die Genealogie seiner Halbgötter sein; gewiß aber ist, daß Homer sein Gedicht eben dieser Örtlichkeit anpaßte und sie vollkommen gekannt hat. Genau, was er den Länderumstürmer Poseidon erblicken läßt, das sieht man auch wirklich von dem mittleren Gipfel der prachtvoll hohen Felsinsel Samothraki, und ebenso wahr sind die Lokalfarben überall; deshalb läßt sich auch das ganze Ilium in Gedanken aufbauen, nicht wie es gewesen vielleicht, aber wie es Homer gedacht .. ," 5 3 ' Die Lebensdaten Schliemanns (geboren 1822) 54 ' liegen nahe bei denen R u d o l f Virchows (geboren 1821) 55 ' und Theodor Mommsens (geboren 1817; Abb. 2). Er wuchs in die Epoche glänzenden Aufblühens der historischen Wissenschaften und

und A. Moortgat, s. Hrouda Neareastern Studies 14, 1955, Bibliotheca Orientalis 1 2 , 1 9 5 5 , Archäologie, Festschrift fur Α. 51>

(oben Anm. 48), 11 f.; P. Delougaz-Th. Jacobsen, Journal of Iff., und A . W . Byvanck, In memoriam Henri Frankfort, in: 89ff.; K. Bittel u. a., Studien und Aufsätze zur Vorderasiatischen Moortgat, Berlin 1964, 7ff.

Band I 29 (Ausgabe Kröner). Vgl. Wegner 1951, 103ff. Das ,Bekehrungserlebnis' war der Blick v o m Schiff an der Nordspitze von Chios auf die vorgestreckte Festlandsküste, genau wie einst die Sicht des Nestor, Diomedes und Menelaos bei Antritt der Heimfahrt mit ihren Flotten. 5 3 ) M . Wieser, Moltkes Briefe aus der Türkei, Hamburg 1928, 95ff.; vgl. Chr. Belger, Generalfeldmarschall Graf Moltkes Verdienste um die Kenntnis des Altertums, in: Preußische Jahrbücher, herausgegeben von Treitschke, 1883. 54) C . Schuchhardt, Heinrich Schliemann, 1 8 2 2 - 1 8 9 0 , in: Die großen Deutschen, Deutsche Biographie III (1956) 540 ff. und jetzt: Korres 1990. 5 5 ) E. Meyer, Virchows Anteil an Schliemanns Werk, in: Nachrichten der Gießener Hochschulgesellschaft 24, 1955, 150ff. 163f. (Bibliographie). 52)

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Hans-Günter Buchholz

des Entstehens einer weltweit vergleichenden Ethnologie hinein. Die Methode systematischen Vergleichens, von der Sprachwissenschaft übernommen, wirkte befruchtend auf die Prähistorie und Klassische Archäologie. Von 1860 bis 1880 gab es eine vergleichende „Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft"; als derartig nahestehend wurden diese beiden Disziplinen empfunden. So beginnt denn auch eine Rezension des Jahres 1883 „ W i r begrüßen den ersten Schritt, die von der Sprachwissenschaft angebahnte Methode der vergleichenden Forschung auch für die Sprache der Formen der Kunst zu verwerten. Seitdem unter Schliemanns glückbegabter Hand auf griechischem Boden die Zeugen uralter Kultur in ungeahnter Fülle ans Tageslicht getreten sind, durfte der Versuch gewagt werden, die Verwandtschaftsverhältnisse dieser Kultur nach außen hin zu ermitteln .. ," 5 6 ' Bei Mircea Eliade etwa liest man: „In der Religionsgeschichte wie in der Anthropologie und der Folklore hat der Vergleich die Funktion, in eine .örtliche, provinzielle' Untersuchung das Weltelement e i n z u f ü h r e n . V o n Virchow und Milchhöfer stark beeindruckt, strebte Schliemann „das Studium der comparativen Archäologie" an. 5 8 ' O b man die Ansicht vertritt, nicht Schliemann selber, sondern sein Mitarbeiter, der Architekt Wilhelm Dörpfeld (1853—1940), sei der eigentliche Begründer einer neuen, systematischen Archäologie gewesen, ob man weiter Schliemanns Grundeinsicht vom Epos als historischer Quelle einen Fehlgriff nennt und nicht als zukunftsweisenden Anfang wertet, es bleibt die Tatsache der einschneidenden Zäsur, die seine Ausgrabungen wissenschaftsgeschichtlich gesetzt haben. Ohne sein Streben, technische Unvollkommenheit auszugleichen, kein Dörpfeld, ohne seine Irrtümer kein doch auch fruchtbarer Streit, j a , ohne seine häufig kritisch betrachteten Troia-Ausgrabungen keine Kontrollgrabungen der Amerikaner unter Carl Biegen und neuerdings abermals unter Manfred Korfmann. Ohne Schliemann gäbe es kein Fragen nach einem richtigen oder falschen Ilion in Hissarlik oder an einer anderen Ruinenstätte, mindestens nicht in der von ihm vorgegebenen Weise. Indirekt war er an der rasanten Perfektion der Grabungstechniken durch Dörpfeld beteiligt, dann freilich — ebenso indirekt — an dessen Irrtümern bei der Verlegung Ithakas nach Leukas oder des Nestor-Palastes von Pylos nach Kakovatos oder bei der irrigen Zuweisung der sikyonisch-korinthischen Keramik an die Phoiniker. Dörpfeld wandte sich nämlich im Alter zunehmend vom empirischen Suchen, von der unvoreingenommenen Interpretation archäologi-

56> Rezension von A. Milchhöfer, Die Anfänge der Kunst in Griechenland (Habilitationsschrift Göttingen 1882), in: Zeitschrift für Ethnologie 15, 1883, 221 f. 57 ' M. Eliade, Bruchstücke eines Tagebuches (französische Ausgabe 1973, deutsche Übersetzung Wien 1977) 287. 5S> Brief an Virchow, s. E. Meyer, H. Schliemann, Göttingen 1969, 322.

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scher Befunde ab und vorgefaßten Theorien zu, was seinen von Schliemann angeregten Homer-Forschungen keineswegs durchweg zuträglich gewesen ist.59' Die wissenschaftlichen Auswirkungen der Grabungen hingen damals wie heute von der Schnelligkeit der Publikation ab. Die Aufnahme und Verarbeitung durch andere macht nach unseren Erfahrungen mindestens eine Dekade Abstand nötig. So sollten wir vor der Mitte der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts keine wesentlichen Einflüsse der großen Ausgrabungen auf die Homerarchäologie erwarten; es ist hierzu die folgende Tabelle zu vergleichen. Einen Sonderfall bildet, Heinrich

Schliemann

1868 besucht Ithaka, Peloponnes und Troia (in Buchform 1869) 1871 Ausgrabungsbeginn in Troia 1873 Fund des sog.,Schatzes des Priamos' 1874 Beginn der Ausgrabungen in Mykene 1876 Ausgrabung des Gräberrunds A in Mykene 1880 Grabungen in Orchomenos und Ithaka, Ausstellung der Troiafunde in London 1882 Troia und Tiryns: W. Dörpfeld als Mitarbeiter 1884 Ausgrabungen in Tiryns (bis 1890 vorwiegend durch Dörpfeld) und Erscheinen von Schliemanns Troia-Buch 1886 Erscheinen von Schliemanns Tiryns-Buch 1890 Ausgrabungen in Troia 1893/94 Nach Schliemanns Tod vorläufiger Abschluß der Grabungen in Troia durch Dörpfeld

Homerarchäologie

nach

Schliemann

1871-1885 E. Buchholz, Homerische Realien 1875-1887 H. Blümner, Technologie und Terminologie der Gewerbe und Künste bei Griechen und Römern, I—IV

1 8 8 2 - 1 9 0 0 K.F.

Ameis-C.

Hentze,

Anhang zu Homers Ilias 1884 W.

Heibig,

Das

homerische

Epos aus den Denkmälern erläutert 1886 A.

Furtwängler—G.

Löschcke,

Mykenische Vasen 1894 W. Reichel, Über homerische Waffen (2. Aufl. 1901) 1950 H.L.

Lorimer, Homer and the

Monuments H. Trümpy, Kriegerische Fachausdrücke im griechischen Epos 1967— Archaeologia Homerica, hrsg. v o n F. Matz u n d H.-G.

Buchholz

Dörpfelds Schriften: Archäologischer Anzeiger 1950/51, 381 ff. Zur Person und Leistung von Wilhelm Dörpfeld s. P. Goessler, Wilhelm Dörpfeld, ein Leben im Dienst der Antike, Stuttgart 1951; K. Herrmann, in: Lullies/Schiering 1988, 1 1 2 f. 59)

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was den großen zeitlichen Abstand der Schlußpublikation von der Ausgrabung angeht, die geradezu monumentale Vorlage der .Schachtgräber von Mykenai', München 1930, durch Georg Karo (1872—1963), der außerdem die Ausgrabungen in Tiryns fortsetzte und Bedeutendes zur Erforschung der minoisch-mykenischen Kultur leistete.60^

3. Homerarchäologie nach Schliemann Die dreibändigen ,Homerischen Realien', Leipzig 1871-1885, von Eduard Buchholz erschienen vom Jahr des Ausgrabungsanfangs in Troia an und schlossen ein Jahr nach dem Grabungsbeginn in Tiryns ab. Buchholz hat es auf 2500 Seiten Text allenfalls auf ein Dutzend Schliemannzitate gebracht. Sein großes Werk ist wissenschaftsgeschichtlich ein Spätling, geboren aus dem Bedürfnis nach systematischer Vollständigkeit im Sachlichen, nicht aber methodisch ein Neues im Sinne damals moderner ,Homerarchäologie'. Auch das vierbändige, bis heute unentbehrliche Werk des seinerzeit in Zürich tätigen Hugo Blümner .Technologie und Terminologie der Gewerbe und Künste bei Griechen und Römern' erschien von 1875 bis 1887 parallel zu den Schliemannschen Ausgrabungen, ohne daß diese in der Blümnerschen ,Technologie' wesentliche Spuren hinterlassen hätten. Dasselbe gilt für den ,Anhang zu Homers Ilias und Odyssee' von K.F. Ameis und C. Hentze, bei B.G. Teubner, Leipzig, zahlreiche Auflagen 1882-1900. Anders verhielt sich Wolfgang Heibig in seinem zukunftsweisenden, bis heute geschätzten Buch ,Das homerische Epos aus den Denkmälern erläutert', das bereits im Titel programmatisch die Archäologie zum Orientierungspunkt macht (1884, 2. Auflage 1887): Schliemanns Grabungsbeginn lag dreizehn Jahre zurück, die Auffindung des sogenannten .Schatzes des Priamos' elf, des mykenischen Gräberrunds acht Jahre. Berichte lagen teilweise gedruckt vor. Das grundlegende Buch .Mykenische Vasen', Berlin 1886, von Adolf Furtwängler und Georg Löschcke stand allerdings für die erste Auflage noch nicht zur Verfügung. Noch in der zweiten Auflage sind in Helbigs Studie beträchtliche Teile der Erläuterungen an etruskischen Denkmälern gewonnen. Das wird hauptsächlich dadurch verständlich, daß Heibig von 1865 bis 1887 Sekretär des Deutschen Archäologischen Instituts in Rom gewesen ist, weit weg von allem Frühgriechischen und Mykenischen. Es kommt hinzu, daß die etruskischen Denkmäler nicht nur ionisches

60) G. Karo, Fünfzig Jahre aus dem Leben eines Archäologen, Baden-Baden 1959; R . Lullies, in: Lullies/Schiering 1988, 181 f. (mit weiterer Literatur).

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Formengut bewahren, sondern häufig auch bildinhaltlich oder realienkundlich besonders Altertümliches. Allerdings hatte schon vor Furtwängler dessen Freund und Mitstipendiat in Athen, Arthur Milchhöfer (1853—1903), die wissenschaftliche Beschäftigung mit der prähistorischen Keramik aus Schliemanns verschiedenen Grabungen aufgen o m m e n . Doch wirklich nutzbar, weil nicht sogleich in Publikationen greifbar, w u r d e n diese Forschungen erst wesentlich später. Es ist zutreffend bemerkt w o r den, daß Milchhöfer noch vor D ö r p f e l d „der eigentliche, selbst k a u m in Erschein u n g tretende Vermittler zwischen Schliemann und der deutschen Archäologie" gewesen ist. 61 ' Die B e w u n d e r u n g für den erfolgreichen Ausgräber und unabhängigen, tatkräftigen M a n n beruhte keineswegs auf bloßer Höflichkeit. Milchhöfer war nicht blind gegenüber Schwächen in der Grabungstechnik u n d Interpretation der Funde, er besaß aber ein sicheres Gespür für das wirklich Neue, das mit den neuen Funden in die Archäologie eintrat. Milchhöfer n a h m Schliemann mehrfach öffentlich in Schutz. Er hat als Assistent von E. Curtius in Berlin die erste Inventarisierung der ,Trojanischen S a m m l u n g ' ausgeführt (1882). Bereits 1876 hatte er im ersten Band der Athenischen Mitteilungen die erste W ü r d i g u n g der .Ausgrabungen in M y k e n e ' veröffentlicht. Wolfgang Reichels .Homerische Waffen' von 1894 sind mit dem Zusatztitel versehen: „Archäologische Untersuchungen'. Da ist das einschlägige, von Schliemann ausgegrabene Material voll eingeflossen. Aus der durch Heibig und Reichel begründeten Tradition läßt sich das wirklich umfassende, i m m e r noch ungemein nützliche Werk von Frau H.L. Lorimer, .Horner and the M o n u m e n t s ' , London 1950, verstehen. In ihm sind etwa 15 Prozent der griechischen Vorgeschichte und deren Umweltbeziehungen zu den Phöniziern, Syrern, Kypriern und Ägyptern gewidmet, 85 Prozent indessen den großen T h e m e n g r u p p e n : .Cremation and Iron, W r i t i n g in the Aegean, Dress' und .The H o m e r i c House'. Allein das T h e m a .Arms and A r m o u r ' u m f a ß t zehn große Sachgruppen. Hier w u r d e nach Helbigs Vorbild wirkliche Homerarchäologie geschrieben: D e m H o m e r t e x t sind die Denkmäler vergleichend gegenübergestellt w o r d e n , Stück für Stück, Sachgruppe für Sachgruppe; eine erstaunliche Leistung einer einzelnen Forscherin ohne w e sentliche f r e m d e Hilfe! Dahinter stecken mühsame Vorarbeiten. Im Jahre 1950 w u r d e geerntet, was lange vor dem Krieg gesät w o r d e n war. D e r Direktkontakt ging gelegentlich bis zu Mitarbeitern Schliemanns zurück. (Auch Dorothea Gray, Verfasserin des Beitrags ,Seewesen' in der ,Archaeologia Homerica', hat bereits 1950 kompetent über Aufgaben und Ziele einer „Homerarchäologie" reflektiert 62 '.) So lesen wir in einer N o t i z zu ,leggins and greaves' über m e r k w ü r d i g e

61 > R . Stupperich, in: Lullies/Schiering 1988, 103 ff.; H.-G. Buchholz, in: Korres 1990; ferner oben Anm. 56. 62) Homer and the Archaeologist, in: Platnauer, Fifty Years (Oxford 1950) 24 ff.

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Goldbänder aus den Schachtgräbern, die der Ausgräber .Gamaschenhalter' nannte: „The evident dissatisfaction felt by three highly competent archaeologists [C. Schuchhardt, W. Reichel und G. Karo] with the solution propounded b y Schliemann emboldens the present writer to record a statement made to her in 1911 by a distinguished German archaeologist in a position to be well informed. According to this authority the article was put r o u n d the f e m u r by Schliemann himself, w h o subsequently admitted the fact to Dörpfeld . . . " Frau Lorimer beruft sich also, direkt oder indirekt, auf das Zeugnis des letzteren, was den dubiosen Oberschenkelknochen mit angelegtem Goldband angeht. 6 3 ' Im Jahr 1950 erschien auch die bereits 1945 als Basler Dissertation von P. Von der Mühll angeregte und betreute Studie .Kriegerische Fachausdrücke im griechischen Epos' von Hans Trümpy. Er bringt .Wörter und Sachen', ganz im Sinne eines älteren Ansatzes, zusammen, w o m i t der Archäologe Hilfe und Belehrung seitens der Philologie erfährt und umgekehrt. Eine derartige Arbeitsrichtung verlangt nach enger Synthese von W o r t - und Sachforschung, nach p r o f u n d e n Kenntnissen im philologischen und archäologischen Bereich zugleich. Eine Schrift von Manfred Kraus mit dem Titel , N a m e u n d Sache, ein Problem im frühgriechischen Denken' ist stärker aufs Grundsätzliche, weniger auf die Benennung von Realien im einzelnen aus (eine bei U v o Hölscher angefertigte Dissertation 64 '). ,Homerarchäologie' nach Art der Realienkunde von E. Buchholz bis zur stärker kulturhistorischen Ausrichtung von T r ü m p y bedeutet im Kern, daß nichts anderes gewollt wird als die Aufhellung der Sachaussagen der frühen Epen mit archäologischen Methoden u n d den M o n u m e n t e n als Quelle. Hierzu rechnet auch die Beschäftigung mit topographischen und geographischen Andeutungen im poetischen Werk. Da wäre besonders an die umfangreiche Literatur z u m Schiffskatalog der Ilias oder an Studien über das Schlachtfeld vor Troia zu erinnern, ebenso an zahlreiche nautische Recherchen im Z u s a m m e n h a n g mit den Irrfahrten des Odysseus. Bruno Snell war sich nach U m f a n g , M e t h o d e u n d Quellenlage der Unterschiede zwischen einer Homerarchäologie im engeren Sinne und einer Homergeographie bewußt. 6 5 ' Er hatte beiden unabhängige ,Anhänge' zu seinem ,Lexikon des f r ü h 63) H.L. Lorimer, Homer and the Monuments, London 1950, 253 f. - Wenn damit ein Hauptzeugnis gegenstandslos wird, ist es nicht länger nötig, Schliemanns .Sockenhalter-Analogie' als .Gamaschenhalter' auch nur - wie G. Karo — in Anfuhrungsstrichen beizubehalten. Es läßt sich nachweisen, daß diese Goldbänder zusammen mit Lederstulpen Unterarmschutz fürstlicher Bogenschützen gewesen sind, vgl. zahlreiche Parallelen in: H . W . Müller, Der ,Armreif' des Königs Ahmose und der Handgelenkschutz des Bogenschützen im Alten Ägypten und in Vorderasien, Mainz 1989. fA < Gedruckt in: Studien zur antiken Philosophie 14, Amsterdam 1987, 256 ff. 65 ' B. Snell, Lexikon des frühgriechischen Epos I (1979), Lieferung 1, Göttingen 1955, Einleitung p. V: „Für die archäologische Sacherklärung homerischer Wörter ist ein selbständiger archäologischer Band in Arbeit. Er soll die entsprechenden Artikel des LfgrE entlasten und das Fundmaterial der spätmykenischen (SH III) und geometrischen Epoche im Zusammenhang und

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griechischen Epos' zugedacht. D e r geographische Teil ist bisher nicht in Angriff g e n o m m e n worden, mit Ernst Kirsten w u r d e verhandelt. D e r geplante archäologische Teil hat sich zur ,Archaeologia Homerica' gemausert (Göttingen, seit 1967 im Erscheinen). D o r t formulierten Friedrich Matz und ich die gestellte Aufgabe wie folgt: „Für das Verständnis Homers haben die Denkmäler seit der von Schliemann heraufgeffihrten Epoche ständig eine große, aber eine sich unablässig w a n delnde Bedeutung gehabt. Der Z u s t r o m neuen Stoffes durch die Ausgrabungen veranlaßte die Verschiebung auch der archäologischen Aspekte. Es ist für den Stand der Forschung bezeichnend, daß die philologische Seite den Anstoß zu einer erneuten Konzentration auf die Frage gab, was die gegenwärtigen veränderten archäologischen Erkenntisse für das Verständnis der homerischen Dichtung zu leisten imstande sind [...] Die Beiträge wollen trotz aller Verschiedenheit der Auffassungen ein Bild des materiellen und geistigen Hintergrundes der Dichtung liefern [...] D e m alten Begriff der Kulturgeschichte k o m m e n sie damit wieder nahe .. ,"66> Freilich ist die Gegenüberstellung von Begriffen der Dichtung mit realen Funden leichter gesagt als getan, zumal sich die Archäologie bei kulturgeschichtlichen Ansprüchen nicht mit der bloßen Aufarbeitung der Realienkunde begnügen mag u n d vor allem die höherrangigen Denkmäler angemessen berücksichtigt sehen möchte. So brach sich denn seit den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts — von Friedrich Matz maßgeblich mitvertreten — ein weitergehender Ansatz in der Homerarchäologie Bahn. Danach sei nicht so sehr der Einzelvergleich als vielmehr der Vergleich von .Strukturen' der Dichtung mit solchen der bildenden Kunst, unter Umständen der Strukturvergleich von Phänomenen aus unterschiedlichen Kulturen, das, was wirkliche Wesenszüge festzustellen erlaube. Die sogenannte , Strukturforschung' ist in der Archäologie unlöslich mit N a m e n wie Gerhard Krahmer (1890-1931), Guido Kaschnitz von Weinberg (1890-1958), Bernhard Schweitzer (1892-1966) und Friedrich Matz (1890-1974) verbunden. Bei den Genannten fällt als gemeinsames Element trotz großer Weite i m kunstarchäologischen Interessenfeld die H i n w e n d u n g zu Fragen nach den Wurzeln, den Anfängen, also Frühzeitlichem auf: Da sind K r a h m e r mit der bedeutenden Abhandlung ,Figur und R a u m in der ägyptischen und griechisch-archaischen Kunst' 6 7 ', Kaschnitz mit seiner ,Mittelmeerischen Kunst' 6 8 ', Schweitzer mit seinem nachgein gebotener Vollständigkeit vorfuhren: er wird damit Werke wie ,Heibig' und ,Lorimer' ergänzen und auf den neuesten Stand der Forschung bringen . . . " 66) F. Matz-H.-G. Buchholz, Vorwort, in: Archaeologia Homerica. Die Denkmäler und das frühgriechische Epos, Lieferung A/B, Göttingen 1967, V—VII. 67 ' 28. Hallisches Winckelmannsprogramm, Halle 1931; vgl. W. Fuchs, in: Lullies/Schiering 1988, 254 f. 68 ' Ausgewählte Schriften III, Berlin 1965: Mittelmeerische Kunst, eine Darstellung ihrer Strukturen, aus dem Nachlaß herausgegeben von P . H . v. Blanckenhagen und H. v. Heintze; s. auch Band I: Kleine Schriften zur Struktur, herausgegeben von H. v. Heintze. - Zur Würdigung des Forschers s. F. Matz, Gnomon 31, 1959,190ff., und Lullies, in: Lullies/Schiering 1988, 248ff.

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lassenen Buch ,Die geometrische Kunst Griechenlands' 69 ' und Matz mit der Berliner Habilitationsschrift ,Die frühkretischen Siegel' (1928) zu nennen. 70 ' Das Fragen nach den Anfängen verbindet die Archäologie mit der Homerphilologie. Auch Ernst Homann-Wedeking steht mit dem Buch .Anfänge der Griechischen Großplastik' (1950) in dieser Linie. 71 ' Unter den Vertretern einer jüngeren Forschergeneration erweist sich Nikolaus Himmelmann als von der archäologischen Strukturforschung beeindruckt. Er verwies auf das besonders von Matz geprägte Begriffsinstrumentarium, „dessen sich die Wissenschaft mit Erfolg bedient". Im Jahre 1969 legte er die Mainzer Akademieschrift ,Über bildende Kunst in der homerischen Gesellschaft' vor. 72 ' Diese Schrift ist nicht so soziologisch, wie man auf Grund des Titels glauben könnte, sie steht aber in der eben beschriebenen Tradition, die Schweitzer und Matz begründet haben. Ich verweise besonders auf Schweitzers Studie ,Der bildende Künstler und der Begriff des Künstlerischen in der Antike' (1925). Himmelmann kam zu dem Ergebnis, „die spätgeometrische und die früharchaische Phase der griechischen Kunst scheinen der Dichtung am nächsten zu kommen [...] Die Ansprüche, die das Epos an Werke der bildenden Kunst stellt, die Charakteristika, die es ihnen beilegt, haben in den erhaltenen Denkmälern ihre Entsprechungen." Freilich ist die eben gezeichnete Linie nicht allein als innere Entwicklung der Archäologie im ganzen und der Homerarchäologie im besonderen zu sehen, vielmehr sind immer erneut Wechselwirkungen mit der Homerphilologie und andere Anregungen von außen zu erkennen. So muß beispielsweise der Einfluß von Wolfgang Schadewaldt auf die Archäologie als bedeutend angesehen werden. Ich denke besonders an seinen Aufsatz ,Homer und sein Jahrhundert', in welchem er unseren Dichter „in die Geschichtlichkeit zurückholen" wollte. 73 ' Die Geschichtlichkeit, die er im Auge hatte, ist ihrem Wesen nach bestenfalls die der geometrischen Bilderwelt. Ähnlich beruhte Bruno Snells glänzender Essay über die .Auffassung des Menschen bei Homer' auf der Überzeugung von zeitgleichen Entsprechungen in Dichtung und Bilderwelt: „ . . . Die frühen Griechen erfassen weder in der Sprache

69 ' Herausgegeben von U. Hausmann, Köln 1969; vgl. dazu die Rezension von H. Marwitz, Göttingische Gelehrte Anzeigen 228, 1976, 1 ff., und die Biographie von W. Fuchs, in: Lullies/ Schiering 1988, 258 f. 7 "> Vgl. z.B. Matz, ,Strukturforschung und Archäologie', in: Studium Generale 17, 1964, 203 ff., und die Einleitung ,Kunstgeschichte und Strukturforschung, zur methodischen Orientierung' in seiner .Geschichte der griechischen Kunst', Band I: Die geometrische und die früharchaische Form, Frankfurt/Main 1950 [ = M a t z 1950]; hierzu auch K. Schefolds Rezension, in: Museum Helveticum 8, 1951, 330f. - B. Andreae, in: Lullies/Schiering 1988, 250f. 71 ' Vgl. die Rezension von K. Schefold, Museum Helveticum 8, 1951, 305 f. 72) Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftl. Klasse 1969, Nr. 7. 73 > In. H. Berve, Das neue Bild der Antike I, Leipzig 1942, 51 ff.

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noch in der bildenden Kunst den Körper in seiner E i n h e i t . . ." 7 4 ' Diese Gegenüberstellung führte aber nicht aus sich heraus zu der Frage, welcher kunstgeschichtlichcn Epoche Horner zuzuordnen sei, sondern nahm sie als bereits gelöst hin. Vor allem aber hat sich in der Homerforschung auf Seiten der Archäologie Roland Натре - als Fachmann für ,frühe griechische Sagenbilder in Böotien', Athen 1936, anerkannt — einen Namen gemacht. Im Jahre 1952 erschien sein Buch über ,Die Gleichnisse Homers und die Bildkunst seiner Zeit' (Tübingen), in welchem er es unternahm, die Wesensidentität der homerischen Gedichte und der geometrischen Kunst nach Geist und Inhalt zu beweisen. Für ihn reichen die Übereinstimmungen zwischen den Gleichnissen des Epos und der bildenden Kunst des achten Jahrhunderts so tief, daß er ebenfalls zu einer deutlichen Absage an die Überbetonung der mykenischen Tradition im Werke Homers gelangte. Von den Gleichnissen Homers, mithin von der 1952 eingenommenen Position, führte Hampes Weg seit Michael Ventris' glänzendem Auftritt auf dem internationalen Kongreß für klassische Studien in Kopenhagen (1954) zunächst in den Bann der Linear B-Entzifferung. 7 5 ' So erklärt es sich, daß in Hampes Forschungsbericht (1956) 7 6 ' ,Die Homerische Welt im Lichte der neuesten Ausgrabungen' nichts Nachbronzezeitliches auch nur der Erwähnung für wert gehalten wurde. Aber der Zwang sorgfältigen Prüfens beim Übersetzen von Ilias und Odyssee (1979) hat ihn weggeführt von der Dominanz der Bronzezeit, zurück zu der Datierung des Dichters und seines Werkes ins achte Jahrhundert. 7 7 ' Die Frage nach der chronologischen Einordnung der frühgriechischen Epen verengte sich demnach auf die Antithese von spätgeometrischer oder späthelladischer Epoche, auf eine bronzezeitliche Hintergrunds- und Umfeldbestimmung oder eine des achten Jahrhunderts. So finden wir beispielsweise Т. B. L. Webster noch 1955 in dem Aufsatz ,Homer and Attic Geometrie Vases' völlig auf der ursprünglichen Linie Hampes 7 8 '; er erweist sich seit 1958 jedoch mit dem nachhaltig wirkenden Buch ,From Mycenae to Homer' unter dem frischen Eindruck der Linear B-Entzifferung als ein Verfechter der Dominanz der mykenischen Komponente in der Dichtung. 7 9 ' Hiervon läßt sich nicht ohne Nennung eines bedeutenden Vorbereiters der frühen dreißiger Jahre sprechen: Ich denke an die Bücher ,The Mycenaean Origin o f Greek Mythology', Berkeley 1932, und ,Homer and Mycenae', London 1933, von Martin P. Nilsson.

7 4 ) Die Entdeckung des Geistes, Göttingen 6 1986, 13ff. (zuerst in: Neue Jahrbb. f. Antike u. dt. Bildung 2, 1939, 393-410). 75> Acta Congressus Madvigiani I, Kopenhagen 1958, 69 ff. 76> Gymnasium 63, 1956, 1 ff. 77) Zu Ausnahmen s. R . Hampe, Ilias, Stuttgart 1979, Nachwort, 535. 78> B S A 50, 1955, 38 ff. 7 9 ) Deutsche Fassung unter dem Titel ,Von Mykene bis Homer', München-Wien 1960.

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Das alles kulminierte in einer gemeinsamen Anstrengung der damals in Bochum l e h r e n d e n A r c h ä o l o g e n u n d A l t p h i l o l o g e n Bernhard Andreae

u n d Hellmut

Flashar:

.Strukturaequivalenzen zwischen den Homerischen Epen und der frühgriechischen Vasenkunst' (1977).80' Das Zauberwort sind die „Strukturaequivalenzen", und ein „fragwürdiges Analogisieren zwischen Literatur und bildender Kunst" wurde mindestens theoretisch von den beiden bedacht, „so daß vor zu undifferenzierten Erklärungen aus dem .Zeitgeist' prinzipiell gewarnt" worden ist.81) Insbesondere wurde von den Verfassern darauf hingewiesen, daß Oskar Walzel mit der Anwendung der Methode einer „wechselseitigen Erhellung der Künste" in anderem kulturellen Bereich weit über das Ziel hinausschoß. 82 ' Wilhelm Pinder hatte mit dem Buch ,Das Problem der Generation in der Kunstgeschichte Europas' (1926) den Blick gerade auf die ,Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen' gelenkt, die es stets zu beachten gilt: „Die Zeit um 1800, die Zeit der ungeheuersten Kriegserschütterungen, der freiwilligen Opfer von Hunderttausenden, von den Revolutions- bis zu den Freiheitskriegen, diese blutig-heroische, farbenreiche Zeit: bei Beethoven erscheint sie — aber bei Thorwaldsen verhüllt sie sich wie bei Canova im toten Weiß eines verspäteten, tatsächlich reaktionären Plastizismus." 83 ' Theoretisch war auch dies den genannten Autoren nicht fremd („... ist die Möglichkeit der unterschiedlichen Entwicklungen der einzelnen Künste zu bedenken [Phasenverschiebung] .. ,").84) Es ist sogar bedacht worden, daß sich für das ionische Epos Homers innerhalb der zeitentsprechenden ionisch-aiolischen Kunstprovinz nicht die geringsten „Strukturäquivalenzen" finden lassen und daß deshalb ein attisches Stück einspringen mußte, die .ProthesisAmphora' Nr. 804 des Athener Nationalmuseums, fraglos nach Qualität und Monumentalität einzigartig unter den Dipylonvasen: „Der Weg zu einem neuen Verständnis, der hier eingeschlagen werden soll, geht von einer Einzelbeobachtung aus und kann daher nur ein Denkanstoß sein. Eine die ganze geometrische Form und ihr Verhältnis zum Dichter der Ilias betreffende Schlußfolgerung kann noch nicht erwartet werden" 85 ', und schließlich: „Die Anordnung von Text und Bild bzw. Ornament nach den gleichen Strukturmerkmalen beruht auf gemeinsamen kulturellen Codes im Sinne eines gemeinsamen Weltmodells." 86 ) Hier trifft die zeitlich denkbar weiteste Formel hart auf engste zeitliche Eingrenzungen. Von Friedrich Matz, dem eigentlichen Strukturtheoretiker unter den deutschen Archäologen, ist gerade dieses Problem bereits deutlich erkannt worden: Der gleiche 80

> Andreae/Flashar 1977. > Vgl. Andreae/Flashar 1977, 262 Aran. 83. 82) Andreae/Flashar 1977, 264 mit Anm. 90 (Quellenangaben). 83 > Pinder (4. Auflage, Köln 1949), 117. 84 > Andreae/Flashar 1977, 262 Anm. 83. 85 > Andreae/Flashar 1977, 231 ff. und 261 Anm. 82. Literatur zu .Athen 804' in Anm. 27, Abb. 1 und Taf. 6. 86 > Andreae/Flashar 1977, 261. 81

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Ausgangspunkt (Prothesis-Amphora .Athen Nr. 804') und eine entsprechende Analyse haben ebenfalls zu der Erkenntnis geführt, daß hier „Tektonik" verwirklicht ist, also jene aufbauende, gliedernde Ordnung, die auch die Ilias auszeichnet und die im einzelnen nachvollziehbar ist: „Die innere Notwendigkeit, [...] der Sinn, die künstlerische Einheit und Ausdruckskraft, kommt den tektonisch verbundenen Teilen [des Dekors] erst von der Bedingtheit, der sie im Ganzen der Gefäßform durch ihre Beziehung auf diese unterworfen sind [...] Ein neues Weltbild von beispielloser Entwicklungsfähigkeit tritt in dieser frühesten griechischen Form mit einer programmatischen Erklärung auf den Plan [...] Die Teile haben ihren Sinn und ihren Zusammenhang nur in Beziehung auf das Ganze [...] Diese Idee des Mikrokosmos hat uns als die Uridee griechischer Form zu gelten." 87 ' Es hätte wahrlich schon 1950, als Matz dies formulierte, Grund bestanden, jede einzelne Feststellung ebenso auch auf das frühgriechische Epos anzuwenden, aber aus der Sicht des Strukturforschers nicht deshalb, weil jene Dipylonvase und die Dichtung zeitgleich sind, sondern deshalb, weil sie beide (früh-)griechisch sind. Das Kunstwerk als „geordnete Welt im Kleinen und für sich", als Mikrokosmos, ist Spiegelung eines weltbeherrschenden, kosmischen Ordnungsprinzips. Und insofern vertrat für Matz „die tektonische Konstante im Bereich der Formensyntax das indogermanische Griechische". Es ist gewiß kein Zufall, daß die Strukturforschung seit Alois Riegl innerhalb der bildenden Kunst vom Ornament, seinem Aufbau, seiner akzentsetzenden und rhythmisierenden Funktion ausgeht und hierin Aussagen über konstante und variable Elemente im Zusammenspiel der Kompositionsglieder zu finden sucht. Struktur ist von Matz in ihren Konstanten gerade als eine zeitlich übergeordnete Größe aufgefaßt. Erst innerhalb als „griechisch erkennbarer Strukturen" hat er sich dann „nach den besonderen Prädikaten und Einschränkungen" umgesehen, die eine nähere zeitliche Eingrenzung erlauben. Was er dazu zusammentrug, wird keineswegs mühelos auf die Analyse des Epos übertragbar sein. Ich glaube jedenfalls trotz der außerordentlich anregenden Studie von Andreae und Flashar weiterhin daran, daß der Auffindung von „Strukturäquivalenzen" in Dichtung, Musik, Baukunst und den bildenden Künsten enge Grenzen gesetzt sind, vor allem deshalb, weil sie jeweils ihrer eigenen Gesetzlichkeit unterliegen, wie dies bereits Lessing gesehen hat. Eher noch zurückhaltender als ich verhielt sich Fulvio Canciani, wenn er schrieb: „Man kann keine unmittelbaren Parallelerscheinungen in den hier angesprochenen Ausdrucksmedien erwarten .. ," 88 ' Energisch hat sich Η. P. Isler in seinem Beitrag ,Zur Hermeneutik früher griechischer Bilder' dafür eingesetzt, daß „neben der zergliedernden Motiv- und Strukturforschung eine interpretierende stilistische Betrachtung des Materials erforderlich" sei.89' Ich bin allerdings keineswegs der 87

> Matz 1950, 43 ff. In: H.-G. Buchholz, Archaeologia Homerica, Bildkunst Teil 2 (Göttingen 1984), N 79f. 89) In: H.P. Isler-G. Seiterle, Zur griechischen Kunst. 9. Beiheft zur Halbjahresschrift Antike Kunst, Bern 1973, 34ff„ bes. 36 Anm. 18. 88)

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Meinung, daß etwa Andreae das Interpretieren vernachlässigt hätte. Wie stark jedoch im Ergebnis die .Strukturalisten' Andreae/Flashar und der .stilvergleichende' Schefold voneinander abweichen, zeigt sich in der Äußerung der beiden zuerst Genannten, „daß es in der Denkstruktur der orientalisierenden Zeit eine Vorliebe für Kompositionsprinzipien gab, die sich in analoger Weise beim Dichter der Odyssee wie bei gleichzeitigen Vasenmalern findet"90), und in einer Äußerung Schefolds: „Es kann nicht genug betont werden, daß die Kunst des siebenten Jahrhunderts einen völlig anderen Charakter hat als die erhaltene Ilias und Odyssee und eher mit der Lyrik verglichen werden kann." 91 ' Damit ist freilich gar nichts über eine andere Art von Abhängigkeit gesagt, die in der neueren Homerarchäologie einen weiten Raum einnimmt: über das Aufkommen der ersten griechischen Sagenbilder unter dem Einfluß bereits mündlich oder schriftlich existierender Dichtung. Das Interessante ist dabei weniger die Tatsache, daß dies geschieht, als vielmehr, wie es geschieht, mithin die Frage nach der von den bildenden Künsten, Malerei und plastischer Formgebung, getroffenen Motiv- und Handlungswahl, der besonderen Art des breit erzählenden oder abkürzend verdichtenden Vortrags, nach den Merkmalen der Wiedererkennbarkeit des Besonderen im spezifischen Mythos gegenüber dem Allgemeinen, etwa der Kalydonischen Eberjagd gegenüber der Wildschweinjagd überhaupt. Auf diesem Feld hat die Homerarchäologie Bedeutendes geleistet sowohl in der Frage der Anfänge des griechischen Mythenbildes nach der Pionierleistung Bernhard Schweitzers und Roland Hampcs als auch in der Erforschung des weiteren Verlaufs der Mythenrezeption durch die bildende Kunst im archaischen Griechenland. Emil Kunze hat die Diskussion vor allem durch die Erschließung völlig neuer Denkmälergattungen mit frühen Sagendarstellungen — kretische Bronzeschilde und archaische Schildbänder aus Olympia — außerordentlich gefördert, während Klaus Fittschen, von Schweitzer angeregt, mit den .Untersuchungen zum Beginn der Sagendarstellungen bei den Griechen', Berlin 1969, das Problem als ganzes nochmals aufgriff. Zur Spiegelung des Epos vor allem in der Vasenmalerei sind neben dem Buch ,The Iliad in Early Greek Art' von K. Friis Johansen, Kopenhagen 196792', die schönen, sich einer weiten Verbreitung erfreuenden Werke von Karl Schefold zu 90

> Andreae/Flashar 1977, 257. K. Schefold, Archäologisches zum Stil Homers (s. unten Anm. 94). 135. 92 > Dazu die Rezension von E. Bielefeld, Gymnasium 76,1969, 181. Mitte der dreißiger Jahre, als Hampe mit seinen ,Sagenbildern' an die Öffentlichkeit trat, hat bereits J. M. Cook ,Early Mythological Representations in Greek Art' behandelt (BSA 35, 1934/35, 206ff.). - Ich beschränke mich hier auf eine Auswahl von Forschern und Titeln, zumal in Andreae/Flashar 1977 nahezu erschöpfende Bibliographien zu finden sind und mit F. Brommer, Vasenlisten zur griechischen Heldensage, Marburg 31973, der Zugang zu den archäologischen Quellen leicht gemacht worden ist; vgl. auch Brommer, Denkmälerlisten zur griechischen Heldensage I-IV, Marburg 1971-1976.

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nennen. ' Seine soeben erschienene Bibliographie gibt Auskunft über das w a h r haft gewaltige Gesamtschaffen dieses unermüdlichen Gelehrten. Darin finden wir den kurzen Abschnitt ,Die Schöpfung des Sagenbildes unter der W i r k u n g Homers' 9 4 ': „Wie wichtig die Geschichte des Erzählstils der Bildkunst für die der homerischen Epik ist, versuchte ich zuerst 1955 zu zeigen in ,Archäologisches zum Stil Homers'. Ilias und Odyssee waren freilich nach P. Von der Mühlls H o m e r d e u t u n g , die hier vorausgesetzt wird, viel kürzer als die überlieferten Riesenepen, deren Stil erst in d e m der Vasenmalerei nach 600 eine Entsprechung findet; ihr U m f a n g kann mit den kolossalen Weihgeschenken verglichen werden, die gerade u m 600 häufig sind." Zuletzt hat Schefold seine Beobachtungen und Gedanken nochmals in dem Aufsatz ,Zur Zeitbestimmung der homerischen Epik' in dem Lehrsatz zusammengefaßt: „Versucht man so die M o t i v e der Sagenversionen nach ihrem Stil zu datieren, k o m m t m a n leichter dazu, sie geschichtlich einzuordnen, als wenn man allein von den literarischen Überlieferungen ausgeht." 9 5 ' In unserem Z u s a m m e n h a n g ist schließlich noch R. Kannicht mit der Arbeit über ,Dichtung und Bildkunst. Die Rezeption der Troja-Epik in den frühgriechischen Sagenbildern' zu nennen. 9 6 ' Es m u ß w o h l nicht eigens erwähnt werden, daß die hier zusammengefaßte Forschungsrichtung das Verhältnis der Bildkunst zur Dichtung nicht als bloße ,Homer-Illustration' aufgefaßt hat. Das Interesse an den frühen Mythenbildern lenkte aber darüber hinaus den Blick auf die Frage nach ihrer Aktualität in ihrer eigenen Zeit. Ich nenne beispielsweise eine Kölner Dissertation (1971) von E. Thomas: U n t e r s u c h u n g e n z u m historischen Gehalt griechischer Mythendarstellungen' 9 7 ' und vor allem John Boardmans kühnen Versuch, in Darstellungen der 93)

Frühgriechische Sagenbilder, München 1964, dazu die englische Übersetzung ,Myth and Legend in Early Greek Art', N e w York 1966, mit den Rezensionen von T. B.L. Webster, JHS 87, 1967, 184, und R . R . Holloway, AJA 72, 1968, 180f.; ferner: Götter- und Heldensagen der Griechen in der spätarchaischen Kunst, München 1978; Die Göttersage in der klassischen und hellenistischen Kunst, München 1981; gemeinsam mit F. Jung: Die Urkönige, Perseus, Bellerophon, Herakles und Theseus in der klassischen und hellenistischen Kunst, München 1988. 94 > Schefold 1990, lOf. - Vgl. ferner seinen Aufsatz .Archäologisches zum Stil Homers', Museum Helveticum 12, 1955, 132 ff. 95 > ΦΙΛΙΑ ΕΠΗ, Gedenkschrift für Georg Mylonas II, Athen 1987, 17ff., besonders 21; vgl. auch Schefold, Das homerische Epos in der antiken Kunst, in: Atti del'Convegno internazionale sul tema ,La poesia epica e la sua formazione', R o m 1969 (1970) 91 ff., wiederholt in: Wort und Bild, Studien zur Gegenwart der Antike, Basel 1975, 2 7 f f , auch: Poesie homerique et art archai'que, in: Etudes de ceramique et de peinture antiques offertes ä P. Devambez I, Paris 1972, 9ff., und Homero en el arte arcaico, in: Folia Humanistica 12, 1974, 803ff., schließlich: Die Geschichte der homerischen Epik im Lichte der Stilgeschichte der griechischen Kunst, in: Schweizerischer Altphilologenverband, Bulletin 31, 1988, 26 ff. 96 ' Wort und Bild. Symposion des Fachbereichs Altertums- und Kulturwissenschaften zum 500jährigen Jubiläum der Eberhard-Karls-Universität Tübingen 1977, München 1979, 279 ff. 97) In diesem Zusammenhang interessieren auch nur wieder die Anfänge bis zu den Perserkriegen. Späteres hat seinen eigenen historischen Stellenwert, z.B. U . Dreyer, Die Heroen des troianischen Krieges auf griechischen Münzen, Diss. München 1972.

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Hans-Günter Buchholz

Helden Achilleus und Aias beim Brettspiel vor Troia so etwas wie ein antityrannisches Programm zu sehen, nämlich eine Parallele zur Überrumpelung der Athener im Jahre 546 v. Chr. beim Spiel oder Mittagsschlaf durch Peisistratos.98'

4. Künftige archäologische Forschung Während der Homerarchäologie — wie im allgemeinen der Archäologie überhaupt — lückenlose Denkmäler- (besonders Keramik- und Stil-)Abfolgen zur Erstellung eines anerkannten chronologischen Gerüsts zur Verfügung stehen, bleiben im Bereich der Homerphilologie Vorgeschichte und Entstehungsgeschichte der Epen in beträchtlichem Maße hypothetisch. Deshalb fiel die wechselseitige Erhellung von Dichtung und Bildkunst bereits von den Voraussetzungen her bei Schefold, der auf der Analyse von P. Von der Mühll fußt 99 ', im Kern anders aus als der von Andreae und Flashar durchgeführte Vergleich, zumal das Instrument der Stilbestimmung von Schefold nicht annähernd identisch ist mit dem Instrument der Strukturanalyse von Andreae. Die Abhängigkeit bestimmter bildlicher Darstellungen von vorgegebener M y thenerzählung — bereits überwiegend in fester formaler Ausprägung mit dichterischem Anspruch — ist dort, wo sie untersucht wurde, unbestreitbar. Daraus leitete man, sozusagen im Nebensatz, die Umkehrbarkeit des Phänomens ab, nämlich die ,Wechselwirkung' im Sinne auch einer Abhängigkeit der Dichtung von der Bildkunst. Auf diesem Sektor ist wissenschaftlich fur die Homerforschung sehr wenig getan, besonders dafür, ob diese Frage prinzipiell und immer gilt oder erst, wenn Werke der bildenden Kunst über das bloß Handwerkliche hinaus einen Rang erreicht haben, von dem Faszination ausgeht. Es ist bekannt, daß starke Impulse im Alten Testament vom visuellen Erlebnis des Kunstwerks oder einer bestimmten Kunstgattung ausgehend im Text wirksam geworden sind. Doch besteht im ganzen der Verdacht — hier wie in den Epen Homers - , daß dies nicht eine Erscheinung frühester Anfänge gewesen sein kann. Daß prinzipiell gewaltige Umdeutungen möglich sind, wenn beispielsweise die Weitergabe von Mythen über Kulturbrüche hinweg hauptsächlich vom Bild her erfolgt, hat Hugo Rahner mit dem bedeutenden Buch .Griechische Mythen in christlicher Deutung' (Zürich 1957) gezeigt. 100 ' 98

> Herodot I 62 f.; J. Boardman, AJA 82, 1978, 11 ff. - Zu diesem Problemkreis vgl. H.-G. Buchholz, AA 1984, 555ff., bes. 562f., und dens.,' in: Archaeologia Homerica III (1988), Τ 126ff. (,Brettspielende Helden'), bes. Τ 183f. "> P. Von der Mühll, R E Suppl. VII (1940), 696ff. s. v. Odyssee; ders., Kritisches Hypomnema zur Ilias, Basel 1952; dazu ablehnend Andreae/Flashar 1977, 260 Anm. 79. wo) Vgl. besonders 281 ff., ,Odysseus am Mastbaum'. - Bezüglich Mythenbildern, Gleichnissen, Metaphern und Allegorien verweise ich auf V. Pöschl-H. Gärtner-W. Heyke, Bibliographie zur antiken Bildersprache, Heidelberg 1964.

Die archäologische Forschung im Zusammenhang mit Homer

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Was die Überbrückung der .dunklen Jahrhunderte' zwischen Bronze- und Eisenzeit angeht, liegt die Forschung hauptsächlich — soweit sie sich nicht mit der mündlichen Weitergabe von Dichtung beschäftigt — in den Händen von Vertretern einer auf der Grundlage archäologischer Quellen historisch arbeitenden Richtung. Der wissenschaftlichen Herkunft nach handelt es sich dabei teils um Klassische Archäologen, teils um Prähistoriker und Althistoriker. So kann am Ende dieser Ausführungen keine andere Überlegung stehen als die Frage, wo die jeweiligen Möglichkeiten und Grenzen der beteiligten Fächer nach ihrem Quellen- und Methodenverständnis zu suchen sind. Homerarchäologie kann und darf nicht eine Mixtur sämtlicher an der Homerforschung beteiligter Disziplinen sein, durch die im ständigen Hinundherspringen die Harmonisierung eines in sich widersprüchlichen Bildes angestrebt wird. An der Studie von Andreae und Flashar beeindruckt mich dementsprechend die konsequente Geradlinigkeit und Geschlossenheit der jeweiligen philologischen und archäologischen Teile bis zum Schluß, an dem dann der Vergleich erfolgt, die Beobachtungen ausgereift aufeinanderstoßen. Der Leser wird im Verlauf meiner Darstellung bemerkt haben, daß wir es statt mit grenzüberschreitender sachlicher Ergänzung sehr häufig mit der teilweise naiven Mißachtung eines quellen- und methodenspezifischen Fachverständnisses zu tun hatten. Daß die angelsächsische Tradition der ,Classics' keine scharfen Grenzen kennt und teilweise auf hohem Niveau philologisch, archäologisch und historisch zugleich argumentiert, steht auf einem anderen Blatt. Namen wie D. L. Page, Τ. B. L. Webster und Μ. I. Finley haben auch bei denjenigen, die nicht alle ihre Positionen teilen, einen guten Klang. Im ,Companion to Homer' (London 1962) des Ausgräbers A.J. B. Wace und des in der mykenischen Archäologie ausgewiesenen F. H. Stubbings sind wirkliche archäologische Beiträge in der Minderzahl. 101 ' Eine Reihe von Ruinen und Gräbern haben die , dunklen Jahrhunderte' sichtbar überdauert; sie können deshalb den Einwohnern der homerischen Epoche Anschauung und Anregung ihrer Phantasie geboten haben. Ansonsten ist noch reichlich unklar, welche Denkmälergruppen im einzelnen zur Tradierung von Bildgehalten der Bronzezeit in die späteren Epochen hinüber in Frage kommen. I. Sakellarakes hat unter einem derartigen Aspekt mykenische Siegel in späteren griechischen Heiligtümern behandelt. 102 ' Vor allem wurde aber J.L. Benson auf

I01)

Dazu die Rezension von A. Heubeck-H.-G. Buchholz, Gnomon 36, 1964, 3ff. ' I.A. Sakellarakes, in: Neue Forschungen in griechischen Heiligtümern. Kongreß-Bericht Olympia 1974, Tübingen 1976, 283ff. (S. basiert teilweise auf der oben genannten Studie von Benson); G. Korres, Die Kretisch-Mykenischen Siegel der griechischen Heiligtümer, in: 'Αρχαιολογικοί Διατριβαϊ έπί δεμάτων της Ε π ο χ ή ς του Χαλκού, Μέρος Α', ,,Ά8ηνδ". Σύγγραμμα περιοδικόν της έν 'Αθήναις Επιστημονικής Εταιρείας, Σειρά Μελετημάτων και Διατριβών, Έ ν 'Αθήναις 1979-1984, 85-96. 101 f. Zu den datierbaren Objekten des Epos vgl. u.a. G.S. Kirk, Objective Dating Criteria in Homer, in: Museum Helveticum 17, 1960, 189ff., bes. 191 ff.; vgl. ferner sein Buch ,The Songs of Homer' Cambridge 1962, passim. 102

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Hans-Günter Buchholz

das Problem aufmerksam und widmete ihm unter der Überschrift,Tradition and its Transmission' in seinem Buch ,Horse, Bird and Man, the Origins of Greek Painting' (Amherst 1970) einen längeren Abschnitt mit Listen von ,Early material found in later contexts',,Later objects associated with earlier graves or structures', ,Direct building onto or over Bronze Age architecture', ,Contact with earlier objects by later artisans, explicit or inferable' und ,Continuity of types and procedures'. Damit hätten wir ein Bündel von Themen der Homerarchäologie, die systematisch noch nicht aufgearbeitet sind. Außerdem ist der Archäologie durch neue Funde die Möglichkeit gegeben, für Überraschungen zu sorgen. Etwa dann, wenn bis vor kurzem noch davon auszugehen war, daß die Darstellung von Schiffskämpfen eine Eigentümlichkeit attisch-geometrischer Vasenbilder sei103' und dem mykenischen Vasenrepertoir fehle, dann aber neuerdings gleich mehrere Schiffskampfszenen an Krateren des SH III В in der Nähe von Lamia entdeckt wurden (Veröffentlichung in der „Archaeologia Homerica"). Oder wenn in der Bellerophonsage das ZeitbedingtUnverwcchselbare am Uriasbrief die Verschließbarkeit der hölzernen Klapptafel darstellt, welche man sich angesichts der Gestalt meist klobiger tönerner Schrifttafeln des zweiten Jahrtausends nur als eine wesentlich jüngere Neuerung vorzustellen vermochte, zumal es vor der berühmten Klapptafel der Zeit um 700 v. Chr. aus Ninive keinen einzigen vergleichbaren Fund gab. 104 ' Eine derartige, offensichtlich archäologisch gut abgesicherte Zeitvorstellung wurde nun mit einem Schlag durch die Entdeckung des wohlerhaltenen Klapptäfelchens im Schiffswrack von Ulu Burun bei Kasch an der türkischen Südküste einer gründlichen Revision um etwa 700Jahre unterzogen: Das verunglückte Schiff ist in die Zeit um 1400 v. Chr. zu datieren. 105) „Die Frage der Kontinuität, Bemerkungen zum Thema ,Mykene und H o m e r ' " — das beschäftigt Archäologie und Philologie gleichermaßen, und die Ausgewogenheit des Urteils darüber ist noch längst nicht erreicht. Als Beispiel stelle ich eine ungewöhnlich radikal formulierte Äußerung an den Schluß. Frau G. WickertMicknat hat unter dem eben zitierten Titel ausgeführt: „Die intensive Beschäftigung mit bestimmten Realien der epischen Welt [...] führt zu der Erkenntnis, daß der Epenvortrag seine Aufgabe wahrnimmt, Medium der Öffentlichkeit zu sein, indem er brisante Gegenwartsprobleme aufgreift. Neben diesen modernen,

W3)

D. Gray, Seewesen, in: H.-G. Buchholz, Archaeologia Homerica, Lieferung G (1974), 122ff. 131 ff.; Chr. Grunwald, Frühe attische Kampfdarstellungen, in: Acta Praehistorica et Archaeologica 15, 1983, 155 ff. 104) Ygj z u diesem Fragenkomplex R . Bellamy, Bellerophon's Tablet, in: Classical Journal 84, 1989, 289ff. (freundlicher Hinweis von James Holoka, Ypsilanti/Michigan). 1()5 ' G. Bass, National Geography 172, Nr. 6, 1987, 692ff. 731 mit Abb.; ders., AJA 90, 1986, 269ff.; C. Pulak, AJA 92, 1988, Iff.; Bass u.a., AJA 83, 1989, Iff.; Bass, Kadmos 29, 1990, 169 f.

Die archäologische Forschung im Zusammenhang mit Homer

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geschichtsträchtigen Elementen erscheinen die tradierten Elemente des Epos als geschichtslos [...] Ein tatsächliches Wissen von längst vergangenen Zuständen können sie nicht vermitteln [...] Das heißt: Die im Epos wiedergegebenen realen Verhältnisse gehören nicht der mykenischen Zeit, sondern dem späten 8. und 7.Jahrhundert an." 106 ' Ich enthalte mich einer Äußerung hierzu, stelle aber lediglich die Position von Gerhard Rodenwaldt im zweiten Band der Tirynspublikationen dagegen (1912): „Homer hat antiquarisch mit der mykenischen Welt sehr wenig, historisch hingegen sehr viel zu tun." Mein Anliegen in der vorstehenden Darstellung ist die Skizzierung einer Entwicklung innerhalb der Archäologie zu einer Spezialisierung hin, die man ,Homerarchäologie' nennen könnte. Tatsächlich hat diese Entwicklung so nicht stattgefunden, mit dem Ergebnis, daß heute etwa ein voll etabliertes Sonderfach existent wäre. Ich habe mich bemüht, das relativ ungeordnete Gegen- und Miteinander vieler Strömungen und mehrerer Disziplinen zu schildern. Jede Art von Spezialisierung ist nur dann gerechtfertigt, wenn dabei ein Mehr, nicht ein Weniger herauskommt, als die konventionellen Fächer zu leisten in der Lage sind. Ernst Buschor hatte keine hohe Meinung von Spezialisierungen. Man muß sich seiner frühen Schrift ,Das Krokodil des Sotades' erinnern, wenn man eine von ihm überlieferte Anekdote verstehen will: Als er Institutsdirektor in Athen war, habe ein amerikanischer Kollege ihn gefragt: „I am a specialist for epigraphy, and for what are you?" Daraufhabe er geantwortet: „I am for negro and crocodile." 107 '

Abgekürzt zitierte Literatur

Andreae/Flashar 1977

Koch 1957 Korres 1990

Lullies/Schiering 1988 Matz 1950

В. A n d r e a e - H . Flashar, Strukturaequivalenzen zwischen den Homerischen Epen und der frühgriechischen Vasenkunst, in: Poetica 9, 1977, 217-265. H. Koch, J.J. Winckelmann. Sprache und Kunstwerk, Berlin 1957. G. Korres (Hrsg.), Archäologie und Heinrich Schliemann - 100 Jahre nach seinem Tode. Internationaler Kongreß Athen 1990 (in Druckvorbereitung). R . Lullies-W. Schiering, Archäologenbildnisse, Mainz 1988. F. Matz, Kunstgeschichte und Strukturforschung. Zur methodischen Orientierung, in: Geschichte der griechischen Kunst, Band I: Die geometrische und die früharchaische Form, Frankfurt am Main 1950.

106 > In: Akten des internationalen Kolloquiums .Forschungen zur ägäischen Vorgeschichte. Das Ende der mykenischen Welt', Köln 1984 (1987) 147 ff. Frau Wickert-Micknat beruft sich auf A. Heubeck, Gymnasium 91, 1984, I f f . 107) F. Brommer, Anekdoten und Aussprüche von deutschen Archäologen, Tübingen 1979, 17 Nr. 10.

44 Richter 1968

Schefold 1990

Wegner 1951

Hans-Günter Buchholz W. Richter, ,Homo vagans et inconstans'. Ein Urteil über Winckelmann, in: Festschrift G. v. Lücken. Wissenschaftliche Zeitschrift der Universität Rostock 17, 1968, 731-746. K. Schefold, Bibliographie 1930-1990, mit zusammenfassenden K o m mentaren des Autors, Basel 1990 (Antikenmuseum Basel und Sammlung Ludwig). M. Wegner, Altertumskunde, Freiburg/München 1951.

PETER

BLOME

Die dunklen Jahrhunderte — aufgehellt Zur Aufhellung der ,Dark Ages' haben in der vergangenen Dekade ohne Zweifel die Funde des Friedhofs von Lefkandi auf Euböa das meiste beigetragen. 1 ' Jeder zusammenfassende Bericht über die archäologische Erforschung des griechischen Siedlungsgebietes in den sogenannten Dunklen Jahrhunderten hat von diesen Funden auszugehen, zumal im R a h m e n eines der Homerforschung gewidmeten Kolloquiums. Ich habe vor fünf Jahren, als die ersten Ergebnisse der griechischbritischen Grabungen gerade publiziert waren, einen ersten Bericht unter der Uberschrift ,Lefkandi und H o m e r ' gegeben. 2 ' Die Bemerkungen zum Verhältnis der in Lefkandi praktizierten und in den homerischen Epen schriftlich festgehaltenen Bestattungsriten sind nach wie vor aktuell; neu zu diskutieren sind inzwischen erfolgte Stellungnahmen zur architektonischen Bestimmung des Apsidenbaues. Doch zunächst zu den drei Gräberfeldern Skoubris, Palia Perivolia und Toumba. Fülle und Beschaffenheit der Grabbeigaben haben ein völlig unerwartetes Bild von Wohlstand und Bedeutung Lefkandis in der frühen Eisenzeit entstehen lassen. Nach eher bescheidenen Anfängen in submykenischer und frühprotogeometrischer Zeit (1100—1025) muß im späten 11.Jh. ein Aufschwung eingesetzt haben, der Lefkandi für die nächsten beiden Jahrhunderte zur neben Athen reichsten Stadt Griechenlands werden ließ. Faszinierend ist dabei nicht nur der Wohlstand, der sich an kostbaren Materialien, allen voran natürlich Gold, messen läßt, vielmehr die für diese Zeit erstaunliche Bereitschaft und Fähigkeit der Lefkandioten, durch Handel den Kontakt zur Welt des Orients und Ägyptens herzustellen. Davon zeugen Grabbeigaben wie Faienceketten und -gefäße aus Phönizien, Bronzegefäße aus Ägypten und Zypern, orientalische Glasperlen, Stempelsiegel und immer wieder Goldschmuck, vielfach in raffinierter Granulationstechnik ausgeführt, kurz: im 10. und 9.Jh. strömen orientalische Luxusgüter nach Euböa, wie wir sie für die ,Dunklen Jahrhunderte' kaum erwartet hätten. Allein etwa Toumba Grab 39, sicher noch ins 10.Jh. zu datieren, brachte eine schier unglaubliche Fülle an Goldschmuck, Bronzegerät und vor allem Auflösung der bibliogr. Abkürzungen unten S. 60. ^ Popham/Sackett/Themelis 1980, a . O . 371 Anm. 4 Vorberichte; Popham/Touloupa/Sackett 1982 (1), 213ff.; ArchRepLondon 1984/85, 15f.; 1986/87, 12ff.; 1988/89, 117ff. 2> Blome 1984, 9 ff.

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Faiencegefäßen zu Tage. ' Neben den kostbaren Importen stehen attische und lokal gefertigte Gefäße in großer Zahl. Was einheimische Töpferkunst vermochte, zeigt am besten der Kentaur von Lefkandi, eine in zwei verschiedenen Gräbern beigesetzte 36 cm hohe Terrakottastatuette eines Roßmenschen aus spätprotogeometrischer Zeit. 4 ' Geradezu als Symbol für die maritime Beweglichkeit der Lefkandioten kann das Bild eines Schiffes auf einer um 850 zu datierenden Pyxis gelten. 5 ' Mehr als zwei Jahrhunderte vor dem großen Aufbruch der Griechen zu neuen kolonialen Ufern im mittleren 8.Jh. werden in Lefkandi Kontakte mit der Welt außerhalb des eigenen, in den ,Dark Ages' in der Regel beschränkten kulturellen Horizontes geknüpft. Daß dies auf Euböa geschieht, ist kein Zufall: die Lefkandioten des lO.Jh.s sind die unmittelbaren Vorfahren jener Oikisten aus Chalkis und Eretria, die im frühen 8.Jh. die griechische Kolonisation wesentlich mitbegründet haben, ja, nach einer durchaus fundierten Vermutung ist Eretria die direkte Nachfolgesiedlung von Xeropolis-Lefkandi. 6 ' U m 800 beginnt der Stern Lefkandis nämlich zu sinken, in eben der Zeit, in der jener Eretrias langsam aufgeht. Seine Lage in der lelantischen Ebene wurde dem alten Xeropolis zum Verhängnis; im Verlauf der lelantischen Fehde wurde es um 700 zerstört und ganz aufgegeben. 7 ' So bedeutsam die Gräber der Toumba-Nekropole sind — ihr Glanz verblaßt gleichsam vor dem 45 m langen und 10 m breiten Gebäude, das 1980/81 an der Westseite des Gräberfeldes zum Vorschein kam 8 ' (Abb.3). Es besitzt einen apsidialen westlichen Abschluß und ist in drei verschieden große Kompartimente geteilt. Die bis 1,5 m hohen Mauern bestehen aus Lehmziegeln über einem Steinsockel. Inseitig erkennt man Löcher in regelmäßigen Abständen, in denen hölzerne Pfosten gestanden haben müssen, die für die Konstruktion des Schilfdaches notwendig waren. Entsprechende Pfostenlöcher laufen in 2 m Abstand entlang den Außenmauern rings um das Gebäude, eine veritable hölzerne Ringhalle. Aufgrund der im Gebäude-Innern gefundenen, stilistisch einheitlichen Keramik datieren die Ausgräber den Komplex zwischen rund 1000 und 950 v. Chr., also mitten in die ,Dark Ages'. 9 ' Man kann die Bedeutung dieses Baues ermessen, wenn man weiß, wie dunkel es um die Architektur des 11. bis 9.Jh.s bestellt ist. Jetzt erhellt mit einem Schlag ein — man darf schon sagen: monumentaler — Apsidenbau mit umlaufender Pfeilerringhalle die Anfänge der griechischen Architektur.

3

> Popham/Touloupa/Sackett 1982 (1), 217 ff. Taf. 17 ff. > V. R . Desborough/R. V. Nicholls/M. R . Popham, A Euboean Centaur, BSA 65,1970, 21 ff; Popham/Sackett/Themelis 1980, 344 f. 5 > ArchRepLondon 1986/87, 14 Abb. 18. 6 > Lit. bei Blome 1984, 10 Anm. 7. 7 > Popham/Sackett/Themelis 1980, 368 f. 8 > Popham/Touloupa/Sackett 1982 (2); Fagerström 1988 (1), 59f. 9 > Popham/Touloupa/Sackett 1982 (1), 247 mit Anm. 47; ArchRepLondon 1982/83, 14f. 4

Die dunklen Jahrhunderte — aufgehellt

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Ungefähr in der Mitte des Langraumes stieß man auf zwei Gräber; das nördliche enthielt die Skelette von vier Pferden, das südliche eine Doppelbestattung. Gut erhalten ist das Skelett einer Frau, die mit gekreuzten Händen und Füßen ins Grab gelegt wurde. Ihr Haupt lag nach rechts aus der Körperachse verschoben, neben dem Haupt fand sich ein eisernes Messer mit einem elfenbeinernen Griff. Die Tote ist durch außerordentlich kostbare Beigaben ausgezeichnet: zwei goldene Haarspiralen, ein goldenes Medaillon mit granulierten Kreis- und Sternmustern, befestigt an einer Halskette aus Faienceperlen, zwei goldene Brustscheiben mit Spiralmustern, ein halbmondförmiges Pektorale, diverse Gewandnadeln aus Bronze und Eisen. Neben der Frau stand eine Amphora aus Bronze, die mit einer Bronzeschalc verschlossen war. Im Innern des Gefäßes hat sich ein aus zwei zusammengenähten Leinenlaken bestehendes Tuch in offenbar erstaunlich gutem Zustand erhalten. In diesem Tuch wurden die Aschenreste des verbrannten Fürsten geborgen und dann in der Amphora beigesetzt. Ein Schleifstein, eine Speerspitze und ein eisernes Schwert lagen neben der Amphora. Zum Gefäß selbst ist noch zu sagen, daß sein Henkel und sein Mündungsrand mit figürlichen Szenen verziert sind. Soweit erkennbar, werden behelmte Bogenschützen mit Löwen und anderen Tieren konfrontiert. Solche kontinuierlichen Bilderzählungen wird man als eigenständig griechische Schöpfungen um 1000 v. Chr. nicht erwarten dürfen; also ist das Gefäß importiert, am wahrscheinlichsten aus Zypern. N i m m t man den Goldschmuck der bestatteten Frau hinzu, namentlich das granulierte Medaillon, so werden abermals die weitläufigen Handelsbeziehungen manifest, die in der ersten Hälfte des lO.Jh.s zwischen der Levante und Euböa bestanden haben müssen, in einer Periode, die bisher als eine der dunkelsten der ,Dark Ages' gegolten hatte. Zumindest für das euböische Lefkandi muß diese Meinung drastisch revidiert werden. Hier hat ein Fürstenhof bestanden, an dem kein Mangel herrschte und an dem die Kauffahrer der östlichen Levante gern gesehene Besucher waren. Ins Grab eines der wichtigsten Mitglieder dieses Geschlechtes legte man Schätze, die eines homerischen Helden würdig sind. Homerisch ist freilich nicht nur der Reichtum, sondern — und das ist weit bedeutsamer — die Bestattung des königlichen Kriegers als Ganzes. Das in den homerischen Epen am ausführlichsten beschriebene Totenritual ist die Beisetzung des Patroklos im 23. Buch der Ilias. Ergänzend treten die kürzeren Berichte über das Begräbnis Hektors im 24. Buch der Ilias und Achills im 24. Gesang der Odyssee hinzu. 10 ' Im folgenden ist die Fürstenbestattung von Lefkandi vor allem mit dem Patroklosbegräbnis verglichen, wobei natürlich bei einer solchen Gegenüberstellung nur die archäologisch faßbaren Elemente des Totenrituals von Lefkandi herangezogen werden können. Damit entziehen sich von vornherein alle jene in

10)

M. Andronikos, Totenkult. Archaeologia Homerica 3, Fasz. W , Göttingen 1968, 1 ff.

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der Ilias beschriebenen rituellen Handlungen einem direkten Vergleich, die ihrer Natur nach nicht konservierbar sind und die in protogeometrischer Zeit auch nicht bildlich überliefert werden, so alle Äußerungen des Schmerzes, die deklamierten Totenklagen, die Vorbereitung und Aufbewahrung des Leichnams, der feierliche Zug zum Begräbnisplatz oder die Leichenspiele, um nur weniges zu nennen. Zieht man das alles ab, bleibt dennoch eine Reihe wichtiger Parallelen zwischen dem realen und dem epischen Fürstenbegräbnis zu beschreiben. Zunächst ist hervorzuheben, daß der Fürst von Lefkandi kremiert wurde. Kremation ist bekanntlich die in den homerischen Epen durchweg beschriebene Bestattungsform, nicht nur fur die Gefallenen im fernen Troia, sondern nach Od.l 1,218 ff. für alle sterblichen Menschen. Zur Kremation gehört der Scheiterhaufen, wie ihn Achill Ii. 23,163 ff. für Patroklos, Priamos 24,777ff. für Hektor richten lassen. Die Ausgräber des Heroons von Lefkandi stießen auf der Ostseite des Doppelgrabes unter dem Lehmfußboden auf den Fels, der von einem heftigen Feuer verfärbt war.11) Kreisförmig angelegte Pfostenlöcher enthielten verkohlte Holzreste, die Überbleibsel des Scheiterhaufens, auf dem der Fürst verbrannt worden war. Unter den vielen Gaben, die Achill seinem toten Freund auf den rogus häuft, befinden sich auch ,vier starknackige Pferde' (23,171 f.), die zusammen mit Tischhunden, Schafen und Rindern von den Flammen verzehrt werden. In Lefkandi wurden die Pferde, auch hier vier an der Zahl, nicht eingeäschert, sondern in dem erwähnten Grabkompartiment separat inhumiert. Die bei zwei Pferden im Gebiß noch erhaltenen Trensen mögen dafür sprechen, daß die Tiere den Leichenwagen zogen und anschließend geopfert wurden. 12 ' Die zwölf von Achill in einem Anfall von Trauerwut hingeschlachteten Troerknaben (23,175 f.) wird man bei einem realen ,homerischen' Begräbnis nicht erwarten, doch sei immerhin die Frage gestellt, wie man sich Status und Tod der neben dem Fürsten bestatteten Frau vorzustellen habe: starb sie gleichzeitig eines natürlichen Todes oder mußte sie ihm ins Grab folgen? Ilias 23,237 und 24,791 werden die glimmenden Scheiterhaufen mit Wein gelöscht, dann sammeln Griechen bzw. Troianer die ausgebleichten Skelettreste der toten Helden (23,238 ff.; 24,792 ff.). Die Gebeine des Patroklos werden in eine goldene Schale und doppeltes Fett gelegt, έν χρυσέτι φιάλη και δίπλακι δήμω, ein Provisorium, weil sie erst später, mit jenen Achills vermischt, endgültig beigesetzt werden sollen, dann freilich in einer goldenen Amphora, χρύσεον άμφιφορήα, aus der Werkstatt des Hephaist (Od. 24,71 ff.). Auf die gemeinsame Bestattung spielt Patroklos schon 23,91 f. an, als er dem schlafenden Achill erscheint:

n

> Popham/Touloupa/Sackett 1982 (2), 173. > ArchRepLondon 1982/83, 13f. Abb. 16.

12

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ώς δέ και όστέα νώϊν όμή σορός άμφικαλύπτοι, χρύσεος άμφιφορεύς, τόν τοι πόρε πότνια μήτηρ. Abermals ist von άμφιφορεύς die Rede, ja der Gefäßname präzisiert hier das seltene Wort σορός, das man am besten mit ,Urne' wiedergibt. Die Gebeine Hektors legen die Gefährten χρυσείην ές λάρνακα, in eine goldene Lade, πορφυρέοις πέπλοισι καλύψαντες μαλακοΐσιν (24,795 f.). Mit den Aschenresten des Fürsten von Lefkandi wird nun genau in der bei Homer geschilderten Weise verfahren. Zunächst birgt man sie wie jene Hektors in einem kostbaren Tuch, das seinerseits in einem άμφιφορεύς beigesetzt wird. Das Gefäß ist zwar nicht aus Gold, sondern aus Bronze, doch, wie schon bemerkt, von weither importiert, also gewiß nicht billig. Ilias 24,797 legen die Trojaner die Larnax mit Hektors Gebeinen in eine hohle Grube, ές κοίλην κάπετον; genauso verfahren die Lefkandioten mit der Amphora. Charakteristisch für die homerische Bestattung ist dann das Errichten eines Erdhügels. Τύμβος oder σήμα geheißen, sollen solche oft über einer steinernen Krepis aufgeschütteten Hügel die Erinnerung an den Verstorbenen wachhalten, gleichwie die Stele, die als zusätzliches Zeichen einen Tumulus krönen kann: τύμβφ τε στήλη lautet die Formel. In Lefkandi ging man bei der Ausgestaltung des γέρας θανόντων etwas anders, aber keineswegs völlig verschieden vor. Auf dem Grab selbst stand ein mächtiger protogeometrischer Krater, von dem Fragmente erhalten blieben. Solche monumentalen Kratere, wie sie dann besonders im 8.Jh. in Athen beliebt waren, erfüllten dieselbe Funktion wie die steinernen Stelen: das Gedächtnis an den Toten wachzuhalten. Als ganz besonderes γέρας Θανόντων muß aber in Lefkandi der Erdhügel gelten, den man nicht lange Zeit nach der Bestattung über dem Apsidenbau errichtet hat, als Wahrzeichen eines großen Toten, um das und um den herum die Bestattungen fortgesetzt wurden. 13 ' Am geschilderten Bestand des Bauwerks und seines Inhalts hat sich in den Jahren seit der Entdeckung nichts geändert; diskutiert wird indessen hauptsächlich die Frage, ob der Apsidenbau a priori als Grabbau für das darin bestattete Paar errichtet wurde oder ob die monumentale Anlage ursprünglich nicht vielmehr als herrscherliche Wohnstätte, als anaktoron, diente, bevor sie dann nach verhältnismäßig kurzer Zeit anläßlich des Todes des Fürstenpaares zum Grabbau umfunktioniert wurde. 14 ) Das Areal wäre dann ebenfalls sekundär zum Friedhof der königlichen Sippe geworden, die ihre Toten um den inzwischen aufgeschütteten tumulus ihres Vorfahren bestattete. Man kann sich tatsächlich fragen, ob ein 45 m langer Apsidenbau den adäquaten Rahmen für zwei Schachtgräber darstellt. Als noble

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> Popham/Touloupa/Sackett 1982 (2), 173f. Pro Heroon von Anfang an: Popham/Touloupa/Sackett 1982 (2); dies. 1982 (1), 246f.; pro Wohnhaus des Herrschers: Mazarakis-Ainian 1985, 6ff.; ders., EGCP 1988, 116; P. Calligas, EGCP 1988, 232 mit Anm. 22; vgl. auch Fagerström 1988 (1), 59f. 14)

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Wohnstätte andererseits sprengt der Apsidenbau zwar durch seine Dimensionen das Maß des bisher für die ,Dark Ages' architektonisch Vorstellbaren, doch läßt er sich typologisch in die Wohnarchitektur der protogeometrischen Zeit eingliedern. Gerade in den letzten beiden Dekaden ist hier einiges an neuen, sorgfältig dokumentierten Ausgrabungsbefunden hinzugekommen. An erster Stelle zu nennen ist die früheisenzeitliche Siedlung von Nichoria in Messenien 15 ' (Abb. 4). Die Aufmerksamkeit der Ausgräber galt vor allem zwei Apsidenbauten, die sie als den Sitz der fuhrenden Familie interpretieren. Der ältere der beiden, Unit IV-1 genannt, wird ins 10.Jh. datiert und besteht im 9.Jh. weiter. 16 ' Das in seinen Fundamenten gut erhaltene Gebäude mißt 16 m in der Länge und 8 m in der Breite und hatte vermutlich drei Räume. In der Apsis und im großen Zentralraum erkennt man je eine steinerne Basis, entlang den Wänden eine Reihe von Pfostenlöchern. Über einem niedrigen Steinsockel muß man sich das aufgehende Mauerwerk aus Lehmziegeln denken, das Dach strohgedeckt. Vor der Trennwand der Apsis liegt ein von zwei schmalen Mauervorsprüngen begrenzter gepflasterter Kreis von 1,6 m Durchmesser, auf dem eine dünne Schicht aus Ruß lag. In der Apsis schließlich liegen zwei Erdgruben, die man als Vorratsbehälter deuten kann. Neben der lokalen protogeometrischen Keramik wurden im Apsidenhaus zahlreiche Spinnwirtel und einige fragmentierte Eisengeräte wie Messer und Äxte gefunden, alles Hinweise auf den primär nichtsakralen Status des Apsidenhauses. Dazu kommen zahlreiche Knochen von Ziege, Schaf, Schwein, Rind, Hund und Hirsch, zum Teil mit Messer- und Zahnspuren. Aufgefallen ist den Ausgräbern der hohe Anteil an Astragalen; es könnte sein, daß damit das bisher älteste Zeugnis für das Knöchelspiel gewonnen wäre. 17 ' Man darf sich demnach vorstellen, daß sich im protogeometrischen Apsidenhaus von Nichoria eine um den lokalen Dorfchef gruppierte Gesellschaft zu festlichen Mahlen versammelt hat, ein wenn auch bescheidenes Abbild etwa der zechenden Freier im Palast des Odysseus. 18 ' Offen bleibt nur die Frage, ob man in der auffällig gepflasterten Plattform eine einfache Feuerstelle oder mit den Ausgräbern einen Altar erkennen darf: „in such a context, unit IV-1 may carry on the Mycenaean tradition of combining the ruler's religious, political and domestic functions in a single large, central unit." 19 '

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> McDonald/Coulson 1983; zur Bibliographie s. Fagerström 1988 (1), 32. ' McDonald/Coulson 1983, 19ff.; Fagerström 1988 (1), 34f.; zur umstrittenen 1. Phase der Einheit IV-1 ausführlich Fagerström 1988 (2), 33 ff.; ferner Mazarakis-Ainian 1985, 9 f.; ders., EGCP 1988, 106. ,7 > McDonald/Coulson 1983, 26. 18 > Fagerström 1988 (2), 35 f. 19 ' McDonald/Coulson 1983, 33; Mazarakis-Ainian, EGCP 1988, 106; für die nichtsakrale Deutung Fagerström 1988 (2), 41. 16

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Die Ausgrabungen in Nichoria erhellen nicht nur die Anfänge der griechischen Siedlungsarchitektur in den ,Dark Ages'; durch eine äußerst sorgfältige und vorbildliche Analyse der Knochenfunde aller in Nichoria aufgedeckten Schichten, auch der mykenischen, lassen sich kulturgeschichtlich relevante Aussagen machen. Was man häufig behauptet, läßt sich in Nichoria strikt nachweisen, daß nämlich zwischen der mykenischen und protogeometrischen Wirtschaft ein scharfer Kontrast besteht. Die stark vom hochorganisierten Anbau landwirtschaftlicher Produkte bestimmte mykenische Ökonomie und Nahrungsversorgung weicht in den ,Dark Ages' einer hauptsächlich auf Viehzucht und Herdenhaltung basierenden Gesellschaft. Dazu nur wenige Angaben: beträgt der Rindfleischanteil zum Beispiel in der späten Bronzezeit ca. 15% des gesamten Fleischangebotes, so steigt die Rate in den ,Dark Ages' auf30—40%. Gleichzeitig ist erkennbar, daß die Tiere in den .Dark Ages' in der Regel früher geschlachtet werden als in der Bronzezeit, in der etwa Schafe zum Gewinn von Wolle und Milch wichtiger waren als zum Verzehr. 20 ' W i e die wachsende Zahl von Hirsch- und Rehknochen nahelegt, wird in den ,Dark Ages' auch die Jagd wieder wichtiger. Der Befund korrespondiert mit Pollenanalysen an anderen Orten Griechenlands, denen zufolge die Kultivierung des Olivenbaumes zur Olgewinnung in den ,Dark Ages' markant abnimmt, bevor der Anbau vom 8.Jh. an wieder stark zunimmt. 2 1 ' Diese Zunahme in spätgeometrischer Zeit spiegelt sich auch in Nichoria: während im Apsidenhaus IV-1 nichts auf Vorratshaltung von Öl hinweist, bewahrt der in die erste Hälfte des 8.Jh.s zu datierende und um ca. 730 zerstörte Nachfolgebau, Unit IV-5 genannt, Spuren einstiger Lagerung von Öl in Pithoi. Zur wachsenden Bedeutung der Landwirtschaft passen auch die im 8.Jh. vor allem in Athen häufigen Kornspeichermodelle. 22 ' Alle diese Beobachtungen konvergieren, zumal im protogeometrischen Nichoria, im Bild einer Gesellschaft von Viehzüchtern, deren Exponenten die reichlich freie Zeit gleichsam nach homerischer Art im Haus ihres Oberhauptes mit ausgiebigen Gelagen hinbringen, oder, u m es mit Fagerström zu sagen: „This background of a band of herdsmen with very little agricultural production accords well with the picture emerging from the Homeric songs of a primitive aristocratic society whose prime concerns were cattle, feasting and women". 2 3 ' Wahrscheinlich dürfte dieser gesellschaftliche Standard in den ,Dark Ages' die Norm gewesen sein; davon hebt sich Lefkandi dadurch ab, daß dort früher und intensiver als anderswo der Kontakt mit der Außenwelt gesucht wurde und sich das Leben der führenden Schicht auf einem materiell beträchtlich höheren Niveau abspielte. Unter dem Eindruck dieses in Lefkandi nachweisbaren glänzenden Reichtums McDonald/Coulson 1983, 323 mit dem Verweis auf Nichoria I. Fagerström 1988 (2), 35 f. 22> Fagerström 1988 (1), 4 2 f f . 128. 1 3 8 f . 23> Fagerström 1988 (2), 35 f. 20)

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hat einer der Ausgräber, P. Calligas, vorgeschlagen, die ,Dark Ages' radikal in ,The Lefkandi Period' umzubenennen und damit die negativ besetzte Epochenbezeichnung durch eine positive zu ersetzen. 24 ' Aber zumindest vorläufig bleibt das materiell prosperierende Lefkandi in der protogeometrischen Zeit die Ausnahme und Siedlungen wie Nichoria die Regel. Man kann sich über den wenig luxuriösen Charakter dieser protogeometrischen Städte oder besser Dörfer am besten bei K. Fagerström informieren, der die spärlichen Reste der ,Greek Iron Age Architecture' übersichtlich zusammengestellt hat. 25 ' Erst im 9.Jh. ist ein gewisser urbanistischer Aufschwung festzustellen, der sich dann im 8.Jh. in Siedlungen wie Asine in der Argolis, Thorikos oder Lathouresa in Attika, Eretria auf Euböa, Zagora auf Andros, Vathys Limenaris auf Donousa, Kastro auf Siphnos, Xomburgo auf Thera, Emporio auf Chios, Antissa auf Lesbos und in Smyrna fortsetzt. Im Wohnbereich bleiben durch die ganzen ,Dark Ages' bescheidene, häufig apsidiale, aber auch ovale und rechteckige Hausgrundrisse die Regel — aus diesem Durchschnitt ragt der Apsidenbau von Lefkandi wie ein erratischer Block heraus. Dürftig sind auch die Reste sakraler Architektur im frühen ersten Jahrtausend. 26 ' Einigermaßen gesicherte Kultplätze lassen sich erst im 8.Jh. nachweisen, sieht man erneut von Lefkandi ab, wo es überdies ja eher so aussieht, als sei das Apsidenhaus ursprünglich die Wohnstätte des Fürsten. Die ersten Tempel, die diesen Namen verdienen, bleiben nach wie vor der Heratempel von Samos um 750 und der Apollontempel von Eretria um 725 v.Chr. (Abb.5). Dazu kommen kleinere Strukturen in Perachora, Tiryns, Asine, Delos und wieder Eretria, wo insbesondere das apsidiale Daphnephoreion gut dokumentiert ist - alle diese Bauten gehören, wie gesagt, dem 8.Jh. an. 27 ' Vor die Frage gestellt, wo denn die Griechen protogeometrischer Zeit ihre Götter verehrt haben, hilft man sich gern mit der Vermutung, der Kult sei im Haus des Dorfchefs ausgeübt worden. Man beruft sich dabei etwa auf das besprochene Haus IV-1 in Nichoria und deutet den gepflasterten Kreis im Hauptraum als Altar — eine mögliche, aber keineswegs zwingende Deutung. Bis zum Nachweis des Gegenteils muß man sich kultische Handlungen hauptsächlich im Freien denken, in architektonisch sehr einfachen und darum kaum nachweisbaren Strukturen. Wenn also die Orte der Götterverehrung in den ,Dark Ages' sich der archäologischen Erfassung weitgehend entziehen, so ist in den vergangenen Jahren gewissermaßen für die nächstuntere Ebene, nämlich die Verehrung von Heroen bzw. geachteten Vorfahren, einiges an neuer Evidenz ans Licht getreten. Hatte man lange annehmen müssen, daß die Verbreitung der homerischen Epen in der

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> Calligas, EGCP 1988, 229 ff. Fagerström 1988 (1), passim. 26 > Fagerström 1988 (1), 160ff. 27 > Bibliographie auf dem letzten Stand bei Fagerström 1988 (1); zum hier nicht genannten, weil völlig umstrittenen Komplex Thermos Megaron В а. О . 41 f. mit Anm. 3. 25)

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zweiten Hälfte des 8.Jh. s eine Reihe von heroisch gefärbten Bestattungen inspirierte, ja, daß an einigen Orten in Griechenland und Zypern die Hinterbliebenen gleichsam mit einer Homerausgabe in der Hand die Leichenfeierlichkeiten arrangierten, so hat die Entdeckung des Fürstengrabes von Lefkandi mit einem Schlag gezeigt, daß die Argumentation eher umzukehren ist: die homerischen Epen haben nicht, jedenfalls nicht im behaupteten Ausmaß, die spätgeometrischen sog. homerischen Bestattungen angeregt; in der Ilias ist lediglich formuliert und sicher dichterisch gesteigert, was lange zuvor tatsächlich geübter Brauch war, wenn wohl auch selten im geschilderten lefkandiotischen Umfang. 2 8 ' Bescheidener, aber für die protogeometrische Zeit dennoch bemerkenswert war die Ahnenverehrung, der V. K. Lambrinoudakis in Grotta auf Naxos auf die Spur gekommen ist.29' In zwei Grabungssektoren fanden sich protogeometrische Gräber, die in mykenischen Siedlungsruinen angelegt sind. Über einem der Steinkistengräber stand eine Hydria aus der Späthelladisch IHC-Zeit; sie wurde, sei es als Erbstück oder Zufallsfund, gute 200 Jahre nach ihrer Entstehung zur Grabmarkierung verwendet. Über einem andern Grab konnte Lambrinoudakis zahlreiche Schichten rotverbrannter Erde beobachten, eine Schicht exakt über der anderen bis zu einer Höhe von über einem Meter. Er bringt diesen Befund mit einem periodisch durchgeführten Ritus am bzw. über dem Grab des verehrten Ahnen zusammen. In früh- bzw. mittelgeometrischer Zeit wurden die Grabparzellen neu geordnet. An die Stelle der Brandschichten treten nun kreisrunde Plattformen von 1 bis 2 Metern Durchmesser; darumherum lagen Trinkgefäße, zum Teil nach Gebrauch absichtlich zerschmettert und unbrauchbar gemacht, dazu Tierknochen und Muscheln, alles in allem deutliche Anzeichen für rituelles Essen und Trinken im Grabbezirk. Diese neuen Entdeckungen in Naxos fügen sich gut zu Beobachtungen, die R . Hägg schon früher in der Nekropole von Asine gemacht hat 30 (Abb. 6). Auch dort finden sich innerhalb eines von Steinmauern eingefaßten Bezirkes niedrige Plattformen, häufig aus Kieselsteinen, wieder mit einem Durchmesser von einem bis anderthalb Metern. Neben einer der drei Plattformen wurden an die 40 Gefäße spätgeometrischer Zeit gefunden, ein Krater, Amphoren, Oinochoen und zahlreiche Schalen, oft paarweise zu einem Satz gehörend. Ahnliche runde, niedrige Stein- und Kieselplattformen konnte Hägg an geographisch weit ausein-

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' Diskussion Blome 1984, 15 ff.; die ältere Lit. а. О . Anm. 38; vgl. auch J. Boardman, Symbol and Story in Geometrie Art. In: E.G.Moon (Hrsg.), Ancient Greek Art and Iconography, Madison 1983, 25 Anm. 75. 29 ' V.K. Lambrinoudakis, EGCP 1988, 235ff.; ders., Ein Porträt aus der Zeit des Gallien auf Naxos, Antike Kunst [AK] 32, 1989, 27 mit Anm. 2. 3 "> R . Hägg, Funerary Meals in the Geometrie Necropolis at Asine? In: R . Hägg (Hrsg.), The Greek Renaissance of the Eighth Century B.C., Proceedings of the Second International Symposium at the Swedish Institute in Athens, 1 - 5 June 1981, Stockholm 1983, 189ff.

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anderliegenden Orten nachweisen, so in Troia VIII außerhalb der Stadtmauern, in Milet und schließlich in Mykene, wo zwei Plattformen über einem bronzezeitlichen Kammergrab angelegt wurden. Auch Hägg denkt sich alle diese Strukturen in Verbindung mit rituellem Essen und vor allem Trinken zum Andenken an verstorbene Ahnen, im Fall von klarer Verbindung mit bronzezeitlichen Gräbern oder Mauern sogar an Heroenkult. Die von Hägg zusammengestellten Beispiele gehören alle ins späte 8. bzw. frühe 7.Jh. und fallen somit in die Zeit vielfach belegter Heroenkulte an und in mykenischen Gräbern. Die naxischen Plattformen reichen ins 9.Jh. hinauf, und einmal auf solche Strukturen aufmerksam geworden, kann man sie auch im Apsidenbau von Lefkandi, also im 10.Jh., finden, nämlich im Ostraum des Heroons. 31 ' In den bisherigen Ausführungen zur kulturellen Verfassung Griechenlands in den ,Dark Ages' ist Kreta beiseite geblieben, nicht weil von dort nichts zu vermelden wäre; das Gegenteil trifft zu: Funde der vergangenen beiden Dekaden rechtfertigen es, das frühgriechische Kreta in einem gesonderten Kapitel zu behandeln. Zu berichten ist an erster Stelle von den kanadischen Grabungen im südkretischen Kommos. 32 ' Die Siedlung blühte in minoischer Zeit, hier interessieren indessen die Befunde der frühen Eisenzeit, vor allem die Sakralarchitektur. Am Anfang steht Tempel A, dessen Gründung ins mittlere 10.Jh. fällt.33) Er mißt 7 auf 5,5 m, hat einen rechteckigen Grundriß und im Innern eine Bank, wahrscheinlich zur Aufstellung von Votivgaben, wie das in minoischen Schreinen üblich war und noch im frühen 1 .Jahrtausend auf Kreta auch in andern Tempeln zu beobachten ist; der bekannteste Fall ist Dreros. 34 ' Weit interessanter ist der Nachfolgebau B, dessen Gründung in die Wende vom 9. ins 8.Jh. fällt 35 ' (Abb. 7); man hat drei Phasen erschlossen, die sich indessen nicht grundsätzlich voneinander unterscheiden. Mit 8,5 auf 6,5 m ist В etwas größer als A, bewahrt aber den rechteckigen Grundriß und Bänke an den Längsseiten. Zu allen Perioden gehört ein Herd im Innern, dazu jeweils aber auch ein Altar im Freien. Zumindest während der beiden ersten Phasen stand nun in der Mitte des Raumes eine für ein griechisches Heiligtum völlig ungewöhnliche Basis mit drei in sie eingelassenen, aufrecht stehenden Steinpfeilern. Zwischen den Pfeilern fand man in situ ein spätgeometrisches Pferd zusammen mit einer ägyptischen Fayence-Figur der Göttin Sekhmet. Damit ist bereits angedeutet, in welchem Beziehungsfeld der Bau und seine Besucher stehen. Kultpfeiler spielen zwar 31

> ArchRepLondon 1983/84, 17. > Vorberichte von J.W. Shaw in Hesperia 46 ff., 1977 ff. 33) J.W. Shaw, Excavations at Kommos (Crete) during 1980, Hesperia 50, 1981, 236ff.; Mazarakis-Ainian 1985, 15. 34 > Zuletzt B. Alroth, EGCP 1988, 195ff. Abb. 7 f. mit weiteren kretischen Beispielen. 35) J.W. Shaw, Phoenicians in Southern Crete, American Journal of Archaeology [AJA] 93, 1989, 165 ff. a . O . Anm. 1 mit dem Zitat der Vorberichte in Hesperia; Mazarakis-Ainian 1985, 22. 31. 32

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in vielen Kulturen eine Rolle, auch in der minoischen. Nach sorgfältiger Analyse kommt der Ausgräber, J. Shaw, indessen zum Schluß, daß der ,three pillar shrine' von Kommos mit phönizischen bzw. punischen Vorbildern zusammenhängt. Dazu paßt, daß in und vor allem um die Tempel Α und В über 200 Fragmente phönizischer Keramik, vor allem Amphoren, gefunden wurden, datierbar zwischen 900 und 750 v. Chr. Der in Kommos erbrachte architektonische Nachweis für den häufigen Besuch, wenn nicht eher längerfristigen Aufenthalt phönizischer Kaufleute in Kreta durch das 9. und 8.Jh. fügt sich ausgezeichnet zu Befunden anderer kretischer Ausgrabungsplätze. Aus dem Kammergrab J der knossischen Tekke-Nekropole stammt die inzwischen hinlänglich bekannte Bronzeschale zyprischen Typs.36) Sie trägt, von feinen Ritzlinien gerahmt, eine Inschrift von 12 phönizischen Buchstaben; die Datierung ist nicht einheitlich, ein Ansatz ins 10.Jh., wie ihn M. Sznycer in der Erstveröffentlichung vorschlug, läßt sich mit dem übrigen Grabbefund am besten vereinbaren. Die Lesung gelang nicht für alle 12 Buchstaben, doch fest steht, daß die Inschrift mit dem phönizischen Wort für , Schale' beginnt; es folgt ein Name und dann die Wendung ,Sohn des'; die Inschrift bezeichnet also den Besitzer und dessen Abkunft väterlicherseits. Wenig entfernt vom Fundort der Schale sind inzwischen auch einige phönizische Keramikgefäße gefunden worden, die ins 9. und 8.Jh. zu datieren sind. 37 ' O b sie direkt aus Phönizien oder eher via Kition, die phönizische Kolonie auf Zypern, importiert sind, steht dahin; jedenfalls überwiegen in Knossos zyprische Gefäße die phönizischen bei weitem. Bei den zyprischen Gefäßformen handelt es sich hauptsächlich um kleine Salbfläschchen, die weniger ihrer Form als ihres Inhalts wegen beliebt gewesen sein dürften. Die zyprischen Typen werden in Knossos eifrig imitiert — Coldstream denkt an eine kleine Salb- und Parfumfabrik in Knossos, die von ostmediterranen Levantinern gegründet wurde. 38 ' Wohl wichtiger noch als der Beitrag der zyprischen Keramik sind die Impulse, die von der zyprischen Toreutik ausgingen. 39 ' Seit längerem bekannt, aber darum 36> Lit. zuletzt bei Shaw (Anm. 35) 181 Anm. 64; dazu E. Lipinski, Notes d'Epigraphie phcnicicnnc et punique, Orientalia Lovaniensia Periodica 14, 1983, 129ff.; vgl. auch J . N . Coldstream, Greeks and Phoenicians in the Aegean, Madrider Beiträge 8, 1982, 271 f. Taf. 27 с. d. 37 ' J. N . Coldstream, Cypriaca and Cretocypriaca from the North Cemetery of Knossos, R D A C 1984, 122ff., bes. 125f. Abb. 1. 38 ' Coldstream (Anm. 36) bes. 136 f.; ders., Some Cypriote Traits in Cretan Pottery, c. 950-700 В. C. In: Acts of the International Archaeological Symposium: The Relations between Cyprus and Crete ca. 2000-500 B.C., Nicosia 1977, 257ff. 39) H. W. Catling, Workshop and Heirloom: Prehistoric Bronze Stands in the East Mediterranean, R D A C 1984, 69ff. mit der älteren Lit.; dazu Η. Matthäus, Metallgefäße und Gefäßuntersätze der späten Bronzezeit, der geometrischen und archaischen Periode auf Cypern, Prähistorische Bronzefunde [PBF] II 8 (1985); Chr. Grunwald, Zur Frage der Tradierung mykenischen Bildguts an die geometrische Kunst. In: H . U . Cain/H. Gabelmann/D. Salzmann (Hrsg.), Festschrift für N. Himmelmann, Mainz 1989, 27 ff.

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nicht weniger bedeutend, sind die Stabdreifliße zyprischen Typs, die alle aus Gräbern protogeometrischer Zeit in Fortetsa, Vrokastro und Knossos stammen. 40 ' Für Kreta wichtiger noch als die Stabdreifliße sind die ebenfalls auf Zypern im 13. und 12.Jh. erfundenen vierseitigen Kesselwagen. Schon im 11.Jh. läßt sich die Wirkung dieses Gerättyps an einem Tonmodell aus Karphi nachweisen 41 ', und noch im 8.Jh. zeigen Fragmente aus der Idagrotte, Knossos und Simi, wie der alte zyprische Gerättyp in kretisch-geometrischen Fassungen weiterlebt. 42 ' Aus Zypern schon um die Jahrtausendwende importiert ist schließlich eine bronzene Wandapplik aus Kreta in Basel.43' Der verlorene untere Teil ist nach erhaltenen Varianten zu ergänzen, die in einer Art Schöpfkelle zur Aufnahme von Flüssigkeit enden. Zum im wörtlichen Sinn glänzenden Erscheinungsbild der spätprotogeometrischen und geometrischen Kunst Kretas tragen Goldarbeiten bei, bei denen der Anteil orientalischer Inspiration ebenfalls sehr hoch ist, ja, J. Boardman hat schon vor Jahren eine aus Nordsyrien eingewanderte Goldschmiedefamilie in Knossos erschlossen.44' Zudem erinnerten ihn eigentümliche Urnenbestattungen in der Nekropole von Arkades aus dem 7.Jh. an entsprechende nordsyrische Vergleichsbeispiele.45' Eindeutig mit Nordsyrien hängen viele kretische Treibarbeiten des 8.Jh.s zusammen, darunter das berühmte Tympanon aus der Zeusgrotte am Ida. Der Stil des löwenbezwingenden Gottes und der tympanonschlagenden Flügeldämonen ist außerordentlich stark orientalisierend, der Inhalt freilich einheimisch kretisch und nur aus Ritualen um Geburt und Tod des idäischen Zeus zu erklären. 46 ' Die Zeusgrotte am Ida: damit ist ein Stichwort gefallen, das in einer Übersicht über den aktuellen Forschungsstand gewiß nicht fehlen darf. Schon seit den ersten Grabungen vor 100 Jahren als Fundort herausragender geometrischer und archaischer Werke bekannt, wird die wahre Bedeutung der Idagrotte dennoch erst jetzt nach den neuen und mit großem Aufwand durchgeführten Grabungen

40 ' Catling (Anm. 39) 72 mit Anm. 16ff.; H. Matthäus, Bronzene Stabdreifliße in Cypern und Griechenland. Zur Kontinuität ostmediterranen Metallhandwerks. In: E. Thomas (Hrsg.), Forschungen zur ägäischen Vorgeschichte. Das Ende der mykenischen Welt, Köln 1987, 93 ff. mit Katalog. 41 > BS A 38, 1937/38 Taf. 34. 42) C. Rolley, Les Trepieds ä cuve clouee, Fouilles de Delphes [FdD] V, 3,1977, 115ff.; Blome 1982, 25 ff. 43 ' R . A . Stucky, Eine bronzene Wandapplike aus Kreta, Archäologischer Anzeiger [AA] 1981, 431 ff. 44) J. Boardman, Kolonien und Handel der Griechen, München 1981, 61 ff. mit Anm. 73 (ältere Lit.); vgl. auch Blome 1982, 10ff.; kritisch: A. Lebessi, The Fortetsa Gold Rings, BSA 70, 1975, 169 ff. 45 > Boardman (Anm. 44) Abb. 31. 46 > Blome 1982, 15 ff. 65 ff.

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der letzten Jahre durch J. A. Sakellarakis bewußt, freilich erst in Umrissen, da die unglaublich reichen Funde noch nicht abschließend publiziert sind. 47 ) Im Fundgut des frühen ersten Jahrtausends kreuzen und ballen sich alle oben aufgezählten nahöstlichen Einflußzonen. Neben den Importen stehen die lokalen kretischen Umsetzungen, alles in allem ein ungeheures Potential an Werkmaterialien und Bildschöpfungen auf engstem R a u m bei- und nebeneinander. Anziehungskraft und Ausstrahlung des kretischen Zeus müssen fast unvorstellbar stark gewesen sein, daß während über zweitausend Jahren so viele Pilger den beschwerlichen Weg in diese abweisende Felsöde unter die Füße nahmen. In der geometrischen und früharchaischen Zeit muß das Geschäft mit orientalischen und orientalisierenden Devotionalien besonders geblüht haben. Vor dem Hintergrund der idäischen Wallfahrtsstätte wird die materielle Blüte des früheisenzeitlichen Knossos erst recht verständlich, und auch im neuentdeckten Kommos dürfte mancher an Land gegangen sein mit dem Berg Ida als Ziel und einem östlichen Artefakt im Gepäck. Dem Zustrom orientalischer Bildwerke, wie er sich im Fundgut der Zeusgrotte oder in den Gräberfeldern von Knossos manifestiert, verdankt Kreta wohl auch die erst in der letzten Dekade immer schärfer faßbare Renaissance frühgriechischer figürlicher Szenen in der lokalen knossischen Vasenmalerei. In spätprotogeometrischer Zeit, im 9.Jh., entstehen Figurengruppen und Handlungsbilder, die über die sporadischen und isolierten Einzelmotive an Vasen anderer Landschaften inklusive Athens weit hinausgehen. Ins frühe 9.Jh. gehört der Krater mit der sechsfigurigen Jagdszene über den konzentrischen Kreisen, ein über zwei Vasenseiten greifendes Handlungsbild mit zwei Jägern und vier Tieren. 48 ' Dramatischer ist die Szene auf einem wenig späteren Krater: zwei Löwen zerreißen einen quer zwischen ihnen liegenden Mann, der sich verzweifelt, aber vergeblich, mit einem Dolch zur Wehr setzt. 49 ' Ungefähr hundert Jahre liegen zwischen der protogeometrisch kretischen und den geometrischen attischen Fassungen dieses Themas. Auf der Rückseite stehen sich zwei geflügelte Fabelwesen gegenüber, wohl die frühesten griechischen Umsetzungen orientalischer Sphingen oder Greife. Noch mehr Aufsehen erregt die Darstellung auf einer Urne aus der zweiten Hälfte des 9.Jh.s 50 ' (Abb. 8). Zweimal erscheint eine Göttin auf einem fahrbaren 47) Vorberichte und Aufsätze von J. A. Sakellarakis zusammengestellt in EGCP 1988, 173 ff. Anm. 6; dazu: Ergon 1983, 92ff.; 1984, 1 0 6 f f ; 1985, 78ff.; 1987, 133f.; Jubiläumsausgabe 1937-1987, 141 ff. 48> Blome 1982, 9. 90ff. Abb. 19f.; J.N. Coldstream, A Protogeometric Nature Goddess from Knossos, Bulletin of the Institute of Classical Studies [BICS] 31, 1984, 93 mit Anm. 4; ders., Knossian figured scenes of the ninth Century В. C. In: ΑΝΑΤΥΠΟ ΑΠΟ TON Α' ΤΟΜΟ ΤΩΝ ΠΕΠΡΑΓΜΕΝΩΝ TOY Δ' ΔΙΕΘΝΟΥΣ ΚΡΗΤΟΑΟΓΙΚΟΥ ΣΥΝΕΔΡΙΟΥ, ΑΘΗΝΑ 1980, 70 ff. 49> Η. Sackett, A new figured Krater from Knossos, BSA 71, 1976, 1 1 7 f f ; Blome 1982, 93ff. Abb. 21 f. 50> Coldstream, BICS 31, 1984; W. Burkert, EGCP 1988, 81 ff.

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Untersatz, eine Abkürzung für einen Kultwagen. Es ist beidemal dieselbe Göttin, jeweils indessen in einer verschiedenen Situation; mit erhobenen Armen und gesenkten Flügeln zwischen Volutenbäumen auf der einen, mit gesenkten Armen und erhobenen Flügeln zwischen zwei, wie es scheint, winterlich entlaubten Bäumen auf der andern Seite. Was die Göttin minoischen, was orientalischen und was indoeuropäisch-griechischen Vorstellungen auch immer verdanken mag, es ist bemerkenswert, zwei Phasen eines wechselseitig zusammenhängenden kultischen Ganzen auf einer Vase des 9.Jh.s gemalt zu sehen: Ankunft und Abfahrt oder, wie es W. Burkert genannt hat, Katagogia und Anagogia einer wie immer zu benennenden Vegetationsgöttin. *

Ich fasse zusammen. Die Epoche zwischen 1100 und 800 v.Chr. muß und kann heute differenzierter dargestellt werden als in den fünfziger, sechziger und frühen siebziger Jahren unseres Jahrhunderts, zur Zeit also der großen englischsprachigen Zusammenfassungen: A . M . Snodgrass, The Dark Age of Greece (1971) und V.R. Desborough, The Greek Dark Ages (1972). Natürlich bleiben wesentliche Grunddaten der früheren Dark-Age-Forschung nach wie vor in Kraft. Was sich schon im 12.Jh. v. Chr. abzeichnet, prägt das 11., 10. und zum Teil noch das 9.Jh., nämlich eine scharfe wirtschaftliche und demographische Rezession, gesehen vor dem Hintergrund der höfischen Hochblüte des 15., 14. und 13.Jh.s in weiten Teilen des griechischen Festlandes, auf Kreta und den ägäischen Inseln. Der Zusammenbruch der effizienten Palastverwaltungen, der Verlust der Schrift, der starke Rückgang internationaler Beziehungen quer durch den ostmediterranen und anatolischen Raum, das Verschwinden einer soliden, mehrstöckigen Wohnarchitektur, Einbußen auf beinahe allen Sektoren des Kunsthandwerks, das Absakken auf eine weitgehend bildlose Kunststufe: das sind nur einige wenige Stichworte, die den kulturellen Zustand der ersten drei nachmykenischen Jahrhunderte andeuten. Nichoria in Messenien dürfte den Durchschnittstyp einer protogeometrischen Siedlung gut vertreten. Wir haben das 16 m lange Apsidenhaus des 10./ 9.Jh.s besprochen, für die Zeit zwar bemerkenswert groß, und dennoch eben nur eine strohgedeckte Hütte aus Lehmziegeln und Holzpfosten, bei jedem großen Unwetter gefährdet, am Boden kein Marmor, an den Wänden keine Fresken, in der Mitte kein Thron, nirgends ein Bad mit fließendem Wasser: die zechenden und an einem offenen Herdfeuer gegrilltes Fleisch verzehrenden Notabein von Nichoria müssen auf all das verzichten, was mykenischen Herren selbstverständlich und angenehm war. Das Leben in Nichoria hat wenig Heroisches, der Terminus ,Age of Heroes' scheint für die Epoche im ganzen kaum angemessen. 51 '

51

> Calligas, EGCP 1988, passim.

Die dunklen Jahrhunderte - aufgehellt

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U n d dennoch: Zu den schon immer bekannten, kulturell positiven und zukunftsträchtigen Zügen der protogeometrischen Epoche gehört an erster Stelle die definitive Etablierung griechischer Kultur an der kleinasiatischen Küste und auf den vorgelagerten Inseln. Dieser unter dem Namen .ionische Wanderung' zusammengefaßte Neubeginn darf füglich als eine der bedeutendsten geschichtlichen Leistungen der Griechen bezeichnet werden. 5 2 ' Sie fällt ins 11.Jh. und beweist, daß mitten in den ,Dark Ages' Initiativen von für damalige Verhältnisse weltgeschichtlicher Dimension möglich sind — anders kann man der Inbesitznahme und Gräzisierung der Westküste Kleinasiens kaum gerecht werden; schon Thukydides nennt die ionische Wanderung in einem Atemzug mit der griechischen Kolonisation des 8.Jh.s (I 12). Der Anteil Athens am Aufbruch zu neuen Ufern wird allgemein als sehr hoch eingeschätzt. Dazu paßt, daß der protogeometrische Stil in Athen erfunden und am konsequentesten ausgeführt wurde, mit W i r k u n g durch ganz Griechenland. 53 ' Dieser Stil ist nichts anderes als der geglückte künstlerische Versuch, die abgegriffenen und ausgelaugten spätbronzezeitlichen Muster radikal zu ersetzen, und zwar durch präzisere und konzisere ornamentale Zeichen auf völlig neu durchorganisierten keramischen Formen. In Zeiten der Schrift- und Bildlosigkeit wird der Wille einer Gesellschaft zur Regeneration am Pinselstrich ihrer Maler erkennbar. Das ist nicht neu. Neu ist, daß die kulturelle und künstlerische Aktivität Griechenlands in den ,Dark Ages' nicht mehr so ausschließlich an Athen hängt. Auch darin liegt die Bedeutung von Lefkandi, daß die athenozentrische Optik der Geschichte Griechenlands protogeometrischer Zeit korrigiert wird. Wieviel Licht von Lefkandi auf das Dunkel der ,Dark Ages' fällt, ist oben geschildert. Weiträumiger Handel, materieller Wohlstand, Ansätze zur monumentalen Architektur, zum Sagenbild, zum Heroenkult im 10. und 9.Jh. Das gibt den Blick frei auf eine Aristokratie protogeometrischer Zeit, die sich mit mykenischen Fürstenhöfen zwar niemals messen kann, deren Exponenten aber doch mehr darstellen als die S u m m e ihrer Rinder. Daß an Begräbnissen wie dem des Herrn von Lefkandi Leichenspiele und rhapsodische Darbietungen zum Programm gehörten, darf vermutet werden, analog zu den dank der Teilnahme Hesiods berühmt gewordenen Leichenfeierlichkeiten des Amphidamas aus Chalkis zweihundertJahre später. 54 ' U n d wenn der euböische Vorfahr des Amphidamas more und ritu homerico bestattet wurde, dürfen wir zuversichtlich den Schluß ziehen, daß die protogeometrische Epoche das Ihre zum Endprodukt griechisches Epos' beigetragen hat. In den Gesängen der Rhapsoden des 11., 10. und 9.Jh.s

52> A . M . Snodgrass, The Dark Age of Greece, Edinburgh 1971, 373ff.; J . Μ . Cook, С А Н 3 2,2 (1975) 782 ff. 53> V . R . Desborough, Protogeometric Pottery, Oxford 1952, bes. 1 1 9 f f . 296ff. 54> Erga 6 5 4 f f ; J. Boardman, С А Н 2 3,1 (1982) 760f.

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v e r b i n d e n sich m y k e n i s c h e T r a d i t i o n u n d p r o t o g e o m e t r i s c h e M o d e r n e so w i e das f ü r die Bestattungssitten hier zu zeigen w a r . D i e H e l d e n H o m e r s sind w e d e r bronzezeitliche G r o ß k ö n i g e n o c h eisenzeitliche V i e h d i e b e , s o n d e r n eine d i c h t e r i sche V e r b i n d u n g beider E x t r e m e , w i e das in einer die historischen S c h i c h t e n der griechischen K u l t u r z w i s c h e n 1 5 0 0 u n d 7 0 0 angemessen b e r ü c k s i c h t i g e n d e n O p t i k auch k a u m anders zu e r w a r t e n ist.

A b g e k ü r z t zitierte L i t e r a t u r

Blome 1982

P. Blome, Die figürliche Bildwelt Kretas in der geometrischen und früharchaischen Periode, Mainz 1982. Blome 1984 P. Blome, Lefkandi und Homer, Würzburger Jahrbücher fur die Altertumswissenschaft, Neue Folge 10, 1984, 9-22. The Annual of the British School at Athens. BSA Early Greek Cult Practice, Proceedings of the Fifth International S y m EGCP 1988 posium at the Swedish Institute at Athens, 26-29 June, 1986, ed. by R . Hägg, N. Marinatos and G. C. Nordquist ( = Acta Instituti Atheniensis Regni Sueciae 4°, 38, 1988). Fagerström 1988 (1) K. Fagerström, Greek Iron A g e Architecture. Developments through changing times. Studies in Mediterranean Archaeology 81, 1988. Fagerström 1988 (2) K. Fagerström, Finds, function and plan: A contribution to the interpretation of Iron A g e Nichoria in Messenia, Opuscula Atheniensia 17, 1988, 33 ff. McDonald/Coulson W. A. McDonald/W. D. E. Coulson, Excavations at Nichoria in South1983 west Greece III: Dark Age and Byzantine occupation, Minneapolis 1983. Mazarakis-Ainian 1985 A. Mazarakis-Ainian, Contributions a l'etude de l'architecture religieuse grecque des Ages Obscurs, Antiquite Classique 54, 1985, 6ff. Popham/Sackett/ M . R . Popham/L. H. Sackett/P. G. Themelis, Lefkandi I. The Iron Age, Themelis 1980 Oxford 1980. Popham/Touloupa/ M . R . Popham/E. Touloupa/L. H. Sackett, Further Excavation of the Sacken 1982 (1) Toumba Cemetery at Lefkandi, 1981. In: B S A 77, 1982. Popham/Touloupa/ M . R . Popham/E. Touloupa/L. H. Sackett, The Hero of Lefkandi, AntiSackett 1982 (2) quity 56, 1982, 169ff. R D A C 1984 Report of the Department of Antiquities, Cyprus 1984.

Abbildungsnachweis Abb. Abb. Abb. Abb. Abb. Abb.

3 4 5 6 7 8

ArchRepLondon 1988/89 Abb. 28 McDonald/Coulson 1983 Abb. 2 - 2 3 Antike Kunst 17, 1974, 70 Abb. 1 R . Hägg, Aufsatz Anm. 30, Abb. 1 J. W. Shaw, Aufsatz Anm. 35, Abb. 5 W. Burkert, EGCP 1988, 82 Abb. 1.2

STEFAN HILLER

Die archäologische Erforschung des griechischen Siedlungsbereiches im 8. Jh. v. Chr.

Das hier zu behandelnde T h e m a w ä r e einigermaßen erschöpfend n u r in ш'е/fachcr A n n ä h e r u n g u n d aus unterschiedlicher Perspektive zu erschließen: als forschungsgeschichtlicher A b r i ß der wichtigsten Erkenntnisschritte u n d der B e w e r t u n g des in R e d e stehenden Zeitraumes, als katalogartige Erfassung der F u n d o r t e i m Sinne eines umfassenden Fundatlasses zur geometrischen Periode, als Darstellung des allgemeinen historischen u n d kulturellen Entwicklungsprozesses. D e r Historiker, der Archäologe, der Philologe u n d der Epigraphiker sind hier in gleicher Weise gefordert. Jeder v o n ihnen w ä r e gehalten, d e m T h e m a aus seiner jeweils spezifischen Sichtweise u n d seinem vorrangigen Forschungsinteresse heraus gerecht zu w e r d e n . Für den Archäologen ist das T h e m a j e d o c h p r i m ä r d u r c h den faßbaren relevanten D e n k m ä l e r b e s t a n d der Sachkultur u n d die d u r c h diesen v o r g e g e b e n e n Fragestellungen u n d Aussagenbereiche geprägt. W i e erkennt der A r c h ä o l o g e eine griechische Siedlung des 8.Jahrhunderts? W i e unterscheidet er sie v o n älteren u n d j ü n g e r e n Niederlassungen des griechischen Siedlungsraumes? Die ü b e r w ä l t i g e n d e M e h r h e i t , w e n n nicht die Gesamtheit der so B e f r a g t e n w ü r d e zweifellos a n t w o r t e n : zunächst u n d zuvörderst anhand der K e r a m i k , die diesem Z e i t r a u m z u g e o r d n e t w e r d e n kann. D i e Erforschung des griechischen K u l t u r r a u m e s i m genannten Zeitabschnitt g r ü n d e t sich also letztlich auf das Wissen u m die keramische E n t w i c k l u n g zwischen der mykenischen u n d der archaischen Periode — k o n k r e t e r : auf die a n h a n d der K e r a m i k v o r g e n o m m e n e Periodisierung der J a h r h u n d e r t e zwischen 1100 v. Chr. u n d 700 v. Chr. — u n d v o r allem auf die darin eingeschlossene zeitliche E i n g r e n z u n g des hier zu besprechenden Jahrhunderts. D i e K e r a m i k e r m ö g l i c h t eine u n g e f ä h r e Präzisierung s o w o h l des zeitlichen R a h m e n s als auch der geographischen A u s d e h n u n g des griechischen Kulturgebietes, sie erlaubt aber auch eine gewisse landschaftliche Differenzierung. So gesehen fällt die E r f o r s c h u n g des griechischen Siedlungsgebietes des 8.Jahrhunderts methodisch in den Bereich der Vorgeschichtsforschung; ist es doch gerade diese, die ihre Vorstellung über die geographische B e g r e n z u n g einzelner Kulturkreise auf die Scheidung keramischer Stilgruppen g r ü n d e t u n d der die A b f o l g e keramischer Stile als R i c h t s c h n u r chronologischer Z u o r d n u n g dient. Es w a r kein Geringerer als H . Schliemann, der diese B e d e u t u n g der K e r a m i k f ü r die

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Rekonstruktion kultureller und historischer Entwicklung erstmals erkannte und seiner Forschung zugrunde legte. Der Keramik schließen sich die übrigen, meist nicht durch die gleiche stilistische Prägnanz ausgezeichneten, jedenfalls aber nicht in gleicher Fülle überlieferten Kunstgattungen und Denkmälergruppen an: die Kleinplastik in Erz, Ton und Bein, — die Produkte des metallverarbeitenden Kunsthandwerks, so etwa monumentale Dreifuße, — daneben Schmuck aus Bronze und Edelmetall, — schließlich auch die Siegelsteine; sie stammen aus unterschiedlichen Befundzusammenhängen: aus Gräbern, Siedlungen und aus Heiligtümern: profane Architektur und Sakralbauten gewinnen im 8.Jahrhundert greifbar an Bedeutung. Was aber erhebt — so eine weitere grundsätzliche Frage — dieses Jahrhundert zum Gegenstand besonderen wissenschaftlichen Interesses? Die Antwort darauf ist in letzter Zeit vielfach gegeben, die herausragenden, zukunftsweisenden Phänomene und Errungenschaften sind hinlänglich benannt und erörtert worden: Die frühesten uns faßbaren historischen Daten fallen in diesen Zeitraum, insbesondere der Beginn der griechischen Kolonisation im westlichen Mittelmeer, die Herausbildung der Polis (wie auch immer dieser Vorgang sich im Konkreten vollzogen haben mag), die (Wieder-)Einführung der Schrift und ihre breitere Volksschichten erfassende Verbreitung, schließlich die Konsolidierung der epischen Uberlieferung, welche nun plastische Gestalt in den mit dem Namen Homers verbundenen Großgedichten gewinnt. Schon die antiken Zeugnisse setzen Homers Lebenszeit in dieses Jahrhundert, und die moderne Forschung hat diese Auffassung in der Mehrzahl ihrer Vertreter übernommen und zu erhärten gesucht. So war die historische Ausgrenzung des 8.Jahrhunderts und die wissenschaftliche Erschließung seiner Kultur und Geschichte von Anfang an auch auf Homer bezogen und durch ihn geprägt. Gerade als Homers Jahrhundert hat es von Anfang an eine besondere Attraktivität auf die Forschung ausgeübt. Die Schwerpunkte des folgenden, das 8. Jahrhundert zuweilen notwendig überschreitenden Abrisses der Erforschung der geometrischen Periode im Spiegel der archäologischen Quellen sind damit vorgezeichnet: Es geht um die Bestimmung der die Epoche charakterisierenden keramischen Stile und ihrer zeitlichen Stellung, um ihre landschaftliche Differenzierung sowie um die in Fundvergemeinschaftung mit ihnen auftretenden übrigen Denkmälergattungen, um deren kunstgeschichtliche Einordnung, zuletzt auch um die Bewertung des geometrischen Stils als Merkmal einer Epoche; der gleicherweise relevante Bezug zur homerischen Dichtung kann, da er Gegenstand eines anderen Beitrages ist, hier ausgespart werden.

Die archäologische Erforschung des griechischen Siedlungsbereiches im 8.Jh. v. Chr.

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I. Geometrische Keramik. Zeitlicher Rahmen und Gliederung einer Epoche Der Ausdruck ,geometrischer Stil' geht auf A. Conze zurück, der 1870 die zugrundeliegende Denkmälergruppe als solche erkannte und der die Bezeichnung „geometrischer Stil" erstmals 1877 (385 Anm. 1) eingeführt hat. In seiner 1870 erschienenen Schrift mit dem Titel ,Zur Geschichte der Anfänge der Griechischen Kunst' hatte er eine Anzahl mit geometrisch-linearen Mustern bemalter Tongefäße zusammengestellt, deren griechischer Ursprung von ihm als gesichert betrachtet und deren stilistische und zeitliche Zusammengehörigkeit aufgrund der konsequenten Beschränkung auf entsprechende Dekormotive vorausgesetzt wurde. Anhand ihrer, wie er glaubte, sowohl technischen wie auch stilistischen Altertümlichkeiten und zugleich unter Hinweis auf vergleichbare Erscheinungen in anderen Kulturräumen vermutete er in ihnen die historisch ältesten Denkmäler griechischer Kunstübung. Sie waren seiner Meinung nach die lokale Ausprägung eines gemeinindogermanischen Stiles, den die Griechen auf die Balkanhalbinsel mitgebracht hatten und der noch vor jeglichem Auftreten orientalisierenden Einflusses, wie er sich für ihn u. a. auch in den ältesten Monumenten zeigte, nur in die Bronzezeit zu datieren sein konnte. Eine Berichtigung dieser zeitlichen Einordnung ergab sich schon bald, als zum einen aufgrund entsprechender Fundvergesellschaftungen die eisenzeitliche Stellung und zum anderen, vor allem in Folge der Forschungen H. Schliemanns, das höhere Alter der in die Bronzezeit fallenden mykenischen Kulturepoche erkannt wurde. Die eisenzeitliche Entstehung der geometrischen Vasen wurde erstmals von G. Hirschfeld (1871/2) erschlossen, der auf Geräte aus diesem Metall hinwies, welche zusammen mit den nach ihrem Fundort am Athener Doppeltor so genannten ,Dipylon-Vasen' gefunden worden waren. Einen größeren, sehr qualitätvolle Exemplare umfassenden Komplex solcher Vasen konnte kurz nach dem Erscheinen von A. Conzes grundlegender Studie G. Hirschfeld (1871/2) vorlegen. — Entsprechend betont dann H. Schliemann (1886, 100) die in Technik und Form markanten Unterschiede der von ihm in Mykene und Tiryns festgestellten Fragmente von Dipylon-Gefäßen gegenüber der für die beiden Fundorte in erster Linie bezeichnenden „mykenischen" Tonware, wobei er diese als eindeutig älter ansieht; allerdings kommt er, da er zugleich die von W. Heibig (1887, 367 f.) gegen A. Conze vertretene These eines phönikischen Ursprungs der Dipylongattung in sein Urteil einbezieht, zu einem etwas zwiespältigen Ergebnis: „Diese Vasen mit geometrischen Mustern müssen daher schon lange vor der dorischen Invasion im Peloponnes importiert worden sein, und ihr Vorkommen in Attika in späteren Jahrhunderten kommt somit bei unserer Untersuchung über die Zeitperiode des Untergangs von Tiryns und Mykene durchaus nicht in Betracht." Die Frage nach

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dem Ursprungsort und nach der Zeitstellung der Dipylonvasen war also bereits zu Beginn der 80er Jahre Gegenstand der Diskussion. Es waren in der Folgezeit von allem die Beiträge E. Boehlaus, A. Furtwänglers und S. Wides noch vor sowie die von H. Dragendorff, F. Poulsen und B. Schweitzer nach der Jahrhundertwende, die entscheidend zur Lösung der offenen Probleme beitrugen.

I 1. Lokalisierung und regionale Scheidung geometrischer Vasen Daß Attika bei der Produktion geometrischer Vasen eine führende Rolle gespielt haben mußte, konnte nicht lange bezweifelt werden; zu umfangreich war die Menge der insbesondere im Kerameikosviertel zutage gekommenen Zeugnisse. So bezeichnet, obschon ebenfalls noch unter nachhaltigem Einfluß der Helbigschen Phöniker-These stehend, E. Kroker (1886, 102) in seinem Beitrag über die Dipylon-Vasen „im allgemeinen [...] das national Griechische" als „das Vorherrschende". Sicher erscheint ihm vor allem, „daß der Dipylonstil, wenn er auch in Attika zunächst importiert, nicht heimisch ist, doch in Attika seine höchste und eigentümlichste Ausbildung erhalten hat; die zahlreichsten, größten und vollendetsten Beispiele dieses Systems sind aus den Dipylongräbern von Athen gehoben worden." Rasch wurde aber auch deutlich, daß dieser Stil keineswegs auf Attika beschränkt war, sondern innerhalb Griechenlands in sich voneinander abhebenden, regional gebundenen Varianten auftrat. So hat A. Furtwängler bereits 1873 im Rahmen der Behandlung eines thebanischen Grabfundes einen lokalen böotischgeometrischen Stil diagnostiziert (vgl. Boehlau 1888,325) und wenig später (1886) bestimmte stilistische Eigenheiten der rhodisch-geometrischen Vasen aus Kamiros gesehen; entsprechend hebt er in seinem Katalog der Berliner Vasensammlung von 1885 (11 ff.) wiederum die kyprisch-geometrischen Vasen als gesonderte Stilgruppe ab. Von zukunftsweisender, grundlegender Bedeutung war daneben seine anhand der in der Fusco-Nekropole von Syrakus entdeckten Vasen vorgenommene Unterscheidung und lokale Bestimmung einer sog. „protokorinthischen" resp. korinthisch-geometrischen Gattung (1883; vgl. Dümmler 1887, 19), die zugleich auch für die Zeitbestimmung eine entscheidende Rolle spielen sollte. Eine ausführliche Beschreibung der Vasen des böotisch-geometrischen Stils hat d a n n j . Boehlau (1888) vorgelegt. Nach landschaftlichen Gesichtspunkten geordnete Darstellungen bieten entsprechend S. Wide (1900), H. Dragendorff (1902) und F. Poulsen (1905). Entsprechende Charakterisierungen der einzelnen Landschaftsstile finden sich in den monographischen Darstellungen der griechischen Vasenkunst bei Hauser, E. Buschor (1912, 1940), E. Pfuhl (1923), R . M . Cook (1960) und anderen.

Die archäologische Erforschung des griechischen Siedlungsbereiches im 8.Jh. v.Chr.

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I 2. Der zeitliche Rahmen Für die zeitliche Eingrenzung der geometrischen Vasen standen zwei Ansatzpunkte zur Verfügung: zum einen der vom Vorausgehenden her, zum anderen der vom Jüngeren ausgehende. Die schon von A. Hirschfeld bemerkte eisenzeitliche Entstehung vorausgesetzt, mußten die Vasen jünger sein als die bronzezeitliche Stufe der mykenischen Periode. Dies wurde u. a. auch durch die Auswertung des stratigraphischen Befundes des früh entdeckten, von H. Lolling (1880) für seine Zeit vorzüglich publizierten Kuppelgrabes von Menidi erhärtet. Andererseits aber konnte kein Zweifel daran bestehen, daß die geometrischen Vasen älter sein mußten als die archaischen des 7. und 6.Jahrhunderts, deren zeitliche Stellung im allgemeinen feststand. So hatte bereits A. Conze (1870, 525) die geometrischen Vasen mit den von ihm 1862 vorgelegten melischen Tongefäßen verglichen und jene in gewisser Weise mit der späteren Entwicklung in Zusammenhang gebracht. Das entscheidende Verdienst aber gebührt J. Boehlau (1887, 33), der nicht nur die attischen Vasen des 7.Jahrhunderts erstmals als „frühattisch" definierte, sondern auch überzeugend darlegte, daß sich diese, „eng an die Dipylonvasen sich anschließend, als deren unmittelbare Fortsetzung darstellen." In der Auffassung, daß die geometrische Vasenkunst älter als das nachhaltig von orientalisierenden Einflüssen geprägte 7.Jahrhundert sein müsse, folgten ihm u. a. Brueckner und Pernice (1893,141) bei ihrer Auswertung der 1891 entdeckten neuen Kerameikosgräber; aufgrund eines in einem der Gräber mitgefundenen Golddiadems, das sie richtig als frühen Vorläufer des orientalisierenden Stils ansahen, kamen sie zu der Folgerung, daß der Dipylonstil an das Ende der geometrischen Periode, konkret: noch ganz in das 8.Jahrhundert, zu setzen sei. Ahnlich haben, ebenfalls aus allgemeinen Gründen, E. Pottier (1897, 136) bei der Beschreibung der im Louvre befindlichen Vasen wie auch H. Dragendorff (1902) geurteilt. Sie sahen jeweils im geometrischen Stil einen längeren Entwicklungsverlauf, der wohl das 9. und 8. Jahrhundert umfaßt hatte und dessen jüngste Ausläufer noch in das 7.Jahrhundert hineinreichten. Damit war eine zwar nur pauschale, insgesamt aber zutreffende Eingrenzung des vom geometrischen Stil eingenommenen Zeitraums erreicht.

I 3. Stilentwicklung und Stilphasen Daß der geometrische Stil in sich differenziert war, lehrte die bloße Betrachtung. Abgesehen von regionalen Unterschieden ließen sich innerhalb einzelner Landschaften, hier in erster Linie Attika, verschiedene Dekorationsprinzipien fassen, die in gewisser Weise eine konsequente Stilentwicklung anzuzeigen schienen. So unterschied S. Wide (1899, 56f.) insgesamt vier Gruppen (Stufen), nämlich „(I) Gefäße (Amphoren), deren Körper fast vollständig mit Firnis bedeckt ist und

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deren einzige Dekoration am Halse sitzt; (II) die ,Schwarzdipylon-Vasen', deren Körper zum größten Teil mit Firnis überzogen ist, aber viel mehr dekorierte Flächen hat als die Vasen der ersten Gruppe; (III) Gefäße, die ganz oder größtenteils mit linearen Verzierungen (oder Figuren) bedeckt sind, welche in fortlaufenden horizontalen Streifen rings um das Gefäß laufen: Horizontaldekoration; und (IV) Gefäße, die ganz oder größtenteils mit linearen Verzierungen bedeckt sind, an denen die horizontalen Streifen durch vertikale Trennungsglieder in metopenartige Felder geteilt sind: Vertikal- oder Metopendekoration". — Diese an sich richtungsweisende, in gewisser Weise die protogeometrische und frühgeometrische (I), die mittelgeometrische (II) und die reif- bzw. spätgeometrische (IV, III) Phase scheidende Gliederung, die zudem „eine anschauliche und verständliche historische Entwicklung" widerspiegelt, wurde aufgrund stratigraphischer Fehlbeurteilungen jedoch von ihrem Autor verworfen. Sie wurde, mit größerer Zuversicht, wiederholt von H. Dragendorff (1902, 162 f., 166), der seinerseits zwischen Gefäßen mit Streifengliederung, streng durchgeführter Metopengliederung sowie einem mit jüngeren Motiven angereicherten Metopenstil unterscheidet und sich daneben auch eines diesen rein geometrischen Phasen — sie entsprechen etwa Mittel- und Spätgeometrisch — vorausliegenden Stils mit „Übergangsformen" zum Mykenischen bewußt ist. Vor allem aber konnte er zeigen, daß es eine die verschiedenen Landschaftsstile übergreifende, gemeinsame Entwicklungslinie gibt. F. Poulsen (1905) und B. Schweitzer (1918) haben, gestützt auf eine breitere Materialbasis, diesen Sachverhalt weiter präzisiert. F. Poulsen legte dar, daß zwischen den Fundgruppen an sog. Dipylon-Keramik Unterschiede im Sinne einer fortschreitenden Stilentwicklung deutlich werden; die älteste Stufe vertreten die Gräber vom Westabhang der Athener Akropolis; auf sie folgen die 1884/8 von Philios bzw. 1895/8 von Skias aufgedeckten Gräber der Nekropole von Eleusis, auf diese als jüngste Stufe der Dipylongattung die der eponymen Nekropole selbst. Im Prinzip sind damit wiederum die heute als früh-, mittel- bis reif- und spätgeometrisch bezeichneten Stilphasen im wesentlichen zutreffend definiert, — von F. Poulsen als „Heranreifen, Blüte und Zerfall" paraphrasiert. Die entsprechenden Unterscheidungen finden sich auch bei B. Schweitzer, der von einer „frühen", einer „strengen" und einer „spätgeometrischen" Stilstufe spricht. Eine letzte, wohl endgültige Ausformung dieses Gliederungsprinzips stellt dann das von P. Kahane 1940 vorgelegte, auf den verfeinerten stratigraphischen Beobachtungen der Kerameikosgrabungen beruhende, nun vier Stufen, nämlich früh-, streng-, reif- und spätgeometrisch umfassende Periodisierungssystem dar, das auch den maßgeblichen Kerameikospublikationen von W. Kraiker und K. Kübler (1939 ff.) zugrunde liegt. — Abzusetzen von dieser im engeren Sinne geometrischen Entwicklung ist die submykenische und die protogeometrische Stilstufe; sie wurden in der älteren Forschung vielfach nicht streng geschieden und summarisch als Übergangsstufe

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aufgefaßt. Ausschlaggebend für die Bestimmung dieser Gruppe waren die Vasen der 1893 auf Salamis entdeckten Nekropole (die bis heute als Definitionsgrundlage des ,Submykenischen' gelten). Überwiegend submykenische und protogeometrische Gefäße hat, unter Berufung auf die Salamis-Nekropole und zusammengefaßt unter der Bezeichnung „Von der mykenischen Kunst beeinflußte geometrische Vasen aus Attika und anderen Gegenden", S. Wide im dritten Teil seines Beitrags „Geometrische Vasen aus Griechenland" (1900) erstmals zusammengestellt. Zehn Jahre später hat er bei der Erstpublikation dieser Vasen (1910) im Hinblick auf sie den Terminus „protogeometrischer Firnisstil" verwendet, worin ihm dann B. Schweitzer (1918) gefolgt ist. Ein Schwanken der Terminologie bei ,Submykenisch' und ,Protogeometrisch' hinsichtlich des Stils der Salamis-Gruppe ist bis in die 30er Jahre deutlich. Ursache dafür dürfte, wie G. Krause (1975, 2f.) gesehen hat, der unterschiedliche Ansatzpunkt sein. Kam S. Wide (1910) vom Geometrischen her und erkannte entsprechend darin eine auf das Geometrische vorausweisende Stilstufe, so sahen andere Forscher darin primär eine auf die mykenische Epoche unmittelbar folgende, enger mit dieser zusammenhängende Entwicklung. Den Terminus ,submykenisch' (sub-Mycenaean) haben offenkundig erstmals die Engländer R . W . Paton u n d J . L . Myres eingeführt (1896, 265); entsprechend gebrauchte ihn E. Gjerstadt (1926, 226ff.). — Die ersten, die eine historischchronologisch differenzierende Bedeutungsscheidung der beiden Begriffe vornahmen, waren W. A. Heurtley und Т. C. Skeat (1930). Durch die Übernahme dieser Definition und zugleich eine Erhärtung des zugrundeliegenden stratigraphischen bzw. stilistischen Sachverhalts haben schließlich W. Kraiker und K. Kübler (1939) entscheidend dazu beigetragen, daß diese Termini heute als allgemein verbindlich gelten können. Demnach bezeichnet ,submykenisch' eine Übergangsphase der Bronze- zur Eisenzeit (ca. 1050-1000) und ,protogeometrisch' den älteren Abschnitt der ,Dark Ages' (ca. 1000—900) noch vor dem Einsetzen des im engeren Sinne geometrischen Vasenstiles.

I 4. Absolute Chronologie Über die allgemeine Einordnung des geometrischen Stils zwischen der mykenischen Epoche auf der einen und der orientalisierenden Epoche auf der anderen Seite hinaus bleibt die Bestimmung der absoluten Zeitdaten ein überaus schwieriges Unterfangen. Kann, wie schon D. Fimmen (1909, 85 f.) sah, die späteste Phase der mykenischen Keramik aufgrund ihrer stilistischen Nähe zur sog. PhilisterKeramik, der sie als Vorbild diente, in das 12.Jh. datiert werden, so bleiben ,harte' Fixpunkte für die folgenden Jahrhunderte äußerst spärlich. Ebenfalls auf orientalische Zusammenhänge gestützt, hat erstmals B. Schweitzer (1918) den chronologischen Rahmen der spätest-mykenischen, submykenischen und protogeometrischen Phase auf das ausgehende 12. bis zum Ende des 10.Jahrhunderts

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abgesteckt, was freilich nicht mehr als ein ungefährer Annäherungswert sein konnte. Auf einige seiner grundlegenden Beobachtungen sei immerhin verwiesen. Dazu zählt die „etwa kurz vor 1100 v.Chr." sich verstärkende, „auch vorher schon vorhandene Neigung, den größten Teil des Gefäßes mit Firnis zu überziehen und nur die Schulter zur Aufnahme von Verzierungen frei zu halten", eine Gewohnheit, an der man festhielt „bis in den Anfang des 1 O.Jahrhunderts, wo man beginnt, die Firnisfelder durch Einlagen ausgesparter Streifen aufzulockern [...] Die ausgesparte Zone schmücken während der ganzen protogeometrischen Periode mit Vorliebe ein Wellenband oder die in der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts an die Stelle der Spirale getretenen konzentrischen Halbkreise [...] Die einzige Neuerung bringt die Einführung des Zirkels, die meist im Verlauf des XI. Jahrhunderts, an entlegenen Orten auch später erfolgte." Die Unterteilung der beiden geometrischen Jahrhunderte, ca. zwischen 900 und 700, in die genannten vier Phasen zu jeweils etwa einer Jahrhunderthälfte, beruht zunächst auf „unverbindlicher Schätzung" (Buschor 1969, 7). „Tatsächlich", so stellt F. Matz noch 1950 fest (p.53), „kennen wir nur das durch das Ende der mykenischen Kultur gegebene Anfangsdatum und die ungefähre Zeit des Endes. Doch zeigt sich, wo seither bekannt gewordene, im späteren 9.Jahrhundert einsetzende Exporte in die Levante eine gewisse Uberprüfung gestatten, daß die angenommenen Daten im wesentlichen wohl als zutreffend betrachtet werden dürfen." Erst mit der Gründung der unteritalischen und sizilischen Kolonien — Cumae wohl um die Mitte des 8.Jh.s, Syrakus (das thukydideische Datum als zuverlässig angenommen) um 735 — kommen wir auf einen relativ verläßlichen Boden. Die Gefäße aus der seit den späteren 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ausgegrabenen Fusco-Nekropole in Syrakus haben von Anfang an die gebührende Aufmerksamkeit gefunden. Der Umstand, daß die ältesten der dort gefundenen Gefäße noch nicht den sog. protokorinthischen Stil aufweisen, zeigt, daß die spätgeometrische Periode jedenfalls über diesen Zeitpunkt hinaus bestanden haben muß. Die Bezeichnung der daran anschließenden protokorinthischen Stilphase geht, wie schon hervorgehoben wurde, auf A. Furtwängler zurück, der als erster ihren Zusammenhang mit korinthischen Erzeugnissen erkannte (1883, 153 f.; vgl. auch Cook 1960, 308 f.). — Eine erste zusammenfassende Darstellung des Protokorinthischen gab K.F.Johansen 1918. Boehlau, J. Brueckner, A./ Pernice E. Buschor, E. Conze, A.

1887 Frühattische Vasen, Jdl 2, 1887, 33-66. 1888 Böotische Vasen, Jdl 3, 1888, 325-364. 1893 Ein attischer Friedhof, A M 18, 1893, 73-191. 1912 1940 1862 1870

Griechische Vasenmalerei. München 1912. 21925. Griechische Vasen. München 1940; Neuaufl. 1969. Melische Tongefäße. Leipzig 1862. Zur Geschichte der Anfänge der Griechischen Kunst, Sb. Wien. Akad. Wiss. 64, 1870, 505-534.

Die archäologische Erforschung des griechischen Siedlungsbereiches im 8.Jh. v. Chr.

Cook, R . M . Dragendorff, H. Dümmler, F. Fimmen, D. Furtwängler, A.

Gjerstadt, E. Heibig, W. Heurtley, W.A./ Т. C . Skeat Hirschfeld, G. Johansen, K . F . Kahane, P.

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1877 Ogetti di Bronzo trovati nel Tirolo Meridionale, lettera di A. Conze a W. Heibig, Adl 1877, 384-397. 1960 Greek Painted Pottery. London 1960. 1902 Theräische Gräber, in: F. Hiller von Gaertringen, Thera II (Berlin 1903), 133-198. 1887 Vasen aus Tanagra, J d l 2, 1887, 18-23. 1909 Zeit und Dauer der Kret.-Myk. Kultur. Leipzig 1909. 1879 Die Bronzefunde aus Olympia und deren kunstgeschichtliche Bedeutung, Abh. K g l . Akad. Wiss., Berlin 1879 ( = Kleine Schriften I, München 1912, 339-421). 1883 Kentaurenkampf und Löwenjagd auf zwei archaischen Lekythen, Arch. Z t g . 41, 1883, 153-162 ( = Kleine Schriften II, München 1913, 104-111). 1885 Beschreibung der Vasensammlung im Antiquarium. Berlin 1885. 1886 Erwerbungen der K g l . Museen zu Berlin, J d l 1, 1886, 129 ff. 1926 Studies on Prehistoric Cyprus. 1926. 1887 Das Homerische Epos aus den Denkmälern erläutert. Leipzig 1887. 1930 The Tholos T o m b o f Maramriane, B S A 31, 1930, 1-55.

1871/2 Vasi Arcaici Ateniensi, Adl, 1872, 131-181. 1918 Sikyniske Vaser. Kopenhagen 1918. 1940 Die Entwicklungsphasen der Attisch-Geometrischen Keramik, A J A 44, 1940, 464^182. Kraiker, W./Kübler, K . 1939 Kerameikos I. Die Nekropolen des 12. bis 10. Jahrhunderts. Berlin 1939. Kübler, K . 1943 Kerameikos IV. Neufunde aus der Nekropole des 11. und lO.Jh.s. Berlin 1943. 1954 Kerameikos V . l . Die Nekropole des 10. bis 8.Jh.s. Berlin 1954. 1959 Kerameikos VI. 1. Die Nekropole des späten 8. bis frühen 6.Jh.s. Berlin 1959. Krause, G. 1975 Untersuchungen zu den älteren Nekropolen am Eridanos in Athen I. H a m b u r g 1975. Kroker, E. 1886 Die Dipylonvasen, J d l 1, 1886, 95-125. Lolling, Η., u. a. 1880 Das Kuppelgrab von Menidi. Athen 1880. Matz, F. 1950 Geschichte der Griechischen Kunst. Die Geometrische und die Früharchaische Form. Frankfurt 1950. Pfuhl, E. 1923 Malerei und Zeichnung der Griechen. München 1923. Paton, R . W . / 1896 Karian Sites and Inscriptions, J H S 16, 1896, 265. Myres, J . L. Pottier, E. 1897 Vases Antiques du Louvre, lere Partie, Les Origines. Paris 1897. Poulsen, F. 1905 Die Dipylongräber und die Dipylonvasen. Leipzig 1905; Repr. Aalen 1982. Schliemann, H. 1886 Tiryns. Der Prähistorische Palast der Könige von Tiryns. Leipzig 1886. Schweitzer, B . 1918 Untersuchungen zur Chronologie der geometrischen Stile in Griechenland, I (Diss. Heidelberg): Karlsruhe 1918. II: A M 43, 1918, 1-152. Wide, S. 1899 Geometrische Vasen aus Griechenland, J d l 14,1899,26-43. 78-86. 188-215. 1900 Geometrische Vasen aus Griechenland, J d l 15, 1900, 49-58. 1910 Gräberfunde aus Salamis, A M 35, 1910, 17-36.

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I 5. Z u m jüngeren Forschungsstand Aufbauend auf den im vorausgehenden genannten Untersuchungen haben F. Matz in seiner .Geschichte der Griechischen Kunst' (1950, 55—72) und B. Schweitzer in seiner Monographie über ,Die geometrische Kunst Griechenlands' (1969) zusammenfassende Darstellungen der geometrischen Landschaftsstile vorgelegt. Das derzeit bestimmende Standardwerk ist jedoch J. N. Coldstream's ,Geometrie Pottery. A Survey of Ten Local Styles and Their Chronology' (London 1968): In der Landschaftsgliederung — um Attika gruppieren sich Korinth, Argos, Thessalien, Euboia und die Kykladen, Boiotien, Lakonien, Westgriechenland, Kreta und die östliche Ägäis — spiegeln sich bis zu einem gewissen Grad die Schwerpunkte der historischen und der kommunalen Entwicklung; neben der Differenzierung der Landschaften werden innerhalb dieser auch die einzelnen Werkstattgruppen, soweit faßbar, behandelt; Angelpunkt und Vergleichsmaßstab der Entwicklung ist Athen, wobei die in jeweils zwei Subphasen unterteilten Hauptstufen der von der deutschsprachigen Forschung entwickelten Terminologie wie folgt entsprechen: Early Geometrie (EG) = Frühgeometrisch (ca. 900—850 v.Chr.); Middle Geometrie (MG) = Strenggeometrisch (MG I, ca. 850-800 v. Chr.; MG II, ca. 800-760); Late Geometrie I (LG I) = Reifgeometrisch (ca. 760-735 v.Chr.); Late Geometrie II (LG II) = Spätgeometrisch (ca. 735-700 v.Chr.). An neuerer Literatur ist (in Auswahl) nachzutragen: Submykenisch: Z u r umstrittenen Frage, inwieweit das Submykenische einen allgemeinen chronologischen H o r i z o n t oder aber nur eine mit dem späten S H III С synchrone, landschaftsgebundene Stil Variante darstellt, sei auf den k n a p p e n u n d informativen Forschungsüberblick bei I. Kilian-Dirlmeier, Nadeln der frühhelladischen bis archaischen Zeit v o n der Peloponnes, P B F XIII. 8 (München 1988), 8 f f . verwiesen. - Z u S. Styrenius, Submycenaean Studies (Lund 1967) sei auf die kritischen Ergänzungen bei G. Krause (1975, 4) verwiesen. - Ferner seien genannt: J. Rutter, A plea for the a b a n d o n m e n t of the term ,Submycenaean', Temple University Aegean S y m p o s i u m III, 1978, 58-65; M . Jacob-Felsch, Bericht zur Spätmykenischen und S u b m y k e n i schen Keramik, Kalapodi, A A 1987, 26—35; A. Papadimitriou, Bericht zur früheisenzeitlichen Keramik aus der U n t e r b u r g v o n Tiryns, A A 1988, 225-243; P . A . M o u n t j o y , L H III С Late versus Submycenaean. T h e Kerameikos P o m p e i o n C e m e t e r y R e v i e w e d , J d l 103, 1988, 1 - 3 3 ; V. Hankey, N o t e on the c h r o n o l o g y of L H III С Late and Submycenaean, J d l 103, 1983, 33-37. Protogeometrisch: G r u n d l e g e n d ist nach wie vor V. R . D e s b o r o u g h , P r o t o g e o m e t r i c Pottery ( O x f o r d 1952), der, g e w i ß zu Recht, die f u h r e n d e Rolle Attikas bei der Ausbildung des Stiles betont. - Für eine stärker selbständige E n t w i c k l u n g eines lokalen protogeometrischen Stiles ist N . Verdeiis, Ό Π ρ ω τ ο γ ε ω μ ε τ ρ ι κ ό ς ' Ρ υ θ μ ό ς τ η ς Θ ε σ σ α λ ί α ς (1956) eingetreten. - Des weiteren sei verwiesen auf: B. Wells, Asine II, Fase. IV: T h e P r o t o g e o m e t r i c Period (Stockholm 1983); G. E. Chatzis, Ή Π ρ ω τ ο γ ε ω μ ε τ ρ ι κ ή Ε π ο χ ή σ τ ή ν Μ ε σ σ η ν ί α ν , Praktika of the Second International Congress of Peloponnesian Studies (Athen 1981/2) 321-347; A. A n d r e i o m e n o u , Π ρ ω τ ο γ ε ω μ ε τ ρ ι κ ή και Γεωμετρική Κ ε ρ α μ ε ι κ ή έκ Βρανέζη Βοιωτίας, Arch.Eph. 1985/87, 57-84; J. S. Lemos/H. Hatcher, P r o t o g e o m e t r i c Skyros and Euboea, O x f o r d J o u r n a l of Archaeology 5, 1986, 323-337; A. Nitsche, Protogeometrische und Subprotogeometrische Keramik aus d e m

Die archäologische Erforschung des griechischen Siedlungsbereiches im 8 . J h . v . C h r .

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Heiligtum bei Kalapodi, AA 1987, 35-49; J . P . V o k o t o p o u l o u , Π ρ ω τ ο γ ε ω μ ε τ ρ ι κ ά ' Α γ γ ε ί α έκ τ η ς Π ε ρ ι ο χ ή ς ' Α γ ρ ι ν ί ο υ , Arch. Delt. 24, 1969, 74-94; Μ . Stravropoulou-Gatsi, Π ρ ω τ ο γ ε ω μ ε τρικά Ν ε κ ρ ο τ α φ ε ί α Α ι τ ω λ ί α ς , Arch. Delt. 35 1986 (1988), 102-130; L. Morricone, Sepolture della prima eta del Ferro a C o o , AsAtene LVI, 1987 (1982); bis zu Beginn der 70er Jahre bekannt g e w o r d e n e Funde sind umfassend bei V. R . D e s b o r o u g h , T h e Greek D a r k Ages (London 1972), berücksichtigt. Geometrisch: An seit Coldstream's m o n u m e n t a l e m W e r k (1968) neu erschienenen, insbesondere weniger bekannte Landschaften erfassenden Arbeiten sind, auswahlsweise, zu nennen: Euboia: M . R . P o p h a m / L . H . Sackett/P. G. Themelis: Lefkandi I. T h e Iron A g e (London 1979/ 80); zahlreiche Aufsätze zu der bei den Ausgrabungen in Eretria g e f u n d e n e n Keramik von A. A n d r e o m e n o u , so Arch. Eph. 1975, 206ff.; 1977, 128-170; 1981, 84-113; 1982, 161-186; A M 100,1985,23-38; 101,1986,97-111; B C H 1 0 9 , 1 9 8 5 , 4 9 - 7 5 ; 1 1 0 , 1 9 8 6 , 8 9 - 1 2 9 ; J . - P . Descoeudre, Die vorklassische Keramik aus dem Gebiet des Westtores, Eretria V, 1976, 13-56. - W i c h t i g ist daneben die von G. Buchner und N . Coldstream u n a b h ä n g i g voneinander erkannte Lokalisierung des nach seinem aus der C e s n o l a - S a m m l u n g s t a m m e n d e n H a u p t w e r k sog. Cesnola-Malers a u f E u b o i a ; J . N . Coldstream, T h e Cesnola-Painter: A C h a n g e of Address, B I C S 18, 1971, 1-15; vgl. dens., S o m e peculiarities of the Euboean Figured Style, AsAtene 59, N S 43, 1981 (1983), 241-249. Für einen naxischen U r s p r u n g des Cesnola-Kraters ist hingegen E.Walter-Karydi, Geometrische Keramik aus Naxos, A A 87, 1972, 386-417, eingetreten. - Z u der p r i m ä r auf Euboia beheimateten G a t t u n g der mit hängenden Halbkreisen verzierten Skyphoi n u n auch R . Kearsley, T h e Pendant Semicircle Skyphos, B I C S Suppl. 44, L o n d o n 1989. Boiotien: A. Nitsche, Die geometrische Keramik v o n O r c h o m e n o s (Diss. Heidelberg, in Arbeit); A Ruckert, Frühe Keramik Böotiens. F o r m u n d D e k o r a t i o n der Vasen des späten 8. und f r ü h e n 7.Jahrhunderts (Bern 1978). Attika: B . E . Bohen, Die geometrischen Pyxiden (Kerameikos B d . XIII, Berlin 1988); B. Boreil, Attisch geometrische Schalen. Eine spätgeometrische K e r a m i k g a t t u n g u n d ihre Bezieh u n g e n z u m O r i e n t (Mainz 1977); Μ . Μ π ρ ο ύ σ κ α ρ η , Α π ό τόν Α θ η ν α ϊ κ ό Κ ε ρ α μ ε ι κ ό του 8° π. Χ. αιώνα (Athen 1979). Korinth: Chr. Dehl, Die korinthische Keramik des 8. u n d f r ü h e n 7. Jh.s v. Chr. in Italien ( A M Beih. 11, Berlin 1984); C . W . N e e f t , Protocorinthian Subgeometric Aryballoi (Amsterdam 1967); J . L . Benson, Earlier Corinthian Workshops. Α Study of Corinthian Geometric and Protocorinthian Stylistic Groups (Amsterdam 1989). Argos: s. div. Beiträge in: Etudes Argiennes, B C H Suppl. VI (Paris 1980). Lakonien: I. Margreiter, Frühe Lakonische Keramik v o n der geometrischen bis zur archaischen Zeit (Waldsassen 1988); D . E . Coulson, T h e D a r k A g e Pottery of Sparta, B S A 80, 1985, 29 ff. Messenien: D . E . Coulson, T h e Pottery, in: W. A. M c D o n a l d u.a., Excavations at Nichoria in Southwest Greece, Vol. Ill (Minneapolis 1983) 61-259; ders., T h e Dark A g e Pottery of Messenia (Göteborg 1986); ders., Geometric Pottery f r o m Volimidia, AJA 92, 1988, 53-74. Chronologie: Die gesamte Evidenz ist ausfuhrlich behandelt bei J . N . Coldstream (1986) 302-331; etwas kürzer, doch mit i m wesentlichen den gleichen Ergebnissen bei Α. M . Snodgrass, T h e D a r k A g e of Greece (Edinburgh 1971) 106-139; nicht z w i n g e n d erscheinen mir die a u f g r u n d der mittlerweile aus Hama-Tell Sukas publizierten Keramik vertretenen niedrigeren Ansätze v o n E . D . Francis u n d M . Vickers, Greek Geometrie Pottery at H a m a and its implications for N e a r Eastern C h r o n o l o g y , Levant XVII, 1985, 131-138, da nicht zuletzt damit auch die aus der Keramik der sizilischen Kolonien abgeleiteten Daten in Konflikt geraten m ü ß t e n ; zu diesen zuletzt u . a . A . M . Snodgrass, A n Archaeology of Greece (Berkeley 1987), 52-57; D. A. A m y x , Corinthian Pottery (Berkeley 1988) 397-434. - Z u m Submykenischen zuletzt P. Warren/V. Hankey, Aegean Bronze A g e C h r o n o l o g y (Bristol 1989), 107ff., 166ff.

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II. Die übrigen Denkmälergattungen Die Frage, inwieweit sich der von linearen Dekorsystemen griechischer Vasen abgeleitete Stilbegriff auch für andere Kunstgattungen als zutreffend erweist, ist kaum j e konkret gestellt, de facto aber vorausgesetzt worden. Zumindest im Sinne eines umfassenden Epochenbegriffes wurden alsbald auch weitere Kunstgattungen unter den Begriff der geometrischen Stilperiode subsumiert. Wie schon für die Scheidung geometrischer Landschaftsstile darf auch hinsichtlich der Übertragung des Begriffes .geometrisch' auf die übrigen Bereiche der Kunst wiederum A. Furtwängler entscheidender Einfluß zugestanden werden. So erkannte er die Zugehörigkeit einer großen Anzahl von Bronzestatuetten aus Olympia (1890, 28), desgleichen von figural mit eingetieftem Reliefschmuck verzierten Goldbändern (1884, 22 ff.), von gleichfalls figural gravierten sog. Plattenfibeln (1879, 36); auch verband er als erster eine Anzahl von glyptischen Erzeugnissen mit dieser Epoche. So spricht er u.a. in seiner .Beschreibung der geschnittenen Steine im Antiquarium' (1888) von „dem sog. geometrischen Stil entsprechenden Werken" und schließt in den 3. Band seines monumentalen Gemmenwerkes ein eigenes Kapitel über dem „sog. geometrischen Stil" zuzurechnende Gemmen ein (1900, 57-67).

II 1. Kleinplastik Die geometrische Kleinplastik ist zwar von A. Furtwängler frühzeitig erkannt worden, ihre wissenschaftliche Erschließung ist jedoch jener der Vasenkunst erst in beträchtlichem zeitlichen Abstand gefolgt. Im Unterschied zu den Vasen fehlen für die Statuetten aus Bronze und Ton stratigraphische Beobachtungen weitgehend; zudem ist ihre Stilentwicklung bedeutend schwerer durchschaubar. Z u m weitaus überwiegenden Teil kommen sie aus durch spätere Deponierungen bzw. Verlagerungen gestörten Schichten griechischer Heiligtümer, unter denen insbesondere Olympia, daneben auch Delphi, eine wichtige Rolle spielen. Bei der Erforschung der geometrischen Bronzeplastik hat seit den 30er Jahren insbesondere E. Kunze wesentliche Fortschritte erzielt. Einen ersten entscheidenden Schritt stellt sein scharfsichtiger Beitrag ,Zu den Anfängen der Griechischen Plastik' (1930) dar, den er in seinen späteren Beiträgen (1944, 1961, 1967) konsequent fortgesetzt hat. Ihnen werden wertvolle Einsichten in die stilistische Entwicklung, aber auch Erfolge in der inhaltlichen Deutung (1946) verdankt. Einen weiteren entscheidenden Durchbruch aber hat H.-V. Herrmann in seiner Studie .Werkstätten geometrischer Bronzeplastik' (1964) erzielt, indem es ihm auf der Grundlage der typologischen Präsenz spezifischer Typen des Pferdebildes in griechischen Heiligtümern gelang, zwischen lakonischen, argivischen und korin-

Die archäologische Erforschung des griechischen Siedlungsbereiches im 8.Jh. v. Chr.

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thischen, bis zu einem gewissen Grad auch attischen Werkstätten bzw. den entsprechenden landschaftlichen Stilmerkmalen zu unterscheiden. Seine Ergebnisse bilden die allgemein anerkannte Grundlage der weiteren Forschung. So hat M. Weber die landschaftliche Gliederung auf die menschliche Gestalt ausgedehnt und Arkadien hinzugefügt (1967, 1974). Auch die großen Monographien zu den olympischen, delphischen und delischen Weihungen sowie denen im boiotischen Kabirenheiligtum aus der Feder von W.-D. Heilmeyer (1979), C. Rolley (1969) und B. Schmaltz (1980) sowie der jüngst erschienene, umfassende Katalog der geometrischen Pferdestatuetten von J.-L. Zimmermann (1989) bauen auf den Einsichten Herrmanns auf. Nach allem, was wir sagen können, setzen die Bronzestatuetten bereits im 9.Jahrhundert ein, wobei Argos das zunächst tonangebende Zentrum gewesen sein dürfte. Später, wohl erst im Verlauf des 8. Jahrhunderts, gesellten sich Sparta, Korinth und Athen dazu. Lokale Werkstätten bilden sich insbesondere im Einzugsbereich der großen, bereits überregional bedeutsamen Heiligtümer, und dies auch im westlichen und nördlichen Griechenland; dabei kam es offenbar wiederholt zu einer zeitlich begrenzten oder auch ständigen Niederlassung von Wanderhandwerkern, wobei in den westlichen und nördlichen Regionen insbesondere der Einfluß Korinths spürbar wird. — Eine Sonderstellung nimmt daneben Kreta ein, wo die bronzezeitlichen Traditionen lange nachwirken (Naumann 1976; PilaliPapasteriou 1985). Von den, insgesamt betrachtet, nicht auf gleichem künstlerischen Niveau wie die Bronzestatuetten stehenden, deswegen aber keinesfalls ausschließlich primitiven Tonstatuetten sind jene aus Samos durch D. Ohly (1940, 1941) und K. Vierneisel (1961), die Olympischen wiederum durch eine stattliche Monographie von W.-D. Heilmeyer (1972) adäquat publiziert worden. Für Olympia kann dieser eine in protogeometrischer Zeit beginnende und bis über das Ende der geometrischen Epoche hinausführende Entwicklung nachweisen, die trotz ihrer gattungsspezifischen Eigenständigkeit dem allgemeinen Stilverlauf entspricht. — Wichtig sind daneben die in MG II einsetzenden Pyxidenpferde aus Attika, die nicht zuletzt aufgrund ihrer durch den Gefäßdekor vorgegebenen relativen Datierbarkeit entsprechende Beachtung gefunden haben. Weitere Werkstätten mit qualitätvollen Produkten dürften auch in Argos vorauszusetzen sein. Anders als bei den Bronzestatuetten, für die es auf dem Festland keine unmittelbaren spätbronzezeitlichen Vorgänger gab, konnte die Herstellung von Terrakotten unmittelbar an die mykenische Tradition anknüpfen, die, wie R . V. Nicholls in einem breit fundierten Aufsatz gezeigt hat (1970), bruchlos in die protogeometrische Zeit übergeht. Eine zusammenhängende Behandlung der geometrischen Elfenbeinarbeiten (darunter die herausragenden Kerameikos-Statuetten unbekleideter weiblicher Personen) liegt nicht vor. Freilich ist aufgrund der sehr viel weniger günstigen Erhaltungschancen deren Umfang eng begrenzt. Starke orientalische Einflüsse

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werden, nicht zuletzt durch die neuen Funde aus der Idäischen Zeushöhle, greifbar (Sakellarakis, im Druck). Das Gewicht, das dem geometrischen Abschnitt der griechischen Plastik im Rahmen der Gesamtentwicklung dieser Kunstgattung heute zu Recht beigemessen wird, kommt auch dadurch zum Ausdruck, daß dieser nun auch im Handbuch der Altertumswissenschaften eine entsprechende Behandlung durch J. Floren erfahren hat (1987). Eine eigene Kategorie, die in Originalen kaum faßbar ist, in der jüngeren Literatur aber zunehmende Beachtung findet (Willemsen 1939; Herrmann 1975; Papadopoulos 1980; Romano 1983; Donohue 1988), stellen die frühen, z.T. in der Überlieferung als ,Xoana' bezeichneten Kultbilder dar. Es fällt schwer, eine feste Vorstellung von ihrem Aussehen zu gewinnen. In ihnen vermischen sich, wie u. a. auch aus der Umschnitzung des samischen Kultholzes ablesbar ist, einfache Naturgebilde mit Ansätzen bewußter plastischer Gestaltung. Daß auf diesem U m w e g die zunächst schlichten Kulthölzer die bildnerische Entwicklung beeinflußt haben, ist zumindest eine nicht unbegründete Vermutung. Wohl spätestens im 8.Jahrhundert haben wir mit ausgeprägten Typen des Götterbildes zu rechnen, wo neben ,Stand'-Bildern in der Art der Dreros-Statuetten bereits auch mit Sitzbildern zu rechnen ist (Kranz 1972, 1978; Jung 1982), deren Reflexe sich in der gleichzeitigen Terrakottenplastik niedergeschlagen haben. Donohue, A. Floren, J. Furtwängler, A.

Heilmeyer, W.-D.

Herrmann, H.-V.

Jung, H. Kranz, P.

1988 Xoana and the Origins of Greek Sculpture. Atlanta 1988. 1987 Die Griechische Plastik, Bd. I. Die geometrische und archaische Plastik. Hb. der Archäologie. München 1987. 1879 Die Bronzefunde aus Olympia und deren kunstgeschichtliche Bedeutung. Abh. Kgl. Akad. Wiss. Berlin 1879, Phil.-Hist. Klasse, Abh. IV, 3-106 ( = Kleine Schriften, Bd. II, München 1912, 339-421). 1890 E. Curtius-F. Adler, Olympische Ergebnisse IV: A. Furtwängler, Die Bronzen und die übrigen kleinen Funde. Berlin 1890. 1896 Beschreibung der geschnittenen Steine im Antiquarium. Berlin 1896. 1900 Die antiken Gemmen, Bd. III. Leipzig-Berlin 1900. 1972 Frühe Olympische Tonfiguren, Olymp. Forschungen VII. Berlin 1972. 1979 Frühe Olympische Bronzefiguren. Die Tiervotive, Olymp. Forschungen XII. Berlin 1979. 1964 Werkstätten geometrischer Bronzeplastik, Jdl 79, 1964, 17-71. 1975 Z u m Problem der Entstehung der griechischen Großplastik, in: Festschrift fur E. Homann-Wedeking (Waldsassen 1975) 35-48. 1982 Thronende und sitzende Götter. Z u m griechischen Menschenideal in geometrischer und früharchaischer Zeit. Bonn 1982. 1972 Frühe griechische Sitzfiguren. Z u m Problem der Typenbildung und des Orientalischen Einflusses in der frühen griechischen Rundplastik, A M 87, 1972, 1-55. 1978 Ein Meisterwerk frühattischer Koroplastik, AA 1978, 317-329.

Die archäologische Erforschung des griechischen Siedlungsbereiches im 8.Jh. v. Chr. Kunze, E.

Nicholls, R . V.

Naumann, U. Ohly, D. Papadopoulos, J. Pilali-Papasteriou, A. Rolley, C.

Romano, I. B. Sakellarakis, J.

Schmaltz, В. Vierneisel, К. Weber, Μ.

Willemsen, F. Zimmermann, J.-L.

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1930 Zu den Anfängen der griechischen Plastik, A M 55, 1930, 141-166. 1944 Bronzestatuetten, IV. Bericht über die Ausgrabungen in O l y m pia. Berlin 1944, 105-130. 1946 Zeusbilder in Olympia, Antike und Abendland 2, 1946, 95-113. 1961 Kleinplastik aus Bronze, VII. Bericht über die Ausgrabungen in Olympia. Berlin 1961, 138-155. 1967 Kleinplastik aus Bronze, VIII. Bericht über die Ausgrabungen in Olympia. Berlin 1967, 213-236. 1970 Greek Votive Statuettes and Religious Continuity, c. 1200-700 B.C., in: Auckland Classical Essays Presented to E.M. Blailock. Auckland-Oxford 1970, 1-37. 1976 Subminoische und Protogeometrische Bronzeplastik aus Kreta, Jdl, 6. Beiheft. Berlin 1976. 1940 Frühe Tonfiguren aus dem Heraion von Samos, I, A M 65, 1940, 57-102; II, A M 66, 1941, 1-46. 1980 Xoana e Sphyrelata. Testimonianze delle fonti scritte. R o m 1980. 1985 Die bronzenen Tierfiguren aus Kreta. PBF 1,3. München 1985. 1969 Fouilles de Delphes V, Monuments figures. Les Statuettes de Bronze. Paris 1969. 1973 Bronzes geometriques et orientaux ä Delos, in: Etudes Deliens, B C H Suppl. 1 (Paris 1973) 491-524. 1983 Early Greek Cult Images. Ann Arbor 1983. i. Dr. The Idean Cave Ivories. Tagungsberichte des Elfenbeinsymposiums, London, Br.Mus., Dez. 1990. i. Dr. Ivory Trade in the Aegean in the 8 th Century В. С. — Tagungsberichte des 2. Kongresses fur Biblische Archäologie, Jerusalem, Juni 1990. 1980 Metallfiguren aus dem Kabirenheiligtum bei Theben. Berlin 1980. 1961 Neue Tonfiguren aus dem Heraion von Samos, A M 76, 1961, 25-55. 1967 Eine arkadisch-geometrische Bronzegruppe, Städel-Jahrbuch 1, 1967, 8-17. 1974 Zu den frühen attischen Gerätefiguren, A M 89, 1974, 27-46. 1939 Frühgriechische Kultbilder. Würzburg 1939. 1989 Les Chevaux de Bronze dans L'Art Geometrique Grec. MainzGenf 1989.

II 2. B r o n z e d r e i f u ß e G e o m e t r i s c h e B r o n z e s t a t u e t t e n d i e n t e n nicht selten als B e i w e r k g r o ß e r b r o n z e n e r D r e i f u ß e . D e r B r o n z e d r e i f u ß als solcher stellt z w e i f e l l o s — in praktischer w i e in kultisch-repräsentativer V e r w e n d u n g — ein bronzezeitliches E r b g u t (vgl. A m a n dry 1986; H e r r m a n n 1987) dar, das nicht n u r das E n d e der m y k e n i s c h e n E p o c h e überlebt, s o n d e r n i m Verlauf des g e o m e t r i s c h e n Zeitalters als v o r n e h m s t e s , b e s o n ders kostbares W e i h e g e s c h e n k in f r ü h e n H e i l i g t ü m e r n Griechenlands eine g r o ß e

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Stefan Hiller

Aufwertung und zugleich auch eine gewaltige Steigerung der äußeren Dimension ins Monumentale erfährt. Die homerischen Epen, spätgeometrische Vasenbilder, die antike Tradition, wonach Hesiod bei den zu Ehren des Amphidamas abgehaltenen Leichenspielen in Chalkis als Siegespreis einen Dreifuß gewann, den er den helikonischen Musen weihte, — nicht zuletzt eine zwar sehr bruchstückhafte, aber dennoch reichhaltige monumentale Hinterlassenschaft bezeugen eindrucksvoll die neue Bedeutung des Geräts, nicht weniger die technische Leistungsfähigkeit der toreutischen Werkstätten in spätgeometrischer Zeit. Die Monographien von F. Willemsen (1957; weitgehend überholt), M. Maass (1978, 1981) und C. Rolley (1977), die mit den Beständen aus Olympia und Delphi wiederum die wichtigsten und umfangreichsten Denkmälergruppen — daneben ist noch der Komplex aus der Polis-Höhle auf Ithaka hervorzuheben (Benton 1934/5) — vorgelegt haben, haben maßgeblich zum heutigen Kenntnisstand beigetragen. Die Unterscheidung einer in das 1 O.Jahrhundert zurückreichenden Gruppe massiv gegossener Dreifüße mit Argos als führendem Zentrum, die Lokalisierung der jüngeren sog. Gratbeindreifüße in Korinth sowie der aus gehämmerten Blechen hergestellten Gattung in Athen hat breite Zustimmung gefunden. Sie ist auch für die Scheidung der Bronzestatuetten nach Kunstlandschaften von Bedeutung, wie umgekehrt die landschaftliche Zuweisung der Bronzedreifüße durch die Stilmerkmale der mit ihnen verbundenen Bronzefigürchen gestützt wird. Eine eigene Gattung stellen die sog. Stabdreifüße dar. Es handelt sich um Ständer für Kessel, die im Unterschied zu den oben genannten Dreifüßen nicht mit den Beinen fest vernietet sind. Stärker noch als die Gruppe der monumentalen Dreifüße, die eine deutliche formale Entwicklung erkennen läßt, sind die Stabdreifüße der bronzezeitlichen Tradition verpflichtet. Die Frage, ob im Einzelfall spätbronzezeitliche Erbstücke oder an solche anschließende Neufertigungen vorliegen, ist vielfach aufgeworfen und unterschiedlich beantwortet worden (s. Matthäus 1987, 1988; Catling 1984). Die — häufig mit Tierszenen — figural verzierten Randreifen haben für die Entstehung der geometrischen Bildkunst eine offenkundig wichtige Rolle gespielt (Grunwald 1989). Amandry, P. Benton, S. Catling, H . W . Grunwald, Chr.

Herrmann, H.-V.

1986 Sieges myceniens tripodes et trepied pythique, in: Φίλια επη εις Γ. Μυλωναν, Bd. I (Athen 1986) 167-184. 1934/5 The Evolution o f the Tripod-Lebes, BSA 35, 1934/5, 74-130. 1984 Workshop and Heirloom. Prehistoric Bronze Stands in the East Mediterranean, R D A C 1984, 69-81. 1989 Zur Frage der Tradierung mykenischen Bildguts an die geometrische Kunst, in: Festschrift fur Nikolaus Himmelmann (Mainz 1989) 28-33. 1987 Z u m Problem des mykenischen Ursprunges griechischer Heiligtümer: Olympia und Delphi, in: Forschungen zur Ägäischen Vorgeschichte. Das Ende der mykenischen Welt. Akten des Internationalen Kolloquiums 7.-8.Juli 1984 in Köln (Köln 1987) 151-172.

Die archäologische Erforschung des griechischen Siedlungsbereiches im 8.Jh. v. Chr. Maass, M.

Matthäus, H.

Rolley, C. Willemsen, F.

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1978 Die geometrischen Dreifuße von Olympia, Ol. Forschungen X. Berlin 1978. 1981 Die geometrischen Dreifüße von Olympia, A K 24, 1981, 6 - 2 0 . 1985 Metallfuße und Gefäßuntersätze der späten Bronzezeit, der geometrischen und archaischen Periode auf Cypern, PBF II, 8. München 1985. 1987 Bronzene Stabdreifiiße in Zypern und Griechenland. Zur Kontinuität ostmediterranen Metallhandwerks, in: Forschungen zur Ägäischen Vorgeschichte. Das Ende der Mykenischen Welt. A k ten des Internationalen Kolloquiums 1984 in Köln (Köln 1987) 93-121. 1988 Heirloom or Tradition? Bronze Stands o f the Second and First Millenium B . C . in Cyprus and Italy, in: Problems in Greek Prehistory, Papers presented at the Centenary Conference o f the British School o f Archaeology at Athens, Manchester 1986 (edd. F.B. French and K. A. Wardle, Bristol 1988) 2 8 5 - 2 9 3 . 1977 Fouilles de Delphes V , 3 : Les Trepieds a C u v e Clouee, Paris 1977. 1957 Dreifußkessel von Olympia. Olymp. Forschungen III, Berlin 1957.

II 3. Bronzeschmuck Ein weites Forschungsfeld eröffnen Trachtzubehör und Bronzeschmuck, hier insbesondere Denkmälergattungen wie Nadeln, Fibeln und Anhänger, die gerade in protogeometrischer und geometrischer Zeit in großer Zahl und oft qualitätvoller Ausführung hergestellt wurden und somit eine repräsentative archäologische Informationsquelle darstellen. Aus Gräbern, nicht weniger aber auch aus Heiligtümern stammend, haben sie seit langem das Interesse der Forschung auf sich gezogen, nicht zuletzt in den gerade auf diesem Gebiet verhältnismäßig fundreichen nördlichen Teilen Griechenlands. Nach den Standardwerken Chr. Blinkenbergs (1926) zu den Fibeln und P. Jacobsthals (1956) zu den Nadeln hat mit dem Erscheinen des von H. Müller-Karpe begründeten, groß angelegten Corpus der Prähistorischen Bronzefunde (PBF) ein neuer Abschnitt in der Erforschung dieser an sich reizvollen, auch für die Beurteilung allgemein historischer w i e sozioökonomischer Aspekte bedeutsamen Fundgattungen eingesetzt. Neben den üblichen Aspekten der Typologie und Chronologie steht auch hier die Unterscheidung landschaftlicher Merkmale zur Diskussion. Obschon zentrale geographische Bereiche in der systematischen Bearbeitung noch unberücksichtigt sind, haben die neueren Arbeiten grundlegende Fortschritte erzielt, so vor allem die verdienstvollen Untersuchungen von K. Kilian (1975) sowie von I. Kilian-Dirlmeier (1979, 1984), ebenso von E. Sapouna-Sakellarakis und H. Philipp (1981) und DeVries (1972, 1974). Besondere Aufmerksamkeit haben die sog. Plattenfibeln des 9. und S.Jahrhunderts auf sich gezogen, deren flächig ausgebildete Fußraste häufig mit gravierten

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Szenen geschmückt ist. Seit R . Hampes wegweisendem Buch über,Frühe griechische Sagenbilder in Böotien' (Athen 1936) sind sie, aufgrund dieser zunächst dominierenden Landschaft, als böotisch eingestuft worden. Doch hat sich dieses Bild durch Neufunde in anderen Landschaften, so in der Peloponnes, Attika, Euboia, Lokris (Onasoglou 1981) und Thessalien allmählich verändert. Argivische und korinthische Wanderhandwerker, so nimmt man an, haben an der Verbreitung des Typus wesentlichen Anteil gehabt, nicht zuletzt auch nach Nordgriechenland, wo sich eine eigene Werkstätte etabliert zu haben scheint (Kilian-Dirlmeier 1978/9). Die Entwicklung des Typus hat, soweit heute ersichtlich, Vorläufer in Attika und der Argolis; während er jedoch in Attika mit der Mitte des 8.Jahrhunderts ausläuft, gelangt er nun in Böotien zu besonderer Popularität. Unterschiedliche Auffassungen bestehen hinsichtlich des Entstehungsgebietes bestimmter mit der frühen Eisenzeit in Griechenland neu auftretender Schmuckformen wie Bogenfibeln, Spiralfingerringe (Kilian-Dirlmeier 1980; Herrmann 1982) oder Brillenfibeln (Alexander 1965); sowohl der zentraleuropäische Raum wie auch die Agäis, letztere jedoch mit geringerer Wahrscheinlichkeit, werden dafür vorgeschlagen; gleiches gilt auch für eine Reihe von Waffenformen wie Griffzungenschwerter, sog. Peschieradolche u.a. (vgl. Bouzek 1969, 93ff., 115ff., 154ff., 188; 1985,119ff., 152ff.)· Umgekehrt hat die griechische Kolonisation sich zweifellos anregend auf die italische Entwicklung des Trachtzubehörs ausgewirkt (Kilian 1973). Alexander, J. Blinkenberg, C. Bouzek, J.

DeVries, K.

Herrmann, H.-V.

Jacobsthal, P. Kilian, K.

Kilian-Dirlmeier, I.

1965 1926 1969 1985

The Spectula Fibulae of Southern Europe, AJA 69, 1965, 7-23. Fibules Grecques et Orientales, Kopenhagen 1926. Homerisches Griechenland, Prag 1969. The Aegean, Anatolia and Europe: Cultural Interrelations in the Second Millenium B . C . Göteborg 1985. 1972 Incised Fibulae from Boeotia, Forschungen und Berichte 14, 1972, 111-127. 1974 A Grave with a Figured Fibula at Lerna, Hesperia 43, 1974, 80-104. 1982 Geometrische Fibeln der Tübinger Universitätssammlung, in: Praestant Interna, Festschrift fur U . Hausmann (Tübingen 1982) 248-260. 1956 Greek Pins and Their Connections with Europe and Asia, Oxford 1956. 1973 Z u m italischen und griechischen Fibelhandwerk des 8. und 7.Jahrhunderts, Hamb. Beitr. Archäologie 3, 1973, 1-39. 1975 Fibeln in Thessalien von der mykenischen bis zur archaischen Zeit, PBF XIV, 2. München 1975. 1978/9 Drei Kleinbronzen im J. Paul Getty Museum, The Paul Getty Museum Journal 6/7, 1978/9, 123-130. 1979 Anhänger in Griechenland von der mykenischen bis zur spätgeometrischen Zeit, PBF XI, 2. München 1979. 1980 Bemerkungen zu den Fingerringen mit Spiralenden, J b R G Z M 27, 1980, 249-269.

Die archäologische Erforschung des griechischen Siedlungsbereiches im 8.Jh. v.Chr.

Onasoglou, A. Philipp, H. SapounaSakellarakis, E.

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1984 Der Dorische Peplos: Ein Zeugnis der Dorischen Wanderung? Archäol. Korrespondenzblatt 14, 1984, 281-291. 1984 Nadeln von der frühhelladischen bis zur archaischen Zeit von der Peloponnes, PBF XIII, 8. München 1984. 1981 Οί γεωμετρικοί τάφοι της Τραγάνας στην άνατολικήν Λοκρίδα, Arch. Delt. 36, 1981 (1989), A ' 1-57. 1981 Bronzeschmuck aus Olympia, O l y m p . Forschungen XIV. Berlin 1981. 1978 Die Fibeln der griechischen Inseln, P B F X I V , 4. München 1978.

II 4. Goldschmuck Die Sitte, Goldbänder als Totenschmuck mit ins Grab zu geben, findet sich erstmals in Athen um die Mitte des 9.Jahrhunderts. Ihre eigentliche Blütezeit aber fällt in das 8.Jh., w o sie, mit getriebenen Friesen figural bereichert, noch vor der Jahrhundermitte, etwa gleichzeitig mit den frühesten figuralen Szenen auf Vasen auftreten, die möglicherweise von ihnen inspiriert worden sind (Ohly 1953; Nachträge Carter 1972, 41 ff.). Eine orientalische Herkunft der ältesten der für die getriebenen Reliefs verwendeten Matrizen wird seit langem vermutet; so haben etwa Brueckner und Pernice (1893,141), gestützt auf ältere Beobachtungen Hirschfelds (1872, 154) und A. Furtwänglers (1884, 22 ff.), festgestellt, daß das ihnen vorliegende eleusinische Goldblech, noch heute eines der wichtigsten, „eine gute Goldarbeit, [...] ganz und gar seine Muster mit den Dipylonvasen teilt. So führt die Ubereinstimmung darauf, daß die Golddiademe attische Arbeiten sind. Wenn wir nun zu den geometrischen Ornamenten auf den Diademen bereits die orientalischen Muster hinzugefugt finden, so scheint das so zu erklären zu sein, daß die Zunft der attischen Goldschmiede, fortgeschrittener als die Vasenmaler, die orientalischen Muster bereits angenommen hatte, als die Vasenmaler noch ganz im Geometrischen befangen waren." Mit der attischen Provenienz der Gruppe, der Verwendung orientalisierender Motive und ihrem Verhältnis zur gleichzeitigen Vasenmalerei waren bereits damals die zentralen, nach wie vor die Diskussion bestimmenden Fragen umrissen. - Eine eigene lokale Gruppe ist daneben für Euboia greifbar. Im übrigen wird die hochentwickelte Goldschmiedekunst des 9. und insbesondere des 8.Jh.s vielleicht am besten durch Funde granulierter Goldplatten, möglicherweise ursprünglich als Gürtelbesatz verwendet, aus Eleusis sowie durch die Funde aus der Tekke-Nekropole bei Knossos, darunter eine kleine hohl geformte Statuette eines Widderträgers, repräsentiert; zweifellos wird darin orientalischer Einfluß spürbar (Boardman 1967; Higgins 1969; Lembessi 1975; Deppert-Lippitz 1985); daneben dürfen auch wiederum nachwirkende bzw. wieder neu belebte bronzezeitliche Traditionen und Vorlagen vermutet werden (Laffineur 1987).

80 Boardman, J. Carter, J. Deppert-Lippitz, B. Furtwängler, A. Higgins, R . A . Laffineur, R .

Lembessi, A. Ohly, D.

Stefan Hiller 1967 The Khaniale Tekke Tombs II, BSA 62, 1967, 56-75. 1972 The Beginning of Narrative Art in the Greek Geometrie Period, BSA 67, 1972, 25-58. 1985 Griechischer Goldschmuck, Mainz 1985. 1884 Archaischer Goldschmuck, Arch. Ztg. 42, 1884, 22ff. ( = Kleine Schriften, Bd. I, München 1912, 458-468). 1969 Early Greek Jewellery, BSA 64, 1969, 143-153. 1987 Der Zusammenhang von Mykenischem und Frühgriechischem in der Goldschmiedekunst, in: Forschungen zur Ägäischen Vorgeschichte. Das Ende der mykenischen Welt. Akten des Internationalen Kolloquiums 1984 in Köln (Köln 1987), 73-92. 1975 The Fortetsa Goldrings, BSA 70, 1975, 169-176. 1953 Griechische Goldbleche des 8.Jh.s v.Chr., Berlin 1953.

II 5. Gemmen Zu den mit dem Ende der mykenischen Epoche ausgestorbenen, im späteren Verlauf der geometrischen Zeit wieder auflebenden Kunstgattungen — auch hier sind bronzezeitliche Erbstücke als eine von verschiedenen Inspirationsquellen greifbar (Sakellarakis 1976; Thomas 1987) — zählt auch die Glyptik. Nach den grundlegenden Einsichten A. Furtwänglers (1900, III, 57-67) in diese Zusammenhänge sind aus jüngerer Zeit vor allem J. Boardmans Untersuchungen (1963, 1970) zu nennen. So werden ihm neben einer zusammenfassenden Darstellung (1970) auch eine erschöpfende Studie der in ihrer Sonderstellung bereits von A. Furtwängler ausgegrenzten, insgesamt jüngeren sog. „Inselsteine" (1963), des weiteren auch die materialreiche, gemeinsam mit G. Buchner vorgelegte Sammlung der stark orientalisch geprägten, vermutlich im Levantebereich zu lokalisierenden sog. Leierspielergruppe (1964) verdankt. Daneben bleiben freilich sowohl hinsichtlich der zeitlichen Abfolge wie auch der lokalen Zuweisung geometrischer Elfenbeinsiegel noch zahlreiche Fragen offen. Eine zusammenfassende Orientierung ermöglicht P. Zazoffs Abschnitt im Handbuch (1983). Eine Anzahl weiterer qualitätvoller neuer Exemplare hat schließlich J. Sakellarakis' neu aufgenommene Ausgrabung der Ida-Höhle erbracht; dadurch wird die Frage des kretischen Anteils an der geometrischen Siegelkunst aufgeworfen.

Boardman, J. Boardman, J./ Buchner, G. Sakellarakis, J.

1963 Island Gems. London 1963. 1970 Greek Gems and Finger-Rings. London 1970. 1966 Seals from Ischia and the Lyre-Player Group, Jdl 81, 1966, 1-62. 1976 Kretisch-mykenische Siegel in griechischen Heiligtümern, in: Neue Forschungen in griechischen Heiligtümern, Symposium Olympia 1974 (Tübingen 1976), 203-208. 1988 Γεωμετρικές Σφραγίδες άπό τό Ίδαΐο Ά ν τ ρ ο , Arch. Eph. 1988 (im Druck).

Die archäologische Erforschung des griechischen Siedlungsbereiches im 8.Jh. v.Chr. Thomas, E.

Zazoff, P.

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1987 Kretisch-Mykenische Siegel in Gräbern geometrischer und orientalisierender Zeit, in: Forschungen zur Ägäischen Vorgeschichte. Das Ende der mykenischen Welt. Akten des Internationalen Kolloquiums 1984 in Köln (Köln 1987), 231-239. 1983 Die antiken Gemmen, Hb. der Archäologie, München 1983.

II 6. Architektur Ein sehr stark in sich differenziertes, kaum auf einen gemeinsamen Nenner zu bringendes Bild bietet die architektonische Hinterlassenschaft aus geometrischer Zeit. Einzelbauten kultischer und profaner Bestimmung sowie Siedlungsverbände stehen hier gleichermaßen im Blick der Forschung, wozu sich in jüngster Zeit auch Aspekte der ökonomischen und gesellschaftlichen Funktion bzw. Relevanz gesellt haben. Typologische Gruppierungen hat hinsichtlich der Einzelbauten wie auch der Siedlungsformen erstmals umfassend H. Drerup (1969; danach Fusaro 1982; Mazarakis-Ainian 1985; Fagerström 1989) in seiner nach wie vor nützlichen Studie vorgenommen: als grundsätzliche Bauten sind Hausformen mit apsidalem, gekurvtem und rechteckigem Grundriß zu nennen, wobei diese sowohl im profanen wie auch im sakralen Bereich vorkommen, die freilich nicht in jedem Fall scharf getrennt werden können; hinzu kommen nun auch die Tholos (Lauter 1975, 43 ff.; Seiler 1986, 5 ff.) sowie plattformartige Vorrichtungen im Totenkult (Hägg 1974, 1983). Eine konsequente typologische und funktionelle Unterscheidung aber dürfte sich wohl erst im späteren 8.Jahrhundert herausbilden. Für den vorausgehenden Zeitabschnitt ist damit zu rechnen, daß Herrscherhaus und Kultgebäude identisch sind (Mazarakis-Ainian 1988, 1989). Erst mit dem Rückgang der Herrschaftsform des Königtums und zugleich mit der Ausbildung der autonomen Polis erhält das Tempelgebäude seine ausschließlich kultische Funktion; gleichzeitig damit setzt seine architektonische Ausgestaltung ein. Die damit zusammenhängende, vielfach mit dem problematischen Befund von Thermos В — und neuerdings auch Lefkandi - verbundene Frage nach der Entstehung der Ringhalle (vgl. Drerup 1962, 1963; Herrmann 1964; Mallwitz 1981; Wesenberg 1982; Schmaltz 1986; Martini 1986) betrifft jedoch wohl erst die nachgeometrische Epoche. Hinsichtlich der Siedlungsformen mag sich eine prinzipielle Unterscheidung von aus Einzelhäusern bestehenden Orten sowie solchen in agglutinierender Bauweise empfehlen. Während in Siedlungen aus Einzelhäusern die typologisch einfacheren, eher aus peripheren Bereichen eingedrungenen Oval- und Apsidenhäuser vorherrschen, bevorzugt das Siedlungskonglomerat eher rektilineare Einheiten; zumeist sind mehrere Räume zu einem Haus vereinigt. W.-D. Heilmeyer (1982, 85 ff.) unterscheidet drei regionale Zonen: Konglomeratsiedlungen im Kernland mit alten Siedlungstraditionen (Kreta, Attika, Argolis, Kykladen), Einzelhaussied-

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lungen in einer schwer begrenzbaren Übergangszone (u. a. Euboia, Ionien) sowie die überwiegend agrarisch-ländlichen Gebiete (Arkadien, westl. Peloponnes, Nordwestgriechenland, Thessalien und Makedonien), in denen es offenkundig keine geschlossenen Siedlungsverbände gab, in denen vielmehr die zentralen Heiligtümer eine integrative Funktion hatten. An eine chronologische Differenzierung im Sinne einer im 8.Jh. erfolgten Ablösung der aus einzelnen apsidalen Megara bestehenden Oikos-Siedlungen durch geschlossene, befestigte Orte mit stärker agglutinierender Bauweise hat hingegen P. Calligas (1986) gedacht. Doch können, wie der Weiler von Lathuresa zeigt, sehr unterschiedlich strukturierte Baukörper auch nebeneinander existieren oder, wie in Smyrna der Fall (Akurgal 1983; Lauter 1985, 83), gelegentlich auch typologisch ältere Formen jüngere überlagern. Als bedeutendste Leistung ist schließlich die Ausprägung der orthogonal strukturierten Siedlung mit weitgehend vereinheitlichten Wohnarealen in etwa gleich großen ,Insulae' hervorzugeben, wie sie zumindest ansatzweise in Vroulia oder auch der ältesten Siedlung von Megara Hyblea (Fusaro 1982) greifbar wird; wir haben hier im Ansatz das hippodamische System, das zur kanonischen Form späterer Neugründungen geworden ist. Nur wenig ist über den ζ. T. wohl durch Zusammenlegung kleinerer Siedlungen (Synoikismos) vollzogenen Prozeß der Urbanisierung der großen Poleis, wie etwa Athen, Argos, Korinth, Eretria etc., bekannt. Akurgal, E. Calligas, P . G .

Drerup, H.

Fagerström, K .

Fusaro, D . Hägg, R .

Lauter, H. Mallwitz, A.

1983 Alt-Smyrna I, Wohnschichten und Athena-Tempel. Ankara 1983. 1988 Hero-Cult in Early Iron A g e Greece, in: R . H ä g g u.a. (Hrsg.), Early Greek Cult Practice, Proceedings o f the Fifth International Symposium at the Swedish Institute at Athens, 1986 (Stockholm 1988), 229-234. 1962 Zur Entstehung der griechischen Tempelringhalle, Festschrift fiir Friedrich Matz (1962, 32-38). 1963 Z u Thermos В , Marb. Winckelmannprogramm 1963, 1-12. 1969 Griechische Baukunst in geometrischer Zeit (Arch. Horn., Kap. O , Göttingen 1969). 1988 Finds, Function and Plan: A Contribution to the Interpretation of Iron A g e Nichoria in Messenia, O p . Ath. 17, 1988, 33-50. 1989 Greek Iron A g e Architecture. Göteborg 1989. 1982 N o t e di architettura domestica greca nel periodo tardo-geometrico e arcaico, Dial, di Arch. N S 4, 1982, 5-30. 1974 Die Gräber der Argolis in submykenischer, protogeometrischer und geometrischer Zeit. Uppsala 1974. 1983 Funerary Meals in the Geometric Necropolis at Asine, in: R . H ä g g (Hrsg.), The Greek Renaissance o f the Eighth Century B . C . , Proceedings of the Second International Symposium at the Swedish Institute in Athens 1981 (Stockholm 1983), 189-194. 1985 Lathuresa. Beiträge zur Architektur und Siedlungsgeschichte in spätgeometrischer Zeit. Mainz 1985. 1981 Kritisches zur Architektur Griechenlands im 8. und 7.Jh., A A 1981, 599-642.

Die archäologische Erforschung des griechischen Siedlungsbereiches im 8.Jh. v. Chr. Martini, W. Mazarakis-Ainian, A.

Schmaltz, В. Seiler, F. Wesenberg, B.

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1986 Vom Herdhaus zum Peripteros, Jdl 101, 1986, 23-36. 1985 Contribution a l'etude de l'architecture religieuse grecque des äges obscurs, AntCl 54, 1985, 5-48. 1987 Geometrie Eretria, AK 30, 1987, 3-24. 1988 Early Greek Temples: Their Origin and Function, in: R . Hägg u. a. (Hrsg.), Early Greek Cult Practice, Proceedings of the Fifth International Symposium at the Swedish Institute at Athens 1986 (Stockholm 1988), 105-119. 1980 Bemerkungen zu Thermos В, AA 1980, 318-336. 1986 Die griechische Tholos. Mainz 1986. 1982 Thermos В 1, AA 1982, 149-157.

III. Forschungsaspekte, Forschungstendenzen Neben der auf die systematische Erfassung und Ordnung der geometrischen Denkmäler in räumlicher und zeitlicher Hinsicht ausgerichteten Forschung haben sich von den sechziger Jahren an zwei hier zumindest kurz zu erwähnende Forschungsaspekte besonderer Aufmerksamkeit erfreut: zum einen geht es dabei um die inhaltliche Deutung der geometrischen Bilderwelt, zum andern um die Beschreibung der spezifischen ästhetischen Qualität der geometrischen Kunst. Schließlich ist eine vom angelsächsischen R a u m ausgehende Verlagerung des Forschungsinteresses über die kunstarchäologisch relevanten Denkmälergruppen hinaus auf eine möglichst breite, die gesamte archäologische Befundsituation als Quelle historischer Evidenz einbeziehende Materialbasis hervorzuheben.

III 1. Interpretationsfragen Obschon die Bildtradition der Bronzezeit nicht zur Gänze versiegt (Benson 1970), treten figürliche Vasenbilder in Athen mehr oder minder unvermittelt erst wieder in größerer Anzahl seit dem späteren 2. Viertel des 8.Jahrhunderts in Erscheinung, wobei auch östliche Anregungen übernommen worden sein dürften (Rombos 1988). Die dominierenden Themen, die zum Teil im letzten Jahrhundertviertel wieder aus der Übung kommen, beziehen sich zum einen auf die Welt des Kriegers, zum anderen auf den Grabkult: Kämpfe im Bereich von Schiffen sowie auf dem Schlachtfeld, daneben die Aufbahrung des Verstorbenen sowie die Ehrungen am Grabe gehören zu den geläufigen Bildsujets (Ahlberg 1971). — Wie schon früher die Darstellungen auf den figürlich geschmückten Plattenfibeln (Hampe 1936; DeVries 1974) haben auch bei den Vasenbildern vor allem Fragen ihres Verhältnisses zu Homer und zur epischen Dichtung die Forschung in besonderer Weise beschäftigt. Neben Forschern, die einen überwiegend „heroischen" Charakter erkennen (Snodgrass 1979, 1980, 1987) und an eindeutige mythologi-

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sehe Szenen glauben (Webster 1 9 5 5 ; äußerst zurückhaltend: Fittschen 1 9 6 4 ) , stehen solche, die darin ausschließlich Darstellungen der zeitgenössischen Alltagswelt sehen wollen (Carter 1 9 7 2 ) . Eine Schlüsselrolle in der Diskussion hat neben der Frage nach den künstlerischen Konventionen und der geometrischen Sehweise vor allem auch die nach der Realität des sog. Dipylonschildes gespielt: stellt er ein bewußt archaisierendes Symbol, das den mythisch-heroischen Charakter der Szenen hervorhebt (Snodgrass; Hurwit), dar, oder handelt es sich um eine zeitgenössische, in Gebrauch befindliche Schildform, die mit der sog. mykenischen ,Achter-Schildform' nichts zu tun hat (Carter; Boardman)? Oder ist die Frage als solche falsch gestellt? Haben sich die Kämpfer des 8.Jahrhunderts als die ,neuen Heroen' empfunden und — möglicherweise mißverstandene — ältere Symbole neu belebt (Hurwit 1 9 8 5 ) ? Haben sie ihre Leichenbegängnisse im Sinne heroischer, d. h. episch überlieferter bzw. angeregter Totenriten begangen (u. a. Blome 1 9 8 4 ) ? Inwieweit verfließen die verschiedenen Realitätsebenen im Denken und in der Bildkunst der Zeit (vgl. Benson 1 9 8 9 ) ? Der Umstand, daß mit dem Aufkommen der geometrischen Bildkunst in verstärktem M a ß mykenische Gräber als Ort von Heroenkulten nachweisbar sind, spricht doch wohl dafür, hier einen gewissen Zusammenhang zwischen der in den Epen besungenen Epoche der Heroen und einem entsprechenden Lebensgefuhl und Selbstverständnis der Zeit zu erkennen (Coldstream 1 9 7 6 ) ; doch hat man auch auf grundlegende Divergenzen zwischen dem homerischen und dem zeitgenössischen Totenkult, etwa hier Totenverbrennung und auf der anderen Seite Körperbestattung, hingewiesen und damit den Bezug zu Homer in Frage stellen zu müssen gemeint (Snodgrass; Morris; Calligas). — Einen symbolischen Bildcharakter hat, bezogen auf die Motive des CesnolaKraters, P. Kahane ( 1 9 7 3 ) anhand allgemeinerer ikonographischer Parallelen aufzuzeigen versucht. Ahlberg, G.

Benson, J. L. Blome, P. Boardman, J. Calligas, P.

Carter, J. M. Coldstream, N. DeVries, K. Fittschen, K.

1971 Prothesis and Ekphora in Greek Geometrie Art. Göteborg 1971. 1971 Fighting on Land and Sea in Greek Geometrie Art. Göteborg 1971. 1970 Horse, Bird and Man. The Origins o f Greek Painting. Amherst/ Mass. 1970. 1984 Lefkandi und Homer, Würzburger Jahrbücher fur die Altertumswissenschaft N.F. 10, 1984, 9 - 2 2 . 1983 Symbols and Story in Geometric Art, in: W. G. M o o n (Hrsg.), Ancient Greek A r t and Iconography (Wisconsin 1983), 15—36. 1988 Hero-Cult in Early Iron A g e Greece, in: R . Hägg u.a. (Hrsg.), Early Greek Cult Practice, Proceedings o f the Fifth International Symposium at the Swedish Institute at Athens 1986 (Stockholm 1988), 2 2 9 - 2 3 4 . 1972 The Beginning of Narrative A r t in the Geometric Period, B S A 67, 1972, 2 5 - 5 8 . 1976 Hero-Cults in the A g e of Homer, JHS 96, 1976, 8 - 1 7 . 1974 Oral Poets and Fibula Incisers, Teiresias, Suppl. II, 1974. 1969 Untersuchungen zum Beginn der Sagendarstellungen bei den Griechen. Berlin 1969.

Die archäologische Erforschung des griechischen Siedlungsbereiches im 8.Jh. v.Chr. Hampe, R . Hurwit, J. Kahane, P. Morris, J. Rombos, Th. Snodgrass, A . M .

Webster, Τ. B. L.

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1936 Frühe Griechische Sagenbilder in Böotien. Athen 1936. 1985 The Dipylon Shield Once More, Classical Antiquity 4, 1985, 121-126. 1973 Ikonologische Untersuchungen zur griechisch-geometrischen Kunst, AK 16, 1973, 114-130. 1988 Tomb Cult and the ,Greek Renaissance': the past in the present in the 8th century B . C . , Antiquity 62, 1988, 750-761. 1988 The Iconography of Attic Late Geometric II Pottery. Jonsered 1988. 1979 Poet and Painter in Eighth-Century Greece, Proceedings of the Cambridge Philological Society 205, 1979, 118-130. 1980 Towards the Interpretation of the Geometric Figured Scenes, A M 95, 1980, 51-58. 1980 Archaic Greece. London etc. 1980. 1982 Les Origines du Culte de Heros dans la Grece antique, in: A . M . Snodgrass/G. Gnoli/J.-P. Vernant (Hrsg.), La mort, les morts dans les societes anciennes (Cambridge 1982), 107-119. 1987 The First Figure Scenes in Greek Art, in: An Archaeology of Greece (Berkeley 1987), 132-169. 1955 Homer and Attic Geometric Vases, B S A 50, 1955, 38-50.

Ill 2. Die ästhetische Dimension Das Phänomen des geometrischen Stils als solchen hat eine vor allem in der deutschsprachigen Forschung beheimatete, sich in der Nachfolge von F. Matz der strukturalistischen Kunstbetrachtung verpflichtet wissende Forschungsrichtung seit den 60er Jahren in besonderer Weise in das Zentrum der Forschung gerückt, wobei es gleicherweise um die formale Definition wie um die inhaltliche Deutung ging. Als maßgeblich dürfen hier die Schriften N. Himmelmanns zur geometrischen Plastik, zur Frage der konkreten Bedeutung geometrischer Ornamente, nicht zuletzt des Mäanders, aber auch zum sozialen Umfeld und der gesellschaftlichen Funktion der homerisch geometrischen Kunst gelten. Mit seinen Gedanken haben sich, diese weiterführend oder auch in kritischer Auseinandersetzung, u. a. H. Marwitz, B. Andreae und B. Schmaltz beschäftigt. In diesem Zusammenhang verdient auch das ebenfalls kunstarchäologisch ausgerichtete, zugleich den epischen Konnex berücksichtigende B u c h J . M . Hurwits über die geometrische und archaische Kunst Griechenlands (1985) erwähnt zu werden. Andreae, В./ Flashar, H. Andreae, B.

Himmelmann, N.

1977 Strukturaequivalenzen der homerischen Epen und der frühgriechischen Vasenkunst, Poetica 9, 1977, 217-266. 1979 Z u m Dekorsystem der geometrischen Amphora 804 im Nationalmuseum Athen, in: Studies in Classical Art and Archaeology, Α Tribute to Peter Η. von Blanckenhagen (1979), 1-16. 1964 Bemerkungen zur Geometrischen Plastik. Berlin 1964. 1968 Über einige gegenständliche Bedeutungsmöglichkeiten des frühgriechischen Ornaments, Abh. Akad. Wiss. Mainz 1968, Nr. 7.

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Hurwit, J. M. Marwitz, H.

Schmaltz, В.

Stefan Hiller 1969 Über bildende Kunst in der homerischen Gesellschaft, Abh. Akad. Wiss. Mainz 1969, Nr. 7. 1985 The Art and Culture of Early Greece, 1100-480 B.C., Ithaca & London 1985. 1961 Das Bahrtuch. Homerischer Totenbrauch auf geometrischen Vasen, AuA 10, 1961, 7-18. 1966 Besprechung von N . Himmelmann (1964), in: GGA 218, 1966, 220-236. 1968 Das Raumproblem in der frühgriechischen Kunst, in: Festschrift für Werner Gross (München 1968), 25^(3. 1980 Volumen und Schwerkraft in der Kunst geometrischer Zeit, Marb. Winckelmannprogramm 1980, 3-36.

III 3. Forschungsrichtungen. Zusammenfassende Darstellungen Die systematische Erschließung der fur das geometrische Zeitalter relevanten Denkmälergruppen stand und steht weiterhin im Zentrum einer in erster Linie kunstarchäologisch interessierten Forschungsrichtung. Die übergreifenden Behandlungen der geometrischen Kunstdenkmäler durch F. Matz (1950) und B. Schweitzer (1969) stellen entsprechend den Versuch dar, die Summe des in den vorausgehenden Jahrzehnten über Stilentwicklung, Denkmälergattungen und landschaftliche Ausprägungen erarbeiteten Wissens zu ziehen und somit ein geschlossenes Bild einer in sich zusammenhängenden Stilepoche zu geben. Eine andere, insbesondere von der angelsächsischen Forschung vertretene Richtung vernachlässigt die genannten Kunstgattungen keineswegs, wertet sie aber nicht so sehr als Exponenten der künstlerischen, sondern vielmehr der allgemeinen historischen Entwicklung. Bezeichnend dafür sind die großen, auf Vollständigkeit der Materialerfassung bedachten Monographien von Desborough (1972), Snodgrass (1971, 1980) und Coldstream (1977), der auch in seinem Band über die geometrische Keramik (1968) ein ausgedehntes abschließendes Kapitel,Historical Conclusions' betitelt, das er mit den Worten „How far can the study of Geometric pottery assist the historian today?" eingeleitet hat. Ähnlich ist J. Bouzeks Darstellung der geometrischen Epoche (1969) konzipiert. Diese stärker auf quantifizierende Aussagen bedachten Arbeiten, zu denen auch die in der deutschsprachigen PBF-Serie zu rechnen sind, runden das von der kunstarchäologischen Forschung entworfene Bild in mannigfacher Weise ab und schärfen das Verständnis für die historischen Voraussetzungen. Eine gewisse Mittelstellung nimmt W.-D. Heilmeyers kunsthistorischer Abriß der geometrischen Epoche — mit etwa der im Wort ,kunsthistorisch' angezeigten Akzentabstufung — ein. Aus der Einbeziehung technologischer, ökonomischer und siedlungsgeographischer Aspekte entwickelt sich ein flächendeckendes Relief der geometrischen Landschaften Griechenlands mit der unterschiedlichen kulturellen Gewichtung der einzelnen Entwicklungszentren und ihrer Randbereiche. Für die allgemeine

Die archäologische Erforschung des griechischen Siedlungsbereiches im 8.Jh. v. Chr.

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kulturelle Situation aber hat es zweifellos seine Bedeutung im Sinne einer historischen Aussage, wenn etwa N . Coldstream (1977, 318) mehr als 70 Kultorte der geometrischen Periode kartieren kann oder wenn A. Snodgrass (1980, 37, fig. 4) über 20 Orte mit geometrischen Heroenkulten nachweist, desgleichen, wenn man, wie zuletzt I. Kilian-Dirlmeier (1985), den Anteil fremder Weihungen innerhalb der einzelnen Heiligtümer aufschlüsselt, auch, wennJ.L. Zimmermann (1989, 309 Anm. 15) vorrechnet, daß von den bei ihm erfaßten 879 geometrischen Pferdestatuetten 84% aus Olympia und Delphi kommen, wobei 43% davon Importe aus anderen Landschaften darstellen bzw. von in Olympia tätigen, jedoch auswärtigen Toreuten gefertigt sind. Nicht minder aussagekräftig sind, was das allgemeine Entwicklungsbild des Jahrhunderts angeht, Berechnungen, wie sie u.a. A. Snodgrass (1980, 23) vorgelegt hat und denen zufolge die Bevölkerung im Verlauf des 8.Jahrhunderts um das 7fache ansteigt, — oder wonach die Anzahl der in Delphi geweihten Bronzestatuetten vom 9. zum 8.Jh. von 1 auf 152, die der Terrakotten im gleichen Zeitraum von 21 auf 837, desgleichen die der Bronzefibeln im thessalischen Philia von 2 auf 1783 ( + ) oder in Lindos von 52 auf 1540 anwächst. Damit trifft sich, daß, wie W.-D. Heilmeyer (1982,118) statistisch festhält, sich die Bronzevotive produzierenden Werkstätten, abermals vom 9. zum 8.Jh., von zwei auf mindestens sieben vermehren. Gleichzeitig reduziert sich, wie von J. Morris beobachtet wurde, der Anteil von pro Bestattung erwachsener Personen beigegebenen Metall-Artefakten von der submykenischen Epoche (1.7) — über ein Maximum in früh- und mittelgeometrischer Zeit (2.8) — in der spätgeometrischen Phase spürbar (auf 0.8), während umgekehrt die Anzahl der beigegebenen Vasen im gleichen Zeitraum (von 1.3 auf 6.8 pro Grablegung) ansteigt. Zwei Aussagen, die eine von A. Furtwängler (1900, III, 8), die andere von N. Coldstream (1968, 360), mögen die hier angedeutete Spannweite der möglichen Forschungsansätze, zugleich aber auch eine gewisse, durch den Gegenstand bedingte Konvergenz verdeutlichen. Für A. Furtwängler bedeutete der geometrische Stil nach der Zersplitterung der mykenischen Welt „ein neues Element", „das mit großer Kraft auftritt und den Geschmack in allen Produkten bildender Kunst beherrscht"; einen Stil, der „nun, wenn auch lokal vielfach differenziert, fast überall auftritt, dessen Wesen aber im denkbar schärfsten Gegensatz zu dem mykenischen steht. Starre eckige Abstraktion an Stelle des runden vollen Lebens. Nüchterner klarer Verstand an Stelle schwellender Phantasie und Empfindung, Lineal und Zirkel, Regelmäßigkeit der Schablone statt naturnachfuhlender freier Hand. Doch in den besten Produkten wenigstens der Vorzug der Klarheit, und saubere Exaktheit, und die Fähigkeit, die wesentlichen Grundzüge aus den Gestalten der Natur zu abstrahieren ...". Daneben (auf die zweite Hälfte des 8.Jh.s bezogen) das historische Resümee: „The vigour of a rising civilization is now more than ever apparent in the abundance, richness and variety of the material. In every part of Greece, the massive quantity of Late Geometric pottery indicates

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Stefan Hiller

a substantial rise in the p o p u l a t i o n . In addition to the painted pottery, m a n y other arts w e r e n o w a t t e m p t e d . U n d e r the stimulus o f the O r i e n t , stone seals and i v o r y figures w e r e m a d e in G r e e k w o r k s h o p s f o r the first t i m e since the fall o f Mycenae . . . " Bouzek, J. Coldstream, N. Desborough, A. Kilian-Dirlmeier, I. Heilmeyer, W.-D. Morris, J. Snodgrass, A.M.

1969 Homerisches Griechenland im Licht der archäologischen Quellen. Prag 1969. 1977 Geometrie Greece. London 1977. 1972 The Greek Dark Ages. London 1972. 1985 Fremde Weihungen in griechischen Heiligtümern vom 8. bis zum Beginn des 7.Jahrhunderts, J b R G Z M 32, 1985, 215-254. 1982 Frühgriechische Kunst. Kunst und Siedlung im geometrischen Griechenland. Berlin 1982. 1987 Burial and Ancient Society: the Rise of the Greek City-State. Cambridge 1987. 1971 The Dark Ages of Greece. Edinburgh 1971. 1980 Archaic Greece. The Age of Experiment. London 1980.

MANFRED KORFMANN

Der gegenwärtige

Stand der neuen archäologischen in Hisarlik (Troia)*

Arbeiten

Herr Korfmann weist daraufhin, daß er direkt von den Ausgrabungsarbeiten in Troia k o m m e und am nächsten Tag wieder zu ihnen zurückkehren werde; seine Ausführungen könnten daher nur den Charakter eines vorläufigen Zwischenberichts haben. — Hervorhebung verdiene vor allem anderen die Tatsache, daß er und sein Team überhaupt in Troia als Archäologen arbeiten dürften. Möglich geworden sei dies durch eine Lizenzvergabe der Türkischen Regierung an ihn persönlich; eine solche neue Lizenzvergabe an einen Ausländer müsse als höchst ungewöhnlich bezeichnet werden; sie basiere auf einem Beschluß des Ministerrats der Türkischen Republik von 1988. Herr Korfmann und seine Mitarbeiter möchten der türkischen Kollegenschaft und der Regierung der Türkischen Republik für dieses großherzige Entgegenkommen auch an dieser Stelle aufrichtig danken. *

I. Zur kulturgeschichtlichen Bedeutung des Troia-Mythos Das Thema ,Troianischer Krieg' hat bereits kurz nach der Entstehung der Ilias die Kunst bewegt, war also damals wohl in aller Munde. Dargestellt wurde vor allem Troias Eroberung durch die List des Odysseus: durch das Danaergeschenk des Hölzernen Pferdes. Die ersten Belege stammen aus dem 7.Jh., zum Teil fast noch aus den Lebzeiten Homers (Abb.9).^ Danach ist der Einfluß des Mythos bekanntlich bis heute nicht abgerissen (Literatur, Theater, Oper, Ballett usw.). Das Thema wurde aber nicht nur künstlerisch, sondern auch politisch genutzt: Auf den Kampf zwischen europäischen Griechen und asiatischen Troianern berufen sich zahlreiche Herrscher und Reiche — Xerxes, Alexander der Große, die

••Gekürzte Mitschrift des am 17.August 1989 in Augusta Raurica von Prof. Korfmann vorgetragenen Situationsberichts. Ich danke Manfred Korfmann herzlich für die Erlaubnis zur Publikation. J. L. — Auflösung der bibliogr. Abkürzungen unten S. 102. '' Aufzählung, Datierung und Interpretation der einschlägigen Darstellungen bei F. Brommer, Odysseus. Die Taten und Leiden des Helden in antiker Kunst und Literatur, Darmstadt 1983, 51-55, 120f. (Zeittafel); s. auch R . Kannicht, Dichtung und Bildkunst. Die Rezeption der Troja-Epik in den frühgriechischen Sagenbildern, in: Wort und Bild, München (Fink) 1979, 290-292.

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Manfred K o r f m a n n

Kreuzfahrer des 4. Kreuzzuges, der türkische Eroberer von Istanbul, die Könige Frankreichs, die Herzöge Burgunds u. v. a. 2 ' In R o m hat sich der Mythos von der troianischen Herkunft und Nachfolge des römischen Reiches seit dem 5.Jh. v. u. Z. ausgebreitet und verfestigt. Das iulischclaudische Herrscherhaus hat den Mythos aufgegriffen und zum Ausbau seiner Herrschaftsideologie genutzt: es führte sich bewußt auf den troianischen Prinzen Aeneas bzw. dessen Sohn Iulus zurück (Vergils Aeneis) und faßte R o m als späte Rächerin Troias an den Griechen auf. Über diese Geschichtskonstruktion, die sich in der Blütezeit der römichen Dichtung unter Augustus (dem Adoptivsohn Gaius Iulius Caesars) in der Dichtung stark verbreitet (Vergil, Horaz, Ovid u.a.), ist der Troia-Mythos zu einer wichtigen Bildungsgrundlage in der aus Griechenland und R o m hervorgegangenen neuzeitlichen Welt geworden; er hat sich zu einem Identität und Einheit stiftenden Faktor innerhalb des europäischen Gedankenguts entwickelt; Troia ist ein wesentlicher Teil des geistigen Fundaments der europäischen Gegenwart geworden. Mythos und mythenverarbeitende Literatur können, wie sich an diesem Fall besonders deutlich zeigt, die Welt durchaus in dauerhafter Weise bewegen.

II. Troias geographisch-topographische Position Die um etwa 730 v. u. Z. entstandene Ilias verrät eine recht gute Kenntnis der Landschaft um Troia. Der Iliasdichter bzw. seine Informanten dürften mit genau registrierenden Sinnen über die Skamander-Ebene gegangen sein. Dabei dürften sie auch an die heute verlandete Hafenbucht, die Be$ik-Bucht, an der Ägäis-Küste gekommen sein (Abb. 10). Im 8.Jh. konnte man noch die mächtigen Mauern des Troia des 2.Jahrtausends sehen. Dies war auch im 4. und 3.Jh. noch möglich, wie unsere Grabungen in diesem Jahr erneut bestätigt haben. Zur Zeit Homers, im ausgehenden 8.Jh., war Troia besiedelt. Die Besiedlung reichte aber sehr wahrscheinlich viel höher hinauf — um Jahrzehnte, wenn nicht weit mehr. 3 ' Namhafte Wissenschaftler sind der Ansicht, daß der Ort schon lange vor Homers Ilias Troia oder Ilios oder Wilusa hieß. Die Antike wußte, wo Troia oder Ilion lag. Auf der Peutingerschen Wegekarte ist Ilion verzeichnet (Abb. 11), mit Meilenangaben, ζ. B. zum Tempel des Apollon

Neuere Analysen dieses Zweigs der Wirkungsgeschichte: F. Graus, Troja und trojanische Herkunftssage im Mittelalter, in: W. Erzgräber (Hrsg.), Kontinuität u n d Transformation der Antike im Mittelalter, Sigmaringen 1989, 25-43; G. Melville, Troja: Die integrative Wiege europäischer Mächte im ausgehenden Mittelalter, in: F. Seibt und W. Eberhard (Hrsg.), Europa 1500, Stuttgart 1987, 415-435. 3 > Vortrag von D. Hertel, Schliemann-Kongreß, Athen, April 1990.

Der gegenwärtige Stand der neuen archäologischen Arbeiten in Hisarlik (Troia)

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Smintheus (Smintheion; vgl. Ilias I 39).4) Für die meisten Klassischen Philologen der Neuzeit schilderte die Ilias freilich trotz der geographisch-topographischen Authentizität ihres Handlungsraumes ein rein fiktionales Geschehen.

III. Die früheren Troia-Grabungen (Schliemann, Dörpfeld, Biegen) Was bei den deutschen Grabungen von Heinrich Schliemann und W i h e l m D ö r p feld, 1871—1894, gefunden wurde, w a r in der Tat im wesentlichen namenlose Vorzeit. Für die amerikanische Grabung unter der Leitung von Carl W. Biegen, 1932—1938, gilt das gleiche. Die Funde — wenngleich von höchstem wissenschaftlichen Interesse — waren weit entfernt von H o m e r und dem Geschehen der Ilias, das üblicherweise ins beginnende 13.Jh. v. u. Z. datiert wird: Die Schatzfunde aus Troia (Abb. 12) und die wahrscheinlich dazugehörige Bauphase Troia II sind, wie wir heute wissen, entgegen Schliemanns M e i n u n g etwa 1000 Jahre älter als die mutmaßliche Epoche, für die in der Ilias Priamos steht. Insofern wäre die zeitgenössische Kritik an Schliemanns .homerischer' Interpretation seiner Funde durchaus gerechtfertigt gewesen. Allerdings w u r d e n die Angriffe gegen ihn damals nur selten mit archäologischen A r g u m e n t e n geführt. Infolgedessen haben auch die mächtigen Mauern der Befestigung von Troia VI (Abb. 13), die in der Tat in die mykenische Zeit gehören (datiert nach mykenischer Keramik) und die erst nach dem Tode Schliemanns unter der Grabungsleitung Wilhelm Dörpfelds 1893 und 1894 zutage kamen, manche Kritiker nicht überzeugen können. Nichtsdestoweniger haben diese Befestigungsanlagen eine imposante Rekonstruktion der sogenannten ,Burg des Priamos' erlaubt (Abb. 14). Die Frage des Bezugs zwischen Ausgrabungsbefund einerseits und dichterischer Darstellung andererseits kann dabei zunächst ausgeklammert bleiben. Die Prähistorische Archäologie kann Hisarlik durchaus von der Ilias loslösen. Geschieht das, so ist zunächst einmal das P h ä n o m e n interessant, daß hier 46 Bauphasen in neun Schichten von zusammen knapp 20 m H ö h e übereinander liegen; das Ganze stellt sich also wie ein geschichteter Kuchen dar (Abb. 15). Schon dies macht evident, daß der O r t über 3000 Jahre lang bedeutsam war; da ist es signifikant, daß er i m m e r auch befestigt war. Aber zunächst ist etwas anderes wichtig: Diese an den Schichten ablesbare Kulturen-Abfolge gibt die Möglichkeit, ältere Funde u n d Befunde von jüngeren zu trennen. Das bedeutet: Hier, an Europas Grenze, lassen sich Importe und Exporte zeitlich genau scheiden, so daß die Verbreitung kulturspezifischer Artikel in alle Himmelsrichtungen gut zu verfolgen ist und diese Artikel untereinander

4>

Der Tempel wird z.Z. ausgegraben und umfassend interpretiert von Co§kun Özgünel (Ankara).

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Manfred Korfmann

absolut- oder relativchronologisch datiert werden können. Die stratigraphische Ausgrabungsmethode, die dies ermöglicht, verdankt die Prähistorische Archäologie u. a. ihrem Pionier Heinrich Schliemann; er war es auch, der erkannte, daß die Keramik eine Art Leitfossil für Epochen der Menschheitsgeschichte darstellt. 5 '

IV. Troias strategische Bedeutung Warum die Schichten in Troia in der geschilderten Weise übereinanderliegen, warum Troia immer von mächtigen Mauern umwehrt, offenbar also gefährdet war, warum man zur ständigen Erneuerung der Befestigung genügend Reichtümer hatte — sogar schon im 3.Jahrtausend, in der Bronzezeit, wie die vielen Schatzfunde Hisarhks nachhaltig belegen - , das wurde in verschiedenen Publikationen genauer ausgeführt. 6 ' Hier nur soviel: Eigentliche Ursache ist in Troia eine besondere Konstellation der Natur: starke Winde und Meeresströmungen, die sich der Einfahrt in die Dardanellen entgegenstellen, so daß die Schiffe, die ins Schwarze Meer wollten, teilweise wochenlang vor der Dardanellen-Einfahrt, und das heißt: südwestlich Troias in der heutigen Be§ik-Bucht, warten mußten. Die besondere geographische Lage verlieh den Troianern eine Machtstellung: sie konnten Zoll von den zum Warten gezwungenen Schiffen erheben — in fast beliebiger Höhe. Das hat viele zweifellos gestört. So kann es als sicher gelten, daß es häufig Kriege um Troia gab. Die Verteidigungsmauern, ständig erneuert, sprechen für sich. Dadurch rückt auch die Ilias in ein anderes Licht: ob sie viele Kriege aus nebulöser Vergangenheit zusammenfaßt oder von einem ganz bestimmten Krieg berichtet, wissen wir bisher nicht. Vielleicht werden wir es nie erfahren. Sicher ist jedoch m.E. (von der Ilias völlig abgesehen), daß es auch im 14. und 13.Jh. mehrere Kriege in Hisarlik/Troia gab. Somit zeichnet sich schon mit einfachen Argumenten eine Antwort auf die Frage ab, ob sich ein realer historischer Kern in der Ilias findet. Es fragt sich nur, was man unter .historischem Kern' versteht. Deutlich ist, daß Troia manchem wirklich lästig gewesen sein muß. In diesem Gebiet der Erde stießen Menschen und Kulturen ständig aufeinander. Für diesen geographisch und damit wirtschaftlich so außerordentlich günstig gelegenen Platz lohnte es sich also ohne Zweifel, als Verteidiger wie als Angreifer Opfer zu bringen.

5) Siehe dazu M. Korfmann, Vorwort zu .Heinrich Schliemann, Bericht über die Ausgrabungen in Troja in den Jahren 1871 bis 1873', München/Zürich (Artemis) 1990, VII-XXIX. 6) Siehe bes. Korfmann 1984, 167-170: Korfmann 1986b, 13; J. Neumann, Wind and Current Conditions in the Region of the , Windy Ilios' (Troy), in: AA 1986, 345-363; Latacz 1988, 396; Korfmann 1990, XVII.

Der gegenwärtige Stand der neuen archäologischen Arbeiten in Hisarlik (Troia)

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V. Die neue Grabung (1988 und 1989) U n s e r e f r ü h e r e n Arbeiten (seit 1981) an der Be§ik-Bucht, der ägäischen H a f e n b u c h t v o r Troia, die v o r n e h m l i c h den prähistorischen Epochen galten, sind hier nicht Gegenstand der B e t r a c h t u n g . Sie w u r d e n 1987 vorläufig abgeschlossen. 7 ' Das neue Troia-Projekt steht g e g e n w ä r t i g in seiner 2. K a m p a g n e ; das ist die 18. der Gesamtzählung. M i t dieser Z ä h l u n g reihen w i r das P r o j e k t b e w u ß t in eine Tradition ein. D i e neuen Arbeiten haben, genauso w i e diejenigen v o n Biegen u n d in gewissem Sinne auch die v o n D ö r p f e l d , entschieden archäologische, sow o h l prähistorisch-archäologische als auch klassisch-archäologische, Ziele. Die gegenwärtige Arbeit in Troia findet in einer Grundatmosphäre des Respekts vor den technischen, aber auch wissenschaftlichen Leistungen Heinrich Schliemanns (1871-1890), Wilhelm Dörpfelds (1893-1894) und Carl William Biegens und seiner Mitarbeiter von der University of Cincinnati (1932-1938) statt. Die Bindungen gerade auch der amerikanischen archäologischen Forschung an Troia werden in der neuen Grabung fortgesetzt. Neben der permanenten Diskussion innerhalb der Wissenschaftler-Mannschaft (etwa 25 Fachleute verschiedener Disziplinen, dazu Studenten) steht eine jährliche ,Hisarlik-Konferenz', die der Planung des weiteren Vorgehens dient. Troia wird also nicht aufgrund einsamer Beschlüsse der Grabungsleitung ausgegraben.

1. Vermessung Die erste A u f g a b e der neuen G r a b u n g w a r die R e k o n s t r u k t i o n des Vermessungssystems der S c h l i e m a n n - D ö r p f e l d - G r a b u n g . Diese schwierige Arbeit (es gab keinerlei Vermessungspunkte i m Gelände) k o n n t e unter Einsatz m o d e r n e r t o p o g r a phischer A u f n a h m e v e r f a h r e n erfolgreich abgeschlossen w e r d e n (wobei p h o t o grammetische A u f n a h m e n die D o k u m e n t a t i o n ergänzen). Das Vermessungssystem steht jetzt u n d k a n n beliebig erweitert w e r d e n . D a h e r k o n n t e als nächstes d a m i t b e g o n n e n w e r d e n , alle alt u n d neu ausgegrabenen M a u e r n u n d sonstigen B e f u n d e zu digitalisieren. Das ist ein f u r die Archäologie relativ neues Vorgehen. Die Ergebnisse sind gut. Es handelt sich u m erneut v o r g e n o m m e n e Vermessungen der B e f u n d e oder, wie beispielsweise b e i m T h e a t e r Α (Abb. 16), u m erstmalige Einmessungen. Von jetzt an k ö n n e n s o w o h l D ö r p f e l d s Pläne als auch unsere neuen Grabungspläne u n d alle d a m i t v e r b u n d e n e n I n f o r m a t i o n e n — inklusive F u n d e — digitalisiert u n d in das Gesamtsystem eingehängt w e r d e n .

7

> Zusammenfassender Bericht flir die philologische Fachwelt: Latacz 1988.

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Manfred Korfmann

2. R e i n i g u n g u n d Z u s t a n d s - D o k u m e n t a t i o n Z u r D o k u m e n t a t i o n des Zustands der Gesamtruine w u r d e n L u f t a u f n a h m e n angefertigt (Abb. 17). Sie erfolgten, n a c h d e m Arbeiter zwei W o c h e n lang die R u i n e n v o m jahrzehntealten dichten B e w u c h s gereinigt hatten. Diese d o k u m e n t a r i s c h e n A u f n a h m e n w e r d e n regelmäßig fortgesetzt. Sie m ü s sen schon deshalb vorliegen, weil sich der Z u s t a n d in Troia schnell ändern w i r d . Z u der L u f t d o k u m e n t a t i o n tritt ergänzend hinzu die niveaugleiche O b e r f l ä c h e n d o k u m e n t a t i o n : Das Institut f ü r den Wissenschaftlichen Film in G ö t t i n g e n u n d die M e d i e n - A b t e i l u n g der Universität T ü b i n g e n haben m i t der auf viele Jahre angelegten Film- u n d V i d e o - D o k u m e n t a t i o n der U n t e r n e h m u n g b e g o n n e n . Ein wesentliches Anliegen in der Anlaufphase der neuen G r a b u n g ist die R e i n i g u n g des Grabungsplatzes (Abb. 18 u n d 18a). Das B a d e n - W ü r t t e m b e r g i s c h e Inn e n m i n i s t e r i u m ist m i t Fachkräften bei der Restaurierung behilflich. Im nächsten J a h r soll d a m i t b e g o n n e n w e r d e n , die Troia I-Befestigungsmauern i m Bereich der R a m p e sowie die R a m p e selbst zu restaurieren (Abb. 19). Troia, die 100jährige R u i n e einer R u i n e , aus T r o c k e n m a u e r w e r k errichtet, das überall zusammenstürzt, schreit nach Hilfe (Abb. 20, 20 a). N i c h t überall w i r d die Lösung der A u f g a b e so einfach sein wie hier a m 5000jährigen T o r t u r m der Schicht Troia I, w o n o c h in der Anfangsphase des Einsturzes restauriert u n d so weiterer Schaden verhindert w e r d e n k o n n t e .

3. Arbeiten im , S c h l i e m a n n - G r a b e n ' Als vordringliche archäologische A n f a n g s a u f g a b e in den R u i n e n v o n Troia erschien es, den ,Schliemanngraben' zu reinigen. In der Praxis bedeutet das, daß der G r a b e n neu ausgegraben w e r d e n m u ß (Abb. 21 u n d 21a). Es gilt den über 100jährigen Schutt a b z u r ä u m e n . D a h i n t e r steht das K o n z e p t (das einige J a h r e f ü r die Restaurierung G e l t u n g haben wird), i m Innern der Akropolis bei den ältesten u n d auch meistgefährdeten Schichten anzufangen u n d dann allmählich z u m J ü n geren, d. h. in den Außenbereich, vorzustoßen. Es ist klar, daß der ,Schliemanngraben' auch unter denkmalpflegerischen Gesichtspunkten geschützt w e r d e n m u ß ; denn er ist ein M o n u m e n t der archäologischen Forschungsgeschichte. Ü b e r h a u p t soll Troia — nicht zuletzt aus R e spekt v o r Schliemanns Arbeit — in seinen wesentlichen Z ü g e n so bleiben, wie es ist. Mittlerweile sind alle M a u e r n der frühesten Troia I-Epoche freigelegt u n d in etwa gleicher Weise wieder sichtbar wie zu Schliemanns Zeiten; derzeit w e r d e n sie restauriert (Abb. 22). Aus der Freilegung w u r d e n eine ganze R e i h e neuer Erkenntnisse g e w o n n e n , v o r allem solche, die f ü r eine neue Interpretation der S t r u k t u r e n wichtig sind.

Der gegenwärtige Stand der neuen archäologischen Arbeiten in Hisarlik (Troia)

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Die Befunde des Schliemanngrabens gehören der Troia I-Epoche an. Sie sind also in die Frühbronzezeit zu datieren. Das bedeutet in diesem Falle: etwa in den Zeitabschnitt zwischen 3000 u n d 2800 v. u. Z. Diese Präzision in der Datierung ist ebenfalls neu. Sie ist dadurch möglich geworden, daß wir n u n auch mit kalibrierten С 14-Daten argumentieren können, und zwar nicht nur v o m BefikTepe her, sondern auch von Troia selbst aus. Im Norden und Süden des Grabens haben in den dreißiger Jahren die Archäologen der University of Cincinnati gearbeitet. A u f g r u n d der neuen N a c h p r ü f u n g e n ist es nun, nach m e h r als 50 Jahren, gelungen, ihre Ergebnisse mit denjenigen der Schliemanngrabung inhaltlich zu verbinden. Die Resultate der Schliemanngrab u n g stellen sich dadurch jetzt ganz neu dar: Schliemanns Längsmauern erweisen sich nun als Hausmauern eines größeren Siedlungssystems, das sich nach N o r d e n über eine merkliche Terrasse hinweg erstreckte und das sehr wahrscheinlich das b e r ü h m t e ,House 102' der Schicht Troia I miteinbezieht (Abb. 21 a). Dieses Haus, das seinen Eingang i m Westen hatte, gilt seit über 50 Jahren als das älteste bekannte M o n u m e n t des Haustyps ,Megaron', und zwar als freistehendes Gebäude (das als ,Vorform des griechischen Anten-Tempels' angesehen wurde). Diese D e u t u n g m u ß jetzt bezweifelt werden. W i r erkennen in den Grabungsbefunden nebeneinander gelegene riesige Langhäuser mit jeweils zwei großen R ä u m e n . Ihre Flachdächer waren von Ständern gestützt. Der Eingang zu zumindest zweien dieser Reihenhäuser lag, wie bei ,House 102', im Westen. Das Erdprofil im Osten des Grabens (Abb. 23) ermöglichte eine weitere Verk n ü p f u n g von Ergebnissen der amerikanischen Troia-Grabung im N o r d e n mit denjenigen von innerhalb des Schliemanngrabens. Zwischen der Schicht Troia I und Troia II ist eine auffällige Steinkiste erkennbar: ist das ein Grab, ein Hinweis auf einen Friedhof in Troia? — Aus d e m unteren Teil des Profils stammt eine Serie von С 14-Daten, die Troia I datieren (zumindest von der С 14-Seite her). Weitere zahlreiche Proben w u r d e n an anderen Stellen g e n o m m e n . Bis auf wenige Gebiete konnten die Ausräumarbeiten im ,Schliemann-Graben', die sich auf eine Fläche von über 500 m 2 erstreckten, bereits z u m Abschluß gebracht werden. Erfolgreich waren auch unsere diesjährigen Arbeiten im Norden des Schliemanngrabens (Abb. 24). Hier konnte die Unterteilung der Amerikaner Bauphase auf Bauphase in zuvor noch nicht ausgegrabenen Abschnitten überprüft bzw. zusätzliches Material g e w o n n e n werden. Das Verständnis der Troia I-Kultur n i m m t zu. Dazu tragen auch die Ergebnisse v o m Bejik-Yassitepe bei.8)

8

> Korfmann 1988, 392-394; Korfmann 1989.

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Manfred Korfmann

4. Erdkegel Ein anderes dringliches Anliegen der Jahre 1988 und 1989 w a r es, einen der noch verbliebenen zwei Erdkegel abzutragen, die Heinrich Schliemann und Wilhelm Dörpfeld zunächst als M e ß m a r k e n , dann aber auch deshalb haben stehen lassen, damit spätere Archäologen die oberen Schichten-Abfolgen noch einmal sollten überprüfen können. Es w u r d e festgestellt, daß sich die H ö h e des von uns untersuchten Kegels im Verlauf von knapp einhundert Jahren u m etwa 2,25 m verringert hat. Das ist auf Erosion u n d andere zerstörende Kräfte zurückzuführen. Der Kegel w u r d e eingerüstet und sorgfältig ausgegraben. W i r trafen bisher Befunde und Funde der Schichten V, IV und III an. Insbesondere die Funde der Schicht III, über die wir bisher wenig wissen, sind wichtig. Das große verbrannte Megaron (Abb. 25) der Bauschicht Troia II beherrschte lange diese Stelle. Die Katastrophe markiert das Ende der Schicht Troia II. Das Megaron läßt sich aber in seinen Ausmaßen noch gut rekonstruieren. Es ist ein A r c h i t e k t u r m o n u m e n t , das in der Frühen Bronzezeit Europas und Asiens höchst ungewöhnlich ist: Länge knapp 40 m, lichte Breite 10,20 m, Mauerstärke 1,5 m, Türbreite 4 m. In der Mitte des Saales lag eine Herdplatte von vier Metern Durchmesser. In diesem Gebäude scheint in der Tat die Vorform des griechischen Vorhallentempels vorzuliegen. Die Schicht Troia II (Abb. 26) ist nicht nur deshalb von besonderem Interesse, weil hier dieser Megaronbau u n d andere Prachtbauten stehen. In jener Zeit zählt Troia zu den ganz wenigen Plätzen der Welt, an denen schon sehr f r ü h Bronze in großer M e n g e verwendet wurde. Die Mischung aus Kupfer und Z i n n e r m ö g lichte von jetzt an, der Mitte des 3.Jahrtausends, die Herstellung von harten Arbeitsgeräten beliebiger Form und Größe, eben durch Metallguß. Nicht zuletzt aber auch ist nun die serienmäßige Herstellung gleichartiger Waffen möglich (Streitäxte, Lanzenspitzen, Schwerter). Dieser weltgeschichtlich bedeutsame Wechsel ist bisher allein in Troia faßbar. Gleichermaßen erkennen wir in Troia II den U b e r g a n g von handgeformter Aufbaukeramik zur Drehscheibenware (Abb. 27). Das bedeutet spezialisierte saisonale Produktion, H a n d w e r k , große Stückzahlen und somit Handelsgut.

5. Arbeiten an der Troia VI-Mauer Eines der Hauptziele dieses Jahres war es, die Verlängerung des ,Schliemanngrabens' nach Süden hin einzuleiten (Abb. 28). Dabei hatten wir mehrere Fragen: W i e sieht es unmittelbar i m Innern und dann auch außerhalb vor der Befestigungsmauer von Troia VI aus? Die großartige Befestigungsmauer des 2.Jahrtausends bedarf weiterer Untersuchungen. U n s geht es speziell u m die Verlängerung des Schliemanngraben-Profils bzw. dessen D o k u m e n t a t i o n . Wichtig ist auch

Der gegenwärtige Stand der neuen archäologischen Arbeiten in Hisarlik (Troia)

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die Frage, w a n n die Befestigungsmauer bzw. der dortige Mauerabschnitt genau errichtet wurde. Schließlich geht es auch u m das Verständnis der Geschehnisse außerhalb der B u r g von Troia II: Gab es eine Unterstadt zu Troia II, III, IV und V? Ferner: Gab es vor der Mauer von Troia VI ein Annäherungshindernis, z.B. einen Graben der Troia VI-Epoche? W i e stellen sich die Schuttschichten dar, bis zu der Zeit, da dieses riesige Gebilde seine Schutzfunktion eingebüßt hatte? Was passierte danach? U m es gleich zu sagen: Außen, in den Arealen D 9 u n d D 1 0 (Abb. 29), sind wir derzeit i m m e r noch im Bereich hellenistischer Gebäude. Es wird gewiß einiger Kampagnen bedürfen, u m das Ziel dieser ,Sondage', etwa 3—5 m tiefer, zu erreichen. Denn auch die M e n g e an Keramik- u n d sonstigen Funden ist enorm: auf 4 Arbeiter k o m m e n jeden Arbeitstag etwa 10 volle Eimer! Im Innern, hinter der Befestigungsmauer, im Areal D 8, sehen wir schon recht klar. Zwei Bauabschnitte der Festungsmauer sind durch Steinsplitt markiert, der von der Steinmetzarbeit beim Zurichten der Blöcke herrührt. Importierte Keramik gibt es des öfteren, auch eine Eberzahnplatte, die möglicherweise von dem Belag eines Helmes stammte. N a c h eingehender Analyse der Keramik w e r den wir hier A n t w o r t auf die Frage nach der Zeit der Errichtung dieses Mauerabschnittes b e k o m m e n .

6. Untersiedlung Ein anderer Schwerpunkt der 1988er und 1989er U n t e r n e h m u n g e n galt dem Bereich der sogenannten Untersiedlung von Troia, d e m Gelände, dem man anhand der Scherbenfunde oberflächig schon ansieht, daß hier eine umfangreiche, insbesondere römische Besiedlung stattgefunden hat (Abb. 30). Diese römische Stadt ist bisher noch nicht in ihrer archäologischen Substanz beschrieben w o r d e n . Hier w u r d e in neun Gebieten auf einer Fläche von insgesamt etwa 700 m2 gearbeitet. Aus diesen Arbeiten im Bereich außerhalb der Akropolis, d. h. im Gebiet von Ilion, sind 6 Ergebnisse hervorzuheben. (1) Z w e i mit mächtigen Steinen (von Größen bis zu 1,60 χ 0,90 m) gepflasterte, rechtwinklig aufeinander zulaufende Straßen (Abb. 31) konnten durch Ausgrabung nachgewiesen werden. Die Gebäude an diesen Straßen waren von beachtlicher Größe. Sie hatten bis zu 90 cm breite u n d über 1,20 Meter tiefe Steinfundamente. I m m e r verlaufen die Strukturen parallel zu den Straßen oder im rechten Winkel zu ihnen — u n d dies über sehr lange Zeitabschnitte hin (2) Die Monumentalität von Straßen und Gebäuden (Abb. 32), dazu die Lage unmittelbar unter der Oberfläche hat uns überrascht. Marmorstücke u n d Mosaikfußböden, die vor wenigen Wochen erst zutage kamen, zeugen v o m Wohlstand der Bevölkerung, Terrakotten und deren G u ß f o r m e n belegen handwerkliche

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Manfred K o r f m a n n

Aktivitäten in diesem Viertel. Wasserleitungen (Abb. 33) lagen in Ilion überall, und dies auf verschiedenen Grabungsebenen. Die Stadt Ilion bzw. Ilium war also offenbar großzügiger ausgestattet, als man bisher aus Archäologensicht meinte. Oberflächig waren bislang kaum Monumente bekannt. Schriftliche Quellen wiesen seit jeher auf intensive Bemühungen des iulischclaudischen Herrscherhauses, aber auch späterer Herrscher hin, Ilion großzügig auszubauen. Diese Quellen werden jetzt bestätigt. Genaueres bedarf weiterer Erforschung bzw. Auswertung. Man kann nunmehr auch die Tempelkonstruktionen und die früher schon an der Akropolis ausgegrabenen hellenistischen bzw. römischen Monumente unmittelbar südlich der Burgmauer von Ilion (Theater, Altäre und Bad) sowie das große Theater am Nordosthzng des Geländesporns zueinander in Beziehung setzen. Es ergibt sich ein durchaus großstädtisches Aussehen der Ansiedlung. Daß die Reste dieser antiken (hellenistisch-römischen) Stadt direkt unter dem Ackerboden so vorzüglich erhalten sind, liegt wohl daran, daß das Siedlungsareal schon recht früh, wohl im beginnenden 5.Jahrhundert u.Z., im wesentlichen aufgegeben wurde: Die südlich gelegene Stadt Alexandria in der Troas mit ihren beiden tiefgründigen Hafenbecken hatte als neues Zentrum der Landschaft Troas Handel und Wandel auf sich gezogen. Der Grund lag m. E. wiederum vornehmlich in den Windverhältnissen: U m die Zeitenwende war das Segeln gegen den Wind erfunden worden. Die Schiffe erhielten somit nunmehr Schwerter bzw. Kiele und brauchten folglich einen echten, tiefen Hafen. Die flache Sandbucht des Ägäis-Hafens von Troia (Bejik-Bucht), die vordem so vorteilhaft war, um die Schiffe an Land zu ziehen, verlor infolgedessen jetzt ihre Bedeutung. (3) Die Erforschung von Ilion wird dadurch erleichtert, daß man, wie es derzeit aussieht, relativ schnell und eindeutig das System der kalksteingepflasterten Straßen und der tönernen Wasserleitungen mit magnetischen Prospektionsmessungen wird darstellen können (Abb. 34). Von der Ausrichtung her lassen sich Straßen und Wasserleitungen gut in einen Bezug zueinander bringen, so daß künftig ganz gezielt gegraben werden kann. Die wichtige Frage lautet aber für den Archäologen und Historiker: Wann ist die gesamte Anlage, Stadt und Akropolis bzw. Tempelbezirk, geplant bzw. gebaut worden: in hellenistischer oder in römischer Zeit? Eine wichtige Rolle wird dabei die Datierung des Athena-Tempels von Ilion spielen, von dem eine Bauinschrift sagt, daß er das Werk des Augustus sei (Fachleute haben widersprochen: hellenistisch). Wahrscheinlich werden wir auf dem U m w e g über unsere Rekonstruktion der Gesamtplanung der Unterstadt eine Antwort zur Frage nach dem Beginn dieses Konzeptes erhalten. (4) In der Verlängerung der sog. Ay§e-Straße stießen wir auf eine Fläche mit Steinplatten, eventuell den Marktplatz bzw. Platz vor dem Buleuterion und Odeion und allgemein dem Tempelgebiet (Agora?). Obenaufkamen Reste eines

Der gegenwärtige Stand der neuen archäologischen Arbeiten in Hisarhk (Troia)

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wahrscheinlich frühbyzantinischen Friedhofs zutage, der mit der Kirche zusammenhängen könnte, die nachträglich in das sogenannte Bad südlich vom Odeion bzw. Theater С eingebaut worden ist. (5) Schliemann hat im Bühnenbereich des großen Theaters Α (Abb. 35) gearbeitet, ebenso die Biegen-Expedition der dreißiger Jahre. Nähere Ausführungen, Unterlagen, Pläne davon gibt es nicht. W i r sahen es als unsere Aufgabe an, hier den umfangreichen Bewuchs und die Aufschwemm-Erde zu beseitigen und die Dokumentation nachzuholen. Die Arbeit hat sich gelohnt: Bühne und Bühnenhaus (Abb. 36) sind nunmehr sichtbar, mit der Dokumentation konnte begonnen werden. Es handelt sich nach bisherigen Erkenntnissen um eine baugeschichtlich wichtige hellenistische Anlage, die in römischer Zeit umgebaut wurde. (6) Weitaus spannender für uns ist jedoch bei der Unterstadt-Erforschung die Epoche des 13.Jh.s v . u . Z . : Bei der von uns festgestellten römischen Bebauung sind die Fundamentgruben in den Kulturboden präzise und tief eingeschnitten gewesen. Innerhalb dieser Bebauung stießen wir überall dort, w o wir tiefer gehen konnten, auf Fundschichten der späten Epoche Troia VI (Abb. 37). Mit den Arealen К 1 3 und К 1 8 sind das Fundpunkte, die ca. 100 und 180 m südlich des Südtores der Burg von Troia VI liegen. Die Befunde und Funde — darunter auch mykenische Keramik (Abb. 38) belegen erneut, daß das von Schliemann bzw. eher Dörpfeld freigelegte Troia des 13.Jahrhunderts offenbar die Burg zu einer größeren Ansiedlung ist. Von der Topographie her ist uns klar, daß das Zentrum der Untersiedlung von Troia VI weiter im Westen liegen dürfte, auf dem Höhenrücken, der 400 m südlich auf den im Jahre 1934 ausgegrabenen Troia VI-Friedhof zufuhrt. Früher schon gelegentlich geäußerte Vermutungen, daß es eine Untersiedlung zu Troia VI gibt, werden jetzt bestätigt. Dörpfeld hatte in seinem Bericht ausdrücklich betont, daß sich zukünftige Grabungen auf diese Unterstadt würden konzentrieren müssen: das war auch die Meinung Schliemanns. W i r stehen also mit unseren Arbeiten in einer Tradition. Beachtenswert ist m . E . , daß es ausgerechnet gerade wieder das dreizehnte Jahrhundert ist, in dem Troia offenkundig besonders in Blüte stand und weit über die Akropolis hinausreichte.

7. Die ersten beiden Grabungsjahre: Aufgaben und Perspektiven Schon im 1. und 2. Grabungsjahr haben sich, wie das Vorstehende deutlich macht, wissenschaftliche Schwerpunktaufgaben ergeben: die Befestigungsmauer der Burg von Troia VI als solche muß weiter erforscht und die Siedlung zur Burg Troia VI ausgegraben werden. Beides wird viele Jahre in Anspruch nehmen. W i e weit sich die Troia VI-Siedlung im Süden der Burg erstreckte, wird zunächst mit systematischen Bohrungen zu klären sein.

100

Manfred Korfmann

TOPLU BIRKAZI ARASTIRMASI EIN ARCHÄOLOGISCHES FORSCHUNGSPROJEKT AN ARCHAEOLOGICAL RESEARCH PROJECT VOR-UND "FRÜHGESCHICHTUCHE HÄOLOG IE, A U S G R ABUNG S Tübingen

RARC

F N A T Ü R L . UMWELT FVOR-U. FRÜHGESCHICHTI ^NUTZUNG ^Tübingen, Izmir, Kiel

« П О Л -BOTANIK Minnesota Tübingen Kiel

/CHEMIE f Heidelberg, Minnesota PHYSIK, GEOPHYSIK Tübingen

•ZOOLOGIE Tübingen •METEOROLOGIE Kopenhagen, Tel Aviv GEOCHEMIE Tübingen ANTHROPOGEOGRAPHIE Izmir, Tübingen GEOLOGIE,SEDIMENTOLOGIE Heidelberg, Tübingen,Delaware PHYSISCHE

' DENDROCMONOLOQE ITHAKA.NY

1ARCHITEKTUR, \BAU\GESCHICHTE W Ankara, Karlsruhe

ANTHROPOLOGIE

BYZANTINISTLKY

„H.SCHLIEMANN / R E Z E P T I O N S К GESCHICHTE Athen, Tübingen ALTGRIECHISCHE PHILOLOGIE, L A T E I N I S C H E PHILOLOGIE Basel, Erlangen

Mainz,Tübingen METALLURGIE Heidelberg.Maim RESTAURIERUNG Cmmat..Tübingen Stuttgart VERWALTUNG Tübingen

NUMISMATIK/ Cincinnati .Tübingen J

^TURKOLOGIE ^ Amsterdam, Bamberg, Istanbul

MEDIEN/VIDEOööttingen, Tübingen

VERMESSUNGSKUNDE Istanbul. Schwaikheim

P U B L I K A T I O N E N Basel, Cincinnati, Tübingen

THERMDLUMINESZENZQAT1ERUNG Heidelberg DATENVERARBEITUNG Tübingen PHOTOGRAMMETRIE Schwalheim. Ankara PHOTOGRAPHIE Cincinnati.Tübingen ZEICHNUNGEN Istanbul .Tübingen

UNIVERSITÄT TUBINGEN in Zusammenarbeit mit;

UNIVERSITY OF CINCINNATI



DEUTSCHES ARCHÄOLOGISCHES INSTITUT 1988-

Manfred Korfmann Machteid Mellink u.a.

1981-1987

Uni T ü b i n g e n / D A I (Manfred Korfmann)

1932-1938

Carl W. Biegen (University of Cincinnati)

1924

Wilhelm Dörpfeld Oskar Mey Martin Schede

1893-1894

Wilhelm

Dörpfeld

1870-1890

Heinrich Schliemann Ilias-Rezeption, R e i s e berichte, Forschungen in der Troas ••

Frühe Neuzeit Mittelalter

/

\

Antike ca.730 v.u.Z. Homer,Ilias Graphik: Projekt und Mitarbeiter

Der gegenwärtige Stand der neuen archäologischen Arbeiten in Hisarhk (Troia)

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W i r sind b e m ü h t , bei der weiteren E r f o r s c h u n g Troias alle der m o d e r n e n Archäologie zur V e r f ü g u n g stehenden M e t h o d e n einzusetzen. D a h e r sollten viele Disziplinen, auch naturwissenschaftliche, zu einer solchen A u s g r a b u n g gehören (Schliemann, V i r c h o w , D ö r p f e l d u n d Mitarbeiter sind darin z u m ersten Mal in der Geschichte der Archäologie konsequent v o r a n g e g a n g e n ) . Aus dem Kreis der interdisziplinären Forschung soll in diesem Zusammenhang die Arbeit des Izmirer Anthropogeographen Prof. Ilhan Kayan hervorgehoben werden. Kayan hatte sich schon in der Befik-Bucht den Verlandungsfragen der letzten Jahrtausende zugewandt. Diese sind jetzt gleichermaßen für das Mündungsgebiet des Skamander bzw. Menderes von Interesse. Mit Gelände-Untersuchungen und zahlreichen Bohrungen soll das alte Landschaftsbild in der Umgegend von Troia rekonstruiert werden. Die Ergebnisse der 1988 und 1989 vorgenommenen ersten Bohrungen scheinen zu besagen, daß Meer- oder Lagunenwasser im 5. und 4.Jahrtausend v. u. Z. bis unmittelbar unter die Felsnase reichte, auf der die Mauern von Troia errichtet wurden. Im Verlauf der Zeit zog sich dann das Wasser langsam zurück. Das Gebiet versumpfte. Die nachfolgenden Auffüllungen sind von beträchtlicher Stärke. Das sind vorläufige Erkenntnisse; sie werden durch die Auswertung der Bohrungsergebnisse abzusichern sein.

Das Troia-Projekt ist ein internationales interdisziplinäres U n t e r n e h m e n . Institutionen aus verschiedenen Teilen der Welt beteiligen sich mit Forschungen u n d A n a lysen, v o r O r t ebenso wie in fernen Laboratorien. Die G r a p h i k (s. links) stellt das Einzugsgebiet u n d die interdisziplinäre u n d arbeitssystematische Schichtung dar.

VI. Zusammenfassung Die im Verlauf v o n fast h u n d e r t Jahren zerfallene R u i n e der R u i n e Troia g e h ö r t mit zu den besonders schwierigen A u f g a b e n der Archäologie. Das neue G r a b u n g s - P r o j e k t hatte i m J a h r e 1988 einen g u t e n Start m i t einer mit der Landschaft u n d Materie vertrauten M a n n s c h a f t . D i e 89er K a m p a g n e , in der auch die Z u s a m m e n a r b e i t mit der amerikanischen G r u p p e e r p r o b t w u r d e , ist erfolgreich verlaufen. Sensationen gab es nicht. Das ist g u t so. Das P r o j e k t findet sein n o t w e n d i g e s ruhiges Fahrwasser. Das ist zunächst das Wichtigste, daß die G r a b u n g an einem so spektakulären O r t n o r m a l verläuft. W i r w a r e n u n d sind i m G e n u ß der praktischen u n d ideellen U n t e r s t ü t z u n g der türkischen Kollegenschaft. W i r erfreuen uns der Hilfe der Universität T ü b i n g e n u n d des Deutschen Archäologischen Institutes, weiterhin der University of C i n cinnati u n d anderer Wissenschaftsinstitutionen w i e der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die das P r o j e k t a m Ägäis-Hafen v o n Troia, das P r o j e k t Befik-Tepe, fordert. A u c h Industriefirmen sind beteiligt, insbesondere die D a i m l e r - B e n z A G . Das L a n d e s d e n k m a l a m t B a d e n - W ü r t t e m b e r g schickte in diesem J a h r zwei seiner besten Bauforscher zur B e r a t u n g bei der Baurestaurierung. Für alle diese U n t e r stützung danken wir. Z u danken ist ferner den vielen Privatleuten, den Mitgliedern des , T ü b i n g e r Förderkreises zur E r f o r s c h u n g der Troas', f ü r U n t e r s t ü t z u n g in W o r t u n d Tat. W i r freuen uns über j e d e n N e u z u g a n g . 1990 begehen w i r den

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Manfred Korfmann

100. Todestag Heinrich Schliemanns und den 50. Todestag Wilhelm Dörpfelds. Die Faszination, die von Schliemanns Entdeckungen vor über hundert Jahren ausgegangen ist und seither angehalten hat, wird durch diese Jubiläen neuen Auftrieb bekommen. Wenn wir durch unsere Grabung der Lösung von nur einigen der vielen Fragen und Rätsel über Troia näherkommen sollten, wird dies für Schliemann - und für Dörpfeld —, so hoffen wir, die beste Ehrung sein.

Abgekürzt zitierte Literatur

Korfmann 1984

Korfmann 1985

Korfmann 1986 a

Korfmann 1986 b

Korfmann 1986 c

Korfmann 1988

Korfmann 1989

Korfmann 1990

Latacz 1988

Schliemann (1990)

M. Korfmann, Be$ik-Tepe. Vorbericht über die Ergebnisse der Grabung von 1982: Die Hafenbucht vor ,Troia' (Hisarhk), Grabungen am Bejik-Yassitepe, in: Archäologischer Anzeiger 1984, 165-176. M. Korfmann, Bejik-Tepe. Vorbericht über die Ergebnisse der Grabung von 1983: Grabungen am Bejik-Yassitepe und Be§ik-Sivritepe, in: AA 1985, 157-172. M. Korfmann, Be§ik-Tepe. Vorbericht über die Ergebnisse der Grabungen von 1984: Grabungen am Bejik-Yassitepe, Bejik-Sivritepe und Besik-Gräberfeld, in: A A 1986, 303-329. Μ. Korfmann, Troy: Topography and Navigation, in: Troy and the Trojan War. A Symposium held at Bryn Mawr College October 1984. Bryn Mawr College, Bryn Mawr Pa. 1986, 1-16. M. Korfmann, Be§ik-Tepe: N e w evidence for the period of the Trojan sixth and seventh settlements, in: Troy and the Trojan War (s. Korfmann 1986b), 17-28. M. Korfmann, Besik-Tepe. Vorbericht über die Ergebnisse der Grabungen von 1985 und 1986: Grabungen am Be§ik-Yassitepe und im BejikGräberfeld, in: AA 1988, 391-398. M. Korfmann, Be$ik-Tepe. Vorbericht über die Ergebnisse der Arbeiten von 1987 und 1988: Auswertungsarbeiten Bejik-Sivritepe, BejikYassitepe, Besik-Gräberfeld, Grabungen am Be§ik-Sivritepe, in: AA 1989, 473—481. M. Korfmann (Hrsg.): Heinrich Schliemann, Bericht über die Ausgrabungen in Troja in den Jahren 1871 bis 1873, München/Zürich 1990 (zuerst Leipzig 1874: ,Trojanische Alterthümer'), VII-XXIX. J. Latacz, Neues von Troja, in: Gymnasium 95, 1988, 385—413 und Tafeln X V I I - X X I V (englisch in: Berytus 34, 1986 [erschienen 1988], 97-127; neugriechisch in: ΠΛΑΤΩΝ. Δελτίον της Εταιρείας Ε λ λ ή ν ω ν Φιλολόγων 40, 1988, 40-51). s. Korfmann 1990.

II Homer und die althistorische Forschung

GUSTAV ADOLF L E H M A N N

Die ,politisch-historischen' Beziehungen der Ägäis-Welt des 15 —13.Jh.s v. Chr. zu Ägypten und Vorderasien: einige Hinweise Der durch den Titel umrissene immense Themenbereich — ein Ausblick auf die Erforschung der Geschichte des östlichen Mittelmeerraumes im ausgehenden 2.Jahrtausend v. Chr. — kann hier, wenn überhaupt, nur in starker Verkürzung (die aber Vereinfachungen zu meiden sucht) und mit rigorosen Eingrenzungen ansatzweise erörtert werden. (1) Einerseits werde ich mich auf einige Bemerkungen zu wichtigen Schriftquellen-Zeugnissen beschränken, die ein gewisses Licht auf die politisch-historischen Verhältnisse in der frühgriechisch-ägäischen Welt des 15.-13.Jh.s v.Chr. werfen bzw. werfen können. (2) Andererseits soll es um die einigermaßen faßbaren Konturen der sog. ,Seevölker'-Katastrophen im östlichen Mittelmeerraum gehen — um fundamentale Umbrüche (vornehmlich von den letzten beiden Jahrzehnten des 13.Jh.s an bis tief in die erste Hälfte des 12.Jh.s v.Chr. hinein) innerhalb einer Epoche, in der wohl zum ersten Mal weite Bereiche der altorientalischen Ökumene mit offenkundig dramatischen Ereignissen und Bewegungen in der Ägäis-Welt konfrontiert worden sind. Im Mittelpunkt des historischen Interesses steht hierbei natürlich ein Vorgang von schlechthin säkularer Bedeutung: der abrupte und definitive Zusammenbruch des hethitischen Großreiches in seinen anatolischen Kerngebieten sowie die Krise seiner wichtigsten Klientelstaaten im nordsyrischen R a u m , an der Levanteküste sowie auf Zypern. Hingegen werden w i r uns Ausblicke auf einige wichtige Resultate der ,Seevölker'-Bewegungen in diesem R a u m - u. a. die Ausbildung der *Palaister/,Philister'-Herrschaft in Kanaan (,Palaistina') seit der 2.Hälfte des 12.Jh.s v.Chr. (im Schatten der nach dem Tode Ramses' III. sinkenden Pharaonenmacht) — leider versagen müssen. 1 ' Auflösung der bibliogr. Abkürzungen unten S. 126. '' Die ursprüngliche Vortragsfassung w u r d e - dem eher diskursiven Charakter meiner Bemerkungen entsprechend - weitgehend beibehalten; Literaturhinweise und kritische Anmerkungen

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Gustav Adolf L e h m a n n I

Die markantesten politisch-geographischen Begriffe, die in den vorderasiatischen und ägyptischen Schriftquellen-Zeugnissen konkret auf zeitgenössische Machtund Reichsbildungen bzw. auf palatiale Herrschaftszentren in der ägäisch-frühgriechischen Welt verweisen, lauten: 1. Kafta I kft (ägypt. Version) bzw. Kaphthor (ein Landesname, der im AT durchgehend den Ausgangsbereich der Philister, der ,Kreter und Plether', vor ihrer Festsetzung in Kanaan bezeichnet), das als Kaptarüm (,vom oberen Meer', vgl. A H w 445 a) sowohl in den Archiven von Mari (am mittleren Euphrat; 18./17.Jh. v. Chr.) als auch von Ugarit (bei Lattakia an der Levanteküste; 14./13.Jh. v. Chr.) begegnet (Kaptara)·, 2. das Reich von Danaja (s.u.), und 3. das Reich von Ahhijavä (in den U r k u n d e n des hethitischen Reichsarchivs von Hattusa-Bogazköy), das als maritim wie militärisch mächtiges ,Fremdland des Meeres' Aqaiwasa offensichtlich auch in den Merneptah-Texten hervortritt (ca. 1209 v.Chr.). Wichtige ägyptische Text- und Text/Bild-Belege zum Fremdländer-Namen Kafta I kft (aus *kaftar) standen der historischen Forschung schon seit der m o n u mentalen Publikation von R. Lepsius2' zur Verfugung — aber erst die Grabungsergebnisse und Funde auf Kreta (in Knossos, Phaistos und Mallia) ab 1900 haben die sichere Identifizierung (mit d e m minoischen Kreta) und weitergehende A u f klärung erbracht: gleichwohl hat hier bis in unsere Tage hinein die — von den Ubersetzern und Redaktoren der Septuaginta in hellenistischer Zeit ganz willkürlich v o r g e n o m m e n e — Gleichsetzung des biblischen Kaphthor mit Kappadokien immer wieder Verwirrung gestiftet. 3 ) Eine gründlich und behutsam k o m m e n t i e beschränken sich daher auf das N o t w e n d i g s t e . Für detailliertere D a r l e g u n g e n und A r g u m e n t a tionen verweise ich auf meine Studie ,Die mykenisch-frühgriechische Welt und der östliche M i t t e l m e e r r a u m in der Zeit der ,Seevölker'-Invasionen u m 1200 v . C h r . ' , O p l a d e n 1985. - Z u den Zentren der ägyptischen ,Provinz' Kanaan s. außerdem L e h m a n n 1977, 78—111; eine bedeutende Erweiterung unserer Kenntnisse haben erst j ü n g s t die Ausgrabungen in der Festungsstadt von Tel M i q n e erbracht, die mit d e m alten Philisterzentrum Ekron identifiziert werden kann: s. die Vorberichte von T. D o t h a n / S . Gitin, IEJ 35, 1985, 67f.; 36, 1986, 104ff.; 37, 1987, 63-68; dies., T h e rise and fall of Ekron of the Philistines, Biblical Archaeologist [BA] 1987, 197-222. Sprachwissenschaftlich interessantes Material enthalten die in Teil J e m m e h (nahe Gaza) auf Ostraka (des 8./7.Jh.s v. Chr.) belegten ,Philister'-Andronyme eindeutig nicht-semitischen Charakters: J. N a v e h , W r i t i n g and scripts in 7th-century B . C . E. Philistia: the n e w evidence f r o m Tell J e m m e h , IEJ 35, 1985, 8 - 2 1 . -> R . Lepsius, D e n k m ä l e r aus Ä g y p t e n und Äthiopien, 12 Bde., Berlin 1849-1856. Vgl. neben den älteren Fehldeutungen bei W. M . Müller, Asien u n d Europa nach den altägyptischen D e n k m ä l e r n , Leipzig 1893, 337ff., oder G. A. W a i n w r i g h t , S o m e Sea-Peoples, Journal of Egyptian Archaeology QEA] 17, 1961, 71 ff. (Kaphtor = Kilikien), zuletzt noch J. Strange, C a p h t o r / K e f t i u , A n e w investigation, Leiden 1980, passim (Kafta I Kaphtor als Teil

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rende (bis heute unersetzt gebliebene) S a m m l u n g des Text- und sonstigen Informationsmaterials findet sich in der 1956 vorgelegten Studie von J. Vercoutter, zu der — gleichsam aus kretisch-ägäischer Perspektive — vor allem F. Schachermeyr (seit 1960) wichtige Ergänzungen beisteuern konnte. 4 ' Eine wesentliche Bereicherung unseres historischen Kenntnisstandes ergab sich aus der 1965 gelungenen Entdeckung einer (bislang einzigartigen) monumentalen Statuensockel-Inschrift mit ägäischen Ortsnamen 5 ' aus dem Totentempel A m e n o phis' III. (ca. 1390-1352): Genau entsprechend den anderen großen WeltregionsN a m e n auf den benachbarten Statuensockeln werden hier — als repräsentativ fur den Ägäis-Raum im N o r d e n — auf der Sockelvorderseite deutlich abgesondert die beiden Ländernamen Kafta (kftw) und Danaja/Tanaja (tnju>) als gleichrangige ,Reiche' (bzw. politisch-geographische Titelrubriken) gegenübergestellt, auf die sodann an der linken Sockel-Langseite zwei T o p o n y m e n - G r u p p e n kretischer Provenienz und — darin eingeschlossen — eine Gruppe peloponnesisch-festländischer Ortsnamen folgen. Die beiden kretischen T o p o n y m e n - G r u p p e n werden jeweils von den N a m e n Amnisa bzw. Kunusa-Amnisa angeführt, während die peloponnesisch-festländische G r u p p e folgende Ortsnamen umfaßt: 1. Mukana (mukanu), 2. De-qaj-is ( = *Thegwais/Thebaiis), 3. Mi$anajMi^ania (— Messana, Lin. В mezana), 4. Nuplia (nuprija = Nauplia/Lin. В naperewa ?), 5. Kutira (Kythera), 6. Weleja (wirija; vgl. nordwestgriech.-einheim. f c ^ e i a / i o n . 'Ηλις). Hier kann nur beiläufig d a r a u f h i n g e w i e s e n werden, daß die kretisch-ägäischen Ortsnamen — in auffälligem Kontrast zu der peloponnesisch-festländischen Topon y m e n - R e i h e — offenbar sämtlich noch in vorgriechisch-,minoischer' Ausform u n g verzeichnet w o r d e n sind (d. h. ohne die gewohnten griechischen N o m i n a -

Zyperns gedeutet; s. dazu die berechtigte Kritik von M. Görg, Bibliotheca Orientalis [BiOr] 39, 1982, 533f.), und A.B. Knapp, Alashiya, Caphtor/Keftiu, and Eastern Mediterranean Trade, Journal of Field Archeology |JFA] 12, 1985, 231 ff.; bezeichnend hierzu auch das Eingeständnis in Flavius Josephus' Redaktion der Völkertafel Ant. Jud. 1, 6, 2: πέρα των όνομάτων ουδέν ϊσμεν! 4) J. Vercoutter, L'Egypte et le Monde Egeen Prehellenique, Kairo 1956, bes. 51 ff.; 203 ff. u. 305 ff.; s. ferner F. Schachermeyr, Das Keftiu-Problem und die Frage des ersten Auftretens einer mykenischen Herrenschicht im minoischen Kreta, Jahreshefte des Österreich. Archäol. Instituts [ÖJH] 45, 1960, 49ff.; vgl. dens., Die minoische Kultur des alten Kreta, Stuttgart 1964, bes. 109ff., sowie dens., Griechenland im Zeitalter der Wanderungen (Die ägäische Frühzeit IV), Wien 1980, bes. 475 f.; s. jetzt auch Haider 1988, 41 ff. 5 > Edel 1966, bes. 33ff. (zur Liste E N ); s. ferner P. Faure, Toponymes Creto-myceniens dans une liste d'Amenophis III., Kadmos 7, 1968, 138 ff.; G. A. Lehmann, Bemerkungen zu kretischen Ortsnamen in den Linear B-Texten von Knossos, U F 2, 1970, 351 ff.; vgl. jetzt die eingehende Behandlung von Haider 1988, 1-18 (mit Lit.); s. dens., Zu den wirtschaftlichen und sozialen Beziehungen zwischen Mykene und dem ägyptischen Hof von ca. 1450-1250 v.Chr., in: Festschrift G. Zwanowetz, ed. F. Mathis/J. Riedmann, Innsbruck 1984, 25ff., zur Diskussion der in der Ära Amenophis' III. besonders signifikanten archäologischen Belege für eine Phase sehr enger Kontakte zwischen dem Pharaonenreich und der mykenischen Königsburg.

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tivendungen und z.T. mit durchaus ungriechischen Phonemen): Kunusa (Lin. B . konoso; Knossos), Amnisa (Amnisos/Lin. В aminiso — der Hafenplatz von Knossos), Bajsata/Bajstija (bjst; Lin. В paito; Phaistos), Kutunaja (Lin. В kudonija; Κυδωνία), R/Likata (Lyktos; Lin. В r/lukito). Lassen sich die beiden kretischen Ortsnamen-Reihen (Liste E N links N r . 1 - 3 u. Nr. 1 0 - 1 2 ; Nr. 1 3 - 1 5 sind verloren) annähernd in eine westliche bzw. östliche Gruppe gliedern (jeweils mit AmnisaKunusa als ,Vorort' bzw. Ausgangspunkt), so ist das Ordnungsprinzip innerhalb der peloponnesisch-festländischen T o p o n y m e n - R e i h e nicht eindeutig bestimmbar. 6 ' Den unmittelbar an den , Vorort' Mukana anschließenden Ortsnamen Deqajis haben jüngst - voneinander unabhängig — A. Bartonek und E. Edel überzeugend mit der frühgriechischen (überdies in Linear B-Zeugnissen durchaus greifbaren) Vorform des Toponyms/Landschaftsnamens Thebais (aus Theg w ai/-ais) in Verbindung gebracht, wobei die (notdürftige) Wiedergabe des frühgriechischen Labiovelars durch ein Q ö p h keine ernsten Schwierigkeiten bereitet. 7 ' Mit dem nachfolgenden Ortsnamen Mi§ana wäre sodann ein weiteres Kernland der mykenischfrühgriechischen Palastkultur namhaft gemacht worden, bevor die Abfolge Nuplia (Nauplia), Kutira und Weleja gleichsam einen Halbkreis u m die Peloponnesküste beschreibt. Es bleibt j e d o c h zu beachten, daß die (historisch natürlich primär relevante) Schrift- Vorlage für die Sockelinschrift offenbar noch mehrere

6 ' Gegen meine Überlegungen zur inneren Struktur der ,mykenisch-peloponnesischen' O N Reihe (in: Lehmann 1 9 7 7 , 1 0 7 / 8 Anm. 67). - Siehe ferner M . Görg, Zur Substitution minoischer Zischlaute im Ägyptischen, Kadmos 19, 1978, 24f. Ί"> Α. Bartonek, The name o f Thebes in the documents o f the Mycenaean Era, Minos 23, 1988, 3 9 f . (mit den einschlägigen Linear B-Zeugnissen); E. Edel, Der N a m e di-q^j-jo-s in der minoisch-mykenischen Liste E N li. 8 gleich Θηβαίς? Zeitschrift fur Ägyptische Sprache und Altertumskunde [ZÄS] 115, 1988, 30ff. Z u den in den Linear B-Texten (von Theben und Mykenai sowie auf den beschrifteten Bügelkannen westkretischer Provenienz) faßbaren, einschlägigen Zeugnissen und Querverbindungen s. jetzt St. Hiller, Die Stellung Böotiens im mykenischen Staatenverband; in: Boiotika-Vorträge zum 5. International. Böotien-Kolloquium (München 1989) 51—64, bes. 58f. Das v o m Palastzentrum von Theben direkt kontrollierte Territorium umfaßte mit Sicherheit das Kerngebiet Boiotiens und mindestens einen Teil Euboias (Amarynthos); zu dem (inzwischen auch durch Linear B-Tafelfunde ausgewiesenen) palatialen Zentrum von Chanea-Kydonia in West-Kreta (Phase Spätmin. III A 2—III B ) s. E. Hallager, M . Vlasakis u. В. P. Hallager, Kadmos 29, 1990, 24ff., sowie die vorzügliche Ubersichts-Studie von L. Godart u. J . Tzedakis, La storia della Lineare В e le scoperte di Armenoi e la Canea, Rivista di Filologia 117, 1989, 3 8 5 - 4 0 9 . - Die Ortsangabe te-qa-de ( = Θήβασ-δε, ,nach Theben'; dazu der P N te-qa-jo), ferner die Toponyme a-ma-ru-to (Amarynthos) und ka-ru-to (Karystos?) finden sich auch in dem soeben publizierten, einheitlichen Fundkomplex von 56 beschrifteten Lin. B Tonsiegelplomben aus Theben (Chr. Piteros/J.-P. Olivier/J. L. Melena, Les inscriptions en Lineal rc В des nodules de Thebes (1982): la fouille, les documents, les possibilites d'interpretation, B C H 114, I, 1990, 1 0 3 - 1 8 4 ) , die offensichtlich für die Zulieferung von Opfertieren an den Palast verwendet worden sind und dabei einen sehr konkreten Eindruck von der regionalen Ausdehnung und der Intensität der bürokratisch-administrativen Kontrolle seitens der thebanischen Residenz (1.Hälfte bis ca. Mitte des 13.Jh.s v.Chr.) vermitteln.

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andere Ortsnamen enthalten hat; jedenfalls steht der erste N a m e der T o p o n y m e n reihe (Nr. 1: Amnisa) — gleichsam wie bei einem Palimpsest - über einer älteren, v o m Steinmetzen wieder getilgten Eintragung, die sich noch recht gut als ' j - m k-r/1 ( = AmuklajAmykVdi, offenbar das alte Z e n t r u m des mykenisch-frühgriechischen Lakedaimon) bestimmen läßt. 8) Das Reich von Tanaja-Danaja, das mit seinem ,Vorort'-Zentrum Mukana/ Mykanai (Mykenai) auch Messana und Theben bzw. die Thebais (und dazu vielleicht noch AmuklajLakedaimon) - wenigstens zeitweilig - u m f a ß t hat, hatte bereits zuvor in enger Vergesellschaftung mit Kafta/Kreta in einer Listennotiz der Annalen Thutmosis' III. (42.Jahr während des 16.Syrienzugs — ca. 1437 v.Chr.) E r w ä h n u n g gefunden: Mit einer kostbaren Ehrengabe — „einer silbernen Kanne in Kafta-Arbeit (d. h. in kretisch-minoischem Stil!) zusammen mit vier Bechern aus Kupfer mit silbernen Henkeln, macht zusammen 56 dbn 3 kite" (mehr als 5 kg) — hatte der Fürst von Danaja, in dem wir n u n m e h r den Herrscher der frühgriechischen Palast-Burg von Mykenai sehen dürfen, sich offenbar gezielt u m diplomatische Beziehungen zur siegreichen Pharaonenmacht bemüht, die zu diesem Zeitpunkt die gesamte Levanteküste (und Nordsyrien bis zum Euphrat) kontrollierte. Die außerordentliche historische Bedeutung der mit der Ära Amenophis' III. verbundenen Toponymen-Liste liegt klar auf der Hand: das in den homerischen Epen bekanntlich promiscue mit Achaioi und Argeioi verwendete, übergreifende Ethnikon der Danaoi, aber auch die gesamte Danaos/Danaiden-Tradition in ihren unterschiedlichen Brechungen, ferner der Danae-Mythos (d. h. die Ursprungstradition der Perseiden-Dynastie) sind schlechterdings von dem Reich von TanajaDanaja nicht zu trennen und überdies in der Argolis — anders als das Ά χ α ι ^ ο ί Ethnikon (s.u.) — fest beheimatet. 9 ) Der (jedenfalls für die Mitte des 15.Jh.s wie für das fortgeschrittene 14.Jh. v . C h r . nicht mehr bestreitbaren) Existenz eines weiträumigen, peloponnesisch-festländischen Reiches von Danaja — mit Mukana (Mykenai) als klar bezeugtem ,Vorort' — sollte n u n m e h r eine gewichtige Rolle in der innerhalb der archäologisch-historischen Forschung stets kontrovers geführten Diskussion z u k o m m e n , ob die Fürsten von Mykenai und der Argolis auch politisch-herrschaftlich in der (kulturell wie strukturell so weitgehend kohärenten) Welt der frühgriechischen Palastzentren eine reale Vormachtstellung — zumindest zeitweilig und vorzugsweise während der sog. Reichsstilphase von М у к . III А 2

Schriftl. und mündl. Mitteilungen von E. Edel; vgl. auch schon die Hinweise Edels in seiner Publikation der Ortsnamenliste: Edel 1966, 37/8. 9 > Vgl. u.a. Herod. 2,91 u. 7,94; Eurip. Archel. fr. 228 Nauck; Isokr. Hei. 68, Panath. 80; Plat. Menex. 245 d; Diod. 40,3,2 sowie die im mytholog. Kompendium P. Oxy. nr. 3702 (Bd. 53, 1986) fr. 1 col. 2 Z. 38 f. bezeugte Sagenversion; hierzu auch die Erwägungen von S. Morenz, Die Begegnung Europas mit Aegypten, Zürich—Stuttgart 1969, 49f., u. F. Schachermeyr, Die griechische Rückerinnerung im Lichte neuer Forschungen, Wien 1983, 96 ff.

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und В — innchatten oder nicht. Darüber hinaus hatten schon zuvor gewissenhafte historische Überlegungen stets widerraten, das sachkritische Problem, daß innerhalb der epischen Tradition neben dem Ethnikon ' Α χ α ι ο ί sowohl Δαναοί als auch Ά ρ γ ε ΐ ο ι als durchaus synonyme und gleichrangige Gcsamtbezeichnungen für das unter dem Oberbefehl des Königs von Mykenai versammelte, frühgriechische Aufgebot vor Troia Verwendung finden, mit einem (für die Verhältnisse der mykenischen ,Reichs'- und Blütezeit des 13.Jh.s v. Chr. schlechterdings unerheblichen!) Hinweis auf die statistische Häufigkeit der N a m e n s w a h l in der homerischen Ilias (des 8.Jh.s) .beantworten' zu wollen. Der historisch so bedeutungsvolle und weit ins 2.Jahrtausend v. Chr. zurückweisende N a m e der Δαναοί hat sein Lebensrecht in der griechischen Sagentradition offensichtlich behaupten können und begegnet bezeichnenderweise — als „Danuna von den Inseln inmitten des Meeres" (s. u.) — auch unter den ,Seevölker'E t h n o n y m e n der Texte und Bilddokumente Ramses' III. in Medinet Habu, wobei die Repräsentanten dieser Danuna aber die gleiche charakteristische Tracht und B e w a f f n u n g besitzen wie die *Palaister/,Philister'und die Tkr/Sffee/er-Gruppe innerhalb der ,Seevölker'-Koalition (s.u.). D e r archäologische Befund eines partiellen Wiederaufbaus der mykenischen Königsburg (in der Phase М у к . III С : 1), insbesondere jedoch Bilddokumente wie die b e r ü h m t e Kriegervase und -stele von Mykenai zeigen deutlich, daß — nach der großen Katastrophe der Palastzentren u m 1200 v. Chr. — die neuen Krieger-Herrenschichten sich durchaus an der Stätte und in den Traditionen des Reichs von Danaja einzurichten suchten. Dagegen ist der altberühmte (und in der Ortsnamenliste aus der Zeit Amenophis' III. der Regions- bzw. ,Reichs'-Bezeichnung Tanaja-Danaja markant als gleichgewichtig gegenübergestellte) Landesname Kafta/^kaftar für das palastzeitliche Kreta in der griechischen Sagenüberlieferung und Epik vollständig verlorengegangen - sieht man einmal von der (schattenhaften) Gestalt des E p o n y m e n Kabderos innerhalb der östlichen Mopsos-Tradition ab. 10 ' Historisch ist also durchaus ernsthaft mit einer konkreten ,Überschneidung' zwischen der Existenzdauer des Reiches von Danaja im Ägäisraum und der Expansion jenes (ebenfalls ägäischen) Reiches von Ahhijavä zu rechnen, dessen wechselvolle Beziehungen — v o m Westrand Kleinasiens aus — zu den Großkönigen von Hattusa in den Keilschriftarchiven von Bogazköy (zumindest von den A n f ä n gen des hethitischen Neuen Reiches im frühen 14.Jh. bis z u m letzten Viertel des 13.Jh.s v.Chr.) eindrucksvoll bezeugt sind: so belegt gerade zu Beginn des vorletzten Jahrzehnts des 13.Jh.s v . C h r . der Staatsvertrag des hethitischen G r o ß -

10) Kabderos figuriert als Vater der Pamphyle, der (ebenfalls e p o n y m e n ) Gemahlin des ägäischwestkleinasiatischen E r o b e r e r - H e r o e n Mopsos (in Kilikien): Schol. D i o n . Per. 850, s. F. Jacoby, FGrHist nr. 115 ( T h e o p o m p ) F 103 K o m m . , vgl. FGrHist nr. 765 (Xanthos) F 17; der P N Mopsos ist bekanntlich (in der frühgriechischen F o r m mo-qo-so) in den Linear B-Texten v o n Knossos und Pylos belegt ( K N D e 1381; P Y Sa 774).

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königs Tuthalija IV. mit dem Vasallenkönig Sausgamuwa von Amurru (nördl. Libanonregion u. -küste) intensive maritime Handelsbeziehungen des (nunmehr als Feind angesehenen) Reichs von Ahhijavä mit d e m ebenfalls als Feind deklarierten Großmachtrivalen Assyrien unter Tukulti-Ninurta I. 11 ' R i g o r o s wird der amurritische Vasall (und Schwager des hethitischen Großkönigs) auf eine strikte Handelsblockade gegenüber dem assyrischen Kriegsgegner festgelegt, die ausdrücklich die Verbindungen über See zwischen Assur und Ahhijavä unterbrechen soll: „Ein K a u f m a n n von ihm aber darf nicht ins Land Assyrien gehen, einen K a u f m a n n von ihm aber darfst du nicht in dein Land lassen, er darf (auch) nicht durch dein Land gehen! . . . Kein Schiff des Landes Ahhijavä soll zu ihm fahren!" (Rs IV ZI. 14—17; 23). In diesem Z u s a m m e n h a n g liegt es natürlich nahe, an den großen, außerordentlich kostbaren Rollsiegelfund in der zweiten (gegen Ende des 13.Jh.s v . C h r . brandzerstörten) Palastanlage auf der mykenischen Kadmeia von Theben zu erinnern, dessen qualitätvollsten Bestandteil eine ganze Mine Lapislazuli in Gestalt kassitisch-babylonischer Rollsiegel (und vorgefertigter Rohlinge) bildet: tatsächlich sprechen mehrere Indizien für die Hypothese, diesen wertvollen Fundkomplex als Niederschlag eines spektakulären Versuchs des Assyrerkönigs Tukulti-Ninurta I. anzusehen, mit Hilfe der in Babylonien (bes. im M a r d u k Tempel!) gemachten Beute - und gegen die v o m G r o ß k ö n i g von Hatti verfügte Blockade an der Levanteküste — sich bedeutende Zentren der fernen mykenischägäischen Welt unmittelbar zu verpflichten. 12 ) In die Jahre 1210/09 v . C h r . führen

Siehe die Neuedition dieses hethitisch-amurritischen Staatsvertrages: C. Kühne/H. Otten, Der Sausgamuwa-Vertrag, Wiesbaden 1971 (mit K o m m . ) ; in R S IV ZI. 23 ist der Landesname Ahhijavä zwar partiell ergänzt, darf aber im Sachzusammenhang der vorangehenden Vertragsbestimmungen sowie gemäß der E r w ä h n u n g in R S IV ZI. 3 als gesichert gelten. Demgegenüber ist der jüngst von G. Steiner u n t e r n o m m e n e Versuch („Schiffe von Ahhijawa" oder „Kriegsschiffe" von A m u r r u im Sauskamuwa-Vertrag? U F 21,1989, 393ff.), die Zeichenreste als „Schiff des [Kriegfuhrens]" (la-ah-h]i-ia-u-va-as-si) zu ergänzen, mit großen sprachlich-gedanklichen wie sachlichen Schwierigkeiten verbunden: so stellt der ergänzte Ausdruck nicht nur ein hapax legomenon dar, er macht auch einen ganz abrupten, in sich widersprüchlichen Personenwechsel (der die Vertragsanforderungen diktierende Hethiterkönig müßte an die Stelle des feindlichen Assyrerkönigs rücken!) notwendig; überdies dürfte ein v o m Großkönig konzedierter Erlaß einer aktuellen „Kriegsschiff"-Gestellung seitens des amurritischen Vasallenkönigs nach defn erfolgten Ausbruch eines allgemeinen Krieges zwischen Hatti und Assyrien hier doch wohl eine andere Formulierung verlangen. Als zeitlich und sachlich parallel z u m Sausgamuwa-Vertrag stellt sich bekanntlich der hethitische Herrscherbrief an A m m i s t a m r u II. von Ugarit dar ( P R U IV nr. 53 über den Vize-König von Qarqemis übersandt); hier wird Ugarit (anders als Amurru) im akut ausgebrochenen Assyrer-Krieg von der generellen Stellung von Fußtruppen und Wagenkämpfern befreit, soll dafür aber eine Kontribution von 50 Minen Gold erlegen, die der Großkönig aber vorsorglich bereits aus d e m ugaritischen „Clearing-House" (bit tuppassi) in Hattusa requiriert hatte! 12 ' Siehe die umfassende Publikation u n d Auswertung des gesamten thebanischen F u n d k o m plexes von E. Porada, T h e Cylinder Seals found at Thebes in Boeotia, Archiv fur Orientforschung [ A f O ] 28, 1982, 1-78, bes. 68 f. u. 77. - Bekanntlich verlief die eigentliche Handelsroute

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demgegenüber die Berichte des Pharaos Merneptah von dem großen „ N o r d k r i e ger"-Angriff (über See und sodann von der Kyrenaika aus) gegen Ägypten, bei d e m das maritim überaus mächtige „Fremdland des Meeres" Aqaiwasa (das offensichtlich auch über enge Beziehungen zur Lw/ew-Rcgion/Lykicn am Südwestrand Kleinasiens verfugte) mit einem mindestens 3000 Krieger zählenden Kontingent und weiteren, kleineren „Seevölker"-Gruppen eine wichtige Rolle gespielt hat. Dabei verdient Beachtung, daß diese Aqaiwasa-Krieger insgesamt nach dem eindeutigen Zeugnis der ägyptischen Beute- u n d Trophäenlisten — und offenbar im Gegensatz zu ihren „Seevölker"-Verbündeten — die Beschneidung praktiziert haben. Mit rein zufälligen politisch-ethnischen H o m o n y m i e n wird man jedenfalls — bei so engen räumlich-regionalen Zusammenhängen — hier ebensowenig rechnen m ö g e n wie mit einer folgenschweren , U m b e n e n n u n g ' des Reiches Danaja von Mykenai in AchaiwiajAchaja — eine „Lösung", wie sie offenbar von F. Schachermeyr (freilich schon für eine wesentlich frühere Phase der mykenischen Epoche) ins Auge gefaßt w o r d e n ist. 13 ' Dramatische U m b r ü c h e und drastische Veränderungen in den machtpolitischen Konstellationen wird man allerdings in diesem R a u m während der im späten 13.Jh. v . C h r . beginnenden Phase mit Sicherheit voraussetzen müssen. Was jedoch das Problem einer — mit der historisch-sachkritischen Verknüpfung von Ahhijavä mit ΆχανΡοί und Ά χ α ι Ρ ί α zumeist schon implizierten — Gleichsetzung des Reichs von Mykenai mit den 'Αχαϊκοί betrifft, so ist m . E. zu beachten, daß das Ethnikon Άχαι,τοί sowie das T o p o n y m 'Αχαΐα primär einerseits in Mittelgriechenland (Südthessalien, Lokris), andererseits (für die vordorisch-mykenische Zeit) nur in der südlichen bzw. südöstlichen Ägäis bezeugt sind (in R h o d o s Dodekanesos, auf Z y p e r n und Kreta — dort singulär auch in einem Linear B-Text von Knossos: akawijade K N С 914). Auch w e n n methodisch in R e c h n u n g gestellt werden m u ß , daß in den Bezugnahmen der hethitischen Texte auf Ahhijavä engere, konkret politische Bezeichnungen mit allgemeineren, eine ganze Region umgreifenden Angaben abgewechselt haben können, spricht m . E . nicht zuletzt die im sog. Tawaga/dWds-Herrscherbrief (wohl aus der Ära Hattusilis III.: ca. Mitte des 13.Jh.s) zum Ausdruck k o m m e n d e Intensität und Intimität im persönlichen Verkehr zwischen den ,achijäischen' und hethitischen Königshäusern ( C T H 181 col. 2, 60 f.) eher dafür, den Machtkern des jedenfalls ägäischen Reiches von Ahhijavä im ,inselmykenischen' R a u m , nahe der eigentlichen hethitischen H e r r schaftssphäre, zu suchen.

vom Mittelmeer nach Mesopotamien durch Amurru (via Tadmor/Palmyra) und keineswegs über Ugarit; vgl. H. Klengel, Geschichte Syriens im 2.Jahrtausend v . u . Z . II (Berlin-Ost 1969) 316. 13 > Schachermeyr 1986, 40 f. u. bes. 73.

Die ,politisch-historischen' Beziehungen der Ägäis-Welt des 15.-13.Jh.s v . C h r .

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Seitdem H. Hoffner 1980 i m Dossier der , A h h i j a v ä - U r k u n d e n ' eine wesentliche E r g ä n z u n g des — f ü r die hethitisch-,achijäischen' Beziehungen im späten 13.Jh. bedeutsamen - Mi/awdia-Herrscherbriefs (aus der Zeit Tuthalijas IV.) gelungen ist, hat sich die Diskussion u m die frühgriechische Identität u n d Lokalisierung des Reiches v o n Ahhijavä sowie seine E i n f l u ß n a h m e auf die w e s t - u n d südwestanatolischen R e g i o n e n (vor allem über Milawata-Milawanda a m M e e r u n d in u n m i t t e l barer N a c h b a r s c h a f t zu den Ar ζ awa-L'indcm) stark belebt. 14 ) Für die Zeit Tuthalijas IV. (ca. 1238—ca. 1215) zeichnet sich hier eine drastische V e r d r ä n g u n g des ,achijäischen' Einflusses auf Milawata d u r c h den H e t h i t e r k ö n i g ab, w ä h r e n d in der Zeit z u v o r vielleicht eine A r t , D o p p e l u n t e r t ä n i g k e i t ' dieses zur Ägäis hin orientierten Z e n t r u m s bestand — ein Status, den v o r allem F. Schachermeyr in seinem letzten W e r k ( „ M y k e n e u n d das Hethiterreich") in aller Ausführlichkeit nachgezeichnet hat. D i e (weithin akzeptierte) Identifizierung v o n Milawata mit der stark befestigten u n d kulturell durchaus mykenisch geprägten Burgsiedlung von Milet hat inzwischen d u r c h die wertvollen neuen Aufschlüsse, die sich f ü r die gesamte ,hethitische G e o g r a p h i e ' Südwestkleinasiens aus d e m b e r ü h m t e n Bronzetafel-Staatsvertrag Tuthalijas IV. (mit seinem rivalisierenden Vetter K u runta, d e m neu eingesetzten U n t e r k ö n i g v o n Tarhuntassa) ergeben haben, eine zusätzliche (indirekte) Bestätigung erfahren. 1 S ) Die anhaltende Verschlechterung der Beziehungen zwischen Ahhijavä u n d d e m Hethiterreich in der Zeit Tuthalijas IV. zeigt sich überdies in d e m oben e r w ä h n t e n

14) H . H o f f n e r jr., T h e Milawata letter a u g m e n t e d and reinterpreted, A f O Beih. 19, 1982, 1 3 0 f f ; vgl. I. Singer, Western Anatolia in the 13th century B . C . according to the Hittite sources, AS 33, 1983, 205 ff; T . R . Bryce, A reinterpretation of the Milawata letter, AS 35, 1985, 1 3 f f ; s. insbes. H . G . G ü t e r b o c k / M . J . Mellink/E. Vermeule, T h e Hittites and the Aegean World, American Journal of Archaeology [AJA] 87, 1983, 133 ff; Schachermeyr 1986, bes. 151 ff.; T . R . Bryce, T h e nature of Mycenaean involvement in Western Anatolia, Historia 38, 1989, 1 ff. 15 > H . O t t e n , Die Bronzetafel aus Bogazköy. Ein Staatsvertrag Tuthalijas IV., Wiesbaden 1988, 13 (§ 8 ZI. 60 f.) u. 37 f. (sichere Identifizierung des genannten Grenzflusses Kastraja mit dem griech.-röm. Kestros Pamphyliens (der v o n der Mittelmeerküste tief hinauf ins Binnenland fuhrt), sowie des Ortes Parhä mit Perge)\ damit ist prinzipiell die Gleichsetzung der Lukka-Länder mit d e m antiken Lykien (und West-Pamphylien) u n d der Arzawa-Länder mit Südwestkleinasien (insbes. die M ä a n d e r - u n d Kaystros-Ebenen) gesichert; vgl. schon J. Garstang/O. R . Gurney, T h e G e o g r a p h y of the Hittite Empire, L o n d o n 1959, 75 f.; zu den bisher bestehenden Unsicherheiten (Lokalisierungsansätze f ü r Lukka im bithynischen R a u m bzw. in der Troas!) s. e. g. J. Macqueen, G e o g r a p h y in Western Asia M i n o r in the 2nd millenium B . C . , AS 18, 1968, 169ff.; dens., T h e Hittites and their C o n t e m p o r a r i e s in Asia Minor, L o n d o n 2 1986, 163; ebenso T . R . Bryce, T h e Lukka P r o b l e m , J o u r n a l of N e a r Eastern Studies [JNES] 33, 1974, 395 ff.; zur topographischen Fixierung der Arzawa-Zentralc Apasas im Bereich v o n Ephesos (Ilicatepe) s. auch A. B a m m e r , Ephesos in der Bronzezeit, Jahreshefte des Österreich. Archäolog. Instituts [JÖAI] 57, 1987, Beibl. 1 - 3 8 . - Aus der Anweisung Tuthalijas IV. ( C T H N r . 255) geht im übrigen hervor, daß zu dieser Zeit die Lukka-Länder als prinzipiell feindliche Region — wie das pontische KaskaGebiet - angesehen u n d behandelt w o r d e n sind!

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Sausgamuwa-Vertrag (CTH Nr. 105), in dem bekanntlich der König von Ahhijavä nachträglich wieder aus der Liste der vom hethitischen Herrscher als gleichrangig erachteten „Großkönige" von Ägypten, Babylon und Assyrien getilgt worden ist (col. IV ZI. 3). Vielleicht erreichte Ahhijavä überhaupt erst als konsequenter Gegner Hattis — und im Zuge einer durch die großen Umwälzungen um und nach 1200 v. Chr. zeitweilig geforderten Expansion — den Gipfel seiner Machtstellung (d.h. erst in der spätmykenisch-nachpalatialen Phase). U n d erst dieser Aufstieg — in einer für die Ausbildung der griechischen Sagentradition ja offensichtlich wichtigen Phase — könnte dem Ethnikon der Ά χ α ι / ο ί jenes Gewicht verliehen haben, das ihm seinen Rang und eine übergreifende Bedeutung innerhalb der griechischen ,Rückerinnerung' und epischen Uberlieferung gesichert hat. Wenn wir abschließend uns noch einmal der ägäischen Ortsnamenliste aus der Ära Amenophis' III. — einer Ära, aus der ebenso wie aus der nachfolgenden Amarna-Zeit besonders zahlreiche und kostbare Aegyptiaca-Funde in Mykenai stammen — zuwenden, so nur um zu betonen, daß dieses Dokument den Vorrang des Zentrums Mukana/Mykenai vor den anderen Landschafts-Mittelpunkten des Reiches Danaja auf dem griechischen Festland eindrucksvoll bestätigt (und damit unseren archäologisch-kulturgeschichtlichen Terminus ,mykenisch' historisch gewissermaßen legitimiert). Bei dieser (neuzeitlich-,konventionellen') Benennung sollte man im übrigen bleiben, nachdem die lange Zeit so beliebte Gleichsetzung von ,mykenisch-frühgriechisch' allein mit ,achaiisch' nunmehr für die bedeutendsten Palastzentren (und ihren Herrschaftsbereich) in der Peloponnes und auch in Mittelgriechenland während des 14./13.Jh.s außer Kraft gesetzt worden ist. Eine wissenschaftliche ,Umbenennung' bzw. Präzisierung in ,danaisch' würde vorerst sicher nur Verwirrung stiften.

II Den Grundstock unserer historischen Quellenzeugnisse zum Zeitalter der ,Seevölker'-Invasionen bilden noch immer die ägyptischen Text- und Bilddokumente — insbesondere der Königsinschriften der Pharaonen Merneptah (ca. 1213—1204 v.Chr.; zum 5.Regierungsjahr: Karnak-Inschrift und Athribis-Stele) und Ramses'III. (ca. 1187-1156 v.Chr.; vor allem zum 8.Jahr: Darstellungen im befestigten Totentempel des Königs in Medinet Habu sowie Hinweise im unmittelbar nach dem Tode des Herrschers verfaßten ,Staatsmanifest' des Großen Papyrus Harris). Die bislang frühesten Zeugnisse über das Auftreten von ,Seevölker'Kriegergruppen an der Levanteküste (und somit im näheren Gesichtskreis Ägyptens) finden sich hingegen schon im El-Amarna-Archiv (aus der Ära Amenophis' III. und Echnatons, 1352-1335 v.Chr.): es geht bei den hier mehrfach genannten serdanu-Kriegern freilich stets um kleinere Gruppen von fremdstämmigen Soldaten, die im Dienste von Levante-Fürsten stehen (Byblos); analoge Zeugnisse

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haben sich hierzu auch in Ugarit (sowie auf Zypern) gefunden. ' Z u Beginn der Regierung Ramses' II. (1279—ca. 1213 v.Chr.) stellen die „Sardana des Meeres"/ „Krieger des Meeres" allerdings als seit langem gefurchtete See-Invasoren („auf ihren Kämpferschiffen"!) bereits eine Dauerbedrohung für Unterägypten dar, gegen die der Pharao energische G e g e n m a ß n a h m e n treffen mußte. Schon seit den ersten Regierungsjahren Ramses' II. haben offenbar allmählich alle Großverbände des ägyptischen Mobil-Heeres jeweils über eine Elite-Fußtruppe von (zumeist wohl kriegsgefangenen) Sardana-Soldaten verfugt. Unsere wichtigste zeitgenössische Quelle über die Vorgänge, in denen sich u. a. der U n t e r g a n g des Großreiches von Hatdisa und wichtiger Klientelfürstentümer im Levanteraum — zumindest aus ägyptischer Perspektive heraus — vollzogen hat, bleiben indes die inhaltlich wie kompositorisch eng aufeinander bezogenen (dabei durchaus neue Motive und unkonventionelle Elemente enthaltenden) Text- und Bilddarstellungen zum A b w e h r k a m p f Ramses' III. gegen den kombinierten Seeund Land-Invasionsversuch einer starken ,Seevölker'-Koalition im 8. Regierungsjahr (ca. 1180 v.Chr.). Lange Zeit hat hier die Übersetzung und Ausdeutung des zentralen Textabschnitts (im R a h m e n einer Ansprache des Königs an den Hofstaat und das ganze Land Ägypten) in der Medinet-Habu-Publikation von W. F. Edgerton und J.A. Wilson allgemeine Anerkennung gefunden. 1 7 ' U m so größeres Aufsehen erregte daher die 1977 von W. Helck zu diesem Abschnitt vorgetragene N e u d e u t u n g und Text-Aufgliederung: aus einer See-Invasoren-Bewegung, die v o m Agäisraum („den Inseln inmitten des Meeres") ihren Ausgang nahm, w u r d e bei H. eine Rebellion fremdstämmiger Kriegsgefangenentruppen (in ägyptischen oder außerägyptischen Diensten). 18 ' Die Liste der angegriffenen und von den

16) G. A. Lehmann, Z u m Auftreten von .Seevölker'-Gruppen im östlichen Mittelmeerraum - eine Zwischenbilanz, in: Deger-Jalkotzy 1983, 79 f. - Z u m Abwehrkampf Merneptahs gegen die Libu- und .Nordkrieger'-Invasoren s. jetzt auch Haider 1988, 49 ff. I7 > W. F. Edgerton/J. A. Wilson, Historical Records of Ramses III., Chicago 1936, 53 (neueste Textedition: К. A. Kitchen, Ramesside Inscriptions, Oxford 1973, 39, 14—41, 7), zum einleitenden Abschnitt: „As for the foreign countries, they made a conspiracy in their isles. Removed and scattered in the fray were the lands at one time. N o land could stand before their arms,

from Haiti, Kode, Carchemish, Vereth (= Arzawa), and Yeres (= AlasajAlasia) on, but they were cut off at [one time], A camp [was set up] in one place in Amor. They desolated its people, and its land was like that which has never come into being. They were coming, while the flame was prepared before them, forward to Egypt. Their confederation was the Peleset (= Palastuj

Philister), Theker (= Sikeler/Sikalaju), Skekelesh, Denye(jiy (= Danu(_na~}) and Weshesh, lands united. They laid their hands upon the lands to the [very] circuit of the earth, their hearts confident and trusting: Our plans will succeed!" - erläuternde Präzisierungen wurden von mir in runden Klammern beigefügt. 18) W. Helck, Die Seevölker in den ägyptischen Quellen, in: Müller-Karpe 1977, 7-21 (S. 14: „die Fremdländer, die alle zusammen die Trennung vollzogen von ihren Inseln, aufbrechend und zerstreut unter die Truppen der Länder. Es konnte aber kein Land gegen ihre Kraft bestehen, von Hatti, Qadi [ = Kizzuwatna; Zusatz W. Helck], Karkemisch, Arzawa und Alasia an; und

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Invasoren militärisch überwundenen „Länder" soll dagegen den Stereotypen eines mythisch gebundenen Weltbildes entstammen und keinesfalls auf eine konkrete politisch-militärische Realität zu beziehen sein. Historisch faßbar im Bild-TextBereich Ramses' III. ist fur H. ausschließlich die „unvermittelte" Festsetzung von rebellierenden „Piraten"-Kriegsgefangenentruppen in Amurru und ihr anschließender Angriffsvorstoß von dort aus zu Lande wie zur See bis an die Tore Ägyptens. Die umfassenden, weithin einheitlichen Zerstörungshorizonte in Hattusa und an den anderen zentralanatolischen Plätzen, aber auch südlich des Tauros (Tarsos und Mersin), ferner in Nordsyrien (u. a. Ugarit), auf Z y p e r n u n d im phönikischkanaanäischen R a u m in der Phase u m 1200 v. Chr. werden von H. demgegenüber auf eine seismische Naturkatastrophenkette — wie angeblich auch in der ganzen Peloponnes! — oder aber auf endogene Faktoren wie Aufstände oder gar eine „soziale Revolution" zurückgeführt: das Ende der Hauptstadt Hattusa stellt sich für H . gewissermaßen als siegreicher Bastille-Sturm einer vorwiegend aus „ D e portierten"-Gruppen ( N A M . R A . M E ^ ) bestehenden feindlichen Wohnbevölkerung gegen die hethitischen Reichstempel und den Herrscherpalast dar, dessen System „nach Vernichtung der dünnen Unterdrückerschicht" u n d dem Exodus der befreiten Massen endgültig zusammengebrochen sei. 19 ' Als historisches Fakt u m (und somit doch als Indiz zumindest für eine zeitweilig ernste, äußere Bedroh u n g der Hethitermacht an der Südküste Anatoliens und im Levantebereich) gilt H. hier allein der K a m p f Suppilulijamas II. u m die militärische Kontrolle über Alasia-Zypern, von dem ein wichtiger Text dieses letzten Großkönigs von Hattusa berichtet (КВо XII 38 col. II f. - C T H Nr. 121). Die weitreichenden Implikationen, die sich darüber hinaus aus dem unter der Führung des hethitischen G r o ß k ö nigs — v o m Küstenbereich Lykiens über Alasia-Zypcm bis hin zur Levanteküste — organisierten (und durch die Л/dSid-Herrscherkorrespondenz eindeutig in die kurze Regierungszeit des letzten Königs von Ugarit Hammurapi datierten) Abw e h r k a m p f gegen die Invasoren-Flottillen „der Feinde" ergeben, werden hingegen von H. weder diskutiert noch überhaupt zur Kenntnis g e n o m m e n . Dabei läßt der Inhalt des Alasia-Briefes R S 20.238 (ZI. 19f.), wonach nicht nur die

abgeschnitten von ihrem Land schlugen sie ein Lager auf im Inneren von Amurru, seine Leute vernichtend und sein Land, als sei es nie gewesen. Sie kamen nun, indem die Flamme vor ihnen brannte, vorwärts gegen Ägypten, ihre Zwingburg [?]"); vgl. dens., Die Beziehungen Ägyptens und Vorderasiens zur Ägäis bis ins 7.Jh. v.Chr., Darmstadt 1979, 132ff.; zur Einzelkritik s.u.a. G. Hölbl, Die historischen Aussagen der ägyptischen Seevölkerinschriften, in: Deger-Jalkotzy 1983, 121 ff., bes. 127f.; F. Schachermeyr, Griechenland im Zeitalter der Wanderungen, Wien 1980, 457 f.; vgl. auch G. A. Lehmann, Die Sikalaju - ein neues Zeugnis zu den ,Seevölker'Heerfahrten im späten 13.Jh. v.Chr. (RS 34.129), U F 11, 1979, 481 ff. (dort auch gegen die Vorstellung, die Krieger-Stammesgruppen der ,Seevölker'-Verbände stellten im Kern ein diffuses Piraten tum von der Süd west- und Südküste Anatoliens dar). 19 > W. Helck, Gnomon 58, 1986, 627.

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ugaritische Flotte unter hethitischem Oberbefehl im Lukka-Bereich kämpfen mußte, sondern gleichzeitig auch die Gardetruppen des Königs von Ugarit mobilisiert und „in das Land Hatti" verlegt worden sind, bereits auf eine gefährliche Zuspitzung der militärischen Lage in einer Art „Zweifronten"-Kampf schließen. Soweit wir wissen, ist niemals zuvor ein ugaritisches Kontingent vom hethitischen Suzerän außerhalb Nordsyriens eingesetzt bzw. angefordert worden: in dem gefährlichen, großen Krieg Tuthalijas IV. gegen den Assyrerkönig ist vielmehr Ugarit ausdrücklich von der Stellung von Truppen befreit worden (s. oben Anm. 11).

Daß in der Situation einer bereits bestehenden, ernsten Bedrohung von außen eine Erdbebenkatastrophe tatsächlich zum auslösenden Faktor eines folgenschweren politisch-militärischen Umbruches geworden sein kann, wird man angesichts der (hier sehr deutlichen) archäologischen Befunde in der Argolis (Tiryns, Midea sowie offenbar auch Mykenai) kaum ernsthaft bestreiten wollen. H.'s Vorstellungen von einem „flächendeckenden Erdbeben im Grabengebiet des Orontes-Jordan-Roten Meeres" („und ein damit zusammenhängendes auf der Peloponnes") überschreiten jedoch schlechthin den Rahmen unserer historisch belegbaren, lebensweltlichen Erfahrungen; sie knüpfen in diesem Punkt vor allem an die 1968 von C.F.A. Schaeffer überraschend (und in schroffem Widerspruch zu früheren Darlegungen) vorgetragene These an, Ugarit habe um 1200 v. Chr. — nach einem dramatischen politischen Anschluß an die ,Seevölker'-Koalition — seinen vollständigen Untergang erst durch eine Erdbeben-Katastrophe gefunden. 20 ' H. übersieht dabei, daß diese Auffassung Schaeffers weder damals noch später durch klare archäologische Dokumentationen abgestützt wurde und hauptsächlich mit den aparten (d.h. historisch-sachkritisch zweifellos verfehlten) Ansichten Schaeffers über Inhalt und Bedeutung der (als akkadisches Briefdokument zweifellos singulären) „Lettre du General Sumij(tti?)" verbunden ist ( R S 20.33 = U g . V Nr. 20). Leider hat H. in der Folgezeit auch nicht mehr zur Kenntnis genommen, daß die seit 1977/8 betriebenen Ausgrabungen der ugaritischen Nebenresidenz auf dem Kap Ras Ibn Hani (ca. 5 km südwestl. von Ugarit/Ras Samra) längst gerade in diesem Punkte eine vorzügliche Kontrollmöglichkeit gegenüber den von Schaeffer zuletzt favorisierten Thesen eröffnet haben: mit Nachdruck betonen inzwischen die Ausgräber (A. Bounni,J. Lagarce und N. Saliby) die Einheitlichkeit des

20> C . F. A. Schaeffer, Commentaires sur les lettres et documents trouves dans les bibliotheques privees d'Ugarit, in: C . F . A . Schaeffer (Hrsg.), Ugaritica V, Paris 1969, 6 0 7 - 7 6 5 , bes. 638ff. (u.a. im Widerspruch zum Kommentar des Editors J. Nougayrol, ibid., 69ff. zu R S 20.33); philologisch-historische Einzelkritik von A. F. Rainey, Α front line report from Amurru, U F 3, 1971, 131 ff. (sowie ders., U F 5, 1973, 280f.); vgl. G . A . Lehmann, Der Untergang des hethitischen Großreiches und die neuen Texte aus Ugarit, U F 2, 1970, 39 ff., bes. 66 f. - Z u den archäologischen Befunden in Midea (sowie in Tiryns und Mykenai) s. jetzt auch P. Äström, The Sea Peoples in the light o f new excavations, Cahiers de Centre d'Etudes Chypriotes [ C C E C ] 2, 1985, 3 - 1 8 .

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Zerstörungshorizontes in dieser Nebenresidenz (mit zwei königlichen Palästen) im Hinblick auf die E n d k a t a s t r o p h e v o n U g a r i t u n d daß alle Indizien auf eine v o n außen her u n d nicht von N a t u r k r ä f t e n b e w i r k t e B r a n d z e r s t ö r u n g — in Ras Ibn H a n i wie in U g a r i t ! — hindeuten. 2 1 ' Tatsächlich basieren H.s strikte Festlegungen, welche historischen Aussagen d e m ,Seevölker'-Bericht R a m s e s ' III. äußerstenfalls e n t n o m m e n w e r d e n dürfen, auf nicht m e h r als einer Ü b e r i n t e r p r e t a t i o n der eher zurückhaltenden Feststellungen des Ausgräbers K. Bittel über die Einheitlichkeit des abschließenden Z e r s t ö rungshorizontes in Hattusa. 2 2 ' D a b e i ist j e d o c h zu beachten, daß auch in Ugarit — wie in R a s Ibn H a n i — die Spuren der umfassenden B r a n d z e r s t ö r u n g gerade i m Bereich der Palastanlagen besonders deutlich faßbar sind, w ä h r e n d die bescheideneren W o h n b e z i r k e (ζ. B. an der Südost-Seite des .Großen Palastes') v o n diesem Schadenfeuer o f f e n b a r w e i t g e h e n d verschont geblieben sind. U n d da in der Endphase v o n U g a r i t angesichts der .politischen' S c h r i f t d o k u m e n t e — anders als im Z e n t r u m des Hatti-Reiches — v o n wirklich gravierenden inneren U n r u h e n u n d Konfliktpotentialen keine R e d e sein kann, scheidet der (angeblich zwingende) interpretatorische R ü c k s c h l u ß auf die Folgen einer rein e n d o g e n e n Krise, d. h. einer „sozialen R e v o l u t i o n " , hier o f f e n b a r aus. Schließlich ist auch nicht einzusehen, w a r u m die geschilderten, in den A u s g r a b u n g e n so deutlich d o k u m e n t i e r t e n B e f u n d e nicht durchaus das Resultat raid-artiger Terrorangriffe v o n InvasorenVerbänden gewesen sein k ö n n e n , die — zumindest in der eigentlichen Z e r s t ö -

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> A. Bounni/J. Lagarce/N. Saliby, Rapport preliminaire sur la 4 emc Campagne de fouilles, Syria 58, 1981, 215—297, bes. 285 ff.; s. dies., Les fouilles a Ras Ibn Hani en Syrie (campagnes de 1980, 1981, 1982), Comptes rendus de l'Academie des Inscriptions et Belles-Lettres [CRAI] 1983, 249-290; C R A I 1984, 398-438. - Im Bereich der geplünderten und brandzerstörten Palastanlagen auf Ras Ibn Hani läßt sich — anders als im verwüsteten Ugarit — eine ansehnliche Nachbesiedlung feststellen, die durch eine vom Мук. III С : 1 —Stil abhängige Keramik charakterisiert wird und enge Beziehungen zu den .Seevölker-Schichten' auf Zypern aufweist. 22 ' K. Bittel, Das Ende des Hethiterreiches aufgrund archäologischer Zeugnisse, in: MüllerKarpe 1977, 36—56; vgl. dens., Die archäologische Situation in Kleinasien um 1200 v.Chr. und während der nachfolgenden vier Jahrhunderte, in: Deger-Jalkotzy 1983, 25 ff. (26/7: „Man ist berechtigt festzuhalten, daß alle offiziellen, Staat und Königtum repräsentierenden Bauwerke durch Feuer zugrunde gegangen sind. Die Wohnviertel dagegen weisen, soweit man sie bis jetzt kennt, nicht die gleichen Symptome auf, sondern wurden am Ende verlassen und verfielen. Spuren dürftiger Wiederbesiedlung gibt es an einer Stelle; aber wir vermögen noch nicht zu sagen, in welchem Umfang, und vor allem nicht, zu welchem genaueren Zeitpunkt. Das ändert nichts daran, daß die Stadt Hattusa mit allem, was sie in sich Schloß, gewaltsam ihr Ende gefunden hat, denn überall dort, wo sich dieses Ende in der geschilderten Weise im Stadtgebiet manifestiert, ist es von so einheitlicher Art, daß man an sukzessive Ursachen, etwa zufällige Brandfälle, mit längeren Zeitabständen wohl kaum denken darf. Zu einer solchen, von übergroßer Skepsis getragenen Ansicht sind die Zeugen der Zerstörung zu intensiv und in ihrem Effekt viel zu gleichartig"); vgl. dort - gegenüber H.s überspitzter Ausdeutung - auch K. Bitteis generelle Auffassung zum Problem der Katastrophe „des hethitischen Kernlandes im HalysRaum" (in der .Diskussion', S. 63f.)!

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rungsphase — noch keinerlei konkrete Eroberungsabsichten verfolgten, wohl aber bereits aus Erfahrung wissen konnten, in welchem Ausmaß eine möglichst vollständige physische Vernichtung der hochbürokratisierten, administrativen Palastzentren (mitsamt den Archiven, Magazinen und Werkstätten) die A b w e h r k r a f t ihrer Verteidiger paralysieren mußte. Gleiches gilt natürlich auch fur die Möglichkeit eines fatalen Angriffsvorstoßes gegen Hattusa aus der benachbarten pontischen Kaskäer-Region heraus; schließlich wird durch die Tatenberichte des assyrischen Königs Tiglathpileser I. (1114—1076 v. Chr.) über seine K ä m p f e gegen Kaski- und Muski-Stämme in N o r d m e s o p o t a m i e n unbestreitbar bezeugt, daß die Kijifeij-Stammesgruppen als Erbfeinde des Hethiterreiches von der Katastrophe Hattusas zu weiträumiger Expansion (noch in der 1. Hälfte des 12.Jh.s v. Chr. und quer durch das ehemalige hethitische Kerngebiet hindurch!) veranlaßt worden sind. H.'s Hinweise auf die zahlenmäßig beträchtliche Deportierten-Bevölkerung, die über Generationen hin innerhalb oder doch im näheren Umkreis der großen Metropole Hattusa angesiedelt w o r d e n sein m u ß , verdienen in diesem Z u s a m m e n hang allerdings Beachtung: mit ihren rabiaten Deportationspraktiken könnten die hethitischen Großkönige hier wesentlich zur strukturellen Schwächung der Reichszentrale, die vor allem von Tuthalija IV. (dem Vater des letzten Königs von Hattusa) höchst aufwendig zur überdimensionierten Palast-Tempel-Stadt ausgebaut w o r d e n war, beigetragen haben - vergleichbar der Entwicklung im späteren Neuassyrischen Großreich, das sich ja auch in manch anderer Hinsicht als gelehriger Schüler des Hethiterreiches erwiesen hat. Ü b e r h a u p t erscheint ein Vergleich des hethitischen Zusammenbruchs mit der (ebenfalls in relativ kurzer Zeit eskalierenden) Untergangskrise des Neuassyrischen Großreiches sehr sinnvoll. Z w a r wurden die definitiven Katastrophen von Assur und Ninive (612 v. Chr.) primär von den konzentrischen Angriffen der Meder von Nordosten und — mit wesentlich geringerer militärischer Kraft — der Neubabylonier von Süden her bewirkt, doch sind dabei nachweislich noch andere Krisenfaktoren mit in R e c h n u n g zu stellen, die wohl auch f ü r die Phase vor dem Kollaps des Hethiterreiches — vor allem nach Ausweis der D o k u m e n t e aus den .letzten Tagen von Ugarit' — von großer Bedeutung gewesen sind: Mißernten und Hungerjahre, dazu (generationsübergreifende) dynastische Spannungen und Abfalltendenzen, Mangel an mobilisierbaren finanziellen Ressourcen und anhaltende militärische Überbeanspruchung durch Krisenlagen an mehreren, voneinander weit entfernten Fronten (s.u.). Freilich ist bei derartigen Überlegungen stets zu beachten, daß selbst naheliegende historische Analogieschlüsse i m m e r unverbindlich bleiben und für sich g e n o m m e n höchstens eine illustrative Funktion haben können. An H.s Interpretation und Übersetzung des zentralen Abschnitts im Tatenbericht Ramses' III. ist nicht zuletzt auch unter grammatikalisch-sprachlichem Aspekt begründete Kritik geübt worden; besondere Beachtung verdient hier die umfassende Untersuchung, in der E. Edel den Gedankengang des entscheidenden

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Passus sowie die sachlichen Entsprechungen innerhalb der Textstruktur klarer, als bisher gesehen, herausgearbeitet hat. E.s Übersetzung lautet 23 ': „Ich bin wie Re als König erschienen in Ägypten; ich schütze es, indem ich für es abwehrte die N e u n Bogen (traditionelle Bezeichnung der barbarischen Randvölker). Die Bergländer ( = Fremdländer) — sie machten ein Bündnis auf ihren Inseln; es zogen fort und verstreut sind im Kampfgewühl die Länder (d. h. die Invasoren) auf einen Schlag; nicht hielt irgendein Land vor ihren Armen stand; (und die Länder) von Hatti, Qadi, Qarqemis, Arzawa und Alasa an (d.h. fünf Länder auf der Seite der angegriffenen Staatenwelt des hethitischen Großmacht-Bereiches) waren (nun) entwurzelt auf [einen Schlag]. [Es wurde] ein Lager [aufgeschlagen] an einem O r t innerhalb von Amurru; sie (die Invasoren) vernichteten seine Leute und sein Land, als ob sie nie existiert hätten; sie kamen heran, obwohl (indem) die Flamme vor ihnen bereitet war, vorwärts nach Ägypten; ihr Bund bestand aus den (Palastu-) Philistern, den Sikelern ( T k k r / T k r y ) , den Skrs, den D a n u ^ n a ) und Wss (die Seite der Angreifer — fünf ,Seevölker'-Ethnonyme!); die vereinten Länder — sie legten ihre Hände auf die Länder bis zum Umkreis der Erde; ihre Herzen waren zuversichtlich und vertrauensvoll; (sie sprachen zueinander:) .Unsere Pläne gelingen!'". Auf die semantischen und grammatisch-philologischen Detailfragen, die Helck in seiner ausführlichen Erwiderung (Helck 1987) erneut erörtert hat, kann hier nicht näher eingegangen werden — zumal H. jetzt „den verschiedenen philologischen Interpretationen" nur noch geringe Bedeutung für die historische Auswertung beimessen will (Helck 1987, 137). Einige wichtige (von H. stillschweigend vollzogene) Positionsänderungen sollten jedoch nicht unerwähnt bleiben: zum einen ist die Aufzählung der von der Invasorenbewegung heimgesuchten bzw. vernichteten Länder nun nicht mehr einem „mythischen Weltbild" v o m äußersten Nordrand der Ö k u m e n e verpflichtet, sondern eine situationsgerechte „Aufzählung aller Haupteinheiten der politischen Landkarte im Norden Vorderasiens" (S. 138). Darüber hinaus aber will H. - nach dem Eintritt der großen ErdbebenKette - den ,Seevölker'-Invasoren nun doch einen entscheidenden Vorstoß in das entstandene Vakuum und eine längerfristig behauptete, folgenschwere Kontrolle über Zypern und die gesamte Levanteküste zuschreiben und damit — wenigstens indirekt — auch eine wichtige Rolle als Wirkfaktor im Auflösungsprozeß des Großreiches von Hattusa zugestehen. 24 ' Auch wenn die Diskussion damit im wesentlichen wieder zu dem Standpunkt zurückgekehrt ist, daß der ,Seevölker'-Bericht Ramses' III. als durchaus sachhal-

23 ' E. Edel, Der Seevölkerbericht aus dem 8.Jahr Ramses' III., in: Festschrift Gamal Mokhtar, Kairo 1985, 223f. (s. dazu die Entgegnung von Helck 1987, 129ff.). In den runden Klammern sind hier einige erläuternde Präzisierungen von mir beigefugt worden; schwierige, umstrittene Wortbedeutungen wurden kursiv gesetzt. 24 > Helck 1987, 144/5.

Die ,politisch-historischen' Beziehungen der Ägäis-Welt des 1 5 . - 1 3 . J h . s v . C h r .

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tige Quelle zu gelten hat, so bleibt prinzipiell der methodische Vorbehalt unberührt, daß j e n e r knappe Ü b e r b l i c k über die Ereignisse eines großen geschichtlichen U m b r u c h s lediglich aus dem Blickwinkel des Pharaonenreiches heraus konzipiert worden ist (und in seiner Verlaufsschilderung selbstverständlich den Erfordernissen des ägyptischen Geschichts- und Weltbildes bzw. der ägyptischen ,Königsnovelle' R e c h n u n g zu tragen hatte). Aus dem skizzierten Gang dieser Forschungskontroverse aber ergibt sich in methodischer wie sachlicher Hinsicht, daß unsere einzige Chance, zu einem besser abgesicherten Wissen wenigstens über einige Hauptaspekte und - V o r g ä n g e der g r o ß e n Krise u m und nach 1200 v . C h r . zu gelangen, nur in einer möglichst umfassenden (d.h. fächerübergreifenden), k o n struktiven Diskussion und K o m b i n a t i o n der verschiedenen Zeugnisse und einschlägigen Befunde innerhalb des gesamten ostmediterranen und vorderasiatischen R a u m e s bestehen kann. Dabei gilt es, stets die Grenzen einer wirklich kontrollierten Auswertung deutlich zu markieren, gegenüber notorischen (,pro'- wie ,antimigrationistischen') Modeströmungen kritische Distanz zu wahren — vor allem aber dem gleichsam natürlichen Hang zu monokausalen (zumeist v o m fachegoistischen Eigensinn der Gelehrten getragenen) Erklärungsmodellen möglichst konsequent zu widerstehen.

III Den Abschluß unserer Überlegungen sollen einige Hinweise auf wichtige N e u funde und auf Forschungsergebnisse bilden, die erst in den letzten Jahren erzielt werden konnten. Aus der Л/я/ia-Korrespondenz des letzten Königs von Ugarit, Hammurapi, hat sich bekanntlich — in Verbindung mit dem Tatenbericht Suppilulijamas II. (des Sohns und 2. Nachfolgers des Großkönigs Tuthalija IV.) über seinen großen Flottenvorstoß von Kilikien aus zur R ü c k g e w i n n u n g von Alasia-Zypern — eine relative Abfolge der katastrophalen U m b r ü c h e feststellen lassen: An den Zerstörungshorizont der Stadt- und Palastzentren von U g a r i t und Ras Ibn Hani (jedenfalls einige Jahre nach dem Regierungsantritt des Pharao Merneptah; ca. 1213—1204 n . d . ,Minimalchronologie') hat sich offenbar recht bald die Besetzung von Alasia-Zypern durch die ,Seevölker'-Kriegergruppen angeschlossen, während der Zusammenbruch des Hethiterreiches in Hattusa (und im gesamten anatolischen Kerngebiet) erst einige Zeit später erfolgt sein kann. Andererseits ist davon auszugehen, daß die (nur wenige Jahre umspannende) Regierungszeit Hammurapis in Ugarit sich bis in die Ära Suppilulijamas II. (sowie seines U n t e r - K ö n i g s Talmi- Tesup von Qarqemis) erstreckt hat - des letzten in Hattusa bezeugten hethitischen Großkönigs, unter dem sich nach Ausweis zahlreicher Königsbullen und Siegelabdrücke im (unmittelbaren) Brandzerstörungsschutt die definitive Katastrophe der M e t r o p o l e vollzogen haben m u ß . Eine präzise chronologische Fixierung dieser Ereignisse ist j e d o c h schwierig, da ledig-

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Gustav Adolf L e h m a n n

lieh flir die Anfangsphase der langjährigen R e g i e r u n g Tuthalijas IV. ein S y n c h r o nismus m i t der T h r o n b e s t e i g u n g T u k u l t i - N i n u r t a s I., des Herrschers des (auf einem H ö h e p u n k t seiner M a c h t stehenden) mittelassyrischen Reiches (ca. 1233—1197 n. d. revidierten C h r o n o l o g i e v o n J. Boese u. G. W i l h e l m ; ältere D a t i e r u n g : 1243—1207) vorliegt. 2 5 ) N u n m e h r bezeugt j e d o c h der von S. Lackenbacher publizierte akkadische Herrscherbrief (des seinen Sieg schildernden Assyrerkönigs) an den K ö n i g v o n U g a r i t (wahrscheinlich Ibiranu, den V o r v o r g ä n g e r von Hammurapi u n d Generationsgenossen Tuthalijas IV.), daß die peinliche, persönliche Niederlage des hethitischen G r o ß k ö n i g s bei Nihrija (in O b e r m e s o p o t a m i e n ) gegen die Assyrer tatsächlich n o c h in die Ära Tuthalijas IV. g e h ö r t — u n d daher chronologisch sehr wahrscheinlich d u r c h a n n ä h e r n d eine Generation von der definitiven Endphase des Hatti-Reiches getrennt gewesen ist. 26 ' C h r o n o l o g i s c h g e w i n n e n w i r d a m i t endlich den n o t w e n d i g e n Freiraum, u m m i t d e m Ende der Ära Suppilulijamas II., d . h . d e m U n t e r g a n g Hattusas u n d des Großkönigreiches, weit in das 1 .Jahrzehnt des 12.Jh.s v. C h r . h i n a b g e h e n zu k ö n n e n - die Katastrophe in Hatti rückt folglich erheblich näher an den Abschluß der dynastischen (nach d e m Tode M e r n e p t a h s ausgebrochenen) Krise i m Pharaonenreich u n d den Beginn der Regierungszeit R a m s e s ' III. heran. 2 7 ' Andererseits ist der (anonyme) Vasallen-

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> J. Boese/G. W i l h e l m , Assur-Dän I., N i n u r t a - A p i l - E k u r und die mittelassyrische C h r o n o l o gie, W i e n e r Zeitschrift f ü r die K u n d e des Morgenlandes [ W Z K M ] 71, 1979, 19ff.; vgl. jetzt auch die Hinweise v o n C . M o r a , A t h e n a e u m 66, 1988, 558ff. 2r '> S. Lackenbacher, N o u v e a u x documents d'Ugarit-I. U n e lettre royale, R e v u e d'Assyriologie [ R A ] 76, 1982, 141 ff.; der gleichen Situation gehört offenbar die schriftliche A n w e i s u n g des hethitischcn (Vize-)Königs von Q a r q e m i s Ini-Tesup (des Vaters u n d Vorgängers v o n TalmiTesup) an den Vasallenkönig Ibiranu v o n U g a r i t ( R S 17.289 - P R U IV 194) an. Die Fixierung dieses großen assyrischen Prestigeerfolgs über die Hethiter innerhalb der Regierungszeit TukultiNinurtas I. (vermutlich vor d e m großen Babylonienfeldzug der Assyrer ca. 1220 v . C h r . ) ist freilich bislang nicht möglich; s. A. Harrak, Assyria and Hanigalbat, D a r m s t a d t 1987, 207 ff.; vgl. aber auch W. Mayer, D e r babylonische Feldzug Tukulti-Ninurtas I. von Assyrien, Studi epigrafici e linguistici [SEL] 5, 1988 ( = Festschrift O . Loretz), 143 ff. — Keinesfalls kann jedoch der Nihrija-Sieg über Tuthalija IV. mit d e m bezeugten Feldzug Tukulti-Ninurtas I. gegen die NaTri-Länder gleichgesetzt werden: gegen I. Singer, T h e battle of Nihriya and the end of the Hittite Empire, Zeitschrift f u r Assyriologie [ZA] 75, 1985, 100ff.; s. dazu dens., Dating the end of the Hittite Empire, Hethitica 8, 1987, 413 ff. 27 > Von historischer B e d e u t u n g ist in diesem Z u s a m m e n h a n g auch die durch Geschäftsurkunden unmittelbar nach dem 2.Jahr des mittelbabylonisch-kassitischen Herrschers MelisiHUj Melisipak (Regierungsantritt schwankt j e nach Berechnung zwischen 1190-1181) datierte, u m fassende Brandzerstörung v o n Emar-Meskene (am Euphrat; ca. 120 k m Luftlinie südl. von Qarqemis/Jerablus): s. D. Arnaud, Recherches au pays d'Astata-Emar VI 3, Paris 1984, nr. 26; vgl. dens., Les textes d ' E m a r et la Chronologie de la fin du Bronze Recent, Syria 52, 1975, 88 f. u. 97f., s o w i e j . Boese, Burnaburias II., Melisipak u n d die mittelbabylonische Chronologie, U F 14, 1982, 15 ff. Die tief einschneidende Katastrophenzäsur in Emar, das erwiesenermaßen z u m unmittelbaren Herrschaftsgebiet der hethitischen (Vize-)Könige von Q a r q e m i s gehört hat, d ü r f t e - zumindest indirekt - durch die gleichzeitigen U m w ä l z u n g e n der ,Seevölker'-Krise bewirkt w o r d e n sein. Allerdings bezeugen die U r k u n d e n u n d Briefe aus dieser Zeit in E m a r auch ein

Die .politisch-historischen' Beziehungen der Ägäis-Welt des 15.-13.Jh.s v.Chr.

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vcrtragstcxt C T H 123 ( = К В о IV, 14), der höchst eindrucksvoll auf vergangene u n d k ü n f t i g d e n k b a r e Krisenlagen v o n Herrscher u n d Großreich eingeht u n d den H . O t t e n einst unter die aussagekräftigsten „Quellen z u m Ausklang des Hethitischen Reiches" eingereiht hat, n u n m e h r fest der (insgesamt höchst glanzvollen) Regierungszeit Tuthalijas IV. zuzuordnen. 2 8 ' A u c h der sensationelle N e u f u n d der Staatsvertrags-Bronzetafel (eines u m f a n g reichen A b k o m m e n s Tuthalijas IV. m i t K u r u n t a , d e m U n t e r k ö n i g im Land Tarhuntassa aus der rivalisierenden .Muwatalli II.-Urhi-Tesup-Linie'), die H . O t t e n mit b e w u n d e r u n g s w ü r d i g e r U m s i c h t u n d Schnelligkeit 1988 publiziert hat (s. A n m . 15), enthält w o h l wichtige I n f o r m a t i o n e n über den U r s p r u n g einer anhaltenden dynastischen Krise im hethitischen Herrscherhaus (seit d e m v o n Tuthalijas Vater, Hattusili III., gegen seinen N e f f e n Urhi-Tesup/Mursili III. g e f ü h r t e n Staatsstreich). G l e i c h w o h l läßt der Vertragstext keinerlei Abstriche an den g r o ß k ö n i g l i chen Prärogativen u n d M a c h t a n s p r ü c h e n erkennen: der neue U n t e r k ö n i g w i r d zwar mit der privilegierten hethitischen S e k u n d o g e n i t u r in Q a r q e m i s - N o r d s y r i e n auf gleichen Fuß gestellt, steht j e d o c h r a n g m ä ß i g ausdrücklich ( § 1 8 Hl. 79—82) noch unter d e m amtierenden K r o n p r i n z e n in Hattusa (,tuhukanti'); auch ist die späterhin v o m Vertragspartner K u r u n t a o f f e n b a r doch n o c h versuchte M a c h t p r o b e in Hatti klar zugunsten Tuthalijas IV. u n d des herrschenden Z w e i g s der Dynastie entschieden w o r d e n . 2 9 ' A u c h f ü r die Ära Suppilulijamas II. bleiben die (eindeutig zuweisbaren) Textd o k u m e n t e v o n B o g a z k ö y im Hinblick auf strukturelle Krisenfaktoren u n d K o n fliktpotentiale im Reich relativ unspezifisch; freilich hat Suppilulijama II. die T h r o n b e s t e i g u n g nach d e m o f f e n b a r überraschenden T o d seines älteren (nur

beträchtliches Unruhe-Potential seitens der Aramäer-Gruppen (Ahlamu) in der Wüstenrandzone. - Auf das Jahr 1194/3 v.Chr. (d.h. ein Jahr vor dem Timaiischen Datum der 'Ιλίου πέρσις) fuhrt bekanntlich eine — wenngleich nur in später Brechung bei Pompeius TrogusIustin 18,3,5 vorliegende - Notiz aus der Tyrischen Stadtchronik, wonach die Sidonier von ,Seevölker'-Kriegem (d.h. einem König der Askalonier-,Philister') besiegt und aus ihrer Heimatstadt vertrieben auf die Schiffe geflohen und sodann mit der Inselfestung Tyros eine neue Ära begründet hätten. 28) H. Otten, Neue Quellen zum Ausklang des Hethitischen Reiches, M D O G 94, 1963, 1-23, bes. 5/6; s. dens., Zum Ende des Hethiterreiches aufgrund der Bogazköy-Texte, in: MüllerKarpe 1977,22 ff., bes. 29/30, sowie auch die chronologisch-historischen Erwägungen H. Ottens, Die letzte Phase des Hethitischen Großreiches nach den Texten, in: Deger-Jalkotzy 1983, 13fF., bes. 19-21. 29) H. Otten, Die Bronzetafel aus Bogazköy (oben Anm. 15), 3-9, 18f., 48/9; unter der Regierung des Großkönigs Muwatalli II., des Vaters des Kurunta sowie des (von Hattusili III.) entthronten Urhi-Tesup/Mursili III., war der großkönigliche Regierungssitz (mitsamt den Reichskulten) vorübergehend von Hattusa nach der Residenz von Tarhuntassa verlegt worden (s. H. Otten, Die Apologie Hattusilis III., Wiesbaden 1981, 15 § 8). Andererseits haftete an der Ära Muwatallis II. das Prestige des in der berühmten Schlacht bei Qades errungenen Sieges über das Mobilheer Ramses' II. (1274 v.Chr.): s. e.g. den Sausgamuwa-Vertrag Tuthalijas IV. (oben Anm. 11) Vs I, ZI. 28-39.

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Gustav Adolf Lehmann

kurze Zeit regierenden) Bruders Arnuwanda III. erst gegen innere Widerstände erkämpfen müssen. Mit der Großkönigswürde ist in seiner Ära jedoch noch immer die herrschaftliche Kontrolle sowohl über Zentralanatolien als auch die kilikische Küste ( C T H 1 2 1 / K B o X I I 38) und die Oberhoheit über Nordsyrien (westlich des mittleren Euphrats) verbunden geblieben ( C T H 122; Fragmente eines Staatsvertrages mit Talmi-Tesup, dem Vize-König von Qarqemis). Deutlicher sprechen da schon die Zeugnisse aus der Endphase Ugarits von der Verstrikkung des amtierenden hethitischen Großkönigs in einen verlustreichen Krieg an der langen, „maritimen" Südflanke des Reiches sowie an der Levanteküste gegen die See-Invasoren-Verbände, von — zumindest zeitweilig ganz akuten — Hungersnöten in Hatti, schließlich auch von einer spürbaren Erosion der Reichsautorität im Kreise der nordsyrischen Vasallenstaaten (Sonderbündnis Ugarits mit Amurru!): chronologisch reicht diese Quellengruppe jedoch nicht mehr an die Krisenfaktoren und -konstellationen heran, die schließlich unmittelbar den fatalen Zusammenbruch von Reichsmetropole und großköniglicher Regierung bewirkt haben. Die seit 1977/8 von P. Neve weitergeführten Ausgrabungen in Hattusa-Bogazköy haben Suppilulijama II. gerade in den letzten Jahren immer deutlicher als Fortsetzer des gewaltigen Stadtplanungs- und Tempelbauprogramms seines (mit besonderem Eifer verehrten) Vaters Tuthalija IV. hervortreten lassen30); weitere Aufschlüsse über die Endphase der Großkönigsära sind nunmehr von den 1988 entdeckten Reliefbildern und monumentalen Inschriftentexten (in HieroglyphenLuwisch abgefaßt) zu erwarten, die offenbar zu einer Herrschergrab-Anlage im Zentrum des ,Tempelviertels' der Oberstadt gehört haben und zweifellos der Regierungszeit Suppilulijamas II. entstammen. Vorderhand ist aber unklar, ob dieses Herrscher-,Memorial' für den amtierenden Großkönig selbst oder aber zu Ehren des divinisierten und kultisch verehrten Vaters Tuthalija errichtet worden ist. Wichtige historische Aufschlüsse — im Hinblick auf die Entwicklung nach dem großen U m b r u c h zu Beginn des 12.Jh. v. Chr. und auf die Frage nach Kontinuitäten zwischen der hethitischen Großreichszeit und der späthethitischen Staatenwelt des 1 .Jahrtausends v.Chr. vor allem in Südostanatolien, Kilikien und Nordsyrien — haben sich inzwischen über das Schicksal der hethitischen

3 0 ' Zu den Ausgrabungen im gewaltigen Bereich der südlichen Oberstadt, insbes. zur Freilegung von nicht weniger als 26 Kultbauten innerhalb des sog. ,Tempel-Viertels' s. jetzt den Vorbericht P. Neves, Die Ausgrabungen in Bogazköy-Hattusa 1987, Archäologischer Anzeiger [AA] 1988, 357-390; zu den Zeugnissen der gewaltigen Bau- und Stadtplanungsaktivitäten Tuthalijas IV. s. auch die Studie von K. Bittel, Denkmäler eines hethitischen Großkönigs des 13. jh.s v. Chr. (Gerda Henkel Vorlesung), Opladen 1984.

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Sekundogenitur im (Vize-)Königreich Qarqemis am Euphrat ermitteln lassen.31) O b w o h l das „Land Qarqemis" (zu dessen weiterem Herrschafts- und Aufsichtsbereich freilich auch Vasallenstaaten wie Ugarit oder A m u r r u gezählt haben) im ,Seevölker'-Bericht Ramses' III. ausdrücklich unter den O p f e r n der InvasorenB e w e g u n g aufgeführt worden ist, hat die hethitische Dynastie hier die ,Katastrophen-Generation' — Suppilulijama II. und Talmi-Tesup (den Sohn des Ini-Tesup) sowie H a m m u r a p i von Ugarit — eindeutig überlebt. Darüber hinaus hat J. D. Hawkins sogar zeigen können, daß mit dem neuentdeckten König von Qarqemis Kuzi-Tesup, Sohn des Talmi-Tesup, in nachfolgenden neuhethitischen HerrscherGenealogien offenbar eine Art translatio der alten Großkönigswürde des N e u e n Reiches von Hattusa verbunden worden ist. So wird gerade in diesem Punkt die pauschale Aussage des ägyptischen ,Seevölker'—Berichts über den gleichzeitigen Z u s a m m e n b r u c h der gesamten Staatenwelt der hethitischen Machtsphäre — von Westkleinasien bis nach A m u r r u — auf eindrucksvolle Weise sowohl bestätigt als auch grundlegend modifiziert.

31 > Die von D. Sürenhagen (Ein Königssiegel aus Kargamis, M D O G 118, 1986, 183 ff.) publizierten Königssiegel-Abdrücke des Kuzi-Tesup v o n Qarqemis, Sohn des (Vize-)Königs Talmi-Tesup, auf Tonbullen v o m Lidar H ö y ü k (auf d e m E u p h r a t - O s t u f e r b. U r f a / T ü r k e i ) sind jetzt von J . D . H a w k i n s (Kuzi-Tesup and the ,Great Kings' o f K a r k a m i s , AS 38, 1988, 99-108) weiterführend ausgedeutet u n d mit der .neuhethitischen' Herrscher-Genealogie von Malatya/ Melid k o m b i n i e r t w o r d e n ; bemerkenswerterweise ist Kuzi-Tesup noch in fragmentarischen Texten der Archive v o n B o g a z k ö y offenbar m e h r f a c h e r w ä h n t w o r d e n (ob bereits als U n t e r könig von Q a r q e m i s und Nachfolger seines Vaters Talmi-Tesup, bleibt vorerst unklar): s. D . Sürenhagen, a . O . , 189 zu den T e x t f r a g m e n t e n K U B XXIII 29, Z . 11, 13 ( = C T H Nr. 214.9) u. K U B X X I 7, III 12 ( C T H N r . 126.1: läßt auf einen Synchronismus Kuzi-Tesups mit Suppilulijama II. schließen!). Vgl. dazu auch die ältere Bestandsaufnahme K. Bitteis zur Entwicklung in Anatolien nach der g r o ß e n Zerstörungswelle im hethitischen Kerngebiet u n d w ä h r e n d des nachfolgenden ,Dunklen Zeitalters': ,Die archäologische Situation in Kleinasien u m 1200 v. Chr. u n d w ä h r e n d der nachfolgenden vier J a h r h u n d e r t e ' , а. O . (oben A n m . 22), bes. 37 f.; 40 f. (mit Diskussion S. 47 ff.); vorerst unklar bleiben Zeitstellung u n d tatsächliche politischdynastische Z u o r d n u n g des späthethitischen ,Großkönigs' Hartapus (Sohn des ,Großkönigs' Mursiii), der offenbar in einem (zeitweilig recht bedeutenden) , R e d u i t ' des H e t h i t e r t u m s - nach der Großreichszeit — u m das lykaonische Gebirgsmassiv des Karadag/Kizildag h e r u m (östl. von K o n y a im südlichen Mittelanatolien — d. h. im Bereich des alten Tarhuntassa!) regiert hat.

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Gustav Adolf Lehmann

Abgekürzt zitierte Literatur

AS Deger-Jalkotzy 1983 Edel 1966 Haider 1988 Hclck 1987 IEJ Lehmann 1977 MDOG Müller-Karpe 1977 Schachermeyr 1986 UF

Anatolian Studies. S. Deger-Jalkotzy (Hrsg.), Griechenland, die Ägäis und die Levante während der ,Dark Ages' v o m 12. bis zum 9.Jh. v.Chr., W i e n 1983. E. Edel, Die Ortsnamenlisten Amenophis' III., Bonn 1966. P. W. Haider, Griechenland - Nordafrika. Ihre Beziehungen zwischen 1500 und 600 v.Chr., Darmstadt 1988. W. Helck, Nochmals zu Ramses' III. Seevölkerbericht, Studien zur Altägyptischen Kultur 14, 1987, 129-145. Israel Exploration Journal. G. A. Lehmann, Die .Seevölker'-Herrschaften an der Levanteküste, in: Müller-Karpe 1977, 78-111. Mitteilungen der Deutschen Orient-Gesellschaft. H. Müller-Karpe (Hrsg.), Geschichte des 13. und 12.Jahrhunderts v. Chr. Jahresbericht 1976 des Instituts fur Vorgeschichte der Universität Frankfurt a . M . , München 1977. F. Schachermeyr, M y k e n e und das Hethiterreich, W i e n 1986. Ugarit-Forschungen.

SIGRID DEGER-JALKOTZY

Die Erforschung der sogenannten und der sogenannten

des

Zusammenbruchs

mykenischen

Kultur

dunklen

Jahrhunderte

ι Der Untergang der mykenischen Kultur, für die Hornerforschung ebenso von Bedeutung wie für die griechische Frühgeschichte, ist eng mit der Entwicklung der archäologischen Erforschung Griechenlands verbunden. Ohne die von dieser Disziplin entdeckten Quellen - auch die schriftlichen Zeugnisse der mykenischen Periode, die Linear B-Texte, verdanken wir bekanntlich der Spatenforschung — hätte die moderne Geschichtsforschung sicher nie die Frühzeit Griechenlands als Hochkulturperiode rekonstruiert, auf deren Untergang ein kultureller Rückgang bis etwa ins 8.Jh. v. Chr. folgte. Weder die historischen Rückerinnerungen der antiken Autoren noch die Erzählungen des frühgriechischen Epos von einem .Heroischen Zeitalter' 1 ' vermitteln eine Vorstellung über die Kultur, die wir heute als die mykenische bezeichnen. Abgesehen davon, galten diese Berichte in den Augen der positivistischen Geschichtsforschung und der Sagenforschung weite Strecken des vorigen Jahrhunderts hindurch als bar jeder Historizität. Man verwies sie in den Bereich von Sage und dichterischer Fiktion. Erst mit dem Bekanntwerden der archäologischen Denkmäler der sog. .mykenischen' Kultur der griechischen Spätbronzezeit (des Späthelladikums) änderte sich in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts die Situation grundlegend. Die zweite Erkenntnis der Archäologen war, daß die mykenische Kultur ein gewaltsames Ende fand, auf das eine Periode kultureller Bedeutungslosigkeit folgte: Bereits 1897 gebrauchen Chr. Tsountas/J. I. Manatt den Terminus ,Dark Ages' oder auch ,Griechisches Mittelalter' für diese Jahrhunderte zwischen dem Auflösung der bibliogr. Abkürzungen unten S. 152 ff. '' Definition und erste umfassende Behandlung bei Η. M. Chadwick, The Heroic Age, Cambridge 1912 (für Griechenland: 168ff.). Ferner H . M . und N . K . Chadwick, The Growth of Literature, 3 Bde., Cambridge 1932-1940. Mit Bezug auf die Homerischen Epen: С. M. Bowra, The Meaning of a Heroic Age, Newcastle 1957; ders., Heldendichtung. Eine vergleichende Phänomenologie der heroischen Poesie aller Völker und Zeiten, Stuttgart 1964.

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Sigrid Deger-Jalkotzy

Fall Mykenes und dem, was ebenfalls schon in diesem Buch 2 ' als ,Homerische Renaissance' beschrieben wird. Der Begriff .Griechisches Mittelalter' findet sich auch in der deutschsprachigen Forschung, so bei Eduard Meyer 3 ' und bei C . F. Lehmann-Haupt. 4 ' Gemeint ist die Periode vom Zusammenbruch der mykenischen Kultur an bis ins 8.Jh., als sich — in Lehmann-Haupt's Formulierung — „der Schleier der Sagenzeit lüftet". 5 ' Archäologisch sprach man auch von einer .geometrischen' Periode, hauptsächlich wegen der keramischen Ornamentik. 6 ' Insgesamt wird man freilich den Verdacht nicht los, daß die Termini ,Dark Ages', ,Dunkle Jahrhunderte', ,Griechisches Mittelalter' eher den Stand der Forschung ausdrückten als das, was sie bezeichnen sollten.

II Ein diachroner Überblick über die Erforschung der mykenischen Zeit, ihres Unterganges und der ,Dark Ages' lehrt, daß diesen Zweig der Altertumswissenschaft einige Besonderheiten auszeichnen. (1) Angewiesen vor allem auf archäologische Quellen, müssen sich die Spezialisten für diese Zeit einer ständigen Vermehrung des Materials und damit einem ständigen Wandel der Forschungsgrundlage anpassen. Keine Forschergeneration kann auf einem Kanon gesicherter Erkenntnisse aufbauen, jede muß sich ihr eigenes Urteil aus dem Material aufs neue ableiten. Das gilt gerade wieder für unsere Gegenwart, wo seit den siebziger Jahren die Materiallage nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ für Überraschungen gesorgt hat. Lediglich die Linear B-Forschung hat — leider, muß man sagen — keinen so großen Materialzuwachs zu verzeichnen. (2) Bemerkenswert ist ferner die Divergenz der Ergebnisse, zu denen die einzelnen Gelehrten gerade bezüglich des Unterganges der mykenischen Kultur gelangen, doch durchaus auch bezüglich der Rekonstruktion der ,Dark Ages': Sie hat m . E . ihre Ursache im Methodenproblem. (a) Das gilt zuvörderst fur die archäologischen Quellen. Daß sie als Zeugnisse der Sachkultur nur beschränkt aussagekräftig sind für die Frage nach historischen Ereignissen, nach den organisatorischen Leistungen und vor allem nach der höheren Geistigkeit einer Kultur, muß wohl nicht im Detail expliziert werden. Chr. Tsountas/J. I. Manatt, The Mycenaean Age, London 1897, 363 ff. Geschichte des Altertums, Band III, Neudr. Darmstadt 1981, Kap. V. Für die Entlehnung des Terminus .Griechisches Mittelalter' aus der Literaturgeschichte ebda., 267 A n m . 2. 4> Lehmann-Haupt 1911, 11. 5 ' Lehmann-Haupt 1911, ebda. 6 ' S. dazu den Beitrag von St. Hiller in diesem Band, oben S. 61 ff. 2)

3)

Zusammenbruch der ,mykenischen Kultur' und ,dunkle Jahrhunderte'

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(b) Die Linear B-Texte wiederum, die im übrigen erst seit einem Vierteljahrhundert auch von anderen Forschungszweigen als v o m linguistischen — also auch von Historikern — bearbeitet werden können, sind in sich schwierig zu interpretieren. Außerdem geben sie über den Zusammenbruch des mykenischen Palastsystems, wenn überhaupt, dann nur indirekten Aufschluß: die Schriftlichkeit hat diesen Zusammenbruch nicht überlebt. (c) Schließlich spielen hier auch die antiken literarischen Quellen eine Rolle. Mit der Erschließung der mykenischen und der minoischen Kultur durch die Archäologen änderte sich die Haltung vieler Forscher gegenüber den antiken Berichten über die Urgeschichte Griechenlands und über das Heroische Zeitalter. Man erkannte, daß doch nicht alles Erfindung und dichterische Phantasie sein konnte. Namentlich den Homerischen Epen gestand man in steigendem Maße Glaubwürdigkeit zu. Allerdings ist klar, daß diese Texte nicht als historische Quellen im modernen Wissenschaftsanspruch gesehen werden können. Vielmehr beruhen sie letztlich auf Stoffen, die ihren Ursprung im archaischen Geschichtsbewußtsein einer archaischen Zeit, die somit ihre eigenen Regeln hatten und die mündlich tradiert wurden. 7 ' So herrscht bis heute keine Einigung darüber, ob und wie weit die Epen Homers und die übrigen antiken Traditionen als Quellen für die Frühzeit Griechenlands herangezogen werden können. Ablehnend verhalten sich Forscher wie R . Carpenter und in jüngerer Zeit auch J. Chadwick 8 ' und F. Hampl 9 ', wobei Hampl sich ausdrücklich auf die Ansichten von G. Grote und B. G. Niebuhr aus der Zeit vor den Entdeckungen Schliemanns beruft. Jene aber, die grundsätzlich bereit sind, den antiken Uberlieferungen geschichtlichen Gehalt zuzugestehen, müssen sich bemühen, dessen Grad anhand des Vergleiches mit dem archäologischen Befund zu definieren. Sie sehen sich dabei großen methodischen Problemen gegenüber, die insgesamt den Bereich der sog. Homerarchäologie 10 ' kennzeichnen. Kein Wunder, daß das Spektrum von extremer Gläubigkeit gegenüber den antiken Traditionen 11 ' bis hin zu Skepsis und zu äußerster Zurückhaltung reicht, mit vielfältigen Schattierungen dazwischen. 12 '

7 ' Z u m Problemkreis von mündlicher Überlieferung und Historizität vgl. das Vorgängerkolloquium: Coll. Raur. I, 1988. 8 ' R . Carpenter, Folk Tale, Fiction and Saga in the Homeric Epics, Univ. of California Press 2 1956. Chadwick 1976, 180ff.; ders., Was Homer a Liar? Diogenes 77 (1972), Iff. 9 ' F. Hampl, Die Ilias ist kein Geschichtsbuch. Serta Phil. Aenipontana 1962, 37 ff. 10 ' S. den Beitrag von H.-G. Buchholz in diesem Band, oben S. 11 ff. n ' Überblick bei S. Deger, Herrschaftsformen bei Homer, Wien 1970, 3ff. Für Beispiele vgl. die Datierung der Zerstörung des Palastes von Pylos unter Berücksichtigung des Troianischen Krieges bei C . W . Blegen/M. Rawson, The Palace of Nestor at Pylos in Western Messenia, Band I, Princeton 1966, 422 f. - Aus jüngerer Zeit: F. Schachermeyr, Die griechische Rückerinnerung im Lichte neuerer Forschungen, Wien 1983. 12 ' Grundsätzlich zuletzt J. Latacz, Z u U m f a n g und Art der Vergangenheitsbewahrung in der mündlichen Überlieferungsphase des griechischen Heldenepos. In: Coli. Raur. I, 1988, 153ff.

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Drei Quellengattungen von völlig unterschiedlicher Eignung für die Geschichtsforschung sollen demnach für die Erhellung der griechischen Frühgeschichte nutzbar, d.h. vergleichend und kombinierend ausgewertet werden: daß bis heute keine universell akzeptierten Resultate vorliegen, vermag kaum zu überraschen. (3) Ein weiterer Faktor kommt hinzu. Die mykenische Geschichte kann nicht losgelöst von den Vorgängen in der gleichzeitigen Staatenwelt rund um das östliche Mittelmeer gesehen werden. Wie G. A. Lehmann in diesem Band zeigt, betreffen nicht wenige Quellen des Orients und Ägyptens Fakten, die auch für die Erforschung der ägäischen Frühgeschichte von Bedeutung sind.13) Das gilt besonders für die Periode um die Katastrophen der mykenischen Welt an der Wende vom 13./12.Jh. v.Chr. Abgesehen von der Uneinigkeit der Meinungen darüber, wie weit diese Quellen relevant fur die Ägäis sind, ist ihre Behandlung für den Spezialisten der mykenischen Zeit nicht leicht. Zumeist muß er sie aus zweiter Hand übernehmen, und außerdem sind auch hier Materialstand und Forschung ständig im Fluß. 14 ' III Vor diesem Hintergrund versteht man, daß so viele unterschiedliche Erklärungen für die Katastrophen der mykenischen Paläste und für den Untergang der mykenischen Kultur vorgebracht wurden und werden. Bei aller Vielfalt lassen sie sich im wesentlichen in vier Hauptgruppen gliedern: A) Die mykenische Kultur erlag einem feindlichen Angriff bzw. feindlichen Angriffen von außen. B) Der Untergang der mykenischen Kultur wurde durch interne Faktoren ausgelöst. C) Die mykenische Kultur ging im Gefolge von Naturkatastrophen unter. D) Der Untergang der mykenischen Kultur war ein multifaktoraler Vorgang. Diese Auffassung findet derzeit immer mehr Anhänger, mit einer Vielfalt von Differenzierungen. Im wesentlichen werden freilich dabei Einzelfaktoren der anderen drei Gruppen miteinander kombiniert.

W . Kullmann, ,Oral Tradition/Oral History' und die frühgriechische Epik. Ebda., 184 ff. Ferner A. Heubeck, Geschichte bei Homer, SMEA 20 (1979), 2 2 7 f f . S. weiter K . Raaflaub zur Historizität der ,homerischen Gesellschaft' in diesem Band, unten S. 205 ff. 13> S. G . A . Lehmann, oben S. 105 ff. 14) Völlig unterschiedliche, geradezu konträre Beurteilungen der hethitischen, syro-palästinensischen und ägyptischen Quellen beim Symposion Zwettl 1980 gegenüber dem Kolloquium Frankfurt 1976.

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Die längste Tradition haben zweifellos jene Thesen, die zur Gruppe Α zählen. Die älteste machte — in Anlehnung an die antike Überlieferung 1 5 ) — die Dorische Wanderung für das Desaster verantwortlich. Sie findet sich schon bei Tsountas/ Manatt 1 6 ' und hat bis heute ihre Vertreter, wenngleich sie im Laufe der Zeit nach dem jeweils neuesten Forschungsstand modifiziert werden mußtc. 1 7 ' Ed. Meyer sah in der Dorischen Wanderung den europäischen, griechischen Teil einer weit größeren Völkerbewegung, die als ägäische Wanderung benannt wurde. 1 8 ' Sie sei durch das Eindringen der Indogermanen, d . h . der Thraker und Phryger 1 9 ', ausgelöst worden. Im südlichen Balkan hätten schließlich die Dorier den U n t e r g a n g der — nichtgriechischen 2 0 ' — mykenischen Welt bewirkt. Dadurch, daß L e h m a n n - H a u p t diese These in die ,Einführung in die Altertumswissenschaft' aufnahm 2 1 ', fand sie weite Verbreitung und hatte ein zähes Leben. Die Vorstellung, daß erst mit den Doriern die Griechen in die südliche Balkanhalbinsel g e k o m m e n wären, hat übrigens auch nach der Entzifferung des Linear В noch Anhänger gefunden. 2 2 ' Sie sollte jedoch als obsolet gelten. Weitere Theorien der Gruppe Α knüpfen archäologisch an eine Materialgruppe an, die man seit Montelius und A. Evans als fremde, außerägäische Objekte definiert. 2 3 ' Im wesentlichen sind es O b j e k t e der Gewandtracht (Fibeln) und des Schmuckes (Anhänger; Bernsteinobjekte), vor allem aber Schutz- und Trutzwaffen 24 ' sowie bestimmte D e k o r m o t i v e (Symbole?) und die im Mykenischen eher 15 ' Zusammenstellung bei N . G. L. Hammond, Traditions of the Dorians and the Heracleidae between the Trojan War and their entry into the Peloponnese. In: С А Н II, 2, Cambridge 3 1975, 690 ff. 16 > S. oben Anm. 2. 17 > Zitate bei Kilian 1980, 187 Anm. 108. - Diskussion bei Snodgrass 1971, 299ff., 311 f. Betancourt 1976, 4 0 f f ; Hooker 1976, 169ff. - Zuletzt Kilian 1988 (1), 1 1 5 f f , bes. 151. 18 > Ed. Meyer (oben Anm. 3), Band II Kap. XII. Die Umtriebe der Seevölker seit der AmarnaZeit und besonders die Seevölkerkämpfe Merneptah's und Ramses' III. (dazu G. A. Lehmann, oben S. 114ff.) waren damals längst bekannt. Als Ed. Meyer diese These erstmals entwickelte (In: Sitzungsber. d. Königl. Preuß. Akad. d. Wiss. 1908/1, 1908, 18f.), war der indogermanische Charakter des Mykenischen wie des Hethitischen noch nicht erkannt. 1928 (2. Auflage d. Geschichte des Altertums, Band II) war die Linear B-Schrift noch nicht entziffert. 20) S. vorige Anm. Zur Dorierwanderung vgl. Ed. Meyer (oben Anm. 3), 244ff.: Die Dorier hätten der mykenischen Kultur kein jähes Ende bereitet, sondern deren schon ausgelebter Endphase den letzten Stoß versetzt. 21 > Lehmann-Haupt 1911, 8 ff. 22 > Diskussion bei Hiller/Panagl 21987, I f f . (Einleitung von F. Schachermeyr), 3 1 5 f f , 329ff. Vgl. auch Snodgrass 1971, 305 mit Anm. 9. 23) Forschungsgeschichte bei Harding 1984, 4 ff. Knapper Abriß schon bei Müller-Karpe 1962, 255 ff. Vgl. auch Bouzek 1985, 13 ff. 24 > Jüngste Zusammenstellung und Behandlung bei Bouzek 1985. Auch die relevanten Kapitel der ArchHom (dazu H.-G. Buchholz, oben S. 32 ff.) behandeln die jeweiligen Objekte. Diskussion ferner bei Snodgrass 1971, 309ff.; J. Bouzek, in: Symposion Zwettl 1980, 271 ff; Harding 1984, passim.

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unübliche Sitte der Totenverbrennung. Auch diese Dinge verband man zunächst mit den Doriern 25 ', doch rückte man mit der Zeit aufgrund typologischer und chronologischer Feindiagnose von dieser Assoziation ab. Damit eröffnete sich ein anderes Thema der ,Dark Ages'-Forschung, nämlich, wie man die Dorier nun überhaupt archäologisch festmachen könne. 26 ) Die Trennung dieser ,fremden' Objekte von den Doriern hatte allerdings schon D. Mackenzie 1906/07 vorgeschlagen. 27) Damals lagen gerade die .geometrischen' Funde von R . Dawkins in Sparta vor, die man den Doriern zuschrieb. Dadurch sah sich Mackenzie in der Lage, die Materialien der ausgehenden minoischen Ära feiner zu differenzieren. Zwischen die letzten Phasen der minoischen Kultur, die wir nach seiner Beschreibung heute als SM III Α und SM III В datieren, und das .geometrische = dorische' Material der Nekropolen von Knossos und Kourtes schob er die ostkretischen Nekropolen von Mouliana, Milatos, Kavousi ein. Das Material dieser mittleren Phase nun, die demnach vor dem Eintreffen der Dorier lag, verband Mackenzie stilistisch mit den Darstellungen der Kriegervase von Mykene — chronologisch richtig, wie wir heute wissen. 28 ' Der unminoische wie unmykenische Charakter der Bewaffnung der Krieger des Kraters und der bemalten Stele vom selben Fundort Mykene sowie die Fibeln und Griffzungenschwerter etc. aus den ostkretischen Nekropolen erklärten sich für Mackenzie durch das Eindringen von kriegerischen Scharen aus dem Norden, die nicht Dorier, sondern eine vor-indogermanische Bevölkerung gewesen wären. Ihnen seien die Turbulenzen am Ende der minoischen und mykenischen Ära zuzuschreiben, nicht den Doriern. In den Augen Mackenzies waren dies die Achäer Homers. 1912 kam H . M . Chadwick auf der Suche nach dem ,Heroic Age' der Griechen 29 ' zu dem Ergebnis, daß Mackenzie's .achäische' Zeit zwischen der minoischen/mykenischen Ära und dem Kommen der Dorier der geeignetste Kandidat hierfür sei. Nach dem heutigen Wissensstand wäre dies demnach die Periode SH IIIC. 30 ' Allerdings führte ihn die Ähnlichkeit der Ausstattung der Krieger auf den ägyptischen Seevölker-Darstellungen mit jener der Krieger vom Krater und der bemalten Stele von Mykene zu dem Schluß, daß sowohl die

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' So etwa N . G . L . Hammond, Prehistoric Epirus and the Dorian Invasion, BSA 32, 1931, 131 ff. T h . C . Skeat, The Dorians in Archaeology, London 1934. V. Milojcic, Die dorische Wanderung im Licht der vorgeschichtlichen Quellen, AA 1948/49, 12ff. Diskussion u.a. bei Desborough 1964, 251 ff. Snodgrass 1971, 299ff., 311 f. Hooker 1976, 169ff. 26 > Unten S. 151. 27 > Mackenzie 1906/07, 423 ff. 2H> Mackenzie, а . О . Zur Periode SM ( = Spätminoisch) IIIC vgl. Schachermeyr 1979. Zur chronologischen Stellung der Kriegervase von Mykene jetzt Schachermeyr 1980, 154 ff. Zur Periode SH ( = Späthelladisch = Mykenisch) IIIC allgemein: unten S. 145ff. 29 > H . M . Chadwick (Anm. 1), 185ff. 30 > Siehe Anm. 28.

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Zerstörung von Knossos als auch der Untergang der mykenischen Kultur von den Seevölkern 31 ' verursacht worden sei. Die Zuschreibung der mykenischen Katastrophen am Übergang 13./12.Jh. auf das Konto der Seevölker hat im weiteren Verlauf insbesondere F. Schachermeyr auf eine umfangreiche Materialbasis gestellt. 32 ' In dieser Sicht war der Untergang der mykenischen Kultur ein Ereignis im Rahmen der sog. ,Seevölkerwanderung'. Darunter versteht man weiträumige Raub- und Eroberungszüge der Seevölker, über welche ägyptische und andere Schriftquellen des Orients berichten und in deren Verlauf der gesamte ostmediterrane R a u m und die angrenzenden Staaten großen Schaden nahmen. 33 ' In einen historisch und geographisch noch weiteren Rahmen stellte man die Metallobjekte und die übrigen Gegenstände bzw. Phänomene, die als nichtägäische Komponenten in spätmykenischen Fundkontexten auftauchen 34 ', als sich ihr anfänglich nebulos formulierter .nordischer' Ursprung allmählich auf den Bereich der donauländischen, italischen und balkanischen Urnenfelderkultur(en) präzisierte. 35 ' Daraus entwickelte sich die Vorstellung, daß solche Gegenstände im Zuge einer weiträumigen Expansion aus den Gebieten der Urnenfelderkultur(en) in die Ägäis und in noch weiter östlich gelegene Regionen gebracht worden seien. Diese ,Urnenfelderwanderung' hätte schließlich zu massiven Angriffen gefuhrt, denen die mykenische Kultur zum Opfer gefallen sei. Aus leicht durchschaubaren Gründen gelangte die ,Urnenfeldertheorie' während der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland und namentlich im Gefolge G. Kossina's zu großer Popularität und trieb absonderliche Blüten. Nach dem 2. Weltkrieg stellten dann Forscher wie H.W. Catling u n d J . D . Cowen (für die Schwerter), N . K . Sandars (fur Schwerter und Messer), J . H . Coles (für die Schilde), R . Hachmann, C.W. Beck, H. Brock (für Bernstein), C. F. C. Hawkes (für Schmuck), H. Hencken (für Helme) sowie V. Milojcic, A. Mozsolics, J. Paulik, S. Piggott und andere die mitteleuropäisch-italisch-mykenischen Zusammenhänge auf eine seriöse Materialbasis.36' Einen Höhepunkt erlebte die ,Urnenfelderthese', als W. Kimmig 1964 die Seevölker mit den Invasoren aus dem R a u m der Urnenfelderkulturen Mittel-

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> Dazu G . A . Lehmann, oben S. 114ff. ' F. Schachermeyr, Etruskische Frühgeschichte, Berlin 1929. Zuletzt: Schachermeyr 1979-1982. 33 > Letzte Darstellung auf dem neuesten Quellen- und Forschungsstand bei Lehmann 1985. 34 > O b e n S. 131 und A n m . 23, 24. 35 ' Forschungsgeschichte bei Harding 1984 und Bouzek 1985. Überblick über die ,Urnenfeldertheorie' bei W. K i m m i g (Anm. 37), passim. Z u r [zu den] Urnenfelderkultur[en] selbst vor allem die Synopse von H. Müller-Karpe, Beiträge zur Chronologie der Urnenfelderzeit nördlich und südlich der Alpen, Berlin 1959. G. Kossack, Studien zum Symbolgut der Urnenfelder- und Hallstattzeit Mitteleuropas, Berlin 1954. 361 Eine ausführliche Bibliographie ist hier nicht möglich. Vgl. Harding 1984, Bouzek 1985. Kurzer Überblick bei Snodgrass 1971, 305 ff. 32

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europas, Italiens und des Balkans identifizierte. 37 ) Dieser weitausgreifende und imposante Entwurf fand viele Anhänger und prägte auch das ,Seevölker-Kolloquium' 1973 in Sheffield.38) Eine Trendumkehr setzte ein, als H. Müller-Karpe anhand der Waffen zu Recht darauf aufmerksam machte, daß die sog. ,fremden' Objekte in spätmykenischen Kontexten nicht einseitig aus dem zentraleuropäisch-italisch-balkanischen Raum abgeleitet werden können. Sie waren vielmehr das Ergebnis langdauernder Kontakte zwischen den Ägäisländern und jenen Regionen. 39 ' Die dieser wichtigen Erkenntis inhärenten Möglichkeiten fur eine differenzierende Deutung jener Fundobjekte engte Müller-Karpe freilich ein: seiner Ansicht nach spielten sich diese Beziehungen allein in einem Süd-Nord-Gefälle ab, dem Mykenischen kam die innovative Rolle zu. Folglich konnten die besagten Objekte nicht als Zeugnisse für die Zerstörung der mykenischen Kultur durch Invasoren aus dem Norden oder aus dem adriatischen Raum gelten. Von dieser These ausgehend hat sich vor allem unter den Forschern der prähistorischen Disziplin die Tendenz breitgemacht, weiträumige Bevölkerungsbewegungen — zumindest in Nord-Süd- bzw. West-Ost-Richtung — als Erklärung fur die Präsenz der sog. .fremden' Phänomene im spätmykenischen Kulturraum abzulehnen.40* An ihre Stelle ist das Modell von Handelsbeziehungen und diplomatischem Verkehr getreten 41 ', sofern nicht überhaupt eine autochthone Genese der betreffenden Objekte und Phänomene postuliert wird. 42 ' Dort, wo sich Befunde nicht ohne die Annahme der Präsenz einer neuen Bevölkerungskomponente erklären lassen, wird mit Infiltration oder Transhumance höchstens aus der nord-

37) W. Kimmig, Seevölkerbewegung und die Urnenfelderkultur. In: Studien aus Alteuropa. I. Festschrift K. Tackenberg, Köln 1964, 220 ff. 38 ' Beispielsweise N . K . Sandars, The Last Mycenaeans and the European Late Bronze Age. Antiquity 38 (1964), 258ff., als unmittelbare Reaktion auf Kimmig. Ferner M. Gimbutas, Bronze Age Cultures in Central and Eastern Europe, Den Haag 1965. J. Bouzek (Anm. 24). Ders., Bronze Age Greece and the Balkans: Problems of migrations. In: R . A. Crossland/A. Birchall (Hrsg.), Bronze Age Migrations in the Aegean. Akten des 1. Kolloquiums von Sheffield 1970, London 1973, 169ff. - Die Akten des 3. Kolloquiums von Sheffield über die ,Seevölker' sind nie erschienen. Relevante Beiträge zum vorliegenden Thema damals von N . K . Sandars, J. Bouzek, E. Condurachi, F. Prendi, M . S . F . Hood, Α. Snodgrass, Т. Dothan, M . S . Balmuth, R . A . E . Grosjean, F. Schachermeyr. 39 > Müller-Karpe 1962. 40 ' Vgl. N . K . Sandars, The Sea Peoples, London 2 1985, im Gegensatz zu ihrem früheren Standpunkt (Anm. 38). Ähnliches Umdenken bei Catling/Catling 1981, 71 ff. Protagonistisch Kilian 1980, 166ff.; ders. 1985 (1), 73ff. - Diskussion im einzelnen und weitere Lit. bei Harding 1984. 41 ' Beispiel aus jüngster Zeit: Harding 1984. 42 > Kilian 1980,189 f. Ders. 1985 (2), 145 ff. Ders. 1988 (1), 127 ff. Dieselbe Tendenz kennzeichnet auch manche Bände der von H. Müller-Karpe inaugurierten Reihe .Prähistorische Bronzefunde'.

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westlichen Peripherie Griechenlands operiert. ' Vor einem solchen Hintergrund werden heute sowohl Seevölker-These als auch besonders Urnenfelder-These als Erklärungstheorien f ü r den Z u s a m m e n b r u c h der mykenischen Kultur vor allem von zahlreichen Archäologen abgelehnt, w o nicht verpönt. 4 4 ' D a f ü r feiert gelegentlich (in neuem Gewand) die Dorische Wanderung Auferstehung als Ursache fur diesen Untergang, weil sie sich mit dem Infiltrationsmodell verträgt (s.o.). 45 ' Alternativ anstelle der abgelehnten Erklärungsversuche der Gruppe A entwikkelt m a n vielfach Theorien, die den Gruppen В und С (oben S. 130) zuzuordnen sind. 46 ' U n t e r jenen, die mit internen Ursachen fur den U n t e r g a n g der mykenischen Kultur operieren (Gruppe B), schließen einige an die antiken Traditionen über innere M a c h t k ä m p f e u n d Kriege in bzw. zwischen den Staaten der Frühzeit an. 47 ' Auch Revolutionen der unterdrückten Bevölkerung oder Sklavenaufstände werden gelegentlich in Betracht gezogen. 4 8 ' Wichtiger freilich sind jene Thesen, die in ökonomischen Schwierigkeiten und in wirtschaftlichem Niedergang w ä h rend des ausgehenden 13.Jh.s v . C h r . die Ursachen für den Z u s a m m e n b r u c h der mykenischen Staaten sehen. Da diese Theorien hauptsächlich auf dem Forschungsstand der jüngsten Zeit aufbauen, sollen sie zugleich mit diesem behandelt werden (s. unten S. 142f.). Aus der Gruppe С (oben S. 130) erscheint als eine der ersten Thesen jene von R . Carpenter, der in einer Klimaverschlechterung am Ende der Bronzezeit, in Griechenland mit katastrophalen Folgen für die mykenische Wirtschaft v e r b u n den, die Ursache fur das Ende der mykenischen Epoche sah. 49 ' Naturwissenschaftliche Untersuchungen haben diese These allerdings widerlegt. 5 0 ' Auch der von H. van Effenterre vorgetragene, an L. Pomerance anschließende Versuch, den U n t e r g a n g der spätbronzezeitlichen Kultur Griechenlands mit der Eruption des Vulkans von Thera zu verbinden 5 1 ', hat archäologische wie chronologische Einwände gegen sich. 52 ' Die Tatsache, daß im 13. und 12.Jh. zahlreiche Fundorte

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> So die sog. .Barbarian' Keramik von SH IIIB-Spät/SH IIIC. Dazu unten S. 140 f. ' Typisch die Grundhaltung des Kolloquiums Frankfurt 1976. 45 > Vgl. Kilian 1988 (1), 151. 46 > Forschungsüberblick bei Snodgrass 1971, 309ff. Betancourt 1976, 41 f. 47 ' So G. Mylonas, Mycenae and the Mycenaean Age, Princeton 1966, 213ff., 229; ders., Mycenae Rich in Gold, Athen 1983, 249. 48) M. Andronikos, Ή „δωρική εισβολή" και τά αρχαιολογικά εύρήματα, Hellenika 13 (1954), 221 ff. Auch Hooker 1976, 179f., jedoch in Kombination mit anderen Ursachen. 49 ' R. Carpenter, Discontinuity in Greek Civilization, Cambridge 1966. 50 > Zitate bei Betancourt 1976 und Kilian 1980, 191 Anm. 158. 51 ' H. van Effenterre, La seconde fin du monde: Mycenes et la mort d'une civilisation, Paris 1974. L. Pomerance, The Final Collapse of Santorini (Thera): 1400 B. C. or 1200 В. С.? Göteborg 1970. 52) Zuletzt J. Μ. Aitken/H. N. Michael/Ph. P. Betancourt/P. M. Warren, The Thera eruption: continuing discussion of the dating. Archaeometry 30 (1988), 165 ff. 44

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Griechenlands Zerstörungen durch Erdbeben erlitten, hat zur These geführt, daß die mykenischen Staaten diese vielen Katastrophen nicht verkraften konnten und die mykenische Hochkultur deshalb zugrunde ging. 53 ) Weitere Vorschläge, die Epidemien (Pest) oder Klimaveränderungen für den Kollaps der mykenischen Welt verantwortlich machen wollten, fanden keine Stützen im archäologischen Befund. 54 ' Alle diese Theorien der Gruppen В und С haben den Nachteil, daß ihre monokausalen Erklärungsversuche nicht imstande sind, den nach neueren Erkenntnissen weitaus komplexeren Vorgängen gerecht zu werden, die zum Ende der mykenischen Kultur geführt haben. Diese sollen im folgenden erörtert werden.

IV Wie schon erwähnt, hat sich die Materialbasis für das vorliegende Thema seit rund 20 Jahren entscheidend erweitert. 55 ' Zu einer reichen archäologischen Ernte kamen auch Forschungen an den Linear B-Texten, welche die Situation im mykenischen Griechenland unmittelbar vor dem Fall der Paläste zu durchleuchten suchen.56' Ohne Zweifel haben sich die Voraussetzungen für die Erforschung des Untergangs der mykenischen Kultur wie für die Erforschung der ,Dark Ages' grundlegend gewandelt. Die grandiose Synopse von V. R . Desborough über das Ende der mykenischen Epoche57' ist ebenso heute bereits Forschungsgeschichte wie F. Älin's Zusammenstellung der archäologischen Daten für das Ende der mykenischen Fundstätten.58' Doch auch über die zu Anfang der siebziger Jahre erschienenen Monographien von A. Snodgrass 59 ' und V. R . Desborough 60 ' zu den ,Dark Ages' Griechenlands sind die Ergebnisse der neueren Ausgrabungen und Studien hinweggegangen, und die Homerforschung wäre gut beraten, wenn sie

53> Kilian 1980, 193; ders., Neue historische Aspekte des Spätmykenischen. Ergebnisse der Grabungen in Tiryns. In: Jahrbuch 1981 der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, 1981. Neuerdings ist Kilian von dieser These etwas abgerückt, vgl. 1988 (2), 149. 54> A n m . 46. 55> Lit. A n m . 5 6 - 6 7 . 56> Überblick bis 1978: Deger-Jalkotzy 1978, 1 4 f f . Ferner Chadwick 1976, 1 8 8 f . A. Sacconi, La fine dei palazzi micenei continentali: aspetti filologici. In: D. Musti (Hrsg.), Le Origini dei Greci, Dori, e M o n d o Egeo, Roma-Bari 1985, 1 1 7 ff. Zuletzt P. de Fidio, Fattori di crisi nella Messenia della tarda eta del bronzo. In: Festschrift Chadwick, 127 ff. Shelmerdine 1987, 557 ff. (beide mit Lit.). 57> Desborough 1964; ders. 3 1975, 658 ff. 58> Älin 1962. 59> Snodgrass 1971. 60> Desborough 1972.

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sich bezüglich der archäologischen Fakten nicht mehr so gläubig auf diese Werke beriefe. Ein auch nur annähernd kompletter Bericht über die neuesten archäologischen Erkenntnisse und über die Ergebnisse der Linear B-Forschung zum vorliegenden T h e m a kann hier unmöglich gegeben werden. Für einen komprimierten U b e r blick bis 1976 sei auf einen Aufsatz von Ph. Betancourt verwiesen 6 1 ', die Materiallage bis ca. 1985 hat K. Kilian in einigen Kongreßreferaten skizziert. 62 ' Einen ausfuhrlichen und umfassenden Bericht über das Material u n d die Forschung bis 1976 bzw. 1982, mit vielen Literaturangaben, aber auch zugleich schon mit synoptischen Abschnitten und historischen Interpretationen, enthalten vier Bände des monumentalen Werkes ,Die ägäische Frühzeit' von F. Schachermeyr. 6 3 ' Ebenso berücksichtigte derselbe A u t o r die Ergebnisse der jüngeren Forschung bei seiner monographischen Beschreibung der griechischen Frühgeschichte. 6 4 ' Trotzdem haben die Bände von V. R . Desborough u n d A. Snodgrass 65 ' vorläufig noch keine Nachfolger gefunden: Dies vor allem deshalb, weil viele wichtige Grabungsergebnisse und Fundmaterialien erst durch Vorberichte, Zeitungsmeldungen oder überhaupt nur durch mündliche Information bekannt sind. I m m e r hin haben sich aber seit 1976 vier Tagungen u m eine Zusammenschau und Auswertung der veränderten Materialgrundlage bemüht 6 6 ', und auf Arbeiten zu einzelnen T h e m e n und Aspekten wird noch hinzuweisen sein. Ich selbst habe damit begonnen, die Bedeutung der neuen Forschungsergebnisse im Hinblick auf die H o m e r p r o b l e m a t i k zu untersuchen. 6 7 ' Die wichtigste Erkenntnis aus dem neuesten Stand von Materialien und Forschung liegt darin, daß die Katastrophe der mykenischen Paläste um 1200 v. Chr,68' nicht zugleich das Ende der mykenischen Kultur bedeutete. Vielmehr bezeugen reiche Materialien 69 ' aus Attika und Euboia (so Athen, Perati, Lefkandi), aus der Argolis (Tiryns, Mykene, Argos, Asine), aus Achaia (Aigeira, Aigion, Teichos Dymaion), aus Nord-Elis, aus der übrigen Peloponnes (z.B. Korakou, Monemvasia, A m y -

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> Betancourt 1976. > Kilian 1983, 53ff.; ders. 1985 (1); ders. 1988 (1). 63 > Schachermeyr 1976; ders. 1979; ders. 1980; ders. 1982. - Der Fortsetzungsbericht von ca. 1976-1986 wird an der Mykenischen Kommission der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien vorbereitet. 64) Schachermeyr 1984. 65 > Anm. 57, 59, 60. 66) Kolloquium Frankfurt 1976. Symposion Zwettl 1980. Kolloquium Köln 1984. Convegno internazionale Roma 1988. 67 > Deger-Jalkotzy 1988 (1); dies. 1988 (2); dies. 1989. 68) Zu diesem Datum als Konvention vgl. P . M . Warren/V. Hankey, Aegean Bronze Age Chronology, Bristol 1989, 158ff. S. Deger-Jalkotzy, Symposion Zwettl 1980, 118f. 69) Nachweise in den Anm. 61-67 genannten Publikationen. 62

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klaion bei Sparta), aus Mittelgriechenland (Delphi, Elateia, Kalapodi in der Phokis; Kynos-Livanates in der Ostlokris; einige Plätze im Spercheiostal), aus Thessalien (Iolkos, Dimini), aus Makedonien (Kastanas, Assiros), von den Kykladen (Melos, Naxos, Paros) und der Dodekanes (Rhodos, Kos) wie auch aus der Peripherie von Westanatolien, Zypern, der Levante und Italien, daß die mykenische Zivilisation den Untergang der Paläste noch um etwa 150 Jahre überlebte. Allerdings — und das ist die zweite wichtige Erkenntnis, die historisch von großer Tragweite und Bedeutsamkeit ist — befand sich diese nachpalatiale mykenische Periode, die in der archäologischen Chronologie als SH III С bezeichnet wird, nicht mehr im Hochkultur-Stadium. Es handelte sich um ein Zeitalter, das in allen Dingen auf ein niedrigeres Kulturniveau abgestiegen war. Vor allem hatte die Schriftlichkeit den Fall der Paläste nicht überlebt: SH III С war illiterat.

V Die Erforschung des Unterganges der mykenischen Epoche muß sich heute daher eigentlich mit drei Phasen befassen, die sich über rund 200 Jahre erstreckten: (1) die Katastrophen der Paläste um 1200 v.Chr., die eine zwar gewaltige politische, soziale und wirtschaftliche Zäsur bewirkt haben müssen (weiter dazu S. 146ff.), aber trotzdem nicht das Ende der mykenischen Kultur bedeuteten. (2) die nach-palatiale mykenische Periode SH III С des 12. und mindestens der Hälfte des ll.Jh.s v.Chr. (3) das tatsächliche Ende der mykenischen Kultur, das mit der Endphase von SH III С und der sog. submykenischen Periode eintrat, ungefähr in der 2. Hälfte des ll.Jh.s bis um die Jahrtausendwende. Was die Katastrophen um 1200 v. Chr. anlangt, die nicht nur den Zusammenbruch der Paläste und damit der Staaten, die sie repräsentierten 70 ', sondern auch die Zerstörung der meisten anderen Gemeinwesen innerhalb der mykenischen Sphäre Griechenlands bedeuteten, so lassen sie sich nach dem neueren Wissensstand sicher nicht monokausal erklären. Wie immer die diversen Interpretationsversuche aussehen, sie werden sich m. E. im Rahmen der Gruppe D der oben aufgezählten Thesen (S. 130) bewegen müssen. Die feinere chronologische Gliederung der Palastperiode 71 ' erlaubt jetzt die Beobachtung, daß sich während des letzten Abschnittes dieser Ära, des sog. SH HIB 2 oder SH III B-Spät, der vielleicht ab 1240/30 v.Chr. anzunehmen ist, die Verhältnisse kritisch veränderten. O b die Zerstörungen, welche zu Beginn dieser 70

> Dazu S. Deger-Jalkotzy, ,Near Eastern Economies' versus .Feudal Society': Z u m mykenischen Palaststaat. In: Festschrift Chadwick, 137ff.; dies. 1989, 133 ff. 71 > Schachermeyr 1976, 239-267. Zuletzt Mountjoy 1986, 51 ff. Forschungsbericht bei Kilian 1988 (1), 117ff.

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Schlußphase der Palastzeit einige Herrschaftszentren und andere Siedlungen heimsuchten 72 ', durch Feindeinwirkung 73 ' oder durch Naturkatastrophen 74 ' bewirkt wurden, bleibt umstritten. Tatsache ist, daß nachher die berühmte kulturelle Koine der mykenischen Palastzeit zu Ende war und an ihre Stelle regionale Prozesse traten. 75 ' Auch in Kreta zeichnen sich für diese Zeit im archäologischen Befund Zerstörungen ab, denen regionale Umschichtungen und Neuordnungen folgten, wobei auch hier die Ursachen nicht eindeutig zu erkennen sind. 76 ' Tatsache ist ferner, daß auf dem Festland vielerorts Maßnahmen getroffen wurden, die weniger nach Repräsentationswunsch und Machtdemonstration aussehen77' als nach .Krisenmanagement': Die Verstärkung der Befestigungsanlagen zahlreicher Orte, der Mauerbau am Isthmos, und insbesondere die Errichtung der Kyklopenmauern von Mykene und Tiryns lassen sich nunmehr ebenso in diese Spätphase von SH III В datieren wie die bekannten Anlagen von Athen, Mykene und Tiryns zur Sicherung der Wasserversorgung der Zitadellen. 78 ' Archäologische Befunde und Linear B-Texte lassen außerdem annehmen, daß in Mykene, Tiryns, Pylos Werkstätten der Palastindustrie (Bronzeverarbeitung, insbesondere Waffenerzeugung 79 ', doch auch Luxus-, d. h. Handelsgüter 80 ') nunmehr hinter die Wehrmauern verlegt bzw. in Pylos in den Palastkomplex integriert wurden. 81 ' Alle diese

72

> Vgl. Kilian 1985 (1), 74f., u n d Graphik Fig. 1 a, b. > Zuletzt F. Schachermeyr, M y k e n e u n d das Hethiterreich, W i e n 1985, 336. Deger-Jalkotzy 1978, 29 mit A n m . 73. 74 > Kilian ( A n m . 72). 75) Schachermeyr 1976, 249ff. E. S. Sherratt, Regional Variation in the Pottery o f L a t e Helladic III B, BSA 75, 1980, 175 ff. 76 ' Lit. bei E. Hailager, Final Palatial Crete. An Essay in M i n o a n C h r o n o l o g y . In: Studies in Ancient History and N u m i s m a t i c s presented to R u d i T h o m s e n , Aarhus 1988, 11 ff. Vgl. auch J . W . S h a w / M . С . S h a w (Hrsg.), A Great M i n o a n Triangle in Southwestern Crete: K o m m o s , Hagia Triadha, Phaistos, Mississauga 1985. 77 > Kilian 1985 (1) 74; ders., A A 1988, 149. 78 ' Schlüsselbedeutung f ü r die chronologische E i n o r d n u n g dieser Ereignisse k o m m t den Ergebnissen der neuen deutschen A u s g r a b u n g e n in Tiryns ( U n t e r b u r g ) unter K. Kilian zu. Zusammenfassend K. Kilian ( A n m . 62), mit Lit. 79 > Für Tiryns vgl. K. Kilian, A A 1983, 304ff. Für Pylos: J. C. W r i g h t ( A n m . 81). I. Tegyey, T h e N o r t h e a s t W o r k s h o p at Pylos. In: Palaima/Shelmerdine 1984, 65ff. Shelmerdine 1987, 563 f. 80) C . W . Shelmerdine, T h e P e r f u m e d Oil Industry at Pylos. In: Palaima/Shelmerdine 1984, 81 ff. - Werkstätten innerhalb des Kultzentrums von M y k e n e : E . B . French, C u l t Places at Mycenae. In: R . H ä g g / N . Marinatos (Hrsg.), Sanctuaries and Cults in the Aegean B r o n z e Age, S t o c k h o l m 1981, 41 ff. Werkstätten i m ,Ostflügel' des Palastes v o n M y k e n e : G. Mylonas, Mycenae R i c h in Gold ( A n m . 47), 117ff. 81 ) J . C . W r i g h t , Changes in F o r m and Function of the Palace at Pylos. In: Palaima/Shelmerdine 1984, 19 ff. Shelmerdine 1987, 557 ff. ly

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Maßnahmen, ebenso wie die Konzentration der Verwaltung in Pylos 82 ', lassen auf ein Gefühl von Bedrohung schließen. 83 ' In dieselbe Richtung weisen Linear BZeugnisse fur die Einrichtung einer Küstenwache in Messenien 84 ' und für die Mobilisierung der Flotte von Pylos. 85 ' Vereinzelt treten in dieser letzten Phase der Palast-Ära, also im späten 13.Jh. v. Chr., nun auch zum ersten Mal jene als,fremd' und ,außerägäisch' bezeichneten Elemente auf, an die so viele Theorien über das Ende der mykenischen Epoche geknüpft worden sind. 86 ' Nach dem heutigen Wissensstand 87 ' ist die chronologische Situation so, daß nicht alle, und auch nicht größere Mengen dieser neuen Kulturphänomene aus SH III В 2 (SH III B-Spät) stammen. Der Großteil gehört in die Periode SH III C, nach den Katastrophen der Paläste also. Ferner stimmen die meisten Fachleute darin überein, daß vor allem die Bronzeobjekte (Waffen, Geräte, Gewandverschluß, Schmuck) tatsächlich das Ergebnis gegenseitiger Beeinflussung und Anregung zwischen dem Kulturraum der Agäis und den nördlichen Regionen bzw. dem Adriaraum waren, auch wenn die Ansichten darüber, wie diese Wechselwirkung in der Praxis funktioniert habe, beträchtlich divergieren. 88 ' Vor allem ist die Frage sehr umstritten, ob diese Phänomene und ihre oben erwähnte chronologische Verteilung im Zusammenhang mit dem Fall der Paläste und dem Untergang der Palastkultur zu sehen sind oder nicht. Zunächst scheiden sich die Meinungen darüber, ob man aus der Präsenz solcher Kulturelemente zugleich auch die Anwesenheit einer neuen, von außerhalb der mykenischen Sphäre gekommenen Bevölkerungskomponente ableiten kann. Unbestritten ist dies für eine erst seit kurzem erkannte Fundgruppe, nämlich die inzwischen

82)

Dazu I. Tegyey, Messenia and the Catastrophe at the End of LH HIB. Acta Classica Debrecen 6 (1970), 3ff. Hooker 1982, 209ff. Shelmerdine 1987, 566ff. - Zur Zusammenziehung der beiden Provinzen des Reiches von Pylos Deger-Jalkotzy 1978, 201 f., und G. A. Lehmann, Symposion Zwettl 1980, 238 ff. 83 > In letzter Zeit: Baumbach 1983, 28 ff. Shelmerdine 1987, 565 ff. - Andere Ansicht bei Kilian (Anm. 77) und Hooker 1982, 216. Vorsichtig E. French, Mycenaean Greece and the Mediterranean World in LH III. In: Marazzi/Tusa/Vagnetti 1986, 277ff., bes. 280f. 84 ' Unüberschaubare Lit. zu den sog. o-fea-Texten von Pylos. S. Deger-Jalkotzy 1978, 14ff. Weiter Baumbach 1983. Zuletzt I. Tegyey, Scribes and Archives at Knossos and Pylos. In: Ilievski/Crepajac 1987, 357 ff. mit neuer Lit. 85 > Killen 1983, 71 ff. J. Chadwick, The Muster of the Pylian Fleet. In: Ilievski/Crepajac 1987, 75 ff. Zu PY An 724 schon Deger-Jalkotzy 1978, 53 ff. 86 > Oben S. 131 ff. 87 ' Monographische Auswertungen durch Harding 1984, Bouzek 1985. Für Waffen: Arch Horn, Band I Ε 1: Kriegswesen, Teil 1, Göttingen 1977. Band I Ε 2: Kriegswesen, Teil 2, Göttingen 1980. Für Fibeln: Kilian 1985 (2). 88) Überblick oben S. 134f. mit Anm. 39-45; Anm. 87. Umstritten ist weiterhin, ob gewisse Ornamente (Symbolgut?) und Gebräuche (ζ. B. Kremation) außerägäischen Ursprungs waren oder ägäische Tradition besaßen. Dazu Harding 1984 contra Bouzek 1985.

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berühmte .Barbarian' Keramik. ' Sie darf als Indiz für die Ankunft einer fremden Bevölkerungsgruppe gelten, vereinzelt schon am Ausgang der Palastzeit90', massiv aber in der Zeit nach den Katastrophen. M.E. gilt gleiches für die Fibeln. Ihr spärliches Auftreten in SH III B-Spät verbietet wohl die Vorstellung von einer neuen ,Mode' der späten Palastzeit, zumal weder die allgemeinen Fundkontexte noch die Darstellungen der mykenischen Bildkunst eine solche These stützen. 91 ' Ebensowenig kann man den paarweisen Gebrauch von Nadeln als Gewandsitte der mykenischen Palastzeit nachweisen 92 ', da er mit Sicherheit erst gegen das Ende der mykenischen Kultur belegt ist. In den Linear B-Texten finden sich möglicherweise ebenfalls Hinweise dafür, daß gegen das Ende von SH HIB neue Bevölkerungsgruppen in Pylos angesiedelt wurden, die u.a. bei der Küstenwache eingesetzt waren. 93 '

So darf ein gewisser Konsens darüber festgestellt werden, daß sich während der letzten Phase der mykenischen Palastzeit ein neues, zugewandertes Bevölkerungselement bemerkbar macht. Nicht einig ist man sich dagegen, welche Rolle diese Leute spielten, wobei Deutungen als Söldner 94 ', als .Gastarbeiter' 95 ', oder als transhumierende Hirten 96 ' diskutiert werden. Diese letzte Vorstellung hat allerdings das Argument gegen sich, daß die .Barbarian' Keramik in SH III В 2 auf die Zitadellen beschränkt blieb und daß sie dann in SH III С eine viel zu weite Verbreitung hatte, um noch mit Transhumance erklärt werden zu können. 97 ' 89) Erstmals zu dieser auch als,Handmade Burnished Ware' oder ,Handgemachte Fremdkeramik' bezeichneten Keramik J . B . Rutter, Ceramic Evidence for Northern Intruders in Southern Greece at the Beginning of the Late Helladic III С Period. AJA 79 (1975), 17ff. Ferner DegerJalkotzy 1977. - Anderer Standpunkt bei Kilian 1983, 86ff., und Kilian 1988 (1), 127 ff., jeweils mit Neufunden und Lit. — Zur Untergruppe der sog. .Ceramica grigia' nunmehr Kilian 1988 (2), 145 ff. mit Lit. "*» Für Tiryns: K. Kilian, AA 1981, 180. - Für Mykene: W . D . Taylour, Well Built Mycenae, Warminster 1982, 10. Vgl. auch Kilian 1985 (1), 81. Wiederum Harding 1984 contra Bouzek 1985. 91 ' Den Bemühungen K. Kilians 1985 (2) um eine eigenständige mykenische Genese der Fibeln kann ich nicht folgen. 92 ' I. Kilian-Dirlmeier, Der dorische Peplos: Ein archäologisches Zeugnis der Dorischen Wanderung? In: Archäologisches Korrespondenzblatt 14 (1984), 281 ff. 93 ' Deger-Jalkotzy 1978, 35 f. Andere Interpretation bei Chadwick 1976, 176. 94 ' Diese Interpretation hat viele historische Analogien für sich (G. Dobesch, Historische Fragestellungen in der Urgeschichte. In: Symposion Zwettl 1980, 179ff.), nicht zuletzt in den gleichzeitigen Söldnertruppen der Großmächte des Alten Orients und der Levante-Staaten (dazu G.A. Lehmann oben S. 114ff.); ders., Z u m Auftreten von ,Seevölker'-Gruppen im östlichen Mittelmeerraum - eine Zwischenbilanz. In: Symposion Zwettl 1980, 79 ff. Argumente für die Anwesenheit von Söldnern in der mykenischen Welt bei Deger-Jalkotzy 1978, 28 ff. Lehmann 1985, 56ff. Schachermeyr 1982, 48f. 95 ' Diese Interpretation knüpft an den immensen Bauaufwand dieser Periode (s. oben S. 139) und den damit verbundenen Bedarf an Arbeitskraft an, zitiert bei Kilian 1985 (1), 83 Anm. 130. 96 ' K. Kilian, a . O . (Anm. 95). 97 ' Für Kreta: Hailager 1983, 111 ff. J.W. Shaw, Excavations at Kommos (Crete) during 1982-3, Hesperia 53 (1984), 278. Für Zypern vgl. Kilian 1988 (1), 127.

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N o c h umstrittener ist die Frage, aus w e l c h e m g e o g r a p h i s c h e n R a u m die b e s a g ten K u l t u r e l e m e n t e b z w . P e r s o n e n g r u p p e n v o n der späten Palastzeit an in die mykenische Welt kamen. Nach Meinung der ,Anti-Migrationisten' wurde die , Barbaren'-Keramik aus den benachbarten Regionen NW-Griechenlands gebracht, die außerhalb der mykenischen Hochkultur geblieben waren. 98 ' Ihre gelegentliche Verknüpfung mit den Doriern hat allerdings die Aussagen der antiken Schriftquellen gegen sich, wonach sich die Dorier nie westlich des Pindus aufhielten. 99 ' Die übrigen Gegenstände der Sachkultur gelangten nach Ansicht dieser Forschungsrichtung überhaupt nur durch Handel, Gastgeschenke u. dgl. in den ägäischen Raum, sofern sie nicht ohnedies dort entstanden. Sie wären das Ergebnis von auswärtigen Beziehungen der mykenischen Welt zum Balkan, zur Apenninenhalbinsel und zu diversen Gebieten Binneneuropas gewesen. 100 ' Dagegen steht die Ansicht, daß man die Herkunft der ,Barbarian'-Keramik geographisch nicht so eng begrenzen dürfe 101 ' und daß, so wie sie, auch andere diskutierte Objekte (vorwiegend Waffen, Fibeln und gewisse Schmuckstücke) sehr wohl mit dem Eindringen neuer Bevölkerungselemente zusammenhingen. Als Ausgangsgebiete werden vor allem der adriatische R a u m und der nördliche Balkanbereich gesehen. 102 ' Doch auch eine modifizierte Version der ,Urnenfelder'-These 103 ' ist bislang, obschon geradezu emotional bekämpft, nicht wirklich widerlegt worden. Die Deutung der Rolle dieser neuen Bevölkerungsteile engt sich nun auf Söldner ein, fur Kreta wurden auch Händler fur möglich erachtet. 104 ' Insgesamt setzen Erklärungsversuche der G r u p p e Α ( o b e n S. 131 ff.) w e i t e r h i n diese F u n d g r u p p e als A r g u m e n t e für A n g r i f f e externer F e i n d e als U r s a c h e der m y k e n i s c h e n Katastrophen a m E n d e der Palast-Ära ein, w ä h r e n d j e n e , die eine solche Interpretation dieser O b j e k t e ablehnen, zu alternativen T h e o r i e n greifen. Eine w i c h t i g e Erkenntnis der j ü n g e r e n F o r s c h u n g betrifft die beträchtlichen wirtschaftlichen P r o b l e m e der m y k e n i s c h e n Paläste w ä h r e n d der letzten Phase v o n S H III В 2. 1 0 5 ) D i e Linear B - T e x t e u n d a r c h ä o l o g i s c h e n B e f u n d e d e u t e n auf

98

' Vgl. K. Kilian (Anm. 89). Catling/Catling 1981. Dazu S. Deger-Jalkotzy (Anm. 99), 170ff. " ' Weitere Gegenargumente S. Deger-Jalkotzy, Das Problem der .Handmade Burnished Ware'. In: Symposion Zwettl 1980, 161 ff. und Anm. 24. Dorier neuerlich erwogen bei Kilian 1988 (1), 151. 100 ' Zusammenschau bei Harding 1984. Für die internationalen Beziehungen im mediterranen Raum: Marazzi/Tusa/Vagnetti 1986. 101 ' Vgl. Anm. 97. 102 > M. Popham-E. Milburn, BSA 66, 1971, 338, und Anm. 8. S. Deger-Jalkotzy (zuletzt Anm. 99). Hallager 1983. Schachermeyr 1982, 38ff. - Auch die Aufgabe der italischen Herkunft der ,Ceramica grigia' zugunsten einer mittelhelladisch-mykenischen Tradition ist m. E. — pace Kilian 1988 (2) - nicht zwingend. Aufzugeben ist dagegen der von J . B . Rutter (Anm. 89) postulierte nordägäische Ursprung der .Barbarian' Keramik. 103 'J. Bouzek (Anm. 24). Diskussion bei Deger-Jalkotzy 1977, 62ff. 104 ' Hallager 1983. 105) Vgl. E. Vermeule, The Fall of the Mycenaean Empire, Archaeology 13 (1960), 66ff. Betancourt 1976. Hooker 1982. P. de Fidio, Fattori di crisi nella Messenia della tarda eta del bronzo. In: Festschrift Chadwick, 127 ff. Shelmerdine 1987, 565 ff.

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einen Rohstoffmangel namentlich auf dem Metallsektor 106 ' hin, den man durch die Unterbrechung der überseeischen Handelswege erklärt. 107 ' Ferner führte die intensive Ausbeutung des Ackerlandes, die nicht einmal durch Fruchtwechsel, und schon gar nicht durch Brachliegen dem Boden Erholung ließ, zur Verschlechterung der Getreidequalität und damit der Ernährungsbasis. 108 ' Zu Engpässen in der Nahrungsversorgung mußte dies führen, als die ungeheuren Erdarbeiten für die Bautätigkeit in SH III В 2, namentlich die Wehrbauten 109 ', eine große Zahl von Corvee-Arbeitern 1 1 0 ' und allenfalls auch von importierter Arbeitskraft 1 1 1 ' erforderten, die mit Naturalien bezahlt wurden. Entlastender Import von Getreide und anderen Nahrungsstoffen (beispielsweise aus Kreta oder aus Makedonien) war wohl wegen der Störung der Handelswege schwierig, wenn nicht unmöglich. 112 ' Die Linear B-Texte lassen ferner annehmen, daß die Paläste auf diese Versorgungsschwierigkeiten, aber auch auf den erhöhten Materialbedarf bei den immensen Umbauten 1 1 3 ' mit gesteigertem Forderungsdruck nach Abgaben und Dienstleistungen reagierten, der seinerseits zu beträchtlichen sozialen Problemen geführt haben muß. 1 1 4 ' Die eigentliche, tiefere Ursache für alle diese inneren Schwierigkeiten lag aber, wie schon Ph. Betancourt betonte 115 ', im Wesen des mykenischen Palaststaates116' mit seiner zentralistischen, hochspezialisierten Wirtschaftsorganisation 117 ', der angesichts der Kleinräumigkeit der Landschaften Griechenlands hypertroph und auf die Dauer nicht aufrechtzuerhalten war. 1 1 8 '

106> Zur Jn-Serie von Pylos Hiller/Panagl 2 1987, 175 ff. Zu P Y J n 829 zuletzt Baumbach 1983, 30 ff. Archäologische Zeugnisse für Verwendung und Horten von Alt- und Bruchmetall am Menelaion und in Tiryns: Kilian 1988 (1), 149. 107 ' Vgl. F.H. Stubbings, The Recession of Mycenaean Civilization. In: С А Н 112 (Anm. 15), 338ff. Ε. French (Anm. 83), 280f. Zuletzt Shelmerdine 1987, 565 f. 108) Dazu Η. Kroll, Z u m Ackerbau gegen Ende der mykenischen Epoche in der Argolis, A A 1984, 211 ff. 109> Berechnungen für Tiryns: Kilian 1985 (1), 74. Vgl. auch Kilian 1988 (2), 149. , 1 0 ' Zur Corvee-Verpflichtung im mykenischen System vgl. S. Deger-Jalkotzy, in: Heubeck/ Neumann 1983, 98f.; dies., Landbesitz und Sozialstruktur im mykenischen Staat von Pylos. In: Heltzer/Lipinski 1988, 31 ff. Vgl. auch Killen 1983. J. Chadwick (Anm. 85). n l ) Sofern man die oben erwähnten neuen Bevölkerungselemente so definiert (Anm. 95). Doch auch Söldner (Anm. 94) mußten bezahlt werden. 112> Für eine ähnliche Situation im Hethiterreich vgl. Lehmann 1985, 29. ш > Oben S. 139. 114) Corvee, s.o. Diesen Punkt hat P. de Fidio (Anm. 105) zum Kern ihrer These gemacht. 115> Anm. 17. 116> Dazu S. Deger-Jalkotzy (Anm. 70). 117> J.T. Killen, The Linear В Tablets and the Mycenaean Economy. In: A. M o r p u r g o Davies/ Y. Duhoux (Hrsg.), Linear В: a 1984 Survey, Louvain 1985, 241 ff. 118 ' Grundsätzlich S. Deger-Jalkotzy, Z u m Charakter und zur Herausbildung der mykenischen Sozialstruktur. In: Heubeck/Neumann 1983, 89ff.; dies., in: Heltzer/Lipinski 1988, 52. Zum aufgeblähten Personalaufwand: St. Hiller, Dependent Personal in the Mycenaean Texts. In: Heltzer/Lipinski 1988, 53 ff.

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Ausfall von Ernten oder Naturkatastrophen (Erdbeben) sind von einem Herrschaftssystem, das den geographischen und klimatischen Bedingungen Griechenlands angepaßt ist, zu verkraften. Doch das hochgradig spezialisierte, zentral und bürokratisch gesteuerte, vom Handel weitgehend abhängige System der mykenischen Palaststaaten war im Störfall ernstlich bedroht, besonders dann, wenn der Ausfall des internationalen Rohstoffhandels die Lage verschärfte. Kein Wunder, daß manche Autoren hier die Ursachen fur die dramatischen Vorgänge der Zeit um 1200 v.Chr. sehen.119' Zusammenfassend stehen wir also nach 100 Jahren Forschungsarbeit zum U n tergang der mykenischen Paläste auf folgenden Grundlagen für die Diskussion: 120 ' Die Katastrophen, die um 1200 v.Chr., d.h. am Ende von SH HIB, das Ende der mykenischen Palast-Ära und damit der ersten griechischen Hochkultur bewirkten, trafen die mykenische Welt bereits in einer Krisensituation. Dennoch muß das Debakel, selbst wenn man mit einer Bedrohung gerechnet und Gegenmaßnahmen getroffen hatte 121 ', überraschend hereingebrochen sein. Die mykenischen Verwaltungen waren nach Ausweis der Linear B-Texte bis zuletzt intakt. 122 ' Das Desaster war ferner flächendeckend. Nicht nur die Paläste Böotiens, Messeniens, der Argolis und wohl auch Lakoniens 123 ' fielen in Schutt und Asche. Nahezu alle anderen Landschaften des mykenischen Griechenlands wurden ebenfalls verheerend heimgesucht. 124 ' Uneinig ist man sich nach wie vor über die Gründe für diesen Zusammenbruch. Μ. E. kann jedoch keine der Theorien, die wir unter den Gruppen A - C gebündelt haben, mit ihrem monokausalen Ansatz für sich allein eine ausreichende Erklärung bieten. A m unwahrscheinlichsten sind Volksaufstände oder dgl. Nach dem Befund der Linear B-Texte war die Bevölkerung - ähnlich wie im gleichzeitigen Ugarit 125 ' — dazu gar nicht in der Lage. Innere Kriege und Machtkämpfe lassen unerklärt, warum die Paläste nicht wieder aufgebaut wurden und das Kulturniveau in SH III С absank (s. u.). Auch fehlt eine Deutung fiir den weiten geographischen Rahmen und die Gleichzeitigkeit dieser Katastrophen. Diese versucht man mit den ,Naturkatastrophen'-Theorien zu erklären, die aber ihrerseits nicht den Bruch mit dem Palastsystem verstehen lassen (vgl. den Wiederaufbau der minoischen Paläste nach Erdbeben). Mit Sicherheit ein bedeutsamer Faktor für den Niedergang des mykenischen Systems war die überfrachtete Herrschaftsstruktur der Paläste mit ihrer hochsensiblen Wirtschaftsorganisation.

119 > Vgl. I. Tegyey (Anm. 82). Betancourt 1976. Hooker 1982. P. de Fidio (Anm. 105). Neuerdings auch Kilian 1988 (1), 149; ders. 1988 (2), 149. 120) Über die Unmöglichkeit, einheitlich akzeptierte Ergebnisse zu erzielen, s. oben S. 128ff. 121 > Diskussion oben S. 139f. 122) Deger-Jalkotzy 1978, 36 ff. 123 ' Daß bis heute in Lakonien kein Palast nachgewiesen ist, liegt eher an der mangelnden Erforschung dieser Landschaft. 124 > Für Lit. Anm. 58-67. 125) M. Heltzer, The Rural C o m m u n i t y in Ancient Ugarit, Wiesbaden 1976.

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Allerdings fragt man sich da wieder, w a r u m das Desaster die Kleinherrschaften des gesamten mykenischen Kulturraumes ebenso traf wie die Palaststaaten. 126 ' Alle diese Theorien miteinander versagen aber vor der Frage, w a r u m die Katastrophen so plötzlich kamen und w a r u m sie so weiträumige Bevölkerungsbewegungen auslösten (s. u.). Für diese Aspekte hätten jene Theorien eine A n t w o r t , die mit Angriffen großen Stils seitens äußerer Feinde operieren. Sie aber können wiederum das totale Desaster nicht plausibel machen. U n d so weiter.

Nach heutigem Wissensstand können nur mehrere Faktoren zugleich z u m Z u s a m menbruch der mykenischen Palastkultur u m 1200 gefuhrt haben. Einer lag sicherlich im palatialen System selbst, das — vielleicht nach dem Vorbild nahöstlicher Staaten eingerichtet 127 ) — ungeeignet für die griechischen Verhältnisse u n d daher von vornherein zum Scheitern verurteilt war. Dieser Prozeß, der wahrscheinlich langsamer verlaufen wäre, w u r d e beschleunigt durch die Krisensituation im letzten Abschnitt des 13.Jh.s, die m . E . durch auswärtige Ursachen ausgelöst wurde. D a f ü r sprechen die Sicherheitsvorkehrungen ebenso wie der Rohstoffmangel jener Periode (s. oben S. 142f.). 128 ' Die Gegenmaßnahmen scheinen das Palastsystem überfordert zu haben, u n d Naturkatastrophen wie Mißernten mochten die Lage verschärfen. D e n plötzlichen und totalen Z u s a m m e n b r u c h , der die ganze mykenische Welt fast gleichzeitig erfaßte, kann man aber allein damit nicht erklären. M . E . nutzte ein mit großer Stoßkraft geführter feindlicher Uberfall die kritische Lage der Mykenäer. Die Beseitigung des palatialen Systems, die Turbulenzen und Bevölkerungsbewegungen, die Präsenz neuer, nicht-mykenischer Einwohner ab SH III В 2, u n d die bei aller Beibehaltung der mykenischen Gesittung doch so geänderten Verhältnisse in SH III С lassen sich anders kaum erklären. Daß ich selbst diese Vorgänge in d e m großen Z u s a m m e n h a n g des Niederbruches der Staatenwelt des östlichen Mittelmeeres unter den Attacken der sog. ,Seevölker' sehe, habe ich anderweitig ausgeführt. 1 2 9 '

VI Das vielleicht auch für die H o m e r f o r s c h u n g wichtigste Ergebnis der archäologischen Arbeit während der letzten 20 Jahre liegt in der Entdeckung, daß die Periode SH III С eine spätmykenische Epoche ohne Paläste und ohne Schriftlichkeit war. 126) p ü r d i e s e Differenzierung Deger-Jalkotzy, in: Festschrift Chadwick 150. 127 > Siehe Deger-Jalkotzy (Anm. 70, 110). 128 > Symbolisch die Pylos-Tafel Jn 829, w o die letzten, zusammengekratzten Bronzebestände ausgerechnet für die Erzeugung von Waffen verwendet werden. Lit.: A n m . 106. I29) Deger-Jalkotzy 1977; dies. 1978, 28 ff. Mykenische Katastrophe im Z u s a m m e n h a n g mit den Seevölkerinvasionen bes. bei F. Schachermeyr (Anm. 32, 63). M . I . Finley, Die ägäische Welt. In: E. Casson/J. Bottero/J. Vercoutter (Hrsg.), Fischer Weltgeschichte, Band 3: Die altorientalischen Reiche II, Frankfurt 1966, 333ff., sowie bei vielen Autoren der sechziger Jahre (oben S. 133ff.). Zuletzt Lehmann 1985. Z u H . M . Chadwick s. oben S. 132f. Z u r Unwahrscheinlichkeit der Dorierthese S. 131 f., 142, 151.

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Sigrid Deger-Jalkotzy

Die Aufarbeitung der neuen Grabungsergebnisse und Fundmaterialien hat erst angefangen, und vieles liegt auch nur in provisorischen Informationen vor (oben S. 137). Ein Forschungsbericht wäre verfrüht, da die Beurteilung des Materials im Hinblick auf die Stellung und Bedeutung der Periode SH III С in der Frühgeschichte Griechenlands eine der Zukunftsaufgaben ist. 130 'Jedoch seien im folgenden einige Einzelheiten hervorgehoben, die m.E. im Zusammenhang mit Forschungen zu Homer neu zu berücksichtigen wären. 131 ' Angesichts des im wesentlichen mykenischen Charakters der Periode SH III С — die sich nach der Keramikchronologie in eine Frühe, eine Mittlere und eine Späte Phase gliederte 132 ' und mit etwa 150 Jahren veranschlagt werden darf, d.h. von ca. 1200 bis + 1050 v.Chr. dauerte — erscheinen heute Vorstellungen von einem totalen Bruch zwischen der späten Bronzezeit und der frühen Eisenzeit Griechenlands, d.h. zwischen der mykenischen Kultur und der Protogeometrischen bis zur Geometrischen Ära, nicht länger haltbar. In zahlreichen Sparten der Sachkultur und in manchen Aspekten des spirituellen Lebens (Religion und Kult; Sprache) läßt sich eine zumindest partielle Kontinuität nicht leugnen. 133 ' Auf der anderen Seite muß es zu einem großen Wandel gegenüber den politischen, sozialen und ökonomischen Verhältnissen der Palastzeit gekommen sein. Der Zusammenbruch der Paläste, der kulturelle Abstieg insbesondere in die Schriftlosigkeit, die Neuordnung des Zusammenlebens können nicht ohne Folgen auf die Herrschafts- und Sozialstruktur geblieben sein. Sie sind als tiefer Einschnitt in der Geschichte Griechenlands zu werten. Das zeigt sich allein schon darin, wie wenig von der komplizierten Sozialterminologie der Linear B-Texte im alphabetgriechischen Lexikon überlebte. 134 ' Das zentral gesteuerte Wirtschaftssystem der Paläste mit ihrer Bürokratie gehörte in SH III С ebenso der Vergangenheit

130) p(j r (J c n Materialnachweis, der den R a h m e n weit sprengen w ü r d e , sei auf Schachermeyr 1979—1982 verwiesen. Kleinere, konzise Uberblicke bei K. Kilian (Anm. 62), Einzelthemen in diversen Aufsätzen ( A n m . 61, 66). D o r t jeweils weitere Lit. 131 ' Ausfuhrlicher beschäftigen sich damit meine A n m . 67 a n g e f ü h r t e n Arbeiten. 132) Zusammenfassend M o u n t j o y 1986, 134 ff. 133) Keramik: M o u n t j o y 1986. Schachermeyr 1980, Z w e i t e r Teil. Coulson 1986. Für Kalapodi: M . Jacob-Felsch, zuletzt A A 1987, 25 ff. Für Tiryns: A. Papadimitriou, A A 1988, 227 ff. Religion und Kult: Diskussion bei R . H ä g g (Hrsg.), T h e Greek Renaissance of the 8th C e n t u r y B . C . , S t o c k h o l m 1983. Ferner der Beitrag v o n W. Burkert, unten S. 155ff. - Z u r partiellen Kontinuität im Sprachlichen: O . Panagl, Die Homerischen Epen - ein Spiegel der mykenischen Welt? In: P. Stein (Hrsg.), Sprache-Text-Geschichte, Stuttgart 1980, 503ff. C . T r ü m p y , Vergleich des Mykenischen mit der Sprache der C h o r l y r i k . B e w a h r t die C h o r l y r i k eine v o n H o m e r unabhängige alte Sprachtradition? B e r n - F r a n k f u r t / M . - N e w York 1986. - Z u r Kontinuität bei Grabformen u n d Grabsitten: Lit. bei Deger-Jalkotzy 1988 (1). 134) Deger-Jalkotzy 1989,144ff.; dies., 1988 (1). Dazu die Kontroverse zwischen A. M o r p u r g o Davies u n d F. Gschnitzer b e i m Mykenischen K o l l o q u i u m 1975 v o n Neuchätel [E. R i s c h / H . Mühlestein (Hrsg.), C o l l o q u i u m M y c e n a e u m , Genf 1979, 87ff. u n d 109ff.].

Zusammenbruch der .mykenischen Kultur' und , dunkle Jahrhunderte'

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an w i e die architektonischen Großanlagen selbst. Es gibt keine Hinweise auf g r o ß r ä u m i g e Herrschaftsysteme. Schon in der auf die Palastkatastrophen u n m i t telbar folgenden Phase SH III C - F r ü h vermitteln Siedlungspläne wie Hausanlagen den Eindruck, daß sich die G e m e i n d e n als Verband unabhängiger Haushalte (Oikoi im Sinne v o n eigenständigen W o h n u n g s - , P r o d u k t i o n s - u n d Vorratseinheiten) organisierten. 1 3 5 ' N i c h t n u r die sich in den B e f u n d e n des 10. u n d 9.Jh.s spiegelnden Sozialformen 1 3 6 ', sondern auch die homerische Organisation erscheinen damals bereits v o r g e f o r m t , w e n n nicht ausgebildet. D e n archäologischen B e f u n d e n nach w a r SH III С eine Periode v o n Z e r s t ö r u n gen, U m s c h i c h t u n g e n u n d Bevölkerungsbewegungen 1 3 7 ', w o h l als Folge der Turbulenzen i m Z u s a m m e n h a n g mit dem Fall der Paläste. Die Unsicherheit der Zeitläufte, die sich u. a. auch in den H o r t f u n d e n der Periode S H III С spiegelt 138 ', verlangte anscheinend militärische Führerschaft, w i e Kriegergräber, W a f f e n f u n d e u n d Krieger- bzw. Kampfdarstellungen auf Vasenbildern 1 3 9 ' a n n e h m e n lassen. Möglicherweise erfolgte schon damals der Aufstieg des qa-si-re-u/basileüs/ v o n einem lokalen A n f ü h r e r der Palastzeit z u m K ö n i g t u m . 1 4 0 ' N e b e n diesem doppelten Antlitz des 12. u n d l l . J h . s v . C h r . : als mykenische Periode, j e d o c h ohne Paläste u n d geprägt v o m H i n t e r g r u n d der Katastrophen u m 1200, erscheinen zwei weitere Aspekte f ü r diese Zeit bedeutsam. Zunächst lassen sich viele Einzelheiten der homerischen Erzählungen, f ü r die eine Datierung nach 1000 v . C h r . (,Dark Ages') postuliert wird 1 4 1 ', bereits f ü r SH I I I C belegen: 1 4 2 ' Leichter, offener Streitwagen; K a m p f t e c h n i k mit kleinem Rundschild 1 4 3 ' u n d zwei Speeren; F u ß k ä m p f e r ; Gebrauch des Streitwagens für Wagenrennen; Schiffahrt 1 4 4 '; Brandbestattung. Ebenso f ü r SH I I I C bezeugt sind aber andererseits auch Keilerzähne u n d Körperschild, die m a n bisher als palastzeit-

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> Dazu Kilian 1985 (1), 76, 80. > Dazu P. Blome, oben S. 51 f. und passim. 137 ' Entvölkerung von Messenien und Ostböotien. Anwachsen mykenischer Siedlungen in Zypern, Kilikien, auf den ionischen Inseln, auf den Kykladen, Kos, Rhodos. Konzentration der Bevölkerung in großen Städten (Tiryns, Mykene), Verlegung von Siedlungen auf sichere Anhöhen (Aigeira). Zerstörungsschichten im Verlauf und am Ende SH IIIC—Früh an fast allen Fundorten, Katastrophen im ganzen Verlauf von SH IIIC. Lit.-Nachweise bei K. Kilian (Anm. 62), Deger-Jalkotzy 1988 (1). Materialien bei Schachermeyr 1979-1982. 138) Th. Spyropoulos, Ύστερομυκηναϊκοί Ελλαδικοί Θησαυροί, Athen 1972. 139) Mat.: Anm. 130. Deger-Jalkotzy 1988 (2). Vasenbilder: unten Anm. 151. 140 > Dazu S. Deger-Jalkotzy (Anm. 67). 141 > Zuletzt О. Т. P. K. Dickinson, Homer the Poet of the Dark Age. Greece & Rome 33, 1986, 20 ff. 142) Nachweise fur das Folgende bei Deger-Jalkotzy 1988 (2). 143 > Rundschild schon für SH III В 2 belegt. 144) Schiffsdarstellungen und Fundobjekte bezeugen maritime Aktivitäten der Griechen während SH IIIC, aber auch die ganzen ,Dark Ages' hindurch. Deger-Jalkotzy 1988 (2). Ph. Dakoronia (Anm. 151). S. auch Anm. 169. 136

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liches oder gar frühmykenisches Erbe im Epos deuten mußte. 145 ' Wie immer man daher zum historischen Hintergrund der Homerischen Epen stehen mag: Ihre sog. ,Mykenismen', doch auch zahlreiche sog. ,Dark Age'-Elemente lassen sich recht gut für SH III С nachweisen. Zum zweiten erlebte die Mittlere Phase von SH IIIC, d.h. das späte 12./frühe 11.Jh. v. Chr., eine Periode von Frieden und Wohlstand und entfaltete eine Spätbzw. Nachblüte der mykenischen Kultur. Kleinstaaten entstanden, deren Zentrum ein (häufig befestigter und von einer Siedlung umgebener) Herrschersitz war, so z.B. Mykene, Tiryns, Aigeira, Teichos Dymaion, Lefkandi, Koukounaries/ Paros. 146 ' Der höfische Lebensstil, der dort gepflegt wurde, wird einerseits durch einen Rückgriff auf die Palast-Ära charakterisiert: Das zeigen Freskenmalerei, Megaron-Plan für Heiligtum und gehobenes Wohnhaus, Wiederverwendung von Tholosgräbern, aufwendige Kultstatuetten. 147 ' Gut möglich, daß auch der palastzeitliche Königstitel αναξ von den Herrschern des Mittleren SH IIIC (die eher βασιλείς, Kleinkönige waren, s. oben) beansprucht wurde. 148 ' Neben dieser ,Nostalgie' fallen andererseits im prächtigen Keramikinventar dieser Zeit 149 ' riesige Kratere auf, die, zusammen mit einem reichen Sortiment von Trinkgeschirr, auf rege Gastlichkeit und, wie ich meine, Gefolgschaftsgelage schließen lassen:150' Jedenfalls tragen viele von ihnen Figuraldekor mit Darstellungen von Streitwagenfahrt, Kampf, Jagd, Tanz, Schiffahrt 151 ', die m. E. die Hauptbeschäftigungen, aber auch die vom kriegerischen Hintergrund der Periode (s. oben) geprägten Ideale der höfischen Gesellschaft des Mittleren SH IIIC spiegeln. Manche Vasenbilder wirken wie eine Vorwegnahme homerischer Szenen. Sie wurden vielleicht tatsächlich durch epische Dichtung angeregt, da sich Kithara- und Phorminxspieler 152 ' im Repertoire dieser Darstellungen finden.

>45' Keilerzähne: Archaeological Reports 1982-3, 53 (Knossos); N . Yalouris, A M 75, 1960, 42ff. (Achaia); Elateia (Anm. 160). Körperschild: Bildkratere aus SH IIIC von Livanates-Kynos (für freundliche Informationen sei der Ausgräberin Dr. Ph. Dakoronia gedankt). 146 > Mat. s. Anm. 130. 147 > Lit.-Nachweise bei Deger-Jalkotzy 1988 (2). 148 > Deger-Jalkotzy 1989, 146. 149) Grundlegend zu diesen Keramikstilen F. Schachermeyr 1980, 95 ff., 101 ff. 150) Deger-Jalkotzy 1988 (1) und 1988 (2). 151) E. Vermeule/V. Karageorghis, Mycenaean Pictorial Vase Painting, Cambridge Mass. 1982, 120ff. Schiffskampf: Bildkratere von Livanates (oben Anm. 145), Publ. von Ph. Dakoronia (im Druck). 152 > F. Schachermeyr (Anm. 11), 44. E. Vermeule/V. Karageorghis (Anm. 151), XI. 69. Die kleine Bronzelyra vom Amyklaion ist dagegen nicht mykenisch: K. Demakopoulou, To Μυκηναϊκό 'Ιερό στο Αμυκλαΐο και η YE III Γ Περίοδος στη Λακωνία, Athen 1982, 76 mit Lit.

Z u s a m m e n b r u c h der ,mykenischen K u l t u r ' und .dunkle J a h r h u n d e r t e '

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Der generelle, hier kurz skizzierte Charakter der Periode SH IIIC 1 5 3 ', besonders aber das Mittlere SH III С mit seiner Prosperität, seinen Kleinherrschaften und Residenzen, mit seiner dem Anschein nach kriegerischen Führungsschicht und deren nostalgischem Rückgriff auf die Palastzeit, sowie das durch Vasenbilder bezeugte Wirken von epischen Sängern an diesen Höfen: All dies läßt annehmen, daß der illiteraten mykenischen Zeit ohne Paläste und besonders den Fürstenhöfen des Mittleren SH III С eine bedeutsame Rolle f ü r die Entwicklung des frühgriechischen Epos zukam. 1 5 4 '

VII Die späte Blüteperiode des Mittleren SH III С endete an vielen O r t e n offenbar gewaltsam, und dann k a m das Ende rasch. Das Späte SH III С ist gekennzeichnet durch weitere Zerstörungen und Ausdünnung der Siedlungen (Abwanderung?) und durch eine generelle Verarmung. 1 5 5 ' Das Ende der mykenischen Kultur m u ß nach dem heutigen Wissensstand mit der submykenischen Periode im späten Verlauf des l l . J h . s bis u m die Jahrtausendwende gesehen werden, in der aber zugleich auch der Ü b e r g a n g z u m Protogeometrischen bereits eingeleitet wurde. 1 5 6 ' Hier setzt m . E . heute die eigentliche Erforschung der ,Dark Ages' ein. Die Grundlage bilden i m m e r noch die Synopsen von V . R . Desborough u n d A. Snodgrass 157 ', wenngleich sie in vielem nicht mehr dem neuen Forschungsstand entsprechen. F. Schachermeyr hat versucht, die neuen Ergebnisse von Ausgrabungen und Materialbearbeitungen in seiner spezifischen Sicht der Frühgeschichte Griechenlands auszuwerten. 1 5 8 ' Insgesamt ist eine gültige Zusammenschau der jüngeren Erkenntnisse noch nicht möglich. Die bedeutendsten Funde der ,Dark

153)

H . M . C h a d w i c k w ü r d e seine Vision v o m ,Heroic Age' der Griechen (oben S. 132 f.) und dessen D a t i e r u n g in die Zeit, die wir als S H III С bezeichnen, bestätigt sehen. 154) Die Ansicht, daß - bei aller Berücksichtigung älteren Überlieferungsgutes aus der Zeit vor 1200 (Anm. 133) - die Herrensitze des Mittleren SH III С die Schauplätze für das Auftreten der ersten direkten Vorläufer H o m e r s waren, habe ich Deger-Jalkotzy 1988 (2) ausgeführt. Ähnlich u . a . A. Heubeck, Minos 12/2, 1971 [1972], 55ff. O . T . P . K . Dickinson (Anm. 141). E. Risch, C o n v e g n o internazionale R o m a 1988. M . Peters, in: A. Etter (Hrsg.), o-o-pe-ro-si. Festschrift E. Risch, Berlin 1986, 317ff. mit Lit. K o n t r ä r u . a . T B . L . Webster, F r o m Mycenae to H o m e r , L o n d o n 1958. C . J . R u i j g h , In: A. Morpurgo-Davies/Y. D u h o u x (Anm. 117), 143ff. mit Lit. Differenzierend M . L . West, 1988. J. Latacz, zuletzt in: Coll. R a u r . I, 1988, 164ff. - S. auch den Beitrag v o n B. Forssman unten S. 259 ff. 155 > K. Kilian 1985 (1) mit Lit. 156 > Vgl. j e d o c h weiter unten, mit A n m . 159. 157 > A n m . 59, 60. ,58 > A n m . 63, 64.

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Ages' behandelt P. Blome in diesem Band. Uns seien einige Hinweise auf generelle Beobachtungen gestattet, die sich anhand der neuen, oft nur durch kurze Anzeigen oder Vorträge bekanntgewordenen Materialien abzeichnen. Der Übergang von den letzten mykenischen Phasen (SH III C-Spät und -Ende) zur sog. ,Frühen Eisenzeit' Griechenlands des beginnenden 1 .Jahrtausends v.Chr. (Protogeometrische und Früh- bis Mittelgeometrische Zeit) und damit zur hellenischen Kultur ist noch nicht klar nachzuvollziehen. Insbesondere hat sich um Charakter und Dauer, ja grundsätzlich um die Existenz der Submykenischen Periode eine lebhafte Diskussion entwickelt, aus der lediglich festzustehen scheint, daß man sie keinesfalls weginterpretieren darf und daß sie nicht so lange dauerte, wie man früher angenommen hat. 159 ' Doch wird in zunehmendem Maß weiter deutlich, daß sich der Übergang, je nach den verschiedenen Landschaften Griechenlands, unterschiedlich vollzogen haben dürfte. Vor allem ergibt sich aus Forschungen wie neuestens in der Phokis 160 ', daß ζ. B. in Mittelgriechenland mit einer direkten Kontinuität von SH III С bis in die Protogeometrische Zeit zu rechnen ist, während anderswo die mykenische Tradition abbricht. Jedenfalls muß verschiedentlich mit dem Weiterleben mykenischer Traditionen bis in die ,Dark Ages' gerechnet werden. Allerdings wird man bei der Diskussion der Überlieferung mykenischen Gutes in die ,Dark Ages' eher einen Prozeß der Transformation vor Augen haben und mit vielerlei Brechungen operieren, wie das etwa am Beispiel der Keramik gezeigt werden kann. 161 ) Auch hat schon F. Schachermeyr darauf aufmerksam gemacht, daß vieles am Beginn der ,Dark Ages' auf eine Abkehr von der mykenischen Kultur und eine Hinwendung zum ,Altväterischen', d.h. in der vormykenischen mittelhelladischen Kultur Begründeten, deutet. 162 ' Dazu fügt sich der Umstand, daß im Submykenischen neuerlich ein außermykenisches Bevölkerungselement faßbar wird, das nun aber, im Gegensatz zu den Verfertigern der ,Barbarian' Keramik des 12.Jh.s, eine innergriechische Komponente darzustellen scheint. 163 ' Es wäre verlockend, hierin das allmähliche Vordringen der nordwestgriechischen Stämme in ihre späteren Siedlungsgebiete gespiegelt zu sehen. Doch sei abermals

159 ' Zusammenschau bei Schachermeyr 1980, Dritter und Vierter Teil. Vgl. K. Kilian, AA 1983, 281 ff. Mountjoy 1986, 194 ff. 160 ' Kalapodi: R . C . S . Felsch, zuletzt AA 1987, I f f . Elateia: neue österreichisch-griechische Ausgrabungen (Berichte im Druck). Für Thessalien wird eine solche Kontinuität seit den Tagen von D. Theocharis postuliert. 161 > Vgl. Schachermeyr 1980, Zweiter Teil. Coulson 1986. 162 ' Schachermeyr 1984, 250ff. Ähnlich St. Hiller, Convegno internazionale Roma 1988, im Druck. 163 > F. Schachermeyr (Anm. 159), bes. 206ff., 234ff. M. Jacob-Felsch, in: Kolloquium zur Ägäischen Vorgeschichte Mannheim 1986 (Mannheim 1987), 176; dies., AA 1987, 34, Ph. Dakoronia, Marmara, Athen 1987.

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betont, daß die Gefahr voreiliger Schlüsse groß ist und daß die Forschung erst am Beginn der Aufarbeitung derartiger Materialien steht. Ungelöst ist nach wie vor das Dorierproblem. Versuche, die Dorische Wanderung als Faktum der Griechischen Geschichte zu eliminieren 164 ', sind auf Kritik gestoßen. 165 ' Tatsache bleibt, daß die Dorier nicht eindeutig im archäologischen Befund festgemacht werden können. 166 ' Daß die Übergangszeit vom Submykenisch/Protogeometrischen eine mögliche Kandidatin für die Einwanderung der Dorier sein könnte, sei immerhin angedeutet, auch wenn es ganz andere Vorstellungen gibt. 167 ' Insgesamt darf hervorgehoben werden, daß sich in Zukunft ein neues Bild über das Ende der mykenischen Zeit herausbilden wird. Der durch den Fall der Paläste um 1200 v.Chr. bewirkte Bruch bedeutete einen tiefen Wandel im Sozialen und im Wirtschaftlichen sowie das Ende der ersten Hochkultur Griechenlands. Doch überlebte die mykenische Gesittung in der Periode SH IIIC, die m.E. fur die Homerforschung dadurch hochinteressant ist, weil sich hier trotz des mykenischen Gesamthabitus bereits Phänomene abzeichnen, die für die Welt Homers charakteristisch werden sollten. Der Übergang zu den eigentlichen ,Dark Ages' war in manchen Landschaften abrupt, in anderen eher fließend. Dieser regional unterschiedliche Prozeß ermöglichte auch eine Tradition mykenischen Gutes, wenngleich eher transformiert und vielfach gebrochen. Auch hier ist das letzte Wort bei weitem noch nicht gesprochen. Die Vorstellung von der Isolierung Griechenlands während der ,Dark Ages' ist allerdings nicht länger zu halten. Die Befunde deuten auf innergriechische Kontakte, ja Kulturgemeinschaften 168 ', und die ungebrochene Seefahrt der Griechen, von SH III С an die ganzen ,Dark Ages' hindurch, ermöglichte weitreichende Kontakte nach außen. 169 ' Soziale Schichtung während der ,Dark Ages' und Herrschaftsbildung sind heute durch Befunde wie Nichoria, Lefkandi, Atalanti 170 ' belegt, und auch Reichtum ist nicht erst ein Phänomen des 8.Jh.s. Diese kurzen Hinweise mögen genügen. Lange und lebhafte Diskussionen zum vorliegenden Thema sind auch für die Zukunft noch zu erwarten.

164 ' In neuerer Zeit wieder ausgelöst durch J. Chadwick, Der Beitrag der Sprachwissenschaft zur Rekonstruktion der griechischen Frühgeschichte. In: Anzeiger der Österr. Akad. d. Wissenschaften, phil.-hist. Klasse 113 (1976), 183ff. Forschungsüberblick bei Eder 1986. 165 > Lit. bei Eder 1986. Vgl. auch D. Musti (Hrsg.), Le Origini dei Greci, Dori, e Mondo Egeo, Roma-Bari 1985. 166 > Eder 1986. 167) Als Extrempositionen vgl. F. Schachermeyr (Anm. 159), 233, 345 ff. [Protogeom./Geom. Zeit], und K. Kilian 1988 (1), 151 [SH Ш В 2 / Ш С ] . 168 > Vgl. Coulson 1986. F. Schachermeyr (Anm. 159). 169 > Dazu bereits oben S. 147. Vgl. auch Symposion Zwettl 1980, 153, 338ff., 351. 170) Freundliche Information Ph. Dakoronia (Bericht im Druck). Vgl. Deger-Jalkotzy 1988 (1).

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Deger-Jalkotzy 1988 (2) Deger-Jalkotzy 1989

Desborough 1964 Desborough 1972 Desborough 1975 Eder 1986 Festschrift Chadwick

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West 1988

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WALTER

Homerstudien

BURKERT

und Orient

Nur ein kleiner Ausschnitt aus dem weitgespannten, faszinierenden und kontroversen Thema ,Orient und Griechenland' soll hier zur Sprache kommen: Es geht um die homerische Dichtung. Von den allgemeineren Beziehungen in Religion und Mythologie, besonders Kosmogonie, in Weisheitsliteratur und Wissenschaft wird weiter nicht die Rede sein, beiläufig auch nur von den bekannten und weithin anerkannten Verbindungen der hethitisch-hurritischen Mythologie zu Hesiod. 1 ' Auch die Frage, was orientalische Quellen zur Geschichte Griechenlands in der Bronzezeit beitragen können, das Ahhiyawa- und Troia-Problem also, wird hier nicht eingehend behandelt. Wenn das Thema der orientalischen Parallelen und Einflüsse unter den Gesichtspunkt ,Zweihundert Jahre Homerforschung' gestellt wird, ist zunächst der Ausfall eines ganzen Jahrhunderts zu konstatieren, nämlich des 19. Jahrhunderts. Dies ist allerdings erstaunlich und durchaus bemerkenswert. Denn in den Jahrhunderten zuvor, mindestens seit Hugo Grotius, war die Frage .Horner und das Alte Testament' immer wieder gestellt worden. 2 ' Teilweise war dabei die alte Prioritätsfrage zwischen griechischer und hebräischer Kultur mit im Spiel; weithin ging es auch einfach um Sammlung gelehrter und erbaulicher Materialien. Doch hat bereits Zacharias Bogan (1658) durchaus bemerkenswerte Parallelen bei den homerischen und den alttestamentlichen Vergleichen festgestellt — Jesaja 3 1 , 4 hat einen herrlichen Löwenvergleich —; auch daß Jahwe wie Hera b e i , H i m m e l und Erde' schwört (Dt. 4,26), ist nicht ganz banal. Dann wurden Parallelen wie die Opferung von

Auflösung der bibliogr. Abkürzungen unten S. 174. Verwiesen sei neben Steiner 1958, Walcot 1966, West 1966, Burkert 1984 auf H. Schwabl, R E Weltschöpfung; U . Hölscher, Anaximander und der Anfang der Philosophie. Hermes 81 (1953) 2 5 7 - 2 7 7 . 3 8 5 - 4 1 8 , überarbeitet in U . Hölscher. Anfängliches Fragen (Göttingen 1968) 9 - 8 9 ; B . L . van der Waerden, Erwachende Wissenschaft, Basel 1956; Die Anfänge der Astronomie, Groningen 1966. 2> Hierzu Finsler 1912, 1 4 0 - 1 4 7 ; Grotius 1644; Bogan 1658; vgl. im 19.Jh. Koester 1833, Krenkel 1888, in neuerer Zeit etwa Dobrinsky 1914, Baumgartner 1944, Haag 1 9 6 1 , 1 9 6 2 , 1 9 6 5 / 66; hinzuweisen ist auch auf die zahlreichen Publikationen von Cristiano Grottanelli, z . B . The Story o f Deborah and Baraq. A Comparative Approach, S M S R n.s. 11 (1987) 1 4 9 - 1 6 4 - die aber bisher H o m e r nur am Rand berühren.

156

Walter Burkert

Iphigenie undjephthas Tochter durchaus geläufig, bis in die Welt der Oper hinein. Die Vergleichung von Homer und Altem Testament ist auch später immer wieder aufgenommen worden; man kann dabei durchaus Entdeckungen machen, wobei es sich freilich zumeist eher um Wiederentdeckungen als um Neuentdeckungen handelt. Das zweite Thema, das längst vor 1800 aufgegriffen wurde, ist mit den Schlagwörtern ,Phönizier' und ,Ägypten' gekennzeichnet. Gerade hier ließ sich griechischc und alttestamentliche Überlieferung nebeneinander fruchtbar machen. Die Rolle, die den Schiffen der Phönizier in der Odyssee zugewiesen wird, mußte auffallen, sobald kulturgeschichtliche Fragestellungen überhaupt aufkamen. Erstmals treten die Phöniker bei Samuel Bochart 1646 hervor. Von der ungenügend begründeten, aber entschiedenen Ägypten-Begeisterung des 18.Jh.s aus3) wurde der Aufenthalt von Menelaos, Helena und Odysseus in Ägypten besonders beachtet, und rasch knüpfte sich daran die Frage, ob nicht Homer selbst in Ägypten gewesen sei und was er der uralten Hochkultur demnach wohl verdanke. Genannt sei das einflußreiche Buch von Blackwell (1735). Den Ansatz der modernen Homerforschung pflegen wir mit den Prolegomena von Friedrich August Wolf (1795) zu verbinden. Sie hängen bemerkenswerterweise mit der Arbeit am Alten Testament noch durchaus zusammen: Johann Gottfried Eichhorn hatte mit der Pentateuch-Analyse begonnen, hatte den Jahwisten' und ,Elohisten' unterschieden; Wolf kannte diese Arbeit, er verweist sogar auf sie in den ProlegomenaУ Allerdings liegen die Probleme der beiden Textcorpora durchaus verschieden, und so haben sich die beiden Formen der .Analyse' danach rasch und vollständig getrennt. Vielmehr hat sich eben in der Epoche von Friedrich August Wolf die Klassische Philologie vom Alttestamentlichen und damit vom Orientalischen dezidiert abgewandt. Man braucht dies nicht, wie es Bernal in seinem polemischen Buch Black Athena tut, als Abfall von der rechten Lehre des ägyptischen Kulturprimats und als ideologische Verirrung zu betrachten. Man kann die Entwicklung verstehen, auch wenn, was als Fortschritt galt, nachträglich zugleich als Verengung erscheinen muß. 5 ) Für die Emanzipation der Philologie von der Theologie steht die bekannte Anekdote, daß eben Friedrich August Wolfsich 1777 in Göttingen prononciert

3)

Vgl. S. Morenz, Die Zauberflöte, Eine Studie zum Lebenszusammenhang Ägypten-AntikeAbendland, Münster 1952; ders., Die Begegnung Europas mit Ägypten, Zürich 1968; vom „Triumph of Egypt in the 17th and 18th Centuries" spricht Bernal 1987, 161-188. 4 > J.G. Eichhorn, Einleitung ins Alte Testament, Leipzig 1780/83; Wolf 1795 n. 25; vgl. Wolf transl. Grafton et al. 1985,18-26; Appendix 227-231. - Wilamowitz widmet seine .Homerischen Untersuchungen' (1884) Julius Wellhausen. Murray 1907 und v. Dobschütz 1925 haben Homerkritik und Pentateuchkritik nochmals kontrastierend behandelt. 5 > Vgl. neben Bernal 1987, passim, auch Burkert 1984, 7-14.

Hornerstudien und Orient

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als studiosus philologiae inskribierte. 6 ' Für Homer insbesondere hatte Wood den Begriff des ,Orginalgenies' geprägt. Wood selbst kannte den Orient gut, er hatte ihn von Troia bis Alexandreia bereist; ihm ging es, würde man heute sagen, um das Verständnis einer ,Primitivkultur', ein Gesichtspunkt, der geeignet war, Homer von einem Vergil grundsätzlich abzuheben. Die Leser indessen gewannen daraus vor allem Vorstellungen vom ,Natürlichen', ,Ursprünglichen', Menschlichen' überhaupt, insbesondere von ursprünglicher' Volksdichtung. Der Erfolg der .Ossian'-Mystifikation (1760) lag bereits voraus. Vor und neben Herder hat Johann Gottlieb Heyne in Göttingen solche Impulse in die philologische Arbeit eingehen lassen, Heyne, auf den die Neuentdeckung des Begriffs ,Mythus' zurückgeht. 7 ' Ein kulturgeschichtlicher Entwurf wurde möglich, der mit der ,Kindheit des Menschengeschlechtes' einsetzte. Homer war dann der eigentliche Zeuge des Anfangs und Ursprungs. Mit der Romantik kam das ,völkische', das nationale Ideal dazu. In Deutschland hat vor allem das Wirken der Brüder Grimm Epoche gemacht. Das neu organisierte humanistische Gymnasium hat das Griechische ganz eng an das Germanisch-Deutsche angeschlossen — in einer gewissen Opposition zum traditionellen Latein, worin sich die Distanzierung zur französischen Kultur widerspiegelt. Homer kam so mit Selbstverständlichkeit neben das Nibelungenlied zu stehen. Carl Otfried Müller entwarf das Bild einer griechischen Stammeskultur, die als Parallele zum Germanischen empfunden wurde. Eben damals entwickelte sich die indogermanische Sprachvergleichung, die der germanisch-griechisch-protestantischen Allianz noch mehr historische Tiefe zu geben schien: Griechen und Germanen erschienen letztlich als identisch. Die Inder freilich blieben für die meisten, insbesondere für die Schule, am Rande des Horizonts, die Semiten aber, in der realen Welt dank der endlichen Emanzipation der Juden präsenter als je zuvor, waren damit aus dem kulturellen Erbe eliminiert. 8 ' Für das Studium Homers bedeutete dies, daß man in den Texten als das Eigentliche und Eigene die reine Frühzeit suchte und fand, die aus sich selbst organisch erwachsen und keinerlei .Einflüssen' ausgesetzt war. Auch in der sich intensivierenden .homerischen Frage' wirkte, neben dem intellektuellen und polemischen Spiel, stets auch das Bestreben, eben diesen Ursprung zu wahren, sei es daß man ihn in den Texten direkt fand, sei es daß man diese noch reiner, noch ursprünglicher machen wollte, indem man sekundären Zuwachs zu eliminieren suchte. Paradoxerweise hat sich in eben diesen Jahrzehnten der bedeutendste Fortschritt der Altertumswissenschaft vollzogen, nämlich die Wiederentdeckung der altori-

6

> Dazu R . Pfeiffer, History of Classical Scholarship from 1300 to 1850, Oxford 1976, 173. ' Chr. G. Heyne, Commentatio de Apollodori bibliotheca ... simulque universe de litteratura mythica, in: Apollodori bibliotheca III, Göttingen 1783; vgl. Burkert 1980, 162-165. 8) Dazu Burkert 1984, 7f.; Bemal 1987, 201-237; vgl. auch L. Poliakov, Le mythe arien, Paris 1971; W. Gawantka, Die sogenannte Polis, Stuttgart 1985, 137-146: „Die Suche nach dem gemeinsamen Volkstum' der Hellenen." 7

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entalischen Hochkulturen, womit sich unser Geschichtsbild um rund zweitausend Jahre erweitert hat. 9 ' Schon 1802 machte Grotefend seine entscheidenden Beobachtungen zur persischen Keilschrift; 1822 entzifferte Champollion die Hieroglyphen. Die Erschließung der ägyptischen Kultur machte dann rasche Fortschritte. Die großen Ausgrabungen der Franzosen und Engländer in Mesopotamien folgten etwas später, im wesentlichen in den Jahren 1842—1855; sie brachten die assyrischen Paläste von Nimrud-Kalhu, Khorsabad-Dur Sharrukin und Niniveh ans Licht samt den großartigen Reliefs, die jetzt teils im Louvre, teils im British Museum zu sehen sind.10) Mit der gemeinsamen Publikation von Rawlinson, Hincks, Talbot und Oppert im Jahr 185711' konnte die ,babylonische' Keilschrift als entziffert gelten. 1872 verbreitete sich die elektrisierende Nachricht von der babylonischen Sintflutgeschichte, die George Smith entdeckt hatte - es handelte sich um Gilgamesh Tafel X/XI. 12 ' Etwa in den gleichen Jahren wurden, nachdem furs Verständnis der ägyptischen Literatur der Grund gelegt war, besonders wichtige ägyptische Texte bearbeitet und publiziert; so der Bericht über die Schlacht bei Qadesh, damals als das,Gedicht des Pentawr' bezeichnet: 13 ' In geradezu .homerischem' Stil wird hier eine Aristie im Streitwagen mit Götterbeistand dargestellt. Zugleich damit traten die Inschriften des Ramses III. und Merneptah über die ,Seevölker'-Einfälle hervor, mit Nennung von ,Dardanern', ,Achäern', ,Teukrern'. 14) Auch erzählende Texte wurden zugänglich, die zu vergleichenden Studien lockten, wie das ,Brüdermärchen'. 15) Die Erschließung der Keilschriftliteratur folgte mit geringer Verzögerung. 1884 begann Paul Haupt mit der Edition des ,Babylonischen N i m rod-Epos' — ein vom Alten Testament genommener Phantasiename für Gilgamesh —, im gleichen Jahr veröffentlichte Alfred Jeremias die von ihm so genannte „Höllenfahrt der Ischtar". 1889 begründete Eberhard Schräder die ,Keilschriftliche Bibliothek', die einem deutschen Publikum akkadische Texte in Umschrift und Übersetzung zugänglich machte. .Gilgamesch' wurde in dieser Reihe durch Peter

9)

Zur Geschichte der Entzifferungen sei auf Doblhofer 1964 verwiesen. Vgl. J. Reade, Assyrian Sculpture, London: British Museum 1983. n) Inscription of Tiglath Pileser I, King of Assyria, В.С.1150, as translated by Sir H. Rawlinson, E. Hincks, W. H.F. Talbot, J. Oppert, London 1857; der Text findet sich bei Luckenbill 10)

#216. 12)

George Smith, Transactions of the Society of Biblical Archaeology 2 (1872) 213-234; vgl. Anm. 17; Usener 1899, 4. Enuma elish wurde 1876 erstmals veröffentlicht: G. Smith, The Chaldaean Account of Genesis, London, dt. Chaldäische Genesis, Leipzig 1876. 13 > E. de Rouge, Le poeme de Pent-ta-our, Paris 1856. Der Text ist achtfach in Tempelinschriften, dazu auf einem Papyrus erhalten; vgl. Erman 325-337; Lichtheim II 57-72. Pentwere ist der im Papyrus genannte Name des Schreibers, der nicht als Verfasser gelten kann, Lichtheim 72. 14 ' E. de Rouge, Memoire sur les attaques dirigees contre l'Egypte par les peuples de la Mediterranee, R A 16 (1867) 35-45; 81-103; vgl. A N E T 262 f.; Helck 1979, 132-144. 15 > Erstedition 1860; Erman 197-209; Lichtheim II 203-211.

Homerstudien und Orient

159

Jensen 1901 veröffentlicht, 1906 folgte eine verbesserte Übersetzung. 16) 1907 wurde die neue Reihe der ,Vorderasiatischen Bibliothek' eröffnet mit dem Ziel, die „für die Kunde des Alten Orients maßgebenden" Urkunden allgemein zugänglich zu machen. 1909 gab Hugo Greßmann das wichtige, vielbenützte Sammelwerk ,Altorientalische Texte zum Alten Testament' samt dem Begleitband der ,Bilder' heraus ( 2 1926); von Greßmann und Arthur Ungnad stammt auch eine verbesserte Gilgamesh-Übersetzung (1911). Eine englische Gilgamesh-Ubersetzung von R. C. Thompson erschien 1928, im Zusammenhang mit seiner — bis heute nicht ersetzten — wissenschaftlichen Ausgabe des Textes (1930). Eine französische Gilgamesh-Übersetzung gab Georges Contenau 1939. Allerdings, Gilgamesh hieß zunächst, auch noch in der Veröffentlichung von Alfred Jeremias 1891, ,Izdubar'; auch in Roschers Mythologisches Lexikon hat Jeremias den Gilgamesch damals als ,Izdubar' eingehen lassen17', mit ,Izdubar' setzt sich Usener in seinen „Sintfluthsagen" (1899) auseinander; in der R E kann man 1914 statt Gilgamesh auch Gis-dubarru lesen. 18 ' Gilgameschs Freund Enkidu heißt noch bei Jensen, danach bei Fries Eabani. Der l . B a n d der Vorderasiatischen Bibliothek (1907) stellte die „Patesis der alten Städte von Sumer und Akkad" vor, auch bei Eduard Meyer kann man viel über patesis lernen — heute aber muß man dafür ensi sagen. 19 ' Solche Unsicherheit schon in der schlichten Transkription, die mit der Keilschrift gegeben ist, war nicht geeignet, das Zutrauen in die neue Sparte der Philologie zu stärken. Wenn manche Orientalisten damals wohl die Erwartung hegten, die neue Dimension der Altertumswissenschaft werde in gleicher Weise zum Horizont allgemeiner Bildung werden, wie dies das Klassische Altertum nun seit so vielen Jahrhunderten gewesen war, haben sie sich getäuscht. Der Alte Orient ist etwas Exotisches, Esoterisches geblieben, die Domäne einer Handvoll von Spezialisten, wobei neben exzellenten Gelehrten immer wieder auch eigenartige Einzelgänger sich finden. Auch heutzutage ist längst nicht an allen Universitäten die Altorientalistik vertreten, in der Schweiz ζ. Z. an keiner Universität in zulänglicher Weise. Doch dies heißt vorausgreifen. Im 19.Jh. bleibt der Einfluß der neuen Entdekkungen auf die Homerstudien wie überhaupt auf die Klassische Philologie mini-

Das Gilgameschepos, Straßburg 1906. A. Jeremias, Izdubar-Nimrod, eine altbabylonische Heldensage, Leipzig 1891; Roschers Myth. Lex. II 7 7 3 - 8 2 3 (1890/7). Jzdubar' las schon George Smith, The Eleventh Tablet o f the Izdubar Legends, Transactions o f the Society o f Biblical Archaeology 3 (1874) 530 ff.; vgl. Η. Z i m m e r n in Oberhuber 1977, 23. 18> R E I A 1405. 19) E. Meyer, Geschichte des Altertums I 2 (Stuttgart З 1913) 4 7 5 f . ; die neue Lesung der Zeichen ( R . Borger, Assyrisch-babylonische Zeichenliste, Neukirchen-Vluyn 1978, 121) wurde etabliert durch A. Falkenstein, Z A 42 (1934) 1 5 2 - 1 5 4 , vgl. M . J . Seux, Rev. d'Ass. 59 (1965) 102. 16)

17 '

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mal. N i e m a n d scheint die assyrischen Bilddarstellungen v o n K ä m p f e n u n d Stadtbelagerungen aus der Zeit H o m e r s m i t d e m H o m e r t e x t verglichen zu haben. Einzig der Außenseiter William Ewart Gladstone (1809-1898), der weltläufige Staatsmann, der, soweit seine politische Tätigkeit i h m M u ß e ließ, i m m e r w i e d e r über H o m e r publiziert hat, ließ sich v o n den n e u e n F u n d e n u n d Perspektiven sofort begeistern. N a c h d e m er schon in seinem B u c h Juventus Mundi (1869) ausführlich über P h ö n i k e r u n d Ä g y p t e r im Zeitalter H o m e r s gehandelt hatte 2 0 ', sind i m späteren W e r k Homeric Synchronism (1876) nicht n u r Schliemanns Troiag r a b u n g e n bereits einbezogen, sondern auch j e n e ägyptischen Texte u m die Schlacht bei Q a d e s h u n d die Seevölkereinfälle, freilich n o c h m i t einer falschen, zu h o h e n Datierung. 2 1 ' In seinem letzten Buch, .Landmarks of H o m e r i c S t u d y ' (1890), steht Gladstone unter d e m Eindruck der assyrischen Texte: In einer . A p p e n d i x ' weist Gladstone nicht n u r auf die E n t s p r e c h u n g e n gewisser Göttergestalten hin — Poseidon u n d Enki, A p h r o d i t e u n d Ishtar —, sondern auch bereits auf die Rolle v o n , O k e a n o s u n d Tethys' in der Ilias i m Vergleich mit d e m A n f a n g des Enuma elish. D i e Fachwelt hat dies ignoriert oder rasch abgefertigt. 2 2 ' Ein Außenseiter w a r auch der Cypern-Spezialist Ohnefalsch-Richter, der ü b e r , C y p e r n , die Bibel u n d H o m e r ' schrieb (1893). Für die Fachwissenschaft bezeichnend ist eher, w i e Wilamowitz 1884 sich v e r n e h m e n ließ: „die seit j a h r h u n d e r t e n faulenden völker u n d Staaten der Semiten u n d Ä g y p t e r , die den Hellenen trotz ihrer alten cultur nichts hatten abgeben k ö n n e n , als ein paar handfertigkeiten u n d techniken, abgeschmackte trachten u n d gerate, zopfige Ornamente, widerliche fetische f ü r n o c h widerlichere götzen". 2 3 ' H i n t e r der Gereiztheit steckt d o c h schon ein b e m e r kenswertes Detailwissen u m den orientalischen K u l t u r e i n f l u ß , v e r w e i g e r t aber w i r d , d e m u n v o r e i n g e n o m m e n nachzugehen. U s e n e r allerdings n a h m die H e r a u s f o r d e r u n g des Gilgamesh- bzw. ,Izdubar'-Textes auf: Die erklärte Absicht seines Buchs ü b e r Sintfluthsagen (1899) ist j e d o c h eben dies, entgegen den n e u e n E n t d e k k u n g e n den .indogermanischen' U r s p r u n g des S i n t f l u t m y t h o s mit B e r u f u n g auf die indischen Versionen zu erhärten. Die Alte Geschichte hatte es leichter, die neuen Materialien zu resorbieren u n d in ein i m m e r umfassenderes Geschichtsbild einzubauen — 1920 hat schließlich der Althistoriker Walter Otto das . H a n d b u c h der klassischen Altertumswissenschaft' in ein . H a n d b u c h der Altertumswissenschaft' u m b e n a n n t . A m meisten hatte in dieser R i c h t u n g Eduard Meyer geleistet; seine Geschichte des Altertums b e g a n n 1884 zu erscheinen. U n d doch, so sorgfältig E d u a r d M e y e r in den ersten beiden B ä n d e n die altorientalische Geschichte a u f b a u t , f ü r das Kapitel , H o m e r ' sieht selbst er

20

> Gladstone 1869, 118-148; vgl. zu Gladstone Myres 1958, 94-122. ' Vgl. oben Anm. 14; Gladstone stützte sich auf Lauth 1867. 22 ' Gladstone 1890, Appendix: Essay on the points of contact between the Assyrian tablets and the Homeric text; Kritik: Torr 1890. 23 ' Homerische Untersuchungen, Berlin 1884, 215. 21

Homerstudien und Orient

161

keinen Anlaß, auf Orientalisches zu verweisen, w o h l aber diskutiert er mit einiger Ausführlichkeit die germanischen Parallelen: 24 ' Die griechisch-germanisch-deutsche Verbrüderung bleibt bestehen. Die direkte Herausforderung für die Homerstudien freilich war nicht v o m ,Orient', sondern von Schliemanns Entdeckungen g e k o m m e n . M a n lernte die mykenische, dann die minoische Kultur kennen, und die Frage, wohin denn nun H o m e r gehöre, in eine Phase der Bronzezeit oder aber — wie die Philologen, insbesondere auch W i l a m o w i t z meinten — als ,Ionier' in die Nach-Wanderungszeit, w u r d e i m m e r dringlicher. Eine Vorgeschichte der homerischen Texte war ja nun in der Tat ans Licht getreten. Eine erste fundierte Bilanz aus archäologischer Sicht zog Heibig 1884. 25 ' Immerhin blieb das N e u e in der vertrauten geographischen U m g e b u n g . Martin P. Nilsson, der in unserem Jahrhundert dann am intensivsten diesen Beziehungen nachgegangen ist, n a h m denn auch die lokalen Beziehungen der M y t h e n als besonderen Beweis der Kontinuität. 2 6 ' Von Anfang an w u r d e die Entdeckung der mykenischen Kultur w e i t u m mit Befriedigung als Selbstbestätigung einer europäischen Kultur e m p f u n d e n — und damit als Widerlegung des ,mirage phenicien'. 2 7 ' Denn eben zu Ende des Jahrhunderts w u r d e z u m Schlag gegen die Phöniker ausgeholt; Bemal spricht gar von der ,Endlösung' der Phönikerfrage. 2 8 ' Gewiß, viel Unsicherheit und viel Überschätzung war vorausgegangen. De Rougemont hatte in seinem Buch über die Bronzezeit die Semiten mit ihrer Metallkultur über den ganzen ,Okzident' sich ausbreiten lassen. 29 ' D e m n a c h hatte Schliemann die korinthische, andere hatten die geometrische Keramik erst einmal für phönikisch gehalten. Dies brach jetzt im Gefolge der archäologischen Entdeckungen zusammen. Es ist nicht ohne Ironie, daß es Samuel Reinach war, der 1893 das Stichwort v o m „mirage oriental" lieferte. Die durchschlagende W i r k u n g ging v o m Aufsatz Julius Belochs 1894 aus, der fast gleichzeitig mit dem ersten Band seiner .Griechischen Geschichte' erschien: 30 ' N i r g e n d w o im arachaischen Griechenland gibt es, nach Beloch, phönikische Keramik; mit ihr seien die Phöniker aus der frühen griechischen Welt zu streichen. Die antisemitische Tendenz w a r bei Beloch unverhüllt. Ein gewisser nationaler Gegensatz zwischen den in Syrien/Libanon enga-

24

> E. Meyer, Geschichte des Altertums II 1 (21928) 288f.; vgl. III (21937) 350ff. W. Heibig, Das homerische Epos aus den Denkmälern erläutert, Leipzig 1884, 21887. 26) M . P . Nilsson, The Mycenaean Origin of Greek Mythology, Berkeley 1932; ders., Homer and Mycenae, London 1933. 27 > Vgl. Myres 1958, 119-121; 130f.; 151 f.; 158f. 28 > Bernal 1987, 367-383. 29 > De Rougemont 1866, dt. 1869. 30 > S. Reinach, Le mirage oriental, Anthropologie 4 (1893) 539-578; 699-732; vgl. Bernal 1987; 371 f. - Beloch 1893 und 1894. Vgl. zu Beloch К. Christ, Von Gibbon zu Rostovtzeff Darmstadt 1972, 248-285, bes. 265; A. Momigliano, Terzo Contributo alla storia degli studi classici e del mondo antico, Roma 1966, 239-265. 25>

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gierten Franzosen und den mit der Türkei paktierenden Deutschen scheint sich zusätzlich abzuzeichnen. An Stelle der Fixierung auf Phöniker traten besonders in der deutschen Wissenschaft jetzt die nicht-semitischen vorgriechischen Kulturen in den Blick, besonders die Kulturen Altkleinasiens, wobei man sich freilich zunächst praktisch nur an N a m e n und Suffixe halten konnte. Das in der Gegenrichtung überbordende Werk von Victor Berard (1902/03), das ganz auf Kultur und Handel der Phöniker ausgerichtet war, hatte zumindest in Deutschland von vornherein keine Chance. 3 1 ' Mit dem neuen Jahrhundert begann nun aber doch die Existenz einer vorgriechischen, altorientalischen Literatur allgemeiner ins Bewußtsein zu dringen, auch im Bereich der klassischen Philologie. A m Anfang stehen die Vorstöße von Peter Jensen und Carl Fries (1902). Die nächsten zwei Jahrzehnte lassen sich als eine erste Phase der Auseinandersetzung zusammenfassen: Parallelen werden festgestellt, Einflüsse behauptet oder abgewehrt; die M e t h o d e ist im wesentlichen die der Motivvergleichung. Es waren allerdings nur wenige, teilweise unvorsichtige Forscher, die sich auf diesen Weg begaben, mehrheitlich Orientalisten, die über den neuen Texten ihre althergebrachte Gymnasialbildung nicht vergessen hatten, neben Peter Jensen vor allem Hugo Winckler u n d Adolf Jeremias. Dazu kamen outsider der klassischen Philologie wie Carl Fries. Auch Otto Gruppe, der mit Jensen zusammenarbeitete, hat in seiner riesigen, unübersichtlichen ,Griechischen Mythologie' (1906) alle möglichen orientalischen Motive verzeichnet. 3 2 ' In offener Weise griff Useners Schüler Ludwig Radermacher die neuen Impulse auf, indem er das ägyptische .Märchen v o m Schiffbrüchigen' mit der Odyssee verglich. 33 ' Produktive Zusammenarbeit entwickelte sich in Heidelberg zwischen Carl Bezold und Franz Boll i m Spezialgebiet der Astrologie. 3 4 '

31

' P. Cauer äußerte sich ruhig-distanzierend zu Berards Vorveröffentlichungen in der Revue Archeologique 1900/1901: Bursiansjahresber. 112 (1902) 88-90; immerhin 88: „viele Deutungen fuhren handgreiflich ins Phantastische". Berard hatte die Phöniker merkwürdigerweise in Arkadien entdeckt (De l'origine des Cultes Arcadiens, Paris 1894) und sich dann das Thema Homer und Phöniker - neben seiner Tätigkeit als Politiker - zur Lebensaufgabe gemacht; seine weiteren Publikationen werden hier nicht aufgezählt; vgl. A. Berard im Vorwort zu V. Berard, Les Navigations d'Ulysee, Nouvelle edition Paris 1971, vii-xviii. Von der .deutschen' Wissenschaft hat Berard sich seinerseits 1917 mit dem Pamphlet gegen Friedrich August Wolf distanziert: U n mensonge de la philologie allemande. Les ,prolcgomenes ä Homere' de Friedrich August Wolf, Paris 1917. 32) Zusammenarbeit mit Jensen für den Abschnitt ,Astronomische Mythen' (ff 277, p. 937-961): Vorwort viiif. - O . Gruppe hatte bereits 1887 zu einem Buch angesetzt, das an Stelle der indogermanischen Urverwandtschaft den orientalischen Kultureinfluß setzt. Es blieb bei der ,Einleitung'; Gruppe selbst unterläßt es später, auf dieses Buch zu verweisen. 33 ' Radermacher 1915, 38—47, nach W. Golenischeff, Verhandlungen des Orientalistenkongresses in Berlin 1881, Afrik. Sektion 100-122. Der Text bei Erman 56-63, Lichtheim 1211-215. 34 > Vgl. Burkert 1984, 10f.

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Es sind für Homer damals sogleich einige schlagende Beobachtungen gemacht worden, die sich jedem aufdrängen, der die altorientalischen Texte überhaupt zur Kenntnis nimmt. Sie werden denn auch seither immer wieder, oft mit der illusionären Freude der Neuentdeckung, wiederholt. 35 ' Genannt seien zunächst einige der Parallelen, die Gilgamesh bringt: —für die Ilias: Der sterbende Freund des Haupthelden, Enkidu, neben Gilgamesh wie Patroklos neben Achilleus; vor allem die gespenstische Erscheinung des toten Freundes, der über die Verhältnisse im Jenseits Aufschluß gibt. Dies ist der Inhalt der 12. Tafel von Gilgamesh, die auch in einer älteren, sumerischen Fassung vorliegt, dies die berühmte, im Altertum stark wirkende Szene im 23. Buch der Ilias. Gespenstererscheinungen mögen universal sein, aber die Ähnlichkeit in der Voraussetzung, der Durchführung, dem Ethos der Szene ist so groß, daß selbst ein erklärter Skeptiker wie Geoffrey Kirk den Vergleich „almost irresistible" findet.36' -für die Odyssee: die Reise des Gilgamesh zum Sintfluthelden Utnapishtim als Gegenstück zu den Reisen des Odysseus, insbesondere die Aufnahme durch eine geheimnisvolle Frau, die den Weg weisen kann, Siduri die ,Schenkin' in Gilgamesh, Kirke in der Odyssee. Man hat auch auf Kalypso verwiesen. Für die Rückkehr des Gilgamesh steht ein geheimnisvoller Fährmann zur Verfügung, der zum letzten Mal diesen Dienst versieht, wie die Phäaken für Odysseus. Das eigentliche Problem der Motivvergleichung, die jeweils sich stellende Frage, ob hier Diffusion, ob gemeinsame Quelle, eventuell rituelle Hintergründe oder aber anthropologische Universalia anzunehmen seien, kann hier nur angedeutet werden. Auch bei sehr speziellen Motiven hängt die Antwort auf die Frage, ob die Ähnlichkeit oder die Unterschiede überwiegen, sehr vom persönlichen Gesichtspunkt ab. Dies gilt etwa von der Keren-Wägung in der Ilias im Vergleich mit der Wägeszene im ägyptischen Totenbuch. 37 ' Weiter, nämlich vom Motivischen ins Stilistische, führt die Feststellung von Beiwörtern und Formeln, oder die Beobachtung, daß der Anfang von Gilgamesh und das Proömium der Odyssee sich ähneln, indem gerade nicht der erwartbare Name des Helden genannt wird, sondern eine Umschreibung, die auf die weiten

35 > Eine detaillierte Doxographie ist hier nicht beabsichtigt. Vgl. Stella 1955, 1978, und Burkert 1984. 36) G. S. Kirk, Myth. Its Meaning and Functions in Ancient and Other Cultures, Berkeley 1970, 108; vgl. Webster 1958, 114f.; M . N . Nagler, Spontaneity and Tradition, Berkeley 1974, 169; Burkert 1984, 65. 37 > Die Parallele schon bei Gruppe 1906, 681,6; vgl. Wüst 1939; Setaioli 1972; J.G. Griffiths, The Divine Tribunal, Swansea 1975; Puhvel 1983,221-223 zu einem merkwürdigen hethitischen Wäge-Ritual. - Es gibt bekanntlich auch Motivparallelen mit ganz entlegenen Traditionen; zu Türkischem, e.g., im Vergleich mit Homer R . S.P. Beekes, Mnemosyne 39 (1986) 225-239.

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Reisen und das, Wissen' des Helden zielt.38' Eingehende stilistische Vergleiche sind aber erst geführt worden, nachdem die Besonderheit des homerischen Stils im Fortschritt der klassischen Philologie genauer bestimmt worden war. Wesentliches zum Motivvergleich ist schon in den ersten Publikationen von Jensen und Fries (1902/1903) festgestellt. Aber der Impuls ging natürlich weit darüber hinaus: .Babylon' sollte nun der Ursprung aller Kultur, Religion und Literatur überhaupt sein. Winckler schrieb über .Himmels- und Weltbild der Babylonier als Grundlage der Weltanschauung und Mythologie aller Zeiten' 39 ', Jeremias über die angeblich ebenso universelle wie uralte Astralsymbolik 40 ', Jensen über das ,Gilgamesch-Epos in der Weltliteratur' (1906, 1929). Frei von Überschwang hielt sich Arthur Ungnad. Dagegen ging auch Carl Fries mehr und mehr ins Weite. Bei seinem Buch mit dem klingenden Titel ,Das Zagmukfest auf Scheria' (1910) ist von einem eigentlichen wissenschaftlichen Ertrag nicht mehr zu sprechen; eher handelt es sich um ein Gegenstück zu dem gleichzeitig (1910) publizierten Stabreimpoem ,Des Sonnengottes Erdenfahrt' von Josef Menrad; während Menrad, auf Max Müllers Spuren, die Odyssee endgültig zu ,vernorden' unternimmt, muß für Fries alles Wesentliche ,babylonisch' sein. Fries hat den von Frazer kommenden Impuls von ,myth and ritual' aufgenommen, er interpretiert die Phäakenbücher auf den „uralten Unterbau" eines Ritualdramas hin: Z A G . M U K ist die sumerische Bezeichnung des Neujahrsfestes. In diesen Rahmen kann Fries alles einfügen, was bei den Phäaken geschieht: die ,Plynteria'-Prozession der Nausikaa zum Fluß, das Ballspiel, die Epiphanie des fremden, neuen Gottes, seine Einkleidung, Einholung, Bewirtung samt Tanz, Agon und KultErzählung — die Apologe —. Daß dies für den Homertext als solchen nichts ausgibt, ist Fries durchaus bewußt. Für den zweiten Teil der Odyssee hat er noch weiter östlich ausgegriffen, bis zu den wandernden Bettelpriestern Indiens: Odysseus als ,bhikshu' — immerhin ein nicht unwesentlicher Aspekt dieser Gestalt. Die weiteren Publikationen von Carl Fries galten der Astralmythologie. Die Opposition gegen die ,Panbabylonisten' war von Anfang an stark, wenn auch weithin stumm; nur wenige Dokumente zeugen von einer ernstlichen Diskussion bei den Philologen.jensen (1902) läßt bereits im Nachtrag erkennen, daß ihm „ein wegwerfendes Urteil oder gar ein Hohn" entgegenschlug (414). Alfred Jeremias freilich jubelte, durch Jensen und Fries sei „schon jetzt [...] der Beweis erbracht, daß die Homerforschung die Berücksichtigung altorientalischer Stoffe und Dichtungsformen nicht mehr entbehren kann" 41 '; im Homerbericht von

38

> Wirth 1921, 113 f.; Stella 1955, 145; Burkert 1984, 108. Auf Beiwörter und Formeln weist Ungnad 1923 (bei Oberhuber 1977, 134) hin. 39 > Leipzig 21903. 40) Handbuch der altorientalischen Geisteskultur, Leipzig 1913, Berlin 21929. 41 > BPhW 31 (1911) 1180.

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Dietrich Mülder aber ist die Ablehnung radikal und unwiderruflich. 4 2 ' A m wirkungsvollsten erwies sich das Ignorieren. In der Theologie führte man einen Streit u m ,Babel und Bibel' — die klassische Philologie konnte gleichsam hinter der Front ihre splendid isolation bewahren. Jensens Aufsatz fehlt in Lambrinos Bibliographie. Als Hermann Wirth in seinem Buch Homer und Babylon (1921) eine fleißige und im ganzen nüchterne, w e n n auch unkritische Zusammenfassung vorlegte, fand er wenig Aufmerksamkeit und noch weniger Zustimmung 4 3 '; daß er "Ομηρος von akkadisch zamaru herleiten wollte, war natürlich keine Empfehlung. U n g n a d s Studie über ,Gilgamesch-Epos und Odyssee' erschien im Selbstverlag (1923). Dies war nicht nur eine Folge des Kriegs. Die geistigen Strömungen seit dem fin du siecle, die man auch ,neuromantisch' genannt hat, führten von der quasiimperialen Weltperspektive mit gleichmäßiger Vergleichung, die einem oberflächlichen Kulturoptimismus entsprach, hinweg zum ,Tieferen', Intensiven, Esoterischen. 44 ' Kleine Scharen wollten ihre stillen Bahnen in Liebe zu einem authentischen, selbstgeformten Hellas ziehen; Handel und Austausch, auch Kulturaustausch fiel der Verachtung anheim. Unbehindert hiervon hat die Archäologie ihre stetigen Fortschritte gemacht, so daß ein i m m e r genaueres Bild der kontinuierlichen Geschichte frühgriechischer Kultur möglich wurde. Wesentlich war, neben der Präzisierung der bronzezeitlichen Entwicklung und Chronologie durch Evans, das allmählich gewonnene Verständnis des geometrischen Stils, die Feststellung des Neuansatzes einer ,Protogeometrischen' Epoche u m 1050 45 ', die Eingrenzung einer ,orientalisierenden' Epoche, die, u m 700, den geometrischen v o m archaischen Stil trennt. 4 6 ' Wirklich in B e w e g u n g geraten ist die Forschung dann durch jene beiden sensationellen Neuentdeckungen, die den .Orient' sozusagen vor die griechische Haustüre gestellt haben: das Hethitische und das Ugaritische. Seit 1905 gruben die Deutschen unter Leitung Hugo Wincklers in Boghazköy; 1915 machte Friedrich Hrozny seine Entdeckung der neuen indogermanischen Sprache in Kleinasien bekannt, des Hethitischen, nachdem er den Satz ( I d e o g r a m m ) B R O T eizzatteni watarma ekutteni sozusagen auf deutsch verstanden hatte, „Brot essen sie und

42

< Bursians Jahresber. 161 (1913) 108—112 mit Verweis auf Cauers Kritik an Berard (oben A n m . 31). — Haltlos w a r der ,elamische' M e m n o n , Hüsing 1916. Einen radikalen und unqualifizierten Vorstoß gegen alles .Semitische' im U m f e l d H o m e r s f ü h r t e H . M u c h a u , Bursians Jahresber. 182 (1920) 165-318. 43 > Rez.: J. Sitzler, B P h W 42 (1922) 69; F. Pfister, D L Z 44 (1923) 15 f.; Storr, T h Q 103 (1922) 83 f. 44) Symptomatisch ist die Rezension der Cambridge Ancient History durch Η . Berve, G n o m o n 7 (1931) 65-74. 45 > Karo 1920. 46 > F. Poulsen, D e r O r i e n t und die frühgriechische Kunst, Leipzig 1912; E. Buschor, Griechische Vasenmalerei, M ü n c h e n 1914; V. Müller, Frühe Plastik in Griechenland u n d Vorderasien, A u g s b u r g 1929.

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Wasser trinken sie". 4 7 ' Die eigentliche Erschließung der Texte folgte in den 20er Jahren: Johannes Friedrich machte 1925 einiges ,Aus dem hethitischen Schrifttum' bekannt, über Jlluyankas und Typhon' schrieb Walter Porzig 1930, erste Hinweise auf K u m a r b i gab Forrer 1935. D i e französischen Ausgrabungen in U g a r i t begannen 1929, und binnen Jahresfrist (1930) wurde die neue Version der Keilschrift durch Virolleaud, Bauer und Dhorme praktisch gleichzeitig entschlüsselt; sie ist, wie sich zeigte, fast nur für mythologisch-rituelle Texte verwendet worden. 4 8 ' Die Beziehungen zur mykenischen Kultur sind in Ugarit archäologisch so auffallend, daß die früher immer gestellte Frage, wann und wie ein Kontakt zwischen ,Orient' und Griechen überhaupt denkbar sei, gegenstandslos wurde. D a m i t trat auch die Welt des Alten Testaments wieder näher heran, sind doch die Beziehungen des Ugaritischen zu den hebräischen Texten erstaunlich eng. D i e Hethiter sind räumlich weiter abgerückt; dafür hat aber ihr .indogermanischer' Charakter die Hemmschwelle im Bereich der klassischen Altertumskunde in erstaunlichem Maße abgebaut. U n d bekanntlich hat auch Hattusa sein Löwentor, so gut wie Mykene. U n d doch, in der ersten Phase hat außer Franz Dornseiff kaum ein Philologe auf die neuen Texte reagiert, und dieser gab sich bewußt als Außenseiter. „Wann wird die Vorstellung von der provinzialen Abgeschlossenheit der Völker um 1000—650 amtlich aufgegeben werden?" schrieb Dornseiff 1935. 49 ' Semitisches war in Deutschland inzwischen sowieso z u m Tabu geworden. D o r t wurde auch kaum mehr bemerkt, daß mit den Ausgrabungen von C . L. Woolley in Al Mina am Orontes, 1936/37, ein ganz neuer Aspekt griechisch-semitischer Beziehungen ans Licht kam: eine griechische Niederlassung in Syrien im 8.Jahrhundert, inmitten der ,Phöniker'. 5 0 ) Der von Dornseiff postulierte .amtliche' U m s c h l a g ist erst nach 1945 eingetreten. Es kam, neben der allgemeinen Veränderung des geistigen Klimas, dreierlei zusammen: Die hethitischen Texte v o m . K ö n i g t u m im H i m m e l ' (1946) und von , U l l i k u m m i ' (1952) wurden veröffentlicht, der erstgenannte durch Güterbock unter dem einprägsamen, programmatischen T i t e l , K u m a r b i . Mythen v o m churritischen Kronos'; das Verdienst, die philologische Welt energisch darauf aufmerk-

47> Vgl. Doblhofer 143-193; F. Hrozny, Die Lösung des hethitischen Problems, M D O G 56 (1915) 17—50; zur Leistung E . O . Forrers O. Szemcrcnyi, in: Studi di storia e di filologia Anatolica dedicati a G. Pugliese Carratelli, Florenz 1988, 257-293. A u f das Ahhiyawa-Problem (dazu H . G . Güterbock, AJA 87 [1983] 133-141) ist hier so wenig wie auf das Wilusa-TroiaProblem einzugehen. 4 8 ) Z u m Ugaritischen vgl. Anm. 52. 49> Dornseiff 1959, 30. 50> Die ersten Berichte von L. Woolley erschienen J H S 58 (1938) 1 - 3 0 , 1 3 3 - 1 7 0 ; vgl. Boardman 1980, 35-84; unten Anm. 57.

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sam gemacht zu haben, bleibt Albin Lesky, ' Zweitens waren die ugaritischen Texte nun so weit bearbeitet, daß sie in Sammelveröffentlichungen zugänglich w e r d e n k o n n t e n 5 2 ' ; das n e u e S a m m e l w e r k Ancient

Near Eastern

Texts relating to

the Old Testament, das Greßmanns Altorientalische Texte ersetzt, erschien erstmals 1950, 1955 bereits in 2. Auflage. 1952/3 aber erfolgte die Entzifferung von Linear B, womit die Graezisten, vor allem die Homerforscher, sich definitiv auf die Bronzezeit verwiesen sahen. Die Folge war, verständlicherweise, zunächst ein ausgesprochener bronzezeitlicher Enthusiasmus. Er fand vor allem in Τ. B. L. Webster einen rührigen Vertreter. Auch dem Iliasbuch von D.h. Page (1959) haben Hethiter und bronzezeitliches Troia ihren Stempel aufgeprägt. Das von Cyrus Gordon geprägte Schlagwort von der ,ägäischen Koine' der Bronzezeit, die Hethiter, Ugariter und Mykener und auch Ägypter gemeinsam umfaßt habe, wurde weitum aufgegriffen. Man stellte auch fest, daß bereits im Mykenischen semitische Lehnwörter auftreten — χρυσός und χιτών sind die beiden bekanntesten Beispiele. Die alte Phöniker-Diskussion schien damit endgültig überholt: Die zunächst archäologisch nachweisbare Brücke Mykene - Cypern - Ugarit — Hattusa ist jetzt auch im sprachlichen Bereich belegbar. Die kyprische Silbenschrift ist mit Linear В verschwistert, und der ,Gott Kumarbi' ist auch in Ugarit belegt. Die Ergebnisse fur Hesiod sind in der Dissertation von Gerd Steiner (1958) dargelegt und mit dem gründlichen Buch von Walcot sowie mit Wests Theogoniekommentar (beides 1966) gleichsam kodifiziert worden. Was Homer anlangt, hatte auch C.M. Bowra in seinem 1952 erschienenen Buch ,Heroic Poetry' Gilgamesh systematisch mit herangezogen. 53 ' Im Jahr 1955 trafen sich der Vorstoß von Cyrus Gordon ,Homer and Bible', der sorgfältige und inhaltsreiche Aufsatz von Franz Dirlmeier

u n d das B u c h v o n Luigia Achillea

Stella z u r O d y s s e e m i t detaillier-

ten und substanzreichen Beobachtungen zum orientalischen Hintergrund des griechischen Epos - Stellas Iliasbuch ist 1978 gefolgt. Die homerische Dichtung steht nunmehr doch wohl unwiderruflich in einem vorderasiatisch-ägäischen Horizont. 5 4 '

51)

H.G. Güterbock, Kumarbi. Mythen vom churritischen Kronos, Zürich 1946; H. Otten, Mythen vom Gotte Kumarbi, Neue Fragmente, Berlin 1950; H.G. Güterbock, The Song of Ullikummi, New Haven 1952; Lesky 1950, 1954, 1955, vgl. auch dens., Die Homerforschung in der Gegenwart, Wien 1952, 29 f. 52) C. Gordon, Ugaritic Handbook II, Rom 1947; Ugaritic Literature, Rom 1949; G . R . Driver, Canaanite Myths and Legends, Edinburgh 1956; J. Aistleitner, Die mythologischen Texte aus Ras Schamra, Budapest 1959, vgl. jetzt J. C. de Moor, An Anthology of Religious Texts from Ugarit, Leiden 1987. r y> ' „I have made my own version from the Russian of N. Gumilev and the English of R . Campbell Thompson", p. vi. 54) Barnett 1956, 238 formulierte sein „feeling that basically the whole bardic tradition itself represented by Homer really derives from an Oriental prototype".

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Wiederum freilich gab und gibt es den zu weit gehenden Eifer, der sein Gegenteil bewirkt. Dies gilt auch und besonders von Cyrus Gordon, ungeachtet seiner Verdienste. Wenn in einem der ugaritischen Texte, Keret, erzählt wird, wie ein König eine Stadt belagert, um eine Frau zu gewinnen, macht daraus Gordon, dem Webster folgt, gleich die Vorlage der Ilias: Es bedarf zu diesem Zweck nur der Annahme, die Frau im Keret-Text sei gleichfalls entfuhrt, wie Helena, und werde im kriegerischen Unternehmen zurückgeholt — für unbefangene Augen steht davon nichts im Text. Auch Gordons These, Linear Α samt Eteokretisch sei semitisch zu lesen (1966), hat sehr wenig Nachfolge gefunden. Das Buch ,Hellenosemitica' von Gordons Mitarbeiter Astour (1965), das weite Teile der griechischen Mythologie auf Ugaritisches zurückfuhrt und dabei vor allem für die Namen des griechischen Mythos semitische Etymologien in Serie produziert und als Argument verwendet, hat die Außenseiter-Position nicht überwunden. 5 5 ' Der bronzezeitlichen Euphorie ist alsbald Alfred Heubeck entgegengetreten, indem er den Abstand der homerischen Texte von Linear В betonte und für die unleugbaren Beziehungen Orient-Griechenland auf den Ausgang der ,dunklen Jahrhunderte' verwies. Sein wichtiger Aufsatz von 1955 ist freilich dadurch verzerrt, daß er die Frühdatierung der griechischen Schrift ins 9.Jh. damals noch akzeptierte; wenn man dies berichtigt 56 ', k o m m t die Eigenart einer ,orientalisierenden Epoche' des 8./7.Jh.s deutlicher zum Vorschein. Wichtige archäologische Neufunde prägen heute unser Bild dieser Epoche. Zur Entdeckung von Al Mina sind, neben vielem anderen, besonders die Funde von Knossos, von Lefkandi auf Euboia und von Ischia getreten. Der geschichtliche Hintergrund ist in der Expansion des Assyrerreichs bis ans Mittelmeer zu fassen, während zugleich neben dem phönikischen der griechische Seehandel aufblüht. Dies hat die Perspektiven verschoben: Während man seinerzeit ,Ionien' die Schlüsselrolle bei den griechisch-orientalischen Kulturkontakten zugewiesen hatte, dann auch auf die besondere Rolle Kretas zu achten begann, tritt jetzt die von Euboia aus gesteuerte Route, die östlich bis Syrien und westlich bis Ischia ausgreift, als im 8.Jh. entscheidend hervor. Dies ist auch der Bereich, in dem die Schrift übernommen wurde. Kurz nach 738 werden erstmals in einem assyrischen Bericht ,Ionier' in Syrien registriert: Es wird sich um Euböer handeln. Die Blüte des kleinasiatischen Ionien k o m m t erst später, im 7. J h . , sie beruht auf der von Sardes aus eröffneten ,Königsstraße', auf der Symbiose mit den Lydern. 5 7 ' Martin Wests

55> Vgl. die Rez. v o n J . D . Muhly, JAOS 85 (1965) 585-588; J. Boardman, C R 16 (1966) 86-88 (ablehnend); A.J. Pfiffig, AnzAW 21 (1968) 4 0 - 5 0 (positiver); modifizierend R . Edwards, Kadmos the Phoenician, Amsterdam 1979, 139-161; vg. auch Bemal 1987, 421. 56> Entscheidend war L. H. Jeffery, The Local Scripts of Archaic Greece, Oxford 1961; vgl. Α. Heubeck, Schrift, in: Archaeologia Homerica, Kap. X , Göttingen 1979. 57) Zu ,Ionien' Hogarth 1909; die Bedeutung Kretas verfocht E. Löwy, Typenwanderung, ÖJh 12 (1909) 243-304, 14 (1911) 1-34; beide ,Wege' diskutiert Mazzarino 1947, 271-292, mit

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These (1988), das griechische Epos habe ein wesentliches Stadium seiner Entwicklung auf Euboia erfahren, zieht die Konsequenzen aus der neuen Lage. Jedenfalls ist die Frage nach dem Wann und Wie der griechisch-orientalischen Beziehungen jetzt doppelsträngig beantwortet: Neben den bronzezeitlichen Kontakten stehen die der ,orientalisierenden Epoche', einer Epoche der Akkulturation, die die griechische Kultur ins Licht der Geschichte gebracht und schließlich zur Führung im Mittelmeerraum emporgehoben hat. Freilich scheint es vielen Forschern im klassischen Bereich noch immer leichter zu sein, die bronzezeitlichen Verbindungen zum Orient zu akzeptieren als die so wohlbezeugten in der Zeit der Phöniker und unseres Homer. Beide Brücken waren ohne Zweifel wichtig; doch sieht es mehr und mehr so aus, als ob auch zwischen ihnen kein Abgrund gelegen habe. Denn auch die Phöniker des frühen ersten Jahrtausends sind gleichsam .zurückgekehrt' aus der Belochschen Verbannung: Die phönikische Ansiedlung auf Cypern, ihre Beziehungen zu Kreta, ihre Parfiimfabrikation auf Rhodos sind nachweisbar geworden, einschließlich der von Beloch vermißten phönikischen Keramik. Die Niederlassung von Griechen in Syrien und Tarsos schließt die Kontakte von der Gegenrichtung her.58) Die neue Quellenlage erlaubt nunmehr sehr viel präzisere Studien. 59 ' Im Gegensatz zur Situation um die Jahrhundertwende verfugt man jetzt über drei nahöstliche Literaturen mit mythisch-epischen Texten, die man zum Griechischen und insbesondere zu Homer in Beziehung setzen kann, die sumerisch-akkadische, die hethitische und die ugaritische; das Ägyptische ist etwas in den Hintergrund getreten, sollte aber nicht vergessen werden. Zugleich haben auch von Homer her die Fragestellungen sich verfeinert: Das Formale ist gegenüber dem Motivischen besonders durch die Theorie der Oral Poetry in den Vordergrund des Interesses getreten. Mit dem .Orientalischen' ergeben sich dadurch neue, aufregende Konfrontationen. Schwergewicht auf der kleinasiatischen Route; dagegen H a n f m a n n 1948; wichtig dann bes. Dunbabin 1957; Boardman 1964/1980; vgl. Burkert 1984,15-19; die erste N e n n u n g der ,Ionier': H . W . Saggs, Iraq 25 (1963) 76-78; Braun 1982, 15; Burkert 1984,17. 58 ' Von „Return of the Iron Age Phoenicians" spricht Bemal 1987, 426 f. mit Verweis auf G. Bunnens, L'expansion phenicienne en Mediterranee, Brüssel 1979, M u h l y 1970 (und spätere Publikationen); er nennt nicht: J . N . Coldstream, T h e Phoenicians of Ialysos, BICS 16 (1969) 1-8; die Schale mit phönikischer Inschrift aus Knossos: M . Sznycer, Kadmos 18 (1979) 89-93; O . Masson/M. Sznycer, Recherches sur les Pheniciens ä Chypre, Paris 1972; Sammelband: Phönizier im Westen, Madrider Beiträge 8, 1982; Niemeyer 1984; E. Gubel/E. Lipinski, ed., Phoenicia and its Neighbours, Leuven 1985 (Studia Phoenicia III); A. Bammer, Spuren der Phöniker im Artemision von Ephesos, Anatolian Studies 35 (1985) 103-108; Ε. Lipinski, ed., Phoenicia and the East Mediterranean in the First Millennium B . C . , Leuven 1987 (Studia Phoenicia V). 59 > Es wird hier nicht versucht, für die evidenten Feststellungen protoi heuretai zu benennen; vgl. vor allem Dirlmeier 1955, G o r d o n 1955, Stella 1955 und 1978, Burkert 1984.

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In der Tat spielen einige wichtige Charakteristika des homerischen Stils, die man als typisch .mündlich' zu nehmen pflegt, auch und gerade in den östlichen Texten ihre Rolle. Zu nennen sind - der Aufbau der Texte aus Einzelversen, — die stehenden Beiwörter, - die Formelverse, am auffallendsten in der Einleitung direkter Rede, aber auch etwa ,als der Morgen graute', — die typischen Szenen, z.B. Götterversammlung, Aussendung eines Boten 60 ', - die wörtliche Wiederholung entsprechender Passagen, insbesondere in der Situation Befehl-Ausführung bzw. Weitergabe eines Berichts, — die sorgfältig durchgeführten Vergleiche. 61 ' Was daraus zu folgern ist, bleibt freilich zunächst durchaus offen. Es gibt die Option, schriftlichen Stil auch bei Homer anzuerkennen, es gibt die Gegenoption, mündlichen Hintergrund auch fürs nahöstliche Epos zu postulieren 62 '; differenziertere Zwischenpositionen sind denkbar. Die Diskussionen sollten jedenfalls die Gesamtheit der Gegebenheiten berücksichtigen. Dabei ist auch auf die Erzählformen zu achten, die zumindest im Fall von Gilgamesh recht fortgeschrittene Technik zeigen: Da gibt es die Doppelhandlung, die Gilgamesh und Enkidu zueinanderfinden läßt, es gibt die Ich-Erzählung von den wunderbaren Erlebnissen des Haupthelden im Bericht von Utnapishtim ,dem Fernen'. Ist mit solchen Techniken auch die Idee des Großepos überhaupt im Orient vorgezeichnet? Ist es Zufall, daß das Gilgamesh-Epos auf 12 Tafeln, die Ilias aber in 24 Büchern geschrieben ist?63' Jedenfalls erheischt auch die Form der Buchproduktion besondere Aufmerksamkeit. Der erste Homertext dürfte, nach aramäisch-phönikischem Vorbild, auf Lederrollen geschrieben worden sein. Wendel (1949) hat darauf hingeweisen, daß in der Form der Subscriptio eine klare und direkte Tradition von den sumerisch-akkadischen Tontafeln zu den aramäischgriechischen Lederrollen und den späteren Papyrusbüchern verläuft. Als weitere, speziellere Einsicht hat sich ergeben, daß der sogenannte ,Götterapparat' Homers besonders enge orientalische Parallelen, möglicherweise sogar direkte orientalische Quellen hat. In einem hethitischen Text gibt der Wettergott seinem Boten Tashmeshu den Auftrag, den König und sein Heer unsichtbar zu machen, so wie Hermes im Auftrag des Zeus Priamos mit seinem Wagen zu

60) Besonders erinnert, wie oft hervorgehoben, an die Aussendung des Hermes durch Zeus die Aussendung des Tashmeshu durch den Wettergott im Ullikummi-Text, A N E T 124. 61 ) Burkert 1984, 107 f. 62 > B. Alster, Dumuzi's Dream, Kopenhagen 1972. 63) Zwar wird allgemein angenommen, daß die homerische Bucheinteilung sekundär sei, doch ist ihre Herkunft völlig offen, vgl. S. West, A. Commentary on Homer's Odyssey I, Oxford 1988, 39 f.

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Achilleus fuhrt, ohne daß dies jemand bemerkt. ' Babylonische Götter veranlassen einen König durch eine Traumerscheinung zum kriegerischen Angriff, ganz wie es der Ο6λος "Ονειρος im В der Ilias mit Agamemnon tut.65) Der Gott gibt dem Kämpfer Kraft zu seiner Aristie, Ramses II. in der Schlacht bei Qadesh wie Sanherib in seinem Tatenbericht. 66 ' Daß die drei Hauptgötter die Welt durchs Los verteilen, Himmel-, Meer- und Erd-Reich, steht am Anfang des babylonischen Atrahasis wie im 15. Buch der Ilias. In Atrahasis ist auch ausfuhrlich dargestellt, wie der Wettergott beschließt, die unter der Last der allzuvielen Menschen aufschreiende Erde zu entlasten, ganz wie am Anfang der ,Kyprien'. Dazu kommt die in der Διός 'Απάτη übernommene Kosmogonie mit Okeanos und Tethys, entsprechend Apsu und Tiamat-Tawtu am Anfang des Enuma elish, worauf schon Gladstone aufmerksam gemacht hatte. 67 ' Die mythische Theogonie und Kosmogonie insgesamt dürfte auf orientalische Anregung zurückgehen, was für Hesiod wichtiger ist, aber doch für die Ilias nicht unerheblich bleibt, kennt doch auch sie Kronos und die Titanen. Es gibt weitere Entsprechungen von Götterszenen, die eigentlich nur noch als literarische Abhängigkeit zu verstehen sind. 68 ' An Gilgamesh fasziniert zudem die Kontrastierung von göttlicher Ewigkeit und menschlicher Sterblichkeit, woraus eine heroische, quasi-tragische Haltung resultiert, die der .Homerischen' sehr nahekommt. 6 9 ' Parallelen bestehen auch im rituell-magischen Bereich. Man kann bezeichnende ,homerische Transformationen' feststellen, aber nur, wenn man den Unterbau zur Kenntnis nimmt. So hat Gerd Steiner 1971 zur Nekyia der Odyssee eine .Beschwörung der Unterirdischen aus Boghazköy' beigebracht 70 ' und Ch. A. Faraone hat kürzlich (1987) einen überraschenden Hintergrund für die automatischen Wachhunde des Alkinoos (Od. 6,91-94) in der nahöstlichen Magie aufgezeigt. Schließlich sei auf Ansätze hingewiesen, die Beziehungen zum Orient für die Datierung der homerischen Dichtungen auszuwerten. Scheibner (1967) suchte die Endform der Odyssee zur Zerstörung von Sidon durch die Assyrer im Jahr 677

64 > Annalen des Mursiiis II iii 33f.; A. Götze, Die Annalen des Mursiiis, Leipzig 1933, 126; Barnett 1956, 216 (der auf II. 3,380 f. verweist, statt auf die engere Parallele mit II. 24,331-469). 65) Bericht des Nabonid (1), S. Langdon, Die babylonischen Königsschriften, Leipzig 1912, 218-221; L. Oppenheim, The Interpretation of Dreams in the Ancient Near East, Philadelphia 1956, 202-205; 250; vgl. 186-197 allgemein über das „Pattern of the .Message' Dream". 66 > Der Passus im 8.Feldzug des Sanherib, V 52-VI 35, Luckenbill # 252-254 (vgl. D . D . Luckenbill, The Annals of Sennacherib, Chicago 1924, 43-47) hat viele Eigentümlichkeiten einer homerischen Aristie, Wirth 1921, 149f.; zu Qadesh oben Anm. 13. 67 > oben Anm. 22; Burkert 1984, 85-99. 68 > Burkert 1984, 92-95. 69 > Burkert 1984, 108 f. 70> Zustimmend K. Matthiessen, Probleme der Unterweltsfahrt des Odysseus, GB 15 (1988) 1 5 ^ 5 , hier 23 f.

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in Beziehung zu setzen, Burkert (1976) das neunte Buch der Ilias zur Eroberung Thebens durch Assurbanipal 663. Das Ergebnis sei mit Worten von Martin West festgehalten: „Affinities with Near Eastern poetry [...] now clamour for attention from Homerists": „It is not easy to avoid the conclusion that at some stage of its history the Greek epic tradition has been strongly influenced by contacts with the Eastern tradition". 71 * Probleme und Fragen bleiben trotzdem in Fülle bestehen. Die Euphorie der fünfziger Jahre ist abgeklungen, zumal das Stadium der .diminishing returns' bald erreicht war; Walcots Berichte über vergleichende Studien zur ugaritischen und griechischen Literatur sind nur bis zur zweiten Fortsetzung gediehen. 72 ' In der Publikation des großen Kongresses über ,La Poesia epica e la sua formazione' von 1969 stehen die Griechen weit ab von den nahöstlichen Literaturen. 73 ' Eine simple, doch bedeutende Schwierigkeit in Fragen des Kulturkontaktes bleibt nach wie vor, daß ganz wenige Forscher auch nur auf zwei Gebieten kompetent sind und kollegiale Zusammenarbeit nicht ohne weiteres gelingt. Die Einzelwissenschaften driften weiter auseinander. Den modernen Orientalisten fehlt zumeist das gymnasiale Griechisch, den Altphilologen ist die Bibelkenntnis abhanden gekommen. Aus dem Nichtwissen entspringt teils Nichtinteresse, teils der alte Abwehrreflex. Dem stehen nach wie vor unbedachte und unvorsichtige Vorstöße gegenüber. Als abschreckendes Exempel mag der Aufsatz von Dossin (1979/80) genannt sein, der u. a. Memnon von sumerisch MEME ,Sonne' und Orestes von semitisch Or,Licht' herleitet. Im ganzen bedauerlich ist auch das aufsehenerregende Buch von Bemal (1987), weil die teilweise berechtigte, nun aber in umgekehrter Ideologie verhärtete Kritik am ,Rassismus' vergangener Generationen mit argem Mangel an Kompetenz einhergeht. Schon der Titel Black Athena ist schief — waren Ägypter und Phöniker .Afroasiaten'? —, aber gerade in den U S A ζ. Z. kaum kritisierbar. Der Autor bringt es fertig, Hyksos mit Zeus Hikesios und Poseidon mit Sidon zu assoziieren, nicht ohne weitere Bände ähnlichen Gehalts anzukündigen. Zu bedenken ist bei alledem, daß die Lücken der Uberlieferung sich nie ganz schließen werden: Syrien der frühen Eisenzeit bleibt literarisch terra incognita — abgesehen davon, daß Syrien und Libanon seit Jahrzehnten mit anderen als archäologischen Problemen zu ringen haben. Wir haben nach wie vor kein orientalisches Buch, das ein Grieche im 8.Jh. sehen oder gar lesen konnte. Andererseits ist aber auch festzustellen, daß die Chance des Fortschritts durch neue Endeckungen immer noch gegeben ist. Fast alle Neufunde und Neueditionen

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> West 1988, 169. > Walcot 1969, 1970, 1972. 73) Atti 1970, darin Homerica 13-116; S. Moscati, L'epica nel Vicino Oriente antico 811-823; S . N . Kramer, Sumerian Epic Literature 825-838; J . Ε . P . Nougayrol, L'cpopee babylonienne 839-858; M . Liverani, L'epica ugaritica nel suo contesto storico e letterario 859-873; dazwischen Mittelalterliches, Slavisches, Indisches, Arabisches. 72

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aus dem orientalischen Bereich, die in den letzten Jahren zu verzeichnen waren, haben auch für den Graezisten Interessantes, ja Aufregendes erbracht. Genannt seien: Die Edition von ,Atrahasis' 1969 mit der Teilung der Welt und der Entlastung der Erde74); die Edition der hethitischen ,Geschichte um die Stadt Zalpa' 1973 mit einer schlagenden Parallele zum Danaidenmythos 75 '; die Edition des Ninurta-Epos 1983 mit Parallelen zu den 12 Taten des Herakles 76 '; schließlich der ,Mythos von der Erschaffung des Menschen und des Königs' 1987 mit einer auffälligen Entsprechung zur Schmückung der Pandora. 77 ' Mit dem Pferdeschmuck des Königs Hazael von Damaskus, publiziert 1988, ist erstmalig aramäische Schrift in griechischen Zentren des 8.Jh.s aufgetaucht, in Eretria wie auf Samos, auch wenn es sich wohl nur um Beutestücke der ,Ionier' aus Syrien handelt. 78 ' Brauchen wir die orientalische Perspektive für Homer? Wenn es nur um direktes Textverständnis geht, wohl nur für Sonderfälle: Einige homerische Rätsel können eine orientalische Lösung finden. 79 ' Die Lösung kann unter Umständen freilich recht kompliziert werden. Da ist etwa die Formel διοτρεφέες βασιλήες: Dies kann, ja muß man doch wohl zusammensehen mit Königsritual und Königsmythologie des Orients. Der König ,saugt an den Brüsten der Göttinnen', wie dies bei Sumerern, Späthethitern, Ugaritern, Ägyptern belegt ist.80' Soll man zusätzlich die mykenische Diwija als weibliche Gottheit ins Spiel bringen? Dann aber stimmt die Formel metrisch nicht. Zudem käme man bestenfalls auf einen Ausdruck, den später niemand mehr so verstehen konnte. Die homerischen Sänger haben ,von Zeus ernährt' doch wohl einfach im Sinne spezieller Begünstigung genommen, ohne orientalische Göttinnen und ohne Diwija. Ein anderes Beispiel: Schon in meiner Dissertation 81 ' habe ich mich gewundert über die Klage des Philoitios in der Odyssee (20,201 f.), als er den Bettler — seinen unerkannten Herrn - erblickt: Ζεΰ πάτερ, ου τις σεΐο θεών όλοώτερος άλλος · ουκ έλεαίρεις άνδρας, έπήν δή γείνεαι αυτός . . . 74)

W. G. Lambert/A. R . Millard, Atra-hasis, The Babylonian Story of the Flood, Oxford 1969; oben Anm. 67. 75 > H. Otten, Eine althethitische Erzählung um die Stadt Zalpa, Wiesbaden 1973. 76 > J. van Dijk, LUGAL U D ME-LAM-bi N I R - G A L . Le recit epique et didactique des Travaux de Ninurta, du Deluge et de la Nouvelle Creation I, Leiden 1983; dazu W. Burkert, Oriental and Greek Mythology: The Meeting of Parallels, in: J. Bremmer, ed., Interpretations in Greek Mythology, London 1987, 10-40. 77> W. R . Mayer, Ein Mythos von der Erschaffung des Menschen und des Königs, Orientalia 56 (1987) 55-68. 78) H. Kyrieleis/W. Röllig, Ein altorientalischer Pferdeschmuck aus dem Heraion von Samos, MDAI (Athen) 103 (1988) 38-75. 79) Puhvel 1983 ist jedoch m.E. in einigen Punkten zu optimistisch. 80 > Gordon 1955 § 42. 81) W. Burkert, Z u m altgriechischen Mitleidsbegriff, Diss. Erlangen 1955, 144-146.

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Wieso kann Philoitios behaupten, daß Zeus ,die Menschen selbst gezeugt hat'? Die Kommentare retten sich ins Unverbindliche. Daß hier zugleich der wohl älteste Beleg für die Antithese γίγνεσθαι - ολλυσθαι vorliegt, ist beiläufig festzustellen. N u n läßt sich zeigen, daß im Akkadischen wie im Hebräischen die S c h ö p fung' der Menschen durch einen Gott und die daraus entstehende Verpflichtung eben des Gottes gegen sein .Geschöpf' durchaus geläufig ist und in der Gebetssprache verwendet wird: ,Was du geschaffen hast, zerstöre nicht!' ruft das Geschöpf; ,warum sollen wir, was wir geschaffen haben, zerstören?' läßt der Dichter die Schöpfer selbst überlegen. 82 ) Der im Griechischen auffallende Vorwurf gegen den Gott, der vernichtet, was er selbst erzeugt hat, dürfte also zu den orientalisierenden Motiven gehören, nur daß der griechische Dichter nicht umhin konnte, an Stelle der Schöpfertätigkeit des Gottes das mythische ,Zeugen' zu setzen. Dies ist ein vorläufiger Bericht über eine Forschungsrichtung, die noch längst nicht an ihr Ende gelangt ist. Festzuhalten bleibt: Sofern es uns überhaupt darum geht, unsere Kultur als eine geschichtliche zu verstehen, ist mit einem isolierten hellenischen ,Ursprung' bei Homer nichts anzufangen. Wie immer man ,Homer' chronologisch zu fixieren versucht, er stand in einem Umfeld, das in immer mehr Einzelheiten kenntlich geworden ist. Der sogenannte Orient mit seinen Hochund Schriftkulturen als das zeitweilig dominierende, maßgebende Strahlungszentrum ist daraus nicht wegzuretouchieren.

Abgekürzt zitierte Literatur83^

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82) W. G. Lambert, Babylonian W i s d o m Literature, O x f o r d 1960, p. 190f. - dort parodierend in der Fabel, doch gewiß Reflex ernster Gebetspraxis; T i a m a t im Enuma elish 1,45; dazu H i o b 10,8 „Deine H ä n d e haben mich sorgsam gebildet und bereitet; danach wandtest du dich, mich zu verderben!"; 10,3 „Bringt's dir Gewinn, w e n n du . . . deiner H ä n d e m ü h s a m Werk verwirfst?"; Psalm 13,8: „Laß nicht v o m W e r k deiner H ä n d e " . 83 ' Für tatkräftige Mithilfe habe ich Virgilio Masciadri zu danken.

Homerstudien und Orient Arrighetti 1966 Aßmann 1904 Aßmann 1912 Astour 1965 Atti 1970

Bamett 1956

Baumgartner 1944

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Friedrich 1954/55 Fries 1902 Fries 1903 Fries 1903

Fries 1904 Fries 1910, 1911 Fries 1926 Fries 1937 Gatti 1949

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Gruppe 1906 Haag 1961 Haag 1962 Haag 1965/66

Hanfmann 1948 Harmatta 1968 Helck 1979 Hennig 1932 Herter 1967/68 Heubeck 1955

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Lesky 1957 Marinatos 1955/56 Marinatos 1968 Marot 1935 Maroth 1975 Mazzarino 1947 Moret 1901 Mühlestein 1971 Mühlestein/ Ricciardelli 1971 Muhly 1970

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FRITZ

GSCHNITZER

Zur homerischen Staats- und Gesellschaftsordnung: Grundcharakter und geschichtliche Stellung Ein umfassender Bericht über den Stand der Forschungen zu den politischen u n d sozialen Institutionen, die uns in den homerischen Epen entgegentreten, w ü r d e den zur V e r f u g u n g stehenden R a u m bei w e i t e m überschreiten. W i r müssen uns auf die Frage nach d e m Grundcharakter der v o m Epos bezeugten Staats- u n d Gesellschaftsordnung konzentrieren, auf die in den letzten J a h r e n sehr verschiedene A n t w o r t e n gegeben w o r d e n sind. E n g mit ihr v e r b u n d e n ist die Frage nach der geschichtlichen Stellung dieser O r d n u n g : W i e nahe d ü r f e n w i r sie an die in den nachhomerischen Quellen greifbaren politischen u n d sozialen Verhältnisse heranrücken, oder steht sie diesen ganz fern, rückt sie eher in die N ä h e der aus den mykenischen Texten u n d F u n d e n erschließbaren Zustände, oder f ü h r t sie uns in eine ganz andere Welt, etwa die der P r i m i t i v v ö l k e r u n d der Ethnologie? W i e i m m e r die A n t w o r t auf diese Frage ausfällt, sie ist zugleich eine Stellungnahme zu der Frage nach der K o n t i n u i t ä t v o m mykenischen über das homerische z u m archaischen u n d klassischen G r i e c h e n t u m . Voraus m u ß ich bekennen, w o ich in der .Homerischen Frage' stehe. Weder die Ilias n o c h die Odyssee sind f ü r m i c h einheitliche S c h ö p f u n g e n , u n d erst recht nicht W e r k e desselben Dichters, vielmehr ist die Odyssee (im ganzen) deutlich j ü n g e r als die Ilias. D e n n o c h spiegeln beide Epen im wesentlichen dieselbe g e schichtliche Welt: die Dichter haben die (fiktiven) Ereignisse einer fernen Sagenzeit, v o n denen sie berichten wollten, mit Farben ausgemalt, die sie den Z u s t ä n d e n ihrer eigenen Zeit u n d U m w e l t e n t n a h m e n . Die ,homerische Welt', das sind also im wesentlichen die allgemeinen Verhältnisse in der Entstehungszeit der Epen, die wir uns über einen längeren Z e i t r a u m ausgedehnt denken müssen (mit d e m 8 . J a h r h u n d e r t in der Mitte); allerdings haben die Dichter b e w u ß t archaisiert, d. h. vor allem manches weggelassen, was sie als , m o d e r n ' , als bezeichnend f ü r die G e g e n w a r t auffaßten. — B e g r ü n d e n k a n n ich diese A n s c h a u u n g e n an dieser Stelle nicht; d o c h w e i ß ich mich wenigstens im zeitlichen Ansatz der ,homerischen Welt' m i t der M e h r h e i t der Mitforscher einig.

Auflösung der bibliogr. Abkürzungen unten S. 204.

Zur homerischen Staats- und Gesellschaftsordnung

183

Ich werde mich im folgenden nur mit den Arbeiten auseinandersetzen, die die homerische Welt ins erste Jahrtausend setzen (in die Dunklen Jahrhunderte oder in die Entstehungszeit der Epen). Wer die uns im Epos vor Augen geführten Zustände fur die der mykenischen Zeit hält, hat zu seinem Thema von vornherein einen ganz anderen Zugang, weil er sich nicht damit begnügen kann, das Epos selbst auszuwerten, sondern die Aussagen der Linear B-Täfelchen — in ihrem reichen archäologischen Kontext — mit heranziehen muß. Die Arbeiten dieser Richtung sind also mit denen der Forscher, fur die H o m e r Verhältnisse des ersten Jahrtausends bezeugt, kaum vergleichbar; wir müssen sie hier beiseite lassen, zumal wir die Prämisse, wie schon gesagt, nicht für richtig halten.

I Sehen wir also von den Befürwortern eines ,mykenischen' H o m e r ab, dann hat die ältere Forschung im allgemeinen die homerische Welt in eine ziemlich enge Verbindung zu den in nachhomerischen Quellen, also etwa seit dem 7. Jahrhundert bezeugten Zuständen und Entwicklungen gebracht. Man ordnete die von den Epen bezeugten Verhältnisse historisch dort ein, w o die Epen selbst literarhistorisch einzuordnen sind, d. h. man sah in ihnen den unmittelbaren Ausgangspunkt der in ihrem späteren Verlauf wohlbekannten Entwicklungen, die am Ende auf die uns vertrauten Institutionen der klassischen Zeit hinführten. Das lange Zeit maßgebende Handbuch, G. Busolts .Griechische Staatskunde' (I, München 1920), mag als bezeichnendes Beispiel dienen. Da lesen wir etwa auf S. 317: „Die älteste Verfassung

d e r g r i e c h i s c h e n Staaten

w a r [ . . . ] ein erbliches Königtumauf

der

nächsten Seite: „Das zu einer staatlichen Gemeinschaft verbundene Volk heißt also wie dessen Gebiet Demos. [...] Der Mittelpunkt des Demos war die Stadt mit der Burg", oder S. 333: „Neben dem Basileus und dem R a t der Geronten erscheint im Staatsleben als dritter Faktor die Gemeindeversammlung" (dazu S.344: „Eine Gemeindeversammlung galt als unzertrennlich von dem Begriffe eines geordneten Staatslebens"), schließlich S.340f.: „Der Basileus war bei der Ausübung seiner Herrschermacht sowohl an die Beobachtung gewisser Formen als an die Mitwirkung des Adelsrates, meist auch der Gemeindeversammlung gebunden, seine Macht war aber die höchste im Staate, keine andere Person und kein anderes Organ war ihm übergeordnet." Was den homerischen Staat von dem der nächstfolgenden Zeit trennt, ist S.346 knapp formuliert: „Auf den Übergang der Staatsgewalt v o m souveränen Königtum an die Oligarchie des Blutsadels bereitet schon die Odyssee vor." Natürlich setzten die einzelnen Forscher jeweils verschiedene Akzente. G. Glotz etwa betonte vor allem die Bedeutung der sog. gentilizi-

Die Hervorhebungen stammen hier und im folgenden von mir.

184

Fritz Gschnitzer

sehen Einheiten, der Phylen, Phratrien und Gene, als Komponenten des Gemeinwesens, älter als dieses und in homerischer Zeit noch sehr selbständig; aber auch er zweifelte nicht daran, daß „la cite homerique" ihre festen, schon ziemlich weit entwickelten Institutionen hatte, und versuchte z.B. darzulegen, daß die Zahlen der Schiffe und Schiffsmannschaften in Ilias und Odyssee regelmäßig mit den Zahlen der gentilizischen Komponenten des Staats im Zusammenhang standen, die Flotte also zu gleichen Teilen von den Untereinheiten der Bürgerschaft gestellt wurde 2 '; auch flir ihn ist der weiterführende, schon in den jüngeren Teilen des Epos angebahnte Wandel der Verfall des Königtums und der Übergang seiner Funktionen und Kompetenzen auf die Adligen im Rat. 3 ' - Ähnlich urteilen, wie wir später noch sehen werden, nicht wenige Forscher noch heute; ich schließe mich selbst nicht aus, ja ich habe im Laufe der Zeit immer mehr den Eindruck gewonnen, daß die homerischen Zustände den späteren in mancher Hinsicht noch näher standen, als man gemeinhin annimmt. 4 '

II Als repräsentativ für die neuere historische Homerforschung muß aber eine andere Richtung gelten. Ihre Vertreter machen es sich zum Grundsatz, die Epen zunächst einmal unabhängig von allen anderen Quellen, unabhängig auch von unserem Wissen über die Zustände und Entwicklungen der Folgezeit zu interpretieren und so die Eigenart, ja die Fremdartigkeit der homerischen Welt besser zu erfassen. Auch diese Forscher wissen natürlich, daß eine ihrer Natur nach so einseitige und in mancher Hinsicht auch unergiebige Uberlieferung wie die homerische nur mit Hilfe des Vergleiches mit verwandten oder ähnlichen, aber besser bekannten Verhältnissen zu vollem historischem Leben erweckt werden kann; aber sie holen sich das Vergleichsmaterial lieber aus primitiven Gesellschaften, etwa aus dem 2

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Island der Sagazeit und — vor allem — aus dem reichen Erfahrungsschatz der völkerkundlichen (kulturanthropologischen) Forschung. Diese Arbeitsweise führt nun leicht auch inhaltlich zu einer ganz neuen Sicht der homerischen Welt (oder setzt sie schon voraus). Charakteristisch ist die Neigung, staatliche Institutionen weitgehend zu leugnen, statt des .Staates' überall nur .Gesellschaft' zu sehen oder doch mit einem deutlichen Übergewicht gesellschaftlicher Ordnungsprinzipien gegenüber den politischen Bindungen zu rechnen. Statt fester Institutionen und N o r m e n sieht diese R i c h t u n g überall faktische, formlose, fließende Verhältnisse und Gewohnheiten. Sie macht dabei natürlich auch vor der Sphäre des Rechts nicht halt; vielmehr neigt sie dazu, auch die Existenz einer Rechtsordnung zu leugnen oder diese doch ganz an den R a n d zu drängen und die Sitte über das Recht in derselben Weise dominieren zu lassen wie die Gesellschaft über den Staat. (Der Schwerpunkt dieser Forschungsrichtung liegt allerdings nicht auf diesem Gebiet; eine eigentliche Auseinandersetzung mit der rechtshistorischen Forschung ist m. W. noch nicht erfolgt.) Diese moderne R i c h t u n g hat uns manches sehen gelehrt, was der auf die Wurzeln und Anfänge der klassischen griechischen Institutionen gerichtete Blick nicht sehen konnte; aber ich fürchte, daß sie uns, aufs Ganze gesehen, eher auf den falschen Weg fuhren wird, weil sie dem Grundcharakter der homerischen O r d n u n g e n nicht gerecht wird. Ehe ich aber meine eigenen A r g u m e n t e vorbringe, m u ß ich dem Leser zunächst den Standpunkt der Gegner möglichst unmittelbar vor Augen führen; das ist in der gebotenen Kürze am besten vielleicht in der Form möglich, daß ich grundsätzliche Äußerungen aus repräsentativen, manchmal auch aus extremen Arbeiten dieser R i c h t u n g zusammenstelle. Auch diese ,moderne' R i c h t u n g hat weit zurückliegende Wurzeln. Ich habe die ältere Forschung nicht systematisch durchsehen können, aber wenigstens einen festen Punkt gefunden: L. Brehiers zweiteiligen Aufsatz über ,La royaute homerique et les origines de l'etat en Grece'. 5 ' Brehier beobachtet von der Ilias (die für ihn vor allem die Zustände des 1 O.Jahrhunderts spiegelt) zur Odyssee (des 8.Jahrhunderts) eine tiefgreifende Entwicklung: Die Gemeinwesen der älteren Zeit, v o m patriarchalischen K ö n i g t u m geleitet, waren eher lose Verbände von Dörfern und Geschlechtern; die Königsfamilie erhob sich über die anderen Familien durch ihren Reichtum, durch die Zahl ihrer Angehörigen, Klienten und Sklaven, auch durch ihre Heiligkeit und das Prestige ihrer ererbten Kulte; in ihrem jeweils eigenen Kreis aber waren alle Familienväter ebenso mächtig wie der König. 6 ' „Die öffentliche Rechtspflege, oder vielmehr der Staat, existierte noch nicht." 7 ' In der Zeit der Odyssee aber bestand zwar das K ö n i g t u m mit

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> Brehier 1904 (1), 1 ff.; ders., 1904 (2), 1 ff. > Brehier 1904 (1), 31 f. 7 > Brehier 1904 (1), 32. 6

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denselben Kompetenzen und Ehren fort, doch kam neben ihm der Geburtsadel auf, dessen Teilnahme an der Leitung des Gemeinwesens komplexere, wohlorganisierte Formen der Regierung nötig machte. 8 ' „Eine neue politische Form trat ins Leben; das Erbe der einstigen Konföderation, des Synoikismos, trat der Staat, die Politeia, an, die im klassischen Griechenland die Grundlage des menschlichen Zusammenlebens bleiben sollte". 9 ' W i r werden gleich sehen, daß diese Anschauungen den von der Forschung unserer Tage entwickelten sehr nahe stehen. 10 ' Ehe wir auf diese jüngste Entwicklung zu sprechen k o m m e n , haben wir kurz auf einige Vorboten der neuen R i c h t u n g seit dem Zweiten Weltkrieg einzugehen. A. Heuß betont in einem Aufsatz von 1946 11 ' die Schwäche des homerischen Königtums, die Stärke des Adels: „Im Grunde gab es keine Autorität über ihm", er „besaß die persönliche Verfugung über die wesentlichen obrigkeitlichen Funktionen" (S.61). „ A u f diese Weise war das Staatsgefüge natürlich sehr locker: außerhalb der als persönliches Eigentum erscheinenden obrigkeitlichen Gewalt gab es eigentlich k a u m einen ,Staat'. Er reichte so weit wie die jeweilige Adelsgesellschaft. Für sie gab es nach außen keine scharfen Genzen" (S.62). „Staat und Politik jener Zeit sind nahezu ein reines Derivat der gesellschaftlichen Stellung des Adels" (S.63). — 1953 bemerkt H. Strasburger12\ das Epos spreche von Polis und D e m o s wie die folgenden Jahrhunderte. „Aber wir dürfen uns n u r an das Wesen der Sache halten, nicht an die Worte, denen noch das Wichtigste des Gehaltes fehlt, welchen wir retrospektiv unwillkürlich mit ihnen verbinden: das spezifisch Politische. Weder hat die Gemeinde irgendwelche Macht, noch besitzt sie einen Verwaltungsapparat. [...] D e r König aber, das ist der größte Grundherr, und die Geronten sind die Oberhäupter der reichsten Grundbesitzerfamilien. [...] Die keimende Idee der Polis im eigentlichen Sinne, der Staatsgemeinschaft, liegt in der homerischen Zeit gegenüber dem rücksichtslosen Eigensinn, der sich nur für die Belange der Sippe einsetzt, noch in schwerem Behauptungskampf." 1 3 ' Das waren eher vereinzelte Äußerungen mit geringer N a c h w i r k u n g . 1954 aber trat M.I. Finley mit seinem Buch ,The World of Odysseus' hervor. 1 4 ' — Schon

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> Brehier 1904 (2), I f f . > Brehier 1904 (2), 7. 10 > Vgl. auch M . P . Nilsson, Das homerische Königtum. SitzBer. Berlin 1927, 7, S.23ff. ( = Opuscula selecta II, Lund 1952, 871 ff.); ders., Das frühe Griechenland, von innen gesehen. Historia 3, 1954/55, 257ff. ( = Opusc. III, 1960, 509f£); C.-W. Westrup, Le roi de l'Odyssee et Le peuple chez Homere, Paris 1929. n > H e u ß 1946, 26 ff. = Gschnitzer 1969, 36 ff. 12) Der soziologische Aspekt der homerischen Epen. Gymnasium 60, 1953, (97 ff.) 99 f. = Studien zur Alten Geschichte I, Hildesheim 1982, (491 ff.) 495 f. Vgl noch H. Strasburger, Der Einzelne und die Gemeinschaft im Denken der Griechen. Histor. Zs. [HZ] 177, 1954, (227ff.) 233 = Studien zur Alten Geschichte I (423ff.) 430; ders., Z u m antiken Gesellschaftsideal, SitzBer. Heidelberg 1976, 4, S. 19 ff. 14) Ich zitiere nach der deutschen Übersetzung der 2. Aufl., München 1979. 9

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die Disposition und die Verteilung der Gewichte sind für seine Sicht der homerischen Welt bezeichnend: das Kapitel über die wirtschaftlichen Verhältnisse (,Besitz und Arbeit') umfaßt 25 Seiten, der Abschnitt .Hauswesen, Familie, Gemeinschaft' (der vor allem die Gesellschaftsordnung, nebenbei auch den Staat behandelt) 37 Seiten, das K a p i t e l , S i t t e n und Werte' (gemeint sind R e c h t und Moral) wieder 37 Seiten. U n d nun einige Zitate: „Das Nebeneinander von drei abgegrenzten, aber sich überschneidenden Gruppen wie Klasse, Verwandtschaft und Oikos war das, was eines Mannes Leben materiell wie psychisch bestimmte. [ . . . ] Z u m vollständigen Bild gehört aber noch eine vierte Gruppe"; gemeint ist die Volksversammlung, in der „öffentliche Angelegenheiten" behandelt werden, und ihre Voraussetzung, ein territorial abgegrenztes Gemeinwesen (S.79f.). Immerhin; aber die Einschränkung folgt ( S . 8 4 ) : „Alle politischen Einrichtungen dieses Zeitalters w a ren in h o h e m M a ß e formlos, fließend und beweglich. Es bestanden zwar Regeln für Verantwortung und M a c h t , aber oft überschnitten sie sich auch, und dann entstanden Mißhelligkeiten." (Ist das wirklich eine Besonderheit primitiver Strukturen?) Zustände wie die auf Ithaka während der langen Abwesenheit des O d y s seus waren ermöglicht „durch die Art, wie das Gemeinwesen, die territoriale Einheit unter einem K ö n i g , sich über das System von Hauswesen und Verwandtschaft gelegt hatte, j e d o c h nur zum Teil und nur in einzelnen P u n k t e n " . 1 5 ' Grundlegend und dominierend ist also das gesellschaftliche System im Gegensatz zum politischen Ü b e r b a u . — Finlcy hebt weiter hervor, in welchem Grade nur ein starker König regieren konnte, so daß ein schwacher König — gar kein K ö n i g war (S.86). Finleys B u c h sollte schließlich eine Wende in der historischen Homerforschung heraufführen; aber zunächst blieb seine W i r k u n g - wenigstens in dem Punkt, der uns hier beschäftigt — viele J a h r e lang eher vereinzelt und, wenn ich recht sehe, auf den angelsächsischen Bereich beschränkt. In die von ihm gewiesene R i c h t u n g gingen etwa W. H. Adkins und C . G . Thomas, indem sie betonten, daß in der homerischen Welt alles von der persönlichen B e w ä h r u n g namentlich im Krieg und von dem R e i c h t u m abhing, der nur durch sie gewonnen und behauptet werden konnte. 1 6 ' D i e geschlossene R e i h e von Arbeiten, die von der Tendenz beherrscht sind, alle staatlichen Einrichtungen, überhaupt alle fest umrissenen Institutionen und N o r m e n bei H o m e r sei es zu leugnen, sei es auf einen sehr bescheidenen Platz zurückzudrängen, beginnt erst in den späten 70er Jahren.

Ich muß von der gedruckten Übersetzung hier in mehreren Punkten abweichen. > A. W. H. Adkins, ,Honour' and .Punishment' in the Homeric Poems. Inst, o f Class. Stud., Bull. Nr. 7, 1960, 23 (ff.); ders., Moral Values and Political Behaviour in Ancient Greece, London 1972, lOff.; C . G . Thomas, The Roots o f Homeric Kingship. Historia 15, 1966, 387ff.; ders., Homer and the Polis. La parola del passato 21, 1966, 5 ff. 15) 16

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1976 veröffentlichte J.-С. Riedinger eine — im ganzen sehr gute — Untersuchung zur homerischen Ethik 17 ', in der in unserem Z u s a m m e n h a n g nur die Sätze auffallen, in denen die Vorstellung z u m Ausdruck k o m m t , in der homerischen Welt hätten ethische Grundsätze, wie die u m den Begriff der τιμή, noch weitgehend den Platz eingenommen, den später die Rechtsordnung einnehmen sollte. Die homerische τιμή sei kein Rechtsbegriff, „ihre Eigenart liegt für uns in erster Linie in ihrem nicht-rechtlichen oder vor-rechtlichen Charakter" (S.262). Die τιμή, stellt der Verf. abschließend fest, „bewirkt den Zusammenhalt dieser Gesellschaft"; es wäre interessant, ihre Geschichte weiter zu verfolgen, „insbesondere ins Auge zu fassen, welcher Platz ihr z u k o m m e n sollte, sobald einmal zwischen den Personen Rechtsbeziehungen begründet sein w ü r d e n " . (Die O r d n u n g der homerischen Welt erscheint hier also als eine vorrechtliche Ordnung. 1 8 ') P. Spahns Kölner Dissertation .Mittelschicht und Polisbildung' (Frankfurt 1977) steht in dem H o m e r gewidmeten Teil ganz unter dem Einfluß Finleys. So lesen wir etwa S.36: „Im Unterschied zu den Institutionen der klassischen Polis waren also diejenigen der homerischen Stadt in ihrer Zusammensetzung, Verfahrensweise und in ihrem Aufgabenbereich sachlich und rechtlich noch nicht festgelegt. Das meiste wird durch die in der Person und in der Tradition begründete Autorität geregelt"; auf S. 37 wird der homerischen Polis der „Anstaltscharakter" abgesprochen. Seit 1981 erscheinen in dichter Folge tiefdringende Arbeiten von W. Donlan zum Grundcharakter der homerischen Wirtschaft, Gesellschaft und Politik. 19 ' Ich kann hier nur einige allgemeine Formulierungen herausgreifen, die den Standpunkt des Verf. kennzeichnen: „Wirtschaftliche Beziehungen sind ein grundlegender Faktor in der Struktur aller Gesellschaften; in einfachen (d. h. vorstaatlichen) Gesellschaften ist ihre bestimmende Rolle bei der Bildung, der Funktion und den Wechselwirkungen anderer Institutionen entsprechend größer." 2 0 ' „Wichtige gesellschaftliche Vorgänge finden ihren Ausdruck in den sozial-symbolischen Akten des wirtschaftlichen Güteraustauschs, von dem sie unfehlbar begleitet sind. [...] Verteilung von Schätzen ist auch eine der Voraussetzungen politischer Aktivität." 2 1 ' „Die politische Organisation des D e m o s der Dunklen Jahrhunderte war eine unstabile A n s a m m l u n g expandierender und schrumpfender Verbände von Geschlechtern und Schutzbefohlenen. An der Spitze, in einer Position unsi17

' Remarques sur la τιμή chez Homere. Revue des etudes grecques 89, 1976, 244 ff. ' Vgl. L. Gernet, Droit et predroit en Grece ancienne. In: Anthropologie de la Grece antique, Paris 1968, 175 ff. 19 ' Scale, Value, and Function in the Homeric Economy. American Journal of Ancient History [AJAH] 6, 1981, 101 ff.; ders., Reciprocities in Homer. The Classical World [CW] 75, 1981/82, 137ff.; Donlan 1985, 293ff.; Donlan 1989, 5ff.; ders., The Unequal Exchange between Glaucus and Diomedes in Light of the Homeric Gift-Economy. Phoenix 43, 1989, Iff.; ders., Homeric τέμενος and the Land Economy of the Dark Age. Museum Helveticum 46, 1989, 129ff. 20 > C W 75, 139. 21 > AJAH 6, 107 f. 18

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chcrer Vorherrschaft über die anderen Geschlechtshäupter, stand der Basileus schlechthin. Er war kein Monarch; als Primus inter pares hatte er das Amt eines Leiters des Gemeinwesens inne; seine politische Überlegenheit verdankte er der allgemeinen Anerkennung seiner persönlichen Führungskompetenz. Das hieß praktisch, daß er ein tüchtiger Krieger und gewandter Politiker war, mit einem reichen Oikos und der größten persönlichen Anhängerschaft." 22 ' In der Spätzeit des Epos erfolgte dann ein grundlegender Wandel: „ U m die Mitte oder gegen Ende des 8.Jahrhunderts hatte die brüchige Hierarchie abgestufter Geschlechtshäupter einem System kollegialer Regierung durch einen landbesitzenden Adel Platz gemacht." 23 ' — In seinen jüngsten Arbeiten rückt Donlan die homerische Ordnung näher an die klassische heran: „Der Stadtstaat war in den Fürstentümern des 9. Jahrhunderts im Keim schon angelegt; vor allem hatte sich der Begriff einer κοινωνία als einer umfassenden Einheit mit festen Grenzen, einem Hauptort und einer ,nationalen' Identität damals schon ausgebildet." 24 ' „Das Grundgerüst (framework) des klassischen griechischen Gemeinwesens war spätestens um die Mitte des 8.Jahrhunderts fest etabliert." 25 ' Aber „dieses gesellschaftliche System ist noch nicht der echte Staat. Die wesentlichen politischen Einrichtungen, Volksversammlung, Rat und Gericht, haben zwar ihren festen Platz eingenommen, aber sie sind noch formlos und unentwickelt. Es gibt keine Magistrate und Kollegien, also keine unpersönlichen Ämter, die permanent und unabhängig von ihren Inhabern existieren. Es gibt nur vage Andeutungen der förmlichen administrativen und militärischen Gliederungen, die für die innere Organisation des späteren Stadtstaates sorgten". 26 ' Auch aus der Feder anderer Gelehrter sind seit Beginn der 80er Jahre in schneller Folge Arbeiten erschienen, in denen der primitive, vorstaatliche Charakter der homerischen Ordnungen betont wird. Für B. Qviller 198127' ist ein homerischer Basileus „ein Führer, der im Begriff ist, sich aus einem big-man zu einem Häuptling zu entwickeln" (S. 109). Königliche Macht war „persönliche Macht, nicht im Amt begründet" (S. 116). Das wird u.a. mit dem Hinweis begründet (S. 118f.), daß die sog. Könige des Epos noch keineswegs auf ihre politischen Funktionen spezialisiert sind, daß sie sich von der Arbeit auf ihren Gutshöfen noch nicht ganz losgerissen haben. (Aber ist ein ehrenamtlicher Dorfbürgermeister, weil er seinen Lebensunterhalt als Bauer oder Gastwirt verdient, deshalb etwa nicht der Inhaber eines fest umrissenen Amtes?) Nach Qviller (S. 119) müssen die homerischen Könige, wie big-теп, ihre Anhänger erst überzeugen, sie können nicht einfach befehlen. (Wie steht es mit einem Konsul der römischen Republik oder einem 22

> Donlan 1985, 304f. > Donlan 1985, 305. 24 > Donlan 1989, 5. 25 > Donlan 1989, 16. 26 > Donlan 1989, 17. 27 > The Dynamics of the Homeric Society. Symb. Osl. 56, 1981, 109 ff. 23

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Ministerpräsidenten an der Spitze einer Koalitionsregierung?) Die Macht eines ,Königs' bestimme sich nach der Leistungsfähigkeit seines Oikos (zu dem immerhin das Temenos, also Amtsgut, hinzukommt!), nach seiner Fähigkeit, Gefolgsleute an sich zu ziehen und zu ernähren, und seinem Geschick in der Pflege auswärtiger Beziehungen durch den Austausch von Geschenken (S.124).28) W. G. Runciman studiert in einem Aufsatz von 198229) die Voraussetzungen und die Anfänge der Staatlichkeit im frühen Griechenland. Den Ubergang von der Stufe der ,Semistaaten' zu der der ,Protostaaten' setzt er in die Zeit nach ca. 700 v.Chr.; die bei Homer, aber auch noch bei Hesiod greifbaren Zustände liegen dem voraus (S.364); im homerischen Ithaka etwa muß die Königsgewalt von ihrem Träger jeweils neu aufgebaut werden, er kann sie nicht einfach übernehmen (S.355). Die homerischen Gemeinwesen kennen zwar die Unterscheidung von öffentlich' und ,privat'; aber die Angehörigen des homerischen Demos sind nicht eigentlich Bürger: ihre Rolle in der Volksversammlung ist im wesentlichen die von Zuhörern. Sie sind aber auch nicht eigentlich Untertanen: sie unterliegen „weder der Aushebung noch der Besteuerung" (S.358f.). Die letzte Behauptung dürfte ebensowenig haltbar sein wie die Formulierung (S. 360), die internationalen Beziehungen würden bei Homer durch die Pflege der Gastfreundschaft unterhalten. (Ilias 3, 245 ff. kommt es doch zum Abschluß eines förmlichen Staatsvertrages in den uns aus dem Alten Orient wie aus der späteren griechisch-römischen Welt geläufigen Formen.) Für R. Drews 198330' ist das vom Epos gebotene Bild des Königtums unhistorisch, ein Gemisch von Erinnerungen an die Verhältnisse längstvergangener Zeiten in verschiedenen Regionen der griechischen Welt. 31 ' Aus der Bedeutungsgeschichte von βασιλεύς aber müsse man schließen, daß während der ganzen geometrischen Zeit in jedem einzelnen Gemeinwesen eine Mehrzahl vornehmer Führer, βασιλήες, in formloser Weise regiert habe; erst in der archaischen Zeit sei dann ein einstelliges (seltener mehrstelliges) Oberamt geschaffen worden, erst damals (zunächst in den jüngeren Teilen des Epos) sei βασιλεύς zur Bezeichnung eines einstelligen Amtes, später zu der einer monarchischen Stellung geworden (S.lOOff., bes. 108ff.). A. G. Geddes 198432' will nachweisen, „daß das einfache Volk in der h o m e r i schen' Gesellschaft kaum zu existieren scheint und daß der König, der sehr wohl existiert, anscheinend keine Funktion hat" (S. 19). Für die erste Feststellung bietet

28) Am Rande erwähnt sei M. Dreher, Sophistik und Polisentwicklung, Frankfurt-Bern 1983, 37 ff. 29 ' Origins of States: The Case of Ancient Greece. Comparative Studies in Society and History 24, 1982, 351 ff. 30 ' Basileus. The Evidence for Kingship in Geometric Greece, New Haven 1983. 31 ' Siehe besonders S.98f. 32) Who's who in ,Homeric' Society? Classical Quarterly 34, 1984, 17ff.

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er (S.27) zwei Erklärungen an, zwischen denen er sich nicht zu entscheiden vermag: Entweder ist die homerische Gesellschaft unhistorisch, „eine epische Konvention, die uns über keine Gesellschaft des wirklichen Lebens etwas sagen kann"; oder sie war homogen, sie machte keinen Unterschied zwischen Adligen und Bauern. Z u m zweiten Punkt wiederholt Geddes die uns seit Finley geläufigen Urteile über die Schwäche und Formlosigkeit, die mangelnde Institutionalisierung, den rein persönlichen Charakter des homerischen Königtums und stellt abschließend fest (S.36): „Der Begriff des Königtums ist anscheinend inhaltsleer. Homerische Könige sind wie der König und der Prinz im Märchen vom Aschenputtel — sie verraten nichts über irgendeine Gesellschaftsordnung in der wirklichen Welt." Der Verf. verzichtet ausdrücklich auf eine historische Erklärung dieses Sachverhalts und begnügt sich mit der Feststellung, man müsse das homerische Königtum wohl als eine literarische Fiktion ohne historischen Aussagewert ansehen. Extreme Anschauungen über das Königtum in der Odyssee finden sich in zwei Aufsätzen von J. Halverson aus den Jahren 1985—86.33' „Die organisatorische — und zugleich psychische — Grundlage der Gesellschaft ist der Oikos, der traditionelle Familienhaushalt" (1985, S. 129). „There was no state in Ithaka, only estates" (S. 130). Die βασιλήες des Epos sind „keiner staatlichen Autorität unterworfen und auch nicht Teil von ihr"; ja „es mag sein, daß die Stellung eines Basileus noch nicht einmal eine öffentliche Angelegenheit ist" (S. 134). Abgesehen von der Führung im Krieg hatte der König kaum etwas zu tun, seine - weitgehend formlose — Herrschaft ruhte ganz auf den persönlichen Fähigkeiten und privaten Hilfsmitteln des Königs. „Basileus zu sein schließt offenbar keinerlei verfassungsmäßigen Rechte oder Pflichten ein, keine Hofhaltung, keine Beamten, keine gesetzlichen Machtbefugnisse. Es ist nur ein Titel, eine Frage des Prestiges. Ein Basileus ist immer eine bestimmte Person, nicht ein Amt; er ist der führende Mann in einem bestimmten räumlichen Bereich." Es gibt auf Ithaka weder Staat noch Regierung (S.136). (Etwas anders liegen die Dinge, auch nach Halverson [S. 138], auf der Insel der Phaiaken.) Ithaka und die benachbarten Inseln sind von einem Bauernvolk bewohnt, aus dem einzelne Familien durch ihren Reichtum hervorragen (1986, S. 127); die Gesellschaftsordnung ist durch, „unabhängige Familiengüter" gekennzeichnet, „die weder rechtlich noch faktisch irgendeiner höheren Autorität unterworfen sind" (1985, S. 143). In zwei Arbeiten von 1986 und 1989 hat A. Giovannini das nunmehr schon konventionelle Bild vom homerischen Königtum nachgezeichnet. 34 ' Der König 33>

Social O r d e r in the Odyssey. Hermes 113, 1985, 129ff.; ders., T h e Succession Issue in the Odyssey. Greece and R o m e 33, 1986, 119 ff. 34 ) Entstehung und Wesen der griechischen Polis. In: Forschungen zur Stadtgeschichte. Drei Vortrage, Opladen 1986, 11 ff; ders., H o m e r und seine Welt. In: Vom frühen Griechentum bis zur römischen Kaiserzeit. Gedenk- und Jubiläumsvorträge am Heidelberger Seminar für Alte Geschichte, Stuttgart 1989, 25 ff.

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ist nur ein Primus inter pares, er hat nur eine „sehr relative Vorrangstellung [...], die er seinem Reichtum, seinen Leuten u n d seiner physischen Kraft verdankt. Aber im übrigen sind die wahren Könige die Adligen, d. h. die Grundbesitzer, von denen jeder über das eigene Haus ganz souverän herrscht. A m Anfang war also nicht die absolute Monarchie, sondern die absolute Adelsherrschaft" (1986, S. 15f.). Die homerische Welt ist „eine weitgehend recht- u n d staatenlose Gesellschaft in dem Sinn, daß die Adligen über das eigene Haus eine unbeschränkte Macht ausüben und ihre Beziehungen untereinander nach ihrem Belieben regeln" (S. 16). Auf der anderen Seite aber „findet man schon in den homerischen Gedichten auch die Anfänge der Entwicklung, die später zur richtigen Polis führen w i r d " (S. 17, mit nachdrücklichen Hinweisen auf die Bedeutung der öffentlichen Meinung und das Selbstbewußtsein der Gemeinschaft). Auch G. Herman unterstreicht in seinem 1987 erschienenen Buch über die griechische Gastfreundschaft 35 ) das Fehlen aller staatlichen O r d n u n g in der h o m e rischen Welt. In dieser Welt „gab es weder einen Oberherrn, der Vasallentreue beanspruchte, noch eine Gemeinschaft, die auf der sozialen Verantwortlichkeit bestanden hätte. D e r Held, die Spitze einer kleinen Gesellschaftspyramide, war ohne seinen Willen niemandem verpflichtet" (S.2). Für Elke Stein-Hölkeskamp 1989 36 ' ist wieder einmal der Oikos „die entscheidende soziale Einheit" (S.25); sie betont aber auch die große Bedeutung der Gefolgschaftsverhältnisse (S.27f.). Die Verfasserin rechnet mit Poleis schon in der homerischen Zeit, deren Institutionen aber „sich erst allmählich entwickelten" (S.33f.). Ilias und Odyssee kannten „keine entpersonalisierte königliche .Amtsgewalt' [...], die ihrem jeweiligen Inhaber und seiner Familie jenseits aller individuellen Qualitäten eine stabile und dauerhafte Vorrangstellung gesichert hätte. [...] Der König herrschte entweder durch seine ganz persönliche Macht — oder er herrschte eben überhaupt nicht" (S.42). Ich schließe diesen Überblick über die derzeit m o d e r n e R i c h t u n g der verfassungs- und gesellschaftsgeschichtlichen H o m e r f o r s c h u n g mit dem Hinweis auf die Innsbrucker Habilitationsschrift von Chr. Ulf, ,Die homerische Gesellschaft. Materialien zur analytischen Beschreibung und historischen Lokalisierung', die 1990 in München erscheinen wird. 3 7 ' Der Verf. weist die homerische Gesellschaft einer krisenhaften Übergangsphase zwischen zwei Entwicklungsstufen zu: einer älteren , Stammesgesellschaft' (auch ,segmentäre' oder ,akephale' Gesellschaft genannt), egalitär, ohne feste Institutionen, und einer jüngeren, stärker differenzierten, institutionalisierten und zentralisierten politisch-sozialen O r d n u n g . U l f glaubt

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' Ritualised Friendship and the Greek City, Cambridge 1987. Adelskultur und Polis-Gesellschaft. Studien zum griechischen Adel in archaischer und klassischer Zeit, Stuttgart 1989; zu Homer S.15ff. 37) Inzwischen erschienen (Vestigia 43). 36)

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beide Entwicklungsstufen im Epos zu greifen; mir scheint seine jüngere Phase' die tatsächlich bei Homer bezeugte Ordnung zu sein, die ältere eine moderne Konstruktion auf trügerischen Grundlagen. Es ist im wesentlichen dieselbe Konstruktion, die wir in so vielen neueren Arbeiten gefunden haben, und es sind auch immer wieder dieselben Trugschlüsse gewesen, die zu dieser Konstruktion gefuhrt haben. Ich will versuchen, sie offenzulegen. 1. Das homerische Epos ist Heldendichtung und als solche weit davon entfernt, die Welt, in der es seine Geschichten spielen läßt, d. h. die Umwelt der Dichter auch nur einigermaßen getreu abzubilden. Vielmehr stellt die Dichtung ihrer Natur nach gegenüber den sachlichen, auch den institutionellen, Gegebenheiten, so wichtig diese sein mögen, die persönlichen Momente weit in den Vordergrund, wobei sie dann wieder den fuhrenden Persönlichkeiten, den ,Helden' (ihren ,Helden' auch im literarischen Sinn des Wortes) all die Aufmerksamkeit zuteil werden läßt, die sie den .kleinen Leuten' entzieht. 38 ' Zudem bevorzugt die Dichtung als solche den dramatischen Konflikt vor dem alltäglichen, langweiligen Normalfall; sie wird uns also, soweit sie uns Institutionen überhaupt vorführt, diese in der Regel nicht alsfunktionierende Institutionen vor Augen fuhren, sondern viel eher in ihrem Versagen; wir erleben dann bürgerkriegsähnliche, anarchische Zustände, die wir deswegen noch lange nicht als den Normalfall in jener Zeit ansehen dürfen. Es ist also gewiß kein Zufall, daß die Ilias den Konflikt zwischen Agamemnon und Achilleus und seine bösen Folgen, die Odyssee die vieljährige Abwesenheit des Odysseus und den daraus folgenden Freiermord zum Gegenstand hat; aber es ist merkwürdig genug, daß sich kritische Gelehrte bei der Analyse der homerischen Staats- und Gesellschaftsordnung gerade von diesen Erzählmotiven haben leiten lassen. 2. Die Gelehrten der modernen Richtung — besonders deutlich ist das bei Halverson und Ulf — begnügen sich nicht damit, einzelne Stellen und Episoden des Epos verfassungs- und gesellschaftsgeschichtlich zu interpretieren; sie interpretieren in diesem Sinn auch ganze lange Ketten von Ereignissen, ja sie kombinieren Angaben weit auseinanderliegender und auch inhaltlich miteinander nicht näher verbundener Stellen. Für Ulf z.B. hat ein Mann wie Odysseus notwendig immer dieselbe Stellung im politisch-sozialen Gefuge des Achäerheeres, eine Stellung, deren Natur sich eben aus der Addition aller einzelnen Angaben ergibt. Er setzt damit beim Dichter eine Folgerichtigkeit voraus, die ihm fremd ist, sollte also schon als Unitarier so nicht verfahren; ich als Analytiker kann ihm auf diesen Wegen keineswegs folgen. Diese Art der Beweisführung läuft ständig Gefahr, voneinander völlig unabhängige dichterische Einfälle — auch Augenblickserfin-

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> Vgl. etwa J. Latacz, Kampfparänese, Kampfdarstellung und Kampfwirklichkeit in der Ilias, bei Kallinos und Tyrtaios, München 1977, 134 ff. 166 ff.

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düngen — in einen von keinem Dichter jemals intendierten sachlichen Zusammenhang zu bringen, und sie trägt dadurch nicht wenig dazu bei, vor unseren Augen das Bild von einer Welt entstehen zu lassen, in der gewissermaßen alles möglich, alles offen, nichts durch feste Institutionen eingeengt oder festgelegt ist. 3. Bei der Beurteilung politischer Verhältnisse ist man zu allen Zeiten versucht zu sagen: Es kommt doch in Wahrheit nicht auf die Institutionen und Normen an, sondern auf die Personen und die realen Machtverhältnisse. Wer so argumentiert, hat immer den Anschein für sich, er bleibe nicht an der Oberfläche hängen, er gehe den Dingen auf den Grund. In Wahrheit bleibt er landläufigen, aber oberflächlichen Vorstellungen verhaftet und verkennt die entscheidende Bedeutung, die neben den rasch wechselnden Gegebenheiten des Augenblicks den historisch geprägten Institutionen und den ebenso historisch geprägten Verhaltensund Rechtsnormen für den Gang der Dinge zukommt, im ruhigen Trott des Alltags (der auch in der Geschichte überwiegt) vielleicht noch mehr als in Zeiten stürmischer Bewegung. In historisch hellen Zeiten ist der landläufige Fehler leicht zu korrigieren, weil ja beides, das tägliche Spiel der Politik und das zugrundeliegende System von Institutionen und Normen, reichlich belegt ist. Wenn wir aber bei der Lektüre des Epos - scheinbar - ganz aus der Nähe zusehen können, wie die Menschen leben, denken und handeln, während sich die Institutionen aus Gründen, die in der Eigenart der Dichtung liegen, weitgehend unserem Blick entziehen, dann ist in der Tat die Versuchung groß, bei der Rekonstruktion jener fernen Welt Institutionen weitgehend zu leugnen oder zu bagatellisieren und alles von den Personen, ihren wirtschaftlichen Verhältnissen und individuellen Eigenschaften bestimmt zu sehen — zumal wenn man damit Einblick in eine Welt zu nehmen glaubt, die Staat und Recht noch nicht kannte und damit einem verbreiteten entwicklungsgeschichtlichen Schema entspricht. 4. Wer konkrete Institutionen nachweisen will, pflegt auf den Nachweis der einschlägigen Fachausdrücke Wert zu legen; wer eine bestimmte Institution leugnen möchte, wird nachzuweisen versuchen, daß der angebliche Fachausdruck keiner ist, sondern eine viel weitere Bedeutung hat. Dieses Verfahren ist bei den Vertretern der von mir bekämpften Anschauung sehr beliebt; aber wer so verfährt, rechnet zu wenig mit der Möglichkeit, daß bestimmte Ausdrücke neben der allgemeinen auch eine spezielle, technische Bedeutung (oder mehrere technische Bedeutungen) haben (z.B. γέρων ,Greis', γέροντες ,die Mitglieder des Rates'). Es ist schließlich ganz normal, daß Institutionen, wenn sie nicht sehr alt oder etwa fremder Herkunft sind, Namen tragen, die zugleich in der Gemeinsprache in viel breiterer Anwendung üblich sind.39) 39)

Man denke nur an die beiden Bedeutungen des Wortes άρχων in Athen und vielfach auch sonst in Griechenland. Wie wäre es, wenn jemand den Nachweis fuhren wollte, daß es ein festumrissenes Kollegium von 9 Archonten in Athen nicht gegeben haben könne, weil das Wort an zahlreichen Quellenstellen in viel weiterer Bedeutung gebraucht wird?

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III Wir verstehen jetzt einigermaßen, wie die Vertreter der modernen Forschungsrichtung zu ihren ζ. T. doch recht extremen Anschauungen gekommen sind; die meisten ihrer Argumente werden uns kaum noch beeindrucken. Aber wenn wir zu einer positiven Begründung unserer eigenen, entgegengesetzten Anschauung kommen wollen, gibt es dazu nur einen Weg: die Interpretation einschlägiger Homerstellen. Da es hier nur um die grundsätzliche Position, nicht um die Einzelheiten gehen kann, müssen einige wenige Stellen genügen. Der Rat ist bei Homer reich bezeugt. Es gibt dafür zwei Fachausdrücke, γέροντες und βασιλήες, beide noch in klassischer Zeit gut belegt, beide als Fachausdrücke auch schon mykenisch, mag es auch unklar bleiben, was ein qa-si-re-u /gwasileus/ und eine ke-ro-si-ja Igeronsiä/ eigentlich war. Zu γέροντες gehört der technische Ausdruck γερούσιος οίνος (II. 4,259; Od. 13,8), vgl. die auf denselben Sachverhalt bezügliche verbale Wendung δήμια πίνειν (II. 17,250). Beide Wendungen stammen wohl aus einer Art Amtsjargon (es handelt sich um einen regelmäßigen Posten im Budget der Gemeinde); wir wissen aus einigen anderen Homerstellen, wie wichtig man dieses Privileg der Ratsmitglieder nahm. 40 ' - Technisch ist aber ohne Zweifel auch die rätselhafte Wendung γερούσιος δρκος II. 22,119, im Selbstgespräch Hektors vor seinem Kampf mit Achilleus. Er erwägt, den Achäern die Hälfte aller Schätze in der Stadt ausliefern zu lassen: Τρωσϊν δ' αύ μετόπισθε γερούσιον δρκον ελωμαι μή τι κατακρύψειν ... „Nachher aber würde ich den Troern den Ratsherreneid abnehmen lassen, nichts zu verbergen . . . " Wie immer dieser ,Ratsherreneid' zu verstehen sein mag, er ist in jedem Fall ein Eid, also eine Institution des Rechtslebens, und mit der Ratsmitgliedschaft verbunden, also eine höchst formelle und höchst offizielle Sache, die sehr gut in eine entwickelte Gemeindeverfassung paßt, gar nicht aber zu den formlosen, verfließenden,,vorstaatlichen' und ,vorrechtlichen' Zuständen, die unsere Gegner überall zu finden glauben. Mit dem Rat hat auch das nächste Zeugnis zu tun, Od. 6,50 ff. Nausikaa sucht am frühen Morgen ihre Eltern. Die Mutter findet sie am Herd beim Spinnen, der Vater aber, der Phaiakenkönig Alkinoos, ist gerade im Begriff, zu den anderen βασιλήες (also in den engeren, 13köpfigen Rat) 41 ' zu gehen, ι'να μιν κάλεον

40

> II. 4, 257ff. 338ff.; 12, 310ff. > O d . 8, 390 f.

41

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Φαίηκες άγαυοί „wohin ihn die Phaiaken riefen". So sieht offenbar der Alltag des Königs aus: Frühmorgens verläßt er das Haus, um den Staatsgcschäften nachzugehen. Dabei wird hervorgehoben, daß der König, indem er sich zur Ratssitzung begibt, dem Ruf der Bürgerschaft folgt; er versieht also sein Amt im Dienst der Gemeinde, und der Rat tagt gleichfalls im Dienst der Gemeinde. Zwei weitere Odysseestellen bezeugen die Gewohnheit der Funktionäre des Gemeinwesens, Auslagen im Dienst der Gemeinde zunächst aus dem eigenen Vermögen zu tragen und sie sich dann durch eine im Volk erhobene Umlage vergüten zu lassen; an beiden Stellen (13,14 f. ήμεΐς δ' αύτε άγειρόμενοι κατά δήμον / τεισόμε9(α); 19,197 f. δημόθεν αλφιτα δώκα και αϊθοπα οίνον άγείρας / και βοϋν ίρεύσασθαι) fallen dieselben Stichworte δήμος und άγείρω, die Ausdrucksweise ist also technisch wie das Verfahren selbst. Im 2. Gesang der Odyssee appelliert Telemachos in seiner Verzweiflung an die Volksversammlung von Ithaka. Der Höhepunkt seiner beschwörenden Rede sind die Verse 68 f.: λίσσομαι ήμέν Ζηνός 'Ολυμπίου ήδέ Θέμιστος, ή τ' ανδρών αγοράς ήμέν λύει ήδέ καθίζει. „Ich flehe zum olympischen Zeus und zu Themis, die die Versammlungen der Männer eröffnet und schließt." Die Einberufung wie die Entlassung der Versammlung ist also Sache des personifizierten Rechtes. Deutlicher könnte nicht gesagt sein, daß die Beratungen und Entscheidungen der Volksversammlung öffentlich-rechtlicher Natur sind. Von der Bedeutung der öffentlichen Rechtsordnung zeugen auch die berühmten Worte Nestors im 9. Gesang der Ilias, V. 63 f., Worte, mit denen er den sich anbahnenden Konflikt zwischen Agamemnon und Diomedes im Keim erstickt: άφρήτωρ, άθέμιστος, ανέστιος έστιν έκεΐνος, δς πολέμου εραται έπιδημίου όκρυόεντος. Die Entfesselung des Bürgerkrieges wird als schweres Verbrechen gegen die Gemeinschaft gesehen; als Sanktion ist der Ausschluß aus der Phratrie (der engeren Gemeinschaft, indirekt also der Ausschluß aus der Bürgerschaft), der Verlust des eigenen Herdes (d. h. der Ausschluß aus dem eigenen Haus, oder eher noch dessen Zerstörung), der Verlust aller Rechte vorgesehen. Die ganze Wendung ist, trotz der etwas anderen Sprache, aus den Institutionen, dem Denken und der Praxis der klassischen Polis ohne weiteres verständlich, gänzlich unverständlich dagegen für jeden, der in der Ilias nur ,vorstaatliche' oder ,vorrechtliche' Zustände sieht. In dieselbe Richtung weist Od. 21,16 ff. Die Rede ist von dem Anlaß, der Odysseus in früher Jugend nach Messenien gefuhrt hatte:

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ή τοι 'Οδυσσεύς ή λ θ ε μετά χρεΐος,

τ ό ρά οί πάς δήμος

οφείλε·

μήλα γάρ έξ 'Ιθάκης Μεσσήνιοι άνδρες αειραν νηυσί πολυκλήϊσι τριηκόσι' ήδέ νομήας. των ενεκ' έξεσίην πολλήν όδόν ήλθεν 'Οδυσσεύς π α ι δ ν ό ς έ ώ ν ' π ρ ο γ ά ρ ή κ ε πατήρ άλλοι τε

γέροντες.

„Odysseus kam, um eine Schuld einzufordern, die die ganze Gemeinde ihm schuldete. Denn messenische Männer hatten auf ihren Schiffen aus Ithaka 300 Schafe weggeschleppt mitsamt den Hirten. Deswegen machte Odysseus die weite Gesandtschaftsreise, noch als ganz junger Bursche; denn sein Vater und die anderen Geronten hatten ihn ausgesandt." Der rechtliche Inhalt der Stelle läßt sich etwa mit folgenden Schlagworten kennzeichnen: Deliktschuld, völkerrechtliche Haftung des Staates für seine Angehörigen, Vertretung der Geschädigten durch König und Rat (der Staat macht also die Sache seiner Bürger zu seiner eigenen), offizielle Gesandtschaft. Zu beachten ist der gehäufte Gebrauch von Rechtstermini; ich habe sie im Text und in der Übersetzung hervorgehoben (die Worte „sein Vater und die anderen Geronten" stehen natürlich für „König und Rat"); drei dieser Termini, δήμος, όφέλλω und γέροντες, sind — als solche --schon im Mykenischen belegt. Von ähnlich grundsätzlicher Bedeutung sind einige bittere Worte Nestors im 2. Gesang der Ilias, V. 339ff., die die Griechen zur Wiederaufnahme des Kampfes anspornen sollen: πή δή συνθεσίαι τε και δρκια βήσεται ήμΐν; έν πυρϊ δή βουλαί τε γενοίατο μήδεά τ' ανδρών, σπονδαί τ' ακρητοι και δεξιαί, ής έπέπιθμεν. „Wohin soll es mit unseren Vereinbarungen und Eiden kommen? Mögen doch die Ratschlüsse und Pläne der Männer, die Libationen ungemischten Weines und die Handschläge, auf die wir vertraut haben, vom Feuer verzehrt werden!" („... im Winde verwehen", würden wir eher sagen.) Es geht um die unverbrüchliche Geltung der Verpflichtungen, die die Menschen in aller Form auf sich nehmen. Sie haben Vereinbarungen getroffen, Eide darauf geschworen, sie durch Handschlag und die feierlichen Formen des Sakralrechts bekräftigt; die jeweiligen Partner haben darauf vertraut: wenn das alles auf einmal nicht mehr gelten soll, bricht die Welt zusammen. Nicht zufällig sind in die Reihe der verpflichtenden Formen die „Ratschlüsse und Pläne der Männer" eingeschoben: auch die Beschlüsse von Rat und Volksversammlung gehören zu den verbindlichen Festlegungen, ohne die eine Gesellschaftsordnung wie die homerische nicht bestehen kann.

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Zweimal begegnet bei Homer der Ausdruck θωή, die Bezeichnung der von der Gemeinschaft für gemeinschaftswidriges Verhalten auferlegten Buße 42 ': II. 13,669 ist die Rede von der „empfindlichen Buße", die die Achäer dem Euchenor von Korinth auferlegt hätten, wenn er sich dem Aufgebot gegen Ilios entzogen hätte; Od. 2,192 droht der Freier Eurymachos dem Seher Halitherses, der das versammelte Volk gegen die Freier aufzubringen versucht hat, (als Friedensstörer) eine θωή an 43) , an der er schwer zu tragen haben würde. Wie man angesichts von Stellen wie diesen dem homerischen Staat (ich gebrauche den Ausdruck mit vollem Bedacht) Zwangsmittel gegen seine Angehörigen absprechen will, ist mir rätselhaft. Übrigens bürgen die ausschließliche Verwendung als Terminus technicus der Rechtssprache und die undurchsichtige, aber in jedem Fall altertümliche Bildungsweise des Wortes für das hohe Alter der Institution; die homerische Zeit steht also gewiß nicht am Anfang griechischer Staatlichkeit. Im 7.Gesang der Odyssee, V. 146ff., wirft sich Odysseus der Phaiakenkönigin Arete zu Füßen: Άρήτη, θύγατερ 'Ρηξήνορος άντιθέοιο, σόν τε πόσιν σά τε γούναθ' ίκάνω πολλά μογήσας τούσδε τε δαιτυμόνας, τοΐσιν θεοί δλβια δοΐεν ζωέμεναι, και πανσίν έπιτρέψειεν έκαστος κτήματ' ένϊ μεγάροισι γέρας θ' δ τι δήμος εδωκεν. Odysseus wendet sich also nicht nur an den König und seine Gemahlin, sondern auch an die Ratsherren, die beim König zum Mahl versammelt sind, und er sichert sich ihr Wohlwollen, indem er den Segen der Götter auf sie herabfleht: sie sollen ihr Leben im Reichtum verbringen, und ihre bevorzugte Stellung soll auf ihre Nachkommen übergehen. Dabei wird zwischen den „Besitztümern im eigenen Haus" und dem γέρας, das ihnen die Gemeinde verliehen hat (den Ämtern und Funktionen und dem daran haftenden Amtsgut), ausdrücklich unterschieden, wie man etwa in unserem Mittelalter zwischen Allodial- und Lehnsgut zu unterscheiden pflegte. Diese Großen vereinigen auf ihre Person, nicht anders als ihre mittelalterlichen Standesgenossen, Güter und Rechte privaten und öffentlichen Charakters, und wir dürfen sicher sein, daß beides in der Praxis eng verbunden war; aber begrifflich werden das private und das öffentlichrechtliche Element in der Vorzugsstellung scharf geschieden, und darauf k o m m t es in unserem Zusammenhang an. Und nun eine letzte Stelle, wieder aus der Odyssee (9, 106ff.). Odysseus kommt ins Land der Kyklopen, „der übermütigen, die das Recht nicht kennen"

42)

CI. Vatin, Poine, Time, Thoie dans le droit homerique, Ktema 7, 1982, 275 ff. θωήν έπιθήσομεν: als Subjekt sind, wie Vatin richtig gesehen hat, die Teilnehmer der Volksversammlung zu denken. 43)

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(υπερφιάλων άθεμίστων). Sie pflanzen und pflügen nicht, die Natur schenkt ihnen alles. (112) τοΐσιν δ' οΰτ' άγοραί βουληφόροι οϋτε θέμιστες, sie wohnen in den Höhlen der Berge, (114 f.) 9εμισιεύει δέ έκαστος / παίδων ήδ' άλόχων, ούδ' αλλήλων άλέγουσιν. Das ist das Bild eines Naturvolkes, das all das nicht kennt, was für ein Kulturvolk charakteristisch ist. Jeder Zug in diesem Bild zeigt indirekt, wie die Griechen sich selbst sahen: sie müssen im Schweiße ihres Angesichts ihren Lebensunterhalt sichern, und im übrigen ist ihr Leben charakterisiert durch Politik und Rechtsstreit, das heißt aber auch durch die Rücksichtnahme auf das Recht des anderen und den Zusammenhalt über die Familie hinaus. Mit diesen Versen hat uns das Epos die Frage, ob bei den Griechen der homerischen Zeit Staat und Recht schon ausgebildet waren, selbst beantwortet.

IV U m so erfreulicher ist es, daß nicht wenige Forscher, darunter Gelehrte von hohem Rang, auch in den letzten Jahrzehnten, entgegen der Zeitströmung, in der traditionellen Richtung der Homerforschung weitergearbeitet haben, d.h., davon ausgegangen oder jedenfalls zu dem Ergebnis gelangt sind, daß die griechische Welt in homerischer Zeit durch Zustände und Institutionen gekennzeichnet war, die denen der archaischen Zeit entwicklungsgeschichtlich vorauslagen, aber nicht grundsätzlich von ihnen verschieden und genetisch eng mit ihnen verbunden waren. Schon aus Raumgründen ist auch in diesem Abschnitt an eine angemessene Würdigung der einzelnen Beiträge und an eine inhaltliche Auseinandersetzung mit ihren Ergebnissen nicht zu denken; ich muß mich darauf beschränken, auf einige grundsätzliche Äußerungen zur Frage nach dem Wesen der homerischen Ordnung kurz hinzuweisen. Diese Hinweise mögen einerseits das Gewicht auch dieser Forschungsrichtung (auch in jüngster Zeit) deutlich machen, andererseits den Einstieg in die konkrete wissenschaftliche Arbeit — in der prinzipiell richtigen Richtung — erleichtern. Auf eine Reihe wichtiger Beiträge zur Bedeutung und Stellung von Rat und Volksversammlung, auch im Rahmen allgemeinerer Darstellungen der homerischen Ordnung, sei hier nur summarisch verwiesen. 44 ' „Recht und Staat sind auch Homer bereits bekannt", lesen wir bei R. Köstler 195045), und an anderer Stelle: „Für Homer ist der Staat Voraussetzung des 44) J . A . O . Larsen, The Origin and Significance of the Counting of Votes. CP 44, 1949, 164ff. = Die Entstehung und Bedeutung der Stimmenzählung, in: Gschnitzer 1969, 184ff.; R . Sealey, Probouleusis and the Sovereign Assembly. California Studies in Classical Antiquity 2, 1969, 247 ff.; S. Deger, Herrschaftsformen bei Homer, Wien 1970; R . Α. De Laix, Probouleusis at Athens, Berkeley 1973, 5ff.; G . C . Vlachos, Les socictcs politiques homeriques, Paris 1974. 45 > Die homerische Rechts- und Staatsordnung. In: Homerisches Recht. Gesammelte Aufsätze, Wien 1950 (7ff.) 8 = E. Bemeker (Hrsg.), Zur griechischen Rechtsgeschichte (Wege der Forschung 45), Darmstadt 1968, (172ff.) 173.

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Rechtes auf Erden." 46 ' Für G. Micknat 1954 ist die Stadt bei Homer „der Inbegriff menschlicher Ordnung". 47 ' Ähnlich W. Hoffmann 1956: „ Für das Epos ist die Stadt nicht irgendeine, sondern geradezu die typische Form menschlichen Zusammenlebens" 48 ', sie ist eine Gemeinschaft, von deren Schicksal, wie auch den Zeitgenossen bewußt ist, das Wohl und Wehe aller ihrer Angehörigen abhängt. Nestors von mir vorhin angeführte Worte gegen den Bürgerkrieg (II. 9,63 f.) faßt Hoffmann wie folgt zusammen: „Es gibt eine unverbrüchliche Ordnung unter den Menschen in der Gemeinde, die zu verletzen schwerstes Vergehen bedeutet." 49 ' Der Gerichtsszene auf dem Schild des Achilleus (II. 18,490ff.) entnimmt Hoffmann: „Gericht und Rechtsprechung gehören hier zu den wesentlichen Merkmalen städtischen Lebens. Man ist bestrebt, die vorhandenen Streitigkeiten friedlich auszutragen, beide Parteien erkennen über sich eine Autorität an." 50 ' Seit dem 9.Jahrhundert sei ein eigenwilliger, selbstsüchtiger Adel neben das Königtum getreten, der das Gemeinwesen zu sprengen drohte, sich aber am Ende doch nicht von ihm lösen konnte. 51 ' — G. M. Calhoun, auf dessen ältere Untersuchung über den Adel bei Homer 52 ' sich die Vertreter der modernen Richtung gern berufen, zeichnete noch in dem 1963 erschienenen ,Companion' von Wace und Stubbings ein durchaus konventionelles Bild von der homerischen Welt; er handelt vom Stadtstaat, von Freien und Unfreien, Bürgern und Fremden, von König, Rat und Volksversammlung ganz nach dem aus späteren Zeiten der griechischen Geschichte geläufigen Schema. 53 ' — Wie W. Hoffmann betont auch J.M. Redfield 1975 den engen Zusammenhang zwischen der Aufgabe, sich im Krieg zu behaupten, und dem Zusammenhalt des Gemeinwesens: „Der Kampf erzeugt eine festgefügte Gemeinschaft. In der Tat besteht eine homerische Gemeinschaft aus denen, die bereit sind, füreinander zu sterben." 54 ' C.G. Thomas 197655' sieht den Ausgangspunkt der Entwicklung, die zu den Verfassungszuständen der homerischen Zeit führte, in dem hohen Bedarf an „personal leadership" in den unruhigen Zeiten nach dem Zusammenbruch der

46>

Ebd. S.25 = 195. G. Micknat, Studien zur Kriegsgefangenschaft und zur Sklaverei in der griechischen Geschichte I, Abh. Mainzer Akad., Geistes- und sozialwiss. Kl. 1954, 11, S. 572f. = G. WickertMicknat, Unfreiheit im Zeitalter der homerischen Epen, Wiesbaden 1983, lOf. 48> Hoffmann 1956, (153 ff.) 153 = Gschnitzer 1969, (123 ff.) 123. 49> Hoffmann 1956, 162 = Gschnitzer 1969, 134. 50> Hoffmann 1956, 162 = Gschnitzer 1969, 134 f. 51> Hoffmann 1956, 164 ff. = Gschnitzer 1969, 137 ff. 52> Classes and Masses in Homer. CP 29, 1934, 192 ff. 301 ff. 53> Polity and Society: (i) The Homeric Picture. In: A . J . B . Wace/F.H. Stubbings (Hrsg.), A Companion to Homer, London 1962, 431 ff. 54< Nature and Culture in the Iliad: The Tragedy of Hector, Chicago 1975, 99. 55) From Wanax to Basileus: Kingship in the Greek Dark Age. Hispania antiqua 6, 1976, 187ff. 47>

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mykenischen Welt; als sich aber wieder ein „geordnetes Gemeinschaftsleben" einstellte (S.196), wuchsen dem König zu den militärischen weitere Aufgaben zu, vor allem im Bereich der Rechtsprechung u n d der Staatskulte, Aufgaben, bei deren Bewältigung der König mit R a t und Volksversammlung zusammenarbeiten m u ß t e (S.201). Für F. Cordano \Ч1Ь\11 ist die Darstellung der Zustände bei den Phaiaken „die älteste Beschreibung einer Polis" 56 ', sie betont (S. 199 f.) die Kollegialität der 13 βασιλήες. — Das detaillierte Bild, das E.A. Havelock 1978 von der politischen O r d n u n g der homerischen Welt zeichnet 57 ', wird am besten durch einige Zwischenüberschriften charakterisiert: „ H o m e r i c reality: the city" (S.57), „A civic society" (S.77), „Civic behaviour of the Greek a r m y " (S.80), sowie durch den zusammenfassenden Satz S.87: „Sowohl die Ilias wie die Odyssee liefern ein verschleiertes Bild Griechenlands in historischer Zeit", w o m i t nach dem Z u s a m m e n h a n g gemeint ist, daß das Bild der homerischen Welt in noch etwas verschwommenen Linien die charakteristischen Z ü g e des klassischen Griechenland trägt, so daß sich später auch der Bürger des perikleischen Athen in ihm wiederfinden konnte. Juri V. Andreev entwirft in drei großen Aufsätzen, die in deutscher Übersetzung 1979 und 1988 erschienen sind 58 ', ein wohldurchdachtes Bild von den Grundlagen der politischen und sozialen O r d n u n g bei H o m e r , die er mit „der archaischen ionischen Polis" gleichsetzt (1979, 362). Auch er geht von der Dreiheit König(e), R a t und Volksversammlung aus (1979, 361). Die höchste Gewalt liegt im Prinzip bei der Gemeinde, dem Demos, als dessen Führer und Sprecher allerdings n o r m a lerweise eine begrenzte Anzahl von „besseren M ä n n e r n " die Geschäfte und die Macht in der Hand haben (1979, 386ff.; 1988, 17). „Es w a r nicht leicht", den Demos, „diese träge Masse in B e w e g u n g zu bringen, aber wenn dies einmal gelungen war, dann begann der archaische Mechanismus eines frühen Staatswesens zu funktionieren, und der D e m o s verwandelte sich in jene schreckliche, strafende Macht, die wir hin und wieder in den Homerischen Epen treffen" (1979, 400). R. Descat 1979 studiert die ,Synonyme' αναξ und βασιλεύς, λαός und δήμος 59 '; sie fügen sich ihm paarweise zusammen, das Paar αναξ und λαός spiegle „ein aristokratisches, an Klientelbeziehungen gebundenes Modell", das Paar βασιλεύς und δήμος aber definiere „ein mehr gemeinschaftsbetontes oder demokratisches' Modell, das sich in der klassischen Zeit im wesentlichen durchzusetzen scheint" (S.238).

56)

L'ideale citta dei Feaci. Dialoghi di archeologia 9-10, 1976-77, 195 ff. > The Greek Concept of Justice, Cambr. (Mass.) 1978, 55 ff. 58> Könige und Königsherrschaft in den Epen Homers. Klio 61, 1979, 361 ff.; ders., Die politischen Funktionen der Volksversammlung im homerischen Zeitalter. Zur Frage der militärischen Demokratie'. Ebd. 385 ff.; ders., Die homerische Gesellschaft. Klio 70, 1988, 5 ff. 59 > L'ideologie homerique du pouvoir. Revue des etudes anciennes 81, 1979, 229 ff. 57

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Eva Cantarella gibt in ihrem 1979 erschienenen Buch über die Grundlagen der Rechtsordnung bei Homer 6 0 ' eine ausführliche Analyse der homerischen Verfassung. Sie sieht die Staatsgewalt, das ,potere', zwischen König, R a t und Volksversammlung geteilt (S. 112) und legt Wert auf den „politischen" Charakter der Gemeinschaft und deren Überordnung über die einzelnen Individuen und Gruppen (S.292). 6 1 ' — O. Murray 1980 betont in seiner differenzierten Darstellung der homerischen Welt 6 2 ' die Kontinuität von Homer bis in die klassische Zeit („Die grundlegende Form der politischen Ordnung blieb für die ganze Dauer des griechischen Stadtstaates bestehen, sie gab es bereits bei Homer. Was sich änderte, war die Verteilung der Macht auf die verschiedenen Elemente der Gesellschaft und die Kriterien für die Zugehörigkeit der einzelnen zu diesen Elementen", S. 71) und belegt sie im einzelnen. 1984 erschien das große Buch von P. Carlier über das griechische Königtum 6 3 ' mit einer ausführlichen Darstellung des Königtums bei Homer (S. 135—230). Diese detaillierte Untersuchung, die — nach gründlicher und besonnener Erörterung der methodologischen Vorfragen — der Terminologie und der Ideologie des Königtums ebenso nachgeht wie den institutionellen Details, weist dem homerischen Königtum seinen festen Platz in einer kontinuierlichen Entwicklung zwischen den mykenischen Monarchien und der klassischen Magistratur zu und belegt diese Einordnung durch den Nachweis wesentlicher terminologischer und institutioneller Ubereinstimmungen einerseits mit dem mykenischen, andererseits mit dem in nachhomerischen Quellen bezeugten archaischen Königtum. 6 4 ' Für unsere augenblickliche Fragestellung steht im Mittelpunkt der Nachweis des politischen, man darf ruhig sagen staatlichen Charakters des homerischen Königtums und der homerischen Ordnung überhaupt: „Die homerischen Könige üben politische Autorität über politische Gemeinwesen aus" (S.178). Vielleicht wird sich der derzeitige ,Trend' in der Forschung umkehren, wenn diese umfassende, sorgfältig dokumentierte Darstellung ein paar Jahre lang auf die Mitforscher gewirkt hat. H. van Ejfenterre hat 1985 die Kontinuität der grundlegenden politischen Strukturen, des Systems der ,cite', von der mykenischen bis in die klassische Zeit aufgewiesen 65 ' und in diesem Zusammenhang (S. 157) mit Recht bemerkt, daß auch die klassischen griechischen Staaten die Minimal-Anforderungen nicht erfüllt

60) 61'

N o r m a e sanzione in O m e r o , Mailand 1979.

Vgl. auch E. Cantarella, II termine πόλις nei poemi omerici. In: Sodalitas. Scritti in onore di A. Guardino, Neapel 1984ff., 1333ff. 6 2 ' Early Greece (Fontana History o f the Ancient World), Brighton 1980. Ich zitiere nach der deutschen Ubersetzung: Das frühe Griechenland (dtv Geschichte der Antike), München 1982. 6 3 ' La royaute en Grece avant Alexandre, Straßburg 1984. 64> Siehe etwa S . 1 8 7 . 2 1 2 f . 65 ' La cite grecque. Des origines ä la dcfaitc de Marathon, Paris 1985, besonders S.49. 153. 156.

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haben, die die heutigen Politologen fur einen Staat im vollen Sinne des Wortes vorauszusetzen geneigt sind: sie hatten keine ,Regierung', keine ,Verwaltung', kein B u d g e t usw. „ U n t e r diesem Gesichtspunkt hat der Stadtstaat allezeit einen embryonalen Charakter bewahrt. Aber es ist bereits eine F o r m des Staates." — M . Schofield unterstreicht in einem Aufsatz von 1986 6 6 ', dessen eigentlicher Gegenstand die R o l l e vernünftiger Ü b e r l e g u n g und Argumentation in der homerischen Welt ist, mit ausdrücklicher Polemik gegen Μ . I. Finley und seine ,primitivistische' Tendenz ( S . 3 1 ) die Bedeutung von R a t und Volksversammlung ( S . 8 ) und die des Königs in der Rechtspflege (S. 11). Bemerkenswert eine Äußerung über A g a m e m n o n (S. 11): „ H o m e r macht uns nachdrücklich darauf aufmerksam, daß sein A m t größer ist als der M a n n selbst und mehr umfaßt als nur die Stellung des Feldherrn." K. Raaßaub plädiert 1989 6 7 ' „für eine bewußt politische Lesung" Homers und Hesiods und hofft so „die Anfänge des politischen Denkens der Griechen" zu erhellen; auch er unterstreicht die Bedeutung der Volksversammlung (S. 18). — Zuletzt hat M.B. Sakellariou in seinem B u c h über Wesen und Ursprung der Polis 6 8 ' die gängige Beurteilung der homerischen O r d n u n g als vorstaatlich in ausführlicher, methodologisch wohlfundierter Argumentation zurückgewiesen (S. 356 ff.) und darauf aufmerksam gemacht, daß die beiden uns aus der nachhomerischen Geschichte Griechenlands vertrauten Staatstypen, Polis und Ethnos, schon bei H o m e r gut belegt sind ( S . 3 7 8 f f . ) .



Die vorstehenden Ausführungen dürften deutlich gemacht haben, daß die zeitgenössische Forschung in der Frage nach dem Grundcharakter der politisch-sozialen Ordnung der epischen Welt tief gespalten ist 69 ' und daß es in diesem Streit nicht allein um Worte und Begriffe geht, sondern die beiden Seiten ganz verschiedene

Euboulia in the Iliad. Classical Quarterly 36, 1986, 6ff. Die Anfänge des politischen Denkens bei den Griechen. H Z 248, 1989, 1 ff. 68> The Polis-State. Definition and Origin, Athen 1989. 69> Einige Arbeiten stehen zwischen den Fronten. Sie seien hier wenigstens aufgezählt: Ch. G. Starr, The Decline o f the Early Greek Kings. Historia 10, 1961, 129 ff. = Essays on Ancient History, Leiden 1979, 134ff.; A. Meie, Societa e lavoro nei poemi omerici, Neapel 1968; ders., II mondo omerico, 1. Elementi formativi degli ethne greci e assetti politici-sociali. In: R . Bianchi Bandinelli (Hrsg.), Storia e civiltä dei Greci I, Mailand 1979 (Taschenbuchausgabe 1990) 25 ff.; J.V. Luce, The Polis in H o m e r and Hesiod. Proceedings o f the Royal Irish Academy, 78 C, 1978, Iff.; A. Heubeck, Geschichte bei Homer, Studi micenei ed egeo-anatolici 20, 1979, 227ff. = Kleine Schriften zur griechischen Sprache und Literatur, Erlangen 1984, 39ff.; J. Roisman, Some Social Conventions and Deviations in Homeric Society. Acta Classica 25, 1982, 35ff.; W. Nicolai, Rezeptionssteuerung in der Ilias. Philologus 127, 1983, 1 ff., bes. 10ff.; ders., Zu den politischen Wirkungsabsichten des Odyssee-Dichters. Grazer Studien 11, 1984, 1 ff.; G. Bockisch, Heroenzeit und militärische Demokratie. Klio 69, 1987, 3 7 4 ff. 66> 67>

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V o r s t e l l u n g e n v o n der k o n k r e t e n R e a l i t ä t des politisch-sozialen Lebens in h o m e r i scher Z e i t e n t w i c k e l t haben. Ich h o f f e gezeigt zu haben, daß die Epen selbst, w e n n m a n sie in der m e t h o d i s c h g e b o t e n e n W e i s e z u m S p r e c h e n b r i n g t , ein eindeutiges Z e u g n i s f ü r die R i c h t i g k e i t der t r a d i t i o n e l l e n A u f f a s s u n g ablegen; aber es lag in der N a t u r des Forschungsberichts, daß ich auch den A n s c h a u u n g e n der e n t g e g e n gesetzten R i c h t u n g R a u m g e b e n m u ß t e , z u m a l sie seit einigen J a h r e n w o h l als die v o r h e r r s c h e n d e n gelten müssen.

A b g e k ü r z t zitierte L i t e r a t u r

CP Brehier 1904 (1) Brehier 1904 (2) Donlan 1985 Donlan 1989 Gschnitzer 1969 Heuß 1946 Hoffmann 1956

Symb. Osl.

Classical Philology L. Brehier, La royaute homerique et les origines de l'etat en Grece, R e v u e historique 84, 1904, 1-32. L. Brehier, (Fortsetzung), R e v u e historique 85, 1904, 1-23. W. Donlan, The Social Groups of Dark A g e Greece, C P 80, 1985, 293-308. W. Donlan, The Pre-State C o m m u n i t y in Greece, S y m b . Osl. 64, 1989, 5-29. F. Gschnitzer (Hrsg.), Zur griechischen Staatskunde, Darmstadt 1969 (Wege der Forschung, Bd. 96). A. Heuß, Die archaische Zeit Griechenlands als geschichtliche Epoche, Antike & Abendland 2, 1946, 26-62 [ = Gschnitzer 1969, 36-96]. W. Hoffmann, Die Polis bei Homer, in: Festschrift Bruno Snell zum 60. Geburtstag am 18.Juni 1956 von Freunden und Schülern überreicht, München 1956, 153-165 [ = Gschnitzer 1969, 123-138]. Symbolae Osloenses.

K U R T A. R A A F L A U B

Homer und die Geschichte des 8.Jh.s v. Chr. 1. Einleitung und Absicht Die Forschung der letzten Jahrzehnte hat dem 8.Jh. aus verschiedenen Gründen besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Es nimmt eine wichtige Schlüsselstellung am Ende der Dark Ages und der ,Geometrischen Periode' und am Anfang der Archaischen Epoche ein. Mit ihm beginnt zumindest in Ansätzen die griechische Ereignisgeschichte. Dank Homer und Hesiod — wenn dieser denn bereits um etwa 700 anzusetzen ist — stehen uns erstmals zeitgenössische literarische Quellen zur Verfugung. 1 ' Anders gesagt: es ist das Jahrhundert Homers' — mit allen Problemen, die dieser Formel und der der ,homerischen Gesellschaft' anhaften. 2 ' Vor allem aber ist es ein Jahrhundert des umfassenden Neu- und Wiederbeginns, in dem viel Grundlegendes entstand, das die Geschichte und Kultur der Griechen auf Jahrhunderte hinaus prägen sollte. Außerdem hat die intensivierte Ausgrabungstätigkeit der letzten Jahrzehnte viel Neues zutage gefordert und tut dies weiterhin, so daß unser Verständnis dieser Epoche sich stetig verbessert und ändert. 3 ' A. Snodgrass charakterisiert die Leistung dieses Jahrhunderts der „griechischen Renaissance" oder „strukturellen Revolution" wie folgt:

Auflösung der bibliogr. Abkürzungen unten S. 252. '' Ich gehe davon aus, daß die Epen in der zweiten Hälfte des 8.Jh.s entstanden sind, die Ilias (ca. 730) etwas früher als die Odyssee, die wiederum vor Hesiod liegt: Schmid/Stählin, Literatur 126f., 247ff.; A. Lesky, Geschichte der griech. Lit., Bern 3 1971, 73-79, 113ff.; id., Homeros 687-93; Heubeck, Homer. Frage 213-28; Latacz, Homer 77-90, bes. 82; vgl. auch G.S. Kirk zu Homer sowie J. P. Barron und P.E. Easterling zu Hesiod, in: P.E. Easterling/B. M . W. Knox (Hrsg.), The Cambridge History of Classical Literature I: Greek Literature, Cambridge 1985, 47—51 bzw. 93 f. Diese Daten sind freilich nicht unumstritten; die Ilias wird gelegentlich (vgl. etwa W. Burkert, Das hunderttorige Theben und die Datierung der Ilias, Wiener Stud. 89, 1976, 5-21), die Odyssee öfter, Hesiod meist ins frühe 7.Jh. verlegt. ,Homer' und ,der Dichter' stehen im folgenden vereinfachend fur: ,der oder die Dichter der homerischen Epen'. 2) Die Lit. zu diesen und anderen Problemen der Homerforschung ist zugänglich über die bei Latacz, Homer 202 angeführten Bibliographien und Forschungsberichte. 3 ' Siehe dazu die zusammenfassenden Arbeiten von Bouzek, Horn. Griechenl.; Desborough, The Last Mycenaeans; id., Dark Ages; Snodgrass, Dark Age; id., Archaic Greece; id., Archaeol.

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Kurt A. Raaflaub

It established the economic basis of Greek society, as well as the main outlines of its social framework; it drew the political map of the Greek world in a form that was to endure for four centuries; it set up, with even greater permanence, the forms of state that were to determine Greek political history; it provided the interests and goals, not merely for Greek but for Western art as a whole, which were to be pursued over the next two and a half millennia; it gave Greece, in the Homeric epics, an ideal of behaviour and a memento of past glory to sustain it; it provided much of the physical basis, and perhaps also of the spiritual basis, of Greek religion; and it furnished many lesser things, among them the means for Greek society to defend its independence militarily. Not all of these features were without parallel in other, older cultures; but it is doubtful whether, before or since, they have ever come about in one country with such concertedness and above all with such speed. 4 '

Homer und Hesiod auf der einen, die Archäologie auf der anderen Seite sind denn auch unsere Hauptquellen. Dazu kommen die — ihrerseits historisch schwer einzuordnenden — Bilddarstellungen auf geometrischen Vasen5', einige kurze, vor allem flir die Anfänge der Schrift bedeutsame Inschriften und vielfach zweifelhafte Nachrichtenfetzen in der späteren literarischen Uberlieferung, aus denen antike wie moderne Historiker trotz immensen Fleißes wenig Gesichertes gewonnen haben. 6 ' Es scheint mir deshalb wenig sinnvoll, auf die hochproblematische Ereignis- oder Verfassungsgeschichte — etwa die Eroberung Messeniens durch Sparta, Lykurg und die ,Große Rhetra' oder den Lelantischen Krieg 7 ' — einzugehen.

of Greece, Kap. 6; Coldstream, Geom. Greece; aus historischer Sicht: Μ. I. Finley, Early Greece: The Bronze and Archaic Ages, London 3 1981 ( = Die frühe griechische Welt, München 1982); Murray, Early Greece ( = Frühes Griechenl.), sowie die in Anm. 35 genannte Arbeit von W . D . E . Coulson. 4 ' Snodgrass, Archaic Greece 13f.; vgl. auch 47f. 5 ' Dazu etwa K. Fittschen, Untersuchungen zum Beginn der Sagendarstellungen bei den Griechen, Berlin 1969; G. Ahlberg, Fighting on Land and Sea in Greek Geometrie Art, Stockholm 1971; ead., Prothesis and Ekphora in Greek Geometrie Art, Stud, in Mediterr. Archaeol. 32, Göteborg 1971; J. Carter, The Beginning of Narrative Art in the Greek Geometrie Period, Ann. Brit. School Athens 67, 1972, 25-58; R . Kannicht, Dichtung und Bildkunst. Die Rezeption der Troja-Epik in den frühgriechischen Sagenbildern, in: Wort und Bild (Symposion Tübingen 1977), München 1979, 279-96; id., Poetry and Art: Homer and the Monuments Afresh, Class. Antiquity 1, 1982, 70-86; Snodgrass, Archaeol. of Greece, Kap. 5, bes. 147-69 mit weiterer Lit. Vgl. auch K. Schefold, Frühgriechische Sagenbilder, München 1964, sowie Schefolds Beitrag im vorliegenden Band. 6 > Vgl. etwa C . G . Starr, The Credibility of Early Spartan History, Historia 10, 1961, 257-72 ( = id., Essays on Ancient History, Leiden 1979, 144-59). 7 ' Messenien: u. Anm. 61. Rhetra: Η. Rudolph, Die lykurgische Rhetra und die Begründung des spartanischen Staates, in: Festschrift B. Snell, München 1956, 61-76; Oliva, Sparta 63-102; W.G. Forrest, A History of Sparta, 950-192 B.C., London 2 1980, 40-60; K. Bringmann, Die große Rhetra und die Entstehung des spartanischen Kosmos, Historia 24, 1975, 513-38; K.-W. Welwei, Die spartanische Phylenordnung im Spiegel der Großen Rhetra und des Tyrtaios, Gymnasium 86, 1979, 178—96; K. Bringmann, Die soziale und politische Verfassung Spartas ein Sonderfall der griechischen Verfassungsgeschichte? Gymnasium 87, 1980, 465-84 (mit Anhang gegen Welwei; dazu wiederum Welwei, Gymnasium 88, 1981, 21-23). Lelantischer Krieg: u. Anm. 62.

Homer und die Geschichte des 8.Jh.s v.Chr.

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Vielmehr möchte ich einige Elemente jener strukturellen Revolution' erörtern, die uns helfen können, die Beziehung der homerischen Epen zur Geschichte des 8.Jh.s besser zu verstehen. Alle hier zu besprechenden Fragen sind freilich komplex und in der Forschung oft diskutiert und umstritten. Ich kann deshalb höchstens hoffen, eine einigermaßen brauchbare Standortbestimmung vorzulegen und bei der Auswahl dessen, was ich aus der fast unübersehbaren Literatur zitiere, nicht allzuviel wirklich Wichtiges übersehen zu haben. Auch ist es durch mein Thema vorgegeben, daß ich vor allem die inhaltlich dem Dichter und seinem Publikum zeitgenössischen oder zeitnahen Elemente der epischen Erzählung herauszuarbeiten versuche und andere, gewiß nicht weniger wichtige Aspekte unbeachtet lasse.

2. Die Historizität der ,homerischen Gesellschaft' Drei Forschungsbereiche haben in den letzten Jahrzehnten grundlegend zur Klärung der Frage nach der Historizität der homerischen Gesellschaft beigetragen. 1. Die durch M. Parrys vergleichende Oral poetry-Forschung seit 1928 eingeleitete und nach dem Krieg intensivierte Beschäftigung mit den Epen als mündlicher Dichtung 8 ' hat das Verhältnis des Dichters zu seinem mythischen Stoff (und den darin verkapselten historischen Vorgängen) und zu seiner eigenen Zeit und Gesellschaft wesentlich erhellt. Aufgrund der Ergebnisse dieser (noch längst nicht abgeschlossenen) Forschungen können die folgenden beiden einander ergänzenden Feststellungen heute als gesichert gelten: (a) Die mykenische Epoche lebt in den griechischen hexametrischen Heldenepen mit wenig mehr als vagen Erinnerungen an gewisse historische Vorgänge fort; (b) die Gestaltungsabsicht der Dichter von solchen Epen wird entscheidend bestimmt von der Bedeutung ihrer Schöpfungen für ihr je zeitgenössisches Publikum und für ihre Zeit überhaupt (Zeitaktualität). 9 ' 2. Die 1952 gelungene Entzifferung der Linear B-Schrift durch M. Ventris hat den trotz der in manchen Bereichen unbestreitbaren Kontinuität fundamentalen Unterschied zwischen der mykenischen und der von Homer geschilderten Gesellschaftsstruktur über alle Zweifel erhoben. 10 ' Die tiefgreifende Umwandlung der 8

> Vgl. die Überblicke von J. Latacz, Tradition und Neuerung in der Homerforschung. Zur Geschichte der Oral poetry-Theorie, in: id. (Hrsg.), Homer. Tradition und Neuerung, Wege der Forschung 463, Darmstadt 1979, 25-44; D. Boedeker, Amerikanische Oral-TraditionForschung. Eine Einfuhrung, in: von Ungern-Sternberg/Reinau, Vergangenheit 34—53, sowie J. Holokas Beitrag im vorliegenden Band. 9) Dazu jüngst etwa Morris, Use and Abuse 83-94, und bes. Latacz, U m f a n g 153-83. Weiteres u. im Text zu Anm. 20-22. 10) So bes. auch Starr, Origins 46ff.; M.I. Finley (in den u. Anm. 12 genannten Arbeiten); Snodgrass, Archaic Greece 15-19, sowie jüngst etwa Heubeck, Homer und Mykene 1-14; G. Wickert-Micknat, Die Frage der Kontinuität. Bemerkungen zum Thema ,Mykene und Homer',

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sozialen, wirtschaftlichen und politischen Strukturen Griechenlands findet im übrigen in den von der archäologischen Erforschung der D a r k A g e s vielfach dokumentierten U m w ä l z u n g e n , Zerstörungen und demographischen wie kulturellen Veränderungen eine Reihe eindrucksvoller Bestätigungen, auch wenn diese nicht absolut g e n o m m e n werden dürfen u n d die verbreitete Vorstellung eines abrupten und vollständigen Abbruchs der mykenischen Kultur a u f g r u n d neuester Erkenntnisse zu modifizieren ist. 11 ) G y m n . 93, 1986, 3 3 7 - 4 7 . Linear B - S c h r i f t : M . Ventris/J. C h a d w i c k , Evidence for Greek Dialect in the Mycenaean Archives, J o u r n a l o f Hellenic Studies [JHS] 73, 1953, 8 6 - 1 0 3 ; J . C h a d w i c k , T h e Decipherment o f Linear B , C a m b r i d g e 2 1967 ( = Linear B , D i e Entzifferung der m y k e n i schen Schrift, Göttingen 1959); id., T h e Mycenaean World, C a m b r i d g e 1976; J . Kerschensteiner, D i e mykenische Welt in ihren schriftlichen Zeugnissen, München 1970; S. Hiller/O. Panagl, Die frühgriechischen Texte aus mykenischer Zeit, Erträge der Forsch. 49, D a r m s t a d t 1976. Z u r Frage der Kontinuität oder Diskontinuität v o n der mykenischen zur archaischen Zeit v g l . etwa die gegensätzlichen Standpunkte in der vornehmlich auf terminologischer Ebene geführten Diskussion zwischen A . M o r p u r g o - D a v i e s und F. Gschnitzer (der für ein beträchtliches M a ß an Kontinuität eintritt) in H . Mühlestein/E. R i s c h (Hrsg.), C o l l o q u i u m M y c e n a e u m . Actes du 6 e coli, intern, sur les textes mycen. et egeens (Neuchätel 1975), Neuchätel 1979, 8 7 - 1 0 8 bzw. 109—34. D i e Forschungsdebatte über dieses T h e m a ist freilich v o n Mißverständnissen und methodologischen wie definitorischen Unklarheiten g e p r ä g t (vgl. etwa Latacz, H o m e r 54f., 59; A. Heubeck, Geschichte bei H o m e r , in: ders., Kleine Schriften, Erlangen 1984, 3 9 - 6 2 , bes. 45, sowie die Einschränkungen 48 A n m . 28). W i e etwa die Beispiele v o n qa-si-re-u/basileus oder da-mojdemos zeigen (vgl. neben den eben genannten Arbeiten auch Gschnitzer, Basileus: Ein terminologischer Beitrag zur Frühgeschichte des K ö n i g t u m s bei den Griechen, in: Festschrift L . C . Franz, Innsbrucker Beitr. zur Kulturwiss. 11, 1965, 99—112; D o n l a n , Pre-State C o m m . 18—29 mit Lit.), schließt elementare terminologische und institutionelle Kontinuität eine g r u n d legende sachlich-inhaltliche Veränderung und damit, v o m Ergebnis her gesehen, fast völlige Diskontinuität nicht aus. Verfehlt scheint mir Gschnitzers F o l g e r u n g (Sozialgeschichte 26), die mykenischen Griechen seien „ d o c h die Lehrmeister der späteren [ . . . ] Griechen geblieben, auch auf d e m Gebiet der Gesellschaftsordnung". Andrerseits ist klar, wie u . a . U . Hölscher und S. Deger-Jalkotzy in Diskussion und Vortrag betont haben, daß die solchermaßen im Bereich der Gesellschaftsstrukturen überwiegende Diskontinuität starke Kontinuitätsstränge in andern Bereichen (etwa d e m der Siedlungsorte, handwerklicher Fertigkeiten, verfeinerter Lebenshaltung in fuhrenden Kreisen, auch der an b e s t i m m t e O r t e , Gegenstände, Kulte und R i t e n gebundenen Erinnerung und des Bewußtseins solcher Kontinuität) keineswegs ausschließt. M a n hat hier jedenfalls mit großen regionalen Unterschieden zu rechnen, w o b e i der Ausnahmestellung Attikas und Euböas (als solche stellt sie sich jedenfalls g e g e n w ä r t i g noch dar: u. A n m . 24, 102) w o h l besonders R e c h n u n g zu tragen ist. Z u r weiteren K l ä r u n g wird hier viel geduldiges und u n v o r e i n g e n o m m e n e s Weiterarbeiten und -diskutieren nötig sein. n > V g l . die in A n m . 3 angeführten Arbeiten v o n D e s b o r o u g h , Snodgrass und C o l d s t r e a m ; ferner Burkert, Griech. Religion 8 8 - 9 8 . Z u r neuen Sicht des Endes der mykenischen Kultur (trotz des U n t e r g a n g e s der Paläste samt Herrschaftsapparat, Wirtschaftssystem und Hochkultur und trotz vielfacher Zerstörungen und U m s c h i c h t u n g e n nach 1200 an manchen O r t e n ein Fortleben zahlreicher Aspekte der mykenischen Kultur, freilich a u f tieferem N i v e a u ; erst etwa Mitte des l l . J h . s ein weiteres kulturelles Absacken, massive E n t v ö l k e r u n g und U m w ä l z u n g e n ; während dieser submykenischen Zeit zumindest teilweise ein ,höfisches' Leben an einzelnen .Fürstensitzen' mit b e w u ß t e m Anschluß an die Lebenshaltung der Palastzeit: hier lägen die Zwischenglieder in der Tradierung von Erinnerungen und die A n f ä n g e mancher die Entwick-

Homer und die Geschichte des 8.Jh.s ν. Chr.

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3. Die von M.I. Finley und der Pariser Schule von J.-P. Vernant mit neuer Intensität in die althistorische Forschung eingeführte Komparatistik und Anthropologie hat ein angemesseneres Verständnis der Besonderheiten der homerischen Gesellschaft möglich gemacht. Als Ventris' sensationelle Entdeckung der Fachwelt bekannt wurde, war Finleys ,The World of Odysseus' bereits im Druck. U m so beachtlicher, daß er, im Gegensatz zu großen Teilen zumal der englischsprachigen archäologisch-althistorischen Fachwelt, bereits damals die Auffassung vertrat, diese ,Welt des Odysseus' sei mit wenigen Ausnahmen in der nachmykenischen Epoche anzusiedeln. 12 ' In seinen 1954—57 publizierten Analysen vermochte er durch die Einbeziehung aller Lebens- und Erfahrungsbereiche sowie durch die Anwendung soziologischer und vor allem anthropologischer Erkenntnisse nicht nur die Konsistenz der epischen Gesellschaftsschilderung nachzuweisen, sondern diesem Bild einen Platz in der Entwicklung früher Gesellschaften zuzuordnen. 13 ' Damit schuf Finley überhaupt lung während der Dark Ages prägender Elemente) vgl. bes. Deger-Jalkotzy, Herrschaftsformen 143^t7; Mykene; Diskontinuität; s. jedoch u. Anm. 102 sowie Snodgrass, Archaeol. of Greece 172ff., bes. 179-209: wie weit dessen Vorstellungen mit denen von Frau Deger vereinbar sind, wäre zu erörtern. Vgl. auch die Beiträge von P. Blome und S. Deger-Jalkotzy im vorliegenden Band. Zu den Umwälzungen des 12.Jh.s v.Chr. und ihren Auswirkungen im Bereich des östlichen Mittelmeers und Nahen Ostens demnächst auch M. S. Joukowsky/W. Ward (Hrsg.), The Crisis Years: The 12th Century B.C., Berytus 39/40, Beirut 1991. 12 > Finley, World Od. 1 ( = Welt Od.; World Od. 2 ). Vgl. Finleys Bemerkung, World Od. 2 10: „When I wrote the book, in the early 1950s, the notion was generally accepted that the world of Odysseus was on the whole the Mycenaean world. [...] The small heretical minority, of w h o m I was one, were in a difficult polemical position." Finley war freilich nicht der erste und einzige; zumal die deutsche Altphilologie und Althistorie hatte längst dasselbe postuliert: vgl. bereits U . von Wilamowitz-Moellendorff, Die Ilias und Homer, Berlin 1916, 356—76, bes. 358f., 365; Schmid/Stählin, Literatur 55, 79f.; Lesky, Literatur (Anm. 1) 73-79 (bereits in der 1. Aufl., 1957/58, 56-59); Hasebroek, Wirtschaftsgesch.; W. Schadewaldt, Homer und sein Jahrhundert, in: Das Neue Bild der Antike I, Leipzig 1942, 51-90 ( = ders., Von Homers Welt und Werk, Stuttgart 4 1965, 87-129); Strasburger, Soziol. Aspekt; id., Der Einzelne; Hoffmann, Polis. Die alte Auffassung hielt sich freilich noch lange: die Beiträge in Α. B. Wace/F. H. Stubbings (Hrsg.), A Companion to Homer, N e w York 1962, sind von ihr dominiert (vgl. P. Vidal-Naquet, Homere et le monde mycenien. A propos d'un livre recent et d'une polemique ancienne, Annales ESC 18,1963, 703-19), und noch Austin/Vidal-Naquet, Economies 48 f. ( = id., Econ. & Soc. Hist. 37; id., Gesellschaft 29), bezeichnen die Vertreter dieser Auffassung als die Mehrheit; vgl. jüngst auch Dickinson, Homer 20-37. 13 > Finley, World Od. 1 ; Marriage, Sale and Gift in the Homeric World, Rev. intern, du droit de l'ant. 3. Ser. 2,1955, 167-94 ( = id., Econ. and Soc. 233-45); Homer and Mycenae: Property and Tenure, Historia 6, 1957, 133-59 ( = Econ. and Soc. 213-32). Konsistenz: Welt Od. 41-43; gut zusammengefaßt in World Od. 2 9: „The social institutions and values make up a coherent system, and, from our present outlook, a very alien one, but neither an improbable nor an unfamiliar one in the experience of modern anthropology." Vgl. auch ibid. 48 und 146, 153. Zur Bestätigung: u. Anm. 16. Anthropologie: Finley, ibid. 145 f.; zum Grundsätzlichen: id., Anthropology and the Classics, in: id., The Use and Abuse of History, London 1975, 102-19, sowie B . D . Shaw/R. P. Salier, in: Finley, Econ. and Soc. ix-xxvi.

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erst die Grundlagen dafür, diese homerische Gesellschaft als Ganzes historisch zu piazieren. Er hielt sie freilich für deutlich älter als die, die wir aus anderen Quellen für das späte 8. und frühe 7.Jh. rekonstruieren können. 14 ' Zudem akzeptierte er die damals geltende, aber seither widerlegte Auffassung, daß etwa das Rolandslied trotz seines Realismus in den gesellschaftlichen Verhältnissen nicht die dem Dichter zeitgenössische, sondern die etwa ein Jahrhundert zurückliegende Wirklichkeit schildere. Daraus folgerte er, die homerische Gesellschaft müsse „vor dem Aufkommen der griechischen Stadtstaatkultur", also am ehesten im 10. und 9.Jh. existiert haben. 15 ' Über Finleys Auffassungen ist zum Teil heftig debattiert worden. Die interne Konsistenz der von Homer geschilderten Verhältnisse ist seither von mehreren Forschern (darunter namentlich A. Adkins und W. Donlan) durch die detaillierte Untersuchung von Teilbereichen eindrucksvoll bekräftigt 16 ', aber von andern auch bestritten worden. Namentlich A. Snodgrass versuchte nachzuweisen, daß das von Homer präsentierte Bild im Gegenteil so widerspruchsvoll sei, daß eine einheitliche historische Gesellschaft ausgeschlossen werden müsse; es stelle vielmehr ein kunstvolles Amalgam aus Elementen verschiedener Epochen dar. 17 ' Diese Schlußfolgerung ist keineswegs neu; Finley selbst hat sich aus grundsätzlichen Erwägungen vehement dagegen geäußert. 18 ' Vor kurzem hat nun I. Morris die von Snodgrass und andern Kritikern vorgebrachten Argumente weitgehend

14> Finley, Welt O d . 2 4 f . ; World O d . 2 3 3 f . , 48, 1 5 4 - 5 6 . Grundlegend ist dabei die Frage, wie die von H o m e r geschilderte ,Polis' zu beurteilen sei; dazu u. Teil 6. Z u r Stichhaltigkeit von Finleys Argumenten: u. mit A n m . 26. 15> Finley, Welt O d . 41; World O d . 2 47 f. Rolandslied: Morris, Use and Abuse 95 mit Literatur. 16) Vgl. etwa Adkins, H o m e r i c Values 1 - 1 4 , bes. 1: „I find it impossible to believe [ . . . ] that the bards o f the oral tradition invented out o f their own imagination a society with institutions, values, beliefs and attitudes all so coherent and mutually appropriate as I believe myself to discern in the H o m e r i c poems. This aspect o f the poems is based upon some society's experience." Ähnlich W. Donlan, Reciprocities in Homer, Class. World 7 5 , 1 9 8 1 / 8 2 , 1 3 7 - 7 5 , bes. 172; Carlier, Royaute 211; Herman, Friendship X I . V g l . ferner Adkins, Merit and Responsibility: A Study in Greek Values, O x f o r d 1960; ,Honour' and ,Punishment' in the H o m e r i c Poems, Bull. Inst. Class. Stud. 7, 1960, 23—32; Moral Values and Political Behaviour in Ancient Greece, London/ N e w York 1972; H o m e r i c Gods and the Values o f H o m e r i c Society, J H S 92, 1972, 1 - 1 9 ; Values, Goals, and Emotions in the Iliad, Class. Philol. 77, 1982, 2 9 2 - 3 2 6 ; Donlan, Aristocratic Ideal; T h e H o m e r i c E c o n o m y , Amer. J o u r n . o f Anc. Hist. 6, 1981, 1 0 1 - 1 7 ; Social Groups 293—308; Pre-State C o m m . 5 - 2 9 . 17> A . M . Snodgrass, An Historical H o m e r i c Society? J H S 94, 1974, 1 1 4 - 2 5 ; vgl. id., Dark Age 3 8 8 - 9 4 . 18> V g l . z . B . G . S . Kirk, T h e Songs o f Homer, C a m b r i d g e 1962, Kap. 9 (,The Cultural and Linguistic Amalgam'); id., T h e H o m e r i c Poems as History, C a m b r i d g e Ancient History ( С А Н ) II 2, 3 1975, 8 2 0 - 5 0 , bes. 821 und 849; Lesky, Homeros 717, 7 4 0 - 5 0 ; Latacz, Kampfparänese 16 mit A n m . 39. Dagegen Finley, World O d . 2 153.

Homer und die Geschichte des S.Jh.s v. Chr.

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entkräftet und damit die Auffassung von der Konsistenz der homerischen Gesellschaft erneut bestärkt. 19 ' Insgesamt hat sich in dieser Hinsicht Finleys Auffassung weitgehend durchgesetzt. 20 ' Die heute wohl von den meisten Forschern akzeptierte Position läßt sich wie folgt umschreiben: Abzusehen ist von einzelnen Anachronismen, Archaismen und allenfalls genuinen Reminiszenzen (zu denen man etwa die Bronzewaffen, den Eberzahnhelm und die Verwendung des Streitwagens zählt, deren Bestimmung aber noch längst nicht befriedigend gesichert ist21') sowie von Personen, Ereignissen und anderen Elementen, die allenfalls von Anfang an den faktischen (und im wesentlichen festen) Kern der Überlieferung darstellten. Diese veränderte sich aber im Lauf der steten Neugestaltung und Uminterpretation durch viele Generationen von Sängern mit Sicherheit so massiv, daß ihr historischer Ursprung mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln nicht mehr auszumachen ist.22' Was übrigbleibt (und das ist die große Masse des epischen Materials): die den Hintergrund und die Lebensumwelt der Ereignisse und Personen bildenden und im Gegensatz zu diesen unbetonten sozialen, wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse, Beziehungen und Werte, sind überwiegend konsistent; sie lassen sich deshalb einer historischen, außerhalb der Epen existierenden Gesellschaft zuordnen. Es fragt sich dann, wie diese Gesellschaft zu datieren sei. Finleys Vorschlag (10./ 9.Jh.) ist von archäologischer Seite im Hinblick auf die kulturelle Regression, Armut und Isolierung der griechischen Welt in den Dark Ages zunächst zurückgewiesen worden 23 ', scheint aber neuerdings, nach der Entdeckung einer prächtigen „Fürstenbestattung" aus dem 10.Jh. in Lefkandi und anderen wichtigen Funden aus der gleichen Periode, etwas besser mit dem materiellen Befund vereinbar, als

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< Morris, Use and Abuse 105-15 (gegen Snodgrass); ibid. 102-4, 116-20 die Entkräftung der von A.A. Long, Morals and Values in Homer, J H S 90, 1970, 121-39, gegen Adkins und 137 Anm. 58 gegen die Historizität der homerischen Gesellschaft vorgetragenen Kritik; Adkins' energische Selbstverteidigung: Homeric Values; gegen Snodgrass auch Qviller, Dynamics 114. 20) Vgl. etwa Starr, Origins 156-64; ders., Individual 17; Austin/Vidal-Naquet, Economies 48-52 ( = Econ. & Soc. Hist. 37-40; Gesellschaft 29-32); Heubeck, Homer. Frage 166-77. 21 ' Vgl. etwa Schmid/Stählin, Literatur 55 ff., 73 f.; G. S. Kirk, Objective Dating Criteria in Homer, Museum Helveticum 17, 1960, 189-205, und demgegenüber den Versuch von DegerJalkotzy, Diskontinuität, manche früher zuversichtlich der mykenischen Epoche zugewiesenen Elemente in die spätmykenische Periode zu datieren; dazu auch Dickinson, Homer. Zur dichterischen Funktion solcher Archaismen s. jüngst Giovannini, Homers Welt 25-39, bes. 29 ff. (zur Bronze 30f. sowie D . H . F . Gray, Metal-Working in Homer, JHS 74, 1954, 1-15). 22 > Vgl. Finley, World Od. 2 43, 150-52, 159-77; id. et al„ The Trojan War, JHS 84, 1964, 1-20; Heubeck, Homer. Frage 159-66; Hampl, Ilias 51-99; Giovannini, Homers Welt 29-39, bes. 35, und bes. Latacz, Umfang 166-76. Vgl. jedoch Davies, Reliability 87-110. 23) Vgl. Snodgrass, Horn. Soc. (Anm. 17) bes. 124f.; vgl. auch id., Dark Age 2f. Z u m Problem, wie ,dunkel' die ,Dark Ages' wirklich waren, s. Anm. 35.

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m a n f r ü h e r d a c h t e . 2 4 ' F i n l e y s A n s a t z p a ß t a u c h d e n e n ins K o n z e p t ,

die,

wie

u r s p r ü n g l i c h a u c h W . D o n l a n , aus a n t h r o p o l o g i s c h e n E r w ä g u n g e n in d e n E p e n eine f r ü h e r e S o z i a l - u n d H e r r s c h a f t s s t r u k t u r e r k e n n e n , als m a n sie f ü r das späte 8 . J h . a n n e h m e n zu müssen glaubt.25' D e m stehen j e d o c h beträchtliche S c h w i e r i g k e i t e n e n t g e g e n . Finleys A r g u m e n t e sind aus h i s t o r i s c h e n G r ü n d e n n i c h t z w i n g e n d 2 6 ' , u n d seine D a t i e r u n g ist s c h l e c h t m i t d e n C h a r a k t e r i s t i k a v o n oral tradition

i m a l l g e m e i n e n u n d oral poetry

im

speziellen z u v e r e i n b a r e n . A u ß e r in g a n z b e s t i m m t e n , fast ritualisierten Z u s a m m e n h ä n g e n v e r m a g m ü n d l i c h e Ü b e r l i e f e r u n g in d e r R e g e l e i n e e i n i g e r m a ß e n präzise E r i n n e r u n g a n P e r s o n e n u n d E r e i g n i s s e k a u m l ä n g e r als drei G e n e r a t i o n e n z u b e w a h r e n . D i e s e r k l ä r t sich w e s e n t l i c h d a r a u s , d a ß s o l c h m ü n d l i c h e Ü b e r l i e f e rung

die F ä h i g k e i t h a t u n d d e m

Zwang

unterliegt,

sich d e n j e

bestehenden

g e s e l l s c h a f t l i c h e n Verhältnissen u n d N o t w e n d i g k e i t e n a n z u p a s s e n u n d d a m i t a u c h d e r e n s t ä n d i g e n W a n d e l m i t z u v o l l z i e h e n . D e n n sie lebt in h o h e m M a ß e

von

der Interaktion zwischen d e m E r z ä h l e r / D i c h t e r und seinem P u b l i k u m und m u ß deshalb d e n E r w a r t u n g e n u n d B e d ü r f n i s s e n dieses P u b l i k u m s e n t s p r e c h e n . 2 7 '

24> Vgl. M . Popham/E. Touloupa/L. H. Sackett, T h e Hero o f Lefkandi, Antiquity 56, 1982, 169-74; Blome, Lefkandi 9 - 2 1 , sowie Blomes Beitrag im vorliegenden Band. Der archäologische Befund scheint mir trotz dieser Entdeckungen (darunter möglicherweise auch der „hall o f representation" eines „chiefs" in Nichoria in Messenien: W. A. McDonald/W. D. E. Coulson/S. Rosser, Excavations at Nichoria in Southwest Greece III, Minneapolis 1983, 19-58; Fagerström, Finds 3 3 - 5 0 ) bislang die Verallgemeinerungen von Deger-Jalkotzy, Herrschaftsformen 145-47 (sowie in den andern in Anm. 11 genannten Arbeiten), noch nicht zu rechtfertigen. Vgl. auch Fagerström, Architecture 161 (zum ,Heroon' von Lefkandi): „Never before or after its construction was anything similar to it attempted as far as we know — whether in scale or methods o f construction. This means that until evidence to the contrary has been unearthed, this building must be regarded as a parenthesis in the history o f Greek architecture." 25) Vgl. die o. Anm. 16 angeführten Arbeiten von Donlan und Herman, bes. Donlan, Aristocratic Ideal 2 f . , Reciprocities 172f., Social Groups 2 9 8 - 3 0 5 . Donlan, der eine größere Untersuchung zur Entwicklung der frühgriechischen Gesellschaft vorbereitet (Arbeitstitel: From Chiefdom to City-State: Α Social History o f Dark Age Greece), hat inzwischen, nicht zuletzt aufgrund der archäologischen Befunde, seine Meinung geändert: „I would say that the picture given in the epics is ,valid' for the period roughly 8 5 0 - 7 5 0 , which I see as the period o f the chiefdom system in its developed f o r m " (briefl. Mitteilung). 26> Vgl. Morris, Use and Abuse 9 6 - 1 0 4 ; Qviller, Dynamics 113. 27> Zusammenfassend dazu Latacz, Homer 46, 110f.; Morris, Use and Abuse 8 3 - 9 1 mit Lit.; Ulf, Horn. Gesellsch. 2 3 3 - 3 8 ; vgl. auch A . B . Lord, T h e Singer o f Tales, Cambridge, Mass. 1960 ( = Der Sanger erzählt, wie ein Epos entsteht, München 1965), Kap. 2. Zur vergleichenden Oral-tradition-Forschung: J . Goody/I. Watt, T h e Consequences o f Literacy, in: J . Goody (Hrsg.), Literacy in Traditional Societies, Cambridge 1968, 2 7 - 6 8 ; J . Vansina, Oral Tradition as History, Madison, Wisconsin 1985; D. Henige, Oral Historiography, London et al. 1982; dazu aus historischer und literarhistorischer Sicht die Beiträge in: von Ungern-Sternberg/Reinau, Vergangenheit, und speziell für die griechische Geschichte R . Thomas, Oral Tradition and Written Record in Classical Athens, Cambridge 1989.

Homer und die Geschichte des 8.Jh.s v. Chr.

213

B e i m hochentwickelten griechischen H e x a m e t e r - E p o s m ö g e n die D i n g e allenfalls im vordergründigen und betonten Bereich der Ereignisse und Personen etwas anders liegen, die Erfahrungen der vergleichenden anthropologischen O r a l tradition-Forschung deshalb nicht unmittelbar anwendbar sein. 28 ' Dies ändert aber nichts daran, daß für die unbetonte Hintergrunds- und Zustandsschilderung, u m die es i m vorliegenden Z u s a m m e n h a n g primär geht, mit einem wohl eher noch kürzeren Erinnerungszeitraum und schnelleren Anpassungsrhythmus zu rechnen ist. H. Strasburger drückt dies in der einprägsamen Formel aus: „Je märchenhafter in der heroischen Sphäre, desto besser! [ . . . ] Aber im Bereiche seiner alltäglichen Wirklichkeit verlangt der Hörer H o m e r s Wahrscheinlichkeit." 2 9 ' Diese unerläßliche Anpassungsfähigkeit w u r d e i m Falle der epischen Tradition durch eine dynamische und sehr flexible ,Versifikationstechnik' erleichtert. D a s durch den relativ festen Bestand an ,Fakten' v o r g e g e b e n e Gerüst der epischen Erzählung w u r d e demnach von jeder Generation neu zu einem vollständigen Bild ausgefüllt, und diese .Ausfüllung' gestaltete der Sänger jeweils nach den Bedürfnissen seiner Zuhörer und aus den ihnen vertrauten Verhältnissen heraus. 3 0 ' Im Falle der homerischen Epen dürfte dies weniger w e g e n des Traditionalismus der formalisierten Überlieferung als vielmehr wegen einer bewußten Archaisierungs- und Verfremdungstendenz des Dichters etwas zu modifizieren sein. 31 '

28) Vgl. Davies, Reliability bes. 95-101; J . Latacz (Kommentar zu einer früheren Fassung dieses Beitrags): Der Fall der Griechen unterscheidet sich u.a. darin von den Naturvölkern, mit denen sich die vergleichende Anthropologie größtenteils befaßt, daß hier ein Volk eine erste kulturelle und politische Hochkonjunktur, dann eine Regression, dann eine zweite Hochkonjunktur erlebte. „Liegt einer mündlichen Erzähltradition eine derartige Zweigipfligkeit zugrunde (d.h. war diese Erzähltradition schon einmal eine hochelaborierte Reflexion einer hochdifferenzierten Gesellschaft, wie das beim griechischen Hexameter-Epos der Fall ist: vgl. jetzt auch M . L . West, The Rise of the Greek Epic, J H S 108, 1988, 151-72), dann treffen die N o r m e n von Naturvölker-Erzähltraditionen auf sie nicht zu." Die Voraussetzung dieser These, daß nämlich das Epos in ungebrochener Tradition in die mykenische Blütezeit zurückreicht, ist freilich nicht generell akzeptiert: vgl. nur Heubeck, H o m e r und Mykene 14. S. auch u. Anm. 31.

> Strasburger, Soziol. Aspekt 105 ( = Studien I 505); vgl. Finley, World O d . 2 145, 149. E. Visser, Homerische Versifikationstechnik. Versuch einer Rekonstruktion, Frankfurt etc. 1987; id., Formulae or Single Words? Towards a N e w Theory on Homeric Verse-Making, Würzb. Jahrb. 14, 1988, 21-37; zusammengefaßt von Latacz, U m f a n g 171 ff.; ibid., 170 eine gute Veranschaulichung der steten Uminterpretation der tradierten Fakten; vgl. auch Latacz, Kampfparänese 16-19. 31) Vgl. dazu wie zum Folgenden auch den Schluß dieses Beitrages. Gegen die Annahme eines ausgeprägten Traditionalismus der Formeln: Latacz, U m f a n g 170 f. Die Archaisierungstendenz geht weit über die bekannten Beispiele hinaus; vgl. zur „epic distance" J. Redfield, Nature and Culture in the Iliad: The Tragedy o f Hector, Chicago 1975, 35-39; zum .Verfremdungseffekt' P. Vidal-Naquet, Valeurs religieuses et mythiques de la terre et du sacrifice dans l'Odyssee, Annales E S C 25, 1970, 1278-95; Giovannini, Homers Welt; zum Grundsätzlichen: Morris, Use 29

30)

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Kurt A. Raaflaub

Dennoch ergibt sich als zwingende Folgerung, daß die epische Gesellschaftsschilderung (im oben genannten Sinne der Lebensumwelt der Heroen) für das Publikum Homers aktuell und verständlich gewesen sein muß. Sie kann deshalb weder als Ganzes dichterischer Erfindung oder einer längst vergangenen und nicht mehr aktuellen Zeit entstammen (ob man diese nun vor oder nach dem großen Zusammenbruch von 1200 ansetzt) noch wesentliche Teile einer fiktiven oder längst vergangenen gesellschaftlichen Wirklichkeit enthalten. Von einem sozialen oder kulturellen ,Amalgam' kann man folglich nur im Hinblick einerseits auf Reminiszenzen aus älteren Epochen und bewußte Archaismen, andrerseits auf das verschiedene Alter der einzelnen Elemente des epischen Gesellschaftsbildes sprechen. Gewiß gehen manche dieser Elemente auf die submykenische (vielleicht vereinzelt gar auf die mykenische) Zeit und die frühen Dark Ages zurück, aber sie sind nur deswegen Teile der ,homerischen Gesellschaft', weil sie zur Zeit des Dichters noch aktuell waren oder in lebendiger Erinnerung standen. 32 ' In diesem Sinne kann diese Gesellschaft als Ganzes kein kulturelles Amalgam sein und ist den Forschern recht zu geben, die — auch mit andern Gründen — für eine überwiegende Gleichsetzung des epischen Gesellschaftsbildes mit einer dem Dichter aus unmittelbarer Anschauung oder Erinnerung vertrauten Wirklichkeit eintreten. 33 ' and Abuse 89-91 mit Literatur; Vorbehalte bei Lesky, Homeros 749. Die Kombination solch bewußten Archaisierens und der Konzentration auf die Oberschicht dürfte ausreichen, das Fehlen mancher Phänomene, die dem Dichter bereits vertraut gewesen sein müssen, zu erklären; dies z.T. gegen Finley, World O d . 2 155-58; vgl. auch Giovannini 35f. Dennoch bleibt eine zumal für den Historiker entscheidende Frage: Wenn die Oral-poetry-Forschung immer mehr traditionelle Kompositionseinheiten aller Art, Größe und Inhalts (von kleinsten rhythmischen Teilen und Formeln bis zu Themen, ganzen Erzählungen und einer bestimmten „Weltsicht" [„outlook"]) nachweisen kann (vgl. J . Russo, H o w , and What, does H o m e r Communicate? The Medium and Message of Homeric Verse, in: E. A. Havelock/J. P. Hershbell [Hrsg.], C o m munication Arts in the Ancient World, N e w York 1978, 39—52, sowie den Beitrag von E . - R . Schwinge im vorliegenden Band) und als künstlerisches Ziel der Dichtung nicht das „anders Sagen", sondern das „schöner und wahrer S a g e n " (also die Vervollkommnung, nicht das Abweichen von der Tradition) postuliert wird (vgl. Latacz, Menschenbild 17 mit Lit.): wie verteilen sich dann Tradition und Neuerung, welche Gestaltungsfreiheit genießt da der epische Sänger? Diese Frage wird kaum j e direkt behandelt. Eine Antwort scheint mir nur möglich unter Berücksichtigung der sozialen Funktion des Heldenepos in seiner Zeit (dazu auch u. Teil 7) und der eben für mündliche Tradition und Dichtung charakteristischen ständigen Anpassung an die Erwartungen des Publikums (die „Horizontverschiebungen und Präferenzwandlungen in der zeitgenössischen Gesellschaft": Latacz, ibid. 20). Von daher müßte man den Spielraum des Dichters fur relativ groß (vgl. auch Heubeck, H o m e r und Mykene 5-7) und die Zeitaktualität der Dichtung für zwingend halten (vgl. auch Russo [wie oben] 45, 47-49). 32> Dies als Entgegnung auf S. Deger-Jalkotzys Verteidigung der Kirkschen AmalgamTheorie (o. A n m . 18), in: Herrschaftsformen 47 mit A n m . 88, sowie in den andern in A n m . 11 genannten Arbeiten. Dasselbe gilt für die jüngst von Geddes, Who's W h o 17-36, erneut vertretene These der überwiegenden Fiktionalität der homerischen Gesellschaft. 33) So jüngst Morris, U s e and Abuse 82; vgl. 83-94 mit reicher Literatur; ferner WickertMicknat, Unfreiheit 103-11 и.о.; Ulf, Horn. Gesellsch. 233-38.

Homer und die Geschichte des 8.Jh.s v. Chr.

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Diese Probleme sind freilich noch längst nicht ausdiskutiert. Die in der Forschung noch immer großen Diskrepanzen in Datierung und Verständnis der ,homerischen Gesellschaft' können nur im Zusammenwirken verschiedener Ansätze und Disziplinen überwunden werden. Neue Einsichten erhofft man sich vor allem von der Archäologie und einer systematischeren Einbeziehung anthropologischer Erkenntnisse. Aber auch sie werden nur zu befriedigenden Lösungen fuhren, wenn gleichzeitig die Ergebnisse der modernen Oral tradition- und Oral poetry-Forschung über die Entstehungsweise, den unmittelbaren Zweck und die soziale Funktion der Epen ernst genommen werden. 34 '

3. Demographische Veränderungen und die Anfänge der Kolonisation Die auf den Zusammenbruch der mykenischen Palastgesellschaften folgenden Jahrhunderte der Dark Ages waren insgesamt charakterisiert durch einen deutlichen Rückgang der Bevölkerung und des wirtschaftlichen und kulturellen Niveaus. Daran dürfte kein Zweifel bestehen, auch wenn Art und Umfang dieses Rückgangs umstritten bleiben, neue Funde (wie der von Lefkandi) zunächst partielle Revisionen des,düsteren Bildes' notwendig machen und extreme Ansichten sich kaum halten dürften. 35 ' Ebenso dürfte darin Einigkeit bestehen, daß, nach

34) Vgl. Morris, Use and Abuse 83; ferner u. Teil 7. In der mangelnden Berücksichtigung dieser Aspekte liegt m. E. eine der Schwächen von Donlans bisherigen Arbeiten. Andrerseits bezeugen, dies muß gegenüber den skeptischen Äußerungen in F. Gschnitzers Beitrag zum vorliegenden Band betont werden, gerade die Arbeiten von Donlan (Anm. 16) wie früher die von Finley (Anm. 13), J.-P. Vernant, P. Vidal-Naquet und manchen ihrer jüngeren französischen Kollegen, sowie jüngst bes. die von Herman (Anm. 16) eindrucksvoll, welch neue Horizonte des Verständnisses zumal der archaischen griechischen Gesellschaft durch die Einbeziehung anthropologischer Erkenntnisse eröffnet worden sind; vgl. auch Qviller, Dynamics 109-55, sowie Murray, Early Greece 68 ( = Frühes Griechenl. 85), während umgekehrt etwa die Analyse von Geddes, Who's W h o , bes. 28-36, wegen der völligen Ignorierung dieses Ansatzes viel von ihrer Wirkung einbüßt. Zu den drängenden Fragen des Historikers an die Oral poetryForschung vgl. o. Anm. 31. — Verwiesen sei hier noch auf die in der Reihe Vestigia (Bd. 43) soeben erschienene Arbeit von Chr. Ulf, Horn. Gesellsch. (den Hrsg. der Reihe danke ich fur eine Vorab-Kopie des Inhaltsverzeichnisses). 35 > Wie sie vor allem von A. Snodgrass vertreten werden, der einen Schwund der Bevölkerung auf etwa ein Viertel des mykenischen Zustandes erschließt und von einem „near vacuum" spricht: Dark Age 360ff.; Archaic Greece 18-22; id., Archaeol. and Rise 15, 33f. Im Falle von Lefkandi haben die neuen Funde (Anm. 24) seine Schätzungen (Archaic Greece 18f.: im 10.Jh. eine durchschnittliche Einwohnerzahl von 15-25) wohl eindeutig als zu niedrig erwiesen; vgl. Blome, Lefkandi bes. 9-12; Latacz, Homer 55; anders jedoch Snodgrass, Notes 167-69. Dies dürfte sich an andern Orten wiederholen, aber der aus weiten Teilen der griechischen Welt zusammengetragene und verschiedenste Lebensaspekte umfassende Befund ist nach wie vor sehr deutlich; vgl. generell auch Starr, Origins, bes. Kap. 3; Desborough, Dark Ages, bes. Teile IV und VI; Coldstream, Geometrie Greece 17, 23-54; Snodgrass, Archaeol. of Greece 172-209;

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K u r t A. R a a f l a u b

Ansätzen im 9.Jh., die Bevölkerung im 8.Jh. vielerorts stark zunahm. Es fragt sich nur, wie schnell dieser Zuwachs erfolgte, wie er zu erklären ist und wie er sich auswirkte. Die Auseinandersetzung mit A. Snodgrass, der vor allem aufgrund der aus attischen Gräberfunden erschließbaren Bestattungszahlen pro Generation ein geradezu meteorisches Bevölkerungswachstum seit dem frühen 8.Jh. postuliert, muß ich den Archäologen und Anthropologen überlassen. 36 ' Dasselbe gilt für den neuerdings von I. Morris vorgelegten Versuch, die sprunghaft schwankenden Gräberzahlen Attikas mit einer Theorie der durch soziale Veränderungen verursachten wechselnden Belegung der Gräberfelder zu erklären. 37 ' Mir kommt es einzig auf die auch durch andere Indizien gestützte Tatsache einer deutlichen Bevölkerungszunahme im 8.Jh. an. 38 ' Selbst wenn diese — was ja unter den Bedingungen jener Epoche von vornherein unwahrscheinlich ist — nicht .explosiv' erfolgte und die Bevölkerung sich weder versiebenfachte (Snodgrass) noch verdreifachte (Coldstream), so konnten doch angesichts der beschränkten Reserven an nutzbarem Land, der jederzeit auch in Serie zu befürchtenden Mißernten und

Donlan, H o m e r i c temenos 134ff. mit Lit. in A n m . 22. Vgl. ferner o. A n m . 11 sowie k ü n f t i g W. D. E. Coulson, T h e Greek Dark Ages: A R e v i e w of the Evidence and Suggestions for Future Research, Athen 1990 (mir noch nicht zugänglich). y '> Snodgrass, Archaeol. and Rise 10-14; Archaic Greece 19-25: eine Versiebenfachung im Verlauf von zwei Generationen (23). Ähnliches ist anderweitig beobachtet w o r d e n , so in Argos und der Argolis v o n R . H ä g g (zitiert v o n Snodgrass, Archaeol. and Rise 15 A n m . 12) u n d J. Bintliff, Natural E n v i r o n m e n t and H u m a n Settlement in Prehistoric Greece I, Brit. Archaeol. Reports, Suppl. Ser. 28, 1977, 212. Vgl. auch Coldstream, G e o m . Greece 109, mit weiteren A r g u m e n t e n (sprunghafte Z u n a h m e v o n Brunnenschächten in Athen und v o n Siedlungen in Attika, die auf eine Verdreifachung der B e v ö l k e r u n g im 8.Jh. schließen lassen); so auch id., G e o m . Pottery 360-62; id., Formation; Fagerström, Architecture 141—43. Eine divergierende Erklärung des attischen Gräberbefundes bei J. M c K . C a m p , A D r a u g h t in the Late Eighth C e n t u r y B . C . , Hesperia 48, 1979, 397-411; dagegen etwa Murray, Early Greece 9f., 176-78 ( = Frühes Griechenl. 233-35) mit einer alternativen Erklärung; Snodgrass, N o t e s 169-71; Morris, Burial Kap. 9; ibid. w i e auch Kap. 5 u . ö . gegen Snodgrass' Berechnungen, die dieser g e m ä ß Fagerström, Architecture 141 A n m . 43, inzwischen modifiziert hat: „ T h e population increase is still there b u t not so drastic" (vgl. auch Snodgrass, Formazione 18, und id., in einer briefl. Mitteilung: „ T h e citation given [by Fagerström] is perfectly accurate and I have repeated it several times in public lectures. It simply reflects m y acceptance of the main a r g u m e n t s used in Ian Morris' b o o k [Burial], and implies a picture like the one s h o w n in his Figure 22 on p. 73."). Generelle Zweifel bei Starr (wie u. A n m . 40); Kritik an Snodgrass auch bei Holloway, Italy 144f., mit einer alternativen Erklärung (starke Konzentration der B e v ö l k e r u n g aus Attika in Athen), die sich freilich mit der von Coldstream u n d Snodgrass (auch Archaeol. and Rise 10) vertretenen Auffassung einer von Athen ausstrahlenden Siedlungsintensivierung in Attika nicht verträgt. 37) Morris, Burial; vgl. die Rez. v o n C. Antonaccio, A m . J o u r n . of Archaeol. 93, 1989, 296f.; R . Garland, Class. Rev. 39, 1989, 66; und bes. S . C . H u m p h r e y s , Helios 17, 1990, 263-68. 38) Coldstream (wie in A n m . 36); Morris, Burial 156-58; Ulf, H o r n . Gesellsch. 238-45. W i c h t i g Morris 158: „Greece probably fits into a large pattern affecting the w h o l e Mediterranean and near Eastern w o r l d in the eighth and seventh centuries B . C . "

H o m e r und die Geschichte des 8.Jh.s v . C h r .

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der noch kaum entwickelten Möglichkeiten umfangreicher Getreideimporte die Auswirkungen einer beschleunigten Zunahme fur die betroffenen Gemeinden rasch katastrophal werden. Nach dem archäologischen Befund stellt das 8.Jh. auch eine Periode wachsenden Wohlstands, zunehmender Ressourcen und kollektiver Leistungskraft und einer rasch fortschreitenden wirtschaftlichen und sozialen Differenzierung dar (u. Teil 5). Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum stehen, zumal in relativ undifferenzierten Gesellschaften, in einem ursächlichen Zusammenhang. Beides setzt eine generelle Beruhigung der Verhältnisse voraus, die nach den Umbrüchen der frühen Dark Ages offenbar im 10. und zumal im 9.Jh. eintrat. 39 ' Dies aber vermag nur teilweise zu erklären, weshalb die Entwicklung sich derart deutlich beschleunigte, daß bereits im letzten Drittel des 8.Jh.s eine spürbare Überbevölkerung resultierte. 40 ' Wiederum ist es Snodgrass, der mit seiner Theorie der ökonomischen Revolution' zumindest eine weitere Teilerklärung besonders prägnant formuliert hat. 41 ' Danach hätte der Übergang von der in den frühen Dark Ages nachweisbaren überwiegend auf Herdenbesitz und Fleischverzehr eingestellten zu einer vorwiegend agrarischen, ,Brot essenden' Gesellschaft relativ plötzlich und erst kurz vor dem 8.Jh. stattgefunden. Dadurch sei es möglich geworden, auf demselben Territorium eine ungleich größere Bevölkerung zu ernähren. Daß wirtschaftlich und ideologisch' der Ackerbau spätestens im Verlauf des 8.Jh.s vollends den Vorrang erhielt, scheint gewiß. 42 ' Ungewiß aber ist einerseits, ob dieser Vorgang sich so plötzlich und schnell abspielte, und andrerseits, ob er so eindeutig Vorraussetzung der Bevölkerungsexplosion und nicht vielmehr deren Folge war, so daß die Umstellung unter dem zunehmenden Druck der Verhältnisse erfolgt wäre. Zu beachten ist jedenfalls, daß der alte Wirtschaftsstil zunehmend zu einem Privileg des Adels wurde, der dank seiner Ressourcen wenigstens teilweise daran festzuhalten vermochte. 43 ' Man wird wohl mit einer Interdependenz zwischen den beiden Entwicklungen zu rechnen haben 44 ', aber hier ist noch manches offen.

39) Vgl. Snodgrass, D a r k Age 402-16; Coldstream, G e o m . Greece Teil I; jetzt etwas modifiziert in Snodgrass, Archaeol. of Greece 188 ff. ^ Starr, G r o w t h 43-46. 41 ' Snodgrass, Dark A g e 378—80; Archaeol. and Rise 15; Archaic Greece 35—37. 42) Snodgrass, bes. Archaic Greece 36f., und Archaeol. of Greece 193-209; Fagerström, Architecture 139-45. 43) Vgl. die Kollektivbezeichnungen des Adels als pacheis, geomoroi, hippobotai etc.: G. Busolt, Griechische Staatskunde I, M ü n c h e n 1920, 210 f. Ähnliches gilt ausgeprägt auch f u r das f r ü h e Rom. 44 > Vgl. z.T. Coldstream, G e o m . Greece 313f.; M u r r a y , Early Greece 46f. ( = Frühes Griechenl. 56 f.); Fagerström, Architecture 143. N a c h E. Boserup, T h e Conditions of Agricultural G r o w t h : T h e Economics of Agrarian C h a n g e under Population Pressure, Chicago 1966, 58, ist die Intensivierung des Ackerbaus üblicherweise die Folge von Bevölkerungsdruck.

218

Kurt A. Raaflaub

Etwas besser verstehen wir die Auswirkungen dieser Entwicklung. Die Bevölkerungszunahme verursachte Spannungen und tiefgreifende Veränderungen in allen Lebensbereichen. Land wurde rar, neues Land wurde unter den Pflug genommen, Siedlungen dehnten sich aus, neue Siedlungen entstanden, das innerhalb natürlicher Landschaftskammern liegende Territorium füllte sich aus. Mit dem Ansteigen des Wertes von Landbesitz entstand Wettbewerb, wurden Besitzansprüche ideologisch und religiös untermauert, wurden Regelungen aller Art nötig, nahmen Streitfälle zu und wurde ein vertrauenswürdiges System der Streitschlichtung zu einem öffentlichen Anliegen. Die führenden Familien, aus denen sich mit der Zeit der griechische Adel entwickelte, wurden jetzt die großen Landbesitzer (u. Teil 5). Die innerhalb des Oikos seit alters bestehenden hierarchischen Strukturen schlugen sich in Formen der agrarischen Abhängigkeit nieder, die tendenziell auch die umliegenden Bauern und, über die Gemeindefunktionen der Großbauern, auch andere Gemeindeglieder erfaßten. Darin lag eine Quelle sozialer Konflikte. Wo, wie etwa in Attika, die Landreserven ausreichten, konnten die Bedürfnisse der wachsenden Bevölkerung lange intern befriedigt werden. Andernorts erzwang die Landnot bald drastischere Maßnahmen. Die traditionellen handfesten Nachbarschaftsfehden um Vieh und Beute erhielten jetzt eine potentiell ernstere Komponente: der Streit um Land führte zu organisierten Kriegen, Annexion von Territorien und Zerstörung gegnerischer Siedlungen. Im Zusammenhang mit dem allem wurden neue Organisations- und Bewußtseinsstrukturen nötig, die der Bewältigung solch gemeinschaftlicher Bedürfnisse dienten; hier ist die Entstehung der Polis und der Hoplitenphalanx einzuordnen (u. Teile 4 und 6). Andrerseits zwang die Landnot, kombiniert mit anderen Faktoren, viele zur Auswanderung. Das Resultat war die sogenannte .Kolonisationsbewegung' (s. unten) und damit eine Ausweitung des Horizonts und Lebensraumes, die der politischen und kulturellen Entwicklung der Griechen entscheidende Impulse vermittelte. Dies ist eine gewiß zu einfache und schematische Skizze eines komplexen Vorganges, der von weiteren wichtigen Faktoren genährt wurde. Aber die grundlegende Bedeutung des demographischen Faktors bleibt zu betonen. Bevor in den folgenden Abschnitten einzelne Facetten dieser Skizze näher betrachtet werden, sollen hier einige kurze Bemerkungen zu den Anfängen der Kolonisation angeschlossen werden, deren Erfahrungen in verschiedenen Partien der Epen faßbar sind. 45 ' Die historischen Fakten — die Gründung von Pithekussai und Kyme noch in der ersten Hälfte (ca. 775 und 750) und die weiterer Kolonien in Sizilien und 45 ' Bes. Od. 6, 4—10 über die Kolonisation von Scheria durch die Phäaken (gegen Finley, World Od. 2 48 und bes. 156 [„These verses could equally reflect the first settlements in Ionia about or soon after 1000 B.C."], vgl. Morris, Use and Abuse 97f.); 9, 116^-1 über die Kyklopeninsel (Beschreibung eines idealen Ortes fur eine Kolonie); auch II. 2, 653—70 über die Besiedlung von Rhodos.

Homer und die Geschichte des 8.Jh.s v. Chr.

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Süditalien in der zweiten Hälfte des 8.Jh.s (traditionell seit 734) - müssen hier vorausgesetzt werden. 46 ' Wichtig ist im vorliegenden Zusammenhang vor allem folgendes: 1. Die den Koloniegründungen vorangehenden Kontakte und die Gründung von Pithekussai-Kyme waren wohl primär durch Handelsinteressen angeregt. Solche Interessen spielten gewiß auch sonst eine von Ort zu Ort verschiedene, aber generell durchaus wichtige Rolle. Dennoch war die im letzten Drittel des 8.Jh.s einsetzende Auswanderungsbewegung offenbar vor allem von der Landnot diktiert 47 ', was die zuvor diskutierte Bevölkerungszunahme im Mutterland bestä-

46 ' Vgl. im einzelnen J. Berard, La colonisation grecque de l'Italie meridionale et de la Sicile dans l'antiquite: L'histoire et la legende, Paris 1941; T.J. Dunbabin, The Western Greeks: The History of Sicily and South Italy from the Foundation of the Greek Colonies to 480 B.C., Oxford 1948; J. Boardman, The Greeks Overseas, Harmondsworth 1964 ( = Kolonien und Handel der Griechen, München 1981); Graham, Colony 8-22; id., Col. Exp. 83-113; Ε. Leporc, Cittä-stato e movimenti coloniali: struttura economica e dinamica sociale, in: R . Bianchi Bandinelli (Hrsg.), Storia e civilta dei Greci I: Origini e sviluppo della citta, Mailand 1978, 183-253; Asheri, Colon. 89-142; Holloway, Italy 133-51; Murray, Early Greece 100-19 ( = Frühes Griechenl. 130-58). Z u m Archäologischen: Coldstream, Geom. Greece 221—45. Zur Situation in Italien und Sizilien zur Zeit der Ankunft der Griechen: Holloway, Italy 107—32. Zur Diskussion der von Thukydides 6, 3 - 5 gegebenen Gründungsdaten: ibid. 133-35 mit Anm. 5; A.W. Gomme et al., A Historical Commentary on Thucydides IV, Oxford 1970, 198-210; Asheri, Colon. 91-98; Graham, Col. Exp. 89-91. 47) Zur Bestätigung vgl. etwa die bei Hdt. 4, 150-58 (dazu u. Anm. 49) und Plut. Мог. 293b berichteten Vorgänge; in diesem Sinne allgemein A. Gwynn, The Character of Greek Colonization, JHS 38, 1918, 107—23; Η. Schaefer, Eigenart und Wesenszüge der griechischen Kolonisation, Heidelb. Jahrb. 4, 1960, 77-93 ( = id., Probleme der Alten Geschichte, Göttingen 1963, 362-83); Snodgrass, Archaic Greece 40f.; Graham, Col. Exp. 157-59; Murray, Early Greece 107f. ( = Frühes Griechenl. 140f.). Zur Bedeutung von Handelsinteressen vgl. etwa Boardman, Greeks Overseas (Anm. 46) 176-79; Starr, Growth 62f.; E. Lepore, Osservazioni sul rapporto tra fatti economici e fatti di colonizzazione in Occidente, Dialoghi di archeol. 3, 1969, 175-212; S. C. Humphreys, II commercio in quanto motivo della colonizzazione greca dell' Italia e della Sicilia, Riv. Stor. Ital. 77, 1965, 421-33; Wickert-Micknat, Unfreiheit 101 f. Das Wesentliche wird besonders deutlich im Kontrast zur gleichzeitigen phönizischen Kolonisation, die offenbar wirklich primär Handelsinteressen diente und deshalb völlig anders geartet ist; nur Pithekussai ist auf griechischer Seite damit vergleichbar: vgl. Niemeyer, Phönizier im Westen (Anm. 83) 29-62, bes. 48—55. Auch im Fall von Korinth, wo mehrere Indizien fur eine bewußte Handelspolitik zu sprechen scheinen, plädieren die meisten Forscher dafür, die Kolonien seien primär durch Landnot motiviert gewesen, die Handelsvorteile sekundär dazugekommen; vgl. z.B. Will, Korinthiaka 319-38; Graham, Colony 218-23; J . B . Salmon, Wealthy Corinth: A History of the City to 338 B.C., Oxford 1984, 62-65. Vermittelnd Asheri, Colon. 99 ff., bes. 103: ,,Ρίύ che a contrasto ed incompatibilita tra economia domestica e commercio nel mondo arcaico, bisogna pensare alia coesistenza complementare di attivita private di traffico e scambio ,accanto' alia struttura essenzialmente agraria della societä gentilizia tradizionale basata sull' ,oikos'. [...] Bisogna dunque ammettere attivita di scambio anche non-agricolo e di traffico ,acquisitivo' [...], senza con questo offuscare anche minimamente il carattere essenzialmente agrario e domestico dell'economia arcaica." Vgl. auch Chr. Meier, Die Entstehung des Politi-

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Kurt A. Raaflaub

tigt. Wieweit der Bevölkerungsdruck im Mutterland tatsächlich gemildert wurde, ist freilich unklar — die im 7.Jh. unvermindert weitergehende Kolonisation spricht eher dagegen —, und es ist gut denkbar, daß die enorme Ausweitung des griechischen Siedlungsraumes die Bevölkerungsexplosion' weiter anheizte, daß also zwischen Kolonisation und Bevölkerungszunahme eine kausale Interdependenz bestand. 48 ' 2. Die Aussendung einer Kolonie erfolgte in der Regel aufgrund eines offiziellen Aktes. Der Anführer (Oikist) wurde von der Gemeinde bestimmt, unter Umständen wurden auch die Teilnehmer durch Gemeindedekret verpflichtet, und Rat und Unterstützung des delphischen Apollon Archegetes waren für den Erfolg des Unternehmens entscheidend. 49 ' Dieses aus späterer Zeit bekannte Aussendungsritual dürfte in den Grundzügen alt sein. Es spricht somit vieles dafür, daß mindestens seit 734 die Koloniegründung Resultat einer kollektiven Aktion der aussendenden Gemeinde war und in deren Interesse und oft genug als Antwort auf eine existenzbedrohende Krise erfolgte - wie ja auch zwischen aussendender

sehen bei den Griechen, Frankf./M. 1980, 5 9 f . Holloway, Italy 1 4 2 - 4 9 , betont zu R e c h t , wenngleich zu einseitig, die individuellen M o t i v e der beteiligten Adligen (Unzufriedenheit, Suche nach neuen Chancen): fur sie war die stenochoria (Plat. N o m . 708 B ) politischer' Natur (so auch I. Malkin briefl.). 48> So Murray, Early Greece 107f. ( = Frühes Griechenl. 140f.). I. Malkin (briefl. Mitteilung) weist auf ein oft übersehenes Phänomen hin: die große Zahl offenbar alleinstehender Männer, die sich als Emigranten (wie Hesiods Vater), Kolonisten oder Söldner allein oder in Gruppen in der Welt umhertrieben; „Archilochos w h o lived to be both a wandering soldier and a colonist epitomizes for m e this pouring forth o f m e n . " 4 9 ) Vgl. Murray, ibid. 1 0 8 f . bzw. 141 f.; Snodgrass, Dark Age 4 1 6 f . , und das Beispiel von T h e r a - K y r e n e (Hdt. 4, 1 5 0 - 5 8 [dazu Murray 1 1 3 - 1 8 bzw. 1 4 9 - 5 8 ; Davies, Reliability 9 2 - 9 5 ] mit dem inschriftlich aus dem 4 . J h . erhaltenen, deshalb von vornherein problematischen, aber dennoch von vielen inhaltlich als authentisch anerkannten Dekret und Eid der Versammlung von Thera: Meiggs/Lewis, Inscriptions, Nr. 5; C . W . Fornara, Archaic T i m e s to the End o f the Peloponnesian War, Transl. Documents o f Greece and R o m e I, C a m b r i d g e 2 1983, Nr. 18; vgl. Graham, Colony, R e g . s.v. Cyrene, foundation decree; C o l o n . Exp. 135 ff.; id., T h e Authenticity o f the horkion ton oikisteron o f Cyrene, J H S 80, 1960, 9 4 - 1 1 1 ; L . H . Jeffery, T h e Pact o f the First Settlers at Cyrene, Historia 10, 1961, 1 3 9 - 4 7 ; Dusamc, Horkion 5 5 - 7 6 ) . Rolle des Oikisten: Graham, C o l o n y 2 9 - 3 9 ; Leschhorn, Gründer 6 - 1 1 7 ; Malkin, Religion, bes. Teil 2. Dekrete: Graham, ibid. 4 0 - 6 8 . Apollon und Delphi: Leschhorn 1 0 9 - 1 5 ; Murray, Early Greece 109 ( = Frühes Griechenl. 143); Graham, Col. Exp. 8 9 - 9 1 ; I. Malkin, Apollo Archegetes and Sicily, Ann. Scuol. N o r m . Sup. Pisa, 3. Ser. 16, 1986, 6 1 - 7 4 ; Snodgrass, Interaction 5 3 - 5 5 ; weitere Lit. bei Holloway, Italy 143 A n m . 38, sowie demnächst С . Dougherty-Glenn, It's Murder to Found a Colony, in einem Tagungsband ,Cultural Poetics in Archaic Greece: Tyranny, Cult, and C i v i c Ideology'. Generell zur Rolle Delphis in der Kolonisation: W. G. Forrest, Colonisation and the R i s e o f Delphi, Historia 6, 1957, 1 6 0 - 7 5 ; Leschhorn, Gründer 105—9; Malkin, Religion 1 7 - 9 1 . Daneben fehlte es gewiß nicht an unautorisierten Aktionen durch Abenteurer und ihre Banden: vgl. als Beispiel Hdt. 5, 41^18.

H o m e r und die Geschichte des 8.Jh.s ν. Chr.

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Gemeinde und Kolonie weiterhin enge Beziehungen mit gegenseitigen Verpflichtungen bestanden.50^ Dies ist bei der Erörterung der frühen Polis zu bedenken. 3. Die neuen Kolonien entsprachen von Anfang an in wesentlichen Zügen dem Polismodell. Die Annahme scheint plausibel, daß zumindest die der Polis zugrundeliegenden Ideen und Mentalitäten und damit auch ihre elementaren sozialen und politischen Strukturen (im Gegensatz zu den urbanistischen Strukturen der Stadt: u. Teil 6 mit Anm. 116) von den Auswanderern aus der Heimat mitgenommen wurden und deshalb dort in nuce bereits bestanden (ibid. mit Anm. 127) — so sehr sie sich in der neuen Umgebung unter dem Zwang der Verhältnisse geradezu sprunghaft weiterentwickelt haben und damit denen in der Heimat bald vorausgeeilt sein mögen. Jedenfalls waren in den Kolonien zentrale Siedlung und Territorium untrennbar miteinander verbunden, die Gemeinde basierte zumindest anfänglich auf dem Prinzip der Gleichheit der Bürger, sie war mit einem starken Gemeinschaftsbewußtsein ausgestattet, und kollektives Handeln war selbstverständlich und zum Erfolg unerläßlich. 51 ' Die Siedler hatten ihre Heimat aus Not und allenfalls Unzufriedenheit mit den bestehenden sozialen und politischen Verhältnissen verlassen und strebten ein in jeder Beziehung besseres Leben an. Dafür, daß bei der Organisation der Gemeinde und des Territoriums nach klaren, offenkundig im voraus konzipierten Prinzipien verfahren und bei der Verteilung des Landes an die Siedler auf geregelte Ordnung und mindestens teilweise auf Gleichheit geachtet wurde, gibt es historische und archäologische Indizien. 52 ' Daß auch in sozialer und politischer Hinsicht oft neue Formen erprobt

50) T h e r a - K y r e n e bieten ein gutes Beispiel (Anm. 49). Rechtsbeziehungen: R . Werner, P r o bleme der Rechtsbeziehungen zwischen Metropolis und Apoikie, C h i r o n 1, 1971, 19-73; J. Seibert, Metropolis und Apoikie. Historische Betrachtungen zur Geschichte ihrer gegenseitigen Beziehungen, Diss. W ü r z b u r g 1963. D a ß akuter Landmangel zu sozialen u n d politischen K o n flikten führte, ist wahrscheinlich, aber f ü r diese Frühzeit schlecht belegbar; vgl. etwa Will, Korinthiaka 319 f. Z u Sparta u n d der G r ü n d u n g v o n Tarent durch die ,Partheniai' vgl. F. Kiechle, Lakonien u n d Sparta, Vestigia 5, M ü n c h e n 1963, 176-83; Cartledge, Sparta 123 f. Vor Verallgemeinerungen ist freilich zu warnen: Chalkis, Megara u n d Milet, die im 8. und 7.Jh. reihenweise Kolonien gründeten, dürften ihrer Erfahrung in den betreffenden Gebieten wegen den Oikisten gestellt haben, w ä h r e n d die Siedler w o h l aus den verschiedensten Gebieten k a m e n (vgl. A n m . 53). 51 > Dies zu Recht betont etwa von Starr, Individual 36. Vgl. etwa Vallet, Cite 141: „Je suis de plus en plus frappe par l'organisation qui, des le debut, caracterise le m o n d e coloniale [...] Bien entendu, cette organisation ne porte pas seulement sur les choses, mais sur les personnes: les poleis ont une politique qui assure [...] leur main-mise sur des h o m m e s qui cultiveront les terres et sur des f e m m e s qui assureront la descendance." Im Verlauf der weiteren E n t w i c k l u n g k a m es dann zu Verschiebungen: die ursprünglichen Siedler w u r d e n etwa vielfach zu einer Aristokratie, spätere Zuzügler erhielten minderen Status; vgl. (mit guten Beobachtungen auch zu anderen Fragen) Murray, Early Greece 110-13 ( = Frühes Griechenl. 144-49). 52) Gleichheit: vgl. Z . 27f. der A n m . 49 genannten Inschrift (daß die erstmals Mitte des 5.Jh.s [Inscr. Cret. IV 78, Z . 2] bezeugte Formel epi tat isai kai tai homoiai bereits ins 7. oder gar späte 8.Jh. zurückgeht, ist freilich u n g e w i ß ; vgl. Dusanic, Horkion 59f.; D . H e n n i g , Besitzgleichheit

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K u r t A. R a a f l a u b 53

wurden, ist wahrscheinlich. ) Entsprechende Erfahrungen und Errungenschaften dürften auf das Mutterland zurückgewirkt und dort dem politischen Denken, der sozialen und politischen Entwicklung der Gemeinden und den sozialen Auseinandersetzungen kräftige Impulse vermittelt haben. 54 )

4. Krieg und Militärorganisation Zunächst ein Wort zu den Kriegen der .homerischen Gesellschaft': Abgesehen vom Kampf um Troia selbst finden sich in den Epen vornehmlich zwei Kriegsformen, die beide primär der Erbeutung bzw. Verteidigung von materiellem Besitz dienen. 55 ' Einerseits handelt es sich um Fehden, die zwischen benachbarten Städten

u n d Demokratie, in: W. Schuller/W. H o e p f n e r / E . L. Schwandner [Hrsg.], D e m o k r a t i e und Architektur. Der hippodamische Städteplan u n d die Entstehung der Demokratie, Berlin 1989, 25-28). Vgl. insgesamt Murray, Early Greece 110f. ( = Frühes Griechenl. 144f.). Bes. aufschlußreich dazu etwa D . Asheri, Distribuzioni di terre nell'antica Grecia, M e m . Accad. Torino, cl. di sc. mor., stor. e filol., ser. 4 a N r . 10, Turin 1966, 7—16; id., Osservazioni sulle origini dell'urbanistica ippodamea, Riv. Stor. Ital. 87, 1975, 5 - 1 6 ; Vallet, Cite 67-142, bes. 74-78, 94ff.; id., Espace prive et espace public dans u n e cite coloniale d'occident (Megara Hyblaea), in: M . I . Finley (Hrsg.), Problemes de la terre en Grece ancienne, Paris/Den H a a g 1973, 8 3 - 9 4 (sowie die Beiträge von D . Adamesteanu, E. Lepore und R . M a r t i n im selben Band); id., Urbanisation et organisation de la chora coloniale grecque en G r a n d e Grece et en Sicile, in: F o r m e di contatto с processi di trasformazione nelle societä antiche (Atti del c o n v e g n o di C o r t o n a 1981), Pisa/ R o m 1983, 937-56; G. Vallet/F. Villard/P. Auberson, Megara Hyblaea III: Guide des Fouilles. Introduction a l'histoire d ' u n e cite coloniale d'occident, R o m 1983, 144 ff. Bedenken dagegen bei Hennig, Besitzgleichheit (wie o.) 25—30, der betont, daß sich die e r w ä h n t e Gleichheitsformel auch auf den Rechtsstatus beziehen k o n n t e und daß in j e d e m Fall der Oikist und allenfalls weitere p r o m i n e n t e Kolonisten privilegiert w u r d e n . 53 > Trotz der zunächst selbstverständlichen Ü b e r n a h m e der nomima der Mutterstadt (vgl. Graham, Col. Exp. 153), u n d zumal w e n n die Siedler, wie w o h l häufig, aus verschiedenen O r t e n stammten; dazu Graham, C o l o n y 15f.; Asheri, C o l o n . 106—17, bes. 110f., 116f. Vgl. auch Vallet, Urbanisation (Anm. 52) 947: Eine der wichtigsten A u f g a b e n des Oikisten sei es gewesen „de creer dans tous les domains une relative coherence entre ces differents elements: la c o m m u n a u t e de la polis [coloniale] est une c o m m u n a u t e acquise [ . . . ] et n o n u n e donnee premiere." Vgl. insgesamt auch Malkin, Religion 1, 136, 164ff., 183—85, 263 u . ö . 54) Snodgrass, Archaic Greece 41 f.; Formazione 13f.; Murray, Early Greece 118f. ( = Frühes Griechenl. 157f.). Solche A u s w i r k u n g e n sind f ü r uns a m ehesten im wirtschaftlichen Bereich faßbar: die in solonischer Zeit bezeugte F o r d e r u n g nach isomoiria, Gleichverteilung des Bodens (Solon, Fragm. 23,21 Diehl = 3 4 , 9 West; Aristot. Ath. Pol. 12,3) m a g durch koloniale Erf a h r u n g e n angeregt gewesen sein. Ein weiteres Beispiel bei Aristot. Pol. 1265b 12—16. 55) Vgl. generell W. N o w a g , R a u b u n d Beute in der archaischen Zeit der Griechen, Frankfurt/ M . 1983. Z u r Priorität materieller Gesichtspunkte in der antiken K r i e g f ü h r u n g : M . I . Finley, Soziale Modelle zur antiken Geschichte II: Krieg u n d Herrschaft, H Z 239, 1984, 286-308. Z u r Verteilung von Beute: M . Detienne, En Grece archai'que: Geometrie, politique et societe, Annales E S C 20, 1965, 425-41; K. Latte, Kollektivbesitz u n d Staatsschatz in Griechenland, Nachr. Akad. Göttingen, phil.-hist. Kl. 1946/47, 64—75 ( = id., Kleine Schriften zu Religion,

Homer und die Geschichtc des 8.Jh.s v. Chr.

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um Vieh und Beute ausgetragen werden; dementsprechend wird aus dem Heerlager der Griechen unversehens eine improvisierte befestigte Stadt 56 ' und aus dem Troianischen Krieg so etwas wie eine Fehde zwischen zwei Städten. Andrerseits kennt man den Seeraub und Beutezug, in dem Adlige eine Anzahl von Schiffen mit ihren Gefolgsleuten bemannen und nahe und ferne Küsten plündern. 57 ' Das in der Ilias vorausgesetzte gesamtgriechische Expeditionskorps kann denn auch als um eine Dimension (die des Heerkönigs) erweitertes Äquivalent eines solchen Beutezuges verstanden werden. Damit stellt sich die Wirklichkeit, die sich der Dichter hinter der ins Gigantische gesteigerten Fassade des Troianischen Krieges vorstellt, als Kombination zweier dem Dichter und seinem Publikum offenkundig vertrauter Kriegsformen dar: der Nachbarschaftsfehde und des Beutezuges. Auch die dem griechischen Vergeltungszug gegen Troia zugrundeliegenden ideellen Strukturen sind durchaus typisch für die archaische Gesellschaft: die Edeln, die sich um Helenas Hand bewarben, hatten sich dem siegreichen Konkurrenten gegenüber zur Hilfe in einem Notfall zu verpflichten, und generell setzen sich beide Armeen, die griechische wie die troianische, aus Kontingenten zusammen, deren Anführer untereinander und zumal mit dem ,Oberkönig' durch formelle persönliche Verpflichtungsverhältnisse verbunden sind.58' Nun zum außerhomerischen Befund: Die meisten der später notorischen Konflikte zwischen benachbarten Poleis sind erst für das 7. oder gar 6.Jh. zuverlässig bezeugt, aber die Anfänge des einen oder andern gehören wohl ins späte 8.Jh. 59 ' Soweit wir sehen können, ging es in all diesen Auseinandersetzungen um Land

Recht, Literatur und Sprache der Griechen und Römer, München 1968, 294-312). Zu den Kriegen des Epos ferner Wickert-Micknat, Unfreiheit, bes. Teil I. 56 > Nachbarschaftsfehde: etwa II. 18, 509^10; 11, 655-762; 9, 529-99; bezeichnend auch 1, 152-57. Vgl. ferner Hampl, Ilias 63-65. Griechenlager: etwa II. 7, 336-43. 434—41, sowie die Schlacht um Mauer und Lager in den Bb. 12-16. Dazu Thomas, Polis 7, und Murray, Early Greece 64 ( = Frühes Griechenl. 79): dieser improvisierten Polis fehle keines der typischen Elemente der frühen Polis; Wickert-Micknat, Unfreiheit 47 Anm. 3. 57 > Piraterie: vgl. H . A . Ormerod, Piracy in the Ancient World, Liverpool/London 1924 (Nachdr. 1967) 88-96; Wickert-Micknat, Unfreiheit 93-99 und passim; Fagerström, Architecture 145-47. Beutezug: z.B. Od. 9, 3 8 f f ; 14, 219ff., 243ff. Weiteres bei Nowag, Raub (Anm. 55) bes. 51 ff., 128 ff. Zur soziologischen Einordnung vgl. auch S. C. Humphreys, Anthropology and the Greeks, London and Boston 1978, 165-68. 58 ' Zu letzterem Herman, Friendship 101. Z u m Eid der Freier Helenas: Hesiod, Frauenkatalog Fr. 204, 4 0 f f ; Stesichoros 190 PMG Page; Thuk. 1, 9; Apollod. 3, 132; Paus. 3, 20, 9. Beispiele solcher Hilfeleistung aus historischer Zeit: Herman, ebd. 97—105. 59 ' Z . B . unter den kleinasiatischen Griechen (G.L. Huxley, The Early Ionians, London 1966, 47—54; zum archäologischen Befund: Coldstream, Geom. Greece 246—68) oder zwischen Megara und Korinth (N. G. L. Hammond, The Heraeum at Perachora and Corinthian Encroachment, Annual Brit. School Athens 49, 1954, 93-102, bes. 9 7 f f ; Will, Korinthiaka 3 5 7 f f ; Salmon, Corinth [Anm. 47] 70 f.; R . P. Legon, Megara: The Political History of a Greek City-State to 336 B.C., Ithaca N . Y. 1981, 60-70). Vgl. generell die zahlreichen in den letzten Jahren erschienenen Stadtgeschichten (manche zitiert bei Raaflaub, Expansion, bes. Teil 2).

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Kurt A. Raaflaub

oder, deutlich sekundär, um Beute oder alte Rivalitäten. 60 ' Die Kontrolle von Ackerland stand auch im Zentrum der beiden schon früh berühmt gewordenen Kriege, die wir mit einiger Zuversicht ins späte 8.Jh. datieren können. Die Eroberung Messeniens durch Sparta stellt ein in jeder Beziehung extremes Beispiel für einen bis ins 6.Jh. im gesamten griechischen Siedlungsgebiet verbreiteten Vorgang dar: die Erweiterung des für die wachsende Bevölkerung zu eng gewordenen Polisterritoriums durch die kriegerische Annexion angrenzender Ländereien, deren Vorbevölkerung vernichtet, vertrieben, unterworfen oder in die siegreiche Gemeinde integriert wurde. 6 1 ' Auch beim — in der meist späten Überlieferung enorm aufgeblähten — Lelantischen Krieg zwischen den euböischen Gemeinden Chalkis und Eretria scheint es im wesentlichen um die Kontrolle einer Fruchtebene gegangen zu sein.62' Wichtig scheint folgendes. 1. Im letzten Drittel des 8.Jh.s, gleichzeitig mit dem Einsetzen der ersten Kolonisationswelle im Westen, begann eine lange Reihe von Kriegen zwischen benachbarten Gemeinden um die Kontrolle von Land — was erneut das akute Problem des Landmangels und der Uberbevölkerung bestätigt. 2. In diesen Kriegen ging es nicht mehr nur um Vieh und Beute, sondern um die Existenzgrundlage oder gar die Existenz der betroffenen Gemeinden. Dies muß sich auf Verhalten und Struktur dieser Gemeinden ausgewirkt, Solidarität und

60 ' Letzteres muß man wohl für den langwierigen, freilich auch mit religiösen Aspekten durchsetzten, Konflikt zwischen Athen und Agina annehmen (dazu T J . Figueira, Aegina and Athens in the Archaic and Classical Periods: A Socio-Political Investigation, Diss. Univ. of Pennsylvania 1977; zum Religiösen: Hdt. 5, 83—86). Ob dessen Anfänge ins 8.Jh. zurückreichen, hängt ζ. Τ an der Datierung Pheidons von Argos und damit an einer endlosen Forschungsdebatte; vgl. etwa Tomlinson, Argos 79—86; K . H . Kinzl, Beobachtungen zur älteren Tyrannis, in: id. (Hrsg.), Die ältere Tyrannis bis zu den Perserkriegen, W e g e der Forschung 510, Darmstadt 1979, 298-301 mit Lit. in Anm. 5. 61 ' Vgl. zum Mess. Krieg bes. Paus. 4,4—14; dazu F. Kiechle, Messenische Studien, Kallmünz 1959; Oliva, Sparta 102—12; Cartledge, Sparta 113—20. Zum Archäologischen: Coldstream, Geom. Greece 157—64. Landnot als Motiv der Eroberung Messeniens: Cartledge, Sparta 114—16. Als Resultat der argivischen Expansion ist wohl die Zerstörung von Asine u m 710 zu betrachten: Tomlinson, Argos 42 f., 75 f.; Coldstream, Geom. Greece 152-54. Vgl. zu dem hier angesprochenen Phänomen generell Raaflaub, Expansion. Intensität und extreme Formen solcher Kriege scheinen freilich zumal im 6.Jh. zurückgegangen zu sein: F. Frost, The Athenian Military before Cleisthenes, Historia 33, 1984, 283-94; Raaflaub, Entdeckung der Freiheit 82-92; W. R . Connor, Early Greek Land Warfare as Symbolic Expression, Past & Present 119, 1988, 3—29; vgl. auch F. Kiechle, Zur Humanität in der Kriegführung der griechischen Staaten, Historia 7, 1958, 129-35. 62 ' Zu allen Einzelheiten K. Tausend, Der Lelantische Krieg — ein Mythos? Klio 69, 1987, 499-514 mit reicher Lit.; vgl. auch S . D . Lambert, A Thucydidean Scholium on the ,Lelantine War', J H S 102, 1982, 216-20; Murray, Early Greece 76-79 ( = Frühes Griechenl. 98-101), sowie bereits Will, Korinthiaka 391—405 mit 306-38. Beherzigenswert auch D. Fehling, Zwei Lehrstücke über Pseudo-Nachrichten, R h e i n . Mus. N . F . 122, 1979, 193-210. Zum Archäologischen: Coldstream, Geom. Greece 191—201.

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H o m e r u n d die Geschichte des 8.Jh.s v. Chr. 63

gemeinschaftliches Handeln zum Wohl des Ganzen gefordert haben. ' 3. Die Sieger in solchen Auseinandersetzungen profitierten individuell und kollektiv: durch den Landgewinn konnten innere Probleme überwunden und die Bedürfnisse der weniger Begünstigten befriedigt werden; die Reichen wurden noch reicher; das Machtpotential der Gemeinde wuchs und schuf für künftige Konflikte bessere Voraussetzungen. 64 ' 4. Diese für die Erfahrungswelt des späten 8.Jh.s grundlegenden Gegebenheiten haben sich mindestens teilweise archäologisch niedergeschlagen, aber offenbar kaum in den homerischen Epen, in denen eben der (offenkundig als heroischer empfundene) Kampf um Beute und Frauen gegenüber dem um Land dominiert. Die Wichtigkeit von Landbesitz schlägt allerdings gelegentlich durch, und die Prominenz des Themas der Belagerung und Zerstörung von Städten ist kaum nur durch mythische Reminiszenzen oder die gewaltigen bronzezeitlichen Ruinen angeregt, sondern weist auf eine dem Sänger und seinem Publikum vertraute traurige Wirklichkeit. Auch in der Darstellung des Krieges zwischen Griechen und Troianern stecken gewiß, wie im einzelnen nachzuweisen wäre, manche Elemente, die dem für Dichter und Publikum zeitgenössischen Erlebnis eines langdauernden, aber schließlich vergeblichen Überlebenskampfes einer Gemeinde in einer bitteren Fehde entnommen sind.65' In der Erforschung der Militärorganisation und Kampfweise der an diesen frühen Kriegen beteiligten Gemeinden sind in den letzten rund 30 Jahren wichtige Fortschritte gemacht worden. Dennoch hat sich die alte, etwa von M. Nilsson 1929

63 ) VgJ. Snodgrass, Archaeol. of Greece 173f.: „In the archaeological field, w e n o w have independent evidence that organized internal warfare was once again b e c o m i n g the normative state of affairs in mainland Greece; this was also the time w h e n burial w i t h arms, that symbol of private, free-lance militarism, was discontinued in the m o r e advanced regions of Greece." Starr, City-State 105; Individual 39: „ B y the classical era the boundaries of the poleis seem so firmly set that one m a y forget h o w m u c h the wars of the eighth and seventh centuries changed the m a p of Greece, and in doing so required conscious organization of the b o d y politic and military." Krieg als das wichtigste öffentliche T r a k t a n d u m (demion) der Versammlung: O d . 2, 28-32, 42-44. 64

' Vgl. Cartledge, Sparta 119 f. über Sparta nach d e m Ersten Mess. Krieg. Kein Krieg u m Land: Finley, W o r l d O d . 2 95. D e r archäologische Niederschlag: etwa in der Z e r s t ö r u n g oder A u f g a b e zuvor blühender Siedlungen, in gelegentlichen Befestigungen, vielleicht auch in der Errichtung m o n u m e n t a l e r Tempel (dazu Cartledge, Sparta 119, sowie generell W. K. Pritchett, T h e Greek State at War I, Berkeley/Los Angeles 1974, 100). Z u m Wert von Landbesitz: W. Richter, Die Landwirtschaft im homerischen Zeitalter, Archaeol. Homerica II, Fasz. H, Göttingen 1968, Kap. 1; D. Hennig, Grundbesitz bei H o m e r u n d Hesiod, C h i r o n 10, 1980, 35-52; Donlan, H o m e r i c temenos. A n r e g u n g durch Ruinen: H a m p l , Ilias 40; Giovannini, H o m e r s Welt 27-29. Belagerung u n d Z e r s t ö r u n g von Städten: W i c k e r t - M i c k n a t , Unfreiheit 9 f f . u n d pass., bes. 45ff. Vgl. auch Kallinos, Fragm. 2 G.-P., mit Ilias 6 (bes. 55ff., 441 ff., sowie 86ff., 266ff., 301 ff.); dazu J. Latacz (Hrsg.), Griech. Lit. in Text und Darstellung. I: Archaische Periode, Stuttgart (Reclam) 1991, s. v. Kallinos v o n Ephesos, S. 156 f. 65)

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K u r t A. R a a f l a u b

beispielhaft formulierte Auffassung in mancher Hinsicht bis heute behauptet. 66 ) Danach entsprach der homerische Einzelkämpfer als vollblütiger Vertreter des Individualismus dem durch den Ehrgeiz und die Prachtliebe seiner Mitglieder geprägten Adelsstaat. Die Masse des Volkes trat demgegenüber völlig zurück. Die Hoplitentaktik repräsentierte das genaue Gegenteil: das Hervortreten aus der Reihe galt als der schwerste Fehler, die Solidarität und Disziplin der Mitbürger dominierte. Der Umschwung von der einen zur andern Ordnung war höchst folgenreich: er bedingte oder verursachte einen Umschwung in der Denkweise, der dem Übergang zum „Polisstaat" entsprach und den Hopliten, welche die entscheidenden Schlachten für die Polis schlugen, entsprechende politische Bedeutung einbrachte. Die Diskussion um die Hoplitenphalanx dreht sich also um militärtechnische und um sozio-politische Probleme. Zunächst zum Militärischen. Frühere Auffassungen von der Entstehung der Hoplitenphalanx sind seit den späten 50er und 60er Jahren durch neue Funde und die erneute Aufarbeitung des Fundmaterials durch A. Snodgrass überholt. 67 ' Dieser vermag nachzuweisen, daß zwischen etwa 750 und 650 die einzelnen Elemente der Panhoplie aus verschiedenen Quellen übernommen wurden und, wie sich den Bilddarstellungen auf korinthischen Gefäßen entnehmen läßt, um 650 die Phalanx voll entwickelt war. Er nimmt an, daß in einer langen Übergangsphase nach Homer, in dessen Epen er noch keine zwingende Beschreibung der Phalanx zu entdecken vermag, auch verschiedene organisatorische und taktische Änderungen erprobt wurden, die schließlich um 650 in der Phalanx resultierten. Trotz Widerspruchs in Einzelfragen darf diese Rekonstruktion in ihren groben Zügen heute als akzeptiert gelten. 68 ' Die Forschungen von J. Latacz machen freilich eine wichtige Modifikation unerläßlich. Dieser erbringt den Nachweis, daß die Kampfbeschreibungen bei Homer, so sehr sie sich aus naheliegenden dichterischen Gründen auf die führenden Personen konzentrieren, durchgehend konsistent sind und dahinter eine Kampfwirklichkeit steht, in der nicht ritterliche Einzelkämpfer mit lose gruppierten Haufen б6

> M . P . Nilsson, Die Hoplitentaktik u n d das Staatswesen, Klio 22, 1929, 240-49 ( = id., Opuscula selecta II, Lund 1952, 897-907). 6T> Frühere Auffassungen: H. L. Lorimer, T h e Hoplite Phalanx w i t h Special Reference to the Poems of Archilochus and Tyrtaeus, A n n . Brit. School Athens 42, 1947, 76-138; H o m e r and the M o n u m e n t s , L o n d o n 1950, Kap. V. Z u r Kritik an Lorimers These, Hoplit u n d Phalanx seien durch die E r f i n d u n g des neuartigen Hoplitenschilds zu Beginn des 7.Jh.s auf einen Schlag kreiert w o r d e n , s. bes. Snodgrass, A r m o u r 173—75; Latacz, Kampfparänese 36 mit A n m . 31. N e u e Funde: P. C o u r b i n , U n e t o m b e d'Argos, Bulletin de correspondance hellenique 81, 1957, 322-86; La guerre en Grece ä haute e p o q u e d'apres les d o c u m e n t s archeologiques, in: Vernant, Guerre 69—91. Aufarbeitung: Snodgrass, A r m o u r (mit einer Zusammenfassung der Ergebnisse in Kap. 9). 68) Snodgrass, A r m o u r 69-87, 189ff., bes. 199-204; z u s a m m e n g e f a ß t auch in: id., Hoplite R e f o r m 110-22, u n d in: Detienne, Phalange 120f.; jüngst dazu Snodgrass, Formazione 14—17. Einwände: vgl. etwa die unterschiedliche Interpretation der E i n f ü h r u n g des Rundschildes mit der antilabe bei Snodgrass, A r m o u r 196-98, und Detienne, Phalange 133 f.

H o m e r und die Geschichte des 8.Jh.s v . C h r .

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von Gefolgsleuten, sondern die in phalanx-ähnlicher Ordnung kämpfenden Massen die Entscheidung herbeiführen. Homer kennt also zwar nicht die ausgebildete Phalanx, wohl aber eine ,Proto-Phalanx' („Phalangentaktik"), die in Ausrüstung, Kampfweise und Mentalität der späteren Phalanx bereits erstaunlich nahe kommt. 6 9 ' Dieses Ergebnis ist nun für die Einschätzung der sozialen und politischen Verhältnisse, in denen die Hoplitenphalanx sich entwickelt hat, von größter Bedeutung. Dabei ist von zwei elementaren Voraussetzungen auszugehen. Zum einen bestand in der griechisch-römischen Welt durchweg ein enger Zusammenhang zwischen Grundbesitz, sozialem Status, militärischer Funktion (.Kampffähigkeit*) und Bürgerrecht bzw. politischen Rechten. Veränderungen im einen Bereich mußten sich deshalb notwendigerweise auf die andern Bereiche auswirken. Zum andern werden, zumindest in frühen und nicht theoretisch denkenden Gesellschaften, grundlegende Neuerungen, welcher Art auch immer, nicht willkürlich oder aus Freude am Erneuern eingeführt, sondern weil sie nötig sind und Erfolg versprechen und weil die Voraussetzungen dafür gegeben sind. Die mit der Hoplitenphalanx zusammenhängenden militärischen Veränderungen müssen deshalb in untrennbarer Interdependenz mit ebenso grundlegenden wirtschaftlichen, sozialen und politischen Veränderungen gestanden haben und können nur unter Berücksichtigung dieser Interdependenz adäquat beurteilt werden. 70 ' Ist dies einmal erkannt, so erweisen sich manche Elemente der bisherigen Forschungsdiskussion als im Ansatz verfehlt oder irrelevant. Dies gilt zumal für die noch immer beliebte monokausale Ableitung: Einführung der Hoplitenphalanx, ergo politischer Aufstieg der Mittelschichten und Ablösung der elitären Adelsgesellschaft durch die egalitäre Polisgemeinschaft. Es gilt aber auch für große Teile der von Snodgrass neu ausgelösten Debatte über Zweck und politische Auswirkungen der Hoplitenphalanx. 71 ' Dazu nur einige kurze Bemerkungen. 69 > Latacz, Kampfparänese 43 und passim, bes. Kap. V und VI. E i n w ä n d e dagegen bes. bei R . Leimbach, G n o m o n 52, 1980, 418-25, aber W . K . Pritchett, T h e Greek State at War IV, Berkeley et al. 1985, 7 - 3 3 , k o m m t zu einem ähnlichen Ergebnis w i e Latacz: „ T h e fundamental fact remains that the pitched battle was the decisive element [...] T h e general impression created by the p o e m is one of hoplites fighting in mass f o r m a t i o n . " Z u s t i m m e n d auch Morris, Burial 198-200, u n d О . H ö c k m a n n , in: Archaeol. H o r n . I, Fasz. E2, Göttingen 1980, 315ff. (vgl. k ü n f t i g den ebd. 229 f. angekündigten Teil E3); Vorbehalte gegenüber Pritchett bei Snodgrass, Formazione 14-17; z u m T h e m a jetzt auch H . van Wees, Kings in C o m b a t : Battles and Heroes in the Iliad, Class. Q u a r t e r l y N . S. 38, 1988, 1 - 2 4 ; ders., Leaders of Men? An Analysis of the H o m e r i c Heroes' Neglected Leadership, ebd. 36, 1986, 285-303; Ulf, H o r n . Gesellsch. Kap. IV 2. 70 > Dies w i r d in der Forschung viel zu wenig bedacht. Eine A u s n a h m e bildet Detienne, Phalange 132f. mit A n m . 68, 141. Vgl. auch Latacz, Kampfparänese 28 A n m . 12; Meier (Anm. 47) 66f.; Snodgrass, Interaction 51-52. 71 ' Snodgrass, A r m o u r ; Hoplite R e f o r m ; danach bes. Detienne, Phalange 119—42; Cartledge, Hoplites 11-27; J. Salmon, Political Hoplites? ibid. 84-101; Holladay, Hoplites 94-103; Morris, Burial 196-201.

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Kurt A. Raaflaub

Vernünftigerweise ist anzunehmen, die Phalanx sei eingeführt worden, weil sie den Bedürfnissen derer, die sie einführten, besser entsprach als die frühere Ordnung. 7 2 ' Der in der Forschung häufige Hinweis auf die mangelnde Eignung dieser Kampfform für das griechische Gelände 73 ' zielt deshalb am Wesentlichen vorbei. Zu fragen ist vielmehr, welchen Zwecken der Hoplitenkampf zu dienen hatte. Das, was wir aus späterer Zeit wissen, ergibt, daß er in der Regel primär für die Kriegführung über kürzere Distanzen und die Verteidigung geeignet war, weniger für den Angriffskrieg über größere Distanzen, daß er in Friedenszeiten relativ geringe Anforderungen an die Beteiligten stellte und im Krieg die Bauernaufgebote zweier Poleis miteinander konfrontierte, die auf ihrem Acker- und Weideland um die Ernte und allenfalls den Besitz dieses Landes kämpften. 74 ' Das Prinzip der Selbstausrüstung war ebenso selbstverständlich wie das der Aufbietung der größtmöglichen Zahl von Soldaten, denn die Wirkung der Phalanx beruhte auf ihrer Masse. Die Phalanx war somit vor allem ein wirksames Instrument im Kampf zwischen den Bürgerschaften benachbarter Gemeinden, und dies dürfte von Anfang an ihr Zweck gewesen sein. Diese Kampfform wurde nun gewiß nicht zufällig gerade zu der Zeit entwickelt, als die rasch wachsende Bevölkerung Nahrung und Land zur akuten Mangelware werden ließ und gleichzeitig durch die Verbesserung der materiellen Bedingungen und vermehrte Kontakte mit andern Völkern die wirtschaftlichen und waffentechnischen Voraussetzungen dafür entstanden waren. 75 ' Der Erfolg der Phalanx beruhte auf der Zahl, dem Einsatz und der Disziplin der Kämpfer. Es ist deshalb unwahrscheinlich, daß man sich selbst in deren frühen Entwicklungsstadien den Ausschluß der waffenfähigen Bauern hätte leisten

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> So zu Recht Holladay, Hoplites 97-103. > Vgl. z.B. Cartledge, Hoplites 18 mit Lit. 74 ' Verteidigung: Snodgrass, Hoplite Reform 115; Cartledge, Hoplites 21 f.; Fagerström, Architecture 169. Anforderungen: F. E. Adcock, The Greek and Macedonian Art of War, Berkeley/Los Angeles 1957, 4; Pritchett, War (Anm. 65) II, 1974, 208-31; anders Detienne, Phalange 122 f. Z u m Prinzipiellen vgl. auch Cartledge, Hoplites 21 f. (unter Hinweis auf Snodgrass, Arms and Armour of the Greeks, London 1967, 62): „The shift from stock-raising to arable farming determined thereafter the general pattern of warfare on land, for the basic objectives everywhere in this game of agricultural poker' [...] became the menacing, temporary possession or destruction of the enemy's crops and the protection of one's own." Ferner J. de Romilly, Guerre et paix entre cites, in: Vernant, Guerre 207—20; G . E . M . de Ste. Croix, The Origins of the Peloponnesian War, London 1972, 218-20; V. D. Hanson, Warfare and Agriculture in Classical Greece, Pisa 1983. Allgemein zum Hoplitenkampf: Adcock, Kap. 1; J.K. Anderson, Military Theory and Practice in the Age of Xenophon, Berkeley/Los Angeles 1970; J.F. Lazenby, The Spartan Army, Warminster 1985; P. Ducrey, Guerre et guerriers dans la Grece antique, Fribourg 1985, Kap. 2; Pritchett, Warfare IV (Anm. 69) 1-93; Connor, Land Warfare (Anm. 61) bes. 8 ff.; V. D. Hanson, The Western Way of War: Infantry Battle in Classical Greece, Oxford 1990. 75 ' Dies betont Snodgrass, Armour 193, zu Recht. 73

Homer und die Geschichte des 8.Jh.s v.Chr.

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können - zumal in den Kriegen des späten 8.Jh.s für die beteiligten Gemeinden so viel auf dem Spiel stand. 76 ' Entsprechend ist die Phalanx kaum, wie Snodgrass annimmt, vom Adel zur Verteidigung seiner Standesinteressen und Herrschaft eingeführt oder, wie P. Cartledge argumentiert, aus primär ideologischen' Gründen so lange beibehalten worden. 77 ' Ebenso unwahrscheinlich ist es, daß die Bauern sich nur widerwillig zu dieser Leistung bereitgefunden hätten. Wenn der Feind einem die Felder zu verwüsten oder wegzunehmen drohte, griffen natürlich alle zu den Waffen, die Waffen hatten. Und Waffenfähigkeit bedeutete eben zugleich Zugehörigkeit und Status. 78 ' Dennoch hält die Forschung bisher überwiegend daran fest, die nichtadligen Bauern seien erst spät in der von Snodgrass postulierten Übergangsphase von ca. 750-650 in die Phalanx einbezogen worden. 79 ' Dadurch erschien dies als relativ plötzlicher, aufsehenerregender Vorgang, wurde die ,Hoplitenreform' zu einem Umbruch. Dem ist nun durch J. Latacz' Nachweis, daß dem Dichter der Ilias wie wenig später auch Kallinos und Tyrtaios der Massenkampf in einer Frühform der Phalanx selbstverständlich war, die Grundlage entzogen worden. In den Kämpfern, die den laos bilden und deren Beste unter den promachoi in der ersten Reihe stehen und sich genau wie die Reichen und Vornehmen im Kampf fur die Gemeinde auszeichnen 80 ', hat man neben den Gefolgsleuten dieser Edeln zweifellos die freien Bauern zu sehen, die fähig waren, sich Waffen und Rüstung zu beschaffen. 81 ' Wenn aber an den Kriegen des späten 8.Jh.s die Bauern bereits

76

' Dies gegen Snodgrass, Hoplite Reform 117—19: zunächst hätten einzelne adlige Herren mit solch geschlossenen Formationen experimentiert und zu diesem Zweck ihre Gefolgsleute auf eigene Kosten mit der benötigten Ausrüstung versorgt. Dies gehört eher in den Zusammenhang der adligen Banden und Beutezüge, die durch die Phalanx gerade an Wirkung verloren und überwunden wurden (vgl. zur analogen Entwicklung im frühen Italien Raaflaub, Expansion 531-38, bes. 533, 536f. [mit Lit.], sowie D. Timpe, Das Kriegsmonopol des römischen Staates, in: W. Eder [Hrsg.], Staat und Staatlichkeit in der frühen römischen Republik, Stuttgart 1990, 368-87). Zudem hält das wirtschaftliche Potential der griechischen Edeln des 8.Jh.s keinen Vergleich aus mit dem der etruskischen Herren des 6.Jh.s, die es vielleicht so hielten. 7T> Snodgrass, Hoplite Reform 122; Cartledge, Hoplites 23f., gegen dessen These auch das Beispiel Athens spricht, wo man ohne Zögern die Theten militärisch einbezog, als sich dies als nötig und nützlich erwies. Vgl. z.T. auch Holladay, Hoplites 97ff. 78) Dies gegen Snodgrass, Hoplite Reform 114f., 122; Armour 195f. Die Notwendigkeit der Kampfparänese widerspricht dem natürlich nicht. Die von Snodgrass beanspruchte mittelalterliche Analogie ist kaum vergleichbar: sie betrifft die Einfuhrung einer neuen, auf Eigenausrüstung beruhenden Militärordnung von oben (durch einen Monarchen) in einem Territorialstaat. Dasselbe MißVerständnis liegt auch dem in der römischen Uberlieferung über die frühe Republik häufigen Motiv des plebeischen Aushebungsstreiks zugrunde; dazu Raaflaub, Struggles 222. 79) So etwa noch Cartledge, Hoplites 23; Murray, Early Greece 120-31 ( = Frühes Griechenl. 159-74); Starr, Individual 53-55. Anders Morris, Burial 196 ff. 80) Latacz, Kampfparänese Kap. V. 81) Dazu paßt u.a., daß die Ilias die den einzelnen Helden unterstellten Mannschaften nicht primär als deren Gefolgsleute, sondern als Aufgebote einzelner Gemeinden und Landschaften

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Kurt A. Raaflaub

v o l l w e r t i g n e b e n den v o r n e h m e n A n g e h ö r i g e n i h r e r G e m e i n d e beteiligt w a r e n , k a n n dies nicht o h n e A u s w i r k u n g e n a u f die F o r m e n geblieben sein, in d e n e n diese G e m e i n d e sich e n t w i c k e l t e .

5. W i r t s c h a f t l i c h e u n d soziale V e r ä n d e r u n g e n : die Entstehung eines A d e l s M o d e r n e Skizzen d e r f r ü h g r i e c h i s c h e n Gesellschaft stützen sich n o t g e d r u n g e n w e i t g e h e n d a u f H o m e r . W a s die a u ß e r h o m e r i s c h e n Q u e l l e n h e r g e b e n , reicht f ü r ein auch n u r e i n i g e r m a ß e n a b g e r u n d e t e s B i l d n i c h t aus. D e n n o c h ist es aus m e t h o d i s c h e n G r ü n d e n n ö t i g , zunächst v o n j e n e m a n d e r n M a t e r i a l auszugehen. A u f g r u n d des a r c h ä o l o g i s c h e n B e f u n d e s ist klar, daß das 8 . J h . nach einzelnen V o r l ä u f e r n i m 1 0 . u n d deutlichen A n s ä t z e n seit der M i t t e des 9.Jh.s 8 2 ' der g r i e c h i schen W e l t einen schnellen, g l a n z v o l l e n u n d v o r a l l e m breit g e l a g e r t e n w i r t s c h a f t lichen A u f s c h w u n g bescherte. 8 3 * V e r k e h r u n d K o n t a k t e i n n e r h a l b der Ä g ä i s u n d zu n a h e n u n d f e r n e n K ü s t e n des M i t t e l m e e r s intensivierten sich. H a n d e l s b e z i e h u n -

bezeichnet, daß in der Kampfparänese neben der Verantwortung für die Familie auch die für die Gemeinde eine ganz wichtige Rolle spielt (vgl. Latacz, ibid. 146, 156f., 212-15, 246-50, sowie u. A n m . 135) und daß es in Odysseus' fiktiver Lebensgeschichte der demos ist, der die Helden zwingt, die Aufgebote in den Krieg gegen Troia zu fuhren (Od. 14, 237-39). H2> Vgl. bes. Coldstream, Geom. Greece Kap. 2 und 3. Zu den Vorläufern (bes. Lefkandi): o. Anm. 24. 83 ' Vgl. zum Folgenden generell die o. A n m . 3 angeführte Lit. - Dies trotz einer Fülle von lokalen und regionalen Besonderheiten, w i e sie etwa in der Vielfalt von Keramikstilen (vgl. Coldstream, Geom. Pottery; id., Geom. Greece Teil I und II; id., The Meaning of the Regional Styles in the Eighth Century B . C . , in: H ä g g , Renaissance 17-25; Snodgrass, Dark A g e Kap. 2) und Alphabetvarianten (vgl. Α. Heubeck, Schrift, Archaeol. Horn. III, Fasz. X, Göttingen 1979; Snodgrass, Archaic Greece 78—84; Burkert [wie u.] 29—35; Coldstream, Geom. Greece Kap. 11, und Greeks and Phoenicians [wie u.] 269-72 mit Diskussion 273f.; vgl. generell auch A. Johnston, The Extent and Use of Literacy: the Archaeological Evidence, in: Hägg, Renaissance 63-68; W. V. Harris, Ancient Literacy, Cambridge, Mass./London 1989, Kap. 3) sichtbar sind. Vgl. ferner Bouzek, Horn. Griechenl. 147; Starr, Origins 185f., 190, 222-30; id., Growth 29, 187-89, und bes. Snodgrass, Archaic Greece 13 f., 47f., 65. — Die Rolle der Phönizier in diesem Prozeß ist in den letzten Jahren intensiv diskutiert worden; vgl. nur H . G . Niemeyer (Hrsg.), Phönizier im Westen, Madrider Beitr. 8, Mainz 1982 (darin u.a. J . N . Coldstream, Greeks and Phoenicians in the Aegean, 261—72); ders., Die Phönizier und die Mittelmeerwelt im Zeitalter Homers, Jahrb. Röm.-Germ. Zentralmus. Mainz 31, 1984, 3-94, mit Lit. 90-94; Ε. Lipinsky (Hrsg.), Phoenicia and the East Mediterranean in the First Millennium B . C . (Conf. Leuven 1985), Studia Phoenicia 5, Leuven 1987; ferner bes. J. D. Muhly, Homer and the Phoenicians, Berytus 19, 1970, 19-64. Allgemein zum nahöstlichen Einfluß auf die Ägäis: W. Helck, Die Beziehungen Ägyptens und Vorderasiens zur Ägäis bis ins 7.Jh., Darmstadt 1979; W. Burkert, Die orientalisierende Epoche in der griechischen Religion und Literatur, SB Akad. Heidelb., phil.-hist. Kl. 1984, Nr. 1; Ulf, Horn. Gesellsch. Kap. VI 3; sowie demnächst H. Matthäus, Die Rezeption orientalischer Kunst-, Kultur- und Lebensformen in Griechenland, in: Raaflaub/ Müller-Luckner, Anfänge.

Homer und die Geschichte des 8.Jh.s v.Chr.

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gen vor allem nach Zypern und zur Levante, aber auch nach Etrurien und andern Teilen des westlichen Mittelmeeres brachten Rohstoffe (zumal Metalle), Luxusgüter, technologische Kenntnisse, neue Waffen, künstlerische und intellektuelle Anregungen und gelegentlich Spezialisten nach Griechenland, während griechische Erzeugnisse (nicht nur die dauerhafte Keramik) 84 ' in zunehmenden Mengen exportiert wurden. Die Handelsbeziehungen nach Italien und Sizilien nahmen als Folge der ersten Kolonisationswelle weiter zu. Quantität und Qualität der handwerklichen und künstlerischen Produktion stiegen sprunghaft an. Manche dieser Erzeugnisse sprechen wie die erhaltenen Großepen von einer hohen intellektuellen und künstlerischen Leistungskraft. Wie all dies lassen auch die fast unvermittelt in Massen auftretenden Weihgaben aller Art auf eine Gesellschaft schließen, die zunehmend willens und fähig war, beträchtliche Mittel für religiöse und künstlerische Zwecke einzusetzen. 85 ' Die meisten der später bedeutenden Kulte und Heiligtümer entstanden in jener Periode oder nahmen doch damals ihre bleibende Form an. Gegen Ende des Jahrhunderts wurden vielerorts die ersten monumentalen Tempel errichtet. 86 ' All diese Neuerungen und die gleichzeitigen sozialen Entwicklungen bedingten sich gegenseitig und wirkten aufeinander ein. Es bestand somit eine vielschichtige Interdependenz zwischen einer großen Zahl von Faktoren 87 ', die dem gesamten Veränderungsprozeß eine ungeheure Dynamik verlieh und ihn rasch beschleunigte. A. Snodgrass formuliert dies wie folgt: What we are seeing is a phenomenon familiar in systems theory, the ,multiplyer effect' [...] Advances, however impressive, in one area of human activity will not necessarily change the society which introduces them: an increase in food-production, for instance, will not in itself suffice to bring about a change in institutions. But the moment that two or more such independent areas witness major advances, and the results interact, the rate of progress - both material and social — may accelerate violently. 88 '

Im sozialen Bereich erzeugten solch schnelle und tiefgreifende Veränderungen notwendigerweise große Schwierigkeiten und Spannungen. 89 ' Zudem schlug sich die wirtschaftliche Entwicklung zumindest teilweise in einer auf das Materielle

84

> Starr, Growth 65-70. Zu letzterem bes. Snodgrass, Archaic Greece 67; zu den Weihgaben ebd. 52-54. 86) Kulte: Snodgrass, ibid. 55-58, 64f.; Coldstream, Geom. Greece 178-82, 327-32. Tempel: Coldstream, ibid. 317-27; Snodgrass, ibid. 33, 58-61; Starr, Origins 246-52; ferner die u. Anm. 129 angeführte Lit. Vgl. auch Snodgrass, Dark Age 423ff., bes. 427f. zur Siedlungsarchitektur. 87 ' Starr, Origins, bes. 222—30, und Growth 29. Vgl. auch Snodgrass, Archaic Greece 62-64, und Murray, Early Greece 193ff., bes. 195 ( = Frühes Griechenl. 254ff., bes. 256). 88) Snodgrass, ibid. 54 f. 89 ' Anzeichen fassen wir in Religion und Mythos (vgl. ζ. Β. E. R . Dodds, The Greeks and the Irrational, Berkeley/Los Angeles 1951 [ = Die Griechen und das Irrationale, Darmstadt 1970], Kap. 1 und 2), in der Kunst (Hinweis bei Starr, Growth 170-72) und in den Anfängen des politischen Denkens (s.u. Teil 7). Vgl. allgemein Starr, Origins 278-92, 318-23. 85)

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Kurt A. Raaflaub

orientierten Mentalität nieder, die sich auch auf die sozialen Beziehungen auswirkte. 90 ' Handel und Gewerbe absorbierten freilich in der Regel nur einen minimalen Teil der weiterhin fast ausschließlich bäuerlichen Bevölkerung. 91 ' Innerhalb dieses Rahmens bestehen jedoch klare Indizien für eine rasch fortschreitende Differenzierung und die Entstehung einer reichen und sich vom Rest der Bevölkerung abhebenden Führungsschicht. Während die Bestattungen (mit wenigen, aber teilweise spektakulären Ausnahmen) noch im 10. und 9.Jh. relativ geringe Unterschiede aufweisen, nehmen diese im 8. Jh. in jeder Hinsicht (Inhalt und Ausgestaltung der Gräber, Absonderung von Gräbergruppen) enorm zu. Einen ersten Höhepunkt stellen in Attika die von den monumentalen Dipylonvasen gekrönten Gräber dar, die bereits einen ausgeprägten Sinn für die Zusammengehörigkeit und Tradition einzelner Familien zu bezeugen scheinen. 92 ' Wertvolle Grabbeigaben und teure Weihgaben in Tempeln setzen einen Abnehmerkreis fur Luxusgüter und die Erzeugnisse hochspezialisierten Handwerks voraus. In diesem Kreis wird man auch die Förderer von Künstlern vermuten, die in komplexen Epen und Vasenbildern eine wohl gerade für diese Förderer wichtige heroische Vergangenheit verherrlichten. 93 ' Heroische Bestattungen und das Aufkommen von Heroenkulten sowie andere Indizien bezeugen das starke Interesse dieser Führungsschicht an der Heroenzeit. 94 ' O b ihre Angehörigen maßgeblich zur 90

> Vgl. Starr, Growth 58-60. ' Dies trifft auf die gesamte Antike zu: M.I. Finley, The Ancient Economy, London 1975, 97 und Kap. 5, pass. Die fur das 5.Jh. mit seiner wirtschaftlichen Hochblüte erschließbaren Zahlen dienen als wichtiges Korrektiv gegenüber der häufigen Überbewertung des zweiten Sektors. Vgl. z.B. Starr, Growth 79-90, 104; Α. Burford, Craftsmen in Greek and Roman Society, Ithaca N.Y. 1972, 61-64, 78-80; weitere Lit. bei Raaflaub, Struggles 45 mit Anm. 126. 92 ' Vgl. Bouzek, Horn. Griechenl. 180-84; Coldstream, Geom. Greece Teil II, passim. Zur Differenzierung in athenischen Gräbern und den Dipylonvasen bes. ibid. 110-14, 119 f., 335-37; vgl. auch Morris, Burial Kap. 8, bes. 151 ff. 93) Vgl. etwa Bouzek, Horn. Griechenl. 180; Starr, Origins 154, 183-86; Snodgrass, Archaic Greece 52f., 67-78; Archaeol. of Greece 147ff., bes. 148-50; S. Hiller, Possible Historical Reasons for the Rediscovery of the Mycenaean Past in the Age of Homer, in: Hägg, Renaissance 9-15; Latacz, Homer 77, 85 f. 94 ' Auch dazu Snodgrass, Archaic Greece 68 ff., 82 f.; Archaeol. of Greece 159-64; Stein-Hölkeskamp, Adelskultur 17 ff. Heroische Bestattungen: Coldstream, Geom. Greece 349-51; Blome, Lefkandi 13-19. Heroenkulte: Snodgrass, Dark Age 192-94; Archaeol. and Rise 30f.; Archaic Greece 37^10; id., Les origines du culte des heros dans la Grece antique, in: G. Gnoli/ J.-P. Vernant (Hrsg.), La mort, les morts dans les societes anciennes, Cambridge 1982, 107-19; Coldstream, Geom. Greece 346-48; id., Hero-Cults in the Age of Homer, J H S 96, 1976, 8-17; S.C. Humphreys, Family Tombs and Tomb Cult in Ancient Athens: Tradition or Traditionalism? JHS 100, 1980, 96-126; A.J.M. Whitley, Early States and Hero-Cults: A Re-appraisal, JHS 108, 1988, 173-82; I. Morris, Tomb Cult and the ,Greek Renaissance': The Past in the Present in the 8th Cent. B.C., Antiquity 62, 1988, 750-61; Ulf, Horn. Gesellsch. 245-50; vgl. auch Burkert, Griech. Religion 312-19, sowie demnächst С. Μ. Antonaccio, The Archaeology of Ancestors, N e w York 1991. O b diese Kulte vornehmlich von der Führungsschicht initiiert wurden, ist freilich nicht auszumachen. 91

H o m e r und die Geschichte des 8.Jh.s v. Chr.

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Errichtung monumentaler Tempel beitrugen, ist eine offene Frage. Ihre Vorliebe für Pferde ist vielfach belegt; dementsprechend müssen sie beträchtliche Ländereien besessen haben. Ihre Häuser scheinen größer gewesen zu sein als die der übrigen Bevölkerung und ζ. T. den sozialen Bedürfnissen ganzer Gruppen gedient zu haben; aber all dies hält sich in bescheidenem Rahmen, von Palästen kann keine Rede sein.95' Hesiod bezeugt, daß diese Herren (basilees) für die Rechtsprechung in ihren Gemeinden zuständig waren und in diesem wie gewiß auch in anderen Zusammenhängen Anspruch auf Ehrengaben der übrigen Gemeindeglieder erhoben. 96 ' Kein Zweifel, hier fassen wir die Ursprünge der späteren griechischen Aristokratie, deren Glanz und Probleme uns in den Fragmenten der Lyrik entgegentreten. Damit stellen sich jedoch mehrere Fragen: 1. Wie weit war dieser Adel im 8.Jh. bereits entwickelt und verfestigt? 2. In welcher Beziehung steht er zu den .Fürsten' oder .Chiefs', die man aufgrund verschiedener Indizien für die Dark Ages zu postulieren hat? Und 3. Wie deutlich hob er sich zumal von der Masse der freien Bauern ab? Zur ersten Frage sind zunächst einige generelle Feststellungen möglich: (a) Der erwähnte Prozeß der wirtschaftlichen und sozialen Differenzierung, der schließlich zur Bildung eines Adels führte, setzte erst kurz vor Beginn des 8.Jh.s ein und war im wesentlichen ein Produkt der Veränderungen dieses Jahrhunderts. 97 ' Diese Differenzierung war also jung und um 700 noch längst nicht abgeschlossen, scheint sich aber im Lauf des 8.Jh.s beschleunigt zu haben. Im Vergleich zum früheren Zustand ist sie beachtlich, im Rahmen der Gesamtentwicklung von den Dark Ages zur klassischen Zeit jedoch noch relativ gering. Wir sollten deshalb, ungeachtet der prächtigen Selbstdarstellung der Führungsschicht, die sich in den Epen spiegelt, die Distanz und den Unterschied zwischen ihr und den freien Bauern nicht überschätzen. (b) Insgesamt läßt sich das nicht-homerische Quellenmaterial ohne Gewaltsamkeiten mit dem Bild vereinbaren, das die Epen in ihren unbetonten Elementen und Hintergrundschilderungen vom Alltagsleben, den Vorlieben, Beziehungen

95

' Tempel: dagegen argumentiert Starr, Origins 320; G r o w t h 36f.; zu einem speziellen Beispiel Cartledge, Sparta 119f. Pferde: Starr, Origins 155; G r o w t h 135 mit Belegen und Lit.; Gschnitzer, Sozialgeschichte 38—41. Häuser: Coldstream, Geom. Greece 304-10; Snodgrass, Dark Age 424-26; zu den Gruppen vgl. O . Murray, T h e Symposion as Social Organization, in: Hägg, Renaissance 195-99; aufschlußreich auch Fagerström, Finds 42f. 96 ' Hes. Erga 39, 221, 264: dörophagoi basilees, was gewiß negativ gemeint ist (vgl. M . L. West, Hesiod, Works and Days, ed. with Prolegomena and C o m m . , O x f o r d 1978, 151 mit Parallelen), aber wohl mit der üblichen Interpretation als .Bestechlichkeit' wenig zu tun hat: Murray, Early Greece 61 f. ( = Frühes Griechenl. 75 f.). Vgl. auch O d . 13, 13-15 (Phäaken); dazu und zu weiteren Beispielen in den Epen Qviller, Dynamics 123; Carlier, Royaute 160-62. Z u r Richterfunktion der homerischen basilees jüngst Carlier, ibid. 172-77. 9T > Vgl. bes. Starr, G r o w t h 121.

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u n d Werten ihrer H e l d e n e n t w e r f e n . Sieht m a n v o n den phantastischen E l e m e n t e n u n d h e r o i s c h e n U b e r t r e i b u n g e n a b , s o ist d i e s , w i e H . S t r a s b u r g e r v o r l a n g e m gezeigt hat, eine Welt v o n ehrgeizigen, m a c h t b e w u ß t e n , besitz- u n d

erwerbs-

o r i e n t i e r t e n G r o ß b a u e r n , in d e r m a n c h e d e r f ü r d e n s p ä t e r e n A d e l c h a r a k t e r i s t i s c h e n M e r k m a l e erst in A n s ä t z e n s i c h t b a r s i n d . D i e W e s e n s z ü g e d i e s e r G e s e l l s c h a f t sind o f t dargestellt w o r d e n ;

a u f eine Z u s a m m e n f a s s u n g

m u ß hier

verzichtet

werden.98) (c) D i e s e b e i H o m e r h e r r s c h e n d e S c h i c h t ist w e d e r n a c h m o d e r n e n n o c h n a c h a n t i k e n K r i t e r i e n e i n , A d e l ' . W i e C . S t a r r es a u s d r ü c k t , the Homeric world had not yet traveled all the way toward the elaboration o f an aristocratic ethos, i.e., an obligatory pattern o f life and values consciously conceived and shared by a limited group which considered itself ,best' and the claims of which were generally accepted, even cherished, by other elements o f society. 99 ' A u c h w e n n es z w e i f e l h a f t ist, o b d e r g r i e c h i s c h e A d e l j e w i r k l i c h d a h i n g e l a n g t e , d a ß s e i n e A n s p r ü c h e u n d W e r t e g e n e r e l l a k z e p t i e r t w a r e n , u n d o b er „ j e ein g e n a u a b g e g r e n z t e r S t a n d g e w e s e n ist"100', a m E n d e des 8 . J h . s w a r j e d e n f a l l s beides n o c h längst nicht der Fall.101' D i e z w e i t e F r a g e n a c h der B e z i e h u n g dieses sich e b e n erst f o r m e n d e n A d e l s z u r F ü h r u n g s s c h i c h t d e r D a r k A g e s k a n n erst s e h r v o r l ä u f i g b e a n t w o r t e t w e r d e n ; 9 8 ' Strasburger, Soziol. Aspekt (Anm. 12; gegen seine Tendenz, das Bäuerliche zu übertreiben, etwa Hoffmann, Polis 124 A n m . 6, 127 A n m . 13; Spahn, Mittelschicht 40f.). Vgl. ferner etwa Hasebroek, Wirtschaftsgesch. 9-20; Finley, Welt O d . und World Od. 2 ; Spahn, ibid. 38-58; Donlan, Aristocr. Ideal Kap. I; Gschnitzer, Sozialgeschichte Teil II, bes. 38-47. Z u vielen der in diesem Teil meines Beitrags berührten Fragen vgl. jetzt auch Stein-Hölkeskamp, Adelskultur 15-56; Ulf, Horn. Gesellsch. Kap. V. 9 9 ) Starr, Growth 120; vgl. Origins 302 f.; vgl. Donlan, Aristocr. Ideal 18 und 25, sowie bereits G . M . Calhoun, Classes and Masses in Homer, Class. Philol. 29, 1934, 192-208, 301-16; id., Polity and Society: The Homeric Picture, in: Wace/Stubbings (Hrsg.), C o m p a n i o n (Anm. 12) 438. 100 ' So C . Meier, Adel, Aristokratie, in: O . Brunner et al. (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe I, Stuttgart 1972, 7. Vgl. Spahn, Mittelschicht 38; Donlan, Aristocr. Ideal 19. 101) Die soziale Differenzierung und Herausbildung von Standesmerkmalen schritt im 7. und 6.Jh. weiter voran; vgl. Starr, Origins 302ff. Donlan, Aristocr. Ideal Kap. II und III, zeigt, daß diese Entwicklung in Reaktion auf äußern Druck noch im frühen 5.Jh. nicht abgeschlossen war. Ungeachtet seiner Selbstdarstellung vermochte sich der Adel nie genügend abzusetzen, überzeugend als für die Gemeinde unentbehrlich zu erweisen und durch Disziplin und Solidarität unangreifbar zu machen. Neben die verbreitete Bewunderung trat schon früh eine deutliche Kritik, und bereits seit dem 7.Jh. trugen Tyrannis, Widerstand der Bauern und Konkurrenz durch erfolgreiche Aufsteiger dazu bei, die Macht des Adels zu schwächen. Vgl. insgesamt etwa L. Gernet, Les nobles dans la Grece antique, Annales de l'histoire ccon. et sociale 10, 1938, 36 ff. ( = id., Anthropologie de la Grece antique, Paris 1968, 333-43); Spahn, Mittelschicht; M . T W. Arnheim, Aristocracy in Greek Society, London 1972; Herman, Friendship; Μ . Stahl, Aristokraten und Tyrannen im archaischen Athen, Stuttgart 1987; Stein-Hölkeskamp, Adelskultur. Der Vergleich mit R o m ist hier nützlich; dazu Raaflaub, Freiheit in Athen und R o m : Ein Beispiel divergierender politischer Begriffsentwicklung, H Z 238, 1984, 552-63.

Homer und die Geschichte des 8.Jh.s v.Chr.

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zu vieles ist da n o c h unverstanden u n d u n b e k a n n t . I m m e r h i n ergibt sich aus neueren A u s g r a b u n g e n , daß in den fast d u r c h w e g kleinen Siedlungen d o c h meist ein d u r c h seine G r ö ß e u n d o f f e n b a r den Bedürfnissen größerer G r u p p e n dienende Gestaltung herausragendes Haus oder G e h ö f t zu finden ist, das m a n n a t u r g e m ä ß als Sitz des A n f ü h r e r s (,chief', basileus) identifiziert. Vereinzelte P r u n k b e s t a t t u n g e n (wie das ,Fürstengrab' v o n Lefkandi) sind w o h l solchen basileis zuzuweisen, an deren , H ö f e n ' vielleicht bereits seit der submykenischen Zeit — sicher m i t g r o ß e n , j e situationsbedingten Unterschieden - eine verfeinerte Lebenshaltung gepflegt u n d die E r i n n e r u n g an die vergangenen g r o ß e n Zeiten i m Heldensang gefeiert wurden. 1 0 2 ^ Die anthropologische Interpretation der in den Epen v e r w e n d e t e n sozialen Termini u n d darin vorausgesetzten sozialen Beziehungen u n d S t r u k t u r e n deutet ebenfalls auf das Vorherrschen kleiner u n d größerer Gefolgschaftsgruppen, die sich u m solche basileis (.chiefs', ,big m e n ' u. ä.) verschiedenen Kalibers s a m m e l ten u n d neben Verwandtschafts- u n d N a c h b a r s c h a f t s g r u p p e n ein wichtiges, f ü r die E n t w i c k l u n g der archaischen Gesellschaft u n d der Polis grundlegendes, aber zunächst w e n i g stabiles S t r u k t u r e l e m e n t bildeten. l ü 3 ) Aus solchen basileis m u ß sich d e m n a c h die Elite der D a r k Ages zusammengesetzt haben. D a ß diese A r t v o n , P r o t o - A d e l ' sich deutlich v o n d e m unterscheidet, der sich in d e m oben skizzierten Prozeß seit d e m 8.Jh. herausbildete, liegt auf der H a n d . D e n Ü b e r g a n g v o n der einen zur andern F o r m hat m a n sich vorzustellen als die A b l ö s u n g einer informellen, prekären, auf persönlicher Leistung u n d M a c h t

102) Vgl. zum archäologischen Befund die Anm. 24 und 95 angeführte Lit. Fürstengrab: Anm. 24. Submykenische ,Höfe': Deger-Jalkotzy (wie Anm. 11). Vgl. auch Latacz, Homer 52-63. Lebensstil: u. Anm. 108. Wie sich freilich solche kulturelle Eleganz mit dem sonst doch sehr bescheidenen materiellen Befund vereinbaren läßt, bleibt vorläufig (solange Lefkandi [Anm. 24] nicht seinen Ausnahmecharakter verliert) ein Problem. O b die etwa von J. Sarkady, Outlines of the Development of Greek Society in the Period between the 12th and 8th Centuries B.C., Acta Ant. Acad. Scient. Hung. 23, 1975, 122, postulierte Kontinuität der Adelsfamilien aus mykenischer Zeit eine wesentliche Rolle spielte, ist ebenso offen wie die grundsätzliche Frage, wie weit zurück solchc personelle Kontinuität wirklich reichte. Es gibt jedenfalls zu denken, „that the known genealogies of families in classical Greece reach back to a horizon in the midtenth century B.C., but not earlier" (Davies, Reliability 100 mit Verweis auf Η. Τ Wade-Gery, The Poet of the Iliad, Cambridge 1952, 8ff., 88-94; Snodgrass, Dark Age 10-13). Vgl. auch Raaflaub, Athenische Geschichte und mündliche Überlieferung, in: von Ungern-Sternberg/ Reinau, Vergangenheit 197-225. 103> Dazu bes. Donlan, Social Groups, und Pre-State Comm.; Qviller, Dynamics 109-55, bes. 115-34; Ulf, Horn. Gesellsch. Kap. VI 1. Auf die verwickelte Problematik der Gruppenbegriffe wie Genos, Phratrie und Phyle, die vereinzelt bereits bei Homer auftauchen, kann hier nicht eingegangen werden; dazu neben Donlan bes. D. Roussel, Tribu et cite. Etudes sur les groupes sociaux dans les cites grecques aux epoques archa'ique et classique, Paris 1967; F. Bourriot, Recherches sur la nature du genos. Etude d'histoire sociale Athenienne, periodes archa'ique et classique, Paris 1967; A. Andrewes, Phratries in Homer, Hermes 89,1961, 129—40; id., Philochoros on Phratries, JHS 81, 1961, 1-15; W. G. Forrest, The Emergence of Greek Democracy, London 1966 ( = Wege zur hellenischen Demokratie, München 1966), Kap. 2.

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und a u f L o y a l i t ä t s b i n d u n g e n b e r u h e n d e n Hierarchie v o n lokalen u n d allenfalls regionalen ,chiefs' (basileis) u n d . p a r a m o u n t chiefs' m i t ihren G e f o l g s c h a f t e n durch eine G r u p p e v o n i m wesentlichen a u f der gleichen E b e n e stehenden und g e m e i n s a m , a u f g r u n d einer bald auch institutionell fixierten Teilung der M a c h t herrschenden G r u p p e v o n , A d l i g e n ' (basileis), unter denen der . p a r a m o u n t chief' zunächst n o c h p r i m u s inter pares war, dann völlig absorbiert w u r d e . Dieser Wechsel hängt j e d e n f a l l s mit den z u v o r diskutierten V e r ä n d e r u n g e n z u s a m m e n : der Z u n a h m e der B e v ö l k e r u n g , d e m U b e r g a n g v o m P r i m a t der Weide- zu d e m der A g r a r w i r t s c h a f t u n d der breiter a n g e l e g t e n wirtschaftlichen u n d sozialen D i f f e r e n z i e r u n g ; i m einzelnen ist da n o c h vieles zu klären. 1 0 4 ' Dieser Ü b e r g a n g m u ß sich nun i m wesentlichen innerhalb der d e m epischen Dichter n o c h direkt z u g ä n g l i c h e n u n d aktuellen E r i n n e r u n g s s p a n n e abgespielt haben. In den E p e n spiegeln sich deshalb wesentliche M e r k m a l e des früheren, n o c h v o r k u r z e m geltenden Z u s t a n d e s — der o f f e n b a r als .heroischer' galt, s o m i t p r i m ä r f ü r die S c h i l d e r u n g der L e b e n s g e w o h n h e i t e n der H e l d e n v e r w e n d e t w u r d e und d a m i t der m o d e r n e n F o r s c h u n g die E r h e l l u n g der sozialen Strukturen der D a r k A g e s e r m ö g l i c h t — neben solchen des späteren Z u s t a n d e s , der der Zeit des Dichters selbstverständlich g e w o r d e n war. D i e s m ü ß t e i m einzelnen erläutert w e r d e n ; hier sei n u r zweierlei e r w ä h n t : D i e h o m e r i s c h e n H e r o e n sind p r i m ä r Herdenbesitzer u n d Fleischverzehrer, aber z u m a l in der O d y s s e e und in Gleichnissen bricht die D e n k w e i s e des A c k e r b a u e r n durch 1 0 5 '; in der Sozialstruktur d o m i 1041 S. C . H u m p h r e y s , A n t h r o p o l o g y and the Greeks, L o n d o n / B o s t o n 1978, 69: „ B y a process which w e are not yet able to trace clearly, the competition for p o w e r and prestige a m o n g the Greek nobility, f r o m about the seventh century o n w a r d , m o v e d a w a y f r o m the displays o f wealth at h o m e and attraction o f a personal f o l l o w i n g to displays o f munificence in the city center and contests for political office and political support independent o f personal ties." D a z u demnächst die A n m . 25 angekündigte Arbeit v o n W. D o n l a n ; vorläufig id., Pre-State C o m m . 2 5 - 2 8 ; H o m e r i c temenos 143-45; Q v i l l e r , D y n a m i c s 135 ff.; E . C h . L . Van der Vliet, , B i g - M a n ' , Tyrant, Chief: T h e A n o m a l o u s Starting Point o f the State in Classical Greece, in: M . A . Van Bakel et al. (Hrsg.), Private Politics: A Multi-Disciplinary A p p r o a c h to , B i g - M a n ' Systems, Leiden 1 9 8 6 , 1 1 7 - 2 6 . W i c h t i g auch Fagerström, Architecture 144 f. D i e Diskussion des frühgriechischen K ö n i g t u m s w i r d dadurch auf eine ganz andere Ebene verlagert: mit einer institutionalisierten M o n a r c h i e hat das nichts zu tun. V g l . v o n einem andern Ansatz her R . D r e w s , Basileus: T h e Evidence for Kingship in G e o m e t r i e Greece, N e w H a v e n / L o n d o n 1983; Carlier, R o y a u t e Teile 2 und 3. P. Barcelo bereitet eine U n t e r s u c h u n g über basileia in frühgriechischer und klassischer Zeit vor. V g l . in diesem Z u s a m m e n h a n g ferner etwa C . G . Starr, T h e Decline o f the Early Greek Kings, Historia 10, 1961, 129-38 ( = id., Essays [ A n m . 6] 134-43); S. Deger, Herrschaftsformen bei H o m e r , W i e n 1970; J . V. Andreev, K ö n i g e u n d Königsherrschaft in den Epen H o m e r s , K l i o 61, 1979, 3 6 1 - 8 4 ; U l f , Horn. Gesellsch. K a p . III. Geddes, W h o ' s W h o 28—36, ist trotz nützlicher B e o b a c h t u n g e n i m Ergebnis wertlos, weil er nach einer formalisierten Monarchie sucht (vgl. auch A n m . 34). 105) Wie auch, entgegen einer verbreiteten Anschauung, R e i c h t u m nicht nur an Herden und beweglicher Habe, sondern, wenngleich seltener, auch an Landbesitz gemessen wird: Hennig, Grundbesitz ( A n m . 65) 45 f. mit A n m . 31. G u t z u m früheren Zustand: D o n l a n , H o m e r i c temenos 129-45.

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niert die Hierarchie von ,chiefs', aber häufige Schlaglichter fallen auf eine mehr egalitäre Gruppierung von basileis, wie auch die Festschmäuse der Gefolgsleute in der Halle ihres basileus neben den Anfängen des aristokratischen Symposion stehen. Die Epen erweisen sich hier wie oft als Produkte und Spiegel einer konfliktreichen und widerspruchsvollen Übergangszeit. Zur dritten Frage: In seiner Konzentration auf diese Führungsschicht und die für die epische Handlung wichtigste Lebensumgebung (den Krieg, das Meer und den Oikos) hat der epische Dichter den Rest der freien Bevölkerung weitgehend ausgeklammert. 106 ' Aufgrund der traditionellen Fehlinterpretation der Kampfschilderungen und einer wohl ebenfalls inadäquaten Deutung der Heeres- und Volksversammlungen hat man namentlich die Schicht der freien Bauern bisher meist als quantite negligeable betrachtet und — auch in der Nachfolge Finleys die Kluft zwischen Adel und Nichtadel weit überschätzt. 107 ' Verschiedene neuere Untersuchungen erweisen diese Auffassung als überholt. C. Starr hat, um den in wirtschaftlicher Hinsicht noch relativ geringen Abstand zwischen der Führungsschicht und den Bauern zu unterstreichen, für diese die — vielleicht nicht eben glückliche — Bezeichnung ,semi-aristocrats' eingeführt. 108 ' Vor allem waren sie militärisch unverzichtbar; auf dem Schlachtfeld stand ihnen der Weg zu arete und kleos ebenso offen wie den Edeln (o. Teil 4), woraus sich in manchen Fällen (wenngleich nicht immer und ohne weiteres) die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs ergeben konnte. 109 ' Die Epen spiegeln, wie W. Donlan betont, eine Ubergangsphase in der gesellschaftlichen Entwicklung „from individual achievement,

106) Dazu Geddes, Who's Who. Zu diesen Bevölkerungskategorien vgl. etwa Hasebroek, Wirtschaftsgesch. 20-28; Finley, Welt O d . und World Od. 2 Kap. 2; Austin/Vidal-Naquet, Economies 59-61 ( = Econ. & Soc. Hist. 44-47; Gesellschaft 36-38); Spahn, Mittelschicht 47-58; Gschnitzer, Sozialgeschichte 28-34. Speziell zu den .Außenseitern' vgl. jetzt die Beiträge von G. Wickert-Micknat und Chr. Ulf, in: I. Weiler und H. Graßl (Hrsg.), Soziale Randgruppen und Außenseiter im Altertum, Graz 1988, 59-71 bzw. 73-79. 107) Finley, Welt Od. 47; World Od. 2 53. Zur homerischen Versammlung: u. Teil 6 mit Anm. 137. lü8 ' Starr, Growth 123-28: in der Sache zustimmend: Murray, Early Greece 68 ( = Frühes Griechenl. 85). Trotz des .großbäuerlichen' Charakters der Führungsschicht (Anm. 98), der sich etwa darin äußert, daß Odysseus sich als Experte in den wichtigsten Tätigkeiten des Oikos wie auch im Floßbau erweist, sollte man die Verfeinerung des .adligen' Lebensstils nicht unterschätzen; vgl. etwa Jaeger, Paideia I 23—62; H.-I. Marrou, Histoire de l'education dans l'antiquite, Paris 61965, Kap. 1, bes. 34—36 ( = Geschichte der Erziehung im klass. Altertum, Freiburg und München 3 1957, 17—22); J. de Romilly, Perspectives actuelles sur l'epopee homerique, Paris 1983, 19-41 (zu Homers Humanität); Latacz, Menschenbild 15-39; id., Frauengestalten Homers, in: Humanistische Bildung 11, 1987, 43-71; Homer 31, 74; Hölscher, Odyssee 21 und oft. 109) Vgl. nur Od. 14, 199ff. Die für den autonomen Oikos charakteristische Möglichkeit des sozialen Aufstiegs innerhalb der im Oikos bestehenden Abhängigkeiten illustriert O d . 21, 213-16.

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Kurt A. Raaflaub

dependent solely on skill and prowess, t o w a r d the idea of a social class in w h i c h m e m b e r s h i p alone allowed o n e to claim excellence." 1 1 0 ' Das Bild ist deshalb widersprüchlich. A b e r hinter der Verherrlichung der M a c h t , Leistung u n d A n s p r ü c h e der Führungsschicht enthüllt die a u f m e r k s a m e Lektüre g e n ü g e n d Hinweise auf eine andere Wirklichkeit. Das Volk ist z w a r passiv, aber seinen Führern g e g e n ü b e r nicht u n t e r w ü r f i g . Positive Bezeichnungen wie aristoi u n d heroes sind nicht auf diese beschränkt. Odysseus behandelt seine M a n n e n , größtenteils g e w i ß keine Edle, als Gefährten u n d Freunde m i t Respekt u n d Fürsorge. Generell besteht zwischen A n f u h r e r u n d Soldaten ein auf gegenseitige A b h ä n g i g k e i t gegründetes Verhältnis gegenseitigen Respekts. D e r basileus ist ein ,Hirte seines Volkes', kein K o m m a n d e u r . H o h e r Status m i t den zugehörigen Ehren u n d Privilegien ist n o c h i m m e r ganz k o n k r e t eine Auszeichnung, die v o n der G e m e i n d e verliehen w i r d u n d verdient u n d bestätigt w e r d e n m u ß , die aber auch d u r c h selbstsüchtiges H a n d e l n oder Versagen v e r w i r k t w e r d e n kann. Im politischen Bereich zeigt sich ein ähnliches Bild (u. Teil 6). D o n l a n folgert, daß sich in d e m allem n o c h überaus lebendige Spuren einer w e n i g differenzierten Stammesgesellschaft spiegeln. 1 1 ^ D e m e n t s p r e c h e n d herrscht bei der Beuteverteilung, abgesehen v o n den E h r e n gaben f ü r die A n f u h r e r , das Prinzip der Gleichheit. W i e M . Detienne betont, ist es bedeutsam, daß v o n diesem ές μέσον τιθέναι der B e u t e eine direkte Beziehung zur analogen Charakterisierung der politischen Entscheidung besteht, die w i r f ü r die i s o n o m e Polis späterer Zeiten bei H e r o d o t u n d f ü r die D e b a t t e v o r wichtigen Entscheidungen bereits bei H o m e r finden.112' E. Havelock hat zu R e c h t h e r v o r g e h o b e n , daß alle wichtigen Entscheidungen u n d ,Rechts'-Vorgänge, die die G e m e i n d e betreffen, erst d u r c h die Z e u g e n s c h a f t des Volkes in der V e r s a m m l u n g ihre Gültigkeit erlangen. 1 1 3 ' Das Volk — oder eben genauer: die Masse der freien Bauern — ist also keinesfalls eine quantite negligeable; es spielt im Gegenteil eine f ü r Existenz u n d W o h l der G e m e i n d e überaus wichtige Rolle. Aus diesem Tatbestand ergeben sich weitreichende Folgen f ü r unsere Beurteilung der f r ü h e n Polis, der gesellschaftskritischen Elemente in den Epen u n d der sozialen F u n k t i o n des Heldenepos ü b e r h a u p t .

U(

» Donlan, Aristocr. Ideal 18. Ibid. 19f. mit Belegen; zur Ergänzung jetzt auch id., Pre-State Comm. Vgl. zur Rolle des Volks bei der Verleihung von Ehren ferner Carlier, Royaute 151—62. Zur Problematik von „tribal society" in diesem Zusammenhang: Qviller, Dynamics 110f. mit Anm. 8. 112 > Detienne, Grece archai'que (Anm. 55); Hdt. 3, 142, 3; 4, 161, 3; ferner dazu J.-P. Vernant, Espace et organisation politique en Grece ancienne, in: id., Mythe et pensee chez les Grecs, Paris 2 1985, 238-60, bes. 246-48; P. Leveque/P. Vidal-Naquet, Clisthene l'Athenien, Paris 21973, bes. 29, 67. Das Konzept der Gleichheit mag durch die Erfahrungen der Kolonisation (o. Teil 3 Ende) weiteren Auftrieb erhalten haben: Snodgrass, Archaic Greece 40-42. U3 ' Havelock, Justice, bes. 123 ff. ul)

Homer und die Geschichte des 8.Jh.s v. Chr.

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6. ,Stadt' und ,Polis' In seiner ,Welt des Odysseus' schreibt M.I. Finley, die beiden Epen enthielten auch nicht die geringste Spur einer Polis im klassischen oder politischen Sinn. „Polis bedeutet bei Homer nichts anderes als einen befestigten Platz, eine Stadt." Mehr noch: „the social organization of the world of Odysseus was inadequate for the tasks we know some poleis contemporary with Homer to have performed." Im Gegensatz zu den Dichtungen Hesiods seien die homerischen Epen im wesentlichen eben nicht zeitgenössisch: „sie blicken nach einer vergangenen Zeit zurück, und ihre Substanz ist unverkennbar alt."114) Widerspruch blieb nicht aus. Heute scheinen im Gegenteil die Stimmen zu überwiegen, die in den Epen zwar natürlich nicht die ausgebildete klassische Polis, wohl aber deren bereits mit manchen wesentlichen Merkmalen ausgestattete Vorstufe zu erkennen glauben und in dieser Hinsicht auch den Unterschied zwischen Homer und Hesiod fur geringer erachten, als Finley dies tat. Freilich ist, zumal im Hinblick auf das, was dann im 7. und 6.Jh. sichtbar wird, das Frühe an dieser Vorstufe stark zu betonen; dies wird im folgenden ständig vorausgesetzt.

114 > Finley, Welt O d . 25 (klassisch), World Od. 2 34 (politisch). - Ibid. 155 f. - Ibid. 33f. (zit. nach Welt Od. 24f.). 115) So zu Recht H.-J. Gehrke und P. Spahn in Bemerkungen zu einer früheren Fassung dieses Beitrages. Ins andere Extrem verfällt Gschnitzer, Sozialgeschichte 42: im 8. Jh. sei „der Stadtstaat, die Polis, schon voll ausgebildet" gewesen. Kritik an Finley: bes. Morris, Use and Abuse 100-4; vgl. auch Snodgrass, Dark Age 435. Vgl. zum Folgenden etwa V. Ehrenberg, When Did the Polis Rise? J H S 57, 1937, 147-59 ( = id., Polis und Imperium. Beiträge zur Alten Geschichte, Zürich/Stuttgart 1965, 83-97 = Wann entstand die Polis, in: Gschnitzer, Staatskunde 3-25 [danach zit.]); F. Schachermeyr, Der Werdegang der griechischen Polis, Diogenes 1, 1954, 1-16 = id., Forschungen und Betrachtungen zur griechischen und römischen Geschichte, Wien 1974, 21-36; Starr, Origins Kap. 10; Individual 35 f.; id., City-State 97-108 ( = id., Essays [Anm. 6] 122-33); Thomas, Polis 5-14; Austin/Vidal-Naquet, Economies 63-68 ( = Econ. & Soc. Hist. 49-53; Gesellschaft 39-43); J. V. Luce, The Polis in Homer and Hesiod, Proc. Royal Irish Acad. 78, 1978, 1-15; С. Mosse, Ithaque ou la naissance de la cite, Ann. del sem. di studi del mondo class., sez. archeol. e storia ant. 2, Neapel 1980, 7-19; Murray, Early Greece 64f. ( = Frühes Griechenl. 79f.); K.-W. Welwei, Adel und Demos in der frühen Polis, Gymnasium 88, 1981, 1-23; id., Die griechische Polis. Verfassung und Gesellschaft in archaischer und klassischer Zeit, Stuttgart 1983, 36-42; A. Giovannini, Entstehung und Wesen der griechischen Polis, in: Forschungen zur Stadtgeschichte (Gerda Henkel Vorlesung), Opladen 1986, 11-24; Morris, Burial, bes. Kap. 10; jetzt auch Sakellariou, Polis-State, Teil II; Snodgrass, Formazione 7-21. Zur Diskussion um die klassische Polis und den Begriff der ,Polis' vgl. einerseits V. Ehrenberg, Der Staat der Griechen, Zürich/Stuttgart 21965, und die dadurch ausgelöste Diskussion, deren Beiträge von C. Meier in seiner Rez. (Gnomon 41, 1969, 365-79) angeführt sind (366 Anm. 1), andrerseits W. Gawantka, Die sogenannte Polis: Entstehung, Geschichte und Kritik der modernen althistorischen Grundbegriffe ,der griechische Staat', ,die griechische Staatsidee', ,die Polis', Stuttgart 1985, und Sakellariou, Polis-State, Teil I. Wichtig hier ferner E. Kirsten, Die griechischc Polis als historisch-geographisches Problem des Mittelmeerraumes, Bonn 1956; M.I. Finley, The Ancient City: From Fustel de Coulanges to Max Weber and Beyond, Comp. Stud, in Soc.

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K u r t A. R a a f l a u b

U m wiederum zunächst das außerhomerische Material zusammenzufassen, so ergibt sich aus dem archäologischen Befund, daß die Dark Ages eine Epoche ohne Städte waren; selbst die Dörfer waren meist klein. Im Mutterland war auch im 8.Jh. das Dorf die übliche Siedlungsform. Im Bereich des späteren Zentralortes gruppierten sich z.B. in Athen, Korinth, Argos und Sparta mehrere Dörfer, die sich zwar rasch ausdehnten, aber offenbar erst später zu einer Stadt zusammenwuchsen — in Sparta ist dies bekanntlich überhaupt nicht geschehen. 116 ' Siedlungsbefestigungen, deren Existenz bis vor kurzem bestritten wurde, sind jetzt mehrfach nachgewiesen; mancherorts dürfte auch lediglich die Akropolis als Fluchtburg befestigt gewesen sein. Von Amtsgebäuden findet sich noch keine Spur; die gewiß überall vorauszusetzende Agora ist aufgrund ihrer besonderen Ausgestaltung nur auf Kreta nachweisbar. 117 ' Wohl aber entstanden gegen Ende des Jahrhunderts and Hist. 19, 1977, 305-27 ( = id., Econ. and Soc. 3-23); R . A. Posner, T h e H o m e r i c Version of the Minimal State, Ethics 90, 1979/80, 27-46; W . G . R u n c i m a n , Origins of States: T h e Case of Archaic Greece, C o m p . Stud, in Soc. and Hist. 24, 1982, 351—77; de Polignac, Naissance; R . Osborne, Demos: T h e Discovery of Classical Attika, C a m b r i d g e 1985; Snodgrass, Interaction 47-58; Van der Vliet, , B i g - M a n ' (Anm. 104); Morris, Burial, Kap. 10; F. Gschnitzer, Die Stellung der Polis in der politischen E n t w i c k l u n g des Altertums, Oriens antiquus 27, 1988, 287—302; G. Audring, Z u r Struktur des Territoriums griechischer Poleis in archaischer Zeit, Sehr, zur Gesch. u n d Kultur der Ant. 29, Berlin 1989; O . M u r r a y / S . Price (Hrsg.), T h e Greek City f r o m H o m e r to Alexander, O x f o r d 1990; sowie k ü n f t i g die in A n m . 25 genannte Arbeit von W. Donlan; P. Funke, S t a m m u n d Polis; Ü b e r l e g u n g e n zur Entstehung der griechischen Staatenwelt in den „ D u n k e l n J a h r h u n d e r t e n " , in: Frankf. Althist. Stud. 1990 (Koll. zu Ehren von A. Heuss; dem Verf. danke ich f u r die Z u s e n d u n g des Ms.). Verwiesen sei hier auch auf H . van Effenterre, La cite grecque. Des origines a la defaite de M a r a t h o n , Paris 1985 (mit reicher Lit.), dessen Hauptthese, „die griechische Stadt habe v o m 3.Jt. an o h n e tiefergehende Brüche bis in die klassische Zeit existiert; die griechische Sprache als das entscheidende K o n t i n u u m habe eine ,unite de civilisation' g e f o r m t , die sich vor allem im politisch-gesellschaftlichen Vokabular zeige" (N. Ehrhardt), freilich auf massive u n d berechtigte A b l e h n u n g gestoßen ist; vgl. etwa A. Snodgrass, CI. Rev. 36, 1986, 261-65; N . Ehrhardt, G n o m o n 58, 1986, 711-15; G . J . D . Aalders, M n e m o s y n e 40, 1987, 455-59; С . Mosse, Rev. hist, du droit ί ^ η ς . et etrang. 64, 1986, 85-87. - U m Vorstufen zu erkennen, m u ß man das E n d p r o d u k t kennen; zu der im folgenden vorausgesetzten Definition der Polis s. A n m . 122. 116 ' Coldstream, G e o m . Greece 50f., 174, 303 u n d öfter; Formation 14-17; Snodgrass, A r chaeol. and Rise 26—29, 33 f.; Archaic Greece 31. D a ß auch die kolonialen Siedlungen zunächst den Charakter von Bauerndörfern hatten u n d sich erst im Lauf v o n Jahrzehnten zu ,Städten' entwickelten, betonen etwa Vallet et al., Megara Hyblaea III (Anm. 52) 144ff.; Vallet, Cite 75 f.; R . Martin et al., Le strutture urbane e il loro r a p p o r t o con la storia, in: La Sicilia antica (Anm. 46) I 2, 1980, 239 f. 117 > Siedlungsbefestigungen: H . Lauter-Bufe/H. Lauter, Die vorthemistokleische Stadtmauer Athens nach philologischen und archäologischen Quellen, Archäol. Anzeiger 1975, 1 - 9 . Z u r Agora von Dreros: Coldstream, G e o m . Greece 278f., 288. Von der seit der Antike vielfach postulierten frühen athenischen A g o r a zwischen Akropolis und Areopag hat sich bisher nichts gefunden: Coldstream, Formation 14 mit A n m . 19, sowie k ü n f t i g Τ Hölscher, T h e C i t y of Ancient Athens: Space, Symbol, Structure, in: A. M o l h o et al. (Hrsg.), Athens and R o m e , Florence and Venice: City-States in Classical Antiquity and Medieval Italy, Stuttgart 1991 (dort im Text mit A n m . 15-20 [mit Lit.]).

H o m e r u n d die Geschichte des 8.Jh.s v . C h r .

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vielerorts erste Monumentaltempel. ) Auch in Ionien dürften stadtähnlich geschlossene Siedlungen mit Befestigungen nach dem Muster des Paradebeispiels Alt-Smyrna 119 ' die Ausnahme gewesen sein. Insgesamt waren, so darf man folgern, von wenigen spektakulären Ausnahmen (wie Alt-Smyrna und den großen Tempeln) abgesehen, die Siedlungen des 8.Jh.s höchst einfach 120 '; die eigentliche Stadtbildung erfolgte deutlich nach dem 8.Jh. Dies schließt freilich die Möglichkeit der Entstehung der Polis bereits im 8.Jh. keineswegs aus. Denn zum einen hatten auch später nicht alle Poleis städtische Zentren, war also die Entwicklung der Polis von der Stadtbildung unabhängig nicht die Stadt formte die Polis, vielmehr setzte die Stadt die Polis voraus. 121 ' Zum andern waren für die Polis, die ja primär eine Personen- und Territorialgemeinschaft war, nicht die am ehesten archäologisch faßbaren und früher oft überbetonten städtebaulichen Elemente, sondern .politische' Merkmale und geistig-psychologische Faktoren entscheidend, die man als Mentalität oder Loyalität des Bürgers gegenüber der Gemeinschaft bezeichnen kann. 122 '

118 > Coldstream, G e o m . Greece 317-27; Snodgrass, Archaeol. and Rise 25f., 29f.; Archaic Greece 56-58; weiteres u. A n m . 129. 119 > J . M . C o o k , O l d - S m y r n a 1948-51, Ann. Brit. School Athens 53/54, 1958/59, I f f . ; Η . Drerup, Griechische Baukunst in geometrischer Zeit, Archaeol. Н о т . II, Fasz. O , Göttingen 1969, 44-47; Coldstream, G e o m . Greece 210-12, 261 f., 303, 314 (mit Lit.); F o r m a t i o n 18f.; Snodgrass, Archaeol. and Rise 21-25. N a c h Snodgrass, Formazione 14, sind nach neuesten türkischen Ausgrabungsbefunden die Befestigungen von A l t - S m y m a erst ins 7.Jh. zu datieren. 120) Dies zu Recht betont von Starr, City-State 101; vgl. auch Coldstream, G e o m . Greece 210-12, 261 f., 303-11. 121) Keine städtischen Zentren: neben Sparta (Thuk. 1, 10, 2) etwa Elis (Polyb. 4, 73, 6 ff.; vgl. Gschnitzer, S t a m m e s g e m . 276f.). Priorität der Polis: Starr, City-State 101; Origins 340; Snodgrass, Archaic Greece 32f.; F. Kolb, Die Stadt im A l t e r t u m , M ü n c h e n 1984, 61—67; Sakellariou, Polis-State 86-92, 154. 122 > Die (seit d e m späten 7. und 6.Jh. voll entwickelte) Polis läßt sich definieren als eine in der Regel a u t o n o m e , jedenfalls sich selbst verwaltende, aus einer Siedlungs- und Schicksalsgemeinschaft erwachsene Personengemeinschaft, die auch K u l t - u n d Rechtsgemeinschaft ist, in der das (oft städtische) politische u n d religiöse Z e n t r u m u n d das umliegende Territorium ohne Rechtsunterschied untrennbar miteinander v e r b u n d e n sind und die als Kollektiv entscheidet und handelt. - A u t o n o m i e keine B e d i n g u n g : dies ergibt sich schon daraus, daß die athenischen U n t e r t a n e n g e m e i n d e n i m 5.Jh. natürlich weiterhin als Poleis galten. Personengemeinschaft: Ehrenberg, Staat (Anm. 115) 107-9, 112; Gschnitzer, S t a m m e s g e m . 272-79, 286-94; weitere Lit. bei Sakellariou, Polis-State 41 A n m . 2. Territoriale Gemeinschaft: vgl. Osborne, Demos (Anm. 115); A u d r i n g , Territorium ( A n m . 115), sowie Donlan, Social G r o u p s 298-302 (zur Tatsache, daß Hes. Erga 6 3 9 f . (Dorf); 2 2 2 , 2 2 5 - 4 7 , 2 6 9 (Polis); 2 7 - 3 2 (Agora); 2 9 8 - 3 1 8 , 3 4 2 - 5 1 , 3 9 7 - 4 0 4 und passim ( H o f und Nachbarn). Hesiod in seiner Zeit und Gesellschaft: A. R . Burn, T h e World o f Hesiod, London 1936 (Nachdr. N e w York 1966); M . Detienne, Crise agraire et attitude religieuse chez Hesiode, Brüssel 1963; P. Spahn, Oikos und Polis. Beobachtungen zum Prozeß der Polisbildung bei Hesiod, Solon und Aischylos, H Z 231, 1980, 5 3 3 - 4 4 ; Donlan, Aristocratic Ideal 2 6 f f . , 4 8 f f . ; P . C . Millett, Hesiod and his World, Proc. o f the Cambr. Philol. Soc. 210, 1984, 8 4 - 1 1 5 ; I. Perysinakis, Hesiod's Treatment o f Wealth, Metis 1, 1986, 9 7 - 1 1 9 , sowie demnächst den Beitrag von J . v. U n g e r n - S t e r n b e r g und K . Seybold, in: Raaflaub/MüllerLuckner, Anfänge. 1 2 4 ' M a n denke an den Hekate-Hymnus (Theog. 411—52) oder die genealogische Verknüpfung von Dike, Eirene und Eunomia mit Zeus und Themis (ebd. 901—3). Z u alledem etwa Ehrenberg, Polis 17 f.; Snell, Dichtung und Gesellschaft 56—61. Z u m Rechtsdenken: E. Wolf, Griech. Rechtsdenken I, Frankfurt M . 1950, 120ff.; V. Ehrenberg, D i e Rechtsidee im frühen Griechentum, Leipzig 1921 (Nachdr. Darmstadt 1966) 17ff., 6 2 f f . ; Havelock, Justice 193ff. Z u m ethischen und politischen Denken etwa Jaeger, Paideia I, 89—112; N . O . B r o w n , Hesiod: T h e o g o n y , Indianapolis 1953, 7 f f . ; F. Solmsen, Hesiod and Aeschylus, Ithaca, Ν . Υ. 1949, 3ff.; Ε. Voegelin, Order and History II: T h e World o f the Polis, B a t o n R o u g e , Louisiana, 1957, 1 2 6 - 6 4 ; M . L . West, La formazione culturale della polis e la poesia esiodea, in: Bianchi Bandinelli (Hrsg.), Storia (Anm. 46) 254—90; K . S. Panagiotou, D i e ideale F o r m der Polis bei H o m e r und Hesiod, Diss. B o c h u m 1983, Teil II; Raaflaub, in: Fetscher/Münkler 2 1 5 - 2 4 . Zweifel an der üblicherweise angenommenen ausgeprägt didaktischen Intention Hesiods bei M . Heath, Hesiod's Didactic Poetry, C Q N . F . 35, 1985, 2 4 5 - 6 3 ; vgl. j e d o c h R . P . Martin, Hesiod, Odysseus, and the Instruction o f Princes, Trans. A m . Philol. Ass. 114, 1984, 2 9 ^ 8 . 125) V g l insgesamt oben Teil 4 mit A n m . 5 9 f f . , bes. 63.

Horner und die Gcschichte des 8.Jh.s v . C h r .

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phalanx des 7.Jh.s Ausdruck eines entwickelten Kollektivbewußtseins war, muß dies in nicht geringem Maße auch fur deren Vorstufe, die „Phalangenkampfweise" (Latacz) der Ilias gelten (o. Teil 4). 3. Private oder halboffizielle Plünderungszüge und Nachbarschaftsfehden fanden wohl weiterhin statt, kollidierten aber, da sie potentiell für die ganze Gemeinde Probleme schufen, mit deren zunehmendem Anspruch auf Kontrolle der Außenpolitik; hier liegt wohl einer der frühesten Anlässe für zwischenstaatliche Vereinbarungen, die längst vor den frühesten erhaltenen schriftlichen Verträgen eingesetzt haben dürften. 126 ' 4. Kollektives Denken und Handeln waren in den Kolonisationsgebieten für den Erfolg unerläßlich. Die Grundideen, -mentalitäten und -strukturen der Polis (im Gegensatz zu denen der Stadt) dürften von den Auswanderern aus der Heimat mitgenommen worden sein und deshalb dort im Kern bereits bestanden haben. 127 ' 5. Nach Snodgrass entfallen aufgrund ihrer Seltenheit Urbanisierung wie Stadtbefestigung als Kriterien für die Poliswerdung; für die Befestigungen scheint der archäologischc Befund freilich nicht mehr eindeutig. 128 ' Wohl aber werden die frühesten Monumentaltempel, die in auffallender Häufung gegen Ende des 8.Jh.s auftreten, oft als erster klarer Hinweis auf die Existenz der Polis gedeutet; sie bezeugen zumindest

126) O d . 3,82 u n d 4,314 die Möglichkeit einer Gesandtschaft mit öffentlichem A u f t r a g (demion); vgl. bes. die O d . 16,424—30 und 2 1 , 1 6 - 2 1 e r w ä h n t e n Episoden sowie den (ins späte 6.Jh. datierten) Vertrag zwischen Elis u n d Heraia: Meiggs/Lewis, Inscriptions 31 f., Nr. 17. Dazu Ehrenberg, Polis 11. Wichtig hier auch der II. 15, 188 ff., e r w ä h n t e Vertrag und das möglicherweise mit Versuchen der vertraglichen Friedenssicherung z u s a m m e n h ä n g e n d e Verfluchungsgebet von II. 3, 297-300 (vgl. 4, 155-68. 234—39); dazu W i c k e r t - M i c k n a t , Unfreiheit 18-21, 90-92. Für eine etwas spätere Zeit vgl. A. H e u ß , Die archaische Zeit Griechenlands als geschichtliche Epoche, Antike und Abendland 2, 1946, 49—53 ( = Gschnitzer, Staatskunde 74-80); H. Berve, Fürstliche Herren zur Zeit der Perserkriege, Die Antike 12, 1936, 1 - 2 8 ( = id., Gestaltende Kräfte der Antike, M ü n c h e n 2 1966, 232-67 = Kinzl [Hrsg.], Tyrannis [Anm. 60] 43-73). 127 ' So bes. Starr, Origins 337; Individual 35 f.; Austin/Vidal-Naquet, Economies 64 ( = Econ. & Soc. Hist. 50; Gesellschaft 39 f.); Snodgrass, Interaction 49-51. Eine umsichtige Diskussion dieser Prioritätsfrage bei Malkin, Religion 262-66, bes. 262 f., der den Aspekt der Interdependenz zwischen Kolonisation u n d Herausbildung der Polis stärker betont: „ T h e need to create ex novo b r o u g h t about also the need to think out the polis, to m a k e it an abstraction (if only for practical purposes); so the ,idea' of the polis is the fruit of a process, n o t the exportation of a m o d e l " (briefl. Mitteilung). Der Hinweis auf die im 8.Jh. polis-losen Achäer, die als Kolonisten in Unteritalien Poleis gründeten, ist berechtigt; g e m ä ß Snodgrass w ü r d e hier freilich die N a c h a h m u n g erfolgreicher (mutterländischer oder kolonialer) Modelle als Erklärung genügen. — O b u n d inwiefern auswärtiger (bes. phönizischer) Einfluß bei der E n t w i c k l u n g der Polis eine Rolle spielte, scheint mir eine Frage, die gründlicher (auch grundsätzlicher) E r ö r t e r u n g bedarf: R . Drews, Phoenicians, Carthage and the Spartan Eunomia, Amer. J o u r n . of Philol. 100, 1979, 45-58, u n d Gschnitzer, Stellung der Polis ( A n m . 115) 293, 299-301, plädieren dafür; Snodgrass, Archaic Greece 32, hält es fur möglich; Starr, G r o w t h 101 u n d Individual 42, ist v e h e m e n t dagegen; einiges zu dieser Frage demnächst in: Raaflaub/Müller-Luckner, Anfänge. 128 > Snodgrass, Archaeol. and Rise 21 f f , bes. 24; Archaic Greece 32 f. Z u m neuen archäologischen Befund: o. A n m . 117.

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K u r t A. Raaflaub

eine große kollektive Leistungsfähigkeit — dies müßte eben auch für die Befestigungen gelten — und eine neue Hochbewertung des religiösen Mittelpunktes der Gemeinde, vielleicht gelegentlich auch einen kollektiven Wettbewerbsgeist. 129 ' 6. Generell waren die Menschen des 8.Jh.s in einer Zeit schneller und fundamentaler Veränderungen mit Problemen konfrontiert, die oft nur im Kollektiv bewältigt werden konnten und nach neuen Organisationsformen, Denk- und Verhaltensweisen verlangten. Wenn die Polis, wie zu vermuten ist, eine Antwort auf die drängenden Probleme ihrer Entstehungszeit war 130 ', stellt die zweite Hälfte des 8.Jh.s jedenfalls einen höchst plausiblen Zeitraum dar. N u n zu Homer. Die durch die epische Tradition und Handlung vorgegebenen Schwerpunkte lenken naturgemäß den Blick von der Gemeinschaft weg. Daß über weite Strecken das auf den Oikos konzentrierte Denken und die entsprechenden competitive values' dominieren, ist gar nicht zu bestreiten. 131 ' Dennoch finden sich zahlreiche Indizien dafür, daß die Gemeinde in ihren äußeren Erscheinungsformen, ihren Institutionen und in den Werten und Mentalitäten, die sie fordert und fördert, im Denken des Dichters und Leben der homerischen Gesellschaft eine zentrale Stellung einnimmt. 132 ' Wesentliche Komponenten des Stadt-

129 > So im Fall von Eretria u n d Samos, w o die frühesten H e k a t o m p e d o n - T e m p e l nachgewiesen sind. Vgl. zu alledem Starr, City-State 101; Origins 320; Individual 39f.; Snodgrass, Archaeol. and Rise 24—26; Archaic Greece 33, 58—60; Coldstream, Formation 9 - 1 1 ; id., Greek Temples: W h y and W h e r e ? in: P. Easterling/J. V. M u i r (Hrsg.), Greek Religion and Society, C a m b r i d g e 1985, 67-97, bes. 68-72. Z u W e t t b e w e r b , K o m m u n i k a t i o n und N a c h a h m u n g unter den frühen Poleis: Snodgrass, Interaction 47-58. Z u r Funktion der v o n den kolonialen Gemeinden eingerichteten, also politischen, Heroenkulte f u r die Oikisten vgl. Malkin, Religion, Teil 2. Im religiös-kultischen Bereich w ä r e n auch das A u f k o m m e n der g r o ß e n regionalen und später panhellenischen Heiligtümer (dazu etwa Snodgrass, Archaic Greece 55 f.; Interaction 54-55; С . Rolley, Les grands sanetuaires panhelleniques, in: H ä g g , Renaissance 109-14) wie auch die Funktion von Kulten zu beachten, die außerhalb der Siedlung gelegen waren (dazu de Polignac, Naissance, Kap. 2). 13 °» Vgl. bes. Gschnitzer, S t a m m e s g e m . 293 f.; Starr, Origins 301 f., 341 ff.; Individual 42-46, 51. 131 ' Z u letzteren die o. A n m . 16 angeführten Arbeiten von Adkins (bes. Merit and Responsibility). Z u m oikos-bezogenen D e n k e n ferner etwa Strasburger, Der Einzelne bes. 100ff.; Finley, Welt O d . 72-77, 110f.; Austin/Vidal-Naquet, Economies 5 3 - 5 6 ( = Econ. & Soc. Hist. 40-42; Gesellschaft 32-34); H e r m a n , Friendship 1 - 6 u n d pass.; W. Nicolai, Z u r B e d e u t u n g des O i k o s Gedankens im homerischen Epos, in: О Omerikos Oikos, Ithaka 1990, 2 9 - 3 8 (mit reicher Lit.). ι32) Vgl. z u m Folgenden bes. H o f f m a n n , Polis 123-38; T h o m a s , Polis; F. Gschnitzer, Stadt u n d S t a m m bei H o m e r , Chiron 1, 1971, 1 - 1 7 ; P. A . L . Greenhalgh, Patriotism in the H o m e r i c World, Historia 21, 1972, 528-37; Luce, Polis (Anm. 115); S. Scully, T h e Polis in H o m e r : A Definition and Interpretation, R a m u s 10, 1981, 1 - 3 4 (vgl. jetzt auch dens., H o m e r and the Sacred City, Ithaca, Ν . Υ. 1990 [mir noch nicht zugänglich]); W i c k e r t - M i c k n a t , Unfreiheit, Teil I; Sakellariou, Polis-State 155-208 (bes. 159 f., 185 ff., 205 f.), 356-92 mit Belegen; ebd. 350-54 eine Liste der B e f ü r w o r t e r der hier vertretenen Auffassung und ihrer A r g u m e n t e , 354 f. eine Liste der Gegner.

H o m e r und die Geschichte des 8.Jh.s v. Chr.

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bildes kehren mehrfach wieder; selbst das Griechenlager vor Troia ist als improvisierte Stadt vorgestellt. Aber die Polis ist weit mehr als eine bloße Siedlungsform. Z u m einen ist nicht nur die spezifische Terminologie von Polis und Stadt überaus häufig, sondern bezeichnet der B e g r i f f ,Polis' über die unterhalb der Zitadelle gelegene Siedlung hinaus das dazugehörige Territorium und das Einwohnerkollektiv und damit auch (wie sich etwa aus O d . 6,176—78 ergibt) die dadurch definierte und von der Siedlung (asty) unterschiedene Gemeinde. Z u m andern ist die Polis die normale soziale Organisationsform, die auch bei fernen M ä r c h e n v ö l kern vorausgesetzt wird; praktisch alle wichtigen Personen sind mit einer Polis verknüpft, und die erste Frage an einen Gast gilt seiner Familie und Polis. Zentrale Handlungselemente spielen sich in der Polis und ihrer U m g e b u n g ab; sie ist als Lebensrahmen durchweg präsent. Ihre Funktion als K a m p f - und Schicksalsgemeinschaft ist nicht nur durch die Tradition vorgegeben, sondern durch gesonderte und wahrscheinlich auf die Zeit des Dichters bezogene Gleichnisse und Vignetten (etwa den Schild des Achilleus) als zeitgenössisch bestätigt. W i e tief die Polis ins gesellschaftliche Denken integriert ist, ergibt sich des weiteren daraus, daß sie, wie S. Scully ausführt, in mancher Hinsicht symbolische Bedeutung hat und im Zentrum eines Netzes von Assoziationen steht. 1 3 3 ' Sic repräsentiert Zivilisation, Fortschritt, Gemeinschaft, Rechtlichkeit und Offenheit; nicht in einer Polis zu leben bedeutet Primitivität, Abgeschlossenheit, A u t o n o m i e des Oikos, Gesetzlosigkeit. Wenn an der Kyklopengesellschaft als Anti-Polis formuliert werden kann, welche Institutionen, D e n k - und Verhaltensweisen eine Polis ausmachen 1 3 4 ', m u ß das Konzept der Polis mit ihren wesentlichen M e r k m a len bereits bewußt sein. Neben der Loyalität des Einzelnen seiner Familie gegenüber steht diejenige gegenüber der Gemeinde, mit deren Wohlergehen das des Einzelnen und seines Oikos untrennbar verknüpft ist. 135 ' Auch das mächtige Individuum hat eine Verantwortung gegenüber dem Kollektiv; die Erfüllung dieser Pflicht wird belohnt, deren Verletzung öffentlich gerügt oder gar geahndet. D a m i t verbunden

Scully, Polis (Anm. 132) 5ff. (auch zum Folgenden). O d . 9, 105 ff., bes. 1 1 2 - 1 5 , 1 2 5 - 2 9 . 135) Hierzu wie zum Folgenden bes. Hoffmann, Polis; Greenhalgh, Patriotism (Anm. 132); W i c k e r t - M i c k n a t , Unfreiheit, bes. 5 0 f . V g l . auch Latacz, Kampfparänese (wie o. A n m . 81). Die Ähnlichkeit der Paränesen Hektors (II. 1 5 , 4 9 4 - 9 9 ) und Nestors (ebd. 6 6 1 - 6 6 ) und ihre Nähe etwa zum Schlachtruf der Griechen bei Salamis (Aisch. Pers. 402—5) ist jedenfalls beachtlich. Z u r Weiterentwicklung der Gemeinschaftsvorstellungen nach H o m e r vgl. Snell, Dichtung und Gesellschaft, bes. Kap. 3; zu den bei H o m e r faßbaren Vorstufen des Konzepts des .Bürgers' vgl. H. Reinau, Die Entstehung des Bürgerbegriffs bei den Griechen, Diss. Basel 1981; s. jetzt auch P. B . Manville, T h e Origins o f Citizenship in Ancient Athens, Princeton 1990, bes. Kap. 2 und 3. Aus welchen Gründen in dieser Gesellschaft dennoch kein kollektiver, politischer Freiheitsbegriff entstehen konnte, erläutert Raaflaub, Entdeckung der Freiheit, bes. Kap. II (wo freilich die hier besprochenen Aspekte unterschätzt wurden). 133)

134>

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K u r t A. R a a f l a u b

ist das Bestreben, im Sinne der Gemeinde positive Verhaltensmuster zu propagieren und für die unvermeidlichen Konflikte zwischen den Ansprüchen des Einzelnen und denen des Kollektivs Lösungen vorzuschlagen. Dem Proccdere der Strcitschlichtung wird große Beachtung geschenkt; das rechtliche Handeln (auch dem sozial Schwachen und dem Außenseiter gegenüber) ist durch die Unterstellung unter Zeus' persönlichen Schutz als für die Gemeinde zentraler Wert gekennzeichnet.136^ Auch die in der späteren Polis dominierenden Institutionen (Rat und Versammlung) spielen keine geringe Rolle, und dem Volk fehlt es keineswegs an Einfluß. Mehrfach wird deutlich, daß seine kollektive Meinungsund Willensäußerung beachtet oder gar gefürchtet wird, und wichtige Vorgänge bedürfen seiner Zeugenschaft, um gültig zu sein.137' Alles in allem ist das ein reiches und differenziertes Bild, das in seiner Bedeutung oft unterschätzt wird und dessen Elemente, so rudimentär sie erscheinen mögen, für die spätere Polis grundlegend waren. Gewiß, es fehlt nicht an Widersprüchen und Spannungen; auch in dieser Hinsicht erweist sich die homerische Gesellschaft als Produkt einer Übergangs- und Umbruchphase. 138 ' Aber die Folgerung, daß uns in den Hintergrundschilderungen der Epen in allen wesentlichen Elementen eine Frühform der Polis entgegentritt und daß diese bedeutend mehr darstellt als

136) Vgl. bes. R . J . B o n n e r / G . S m i t h , T h e A d m i n i s t r a t i o n o f j u s t i c e f r o m H o m e r t o Aristotle I, C h i c a g o 1930, H 7 ; Η . G o u l d , Hiketeia, J H S 93, 1973, 7 4 - 1 0 3 ; H a v e l o c k , Justice, K a p . 9. Z u m politischen D e n k e n : u. A n m . 141. 137) Z u letzterem H a v e l o c k , Justice, bes. 123 ff. Z u R a t u n d V o l k s v e r s a m m l u n g u n d der R o l l e der ö f f e n t l i c h e n M e i n u n g bei H o m e r vgl. e t w a G. B u s o l t / H . S w o b o d a , Griechische S t a a t s k u n d e II, H a n d b . der Altertumswiss. IV 1.1.2, M ü n c h e n 3 1926, 3 3 3 - 4 1 ; J. А. O . Larsen, T h e O r i g i n of t h e C o u n t i n g of Votes, Class. Philol. 44, 1949, 164—68 (deutsch in: Gschnitzer, S t a a t s k u n d e 185-91); R . M a r t i n , R e c h e r c h e s sur l ' a g o r a g r e c q u e , Paris 1951, 1 7 - 4 1 ; Finley, W e l t O d . 7 7 f f . , 114ff. = W o r l d O d . 2 7 8 f f „ 108ff.; J . V . A n d r e e v , Volk u n d Adel bei H o m e r , Klio 57, 1975, 2 8 1 - 9 1 ; id., D i e politischen F u n k t i o n e n der V o l k s v e r s a m m l u n g i m h o m e r i s c h e n Zeitalter, Klio 6 1 , 1 9 7 9 , 3 8 5 - 4 0 5 ; S p a h n , Mittelschicht 29 ff., bes. 34 ff.; W. D o n l a n , T h e S t r u c t u r e o f A u t h o r i t y in t h e Iliad, Arethusa 12, 1979, 5 1 - 7 0 ; Carlier, R o y a u t e 182-87; Geddes, W h o ' s W h o 3 1 - 3 4 ; F. Gschnitzer, Politische Leidenschaft i m h o m e r i s c h e n Epos, in: Η . G ö r g e m a n n s / E . Α. S c h m i d t (Hrsg.), Studien z u m ant. Epos, Beitr. z. klass. Philol. 72, M e i s e n h e i m a. Glan 1976, 1 - 2 1 ; id., D e r R a t in der V o l k s v e r s a m m l u n g . Ein B e i t r a g des h o m e r i s c h e n Epos zur griechischen Verfassungsgeschichte, in: P. H ä n d e l / W . M e i d (Hrsg.), Festschrift R . M u t h , I n n s b r u c k 1983, 151-63; J. F. M c G l e w , R o y a l P o w e r a n d t h e A c h a e a n Assembly at Iliad 2 , 8 4 - 3 9 3 , Class. A n t . 8, 1989, 2 8 3 - 9 5 . Bes. zu b e a c h t e n scheinen m i r Ergebnisse w i e die v o n Gschnitzer, K ö n i g , R a t u n d Volk bei H o m e r , B e i t r ä g e z u m G r i e c h i s c h - U n t e r r i c h t 3, 1980, 1 - 3 1 (1: „ . . . d a ß die K ö n i g e des h o m e r i s c h e n Epos nicht selbstherrlich gebieten, s o n d e r n ihre R e g e n t e n p f l i c h t als B e a u f t r a g t e der G e m e i n d e in e n g e m Z u s a m m e n w i r k e n m i t R a t u n d V o l k s v e r s a m m l u n g w a h r n e h m e n . . . " ) , u n d D o n l a n , P r e - S t a t e C o m m . 17 A n m . 40: „It m u s t b e emphasized [ . . . ] that t h e will of the assembled demos, in its capacity to say yes o r no, w a s u l t i m a t e l y s u p r e m e ; t h e basileis h a d v e r y limited m e a n s of c o e r c i o n . " Z u den A n f a n g e n des K o n z e p t s der ,kollektiven V e r a n t w o r t u n g ' auch R a a f l a u b , A n f a n g e 14—18, bes. 16. 138

' So auch T h o m a s , Polis 5.

Homer und die Geschichte des 8.Jh.s v.Chr.

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eine bloße Siedlungsagglomeration mit einem Versammlungsplatz, hat viel für sich. Bedenkt man zumal, wie sehr Homer (wie später Hesiod) die Notwendigkeit einer guten, gerechten und auf das Wohl der Gemeinde ausgerichteten Führung betont 139 ', wie sehr (mag das auch in der vordergründigen epischen Handlung heruntergespielt sein) Edle und Volk aufeinander angewiesen sind und der Demos trotz seiner scheinbaren Passivität fähig ist, seinen Willen kundzutun und durchzusetzen, so wird man sich Finleys Urteil nicht ohne weiteres anschließen können: Es ist nicht einzusehen, weshalb die von Homer geschilderte Gesellschaft die Aufgaben nicht hätte lösen können, die sich den historischen Gemeinden des späten 8.Jh.s stellten.140'

7. Schluß: Homer und die Gesellschaft des 8.Jh.s Die gesamtgesellschaftliche Entwicklung im 8.Jh. war dominiert von einem tiefgreifenden, alle Lebensbereiche erfassenden und sich rasch beschleunigenden Veränderungsprozeß. Dessen Resultate treten uns nicht nur in einem vielfältigen und höchst beachtlichen wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwung entgegen, sondern auch in den Grundlagen der für die spätere griechische Gesellschaft charakteristischen sozialen und politischen Strukturen. Im 8.Jh. liegen, auch wenn gewiß manche Wurzeln weiter zurückreichen, insbesondere die Anfänge der Ausweitung des Lebensraumes, aus der die weite Teile des mediterranen Bereiches umspannende griechische Koine erwuchs, der sozialen Differenzierung, aus der die Aristokratie entstand, der Gemeinschaftsbildung, die zur Polis führte, und der Militärordnung, aus der sich die Hoplitenphalanx entwickelte. So wichtig diese individuellen Ansätze je für sich sind, noch bedeutsamer ist die Tatsache, daß sich Polis, Aristokratie und Phalanx gleichzeitig und in enger Interdependenz zueinander entwickelten. Die griechische Führungsschicht befand sich im 8.Jh. im Umbruch. Die Dark Ages waren von wenig differenzierten Dorfgemeinschaften und einem unstabilen System von Gefolgschaftsgruppen geprägt, deren Anführer aufgrund ihrer persönlichen Tüchtigkeit und Erfolge zu Wohlstand gelangten, zur Stellung des lokalen ,Chiefs' aufstiegen und zum Teil regionalen Einfluß ausübten; sie erhielten deshalb allenfalls ein prächtiges Begräbnis, befleißigten sich einer verfeinerten Lebensweise und übten zweifellos eine für das Weiterleben und die Neubildung kultureller (auch im epischen Gesang vermittelter) Traditionen höchst bedeutsame Funktion aus. Aus diesen und ande-

139)

Zur Nähe Hesiods zu Homer: Spahn, Oikos und Polis (Anm. 123) 529-41; Raaflaub, Anfänge. Z u m Inhaltlichen: Carlier, Royaute 195-209, sowie die hier in Anm. 124 und 141 angeführte Lit. 140) So auch Morris, Use and Abuse 104.

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K u r t A. R a a f l a u b

ren Elementen entwickelten sich erst im 8.Jh. aufgrund eines wesentlich breiter angelegten und komplexen, aber im einzelnen noch wenig verstandenen Differenzierungsprozesses die Anfänge der archaischen Aristokratie (o. Teile 2 und 5). Dieser Prozeß fällt nun — keineswegs zufällig — genau in die Periode, in der infolge massiver demographischer Veränderungen Land knapp wurde, der Konkurrenzkampf zwischen Gemeinden und soziale Spannungen innerhalb der Gemeinden rasch zunahmen, die freien Bauern militärisch unverzichtbar und neue Formen des gemeinschaftlichen Zusammenschlusses und solidarischen Handelns zum Überleben notwendig wurden. Damit stand auch die werdende Polis von Anfang an in der Spannung zwischen den Ansprüchen des Einzelnen und denen der Gemeinschaft, auf die auch der Einzelne letztlich angewiesen war. Von diesen Spannungen zeugen Hesiod am Ende des Jahrhunderts und, eine bis zwei Generationen früher, der oder die Dichter der homerischen Epen. Die doch wohl bewußte und der Führungsschicht gegenüber durchaus kritische Auseinandersetzung mit den Grundproblemen des Lebens und der Beziehungen in der Gemeinde spielt in den Epen eine überaus wichtige Rolle. Sie durchzieht beide Gedichte und steht besonders am Anfang der Ilias und den auf Ithaka bezogenen Teilen der Odyssee im Zentrum der Handlung. Diese Auseinandersetzung war zweifellos für den Dichter wie sein Publikum höchst aktuell — so aktuell, daß sie eine weitere fur das spätere Griechentum bedeutsame Entwicklung ausgelöst hat: diejenige des politischen Denkens. 141 ' Dies dürfte nun auch für die Beurteilung der sozialen Funktion des heroischen Epos in seiner Zeit bedeutsam sein. Zweifellos diente der Heldengesang seinem 141

> Vgl. Jaeger, Paideia I, 2 3 - 8 8 ; Voegelin, O r d e r a n d H i s t o r y II ( A n m . 124) 6 7 - 1 1 0 ; W. D o n l a n , T h e T r a d i t i o n of A n t i - A r i s t o c r a t i c T h o u g h t in Early G r e e k P o e t r y , Historia 22, 1973, 145-54; G . C . Vlachos, Les societes politiques h o m e r i q u e s , Paris 1974; P. W . Rose, Class A m b i v a l e n c e in t h e Odyssey, Historia 24, 1975, 129—49; S . G . F a r r o n , T h e O d y s s e y as an A n t i Aristocratic S t a t e m e n t , Stud, in A n t . 1, 1979/80, 5 9 - 1 0 1 ; W . Nicolai, W i r k u n g s a b s i c h t e n des Iliasdichters, in: G. K u r z et al. (Hrsg.), G n o m o s y n e (Festschr. W . M a r g ) , M ü n c h e n 1981, 8 1 - 1 0 1 ; id., R e z e p t i o n s s t e u e r u n g in der Ilias, P h i l o l o g u s 127, 1983, 1—12; id., Z u den politischen W i r k u n g s a b s i c h t e n des O d y s s e e - D i c h t e r s , G r a z e r Beitr. 11, 1984, 1 - 2 0 ; id., Z u m W e l t - u n d Geschichtsbild der Ilias, in: J. B r e m e r et al. (Hrsg.), H o m e r : B e y o n d O r a l P o e t r y . R e c e n t Trends in H o m e r i c I n t e r p r e t a t i o n , A m s t e r d a m 1987, 1 4 5 - 6 4 ( d a z u j . Griffin, H o m e r and Excess, ibid. 9 6 - 9 8 ) ; P a n a g i o t o u , Polis ( A n m . 124) Teil I; M . Schofield, Euboulia in t h e Iliad, Class. Q u a r t e r l y 36, 1986, 6 - 3 1 ; В . Effe, D e r h o m e r i s c h e Achilleus. Z u r gesellschaftlichen F u n k t i o n eines literarischen H e l d e n , G y m n a s i u m 95, 1988, 1 - 1 6 ; sowie R a a f l a u b , A n f ä n g e 1 - 3 2 ; id., in: Fetscher/ M ü n k l e r , H a n d b u c h , K a p . VI; ferner d e m n ä c h s t W . N i c o l a i , G e f o l g s c h a f t s v e r w e i g e r u n g als politisches D r u c k m i t t e l in der Ilias, u n d P. Spahn, Individualisierung u n d politisches B e w u ß t s e i n in d e r archaischen Z e i t , beide in: R a a f l a u b / M ü l l e r - L u c k n e r , A n f ä n g e . V g l . auch Latacz, H o m e r 118 f. Ferner, auch z u m Gegensatz zwischen solchem D e n k e n u n d d e m in den nahöstlichen K u l t u r e n üblichen, J . - P . Vernant, Les origines de la pen sec g r e c q u e , Paris 1962 ( = T h e O r i g i n s of G r e e k T h o u g h t , Ithaca, N . Y . 1982; D i e E n t s t e h u n g des griechischen D e n k e n s , F r a n k f u r t 1982); zu m ö g l i c h e n nahöstlichen V o r l ä u f e r n , A n a l o g i e n u n d Einflüssen vgl. d e m n ä c h s t Raaflaub/Müller-Luckner, Anfänge.

Homer und die Gcschichte des 8.Jh.s v. Chr.

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vordergründigen Inhalt entsprechend der Unterhaltung der Zuhörer und der Verherrlichung der Führungsschicht durch die ihrer Vorbilder und (angeblichen) Vorfahren; der Dichter war ja auf die Gunst des Publikums und seiner edeln Gönner angewiesen. Wahrscheinlich identifizierte er sich auch weitgehend mit Weltschau, Selbstverständnis und Idealen dieser Führungsschicht. 142 ' Aber damit dürfte die gesellschaftliche Funktion des Dichters und seines Gesanges nicht vollständig erfaßt sein. Denn zum einen machen es die Prominenz der Kritik an negativen Verhaltensweisen eben dieser Führungsschicht und die Betonung der Interessen der Gemeinde schwierig, die Epen, wie es etwa I. Morris vorschlägt, lediglich als Propagandainstrumente im Dienste dieser Führungsschicht zu betrachten. 143 ' Z u m andern wissen wir aus späterer Zeit, daß dem Dichter in seiner Gesellschaft eine wichtige Aufgabe als Denker, Erzieher und Mahner zukam. O b dies bereits auf die epischen Sänger der Dark Ages und des 8.Jh.s zutraf, ist nicht positiv zu belegen, aber nicht unwahrscheinlich. 144 ' In beiden hier angesprochenen

I42

> Vgl. bes. Latacz, Menschenbild 18-20, 26-29 und passim; Homer 43-47. > Morris, Use and Abuse 120-29. 144 ' So ausgeprägt W.J. Verdenius, Homer, the Educator of the Greeks, Med. Kon. Nederl. Akad. van Wetensch. 33, 5, 1970. Sichtbar ist diese Funktion bes. in der tragischen Dichtung (vgl. jüngst bes. W. Rosier, Polis und Tragödie, Konstanz 1980; S. Goldhill, The Great Dionysia and Civic Ideology, J H S 107, 1987, 58-76; С. Meier, Die politische Kunst der griechischen Tragödie, München 1988; Raaflaub, in: Fetscher/Münkler, Handbuch, Kap. VII); explizit formuliert ist es in Aristophanes' Fröschen (bes. 686-87, 1008-10, 1030-31, 1054-56, 1418-21, 1482-90, 1500-3; dazu Th. Geizer, Aristophanes, R E Suppl. 12, 1971, 1538f.; Rosier 24f.); vor einer Uberschätzung dieser Funktion warnt dagegen M. Heath, The Poetics of Greek Tragedy, London 1987, Kap. 2 (mit einer guten Ubersicht über die Quellen, aber ohne genügende Kenntnis der jüngsten Lit. zum Thema). Zur sozialen Verantwortung und erzieherischen Funktion des Dichters, die sich jedenfalls über Theognis und Solon bis zu Hesiod und damit an den Ausgang des 8.Jh.s zurückverfolgen läßt, vgl. Jaeger, Paideia I 63—88 und öfter (scharf dagegen B. Snell, Gött. gel. Anz. 197, 1935, 329ff.; id., Aristophanes und die Ästhetik, in: id., Die Entdeckung des Geistes. Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen, Göttingen 4 1975, 111-26); W. Kraus, Die Auffassung des Dichterberufs im frühen Griechentum, Wiener Stud. 68, 1955, 65-87; Η. Maehler, Die Auffassung des Dichterberufes im frühen Griechentum bis zur Zeit Pindars, Göttingen 1963; manches auch bei Snell, Dichtung und Gesellschaft; B. Gentiii, Funzione sociale del professionismo poetico nella Grecia del VI-V secolo, in: Tra Grecia e Roma. Temi antichi e metodologie moderne, R o m 1980, 9 ff.; id., Poesia e pubblico nella Grecia antica: da Omero al V secolo, Rom/Bari 1985 ( = Poetry and Its Public in Ancient Greece from Homer to the Fifth Century, Baltimore/London 1988), 21989; C. Segal, Poetry, Performance, and Society in Early Greek Literature, Lexis 2, 1988, 123—44. Verwiesen sei hier auch auf die höchst anregende Studie von G. Nagy, Early Greek Views of Poets and Poetry, in: G.A. Kennedy (Hrsg.), The Cambridge History of Literary Criticism I: Classical Criticism, Cambridge 1989, 1—77. Die hier vorgetragene Auffassung würde erheblich gestärkt, wenn die von Ε. A. Havelock, Preface to Plato, Oxford 1963, 36-96 (s. auch id., Justice, bes. Kap. 1-6; The Literate Revolution in Greece and its Cultural Consequences, Princeton 1982) vertretene These (eine zentrale Funktion der Epen habe in einer vorliterarischen und auf mündliche Überlieferung angewiesenen Epoche darin bestanden, der Gemeinde als ein Kompen143

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Kurt A. Raaflaub

Beziehungen sind gewiß Rückschlüssc aus der weitgehend individualisierten archaisch-lyrischen Epoche oder gar aus dem hochpolitisierten Athen des 5.Jh.s auf die noch viel stärker im Traditionellen verhaftete Epik des 8.Jh.s problematisch. Dennoch müßte man sich fragen, ob (abgesehen von ihrer künstlerischen Qualität) die beiden Großepen nicht gerade deshalb so erfolgreich waren und erhalten blieben, weil sie einerseits den Bedürfnissen nicht nur der Führungsschicht, sondern all derer entsprachen, die für das Wohl der Gemeinde wichtig waren, und weil andrerseits die Propagierung positiver und Verurteilung negativer Verhaltensweisen — oder, anders gesagt, die dramatische Aktualisierung gemeinschaftlicher Anliegen — nicht nur den Interessen der Gemeinde, sondern gerade auch denen der Führungsschicht entsprachen. 145 ' Aus unserm Überblick hat sich schließlich auch einiges ergeben, das für Verständnis und Einordnung der ,homerischen Gesellschaft' wesentlich sein kann. Einerseits hat sich vielfach die Zeitaktualität der in den Epen als Lebensumwelt der heroischen Ereignisse beschriebenen Zustände bestätigt, wie dies auch vom Standpunkt der Oral-tradition- und Oral-poetry-Forschung aus zu postulieren war (Teil 2). Andrerseits zeigte sich, daß häufig und gerade in zentralen sozialen und politischen Zusammenhängen Älteres und Jüngeres nebeneinandersteht (Teile 5 und 6). Die — wohl zu einseitige — Konzentration auf diese ältere Schicht hat Μ. I. Finley veranlaßt, aus historischen und anthropologischen Erwägungen diese — seines Erachtens eben im Vergleich zu der des 8.Jh.s ältere — Gesellschaft ins 10. und 9.Jh. zu datieren (Teil 2). Die historischen Bedenken haben sich freilich als weitgehend unbegründet erwiesen: die homerische Gesellschaft ist nicht so altertümlich, wie Finley es annahm. Der Versuch, jene Diskrepanz zu überwinden, wird nun durch die Erkenntnis erleichtert, daß die Epen selber die in einer Periode des raschen Wechsels unvermeidlichen Brüche und Widersprüche spiegeln. Beim Versuch, die .homerische Gesellschaft' zu verstehen und einzuordnen, sollte man

dium sozialer, ethischer und politischer Konventionen, als „tribal encyclopedia" tradierten Wissens sowie akzeptierter Normen und Verhaltensformen zu dienen) sich wenigstens im Kern und Ansatz als richtig erweisen ließe. So wie Havelock sie formuliert, ist diese These mit allem, was daran hängt, freilich weit übertrieben und ungenügend fundiert; die Forschung hat entsprechend fast einhellig mit großen Vorbehalten darauf reagiert, und auch nach mehrfacher Darlegung des Gedankenganges durch den Autor bleiben grundsätzliche Fragen offen; vgl. bes. die eingehenden Besprechungen von F. Solmsen, Am. Journ. of Philol. 87, 1966, 99-105, bes. 103 f., und A . W . H . Adkins, Class. Philol. 75, 1980, 256-68. 145) Weil unverantwortliches Handeln Einzelner zu Konflikten fuhren konnte, die nicht nur den Bestand der Gemeinde, sondern auch die Herrschaft des Adels gefährdeten (so auch Latacz, Homer 119). Vgl. die analogen, zur Einstellung des Adels gegenüber der Rechtskodifikation vorgetragenen Erwägungen von W. Eder, The Political Significance of the Codification of Law, in: Raaflaub, Struggles 262-300.

H o m e r und die Gcschichtc des 8.Jh.s v . C h r .

251

deshalb vermehrt und bewußt mit der Gleichzeitigkeit des Unglcichzeitigen' rechnen. 146 ' Dazu eine letzte Überlegung: Zum einen scheint jener umfassende Veränderungsprozeß erst kurz vor dem 8. Jh. begonnen und sich im Lauf des Jahrhunderts verstärkt und beschleunigt zu haben. Entsprechend dürfte der zuvor bestehende - weniger stabile, .wildere' und deshalb als .heroischer' erinnerte, aber insgesamt durch sehr langsame Veränderung geprägte — Zustand in mancher Hinsicht bis an die Schwelle des 8.Jh.s oder sogar etwas länger gedauert haben. Dem Dichter, der um 730 die Ilias komponierte, stand somit aus eigener Erinnerung und der Erzählung der Alteren der frühere Zustand noch lebendig vor Augen. Z u m andern muß man wohl annehmen, daß die Absorption sozialer Veränderungen in die epische Gcsellschaftsschilderung mit einer gewissen Verzögerung erfolgte. 147 ' Zudem geht das Heldenepos von dem auch bei Hesiod faßbaren Bewußtsein aus, die Heroen hätten in einer früheren und großartigeren Epoche gelebt. Es dürfte deshalb für den Dichter ganz natürlich gewesen sein, auch in seiner unbetonten Hintergrundsbeschreibung kürzliche Veränderungen immer wieder zu ignorieren und in diesem Sinne zu archaisieren, ohne daß er dies freilich zu einem absoluten Prinzip erhob. Er bettete somit die heroischen Vorgänge wie auch die Beziehungen, Werte und Probleme seiner eigenen Zeit in eine Lebensumgebung ein, die durch Institutionen und Zustände der jüngsten (aber deutlich andersartigen) Vergangenheit geprägt war, aber gelegentlich auch die der eigenen Zeit durchblicken ließ. Damit verletzte der Dichter die Einheitlichkeit seiner Beschreibung kaum und erschwerte er auch den Zuhörern die Identifikation mit dem Gehörten nicht: diese wußten ja auch, daß vieles vor kurzem noch ganz anders gewesen war. In diesem Sinne würde die homerische Gesellschaft tatsächlich ein Amalgam darstellen, aber nicht ein künstliches und unhistorisches, sondern ein natürliches (das ins späte 9. und 8.Jh. zu datieren wäre und somit dem Publikum des Dichters gegenwärtig und ver-

146

' Brieflicher Hinweis von J. von U n g e r n - S t c r n b e r g . Vgl. bereits Schadcwaldt, Von H o m e r s Welt ( A n m . 12) 126: Das J a h r h u n d e r t H o m e r s habe den Charakter der Fülle und sei ein „schnelles J a h r h u n d e r t " . „Da viel Altes hier zu Ende geht, viel Z u k ü n f t i g e s sich vorbereitet, sind die F o r m e n im Leben selbst - nicht lediglich in den .Schichten' der D i c h t u n g - gemischt, man m a g an die g r o ß e n wie kleinen Dinge, die Waffen wie die politischen Verhältnisse denken." Latacz, Kampfparäncsc 16—18 mit A n m . 44 betont d e m g e g e n ü b e r die N o t w e n d i g k e i t , deutlich zwischen „materiellen und immateriellen Lebensfaktoren" zu unterscheiden; s. auch oben Teil 2 zu A n m . 20 ff. ,47 ' Briefl. Hinweis von W. Donlan: „ T h e r e is a lag-time for the incorporation of n e w elements into traditional poetry, especially if these are dramatically n e w social developments." Z u r Langsamkeit der Veränderungen v o r dem 8. Jh. vgl. auch Snodgrass, Archaeol. of Greece, bes. 208.

252

Kurt A. Raaflaub

ständlich war) und ein historisch plausibles, das vielleicht in seiner K o m p l e x i t ä t und Widersprüchlichkeit gerade uns M o d e r n e wieder besonders anzusprechen vermag. 1 4 8 '

Abgekürzt zitierte Literatur

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148 ' All dies wird noch leichter verständlich, wenn man wie etwa Hölscher, Odyssee 22, die Epen etwas früher ansetzt, als es o. A n m . 1 angenommen wurde. — Ich danke M . Bell, D. Boedeker, W. Donlan, P. Funke, H . J . Gehrke, D . Hennig, U . Hölscher, J . Latacz, I. Malkin, H. Matthäus, P. Spahn, M. Toher und J . von Ungern-Sternberg für wertvolle Hinweise und Anregungen. Die Ausarbeitung dieses Beitrags wurde durch Forschungsstipendien des amerikanischen National Endowment for the Humanities und der Stiftung Historisches Kolleg in München sowie die großzügige Gastfreundschaft der altertumswissenschaftlichen Institute an der Ludwig-Maximilians-Universität und der Kommission für Alte Geschichte und Epigraphik des Deutschen Archäologischen Instituts in München erleichtert; ihnen allen gilt mein herzlichster Dank.

H o m e r und die Gcschichte des 8.Jh.s ν. Chr. Davies, Reliability

Deger-Jalkotzy, Herrschaftsformen Deger-Jalkotzy, Diskontinuität

Deger-Jalkotzy, M y k e n e

Desborough, T h e Last Mycenaeans D e s b o r o u g h , D a r k Ages Detienne, Phalange Dickinson, H o m e r Donlan, Aristocratic Ideal

Donlan, Social Groups Donlan, Pre-State C o m m . Donlan, H o m e r i c temenos Dusanic, Horkion Ehrenberg, Polis

Fagerström, Finds

Fagerström, Architecture

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III Homer und die Sprachwissenschaft

BERNHARD FORSSMAN

Schichten

in der homerischen

Sprache

A. Einleitung: Die Uneinheitlichkeit der homerischen Sprache

§

1-17

B. Schichten in der homerischen Sprache 1. Älteres und Jüngeres 2. Ionisches und Außerionisches 3. Normalsprachliches und Dichtersprachliches (Vorbemerkung:) a) Anpassung schwerfälliger Wortlaute an das Versmaß b) Anpassung überkommener Wortlaute an andere Sprachzustände c) U m d i c h t u n g vorliegender Verse mit Folgen fur die Sprache d) Dichtersprachliche Neuschöpfungen ohne deutliches Versvorbild 4. Homerisches und Nachhomerisches

§ § § § § §

C. Rückblick und Ausblick

§ 75-80

§ 18-30 § 31-43 44-45 46-49 50-55 56-61 62-66 67-74

Schrifttum, bibliogr. Abkürzungen

A. Einleitung: Die Uneinheitlichkeit der homerischen Sprache § 1. Zu den Hauptmerkmalen der homerischen Sprache gehört ihre formale Uneinheitlichkeit. Von vielen homerischen Formen gilt, vereinfacht ausgedrückt, daß Homer statt ihrer auch ein wenig anders hätte sagen können; wir finden nämlich an anderen Stellen seiner beiden großen Epen offenkundig gleichbedeutende, doch äußerlich ein wenig anders aussehende Ausdrücke. § 2. Diese jedem Homerleser geläufige Erscheinung soll hier anhand des Odyssee-Prooimions in folgender Weise dargestellt werden. Möglichst jede darin v o r k o m m e n d e Form, an deren Stelle H o m e r — wie sein sonstiger Sprachgebrauch zeigt — vermutlich auch ein Gegenstück der soeben angedeuteten Art hätte verwenden können, ist durch eine hochgestellte und fettgedruckte Zahl gekennzeichnet. Diese Zahlen verweisen auf besondere Fußnoten; dort sind die jeweiligen leicht abweichenden Gegenstücke dann aufgeführt und belegt. Kann ein Gegenstück, das sich dem betreffenden Satz einfügen würde, bei H o m e r zwar so nicht geradezu belegt, aber aufgrund verwandter Erscheinungen doch als denkbar betrachtet werden, so ist dies in der Fußnote kenntlich gemacht und kurz begründet (ζ. B. 2 ; 5 ). Ist die fettgedrucktc Zahl eingeklammert, so bezeichnet sie - u m der Kürze willen - eine Wahlmöglichkeit Homers, auf die schon zuvor anhand eines gleichartigen Falles hingewiesen werden konnte (z.B. άτασ9αλίησιν < 2 5 ) ). Auflösung der bibliogr. Abkürzungen unten S. 287.

260

Bernhard Forssman

§ 3. Nicht berücksichtigt sind übliche Wortgrenzen-Erscheinungen, z.B. die Elision. Beiseite gelassen wird hier vorerst die äußerlich unsichtbare Synizese im Wortinneren (doch s. unten §49, §57); auch von einem anderen unsichtbaren, also nur durch die Verstechnik faßbaren Unterschied wird erst später die Rede sein (:„Digamma"; s. § 28). - Die nur allzu berechtigte und wichtige Frage, ob ein angegebenes Gegenstück den betreffenden Vers nicht stören oder gar zerstören würde, bleibt vorerst außer Betracht. 1 '

§4. α 1 ανδρα 1 μοι εννεπε 2 , Μοΰσα, πολύτροπον, δς 3 μάλα πολλά 2 πλάγχθη 4 , έπεϊ Τροίης 5 ιερόν 6 πτολίεθρον 7 ε π ε ρ σ ε 8 9 1 0 · 3 πολλών 11 δ' ανθρώπων ιδεν In unserer Versreihe k o m m t kein Artikel vor, o b w o h l man ihn zuweilen erwarten könnte. Vgl. A n m . 38. 3)

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Silben, εταίρων und έτάρων haben zwar ebenso viele Silben, aber deren Dauer ist nicht durchweg dieselbe ( и / и и —). Die Gegenstücke ιδεν 12 und ϊδε sind beide zweisilbig, und man kann auch ihre Silbendauer als übereinstimmend bezeichnen ( и u ) ; aber in der Wortkette steht vor Konsonant nur ιδεν vermöge seines auslautenden -v ohne weiteres für u —5', das auf -ε auslautende ϊδε jedoch nicht. § 9. Das heißt, diese Formenpaare haben im homerischen Versmaß, das auf Silbenzahl und Silbendauer beruht, eine verschiedene Einsatztechnik. Die Strenge des homerischen Hexameters, die den Dichtern sicher gelegentlich unbequem war, ermöglicht uns Beobachtungen, Schlüsse und Vermutungen etwa der folgenden Arten. § 10. Erstens: Eine überlieferte Form könnte von uns durch ein Gegenstück ersetzt werden, ohne daß das Versmaß Schaden litte: ήμΐν 4 0 ,uns' α 10 durch αμμι oder άμμιν; ebenso an einer anderen Stelle ύμνν ,euch' (A18) durch υμμι oder ΰμμιν. — Dann ist die Frage erlaubt, ob nicht umgekehrt ήμΐν bzw. ύμΐν ein Ersatz ist, ob diese Formen also schon immer im Text dieser Verse gestanden haben. § 11. Zweitens, und das ist die Umkehrung: Eine überlieferte Form könnte von uns in dieser Weise nicht durch ein Gegenstück ersetzt werden. Für ανδρα 1 α 1 kann άνέρα, so wie der Vers sich mit μοι fortsetzt, nicht eintreten. — Dann liegt die Annahme immerhin nahe, daß bereits für die Abfassung dieses Wortlautes die betreffende überlieferte Form herangezogen wurde. § 12. Drittens: Eine überlieferte Form fugt sich dem betreffenden Vers nur widerwillig. In α 5 steht άρνύμενος vor Vokal fur — и и —; an einer anderen Stelle, α 183, steht πλέων am Versanfang für ein einziges Longum (πλέων έπϊ — и и ) . — Dann kann man nach den Gründen für diese verstechnischen Absonderlichkeiten fragen; die Gründe können beim Dichter oder auch in der Überlieferung gesucht werden. § 13. Viertens: Ein Wortlaut wirkt sprachlich ungewöhnlich. "Ιλιον ήνεμόεσσαν ,die windreiche Ilios' Γ 305 steht am Versende fur erwartetes, weil sprachbaugerechtes άνεμόεσσαν. Da diese Form jedoch nicht hexametertauglich ist ( и u и — u ) , kann man fragen, ob das Versmaß nicht bei der Schöpfung des ungewöhnlichen ήνεμόεσσαν mitgewirkt hat. § 14. Fünftens: Wenn entgegen unserer Erwartung eine Form bei Homer nicht vorkommt, so kann das selbstverständlich die verschiedensten Gründe haben, nämlich vor allem sprachgeschichtliche, dialektale, stilistische oder inhaltliche. Es kann aber auch die Einsatztechnik der Grund sein. Zum Beispiel war das Partizip στένων ,seufzend', das bei Homer trotz vorhandenem στένει εστενε (u. a.) fehlt, für ihn kaum verwendbar. Am Versanfang stünde es für u —; an allen anderen Versstellen würde es vor sich eine lange Silbe bewirken und somit zu einem

5

> ϊδεν vj

ε 333, χ 383.

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Kretikus — и — fuhren. — Es schließt sich noch die erlaubte Frage an, ob durch diese Schwierigkeit die bequemeren, leicht abweichenden Gegenstücke στενάχων и и —, στεναχίζων υ u — — nicht bedingt oder doch mitbedingt sind. 6 ' § 15. Die Strenge des homerischen Versmaßes ist aber nicht die einzige günstige Voraussetzung für die Beurteilung der homerischen Sprache. Eine reiche, vielfältige und gerade auch durch ihre Variantenfulle (§ 67) wertvolle Textüberlieferung steht uns zu Gebote. Die Menge der erhaltenen außerhomerischen griechischen Texte des 1 .Jahrtausends vor Christus ist zunächst zwar gering, wächst aber schon verhältnismäßig bald nach Homer rasch an und ermöglicht dadurch zahlreiche wichtige Schlüsse und Vergleiche. Endlich hat das homerische Griechisch eine jahrtausendelange faßbare Vorgeschichte. Sie beginnt für uns bei der indogermanischen Grundsprache und führt noch weit vor Homer zu den schlechthin ältesten griechischen Texten herab, den freilich kurzen und inhaltlich dürftigen mykenischen Inschriften. Auch auf diese Erkenntnisquelle, bei deren Erschließung die Indogermanistik führend ist, darf die Homerforschung nicht verzichten. § 16. Versmaß, Überlieferung, Sprachgeschichte und Sprachvorgeschichte: Sie alle helfen uns, den Befund der homerischen Sprache und seine Uneinheitlichkeit zu deuten. „Wann, wo, wie und warum sind die sprachlichen Erscheinungen zustandegekommen, die wir in der Homerüberlieferung vorfinden?" Solche Fragen zu stellen ist keineswegs aussichtslos. Versucht man die sich ergebenden Antworten zu ordnen, so kann man eine Reihe von paarweise zusammengehörenden Feldern ausmachen, denen man überlieferte sprachliche Erscheinungen jeweils zuweisen kann. Es kann sich grundsätzlich handeln erstens um Älteres oder um Jüngeres; zweitens um Ionisches oder um Außerionisches; drittens um Normalsprachliches oder um Dichtersprachliches; viertens um Homerisches oder um Nachhomerisches. § 17. Von diesen vier Felderpaaren soll jetzt der Reihe nach gehandelt werden. Insbesondere wird darauf zu achten sein, ob Gegenstücke — wie gleich anfangs ανδρα 1 und άνέρα - sich Felderpaaren zuweisen lassen, und welches Gegenstück dann in welches Feld kommt. Ohne Überschneidungen zwischen den Feldern und Felderpaaren kann es jedoch nach Lage der Dinge nicht abgehen; eine Form kann z. B. ohne weiteres als „ionisch" und zugleich als „normalsprachlich" erklärt werden. Überhaupt kann es nach Lage der Dinge keineswegs das Ziel sein, die einzelnen Erscheinungen jeweils nur einem einzigen Feld 7 ', Gegenstücke nur einem bestimmten Felderpaar

6)

Tichy, Onomatop. Verb. p. 194f., im Anschluß an Risch, Wortb. p. 279. - Zur Lautung στον- s. Lit. bei Ebeling, s.v. στενάχ-ίζω, στεν-άχω. 7) Es müssen auch homerische Erscheinungen eingeordnet werden, die gar kein deutliches Gegenstück haben.

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zuzuweisen. ' Die Felder und Felderpaare sollen und können zunächst auf Denkmöglichkeiten hinweisen.

B. Schichten in der homerischen Sprache В 1. Älteres und Jüngeres § 18. Unter dieser Uberschrift soll zweierlei kurz besprochen werden. Einerseits die an sich selbstverständliche Erscheinung, daß das homerische Griechisch, wie jede andere Sprachform auch, sowohl älteres als auch jüngeres Sprachgut enthält. Eine Sprache ist eben immer im Wandel begriffen; und da sie sich nicht an allen Stellen gleichzeitig wandelt, leben Neuentstandenes und aus früheren Zeiten Bewahrtes miteinander in ihr. — Andrerseits die keineswegs selbstverständliche Erscheinung, daß bei Homer häufig ein und derselbe sprachliche Zug sowohl in älterer als auch in jüngerer Ausprägung vorkommt. Es gibt also vielfach ältere und jüngere „Gegenstücke" in dem § 1 besprochenen Sinn. Eine Mischung dieser Art und dieses Ausmaßes ist aber gerade kein Anzeichen üblicher gesprochener Sprache. § 19. Zunächst soll von Altertümlichkeiten bei Homer 9 ' die Rede sein, und zwar nicht von altem Sprachgut, das überall oder weithin im Griechischen fortlebt, sondern von solchem, das nur Homer oder fast nur Homer hat 10 '; oder von dem er immerhin noch den größten oder deutlichsten Bestand bewahrt hat, zumal im Vergleich zum Attischen. Das Auffinden und Beurteilen von Altertümlichkeiten ist einer der Hauptbeiträge der Indogermanistik zur Homerforschung, weil die vergleichende Heranziehung außergriechischen Sprachgutes hierbei unerläßlich ist. U n d der Homerforschung müssen sprachliche Altertümlichkeiten in der Tat am Herzen liegen, denn die zeitliche Festlegung der homerischen Epen, möglicherweise auch von Teilen daraus, hängt nicht zuletzt von der Sprachgeschichte ab. § 20. Begonnen sei mit dem Verbum, denn gerade hier hat Homer auffällige altertümliche Erscheinungen; die einen lassen sich zu Gruppen zusammenordnen, andere sind eher Einzelgänger und demzufolge nicht durchweg mit gleicher Sicherheit zu beurteilen. Zu nennen ist die Gruppe ausschließlich oder vorzugs-

S) Konnte Homer zwischen mehr als zwei Gegenstücken wählen (§6 mit Anm. 3), so reicht ein Felderpaar ohnehin nicht aus. — Allerdings können Gegenstücke sehr wohl auch in dasselbe Feld gehören, z.B. weil die Normalsprache Schwankungen aufwies (§44). 9) Schwyzer, Griech. Gramm. I p. 102. Offenkundige Nachahmung Homers in jüngeren Texten bleibt dabei ganz außer Betracht.

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11

weise medialer Wurzelaoriste ', die es nach Homer nicht mehr oder fast nicht mehr gibt. 12) Ihre Stämme können auf Vokal ausgehen wie bei λύτο ,löste sich', εφθιτο ,verschwand', εβλητο ,wurde getroffen', ^ λ ή τ ο ,füllte sich', 2 πλήτο n ä herte sich', έκτατο ,wurde getötet' 13 '; oder sogar noch auf Konsonant, wie bei άλτο .sprang', ^ έ κ τ ο ,legte sich', 2 λέκτο .zählte', ώρτο ,erhob sich'. Beachtenswert ist dabei auch die patientive Bedeutung von εβλητο und έκτατο. 14 ' Nicht wenige dieser Wurzelaoriste haben bei Homer anders gebaute, in der Regel vermutlich jüngere Gegenstücke. 15 ' § 21. Weiter können in diesem Zusammenhang folgende Gruppen genannt werden: die athematischen Präsensstämme auf νη/να wie in δάμνη-μι .bezwinge, überwinde', μάρνα-μαι ,kämpfe' 16 '; die kurzvokalischen Konjunktive, vor allem von sigmatischen Aoristen, wie παύσομεν ,(damit) wir aufhören machen', τέρψομαι ,(damit) ich mich erfreue', έγείρομεν Aor. ,(damit) wir erwecken', ίθύνομεν Aor. ,wir wollen lenken' 17 '; die mit beachtlicher Freiheit gehandhabte Tmesis 18 ' wie in κατά - ήσθιον 33 " ι> α 8 f., hier mit dazwischenliegender Versgrenze, oder wie in όλέσας απο .verloren habend' 1534, hier mit Nachstellung des Verbzusatzes. § 22. Eher vereinzelte verbale Besonderheiten (möglicherweise oder sicher) altertümlichen Zuschnitts seien kurz aufgezählt: die später ausgestorbenen Reste der ererbten Wurzelpräsentien έδ- ,essen' und στευ- .kundtun' in εδ-μεναι Inf. bzw. στεΰ-ται στεΟ-το19'; das Perfekt γέγωνε .ist vernehmlich' 20 '; der konsonantisch

Chantraine, Gramm, hom. I p. 377-384; Risch, Wortb. p. 233-237; vgl. Schwyzer, Griech. Gramm. I p. 739-744. ,2> Erhalten bleiben die neben Aktivparadigmen stehenden έδόμην, εϊμην, έθέμην; dazu etwa έπριάμην mit zweisilbigem Stamm auf ä. 13) Darauf aufgebaut sind Aktivformen wie εκτα. 14) Harald Jankuhn, Die passive Bedeutung medialer Formen, untersucht an der Sprache Homers, Göttingen 1969. 15) (λύτο:) λύθη; (εφθιτο:) εφθιθεν 3. Plur.; ('πλήτο:) έπλήσθη; ( 2 πλήτο:) έπελάσδη; (έκτατο:) εκταθεν 3. Plur.; (άλτο:) ήλατο; ('· 2 λέκτο:) έλέξατο; (ώρτο:) ώρετο. 16) Chantraine, Gramm, hom. I p. 300-302 (auch zum homer. Gegenstück δαμνδ); Risch, Wortb. p. 256f.; Schwyzer, Griech. Gramm. I p. 693—695 (auch zum Fortleben). 17) Chantraine, Gramm, hom. I p. 454-461 (auch zu Gegenstücken wie παύσωμεν); Schwyzer, Griech. Gramm. I p. 790 f. 18) Schwyzer/Debrunner, Griech. Gramm. II p. 425 f. 19 ' Zu εδ-μεναι und seinen jüngeren thematischen Gegenstücken εδω, εσθω, έσδίω s. Frisk, GEW I p. 444 (vgl. ήσθιον 3 2 α 9); zu στεϋται s. J. Narten, Z u m „proterodynamischen" Wurzelpräsens. In: J . C . Heesterman u.a. (Hrsg.), Pratidänam ( = FS Kuiper), Den Haag/Paris 1968, p. 12-19. 21,1 O b für *ge-gnö-e (im Anschluß an eine Überlegung Cowgills)? Vgl. W. Cowgill, Evidence in Greek. In: W. Winter (Hrsg.), Evidence for laryngeals, London/Den Haag/Paris 1965, p. 148 Anm. 8 zu μέμηλε. Anders R . S.P. Beekes, The Proterodynamic .Perfect'. Zeitschrift für vergleichende Sprachforschung [KZ] 87 (1973) p. 93 f.

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schließende Präsensstamm δειδεχ- ,grüßen' in Formen wie δείδεκ-το 21 '; der ungewöhnliche, aber als möglicher Fortsetzer eines Injunktivs durchaus angemessene Aoristimperativ im Verbotssatz μή ενθεο ,setze nicht hinein'. 22 ' § 23. Vom Nomen seien erwähnt: die wohl nur im Mykenischen noch voll lebendigen, aber bei Homer doch immerhin nicht seltenen Kasusformen nach Art von Ι-φι ,mit Kraft, mit Kräften' 23 '; der vereinzelte neutrische Dual οσσε , Augen' 24 '; das ebenso vereinzelte Suffix von άνδρό-μεος .Mannes-, menschlich' 25 '; Bildung und Verwendung von άγχίμολον ,nahe' 26 ' und von άθεεί ,ohne Gott'. 27 ' § 24. Zu Recht hat man im Zusammenhang mit solchen vorhandenen Altertümlichkeiten auch auf altertümliche Fehlstellen hingewiesen; das heißt, auf sprachliche Erscheinungen, die Homer offensichtlich noch nicht kannte (oder mindestens noch nicht verwenden mochte) 28 ': die Präsensstämme nach Art von κερά-ννυ-(μι) ,mischen', also mit suffixalem -ννυ- hinter mehrsilbigem Stamm (Homer hat hier noch κίρνη-μι, § 21); die Futurstämme nach Art von ποιη-9ήσο(μαι)29'; den Optativ Futur nach Art von ποιήσοι 30 '; das aktivische aspirierte Perfekt nach Art von κέκλοφα (: κλέπτω). 31 ' Daß diese Erscheinungen sekundär sind, wird wiederum von der Indogermanistik mitentschieden. Deren Stimme hier zu hören ist auch deshalb notwendig, weil das Fehlen bestimmter Erscheinungen bei Homer ja verschiedene Gründe haben kann, ζ. B. auch dialektale oder stilistische. § 25. Bedeutsamer als die nicht vorhandenen Neuerungen sind aber für die zeitliche Einstufung Homers insgesamt doch wohl die vorhandenen Altertümlichkeiten (§ 20—23). Sie sind in seiner Sprache zu einem guten Teil fest verankert; das heißt, viele von ihnen sind nicht rein formelhaft oder sonst unscharf verwendet, und viele von ihnen sind auch häufig belegt. Homer rückt dadurch wahr-

21)

B. Forssman, Homerisch δειδέχαται u n d Verwandtes. Die Sprache 24 (1978) p. 3 f f . L. Stephens, T h e origins of a H o m e r i c peculiarity: μή plus aorist imperative. Transactions and Proceedings of the American Philological Association [ТАРА] 113 (1983) p. 69-78. 23) Ebeling, s.v. φϊ et φΐν; Risch, W o r t h , p. 361 f. (Lit.). 24 > Frisk, G E W I p. 436; III p. 164 (Lit.); H e l m u t R i x , Historische G r a m m a t i k des Griechischen, D a r m s t a d t 1976, p. 160. 25 > Risch, W o r t h , p. 133; Risch, Kl. Sehr. p. 515. 26 > LfgrE I p. 107 im Anschluß an J. Wackemagel, Kl. Sehr. II p. 892-894. 27) Risch, Kl. Sehr. p. 167-175 (Lit.); zu altindischen Bildungsparallelen vgl. noch Karl H o f f m a n n , Aufsätze zur Indoiranistik I (Wiesbaden 1975) p. 140 A n m . 6, p. 307 A n m . 7. - Aus dem Lateinischen d ü r f t e in-iussü .ohne Befehl' beizuziehen sein. 28 > Schwyzer, Griech. G r a m m . I p. 102 i m Anschluß an J. Wackernagel, U n t . p. 204-224. 29 > D o c h gibt es bereits die zu η-Aoristen gehörigen δ α ή σ ε α ι ,du wirst erfahren' ( 2 x O d . ) , μιγήσεσΟαι ,sich mischen (zu wollen)' К 365: Chantraine, G r a m m , h o m . I p. 447. 30) Z u ά λ ύ ξ ο ι (v.l. f ü r -ει) s. J. La Roche, Homerische U n t e r s u c h u n g e n I, Leipzig 1869, p. 238 ff.; W . B . Stanford, T h e Odyssey of H o m e r , 2 L o n d o n 1958, p. 298 zu ρ 547. 31 > S . R . Slings, Ε Ι Λ Η Φ Α . Glotta 64 (1986) p. 9 - 1 4 (Lit.). 22>

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scheinlich an die Spitze der griechischen Sprachdenkmäler des 1. vorchristlichen Jahrtausends. Eingeräumt werden muß freilich, daß insbesondere der sprachliche Abstand zu Hesiod nicht groß ist; daher ist das zeitliche Verhältnis der beiden einstweilen nicht klar zu bestimmen. 32 ) § 26. Keinen Einwand gegen Homers Spitzenstellung bilden vereinzelte Erscheinungen in seiner Sprache, die auf einem fortgeschritteneren Stand sind als bei jüngeren ionisch-attischen Autoren. 33 ' Der ionisch-attische Raum war groß genug und zerklüftet genug, um in einzelnen Gegenden Sonderentwicklungen und -bewahrungen zuzulassen. Handelt es sich etwa um geneuerten Vokabelgebrauch, so mag er durchaus gelegentlich dem freizügigen individuellen Schalten Homers anzulasten sein. So ist z.B. die bei Herodot vorliegende Bedeutung ,lebendig fangen' des Verbums ζωγρεΐν älter als die homerische ,am Leben lassen'34'; ähnlich mag es sich mit θεοπρόπος verhalten, das bei Homer .Wahrsager', bei Herodot ,Orakelbefrager' bedeutet. 35 ' § 27. Ungewöhnlich an Homers Sprache ist aber eben nicht das Nebeneinander von Älterem und Jüngerem, sondern das häufige Vorkommen von älteren und jüngeren Gegenstücken. Unsere Versreihe α 1-10 gibt Anlaß etwa zu folgenden Beobachtungen dieser Art: ανδρα 1 ist jünger als sein Gegenstück άνέρα 36 '; βοΰς 29 jedoch älter als βόας, wie auch Διός 39 älter als Ζηνός ist.37' Mag in solchen morphologischen Abwägungen 38 ' gelegentlich auch ein Zweifel bleiben; sicher sind unkontrahierte Formen wie νόον 14 , ήέλιο- 3 1 älter als ihre kontrahierten Gegenstücke νουν — das wegen νοΰς wenigstens denkbar ist — und ήλιο-. Bekanntlich sind gerade solche Paare häufig; es gibt φιλέει und φιλεΐ ,liebt'; γνώσεαι und γνώση ,du wirst erkennen'; ερχεο und ερχευ ,komm'. 3 9 ' § 28. Und dann gibt es in der Versreihe α 1—10 auch einen Gegensatz zwischen einem älteren Gegenstück mit einem unsichtbaren Merkmal und einem äußerlich ebenso unerkennbaren jüngeren Gegenstück; wegen ihrer besonderen Art sind die beiden in § 4 nicht beziffert. Gemeint sind damit auf der einen Seite die älteren Wortlaute, in denen das berühmte „Digamma" — also urgriechisches u 8 in

32) H . Troxler, Sprache und Wortschatz Hesiods, Z ü r c h e r Diss. 1964, p. 234ff. - Vgl. noch zu σ κ έ π α A n m . 86. 33) Vgl. J. Wackernagel. U n t . p. 171 f. zu homer, δουράτεος. 34> В. Forssman, jivagräham, jivagrbh-, ζωγρέω. Studien zur Indologie u n d Iranistik [Stil] 13/14 (1987) p. 69-76. 35) D e r lautliche Einwand gegen Leo Meyers ansprechende Herleitung aus *prek .fragen' P. R o t h , T h e derivation and significance of the t e r m θ. Glotta 62 (1984) p. 150-152 (Lit.) d ü r f t e nicht unüberwindlich sein. 36) Chantraine, G r a m m , h o m . I p. 215. 37 ' Chantraine, G r a m m , h o m . I p. 226, p. 227. Das Fehlen des Artikels in dieser Versreihe (Anm. 4) ist ein alter syntaktischer Z u g : Schwyzer/Debrunner, Griech. G r a m m . II p. 19-23. 39 ' Chantraine, G r a m m , h o m . I p. 27-67.

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anlautender Konsonanz — verstechnisch möglicherweise fortwirkt, und auf der anderen Seite die jüngeren, in denen es sicher nicht mehr fortwirkt. 40 ' α 4 wird verstechnisch mindestens glatter, wenn wir uns nach αλγεα ein älteres f o v ,seinem' denken; der Hiat verschwände dann. Ein weiterer solcher Vers ist α 5, wo durch älteres fr)ν ,seine' das άρνύμενος ,ringend um' eine sehr erwünschte positionslange Schlußsilbe bekäme. Aber es mißlingt uns in α 10 die Einsetzung des älteren Γειπέ, weil wir vor είπε ,sprich' gerade keine positionslange Silbe brauchen können. 41 ' § 29. Die Stelle ist bekanntlich kein Einzelfall; u 8 in anlautender Konsonanz ist an einigen hundert Stellen bei Homer ebensowenig einsetzbar wie hier in είπέ. Homers Sprache hatte also einen Zustand bereits erreicht, in dem urgriechisches u in diesen Stellungen geschwunden war. U n d da Homer auch viele kontrahierte Formen kennt, gehört zu seiner Sprache auch bereits z.B. das jüngere φιλεΐ. Von zwei oder mehreren 42 ' normalsprachlichen Gegenstücken verschiedenen Alters darf man jeweils zunächst das jüngste der Zeit — oder geradezu der eigenen Sprache — des Dichters Homer zuschreiben. Die älteren wiederum sind in der Regel Zitate aus der Sprache seiner Vorgänger. (Zu beachten ist freilich, daß ein älteres und ein jüngeres Gegenstück auch in gesprochenen Dialekten eine gewisse Zeitlang nebeneinander vorkommen können.) § 30. Vielleicht kann man also vorsichtig versuchen, ältere und jüngere Verse oder gar Versreihen bei Homer zu sondern. Scharfe Aufmerksamkeit ist dabei vonnöten, denn bereits aus einer einzigen verstechnisch gesicherten, sprachgeschichtlich jüngeren Erscheinung in einem Vers folgt zwingend jüngere Entstehung — oder jüngere Umdichtung (§ 56) — mindestens dieses betreffenden Verses. So muß α 10 allein wegen Διός ειπέ u u — и jung sein. Im selben Vers könnte gleichwohl Hochaltertümliches vorkommen. 4 3 ' Älteres und Jüngeres ist bei Homer in der Regel untrennbar verwoben; ganze Verse mit mehreren auffälligen Altertümlichkeiten, denen nichts erkennbar Junges entgegensteht, dürften nicht allzu häufig sein.

^ Chantraine, Gramm, hom. I p. 116-157, p. 162-164. 41) Nichts aussagen können f-neutrale Wortlaute wie άνθρώπων ϊδεν α3: Durch Γίδεν wird der Vers hier weder besser noch schlechter. - Zu 'ίδε(ν) αστεα s. § 73. 42 ' Das Possessivpronomen δς < *huos < *suos .eigen' (altindisch sväh) hat bei Homer drei erkennbare Entwicklungsstufen: 1.) αρα ф и Ρ 196 (ф verstechnisch wie σφφ); 2.) μετά οίσι и и — и а 19 (οίσι verstechnisch wie τοΐσι); 3.) πρός δν λέχος и — и и А 609 (öv verstechnisch wie öv .welchen'). Neutral (Anm. 41) sind Stellen wie А 307, ι 34. 43) Tatsächlich sind in а 10 mindestens θύγατερ und Διός lautgeschichtliche Fortsetzer urindogermanischer Formen (vgl. akindisch duhitar, diväh)\ allerdings bleiben sie auch nach Homer geläufig.

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Wertvoll ist jedoch die Beobachtung 44 ), daß sprachgeschichtlich jüngere Verse in bestimmten Teilen Homers häufiger auftreten als in anderen; häufig findet man sie z.B. in Gleichnissen. Die Odyssee macht insgesamt sprachlich einen jüngeren Eindruck als die Ilias45); in der Ilias wiederum gibt es Bücher (z.B. Α, Ω), die insgesamt sprachlich jünger wirken als andere.

В 2. Ionisches und Außerionisches § 31. Es kann nicht bezweifelt werden, daß die uns vorliegende Fassung der homerischen Epen im wesentlichen ionisch gefärbt ist. Also hat die homerische Dichtung spätestens auf einer der letzten Stufen ihres Werdens eine kräftige ionische Dialektprägung erhalten. Denn in allen Teilen beider Epen stimmt gewissermaßen die sprachliche Oberfläche weitgehend — wenn auch nicht durchwegs — zum Ionischen. Hierfür kann man zunächst zwei sehr häufige lautliche Erscheinungen anfuhren, die namentlich in den Kasusausgängen der ä-Deklination vorkommen und die ausschließlich dem Ionischen, nicht einmal dem nächstverwandten Attischen eigen sind: einerseits das aus ä entstandene η hinter e oder i oder r, z.B. in γενεή, κυνέην, άνίη, βίη, Πελίης, έλπωρή, χώρη 46) ; andrerseits das in beliebiger Stellung aus äö entstandene εω, z.B. in Τυδείδεω, θυρέων. 47 ' § 32. Solche Formen sind bei Homer nicht ohne Gegenstücke, können aber als die üblichen gelten. Angesichts ihrer Häufigkeit ist man dann grundsätzlich berechtigt, eine größere Zahl von homerischen Sprachmerkmalen aufs Ionische zurückzufuhren. Denn es ist unwahrscheinlich (wenn auch nicht geradezu undenkbar), daß Homers Sprache durch wenige, aber gerade besonders häufig vorkommende Erscheinungen wie βίη und θυρέων dem Ionischen nur oberflächlich angeglichen werden sollte. N i m m t man also alle häufig vorkommenden Dialektmerkmale hinzu, die allenfalls außerionisch sein könnten, sich aber auch aufs Ionische zurückfuhren lassen, so vermehren sich die einigermaßen bezeichnenden Ionismen bei Homer beträchtlich. So durch η < ä auch in den anderen Stellungen, also etwa in δίκη, έούση, Τυδείδης sowie auch in ήδύς. Solches η stimmt auch zum Attischen; aber es gibt wohl keinen Grund für die Annahme, daß es bei Homer überall oder in einer Vielzahl von Fällen attischen Ursprungs ist; andere Dialekte kommen nicht

44

> Vgl. Shipp, Studies; Thumb/Scherer p. 216f. > Folglich können auch Altertümlichkeiten in der Odyssee gegenüber der Ilias zurücktreten, οσσε , Augen' erscheint in der Ilias 44mal, in der Odyssee nur 13mal; der Tatbestand ist weder mit dem Inhalt noch mit dem U m f a n g der beiden Epen glatt zu erklären. 46) Schwyzer, Griech. Gramm. I p. 187; Thumb/Scherer p. 251 f. 47) Schwyzer, Griech. Gramm. I p. 244f.; Chantraine, Gramm, hom. I p. 69-73; Thumb/ Scherer p. 255 f. 45

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in Frage. Ebenso zu bewerten ist die Vokalkürzung in gutbezeugtem νεών ,dcr Schiffe'. Auch die Infinitivendung in den häufigen Formen ε!ναι oder δούναι wird dann in der Regel ionisch und nicht attisch (und noch weniger arkadokyprisch) sein. Erst recht als ionisch anzusprechen sind aber häufige homerische Erscheinungen, die gerade im nächstverwandten Attischen nicht zu Hause, anderswo wiederum freilich geläufig sind: das aus eo entstandene ευ in έμεΰ, φιλεΰντας, ΐκνεύμεναι 48 '; ferner der durch Ersatzdehnung entstandene Langvokal in ξεΐνος, μοΰνος. 49 ' § 33. In unserer Versreihe α 1—10 können etwa die folgenden dialektalen Erscheinungen im angegebenen Sinn als ionisch angesehen werden: in Vers 1 das ου von Μοΰσα (ohne Gegenstück); in V. 2 das η von Τροίης 5 und das ε von Ιερόν 6 ; in V. 3 und 4 das -v 12 von ϊδεν, πάθεν; in V. 5 das η von ήν, ψυχήν (ohne Gegenstück 50 '); in V. 6 das ου von έτάρους (ohne Gegenstück); in V. 7 sowohl das η als auch das -v von zweimaligem -ΐ]σιν 25 ; in V. 8 und 9 das η von Ήελίοιο, ήμαρ (ohne Gegenstück); in V. 9 das -v von τοΐσιν 3 β ; in V. 10 das η von ήμΐν 4 0 . Das ist eine beträchtliche Menge. § 34. Neben Ionischem findet sich bei Homer sicher auch Außerionisches in nicht geringem, freilich ebenfalls nicht genau erkennbarem Ausmaß. 51 ' Erscheinungen, die man im anderweitig bekannten bodenständigen Ionisch nicht unterbringen kann, sind u.a. die folgenden 52 ': 1.) ä an der Stelle von urgriechisch а in Ausgängen der ä-Deklination wie Ναυσικά-α, θυρ-αων, Άτρείδ-αο 53 ' sowie etwa in μαν ,wahrlich'; 2.) p-Laut aus Labiovelar etwa in πίσυρες ,vier'; 3.) geminiertes m bzw. n aus vorurgriech. sm sn in Formen wie αμμες ,wir', υμμες ,ihr', εμμεναι Inf. ,sein', άργεννός ,hell', έρεβεννός ,finster'; 4.) ro aus urgriech. r etwa in ήμβροτε Aor. ,er verfehlte' (augmentiert; vgl. § 66); 5.) Anlaut πτ- (undeutlicher Herkunft) etwa in πτόλις .Stadt'; 6.) erhaltenes urgriech. ti etwa in βω-τι-άνειρα Fem. ,Männer nährend'; 7.) -oio im Gen. Sing, der o-Deklination, etwa in θανάτοιο ,des Todes'; 8.) -εσσι als Endung des Dat. Plur. der 3. Deklination, etwa in πολέ-

48) Schwyzer, Griech. Gramm. I p. 247f.; Chantraine, Gramm, hom. I p. 58-63; T h u m b / Scherer p. 257 f. - Hierher auch ευ < eg in ποθεϋσα. 49 > Schwyzer, Griech. Gramm. I p. 228; Chantraine, Gramm, hom. I p. 161 f. (Gegenstücke!); Buck, Dial. p. 49f.; Thumb/Scherer p. 262. 50) Die Sing.-Ausgänge der ä-Deklination mit ä (außer äo) erscheinen bei Homer wohl nur unter ungefähr gleichen lautlichen Bedingungen wie im Attischen: θεά Οεας Ναυσικάα θεάν. Ebenso bei Αινείας Ερμείας. Die Einschränkung gilt fur äo ebensowenig wie fur äcov: Άτρείδαο, όδυνάων; vgl. § 40. 51 ' Da die Dialektologie im Griechischen zu einem guten Teil auf kurzen Sprachzeugnissen aufgebaut ist (Inschriften, Glossen u.a.), muß sie sich vor allem auf lautliche und flexivische Merkmale abstützen; etwa in den Bereichen Lexikon oder namentlich Syntax sind ihr sichere Urteile leider nur in günstigen Ausnahmefällen möglich; s. §34 f. zu αί/εϊ und κε/αν. 52) Schwyzer, Griech. Gramm. I p. 105-107; Thumb/Scherer p. 209-212. 53 > Zu den Ausgängen der ä-Deklination, die z.T. verschieden zu bewerten sind, s. Anm. 50.

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εσσι zu πολύς ,vicl', κύν-εσσι zu κύων ,Hund'; 9.) Infinitive auf -μεν -μεναι wie δόμεν(αι) ,geben', εμμεν(αι) ,sein'; 10.) έσσι ,du bist'. - Schließlich die häufigen kleinen Wörter 11.) ai ,wenn, ob' und 12.) κε ,wohl'. § 35. Fast alle diese Formen haben bei Homer ionische Gegenstücke; sie lauten der Reihe nach: 1.) in der ä-Deklination η, -έων/-ών, -εω/-ω; dazu μήν; 2.) τέσσαρες; 3.) ημείς, ύμεΐς; εΐναι; -εινός etwa in φαεινός; 4.) άμαρτε (unaugmentiert); 5.) πόλις; 6.) -σι- etwa in ταμε-σί-χρως ,die Haut schneidend'; 7.) -ου; 8.) -σι(ν); 9.) Infinitive auf-ναι wie δούναι, εΐναι (vgl. soeben unter 3.!); 10.) εις; 11.) εί; 12.) αν. — Zu fehlenden Gegenstücken s. § 40 f. § 36. In unserer Versreihe α 1—10 stimmen etwa die folgenden Formen nicht zum üblichen Ionischen: in Vers 1 das vv von εννεπε 2 ; in V. 2 das πτ von πτολίεθρον 7 ; in V. 8 das oio von Ήελίοιο 3 1 ; in V. 10 das ä von θεά 38 . Die Menge des Außerionischen scheint hier also etwas geringer zu sein. § 37. Versucht man, die Herkunft der außerionischen Erscheinungen näher festzulegen, so wird man alsbald auf das Aiolische gefuhrt. Auf diesen Dialektraum weisen insbesondere etwa die Fälle wie πίσυρες und άμμες einerseits sowie die Partikel κε andrerseits. 54 ' Innerhalb des aiolischen Raumes bietet sich als Quelle vielleicht namentlich das Thessalische an, weil es auffällig viel mit dem außerionischen Homerischen gemeinsam hat, mehr wohl als das Kleinasiatisch-Aiolischc und das Boiotische. Die thessalische Herkunft von βωτιάνειρα läßt sich auch philologisch stützen. Das Adjektiv ist bei Homer Beiwort ausgerechnet zu Φθίη, dem Namen der thessalischen Heimat des Achilleus. Also mag es aus thessalischem Sprachgebrauch stammen. 55 ' Innerhalb des Aiolischen haben nur Thessalisch und Boiotisch, nicht aber das Kleinasiatisch-Aiolische urgriech. ti bewahrt. § 38. Sodann stellt sich die Frage nach dem inneren Verhältnis, das zwischen Ionischem und Aiolischem bei Homer obwaltet. 56 ' Zwei Tatsachen sind hierfür wichtig. Erstens: Die Aiolismen sind im ganzen in der Minderzahl, wie man schon an der Versreihe α 1—10 ersehen kann. Oder man betrachte das häufige Pronomen ,wir': Ionisches ημείς (samt ήμΐν usw.) kommt 203mal vor, sein aiolisches Gegenstück αμμες (samt αμμιν usw.) nur 38mal. Auch dieses Zahlenverhältnis ist bezeichnend, aber es darf doch nicht verallgemeinert werden. Denn z.B. μελαιναων ,der

54) Vgl. Buck, Dial. p. 62 (πίσυρες), p. 65 f. (αμμες), p. 105f. (κε). - Eine Übersicht über wichtige Dialektmerkmale sowie eine Deutung gibt Risch, Kl. Sehr. p. 206-221. - Vgl. auch Wathelet, Traits eoliens. 55) Vgl. Miller, Homer p. 85. Ähnliche Schlüsse ermöglicht vielleicht Φήοες, homer. Bezeichnung fur thessalische Kentauren: Thumb/Scherer p. 209. βωτιάνειρα (nur A 155) und Φήρες (nur A 268, В 743) sind allerdings infolge ihrer Seltenheit wenig beweiskräftig. - Zu Homer und Thessalien vgl. West 1988 p. 160-162. 56> G. C. Horrocks, The Ionian epic tradition; was there an Aeolic phase in its development? Minos 20-22 (1987) p. 269-294 (Lit.).

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schwarzen' kommt elfmal, sein ionisches Gegenstück auf -έων nur einmal vor; Άτρείδαο findet sich 27mal, ion. -δεω nur 7mal; άνδροφόνοιο ist sogar die einzige Gen.-Sing.-Form dieses Adjektivs, κορύθεσσι die einzige Dat.-PI.-Form zu κόρυς ,Helm'. Überhaupt sind die aiolischen Kasus-Ausgänge -äcov, -äo, -οιο, -εσσι bei Homer durchaus häufig. § 39. Wichtiger ist daher eine zweite Tatsache: Die ionischen Formen sind häufig durch aiolische Gegenstücke verstechnisch ersetzbar. Für ήμΐν 4 0 α 10 könnte auch gut aiolisches ίίμμιν stehen. Τροίης 5 α 2 könnte durch denkbares, aber bei Homer nicht vorkommendes Τροίας ersetzt werden (vgl. θεάς). Man kann dann noch einen Schritt weiter gehen und sich an der Stelle etwa von ψυχήν α 5 und von ήμαρ α 9 aiolische Formen mit 5 denken; Formen, wie sie bei Homer freilich nicht üblich sind. § 40. Dann kann erwartet werden, daß die jetzt noch beobachtbaren Aiolismen zu einem guten Teil verstechnisch notwendige Aiolismen sind, also stehengebliebene oder auch stehengebliebenen nachgebildete (§ 56-66). πίσυρες ,vier' и и у weicht von seinem Gegenstück τέσσαρες — и у prosodisch entscheidend ab, steht also durchweg an anderen Versstellen, άμμες ,wir' — u steht nur an Versstellen, an denen wir es nicht durch ήμεΐς ersetzen können (die Umkehrung gilt wohlgemerkt nicht; vgl. § 39 zu ήμΐν). 57) Auch das -οιο etwa von Ήελίοιο war am Versende — wie in α 8 — niemals durch ionisches -ου zu ersetzen. Das Versende ist nun überhaupt ein bevorzugter Ort für Aiolismen: Genitive wie άνδροφόνοιο, ήυκόμοιο, 9είοιο, κυδαλίμοιο, Genitive wie Άτρείδαο, Genitive wie θεαων, Dative wie πόδεσσι. Einmal an diese wichtige, den Vers abrundende Stelle gesetzt, neigten solche Formen dazu, an ihr zu verbleiben (vgl. § 54, § 58, § 59). Die Häufigkeit von Aiolismen am Versende — sowie in festen Wortgruppen allgemein — spricht für ihr Alter. Daß der oder die Dichter absichtlich die Aiolismen als verstechnisch (und auch formeltechnisch) unfreiere, die Ionismen hingegen als freier verfugbare Größen verwendet hätte (n), ist nicht so wahrscheinlich wie die Annahme einer fortschreitenden Ionisierung der homerischen Sprache. § 41. Nicht von allen Aiolismen gilt freilich, daß sie - wie πίσυρες an sämtlichen und αμμες mindestens an bestimmten Versstellen — durch ionische Gegenstücke nicht ersetzt werden könnten. Dem aiolischen έρεβεννός ,dunkel' würde ein erwartetes ionisches έρεβεινός* (vgl. φαεινός .strahlend') verstechnisch genau entsprechen; dem βωτι-,nährend' von βωτι-άνειρα ebenso ein βωσι-* (vgl. ταμεσι,schneidend'). Bezeugt sind diese Formen im Ionischen nicht; sie waren zu Homers Zeit dort wohl nicht vorhanden oder zumindest nicht verfugbar. Man kann also die homerischen Aiolismen in ihrer Hauptmasse so begründen: Zu den einen, wie

57)

Zu den Gegenstücken ήμεΐς/ίίμμες s. M. Meier-Brügger, Homerische Kunstsprache: synchron und diachron. Glotta 64 (1986) p. 127-143.

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9υραων oder πίσυρες oder αμμες, war ein ionisches Gegenstück verfugbar, aber es war nicht ohne weiteres einsetzbar. Für andere, wie έρεβεννός, wäre ein ionisches Gegenstück einsetzbar gewesen, aber es war nicht ohne weiteres verfugbar. — Daß freie Aiolismen aber gelegentlich auch aus stilistischen oder ähnlichen Gründen verwendet werden konnten, dürfte kaum zu widerlegen sein.58' § 42. Mit den Kennzeichnungen „ionisch" und „aiolisch" erfaßt man den dialektalen Befund der homerischen Sprache vermutlich noch nicht in angemessener Weise. Zunächst schon deswegen nicht, weil diese beiden Dialekträume ihrerseits gegliedert sind. Weder braucht also alles Aiolische noch alles Ionische auch nur einem bestimmten größeren Teilraum zu entstammen, ζ. B. dem Thessalischen einerseits59' und z.B. dem Inselionischen andrerseits. 60 ' Ein weiterer Anwärter ist dann zunächst das Attische; darüber s. § 71. Vermutungen, daß über Ionisch, Aiolisch und Attisch hinaus noch andere Dialekte die homerische Sprache mitgeprägt haben, stützen sich vielfach auf den Wortschatz und damit auf einen Bereich, in dem es sich weniger gut argumentieren läßt. 61 ' Insgesamt aber krankt die dialektologische Beurteilung Homers daran, daß wir zu wenig gleichzeitiges oder älteres griechisches Sprachmaterial heranziehen können. Auf zuverlässigere, nämlich lautliche Gründe stützt sich die Annahme, das homerische Possessivpronomen άμός ,unser' könne wegen des ä nicht dem Ionischen (und auch nicht dem Attischen) und wegen des nicht geminierten m nicht derselben Quelle wie homerisch-aiolisch άμμες entstammen, ύμός ,euer', das man zumindest aus lautlichen Gründen dem Ionischen (und Attischen) nicht absprechen kann, dürfte jedenfalls auf dieselbe Schicht wie άμός zurückgehen. 62 ' § 43. Falls neben der ionischen und der wahrscheinlich älteren aiolischen Hauptschicht bei Homer tatsächlich noch eine dritte in Frage kommt, so muß auch ihr Verhältnis zu den beiden anderen geklärt werden. Sollte diese Schicht die tiefste, also die älteste sein, dann ist es denkbar, daß die ihr entstammenden homerischen

58 > Man könnte z.B. erwägen, βωτιάνειρα (Anm.55) als bewußtes Zitat aus thessalischer Quelle zu erklären. - Während aiol. πτόλις (§34) bei Homer nicht ersetzbar ist, steht die aiol. Weiterbildung πτολίεθρον häufig auch an Stellen, an denen auch ion. πολ- möglich wäre, ζ. B. α 2. O b w o h l sicher noch durchsichtig, wurde πτολίεθρον also nicht ionisiert, vermutlich weil es als dichtersprachlich empfunden wurde. 59 ' West 1988 p. 163 f. weist auf einige homerische Erscheinungen hin, die möglicherweise kleinasiatisch-aiolischer Herkunft sind. 60) West 1988 p. 166 spricht sich u.a. wegen ποϋ (Herodot: κοΰ) gegen das Ostion. und für das Ion. von Euboia aus. 61 > Vgl. Thumb/Scherer p. 212f.; s. auch Anm. 51. 62) άμός ύμός könnten aus dem Bereich von Boiotien stammen (s. Thumb/Scherer p. 38). Diese Herkunft wäre dann gut begründet, wenn Homers Ionisch mindestens zum Teil im benachbarten Euboia zu Hause wäre (Anm. 60). Vgl. M. Peters, Indogermanische Chronik 33 G30. Die Sprache 33 (1987) p. 234; im Anschluß an West 1988 p. 167f., der weitere homerische Erscheinungen derselben Quelle wie άμός zuweisen will.

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Erscheinungen sowohl eine Aiolisierung als auch eine Ionisierung hinter sich haben können. Dann aber wären diese Erscheinungen sicher nicht mehr leicht erkennbar. 63 ' Jedenfalls aber sollte man es bei der dialektologischen Deutung homerischer Erscheinungen immer zuerst mit dem Ionischen und hierauf zuerst mit dem Aiolischen versuchen.

В 3. Normalsprachliches und Dichtersprachliches (Vorbemerkung:) § 44. Vom Normalsprachlichen bei Homer wird im ganzen verhältnismäßig selten ausdrücklich geredet. Auch in diesem kurzen Überblick tritt das Normalsprachliche eher zurück. U m so wichtiger ist es, zu betonen, daß der Wortlaut von Homers Epen — auch z.B. der des Prooimions α 1—10 — zum größeren Teil von normalsprachlichen, üblichen Erscheinungen bestritten wird. Selbst Paare, sogar ganze Reihen von Gegenstücken bei Homer können durchaus der Normalsprache entstammen. Denn gewiß fanden sich zur homerischen und vorhomerischen Zeit im gesprochenen Griechisch — wie in jeder natürlichen Sprache — auch synchrone Schwankungen und Wahlmöglichkeiten, die Homer oder seine Vorläufer aus der ihnen geläufigen Sprechweise in die Dichtung übernehmen konnten. Der Umfang dieser Erscheinungen bei Homer ist freilich aus naheliegenden Gründen wieder nicht leicht abzuschätzen. Unter den anhand von α 1—10 erwähnten Gegenstücken könnten u. a. die folgenden in diesen Bereich gehören: δς 3 V. 1 und ö; επερσε 9 V. 2 und επερσεν*; δλοντο 2 7 V. 7 samt άπόλοντο, ώλοντο sowie denkbarem άπώλοντο*. § 45. Wir wenden uns jetzt aber den Besonderheiten der homerischen Dichtersprache zu, von denen die Versreihe α 1—10 auch mindestens eine enthalten dürfte, nämlich Ήελίοιο in Vers 8 (§ 65). Man kann den Versuch machen, solche Erscheinungen etwa folgenden Gruppen zuzuordnen und durch die in den Namen dieser Gruppen bezeichneten Vorgänge zu erklären: a) Anpassung schwerfälliger Wortlaute an das Versmaß; b) Anpassung überkommener Wortlaute an andere Sprachzustände; c) Umdichtung vorliegender Verse mit Folgen für die Sprache; d) dichtersprachliche Neuschöpfungen ohne deutliches Versvorbild. Durch alle diese Vorgänge konnten Paare oder Reihen von Gegenstücken Zustandekommen.

63 ' Falls das W o r t e n d e -ti-ra2 in m y k e n . F e m i n i n a w i e a-ke-ti-ra2 als -tirra zu verstehen sein sollte, w ü r d e es w o h l einen b e s o n d e r e n L a u t w a n d e l *-tria > -tirra a u f w e i s e n . Ersatz f u r dieses -tirra k ö n n t e d a n n h o m e r , - τ ε ι ρ α ( δ ρ ή σ - τ ε ι ρ α usw.) sein. Dies i m A n s c h l u ß an A . H e u b e c k , R e m a r k s o n the s i g n - d o u b l e t s ro2, ra2, ta2. In: E. R i s c h / H . M ü h l e s t e i n (Hrsg.), C o l l o q u i u m M y c e n a e u m , G e n f 1979, p. 2 3 9 - 2 5 7 , hier p. 252 £

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В 3 a. Anpassung schwerfälliger Wortlaute an das Versmaß § 46. Es gab im Griechischen zu Homers Zeit und davor Formen und Wortlaute, die verstechnisch im daktylischen Hexameter schwer oder gar nicht unterzubringen waren, die der Dichter aber auch nicht umgehen konnte oder wollte. Unter den Mitteln der Dichter, hier Abhilfe zu schaffen, ist vor allem die „metrische Dehnung" zu nennen, die Dehnung eines Kurzvokals in offener Silbe.64' Dadurch wurden insbesondere hexameteruntaugliche normalsprachliche Formen dem Hexameter angepaßt; zum Beispiel wurden an jeweils einer — hier unterstrichenen - Stelle gedehnt: αθάνατος .unsterblich', δυναμένοιο Gen. .vermögend', ύπέρεχε ,überragte' mit einer Abfolge von drei (oder mehr) kurzen Silben, die auch etwa durch Elision nicht wirksam zu vermindern war. Ferner wurden andere, für die Dichter wirklich nur „schwerfällige", d.h., nur mit Mühe verwendbare Formen an jeweils einer Stelle so gedehnt: Όλύμποιο u u ; ενεκα, ονομα, άνέρα Akk., alle drei и u u . Auch engere Gruppen aus zwei Wörtern konnten eine solche Dehnung erfahren: εν άλί ,im Meer'. Es kamen aber auch Übertragungen vor; z.B. wurde die Dehnung von άνέρα Akk. auf zweisilbiges, verstechnisch harmloses άνήρ verpflanzt. 65 ' Weitere Beobachtungen über die — im ganzen eher zurückhaltende — Handhabung dieses künstlichen Hilfsmittels durch die Dichter lassen sich anstellen. 66 ' § 47. Durch die metrische Dehnung konnten wieder Paare von Gegenstücken zustande kommen. Neben dichtersprachlichem ά-θάνατος steht normalsprachliches ά-μήχανος .ausweglos'; neben δϋνα-μένοιο steht ebenso δύνά-μην, und neben ύπείρ-εχε ύπερ-έσχε. Weiterhin gibt es bei Homer auch die nichtgedehnten, normalsprachlichen Formen "Ολυμπος, ενεκα, ονομα, άνήρ, έν (άγώνι). § 48. Eine Anpassung erreichten die Dichter, außer durch bloße Vokaldehnung, mit einem für uns schwerer erkennbaren Mittel, nämlich mit analogischer U m g e staltung etwa nach der Weise der Normalsprache. 67 ' άνεμόεσσα Fem. ,windreich' mit der Abfolge и и и am Wortanfang bekam anstelle des ά- ein erwünschtes ή-, aber wohl etwa nach dem Vorbild des verwandten, normalsprachlichen νήνεμος ,windlos'. — Das prosodisch ebenso ungefüge ένοσίγαιος ,die Erde erschütternd' (?),

64

> Thumb/Scherer p. 217 f. (Lit.) Folglich sind verschiedene Erklärungen flir ϋδωρ ,Wasser' möglich: Verpflanzung von ύδατος ΰδατι her oder Dehnung in den engen Gruppen μέλαν ϋδωρ, Στυγός ϋδωρ. 66 > Ein Beispiel: „Poetische Dehnung wird bei Homer nicht auf elidierte Wortformen übertragen, bei denen die Veranlassung zur poetischen Dehnung fehlt: so hat Homer οΰνομα ονομα ονομ', niemals οΰνομ'": J. Wackernagel, Unt. p. 134f. (nach Schulze, Q.). Die von Wackernagel erörterte Ausnahme εϊνεκ' = ενεκα ,wegen' könnte auf Nachahmung von οΰνεκ' τοϋνεκ' beruhen. - Zu ενεκα s. Frisk, GEW III p. 88; Chantraine, Diet. II p. 347. 67 ' Thumb/Scherer p. 219 (Lit.). Auf Umdichtung zurückgehende Besonderheiten sind dort mitbehandelt; vgl. im vorliegenden Beitrag § 57, § 62. 65)

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das neben s y n o n y m e m ένοσίχθων stand, konnte w o h l deswegen zu έννοσίγαιος umgestaltet werden, weil es etwa auch — w o h l normalsprachliche — Gegenstückpaare wie εννεπ-ε α 1 und ένέπ-οιμι ρ 561 gab. 68 ' — μηχανωμένους Akk. Plur. .bewerkstelligend', mit der unbrauchbaren Abfolge zweier Trochäen — и — и —, w u r d e nach der üblichen Flexionsweise der aktivischen άω-Präsentien zu μηχανόωντας umgestaltet; vgl. homerisch όρώμενος όρόωντας, beide zu όράω ,sehe' (hom. όρόω, §54). Die andere Möglichkeit, daß aktivisches μηχανάω damals in der Normalsprache noch neben — auch bei H o m e r gut bezeugtem — μηχανάομαι vorhanden war, tritt angesichts des Befundes eindeutig zurück: das Versende άτάσθαλα μηχανόωντας // k o m m t n u r σ 143 vor u n d ist obendrein deutlich nach dem Klangmuster von dreimaligem άτάσθαλα μηχανόωνται umgedichtet; der Fall gehört somit auch zu § 56 ff. 69 ' §49. Wieder rein lautlich ist die „Anpassung" durch die Synizese 70 '; unter den Genitiv-Plural-Formen auf-έων waren z . B . weder Fälle wie πηγέων — u — noch Fälle wie κεφαλέων и u и — hexametertauglich, sofern eben - έ ω ν zweisilbig ausgesprochen wurde. D a ß homerisch πηγέων, κεφαλέων künstlich sein können, zeigen — neben den homerischen dreisilbigen Gegenstücken θυρεών, πυλέών — w o h l auch „ U m d i c h t u n g e n " wie diejenige, die innerhalb der homerischen Sprache von πλέων .fahrend' zu πλέων gefuhrt hat, s. §57; vgl. auch §53, §55.

В 3 b. Anpassung ü b e r k o m m e n e r Wortlaute an andere Sprachzustände § 50. Das epische Dichten hat sich vor H o m e r erkennbar über mehrere sprachliche Entwicklungsstufen hin erstreckt. Die sich im Laufe der Zeit verändernden Formen — und sprachlichen Erscheinungen überhaupt — konnten teils ohne Schwierigkeit, teils n u r unter Schwierigkeiten, teils gar nicht an ihrer Versstelle belassen werden. Der zuletzt genannte Fall, also die Ausmerzung von Formen durch jüngere Dichter, dürfte bei H o m e r nur selten sicher auszumachen sein und bleibe hier beiseite. Es folgen Beispiele für die beiden anderen Fälle. §51. Viersilbiges *Argeioi Plur. ,Argeier', *Atrei'd(s (oder noch *Atreuidäs) ,Atride' (— и и —) konnte im Vers durch jüngeres dreisilbiges Άργεΐοι, Άτρείδης

68

' έννεπ- aus *en-sekw-\ Chantraine, Gramm, hom. I p. 515; doch p. 100 etwas verschwommen zu έννοσι-. Die gelegentlich vermutete metrische Dehnung (Verdoppelung) von Konsonanten (Schwyzer, Griech. Gramm. I p. 103) scheint zweifelhaft. 69) Zuerst 1861 beobachtet von J.E. Ellendt (s. Ebeling, s.v. μηχανάω). - Nachahmung bei A.R. III 583: ύπέρβια μηχανόωντες. - Es fällt auf, daß die Diathese Medium dem Versmaß geopfert werden konnte: E. Risch, Gnomon 26 (1954) p. 73. 70) Ε. Tichy, Beobachtungen zur homerischen Synizese. MSS 40 (1981) p. 187-222, mit Hinweis auf Sommer, Nachlaß.

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ohne sprachliche Künstelei und ohne verstechnische Härte oder Absonderlichkeit ersetzt werden. 71 ' §52. Als dreisilbiges *ξοα Akk. .Morgenröte' ( - u u ) i m Vers durch jüngeres zweisilbiges ήώ ersetzt wurde, entstanden zwar verstechnische Absonderlichkeiten — Versschlüsse aus zwei spondeischen Wörtern wie ήώ δΐαν // —, aber wiederum keine sprachliche Künstelei. 72 ' §53. Der mutmaßliche Ersatz des älteren aiolischen Genitivs *Peleuiada'(o) 73 Akhileuos durch jüngeres und ionisches Πηληιάδεω Άχιλήος ' bewirkte dagegen sowohl eine verstechnische Härte — einen Hiat in der Wortgrenze — als auch eine sprachliche Härte, die vielleicht als Künstelei anzusprechen ist: die Synizese εω (§57). § 54. Hierher gehört auch die sogenannte „epische Zerdehnung" in Formen wie όρόωντες ,sehend'. 74 ' Frühere Dichter hatten *horaontes mit vier Silben ( и и — u ) gesprochen, jüngere sprachen nur noch horqntes (όρώντες) mit dreien ( и — u ) . Diese jüngeren Dichter konnten, statt überkommene *horaontes-4erse umzudichten, auch versuchen, das jüngere dreisilbige όρώντες mit seiner bisherigen Versstelle — oft dem Versende (§40) — zu versöhnen, also die senkungsfüllenden zwei kurzen Silben am Wortanfang beizubehalten. Dies gelang durch einen Kompromiß: der durch Kontraktion entstandene Langvokal Q wurde in zwei Vokale aufgelöst, die nunmehr beide die o-Farbe des Kontraktionsproduktes hatten (οω). Der Ausdruck „Zerdehnung" paßt also zu den tatsächlichen Vorgängen nicht schlecht. Die Zerdehnung führt in der Flexion der Verben a u f - ά ω zu drei Arten von Formen, also zu ganzen Reihen von Gegenstücken: neben kontrahiertem όρώντες und zerdehntem όρόωντες gibt es bei Homer auffälligerweise noch anscheinend unkontrahierte Formen wie τηλε9άοντας Akk. Plur. ,blühend'. §55. Ein Kompromiß ähnlicher Art mußte auch für den prosodischen Unterschied zwischen älterem (und zwar ionischem) *οηξατ ,Nutzen, Labung' и — и und neuerdings gesprochenem oneär (ονεαρ u и υ ) 7 5 ' gefunden werden. Da ein offener e-Laut vor a- oder o-Vokalen dem jüngeren Ionischen nicht mehr entsprach, fand man den Kompromiß in ονειαρ и — и , dessen mittlerer Vokal ё zwar lang, aber wenigstens geschlossen war. 76 ' — Formen wie ονειαρ mit ει anstelle 71) Z u beiden vgl. Bechtel, Vocalcontr. p. 62, p. 250 (nach Nauck), zu Ά τ ρ . auch Meister, H K p. 51. 72 > Meister, H K p. 182; Chantraine, G r a m m , horn. I p. 54. 73) Chantraine, G r a m m , h o m . I p. 70; V. Schmidt, Sprachliche Untersuchungen zu Herondas, Berlin 1968, p. 74 A n m . 106 (Lit.). 74 > Thumb/Scherer p. 224f. (Lit.). 75 > Durch die quantitative Metathese m u ß t e oneär entstehen; doch war kurzes -är durch Beispiele wie εΐδάρ analogisch geschützt. 76 ονηαρ, von Choiroboskos dem Aiolischen zugeschrieben, ist nicht die Vorform von homer, ονειαρ, sondern dessen lesbische Wiedergabe. Die Form liegt jetzt auf Papyrus vor: Sappho et Alcaeus S286 II 10 SLG Page.

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eines älteren £ (η) sind bei Homer nicht selten.77) Eine weitere ist στείομεν Konj. .bleiben wir stehen'; sie vertritt eine Form * strömen, aus der das jüngere homerische Gegenstück στέωμεν ( mit Synizese, s. §49) hervorgegangen ist.

В 3 с. Umdichtung vorliegender Verse mit Folgen fur die Sprache § 56. Wie bekannt, finden sich bei Homer außer unverändert wiederholten Versen oder Versstücken häufig auch ähnliche Verse oder Versstücke.78' Solche Ähnlichkeiten beruhen darauf, daß irgendwann ein Vorbildvers, oder ein Stück aus einem Vorbildvers, für etwas andere Zwecke umgedichtet wurde. Die U m dichtung konnte wohl meistens so vonstatten gehen, daß das Sprachübliche nicht beeinträchtigt wurde. So ist ζ. B. vermutlich eines der beiden häufigen Versenden νηΐ μελαίνη // Dat. und νήα μέλαιναν // Akk. das Vorbild, das andere daraus umgedichtet. Da aber beide Wortlaute im System der Normalsprache seit langem nebeneinander lagen 79 ' sowie ohne jede sprachliche oder verstechnische Ungewöhnlichkeit sind, könnte allenfalls mit philologischen Beweisgründen geklärt werden, welcher der ältere ist. § 57. Manchmal konnten durch eine Umdichtung aber störende Folgen bewirkt werden 80 '; und wir Heutigen sehen, welche Folgen die Dichter gelegentlich in Kauf nahmen, um nur wenig ändern zu müssen — sei es aus Gründen der Bequemlichkeit oder des Stils oder aus welchen auch immer. So gibt es z.B. das tadellose Versende (νηϊ πολυκλήιδι) πλέων επί οϊνοπα πόντον //,( ) fahrend über das weinfarbene Meer' Η 88. Als dieses Versende unverändert an den Versanfang versetzt wurde (α 183), mußte das zweisilbige πλέων ( u —) in eine Hebung gezwängt und folglich mit Synizese einsilbig πλέων ( —) gesprochen werden. Solches πλέων ist aufgrund seines Vorkommens bei Homer sicher als sekundär und wahrscheinlich als gekünstelt anzusprechen. 81 ' πλέων und πλέων sind wieder zwei Gegenstücke mit unsichtbarem Unterschied (vgl. § 28); s. auch § 49. § 58. In anderer Weise umgedichtet werden sollte das ebenso tadellose Versende εύρέϊ πόντφ // ,im weiten Meer' (z.B. α 197). Und zwar sollte dieser Wortlaut

77) R . Werner, η und ει vor Vokal bei H o m e r , Zürcher Diss. 1948 (p. 68 f. zu δνηαρ/ονειαρ); Chantraine, G r a m m , h o m . I p. 8 f. 78 > Vgl. allgemein Hoekstra, Modifications; Tichy, MSS 40 (1981) p. 187 f. im Anschluß an Witte und Sommer. 79 ' νηί (ursprünglich Lokativ) μελαίνη (ursprünglich Dativ) setzt zwar einen Kasussynkretismus voraus; doch vertritt -T) vermutlich öfter einen alten Lokativ-Ausgang *-ai: A. Heubeck, Zu den homerischen Dativ-Singular-Formen s-stämmiger Substantiva. MSS 37 (1978) p. 69 f. (nach Karl H o f f m a n n ) . 80 > Thumb/Scherer p.218f. (Lit.); doch vgl. A n m . 67. 81 > Sommer, Nachlaß p. 286.

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nicht die Stellung im Vers, wohl aber die Syntax ändern; anstelle des Dativs wurde ein Akkusativ benötigt. Was herauskam, war das Versende εύρέα πόντον // (z.B. ω 118) mit der künstlichen Form εύρέα. Aufgrund der Flexionsklasse zunächst unbedingt zu erwarten und tatsächlich bei Homer (und sonst) auch gut bezeugt ist εύρύν. ευρέα ist unter den Bedingungen der Dichtersprache, insbesondere des Versendes (§ 40), als jüngeres Gegenstück neben das normalsprachliche εύρύν getreten. 82 ' § 59. Wieder andere Vorgänge sind bei der Umdichtung des hochaltertümlichen Versendes εύρύοπα Ζην' // Akk. ,den weitrufenden (?) Zeus' eingetreten. Die einsilbige Akkusativform Ζην' wurde in anderer syntaktischer Umgebung durch Ζεύς bzw. Ζεΰ ersetzt; die Akkusativform εύρυοπα dagegen blieb unverändert, unter anderem weil εύρύοψ — и — nicht hexametertauglich war. Es entstanden also zusätzlich εύρύοπα Ζεύς // und εύρύοπα Ζεΰ //.83) εύρυοπα wurde folglich zu einem indeklinablen Attribut umgedeutet, das homerische Deklinationssystem um einen neuen Typ bereichert. Der Fall εύρύοπα Ζεύς (Ζεΰ) ist auch ein eindrucksvolles Beispiel für das Festhalten an einmal geprägten Versenden (vgl. §40). § 60. Was hier als „Umdeutung" bezeichnet wurde, könnte man also auch „Erstarrung" nennen. Das Stichwort „Umdeutung" wird aber auch für andere sekundäre Analysen älterer epischer Wortlaute verwendet. Ein Beispiel dafür liefert die Vokabel παρήορος. 84 ' Sie bedeutete zunächst ,beigeschirrt, Beipferd' und ist im Wortlaut κεΐτο παρήορος ,das Beipferd lag da' Π 471 auch so verwendet. Daß dieser Wortlaut mißverstanden bzw. umgedeutet werden konnte, lehrt uns eine jüngere Stelle (H 156), an der εκείτο παρήορος ,er lag ausgestreckt da' bedeuten muß. Die Umdeutung liegt hier namentlich im Bedeutungsbereich. § 61. Nochmals zurück zur Umdichtung mit äußerlich sichtbaren sprachlichen Folgen. Als letztes Beispiel sei das homerische Gegenstückpaar έπίρρο9ος / έπιτάρροθος besprochen. 85 ' Beide bedeuten ,Helfer, Helferin', έπίρροθος ist die ältere Bildung, έπιτάρροθος daraus durch Umdichtung des Verses Δ 390 entstanden und Ε 808 erstmals verwendet. Δ 390 sagt Agamemnon über Tydeus: (ρηιδίως·) τοίη οί έπίρροθος ήεν Άθήνη ,(...) eine solche Helferin war ihm Athene'. Dieselbe Aussage über Tydeus macht Athene danach in der Ich-Form, Ε 808: (ρηιδίως·) τοίη oi έγών έπιτάρροθος ήα ,(...) eine solche Helferin war ich ihm'.

82> Hoekstra, Modifications p. 112 nach Witte (schon Ellendt 1861, bei Latacz, Homer, Darmstadt 1979, 78. - Der Hrsg.). - Vgl. Theoc. 20,8: άδέα χαίταν//. 83) A. Debrunner, Alte Probleme der homerischen Sprache. Indogermanische Forschungen [IF] 45 (1927) p. 173-190, hier p. 188 ff. 84 > Leumann, Horn. Wörter p. 222 ff. 85 > B. Forssman, Ein unbekanntes Lautgesetz in der homerischen Sprache? In: M. Mayrhofer u.a. (Hrsg.), Lautgeschichte und Etymologie, Wiesbaden 1980, p. 180-198, hier p. 182-184.

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Dreisilbiges Ά θ ή νη w i r d inhaltsbedingt in zweisilbiges έγών umgesetzt, das syntaxbedingt v o r das , H e l f e r i n ' - W o r t rückt, dieses also nach rechts in eine Stelle verschiebt, f ü r die έπίρροθος u m eine Silbe zu kurz ist. έπίρρο9ος w i r d daher u m eine k u r z e Silbe verlängert; f u r έπι- tritt *έπι-θα- ein, nach d e m M u s t e r etwa v o n ύ π α ΐ : υπαι-θα ,unten' (*έπι-9α- m u ß d a n n w e g e n der folgenden Aspirata zu έπι-τα- w e r d e n ) . Ein neues Gegenstück also, das f ü r die Z w e c k e der D i c h t u n g auf normalsprachlichem W e g e h e r v o r g e b r a c h t w o r d e n ist (vgl. §48).

В 3 d . Dichtersprachliche N e u s c h ö p f u n g e n o h n e deutliches Versvorbild § 62. Es hat sich also ergeben (§56—61), daß sprachlich u n g e w ö h n l i c h e W o r t l a u t e bei H o m e r sich d u r c h U m d i c h t u n g n o c h greifbarer älterer Verse erklären lassen k ö n n e n . D o c h ist es v o n v o r n h e r e i n unwahrscheinlich, daß f ü r j e d e derartige dichtersprachliche N e u s c h ö p f u n g eine U m d i c h t u n g als Ursache festzustellen ist. § 63. γέρά, v o r K o n s o n a n t z . B . В 237, ist als u n g e w ö h n l i c h e P l u r a l f o r m zu γέρας ,Ehrengabe' o f f e n b a r in der Dichtersprache gebildet w o r d e n . 8 6 ' Das M u s t e r w a r die F o r m κρέά ,Fleischstücke' (zu κρέας), die d u r c h normalsprachliche Vokala u s d r ä n g u n g (Hyphärese) aus e r w a r t e t e m *kreaa entstanden ist; *geraa b o t f ü r diese E n t w i c k l u n g keine Voraussetzung. Die naheliegende V e r m u t u n g , daß γέρά d u r c h U m d i c h t u n g eines b e s t i m m t e n , n o c h vorliegenden κρέά-Verses entstanden wäre, läßt sich einstweilen nicht bestätigen. Die inhaltliche N ä h e von γέρας u n d κρέας — E h r e n g a b e n b e i m M a h l bestanden aus Fleisch — k a n n f ü r die N e u s c h ö p f u n g γέρά ausgereicht haben. Sie hält sich übrigens im R a h m e n normalsprachlicher Analogie. § 64. B e m e r k e n s w e r t e r als γέρά ist d a r u m das n u r einmal (Π 208) v o r k o m m e n d e εης, Gen. Sing. F e m . des R e l a t i v p r o n o m e n s δς. 8 7 ' Vorbild f ü r εης, dessen n o r m a l sprachliches ionisches Gegenstück bei H o m e r ής ist, ist der z w e i m a l (B 325, α 70) bezeugte relativische Gen. Sing. Mask. N t r . δου. Dieser F o r m liegt scheinbar ein S t a m m öo- z u g r u n d e , den es aber sonst nicht gibt; in Wirklichkeit ist sie d u r c h „ A n p a s s u n g " (§50) bewirkt. 8 8 ' οου entstand als K o m p r o m i ß zwischen einem altertümlichen *hoo u n d dessen inzwischen üblichem, bei H o m e r gut b e z e u g t e m N a c h f o l g e r об (vgl. auch §72); erst nach dieser Anpassung sah δου wieder wie ein üblicher Genitiv aus. H e r n a c h w u r d e δου offensichtlich als aus seinem G e g e n stück oö „ z e r d e h n t " (§ 54) e m p f u n d e n ; d e n n n u n m e h r zerdehnte ein Dichter das paradigmatisch benachbarte ής entsprechend zu einem Gegenstück εης. Dessen

86

> F. Sommer, Homerica. In: Μ Ν Η Μ Η Σ ΧΑΡΙΝ (GS P. Kretschmer), Wien 1957, p. 142-151, hier p. 147. Dort ist auch σκέπα bei Hesiod erwähnt, eine noch jüngere Neuerung. 87 ' Schwyzer, Griech. Gramm. I p. 104 (Lit.); Chantraine, Gramm, hom. I p. 83. 88 > Chantraine, Gramm, hom. I p. 45.

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einzige Belegstelle ist keiner der beiden οου-Stellen sonderlich ähnlich. Ein Versvorbild für εης ist also ebensowenig in Sicht wie für γέρα. Sooft wir aber wie hier „Neuschöpfung ohne deutliches Versvorbild" annehmen, müssen wir mit der Möglichkeit rechnen, daß das Vorbild zwar uns entzogen ist, in Wirklichkeit aber einst vorhanden war. § 65. Hierher mag ferner die eine oder andere Mischform bei Homer gehören, d.h. eine Form, die offenbar in der Dichtersprache zu ionischen und außerionischen Merkmalen gekommen ist.89) Eine solche Mischform ist Ήελίοιο 3 0 α 8. Ihr anlautendes ή-, das aus urgriechischem ä entstanden ist, ist ein klares ionisches (§32), ihr -oio ein klares nichtionisches, wohl aiolisches (§34) Merkmal. Falls ein ionischer Dichter aus dem Stamm ήέλιο- diese Form bilden wollte, so brauchte er dazu sicher keinen besonderen Vorbildvers; ihm genügten die vielen Genitivformen auf-oio, zumal diejenigen an derselben Versstelle. — Wahrscheinlicher dürfte jedoch die Annahme sein, daß ein „überkommenes" aiolisches *ä(u)elioio von jüngeren Rhapsoden durch ή- „an einen anderen Sprachzustand angepaßt" worden ist, nämlich an den ionischen (§50). Ahnliche Mischformen wie Ήελίοιο — also mit ionischen (hier unterstrichenen) Merkmalen im Stamm und aiolischen in der Flexion - sind etwa: ήνιόχοιο; τ^μετεράων; νεφελτ^γερέταο; νήεσσι, Dat. Plur. zu νηΰς ,Schiff', νήεσσι, mit dem ionischen Gegenstück νηυσί(ν) neben sich, kann freilich wieder durch „Anpassung" für *näuessi eingetreten sein. Nicht so aber das weitere Gegenstück νέεσσι: hier ist das aiol. -εσσι (§ 34) an den Stamm νε- gefugt, der nur im Ionischen durch Kürzung aus νη- zustande gekommen sein kann, z.B. in νεών (§31). §66. Das Umgekehrte — aiolische (hier unterstrichene) Merkmale im Stamm, ionische in der Flexion — zeigen: άμμορίην, άργεννησι, έρεβεννή; Λαοδίκη; Νεστορέην. Diese Fälle können wohl großenteils am besten durch „Anpassung" erklärt werden, auch der letzte, Νεστορέην, mit einem wohl aiolischen Lautwandel ri > re (vgl. §80).90> Diesen Lautwandel setzt auch ήνορέην Akk. .Mannhaftigkeit' voraus; aber hier ist die Vermischung noch stärker. Als älteste Vorform ist *änoriä Nom. anzusetzen; hieraus entstand zunächst *änoreä. Wortanlaut und Flexionsausgänge zeigen somit Anpassung an das Ionische, doch das aiol. Merkmal -ρε- blieb erhalten. Wenn der Stamm ήέλιο- als durch „Anpassung" entstanden richtig gedeutet ist (§65), so ist auch ήελίου (z.B. μ 176) eine ionische Flexionsform zu einem ionisierten aiolischen Stamm. In ήμβροτε ,er verfehlte' ist die Augmentierung mit ή- ionisch, doch -ρο- < r aiolisch (§ 34).

89

> J. Wackernagel, Kl. Sehr. II p. 1156 f.; Meister, HK p. 238. > Buck, Dial. p. 25; Wathelet, Traits eoliens p. 160ff.

90

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В 4. Homerisches und Nachhomerisches § 67. Wie sicher ist nun überhaupt der Homertext? 91 ' Oder anders: Haben wir Aussichten, dem Text der Endfassung nahezukommen? Die fuhrende Homerausgabe von Arthur Ludwich strotzt von Überlieferungsvarianten; aus anderen Ausgaben lassen sich noch weitere entnehmen. Die vielen Varianten wirken zunächst entmutigend; sieht man aber näher zu, so sind die meisten aus metrischen, sprachlichen oder philologischen Gründen sicher auszuscheiden. § 68. Meist ist die offenkundig überlegene und daher richtige Lesart ohnehin am besten bezeugt. Daraus darf wohl gefolgert werden, daß die Mehrheit der hochrangigen Zeugen in aller Regel auch dann für die Hauptlesart entscheidet, wenn diese eine ernstzunehmende, aber schwach überlieferte Variante neben sich hat. Die Frage nach deren Herkunft bleibt zwar zu erörtern 92 '; aber wir sind tatsächlich kaum je im Zweifel, was zum textus receptus gehört. Das geht bis hin zu einem großen Teil der Akzente und Spiritus, ja der Apostrophe 93 ', die ja — soweit wir wissen — wohl erst etwa 500 Jahre nach Homer im geschriebenen Text kenntlich zu werden begannen. §69. Dieser insgesamt doch sehr zuverlässige Überlieferungsbefund bringt für uns allerdings eine nicht immer genügend ernst genommene Verpflichtung mit sich: Wir müssen Lesarten, die einstimmig oder mehrheitlich oder anderweitig hervorragend überliefert sind, auch dann ernstnehmen, wenn sie uns zunächst metrische, sprachliche oder philologische Schwierigkeiten machen. Die am besten bezeugte Lesart des Versanfangs von ι 283 lautet: //νήα μέν μοι κατέαξε (Ποσειδάων) ,das Schiff hat mir (P.) zerbrochen', νήα müßte dann einsilbig sein und die erste Hebung ausfüllen. Dieser Schwierigkeit entzieht man sich heutzutage und seit langem ganz allgemein entweder durch Aufnahme eines weit schwächer bezeugten, verstechnisch auch nicht einwandfreien νέα oder durch Änderung des Textes. Tatsächlich aber muß das gut Überlieferte auch hier gehalten werden. 94 ' Schuld an der verstechnischen Absonderlichkeit ist eine „Umdichtung vorliegender Verse" (§ 56 ff.), die ebenfalls mit νήα μέν anfingen, aber nicht mit positionsbildendem μοι fortfuhren, sondern z.B. so: //(νήα μέν) οϊ γε μέλαιναν (— u υ ) - u u - u A 485, π 325. § 70. Gelingt es also vielfach, gerade homerische Besonderheiten weit zurückzuverfolgen, ja sogar einem am eigentlichen Homertext beteiligten Dichter zuzuweisen, so stellt sich dennoch immer wieder die Frage nach dem Alter der

91

> Schwyzer, Griech. Gramm. I p. 102f.; Chantraine, Gramm, hom. I p. 5-16; Thumb/ Scherer p. 219-225. 92) Zenodots πολΰς (В 4) ist eine solche wertvolle Variante: Schwyzer, Griech. Gramm. I p. 563 Anm. 2 (Lit.); Chantraine, Gramm, hom. I p. 221. 93) Chantraine, Gramm, hom. I p. 481 zu Fällen wie δ' έτελείετο A 5 (Lit.). 94 > Sommer, Nachlaß p. 283-297.

Schichten in der homerischen Sprache

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vorliegenden äußeren Textgestalt (von allen Zusatzzeichen allerdings einmal abgesehen) . Gibt es die Notwendigkeit und gibt es Mittel, hinter diesen Text zurückzukommen? Solche Mittel gibt es zweifellos, und die Freude an ihrer Entdeckung und Handhabung hat zeitweilig den Grundsatz zurücktreten lassen, das gut Uberlieferte nach Möglichkeit für homerisch zu halten. Vielfach braucht man scheinbar nur ältere Lautungen einzusetzen, um ohne Veränderung des eigentlichen Wortlautes ältere Formen zu gewinnen, die dann eben aufgrund ihres schön altertümlichen Aussehens ächter und homerischer wirken als die überlieferten. § 71. Jungen Aussehens und zugleich ungewöhnlich sind bei Homer z.B. die beiden vereinzelten, gut überlieferten Formen ποντοπορούσης ,das Meer durchfahrend' λ II 95 ) und άνερρίπτουν ,sie warfen empor' ν 78.96) Ihr -ου- widerstrebt dem Ionischen (§ 32) und stimmt zum Attischen; man bestimmt die Formen gewöhnlich als Attizismen, vielleicht zu Recht. Attizismen von wann? Scheinbar nichts leichter, als sie jüngeren Rhapsoden oder auch Schreibern anzulasten und prosodisch gleichwertiges ionisches -εύσης bzw. -ευν (oder auch -εον) an die Stelle von -ούσης bzw. -ουν zu setzen! N u r kommen dann Formen heraus, die im älteren Ionischen ihresgleichen nicht haben; diese Tatsache muß auch den nachdenklich stimmen, der vom eindeutigen Befund der Überlieferung abzusehen grundsätzlich bereit ist. §72. Leicht ersetzbar ist scheinbar auch das bereits §64 erwähnte relativische δου. An den beiden Stellen seines Vorkommens (B 325, α 70) steht es mit der ersten Silbe in einer Senkung und mit der zweiten in der folgenden Hebung; das nächste Wort beginnt jeweils mit zwei Konsonanten. Die Vokallänge der zweiten Silbe wird fur die Füllung der Hebung folglich nicht benötigt. Für δου könnte somit seine ältere Vorform *hoo eingesetzt werden, und das ist in der Neuzeit gelegentlich auch geschehen. Aber *hoo hätte wohl kaum die bei Homer bereits vorhandene Neubildung εης bewirken können. Also gehört δου nicht nur zu einem irgendwann festgelegten textus receptus, sondern schlechthin zur homerischen Dichtung. § 73. In diesem Zusammenhang ist nochmals (s. §28) auf das „Digamma" hinzuweisen; das heißt, auf die Frage, ob wir berechtigt oder gar verpflichtet sind, Homer Formen wie Ραστυ, Fi|v < *huän, δ5εινός zuzuerkennen. Solche Formen galten gegen 1000 v. Chr. wohl noch in allen damaligen Dialekten; und selbst im 5.Jahrhundert v.Chr. war der Laut u (F) in anlautender Konsonanz vielerorts erhalten. Es scheint zunächst ein unbehaglicher Gedanke, daß Homer im 8.Jahrhundert, wie uns die Uberlieferung glauben machen will, kein solches u mehr gesprochen haben soll.

95

> F. Sommer, λ 11. In: Sybaris (Festschrift H. Krähe), Wiesbaden 1958, p. 146-163. > Sommer, Nachlaß p. 270-278.

96

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Aber eben, der Befund der Überlieferung ist eindeutig und spricht vorerst einmal gegen das F bei Homer. Freilich ist auch an der Tatsache wiederum nicht zu rütteln, daß das nicht mehr sichtbare u in der homerischen Verstechnik vielfach fortwirkt oder fortwirken könnte: α 4, α 5 (§ 28).97' α 3 mit ϊδεν αστεα υ υ - u u spricht nicht einmal unbedingt gegen homerisches Digamma. Man könnte ja das bewegliche -v von ιδεν als „anpassungsbedingten" (§ 50), also sekundären Vertreter des f - von Ράστεα auffassen 98 ' und ϊδε άστεα oder, noch kühner, gleich ΡΊδε Ραστεα schreiben. Einige Herausgeber haben sich denn auch für eine dieser beiden Schreibweisen entschieden. Freilich gegen die Überlieferung, die einhellig ιδεν αστεα hat. Und flir deren Richtigkeit sprechen eben Verse wie α 10 mit Διός ειπέ U U - и , in denen das Digamma — hier von Γειπέ — auch mit einem Kunstgriff wie bei ιδε(ν) άστεα nicht herzustellen ist. Wenn aber Homers Sprache den Stand erreicht hatte, in dem ειπείν und damit doch wohl auch αστυ ohne u- gesprochen wurden, so kann auch ein ιδεν αστεα in dieser Form auf Homer zurückgehen. § 74. Die Reihe solcher Beobachtungen ließe sich verlängern. Wer den homerischen textus receptus antasten will, vernimmt häufig alsbald ein solches Warnungszeichen. Also ist Vorsicht auch dort anzuraten, wo unser Ohr zunächst noch keines vernimmt. Über die Notwendigkeit, in der guten Homerüberlieferung 99 ' in nennenswertem Ausmaß Nachhomerisches anzunehmen, ist bisher wohl keine Übereinstimmung erzielt worden.

C. Rückblick und Ausblick § 75. Nachdem Franz Bopp im Jahre 1816 der Indogermanistik den Weg gebahnt und Jacob Grimm 1819 die Erforschung der Sprachgeschichte begründet hatte, fiel auch auf das homerische Griechisch sowie auf die Vorgeschichte des gesamten Griechischen ein neues und helleres Licht. Scharfsichtige Philologen machten sich die neuen Lehren alsbald zu eigen. Vornehmlich auf Grimm fußten Heinrich Ludolf Ahrens und Philipp Buttmann; Georg Curtius hingegen vermochte als Schüler Bopps die Klassische Philologie auch mit der Indogermanistik zusammenzufuhren. In der Folgezeit kamen bedeutende Erforscher der homerischen Sprache und Sprachschichten aus beiden Lagern. § 76. In erster Linie als Philologen zu bezeichnen sind etwa Immanuel Bekker, August Nauck, Kurt Witte und Karl Meister, wohl auch Pierre Chantraine. 97 > αλγεα öv und άρνύμενος ήν sind allerdings nicht voll beweiskräftig: im ersteren Fall könnte wirklicher Hiat, im zweiten Arsisfüllung (durch geschlossene Silbe mit Kurzvokal) für zulässig erklärt werden. Doch ist f - in diesen einsilbigen Pronominalformen tatsächlich länger erhalten geblieben als anderswo. 981 Chantraine, Gramm, hom. I p. 92. Daß es aber dort Varianten gibt, über deren Wert für die Herstellung des Homertextes das letzte Wort noch nicht gesprochen ist, sei nicht bestritten (vgl. Anm. 6).

Schichten in der homerischen Sprache

285

Eher den Indogermanisten zuzurechnen sind Forscher wie August Fick, Friedrich Bechtel und Felix Solmsen. Manche großen Indogermanisten waren aber zugleich in der Philologie erfolgreich tätig, so daß beide Fächer sie mit Fug und Recht für sich beansprucht haben. Zu dieser herausragenden Gruppe gehören Forscher wie Jacob Wackernagel, Wilhelm Schulze, Ferdinand Sommer und Manu Leumann. Gerade ihre Arbeit an Homer war erfolgreich und wegweisend; und das ist auch nicht zu verwundern. Denn Philologie und Sprachwissenschaft mit Einschluß der Indogermanistik sind in der Homerforschung nicht voneinander zu trennen. Daß tiefergehende Erkenntnisse über die homerische Sprache das philologische Textverständnis voraussetzen, ist ohnehin selbstverständlich. Doch liefert die Sprachwissenschaft auch ihrerseits der Philologie Hilfsmittel zum genaueren Verständnis Homers und der homerischen Sprachschichten. Da die homerischen Epen am Anfang des griechischen Schrifttums stehen, sind die Schichten der homerischen Sprache ohne Einbeziehung der Vorgeschichte nicht angemessen zu erfassen. Es wäre ein methodischer Fehler gewesen, wenn die Homerforschung auf den Beitrag der Indogermanistik verzichtet hätte. Gewiß muß die Sprache Homers vor allem aus Homer selbst erklärt werden. Aber in diese Sprache ragen eben viele hernach zum Teil ausgestorbene Erscheinungen aus ferner oder auch naher Vergangenheit hinein; und nur wenn die Forschung diesen Anteil recht würdigt, kann sie auch die Eigenwüchsigkeit des Neuerers Homer recht herausarbeiten. § 77. Es ist angesichts der Größe und Vielfalt des Gegenstandes nicht verwunderlich, daß die Forschung sich von Einseitigkeit und vorschnellen Schlüssen nicht immer hat freihalten können. Einerseits wurde das Ausmaß des Jüngeren (§18) und des Dichtersprachlichen (§45) gelegentlich überschätzt, so in Einzelheiten von Kurt Witte und in anderer Weise wohl auch von Manu Leumann. Aber auch in die entgegengesetzte Richtung ist man mitunter zu weit gegangen. In berechtigter Bewunderung für die hohe Altertümlichkeit der homerischen Sprache waren manche Forscher allzu leicht zu dem Unterfangen bereit, das Bild des überlieferten Textes im ganzen oder in Einzelheiten noch altertümlicher zu gestalten. 100 ' Verse, die sich solcher U m f o r m u n g entzogen, wurden dann entweder dem Text abgesprochen oder für verdächtig erklärt. 101 ' 100)

Besonders weit gegangen ist darin der geistreiche August Fick. Sein Versuch, einen aiolischen Homer herzustellen, war ein Fehlschlag, hat aber auf die Forschung gleichwohl anregend gewirkt. Ficks eigener Schüler Bechtel ging mit dem Homertext denn auch erheblich behutsamer um. Doch selbst Jacob Wackernagel zeigte sich immer wieder bereit, die Änderung eines homerischen Wortlautes zugunsten einer älteren Vorstufe zu erwägen. Durch sein hohes und berechtigtes Ansehen hat er in diesem Sinne Mitforscher und Handbücher bis heute beeinflußt. Die von ihm ersonnene Homerform ,,δηδέχαται" (§22) ist von Frisk (und danach von Chantraine) zum Stichwort gemacht worden. 101 > Ferdinand Sommer, der die homerische Textüberlieferung bis in ihre Feinheiten hinein genau durchmustert und treffend würdigt, schreibt doch vom Standpunkt des Analytikers.

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§ 78. Aber im U m g a n g m i t der g u t e n H o m e r ü b e r l i e f e r u n g (§ 68) ist B e h u t s a m keit angezeigt. W e r g u t überlieferte S p r a c h f o r m e n antastet - u n d die Verlockung ist m a n c h m a l wirklich g r o ß (§70) - , m u ß sich etwa f o l g e n d e Fragen stellen: Welcher Stufe der Epos- u n d Überlieferungsgeschichte soll der Text, der herzustellen ist, angehören? W a n n , wie, w o u n d w a r u m sind die Veränderungen eingetreten, die zu der tatsächlich überlieferten F o r m g e f ü h r t haben sollen? Schließlich u n d v o r allem: W a r u m k a n n diese überlieferte F o r m nicht d o c h homerisch sein? § 79. J ü n g e r e Erscheinungen sollten aus d e m H o m e r t e x t also zumindest nicht k u r z e r h a n d vertrieben w e r d e n . M a n sollte lieber versuchen, m i t ihrer Hilfe im H o m e r Schichten auszumachen. D a b e i ist freilich auch w i e d e r Vorsicht v o n n ö t e n . Z w a r daß Η 88 mit πλέων das unmittelbare Vorbild v o n α 183 m i t πλέων w ist, daß dieser Vers also j ü n g e r ist als jener, ist sehr wahrscheinlich oder mindestens unwiderleglich (§57). — W e n i g e r deutlich ist das Abhängigkeitsverhältnis z w i schen В 325 (samt α 70) m i t älterem οου u n d Π 208 m i t j ü n g e r e m εης (§64). D e r Vers Π 208 k a n n k a u m älter, er d ü r f t e j ü n g e r als В 325 sein, aber es k ö n n t e n d o c h Versvorbilder f ü r Π 208 (z.B. Zwischenglieder) verlorengegangen sein. Auffällig ist das V o r k o m m e n v o n έπιτάρρο9ος, das aus έπίρροθος erwachsen ist (§61). Von den Iliasversen m i t έπιτάρροθος ist derjenige, f ü r den H o m e r diese F o r m geschaffen hat, auch der erste, auf den m a n b e i m H ö r e n oder Lesen der Ilias trifft, Ε 808. Aus Ε 808 u n m i t t e l b a r u m g e d i c h t e t (§56) ist Ε 828, der zweite Belegvers f ü r έπιτάρροθος, den w i r lesen. Die restlichen, n o c h j ü n g e r e n sechs Belege folgen in den Iliasbüchern Λ Μ Ρ Υ Φ sowie — als N a c h k l a n g — im ω der Odyssee. A n den Tatsachen ist hier k a u m zu rütteln; sicher verkehrt w ä r e es freilich, aus ihnen gleich zu folgern, daß H o m e r die B ü c h e r Ε bis Φ der uns vorliegenden Ilias nacheinander in ihrer jetzigen R e i h e n f o l g e a u s g e f o r m t hätte. § 80. N i c h t so auffällig linear sind d e n n auch beispielsweise die Belege einer anderen neugebildeten Vokabel verteilt, deren A u f k o m m e n m a n ebenfalls v e r f o l gen kann: Άγαμεμνόνεος ,des A g a m e m n o n ' . Das A d j e k t i v k o m m t bei H o m e r viermal vor, u n d zwar neben νηΰς ,Schiff' К 326, ϊππος ,Pferd' Ψ 295. 525; ά λ ο χ ο ς .Gattin' γ 264. Die B i l d u n g v o n Άγαμεμνόνεος erfolgte nach d e m Muster von Έ κ τ ό ρ ε ο ς u n d Νεστόρεος, in denen -ρεος m i t aiolischem L a u t w a n d e l aus *-rios entstanden w a r (§66). U n d z w a r hat j e d e r Vers mit Ά γ α μ ε μ ν ό ν ε ο ς einen entsprechenden Vorbildvers: Νεστορέη . . . νηί В 54; Νεστορέας . . . ίππους Θ 113. Έ κ τ ο ρ έ η ν α λ ο χ ο ν steht in der Ilias Parva (18,2 Ki.), w i r d aber a u f g r u n d v o n A n d r o m a c h e s B e d e u t u n g in der Troiasage ein alter Ausdruck sein. Also g e h ö r t Άγαμεμνόνεος einer j u n g e n Schicht an 102) ; Έ κ τ ό ρ ε ο ς u n d Νεστόρεος reichen dage-

102) Pindar und Aischylos (s. Fraenkel zu Ag. 1499) haben vielmehr Ά γ α μ ε μ ν ό ν ι ο ς . - Aber solches -εος scheint bis ins Lateinische fortzuwirken: M. Leumann, Lateinische Laut- und Formenlehre (München 1977) p. 286 f.

Schichten in der homerischen Sprache

gen wohl ins aiolische Epos zurück "Εκτωρ und Νέστωρ.

103

287

', wie ihre Grundwörter auch, die Namen

• Die Schichten in der homerischen Sprache im einzelnen und in größeren Zusammenhängen zu untersuchen dürfte auch künftig noch ein erfolgversprechendes Unternehmen sein.104'

Schrifttum, bibliogr. Abkürzungen

Das folgende Verzeichnis enthält vor allem die oben mehrfach angeführten Schriften. Das für die Schichten in der homerischen Sprache bedeutsame Schrifttum findet man, außer in den großen Handbüchern, insbesondere bei Crespo, Miller und Thumb/Scherer verzeichnet. Bechtel, Vocalcontr. Buck, Dial. Chantraine, Diet. Chantraine, Gramm, hom. Crespo 1977 Ebeling Frisk, G E W Hoekstra, Modifications JHS Leumann, Hom. Wörter Leumann, Kl. Sehr. LfgrE Ludwich Meister, HK

Friedrich Bechtel, Die Vocalcontraction bei Homer, Halle a. S. 1908. Carl Darling Buck, The Greek Dialects, Chicago/London 1955 (4. Abdruck 1968). Pierre Chantraine, Dictionnaire etymologique de la langue grecque, Paris 1968-1980. Pierre Chantraine, Grammaire homerique, I3 Paris 1958, II 1953. Emilio Crespo, Elementos antiguos у modernos en la prosodia homerica, Salamanca 1977. Η. Ebeling, Lexicon Homericum, I Leipzig 1885, II 1880. Hjalmar Frisk, Griechisches etymologisches Wörterbuch, I Heidelberg 1960, II 1970, III 1972. A. Hoekstra, Homeric Modifications of Formulaic Prototypes, Amsterdam 2 1969. Journal of Hellenic Studies. Manu Leumann, Homerische Wörter, Basel 1950. Manu Leumann, Kleine Schriften, Zürich/Stuttgart 1959. Lexikon des frühgriechischen Epos, Göttingen 1955 ff. Homeri carmina, rec. Arthurus Ludwich, 4 Bände, Leipzig 1889-1907. Karl Meister, Die homerische Kunstsprache, Leipzig 1921.

103) Beide zeigen jedenfalls eine freiere Verwendung: Έ κ τ . steht noch bei ιερόν (К 46), κεφαλή (Ω276. 579), χιτών (В 416), Νεστ. noch bei άσπίς (Θ 192). 104) Forschungslücken sollen an dieser Stelle nicht aufgezählt werden. Doch sei daraufhingewiesen, daß bis heute auch wichtige Nachschlagewerke zur homerischen Sprache fehlen, ζ. B. eine vollständige Homergrammatik und eine erschöpfende Bibliographie.

288 Miller, H o m e r

Bernhard Forssman

D. Gary Miller, H o m e r and the Ionian epic tradition, Innsbruck 1982. MSS Münchener Studien zur Sprachwissenschaft. Ernst Risch, Kleine Schriften, Berlin/New York 1981. Risch, Kl. Sehr. Ernst Risch, Wortbildung der homerischen Sprache, Berlin/ Risch, Wortb. N e w York 2 1974. Schulze, Kl. Sehr. Wilhelm Schulze, Kleine Schriften, Göttingen 2 1966. Schulze, Q . Wilhelm Schulze, Quaestiones epicae, Gütersloh 1892. Schwyzer, Griech. G r a m m . I Eduard Schwyzer, Griechische Grammatik, 1. Band, München 1939. Schwyzer/Debrunner, Eduard Schwyzer/Albert Debrunner, Griechische Grammatik, Griech. G r a m m . II 2. Band, München 1950. Shipp, Studies G. P. Shipp, Studies in the Language o f Homer, C a m b r i d g e 2 1972. Sommer, Nachlaß Ferdinand Sommer, Schriften aus dem Nachlaß, München 1977. Albert T h u m b / A n t o n Scherer, Handbuch der griechischen Thumb/Scherer Dialekte, 2. Teil, Heidelberg 2 1959. Tichy, O n o m a t o p . Verb. Eva Tichy, Onomatopoetische Verbalbildungen des Griechischen, Wien 1983. J. Wackernagel, Kl. Sehr. J a c o b Wackernagel, Kleine Schriften, Göttingen 1955-1979. J . Wackernagel, Unt. J a c o b Wackernagel, Sprachliche Untersuchungen zu Homer, Göttingen 1916. Wathelet, Traits eoliens Paul Wathelet, Les traits eoliens dans la langue de l'epopee grecque, R o m 1970. West 1988 M . L . West, T h e rise o f the Greek epic, J H S 108, 1988, 151-172. Kurt Witte, Zur homerischen Sprache, Darmstadt 1972 (AufWitte satzsammlung, aber leider unvollständig, ohne Register, ohne Schriftenverzeichnis).

ANTONI'N

BARTONEK

Die Erforschung des Verhältnisses des mykenischen Griechisch zur homerischen Sprachform

l Die Vorstellungen über die in den homerischen Gedichten dargestellte Welt haben sich im Laufe der vergangenen Jahrhunderte über drei Phasen zum heutigen Kenntnisstand entwickelt. Diese Phasen sind durch die folgenden drei Realitätsstufen gekennzeichnet: 1) Die erste Stufe ist durch eine noch recht vage Realitätsvorstellung charakterisiert, die sich zu Zeiten von F. A. Wolf noch auf kein anderes Fundament als auf die etwa 28 000 griechischen Verse beider Epen stützen konnte; unter diesen schien sich zwar ein fester Nukleus zu verbergen; dieser w u r d e jedoch, wie es schien, von einer so großen M e n g e instabiler Elektronen der dichterischen Phantasie mehrerer Sängergenerationen umkreist, daß m a n nicht genau erkennen konnte, w o der Kern endet und w o das Apeiron der Phantasie beginnt. 2) D u r c h die epochale Entdeckung bronzezeitlicher Zentren im ganzen ägäischen R a u m (mit Schliemann in den 70er Jahren des 19.Jahrhunderts beginnend) trat die neue, konkretere, doch zugleich noch i m m e r a n o n y m e Realität der materiellen Funde ins Leben; die Ruinen von Troia, Mykene, Tiryns, Knossos, Pylos, Theben usw. nehmen seitdem zwar einen festen Platz im räumlichen u n d zeitlichen Milieu der spätbronzezeitlichen Zivilisation ein, sie sind jedoch stumm geblieben und können k a u m etwas Näheres über die ethnische H e r k u n f t ihrer Herrscher, über deren Sprache oder über die konkreten B e w o h n e r der bronzezeitlichen Paläste aussagen. 3) Diese Anonymität w u r d e erst 1952 durchbrochen. In diesem Jahr w u r d e die jüngste der drei altkretischen Schriftarten - seit 1900 von A.J. Evans im kretischen Knossos, später von mehreren anderen Forschern auch auf dem helladischen Festland entdeckt und von Evans Linear B-Schrift benannt — von M . Ventris und J. C h a d w i c k entschlüsselt, mit dem überraschenden Resultat, daß sich dahinter ein hochaltertümlicher griechischer Dialekt verbarg, der bemerkenswerte Parallelen mit der homerischen Sprache aufweist. Dadurch entstand eine völlig neue Realitätstatsache: die sprechende Realität der zeitgenössischen Schriftdokumente. Trotz gewisser Defizite und bestimmter Einschränkungen ist deren Aussagekraft

290

Antonin Bartonek

ziemlich hoch, so daß damit ein ganz neuer Ausgangspunkt fur das Studium der frühgriechischen Gesellschaft, Kultur und Sprache entstanden ist. *

Die erste Stellungnahme zum Verhältnis zwischen dem mykenischen Dialekt und der homerischen Sprache findet sich bereits bei den Entzifferern Ventris und Chadwick in ihrer im Jahre 1953 erschienenen Entdeckungsstudie Evidence for Greek Dialect in the Mycenaean

Archives,

in: J H S 73, 1953, 84—103, in der die

Verfasser auf die Existenz wichtiger Parallelen zwischen dem Mykenischen, dem Arkadokyprischen und der homerischen Sprache hinwiesen: Unter dem Einfluß der damals herrschenden Hypothese einer achäisch-äolischen genetischen Einheit ordneten sie sowohl das Arkadokyprische als auch das Mykenische eben dieser heute von den meisten Forschern bestrittenen Dialektgruppe zu. Nachdem jedoch E. Risch in seinem epochemachenden Artikel Die Gliederung der griechischen Dialekte

in neuer Sicht, in: M H 12, 1955, 61—76 (in Ü b e r e i n s t i m m u n g m i t W .

Porzig, Sprachgeographische Untersuchungen, IF 61, 1954, 147—169) das ProtoÄolische und das Dorische dem Nordgriechischen, das Arkadokyprische, das Mykenische und das Proto-Ionische hingegen dem Südgriechischen zugesprochen hatte, Schloß sich Chadwick in dem Aufsatz The Greek Dialects and Greek PreHistory, in: Greece and Rome 3, 1956, 38—50, der Rischschen Hypothese im Prinzip an; auch in der ersten Auflage der Documents in Mycenaean Greek, Cambridge 1956, die er noch zusammen mit Ventris herausgab, betonte Chadwick das enge Verhältnis des Mykenischen zum Arkado-Kyprischen. In dieser Monographie (die zugleich die erste größere Chrestomathie der mykenischen Texte darstellt), finden sich auch bereits, wenngleich noch etwas zerstreut, mehrere fundamentale Einsichten über die sprachlichen Übereinstimmungen zwischen dem mykenischen und dem homerischen Griechisch (besonders über die Wortparallelen im Bereich der Personennamen). Eine gründliche vergleichende Analyse der Appellativa, die bei Homer und zugleich im Mykenischen bezeugt sind, hat Chadwick dann in der Studie Mycenaean Elements in the Homeric Dialect, in: Minoica, Festschrift J. Sundwall, Berlin 1958, 116-122, vorgenommen und als Ergebnis ein Verzeichnis von 37 sicheren homerischen Wörtern dieser Art vorgelegt. Etwa zur selben Zeit wurde das Interesse für die sprachliche Frühgeschichte des Griechischen auch durch neue Theorien auf dem Gebiet der Sprachform der frühgriechischen Epik gestärkt. Im Jahre 1957 erschienen zwei Monographien, in denen die Bedeutung der Äolismen in der homerischen Sprache kritisch beurteilt wurde: noch ohne Zusammenhang mit der LB-Entzifferung K. Strunk, Die sogenannten Äolismen der homerischen Sprache, K ö l n 1957, u n d m i t deren voller A u s n u t z u n g C . J . R u i j g h , L'element acheen dans la langue epique, Assen 1957. In der

letztgenannten Monographie wurde die interessante Hypothese aufgestellt, daß viele der ,poetischen' Wörter bei Homer wertvolle Spuren einer alten, achäisch-

Das Verhältnis des m y k e n i s c h e n Griechisch z u r h o m e r i s c h e n S p r a c h f o r m

291

mykenischcn Sprachschicht in der Entwicklung der griechischen Dichtkunst darstellen — wie es übrigens früher schon A. Fick, A. Meillet und С. M . B o w r a vorausgeahnt hatten. Diese Anerkennung einer achäischen Schicht in der frühgriechischen epischen Dichtersprache — neben einer äolischen — fand ein positives Echo auch beim Nestor der zeitgenössischen H o m e r o l o g e n Pierre Chantraine, der in der dritten Auflage seiner Grammaire homerique, Paris 1958, einen relativ akzeptablen K o m p r o m i ß vorschlug, indem er die Anzahl der Äolismen zugunsten der Achäismen beträchtlich reduzierte, wenngleich auch er sie nicht für gleich Null erklärte. Isoliert ist die Position von G. P. Shipp geblieben, der in seinen Essays in Mycenaean and Homeric Greek, Melbourne 1962 bzw. 1972, fast alle nichtionischen Elemente in H o m e r s Gedichten fur äolisch erklärte. Die zweite Hälfte der 50er Jahre bot im Prinzip recht günstige Bedingungen für sprachliche Analysen dieser Art: N e b e n der erwähnten Chrestomathie der LB-Texte in den Documents von Ventris u n d Chadwick (1956) wurden bereits die ersten Gesamteditionen des Materials von den wichtigsten Fundorten herausgegeben (vor allem R . B r o w n i n g , The Linear В Tablets from Knossos, BICS Suppl. 1, London 1953; E. L. Bennett — M . Ventris — J. Chadwick, The Knossos Tablets, Princeton 1955; Bennett, Mycenae Tablets I and II, Proc. of the APS 97:4, 1953, bzw. Trans, of the APS 48:1, 1958 — einschließlich der in den 50er Jahren in Pylos und M y k e n e entdeckten neuen Inschriften). Daneben erschienen auch bereits die ersten Indizes von Linear B - W ö r t e r n (Bennett, A Minoan Linear В Index, N e w Haven 1953; P. Meriggi, Glossario miceneo [Minoico В], Torino 1955), denen im Jahre 1960 die erste, bisher jedoch leider einzige ausführliche mykenische Grammatik folgte (E. Vilborg, A Tentative Grammar of Mycenaean Greek, Göteborg 1958) — neben einem kürzeren Abriß des Mykenischen bei A. T h u m b — Α. Scherer, Handbuch der griechischen Dialekte II, Heidelberg 1959. Diese J a h r e w a r e n zugleich die P e r i o d e einer leidenschaftlichen K o n t r o v e r s e ü b e r die R i c h t i g k e i t der Ventrisschen E n t z i f f e r u n g . Sie flammte k u r z v o r d e m tragischen A b l e b e n v o n Ventris i m J a h r e 1956 auf, w u r d e besonders v o n drei G e l e h r t e n schottischer u n d deutscher H e r k u n f t g e n ä h r t (A.J. Beattie 1955, E. G r u m a c h 1956, W . Eilers 1956) u n d ist erst g e g e n E n d e der 50er J a h r e d u r c h eine k o n z e n t r i e r t e A r g u m e n t a t i o n der E n t z i f f e r u n g s a n h ä n g e r definitiv erloschen. Diese A u s e i n a n d e r s e t z u n g h a t t e allerdings auch ein w i c h t i g e s positives Ergebnis: sie hat j e n e aus d e m m y k e n o l o g i s c h e n H o r i z o n t v e r t r i e b e n , die i m ersten E n t h u s i a s m u s bereit w a r e n , alles M ö g l i c h e u n d U n m ö g l i c h e aus den m y k e n i s c h e n T e x t e n herauszulesen.

Z u Beginn der 60er Jahre hatte sich die Mykenologie bereits als selbständige Teildisziplin der Altertumswissenschaft etabliert. Es war eine Disziplin, die sich einerseits i m m e r stärker verschiedener für die Klassische Philologie typischer Methoden bediente, andererseits jedoch imstande war, die mykenischen Fakten in breitere sowohl räumliche als auch zeitliche historische Z u s a m m e n h ä n g e einzuordnen. So vermochte sie eine neue Brücke v o m Griechentum zu den Kulturen des Orients aufzubauen — u n d zugleich den Beginn der griechischen Geschichte weit in das 2.Jahrtausend v. Chr. zurückzuverlegen (was gerade auch für die H o m e r f o r s c h u n g von besonderer Wichtigkeit war und ist).

292

Antonin Bartonek

Im Bereich der altgriechischen Dialektologie gelangte m a n i m Laufe der sechziger J a h r e über den Vergleich des Mykenischen mit einzelnen grichischen Dialektg r u p p e n (Arkadisch-Kyprisch, Ionisch, Äolisch) z u m K o n z e p t einer mykenischen Koine: v o n der ionisch-äolischen Mischsprache V. Georgievs (1956. 1960 usw.), die sich rasch als T ä u s c h u n g erwies, über die ersten E r w ä g u n g e n des Mykenischen als einer Kanzleisprache u n d über die Rischsche U n t e r s c h e i d u n g eines mycenien normal u n d eines mycenien special (Risch, Les differences dialectales dans le mycenien, Proc. of the C a m b r i d g e Coll. on М у с . Studies, 1965 [1966], 150-157) bis z u m K o n z e p t eines mykenischen Interdialektes, das ich i m Z u s a m m e n h a n g m i t der B r ü n n e r M y k e n o l o g i s c h e n U m f r a g e (A. B a r t o n e k , On the Greek Dialectology after the Decipherment of Linear B, bzw. Dialectal Classification of Mycenaean in the Opinion of Various Scholars, Studia Mycenaea 1966 [Brno 1968], pp. 3 7 - 5 1 , bzw. 155-210) etwa f o l g e n d e r m a ß e n zu f o r m u l i e r e n versucht habe: (1) Das M y k e n i s c h e scheint eng v e r w a n d t , aber nicht völlig identisch m i t d e m Vorläufer des Arkadisch-Kyprischen zu sein; zugleich ist es in gewisser Weise auch mit d e m Vorläufer des Ionisch-Attischen v e r b u n d e n ; mit d e m Äolischen scheint es h i n g e g e n n u r durch einige genetisch irrelevante B a n d e lose v e r k n ü p f t . (2) Das Mykenische k a n n als eine auf der protoarkadisch-kyprischen G r u n d l a g e b e r u h e n d e ü b e r m u n d a r t l i c h e K o i n e - F o r m aufgefaßt w e r d e n , deren Existenz mit d e m Verfall der Kultur, der sie gedient hat, beendet w u r d e . Ein Teil dieser U m f r a g e w u r d e auch der homerischen Sprache g e w i d m e t (Studia Mycenaea, S. 198ff.). D i e meisten Teilnehmer r ä u m t e n eine bereits mykenische Existenz der frühgriechischen epischen ,oral p o e t r y ' ein, w o b e i sie größtenteils in deren weiterer E n t w i c k l u n g zunächst mit einer äolischen Phase (in Thessalien u n d später auf Lesbos) u n d danach mit einer ionischen Phase rechneten (v. a. R u i j g h , aber z . B . auch C h a d w i c k , der allerdings die homerische Sprache d u r c h eine Verschmelzung der ionischen epischen Tradition aus Ostattika u n d der aiolischen aus Thessalien entstehen ließ). A. H e u b e c k u n d einige andere sprachen sich dagegen eher skeptisch zur H y p o t h e s e eines W a n d e r w e g s der epischen Sprache v o m äolischen R a u m oder gar v o m achäischen Gebiet nach Ionien (mit oder o h n e U m w e g über die Äolis) aus. Im Laufe der 60er u n d 70er J a h r e w u r d e n rasch weitere wichtige Schritte zu einer vielseitigen Bewältigung des mykenischen Sprachmaterials gemacht: N e u e n t deckte LB-Texte aus T h e b e n w u r d e n veröffentlicht (J. C h a d w i c k , Linear В Tablets from Thebes, in: M i n o s 1 0 , 1 9 7 0 , 1 1 5 - 1 3 7 ; T h . S p y r o p o u l o s - J . C h a d w i c k , Thebes Tablets II, Minos, Suppl. 4, 1975; L. G o d a r t — A. Sacconi, Les tablettes en lineaire В de Thebes, R o m a 1978 [eine Gesamtedition]), u n d ältere Editionen w u r d e n vervollständigt (v. a.J. C h a d w i c k — J . T . Killen—J.-P. Olivier, The Knossos Tablets4, C a m b r i d g e 1971; E . L . B e n n e t t — J . - P . Olivier, The Pylos Tablets Transcribed I—II, R o m a 1973. 1976; J.-P. Olivier, The Mycenae Tablets IV, Leiden 1969; Α. Sacconi, Corpus delle iscrizioni in lineare В di Micene, R o m a 1974; A. Sacconi, Corpus delle iscrizioni vascolari in lineare B, R o m a 1974) — w o b e i teils in diesen, teils in anderen

Das Verhältnis des mykenischen Griechisch zur homerischen Sprachform

293

Publikationen und Aufsätzen auch schon verschiedene wichtige textkritische und epigraphische Phänomene erörtert w u r d e n (Schreiberhände, Z u s a m m e n f u h r u n g [JointsJ von Fragmenten u.a.). In Zeitschriftenaufsätzen w u r d e n gleichzeitig bereits die ersten inzwischen gefundenen Täfeichenfragmente aus Tiryns veröffentlicht (ab 1970). Im selben Zeitraum erschienen auch mehrere nützliche Einführungen verschiedener Art, teilweise mit Interpretationen ausgewählter Texte, besonders weitere Monographien von J. Chadwick (Decipherment of Linear В, C a m b r i d g e 1958, mit Ubersetzungen in verschiedene Sprachen, vor allen aber seine grundlegende Monographie auf diesem Gebiet The Mycenaean World, C a m b r i d g e 1976, deutsch: Die mykenische Welt, Stuttgart : Reclam 1979), sowie Monographien von L. R . Palmer (Mycenaeans and Minoans, London 1961. 1965; The Interpretation of Mycenaean Greek Texts, O x f o r d 1963), daneben mehrere Einführungen und Darstellungen aus der Feder anderer Gelehrter. Z u erwähnen sind hier z.B.: L. Deroy, Initiation α ΐepigraphie mycenienne, R o m e 1962; Μ . Doria, Avviamento alio Studio del miceneo, R o m a 1965; A. Heubeck, Aus der Welt der frühgriechischen Lineartafeln, Göttingen 1966; J. Kerschensteiner, Die mykenische Welt in ihren schriftlichen Zeugnissen, M ü n c h e n 1970; St. D o w - J . Chadwick, The Linear Scripts as Historical Documents, С А Н II l 3 , 582-608, C a m b r i d g e 1973; S. Hiller - O . Panagl, Die frühgriechischen Texte aus mykenischer Zeit, Darmstadt 1976; J.T. Hooker, Linear B, London 1980. Zugleich entstanden wichtige Indizes der Linear B - W ö r t e r , vor allem A. M o r purgo, Mycenaeae Graecitatis Lexicon, R o m a 1963 (mit ca. 5800 syllabischen W o r t formen); M . Lejeune, Index inverse du grec mycenien, Paris 1964; J.-P. Olivier — L. Godart - C. Seydel - C. Sourvinou, Index generaux du lineaire B, R o m e 1973 (mit ca. 550Q syllabischen Wortformen); alle drei Publikationen bieten jedoch keine phonetischen Wortdeutungen. D e m g e g e n ü b e r sind im Wörterverzeichnis der zweiten, beträchtlich erweiterten Auflage von M . Ventris' und J. Chadwicks Documents, C a m b r i d g e 1973, die 3167 syllabischen lexikalischen Einheiten dieses Wortindex größtenteils mit mehr oder weniger sicheren phonetischen Interpretationen ausgestattet. Ein praktisches Verzeichnis verläßlicher alphabetischer D e u tungen mykenischer W ö r t e r haben außerdem J. Chadwick und L. Baumbach (bzw. nur L. Baumbach) in zwei instruktiven Aufsätzen The Mycenaean Greek Vocabulary I—II, in: Glotta 1963, 157ff., u n d 1972, 151 ff., zusammengestellt, w o die Gesamtsumme von 674 lexikalischen Einheiten (Lemmata) mit 1157 W o r t f o r m e n erscheint. E r w ä h n t sei, daß, w ä h r e n d man in H . Frisks Griechischem Etymologischen Wörterbuch, Heidelberg 1954—70, nur etwa 150 Linear B - W ö r t e r n begegnet, P. Chantraine in seinem Dictionnaire etymologique de la langue grecque (DELG), Paris 1968-80, nicht w e n i g e r als 844 Linear B W o r t f o r m e n unter den ca. 600 alphabetischen L e m m a t a a n f u h r t .

Inzwischen waren auch mehrere wichtige grammatische Abhandlungen erschienen, unter ihnen vor allem C. J. Ruijgh, Etudes sur la grammaire et le vocabulaire du grec

294 mycenien,

Antonin Bartonek A m s t e r d a m 1 9 6 7 ; S. L u r j a , Die

K l i o 1 9 6 4 , 5 ff.; M . L e j e u n e , Phonetique

Sprache

historique

der mykenischen

du mycenien

Inschriften,

et dugrec

ancien,

in: Paris

1972; E. Risch, Wortbildung der homerischen Sprache2 (mit etwa 317 Linear B -

Parallelen); einige grundlegende grammatische Aufsätze sind außerdem in Studi micenei ed egeo-anatolici, fascicolo XX, pubblicato all'occasione del 25° anniversario della decifrazione della lineare B, Roma 1979, erschienen — jedoch hatte auch jetzt wieder keine dieser Studien die Form einer systematischen und deskriptiven Grammatik des mykenischen Dialekts, durch die die inzwischen veraltete Grammatik von E. Vilborg aus dem Jahre 1960 hätte ersetzt werden können. Die wichtigste Publikation auf grammatischem Gebiet war ohne Zweifel die von M. Lejeune verfaßte historische Formenlehre (1972), die den Forschern einen tieferen und plastischeren Einblick in das bisher schwer zugängliche Gewirr der voralphabetischen Lauterscheinungen ermöglichte. Lejeune war imstande, wenigstens 10 sichere voralphabetische Laut-Erscheinungen als eindeutig vormykenisch (besser gesagt .vorlinear'), 8 als wahrscheinlich vormykenisch, 3 als in die Zeit der Linear B-Inschriften fallend, 11 als eindeutig nachmykenisch und 6 als wahrscheinlich nachmykenisch zu klassifizieren. In den 70er Jahren haben dann w e i t e r e F o r s c h e r , w i e E . R i s c h , Les consonnes

palatalisees

dans le grec du 2e mill,

et

des premiers siecles du ier mill., Colloquium Mycenaeum Chaumont 1975 (Neuchätel 1979), 267—281, A. Bartonek, On the Chronology Language,

E i r e n e 1 9 7 8 , 41—50, b z w . On the Prehistory

1 9 8 7 , 7—22, M . D o r i a , Riflessioni

sulla cronologia

in the Prehistory of Greek of Ancient

relativa

Greek,

S M E A 26,

di alcuni mutamenti

fonetici

delgrecopremiceneo, Studia mediterranea P. Meriggi dedicata, Pavia 1979,121—144, u.a., diese Untersuchungen fortgeführt und in ein chronologisches Gerüst einzugliedern versucht. 1982 habe ich selbst den Versuch unternommen (A. Bartonek, The Main

Periods

of Early

Greek

Linguistic

Development,

Concilium Eirene X V I ,

Vol. 3, Praha 1982[—1983], 69—74), unter Anwendung eines derartigen chronologischen Gerüstes die Periodisierung der sprachlischen Frühgeschichte des Altgriechischen zu entwerfen, indem ich die wichtigsten voralphabetischen Lauterscheinungen in sechs verschiedene Teilperioden des 2. bzw. des beginnenden 1 .Jahrtausends v. Chr. aufgeteilt habe. Etwas isoliert blieb dagegen die im Jahre 1976 zum erstenmal dargelegte Hypothese von J. Chadwick (Who Were the Dorians? In: La Parola del Passato 156, 1 9 7 6 , 1 0 3 — 1 1 7 ; Beitrag der Sprachwissenschaft

zur Rekonstruktion

der

griechischen

Frühgeschichte, Anz. der phil.-hist. Klasse der Österr. Akad. der Wiss., 113.Jahrg., 1976, Sp. 183-198). Chadwick faßte das Mykenische der LB-Texte mit Neuerungsformen wie pheronsi als das griechische Idiom der höheren achäischen Gesellschaftsschichten in den mykenischen Zentren auf, das durch das kretisch-minoische Substrat beeinflußt worden sei; dagegen sollen die niederen Schichten der örtlichen griechischen Bevölkerung auch weiterhin (d.h. während des 14. und 13.Jahrhunderts) das rein archaische Griechisch mit Formen wie pheronti gesprochen haben, das dem Protogriechischen aus der Zeit der gesamtgriechischen Einwanderung

Das Verhältnis des mykenischen Griechisch zur homerischen Sprachform

295

nahestand. D e r U n t e r g a n g der mykenischen Paläste u m 1200 v . C h r . bedeutete dann nach C h a d w i c k einen starken R ü c k g a n g des M y k e n i s c h e n als I d i o m der höheren Schichten, was auf der anderen Seite den G e b r a u c h des archaischen Griechisch der niederen Schichten erhöhte, d. h. den Einfluß einer F o r m a t i o n , die traditionell als P r o t o d o r i s c h oder Gemeindorisch bezeichnet w i r d . Die C h a d w i c k sche H y p o t h e s e b o t auf diese Weise die Möglichkeit an, o h n e die A n n a h m e einer dorischen M a s s e n e i n w a n d e r u n g a u s z u k o m m e n , deren Historizität heute j a v o n einigen Archäologen angezweifelt w i r d . Die Linguisten zeigten sich allerdings v o n dieser H y p o t h e s e k a u m befriedigt; v o r allem entspricht die C h a d w i c k s c h e Auffassung der mykenischen Hochstilsprache mit sprachlich fortgeschrittenen lautlichen F o r m e n (z.B. mit der 3 . P e r s o n Plur. pheronsi) nicht der linguistischen E r f a h r u n g , daß sich die progressiveren S p r a c h f o r m e n eher in den niederen B e v ö l kerungsschichten durchsetzen, w ä h r e n d die Hochstilsprache meistens konservative Z ü g e b e w a h r t .

• A n f a n g der 70er J a h r e k a m e n auch einige M o n o g r a p h i e n heraus, die sich speziell mit der H e r a u s b i l d u n g der frühgriechischen epischen Sprache unter Berücksicht i g u n g der mykenologischen Ergebnisse befaßten. P. Wathelet, der sich bereits f r ü h e r m i t verschiedenen Aspekten der homerischen Sprache beschäftigt hatte, hat in seinem B u c h Les traits eoliens dans la langue de l'epopee grecque, R o m e 1970, die P r o b l e m a t i k der Äolismen bei H o m e r einer gründlichen U n t e r s u c h u n g u n t e r z o g e n u n d die Anzahl der echten, eindeutigen Äolismen entsprechend r e d u ziert. Sie seien thessalisch-lesbischer Provenienz u n d repräsentierten den sprachlichen Reflex einer zweiten, äolischen Entwicklungsphase der frühgriechischen epischen Aktivität, welche nach der Z e r s t ö r u n g der peloponnesisch-mykenischen Machtzentren an die älteste achäische G r u n d p h a s e a n g e k n ü p f t habe. Z e h n J a h r e später hat derselbe A u t o r in seinem Aufsatz La langue homerique et le rayonnement litteraire de l'Eubee, L'Antiquite Classique 50,1981, 819—833, auch den sogenannten Attizismen seine A u f m e r k s a m k e i t z u g e w a n d t u n d ist zu d e m Schluß g e k o m m e n , daß es sich — w e n n m a n v o n den metrisch irrelevanten attischen Varianten absieht, die m a n offensichtlich mit R e c h t f ü r Spuren einer späteren attischen Rezension hält — e n t w e d e r u m allgemein erhaltene Archaismen oder u m sporadische Euboism e n handelt, die eine s o w o h l ö k o n o m i s c h e als auch kulturelle Blütezeit in einigen euboischen Z e n t r e n widerspiegeln (neben Wathelets Chalkis u n d Eretria w ü r d e ich h e u t e v o r allem Lefkandi m i t seinem überraschenden R e i c h t u m an signifikanten archäologischen Funden aus der Zeit der d u n k l e n J a h r h u n d e r t e h e r v o r h e b e n ) . D i e Traditionen der frühgriechischen Dichtersprache sind in d i r e k t e m Bezug zur L B - P r o b l e m a t i k v o r allem in der M o n o g r a p h i e v o n M . D u r a n t e Sulla preistoria della tradizione poetica greca, R o m a 1971—75, besprochen, in deren erstem B a n d die Spuren der mykenischen dichterischen Tradition bis in die Zeit der ersten alphabetischen Texte h i n u n t e r v e r f o l g t w e r d e n . Für unser T h e m a sind besonders

296

Antonin Bartonek

Durantes Überlegungen zum Verhältnis des mykenischen und homerischen Wortschatzes von Wichtigkeit. Es werden nicht nur verschiedene Parallelen behandelt, sondern vor allem homerische Wörter, die recht alt gewesen sein müssen, im Mykenischen aber fehlen, z.B. άορ .Schwert', φώς ,Mann?, βνός ,Bogen'. Für einige andere von Durante angeführte hocharchaische homerische Wörter hat man jedoch inzwischen interessante mykenische Parallelen ausgemacht (z.B. deko-to dekto? neben de-ka-sa-to deksato, vgl. δέκτο Horn., II. 15,88; do-de dö(n)de ,ins Haus von ...', vgl. δώ Н о т . , II. 1,426); daraus kann man schließen, daß auch in anderen Fällen das Fehlen eventueller mykenischer Äquivalente durch den LBDokumentationsmangel verursacht sein kann. Unter den übrigen Untersuchungen der 70er Jahre seien wenigstens noch folgende erwähnt: R . Hiersche hat in seiner Studie Die Sprache Homers im Lichte neuer Forschungen, Innsbrucker Beiträge zur Sprachwissenschaft, Innsbruck 1972, versucht, die von Ruijgh angeführten achäischen Elemente innerhalb der homerischen Diktion weiter zu vermehren. E. Risch hat im Artikel Les traits nonhomeriques chez Homere, Melanges Pierre Chantraine, Paris 1972, S. 191—198, eine Liste von Wörtern zusammengestellt, die seiner Ansicht nach der Umgangssprache des Dichters angehört haben, aber von ihm aus stilistischen Gründen nicht in sein Vokabular aufgenommen worden sind (vgl. A. Heubeck, Gymnasium 1982, 388f.). U n d P. Wathelet hat einige weitere kleine Untersuchungen publiziert (AC 46, 1977, 158—164 [die mykenisch-homerische Form ξύν sei älter als σύν]; Ziva antika 29,1979, 25—40 [über die semantische Entwicklung von αναξ und βασιλεύς bis in die homerische Zeit]). Erwähnenswert sind aus dieser Zeit auch einige Untersuchungen über die metrische Dehnung in der epischen Sprache; vgl. z.B. W. F. Wyatt Jr., Metrical Lengthening in Homer, Rome 1969, und A. Hoekstra, Metrical

Lengthening

in Epic Diction,

in: M n e m o s y n e 31, 1978, 1—26. *

In den 80er Jahren hat sich dann das Interesse für die sprachwissenschaftlich und zugleich mehr oder weniger mykenologisch orientierte Erforschung der homerischen Sprache noch weiter vertieft. Gänzlich skeptische Worte über die Existenz homerischer Äolismen kann man in der letzten Zeit wohl nur bei D. Gary Miller, Homer and the Ionian Epic Tradition, Innsbruck 1982, finden: es handelt sich nach seiner Ansicht meist um alte Wortformen, die im Prinzip alle zur ionischen epischen Tradition gehörten. Zugleich lehnt der Autor die Anerkennung einer äolischen Phase in der Entwicklung der frühgriechischen Epik entschieden ab. Eine skeptische Haltung haben aber auch andere Forscher eingenommen, vor a l l e m W . F. W y a t t Jr., Aeolic

Reflexes

of Labiovelars

in Homer,

G R B S 16, 1975,

251—263, bzw. Homer's Linguistic Ancestors, Epet. Epist. Thess. 14, 1975, 131-147, u n d A . H e u b e c k , Zur neueren Homer-Forschung

(VII),

in: G y m n a s i u m 1982, 3 8 8 f.

Die homerischen Äolismen betrachten beide Forscher als sprachliche Elemente,

Das Verhältnis des mykenischen Griechisch zur homerischen Sprachform

297

die sekundär in die epische Sprache eingedrungen seien — in j e n e Sprache, die sich „in nachmykenischer Zeit in Ionien gebildet und eine Reihe von urionischen Formen bewahrt habe" (so Heubecks zustimmendes Referat der These von Wyatt). Dieser klaren Absage an die Existenz einer äolischen Phase steht auf der anderen Seite eine gewisse Uberschätzung äolischer Komponenten im Mykenischen gegenüber, wie man sie bei M. Negri in seiner in vieler Hinsicht anregenden Studie Miceneo e lingua omerica, Firenze 1981 beobachten kann. Negri faßt das Mykenische der L B - D o k u m e n t e — beinahe im Sinne von V. Georgiev — als eine hochentwikkelte griechische Mischsprache mit sowohl paläoionischen als auch paläoäolischen Elementen auf, ohne in Erwägung zu ziehen, daß die Entstehung des Äolischen als einer selbständigen Dialektgruppe nicht allzu hoch hinaufdatiert werden muß (vgl. J . L . Garcia R a m o n , Les origines postmyceniennes du groupe dialectal eolien, Salamanca 1975, der die Entstehung des Äolischen sogar für nachmykenisch hält). Diese mykenische Mischsprache stellt Negri zugleich als eine Schicht dar, in der die homerische Sprache ihren Anfang nahm — wobei er allerdings zwischen diesen beiden Formationen recht unterschiedlicher Funktion und auch verschiedener Blütezeit eine viel zu direkte Verbindungslinie zieht, ohne einen U m w e g über das Lesbisch-Äolische suchen zu wollen (dazu und zu anderen Ansichten Negris vgl. v. a. C. Brillante, Sul dialetto miceneo e la lingua epica, Quad. U r b . cult, class. 51, 1986,145—156; neuerdings hat Negri seine Thesen in der Studie PURO, The lezioni di micenologia, Milano 1988, verteidigt, ohne jedoch andere Ansichten aus dem B e reich der neuesten Homerforschung in genügendem Maße zu berücksichtigen). Einen neuen, durch konkretes sprachliches Material und umfassende Argumentation abgesicherten Mittelweg zwischen den Skeptikern (wie Heubeck) und den Verfechtern mehrerer epischer Schichten (wie Ruijgh und Wathelet) hat zur Erforschung der homerischen Sprache F. Rodriguez Adrados eingeschlagen, und zwar in seinen Aufsätzen Micenico, dialectos paramicenicos у aqueo epico, Emerita 44, 1976, 3 8 - 5 0 , La creaciön de los dialectos griegos del primer milenio, Emerita 44, 1976, 245—278, und Towards a New Stratigraphy of the Homeric Dialect, in: Glotta 59, 1981, 13—27. Auch Adrados lehnt die Theorie von aufeinanderfolgenden sprachlichen Schichten in der Entwicklung der epischen Sprache ab, doch hält er die epische Sprachform für eine genuine traditionelle Dichterkunstsprache südgriechischen Charakters („Epic Achaean"), mit breiten Möglichkeiten der Auswahl aus Dubletten unterschiedlichen (d.h. nicht nur mundartlichen) U r sprungs und verschiedenen Alters. A u f diese Weise tritt bei Adrados — unter Beibehaltung traditioneller Termini wie Ionismen und Äolismen (bzw. Lesbismen) - das Moment der subjektiven Kreativität mehrerer Sängergenerationen in den Vordergrund; nicht wenige dieser Sänger hätten eine sprachlich-stilistische Variation zweifellos höher geschätzt als die strikte Einhaltung irgendeines reinen Dialektes.



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Antonin Bartonek

In der jüngsten Zeit ist auch die Hypothese der drei Entwicklungsphasen in der Geschichte der frühgriechischen Dichtersprache auf interessante Weise wieder aufgefrischt worden. C . J . Ruijgh hat in der Studie Le mycenien et Homere (Y. Duhoux — A. Morpurgo—Davies, Linear B: a Survey 1984, B C I L L 26, Louvainla-Neuve 1985, 143—190) seine ältere These modifiziert, indem er nun seine einstigen drei Grundphasen noch weiter aufteilt: 1 a: mycenien prehistorique, 1 b: mycenien historique, 2 a: eolien continental, 2 b: eolien oriental = lesbien, 3: ionien oriental. Die Entstehung jeder neuen Phase wird von Ruijgh als Übergang von einem primär panhellenischen Strom zu einem lokalen Zweig dargestellt: Die mykenische epische Poesie gilt als primärer Strom für die sekundären äolischen Zweige in Böotien und Ostthessalien; diese sind dann nach der Zerstörung der mykenischen Paläste zum Hauptstrom der epischen Poesie geworden und gelangten im Laufe der Zeit mit den äolischen Kolonisten nach Kleinasien. Hier hat sich bald ein sekundärer ionischer Zweig herausgebildet, der im Zusammenhang mit dem ökonomisch-politischen Aufstieg der Ionier allmählich zum Hauptstrom wurde. Ein lokaler Nebenzweig wäre inzwischen auf der Insel Euboia entstanden. Diese modifizierte Hypothese von Ruijgh stellt — trotz ihrer einigermaßen schematischen Gestaltung — das ζ. Z. am besten ausgearbeitete Modell der Theorie von den drei Entwicklungsphasen in der Geschichte der frühgriechischen epischen Diktion dar. Dabei können bei Ruijgh auch diejenigen Forscher, die die Existenz einer äolischen Phase bezweifeln, viele gute Argumente wenigstens für die Anerkennung eines mykenischen (d. h. altachäischen) Stadiums innerhalb des betreffenden Zeitraums finden. A u f Grund sowohl eigener als auch teilweise fremder Beobachtungen hat Ruijgh zugleich versucht, verschiedene Besonderheiten bzw. scheinbare Abweichungen in den homerischen Versen auf den mykenischen Lautzustand zurückzuführen (s.u. S.303ff.). Die Drei-Schichten-Theorie von Ruijgh wirkt freilich, wie gesagt, recht schematisch; die tatsächliche Kompliziertheit der Dinge dürfte sie kaum sachgerecht erfassen. Weniger Aufmerksamkeit hat das umfangreiche Verzeichnis mundartlicher Parallelen und Differenzen zwischen dem Mykenischen, der homerischen Sprache und einzelnen klassisch-griechischen Dialektgruppen gefunden, das G. Bonfante, II miceneo, il greco storico e Homero, Atti della Acc. Naz. dei Lincei, M e m . Cl. di Sc. m o r . Vol. X X V I I I , 1 9 8 4 - 1 9 8 6 , 1 8 1 - 2 1 1 , zusammengestellt hat. Sein Verdienst ist durch eine starke Subjektivität der linguistischen Ansichten, durch Mangel an Verständnis für eine größere Relevanz systemischer Phänomene sowie durch die einseitige Bevorzugung einiger heute nicht mehr vertretbarer Hypothesen geschwächt worden. Jedoch unterstreicht Bonfante mit vollem Recht die N o t wendigkeit, andere als nur arkadisch-kyprische und ionische Elemente zur besseren mundartlichen Auswertung des mykenischen Dialektes in größerem U m f a n g heranzuziehen. Diese außerordentlich reiche Tätigkeit im Bereich der Erforschung der homerischen Sprachform spielt sich auf dem Hintergrund einer sehr regen allgemeinen

Das Verhältnis des mykenischen Griechisch zur homerischen Sprachform

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homerologischen Aktivität ab. Viele Homerforscher haben sich bekanntlich in letzter Zeit verschiedener in der H o m e r f o r s c h u n g neuer methodologischer Verfahren bedient bzw. verschiedene spezifische Aspekte der frühgriechischen Dichtungsrenaissance unter mehr oder weniger direkter Berücksichtigung der LBErgebnisse neu untersucht: die Oral poetry-Theorie (A. Hoekstra, A . B . Lord, J . B . Hainsworth u.a.), die Neoanalyse (W. Kullmann), die Forschung zu Fragen der Frühphasen der griechischen Dichtersprache ( C . O . Pavese, M. L. West, R . Janko u. a.) bzw. der frühgriechischen Prosodie (B. Gentiii, P. Nannini, E. Crespo, N . Berg u.a.), die Retraktation des gesamten Komplexes der H o m e r f o r s c h u n g im allgemeinen (A. Heubeck, A. Dihle u.a.). Als besonders anregungsreich erscheint vor allem der neueste Aufsatz von M. L. West The Rise of the Greek Epic, J H S 108,1988,151-172, in dem die Entwicklung der epischen Sprache über die gesamte Zeitspanne zwischen etwa 1500 u n d 700 v. Chr. hinweg gründlich untersucht wird. Bereits aus derfrühmykenischen Periode werden hier etliche sprachliche P h ä n o m e n e angeführt, deren Spuren in den h o m e rischen Versen feststellbar sind (z.B. das Fortbestehen des sonantischen r). In der spätmykenischen Periode wird vor allem die Rolle von Thessalien in der Gestaltung der griechischen Epik betont; den meisten homerischen Äolismen werden jedoch eher lesbische Z ü g e zugesprochen. Gerade im lesbisch-kleinasiatischen R a u m dürften sich die Umrisse der troianischen Sage bereits im 11 .Jahrhundert v. Chr. abgehoben haben, zusammengesetzt sowohl aus heimischen als auch aus thessalischen Elementen. Das ionische Element in der epischen Sprache scheint dagegen zentral- oder westionischen Charakters gewesen zu sein und w a r w o h l ursprünglich auf der Insel Euboia zu Hause, die im 11.—9.Jahrhundert mit Südthessalien und über Skyros auch mit Lesbos in engem Kontakt stand (v. a. der euboiische Fürstensitz Lefkandi; auch der Schiffskatalog in der Ilias scheint an der Euboiischen Meerenge entstanden zu sein). D u r c h seine regen Kontakte zum Vorderen Orient in der Zeit der orientalisierenden Periode der frühgriechischen Kulturentwicklung (900-750; in Al Mina an der syrischen Küste; Zypern) ist dann nach West der euboiisch-attische R a u m um Chalkis, Eretria und Aulis z u m Ausgangspunkt der frühionischen epischen Ausstrahlung in die ostionischen kleinasiatischen Landschaften geworden. D u r c h Böotien und Euboia wären allerdings zugleich auch etliche westgriechische (d.h. dorische) Elemente in den homerischen Sprachgebrauch eingedrungen. 2 Im Vorstehenden w u r d e versucht, Entwicklung und heutigen Stand der m y k e n o logischen Forschung in größeren Z u s a m m e n h ä n g e n vorzuführen, u m so eine bessere Ausgangsbasis für das künftige Studium gemeinsamer Probleme zu schaffen. Dies scheint u m so notwendiger, als über einige wichtige Fragen bisher noch k a u m eine klare communis opinio besteht, vor allem nicht über die Entstehung

300

Antonin Bartonck

und Weiterentwicklung der frühgriechischen epischen Sprache, ja, in vielen Punkten nicht einmal über die konkreten Beziehungen des LB-Idioms zu anderen Mundarten der frühgriechischen sprachlichen Welt. Vor dem Eintritt in eine genauere Besprechung dieser Probleme seien zunächst auf der Grundlage eigener Untersuchungen, die mit Hilfe eines Computersystems durchgeführt wurden, etliche statistische Angaben über die tatsächlichen quantitativen Dimensionen der LB-Texte sowie des mykenischen Wortschatzes vorgelegt, die die Relevanz der LB-Dokumentation besser und reeller abzuschätzen erlauben werden. Einerseits darf nämlich der Beitrag der Mykenologie für die Erforschung der frühgriechischen Welt nicht überschätzt werden (dazu ist die LB-Dokumentation doch zu begrenzt), andererseits können aber die LB-Texte vieles Wichtige aus dem Bereich der griechischen Frühgeschichte an die Hand geben, sofern man sich nur ihrer wahren Aussagekraft bewußt ist. Der neueste Stand in bezug auf das mykenische Sprachmaterial hat sich im Laufe der 80er Jahre etwa folgendermaßen herausgebildet: Neue Texte sind in kleineren Mengen in Tiryns (etwa 24 Tontafelfragmente insgesamt: L. Godart — J.-P. Olivier u.a., AAA 1974, 25f., B C H 1977, 229ff., Arch. Anz. 1979, 240ff., und 1983, 413 ff.) und in Theben (etwa 30 Tonsiegel: V. Aravantinos, Tractata Mycenaea,

S k o p j e 1987, 13 ff., b z w . Studies

Presented to J. Chadwick,

Salamanca

1987, 33 ff.) gefunden worden; vor allem wurden im Jahre 1984 im Depositum des Museums von Iraklion mehr als 3000 weitere Tontafelfragmente wiederentdeckt, die am Anfang dieses Jahrhunderts von A.J. Evans ausgegraben worden waren und später versehentlich unter Altpapier gerieten; die meisten davon sind jedoch äußerst kurz und unvollständig, so daß man bisher nur 43 Fragmente als Teile anderer Tontafeln erkannt und ediert hat, und zwar im 1. Band der neuesten Gesamtedition der knossischen Inschriften CoMIK I, d. i. J. Chadwick u. a., Corpus of Mycenaean

Inscriptions front Knossos,

R o m e — L o n d o n 1986.

Statistische Angaben über die Zahlen der von verschiedenen Orten stammenden und bisher publizierten LB-Inschriften — mit Ausnahme des erwähnten ersten Bandes von CoMIK — sind in Tabelle A (S.308) zu finden. Eine gründliche Analyse dieser Angaben zeigt im Vergleich mit den zwei älteren, vorgriechischen altägäischen Schriften (der hieroglyphischen und der Linear Α-Schrift), um wieviel reicher der erhalten gebliebene Bestand der Linear B-Dokumente ist: Gegenüber den etwa 200 hieroglyphischen und den ca. 1430 LA-Inschriften handelt es sich im Falle der Linear B-Texte um mehr als 4750 bisher publizierte Dokumente (d.h. etwa 4600 beschriftete Tontafeln bzw. Tonsiegel und ca. 150 beschriftete Vasenscherben), mit insgesamt etwa 57400 syllabischen oder piktographischen Zeichen — was einem alphabetischen Teubnertext von ungefähr 60 Seiten entspricht. Das Beschreibmaterial ist bei den LA-Inschriften weit vielfältiger als bei den LB-Texten, deren Vorkommen sich lediglich auf Tontafeln und Vasenscherben beschränkt. Außerdem stammen die LA-Texte von fast 30 kretischen Orten,

Das Verhältnis des mykenischen Griechisch zur homerischen Sprachform

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einige weitere sind auf anderen ägäischen Inseln gefunden worden, eine Inschrift wurde auf der Peloponnes entdeckt (in Agios Stephanos in Lakonien). Alle bisher gefundenen LB-Inschriften dagegen stammen von lediglich 10 Orten: aus 6 Palastarchiven (Knossos, Kydonia/Chania, Pylos, Mykene, Tiryns, Theben) und von 4 weiteren Einzelfundstätten. Danach scheint es, daß die Schriftkenntnis im minoischen Kreta verbreiteter war als im mykenischen Griechenland. Die Mehrzahl der L B - T e x t e ist verhältnismäßig kurz und umfaßt nur ca. 12 Zeichen pro Inschrift, d.h. nicht mehr als lediglich 5 bis 7 W ö r t e r auf einem Dokument. Nur etwa 4 8 , 5 % der LB-Inschriften bieten einen Text von mindestens fünf Zeichen. Dabei gibt es noch beträchtliche Unterschiede im Umfang der von den verschiedenen Fundorten stammenden Dokumente. A m kürzesten bzw. am meisten fragmentarisch sind die Vasenscherbeninschriften, kurz und fragmentarisch sind allerdings auch die Tontafelinschriften aus Knossos. Die ergiebigsten L B - D o k u m e n t e kommen aus Pylos; die längste pylische Tontafel enthält 407 Zeichen. Mehr als 249 Zeichen enthalten nur 8 Tontafeln, davon 7 aus Pylos und eine aus Knossos. Es k o m m t hinzu, daß alle Tontafeltexte lediglich Inventare, Verzeichnisse und administrative Vermerke enthalten, die einen hohen Grad an Stereotypie aufweisen und durch ziemlich große Mengen von Eigennamen gekennzeichnet sind. Die Gesamtzahl aller voneinander klar unterscheidbaren Wortformen beträgt etwa 6000 Einheiten. J . Chadwick hat jedoch davon fur sein Mycenaean Glossary (s. Ventris-Chadwick, Documents 2 , Cambridge 1973, S. 527—594) eine nützliche und praktische Auswahl getroffen, die alle bis 1972 publizierten vollständig erhaltenen bzw. verläßlich ergänzten mykenischen W ö r t e r umfaßt. Es handelt sich um etwa 3200 lexikalische Einheiten (Lemmata, z . B . do-e-ro doelos (,Diener') mit ca. 3800 graphischen Wortformen (z.B. do-e-ro doelos N o m . Sing., doeloi N o m . Plur., do-e-ro-jo doeloio Gen. Sing., do-e-ro-i doeloihi Dat. Plur.). Lediglich etwa 6 0 % davon sind morphologisch klassifizierbare Wörter, die man zumindest einzelnen Wortgattungen, wenn nicht gar konkreten Deklinations- bzw. Konjugationstypen zuordnen kann. Von den etwa 1800 klassifizierbaren mykenischen Lexemen (s. die Tabelle В unten) sind dabei mehr als die Hälfte — ungefähr 1000 — Eigennamen: etwa 700 Personennamen, meist Männernamen, aber auch Frauennamen, schließlich Götter- und Tiernamen (fur Ochsen), weiter ca. 270 Toponyme und Ethnika und etwa 20 von Eigennamen abgeleitete Adjektive (Patronymika u.a.). Die restlichen etwa 800 mykenischen Wörter sind substantivische und adjektivische Appellativa und Vertreter aller übrigen Wortarten. Eine statistische Übersicht über die Anzahl einzelner Wortarten gibt Tabelle C. Es sei hinzugefügt, daß für bei weitem nicht alle der morphologisch klassifizierbaren Ausdrücke bereits eine annehmbare phonetische Deutung zur Verfugung steht. Bei den Substantiven und Adjektiven sind nicht nur alle Deklinationen, sondern auch die wichtigsten klassischen griechischen Wortstämme in ausreichendem Maße belegt (vgl. Tabelle D), und obwohl die Frequenz der Verben viel niedriger

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Antonin Bartonek

ist, sind auch die meisten der verbalen Kategorien relativ gut dokumentiert (s. Tabelle E). Ungenügend belegt sind die Pronomina und Numeralia und wegen Mangels an syntaktischen Konstruktionen auch die Konjunktionen. Im großen und ganzen wird also das Idiom der L B - T e x t e in verläßlicher und verhältnismäßig vollständiger Weise repräsentiert, die uns ohne weiteres berechtigt, dieses sprachliche Gebilde mit der homerischen Sprache in entsprechender Form und mit Aussicht auf Erfolg zu vergleichen. Die Grundfrage ist natürlich, was für ein sprachliches Gebilde sich hinter der LB-Schrift verbirgt und wie man sich die Entstehung und Weiterentwicklung der frühen griechischen Sprache real vorstellen soll. Trotz allen Skeptizismus', der die Möglichkeit einer Erforschung des Verhältnisses zwischen dem Mykenischen und den anderen griechischen Dialekten manchmal überhaupt bezweifelt, kann man vielleicht vom heutigen Standpunkt aus die vorherrschende Meinung über die linguistische Natur der LB-Sprache etwa folgendermaßen charakterisieren: Die mykenischen Texte sind in der Form eines vereinfachten Kanzlei-Idioms verfaßt, das auf einer übermundartlichen KoineForm zu beruhen scheint, die sich in den Zentren der mykenischen Zivilisation zu einem überregionalen Interdialekt herausgebildet hat ( = Rischs ,,mycenien normal"); dies ist unter Verlust spezifischer mykenisch-argolischer, pylischer, knossischer und anderer Sprachbesonderheiten geschehen, deren Spuren in den Texten nur spärlich zum Vorschein kommen. O b w o h l die Sprachuniformität der L B Texte im gesamten Verbreitungsgebiet sehr hoch ist, gibt es doch vereinzelte sprachliche Unterschiede sowohl zwischen den einzelnen Orten, an denen die Texte aufgefunden wurden, als auch innerhalb von ihnen; diese Unterschiede scheinen teilweise territorialer Herkunft zu sein (als Reste lokaler Dialekte), teilweise scheinen sie sogar eine individuelle Prägung zu enthalten. Man sieht darin Spuren eines „mycenien special" in der Terminologie von E. Risch, d.h. der tatsächlich von den Schreibern gesprochenen Mundart-Varianten, die nur selten durch die massive Schicht des gemeinmykenischen Interdialekts nach oben durchsickerten (d.h. durch das obengenannte ,,mycenien normal"). Da das Mykenische einige Innovationen aufweist, die in keinem anderen griechischen Dialekt vorkommen, und da man umgekehrt sowohl im Kyprischen als auch im Arkadischen gemeinsame Neuerungen findet, die im Mykenischen völlig fehlen, kann man schließen, daß der mykenische Interdialekt (die ,mykenische Koine') keine direkte Fortsetzung im 1 .Jahrtausend v. Chr. hatte, nachdem seine Existenz mit dem Zusammenbruch der Zivilisation, der er gedient hatte, zugrunde gegangen war. Die unter der mykenischen Koine zu vermutenden altachäischen Lokaldialekte sind in nachmykenischer Zeit ζ. T. zu selbständigen Dialekten geprägt worden (in Arkadien bzw. auf Zypern), z.T. (Argolis, Messenien, Kreta und andere von Dorern besetzte Gebiete) durch das Dorische ersetzt worden.

Das Verhältnis des mykenischen Griechisch zur homerischen Sprachform

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3 Die Überlegungen z u m Charakter der LB-Sprache und zur sprachlichen Situation in der mykenischen Epoche im allgemeinen haben uns zu der widersprüchlichen Problematik der frühgriechischen Epik gefuhrt. Trotz skeptischer Einstellung einiger Forscher gegen die Berechtigung einer Rückprojektion konkreter sprachlicher P h ä n o m e n e der homerischen Sprache in das sprachliche Milieu der mykenischen Periode (C. Gallavotti) neigt man heute eher zur A n n a h m e einer gewissen Verbindung der homerischen Sprache mit der achäischen, d . h . im Prinzip peloponnesischen Sprachform der betreffenden Periode. Das H a u p t a r g u m e n t beruht dabei nicht nur auf der Tatsache, daß sowohl im Linear B-Idiom als auch in der homerischen Sprache das grammatische System sowie der Wortschatz ziemlich ähnlich sind. Viele mykenisch-homerische sprachliche Übereinstimmungen sind nämlich bloße Archaismen, die in der mykenischen Zeit noch im Gebrauch waren und die ihre B e w a h r u n g in der homerischen Sprache nicht selten der immanenten sprachlichen Vielfalt der frühgriechischen epischen Dichtersprache verdankten. Dabei sind offensichtlich einige von den mykenischen Relikten im H o m e r bereits in der /rü/imykenischen Periode chronologisch verankert, d. h. schon in jener Periode, aus der man bislang Linear B-Texte nicht besitzt. Mit Recht hat Durante (а. О . I 107) hervorgehoben, daß die chronologische Priorität der LB-Texte vor H o m e r keine allgemeine Posteriorität aller homerischen sprachlichen P h ä n o m e n e gegenüber den mykenischen bedeuten m u ß . Es gibt mehrere homerische Verse, die in ihrer bezeugten Form metrisch irregulär zu sein scheinen. Bekannt ist in diesem Z u s a m m e n h a n g ζ. B. der h o m e r i sche Vers II. 7,116 Μηριόνης άτάλαντος Ένυαλίωι άνδρειφόντηι, den man in die zu erwartende frühmykenische Form Merionäs hatalantos Enüaliöi anrk w ontäi о

transformieren m u ß , u m seine korrekte metrische Form zu erhalten (vgl. Wathelet, R L B 1966, 145-173; Durante а. О . I 92; R u i j g h , CILL 25, 1985, 162; West a. O . 156). Dabei wäre die bei H o m e r bezeugte Form άνδρειφόντηι unter dem Einfluß von Άργειφόντης entstanden. Ein sonantisches r wird heute dementsprechend auch im inzwischen b e r ü h m t gewordenen, von J. Latacz (Glotta 43, 1965, 62—76) besprochenen homerischen Ausdruck άνδροτήτα vermutet, so daß nach Wathelet, R L B 1966, 170 f. der homerische Halbvers II. 16,857 λιποΰσ' άνδροτήτα και ήβη ν

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als das frühmykenischc lik w ons' anrtät' idc jeg w än zu rekonstruieren wäre — d. h. als eine metrisch .unregelmäßige' Fortsetzung der vermutlichen frühmykenischen Form *anrtäta mit silbischem r; andere Erklärungen dieser metrischen Unregelmäßigkeit (vgl. Eva Tichy, Glotta 59, 1981, 28—67) scheinen weniger überzeugend zu sein. Die spezifische Eigenschaft der homerischen Sprache, daß sie linguistische Elemente sowohl aus verschiedenen chronologischen Schichten als auch aus verschiedenen Territorien enthält, während das Mykenische sowohl chronologisch als auch territorial im großen und ganzen fixiert ist, läßt allerdings keine völlig eindeutigen Schlüsse aus dem Vergleich dieser beiden Sprachformen zu. In Chadwicks obenerwähntem Mycenaean Glossary findet man bei nicht weniger als 211 mykenischen Ausdrücken nicht onomastischen Charakters die Angabe, das betreffende Wort sei auch bei Homer belegt. Meine eigene Untersuchung hat diese Zahl noch um etwa 50 weitere bei Homer bezeugte mykenische Ausdrücke erweitert, und zwar nicht nur um viele gemeingriechische Wörter, wie αγω, άγγελος, άγρός, είμί, sondern auch um einige eher in der Dichtersprache als in der Prosa vorkommende Wörter wie άμφοτέρω9εν. Ein kurzer Uberblick über die morphologischen Kategorien dieser mykenischhomerischen Übereinstimmungen kann in diesem Zusammenhang hilfreich sein: 153 Substantive, 42 Adjektive, 41 Verben; 27 Wörter anderer Wortarten. Bei den Substantiven handelt es sich vor allem um männliche bzw. weibliche Berufsbezeichnungen oder Titel (39), verschiedene Warensorten (17), Sachobjekte (37), Metalle und Edelsteine (3), Pflanzennamen (7), Landschaftsbezeichnungen (12) usw., aber auch um männliche oder weibliche Verwandtschaftsnamen (11), sozialökonomische bzw. rechtliche Termini (10) u.a. Unter den adjektivischen Parallelen befinden sich nicht nur Grundadjektive allgemeinen Charakters, wie ζ. B. einige Farbbezeichnungen, sondern auch viele abgeleitete bzw. zusammengesetzte Ausdrücke, wie ka-ka-re-a khalkärea (vgl. das hom. χαλκήρης, das in Prosa erst ziemlich spät vorkommt), ku-na-jo gunaion Gen. Plur. (vgl. das hom. γύναιος, das außerhomerisch nur ausnahmsweise bezeugt ist) oder mi-to-we-sa milto-wessa (vgl. hom. μιλτοπάρηος). Zu diesen appellativischen Wörtern treten noch ca. 120 homerische Eingennamen hinzu, die eine direkte oder wenigstens indirekte Parallele in den mykenischen LB-Texten aufweisen. Es handelt sich um etwa 15 Götternamen, wie a-re Arei

D a t . , a - t a - n a - p o - t i - n i - j a Athänäi

Potniäi

D a t . , e - r i - n u Erinüs,

pa-ja-wo-ne

Paiäwonei Dat., Po-se-da-o Poseidäön, si-mi-te-u Smintheus, um ca. 85 Personennamen, wie a-ki-re-u Akhilleus, e-ko-to (H)ektör, und um etwa 20 Ortsnamen bzw. Ethnika, wie ko-no-so Knössos, pa-i-to Phaistos, pu-ro Pulos oder a-si-wi-ja Aswiäi Dat. = 'Ασία.

Das Verhältnis des mykenischen Griechisch zur homerischen Sprachform

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Von den etwa 800 mykenischen W ö r t e r n nicht onomastischen Charakters k o m m e n also ca. 260, d. h. etwa ein Drittel, auch bei H o m e r vor. Das scheint auf den ersten Blick zu wenig zu sein; es ist jedoch zu berücksichtigen, daß in den LBTexten eine ziemlich große M e n g e von technischen, für die Palastadministration unentbehrlichen, aber ganz und gar spezifischen Ausdrücken erscheint, die für den poetischen Gebrauch offensichtlich durchaus ungeeignet waren. Andererseits sollte man allerdings auch die Anzahl der etwa 260 mykenisch-homerischen Ubereinstimmungen nicht überschätzen und für die A n n a h m e einer besonders engen und völlig geradlinigen Verbindung des mykenischen Dialektes mit der homerischen Sprache in Anspruch nehmen. Es handelt sich, wie schon gesagt, teilweise u m Archaismen, teilweise allerdings auch u m gemeinsame frühe N e u e rungen oder Produkte frühgriechischer Auswahl aus mehreren sprachlichen M ö g lichkeiten, und nur in begrenztem U m f a n g hat man es hier mit spezifischen, für die homerische Sprache mehr oder weniger markanten Ausdrücken zu tun, die für unser O h r poetisch klingen, da wir sie nur aus H o m e r und anderen Dichtern kennen; nach Chadwick und Durante betrifft dies nur ungefähr 40 Ausdrücke (vgl. Durante а. О . I 70 ff.). D a ß auf der anderen Seite einige altertümliche homerische Wörter, die man im Mykenischen erwarten würde, in den LB-Texten völlig fehlen, kann man eher - bis auf weiteres — durch das verhältnismäßig beschränkte Ausmaß der LBD o k u m e n t a t i o n erklären — o b w o h l (wie schon angedeutet) auch eine wohl ältere, bereits frühmykenische, mit dem Mykenischen der LB-Texte gar nicht identische sprachliche Schicht in der frühgriechischen epischen Sprache präsent sein kann. Dagegen scheint es bemerkenswert, daß einige mykenische W ö r t e r zwar nicht bei Homer, jedoch bei einigen anderen Autoren v o r k o m m e n , sowohl in der Poesie oder in der Kunstprosa als auch in anderen schriftlichen Texten (Inschriften, Glossen usw.). Im Chadwickschen Glossary findet man etwa 50 derartige Angaben, etwa 20 davon betreffen die Poesie, vor allem Pindar (5) und andere Chorlyriker, die übrigen entweder die Kunstprosa, vor allem H e r o d o t (5), aber auch z . B . Hesych-Glossen (10 Beispiele) bzw. verschiedene epichorische Inschriften. Dabei handelt es sich nicht selten u m wichtige politische bzw. ökonomische Termini, wie λαγέτας .Führer des Volkes' oder έπέτας ,Mitglied eines Gefolges' bei Pindar oder κτοίνα ,Boden' auf einer rhodischen Inschrift. In diesem Bereich hat man sich in der letzten Zeit intensiver mit den mykenischchorlyrisch-homerischen Ubereinstimmungen beschäftigt: N . S. Grinbaum, Krito-mikenskie teksty i jazyk drevnegreceskoj chorovoj liriki, Studia Mycenaea, B r n o 1986, 75—86, und vor allem K. Trümpy, Vergleich des Mykenischen mit der Sprache der Chorlyrik, Bern 1986, w o die Autorin 20 bei H o m e r fehlende mykenischchorlyrische Entsprechungen im Wortschatz bespricht und z u m Schluß gelangt, „daß für die Chorlyrik eine von der epischen unabhängige alte Tradition durchaus in Betracht gezogen werden k a n n " (S. 134); dabei denkt sie eher an eine n o r d griechisch-äolische als an die dorische Tradition, und so steht sie dem Standpunkt

306

Antonin Bartonek

von С. Pavese ziemlich nahe, der in seiner Studie Tradizioni e generi poetici della Greci arcaica, Roma 1972, neben der homerischen Sprache — als der ,südgriechischen' ionischen literarischen Sprache „della tradizione poetica meridionale" zugleich die Existenz einer „lingua poetica continentale" verficht, d. h. einer Dichtersprache mit spezifisch festländischen sprachlichen Elementen, die er als „elementi settentrionali" bezeichnet. Ähnlich wie beim Vergleich des mykenischen und homerischen Wortschatzes muß man auch bei der Auswertung der grammatischen Ubereinstimmungen und Differenzen sehr vorsichtig sein. Neben einigen recht altertümlichen beiderseitigen Archaismen (z.B. zweisilbiges -oio im Gen. Sing., aber sowohl im Mykenischen als auch bei Homer begegnet man auch einsilbigen Endungen auf - O bzw. -ou, wobei das mykenische - O bis jetzt noch nicht eindeutig interpretiert ist) gibt es auf beiden Seiten auch viele gemeinsame Neuerungen (z.B. das Suffix -st in der 3. Pers. Sing./PI. Akt., aber auf beiden Seiten k o m m e n auch gelegentliche archaische ti-Relikte in nicht-verbalen Bildungen vor). Andererseits gibt es auch Teilunterschiede bei einigen mykenisch-homerischen grammatischen Übereinstimmungen, z.B. im Falle des Instrumentalsuffixes -phi; dieses besitzt im Mykenischen größtenteils noch die Instrumentalfunktion bzw. ausnahmsweise eine Ablativfunktion (bei den Toponymen), während es bei H o mer eher die Funktion eines Casus obliquus par excellence mit abgeblaßter Unterscheidungskraft aufweist. Dagegen ist von einigen in den LB-Texten noch gut bezeugten Erscheinungen in der homerischen Sprache gar nichts geblieben, z.B. von den Labiovelaren; es scheint also, als hätten die ionischen Rhapsoden gar nicht geahnt, daß ihre mykenischen Vorfahren das Wort βασιλεύς als gwasileus oder den Namen Thebens als Thegwai aussprachen. Mehrere von diesen Phänomenen hat man bereits gelegentlich in größerem oder kleinerem U m f a n g in verschiedenen Fachstudien besprochen, bisher allerdings hat niemand versucht, alle wichtigen sprachlichen Merkmale beider Sprachformen, d. h. des mykenischen Dialekts der LB-Texte und der homerischen Sprache, in ihren vollständigen sprachlichen System-Zusammenhängen und ohne vorgefaßte Vorurteile zu untersuchen und die verschiedenen Meinungen über Einzelfragen der mykenisch-homerischen bzw. der frühgriechischen mundartlichen Problematik von neuem auszuwerten. Dies muß künftig unter Anwendung exakter Methoden im gesamten erhaltenen sprachlichen Material — und nicht nur anhand von vereinzelten lediglich für eine bestimmte Erklärung gut passenden Fällen — geschehen. Diese kritischen Worte gelten nicht nur für lautliche und morphologische Probleme, sondern auch für den Wortschatz, da es bisher nicht einmal auf diesem Gebiet eine völlig erschöpfende, von mehreren Standpunkten aus unternommene Analyse gibt. Als nicht völlig geklärt erscheinen bis zum heutigen Tag sogar die Ursachen der Vielfalt der homerischen Sprache. Die Annahme einer ,Wanderung' der

Das Verhältnis des mykenischen Griechisch zur homerischen Sprachform

307

epischcn D i c h t u n g u n d Sprache i m Sinne v o n R u i j g h u n d Wathclet scheint zwar gut b e g r ü n d e t , sie stützt sich auf einige ü b e r z e u g e n d e A r g u m e n t e u n d hat eine Anzahl v o n aktiven A n h ä n g e r n auf ihrer Seite, sie w i r k t aber, wie gesagt, zu schematisch, da sie k a u m die tatsächliche Kompliziertheit der D i n g e zu b e r ü c k sichtigen imstande ist — o b w o h l sie gerade aus ebendiesem pragmatischen G r u n d die C h a n c e hat, zur f ü h r e n d e n Schulhypothese auf diesem Gebiet zu w e r d e n , besonders in ihrer neuesten B e a r b e i t u n g u n d E r w e i t e r u n g v o n M . L. West. M e i n e r M e i n u n g nach unterschätzt allerdings diese H y p o t h e s e das Individuelle in der literarischen S c h ö p f u n g , v o r allem die improvisierende K r a f t der frühgriechischen m ü n d l i c h e n Poesie, die unter den e r w ä h n t e n Forschern v o r allem Adrados mit vollem R e c h t unterstrichen hat. Es ergibt sich folgendes Fazit: Bei der Analyse des Verhältnisses zwischen H o m e r u n d d e m mykenischen Dialekt der L B - T e x t e darf m a n nicht außer acht lassen, daß m a n es hier auf beiden Seiten mit einer künstlichen S p r a c h f o r m zu tun hat, deren m a n sich realiter nie zur direkten dialogischen S p r a c h k o m m u n i k a t i o n zwischen zwei Personen bedient hat. Dabei handelt es sich j e d o c h u m zwei verschiedenartige Sprachgebilde. Z w a r sind beide S p r a c h f o r m e n in ihrer Substanz künstlich, j e d o c h m i t einem w i c h t i g e n Unterschied: Das Mykenische der L B Texte ist ein Kanzlei-Idiom der Palastadministration m i t konventionellen u n d f o r m e l h a f t e n R e d e w e n d u n g e n , bei d e m das Individuelle n u r spärlich in die b e zeugte schriftliche F o r m d u r c h d r i n g t . D a g e g e n ist die homerische Sprache eine literarische Kunstsprache m i t komplizierter, k a u m r ü c k v e r f o l g b a r e r Geschichte, die das Konventionelle z w a r stets hartnäckig festhielt, j e d o c h eine gewisse A u s w a h l zwischen den konventionell anerkannten s o w o h l g r a m m a t i s c h e n als auch lexikalischen u n d stilistischen Möglichkeiten zuließ. Gerade d u r c h dieses eigenartige Zusammenspiel des Konventionellen u n d Individuellen ist ein originelles Sprachgebilde (bzw. vielleicht in verschiedenen R e g i o n e n m e h r e r e solche künstliche Sprachgebilde) entstanden. S o m i t läßt sich bereits in der Frühgeschichte der griechischen Sprache eine E n t w i c k l u n g beobachten, die uns mutatis m u t a n d i s an die aus d e m ersten J a h r t a u send v. Chr. gut b e k a n n t e Lage erinnert: Ebenso wie m a n aus d e m 1 .Jahrtausend v. Chr. größtenteils keine ,reinen', tatsächlich gesprochenen Dialekte besitzt — abgesehen v o n deren spärlichen Spuren auf kurzen gelegentlichen Inschriften —, sondern e n t w e d e r einerseits verschiedenen Interdialekten begegnet, in denen vor allem längere offizielle schriftliche U r k u n d e n abgefaßt w u r d e n , oder andererseits literarischen Texten in der F o r m einer m e h r oder w e n i g e r g e h o b e n e n dichterischen oder prosaischen Kunstsprache, k a n n m a n auch f ü r die Frühphase der griechischen Sprachgeschichte — neben den nicht überlieferten gesprochenen Dialekten des mykenischen Alltags — die Existenz zweier altertümlicher Sprachf o r m e n mit eventuellen weiteren Varianten erkennen. Sie stellen f ü r uns heute — ähnlich wie die s t u m m e n Zeugnisse der archäologischen F u n d e — eine nicht i m m e r völlig sichere, aber i m m e r sehr wertvolle Zeugenaussage dar.

308

Antonin Bartonek

Tabelle A Die altägäischen Schriften in Zahlen: Schriftträger und Gesamtsumme (Stand Anfang 1989) SCHRIFT

HIEROGLYPHISCH

Tontafeln

Tonsiegel

SteinTonvasen Inschriften auf Andere Gesamtzahl der vasen geritzt bemalt Stukk. Stein Metall Inschr. Inschr. Zeichen

43

64

1

11

1

-

LINEAR A

319

1020

37

34

3

3

LINEAR В

4512

109

144

ca. 150 2

8

270

1537

5 1431

7362

-

4765

57398

Das Verhältnis des mykenischen Griechisch zur homerischen Sprachform

309

Tabelle В D i e m y k e n i s c h e n klassifizierbaren W ö r t e r A. NOMINA:

SUBST.

+ ADJ.

A(PPELLATIVA) M N + FN

+ GN

+ TN

EIGENNAMEN + Patr + Top + Ethn + M o N —

I.D.

138 (188)

88

38

16

II. D.

183 (225)

286

1

7

9

9

I/II.D. (Adj.)

107 (144)

-

-

-

8

III. D.

195 (310)

238

11

13

1

64

5

48 (54)

17

1

-

1

6

2

Dekl. unsicher

B. PRONOMINA

-

+

54 65

71

334

384

567

79

186



332

527

2

29

77

-

NUMERALIA

19 (34) C. VERBA

19

(mit Partizipien) 71 (120)

D.

71

INDECLINABILIA 34 (35) 795 (1110)

NB: MN = FN = GN =

Insg. A+N

196

7

-

N(amen)

34

629 (770)

51 (51)

36 (47)

11 (11)

17 (22)

189 (241)

78 (100)

9 (13)

1020 (1255)

1815 (2365)

1815 usw. = Zahlen, die die lexikalischen Einheiten betreffen (2365) usw. = Zahlen, die alle belegten graphischen Wortformen betreffen Männernamen TN = Tiernamen Top = Toponyme Frauennamen Patr = Patronymika und andere Ethn = Ethnika Götternamen Personaladjektive M o N = Monatsnamen

Statistische A u s w e r t u n g von J. Chadwicks Mycenaean

Glossary:

(a)

Der mykenische Wortschatz bei C h a d w i c k : ca. 3200 lexikalische Einheiten (Lemmata) ca. 3800 graphische W o r t f o r m e n

(b)

Morphologisch klassifizierbare W ö r t e r : ca. 1800 lexikalische Einheiten (1000 Eigennamen + 800 Appellativa usw.) ca. 2350 graphische W o r t f o r m e n (1250 Eigennamen + 1100 Appellativa usw.)

310

Antonin Bartonek

Tabelle С Die mykenischen nicht onomastischen Wörter in Zahlen Lexikalische Einheiten (Lemmata)

Graphische F o r m e n

Artikel Substantive Adjektive Pronomina Numeralia Verba Adverbien Präpositionen Konjunktionen Interjektionen Partikeln

_

10

10

Insgesamt

795

1110

490 181 16 3 71 11 11 2

668 253 29 5 120 11 12 2

-

-

Tabelle D Statistische Übersicht über die mykenischen Verbalformen Indikativ Akt. Präs.

Impf.

M./P.

3.Sg. 3. D u . 3.P1.

8-9 8-9

1-2 1 2—4

3.Sg.

1

0-1

Inf. Akt.

Partizipien Akt. M./P.

5

19

11

3.P1. Fut.

1-3

3.P1.

2

1

3.Sg.

11-13

6

3.P1. Perf.

57-58

1-2

3,Sg.

2 Aor.

Insgesamt

2

8-10 20-22

1

1

5

18

25

1

6

33

120

1 2

3.Sg. 3.P1.

( unsichere Formen)

2

1

2

Insgesamt

37

16

7

NB: Die Verbaladjektive w u r d e n nicht eingereiht.

27

GÜNTER

NEUMANN

Die homerischen Personennamen. Ihre Position im Rahmen der Entwicklung des griechischen Namenschatzes*

In der Geschichte des Altgriechischen lassen sich verschiedene Mengen von Personennamen (PN) beobachten: 1) Die riesige und durch Neufunde stetig wachsende Gruppe der in den alphabetischen Texten bezeugten Namen real existierender Personen. Die alphabetischepigraphischen Quellen beginnen im 8.Jh. vor Chr. Geburt, das älteste Zeugnis für einen PN in kyprischer Syllabarschrift stammt nach einem Neufund wohl schon aus dem 11. vorchristl. Jh. — Auch die im griech. Alphabet aufgezeichnete Lyrik, später dann die Geschichtsschreibung, insgesamt die ganze Literatur enthält historische P N (z.B. die Namen der Schülerinnen der Sappho). Viele dieser Namen und Namenstämme sind über die Stammesgrenzen hinweg verbreitet, zum Teil über das ganze griechische Sprachgebiet, d. h. sie sind gemein-griechisch, manche davon wahrscheinlich schon urgriechisch. 2) Die in den homerischen Epen auftretenden PN, sowie die in den Sagen von den Argonauten, von Theseus, von Herakles, den Sieben gegen Theben usw. (Wir nennen sie ,heroische' oder ,mythische' Namen.) 3) Die in Linear В gebuchten PN, die wiederum unbezweifelbar realen Personen gehören. Dies PN-Repertoire bildet zwar eine zufällige Auswahl — je nach den wenigen Fundplätzen — überwiegend aus der Peloponnes und aus Kreta; aber viele Namen aus den verschiedenen Fundorten stimmen überein, so daß wir - jedenfalls für die Namen griechischer Herkunft — auf eine ziemlich große Einheitlichkeit schließen dürfen. Nur beiläufig erwähnt sei, daß die Vergleichung der griechischen P N mit den altindischen, iranischen, keltischen, slawischen, litauischen oder germanischen auffallende Ähnlichkeiten enthüllt, welche darauf hinweisen, daß bestimmte Namenstypen (und einzelne -Stämme) auf die indogermanische grundsprachliche Zeit zurückgehen. Wie steht es mit der wissenschaftlichen Aufarbeitung dieses Materials? * Index der in diesem Beitrag behandelten Namen s. unten S. 324ff. Bibliographie s. unten S. 327f.

312

Günter Neumann

Die Sammlung der alphabetischen griechischen P N beginnt mit dem .Wörterbuch der griechischen Eigennamen' von W. Pape. Es erschien zuerst als 3. Band von Papes ,Handwörterbuch der griech. Sprache', Braunschweig 1842. Die 3. Auflage wurde von G.E. Benseier neu bearbeitet, 1863-1870. (Der dritte Abdruck der 3. Auflage stammt aus dem Jahre 1884, Nachdruck Graz 1959.) Dieses Lexikon hat den Vorzug, die Belegstellen aus der klassischen Literatur genau aufzuführen. Dagegen sind die vorgeschlagenen Namensdeutungen oft verwegen und verfehlt. Am Anfang der ernsthaften linguistischen Analyse steht das Werk des Indogermanisten August Fick ,Die griechischen Personennamen, nach ihrer Bildung erklärt, mit den Namensystemen verwandter Sprachen verglichen und systematisch geordnet', Göttingen 1874. Die 2. Auflage schuf Fick 1894 mit Hilfe seines Schülers Friedrich Bechtel. (Der Titel ist der gleiche geblieben, nur verkürzt um den Passus ,mit den Namenssystemen verwandter Sprachen verglichen'.) — Bechtel selbst legt dann das bis heute unentbehrliche und unersetzte Werk 'Die historischen Personennamen des Griechischen bis zur Kaiserzeit', Halle 1917 (Nachdruck Hildesheim 1964), vor. In ihm gibt er knappe Hinweise zur morphologischen Analyse und inhaltlichen Deutung der Namen. Im Kleindruck weist er jeweils auch auf zugehörige „heroische" Namen hin. (Seit 1917 sind freilich sehr viele neue P N bekanntgeworden.) — Daneben stellte Bechtel im gleichen Jahr als Parergon seine ,Namenstudien', in denen er einzelne Deutungen schwieriger Namen ausführlicher begründete. Die Monographie R . Hirzeis ,Der Name. Ein Beitrag zu seiner Geschichte im Altertum und besonders bei den Griechen' (Abhandlungen der phil.-hist. Kl. der Sachs. Akad. Wiss., 34,2, Leipzig 1918, 2 1927) handelt vor allem von den Inhalten der Namen, von Bräuchen und Glaubensvorstellungen, die sich an die Namengebung geheftet haben. O b w o h l unvollendet (aus dem Nachlaß von G. Goetz herausgegeben), ist diese Abhandlung wegen der Fülle lebendiger Beispiele aus vielen Sprachen bis heute unentbehrlich. In dem Buch ,Indogermanische Eigennamen als Spiegel der Kulturgeschichte', Heidelberg 1922, von Felix Solmsen, das nach dessen Tod Ernst Fraenkel redigiert und herausgegeben hat, sind auf S. 111—135 die griech. P N vor allem inhaltlichthematisch, weniger nach den formalen Kriterien ihrer Bildung behandelt w o r den. — Ebenfalls von E. Fraenkel stammt der umfassende Artikel ,Namenwesen' in P W R E , 1935, Sp. 1612—1670. — Grundsätzlich wichtig für die formale Analyse bleibt die große Monographie von F. Sommer ,Zur Geschichte der griechischen Nominalkomposita', Abh. Bayer. Akad. Wiss. 27, München 1948. Jetzt im Erscheinen begriffen ist das ,Lexicon of Greek Personal Names' von P. Μ. Fräser und Ε. Matthews. Es ist regional gegliedert; der bisher vorliegende Band I (Oxford 1987) erfaßt die ägäischen Inseln, Kypros und die Kyrenaika. Geplant ist ein U m f a n g von 6 Bänden. Der Index-Band VI soll auch die sprachwissenschaftliche und morphologische Diskussion bieten.

Die homerischen Personennamen

313

Zahllose Einzeldeutungen von P N sind in einer kaum noch überschaubaren Sekundärliteratur verstreut. - Wenigstens hingewiesen sei auf das 1893 vorgelegte Schulprogramm aus St. Afra in Meißen von Constantin Angermann .Beiträge zur griech. Onomatologie'. Aus der Gegenwart ist zu erwähnen L. Roberts Werk ,Noms indigenes dans l'Asie Mineure greco-romaine', Band 1, Paris 1963. Es behandelt überwiegend die einstämmigen Namen („sobriquets"), die die hellenistischen und kaiserzeitlichen Inschriften Kleinasiens bieten. - Auch die zahlreichen Aufsätze O. Massons gelten in weitem Umfang den Problemen der griech. Personennamen. Eine große Anzahl von ihnen ist jetzt zusammengefaßt in C. Dobias et L. Dubois (Hrsg.), O. Masson, Onomastica Graeca selecta (2 Bände), Paris 1990. Die in den beiden homerischen Epen vorkommenden Namen sind in der Monographie von H. von Kamptz ,Homerische Personennamen. Sprachwissenschaftliche und historische Klassifikation', Göttingen 1982, gesammelt und eingehend behandelt. Ursprünglich war das eine Jenaer Dissertation (maschinenschriftlich) aus dem Jahre 1956, die damals Friedrich Zucker angeregt hatte und die jetzt — auf Anregung der Göttinger Akademie der Wissenschaften — praktisch unverändert als Buch ediert worden ist. — Sie kann knapp 800 nur-homerischc PN verbuchen. Für weitere Forschung bildet sie einen bequemen und verläßlichen Ausgangspunkt. Auf die gerade erst durch die Entzifferung von Linear В bekannt werdenden mykenischen PN hatte von Kamptz noch keinen Bezug nehmen können. (Für die P N der anderen Sagenkreise gibt es leider keine entsprechende Bearbeitung.) — Das meisterliche Werk von E. Risch .Wortbildung der homerischen Sprache', 2. Aufl. Berlin 1974, bezieht dagegen nicht nur die homerischen PN, sondern auch die mykenischen in größerem Umfang ein. Was das Mykenische angeht, so deuten schon Ventris und Chadwick in den ,Documents in Mycenaean Greek', Cambridge 1956. 21973, viele Personennamen, und sie geben da (S. 104f.) auch eine Liste mit 58 Positionen von „names which can be exactly paralleled in Homer". — Ausschließlich den mykenischen PN gewidmet ist dann die schon 1958 entstandene Monographie ,Mykenisch-griechische Personennamen' von Oskar Landau, der zu dem Kreis um Gudmund Bjorck und Arne Furumark in Upsala gehörte. Dies Buch war für seine Zeit eine bewundernswerte Leistung; heute ist es — unvermeidlich — in nicht wenigen Punkten überholt. Landau erfaßt über 1800 mykenische PN. Da die Namen in Linear В mehr als die Hälfte des insgesamt vorhandenen Sprachmaterials bilden, haben wohl alle Mykenologen Bemerkungen und Vorschläge zu ihnen gemacht; genannt seien A. Heubeck (vgl. besonders dessen von B. Forssman, S. Koster und E. Pöhlmann herausgegebene ,Kleine Schriften zur griechischen Sprache und Literatur', Erlangen 1984), M. Lejeune, H. Mühlestein (zuletzt,Homerische Namenstudien', Frankfurt/Main 1987, ein Zusammendruck älterer Aufsätze, um .Addenda' vermehrt), L. Palmer, E. Risch, O. Szemerenyi. — Das Buch von St. Hiller und O. Panagl ,Die frühgriechischen Texte aus mykeni-

314

Günter Neumann

schcr Zeit', = Erträge der Forschung, Band 49, Darmstadt 1976. 21986, bietet in Kap. XXIV einen guten, urteilssicheren Uberblick über die myken. PN. — Bis etwa 1980 sind die Namensdeutungen miterfaßt im ,Diccionario micenico' von F. Aura Jorro, das als ,Anejo I' zum ,Diccionario griego-espanol' von F. R . Adrados erscheint und von dem bisher Band I, Madrid 1985, vorliegt. Er umfaßt A—N. — Eine neue Zusammenfassung und kritische Bewertung der mykenischen PN-Deutungen bereitet Petar Ilievski aus Skopje vor. (Mehrere Vorarbeiten dazu hat er schon in Aufsatzform publiziert.) *

Im folgenden werden die PN zunächst nach ihren Bautypen geordnet, also nach den formalen Kriterien. Dabei beginnen wir mit denen der beiden Epen. In einem zweiten Durchgang werden diesen Namen dann die von Linear В gegenübergestellt. Zu diesem Zweck sind ein paar Schritte in die sprachwissenschaftliche Klassifizierung der Komposita notwendig. Grundlegend ist die Einteilung nach der Zahl der beteiligten Wortstämme: es gibt im Altgriechischen fast nur zweistämmige und einstämmige Namen. (Dreistämmige bilden eine seltene Ausnahme, hier können sie beiseite bleiben.) Bei den zweistämmigen, die wir als ,Vollnamen' bezeichnen, lassen sich drei Haupttypen unterscheiden, die aus dem Indogermanischen ererbt sind. 1) Possessivkomposita, Typ Εϋ-ιππος ,der ein gutes, oder viele gute Pferde hat, besitzt'. 2) die Rcktionskomposita, d.h. ein Namenstamm regiert den anderen. Da gibt es mehrere Subtypen, zunächst drei mit Verbstämmen: entweder im Vorderglied den Präsensstamm, z.B. Τέρπ-ανδρος, oder aber, zweitens, eine Erweiterung mit einer Silbe -τι-/-σι-, ζ. Β. Τερψί-χορος. Beim dritten Subtyp steht der thematisierte Verbalstamm im Hinterglied: Οίνό-μαος ,der nach Wein verlangt', oder in Gestalt eines nomen actoris: Λυκο-φόντης ,Wolfstöter', Πολυ-φήτης ,der viel spricht', Φιλοκτήτης usw. — Als 4. Subtyp gehören hierher die sogenannten ,Präpositionalen Rcktionskomposita'. Bei ihnen regiert eine Präposition ein Substantiv, z.B. άγχϊ αλός ,nahe am Meer'; diese Verbindung wird zu einem Namen univerbiert: 'Αγχίαλος. Präpositionen als Vorderglieder von P N gibt es dank diesem Bautyp bei Homer reichlich: άμφι, άγχι, άντι, έπι, περι, προ, ύπερ; dagegen fehlen άνα, άπο, δια, έκ, κατα, μετα, παρα, υπο und ποτι. Die letzte (und kleinste) Hauptgruppe der zweiteiligen Vollnamen bilden die Determinativ-Komposita. Ihr Hinterglied ist ein Substantiv oder Adjektiv, und dieses wird durch das Vorderglied inhaltlich näher bestimmt. Genannt seien hier nur wenige Untergruppen: erstens die, welche im Vorderglied ein Adverb aufweisen: Άγα-μέμνων ,schr standfest (im Kampf)', Πάν-θοος ,ganz schnell', oder aus dem Theseus-Mythos Άρι-άδνη ,die Hoch-heilige'. — Mit substantivischem Hinterglied gibt es bei Homer nur drei Namen: Δημο-λέων, Άρηί-λυκος und Αύτό-λυκος ,der in seinem Wesen ein Wolf ist, der leibhaftige Wolf', alle drei

Die homerischen Personennamen

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also mit Tierbezeichnung im Hinterglied. — Eine weitere wichtige Untergruppe bilden diejenigen P N , bei denen das Hinterglied von einem Verbaladjektiv auf -to- gebildet wird, z.B. Αεώ-κριτος ,vom λαός (gut) beurteilt', "Α-δμητος ,unbezwungen, unbezwinglich'. Alle diese Vollnamen können nun - aus Gründen der sprachlichen Ö k o n o m i e oder auch aus affektischen Motiven — verkürzt werden. Das geschieht auf mehrere verschiedene Arten, besonders häufig aber so, daß der im Vorderglied stehende Stamm völlig erhalten bleibt, von dem im Hinterglied stehenden dagegen nur der erste Konsonant: Τήλεμος aus Τηλέ-μαχος. N u r wenig anders gebildet sind Πάτρο-κλος (aus Πατρο-κλέης) und Αιγι-σθος (aus *Αίγι-σθένης); hier ist vom verkürzten Hinterglied die Anlautkonsonanz bewahrt. Aber es gibt viele weitere Varianten der Kürzung. Bei einem anderen häufigen Typ wird nur das Vorderglied bewahrt, dann aber suffixal erweitert. So sind die P N Δάμασος und "Ελασος Kurzformen zu N a m e n wie Δαμάσ-ιππος ,der die Pferde zu zügeln weiß' und Έλάσ-ιππος ,der die Pferde anzutreiben versteht', wobei sie das Suffix -o- der häufigsten Stammklasse angefugt haben. — Mit einem Suffix -αντ- ist bei H o m e r Φείδας, Φείδαντος gebildet; er gehört zu Vollnamen wie Φείδ-ιππος. Auch das Suffix -ευ- fungiert in dieser Weise: so ist Φυλεύς etwa als Kurzform zu *Φυλο-μέδων aufzufassen (belegt zufällig nur das Fem. Φυλομέδουσα), und Ίφεύς zu Ίφι-δάμας. — Μαχά^ων (mit Suffix -fcov) gehört zu Μαχάπολις oder ähnlichen Vollnamen. Bei Εύρυσθεύς dagegen ist vor dem Suffix mit der Konsonanz -σθ- ein Rest des Hintergliedes erhalten; der Vollname hat aller Wahrscheinlichkeit nach *Εύρυ-σθένης gelautet: ,dessen Stärke weithin wirkt'. Umstritten ist der Typ mit Suffix -τωρ, also "Εκτωρ, Νέστωρ. Sie sind ja formalidentisch mit den nomina actoris. Daher meinen manche Forscher, das seien von Haus aus einstämmige Bildungen. Andere dagegen halten auch sie fur Kurzformen. So sei Νέστωρ etwa aus einem Vollnamen *Νεσέ-λαΓος verkürzt ,der die Kriegerschar heimfuhrt, rettet', und entsprechend sei "Εκτωρ Kurzform zu * Έχεκλέης oder * Έχέ-νηος oder Έχέ-φρων. Insgesamt haben die Griechen zur Bildung solcher Kurzformen so viele verschiedene Suffixe herangezogen, daß diese hier nicht alle aufgeführt werden können. Mehrere dieser Suffixe treten auch an zweistimmige Vollnamen an, an N a m e n also, die eigentlich komplett sind. So führt Άμφιτρύων zurück auf einen Titel άμφίτωρ ,der herumgeht, beschützt'. O d e r statt eines *Φιλό-μηλος ,der (viele) eigene Schafe hat' findet sich die Erweiterung *Φιλομηλεύς (vorausgesetzt durch das Patronymikon Φιλομηλείδης). Solche Bildungen sind aber keineswegs bloß eine Eigenheit Homers; vielmehr finden sie sich später in der alphabetischen Zeit mehrfach wieder, z.B. Σωστρατΐνος, Θιοδώριχος, Εύδαμισκος, Χρυσαορεύς usw., und auch in Linear В begegnen wir ihnen. Die dritte große Gruppe schließlich bilden jene P N , die von Haus aus nur aus einem Stamm bestehen. Im folgenden werden sie als,einstämmig' bezeichnet. Das ist freilich nicht ganz präzis, denn ,einstämmig' sind ja viele der Kurznamen durch

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die Verkürzung auch geworden. Korrekt — aber etwas umständlich — wäre: ,νοη vornherein einstämmig', ,einstämmig gebildet'. Einen großen Teil der Angehörigen dieser Gruppe bilden ursprüngliche Adjektiva wie γλαυκός ,blau' oder .funkelnd, leuchtend', νοήμων .verständig', μέμνων (aus *μέν-μων) .abwehrend', κλειτός ,ruhmvoll', ferner δΐος ,dem Zeus gehörend', usw. — Bildungen mit dem Suffix -ю- sind häufig, z.B. gibt es mehrere Ableitungen von Ortsnamen wie Ίκάριος ,der von (der Insel) Ikaros stammende'. Neben den ursprünglichen Adjektiven stehen Substantive: so kann jemand Λέων oder Λύκος bzw. Λύκων heißen. Diese drei großen Gruppen und ihre Subtypen erfassen die Mehrzahl der homerischen PN. — Zu bemerken bleibt noch, daß die Frauen in der überwiegenden Zahl der Fälle Namen tragen, die in die Wertewelt der Männer gehören; ihre Namen sind formal einfache Movierungen, d. h. ein mask. P N erhält ein FemininSuffix (meist -α, -η): 'Ανδρομάχη usw. Freilich bleiben auch mehrere homerische P N dunkel und bis heute ohne sichere Erklärung. Das gilt für die Namen der beiden großen Helden Άχιλλεύς und 'Οδυσσεύς, aber auch für Άγχίσης, Δάρης, Μέσθλης, Πάνδαρος, Πάρις, Φάλκης, Πιτθεύς, Πρίαμος usw. Manche von diesen dürften aus fremden Sprachen entlehnt sein, etwa kleinasiatischen; andere können aber durchaus auch verschollenes griechisches Wortgut enthalten. So hat man für Περσεύς an einen Stamm περσιgedacht, der zu πέρθω ,zerstören' gehören könnte, dann läge die einstämmige Kurzform eines verbalen Rektionskompositums vor. Auch Νιόβη und 'Ρήσος, die bei v. Kamptz noch als nicht-griechisch gelten, lassen sich einwandfrei als griechisch erklären: Νιόβη als zweistämmige Kurzform aus *Νιο-βούλη (dialektale Variante zu Νεο-), 'Ρήσος zu ρησι- .sprechen', also genauso verkürzt wie (der oben S. 315 erwähnte) Δάμασος. - So mag auch in Zukunft noch für den einen oder anderen bisher ungedeuteten homerischen Namen eine Erklärung aus griechischem Sprachmaterial glücken. • Und nun zur Semantik der homerischen PN, die ja etwas über die Lebensziele und Ideale der Namensträger bzw. ihrer Väter lehrt. (Wenn im folgenden die PN übersetzt werden, so ist daran zu erinnern, daß sie Transformationen von ganzen Sätzen sind. Da nur zwei Wortstämme in einen Namen einfließen, ist dessen Bedeutung oft sehr prägnant.) Die zweiteiligen Vollnamen kreisen thematisch zu einem wesentlichen Teil um den Kampf in Angriff und Verteidigung: Μενέ-λαος ,der dem Heerhaufen (der Feinde) standhält', Άλέξ-ανδρος ,der die (feindlichen) Mannen abwehrt', Βι-ήνωρ .der die Männer bezwingt'. Ferner thematisieren sie den R u h m des Mannes; das gilt für die Namen mit κλυτο-, -κλης und -κλυμενος; dabei tauchen zwei wichtige Kriegsmittel auf: der Stamm ίππο- ,Pferd' meint meistens den bespannten Streit-

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wagen, der Stamm ναυ- das Kriegsschiff. O d e r die N a m e n sprechen v o m D u r c h setzungserfolg in der Männerversammlung; auf Gastfreundschaft beziehen sich vermutlich die N a m e n auf-δοκο- wie Δημό-δοκος, Λαό-δοκος. - ,Gute N a c h k o m menschaft' (oder angesehene Vorfahren') erscheint in Εύ-γένης usw. Daneben wird der Reichtum an Vieh erwähnt in Πολύ-μηλος, Περί-βοια, auch einige mit ίππο- m ö g e n hierher gehören, so etwa Κτήσ-ιππος. Bemerkenswert selten — schon W i l a m o w i t z hat darauf hingewiesen — finden sich Götternamen als Bestandteile von P N : es gibt Διο-μήδης, Δι-ώρης und Δΐος, mit "Ηρα nur den einzigen Ήρα-κλέης, sowie Άρηί-θοος und Άρηί-λυκος. Aber bei diesen mag αρης eher das Appellativum ,Kampfeswut' sein, noch nicht der Gottesname. — P N mit dem Element θεο- ,Gott' finden sich bei H o m e r nur zwei: ein Priester heißt mit einem sprechenden N a m e n Θεο-κλύμενος, und dann vielleicht das Femininum Άμφι-θέη, dessen semantische Interpretation jedoch schwierig bleibt. Diese zweiteiligen Vollnamen sind zu einem großen Teil Wunschnamen; dem Jungen wird bei der N a m e n g e b u n g angewünscht, er m ö g e tapfer, erfolgreich im Kampf, klug, fürsorglich, gastfrei werden. Wenn die zweistämmigen N a m e n gekürzt werden, also ihr Hinterglied verstümmelt wird oder ganz wegfällt, dann werden sie dadurch sinnentleert, demotiviert. Sie bedeuten nun nichts mehr, sind nur noch Benennung einer Person. — Auch die dafür herangezogenen Suffixe büßen öfter ihre ursprüngliche Funktion ein und dienen nur noch dazu, eine K u r z f o r m ,abzurunden'. — Die einstämmigen N a m e n bieten eine viel breitere Thematik. Da wird z.B. die äußere Erscheinung in den Blick g e n o m m e n : Αϊθρη .glanzvoll', Φαίδιμος .leuchtend', die Körperstärke u n d Beweglichkeit in N a m e n wie Βίας .kräftig', Σφήλος .stark', Θόας .schnell', aber auch der Charakter in Άγάθων .gut', das Temperament in "Αγριος ,wild', der Intellekt in Νοήμων und Φρόνιος, beide etwa .verständig'. — Andere sind mit Funktionsbezeichnungen identisch wie Κοίρανος, Πρύτανις oder Καλήτωρ .Herold'. Wieder andere nehmen Bezug auf Tiere: Λεοντεύς oder Λύκων. Das mag als Vergleich gemeint sein: ,er ist — oder soll sein - wie ein Löwe' oder geradezu als Gleichsetzung (etwa im Sinne der Fähigkeit zum Gestaltwechsel). Solche einstämmigen N a m e n sind später auch in den alphabetischen Texten zu vielen Hunderten belegt. Da sie oft aus Spitznamen (Übernamen, sobriquets) entstanden sein dürften, bezeugen sie die scharfe Beobachtungsgabe der Griechen. M a n könnte sie deshalb ,Kennzeichnungsnamen' nennen. Sie waren an sich gewiß situationsgeboren, können dann aber am Namensträger haftengeblieben und später in seiner Familie weitervererbt worden sein. Im zweiten Teil von Bechtels Buch .Hist. Pers.-Namen' und in Roberts , N o m s ' sind sie gesammelt. U n t e r ihnen gibt es häufig solche, die körperliche Mängel oder negative Charaktereigenschaften aufgreifen, ζ. Β. Γάστρος ,der mit dem Bauch', Τ ί ν ω ν ,der mit der Nase', — eigentlich geradezu .Nase; j e m a n d , der ganz und gar Nase ist', — wie der in

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einen Zwerg verzauberte Junge in W. Hauffs Märchen —, ferner Αισχρός ,böse', Σκαΐ,Ρος .linkisch', Φαλλΐνος ,der mit dem (großen) Phallos' und viele andere. Im Epos freilich finden sich solche abschätzigen Namen so gut wie nicht; der Dichter hat sie offenbar gemieden. Da die aus zweistämmigen Vollnamen verkürzten N a m e n o f t so gebildet werden, daß n u r ein S t a m m übrigbleibt, läßt sich öfter nicht entscheiden, o b ein von Haus aus einstämmiger N a m e oder ein sekundär gekürzter vorliegt. Ein hilfreiches Kriterium bildet die Frage, o b sich der betreffende W o r t s t a m m auch in Vollnamen belegen läßt. W e n n das der Fall ist, dann m u ß m a n die Möglichkeit der Verkürzung in Betracht ziehen. Beim P N Μ έ λ α ς z . B . gibt es zwei Erklärungsmöglichkeiten. Er kann ein Kennzeichnungsname sein: ,der Schwarze' — das m a g auf die Farbe des Haars oder der H a u t gehen - oder aber K u r z f o r m zu Μ ε λ ά ν ι π π ο ς ,der mit den schwarzen Pferden', das meint wohl: ,der einen mit R a p p e n bespannten Streitwagen f u h r t ' . - Genau Entsprechendes gilt f ü r den P N Γ λ α ύ κ ο ς .

gibt es in den homerischen Epen nicht; entsprechend kann man für die spätere alphabetische Zeit sagen, daß nur Nichtgriechen, ζ. B. Phryger oder andere Kleinasiaten, Lallnamen fuhren. Die Forschung hat sich früh gefragt, ob die epischen Dichter P N erfunden haben oder ob sie sie in den ihnen zugänglichen Traditionen schon vorfanden. Mit Sicherheit erfunden sind die der Phaiaken, und zwar als sprechende Namen'. Unter ihnen gibt es eine ganze Gruppe gleicher Bildungen: Έλατρεύς ,Ruderer', wohl suffixale Erweiterung zu έλατήρ, ferner Ποντεύς, Πρυμνεύς und Πρωρεύς, alle einstämmig, mit dem Suffix -ευ- erweitert. Diese Bauform — wir sind ihr oben S. 315 bei Φυλεύς und Ίφεύς begegnet — lag dem Dichter der Odyssee offenbar nahe; sie muß zu seiner Zeit häufig und produktiv gewesen sein. In anderen Fällen dürfte der Dichter einen vorhandenen Namen umgedeutet haben. Es gibt den heroischen P N Θερσί-λοχος ,der eine kühne Heeresabteilung führt'. Dazu ist als Kurzform ohne weiteres Θερσίτης möglich. N u n ist der Adjektivstamm θερσ- semantisch ja ambivalent: neben .wagemutig' kann er auch ,unverschämt' bedeuten. Wenn Homer seinem Θερσίτης diesen Namen beilegt, dann wegen dieses möglichen negativen Sinnes. — Entsprechendes gilt für Δόλων. Auch dieser ist als authentischer einstämmiger PN denkbar: jemand, der ganz und gar δόλος ist', denn δόλος hat ja in der Ilias durchaus auch positive Konnotationen, vgl. 3,202 ,er kannte παντοίους τε δόλους και μήδεα πυκνά'. Lallnamen

• Diesem skizzenhaften Bilde stellen wir nun die Beobachtungen zu den Namen von Linear В gegenüber. Hier ist daran zu erinnern, daß die Silbenschrift mit ihren krassen Unzulänglichkeiten oft keine eindeutigen Transliterationen erlaubt. (Beispiele dafür ersparen wir uns hier.) Infolgedessen ist ein recht großer Teil der Linear B-Namen bisher entweder gar nicht gedeutet — oder es liegen rivalisierende, bisweilen gleichwertig scheinende Vorschläge vor. Hinzu kommt, daß wir vor allem in Knossos mit zahlreichen Namen der minoischen (eteo-kretischen)

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Vorbevölkerung rechnen müssen; da sie einer unbekannten Sprache angehören, läßt sich über sie so gut wie nichts aussagen. Immerhin wird aufgrund einiger sicher oder plausibel gedeuteter N a m e n doch ein wesentlicher Grundzug der mykcnischen N a m e n g e b u n g deutlich: die bei H o m e r beobachteten drei Haupt-Bautypen mitsamt ihren Subtypen finden sich in Linear В in vollem U m f a n g wieder. Das soll im einzelnen belegt werden. Der Typ der Possessivkomposita ist im Mykenischen reichlich bezeugt, e-u-nawo kann kaum etwas anderes sein als Eu-näwos ,der gute Schiffe hat, haben soll', — identisch mit dem homerischen Ευ-νηος, nur daß dieser ionische Lautform zeigt. Entsprechend ist e-u-me-ne gewiß als Eu-menis zu deuten ,der gutes μένος hat', μένος meint etwa ,Angriffslust, Vorwärtsdrang, elan vital'. — Hier und in mehreren Fällen weist nun H o m e r zwar diesen N a m e n — w o h l zufällig — nicht auf, aber dessen beide Bestandteile (Vorderglied eu- und Hinterglied -menes) in anderen Kombinationen. Später dann - in historischer Zeit - ist auch Ευμένης gut bezeugt. Das gleiche gilt bei Eu-dämos ,der einen guten D e m o s hat' und bei Amphi-medes ,der nach allen Seiten hin fürsorglich waltet'. (Immerhin findet sich bei H o m e r der semantisch nahestehende Άμφι-μέδων.) Z u m selben Bildungstyp der Possessivkomposita gehören ferner e-u-ru-da-mo Euru-dämos, na-u-si-ke-re-we Nausi-klewes, o-ku-na-wo Öku-näwos, pe-ri-me-de Perimedes. Sowohl in Linear В wie bei H o m e r finden sich also Possessivkomposita als P N reichlich, aber sie sind in beiden Namenschätzen in bestimmter Weise thematisch eingeschränkt; sie sprechen nur von drei Themenbereichen: den positiven Charaktereigenschaften, die ein Anfuhrer in Krieg und Frieden besitzen m u ß , ferner von Besitz und schließlich von hoher Geburt bzw. guter Nachkommenschaft. Dagegen werden körperliche Merkmale in den homerischen PossessivkompositaN a m e n kaum erwähnt. D a f ü r ein Beispiel: in Linear В findet sich als Individualname ai-ti-jo-qo Aithiokws ,der ein feuerrotes oder ein sonnenverbranntes Gesicht hat'. Bei H o m e r dagegen k o m m t Αίθίοψ als Individualname nicht vor, immerhin noch als Völkername. Z w a r gibt es bei H o m e r noch Οΐν-οψ ,der mit d e m weinroten Gesicht', ferner Οιδί-πους ,der einen geschwollenen Fuß hat', der in seiner altertümlichen Bildung (Vorderglied auf-i-) genau dem Αίθί-οψ vergleichbar ist, und schließlich Μελάμ-πους ,der mit den schwarzen Füßen'; im ganzen aber ist diese Sinngruppe selten. In Linear В finden sich noch einige mit dem Hinterglied -oq- ,Gesicht', ferner re-u-ko-ro-pu2-ru vielleicht (mit einem Schreibfehler) = Leuk-ophrys ,der mit den weißen Augenbrauen'. Weiter gehört hierher w o h l o-two-we Orthw-öwis ,der aufrechtstehende O h r e n hat'. Weniger sicher ist die D e u t u n g von pu-wa-ne als Purw-änes ,der ein feuerrotes Gesicht hat'. Insgesamt sieht es so aus, als wäre dieser Typus in Linear В noch stärker verbreitet und als verliere er dann im Laufe der Zeit an Beliebtheit, denn auch das spätere alphabetische Griechisch kennt ihn kaum mehr.

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Demnach wäre hier die Entwicklung genau umgekehrt gelaufen wie im Germanischen: dort gibt es Possessivkomposita in Personennamen nur noch als Aussagen über körperliche Besonderheiten (und allenfalls Kleidungsstücke), und dieser Typ bleibt bis ins späte Mittelalter, als in Deutschland die Familiennamen aufkommen, hochbeliebt: von Rotbart, Weißhäuptel und Flashar (niederdeutsch =

Flachs-haar) bis zu Corthals,

Breitrück,

Hühnerwadel

u n d Dürrnagel

(,Nagel'

heißt Penis.). - Im Gallischen finden sich zu Caesars Zeiten ebenfalls zahlreiche PN mit Körperteilbezeichnungen: Argento-koxos ,der silberne Füße hat', Cuno-barrus ,Hunde-Kopf, dazu die, bei denen die Reihenfolge der beiden Glieder umgekehrt ist: Penno-vindus ,Kopf-weiß', Bussumarus ,Mund-groß'. — Ganz ähnlich sprechen die altindischen Namen von Kopf, Hals, Rücken, Schultern, Bauch, Nabel und Unterleib - im Grunde von allen Körperteilen. Götternamen als Bestandteile v o n P N sind auch in Linear В selten: i m m e r h i n sind m e h r e r e m i t d e m S t a m m diw-, also ,Zeus', gebildet, solche mit Hera fehlen fast ganz. ]ra-ke-re-we k a n n freilich k a u m anders als Ilerä-klewes ergänzt u n d gedeutet w e r d e n . In Pylos findet sich eine te-o-do-ra Theo-dörä. A b e r es bleibt offen, wie dieser F r a u e n n a m e genau zu verstehen ist: M e i n t er ,Geschenk der G ö t t e r ' oder ,Geschenk eines Gottes' oder etwa .Geschenk der Stadtgöttin'? Bei a-re-me-ne u n d a-re-su-ti-jo u n d einigen ähnlichen w i r d m a n w o h l mit d e m A p p e l l a t i v u m ares , K a m p f e s w u t ' , n o c h nicht m i t d e m G o t t e s n a m e n rechnen. In anderen Fällen fehlen in Linear В b e s t i m m t e N a m e n s t ä m m e ganz. Bei H o m e r sind P N m i t ίππο- sehr beliebt, i m Mykenischen haben w i r keinen einzigen g e f u n d e n . ( I m m e r h i n gibt es e-u-po-ro, dessen Hinterglied vielleicht als ρδίο,Fohlen' zu interpretieren ist.) Zufall k a n n diese Lücke k a u m sein, aber was ist die U r s a c h e dafür? — A u c h N a m e n m i t d e m S t a m m melo-, S c h a f ' fehlen in Linear В bisher ganz. D o c h gibt es o-wi-ro Owilos, zu *öfiq ,Schaf (zur B i l d u n g vgl. den späteren Χοίριλος). — Entsprechendes gilt f ü r m e h r e r e W o r t s t ä m m e , die mit d e m A u f t r e t e n in der Volksversammlung zu tun haben: im Mykenischen finden sich die S t ä m m e boulä-, peithe- oder peisi-, rhesi- in P N nicht; die alphabetische Zeit dagegen k e n n t zahlreiche N a m e n m i t diesen Elementen. Bei den verbalen Rektionskomp о sita findet sich i m Mykenischen f ü r den Typ, der im Vorderglied den Präsensstamm eines Verbs hat, ζ. B. e-ke-me-de Ekhe-medes, vgl. homerisch Έ χ έ - φ ρ ω ν . - D e n zweiten Typ, bei d e m der V e r b s t a m m auf -si(älter -ti-) ausgeht, ist i m Mykenischen ζ. B. durch e-ti-ra-wo belegt, was sich als Erti-läwos deuten läßt ,der seinen Kriegshaufen z u m K a m p f anspornt, aufreizt'. (Diese D e u t u n g w i r d dadurch gestützt, daß der homerische N a m e Λα-έρτης dieselben beiden Bestandteile bietet, n u r in u m g e k e h r t e r Reihenfolge.) Ferner heißt ma-na-si-u>e-ko w o h l Mnäsi-wergos. Dieser ist nach-homerisch als Μ ν η σ ί εργος belegt; bei H o m e r finden sich wenigstens das Vorderglied μνησι- (in Μ ν η σ ί αλκος), dagegen nirgends in N a m e n das Hinterglied -έργο- < ,ίεργο-, w ä h r e n d es in den inschriftlich bezeugten alphabetischen P N dann sehr häufig erscheint. W i e d e r ist da zu fragen, ob Zufall oder b e w u ß t e V e r m e i d u n g im Spiel ist. Z u diesem Typus stellt sich w o h l weiter n o c h mykenisch ke-sa-do-ro Kess-andros, etwa ,der die (anderen) M ä n n e r ü b e r t r i f f t ' (vgl. den homerischen P N Κασσ-άνδρα mit retrograder Vokalassimilation), ferner ne-ti-ja-no, w e n n er richtig als Nesti-änör

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,der seine Mannen heil nach Hause zurückbringt' interpretiert wird, sowie Ortinäwos ,der die Schiffe antreibt', vgl. homerisch Όρτί-λοχος (daneben Όρσί-λοχος), und ta-ti-qo-we-u Stäti-gwow-eus (mit Suffix eu. Dieser gehört also zu dem oben S. 315 erwähnten Typ *Φιλο-μηλεύς usw.). Im späteren Griechischen findet sich immerhin Στάσ-ιππος; dagegen fehlt bei Homer das verbale Element στησι- in den Namen. — Ebenso gehört wahrscheinlich hierher der verstümmelt erhaltene ]-ke-ti-ra-wo, der nach Heubeck zu Akesti-läwos, aber vielleicht auch zu Egertiläwos ergänzt werden kann. Der Subtyp der Rektionskomposita, bei dem das regierende (verbale) Element im Hinterglied steht, ist im Mykenischen ebenfalls nachweisbar: ra-wo-do-ko Läu>odokos ,den Laos aufnehmend' entspricht dem homerischen Λαό-δοκος genau, sein Pendant ra-wo-po-qo Läwo-phorgwos ,den Laos nährend, verpflegend' hat im homerischen Εϋ-φορβος eine halbe, im späteren inschriftlichen Λεώ-φορβος die volle Entsprechung. Auch der Typus mit nomen actoris im Hinterglied ist gut bezeugt: pi-ro-ne-ta Philo-nestäs ,der die Seinen (heil) nach Hause bringt'. Die präpositionalen Rektionskomposita finden sich ebenfalls schon im Mykenischen: a-ti-pa-mo

Anti-phämos,

o-pi-ri-mi-ni-jo

Opi-limnios

(opi ist a b l a u t e n d e V a r i a n t e z u

epi), vielleicht auch einige mit epi und meta. Dagegen fehlen Bildungen mit hyper und

hypo.

Zu den Determinativ-Komposita, deren Hinterglied ein Verbaladjektiv auf -to- ist, gehören im Mykenischen mehrere interessante Bildungen, z.B. i-su-kowo-do-to Iskhuwo-dotos ,mit Kraft begabt'. Dem homerischen Πρό-κριτος entspricht etwa me-ki-to-ki-ri-ta Megisto-kritä ,die als die größte eingeschätzt wird'. Das ist die feminine Movierung eines *Megisto-kritos, vgl. den späteren Άριστόκριτος. μέγιστο- als Namenselement fehlt zwar — wohl nur zufällig — bei Homer, ist aber später dann gut belegt. — Die Silbenfolge a-wi-to-do-to kann kaum anders als Awisto-dotos transliteriert werden; das könnte etwa bedeuten: ,von den Unsichtbaren beschenkt (oder: geschenkt)'. — Die beiden Elemente von myken. pe-re-kuwa-na-ka Presgu-wanax sind ebenfalls beide nicht bei Homer, wohl aber mehrfach in späteren alphabetischen P N belegt; ihre Kombination dagegen nur in Linear B. Kurzformen gibt es auch schon in Linear В zahlreich: neben pe-ri-me-de steht ein pe-ri-mo, neben pe-ri-to-wo ein pe-ri-to, dem Δάμασος Homers entspricht formal genau ein ma-na-so Mnäsos. D e n N a m e n ta-ra-to deuten w i r als Stratos o d e r Startos,

er entspricht ziemlich gut dem (suffixal erweiterten) homerischen Στράτιος. (Dagegen sind Vollnamen mit Στράτο- bei Homer — wohl zufällig — nicht belegt.) Das Vorderglied alexi- ist in a-re-ke-se-u Alexeus V o r d e r g l i e d onasi- i n Onäseus,

kharisi-

i n ka-ri-se-u

verbaut, entsprechend das

Khariseus

u n d ein p a a r w e i t e r e n .

Als Fem. sei ke-ra-so Kerasö genannt. — Für diesen Typus, der im Mykenischen anscheinend produktiv war, finden wir bei Homer merkwürdigerweise nur drei Entsprechungen, obwohl dieser viele Namen auf-ευς benützt (und selbst schafft): den Frauennamen Καλυψώ, ferner Θησεύς und Περσεύς. Aber weder καλυψι-

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noch 9ησι- oder πέρσι- kommen in homerischen Vollnamen vor. Immerhin gibt es bei Aischylos ein Appellativum περσέ-πολις. Hier ist also wohl in den fünf Jahrhunderten der dunklen Zwischenzeit ein Bautyp unüblich geworden. Bildungen mit dem Suffix -won- sind mehrfach belegt: a-mu-ta-wo Amuthäwön, ma-kawo Makhäu/δη usw. Dem Suffix -της in Θερσίτης entspricht im Mykenischen -täs z . B . inpo-to-re-ma-ta

Ptolemätäs.

Auch die letzte große Gruppe, die einstämmigen P N , ist in Linear В reich bezeugt, sie dürfen daher nicht als junge Erscheinung angesehen werden: es gibt ko-so-u-to Xouthos, e-ru-ta-ra Eruthrä ,rot', de-ki-si-u>o Dexiwos .geschickt', o-ku Okus ,schnell', ta-na-wo Tanawos , d ü n n ' , ka-ra-u-ko Glaukos (identisch m i t d e m

homerischen Γλαύκος) usw. Unter ihnen finden sich durchaus Namen mit negativer Aussage, die unsere englischen Kollegen sehr hübsch .uncomplimentary names' nennen, na-pu-ti-jo ist zweifellos mit dem Adjektiv νηπύτιος ,kindisch, unverständig' identisch, und Wroikos ,der Krumme' ( = ροικός) weist auf ein körperliches Gebrechen hin. Bei si-mo, das als Simos oder Simön ,der mit der Stupsnase' zu transliterieren ist, hat ein auffallendes Merkmal des Gesichts den Spott herausgefordert, ki-da-ro ließe sich als Skidaros transliterieren und mit der Hesychglosse σκιδαρόν· άραιόν verknüpfen, die durchaus ein echt-griechisches Erbwort bewahrt haben könnte, ai-ta-ro-we ist wohl als Aithalowents ,rußig' zu deuten; ob sich das auf die Hautfarbe bezieht oder eine andere Bewandtnis hat (etwa ursprünglich auf einen Beruf hinweist), bleibt leider offen. — Ein vergnügliches Rätsel bietet der Name ti-ri-po-di-ko Tripodiskos: Aus welchen Motiven heraus mag man im Pylos des 13.Jh.s jemanden ,Dreifüßchen' genannt haben? Die spätere Zeit, etwa der Hellenismus, bietet immerhin gewisse Parallelen dazu; da kann jemand Χυτρίς ,Töpfchen' heißen oder Κώθων ,Krug'. — Im Mykenischen sind also solche Namen, die auf körperliche Eigenheiten und Mängel hinweisen, als P N recht beliebt. Homer dagegen — wie gesagt — meidet sie; die spätere alphabetische Zeit weist sie dann wieder in Fülle auf. Gängig sind im Mykenischen auch einstämmige PN, die auf den Ort der Herkunft weisen: u-ra-jo viell. Hulaios ,der aus dem Ort Hulä — Wald', na-si-jo Näsios ,der von der Insel' usw. Noch nicht untersucht ist, ob sich in Linear В zwischen den Trägern der zweiund der einstämmigen Namen soziale Unterschiede feststellen lassen. Bevor wir zusammenfassend fragen, was die Vergleichung lehrt, sei noch einmal darauf hingewiesen, wodurch unsere Aussagemöglichkeiten eingeschränkt sind: a) Nicht wenige Namen in Linear В entziehen sich noch einer Deutung; in ihnen kann manches stecken, was die folgenden Aussagen relativiert. — b) Gegenüber vielen Tausenden von späteren alphabetischen Namen sind die 800 homerischen Namen und die deutbaren mykenischen so geringe Mengen, daß immer auch mit dem zufälligen Fehlen bestimmter Bildungen und Bildungstypen zu rechnen ist.

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1) Insgesamt aber ergibt sich doch der Eindruck, daß sowohl die Bauformen der PN, ihre Strukturtypen wie die semantischen Bereiche in Linear В und in den beiden Epen dieselben sind. In zahlreichen Fällen stimmen sogar die verwendeten Wortstämme überein. Dasselbe gilt für die späteren alphabetischen P N . — Das Mykenische, dieser ältestbezeugte griechische Dialekt, hat also Teil am gemeingriechischen Namen wesen. Für Homer deutet das darauf, daß er — oder schon seine Quellen und Vorgänger — zuverlässige Kenntnis von real existierenden P N aus früheren Jahrzehnten, vielleicht Jahrhunderten, gehabt hat. Gewiß konnte er aus der Tradition PN übernehmen, die seit Generationen an bestimmten Plätzen von herkunftsstolzen Familien im Gedächtnis bewahrt wurden. Heubeck hat einmal darauf hingewiesen, daß die Namen der Brüder 'Αγαμέμνων und Μενέλαος ursprünglich beide den Verbalstamm μενε- ,standhalten' in sich bargen. In -μεμνων ist er durch eine Metathese nm > mn undeutlich geworden. Da man Verwandten gern Namen gab, die einen Wortstamm gemeinsam hatten, wird hier vermutlich sogar echte historische Tradition faßbar. Denn daß erst der Dichter der Ilias die beiden P N miteinander verbunden habe, ist kaum wahrscheinlich, weil die Metathese deren ursprünglichen Anklang zerstört hatte. 2) Auch Restriktionen stimmen überein. So werden Götternamen sowohl im Mykenischen wie bei Homer nur selten als Bestandteile von Menschennamen benützt (Ausnahme vor allem Zeus), ferner gibt es nur wenige Possessivkomposita, die von körperlichen Eigenschaften sprechen (und die Tendenz scheint sinkend zu sein), und schließlich treten manche Präpositionen in Namen nicht auf. 3) Bestimmte Unterschiede deuten vermutlich auf Wandlungen im gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Bereich. Wenn der Wortstamm i-qo in den mykenischen Namen noch fehlt, dann war vielleicht der Besitz von Pferden damals beim Adel noch nicht - oder noch nicht lange — üblich. - Und wenn Termini der Ratsversammlung noch nicht in Namen auftauchen, dann könnte das daran liegen, daß diese politischen Institutionen erst später geschaffen worden sind oder größere Bedeutung erlangt haben. 4) In mehreren Fällen wird wohl damit zu rechnen sein, daß bestimmte Namensstämme oder auch Kürzungstypen einfach aus der Mode gekommen, andere dafür beliebt geworden sind. So findet sich vielleicht im mykenischen P N kuka-do-ro Kuk-andros der Verbalstamm kuka- ,umrühren, durcheinanderbringen' (κυκάω). Weder bei Homer noch in späterer alphabetischer Zeit taucht er in PN auf. Entsprechend liegt in qe-da-do-ro wohl der dann im Griechischen verlorengegangene Verbstamm *kwed- (Pokorny 636) vor, der ,antreiben, scharf machen' bedeutet (dt. ,wetzen' ist verwandt), also etwa ,der seine Mannen in den Kampf hetzt'. Umgekehrt ist bisher z.B. der Stamm tim- ,ehren' — später einer der beliebtesten — in Linear В nicht nachgewiesen. 5) Entsprechendes gilt für bestimmte Bildungstypen wie den Typ Alexeus (mit der Suffixkoppelung -s(i)-eu-), aber auch fur bestimmte Suffixe: so scheint

324

Günter Neumann

in Linear В noch häufiger zu sein als später: Typ ke-re-wa Klewäs/Klewantos oder e-te-wa Etewäs, Etewantos; bei Homer sind immerhin noch Α'ΐας, Αιαντος und Θόας, Θόαντος belegt. 6) Im Epos gibt es einige wenige Regelungen, die mit dem Gefühl für Dezenz zusammenhängen könnten. So werden — wie gesagt: im Gegensatz zu Linear В und der späteren alphabetischen Zeit — bei den einstämmigen Namen die abschätzigen, spöttischen gemieden. — Und bei den zweistämmigen Vollnamen könnte es sein, daß der Dichter bestimmte Stämme absichtlich meidet, etwa κοπρο- ,Kot' (diesen benützt er immerhin einmal, Ilias 15,639) oder auch φυγε,fliehen' (so wie er bei den Appellativa z.B. πυγή nicht benützt). Beide Namenstämme finden sich dagegen sowohl in Linear В wie in den späteren alphabetischen Texten, pu-ke-qi-ri, der Name eines Notabein in Pylos, besagt vielleicht ,der der Gewalt entweicht' Phuge-gwrTs, und später ist immerhin ein Φυγοστρατίδης belegt (Bechtel 1917 (1), 459). Im Falle von Θερσίτης und Δόλων, zwei negativen Gestalten des Epos, hat Homer existierende Namensstämme herangezogen und die Tatsache ausgenutzt, daß sie neben durchaus positiven Assoziationen auch die gegenteiligen auslösen konnten. Am Ende dieses Überblicks stellen wir fest: Von der mykenischen bis in die klassische Epoche (und später) halten die Griechen bei der Prägung von P N an der inhaltlichen Thematik und an den formalen Bilderegeln fest. Doch fühlen sie sich frei, Wortstämme neu zur Namensbildung heranzuziehen und so den Kreis der Themen zu erweitern. - Insgesamt besteht — über die Dunklen Jahrhunderte hinweg — eine lange Kontinuität; in diese fugen sich die P N der beiden großen homerischen Epen erstaunlich genau ein. -ant-

Index der behandelten Namen 1. Alphabetschriftliche Namen 'Αγάδων 317 'Αγαμέμνων 314, 323 Άγριος 317 'Αγχίαλος 314 Άγχίσης 316 "Αδμητος 315 Αϊας 324 *Αίγισδένης 315 Αίγισθος 315 Αίθίοψ 319 Α'ίθρη 317 Αίσχρος 318 'Αλέξανδρος 316

Αμφιθέη 317 Αμφιμέδων 319 Αμφιτρύων 315 Ανδρομάχη 316 Αρηίθοος 317 Άρηίλυκος 317 Αριάδνη 314 Αριστόκριτος 321 Αύτόλυκος 314 Αχιλλεύς 316 Βίας 317 Βιήνωρ 316

Γάστρος 317 Γλαύκος 318 Δαμάσιππος 315 Δάμασος 315, 316, 321 Δάρης 316 Δημόδοκος 317 Δημολέων 314 Διομήδης 317 Δΐος 317 Διώρης 317 Δόλων 318, 324

Die homerischen Personennamen Έκτωρ 315 Έλάσιππος 315 "Ελασος 315 Έλατρεύς 318 Εύγένης 317 Εύδάμισκος 315 Εϋιππος 314 Εύμένης 319 Εϋνηος 319 Έύρυσθένης 315 Εύρυσθεύς 315 Εϋφορβος 321 'Έχεκλέης 315 Έχένηος 315 Έχέφρων 315, 320 "Ηρα 317 Ήρακλέης 317 Θεοκλύμενος 317 Θερσίλοχος 318 Θερσίτης 318, 322, 324 Θησεύς 321 Θιοδώριχος 315 Θόας 317, 324 Ίκάριος 316 Ίφεύς 315, 318 Ίφιδάμας 315 Καλήτωρ 317 Καλυψώ 321 Κασσάνδρα 320 Κοίρανος 317 Κτήσιππος 317 Κώθων 322 Λαέρτης 320 Λαόδοκος 317, 321 Λεοντεύς 317

Λεώκριτος 315 Λέων 316 Λεώφορβος 321 Λύκος 316 Λυκοφόντης 314 Λύκων 316 Μαχά/ων 315 Μαχάπολις 315 Μελάμπους 319 Μελάνιππος 318 Μέλας 318 Μενέλαος 316, 323 Μέσθλης 316 Μνησίαλκος 320 Μνησίεργος 320 Νεοβούλη 316 *Νεσέλα.ίΓος 315 Νέστωρ 315 Νιόβη 316 *Νιοβούλη 316 Νοήμων 317 'Οδυσσεύς 316 Οιδίπους 319 Οινόμαος 314 Οϊνοψ 319 Όρσίλοχος 321 Όρτίλοχος 321 Πάνδαρος 316 Πάνθοος 314 Πάρις 316 Πατροκλέης 315 Πάτροκλος 315 Περίβοια 317 Περσεύς 316, 321 Πιτθεύς 316 Πολύμηλος 317

Πολυφήτης 314 Ποντεύς 318 Πρίαμος 316 Πρόκριτος 321 Πρυμνεύς 318 Πρύτανις 317 Πρωρεύς 318 'Ρήσος 316 'Ρίνων 317 ΣκαΪΓος 318 Στάσιππος 321 Στράτιος 321 Σφήλος 317 Σωστρατϊνος 315 Τέρπανδρος 314 Τερψίχορος 314 Τηλέμαχος 315 Τήλεμος 315 Φαίδιμος 317 Φάλκης 316 Φαλλΐνος 318 Φείδας 315 Φείδιππος 315 Φιλοκτήτης 314 Φιλομηλείδης 315 *Φιλομηλεύς 315 •Φιλόμηλος 315 Φρόνιος 317 Φυγοστρατίδης 324 Φυλεύς 315, 318 Φυλομέδουσα 315 *Φυλομέδων 315 Χοίριλος 320 Χρυσαορεύς 315 Χυτρίς 322

2. Transkribierte Aithalowents 322 Aithiok w s 319 Akestiläwos 321 Alexeus 321 Amphimedes 319

Amuthäwön 322 Antiphämos 321 Awistodotos 321 Dexiwos 322

Ekhemedes 320 * Egertiläwos 321 Ertiläwos 320 Eruthra 322 Etewäs 324

326 Eudämos 319 Eumenes 319 Eunäwos 319 Eurudämos 319 Glaukos 322 Hera 320 Heraklewes 320 Hulaios 322 Iskhuwodotos 321 Kerasö 321 Kessandros 320 Khariseus 321 Klewäs 324 Kukandros 323 Läwodokos 321

Günter Neumann Läwophorg w os 321 Leukophrus 319 Makhäwön 322 Megistokritä 321 * Megistokritos 321 Mnäsos 321 Mnäsiwergos 320 Näsios 322 Nausiklewes 319 Nestiänör 320 Okunäwos 319 Ökus 322 Onäseus 321 Opilimnios 321 Orthwöwes 319 Ortinäwos 321 Owilos 320

Perimedes 319 Philonestäs 321 Phugeg w ris 324 Purwänes 319 Presguwanax 321 Ptolemätäs 322 Simon 322 Simos 322 Skidaros 322 Startos 321 Stätig w oweus 321 Stratos 321 Tanawos 322 Theodörä 320 Tripodiskos 322 Wroikos 322 Xouthos 322

3. Linear B-Namen ai-ta-ro-we 322 ai-ti-jo-qo 319 a-mu-ta-wo 322 a-re-ke-se-u 321 a-re-me-ne 320 a-re-su-ti-jo 320 a-ti-pa-mo 321 a-wi-to-do-to 321 de-ki-si-wo 322 e-ke-me-de 320 e-ru-ta-ra 322 e-te-wa 324 e-ti-ra-wo 320 e-u-me-ne 319 e-u-na-wo 319 e-u-po-ro 320 e-u-ru-da-mo 319

ke-re-wa 324 ke-sa-do-ro 320 ki-da-ro 322 ko-so-u-to 322 ku-ka-do-ro 323 ma-ka-wo 322 ma-na-si-we-ko 320 ma-na-so 321 me-ki-to-ki-ri-ta 321 na-pu-ti-jo 322 na-si-jo 322 na-u-si-ke-re-we 319 ne-ti-ja-no 320

i-su-ko-wo-do-to 321

o-ku 322 o-ku-na-wo 319 o-pi-ri-mi-ni-jo 321 o-two-we 319 o-wi-ro 320

ka-ra-u-ko 322 ka-ri-se-u 321 ke-ra-so 321

pe-re-ku-wa-na-ka 321 pe-ri-me-de 319, 321 pe-ri-mo 321

pe-ri-to 321 pe-ri-to-wo 321 pi-ro-ne-ta 321 po-to-re-ma-ta 322 pu-ke-qi-ri 324 pu-wa-ne 319 qe-da-do-ro 323 ra-wo-do-ko 321 ra-wo-po-qo 321 re-u-ko-ro-pu 2 -ru 319 si-mo 322 ta-na-wo 322 ta-ra-to 321 ta-ti-qo-we-u 321 te-o-dö-rä 320 ti-ri-po-di-ko 322 u-ra-jo 322 ]ra-ke-re-we 320 ]-ke-ti-ra-wo 321

327

Die homerischen Personennamen

4. Z u m Vergleich herangezogene Namen Argentokoxos Breitrück Bussumarus Corthals

kelt. dt. kelt. dt.

320 320 320 320

Cunobarrus Dürrnagel Flashar Hühnerwadel

kelt. dt. dt. dt.

320 320 320 320

Pennovindus Rotbart Weißhäuptel

kelt. dt. dt.

Bibliographie

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328 Рокоту

Günter Neumann

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IV Mythenforschung und Religionswissenschaft im Zusammenhang mit Homer

FRITZ GRAF

Religion

und Mythologie Forschung

im Zusammenhang und

mit

Homer:

Ausblick

1. Einleitung Das Nachdenken über Religion und Mythos im Zeitalter Homers, in seiner Welt und in seiner Dichtung, fuhrt rasch aus der einen Epoche des 8.Jahrhunderts und den beiden Gedichten von Ilias und Odyssee hinaus in die Gesamtheit griechischer Religion und Mythologie, wenn denn Herodot recht haben sollte mit seinem vielzitierten Diktum, Hesiod und Homer hätten den Griechengöttern Herkunft (θεογονίην), Benennungen (επωνυμίας), Funktionen (τιμάς) und Tätigkeitsbereiche (τέχνας), mithin die gesamte Welt von Mythos und Ritual, bestimmt.^ So kann denn in der Folge sicher keine Gesamtdarstellung von Religion und Mythos im Zeitalter Homers gegeben werden, zumal der jüngsten Zusammenschau kaum grundsätzlich Neues hinzuzufügen wäre. 2 ' Doch auch ein umfassender Forschungsbericht sprengt die Schranken des zur Verfugung stehenden Raumes. So soll der Gang der Forschung seit dem späten 18.Jahrhundert nur anhand der markantesten Punkte nachgezeichnet werden, immer mit einem Blick auf die Gesamtheit des kulturellen Lebens, denn in keinem Bereich prägen bewußte und unbewußte Voraussetzungen und Präokkupationen der eigenen Kultur auch die wissenschaftliche Deutung mehr als in der Religionsgeschichte; wenigstens ansatzweise soll nach dem Blick auf den Gang der Forschung versucht werden, den gegenwärtigen Stand der Forschung in den zentralen Bereichen zu umreißen und einen Blick in die Zukunft zu skizzieren.

Auflösung der bibliogr. Abkürzungen unten S. 361. '' Hdt. 2,53. - J. N . Bremmer hat das Manuskript in einer früheren Version gelesen und kritisch gefördert. 2 ' W. Burkert, Griechische Religion der archaischen und klassischen Epoche, Stuttgart/Berlin/ Köln/Mainz 1977, 191-199 [ = Religion]. - N o c h immer lesenswert ist auch der Überblick von P. Chantraine. Le divin et les dieux chez Homere, in: La notion du divin depuis Homere jusqu'ä Piaton (Entretiens sur l'antiquite classique 1), Vandoeuvres-Genf 1954, 47-94; kaum Neues gibt A. Severyns, Les dieux d'Homere, Paris 1966.

332

Fritz Graf

Von der Mythen- und Religionsforschung her gesehen, bildet dabei das Jahr von Wolfs .Prolegomena' keine Epochengrenze: Wolfs Buch, so groß sein Einfluß auch war, hat auf die eben erst als besondere Disziplin entstehende mythologische Forschung zunächst kaum durchgeschlagen, während Religionswissenschaft als eigenes Gebiet noch gar nicht existierte. 3 ' Überhaupt ist zu konstatieren, daß die Epochengrenzen zwischen Homerikern einerseits, Mythologen und Religionswissenschaftlern andererseits kaum übereinstimmen — beide gingen oft genug getrennte Wege, auch wenn sie alle von Homer sprachen. Ein Einschnitt freilich ist unübersehbar, doch ist er nicht spezifisch für diese oder jene Disziplin: es ist jene große Zäsur des Ersten Weltkrieges, der deutlich das Ende eines Zeitalters markierte, als solches von den feinfühligeren Zeitgenossen auch sogleich wahrgenommen wurde. Hier fand der große spekulative Aufschwung der Mythenund Religionsforschung des späteren 19.Jahrhunderts ein abruptes Ende, blieben abschließende Werke wie Monumente einer vergangenen Epoche stehen — Frazers dritte und letzte Ausgabe von ,The Golden Bough' (seit 1911), Jane Ellen Harrisons ,Themis' (1912) und ,Epilegomena to the Study of Greek Religion' (1921)4', Dürkheims ,Les formes elementaires de la vie religieuse' (1912).5' Hier geschah aber auch, was Dietrich Mülder „den hoffnungslosen Zusammenbruch des Wolfianismus" nannte 6 ', der Homeranalyse, die das gesamte 19.Jahrhundert dominiert hatte; entsprechend häuften sich die Synthesen, die durch kritische Sichtung der Forschung retten wollten, was zu retten war, oder auch bloß Historiographie trieben, die Werke von Paul Cauer, Georg Finsler, Erich Bethe, Engelbert Drerup vor allem. 7 '

3) Forschungsberichte: Z u r Mythologie W. Burkert, Griechische M y t h o l o g i e und die Geistesgeschichte der M o d e r n e , in: Les etudes classiques aux X I X е et X X е siecles. Leur place dans l'histoire des idees (Entretiens sur l'antiquite classique 26), Vandoeuvres-Genf 1980, 159-199 (mit früherer Lit.): zur Religionsgeschichte M . P . Nilsson, Geschichte der griechischen Religion, Bd. I 3 , M ü n chen 1967, 3—13 [ = Geschichte] (ausfuhrlich, doch ohne Berücksichtigung der neuen E n t w i c k lungen); Burkert, Religion 21-27; A. Henrichs, Die Götter Griechenlands. Ihr Bild im Wandel der Religionsgeschichte (Thyssen-Vorträge 5), B a m b e r g 1987. 4) Was folgte, waren Neuauflagen: die 3 . A u f l . der ,Prolegomena' 1922 ( l . A u f l . 1903), die 2. Aufl. von .Themis' 1927. - Z u Jane Ellen Harrison u n d der C a m b r i d g e School unten A n m . 40. 5) Auch die Todesdaten sind sprechend: Usenet w a r 1905, Albrecht Dieterich 1908 gestorben, der letzte B a n d von Useners Kleinen Schriften mit den Arbeiten zur Religionsgeschichte k a m 1913 heraus, Edward B. Tylor, der B e g r ü n d e r der kulturellen Evolutionstheorie, starb 1917, William Robertson Smith w a r schon 1894, Erwin Rohde 1898 gestorben. 6) D . Mülder, Bericht über die Literatur zu H o m e r (Höhere Kritik) f ü r die Jahre 1912-1919, in: Jahresbericht über die Fortschritte der klassischen Altertumswissenschaft 182, 1920, 1. N u r W i l a m o w i t z ü b e r b r ü c k t die Zäsur — die .Homerischen U n t e r s u c h u n g e n ' erschienen 1884, ,Die Ilias u n d H o m e r ' 1916 (in 2. Aufl. 1920), .Die H e i m k e h r des Odysseus' 1927. Ί> P. Cauer, G r u n d f r a g e n der H o m e r k r i t i k , Leipzig 1895, 2 1909, 3 1923 [ = Grundfragen]; G. Finsler, H o m e r . Bd. 1: D e r Dichter u n d seine Welt, Leipzig 1908 (Leipzig/Berlin 2 1913), H o m e r

Religion und Mythologie im Zusammenhang mit Homer

333

2. Die Voraussetzungen im 18.Jahrhundert Im Mittelpunkt des Interesses stand im 19.Jahrhundert, d e m Jahrhundert der deutschen Homerforschung, die Mythologie, nicht die Religion in ihrer Beziehung zu H o m e r : man fragte nach der Entstehung und Entwicklung des h o m e r i schen Epos — und damit auch nach dem Verhältnis von Epos und Mythos. A m Ende des Jahrhunderts resümierte Hermann Usener, nicht ohne im Bild seine Wertung gleich einzubringen: Den einen ist alles, was durch die Hand des Dichters geht, lauteres Gold der Göttersage, den anderen handfestes Erz der Geschichte, um von der dritten Auffassung abzusehen, welche der freien Erfindung des Dichters ihr Recht zu wahren sucht. Für jene muß es ein Glaubenssatz sein, daß alle Helden, welche in der Dichtung handelnd eingeführt werden, ehemals als Götter gegolten haben; diese vermögen keinen Namen der Dichtung hinzunehmen, den nicht die geschichtliche Erinnerung dem Dichter zur Verfügung gestellt hätte. 8 '

Die hier definierten zwei Ansätze, der religiöse und der historisierende - der dritte interessiert uns ebensowenig wie Usener —, waren bereits vor der Jahrhundertmitte ausformuliert gewesen, hatten das Jahrhundert dominiert und stellten bis vor kurzem eigentlich die einzigen Möglichkeiten dar, sich die H e r k u n f t des epischen Stoffs zu denken. Ihre A u s f o r m u n g ruhte auf den Vorbereitungen der Wissenschaft des 18.Jahrhunderts auf, die zwei Dinge bereitgestellt hatte — eine neue Ernsthaftigkeit im U m g a n g mit M y t h e n und eine neue Auffassung von H o m e r ; beides hing nicht direkt zusammen, w a r Folge der wachsenden Entfernung der Gesamtkultur von der Antike. Das N e u e am Homerbild des späteren 18.Jahrhunderts ist, daß H o m e r aus dem Verband mit Vergil, Dante, Milton gelöst und archaisiert wird zu einem frühen Barden, von dem viele annahmen, er habe vor Erfindung der Schrift gelebt, auch wenn seine Epoche nicht allen völlig klar war, der jedenfalls in der Erfindung und Behandlung seiner Stoffe nicht ohne weiteres an den Kriterien der späteren Literatur gemessen werden durfte — Wolfs Verdienst besteht weniger in der Originalität seiner Ideen (deswegen hat m a n ihm von Cesarotti bis Victor Berard Plagiarismus vorwerfen können) 9 ' als in der Konsequenz, mit der er diese Archai-

in der Neuzeit, Leipzig/Berlin 1912; E. Bethe, Homer. Dichtung und Sage, 3 Bde., Leipzig/ Berlin 1914—1927; E. Drerup, Das Homerproblem in der Gegenwart, Würzburg 1921. 8) H. Usener, Der Stoff des griechischen Epos, Sitzungsberichte der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien, Philosophisch-Historische Classe, Bd. 137: 3, 1897, 1 = Kleine Schriften, Leipzig/Berlin 1913, Bd. 4, 199 [ = Stoff], 9 > Vgl. A. Grafton, Prolegomena to Friedrich August Wolf, Journal of the Warburg and Courtauld Institutes (JWCI] 44, 1981, 101-129 (der die Abhängigkeit von Wolfs Methode von J. G. Eichorns .Einleitung ins Alte Testament', Göttingen ab 1780, aufweist) sowie die Einleitung zur engl. Ubersetzung von Wolfs Prolegomena (besorgt von A. Grafton/G.W. Most/J.E.G. Zetzel), Princeton 1985, bes. 18-27. - Das furiose Pamphlet von Victor Berard (Un mensonge de la science allemande. Les ,Prolcgomenes a Homere' de Frederic Auguste Wolf, Paris 1917),

334

Fritz Graf

sierung Homers vollzogen und die Folgerungen fur unseren Text der beiden Epen gezogen hat. 10 ' Eine ähnliche Archaisierung geschah mit dem Mythenbegriff. Aus der fabula mit dem Nebensinn des Unverbindlichen, ja Erfundenen hatten Heyne, Herder und Vico den mythus gemacht, Ausdruck des frühesten Denkens einer j u n g e n Menschheit, Spiegel ihrer Begegnung mit Natur, Geschichte u n d dem Göttlichen: das gab den M y t h e n eine neue Verbindlichkeit u n d Ernsthaftigkeit; ihre gelegentliche Absurdität w a r bloß scheinbar, Folge unserer falschen modernen Sehweise: auch hier, wie bei Homer, hatte die naive Selbstverständlichkeit, die Antike aus der eigenen Kultur heraus unmittelbar fast als Teil dieser eigenen Kultur zu begreifen, einem reflektierenden, historisierenden, bald einmal wissenschaftlichdistanzierten Verstehen Platz gemacht. 1 1 ' Mythos als Ausdruck des frühen Denkens und H o m e r als Sänger der frühen Menschen blieben zunächst noch getrennt, aus verschiedenen Gründen. Heyne, der mythus zum Fachwort gemacht hatte, stellte in seiner Iliasausgabe Wolfs archaischem H o m e r seinen Spätling gegenüber, den genialen O r d n e r einer langen Tradition, der im 6.Jahrhundert ü b e r k o m m e n e Lieder unter dem μ ή ν ι ς - Μ ο ύ ν zusammenordnet u n d den ganzen Götterapparat als Organisationshilfe erfindet — dieser H o m e r ist Jahrhunderte v o m U r s p r u n g des Mythus entfernt, und auch wenn das Epos mythische Traditionen a u f n i m m t , ist es doch streng zu trennen v o m Mythos. 1 2 ' Das tönt uns vertraut.

erschienen zu einer Zeit, als solche Dinge weniger der Wissenschaft als der nationalen Selbstbestätigung dienten, ist zu Recht vergessen; vgl. zu V. Berard jetzt P. Judet de La C o m b e , C h a m p universitaire et etudes homcriques en France au 19eme siecle, in: M . Bollack/H. Wismann (Hrsgg.), Philologie und Hermeneutik im 19.Jahrhundert II, Göttingen 1983, 55-58. 10 ' F. A. Wolf, Prolegomena ad H o m e r u m , Halle 1795, 33 (zitiert nach der 3.Aufl., besorgt von R . Peppmüller, Halle 1884) [ = Prolegomena]: „ n o n d u m enim prorsus eiecta et explosa est e o r u m ratio, qui H o m e r u m et Callimachum et Virgilium et N o n n u m et Miltonem eodem animo legunt." - Bezeichnend ist, daß am Ende des Jahrhunderts, bei der Rückkehr zur unitarischen Position, der Vergleich wieder gemacht wird: Carl Rothe, Die Ilias als Dichtung, Paderborn 1910, 85—87, der H o m e r mit Schiller, С. M. Bowra, Tradition and Design in the Iliad, O x f o r d 1930, 224f., der ihn mit Milton vergleicht und aus ihm erläutert. Z u r Geschichte der Mythologie im 18.Jh. vgl. F.E. Manuel, T h e Eighteenth Century Confronts the Gods, Harvard 1959; J. Starobinsky, Le m y t h e au XVIII е siecle, Critique 366, 1977, 975-997; F. Graf, Griechische Mythologie, München 1985, 15-38 (mit der früheren Lit.) [ = Mythologie]; vgl. auch die Angaben b e i J . N . B r e m m e r (Hrsg.), Interpretations of Greek Mythology, London 2 1988, 282 [ = Interpretations], 12) C . G . Heyne, H o m e r i carmina cum brevi adnotatione, Leipzig/London 1802, Bd. 4, 168-173 (De interventu deorum in Homero): die Mythen sind an sich uralt, „cum inter priscos et rüdes populos dii interesse rebus humanis sint crediti" (168), jedoch „haec numina [Homeri scilicet] cum ipsis religionibus nihil praeter n o m e n c o m m u n e habe(nt)" (171); vgl. Bd. 5, 517-521 (De mythis Homericis): Heyne trennt nach der H e r k u n f t historische, physikalische und religiöse Mythen; H o m e r habe bloß die historischen Mythen rein ü b e r n o m m e n , die übrigen historisiert.

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Die Modernität lag allerdings zuerst nicht bei diesem Heyne'schen Homer, sondern bei Wolfs archaisiertem. Wolf selber brachte Mythos und Epos einfach deswegen nicht zusammen, weil er sich nicht für die Herkunft der epischen Stoffe interessierte; man hat den Eindruck, daß er die Dinge kaum schied. Denn fest stand ihm, daß H o m e r seine Stoffe durch die Tradition überkommen hatte und daß er an dieser Tradition nichts veränderte, nichts verändern durfte. 1 3 ' Die Divergenzen sind grundsätzlich: die eine Seite, die Heynes, trennt Epos von Mythos und Religion, die andere, Wolfs, läßt mindestens Nähe von Mythos und Epos zu, erlaubt auch, das Epos als verläßliche Quelle für frühe Religion zu nehmen — wie denn tatsächlich für Wolf in seinem frühen Aufsatz über die Opfer H o m e r ein wichtiger Zeuge ist. 14 '

3. Die Herkunft des Epos: Mythos, Epos und Geschichte Bald nach Heyne erhielt das Problem eine neue Dimension: der Mythosbegriff wurde in jene Genera traditioneller Erzählung zerlegt, die noch heute die Diskussion bestimmen, und der Mythos gab seinen Primat als Quelle des Epos auf. Der Mythenbegriff des 18. Jahrhunderts war inhaltlich sehr weit gewesen, hatte Götter- und Heldengeschichten, verschlüsselte Naturerklärung und transformierte geschichtliche Erinnerung umfaßt. Das frühe 19.Jahrhundert reflektiert differenzierter über jene Gattungen, die ihm Produkt des dichtenden Volksgeistes waren. Die Gebrüder Jacob (1785-1863) und Wilhelm (1786-1859) Grimm entdecken neben dem Mythos, den sie auf die Göttergeschichten einschränken, das Märchen und die (Helden-) Sage als weitere Kategorien traditioneller, volkstümlicher Erzählungen, und sie definieren sie in eingängiger Formel: „das Märchen ist poetischer, die Sage ist historischer" - wenigstens Wilhelm G r i m m freilich hat gelegentlich auch die Sage für reine Dichtung gehalten. 15 ' Die historisierende Deutung wurde bald erfolgreich und dominant: in ausdrücklicher Berufung auf Jacob G r i m m wies Karl Lachmann (1793—1851) den historischen Kern des Nibelungenlie-

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„Quasi vero vati licuisset fabulas refingere semel receptas firmatasque", polemisiert Wolf, Prolegomena 34; und in einem Nebensatz ist ihm klar, daß der Dichter seinen Stoff „fama accepit", 122. F.A. Wolf, Kleine Schriften in lateinischer und deutscher Sprache, Halle 1869, Bd. 2, 643-666, bes. 665. 15) Die Definition aus der Vorrede zu J. und W. Grimm, Deutsche Sagen, Bd. 1, Berlin 1816; Wilhelms Position in der Einleitung zu W. Grimm, Die deutsche Heldensage, Berlin 1829; zu Jacob Grimm als Vorläufer des Historismus vgl. G. Marini, Jacob Grimm alle origini dello storicismo, in: Annali della Scuola Normale Superiore di Pisa, classe di lettere e filosofia, ser. 3, Bd. 16, 1986, 141-158.

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des auf. ' Als sich Lachmann später dem homerischen Epos zuwandte, auch hier einen historischen Kern sah und seine Kleinliedtheorie aufstellte, kam er folgerichtig ohne Göttermythen aus. Damit waren Götter und Helden getrennt, war der Mythos von der Religion gelöst, was bis in die jüngere Vergangenheit nachwirkt: will man dem Göttermythos sein autonomes Recht neben der Heldensage geben, läßt man das Epos aus Götter- und Heldenliedern zusammenwachsen. 17 ' Nicht jedermann folgte. Die Gegenposition vertritt Karl Otfried Müller (1797—1840), einer der Gründerheroen der mythologischen Forschung. Im Anhang zu seinen ,Prolegomena zu einer wissenschaftlichen Mythologie' von 1825 beklagt er, daß „kein Punkt in der ganzen Wissenschaft dunkler" sei als „der, was Homer aus älterer Sage genommen, welche Veränderungen die Mythen damals schon erlitten, welche er sich selbst erlaubt" 18 ': die Traditionen von Mythos und Epos sind also noch nicht geschieden, doch wird der mythischen Tradition Dauer und damit die Anfälligkeit für Veränderung zuerkannt. Groß sind die Veränderungen freilich nicht, und sie gehen fast alle auf das Wirken Homers, des ionischen Dichters einer Adelsgesellschaft, zurück. 19 ' Damit wird Homer zum bedeutenden Zeugen für Mythologie und Religion. 20 ' Es ist bloß konsequent, daß jetzt die Frage nach Homers „unwürdigen und ärgerlichen Göttergeschichten" wieder gestellt wird: Müller diskutiert sie ausfuhrlich, verweist auf die Fremdheit einer frühen Kultur und auf die Verwurzelung der Mythen im Ritual, antwortet also mit der Strategie der Archaisierung und historischen Relativierung, die schon im späten 18.Jahrhundert benutzt worden war. 21 ' Was Müller unter dem „theologischen" Gehalt der vorhomerischen Mythen versteht, zeigt er am Odysseestoff, den er konsequent aus lokaler Kultsage ableitet 22 '; selbst Einzelheiten wie das weinlose Opfer auf der Heliosinsel werden

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' K. Lachmann, Kritik der Sage von den Nibelungen, Rheinisches Museum [ R h M ] 3, 1832, 435—464; vgl. J. Grimm, Rede auf Lachmann, Berlin 1851 = Kleinere Schriften, Bd. 1, Berlin 1864, 145-162; wieder ediert mit den handschriftlichen Nachträgen des Verfassers und einer ersten Kommentierung von H. Röhmke, Jacob Grimms handschriftliche Nachträge zu seiner Gedenkrede auf Karl Lachmann, in: Brüder Grimm Gedenken, Bd. 5, Marburg 1985, 1—20. 17 > So noch W. Kullmann, Das Wirken der Götter in der Ilias. Untersuchungen zur Frage der Entstehung des homerischen ,Götterapparats', Berlin 1956, lOf. [ = Wirken] (Protest: W. Burkert, Gnomon 29, 1957, 166). 18) К. O. Müller, Prolegomena zu einer wissenschaftlichen Mythologie, Göttingen 1825, 347 I = Prolegomena]. - Vgl. A. Momigliano, Settimo contribute alia storia degli studi classici e del mondo antico, R o m 1984, 271-286. 19) „Der von dem Sänger behandelte Mythos [man beachte die Ausdrucksweise: Homer behandelt einen Mythos] war [...] in gewissem Sinn theologischer, als es das Gedicht ist", Müller, Prolegomena 359. 20 ' Müller, Prolegomena 354, betont dies gegen „viele Gelehrte"; Namen fehlen. 21 > Müller, Prolegomena 355-359. 22) Müller, Prolegomena 360 f.

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aus den Eigenheiten des Rituals hergeleitet. ' Dieser religiösen und geographischen Verwurzelung gegenüber wird die Ableitung der Odyssee aus „allerlei Wunder- und Zaubermärchen" — also aus sozusagen freischwebenden Erzählungen — abgelehnt 24 ', ohne bleibenden Erfolg, wie sich zeigen wird. Dies sind die Ansätze, die Usener zusammengefaßt hatte: sie gelten über das 19.Jahrhundert hinaus. Die historische Herleitung wenigstens des Heroenmythos dominierte, Sage war Spiegel geschichtlicher Ereignisse: das blieb in seltsamer Pendelbcwegung gültig bis heute: im Moment, wo zuerst George Grote, dann Benedikt Niese auch die historische Herleitung der Heldensage bestritten und Niese sogar dem Schiffskatalog, dem piece de resistance dieser Herleitung, jeden historischen Zeugniswert abgesprochen hatte 25 ', wo sogar Wilamowitz, der sich in seiner Sagenforschung bewußt an Wilhelm Grimm orientierte, die Historizität des troianischen Kriegs bestritt 26 ', begann Schliemann mit seiner Spatenarbeit, die der historischen Herleitung wenigstens des Troiastoffes neue Berechtigung zu geben schien, und gegen den Konsens einer Herleitung des Troiastoffs aus der Geschichte der mykenischen Zeit, autoritativ vom langlebigen Martin Persson Nilsson vertreten, wurde erst seit den 60er Jahren unseres Jahrhunderts Protest eingelegt, von Historikern (allen voran Moses Finley), nicht von Philologen und Literaturwissenschaftlern. 27 ' Eine überzeugende Begründung fur die Richtigkeit der historisierenden Hypothese ist freilich bis heute ausgeblieben: die Kombination der schon antiken Ansicht mit dem heuristischen Erfolg (nichts ist überzeugender als der Erfolg) hat sie anscheinend unangreifbar gemacht. Im übrigen hat diese Herleitung aus historischen Ereignissen zwei Korollarien. Sie ist zum einen für den Troiastoff näherliegend als für den Odysseestoff; für

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' Od. 12, 362 f.; Müller, Prolegomena 369, mit Verweis auf die weinlosen Opfer an Helios im attischen Kult, Polemon ap. Schol. Soph. О С 100. - Zur Sache vgl. F. Graf, Milch, Honig und Wein, in: Perennitas. Studi in onore di Angelo Brelich, Rom 1980, 209-221; A. Henrichs, The ,Sobriety' of Oedipus. Sophocles О С 100 Misunderstood, Harvard Studies in Classical Philology [HSCP] 87, 1983, 87-100, bes. 95-99. 24) Müller, Prolegomena 361 f. 25) G. Grote, History of Greece, London 1846; B. Niese, Der homerische Schiffskatalog als historische Quelle betrachtet, Kiel 1873; vgl. dens., Die Entwicklung der homerischen Poesie, Berlin 1882. 26 ) U. von Wilamowitz-Moellendorff, Die griechische Heldensage, Sitzungsberichte der Preussischen Akademie der Wissenschaften [Sb. Berlin] 1925, 41 = Kleine Schriften, Bd. V: 2 Glaube und Sage, Berlin 1937 (repr. 1971), 41 (Berufung auf Wilhelm Grimm); ders., Die Ilias und Homer, Berlin 21920, 337f., und Heldensage 241 f. = Kleine Schriften V: 2,124-126 (gegen die Historizität des troianischen Kriegs). 27) Μ. I. Finley/J. L. Caskey/G. S. Kirk/D. L. Page, The Trojan War, Journal of Hellenic Studies [JHS] 84, 1964, 1-20; F. Hampl, Die Ilias ist kein Geschichtsbuch, in: Geschichte als kritische Wissenschaft, Bd. 2, Darmstadt 1975, 51-99; E. Meier, Gab es ein Troia? Grazer Beiträge 4, 1975, 155-169; M.J. Mellink (Hrsg.), Troy and the Trojan War. Α Symposium Held at Bryn Mawr College October 1984, Bryn Mawr 1986.

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diesen dominieren denn auch andere Modelle, insbesondere die schon von К. O. Müller bekämpfte Verbindung mit Märchen oder volkstümlichen Novellen. Schon 1916 hatte Ludwig Radermacher polemisch vom „Schlagwort" der „Märchendichtung für die Odyssee" gesprochen und weitaus differenzierter herzuleiten versucht 28 ', und auch in der jüngsten Monographie ist die Odyssee mit dem Märchen verbunden 29 '; daneben stehen zum einen seltene historische Herleitungen 30 ', zum andern wie schon bei Karl Otfried Müller ritualistische31': es scheint, daß sich hier noch immer Literaturwissenschaftler und Religionshistoriker unversöhnlich gegenüberstehen. Z u m andern kann eine Götterhandlung einem Epos, dessen Stoff transformierte Geschichte ist, nur von außen zukommen; dann stellt sich das Problem der Herkunft der Götterszenen — samt demjenigen ihres religiösen Gehalts: entstammen sie einer unabhängigen Tradition von Göttermythen und -liedern, haben sie also letztlich kultische Bindung, oder sind sie Erfindung (oder literarische Übernahmen) des Dichters — sei es als Ausdruck seiner Religiosität oder der seiner Zeit und Gesellschaft, sei es bloß als narrativer Kunstgriff? Neben der historischen Herleitung, welche die religiöse Dimension ausschaltet, steht die Einbindung in die Religion: Müllers Verbindung des Odysseus mit dem Athenakult sichert die Bindung von Heroen- und Göttermythologie von Anfang an; eine Trennung von Götter- und Heldenliedern — eine Dichotomie von profan und sakral mithin — hat hier keinen Platz. Tatsächlich sind Heroen und Götter im Kult oft eng verbunden (Pelops und der olympische Zeus, Erechtheus und Athena Polias) — anders als Müller glauben wir freilich jetzt zu wissen, daß die narrative Ausweitung zur Götterhandlung sich durchaus von der kultischen Vorgabe aus eigengesetzlich weiterentwickeln kann. Nach Müller sind es nur wenige, die hier weiterarbeiten, zumeist Mythologen und Religionsforscher; entsprechend spiegeln die Antworten die wechselnden mythologischen Methoden dieser frühen Jahre. Die im Gefolge der indogermanischen Forschung von Adalbert Kuhn

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' L. Radermacher, Die Erzählungen der Odyssee, Sitzungsberichte der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien, Philosophisch-Historische Classe, Bd. 178, 1915, 3: „Der Name Märchendichtung hat sich für die Odyssee heute ziemlich eingebürgert und läuft Gefahr, zum Schlagwort zu werden; es ist aber eine alte Erfahrung, daß Schlagworte dem Nachdenken und Nachprüfen gefährlich werden können [...] U n d doch, wenn die Erkenntnis richtig ist, daß die Odyssee sich in Märchen auflösen läßt, wie weit entfernt uns diese Einsicht dann von dem Standpunkt der Alten!" 29) U . Hölscher, Die Odyssee. Epos zwischen Märchen und Roman, München 1988 [ = Odyssee]; vgl. dens., The Transformation from Folk-Tale to Epic, in: В. Fenik (Hrsg.), Homer. Tradition and Invention, Leiden 1978, 51—67. 30 > Vor allem V. Berard, Introduction ä l'Odyssee, Bd. 1-3, Paris 1924/25; ders., Les Pheniciens et l'Odyssee, Bd. 1-2, Paris 1902-03; ders., Les navigations d'Ulysse, Bd. 1-4, Paris 1927-1929; Rhys Carpenter, Folk Tale, Fiction, and Saga in the Homeric Epics, Berkeley/Los Angeles 1956 [ = Folk Tale]. M > Vgl. unten Anm. 128.

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(1812-1881) und Friedrich Max Müller (1823-1900) begründete Naturmythologie 32 ' tummelte sich eine Weile auch in Homericis — nicht ohne Erfolg, konnte sie doch selbst einen Julius Beloch und den jungen Wilamowitz dazu bringen, Odysseus als gesunkenen Sonnengott anzusehen. 33 ' Bleibenden Erfolg hatte dies bekanntlich nicht, und auch die Erneuerung der indogermanischen Mythologie durch Georges Dumezil (1898—1986) ergab flir Homer wenig Resultate, wie der Meister selber durchaus zugibt. 34 ' N ä h e r an der Philologie blieb Hermann

Usener (1834—1905), filologo della reli-

gione, der Begründer der Religionswissenschaft in Deutschland. 35 ' Mit der Her-

32) Zu Adalbert Kuhn faßt P. Schmitt, Der Briefwechsel zwischen Jacob Grimm und Adalbert Kuhn, in: Brüder Grimm Gedenken Bd. 6, Marburg 1986, 135—207, das Bekannte zusammen; zu Friedrich Max Müller R . Dorson, The Eclipse of the Solar Mythology, in: Th. Sebeok (Hrsg.), Myth. Α Symposion, Bloomington 1958; H. Lloyd-Jones, Blood for the Ghosts, London 1982, 155-162; G. Schremp, The Re-Education of F. Max Müller, Man 18, 1983, 90-110; M. R . Carroll, Some Third Thoughts on Max Müller and Solar Mythology, Archives Europeennes de Sociologie 26, 1985, 263-290. 33) U . von Wilamowitz-Moellendorff, Homerische Untersuchungen, Berlin 1884, 267-285 (später folgt Wilamowitz dann Eduard Meyer, der im Hermes 30, 1895, 241-273 Odysseus als arkadischen „dying god" erklärt hatte); J. Beloch, Griechische Geschichte, Straßburg 1893, Bd. 1, 100. Noch 1910 erschien dann die phantastische Rekonstruktion von J. Menrad, Der U r m y thus der Odyssee und seine dichterische Erneuerung: des Sonnengottes Erdenfahrt, München 1910. - Letztlich in dieser Tradition scheint der Versuch zu stehen, Odysseus mit den Zügen des Dionysos, d.h. mit denen eines göttlichen Vertreters von „Sommer und Vegetation", ausgestattet sein zu lassen: H. Mühlestein, Odysseus und Dionysos, Antike und Abendland [A&A] 25, 1979, 140-173 = ders., Homerische Namenstudien, Frankfurt 1987, 112-145 [ = Namenstudien]. 34 ' Den neuesten Stand seines Denkens zu Homer gibt G. Dumezil, Homere et les trois fonctions, in: Apollon sonore et autres essais. Vingt-cinq esquisses de mythologie, Paris 1982, 109-149, wo er (112) einräumt: „Personellement, je ne pense pas qu'on puisse obtenir plus que de telles identifications episodiques ou marginales: les aedes [...] avaient une connaissance trop nuancee de l'äme humaine pour reduire les conduites et les rapports de leurs personnages aux formules ä la fois pauvres et rigides qu'impose le cadre trifonctionel"; vgl. dens., Mythe et epopee. I: L'ideologie des trois fonctions dans les epopees des peuples indo-europeens, Paris 1968. Die Jünger waren enthusiastischer, vgl. A. Yoshida, Survivances de la tripartition fonctionelle en Grece, Revue d'histoire des religions [ R H R ] 166,1964, 21-38. - Zu Dumezil vgl. C. S. Littleton, The N e w Comparative Mythology. An Anthropological Assessment of the Theories of Georges Dumezil, Berkeley/Los Angeles/London 1966 (31982); P. Smith/D. Sperber, Mythologiques de Georges Dumezil, Annales (Economie, Societes, Civilisations) [AnnESC] 26, 1971, 559-586; J.C. Riviere, Georges Dumezil ä la decouverte des Indo-Europeens, Paris 1979: A. Momigliano, Ottavo contributo alia storia degli classici e del mondo antico, R o m 1987, 135—159. 35) A. Dieterich, Hermann Usener, Archiv für Religionswissenschaft [ A R W ] 8, 1905, I-XI = Kleine Schriften, Leipzig/Berlin 1911, 354—362; H.J. Mette, Nekrolog einer Epoche: Hermann Usener und seine Schule. Ein wirkungsgeschichtlicher Rückblick auf die Jahre 1856—1979, Lustrum 22, 1979/80, 5-106; A. Arrighetti (Hrsg.), Aspetti di Hermann Usener, filologo della religione, Pisa 1982; A. Momigliano, Premesse per una discussione su Hermann Usener, Rivista Storica Italiana 94, 1982, 191-203; ders., N e w Paths of Classicism in the Nineteenth Century

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kunft der epischen Stoffe beschäftigt er sich in seinem Wiener Akademicvortrag von 1897, am Ende des Jahrhunderts. Präziser als seine Vorgänger unterscheidet er zwischen der mythischen Tradition als dem Stoff des Epos und der epischen Überlieferung, die ihren eigenen, vom Mythos getrennten Weg hat. Den Religionshistoriker interessiert allein die mythische Überlieferung: die epischen Heroen gehen ihm, ganz im Gefolge K . O . Müllers, auf lokale Kultfiguren zurück, „Stammesheroen und Götter" 36 ' — was auch den Götterapparat erklärt, der Rest dieser kultischen Vergangenheit ist. 37 ' Usener bleibt nicht hier stehen — schließlich hat er, im Anschluß an Wilhelm Grimms Schüler Mannhardt, die Bedeutung der Rituale für die Religion und ihre Verwurzelung in Jahreszeit- und Fruchtbarkeitsbräuchen aufgewiesen: also wird die lokale Verwurzelung der Kulte durch eine Herleitung aus dem Ritual belegt, wird Thersites aus einem ionischen Pharmakoskult hergeleitet, dieser Kult seinerseits auf das Austreiben des Winters gedeutet und mit dem „siegreichen Sommergott" Achill, dem Feind des Wintergeists Thersites, verbunden - w o m i t denn de facto doch nicht bloß der Stoff des Epos, sondern eine strukturell unwichtige Episode unserer Ilias aus dem Kult hergeleitet wird. 3 8 ' Das spekulative Gebäude überlebte nicht allzu lange: als Erich Bethe 1927, unter ausdrücklicher Ablehnung der unterdessen verbreiteten Herleitung der Heroensage aus der mykenischen Geschichte, die Herkunft der epischen Heroen aus der Stammesmythologie verfocht, war von Winter- und Sommergöttern keine Rede mehr. 39 '

4. Homerische Religion Useners Ableitung des Stoffs des Epos aus dem Ritual hat die Kluft überbrückt, die sich in der übrigen Forschung zwischen Epos, Mythen und Religion aufgetan hat: der Stoff des Epos ist Mythos, und der Mythos k o m m t vom Ritual her. Ähnliches könnte man von der parallel zur deutschen Religionswissenschaft entstehenden englischen myth-and-ritual-Schule in Cambridge um Sir James Frazer,

(History and Theory, Beih. 21), Middletown Conn. 1982, 3 3 - 4 8 ; J . N . Bremmer, in: W . W . Briggs, Jr./W. M. Calder III (Hrsgg.), The Encyclopaedia o f Classical Scholars, N e w York 1989. - W i l a m o w i t z freilich hatte seine Mühe mit dem Wissenschaftler Usener: A. Henrichs, ,Der Glaube der Hellenen'. Religionsgeschichte als Glaubensbekenntnis und Kulturkritik, in: W. M. Calder III/H. Flashar/Th. Lindken (Hrsgg.), W i l a m o w i t z nach 50 Jahren, Darmstadt 1985, 2 8 0 - 2 8 4 [ = Glaube], 36> Usener, Stoff 2 1 1 . 37> Usener, Stoff 215. 38> Usener, Stoff 2 3 9 - 2 5 9 : .Achill als Sommergott', ibid. 255. 39) E. Bethe, Homer. Dichtung und Sage, Bd. 3: Die Sage v o m Troischen Krieg. Leipzig/ Berlin 1927.

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William Robertson Smith und Jane Ellen Harrison erwarten - doch die Erwartung wird enttäuscht: stärker ausgeprägt noch als bei Usener ist in Cambridge das Interesse an den primitiven Ursprüngen: neben dem Ritualisten Robertson Smith war Edward Burnett Tylor mit seiner evolutionistischen Kulturlehre der Gründerheros der Gruppe. 4 0 ' H o m e r kann nicht interessieren: seine Religion ist zu modern und zu rationalistisch, sein Bild der Götter und Heroen hat mit Religion nichts zu tun. 41 ' Dies ist im übrigen auch die mehrheitliche Haltung der deutschen Forschung des 19.Jahrhunderts: aus Wolfs archaischem Sänger wurden eine Reihe mehr oder minder aufgeklärter Intellektueller. Man kann dies auch als Strategie verstehen, um mit der scheinbaren Immoralität und Frivolität der homerischen Göttermythen fertig zu werden; ihre Grundlage, Ionien als Speerspitze des Fortschritts im archaischen Griechenland, wurde zum erstenmal von Schadewaldt hinterfragt, der lange vor den Funden von Lefkandi auf die Modernität der Euböer verwies. 42 ' Das Problem von Homers Frömmigkeit wird bekanntlich seit Xenophanes diskutiert; damals wurde die Glaubwürdigkeit der Götter mit allegorischer Deutung gerettet 43 ' — als aber Heyne und seine Zeitgenossen mit der bis dahin fast unbestrittenen Allegorese brachen, stand die Frage wieder zur Debatte an. Freilich interessierte Religion als besonderer, nicht mit Mythologie identischer Forschungsgegenstand die Altertumswissenschaft des 19.Jahrhunderts nicht besonders; Monographien zur griechischen oder homerischen Religion sind selten, und wenn man von der 1840 zuerst erschienenen .Homerischen Theologie' von C.F. Nägelsbach (1806-1859) absieht, die aber bloß der Materialfulle wegen sozu-

40)

Die Cambridge School ist in den wichtigsten ihrer Vertreter gut untersucht: zu Jane Ellen Harrison (1850-1928) vgl. Jessie G. Stewart, Jane Ellen Harrison. Α Portrait from Letters, London 1959; R . Ackermann, Jane Ellen Harrison. The Early Work, Greek, Roman, and Byzantine Studies [GRBS] 13, 1972, 209-230; Sandra J. Peacock, Jane Ellen Harrison. The Mask and the Self, N e w Haven 1988; zu Sir James George Frazer (1854—1941) zusammenfassend R . Ackermann, J. G. Frazer. His Life and Work, Cambridge 1987 (mit der früheren Bibliographie); R . Fräser, The Making of,'The Golden Bough'. The Origins and Growth of an Argument, London 1990. 41) Bezeichnend etwa J. Ε. Harrison, Themis, London 21927, 334—336: „Homer marks a stage when collective thinking and magical ritual are, if not dead, at least dying, when rationalism and the individualistic thinking to which it belongs are developed to a point not far behind that of the days of Perikles" (335); vgl. auch Α. Lang, Homer and Anthropology, in: R . R . Marrett (Hrsg.), Anthropology and the Classics. Six Lectures Delivered Before the University of Oxford, Oxford 1908 [ = Homer], 42) W. Schadewaldt, Homer und sein Jahrhundert, in: Η. Berve (Hrsg.), Das Neue Bild der Antike. I: Hellas, Leipzig 1942, 51-90 = Von Homers Welt und Werk, Stuttgart 4 1965, 107-109 [ = Welt]; die Archäologie zog unterdessen nach, seit G . M . A . Hanfmann, Ionia - leader or follower? HSCP 61, 1953, 1-37. 43) Zur antiken Homerallegorese F. Buffiere, Les mythes d'Homere et la pensee grecque, Paris 1956; R . Lamberton, Homer the Theologian, Berkeley/Los Angeles/London 1986.

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sagen als Steinbruch überlebte ), ist eigentlich n u r das W e r k eines Außenseiters, des Spätromantikers Friedrich Gottlieb Welcker (1784—1868) wirklich bedeutsam. Seine lange erwartete ,Griechische Götterlehre' v o n 1857—63 (die dann W i l a m o witz maßgeblich beeinflussen sollte) 45 ' markiert eine Etappe. Welcker rückt sehr präzise das Epos in seiner Eigenart ab v o n Religion u n d M y t h o l o g i e : das Epos hat z u m Z w e c k , den R u h m der M ä n n e r zu singen, d e m sind Religion u n d M y t h o l o g i e u n t e r g e o r d n e t . D a m i t z u s a m m e n geht die Einsicht, daß die Religion H o m e r s sich grundsätzlich unterscheidet v o n der sonst b e k a n n t e n griechischen Religion: „eine auf H o m e r eingeschränkte Götterlehre [ . . . ] u n d ein aus den positiven Culten zusammengesetztes System [ . . . ] sind auffallend ganz v o n e i n a n der verschieden". 4 6 ' D a m i t w i r d das P r o b l e m der Religiosität H o m e r s weggestellt, das homerische Epos ist D i c h t u n g , nicht G l a u b e n s d o k u m e n t . Die Sonderstellung der homerischen Religion, die Welcker als erster klar erkennt, w i r d nicht m e h r zur R u h e k o m m e n , e b e n s o w e n i g w i e die A u f g a b e , die er als erster präzis f o r m u l i e r t hat. D a das Epos Ergebnis langer Tradition, m i t h i n Sammelbecken alter religiöser Traditionen ist, m u ß sich in i h m auch eine v o r h o merische Religion wenigstens in Spuren erhalten haben — es gelte, diese Religion so zu rekonstruieren, „wie die N a t u r f o r s c h e r eine u n t e r g e g a n g e n e T h i e r - u n d Pflanzenwelt an das Licht hervorziehen". 4 7 ' D a m i t w i r d auch f ü r die Religion Ernst g e m a c h t m i t der schon f ü r H e y n e sicheren Einsicht, daß H o m e r j u n g sei, gerät die religiöse Vorgeschichte in den Blick in einer Art, die den Evolutionismus bereits v o r w e g z u n e h m e n scheint 4 8 ' — doch redet w o h l eher der H u m b o l d t i a n e r Welcker 4 9 ', dessen P r o j e k t sich nicht g r u n d l e g e n d v o n Müllers Versuch unterscheidet, aus den M y t h e n die Vorgeschichte der griechischen S t ä m m e abzulesen.

44>

C. F. Nägelsbach, Die homerische Theologie in ihrem Zusammenhang dargestellt, Nürnberg 1840, 2. Aufl., bes. von G. Autenrieth, Nürnberg 1861. - Zu Nägelsbach C. Bursian, Geschichte der classischen Philologie in Deutschland von den Anfängen bis in die Gegenwart, München/Leipzig 1883, 1212; J.E. Sandys, A History of Classical Scholarship, Cambridge 1903, Bd. 3, 106. 45 > F.G. Welcker, Griechische Götterlehre, Göttingen Bd. 1, 1857, Bd. 2, 1859/60, Bd. 3, 1862/63 [ = Götterlehre]. - Vgl. A. Henrichs, Welckers Götterlehre, in: W.M. Calder III et al. (Hrsgg.), Friedrich Gottlieb Welcker. Werk und Wirkung, Stuttgart 1986, 179-229; zur Wirkung auf Wilamowitz vgl. dessen lateinische Autobiographie, vgl. W. M. Calder III: Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, An Unpublished Autobiography, Greek, Roman, and Byzantine Studies [GRBS] 12, 1971, 561-577 = A&A 27, 1981, 34-51 = Studies in the Modem History of Classical Scholarship, Neapel 1984, 147-164, sowie Henrichs, Glaube. 46 > Welcker, Götterlehre 2, 75. 47 > Welcker, Götterlehre 1, 7. 48 > 1859, zwei Jahre nach dem Erscheinen von Band I der Götterlehre, publizierte Darwin ,The Origin of the Species'. 49) Der junge Welcker war in Rom 1806-1808 Hofmeister bei Wilhelm von Humboldt gewesen und blieb ihm zeitlebens freundschaftlich verbunden: U . K . Goldsmith, Wilhelm von Humboldt, Mentor und Freund von Friedrich Gottlieb Welcker, in: W.M. Calder III (Hrsg.),

Religion und Mythologie im Zusammenhang mit Homer

343

In der deutschen Homerforschung, ganz mit den Problemen der Analyse beschäftigt, wird diese Anregung vorerst auf den Kopf gestellt: den Analytikern geht es darum, Schichten im überlieferten Epos auszugrenzen, und sie benützen als Leitfossilien auch Einzelheiten der Religion, meist nach sehr simplen, axiomatischen Kriterien: einfach und brutal ist alt, komplex und gesittet ist jung. 50 ) Im übrigen wird hier, zumal seit Reichels Untersuchungen zu den homerischen Waffen, die materielle Hinterlassenschaft, also Tempel und Kultbilder, gegenüber den religiösen Vorstellungen immer wichtiger. 51 ) Die Synthesen geben dann erst Gilbert Murray (1866—1957) in England und Wilamowitz (1848—1931) in Deutschland, in erstaunlich verwandter Form. Beiden ist Homers Religion isoliert, aufgeklärt und im Grunde gar keine Religion, und beiden ist sie Teil einer langen, geschichteten Evolution. Im Unterschied zu Murray ist Wilamowitz weit mehr bloß an Gottesbildern, nicht auch an Riten interessiert, und er läßt seinen homerischen Göttern traditionelle, längst bekannte Schichten voraufgehen, vorhellenisch-pelasgische Götter, dann urhellenisch-balkanische: in der Rückbesinnung auf die Werte der Antike war dies für Wilamowitz eben „griechisch reden über Griechisches" 52 ' — Gilbert Murray hingegen, Freund vonjane Harrison und Sir James Frazer, stellt, modernistischer als Wilamowitz, die vorhomerische Religion als eine Version dessen dar, was die zeitgenössischen Ethnologen und social anthropologists bei ihren Primitiven gefunden hatten. 53 ' Den Quantensprung von der primitiven „Urdummheit" zur hellenischen Klarheit (schöner kann sich die klassizistische Grundlage des viktorianischen Imperialismus kaum äußern) vermag er dann bloß dadurch zu erklären, daß sein Homer ein religiöser Reformator unter Peisistratos ist.54' Friedrich Gottlieb Welcker (oben Anm. 45) 35-52; über Bekanntschaft mit Alexander ist nichts bekannt, doch ist eine Kenntnis wohl unausweichlich. 50) Freilich sind die Kriterien der frühen Religionswissenschaft nicht weniger simpel und axiomatisch. 511 W. Reichel, Homerische Waffen, Wien 1894. - Eine Synthese der deutschen Forschung vor dem Weltkrieg gibt die Diskussion zwischen P. Cauer, Grundfragen 2 296-303. 306—360, und E. Beizner, Homerische Probleme I. Die kulturellen Verhältnisse der Odyssee als kritische Instanz, Leipzig/Berlin 1911, 85-102, vgl. C. Rothe, Die Ilias als Dichtung, Paderborn 1910, 80-87. 52 ' „Ich verstehe die Sprachen nicht, aus denen die zurzeit beliebten Wörter, Tabu und Totem, Mana und Orenda, entlehnt sind, halte es aber auch für einen zulässigen Weg, mich an die Griechen zu halten und über Griechisches griechisch zu denken": Der Glaube der Hellenen, Bd. 1, Berlin 1931, 10 [ = Glaube]; entsprechend kritisiert er auch Murrays Übernahme des Begriffs der „Urdummheit" von K . T h . Preuss. - Zu Wilamowitz vgl. besonders Henrichs, Glaube 263-305. 53> Zusammenfassend F. West, Gilbert Murray. Α Life, London 1984. 54) G. Murray, Four Stages of Greek Religion, Oxford 1912 (2. Aufl. unter dem Titel ,Five Stages of Greek Religion', Oxford 1925 [ = Stages]); vgl. dens., The Rise of the Greek Epic, Oxford 1907 (weitere Aufl. 1911. 1924. 1934 [ = Rise]). Homer als der Reformator auch bei Verrall, The Quarterly Review Juli 1908; Lang, Homer 62-64.

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Fritz Graf

5. Evolution und Mykene In Deutschland nahm erst die Generation nach Wilamowitz die evolutionistische Einordnung Homers auf; Forscher wie Otto Kern (1863—1942) und Friedrich Pßster (1883—1972) stellten (gegen den Protest des Altmeisters) die vorhomerische Religion nach dem Ersten Weltkrieg unter die Zeichen von Mana und Orenda und sichteten Homer auf Reste animistischer und totemistischer Vorstellungen. 55 ) Im Grunde hatte sich das aber schon überlebt. Seit Schliemann und Evans zwei neue vorgriechische Zivilisationen ans Licht gebracht hatten, war Homers Vergangenheit nicht mehr nur mit scharfsinniger Theorie zu rekonstruieren: unser Jahrhundert setzt auf handfeste Materialien. Bereits vor dem Weltkrieg hatte man sich in England gestritten, ob Homers Welt nun mykenisch sei oder erst submykenisch, ob er selber archaisiere oder wenigstens noch aus submykenischer Zeit stamme 56 ': das wurde auch für Mythologie und Religion interessant. Bedeutsam war dabei, daß man die alten, evolutionistischen Schemata mit dem neuen archäologischen Geschichtsbild kurzschloß: so kamen die Minoer und Mykener zu einer animistischen, prädeistischen Religion voller heiliger Bäume, Pfeiler und Vögel. 57 ' Damit war der Weg frei, survivals solcher Dinge, die man bei Homer entdeckte, ans Kretisch-Mykenische anzubinden. Gleichzeitig wurde in Umrissen die mykenische Geschichte klar — wer das Epos aus der Geschichte ableitete, hatte jetzt ein reiches Betätigungsfeld. Die maßgebende Synthese aus all diesen diffusen Aktivitäten schuf Martin Persson Nilsson (1874—1967) in den zwanziger und dreißiger Jahren. 58 ' In der Theorie Eklektiker und einem main-stream-Modell von Mythologie und Religion verpflichtet, das sich von den Gebrüdern Grimm, K . O . Müller und MannhardtFrazer nährte, beeindruckt Nilsson durch die stupende Beherrschung der archäolo-

55 > O. Kern, Die Religion der Griechen, Berlin 1, 1926; 2, 1935; F. Pfister, Die griechische und römische Religion, in: C. Clemen (Hrsg.), Die Religionen der Erde, München 1927, 163-231. - Wilamowitzens Protest: Glaube 1, 10. Systematischer und überzeugender protestiert E. Ehnmark, The Idea of God in Homer (Diss. Uppsala), Uppsala 1935, 31-58 [ = Idea]. 56 ' Entschiedener Verfechter des submykenischen Homer war Andrew Lang, vgl. Homer and His Age, London 1906; The World of Homer, London 1910; prominentester Vertreter des archaisierenden Homer ist Gilbert Murray (s. Anm. 54). 57) Wichtig: A.J. Evans, Mycenaean Tree and Pillar Cult and Its Mediterranean Relations, Journal of Hellenic Studies QHS] 21, 1901, 99-204. 58) Martin P. Nilsson, The Minoan-Mycenaean Religion and its Survival in Greek Religion, Lund 4927, 21950 (repr. 1968) [ = Religion]; The Mycenaean Origin of Greek Mythology, Berkeley 1932 (repr. 1972); Homer and Mycenae, London 1933 (repr. 1972); zur homerischen Religion außerdem: ,Götter und Psychologie bei Homer', Archiv für Religionswissenschaft [ARW] 22, 1923/24, 363-390 = Opuscula Selecta 1, Lund 1951, 355-391, und vor allem die Zusammenfassung im Aufsatz ,Mycenaean and Homeric Religion', A R W 33, 1936, 84-99 = Opuscula Selecta, Bd. 2, Lund 1952, 683-704.

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Religion und Mythologie im Zusammenhang mit H o m e r

gischen, epigraphischen, literarischen Q u e l l e n u n d der Forschungsliteratur: eben d e s w e g e n d o m i n i e r t d a s s o e r h a l t e n e B i l d d i e F o r s c h u n g b i s in d i e G e g e n w a r t . 5 9 ' In m i n u t i ö s e m D e t a i l z e i c h n e t er d i e E n t w i c k l u n g d e r m i n o i s c h e n u n d m y k e n i s c h e n R e l i g i o n 6 0 ' u n d skizziert H o m e r s Verhältnis d a z u — w o b e i auffällt, w i e Homers

wenig

R e l i g i o n an M y k e n i s c h e s a n k n ü p f t ; nichts d a v o n hat, nebenbei,

der

n e u e r e n K r i t i k s t a n d g e h a l t e n . 6 1 ' V o r a l l e m a b e r stellt N i l s s o n a u s f ü h r l i c h u n d s o r g f ä l t i g b e g r ü n d e t dar, w e s w e g e n die h o m e r i s c h e M y t h o l o g i e z u m

größten

Teil die G e s c h i c h t e u n d Gesellschaft, z u m Teil die M y t h o l o g i e der m y k e n i s c h e n E p o c h e r e f l e k t i e r e n m ü s s e . M e t h o d i s c h b e d e u t s a m ist, d a ß er l ä n g s t n i c h t m e h r mit naiver historischer R e d u k t i o n a u s k o m m t : neben den historischen Realitäten (insbesondere M a c h t s t r u k t u r e n u n d politische G e o g r a p h i e der m y k e n i s c h e n Welt) steht d i e m y k e n i s c h e S t a m m e s m y t h o l o g i e

u n d das zeitlos-uralte M ä r c h e n

als

Q u e l l e des E p e n s t o f f s : die G e f a h r , d a ß die Z u o r d n u n g zur j e w e i l i g e n Q u e l l e n g r u p p e d u r c h s u b j e k t i v e s U r t e i l g e s c h i e h t , ist n i c h t v o n d e r H a n d z u w e i s e n . Die Entzifferung von Linear В korrigierte bloß punktuell, konnte j a auch z u m G r u n d p r o b l e m — der Entstehung der M y t h o l o g i e — k a u m etwas beitragen, weil die B u c h h a l t u n g s t e x t e der m y k e n i s c h e n Palastkanzleien d a z u fast nichts zu s a g e n haben.62' A m bedeutsamsten w a r w o h l , daß m a n c h e epischen N a m e n — u n d nicht

59) Wenige Außenseiter erhoben grundsätzlichen Protest, so E. Howald, Der Mythos als Dichtung, Zürich/Leipzig o.J. (1937), 11 f., oder N . Baranov, Le mana chez Homere. A propos de l'etude de Nilsson: Götter und Psyche bei Homer, Iazyk i Literatura [I&L] 4, 1929, 75-92. 6 0 ) Die zweite Aufl. von ,The Minoan-Mycenaean Religion' von 1950 trennt die beiden Religionen stärker; die Gegenbewegung hat unterdessen eingesetzt: В . C. Dietrich, Tradition in Greek Religion, Berlin/New York 1986, [ = Tradition], 6 , ) Das Wichtigste kurz zusammengestellt in Nilsson, Religion 2 30-33; ausfuhrlicher A R W 33, 1936, 84-99 = Opuscula Selecta 2, Lund 1952, 683-704. Nilssons Zeus als dem Abbild des mykenischen Königs hat schon G . M . Calhoun, Zeus the Father in Homer, Transactions of the American Philological Association [ТАРА] 66, 1935, 1-17, den Patriarchen Zeus gegenübergestellt; die mykenische Palastgöttin Athena ist nie unwidersprochen geblieben (Doxographie bei H. Erbse, Untersuchungen zur Funktion der Götter im homerischen Epos, Berlin/New York 1986, 154 [ = Untersuchungen]), und mykenischen Fatalismus behauptet heute wohl niemand mehr. Entsprechend fehlt in neueren Diskussionen des Problems H o m e r überhaupt, etwa bei P. Leveque: Continuites et innovations dans la religion grecque de la premiere moitie du ler millenaire, La Parola del Passato [PdP] 28, 1973, 23-50. 6 2 ) H . J . Rose, Religion, in: A . J . B . Wace/F.Η. Stubbings (Hrsgg.), A Companion to Homer, London/Melbourne/Toronto 1962, 463-477, referiert im wesentlichen das Ergebnis der Lesung von Linear В fur die Götternamen, geht aber auf die Probleme der homerischen Religion gar nicht ein; Burkert, Religion 48-88, und Lydia Baumbach, The Mycenaean Contribution to the Study o f Greek Religion in the Bronze Age, Studi e Materiali Egeo-Anatolici [ S M E A ] 20, 1979, 143-160, geben einen guten Überblick über den Forschungsstand; Monique GerardRousseau, Les mentions religieuses dans les tablettes myceniennes, R o m 1968, bleibt zentral, freilich durch die Neufunde v. a. aus Theben ergänzungsbedürftig; vgl. auch die (meist recht hypothetischen) Vorschläge von L. R . Palmer, S o m e N e w Minoan-Mycenaean Gods, Innsbruck 1981.

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bloß solche von Nebenfiguren — auch in den mykenischen Texten auftauchten — als gewöhnliche Anthroponyme, und gerade nicht in hoher sozialer Schicht: die Folgerung, daß die Vorstufen unseres Epos, die an diese Namen sich knüpften, erst in nachmykenischer Zeit entstanden waren, ist unabweisbar, ändert aber am Grundsätzlichen — daß das Epos zumindest in seinen Heroengeschichten auf mykenische Geschichte zurückgehe - nichts: vor noch nicht langer Zeit hat Fritz Schachermeyr wie selbstverständlich von „griechischer Rückerinnerung" reden können. 63 ' Und daß die meisten großen Götter Homers schon in mykenischer Zeit belegt sind, hat auf die Frage nach Homers Religion kaum Einfluß: wenn schon, gab es der unterdessen verbreiteten Ansicht von Götterliedern als Vorstufe des Epos nur zusätzliche Plausibilität. Daß die seltene Nennung des Dionysos bei Homer nicht mit seinem späten Eindringen zu erklären sei, war insbesondere durch die Forschungen von Karl Meuli und W. F. Otto bereits klar, bevor der Gott dann auch in den Linear B-Texten auftauchte; auch Demeter, an deren hohem Alter niemand zweifelte, war schließlich bei Homer selten genannt. 64 '

6. Die Religiosität Homers Als die Generation der Schüler von Wilamowitz von der Analyse abrückte und die homerischen Gedichte als Werke einer einzelnen Dichterpersönlichkeit zu fassen begann, bekam das Problem von Homers fehlender Religiosität und Moral neue Dimensionen. Homer, verstanden als der Dichter der Ilias, wurde der große, genialische Dichter, der Welten gestaltete — konnte dieser Homer amoralische und frivole Götter darstellen wollen? Erschwerend kam dazu, daß die Analyse längst die Widersprüche im Gottesbild der Epen herausgearbeitet und der Entstehungshypothese fruchtbar gemacht hatte (so konnte man gegebenenfalls nur einen Bearbeiter mit dem Makel der Frivolität behaften, konnte anderen religiöse Reformabsichten oder philosophische Weltan-

63

> F. Schachermeyr, Die griechische Rückerinnerung im Lichte neuer Forschungen, Wien 1983. 64) E. Rohde (1845-1898), Psyche, Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen, Freiburg 2 1898 (4893) [ = Psyche], Bd. 2, 38f., erklärt die Seltenheit der Nennung des Dionysos bei Homer historisch, Wilamowitz, Glaube Bd. 2, 61, sozial (auch wenn Wilamowitz durchaus an der nachbronzezeitlichen Herkunft des Gottes aus Asien festhält). Die Überwindung der These von Dionysos' später Ankunft (die im Gefolge antiker Ansicht bereits von N . Frcrct [1688-1749], Recherches sur le culte de Bacchus parmi les Grecs, Memoires de Γ Academic des Inscriptions et Belles-Lettres 23, 1756, 242-270, ausgeführt worden war) wurde durch W. F. Otto, Dionysos, Frankfurt 1933, und K. Meuli in seiner ungedruckten Basler Antrittsrede von 1928 (jetzt auszugsweise in: Gesammelte Schriften, Basel/Stuttgart 1975 [ = Gesammelte Schriften], Bd. 2, 1018-1021) vorbereitet.

Religion u n d M y t h o l o g i e im Z u s a m m e n h a n g mit H o m e r

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schauung zuschreiben65^): jetzt hatte man die Widersprüche im Weltbild eines Dichters zu vereinen; man mußte sich also intensiv mit diesem Weltbild auseinandersetzen. Zum Weltbild gehörte auch das Bild der Götter besonders in ihrer Beziehung zum Menschen. Fast zwangsläufig wendet sich damit zuerst einmal die deutsche Forschung von diachronischen Fragestellungen ab zum Versuch, das Epos aus sich und aus seiner eigenen Zeit heraus zu verstehen 66 '; in England blieben diachronische Modelle weit länger vorherrschend. 67 ' Bezeichnend ist, daß in den meisten dieser Untersuchungen allgemein von den Göttern, nicht von Einzelgöttern die Rede ist, das Spezifische der Mythologie aufgelöst wird im Allgemeineren der Göttlichkeit. 68 ' Gerade Zeus kommt noch in den Blick und das Problem seines Verhältnisses zum Schicksal und zur Gerechtigkeit: doch ist dies eben der Aspekt von Zeus, der sich am einfachsten lösen läßt von kruder Mythologie; auch hier läßt sich im übrigen feststellen, wie die Forschung von historisierenden Lösungen abrückt zu immanenten Deutungsversuchen. 69 ' Als Ersatz für derartige historisierende Lösungen 70 ' bot sich besonders eine soziologische Erklärung an: die Religiosität und Mythologie Homers wurde abgesetzt vom Volksglauben, verstanden als der Glaube seiner Zeitgenossen,

65) R e f o r m e r ist H o m e r , der große R e d a k t o r unter Peisistratos, f u r G. M u r r a y (oben A n m . 54); „er ist der erste griechische Philosoph mit durchdachter Weltanschauung", schrieb G. Finsler, H o m e r , Bd. I 2 (Anm. 7), 285. 66 ' Das gilt aber eigentlich bloß f ü r die Ilias: bezeichnend ist, wie sich Wolfgang Schadewaldt (1900-1974) f ü r seine Odyssee-Analyse selbstverständlich auf die Widersprüche im religiösen Bild stützt (Neue Kriterien zur Odyssee-Analyse, Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Sb. H d b g . ] 1959: 2); dasselbe gilt f ü r P. Von der Mühll (1885-1970) (Art. Odysseia, Realencyclopädie [ R E ] Suppl. Bd. 7, 696-768) - u n d natürlich f ü r die A n h ä n g e r einer Ilias-Analyse wie W. Theiler, Die Dichter der Ilias, in: Festschrift Edouard Tieche, Bern 1947, 125-167 = U n t e r s u c h u n g e n zur antiken Literatur, Berlin 1970, 11-47; ders., N o c h einmal die Dichter der Ilias, in: Thesaurismata. Festschrift f ü r Ida Kapp, M ü n c h e n 1954, 113-146 = U n t e r s u c h u n g e n 48-65. 67 > So noch bei В. C. Dietrich: Death, Fate and the Gods (1965) [ = Death], 68) J. Irmscher, Götterzorn bei H o m e r , Leipzig 1950; K u l i m a n n , W i r k e n ; A. Lesky, Göttliche und menschliche Motivation im homerischen Epos, Sb. H d b g . 1961: 4 [ = Lesky 1961]. - Früher als diese Arbeiten ist eine aus religionswissenschaftlicher Perspektive geschriebene, diejenige des Schweden E. E h n m a r k , T h e Idea of G o d in H o m e r (s. oben A n m . 55), der sich z u m Ziel setzt, „the living faith" im Epos auszumachen. 69) Z u Zeus und dem Schicksal unten A n m . 100; die historisierende D e u t u n g seit P. Bohse, Die Moira bei H o m e r , Progr. Berlin 1893 ( H o m e r verdrängt den Volksglauben), schärfer seit E. Heden, Homerische Götterstudien (Diss. Uppsala), Uppsala 1912 [ = Götterstudien] (Homers a n t h r o p o m o r p h e s D e n k e n verdrängt die v o r a n t h r o p o m o r p h e K r a f t μοίρα). - Z u Zeus und der Gerechtigkeit unten A n m . 101. 70 > Die nicht ganz verschwinden: noch G. M . Calhoun, H o m e r ' s Gods. M y t h and Märchen, American Journal of Philology [AJPh] 60, 1939, 1 - 2 8 , n i m m t an, daß die amoralischen und brutalen M y t h e n Residuen früherer Religionsstufen sind.

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der weitgehend der religiösen Tradition verwurzelt war (womit der Begriff .Volksglaube' synchronische und diachronische Elemente ideal kombiniert). Ein solches Zweischichtenmodell war nicht neu: Wilamowitz hatte es vertreten, und die Ansätze reichen bis zu K . O . Müller und Welcker zurück; besonders durch Hedens ,Götterstudien' von 1912 hatte es aber neue Relevanz und Vertiefung erhalten71) — Homer kann jetzt der Volksreligion gegenübergestellt, seine Behandlung der traditionellen Mythen als Mythenkritik verstanden werden in einer Zeit, als die mythologische Tradition sich zu überleben beginnt. 72 ' Wie problematisch dieses Zweischichtenmodell in Gesellschaften ist, die keine theologischen Dogmen kennen, wurde erst in der jüngsten religionswissenschaftlichen Diskussion allmählich klar: es gibt in solchen Gesellschaften keine intellektuelle und normgebende Theologie, welche sich abgrenzt vom Glauben des einfachen Volks; das Modell ist ein Relikt des 18.Jahrhunderts, als Herder und Vico in den einfachen Leuten ihrer Heimat die einheimischen Wilden entdeckten. 73 ' Der Mythenkritiker Homer ist also zu modern — die Reaktion läßt nicht auf sich warten: nach dem Zweiten Weltkrieg wächst das Bewußtsein für die archaische Fremdheit der homerischen Kultur. Die Marksteine setzten zwei Gelehrte, die quer lagen zum wieder modischen nostalgischen Humanismus der Nachkriegszeit, Bruno Snell (1896-1986) und Eric Robertson Dodds (1893-1979), Snell mit seinem Versuch, am homerischen Menschenbild eine „Früh- und Vorstufe des europäischen Denkens" aufzuzeigen 74 ', Dodds mit der Erklärung des göttlichen Einwir-

71

> Heden, Götterstudien: er baut auf der seinerzeit kaum beachteten Feststellung von O . Jörgensen, Das Auftreten der Götter in den Büchern ι—μ der Odyssee, Hermes 39, 1904, 357-382, auf, daß in den Apologen oft bloß der Dichter weiß, welche Gottheit eingreift, Homers Personen sich unsicher ausdrücken: in dieser Unsicherheit zeige sich der wahre Glaube der Zeit: Heden baut dies zum Schlüssel dafür aus, den Äußerungen der Personen des Epos den Volksglauben entnehmen zu können. 72 > So M . P . Nilsson, H o m e r and Mycenae, London 1933 (repr. 1972), 272-278; Kulimann, Wirken 147-149; J. Griffin, H o m e r on Life and Death, O x f o r d 1980, 193 [ = Homer], 73) Z u r Kritik P. B r o w n , T h e Cult of the Saints. Its Rise and Function in Latin Christianity, Chicago/London 1981, 13-22; Zweifel auch bei B . C . Dietrich, Views of Homeric Gods and Religion, N u m e n 26, 1979, 140; demgegenüber operiert noch О . Tsagarakis, T h e N a t u r e and Background of M a j o r Concepts of Divine Power in Homer, Amsterdam 1977 [ = Nature], geradezu naiv mit der Dichotomie von H o m e r und „populär belief", indem er durch den Vergleich der Dichterstellen mit späteren Zeugnissen zum Kult und mit dem neugriechischen Volksglauben den Anteil zu bestimmen versucht, den der Volksglaube an Homers Götterbild hat. 74 > B. Snell, Die Entdeckung des Geistes, H a m b u r g 1946, 17-42 (,Die Auffassung des M e n schen bei H o m e r ' , urspr. unter dem Titel ,Die Sprache Homers als Ausdruck seiner Gedankenwelt' in: Neue Jahrbücher für Antike und deutsche Bildung 2, 1939, 393-410; die Rezeption beginnt aus naheliegenden Gründen erst nach 1945, wird dann aber intensiv: das Buch erlebt 1955 die 3., 1975 die 4. Auflage und wurde zuletzt 1986 nachgedruckt; engl. Übersetzung: ,The Discovery of the Mind', Berkeley 1953). Bemerkenswert ist, wie Snell daneben die Modernität der homerischen Religion herausstellt, ibid. 43-64.

Religion und Mythologie im Zusammenhang mit Homer

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kens in der Menschenwelt aus einer archaischen „shame-culture": er reagiert damit ausdrücklich auf die damals noch i m m e r modischen A b w e r t u n g e n der homerischen Religion als „light-hearted buffoonery". 7 5 ) Die neuere Diskussion zeigt, daß sowohl Snell wie Dodds weit übers Ziel hinausgeschossen sind. 76 ' Ein zweiter Archaisierungsschub k a m als Folge von Milman Parrys Entdeckung der mündlichen Improvisation als Schlüssel zu H o m e r s Dichtkunst im M o m e n t , w o Eric A. Havelock die K o n s e q u e n z e n dieser E n t d e c k u n g f ü r die G e s a m t k u l t u r

zog und die grundsätzliche Mündlichkeit der gesamten frühgriechischen Kultur postulierte; die Diskussion, in Amerika teilweise heftig geführt, ist in Deutschland noch k a u m rezipiert. 77 ' Weit radikaler n i m m t wieder ein Außenseiter H o m e r s Götter ernst, Walter F. Otto (1874—1958).78' D e m Georgekreis (und seiner Feindschaft gegen W i l a m o witz) nahestehend, rechnet er weit schärfer ab „mit dem vorwitzigen Urteil von Eiferern und Pedanten, die der homerischen Religion Immoralität oder primitive Roheit vorwerfen" 7 9 ' - also nicht bloß mit den Philologen, sondern auch mit den evolutionistischen Religionshistorikern. Die absolute Existenz der homerischen Götter, die O t t o an ihre Stelle setzt, konnte wenige überzeugen, wenigstens innerhalb der Altertumswissenschaft 8 0 ' - auch wenn er zumindest dort das R i c h tige sah, w o er seinen Gegnern vorwarf, aus unbewußter christlicher Voreingen o m m e n h e i t das Wesen der griechischen und besonders der homerischen Religion verkannt zu haben. Der Vorwurf der fehlenden historischen Perspektive besteht

75)

E. R . Dodds, The Greeks and the Irrational, Berkeley/Los Angeles 1951,1-27 (dt. Übersetzung ,Die Griechen und das Irrationale', Darmstadt 1970). 76) Den entscheidenden Einwand gegen Snell brachte schon Lesky 1961 vor; mehr bei H. Lloyd-Jones, The Justice of Zeus, Berkeley/Los Angeles/London 2 1983 (1971) 55-78 [ = Justice]; K.J. Dover, Greek Popular Morality in the Time of Plato and Aristotle, Oxford 1974, 151; R . Parker, Miasma. Pollution and Purification in Early Greek Religion, Oxford 1983, 66-70. 130-143; J . N . Bremmer, The Greek Concept of the Soul, Princeton 1983, 66-68. 1T > E. A. Havelock, Preface to Plato, Cambridge, Mass. 1963 [ = Preface]; ders., The Literate Revolution in Greece and Its Cultural Consequences, Princeton 1982; B. Gentiii, Poesia e pubblico nella Grecia antica da Omero al V secolo, Bari 1984. 21989. 78 > W.F. Otto, Die Götter Griechenlands, Frankfurt 1929 [ = Götter] (31947, 6 1970, engl, unter dem treffenderen Titel ,The Homeric Gods', N e w York 1978). Eine kongeniale Würdigung Ottos gibt K. Kerenyi, Paideuma 7, 1959, 1-10, wieder abgedruckt im von Kerenyi besorgten Sammelbändchen mit dem bezeichnenden Titel ,W. F. Otto, Die Wirklichkeit der Götter', Reinbek 1963, 144-154. Kritischer und historisch fundierter sind die Arbeiten von H. Cancik, Die Götter Griechenlands 1929. W. F. Otto als Religionswissenschaftler und Theologe am Ende der Weimarer Republik, Der altsprachliche Unterricht 27: 4, 1984, 71-89; Dionysos 1933. W. F. Otto, ein Religionswissenschaftler und Theologe am Ende der Weimarer Republik, in: R . Faber/R. Schlesier (Hrsgg.), Die Restauration der Götter. Antike Religion und N e o Paganismus, Frankfurt 1986, 106-123. 79 > Otto, Götter 16. 80 ' „Eine Verherrlichung des griechischen Götterglaubens, welche die geschichtliche Entwicklung preisgibt": Nilsson, Geschichte l 3 66.

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sicher zu Recht, doch ist dies auch Reaktion auf die zeitgenössische Forschung, welche die Realität der Religion auflöste in diachronischen Spielereien; der Ernst, mit dem Otto dem Phänomen der Religion begegnet, unterscheidet sich jedenfalls wohltuend von der Haltung seiner Zeitgenossen. 81 '

7. Gegenwart und Ausblick Damit sind wir an der Schwelle der gegenwärtigen Forschung. Es soll hier knapp zusammengefaßt werden, was wir etwa wissen und wo weitergefragt werden sollte. Religionswissenschaft und Archäologie lehrten, die Einmaligkeit von Homers Göttern zu sehen: Welckers Einsicht ist uns Späteren auf Umwegen endlich auch zugekommen. Die diachronischen Untersuchungen zeigten die Distanz zu dem, was durch die bronzezeitliche Architektur, bildende Kunst und Schrift über Religion zu erfahren ist: Homer kann nicht als Spiegel der bronzezeitlichen Religion angesehen werden 82 ', und die Einsichten in das Funktionieren mündlicher Kulturen weisen darauf, daß sich zwar Gegenwart und eine nahe Vergangenheit, keineswegs aber die ferne mykenische Epoche im Epos erinnern lassen.83' Freilich ist das Verhältnis der mykenischen Religion zu derjenigen der homerischen Zeit alles andere als ausdiskutiert, und damit ist nicht klar bestimmbar, aus welchen Traditionsschichten einzelnes kommen kann. Auf der einen Seite steht gewiß Kontinuität irgendwelcher Art, die schon durch das Weiterleben eines großen Anteils von Götternamen nahegelegt wird: von den großen Göttern fehlt nur gerade Apollon, vielleicht Ares, in den mykenischen Texten finden sich immerhin Paiaon und Enyalios. Wo Götternamen sind, muß Kult sein, zumindest Gebetsanruf, müßten eigentlich auch Geschichten über Götter sein, und Namen wie ,Mutter der Götter', ma-te-re te-i-ja, gar eine Verbindung von Zeus, Hera und ,Drimios, Sohn des Zeus' können nur durch Geschichten erklärt werden 84 ': das weist auf mykenische Mythologie; ob sie episch ausformuliert war, bleibt freilich gegenwärtig unwißbar. Unübersehbar sind aber auch die Hinweise auf U m -

81

' Mit ähnlicher existentieller Betroffenheit, doch mit mehr Sinn für Geschichte schreibt H. Schrade, Götter und Menschen Homers, Stuttgart 1952. 82 > Deutlich E.T. Vermeule, Götterkult, in: Archaeologia Homerica, Bd. III, Fase. V, Göttingen 1974, 132: die Unterschiede zwischen der Kultwelt Homers und derjenigen seiner Zeit liegen „in den Gesetzen der Dichtkunst und nicht in historischen Zusammenhängen" begründet. M < Vgl. etwa die Zusammenfassung bei J. von Ungern-Sternberg, Überlegungen zur frühen römischen Überlieferung, in: J. von Ungern-Sternberg/H. Reinau (Hrsgg.), Vergangenheit in mündlicher Überlieferung (Colloquium Rauricum 1), Stuttgart 1988, 246-248. 84 ' Burkert, Religion 82—88. — Das ergibt sich auch aus der Kontinuität von Monatsnamen, auf die etwa Burkert, Religion 90, verweist: also von religiösen Festen und Institutionen, möglicherweise auch von zugehörigen Geschichten.

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b r ü c h e — D r i m i o s ist eben keine nachbronzezeitliche K u l t f i g u r mehr ', w i e andere mykenische Gestalten auch, u n d an ihre Stelle treten andere, bisher u n b e k a n n t e N a m e n ; die K o n t i n u i t ä t der Kultplätze, geschweige denn der jeweiligen lokalen K u l t e m p f ä n g e r , ist k a u m nachzuweisen 8 6 '; eines der Paradestücke, das mykenische Telesterion von Eleusis, das v o n M y l o n a s scheinbar so ü b e r z e u g e n d rekonstruiert w u r d e , ist letzthin wieder ernsthaft in Frage gestellt w o r d e n 8 7 ' ; stratigraphische Kontinuität ist auch nicht identisch mit religiöser Kontinuität, wie A y a Irini auf Keos zeigt, w o auf eine minoische Göttin Dionysos folgte. 8 8 ' N o c h k a u m angegangen ist die Frage, m i t welchen sozialen u n d institutionellen Mitteln eine Tradierung von M y t h o l o g i e u n d Religion sich d u r c h die D u n k l e n J a h r h u n d e r t e hätte vollziehen k ö n n e n u n d wie die Veränderungen zu erklären sind — m a n w i r d damit rechnen müssen, daß G ö t t e r ihre F u n k t i o n z u s a m m e n m i t d e m Wandel der sozialen Institutionen geändert haben; Fakten u n d M o d e l l e sind n o c h k a u m vorhanden. 8 9 ' Das P r o b l e m e n t p u p p t sich auch als m e t h o d e n - u n d disziplingebunden: die A r c h ä o l o g e n sind m i t der Ansetzung v o n kultischer K o n t i n u i t ä t weit zurückhaltender als die Religionswissenschaftler, w i e etwa die Arbeiten v o n В. C . Dietrich zeigen. 9 0 ' G r ö ß e r ist der Konsens, was Reste f r ü h e r e r Religionsstufen i m Epos betrifft: auf die Freude an der D i a c h r o n i e ist allenthalben Vorsicht gefolgt, i m Z e n t r u m des Interesses steht das Gedicht, nicht seine Vorstufen. Das zeigt schlagend die Diskussion u m die Frage, o b an einigen Stellen der beiden Epen die G ö t t e r in Vogelgestalt sich manifestierten, oder ob m a n b l o ß mit harmlosen Gleichnissen rechnen müsse. Nilsson n a h m die Stellen als Darstellung t h e r i o m o r p h e r E p i p h a nien u n d deutete diese als survival n i c h t - a n t h r o p o m o r p h e r mykenischer Gottesvorstellungen; Dirlmeier k ä m p f t e dagegen an, schüttete aber das Kind mit dem Bade aus, i n d e m er gewaltsam alle Stellen als verkürzte Gleichnisse faßte; Fauth, Erbse u n d B a n n e r t zeigten die F u n k t i o n der einzelnen Stellen i m K o n t e x t auf, waren mit diachronischen Folgerungen zurückhaltend — bezeichnend scheint aber,

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' Eine Gleichsetzung mit Dionysos aufgrund der Trias Zeus-Hera-Dionysos Kemelios (seit C. Gallavotti, Rivista di Filologia e Istruzione Classica [RFIC] 34, 1956, 223-236) ist reines Rätselraten. w> ' Aus archäologischer Sicht J. N. Coldstream, Geometrie Greece, London 1977, 329-332 [ = Geometrie Greece], 87 ' P. Darcque, Les vestiges myceniens decouverts sous le telesterion d'Eleusis, Bulletin de Correspondance Hellenique [BHC] 105, 1981, 593-605. яя> Zusammenfassend Coldstream, Geometrie Greece 329 f. 89) Ein Beispiel: Apollon Lykeios, den die Epiklese als Gott der Wolfskrieger ausweist (F. Graf, Nordionische Kulte, Rom 1985, 220-227 [ = Kulte]), hat seinen Tempel doch oft im Zentrum der Polis historischer Zeit, in Argos, Sikyon, Metapont etwa an der Agora: muß man ihn also als Gott jener einsickernden Gruppen von Hirtenkriegern fassen, die in den Dunklen Jahrhunderten den Kern zur späteren Polis bildeten? 90> B.C. Dietrich, The Origins of Greek Religion, Berlin 1973; vgl. dens., Tradition.

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daß nur gerade der jüngste Forschcr, Herbert Bannert (*1950), ganz auf sie verzichtet. 91 ' Die philologische Beschäftigung mit Homers Göttern hat gelehrt, sie als doppelt funktionell zu verstehen — als Teil eines narrativen Gebildes, das ohne Götterapparat nicht funktionieren kann, und als Teil einer Deutung von Welt und Menschsein, die ohne die Götter unverständlich sind; Erzählnotwendigkeit und Weltdeutung sind kongruent. Das Spiel der Götter, der leicht lebenden, schafft eine Gegenwelt zum Los der Menschen; die Unvereinbarkeit der beiden Seinssphären wird betont 92 '; weit davon entfernt, Ausdruck irreligiöser oder skeptischer Distanz zu sein, streicht die Götterburleske, auch in andern epischen Traditionen zuhause, das spielerische Leben der Götter im Gegensatz zum harten Los des Menschen heraus 93 ' — während sich die menschliche Handlung in immer schrecklicheren Kämpfen auf den Tod Hektors zubewegt, tummeln sich auch die Götter, „und Zeus vernahm es . . . und es lachte ihm das Herz vor Freude, als er sah, wie die Götter im Streit zusammenkamen." 94 ' In der Odyssee freilich ist gerade die später anstößigste Geschichte, der Ehebruch von Ares und Aphrodite, eingelegtes Lied des Demodokos und so der direkten Verantwortung des Erzählers entzogen. 95 ' Doch Götter manifestieren sich erst einmal dem Menschen gegenüber, als Helfer in der Not oder als Bringer unverständlichen Leids; nichts unterscheidet hier Homers Götter von späterer Religion, nichts weist auf fehlenden Glauben 96 ' — auch später können Götter nicht nur helfen, sondern auch aus dem Menschen

91 > M . P . Nilsson, Religion 2 491-493; F. Dirlmeier, Die Vogelgestalt homerischer Götter, Sb. Hbg. 1967: 2; W. Fauth, Zur Typologie mythischer Metamorphosen in der homerischen Dichtung, Poetica 7, 1975, 235-268; H. Bannert, Zur Vogelgestalt der Götter bei Homer, Wiener Studien [WSt] 12, 1978, 29-42; H. Erbse, Homerische Götter in Vogelgestalt, Hermes 108, 1980, 259-274; eine gewisse Skepsis ist hörbar bei Burkert, Religion 78. Vgl. auch W. Smith, The Disguises of the Gods in the Iliad, N u m e n 35,1988,161-178, der in den nichtanthropomorphen Formen der Götter eine Betonung ihrer Distanz zum Menschen sieht; verwandt auch W. Pötscher, Hera. Eine Strukturanalyse im Vergleich mit Athena, Darmstadt 1987, 78 f. 92 > Z . B . II. 1, 572-576; 2, 462f.; 5, 441 f.; 17, 446f.; 21, 464. - Vgl. Burkert, Religion 195; Griffin, Homer 167-170. Von der Gegenseite her schaut Otto, Götter 129: „so werden sich die Götter ihrer Größe und ihrer Zusammengehörigkeit durch das menschliche Gegenbild erst recht bewußt". 93) Vgl. W. Burkert, Götterspiel und Götterburleske in altorientalischen und griechischen Mythen, Eranos-Jahrbuch 51, 1982, 335-367; demgegenüber hält noch W. Kraus, Götter und Menschen bei Homer, Wiener Humanistische Blätter 18, 1976, 20-32 = Aus allem eines. Studien zur antiken Geistesgeschichte, Heidelberg 1984, 15-27, an der gewollt würdelosen Frivolität der Szenen fest; Erbse, Untersuchungen 4, protestiert zu Recht. 94 > IL 21, 388-390 (Übersetzung Schadewaldt). 95 > O d . 8, 266-367; vgl. W. Burkert, Das Lied von Ares und Aphrodite, R h M 103, 1960, 130-144; B.K. Braswell, The Song of Ares and Aphrodite. Theme and Relevance to Odyssey 8, Hermes 110, 1982, 129-137. 96 > Das betont Griffin, Homer 156-178.

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unfaßbaren Gründen Leid senden. Daß der Dichter über die Identität des wirkenden Gottes besser Bescheid weiß als seine Personen, soll nicht die Fiktionalität unterstreichen, sondern sein überragendes Wissen, das ihm von den Musen zukam — oft genug wissen die menschlichen Akteure nicht genau, wer sie geschlagen hat, weiß nur der Dichter Bescheid. 97 ' Solches Eingreifen der Götter ist oft bloß die Folge besonderer Liebe zu einzelnen Menschen: daß ein Einzelner θεοφιλής, Götterliebling, sein kann, ist fest in griechischem Glauben. 98 ' Der Willkür solcher Liebesbezeugungen sind aber Grenzen gesetzt: Zeus kann Hektor zwar vor dem Pfeil des Teukros, nicht aber vor dem Speer des Achill erretten — die Widerworte der Athena und die Kerostasie des X unterstreichen dies: hier wird der Zwang der traditionellen Geschichte, daß Hektor durch Achill umkommt, theologisch überhöht zur Weltdeutung 99 ': auch die Götter, selbst Zeus, ihr mächtigster, sind eingebunden in eine Regelhaftigkeit, die sie nicht umstoßen sollten: so wird man das vielerörterte Problem des Verhältnisses zwischen Zeus und dem Schicksal verstehen — daß deswegen Moira mächtiger sei als Zeus, gar Repräsentantin einer älteren Religionsstufe, ergibt sich daraus aber nicht. 100 ' Grundlegend ist, daß der Mensch in die feste Notwendigkeit seines Todes eingespannt ist, die auch die Götter nicht durchbrechen können, ohne die Trennung der beiden Seinssphären zu gefährden. Neben der Unausweichlichkeit des Todes steht die Gerechtigkeit als ein Prinzip, das Götter- und Menschenwelt ordnet. Das Verhältnis wenigstens des iliadischen Zeus zur Gerechtigkeit ist fast so umstritten wie dasjenige zum Schicksal; die Odyssee stellt sich mit der Theodizee des ersten Buchs programmatisch unter den Satz, daß sich menschliches Unrecht rächt. 101 ' Die Ilias ist verhaltener; doch nicht bloß im Gleichnis 16,384-393, wo Zeus den Menschen Unwetter als Strafe für Unrecht sendet, sondern auch, wenn Zeus Hüter der Eide und Beschützer von Fremden und Schutzflehenden ist, sind Eidbrüche und Vergehen gegen Zeus' Schützlinge nicht einfach Vergehen gegen einen Machtanspruch, so, wie die

97)

Musen II. 2, 485f.; Hes. Th. 27f.; die Differenzierung hat O . Jörgensen (oben Anm. 71) innerhalb der Apologe der Odyssee aufgewiesen. 98 > F. Dirlmeier, βεοφιλία - φιλοθεία, Philologus 90, 1935, 57-77. 176-193. Die Doppelung der Diskussion und der Kerostasie weist darauf, daß solche theologischen Partien bereits Teil der epischen Tradition sind; neoanalytische Folgerungen (Schadewaldt, Welt 163-169) drängen sich deswegen nicht auf. 10()) Eine ausfuhrliche Doxographie bei Dietrich, Death 179-193, der die angedeutete evolutionistische These vertritt; seither Tsagarakis, Nature 117—134; Erbse, Untersuchungen 284—293. 101 > Od. 1, 32-43, grundlegend W. Jaeger, Solons Eunomie, Sb. Berlin 1926, 69-85 = Scripta Minora, R o m 1960, 315-337, wieder in W. Eisenhut (Hrsg.), Antike Lyrik, Darmstadt 1970, 9-31 [ = Solons Eunomie]; zur Ilias zentral Lloyd-Jones, Justice 1-27; anders W. Kullmann, Gods and Men in the Iliad and the Odyssey, H S C P 89, 1985, 3 - 5 [ = G o d s ] (in der Ilias entscheidender Faktor die Leidenschaften der Götter, ungeachtet ihrer Moralität); Lit. bei W.J. Verdenius, A Commentary on Hesiod, Works and Days, vv. 1-382, Leiden 1985, 20 Anm. 80.

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Griechen das O p f e r beim Mauerbau vergessen und deswegen bestraft werden müssen 102 ^: Zeus' Bereich ist von Anfang an derjenige der sozialen, auf Beachtung von gegenseitigen Regeln angewiesenen Beziehungen; an Zeus wenden sich in Phoinix' Ainos die Bitten dann, w e n n sie verschmäht werden, wenn also einer gegen solche Regeln sich vergeht. 1 0 3 ' So wird denn die menschliche H a n d l u n g auch in der Ilias i m m e r wieder aus dem menschlichen Vergehen gegen eine O r d n u n g gedeutet, die Zeus setzte: Paris verging sich gegen Zeus' O r d n u n g , als er Helena raubte, Pandaros, als er auf Menelaos schoß — daran ändert der U m s t a n d nichts, daß in beiden Fällen der Plan des Zeus das Vergehen auch auslöste, vielmehr liegt gerade in solcher Paradoxie eine bittere Einsicht in das Wesen der Welt 104 '; menschliche Eigenverantwortung wird dadurch nicht aufgehoben. 1 0 5 ' U m g e k e h r t wird Hektors Tod auch dadurch vorbereitet, daß Hektor sich überhebt und Zeus' U n m u t provoziert 1 0 6 ', und dasselbe gilt für Achill — weder das Beharren auf seiner Ehre gegenüber A g a m e m n o n noch die Schändung von Hektors Leiche und das gewaltige Menschenopfer an Patroklos' Grab geschehen innerhalb dessen, was menschlicher O r d n u n g gestattet ist. 107 ' Das neue Verständnis von M y t h o s als traditioneller Erzählung in mündlicher Kultur 1 0 8 ' hat das Verhältnis von Mythos und epischem Erzählen undeutlich werden lassen: episches wie mythisches Erzählen braucht nicht mehr identisch zu sein mit j e einem bestimmten Text. 109 ' Die faszinierende Möglichkeit, große Teile 102

> Eid: II. 4, 158-168; Gastfreunde: 13, 624 f. Bittflehende: 24, 57; zusammenfassend H. Schwabl, Zeus, R E Suppl. 15, München 1978, 1027-1030, die Stellen auch bei Tsagarakis, Nature 19—27 (ohne Differenzierung zwischen den beiden Epen). Z u m Mauerbau vgl. R . Scodel, The Achaean Wall and the Myth of Destruction, H S C P 86, 1982, 33-50. 103 > Eide И. 4, 166-168; ξένοι ibid. 158f.; Litai 9, 510-512. Vgl. Lloyd-Jones, Justice 4-7; Erbse, Untersuchungen 221. 104) Auch das oft beklagte und unser modernes Empfinden störende Eingreifen Athenes bei Hektors Tod ist Teil dieses nüchternen Bildes und kann nicht durch interpretatorische Kniffe weggedeutet werden, wie dies Μ. M. Willcock, Some Aspects of the Gods in the Iliad, Bulletin of the Institute of Classical Studies [BICS] 17, 1970, 1-10, versucht. 105 ' An diesem Ergebnis vor allem von Leskys Untersuchung über .Göttliche und menschliche Motivation' ist festzuhalten. Zeus schickt ατη auch ohne vorherige Verschuldung: darin liegt der Anstoß für den moralisch Nachrechnenden, doch hat gerade dies explikativen Wert: die Kette von Vergehen und Sühne muß irgendwann einmal angefangen haben. 106 > Hektor und die Rüstung Achills II. 17, 206. 107) Daß Achill im Unrecht ist, wenn er Agamemnons Angebot zur Wiedergutmachung ablehnt, sagt Phoinix mit dem Bild der Litai: Lloyd-Jones, Justice 17f.; die Schändung von Hektors Leiche wird erst von Apollon (24, 50-54), dann von allen Göttern verurteilt (24, 112-114); das Menschenopfer erfährt eine auktoriale Mißbilligung 23, 176, vgl. Erbse, Untersuchungen 299-305; daraus, daß das Menschenopfer dichterische Absicht hat, folgt freilich nicht zwingend, daß erst Homer es erfunden hat. 108) Initiiert von G. S. Kirk, Myth. Its Meaning and Functions in Ancient and Other Cultures, Berkeley/Los Angeles 1970 [ = M y t h ] , ,09) Vgl. J. Goody, The Domestication of the Savage Mind, Cambridge 1977, 120 [ = Domestication].

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der homerischen Epenerzählung von altorientalischer Dichtung abhängen zu lassen, kompliziert die Sache noch: denn dann wird das Problem teilweise zu einem der Literaturgeschichte, wo schriftliche Texte aufeinander einwirken und sich jeder Mythos im Unfaßlichen verflüchtigt — freilich ist nicht auszuschließen, daß Griechen die nahöstlichen Epen gehört und zuhause in die Tradition von mündlich Erzähltem eingespeist haben.110) Eine Reflexion auf die Funktion von Epos und Mythos kann die Unterscheidung der beiden klären helfen. Mythos ist eine traditionelle Erzählung mit Verbindlichkeitscharakter für die sie tradierende Gruppe111^, die sich zwar in jeweils einem (mündlichen) ,Text' niederschlägt, aber als erinnerbare und erinnerte Struktur von Handlungsschemata den Einzeltext transzendiert — in diesem Sinn ist μΰθος , Stoff der Erzählung' in aristotelischer Terminologie. Episches Erzählen seinerseits erzählt traditionelle Themen in fester, traditioneller Form und mündet je weilen in einem bestimmten Epos, wobei diese feste äußere Form mnemotechnische Gründe hat112), also ebenfalls auf Verbindlichkeit des Erzählten weist. Doch ist das epische Erzählen nicht lokal — und das heißt: für eine Einzelgruppe verbindlich — gebunden: der Aoide ist ja ein wandernder Spezialist außerhalb des festen Gruppenverbands; gerade dadurch aber ist seine schon in geometrischer Zeit feststellbare panhellenische Wirksamkeit möglich, die es schließlich zu überlokal-allgemeingriechischer Verbindlichkeit (und damit zum Status einer griechischen Mythologie) bringen wird. Die Theorie der Oralität archaischer Kulturen — und das heißt hier besonders: die Bedeutung der Verbindlichkeit der Traditionsinhalte und der sozialen Gebundenheit institutionalisierten Erzählens 113 ' — hat das Verhältnis von Individualität und Tradition scharf hervortreten lassen: wieviel an der Eigenart und einheitlichen Stilisierung in Religion und mythischer Erzählung 114 ' des homerischen Epos ist uo)

Der Sänger ist wenigstens im Akkadischen wichtig: K. Hecker, Untersuchungen zur akkadischen Epik, Neukirchen-Vluyn 1974; etwas mehr zum Problem Graf, Mythologie 91, und vor allem R . Mondi, Greek Mythic Thought in the Light of the Near East, in: L. Edmunds (Hrsg.), Approaches to Greek Myth, Baltimore 1990, 141-198. m > Das schließt sich an die von W. Burkert mehrfach (in: H. Poser [Hrsg.], Philosophie und Mythos. Ein Kolloquium, Berlin/New York 1979, 16-39; in: J. Assmann/W. Burkert/F. Stolz: Funktionen und Leistungen des Mythos, Freiburg/Göttingen 1982, 63—65; in: Bremmer, Interpretations 10-12) gegebene Definition des Mythos als angewandter traditioneller Erzählung an, betont aber die Verbindlichkeit etwas stärker. 112 ' „Oral verse was the instrument of a cultural indoctrination, the ultimate purpose of which was the preservation of group identity. It was selected for this role because [...] its rhythms and formulas provided the sole mechanism of recall and of re-use": Havelock, Preface 100; Goody, Domestication 119, verweist auf die Beständigkeit von Kinderversen über Generationen hinweg. 113 ' Dazu u.a. J. Svenbro, La parole et le marbre. Aux origines de la poetique grecque, Lund 1976; W. Rosier, Die Entdeckung der Fiktionalität in der Antike, Poetica 12, 1980, 315-318. 114 ' Auf die im Vergleich zu anderen Mythologien einheitlich entzauberte Stilisierung der griechischen Mythen hat Kirk, Myth 172—251, den Finger gelegt, und Griffin, Homer 172-178, hat den Gedanken weiter verfolgt; das ist wohl tatsächlich Teil der kulturellen Morphologie der Griechen, nicht Kennzeichen eines individuellen Sängers.

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Indiz fur den einen, genialen ,monumental composer', wieviel ist Folge einer gildeninternen Sängertradition? 115 ' Daß traditionelle Themen - Mythen im Sinn einer strukturierten Abfolge von Motiven, die jenseits des individuellen Textes bleibt — im Interesse der Erzählstrategie verändert werden können, ist unbestreitbar: das schlagendste Beispiel ist die Anpassung des Meleagermythos an die rhetorische Strategie des Phoinix 116 '; wie weit aber kann ein Sänger, der auf den Konsens seiner Gruppe darüber angewiesen ist, was Tradition ist, innovativ sein — kann er, wie Jasper Griffin dies letzthin behauptete, „archaisch klingende Mythen erfinden", oder ist er, wie Gregory Nagy dagegenhält, überhaupt zur Innovation unfähig (womit wir wieder bei Wolf und dem Sänger, der fest in die Tradition gebunden ist, angekommen wären)? 117 ' Vergleichende Forschungen geben wenig dazu 118 '; immerhin weist M. Detienne darauf, daß eine traditionelle Geschichte gewöhnlich anhand des Handlungsschemas erinnert wird, was dieses als den stabilsten Teil der Überlieferung ausweist. 119 ' Die Frage hat erst begonnen, Unruhe zu stiften, und es liegt in ihr viel Potential zu Mißverständnissen zwischen denen, die Homer mit literaturhistorischen Maßstäben messen, und denen, die von einer sozialen Anthropologie herkommen.

115 > Dazu W. Burkert, Die Leistung eines Kreophylos, Museum Helveticum [MH] 29, 1972, 74-85. 116) v g l . allgemein M . M . Willcock, Mythological Paradeigma in the Iliad, T h e Classical Quarterly [ C Q ] 14, 1964, 141-154; B . K . Braswell, Mythological Innovation in the Iliad, C Q 21, 1971, 16-26; M . M . Willcock, Ad hoc Invention in the ,Iliad', H S C P 81, 1977, 41-53; zu Meleager K.-E. Petzold, Die Meleagros-Geschichte der Ilias, Historia 25, 1976, 146-169; J. Bremmer, La plasticite du mythe. Meleagre dans la poesie homerique, in: C . Calame (Hrsg.): Metamorphoses du m y t h e en Grece antique, Genf 1988, 37—56; S. C. R . Swain, A N o t e on Iliad 9, 524-599: T h e Story of Meleager, C Q 38, 1988, 271-277. n7) „The poet of the Iliad even invents archaic-sounding myths of divine conflict in the olden days": Griffin, H o m e r 185; „the poet has no intention of saying anything untraditional": G. Nagy, T h e Best of the Achaeans. Concepts of the Hero in Archaic Greek Poetry, Baltimore/ London 1979, 3 [ = T h e Best]; bezeichnend ist, daß N a g y sich auf Vico beruft, S. 5 A n m . 2, mit Verweis auf seine frühere Arbeit, Comparative Studies in Greek and Indie Meter, C a m bridge, Mass. 1974, 11. 11 G e w ö h n l i c h dreht sich hier die Diskussion u m die Anpassungen, die ein Mythos an neue soziale, politische oder andere außerliterarische Gegebenheiten vollzieht, etwa bei M . Detienne, L'invention de la mythologie, Paris 1981, 50-86 [ = L'invention]; das Paradebeispiel ist der mehrfach über Generationen hinweg aufgezeichnete Ursprungsmythos der nigerianischen Tiv, J. G o o d y / I . P . Watt, T h e Consequences of Literacy, Comparative Studies in History and Society 5, 1962-63, 304—345, vgl. Detienne, L'invention 78. Anders zu beurteilen sind die Verwandlungen des zwischen 1951 und 1975 aufgezeichneten Bagre der LoDagaa von Ghana, J. Goody, Memoire et apprentissage dans les societes avec et sans ecriture: la transmission du Bagre, L ' H o m m e 17, 1977, 29—52; vgl. dens., Domestication 118: da mögen ästhetische Ziele mitspielen. 119 > Detienne, L'invention 81. - Wenn Goody, Domestication 116-119, auf die bei den LoDagaa festgestellte Freude an Innovationen und geringe Fähigkeit zur Korrektur verweist, betrifft das die formale, nicht die inhaltliche Seite.

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Wieder in Bewegung gekommen ist nach langer Ruhe die heikle Frage nach Beziehungen zwischen Epos und Ritual. Eine Facette der Frage allerdings ist problemlos, diejenige des im Epos erwähnten Rituals. 1 2 0 ' Daß die Epen bloß eine bewußte Auswahl aus den möglichen Riten enthalten, insbesondere Magisches möglichst fernbleibt, ist längst bekannt: das ist bewußte Stilisierung. 121 ' In jüngster Zeit hat auch das Verständnis des homerischen Rituals als eines narrativen Ausdrucksmittels zugenommen 1 2 2 ' — die Zeiten, in denen mit Rohde das maßlose Totenopfer für Patroklos als survival einer früheren Religionsstufe interpretiert wurde, sind vorbei, waren schon vorbei, bevor die Funde von Lefkandi Rohdes Ausgangspunkt, die Einzigartigkeit der Totenopfer, so schön materiell widerlegt hatten 123 '; selbst Menschenopfer sind in steigendem Maß als narratives, nicht rituelles Ereignis erkannt worden. 1 2 4 ' Wie ein Eingehen auf die Eigenheiten des Epos religionsgeschichtlich fruchtbar gemacht werden kann, zeigt wieder Nagy,

12 "' Einzeluntersuchungen zum Ritual sind vorhanden, etwa zur Mantik A . J . Podlecki, Omens in the Odyssey, Greece & R o m e 14, 1967, 12—23; K.Hirvonen, Cledonomancy and the grinding slave. Od. 20, 99-121, Arctos 6, 1969, 5-21; N . Rollant, Contribution ä l'etude du vocabulaire rituel chez Homere: le mantis, Centre des recherches comparees sur les langues de la Mediterranee Ancienne 3, 1976, 289-352; zum Opfer E. Kadletz, The Sacrifice of Eumaios the Pig Herder, G R B S 25, 1984, 99-105 (zu Od. 14, 414-456); zum Eid N . Rollant, h o r k o s et sa famille. Le rituel de la prestation du serment dans l'Iliade et l'Odyssee d'Homere, Centre des recherches comparees sur les langues de la Mediterranee Ancienne 4, 1979, 214—304; zum Totenkult M. Andronikos, Totenkult, in: Archaeologia Homerica, Bd. III, Fase. W, Göttingen 1968; älter ist J . F. Beckmann, Das Gebet bei Homer, Diss. Würzburg 1932. — Fehlen von Magie in der Ilias notiert schon Plin. nat. hist. 30,5. 121> Wichtig noch immer E. Ehnmark, Anthropomorphism and Miracle, Uppsala Univ. Arsskrift 1939: 12; G. Nenci, La concezione del miracoloso nei poemi omerici, Atti dell'Accademia delle Scienze di Torino 92, 1957/58, 275-311; zu Einzelheiten R . Strömberg, The Aeolus Episode and Greek Wind Magic, Acta Universitatis Goteborgensis 56, 1950, 71-80; Ph.J. Kakridis, Achilleus' Rüstung, Hermes 86, 1961, 288-297; hübsch C. Faraone, Hephaestus the Magician and Near Eastern Parallels for Alcinous' Watchdogs, G R B S 28, 1987, 257-280. Wenn Ε. Cantarella, La lapidazione tra rito, vendetta e diritto, in: Melanges Pierre Leveque, Bd. 1, Paris 1988, 83-95, die fehlende religiöse Bindung der Steinigung bei Homer (II. 3, 56 f.) als Beleg dafür versteht, daß die Sakralisierung erst später durch Delphi erfolgte, übersieht sie diesen Stilisierungswillen. l22> Besonders H. Schwabl, Religiöse Aspekte der Odyssee, W S t 12, 1978, 5-28; ders., Überlegungen zur Funktion von Kultgegebenheiten in der Ilias, in: Festschrift Robert Muth ( = Innsbrucker Beitr. z. Kulturwiss. 22), Innsbruck 1983, 437-442; G. Petersmann, Die monologische Totenklage der Ilias, R h M 116, 1973, 1-16; F. Ferrari, Dizione epica e pianto rituale (II. 22, 405-436), R F I C 112, 1984, 257-265. 123) Rohde, Psyche 2 1, 14—22; ähnlich Wilamowitz, Glaube 2, 371 f.; die literarische Deutung gibt Erbse, Untersuchungen 300—303. 124) A. Henrichs, Human Sacrifice in Greek Religion. Three Case Studies, in: J. Rudhardt/ О. Reverdin (Hrsgg.), Le sacrifice dans l'antiquite (Entretiens sur l'antiquite classique 27), Vandoeuvres-Genf 1981, 195-235; Graf, Kulte 411 f. - Die Funde von Lefkandi freilich könnten diese Deutung widerlegen, wären sie nur sicherer.

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Fritz Graf

der auf die i m m e r w i e d e r diskutierte Frage, w e s w e g e n bei H o m e r der H e r o e n k u l t fehlt, die w o h l einleuchtendste A n t w o r t gibt. 1 2 5 ' M e h r P r o b l e m e , freilich auch weit m e h r Spekulation, u m g e b e n andere Fragen in diesem P r o b l e m k o m p l e x . K a u m ü b e r z e u g e n d b e a n t w o r t e t , vielleicht auch k a u m zu b e a n t w o r t e n ist die Frage, wieweit sich umfassende Gedichtstrukturen aus d e m R i t u a l herleiten lassen 126 ': die S t r u k t u r der Odyssee gleicht der S t r u k t u r eines rite de passage nicht n o t w e n d i g e r w e i s e n u r deswegen, weil unsere Odyssee sich direkt aus solchem R i t u a l herleitet, sondern weil solche S t r u k t u r e n als S t r u k turen menschlicher E r f a h r u n g auch sehr erfolgreiche Erzählstrukturen sein u n d sich v o m R i t u a l emanzipieren können. 1 2 7 ' Die seinerzeit v o n К . O . Müller v o r g e f ü h r t e R e d u k t i o n epischer Stoffe auf R i t e n ist b e i m neu e r w a c h e n d e n Interesse f ü r die soziale D i m e n s i o n von Religion u n d M y t h o s w i e d e r intensiver diskutiert w o r d e n : längst hat Louis Gernet D o l o n mit der W o l f s k a p p e m i t indoeuropäischen W o l f s b ü n d e n v e r b u n d e n , o h n e viel E c h o zu haben; andere, weit w e n i g e r disziplinierte Versuche folgten. 1 2 8 ' Seit den sechziger J a h r e n m e h r e n sich derartige Studien, hat m a n etwa v o n verschiedenen Seiten her Nestors Jugendgeschichten mit indoeuropäischer H e l d e n d i c h t u n g initiatorischer H e r k u n f t zusammengebracht 1 2 9 ', gar entscheidende Teile der T r o i a h a n d l u n g m i t diesem indoeuropäischen K o m p l e x

125) Nagy, The Best 94-117. Zur Diskussion Rohde, Psyche2 1-36; L. R . Farneil, Greek Hero Cults and Ideas of Immortality, Oxford 1921, 5—12; R . K. Hack, Homer and the Cult of Heroes, ТАРА 60, 1929, 57-74. 126) Bisher wenig ergiebig waren die Spekulationen um den rituellen Ursprung von Epik überhaupt, etwa im Schamanismus (K. Meuli, Scythica, Hermes 70, 1935, 164—176 = Gesammelte Schriften 865-879; eine Trennung von heroischem und schamanistischem Epos gibt C . M . Bowra, Heroic Poetry, London 1952, 5-20), phantastischer C. Autran, Homere et les origines sacerdotales de Герорёе grecque, Paris 1938-1944 (3 Bde.), vgl. J. Berard, Remarques sur les origines sacerdotales de l'epos homerique, Revue d'Archcologie 21, 1944, 35—43; ein Überblick bei Α. B. Lord, Ritual and Magical Origins of Epic, in: A.J. B. Wace/F. H. Stubbings (Hrsgg.), A Companion to Homer, London/Melboume/Toronto 1962, 197-205; zur Abgrenzung von Epos und Ahnenkult Nagy, The Best 114—117. 127) Problematisch Ch. P. Segal, The Phaeaciens and the Symbolism of Odysseus' Return, Arion 1: 4,1962,17/64; ders., Transition and Ritual in Odysseus' Return, PdP 22,1967,321-342; besonnen P. Scarpi, II ritorno di Odysseus e la metafora del viaggio iniziatico, in: M.-M. Mactoux/E. Geny (Hrsgg.), Melanges Pierre Leveque. Bd. 1: Religion, Paris 1988, 245-259; vgl. auch Anm. 128. 128 > L. Gemet, Dolon le loup, in: Melanges Franz Cumont, Brüssel 1936, 189-208 = Anthropologie de la Grece antique, Paris 1968,154—171 [ = Dolon]; G. Germain, La genese de l'Odyssee. Le fantastique et le sacre, Paris 1954 [ = La genese]; Carpenter, Folk Tale. 129) ρ Walcot, Cattle Raiding, Heroic Tradition, and Ritual. The Greek Evidence, History of Religions [HR] 18, 1979, 326-351, bes. 335-342; Franchise Bader, Rhapsodies homeriques et irlandaises, in: R . Bloch et al. (Hrsgg.), Recherches sur les religions de l'antiquite classique, Paris/Genf 1980, 9-83; zum indogermanischen Hintergrund В. Lincoln, The Indo-European Cattle-Raiding Myth, H R 16, 1977, 42-65.

Religion und Mythologie im Zusammenhang mit H o m e r

359

von M y t h o s und R i t u a l verknüpft 1 3 0 ); auch einzelnes wie die identitätsstiftende V e r w u n d u n g des Odysseus auf der Eberjagd b e k o m m t durch solche Interpretationen neue Tiefe. 1 3 1 ' Freilich sollte die Frage nach der Verbindung von Epos und R i t u a l mit einem präzisen hermeneutischen Instrumentarium angegangen w e r den, sowohl was die Verwurzelung epischer S t o f f e i m Kult wie was die G e b u n d e n heit vorhomerischer Tradition an religiös definierte Institutionen betrifft, etwa der κλέα ανδρών an Ahnenkult oder initiatorische Traditionsübermittlung. 1 3 2 ) W i e denn überhaupt der O r t des epischen Vortrags genauer bestimmt werden sollte; es fehlen sichere A r g u m e n t e dafür, daß die Situation der Odyssee - der Sänger a m Fürstenhof — wirklich Realität des 8.Jahrhunderts und nicht archaisierende und überhöhende Projektion ist: zur Zeit des delischen A p o l l o n - H y m n o s jedenfalls tritt der Sänger ,in den Städten' und an den Götterfesten vor der versammelten G e s a m t b e v ö l k e r u n g auf; schon der N a m e D e m o - d o k o s weist über den Fürstenhof weit hinaus. 1 3 3 ' Im Hintergrund solcher Fragestellungen steht, wenigstens bei den j ü n g e r e n Studien durchaus reflektiert, die Auffassung, daß die epische Tradition letztlich auf indoeuropäische Epik zurückgehe 1 3 4 ' und daß diese Epik eingebunden sei in gemeinsames indoeuropäisches, auch bei den Griechen weiterlebendes R i t u a l — von daher die Privilegierung anderer indoeuropäischer Kulturen und Traditionen gegenüber d e m Orient 1 3 5 ', von daher die Wichtigkeit gerade von Initiationsritua1 3 0 ' J . N . Bremmer, Heroes, Rituals, and the Trojan War, Studi Storici-Religiosi [ S S R ] 2, 1978, 5-38 [ = Heroes], zeigt überzeugende Beziehungen auf; phantastischer war V.J. Abajev, Le cheval de Troie. Paralleles caucasiennes, A n n E S C 18, 1963, 1041-1070, vgl. auch M . Daraki, Personnages hero'iques et initiation guerriere dans l'Iliade, in: Etudes de litterature ancienne. 2: Questions de sens, Paris 1982, 65-80, und E. Kearns, The Return o f Odysseus. A Homeric Theoxeny, C Q 32, 1982, 2 - 8 . 131) N . Felson Rubin/W. M . Sale, Meleager and Odysseus. A Structural and Cultural Study of the Greek Hunting-Maturation Myth, Arethusa 16, 1983, 137-171; aus ganz anderem Gesichtspunkt Α. Köhnken, Die N a r b e des Odysseus. Ein Beitrag zur homerisch-epischen Erzähltechnik, A & A 22, 1976, 101-114 (auch in: J . Latacz [Hrsg.], Homer. Die Dichtung und ihre Deutung, Darmstadt 1991, 491-514). 132) Die Leichtigkeit, mit der teilweise auch in späteren Epen nach solchen Strukturen gefahndet wird — etwa bei Apollonios von R h o d o s : R . L . Hunter, ,Short on Heroics'. Jason in the Argonautica, C Q 38, 1988, 436-453, oder bei Vergil: J . Thomas, D e l'ordalie a l'mitiation. Le voyage d'Enee, Latomus 48, 1989, 36-45 - weist darauf, wie dringend notwendig eine präzisere Begrifflichkeit wäre. 133 ' Horn. h. Ap. 174f.; vgl. G . A . Samona, Gli itinerari sacri dell'aedo. Ricerca storicoreligiosa sui cantori omerici, R o m 1984, 104-118; zu D e m o d o k o s ibid. 63. 134) N u r so lassen sich Paradoxa wie dasjenige verstehen, daß gerade an Dolon, dem Helden des nach allgemeiner Ansicht jungen K , derart archaische Reste haften sollen - ein Paradox, daß der Verbreitung von Gernets Ansicht (oben A n m . 128) auch nicht gerade nützte. 135> Die von H. Mühlestein, J u n g Nestor j u n g David, A & A 17, 1971, 173-190 = ders., Namenstudien 56-73, zum Vergleich herangezogene Davidsgeschichte weist ähnliche Strukturen auf, ist aber in der Motivik und den Institutionen weiter entfernt; angesichts der indoeuropäischen Epik ist der Transmissionsweg auch einfacher.

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Fritz Graf

len und Männerbünden in diesen Herleitungen. Hier öffnete sich denn auch ein Weg, institutionell gebundene Tradierung der Epen präziser festzumachen: entscheidend sind die vielen Spuren der Initiationsthematik im Epos, die Bedeutung des Epos als verbindliche Tradition und die Konstanz dieser Tradition: das mag eben doch auf die Möglichkeit vorhomerischer Vermittlung innerhalb des erzieherischen Instituts der Ephebie oder seiner Vorstufen weisen. 136 ' Grundsätzlich neu sind solche Ansätze nicht; die Einwände gegen die ritualistische Reduktion von Mythos gelten auch für sie, und man darf neben einer indoeuropäischen Herleitung, die institutionell abgesichert sein sollte, den vielfältigen, freilich vor allem eben doch erzählerischen Einfluß des Orients nicht übersehen, in dessen Kultur ja das spätbronzezeitliche wie das geometrisch-archaische Griechenland vielfach verzahnt ist.137' Doch immerhin ist die indoeuropäische epische Erzähltradition unterdessen wohl mehr als vage Hypothese, und vielleicht kann man auch eine ebenso alte Tradition der erzählerischen Prosa aufweisen, wie dies E. Risch versucht hat. 138 ' Diese letzten Teile der Bestandsaufnahme haben nun etwas weggeführt von den beiden Epen, um die doch alles kreist. Doch ist es wohl eine Eigenheit gerade der Beschäftigung mit Homer, daß immer wieder solche tangentialen Entfernungen und Flüge weg vom Zentrum wenigstens als Gedankenspiel nicht nur möglich, sondern auch gefordert sind, um wenigstens ansatzweise die historischen Tiefen zu fassen, in denen das epische Dichten verwurzelt ist.

136 > Z u den Spuren der Initiationsthematik o b e n A n m . 129, 130, 131, 132, vgl. auch C . W . Eckert, Initiatory M o t i f s in the Story o f Telemachus, Classical Journal 59, 1963/64, 4 9 - 5 7 ; Hölscher, O d y s s e e 2 5 1 - 2 5 8 ; w e n i g beachtet ist, daß in der Ilias allein Achill, der Ephebe (Lit. bei B r e m m e r , Heroes 7) epische Lieder (κλέα ά ν δ ρ ώ ν ) singt: 9, 189.

137) Y g j (J c n Beitrag v o n W. Burkert in diesem Band. — N i c h t haltbar sind h i n g e g e n n o c h tiefer schürfende Studien zu matriarchalischen Spuren, die K. H i r v o n e n , Matriarchal Survivals and Certain Trends in H o m e r ' s Female Characters, Helsinki 1968, z u s a m m e n f a ß t u n d w e i t e r fuhrt, u n d zu e i n e m v a g e n mediterranen Hintergrund, w i e ihn G. Patroni, C o m m e n t i mediterranei all'Odissea di O m e r o , Mailand 1950; ders., Studi di m i t o l o g i a mediterranea ed O m e r i c a , Mailand 1951 (vgl. U . Pestalozza, II m o n d o religioso mediterraneo nella Odissea di O m e r o , A c m e 4, 1951, 303—325) zu zeichnen versucht. 138) R . Schmitt, Dichter u n d Dichtersprache in indogermanischer Zeit, W i e s b a d e n 1967; W. M e i d , Dichter und D i c h t k u n s t in indogermanischer Zeit, Innsbruck 1978, v g l . auch M . Durante, Sulla preistoria della tradizione poetica greca, B d . 1 - 2 , R o m 1 9 7 1 - 1 9 7 6 . A u f eine m ö g l i c h e indoeuropäische Prosatradition verwies E. R i s c h , H o m e r i s c h ennepo, Lakonisch epheneponti u n d die alte Erzählprosa, Zeitschrift für P a p y r o l o g i e u n d Epigraphik 60, 1985, 1 - 9 .

Religion und Mythologie im Zusammenhang mit Homer

361

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362 Kullmann, Gods Lang, Homer

Lesky 1961

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RhM Rohde, Psyche Schadewaldt, Welt Sb. Hdbg. Sb. Berlin SSR Tsagarakis, Nature Usener, Stoff

Welcker, Götterlehre Wilamowitz, Glaube Wolf, Prolegomena

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ν Biographische Forschung zu Homer

ERNST VOGT

Homer — ein großer Schatten? Die Forschungen zur Person Homers "Ομηρος μεν ούν τίνων γονέων ή ποίας έγένετο πατρίδος, ού ράδιον άποφήνασЭаг ουτε γαρ αύτός τι λελάληκεν, άλλ' ούδέ οί περί αύτοΰ είπόντες συμπεφωνήκασιν.

Von welchen Eltern H o m e r stammt oder welches seine Heimat ist, das ist nicht leicht darzulegen. Denn er selbst hat nichts darüber gesagt, aber auch diejenigen, die über ihn berichtet haben, stimmen nicht miteinander überein. (Vita Proclip. 25,31 - 26,3

Wilamowitz)

Im Oktober 1796 erschien bei Cotta in Tübingen der von Schiller herausgegebene ,Musen-Almanach für das Jahr 1797', der u.a. die seit Dezember 1795 in rascher Folge entstandenen Xenien Goethes und Schillers enthielt. Eines dieser Distichen trug die Überschrift ,Der Wolfische Homer' und lautete: Sieben Städte zankten sich drum, ihn geboren zu haben; Nun da der Wolf ihn zerriß, nehme sich jede ihr Stück.^ Der Zweizeiler spiegelt die auch in vielen anderen Zeugnissen der Zeit spürbare Wirkung, die von Friedrich August Wolfs zu Ostern des Jahres 1795 in Halle erschienenen ,Prolegomena ad Homerum' 2 ' auf die gebildete Welt ausgegangen

Auflösung der bibliogr. Abkürzungen unten S. 377. '' Johann Wolfgang Goethe, Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche, hrsg. von Ernst Beutler, 2. Band, Artemis-Verlag Zürich 1953, 478. 2 ' Prolegomena ad H o m e r u m sive de operum H o m e r i c o r u m prisca et genuina f o r m a variisque mutationibus et probabili ratione emendandi. Scnpsit Frid. Aug. Wolfius. Vol. I, Halis Sax. 1795. Das Werk erschien als der erste Teil der Einleitung zu Wolfs neuer Homerausgabe. Z u r W i r k u n g der .Prolegomena' und zur Auseinandersetzung mit ihnen vgl. Richard Volkmann, Geschichte und Kritik der Wolfschen Prolegomena zu Homer. Ein Beitrag zur Geschichte der Homerischen Frage, Leipzig 1874. Vgl. auch Manfred Fuhrmann, Friedrich August Wolf. Zur 200. Wiederkehr seines Geburtstages am 15. Februar 1959, in: Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 33, 1959, 187—236. Eine 2. Auflage der Prolegomena bot zusätzlich die A n m e r k u n g e n aus Immanuel Bekkers Handexemplar sowie die in Wolfs Nachlaß aufgefundenen Fragmente des zweiten Teils seiner Einleitung (Prolegomena ad H o m e r u m . . .

366

Ernst Vogt

ist. Zwar hatte Wolf Vorgänger wie den französischen Dichtungstheoretiker Francois Hedeliti Abbe d'Aubignac (1604—1676), dessen 1715 postum veröffentlichte .Conjectures academiques ou dissertation sur l'Iliade' die Ilias als eine Sammlung von Einzelliedern verschiedener Dichter auffaßten und so mit der Einheit des Werkes auch Homer als Verfasser preisgaben. 3 ' Aber diese Auffassung war ohne weiterreichenden Einfluß geblieben, nicht zuletzt angesichts des sich von England aus in Europa ausbreitenden Geniekultes, der nach Thomas Blackwells ,Enquiry into the Life and Writings o f Homer' 4 ' und Edward Youngs .Conjectures on Original Composition' 5 ' in dem 1769 in London erschienenen ,Essay on the Original Genius o f Homer' des Diplomaten und Reisenden Robert Wood6' einen neuen Höhepunkt erreicht hatte. Demgegenüber schien Wolf zum ersten Mal den wissenschaftlich begründeten Nachweis zu liefern, daß es sich bei den unter Homers Namen erhaltenen Werken in Wirklichkeit um die Schöpfungen verschiedener Verfasser handle. Mit einem gewissen Recht pflegt in der neueren Homerforschung immer wieder darauf hingewiesen zu werden, daß Wolf mit seinen Prolegomena nicht nur den Anstoß zu einer sich in der Folgezeit ständig verfeinernden, aber zugleich in mancherlei Irrwege sich verlierenden Homeranalyse gegeben, sondern damit indirekt auch den Boden für eine tiefere Einsicht in die Eigenart der Epen bereitet und ein neues Verständnis der homerischen Dich-

Cum notis ineditis Immanuelis Bekkeri. Editio secunda, cui accedunt partis secundae prolegomenorum quae supersunt ex Wolfii manuscriptis eruta. Berolini 1876). Eine 3. Auflage, ohne die Fragmente des zweiten Teils, jedoch vermehrt um Wolfs die Prolegomena betreffende Briefe an Christian Gottlob Heyne, besorgte Rudolf Peppmüller (Halle 1884, Nachdruck Hildesheim 1963). Eine deutsche Ubersetzung des Werkes erschien in Philipp Reclam's Universal-Bibliothek: Friedrich August Wolfs Prolegomena zu Homer. Ins Deutsche übertragen von Prof. Dr. Hermann Muchau. Mit einem Vorwort über die Homerische Frage und die wissenschaftlichen Ergebnisse der Ausgrabungen in Troja und Leukas-Ithaka, Leipzig o.J. (1908). Seit einigen Jahren liegt eine englische Übersetzung der Prolegomena mit einer Reihe außerordentlich nützlicher Beigaben vor: F. A. Wolf, Prolegomena to Homer. 1795. Translated with introduction and notes by Anthony Grafton, Glenn W. Most, and James E. G. Zetzel, Princeton, New Jersey 1985. Vgl. jetzt auch Wolfgang Rosier, Mündlichkeit und Schriftlichkeit im archaischen Griechenland - bei Friedrich August Wolf und aus heutiger Sicht, in: Innere und äußere Integration der Altertumswissenschaften, Konferenz zur 200. Wiederkehr der Gründung des Seminarium Philologicum Haiense durch Friedrich August Wolf am 15.10.1787, Beiträge hrsg. von Joachim Ebert und Hans-Dieter Zimmermann, Halle (Saale) 1989, S. 55-63. Zu den Vorläufern Wolfs und zur Entstehungsgeschichte der Prolegomena vgl. Volkmann (Anm. 2), 1-48. Thomas Blackwell, Enquiry into the Life and Writings o f Homer, London 1735, 3 1757. Eine Übersetzung ins Deutsche besorgte Johann Heinrich Voß: Untersuchung über Homers Leben und Schriften, Leipzig 1776. 5> Edward Young, Conjectures on Original Composition, London 1759. Das Werk wurde noch im selben Jahr von H.E. von Teubern ins Deutsche übertragen. 6> Robert Wood, Essay on the Original Genius o f Homer, London 1769. Eine deutsche Übersetzung erschien Frankfurt 1773.

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tung angebahnt habe. Was seine Prolegomena für die Einschätzung H o m e r s als Person und als Dichter bedeuteten, ist demgegenüber weniger bedacht worden. Gerade dies aber ist in dem zitierten Xenion in skoptischer Zuspitzung zum Ausdruck gebracht: k n ü p f t es einerseits an die antike Uberlieferung über das Leben H o m e r s an, die von dem Anspruch verschiedener Städte darauf weiß, seine Heimat zu sein 7 ', so bringt es andererseits in aller Schärfe die Konsequenzen der Wolfschen Auffassung z u m Ausdruck. W i r d die Einheit der homerischen Epen geleugnet, so verliert die Frage nach einem Dichter H o m e r ihren Sinn. Mit anderen Worten: Die Forschungen zur Person H o m e r s stehen in unmittelbarem Bezug zu den Vorstellungen v o m Charakter der Ilias u n d der Odyssee. Ich gebe zunächst einen knappen Überblick über das uns aus d e m Altertum erhaltene Material über das Leben Homers. Sodann skizziere ich die Beschäftigung mit dem Bios des Dichters von Friedrich August Wolf bis in die Gegenwart. Ich schließe mit einem Blick auf den Stand der Forschung u n d einem Ausblick auf künftige Aufgaben.

I. Die antiken Zeugnisse In mehr als 60 Handschriften ist uns eine Reihe aus dem Altertum stammender, mehr oder weniger eng miteinander zusammenhängender Lebensbeschreibungen Homers erhalten. 8 ' Die umfangreichste von ihnen, die sogenannte Vita Herodotea, ist in ionisierendem Griechisch abgefaßt und stellt sich unter den N a m e n Herodots (daher die Bezeichnung), gehört aber frühestens in späthellenistische Zeit, w a h r scheinlich jedoch erst in das 2.Jahrhundert n. Chr. Z w e i Lebensbeschreibungen sind unter dem N a m e n Plutarchs erhalten (Vitae Pseudoplutarchi bzw. Pseudoplutarcheae). Eine weitere Vita wird in unserer Uberlieferung einem G r a m m a t i ker Proklos zugeschrieben, dessen Gleichsetzung mit dem bekannten Neuplatoniker gleichen Namens bis heute umstritten ist. Drei andere Bioi werden nach den jeweils besten sie repräsentierenden Handschriften, die sich im Escorial bzw. in R o m befinden, als Vitae Scorialenses bzw. Vita Romana bezeichnet. Eine achte Lebensbeschreibung ist die aus der Suda zu gewinnende Vita Hesychii. Hinzu treten die allein im C o d e x Laurentianus 56,1 erhaltene Schrift ,Über H o m e r und Hesiod, ihre A b s t a m m u n g und ihren Agon', das sogenannte Certamen Homeri et Hesiodi, sowie eine Reihe weiterer Zeugnisse bei verschiedenen Autoren. Die meisten dieser Texte hat A n t o n Westermann seinerzeit in seine Sammlung griechi-

7) Nach zwei durch Maximos Planudes auf uns gekommenen Epigrammen stritten sich sieben Städte darum, Geburtsstätte Homers zu sein: nach Anth. Pal. 16,297 Kyme, Smyrna, Chios, Kolophon, Pylos, Argos und Athen; nach 16,298 waren es Smyrna, Chios, Kolophon, Ithaka, Pylos, Argos und Athen; vgl. auch Anth. Pal. 16, 294-296. 299. 8 > Vgl. die Übersicht bei Allen (Anm. 10), 187-191.

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scher Biographen ' aufgenommen. Nach ihm hat sie der Engländer Thomas W. Allen, vermehrt um einen zuerst 1891 publizierten Flinders Petrie Papyrus des 3.Jahrhunderts v. Chr., in allerdings höchst unzureichender Weise 1912 im 5. Band seiner Homerausgabe in der Bibliotheca Oxoniensis herausgegeben. 10 ' Die noch immer maßgebende Ausgabe ist diejenige, die Wilamowitz 1916, im Erscheinungsjahr seines Iliasbuches, in seinen ,Vitae Homeri et Hesiodi' geboten hat. 11 ' Die Homervita des Proklos ist neuerlich ediert von A. Severyns im 4. Band seiner ,Recherches sur la Chrestomathie de Proclos' 12 ', das Certamen von Aristide Colonna in seiner Ausgabe von Hesiods Erga. 13 ' Alle diese Texte stammen zwar erst aus später Zeit, haben jedoch, wie die in ihnen gegebenen Zitate bezeugen, z.T. eine jahrhundertelange Geschichte und gehen im Kern auf Überlieferungen des 6. und 5. Jahrhunderts v.Chr. zurück. 14 ' Mit Nachdruck hat Rudolf Pfeiffer in seiner ,History of Classical Scholarship' auf ein wenig beachtetes (freilich schon von Felix Jacoby in seinem Wert gewürdigtes) Zeugnis in Tatians Rede an die Hellenen hingewiesen 15 ', demzufolge Theagenes von Rhegion im 6.Jahrhundert v. Chr. zu den ältesten Autoren gehörte, die sich nicht nur mit der Dichtung Homers, sondern auch mit seinem Leben und seinem zeitlichen Ansatz beschäftigten. 16 ' Uberhaupt wird man sich mit Pfeiffer und anderen den Anfang einer Beschäftigung mit dem Leben Homers ebenso wie den der Homerphilologie im Umkreis der Rhapsoden denken, deren Aufgabe, wie

9 > ΒΙΟΓΡΑΦΟΙ. Vitarum scriptores Graeci minores, edidit Antonius Westermann, Brunsvigae 1845, 1-45. H o m e r i Opera recognovit brevique adnotatione critica instruxit T h o m a s W. Allen. Tomus V hymnos cyclum fragmenta Margiten Batrachomyomachiam vitas continens, Oxonii 1912, 184—268; „imperitissime" urteilt W i l a m o w i t z in seiner Ausgabe der Vitae (Anm. 11) p. 2 über diese Edition; vgl. auch ,Die Ilias und H o m e r ' 413 A n m . 2: „Er (sc. Allen) versteht von Textkritik ebenso wenig wie von historischer Kritik und brüstet sich mit dieser Urteilslosigkeit." Vitae H o m e r i et Hesiodi, in usum scholarum edidit Udalricus de Wilamowitz-Moellendorff, Berlin 1916, Neudruck 1929 (Kleine Texte für Vorlesungen und Ü b u n g e n , hrsg. von Hans Lietzmann, 137). 12 ' A. Severyns, Recherches sur la Chrestomathie de Proclos, IV: La Vita H o m e r i et les Sommaires du Cycle, Paris 1963, 67—74. 13 > Hesiodi Opera et Dies, recensuit Aristides Colonna, Milano 1959, 74—86. 14) Ü b e r die antike Beschäftigung mit dem Leben H o m e r s orientiert heute am besten R u d o l f Pfeiffer, History of Classical Scholarship. From the Beginnings to the End of the Hellenistic Age, O x f o r d 1968 ( = Geschichte der Klassischen Philologie. Von den Anfängen bis z u m Ende des Hellenismus, München 1978); vgl. die im General Index s. v. Homer, historical person for every Greek, his date and life, genannten Stellen. 15) R u d o l f Pfeiffer, History of Classical Scholarship (Anm. 14), 11 = Geschichte der Klassischen Philologie, 27. 16 > Tat. ad Graecos 31, p. 31,16ff. S c h w a n z = Vorsokr. 8,1 (I p. 51,15ff.) D.-Kr. περί γάρ της Ό μ ή ρ ο υ ποιήσεως γένους τε αύτοϋ και χ ρ ό ν ο υ καθ' δν ήκμασεν π ρ ο η ρ ε ύ ν η σ α ν πρεσβύχατοι μέν Θεαγένης τε ό ' Ρ η γ ΐ ν ο ς κατά Κ α μ β ύ σ η ν γεγονώς και Σ τ η σ ί μ β ρ ο τ ο ς ό Θάσιος . . . Vgl. auch 8 , 1 a (I p. 51,20ff.) D.-Kr.

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uns etwa der platonische Ion lehrt, nicht nur der Vortrag, sondern auch die Erklärung der homerischen Epen war. Mustert man nun die uns aus dem Altertum erhaltenen Zeugnisse über das Leben Homers, so ergibt sich im einzelnen ein außerordentlich buntes und in sich höchst widerspruchsvolles Bild. 1 7 ) Als seine Ahnherren erscheinen Orpheus oder Musaios, als seine Namen werden Melesigenes und Homer genannt, die verschiedene Deutungen erfahren, als seine Heimat figurieren Kolophon, Chios, Smyrna, los und K y m c , j a Salamis auf Zypern, Argos, Athen, Ithaka und sogar das ägyptische Theben. Was sein zeitliches Verhältnis zu Hesiod angeht, so ist er teils mit diesem gleichzeitig (die Voraussetzung für ihren Wettkampf), teils älter oder jünger als dieser. Den einen gilt er als Ionier, anderen 18 ' als Aoler und so fort. Angesichts solcher Verwirrung war es wenig verwunderlich, wenn das ganze Material vielfach auf grundsätzliche Skepsis stieß und in Bausch und Bogen verworfen wurde. Erst die historische Forschung hat hier allmählich einen Wandel herbeigeführt, indem sie die einzelnen Zeugnisse als Ausdruck bestimmter Ansprüche, Interessen und Vorstellungen zu verstehen gelehrt hat.

II. Die Forschungen zur Person Homers von Friedrich August W o l f bis in die Gegenwart Wenn wir uns jetzt Friedrich August Wolfs .Prolegomena' als dem Ausgangspunkt einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Person Homers zuwenden, so sei vorab daran erinnert, daß es W o l f nicht, jedenfalls nicht in erster Linie, um den Dichter als solchen ging. Die 51 Kapitel des zu seinen Lebzeiten allein erschienenen ersten Teils der Prolegomena waren als Einleitung zu seiner neuen Homerausgabe gedacht. Dementsprechend unternahm er in ihnen den Versuch, in methodisch einwandfreier, wissenschaftlich abgesicherter Weise eine Geschichte des antiken Textes zu schreiben, um so eine zuverlässige Grundlage für die Bewertung der Handschriften und für die Konstitution des Textes zu gewinnen. Das Problem der voralexandrinischen Geschichte des Homertextes führte ihn zu der Frage nach der Entstehung der homerischen Epen und damit zu der Frage nach deren Echtheit

17> Kritische Behandlung der erhaltenen Biographien auf der Grundlage der älteren Literatur bei Georg Wilhelm Raddatz, R E VIII 2, Stuttgart 1913, Sp. 2 1 8 8 - 2 2 1 3 s.v. Homeros (dort 2190: „Aus der antiken Tradition über die Person H.s echte Uberlieferung zu gewinnen [ . . . ] ist unmöglich"). Von der zusammenfassenden neueren Literatur nenne ich an dieser Stelle nur: Albin Lesky, R E Supplementband X I , Stuttgart 1968, Sp. 6 8 7 - 6 9 3 ; Alfred Heubeck, Die homerische Frage. Ein Bericht über die Forschung der letzten Jahrzehnte, Darmstadt 1974, 2 1 3 - 2 2 8 (.Horners Zeit und Welt'); Joachim Latacz, Homer. Der erste Dichter des Abendlands, München und Zürich 2 1989, 3 2 - 9 0 (.Person, U m w e l t , Zeit und Werk Homers'). Eine knappe Zusammenfassung der antiken Berichte auf der Basis der Vita Herodotea gibt Latacz 3 5 - 3 8 . 18> Vgl. Vita Herodotea § 37.

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und Einheit in ihrer uns überlieferten Form. Er erkannte richtig, daß die Epen eine Geschichte gehabt haben, und von Widersprüchen und Unstimmigkeiten im Text der Ilias, von den antiken Nachrichten über die Sammlung der homerischen Gedichte durch Peisistratos und von der — wie wir heute wissen: falschen — Auffassung ausgehend, daß die Zeit ihrer Entstehung die Schrift noch nicht gekannt habe, ergab sich ihm, daß Ilias und Odyssee nicht nur einen Verfasser gehabt haben könnten, sondern einer ganzen Reihe von Dichtern zu verdanken seien. 19 ' Das war, wie gesagt, nur ein Nebenergebnis seiner bahnbrechenden Leistung, und mit Recht hat Wilamowitz in seiner ,Geschichte der Philologie' festgestellt: „Der Hauptwert der Prolegomena liegt gar nicht in der Homerischen Frage, die längst aufgeworfen war, sondern in der Erschließung der Scholien, also der Geschichte des Textes." 2 0 ' U n d doch war es gerade dieses Nebenergebnis, das die Zeitgenossen in Aufruhr versetzte, da es sich unmittelbar auf die Auffassung von einem Dichter Homer auswirkte, von dem Wolf in seinen , Vorlesungen über die Alterthumswissenschaft' sagen konnte: „Wo hat er gelebt? Wo war er geboren? D a r a u f k o m m t es nicht an." 2 1 ' Durchaus folgerichtig trug seine Homerausgabe von 1804 den Titel ,Homeri et Homeridarum Opera et Reliquiae'. Wo sich der eine Homer in eine Vielzahl einzelner Dichter auflöste, da verlor nicht nur die Frage nach seiner Person und seinen persönlichen Schicksalen ihren Sinn, sondern da mußte auch eine nähere Beschäftigung mit den antiken Zeugnissen über sein Leben als wenig lohnend erscheinen. In dieser Richtung hat Wolf, wie sich im einzelnen zeigen ließe, für Jahrzehnte die Forschung bestimmt. Wenn, um nur zwei Beispiele zu nennen, Gottfried Hermann die Ilias aus einer Ur-Ilias mit später hinzugetretenen Erweiterungen entstanden sein ließ oder Karl Lachmann sie mit seiner am Nibelungenlied gewonnenen Liedertheorie in eine Anzahl von Einzelliedern auflöste, so konnten solche Auffassungen kaum zu einer näheren Beschäftigung mit dem aus dem Altertum erhaltenen biographischen Material über Homer reizen.

,9> Es m a g genügen, zwei in dieser Hinsicht bezeichnende Stellen aus dem Werk herauszugreifen. Im Kapitel 11 der Prolegomena sagt Wolf: „ . . . si denique totum hunc contextum ac Seriem duorum perpetuorum C a r m i n u m non tarn eius, cui eam tribuere consuevimus, ingenio, quam sollertiae politioris aevi et multorum coniunctis studiis deberi, neque adeo ipsas άοιδάς, ex quibus Ilias et Odyssea compositae sunt, unum omnes auetorem habere, verisimilibus argumentis et rationibus effici potest; si, inquam, aliter de his omnibus, ас vulgo fit, existimandum est: quid tum erit, his Carminibus pristinum nitorem et germanam f o r m a m suam restituere?" U n d im Kapitel 31 heißt es: „ N o n metuo, ne quis me similis temeritatis accuset, q u u m vestigiis artificiosae compagis et aliis gravibus causis adducar, ut H o m e r u m non universorum quasi corporum suorum opificem esse, sed hanc artem et strueturam posterioribus saeculis inditam p u t e m . " 2 0 ) U . von Wilamowitz-MoellendorfF, Geschichte der Philologie, Leipzig 1921, 48. 2 1 ' Fr. A u g . Wolf's Vorlesungen über die Alterthumswissenschaft, hrsg. von J . D. Gürtler, 2. Band (Vorlesung über die Geschichte der griechischen Litteratur), Leipzig 1831, 145.

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N u n waren allerdings Wolfs Prolegomena nicht nur in der öffentlichen Meinung, für die uns etwa die Reaktion Goethes und Schillers stehen mag, sondern schon bald auch innerhalb der Wissenschaft auf Kritik gestoßen. 22 ) So schienen schon dem, um mit Wilamowitz zu sprechen, „immer auf das Ganze gerichteten Sinne Welckers" 23 ' weder die Beweisführung noch die Schlußfolgerungen Wolfs haltbar. Da Welckers lebenslange Beschäftigung mit der frühgriechischen Epik in Wolfgang Kullmanns Beitrag auf der im November 1984 in Bad Homburg abgehaltenen Welcker-Tagung und in dem aus ihr erwachsenen Sammelband eine eingehende Darstellung erfahren hat 24 ', kann ich mich hier kurz fassen. Den N a m e n , H o m e r ' deutet Welcker als .Zusammenfüger' mit den Bestandteilen όμοΰ und άρ- zu άραρίσκω. 25 ' Ilias und Odyssee stammen nach ihm von verschiedenen Dichtern, bilden jedoch in der uns vorliegenden Form jeweils eine Einheit, auch wenn diese Einheit Vorstufen hat. Der Dichter der Ilias ist Homer, aus dem Namen einer individuellen Persönlichkeit wurde angesichts der Bedeutung seiner Schöpfung eine kollektive Bezeichnung, die dann auch anderen Werken als Verfassername zugeordnet werden konnte. Als weit in die Zukunft weisende Leistung Welckers darf man mit Kulimann zusammenfassend festhalten: „Durch seine umfassende Kenntnis Homers und der Epen des Kyklos gelangt Welcker zu einer philologisch begründeten Einsicht in die Einheitlichkeit jedes der beiden homerischen Gedichte, die er verschiedenen Verfassern zuweist. Welcker vermag so der schon bei Goethe vorliegenden ästhetischen Einsicht in die Einheit der Gedichte eine philologische Grundlage zu geben." 26 ' Im Zusammenhang mit Welckers Annahme, daß Ilias und Odyssee jeweils nur einen einzigen Verfasser besitzen, gewinnt für ihn auch das biographische Material über Homer an Bedeutung, insbesondere die sogenannte Vita Herodotea, die ihm unbeschadet aller sagenhaften Zutaten „unschätzbar" ist.27) Auch darin ist er seiner Zeit weit voraus, und auch im Hinblick darauf gilt Kullmanns abschließendes Urteil: „Welckers Werk über den epischen Kyklos gehört zu den Büchern, die an Wirksamkeit den Büchern vieler seiner zu seinen Lebzeiten strahlender erscheinenden Kollegen und Zeitgenossen im Laufe von über 100 Jahren den Rang abgelaufen haben." 28 '

22)

Zur Auseinandersetzung mit Wolf vgl. das o. Anm. 2 zitierte Werk von Richard Volkmann. > Geschichte der Philologie (Anm. 20), 49. 24 > Kulimann 1986, 105-130. 25 ' Vgl. hierzu und zum Folgenden Friedrich Gottlieb Welcker, Der epische Cyclus oder die Homerischen Dichter, I—II, Bonn 1835-1849, 2 1865-1882 (Nachdruck Hildesheim - New York 1981), insbesondere 2I 114—184 (,Homeros*). Zur heutigen Deutung des Namens vgl. die etymologischen Wörterbücher von Hjalmar Frisk und Pierre Chantraine s.v. ομηρος. 26 > Kullmann 1986, 129. 27 > A . a . O . (Anm. 25) 127. 28 > Kullmann 1986, 130. 23

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A u f die weitere Entwicklung der Forschung im 19.Jahrhundert, von der ich nur Maximilian Sengebuschs ,Dissertationes Homericae' 2 9 ' mit ihren wichtigen Ausführungen über die Geschichte der homerischen Dichtung und der homerischen Studien im Altertum und Heinrich Düntzers Werk ,Die homerischen Fragen' 3 0 ' nenne, kann und muß hier nicht näher eingegangen werden. Einen Wandel im Grundsätzlichen führten erst Gelehrte wie Adolf Kirchhoff mit seinen Studien zur Geschichte des griechischen Alphabets 31 ', Theodor Bergk mit der Würdigung der Vita Herodotea in seiner griechischen Literaturgeschichte 32 ' und Erwin Rohde mit seinen Studien zur Chronologie der griechischen Literaturgeschichte 33 ' herbei. An deren Ergebnisse anknüpfen und auf ihnen aufbauen konnte mit ζ. T. völlig neuen Ansätzen die Homerforschung von Wilamowitz, vor allem sein großes Werk ,Die Ilias und Homer'. 3 4 ' Es liefert ein weiteres Beispiel dafür, wie eng die Einsicht in den Aufbau der Ilias mit dem Interesse am Dichter Homer und an der Uberlieferung über ihn zusammenhängt. In dem Maße, in dem für Wilamowitz auf Grund seiner Analyse der „große" Dichter erkennbar wurde 3 5 ', wuchs auch seine Neigung zur Beschäftigung mit den antiken biographischen Zeugnissen. Schon der Titel des Buches ,Die Ilias und Homer ist bezeichnend und wäre in dieser Form fünfzig Jahre früher undenkbar gewesen. Im 16. Kapitel des Werkes wird der Liedertheorie Lachmanns in der gleichen Weise eine Absage erteilt wie der Auffassung Aristarchs, der „die Ilias, wie sie ist, für das Werk eines Mannes hält" 3 6 ', weil beide auf geschichtliches Verständnis verzichten. Demgegenüber stellt Wilamowitz fest: „Indem wir die Ilias, die wir haben, zu begreifen trachten, verstehen wir durch sie ihr Werden, ihre Geschichte, und das heißt, in die Geschichte des griechischen Epos eindringen, wo dann das Verständnis, wie in aller Geschichte, von unten nach oben, von dem Bekannten zum Unbekannten geht. Die Analyse der Ilias führt von selbst zu den Elementen, aus denen, zu den Zeiten, in denen sie ward." 3 7 ' Das folgende Kapitel (,Sage, Lied und Epos') beginnt ebenso wie das übernächste, das die Überschrift ,Die Ilias

2 9 ) Die beiden Dissertationes erschienen als Beigabe zu der von Wilhelm Dindorf besorgten 4. Auflage der Teubnerschen Ausgabe von Ilias und Odyssee, Leipzig 1855. 30) Heinrich Düntzer, Die homerischen Fragen, Leipzig 1874. 31 ' Adolf Kirchhoff, Studien zur Geschichte des griechischen Alphabets, Berlin 1863, 4 Gütersloh 1887. 32> Theodor Bergk, Griechische Literaturgeschichte. 1. Band, Berlin 1872, 440-479 (.Horner eine historische Persönlichkeit'). 3 3 ' Erwin Rohde, Studien zur Chronologie der griechischen Literaturgeschichte, Rhein. Mus. 36, 1881, 380-434. 524—575; wiederabgedruckt in: Kleine Schriften, Tübingen und Leipzig 1901, I, 1-113. 34> Berlin 1916. 35> Wilamowitz, Ilias 316. 322. 36> Wilamowitz, Ilias 322. 37> Wilamowitz, Ilias 322.

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und Homeros' trägt, mit dem Satz „Der Dichter der Ilias ist uns eine Person geworden". 3 8 ' So erscheint es nur folgerichtig, wenn eine Beilage anschließend unter dem Titel ,Zwei alte Volksbücher' das Certamen Homeri et Hesiodi und die Vita Herodotea analysiert mit dem Ergebnis, daß beide altes, teilweise bis in das 6.Jahrhundert v. Chr. zurückzuverfolgendes Volksgut enthalten. 39 ' Es ist das Verdienst Felix Jacobys, in seinem Aufsatz ,Homerisches I. Der Bios und die Person' 4 0 ' die Ergebnisse von Wilamowitz im einzelnen kritisch überprüft, präzisiert und z.T. modifiziert zu haben, aber auch, wovon gleich noch die Rede sein wird, in einem entscheidenden Punkte über ihn hinausgelangt zu sein. Alle auf Wilamowitz folgende Homerforschung steht, ob sie sich dessen bewußt ist oder nicht, noch und gerade dort, wo sie sich kritisch mit ihm auseinandersetzt, in seinem Bann. So auch die Homerarbeiten Peter Von der Mühlls, dessen zu gedenken wir hier in der Nähe Basels besonderen Anlaß haben: allen voran sein großer Odyssee-Artikel im Supplementband VII der Real-Encyclopädie 4 1 ' und sein ,Kritisches Hypomnema zur Ilias'. 42 ' Wenn Von der Mühll in seinem OdysseeArtikel formulierte: „Daß die Odyssee als Ganzes einem wohlüberlegten Plan folgt, eine Einheit ist, liegt offen auf der Hand und braucht nicht bewiesen zu werden; die Überlegungen des Aufbaus sind nicht schwer nachzurechnen. Ihr Dichter ist der Dichter der Odyssee, wie wir sie haben" 4 3 ', und wenn er im folgenden in der erhaltenen Odyssee nicht mehr als zwei Stadien (A und B ) sah, so stellte sich damit wie von selbst die Frage nach der Eigenart des Dichters der alten Odyssee, nach Von der Mühll „eines der größten der Weltliteratur". 4 4 ' In ähnlicher Weise entfalteten sich parallel zu Wolfgang Schadewaldts Ilias- und Odys-

38>

Wilamowitz, Ilias 331. 356. Wilamowitz, Ilias 3 9 6 - 4 3 9 . Auch die Ausgabe der Vitae Homeri et Hesiodi, die W i l a m o witz 1916 herausbrachte, steht in unmittelbarem Zusammenhang mit seinem Iliasbuch, in dem es 413 über die Vita Herodotea heißt: „das Buch trägt einen falschen Namen, so kümmerte sich niemand darum. Gedruckt ist es in Deutschland zuletzt in Westermanns Βιογράφοι 1845, die schon lange sehr selten geworden sind, und so ist ein Büchlein den meisten Philologen unbekannt, das nicht nur durch Form und Inhalt recht merkwürdig ist, sondern kostbare Reste altionischer Poesie und Novellistik enthält, vielleicht sogar noch mehr. D e m will ich abhelfen, nicht nur durch diese Besprechung. Ich habe eine Ausgabe druckfertig, die doppelt notwendig ist, nachdem Th. Allen es sehr viel schlechter als der verständige Westermann [ . . . ] herausgegeben hat." Vgl. auch das o. Anm. 10 zitierte Urteil über Allen. 39)

40 ' Jacoby 1933. Jacoby hatte sich schon früher mit der Überlieferung über das Leben Homers beschäftigt, vgl. ,Apollodors Chronik. Eine Sammlung der Fragmente', Berlin 1902 (Philologische Untersuchungen 16. Heft), 9 8 . 1 2 0 f . ; Das M a r m o r Parium, Berlin 1 9 0 4 , 1 5 2 - 1 5 7 . 41>

Stuttgart 1940. Peter Von der Mühll, Kritisches H y p o m n e m a zur Ilias, Basel 1952 (Schweizerische Beiträge zur Altertumswissenschaft Heft 4). 43> Von der Mühll, Odyssee Sp. 698 f. 44> Von der Mühll, Odyssee Sp. 699. 42)

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see-Untersuchungen, zu seinen ,Iliasstudien' 45 ' und seinen .Neuen Kriterien zur Odyssee-Analyse' 4 6 ), u m nur die beiden wichtigsten zu nennen, seine B e m ü h u n gen, „den H o m e r in die Geschichtlichkeit zurückzuholen" 4 7 ': in seinen Aufsätzen , H o m e r und die homerische Frage' 4 8 ', , H o m e r und sein Jahrhundert' 4 9 ', vor allem aber in seiner ,Legende von H o m e r dem fahrenden Sänger' 5 0 ', in der er „zwischen den Zeilen der Legende schließlich doch das Antlitz des Dichters" zu gewahren meinte. 5 1 ' D o c h s c h o n j a c o b y hatte seinerzeit vor allzu optimistischen Annahmen gewarnt, es ließe sich aus dem antiken biographischen Material ein wahrer Kern herausschälen, und überzeugend nachgewiesen, daß in den auf uns g e k o m m e n e n Zeugnissen vielmehr bestimmte Ansprüche bzw. bestimmte, für Zeit oder Verfasser bezeichnende Vorstellungen zum Ausdruck k o m m e n . N i c h t darüber also, wer H o m e r war, sondern darüber, wie er in einer bestimmten Phase seiner Wirkungsgeschichte von den Griechen gesehen wurde, gibt uns das antike M a t e rial Auskunft. Dieser Gesichtspunkt scheint mir bei der W ü r d i g u n g der antiken Nachrichten über H o m e r insgesamt zu wenig berücksichtigt worden zu sein. In meiner Analyse und Interpretation des in der uns erhaltenen Fassung aus dem 2.Jahrhundert n . C h r . stammenden Certamen habe ich seinerzeit zu erweisen gesucht, daß wesentliche Teile der Schrift auf den zweimal in ihr zitierten R h e t o r Alkidamas zurückgehen, da das die Wettkampferzählung ebenso wie den Bericht über den T o d Homers beherrschende Improvisationsmotiv aufs engste mit dem die Stegreifrede besonders betonenden rhetorischen P r o g r a m m des Alkidamas zusammenhängt. 5 2 ' Für die Frage nach dem Wert der biographischen Angaben in der Schrift schlagen derartige Beobachtungen natürlich negativ zu B u c h . D a in meinen Arbeiten ein Verständnis des Certamen in seiner uns vorliegenden F o r m angestrebt und keine Forschung zur Person Homers beabsichtigt war, gehe ich hier auf sie ebenso wie a u f ähnlich ausgerichtete Arbeiten von Martin L. Westsy>,

Wolfgang Schadewaldt, Iliasstudien, Leipzig 1938, 3Darmstadt 1966. ' Wolfgang Schadewaldt, Neue Kriterien zur Odyssee-Analyse. Die Wiedererkennung des Odysseus und der Penelope, Heidelberg 1959 (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse, Jahrgang 1959, 2. Abhandlung), 21966; wiederabgedruckt in: Hellas und Hesperien, 2Zürich und Stuttgart 1970, I, 58-77. 47> Schadewaldt, HWW 87. 48> Die Antike 14, 1938, 1-21; wiederabgedruckt in: Schadewaldt, HWW 9-35. 49) Das Neue Bild der Antike. Hrsg. von Helmut Berve. I. Band: Hellas, Leipzig 1942, 51-90; wiederabgedruckt in: Schadewaldt, HWW 87-129. 50> Legende von Homer dem fahrenden Sänger. Ein altgriechisches Volksbuch, übersetzt und erläutert von Wolfgang Schadewaldt, Leipzig 1942, 2Zürich 1959. 51 ' A.a.O. (Anm. 50) >81. 52) Emst Vogt, Die Schrift vom Wettkampf Homers und Hesiods, Rhein. Mus. 102, 1959, 193-221. Vgl. auch Antike und Abendland 11,1962,103-113, sowie Gnomon 33,1961, 697-703. з3> Martin L. West, The Contest of Homer and Hesiod, The Classical Quarterly 61, 1967, 433-450. 45) 46

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Konrad Heldmann54' und anderen nicht näher ein und beschränke mich streng auf Untersuchungen, in denen es um die Person Homers geht. Gerade die nüchternen Analysen Jacobys haben freilich deutlich gemacht, wie begrenzt die Verwendbarkeit des antiken biographischen Materials in dieser Hinsicht ist. Uber die schon von Wilamowitz 5 5 ' erzielte, von Jacoby 5 6 ' akzeptierte und durch weitere Argumente gestützte Einsicht hinaus, der Dichter trete „in dem nördlichsten Ionien" auf, „das vielfach auf äolischen Boden übergegriffen hat", läßt sich den Viten kaum etwas abgewinnen.57^

III. Perspektiven So scheinen wir wieder bei der resignierten Feststellung des Grammatikers Proklos angekommen: „Von welchen Eltern Homer stammt oder welches seine Heimat ist, das ist nicht leicht darzulegen. Denn er selbst hat nichts darüber gesagt, aber auch diejenigen, die über ihn berichtet haben, stimmen nicht miteinander überein." 58 ' Oder, um es mit den Worten eines modernen Kritikers zu sagen: „Wer auch immer Homers Person zu fassen suchte, hat schließlich doch nur einen zerrinnenden Schatten umarmt". 5 9 ' Und doch war längst gesehen, wie sehr sich das, was die homerische Epik selbst über den Sänger und sein Umfeld erkennen läßt, von dem in den Viten gezeichneten Bild des mittellosen wandernden Rhap-

5 4 ' Konrad Heldmann, Die Niederlage Homers im Dichterwettstreit mit Hesiod, Göttingen 1982 (Hypomnemata Heft 75). 55> W i l a m o w i t z , Ilias 372. 56> J a c o b y 1933, 39. 5 7 ' An den kleinasiatischen R a u m denkt fur den Iliasdichter auch Martin L. West in seinem kürzlich erschienenen Aufsatz ,The R i s e o f the Greek Epic', T h e Journal o f Hellenic Studies 108, 1988, 1 5 1 - 1 7 2 , vgl. 172: „ . . . the poet o f the Iliad, to all appearance, lived in Asia M i n o r " . Wenn er demgegenüber in der Odyssee ein euböisches Gedicht vermutet („The Odyssey might well be a Euboean p o e m " , 172), so m u ß das einstweilen ebenso offenbleiben wie die Annahme von Martin Peters, die Heimat des Dichters von Ilias und Odyssee sei im Gebiet von O r o p o s bzw. in dessen näherer U m g e b u n g zu suchen: Z u r Frage einer ,achäischen' Phase des griechischen Epos, in: o-o-pe-ro-si. Festschrift fur Ernst R i s c h zum 75. Geburtstag, hrsg. von Annemarie Etter, Berlin 1986, 3 0 3 - 3 1 9 , vgl. 307 mit A n m . 13 sowie 319 A n m . 49. Die 307 A n m . 13 angekündigte Begründung dieser These ist, soweit ich sehe, bislang noch nicht erschienen. In seiner Rezension der Festschrift R i s c h hat Heinrich Hettrich soeben auch zu dem Beitrag von Peters Stellung g e n o m m e n : Kratylos 34, 1989, 3 4 - 4 1 (zu Peters dort 3 8 ^ - 0 ) . W i c h t i g erscheint mir vor allem Hettrichs Hinweis darauf, „daß die Vorgeschichte des homerischen Epos nur im Zusammenwirken von literar- und sprachhistorischen Überlegungen aufgeklärt werden k a n n " (38). 58>

Vita P r o d i p. 2 5 , 3 1 - 2 6 , 3 W i l a m o w i t z . Erich Bethe, Hermes 7 0 , 1 9 3 5 , 50 (in seinem Aufsatz ,Homerphilologie heute und künftig', a.a.O. 46-58). 59)

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Emst Vogt

soden Homer unterscheidet. Mit Bezug darauf konnte Jacoby am Ende seiner weitgehend negativ verlaufenden Analysen der antiken biographischen Tradition für die Ilias feststellen: „Die Atmosphäre dieses Gedichtes [...] ist eine ausgesprochen aristokratische und höfische: Stoff, Personen, Art der Behandlung von Einzelheiten [...] beweisen geradezu einen Dichter, der für eine aristokratische Herrenschicht schreibt und sich selbst in den Kreisen der βασιλήες bewegt .. ." 60 ' Andere sind Jacoby auf diesem seit dem Altertum begangenen, gewiß nicht unproblematischen Wege, aus dem Werk eines Autors Rückschlüsse auf den Verfasser zu ziehen, gefolgt: Schadewaldt in seinem Aufsatz ,Die Gestalt des homerischen Sängers' 61 ', Hermann Fränkel, fur den sich „die Frage nach Homers Verfasserschaft zu der Frage nach seinem Anteil an den Dichtungen" reduzierte, in seinem Werk .Dichtung und Philosophie des frühen Griechentums' 62 ', Walter Marg in seiner Mainzer Antrittsvorlesung ,Homer über die Dichtung' 63 ', in der es ihm darum ging, festzustellen, wie der epische Dichter sich zu seiner eigenen Kunst äußert. Hier liegen zweifellos auch für die Zukunft noch lohnende Aufgaben, wenn sie nur mit der nötigen Vorsicht angegangen werden. Vor allem aber hat sich mit den sich von verschiedenen Seiten häufenden Indizien dafür, daß die homerischen Epen ihre Gestalt im wesentlichen in der 2.Hälfte des 8.Jahrhunderts v.Chr. erhalten haben 64 ', eine neue Möglichkeit eröffnet, die Welt,Homers' genauer kennenzulernen. Angesichts der unbefriedigenden Ergebnisse, die die kritische Uberprüfung der antiken biographischen Tradition erbracht hat, gewinnt jedes neue Zeugnis und jede neue Einsicht über den Zeitraum, in dem wir uns die Entstehung der homerischen Epen zu denken haben, eine nicht hoch genug einzuschätzende Bedeutung. Hier sind alle in diesem Bereich tätigen Disziplinen, die Philologie wie die Sprachwissenschaft, die Frühgeschichte wie die Archäologie und manche andere aufgerufen, in gemeinsamer Anstrengung „den Homer in die Geschichtlichkeit zurückzuholen".

60

> Jacoby 1933, 40 f. > Schadewaldt, H W W 54-86. 62) Hermann Fränkel, Dichtung und Philosophie des frühen Griechentums, 2 München 1962, 61

7. 6y > Walter Marg, Homer über die Dichtung, Münster 1957, 21971. Der Vermutung Margs, in den Schicksalen des Hephaistos könne „Persönliches über den Iliasdichter selbst angedeutet" sein (244), wird man freilich kaum zu folgen vermögen. 64> Neben dem Verhältnis Hesiods zu Ilias und Odyssee und neben den ältesten Bezugnahmen und Anspielungen auf die homerischen Epen in der Dichtung des 7. Jahrhunderts v. Chr. ist hier vor allem der gegenwärtige Stand unseres Wissens hinsichtlich der Übernahme und Ausbreitung der Schrift durch die Griechen zu nennen; vgl. dazu Alfred Heubeck, Schrift (Archaeologia Homerica. Die Denkmäler und das frühgriechische Epos, Band III, Kapitel X), Göttingen 1979, insbesondere 75—80 (,Zeit der Übernahme') und 109—126 (,Die ältesten Inschriften'). Hinzu kommen Anhaltspunkte, die sich aus der archäologischen, historischen und sprachwissenschaftlichen Forschung ergeben, zu denen die übrigen Beiträge dieses Bandes zu vergleichen sind.

Homer - ein großer Schatten? Die Forschungen zur Person Homers

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Abgekürzt zitierte Literatur

Jacoby 1933

Kulimann 1986

Schadewaldt, H W W Von der Mühll, Odyssee

Wilamowitz, Ilias

F. Jacoby, Homerisches I. Der Bios und die Person, in: Hermes 68, 1933, 1 - 5 0 (wiederabgedruckt in: Kleine Philologische Schriften, hrsg. v. H . J . Mette, Bd. I, Berlin 1961, 1-53). W. Kulimann, Friedrich Gottlieb Welcker über H o m e r und den epischen Kyklos, in: W. M . Calder III/A. Köhnken/W. Kullmann/G. Pflug (Hrsg.), Friedrich Gottlieb Welcker. Werk und Wirkung, Stuttgart 1986 (Hermes Einzelschriften, Heft 49), 105-130. W. Schadewaldt, Von Homers Welt und Werk, (Leipzig 1944) Stuttgart 4 1965. P. Von der Mühll, Odyssee, R E Supplementband VII, Stuttgart 1940, Sp. 696-768 (wiederabgedruckt in: Ausgewählte Kleine Schriften, hrsg. v. B . Wyss, Basel 1976, 27-121). U . v. Wilamowitz-Moellendorff, Die Ilias und Homer, Berlin 1916.

VI Die beiden homerischen Epen: Forschungen zu ihrer Struktur

J O A C H I M LATACZ

Die Erforschung der

Ilias-Struktur

1. Z u m B e g r i f f , S t r u k t u r ' B e v o r die Problemgeschichte skizziert w e r d e n kann, ist zu sichern, daß die Problemstellung in der Sache b e g r ü n d e t ist u n d die Forschung nicht einem P h a n t o m nachjagt. Z u fragen ist also, o b u n d inwieweit . S t r u k t u r ' ü b e r h a u p t eine Kategorie des homerischen Epos selbst ist. In der neuzeitlichen H o m e r p h i l o l o g i e spielt der Begriff der S t r u k t u r v o n A n f a n g an eine entscheidende Rolle. N a c h d e m F. A. W o l f die A r g u m e n t a t i o n in den zentralen Kapiteln 26—31 seiner , P r o l e g o m e n a ' ausdrücklich auf ihn g e g r ü n d e t hatte (s. unten S. 402 ff.) - neben s i n n v e r w a n d t e n A u s d r ü c k e n v e r w e n d e t e er dabei m e h r f a c h explizit das W o r t structural —, ist der Begriff zu einer der G r u n d k a tegorien der literaturwissenschaftlichen H o m e r - I n t e r p r e t a t i o n g e w o r d e n u n d bis heute geblieben. In der antiken H o m e r p h i l o l o g i e seit den Alexandrinern hat der S t r u k t u r b e g r i f f dagegen niemals eine vergleichbare Rolle gespielt. D e r G r u n d ist, daß d o r t die souveräne Strukturanalyse des Aristoteles, die j a auch uns n o c h in den B a n n zieht, als abschließende P r o b l e m - A u f a r b e i t u n g u n d - L ö s u n g e m p f u n d e n w u r d e u n d Z w e i f e l an der Wohlstrukturiertheit v o n Ilias u n d Odyssee infolgedessen in aller Regel gar nicht a u f k a m e n . 2 '

Auflösung der bibliogr. Abkürzungen unten S. 413. '' Cap. X X X init.: artificium structurae et compositionis Carminum Homericorum; cap. X X X I init.: hanc artem et structuram [Carminum Homericorum]. 2 ' Aristoteles' erhaltene Schrift Περί ποιητικής hat zwar zusammen mit den anderen sog. akroamatischen Schriften bis zur Publikation im l.Jh. v.Chr. „in Archiven geruht" (Fuhrmann 1986, 145), auf die einzigartige Nachwirkung der Aristotelischen Dichtungstheorie als solcher hatte das allerdings kaum einen Einfluß: Z u m einen wird die Theorie in den (fur uns verlorenen) exoterischen Schriften einen Niederschlag gefunden haben (darauf verweist die erhaltene Schrift selbst: Kap. 15), zum anderen hat die peripatetische Schultradition die Lehre mündlich und schriftlich weitergetragen (Theophrast, Neoptolemos u.a., s. Koster, Epostheorien 85—123); das erhaltene Vorlesungsmanuskript (s. unten S. 391 f.) ist nur ein (für uns unschätzbarer) Reflex der durch ihre Erklärungsstärke zweifellos von Anfang an außergewöhnlich wirkungsmächtigen Theorie; vgl. Koster, Epostheorien 160: „Wie kein anderer hat er die poetische Technik der epischen Dichtung analysiert." Vorstufen hat es natürlich gegeben (abgesehen von Piaton greifen

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Joachim Latacz

In der ,Poetik' hat Aristoteles,Struktur' hauptsächlich mittels der griechischen Wörter σύστασις und σύν9εσις 3 ' ausgedrückt, häufig in Kombination mit dem Genitiv-Attribut των πραγμάτων (,die Zusammenfügung der Handlungseinheiten'), verbal auch in der Form συνιστάναι oder συντι9έναι τά μέρη (του ενός και δλου). Die Verwendung dieser Bild-Ebene des ,Setzens', ,Zusammensetzens' war damals durchaus nicht neu. Sie war seit langem vorbereitet durch dichtungstheoretische Reflexionen der Dichter selbst, die wir allerdings nur noch in Reflexen über die Dramatiker (vor allem Aristophanes) und über Pindar 4 ' bis zu Alkaios zurückverfolgen können: Zum Begriff 9έσις, der in unserem Alkaios-Fragment 204,6 V. erscheint, merkt jedenfalls das Etymologicum Magnum an: θέσις, ή ποίησις, παρά Άλκαίφ. 5 ' Neben dieser in allen Sprachen naheliegenden Metapher aus dem Bereich des handwerklichen Fertigens — speziell des Mauerns, Bauens, Zimmerns (struere, construere, structio, constructio, structura; τιθέναι, συντιθέναι, ίστάναι, συνιστάναι,

πυργοΰν, όρθοΰν, ίδρύσασθαι, άραρίσκειν, άρμόζειν, τεκταίνεσθαι; fügen, bauen, auftauen, Aufbau, Bauformen usw.) — steht im Griechischen (ähnlich im Lateinischen, z.B. lucidus ordo Hör. a.p. 41: ,durchsichtige Anordnung') seit altersher eine Übertragung aus dem Bereich des Militärischen: es handelt sich um die Begriffsfamilie κόσμος, κοσμεΐν. Obwohl die mit diesen Wörtern ausgedrückte spezielle Begrifflichkeit fur das Selbstverständnis Homers als Dichters von Großstrukturen eine entscheidende Rolle spielt, ist sie bisher in der Forschung kaum ausgewertet worden. Das Versäumte soll im folgenden nachgeholt werden. Dazu ist ein etwas längerer Anlauf nötig. Solon hat um 600 die Kampfparänese in Distichen, die er, wie Plutarch berichtet, heimlich zu Hause verfertigt hatte, als einen κόσμος έπέων 6 ' bezeichnet (den er anstelle eines Prosa-Appells — άντ' άγορής — .gesetzt' — δέμενος — habe): Fr. 2,2. G.-P. Was soll κόσμος hier bedeuten? ,Schmuck' (der Worte) ist unmöglich, da

wir einen Rest z.B. bei Protagoras VS 80 A 30, dazu Koster, Epostheorien 22 Anm. 1; Nickau 1966, 159), aber an Systematik ist wohl nicht zu denken. Zur nacharistotelischen Zeit s. unten S. 397. 3) Kap. 5.8.26 usw. „Spricht Aristoteles [...] von σύσχασις, meint er [...] die Komposition, ordnende Gestaltung des Dichters": Koster, Epostheorien 54; es „läßt sich kein wesentlicher Unterschied zwischen diesen Bezeichnungen [σύνθεσις und σύστασις] feststellen": Köster а. O. Beide Termini können sowohl .Struktur' als auch ,Strukturierung' bedeuten. 4) Maehler 1963 passim; Material auch bei D. Müller, Handwerk und Sprache, Meisenheim 1974, vor allem im Kapitel ,Das Bauwesen', S. 79ff. 5 ' Näheres zu 9έσις/3εΐναι als poetologischen Termini bei Gentiii 1989, 87 ff. (.Poetica della Mimesi'). 6) Z u m Weiterleben dieser Metapher (Parmenides, Demokrit u. a.) s. Kerschensteiner, Kosmos 6-10 („das tektonische Gefuge des Gesanges"); Koster, Epostheorien 24-28 („schöne Bauordnung der Verse"; „Homer ist für Demokrit der inspirierte Dichter, der seinen Stoff, wie ein Architekt, als schöne Ordnung mannigfacher Verse gestaltet hat").

Die Erforschung der Ilias-Struktur

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κόσμος έπέων hier die ganze Elegie (die 100 Verse umfassende ,Salamis-Elegie') meint, also ein ganzes Werk. Offenbar hat also κόσμος hier schon die gleiche oder doch eine ganz ähnliche Bedeutung wie unser heutiges Wort ,Kosmos'; also κόσμος έπέων ~ ,ein Kosmos von (oder: aus) Worten'. Wie ist das genau gemeint? Die Erklärer der Solon-Stelle bringen meist Parallelen bei, die wenig oder nichts erhellen. Unausgewertet bleibt dagegen eine überaus erhellende Stelle aus der Odyssee. Es ist die Stelle θ 492. Dort bittet am Phaiakenhof Odysseus den Demodokos: άλλ' αγε δή μετάβηθι και ίππου κόσμον αεισον δουρατέου, τόν Έπειός έποίησεν σύν Άθήνη ... Aber wohlan nun! steig um ( = wechsle das Thema) und singe den Kosmos des Pferdes, des Pferdes aus Holz, das Epeios gefertigt mit Hilfe Athenes! Üblicherweise wird κόσμος hier als ,Bau' aufgefaßt. Jula Kerschensteiner hat sich in ihrer Spezialuntersuchung zu κόσμος, wenn auch mit Bedenken, für ,aus Balken gefugter Bau des hölzernen Pferdes' entschieden (Kerschensteiner, Kosmos 8). Hainsworth im neuesten Odyssee-Kommentar fuhrt nur die Scholien-Angaben zur Stelle an (τήν κατασκευήν, ή τήν οικονομίαν, ή τήν ύπόθεσιν), trifft aber unter ihnen keine Entscheidung (Privitera übersetzt in der gleichen Ausgabe mit ,il progetto'). ,Bau' in diesem Sinne ist aber ausgeschlossen: Demodokos singt auf Odysseus' Aufforderung hin ja gerade nicht vom ,aus Balken gefugten Bau des hölzernen Pferdes'. Das wäre eine technische Beschreibung (Material, Werkzeuge, Verfahren), die der des Floßbaus in ε 228—262 gleichen müßte. Für TechnikSchilderungen hat aber Odysseus in der gegebenen Situation weder Sinn noch Zeit: er möchte ja durch die Bestellung des Themas ,Hölzernes Pferd' die R ü h mung des größten je von ihm errungenen Erfolgs, nicht etwa die seiner handwerklichen Fähigkeiten evozieren („he desires to hear of his greatest exploit": Hainsworth, Odyssey z. St., nach Mattes, Odysseus 112; daß im übrigen das Handwerkliche gar nicht seine Leistung war, wird durch die eigens zugesetzte HerstellerAngabe τόν Έπειός έποίησεν σύν Άθήνη klargestellt; das Lied soll also offensichtlich erst jenseits der Bauphase einsetzen). Wovon Demodokos in Erfüllung des Odysseus-Wunsches wirklich singt, ist etwas anderes: (1) die Inbrandsetzung der eigenen Lagerhütten durch die Achaier, (2) ihre Einschiffung, (3) die gleichzeitige gespannte Lauerstellung der Odysseus-Leute im Bauch des Pferdes, das schon in Troia auf der άγορή steht, (4) die Beratung der Troer, was mit dem Pferd anzufangen sei, (5) ihre verhängnisvolle, aber schicksalsgewollte Entscheidung, das Pferd als Weihegabe aufzunehmen, (6) das Herausströmen der Achaier aus dem Pferd, (7) der Verlauf des Straßenkampfs in Troia und der Sieg der Achaier, (8) der Sieg gerade des Odysseus, zusammen mit Menelaos, am Hause des Deiphobos. Das also ist der ίππου κόσμος δουρατέου, den Odysseus erbeten hatte und der allein dann auch nur Grund für die Erschütterung des Odysseus sein kann, die der

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Joachim Latacz

Dichter herbeifuhren muß, um Odysseus sein bisher gewahrtes Schweigen brechen lassen zu können und ihn dazu zu bringen - unter ausdrücklichem Hinweis auf die Wirkung dieses soeben gehörten Demodokos-Liedes (άοιδοΰ / τοιοΰδ', οίος οδ' έστί, θεοΐς έναλίγκιος αύδήν, ι 3f.) — seine Geschichte zu erzählen (εϊμ' Όδυσεύς, ι 19). Wenn aber somit der Ausdruck ίππου δουρατέου κόσμον άείδειν hier nicht die Besingung des Fertigungsprozesses meinen kann, muß er eine Kurzform für ϊππου δουρατέου άοιδής κόσμον άείδειν 7 ' sein, ,den Liedkosmos vom hölzernen Pferd singen'. Nach anderen hatte auch Frau Kerschensteiner diese Bedeutung zwar erwogen („die geordnete [oder ausgeschmückte] Erzählung vom hölzernen Pferd": 8 Anm. 1), dann aber wegen der Singularität einer solchen Spezialverwendung von κόσμος wieder verworfen. Schadewaldt hatte dieses Bedenken nicht gehabt und schon vier Jahre vorher lapidar mit,singe das Lied von dem hölzernen Pferde' übersetzt. 8 ' Daß nur dies die richtige Auffassung sein kann, liegt auf der Hand. Die monierte Singularität des Wortgebrauchs ist aus dem Zusammenhang psychologisch zu erklären: Demodokos hatte nach dem Mittagessen zunächst die ο'ίμη von Beginn (9 74—82) und Verlauf (9 90/91) des πήμα (θ 81) ,Troianischer Krieg' gesungen. Jetzt, nach dem Abendessen, nachdem Odysseus bei den Sportwettspielen wieder Zutrauen zu sich selbst gefaßt hat, möchte er, daß nicht vom πήμα bzw. οίτος (9 489) der Achaier mehr die Rede ist, sondern von ihrem Sieg und speziell von seiner eigenen νίκη (θ 520). Seinen Wunsch nach dem Themawechsel leitet er gebührlich ein mit einem Sängerlob (9 487—491): ,,Δημόδοκ', έξοχα δή σε βροτών αινίζομ' απάντων· ή σέ γε Μοΰσ' έδίδαξε, Διός πάϊς, ή σέ γ' 'Απόλλων • λίην γαρ κατά κόσμον 'Αχαιών οϊτον άείδεις, οσσ' ερξαν τ' επαθόν τε και δσσ' έμόγησαν 'Αχαιοί, ως τέ που ή αυτός παρεών ή άλλου άκούσας." Die Hauptbetonung in diesem Lob liegt auf κατά κόσμον — das hier, singulär in beiden Epen, noch durch ein λίην gesteigert wird: ,ganz außergewöhnlich κατά κόσμον!' Was den Odysseus am Liede des Demodokos am meisten beeindruckt hat, war also der κόσμος dieses Lieds. So ist es ganz natürlich, daß sich ihm bei der unmittelbar ans Lob sich anschließenden Formulierung seines ThemawechselWunsches als primäres Wunschziel der gleiche Ausdruck aufdrängt: άλλ' αγε δή μετάβηθι και ϊ π π ο υ κόσμον αεισον! „Aber nun wechsle das Thema und singe den Kosmos des P f e r d e s ! " Die zweite κόσμος-Verwendung (492) muß also hier dasselbe meinen wie die erste (489). Was ist das genau?

7) Z u dem Ausdruck κοσμεΐν άοιδήν, „einen κόσμος άοιδής schaffen", s. Kerschensteiner, Kosmos 10. 8>

Schadewaldt 1958.

Die Erforschung der Ilias-Struktur

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κόσμος bezeichnet ein Qualitätsmerkmal, das seinen ursprünglichen Ort innerhalb der Adelsgesellschaft im militärischen Bereich hat. Schon J. Kerschensteiner hatte nach Sichtung sämtlicher Belege für κόσμος, (δια)κοσμεΐν, die militärische Rangbezeichnung κοσμήτωρ usw. eine so klare Dominanz der militärischen Gebrauchsweise festgestellt, daß sie fragte „Ist etwa dieser militärische Gebrauch der ursprüngliche?" (6). Zumindest für die Beziehung ,κόσμος im Bereich des Militärischen : κόσμος im Bereich der Sängerkunst' ist diese Frage zu bejahen. Eine Übertragung in umgekehrter Richtung ist undenkbar. Die militärischen Belegstellen zeigen nun aber fast stets eine enge Zusammengehörigkeit von κόσμος (samt seinen Ableitungen) mit Zahlbestimmungen (κοσμεΐν ές δεκάδας [Αχαιούς]: В 126; κοσμεΐν τρίχα ['Ροδίους]: Β 655; κοσμεΐν πένταχα [ανδρας]: Μ 85; κοσμεΐν τριστοιχί [εντεα]: Κ 471, usw.): Die Zahlbestimmungen geben die Zusammenordnung und Gruppierung von zunächst unüberschaubar vielen Einzelteilen eines Ganzen zu überschaubaren .Portionen' an. Was durch solche Gliederung erreicht wird, ist κόσμος: .Ordnung', ,Geordnetheit'. Dieser Zustand wird als schön empfunden; die κοσμηταϊ πρασιαί, .ordentlich gereihten (sozusagen in Reih und Glied stehenden) Beete' in Alkinoos' Garten werden von Odysseus staunend bewundert, θηεΐτο η 133: es ist eine „geregelte Anordnung im Sinne einer Reihung" (Kerschensteiner, Kosmos 6), die den ästhetischen Sinn befriedigt; aus diesem Zusammenfall von Zustand und Effekt entwickelt sich für κόσμος ganz natürlich die Sekundärbedeutung ,Zierde', ,Schmuck': „geregelte — und das heißt schöne — Anordnung, Ausstattung" (Kerschensteiner, Kosmos 7). κοσμεΐν bedeutet also .ungeordnete Massen/Mengen in überschaubare (und damit praktikable) und dadurch den ästhetischen Sinn befriedigende Einheiten gliedern und auf diese Weise zu einer Ordnung formen'. Hier liegt die Verbindungsstelle zwischen militärischem und ,poetologischem' Gebrauch. Was Demodokos in seinem ersten Liede λίην κατά κόσμον gesungen hatte, das war der οΐτος der Achaier vor Troia, sozusagen ihr ,Leidensweg' (so wie auch der νόστος 'Αχαιών von Troia her, von dem in α 326 Phemios singt, als Δαναών κακός οΐτος bezeichnet wird, α 350). In welcher Weise Demodokos diesen ,Leidensweg' gesungen hatte, beschreibt Odysseus so (θ 490): δσσ' ερξαν τ' επαθόν τε και οσσ' έμόγησαν 'Αχαιοί. Das doppelte οσσα betont die Menge der Taten, Leiden, Mühen. Es geht Odysseus offensichtlich nicht um Aufschmückung, sondern um Anzahl, Reihenfolge, Anordnung der Einzelteile dieser Menge. Entsprechend bittet er auch für das jetzt von ihm gewünschte Hölzerne-Pferd-Lied um „κατά μοΐραν καταλέγειν" (θ 496), also um die geordnete Erzählung nach Art d e s , K a t a l o g s ' . I n beiden Fällen, beim οΐτος- wie beim ϊππος-Lied, bedeutet die am Lied gelobte Qualität, sein κόσμος, nicht „kunstvolle Ausschmückung des Liedes" (Kerschensteiner, Kosmos 10), um 9)

Zu καταλέγειν, κατάλογος usw. als .poetologischen' Termini s. Krischer 1971 passim.

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J o a c h i m Latacz

die es gerade dem Odysseus j a auch sonst nicht geht (im .Intermezzo', λ 367, lobt Alkinoos Odysseus' eigene Erzählung gerade dafür, daß Odysseus sie so erzählt habe — κατέλεξας - ώς δτ' αοιδός ε π ι σ τ α μ έ ν ω ς , und zwar als Darstellung der κήδεα λυγρά πάντων Άργείων σέο τ' αύτοΰ), sondern die gelobte Qualität ist .Ordnung', im Sinne von .sinnvoller, zweckmäßig hergestellter Geordnetheit'. 1 0 ' Daß beim Sängerkunstwerk so viel Wert auf Geordnetheit gelegt wird, ist nichts, was aus dem allgemeinen R a h m e n des Wertekanons der homerischen Gesellschaft herausfiele. Das besondere Interesse der homerischen Dichtung am Ordnen, Reihen, Schichten, Fertigen, Errichten, Bauen ist bekannt. Es zeigt sich überall, wo Mehrteiliges beschrieben wird, sowohl im militärischen als auch im zivilen Bereich (Schiffe am Strand, Zelte in der Bucht, Heeresformationen auf dem Schlachtfeld; architektonische Gebilde vom rohen Mauerwerk über Häuser, Gebäudekomplexe und Palastanlagen bis hin zu ganzen Siedlungen; Handwerksund Gewerbeprodukte wie Geräte, Werkzeuge, Transportmittel —Wagen, Schiffe—, Schmuckstücke, Kunstgegenstände usw.). Die Bewunderung für das ,gut Gemachte' (εύποίητος, εϋτυκτος, εύεργής, τετυγμένος), ,gut Gebaute' (έϋδμητος), ,gut Gefügte' (εδ άραρυϊαι) ist überall präsent. Ihren intensivsten Ausdruck findet sie in der Schildbeschreibung. Auch hier aber richtet sich die Bewunderung weniger auf das fertige Produkt (damit ist der Dichter relativ schnell fertig: Τ 14—18) als auf die Produktion als solche, den Fertigungsprozeß, die Machart. Die einzelnen Arbeitsgänge und Produktteile werden in ihrer Funktionalität flir das durch die Kombination von Zweckmäßigkeit und Schönheit ausgezeichnete Produkt bewundernd sprachlich nachvollzogen (wie kunstvoll dabei die epische Sprache die Gegliedertheit des manuell gefertigten Produkts als imaginatives Bild zu evozieren vermag, das hat die Interpretation der Schildbeschreibung seit Lessing immer deutlicher gemacht 1 1 '); als auffälligstes Qualitätsmerkmal des erdichteten Schild-Panoramas, das „das Ganze der Menschenwelt erscheinen läßt" 1 2 ', hat sich in den Analysen immer wieder dessen zweckvoll auf Universalität zielende Geordnetheit herausgestellt. 13 ' Eine Dichtung, die ein derart durchgängiges Interesse an der wohlgeordnet zweckmäßigen Darstellung der wohlgeordneten Zweckmäßigkeit komplexer Organisations- und Werkprodukte hat, kann das komplexe Werkprodukt der eigenen Tätigkeit, das Wortkunstwerk, unmöglich nicht dem gleichen Anspruch unterwerfen. Daß sie das in der Tat nicht tut, machen auf indirekte Weise jene

1 0 ' Hainsworth, Odissea (englisch) z. St.: „the allusion is obviously to a well-known story"; ders. zu 489: „In an oral tradition the sequence o f themes that identifies a song is easily disordered" usw., mit Verweis auf das glciche Kriterium bei modernen serbokroatischen Sängern. n > Siehe den Abschnitt В II in: Latacz, Dichtung (,Die Schildbeschreibung'). 12> M a r g 1971, 38.

> M a r g 1971, 31. 34 u . ö .

13

Die Erforschung der Ilias-Struktur

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Stellen klar, an denen sie den Schöpfer des ,Material'kunstwerks mit dem des Wortkunstwerks auf eine Stufe stellt. Als die umfassendste und erhellendste dieser Parallelisierungen ist wiederum die Schildbeschreibung zu benennen: Der Schöpfer des Schildes und der Schöpfer des epischen Gedichts, „der göttliche Schmied und der Dichter, [stehen] eng nebeneinander, so eng, daß sie fast ineinander übergehen. Einer spricht, schafft für den andern", „Hephaistos vertritt den Künstler und auch den Dichter". 1 4 ' A u f indirekte Art verweisen also Ilias und Odyssee tatsächlich unentwegt auf das, „was Dichtung zu Dichtung macht". 1 5 ' Wenn das frühe Epos in der Enthüllung seines Kunstprogramms nicht weiter ginge als bis zu dieser indirekten Selbstdarstellung, bliebe es durchaus im Rahmen dessen, was erwartbar ist; daß Dichtung ihre eigenen Normen expliziert, ist schließlich keine ihrer Seinsbedingungen. Tatsächlich aber geht das homerische Epos noch einen Schritt weiter (und verrät auf diese Weise den hohen Grad seiner künstlerischen Reflektiertheit): Der Dichter spiegelt Produktion und Rezeption der eigenen Kunst in Form von kleinen Epos-Darbietungen in sein großes Epos ein. So kann er die Qualitätskriterien seiner Kunst dann doch noch unverhüllt benennen. 1 6 ' κόσμος ist offensichtlich eines der bedeutsamsten davon, κατά κόσμον άείδειν — das bedeutet, einen aus zunächst unüberschaubar vielen Einzelteilen bestehenden Erzählkomplex — wie den οΐτος 'Αχαιών insgesamt (θ 489) oder den ίππος δουράτεος (0 492 f.) als einen Teil davon - zu einem überschaubaren, zweckmäßig angeordneten und ästhetisch befriedigenden Sinnzusammenhang — einem Kosmos eben — zu formen. Den Begriffen κόσμος und κοσμεΐν liegt damit in der immanenten Poetik des homerischen Epos letztlich dieselbe Vorstellung zugrunde wie unseren Begriffen .Struktur' und strukturieren'. Wenn wir also von der Struktur der Ilias sprechen, muten wir der Ilias nichts zu, was ihr nicht eigen wäre. W i r messen dann das Werk vielmehr an einem jener Kunstkriterien, an denen es bereits sein Schöpfer maß. Damit ist freilich nur gesichert, daß Struktur im homerischen Epos bewußt erstrebt wird, nicht, wie sie in den Großepen Ilias und Odysseus verwirklicht ist. Aus den ,Puppen in der Puppe' läßt sich das gerade nicht ersehen. Denn ob sie kleiner oder größer sind — sie haben stets nur Teil-Charakter. Selbst wenn die Referate des οΐτος 'Αχαιών- und des ϊππος δουράτεος-Lieds (die j a im übrigen nur Skizzen sind) weit umfangreicher und detaillierter wären, könnten sie unmöglich erkennen lassen, was κόσμος, Struktur, für den Dichter von Ilias und Odyssee bedeutete. Nur .richtige' Reihenfolge, Vollständigkeit (also keine Auslassung von Wesentlichem, kein Zusatz von Wesensfremdem), ästhetisch ansprechende Gliederung, zweckmäßige Anordnung konnte es wohl schwerlich sein. Auch das zwar wäre schon nicht wenig, wenn man den abgrundtiefen Hohn bedenkt, mit

> Marg 1971, 43. > Marg 1971, 8. 16> Dazu Latacz, Homer 40-42. 110 f. 14 15

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dem jahrzehntelang ein jeder überschüttet wurde, der Phänomene dieser Art in unsrer Ilias und Odyssee tatsächlich wahrzunehmen glaubte. Doch alles konnte das nicht sein. Zu wclchem Anspruch κόσμος für den Dichter eines Großepos sich weiten mußte, das konnte nur beim Dichten eines Großepos zutage treten. Da wuchs dann mit dem Werk notwendig der Begriff. An dieser Stelle also ist die Forschung wieder auf die beiden Epen selbst zurückverwiesen.

2. Allgemeine Rahmenbedingungen für eine Erforschung der Ilias-Struktur Voraussetzung für das Vorhandensein von Struktur ist, daß jemand strukturiert hat. Wo bestritten wird, daß jemand strukturiert hat, kann ein Werk nicht als strukturierte Einheit gelten, sondern nur als Agglomerat oder Konglomerat. Strukturforschung an Werken dieses Werkcharakters wäre sinnlos, weil sie Nichtvorhandenes erfinden und dann die eigene Erfindung untersuchen müßte. Konsequenterweise hat die Analyse Strukturforschung nicht selbst betrieben und ihren Gegnern, die Struktur zu sehen und auch für andere sichtbar machen zu müssen glaubten, Schimärenforschung vorgeworfen. Die Analyse als methodische Richtung der Homerphilologie fällt also für eine ,positive' (d. h. Erkenntnisse über die Beschaffenheit der als vorhanden vorausgesetzten Struktur erstrebende) Strukturforschung aus. Aber auch wo das Vorhandensein von Struktur als selbstverständlich gilt, weil nicht bestritten wird, daß jemand strukturiert hat, findet .positive' Strukturforschung nicht statt. Damit fallen auch Antike und frühe Neuzeit aus. Der Fall Aristoteles ist eine nur scheinbare Ausnahme: Aristoteles geht es primär nicht um die Erforschung der Ilias- (und Odys.see-)Struktur, sondern — im Rahmen eines Gattungsvergleichs (Epos : Drama) — um die Erfassung der Struktur von Epos überhaupt. Er kann daher nicht eigentlich als Archeget der Iliasstruktur-Erforschung gelten, sondern eher als Archeget literarischer Strukturforschung allgemein (wie sie sich in der modernen Bauformen- und Erzählforschung fortsetzt). Warum Aristoteles' Epos-Analyse dennoch den Ausgangspunkt jeder Iliasstruktur-Erforschung bildet, wird weiter unten zu zeigen sein. .Positive' Iliasstruktur-Erforschung konnte infolgedessen erst entstehen als Antwort auf die Leugnung einer Iliasstruktur. Diese Leugnung kündigt sich an (sie wird durchaus noch nicht, wie oft unterstellt, mit Entschiedenheit vollzogen; s. dazu unten) bei Friedrich August Wolf. In Wolfs Gefolge (Hermann, Lachmann usw.) wird die Leugnung systematisch ausgebaut zum Theorem. In der Abwehr dieses Theorems durch den sog. Unitarismus (die ,Einheitshirten') k o m m t es allerdings lange Zeit noch immer nicht zur Ausbildung einer ,positiven' Iliasstruktur-Erforschung, da die Unitarier jahrzehntelang auf die Analytiker vorzugsweise nur re-agieren und sich damit den Gang der Debatte vorschreiben lassen. Da diese Debatte entsprechend der Grundvoraussetzung der Analyse (Leugnung einer

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Iliasstruktur) partikularistischen Charakter hat, hält sie auch die Unitarier zunächst vorn Blick aufs Ganze eher ab. Wo sich ein Unitarier zum Blick aufs Ganze aufschwingt - Ansätze dazu finden sich naturgemäß vom allerersten Anfang der Analyse-Abwehr an, Nachweise sind überflüssig —, verwickelt er sich regelmäßig schon nach kurzem Aufflug wieder ins Geplänkel der analytischen Hindernisbescitigung. Die Überwindung dieser Eingebundenheit in das Kleinklein einer vom Gegner vorgegebenen Apologetik und der Durchbruch zu einer weitgehend freien Unabhängigkeit des neuen Blicks aufs Ganze finden — nach dem Auftreten einzelner Vorboten — mit unterschiedlicher Zwecksetzung, aber in gleicher Sichtweise erst bei Ulrich v. Wilamowitz-Moellendorff (1916) und Wolfgang Schadewaldt (1938) statt (dazu weiter unten). Die Analyse hatte .positive' Strukturforschung nicht betreiben können, weil sie nicht das Sein des Werks erklären wollte, sondern sein Werden. Der Unitarismus hatte .positive' Strukturforschung so lange nicht betreiben können, wie er sich auf die Analyse einließ. Als Schadewaldt den Unitarismus 1938 durch Setzung eines eigenen, autonomen Zieles aus der Bindung an die Analyse befreit und einer .positiven' Iliasstruktur-Erforschung den Weg gewiesen hatte (die „charakteristische Erzähl- und Bauweise des Gedichts [verfolgen]": Iliasstudien IV), schoben sich zunächst zwei andere Forschungsrichtungen in den Vordergrund, die zwar im Unterschied zur Analyse die Ilias durchaus als strukturierte Einheit anerkannten, jedoch ihr Ziel so wie die Analyse primär in der Rekonstruktion des Werdens dieser Einheit sahen: die Neo-Analyse (nach Mülders Vorgang Pestalozzi, Kakridis und andere, s. den Beitrag von Wolfgang Kulimann u. S. 425 ff.) und die Oral poetry-Forschung (Milman Parry und seine Schule, s. den Beitrag von James P. Holoka u. S. 456ff.). Die Iliasstruktur-Erforschung war damit fur weitere rund vier Jahrzehnte (bis etwa 1980) ins zweite Glied verwiesen (über ihre Weiterfiihrung durch Heubeck, Reinhardt und andere s. unten S. 411 f.). Dieser Verlauf der Forschungsgeschichte erklärt, warum auch theoretisch im Bereich der Struktur-Erforschung bisher nur wenig geleistet ist. Eine Sammlung einschlägiger Bemerkungen aus dem Munde derer, die seit Schadewaldt und meistens auf den Spuren Schadewaldts das Angefangene voranzutreiben strebten, würde nur das Defizit an Reflexion und Theorie enthüllen, das in der Homerphilologie (wie bekanntlich in der Gräzistik überhaupt) insbesondere im Vergleich mit der germanistischen Strukturforschung besteht. Ohne der überzogenen Theoretizität neuphilologischer Begriffsartistik das Wort reden zu wollen (die zumeist mit erstaunlicher Leistungsschwäche in der praktischen Textdeutung einhergeht 17 '), kann doch nicht übersehen werden, daß die nur mangelhafte Ausbildung der Iliasstruktur-Erforschung zum Teil auch auf ein unterentwickeltes Verständnis für Struktur an sich und ihre literarischen Erscheinungsformen zurückzufuhren ist

,7>

Dazu W. Barner, in: Literaturwissenschaft. Grundkurs 2, Reinbek 1981, 121.

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(„... wenn man nicht darauf wartet — das Un-Erwartete wird man nicht finden: es ist nicht ausfindig zu machen und unentdcckbar": Heraklit VS 22 В 18). Struktur w i r d von den verschiedenen literaturwissenschaftlichen Schulen der letzten Jahrzehnte — wie ζ. B. dem Formalismus, dem Strukturalismus, der Erzählforschung, jeweils in ihren zahlreichen Varianten - selbstverständlich j e anders definiert. 1 8 ' Hier ist nicht der O r t , die Unterschiede auszubreiten. Es wäre aber forderlich, erstens die Vielfalt der Definitionsmöglichkeiten überhaupt zur Kenntnis zu n e h m e n und zweitens die verschiedenen Ebenen, auf denen sich Struktur realisieren kann, bei der praktischen Arbeit am Text im Blick zu haben, also etwa (1) die Ebene der Geschichte (der story, des plot — also des erzählten Geschehens u n d der Geschehensfolge), w o es u m die Beziehungen zwischen dem Ganzen u n d seinen Teilen geht (dieser Aspekt w i r d im Hinblick auf die Iliasstruktur intensiv verfolgt von Ernst-Richard Schwinge, unten S. 482ff.); (2) die Ebene der Erzählweise, w o es u m die chronologische A n o r d n u n g , R h y t h m i s i e r u n g usw. der Erzählung geht (Erzählzeit u n d erzählte Zeit, point of view); (3) die Ebenen des Erzählvorgangs und der Erzählinstanz, w o es u m den Unterschied zwischen A u t o r u n d Erzähler (als Rolle) geht: gerade f u r Ilias und Odyssee mit ihren zahlreichen v o m A u t o r geschaffenen Binnen-Erzählern (Nestor, Helena, Glaukos usw.; Odysseus bei den Phaiaken u n d in der Bettlerrolle), die öfter m e h r f a c h ineinandergeschachtelt werden, von augenfälliger B e d e u t u n g . - D a m i t sind nur einige der Ebenen genannt, auf denen S t r u k t u r und Strukturierung faßbar werden und deren konsequente Observation durch die ganze Ilias hindurch m e h r zum Verständnis des Organismus ,Ilias' beitragen k ö n n t e als die Spekulation über seine Genese.

3. Hauptstationen der Iliasstruktur-Erforschung Obgleich ,positive' Iliasstruktur-Erforschung in ausgebildeter Form erst als Reaktion auf die Analyse einsetzt und ihre Vollform obendrein erst nach Erkenntnis und Ablegung ihrer ,Reaktivität' bei Schadewaldt (1938) erreicht, ist sie in Ansätzen natürlich vom Beginn der Ilias-Rezeption an vorgebildet. Da es wohl keinen Hörer/Leser der Ilias geben wird, der angesichts der evidenten Einheit der b e schichte' — ein Held zieht sich in seinem Ehrgefühl verletzt vom Kampf zurück, tritt unter dem Druck der Folgen seines Rückzugs wieder ein und nimmt für diese Folgen seines Rückzugs Rache — Strukturbeobachtungen vermeiden kann, sind dort, wo in erhaltenen Schriften aus Antike, Mittelalter und Neuzeit die Rede auf die Ilias kommt, vielfach auch Äußerungen zur Struktur des Werks zu finden. O b ihre Sammlung nützlich wäre, ist freilich zweifelhaft: Selbst wenn sich häufig hinter solchen fragmentarischen Reflexen eine ganzheitliche Strukturvorstellung verbergen mag, handelt es sich nicht um zielbewußte Forschung. Von Nutzen kann daher nur die Betrachtung jener (wenigen) einschlägigen Äußerungen sein, in denen die Iliasstruktur tatsächlich thematisiert und über eine gewisse Strecke hin aus gezieltem Erkenntnisinteresse heraus verfolgt wird. Diese ,Haupt18 ' Das Folgende nach R . Fellinger, Z u r Struktur v o n Erzähltexten, in: Literaturwissenschaft. G r u n d k u r s 1, Reinbek 1981, 338-352. Vgl. auch H . v. E i n e m / K . E . Born/F. Schalk/W.P. Schmid, D e r Strukturbegriff in den Geisteswissenschaften, A b h A k M a i n z 1973/2.

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Stationen' der Iliasstruktur-Erforschung sind im folgenden in das traditionelle Epochen-Raster eingeordnet.

(a) Antike und Mittelalter bis Eustathios (um 1150) In dieser nahezu 2000 Jahre währenden ersten Rezeptions-Epoche gelten beide Epen als Schöpfungen eines einzelnen Dichters, Homers, und damit als Einheiten. Diese Einheiten sind überragende Kunstwerke, ihr Schöpfer Homer ein alle anderen überragender Künstler, der Dichter schlechthin, ό ποιητής. Da dies evident ist, kommt niemand auf den Einfall, es nachweisen zu wollen. Sollte es überhaupt zu einer Thematisierung der Struktur der Epen kommen, bedurfte es infolgedessen eines anderen als des apologetischen Motivs. Dieses Motiv ist der Wunsch, zu zeigen, warum die beiden Epen und ihr Schöpfer so überragend sind. Da dieser Aufweis nur auf der Basis des Vergleichs möglich ist — die beiden homerischen gegen die Vielzahl der nachhomerischen Epen —, ist es unausbleiblich, daß mit anderen Vergleichspunkten auch die Struktur der Epen in den Blick kommt. Dies mag schon in den Kreisen der literarisch interessierten Sophistik begonnen haben und hat sich natürlich in der Akademie noch intensiver fortgesetzt.19^ Seinen ersten und flir den Rest der Epoche maßgebenden Höhepunkt findet dieses Erkenntnisinteresse aber erst bei Aristoteles. Aristoteles geht an die Ilias nicht als Homer-Interpret heran. Sein Blickpunkt liegt viel höher. Er hat als Schüler Piatons viel Widersprüchliches über Dichtung gehört, überwiegend aber Negatives. In den Jahren zwischen 343 und 340 hat er als Prinzenerzieher am makedonischen Königshof in Mieza den jungen Alexander im Rahmen des damals üblichen Curriculums intensiv mit der griechischen Dichtung vertraut gemacht, d.h. mit ihm Dichtertexte gelesen. Im Vordergrund standen dabei Epos und Tragödie, aber auch Iambos, Dithyrambos und Komödie spielten eine Rolle. Nach der Thronbesteigung Alexanders nach Athen zurückgekehrt, hat er in der neugegründeten eigenen Schule neben philosophischen, juristischen, politischen, historischen und vielen anderen Texten auch poetische Texte und Dokumente der Dichtungsrezeption (Siegerlisten von Dichter-Agonen, Didaskalien u. dgl.) in großem Umfang gesammelt. Auf der Basis eines gar nicht groß genug zu denkenden Textmaterials hat er dann eines Tages auch seine seit der Schülerzeit herangereiften Gedanken über Dichtung zu Papier gebracht und offensichtlich - nicht als Hauptgeschäft, sondern mehr zur Entspannung der Gemeinschaft — immer wieder einmal vorgetragen, schwerlich immer in der gleichen Form. Der Text, der unter dem Titel ,Über die Dichtkunst' auf uns gekommen ist, war ursprünglich ein Vorlesungsmanuskript, womöglich von anderen unter Zuhilfenahme anderer Fassungen redigiert, niemals zur Veröffentlichung bestimmt und insgesamt ein Musterbeispiel jener Gedächtnisstützen', von denen Piaton im ,Phaidros' sagt, wer nichts Wertvolleres zu bieten habe als was er ein für allemal schriftlich fixiert habe, verdiene den Namen .Philosoph' nicht. 20 ' Aus vielen Andeutungen in der ,Poetik' blitzt deutlich auf, daß Aristoteles im mündlichen Gespräch dieser Schrift in der

19)

Fuhrmann, Dichtungstheorie 73; Koster, Epostheorien 22-42. > Piaton, Phaidros 275 d ff.

20

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Tat mit wesentlich Wertvollerem hätte ,zur Hilfe kommen' können. Die kanonische Geltung, die der vorliegenden Textform seit der Renaissance widerfahren ist, mutet, so gesehen, grotesk überzogen an. N i m m t man jedoch den überlieferten Text als einen von vielen denkbaren Versuchen, mit den beschränkten Mitteln der Sprache auf die Gesamtanschauung zu verweisen, die dahintersteht, und sucht man diese Gesamtanschauung in sich nachzuvollziehen, dann erkennt man, wie evident und zugleich grundlegend die Einsichten über Poesie sind, zu denen Aristoteles gelangt war. Dies ist besonders deutlich im Bereich der Strukturanalyse (die Aristoteles als analytischem Denker natürlich mehr als alles andere lag).

Für Aristoteles ist das Drama — Tragödie und K o m ö d i e — die zur Zeit vollendetste Realisationsform von Dichtung. Infolgedessen gilt sein Hauptinteresse dem Drama. 2 1 ' Alle anderen Gattungen werden entweder als N e b e n - oder als Vorformen betrachtet. Wichtigste Vorform der Tragödie ist das Epos. Der bedeutendste Vertreter des Epos ist Homer, Dichter von Ilias und Odyssee. Die Gebiete, auf denen H o m e r den anderen Epikern überlegen ist, sind zahlreich und von verschiedener Art. Entscheidend aber ist das Gebiet der Struktur. Denn Dichtung hat stets W i r k u n g zum Ziel, und W i r k u n g steht und fällt mit der Struktur. Die meisten Epiker verfehlen die .richtige' Struktur (und bringen sich und die Rezipienten dadurch u m die W i r k u n g : den Genuß, das Vergnügen, die E m p f i n dung des ,Schönen'): 1459 a 29f. Die .richtige' Struktur ist folgende: δει τούς μύθους - καθάπερ έν ταΐς τραγωδίαις - συνιστάναι δραματικούς, και περί μίαν πραξιν δ λ η ν καί τελείαν, εχουσαν αρχήν καί μέσα καί τέλος, ϊν' ώσπερ ζωον εν δλον ποιή τήν οίκείαν ήδονήν (1459 a 18—21): M a n m u ß die Fabeln — ebenso wie in den Tragödien — so zusammensetzen, daß sie .dramatisch' sind und sich u m eine einzige Handlung drehen, eine ganze und abgeschlossene, die einen Anfang, eine Mitte und ein Ende hat, damit die Sache — ebenso wie ein Lebewesen, eins und ganz — den ihr eigentümlichen Genuß bewirkt. Der Schlüsselbegriff dieser in Postulatform gekleideten Strukturdefinition ist .Lebewesen' (ζωον). Dies ergibt sich zwingend aus der Tatsache, daß das einzige Vergleichsobjekt, mit dessen Hilfe Aristoteles den Kern seiner Strukturvorstellung illustriert, eben ζωον ist. Ebenso wie ζωον als Vergleichsobjekt in der oben zitierten Definition der Epos-Struktur verwendet wird, erscheint es als Vergleichsobjekt in der von der Sache her identischen Definition der Tragödien-Struktur. W ä h r e n d es in der Definition der Epos-Struktur zur Illustration der Definitionsbestandteile .Einheit u n d Ganzheit' dient, dient es in der Definition der Tragödien-Struktur zur Illustration des Bestandteils ,angemessene Ausdehnung': Ferner: Da es sich so verhält, daß sowohl ein schönes Lebewesen als auch jegliche schöne Sache, die aus Bestandteilen zusammengesetzt ist, diese Bestandteile nicht nur als geordnete (τεταγμένα) aufweisen m u ß , sondern auch 21>

Z u m Aufbau der .Poetik' s. Fuhrmann, Dichtungstheorie 4ff.

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eine Ausdehnung haben [muß], die nicht zufällig ist - denn das Schöne besteht in Ausdehnung und Geordnetheit (weswegen weder ein klitzekleines noch ein riesengroßes Lebewesen schön sein kann, weil es sich der Anschauung entzieht) —, darum muß, ebenso wie bei Körpern und Lebewesen leicht überschaubare Ausdehnung, so bei den Fabeln leicht erinnerbare Länge vorhanden sein (1450 b 34 bis 1451 a 6). Es ist nicht nötig, im einzelnen zu explizieren, wie die Hierarchie der Definitionsbestandteile dieser Strukturdefinitionen geschichtet ist. Was auf der Hand liegt, ist, daß die von Tragödie wie Epos geforderte Wirkung, der Genuß (ήδονή, τέρψις und die daraus folgenden Wirkungskomponenten ελεος und φόβος), das Schöne (τό καλόν) voraussetzt, daß das Schöne wiederum Ausdehnung (μέγεθος) und Geordnetheit (τάξις) zur Voraussetzung hat und daß Ausdehnung und Geordnetheit nicht beliebige Ausdehnung und beliebige Geordnetheit sein dürfen, sondern Ausdehnung und Geordnetheit eines schönen Lebewesens: eins, ganz, in sich abgeschlossen, nicht zu klein und nicht zu groß und vor allem — was an vielen Stellen dann nur noch angedeutet wird, weil es im Begriff .Lebewesen' impliziert ist — organisch-funktional, d. h. in der bestmöglichen Weise zur Erfüllung seiner Aufgabe konditioniert, also nichts fur die Erfüllung der Aufgabe Notwendiges entbehrend, nichts für die Erfüllung der Aufgabe Überflüssiges enthaltend und jeden Einzelbestandteil an der für die Erfüllung der Aufgabe erforderlichen OrganismusStelle darbietend: και τά μέρη συνεστάναι των πραγμάτων [χρή] ούτως ώστε μετατιθεμένου τινός μέρους ή αφαιρουμένου διαφέρεσθαι και κινεΐσθαι τό δλον · δ γάρ προσόν ή μή προσόν μηδέν ποιείέπίδηλον, ουδέν μόριον τοΰ δλου εστίν (1451 a 32—35): Und die Teile der Handlungen sollen so zusammengestellt sein, daß, wenn irgendein Teil woandershin gesetzt oder weggenommen wird, das Ganze auseinandergerissen und erschüttert wird (διαφέρεσθαι και κινεΐσθαι). Denn dasjenige, dessen Hinzufugung oder Nicht-Hinzufugung überhaupt nicht auffällt, ist kein Bestandteil des Ganzen. Einheit und Ganzheit dürfen also keine formale, sondern müssen eine organische Einheit und Ganzheit sein. Deswegen kann weder die von einem bestimmten Zeitabschnitt konstituierte noch die durch einen bestimmten ,Helden' hergestellte Einheit und Ganzheit die der Poesie eigentümliche Wirkung hervorrufen: in beiden Fällen wird etwas von sich selbst her Zufälliges und damit Un-Einheitliches und Un-Ganzes zu einer Pseudo-Einheit/Ganzheit zusammengezwungen. Die vielen Dichter von Herakles- und Theseus-Epen mußten daher scheitern (1451 a 19-22); Ό δ' "Ομηρος, ώσπερ και τά άλλα διαφέρει, και τοΰτ' εοικεν καλώς ίδεΐν, ήτοι διά τέχνην ή διά φύσιν · Όδύσσειαν γάρ ποιών ουκ έποίησεν άπαντα δσα αύτφ συνέβη [...] άλλά περί μίαν πράξιν, οι'αν λέγομεν, τήν Όδύσσειαν συνέστησεν - ομοίως δέ και την Ίλιάδα (1451 a 22-30):

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Homer aber hat — so wie er sich auch in den übrigen Hinsichten [über die anderen] heraushebt - auch in dieser Hinsicht offenkundig richtig gesehen, entweder aufgrund von .Fachkompetenz' oder durch Naturbegabung: beim Verfassen der Odyssee hat er nicht ausnahmslos alles gedichtet, was ihm [Odysseus] passierte [...], sondern er hat die Odyssee um eine einzige Handlung im von uns gemeinten Sinn herum zusammengestellt - und ähnlich auch die Ilias. Scheitern mußten aber aus eben diesem Grunde auch alle Dichter von GeschichtsEpen (und überhaupt historischen Dichtungen mit einem gewissen Vollständigkeitsanspruch), weil die Ereignisfülle innerhalb ein und desselben Zeitabschnitts, aber auch die Ereignisfolge in aufeinanderfolgenden Zeitabschnitten EreignisSummen bzw. Ereignis-Agglutinationen darstellen, „aus denen keineswegs ein einziges Ziel hervorgeht". Διό, ώσπερ ε'ίπομεν ήδη, και ταύτη θεσπέσιος αν φανείη "Ομηρος παρά τούς άλλους, τω μηδέ τόν πόλεμον - καίπερ έχοντα αρχήν και τέλος - έπιχειρήσαι ποιεΐν δλον · λίαν γάρ αν μέγας και ουκ εύσύνοπτος εμελλεν έσεσθαι ό μΰθος, ή τω μεγέθει μετριάζοντα καταπεπληγμένον τή ποικιλία, νυν δ' εν μέρος απολαβών έπεισοδίοις (κέχρηται αυτών πολλοίς, οίον νεών καταλόγω και άλλοις έπεισοδίοις) διαλαμβάνει τήν ποίησιν (1459 a 30—37): Deswegen kann wohl, wie wir schon festgestellt haben, auch in dieser Hinsicht Homer als gottbegnadet erscheinen — verglichen mit den übrigen —, daß er den Krieg (obwohl der doch einen Anfang und ein Ende hat) auch nicht ganz zu dichten unternommen hat; die Fabel hätte dann nämlich allzu groß und nicht leicht überschaubar zu werden gedroht, oder, falls sie in der Ausdehnung Maß gehalten hätte, aufgrund der Buntheit [der Ereignisse] allzu verwickelt. So aber hat er einen einzigen Teil davon beiseite genommen und die Dichtung mittels Einzelszenen gliedernd entfaltet. 22 ) Homer gilt Aristoteles also als Musterbeispiel fur den richtigen Begriff und infolgedessen dann auch die richtige Umsetzung von Struktur. Wie man sieht, ergibt sich dieses einzigartig positive (.gottbegnadet 1 , θεσπέσιος) Urteil gerade auch aus der Betrachtung der Ilias. Denn in der Ilias vermied Homer nicht nur, wie in der Odyssee, den Fehler der pseudo-einheitlichen ,Ein-Held-Handlung', sondern auch den noch viel schwerer zu vermeidenden der pseudoeinheitlichen ,Eine-Geschichte-Handlung' (den, wie im Anschluß an die zuletzt zitierte Stelle notiert wird, die Dichter der ,Kyprien' und der ,Kleinen Ilias' begingen, indem sie zwar eine einzige, aber aus vielen Teilen — nicht Szenen — bestehende Geschichte dichteten, μίαν πρδξιν πολυμερή, während Homer ja, wie zuvor gelobt, εν μέρος 22 ' Athetese und Epeisodion-Auffassung nach Nickau 1966, zuletzt überzeugend neu begründet von A. Köhnken, Terminologische Probleme in der ,Poetik' des Aristoteles, in: Hermes 118, 1990, 129-149 (bes. 136-149); s. auch unten den Beitrag von E . - R . Schwinge.

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άπέλαβεν). Homer hat die Fabel der Ilias richtig seligiert (εν μέρος απολαβών = μήνις Άχιλήος) und richtig strukturiert (έπεισοδίοις διαλαμβάνει την ποίησιν); seine έπεισόδια sind, wie in 1459 b 28 impliziert wird, gemäß der Forderung in 1455 b 13 οικεία, d.h. nicht irgendwo hergeholt und zugesetzt, sondern mit der Geschichte, die er erzählt, organisch verbunden und flir sie wesentlich. Die Ilias ist also strukturell ein Muster-Epos. Das Beeindruckendste an dieser Strukturanalyse ist: sie verrät, daß wesentliche Elemente des aristotelischen Strukturbegriffs, soweit er die Dichtung betrifft, gerade aus der Betrachtung der Ilias gewonnen sind (z.B. die höhere Qualität der Einteiligkeit gegenüber der Mehrteiligkeit, die nur aus dem Vergleich ,Ilias: andere Epen des Troischen Sagenkreises' - wie die zitierten ,Kyprien' und die ,Kleine Ilias' — evident werden konnte). Wenn sich also in so tiefdringenden modernen Analysen der Iliasstruktur wie der von Ernst-Richard Schwinge (unten S. 482 ff.) die Angemessenheit des aristotelischen Strukturbegriffs erneut beweist, dann spricht das letztlich nur für die unerhörte Qualität einer Dichtung, die einen solchen Strukturbegriff mitbegründet hat. Vor diesem Hintergrund erscheinen die Bemühungen der im 19.Jh. aufgekommenen ,Analyse', die strukturelle Qualität der Ilias nicht zu erkennen, als nur schwer nachvollziehbare Verirrungen. Selbstverständlich stellte die Ilias, ebenso wie die Odyssee, Aristoteles nicht anders als ungezählte Hörer/Leser vor ihm an vielen Stellen und in vielerlei Hinsicht vor Verständnisschwierigkeiten. Diese sind jedoch fast ausnahmslos nicht von struktureller Art und werden insoweit in einem eigenen längeren Kapitel über προβλήματα Όμηρικά (Kap. 25), nach vorausgehendem Generalverweis auf die Eigengesetzlichkeit von Dichtung („die ,Richtigkeit', όρθότης, ist in der Dichtung nicht von gleicher Art wie in der Politik oder irgendeinem anderen Fachgebiet"; s. dazu unten F.A. Wolf, S. 404f.), in Kategorien aufgeteilt und mit Lösungsmöglichkeiten versehen (Probleme des Realitätsbezugs des Dargestellten, Probleme der Charakterdarstellung, sprachliche Probleme, Probleme der logischen Stimmigkeit). In struktureller Hinsicht hat Aristoteles lediglich zwei Ausstellungen zu machen, die sich ihm allerdings nicht aus der Betrachtung der Iliasstruktur an und für sich ergeben, sondern aus der vergleichenden Betrachtung von EposStruktur einerseits (worunter dann durch Systemzwang auch die Iliasstruktur fällt) und Tragödien-Struktur andererseits: (1) Verglichen mit der Tragödie ist die Einheitlichkeit der Epos-Struktur geringer; dies allerdings notwendigerweise — weil nämlich (2) verglichen mit der Tragödie die Epos-Struktur grundsätzlich größere Länge des Kunstwerks (μήκος) erforderlich macht, wodurch ein geringerer Grad von ,Versammeltheit' (ά9ρόον 1462 b 1) bedingt ist. Aristoteles bemüht sich selbst darum, klarzustellen, daß diese Einschränkungen keinerlei Kritik an der Struktur von Ilias und Odyssee für sich genommen darstellen sollen, sondern Wert-Abstufungen, die aus seiner speziellen teleologischen Entwicklungstheorie resultieren, in der das τέλος von poetischer Struktur schlechthin die Tragödie bildet:

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καίτοι χαϋτα τά ποιήματα συνέστηκεν ώς ενδέχεται αριστα και δτι μάλιστα μιας πράξεως μίμησις (1462 b 10/11): Gleichwohl sind diese Dichtungen [Ilias und Odyssee] unter Berücksichtigung der objektiven Möglichkeiten optimal strukturiert und so weit wie überhaupt erreichbar die Nachbildung einer einzigen Handlung. Entsprechend dem natürlichen Grundsatz ,Keine Struktur ohne strukturierende Instanz' (s. oben S. 388) ging Aristoteles mit Selbstverständlichkeit davon aus, daß die Iliasstruktur (ebenso wie die Odysseestruktur) das Werk eines Mannes sei (der für ihn Homeros hieß). Diesen einen stellt er sich folgerichtig als planenden Architekten vor, der ganz ebenso vorging, wie er es aus der zeitgenössischen Dichterpraxis kennt und als beispielhaft empfiehlt: τούς τε λόγους και τούς πεποιη μένους δει και αύτόν ποιουντα έκτίθεσθαι καθόλου, εΐ3' οδτως έπεισοδιοΰν και παρατείνειν (1455 a 34 — b 2) [...] μετά ταΰτα δέ ήδη ύποθέντα τά ονόματα έπεισοδιοΰν (1455 b 12f.): Und die Fabeln, sowohl die in dichterischer Form vorliegenden als auch diejenigen, die man selbst dichtet, muß man [zunächst] in allgemeinem Umriß exponieren und dann in dieser [exponierten] Weise ,in-szenieren' [d.h. in Einzelszenen umsetzen, verbalisieren] und Ausdehnung gewinnen lassen [folgt als Beispiel für ,exponieren' in einem neunzeiligen Satz die Strukturskizze der Euripideischen ,Iphigenie bei den Taurern']; danach soll man dann, nachdem man die Namen [den Figuren] unterlegt hat, ,inszenieren' [d.h. Einzelszenen ausarbeiten]. Genau in dieser Weise ist, wie 1459 a 36 f. zeigt (oben S. 394), nach Aristoteles' Vorstellung auch Homer verfahren (Homer „hat einen einzigen Teil davon beiseite genommen und die Dichtung mittels Einzelszenen gliedernd entfaltet"). Die Ilias ist also (ebenso wie die Odyssee) ein von Anfang an in eben dieser Weise, in der sie vorliegt, geplantes Werk. Aristoteles' Entwurf einer optimalen Epos- und Tragödien-Struktur steht innerhalb einer Dichtungsanalyse, die auf das Allgemeine zielt. Die konkreten Einzelwerke dienen nur als Ausgangsmaterial für die ,Generalformel', die dann ihrerseits die Anforderungen an das konkrete Einzelwerk bestimmt. Innerhalb dieser ,strukturalistischen' Ausrichtung von Strukturforschung kann die //((«struktur nur ein — wenn auch wichtiges — Teil-Element der Materialbasis bilden. Eine speziell auf die Iliasstruktur zielende einläßliche Interpretation der Ilias kann also von Aristoteles nicht erwartet werden. Hätte er eine solche vorgelegt (so wie er das als Prinzenerzieher in Mieza vermutlich nicht nur einmal getan hat), dann hätte sie sich — das ergibt sich zwingend aus Aristoteles' Abstraktionsprodukt — in der Richtung von Schadewaldts, Heubecks, Reinhardts und Schwinges Interpretation bewegt, d. h. in Richtung auf eine unitarische Iliasdeutung, wie sie als Reaktion auf die Analyse seit Beginn des 20.Jh.s sich entwickelt hat und heute weithin vorherrscht.

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Die Analyse hat also das große Verdienst, durch ihren Versuch einer Destruktion der Aristotelischen Iliasstruktur-Deutung eben diese Aristotelische IliasstrukturDeutung aus ihrer ,strukturalistischen' Beschränkung gelöst, ihre Umsetzung in lebendige Werkinterpretation veranlaßt und sie so erst zu ihrer eigentlichen Wirkung gebracht zu haben. Was die nach-aristotelischen Jahrhunderte bis zu Eustathios angeht, so sind tiefergehende Struktur-Erforschungsversuche, soweit ersichtlich, jedenfalls nicht publiziert worden. Die Homerphilologie bewegte sich im wesentlichen auf dem Gebiet der von Aristoteles in Kap. 25 der ,Poetik' skizzierten προβλήματα 'Ομηρικά. Die alexandrinische Editions- und Kommentierungstätigkeit, die wir vor allem in den Homerscholien und bei Eustathios fassen, berührte Strukturfragen nur am Rande (die Annahme von Interpolationen und die Durchführung von Athetesen nach Art des durch Wolfs Mißverständnis nachmals berühmt gewordenen Zenodorus-.Falls' — Prolegomena cap. X X X Anm. 97 — haben keine systematische Strukturforschung zur Grundlage, sondern beruhen in der Regel auf den gleichen Kriterien, die dann von Wolf an wieder die Analyse dominieren: frigide, inepte, absurde, indecenter usw.; über den Grund der für Aristophanes und Aristarch belegten Athetese des Odyssee-Schlusses ab ψ 297 wissen wir, wie schon Wolf cap. X X X I feststellte, trotz aller Bemühungen nichts Genaues·, gegen gezielte Strukturdiskussionen auf Aristotelischem Niveau spricht aber schon die fast völlige Absenz einer ,Struktur-Terminologie' in den Scholien 23 '). Die Reflexe der Strukturdiskussionen, die in Kreisen der alexandrinischen Dichter (Theokrit, Kallimachos usw.), der hellenistischen Philosophenschulen (vor allem der Stoa), der kaiserzeitlichen Dichtungstheoretiker (Horaz, Auetor Περί ϋψους) und anderswo geführt wurden 24 ', lassen nichts erkennen, was wirklich wesentlich über Aristoteles hinausginge. Das Fazit kann demnach nur lauten: In den rund 1850 Jahren zwischen Homer und Eustathios hat eine ,positive' Iliasstruktur-Erforschung im Sinne einer das Besondere der Iliasstruktur würdigenden Dichtungsinterpretation nicht stattgefunden. Aristoteles mit seiner .strukturalistischen' Würdigung bildet den einsamen Höhepunkt antiker und byzantinischer Iliasstruktur-Erforschung überhaupt.

(b) Mittelalter, Renaissance, Neuzeit bis F. A. Wolf Voraussetzung für jede Iliasstruktur-Erforschung ist die genaue Kenntnis des Iliastextes und eine daraus erwachsene, auf den Text nur noch in Einzelheiten angewiesene Abbildung des Gesamtbaus im Geist des Forschers. Während des 23 ' Eine Durchsicht der Scholien-Indices von Baar und Erbse unter den einschlägigen Termini förderte nichts Wesentliches zutage. 24) Köster, Epostheorien 93-158.

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Mittelalters war diese Voraussetzung schon im byzantinischen Osten kaum mehr gegeben; noch viel weniger im Westen. Im Osten sprechen die Widmungen der Homer-Erklärungsschriften von Johannes Tzetzes (ca. 1110—1180) an Mitglieder des byzantinischen Kaiserhauses ebenso wie Tzetzes' oft verschrobene und sachlich falsche Versuche, die Kenntnis der Homerischen Epen im Kreise der Gebildeten zu verbreiten, eine beredte Sprache 25 ', und die beiden großen Homerkommentare des Eustathios von Thessalonike (ca. 1110—1192) — Sammelbecken der antiken Homergelehrsamkeit — weisen in die gleiche Richtung: trotz mancher eigener Beobachtung des gelehrten Kirchenmannes sind sie im Grunde Paraphrasen durch deren Lektüre sich die Leser (wenn sie bis zum Ende kamen) wohl meistenteils von der Verpflichtung dispensierten, das Original zur Hand zu nehmen. Im Westen lagen die Verhältnisse noch schlimmer. Weitgehend war Homer dort nur aus zweiter oder dritter Hand bekannt, und — dies das größte Hindernis — fast nur aus lateinischen Quellen: Ilias Latina (1070 Hexameter), Didys v. Kreta (6 Bücher), Dares Phrygius — alle auf die frühe Kaiserzeit zurückgehend und allesamt unsägliche Entstellungen Homers. Doch damit war der Niedergang der Homerkenntnis im Westen noch nicht am Tiefpunkt angelangt. Der phantastischerotische Roman de Troie (ca. 1165) des Benoit de Sainte-Maure — vielfach nachgeahmt, versifiziert, ins Lateinische übersetzt usw. — deckte den echten Homer vollends zu (ζ. T. sogar in Byzanz), und was an vager Homerkenntnis im ausgehenden Mittelalter noch übrig war, macht Chaucer's The House of Fame (1384) deutlich: so gut wie nichts. Nur eines hatte sich gehalten: die Fama, daß Homer ein großer Dichter war. Im übrigen hielt sich alles an Vergil. Daran hat auch Pilato's von Boccaccio angeregte Übersetzung Homers ins Lateinische — fehlerhaft und überdies in schlechtem Latein verfaßt (ca. 1360) — nichts geändert. Als Manuel Chrysoloras 1396—1400 in Florenz den führenden Männern einigermaßen Griechisch beigebracht hatte, folgte kein Umschwung, sondern eine rund 100 Jahre anhaltende Experimentierphase, in der man darin wetteiferte, lateinische Versionen Homers — in Versen oder Prosa — herzustellen. Das Interesse konzentrierte sich dabei auf die Übersetzungsproblematik, an Struktur-Erforschung ist gar nicht zu denken. Im Jahre 1488 endlich erschien in Florenz der erste Druck Homers (ed. D e m e trios Chalkondyles; die erste Aldina folgte 1504). Natürlich führte auch dies nicht gleich zu Strukturforschungen: damals erschien ein griechischer Text nach dem anderen im Druck; es galt zunächst zu rezipieren. Aus der fortschreitenden Aneignung des antiken D e n k - und Gestaltungsniveaus erwuchs danach zunächst der Wunsch, selbst ähnlich Großartiges zu schaffen: die Produktion von nationalen Epen, Tragödien usw. setzte ein.

2 5 ) Finslcr 1912, 10; das Folgende nach Finsler 1912, 1 - 1 4 (,Das Mittelalter'). Finslers materialreichc Darstellung des Inhalts der heute schwer beschaffbaren frühen Literatur ist auch sonst herangezogen.

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Unter den im Druck erschienenen griechischen Werken befand sich eines, das bisher so gut wie unbekannt gewesen war (obwohl es während des ganzen Mittelalters lateinische Kurzfassungen davon gegeben hatte): Aristoteles' Poetik (Aldina 1508, innerhalb der Rhetores Graeci; breiten wirksame zweisprachige Ausgabe — griechisch und lateinisch — von Alessandro de' Pazzi, Florenz 1536). Kein anderes griechisches Buch hat das europäische Geistesleben in den folgenden drei Jahrhunderten, bis ins 18.Jh. hinein, so sehr beschäftigt und befruchtet wie dieses.26' Homerrezeption und Poeiife-Rezeption gingen in der Folge Hand in Hand (bei der Bedeutung Homers für Aristoteles' Dichtungstheorie nur natürlich). Dichter, Dichtungstheoretiker und Philologen vor allem in Italien, Frankreich, England, Holland, Deutschland führten in Werkvorreden, Poetiken, Traktaten, Essays usw. ein unablässiges Gespräch über Dichtung — wie sie ist, sein sollte, einmal war —, über den Wert der Gattungen und des Epos im besonderen, über den Unterschied zwischen Homer und Vergil, über antike und moderne Dichtung und welche davon vorzuziehen sei (die Querelle des Anciens et des Modernes), über Vernunft, Gefühl, Geschmack und vieles andere mehr. Es konnte gar nicht ausbleiben, daß in diesem europäischen Konzert auch manches — richtig oder falsch — zur Struktur der beiden Epen vorgetragen wurde. Seinen Ausgang nimmt, was darüber gesagt (und fabuliert) wird, regelmäßig von den antiken Zeugnissen über eine sog. ,Peisistratische Redaktion' der homerischen Epen (Cicero, Aelian, Plutarch, die Suda u. a.), wonach Homer ursprünglich nur einzelne Gesänge verfaßt und je nach Fertigstellung und Bedarf vorgetragen hätte; diese hätte dann Lykurg von Ionien nach Griechenland gebracht, Rhapsoden hätten sie bei Festen vorgetragen, und erst der athenische Tyrannos Peisistratos (2. Hälfte des 6.Jh.s) hätte sie (im Rahmen seiner großen ,Kulturreform') zu einer ,Ilias' und einer ,Odyssee' zusammenstellen lassen. Diese Geschichte (die schon Finsler 1912 als „Ding der Unmöglichkeit", „Fabel" und „Mär" bezeichnet hatte und von der Lesky 1967 hoffte, ihr sei inzwischen „ein für allemal der Boden entzogen" 27 '), haben, seit Leo Allatius 1640 in seiner Arbeit ,De patria Homcri' „das antike Material über Homer nahezu vollständig und in guter Ordnung" 2 8 ' vorgelegt hatte, viele Berufene und Unberufene fortgesponnen (Perizonius, Bentley, Rapin u.a., s. Finsler 1912, 202-207). Der vielleicht Unbedarfteste von ihnen (der Homer nur aus lateinischen und französischen Übersetzungen kannte, die er folgerichtig für viel geeigneter hielt als die griechischen Originale) war Perrault in seiner Parallele des Anciens et des Modernes (1688—1697); ausgerechnet er aber wurde für die künftige Entwicklung wichtig: durch ihn wurde die Aufmerksamkeit auf F. Hcdclin, Abbe d'Aubignac's Conjectures acadimiques ou dissertation sur l'lliade gelenkt (um 1664 entstanden, aber erst 1715 gedruckt), einen Essay, dessen

26)

Fuhrmann, Dichtungstheorie 185-308 (,Die aristotelische Poetik in der Neuzeit'). > Finsler 1912, 202; Lesky 1967, Sp. 146, 50. 28 > Finsler 1912, 148. 27

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Verfasser Finsler nicht zu Unrecht den „Vater der modernen H o m e r k r i t i k " nennt 2 9 ' — vor allem, weil d'Aubignac — zwar dilettantisch, doch mit Blick für wirklich Problematisches - über das damals schon hundertfach Nachgeredete hinaus den Blick, wenigstens oberflächlich, endlich einmal auf die Struktur der Epen richtete (Wolf hat denn auch, wie längst gesehen ist, d'Aubignac „mehr verdankt, als seine Eitelkeit ihm erlaubte zuzugestehen": Finsler 1912, 210; s. unten S. 406). D o c h so viel da auch zusammenkam, nirgends drang es bis zum R a n g wirklicher Struktur-Erforschung vor. Das w a r schon deshalb unmöglich, weil dem allen keinerlei systematische Homer-Erforschung zugrunde lag. Entsprechend hat viel später W i l a m o w i t z die Epoche — kernig wie immer, aber treffend — so abgetan: „Bentley beobachtete, daß das Vau in den epischen Versen sehr häufig konsonantische Kraft hat [...]: der einzige Fortschritt, den die zünftige Philologie zwischen Eustathios und Heyne gemacht hat". 3 0 ' Dennoch w a r die Epoche für die Iliasstruktur-Erforschung von Bedeutung, freilich indirekt: In ihr geriet am Ende, nach fast 300 Jahren unbeschränkter Herrschaft, diejenige Autorität ins Visier, die mit der allgemeinen Lehre von der Handlungseinheit die Einheit auch von Ilias und Odyssee gedeckt, ja unangreifbar gemacht hatte: Aristoteles. Z w a r ist es im Grunde gar nicht Aristoteles, gegen den sich die Revolte richtet, sondern der „poetologische Aristotelismus" (M. Fuhrmann 3 1 '), den Dichtung und Dichtungstheorie im Laufe der unendlichen Debatte der letzten drei Jahrhunderte u n m e r k lich selbst errichtet und dem sie sich dann unterworfen hatten, doch dieser U n t e r schied wird zunächst nicht klar gesehen (erst Lessing deckt ihn auf, leider damals ohne Wirkung 3 2 '). U n t e r dem M o t t o ,Freiheit v o m Regelzwang — freie Bahn dem Originalgenie' wird gegen Ende der Epoche offen gegen Aristoteles aufbegehrt, und in den Sog gerät mit allem, was Aristoteles als gut u n d richtig angesehen hatte, nun auch H o m e r hinein, und ganz besonders die von Aristoteles so unablässig g e r ü h m t e Handlungseinheit seiner Epen. Alles, was an A r g u m e n t e n gegen eine einheitliche Struktur der Ilias früher isoliert in der Debatte aufgetaucht war, wird nun gesammelt und gebündelt: jene Nachrichten über eine ,Peisistratische Redaktion', die Nachricht v o m Homer, der gar nicht schreiben konnte, die Anstöße der Neueren an den ,Längen' in der Iliashandlung (die langen Kampfschilderungen, die langen Reden vor der Schlacht, die langen Gleichnisse, die langen Beschreibungen von Menschen, Gegenständen, Örtlichkeiten, die Wiederholungen, die .epische Breite' überhaupt), gewisse ,Widersprüchlichkeiten' im Handlungsablauf (meist freilich solche von nicht struktureller Art), die Athetesen antiker Homergelehrter usw. Hinzu treten neuere Gesichtspunkte, die anwendbar erscheinen, vor allem das neue Verständnis 29

> Finsler 1912, 210. Wilamowitz, Ilias 9. 31) Fuhrmann, Dichtungstheorie 189 (und passim). 32 ' Fuhrmann, Dichtungstheorie 272 f. 30)

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401

fur die Zeitbezogenheit von Dichtung und damit die Forderung nach historischer Betrachtungsweise auch Homers (Pope, Blackwell, Wood, Herder), daneben auch die Entdeckung mündlicher, häufig improvisierter, Volksdichtung (Herder). Das alles sind, wie wir heute lcicht sehen, äußerliche Dinge, die das Werk selbst, seine innere Organisation und damit seinen eigenen Zeugniswert gar nicht betreffen und die infolgedessen niemals die Erforschung der Struktur — Vers fur Vers, Szene für Szene, Gesang für Gesang — ersetzen können. Aber zusammen mit der Grundstimmung des Anti-Aristotelismus baut sich daraus ein Potential an Kritikbereitschaft und Kritik-Empfänglichkeit auf, das geradezu zur Entladung drängt. Der Umschwung findet statt bei Christian Gottlob Heyne (seit 1763 in Göttingen). Heyne selbst legt den Grund, sein Schüler Friedrich August Wolf baut aus, treibt voran, verschärft, spitzt zu — und erntet den R u h m —, vor allem, weil er es versteht, Längstbekanntes pointiert zu formulieren und geschickt miteinander zu verbinden, und weil er es versteht — lange vor Wilamowitz - , das Pathos der Wissenschaftlichkeit zu kultivieren. Daß die Zeit der überwiegend admirativen Homersicht sich dem Ende zuneigt, wird bei Heyne erstmals deutlich vor 200 Jahren, in seiner Homervorlesung des Sommersemesters 1789, die uns durch eine Mitschrift Wilhelm v. Humboldts erhalten ist:33' „Homers Hauptwerke: Iliade, Odyssee. Von Homer nie aufgeschrieben, die Schreibekunst war noch zu wenig kultiviert, als daß man mehr als zum öffentlichen Denkmal bestimmte Dinge aufgeschrieben hätte [...] Auch war's Sitte der Zeit, nur durch Sprechen zu lehren, durch Hören zu lernen. Vorzüglich wurden Gedichte gesungen, oft wiederholt, endlich gelernt [...] Lange erhielten sich Homers Gedichte nur in Gesängen der Rhapsoden [...] In der früheren Zeit waren immer nur einzelne Stücke aus der Iliade und Odyssee, Rhapsodien. Diese wurden einzeln abgesungen [...] Alte einzelne Rhapsodien waren die τειχομαχία, κατάλογος των νεών, Πάτροκλος etc. Gesammelt und aufgezeichnet wurden Homers Gedichte [Hervorhebung von mir] erst spät; von wem, ist zweifelhaft. Man legt es bei dem Lykurg [...] ferner dem Pisistratus oder seinen Söhnen [...] endlich dem Solon. Leicht können alle daran teilgehabt haben . . . "

33 > Wilhelm v. Humboldts Werke, hrsg. v. A. Leitzmann, Siebenter Band, Zweite Hälfte: Paralipomena, Berlin 1908, 550-553. Der Hrsg. Leitzmann teilt in der Einleitung mit (550): „ich fand das Heft im Nachlaß Friedrich August Wolfs auf der berliner Königlichen Bibliothek, dem es Humboldt geliehen oder geschenkt hat" (Wolf war seit 1783 Professor in Halle, konnte die Vorlesung also nicht selbst hören). — Näheres dazu jetzt in: Wilhelm v. Humboldt, Briefe an Friedrich August Wolf, textkrit. herausgegeben und kommentiert von Ph. Mattson, Berlin/ N e w York 1990, 332-352 (Hinweis von W. Barner, Poetica 22, 1990, 516 Anm. 9).

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In dieser Frühgeschichte' der Homer-Überlieferung ist natürlich ein gewichtiges Struktur-Urteil enthalten: Ilias und Odyssee sind erst nach 600 als Zusammenstellung von ursprünglichen Einzelgedichten Homers, Rhapsodien, zustande gekommen, unsere Ilias ist also nicht ein einheitliches Werk eines einzigen ursprünglichen Verfassers, das nach einem bestimmten Werkplan (von dem doch, wie wir sahen, Aristoteles ausgegangen war) geschaffen wurde. Die bisherige communis opinio ist damit verworfen. Sollte nicht auch diese These vereinzelt bleiben, hätte an diesem Punkte die Struktur-Erforschung beginnen müssen, also die strukturelle Interpretation von innen her. Es kommt anders. Sechs Jahre später, 1795, bringt Heynes Schüler Wolf seine Vorrede zu der Ilias-Ausgabe heraus, die in der Waisenhausbuchhandlung (Libraria Orphanotrophei) der Franckeschen Stiftungen zu Halle an der Saale erschienen war. 34 ' In dieser Vorrede kündigt er zunächst die Grundsätze seiner Textgestaltung an, wie üblich. Es geht ihm u m die emendatio, d . h . u m die Befreiung des Textes von den Fehlern, die er ex longa peregrinatione in barbariem (Kap. 1) auf sich gezogen hat, und u m die R ü c k g e w i n n u n g der Ursprungs-Textform {ut propius ad antiquam et suam formam revocetur [Uber], ebd.). D a r u m ist es natürlich allen bisherigen Ilias-Herausgebern gegangen. Aber sie alle sind unwissenschaftlich verfahren. U n d außerdem konnten sie die erst vor 7 Jahren publizierten Villoison-Scholien noch nicht verwerten. Wolf will sie mit seiner Ausgabe alle überbieten. Er will dies in Form einer systematischen Geschichte des Iliastextes tun [die Idee hatte er bekanntlich aus Eichhorns .Einleitung ins Alte Testament' 3 5 ']. Vom gegenwärtigen Textzustand der Ilias-Vulgata will er über 6 Etappen hinweg bis zum allerersten erreichbaren Textzustand zurückstoßen. Natürlich m u ß dieser 6-Etappen-Weg in der Darstellung, die er hier vorlegt, in umgekehrter Reihenfolge erscheinen, also die älteste Etappe zuerst, und so fort. Was also ist die älteste Etappe? Wann ist der Text zum ersten Male niedergeschrieben worden? Wann kann er überhaupt z u m erstenmal niedergeschrieben worden sein? - Die folgenden Überlegungen bis Kapitel 25 sind identisch mit denen Heynes. Also ursprüngliche Mündlichkeit, Einzelgesänge, Rhapsodenüberlieferung durch Auswendiglernen von Rhapsode zu Rhapsode (mit leichten Änderungen und eigenen Zusätzen). Daraus ergibt sich dieselbe Folgerung, die auch Heyne schon gezogen hatte: niedergeschrieben kann der Text erst nach angemessener Verbreitung der Schriftgewandtheit worden sein, also — entsprechend den antiken Zeugnissen — in der sog. ,Solonischen' oder ,Peisistratischen Redaktion'. Diese Folgerung wird Wolf von Beginn des Kapitels 32 an vortragen.

Zwischen Kapitel 25 und 32 schiebt Wolf 6 Kapitel ein, die er als das Eigentliche, das Neue und zugleich das Kernstück seiner ganzen Theorie betrachtet. Alles Bisherige, heißt es zu Beginn des Kapitels 26, seien nur προτέλεια diversae et altioris quaestionis gewesen. Diese neue quaestio stelle eine Wende dar: „In hac repente omnis campus disputationis mutatur." An die Stelle der antiken vestigia historica trete nun Mutmaßung und Räsonnement (coniectura et ratiocinatio). Der Haufe (vulgus) pflege derlei heutzutage als hypotheses zu diffamieren. N u n denn, sei's

341

Wolf, Prolegomena. Die Ausgabe: Halle 1794. > Siehe Grafton/Most/Zetzel 1985, 18-26.

35

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drum: er habe lange zugewartet, dum praefidentior alius hoc auderet, nun wolle er nicht länger f ü r seinen R u f furchten, planissimeque statim dicamus, quod res est.

Das klingt dramatisch, und man erwartet Unerhörtes. Genauso hat auch Heyne es empfunden. Doch was dann kam, schien ihm bescheiden, und er behauptet: „Dem Ree. schien die Sache sehr einfach zu seyn, und er trug sie immer so vor: [.. .]." 36 ' Darüber ist danach der große Zwist zwischen Schüler und Lehrer ausgebrochen. O b Heyne recht mit seinem Anspruch hatte oder nicht, ist weniger bedeutsam (wohl eher nicht 37 '). Wolfs Ankündigung und Heynes Reaktion zeigen aber, daß diese sechs Kapitel in der Tat brisanter waren als das gesamte übrige opusculum. Sie wurden denn auch später zu einem Meilenstein der Homerphilologie: mit ihnen begann für die, die Wolfs hypotheses für attraktiv und für fundierenswert erachteten, die eigene Weiterarbeit auf Wolfs Spuren — die Analyse. Die sechs Kapitel 26—31 gelten der Struktur der Ilias. Obgleich sie, wie schon Heyne zu Recht monierte, ziemlich weitschweifig und überdies rhetorisch sind, lassen sich folgende Hauptgedanken extrahieren: Die Ilias kann nicht von einem einzigen Verfasser stammen, denn 26 (1. Argument) sie ist zu umfangreich für diese frühe Zeit (ohne Schrift — die ja lt. Voraussetzung noch nicht verwendet wurde — war sie weder konzipier- noch rezipierbar); 27 (2. Argument) ihr Programm (das Prooimion) deckt nicht das Ganze, sondern nur die eigentliche μήνις, also die Gesänge 1—18. 28

(Erklärungsthese) Die Einheit der Ausführung, die wir haben, w a r in der Geschichte angelegt.

Infolgedessen konnten andere sie herstellen, sobald die Geschichte nur ein Stückweit angefangen war. 29 (3. Argument) Die kyklischen Epen haben die komplexe und kohärente Struktur von Ilias und Odyssee nicht nachgeahmt (also war diese damals noch nicht vorhanden).

36)

Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen, 186. Stück, den 21. N o v . 1795, S. 1862. Heyne war von zerstreuten Gelegenheitsdichtungen Homers ausgegangen, Wolf opfert H o m e r zugunsten eines ,Kollektiv-Epos'. 37)

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30

(Erklärungsthesc) Dafür, daß andere die vorhandene Einheit hergestellt haben, sprechen un-homerisch anmutende Verbindungsstücke und Widersprüchlichkeiten;

31

(Erklärungsthese) außerdem fühlt man, daß auch größere Stücke (z.B. der Schluß der Odyssee ab ψ 297 oder die letzten 6 Gesänge der Ilias) nicht von Homer sind.

Von Bedeutung ist heute allenfalls noch das 2. Argument (Kap. 27). Denn das 1. Argument (das Wolf als firmamentum causae nostrae ansah, mit dem seine ganze These stehe und falle: Kap. 26 Ende, und dazu die pathetische Fußnote 84: lacta est alea) ist durch die sich häufenden Schriftfunde aus dem 8.Jh. inzwischen dahingeschwunden, und das dritte bedarf keiner Widerlegung (mit dem gleichen Recht könnten wir fragen, warum keine griechische Dichterin je Sappho nachgeahmt hat); alles andere sind Erklärungshypothesen. Wie kommt Wolf also auf das zweite Argument? Fest steht für ihn zunächst, daß in den Epen tatsächlich ein System der Struktur und Komposition steckt: „Quin insit in iis artificium structurae et compositionis aliquod, dubitari nullo pacto potest" (30). N u r müsse man angesichts des Umfangs der Epen (Argument 1) fragen, ob dieses Kunstsystem unbedingt von Homer sein müsse oder auch von anderen Geistern stammen könne („Homerine id sit an ab aliis ingeniis adscitum": 30). Zur Schaffung eines solchen Systems habe schließlich sowohl das Thema der Gedichte eingeladen als auch die Anordnung der fabula („invitante ipso argumento eorum [carminum] et ordine fabulae": 30). An dieser Stelle hätte, das sieht auch Wolf, die Strukturanalyse der Ilias einzusetzen. Ihr weicht er aus: „Etiam hanc quaestionem pono tantum, non pertracto". Warum? „Est enim immensae materiae, nec necessaria proposito nostro" (30). Die Strukturfrage ist also suspendiert. Sie wird in den folgenden 200 Jahren ungezählte Geister umtreiben. Immerhin gibt Wolf die Richtung an. Wenn das Thema von Homer ist und auch die Anordnung der Fabel (er meint wohl: die Zielrichtung), dann muß zumindest der Anfang der Ilias von Homer sein: „Homerus, id est is, a quo maior pars et priorum rhapsodiarum series deducta est" (31). Was ist maior pars und priorum

rhapsodiarum

series a b e r n u n g e n a u ? Was ist v o n H o m e r , wie weit h a t e r

ausgearbeitet, welche Teile? Man spürt: hier liegt der Punkt (der ja noch uns beschäftigt), hier muß entschieden werden. Aber: dies herauszufinden überläßt Wolf anderen: „difficultates ilias aliis mandabo" (27 Anfang). Wem? Allen Mitforschern, auch den methodisch anders Orientierten, insbesondere aber denen, die d i e mirifica

forma

et descriptio

horum

έπων

partiumque

dispositio

deswegen

besser

beurteilen können, weil sie die „Leistungsfähigkeit des menschlichen Geistes

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405

auf diesem Gebiet kraft ihres eigenen Geistes abzuschätzen vermögen und ihr Kunsturteil durch das Studium der antiken Literatur geschult haben" („qui vim humani ingenii in hoc genere metiri possunt ex suo ingenio, et iudicium artis subactum habent antiquarum litterarum cognitione"). Wer ist das? Klopstockii, Wielandi, Vossii! (27). Damit ist die Strukturforschung an die — Dichter delegiert! Immerhin sagt Wolf an einigen Stellen bei aller .evasiveness', die ihm auch seine jüngsten amerikanischen Herausgeber bescheinigen 38 ', doch noch genauer, was seiner Meinung nach auf jeden Fall nicht von Homer (dem primus auctor) stammt: Wenn das Thema von Homer stammt und wenn das Thema die μήνις Άχιλήος ist, dann können die letzten 6 Gesänge nicht von Homer sein. Denn die sieben Prooimionsverse kündigen nicht mehr an („nunquam [...] certis argumentis docebitur Septem illos versus quidquam ultra promittere quam duodeviginti rhapsodias": 27), und die letzten sechs Gesänge enthalten ersichtlich nicht den Zorn Achills gegen Agamemnon und die Griechen, sondern einen neuen Zorn, der für die Griechen gänzlich ungefährlich ist; die letzten sechs Gesänge sind also lediglich eine appendix, von irgendeinem ingeniösen Rhapsoden der Folgezeit stammend („ab aliquo ingenioso rhapsodo proxime insequentis aevi composita": 27). Hier zeigt sich deutlich, wie subjektiv und ohne Sinn für Poesie die Argumentation ist (schon Cesarotti hatte in seiner Rezension der Prolegomena darauf verwiesen, daß gerade die letzten Iliasgesänge vielen als die besten gelten 39 ', und E.-R. Schwinge hat 1981 just diesen Teil unserer Ilias als Gipfel- und Zielpunkt der Komposition gedeutet 40 '). In der Tat wird im Prooimion zunächst nur eine gegen die eigenen Leute gerichtete μήνις angekündigt. Aber die Geschichte entwickelt sich ja, sie beginnt zu leben, der Groll hat Folgen, die ihn einholen und verwandeln ... Doch das sind Kategorien, die erst Schadewaldt und Reinhardt entfalten werden. Wolf kennt nur die Logik der allerersten Ebene, die Logik des mathematischen Verstands. Das ist der erste Teil seines Erbes. Der zweite ist — das Gefühl. „Sooft ich die letzten sechs Gesänge der Ilias gelesen habe, habe ich gefühlt (sensi), daß da gewisse Dinge sind (talia quaedam), die ganz unhomerisch klingen" (31). Wolf ist zu klug, sich bei .Gefühl, Gespür' festzulegen. Er schränkt sich, wie stets an den brisanten Stellen, selbst ein, stellt sich in Frage: „Aber dieses mein Gefühl will ich niemandem als Argument verkaufen" („Sed hunc sensum meum nemini pro ratione venditabo": 31). Daß er es gerade durch die Leugnung tut, ist oft bedauert worden. Bei dem Gemisch aus ratio und sensus ist es in der Folgezeit im Analyse-Unitarier-Streit geblieben.

38

> Grafton/Most/Zetzel 1985, 34. > Bei Finsler 1912, 465. "O' Schwinge 1981. 39

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Dreierlei ist, was die Bedeutung dieser sechs Kapitel angeht, festzuhalten: (1) Wolf gibt der Iliasstruktur-Erforschung, indem er sie in die Textgeschichte einreiht, für die Zukunft einen wissenschaftssystematischen Ort. Strukturforschung muß nun nicht mehr als letztlich subjektives ästhetisches Geschäft betrachtet werden, sondern kann sich als Erfordernis begreifen, das bewältigt sein muß, bevor Interpretation beginnen kann. (2) Wolfs eigener Beitrag zur Iliasstruktur-Erforschung in ihrer durch ihn bestimmten neuen Position ist sehr gering. Erstens wird das Strukturgeflige insgesamt nicht durchgearbeitet (es bleibt im wesentlichen bei der 18 + 6-Beobachtung — die u. a. bereits von d'Aubignac gemacht worden war 41 '), zweitens ist sich Wolf seiner Sache trotz aller Selbstermutigungen niemals sicher, er weicht aus, nimmt zurück, schiebt auf, verweist auf später, delegiert an andere und sät mit Fleiß Verdacht, besonders durch Hypothesen in Frageform (,wenn es aber nun so wäre, daß ...?'); daß er sich bei der Verkündigung der ,neuen' Botschaft elend fühlte, verrät ein Ausdruck in dem Satz, mit dem er sie beginnt: „evanescunt ferme vestigia historica, et in locum eorum trepide succedit coniectura et ratiocinatio" (26); er ist zutiefst erschüttert von der eigenen Kühnheit (was ihn positiv von den meisten seiner Jünger unterscheidet) und möchte sich daher nicht endgültig festlegen; mit Recht sprechen Grafton, Most und Zetzel 1985 von seiner „deliberate ambiguity", die ihm erlaubt habe, „to sit on both sides of the fence". 42 ' Er ist also nicht der starke Anwalt seiner Sache, zu dem die Nachwelt ihn gern machen wollte. Wer ihn immer und immer wieder liest, stellt fest, daß diese ,ambiguity' schwerlich, wie oft unterstellt, Koketterie oder Taktik ist, sondern Ausdruck einer offenbar tatsächlich quälenden inneren Spaltung; er war — zumindest bei der Niederschrift — wohl wirklich noch für eine Widerlegung offen: „Ac ne nunc quidem haec disputo, ut cuiquam persuadeam, cui non ipsa res persuadeat, sed ut, si quid erraverim aut in falsum detorserim, erroris convincar ab acutioribus": Kap. 26 Anm. 84. (3) Wolf hat durch seine wiederholte Delegation der Strukturfrage an andere, mit dem Auftrag, Indizien für die von ihm vermutete multiple Autorschaft der Ilias-Einheit zu sammeln, die Homerforschungsrichtung der ,Analyse' (und als deren Widerpart den ,Unitarismus') inauguriert. Er hat damit ein Forschungsfeld eröffnet, das, wenn es sich als das begriffen hätte, was es eigentlich sein sollte: Strukturforschung, das Verständnis der Ilias (und der Odyssee) bald auf ein höheres Niveau hätte heben können. Da aber die eigentliche Zweckbestimmung (nämlich die Iliasstruktur als Gesamtgefüge, wie es vorliegt, transparent zu machen) bald aus dem Blick geriet, entwickelte sich dieses Forschungsfeld zu einem Kampf-

41) Finsler 1912, 210; vgl. Grafton/Most/Zetzel 1985, 35: „ . . . he never made a detailed internal analysis of the Homeric corpus." 42 > Grafton/Most/Zetzel 1985, 34.

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Schauplatz, auf dem es schließlich nur noch um den Preis des Scharfsinns ging. Es entstand, was Albin Lesky 1954 „das fragwürdigste Kapitel philologischer Forschung" nannte. 43 '

(c) Von Heyne/Wolf bis Wilamowitz/Schadewaldt Die rund hundert Jahre des Analyse-Unitarier-Streites, die auf Wolfs geprobten Aufstand folgten, können und müssen hier im einzelnen nicht dargestellt werden. Die Hunderte von immer neuen Rekonstruktionsversuchen sind größtenteils von Finsler 1913 referiert worden (von Heyne bis Rothe 1910); bis zum Jahre 1929 hat Mülder in Bursians Jahresberichten (zuletzt Bd. 239,1933) das Referat fortgeführt; danach trat eine Lücke ein, die nur unvollkommen geschlossen werden konnte durch vor allem Leskys ,Die Homerforschung in der Gegenwart' (1952), Heubecks ,Die Homerische Frage' (1974) und Holoka's Homer-Berichte in der amerikanischen Fachzeitschrift ,The Classical World' (zuletzt Bd. 83/84, 1990, fur die Jahre 1978—1983). Die gesamte Debatte ist gekennzeichnet durch eine ermüdende Repetitivität der Argumente und durch schrankenlose Subjektivität (die in der Regel als ,Logik', ,Sinn für Poesie' usw. verkauft wird). Daß das gar nicht anders sein kann, hat bereits Heyne in seiner Rezension von Wolfs .Prolegomena' ausgesprochen: „Historische Beweise fehlen für Ja und Nein; also muß historische Wahrscheinlichkeit entscheiden." 44 ' Auf dem Gebiet der Wahrscheinlichkeit ist aber dann natürlich alles möglich. Insgesamt dürfte heute die Mehrheit der Homeriker — insbesondere die nichtdeutschsprachigen — das Fazit unterschreiben, das Heubeck 1974 über eine ungeheuer detaillierte Arbeit der Analyse formuliert hat: „Schade, daß so viel Fleiß und Scharfsinn auf eine hoffnungslose Sache verwendet ist." 45 ' Der Grund dafür, daß diese Sache hoffnungslos ist, lautete in Wilamowitz' Urteil über Lachmanns Liedertheorie wie folgt: „Er glaubt die Ilias in ihre Teile zu sondern [...] In Wahrheit weiß er vorher, was sie sein soll." 46 ' Das Urteil trifft auf die gesamte Debatte zu: Analytiker wie Unitarier wußten immer schon vorher, was die Ilias sein sollte, da sie bereits antraten mit dem Ziel, entweder die Struktureinheit zu ,verteidigen' oder sie zu .vernichten'. Sie suchten nicht das innere Strukturgesetz der Ilias, wie sie da ist, zu erfassen, sondern sie schufen sich eine jeweils neue Ilias nach ihrem Bilde: jeder ein neuer Iliasdichter. Der Umschwung deutete sich an bei Wilamowitz 1916 (,Die Ilias und Homer') und wurde vollzogen durch Schadewaldt 1938 (,Iliasstudien'). Wilamowitz entwirft bereits das künftige Programm: 43)

A. Lesky, Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Homerischen Epos (1954), in: J. Latacz (Hrsg.), Homer. Tradition und Neuerung, Darmstadt 1979, 297. Siehe oben A n m . 36. 45 > Heubeck 1974, 21 (über Theiler 1962). 46) Wilamowitz, Ilias 21.

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„In neuester Zeit scheint mir die Analyse, auch wenn sie von der Interpretation des einzelnen ausgeht, nicht selten in einen Fehler zu verfallen, den ich das Zerkrümeln nenne. Es wird da mit einer Vielheit von parallelen Fassungen und Bearbeitungen gerechnet, so daß am Ende von dem Gedichte nichts mehr übrig bleibt. Das liegt wieder daran, daß ein fremder Maßstab angelegt wird, der doch nicht der richtige sein kann, weil ihm zuliebe alles umgeformt werden muß, statt die Art des Dichters gelten zu lassen [...] Das Zerkrümeln fuhrt am Ende dazu, sich aus der einen Ecke der Ilias einen Vers oder eine Versreihe zu holen und anderes anderswoher und sich daran zu freuen, wie hübsch es wäre, wenn das beieinanderstünde. Sie sagen dann, das wäre die wahre Ilias, und es ist doch ein Cento: Mit der Methode kann man viele Iiiaden machen; nur die Ilias, die wir haben, geht dabei verloren. Packen wir sie doch ganz ebenso an wie jeden anderen Text [...] Zunächst müssen wir das Gedicht als ein Ganzes angreifen, denn so liegt es vor uns [...] Es kommt ja nur auf das an, was die Ilias wirklich ist, und wie kann man das anders herausbringen als durch Interpretation?" (23 f.) Das Gedicht muß also als ein Ganzes angegriffen werden, man muß die „Art des Dichters" gelten lassen, und die Arbeitsmethode sei die Interpretation! Damit ist gesagt, daß man sich auf die Dichtung einlassen muß und nichts an Kriterien von außen in sie hineintragen darf, was man nicht zuvor aus ihr selbst geschöpft hat. Dies ist in der Tat der Weg der wirklichen Vernunft, der seit Aristoteles von den einsichtigsten Geistern empfohlen worden war. Nietzsche hatte ihn so begründet: „Homer als der Dichter der Ilias und Odyssee ist nicht eine historische Überlieferung, sondern ein ästhetisches Urteil." 4 7 'Doch Wilamowitz, der so klar das Richtige erkennt, kann sich, wo es an die Praxis geht, noch immer nicht aus der alten Zielsetzung, die Wolf vorgegeben hatte (und die er selbst vier Seiten vorher „nichts als negativ" nennt 48 ') nicht befreien: „Wenn es überhaupt gelingen soll, das Werden [!] der Ilias aus dem Zustande, in dem sie vorliegt, zu erschließen, so muß mit dem Abtragen der jüngsten Schichten begonnen werden [...] Die Vergleichung mit einer methodischen Ausgrabung drängt sich auf." 49 ' Die „Art des Dichters" (die doch gelten gelassen werden soll), ist also wieder nicht die Art des Dichters desjenigen Werks, das vor uns liegt, sondern des Dichters eines anderen, eines, das durch „Abtragen der jüngsten Schichten" zurückgewonnen werden muß. Es geht wieder nicht um das Sein der Dichtung, sondern um ihr Werden. Damit ist trotz besserer Einsicht erneut der Weg beschritten, auf dem „am Ende von dem Gedichte nichts mehr übrig bleibt". Das vor uns liegende Kunstwerk wird zerschlagen und zur Seite geräumt, um darunter nach einem

47>

Bei Schadewaldt, Iliasstudien 28. > W i l a m o w i t z , Ilias 20. 49 > W i l a m o w i t z , Ilias 24. 48

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imaginären ,wahren' Kunstwerk zu suchen. Entsprechend ist sofort das alte Instrumentarium wieder da: Spitzhacke, Geologenhammer, Lupe und Sombrero. Wie sich das in der Praxis auswirkt und worin die Leistung Schadewaldts besteht, der alles das beiseite legen wird, um wirklich die „Art des Dichters" zu erfassen, kann nur ein intensives vergleichendes Studium der beiden Bücher zeigen. Den Unterschied der Sichtweisen und Methoden aber mag hier die Kontrastierung der Behandlung eines exemplarischen Iliasteils verdeutlichen, des 11. Gesangs, des A. Für W i l a m o w i t z besteht das Λ aus „zwei Stücke[n] [...] die gar nichts miteinander zu tun haben" (182), einem ,Verwundungs- oder Schlachtgedicht' (Λ 1 ), 1—596, und einer ,Nestoris' (Λ 2 ), 597-848. Λ 1 ist ein „Prachtstück künstlerisch geschlossener K o m p o s i t i o n " (182), ein „schön profilierter Geisonblock, d e m [hinten] n u r ein Stück abgeschlagen ist" (197). Λ 2 hingegen ist ein „jüngeres Stück" (207), „recht hübsch, aber recht u n f r e i " (206), „völlig a b g e r u n d e t " (206), und „an ein P r o ö m i u m ließe es sich b e q u e m a n f ü g e n " (206) (und er erfindet eines: vier H e x a m e t e r - o f f e n k u n d i g auf den Spuren Wolfs, der gar vier Verse eines völlig neuen IliasProoimions erfunden hatte, das viel besser passen w ü r d e : Kap. 27). In Λ 1 hat ein wieder anderer Dichter noch eine „Einlage" (192) eingefugt: 499-520 (Nestor fährt den v e r w u n d e t e n Arzt Machaon aus der Schlacht), die zur Vorbereitung von Λ 2 erfunden w o r d e n ist, und zwar „wie jeder sofort sieht, ganz f r e m d a r t i g " (192), „durchaus nicht schlecht, fällt aber gegen den hohen Ton von Λ a b " (192). Ferner steht a m Schluß von Λ 1 noch ein viertes Stück: 575—596 (Eurypylos wird verwundet), „eine ganz späte u n d elende Interpolation, geradezu ein C e n t o , in d e m k a u m hier u n d da ein paar nicht entlehnte W ö r t e r stehen" (194). Für Schadewaldt ist Λ 1 ebenfalls eine „geschlossene Einheit", wie W i l a m o w i t z gezeigt habe, aber kein Einzelgedicht. D e n n das Versprechen des Zeus (V. 187 ff.) sichert H e k t o r den Sieg zu (9), aber H e k t o r w i r d dreimal ,angesetzt' u n d dreimal .zurückgezogen' (12). N u n verlangt ein Einzelgedicht, weil es ja „in kleinem Maßstab Großes zeigen will, bei wechselnden F o r m e n schnelle E n t w i c k l u n g u n d baldigen Eintritt dessen, w o r a u f es a n k o m m t " (12). Infolgedessen kann A 1 nie ein ,Einzelgedicht' gewesen sein (14). W i e ist dann die Voraussage an H e k t o r zu erklären? N u n , der in 187 ff. vorausgesagte Einbruch Hektors in die Schiffe erfolgt tatsächlich - aber am Ende des O ! Also dreieinhalb Gesänge später! Also ist ein neuer Blickpunkt nötig, w e r d e n neue Kategorien erforderlich, die aus dem bei W i l a m o w i t z h e r a u s g e k o m m e n e n Unsinn Sinn machen. Diese Kategorien k ö n n e n nur sein: Vorbereitung - Arbeit auf weite Sicht — Vorblick und Aufschub - Spannung (zu dem das ,Beinahe' gehört): 15. Wenn m a n unter diesem neuen Blickpunkt sieht, daß sich v o n Λ bis zu Σ ein großer Bogen spannt, mittels dessen ein Plan auf weite Sicht verwirklicht w i r d (17), dann erschließt sich einem A 1 als „die Vorbereitung dieser Plan-Realisierung und somit [...] ein ,Gebilde v o n letzter H a n d ' " ( 1 7 ) . Auch v o m Inhalt her kann ja A 1 nie ein Einzelgedicht gewesen sein, da dann sein T h e m a gewesen wäre ,Flucht zu den Schiffen'. Das ist kein Gegenstand f u r ein ,altes Einzellied'. Das Stück ist also schon im Keim nicht anders denn als Teil eines vorgefaßten größeren Ganzen vorstellbar (72f.). — Auch A 2 ist A n f a n g einer B e w e g u n g , niemals der A n f a n g eines ,Einzelgedichts' (Thema: ,Ein Verwundeter wird aus der Schlacht gefahren'!). Es ist eine ,Szene', ein ,Akt', ein „Bauglied, das über sich hinausweist" (19). Die ganze „Nestor-Patroklos-Episode ist die Vorbereitung der Patroklie" (20). - Ferner sind die Verse 499-520 keine „Einlage", sondern ein Verbindungsstück, an d e m sich die Verknüpfungstechnik des Iliasdichters sehen läßt (76): V o m Schlachtgeschehen zweigt ein N e b e n w e g ab, der zu d e m neuen Geschehensraum h i n ü b e r f ü h r t , an Achill vorbei: das ist die „ K l a m m e r t e c h n i k " des Iliasdichters (76). - Auch 575-596 ist nicht ein „ C e n t o " , sondern eine Verklammerungsszene: die M a c h a o n - K l a m m e r v e r k l a m m e r t mit d e m A n f a n g v o n Λ 2 , die E u r y p y l o s - K l a m m e r mit dessen Ende: beides zusammen zeigt die ,Episodentechnik',

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Joachim Latacz

die bei der Szenenkomposition eines Grqß-Epos nötig wird. — Betrachtet man so das Λ nunmehr im ganzen, dann zeigt sich: In Λ 1 wird Hektor auf Achilleus zugetrieben (aber zurückgenommen und aufgehoben) - in Λ 2 wird Achilleus auf Hektor zugetrieben (aber aufgeschoben). Das ist „Technik der gestaffelten Vorbereitung" (150), es ist „überlegene dichterische Strategie" - das ist die „Handschrift Homers" (24).

Der Unterschied ist deutlich: Wilamowitz löst auf und zerstört, Schadewaldt sieht zusammen und erhält. Wilamowitz schneidet Ganzheiten auf, zerlegt sie in Einzelteile und gibt den Einzelteilen nach einem von ihm selbst erdachten, freilich keineswegs systematisch erarbeiteten Benotungsverfahren Zensuren: ,künstlerisch geschlossen', ,schön profiliert', .abgeschnitten', ,recht hübsch', ,ganz fremdartig', ,durchaus nicht schlecht' usw. Die so benoteten Einzelstücke werden dann klassifiziert: ,Geisonblock', .Einlage', .Interpolation' usw. Was vorliegt, ist ein aus eigener Machtvollkommenheit geübtes Willkürregiment, dem sich das Werk zu unterwerfen hat. Schadewaldt hingegen fällt keine Qualitätsurteile, sondern fragt nach der Funktion der (auch von ihm durchaus gesehenen) Teile. Entsprechend ist seine Terminologie rein funktional: ,Szene', ,Akt', ,Bauglied', ,Verklammerung', ,Verknüpfungstechnik' usw. Das ist prinzipiell die gleiche ,strukturalistische' Betrachtungsweise wie bei Aristoteles. N u r geht sie nicht mit Aristoteles' Begriffen an das Werk heran, sondern schafft sich aus dem aufmerksamen Blick auf die Sache ihre eigene Terminologie. Die Folgerungen aus seiner Methode zieht Schadewaldt dann so: Es sei zu fragen ,Wo ist das gleiche Stilgepräge wie im Λ?' (28). Er meint mit .Stilgepräge' nicht das gleiche wie Wilamowitz mit ,Stil'. Er meint also nicht ,Prachtstück', ,recht hübsch' und ,elende Interpolation', sondern ,Szenen- und Klammertechnik', ,Vorbereitung und Aufschub',,Spannungssteigerung und Retardation'. Stellt man die Frage so, glaubt er, dann „muß Schritt für Schritt am Gegenstande selbst das lebendige Baugesetz der Ilias anschaulich werden". Denn: „Homer beurteilen lernen heißt ästhetisch urteilen lernen" (Nietzsche) (28). Damit ist das uralte Prinzip wieder in sein Recht gesetzt, das schon der Struktur-Erforschung des Aristoteles den Erfolg verbürgte: Man pfropft H o m e r nicht seine eigene, notwendig beschränkte Ästhetik auf, sondern man gewinnt seine Ästhetik aus Homer. Das fuhrt nun allerdings nicht zu einer Teile aussondernden Baugeschichte, sondern zu einem dynamisch mitgehenden Nachvollziehen der Bau-Idee. Es kann nicht zweifelhaft sein, welches dieser beiden Konzepte der IliasstrukturErforschung einem sprachlichen Kunstwerk adäquater ist. Bestätigung daflir, daß Schadewaldt die richtige Sicht hatte, läßt sich vor allem aus der allgemeinen Erzählforschung gewinnen. Schadewaldts Kategorien wie ,Vorausdeutung, Verknüpfung, Retardation' usw. finden sich in diesem Forschungszweig, der auf die allgemeinen N o r m e n aus ist, allenthalben wieder. In Eberhard Lämmerts ,Bauformen des Erzählens' gelten den , Rück Wendungen' und den , Vorausdeutungen' ganze eigene Kapitel. Bei Lämmert findet sich aber vor allem das Grundkonzept der Schadewaldtschen Struktur-Erforschung wieder: das Ausgehen von dem,

Die Erforschung der Ilias-Struktur

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was Lämmert die ,Koexistenz von Einzelgliedern im sprachlichen Kunstwerk' nennt und von wo aus er zum Begriff der ,sphärischen Geschlossenheit des Erzählwerks' gelangt. Lämmerts Werk ist zu einem Klassiker der Literaturwissenschaft geworden, weil es die Struktur von Erzählwerken auf einer primären (funktionalen) Ebene von offenbar universaler Gültigkeit transparent macht. Schadewaldt ist auf eigenem Weg zu analogen Kategorien gekommen. Der Grund, warum z.B. Heubeck Schadewaldts ,Iliasstudien' „das wohl wichtigste deutsche Homerbuch nach Wilamowitzens ,Die Ilias und H o m e r ' " nennt 50 ', ist letztlich in dieser eigenständigen Leistung zu sehen.

(d) Von Wilamowitz/Schadewaldt bis zur Gegenwart Auf die Erstauflage der Schadewaldtschen ,Iliasstudien' (1938) folgten Krieg und Nachkriegszeit. Die Bedeutsamkeit von Schadewaldts Neuansatz ging zunächst unter. Statt der Weiterfuhrung der durch Schadewaldt begründeten neuen Form von Iliasstruktur-Erforschung erlebte zunächst noch einmal die alte Methode der Analyse eine Renaissance. Die Namen Theiler, Jachmann, Von der Mühll bezeichnen die Nachblüte eines Programms, das in forschungssystematischem Betracht schon überholt war. Natürlich waren auch diese Werke, wie alle Werke des Analyse-Unitarier-Streits seit Wolf, für die Iliasdeutung als solche nicht etwa unfruchtbar. Die Struktur-Erforschung freilich brachten sie nicht voran. Das gleiche muß auch von den allermeisten Arbeiten der nach dem zweiten Weltkrieg aufgeblühten Oral poetry-Forschung festgestellt werden. Für die Homer-Interpretation als solche und für die Rekonstruktion der Arbeitsweise eines Sängerdichters wie Homer ist die Richtung von unschätzbarem Wert. Die Struktur der Ilias, um die allein es uns hier geht, ist durch diese Richtung allerdings bisher nicht entscheidend aufgehellt worden (im Fall der Odyssee sieht es, insbesondere dank Feniks Arbeiten, anders aus51'). Die Neo-Analyse (oder motivgeschichtliche Forschung, s. den Beitrag von Wolfgang Kullmann unten S. 425 ff.) kann im Rahmen unseres Themas außer Betracht bleiben, da sie ausdrücklich (,Motivgeschichte') den genetischen Aspekt im Blick hat. Ihre Rekonstruktionen können, wo sie in Vermeidung der Selbstgewißheit der alten Analyse Wahrscheinlichkeiten sichtbar machen, das Verständnis für das Sosein der Iliasstruktur bedeutend fordern. Die Homerforschung hat sich in den letzten etwa drei Jahrzehnten stark erweitert. Heute umfaßt sie neben der eigentlichen Philologie auch Archäologie, Alte Geschichte, Sprachwissenschaft, Religionswissenschaft, verschiedene Zweige der

50

> Heubeck 1974, 49. > Vor allem Fenik 1974.

51

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Literaturwissenschaft und viele andere Gebiete. Das Erkenntnisinteresse ist infolgedessen weitgestreut, die Produktion auf dem Gesamtgebiet kaum noch überschaubar. 52 ' Die Erforschung der Struktur der beiden Epen steht nicht im Mittelpunkt. Sie ist sogar infolge des Verblassens des Analyse-Unitarier-Streites in den letzten 30 Jahren an den Rand gedrängt worden. Es ist daher verständlich, daß Werke, die Schadewaldts Ergebnisse in großem Stile weiter ausgebaut hätten, zunächst noch ausgeblieben sind. Arbeiten, die kleineren Komplexen innerhalb der Textcorpora gelten oder die spezielle Strukturprobleme in den Blick nehmen, gibt es mehrere, etwa die Studien von Besslich, Krischer, Lohmann, Nicolai. In allen ist der Einfluß Schadewaldts beträchtlich. Das gilt auch von zwei Arbeiten, die am ehesten als gezielte Iliasstruktur-Erhellungen gelten können: von Heubecks ,Studien zur Struktur der Ilias' und von Karl Reinhardts großangelegtem Versuch 53 ', über Schadewaldts ,strukturalistischen' Ansatz noch mehr ins Individuelle vorzustoßen, die Dichtungsweise des Iliasdichters über das Normative hinaus in ihrem lebendigen Vollzug architektonischen Bauens an einem lebenslang als Aufgabe gefühlten Einzelbauwerk nachvollziehbar zu machen. Schadewaldts resignativer ,Epilog', jenes Zitat aus Goethes,Dichtung und Wahrheit', das er der 3. Auflage der ,Iliasstudien' 1966 beigab 54 ', ist insoweit nicht berechtigt. Arbeiten aus neuerer Zeit — seit ca. 1980 — können sogar zeigen, daß das Interesse fur die Iliasstruktur-Erforschung nicht nur in der nicht-deutschsprachigen Welt (wo man Schadewaldt erst spät .entdeckte') wiedererwacht ist.55' Das große Iliasbuch, das man sich nun, nach Analyse, Unitarismus und Oral poetry-Forschung, denken könnte, wird zwar wohl noch eine Weile auf sich warten lassen. Doch auf die Dauer wird — das macht Ernst-Richard Schwinges Beitrag in diesem Bande deutlich — der Wunsch nach Einsicht in die Struktur jenes Werkes, das die Kriterien der europäischen Poetik so tief bestimmt hat, der Ilias Homers, sich nun durch Forderungen nach Beschäftigung mit Wichtigerem kaum mehr von seinem Ziel abbringen lassen.

52)

Verf., Alfred Heubeck und die deutsche Gräzistik, in: Gymnasium 94,1987, 341-345 (hier:

345). 53)

Reinhardt, Ilias. Schadewaldt, Iliasstudien 31966, 183. 55) Siehe die Arbeit von Andreae/Flashar 1977; die Studien von Köhnken und Latacz in: Latacz, Dichtung; die Strukturanalysen in: Latacz, Homer; die Arbeiten von Schwinge 1981 und in diesem Bande; die Arbeiten von de Jong (zitiert im Beitrag Schwinge). Vorher schon wichtig: Hellwig und Friedrich (unten zitiert im Beitrag Schwinge). Weiteres im Beitrag von Uvo Hölscher zur Odyssee-Struktur, unten S. 415 ff. 54)

Die Erforschung der Ilias-Struktur

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Abgekürzt zitierte Literatur Andreae/Flashar

Beßlich (1966) Fenik (1974) Finsler 1912 Finsler 1913 Fuhrmann, Dichtungstheorie Fuhrmann 1986 Gentiii 1989 Grafton/Most/Zetzel (1985) Hainsworth, Odissea

Heubeck 1950

Heubeck 1974 Holoka (1990) Jachmann (1949) Kerschensteiner, Kosmos Koster, Epostheorien Krischer (1971) Lämmert Latacz, Homer Latacz, Dichtung Lesky (1952) Lesky 1967 Lohmann (1970) Maehler 1963 Marg 1971

B. Andreae/H. Flashar, StrukturaequiValenzen zwischen den homerischen Epen und der frühgriechischen Vasenkunst, Poetica 9, 1977, 217-264 ( = H. Flashar, Eidola. Ausgewählte Kleine Schriften, hrsg. v. M . Kraus, Amsterdam 1989, 7-55). S. Beßlich, Schweigen - Verschweigen - Übergehen. Die Darstellung des Unausgesprochenen in der Odyssee, Heidelberg 1966. B. Fenik, Studies in the Odyssey, Wiesbaden 1974 (Hermes Einzelschriften, H. 30). G. Finsler, Homer in der Neuzeit von Dante bis Goethe, Leipzig/Berlin 1912. G. Finsler, Homer, Berlin 1907. 2 1913. M . Fuhrmann, Einführung in die antike Dichtungstheorie, Darmstadt 1973. Aristoteles, Poetik, griechisch-deutsch von M . Fuhrmann, Stuttgart 1986. B. Gentiii, Poesia e pubblico nella Grecia antica, Roma/Bari 1984. 2 1989. Grafton, A./Most, G. W./Zetzel, J. E. G. (Hrsg.), F.A. Wolf: Prolegomena to Homer, translated (etc.) by G./M./Z., Princeton 1985. J . B . Hainsworth, Kommentar zu Odyssee 5 - 8 , in: Omero, Odissea, vol. II, Milano 1982 (englisch: A C o m m e n t a r y on Homer's Odyssey, vol. I, Oxford 1988). A. Heubeck, Studien zur Struktur der Ilias (Erlangen 1950), in: Homer. Die Dichtung und ihre Deutung, hrsg. v. J. Latacz, Darmstadt 1991, 450 ff. A. Heubeck, Die Homerische Frage. Ein Bericht über die Forschung der letzten Jahrzehnte, Darmstadt 1974 (Erträge der Forschung, 27). J . P . Holoka, Homer Studies 1978-1983, in: Classical World 83, 1990, 393^161 (Part I); 84, 1990, 89-156 (Part II). G. Jachmann, Homerische Einzellieder, in: Symbola Coloniensia J. Kroll oblata, Köln 1949. Repr. Darmstadt 1968. J. Kerschensteiner, Kosmos. Quellenkritische Untersuchungen zu den Vorsokratikern, München 1962 (Zetemata, 30). S. Koster, Antike Epostheorien, Wiesbaden 1970 (Palingenesia, V). Τ Krischer, Formale Konventionen der homerischen Epik, München 1971 (Zetemata, 56). E. Lämmert, Bauformen des Erzählens, Stuttgart 1955 u . ö . J. Latacz, Homer. Der erste Dichter des Abendlands, München/Zürich 1985. 2 1989. J. Latacz (Hrsg.), Homer. Die Dichtung und ihre Deutung, Darmstadt 1991. A. Lesky, Die Homerforschung der Gegenwart, W i e n 1952. A. Lesky, Homeros, in: R E Suppl. XI, Stuttgart 1967 (Sonderausgabe). D. Lohmann, Die Komposition der Reden in der Ilias, Berlin 1970 (Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte, 6). H. Maehler, Die Auffassung des Dichterberufs im frühen Griechentum bis zur Zeit Pindars, Göttingen 1963 (Hypomnemata, 3). W. Marg, Homer über die Dichtung. Der Schild des Achilleus, Münster 1957. 2 1971 (Orbis antiquus, 11).

414 Mattes, Odysseus Nickau 1966 Nicolai (1973) Reinhardt, Ilias Schadewaldt, Iliasstudien Schadewaldt 1958 Schwinge 1981 Theiler (1962) Von der Mühll 1952 Wilamowitz, Ilias Wolf, Prolegomena

Joachim Latacz W. Mattes, Odysseus bei den Phaiaken, Würzburg 1958. K. Nickau, Epeisodion und Episode. Zu einem Begriff der aristotelischen Poetik, in: MusHelv 23, 1966, 155-171. W. Nicolai, Kleine und große Darstellungseinheiten in der Ilias, Heidelberg 1973. K. Reinhardt, Die Ilias und ihr Dichter, hrsg. v. U . Hölscher, Göttingen 1961. W. Schadewaldt, Iliasstudien, Leipzig 1938. 3 Darmstadt 1966. W. Schadewaldt, Homer. Die Odyssee. Ubersetzt in deutsche Prosa von W. Sch., Reinbek 1958 u.ö. E.-R. Schwinge, Homer, Ilias, in: Literaturwissenschaft. Grundkurs 1, hrsg. v. H. Brackert u. J. Stückrath, Reinbek 1981, 106-118. W. Theiler, Ilias und Odyssee in der Verflechtung ihres Entstehens, in: MusHelv 19, 1962, 1-27. P. Von der Mühll, Kritisches Hypomnema zur Ilias, Basel 1952. U . v. Wilamowitz-Moellendorff, Die Ilias und Homer, Berlin 1916. F. A. Wolf, Prolegomena ad H o m e r u m sive de Operum Homericorum prisca et genuina forma variisque mutationibus et probabili ratione emendandi, vol. I, Halis Saxonum 1795.

UVO

HÖLSCHER

Zur Erforschung der Strukturen

in der Odyssee

Es liegt im Begriff meines Themas, daß darunter vornehmlich Arbeiten aus unitarischem Gesichtspunkt zur Sprache k o m m e n werden. Denn von einer Struktur der Odyssee, als ästhetischem Phänomen, kann strenggenommen nur aufgrund ihrer Einheit die Rede sein. Die Homerkritik hat aber, vor zweihundert Jahren, gerade davon ihren Anfang genommen, daß in den überlieferten Texten die Einheit vermißt wurde; so daß der Rückblick auf die imposanteste Epoche der Homerforschung für unsre Frage wenig hergibt. Erst seit den zwanziger Jahren rücken Strukturfragen in den Vordergrund. Aber auch über die neuere Odysseeforschung im ganzen kann hier kein umfassender Bericht gegeben werden — er ließe keinen R a u m mehr für die Reflexion über den heutigen Stand. Ich werde mich vielmehr eng und allein an das Problem der Struktur halten und dabei die Linien verfolgen, in denen die verschiedenen strukturalen Phänomene schrittweise in den Blick getreten sind. Eine standpunktbedingte Einseitigkeit habe ich nicht ganz vermieden. Struktur ist ein Modewort, das oft Präzision und Strenge affektiert, w o die Klarheit des Begriffs fehlt; ein schwammiges Wort. Die ältere Bezeichnung ,Bauformen' war eindeutiger, und in diesem Sinne sei es auch hier verstanden. Die verschärfte Aufmerksamkeit auf Strukturen hängt mit Entwicklungen in den Geisteswissenschaften überhaupt zusammen; im besonderen aber mit einer Krise, in die die analytische Homerforschung in den zwanziger Jahren geriet (ich gebrauche der Bequemlichkeit halber den üblichen Namen, obschon natürlich jede wissenschaftliche Methode analytisch vorgeht). Dazu ist ein kurzer Rückblick nötig. Die Odysseeforschung ist, anders als die zur Ilias, von der Arbeit eines einzigen Mannes geprägt worden, Adolf Kirchhoffs, der ihr bis zum heutigen Tag die Hauptprobleme vorgeschrieben hat. Diese stellten sich ihm aus dem einfachen Befund, daß das Gedicht sich stofflich in zwei Teile gliedert, die Abenteuer des Odysseus auf der Heimfahrt, und die breit erzählten Ereignisse auf Ithaka; ferner daß den Abenteuern der Heimfahrt die Reise des Telemachos vorangeht, dessen Rückkehr im zweiten Teil mit der Rückkehr des Odysseus verflochten ist. Kirchhoffs Verfahren ist demgemäß das der Entflechtung und Trennung; und ein ihm

Auflösung der bibliogr. Abkürzungen unten S. 421.

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U v o Hölscher

besonders wichtiges Nebenergebnis, in dessen Bann die Philologie bis heute geblieben ist, ist die Ausgrenzung gewisser Abenteuer der Apologe als einem älteren Argonautenepos entnommen. — An sich ließe der Befund auch eine strukturelle Betrachtung zu (in der einfachsten Form: Agathe Thorntons Modell von sechsmal vier Büchern). Aber was den analytischen Ansatz als das Wissenschaftlichere erscheinen ließ, war die Präokkupation des Zeitalters mit der Entstehungsfrage; und zwar nicht im morphologischen Sinn, sondern in den Kategorien einer Verbindung von Teilen. Die Kriterien der Scheidung sind rationalistisch und pragmatisch, und noch kaum poetologisch zu nennen. Wie unsicher der Formsinn ist, zeigt sich darin, daß es Kirchhoff nichts ausmacht, sein ursprüngliches Heimkehrgedicht mit der Landung auf Ithaka enden zu lassen, ohne Wiedersehen der Gatten. Fünfzig Jahre später freilich wird Erich Bethe gerade diesem Gebilde mit einem ästhetischen Gleichnis zu Hilfe kommen: „hier eine Fortsetzung fordern" heiße nichts anderes als „an den Parthenon anbauen" (Homer, II, S. 5). Inzwischen nämlich hatten sich, seit Kirchhoff, die Tendenzen dahin verschoben, daß den ,Kurzepen' Vorbereitungen und Fortsetzungen zugestanden wurden. Das ging bis zur Ansetzung ganzer ,Odysseen', die sich nun stofflich überschnitten (Schwartz

1924, Wilamowitz

1927, Bethe 1929, Merkelbach

1969). Was die Analyse

am Anfang gerade leisten wollte: das problematische Ganze des Großepos aus der Zusammenfügung oder Ergänzung von Teilstücken zu erklären, das hat sich ihr am Ende ins Gegenteil gekehrt, indem die Teile selber zu konkurrierenden Ganzheiten wurden. Dies die genannte Krise. Die Reaktion war eine radikale Vereinfachung: Reduzierung auf,Odyssee' und ,Telemachie', als drittes den Bearbeiter (Von der Mühll 1940). Mit zweien kam schließlich Schadewaldt aus, indem ihm (wie schon Focke 1943) der Bearbeiter mit dem Telemachiedichter zusammenfiel (1946, 19581). Hier hat sich die Analyse am meisten dem unitarischen Standpunkt angenähert. Es entspricht dieser Entwicklung, daß die Kriterien der Scheidung mehr und mehr im individuellen Stil und Geist der unterschiedenen Dichtungen gesucht wurden. Jacoby ist auf diesem Wege früh zur Anschauung von der Einheit des Gedichts gelangt (,Die geistige Physiognomie der Odyssee', 1933, — das Beste, was in dieser Kürze zum Ganzen der Odyssee gesagt worden ist. Einseitiger H. Frankel 1969, 94ff.). Als Mittel der Textanalyse aber wird es eine delikate Unternehmung. Die sogenannte kritische Philologie hatte ihr Pathos aus dem Affront gegen das „schleimige Ästhetisieren" der Unitarier bezogen (Bethe, Homer II, pag. V). Aber sie selber argumentiert auf Schritt und Tritt mit ästhetischen Urteilen. Beispiele erübrigen sich. Demgegenüber hat Schadewaldt die Beobachtung der Strukturen als objektive Methode zur Scheidung der zwei Dichterindividualitäten entwickelt; woraus sich ihm zugleich die Wahrscheinlichkeit ergibt, daß der Dichter der alten ,Odyssee' (ohne ,Telemachie') identisch sei mit Homer als dem Iliasdichter.

Zur Erforschung der Strukturen in der Odyssee

417

Die Strukturbegriffe - in ihren Metaphern wieder gern der Architektur entlehnt — dienen bei Schadewaldt der Evidenz einer ursprünglicheren Einheit. Was flir Kirchhoff auseinanderfiel, erschließt sich als die Struktur des alten Epos „nach Art eines Tempelgiebels": die liebende Nymphe am Anfang, die liebende Gattin am Ende, in der Mitte (im 13. Gesang) die überragende Erscheinung der Göttin. Das Bild liefert aber zugleich das Argument zur Abtrennung des Vor- und Anbaus, der Telemachie und des letzten Gesangs (Schadewaldt 1972, 54f.). Ein andres architektonisches Gleichnis illustriert die Reihung odysseeischer Szenen „nach Art eines Metopenfrieses" mit zwei- oder dreifigurigen Bildern und nähert die Erzählform der ,alten Odyssee' den „plastisch konzentrierten Bildern" der Iliasszenen an. Auch dieses dient zugleich der Unterscheidung des ,Homerischen' von jenen Partien, die nicht diese Szenenform aufweisen (Telemachie etc.) und somit dem Bearbeiter zufallen. Das Metopengleichnis ist nicht untrüglich. Was Reinhardt an der iliadischen Szenenform als die „Kunst der Episode" beschreibt (Ilias, 38 ff.), ist weniger statisch als dramatisch (oder musikalisch: „gleicht einem Rondeau"): ein Ansteigen und wieder Abklingen, sich rundend um eine Mitte, in der Vergangenes und Zukünftiges aufleuchtet; als durchgehende Kompositionsform hinüberweisend zu korrespondierenden, oft kontrastierenden Szenen.jedenfalls von einer so eigenen Form, daß man in der Odyssee schwerlich Vergleichbares findet. Auch ihre Geschlossenheit ist in der Odyssee eher einer Kompositionsform gewichen, die in der Offenheit der Szenenwechsel sich charakteristisch von der Ilias unterscheidet. Und wiederum unterscheidet sich in diesem Charakter die Telemachie von der Haupterzählung nicht (Hölscher 1938). Offenbar stehen die Szenenformen in Beziehung zur Gesamtstruktur. Denn die in der Ilias über sehr weite Strecken hin bestehenden Bezüge der Episoden untereinander haben eine weitere, das Ganze des Epos umspannende Struktur zur Folge, die ebenso unglaublich scheinen mag, wie sie evident ist, sobald man sie einmal gewahr wird. Die Entsprechungen des ersten und des letzten Gesangs liegen auf der Hand: Streit und Versöhnung, die bittenden Greise, die olympischen Entscheidungen, Hera und Thetis hier und dort, das steht in deutlicher kontrastierender Relation zueinander (C. Whitman 1958, 259f.; Reinhardt, Ilias 220; dagegen Kirk 1962, 261 f.). Dazwischen bezeichnen das 8. und 20., das 9. und 19. Buch, jeweils im Gegensinn, die entscheidenden Wendepunkte in der Götter- und in der Menis-Handlung. Aber auch unter dem zweiten und vorletzten, dem dritten und drittletzten Buch, zwischen den Aineiasszenen im 5. und 21., den Andromacheszenen im 6. und 22. Buch wird man solche Beziehungen nicht verkennen. Im Ganzen scheint sich eine spiegelbildliche Komposition, von den Enden zur Mitte hin, zu ergeben, die dennoch unaufdringlich genug ist, um nicht fur bewußte Konstruktion gelten zu müssen. Die Odyssee verrät weitaus mehr die Hand eines planvoll disponierenden Geistes. Ihr Plan ist, wie mir scheint, entwickelt aus der potentiellen Zweisträngigkeit

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U v o Hölscher

der Heimkehrergeschichte, indem er zuerst den Vorgängen auf Ithaka, dann den Erlebnissen des Odysseus in der Ferne folgt, um von der Mitte an die beiden Fäden zu verflechten. Daß diese Zweisträngigkeit sich in einem bestimmten, der Odyssee eigenen Szenentypus und in der offenen Form der Szenenwechsel anzeigt, habe ich seinerzeit zu erläutern versucht (Hölscher 1938). Das Erzähltechnische der Verzweigung von Handlungssträngen hat T. Krischer (1971) als epische Konvention erläutert. Eine vorzügliche Beobachtung Schadewaldts betrifft dagegen das, was er das Über-Eck-Gespäch nennt: die indirekte Beziehung zweier Personen aufeinander über das Gespräch mit einem Dritten (Kriterien S. 16). Auch dies eine charakteristisch odysseeische Form, die sich in der Ilias nicht findet. Leider hat Schadewaldt die von ihm erkannte Struktur in mehreren Szenen übersehen, wo sie gegen seine Analyse den überlieferten Text sichern würde; auch wo sie — bedeutend genug in der Telemachie auftritt (Hölscher

1988).

Indessen hat Schadewaldt eine tiefgreifende Ubereinstimmung der Odyssee mit der Ilias durch eine weitere Strukturbeobachtung nachzuweisen versucht, mit der die Telemachie aus der Form des Epos herausfallen würde (Schadewaldt 1958х). Mit ihr beleuchtet er das alte Problem der zwei Götterversammlungen am Anfang der Odyssee von einer neuen Seite. Er sieht in dem Anfang die homerische Form der doppelten, göttlich-menschlichen Verursachung: einmal durch Zeus' Heimkehrbeschluß im ersten Buch, sodann Odysseus' Entscheidung für Penelope im fünften, ein Zusammengehöriges, wovon das Heimkehrgeschehen seinen Ausgang nimmt. Er erkennt darin dieselbe Struktur, wie sich Achills Entscheidung in der Heeresversammlung und Zeus' Gewährung der Thetisbitte auf dem Olymp zueinander verhalten: als die Doppelverursachung, die das Iliasgeschehen auslöst. Diese Struktur werde in der Odyssee aber erst sichtbar, wenn die Telemachie entfernt wird. — Mißlich an dieser Argumentation ist, daß die beiden „Entscheidungen" in verkehrter Folge stehn, die göttliche für die menschliche erst den nachträglichen „Rahmen" setzen würde. Was aber Schadewaldt übersieht: auch Achills Entscheidung hat eine göttliche Ursache: Heras Sorge und Entsendung der Athene. Andrerseits hat Zeus' Willensbekundung eine eigene Folge: die Entsendung des Trugtraums und die Entscheidung Agamemnons. Also zweimal dieselbe Struktur, zweimal die göttlich-menschliche Verursachung (eine Struktur, die für das 24. Buch schon Heubeck 1954 nachgewiesen hat). Und wie von der einen die Menis-Handlung ausgeht, so von der anderen die allgemeine Kampfhandlung: eine Doppelhandlung also, deren Stränge erst getrennt laufen und von der Mitte an sich verflechten. Das ist aber genau die Struktur der Odyssee, deren zwei Handlungsstränge gleichfalls von zwei Götterszenen ihren Ausgang nehmen: über Athenes Aufbruch nach Ithaka die Telemachie, über Hermes' Flug nach Ogygia die Heimkehr des Odysseus; auch sie von der Mitte an sich miteinander verflechtend. So spricht Schadewaldts Strukturbeobachtung, zuende gedacht, vielmehr f ü r die Einheit des Odyssee-Entwurfs (Hölscher

1988).

Zur Erforschung der Strukturen in der Odyssee

419

Schadewaldt hat seine Zweischichtentheorie nicht mehr, wie er es wollte, in einem umfassenden Werk vorstellen können, und so fehlt es an einem kräftigen neuen Gesamtentwurf aus analytischer Position. Die Erbschaft der alten (Theiler, Merkelbach) macht sich seither vornehmlich in einer kritischen Skepsis geltend (Dihle, Heitsch). Die angelsächsische Philologie hat sich ohnehin weniger in die .homerische Frage' hineinziehen lassen (Page 1955) und gemäß ihrer traditionellen Ausrichtung auf literarische Interpretation mehr das Ganze im Auge behalten (Woodhouse 1930, Whitman 1958, Thornton 1970, Finley 1978, Griffin 1987). In Deutschland kamen die letzten umfassenden Odysseearbeiten von unitarischer Seite: Hartmut Erbses eindringliche .Beiträge' (1972) zu zentralen Problemen der Forschung (hier vor allem hervorzuheben, was zur Kunst der Gesprächsführung ermittelt wird), und H. Eisenbergers gründliche Gesamtinterpretation (1973). Die postume Nachwirkung Reinhardts ist stark, und die Jüngeren scheinen sich eher auf einen allgemeinen unitarischen Standpunkt versammelt zu haben. Gemessen an dem einstigen Kampf der feindlichen Lager mutet die Kontroverse heute wie ein Gefecht mit den großen Schatten der Vergangenheit an: eine fast deutsche Angelegenheit. Eine Nebenfolge dieser Entwicklung ist es, daß das Gewicht der Entdeckungen sich von der Philologie auf die Nachbarwissenschaften verschoben hat, auf Archäologie, Mykenologie und Historie, von denen seit der Jahrhundertmitte die kräftigsten Anstöße für ein geschichtlicheres Verständnis der homerischen Epen gekommen sind. — Aber die Hauptauseinandersetzung, die die internationale Homerforschung heute bewegt, ist damit noch nicht berührt, ich meine die um die Theorie der mündlichen Komposition, wie sie von den Arbeiten Milman Parrys um 1930 ausgegangen ist. Ich darf mir auf das Gesamtproblem einzugehn ersparen, weil diesem Thema ein eigener Abschnitt gewidmet ist (s. unten S. 456 ff.). Nur kann ich die Frage nicht ganz umgehen, welche Rolle in der Oraltheorie der Begriff der Struktur spielt. Wir begegnen ihm bereits in der Gestalt der kleinsten Bausteine, der Formeln und Formelverse, ferner in den kürzeren oder längeren Versgruppen für formelhafte Verrichtungen (den sog. typischen Szenen), aus denen der Improvisator „komponiert". Zur .composition by formula' aber tritt, nach der Theorie, die .composition by theme' (A.B. Lord) wobei der Ausdruck ,theme' für deutsche Ohren irreführend ist, wir würden vielmehr sagen: das Erzählen mit Hilfe von Standardmotiven, die, ebenso wie die Formeln, im Gedächtnis des mündlichen Sängers bereitliegen. Auch diese Motive sind sehr kleine Elemente — allein in einer Musterpassage der Ilias von 250 Versen konstatiert Kirk 33 „traditionelle Themen" (Songs, S. 78 f.). Es ist im Grunde eine atomistische Theorie, die noch keinen Weg zu den Erzählstrukturen weist. Zwischen dem Material der ,Formeln' und .Themen' und dem Ganzen des improvisierten Vortrags vermittelt allein der Plan des Hauptkomponisten („the main composer", Kirk).

420

U v o Hölscher

An dieser Stelle tritt Harald Patzers Theorie von den „Handlungsschemata" ein (1972). Sie bauen sich über den Formeln und typischen Szenen auf bis hin zu großen Kompositionsmodellen, die das Skelett der Gesamthandlung abgeben. Diese Schemata sind verstanden als abstrakte Handlungsmuster, die mit zum Formel- und Musterrepertoire des improvisierenden Sängers gehören u n d erst im Vortrag auf bestimmte Sagengestalten bezogen und zu einer Erzählung zusamm e n g e f ü g t werden. Für sich g e n o m m e n nämlich drücken die abstrakten Schemata, nach Patzer, allgemeine, geschichtlich und gesellschaftlich bedingte Lebenserfahrungen aus; und sein besonderes Interesse richtet sich auf die Ausprägung dieser „Formgesetze" des Verhaltens in den epischen Handlungsmustern und ihre U m w a n d l u n g in die szenische Kunst des großen Epos. Die A n w e n d u n g der Theorie auf die Odyssee verspricht viele neue Aufschlüsse. Einen guten Begriff davon bietet vorläufig die bei Patzer entstandene Untersuchung von Hans Kilb, Strukturen epischen Gestaltens (1973). Das Verfahren tritt ergänzend, an einem bestimmten Punkte wohl auch k o n k u r rierend, zu j e n e m , das Reinhardt zuerst in seinem Aufsatz über das Parisurteil (1938) vorgestellt hat. Z w a r hat auch Reinhardt mit der U m w a n d l u n g typischer Szenenmuster in den großen epischen Stil der ,Episode' gerechnet, indem er ζ. B. die Schildbeschreibung der Ilias aus der typischen Rüstungsszene entstanden denkt (Ilias, S. 40 f.) oder in der Odyssee die Opferszene bei Nestor aus den traditionellen O p f e r f o r m e l n der Ilias. Anders jedoch dort, w o jenes Verfahren auch für größere Handlungszusammenhänge mit vorgeprägten .abstrakten' Kompositionsmustern rechnet, wie beim Z o r n des Achilleus, vielleicht bei der Heimkehr des Odysseus. Hier sucht Reinhardt nicht nach übertragbaren Erzählmustern, sondern bleibt bei der konkret faßbaren einfachen Geschichte, die der epischen Erzählung zugrunde liegt, sei sie Heldensage, Märchen oder Novelle. In der Ilias ist dies die ,Achilleis' bzw. ,Patroklie' (Ilias, S. 29ff.), verflochten mit der Geschichte v o m Parisurteil, d. h. v o m R a u b der Helena und Troias Untergang; in der Odyssee die Webstuhlgeschichte der Penelope. Auch ihm k a m es darauf an, wie die M o m e n t e der pragmatisch reihenden Geschichte auf der Stufe des großen Epos und in der neuen Kunst der Szenenschilderung als ,epische Situationen' wiedererscheinen. Wieviel die Analyse der Formstufen - des Märchens im Epos — fur die Interpretation leistet, zeigt vor allem seine Abhandlung über ,die Abenteuer der Odyssee' (1948). Ich breche hier ab: es ist der Punkt, an dem ich mit meinem eigenen Versuch eingesetzt habe (Hölscher 1988). Ausblicke? Die zwei zuletzt beschriebenen Verfahren bewegen sich beide in der R i c h t u n g einer Transformationstheorie. Das entspricht der Tendenz jener zahlreichen Veranstaltungen der letzten Jahrzehnte zum Themenkreis .Tradition und individuelle Gestaltung'. U n t e r der Perspektive der Transformation könnten sowohl die genetische und die strukturale Betrachtungsweise wie auch die analytische und die unitarische M e t h o d e zusammenfinden. Schwerer zu sagen, wohin die Erforschung der Formel in Z u k u n f t führen wird, da sie einerseits in dem Begriff der „generativen" Formel eine beträchtliche

Zur Erforschung der Strukturen in der Odyssee Ö f f n u n g u n d D y n a m i s i e r u n g erfahren hat (Hainsworth

1968,

421 Naglet

1974),

and-

rerseits ihre strenge A u s b i l d u n g n e u e r d i n g s g e r a d e m i t d e r Stufe des g r o ß e p i s c h e n Stils v e r b u n d e n w i r d (Strasser

1984).

D a g e g e n hat sich die O r a l t h e o r i e in ihrer

radikalen P o s i t i o n für das h o m e r i s c h e E p o s vielleicht erschöpft. D i e w i r k l i c h neuen E n t d e c k u n g e n aber, die L i c h t in die n o c h i m m e r offenen F r a g e n b r i n g e n k ö n n t e n — die Geschichtlichkeit des Troianischen Kriegs, die p r e k ä r e K o n t i n u i t ä t in den ,dunklen J a h r h u n d e r t e n ' , den sozialen H i n t e r g r u n d des h o m e r i s c h e n Epos—, w i r d die H o m e r f o r s c h u n g , w i e in den v e r g a n g e n e n J a h r z e h n t e n , n o c h eine g u t e W e i l e v o n der A r c h ä o l o g i e u n d H i s t o r i e u n d v o n der w e i t e r e n E r f o r s c h u n g der m y k e n i s c h e n Schrift zu e r w a r t e n haben. H i e r ist n o c h ein weites Feld, u m das h o m e r i s c h e G e d i c h t aus der literarischen E n t r ü c k u n g in geschichtliche W i r k l i c h keit z u r ü c k z u h o l e n .

A b g e k ü r z t zitierte L i t e r a t u r

Bethe 1929 Eisenberger 1973 Erbse 1972 Finley 1978 Focke 1943 Frankel 1969 Griffin 1987 Hainsworth 1968 Heubeck 1954 Hölscher 1939

Hölscher 1988 Jacoby 1933

Kilb 1973 Kirchhoff 1879 Kirk 1962 Krischer 1971 Lord 1960 Merkelbach 1969 Nagler 1974 Page 1955

E. Bethe, Homer II 1: Odyssee, Leipzig/Berlin 1922. 2 1929. H. Eisenberger, Studien zur Odyssee, Wiesbaden 1973. H. Erbse, Beiträge zum Verständnis der Odyssee, Berlin 1972. J . H . Finley, Homer's Odyssey, Cambridge/Mass./London 1978. F. Focke, Die Odyssee, Stuttgart/Berlin 1943. H. Frankel, Dichtung und Philosophie des frühen Griechentums, New York 1951. München 3 1969. J . Griffin, Homer. The Odyssey, Cambridge 1987. J . B . Hainsworth, The Flexibility o f the Homeric Formula, Oxford 1968. A. Heubeck, Der Odysseedichter und die Ilias, Erlangen 1954. U . Hölscher, Untersuchungen zur Form der Odyssee. Szenenwechsel und gleichzeitige Handlungen, Berlin 1939 (Hermes Einzelschriften, 6). U. Hölscher, Die Odyssee. Epos zwischen Märchen und Roman, München 1988. 2 1989. F. Jacoby, Die geistige Physiognomie der Odyssee, in: Die Antike 9, 1933, 159-194 (auch in: Kleine philologische Schriften, Berlin 1961, Bd. I, 107-138). H . Kilb, Strukturen epischen Gestaltens im 7. und 23. Gesang der Odyssee, München 1973. A. Kirchhoff, Die homerische Odyssee, Berlin 1859. 2 1879. G. S. Kirk, The Songs o f Homer, Cambridge 1962. Repr. 1977. Τ Krischer, Formale Konventionen der homerischen Epik, München 1971 (Zetemata, H. 56). A . B . Lord, The Singer o f Tales, Cambridge/Mass. 1960. Deutsch: Der Sänger erzählt. Wie ein Epos entsteht, München 1965. R . Merkelbach, Untersuchungen zur Odyssee, München 1951. 2 1969. M. Nagler, Spontaneity and Tradition, Berkeley/London 1974. D. Page, The Homeric Odyssey, Oxford 1955.

422 Parry 1971

U v o Hölscher

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VII Die beiden homerischen Epen: Methoden ihrer Interpretation

WOLFGANG KULLMANN

Ergebnisse der motivgeschichtlichen Forschung zu (Neo analyse)

Homer

Für Johannes Th.Kakridis zum 90. Geburtstag

I. Methode und Forschungsgeschichte Der Begriff der ,Neoanalyse' bezeichnet eine Methode, bestimmte auffallende Strukturbesonderheiten der homerischen Epen motivgeschichtlich zu erklären. 1 ' J. Th. Kakridis, der diesen Begriff einführte, verband damit die Hoffnung, die „Anstöße" der „alten Analyse" erklären zu können, ohne zu der Konsequenz gezwungen zu sein, die einzelnen Teile der homerischen Epen unterschiedlichen Verfassern zuweisen zu müssen. Die ,Neoanalyse' rechnet mit dem Einfluß vorhomerischer Dichtungen aus anderen Sagenzusammenhängen auf die homerischen Epen, glaubt aber nicht, daß Stücke dieser Epen unverändert in die uns erhaltenen Epen Eingang gefunden haben, wie die ,alte Analyse' annahm. Es geht darum, die einheitliche Struktur der beiden ,homerischen' Epen, insbesondere die Struktur der Ilias, historisch zu verstehen. Die Methode der Neoanalyse unterscheidet sich im Grunde nicht von der Methode motivgeschichtlicher Untersuchungen in anderen Bereichen. Auch im Bereich der Homerforschung selbst sind viele Untersuchungen in der Art von Kakridis' Ansatz schon vor ihm vorgenommen worden, ohne daß der Begriff der Neoanalyse verwandt wurde. Wenn klar ist, daß es sich bei neoanalytischen Untersuchungen um motivgeschichtliche Untersuchungen handelt, ist gegen die Benutzung des Begriffs,neoanalytisch' nichts einzuwenden. Allerdings ist in Rechnung zu stellen, daß mit dem Zurücktreten des Interesses an der alten Analyse, w i e sie von Gelehrten wie v. Wilamowitz, Eduard Schwartz und Erich Bethe entwickelt wurde, der Begriff der Neoanalyse unklar zu werden droht, so daß besser von motivgeschichtlicher

Auflösung der bibliogr. Abkürzungen unten S. 455. '' Vgl. Kakridis, Researches, 7 f f . (zur „neoanalytical method"); Kulimann, Quellen, I f f . ; Α. Heubeck, Die homerische Frage (Erträge der Forschung, Bd. 27), Darmstadt 1974, 40ff.; Kullmann 1981, 5ff.; M.E. Clark, Neoanalysis: A Bibliographical Review, Classical World 79, 1986, 379 ff.

426

Wolfgang Kullmann

Forschung gesprochen w i r d . Z u z u g e b e n ist, daß d a m i t das ausdrückliche Eintreten f ü r die Einheit der Ilias nicht m e h r so deutlich w i r d . Von der , O r a l - P o e t r y - T h e o r i e ' her gesehen k a n n ein , M o t i v ' als ein episches B a u e l e m e n t betrachtet w e r d e n , das n o c h einen Grad w e n i g e r konventionell ist als d i e , T h e m e n ' i m Sinne v o n Α. B. Lord, die w i e d e r u m ein w e n i g e r konventionelles B a u e l e m e n t sind als die epischen Formeln. A u c h w e n n in der Epik einmal nicht auf einen common stock v o n ,Formeln u n d T h e m e n ' z u r ü c k g e g r i f f e n w i r d , w e r d e n gern M o t i v e aus a n d e r e m epischen Z u s a m m e n h a n g v e r w a n d t , o h n e daß es sich gleich u m ständig wiederholte M o t i v e handelt. Erst d u r c h ständige W i e d e r h o l u n g w ü r d e n diese Einzelmotive zu . T h e m e n ' . W e n n es sich u m speziellere M o t i v e handelt, sind j e d o c h der W i e d e r h o l b a r k e i t Grenzen gesetzt, u n d w i r k ö n n e n die M o t i v ü b e r n a h m e vielfach lokalisieren u n d rekonstruieren. Methodisch k o m m t der Forschung dabei häufig (vor allem in der Ilias) eine gewisse Starrheit der M o t i v ü b e r n a h m e zu Hilfe, die eine vollständige A d a p t a t i o n an den neuen Z u s a m m e n h a n g verhindert. Diese Starrheit ähnelt der Starrheit, m i t der auf schon bestehende F o r m e l n u n d T h e m e n z u r ü c k g e g r i f f e n w i r d . Sie h ä n g t zweifellos mit den Z w ä n g e n des ursprünglichen m ü n d l i c h e n Vortragsstils z u s a m m e n , der auf möglichst ö k o n o m i s c h e s ' Dichten angewiesen ist. Es bleiben also häufig „ r u d i m e n t ä r e " 2 ' Elemente der alten Fassung erhalten. W e g e n der g r ö ß e r e n K o m plexität des Ü b e r n o m m e n e n ist die Starrheit nicht so g r o ß wie bei F o r m e l n u n d typischen Szenen, so daß m a n v o n einer „halbstarren Ü b e r n a h m e " sprechen kann. 3 ' Ein solches dichterisches Vorgehen bedeutet natürlich, daß das ästhetische E m p f i n d e n der Z u h ö r e r zufriedengestellt war, w e n n die neue Sinnlinie e r k e n n b a r war, u n d daß m a n kein nahtloses Einschieifen in den neuen Z u s a m m e n h a n g verlangte. So ist es eine sehr wahrscheinliche A n n a h m e , daß das M o t i v des M a u e r k a m p f e s , so wie w i r es in den mittleren B ü c h e r n der Ilias finden, ursprünglich in den S a g e n z u s a m m e n h a n g der thebanischen Sage gehört. 4 ' In den Z u s a m m e n h a n g der Troiasage selbst k a n n es nicht g e h ö r e n ; denn Troias M a u e r ist niemals im offenen K a m p f b e z w u n g e n w o r d e n w i e die M a u e r u m das Lager der Achaier u n d die M a u e r n Thebens. 5 ' A u c h v o n einer bedeutsamen V e r w e n d u n g dieses M o t i v s außerhalb der troischen u n d thebanischen Sage ist nichts b e k a n n t . Vielfach läßt sich in der frühgriechischen Epik beobachten, daß nicht n u r Einzelmotive ü b e r n o m m e n w e r d e n , sondern daß aus demselben Z u s a m m e n h a n g m e h r e r e M o t i v e

2)

So Kakridis, Researches, 9. > Vgl. K u l l m a n n 1981, 23. 4 > Vgl. Reinhardt, Ilias, 205 f. 5 ' Ein K a m p f u m die M a u e r Troias ist auch als Konsequenz der Erfolglosigkeit der Gesandtschaft der Achaier nach Troia f ü r die Kyprien bezeugt (Proklos 39; Paragraphenzählung der Proklosexzerpte nach Kullmann, Quellen, 52ff.). D o c h ist damit w o h l n u r der Beginn der förmlichen Belagerung gemeint. 3

Ergebnisse der motivgeschichtlichen Forschung zu H o m e r (Neoanalyse)

427

assoziativ übernommen und unterschiedlichen Gegebenheiten adaptiert werden oder daß zusammenhängende Motivketten in neuem Zusammenhang in den homerischen Gedichten wiederkehren. Was die thebanische Sage anbetrifft, so läßt sich auf das Mauerschaumotiv im Buch Γ der Ilias verweisen, das in den Zusammenhang des 10. Kriegsjahres nur schlecht paßt, in thebanischem Sagenzusammenhang aber wegen des wechselseitigen Brudermordes zwischen Eteokles und Polyneikes, auf deren Position im Kampf es ankommt, fast unentbehrlich ist (vgl. Aischylos, Septem). In der Mauerschau hätten wir somit ein zweites Motiv aus vorhomerischer thebanischer Epik. Direkt zur Sprache kommen die Ereignisse um Theben bei der Musterung des Heeres durch Agamemnon im Buch Δ. Agamemnon hält Tydeus fur kampftüchtiger als Diomedes, während Sthenelos die Epigonen für besser als die Väter hält, die moralisch verderbt gewesen seien. Der Rückgriff auf die Fakten der Sage dient hier dazu, das Generationenproblem zur Diskussion zu stellen. Natürlich ergibt sich das methodische Problem, wie wir etwas über vorhomerische Motive wissen wollen, wenn die homerischen Epen unsere ältesten Quellen sind. Hier kommt uns aber der Umstand zugute, daß die wahrscheinlich erst nach 6 Ilias und Odyssee aufgezeichneten kyklischen Epen ', auch wenn sie uns nur in Umrissen greifbar sind, die Kenntnis von vielem alten Dichtungsgut vermitteln, das schon zur Zeit der homerischen Gedichte zumindest in mündlicher Dichtung vorgekommen sein muß. 7 ' Sie entfalteten offensichtlich kaum viel eigene dichterische Kreativität. Die bedeutenderen homerischen Epen 8) scheinen als erste mit

6

> Z u m Begriff des Kyklos vgl. A. R z a c h , R E X I 1922, Sp. 2347ff. s. v. Kyklos, und die Testimonia der F r a g m e n t s a m m l u n g e n . U n a b h ä n g i g v o n d e m Gesagten gilt, daß die e x t r e m e Spätdatierung dieser Epen allein a u f g r u n d ζ. T. äußerst problematischer linguistischer Kriterien durch Malcolm Davies, T h e Date of the Epic Cycle, Glotta 72, 1989, 89ff., sehr anfechtbar ist. Vgl. auch R ü d i g e r Schmitt, Z u r Sprache der kyklischen „ K y p r i a " , in: P r a t u m Saraviense, Festgabe P. Steinmetz (Palingenesia, Bd. 30), Stuttgart 1990, 11 ff., bes. 22f. 7 ' W i r haben keinerlei Hinweise, daß bei den Griechen (vor d e m A u f k o m m e n weiterer literarischer Gattungen) der heldische Stoff anders als im Epos oder in den i h m voraufgehenden Liedern übermittelt w u r d e , w e n n m a n v o n lokalen Erzählungen absieht. Er w a r anscheinend nicht Gegenstand einer mündlich in prosaischer F o r m überregional weitergetragenen ,Sage' im ursprünglichen Wortsinn, wie es sich m a n c h e R o m a n t i k e r vorgestellt haben. Es scheint, daß es f ü r eine solche, soziologisch betrachtet, in der weitgehend noch feudalen archaischen Gesellschaft keinen O r t gab. 8) Ein ähnliches Verhältnis zwischen kreativer u n d traditioneller Erzählweise wie bei den homerischen Epen u n d d e m Kyklos hat m a n z . B . in d e m Verhältnis v o n Rolandslied und Nibelungenlied einerseits zu chansons de geste u n d Kudrunlied andererseits festgestellt. Vgl. Alois Wolf, H . Gunkels Auffassung von der Verschriftlichung der Genesis im Licht mittelalterlicher Literarisierungsprobleme, Ugarit-Forschungen, Bd. 12, 1980, 370f.; W. K u l l m a n n , O r a l Poetry T h e o r y and Neoanalysis in H o m e r i c Research, Greek, R o m a n , and Byzantine Studies 25, 1984, 321 f.

428

Wolfgang Kullmann

Hilfe der Schrift verfaßt worden zu sein.9' Neben den mündlichen Vorformen der kyklischen Epen, insbesondere soweit sie den troischen Sagenkreis betreffen, kommen als Quellen für Motive, die in die homerischen Epen Eingang gefunden haben könnten, auch mündliche Dichtungen über eine Reihe anderer Sagenstoffe in Frage. Außer griechischen Quellen sind auch orientalische Quellen in Anschlag zu bringen, die schon vor den homerischen Epen in schriftlicher Form vorlagen. Die ersten wichtigen Anfänge der motivgeschichtlichen Forschungsrichtung finden sich schon bei Friedrich Gottlieb Welcker in der ersten Hälfte des 19 J a h r hunderts. Dieser sagt z.B.: „Die Ilias läßt die Hauptzüge des Gedichts von der Kypris und der Helena durchblicken, deutet auch auf manche der Begebenheiten nach Hektors Tod hin, und es versteht sich von selbst, daß die Sage und die Poesie von Ilions Zerstörung schon im Zusammenhang, nach dem Griechischen Anfang, Mitte und Ende, ausgebildet waren, ehe eine Ilias entstehen konnte .. ," 10 ' Bei Welcker finden wir schon in den Einzelheiten den Nachweis, daß die Ilias nicht nur in Ω 23—30 das Parisurteil berichtet, sondern allenthalben „als einen ihren Hörern allgemein gegenwärtigen Hintergrund" voraussetzt. 11 ' Diese These ist dann 1938 von Karl Reinhardt erneut entwickelt worden, der allerdings insofern hinter Welcker zurückfällt, als er sich das vorhomerische Parisurteil nur in Form einer Novelle, also nicht episch vorstellt. 12 ' Am Anfang des 20.Jahrhunderts vertrat Otto Gruppe die Auffassung, daß tragende Motive der kyklischen Aithiopis dort gegenüber den Parallelen der Ilias primär sind und daß die Aithiopis deshalb älter als die Ilias sein muß. Er dachte an die Thersitesepisode, die Kerenwägung, die Entrückung durch Schlaf und Tod, die Totenklage, die Thetisvorhersage und den Rückzugskampf mit Achills Leiche. 13 ' Etwas später plädierte Dietrich Mülder dafür, daß eine „Achilleis" auf die Erzählung vom Tod des Patroklos in der Ilias gewirkt hat, ohne dabei an die kyklische Aithiopis zu denken. 14 ' Archäologische

9> Entsprechendes gilt fur Rolandslied und Nibelungenlied. Siehe Alois Wolf, H. Gunkels Auffassung von der Verschriftlichung der Genesis im Licht mittelalterlicher Literarisierungsprobleme, Ugarit-Forschungen, Bd. 12, 1980, 370 f. 1,J) F. G. Welcker, Der epische Cyclus oder die Homerischen Dichter, Erster Theil Bonn (4835) 2 1865, 308f. Vgl. auch W. Kullmann, Friedrich Gottlieb Welcker über Homer und den Epischen Kyklos, in: Hermes Einzelschriften, H. 49: Friedrich Gottlieb Welcker. Werk und Wirkung, Stuttgart 1986, 105 ff. n > Ebendort, Zweiter Theil II Bonn 1849 ( = Rheinisches Museum, 1. Suppl. 2. Abt.) [21882], 114f. 12 ' K. Reinhardt, Das Parisurteil, in: Tradition und Geist, hrsg. v. Carl Becker, Göttingen 1960, 16ff. (ursprünglich in: Wissenschaft und Gegenwart, H. 11, Frankfurt 1938, und: Von Werken und Formen, Godesberg 1948, 14ff.). 13 ' O . Gruppe, Griechische Mythologie und Religionsgeschichte I, München 1906 (Handbuch der Altertumswissenschaft), 679ff. 14 > Die Ilias und ihre Quellen, Berlin 1910, 167 ff.

Ergebnisse der motivgeschichtlichen Forschung zu Horner (Neoanalyse) 15

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Ü b e r l e g u n g e n v o n C . R o b e r t (1878) ' u n d C . P . Meier (1883) ' u n d später v o n G. E. L u n g (1912) 17 ' u n d E. L ö w y (1917) 18 ' unterstützten G r u p p e s A n n a h m e n . Die Frage des Verhältnisses v o n Aithiopis u n d Ilias zueinander w u r d e beginnend in den dreißiger J a h r e n in Aufsätzen v o n J . T h . Kakridis 1 9 ' u n d dann in g r ö ß e r e n Arbeiten in den vierziger J a h r e n v o n Kakridis 2 0 ', H . Pestalozzi 2 1 ', W. Schadewaldt 2 2 ' u n d A. Heubeck 2 3 ' erneut unter d e m S t i c h w o r t der Neoanalyse p r o b l e matisiert. Die wichtigste Aussage w a r die M e m n o n i s - oder Aithiopishypothese, die besagt, daß die Schilderung des O p f e r t o d e s des Patroklos u n d der R ä c h u n g durch Achill an H e k t o r mit der V o r d e u t u n g auf Achills T o d der Schilderung des O p f e r t o d e s des Antilochos u n d seiner R ä c h u n g durch Achill an M e m n o n u n d der T ö t u n g Achills d u r c h Paris nachgebildet ist, die in der Aithiopis geschildert w a r e n . Ich selbst habe dann 1960 in meinen .Quellen der Ilias' die U n t e r s u c h u n g auf eine breitere Basis gestellt, i n d e m ich in Detailuntersuchungen darzulegen suchte, daß die Quellensituation der Ilias, die in bezug auf die Aithiopis besteht, auch in bezug zuiKyprien u n d Iliupersis (nicht in bezug auf die Kleine Ilias) ähnlich ist. Ich ging dabei d a v o n aus, daß die E n t w i c k l u n g der Troiasage im ganzen schon zur Zeit der Ilias w e i t g e h e n d abgeschlossen w a r u n d daß die Ilias den Eindruck erweckt, in den S a g e n z u s a m m e n h a n g der Troiasage h i n e i n e r f u n d e n zu sein. W ä h rend Schadewaldt u n d Pestalozzi die M e i n u n g vertraten, daß die Aithiopis selbst (bzw. nach Pestalozzi auch andere Teile des Kyklos) v o r h o m e r i s c h ist, habe ich d a f ü r plädiert, die Frage v o r l ä u f i g offenzuhalten, o b Kyprien, Aithiopis u n d Iliupersis selbst oder n u r (eventuell mündliche) V o r f o r m e n dieser Epen v o r der Ilias v o r h a n d e n waren. 2 4 ' H e u t e w i r d m a n sagen k ö n n e n , daß vieles d a f ü r spricht, daß 15

' Thanatos, 39. Winckelmannsprogramm, Berlin 1879, 5 [zurückgenommen in: Bild und Lied ( = Philol. Untersuchungen 5), Berlin 1881, 144 Anm. 46]. 16) Annali dell'Instituto di Corrispondenza Archeologica 55, 1883, 208 ff. 17) Memnon. Archäologische Studien zur Aithiopis, Diss. Bonn 1912, 48 ff. 18 ' Zur Aithiopis, NJbb 33, 1914, 81 ff. 19 > Vor allem Ά θ η ν α 42, 1930, 66 ff. 2C) 'Ομηρικές "Ερευνες, Athen 1944; ders., Researches. 21) H. Pestalozzi, Die Achilleis als Quelle der Ilias, Erlenbach-Zürich 1945. 22 ' Einblick in die Erfindung der Ilias: Ilias und Memnonis, in: Homers Welt, 155 ff. [ursprünglich in: Varia variorum, Festgabe Reinhardt, Münster-Köln 1952, 13ff.]. 23 ' A. Heubeck, Studien zur Struktur der Ilias, Gymnasium Fridericianum, Festschrift zur Feier des 200jährigen Bestehens des Humanistischen Gymnasiums Erlangen, Erlangen 1950,17 ff. (auch in: Latacz [Hrsg.], Homer. Die Dichtung und ihre Deutung, Darmstadt 1991, 450ff.). 24 ' Kullmann, Quellen, 362: „Es kann nicht unsere Aufgabe sein, eine Entscheidung in einem Punkte herbeizufuhren, in dem nach unserem Material keine Entscheidung gefällt werden kann. Die Divergenz der Anschauungen in der Homerischen Frage muß uns davor bewahren, in allgemeinen Homerfragen apodiktische Urteile zu fällen. So sei also ausdrücklich festgestellt, daß ich mich nicht für eine dieser sechs [seil, von mir dargelegten möglichen] Folgerungen entscheide." Die Darstellung von Malcolm Davies, The Epic Cycle, Bristol 1989, 4 (mit Anm. 15), und anderen, ich hätte in jedem Einzelfall die Priorität des Epischen Kyklos angenommen, ist in jeder Hinsicht unkorrekt.

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die genannten kyklischen Epen nachhomerische Verschriftlichungen von epischer Dichtung sind, die zur Zeit Homers schon mündlich existierte. Was die Kleine Ilias anbetrifft, habe ich es 1960 für wahrscheinlich erachtet, daß sie nachiliadisch ist und Motivlinien der Ilias fortsetzt. In neuerer Zeit ist die motivgeschichtliche Forschung vor allem durch den Nachweis orientalischer Einflüsse bereichert worden. 25 '

II. Alte Motive in der Ilias 1. Die Einwirkung altorientalischer Erzählmotive auf die Ilias Die Ilias setzt in groben Zügen das bei Hesiod zu findende Bild der Abfolge der drei Göttergenerationen Uranos, Kronos, Zeus voraus, das in den in hethitischen Texten gefundenen churritischen Mythen von Anu, Kumarbi und dem Wettergott Teschub seine nahe Parallele26' hat und Berührungen mit dem babylonischen Enuma-Elisch-Epos aufweist 27 ' (wobei diese Texte ihrerseits wieder auf ältere orientalische Texte zurückgehen). Besonders das Motiv der Bedrohung des Zeus durch seinen Vater Kronos und die Titanen wird als Hintergrund der Schilderung der olympischen Familie in der Ilias benutzt. In seinem Groll über die Unbotmäßigkeit Heras versteigt sich Zeus in Θ 470 ff. zu dem Ausspruch, daß es ihm sogar egal wäre, wenn Hera sich im Tartaros bei dem Vater Kronos und Iapetos (d. h. seinen dortigen Widersachern) herumtriebe. Möglicherweise hat überhaupt die doppelte homerische Bühne mit Götter- und Menschenhandlung aus orientalischer Epik ihre entscheidenden Anstöße empfangen. In Ξ 198 ff. erzählt Hera der Aphrodite eine Lügengeschichte, um in den Besitz des Liebesgürtels der Aphrodite zu gelangen, mit dessen Hilfe sie Zeus betören und vom Kampf ablenken will. Nach dieser Geschichte leben Okeanos und Tethys, die sie ja bei der Verfolgung durch Kronos aufgenommen und aufgezogen hatten, seit längerem im Ehestreit; diesen Streit wolle sie, Hera, schlichten. Der

25)

Weiteres Material zur Forschungsgeschichte in: Kullmann, Quellen, 18 ff., und Kullmann 1981, 6 ff. 26) Yg] j-j g Güterbock, Kumarbi. Mythen v o m churritischen Kronos aus den hethitischen Fragmenten zusammengestellt, übersetzt und erklärt, Z ü r i c h - N e w York 1946; H. Otten, Mythen v o m Gotte Kumarbi. Neue Fragmente, Berlin 1950; A. Lesky, Gesammelte Schriften, Bern-München 1966, 356ff., 3 7 2 f f , 379ff. (ursprünglich: 1950, 1954, 1955); A. Heubeck, Gymnasium 62, 1955, 508 ff. ( = Hesiod. Wege der Forschung 44, hrsg. v. E. Heitsch, Darmstadt 1966, 545 ff); G. Steiner, Der Sukzessionsmythos in Hesiods ,Theogonie' und ihren orientalischen Parallelen, Diss. Hamburg 1959; M.L. West, Hesiod. Theogony, ed. with Prolegomena and Comm., Oxford 1966, 20ff. 27) y g ] Q Steiner, Der Sukzessionsmythos in Hesiods ,Theogonie' und ihren orientalischen Parallelen, Diss. Hamburg 1959; P. Walcot, Hesiod and the Near East, Cardiff 1966, 27 ff.

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Inhalt der Lügengeschichte steht inhaltlich in engster Beziehung zum Anfang des babylonischen kosmogonischen Epos Enuma Elisch.28' Dieses ließ die Welt aus der Vereinigung von Apsu, dem Süßwasserozean, und Tiamat, dem Salzmeer, entstehen. 29 ' Hinter Tiamat verbirgt sich auch sprachlich Tethys. 30 ' Aus einer tatsächlichen kosmogonischen Göttergeschichte wird eine erfundene, die die beabsichtigte Διός άπάτη mit List ermöglichen soll. Ein kleiner Rest des kosmogonischen Elements lebt in der Διός άπάτη selbst weiter, wenn sich das Götterpaar Zeus-Hera auf blumiger Wiese, umhüllt von einer goldenen Wolke, in Liebe vereint. Auch die in der Ilias referierten oder angedeuteten Geschichten von Revolten gegen Zeus (vgl. Φ 441 ff. und T-Schol. zu Φ 444 [V 228 Erbse]; Schol. Pind. Ol. VIII 41 b; Tzetzes Schol. Lyc. 34, wonach Poseidon und Apollon Zeus fesseln wollten, sowie A 394ff., 503f., wonach Hera, Poseidon und Athene revoltierten) erscheinen als Fortbildung der Kämpfe der Himmelsdynastien, wie sie aus dem Orient übernommen sind und besonders deutlich bei Hesiod vorkommen. Bezeichnend ist, daß der Hekatoncheir Briareos, der nach A 401 ff. von Thetis zur Befreiung des Zeus alarmiert wurde, nur bei den Göttern so heißt und mit Aigaion gleichgesetzt wird, der eine Gestalt der dem Eumelos zugeschriebenen Titanomachie war (fr. 2 Allen = 3 Bernabe, Davies), die sicher vorhomerisches Sagengut bewahrte. 31 ' Dort stand er mit den Titanen zusammen, die ja ihrerseits einen orientalischen Namen tragen. Seit langem sind die Ähnlichkeiten bestimmter Götter-Menschen-Handlungen der Ilias zu entsprechenden Abschnitten des Gilgameschepos gesehen worden. Gilgameschs und Enkidus Auseinandersetzung mit Ischtar (Taf. VI 80 ff.) haben in Diomedes' Kampf mit Aphrodite eine nahe Parallele. 32 ' Die Beschwerde der Ischtar bei Anu über ihre Zurückweisung durch Gilgamesch ähnelt der Beschwerde der Aphrodite über Diomedes bei Zeus (Taf. VI 84ff.). 33 ' Die Hilfe der Göttin Siduri, der Sabit (Wirtin), bzw. der Sabit, der Kurtisane, für Gilgamesch (Taf. X) entspricht der Athenes (oder Kalypsos oder Kirkes) für Odysseus. 34 '

2H

> Vgl. T.B.L. Webster, From Mycenae to Homer, London 1958, 86; P. Walcot, Hesiod and the Near East, Cardiff 1966, 34; Burkert 1984, 88 ff. 29> Taf. I 1 ff. (R. Labat/A. Caquot/M. Sznycer/M. Vieyra, Les religions du Proche-Orient asiatique, Paris 1970 [Fayard/Denoöl], 38 ff.). 30) Vgl. О. Szemerenyi, The origins of the Greek lexicon: Ex Oriente Lux, JHS 94, 1974, 150; Burkert 1984, 89. 31 ' Vgl. Kulimann, Wirken, 14fT. 32 > Vgl. Kullmann, Wirken, 148 f. Anm. 1. 33) Vgl. Burkert 1984, 92f., der auch darauf aufmerksam macht, daß Ischtars Mutter den Namen des Vaters mit Femininendung trägt: Anut zu Anu wie in der Ilias Διώνη zu Δι- (Zeus). 34) Vgl. Kullmann, Wirken, 149 Anm.; R . Labat/A. Caquot/M. Sznycer/M. Vieyra, Les religions du Proche-Orient asiatique, Paris 1970 [Fayard/Denoel], 202 Anm. 2.

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Einiges spricht dafür, daß die Ilias an einigen anderen Stellen auf einen letztlich aus dem Orient stammenden Sagenkomplex anspielt, wonach die Erde durch Krieg von der Last der Menschen erleichtert werden soll und wonach der Krieg zur Auslöschung einer ganzen Generation, des Geschlechtes der Halbgötter, fuhrt. 35 ) So wird im Iliasproömium gesagt, daß der Zorn Achills zum Tod von vielen erlauchten Seelen der achaiischen Helden führte, „worin sich der Plan des Zeus erfüllte" (A 5 b [ = Kyprien, fr. 1, 7 b Bethe, Bernabe, Davies]). Vor allem aber spricht der Dichter in einem in der Ilias seltenen Rückblick auf den ganzen Krieg davon, daß die Flüsse in der Troas sintflutartig zum Grab für das Geschlecht der Halbgötter (ημίθεοι) wurden, als Poseidon und Apollon nach dem Fall Troias die Achaiermauer zerstörten (M 13ff.). Dies berührt sich mit Hesiods Erga 156ff. Dort ist davon die Rede, daß der thebanische und der troische Krieg das von Zeus geschaffene vierte Geschlecht der Heroen bzw. Halbgötter dahinraffte. Ähnlich erzählten die hesiodeischen Kataloge in fr. 204, 96 ff. M.-W., daß Zeus anläßlich der Geburt der Hermione der engen Verbindung von Menschen und Göttern durch den troischen Krieg ein Ende zu machen beschloß. Hinzuzunehmen sind der Anfang der Kyprien, wo erzählt wird, daß Zeus aus Mitleid mit der Erde den troischen Krieg erregte, und das Scholion zu A 5, das davon erzählt, wie Momos Zeus davon abriet, die Menschen durch Unwetter und Überschwemmungen zu vernichten, und statt dessen die Hochzeit der Thetis mit einem Sterblichen und die Zeugung einer schönen Tochter empfahl, woraus als Konsequenz dann der troische Krieg entstand. 36 ' Die inhaltlich nächste Parallele aus dem Orient ist der Anhang zum Mahabharataepos, das Harivamsaepos, in dem die von den Armeen und Burgen beschwerte Erde den Gott Krischna um Hilfe bittet und daraufhin Krischna viele Könige und Heere durch Krieg vernichten läßt. 37 ' Die lokal nächste Parallele bietet jetzt das Atrahasisepos, wo Seuche, Dürre und Sintflut der Bedrängnis abhelfen sollen, und vielleicht das Enuma-Elisch-Epos, wo ein Gott M u m m u als Ratgeber den fatalen Plan des Gottes Apsu gegen dessen Gattin Tiamat unterstützt, die jungen Götterkinder wieder zu vernichten, was dann zur Revolte durch Ea führt. M u m m u als böser Ratgeber hat also mit Momos eine gewisse Ähnlichkeit. 38 ' Hinzu kommen die Sintflutsagen im Gilgameschepos, in der Genesis und in ägyptischen Quellen. 39 ' In der Ilias wird, so scheint es, aus dem Motiv des Untergangs des Heroengeschlechts das ,Lebensgefiihl einer verlorenen Generation', wenn Odysseus von sich und seinen Kriegskameraden als von denen spricht, „denen es Zeus gegeben hat, von der Jugend bis ins Alter schlimme Kriege

35>

Vgl. Kulimann 1955, 167ff.; ders., Zur Διός βουλή des Iliasproömiums, Philologus 100, 1956, 132 f.; T B . L . Webster, From Mycenae to Homer, London 1958, 86. 36 ' Kullmann 1955, 179ff. Die Herkunft des Scholieninhalts zu A 5 ist unbekannt. 37 > Vgl. Kullmann 1955, 186. 38 > Vgl. Burkert 1984, 97. 39 > Vgl. Kullmann 1955, 185 f.

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abzuwickeln, auf daß w i r alle z u g r u n d e g e h e n " (Ξ 85 ff.). ' D i e ganze tragische Weltsicht der Ilias scheint aus diesem M o t i v Impulse erhalten zu haben. 4 1 ' Im B u c h Ζ der Ilias haben w i r eine K o m b i n a t i o n zweier orientalischer M o t i v e . Proitos' Gemahlin Anteia v e r l e u m d e t Bellerophontes, weil er auf ihr B e g e h r e n nicht einging, er habe ihr nachgestellt; Proitos schickt Bellerophontes nach Lykien zu seinem Schwiegervater mit einer Tafel m i t vielen „ s c h l i m m e n Z e i c h e n " , der ihn daraufhin mit gefahrvollen A u f g a b e n betraut (Z 155ff.). Hier sind das aus Moses 1,39 bekannte P o t i p h a r m o t i v u n d das in Samuel 2,11 v o r k o m m e n d e M o t i v des Uriasbriefes kombiniert 4 2 ', v o n denen zumindest das erstere eine g r o ß e W i r k u n g in der an H o m e r anschließenden Weltliteratur gehabt hat. In der N a c h e r z ä h lung d u r c h die Ilias ist die Ethisierung der M o t i v e h e r v o r z u h e b e n . V e r l e u m d u n g u n d Brief sind Ursachen f u r das A u f u n d A b der Geschlechter (Z 146 ff.), f ü r die Existenz der Glaukiden in Lykien.

2. Die E i n w i r k u n g ,anteiliadischer' Erzählmotive auf die Ilias43' U n t e r anteiliadischen Erzählungen w e r d e n hier Erzählungen v o n Ereignissen verstanden, die i m R a h m e n des troischen Sagenstoffes sagenchronologisch den in der Ilias geschilderten Ereignissen v o r a n g e h e n . Ein zentrales M o t i v ist das Parisurteil. Dessen v o r h o m e r i s c h e r C h a r a k t e r u n d seine E i n w i r k u n g auf die Ilias w u r d e n schon v o n F. G. Welcker e r k a n n t u n d in neuerer Zeit v o n K. R e i n h a r d t aufgewiesen. 4 4 ' Das Parisurteil w i r d nicht n u r in Ω 23—30 direkt e r w ä h n t , sondern b e s t i m m t die ganze P a r t e i n a h m e der G ö t t e r in der Ilias45': A t h e n e u n d H e r a stehen auf Seiten der Achaier, A p h r o d i t e steht a u f s e i t e n der Troer. Δ 5 ff. versucht Zeus, „mit spottenden W o r t e n Hera zu reizen". Er bezeichnet Hera u n d A t h e n e als „zwei Helfer des Menelaos", stellt ihnen A p h r o d i t e als Beschützerin des Paris gegenüber u n d fragt Hera, n a c h d e m sie auf ihre M ü h e bei der Mobilisierung der Achaier hingewiesen hat, scheinheilig, was ihr denn die Troer so Schlimmes angetan hätten. Die gereizte u n d maßlose R e a k t i o n der Hera darauf (sie will in i h r e m H a ß auf Troia sogar die ihr liebsten Kultstätten in Argos, Sparta, M y k e n e

4

"> Vgl. W. Kullmann, Zur Διός βουλή des Iliasproömiums, Philologus 100, 1956, 132 f. ) Natürlich ist es eine allein dem Iliasdichter zuzuschreibende Verinnerlichung, wenn in dem Epos bei Achill und Hektor und anderen so stark auf die ganz persönliche, nur den Helden und seine Familie betreffende Tragik abgehoben wird. Über die Gründe dafür soll demnächst an anderer Stelle gesprochen werden. 42> Vgl. unter anderem A. Heubeck, Schrift, in: Archaeologia Homerica, Band III, Kapitel X, Göttingen 1979,133 ff. 43) In den folgenden beiden Abschnitten wird nur eine Auswahl des Materials gegeben. Näheres in Kullmann, Quellen; ders., 1981. 44 > Siehe oben Anm. 11 f. 45 > Vgl. Kullmann, Quellen, 236 ff. 41

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opfern, wenn nur Troia zerstört werde: Δ 51 ff.) zeigt deutlich, daß verletzte weibliche Eitelkeit im Spiel ist, wie sie nur erklärlich ist, wenn das Parisurteil als bekannt vorausgesetzt ist. Die Kehrseite des Grolls gegen Troia ist Athenes und Heras Spott gegen die von Diomedes verwundete Aphrodite. Athene mutmaßt ironisch, Aphrodite habe sich sicher die Hand verletzt, als sie eine Achaierin streichelte. Die unaufrichtige, scheinheilige Freundlichkeit, mit der Hera mit Hilfe einer Lügengeschichte sich von Aphrodite den Liebesgürtel für die Διός απάτη ausleiht (sie redet die ehemalige Konkurrentin mit „liebes Kind" an), bestätigt, daß die durch das Parisurteil geschaffene Grundsituation das ganze Epos bestimmt. Das Parisurteil wurde in dem Epos der Kyprien erzählt (Proklos 346); fr. 4. 5 Bethe, Bernabe, Davies). Wenn auch einiges dafür spricht, daß sein Inhalt erst nach der Ilias in schriftliche Form gegossen wurde, so muß das Parisurteil doch zumindest in mündlicher Epik schon vor der Ilias behandelt worden sein. Ähnliches läßt sich für einen großen Teil des weiteren Inhalts der Kyprien nachweisen. Auf eine Reihe von Fakten wird in der Ilias zwar angespielt, diese haben aber nicht motivisch auf die Ilias gewirkt: die Hochzeit des Peleus (Proklos 2)47), der Schiffsbau für Paris (Proklos 4, Apollod. Epit. 3, 2): Ε 59 ff., vielleicht (?) das Orakel des Helenos (Proklos 5): Ε 63f., Helenas Raub durch Theseus und ihre Befreiung durch die Dioskuren (fr. 9 С 2 Bethe = 1 3 Bernabe = 1 2 Davies): Г 143 f. Die Entführung der Helena (Proklos 11) wird nicht nur ständig in der Ilias erwähnt 48 ', sondern auch motivisch verwertet. Aphrodites Aufforderung an Helena, sich in die Kammer zu Paris zu begeben (Г 383ff.), ist sozusagen die symbolische Wiederholung der Zusammenfuhrung mit ihm bei der Abfahrt von Sparta, so wie sie die Kyprien, sicher nach alter vorhomerischer Sagentradition, erzählten. 49 ' Die Ilias berücksichtigt auch den Familienhintergrund der Helena in derselben Weise, wie über ihn die Kyprien berichteten (Proklos 15. 16, fr. 6 Bethe, Davies = 8 Bernabe). Г 236 ff. sagt Helena bei der Mauerschau, sie könne ihre beiden Brüder, Kastor und Polydeukes, nicht sehen, und der Dichter fugt hinzu, daß sie schon tot waren. Dadurch wird das, was die Tradition an Faktischem bot, psychologisiert. Helenas Entfremdung von ihrer Familie wird durch die Unkenntnis über den Tod der Brüder deutlich. Zwar berichtet die Ilias nichts davon, daß Kastor sterblich, Polydeukes aber unsterblich war und Zeus den

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> Paragraphenzählung der Proklosexzerpte nach Kullmann, Quellen, 52 ff. Vgl. Kullmann, Quellen, 232 ff. Auf eine wichtige Motivparallele hat jedoch Phanis Th. Kakridis in dem Aufsatz ,Achills Rüstung', Hermes 89,1961, 288ff., hingewiesen. Die Rüstung, die Hephaistos im Σ herstellt, ist ein Gegenstück zu der Rüstung, die die Götter dem Peleus nach Ρ 194 ff. Σ 84 f. zur Hochzeit schenkten. Die alte Rüstung hatte Hektor erbeutet. Achill nimmt sie ihm X 368 wieder ab, ohne daß erwähnt wird, daß er damit seine erste ,Götterrüstung' wiedergewinnt. In den Postiliaca ist nur noch von einer Achillrüstung die Rede. 48 > Vgl. Kullmann, Quellen, 248 ff. 49 > Vgl. Kullmann, Wirken, 113f.; ders., Quellen, 250f. 47)

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B r ü d e r n , u m sie nicht zu trennen, v o n einem Tag z u m andern abwechselnd Tod u n d Leben gab (so auch die Odyssee λ 300ff.). A b e r dies h ä n g t m i t der strikten Tendenz der Ilias z u s a m m e n , den Tod als etwas Unabänderliches zu betrachten. Ein Weiterleben v o n H e r o e n durch G n a d e der G ö t t e r k e n n t die Ilias nicht. U n k l a r ist, o b u n d in welcher Weise in den Kyprien Proklos 19. 20 u n d fr. 12 (Bethe = 17 B e r n a b e = 15 Davies; vgl. fr. 16 Bernabe) miteinander z u s a m m e n h i n g e n . Es ist a u f g r u n d der E m p f e h l u n g (seil. Nestors) an Menelaos, sich mit Wein zu trösten, die V e r m u t u n g möglich, daß die Kyprien den N e s t o r b e c h e r k a n n t e n u n d in Nestors exkursweiser Erzählung eine Parallele zu Nestors Erzählung in Λ 670 ff. boten. Falls dies richtig w ä r e u n d beides schon aus v o r h o m e r i s c h e r Tradition stammte, w ü r d e die Ilias auch in diesem P u n k t motivisch Stoff v e r w e r t e n , der in den Kyprien dargestellt war. 5 0 ' Die S a m m l u n g des Heeres d u r c h die Atriden u n d N e s t o r (Proklos 21) w i r d m e h r f a c h in der Ilias berührt 5 1 ', nicht j e d o c h die A n w e r b u n g des Odysseus (Proklos 22), w o z u n u r В 260, Δ 354 u n d ω 102ff. zu vergleichen w ä r e n . Die Z u s a m m e n k u n f t in Aulis u n d das S p a t z e n w u n d e r (Proklos 23, A p o l l o d . Epit. 3,16) spielen in der Ilias eine g r o ß e Rolle. D e r in die Ilias e i n g e f ü g t e Schiffskatalog dient dazu, die Aufmarschsituation des achaiischen Heeres zu v e r g e g e n w ä r t i g e n , das auf A g a m e m n o n s Veranlassung versuchen soll, o h n e Achill Troia zu n e h m e n . Er ist offensichtlich als Darstellung der S a m m l u n g in Aulis konzipiert u n d mit oberflächlichen R e t o u c h e n — halbstarr — in die Ilias eingepaßt. Die Assoziation an die Situation in Aulis ist vermutlich beabsichtigt. D a f ü r spricht auch das v o r h e r (B 286 ff.) ausführlich referierte Spatzenorakel, das auf das Ereignis der S a m m l u n g zurückgreift. 5 2 ' D e r Schiffskatalog g e h ö r t zu j e n e n exponierenden Szenen der ersten Iliasbücher, die dazu beitragen, aus der Darstellung des Z o r n s des Achilleus eine ganze Ilias zu m a c h e n , in ihr den ganzen K a m p f u m Ilion zu spiegeln. Sehr umstritten ist, o b die Ilias den g r o ß e n K o m p l e x troischer Sagen kennt, der mit der irrtümlichen Z e r s t ö r u n g Teuthraniens statt Troias u n d der V e r w u n d u n g des Telephos, d e m Skyrosabenteuer Achills m i t der Heirat der Deidameia u n d der Z e u g u n g des N e o p t o l e m o s , der zweiten S a m m l u n g in Aulis, der Beleidigung der Artemis durch A g a m e m n o n u n d der O p f e r u n g der Iphigenie z u s a m m e n h ä n g t , Geschichten, die in den Kyprien ausfuhrlich behandelt w a r e n (Proklos 24—31). W e n n hierfür die Kenntnis plädiert w i r d , so g r ü n d e t sich diese Ansicht v o r allem auf f o l g e n d e Daten: Achill spricht Τ 326 f. d a v o n , daß i h m auf Skyros, das er

50 ' In diesem Fall k ö n n t e sich auch der Nestorbecher auf Ischia auf vorhomerische Sage beziehen. Vgl. Kullmann, Quellen, 257 A n m . 2. 51 > Vgl. Kullmann, Quellen, 258 ff. 5Z) D a ß die Kyprien hier nicht der Ilias folgen, betont Malcolm Davies, P r o l e g o m e n a and Paralegomena to a N e w Edition (with C o m m e n t a r y ) of the Fragments of Early Greek Epic, N G A 1986, N r . 2, 108, im Anschluß an R . Wagner, Proklos und Apollodoros, N J b b 145, 1892, 248. Vgl. auch K u l l m a n n , Quellen, 199f., 262f.

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nach I 666ff. eingenommen hat (wann?), ein Sohn Neoptolemos heranwächst; Helena redet von 20 Jahren, seit sie von Hause fortging (Ω 765 f.); und als der Seher Kalchas Apollons Zorn auf den Raub der Chryseis, der Beutefrau Agamemnons, zurückfuhrt, herrscht Agamemnon ihn an: „Du Unglücksseher, du hast mir noch niemals etwas Vorteilhaftes gesagt!" (A 106). Ein solches ,noch nie' ist von homerischen Zeiten bis heute übertreibende Formulierung für ,auch früher einmal nicht'. 53 ) Und dieses ,früher' kann nur die Weissagung wegen der Opferung Iphigenies gewesen sein, nicht zum Beispiel das relativ günstige Spatzenorakel. Von weiteren Orakeln zu Beginn des Krieges wissen wir aber nichts. Im Einklang damit heißt es in A 70 ff., Kalchas habe den Schiffen der Achaier den Weg nach Ilion gewiesen. Die Prophezeiung bezüglich Iphigenies Opferung muß also die ,Tat' des Kalchas sein, derentwegen der Seher in der Ilias wiederkehrt. Das Spatzenorakel reicht zu seiner .Legitimierung' als Sagengestalt nicht aus. Wiederum ist die Umsetzung des Faktischen ins Psychologische bemerkenswert. Agamemnon wird aus einem Feldherrn, der seine Tochter opfern muß und schließlich bei seiner Rückkehr in die Heimat ermordet wird, zu einem Menschen, der vom Unglück verfolgt ist und bei dem man schon das schlimme Ende voraussehen kann. Es gibt auch noch weitere Indizien für Kenntnis dieses Sagenkomplexes beim Iliasdichter: Die Ilias nennt zwar den Herakliden Telephos nicht, kennt aber eine Reihe anderer Herakliden in relativer Nachbarschaft (Dodekanes): Tlepolemos, Nireus, Pheidippos und Antiphos. 54 ' Die Odyssee erwähnt den Telephiden Eurypylos als Helfer der Troer (λ 519ff.); dessen Hilfe kann nur im Zusammenhang mit den Ereignissen der Teuthranienexpedition gedeutet werden. Freilich stellt sich die Frage, warum die Ilias diese Ereignisse übergeht. Dies kann nur damit zusammenhängen, daß die Opferung und wunderbare Entrückung der Iphigenie durch Artemis zu den Taurern zur relativ .aufgeklärten' Religion des Iliasdichters nicht paßte. Ilias und Kyprien stimmen darin überein, daß die Achaier bei der endgültigen Hinfahrt nach Troia auf den Inseln Tenedos und Lemnos Station machten (Λ 624ff., В 721 ff., Θ 229ff., vgl. 9 75 ff., I 346f.; Proklos 32-34). Man hat vermutet, daß die Menis Achills nach dem Muster des Streits gestaltet wurde, der auf Tenedos zwischen Achill und Agamemnon entstand.55) Polites' Meldung vom Heranrücken der Achaier В 791 ff. erinnert mit ihrer Feststellung, ein hartnäckiger Krieg habe sich erhoben, an die Landung der Achaier in der Troas (vgl. Proklos

53)

Vgl. W. Kulimann, Vergangenheit und Zukunft in der Ilias, Poetica 2, 1968, 25 mit Anm.

29. 54

> Vgl. Kulimann, Quellen, 106 ff. ' So in dem wichtigen, leider nicht in die Kleinen Schriften aufgenommenen Aufsatz: Studien zur Struktur der Ilias, Gymnasium Fridericianum, Festschrift zur Feier des 200jährigen Bestehens des Humanistischen Gymnasiums Erlangen, Erlangen 1950, 33 f. (auch in: Latacz [Hrsg.], Homer. Die Dichtung und ihre Deutung, Darmstadt 1991, 450ff.). 55

Ergebnisse der motivgeschichtlichen Forschung zu Homer (Neoanalyse)

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35 u n d 36 [Protesilaos' Tod, in der Ilias in В 698, N 681, О 705, Π 286 erwähnt]) u n d repräsentiert so innerhalb unserer Ilias die Kriegsanfangssituation. Eine Art symbolischer W i e d e r h o l u n g der Gesandtschaft der Achaier nach Troia z u m Z w e c k e der friedlichen Beilegung des Streits (vgl. Γ 205 ff., Proklos 38, Apollod. Epit. 3, 28. 29, k o r i n t h . Astarita-Krater 5 6 ') ist der Z w e i k a m p f zwischen Paris u n d Menelaos in Γ 58ff.; die Situation der Gesandtschaft klingt in Ζ 297ff. u n d Η 345 ff. nach: der A t h e n e t e m p e l w a r Schauplatz des Geschehens, T h e a n o als Athenepriesterin g e h ö r t dazu, A n t e n o r s R e d e im Η wiederholt seinen Vorschlag v o n damals. M u s t e r u n g des Heeres u n d K ä m p f e in ΔΕΖ, spiegeln ihrerseits die Kriegsanfangssituation. Motivisch scheint die v o n Achill niedergeschlagene M e u terei der Achaier in den Kyprien (Proklos 42) gegenüber der m i ß g l ü c k t e n u n d durch Defätismus gekennzeichneten Peira das ältere. 5 7 ' A u c h der tatsächliche R a u b der H e r d e n des Aineias (Proklos 43) scheint stofflich p r i m ä r gegenüber den Anspielungen, die sich in Y 89 ff. 187 ff. darauf finden. Die Beiläufigkeit, mit der der Dichter den Priamos den T o d der Söhne M e s t o r u n d Troilos e r w ä h n e n läßt, spricht dafür, daß der Tod der beiden der v o r h o m e r i s c h e n Sage a n g e h ö r t (vgl. Proklos 45; Apollod. Epit. 3, 32). U m s t r i t t e n ist die Frage, o b das, was die Kyprien ü b e r die Z e r s t ö r u n g v o n Lyrnessos u n d Pedasos u n d der u m l i e g e n d e n Städte erzählten, alte Sage ist oder aus der Ilias herausgesponnen w u r d e (Proklos 44. 47). G e w i ß steht i m Referat des Proklos die Verteilung v o n Briseis u n d Chryseis auf Achill u n d A g a m e m n o n so pointiert, daß eine Beziehung zur Ilias vorzuliegen scheint. A b e r diese Ansicht kann auf das K o n t o der Referate des Proklos gehen, zumal nach fr. 18 (Bethe = 27 B e r n a b e = 21 Davies) Briseis in den Kyprien nicht wie in der Ilias in Lyrnessos, sondern in Pedasos erbeutet w u r d e . N i m m t m a n an, daß die Chryseis- u n d Briseisgeschichten der Ilias freie E r f i n d u n g ihres Dichters sind, k ö n n e n sie in v o r h o m e r i s c h e r Sage keine g r o ß e Rolle gespielt haben; aber sie k ö n n t e n als P a r a d i g m e n v o n Frauenschicksalen kurz g e n a n n t w o r d e n sein. D a f ü r k ö n n t e sprechen, daß die beiden Frauen auch in der Ilias n u r N a m e n tragen, die v o n ihren Vätern h e r g e n o m m e n sind. Es gibt auch die Möglichkeit, daß die Ilias nicht n u r in ihren R ü c k v e r w e i s e n auf die E r o b e r u n g v o n Lyrnessos, Pedasos u n d T h e b e n , sondern auch in ihrer eigenen Chryseis- u n d Briseishandlung alten Q u e l len folgt. Die Frage, o b die Ilias völlig frei in die bestehende troische Sage h i n e i n e r f u n d e n w u r d e oder die A u s w e i t u n g eines schon bestehenden punktuellen Kerns darstellt, k a n n nicht mit Sicherheit b e a n t w o r t e t w e r d e n .

56>

Vgl. Kullmann, Quellen, 275 ff.; J.D. Beazley, Ελένης άπαίτησις, Proceedings of the British Academy 43, 1958, 233 ff.; Mark I. Davies, The Reclamation of Helen, in: Antike Kunst 20, 1977, 73 ff. 57) Vgl. W. Kullmann, Die Probe des Achaierheeres in der Ilias, MusHelv 12, 1955, 253ff. (auch in: Latacz [Hrsg.], Homer [s. Anm. 55], 119ff.); Kullmann, Quellen, 279ff.

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Entgegen dem ersten Eindruck ist der Verkauf des Lykaon nach Lemnos (Proklos 46) möglicherweise ein vorhomerisches Motiv, das in Γ 332 f. benutzt wird. Weil Paris offenbar aus Eitelkeit einen Panzer nicht zur Hand hat (Γ 17), zieht er für den Zweikampf mit Menelaos den seines Bruders Lykaon (von dem der Dichter noch nichts berichtet hatte) über. Diese Erzählweise erklärt sich am besten, wenn sowohl Lykaon als dichterische Figur als auch seine Abwesenheit auf Lemnos dem Hörer des Epos aus der Tradition bekannt waren. Vom Tod des Palamedes, einem herausragenden Ereignis in der Sage vom Kriegsanfang, der in den Kyprien offensichtlich ausfuhrlich erzählt wurde (Proklos 48), berichtet die Ilias nichts. Man möchte vermuten, daß dies wieder mit bewußter Selektion der Sage durch den Iliasdichter zusammenhängt. Das rohe Verhalten des Odysseus bei diesem Vorgang paßte nicht zum Ethos der homerischen Erzählung. Rätselhaft sind die Angaben bei Proklos zum Schluß der Kyprien. Dort ist von einer Διός βουλή die Rede, die das Ziel hatte, die Troer dadurch zu erleichtern, daß Achill vom Mitkämpfen ferngehalten wird (Proklos 49). In der Ilias ist es anders. Dort enthält sich Achill aus Zorn, bevor Zeus davon weiß, des Kampfes, was die Erleichterung der Troer zwangsläufig zur Folge hat. Der Plan des Zeus wäre plausibel, wenn er als Teilplan zum Gesamtplan des Kyprienanfangs verstehbar wäre, also als Mittel, die Dezimierung der Menschen zu befördern. Die von Zeus (gemäß Proklos 49) geplante Kampfenthaltung Achills könnte auch die in der Aithiopis geschilderte sein, wo Achill aufgrund der Vorhersagen der Thetis den Kampf mit Memnon zunächst scheut. Desgleichen könnte der Katalog der troischen Bundesgenossen am Schluß der Kyprien (Proklos 50) sich teilweise oder ausschließlich auf Gestalten wie Penthesileia, Memnon oder Eurypylos beziehen, die in die postiliadischen Sagenzusammenhänge gehören. Sicherheit scheint vorerst nicht zu gewinnen zu sein. Einfluß der Ilias auf die Kyprien läßt sich nicht ausschließen, aber auch nicht mit Sicherheit nachweisen, auch wenn viel dafür spricht, daß die Kyprien nach der Ilias verschriftlicht wurden. Selbst wenn fr. 19 (Bethe = 28 Bernabe = 22 Davies) von einem zufälligen Besuch der Chryseis in dem hypoplakischen Theben spricht, während sie aus Chryse stammte, braucht das nicht eine „billige Erfindung" der Kyprien58) zu sein. Daß Erbeutungsort und Herkunftsort der Chryseis verschieden sind, ist notwendige Voraussetzung der Iliashandlung, weil Chryses, wenn die Achaier nach Chryse gekommen wären, dort seine Beschwerden gleich hätte vorbringen können. Da in der Ilias selbst nicht erläutert wird, warum Chryseis an einem anderen Ort, also in Theben, dem Achill in die Hände fiel, ist es nicht unmöglich, daß dies schon - wenn auch vielleicht nur in knapper Form — in der Tradition vorgegeben war, und es kann auch sein, daß sich Chryses schon in der Tradition zum Achaierlager begab (also in einer vorhomerischen oder frühhomerischen Fassung des Achillzornmotivs). 58)

So formuliert Reinhardt, Ilias, 62.

Ergebnisse der motivgeschichtlichen Forschung zu H o m e r (Neoanalyse)

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3. Die E i n w i r k u n g ,postiliadischer' Erzählmotive auf die Ilias Eines der zentralen P r o b l e m e der ,neoanalytischen' M o t i v f o r s c h u n g ist die Frage, wieweit der Stoff der Aithiopis traditionell u n d v o r h o m e r i s c h ist u n d motivisch auf die Ilias eingewirkt hat. Dies betrifft die Ereignisse u m Penthesileia u n d u m M e m n o n , die in der Spätphase des Krieges den Troern zu Hilfe k o m m e n . A u f j e d e n Fall v e r k ö r p e r n diese beiden Figuren den geographischen H o r i z o n t , aus d e m heraus auch die Göttergeschichten v o m K ö n i g t u m im H i m m e l zu den Griechen g e k o m m e n sind. Insbesondere der ,Aithiope' M e m n o n k a n n eine in den M y t h o s projizierte V e r k ö r p e r u n g assyrischer Herrscher sein. Die A i t h i o p e n w e r d e n in der Ilias v o n den G ö t t e r n o f f e n b a r t u r n u s m ä ß i g aufgesucht (vgl. A 423ff.). Die f r ü h e r e A n n a h m e , daß alles, was mit d e m O r i e n t zu tun hat, n o t w e n d i g spät sei, k a n n heute so nicht m e h r aufrechterhalten w e r d e n . Eher ist zu v e r m u t e n , daß mit der E r w e i t e r u n g des geographischen H o r i z o n t s (der auch durch B e r ü h r u n g e n m i t den Assyrern auf Z y p e r n z u s t a n d e g e k o m m e n sein kann) u n d m i t der Ü b e r n a h m e f r e m d e r M y t h e n auch der U b e r g a n g z u m G r o ß e p o s z u s a m m e n h ä n g t . A u c h die A m a z o n e n sind in der Ilias bekannt. Von einem G r a b m a l der M y r i n e (nach d e m Scholion eine A m a z o n e ) ist В 814 die R e d e ; v o m K a m p f gegen die A m a z o n e n erzählt Priamos Г 184 ff. N a c h Glaukos' Erzählung hat auch Bellerophontes in Lykien „männergleiche A m a z o n e n " getötet (Ζ 186). 59 ' U m s t r i t t e n ist in der Forschung, o b die Rolle des Thersites in der Ilias nach der Rolle des Thersites im Anschluß an den K a m p f gegen Penthesileia gestaltet ist, der in der Aithiopis dargestellt w a r ; dort schmähte er Achill w e g e n angeblicher Liebe zu Penthesileia u n d w u r d e v o n diesem getötet, was zu einem Z w i s t f ü h r t e (Proklos 54. 55). 60 ' Für diese A n n a h m e sprechen unter a n d e r e m die B e m e r k u n g 59) Es ist bemerkenswert, daß die Amazonensage den Einbruch nachmykenischer Reitervölker widerspiegelt, aber in der Sagenchronologie vortroisch ist. 60) Für diese A n n a h m e sind O . G r u p p e , Griechische M y t h o l o g i e u n d Religionsgeschichte I, M ü n c h e n 1906 ( H a n d b u c h der Altertumswissenschaft), 680 A n m . 4; G. Murray, T h e Rise of the Greek Epic, O x f o r d 4 1934 [ 4 9 0 7 ] , 213f.; H . Pestalozzi, Die Achilleis als Quelle der Ilias, E r l e n b a c h - Z ü r i c h 1945, 49; Kakridis, Researches, 93 f.; W. Kullmann, Die Probe des Achaierheeres in der Ilias, M u s H e l v 12, 1955, 253ff.; Kullmann, Quellen, 303ff.; J. Ebert, Die Gestalt des Thersites in der Ilias, Philologus 113,1969,159 ff.; H . Mühlestein, Homerische N a m e n s t u d i e n ( = Beiträge zur Klassischen Philologie, Bd. 183), F r a n k f u r t / M . 1987, 178 m. A n m . 8; E . C h . Kopff, T h e Structure of the A m a z o n i a (Aethiopis), in: T h e Greek Renaissance of the Eighth C e n t u r y B . C . : Tradition and Innovation. Proceedings of the Second International S y m p o s i u m at the Swedish Institute in Athens, ed. by R . H ä g g , S t o c k h o l m 1983, 57 ff. Anders P. G. Katzung, Die Diapeira in der Iliashandlung. D e r Gesang v o n der U m s t i m m u n g des Griechenheeres, Diss. F r a n k f u r t / M . 1960. W i c h t i g f u r die R e k o n s t r u k t i o n der Aithiopis ist indirekt die Bostoner apulische P r a c h t a m p h o r e Q . M . Paton, AJA 2. ser., vol. 12, 1908, 406ff. Taf. X I X ) , die nach C. R o b e r t , Archäologische H e r m e n e u t i k , Berlin 1919, 278 ff., auf C h a i r e m o n s Ά χ ι λ λ ε ύ ς Θ ε ρ σ ι τ ο κ τ ό ν ο ς zurückgeht, der seinerseits auf der Aithiopis f u ß t . N a c h diesem Vasenbild (und d . h . letztlich w o h l nach der Aithiopis) hat Achill einen ,Thersites ohne Häßlichkeit' mit dem Schwert getötet.

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in В 220, Thersites sei dem Achill und dem Odysseus verhaßt gewesen, und die in der Ilias bestehende Unklarheit über seine Herkunft und seinen sozialen Status. Es scheint, in der Ilias ist ein .normaler' Heros ad hoc sozial abgewertet worden, wodurch das Epos um eine soziologische Perspektive bereichert wurde. 61) Eine zentrale Rolle in der Neoanalyse spielt die Memnonis- oder Achilleishypothese. Sie besagt, daß die Schilderung des Opfertodes des Patroklos durch Hektor und der Rache Achills an Hektor, die wiederum Achills Tod unausweichlich macht, die Nachbildung eines anderen epischen Zusammenhangs ist, wie er uns aus der Aithiopis bekannt ist (Proklos 57-67). In der Aithiopis ist geschildert, wie Antilochos, Nestors Sohn, den Opfertod für seinen Vater Nestor von der Hand des Aithiopenkönigs Memnon stirbt; Achill, der sich wegen einer Weissagung der Thetis des Kampfes enthalten hatte, rächt seinen Freund Antilochos an Memnon und stirbt daraufhin von dem Pfeil des Paris getroffen am Skaiischen Tor. In der Ilias folgen Patroklos' Tod durch Hektor, Thetis' Prophezeiung von Achills Tod im Fall der Tötung Hektors, Achills Aufgabe der Kampfenthaltung und die Rache an Hektor aufeinander. In der Aithiopis finden wir zunächst Thetis' Prophezeiung in bezug auf Memnon (Proklos 58), dann Antilochos' Opfertod, dann die an Memnon vollzogene Rache Achills (Proklos 60) und schließlich dessen Tod durch Paris (Proklos 62). Das Geschehen ist in der Ilias so erzählt, daß auf sie die Handlung, die die Aithiopis erzählt, folgen könnte. Man müßte lediglich in Kauf nehmen, daß Thetis in ihren Prophezeiungen den Tod Achills sowohl an die Tötung Hektors als auch an die Memnons knüpft. Dies spricht für Priorität des Stoffes der Aithiopis, d.h. für die Priorität der Antilochos-Memnon-AchillErzählung gegenüber der Patroklos-Hektor-Achill-Erzählung. Hinzu kommt, daß der Tod des Patroklos in der Ilias, die ja den Tod des Achill selbst nicht behandelt, in vielen Details so erzählt wird, wie das für den Tod des Achill bezeugt ist, obwohl die Motivik in vielen Punkten besser zu Achill als zu Patroklos paßt; man denke nur an die Beteiligung von Paris und Apollon an seinem Tod, an den Rückzugskampf mit der Leiche, an Thetis' Klage um den Toten, an die Leichenspiele zu seinen Ehren. 62 ) Eine Modifikation dieser Achilleishypothese ist

61

> Wir konnten die These, daß Thersites nur ein redender N a m e ist (.Frechling'), mit dem Hinweis darauf zurückweisen, daß Thersites als gewöhnlicher Eigenname auf thessalischen Inschriften belegt ist (Quellen, 147 Anm. 3): IG IX 2, 332,2; 517,77; 580,7; 1228,24. 62) O. Gruppe, Griechische Mythologie und Religionsgeschichte I, München 1906 (Handbuch der Altertumswissenschaft), 679ff.; Eva Sachs bei Kakridis, Researches, 83ff. mit Anm. 35; ders., 'Ομηρικές "Ερευνες, Athen 1944, 13ff.; H. Pestalozzi, Die Achilleis als Quelle der Ilias, Erlenbach-Zürich 1945, passim; Ε. Howald, Der Dichter der Ilias, Erlenbach-Zürich 1946; A. Heubeck, Studien zur Struktur der Ilias, Gymnasium Fridericianum, Festschrift zur Feier des 200jährigen Bestehens des Humanistischen Gymnasiums Erlangen, Erlangen 1950, 17 ff", (auch in: Latacz [Hrsg.], Homer. Die Dichtung und ihre Deutung [s. Anm. 55]); W. Schadewaldt, Einblick in die Erfindung der Ilias: Ilias und Memnonis, in: Homers Welt, 155 ff.; Kullmann, Quellen, 30ff., 306ff.; G. Schoeck, Ilias und Aithiopis, Zürich 1961; M.E. Clark and W . D .

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die, daß beide Erzählungen ursprünglich konkurrierende Varianten einer Achilleis w a r e n , die in der Ilias kontaminiert sind (so R e i n h a r d t und W i l l c o c k 6 3 ' ) . Reinhardt n i m m t zusätzlich an, daß ursprünglich auch in der Antilochosvariante der Achilleis H e k t o r der G e g n e r war. 6 4 ' D i e Diskussion der Prioritätsfrage konzentriert sich a u f E i n z e l m o t i v e . 6 5 ' So w i r d also für die Ursprünglichkeit der Klage der N e r e i d e n u m Achill (Proklos 6 5 ) statt u m Patroklos (wie in B u c h Σ ) angeführt, daß die Nereiden zu Patroklos anders als zu Achill n u r eine sehr indirekte B e z i e h u n g haben, was wieder als halbstarre

Ü b e r n a h m e der K l a g e u m Achill zu deuten w ä r e .

A u c h Nebenszenen sind in die Diskussion einbezogen: In Θ 8 0 ff. w i r d geschildert, wie N e s t o r durch Paris mit seinem Gespann in Bedrängnis gerät, aber v o n

Coulson, Memnon and Sarpedon, MusHelv 35, 1978, 65 ff. Dagegen A. Dihle, Homer-Probleme, Opladen 1970, 9ff., und dazu W. Kullmann, Gnomon 49, 1977, 529ff. Vgl. femer Kullmann 1981, 5 ff. - R . Wächter, Nereiden und Neoanalyse: ein Blick hinter die Ilias, Wüjbb N.F. 16, 1990, 19—31, rekonstruiert jetzt einen von Homer und Hesiod unabhängigen alten Nereidenkatalog aus Apollod. I 2,7 und Vaseninschriften. 63> Vgl. Reinhardt, Ilias, 17ff., 349ff.; M . M . Willcock, The Funeral Games o f Patroclus, BICS 20, 1973, 1 ff. 64 ' Für Kenntnis Memnons beim Iliasdichter vgl. insbesondere W. Kullmann, GGA 217, 1965 (Rezension Reinhardt, Die Ilias und ihr Dichter), 25ff.; Kullmann 1981, lOf. Siehe auch G. Schoeck, Ilias und Aithiopis, Zürich 1961, passim; Η. Mühlestein, Euphorbos und der Tod des Patroklos, in: ders., Homerische Namenstudien ( = Beiträge zur Klassischen Philologie, Bd. 183), Frankfurt/M. 1987, 78ff. [ursprünglich in SMEA 15, 1972, 79ff.]. Wenn Patroklos' Tod in Anlehnung an Achills Tod erzählt wird, was auch Reinhardt annimmt, ist anzunehmen, daß auch der von Patroklos besiegte Gegner Züge des von Achill besiegten Gegners trägt. Dies ist Sarpedon. Der aber hat größere Ähnlichkeit mit Memnon als mit Hektor. Er ist wie Memnon ein hinzugekommener Bundesgenosse. An ihm hängt in der Ilias ebenso wie an Memnon in der Aithiopis das Motiv der Entrückung des Leichnams durch Tod und Schlaf (Π 450 ff. 666 ff. « Proklos 61 und Vasenbilder). 65> Vgl. W. Schadewaldt, Einblick in die Erfindung der Ilias: Ilias und Memnonis, in: Homers Welt, 1 5 5 f f ; A. Dihle, Homer-Probleme, Opladen 1970, 11 f. Außer den genannten und den anschließend besprochenen Parallelen spielen folgende Entsprechungen eine Rolle: die Wägung der Todeslose durch Zeus X 208 ff. und auf Vasenbildern in bezug auf Memnon und Achill; die Junktur .Achilleus zu Boden gestreckt', Σ 26f. auf den wegen Patroklos' Tod vom Schmerz getroffenen Achill und in der Aithiopis wegen ω 39 f. wahrscheinlich auf den toten Achill angewendet (die zusätzliche Angabe der Odyssee zum Tod Achills: λελασμένος ίπποσυνάων wird wohl nicht aus Π 776 stammen, wie gelegentlich angenommen wird, weil die unsterblichen Pferde Achills in der Sage von seinem Tod eine Rolle gespielt haben müssen [vgl. zu ihnen Π 148 ff.; Τ 397 ff.]); abgebrochener Angriff auf die Stadt Troia in X 378 f f , tatsächlicher Angriff in der Aithiopis (Proklos 62). Weitere Parallelen unter anderem: die Verwundung des Diomedes durch Paris in Λ 375 ff. ist Parallele zur Tötung des Achill durch Paris, wie sich aus der gleichen Verwundungsart ergibt (Apollod. Epit. 5,3); die Alternative, vor der Euchenor nach N 663 ff. vor dem Aufbruch nach Troia stand (Tod wegen Krankheit oder vor dem Feind) ähnelt der Alternative, von der Achill I 410 ff. spricht; verschiedene Übereinstimmungen gibt es zwischen dem Kampf um die Leiche des Patroklos und dem um die des Achill entsprechend Proklos 63, Apollod. Epit. 5,4 (Kullmann, Quellen, 326 ff.) sowie zwischen den Leichenspielen zu Ehren beider Helden: Kullmann, Quellen, 333ff.).

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Diomedes gerettet wird, während sich aus Proklos 59 in Verbindung mit Pindar, Pyth. 6, 28 ff. für die Aithiopis ergibt, daß dort Antilochos, Nestors Sohn, bei dem Versuch der Rettung des Vaters, dessen Gespann dort ebenfalls von Paris getroffen wird, den Opfertod erleidet. Auch wenn die Priorität allein von dieser Entsprechung her nicht gesichert werden kann, steht doch fest, daß beide Szenen nicht unabhängig voneinander sind. 66 ' Für die Priorität des Aithiopismotivs spricht, daß offensichtliche Reflexe davon auch in anderen Iliaspartien auftreten: Auch in Ε 565 ff. leistet Antilochos Hilfe, wenn auch mit glimpflichem Ausgang. In einer Notsituation befindet er sich ebenfalls in Π 317 ff., wo ihm aber anders als in der Aithiopis sein Bruder Thrasymedes helfen kann. Hinzu kommt, daß die Ilias Antilochos und Patroklos als in gleicher Weise Achill verbunden darstellt (Antilochos überbringt Achill die Nachricht von Patroklos' Tod in Σ 2. 32 ff.; vgl. auch sein Verhältnis zu Achill bei den Leichenspielen zu Ehren des Patroklos). Es ist unwahrscheinlich, daß die Aithiopisszene aufgrund einer Kombination all dieser Iliasstellen erfunden wurde. 67 ' Die Frage der Motiveinwirkungen aus Postiliaca, also aus (vermutlich mündlichen) vorhomerischen Dichtungen, die Sagenstoff erzählten, der nach der Sagenchronologie der Ilias nachfolgt, ist nicht auf die Stoffe der Aithiopis beschränkt. In dem unentschiedenen Ausgang des von Achill bei den Leichenspielen zu Ehren des Patroklos angesetzten Ringkampfes zwischen Aias und Odysseus in Τ 708 ff. wird sowohl eine Anspielung auf den Waffenstreit zwischen beiden Helden liegen, wie er für das Ende der Aithiopis bezeugt ist (Proklos 68), als auch auf dessen Entscheidung, die nach Proklos in der Kleinen Ilias gestanden haben soll (Proklos 69, Apollod. Epit. 5, 6). Machaons Verwundung durch Paris in Λ 504ff. sieht wie eine vorweggenommene Rache für die Heilung des Philoktet aus, der Paris überwindet (Proklos 72). Neoptolemos' Erwähnung in Τ 326 ff. bezeugt nicht nur Achills Aufenthalt in Skyros, sondern schließt auch die mit ihm verbundene Rolle bei Troias Zerstörung mit ein (Proklos 76—79). Es ist eine zwingende Konsequenz der motivgeschichtlichen Forschung, daß sowohl die gegensätzliche Charakterisierung des Othryoneus, des Freiers der Kassandra, und des Alkathoos, des Schwagers des Aineias, in N 363 ff. 427 ff. als auch die Entrückung des Aineias durch Poseidon und dessen Prophezeiung über das unterschiedliche Schicksal der Aineiaden und der Priamiden (Y 288 ff. bzw. 325 ff.) auf vorhomerischen epischen Stoff vom Entkommen der Aineiaden entsprechend Proklos 88 und vom Unter-

66

> So auch A. Dihle, Homer-Probleme, Opladen 1970, 11 f. > Vgl. Kullmann, Quellen, 314ff., und W. Kullmann, Gnomon 49, 1977, 533 (Rez. Dihle). Die Priorität des Aithiopisstoffes wurde inzwischen in methodisch vorbildlicher Weise praktisch zur Evidenz gebracht durch E. Heitsch, Homerische Dreigespanne, in: ScriptOralia, hrsg. v. P. Goetsch, W. Raible u.a., Bd. 30, hrsg. v. W. Kullmann u. M. Reichel, Tübingen 1990, 153 ff., unter Berücksichtigung von H. Mühlestein, Homerische Namenstudien ( = Beiträge zur Klassischen Philologie, Bd. 183), Frankfurt/M. 1987, 47 ff., 179ff. 67

Ergebnisse der motivgeschichtlichen Forschung zu Homer (Neoanalyse)

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gang des Priamos entsprechend Proklos 91 anspielen. 68 ' Das Iliupcrsismotiv im ganzen ist im Gcspräch zwischen Priamos und Achill im Ω vorweggenommen, und der vorausgehende Untergang Troias und Tod Achills werden in der Fässerallegorie, die Achill vorträgt, zu Paradigmen menschlicher Tragik überhaupt. Als Fazit ergibt sich, daß die Ilias weitgehend die Sagenmotive voraussetzt, die in den kyklischen Epen vorkommen. Sie werden häufig verändert. Es k o m m t zur Umsetzung des später oder anderswo tödlich Endenden ins glimpflich Ausgehende, Untragische (das .Beinahe' spielt eine Rolle), zur Verinnerlichung und vor allem zur Psychologisierung des Faktischen 69 '; die große Tragik wird erst in der Ilias erreicht, wenn dort gezeigt wird, wie der Schrecken der Fakten den Menschen bewußt wird.

4. Die Einwirkung nichttroischer Erzählmotive auf die Ilias A u f die Verwendung von Motiven aus dem thebanischen Sagenkreis wurde schon oben S. 426 f. hingewiesen. Umstritten ist die Frage, ob und wieweit das von Phoinix dem Achill bei der Bittgesandtschaft vorgehaltene Paradeigma des Meleagros bereits auf eine epische Quelle schließen läßt, in der sich Meleagros im Zorn wegen des Fluchs der Mutter Althaia nach Tötung ihres Bruders bis zur äußersten Zuspitzung der Situation des Kampfes enthielt. Wäre dies der Fall, hätten wir in der Geschichte das motivische Vorbild für den Achillzorn. 70 ' Vieles spricht dafür, daß die Quelle fur die Geschichte schon eine epische Erzählung vom K a m p f der Aitoler und Kureten anläßlich der kalydonischen Jagd war. Da das Zornmotiv jedoch in diesem Zusammenhang unlogisch ist, muß man in ihm eine Adaptation der Geschichte an die Iliassituation sehen, die die Geschichte als Exemplum geeignet machen soll. 71 ' In dem Epos braucht nur vom magischen Scheit der Althaia die Rede gewesen zu sein, an dem das Leben Meleagers hing und das die Mutter ins Feuer warf, als der Sohn den Bruder der Mutter im K a m p f tötete.

68 ' Weitere wahrscheinliche Motivübernahmen aus vorhomerischer Epik mit kyklischem Stoff: Agenors Tod durch Neoptolemos (fr. Iliup. 13 Bethe = KL IL 18 Bernabe, Davies) scheint bei Achills Tötung des Echeklos, eines Sohnes des Agenor, und bei seinem Versuch einer Bezwingung Agenors vorausgesetzt (Y 474ff., Φ 545ff.). Γ 143f. scheinen Aithras Befreiung vorauszusetzen (Proklos 99). 69 ' Vgl. Kullmann 1981, 25 ff. 70) Dies ist die These von J . T h . Kakridis, Μελεάγρεια, Philologus 90, 1935, Iff.; ders., Researches, 11 ff. Dagegen W. Schadewaldt, Iliasstudien ( 4 9 4 3 ) , Darmstadt 3 1966, 139ff.; A. Heubeck, Die homerische Frage ( = Erträge der Forschung, Bd. 27), Darmstadt 1974, 74 ff. 71 ' Zur gewaltsamen Parallelisierung von Mythen, um sie als Exempla geeignet zu machen vgl. Kullmann, Wirken, 40 Anm. 2.

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Die Schilderungen der Bücher Ψ und Φ von Götter- und Flußkampf stehen motivisch offenbar unter dem Einfluß von Schilderungen des Titanenkampfes, der ins Spielerische und Unernste umgebogen wird, und des Kampfes des Herakles mit dem Acheloos. 72 '

III. Motivgeschichtliche Überlegungen zur Odyssee 1. Iliasmotive in der Odyssee In der Odyssee steht die motivgeschichtliche Forschung (die Neoanalyse) teilweise unter veränderten Bedingungen. 73 ' In hohem Maß spielen motivische Anleihen bei der Ilias eine Rolle. Zahlreiche Szenen sind unter Verwendung von Iliasmotiven gestaltet. Wenn Telemachos in α 356 ff. und φ 350 ff. seine Mutter ins Haus schickt, so wird damit das Erwachsenwerden des Odysseussohnes — unter Inkaufnahme von sprachlichen Härten — mit den Worten Hektors beschrieben, die er an Andromache richtet (Z 490ff.). 74 ' Die Szenen des Freierkampfes, in denen Leodes und Phemios um ihr Leben flehen, sind nach der Lykaongeschichte der Ilias (Φ 74) gestaltet. 75 ' Knut Usener hat gezeigt, daß nicht nur einzelne Iliasreminiszenzen in der Odyssee vorliegen, sondern daß die ganze Ilias bereits in der uns bekannten Form vorausgesetzt ist, also bei der Abfassung offensichtlich schon schriftlich fixiert vorlag, wenn die Bekanntschaft auch auf mündlichem Vortrag beruhen mag. 76 ' Unter Wiederaufnahme der Untersuchungen von Karl Sittl77' und Walter Diehl 78 ' werden von Usener 15 Odysseeszenen oder Szenengruppen mit entsprechenden Iliasszenen verglichen. In allen Fällen gibt es Übereinstimmungen im Wortlaut, die von einzelnen kurzen Junkturen bis zu ganzen Gruppen von Iteratversen reichen können, und zugleich Übereinstimmungen der geschilderten Situationen. Immer ist es so, daß es sich um spezifische und unverwechselbare, untraditionelle Iliasszenen handelt. In allen Fällen kann nachgewiesen oder

72

> Vgl. D. Mülder, Die Ilias und ihre Quellen, Berlin 1910, 233f.; K. Reinhardt, Ilias, 446ff. Vgl. W. Kulimann, Ή σύλληψη της 'Οδύσσειας και ή μυθική παράδοση, Epistimoniki Epetiris, Athen 25, 1974-1977 [1978], 9ff.; ders., Die neue Anthropologie der Odyssee und ihre Voraussetzungen, Didactica Classica Gandensia 17-18, 1977-1978, 37 ff. - Es wird im folgenden davon ausgegangen, daß die beiden homerischen Epen von verschiedenen Verfassern stammen. 74 > Heubeck, O d . - D „ 52f. 75 > W. Kullmann, Gnomon 49, 1977, 541. Weitere Beobachtungen in dieser Richtung finden sich bei H. Schwabl, Traditionelle Gestaltung, Motivwiederholung und Mimesis im homerischen Epos, Wiener Studien N F 15, 1982, 13 ff. 7б ' K. Usener, Beobachtungen zum Verhältnis der Odyssee zur Ilias ( = ScriptOralia, hrsg. v. P. Goetsch, W. Raible u.a. [ = Diss. Freiburg i.Br. 1989], Bd. 21), Tübingen 1990. 7T> Die Wiederholungen in der Odyssee. Ein Beitrag zur homerischen Frage, München 1882. 78 ' Die wörtlichen Beziehungen zwischen Ilias und Odyssee, Diss. Greifswald, Erlangen 1938. 73)

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wahrscheinlich g e m a c h t w e r d e n , daß die Odyssee direkt v o n der Ilias u n d nicht von einem common stock v o n F o r m e l n oder Iteratversen abhängt. So w i r d in Kap. 6 gezeigt, wie eine ganze M o n o l o g s e q u e n z im ε der Odyssee (4 Odysseusmonologe) von d e m einzigen O d y s s e u s m o n o l o g der Ilias (die daneben eine R e i h e weiterer M o n o l o g e kennt) in Λ 401 ff. abhängt. Es ist also nicht so, daß der Odysseedichter sich einer allgemeinen M o n o l o g t e c h n i k bedient, die f ü r alle Sänger verbindlich gewesen wäre. M i t d e m P a r r y - L o r d - M o d e l l der epischen D i c h t u n g , das überall mit h a n d w e r k l i c h e r Typik rechnet, ist dies nicht erklärbar. D e r Odysseedichter scheint bereits selbst ein B e w u ß t s e i n f u r die literarische Beziehung seines Epos zur Ilias u n d zur bestehenden Troia-Epik gehabt zu haben. In ω 1 ff. geleitet H e r m e s in seiner traditionellen F u n k t i o n als Seelengeleiter die Freierseelen zu den Asphodeloswiesen im Hades. D o r t treffen sie Achilleus, Patroklos, Antilochos u n d Aias. Gerade treten zu ihnen A g a m e m n o n u n d die Leute, die bei der H e i m k e h r m i t i h m d u r c h Aigisthos den Tod fanden. W e n n m a n so will, ist hier das Personal dreier Epen versammelt: der Ilias, einer ,Aithiopis' u n d eines ,Nostenepos' ( m ö g e n die beiden letzteren auch n u r m ü n d l i c h e V o r f o r m e n der späteren kyklischen Epen sein). Achill u n d Aias gehören in die Ilias u n d die Aithiopis, in der der T o d Achills geschildert war. Patroklos ist Achills Freund in der Ilias, Antilochos sein Freund in der Aithiopis. A g a m e m n o n w a r eine Gestalt aller dieser Epen, doch w i r d er hier im Hinblick auf sein furchtbares Schicksal bei der H e i m k e h r eingeführt. W e n n jetzt die erschlagenen Freier hinzutreten, w i r d persönlicher Ehrgeiz des Odysseedichters i m Spiel sein, sein W e r k u n d dessen Gestalten in die bestehende D i c h t u n g e i n z u o r d n e n u n d i h m den g e b ü h r e n d e n R a n g zu sichern. A g a m e m n o n gibt einen ausführlichen Bericht über die Leichenfeier anläßlich v o n Achills Tod (ω 35 ff.). Dabei k o m m t es zu einem Ausgleich zwischen Ilias- u n d Aithiopis-Stoff.79'1 N a c h Ilias Ψ 91 f. w ü n s c h t sich die Seele des Patroklos v o n Achill, daß die K n o c h e n beider in einer goldenen A m p h o r e gesammelt u n d unter einem G r a b h ü g e l bestattet w e r d e n . Z u m Aithiopisstoff g e h ö r t die enge Beziehung zwischen Achill u n d Antilochos (vgl. ω 78 f.), nicht j e d o c h eine g e m e i n s a m e Bestattung v o n beiden (nach Proklos' Inhaltsangabe der Aithiopis scheint Antilochos v o n Achill getrennt bestattet w o r d e n zu sein). W e n n die Odyssee s o w o h l d e m Iliastext als auch der Gleichgewichtigkeit des Antilochos im Verhältnis zu Patroklos R e c h n u n g tragen wollte, m u ß t e in der Odyssee ein Dreierbegräbnis berichtet w e r d e n . N a c h d e m Text der Odyssee scheint an ein D o p p e l g e f ä ß gedacht zu sein (vgl. Ψ 270), w o b e i die K n o c h e n des Achill entsprechend den W ü n s c h e n des Patroklos m i t dessen K n o c h e n vermischt w u r d e n , w ä h r e n d die K n o c h e n des Antilochos in die entgegengesetzte Ö f f n u n g des Gefäßes getan w u r d e n . 8 0 ' So gleicht der in der Odyssee gegebene Bericht geschickt einen 79) Vgl. Kullmann, Quellen, 40-42; zustimmend A. Heubeck, in: Odissea, Introduzione, testo e commento, vol. VI, Fondazione Lorenzo Valla 1986, 343. 80) Siehe Ameis-Hentze z. St.

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cpischen Widerspruch aus. Als Bezugsperson zu den Toten vor Troia wählt der Odysseedichter unter den Freierseelen den Amphimedon und läßt Agamemnon davon erzählen, daß er einst zusammen mit Menelaos in dessen Haus in Ithaka wohnte, als es galt, den Odysseus zum Kriegsdienst anzuwerben (ω 103ff.). Es handelt sich bei ihm also um einen relativ respektablen Freier. Amphimedon erzählt Agamemnon die Ereignisse der zweiten Odysseehälfte. Worauf es dem Dichter ankommt, wird in Agamemnons Antwort deutlich. Er preist Odysseus wegen seiner Gattin glücklich und sieht ihren künftigen R u h m voraus. „Darum wird niemals die Kunde zugrundegehen von ihrer Tüchtigkeit, und die Unsterblichen werden den Erdenmenschen einen gefälligen Gesang bereiten für die verständige Penelopeia, die nicht so handelte wie die Tochter des Tyndareos, die ihren ehelichen Gemahl tötete, von der ein abscheulicher Gesang unter den Menschen sein wird und die schlimme Nachrede den weiblichen Frauen bereitet, auch wenn eine rechtschaffen ist" (ω 196ff.). Es kann kein Zweifel sein, daß der Dichter hier an sein eigenes Lied denkt, das sich wegen seines positiven Inhalts von den Nostoi bzw. deren mündlicher Vorform unterscheidet, das aber jedenfalls mit diesen, der Ilias und der Aithiopis bzw. deren mündlicher Vorform in eine Reihe gehört. In diesem Gedanken liegt unter anderem der bedeutsame Sinn der von den Philologen zu Unrecht mißachteten zweiten Nekyia. Dieser Abschnitt des Epos bezeugt ein in dieser Gattung vermutlich neuartiges Autorbewußtsein seines Dichters.

2. Innere Erweiterung der Odysseesage Daneben besteht in der Odyssee die Eigentümlichkeit, daß Motive des Odysseestoffes selbst nebeneinanderstehen, die sich gegenseitig stören. So ist das Motiv der Weblist mit dem Motiv der im Hause des Odysseus schmausenden Freier und des heranwachsenden Telemachos im Grunde unvereinbar. 81 ) Man sieht hier, daß die Odysseesage eine innere Erweiterung erfahren hat. Ursprünglich, d.h. in vorodysseischer Sage, hat man sich die Freier nicht im Hause des Odysseus vorzustellen. Die ,kluge' Penelope setzte ihre Weblist in die Tat um, ohne daß die Freier im Hause waren. Die — nicht sehr klaren — Aussagen der Odyssee selbst deuten daraufhin, daß man sich innerhalb dieses Epos die Weblist als etwas in der

81)

W. Kulimann, Ή σ ύ λ λ η ψ η τ η ς 'Οδύσσειας και ή μυθική παράδοση, Epistimoniki Epetiris, Athen 25, 1974-1977 [1978], 11; Die neue Anthropologie der Odyssee und ihre Voraussetzungen, Didactica Classica Gandensia 17-18, 1977-1978, 39f., im Anschluß an K. Reinhardt, Das Parisurteil, in: Tradition und Geist, hrsg. v. Carl Becker, Göttingen 1960, 19f.; F. Wehrli, Penelope und Telemachos, MusHelv 16, 1959, 228 ff. = Theoria und Humanitas. Gesammelte Schriften zur antiken Gedankenwelt. Z ü r i c h - M ü n c h e n 1972, 39 ff.

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82

Vergangenheit Liegendes denken soll. ' Die Klugheit der Penelope erscheint nun in sublimierter Form, in der Umsicht und Vorsicht, mit der sie dem als Bettler verkleideten Odysseus begegnet und den B o g e n k a m p f ins Werk setzt, auch wohl in der List, mit der sie die Freier auffordert, ihr Geschenke darzubringen, und nicht zuletzt in der Probe, der sie im Buch ψ ihren M a n n unterwirft. O f f e n b a r paßt der novellistische Charakter des Weblistmotivs nicht mehr zu der realistischen Schilderung der ithakesischen Verhältnisse, die in der uns erhaltenen Odyssee dominiert. Die Odyssee spielt reichlicher als die Ilias auf Postiliaca an, also auf die Sagenstoffe, die in den kyklischen Epen der Aithiopis, Iliupersis (bzw. Kleinen Ilias) und der Nostoi behandelt waren (die stärkere Berücksichtigung solcher Sagen hängt natürlich damit zusammen, daß die Odyssee sagenchronologisch allen diesen Epen nachfolgt.) Hier m u ß es sich, w e n n man die kyklischen Epen nach der Odyssee ansetzt, zumindest u m mündliche Vorformen dieser Gedichte handeln. Es ist auffallend, daß diese Stoffe v o m Odysseedichter teilweise als Stoff von Epen vorgestellt werden, die schon in der erzählten Zeit des Epos selbst gesungen wurden: Phemios singt im Hause des Odysseus v o m „Nostos der Achaier" (α 326); ähnlich singt D e m o d o k o s , von Odysseus aufgefordert, das U n t e r n e h m e n des Hölzernen Pferds zu singen (9 492 ff.), nicht nur von diesem, sondern von der Zerstörung Troias überhaupt (θ 514—516), also von der .Iliupersis'. 83 ' Es ist anzunehmen, daß diese Epen zur Zeit des Odysseedichters real existierten und einen festumrissenen Inhalt hatten, der von dem der schriftlich fixierten kyklischen Gedichte nicht sehr verschieden gewesen zu sein braucht. Von diesen epischen Stoffen ist die vorodysseische Nostendichtung offensichtlich für die Odyssee von besonderer Bedeutung. W i e sich aus zahlreichen E r w ä h nungen in der Odyssee zeigt, gehört zu ihr die glückliche Heimkehr des Menelaos mit Helena ebenso wie die unglückliche H e i m k e h r des A g a m e m n o n , der von Aigisthos und Klytaimestra umgebracht und von Orest gerächt wird. 8 4 ' Von

82)

M a n denke vor allem an die doppelte Zeitangabe β 89 ff. u n d 106 ff. Die erste geht vermutlich auf den Z e i t p u n k t seit E n t d e c k u n g der Weblist, die zweite auf die Dauer der List. Die drei Stellen, an denen in der Odyssee v o n der Weblist gesprochen wird, β 93ff., τ 138 ff., ω 127 ff., scheinen v o n einer außerhalb unserer Odyssee liegenden Quelle ü b e r n o m m e n zu sein. Vgl. K u l l m a n n 1981, 35 ff.; A. Heubeck, Penelopes Webelist, W ü j b b N . F . 11, 1985, 33ff. 83) Vgl. J. Latacz, H o m e r . Der erste Dichter des Abendlands, M ü n c h e n - Z ü r i c h 2 1989, l l O f . 84 ' Für den traditionellen Charakter des Menelaos-Nostos sprechen in der Odyssee unter anderem b e s t i m m t e U n s t i m m i g k e i t e n , die auf ein D o p p e l k ö n i g t u m des Menelaos u n d A g a m e m n o n in Sparta in der Odysseequelle hinweisen. Vgl. W. K u l l m a n n , ,Oral Tradition/Oral History' u n d die frühgriechische Epik, in: Vergangenheit in mündlicher Ü b e r l i e f e r u n g ( = C o l l o q u i u m R a u r i c u m , Bd. 1), hrsg. v . J . v o n U n g e r n - S t e r n b e r g u. H . Reinau, Stuttgart 1988, 194ff. Siehe ferner M . P . Nilsson, Κ α τ ά π λ ο ι , R h M 60, 1905, 172 (m. A n m . 1); Heubeck, O d . D., 96 A n m . 153; Silvia Schischwani, Messenien u n d Sparta in der Odyssee (erscheint in: Π ρ α κ τ ι κ ά τ ο υ ς' Συνεδρίου γ ι α τ η ν Οδύσσεια, Ithaka 1992).

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dieser Dichtung geht ohne Zweifel auch ein starker motivischer Einfluß auf die Odyssee aus. Die Konfiguration Agamemnon — Klytaimestra — Aigisthos — Orestes hat ihre Entsprechung in der Konfiguration Odysseus - Penelope - Freier Telemachos. Das Epos der Odyssee fuhrt vor, daß die Situation beider Familien ähnlich, aber doch anders ist, weil die Charaktere anders sind. Der vielkluge Odysseus hat mit dem unglücklichen Agamemnon wenig gemein; die Freier sind zwar „108 potentielle Aigisthe" 85 ' (vgl. π 247 ff.), gelangen aber nicht zum Ziel. Penelope wird nach Agamemnons Worten in λ 444 ff. Odysseus nicht umbringen wie Klytaimestra ihn, „denn zu einsichtsvoll ist sie und versteht sich gut in ihrem Sinn auf Ratschläge". Telemachos braucht die Rolle des Orest, auf den ihn Athene-Mentes als Beispiel hingewiesen hatte (α 298 ff.), nicht zu spielen. Zeus exemplifiziert im Götterrat am Beispiel des Aigisthos die Selbstverantwortlichkeit der Menschen für ihr Schicksal: Aigisthos war auf Zeus' Geheiß von Hermes vor der Hochzeit mit Klytaimestra und der Ermordung Agamemnons gewarnt worden. N u n sei die Rache des Orest gefolgt. Athenes anschließende Worte: „So möchte auch ein anderer zugrunde gehen, wer immer derartiges tut" (α 47) zielen auf die Parallele, die zwischen den Freiern und Aigisthos zu ziehen ist. Die äußere Parallelität und innere Verschiedenheit der beiden Familienschicksale ist ein Leitgedanke der Odyssee. Man kann vermuten, daß die Odyssee durch die Ausführung dieses Gedankens aus einem Kleinepos zu einem Großepos geworden ist. Diese innere Erweiterung bedeutete die Abkehr von der tragenden Funktion des Weblistmotivs und führte zu einer größeren Gewichtung des Telemachos. Die Anschläge auf ihn, seine Auseinandersetzungen mit den Freiern sind gewissermaßen die untragische Parallele zum Mord an Aigisthos und Klytaimestra durch Orest. Diese Motivübertragung erfolgt offensichtlich aber viel freier als in der Ilias. Sie ist nicht mehr halbstarr, und wir können sie nur dadurch wahrscheinlich machen, daß hier direkte Anspielungen auf die Nostensagen mit der Übernahme der Motivik einhergehen und daß die Parallele durch den Odysseedichter in sehr drastischer Weise hervorgehoben wird. Die thematische Verschiebung gibt dem Dichter die Gelegenheit, seine Vorstellungen von menschlicher Eigenverantwortlichkeit und Schuld im Kontrast zu den religiösen Vorstellungen der Ilias zu explizieren. 86 ' Aus der Frau, die sich der einmaligen Weblist bedient, wird dabei eine Frau, die sich durch Vorsicht, waches Mißtrauen und Schweigen in der Welt der Männer zu behaupten versteht.

85

> So M.I. Finley, Die Welt des Odysseus, Darmstadt 1974, 87 (Originalausgabe: The World of Odysseus, New York 1954). 86) Vgl. W. Kullmann, Gods and Men in the Iliad and the Odyssey, Harvard Studies 89, 1985, Iff.

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3. Äußere Erweiterungen der Odysseesage Neben der inneren Erweiterung einer ursprünglichen Odysseussage durch M o t i vik der Nostensagen gibt es auch äußere Erweiterungen. Eine hängt mit der Argonautensage zusammen. Dieser K o m p l e x ist von Karl Meuli erstmals im einzelnen erforscht worden 8 7 ' und w u r d e seitdem mehrfach genauer untersucht. In letzter Zeit hat U v o Hölscher neue Gründe gegen den Einfluß eines vorodysseischen Argonautenepos auf die Odyssee vorgebracht. 8 8 ' Meuli glaubte, daß Jason auch bei den Laistrygonen, bei Kirke, im Hades, bei den Sirenen und auf Thrinakia gewesen ist. 89 ' Er Schloß sich dabei an A. Kirchhoff an, der die Bücher κ und μ als Bearbeitung einer Dichtung faßte, die ursprünglich in der dritten Person erzählt gewesen war. 90 ' Für eine solche Hypothese fehlen, wie Hölscher mit Recht hervorgehoben hat, die Belege. Hölschers Kritik geht jedoch noch weiter. Er glaubt, daß die Odyssee nur die „einfache Geschichte", das Märchen, kannte, daß die Argofahrt für sie noch nicht ins Schwarze Meer ging und daß es keine Fahrtstationen gab. 91 ' Nicht nur die Identifizierung von Aia, dem Land des Aietes, mit Kolchis, sondern auch die Ausweitung der Märchenfahrt zu einem Argonautenzug sei Resultat der Episierung und Panhellenisierung des M y t h o s im 7.Jahrhundert, in einer Zeit nach der Entstehung der homerischen Epen. Die späte bildliche und literarische Bezeugung spreche dafür. Betrachten wir das Material 92 ': In der Odyssee ist A r g o πασι μέλουσα (μ 70), allen wohlbekannt. Kirke erwähnt im Verlauf ihrer Fahrtweisung an Odysseus, daß Odysseus nach dem Passieren der Sirenen zu einer ,Weggabelung' k o m m e n werde und entweder an den Plankten vorbeifahren müsse wie Jason, der von Hera geleitet wurde, oder den Weg zwischen Skylla u n d Charybdis nehmen müsse. M a n könnte danach vermuten, daß der Weg von Kirke bis zu dieser Weggabelung der gleiche war wie der Jasons, daß also auch dieser an den Sirenen v o r b e i g e k o m m e n ist, daß er aber nicht m e h r die Stationen von Skylla und Charybdis und Thrinakia passierte, sondern die Plankten, die mit den Symplegaden identisch sein müssen, m ö g e n diese nun von Jason nur auf der Rückfahrt oder auf der H i n - und Rückfahrt oder nur auf der Hinfahrt passiert w o r d e n sein. Dazu

87) K. Meuli, Odyssee und Argonautika. Untersuchungen zur griechischen Sagengeschichte und zum Epos ( = Diss. Basel 1921), Berlin 1921. 88 > Hölscher, Odyssee, 170 ff. 89 > Odyssee und Argonautika. Untersuchungen zur griechischen Sagengeschichte und zum Epos ( = Diss. Basel 1921), Berlin 1921, 86ff. 90 > A. Kirchhoff, Die homerische Odyssee, Berlin 2 1879, 287 ff. 91 > Odyssee, 184 f. 92) Vgl. W. Kullmann, Wirken, 47f.; Ή σύλληψη της 'Οδύσσειας και ή μυθική παράδοση, Epistimoniki Epetiris, Athen 25, 1974-1977 [1978], 14ff.; Die neue Anthropologie der Odyssee und ihre Voraussetzungen, Didactica Classica Gandensia 17-18, 1977-1978, 40f.; Mata Vojatzi, Frühe Argonautenbilder (Beiträge zur Archäologie 14), Würzburg 1982, 11 ff.

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paßt, daß Kirke als Schwester des tückischen Aietes (beide werden als Kinder des Helios und der Perse bezeichnet) auf einer zu Aia gehörenden Insel angesiedelt ist, also offenbar in derselben östlichen (μ 3f.) Weltgegend vorgestellt ist wie Aietes. Außer diesem Motiv sind noch weitere Motive der Odyssee und der Argonautensage gemeinsam: Das Motiv der Fahrtweisung durch Kirke hat in der Argonautensage in der Fahrtweisung des Phineus eine gewisse Parallele, konkurriert in der Odyssee aber mit der Prophezeiung des Teiresias und ist deshalb ζ. B. von Schadewaldt aus der ursprünglichen Odyssee gestrichen worden. 93 ' Der Heimtücke des Aietes entspricht die ursprüngliche Heimtücke der Kirke, der Zauberkunst Medeias die der Kirke und der Hilfe der liebenden Königstochter Medeia die Hilfe der liebenden Göttin, die Kirke schließlich auch ist. Eine Prioritätsentscheidung ist abgesehen vom ersten Fall (Aia bzw. aiaische Insel) schwer. Ausdrückliche Hinweise auf einen ,panhellenischen' Argonautenzug fehlen in der Odyssee.

Ein wichtiges weiteres Zeugnis für eine frühe Form der Argonautensage bietet die Ilias. Sie weiß von einer Station des Jason auf seinem Zug: Nach dem Bau der Mauer um das Lager lassen es sich die Achaier gut sein und laben sich unter anderem an Wein von Lemnos, den der Jasonsohn Euneos geschickt hatte, der von Hypsipyle dem Jason geboren wurde (H 467 ff.) 94 '. Von demjasoniden wird auch berichtet, daß er seinerzeit für Lykaon einen Kaufpreis bezahlt habe (Φ 41), und in Ψ 746 f. erfahren wir, daß es sich bei dem von Euneos gegebenen Rückkaufpreis um einen silbernen Mischkrug sidonischer Arbeit gehandelt habe. Diesen Krug setzt Achilleus als Kampfpreis aus; ihn hätten Phoiniker dem Thoas zum Geschenk gemacht (Ψ 740 ff.). Hier wird die Beziehung des Thoas zu Euneos nicht erläutert, sondern beim epischen Publikum offenbar als bekannt vorausgesetzt: Es handelt sich um seinen Großvater mütterlicherseits. Diese Stellen zeigen deutlich, daß es schon vor der Ilias eine epische Version der Argonautensage gab. Wenn Jason von Hypsipyle einen Sohn hatte, setzt das doch offenbar den Männermord der Lemnierinnen voraus; denn Liebesverhältnisse bedeutender Helden mit Königstöchtern auf der Durchreise kennt das Epos sonst nicht; es wird also mit der Verbindung Jasons mit Hypsipyle eine besondere Bewandtnis gehabt haben. Sicherlich sind auch einige Argonauten schon vorausgesetzt, ohne daß man sagen könnte, welche. Auch muß das Schwarze Meer schon im Spiel gewesen sein; denn in welcher Richtung sollte man Aia sonst suchen, wenn von dem Ausgangspunkt Iolkos her Lemnos auf dem Weg liegt? An dem Tatbestand würde sich auch nichts ändern, wenn die Ilias an eine Station Jasons auf Lemnos bei seiner Rückreise gedacht hätte, wie Pindar das wollte (Pyth. 4, 252), auch wenn dies im 93

> Homers Welt, 487. ' Das Zeugnis wird von Hölscher und seinem Rezensenten H. Erbse, Gnomon 61, 1989, 487, nicht erwähnt. Für Kenntnis dieser Reiseroute spricht auch der in der Ilias häufig genannte Hellespont, wenn er, wie wahrscheinlich, auf Phrixos' Schwester Helle zu beziehen ist. 94

Ergebnisse der motivgeschichtlichen Forschung zu H o m e r (Neoanalyse)

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epischen Zusammenhang, falls schon Medeia dabei war, sehr unwahrscheinlich ist. Auch der ganze Aiolidenstammbaum, Pelias' Wohnsitz Iolkos und Aison sind in der Odyssee bekannt (λ 235ff.). 9 5 ) Aisons Verjüngung durch Medeia referierten die Nosten (fr. 6 Bethe, Davies = 7 Bernabe). Damit ist entgegen Hölschers Annahme die Wahrscheinlichkeit wieder größer, daß auch die Quelle Artakie in κ 108 alt ist, auf die Odysseus auf dem Weg zu der zu Aia gehörenden Insel bei den Laistrygonen stößt. Eine solche Quelle gab es in historischer Zeit bei Kyzikos; Apollonios Rhodios erwähnt sie I 957. In der Propontis begegnen die Argonauten nach Herodor von Herakleia (um 400 v. Chr. nach Jacoby) FGrHist 31 F 7 Riesen, die mit den Laistrygonen eine gewisse Ähnlichkeit haben, ohne daß Einfluß der Odyssee auf diese Erzählung erkennbar wäre. Da Jason, dem Iliaszeugnis nach zu urteilen, schon vor Odysseus durch die Propontis gefahren sein muß, läßt sich ein Halt bei Kyzikos nicht ausschließen. Damit wäre weder gesagt, daß die Odyssee die Laistrygonen bei Kyzikos ansiedelte, noch daß sie sich in ihrer märchenhaften Schilderung im Detail dem Argonautenepos anschloß. 96) Auch Kirke auf der aiaiischen Insel scheint mehr an das übrige ,Märchenkolorit' der Odyssee angepaßt zu sein, als an das, was von Aia erzählt wird. 9 7 ' Mit der Identifikation von Aia mit Kolchis mag es anders stehen, so wie ja auch die Identifikation von Skylla und Charybdis mit der Meerenge von Messina erst nachodysseisch ist. Der pontische Phineus, in hesiodeischen Fragmenten erwähnt, mag einmal ursprünglich in die Peloponnes gehört haben, wo j a auch die Strophaden zu finden sind, bis wohin die Boreaden die Harpyien verfolgen. Aber solche Versetzungen in andere R ä u m e gibt es j a auch bei anderen Sagengestalten schon früh; die Harpyie Podarge, die Mutter von Achills unsterblichen Rossen (Π 150, Τ 400), gehört auf jeden Fall nach Thessalien. So läßt sich nicht ausschließen, daß auch Phineus schon vor der Odyssee mit Jason in Verbindung stand. Die Heranziehung der bildlichen Zeugnisse zur Datierung der Argonautensage erscheint mir problematisch. 98 ' Das Parisurteil ist erst auf der Chigikanne im 3. Viertel des 7. Jahrhunderts bildlich belegt 99 ', aber (auch nach Hölscher) schon in der Ilias durchgehend vorausgesetzt.

95) Vgl, Mata Vojatzi, Frühe Argonautenbilder (Beiträge zur Archäologie 14), Würzburg 1982, 12. Insoweit behalten Eisenberger, Studien, 149ff., und Hölscher, Odyssee, 171 ff., recht. Damit sei nicht im Sinne Hölschers ein Einfluß einer Gattung des Märchens behauptet, die bisher in der griechischen Frühzeit nicht faßbar ist. 9 8 ) Hölscher möchte die delphischen Argometopen auf die Leichenspiele für Pelias beziehen, derentwegen Orpheus hinzugetreten sei (Odyssee, 183). Inzwischen hat aber George N . Szeliga, The Composition o f the A r g o Metopes from the Monopteros at Delphi, American Journal o f Archeology 9 0 , 1 9 8 6 , 2 9 7 ff., mit guten Gründen dafür plädiert, daß eine A r g o auf See dargestellt ist, auf der Orpheus mitfuhr, und daß die Dioskuren als Schiffsbeschützer zu verstehen sind. K. Fittschen, Untersuchungen zum Beginn der Sagendarstellungen bei den Griechen, Berlin 1969, 169 f. %)

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So spricht vieles dafür, daß bei den oben genannten Motivparallelen zwischen Odyssee und Argonautensage (und das heißt: mündlicher Argonautenepik) die letztere die Priorität besitzt. Dies gilt auch fur die Sirenen. N a c h Kirkes Fahrtweisung m u ß die A r g o auch dort v o r b e i g e k o m m e n sein; falls die odysseeischen Sirenen doch etwas mit den bildlichen Darstellungen von Mischwesen aus Frau und Vogel, die als Todesdämonen vorgestellt waren 1 0 0 ' und später mit den h o m e r i schen Sirenen gleichgesetzt wurden, zu tun haben, würden sie besser in die Argonautensage (und zu Orpheus) passen, die man sich ursprünglich als Jenseitsfahrt denkt. Natürlich läge dann eine starke Abwandlung des Motivs in der Odyssee vor. Schwer entscheidbar ist, ob Thrinakia nicht doch, o b w o h l Jason, nach Kirkes Weisung zu urteilen, nicht dorthin g e k o m m e n ist, etwas mit Kirke und Aietes zu tun hat, also mit Argonautenstoff, weil es die Insel des Helios, des Vaters der Kirke, ist. 1 0 1 ' A u f jeden Fall hat schon ein, wahrscheinlich mündliches, Argonautenepos vor der Odyssee bestanden und die Odyssee motivisch beeinflußt. Ihm verdankt die Odyssee wahrscheinlich manche Anregungen für das M o t i v der B e g e g n u n g des Helden mit verschiedenen Frauengestalten. Möglicherweise sind aus den todbringenden Sirenen der ursprünglichen Sage Wesen geworden, die durch ihr angebliches Wissen die Neugier des Helden wecken (μ 189f.). Kalypso scheint eine vergeistigte K i r k e zu sein, die als Zauberin noch ganz der Argonautensage verhaftet ist. 1 0 2 ' Aus dem realen Zauber wird bei Kalypso der Zauber der S t i m m e und des Wortes. Statt der nicht ohne Folgen bleibenden Verbindung Jasons mit Hypsipyle finden wir in der Odyssee die psychologisch feinsinnig geschilderte B e g e g n u n g mit dem j u n g e n Mädchen Nausikaa, deren Hilfe sich Odysseus zu versichern weiß, ohne seine Zurückhaltung aufzugeben. Was die übrigen Irrfahrten anbetrifft, so ist anzunehmen, daß sie sukzessiv mit der Odysseusgestalt verbunden wurden, ohne daß man über die Reihenfolge, in der das geschah, etwas sagen kann. Teiresias' Prophezeiung im λ 100 ff. kann als Sühneweisung fur Odysseus wegen der Blendung des Polyphem ein relativ altes M o t i v sein. Völlig unklar ist j e d o c h der Ursprung der Odysseusgestalt selbst. 1 0 3 '

к») Vgl. Hildegund Gropengießer, Sänger und Sirenen. Versuch einer Deutung, Archäol. Anzeiger 1977, 582 ff. 101 ' Die Problematik ist von Hölscher, Odyssee, 157 behandelt worden. Er glaubt, daß der Dichter der Heliostochter Kirke die Warnung vor der Heliosinsel Thrinakia absichtsvoll in den Mund gelegt hat. Andererseits kommt Kirke bei der Warnung vor der Thrinakia-Gefahr auf ihre Verwandtschaft mit Helios nicht zu sprechen. Die beiden Aufpasserinnen bei der Herde der Heliosrinder sind die Heliostöchter Phaethusa und Lampetie, die Töchter aus einer Verbindung des Helios mit Neaira sind, während Kirkes Mutter die Okeanide Perse ist (κ 139). 102> Zur Art der Übertragung des Eidmotivs von Kirke auf Kalypso vgl. K. Reinhardt, Tradition und Geist, hrsg. v. Carl Becker, Göttingen 1960, 77 ff. юз) pü r e m e n alten Krieger in frühmykenischer Epik zusammen mit Aias hält ihn ζ. Β. M. L. West, The Rise o f the Greek Epic,JHS 108,1988,159; als alten Giftpfeilschützen gemäß α 255 ff. sieht ihn F. Dirlmeier, Die Giftpfeile des Odysseus, SBHeid 1966, 7 ff.

Ergebnisse der motivgeschichtlichen Forschung zu Homer (Neoanalyse)

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Die Theoklymenosgestalt ist motivisch nach der Melampusgestalt gearbeitet, an die sie genealogisch angeschlossen ist. So bekommt auch das Epos der Odyssee einen eigenen Seher. 1 0 4 '

4. Fremde Motive in der Nekyia Eine Sonderstellung hinsichtlich der äußeren Erweiterung nimmt die Nekyia ein. Mit Recht hat sich Eisenberger gegen die vielen Versuche gewandt, dieses Buch von den Vorstellungen der Homeranalyse her verstehen zu wollen. 1 0 5 ' Wohl aber ist es möglich, von der Motivforschung her die Komplexität der Erzählung zu begreifen. Die Nekyia hat einen dreifachen Charakter. Sie ist einmal Fahrt in das Totenland, zum andern Totenbeschwörung (Nekyomantie) und schließlich Katabasis. Die ersten beiden Motive widersprechen sich logisch nicht. Man kann auch irgendwohin fahren, um dort eine Grube zu graben und die Toten zu beschwören. Trotzdem gehören sie erzähltechnisch ursprünglich nicht zusammen. Wenn gleichwohl die Motive nebeneinander auftauchen, ist daran ihre halbstarre Übernahme schuld, ein Erbe der oral poetry. Anlaß zu analytischen Erwägungen besteht nicht. Das dritte Motiv ist mit den beiden anderen logisch schlechthin unvereinbar. Da zum Kern der Odyssee, so wie wir sie vor uns haben, der Poseidonzorn gehört, schließt sich auf jeden Fall die Teiresiasbefragung an diesen Kern an. Durch sie erfährt Odysseus, wie er den Zorn des Gottes endgültig sühnen kann, nämlich durch Verbreitung des Kults des Poseidon im Binnenland. Die Kontamination der Motive wird zunächst in κ 508 f. deutlich. Dort sagt Kirke, Odysseus werde nach der Fahrt durch den Okeanos zu den Hainen der Persephone gelangen, d. h. es handelt sich insoweit um eine Fahrt ins Totenland, das hier dem Hades angeglichen wird. Tatsächlich gelangt Odysseus im λ aber „an die Grenzen des Okeanos" zur Stadt der Kimmerier (λ 13ff.), im Bereich der ewigen Nacht, also im hohen Norden, gelegen. Persephone wird ein Opfer gebracht (λ 46f.); sie ist auch dabei behilflich, Seelen zu Odysseus zu treiben und wieder zu vertreiben (λ 213f., 226, vgl. 634f.), aber Odysseus begegnet ihr nicht persönlich; auch von ihrem Hain ist nicht weiter die Rede. Ihre Erwähnung im λ paßt insofern weder zum Totenland- noch zum Katabasismotiv. Dies bedeutet, daß auch eine Athetese von λ 14 ff. 1 0 6 ' keine ,Widerspruchsfreiheit' im modernen Verständnis herbeiführt. So ist es das Wahrscheinlichste, daß die Fahrt von der zu Aia gehörenden Insel Kirkes über den Okeanos aus der Argonautensage adaptiert ist. Auch die K i m m e rier können in zeitgenössischer mündlicher Argonautendichtung vorgekommen

> Vgl. Heubeck, O d . - D „ 31. > Studien, 160 ff. 106) Dies ist der Vorschlag von Eisenberger, Studien, 168. 104 105

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sein. Das Motiv der Totenbeschwörung und ihr zentrales Stück, die Prophezeiung des Teiresias, fuhrt die Linie des Poseidonzorns konsequent weiter (vgl. auch κ 525). Man kann vermuten, daß in einer Urodyssee (Götterzorn ist kein Märchenmotiv) die Entsühnung durch Wanderung ins Binnenland mit geschultertem Ruder direkt dargestellt war. Prophezeiungen werden erzählt, damit man ihre Erfüllung später miterleben kann. Diese Erfüllung paßt jedoch nicht in die großepische Odyssee mit ihrem harmonischen Abschluß, und so erscheint sie nur als Ausblick im Gespräch des Odysseus und der Penelope (ψ 248 ff.) und macht deutlich, daß es völliges Glück als Endpunkt menschlichen Handelns nicht geben kann, solange das Leben dauert. Von λ 566 an beginnt die Hadesschau; hier ist das Katabasismotiv wirksam, und das Motiv der Totenbeschwörung tritt in den Hintergrund. Die Erscheinung des Eidolons des Herakles (λ 601 ff.) gibt einen Hinweis auf die Quelle, die in mündlicher Heraklesepik zu suchen sein muß. Denn das Eidolon berichtet selbst von der Heraufholung des Kerberoshundes aus dem Hades. Odysseus war dort nicht der erste Lebende. 107 ' Die Übernahme des Motivs dient dazu, Odysseus auf seinen Irrfahrten zu einer abgerundeten Erfahrung kommen zu lassen, zu der auch das Reich des Todes gehört. *

Als Gesamtbilanz ergibt sich, daß die motivgeschichtliche Forschung bzw. die Neoanalyse die künstlerische Eigenart der homerischen Epen, wie sie sich unter den besonderen historischen Bedingungen einer sich allmählich von der improvisierenden Mündlichkeit lösenden Sangeskultur entwickelte, verständlich zu machen vermag.

,07

> Vgl. P. Von der Mühll, Philologus 93, 1938, 3ff.; ders., R E Suppl. VII Sp. 727f. s.v. Odyssee. Eisenberger, Studien, 186, hat zu Recht ausgeführt, daß die Erzählung bei Apollodor II 122 ff. nicht auf dieselbe Quelle zurückgehen kann. Aber wie die mündlichen Herakleen zur Zeit der Komposition der Odyssee ausgesehen haben, läßt sich ohnehin nicht rekonstruieren. Es fehlt uns jeder Anhaltspunkt zu sagen, wieweit über die allgemeine Motivähnlichkeit von Heraklesstoff und Odyssee hinaus die Odyssee in der Heldenschau von Quellen abhängig ist.

Ergebnisse der motivgeschichtlichen Forschung zu Homer (Neoanalyse)

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Abgekürzt zitierte Literatur

Burkert 1984 Eisenberger, Studien Heubeck, Od.-D. Hölscher, Odyssee Kakridis, Researches Kullmann 1955 Kullmann, W i r k e n Kullmann, Quellen Kullmann 1981 Reinhardt, Ilias Schadewaldt, Homers Welt

W. Burkert, Die orientalisierende Epoche in der griechischen Religion und Literatur, Heidelberg 1984. H. Eisenberger, Studien zur Odyssee, Wiesbaden 1973 ( = Palingenesia Bd. 7). A. Heubeck, Der Odyssee-Dichter und die Ilias, Erlangen 1954. U . Hölscher, Die Odyssee. Epos zwischen Märchen und R o m a n , M ü n chen 1988. 2 1989. J . T h . Kakridis, Homeric Researches, Lund 1949. W. Kullmann, Ein vorhomerisches Motiv im Iliasproömium, Philologus 99, 1955, 167-192. W. Kullmann, Das W i r k e n der Götter in der Ilias, Berlin 1956. W. Kullmann, Die Quellen der Ilias, Wiesbaden 1960 (Hermes Einzelschriften H. 14). W. Kullmann, Zur Methode der Neoanalyse in der Homerforschung, Wiener Studien NF 15, 1981, 5-42. K. Reinhardt, Die Ilias und ihr Dichter, Göttingen 1961. W. Schadewaldt, Von Homers Welt und Werk, Stuttgart 4 1965.

J A M E S P. H O L O K A

Homer,

oral poetry theory, and comparative

major trends and controversies

literature:

in twentieth-century

criticism

1. Introduction We shall find then . . . that [the] failure to see the difference between written and oral verse was the greatest single obstacle to our understanding o f Homer, we shall cease to be puzzled by much, we shall no longer look for much that Homer would never have thought o f saying, and above all, we shall find that many, if not most o f the questions we were asking, were not the right ones to ask. 1 ' With these words, Milman Parry announced his hopes for a definitive solution to the Homeric Question asked in F. A. Wolf's Prolegomena ad Homerum (Halle 1795). As we shall see, Parry's solution was not fashioned ex nihilo; it was rather a result o f the fusion o f several strands o f ongoing research. Nonetheless, Parry's clarification o f major issues o f literary history and his exploration o f compositional technique by stylistic analysis coupled with novel comparative study have ensured him prominence both in classical studies and in the larger field o f world literature. I shall outline the progression o f oral poetry theory, beginning with Parry's immediate antecedents and concluding with current developments. As an exercise in the cartography o f scholarship, I shall focus on the theory's impact on several branches o f twentieth-century Homeric studies, as well as on its stimulation, in general, o f the discipline o f comparative research in oral poetry. Finally, I shall show how the neglect o f essential theoretical discriminations has led to pointless scholarly controversy and even impeded proper appreciation o f Homer's poetry.

For the bibliogr. abbreviations see p. 481. '' M . Parry, Studies in the Epic Technique o f Oral Verse-Making, I: H o m e r and Homeric Style. Harvard Studies in Classical Philology [ H S C P ] 41 (1930), 77 = A. Parry 1971, 2 6 9 = (in German) Latacz 1979, 184.

Homer, oral poetry theory, and comparative literature

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2. The Immediate Antecedents of Oral Poetry Theory Prevailing Analytical notions regarding multiple authorship of the Iliad and the Odyssey shaped linguistic study of the poems in the nineteenth century. Although a universally agreed upon stratigraphy of the poems' content remained elusive, and although the texts of, for example, Bekker, Fick, and Robert (with Bechtel) were vitiated by mistaken theoretical preconceptions about composition, there was much useful synchronic analysis of the language of the epics directed not at reconstruction of an ,,Ur-text", but simply at a fuller awareness of the nuances of diction and meter. Thus, scholars like Düntzer, Ellendt, and Hinrichs 2 ' were already, in the later nineteenth century, beginning to account for morphological and dialectal peculiarities as features of a hexametric language of long lineage. This was further confirmed in the important writings of Kurt Witte 3 ', who, with K. Meister 4 ', was Parry's most immediate creditor. Witte's examination of the dialect mixture in the Homeric poems led him to the hypothesis of an artificial language that had come into existence under the pressure of verse-form. Never a living, everyday language for any specific people in any one time and place, the Kunstsprache displayed in the Homeric epics is the product of centuries-long accretion. It is a simultanous order of forms, including dialectal elements (Aeolic datives in -εσσι and so on) that yield a host of metrically useful morphological variants. Witte maintained that metrical exigency also explained the reliance of the language on formulas — word combinations especially apt for use at specific positions in the hexameter line.

3. Parry's Work, Phase I: Stylistic Analyses Such strands of argument Parry gathered and reinforced with carefully collected statistical evidence in his landmark University of Paris dissertation, L'Epithete traditionnelle dans Homere: Essai sur un probleme de style homerique (Paris 1928).5' N o w rote lists of repetitions in Homer had long been accessible in concordances and the Parallel-Homer of Carl Schmidt. 6 ' Parry's unique contribu2)

C. Hinrichs, De Homericae elocutionis vestigiis Aeolicis, Diss. Berlin 1875. O n J. E. Ellendt and H. Düntzer, see the selections in Latacz 1979, 60-87 & 88-108, and the discussion on pp. 6—9 of the Einfuhrung. 3) A selection of Witte's most important papers (orig. 1909-1914) is reprinted in: Zur homerischen Sprache, Darmstadt 1972; and see Latacz 1979, 109-17. 4) Die homerische Kunstsprache, Leipzig 1921. 5) Translated into English in A. Parry 1971, 1-190; see, too, the supplementary thesis, Les Formules et la metrique d'Homere, Paris 1928 = A. Parry 1971, 191-239. 6) С. E. Schmidt, Parallel-Homer oder Index aller homerischen Iterati in lexikalischer Anordnung, Göttingen 1885 (repr. 1965). Concordances: G. L. Prendergast, A. Complete Concordance

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tion, however, was to explain the dynamics of language production within the Dichtersprache by his careful examination of Homer's use of the „formula", 7) which he defined as „a group of words which is regularly employed under the same metrical conditions to express a given essential idea." 8 ' Specifically, he identified traits of economy (or thrift) and scope (or length) in the systems of repetition in the Homeric poems. He selected noun-epithet constructions as best illustrative of these properties. For each of the principal characters of the epics, there was a noun-epithet formula in the nominative case to fill the space between the trochaic caesura and the end of the verse; Parry identified over fifty different such formulas. This constituted the length of the system. Further, there was very seldom more than one such formula for a given character; hence the thrift of the system. Parry unflinchingly asserted that a poetic language of such characteristics was beyond the creative powers of any one poet or, indeed, of any one generation of poets. This seemed to many to sound the death-knell for the sublimely inventive poet whose creative genius was being so resolutely reasserted by the Unitarian critics of the early twentieth century. Already, the whole notion of a „traditional book" had posed, for example in the work of Gilbert Murray, a serious threat to conventional ideas of unified composition. Murray had maintained that the poetic excellence of the Homeric poems should be assessed in light of their distinctively traditional nature: each individual poet was a participant in and a contributor to that tradition; concomitantly, no one poet should be credited with the artistic greatness of the Iliad and the Odyssey: we shall find among the causes of that greatness something nobler and more august than the genius of any individual man . . . Each successive poet did not assert himself against the tradition, but gave himself up to the tradition, and added to its greatness and beauty all that was in him. The intensity of imagination which makes the Iliad alive is not . . . the imagination of any

to the Iliad of Homer, London 1875; H. Dunbar, A Complete Concordance to the Odyssey and Hymns of Homer ..., Oxford 1880 - both revised by B. Marzullo, Hildesheim 1962 (Darmstadt 3 1983 [Iliad]). 7 > Cf. F. W. Householder & G. Nagy, Greek, in: Current Trends in Linguistics 9 (1972), 739: „Even before Parry, of course, there had been recognition of Dichtersprache as opposed to natural language in Homer. But the stress was on the artificiality itself rather than on the internal dynamics producing it . . . The prime concern for Witte was the . . . dialectal layers in Homer ..., and this trend in interest was productively continued in such distinguished works as Meister's Die homerische Kunstsprache (1921). But the factor of varying dialectal layers is not germane to the issue: aside from the question of dialect, it is Parry's concept of the formula, and the dynamism o f j e u x des formules, which led to a more profound understanding of Dichtersprache, with its self-sustained equilibrium and momentum partially detached from the natural language but constantly affected by it and originally even united with it." 8 > M. Parry 1930 (note 1 above), 80 = A. Parry 1971, 272 = Latacz 1979, 187.

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one man. It means not that one man of genius created a wonder and passed away. It means that generations of poets, trained in the same schools and a more or less continuous and similar life, steeped themselves to the lips in the spirit of this great poetry. They lived in the Epic saga and by it and for it. Great as it was, for many centuries they continued to build it up yet greater. 9 ' N o w that Parry had brought the issue out of the haze of generalization, the poet's voice seemed more certainly that of Tradition, of untold numbers of dead poets who had cooperated in the fabrication of a wonderfully serviceable artificial language. Only after writing his French theses did Parry become convinced that he was describing an oral style. His 1929 article on enjambment 1 0 ' contains the first assertion of the likelihood of oral composition of the Homeric poems. Specifically, he attributes to the circumstances of improvisation the distinctive „additive" or paratactic quality of versification, witnessed in, among other things, the much lower incidence of necessary emjambment in Homer than in Apollonius Rhodius or Vergil. 11 ' An oral composer had need of a pause at line-end to decide whether to end his sentence or to draw it out as the narrative moment might require. In his two important and programmatic Harvard Studies papers, Parry explored the full implications of orality and, most significantly, carried the results of his empirical studies into the realm of literary evaluation. What he had to say in this regard directly contradicted the Unitarian credo of individual creativity inherent in Homer's artistry. We should not seek in the Iliad and the Odyssey for Homer's own style. The poet is thinking in terms of the formulas. Unlike the poets who wrote, he can put into verse only those ideas which are to be found in the phrases which are on his tongue, or at the most he will express ideas so like those of the traditional formulas that he himself would not know them apart. At no time is he seeking words for an idea which has never before found expression, so that the question of originality in style means nothing to him. 12 '

9 > Gilbert Murray, The Rise of the Greek Epic, Oxford 1907. 41934, 241, 256. Compare the nineteenth-century notion of the autochthonic „folk-epic", for example, in H. Steinthal, Das Epos. Zeitschrift fur Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft 5 (1868), 1—57. 10 ' The Distinctive Character of Enjambement in Homeric Verse. Transactions of the American Philological Association [ТАРА] 60 (1929), 200-220 = A. Parry 1971, 251-65. n ' Parry's statistics and conclusions have been rejected by some: D.L. d a y m a n & T. van Nortwick, Enjambement in Greek Hexameter Poetry. ТАРА 107 (1977), 85-92, „there is no special relationship between unperiodic enjambement and oral composition." Others have refined and reaffirmed them: see M. Cantilena, Enjambement e poesia esametrica orale: una verifica, Ferrara 1980. 12 > M. Parry 1930 (note 1 above), 146-47 = A. Parry 1971, 324 = Latacz 1979, 242.

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This statement is an intrusion by oral theory into the field of literary criticism, an infringement that was to polarize scholarly opinion and trigger an emotional response in many readers and critics of Homer. For Parry's dictum regarding the inapplicability of conventional notions of artistic originality to the Homeric epics seemed to preclude the search for carefully devised and intentionally deployed meanings in the poems. In short, Parry forbade higher criticism as it had been practiced for two and a half millennia! For Parry, the whole issue was whether we should read Homer as we read written poetry, which is for us the natural form of poetry, or whether we should not rather try to gain for our reading the sense of style which is proper to oral song. 13 '

4. Parry's Work, Phase II: Comparative Oral Epic Comparative literature had furnished a vital subdiscipline of modern Homeric scholarship at least since Robert Wood's comparison of Homer with Ossian in his Essay on the Original Genius and Writings of Homer (London 1769; 2nd ed. 1775).14' By the late nineteenth century, a wide range of nonclassical poetries had been examined for parallels with Homeric epic. 15 ' For example, Andrew Lang's Homer and the Epic (London 1893) includes enlightening discussion of analogies between the Iliad and the Chanson de Roland. W. P. Ker's Epic and Romance (London 1897) and H . M . Chadwick's Heroic Age (Cambridge 1912) are complementary studies detailing the social and intellectual premises of heroic poetry. Contemporaneous with Parry's comparative works was С. M. Bowra's Tradition and Design in the Iliad (Oxford 1930), which used analogy with other „primitive" epics to illustrate the artistry of Homer. In 1932, the first volume of the Chadwicks' compendious Growth of Literature 16 ' began an unprecedented survey of the world's repository of primitive poetry. Milman Parry gave a new impetus to such comparative study of epic poetry. With the second of his Harvard Studies articles17', he had sought to consolidate the case for oral composition strictly on the basis of internal linguistic and stylistic evidence. He now sought to test this structure of theory against the observed practices of a living tradition of oral poetry. His choice of Yugoslav epic was

13

> About Winged Words. Classical Philology [CP] 32 (1937), 63 = A. Parry 1971, 418. ' See K. Simonsuuri, Homer's Original Genius: Eighteenth-Century Notions of the Early Greek Epic (1688-1798), Cambridge 1979. 15) See R . C . Jebb, Homer: An Introduction to the Iliad and the Odyssey, Glasgow 1887, 131-36. 16 > H . M . & N . K . Chadwick, The Growth of Literature, 3 vols., Cambridge 1932-36-40. 17 ' Studies in the Epic Technique of Oral Verse-Making, II: The Homeric Language as the Language of an Oral Poetry. HSCP 43 (1932), 1-50 = Parry 1971, 325-64. 14

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prompted by the work o f Mathias Murko 1 8 ' o f the University o f Prague; Murko had attended Parry's soutenance de these, probably at the invitation o f Antoine Meillet. 19 ' In 1933 and again in 1934-35, Parry made extensive field studies in Yugoslavia, overcoming considerable logistical obstacles. 20 ' He collected some 13,000 SerboCroatian texts, including about 3,500 phonograph discs. An example o f the sort of corroborative evidence Parry thus found is contained in his study o f „Whole Formulaic Verses in Greek and Southslavic Heroic Song", 2 1 ' written shortly after his first trip to Yugoslavia. Here, for the first time in the comparative study of epic, we find a scientific method of inquiry used to sharpen general notions of similarity between Homer and a demonstrably oral poetry: When one hears the Southern Slavs sing their tales he has the overwhelming feeling that, in some way, he is hearing Homer . . . When the hearer looks closely to see why he should seem to be hearing Homer he finds precise reasons: he is ever hearing the same ideas that Homer expresses, and is hearing them expressed in phrases which are rhythmically the same, and which are grouped in the same order . . . In both the poetries we find the same idea being stated in just the length of a verse, or in the part o f the verse which stretches just from one of the rhythmic breaks to one o f the verse ends.22' Here was substantiation by analogy from a living oral poetry of a deduction made four years before in the paper on enjambment.

18) Esp. La Poesie populaire epique en Yougoslavie au debut du X X е siecle, Paris 1929; see also: Neues über Südslavische Volksepik. Neue Jahrbücher für das Klassische Altertum, G e schichte und deutsche Literatur 22 (1919), 2 7 3 - 9 6 = Latacz 1979, 1 1 8 - 5 2 .

See the Foreword to C o r Huso: A Study o f Southslavic Song, in: A. Parry 1971, 4 3 9 - 4 1 . A. Parry 1971, x x x v i : „ T h e r e were no rules laid done for Parry's investigation. He had to learn the language, which meant getting to k n o w a good deal o f dialect; to choose his assistants; and to evolve the best methods o f approaching singers and prevailing on them to sing. T h e recording equipment, involving aluminium discs, he had built by a firm in Waterbury, C o n n . , and for power he depended on the battery o f his Ford V - 8 (1934), which he brought over to Jugoslavia with him. Banditry was not u n c o m m o n in the inland valleys, and an air o f risk and adventure always accompanied Parry's several trips into the interior." And see, in general, pp. xxxiv—xli. T h e „air o f risk and adventure" has apparently not altogether disappeared from such field w o r k — see G. Leuze, Guslari u Jugoslaviji; Volksgesang im heutigen Jugoslawien; Erster Bericht: D e r äußere R a h m e n . W ü r z b u r g e r Jahrbücher für die Altertumswissenschaft [ W J A ] 12 (1986), 2 1 - 3 4 , esp. 22. 21> ТАРА 64 (1933), 1 7 9 - 9 7 = A. Parry 1971, 3 7 6 - 9 0 = (in German) Latacz 1979, 2 6 7 - 8 8 . 22> Ibid., 182 = 3 7 8 = 271. Despite his apparent reliance on scientific method, for Parry the appeal o f oral poetry (and thus o f H o m e r ) was fundamentally romantic: H. Levin, Portrait o f a H o m e r i c Scholar. C P 32 (1937), 266 = id., Grounds for Comparison, Cambridge, Mass., 1972, 146: „ T h e m o m e n t he cherished most occurred toward the end o f one o f his earliest days in the Serbian hills, during the summer o f 1933. T h e y had settled at an inland village and at length c o m e across a guslar, the first epic poet Parry had ever known, an old man w h o claimed 20'

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The potentials of this sort of comparative study were immense. Unfortunately, Milman Parry himself did not live to participate in the further application of his discoveries to the analysis of oral poetry — that has been left to his successors.23) Milman Parry's goal had been F. A. Wolf's — to recapture the true mode of existence of the Iliad and the Odyssey. Wolf had postulated the oral genesis of Homeric poetry; Parry brought home implacably the full implications of oral provenance. He asked that we recalibrate our criteria of aesthetic evaluation to an art toto caelo different from that for which those criteria had originally been designed. He justified such a recalibration by removing an impenetrable barrier of time: his examination of a modern equivalent for an irreclaimable ancient situation yielded results superseding those of200 years of historical reconstructionism. These results required that terms such as „originality", „creativity", „unity", „structure", either be carefully redefined or else excised altogether from our critical idiom where oral poetry was concerned. Since the bulk of Parry's published work is devoted to the compilation of evidence in support of particular arguments, it is not easy to isolate the philosophic bases of his thought. But in an address near the end of his life on „The Historical Method in Literary Criticism", Parry made it clear that his work had always been actuated by an unswerving allegiance to science and the historical method; he alluded again to a question from Ernest Renan's The Future of Science24) with which he had opened his dissertation on traditional epithet: H o w can we seize the physiognomy and the originality of early literatures if we do not enter into the moral and intimate life of a people, if we do not place ourselves at the very point in humanity which it occupied, in order to

to have been a warrior in y o u t h and to have cut off six heads. All afternoon he sang to t h e m about his battles. At sunset he put d o w n his gusle and they m a d e h i m repeat a n u m b e r of his verses. Parry, very tired, sat m u n c h i n g an apple and watching the singer's grizzled head and dirty neck b o b u p and d o w n over the shoulder of Nikola, the Hercegovinian scribe, in a last ray of sunlight. ,1 suppose', he w o u l d say, in recalling the incident, w i t h crisp voice and halfclosed eyes, ,that was the closest I ever got to H o m e r . ' " Cf. A. Parry, 1971, x x x v i - x x x v i i : „Parry himself loved to dramatize w h a t he was doing. T h e p h o t o g r a p h of h i m in native dress costume [p. 438] . . . reveals a romantic and even histrionic side of himself which reminds one of Т. E. Lawrence . . . Parry was in a w a y romantic, b u t in another way, logical." I am grateful to Prof. E . - R . Schwinge for r e m i n d i n g m e of this curious m i x of scientist and r o m a n t i c in M i l m a n Parry. 23) Apart f r o m a f e w tantalizing, brief pieces: a review of W. A r e n d ' s Typische Scenen bei H o m e r . C P 31 (1936), 357-60 = A. Parry 1971, 4 0 4 - 7 = (in German) Latacz 1979, 289-94; an abstract of a proposed article on H o m e r and Huso, I: T h e Singer's Rests in Greek and Southslavic Heroic Songs. ТАРА 66 (1935), xlvii; and several pages of a projected b o o k entitled T h e Singer of Tales, in: A. Lord, H o m e r , Parry, and Huso. American Journal of Archaeology [AJA] 52 (1948), 3 7 - 4 0 = A. Parry 1971, 469-73. 24 > L'avenir de la science, Paris 5 1890.

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see and to feel with it, if we do not watch it live, or rather if we do not live for a while with it?25' Milman Parry's work, though sometimes called revolutionary, was in reality only a high point in the positivistic trend in literary scholarship (and especially in classical studies) dating back to the nineteenth century. This was a movement based, as Rene Wellek has said, on „the whole underlying assumption that literature should be explained by the methods of the natural sciences, by causality, by such external determining forces as are formulated in Taine's famous slogan of race, milieu, moment." 2 6 ' Parry's statistical orientation emulated the procedures of the exact sciences. Here was no mere impressionistic aestheticism; here was a „hard science" methodology, one that, by careful scientific observation of a text, located cause and effect in a specific historical moment — oral performance. 27 ' O r so it seemed.

5. Hard Parryism Parry was fortunate in leaving behind a student and co-worker who has proved a most fervent and energetic apostle. Parry himself did not live long enough after making his monumental collection to think out his theory in detail, let alone to develop it and present it to the learned world in completeness. Working from the clues that he left, I have tried to build an edifice of which he might approve. 28 ' Albert Lord's Singer of Tales (Cambridge, Mass. 1960) offers an extensive report from „the living laboratory of Yugoslav epic." The bulk of discussion centers on the education of the singer, the various stages of apprenticeship from novice to professional. The compositional devices of formula and theme are treated and the equivalence of performance and composition is repeatedly stressed. Lord

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> Harvard Alumni Bulletin 38 (1936), 778 = A. Parry 1971, 409. ' R . Wellek, The Revolt against Positivism in Recent European Literary Scholarship [orig. 1946], in Concepts of Criticism (ed. S.G. Nichols), N e w Haven 1963, 256. Cf. S. Rothblatt, The Revolution of the Dons, London 1968, 153: „In Cambridge in the 1860s the very air seemed full of Comtianism . . . Historical method was replacing the older science of human nature with its stress on psychology and logic. Biblical and classical scholarship had become increasingly historical-minded." 27 ' Taine used the analogy of the study of fossil shells: „ W h y do you study the shell, except to bring before you the animal? So you study the document only to know the man. The shell and the document are lifeless wrecks, valuable only as a clue to the entire and living existence. We must get hold of this existence, endeavor to re-create it": Literary Criticism: Pope to Croce (ed. G. W. Allen & H . H . Clark), Detroit 1962, 482. 28 > Lord 1960, 12. 26

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particularly emphasizes the fluidity of tradition, the absence of textual fixity, and the innocence of the unlettered guslar of even the very notions of syllable, word, or line. He explains the effects on songs of variations in audience stability. One learns, too, of the evaluative criteria of a ciritical audience, of the importance, for instance, of the singer's facility in „ornamentation" of thematic „multiforms". Chapters on Homer and various medieval poems of possible oral origin make recommendations about their correct appreciation. Lord's own contributions to oral theory (to the extent that they may be distinguished from Parry's) focus on two subjects: thematic composition, and the oral dictated text. Themes such as arming, eating, sailing, oath-taking, etc. had already been studied by Walter Arend in Die typischen Scenen bei Homer (Berlin 1933). Parry himself had praised the book for „not finding falsely subtle meanings in the repetitions"29^ and suggested a causal explanation of the phenomena: a rich oral tradition had facilitated the improvisation of such scenes, with varying ornamentation of core elements to suit the poet's needs. Lord sought to show that just as line-by-line composition proceeded by the instinctive placement of interacting formulas, so too scene-by-scene composition advanced by the disposition and interplay of themes or complexes of themes. 30) We are apparently dealing here with a strong force that keeps certain themes together. It is deeply embedded in the tradition; the singer probably imbibes it intuitively at a very early stage of his career. It pervades his material and the tradition.31^ Parry's work on stylistics had aimed at proving the all-pervasiveness of formulas in Homer. A van Gennep had found a parallel for this extensive formularity in Serbian epic, 32 ' and Parry's own work in Yugoslavia seemed to confirm it. N o w Lord was arguing, also on the analogy with Serbocroatian poetry, that larger verbal aggregates exhibited the same relative fixity and that an entire song should be thought of as a sequence of multiforms — more or less elaborated — each summoning to mind other individual themes or complexes. The formulaic systems and thematic patterns were clues to the oral genesis of the compositions. Thus, individual genius was less responsible than the tradition for organizational accomplishments on all levels. The resources of the tradition and variable circumstances of performance (audience stability, etc.) gave each song its particular shape. 29

> Parry 1936 (note 23 above), 360 = A. Parry 1971, 407 = Latacz 1979, 294. > Cf. Homer's Originality: Oral Dictated Texts. ТАРА 84 (1953), 127: „The themes of oral poetry are the repeated narrative or descriptive elements, and they function in building songs in much the same way in which the formulas function in building lines. The formula content of the theme is variable depending on the wishes of the singer to lengthen or shorten his song" [ = Kirk 1964, 71 = Latacz 1979, 311]. 31 > Lord 1960, 98. 32 > La Question d'Homere, Paris 1909. 30

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In an effort to induce the performance of a poem of Homeric dimensions, Parry engaged the most skilled singer of tales he encountered, Avdo Mededovic. The result of two weeks of singing (four hours per day) was the 12,311-line Wedding of Smailagic Meho. 33 ' While its quality has been variously assessed, its sheer length showed that songs of Homeric scale were within the competence of an unlettered singer. In 1953, Lord drew the conclusion that oral dictation may have been responsible for the magnitude of Homer's monumental epics. An eighthcentury Milman Parry had taken advantage of the newly domesticated Phoenician alphabet to transcribe the work of a consummate genius. The great length and excellence of the epics are attributable in part to optimum conditions of performance/composition. 34 ' This theory rehabilitated the notion of ipsissima uerba. Though the tradition was fluid and no one song was ever exactly repeated, the rhapsodes, by Lord's theory, may have had access to an authentic transcription obtained in the eighth century В. C. just as Avdo's had been in 1935. Further, the sharp stylistic distinction

33) Lord 1948 (note 23 above), 42 = A. Parry 1971, 476; Lord notes that „another song from the same singer [Parry Collection, Text no. 6082] . . . runs to about the same length." See A. B. Lord & D. E. Bynum (ed. & trans.), The Wedding Song of Smailagic Meho, 2 vols., Cambridge, Mass. 1974. As Prof. W. Burkert has pointed out to me, the validity of this particular experiment in oral dictation is perhaps somewhat undermined by the fact Avdo had heard a version of the poem read from a printed edition some years before performing it for Parry. But, given the great disparity in length between the two versions (2160 lines vs. Avdo's 12,311), I am inclined to agree with Lord 1960, 79, that „Avdo made no attempt to memorize a fixed text. He did not consider the text in the book as anything more than the performance of another singer; there was nothing sacred in it . . . If the printed text is read to an already accomplished oral poet, its effect is the same as if the poet were listening to another singer." There is a succinct discussion of the complicated pedigree of the Wedding Song in E. Kujundzic's foreword to his Serbocroatian reprinting of the 1974 Harvard edition: Zenidba Smailagic Mehe, Sarajevo 1987. On the question of the utility in general of the Homer/Avdo analogy, see D. Wender, Homer, Avdo Mededovic, and the Elephant's Child. American Journal of Philology [AJP] 98 (1977), 321—^1. 34 > Homer's Originality (note 30 above), 132-33 = Kirk 1964, 76-77 = Latacz 1979, 317: „The chief advantage to the singer of this manner of composition is that it affords him time to think of his lines and of his song. His small audience is stable. This is an opportunity for the singer to show his best, not as a performer, but as a storyteller and poet. He can ornament his song as fully as he wishes and is capable; he can develop his tale with completeness, he can dwell lovingly on passages which in normal performance he would often be forced to shorten because of the pressure of time or because of the restlessness of the audience. The very length of the Homeric poems is the best proof that they are products of the moment of dictation rather than that of singing. The leisureliness of their tempo, the fullness of their telling, are also indications of this method." Avdo Mededovic's song, too, is abnormally long within Serbian tradition; as Prof. Latacz remarked to me per ep., „In normal circumstances, Avdo would never have sung a song of that length . . . Avdo was hired by Parry for eight days . . . and he made the best of it"; cf. B. Hemmerdinger, Epopee homerique et lais hcroiques serbes. Revue des Etudes Grecques 90 (1977), 78-80.

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between poems of unlettered singers and literary productions — the central axiom of the Yugoslav analogy — was not jeopardized. There was now, on Lord's view, no need to postulate a literate poet in order adequately to account for the organizational and artistic skill manifest in the Iliad and the Odyssey. James Notopoulos joined Lord in the work of consolidating Milman Parry's oral theory as a scholarly subdiscipline. His own comparative contributions were in the area of Modern Greek rather than Yugoslav literature. 35 ' Perhaps most important in Notopoulos's work, however, was his insistence not only on the likelihood of an illiterate Homer but also on the need for a specialized critical instrument by which to explicate his poetry. One of the most important implications of Parry's work is the need for an aesthetics which emanates from an understanding of the oral technique of composition, the form and mentality of oral poetry. 36 ' The work of Lord and Notopoulos as well as of their students and converts in propagating Milman Parry's theory of oral composition has been marked by an almost fanatical loyalty to the master. For them, his writings constitute an ipse dixit of almost theological quality. One result of this hagiographic attitude has been a certain rigidity, a narrowness of outlook that has brought conflict of course with scholars who reject oral theory, but also with those who would modify or revise it. As time passes, fewer and fewer true believers remain: Albert Lord may be the last as well as the first!

6. Early Reaction among Homeric Scholars In the first twenty-five years after Parry's death in 1935, scholars pursuing traditional directions of investigation reacted only very slowly to his theory of oral composition. Before the publication of his collected papers in 1971, his Paris dissertations were not translated from the French and all of his later work appeared only in scholarly journals. The disruptions caused by the Second World War also slowed reaction. Albert Lord's Harvard dissertation was not completed till 1949 and not published till 1960 (as The Singer of Tales). Developments were more rapid and far-reaching after 1960. Regarding the impact of Parry's work on Homeric criticism, we may safely say that it hastened the demise of the already moribund old-style Analysis. The theory of oral composition of Homer's poems furnished new explanations for the putative narrative inconsistencies that Analysts attributed to multiple authorship.

35) See esp. Notopoulos 1964 and Parataxis in Homer: A N e w Approach to Homeric Literary Criticism. ТАРА 80 (1949), 1-23. 36 > Notopoulos 1964, 48.

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An oral poet simply did not work from the logical presuppositions of a lettered composer: inconcinnities in his work are not traces of poor editorial management by some inept later compiler; they are rather quite typical of the oral storytelling techniques observed in the field and postulated by analogy for Homer. The Analysts' very perception of them as inconsistencies results from the misapplication of literary standards to oral poetry. In fact, Analysis has been almost entirely supplanted by Neoanalysis 37 ', which stresses not textual alterations and manipulations subsequent to Homer, but the influences of pre-existing epic materials available to Homer and adapted (more or less smoothly) for use in the Iliad and the Odyssey. 38 ' As, for example, A. Heubeck 39 ' and W. Kullmann 40 ' have pointed out, Neoanalysis might seem readily amenable to oral theory, since it too presupposes earlier versions of epic tales, couched in a formulaic idiom maturing slowly over a long time. And, indeed, some critics have harmonized the two critical outlooks: Bernard Fenik 41 ' in the United States, for example. The majority of Neoanalyst practitioners, however, insist on a literate Homer. „It was the original intention of neoanalysts to bridge the gap between unitarianism and (old) analysis." 42 ' The Neoanalysts, like the Unitarians, believe in „a comparatively high degree of individual creation in the Homeric epics." To this creativity, writing seems indispensable. Already in the quarter century before Parry began his work, Unitarian scholars had carried far the process of illuminating and assessing the marks of a single organizing genius behind the Iliad and the Odyssey. Unitarian reaction to Parry's oral theory was essentially to reject (or ignore) it as inadequate to account for the

37 ' Exceptions are A. Dihle, Homer-Probleme, Opladen 1970, and H. van Thiel, Iiiaden und Ilias, Basel 1981. 38 ' See W. Kullmann, Zur Methode der Neoanalyse in der Homerforschung. Wiener Studien 15 (1981), 5—42, and Μ. Ε. Clark, Neoanalysis: A Bibliographical Review. Classical World [CW] 79 (1986), 379-94. 39) Die Homerische Frage, Darmstadt 1974,151: „Daß die neoanalytische Forschungsrichtung und ihre Ergebnisse zu denen der oral-poetry-Forschung nicht in unüberbrückbarem Gegensatz zu stehen brauchen, daß sie sich vielmehr in glücklicher Weise ergänzen können, sollte nicht übersehen werden." 40) Oral Poetry Theory and Neoanalysis in Homeric Research. Greek, Roman, and Byzantine Studies 25 (1984), 311: „The two approaches do not contradict each other in all their components. The basic results of the research done by Parry and his followers were accepted by almost all Homeric scholars when they were presented. Neoanalysts share the basic conviction that the necessities entailed by improvised poetry account for the formulaic character of Homeric language . . . " 41 ' See, e.g., „Iliad X " and the „Rhesus": The Myth, Brussels 1964, and Homer: Tradition and Invention, Leiden 1978. Cf. L . M . Slatkin, The Wrath of Thetis. ТАРА 116 (1986), 1-24, and G. Crane, Calypso: Backgrounds and Conventions of the Odyssey, Frankfurt a. M. 1988. 42 > Kullmann 1984 (note 40 above), 311; cf. J.T. Kakridis, Homeric Researches, Lund 1949, 9-10.

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structural complexity and artistic richness of Homer's poetry. In German-speaking areas, Albin Lesky made clear the importance of oral theory while noting also its shortcomings 43 ', and such scholars as W. Schadewaldt 44 ' and A. Heubeck 45 ' took account of Parry's work, but finally argued that, though Homer's antecedents may have been oral bards, he himself far surpassed them. Others, like K. Reinhardt 46 ' and F. Eichhorn 47 ' went forward with their Unitarian studies, either unaware of Parry's work or simply dismissing it out of hand. In the United States, already in 1938, the Unitarian Samuel Bassett attacked Parry for „reviving the nineteenth-century hypothesis that Homer was not, at least in ideas and diction, a great creative poet, but rather the last of a long series of ever-inferior bards." 48 ' Bassett was among the first of many to question the validity of the Yugoslav analogy because „South-Slavic folk poetry . . . produced no Homer." 4 9 ' For many critics, the very idea of unlettered composition carried negative connotations. In the United States W. C. Greene 50 ' and in Britain С. M. Bowra 51 ', a scholar who did much to disseminate Parry's findings, both argued that Homer must have used writing. Indeed, as Prof. Latacz has rightly observed, Lord's theory of the oral dictated text is a kind of compromise measure, preserving an oral Homer but accounting for both the manner of transcription and the

43)

A. Lesky, Mündlichkeit und Schriftlichkeit im homerischen Epos, in: Festschrift für Dietrich Kralik, Horn 1954, 1 - 9 = Gesammelte Schriften, Bern 1966, 63-71 = Latacz 1979, 297-307; and Homeros, in: R E Suppl. 11, Stuttgart 1967, 687-846. German readers should now consult the concise, well-informed, and very current discussion in D. Boedeker, Amerikanische Oral-Tradition-Forschung: Eine Einführung, in: Vergangenheit in mündlicher Uberlieferung [Colloquium Rauricum Bd. 1] (ed. J. von Ungern-Sternberg & Η. Reinau), Stuttgart 1988, 34-53. 44 ' See, e.g., W. Schadewaldt, Die epische Tradition, in: Der Aufbau der Ilias: Strukturen und Konzeptionen, Frankfurt a.M. 1975, 26-38 = Latacz 1979, 532-37. 45 ' See note 39 above. 46 > Die Ilias und ihr Dichter (ed. U. Hölscher), Göttingen 1961. 47 ' E.g., Homers Odyssee: Ein Führer durch die Dichtung, Göttingen 1965; cf., in France, E. Delebecque, Construction de l'Odyssee, Paris 1980, and, in the United States, G.E. Dimock, The Unity of the Odyssey, Amherst, Mass. 1989. 48 > The Poetry of Homer, Berkeley 1938, 18. 49) Ibid.; cf. the strictures in F. Dirlmeier, Das serbokroatische Heldenlied und Homer, Heidelberg 1971. 50 > The Spoken and the Written Word. H S C P 55 (1951), 23-59. 51 > His paper, The Comparative Study of Homer. AJA 54 (1950), 184-92, and his Heroic Poetry, London 1952, contain significant notices of Parry, but none the less insist on a semiliterate Homer at the least; it is only in Homer and His Forerunners, Edinburgh 1955, that Bowra subscribes explicitly to a thoroughly oral poet and follows Lord (without referring to him) in positing an eighth-century dictated text. Cf. Bowra, Memories: 1898—1939, Cambridge, Mass. 1967, 322: „I like to think that I was one of the first Englishmen to grasp the importance of Parry's work."

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monumental scale of the epics. 52 ' An English historian, H.T. Wade-Gery, went so far as to conjecture that the principal motive for adopting alphabetic writing in Greece was to record Greek verse; 53 ' again, the structure and dimensions of the poem were seen as conclusive evidence. Thus, many scholars simply could not accept oral theory on aesthetic grounds. Those receptive to it as an explanation of composition often saw dire consequences for the enterprise of literary criticism. Parry himself had written a telling critique 54 ' of a paper by his former teacher, George M. Calhoun 5 5 ' of Berkeley, in which he objected to the detection of precise and subtle significance in Homer's use of the „winged words" formula. In this case, Parry argued that the oral poet was merely drawing on a speech introduction formula that usefully avoided repetition of a speaker's name mentioned just previously. In a pair of sobering articles, F. M. Combellack observed that Parry had effectively disallowed conventional literary criticism by showing that Homer's poems were not literary at all. As for the identification (or assumption) of deliberate artistic purpose, „the hard fact is that in this post-Parry era critics are no longer in a position to distinguish the passages in which Homer is merely using a convenient formula from those in which he has consciously and cunningly chosen le mot juste." 5 6 ' This was an intolerable impasse. While some critical studies of Homer remained strongly magnetized to the core of Parry's and Lord's theoretical axioms, many critics, particularly in England, France, and Germany, chose simply to proceed with conventional literary analysis of a Unitarian cast, either relying on the conviction that Homer was literate (defended or undefended by historical evidence) or not bothering to confront the issue of oral vs. literate genesis at all. Others, especially in England and the United States, subscribed to oral theory as cogent literary history while engaging in literary criticisms essentially unmodified by that subscription. But perhaps the largest contingent of scholars preferred to revise oral theory to bring

5 2 ) Latacz 1979, 13-14; so too, A. Lesky, A History o f Greek Literature (trans. J. Willis & C . de Heer), London 1966, 38-39, speaks of the theory as „a halfway house." 53 ) The Poet o f the Iliad, C a m b r i d g e 1952, 39: „the Iliad is what it is because o f the impact upon an oral technique o f a brand-new literacy invented by the Greeks themselves." Cf. K. R o b b , Poetic Sources o f the Greek Alphabet: R h y t h m and Abecedarium from Phoenician to Greek, in: Havelock 1978, 32: „In order to perform a very old task (preserve orally formulated material) in a new and better way the Greek did indeed borrow a superior technology from his Semitic neighbors, a script . . . It was the conversion o f that technology to the special needs of recording Greek poetry on some enduring substance which provoked into existence the world's first complete alphabet."

> About Winged Words. C P 32 (1937), 59-63 = A. Parry 1971, 414-18. > The Art of the Formula in H o m e r - Ε Π Ε Α Π Τ Ε Ρ Ο Ε Ν Τ Α . C P 30 (1935), 215-27. 5 6 ' F. M . Combellack, Milman Parry and Homeric Artistry. Comparative Literature 11 (1959), 208; cf. Contemporary Unitarians and Homeric Originality. AJP 71 (1950), 337—64. 54 55

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it in line with an interpretive stance based on the ideal of a consciously creative Homer.

7. Revision and Beyond As we have already seen, an eminent early subscriber to oral theory — C . M . Bowra — felt compelled, at least at first, to qualify it by the supposition of a literate or semi-literate Homer. The idea of a composer simply reshuffling cards of metrically serviceable formulaic material 57 ' was too unpalatable. Some critics even postulated a Homer operating not within but actually despite his inherited conventions of narration and versification. It was a case of „Homer against His Tradition". 58 ' Milman Parry's son, Adam, for example, argued that the poet could represent Achilles' iconoclastic position in heroic society only by making him misuse the language of traditional epic. 59 ' But the naively mechanistic view of oral composition was soon dispelled by a (still ongoing) reassessment of the nature of „formula" in and of itself and by a reconsideration of the effects within the purview of formulaic composition. 60 ' Most important from the technical angle were studies by A. Hoekstra 61 ' and J.B. Hainsworth 62 ' shedding light on the malleability and mobility of Homeric formulas within the infrastructure of the hexameter line. Investigations of the dynamics of „structural formulas" and of deep and surface manifestations, the latter drawn from generative grammar, have not always led to useful definitions and distinctions. 63 ' Still, the economy or thrift of Homeric formula is now commonly considered much less stringent than Parry thought. 64 ' Regarding the semantic content of formulas, literally hundreds of 57) The metaphor is from A. van Gennep 1909 (note 32 above), 52, and is quoted by Parry 1932 (note 17 above), 6, η. 1 = Parry 1971, 329, η. 1. 58) Cf. J. Russo, Homer against His Tradition. Arion 7 (1968), 275-95 = (in German) Latacz 1979, 403-27. 59 > The Language of Achilles. ТАРА 87 (1956), 1 - 7 = Kirk 1964, 48-54. 60 ' For recent annotated bibliography of formula studies, see M. W. Edwards, Homer and Oral Tradition: The Formula, Part I. Oral Tradition 1 (1986), 171-230, and i d . , . . . , Part II. Oral Tradition 3 (1988), 11-60. 61 > Homeric Modifications of Formulaic Prototypes: Studies in the Development of Greek Epic Diction, Amsterdam 1965. 62 ' The Flexibility of the Homeric Formula, Oxford 1968. 63 > See, e.g., J. Russo, A Closer Look at Homeric Formulas. ТАРА 94 (1963), 235-47, and The Structural Formula in Homeric Verse. Yale Classical Studies [YCS] 20 (1966), 219-40; M . N . Nagler, Spontaneity and Tradition: A Study in the Oral Art of Homer, Berkeley 1974. For an opposed view, W. W. Minton, The Fallacy of the Structural Formula. ТАРА 96 (1965), 241-53. 64 ' See, e.g., E. Visser, Homerische Versifikationstechnik: Versuch einer Rekonstruktion, Frankfurt a. Μ./Bern/New York 1987, condensed in Formulae or Single Words? Towards a N e w Theory on Homeric Verse-Making. WJA 14 (1988), 21-37.

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investigations of formulaic diction have shown that the deployment of formulas is context-sensitive within both the immediate narrative setting and the world of the poem as a whole. 65) Furthermore, a recent study has argued that „the nonformulaic elements in the traditional diction were complementary to the formulaic elements. " 66) The artistry of the oral poet is no less sophisticated and admirable than that of his literate counterpart. Even in the area of noun-epithet combinations, where Parry had made his first, seemingly airtight investigations, the identification of deftly controlled significance in formulas has progressed in direct counterpoint to the arguments of the hard Parryists. Adam Parry's student William Whallon published several essays on artistically significant epithets and epithet groups. 67) Indeed, a steady stream of studies, including two book-length works since 198268', has focused on many subtle, aesthetically appropriate epithets. Such research has ruled out any simplistic notion of oral composition as automatic or unsophisticated. The revisionist position on oral theory was given wide circulation in 1966 by Yale Classical Studies, volume 20. Here were collected a number of important revisionist arguments by G. S. Kirk 69 ', Adam Parry 70 ', and J. Russo 71 ', among others, regarding formula and formulaic composition, verse and sentence structure, enjambment, and the validity of the Yugoslav analogy. Anne Amory, in her discussion of „The Gates of Horn and Ivory", contended specifically that the images of horn and ivory were at the center of a subtly modulated network of imagery. But, on a more theoretical plane, she also decried the devaluation of Homer's individual artistry as a dangerous and regrettable propensity of certain oralists. Even if we believe that Homer was an illiterate bard working entirely within an oral tradition, we do not have to deny him control over his material to the extent that some recent critics seem inclined to do, for some of the 65) See, esp., A.A. Parry, Blameless Aegisthus: A Study of Α Μ Υ Μ Ω Ν and Other Homeric Epithets, Leiden 1973. Cf. J.P. Holoka, „Looking Darkly" (ΥΠΟΔΡΑ ΙΔΩΝ): Reflections on Status and Decorum in Homer. ТАРА 113 (1983), 1-16, and U . Sacks, The Traditional Phrase in Homer: Two Studies in Form, Meaning and Interpretation, Leiden 1987 [orig. Diss. Harvard 1978]. 66 > M. Finkelberg, Formulaic and Nonformulaic Elements in Homer. C P 84 (1989), 196. 67 ' Gathered and revised in Formula, Character, and Context: Studies in Homeric, Old English, and Old Testament Poetry, Cambridge, Mass. 1969. 68) P. Vivante, The Epithets in Homer: A Study in Poetic Values, N e w Haven 1982, and D. Shive, Naming Achilles, Oxford 1987 [orig. Diss. Toronto 1985]. The latter, a study of unique and equivalent formulas signifying Achilles in all grammatical cases, reaches the conclusion that „the underestimated factor of equivalence . . . allows the poet to choose the phrase whose meaning is more suitable in the particular context" (130). 69 > Formular Language and Oral Quality. YCS 20 (1966), 155-74 = id., Homer and the Oral Tradition, Cambridge 1976, 183-201. 70 > Have We Homer's Iliad? YCS 20 (1966), 177-216 = Latacz 1979, 428-66. 71) See note 63 above.

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current uneasiness about the degree of art which we may impute to an oral poet rests on false premises. 72 ' This was clearly aimed at the hard Parryists. Albert Lord's pontificating response, „Homer as an Oral Poet" 73 ), was actually an extended polemical review of the Yale Classical Studies volume. He maintained that the symbolism of the Odyssey had been studied over-ingeniously by Anne Amory. The scenes under consideration are rather specific instances or „multiforms" of a traditional theme. We have to do with oral verse-making technique, not with an orchestrated arrangement of literary associations. Anne Amory Parry's rebuttal went directly to the heart of the controversy: It is false to assume that Homer could have done only what Yugoslav bards do. Since we have Homer alone to represent the Greek heroic oral tradition, the only thing we can be sure of is that whatever artistic merits are visible in Homer must have been within the powers of the poet (or poets) who composed the Iliad and the Odyssey. 74 ' Since those words were written, a whole host of revisionist studies, both in Europe and America, has reinforced them. 75 ' Critics have searchingly evaluated and reevaluated nearly all aspects of Homeric epic. In general, they have disclosed in ever greater detail the brilliance of the poetry's metrical and formulaic effects, patterns of imagery and theme, use of simile76', and narrative strategies on all levels. Their conclusions are overwhelmingly Unitarian or, as I would dub them, Neounitarian. Though the predominant interpretive method is „New Critical", that is, grounded in close reading (explication de texte), there has also been a greater openness to more innovative and unconventional avenues of elucidation: psychoanalytic 77 ', structural 78 ', semiotic 79 ', narratological 80 ', even decon72

> Anne Amory, The Gates of Horn and Ivory. YCS 20 (1966), 36. > H S C P 72 (1968), 1-46 74 < A.A. Parry, Homer as Artist, Classical Quarterly 31 (1971), 6. 75 > See J. P. Holoka, Homeric Originality: A Survey. C W 66 (1973), 257-93 = The Classical World Bibliography of Greek Drama and Poetry (ed. W. Donlan), N e w York/London 1978, 37-75. 76 > W . C . Scott, The Oral Nature of the Homeric Simile, Leiden 1974. 77) E.g., B. Simon, Mental Life in the Homeric Epics, in: Mind and Madness in Ancient Greece: The Classical Roots of Modern Psychiatry, Ithaca/London 1978, 53-77, and W. T. MacCary, Childlike Achilles: Ontogeny and Phylogeny in the Iliad, N e w York 1982. 78) E.g., A. Schnapp-Gourbeillon, Lions, heros, masques: Les representations animales chez Homere, Paris 1981. Cf. C. Edwards, The Parry-Lord Theory Meets Operational Structuralism. Journal of American Folklore 96 (1983), 151-69. 79) E.g., S.A. Nimis, Narrative Semiotics and the Epic Tradition: The Simile, Bloomington, Ind. 1987 [orig. Diss. Minnesota 1982]. 801 See A.L.T. Bergren, Odyssean Temporality: Many (Re)Turns, in: C . A . Rubino & C. W. Shelmerdine (eds.), Approaches to Homer, Austin, Tex. 1983, 38-73, and I.J. F. de Jong, Narrators and Focalizers: The Presentation of the Story in the Odyssey, Amsterdam 1987. 73

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structive. ' Gregory Nagy has fused the methodologies of linguistics and anthropology in a number of provocative studies.82' The vexed question of unified artistry within the Homeric poems seems either beside the point or simply no longer in need of consideration.

8. Oral Literature Research Though oral poetry theory in its pure formulation has generated great controversy in the particular area of Homer studies, it has also sparked an intense interest in the classification and study of other oral literatures, both living and dead, around the world. 83 ' In 1953, for example, Francis P. Magoun sought to use Parry's statistical model of formulaic density to prove the oral character of the Beowulf epic. 84 ' Soon, scholars began to operate on other literatures with Parryist tools. The early works of one literary tradition after another — Old English, Medieval French and German, etc. - have been scrutinized for evidence of oral origin. 85 ' The business of classification, description, and literary analysis under new oral poetic ground rules has boomed. As in the case of Homeric studies, a revisionist phase has followed, as scholars became dissatisfied with the crudity of the standard formulaic litmus test. The definition of formula itself proved difficult to pin down, and certain troubling exceptions came to light. There were, for example, highly formulaic poems of almost certainly literate provenance. 86 ' There were also cases of oral poets becoming literate and yet composing in the old oral style87' — something Albert Lord's experience had supposedly ruled out. 81)

E.g., P. Pucci, Odysseus Polutropos: Intertextual Readings in the Odyssey and the Iliad, Ithaca 1987, and M. Lynn-George, Epos: Word, Narrative and the Iliad, Atlantic Highlands, N.J. 1988 [orig. Diss. Cambridge 1984]. O n deconstruction in general, see note 107 below. 82 ' See, esp., The Best of the Achaeans: Concepts of the Hero in Archaic Greek Poetry, Baltimore 1979. 83 ' See R . Finnegan, Oral Poetry: Its Nature, Significance and Social Context, Cambridge 1977, and J. M. Foley (ed.), Oral Traditional Literature: A Festschrift for A. B. Lord, Columbus, Ohio 1981. There is now a new scholarly journal, Oral Tradition (1986-), devoted exclusively to this subject area. 84 ' The Oral-Formulaic Character of Anglo-Saxon Narrative Poetry. Speculum 28 (1953), 446-67 = An Anthology of Beowulf Criticism (ed. L.E. Nicholson), Notre Dame, Ind. 1963, 189-221. 85 ' See M. Curschmann, Oral Poetry in Medieval English, French, and German Literature: Some Notes on Recent Research. Speculum 42 (1967), 36-52 = Latacz 1979, 469-96. 86) See R . E. Diamond, The Diction of the Signed Poems of Cynewulf. Philological Quarterly 38 (1959), 228—41, and L. D. Benson, The Literary Character of Anglo-Saxon Formulaic Poetry. Proceedings of the Modern Language Association 81 (1966), 334—41; cf. J.P. Holoka, The OralFormula and Anglo-Saxon Elegy: Some Misgivings. Neophilologus 60 (1976), 570—76. 87) See, e.g., R . S. Spraycar, La Chanson de Roland: An Oral Poem? Olifant 4 (1976), 63-74, and Spraycar & L. F. Dunlap, Formulaic Style in Oral and Literate Epic Poetry. Perspectives in Computing 2.4 (1982), 24-33.

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In the case of non-living traditions, although consensus regarding orality versus literate character has often been elusive, the search for answers to the questions of composition and appropriate critical methodology has been conducted with great enthusiasm on many fronts. In the case of living traditions, there have been strenuous efforts to record oral materials and then to characterize them scientifically. A recent bibliographical reference work lists over 1800 items devoted to material in some ninety different language areas.88' Though it is difficult to generalize meaningfully, the following elements and inquiries are typical of oralist research: First, a preoccupation with classification; that is, can traces of oral composition be identified in a text of uncertain origin? What are the distinctive elements in a text known to be of oral provenance? Second, a concern to prescribe proper critical approaches to oral compositions as generically distinct; that is, are we obliged to take into account the genesis of a work as we elucidate it? If so, what kinds of interpretative and evaluative statements will have meaning? H o w may we avoid possible misconceptions stemming from our habituation to literary compositions? H o w may we achieve a right reading of oral poetry? Another byproduct of the post-Parry preoccupation with the category of oral composition has been the study of „orality" as a cultural phenomenon. We as literates, inheritors of2500 years of experience with the written word, are removed by a great distance from the conditions under which the written word first entered Greece, and it requires some effort of the imagination to comprehend what these were and how they affected the manner in which the event took place. More accurately, rather than speak of destruction, we should say that what set in with the alphabetization of Homer was a process of erosion of „orality", extending over centuries of the European experience, one which has left modern culture unevenly divided between oral and literate modes of expression, experience, and living. 89 ' Studies of the oral mind set lie at the intersection of anthropology, psychology, sociological, and intellectual history. 90 ' In Italy, Bruno Gentili 91 ', in the United 88) J. M. Foley, Oral-Formulaic Theory and Research: An Introduction and Annotated Bibliography, N e w York/London 1985. 89) E. A. Havelock, The Alpabetization of Homer, in: Havelock 1978, 4. 90 > See M. Fantuzzi, Oralita, scrittura, auralitä: Gli studi sulle tecniche della comunicazione nella Grecia antica (1960-1980). Lingua e Stile 15 (1980), 593-612; also G. Nieddu, Alfabetismo e diffusione sociale della scrittura nella Grecia arcaica e classica: pregiudizi e realta documentaria. Scrittura e Civiltä [S&C] 6 (1982), 233-61, La metafora della memoria come scrittura e l'immagine dell'animo come δέλτος. Quaderni di Storia 10.19 (1984), 213-19, and Testo, scrittura, libro nella Grecia arcaica e classica: Note e osservazioni sulla prosa scientifico-filosofica. S & C 8 (1984), 213-61, and E. Pöhlmann, Mündlichkeit und Schriftlichkeit gestern und heute. WJA 14 (1988), 7-20. 91) See Poesia e pubblico nella Grecia antica: Da O m e r o a V secolo, Rome/Bari 1984, 2 1989 = Poetry and Its Public in Ancient Greece: From Homer to the Fifth Century (trans. A.T. Cole),

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States, W a l t e r O n g 9 2 ' and Eric H a v e l o c k 9 3 ' are a m o n g the leading figures. H a n d in h a n d w i t h this research goes speculation a b o u t the cultural i m p a c t o f literacy and textuality, as in the w o r k o f the E n g l i s h m a n J . G o o d y 9 4 ' and the G e r m a n W . Wimmel.95'

9. O r a l P o e t r y v i s - a - v i s L i t e r a r y C r i t i c i s m , H i s t o r y , and T h e o r y

T h e students o f each g e n e r a t i o n , a p p r o a c h i n g the literature o f s o m e past p e r i o d w i t h the clearer insight w h i c h has been w o n f o r t h e m b y the earlier g e n e r a t i o n , w i l l find in the best o p i n i o n s o n that past e l e m e n t s w h i c h j a r w i t h o n e another, o r things w h i c h h a v e been l e f t o u t , o r things w h i c h h a v e been g i v e n t o o m u c h place; and if t h e y h a v e head e n o u g h n o t to b e c o m e b e f u d d l e d b y details — w h i c h is the great h a z a r d — t h e y w i l l in their t u r n g i v e a t r u e r picture. 9 6 ' T h o u g h n o o n e h y p o t h e s i s a b o u t the f a b r i c a t i o n o f H o m e r ' s epics has e m e r g e d t r i u m p h a n t , „ o r a l l y e v o l v e d " o r „ o r a l l y d e r i v e d " m a y b e the m o s t c o m m o n catch phrases a m o n g scholars w h o t r o u b l e t h e m s e l v e s a b o u t l i t e r a r y history. F e w d o u b t that, historically speaking, the H o m e r i c K u n s t s p r a c h e e v o l v e d o v e r a l o n g p e r i o d o f t i m e , and that H o m e r w a s m a s t e r o f an art o f oral c o m p o s i t i o n , w h e t h e r o r

Baltimore 1988, and Gentili & G. Paioni (eds.), Oralita: Cultura, Letteratura, Discorso, R o m e 1985. 92 ' See, e.g., Interface of the Word, Studies in the Evolution of Consciousness and Culture, Ithaca 1977, and Orality and Literacy: The Technologizing of the Word, London/New York 1982. Cf. V. Labrie, Cartography and Graphic Analysis of the Physical Universe in the Odyssey Story. Journal of Folklore Research 20 (1983), 219^12. 93) See, esp., Preface to Plato, Cambridge, Mass. 1963, the collected essays in The Literate Revolution in Greece and Its Cultural Consequences, Princeton 1982, and The Muses Learn to Write: Reflections on Orality and Literacy from Antiquity to the Present, N e w Haven 1986. Cf. C . P . Segal, Tragedie, oralite, ecriture (trans. V. Giroud). Poetique 50 (1982), 131-54, and T M . Lentz, Orality and Literacy in Hellenic Greece, Carbondale, 111. 1989. 94 ' See Goody (ed.), Literacy in Traditional Societies, Cambridge 1968 = Literalität in traditionalen Gesellschaften, Frankfurt a. M . 1981; id., The Logic of W r i t i n g and the Organization of Society, C a m b r i d g e 1986, and, most recently, The Interface between the Written and the Oral, Cambridge 1987. Cf. D. Tannen (ed.), Spoken and Written Language: Exploring Orality and Literacy, N o r w o o d 1982, and the cautionary remarks in R . Finnegan, Literacy versus Illiteracy: The Great Divide? Some Comments on the Significance of „Literature" in Non-literate Cultures, in: Modes of Thought: Essays on Thinking in Western and Non-Western Societies (ed. R . Horton & R . Finnegan), London 1973, 112-44. 95> Die Kultur holt uns ein: Die Bedeutung der Textualität fiir das geschichtliche Werden, W ü r z b u r g 1981. See, too, Latacz 1989, 26-29. Cf. F.H. Bäuml, Varieties and Consequences of Medieval Literacy and Illiteracy. Speculum 55 (1980), 237-65. 96> Parry 1936 (note 25 above), 779 = Parry 1971, 409.

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not he relied to some degree on the new devices of literacy. 97 ' Though one may quibble over specific formulas, internal evidence, taken as a whole, overwhelmingly supports the oralist explanation of the distinctive linguistic and stylistic qualities of Homer's poetry. In this regard, oral poetry theory has made a valuable contribution to literary historical reconstruction. Readers of Homeric and other early epics are now aware that these poems emerged in a context essentially different from that of works conceived and produced within a tradition fully literate throughout. The historical matrix of our texts is better understood because of the work in comparative epic inspired by Parry's initial field investigations. Again, while one may dispute the validity of a particular analogy between Homeric composition and, say, Yugoslav or Old English or Bantu or what have you, the preponderance of evidence favors the main hypotheses of oral poetry theory. If we grant — even if only for the sake of argument — that the Homeric poems were composed orally, what are the implications of that mode of composition for the critical interpretation and evaluation of the epics? It is on this question that scholarly disagreement has raged since Parry. As we have seen, oralists at the extreme position taken by Lord have maintained that criticism of an oral composition must recognize that the creative mentality of an illiterate author differs radically from that of his literate counterpart. On their view, the critic will be ill-advised to ascribe intricate, premeditated significance to verbal repetitions that in fact served practical prosodic purposes. Also stressed are the limits of audience insight imposed by the manner of reception of the work of art. Even if the performer could have included carefully designed nuances of sense or expression, involved devices or sub-surface complexities of meaning, his audience could not even have perceived, much less fully appreciated them. The singer simply could not afford to overtax the resources of concentration his listeners might reasonably be expected to bring to bear. The critical corollary is obvious: we must not attribute to the singer a delicacy of imagination or depth of creative intention that would have been lost on those for whom the work was fashioned. What continues to go unremarked is the crucial fact that oral theory and the disagreement it has triggered result from a redefinition or conceptual repositioning of the work of art. It is simply assumed — by hard liners, revisionists, and opponents of the theory alike — that if a poem is orally derived, then certain aesthetic parameters are in place; the exact nature of those parameters may be disputed, but few have objected to the assumption that oral provenance makes a text

97 > Most European Homerists (A. Heubeck, A. Lesky, U . Hölscher, W. Schadewaldt, inter alios) have argued that the Iliad and the Odyssey are works of written composition based on oral diction. J. Latacz, Kampfparänese, Kampfdarstellung und Kampfwirklichkeit in der Ilias, bei Kallinos und Tyrtaios, Munich 1977,4—7, has aptly coined the phrase „epische Sprachkompetenz" to describe the literate composer's facility in the diction of oral composition.

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different in essence f r o m one existing in written f o r m ab ovo.'M> O n this view, our p r o p e r object of study is the oral p e r f o r m a n c e of w h i c h the text is — m o r e or less directly - a written record. A bit of the fluid epic tradition has congealed in the fixed text. In „ H o m e r " w e c o n f r o n t a p a r a d o x u n i q u e in history: t w o p o e m s w e can read in d o c u m e n t e d f o r m , the first „literature" of Europe; w h i c h h o w e v e r constitute the first complete record of „orality", that is, „non-literature" — the o n l y one w e are ever likely to have. 9 9 ' T h e critic's task is accurately to envisage the original manifestation as it was for the c o m p o s e r and its first audience. 1 0 0 ' H e must recalibrate his tools of explication w i t h this goal in m i n d . O u r text is merely evidentiary and n o t in and of itself the final object of o u r attentions, certainly n o t in the w a y that a writer's p r o d u c t i o n is. Thus, those w h o cannot abide the consequences of orality for criticism of the p o e t r y have felt compelled to argue that w e d o n o t in fact have to do w i t h an orally derived w o r k of art. H e n c e all of the energy e x p e n d e d on reconstruction of the historical context of the p o e m s ' origin, hence the sense of u r g e n c y about the dating of Greek literacy. T h e possibility of p r o v i n g w r i t t e n creation in illo tempore holds a special allure, because the consequences for literary interpretation seem so m o m e n t o u s . It is in precisely this m a t t e r of locating the art object, h o w e v e r , that oral theorists and Homerists in general are guilty of theoretical naivete. T h e fact is that o u r apprehension of the Iliad and the Odyssey is the same as our apprehension of a w o r k c o m p o s e d in w r i t i n g to begin w i t h ; that is, o u r k n o w l e d g e of the p o e m s derives f r o m a sequence of w r i t t e n (later, printed) symbols. T h e p o e t r y of H o m e r has for us the same physical basis, the same ontological status as that of, say, Vergil or M i l t o n . O n l y b y virtue of its acquisition of this physical f o r m , h o w e v e r that m a y have c o m e a b o u t , do w e have access to the art of H o m e r at all. T h e inflexible insistence on scientific reconstruction of the m o m e n t of creation rules o u t a criticism that adequately addresses this situation. A listener's experience is strictly auditory. U n d e r s t a n d i n g is contingent on an effectively a u t o m a t i c association of w o r d sounds and semantic values, and for

98 ' But see R . Finnegan (note 94 above) and J. Latacz 1989, 20; cf. E. Lämmert, Bauformen des Erzählens, Stuttgart 71980. Havelock (note 89 above). 100) Cf. Notopoulos 1964, 49-50: „Much of the Homeric Question is the product of trying to adjust a poem to a preconceived mentality that is an obstacle to understanding older literature. An oral poetics demands a transformation from a bookish mentality to one which apprehends books merely as modes of preservation of oral poetry. Only with that transformation will the mist be clarified." This is in essence the position taken by F. A. Wolf in 1795: see Prolegomena ad Homerum (ed. R . Peppmiiller), Halle 31884, cap. 18 = Latacz 1979, 30-31 = Prolegomena ad Homerum (ed. & trans. A. Grafton et al.), Princeton 1985, 92.

478

James P. H o l o k a

him as for a reader meaning gives rise in the consciousness to a Active cosmos of objects and events viewed by the mind's eye — the „world of the poem". But there is this radical dissimilarity, directly owing to the difference in physical makeup of the perceived work: the listener's focus of attention must change at a rate exactly corresponding to the rate of progression of sound formations and, thereby, of semantic units or combinations of units — words, phrases, sentences, sentence clusters — as they are enunciated by the retailer (singer, αοιδός, rhapsode, scop, guslar, or what have you). In the absence of a settled text, there can be no simultaneous existence of all the elements of the work of art. The poem has no other manifestation than a sequence of evanescent sound waves. The velocity of phonetic and semantic elements makes a hearer's awareness distinctly unlike that of a reader. As students of the intellectual history of orality have shown so cogently, the singer of tales operates in an environment altogether dissimilar to that of a literate poet, regarding both type of performance undertaken and manner of consumption by its audience. Literacy is a quality of mind, conditioning our experience of Homeric epic as inevitably as, on Parry's view, illiteracy did that of its original consumers. Readers may control the progression of the work, stop or reverse the flow, juxtapose widely separated items in the narrative procession, and in general approach a perception of the work as a simultaneously manifested whole. They can therefore detect and assess all the various relations of sound and sense, image and metaphor, episodes and themes, etc. that are commonly the subjects of literary critical inquiry, whether or not such relations were discernible by non-readers. 101 ' The question unavoidably arises whether readers are entitled to assign a work significances that, given what we know of oral composition, the poet could hardly have intended. Within classical studies, the appeal to auctorial intention is still held to be indispensable for the valid determination of textual meaning. 102 ' Outside classical studies, however, the whole question of the relevance of auctorial intention to the critical act was hotly contested, chiefly because of the Anglo-American school of „New Criticism" that rose to prominence in just the same decades ('30 s, '40 s, and '50 s) when oral theory was being formulated and solidified. 103 ' Formalist critics rigidly insisted on appeal only to textual evidence and not to historical/ biographical data (verifiable or not), while historicists or intentionalists took the

I0I) J. Latacz 1989, 88-89, argues that such detection and assessment b y readers took place very early for the H o m e r i c poems. 102 > See, e.g., G . J ä g e r , E i n f ü h r u n g in die Klassische Philologie, M u n i c h 2 1980, 109: „Es soll vor allem sichtbar w e r d e n , in welcher Weise der A u t o r ein bestimmtes T h e m a behandelt, in welcher Absicht, in welcher Situation u n d v o r welchem Publikum er dies tut." 103 > See the essays conveniently collected in: O n Literary Intention (ed. D. N e t w o n - d e Molina), Edinburgh 1976.

Homer, oral poetry theory, and comparative literature

479

104

opposing position ' Although neither camp succeeded in conclusively defeating the other, the whole issue or appeal to author's intention as against appeal to textual autonomy was a principal element in the literary theoretical arguments of the time. Since the 1960s, such critical schools and movements as structuralism/ semiotics 105 ', reader-response criticism 106 ', and deconstruction 107 ' have taken the critical enterprise far beyond any constraints imposed by naive respect for auctorial intention. 1 0 8 'John Ellis has sensibly described the special status of literary texts, which outgrow the original context of their utterance, and . . . function in the community at large. They do not function in that original context, are not dependant on that context for meaning, and are not judged according to their appropriateness or success in achieving what was to be achieved there. Therefore, when we decide to treat a piece of language as literature, that decision is in itself a decision not to refer the text to its originator nor to treat it as a communication from him. 109 ' Furthermore, even were one to concede the relevance of auctorial intention to literary analysis, the whole question is moot in the case of Parry's Homer because we do not analyze the work (i.e., performance) to which — on Parry's view — the author's intentions were directed. As soon as the oral performance was precipitated as a written text, the issue of auctorial intent became extraneous. We must recognize the historical likelihood of an ontological transformation of the work of art. Our Homer exists as a written text; this fact confers on the epics an autonomy, a freedom from delimitation by auctorial intention (or critics' notions

104)

E.g., E. D. Hirsch, Validity in Interpretation, N e w Haven 1967. See, e.g., D. Sless, In Search of Semiotics, Totowa, N.J. 1986. 106) Q n t jjj s crl tical movement, see, esp., R . Warning (ed.), Rezeptionsästhetik, Munich 1975, J. P. Tompkins (ed.), Reader-Response Criticism: From Formalism to Post Structuralism, Baltimore 1980, and I. Crosman, Annotated Bibliography of Audience-Oriented Criticism, in: The Reader in the Text: Essays on Audience and Interpretation (ed. S. R . Suleiman & I. Crosman), Princeton 1980, 401-24. Cf. W. Barner, Neuphilologische Rezeptionsforschung und die Möglichkeiten der Klassischen Philologie. Poetica 9 (1977), 499-521. 107) See, e.g., J. Derrida, De la grammatologie, Paris 1967 = O f Grammatology (trans. G. C. Spivak), Baltimore 1976; J. D. Culler, On Deconstruction: Theory and Criticism after Structuralism, Ithaca 1982; V. B. Leitch, Deconstructive Criticism: An Advanced Introduction, N e w York 1983, chapters 9-12 in: G. Thurley, Counter-Modernism in Current Critical Theory, N e w York 1983, and H.J. Silverman (ed.), Derrida and Deconstruction, N e w York/London 1989. 108) Q n t j j e complexities involved in the author-text-reader relationship, see, e.g., the discussions in M.J. Valdes & O . Miller (eds.), Identity of the Literary Text, Toronto 1985, a n d J . D . Johansen, Hypothesis, Reconstruction, Analogy: O n Hermeneutics and the Interpretation of Literature. Semiotica 74.3/4 (1989), 235-252. 109) T h e Theory of Literary Criticism: A Logical Analysis, Berkeley 1974, 111-12. 105)

480

James P. Holoka

o f it). Particularly (but not only) in the case o f an oral poet, concern for the genesis o f the text in the mind o f an intending agent must not nullify new interpretations and evaluations o f the artistry exhibited by that text in its present mode o f existence. 110 ) Indeed most literary theorists today (again, outside the field o f classical studies) would grant the same autonomy to works originally conceived in writing. T h e Iliad and the Odyssey have for us, as they have had for all who have known a fixed text, meanings and values they did not have either for their author or for their first audience. We may discover effects very likely unintended by Homer. 1 1 1 ' To say this is not to surrender our right to elucidate such effects. Unintended does not mean non-existent, so long as we carefully demarcate the context o f our critical endeavors. As a subject o f historical and biographical inquiry, Homer may never be closer to us than in the person o f a modern Serbocroatian guslar, unpalatable as that may be to the aesthetic sensibilities o f some students. This is what made the biography-by-analogy written by Albert Lord so seductive. And from this same perspective, the Homeric epics may be approached as oral performances, with all that implies about interpretive procedures and conclusions. However, in my opinion, this would entail a deleterious restriction o f critical discussion to statements about cause, that is, to how and why — historically - words came to be arranged as they are, rather than to the effects those words have on Homer's readers. Criticism would be deflected from the work to its creator. T h e poetic phenomenon, being linguistic, is not simply the message, the poem, but the whole act o f communication. This is a very special act, however, for the speaker — the poet — is not present; any attempt to bring

110) Cf. R . W. Stallman, s. v. Intentions, in: Princeton Encyclopedia o f Poetry and Poetics (ed. Alex Preminger et al.), Princeton 1965, 399: „ W h e n the critic relies upon the author's declared intention, either the author's work or the critic's interpretation o f it is deficient. Once the work is produced, it possesses objective status - it exists independently o f the author and o f his declared intention. It contains, insofar as it is a work o f art, the reason w h y it is thus and not otherwise. T h e difference between art and its germinal event is absolute . . . All parts o f the work o f art are, ideally, relevant or functional to the whole. Irrelevant to the objective status o f the work as art are criteria which dissolve the work back into the historical or psychological or creative process from which it came . . . The critic answers the question W h a t is the work's organizing principle? Analysis discovers what is intended by each part, all parts having relationship one to the other (the Jamesian canon). All analyses are open to criticism, all judgments are corrigible. T h e critical reader is the ideal reader." l n ' Assuming one has the temerity to adjudicate between what was intended and what unintended by a poetic genius. O n the issue o f readers as participants in the formulation o f textual meaning, see R . Crosman, D o Readers Make Meaning? in: The Reader in the Text (note 106 above), 1 4 9 - 6 4 ; and, in general, W . Iser, T h e Act o f Reading: A Theory o f Aesthetic Response, Baltimore 1978, and Prospecting: F r o m Reader Response to Literary Anthropology, Baltimore 1989.

Homer, oral poetry theory, and comparative literature

481

h i m back only produces interference, because w h a t w e k n o w of h i m w e k n o w f r o m history, it is k n o w l e d g e external to the message, or else w e have f o u n d it out b y rationalizing and distorting the message. 1 1 2 ' F r o m the point of v i e w of o u r o w n inescapably literate apprehension of t h e m , the Iliad and the Odyssey must be treated as i n d e p e n d e n t entities, p r o p e r sources in themselves of verification for literary critical assertions. T h e y m a y legitimately be v i e w e d as poetic texts rather than exclusively as oral performances, for the f o r m e r they patently are, the latter they can never again be (if indeed they ever were). W e have to d o w i t h t w o distinct perspectives, the one literary critical, the other historical a n d / o r biographical. W e need n o t suppose that either perspective — provided it is not confused with the other — will necessarily lead to misreading or m i s j u d g m e n t . Each point of v i e w has its o w n focus, locates its subject differently. N e i t h e r stance disallows the other, because each addresses itself to a discrete object. If this fact is b o r n e in m i n d , the sometimes rancorous disputes of the past m a y be avoided in the f u t u r e , and critics of H o m e r m a y get o n w i t h their p r o p e r task — the e n l a r g e m e n t of o u r understanding and e n j o y m e n t of H o m e r ' s poetry. 1 1 3 '

Abbreviated citations

Havelock 1978 Kirk 1964 Latacz 1979 Latacz 1989 Lord 1960 Notopoulos 1964 A. Parry 1971

u2)

Ε. Α. Havelock & J. P. Hershbell (eds.), Communication Arts in the Ancient World, New York 1978. G. S. Kirk (ed.), The Language and Background of Homer: Some Recent Studies and Controversies, New York/Cambridge 1964. J. Latacz (ed.), Homer: Tradition und Neuerung, Darmstadt 1979. J. Latacz, Homer: Der erste Dichter des Abendlands, Munich/Zürich 1985. 21989. A.B. Lord, The Singer of Tales, Cambridge, Mass., 1960. J. A. Notopoulos, Studies in Early Greek Oral Poetry. HSCP 68 (1964), 1-77. A. Parry (ed.), The Making of Homeric Verse: The Collected Papers of Milman Parry, Oxford 1971.

M. Riffaterre, Describing Poetic Structures: Two Approaches to Baudelaire's les Chats [orig. 1966], in: Structuralism (ed. J. Ehrmann), Garden City, N. Y. 1970, 202. I am deeply grateful to Prof. Joachim Latacz for asking me to participate in the second Colloquium Rauricum and for his many improvements to this version of my contribution to it.

ERNST-RICHARD SCHWINGE

Homerische Epen und

Erzählforschung

Hartmut Erbse zum 75. Geburtstag

I. Die Teile 1. Exkurse 2. Personenerzählungen 3. Einzelszenen II. Die Teile und das Ganze 1. Exkurse und Personenerzählungen 2. Einzelszenen a) Szenenwechsel und Handlungsstränge b) Vorbereitung III. Großepos und individuelle Erzählphysiognomie

Zu den entscheidenden Aussagen, die Aristoteles in seiner Poetik über das Epos macht, zählt die unter dem Titel Epeisodion. 1 ) Wie die Tragödie besteht nach Aristoteles auch das Epos aus Epeisodien. Hier wie dort wird in und mit Epeisodien die vom Dichter zunächst allgemein exponierte Strukturformel (λόγος, 17. 1455 a Auflösung der bibliogr. Abkürzungen unten S. 511. '' Das Folgende im Anschluß an den grundlegenden Aufsatz von K. Nickau, Epeisodion und Episode. Zu einem Begriff der aristotelischen Poetik, M H 23, 1966, 155-171. Im wesentlichen zustimmend S. Koster, Antike Epostheorien, Palingenesia 5, 1970, 57 ff. passim; Μ. Fuhrmann, Einfuhrung in die antike Dichtungstheorie, Darmstadt 1973, 44ff.; R . Meijering, Literary and Rhetorical Theories in Greek Scholia, Groningen 1987, 167f. (vgl. bes. Anm. 101) und passim; unbefriedigend Friedrich 1975, 12—16, bes. weil die Bedeutung des λόγος, der .Strukturformel', nicht beachtet wird; auch spricht Aristoteles nicht von ,Hauptgeschehen' (der Aufsatz: Έπεισόδιον in Drama and Epic. A Neglected and Misunderstood Term of Aristotle's ,Poetics', Hermes 111, 1983, 34—52 ist im wesentlichen eine Reprise). Gegensätzlich zu Nickau jüngst M. Heath, Unity in Greek Poetics, Oxford 1989, 49ff., in dem zur Gänze problematischen Aristoteles-Kapitel 38—55; Nickau vollauf bestätigend (in Auseinandersetzung auch mit St. Halliwell) A. Köhnken, Terminologische Probleme in der ,Poetik' des Aristoteles, Hermes 118, 1990, 129-149, hier 136-149.

Homerische Epen und Erzählforschung

483

34. 1455 b 17) seiner Dichtung, also des zu traktierenden mythischen Sujets, der zu gestaltenden Handlung, in die konkrete Individualgestaltung überführt; in Epeisodien materialisiert sich das καθόλου der Strukturformel als καθ' εκαστον der jeweiligen Dichtung, ja wird es überhaupt erst Wirklichkeit. Das meint, daß der Dichter die Strukturformel in und mit Epeisodien entfaltet (παρατείνειν, 17. 1455 b 2) und aufgliedert (διαλαμβάνει, 23. 1459 a 37), also in ihren Einzelheiten ausführt, wodurch die jeweilige Dichtung dann auch die ihr angemessene Ausdehnung erhält (1455 b 2 und 16). So sehr aber die Konkretisation der Strukturformel die Abfolge einzelner Epeisodien ist, so notwendig ist sie — als Entfaltung, Aufgliederung, Materialisierung einer Strukturformel — eine Einheit, wickelt sich in ihr eine einheitliche Handlung ab, was gleichfalls beim Epos die Voraussetzung dafür ist, daß es — ώσπερ ζωον εν δλον — die spezifische Lust bei den Rezipienten bewirkt (23. 1459a 1 7 f f ) . Wenn später in der Poetik verlautet, das Epos sei aufgrund seiner Vielgliedrigkeit weniger einheitlich (ήττον μία ή μίμησις ή των έποποιών), so gilt das doch nur in Relation zur Tragödie, die für Aristoteles grundsätzlich das τέλος von Dichtung darstellt; für sich genommen präsentieren sich wenigstens Ilias und Odyssee als so einheitlich, wie es für sie als Epen irgend möglich ist (26. 1462b 3—11). Die Einheitlichkeit der Handlung des Epos aber bedeutet dann, daß wie in der Tragödie so im Epos die Epeisodien, was ihre Abfolge wie ihre Zahl angeht, notwendig sind: gemäß dem Kriterium der Wahrscheinlichkeit (εικός) oder Notwendigkeit (ανάγκη) darf keins fehlen, keins hinzukommen und keins an anderer Stelle piaziert sein (vgl. 8. 1451 a 30-35) — anderenfalls wäre das Ganze ein έπεισοδιώδης μΰθος (nur das Adjektiv έπεισοδιώδης ist bei Aristoteles negativ besetzt; 9. 1451b 33 — 1452a 1). Die Epeisodien je für sich aber müssen dem jeweiligen Stoff eigentümlich sein (οικεία, 17. 1455b 13ff., vgl. 24. 1459b 27 f.), d.h. zu den Gestalten und deren Handlungen, also dem Geschehen des Ganzen passen.2) Wie deutlich, differenziert Aristoteles gerade auch in Hinsicht auf das Epos zwischen Epeisodion, also Einzelszene3), und dem Ganzen der epischen Handlung, das sich als einheitliches Ganzes in und mit den Einzelszenen konstituiert. Damit ist wenigstens verwiesen einmal auf die beiden Fluchtpunkte, nämlich Einzelszene und Gesamthandlung des Epos, zwischen denen die auf die homerischen Epen gerichtete Erzählforschung sich immer bewegt hat. Z u m anderen auf das entscheidende Problem, das sie eben damit unausweichlich, auch wo sie explizit nichts

2

> Dazu zuletzt Meijering (wie Anm. 1) 164—167. Auch im weiteren sind diese Begriffe für mich konvertibel. Friedrich 1975, 12 ff. versucht eine Scheidung - die sich aber auch ihm selbst bald (19 ff.) auflöst; sein Begriff,Haupthandlung' ist in diesem Zusammenhang gleichfalls höchst unglücklich. 3)

484

Ernst-Richard Schwinge

dazu verlauten läßt, thematisiert hat, die Frage nach dem Verhältnis des Teils zum Ganzen und des Ganzen zum Teil. Doch auch für die Lösung dieses Problems hat Aristoteles den Weg zumindest geebnet, indem er, mit der eigenen Lösung, Kategorien bereitgestellt hat, die die Arbeit an dem Problem zu erleichtern vermögen. Die Entfaltung meiner in letzter Instanz immer dieses Problem meinenden Bemühungen stelle ich unter folgende methodische Vorgabe. Soll eine Orientierung über die auf die homerischen Epen sich richtende Erzählforschung diese in ihrer Grundstruktur transparent machen, also sozusagen auf den Begriff bringen, ist es sinnvoll, nicht historisch, sondern systematisch vorzugehen. Allerdings sollte solch systematisierender Versuch sich in jedem Fall an die mit den homerischen Epen selbst gegebene historische Perspektive gebunden wissen. So sehr nämlich Erzähleigenheiten der homerischen Epen einer Betrachtung ex post als zeitlose ,Bauformen des Erzählens' verbuchbar erscheinen mögen, so sehr sind sie, als Usancen einer Epik, die den Anfang literarischen Erzählens in Europa bezeichnet — nicht anders als diese Epik insgesamt — angemessen nur in der Perspektive ihrer Zeit selbst zu begreifen. Indem aber bei der Diskussion der Erzählforschung deren Gegenstand in seiner spezifischen historischen Physiognomie, wie sie durch die allgemeine Homerforschung zumal unseres Jahrhunderts immer deutlicher geworden ist, strikt im Blick gehalten, also damit gerechnet wird, daß er auch in seinen aufweisbaren Erzähleigenheiten historisch vermittelt ist, hält man die Chance offen, sich seiner in seiner Historizität erneut zu vergewissern. Es zeigt sich das schon, wenn man sich zunächst dem Phänomen der Einzelszene ganz für sich zuwendet.

I. Die Teile Zu den entscheidenden Einsichten in die Geschichtlichkeit der homerischen Epen rechnet die von der oral poetry-Forschung vermittelte Erkenntnis, daß Ilias und Odyssee sich in hohem Maße einer langen Tradition mündlicher Heldendichtung verdanken. Auf diese Traditionalität verweist die ausgiebige Verwendung von Formeln. Bei den Formeln, an denen die Traditionalität festzumachen ist, handelt es sich einerseits um rein sprachlich bestimmte, durch identisches Arrangement von Wörtern konstituierte Formeln, andererseits aber auch u m inhaltlich definierte Gebilde, also um die Schilderungen einer sich in bestimmter Regularität abwickelnden Handlung. A u f diese sog. typischen Szenen, welche als .Formeln' gegenüber den rein sprachlichen naturgemäß von größerem U m f a n g sind, also etwa Wagenausfahrt, Ankunft, Opfer, Mahl, Aristie hat schon 1933 W. Arend aufmerksam gemacht, freilich noch ohne jeden Kontakt zu den bereits damals vorliegenden Hauptergebnissen der oral poetry-Forschung. Umgekehrt hat M. Parry Arends Arbeit sogleich mit Interesse aufgenommen und, schon indem er

Homerischc Epen und Erzählforschung

485

sie rezensierte, den ihr zukommenden Platz innerhalb der Forschung markiert. 4 ' In der Tat sind die typischen Szenen erst durch die oral poetry-Forschung als Phänomen der homerischen Epen voll verständlich geworden, da sie nun genetisch erklärbar wurden. 5 ' Aber die Erklärungsleistung der oral poetry-Forschung reicht, gerade in Hinsicht auf die Erzähleigenheiten der homerischen Epik, in Wahrheit noch erheblich weiter. Man hat längst, Aristoteles bestätigend, als ein entscheidendes Konstitutivum des Erzählstils des Ilias- wie des Odysseedichters erkannt, daß das zu entfaltende Geschehen sich wieder und wieder in in sich abgerundete Szenen zusammenzieht, welche durchaus den Charakter von Teil-Einheiten gewinnen. Schadewaldt hat 1938 in seinen Iliasstudien auf diese „Szenen- und Episoden-Technik" Homers verwiesen und ist in seinen Einzelinterpretationen immer wieder von den Einzelszenen ausgegangen, ja er hat ,Homerische Einzelszenen' für sich interpretiert. 6 ' Reinhardt insistiert auf der universalen Bedeutung der Episode für die Konstitution der Ilias, wobei er ebensowenig wie Schadewaldt einen Unterschied zwischen Szene und Episode macht; er spricht von der „episodischen Kompositionsweise"

A

> W. Arend, Die typischen Scenen bei Homer, Problemata 7, 1933; M. Parry, CPh 31, 1936, 357-360 ( = A. Parry (Hrsg.), The Making of Homeric Verse. The Collected Papers of Milman Parry, Oxford 1971, 404-407). Weitere Literatur zu den typischen Szenen: H. Jordan, Der Erzählungsstil in den Kampfszenen der Ilias, Diss. Zürich 1904, Breslau 1905 (nur noch bedingt brauchbar); R . Schröter, Die Aristie als Grundform homerischer Dichtung und der Freiermord in der Odyssee, Diss. Marburg 1950 (masch.); M. Müller, Athene als göttliche Helferin in der Odyssee. Untersuchungen zur Form der epischen Aristie, Heidelberg 1966; B. Fenik, Typical Battle Scenes in the Iliad, Hermes-Einzelschr. 21, 1968; D. Gunn, Thematic Composition and Homeric Authorship, HSCPh 75, 1971, 15-17; Krischer 1971, 13ff.; H. Patzer, Dichterische Kunst und poetisches Handwerk im homerischen Epos. SB Frankfurt/M. 10, 1971, bes. 26 ff. (grundlegend); G. Petersmann, Die Entscheidungsmonologe in den homerischen Epen, GB 2, 1974, 147-169; M . W . Edwards, Type-Scenes and Homeric Hospitality, TAPhA 105, 1975, 51-72; О . Tsagarakis, Oral Composition, Type-Scenes and Narrative Inconsistencies in Homer, GB 8, 1979, 23-48; M. W. Edwards, The Structure of Homeric Catalogues, TAPhA 110, 1980, 81-105; J. F.Morris, „Dream Scenes" in Homer. A Study in Variation, TAPhA 113, 1983, 39-54; L.J. Coventry, Messenger Scenes in Iliad XXIII and XXIV, JHS 107, 1987, 178-180; C. Niens, Struktur und Dynamik in den Kampfszenen der Ilias, Heidelberg 1987; H. Bannert, Versammlungsszenen bei Homer, in: Bremer 1987, 15—30; M . W . Edwards, Topos and Transformation in Homer, in: Bremer 1987, 47-60 (auch für die im folgenden angesprochenen Erscheinungen einschlägig). Zu dem Problemkomplex vgl. auch H. Bannert, Formen des Wiederholens bei Homer. Beispiele für eine Poetik des Epos, WSt Beiheft 13, 1988. 5 ' Eine Typologie umfangmäßig über dem Satz liegender Darstellungseinheiten, welche sich als solche nun nicht mehr nach inhaltlichen, sondern formalen Kriterien voneinander abheben, ist das Ziel der Arbeit von W. Nicolai, Kleine und große Darstellungseinheiten in der Ilias, Heidelberg 1973. Auf diesen prinzipiell wichtigen Ansatz sei um so mehr verwiesen, als er hier nicht weiter einbezogen werden kann; s. einstweilen T. Krischer, Gnomon 49, 1977, 225-229. 6) Schadewaldt, Iliasstudien 76ff. 160f.; ders., Von Homers Welt und Werk, Stuttgart 31959, 205 ff. Vgl. jüngst D. Lohmann, Die Andromache-Szenen der Ilias. Ansätze und Methoden der Homer-Interpretation, Spudasmata 42, 1988.

486

Ernst-Richard Schwinge

und „episodischen Form" der Ilias, ja benennt als das „neue Kunstprinzip" des Großepos Ilias „die große Kunst der Episode", womit, wie sich noch zeigen wird, freilich noch mehr gemeint ist als lediglich der Umstand, daß das berichtete Geschehen, die erzählte Handlung sich wieder und wieder in in sich abgerundeten Szenen präsentiert. 7 ' Vor allem aber hat R . Friedrich in seiner Arbeit ,Stilwandel im homerischen Epos' unter dem Zwischentitel ,Die digressiven Elemente des epischen Stils' nicht nur die „Episode" behandelt, sondern auch Exkurs, Gleichnis und Erzählung in der Rede. Wie man sieht, sollen hier alle diejenigen Elemente in den Blick gerückt werden, die sich innerhalb der epischen Erzählung tendenziell isolieren. 8 ' Damit hat Friedrich für das Folgende den Weg gewiesen (und zugleich im einzelnen auch schon geebnet). Denn in der Tat müssen zunächst die genannten Elemente ins Auge gefaßt werden, soll, im Spiegel der bisherigen Forschung, die Erzählweise der homerischen Epen in ihrer Pointe wahrnehmbar werden.

1. Exkurse Am augenfälligsten ist die tendenzielle Isolierung zweifellos bei den sogenannten Exkursen, die den epischen Erzählfluß, die erzählerische Entfaltung der Handlung dort unterbrechen, wo eine bislang unbekannte Person oder ein bedeutsamer Gegenstand eingeführt wird und entsprechend vorgestellt werden muß. 9 ' Von Personenexkursen kann man dann sprechen, wenn von einer Person über Namen und Patronymikon hinaus auch der Herkunftsort und ein spezifisches Merkmal ihres Wesens oder ihrer Vita genannt werden, wie Geburt, Vorfahren und deren besondere Erlebnisse, was sich dann auch zu einer ganzen Genealogie auswachsen kann (E 707 ff., Η 8 ff., Ζ 1 3 f f , 21 ff., N 693 ff). Solche Personenexkurse beziehen sich in der Ilias besonders auf die sog. kleinen Kämpfer, sie finden sich entsprechend bevorzugt in katalogartigen Auflistungen von Einzelkämpfern im Rahmen von Schlachtschilderungen. Wie sehr sie den Hörer abrupt in eine andere als die ihn schon lange und umfassend umfangende Erzählwelt versetzen, zeigt sich dort

7)

K. Reinhardt, Die Ilias und ihr Dichter, Göttingen 1961, bes. 38^11. ' Friedrich 1975, 12—101. Auch unabhängig von der Hauptthese, der Odysseedichter habe mit Blick auf das Vorbild Ilias ein „Epos neuen Stils" geschaffen, ist das Buch, wie das weitere zeigen wird, ein bedeutender Beitrag zur homerischen Erzählforschung. 9) Das Folgende in engem Anschluß an Friedrich 1975, 47-58; dort auch Einbezug der einschlägigen Abschnitte bei Heubeck 1954, 16ff. und 23ff. passim. - Lit. zu den Personenexkursen: F. Merz, Die Heldenbiographie als Stilmittel Homers, (Diss. Zürich) Muri 1953; G. Strasburger, Die kleinen Kämpfer der Ilias, Diss. Frankfurt/M. 1954; auch R . Spieker, Die Nachrufe der Ilias, Diss. Münster 1958. N u r mit Vorbehalt verweise ich zum Ganzen auf Larrain 1987, 347-361. 380. 382. 388 f. 391 f. 8

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pointiert, wo aufgrund einer besonderen Eigenschaft der vorzustellenden Person sich der Exkurs zum Zweck von deren (genetischer) Erklärung zu einer längeren Geschichte auswächst; so etwa bei dem Myrmidonenfuhrer Eudoros, bei dem der Umstand, daß er Jungfrauensohn (παρθένιος) ist, erzählerisch entfaltet wird (Π 179-192, vgl. Λ 221-230, Φ 34-46). In extrem übersteigerter Form bietet dasselbe die Odyssee mit dem Theoklymenos-Exkurs о 225—255, der nicht nur erheblich länger ist als die Personenexkurse der Ilias, sondern auch vor der auf Theoklymenos zufuhrenden MelampodidenGenealogie (o 242 ff.) zunächst, in Form eines Exkurses im Exkurs, das Schicksal des Stammvaters Melampus entfaltet (o 226—241).10' Personenexkurse von vergleichbarer Länge finden sich in der Ilias nur in Reden von Personen, so Ζ 152—206 die von ihm selbst gegebene Genealogie des Glaukos mit der Bellerophontesgeschichte") und I 447-495 die Selbstvorstellung des Phoinix (vgl. noch Y 208-241). Ein ähnliches Bild bieten die Sachenexkurse, die den vorzustellenden bedeutenden Gegenstand weniger im Weg einer Beschreibung als durch die Erzählung seiner Entstehungs- oder Verwendungsgeschichte in seinem Wesen zu fassen suchen und also auf diese Weise bekannt machen. Die auf diese Art stets eine Geschichte erzählenden Sachenexkurse sind in der Ilias vergleichsweise kurz, gleichwohl entfalten sie in vollem Umfang eine eigenständige Handlung, wodurch der Hörer wiederum in eine völlig andere, eigene Welt im Vergleich zu derjenigen versetzt wird, die ihn erzählerisch ständig gefangen hält. U n d die eigenständige Handlung wird dem Hörer als solche noch besonders unmittelbar dadurch nahegebracht, daß sie weitgehend im selben epischen Praeteritum wie die sonstige Erzählung erzählt, also nicht auf sie hin zeitlich relativiert wird, wodurch sie vollends „erzählerische Gegenwart" (Friedrich) wird. Das erfolgt nicht nur, wo — wie meist — das geschilderte Geschehen der Zeit vor der Iliashandlung angehört (so besonders deutlich bei dem Bogen des Pandaros, Δ 106—111, vgl. auch den von Achill als Preis ausgesetzten Mischkrug Ψ 741—747 und das Szepter des Agamemnon В 101—109), sondern auch wo es vollkommen in der Zukunft liegt, jenseits des Ilias-, ja des gesamten Troiageschehens (so bei der Achaier-Mauer, bei der denn konsequent statt ihrer Entstehung ihre Zerstörung geschildert wird, Μ 10-33). 12) Nicht anders als die Personen- sind in der Odyssee auch die Sachenexkurse ins Große ausgeweitet, wie der über die Narbe des Odysseus (τ 393—466)13) und über

10 ' Friedrich 1975, 54. Zur Theoklymenos-Gestalt speziell H. Erbse, Beiträge zum Verständnis der Odyssee, Unters, z. ant. Lit. u. Gesch. 13, 1972, 42-54. u > Dazu de Jong 1987, 162-168. 12) Zur Schildbeschreibung Σ 478-608 vgl. Friedrich 1975, 50f. 107f.; zu den Sachenexkursen insgesamt vgl. auch Poetica 22, 1990, 17 Anm. 35. 13 > Zu E. Auerbachs berühmter Abhandlung: Die Narbe des Odysseus, in: ders., Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Bern u. München 3 1964, 5-27,

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seinen Bogen (φ 13—38) zeigen. Auch hier lösen sich die Exkurse zusehends von dem Gegenstand, den sie vorstellen, und bringen, auch in Exkursen im Exkurs, andere, damit nur in lockerem Zusammenhang stehende Dinge zur Sprache. Darin Ilias-aemulatio zu erblicken liegt nahe 14 ', ist aber angesichts des Umstands, daß die Odyssee, primär wohl aus stofflichen Gründen, erheblich weniger Exkurse als die Ilias bietet, zumindest diskussionsfähig.

2. Personenerzählungen Den Exkursen am nächsten kommen als Elemente, die zum In-sich-Abgeschlossensein tendieren, die Erzählungen in Reden von Personen der Handlung, da auch sie den Hörer in eine andere Welt gegenüber der vertrauten Erzählwelt versetzen.15) Letzteres trifft weniger zu bei den (wegen des „Hineinspiegelns" insgesamt nicht zahlreichen) mehr oder weniger ausfuhrlichen Erwähnungen von Ereignissen, die inhaltlich mit dem in der Ilias erzählten Menis-Geschehen zusammenhängen, also bei Ereignissen der Vorgeschichte oder der schon durchlaufenen neun Jahre des Krieges, wie Parisurteil (Ω 29 f.), Entführung Helenas (indirekt Γ 354, Ζ 56f., direkter Γ 173-175, Η 350f. 362. 389-393, N 626f„ X 114-116, Ω 764—766), Paris' Rückfahrt nach Troia zusammen mit der geraubten Helena (Γ 443—445, vgl. auch, innerhalb eines Exkurses, Ζ 290-292, ebenso innerhalb eines Exkurses Ε 62 f. Paris' Hinfahrt nach Sparta), Heras Mitwirken bei der Sammlung des griechischen Troiaheeres (Δ 26—28), Achills Musterung und Aufbruch in den Krieg (I 252-259. 438-443, Λ 765-790, diese Stellen Parainesen), das Schlangenzeichen und die Deutung durch Kalchas in Aulis (B 301—330), und dann aus den neun Kriegsjahren die Gesandtschaft des Menelaos und Odysseus (Γ 205—224, Λ 139-142), allgemein das Schlachtgeschehen (B 29. 119-122. 134-138. 295f., Γ 126—128. 132f.), bestimmte Schlachten (Z 435-437), meist anspielend auf die für die Griechen erfolgreiche Kampfzeit zusammen mit Achill (E 788-790, 1352-355, N 101-106, О 720-725; situationsbedingt Η 113f.), außerdem die Beutezüge in der Troas (1325—334, А 366—369, Ζ 414—428, innerhalb von Exkursen

äußert sich Friedrich 1975, 55 f., s. auch 49 A n m . 100. Vgl. a u ß e r d e m A. K ö h n k e n , Die N a r b e des Odysseus. Ein Beitrag zur homerisch-epischen Erzähltechnik, A u A 22, 1976, 101-114 (auch in: J. Latacz [Hrsg.], H o m e r . Die D i c h t u n g u. ihre D e u t u n g , D a r m s t a d t 1991, 491-514, mit N a c h t r a g 1990), und de J o n g 1987, 22f., deren eigener Lösung ich freilich nicht zustimmen kann. 14 > So Friedrich 1975, 57 f. 15) Dazu ausfuhrlich u n d unter A u s w e r t u n g weiterer Literatur Friedrich 1975, 75-82, d e m ich auch das Stellenmaterial e n t n e h m e (vgl. auch W. Kulimann, Vergangenheit u n d Z u k u n f t in der Ilias, Poetica 2, 1968, 15-37, hier 2 0 f f . passim). Freilich k o m m t es mir letztendlich auf die historische A u s w e r t u n g der P h ä n o m e n e Exkurs u n d Personenerzählung an.

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В 690-693, Π 153, weiter Τ 60. 291-296, Υ 90-96. 188-194, innerhalb von Exkursen I 664-668, Λ 625, Φ 34-44). Nachhaltiger wird der Hörer in eine andere Welt versetzt durch Erzählungen mit Sujets, die einem gänzlich anderen Sagenkomplex angehören. Diese Erzählungen können den Charakter bloßer Reminiszenzen haben, wie Hephaists Erzählung von seiner Rettung durch Thetis nach seinem von Hera betriebenen Sturz aus dem Himmel (Σ 395—405) und Nestors Ausmalung seiner Wettkampfsiege in vergangener Zeit (Ψ 629—643). Zumeist aber haben diese Erzählungen mehr oder weniger paradigmatischen Charakter, sollen also beim Adressaten etwas bewirken 16 ), so Hephaists wie Hypnos' warnende Erzählung ihrer Bestrafung durch Zeus (A 590-594, Ξ 249-261), Achills Erinnerung an Thetis' Zeus rettende Aktion (A 396—406), Zeus' Erzählung von Heras Bestrafung durch ihn selbst (O 18—30), seine katalogartige Aufzählung — und Abwertung — seiner Liebschaften gegenüber Hera (Ξ 317—327), Diones Beispielkette für Duldsamkeit (E 382-404), Poseidons Erinnerung an den Betrug durch Laomedon (Φ 441—457), Tlepolemos' stolzer Verweis auf seinen Vater Herakles und eine von dessen Taten gegenüber seinem Gegner Sarpedon (E 638—642; vgl. Ξ 113—125), Diomedes' Entfaltung des Schicksals des Lykurg, als nicht zuletzt gegenüber sich selbst gegebene Begründung für sein Absehen vom Kampf gegen Götter (Z 130—140, vgl. auch Δ 370-400). 17) Zu nennen sind hier jedoch vorzüglich die gegenüber den gerade aufgelisteten Passagen nun ganz gezielt mit einer Überredungsabsicht entfalteten Beispielerzählungen: die beiden Erzählungen des Nestor über eigene Aktivitäten in der Vergangenheit (A 260-273, A 670-761, vgl. Η 124-156), die Meleagros-Geschichte des Phoinix (I 529-599), das Niobe-Paradeigma Achills (Ω 602-617). So sehr die hier entfalteten Sagen um des Überredungsziels willen manipuliert sein mögen, so deutlich präsentieren sie sich als eigenständige, in sich abgeschlossene Geschichten

16)

Einschlägige Literatur zum Paradeigma: R . Oehler, Mythologische Exempla in der älteren griechischen Dichtung, Diss. Basel 1925, mit Rez. von H. Frankel, Gnomon 3, 1927, 569-576; Ε. Sachs, Die Meleagererzählung in der Ilias und das mythische Paradeigma, Philologus 88,1933, 16—29; Schadewaldt, Iliasstudien, s. Register s. v. Beispiel; W. Nestle, Odyssee-Interpretationen I, Hermes 77, 1942, 46-77, hier 66-77; Kakridis 1949, Meleagrea, 11^12; Heubeck 1954, 23-32; M . M . Willcock, Mythological Paradeigma in the Iliad, C Q 14, 1964, 141-154; N . Austin, The Function of Digression in the Iliad, G R B S 7, 1966, 295-312; J. Η. Gaisser, A Structural Analysis of the Digressions in the Iliad and the Odyssey, HSCPh 73, 1969, 1—43; V. Hebel, Untersuchungen zur Form und Funktion der Wiedererzählungen in Ilias und Odyssee, Diss. Heidelberg 1970; D. Lohmann, Die Komposition der Reden in der Ilias (Unters, z. ant. Lit. und Gesch. 6), 1970, 69ff.; B.K. Braswell, Mythological Innovation in the Iliad, C Q 21, 1971, 16-26; 0 . Andersen, Myth, Paradigm and ,Spatial Form' in the Iliad, in: Bremer 1987, 1—13; de Jong 1987, 160ff. 17)

Bedingt hierher gehörig auch Τ 95-133.

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(oder verweisen zumindest auf sie), zumal wenn sie weiter ausgeführt sind, wie die Nestor-Geschichte im Λ und die Meleagros-Geschichte. Damit aber ist nun zugleich mit den Beispielerzählungen die Möglichkeit zu einer entscheidenden historischen Einsicht gegeben: Es wird wahrscheinlich, daß über die Erzählungen in Reden von Personen die mündliche Heldendichtung in der für sie konstitutiven Form greifbar wird. Denn die Geschichten in einer Form, die zugunsten eines Argumentationsziels stark manipuliert ist, in den sagengeschichtlich völlig andersartigen Kontext der Gesamterzählung aufzunehmen war nur möglich, wenn sie in der allein ihrer eigenen Logik Rechnung tragenden Normalform allgemein, und das heißt eben auch dem Dichter bekannt waren. U n d das wiederum war gegeben nur, wenn sie in mündlicher Heldendichtung wieder und wieder aktualisiert worden waren. Dann aber läßt sich für die Gedichte dieser mündlichen Heldendichtung als konstitutiver Zug benennen (was wie die Erzählungen in Reden von Personen ebenso auch die Exkurse kennzeichnet, die damit in gleicher Hinsicht Beleg wert gewinnen), daß sie ein handlungsmäßig in sich abgeschlossenes, am Leitfaden der Chronologie entfaltetes Stück Sagengeschichte boten, also inhaltlich in sich abgerundet waren und dabei einen überschaubaren Umfang nicht überschritten. 18 ) Das wird bestätigt durch die Erzählungen in Reden in der Odyssee. Von Personen der Handlung gegebene Schilderungen von Ereignissen, die außerhalb der epischen Handlung liegen, bestimmen die Odyssee in Anzahl wie Ausdehnung in ungleich größerem Maß als die Ilias. Allerdings beziehen sich die Erzählungen weit weniger auf Geschehnisse gänzlich anderer mythischer Zusammenhänge, sie entfalten vorrangig solche des in der Odyssee selbst thematisierten Sagenkomplexes. Außerdem dienen sie hier wie dort nur noch eingeschränkt, und wenn, dann lediglich ansatzweise als Paradeigma (zumeist sind sie zu einer bloßen mythischen Parallele abgemildert), und die, die solche Funktion haben, sind in der Regel von geringem Umfang, mehr nur Verweise als wirkliche Erzählungen. 19 ' Die gleichwohl, und zwar sogar in großer Zahl, vorhandenen weit ausgeführten Erzählungen haben dagegen, mit gänzlich anderer Funktion, erstens die Nosten

18 ' Vor- und Rückverweise kürzerer Reichweite sowie simplerer Machart konnten dabei durchaus vorkommen. 19 > Zu allem Friedrich 1975, 82—86. Dort auch im Anschluß an Oehler die Stellen: andere mythische Ereignisse, kürzer β 120 (Heroinen), η 321-324 (Rhadamanthys), θ 224—228 (Herakles/Eurytos), länger ε 121-128 (Eos, Demeter), υ 66-78, τ 518-523 (Pandareos-Töchter), φ 295-304 (Kentaur); zum im Epos thematisierten Sagenkomplex gehörig μ 209f., υ 18-20 (Kyklopen-Begegnung), χ 226-230 (Einnahme Troias), δ 341-344 = ρ 132-135 (Odysseus' frühere Niederringung des Philomele'fdes), π 424^130 (Rettung von Antinoos' Vater durch Odysseus), fingiert ρ 419-424 = τ 75-80, σ 138-140 (vergangene Taten des .Bettlers' Odysseus). Vgl. auch ψ 218-224 (Helena). - Zu den Erzählungen in Reden in der Odyssee auch Hebel (wie Anm. 16) 144ff.; zum Ganzen auch Larrain 1987, 398^110, nur bedingt 361-379. 381. 382-388. 389 f. 392-397.

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zum Inhalt, einerseits die der sonstigen griechischen Helden (γ 130—198. 262—312, δ 351—586 [mit Nostos im Nostos 495—537. 555—560], darin vor allem immer wieder Agamemnons Nostos und sein Schicksal: γ 193—198. 262—275. 303—312, 5 512-537, s. außerdem α 29-43. 298-300, γ 234f., δ 90-92, λ 405^134 [IchErzählung in Apologen], ω 95—97), andererseits, soweit er sich schon vollzogen hat, den Nostos des Odysseus in den Apologen ι - μ. Weiterhin entfalten die Erzählungen Ereignisse des den Nosten vorausliegenden Kampfes um Troia, zumal aus dem letzten Kriegsjahr, der Zeit nach Hektors Tod, also nach dem Ende der Ilias, und zumal andererseits solche, bei denen Odysseus eine Rolle spielte (γ 103-129, δ 97-110. 240-264. 266-289, θ 500-520, auch 73-82, λ 506-537 [Odysseus-Erzählung in Apologen], λ 542—562, ω 36—94. 192—202, vgl. auch χ 226—230). Und schließlich bestehen die Erzählungen aus den Lügengeschichten des Odysseus (ν 256-286, ξ 199-359. 469-502, ρ 419-444, τ 172-202. 270-307, ω 304—314 mit 266—279; Eumaios' — wahre — Lebensgeschichte о 403—484, schon 363—370, fügt sich vom Erzähltypus her den Lügengeschichten am ehesten an). Diese weiter ausgeführten Erzählungen der Odyssee präsentieren wie die größeren Beispielerzählungen der Ilias ein handlungsmäßig in sich abgeschlossenes Geschehensstück, das sie in chronologischer Abfolge der einzelnen Schritte entfalten, und wie jene sind sie dabei von überschaubarer, nicht allzu großer Länge. Das gilt auch für die Apologe, insofern sie ja lediglich einzelne Irrfahrtenstationen aneinanderreihen. Daß auch über die Odyssee-Erzählungen die grundlegende Gedichtform der mündlichen Epik faßbar wird, zeigt sich hier aber nicht nur daran, daß auch hier einige Erzählungen in bestimmter Weise zugerichtet sind: ein markantes, ganz unmittelbar sprechendes Beispiel der Nostosbericht des Menelaos (δ 351 ff.), den dieser gezielt auf das Telemach Interessierende beschränkt, wie aus seiner eigenen früheren Benennung verschiedener Fahrtstationen (δ 81—89) und deren jetziger Unterdrückung zu entnehmen ist. Signifikanter noch ist, daß in der Odyssee Erzählungen von außerhalb der Handlung liegenden Geschehnissen nicht nur durch Personen erfolgen, die auch, ja entscheidend in anderen Hinsichten für das epische Geschehen relevant sind, sondern gleichfalls durch solche Personen, die zu nichts anderem da sind als eben dazu, zu erzählen; ich meine die Sänger, speziell Phemios in Ithaka und Demodokos bei den Phaiaken. Von Demodokos wird nicht nur gesagt, daß er, in Gegenwart des Odysseus, ein Teilstück der ο'ίμη von Ilion singt, nämlich den Streit zwischen Odysseus und Achill, welches Teilstück dann in kurzer Inhaltsangabe gekennzeichnet wird (θ 72—82). Es wird auch ein solches Teilstück selbst vorgeführt, nämlich das über das hölzerne Pferd, das Demodokos auf Verlangen des Odysseus singt (θ 500—520). Wird dieses Gesangsstück vom Dichter nur in indirekter Wiedergabe präsentiert (direkte Ausführung erschließbar über die indirekte Fassung der Apologe ψ 310 ff. im Vergleich zur direkten ι - μ), so läßt er Demodokos an anderer Stelle doch auch ein Sagenstück, zwar nicht aus der ο'ίμη von Ilion, sondern aus einem anderen Sagenkomplex in direkter Form entfalten: Demodokos singt die Geschichte vom

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Liebesabenteuer des Ares und der Aphrodite (θ 266—366, vgl. 268 f. den unmittelbaren Übergang von der indirekten zur direkten Sprechweise).20* In diesen Gesangsstücken nicht, in allgemeinem Inhalt wie Form, Beispiele fur Gedichte zu sehen, wie sie in der mündlichen Heldendichtung von den Sängern seit langer Zeit vorgetragen wurden, hieße unhistorisch verfahren. Denn man würde ja dem Dichter zutrauen, er habe speziell für die Sänger in seiner Odyssee etwas erfunden, was grundlegend von dem abweicht, was seinen Hörern hinsichtlich der Aktivitäten der Sänger allgemein durch die Tradition vertraut war. Für eine solche Maßnahme müßte aber ein spezielles Motiv erkennbar sein, was hier nicht der Fall ist. Wenn aber die Gesangsstücke des Demodokos die Geschichte der mündlichen Sängertradition reflektieren, dann gilt für die Erzählungen der Personen der Handlung in Reden dasselbe. Denn den Demodokos-Gesängen gleichen diese, was das Grundsätzliche angeht: die in sich abgeschlossene und abgerundete Entfaltung eines Stücks Götter- oder Heldensage in nicht zu großer Länge, vollkommen. Und so wird denn auch der bedeutendste Erzähler in der Odyssee, Odysseus selbst, zweimal einem Sänger gleichgestellt (λ 368, ρ 518). Hinzu kommt, daß beide, Gesangsstücke der Sänger und Personenerzählungen, inhaltlich sogar auch in spezieller Hinsicht konvergieren: Nostos-Erzählungen werden auch für den Sänger Phemios als Vortragsstücke benannt (α 326f.), und als Odysseus Demodokos auffordert, vom hölzernen Pferd zu singen, nennt er als Inhalt von dessen Gesang, d. h. von dessen Gesang, soweit er vom Dichter nicht eigens bezeichnet oder ausgeführt war (vgl. 9 90—92 im Anschluß an 73 ff.), die Taten und Leiden der Achaier, also den Kampf um Troia (9 489—491). Auch in spezieller stofflicher Hinsicht weisen die Erzählungen von Personen in Reden mithin über die Tätigkeit der Sänger in der Odyssee selbst auf die derjenigen der mündlichen Dichtungstradition.

3. Einzelszenen Es scheint also so, als werde über die sowohl Ilias wie Odyssee mitkonstituierenden Elemente Exkurs und Erzählung die mündliche Heldendichtung in ihrer Grundform präsent. Damit ist aber zugleich die Möglichkeit eines besseren, weil histo20

> Daß der Odyssee-Dichter das Demodokoslied gezielt mit dem Blick auf die drei wichtigsten Götterszenen der Ilias gestaltet hat, zeigt schön W. Burkert, Das Lied von Ares und Aphrodite, R h M 103, 1960, 130-144; zur Integration in den Kontext des θ B.K. Braswell, The Song of Ares and Aphrodite: Theme and Relevance to Odyssey 8, Hermes 110, 1982, 129-137, ergänzend C . G . Brown, Ares, Aphrodite, and the Laughter of the Gods, Phoenix 43, 1989, 283-293. Z u m ersten Demodokoslied (θ 72-82) vgl. W. Marg, Das erste Lied des Demodokos, Navicula Chiloniensis. Festschrift Felix Jacoby, Leiden 1956, 16-29; Rüter (wie Anm. 37) 247-254. (ο'ίμης, θ 74, = Gen. part., s. Hainsworth z. St.).

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risch angemesseneren Verständnisses der übrigen Partien der Epen gegeben. Die Analytiker waren nicht vollkommen im Unrecht, wenn sie in bestimmten Passagen von Ilias und Odyssee ursprünglich selbständige, für sich existente Einzelgedichte erkannten. 21 ) Man muß ihrer Sicht nur, wozu grundsätzlich die Oral poetryForschung die Voraussetzung geschaffen hat, eine im entscheidenden andere Wendung geben. Die Analytiker hatten recht darin, in bestimmten Teilen der Epen in sich abgeschlossene Erzählpartien zu erkennen, und sie hatten weiterhin recht, insofern sie diese in sich gerundeten Erzählabschnitte genetisch mit der den homerischen Epen vorausliegenden Dichtung in Zusammenhang brachten. Sie irrten indes mit der Annahme, die sich als eigenständige Einheiten aus dem Erzählfluß heraushebenden Partien seien bereits zuvor praktisch in eben derselben Form existent gewesen. Was als vorher existent zur Gänze eingegangen ist ins Epos, ist lediglich die allgemeine strukturelle Form. W i r haben gesehen, daß die Grundform der mündlichen Dichtung die in sich abgeschlossene Erzählung eines Stücks Götter- oder Heldensage von nicht zu umfangreicher Länge ist. Diese Grundform lebt fast unmittelbar zugänglich fort in den Exkursen und Erzählungen von Ilias und Odyssee. Sie hat aber als eine lange Zeit hindurch allein existente und wegen der Mündlichkeit der Dichtung auch allein mögliche Form des Erzählens darüber hinaus Art und Weise des in Ilias und Odyssee stattfindenden Erzählens insgesamt bestimmt. Allein von der Grundform der mündlichen Heldenepik her wird erklärbar, wieso sich im Großepos Erzählung von Handlung generell immer wieder in tendenziell in sich abgerundeten Szenen zusammenzieht, also im Weg Abrundung erstrebender Epeisodien sich vollzieht. Das gilt selbst dann, wenn in der mündlichen Dichtung, was durchaus möglich ist, auch umfangmäßig größere epische Gedichte vorgekommen sind. Denn diese längeren epischen Gesänge sind nur als sekundär gegenüber der Grundform, den kürzeren Gedichten, denkbar, also allein in der Form, daß sie mehrere umfangmäßig überschaubare Gesangsstücke als handlungsmäßig in sich geschlossene Stücke aneinanderreihten, welche Erscheinung die Apologe der Odyssee noch recht deutlich reflektieren. 22 )

> Schadewaldt, Iliasstudien 159f., auch Friedrich 1975, 2 2 f . > D a m i t unterscheide ich mich durchaus von Kakridis, der als der Ilias vorausliegende Form der Epik ausschließlich Epen von g r o ß e m U m f a n g , und zwar chronographische Epen fordert (Kakridis 1949, 89—95): „Immediately behind H o m e r there cannot be short compositions, independent άριστεΐαι and episodes, but chronographic epics which told the Trojan war in large unitary compositions. I consider such an abrupt leap forward, f r o m the small epic dealing with a single episode to the Iliad, impossible. T h e natural (!) first step towards a longer composition is the chronographic and not the dramatic epic" (wobei mit letzterem, nicht ganz glücklich, die Ilias gekennzeichnet wird, 93). Aber o b man in Hinblick auf eine ingeniöse Schöpfung, wie sie die Ilias allemal ist, noch mit organologischen Kategorien operieren kann, bleibt fraglich. Vorsichtiger als Kakridis Kullmann 1981, 5^12, hier 39, vgl. 41 f., in Hinblick 21 22

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Der beschriebene Erzählmodus der Großepen Ilias und Odyssee ist der Entfaltung weitläufigerer Geschehenszusammenhänge als Geschehenszusammenhänge von Haus aus gewiß nicht angemessen, vielmehr eher widerständig. Aber so sehr auch der Dichter der Ilias wie der Odyssee-Autor, auf der Schwelle zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit stehend, sich von der Tradition lösten, ja sie überwanden und hinter sich ließen, indem sie das Großepos schufen: in puncto Erzählmodus blieben sie der Tradition verhaftet, konnten sie sich deren normativ wirkender Selbstverständlichkeit nicht entwinden. Das wird noch darin deutlich, daß selbst die Gleichnisse, was zumal die Ilias zeigt, w o sie zahlreicher verwendet sind, sich, wenn sie ein Geschehen zum Inhalt haben, zu zwar vergleichsweise kurzen, gleichwohl eigenständigen, in sich abgerundeten Szenen formen. 2 3 ) O b freilich solche A u s f o r m u n g von Gleichnissen in Analogie zum Erzählen in in sich geschlossenen Geschehensstücken dem Iliasdichter selbst gehört und nicht vielmehr aus der Tradition ihm bereits ü b e r k o m men ist, ist eindeutig nicht zu entscheiden.

II. Die Teile und das Ganze Mit dem beschriebenen, für die Erzählung der Großepen Ilias und Odyssee konstitutiven Sachverhalt ist nun zugleich das entscheidende Problem angezeigt, das der auf diese Epen konzentrierten Erzählforschung i m m e r aufgegeben war. Wenn man, was methodisch n o t w e n d i g ist, mit Aristoteles von der Voraussetzung ausgeht, daß Ilias und Odyssee eine Einheit darstellen, stellt sich zwangsläufig die Frage: wie ist das möglich angesichts der entfalteten und auch genetisch erklärbaren Eigentümlichkeit dieser Epen, die Erzählung generell in abgerundeten Erzählstücken, in Szenen oder Epeisodien sich vollziehen zu lassen? Indes, die schon mehrfach v o r g e n o m m e n e Relativierung dieses Umstands durch die Betonung, daß die Erzählung tendenziell in sich abgeschlossene Szenen bildet, impliziert bereits deren, wie intensiv immer, hergestellte Integrierung in das Ganze der Erzählung. U n d in der Tat sind die einzelnen Erzählstücke, welcher Art i m m e r sie sind, ihrem Streben nach A b r u n d u n g zum Trotz zugleich i m m e r durch vielfältige Fäden mit dem Gesamt der Erzählung bzw. mit dem Gesamt der Erzählstücke verbunden.

auf die epische Behandlung des Odysseus-Nostos, die .jedenfalls schon zur Zeit der Entstehung der Ilias" anzunehmen sei, 26, auch 37 f. - M.L. West (The Rise of Greek Epic, JHS 108, 1988, 151-172, hier 162) hält es fur möglich, daß im 11. Jh. in Thessalien „Greek bards first advanced from the heroic lay or epyllion of a few hundred lines to the extended epic of several thousand, based on a multiple-episode story". 23) Zu den Gleichnissen Friedrich 1975, 59-75.

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1. Exkurse und Personenerzählungcn Das gilt bereits fur diejenigen Erzählstücke, die am augenfälligsten vom Erzählganzen sich isolieren und damit recht unmittelbar auf die mündliche Heldendichtung und ihre Grundform verweisen, die Exkurse und die Erzählungen. Die Personenexkurse, die in der Regel kurz sind, stellen in ihrer Kürze ein Komprimat dar, denn die über die jeweilige Person mitgeteilten Daten lassen deutlich werden, daß und wie die Person und ihre Familie, ihr und der Ihrigen Schicksal weit ausführlicher vorgestellt werden könnte und anderwärts gewiß oft genug auch war. Der Personenexkurs ist also ersichtlich zugerichtet, abgestimmt auf den Zweck der Vorstellung der in die Handlung eingreifenden Person, also mit Blick auf den Kontext und dessen vollkommeneres Verständnis gestaltet. So sehr er den Hörer in eine andere Welt versetzt, so sehr erleichtert er ihm mithin zugleich den Zugang zum Fortgang des Geschehens, welche Funktion zumal dann deutlich wird, wenn am Schluß des Personenexkurses in der Form der Ringkomposition zum Ausgangspunkt, der Benennung der vorzustellenden Person, zurückgelenkt wird. - Ganz ähnliches gilt übrigens für die Gleichnisse, die bei aller Eigenständigkeit des in ihnen entfalteten Geschehens fest in den Kontext integriert sind, insofern sie, mit der Präsentation eines Analogon, ganz direkt auf ihn verweisen und sein Verständnis in entscheidender Weise fordern. Nicht weniger als bei den kurzen Personenexkursen liegt das Zugerichtetsein bei den längeren zutage. O b der Exkurs sich zu einer längeren Geschichte auswächst, ob Genealogien oder (auto-)biographische Schilderungen gegeben werden, stets werden die teilweise komplexen und weitreichenden Geschehenszusammenhänge nur in ihren Hauptdaten entfaltet. In jedem Fall klaffen (kurze) Erzählzeit und (lange) erzählte Zeit nirgends so weit auseinander wie hier. Beides zeigt, daß auch der längere Personenexkurs bei aller gerade hier deutlichen Eigenständigkeit zugleich immer dazu dient, dem Hörer durch Aufreißen eines weiten Vergangenheitshorizontes die Möglichkeit tieferen und umfassenderen Verständnisses zu verschaffen und ihn auf die Bedeutung der in die Handlung neu eingreifenden Gestalt vorzubereiten. Wie intensiv das gerade der umstrittene TheoklymenosExkurs leistet, hat Erbse überzeugend gezeigt. 24 ' Vorzüglich die letztere Funktion ist für die Sachenexkurse anzuführen. Durchgängig werden Gegenstände dann in Form von Exkursen vorgestellt, wenn sie im weiteren Geschehen eine entscheidende Rolle spielen; das ist bei dem Szepter des Agamemnon, dem Bogen des Pandaros, der Achaier-Mauer und dann in der Odyssee 25 ' bei der Narbe des Odysseus wie seinem Bogen so unmittelbar einsichtig, daß es weiterer Ausführung dazu nicht bedarf. Natürlich ist etwa der Narben-

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> Wie Anm. 10. > Friedrich 1975, 58.

25

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exkurs zunächst eine Welt für sich, etwas Eigenständiges, aus dem Erzählzusammenhang sich Herausstellendes. Aber indem er gerade damit die Aufmerksamkeit des Hörers umfassend für etwas ganz Andersartiges bindet, prägt er ihm den Gegenstand in einer Weise ein, daß er ihn bei dessen Vorkommen in der weiteren Erzählung (vgl. φ 217ff., ψ 74 f., ω 331 ff.) sofort als bedeutsamen registriert und der Schilderung, in der er eine Rolle spielt, mit geschärftem Auge folgt. Die Erzählungen in Reden der Personen der Handlung sind bereits dadurch intensiver in die Handlung eingebunden, daß sie eben von Personen dieser Handlung selbst gegeben werden. 26 ) Wenn die Perspektive, in der die Personen sie notwendig geben, dadurch gebildet wird, daß sie mit der Erzählung etwas Bestimmtes erreichen wollen, ist die Erzählung naturgemäß noch besonders eng mit dem Kontext verwachsen. Das ist der Fall vor allem in der Ilias, in der die Erzählungen nahezu durchgängig, wenn auch mit unterschiedlicher Intensität, als Paradeigma fungieren, also der Parainese oder Warnung dienen. Das Wesen dieser Erzählungen machen unmittelbar die großen Beispielerzählungen sichtbar wie etwa die Meleagros-Geschichte des Phoinix im I (529—599), die die Zweckhaftigkeit dieser Erzählungen und damit ihre Integration in den Kontext auch dadurch noch besonders manifest werden lassen, daß hier die Sagen um ihrer Demonstrationsaufgabe willen weitgehender Manipulation unterworfen worden sind; das geht mitunter so weit, daß die Sage als solche aus ihrer erzählerischen Entfaltung selbst heraus nicht voll verständlich ist, weil entscheidende Daten gar nicht explizit gemacht werden. 27 ) Die Funktion, die die Erzählungen der Odyssee haben, welche kaum noch als Paradeigma dienen und zumeist dem mit der Odyssee selbst thematisierten Sagenkomplex gelten, wird nicht im Hinblick auf die Personen der Handlung akut, sondern hat den Hörer zum Adressaten. Natürlich werden die großen Nostos-Erzählungen jeweils auf Fragen hin gegeben, dem Telemach von Nestor und Menelaos, dem Alkinoos und der Arete usw. von Odysseus. Und Telemach wird natürlich auch durch diese Erzählungen wie auch durch diejenigen über seinen Vater und dessen Taten in Troia in seiner Entwicklung zum erwachsenen Mann entscheidend gefordert, wie andererseits auch Odysseus durch erzählerisches Abarbeiten seiner grauenvollen Irrfahrten wieder vollends zu dem Helden erwacht, der er in Troia war. Aber entscheidend ist doch, daß der Hörer durch die erzählerische Entfaltung der Nosten der anderen Griechenhelden, zumal desjenigen des Agamemnon, der mit seinem furchtbaren Ende wieder und wieder als „Kontrastparallele" (Friedrich 86) auch für die Personen selbst, nämlich Telemach und Odysseus, zur Sprache 26

> Friedrich 1975, 75. Das gilt ebenso für die oben (S. 487) erwähnten Exkurse in Personenreden I 447ff., Ζ 152 ff. 27) Dies ebenso bei dem Theoklymenos-Exkurs der Fall, s. Heubeck 1954, 19 ff. 29 ff. - Z u m Ganzen Friedrich 1975, 77-80.

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kommt, in den Stand gesetzt wird, den Nostos des Odysseus in einen größeren Kontext einzuordnen und von da her in bestimmter Perspektive zu sehen: auf dem Hintergrund der anderen Nosten die grauenvolle Einzigartigkeit des in diesem Epos entfalteten wahrzunehmen. 28 ' Und durch die Irrfahrtenerzählung des Odysseus erfährt der Hörer zunächst einmal, wie der Nostos des Odysseus bisher sich gestaltete, die letzten neun Jahre, was Odysseus also alles bereits durchgestanden hat: es wird so dafür gesorgt, daß er den Nostos in toto vorgeführt bekommt. Aber er wird so auch darüber aufgeklärt, was gerade dem Odysseedichter an dem Odysseus-Nostos wesentlich war, im Unterschied wohl zu manchen Odysseen vor der Odyssee, nämlich die letzten Stationen: Kalypsos- Ogygia, Scheria und dann Ithaka, dort die Rache und, wichtiger noch, die innere Heimkehr, das Hinfinden des Odysseus zu den Seinen. Aus diesem Grund, um deutlich zu machen, daß die verschiedenen Irrfahrtenstationen das entschieden weniger Wichtige sind, sind sie in die retrospektive Personenerzählung gewissermaßen zurückgestuft: so erregend das alles ist, das Entscheidende ist das zeitlich später Liegende. Dem Hörer also wird durch die Irrfahrtenerzählung als Erzählung zugleich eine bedeutungsmäßige Abstufung des Nostos des Odysseus zu Bewußtsein gebracht. Aber Exkurse und Erzählungen von Personen der Handlung sind auch noch auf andere Weise ins jeweilige Epos-Ganze integriert. Für die Ilias haben Geffcken und Schadcwaldt 29 ' darauf hingewiesen, daß hier wiederholt andere Sagenkomplexe als der Troiasagenzusammenhang jeweils, in Exkursen und Erzählungen, in mehreren Einzelstücken entfaltet werden und dabei die verschiedenen in den Blick gerückten Einzelstücke eines Sagenkomplexes einander ergänzen. So werden durch verschiedene Passagen die Herakles-Sage (B 657 ff., Ε 392 ff. 395 ff. 638ff., Θ 362ff., Λ 690ff., Ξ 249ff. 324f„ О 25ff. 639f„ Σ 117ff„ Τ 98ff., Y 145ff), die Pylischen Sagen (A 2 6 0 f f , Δ 3 1 9 f f , Η 132ff, A 6 7 0 f f , Ψ 629ff), der Thebanische Sagenkreis (Δ 376ff. 405 ff, Ε 8 0 2 f f , Ζ 222f., Ξ 113 ff, Ψ 346f. 679, Ω 602 f f ) , die Göttersage (A 396 ff. 5 9 0 f f , Ζ 130 ff., Θ 4 7 9 f f , Ξ 200 ff. 2 4 9 f f , О 18 ff. 187 ff, Σ 395 ff.) und auch die Argonautensage (H 468f., Φ 40f., Ψ 746 f.) in der Ilias präsent, und in zusammenhängender Erzählung wird die Meleagrossage, mit der Kalydonischen Eberjagd (I 529 ff), und die Bellerophontessage (Z 155 ff.) eingerückt. Bedeutsam ist schon, daß die einzelnen Stücke der Sagenzusammenhänge einander ergänzen, also aufeinander verweisend jeweils einen kohärenten Komplex darstellen. Entscheidend aber ist, daß durch die innerhalb der Ilias derart präsent gemachten Sagengebilde jenseits des Troiasagenzusammen-

28 > Vgl. etwa Hölscher 1939, 19f.; Klingner 1944, 39-79, hier 74-79; Friedrich 1975, 86f. 88; ob man freilich sinnvoll von einem „komplexen Paradeigma" sprechen kann, scheint eher fraglich. 29) J. Geffcken, Griechische Literaturgeschichte I, Heidelberg 1926, 33 mit Anm. 155; Schadewaldt, Iliasstudien 85 Anm. 2.

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hangs dieser einen großen Hintergrund vergangenen Sagengeschehens erhält: damit gewinnt er „räumliche Tiefe" (Schadewaldt), wird er erst eigentlich welthaltig. Solche Funktionsausübung läßt aber eine große Zahl von Exkursen und Erzählungen noch in einem umfassenderen Sinn zu einem integralen Bestandteil des Iliasganzen werden. 30 ' Wenn man will, kann man mit Friedrich 31 ' ähnliches für die Odyssee konstatieren, obwohl hier die Erzählungen vorzüglich Geschehnisse des Odysseesagenkomplexes als außerhalb der epischen Handlung liegende Geschehnisse entfalten. Es ergänzen einander nicht nur die Nostenerzählungen, so daß ein eingermaßen umfassendes Bild vom Nostos der Achaier insgesamt ersteht. Mit den Nostenerzählungen ihrerseits fügen sich die Erzählungen von den Kriegsereignissen nach Hektors Tod, also aus dem letzten Kriegsjahr, und die Apologe zu einem großen Panorama der Vergangenheit zusammen, sofern diese nicht mehr von der Ilias abgedeckt ist. Damit aber wird der Erzählgegenstand der Odyssee nicht bloß in einen großen Kontext gestellt und als Moment eines die ganze Welt erfassenden Gcschehenszusammenhangs verdeutlicht. Es wird so insbesondere der Hintergrund aufgerissen, vor dem erst eigentlich der Erzählgegenstand der Odyssee in seiner Besonderheit sichtbar wird, also, wie schon gesagt, die Konzentration auf den Nostos des Odysseus als den furchtbarsten von allen und bei ihm auf die letzten Irrfahrtenstationen, und vorzüglich dann in Ithaka nicht einmal auf die Rache, sondern auf die innere Vereinigung des Odysseus mit den Seinen.

2. Einzelszenen Aber das Problem des Verhältnisses von Teil und Ganzem, also die Frage, wie die Epen, die ihre Handlung in tendenziell in sich abgerundeten, ja abgeschlossenen Szenen präsentieren, gleichwohl als ein einheitliches Ganzes sich darstellen, stellt sich mit schneidender Schärfe, also als wirkliches Problem erst bei den Szenen und Epeisodien, bei jenen Gebilden also, die die epische Erzählung selbst konstituieren. Denn während Exkurse sowie Erzählungen in Reden von Personen der Handlung, selbst bei minimaler Integrierung ins Geschehensgesamt, stets noch, als vom übergeordneten Erzählganzen gewissermaßen gehalten, tolerierbar sind, wird mit der tendenziellen Selbstisolierung derjenigen Szenen, die das erzählte Geschehen selbst konstituieren, über dessen Ganzheits- und Einheitscharakter entschieden. Indessen scheint die Frage immer schon vorab positiv beantwortet, insofern kein Hörer oder Leser Ilias und Odyssee jemals als Anthologie autonomer Szenen, als zyklische Rahmenerzählung oder gar rahmenlosen Erzählzyklus 32 ' zu rezipie30)

Umfassender zu diesem Aspekt Friedrich 1975, 105-110, auch schon 80f. > Friedrich 1975, 87-92, vgl. schon Klingner 1944, bes. 77. 32) Dazu E. Lämmert, Bauformen des Erzählens, Stuttgart 51972, 47 f. 31

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ren vermocht haben dürfte. O b man im Hinblick auf sie, was in gewissem Sinn durchaus legitim ist, von Addition (bzw. additiver Reihung) oder Parataxe von Szenen spricht 33 ', es wollen einem die erzählerischen Einzelstücke einfach nicht als wirklich unzusammenhängend und beliebig austauschbar erscheinen. Insofern kann es im folgenden nur noch darum gehen, solche Rezeptionsimpression durch Benennung von Gründen festzumachen.

a) Szenenwechsel und Handlungsstränge Naturgemäß richtet sich der Blick zunächst auf die Übergänge von Szene zu Szene, die Szenenwechsel als möglicherweise aussagekräftige Erscheinung. Für die Odyssee, der ich mich zuerst zuwende, hat Hölscher34) gezeigt, daß der Hinweis Zielinskis35' nicht genügt, eine Handlung breche erst ab, nachdem sie in einen gleichmäßigen bzw. gleichmäßig verharrenden Vorgang übergegangen ist. Für die Odyssee vielmehr ist, nicht durchgängig (vgl. ξ 523ff.), aber doch weitgehend charakteristisch, daß die Handlung: ihr Sachverhalt, Thema, Problem

33)

Friedrich 1975, 24, im Anschluß an Lämmert (wie Anm. 32) 43-67, bes. 64 f. (bzw. E. Staiger, Grundbegriffe der Poetik, Zürich 7 1966, bes. 110 ff.) und - für den (vorgezogenen) Begriff Parataxe - im Anschluß an B. A. van Groningen, Elements inorganiques dans la composition de l'lliade et de l'Odyssee, Rev. d. Etud. homeriques 5, 1935, 3—24, u n d j . A. Notopoulos, Parataxis in Homer: A N e w Approach to Homeric Literary Criticism, TAPhA 80, 1949, 1-23. Allerdings setzt sich Friedrich von dem Plädoyer der beiden Letztgenannten für eine nichtaristotelische Poetik des Epos und deren Zentralbegriff der unorganischen Einheit ab (110-125). Die spezifische Einheit der Ilias sei jenseits der Alternative organische (Aristoteles)/unorganische Einheit zu suchen; man könne ihr gerecht werden, indem man mit Hegel als die epische Erscheinungsform der .Handlung' die .Begebenheit' bestimmt, usw. Was ich also, nach wie vor von Aristoteles' Einheitsbegriff ausgehend, historisch zu erklären suche, faßt Friedrich als fur die Gattung des Epos konstitutiv. Zwar rührt auch für ihn die Parataxis der Komposition aus den Bedingungen und Zwängen des mündlichen Vortrags; doch „in einem neuen Kontext kann, was ursprünglich nur eine technisch-funktionelle Qualität hatte, eine poetische erhalten" (123). Allerdings ist das bezeichnete Gattungskonstitutivum dann bereits in der Odyssee wieder verlorengegangen: hier nämlich nimmt nach Friedrich, aufgrund der Novellenstruktur des Stoffes, die epische .Begebenheit' die Form der (furs Drama charakteristischen) .Handlung' an, mit dem fur sie typischen Zug zu Einheit und Zielgerichtetheit (126-168, bes. 126. 166) - womit schon bei der Odyssee wieder die aristotelischen Kategorien zum Zuge kämen (kritisch zu Friedrich auch Krischer in seiner Rezension, Gnomon 50, 1978, 625-628, hier 627f.). - Zur Frage, worin Aristoteles' Bestimmung der Gattung Epos tatsächlich defizitär ist, äußere ich mich in dem (auch einige weitere Komplexe der Erzählforschung berührenden) Aufsatz: Aristoteles und die Gattungsdifferenz von Epos und Drama, Poetica 22, 1990, 1-20. 34 > Hölscher 1939, bes. 22-35; vgl. Friedrich 1975, 27-36, zum Ganzen auch Heubeck 1954, 40-63; Hellwig 1964, 75-86. 35 > T. Zielinski, Die Behandlung gleichzeitiger Ereignisse im antiken Epos, Philologus Suppl. 8, 1899-1901, 405-449, hier 413.

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bei dem Wechsel zu einer anderen Szene offen gehalten wird, das Geschehen also in einem Schwebezustand verharrt. Solcher Schwebezustand und solches Offenbleiben aber wird sogar regelrecht angestrebt, was daran kenntlich wird, daß, wie an der berühmten Stelle δ 587ff., die Handlungsfiihrung in solchem Fall oft geradezu auf Abbruch angelegt ist, nämlich um des Abbruchs willen sogar durch gezielte Maßnahmen von bestimmten bereits thematisierten und an sich zu klärenden Punkten abgelenkt wird. Daß aber Handlungen vor dem Überwechseln zu anderen gezielt offen bleiben oder in einem Schwebezustand gehalten werden, wie δ 831 ff., о 284ff. 493ff., ν 184ff., auch 122ff., bedeutet die Erzeugung von Spannung, also den Vorausweis auf Fortfuhrung der Handlung. Die Szene also schließt sich nicht, rundet sich nicht, endet nicht, sondern bricht ab — damit sie später ihren Fortgang nehmen kann. Damit haben wir es in der Odyssee aber mit kontinuierlichen Handlungen, mit weiter reichender, durchlaufender Handlungskontinuität zu tun. Auf diese Weise ist die Einzelszene im Geschehensganzen .aufgehoben': sie ist ins Geschehensgesamt als eins ihrer Glieder integriert, und sie ist — als Einzelszene — tendenziell paralysiert, zugunsten des weitläufigen Geschehensgesamt, welches das Großepos als Großepos ja entfaltet. Das wird noch deutlicher, wenn man auf die Ursache der Szenenwechsel in der Odyssee achtet. Szenenwechsel finden prinzipiell darin ihren Grund, daß das an dem einen O r t sich abwickelnde Geschehen verlassen und das an einem anderen ablaufende in den Blick gerückt werden soll. In der Odyssee aber handelt es sich bei den an verschiedenen Orten sich abspielenden und unter sich jeweils miteinander zusammenhängenden Ereignissen vorzüglich um zwei Ereignisketten: Das Geschehen entfaltet sich über eine weite Strecke hin, nämlich bis zur Wiedervereinigung von Odysseus und Telemach im π, wesentlich in zwei Handlungssträngen, nämlich im Odysseus- und im Telemachstrang, und die entscheidenden Szenenwechsel finden statt, damit der Blick, nachdem er eine Zeitlang den einen Strang verfolgt hat, nun dem anderen folgen kann und damit so, durch den Wechsel, dem Hörer zumindest suggeriert wird, daß die beiden Haupthandlungsstränge zeitparallel verlaufen. 36 ' Wie sie sich auf diese Weise gegenseitig beleuchten und profilieren, der Telemachstrang ganz auf den Odysseusstrang

36 ' Vgl. grundsätzlich Hölscher 1939, 54—56, auch 2 und 5. Die erzählerische Entfaltung gleichzeitiger Geschehnisse in den homerischen Epen hat Zielinski (wie Anm. 35) zwar richtig beschrieben, indem er aufwies, daß die Erzählung hier nie in der Zeit zurückgreift, also nie dieselbe Zeit noch einmal durchläuft, sondern stets nur nach vorne gerichtet sich bewegt, mithin sämtliche Geschehnisse im sukzessiven Nacheinander darbietet. Eine erhellende Erklärung dieser Erscheinung hat jedoch erst Krischer geliefert: 1971, 91—129. Er hat auf die homerische Technik der Verzweigung der Handlung verwiesen und sodann diese Technik als solche aus den Bedingungen der improvisierenden mündlichen Dichtung erklärt, ihre spezifische Form der Verschiebung des zweiten Strangs (wodurch erst der Eindruck der Sukzession entsteht) aber auf ästhetische Intentionen zurückgeführt. Wenig förderlich Hellwig 1964, 115—125; Larrain 1987, 44—62 (mehr nur - wortreich — referierend).

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ausgerichtet ist und erst darin sein Wesen findet und der Odysseusstrang umgekehrt so zusätzlich Gewicht und Bedeutung gewinnt, wie sie aufeinander zustreben, von Beginn an auf ihre Vereinigung hingespannt sind, in der sie schließlich ihr τέλος erreichen, haben Hölscher und Klingner gezeigt. 37 ' Wenn aber die Odyssee zu einem großen Teil von zwei gleichzeitigen kontinuierlichen Handlungen konstituiert wird, dann wird darin vollends faßbar, wie sehr sich das Gewicht von der Einzelszene auf eine weitläufigere durchgehende Handlung verlagert hat. Denn damit leben ja nun nicht mehr voneinander Einzelszene und Einzelszene, die, sich gegenseitig ergänzend, zusammen einen Handlungsstrang konstituieren, sondern es verweisen aufeinander, beleuchten einander, stehen in einem Spannungsverhältnis zueinander Handlungsstrang und Handlungsstrang, also größere Einheiten, womit die durchgehende Handlung der Einzelszene eindeutig übergeordnet ist, die Einzelszene ausschließlich noch als Baustein für diese fungiert. Die Dominanz der weitläufigen durchgehenden Handlung wird geradezu sinnenfällig deutlich, weil das Geschehensgesamt sich in zwei großen parallelen Handlungssträngen darbietet, also auch großräumig sich als komplex präsentiert. Genau das ist in der Ilias nicht gegeben. Der Unterschied zeigt sich bereits an Form und Art des Szenenwechsels. In der Ilias, so hat Hölscher gezeigt 38 ', gibt es nicht den offenen Szenenschluß, der auf Fortführung der Handlung vorausweist. Hier „hört eine Szene auf, aber sie bricht nicht ab, sie endet, aber sie wird nicht zugespitzt auf das Ende" (37). Konsequent sind die Szenen auch, auf verschiedene Weise, miteinander verbunden, sei es, daß eine Person, Gott oder Mensch, lediglich an einem anderen Ort eine gänzlich anders orientierte Handlung durchführt 39 ', sei es, daß die Szenen in einem Ursache-Wirkung-Verhältnis stehen bzw. umgekehrt dieses als gerade nicht vorhanden bezeichnet wird. 40 ' Es können jedoch auch zwei Szenen übergangslos sich antithetisch gegeneinander stellen, wobei die zu beendende Szene zumeist am Schluß in einen weiter andauernden Allgemeinzustand überführt wird. Das ähnelt nur scheinbar der Odyssee, denn in der Ilias wird die verlassene Szene später nicht fortgesetzt, und ihr allgemein gehaltener Schluß ist darauf auch nicht angelegt. O b deswegen die Handlungen „sich bisweilen ohne Schaden vertauschen lassen könnten" 41 ', wäre im einzelnen zu untersuchen. 37)

Hölscher 1939, 26f. 57ff. 83ff. (jetzt ders., Die Odyssee. Epos zwischen Märchen und Roman, München 1988, 87-93); Klingner 1944; vgl. auch Hellwig 1964, 107-114; K. Rüter, Odysseeinterpretationen. Untersuchungen zum ersten Buch und zur Phaiakis, Hypomnemata 19, 1969, 102ff.; E. Siegmann in seinen postum veröffentlichten Vorlesungen: Homer. Vorlesungen über die Odyssee, Würzburg 1987, 124—178. 38 > Hölscher 1939, 37-50; vgl. Friedrich 1975, 25-27, zum Ganzen auch Hellwig 1964, 59-75. 39 > Hölscher 1939, 37 f. 40) Hölscher 1939, 38-40. Zur Frage der Verbindung der Szenen in Ilias und Odyssee auch Hellwig 1964, 89-107. 41 > Hölscher 1939, 41.

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Bei allem In-Sich-Abgeschlossensein der Einzelszene gibt es natürlich auch in der Ilias Szenen, die als gleichzeitig rezipiert werden müssen. Inwieweit diesen das äußerlich bleibt, bedarf im Einzelfall noch genauerer Klärung. Das wird zumal durch zwei Erscheinungen von Gleichzeitigkeit nahegelegt, bei denen die eine Handlung für die ihr gleichzeitige deutlich von ausschlaggebender Bedeutung ist, dieser in entscheidender Weise zu ihrer Gestalt verhilft. Auf die mit dem Beginn von Λ 2 (596 ff.) sich neben der allgemeinen K a m p f handlung etablierende, von Achill selbst initiierte Patrokloshandlung hat Hölscher verwiesen 42 ': sie reicht, in О 390—404 noch einmal auftauchend, bis zum П, vereinigt sich mit der allgemeinen K a m p f h a n d l u n g durch Patroklos' Eingreifen in den K a m p f u n d bringt mit seinem Tod die entscheidende Wende in dieser, den Wiedereintritt des Achill in den Kampf. Eine innere Beziehung hat auch, wie Latacz gezeigt hat, die Chryseepisode zu der ihr zeitparallelen Handlung im A, ja sie ist für sie von entscheidender Bedeutung: „ O h n e R ü c k g a b e der Chryseis keine Versöhnung des Apoll, ohne Versöhnung des Apoll kein Ende der Pest, ohne Ende der Pest keine W i e d e r a u f n a h m e des Kampfes, und [...] ohne W i e d e r aufnahme des Kampfes keine ,Ilias'". 43 ' Gewiß ist der U m f a n g der gleichzeitigen Handlungen hier vergleichsweise gering, und auch die Patrokloshandlung kann mit einem gewissen Recht als „der erste Versuch, eine Handlung auf weite Strecken hin neben einer anderen herzuführen" bezeichnet werden 4 4 ', zumal wenn man, w o h l zu Recht, allein Patroklos' Aktivitäten berücksichtigt und dann eine W i e d e r a u f n a h m e dieses Strangs zwischen Л und Π nur in О 390-404 erkennt. 4 5 ' Anders als fur die Odyssee ist „die durchgängige Verschlingung der Ereignisse" 46 ' f ü r die Ilias in der Tat nicht wirklich charakteristisch. Aber als wesentlich für die Komposition der Ilias ausschließlich die Einzelszene und ihre „bildartige A b r u n d u n g " zu sehen scheint andererseits auch problematisch, zumal w e n n man zusätzlich noch folgendes bedenkt. Z w a r hat Hölscher zu Recht hinsichtlich der Götterhandlung betont, daß für sie nur ein „Schein von Kontinuität" erzeugt wird: „So wenig ihr die innere Folge abgestritten werden kann, so fehlt ihr doch die wirkliche sinnliche Kontinuität" (48). Aber es gibt ja nicht nur, neben der K a m p f h a n d l u n g , die Götterhandlung als durchgehende gleichzeitige ,Handlung', es gibt auch die Achill-Handlung, den

42)

Hölscher 1939, 45 f.; zustimmend Friedrich 1975, 26 mit Anm. 40. > Latacz 1981, 53-80, das Zitat 69. 44) Hölscher 1939, 46 (meine Hervorhebung). 45 ' Anders Schadewaldt, Iliasstudien 89—94, der von einer Nestor-Patroklos-Handlung spricht und dann noch die Nestorstücke Ξ Iff., О 370ff. 659ff. mit einbezieht. Aber entscheidend für die ihr gleichzeitige Handlung ist nur die, von Nestor freilich entscheidend beeinflußte, Patrokloshandlung. 46) Hölscher 1939, 43 (meine Hervorhebung). 43

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von Achill bestimmten Handlungsstrang. ' Freilich ist dieser von besonderer Art. Die Achill-Handlung wird als eigenständiger Strang im Α grundgelegt, und in und mit seiner Grundlegung wird auch sein Charakter und Modus festgelegt: die Achill-Handlung ist, als eigenständige Handlung, Nicht-Handlung. Mit seinem Szeptereid legt Achill selbst sich auf strikte Kampfenthaltung, also totale Aktionslosigkeit fest (A 233-246, vgl. 338-342), und nachdem seine Mutter Thetis ihm ihrerseits dasselbe empfohlen hat (A 421 f.), realisiert er dann auch sein Vorhaben unverzüglich. Die Mitteilung davon aber formt der Autor sogleich so, daß in ihr Achills Verhalten als sich in der Zukunft in eben dieser Weise fortsetzend deutlich wird (A 488-492). 48 ' Zeus' Gewährungsnicken auf die Bitte der Thetis (A 493-530) sichert dann den mit der Kampfenthaltung angestrebten Erfolg ab, und damit ist zugleich Achills Kampfenthaltung als ein langfristiges, weitreichendes Unternehmen gewissermaßen kodifiziert. Diese dann in der Tat zwei Drittel des Epos, nämlich bis zum Τ andauernde Handlung des Achill war, da sie Nicht-Handlung ist, als zum Kampfhandlungsstrang zeitparallele Handlung erzählerisch vergleichsweise leicht zu bewältigen. Als Nicht-Handlung kommt sie zu sich selbst, erfüllt sie sich, wird sie sinnenfällig an sich gerade darin, daß sie in der Erzählung nicht präsent wird. Aber da sie den entscheidenden Hintergrund des Kampfhandlungsstrangs bildet, ganz auf diesen ausgerichtet ist, ja diesen in seiner jeweiligen aktuellen Form bedingt und in letzter Instanz auf die Vereinigung mit ihm abzielt, wie umgekehrt der Kampfstrang sie beleuchtet, sie profiliert, zunehmend zu ihr hinstrebt, und da eben dies, der Achillstrang und sein Verhältnis zu dem Kampfstrang als für die Ilias grundlegend nicht aus dem Blick geraten darf, hat der Autor ihn von Mal zu Mal eingeblendet. Er hat das getan zunächst in kurzen Andeutungen — mehr war sachlich weder möglich noch nötig —49', dann, je mehr Achills Nicht-Handlung, bzw. Zeus' sie unterstützendes Eingreifen wirkt, also ab Θ die Griechen zunehmend in Bedrängnis geraten, intensiver und ausfuhrlicher: in den Versuchen der Griechen, Achill zum Wiedereintritt in den Kampf zu bewegen (I, A 2, О 390-404 und dann Π).5ϋ> In diesen Szenen zeigt sich ganz konkret, wie sehr der eine Strang auf die Vereinigung mit dem anderen hinstrebt, welche Vereinigung dann ja auch später, wenngleich über ganz andere, nicht erwartete Ereignisse, erfolgt.

47 > Auf ihn und sein entscheidendes Charakteristikum, die Aktionslosigkeit, sowie die hier verwendete „Rezidivierungstechnik" hat grundlegend Latacz verwiesen: 1981, 59-73; Homer. Der erste Dichter des Abendlands, München/Zürich 2 1989, 155-158. Vgl. jetzt auch Hölscher, Die Odyssee (wie Anm. 37) bes. 85 f. 48 > Zu der Partie Latacz 1981, 73. 49 > Die Stellen zumeist über den Namenindex ermittelbar: В 239-242. 375-380. 681-694. 768-779, Δ 512f„ Ε 787-791, Ζ 99f. 414-428, Η 113f. 226-230, Θ 224-226. 370-372. 473-477. 50 > Daneben immer auch noch die mehr allgemeinen Achill-Erwähnungen: Μ 10, N 113. 324f. 348-350. 746f„ Ξ 50. 139-142. 366f„ О 64. 68ff. 614.

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Auch für die Ilias also ist eine Doppelhandlung konstitutiv. Allerdings ist eben der eine der beiden gleichzeitigen Stränge dadurch gekennzeichnet, daß seine Handlung Nicht-Handlung ist, daß er in der Handlungslosigkeit sein Wesen findet. Das aber macht, daß hier nicht gleichermaßen augenfällig wie in der Odyssee die beiden das epische Geschehen weithin bestimmenden zeitparallelen Handlungsstränge die Einzelszene aus ihrer Stellung als primäres konstitutives Element des Epos verdrängen. Wenn der Rezipient gleichwohl nicht den Eindruck gewinnt, das Geschehen der Ilias sei wesentlich auf die in sich abgerundete Einzelszene gestellt, wenn er vielmehr die Ilias statt als Gebilde additiv sich aneinanderreihender Einzelszenen primär als kohärentes einheitliches Ganzes empfindet, so muß das mithin an etwas anderem liegen.

b) Vorbereitung Den Grund bewußt gemacht zu haben ist das Verdienst der ,Iliasstudien' von Schadewaldt. Schadewaldt hat aufgewiesen, daß die erzählerische Physiognomie der Ilias sich entscheidend einem bestimmten Prinzip verdankt, dem Erzählprinzip der Vorbereitung. Der Dichter der Ilias beschränkt sich nicht darauf, die Geschehnisse am Leitfaden der Chronologie in sukzessiver Folge hintereinanderweg zu erzählen. Als Erzähler eines Großepos weist er vielmehr zugleich auf das erzählerisch zu entfaltende Geschehen voraus, und das nicht ein einziges Mal und dann grundlegend, sondern von Mal zu Mal wieder und dann jeweils mit umfassenderer, detaillierterer Enthüllung des zukünftig Geschehenden. Es beherrscht also die epische Erzählung der Ilias „die Technik einer .gestaffelten Vorbereitung'". 51 ' Wird der Hörer schon damit in Spannung versetzt, so noch intensiver dadurch, daß Hand in Hand mit dem Prinzip der Vorbereitung die Iliaserzählung „das Prinzip des ,Aufschubs'" oder der Verzögerung bestimmt (150 u.ö.). 52 ' So sehr beim Hörer durch Vorausblicke bestimmte Erwartungen geweckt werden, so sehr wird er, dadurch daß die Erzählung, die auf das vorausgewiesene Ziel zustrebte, plötzlich in andere Richtung läuft — dies die berühmten Augenblicke des .Beinahe' - , in seiner Erwartung düpiert und damit hingehalten. Daß den Vorausdeutungen häufig Rückverweise entsprechen, macht das bereits durch die Vorblicke geknüpfte Netz der Beziehungen noch enger und läßt das Großepos Ilias vollends als kohärentes Ganzes erscheinen. 51 > Schadewaldt, Iliasstudien 150. Zu den Vorauswendungen auch Hellwig 1964, 54—58; zu Voraus- wie Rückwendungen de Jong 1987, 81 ff. (Lit.). „Arbeiten, die Vorausdeutungen (und Rückwendungen) in den homerischen Epen als Hauptthema haben", bespricht Larrain 1987, 30-39. 52 > Vgl. jüngst M. Reichel, Retardationstechniken in der Ilias, in: W. Kullmann/M. Reichel (Hrsg.), Der Übergang von der Mündlichkeit zur Literatur bei den Griechen, Tübingen 1990 (ScriptOralia 30), 125-151.

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Das die Iliaserzählung durchgängig bestimmende Prinzip der Vorbereitung realisiert sich im einzelnen auf zweierlei Weise. Einmal direkt durch explizite Vorausdeutungen aus dafür berufenem Mund: das beginnt mit Zeus' Gewährungsnicken, also dem Versprechen, Thetis' Bitte zu erfüllen, im A (523—530), womit der durch den Szeptereid besiegelten Kampfverweigerung Achills (A 233—246) der erstrebte Erfolg garantiert wird; und das setzt sich fort vor allem mit den drei großen Zeusvoraussagen Θ 470-477, Λ 187-194, О 49-77, vgl. außerdem Θ 5-40. 68-77, Λ 52-55, Ν 345-360, О 232-235, Χ 208-313. Hinzuzunehmen sind die drei Warnungen des Pulydamas (s. Σ 250) an Hektor Μ 195-229, N 725-747, Σ 243—283, und bedingt, weil nur partiell die Zukunft korrekt bezeichnend, auch Hektors eigenes Hoffen und Wünschen Θ 497ff., bes. 526ff. Zum anderen realisiert sich das Prinzip der Vorbereitung indirekt: indem es bereits in der Erzählung selbst konkret wird, in und mit der spezifischen erzählerischen Lenkung und Formung des Geschehens. Schadewaldt hat gezeigt, wie insbesondere die Bücher Θ und Λ (dieses in seinen beiden Teilen) in dieser Weise der Vorbereitung kommenden Geschehens dienen und daß zu ihnen gleichfalls noch als , Vorbereitungs-Bücher' Α und I sich fugen. Konkreten Niederschlag findet die in und mit der erzählerischen Gestaltung selbst geleistete Vorbereitung darin, daß in den hierfür zentralen Büchern bestimmte Motivreihen ihren Anfang nehmen, so etwa im Θ die Schicksalslinie Hektors 53 ', von hier an besonders intensiv gleichfalls die Götterhandlung 54 ', und auch die große Niederlage der Achaier in A - 0 hat in der vorläufigen Niederlage im Θ zumindest einen Vorklang, welche Niederlage daneben ebenfalls den Bittgang zu Achill im I motiviert. A 1 ist dann der Auftakt zu der großen Niederlage, eröffnet also das bis O, ja bis Ρ reichende große Kampfgeschehen; A 2, die Nestoris, aus A 1 sich ergebend, bereitet die Patroklie vor, also Π und P. Und zusammen mit Α und I zielen Θ und Α (und dieses wiederum in seinen beiden Teilen) in der mannigfaltigsten Weise immer schon auf die Achilleis als das τέλος der Ilias, auf Achills Wiedereintritt in den K a m p f u n d die darin beschlossene Besiegelung seines Schicksals. So sehr naturgemäß die „fortschreitend einander ergänzenden .Vorbereitungen' sich besonders dort in eigenen ,Vorbereitungsgesängen' zu stauen scheinen, wo der Gang der Dinge noch in der Entwicklung ist" 55 ', so sehr ist das Erzählprinzip der Vorbereitung doch für die gesamte Ilias konstitutiv 56 ', selbst da noch, wo das bislang stets Vorbereitete lediglich noch sich entfalten muß. Schadewaldt kann zeigen, daß vom Σ an nicht allein Achills Zorn endet bzw. als gewissermaßen

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Schadewaldt, Iliasstudien 103-109. > Schadewaldt, Iliasstudien 109-118. 55) Schadewaldt, Iliasstudien 150. 56) Schadewaldt, Iliasstudien 151 ff. Zu dem mit den Hinweisen auf Schadewaldt nur von einer Seite her berührten Gesamtkomplex der Dubletten, Motivverdoppelungen, Parallelszenen, Personenentsprechungen, also der Spiegelungen vgl. Lohmann (wie Anm. 16), bes. 183ff. 54

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neuer Zorn jetzt in der Rache an Hektor sein Entfaltungsmedium findet (156). Wie auch im zweiten Iliasteil immer wieder auf Troias Untergang vorausgewiesen wird (156 mit Anm. 4), ebenso wird vielmehr zumal vom Σ an Achills Tod ständig antizipiert (150f. 156f.). Noch in ihrem letzten Teil deutet die Ilias also, über sich hinaus, ins Zukünftige, womit sie das Erzählprinzip der Vorbereitung als geradezu für sie grundlegend beglaubigt. In der Odyssee, so war bislang deutlich geworden, wird Kohärenz wesentlich dadurch hergestellt, daß das Geschehen sich in durchgehenden Handlungssträngcn, und zwar weitgehend in zwei gleichzeitigen kontinuierlichen Handlungssträngen realisiert. Doch auch hier wird Einheit durch Vorausdeutungen bewirkt, denen häufig Rückverweise entsprechen, und das, wenn vielleicht auch nicht extensiver, so in jedem Fall intensiver als in der Ilias. Denn die Odyssee ist von Beginn an von einem vehementen Drang auf ihr Ende hin, Odysseus' Heimkehr und Rache an den Freiern, geradezu beherrscht, hier gerät alles gewissermaßen in einen Sog auf das Ziel der Handlung hin. Der Ausdruck, den sich das naturgemäß verschafft, ist wiederum direkter wie indirekter Natur. 57 ) Die direkten Vorausdeutungen bestehen, wie in der Ilias, aus Voraussagen aus dazu berufenem Mund: vor allem der Athene (a 81-95 [vgl. ε 25-27. 29-42]. 196-205, auch ν 303-310. 397-415, о 36-42), auch des Zeus (υ 102-121; in den Apologen vgl. Kirke κ 490ff., μ 25—141), des Sehers Halitherses (ß 161-176) sowie des Sehers Theoklymenos (o 525—534, ρ 151—161, υ 351-357. 364—370), auch der Helena (o 172-178), des Autors selbst (υ 392-394, φ 96-100. 418) und vorzüglich schließlich des Odysseus persönlich (ξ 151—164, auch 321—333, σ 145—150. 384-386, τ 84. 300-307, auch 262-299 und 585-587, υ 229-234, φ 428-430, s. gleichfalls π 270-320, φ 231-241). Einige der direkten Voraussagen, zumal des Odysseus selbst, und zwar die, in denen er seine eigene baldige Rückkehr ankündigt, verweisen bereits auf die indirekten Vorverweise. Sie nämlich deuten nicht bloß durch die Aussage als solche auf Zukünftiges voraus, sondern auch dadurch, daß sie aufgrund der Situation, d.h. aufgrund des Unerkanntseins des Odysseus für den Hörer mehr und anderes sagen als für die Personen des Geschehens selbst und insofern von objektiver Ironie sind. Zwar ist natürlich auch für die Odyssee qua Großepos als Form der Vorbereitung, die sich in und mit der Erzählung selbst, ihrer spezifischen Fassung realisiert, die aus der Ilias bekannte konstitutiv: So bereitet etwa das Weinen und Sichverhüllen des Telemach, als er Menelaos von seinem Vater Odysseus sprechen hört (δ 104ff., bes. 113—116, und dazu 110—112), das Weinen und Sichverhüllen des Odysseus vor, als dieser bei den Phaiaken Demodokos über Odysseus und seine Taten singen hört (9 73 ff., bes. 83—92 und ff., außerdem 485 ff., bes. 521—531 und 57>

Nur bedingt zu dem Komplex heranzuziehen Larrain 1987 (zu Vorausdeutungen 63-324, zu Rückwendungen 331-344), der jeweils mit recht weitherzig verwendeten Begriffen arbeitet.

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ff.); die Anagnorisis des Odysseus bei den Phaiaken (ab η 230, s. schon 146ff. 199 ff., die Lösung dann ι 19 f., vgl. 9 28. 83 ff. 550 f. 577 f.) ist der Auftakt zu einer ganzen Kette von Wiedererkennungen bis hin zu der schwierigsten, derjenigen durch Penelope im ψ (vgl. schon die ahnende Anagnorisis des Telemach durch Helena δ 141—146, und diese speziell mit dem Ahnen der Eurykleia τ 380f.); Odysseus' Landung auf Scheria am Ende des ε ist das negative Vorspiel seiner Landung auf Ithaka am Anfang des v, und wie dort das Erwachen (ζ 117) der Auftakt zu einem wichtigen neuen Handlungsschritt ist, so ist es hier (v 187 f.) der Beginn des letzten und entscheidenden. Einmal wird, an einem Beispiel, das Prinzip der Vorbereitung sogar selbst thematisch: Telemach selbst sieht in Odysseus' Besiegung des Bettlers Iros am Anfang des σ eine Vorausdeutung auf die Rache an den Freiern (σ 233 ff.). Aber so sehr auch in der Odyssee die aus der Ilias bekannte Form der Vorbereitung verwendet ist, daneben ist intensiv jene andere genutzt, die mit dem Mittel der objektiven Ironie arbeitet. Basis ist eine Geschehenssituation, für die konstitutiv ist, daß eine der Personen von den anderen Personen in ihrer wahren Identität nicht erkannt wird, obschon diese sie an sich durchaus kennen. Uber diese Konstellation wird die objektive Ironie dadurch konkret, daß entweder die nicht erkannte Person selbst (oder ihr Mitwisser) bewußt in einer Weise redet oder handelt, die fur die anderen Personen nur partiell durchschaubar ist, oder daß die anderen Personen mit Blick aufjene unerkannte Person unbewußt etwas sagen, was mehr bedeutet, als sie selbst intendierten, oder was die Wirklichkeit in für sie schlimmer Weise völlig verfehlt, an ihr vorbeigeht —: jeweils enthüllen sie sich in krasser Weise als nichtsahnend. Indem aber auf diese Art jeweils allein der Hörer die Handlung oder Rede in ihrem vollen Sinn begreift, wird er, weil er die entsprechenden Augenblicke natürlich als solche des .Beinahe' erlebt, in Spannung und Erwartung versetzt —: darauf, wann die nicht-wissenden Personen die unbekannte Person in ihrer wahren Identität erkennen, also auf den weiteren Gang der Handlung. Diese Art des Vorausweisens ist angewendet bereits in der Begegnung Telemachs mit Menelaos, der Telemach nicht sogleich erkennt (vgl. bes. δ 110—112), ebenfalls während Odysseus' Aufenthalt bei den Phaiaken (vgl. etwa η 311 ff., θ 72ff. 93ff. 165ff. 202ff. 410f. 4 9 2 f f ) . Aber massiv verwendet wird sie naturgemäß erst nach Odysseus' Ankunft in Ithaka im v, also von dem Zeitpunkt an, da der zum alten Bettler gewandelte Odysseus denen gegenübertritt, die ihn an sich nur zu gut kennen, einerseits den Seinen, auf der anderen Seite den Freiern. Da hier das Gesamtgeschehen von dem Verhältnis Wissende-Nichtwissende bestimmt ist, ja von ihm lebt, bringt sich das beschriebene Phänomen auf Schritt und Tritt zur Geltung. Hier mögen Beispiele genügen. 58 ' Für von Odysseus 58) Mehr Stellen besprochen bei Friedrich 1975, 36 ff. Friedrichs Ansicht, daß die „räumlich bereits vereinigten Handlungen" des letzten Odysseedrittels gleichwohl „noch nebeneinander

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bewußt doppeldeutig formulierte Rede verweise ich auf ρ 354 f. und σ 375-380: beidemal weist er nur für den Hörer (und den Mitwisser Telemach) vernehmbar auf die Rache voraus. Und als Handlungen des Odysseus, die auf seine wahre Identität und damit abermals auf die Rache deuten, sei sein Kampf gegen den Bettler Iros genannt (Anfang σ, bes. 90 ff.), außerdem seine Reaktionen auf mehrfache handgreifliche Mißhandlung durch seine Feinde (ρ 204—238. 409-465, σ 387-398, υ 284-308). Für .auffälliges' Verhalten Telemachs vgl. σ 405 ff., bes. 410f. und υ 257ff. (268f. = σ 410f.). Wie Personen unbewußt mehr sagen, als sie intendieren und intendieren wollen können, zeigt pointiert der Umstand, daß die Freier Odysseus wünschen, seine Wünsche mögen in Erfüllung gehen (σ 112 f.). Und an der wahren Situation völlig vorbei geht es etwa, wenn Eurykleia Odysseus nichtsahnend als fernen anredet — Odysseus, der vor ihr sitzt (τ 363—372). Was Penelope betrifft, so sagt praktisch jede ihrer Handlungen und verbalen Äußerungen mehr, als sie selbst weiß, oder, bedeutsamer noch, verfehlt die Wirklichkeit in für sie schlimmer Weise total.

III. Großepos und individuelle Erzählphysiognomie Es ist deutlich geworden: Ilias und Odyssee leben von der Spannung zwischen Teil und Ganzem, Einzelszene und Gesamthandlung, und dieser Umstand verdankt sich dem historischen Ort dieser Epen: Ilias- wie Odysseedichter sind auch erzähltechnisch einerseits noch ganz der Tradition mündlicher Heldendichtung verhaftet, ja ihre Gedichte verdanken sich ihr in entscheidendem Ausmaß; andererseits stoßen sie sich von ihr ab, übergreifen sie sie, ,heben' sie sie ,auf'. Die Erklärungsformel vom O r t der Ilias (und mit Einschränkung auch der Odyssee) als der Schwelle zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit gewinnt — in dieses Ergebnis münden die Ergebnisse der Erzählforschung sämtlich ein — nicht zum wenigsten in erzähltechnischer Perspektive konkrete Bedeutung. Die das erzählerisch augenfällig Neue betonende Rede, mit Ilias und in Folge davon Odyssee sei das Großepos geschaffen worden, wird unter solchem Blickwinkel erst eigentlich nachvollziehbar. 59 '

herlaufen, solange die wahre Identität des Bettlers Penelope und den Freiern unbekannt ist" (37, s. schon 28. 33f. und bes. 40f., auch Hölscher 1939, 75), scheint wenig forderlich. O b durch Erscheinungen objektiver Ironie innerhalb von Szenen oder ob durch offene Szenenschlüsse auf Fortfuhrung des Geschehens verwiesen wird, ist ein nicht zu verwischender Unterschied. 59 ' Die gerade auch vom Erzähltechnischen her sichtbar werdende historische Vermitteltheit der homerischen Epen scheint nicht hinreichend berücksichtigt in der Arbeit von Krischer 1971, nicht zuletzt wohl deshalb, weil K. unausgesprochen von der (problematischen, s. o. S. 493 mit Anm. 22) Voraussetzung ausgeht, Großepik habe es bereits vor den homerischen Epen gegeben. Das ist um so bedauerlicher, als die Arbeit dem Nachweis gilt, daß der gesamte epische Stil von dem Prinzip bestimmt ist, die Teile vom Ganzen her zu fassen, wofür K. zuletzt immerhin auf

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So sehr jedoch mit dem bisher Ausgeführten auch schon speziell der Schöpfungsakt des Großepos deutlich geworden ist, wesentlich wird er als solcher erst von einem anderen Aspekt aus greifbar, der zugleich das Bild der Erzählforschung in entscheidender Weise komplettiert. Erzählforschung zielt immer auf Regularitäten, invariante Weisen des Erzählens, generelle erzählerische Usancen, also auf formale Erzähl,techniken'. Selbst wenn die hier herausgestellten der Ilias, am Beginn epischen Erzählens in Europa, erst einmal er- bzw. gefunden werden mußten, also nur als historisch vermittelt begreifbar sind, so sind sie mit ihrer erstmaligen Anwendung doch zugleich als universal mögliche, also zeitlose etabliert —: schon in der Odyssee finden sie sich, partiell weiterentwickelt, in gleicher Weise verwendet. Aber an Ilias (und dann auch Odyssee) als Großepos kommt man doch über formale Erzählkonventionen, über ,Bauformen des Erzählens', allein nicht heran. Was Ilias und Odyssee zu Großepen, d. h. ästhetisch anspruchsvollen Großepen macht, ist nicht schon die Gestaltung eines umfangmäßig großen Geschehensstücks, das mit Hilfe von die additive Reihung hinter sich lassenden Erzählmitteln wie entsprechender Szenenwechsel', gleichzeitige Handlungsstränge', Vorbereitung' als kohärentes Ganzes präsentiert wird, sondern eine bestimmte Zurichtung und Organisation des Stoffes. War es bei den kürzeren Gedichten der rein mündlichen Phase epischer Dichtung ohne Gefährdung der Wirkung möglich, als Stoff ein mehr oder weniger beliebiges Stück Götter- oder Heldensage zu wählen, so wäre das beim Großepos, also bei der erzählerischen Entfaltung eines größeren Geschehensstücks wenigstens riskant. Statt einfach irgendein sich länger hinziehendes Geschehen zu erzählen, mußte hier der Stoff vorab in bestimmter Weise organisiert: perspektivisch aufbereitet, akzentuiert, arrangiert werden. Solche Maßnahme ist grundsätzlich gewiß ebenfalls ein generelles Erzählprinzip; aber als solches ist es derart allgemein, daß ausschließlich die individuellen Ausführungen interessieren. Auch bei Thematisierung der Erzählforschung bekommt man also einmal ganz die individuelle Erzählphysiognomie des Ilias- wie Odysseedichters in den Blick. Daß der Iliasdichter nicht den gesamten troischen Krieg, sondern nur einen schmalen Ausschnitt aus ihm erzählt, hebt rühmend schon Aristoteles hervor (wobei er zugleich als negativen Gegensatz die Kyklischen Epen anführt, Poet. 23. 1459a 30ff.; 26. 1462b 10f.; auch 8. 1451a 22ff.). Es sind nur 50 Tage am Ende des neunten Kriegsjahrs, und selbst von diesen im Grunde nur 15, für die übrigen werden in äußerster Raffung vier Handlungen mehr nur genannt. Der thematisierte Abschnitt ist indes kein beliebiger; er ist gekennzeichnet durch den

einen in der homerischen Sprache selbst vorkommenden Terminus verweisen kann, der diesen Sachverhalt bezeichnet, nämlich καταλέγειν, als dessen Bedeutung er „klassifizierend darstellen" ermittelt.

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Zorn des Achill. Dieser ist das Thema der Ilias, allerdings immer in Relation zum Kriegsgeschehen. Damit aber ist die Ilias, als Achilleis, zugleich immer Ilias. Und sie ist es so sehr, daß der Dichter, in der Ausschnittsschilderung, sogar auch den Krieg in seiner Gesamtheit aufscheinen läßt, indem er sowohl dessen Anfang (mit Hilfe von Schiffskatalog, Troerkatalog, Mauerschau, Epipolesis) wie dessen Ende (durch Vorausdeutung auf den Untergang Troias ebenso wie auf den Tod Achills) in sie ,hineinspiegelt', ja sogar auch seinen Ursprung, die Ver- und Entführung Helenas durch Paris, die er im Γ gewissermaßen nachspielen läßt, wie auch ein noch nach dem Fall Troias liegendes Ereignis, die Zerstörung der Achaier-Mauer (M 10-33, im übrigen s.o. S. 487).60' Auch hinsichtlich der Odyssee hat auf das Faktum als solches bereits Aristoteles in der Poetik verwiesen. Bei seiner Ablehnung des an der Biographie eines Helden orientierten Epos hebt er als positives Gegenbeispiel die Odyssee hervor; in ihr werde nicht alles, was Odysseus in seinem Leben zustieß, entfaltet, sondern nur eine einzige, d. h. eine in sich geschlossene, einheitliche Handlung (8. 1451 a 22 ff.), womit Odysseus' Nostos gemeint ist. Aber entscheidend scheint darüber hinaus, daß der Odysseedichter nicht einmal diesen zehn Jahre dauernden Nostos am Leitfaden der Chronologie in toto erzählerisch entfaltet hat. Vielmehr beschränkt er sich zeitlich auf das letzte, also das zehnte Jahr, und auch von diesem werden nur rund 40 Tage erfaßt, von welchen dann wiederum nur 16 wirklich auserzählt werden (zusätzlich freilich 8 Nächte); für die übrigen werden in äußerster Raffung drei Aktionen mehr nur benannt. Die Konzentration auf einen extrem kurzen Geschehenszeitraum hat eine Beschränkung im Lokalen zur Folge. Die Odysseehandlung spielt sich in der Hauptsache an nur drei Schauplätzen ab, einerseits den letzten beiden Stationen der Irrfahrt, der Insel der Kalypso, Ogygia, sowie derjenigen der Phaiaken, Scheria, dann auf Ithaka, dem Ziel des Nostos, also der Insel des Odysseus selbst (von den Nebenschauplätzen der Telemachie kann hier abgesehen werden). Doch trotz dieser den Erzählgegenstand umfangmäßig gezielt zurückschneidenden Baukonzeption wird der Nostos in seiner gesamten zeitlichen wie lokalen Erstreckung im Epos präsent. Auf Scheria entfaltet Odysseus den Phaiaken, also in Form einer retrospektiven Ich-Erzählung, die anderen, vom Dichter aus der ErErzählung bewußt ausgeklammerten neun Jahre der Irrfahrt sowie deren einzelne Stationen, wodurch einerseits eben der Nostos in seiner Gesamtheit dem Hörer vorgeführt wird, andererseits aber zugleich die kompositorische Grundmaßnahme als absichtliche profiliert wird. Die ersten neun Jahre der Irrfahrt erscheinen so, gewissermaßen explizit, bedeutungsmäßig zurückgestuft, die Akzentuierung der Rache an den Freiern sowie deren Voraussetzung, Odysseus' Wiedererwachen

60

> Ausführlicher Kullmann, Poetica 2, 1968, 17f., und Kulimann 1981, 42, auch Friedrich 1975, 82. 104.

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zum Troiahelden bei den Phaiakcn, wird eindeutig. Und wesentlich ist dann nicht einmal die auch hierin immer noch sich vollziehende äußere Heimkehr des Odysseus, sondern die innere: das Zurückfinden zu den Seinen, vorzüglich zu seiner Gattin Penelope, was freilich allein noch durch die Gestaltung der Erzählung im einzelnen sichtbar wird. — Aber nicht nur Odysseus' Nostos, auch die Nosten der anderen griechischen Helden werden in der Odyssee durch rückblickende Erzählungen von Personen entfaltet, ebenso, noch weiter zurückliegend, Ereignisse aus dem letzten Kriegsjahr, nach Hektors Tod, so daß praktisch die gesamte dem Iliasgeschehen folgende Vergangenheit in der Odyssee gegenwärtig ist (s. o. S. 498), ungeachtet der Konzentration des Epos auf einen bestimmten schmalen Geschehensausschnitt. Indem mit dem Hinweis auf die spezifische Organisation des Stoffes in Ilias und Odyssee, der auch bei Entfaltung der auf sie bezogenen Erzählforschung sinnvoll erschien, einmal auch die individuelle Verfaßtheit der Großepen Ilias und Odyssee sichtbar wurde, ist zugleich angedeutet, was in meiner Sicht vornehmliche Aufgabe von Erzählforschung zu sein hätte — und, wo sie anspruchsvoll betrieben wurde, immer schon war. Ästhetisch relevantes Erzählen geht nicht auf im Operieren mit generellen erzählerischen Usancen, wird faßbar nicht allein über die Verwendung allgemeiner Erzähltechniken. Es bedient sich ihrer, verwendet sie, aber geleitet dabei immer von einer spezifischen Erzählabsicht und einem entsprechenden ästhetischen Willen; konsequent modifiziert derartiges Erzählen sie, fugt sie um, durchbricht, ja überspielt sie, kurz, arbeitet mit ihnen. Dem hätte Erzählforschung, bezieht sie sich auf Ilias und Odyssee, gezielt nachzugehen. Sie hätte das erzählerisch Allgemeine und das erzählerisch Individuelle, d.h. beides in seinem Verhältnis zueinander thematisch ins Zentrum zu rücken, das spannungsvolle Ineinander von beidem, womit Licht fallen würde nicht nur auf die spezifische erzählerische Verfaßtheit des jeweiligen Werks, sondern gerade auch auf die generellen Erzähltechniken. Daß das Unternehmen methodisch schwierig ist, weil das Allgemeine oft genug nur über seine bereits erfolgte individuelle Verformung zugänglich ist, sollte nicht zum Alibi für Abstinenz von solcher Bemühung werden.

Abgekürzt zitierte Literatur

Bremer 1987 Friedrich 1975 Hellwig 1964 Heubeck 1954

J. M. Bremer u. a. (Hrsg.), Homer: Beyond Oral Poetry. Recent Trends in Homeric Interpretation, Amsterdam 1987. R . Friedrich, Stilwandel im homerischen Epos. Studien zur Poetik und Theorie der epischen Gattung, Heidelberg 1975. B. Hellwig, R a u m und Zeit im homerischen Epos, Hildesheim 1964 (Spudasmata, 2). A. Heubeck, Der Odyssee-Dichter und die Ilias, Erlangen 1954.

512 Hölscher 1939 de J o n g 1987 Kakridis 1949 Klingner 1944

Krischer 1971 Kulimann 1981 Larrain 1987 Latacz 1981

Schadewaldt, Iliasstudien

Ernst-Richard Schwinge U . Hölscher, Untersuchungen zur Form der Odyssee, Wiesbaden 1939 (Hermes Einzelschriften, 6). I.J.F. de Jong, Narrators and Focalizers. The Presentation of the Story in the ,Iliad', Amsterdam 1987. J.T. Kakridis, Homeric Researches, Lund 1949. F. Klingner, Über die vier ersten Bücher der Odyssee (1944), in: ders., Studien zur griechischen und römischen Literatur, Zürich/Stuttgart 1964, 39-79. Τ Krischer, Formale Konventionen der homerischen Epik, München 1971 (Zetemata, 56). W. Kullmann, Zur Methode der Neoanalyse in der Homerforschung, W S t N . F . 15, 1981, 5 - 4 2 . C . J . Larrain, Struktur der Reden in der Odyssee 1-8, Hildesheim/ Zürich/New York 1987 (Spudasmata, 41). J. Latacz, Zeus' Reise zu den Aithiopen (Zu Ilias 1, 304—495), in: Gnomosyne. Menschliches Denken und Handeln in der frühgriechischen Literatur (Festschrift M a r g ) , München 1981, 53-80 (auch in: J. Latacz [Hrsg.], Homer. Die Dichtung und ihre Deutung, D a r m stadt 1991, 515-551). W. Schadewaldt, Iliasstudien, Leipzig 1938, Darmstadt 3 1966 (repr. 1987).

KARL SCHEFOLD

Die Bedeutung der Kunstgeschichte für die Datierung der frühgriechischen Epik I. Die bisherige Forschung Seit 1955 habe ich mehrfach vorgeschlagen, die Kunstgeschichte zur Lösung der Frage heranzuziehen, ob sich in Ilias und Odyssee verschiedene Stilstufen erkennen und datieren lassen.1' Roland Hampe hatte 1936 in seiner Dissertation ,Frühe griechische Sagenbilder in Böotien' gezeigt, wie seit 750 v. Chr. ,unter dem Eindruck Homers die ersten Sagenbilder entstehen, der geometrische Stil gesprengt und ein monumentaler Figurenstil geschaffen wird' (Abb. 40), nach Emil Kunzes Formulierung in seiner für unsere Fragen grundlegenden Rezension von Hampes Buch. 2 ' In seinem Sinn habe ich 1964 mein Buch ,Frühgriechische Sagenbilder' veröffentlicht, aber die Forschung hat sich mehr mit Deutungs- als mit Stilfragen beschäftigt. Dabei wurden wichtige statistische Beobachtungen gemacht. Schon in den .Sagenbildern' hatte ich auf einen Befund hingewiesen, den Klaus Fittschens .Untersuchungen zum Beginn der Sagendarstellung bei den Griechen' verdeutlichen 3 ': Unter den 90 frühen Sagenbildern, die Fittschen verAuflösung der bibliogr. Abkürzungen unten S. 526. '» Archäologisches zum Stil Homers, MusHelv 12, 1955, 132-144. - Schefold, FS. - Das homerische Epos in der antiken Kunst, in: Atti del Convegno internazionale sul tema ,La poesia epica e la sua formazione' (Rom 1969) ( = Accademia Nazionale dei Lincei. Problemi Attuali di Scienza e di Cultura, Heft 139, 1970, 91-116) ( = K . Schefold, Wort und Bild. Studien zur Gegenwart der Antike, Basel 1975, 27-42. 194—198: Neufassung unter Einbeziehung des Vortrags .Poesie homerique et art archa'ique', Revue Archeologique 1972, 9-22). - Erscheinungen der Götter Homers, in: K. Schefold, Wort und Bild (s. oben), 43-52. 198f. - Homer und der Erzählungsstil der archaischen Kunst, in: Είδωλοποιία. Actes du Colloque sur les problemes de l'image dans le monde mediterraneen classique, R o m 1985, 3-26. - Zur Zeitbestimmung der homerischen Epik, in: Φίλια επη εις Γ . Έ . Μυλωναν 2 ( = Βιβλιοθήκη της έν 'Αθήναις 'Αρχαιολογικής Εταιρείας 103, 1987), 17-21 (verwendet in der Einleitung zu meinem Buch ,Die Sagen von den Argonauten, Theben und Troja in der klassischen und hellenistischen Kunst', München 1989). 2) Roland Hampe, Frühe griechische Sagenbilder in Böotien, Athen 1936. Ree. E. Kunze, GGA 199, 1937, 280-298. 3 > Berlin 1969.

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Karl Schefold

zeichnet, gelten etwa 50 dem troischen Sagenkreis, etwa 40 Herakles, Perseus, Bellerophon und Theseus, aber es fehlen vor dem Ende des 7.Jahrhunderts völlig die Argonauten, die Eberjagd von Kalydon und die Sieben gegen Theben. Richard Kannicht hat in einem schönen Vortrag dargestellt, was ich die Antwort der frühgriechischen Kunst auf die Dichtung genannt habe, aber aus dem späten Datum der Argonautenbilder keine Folgerung für die Geschichte des Epos gezogen, sondern diesen Befund aus dem „literarischen Siegeszug der Troiaepik" erklärt. 4 ' Wir wollen im folgenden fragen, warum gegen 600 ein anderer Siegeszug beginnt, der der Argonautenepik (Schefold, FS Taf. 60. 61b. 63—65), und was er für die Datierung der Großepen Ilias und Odyssee bedeutet, die diesen zweiten Siegeszug nach meiner Auffassung voraussetzen. Dagegen hatte Kannicht diese Großepen ins achte Jahrhundert datiert und angenommen, das Fehlen der Argonautenthematik in den 150 Jahren vor 600 erkläre sich einfach aus dem künstlerischen Vorrang der homerischen Epen. Ein Versuch, die Struktur des reifgeometrischen Stils mit der der Ilias und die des spätgeometrischen mit der der Odyssee zu vergleichen 5 ', ist von der philologischen Strukturforschung nicht weiterverfolgt worden. Es wird sich unten zeigen, daß sich dieser Versuch mit der Geschichte des Erzählungsstils nicht vereinen läßt.

II. Ein neuer Vorschlag Die protogeometrische und die geometrische Periode nehmen von etwa 1000-700 v. Chr. ein volles Drittel der Geschichte der griechischen Kunst ein. Damals fand zum erstenmal künstlerische Form, was immer das Wesen des Griechischen ausmachen wird: der Versuch, die Welt aus Urbildern und aus ihrem gesetzlichen Gefuge zu verstehen. Im schönen Museum der Nekropole am Kerameikos in Athen kann man am besten beobachten, was Ernst Buschor am tiefsten gedeutet hat 6 ', wie die sanften mykenischen Formen straffen, tektonisch gebauten weichen;

4 > R . Kannicht, Dichtung und Bildkunst. Zur Rezeption der Troja-Epik in den frühgriechischen Sagenbildern, in: Wort und Bild, Symposion . . . zum 500jährigen Jubiläum der EberhardKarls-Universität Tübingen 1977, München 1979, 279-296. 5) B. Andreae/H. Flashar, Strukturaequivalenzen zwischen den homerischen Epen und der frühgriechischen Vasenkunst, in Poetica 9, 1977, 217-264. - B. Andreae, Jahrbuch 1978 der Ruhr-Universität Bochum, 6-8, Abb. 3. E. Buschor, Griechische Vasen, München 1969, 5 ff. In der Propyläenkunstgeschichte 1, Berlin 1967, 13, habe ich daraufhingewiesen, daß Buschor in seiner Athener Zeit nach dem ersten Weltkrieg entscheidende Anregungen zum Verständnis der Kunstgeschichte Griechenlands gegeben hat. Damals begannen auch Wilhelm Kraiker und Karl Kübler die Kerameikosnekropole auszugraben und zu deuten. Unschätzbares hat auch B. Schweitzer beigetragen, dessen Buch ,Die geometrische Kunst Griechenlands. Frühe Formenwelt im Zeitalter Homers', Köln 1969, in einer großartigen Synthese der Forschung die vorausgehende Literatur verzeichnet,

Die B e d e u t u n g der Kunstgeschichte fur die Datierung der frühgriechischen Epik

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die charakteristische mykenische Bügelkanne verschwindet. Statt der frei schwingenden rankenden Linien bewundert man die mit dem Zirkel geschlagenen Kreise und Halbkreise, die zum Teil hell aus dem dunklen Grund leuchten. 7 ' Die Nekropole muß zu einem athenischen Stadtviertel gehört haben, das nach den Töpfern, die dort arbeiteten, Kerameikos hieß. Es ist von Bedeutung, daß die ältesten Gräber submykenischen Charakter haben. Die Gründer der Siedlung haben zunächst noch mykenisch geschulte Handwerker für sich arbeiten lassen, die dann nach und nach die strengen protogeometrischen Formen geschaffen haben. Damit entsprachen sie dem Geist der Gründer. Der neue Stil beginnt also nicht mit der neuen Siedlung, sondern setzt voraus, daß aus den ,mykenischen' Griechen die Ahnen der späteren Athener geworden sind. Der wunderbare Vorgang ist aus einer neuen religiösen und staatlichen Verfassung zu verstehen. Zunächst darf man daran denken, daß auf der Akropolis nun nicht mehr die mykenischen Fürsten herrschen, sondern allein die Götter. Aus dem Palast des Erechtheus sind die Heiligtümer des Erechtheion geworden. Ferner hat Michael Sakellariou in seinem neuen großen Werk gezeigt, wie an die Stelle des mykenischen Fürstenstaates, der um 1200 zusammengebrochen war, die Form des Polis-Staates trat, die für alle Zukunft bedeutsam blieb 8 ', die Siedlung am Fuß der Burg mit der für die Griechen so charakteristischen Agora, dem Ort der Volksversammlung und des Marktes. Der Polis-Staat muß in den beiden Jahrhunderten nach dem Zusammenbruch von 1200 geschaffen worden sein, und zwar von den Grundbesitzern, die die Katastrophe überdauert hatten, und von Vertriebenen aus andern Teilen Griechenlands. Der neue Staat ist bestimmt durch religiöse Gebräuche und Geschlechterverbände. Uralte Traditionen müssen den mykenischen Fürstenstaat überdauert haben. Es zeugt von der Bedeutung Athens, daß der protogeometrische Stil sofort auf andere Teile Griechenlands wirkt, Euboia, Argos, Kreta, Thessalien und die Dodekanes. Unzählige Neugründungen von Polis-Staaten folgen dem attischen Vorbild, zunächst wohl Korinth und, um 800, Eretria, das dem neuen Siedlungstypus besser entsprach als das damals aufgegebene Lefkandi. Dieser Hintergrund der ,verwegen großartigen' Neugründung von Eretria wurde im Führer durch Eretria geschildert. 9 '

wobei sich der Herausgeber U . H a u s m a n n große Verdienste erworben hat. D a z u k o m m e n jetzt die Werke von N . C o l d s t r e a m , Greek Geometrie Pottery, L o n d o n 1969, und Geometrie Greece, L o n d o n 1979. 7> Buschor a . O . A b b . 1 - 6 . 8) M . B . Sakellariou, T h e Polis-State. Definition and Origin, Athens 1989. 9 ) Paul Auberson/Karl Schefold, Führer durch Eretria, Bern 1 9 7 2 , 1 6 ff. Vgl. auch K . Schefold in ,Larisa a m H e r m o s ' 1, 1940, 16ff.

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Karl Schcfold

Die Funde protogeometrischer Zeit im Stadtgebiet von Athen sind nicht so zahlreich, wie sie der Zufall der Erhaltung in Lefkandi geschenkt hat 10 ', aber sie zeichnen sich durch außerordentliche Qualität aus. 11 ' Hingewiesen sei vor allem auf das frühgeometrische, um 850 datierte Brandgrab einer vornehmen Athenerin aus einer Gegend, die bis in die Spätantike ein Heiligtum blieb. Unter den nur teilweise erhaltenen Beigaben bewundert man neben vorzüglicher Keramik, darunter der einzigartigen Nachbildung von Getreidespeichern, eine dreifache Halskette aus elfhundert phönizischen Glasperlen mit einem massiven Glasanhänger, dazu ein Paar der schönsten griechischen, mit Granulation und Filigran bereicherten goldenen Ohrringe, ohne Zweifel eine attische Arbeit. Vor allem aber muß die mündliche Dichtung der geometrischen Periode von einem unvorstellbaren Reichtum gewesen sein, den dann Homer bekrönte. In den Jahrhunderten der Wanderungen war die mykenische Schrift mit der ganzen Organisation des staatlichen Lebens verlorengegangen. Die gewaltigen mykenischen Burgen erschienen den Griechen nicht als Werke ihrer Vorfahren, sondern als Bauten von Kyklopen und Giganten. Aber es erhielt sich ein unermeßlicher Schatz von Mythen, die in Heldenliedern besungen und in kurzen Epen erzählt wurden. W i e groß man den Abstand von der heroischen mykenischen Vergangenheit empfand, zeigt sich darin, daß sie zu Mythen von goldenen, silbernen und ehernen Zeitaltern wurde, während man selbst in einem eisernen lebte. Im Mythos wurde man sich der Schrecken und Greuel bewußt, die mit menschlicher Größe verbunden sein können. Man deutete das Leben in Mythen und führte Genealogien bis in die Heroenzeit zurück. Aber erzählt wurde diese Mythenwelt nur bis zu den Söhnen des Herakles, nicht bis in die Gegenwart. Obwohl man im Handwerk und in der Sitte und Form des Vortrags mündlicher Epen dem mykenischen Erbe verpflichtet war, war man sich bewußt, ein neues Leben zu formen, nicht mehr der mythischen Welt anzugehören. Die Begründung der griechischen Kultur in der protogeometrischen Periode ist ein weltgeschichtliches Ereignis. Was es fur die Epik bedeutete, läßt der geometrische Stil erkennen. Die edle Kanne aus der reifen geometrischen Periode des achten Jahrhunderts, ein alter Besitz des Basler Museums, ist gegliedert durch regelmäßig wiederkehrende Rautenreihen zwischen Dreiergruppen von umlaufenden Reifen (Abb. 39). Mit dem Schwellen des Gefäßes nehmen die Friese von unten nach oben an Breite zu bis zum zusammenfassenden Mäander und zur Schulter, die mit der Swastika und den seitlichen Blumen gleichsam blickt. Auch

10 ' P. Blome, Lefkandi und Homer, Würzburger Jbb. für die Altertumswissenschaft, NF 10, 1984, 9 ff., verzeichnet die Literatur. Nach dem Fundbericht von E.L. Smithson, Hesperia 37, 1969, 7 7 - 1 1 6 , ist besonders auf Η. A. Thompsons Gesamtdarstellung hinzuweisen, in: Homer A. Thompson/R. E. Wycherley, The Agora o f Athens, Princeton/New Jersey 1972, 1 0 - 1 8 ; hier sind die im folgenden besprochenen Kostbarkeiten Taf. 1 9 - 2 2 abgebildet.

Die Bedeutung der Kunstgeschichte für die Datierung der frühgriechischen Epik

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in dem abwechselnd nach rechts und links gestrichelten Mäander ist pulsierendes Leben. Die Verzierungsweise ist also nicht so abstrakt, wie sie auf den ersten Blick erscheint, steht sie doch auch ikonologisch an derselben Stelle wie die Naturbilder der minoischen, mykenischen und späteren archaischen Kunst. Nur wird nicht das fließende Leben allein und nicht die Ordnung allein gesucht, sondern das Gesetz des Lebens, im Sinn von Goethes Urpflanze. Man darf an den wissenschaftlichen Geist der Griechen denken, aber auch an den Beginn einer einzigartigen systematischen Ordnung einer Fülle von mythischen Motiven, die von Homer vorausgesetzt wird, von der Theogonie bis zur Heimkehr der Helden von Troia. Nach den Stürmen der Wanderungen hatten sich Griechen der verschiedensten Herkunft an den neuen Heimatorten zusammengefunden. Geniale Dichter schenkten ihnen das Bewußtsein gemeinsamer Religion und Nation in den Familien der Olympier und der Helden. Eine besondere Bedeutung mußten Epenzyklen der Troiasage gewinnen, mündlich vorgetragene kurze Epen. Sie erzählten unzählige ,einfache Geschichten', um einen Ausdruck von U v o Hölscher zu gebrauchen (oben S. 420), wie das Parisurteil, Geschichten aus den verschiedensten Orten von Griechenland, die zusammen einen ,Urkyklos' bilden konnten, die erste große dichterische Schöpfung des Abendlandes. 12 ' Ein so weit ausgreifendes historisch-genealogisches System des Mythos hatte es bis dahin nirgends gegeben. Man möchte sich die kurzen Epen durch Prologe eingeleitet denken. Wie die der späteren Tragödien stellten sie für den Hörer einen Sagenzusammenhang her. Es wird Epen gegeben haben, die große Zusammenhänge andeuteten, wie den Zug der Griechen gegen Troia und unzählige andere, die sich auf Episoden beschränkten. Mit der Annahme solcher mündlicher Epen könnte man manches erklären, was in den aufgeschriebenen Großepen als Unstimmigkeit erscheint, weil diese beim Hörer die Kenntnis mündlicher Epen voraussetzen. Nach dem weltgeschichtlichen Ereignis der Begründung der griechischen Kultur folgt in der spätgeometrischen Periode nach 750 ein zweites, die Schöpfung des Sagenbildes unter dem Eindruck von Homers Heroenbild. Auf dem um 700 bemalten Schild von Tiryns, dem ältesten monumentalen griechischen Gemälde, das erhalten ist (Abb. 45), kämpfen Herakles und Iolaos gegen die Amazonenkönigin Andromeda und ihre Helferin Alkinoe, in einer vielfigurig gedachten Schlacht. Die Helden sind mit ausgreifenden Gebärden und feurigen Blicken beherrscht von ihrer Leidenschaft. Solche unheimliche Größe des Ausdrucks ist nur auf dieser Stilstufe möglich. Man denkt an Homers Deutung des Geschehens aus inneren Erfahrungen von Heroen 13 ': Aus Achills Zorn folgt, daß er nicht 12) ,Kyklos' nennt man die Folge von schriftlich überlieferten Epen des 6.Jahrhunderts, die die ganze Troiasage erzählten, aber abgesehen von Ilias und Odyssee nur in Fragmenten und Nacherzählungen erhalten sind; vgl. Schefold, SB II 281-283. 13) Von der Mühll 1952, 3f. mit Hinweis auf seine leider nicht wieder gedruckte Einleitung zu seiner Ausgabe des Voßschen Homer, Basel 1943.

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mehr am Kampf teilnimmt. Die Troianer sind im Vorteil, bis Patroklos eingreift, aber von Hektor getötet wird. Achill rächt den Freund, und mit Hektors Tod ist Troias Untergang gewiß. In der Odyssee verwehrt Poseidons Zorn Odysseus die Heimkehr. 14 ' Wieder sind es innere Erfahrungen, die die Handlung bestimmen: Odysseus zieht dem göttergleichen Leben bei Kalypso das Menschenschicksal in Ithaka vor und rächt sich an den verräterischen Freiern. Homers Deutung des Geschehens aus inneren Erfahrungen hat die Welt verändert. Ihm werden die genialsten jener ,einfachen Geschichten' verdankt. Jedoch wird erst die Klassik schildern, wie Achills Zorn ihn zwingt, das Schwert gegen Agamemnon zu ziehen. Dieses klassische Reifen der Tat können die frühen Sagenbilder nicht darstellen, wohl aber erscheint in einzigartiger früharchaischer Größe das Ausbrechen der Leidenschaft, wie im Amazonensieg des Herakles auf dem Schild von Tiryns (Abb. 40). Deshalb wird Homers Deutung des Geschehens aus inneren Erfahrungen zunächst nicht in Szenen der Ilias, sondern in einfachen monumentalen Ereignissen sichtbar, wie in den Taten des Herakles oder etwa in Aias, der den toten Freund Achill vom Schlachtfeld wegträgt und sich dann, um die Frucht seiner Treue betrogen, selbst tötet (Schefold, FS Taf. 32). Man ermißt die Bedeutung der Schöpfung des Sagenbildes um 750 erst ganz, wenn man bedenkt, daß die vorausgehenden Jahrtausende nur Überpersönliches dargestellt hatten, Landschaften und Kultszenen, Jagden und Kämpfe, dazu vereinzelte Symbole göttlicher Gewalt und orientalischer Herkunft wie die Löwen über dem Tor von Mykene und den Löwenbezwinger auf dem Tympanon aus der Grotte des Zeus am Ida 15 ', ein Hauptwerk griechischer Kunst der geometrischen Periode. Erst auf Homer geht das heroische Sehen des Individuums zurück, ohne das wir uns die abendländische Kunst nicht vorstellen können. Aber Sagenbilder bleiben im folgenden Jahrhundert selten, weil die Künstler vor der Möglichkeit erschraken, das Individuelle so zu betonen. Auch sind es zunächst nicht so sehr die homerischen Themen, die wirken, als die Sehweise Homers. Dem ersten Meister, von dem ein Sagenbild überliefert ist, fehlt noch die Fähigkeit, dies Homerische sichtbar zu machen, denn er folgt noch der geometrischen Bildtypologie, etwa um 750, bei der Darstellung einer Totenfeier auf einem Krater in N e w York (Schefold, SB I Abb. 80f.). Man konnte die Szene nur deshalb auf den König der Epeier Amarynkeus deuten 16 ', weil an ihr in zwei Situationen der Zeremonie die Aktorione teilnehmen, ein Doppelwesen, dessen Vater Aktor der Bruder des Königs Augias von Elis war. Diese Aktorione werden als Gegner des Herakles in der spätgeometrischen Periode auffallend oft darge-

14

> Von der Mühll 1976, 34. 73f.; Z u m Zorn des Helios: 72. > Emil Kunze, Kretische Bronzereliefs, Stuttgart 1931, 48ff. Taf. 49. K. Schefold, Propyläenkunstgeschichte 1, Berlin 1967, 18. 72. 205 Abb. 17; P. Blome, Die figürliche Bildwelt Kretas, Mainz 1982, 15 ff. Taf. 3, 3. 16) Lexicon Iconographicum Mythologiae Classicae 1, 1981, 473 Taf. 364 (R. Hampe). 15

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stellt, so auf einer Fibel in Athen, auf der sie fast gebannt dem ungeheuren Angriff des Herakles ausgesetzt sind (Schefold, FS Taf. 6 b). Man sieht, wie die Kunst Mühe hat, das Dämonische der inneren Erfahrung sichtbar zu machen. Ein besonders feines und frühes Beispiel ist die Bronzegruppe in N e w York (FS Taf. 4a SB I Abb. 15), die Buschor auf den Kampf von Zeus und Typhon gedeutet hat 17 ', weil die sogenannten Kentauren in der Frühzeit auch andere Dämonen darstellen können, sogar Medusa, und weil dieselbe Gruppe auf einer protokorinthischen Vase wiederkehrt, auf der der Sieger unverkennbar einen Blitz schleudert (FS 27 SB I Abb. 16). Man denkt natürlich an Zeus' Aristie in Hesiods Theogonie. In der Gruppe ist die innere Bewegtheit der Kämpfer noch verhaltener angedeutet als auf dem Tonschild. Unter den frühgriechischen Sagenbildern sind Kämpfe des Herakles auffallend zahlreich, aber es fehlen auch nicht Szenen der Troiasage. So ist auf einer Fibel das Hölzerne Pferd dem Hydrakampf des Herakles gegenübergestellt (FS Taf. 6 a SB I Abb. 86). Bekannt ist eine Kanne mit dem Schiffbruch des Odysseus (FS Taf. 8 SB I Abb. 160), und besonders wichtig ein Luterion in London mit der Entführung einer Heroine, am wahrscheinlichsten der Helena durch Paris (FS Taf. 5 b SB I Abb. 123). Die Hervorhebung der 9 cm hohen Hauptfiguren beweist, daß ein Mythos gemeint ist, nicht eines der vielen anderen geometrischen Bilder mit Schiffen. Zu den bedeutendsten frühen Bildern homerischer Erfahrung gehören die Reliefamphoren von Tenos. Hier ist um 700 zuerst das Bild der Geburt der Athena überliefert, das dann durch zwei Jahrhunderte variiert wird (FS Taf. 13 SB I Abb. 26). Der feierlich thronende geflügelte Zeus erhebt die Arme im Gestus wunderbarer Erscheinung. Aus seinem Haupt entspringt mit einem Kampfruf die behelmte Athena, eine Lanze schwingend. Links steht Eileithyia, rechts oben erscheint Hephaistos, unten bläst ein junger Gott das Feuer an. Alle Gottheiten haben riesige Augen, kraftvolles Kinn und bedeutsam unterschiedene Haartrachten. Das 7.Jahrhundert ist reich an solchen Bildern homerischer göttlicher Erscheinung. N u r klassizistisches Sehen kann die Gewalt dieser Kunst als primitiv verkennen. Bedenkt man die ostionische Heimat Homers, ist seine Wirkung auf den Kykladen, im Mutterland und bis nach Großgriechenland um so erstaunlicher. Taten des Herakles überwiegen, weil er der Ahn so vieler edler Geschlechter war. Da die Sagenbilder in Athen und um 750 beginnen, muß Homers Wirkung schon um 800 begonnen haben. So früh wird man allerdings die überlieferten Großepen Ilias und Odyssee nicht datieren können. Erst in der Zeit Solons sehe ich in der Kunst Entsprechungen zur feinen Differenzierung der Götter und Helden in den Großepen. Erst damals wird aus den einzelnen großen Visionen der homerischen Zeit der gegliederte Kosmos der erhaltenen Epen. ,7

> A.O. 474 Nr. 7 Taf. 364.

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Mit Peter Von der Mühll und anderen glaube ich, als Kern dieser Epen Horners Gedichte vorn Zorn des Achill und seinen Folgen und von Odysseus' Heimkehr von Kalypso zu Penelope hören zu können (oben Anm. 13). Der vorsichtige Von der Mühll deutet freilich nur kurz an, derselbe Dichter habe „mit großzügiger Originalität der Sprache und der Sachkunde" in den Meisterschüssen des Pandaros im 4. Gesang der Ilias und des Odysseus beim Freiermord „hier wie dort einen Höhepunkt der Darstellung geschaffen". 18 ' Aber wer möchte Thetis, Kalypso, Arete, Nausikaa, Penelope, Eurykleia, Helena, Andromache und Hekabe verschiedenen Dichtern zuschreiben 19 ' und gar die Begegnungen von Athena und Achill im Beginn der Ilias und die von Athena und Odysseus im 13. Gesang der Odyssee! Und wer wäre heute noch so vermessen, die gewaltigen Torsen, die von Homers ursprünglichen Gedichten erhalten sind, ergänzen zu wollen, so wie Thorwaldsen die Aigineten ergänzt hat! Besser ist es, mit J. Latacz und U . Hölscher die Struktur der erhaltenen Großepen zu bewundern und sich an den Torsen Homers zu freuen, so wie wir dank Dieter Ohly jetzt die Torsen der Aigineten in der Glyptothek bewundern können. Die Torsen Homers zu lieben hilft uns mehr noch als die spätgeometrische Kunst die früharchaische des 7. Jahrhunderts. Auch jetzt bleiben die bedeutenden Sagenbilder noch bestimmt durch Homers Deutung des Geschehens aus inneren Erfahrungen der Heroen. Die Gestalten werden mächtiger, der Ausdruck wird gebändigt, zumal auf den monumentalen Amphoren der Kykladen und des attischen Malers der Widderkanne (FS Taf. 37 SB I Abb. 169). Solche Bilder wetteifern in Format und Form mit der Monumentalmalerei, mit den meist hell ausgesparten lichten Gestalten in der blühenden Landschaft der Füllornamente; im Gegensatz zum strengen schwarzfigurigen Stil, der gleichzeitig in Korinth ausgebildet wird. Daß Bilder des Polyphem-Abenteuers so häufig und von Athen und Argos bis nach Großgriechenland und Etrurien verbreitet sind (FS 45 Abb. 15 Taf. 16 SB I Abb. 164—168), fällt um so mehr auf, als alle andern Abenteuer des Odysseus noch fehlen. Dagegen entspricht die Schilderung der Blendung des Polyphem auf dem großgriechischen Krater des Aristonothos auffallend genau Homers Schilderung (SB I Abb. 168). Auch in der Odyssee wird ja Polyphems Landschaft, Leben und Unglück mit einer ganz anderen Ausführlichkeit und inneren Teilnahme geschildert als die übrigen Reiseabenteuer. Vor dem Bild des gemarterten Polyphem auf der Amphora von Eleusis versteht man Poseidons Zorn, der fur Odysseus fast zum tödlichen Verhängnis geworden wäre. Poseidons Zorn auf Odysseus ist das ältere Motiv als der Zorn des Helios auf die Gefährten, der in der Kunst nie dargestellt wird (vgl. Anm. 14). Ähnlich erschütternd wie 18

> Von der Mühll 1952, 81. J. Latacz, Frauengestalten Homers, Humanistische Bildung 11, 1987, 43-71, begegnet aufs glücklichste dem, was Von der Mühll in der in Anm. 3 genannten Einleitung S. XIII über Homers Frauenbilder sagt. 19)

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das Bild Polyphems ist der schwarze Rachegeist Orest, der den fliehenden Aigisth am Schöpf packt und erstechen wird, auf einem anderen Krater des Meisters der Widderkanne (FS Taf. 36a SB I Abb. 159). Die vielen Orestiebilder lassen auf ein kurzes Orestieepos im Urkyklos schließen. Die frühen, durch Homer angeregten Sagenbilder haben eher einen lyrischen als einen epischen Charakter. Das hängt mit der Kürze dieser Epen zusammen. Noch im späteren 7.Jahrhundert verbindet sich die homerische Sagenauffassung mit einem balladenartigen Schildern und einem Individualisieren, bei dem man an Stesichoros gedacht hat.20) So begegnet Iole dem Herakles beim Gastmahl im Palast des Königs Eurytos auf einem frühen, um 600 gefertigten korinthischen Krater, der noch nicht wie die späteren Kratere mit einem vielfigurigen epischen Erzählen beladen ist (FS Taf. 60 a SB I Abb. 270). Die Königstochter Iole geht auf Herakles zu, um ihn nach der Sitte zu begrüßen. Herakles reckt sich auf und betrachtet die Schöne, der es unter seinem Blick unheimlich wird. Sie hüllt sich in ihr Gewand — voll Ausdruck ist der eine sichtbare Finger — und blickt sich ängstlich zum Vater um. Ihr Schicksal und das ihres ganzen Hauses ist besiegelt. Das ist große Kunst, wie sie aus jener Zeit sonst nur auf den Gemälden von Thermos überliefert ist (FS Taf. 18-21 SB I Abb. 64. 174). Man mag sich auch an Begegnungen in der Odyssee erinnern, wie sie U. Hölscher geschildert hat. Ahnlich könnte man sich eine Medea des Epikers Eumelos von Korinth vorstellen, der damals ein Argonautenepos verfaßt hat, wenn Pausanias ihm mit Recht die Verse auf der Kypseloslade zuschreibt. Auch entspricht die einzige in der Kunst nachweisbare Titanomachie, die bald nach 600 gefertigte des Giebels von Korfu (FS Taf. 42 f. SB I Abb. 181) der Nachricht, Eumelos habe eine Titanomachie verfaßt. Korfu war ja eine korinthische Kolonie. Zu Eumelos' Korinthiaka paßt auch, daß damals in der Kunst neue Themen auftreten, die mit Argonautenbildern verbunden sind, die Leichenspiele für Pelias, die Kalydonische Eberjagd und die Sieben gegen Theben. An dem bald nach 600 erbauten Weihgeschenk des Königs Kleisthenes von Sikyon sind diese Themen ebenfalls verbunden (FS Taf. 55 b. 63. SB I Abb. 283 ff.). Das Weihgeschenk hatte mindestens zwei Metopen auf den Schmalseiten und drei auf den Langseiten. Vorn ist neben der erhaltenen Metope mit der Argo eine zweite, sie ergänzende zu erwarten, ferner auf der einen Nebenseite neben der erhaltenen Ebermetope zwei mit den angreifenden Griechen. Auf die andere Nebenseite gehören dann der Rinderraub der Dioskuren und Aphariden; der Raub der Leukippostöchter kann nicht gefehlt haben. Dann bleibt für die Rückseite die mythische Vorgeschichte, der Raub der Europa und Phrixos auf dem Widder. 2 "> Ph. Brize, Samos und Stesichoros, AM 100, 1985, 87-89. W. Burkert, The Making of Homer in the Sixth Century В. С. Rhapsodes versus Stesichoros, in: The Amasis Painter and His World, The Paul Getty Museum, Malibu 1987, 43 ff.

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Gewiß sind diese Sagenmotive uralt, aber es muß einen Grund haben, daß (aus den Korinthiaka?) nur Europa vor 600 dargestellt wird. Dagegen fehlt das ganze Argonautenthema, während von 750 bis gegen 600 etwa hundert Bilder von Herakles, Theseus, Perseus, Bellerophon und den Troika erhalten sind (oben Anm. 4). Vermutlich hat erst Eumelos' Epik die Korinthiaka so berühmt gemacht. Er hat Korinth, das keine mykenischen Ruinen hat, den epischen Ruhm verliehen, den Sparta, Argos und Mykene schon durch den Urkyklos erhalten hatten. Kleisthenes von Sikyon hat dann als Gegner von Argos die Thematik begierig aufgegriffen. Ebenso interessiert war man in Athen, weil man beim Panathenäenfest den ganzen Umfang der griechischen Epik hören wollte. Deshalb haben der Ilias- und der Odysseedichter die Eberjagd und die Reiseabenteuer der Argonauten in ihre Erweiterungen der Gedichte Homers einbezogen. Das wäre dann die obere Zeitgrenze für die Vollendung dieser Großepen. Das älteste attische Argonautenbild sind die Harpyien des Nettosmalers, die auf das Mahl des Phineus zueilen (um 600: FS Taf. 64a SB I Abb. 179). Von der Mühll konnte noch nicht wissen, daß Gestalten, die er aus stilistischen Gründen für Zutaten des Iliasdichters hielt, in der Kunst des 7.Jahrhunderts noch völlig fehlen: Diomedes, Sthenelos, Dolon, die lykischen Heroen Glaukos und Sarpedon, die Leichenspiele für Patroklos, der Bittgang des Priamos, die Götterversammlungen und Götterschlachten. Dagegen kommen die Heroen aus Homers Gedicht vom Zorn des Achill in Homers Jahrhundert häufig vor, Achill, Agamemnon, Menelaos, Hektor, Paris, die beiden Aias, Odysseus. Ferner treten Lykien und Larisa am Hermos erst im 7.Jh. ins Licht der Geschichte. 21 ' U m so wichtiger ist es zu sehen, wie sich Stilanalyse und archäologischer Befund gegenseitig bestätigen. Auch bei der Datierung der überlieferten Odyssee ist ein neues Argument zu bedenken. Auf einer attischen, um 600 bemalten Lekythos besiegt Orpheus durch seinen Gesang die Todesdämonen, die Sirenen, und rettet damit die Argonauten. 22 ' Solchen echt mythischen Bildern gegenüber wirkt die Erzählung der Odyssee als .Aufklärung', wie man gesagt hat: Odysseus verstopft die Ohren seiner Gefährten mit Wachs und läßt sich an den Mast binden, um allein den sonst unwiderstehlichen Gesang hören zu können. Beim ältesten der vielen Bilder des Odysseus am Mastbaum, auf dem um 600 bemalten korinthischen Aryballos in Basel, kann man fragen, ob wirklich die Fassung des Odysseedichters gemeint sei (SB II Abb. 360). Odysseus ist nicht

21) Aus den Fouilles de Xanthos, Paris 1958 ff., geht hervor, daß die Lykier erst seit dem 7.Jahrhundert nach griechischem Vorbild Akropolen bauen; vgl. besonders H. Metzger a . O . 2, 1963, L'Acropole Lycienne, und dazu MusHelv 21, 1964, 187. Zu Larisa: K. Schefold, in: Larisa am Hermos I, Berlin 1940, 16 ff. 22) H. Gropengießer, Sänger und Sirenen. Archäolog. Anzeiger 1977, 582 ff.

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gebunden und mit dem Segel beschäftigt. Im Schiff erkennt man zwei behelmte Ruderer. Rechts fliegt über dem Gespann des Herakles eine Sirene, und links stößt ein Riesenvogel aufs Schiff herab, wohl um Gefährten zu rauben. Vielleicht spielt der Maler mit der damals neuen Erfindung des Odysseedichters, ohne sie deutlich wiedergeben zu können. Bald darauf wird das Bild des an den Mast gefesselten Odysseus erfunden, das dann bis in die Spätantike variiert wird. Seltener sind Kirkebilder (FS 91 Abb. 46 SB II Abb. 359), und es ist ungewiß, ob einige Bilder eines Schildkrötenreiters Odysseus meinen, der sich nicht auf Schiffstrümmern, wie in der Odyssee, sondern auf einer Schildkröte aus dem Schlund der Charybdis rettete (SB II Abb. 361). Auch hier wäre die Erzählung der Odyssee von der Rettung auf den Schiffstrümmern die jüngere, .aufgeklärte' Fassung, wie das Märchen von den verklebten Ohren. Besonders merkwürdig ist aber das Fehlen der Erzählung von der Schlachtung der Sonnenrinder in der Kunst. Denn mit Helios' Zorn über diesen Frevel begründet der moralische Odysseedichter die Bestrafung der Gefährten, nicht mit dem elementaren Zorn des Poseidon über die Mißhandlung seines Sohnes Polyphem, die in Homers Jahrhundert so oft dargestellt wird. Man sieht, wie weit sich die Denkweise der jüngeren Teile der Odyssee von Homer entfernt hat. Wir haben zuletzt mehr vom Bildprogramm als vom Stil gesprochen, aber auch die Bildwahl gehört zum Stil. Während das Jahrhundert Homers durch Einzelszenen von Göttern und Heroen charakterisiert war, die in homerischer Weise ergriffen waren, fanden wir am Weihgeschenk des Kleisthenes eine epische Bilderfolge des Argonautenthemas. Damit haben wir eine vierte Stilphase in der Geschichte des Erzählungsstils gefunden. Die erste war die geometrische mit der mündlichen Epik des ,Urkyklos'. Die zweite war die Schöpfung des Sagenbildes unter der Wirkung Homers, die von etwa 750 an durch über ein Jahrhundert bereichert und monumentalisiert wird. Die dritte war das balladenhafte Schildern, bei dem man an Sappho und Stesichoros denken konnte, wie auf dem Iolekrater. Nach 600 folgt dann das vielfigurige epische Erzählen, eine vierte Periode, wie am Weihgeschenk des Kleisthenes und wie es Pausanias für die Kypseloslade überliefert. Diesen epischen Stil findet man auch auf korinthischen Krateren, wie auf dem Basler Tydeuskrater 23 ' und bei attischen Meistern wie dem Gorgomaler, Sophilos, Kleitias und auf tyrrhenischen Amphoren. N u n erst werden die Sagenkreise bedeutsam verbunden wie in den überlieferten Fassungen von Ilias und Odyssee und in den sie ergänzenden kyklischen Epen. So läßt Kleitias auf dem berühmten Krater (Abb. 41) die Eberjagd und Theseus' Taten als ältere Generation den Szenen aus Achills Leben vorausgehen. Im gleichen Sinn beruft sich Nestor

23 > Kolonnettenkrater Basel. BS 451. CVA Basel 1 Taf. 14. 15, 1. 2 (J. P. Descoeudres); dort auch über andere Deutungen; dazu J. Boardman, Lexicon а. О. (oben Anm. 16) 3, 399. 408 Taf. 285; er denkt an Diomedes, wegen Athena, die hier aber gerade nicht mit auf dem Wagen steht.

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in der Ilias auf die Heldentaten seiner Jugend, z.B. den Kampf gegen die Aktorione, die nur Herakles besiegen konnte. Ebenso warnt Phoinix in der Gesandtschaft an Achill mit einer ausfuhrlichen Erzählung vom verhängnisvollen Groll Meleagers. Kleitias stellt auf beiden Seiten seines Kraters Theseus und Achill gegenüber. Weil Achills Vater Peleus an der Jagd von Kalydon beteiligt war, zieht er im oberen Fries diesen damals modernsten Sagenkreis heran, an dem die größte Zahl von Helden beteiligt war, die Argonauten mit ihrer Eberjagd bei Kalydon. Darunter folgen die Leichenspiele fur Patroklos, damals ebenfalls ein neues Prunkstück, nach dem Vorbild der Leichenspiele für Pelias gedichtet. Im Hauptfries kommen alle Götter in feierlicher Prozession zur Hochzeit von Peleus und Thetis, aufs feinste individualisiert, so wie Ilias und Odyssee reich sind an Götterversammlungen und Götterschlachten. Der Götterfries ist nicht weniger als eineinhalb Meter lang; es ist dieselbe große Gesinnung, die aus dem Gedicht vom Zorn des Achill eine Ilias machte. Wir sind weit entfernt von den frühen Sagenbildern und ihren einfachen großen homerischen Erfahrungen (Abb. 40). Aber diese große Erzählungskunst bewahrt doch altertümliche Züge, um ihre heroische Herkunft zu bezeugen: Tierfriese mit Sphingenwappen im unteren Fries, auf dem Henkel die Herrin der Tiere und darunter das ehrwürdige Motiv des Aias mit dem toten Achill. Der Pygmäenfries auf dem Fuß deutet ebenso auf die geographische Weite wie die Kimmerischen Bogenschützen der Eberjagd und die Bundesgenossen der Troer in der Ilias. Unter dem Hauptfries des Kraters folgt Achills Anschlag auf Troilos, ein Lieblingsthema der Zeit Solons, weil Achills Schuld, das Asyl des Heiligtums mißachtet zu haben, später mit seinem Tod gebüßt wird, wie in der Odyssee das Schlachten der Sonnenrinder mit dem Tod von Odysseus' Gefährten. Im Sinn von Solons Ethik wurden damals viele Mythen gedeutet. Im Troilosfries finden wir in der sogenannten komplettierenden Erzählweise erst eine ruhige Szene am Brunnenhaus. Ganz links weist Apollon auf das bedeutsame Geschehen hin. Der Knabe holt Wasser, eine Schwester hat ihre Hydria unter einen andern Wasserspeier gestellt und erhebt erschrocken die Arme. Dann wiederholt Thetis Apollons Gebärde. Hermes folgt bewegt Achills leidenschaftlichem Sprung, aber Athena, in feierlichem Mantel, hält sich zurück. Vor dem galoppierenden Troilos sieht man auch Polyxena fliehen; Antenor wendet sich an Priamos, der vor dem Stadttor sitzt, und schon rücken Hektor und Aineias zur Hilfe aus, aber zu spät. Die Nähe zum Epos bezeugen auf den attischen und korinthischen Vasen der Zeit nach 600 auch die unzähligen Inschriften von Namen und auf der Kypseloslade Eumelos' Gedichte. Jetzt erst scheint die ganze mündliche Epik in schriftliche verwandelt worden zu sein, nicht nur Homers ursprüngliche Epen. Das Jahrhundert Homers hatte nur ganz vereinzelte Vaseninschriften gekannt. Jetzt aber wurde Geschriebenes rasch verbreitet, wie allein das Beispiel des Stesichoros zeigt, auch das der lesbischen Dichter.

Die Bedeutung der Kunstgeschichte fur die Datierung der frühgriechischen Epik

525

Von Theseus, also von der Generation vor Achill, hat Kleitias nicht so viel zu berichten wie von Achill, weil Theseus erst in der Zeit Solons aus dem gemeingriechischen Helden zum Athener wurde. Erst jetzt findet sich auf attischen Vasen das Minotaurosabenteuer, obwohl es im 7.Jahrhundert in anderen Landschaften schon so oft dargestellt worden war. 24 ' Kleitias schildert unvergleichlich festlich den Siegesreigen der befreiten Athenerkinder. Man glaubt eine Dichtung zu hören, von der nie wieder so heiter geschilderten Ankunft des Schiffes bis zum Reigenführer, dem singenden Theseus und der göttlichen Ariadne. Dionysos, ihr künftiger Gemahl, rennt im Götterfries mit einer gefüllten Amphora einher, allein aus dem Bild blickend, damals ein Neuling unter den attischen Olympiern. Unter dem Reigenfries folgt der Sieg des Theseus und des Peirithoos über die Kentauren, und unter dem Götterfries statt einer weiteren Theseusszene die Rückführung des Hephaistos in den Olymp. Als vorderste unter den Göttern wartet Aphrodite, Hephaistos' künftige Gemahlin, und weicht erstaunt zurück beim Anblick des geilen Gefolges. Hera erhebt freudig begrüßend die Hände, und Ares sitzt unruhig, bereit aufzuspringen, weil er auf Hephaistos eifersüchtig ist. Vor ihm weist die kluge Athena andere Götter auf die Bedeutung des Geschehens hin. Das Lebhafte und die Mannigfaltigkeit der Motive erinnern an Heras Einzug in den Olymp im 13. Gesang der Ilias. Mit welch feierlicher Größe hatte dagegen ganz im Sinn Homers der erste Apollonhymnos und hatten Vasen des frühen 7.Jahrhunderts den Einzug Apollons geschildert (FS Taf. 10 SB I Abb. 39)! Das Individualisieren der Götter gibt es in dieser Feinheit nicht vor Kleitias und vor den Dichtern der Ilias und Odyssee. Der Ilias- und der Odysseedichter und Künstler wie Kleitias haben vollendet, was die geometrische Periode begonnen hatte, das systematische Gliedern der olympischen und der heroischen Welt. Diese Dichter „sind nicht Homer selbst, und wollen doch Homer sein" 25 ', indem sie die Gedichte vom Zorn des Achill und von der Heimkehr des Odysseus zu Gedichten vom ganzen troianischen Krieg und seinen Folgen erweitern. An den Ilias- und an den Odysseedichter erinnert auf dem Krater des Kleitias auch das bedeutsame Verbinden verschiedener Sagenkreise, ferner der rasche Wechsel der Schauplätze und das Interesse für die Buntheit des täglichen Lebens. Nie ist die griechische Erzählungskunst der kyklischen Epik so nahe gekommen wie damals. Wie einfach und groß ist dagegen die Begegnung von Athena und Achill im Beginn der Ilias und die von Athena und Odysseus im 13. Gesang der Odyssee! Die ganz andere hellenistische Erzählungsweise, die wir von den Odysseelandschaften im Vatikan kennen 26 ', vermeidet die Sprünge des Kleitias. Sie erzählt 24

> F. Brammer, Theseus, Darmstadt 1982, 37 ff. So die in Anm. 13 zitierte Einleitung und W. Burkert (oben Anm. 20) 43 ff. 2β ' K. Schefold, Die Sagen von den Argonauten, Theben und Troia in der klassischen und hellenistischen Kunst, München 1989, Abb. 313-318. 25)

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nicht nur komplettierend wie dieser, sondern kontinuierend in einem gleitenden Erzählen, das uns selbstverständlich geworden ist. Aber damit verliert das Erzählen die archaische monumentale Größe. Als Beispiel stehe hier noch das wundervolle Fragment der Sammlung Cahn von einem sonst nur noch in einem zweiten kleinen Fragment überlieferten Krater des Kleitias: Polyphem, die Widder abtastend, unter denen sich Odysseus mit den Gefährten aus der Höhle rettet. 27 ' Das ist nicht mehr der ungeheure Polyphem der früharchaischen Vasen, die Ursache von Poseidons Zorn, sondern das ergreifende Opfer des Odysseus, das dem heutigen Hörer und Leser der Odyssee in Erinnerung bleibt.

Abgekürzt zitierte Literatur

(Schefold) FS (Schefold) SB I (Schefold) SB II Von der Mühll 1952 Von der Mühll 1976

27

Karl Schefold, Frühgriechische Sagenbilder, München 1964. Karl Schefold, Frühgriechische Sagenbilder, München, 2. Aufl. (im Druck). Karl Schefold, Götter- und Heldensagen der Griechen in der spätarchaischen Kunst, München 1978. Peter Von der Mühll, Kritisches Hypomnema zur Ilias, Basel 1952. Peter Von der Mühll, Ausgewählte kleine Schriften, hrsg. v. Bernhard Wyss, Basel 1976.

> D. von Bothmer, Α N e w Kleitias Fragment from Egypt, AntK 24, 1981, 66f. Taf. 10.1.

Abbildungen

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Abb. 1 (Buchholz) Johann Heinrich Voß (1751-1826), Ölgemälde, Kopie oder Replik nach einem Ölgemälde von Georg Friedrich Adolph Schöner, eines Schülers Anton Graffs (1797, Original in Halberstadt, Gleimhaus, Inv.-Nr. 74, s. C. Becker/G. Wappler, Die Bildnisse im Gleimhaus, 1965, 52 Nr. 74 Abb. 21, und H. Scholke/G. Wappler, Die Sammlungen des Gleimhauses, Briefe und Porträts, 1986, Abb. 52), aus dem Nachlaß des Gießener Kirchenhistorikers Gustav Krüger, eines Urenkels von Voß, jetzt im Besitz von Dr. Georg Krüger, Gießen, etwa 70 χ 60 cm. Aufnahme: Müller/Universität Gießen. Das Gießener Bild ist unsigniert, das Bild in Halberstadt hingegen auf der Rückseite von Gleims eigener Hand mit dem Vermerk versehen, daß es in Halberstadt gemalt wurde und ein Original sei. Dies gibt nur Sinn, wenn Gleim von der Existenz einer oder mehrerer Repliken/Kopien gewußt hat, wozu dann ebenfalls das Exemplar in Eutin zählt (nach K. Langenfeld, Johann Heinrich Voß. Mensch, Dichter, Ubersetzer, 1990, 24 Abb., angeblich „Original").

Abb. 2 (Buchholz) Theodor Mommsen (1817-1903), anläßlich seines sechzigjährigen Geburtstages geprägte Bronzeplakette (1877), Durchmesser 13,5 cm. Aus dem Nachlaß des Gießener Kirchenhistorikers Gustav Krüger, im Besitz von H.-G. Buchholz. Aufnahme: S. Oppermann, Gießen.

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530

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Abb.3 (Blome)

Das ,Heroon' von Lefkandi mit angrenzendem Friedhof.

Abb. 4 (Blome)

Nichoria: Rekonstruktion des Hauses Unit IV-1.

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Abb.5 (Blome)

Eretria: Apollontempel und Daphnephoreion aus dem 8.Jh. v.Chr.

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Abb.6 (Blome)

Asine: Runde Steinsetzungen aus dem 8. Jh. v.Chr.

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Abb. 8 (Blome)

Bilder eines kretischen Pithos aus dem 9.Jh. v. Chr.

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Abb. 9 (Korfmann) Das troianische Pferd mit Kriegern. Darstellung auf dem Hals einer Amphora, um 670 v . u . Z . ; Mykonos, Museum; aus M . Siebler, Troia - Homer - Schliemann (Mainz 1990) Taf. 24.

Abb. 10 (Korfmann)

Strand an der Besik-Bucht, im Hintergrund Bozcaada (Tenedos).

Abb. 12 (Korfmann) Troia. Schatz Α, gefunden 1893; aus Schlicmann (1990) Taf. 204.

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Abb. 11 (Korfmann) Tabula Peutingeriana (3.Jh., Kopie des 12.Jh.s) mit der Troas sowie Ilion, Alexandria Troas und Smintheion.

535

Abb. 13 (Korfmann)

Troia 1982. Verteidigungsmauer mit Turm Vlh.

Abb. 14 (Korfmann) Rekonstruktion der Burg von Troia VI mit Paläolandschaft: aus P. Connolly, Die Welt des Odysseus (Hamburg 1986) 47.

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Abb. 17 (Korfmann)

Troia 1989. Südöstlicher Teil des Burgberges von Norden.

538

Abb. 18 (Korfmann) Troia 1981. Nordost-Bastion von Osten.

Abb. 19 (Korfmann)

Abb. 18 a (Korfmann) Troia 1988. Nordost-Bastion von Osten.

Troia 1981. Steinrampe FM von Westen

Abb. 20 ( K o r f m a n n )

A b b . 2 0 a (Korfmann)

Troia 1987. Torbastion und Verteidigungsmauer Troia I von Osten.

Troia 1988. Torbastion und Verteidigungsmauer Troia I von Osten.

540

A b b . 2 1 a (Korfmann)

Troia 1988. Arbeiten im Schliemann-Graben.

Abb. 22 (Korfmann) Troia I-Bebauung, Orientierungsplan, nach Reinigung des Schliemann-Grabens, Stand 1989.

542

Abb. 23 (Korfmann) Troia 1988. Schliemann-Graben, Ostprofil (Nordteil) mit ,Steinkiste' von Südwesten. Bau einer Stützmauer aus Lehmziegeln.

Abb. 24 (Korfmann)

Troia 1989. Arbeiten im nördlichen Schliemann-Graben.

Abb. 25 (Korfmann) Troia. Ostseite des Schliemann-Grabens (links) und Megaron II A mit Lage des Erdkegels; aus Istanbuler Mitteilungen 39, 1989, 312 Abb. 3.

Abb. 26 (Korfmann)

Troia II-Bebauung, Orientierungsplan, Lage des Schliemann-Grabens eingezeichnet.

Abb. 27 (Korfmann)

Troia 1988. Drehscheibenware.

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ΈΓ

Abb. 28 (Korfmann) Troia. Burgberg und Untersiedlung, Orientierungsplan zu den Grabungsaktivitäten 1988 und 1989.

545

Abb. 29 (Korfmann) Troia 1989. Oberkante der Troia VI-Befestigungsmauer mit vorgelagertem Grabungsgebiet D9/10 von Norden, im Hintergrund die Untersiedlung.

Abb. 30 (Korfmann)

Troia. Burgberg und Untersiedlung Ilion mit Grabungsaktivitäten bis 1989.

546

Abb. 31 (Korfmann)

Abb. 32 (Korfmann)

Troia 1988. Sog. Gökhan-Straße im Areal 118 von Südosten.

Troia 1988. Ostteil der sog. Ayse-Straße und angrenzende römische Bebauung im Areal K13 von Süden.

547

Abb. 33 (Korfmann) Troia 1989. Westseite der sog. Ayse-Straße mit Wasserleitung aus gebrannten Tonrohren im Areal K13 von Norden.

Abb. 34 (Korfmann)

Troia 1988. Hans Günter Jansen bei Prospektionsmessungen in der UnterSiedlung von Ilion, im Hintergrund Areal 117.

548

Abb. 35 ( K o r f m a n n )

Troia 1989. Theater A, Blick in die cavea von N o r d w e s t e n zu Beginn der Reinigungsarbeiten.

Abb. 36 (Korfmann)

Troia 1989. Theater A, Bühnenhaus, Blick aus der cavea v e n Südwesten.

549

Abb. 37 (Korfmann) Troia 1988. Römische Bebauung nördlich der sog. Gökhan-Straße, Areale tl8/17 von Südosten; rechts tiefer liegende Schichten = Horizont Troia VI.

Abb. 38 (Korfmann)

Troia 1988. Mykenische Keramik aus Areal 117.

550

Abb. 39 (Schefold) Attische ,Riesenoinochoe', noch vor 750 v. Chr. gefertigt, einem der bedeutendsten Maler dieser Epoche nahestehend, dem Dipylonmeister. Inv. B S 1953.09. CVA Basel 1 Taf. 2 (J.P. Descoeudres).

551

Abb. 4(1 (Schcfold) Herakles im A m a z o n c n k a m p f . Außenseite eines Tonschildes aus Tiryns. U m 7D0. Nauplia, M u s e u m 4509. Die Publikationen sind zu SB I Abb. 3 verzeichnet und gehen auf Emil Kunzes Z u s a m m e n s e t z u n g der Fragmente und die Ergänzungen K i m o n G r u n d m a n n s zurück. Durchmesser etwa 40 cm. Z u r D e u t u n g zuerst K. Schcfold, Kleisthenes, MusHelv 3, 1946. 92. u n d ders.. Griechische Kunst als religiöses P h ä n o m e n . H a m b u r g 1959. 29f. 142.

552

A b b . 41 (Schcfold) Volutenkrater des Kleitias. Florenz, M u s e o A r c h e o l o g i c o 4209. Beazlcy, Attic B l a c k - F i g u r e Vase-Painters (1956) 76 mit den E r g ä n z u n g e n in Beazlcy, A d d e n d a (1989). S B I A b b . 189. „ K y k l i s c h e " V e r b i n d u n g v o n Epen u m 570 v . C h r . : Von oben nach unten: E b e r j a g d v o n K a l y d o n (Korinthiaka), Leichenspiele (Ilias). H o c h z e i t v o n Peleus und T h e t i s (Kyprien). T o d des Troilos (Kyprien). A u f der Rückseite: Siegesreigen in D e l o s und L a p i t h c n k a m p f (Theseis). R ü c k f ü h r u n g des Hephaistos ( H o m e r i s c h e r H y m n o s ? ) .

Colloquium Rauricum Band 1

Vergangenheit in mündlicher Uberlieferung Herausgegeben von Jürgen von Ungem-Sternberg und Hansjörg Reinau 1988. 348 Seiten, 15,5x25,5 cm. Lw. D M 98,ISBN 3-519-07411-7 Einleitung I P s y c h o l o g i e und Wissenschaftsgeschichte V I K T O R H O B I Kurze Einfuhrung in die Grundlagen der Gedächtnispsychologie · B O E D E K E R Amerikanische Oral-Tradition-Forschung

DEBORAH

II E t h n o l o g i e S C H U S T E R Zur Konstruktion von Geschichte in Kulturen ohne Schrift · Zwei Beispiele afrikanischer mündlicher Uberlieferung

MEINHARD HERZOG

ROLF

III Volkskunde und Germanistik L U T Z R Ö H R I C H Orale Traditionen als historische Quelle. Einige Gedanken zur deutschsprachigen mündlichen Volkserzählung · H E I N R I C H LÖFFLER Vergangenheit in mündlicher Uberlieferung aus germanistischer Sicht IV Geschichte des Alten Orients C L A U S W I L C K E Die Sumerische Königsliste und erzählte Vergangenheit · K L A U S S E Y B O L D Zur mündlichen Überlieferung im alten Israel · G R E G O R S C H O E L E R Die Lücke in der epischen Überlieferung Irans V Griechische Geschichte L A T A C Z Z U U m f a n g und Art der Vergangenheitsbewahrung in der mündlichen Überlieferungsphase des griechischen Heldenepos · W O L F G A N G K U L L M A N N „Oral Tradition/ Oral History" und die frühgriechische Epik · K U R T A. R A A F L A U B Athenische Geschichte und mündliche Überlieferung · J U S T U S С О В Е Т Herodot und mündliche Überlieferung

JOACHIM

VI R ö m i s c h e Geschichte JÜRGEN VON UNGERN-STERNBERG

der Oral-Tradition-Forschung · frührömischen Überlieferung

Überlegungen zur frühen römischen Überlieferung im Lichte Mündlichkeit und Schriftlichkeit als Basis der

DIETER T I M P E

VII Geschichte des Mittelalters G U Y P . M A R C H A L Memoria, fama, mos maiorum. Vergangenheit in mündlicher Überlieferung, unter besonderer Berücksichtigung der Zeugenaussagen in Arezzo von 1170/80 · A R N O L D E S C H Ist Oral History im Mittelalter faßbar? Elemente persönlicher und absoluter Zeitrechnung in Zeugenaussagen · F R A N T I S E K G R A U S Diskussionsbeitrag VIII Geschichte der N e u z e i t RAINER WIRTZ Vergangenheit in mündlicher Überlieferung. Einige Aspekte der Neueren Geschichtc • M A R T I N S C H A F F N E R Plädoyer für Oral History

B.G.Teubner Stuttgart