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German Pages [279] Year 2021
Beiträge zur Geschichte der Universität Mainz Neue Folge
Band 18
Herausgegeben vom Forschungsverbund Universitätsgeschichte der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Olaf Völker
Zwangssterilisation an Psychiatrieinsassinnen in Mainz 1933−1945 Die Lebensgeschichten der betroffenen Frauen der Heil- und Pflegeanstalten Alzey und »Philippshospital« Riedstadt Goddelau. Eine Gedenkdokumentation
Mit 28 Abbildungen
V&R unipress Mainz University Press
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Veröffentlichungen der Mainz University Press erscheinen bei V&R unipress. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Forschungsverbundes Universitätsgeschichte der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Das vorliegende Manuskript beruht größtenteils auf der 2020 an der Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz eingereichten gleichnamigen Dissertation des Autors. © 2022 Brill | V&R unipress, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Gebäude der Hebammenlehr- und Entbindungsanstalt in der Hafenstraße um 1905, Foto: Otto Trabold, Quelle: Stadtarchiv Mainz, BPSF/5856. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2626-1367 ISBN 978-3-7370-1377-2
Für Carolin
»Aber kann man auch alles hören, es sich vorstellen? Wird man es können? Werden sie die Geduld, die Leidenschaft, das Mitgefühl und die Strenge aufbringen, die dazu nötig sind?« Jorge Semprun, »Schreiben oder Leben«
Inhalt
Einführende Überlegungen, Forschungsziel und Gliederung . . . . . . .
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1. Historiographische Vorarbeiten, Begriffsdefinitionen und Methodik . 1.1 Zwangssterilisation und »Euthanasie« im Blickfeld der Geschichtsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Zwischen Vergangenheitsbewältigung und Vergangenheitsbewahrung. Der Umgang mit den Opfern nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Zwangssterilisationsforschung im Zeichen der Vergangenheitsbewahrung. Kollektives Gedächtnis, Erinnerungskultur und die Form des Gedenkens . . . . . . . . . . 1.4 Quellenauswahl, Quellenkritik und die Frage der Namensnennung der Opfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Kollektivbiographie und qualitative Einzelfallstudie. Methodische Überlegungen und Fragestellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Der historische Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Sozialdarwinismus, Eugenik und Rassenhygiene als Grundlage der nationalsozialistischen Programmatik . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Die Sterilisationsdebatte bis 1933 und das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Deutsche Ärzte als Erfüllungsgehilfen. Erbbiologische Erfassung, Sterilisationsverfahren und die quantitative Dimension der Unfruchtbarmachungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Die Umsetzung des GzVeN in Mainz und im Rhein-Main-Gebiet . 2.5 Die Rolle der Heil- und Pflegeanstalten bei der Umsetzung des GzVeN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6 Die Heil- und Pflegeanstalten »Philippshospital« Riedstadt Goddelau und Alzey in der Zeit des Nationalsozialismus . . . . . .
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Inhalt
2.7 Psychiatriegeschichte im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. Therapieformen und Konzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3. Die zwangssterilisierten Anstaltsinsassinnen aus Riedstadt Goddelau und Alzey als Opfergruppe. Eine kollektivbiographische Analyse . . 3.1 Der zeitliche Verlauf der Sterilisationsmaßnahmen . . . . . . . . 3.2 Das Alter zum Zeitpunkt der Unfruchtbarmachung . . . . . . . . 3.3 Die rechtfertigenden Diagnosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Der soziale Status der betroffenen Frauen . . . . . . . . . . . . . 3.5 Der Familienstand der Opfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6 Der Entlassungsort nach vollzogener Sterilisation . . . . . . . . .
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4. Lebensgeschichten . . . . . . . . . . . . . 4.1 Alzey . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Katharina E. . . . . . . . . . . . 4.1.2 Magdalena P. . . . . . . . . . . . 4.1.3 Luise H. . . . . . . . . . . . . . . 4.1.4 Anna Wilhemine S. . . . . . . . . 4.1.5 Maria Veronika K. . . . . . . . . 4.1.6 Hermine W. . . . . . . . . . . . . 4.1.7 Martha T. . . . . . . . . . . . . . 4.2 »Philippshospital« Riedstadt Goddelau 4.2.1 Helene W. . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Margarete S. . . . . . . . . . . . 4.2.3 Emma W. . . . . . . . . . . . . . 4.2.4 Therese R. . . . . . . . . . . . . . 4.2.5 Anna K. . . . . . . . . . . . . . . 4.2.6 Johanna M. . . . . . . . . . . . . 4.2.7 Sophie S. . . . . . . . . . . . . .
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95 95 96 105 114 123 131 138 149 160 161 168 175 180 193 202 211
5. Kollektivbiographie und biographische Rekonstruktion . . . . . . . . 5.1 Die Zwangssterilisationsopfer der Anstalten »Philippshospital« Riedstadt Goddelau und Alzey. Eine kollektivbiographische Skizze. 5.2 Eine qualitative Inhaltsanalyse der Dokumente zu den Betroffenen, Ärzten und Angehörigen . . . . . . . . . . . . . . . .
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6. Zusammenfassung, Gegenüberstellung und Ausblick . . . . . . . . . .
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7. Chronologische Namensliste der Mainzer Zwangssterilisationsopfer der Anstalten Alzey und »Philippshospital« Riedstadt Goddelau . . . .
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Inhalt
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8. Abbildungs- und Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
263
9. Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einführende Überlegungen, Forschungsziel und Gliederung
»Mein lieber Mann und lieben Kinder! Ich bitte dich sei doch so gut und komm hiermit und verhandle mit dem Herrn Oberarzt, wenn du mich noch retten willst. Warum soll denn mein Körper weiter geschändet werden?«1
Diese wenigen Zeilen schrieb Hermine W. kurz vor ihrer zwangsweisen Unfruchtbarmachung in der Hebammenlehranstalt Mainz an ihren Mann in der Hoffnung ihr unvermeidliches Schicksal noch abwenden zu können. Am nächsten Tag wurde sie durch Oberarzt Dr. Ley unfruchtbar gemacht und wenige Tage später als »geheilt« aus Mainz nach Hause entlassen. Hermine W. ist eine von 91 Psychiatrieinsassinnen der Heil- und Pflegeanstalt Alzey, die auf der Grundlage des 1934 in Kraft getretenen »Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« (GzVeN) bis 1945 in Mainz gegen ihren Willen sterilisiert wurden. Aus der Anstalt »Philippshospital« in Riedstadt Goddelau wurden im gleichen Zeitraum 133 Frauen zur Unfruchtbarmachung nach Mainz überwiesen. Diese zusammen 224 Opfer der nationalsozialistischen »Erbpolitik« stehen im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit, die in großen Teilen auf meiner am Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Universitätsmedizin Mainz entstandenen Dissertationsschrift fußt. Die Arbeit stellt einen Versuch dar, das Schicksal dieser Frauen näher zu beleuchten, die Ungerechtigkeit, die ihnen widerfuhr, zu bezeugen und zu zeigen, wie leicht sich die Grenzen ärztlichen Handelns durch politischen Einfluss verschieben ließen. Am Anfang des Arbeitsprozesses stand dabei die Frage, wie sich eine historische Arbeit diesem Thema angemessen annehmen konnte. Welcher Zugang konnte alle Opfer der beiden psychiatrischen Anstalten als Gruppe erfassen und gleichzeitig ihre Individualität und ihr persönliches Schicksal zeigen, wenn als Grundlage für dieses Vorhaben allein deren Krankenakten in die heutige Zeit überliefert sind? 1 Universitätsklinikum Mainz, Archiv des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Krankenaktenbestand der Hebammenlehranstalt Mainz, Jahrbuch 1936 Bd. 1, Hauptbuchnr. 14.
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Einführende Überlegungen, Forschungsziel und Gliederung
In den Vorarbeiten zum Abfassen dieses Textes stellte sich bald heraus, dass sich für diese Aufgabe am ehesten eine Mischung aus quantitativen und qualitativen Methoden eignete. Angelehnt an die methodischen Vorarbeiten bereits bestehender Arbeiten, wurden die Krankenakten der Anstaltsinsassinnen aus Alzey und Riedstadt zum einen einer kollektivbiographischen Analyse unterzogen, die sich auf die faktische Ebene der über die Frauen dokumentierten Daten konzentriert und versucht bestimmte Charakteristika der beiden Gruppen herauszuarbeiten und mit bereits bestehenden Erkenntnissen zu Zwangssterilisationsopfern aus anderen psychiatrischen Anstalten zu vergleichen. Zum anderen wurden zu jeweils sieben betroffenen Frauen aus jeder Anstalt individuelle Lebensläufe angefertigt und diese näher untersucht, um auch die individuelle Erfahrungsebene der betroffenen Frauen zugänglich zu machen. Die Form dieser Lebensläufe ist dabei dem elliptischen Quellenmaterial geschuldet beziehungsweise an dieses angepasst. Verschiedene Teile der Krankenakte wie auch vereinzelte Egodokumente wurden zu einem Mosaik zusammengefügt, durch welches sich die Lebens- und Krankengeschichten der Frauen und ihre spezifischen und individuellen Erfahrungen aus den verbliebenen Akten herauslesen lassen. Als Schlüssel für diesen Zugang fungiert die Anteilnahme, die Emotion und die Empathie der Leser, durch welche die Schrecken der Zwangssterilisationsverbrechen auf einer nicht kognitiven Ebene verarbeitet und dadurch konkreter und eindrücklicher werden.2 Ziel des vorliegenden Manuskripts ist es somit zum einen die historischen Fakten zu sichern und zu dokumentieren, aber gleichzeitig auch an die vorgestellten Psychiatrieinsassinnen zu erinnern und ihrer zu gedenken. Dieser duale Forschungsansatz prägt auch die Gliederung des Textes. Die ersten beiden Kapitel befassen sich mit den methodischen Vorarbeiten sowie den historischen Gegebenheiten und bilden somit den Kontext für die Kapitel drei und vier, in welchen die inhaltliche Analyse und Aufarbeitung des Quellenmaterials im Vordergrund steht. Das fünfte Kapitel stellt zusammenfassend die Erkenntnisse und Hypothesen vor und vergleicht die Ergebnisse mit dem bereits gesicherten Kenntnisstand der thematisch ähnlich orientierten Forschung. Die wichtigsten Etappen und Meilensteine der Historiographie der NS-Medizin und Zwangsterilisationsforschung stehen im Mittelpunkt des ersten Kapitels, in welchem auch die neuesten Forschungsrichtungen einer personenzentrierten Geschichtsschreibung vorgestellt werden. Weiterhin wird der geschichtspolitische Umgang mit den Zwangssterilisationsopfern und die Relevanz eines Gedenkens und Erinnerns an ihr Schicksal thematisiert. Zur besseren 2 Fuchs, Petra; Rotzoll, Maike; Müller, Ulrich & Richter, Paul (Hrsg.): »Das Vergessen der Vernichtung ist Teil der Vernichtung selbst«. Lebensgeschichten von Opfern der nationalsozialistischen »Euthanasie«, Göttingen, 2007, S. 12f.
Einführende Überlegungen, Forschungsziel und Gliederung
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Verständlichkeit der Begrifflichkeiten der »Erinnerungskultur« und des »kollektiven Gedächtnisses« werden deren Konzepte noch einmal exkursorisch rekapituliert, bevor abschließend die der Arbeit zu Grunde liegenden Quellen vorgestellt und die Methodik sowie die Fragestellungen der kollektivbiographischen wie auch der qualitativen Analyse der Lebensläufe dargestellt werden. Das zweite Kapitel enthält einen historischen Abriss zur Genese des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses von den ersten Denkströmungen der »Eugenik« bis zur Umsetzung der Rassenhygiene durch die Nationalsozialisten. Hier werden auch die Rolle der Ärzte und der psychiatrischen Heil- und Pflegeanstalten bei der Umsetzung der »Erbpolitik« thematisiert, die Psychiatriegeschichte und die Geschichte der Anstalten Alzey und »Philippshospital« Riedstadt Goddelau erläutert und die therapeutischen Konzepte der Zeit vorgestellt. Kapitel drei widmet sich der inhaltlichen Arbeit an den Quellen in Form der Kollektivbiographie der Zwangssterilisationsopfer beider Anstalten, in welcher einzelne Eigenschaften wie Alter und sozialer Status anhand verschiedener Parameter erfasst und miteinander verglichen werden. Das vierte Kapitel stellt eine Dokumentation der Lebensläufe von insgesamt sieben Frauen aus jeder Anstalt dar, die anhand der Krankenakten, der überlieferten Briefe, Zeichnungen und Fotos rekonstruiert wurden. Im Vordergrund steht dabei die Dokumentation der verschiedenen Lebensschicksale und der Lebenswelt einer psychiatrischen Anstalt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Im fünften Kapitel werden die Daten der kollektivbiographischen Analyse noch einmal zusammengefasst und in den Forschungskontext eingeordnet. Hier findet auch eine Analyse der Lebensläufe anhand der im ersten Kapitel formulierten Fragestellungen statt, durch welche die statistischen Daten um die Ebene qualitativer Elemente ergänzt werden. Am Ende der Arbeit werden in Kapitel 6 die Erkenntnisse beider Forschungsansätze noch einmal gegenüber gestellt und diskutiert. Als Epilog steht abschließend eine Gedenktafel, welche die Namen aller Mainzer Zwangssterilisationsopfer der Anstalten Alzey und Riedstadt Goddelau einzeln aufführt. In Mangel eines Gedenkorts an der Mainzer Universitätsklinik soll diese Arbeit und die Gedenktafel an ihrem Ende die Ärzte der heutigen Generation an die Verbrechen der Vorgängerklinik erinnern, den Hinterbliebenen und Angehörigen, die sich vielleicht erst jetzt oder in Zukunft mit diesem Kapitel ihrer Familiengeschichte auseinandersetzen, als Ausgangspunkt ihrer Recherchen dienen und gleichzeitig als Zeugnis ein Gedenken an die betroffenen Psychiatrieinsassinnen ermöglichen.
1.
Historiographische Vorarbeiten, Begriffsdefinitionen und Methodik
1.1
Zwangssterilisation und »Euthanasie« im Blickfeld der Geschichtsforschung
In der Medizingeschichtsschreibung des Nationalsozialismus haben bis heute unterschiedliche ideologische, personenzentrierte, institutionsgeschichtliche und regionale Forschungsansätze zu einem breiten Spektrum an zeitgeschichtlicher Literatur beigetragen. Überblickt man das Forschungsfeld der Verbrechen der Zwangssterilisation im Nationalsozialismus im speziellen, so bietet sich einem auch hier ein sehr uneinheitliches Bild, was nicht zuletzt der Komplexität des Themas geschuldet ist. Die heute von der Historiographie vorgenommene Unterscheidung zwischen der »Euthanasie«-Forschung und der Forschung zur Zwangssterilisation lässt sich in dieser Form erst seit Mitte der 1980er Jahre beobachten. Zu dieser Zeit beginnt auch erstmals eine generelle breite, kritische Auseinandersetzung in der Medizin-, Rechts- und Wissenschaftsgeschichte mit den Verbrechen des Gesundheitswesens und der Ärzteschaft im Nationalsozialismus, die trotz der bis dato zahlreichen Publikationen noch genügend Raum für neue Fragestellungen an die Medizingeschichte bietet. Als Überblick werden in der Folge die wichtigsten Etappen und Paradigmen der Geschichte der NS-Medizin, der »Euthanasie« und im speziellen der Zwangssterilisationsforschung rekapituliert und die Chancen und Möglichkeiten für neue Ansatzpunkte aufgezeigt. Nach 1945 erschienen relativ bald einzelne medizin- und rechtsgeschichtliche Dokumentationen3 zu den Verbrechen der Ärzteschaft im Dritten Reich, doch standen hier meist die Euthanasieverbrechen im Vordergrund und die Publikationstätigkeit kam bereits in den 1950er Jahren schnell zum Erliegen. Die lange 3 Mitscherlich, Alexander & Mielke, Fred: Das Diktat der Menschenverachtung. Der Nürnberger Ärzteprozeß und seine Quellen, Heidelberg, 1947; Mitscherlich, Alexander & Mielke, Fred: Wissenschaft ohne Menschlichkeit. Medizinische und eugenische Irrwege unter Diktatur, Bürokratie und Krieg, Heidelberg, 1949.
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Historiographische Vorarbeiten, Begriffsdefinitionen und Methodik
Tabuisierung des Themas lässt sich zum einen durch das politische Klima der Zeit des »Kalten Krieges« und die Begnadigung und Weiterbeschäftigung zahlreicher Ärzte und Wissenschaftler erklären. Zum anderen schwiegen viele Opfer und Angehörige aus Scham vor dem sich haltenden Stigma der »Erbkrankheit«. Die Verbindung der Zwangssterilisation mit dem Thema der Sexualität trug zusätzlich zur Tabuisierung bei,4 so dass eine kritische Aufarbeitung erst nach der Studentenbewegung der 1960er Jahre und der bundesweiten Diskussion um eine Psychiatriereform in den 1970er Jahren einsetzte.5 In dieser Zeit fällt auch die Publikation der ersten umfassenden Arbeit des Kirchenhistorikers Kurt Nowak, die sich vor allem mit der Haltung der evangelischen und katholischen Kirche zur »Euthanasie«, den Protestformen und Widerstandsmöglichkeiten befasst.6 Mitte der 1980er Jahre rückte das Thema durch Schriften des Journalisten Ernst Klee auch etwas mehr in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses.7 Dies führte dazu, dass sich das Forschungsfeld weiter verbreiterte. Hans-Walter Schmuhl untersuchte die Ideen- und Vorgeschichte der »Euthanasie«.8 Es wurde begonnen die Personengeschichte der Ärzte und Juristen aufzuarbeiten9 und die Forschung durch Publikationen zur Sozial- und Institutionsgeschichte der psychiatrischen Anstalten10 sowie der Rechtsgeschichte des »Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« und seiner Genese erweitert.11 In diesen Zeitraum fällt auch die Gründung der »Arbeitsgemeinschaft Bund der »Euthanasie«-Geschädigten und Zwangssterilisierten«, welche sich seither aktiv für die Anerkennung und Entschädigungsverbesserungen der Opfer einsetzt, psychologische Hilfe und Auf4 Siehe Braß, Christoph: Zwangssterilisation und »Euthanasie« im Saarland, Paderborn, 2004, S. 18f. 5 Vgl. hierzu exemplarisch: Dörner, Klaus; Haerlin, Christiane; Rau, Veronika; Schernus, Renate & Schwendy, Arnd (Hrsg.): Der Krieg gegen die psychisch Kranken. Nach »Holocaust« Erkennen – Trauern – Begegnen, Rehburg-Loccum, 1980; Baader, Gerhard & Schultz, Ulrich (Hrsg.): Medizin und Nationalsozialismus. Tabuisierte Vergangenheit- Ungebrochene Tradition? Dokumentation des Gesundheitstages Berlin 1980, Berlin, 1980. 6 Bereits 1971 in Leipzig entstanden erschien die Arbeit erst 1978 in der Bundesrepublik: Nowak, Kurt: »Euthanasie« und Sterilisierung im »Dritten Reich«. Die Konfrontation der evangelischen und katholischen Kirche mit dem »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« und der »Euthanasie«-Aktion, Göttingen, 1978. 7 Klee, Ernst: »Euthanasie« im NS-Staat. Die »Vernichtung lebensunwerten Lebens«, Frankfurt am Main, 1983; Klee, Ernst (Hrsg.): Dokumente zur »Euthanasie«, Frankfurt am Main, 1985. 8 Als frühes Referenzwerk für seine weitere Forschung ist hier exemplarisch aufgeführt: Schmuhl, Hans-Walter: Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung »lebensunwerten Lebens«. 1890–1945, Göttingen, 1987. 9 Vgl. hierzu: Klee, Ernst: Was sie taten – was sie wurden. Ärzte, Juristen und andere Beteiligte am Kranken- oder Judenmord, Frankfurt am Main, 1988; sowie bereits ebenfalls als früher Beitrag zur Geschichte der Ärzteschaft im Nationalsozialismus: Lifton, Robert Jay: Ärzte im Dritten Reich, Stuttgart, 1988. 10 Blasius, Dirk: Umgang mit Unheilbaren. Studien zur Sozialgeschichte der Psychiatrie, Bonn, 1986. 11 Müller, Joachim: Sterilisation und Gesetzgebung bis 1933, Husum, 1985.
Zwangssterilisation und »Euthanasie« im Blickfeld der Geschichtsforschung
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klärungsarbeit leistet und dazu beiträgt, die Opfer untereinander zu vernetzen und ihre Stimme im politischen Diskurs zu stärken.12 Gleichzeitig kam es zum Zusammenschluss von Forschern verschiedener Fachrichtungen im »Arbeitskreis zur Erforschung der nationalsozialistischen »Euthanasie« und Zwangssterilisation«.13 Bis zu diesem Zeitpunkt trat die Zwangssterilisation allerdings in den erschienen Arbeiten stets hinter den Verbrechen der Krankenmorde zurück oder wurde als eine Art Vorstufe auf dem Weg zur »Euthanasie« betrachtet. 1986 legte Gisela Bock erstmals eine Monographie vor, die von einer feministischen Fragestellung ausgehend das Verbrechen der Zwangssterilisation als eigenständiges Phänomen zum Untersuchungsgegenstand machte.14 In ihrer Arbeit wertete sie hierzu die Akten von verschiedenen Erbgesundheitsgerichten für das gesamte deutsche Gebiet in den Grenzen von 1937 als Quellen aus. Dabei untersuchte sie die Gegensätze der Frauenpolitik des Nationalsozialismus (Pronatalismus und Mutterkult sowie Antinatalismus und Unfruchtbarmachung) und deren geschlechtsspezifische Folgen sowie die Zahl der Sterilisationsverfahren und Todesfälle durch Operationsfolgen.15 Auf der Grundlage von Bocks Ergebnissen erschienen bis heute eine Vielzahl regionaler Studien zu einzelnen Städten und Regionen Deutschlands16 und 12 Zu der aufklärerischen und erinnerungspolitischen Arbeit der 1987 in Detmold gegründeten Arbeitsgemeinschaft siehe: www.euthanasiegeschaedigte-zwangssterilisierte.de (Letzter Aufruf: 20. 06. 2021). 13 Der Arbeitskreis hält regelmäßige Fachtagungen ab und publiziert seine Ergebnisse in Tagungsbänden. Zu seiner Entstehung siehe: Wunder, Michael: Zur Geschichte des »Arbeitskreises zur Erforschung der nationalsozialistischen »Euthanasie« und Zwangssterilisation», in: Arbeitskreis, Erforschung der nationalsozialitischen »Euthanasie« und Zwangsterilisation (Hrsg.): Der sächsische Sonderweg bei der NS-»Euthanasie«, Ulm, 2001, (9–19). 14 Zwar erschien bereits 1984 eine regionalgeschichtliche Arbeit zur Zwangssterilisation in Bremen: Schmacke, Norbert & Güse, Hans-Georg: Zwangssterilisiert, verleugnet, vergessen. Zur Geschichte der nationalsozialistischen Rassenhygiene am Beispiel Bremen, Bremen, 1984. Als Standardwerk mit der größeren Wirkkraft für die weitere Forschung gilt aber die Studie Bocks, deren größter Verdienst in der umfassenden quantitativen Erhebung der Sterilisationszahlen für das Bundesgebiet liegt: Bock, Gisela: Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. Studien zur Rassenpolitik und Frauenpolitik, Opladen, 1986. 15 Ibid. S. 237f, sowie S. 380ff. 16 Als Auswahl: Fuchs, Gerhard: Zwangssterilisation im Nationalsozialismus in Bremen, Hamburg, 1988; Angerstorfer, Andreas & Dengg, Annemarie: Sterilisationspolitik unterm Hakenkreuz. Zwangssterilisation in Regensburg und in der Oberpfalz/Niederbayern, Regensburg, 1999; Marnau, Björn: Steril und rassenrein. Zwangssterilisation als Teil der nationalsozialistischen Rassenpolitik 1933–1945. Der Kreis Steinburg als Beispiel, Frankfurt am Main, 2003; Braß, Christoph (2004); Hinz-Wessels, Annette: NS-Erbgesundheitsgerichte und Zwangssterilisation in der Provinz Brandenburg, Berlin, 2004; Heitzer, Horst W.: Zwangssterilisation in Passau. Die Erbgesundheitspolitik des Nationalsozialismus in Ostbayern, 1933–1939, Köln, 2005; Verbeck, Jan Christian: Zwangssterilisation in der Grafschaft Bentheim 1934–1945. Dissertation. Universität Münster, 2006; Finschow, Martin: Denunziert, kriminalisiert,
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Historiographische Vorarbeiten, Begriffsdefinitionen und Methodik
Österreichs17, mit dem Ziel, die Medizinverbrechen aufzuarbeiten. Diese regionalen Untersuchungen konzentrierten sich dabei auf die einweisenden und ausführenden Institutionen, die Universitätskliniken18, Anstalten und Krankenhäusern19, die ebenfalls versuchten, ihre eigene Institutionsgeschichte aufzwangssterilisiert. Opfer, die keiner sieht. Nationalsozialistische Zwangssterilisationen im Oldenburger Land, Oldenburg, 2008; Endres, Sonja: Zwangssterilisation in Köln. 1934–1945, Köln, 2010; Lilienthal, Marion: Erbbiologische Selektion in Korbach (1933–1945). Rassenhygiene, Zwangssterilisierung und NS-»Euthanasie« – der Wahn vom gesunden Volkskörper und seine Folgen, Korbach, 2014. 17 Zur Österreichischen historischen Zwangssterilisationsforschung siehe exemplarisch: Neugebauer, Wolfgang: Zwangssterilisation und »Euthanasie« in Österreich 1940–1945, in: Zeitgeschichte, (19), 1992, (17–28); Freidl, Wolfgang: NS-Wissenschaft als Vernichtungsinstrument. Rassenhygiene, Zwangssterilisation, Menschenversuche und NS-Euthanasie in der Steiermark, Wien, 2004; Spring, Claudia: Zwischen Krieg und Euthanasie. Zwangssterilisation in Wien 1940–1945, Wien, 2009. 18 Es liegen bis heute Untersuchungen für die Universitätskliniken in Göttingen, Freiburg, Würzburg, Jena, Berlin und Mainz vor: Koch, Thomas: Zwangssterilisation im Dritten Reich. Das Beispiel der Universitätsklinik Göttingen, Frankfurt am Main, 1994; Link, Günther: Eugenische Zwangssterilisation und Schwangerschaftsabbrüche im Nationalsozialismus dargestellt am Beispiel der Universitätsfrauenklinik Freiburg, Frankfurt am Main, 1999; Flade, Roland: Zwangssterilisationen und Zwangsabtreibungen an der Universitäts-Frauenklinik Würzburg im »Dritten Reich«. Einzelschicksale aus Würzburg, in: Mainfränkisches Jahrbuch für Geschichte und Kunst, 58, 2006, (171–182); Regenspurger, Katja: Ein Opfer im Dienst der Volksgesundheit. Zwangssterilisation nach dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses an der Universitätsfrauenklinik Jena 1934–1945, in: Preuß, Dirk (Hrsg.): Anthropologie nach Haeckel, Stuttgart, 2006, (125–148); Doetz, Susanne: Alltag und Praxis der Zwangssterilisation. Die Berliner Universitätsfrauenklinik unter Walter Stoeckel 1942–1944, Berlin, 2011; Ruckert, Frederic: Zwangssterilisationen im Dritten Reich 1933–1945. Das Schicksal der Opfer am Beispiel der Frauenklinik des Städtischen Krankenhauses und der Hebammenlehranstalt Mainz, Stuttgart, 2012. 19 Hümmer, Klaus: Zwangssterilisationen in der ehemaligen Diakonissenanstalt Neuendettelsau, Regensburg, 1998; Aas, Norbert: Verlegt, dann vergast, vergiftet, verhungert. Die Kranken der Heil- und Pflegeanstalt Bayreuth in der Zeit der Zwangssterilisation und »Euthanasie«, Bayreuth, 2000; Esch, Michael G.: Zwangssterilisierung in der Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Grafenberg 1934–1940 in: Sparing, Frank (Hrsg.): Erbbiologische Selektion und »Euthanasie«. Psychiatrie in Düsseldorf während des Nationalsozialismus, Essen, 2001; Dahl, Matthias & Frese, Heiko: Das Provinzial-Erziehungsheim in Göttingen und die praktische Umsetzung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, in: Medizin, Gesellschaft und Geschichte, (20), 2002, (99–136); Losch, Hans-Joachim: »…zwecks Unfruchtbarmachung«. Die NS-Zwangssterilisierung, dargestellt am Beispiel der Opfer in der Erziehungsanstalt Heiligenbronn, Freiburg im Breisgau, 2002; Falk, Beatrice & Hauer, Friedrich: Erbbiologie, Zwangssterilisation und »Euthanasie« in der Landesanstalt Görden, in: Hübener, Kristina (Hrsg.): Brandenburgische Heil- und Pflegeanstalten in der NS-Zeit, Berlin, 2002; Reiter, Raimond: Zwangssterilisationen von Patienten der Landes-Heil- und Pflegeanstalt Hildesheim im »Dritten Reich«, in: (Hrsg.): 175 Jahre Niedersächsisches Landeskrankenhaus Hildesheim (1827–2002), Hildesheim, 2002; Hübener, Kristina & Heinze, Martin (Hrsg.): Brandenburgische Heil- und Pflegeanstalten in der NS-Zeit, Berlin, 2002; Herrmann, Volker & Schmidt, Heinz (Hrsg.): Erinnern und Gedenken. Eugenik, Zwangssterilisation und »Euthanasie« in Hephata/Treysa, Boppard und Sinsheim, Heidelberg, 2009; Vanja, Christina (Hrsg.): 100 Jahre Psychiatrie in Herborn. Rückblick, Einblick, Ausblick, Marburg, 2011; Ritter, Silvia:
Zwangssterilisation und »Euthanasie« im Blickfeld der Geschichtsforschung
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zuarbeiten. Hierbei sind für den Untersuchungsraum Mainz besonders die Arbeiten zu Frankfurt, Offenbach, Gießen und Marburg von Relevanz.20 Die Einzugsgebiete der zugehörigen Krankenhäuser, Erbgesundheitsgerichte und psychiatrischen Anstalten grenzten zum größten Teil direkt aneinander und überschnitten sich auch teilweise, je nach Ersteinweisung der als »erbkrank« diagnostizierten Patienten, so dass ein häufiger Krankenhaus- und Anstaltswechsel an der Tagesordnung war. Bereits sehr gut erforscht sind auch die ausführenden Tötungsanstalten der Krankenmordaktion »T4«, was besonders für die hessische Anstalt Hadamar21 und die Anstalt Pirna Sonnenstein22 durch zahlreiche Publikationen und Ausstellungskataloge belegt ist. In der Rechtsgeschichte wurden Genese und Praxis der Umsetzung des »Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« auf juristischer Ebene untersucht und die Forschung um den Nürnberger Ärzteprozess um neue Fragestellungen zur Entwicklung der nationalsozialistischen Medizin erweitert.23 Auch die
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Zwangssterilisationen in Bonn. Patienten in der Hertz’schen Privatklinik 1934–1945, Bochum, 2013; Degen, Barbara: Bethel in der NS-Zeit. Die verschwiegene Geschichte Bad Homburg, 2014; Janzowski, Frank: Die NS-Vergangenheit in der Heil- und Pflegeanstalt Wiesloch. »… so intensiv wenden wir unsere Arbeitskraft der Ausschaltung der Erbkranken zu«, UbstadtWeiher, 2015. Für Hessen, Rheinland-Pfalz und das Einzugsgebiet Rhein-Main sind bis heute folgende Arbeiten vorgelegt: Daum, Monika & Deppe, Hans-Ulrich: Zwangssterilisation in Frankfurt am Main. 1933–1945, Frankfurt am Main, 1991; Hilder, Dagmar Juliette: Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. Die Umsetzung des »Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« in der Landesheilanstalt Marburg, Marburg, 1996; Hennig, Jessika: Zwangssterilisation in Offenbach am Main. 1933–1944, Frankfurt am Main, 2000; Oehler-Klein, Sigrid: »… als gesunder Mensch kam ich nach Gießen, krank kam ich wieder nach Hause…«. Zwangssterilisation in Gießen, in: Oehler-Klein, Sigrid (Hrsg.): Die medizinische Fakultät der Universität Gießen im Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit. Personen und Institutionen, Umbrüche und Kontinuitäten, Stuttgart, 2007, (279–322). Gerade die Aufarbeitung der Institutionsgeschichte in Hadamar beginnt dabei bereits sehr früh: Kneuker, Gerhard & Steglich, Wulf: Begegnungen mit der Euthansie in Hadamar, Rehburg-Loccum, 1985; Roer, Dorothee: Psychiatrie im Faschismus. Die Anstalt Hadamar 1933–1945, Bonn, 1986; Hamann, Mathias (Hrsg.): »Soll nach Hadamar überführt werden«. Den Opfern der Euthanasiemorde 1939 bis 1945, Frankfurt am Main, 1989; Hoser, Cornelia & Weber-Diekmann, Birgit: Zwangssterilisationen an Hadamarer Anstaltsinsassen in: Roer, Dorothee (Hrsg.): Psychiatrie im Faschismus. Die Anstalt Hadamar 1933–1945 Frankfurt am Main, 1996; George, Uta (Hrsg.): Hadamar. Heilstätte – Tötungsanstalt – Therapiezentrum, Marburg, 2006. Sonnenstein, Kuratorium Gedenkstätte (Hrsg.): Nationalsozialistische Euthanasie-Verbrechen in Sachsen. Beiträge zu ihrer Aufarbeitung, Pirna, 1993; Schilter, Thomas: Unmenschliches Ermessen. Die nationalsozialistische »Euthanasie«-Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein 1940/41, Leipzig, 1999. Zur rechtsgeschichtlichen Forschung siehe exemplarisch: Ehlers, Paul Nikolai: Die Praxis der Sterilisierungsprozesse in den Jahren 1934–1945 im Regierungsbezirk Düsseldorf unter besonderer Berücksichtigung der Erbgesundheitsgerichte Duisburg und Wuppertal, München, 1994; Birk, Hella: Das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses«. Eine Untersuchung zum Erbgesundheitswesen im bayrischen Schwaben in der Zeit des Nationalsozialismus,
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Historiographische Vorarbeiten, Begriffsdefinitionen und Methodik
Forschungen zu den Funktionseliten der Ärzteschaft und des Justizapparates wurden in den letzten Jahren sukzessive vorangetrieben und die Rolle der Kirche und der kirchlichen Anstaltsträger näher untersucht.24 Im Mittelpunkt der Täterforschung stehen dabei vor allem die individuellen Handlungsmöglichkeiten einzelner Verantwortlicher und ihre Funktion im System der »rassenhygienischen« Bevölkerungspolitik.25 Die deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde arbeitet seit den 1990er Jahren ebenfalls aktiv an einer Aufarbeitung der Geschichte ihrer Vorläuferorganisationen und am Gedenken an die Opfer der nationalsozialistischen psychiatrischen Medizin.26 Seit neuerem liegen zusätzlich auch zahlreiche internationale Vergleichsstudien27 zur psychiatrischen Praxis in Europa, den USA und im »Dritten Reich« während des Zweiten Weltkrieges und Studien zur Vergangenheitsbewältigung der universitären Medizin vor.28 Die aufgezeigte Verbreiterung und Pluralisierung prägt das Forschungsfeld über die Medizin und Psychiatrie im »Dritten Reich« wie auch der Zwangssterilisation im speziellen. In seiner 2011 erschienen Bibliographie »Medizin im
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Augsburg, 2005; Einhaus, Carola: Zwangssterilisation in Bonn. Die medizinischen Sachverständigen vor dem Erbgesundheitsgericht, Köln u. a., 2006; Benzenhöfer, Udo: Zur Genese des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, Münster, 2006; Weindling, Paul Julian: Nazi Medicine and the Nuremberg Trials. From medical War Crimes to informed Consent, New York, 2006. Als Beispiel für kirchenhistorische Arbeiten siehe: Kaminsky, Uwe: Zwangssterilisation und »Euthanasie« im Rheinland. Evangelische Erziehungsanstalten sowie Heil- und Pflegeanstalten 1933–1945, Köln, 1995; Friedrich, Norbert: Zwangssterilisation und »Euthanasie«. Das nationalsozialistische Ideologem vom »unwerten Leben« und die Kirche, in: Brechenmacher, Thomas (Hrsg.): Die Kirchen und die Verbrechen im nationalsozialistischen Staat, Göttingen, 2011, (125–143). Kater, Michael H.: Ärzte als Hitlers Helfer, Hamburg, 2000; Ley, Astrid: Zwangssterilisation und Ärzteschaft. Hintergründe und Ziele ärztlichen Handelns 1934–1945, Frankfurt am Main, 2004; Drescher-Müller, Gisela: Einstellungen und Verhaltensdispositionen der Anstaltspsychiater zur Zwangssterilisation bei schizophrenen Frauen während des Nationalsozialismus. Eine Untersuchung der Krankenakten psychiatrischer Patientinnen der Heil und Pflegeanstalt Klingenmünster und der Kreis-, Kranken- und Pflegeanstalt Frankenthal von 1934– 1939. Dissertation, Universität Landau, 2008; Roelcke, Volker & Schneider, Frank: Psychiater im Nationalsozialismus. Täterbiographien, in: Der Nervenarzt, (83), 2012, (291–292). Exemplarisch: Schneider, Frank (Hrsg.): Psychiatrie im Nationalsozialismus. Gedenken und Verantwortung, Berlin, 2011. Roelcke, Volker; Weindling, Paul & Westwood, Louise (Hrsg.): International Relations in Psychiatry. Britain, Gemany and the United States to World War II, Rochester, 2010; Schmuhl, Hans-Walter & Roelcke, Volker (Hrsg.): »Heroische Therapien«. Die deutschen Psychiater im internationalen Vergleich 1918–1945, Göttingen, 2013; Roelcke, Volker; Topp, Sascha & Lepicard, Etienne (Hrsg.): Silence, scapegoats, self-reflection. The shadow of Nazi medical crimes on medicine and bioethics, Göttingen, 2014. Oehler-Klein, Sigrid & Roelcke, Volker (Hrsg.): Vergangenheitspolitik in der universitären Medizin nach 1945. Institutionelle und individuelle Strategien im Umgang mit dem Nationalsozialismus, Stuttgart, 2007.
Zwangssterilisation und »Euthanasie« im Blickfeld der Geschichtsforschung
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Nationalsozialismus« beklagt Robert Jütte daher: »Um ein Bild zu verwenden: Insgesamt kann man in Hinblick auf das bisher Erreichte von einem »Flickenteppich« sprechen, der in den letzten Jahren immer bunter und dichter geworden ist, dessen Gesamtmuster aber immer undeutlicher wird»29. Dem Wunsch nach einer Zusammenführung und Einordnung der bisherigen Untersuchungsergebnisse steht eine Vielzahl von regionalen Forschungsvorhaben gegenüber, welche weitere Details der erbbiologischen Zwangsmaßnahmen der nationalsozialistischen Medizin ans Tageslicht fördern. Eine Chance der regionalen Studie ist dabei vor allem eine genauere individuellere Beleuchtung der einzelnen Akteure. Die Spezialisierung und Regionalisierung verbreitert somit nicht nur das Forschungsfeld, sondern wirft auch neue Fragen auf und trägt durch spezifische Perspektiven zur Fortentwicklung des Kenntnisstandes bei. Es hat sich gezeigt, dass sich die individuellen Handlungsmöglichkeiten, Motive und Lebenswirklichkeiten der Opfer und Täter, wie auch die Praxis der Erfassung und Umsetzung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses regional sehr unterschiedlich darstellen. Die Diskrepanz zwischen der gesetzlichen Norm und der alltäglichen Normalität lässt sich am besten im Detail auf der regionalen Ebene erfassen und an einzelnen Akteuren und Umsetzungspraktiken festmachen. So konnte, um ein Beispiel zu nennen, Uwe Kaminsky in seinen Studien zu evangelischen Erziehungsanstalten im Rheinland sehr deutlich den schmalen Grat zwischen passivem Mitwirken und Widerstand darstellen, auf dem sich die Anstaltsleiter zwischen ihrer evangelischen Gesinnung und der Überzeugung für die Sterilisationspolitik bewegten.30 In der regionalen Perspektive lassen sich auch die Lebenswelt der Opfer und ihre individuellen Lebensschicksale genauer darstellen und dem Vergessen ihrer Geschichte entgegenwirken. Diese Chance nutzend konzentrieren sich in den letzten Jahren zahlreiche Forschungsprojekte auf die Lebensgeschichten der Betroffenen und Angehörigen, mit dem Ziel, die Öffentlichkeit für das Thema zu sensibilisieren und die Opfer im Kampf um die Anerkennung als Verfolgte des Nationalsozialismus zu unterstützen. Hier lassen sich vor allem Studien einzelner Opferschicksale von kollektivbiographischen Studien unterscheiden, die versuchen, mit einer sozialhistorischen Fragestellung gemeinsame und unterschiedliche Merkmale verschiedener Opfergruppen zu untersuchen. In dem 2004 erschienen Buch »Die Namen der Nummern« versucht HansJoachim Lang die Geschichte von 86 jüdischen KZ-Häftlingen, die für eine anthropologische Ausstellung als Ausstellungsstücke ausgewählt und ermordet 29 Jütte, Robert; Eckart, Wolfgang U.; Schmuhl, Hans-Walter & Süß, Winfried (Hrsg.): Medizin und Nationalsozialismus. Bilanz und Perspektiven der Forschung, Göttingen, 2011, S. 9. 30 Kaminsky, Uwe (1995), S. 360–368.
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Historiographische Vorarbeiten, Begriffsdefinitionen und Methodik
wurden, zu erforschen und nachzuerzählen.31 Im ersten Teil einer 2005 erschienenen Publikation des Bundes der »Euthanasie«-Geschädigten und Zwangssterilisierten werden Berichte von Überlebenden und Lebensgeschichten wiedergegeben.32 Aus einem DFG-Forschungsprojekt zur »Euthanasie«-Aktion »T4«, dessen Ergebnisse 2010 in einem umfangreichen Sammelband33 erschienen sind, entstand bereits vorab ein bemerkenswertes Lesebuch mit dem Titel »Das Vergessen der Vernichtung ist Teil der Vernichtung selbst«, das sich allein den Lebensgeschichten der Opfer widmet.34 In Wien rekonstruierte Waltraut Häupl35 anhand von Krankenakten die Leidensgeschichten von über 600 »Euthanasie«Opfern der Kinderklinik »Am Spiegelgrund« und führte sie in einer Gedenkdokumentation zusammen und auch das Buch »Lebensunwert?«36, das die Geschichte der Sterilisationsopfer Paul Wulf und Paul Brune wiedergibt, versucht, einen Beitrag zur Erinnerungskultur zu leisten. Insgesamt lässt sich festhalten, dass ein großer Teil der Forschung zu Zwangssterilisation und »Euthanasie« im nationalsozialistischen Deutschland sich vermehrt den Opfern und ihren Lebensgeschichten und Schicksalen zuwendet. Erklärtes Ziel dieser neuen personenzentrierten Ausrichtung ist es, ein öffentliches Gedenken zu fördern und einen Platz in der kollektiven Erinnerung für die Opfer der nationalsozialistischen Medizinverbrechen einzufordern. Ein solch starker Fokus auf einzelne Betroffene lässt sich besonders gut anhand regionalgeschichtlicher Quellenbestände erarbeiten, wie zahlreiche neue biographisch orientierte Regionalstudien belegen.37 Exemplarisch sei hier auf eine neue Studie zu Esslingen am Neckar verwiesen, in der Gudrun Silberzahn-Jandt die von ihr gesammelten Informationen der Opfer zu kleinen Kurzbiographien zusam31 Lang, Hans-Joachim: Die Namen der Nummern. Wie es gelang die 86 Opfer eines NS-Verbrechens zu identifizieren, Hamburg, 2004. 32 Hamm, Margret (Hrsg.): Lebensunwert – zerstörte Leben. Zwangssterilisation und »Euthanasie«, Frankfurt am Main, 2005. 33 Rotzoll, Maike; Hohendorf, Gerrit; Fuchs, Petra; Richter, Paul; Mundt, Christoph & Eckart, Wolfgang U. (Hrsg.): Die nationalsozialistische »Euthanasie«-Aktion »T4« und ihre Opfer. Geschichte und ethische Konsequenzen für die Gegenwart, Paderborn, 2010. 34 Fuchs, Petra; Rotzoll, Maike; Müller, Ulrich & Richter, Paul (2007). 35 Häupl, Waltraud: Die ermordeten Kinder vom Spiegelgrund. Gedenkdokumentation für die Opfer der NS-Kindereuthanasie in Wien, Wien, 2006. 36 Freundeskreis, Paul Wulf (Hrsg.): Lebensunwert? Paul Wulf und Paul Brune. NS-Psychiatrie, Zwangssterilisation und Widerstand, Nettersheim, 2007. 37 Exemplarisch seien hier aufgelistet: Spring, Claudia: Diffamiert, Zwangssterilisiert, Ignoriert. Hermine B. und die Folgen ihrer Verfolgung als »Asoziale« von der NS-Zeit bis in die Gegenwart, in: Gehmacher, Johanna (Hrsg.): Frauen- und Geschlechtergeschichte des Nationalsozialismus. Fragestellungen, Perspektiven, neue Forschungen, Innsbruck, 2007, Reiter, Raimond: Das Schicksal der Irmgard Bartels. Opfer der NS-Psychiatrie in der Region Hannover Hannover, 2011; Mauthe, Jürgen-H. & Wagner, Angela (Hrsg.): »Mein lieber Papa…« Vom Leiden psychisch kranker Menschen im Freistaat Braunschweig und der Landes-Heil- und Pflegeanstalt Königslutter zwischen 1933 und 1945, Königslutter, 2015.
Zwischen Vergangenheitsbewältigung und Vergangenheitsbewahrung
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menfügt, und auch einzelne biographische Erzählungen umfangreicher und dichter gestaltet.38 Dieser neue detail- und umfangreiche personenzentrierte Forschungsansatz bietet zahlreiche neue Einsichten in die sozialen und individuellen Realitäten der als »erbkrank« verfolgten Betroffenen sowie auch der Verfolger in Ärzteschaft und Justiz. Als Beitrag zur Erinnerungskultur will er die Opfer auch namentlich als Person und Individuum sichtbar machen. Dies birgt neben den Chancen auf neue Erkenntnisse auch Risiken und Probleme und verlangt nach einem wachen Bewusstsein für die moralische Verantwortung des Forschenden. Dennoch scheint es heute über achtzig Jahre nach Inkrafttreten des GzVeN an der Zeit, die Geschichte der Opfer und ihrer individuellen Leidensschicksale aufzuarbeiten und das von ihnen erfahrene Unrecht klar zu benennen. Diesem Anliegen verschreibt sich auch die vorliegende Arbeit.
1.2
Zwischen Vergangenheitsbewältigung und Vergangenheitsbewahrung. Der Umgang mit den Opfern nach 1945
Zum gesellschaftlichen Umgang mit der NS-Vergangenheit39 wie auch zum Umgang mit der NS-Zwangssterilisation40 und NS-Medizin41 liegen heute umfangreiche Untersuchungen vor. Einer gängigen Periodisierung der Vergangenheitspolitik der BRD von Norbert Frei folgend, lässt sich für die direkte Zeit nach 1945 eine Phase der politischen Säuberung und juristischen Verfolgung der NSFunktionäre durch die Alliierten beobachten, in welche auch die Nürnberger Ärzteprozesse fallen. Dieser folgte nach 1949 rasch eine Phase der Amnestierung und personellen Reintegration eines großen Teils der ehemaligen Entscheidungsträger, die sich formal vom Nationalsozialismus distanzierten. Erst in den 1960er und 1970er Jahren fand durch die Folgegeneration ein Umdenken und 38 Silberzahn-Jandt, Gudrun: Esslingen am Neckar im System von Zwangssterilisation und »Euthanasie« während des Nationalsozialismus. Strukturen, Orte, Biographien, Ostfildern, 2015. 39 Exemplarisch für die Erforschung des Umgangs mit der NS-Vergangenheit: Frei, Norbert: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München, 1996. 40 Besonders umfassend dargestellt in: Tümmers, Henning: Anerkennungskämpfe. Die Nachgeschichte der nationalsozialistischen Zwangssterilisation in der Bundesrepublik, Göttingen, 2011; Westermann, Stefanie: Verschwiegenes Leid. Der Umgang mit den NS-Zwangssterilisationen in der Bundesrepublik Deutschland, Köln, 2010. 41 Zur NS-Medizin im Ganzen siehe: Topp, Sascha: Geschichte als Argument in der Nachkriegsmedizin. Formen der Vergegenwärtigung der nationalsozialistischen Euthanasie zwischen Politisierung und Historiographie Göttingen, 2013.
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Historiographische Vorarbeiten, Begriffsdefinitionen und Methodik
eine kritische Neubewertung der NS-Vergangenheit statt, auf die nach 1980 bis heute eine Phase der »Vergangenheitsbewahrung« im Zeichen einer Debatte um die zu bewahrenden Erinnerungen an die NS-Vergangenheit folgte.42 Ähnlich zeigt sich das Bild der Nachgeschichte der Zwangssterilisation im politischen, medizinischen und juristischen Diskurs der Nachkriegsgesellschaft. Die tradierten Denkstrukturen und etablierten wissenschaftlichen Lehrmeinungen der Eugenik erwirkten auch nach 1945 die Ausgrenzung der Betroffenen aus der Gesellschaft und der Entschädigungsdebatte. Mit der Begründung, dass auch andere demokratische Staaten Sterilisationsgesetze erlassen hatten, wurden die Sterilisationsopfer 1953 im Bundesentschädigungsgesetz von allen Ansprüchen ausgeschlossen und in der Folge nahezu alle Entschädigungsforderungen abgelehnt. Diese Praxis wurde durch das BEG Schlussgesetz von 1965 erneut in ihrer Rechtmäßigkeit bestätigt. Das GzVeN und die nationalsozialistische Zwangssterilisationspraxis wurden somit über 30 Jahre nahezu nicht in Frage gestellt und eine finanzielle Wiedergutmachung und juristische Rehabilitierung der Opfer blieb aus. Als äußerst heterogene Gruppe hatten die Zwangssterilisationsopfer keine ausreichende Lobby und somit auch keine Stimme im politischen und öffentlichen Diskurs. In einem langwierigen Anerkennungsprozess musste sich erst ein gesellschaftliches Unrechtsbewusstsein gegenüber den als »minderwertig« diffamierten Betroffenen herausbilden, was schließlich seit den 1980er Jahren zu einer Aufhebung der Erbgesundheitsgerichtsurteile und einer sukzessiven finanziellen Entschädigung führte.43 Infolge einer Novellierung des Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes können Zwangssterilisationsopfer aufgrund einer Härtefallregelung seit 1980 eine einmalige Beihilfe von 5000 DM und seit 1988 eine geringe monatliche Beihilfe beantragen. Die Urteile der Erbgesundheitsgerichte wurden am 25. August 1998 vom Deutschen Bundestag als Unrechtsurteile aufgehoben und die monatliche Beihilfe 2011 auf das Niveau der anderen Opfergruppen der Verfolgten des Nationalsozialismus angehoben.44 Diese Wiedergutmachung kam allerdings für die meisten Opfer zu spät. Eine rechtliche Gleichstellung des Status der Zwangssterilisierten an die politischen NS-Verfolgten ist bis heute nicht erfolgt.
42 Freis Periodisierungsmodell ist hier zusammengefasst nach: ibid. S. 41–47. 43 Tümmers, Henning (2011), S. 319ff. 44 Hinz-Wessels, Annette (2004), S. 325.
Zwangssterilisationsforschung im Zeichen der Vergangenheitsbewahrung
1.3
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Zwangssterilisationsforschung im Zeichen der Vergangenheitsbewahrung. Kollektives Gedächtnis, Erinnerungskultur und die Form des Gedenkens
In den Anfangsjahren der BRD verhinderten die personellen Kontinuitäten in der deutschen Psychiatrie und im Justizwesen und die teilweise weiterhin bestehenden biopolitischen Pläne der Ärzteschaft wie auch der Politik eine Integration der Zwangssterilisationsopfer in die Gesellschaft und auch in die Gruppe der NS-Verfolgten.45 Dabei kam zu tragen, dass andere Opfergruppen nicht mit den als »minderwertig« stigmatisierten Zwangssterilisierten in einem Kontext genannt werden wollten und die Opferrolle in der Nachkriegszeit zunehmend von den Mitläufern des NS-Regimes besetzt wurde, die sich nach dem Regimewechsel zum Zwecke der Selbstentschuldung zusehends als Opfer des Nationalsozialismus stilisierten.46 Erst im Zuge eines gesellschaftlichen Wandels, eines Generationenwechsels und neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse in der Genetik kam es zu einem allmählichen Sinneswandel. Durch den 1987 gegründeten Bund der »Euthanasie«-Geschädigten und Zwangssterilisierten kam es erstmals zu einer überregionalen Vernetzung der Betroffenen und Unterstützung ihrer Entschädigungsforderungen, was die allmähliche Änderung der Entschädigungspolitik in den Folgejahren ermöglichte.47 Die gesellschaftliche Neubewertung der nationalsozialistischen Vergangenheit, welche in Deutschland in den 1960er und 1970er Jahren einsetzte, führte in den 1980er Jahren zu einem zunehmenden Forschungsinteresse an den NSMedizinverbrechen im Allgemeinen wie auch der Zwangssterilisation im Besonderen, durch die das überkommene Geschichtsbild nach und nach korrigiert wurde. Hinter der umfassenden Erforschung der eugenischen und nationalsozialistischen Ideologien, der Umsetzung der Medizinverbrechen und der Täter, bleibt die Forschung zu den individuellen Geschichten der Zwangssterilisationsopfer bis heute zurück. Bis in die Gegenwart hinein überragen somit die Täter und ihre Ideologien die Opfer und drängen ihr Schicksal in den Hintergrund.48 45 Siehe: Roer, Dorothee: Erinnern, Erzählen, Gehörtwerden. Zeugenschaft und »Historische Wahrheit«, in: Hamm, Margarete (Hrsg.): Lebensunwert zerstörte Leben. Zwangssterilisation und Euthanasie, Frankfurt am Main, 2005, (183–197), S. 192f. 46 Siehe: ibid., S. 195. 47 Zwar hatte es bereits kurz nach Kriegsende einzelne regionale Versuche einer Vernetzung und des Aufbaus von Interessensvertretungen der Zwangssterilisationsopfer gegeben. Allerdings schafften es diese Organisationen nicht sich genug politisches Gehör zu verschaffen und bereits ab dem Jahr 1955 finden sich keine Zeugnisse über die Organisation mehr. Vgl.: Westermann, Stefanie (2010), S. 89–106. 48 Vgl.: ibid., S. 13f; Lang, Hans-Joachim (2004), S. 9.
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Historiographische Vorarbeiten, Begriffsdefinitionen und Methodik
An dieser Stelle setzt in den letzten Jahren eine bereits beschriebene personenzentrierte Geschichtsforschung an, die den Einzelnen in den Mittelpunkt des Untersuchungsinteresses stellt und seine Erinnerungen und Erfahrungen beleuchtet. Im Sinn der Patientengeschichtsschreibung als eine »Medizingeschichte von Unten«49 wird versucht, durch die Einnahme der Perspektive der Patienten einen neuen Blick auf die Ereignisse zu werfen.50 Die Notwendigkeit einer Historiographie der NS-Medizin, welche die Perspektive der Betroffenen einnimmt, ergibt sich nicht zuletzt aus der langen Zeit der gesellschaftlichen Isolation der Opfer und der fehlenden Anerkennung des erlebten Unrechts. Diese fehlende Anerkennung bedeutete für die Betroffenen eine jahrzehntelang fortlaufende Erneuerung ihrer Traumatisierung.51 Im Nationalsozialismus als »minderwertig« abgestempelt, ihrer körperlichen Integrität und Zukunftsperspektive beraubt, waren sie nach 1945 im Kampf um ihre Rehabilitierung und Entschädigung wieder mit den Tätern von einst konfrontiert und erlebten in der Ablehnung ihrer Ansprüche eine erneute Ausgrenzung. Die daraus resultierende Frustration trieb die Opfer in die Isolation und förderte die Tabuisierung. Welche Auswirkungen diese wiederkehrende Unrechtserfahrung und Negierung ihres Rechts auf ein selbstbestimmtes Leben auf die Psyche der Opfer hatte, lässt sich nur schwerlich vorstellen. Wurden die Opfer durch die nationalsozialistische Erbgesundheitsideologie zu Objekten degradiert, so kann eine Aufhebung dieses Urteils nur durch eine Wiederherstellung ihrer Subjektivität und Würde gelingen.52 Die biographische Geschichtsforschung der Zwangssterilisationsopfer bezieht ihre ethische Relevanz53 somit aus dem Versuch der Rekonstruktion der Individualität der Betroffenen, welche ihnen durch die Objektvierung der NSMedizin abgesprochen wurde. Der Versuch, die Zwangssterilisationsopfer in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses zu stellen, kommt für die meisten Betroffenen genauso wie die finanzielle Entschädigung durch die Novellierungen der Entschädigungsgesetz
49 Siehe: Porter, Roy: The Patient’s View. Doing Medical History from Below, in: Theory and Society, (14), 1985, (175–198). 50 Zur Patientengeschichtsschreibung vgl. ebenfalls: Wolff, Eberhard: Perspektiven der Patientengeschichtsschreibung, in: Paul, Norbert W. & Schlich, Thomas (Hrsg.): Medizingeschichte. Aufgaben, Probleme, Perspektiven, Frankfurt am Main, 1998, (311–334). 51 Dorothee Roer benutzt für diese fortlaufende Traumatisierung den Begriff der sequentiellen Traumatisierung, den sie der psychiatrischen Forschung Hans Keilsons zur Kindertraumatisierung entlehnt: Roer, Dorothee (2005), in: Hamm, Margarete (Hrsg.), S. 191f. 52 Vgl.: Fuchs, Petra; Rotzoll, Maike; Müller, Ulrich & Richter, Paul (2007), S. 10f. 53 Vgl.: Hohendorf, Gerrit: Ethische Relevanz historischer Erkenntnis?, in: Rotzoll, Maike, et al. (Hrsg.): Die nationalsozialistische »Euthanasie«-Aktion »T4« und ihre Opfer. Geschichte und ethische Konsequenzen für die Gegenwart, Paderborn, 2010, (331–333).
Zwangssterilisationsforschung im Zeichen der Vergangenheitsbewahrung
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zu spät.54 Die letzten Zeitzeugen der Zwangssterilisationsverbrechen verabschieden sich nach und nach aus der Gegenwart der Bundesrepublik. Hiermit endet auch ihre Erfahrungsgeschichte, da ihnen Nachkommen, die sich ihrer erinnern, aufgrund des erlittenen Unrechts verwehrt blieben.55 Das viel diskutierte Ende der Zeitzeugenschaft wirft die Frage auf, wie es möglich sein kann, diesen individuellen Erfahrungsschatz zu bewahren. Betrachtet man die schwierige Geschichte der politischen Anerkennung der Sterilisationsopfer und ihre bis heute geringe Präsenz im öffentlichen Diskurs scheint es, als sei es noch nicht gelungen, ihre Erinnerungen in das »kollektive Gedächtnis« der deutschen Gesellschaft zu überführen und eine aktive Erinnerungskultur zu etablieren.56 Demgegenüber stehen die zahlreichen Initiativen und Versuche, diese Erinnerungen zu bewahren und in der Öffentlichkeit zu verankern, sei es in Gedenkstätten oder wissenschaftlichen Publikationen. Begünstigt werden diese Versuche auch durch die veränderte Haltung betroffener Angehöriger in der zweiten und dritten Folgegeneration, welche die innerfamiliären Tabus und Stigmatisierungsängste zunehmend in Frage stellen.57 An diese Anstrengungen anknüpfend versucht die vorliegende Arbeit ebenfalls einen Translationsmodus zu finden, um die Erfahrung der Mainzer Zwangssterilisationsopfer zu bewahren und ein kollektives Erinnern zu ermöglichen. Zur Einordnung und zum besseren Verständnis dieser Konzeption werden im Folgenden die Konzepte des »kollektiven Gedächtnisses« und der Erinnerungskultur in Kürze exkursorisch rekapituliert. Der Begriff des »kollektiven Gedächtnis«, in das der Erfahrungsschatz der Sterilisationsopfer überführt werden soll, geht zurück auf Maurice Halbwachs’ Theorie der mémoire collective58, und die Arbeiten von Aby Warburg59 zum europäischen Bildgedächtnis, durch die das Gedächtnis erstmals als Bestandteil oder Ergebnis sozialer Prozesse verstanden wurde. Halbwachs erkannte die identitätsbildende Funktion gruppenbezogener Erinnerungsprozesse und Traditionen, die das Selbstbild einer Gruppe verstärkten und prägen. Er stellte da54 In einer Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke, Dr. Ilja Seifert, Jan Korte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE bezogen zum Datum des 31. 12. 2011 gerade noch 482 Sterilisationsopfer eine monatliche Beihilfe. Diese Zahl dürfte sich bis heute weiter verringert haben. Siehe BT-Drs. 18/8729 vom 27. 02. 2012, S. 4. 55 Vgl. Tümmers, Henning (2011), S. 326. 56 Zur fehlenden Präsenz der Verfolgten des GzVeN und der »Euthanasie«-Toten im »kollektiven Gedächtnis« vgl.: Diner, Dan: Kreisläufe. Nationalsozialismus und Geschichte, Berlin, 1995, S. 62ff. 57 Siehe: Topp, Sascha (2013), S. 58. 58 Halbwachs, Maurice: Les cadres sociaux de la mémoire, Paris, 1925; Halbwachs, Maurice: La mémoire collective, Paris, 1950. 59 Der Nachlass Warburgs wird durch die Warburg Stiftung in Hamburg editiert. Vgl. als Einführung: Warburg, Aby: Die Erneurung der heidnischen Antike. Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Geschichte der europäischen Renaissance, Berlin, Reprint 1998.
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Historiographische Vorarbeiten, Begriffsdefinitionen und Methodik
durch zum ersten Mal die soziale Bedingtheit individueller Erinnerung und deren Form und Funktion für soziale Gruppen fest. In seiner Theorie stehen das individuelle und das kollektive Gedächtnis in einer wechselseitigen Beziehung, in welcher sich das Individuum aus dem Standpunkt der Gruppe heraus erinnert und das Gedächtnis der Gruppe sich in der individuellen Erinnerung verwirklicht und offenbart.60 Warburg ging im Gegensatz zur theoretischen Forschung Halbwachs’ induktiv von kunsthistorischen Material aus und versuchte, die wiederkehrenden Bildformeln der europäischen Geschichte durch ein kollektives Bildgedächtnis zu erklären.61 Anfang der 1990er Jahre erweiterten Jan und Aleida Assmann Halbwachs’ Theorie um den Zusammenhang von kultureller Erinnerung, kollektiver Identitätsbildung und politischer Legitimierung.62 Das individuelle und kommunikative Gedächtnis ist hier von einem kulturellen Gedächtnis abgegrenzt, in das die kollektiven Erinnerungen einer Gruppe einfließen, das sie versucht institutionell und kultiviert wach zu halten und durch das sie ihr Selbstbild und ihre Gruppenidentität stützt und legitimiert.63 Das kulturelle Gedächtnis ist gekennzeichnet durch feste Ausdrucksformen, Medien und Institutionalisierung, durch die seine Gedächtnisinhalte über die Zeitspanne des individuellen kommunikativen Gedächtnisses hinaus bewahrt werden und ist als klare Wertperspektive verbindlich und identitätsstiftend.64 Der Begriff Erinnerungskultur stellt somit den gesellschaftlichen Prozess der Reproduktion des kollektiven Gedächtnisses dar. »Kollektives Gedächtnis ist der Fokus kulturwissenschaftlicher Neugier, Erinnerungskulturen sind ihr Untersuchungsgegenstand.«65 Beiden Theorien liegt die Annahme zugrunde, Erinnerung als Konstrukt zu verstehen, als Bezugnahme auf eine Vergangenheit, die durch den Akt des Erinnerns jedes Mal neuer Interpretation unterworfen ist und in einem ständigen Dialog zur Konstitution der Biographie und des persönlichen Selbstbilds der Gruppe wie auch des Einzelnen beiträgt. Die neurowissenschaftliche und psychologische Gedächtnisforschung begreift den Rückgriff auf die Erinnerung nicht als mechanische Reproduktion und Einbahnstraße, sondern als wechsel60 Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung, Stuttgart/ Weimar, 2011², S. 16–18. 61 Ibid., S. 21–25; sowie auch bei Topp, Sascha (2013), S. 64ff. 62 Exemplarisch: Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München, 1992. 63 Berek, Mathias: Kollektives Gedächtnis und die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Erinnerungskulturen, Wiesbaden, 2009, S. 42–45. 64 Erll, Astrid (2011²), S. 30ff; sowie Topp, Sascha (2013), S. 64ff. 65 Erll, Astrid (2011²), S. 7; Zur Erinnerungskultur vgl. auch die Arbeiten des Gießener Sonderforschungsbereichs Erinnerungskulturen in den Reihen »Formen der Erinnerung« (seit 2000, Hrsg. Reulecke, Jürgen & Neumann, Birgit) und »Medien und kulturelle Erinnerung« (seit 2004, Hrsg. Erll, Astrid & Nünning, Ansgar).
Quellenauswahl, Quellenkritik und die Frage der Namensnennung der Opfer
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seitige Beeinflussung, die dem Einzelnen zur Identitätsbildung, zum Selbstverständnis und zur gesellschaftlichen Verortung dient.66 Auf das Konzept der kulturellen Erinnerung einer Gruppe übertragen formuliert Assmann zwei Formen der Erinnerungskultur, die »kalte« und die »heiße« Erinnerung67, die sich auch in ihrer geschichtspolitischen Form als Positionen im Umgang mit der NS-Vergangenheit in der BRD wiederfinden lassen: 1. Die »kalte« Erinnerung als abgeschlossenes Geschehen, das keine Bedeutung und Relevanz für die Gegenwart mehr hat und durch einen Schlussstrich dem Vergessen und der Archivierung in Geschichtsbüchern überführwortet werden kann. 2. Die »heiße« Erinnerung als Bezugspunkt für die Gegenwart und Zukunft, die Fragen aufwirft und ihren Platz in der Gegenwart und im Selbstbild der Gesellschaft einfordert. Wenn die Geschichtswissenschaft an die Stelle der Zeitzeugen treten, ihre Erinnerung bewahren und lebendig halten will, muss es gelingen, dass ihre Erkenntnisse in Bildungsprozesse einmünden und zum aktiven Zuhören, zum Dialog mit der Gegenwart anregen.68 Sie muss familiäres und öffentliches Gedenken ermöglichen und zur Durchbrechung der Stigmatisierung und Tabuisierung der Opfer beitragen und den Übergang ihrer Erinnerungen in die Erinnerungskultur der Gesellschaft ermöglichen.69
1.4
Quellenauswahl, Quellenkritik und die Frage der Namensnennung der Opfer
Als Quellengrundlage der vorliegenden Studie dienen zwei unterschiedliche Krankenaktenbestände. Für die Untersuchung wurde der bereits erschlossene Krankenaktenbestand der Zwangssterilisationsopfer aus der Hebammenlehranstalt und Mainzer Frauenklinik aus dem Archiv des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Universitätsmedizin Mainz ausgewertet und gezielt nach Anstaltspatientinnen der Heil- und Pflegeanstalten Alzey und dem ehemaligen »Philippshospital« Riedstadt Goddelau gesucht. Als erster Quellenbestand wurden diese beiden Patientenkollektive von Anstaltsinsassinnen einer gesonderten Analyse unterzogen. Es handelte sich dabei ausschließlich um Krankenakten weiblicher Opfer. Für diesen Teil der Untersuchung wurden die im 66 67 68 69
Zur Funktion der Erinnerung siehe: Berek, Mathias (2009), S. 121–150. Assmann, Jan (1992), S. 66–70. Siehe Herrmann, Volker & Schmidt, Heinz (2009), S. 8f. Vgl.: Silberzahn-Jandt, Gudrun (2015), S. 15.
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Historiographische Vorarbeiten, Begriffsdefinitionen und Methodik
Archiv erhaltenen Krankenblätter der Frauenklinik von 1933 bis einschließlich 1945 sowie die in Aktenbüchern mit der Aufschrift »Krankengeschichten« eingebundenen Akten der Hebammenlehranstalt von 1933 bis einschließlich 1944 gesichtet. Die Krankenakten umfassen die pflegerische und ärztliche Dokumentation inklusive des OP-Berichts vom Zeitpunkt der Aufnahme bis zum Entlassungstag über einen durchschnittlichen Zeitraum von ein bis zwei Wochen. Zusätzliche enthalten sie teilweise Egodokumente wie Briefe der Frauen oder ihrer Angehörigen. Aus diesen beiden äußerst heterogenen Kollektiven wurden für die Abfassung der Lebensgeschichten jeweils sieben Frauen ausgewählt und als zweite Quellengrundlage der Arbeit ihre Patientenakten der ehemaligen Heil- und Pflegeanstalten gesichtet. Die Alzeyer Akten befinden sich heute im Landesarchiv Rheinland-Pfalz in Speyer, während die Akten der Anstalt Riedstadt Goddelau im krankenhauseigenen Archiv der Vitos-Klinik »Philippshospital« Riedstadt unter der Leitung des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen archiviert sind. Dieser zweite ausgewertete Quellenbestand enthält die wesentlich umfangreichere Dokumentation über den gesamten Anstaltsaufenthalt der Frauen sowie eventuelle Wiederaufnahmen und erstreckt sich über einen Zeitraum von mehreren Jahren bis Jahrzehnten. In den Akten beider Anstalten befinden sich die Unterlagen des Erbgesundheitsverfahrens, die Krankenakte und Krankengeschichte mit der gesamten ärztlichen und pflegerischen Dokumentation sowie die Personalverwaltungsakte mit der Dokumentation der Abrechnung, der administrativen Vorgänge und der behördlichen Korrespondenz. Für die Lebensgeschichten und ihre qualitative Auswertung wurde somit auf einen wesentlich größeren und umfangreicheren Quellenbestand zurückgegriffen. Eine vollständige Aufarbeitung des Quellenmaterials für beide Kollektive war Aufgrund dieses Umfangs nicht möglich. Die Auswahl der 14 Frauen, deren Lebensgeschichten genauer dargestellt und qualitativ ausgewertet wurden, erfolgte nicht nach einem randomisierten Stichprobenverfahren, sondern es wurde darauf geachtet ein breites Kollektiv zu erfassen, um möglichst viele unterschiedliche Lebensschicksale darzustellen. Auswahlkriterien waren der Zeitpunkt der Sterilisation, das Alter der Frauen sowie ihr Familienstand und die Diagnose, die zur Rechtfertigung ihrer zwangsweisen Unfruchtbarmachung in der Anstalt gestellt wurde. In der qualitativen Analyse und in der Darstellung der Lebensgeschichten ist dadurch der gesamte Zeitraum von 1934 bis 1943, die verschiedenen Altersstrukturen der Frauen, ihre unterschiedlichen Familienstände wie Kinderlosigkeit oder Mutterschaft und alle vier Diagnosen von Schizophrenie über Manisch-Depressives Irresein, Angeborenem Schwachsinn bis hin zur Epilepsie umfangreich abgebildet. Die Auswahl erfolgte anhand dieser Selektionskriterien zufällig aus dem ermittelten Kollektiv und wurde nur durch den Quellenbestand an Patientenakten beeinflusst, da manche Akten nicht mehr auffindbar waren. Die ausgewählten Opfer und ihre Lebensgeschichten sind
Quellenauswahl, Quellenkritik und die Frage der Namensnennung der Opfer
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somit nicht statistisch repräsentativ für die Gesamtheit der betroffenen Anstaltspatientinnen. Sie verdeutlichen aber im Detail die subjektive Wahrnehmung der Anstaltswirklichkeit und der Zwangssterilisation durch die Frauen und bereichern und verfeinern dadurch die quantitativen Daten der kollektivbiographischen Analyse. Für beide Quellenbestände sind spezifische quellenkritische Überlegungen anzustellen, die im Folgenden kurz erläutert werden. Die meisten Einträge der dokumentierenden Ärzte und Pfleger sowie die Briefe der Angehörigen und Anstaltsinsassinnen sind handschriftlich in der damals gängigen Kurrentschrift verfasst und zum Teil sehr unleserlich. Auch wenn bei der Auswertung mit äußerster Präzision und Sorgfalt vorgegangen wurde, kann gerade bei der Erfassung der Namen einzelner Opfer nicht für die endgültige Richtigkeit der Rechtschreibung garantiert werden, da die Namen zum Teil auch innerhalb einer Akte unterschiedlich geschrieben wurden. Zusätzlich zeigte es sich, dass in manchen Akten standardisierte Dokumente fehlen, so dass auch von einer teilweisen Unvollständigkeit des Aktenmaterials ausgegangen werden muss. Ergänzendes Aktenmaterial für die qualitative Analyse der Lebensgeschichten ließ sich weder in der psychiatrischen Klinik der Universitätsklinik Mainz, noch im Universitätsarchiv der Johannes-Gutenberg-Universität finden, so dass für die Abfassung der Lebensgeschichten die Krankenakten der Heil- und Pflegeanstalten und der Bestand im Archiv des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Universitätsklinik Mainz ausgewertet wurden. Als Quellenform lässt sich die Krankenakte mit der Sozialforschung als standardisiertes soziales Konstrukt begreifen, in welche bereits bei der Abfassung verschiedene Parameter einfließen.70 Sie dient einem Zweck, der die Rahmenbedingungen und Limitationsfaktoren der Auswahl der in ihr enthaltenen Dokumente und ihre Form festlegt. Gleichzeitig ist sie Ausdruck eines Selektionsprozesses durch die Ärzte und Pfleger, die festlegen, welche Ereignisse einer Krankengeschichte relevant sind und festgehalten und welche nicht erzählt oder verschwiegen werden. In der ärztlichen und pflegerischen Dokumentation begegnen sich Patient und Arzt nicht auf Augenhöhe, sondern das schiefe Machtverhältnis der psychiatrischen Anstalten der Zeit schreibt sich in die Dokumentation ein. Als Medium dient die Sprache der Lebenswelt Psychiatrie in der sich die Machtverhältnisse der Arzt-Patientenbeziehung ebenso widerspiegeln, wie der ideologische und politische Zeitgeist. In der Dokumentation der Krankengeschichte begegnen uns die Anstaltsinsassinnen nur indirekt als Sub70 Müller, Ulrich: Metamorphosen. Krankenakten als Quellen für Lebensgeschichten, in: Fuchs, Petra, et al. (Hrsg.): »Das Vergessen der Vernichtung ist Teil der Vernichtung selbst«. Lebensgeschichten von Opfern der nationalsozialistischen »Euthanasie«, Göttingen, 2007, (80– 96), S. 82f.
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Historiographische Vorarbeiten, Begriffsdefinitionen und Methodik
jekte, ihre Handlungen, Aussagen und Gedanken sind durch die Ärzte und Pfleger gefiltert und unterliegen den Konstruktionsprozessen der Erinnerung der dokumentierenden Personen.71 Durch diesen Filter scheinen nur Bruchstücke der individuellen Persönlichkeit der Frauen durch. Die Akten sind daher eher repräsentativ für die Arzt-Patientenkommunikation und das ärztliche Selbstverständnis.72 Anders verhält es sich mit den in den Krankenakten erhaltenen Briefen und anderen Egodokumenten wie Zeichnungen, Tagebucheinträgen, Lebensläufen und Gedichten. Hier begegnen uns die Frauen und ihre subjektiven Erfahrungen, Ängste und Wünsche direkter, als in der standardisierten Krankengeschichte. Dennoch sind auch bei deren Analyse einige quellenkritische Überlegungen geboten. Das Schreiben von Briefen war in der Psychiatrie gängige Praxis in der Kommunikation der Patienten mit der ärztlichen Direktion, wie auch mit den Angehörigen und Freunden. In die Analyse der Briefe müssen sowohl der Kontext ihrer Abfassung wie auch der Adressat der Briefe einfließen. In den Briefen an die Ärzte zeigen sich zum Beispiel verschiedene Argumentationsstrategien für Entlassungs- und Therapiewünsche. Die Briefe der Patienten, an Angehörige und Freunde außerhalb der Anstalt, mussten, bevor sie die Anstalt verließen, beim Personal abgegeben werden, wurden von diesem durchgesehen und gegebenenfalls zurückgehalten und in der Krankenakte abgelegt, falls der Inhalt als unerwünscht galt.73 In dieser Prozedur zeigt sich erneut das hierarchische Machtverhältnis zwischen der ärztlichen und pflegerischen Seite und den Anstaltsinsassinnen. In den Krankenakten, welche für die Arbeit ausgewertet wurden, befanden sich zum Teil auch Briefe, welche erst gar nicht geöffnet worden waren, sondern direkt in den Krankenakten abgeheftet wurden. Die in den Akten erhaltenen Briefe an die Angehörigen stellen somit kein umfassendes Bild der Kommunikation der Frauen dar, sondern bilden eine Extreme der zensurwürdigen Schilderungen ab.74 Der Wert der Briefe als Quelle der qualitativen Analyse liegt dennoch vor allem darin, dass die Frauen in ihnen als handelnde Subjekte sichtbar werden. Ihr subjektives Empfinden und das soziale Gefüge, in dem sie sich bewegen, stellen sich in diesen subjektiven, reflektierten und nach außen gewandten Aussagen am 71 Ibid., S. 83–87. 72 Zum allgemeinen Wert von Krankenakten für die Medizingeschichtsschreibung vgl. auch: Radkau, Joachim: Zum historischen Quellenwert von Patientenakten. Erfahrungen aus Recherchen zur Geschichte der Nervosität, in: Meyer, Dietrich & Hey, Bernd (Hrsg.): Akten betreuter Personen als archivische Aufgabe, Neustadt an der Aisch, 1997, (73–101). 73 Thelen, Hedwig: Patientenbriefe als Quelle historischer Forschung. Der Alltag in der Heil- und Pflegeanstalt Wehnen aus der Perspektive von Patienten, in: Arbeitskreis (Hrsg.): NS-»Euthanasie« und lokaler Krankenmord in Oldenburg, Klingenmünster und Sachsen. Erinnerungskultur und Betroffenenperspektive, Münster, 2011, (101–114), S. 103. 74 Ibid., S. 104f.
Quellenauswahl, Quellenkritik und die Frage der Namensnennung der Opfer
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direktesten und deutlichsten dar.75 Die abgehefteten Briefe der Verwandten und Freunde richteten sich vor allem an die ärztliche Leitung und erweitern die Analyse um die Perspektive der Angehörigen und ihre Sicht auf die Anstalt und das Schicksal ihrer Verwandten. Nicht zuletzt muss an dieser Stelle noch einmal auf den sensiblen Inhalt der Krankenakten und die intimen Details der Krankengeschichten eingegangen werden, die nicht umsonst durch die Datenschutzrechte des Einzelnen und das Arztgeheimnis besonders geschützt sind. Ein Streitpunkt innerhalb der Geschichtsforschung zu den NS-Medizinverbrechen stellt dabei insbesondere die Nennung der vollständigen Namen der Opfer dar, die im Gegensatz zu anderen Opfergruppen der nationalsozialistischen Verfolgung noch sehr uneinheitlich gehandhabt wird.76 Im Mittelpunkt dieser Kontroverse steht die Frage, inwieweit eine Namensnennung der Opfer, wie sie von der Geschichtswissenschaft und zahlreichen Initiativen für Gedenkorte und Gedenkdokumentationen gefordert wird, mit dem gängigen Archivrecht in Einklang zu bringen ist. Die beiden sich entgegenstehenden Positionen der Offenlegung der Namen auf der einen Seite und der Anonymisierung der Daten auf der anderen werden hier in Kürze rekapituliert und gegenübergestellt. Die Einsicht der für die vorliegende Arbeit ausgewerteten Krankenakten ist durch die Landesarchivgesetzen der Länder Hessen und Rheinland-Pfalz geregelt. Die Gesetze erlauben die Nutzung und Veröffentlichung personenbezogener Daten 10 Jahre nach dem Tod, bzw. 100 Jahre nach der Geburt der betreffenden Person, was auf alle Frauen, deren Lebensgeschichten in der Arbeit näher vorgestellt werden, zutrifft.77 Eine Einschränkung erfahren diese Benutzungsrechte durch die schutzwürdigen Belange Dritter78, in diesem Fall der Angehörigen, welche von den Gegnern der Namensnennung der Opfer als Argument für eine Anonymisierung der Opferdaten betont werden. Aus diesem Dilemma ergibt sich die ethische Fragestellung, inwieweit die Opfer und ihre Angehörigen durch eine Nennung der Namen stigmatisiert und diskriminiert würden. Brauchen die Hinterbliebenen Schutz vor dem Urteil der Gesellschaft, einen als »erbkrank« 75 Ibid., S. 114. 76 Die israelische Gedenkstätte Yad Vashem sammelt seit 1953 die Namen und Biographien der Opfer des Holocausts und macht diese der Öffentlichkeit zugänglich. Die Problematik der Namensveröffentlichung rückt in letzter Zeit zunehmend in den Mittelpunkt der Diskussion der NS-Medizingeschichtsforschung. Als Überblick empfiehlt sich der Tagungsband des Arbeitskreises zur Erforschung der nationalsozialistischen »Euthanasie« und Zwangssterilisation, Bd. 10: Hohendorf, Gerrit; Raueiser, Stefan; Von Cranach, Michael & Von Tiedemann, Sibylle (Hrsg.): Die »Euthanasie«-Opfer zwischen Stigmatisierung und Anerkennnung. Forschungs- und Austellungsprojekte zu den Verbrechen an psychisch Kranken und die Frage der Namensnennung der Müncher »Euthanasie«-Opfer, Münster, 2014. 77 Landesarchivgesetz Rheinland-Pfalz §3 Art. 3; Hessisches Archivgesetz §13 Art. 2. 78 Landesarchivgesetz Rheinland-Pfalz §3 Art. 2; Hessisches Archivgesetz §14 Art. 2.
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Historiographische Vorarbeiten, Begriffsdefinitionen und Methodik
diagnostizierten Angehörigen zu haben, oder vielmehr eine Stimme, die das Recht auf ein Gedenken an ihren Angehörigen einfordert und eine Chance bietet, die eigene Familiengeschichte aufzuarbeiten und neu zu bewerten? 79 Psychische sowie auch bestimmte genetische Erkrankungen unterliegen auch heute noch einer großen Stigmatisierung.80 Als Argument für das Verbot einer Namensnennung der Opfer gilt den Befürwortern der Anonymisierung daher der Schutz der Angehörigen vor dieser Stigmatisierung. Es könne nicht pauschal davon ausgegangen werden, dass alle Angehörigen und alle Opfer einer Veröffentlichung der Namen zustimmen. Eine Aufarbeitung der Medizinverbrechen des Nationalsozialismus dürfe nicht mit einer Anti-Stigma-Kampagne psychischer Erkrankungen gleichgesetzt werden.81 Persönlichkeitsschutz und Gedenken stehen sich in dieser Sichtweise nicht entgegen, es gebe aber kein allgemeines Recht der Forschung über die Belange der betroffenen Familien hinaus oder gar zu deren Lasten.82 Als Gegenargument führen die Befürworter einer Veröffentlichung der Opfernamen an, dass es über die im Gesetz als schützenswert aufgeführten Belange Dritter sowie über die als »Dritte« angesprochenen Angehörigen keine umfassenden empirischen Erkenntnisse gibt.83 Genauso wenig wie von einer generellen Erlaubnis, könne daher von einem generellen Verbot der Namensveröffentlichung durch die Angehörigen ausgegangen werden. In den Gedenkstätten der »Euthanasie«-Verbrechen erleben die Verantwortlichen zusehends, dass sich Angehörige an sie wenden, um ihre Familiengeschichte zu rekonstruieren. Sie zeigen sich dabei der Veröffentlichung der Namen ihrer Verwandten zum überwiegenden Teil aufgeschlossen.84 Auch die Forschung geht mittlerweile selbstbewusster bei der Veröffentlichung der Opferdaten in eigener Verantwor79 Vgl.: Silberzahn-Jandt, Gudrun (2015), S. 236. 80 Vgl. dazu das Plädoyer des Vetreters der Münchner Psychiatrie-Erfahrenen: Wörishofer, Gottfried: Plädoyers von Angehörigen, Psychiatrieerfahrenen und Medizinern, in: Hohendorf, Gerrit, et al. (Hrsg.): Die »Euthanasie«-Opfer zwischen Stigmatisierung und Anerkennnung. Forschungs- und Austellungsprojekte zu den Verbrechen an psychisch Kranken und die Frage der Namensnennung der Müncher »Euthanasie«-Opfer, Münster, 2014, (175–176), S. 175. 81 Albus, Margot: Plädoyers von Angehörigen, Psychiatrieerfahrenen und Medizinern, in: Hohendorf, Gerrit, et al. (Hrsg.): Die »Euthanasie«-Opfer zwischen Stigmatisierung und Anerkennnung. Forschungs- und Austellungsprojekte zu den Verbrechen an psychisch Kranken und die Frage der Namensnennung der Müncher »Euthanasie«-Opfer, Münster, 2014, (167–169), S. 168f. 82 Oldenhage, Klaus: Persönlichkeitsschutz contra Gedenken?, in: Arbeitskreis (Hrsg.): Psychiatrie im Dritten Reich – Schwerpunkt Hessen, Ulm, 2002, (149–156), S. 156. 83 Lilienthal, Georg: Erfahrungen von Historikern, Gedenkstätten und die Position des Bundesarchivs, in: Hohendorf, Gerrit, et al. (Hrsg.): Die »Euthanasie«-Opfer zwischen Stigmatisierung und Anerkennnung. Forschungs- und Austellungsprojekte zu den Verbrechen an psychisch Kranken und die Frage der Namensnennung der Müncher »Euthanasie«-Opfer, Münster, 2014, (181–188), S. 182ff. 84 Ibid., S. 187.
Quellenauswahl, Quellenkritik und die Frage der Namensnennung der Opfer
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tung vor.85 Die Namen der Opfer der Aktion »T4«, deren Akten das Bundearchiv im Bestand R179 verwahrt, wurden durch Hagai Aviel aus Tel Aviv ins Internet gestellt und waren von diesem Zeitpunkt an der Öffentlichkeit frei zugänglich86, was als Argument dafür angeführt wurde, dass die Rechtsprechung der Gegenwart in diesem Punkt bereits hinterher hinke.87 Seit August 2018 ist dieser Aktenbestand der Öffentlichkeit auch über die Internetseite des Bundesarchives frei einsehbar, wodurch die Position der Befürworter einer Offenlegung der Namen und der Archivbestände eine klare Stärkung erfahren hat. Ausgehend von einem Gutachten des ehemaligen Vizepräsidenten des Berliner Verfassungsgerichtshofs, Ehrhardt Körting, aus dem Jahr 2014, kam das Bundesarchiv zu dem Schluss, dass durch Wiedergabe von Namen, Geburts- und Sterbedaten der Opfer keine schutzwürdigen Belange der Angehörigen verletzt würden. Hiermit folgte die Bundesbehörde einer Mehrheit der Geschichtswissenschaftler, die sich auch in Anbetracht neuer Fragestellungen und zukünftiger Forschungsvorhaben für eine Offenlegung der Opferdaten ausgesprochen hatten. Weitere Mikrostudien mit personenbezogenen Fragestellungen können Die NS-Verbrechen nur im Detail beleuchten, wenn sie von den Namen der Opfer und Täter ausgingen.88 Wie sensibel das Thema aber weiterhin diskutiert wird verdeutlicht eine Replik des Leiters des Stadtarchivs Mönchengladbachs auf die Veröffentlichungspraxis der »Euthanasie«-Opfernamen der Gedenkstätte Hadamar, in welcher der dortige Umgang mit den Angehörigen der Opfer sowie die Veröffentlichung der Opfernamen als die vierte Schande der Vergangenheitsbewältigung bezeichnet wird.89 In diesem Streit muss sich auch die vorliegende Arbeit positionieren. Ihr liegt dabei die Ansicht zu Grunde, dass man durch das Verbot der Namensnennung das Gedenken an die Opfer unterbindet und dadurch ein Stigma fortschreibt, ohne es zu hinterfragen. Der Furcht der Angehörigen vor Diskriminierung liegt die Diagnose »erbkrank« zu Grunde, welche die Opfer nach 1945 weiterhin von einer gesellschaftlichen Teilhabe ausschloss und anscheinend heute noch mit 85 Exemplarisch hier: Aly, Götz: Die Belasteten, Frankfurt am Main, 2013; Umfangreiches Patientendatenmaterial ist des Weiteren auch veröffentlicht in: Immenkötter, Herbert: Menschen aus unserer Mitte. Die Opfer von Zwangssterilisation und Euthanasie im DominikusRingeisen-Werk Ursberg, Augsburg, 2009; Martin, Elke (Hrsg.): Verlegt: Krankenmorde 1940– 41 am Beispiel der Region Stuttgart, Stuttgart, 2011. 86 Silberzahn-Jandt, Gudrun (2015), S. 236. 87 Lilienthal, Georg (2014), in: Hohendorf, Gerrit, et al. (Hrsg.), S. 188. 88 Weindling, Paul: Menschenversuche und »Euthanasie« – das Zitieren von Namen. Historische Aufarbeitung und Gedenken, in: Arbeitskreis (Hrsg.): Den Opfern ihre Namen geben. NS»Euthanasie«-Verbrechen,, historisch-politische Verantwortung und Erinnerungskultur, Münster, 2011, (115–132), S. 130. 89 Kleifeld, Helge: Die vierte Schande! am Beispiel der Euthanasie-Gedenkstätte Hadamar, in: Beiheft 4 (Archivfachliche Beiträge) der stadtgeschichtlichen Reihe des Stadtarchivs Mönchengladbach, Mönchengladbach, Juni 2020, (21–22).
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Historiographische Vorarbeiten, Begriffsdefinitionen und Methodik
Minderwertigkeit assoziiert wird. Der Glaube an die Unfehlbarkeit dieser ärztlichen Diagnose hält somit bis heute an. Ausgeblendet wird dabei der Fakt, dass ein großer Teil der ärztlichen Diagnosen auf einer unzureichenden Untersuchung basierte oder nach heutigen medizinischen Standards schlichtweg unsachgemäß gestellt wurde. Auch der Zusammenhang zwischen psychischen Erkrankungen und geistigen Behinderung im Sinne des GzVeN und einer genetischen familiären Disposition fußt auf der nationalsozialistischen Lehre der Rassenhygiene und lässt sich in dieser Form heute keineswegs aufrechterhalten. Indem man die zu Unrecht zwangssterilisierten Frauen heute, als Opfer nationalsozialistischen und medizinischen Unrechts anerkennt, revidiert man das Urteil »minderwertig« und »erbkrank« und lässt das Individuum in den Vordergrund treten. Man gedenkt einer Person und nicht einer Krankheit, einer Person mit einer individuellen Kranken- und Leidensgeschichte und einem »wenig gnädigen Schicksal«90. Warum ist dieses Gedenken aber an den Namen der Betroffenen gebunden? Der Name macht einen Menschen zu einer individuellen Person, er ist unzertrennlich mit seiner Identität verbunden und beinhaltet Erinnerung und Gefühle.91 Diese Attribute sollen in der Gedenkforschung den Opfern zurückgegeben werden, um dadurch ein Stück ihrer Menschenwürde zur rekonstruieren. Die Würde des Menschen ist über den Tod hinaus unvergänglich. Aus diesem Grund behandeln wir unsere Toten mit Pietät und Respekt und erinnern in einer Grabstätte, einem Gedenkort an ihr Leben.92 Einen Gedenkort für die Mainzer Zwangssterilisationsopfer gibt es in dieser Form noch nicht. Er kann auch für die Hinterbliebenen und Angehörigen der Folgegeneration sinnstiftend sein. Dafür müssen die Opfer aber auch namentlich genannt werden können, um ihre Erinnerung und Lebensgeschichten festzuhalten. Ein Erinnern und Gedenken an eine Ziffer oder ein Pseudonym läuft ins Leere. Die gleichen Überlegungen müssen für das in der Folge verwendete Bildmaterial angestellt werden. Am Anfang einer jeden Biographie dieses Manuskripts steht ein fotographisches Porträt der Frauen, welches im Deckblatt einer jeden Krankenakte der Heil- und Pflegeanstalten eingefügt war und mutmaßlich als standardisiertes Dokument der Krankendokumentation bei Aufnahme angefertigt wurde. Die Bilder zeigen die Frauen in Nahaufnahme im Anstaltskittel ihren Blick direkt in die Kamera gewandt. Auch wenn in diesen Aufnahmen keine direkte physische oder sexualisierte Gewalt reproduziert wird, spiegelt sich in diesen »Fotografien wider Willen«93 dennoch das asymmetrische Machtver90 91 92 93
Wörishofer, Gottfried (2014), in: Hohendorf, Gerrit, et al. (Hrsg.), S. 176. Albus, Margot (2014), in: Hohendorf, Gerrit, et al. (Hrsg.) Lilienthal, Georg (2014), in: Hohendorf, Gerrit, et al. (Hrsg.), S. 185. Brink, Cornelia: Vor aller Augen: Fotografien wider Willen in der Geschichtsschreibung, in: WerkstattGeschichte 47, Essen, 2008, (61–74).
Quellenauswahl, Quellenkritik und die Frage der Namensnennung der Opfer
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hältnis zwischen den Ärzten und Pflegern auf der einen Seite und den Insassinnen auf der anderen Seite wider. »Das Leiden anderer betrachten, heißt, die Abgebildeten, die nicht gefragt werden können, ob sie so gesehen werden wollen, den Blicken Nachgeborener und Unbeteiligter auszusetzen, und es heißt außerdem, sich selbst und die Zuhörer und Betrachter dem Anblick auszusetzen. Kein flüchtiger Blick ist hier möglich, sondern ganz im Gegenteil genaues Hinschauen und das Gespräch über das, was zu sehen ist, ausdrücklich gefordert.«94
Den Überlegungen von Cornelia Brink folgend, muss der Historiker, welcher Bildmaterial reproduziert, dass gegen den Willen der fotografierten Personen angefertigt wurde, dieses Vorgehen zumindest legitimieren und sowohl den Kontext der Fotografien benennen, als auch ihre Wirkung in der heutigen Zeit auf den Betrachter reflektieren. Auf die vorliegende Arbeit übertragen stellt sich hier die Frage: Verfestigt man durch das Abbilden den Blick der Ärzte und Pfleger und überträgt dadurch das schiefe Machtverhältnis zwischen den abgebildeten Frauen und dem Fotografen in die Gegenwart oder ist es umgekehrt möglich den Blickwinkel der Anstaltsinsassinnen einzunehmen und von ihrer Seite der Kamera auf das Geschehen zu schauen. »Wo es um das Betrachten des Leidens anderer geht, sollte man kein »Wir« als selbstverständlich voraussetzen.«95 Eine Garantie für ein empathisches Einfühlen über die Zeit und den dem Betrachter fremden Kontext hinweg ist unmöglich und dennoch wurde sich im vorliegenden Text für die Aufnahme der Fotografien in die Biographien entschieden, da für den Verfasser in den Blicken der Frauen zumindest auch ein kleiner Teil ihrer Persönlichkeit durchscheint. Diese quellenkritischen Überlegungen zu den Krankenakten und dem darin enthaltenen Bildmaterial vorangestellt, wurde in der Arbeit in der Frage der Namensnennung ein Kompromiss gewählt, der in großen Teilen einem 2014 erstellten Rechtsgutachten zur Fragestellung der Namensnennung folgt.96 In den Lebensgeschichten, in denen eine Beschreibung der Krankengeschichte und der Diagnosen unerlässlich ist und in denen tiefere Einblicke in die intimen Details der Innenwelt der Betroffenen gegeben werden, wird der Nachname der Frauen 94 Ibid., S. 66. 95 Sontag, Susan: Das Leiden anderer betrachten, München, 2003, S. 13. 96 Siehe: Rechtsgutachten der Rechtsanwaltsgesellschaft Beiten Burkhardt vom 24. Juni 2014, welches das Kulturreferat der Stadt München anlässlich eines Gedenkbuches für die Münchner »Euthanasie«-Opfer mit der Fragestellung der rechtlichen Umsetzung in Auftrag gegeben hat. Vgl.: Rechtsanwaltsgesellschaft, Beiten Burkhardt: Gutachterliche Stellungnahme, in: Hohendorf, Gerrit, et al. (Hrsg.): Die »Euthanasie«-Opfer zwischen Stigmatisierung und Anerkennnung. Forschungs- und Austellungsprojekte zu den Verbrechen an psychisch Kranken und die Frage der Namensnennung der Müncher »Euthanasie«-Opfer, Münster, 2014, (Anhang 1–17).
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Historiographische Vorarbeiten, Begriffsdefinitionen und Methodik
anonymisiert. Die Namen der Angehörigen und ihre Wohnorte werden in den Lebensgeschichten ebenfalls nicht genannt. Die restlichen Mainzer Zwangssterilisationsopfer werden in einer Gedenktafel im Anhang an den Text mit Namen und Sterilisationsdatum aufgeführt. Um eine ausreichende Anonymisierung im Sinne des Schutzes der Belange der Angehörigen zu gewährleisten, sollen die Frauen faktisch anonymisiert werden, indem weder das genaue Geburts- und Sterbedatum, noch der Geburtsort genannt werden. Zuletzt ist auch den historischen Diagnoseschemata ebenfalls quellenkritisch zu begegnen. Eine Überprüfung der einzelnen Diagnosen aus der heutigen Zeit heraus scheint allein anhand des Krankenaktenmaterials aber unmöglich. Der Namensnennung der Opfer in der Gedenktafel und der detaillierten Beschreibung der 14 Lebens- und Krankengeschichten liegt die Annahme zu Grunde, dass die nationalsozialistische Diagnose »erbkrank« und damit für die Gesellschaft »minderwertig« nach heutigen Maßstäben keine rechtmäßige ärztliche Diagnose darstellt sowie auch das Urteil der Erbgesundheitsgerichte ein Unrechtsurteil war. Angesichts dieses Unrechts werden die beschriebenen Frauen zu Opfern, zu Personen mit einem ungerechten Schicksal, deren Unrecht es klar zu benennen gilt.
1.5
Kollektivbiographie und qualitative Einzelfallstudie. Methodische Überlegungen und Fragestellungen
Die Kulturwissenschaften unterscheiden innerhalb der empirischen Forschung zwischen qualitativen und quantitativen Methoden. Vereinfacht lässt sich die quantitative Forschung als wissenschaftliche Methode beschreiben, die sich zur Überprüfung ihrer Hypothesen der Analyse von repräsentativen Stichproben mit Hilfe von Messungen und statistischen Verfahren bedient. Das Forschungsziel liegt darin anhand der Stichproben auf allgemeingültige Gesetzmäßigkeiten und Kausalzusammenhänge zu schließen.97 Komplementär dazu haben sich in den letzten 30 Jahren eine Vielzahl von qualitativen Methoden mit einem breiten Spektrum verschiedener Forschungsansätze in den Wissenschaftsfeldern der Soziologie, Geschichte und Psychologie etabliert. Vereinfacht dargestellt ist das Forschungsziel der qualitativen Methoden das angemessene Erfassen einzelner Forschungsgegenstände und deren individueller Eigenschaften sowie das Ver97 Zur quantitativen Analyse von Krankenakten vgl. Richter, Paul: Statistik und historische Forschung. Das Beispiel des DFG-Projektes zur wissenschaftlichen Erschließung des Krankenaktenbestandes der »Aktion T4«, in: Rotzoll, Maike, et al. (Hrsg.): Die nationalsozialistische »Euthanasie«-Aktion »T4« und ihre Opfer, Paderborn, 2010, (232–241).
Kollektivbiographie und qualitative Einzelfallstudie
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stehen psychischer, kultureller und sozialer Wirklichkeit.98 Die strikte Dichotomie dieser beiden Methoden ist heute bereits an vielen Stellen überwunden und immer stärker kommen Forschungsansätze auf, die im Sinne eines Methodenmixes quantitative und qualitative Elemente gewinnbringend kombinieren. Als methodische Grundlage der vorliegenden Analyse der Krankenakten bietet sich durch den unterschiedlichen Umfang und die unterschiedliche Vollständigkeit und Überlieferung der Quellenbestände ebenfalls eine Kombination eines quantitativen kollektivbiographischen und eines qualitativen inhaltsanalytischen Forschungsansatzes an. Die im Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin verwahrten Akten der Hebammenlehranstalt Mainz und der städtischen Frauenklinik sind soweit sich ihre Überlieferung nachvollziehen lässt, vollständig erhalten und bilden somit alle Frauen ab, die in Mainz zwangsweise sterilisiert wurden. Die beiden Opferkollektive der Anstaltsinsassinnen aus Riedstadt Goddelau und Alzey sind somit auch vollständig erfasst und dadurch auch einer kollektivbiographischen und quantitativen Bearbeitung zugänglich. Die Akten der psychiatrischen Pflegeanstalten, der aus diesen beiden Kollektiven ausgewählten vierzehn Frauen, wurden gesondert gesichtet. Sie wurden zur Rekonstruktion der Lebensläufe verwendet und zusätzlich einer qualitativen Inhaltsanalyse unterzogen. Die Kombination von quantitativen und qualitativen empirischen Methoden erfasst das Quellenmaterial am dichtesten und führt dazu, dass sich die einzelnen Befunde beider methodologischen Ansätze wechselseitig beleuchten.99 Dabei orientiert sich die Arbeit zum Teil an den methodologischen Vorarbeiten des Gedenkbuches100 des DFG-Forschungsprojekts101 der Universität Heidelberg zu den Krankenakten der Aktion »T4« sowie an einschlägigen Arbeiten zur Akten- und Dokumentenanalyse in der qualitativen Forschung102 und zur Inhaltsanalyse103. Im ersten Teil der Arbeit werden mit einem quantitativen Forschungsansatz auf der Grundlage der kollektivbiographischen Methode die Anstaltsinsassinnen aus Alzey und Riedstadt Goddelau innerhalb des Mainzer Krankenaktenbestands der Zwangssterilisationsopfer erfasst und analysiert. Die Kollektivbio98 Zur qualitativen Forschung vgl.: Mey, Günter & Mruck, Katja (Hrsg.): Qualitative Forschung. Analysen und Diskussionen. 10 Jahre Berliner Methodentreffen, Wiesbaden, 2014. 99 Müller, Ulrich (2007), in: Fuchs, Petra, et al. (Hrsg.), S. 90. 100 Fuchs, Petra; Rotzoll, Maike; Müller, Ulrich & Richter, Paul (2007). 101 Siehe auch: Rotzoll, Maike; Hohendorf, Gerrit; Fuchs, Petra; Richter, Paul; Mundt, Christoph & Eckart, Wolfgang U. (2010). 102 Wolff, Stephan: Text und Schuld. Die Rhetorik der psychiatrischen Gerichtsgutachten, Berlin, 1995; Wolff, Stephan: Dokumenten und Aktenanalyse, in: Flick, Uwe, et al. (Hrsg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch, Reinbeck, 2000, (502–513). 103 Mayring, Philipp: Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken, Weinheim, 2015 (12. Auflage).
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Historiographische Vorarbeiten, Begriffsdefinitionen und Methodik
graphie als Methode der historischen Sozialforschung wurde bereits in den 1930er Jahren entwickelt, erlebte in den 1970er Jahren eine Renaissance und ist heute als Forschungsinstrument fest etabliert.104 Im Mittelpunkt des geschichtswissenschaftlichen Interesses stehen in der Kollektivbiographie einzelne Gruppen von historischen Personen und ihr gesellschaftliches Umfeld. Sie zielt auf eine vergleichende Analyse der individuellen Lebensläufe der einzelnen Kollektivmitglieder anhand von qualitativen oder quantitativen biographischen Daten ab und versucht dadurch, Rückschlüsse auf das Allgemeine, wie auch auf das Untypische innerhalb der Lebensläufe zu ziehen.105 Quellenbasis sind in der Regel personenbezogene Massenquellen, in diesem Fall die Krankenakten der Hebammenlehranstalt und städtischen Frauenklinik.106 Am Anfang der statistischen Untersuchung der Kollektivbiographie steht die Auswahl des Personenkollektivs, das für die vorliegende Studie aus den Anstaltsinsassinnen aus Riedstadt Goddelau und Alzey besteht, welche zur Zwangssterilisation nach Mainz überwiesen wurden. Bei dieser Opfergruppe handelt es sich um ein inhomogenes Kollektiv, das sich aus Personen mit sehr unterschiedlichen Lebensläufen und Merkmalen zusammensetzt. Erst die Psychiatrieerfahrung, das erlebte Unrecht und das daraus resultierende Forschungsinteresse formt diese Gruppe zu einem Kollektiv, dessen Konturen durch die Analyse sichtbar gemacht werden sollen.107 Ziel der Untersuchung ist dabei herauszufinden, ob sich Unterschiede zwischen den in Mainz sterilisierten Psychiatriepatientinnen und der Gesamtheit der in Mainz sterilisierten Frauen finden lassen und gegebenenfalls zu ergründen, welche Ursachen diesen Unterschieden zu Grunde liegen. Zu diesem Zweck stellt die Arbeit folgende Fragen an den Quellenbestand: 1. Wie ist der zeitliche Verlauf der Sterilisationsmaßnahmen an Psychiatrieinsassinnen? 2. Wie ist die Altersverteilung der Betroffenen? 3. Welche Diagnosen wurden zur Rechtfertigung der Sterilisationsmaßnahmen gestellt? 104 Schröder, Wilhelm Heinz: Kollektivbiographie als interdisziplinäre Methode in der Historischen Sozialforschung. Eine persönliche Retrospektive, Köln, 2011, S. 89f.; Generell zur Kollektivbiographischen Methode siehe auch: Harders, Levke & Schweiger, Hannes: Kollektivbiographische Ansätze, in: Klein, Christian (Hrsg.): Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien, Stuttgart/Weimar, 2009, (194–198). 105 Schröder, Wilhelm Heinz (Hrsg.): Lebenslauf und Gesellschaft. Zum Einsatz der kollektiven Biographie in der historischen Sozialforschung, Speyer, 1985, S. 8f. 106 Ibid., S. 12ff. 107 Vgl. hierzu: Fuchs, Petra: Die Opfer als Gruppe: Eine kollektivbiographische Skizze auf der Basis der empirischen Befunde, in: Fuchs, Petra, et al. (Hrsg.): »Das Vergessen der Vernichtung ist Teil der Vernichtung selbst«. Lebensgeschichten von Opfern der nationalsozialistischen »Euthanasie«, Göttingen, 2007, (53–72), S. 54.
Kollektivbiographie und qualitative Einzelfallstudie
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4. Welche Berufe und welche Stellung in der Gesellschaft haben die Frauen? 5. Wie ist der Familienstand? Gibt es bereits Kinder? 6. Wohin wurden die Frauen nach ihrer Unfruchtbarmachung entlassen? Die Parameter, welche innerhalb der Krankenakten für diese Fragestellungen erfasst werden, sind die Diagnose, das Alter bei Sterilisation, der Beruf der Frauen als Marker für den sozialen Status, Familienstand und Geburtsanamnese sowie der Entlassungsort nach der Operation und das Sterilisationsdatum. Im zweiten Teil der Untersuchung werden mit einem qualitativen Forschungsansatz in einer Reihe von Einzelfallstudien aus der Retrospektive das Handeln sowie die Einsichten, Welten und Beziehungen der Anstaltsinsassinnen und im weiteren Fokus auch der Ärzte und Angehörigen untersucht. Ziel ist dabei, die Strukturen der Anstaltswelt offen zu legen und zu hinterfragen. Ergänzend zu der quantitativen Erhebung im ersten Analyseteil setzt die qualitative Inhaltsanalyse der ausgewählten Krankenakten auf eine Mikroanalyse der Lebensläufe einzelner Fälle108 und nicht nur auf die Beschreibung des Opferkollektivs. Ausgehend von der Überzeugung, dass die Einzelfallstudie zur Verfeinerung des Wissens über die kollektivbiographische Konstruktion der Opfer als Gruppe beiträgt, verlagert sich der Schwerpunkt der Betrachtung darauf, individuelle Formen der Verarbeitung und Erfahrungen zu studieren.109 Durch diese Erweiterung der Analyse liefert die Arbeit ein genaueres und plastischeres Bild der Betroffenen. Die harten, überwiegend durch quantitative Analyse erstellten kollektivbiographischen Daten werden durch die subjektive Sichtweise des Einzelnen ergänzt und dadurch eindringlicher. Dieser qualitative Ansatz des Projekts ist somit einer sensibilisierenden Konzeption verpflichtet, einer an die Hermeneutik angelehnten Methodik, die versucht, sich einer vergangenen historischen Realität anzunähern, sich einzufühlen und zu verstehen. Um sich gegen den Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit immun zu machen bedarf ein solcher qualitativer Forschungsansatz einer genau definierten Methodik und eines klar umrissenen Ablaufplans, der den Gütekriterien der Reliabilität standhält.110 Der Methodik der systematischen Inhaltsanalyse von 108 Zur Fallgeschichte und zur dokumentarischen Aussagekraft von Fallstudien vgl. exemplarisch: Düwell, Susanne & Pethes, Nicolas (Hrsg.): Fall, Fallgeschichte, Fallstudie, Frankfurt am Main, 2014; Brändli, Sibylle; Lüthi, Barbara & Spuhler, Georg (Hrsg.): Zum Fall machen, zum Fall werden. Wissensproduktion und Patientenerfahrung in Medizin und Psychiatrie des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main, 2009; Wübben, Yvonne & Zelle, Carsten (Hrsg.): Krankheit schreiben. Aufzeichnungsverfahren in Medizin und Literatur, Göttingen, 2013. 109 Zur qualitativen Biographieforschung vgl. Marotzki, Winfried: Qualitative Biographieforschung, in: Flick, Uwe, et al. (Hrsg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch, Reinbeck, 2000, (175–186). 110 Mayring, Philipp (2015 (12. Auflage)), S. 53.
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Historiographische Vorarbeiten, Begriffsdefinitionen und Methodik
Mayring111 folgend wurde das Ausgangsmaterial der Untersuchung bereits im vorherigen Abschnitt festgelegt und quellenkritisch begutachtet. Ausgehend von dem sprachlichen Material der Krankenakten lassen sich Aussagen über die Verfasser und den Gegenstand der Texte treffen. Untersuchungsgegenstand sind somit erstens die Betroffenen in ihren Briefen und Aussagen in den Anamnesebögen, zweitens die Ärzte und Pfleger und ihre Kommunikation mit Patienten und Angehörigen und drittens die Verwandten der Opfer in ihren Briefen an die Anstalt. Die Studie stellt dazu folgende Fragen an das Material: Opfer – Welche psychischen und sozialen Folgen hatte die Zwangssterilisation für die Frauen? – Welche Widerstandshandlungen gab es? – Gibt es zentrale Themen in der Kommunikation und Interaktion mit anderen Betroffenen, den Verwandten und Freunden, wie auch in der Kommunikation mit der Anstaltsleitung und der Ärzteschaft? Ärzte und Pfleger – Welche persönliche Einstellung gegenüber dem GzVeN lässt sich aus den Einträgen herauslesen? Gab es Widerstand, Verweigerungen? – Welche Kriterien wurden für die Diagnose der psychiatrischen Erkrankung und für den Beweis der Erblichkeit herangezogen? – Gibt es Hinweise für Selektionskriterien bei der Überweisung zur Unfruchtbarmachung und welcher Art waren diese? Angehörige – Welche Haltung hatten die Angehörigen gegenüber dem GzVeN? – Wie verhielten sie sich gegenüber der Anstalt? Gab es Formen von Widerstand? Anhand dieser Fragestellungen werden die Krankenakten und die daraus entstandenen Lebensgeschichten analysiert. Unter Zuhilfenahme weiterer quantitativer Methoden wie der Häufigkeitsanalyse wird eine Zusammenfassung und inhaltliche Strukturierung nach induktiven Kategorien vorgenommen, die im Ergebnissteil zusammen mit den Erkenntnissen der kollektivbiographischen Erfassung interpretiert wird. Im Mittelpunkt der Arbeit stehen die aus den Krankenakten rekonstruierten Lebensgeschichten der Opfer. Als biographische Gedenkdokumentation sollen die Texte die Opfer als Menschen zeigen und ihre Erfahrungen und ihr Unrecht 111 Die Techniken und der Ablaufplan, welcher der Inhaltsanalyse zu Grunde liegen sind beschrieben bei: ibid., S. 50–114.
Kollektivbiographie und qualitative Einzelfallstudie
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wahrnehmbar und erfahrbar machen. Dieses Wahrnehmen der Betroffenen aus der historischen Distanz heraus stößt nicht allein durch das beschränkte Quellenmaterial der Krankenakten an Grenzen. Es können daher nur Persönlichkeitsteile, welche aus den Akten hervorscheinen, gesammelt und zu individuellen Lebensgeschichten zusammengefasst werden. Ziel dieser Rekonstruktion der einzelnen Biographien ist, wie bereits beschrieben, die individuelle Würdigung der Opfer, auf der theoretischen Basis der Überlegungen zum biographischen Schreiben als Beitrag zur kollektiven Erinnerungskultur.112 Als mediale Repräsentation des historischen Gegenstands der Lebenswirklichkeiten der Zwangsterilisationsopfer basiert die biographische Aneignung der Vergangenheit auf den Verfahren der Selektion und Konstruktion.113 Die subjektive Selektion des biographischen Quellenmaterials durch den Verfasser wird dabei als ein der Erinnerung wie auch der Geschichtsschreibung immanenter Vorgang betrachtet. Eine Auswertung des Materials, welche über die rein quantitative Erfassung von Patientendaten hinausgeht, ist immer auch durch die Subjektivität des Verfassers geprägt. Um die ausgewählten biographischen Elemente in einem Prosatext zusammenzufassen, werden sie bei der Arbeit zwangsweise verschiedenen Konstruktionsprozessen unterworfen, welche aber die Authentizität der Lebensgeschichten nicht berühren oder verfälschen sollen. Obwohl Produkt einer historiographischen Redaktion, sind die Lebensgeschichten nicht als fiktionaler Text zu lesen.114 Hierzu bleibt die Frage der Darstellung oder: »Wie verfasse ich einen Text, der von meinen Lesern als an sie gerichtet empfunden und verstanden werden kann?«115 Einen Text, der historische Realität über die hermeneutische Distanz in die Gegenwart transportiert und dabei auch den Opfern gerecht wird. Da Beschreibungen ihren Gegenstand nie »vollständig« erfassen oder wiedergeben können, plädiert Stephan Wolff in seinem Arbeitstext über Dokumenten- und Aktenanalyse dafür, den elliptischen Charakter der Quellen wie auch der Beschreibung an sich nicht als Fehler, sondern als Vorteil für die Textgestaltung zu interpretieren. So wurde in der Darstellung der Erfahrungen der Anstaltsinsassinnen, soweit möglich und verständlich, überwiegend versucht, die Quellen in einen Dialog miteinander treten zu lassen und die Kontextinformationen auf das Nötigste zu beschränken. Die Interpretation der Quellen ist dabei weder ganz dem Leser überlassen, noch der Text hermetisch gegen Interpretation von außen 112 Erll, Astrid: Biographie und Gedächtnis, in: Klein, Christian (Hrsg.): Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien, Stuttgart, 2009, (71–78). 113 Vgl. Ibid. 114 Zur redaktionellen Arbeit an Fallgeschichten vgl. Schaffner, Martin: Fall und Fallgeschichte, in: Nellen, Stefan, et al. (Hrsg.): Paranoia City. Der Fall Ernst B. Selbstzeugnis und Akten aus der Psychiatrie um 1900, Basel, 2007, (11–21). 115 Wolff, Stephan (2000), in: Flick, Uwe, et al. (Hrsg.), S. 510.
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Historiographische Vorarbeiten, Begriffsdefinitionen und Methodik
abgeriegelt. Vielmehr wurde versucht durch eine geschickte Wahl der Kategorisierungen, Kontraste und Reihungen die Quellen und Egodokumente in den Vordergrund zu stellen. Die Opfer sollen in ihrer Sprache zu Wort kommen und dabei verstörendes Verhalten genauso benannt, wie auch gesunde Persönlichkeitsanteile aufgezeigt werden. Dabei wurde versucht, die Sprache der Lebensgeschichten möglichst neutral, klar und nicht auf Affekte abzielend zu halten. Medizinische Termini der Zeit wurden mit Absicht auch in ihrer diffamierenden Form beibehalten, um ein klares Bild der medizinischen Praxis und Haltung der NS-Zeit abzubilden. Einzig die bürokratischen Termini Patientin, Sterilisandin und Zwangssterilisierte wurden durch die Begriffe Opfer, Betroffene und Anstaltsinsassin ersetzt, um das von den Frauen erlittene Unrecht aufzuzeigen und zu benennen. Die Lebensgeschichten erstrecken sich von den ersten in den Krankenakten dokumentierten Informationen über den gesamten Zeitraum des Anstaltsaufenthalts und der Sterilisation bis zu den letzten Einträgen der Krankenakten und zeichnen dadurch ein umfassendes Bild der Anstaltswirklichkeit und der Lebensbedingung der Betroffenen. Abhängig vom Interessensschwerpunkt des Lesers können sie als wissenschaftliches, biographisches oder propädeutische Zeugnis gelesen werden.
2.
Der historische Kontext
2.1
Sozialdarwinismus, Eugenik und Rassenhygiene als Grundlage der nationalsozialistischen Programmatik
Um die Genese des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses nachzuvollziehen bedarf es eines Rückgriffs auf die Entstehung Sozialdarwinistischer Theorien, der Eugenik und der Rassenhygiene, die für die spätere Programmatik der Nationalsozialisten die wissenschaftliche und theoretische Grundlage bildeten.116 In seiner 1859 veröffentlichten Abhandlung »On the origin of species by means of natural selection« definierte Charles Darwin die grundlegenden Prinzipien der Abstammungslehre, welche in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wissenschaftlich wie auch populärwissenschaftlich breit rezipiert wurden. Im Zuge der Weiterentwicklung der Naturwissenschaften kamen in diesem Zeitraum zunehmend Fragen nach den Zusammenhängen zwischen biologischen Phänomenen und Gesetzmäßigkeiten und den neuen gesellschaftlichen Lebensbedingungen auf. Die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse wurden auf Staat und Gesellschaft übertragen und diese analog zum biologischen Organismus gesetzt. Diese Biologisierung des Sozialen fand ihre deutlichste Ausprägung in der Lehre des Sozialdarwinismus, welche Darwins evolutionäre Triebfedern – »struggle for life«, »survival oft the fittest« und »natural selection« – auf den Menschen übertrug.117 Bedeutendster Propagator der sozialdarwinistischen Lehre im deutschsprachigen Raum war der Zoologe und Philosoph Ernst Haeckel. Das Grundanliegen seiner Theorie war die Ablehnung jeglicher sozialer
116 Die Geschichte des Sozialdarwinismus, der Rassenhygiene und der Weg in den Nationalsozialismus anhand der Personengeschichten der historischen Akteure ist ausführlich dargestellt in: Becker, Peter Emil: Zur Geschichte der Rassenhygiene. Wege ins Dritte Reich, Stuttgart, 1988; Becker, Peter Emil: Sozialdarwinismus, Rassismus, Antisemitismus und Völkischer Gedanke. Wege ins Dritte Reich Teil II, Stuttgart, 1990. 117 Eckart, Wolfgang U.: Medizin in der NS-Diktatur. Ideologie, Praxis, Folgen, Köln u. a., 2012, S. 23f.
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Der historische Kontext
Fürsorge und medizinischer Unterstützung der Schwachen, da sie die Prinzipien der natürlichen Auslese im Kampf ums Überleben außer Kraft setzten.118 Als Begründer der Eugenik als wissenschaftliche Strömung kann Francis Galton gelten. Er prägte den Begriff Eugenik als praktische Anwendung des Sozialdarwinismus und beschrieb sie als eine Wissenschaft, die sich mit allen Einflüssen beschäftigt, welche die angeborenen Eigenschaften einer Rasse verbessern und diese Eigenschaften zum größtmöglichen Vorteil zur Entfaltung bringen. Diese biopolitische Definition stand in der weiteren wissenschaftlichen Diskussion für eine positive Eugenik, als einen fördernden bevölkerungspolitischen Ansatz mit dem Ziel, durch beispielsweise Ehestandsdarlehen und Kinderbeihilfe die positiven Erbanlagen innerhalb einer Gesellschaft zu erhalten und zu vermehren. Bald wurden unter den Anhängern der eugenischen Lehre aber auch Theorien einer negativen Eugenik propagiert, welche auf die Verhinderung der Weitergabe negativer Erbanlagen abzielten.119 Wegbereitend für die Verbreitung der eugenischen Lehre als Grundlage der Bevölkerungspolitik waren verschiedene gesellschaftliche und ökonomische Neuerung des ausklingenden 19. Jahrhunderts. Die zunehmende Industrialisierung und die damit verbundene Urbanisierung und Bevölkerungsballung in den europäischen Großstädten warfen neue politische und gesellschaftliche Fragen nach den biologischen Wachstumsgrenzen der Gesellschaft und des individuellen Gesellschaftswerts des Einzelnen auf.120 Der Zeitgeist war einerseits von Fortschrittsglauben geprägt, andererseits herrschte auch ein weit verbreiteter Kulturpessimismus, der sich in zahlreichen Entartungs-, Dekadenz- und Degenerationskonzepten niederschlug. Die Entwicklung des Menschen war durch die Sozialdarwinistischen Theorien erstmals nicht gottgegeben und abgeschlossen, sondern rückte in den Bereich des Machbaren und vom Menschen selbst Veränderbaren. Gleichzeitig wurde diese Entwicklung aber als Rückschritt wahrgenommen. Es herrschte Erklärungsbedarf für den gefühlten zivilisatorischen Niedergang und die sinkenden Geburtenzahlen in den Zivilisationsgesellschaften, der sich in zwei Erklärungsmodellen niederschlug, die auch für die spätere Verbreitung und Durchsetzung der Rassenhygienischen Maßnahmen von Bedeutung waren:121 1. Die »Gegenauslese« (Kontraselektion): Durch die Lebenserleichterung in der modernen Zivilisation sei die Evolution ausgeschaltet. Gleichzeitig gebe es mehr und mehr »Erbkranke« durch stärkere Verbreitung von Keimgiften wie Alkohol und Nikotin in den städtischen Ballungsräumen.
118 119 120 121
Link, Günther (1999), S. 8f. Siehe: Hinz-Wessels, Annette (2004), S. 17ff. Eckart, Wolfgang U. (2012), S. 21. Vgl.: Link, Günther (1999), S 6f.
Sozialdarwinismus, Eugenik und Rassenhygiene
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2. Die »Differenzierte Geburtenrate« der Mittel- und Oberschicht gegenüber der Unterschicht: Es bestehe eine absichtliche Fruchtbarkeitsbeschränkung durch die »Erbtüchtigen« bei gleichzeitiger ungehemmter Fortpflanzung der »Entarteten und Minderwertigen«, was zu einem Aussterben der »Erbgesunden« führe. Die Eugenik galt vielen als logische Antwort auf die Probleme der Bevölkerungsentwicklung aufgrund der »Gegenauslese« und der »differenzierte Geburtenrate«. Im Deutschen Kaiserreich hielt sie bald unter dem Begriff Rassenhygiene durch die Mediziner Wilhelm Schallmayer und die Hauptschrift des Mediziners Alfred Ploetz, »Die Tüchtigkeit unserer Rasse und der Schutz der Schwachen«, Einzug in den wissenschaftlichen Diskurs. Dieser wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor allem von Medizinern geprägt, die durch persönliche und institutionelle Verbindungen zunehmend unter den Einfluss völkischnationaler Gruppierungen gerieten. Die gleichzeitige Wiederentdeckung der Mendelschen Vererbungslehre und eine unklare Abgrenzung zur rassenanthropologischen Forschung, die in den Lehren von Joseph Arthur Comte de Gobineau die Ungleichheit der verschiedenen Rassen propagierte, führte bald zur einseitigen Interpretation der Rassenhygiene als ein bevölkerungspolitisches Instrument zum Erhalt der »höherwertigen« deutschen Rasse.122 In der Folge kam es durch eine zunehmende Institutionalisierung der genetischen und rassenhygienischen Forschung, zu einer Verfestigung und Etablierung der Eugenik in der Wissenschaft, die auch eine weitere Durchdringung der Gesellschaft und der Politik mit eugenischem Gedankengut bedingte.123 Die von völkisch-national geprägten Rassenhygienikern propagierte Vorstellung der unterschiedlichen Wertigkeit der menschlichen Rassen wurde im Verlauf neben dem Antisemitismus ein zentrales Element der nationalsozialistischen Ideologie. In seiner 1924 in München verfassten Programmschrift »Mein Kampf« entwarf Adolf Hitler das Konzept eines Völkischen Staats, der die Rasse in den Mittelpunkt des Lebens zu setzen habe, das Kind zum höchsten Gut erklärte und dafür Sorge zu tragen habe, dass nur gesunde Menschen Kinder bekämen. Er griff dabei explizit auch negative eugenische Theorien auf und forderte, die nationalsozialistische Erbpolitik vorauszeichnend, »Erbuntüchtige« 122 Vgl. hierzu: Weingart, Peter; Kroll, Jürgen & Bayertz, Kurt: Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, Frankfurt am Main, 1988, S. 91–103. 123 1905 wurde die deutsche Gesellschaft für Rassenhygiene gegründet, 1923 die erste Professur für Rassenhygiene in München mit dem Rassenhygieniker Fritz Lenz (1887–1976) besetzt und 1927 das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik durch Eugen Fischer (1874–1967) und Hermann Muckermannn (1877–1962) in Berlin gegründet. Siehe hierzu. Hinz-Wessels, Annette (2004) S. 20f; Weingart, Peter; Kroll, Jürgen & Bayertz, Kurt (1988), S. 188–246; Silberzahn-Jandt, Gudrun (2015), S. 35.
50
Der historische Kontext
zeugungsunfähig zu erklären und dies auch durchzusetzen.124 Diese Vorgaben sollten nach der nationalsozialistischen Machtergreifung schnell und effizient umgesetzt werden.
2.2
Die Sterilisationsdebatte bis 1933 und das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses
Im Zuge des Massensterbens des ersten Weltkriegs und den verheerenden wirtschaftlichen Folgen der Weltwirtschaftskrise 1929 spitzte sich die bevölkerungspolitische Diskussion um die Umsetzung negativer eugenischer Maßnahmen in der Weimarer Republik weiter zu. Die rassenhygienischen Theorien der »Gegenauslese«, der »Differenzierten Geburtenrate« und damit der Entartung des deutschen Volkes gewannen in weiteren Teilen der Bevölkerung an Popularität, schienen sie doch eine vermeintliche Erklärung für die allgemein spürbaren finanziellen und sozialen Missstände zu geben.125 War bis 1914 die Legalisierung eugenischer Sterilisation nur mit größter Zurückhaltung gefordert worden, so sahen die Vertreter einer invasiven Bevölkerungspolitik in der Weimarer Republik die Möglichkeit, die eugenische Sterilisation zur Aussonderung »minderwertigen Erbguts« zu legalisieren.126 International war die Umsetzung eugenischer Maßnahmen zu diesem Zeitpunkt bereits weiter vorangeschritten. So war 1907 im US-Bundesstaat Indiana ein Gesetz zur Sterilisation von Heiminsassen mit kognitiven Einschränkungen und Gewohnheits- und Sexualstraftätern eingeführt worden. Ähnliche Gesetze verabschiedeten bis 1929 auch Teile der Schweiz und Dänemark.127 Auch in Deutschland wurde durch die Deutsche Gesellschaft für Rassenhygiene ein Gesetz zur Regelung der Unfruchtbarmachung krankhaft Veranlagter gefordert. Als Katalysatoren der eugenischen Debatte wirkten dabei auch die Fortschritte der genetischen Forschung. 1932 setzte schließlich der Preußische Landgesundheitsrat eine Kommission zur Erarbeitung eines Sterilisationsgesetzes ein, welches als Vorlage für eine reichseinheitliche Lösung fungieren sollte.128 Der erarbeitete Gesetzesentwurf, der eine frei-
124 125 126 127
Siehe: Link, Günther (1999), S. 11f; Bock, Gisela (1986), S. 23–27. Ruckert, Frederic (2012), S. 23. Silberzahn-Jandt, Gudrun (2015), S. 36; Müller, Joachim (1985), S. 52ff. Zur internationalen Sterilisationspolitik vgl. Seidler, Horst & Rett, Andreas: Rassenhygiene. Ein Weg in den Nationalsozialismus, Wien, 1988, S. 93–114; Schwarz, Michael: Eugenik und Euthanasie. Die internationale Debatte und Praxis bis 1933/45, in: Henke, Klaus-Dietmar (Hrsg.): Tödliche Medizin im Nationalsozialismus. Von der Rassenhygiene zum Massenmord, Köln, 2008, , S. 65–83; Benzenhöfer, Udo (2006), S. 17ff; Müller, Joachim (1985), S. 33– 45. 128 Hinz-Wessels, Annette (2004), S. 26; Ruckert, Frederic (2012), S. 24f.
Die Sterilisationsdebatte bis 1933
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willige Sterilisation unter strenger Indikationsstellung vorsah, konnte aber in den innenpolitischen Wirren des Endes der Weimarer Republik nicht mehr verabschiedet werden. Dennoch war durch diese Gesetzesinitiative der Weg für die rassenhygienischen Zwangsmaßnahmen der nationalsozialistischen Regierung bereitet und eine Vorlage für das spätere nationalsozialistische Sterilisationsgesetz geschaffen.129 Mit der Machtübernahme Hitlers 1933 änderten sich auch die Machtverhältnisse im eugenischen Diskurs. Hatten sich bis zur nationalsozialistischen Machtergreifung noch gemäßigte Stimmen innerhalb der wissenschaftlichen Debatte gehalten, setzte nun endgültig ein Rechtsruck in der rassenhygienischen Bewegung ein, der dem nationalsozialistischen und völkischen Flügel zu Dominanz verhalf. Die Ärzte, Juristen, Biologen, Anthropologen und Politiker innerhalb der eugenischen Bewegung begrüßten entweder den eigenen Machtzuwachs und das neue politische Gewicht ihrer Programmatik und stellten sich in den Dienst des Nationalsozialismus oder verloren gänzlich an Bedeutung. Der Begriff Rassenhygiene wurde in der Folge ab 1933 durch den Begriff der Rassenund Erbpflege ersetzt und somit um den Schutz der »Deutschen Rasse« vor »Entartung« und »Rassendurchmischung« erweitert.130 Die Umsetzung der nationalsozialistischen Erbgesundheitspolitik stellte eine der ersten gesetzlichen Maßnahmen der neuen Regierung dar. Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (GzVeN) wurde im Frühjahr 1933 durch den Rassenhygieniker und Psychiater Ernst Rüdin, den Referenten für Rassenpflege im Innenministerium Arthur Gütt und den Juristen Falk Ruttke auf der Vorlage des preußischen Sterilisationsgesetzes von 1932 ausgearbeitet und am 14. Juli 1933 im Reichskabinett gegen den Widerstand des Reichskanzlers Franz von Papen verabschiedet. Im Gegensatz zum preußischen Vorentwurf war im GzVeN explizit auch eine Sterilisation unter Zwang vorgesehen.131 Es trat zum 1. Januar 1934 in Kraft. Nach dem Gesetz war die Sterilisation eines Menschen möglich, »wenn nach den Erfahrungen der ärztlichen Wissenschaft mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, daß seine Nachkommen an schweren körperlichen oder geistigen Erbschäden leiden werden.«132 Die Formulierung »mit großer Wahrscheinlichkeit« spiegelt hier das Dilemma des wissenschaftlichen Erkenntnisstands der Vererbungslehre wider, die für die meisten Krankheiten zu diesem Zeitpunkt keine sichere Vererbbarkeit nachweisen konnte und auf das Mittel der »empi129 Zum preußischen Sterilisationsgesetzentwurf siehe: Müller, Joachim (1985), S. 93–105; Benzenhöfer, Udo (2006), S. 32–42. 130 Vgl. hierzu: Link, Günther (1999), S. 12f. 131 Schmuhl, Hans-Walter (1987), S. 154f; Benzenhöfer, Udo (2006), S. 72ff; Müller, Joachim (1985) S. 105f. 132 Reichsgesetzblatt I, 1933, S. 529ff, §1, Artikel 1.
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Der historische Kontext
rischen Erbprognose« zurückgreifen musste. Die Erblichkeit einer Erkrankung konnte dieser Methodik nach einzig durch die Familienanamnese und die Statistik belegt werden.133 Die Sterilisation war laut § 1 des Gesetzes für folgende Diagnosen vorgesehen: 1. Angeborener Schwachsinn 2. Schizophrenie 3. Manisch-Depressives Irresein 4. Erbliche Fallsucht (Epilepsie) 5. Erblicher Veitstanz (Chorea Huntington) 6. Erbliche Blindheit 7. Erbliche Taubheit 8. Schwere erbliche körperliche Mißbildung Zusätzlich konnte unfruchtbar gemacht werden, wer an schwerem Alkoholismus litt.134 Antragsberechtig waren der Betroffene selbst oder sein gesetzlicher Vertreter, der zuständige Amtsarzt sowie der Anstaltsleiter einer Heil- und Pflegeanstalt. Ein Antrag war durch ein schriftliches ärztliches Gutachten zu ergänzen, welches die Gründe der Unfruchtbarmachung benennen musste.135 Die Entscheidung über einen Antrag zur Unfruchtbarmachung trafen die neu geschaffenen Erbgesundheitsgerichte, die auf allen lokalen Ebenen den Amtsgerichten angegliedert wurden. Das Gericht wurde mit einem vorsitzenden Amtsrichter, einem Amtsarzt und einem anderweitig approbiertem, mit der Erbgesundheitslehre »besonders vertrautem« Arzt besetzt. De facto entschied aber das Parteibuch der NSDAP über die Berufung zum Amtsarzt der lokalen Gesundheitsämter und eine Erläuterung, welchen Qualifikationsnachweis der besonderen Vertrautheit mit der Erblehre ein Arzt für die Berufung zum Richter zu erbringen hatte, wurde nicht gegeben.136 Festgehalten wurde lediglich bei der Auswahl der Ärzte im Richterkollegium besonders darauf zu achten, »daß diese Ärzte auf dem Boden der nationalsozialistischen Weltanschauung stehen«137. Die Beschlussfindung hatte in einem nichtöffentlichen Verfahren mit Stimmenmehrheit zu erfolgen. Zur notwendigen Ermittlung konnte das Gericht Zeugen und Sachverständige vernehmen, den Betroffenen persönlich notfalls auch unter Zwang anhören und eine ärztliche Untersuchung des Betroffenen 133 134 135 136
Schmuhl, Hans-Walter (1987), S. 155. Reichsgesetzblatt I, 1933, S. 529ff, §1, Artikel 2 und 3. Reichsgesetzblatt I, 1933, S. 529ff, § 2, § 3 und § 4. Zu der Zusammensetzung der Erbgesundheitsgerichte vgl. exemplarisch: Einhaus, Carola (2006), S. 30f; Doetz, Susanne (2011), S. 101–111. 137 Gütt, Arthur; Rüdin Ernst & Ruttke, Falk: Zur Verhütung erbkranken Nachwuchses. Gesetz und Erläuterungen, München, 2. Auflage, 1936, S. 224.
Die Sterilisationsdebatte bis 1933
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anordnen.138 Der Beschluss musste dann dem Betroffenen, dem Antragssteller und dem zuständigen Amtsarzt schriftlich zugestellt werden und war bis zu einem Monat durch Widerspruch beim Erbgesundheitsobergericht anfechtbar. Dieses war analog zum Erbgesundheitsgericht einem Landesobergericht angegliedert, setzte sich aus einem Oberlandesrichter und zwei Ärzten zusammen und entschied in letzter Instanz über den Antrag.139 Nach dem der endgültige Beschluss der Unfruchtbarmachung rechtskräftig geworden war, bestimmten die zuständigen Landesbeamten eine Krankenanstalt für den notwendigen chirurgischen Eingriff. Dieser war ausdrücklich auch gegen den Willen des Betroffenen zulässig und konnte durch den zuständigen Amtsarzt mit Polizeigewalt erzwungen werden.140 Am 5. Dezember 1933, also kurz vor Inkrafttreten des Gesetzes, erging eine Ausführungsverordnung, welche die Gesetzesvorschriften weiter konkretisierte. So sollten keine Unfruchtbarkeitsanträge für die dauerhaften Insassen von Heilund Pflegeanstalten gestellt werden. Für ihre Dauerpatienten hatte die Anstalt zu gewährleisten, dass eine Fortpflanzung unterblieb. Ein für »erbkrank« befundener Anstaltspatient dürfte aber auch nicht aus der Anstalt beurlaubt oder entlassen werden, bevor ein Erbgesundheitsgericht über seinen Unfruchtbarkeitsantrag entschieden hatte.141 Dies schützte die Anstaltspatienten zwar scheinbar vor der Unfruchtbarmachung, machte aber auch ihre Entlassung ohne einen Erbgesundheitsgerichtsbeschluss faktisch unmöglich. Des Weiteren legte die Verordnung eine Anzeigepflicht aller als »erbkrank« im Sinne des Gesetzes verdächtigen Personen beim Amtsarzt fest, die für alle approbierten Ärzte und Personen, die mit der Heilbehandlung, Untersuchung oder Beratung von Kranken befasst waren, unter der Androhung einer Geldstrafe zu befolgen war.142 So sollte möglichst schnell ein Großteil der »Erbkranken« erfasst und den Erbgesundheitsgerichten zugeführt werden. Um den Anschein einer Maßnahme im Sinne der Betroffenen zu wahren hatten die Ärzte laut Verordnung darauf hinzuwirken, dass der Antrag möglichst von den Betroffenen selbst gestellt wurde.143 Bei einem Eigenantrag sollte der Betroffene voll geschäftsfähig sein, oder durch einen gesetzlichen Vormund vertreten werden. In der Realität änderte aber eine illegitime Antragsstellung nicht die Rechtmäßigkeit der Gerichtsbeschlüsse. In den Erläuterungen war hierzu festgehalten:
138 139 140 141 142 143
Reichsgesetzblatt I, 1933, S. 529ff, § 6, § 7 und § 8. Reichsgesetzblatt I, 1933, S. 529ff, § 9 und § 10. Reichsgesetzblatt I, 1933, S. 529ff, § 11 und § 12. Reichsgesetzblatt I, 1933, S. 1021ff, Artikel 1. Reichsgesetzblatt I, 1933, S. 1201ff, Artikel 3 und 9. Gütt, Arthur; Rüdin Ernst & Ruttke, Falk (1936), S. 205.
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Der historische Kontext
»Ein durchgeführtes Verfahren hat seine volle rechtliche Wirksamkeit auch dann, wenn ein Antrag überhaupt nicht gestellt sein sollte. Ergibt sich also beispielsweise nach Abschluss des Verfahrens, dass der Unfruchtbarzumachende, der den Antrag selbst gestellt hat, geschäftsunfähig war und deshalb eine rechtsverbindliche Willenserklärung gar nicht abgeben konnte, oder dass ein Nichtberechtigter den Antrag gestellt hat, so ist der ergangene Beschluss doch rechtswirksam. Dies ergibt sich daraus, dass das Verfahren (…) nicht den Schutz des einzelnen, sondern den Schutz der Allgemeinheit bezweckt.«144
Diese Regelung formte das Eigenantragsrecht zu einem Instrument der ärztlichen Willkür und legitimierte explizit dessen gesetzlichen Missbrauch.145 In den Folgejahren wurde der Gesetzestext mehrfach verschärft und an die notwendigen Gegebenheiten angepasst, die sich bei seiner Durchsetzung in der Zwischenzeit ergeben hatten. So wurde mit dem Gesetz zur Änderung des GzVeN vom 26. Juni 1935 die Einspruchsfrist der Betroffenen auf 14 Tage gekürzt und die Unfruchtbarmachung um die zwangsweise Schwangerschaftsunterbrechung bei rechtskräftigem Urteil ergänzt.146 Eine weitere wegweisende Änderung brachte die fünfte Ausführungsverordnung des GzVeN vom 25. Februar 1936, welche neben der operativen Sterilisation für Frauen auch die Unfruchtbarmachung durch Röntgen- oder Radiumbestrahlung zuließ, wenn die Betroffene über 38 Jahre alt war und bei Operation eine Gefahr für Gesundheit oder Leben bestand.147 Für die Begründung des Gesetzes bezogen sich die Autoren auf die bereits bekannten und als gesichert geltenden Erkenntnisse der rassenhygienischen Lehre zur Erklärung des Geburtenrückgangs: »Während die gesunde deutsche Familie, besonders die gebildeten Schichten, nur etwa zwei Kinder im Durchschnitt hat, weisen Schwachsinnige und andere erblich Minderwertige durchschnittlich Geburtenziffern von drei bis vier Kindern pro Ehe auf. Bei einem solchen Verhältnis ändert sich aber die Zusammensetzung eines Volkes von Generation zu Generation, so daß in etwa drei Geschlechterfolgen die wertvolle Schicht von der minderwertigen völlig überwuchert ist. […] es geht um die Zukunft unseres Volkes.«148
Als Rechtfertigung diente auch die ökonomische Zwangslage der Bevölkerung. Im offiziellen Gesetzeskommentar sprach man den als »erbkrank« Verdächtigten ihren volkswirtschaftlichen Wert und Nutzen ab und versuchte die finanzielle
144 145 146 147 148
Ibid., S. 188. Ruckert, Frederic (2012), S. 27. Reichsgesetzblatt I, 1935, S. 773. Reichsgesetzblatt I, 1936, S. 122, Artikel 1. Begründung zum Gesetzestext hier zitiert aus der zweiten Auflage: Gütt, Arthur; Rüdin Ernst & Ruttke, Falk (1936), S. 77.
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Notlage eines Großteils der Bevölkerung argumentativ gegen einen noch schwächeren Teil zu nutzen: »Dazu kommt, daß für Geistesschwache, Hilfsschüler, Geisteskranke und Asoziale jährlich Millionenwerte verbraucht werden, die den gesunden, noch kinderfrohen Familien durch Steuern aller Art entzogen werden. Die Fürsorgelasten haben eine Höhe erreicht, die in gar keinem Verhältnis mehr zu der trostlosen Lage derjenigen steht, die diese Mittel durch Arbeit aufbringen müssen.«149
Neben der Rechtfertigung durch die rassenhygienischen Theorien und den ökonomischen Kostendruck, der durch vermeintlich »Erbkranke« verursacht wurde erläuterte der Gesetzeskommentar der drei Verfasser des GzVeN ausführlich den vermeintlich aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand der Vererbungslehre: »Wir kennen den Erbgang vieler Krankheitszustände bereits so sicher, daß wir mit großer Wahrscheinlichkeit voraussagen können, ob und in welchem Maße die Nachkommen von erbkranken Personen an Erbschäden leiden werden.«150
Hierbei bezogen sich Gütt, Rüdin und Ruttke ausschließlich auf die Erkenntnisse der »Zwillings- und Bastardforschung«, welche für eine gesicherte »empirische Erbprognose« ausreichend seien: »Wir wissen heute, daß gute und schlechte Erbanlagen unveränderlich nach den Mendelschen Regeln über lange Geschlechterfolgen hinweg auf Kind und Kindeskinder übertragen werden.«151
Die aufgestellten Behauptungen entsprechen dabei keinesfalls dem heutigen wissenschaftlichen Erkenntnisstand der Genetik, noch entsprachen sie dem damaligen. So bezogen sich die Gesetzesautoren zwar in ihren Ausführungen auch auf die Erkenntnisse der Arbeiten des mit dem Nobelpreis prämierten Zoologen Thomas Hunt Morgan, der anhand der Taufliege Drosophila melanogaster den Nachweis der Genloci und Reihenfolge auf Chromosomen erbracht hatte. Sie ließen aber die Möglichkeiten von Neumutationen völlig außeracht152 und ignorierten auch die populationsstatistischen Forschungen um das HardyWeinberg-Gesetz.153 Der spekulative Charakter eines Großteils der wissenschaftlichen Begründungen lässt sich zwischen den Zeilen aus den Erläuterungen des Gesetzestextes herauslesen und tritt immer dann zu Tage, wenn die »empirische Erbprognose« zur Rechtfertigung der gesicherten Vererbung herangezogen
149 150 151 152 153
Ibid. Ibid. S. 16. Ibid. Siehe hierzu ausführlich: Hennig, Jessika (2000), S. 36–44. Weingart, Peter; Kroll, Jürgen & Bayertz, Kurt (1988), S. 338–341.
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Der historische Kontext
wurde, wo die Mendelsche Vererbungslehre den Nachweis versagte.154 Für die meisten im Gesetz als »Erbkrankheiten« deklarierten Erkrankungen genügte somit die wahrscheinliche Erblichkeit zur Sterilisationsindikation, was bei der Umsetzung des Gesetzes einen erheblichen Interpretationsspielraum bot. In dubio pro Sterilisation war das Diktum der Gesetzeskommentatoren: »Man sollte nicht auf die Anwendung unseres Gesetzes verzichten, wenn in der Familie eines Falles, der sonst, z. B. als Mißbildung, einschlägig wäre, nicht mit Sicherheit festgestellt werden kann, ob sie einfach rezessiv oder geschlechtsgebunden rezessiv, dominant oder rezessiv monohybrid oder polyhybrid, gemischt rezessiv und dominant, oder rein rezessiv sich vererbt, wenn im übrigen doch fessteht, daß irgendeine Art von Vererbung vorliegen muß.«155
Zur Legitimation des Gesetzes in der Öffentlichkeit betrieb das Rassenpolitische Amt der NSDAP einen enormen propagandistischen Aufwand. Unter der Koordination des Amtsleiters Walter Groß legte es die Sprachregelung in der Erbund Rassenpflege fest, überwachte die Schulungs- und Propagandatätigkeiten und überprüfte die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse auf ihre propagandistische Verwertbarkeit. Bis 1938 sind für das Amt 64000 öffentliche Veranstaltungen und Kundgebungen und die Ausbildung von 3600 ständigen Mitarbeitern für die Erb- und Rassenpflege belegt.156 Veröffentlichungen in den Massenmedien Film und Rundfunk und groß angelegte Plakataktionen in Schulen, Standesämtern und im öffentlichen Raum wiesen auf die Gefahren der »Erbkrankheiten« für das Volk und die immensen Kosten für die Krankenpflege hin. Ein Schwerpunkt wurde dabei auf die erbbiologische Aufklärung der Jugend gelegt und die Propaganda hielt Einzug in die Schulbücher und Bildungseinrichtungen. Der Nachweis von Kenntnissen der Vererbungslehre, Rassenkunde und Rassenhygiene sollte bei allen schulischen Abschlussprüfungen obligatorisch sein und der ökonomische Aspekt der Krankenpflege fand sich bis in die Rechenaufgaben des Schulwesens widergespiegelt, wie der folgende Beispieltext einer Rechenaufgabe belegt: »Der Bau einer Irrenanstalt erfordert sechs Millionen RM. Wieviel neue Wohnblocks à 15000 RM würden für diese Summe gebaut werden können?«157 Eine besondere Schulung in Erb- und Rassenpflege war zusätzlich für alle an der Durchsetzung des GzVeN beteiligten Akteure in der Ärzteschaft und im
154 So finden sich im Gesetzeskommentar vielfach Aussagen wie: »In der großen, allerdings stark zerstreuten Vererbungsliteratur wird dem Wissensdurstigen trotz intensiven Studiums manches mitunter unklar bleiben«, in: Gütt, Arthur; Rüdin Ernst & Ruttke, Falk (1936), S. 48. 155 Ibid. S. 49. 156 Schmuhl, Hans-Walter (1987), S. 174f. 157 Zitiert nach: Ibid.
Deutsche Ärzte als Erfüllungsgehilfen
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Justizwesen vorgeschrieben und wurde durch den Reichsausschuss für Volksgesundheit im Reichministerium des Inneren und das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik158 durchgeführt. Die Amtsärzte besuchten mehrtägige Fortbildungskurse159 und auch die an die Erbgesundheitsgerichte berufenen Richter erhielten sogenannte »Erbgesundheitskurse« zur ideologischen Weiterbildung.160 Teilweise nahmen auch jeweils Vertreter der Ärzteschaft und Richter gemeinsame an solchen Fortbildungen teil und regional fanden zur besseren Vernetzung auch Aussprachen zwischen den Amtsärzten und den vorsitzenden Richtern der Erbgesundheitsgerichte statt. Die Kurse und gemeinsamen Schulungen dienten hierbei nicht allein der Implementierung der rassenpflegerischen Ideologie, sondern auch der gezielten Steuerung und Beeinflussung der Rechtsprechung im nationalsozialistischen Sinne.161 Eine objektive Rechtsprechung war an den Erbgesundheitsgerichten somit genau so wenig gewollt, wie eine objektive Indikationsstellung zur gesetzlichen Unfruchtbarmachung im Gesetz festgeschrieben war.
2.3
Deutsche Ärzte als Erfüllungsgehilfen. Erbbiologische Erfassung, Sterilisationsverfahren und die quantitative Dimension der Unfruchtbarmachungen
Die deutsche Ärzteschaft war in der Gestalt der Deutschen Rassenhygienischen Gesellschaft Vordenker des GzVeN, wie auch in der Person des Psychiaters Ernst Rüdin direkt an dessen Abfassung beteiligt. Weiterhin kam den Ärzten auch bei der Umsetzung des Gesetzes eine Schlüsselposition zu. Sie waren in der Funktion des Amtsarztes bzw. Anstaltsleiters der Pflegeanstalten neben den Betroffenen die einzigen Personen, die ein Verfahren zur Zwangssterilisation beantragen konnten. Des Weiteren bildeten sie zwei Drittel des Erbgesundheitsgerichts und stellten in Form des sachverständigen Gutachters auch den wichtigsten Zeugen des Gerichtsverfahrens. Um die Ärzte zu Erfüllungsgehilfen der nationalsozialistischen Rassenideologie zu machen, wurde nach 1933 das Gesundheitswesen sukzessive neu orga-
158 Zur Rolle des Kaiser-Wilhelm-Instituts siehe: Schmuhl, Hans-Walter: Grenzüberschreitungen. Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik 1927–1945, Göttingen, 2005, S. 264–269. 159 Zur Ärztegleichschaltung und Schulung vgl.: Gansmüller, Christian: Die Erbgesundheitspolitik des Dritten Reiches. Planung, Durchführung und Durchsetzung, Köln u. a., 1987, S. 51–60. 160 Ibid. S. 60–70. 161 Hinz-Wessels, Annette (2004), S. 37f.
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Der historische Kontext
nisiert, staatlich kontrolliert und gleichgeschaltet.162 Nach §19 der Reichsärzteordnung vom 13. Dezember 1935 war die deutsche Ärzteschaft dazu berufen, »zum Wohle von Volk und Reich für die Erhaltung und Hebung der Gesundheit, des Erbgutes und der Rasse des Deutschen Volkes zu wirken.«163 Durch diese Neuregelungen sollte ein »neuer Arzttypus«, der »Erbarzt«, etabliert werden,164 bei dessen therapeutischer Entscheidungsfindung nicht mehr allein der Patient im Mittelpunkt stand, sondern der Volkskörper und die Aufartung der deutschen Rasse. In seinem Leitfaden der Rassenhygiene notierte einer der führenden ärztlichen Vertreter der Rassenhygiene Otmar von Verschuer dazu: »Der Patient wird nicht mehr nur als Einzelmensch mit ausschließlich seine eigene Person betreffenden Ansprüchen gesehen. Er ist auch Glied von über ihm stehenden Einheiten, von Familie, Rasse und Volk.«165
Die Ärzte wurden dadurch zu einem ausführenden Organ der ideologisch motivierten nationalsozialistischen Rechtsprechung und begründeten ihr Handeln innerhalb der Ärzteschaft wie auch nach außen mit dem Argument des höheren Dienstes an der Volksgesundheit.166 Diese hypokratische Wende spiegelte sich auch direkt in den Sterilisationsverfahren und Unfruchtbarmachungen nach dem GzVeN wider. Am Beginn eines Sterilisationsverfahrens stand dabei die Anzeige eines »Erbkranken« durch eine in der Heilbehandlung beschäftigte Person (Ärzte, Hebammen, Erzieher und Fürsorgehelfer) beim zuständigen Amtsarzt am staatlichen Gesundheitsamt. Diese Behörde war bei der Umsetzung der Sterilisationsvorhaben der Regierung von zentraler Bedeutung.167 Das staatliche Gesundheitsamt war eine auf unterster Verwaltungsebene durch das Gesetz über die Vereinheitlichung des Gesundheitswesens vom 3. Juli 1934 geschaffene Institution, durch welche das Gesundheitswesen gleichgeschaltet werden sollte.168 Für die Auswahl der staatlichen Amts- und Hilfsärzte war daher die ideologische und politische Zuverlässigkeit ausschlaggebend. Neben der Zuständigkeit für Hy162 163 164 165 166
Vgl. hierzu Schmuhl, Hans-Walter (1987), S. 138–150; Gansmüller, Christian (1987), S. 71f. Verschuer, Otmar von: Leitfaden der Rassenhygiene, Leipzig, 1941, S. 236. Weingart, Peter; Kroll, Jürgen & Bayertz, Kurt (1988), S. 519. Verschuer, Otmar von (1941), S. 236. Paul, Norbert W. & Ruckert, Frederic: Die Biologisierung des Sozialen, Psychiatrie und die Mechanik des Zwangs. Das Schicksal der Opfer von Zwangssterilisation 1933–1945 am Beispiel Mainz, in: Steinberg, Reinhard (Hrsg.): Stetigkeit und Wandel. 25 Jahre Psychiatrie am Pfalzklinikum Klingenmünster, Regensburg, 2015, (82–94), S. 82ff. 167 Braß, Christoph (2004), S. 60. 168 Zur Genese des »Gesetzes über die Vereinheitlichung des Gesundheitswesens« siehe ausführlich: Labisch, Alfons & Tennstedt, Florian: Gesundheitsamt oder Amt für Volksgesundheit? Zur Entwicklung des öffentlichen Gesundheitsdienstes seit 1933, in: Frei, Norbert (Hrsg.): Medizin und Gesundheitspolitik in der NS-Zeit, München, 1991, (35–66).
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giene und gesundheitspolitische Maßnahmen, der Ehe- und Mütterberatung und der Schulgesundheitspflege fielen auch die erbbiologische Erfassung und die Überwachung der Rassenpflege der Bevölkerung in den Aufgabenbereich der Gesundheitsämter. Zu diesem Zweck wurden Beratungsstellen für Erb- und Rassenpflege eingerichtet. Diese waren unter anderem für die Begutachtung von Heiratswilligen, Bewerbern für »Ehestandsdarlehen« und das Ausstellen von »Ehetauglichkeitszeugnissen« zuständig. Ihre Hauptaufgabe bestand aber in der »negativen Erbpflege«.169 Es lag in der Perfidie der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik, dass dadurch eine Vielzahl an Menschen freiwillig bei den Behörden vorstellig wurde und sich einer erbbiologischen Durchleuchtung aussetzte, die sich teilweise auch auf deren Familienmitglieder ausweiten konnte.170 Der große Aufgabenbereich der Gesundheitsämter und die Vielzahl an Zugriffsmöglichkeiten auf gesundheitliche Daten erlaubten den Behörden eine weitgreifende erbgeographische Erfassung und Kategorisierung der Bevölkerung und eine gezielte Fahndung nach »minderwertigem« Erbgut.171 Ganz nach den Vorstellungen der rassenpflegerischen Theorien wurden an den Gesundheitsämtern die bereits von den verschiedensten staatlichen Institutionen gesammelten erbpflegerischen Datensätze zu einer »erbbiologischen Bestandsaufnahme des deutschen Volkes« zusammengeführt.172 War ein vermeintlich »Erbkranker« einmal auf dem Radar der staatlichen Gesundheitsbehörden, so oblag es dem Amtsarzt, einen Antrag auf Sterilisation zu stellen. Zu seiner Entscheidungsfindung holte der Arzt Erkundigungen bei anderen ärztlichen Kollegen, der Polizei, der Schule oder dem Arbeitgeber ein und führte eine erbbiologische Anamnese des Betroffenen sowie eine körperliche Untersuchung durch. Sollte die Diagnose »Angeborener Schwachsinn« gestellt werden, gehörte zu der Untersuchung noch eine Intelligenzprüfung mittels eines standardisierten Fragebogens, in welchem Allgemeinwissen, Geschichte, Geographie und Sprachverständnis sowie einige Grundrechenarten abgefragt wurden. Am Ende dieser Befragung und Untersuchung stand ein amtsärztliches Gutachten, dass die Grundlage der Entscheidungsfindung des Erbgesundheitsgerichts bildete. Befand der Arzt, dass eine Indikation zur Unfruchtbarmachung bestand, so stellte er einen Antrag am zuständigen Erbgesundheitsgericht.173 Der Amtsarzt war somit in seiner Aufgabe an der Schnittstelle zwischen der erbbiologischen Erfassung und der Umsetzung der Zwangsmaßnahmen zur Ras169 170 171 172
Bock, Gisela (1986), S. 187ff; Hinz-Wessels, Annette (2004), S. 65. Braß, Christoph (2004); S. 65. Ibid., S. 61. Labisch, Alfons & Tennstedt, Florian: Der Weg zum »Gesetz über die Vereinheitlichung des Gesundheitswesens« vom 3. Juli 1934. Entwicklungslinien und -momente des staatlichen und kommunalen Gesundheitswesens in Deutschland, Düsseldorf, Bd. 2, 1985, S. 326. 173 Silberzahn-Jandt, Gudrun (2015), S. 38f.
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Der historische Kontext
senpflege. Sein Urteil entschied nicht nur über die Antragsstellung, sondern ihm kam auch durch sein Gutachten, welches er dem Antrag beizufügen hatte, ein erhebliches Gewicht bei der Urteilsfindung der Erbgesundheitsgerichte zu.174 Nach dem Eingang aller Unterlagen beim Erbgesundheitsgericht erfolgte dort eine mehr oder weniger ausführliche Prüfung. Das Gericht konnte dazu weitere Stellungnahmen, Arbeitszeugnisse, Zusatzgutachten, Kranken- und Fürsorgeakten einfordern. Als nächstes kam es dann zur Festlegung des Verhandlungstermins mit oder ohne Ladung des Betroffenen. Die Verfahren waren nicht öffentlich und in der Regel erfolgte die Urteilsfindung direkt am Verhandlungstag. Der gefasste Beschluss wurde dann an den Antragssteller, den zuständigen Amtsarzt sowie den Betroffenen übersandt und war nach einer Einspruchsfrist von zwei Wochen rechtskräftig. Bei Feststellung der Notwendigkeit der Unfruchtbarmachung erhielt der Betroffene dann ein Schreiben des Amtsarztes sich binnen zwei Wochen in der dafür vorgesehenen Klinik zur Sterilisation einzufinden.175 Welches Ausmaß an Zugriff auf das »deutsche Erbgut« den führenden rassenhygienischen Ideologen und Ärzten vor der Verabschiedung des GzVeN vorschwebte, wird durch die Schätzung der notwendigen Sterilisationszahlen des Rassenhygienikers Fritz Lenz deutlich. In seinem 1921 erschienen Standardwerk »Menschliche Auslese und Rassenhygiene« ging er von einer Sterilisationsquote von 30 %, mindestens aber 10 % für die Reinerhaltung der »deutschen Rasse« aus. Genauer sprach er darin von »ca. einer Millionen Schwachsinniger, einer Millionen Geisteskranker, mehrerer Millionen Psychopathen, sechs Millionen geistig nicht Vollwertiger und mindestens sechs Millionen körperlich Schwacher und Sieche«, welche der Unfruchtbarmachung zugeführt werden müssten.176 Dass diese Zahl nicht kurzfristig zu erreichen war, wussten auch die Sterilisationspolitiker. Das 1933 festgelegte und auch in der Tages- wie Fachpresse veröffentlichte Nahziel waren daher 400.000 Sterilisationen.177 Über die genaue Anzahl der Sterilisationen, die in Deutschland aufgrund des GzVeN zwischen 1934 und 1945 tatsächlich vorgenommen wurden, herrscht in der Forschung bis heute Uneinigkeit. Die einzige reichsweite amtliche Statistik datiert aus dem Jahre 1937 und bezieht sich auf die Jahre 1934, 1935 und 1936. Demnach waren im ersten Jahr nach Inkrafttreten des GzVeN 32.268 Menschen 174 Dem Gutachten folgte der Richterspruch in einer Studie zu den Erbgesundheitsgerichten in Bonn in nahezu 95 % der Verfahren und übernahm dieses auch teilweise wortwörtlich in seinen Richtspruch. Siehe: Einhaus, Carola (2006), S. 4. 175 Zu den Formalien der Sterilisationsverfahren vgl. exemplarisch Hinz-Wessels, Annette (2004), S. 42ff. 176 Baur, Erwin; Fischer, Eugen & Lenz, Fritz: Menschliche Auslese und Rassenhygiene, München, 4. Auflage, 1932, S. 272f. 177 Bock, Gisela (1986), S. 239f.
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zwangsweise sterilisiert worden, für die Jahre 1935 und 1936 weist die Statistik 73.174 und 63.547 Unfruchtbarmachungen aus.178 Waren die Sterilisationszahlen 1934 noch in der öffentlichen Statistik aufgeführt worden, unterlagen diese ab Mai 1936 auf Befehl Hitlers der Geheimhaltung, da sie im Ausland einen Sturm der Entrüstung und auch innerhalb Deutschlands beträchtliche Unruhe ausgelöst hatten. Das Verbot der Veröffentlichung nahm die spätere Geheimhaltungsregelung der »Euthanasie-Aktion« und der Massenmorde vorweg.179 Der Kriegsbeginn 1939 markierte einen Einschnitt in der Sterilisationspolitik, da am 31. August 1939 eine Verordnung erging, nach der im Zeichen der vollen Konzentration auf die Kriegsanstrengungen nur noch Fälle mit besonders großer Fortpflanzungsgefahr vor Gericht kommen sollten.180 Dies führte zu einem Einbruch der Sterilisationsverfahren, welcher aber auch teilweise durch die beginnende Aktion der Krankenmorde der »Aktion T4« erklärt werden kann, durch die in der ersten zentralen Phase bis 1941 ca. 70.000 Kranke in speziell dafür eingerichteten Tötungsanstalten den Tod durch Vergasen fanden.181 Gleichzeitig waren wohl aber auch die einweisenden Heil- und Pflegeanstalten 1939 bereits weitestgehend durchkämmt und alle fraglichen Insassen sterilisiert worden. Im gleichen Zeitraum wurde das GzVeN auch in den annektierten Gebieten wie Polen, Österreich und dem Sudentenland eingeführt. Die Zahl der Sterilisationsopfer dort wird bis Kriegsende auf 10.000 bis 20.000 geschätzt. Nach den neuesten Untersuchungen waren bis zum Kriegsende 1945 auf dem Boden des Altreichs und in den annektierten Gebieten schätzungsweise 300.000 Menschen gegen ihren Willen sterilisiert worden.182 In der Dimension wie auch in der Effektivität der Umsetzung des GzVeN übertraf das nationalsozialistische Deutschland damit alle anderen Länder mit Sterilisations-gesetzgebungen um ein Vielfaches. Allein die Anzahl der Unfruchtbarmachungen in Deutschland zwischen 1934 und 1936 ist beinahe um ein Zehnfaches größer als die Anzahl, die in den Vereinigten Staaten von Amerika in einem Zeitraum von 30 Jahren zu verzeichnen war.183
178 Zielke, Roland: Sterilisation per Gesetz. Die Gesetzesinitiative zur Unfruchtbarmachung in den Akten der Bundesministerialverwaltung (1949–1976), Berlin, 2006, S. 32ff. 179 Bock, Gisela (1986), S. 231. 180 Ibid. S. 234. 181 Zur nach der zentralen Organisationsstelle in der Tiergartenstraße 4 benannten Krankenmordaktion vgl. exemplarisch: Schmuhl, Hans-Walter (1987), S. 190–214. 182 Die neuesten Zahlen beziehen sich auf eine Untersuchung von Udo Benzenhöfer, der im Gegensatz zur bisherigen Forschung die Sterilisationszahlen etwas geringer schätzt: Benzenhöfer, Udo & Ackermann, Hanns: Die Zahl der Verfahren und der Sterilisationen nach dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses Münster, 2015, S. 26f. 183 Paul, Norbert W. & Ruckert, Frederic (2015), in: Steinberg, Reinhard (Hrsg.), S. 83.
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2.4
Der historische Kontext
Die Umsetzung des GzVeN in Mainz und im Rhein-Main-Gebiet
Die Umsetzung des GzVeN war auch in Mainz an die Gleichschaltung der beteiligten Krankenhäuser und ihrer ärztlichen Leitung gebunden. Aufgrund von Verhandlung, welche die katholische Kirche vor Inkrafttreten des Gesetzes mit dem Reichsinnenministerium geführt hatte, waren katholische Krankenhäuser und Heil- und Pflegeanstalten von der Ausführungspflicht des Gesetzes entbunden. Dies traf in Mainz auf das Vincenz-, das Hildegardis- und das Rochushospital zu, welche kaum an der Durchsetzung der gesetzlichen Sterilisationsmaßnahmen mitwirkten.184 1934 wurde die Durchführung der Sterilisationsverfahren für die betreffenden Teile des Rhein-Main Gebiets wie folgt geregelt: Das für Rheinhessen zuständige Erbgesundheitsgericht wurde in Worms angesiedelt. Die Provinz Starkenburg wurde dem Erbgesundheitsgericht in Offenbach unterstellt und für Oberhessen ein entsprechendes Gericht in Gießen eingesetzt. Alle Einsprüche gegen die ergangenen Urteile wurden im für Hessen zuständigen Erbgesundheitsobergericht in Darmstadt verhandelt. Zuständig für die Durchführung der Sterilisation waren für Hessen südlich des Mains die Krankenhäuser in Offenbach, Darmstadt und Mainz, wobei in Mainz die Umsetzung der Zwangssterilisation von Männern fast ausschließlich im Städtischen Krankenhaus erfolgte, während Frauen größtenteils in der Hebammenlehranstalt operiert wurden, da dort eine gynäkologische Abteilung mit 40 Betten existierte. Mit Inkrafttreten des Gesetzes war die Mainzer Hebammenlehranstalt dadurch für nahezu alle Zwangssterilisationsoperation von Frauen aus Südhessen zuständig.185 Die Gleichschaltung der Ärzteschaft innerhalb der von der Stadt geführten Krankenhäuser, welche den Sterilisationsmaßnahmen vorausging, lässt sich gut an der Personalpolitik des Städtischen Krankenhauses festmachen, wo im Mai 1933 der amtierende ärztliche Leiter Jakob Hürter auf Betreiben des SA-Mitglieds und Assistenzarztes Heinz Roepke abgesetzt wurde. Roepke erklärte wenig später das Haus zum »nationalsozialistischen Betrieb« und etablierte mit Hilfe des Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebunds die Parteilinie der NSDAP im Krankenhaus.186 Die Hebammenlehranstalt unterlag bis 1938 der Leitung des Obermedizinalrats Ernst Puppel, der am 1. Juni 1938 durch seinen Nachfolger Emil Wehefritz abgelöst wurde. Beide waren an der Organisation der Zwangs184 Ruckert, Frederic (2012), S. 35. 185 Dumont, Franz: Unter dem Hakenkreuz. Mainzer Medizin im Nationalsozialismus, in: Dumont, Franz, et al. (Hrsg.): Moguntia medica. Das medizinische Mainz. Vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert, Wiesbaden, 2002, (369–382), S. 374. 186 Ibid., S. 370.
Die Umsetzung des GzVeN in Mainz und im Rhein-Main-Gebiet
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sterilisationsmaßnahmen innerhalb der Hebammenlehranstalt beteiligt und führten auch einen großen Teil der Operationen aus. Nach den Erhebungen von Frederic Ruckert wurden in Mainz im Zeitraum zwischen 1934 und 1944 mindestens 1.569 Frauen zur Sterilisation eingewiesen und mindestens 1.429 Sterilisationen vorgenommen. Für einen Zeitraum von 10 Jahren bedeutet dies, dass in Mainz umgerechnet jeden zweiten Tag eine Sterilisation unter Zwang stattfand. 1.389 Sterilisationen und damit die überwiegende Mehrheit wurde in der Hebammenlehranstalt operativ durchgeführt, während sich lediglich 40 Sterilisationen in den Akten der städtischen Frauenklinik finden.187 Dort wurden vor allem die Sterilisationen durch Strahlung vorgenommen, für welche die Hebammenlehranstalt nicht ausgerüstet war. Der Großteil der durchgeführten Sterilisationen fällt in Mainz wie auch im gesamten Reichsgebiet in die ersten Jahre nach Einführung des GzVeN. Hier lassen sich teilweise bis zu fünf Sterilisationen an einem Tag belegen. Ab 1938 sinkt dann auch in Mainz die Anzahl der Sterilisationen merklich ab, da kriegsbedingt nur noch Frauen mit »besonderer Fortpflanzungsgefahr« sterilisiert werden sollten und die Krankenmorde der »Aktion-T4« ab 1939 an die Stelle der Sterilisationsmaßnahmen traten.188 Die Verteilung der Diagnosen, welche eine Sterilisation rechtfertigen sollten, deckt sich nach den Erhebungen von Herrn Ruckert weitestgehend mit den Daten, die auch in anderen regionalen Studien erhoben wurden. Die Diagnose »angeborener Schwachsinn« stellt mit 63 % die häufigste Sterilisationsindikation dar. 21 % der Unfruchtbarmachungen wurden aufgrund von »Schizophrenie« angeordnet, wobei der Großteil dieser Frauen zur Zeit ihrer Einweisung Insassin einer Heil- und Pflegeanstalt war. Von der Diagnose »Erbliche Fallsucht« waren 11 % der Opfer betroffen, während die Diagnose »manisch-depressives Irresein« mit 2 % der Gesamtanzahl der Einweisungen in Mainz bereits deutlich seltener zu einer Sterilisation führte. Sowohl »erbliche Taubstummheit« als auch »erbliche Blindheit« ließen sich lediglich in 1 % der Fälle am Mainzer Aktenbestand nachweisen. Andere Diagnosen wie »schwere, körperliche Missbildung« oder »schwerer Alkoholismus« spielten in Mainz eine eher untergeordnete Rolle und Sterilisationsanordnungen aufgrund von »erblichem Veitstanz« ließen nicht nachweisen. Die Diagnosen »angeborener Schwachsinn«, »Schizophrenie« und »erbliche Fallsucht« stellten somit zusammen 95 % der zur Einweisung nach Mainz führenden Sterilisationsindikationen dar.189 Die meisten der in Mainz zwangsweise sterilisierten Frauen waren bei ihrer Einweisung zwischen 20 und 30 Jahre alt, ein großer Teil der Betroffenen ins187 Ruckert, Frederic (2012), S. 35. 188 Ibid., S. 44f. 189 Paul, Norbert W. & Ruckert, Frederic (2015), in: Steinberg, Reinhard (Hrsg.), S. 84ff.
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Der historische Kontext
gesamt 13 % hatte zum Zeitpunkt der Sterilisation das 18. Lebensjahr noch nicht erreicht und 22 Mädchen wurden vor dem Beginn der ersten Menarche und damit vor der Geschlechtsreife unfruchtbar gemacht. Das jüngste Mainzer Opfer wurde 1934 im Alter von 12 Jahren aufgrund der Diagnose »angeborener Schwachsinn« operativ sterilisiert.190 In Mainz wurden durch das GzVeN vor allem Frauen der mittleren und unteren sozialen Schicht erfasst. Ein Viertel der Betroffenen war entweder als Aushilfskraft in industriellen oder landwirtschaftlichen Betrieben beschäftigt oder mit dort Beschäftigten verwandt. 11 % der Opfer waren als Dienstmädchen oder Haushaltshilfe beschäftigt und 12 % laut den Angaben des Krankenblatts arbeitslos. Die übrigen Frauen stammten vorwiegend aus Handwerkerfamilien, von Schlossern, Schreinern, Tischlern, Mechanikern und Schneidern. Eine Betroffene war als Prostituierte tätig. Aufgrund dieser Tätigkeit wurde sie für »moralisch schwachsinnig« erklärt und unfruchtbar gemacht. Lediglich 15 der eingewiesenen Frauen und somit weniger als 1 % stammten aus sozial höheren Schichten.191 Zur praktischen Durchführung der Unfruchtbarmachung wurden sowohl operative Methoden, als auch Sterilisationen durch intrauterine Radiumeinlagen oder Röntgenbestrahlung angewendet. Insgesamt lassen sich am Mainzer Aktenbestand 1.403 operative Sterilisationen nachweisen, während nur 26 Unfruchtbarmachungen durch Strahlung dokumentiert sind. 86 % der Operationen wurden als Tubenunterbindung nach Madlener durchgeführt, bei pathologischen Veränderungen des Genitaltrakts griff man auf radikalere Operationen wie die uni- oder bilaterale Tubenextirpation zurück, welche in 137 Fällen angewandt wurde.192 Die Unfruchtbarmachung mittels Bestrahlung war an ein Mindestalter von 38 Jahren gebunden. Der Erfolg der Strahlenbehandlung wurde durch gesetzlich vorgeschriebene Nachuntersuchungen in der 7., 12. und 52. Woche kontrolliert.193 Die Unfruchtbarmachung durch Strahlenanwendung oblag ausschließlich der Frauenklinik und Röntgenabteilung des Städtischen Krankenhauses Mainz, wo dem Aktenbestand zur Folge 18 Frauen mittels Röntgenbestrahlung der Ovarien unfruchtbar gemacht wurden. Die tägliche Behandlungsdauer ist in den vorliegenden Fällen unterschiedlich und hatte einen eher experimentellen Charakter. Aus den analysierten Krankenakten ergibt sich ferner, dass mindestens acht Zwangssterilisationen in Mainz durch intrauterine Radiumeinlagen durchgeführt wurden. Dabei legte man transvaginal 40 mg Radium über einen Zeitraum von bis zu 60 Stunden in die Gebärmutter des 190 191 192 193
Ruckert, Frederic (2012), S. 40. Paul, Norbert W. & Ruckert, Frederic (2015), in: Steinberg, Reinhard (Hrsg.), S. 86f. Ruckert, Frederic (2012), S. 45ff. Reichsgesetzblatt I, 1936, S.122, Artikel 1 und 2.
Die Rolle der Heil- und Pflegeanstalten bei der Umsetzung des GzVeN
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Opfers ein und verursachte dadurch erhebliche Strahlenschäden weit über das Zielgebiet hinaus.194 Sowohl bei den operativen Sterilisationen, wie auch bei den Unfruchtbarmachungen durch Strahlenbehandlung gab es eine Vielzahl von Nebenwirkungen und komplizierten weiteren Verläufen. Als Nebenwirkungen der Operationen sind neben den Narkosewirkungen Beschwerden wie Fieber, Bronchitiden und Wundinfektionen bis hin zu Pneumonien und Lungenembolien in den Krankenakten dokumentiert. In 11 Fällen führten diese zum postoperativen Tod der Frauen. Das jüngste Todesopfer war zum Zeitpunkt der Operation 14 Jahre alt.195 Die Strahlenbehandlung führte bei vielen der Frauen zu einem sogenannten »Röntgenkater«, der mit allgemeiner Schwäche, starker Übelkeit und heftigem Erbrechen einherging. Insbesondere das Gewebe nahe der bestrahlten Körperregion war zusätzlich einer extremen Gefährdung maligner Entartung ausgesetzt.196 Die Folgen der zwangsweisen Sterilisation für die Psyche der Frauen lassen sich ungleich schwerer anhand der Krankengeschichten belegen. Dennoch lassen sich die Auswirkungen des gewaltsamen Eingriffs zum Teil anhand des postoperativen Verlaufs nachvollziehen. In mindestens 18 Fällen sind heftige postoperative Panikattacken und Erregungszustände dokumentiert, woraufhin die Betroffenen oft über Tage hinweg fixiert und sediert, oder frühzeitig ohne Abheilung der Operationswunde wieder zurück in die einweisende Anstalt transportiert wurden. In einem Fall beging eine Frau wenige Tage nach der Operation Suizid durch den Sprung aus ihrem Krankenzimmerfenster.197
2.5
Die Rolle der Heil- und Pflegeanstalten bei der Umsetzung des GzVeN
Den psychiatrischen Landesanstalten und ihrer ärztlichen Leitung kam bei der Umsetzung des GzVeN besonders in den ersten Jahren nach Inkrafttreten eine Schlüsselposition zu. Im Sinne der nationalsozialistischen Erbgesundheitspolitik sollten die Heil- und Pflegeanstalten die Gesundheitsämter bei der erbbiologischen Erfassung der Bevölkerung unterstützen und aktiv auf die Verhütung von »erbkrankem« Nachwuchs innerhalb ihrer Anstalt wie auch in ihrem Einzugsund Einflussgebiet hinwirken. Die Anstalten fungierten dadurch zu Beginn der Sterilisationsmaßnahmen als ein Experimentierfeld, auf welchem die »Erbbio194 195 196 197
Paul, Norbert W. & Ruckert, Frederic (2015), in: Steinberg, Reinhard (Hrsg.), S. 87f. Ruckert, Frederic (2012), S. 62. Ibid., S. 51. Ibid., S. 63ff.
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Der historische Kontext
logische Begutachtung« der gesamten Bevölkerung im Kleinen simuliert werden sollte. Man ging im Sachverständigenbeirat für Rassenpolitik des Innenministeriums davon aus, dass die als »erbkrank« zu sterilisierenden Personen mehrheitlich schon in den Anstalten untergebracht oder zumindest dort bereits einmal behandelt worden waren. Daher war bereits im Gesetzestext festgehalten worden, dass neben den Amtsärzten auch die Anstaltsleiter einen Antrag auf Unfruchtbarmachung stellen konnten. Einer Ministeranweisung folgend sollten die Anstaltsleiter an vorderster Stelle von ihrem Recht als Antragssteller Gebrauch machen, um einen erfolgreichen Start der Erbgesundheitsmaßnahmen zu garantieren.198 Zusätzlich sollten sie »Sippentafeln« zu ihren Insassen anlegen, um damit einen Beitrag zur »erbbiologischen Verkartung« der Bevölkerung zu leisten und bereits auffällige Familien genauer zu untersuchen.199 Im Gegensatz zu den in den neu geschaffenen Gesundheitsämtern eingesetzten Amtsärzten verfügte die ärztliche Leitung der psychiatrischen Anstalten hierzu bereits über einen großen Mitarbeiterstab, der in den nächsten Jahren intensiv erbbiologisch geschult und auf Linie gebracht wurde. Des Weiteren konnten sie auf bestehende und als gesichert erscheinende Diagnosen in ihren Patientenakten zurückgreifen, was den Anzeigeprozess beschleunigte.200 Neben der erbbiologischen Erfassung ihrer Patienten, deren Familien und der anstaltsnahen Bevölkerung in der psychiatrischen Außenfürsorge, fertigten die Anstaltsleiter und Ärzte auch ausführliche Fachgutachten im Rahmen anderer Sterilisationsverfahren an. Dabei war es gängige Praxis, dass ein Angeklagter zwei Wochen zur Beobachtung in eine Anstalt zwangsaufgenommen wurde, bevor ein Gutachten an das Erbgesundheitsgericht überstellt wurde.201 Schlussendlich waren Teile der Ärzteschaft der psychiatrischen Landesanstalten auch direkt an den Gerichtsbeschlüssen der Erbgesundheitsgerichte als ärztliche Beisitzer beteiligt und entschieden teilweise anhand der Gutachten ihrer direkten Arbeitskollegen. Die besondere Rolle der Heil- und Pflegeanstalten beim Anlaufen der erbgesundheitspolitischen Sterilisationsmaßnahmen lässt sich auch für den Mainzer Einzugsraum belegen. Zwar wurden in 1.189 Fällen die Frauen direkt durch das für ihren Wohnbezirk zuständige Gesundheitsamt zur Sterilisation nach 198 Hinz-Wessels, Annette (2004), S. 53. 199 Die Rolle der Heil- und Pflegeanstalten in der NS-Zeit ist für die Brandenburgischen Anstalten gut erforscht. Siehe: Hübener, Kristina: Die Auswirkungen der »Machtergreifung« auf das System der provinzialen Heil- und Pflegeanstalten Brandenburgs, in: Hübener, Kristina (Hrsg.): Brandenburgische Heil- und Pflegeanstalten in der NS-Zeit, Berlin, 2002, (15–46), S. 28–31. 200 Hinz-Wessels, Annette (2004), S. 53ff. 201 Ibid., S. 58–61.
Die Heil- und Pflegeanstalten »Philippshospital« Riedstadt Goddelau und Alzey
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Mainz überwiesen, doch gerade in den Jahren 1934 und 1935 machen die Einweisungen aus psychiatrischen Anstalten mit 101 bzw. 134 Fällen bis zu 30 % der Gesamteinweisungen aus. Insgesamt befanden sich 23 % und damit nahezu ein Viertel der Mainzer Zwangssterilisationsopfer vor ihrer Einweisung in psychiatrischer Behandlung. Die meisten Einweisungen nach Mainz kamen mit 41 % aus der Heil- und Pflegeanstalt »Philippshospital« bei Riedstadt Goddelau. Immerhin noch 28 % der eingewiesenen Frauen wurden aus der Heil- und Pflegeanstalt Alzey nach Mainz überwiesen. Der Gesamtanteil dieser beiden Institutionen, auf denen der Fokus der Untersuchung liegt, beträgt somit fast 70 % der Gesamteinweisungen aus den psychiatrischen Anstalten.202 Im Weiteren wird daher kurz die Geschichte der beiden Anstalten während des Nationalsozialismus nachgezeichnet und der bisherige Forschungsstand dargestellt.
2.6
Die Heil- und Pflegeanstalten »Philippshospital« Riedstadt Goddelau und Alzey in der Zeit des Nationalsozialismus
Zur Geschichte der psychiatrischen Heil- und Pflegeanstalt »Philippshospital« Riedstadt Goddelau existieren zwei Dissertationen an der Universität Frankfurt von Isidor Kaminer203 und Susanne Leifheit204 und eine Festschrift205 zum 500. Geburtstag des Klinikgründers Philipp von Hessen, welche sich auch explizit mit der Vergangenheit in der Zeit des Nationalsozialismus auseinandersetzen. Dabei wurde allerdings in keiner der Arbeiten das gesamte Patientenaktenmaterial der Anstalt, sondern jeweils nur Stichprobenjahre ausgewertet, so dass nur Schätzungen bezüglich der exakten Opferzahlen der Zwangssterilisationsmaßnahmen und Krankenmorde möglich sind. 1535 als eines von vier säkularisierten »Hohen Hospitälern« vom Landesfürsten Philipp dem Großmütigen gegründet, wurde das »Philippshospital« im 19. Jahrhundert mit der Unterbringung psychisch Kranker betraut, deren Verwahrung in Anstalten sich in dieser Zeit gesellschaftlich durchsetzte. In diesem Zuge wurde die Klinik sukzessive bis 1904 für die Unterbringung von bis zu 1.200
202 Ruckert, Frederic (2012), S. 41f. 203 Kaminer, Isidor J.: Psychiatrie im Nationalsozialismus. Das Philippshospital in Riedstadt (Hessen), Frankfurt am Main, 1996. 204 Leifheit, Susanne: Die Geschichte der psychiatrischen Heil- und Pflegeanstalt Philippshospital unter besonderer Berücksichtigung der Veränderungen während des Nationalsozialismus. Dissertation. 2005. 205 Sahmland, Irmtraut; Trosse, Sabine; Vanja, Christina; Berger, Hartmut & Ernst, Kurt (Hrsg.): »Haltestation Philippshospital«. Ein Psychiatrisches Zentrum. Kontinuität und Wandel 1535– 1904–2004, Marburg, 2004.
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Der historische Kontext
psychisch Kranken ausgebaut und lediglich im ersten Weltkrieg für eine kurze Zeitspanne als Reservelazarett umgenutzt.206 Im Zuge der Machtergreifung der Nationalsozialisten kam es nach 1933 rasch zu politischen Säuberungsmaßnahmen und zur Gleichschaltung der ärztlichen und pflegerischen Mitarbeiter. Durch das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, das die politisch begründeten Entlassungen innerhalb der Anstalt legitimierte, verloren 45 Mitarbeiter, darunter auch zwei Oberärzte, ihre Anstellung. Die Gründe waren entweder deren jüdische Abstammung oder die Mitgliedschaft in der KPD oder SPD. Im Gegenzug wurden lediglich neun neue Mitarbeiter angestellt, welche allesamt vor der Einstellung folgende Erklärung zu unterzeichnen hatten: »Ich gelobe ich werde dem Führer des deutschen Reiches und Volkes, Adolf Hitler, treu und gehorsam sein und meine Dienstobligenheiten gewissenhaft und uneigennützig erfüllen.«207 Der Anstaltsleiter und ärztliche Direktor Dr. Ludwig Amrhein forcierte die Gleichschaltung des Personals persönlich. Er erstellte Listen über die politische Gesinnung der Mitarbeiter und führte protokollierte prüfende Einzelgespräche mit Pflegern und Ärzten, die er an die NSDAP Ortsgruppe und das Kreisverwaltungsamt weiterleitete. Die Ironie des Schicksals will es, dass auch Dr. Amrhein auf einer Liste der NSDAP stand, da er vor 1933 Mitglied einer Freimaurerloge gewesen war. Obwohl er sich mehrfach von den politischen Zielen der Loge distanzierte, wurde er 1938 entlassen und durch das NSDAP-Mitglied Dr. Scriba ersetzt.208 Hatten bereits vor 1933 Verbindungen zwischen führenden Rassenhygienikern wie Ernst Rüdin und der Anstaltsleitung bestanden, so stand nach 1933 relativ bald ein Großteil der ärztlichen Mitarbeiter fest auf dem Boden der nationalsozialistischen Weltanschauung und vermittelte deren erbbiologische Ideologien in Schulungsvorträgen für Juristen und Ärzte und in beruflichen Fortbildungskursen im Umkreis der Anstalt.209 In Zusammenarbeit mit dem Gießener »Institut für Erb- und Rassenpflege« wurde im »Philippshospital« eine erbbiologische Abteilung aufgebaut, welche die erbbiologische Erfassung der Anstaltsinsassen und deren Familien koordinierte. Bereits Ende Juni 1934 wurde die Direktion der Anstalt hierfür zu einer Konferenz in Darmstadt eingeladen, bei der die »Einführung einer erbbiologischen Bestandsaufnahme in den Anstalten« auf der Tagesordnung stand. Auch in Goddelau sollten aber nicht allein die erbbiologischen Daten aller Anstaltsinsassen, sondern auch die Informationen bezüglicher ihrer Familienmitglieder dokumentiert werden. Hierzu wurden »Sippschaftstafeln« und Karteikarten 206 207 208 209
Leifheit, Susanne (2005), S. 6–11. Siehe: Kaminer, Isidor J. (1996), S. 23–28. Vgl.: Leifheit, Susanne (2005), S. 33. Kaminer, Isidor J. (1996), S. 37–44.
Die Heil- und Pflegeanstalten »Philippshospital« Riedstadt Goddelau und Alzey
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angelegt, die alle Familienmitglieder bis in die dritte Generation erfassten und zu deren Vervollständigung die Einwohnermelde-, Standes- und Pfarrämter angewiesen wurden. Besonders von einzelnen Pfarrämtern gab es Widerstand gegen diese Maßnahmen.210 Spätestens ab 1938 wurden aber alle Anstaltsinsassen erbbiologisch registriert und eine Erbanzeige mit den ermittelten Informationen an das zuständige Gesundheitsamt gemacht.211 Mit der Veröffentlichung der Ausführungsverordnung des GzVeN, welche die Zuständigkeiten klärte, und den formalen Ablauf der Sterilisationsanträge für die Anstalten vorgab, begann auch die ärztliche Direktion des »Philippshospitals« mit der Anzeige ihrer Patienten beim zuständigen Erbgesundheitsgericht. Herr Dr. Amrhein, der auch selbst als Beisitzer am Erbgesundheitsobergericht in Darmstadt arbeitete, wirkte dabei persönlich an der Umsetzung der Sterilisationsmaßnahmen mit und brachte 1934 auch eine beträchtliche Zahl bereits 1933 entlassener Patienten zur Anzeige.212 Die männlichen Patienten aus Riedstadt wurden zur Sterilisation in die urologische Abteilung der Städtischen Klinik Darmstadt überwiesen, während die Frauen in die Hebammenlehranstalt in Mainz oder in die Städtische Frauenklinik Mainz überstellt wurden. Die Untersuchung von Frau Leifheit für die Stichprobenjahre 1927, 1934, 1939, 1940 und 1942 weisen insgesamt 160 Sterilisationen, davon 107 an männlichen und 53 an weiblichen Patienten auf.213 Die Zahl von 53 weiblichen Zwangssterilisationsopfern ist hier der Auswahl der Stichprobenjahre geschuldet. Im Archivbestand des Instituts befinden sich nach den Ermittlungen der vorliegenden Studie die Patientenakten von 133 Frauen, die direkt aus Goddelau nach Mainz überwiesen und dort unfruchtbar gemacht wurden. Die erste Sterilisation einer Anstaltsinsassin des »Philippshospitals« wurde demnach am 25. 04. 1934 und die letzte am 16. 12. 1940 durchgeführt. Zur Geschichte der Landes-Heil- und Pflegeanstalt Alzey im Nationalsozialismus existieren die Untersuchungen einer Arbeitsgruppe Alzeyer Bürger und Mitarbeiter der Klinik, angeführt von Elfriede John und Renate Rosenau, deren Forschungsergebnisse in zahlreichen Fachpublikationen214 und einer Festschrift
210 211 212 213 214
Ibid., S. 49ff. Leifheit, Susanne (2005), S. 34f. Kaminer, Isidor J. (1996), S. 79–100. Leifheit, Susanne (2005), S. 38–43. Psychiatrie im Nationalsozialismus in Alzey, Arbeitsgruppe (Hrsg.): »Ein friedliches, schmuckes Dörfchen?« Aus der Geschichte der Rheinhessen-Fachklinik Alzey. Begleitband zur Ausstellung im Museum der Stadt Alzey, Alzey, 2000; John, Elfriede & Rosenau, Renate: Die Landes-Heil- und Pflegeanstalt Alzey 1933 bis 1945, in: Arbeitskreis, Erforschung der nationalsozialitischen »Euthanasie« und Zwangsterilisation (Hrsg.): Psychiatrie im Dritten Reich. Schwerpunkt Hessen, Ulm, 2002, (113–147).
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Der historische Kontext
zum 100. Geburtstag der Klinik215 publiziert sind. Des Weiteren liegt eine Arbeit216 zur Geschichte der rheinhessischen Opfer der »Aktion T4« vor, welche auch die Anstalt Alzey einbezieht. Die Landes-Heil- und Pflegeanstalt Alzey wurde 1900 zusammen mit der Gießener Landesanstalt gegründet und sollte den gestiegenen regionalen Versorgungsbedarf decken, der durch die Anstalten Riedstadt Goddelau und Heppenheim nicht mehr adäquat zu leisten war. Nach einer sechsjährigen Bauzeit wurde die »Großherzogliche Landesirrenanstalt Alzey« 1908 eröffnet und die ersten Patienten aufgenommen. Für 400–450 Insassen konzipiert, war die Anstalt bereits zu Beginn des ersten Weltkriegs mit 470 Patienten voll ausgelastet bzw. überlastet.217 Die Anstalt wurde während des Ersten Weltkriegs und nochmalig gegen Ende des Zweiten Weltkriegs als Reservelazarett umgenutzt und schließlich zwischen Mai und September 1940 weitgehend gänzlich geräumt. Die Patienten wurden in der Folge auf die umliegenden Anstalten in Riedstadt Goddelau, Heppenheim und Gießen verteilt. Von dort vielen zahlreiche ab 1941 auch dem Krankenmord der »Aktion T4« zum Opfer.218 1941 wurde die Anstalt dann komplett aufgelöst und lediglich die arbeitsfähigen Patienten verblieben zum Erhalt des Betriebs, der jetzt als Ausweichkrankenhaus, Krankenstation für ausländische Arbeiter und ab 1943 als Entbindungsabteilung für Ostarbeiterinnen genutzten wurde. Erst nach der Besetzung durch amerikanische und französische Truppen im März 1945 wurde im September des gleichen Jahres wieder mit der Unterbringung von psychisch Kranken in der Anstalt begonnen.219 Ähnlich wie in der Nachbaranstalt in Goddelau erfasste die nationalsozialistische Rassen- und Erbpolitik nach 1933 rasch das Anstaltspersonal und prägte die ärztliche und pflegerische Arbeit. Die ärztliche Direktion unterstand bis 1936 Dr. Hans Dietz, der nach seiner Pensionierung von Dr. Ludwig Peters abgelöst wurde.220 Wie viele Angestellte im Zuge der rassenpolitischen Neuausrichtung der Anstalt ihren Arbeitsplatz verloren, ist nicht bekannt. Das neue Aufgabenfeld der erbbiologischen Erfassung der Anstaltspatienten und ihrer Familien wurde in Alzey wie auch in Riedstadt allerdings relativ bald zusammen mit dem »Gie215 Rosenau, Renate; John, Gunda & Klee, Hedi: Die Alzeyer Landes- Heil- und Pflegeanstalt in der Zeit des Nationalsozialismus, in: Alzey, Rheinhessen Fachklinik (Hrsg.): 100 Jahre Rheinhessen Fachklinik Alzey, Alzey, 2008, (66–100). 216 Klinkel, Nina: …dann kimmste nooch Alse! Die nationalsozialistische Aktion T4 und ihre rheinhessischen Opfer, Bruchsal, 2012. 217 John, Elfriede & Rosenau, Renate (2002), in: Arbeitskreis, Erforschung der nationalsozialitischen »Euthanasie« und Zwangsterilisation (Hrsg.), S. 113ff. 218 Ibid., S. 133ff. 219 Rosenau, Renate; John, Gunda & Klee, Hedi (2008), in: Alzey, Rheinhessen Fachklinik (Hrsg.), S. 92–94. 220 Heller-Karneth, Eva: Innenleben, in: Alzey, Rheinhessen Fachklinik (Hrsg.): 100 Jahre Rheinhessen Fachklinik Alzey, Alzey, 2008, (43–66), S. 47.
Psychiatriegeschichte im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert
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ßener Institut für Erb- und Rassenpflege« der Universität Gießen koordiniert und ist durch 624 »Sippentafeln« für 713 Probanden und 17.000 Familienangehörige belegt.221 Nach der erbbiologischen Verkartung der Patienten musste bei bestehender Indikation ein Antrag am zuständigen Erbgesundheitsgericht in Worms gestellt und nach Beschluss der Sterilisationseingriff terminiert werden. Die ausführenden Krankenhäuser für Alzeyer Anstaltsinsassen waren die Hebammenlehranstalt Mainz für Frauen sowie das Stadtkrankenhaus Worms und Mainz für Männer. Dieser deutliche verwaltungstechnische Mehraufwand für die erbbiologische Erfassung und die Umsetzung des GzVeN war Anlass zahlreicher Beschwerden bezüglich des Personalmangels. Eine Kritik an dem neuen ärztlichen Aufgabenfeld lässt sich für die Anstalt Alzey den Untersuchungen nach hingegen nicht finden.222 Insgesamt verzeichnen die Studien von Rosenau und John zwischen 1934 und 1941 die Unfruchtbarmachung von 329 Anstaltspatienten, davon 140 Frauen.223 Quellengrundlage sind die »Tagebücher« der Anstalt, in denen die täglichen Aufnahmen, Entlassungen, Beurlaubungen und das Versterben der Patienten eingetragen wurden. In den Unterlagen der Mainzer Hebammenlehranstalt und der städtischen Frauenklinik finden sich nach der vorliegenden Recherche jedoch nur Akten zu 91 durchgeführten Sterilisationen an Frauen aus Alzey. Die erste Unfruchtbarmachung einer Alzeyer Insassin datiert dort vom 13. 03. 1934 und die letzte vom 6. 12. 1939. Worin die Diskrepanz in den ermittelnden Opferzahlen begründet ist, konnte nicht ermittelt werden.
2.7
Psychiatriegeschichte im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. Therapieformen und Konzepte
Um den Anstaltsalltag und die durchgeführten therapeutischen Maßnahmen, welche im kommenden Teil der Studie anhand der Opferbiographien dargestellt werden, besser zu verstehen und historisch einzuordnen, werden im Folgenden die historische Entwicklung der Anstaltspsychiatrie bis zur ihrer Unterordnung unter die rassenhygienische Erbpolitik der Nationalsozialisten, die Grundlagen der »psychiatrischen Genetik« sowie die wichtigsten therapeutischen Konzepte und Unterbringungsformen in der Krankenversorgung exkursorisch dargestellt. 221 Rosenau, Renate; John, Gunda & Klee, Hedi (2008), in: Alzey, Rheinhessen Fachklinik (Hrsg.), S. 76. 222 John, Elfriede & Rosenau, Renate (2002), in: Arbeitskreis, Erforschung der nationalsozialitischen »Euthanasie« und Zwangsterilisation (Hrsg.), S. 119ff. 223 Rosenau, Renate; John, Gunda & Klee, Hedi (2008), in: Alzey, Rheinhessen Fachklinik (Hrsg.), S. 69–72.
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Der historische Kontext
Hierfür wird bis auf die Anfänge der Psychiatrie um die Jahrhundertwende vom 18. zum 19. Jahrhundert zurückgegriffen, da hier bereits eine Reihe von Weichenstellungen in der Entwicklung der Psychiatrie und der psychiatrischen Krankenversorgung vorgenommen wurden, die bis weit in das 20. Jahrhundert hineinwirkten.224 Für die Psychiatriegeschichtsschreibung setzt die Anstaltsklassik am Beginn des 19. Jahrhunderts ein, in welchem zusehends die Toll- und Zuchthäuser, in denen bis dahin alle für die Gesellschaft als gefährlich erachteten Subjekte zusammen untergebracht waren, von den Irrenhäusern getrennt wurden. Im Zeichen der Aufklärung zog der Gedanke einer humaneren Krankenbehandlung und der Befreiung aus der Zwangsbehandlung in die Irrenhäuser ein. Als Gründungsmythos der Psychiatrie gilt allgemein der Akt der Befreiung der Irren von den Ketten im Pariser Hôpital Bicêtre durch den französischen Arzt Philippe Pinel, der zwar in der beschriebenen Form der Geschichtsforschung nicht standhalten konnte, aber dennoch als markanter Wendepunkt in der Entwicklung der psychiatrischen Krankenversorgung angesehen werden kann.225 In den gleichen Zeitraum fällt auch die Entstehung des deutschen Anstaltswesens. Die bestehenden Irreneinrichtungen wurden zu Heil- und Pflegeanstalten umgestaltet und zahlreiche neue Einrichtungen gegründet. Die Unterbringung von psychisch Kranken in ärztlich geführten psychiatrischen Anstalten war durch bürgerliche, philanthropische Ansichten geprägt sowie vom therapeutischen Anspruch der sich formierenden Psychiatrie getrieben, eine potenzielle Heilung dieser Kranken erwirken zu können. Nichtsdestotrotz galt weiterhin das Prinzip der Isolation der Kranken zum Schutz der Gesellschaft. In der Bezeichnung der Institutionen als Heil- und Pflegeanstalten spiegelt sich bereits ihre Doppelfunktion wider, die darauf abzielte, potenziell therapierbare Kranke zu heilen und nicht Therapierbare zu verwahren.226 Die Diskussion um die Ausrichtung der neu geschaffenen Institutionen drehte sich zu Beginn vor allem um die Frage der gemeinsamen Unterbringung der Heilanstalten und der Pflegeanstalten oder ihre mögliche räumliche Trennung,
224 Zur Aktualität der Psychiatriegeschichte des 19. Jahrhunderts siehe: Engstrom, Eric J. & Roelcke, Volker: Die »alte Psychiatrie«? Zur Geschichte und Aktualität der Psychiatrie im 19. Jahrhundert, in: Engstrom, Eric J. & Roelcke, Volker (Hrsg.): Psychiatrie im 19. Jahrhundert. Forschung zur Geschichte von psychiatrischen Institutionen, Debatten und Praktiken im deutschen Sprachraum, Mainz, 2003, (9–25). 225 Schott, Heinz & Tölle, Rainer: Geschichte der Psychiatrie. Krankheitslehren, Irrwege, Behandlungsformen, München, 2006, S. 236–246. 226 Rotzoll, Maike: Verwahren, verpflegen, vernichten. Die Entwicklung der Anstaltspsychiatrie in Deutschland und die NS-»Euthanasie«, in: Fuchs, Petra, et al. (Hrsg.): »Das Vergessen der Vernichtung ist Teil der Vernichtung selbst«. Lebensgeschichten von Opfern der nationalsozialistischen »Euthanasie«, Göttingen, 2007, (24–35), S. 24f.
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bei der sich gegen Mitte des Jahrhunderts das Konzept der verbundenen Anstalt weitestgehend durchgesetzt hatte.227 Bis zur Reichsgründung 1871 hatte sich auch der soziale Status der Irren als Kranke gefestigt und der Kreis der Patienten, denen psychiatrische Hilfe angeboten wurde, erweitert. Die Annahme, geistige Erkrankungen auf somatische Ursachen zurückzuführen, wurde zunehmend von einer größeren Zahl von Anstaltsleitern vertreten und das Wissen über Geisteskrankheiten streute in breitere gesellschaftliche und wissenschaftliche Bereiche.228 Gleichzeitig waren aber viele Probleme der neuen Form der Anstaltspsychiatrie noch nicht überwunden. Viele Einrichtungen entsprachen nicht den Ansprüchen moderner, therapieorientierter Behandlung und waren überbelegt. Der geschlossene Charakter und die Isolation der Anstalten in ländlichen Gegenden schränkte die Kranken, wie auch die Professionalisierung und Verwissenschaftlichung der Psychiatrie ein und auch der rechtliche Status der Anstaltsinsassen blieb weitestgehend ungeregelt.229 Diese Missstände der Anstaltspsychiatrie führten 1868, rückwirkend als Krisenjahr der Psychiatrie beschrieben, zu einer innerdisziplinären Kontroverse zwischen den etablierten Anstaltsleitern und den Vertretern einer offeneren Psychiatrie, die vornehmlich an den Lehrstühlen für Psychiatrie an den Universitäten anzutreffen waren.230 Ein Reformkonzept zur Neuregelung der Psychiatrie und des Anstaltswesens legte 1868 der Psychiater Wilhelm Griesinger vor. Er vertrat eine an den Naturwissenschaften angelehnte Psychiatrie, welche die Geisteskrankheiten als somatische Krankheiten des Gehirns ansah. Bei der Krankenversorgung orientierte er sich dabei an der zwangsfreien Behandlung des in Großbritannien etablierten »non restraint systems« des englischen Psychiaters John Conolly.231 Grundlegend für die Etablierung der Psychiatrie als medizinische und wissenschaftliche Disziplin galt generell die potentielle Heilbarkeit bestimmter seelischer Erkrankungen, welche aber stark durch die weitestgehend therapeutische Ohnmacht der Ärzte in den psychiatrischen Anstalten konterkariert wurde. Griesinger verwarf aus diesem Grund die Unterscheidung zwischen heilbaren und unheilbaren Patienten und schlug stattdessen vor, bei der Unterbringung künftig zwischen 227 Schott, Heinz & Tölle, Rainer (2006), S. 270f. 228 Brink, Cornelia: Grenzen der Anstalt. Psychiatrie und Gesellschaft in Deutschland 1860– 1980, Göttingen, 2010, S. 101ff. 229 Ibid. 230 Zur Kontroverse zwischen Anstaltspsychiatrie und Reformern im Krisenjahr vgl.: Schott, Heinz & Tölle, Rainer (2006), S. 285–291; Blasius, Dirk: »Einfache Seelenstörungen«. Geschichte der deutschen Psychiatrie 1800–1945, Frankfurt am Main, 1994, S. 41–53. 231 Zum psychiatrischen Reformkonzept Wilhelm Griesingers und seinem Wirken auf die Psychiatrie als wissenschaftliche Disziplin siehe: Schott, Heinz & Tölle, Rainer (2006), S. 66– 78; Dörner, Klaus: Bürger und Irre. Zur Sozialgeschichte und Wissenschaftssoziologie der Psychiatrie, Frankfurt am Main, 1984², S. 279–306.
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Der historische Kontext
Patienten mit kurzzeitiger Behandlungsdauer und langzeitiger Behandlungsdauer zu unterscheiden. Für kurzzeitige transitorische Aufenthalte sollten Stadtasyle geschaffen werden, welche in Universitätsstädten an die Universitätskliniken angegliedert werden sollten, um somit zur wissenschaftlichen Professionalisierung beizutragen. Für langfristig, chronisch Erkrankte sah er die Unterbringung in ländlichen Anstalten vor. Zwar konnte sich Griesinger mit seinen Reformideen nicht entscheidend gegen die etablierte Anstaltspsychiatrie durchsetzen. Die Idee des Stadtasyls wurde allerdings in Form der Universitätskliniken umgesetzt und dadurch die Trennung zwischen Heilung und Verwahrung als Trennung zwischen Zentrum und Peripherie auch örtlich vollzogen und gefestigt.232 Das gefestigte Konzept der geschlossenen Anstalt abseits der gesellschaftlichen Zentren und ohne öffentliche Kontrolle oder Wahrnehmung prägte in der Folge das Bild der psychiatrischen Krankenversorgung in Deutschland für die nächsten 100 Jahre, bis es durch die reformpsychiatrische Bewegung der 1960er Jahre erstmals wieder in Frage gestellt wurde.233 In den Folgejahren erlebte das Anstaltswesen im Kaiserreich einen regelrechten Boom, in dessen Folge sich die Anzahl der privaten wie auch der öffentlichen Anstalten bis zur Jahrhundertwende verdoppelte.234 Die Gründe für diese Expansion sind immer wieder Gegenstand der Psychiatriegeschichtsforschung. Als gesichert kann gelten, dass durch den Ausbau der Gesundheitsbürokratie, die Folgen der Industrialisierung und durch das gesteigerte wissenschaftliche Interesse auch eine Vermehrung der potenziellen Anstaltsinsassen zu verzeichnen war. Die Anstalten wuchsen in der Folge bis zum Ersten Weltkrieg zu großen bis zu tausend Menschen versorgenden »totalen Institutionen«235 heran, die einzig der Kontrolle und der Verantwortung des ärztlichen Direktors unterstanden.236 Gleichzeitig etablierten sich, anfangs in Kooperation mit den Anstalten, später unabhängig von ihnen, die psychiatrischen Universitätskliniken als Ort der wissenschaftlichen Forschung, wodurch eine Zweiklassenpsychiatrie geschaffen wurde, welche die weitere Entwicklung der Krankenversorgung entscheidend beeinflusste. Als Ort der schlichten Verwahrung chronisch Erkrankter blieb die Anstaltspsychiatrie in der ärztlichen und pflegerischen Versorgung und Ausstattung zurück. In der Universitätsklinik wurde gleichzeitig durch die Be232 Rotzoll, Maike (2007), in: Fuchs, Petra, et al. (Hrsg.), S. 25ff. 233 Siehe: Schott, Heinz & Tölle, Rainer (2006), S. 291f. 234 Zum Ausbau des Anstaltswesens siehe: Brink, Cornelia (2010), S. 109f.; Blasius, Dirk (1994), S. 64f. 235 Zum Begriff der »totalen Institution« siehe: Goffmann, Erving: Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, Frankfurt am Main, 1972. 236 Zu den Ursachen des Ausbaus des Anstaltswesens und der zunehmenden Krankenzahl siehe: Brink, Cornelia (2010), S. 131–135.
Psychiatriegeschichte im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert
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schränkung auf Akutfälle das Spektrum der Forschung und Lehre erheblich eingegrenzt, so dass durch die Auseinanderentwicklung der beiden Institutionen sowohl die psychiatrische Forschung, wie auch die Krankenversorgung an Qualität einbüßten.237 Die gegen Ende des 19. Jahrhunderts neu geschaffenen psychiatrischen Universitätskliniken strebten zur weiteren Etablierung des Fachs dessen Professionalisierung und Verwissenschaftlichung an und orientierten sich dazu an den zur Jahrhundertwende vorherrschenden naturwissenschaftlichen Leitwissenschaften. Nachdem hirnmorphologische und physiologische Forschungsansätze nicht den gewünschten Erfolg erbracht hatten, sollte die sich um 1900 formierende Vererbungswissenschaft der Psychiatrie eine naturwissenschaftliche Grundlage geben. Zur Vereinheitlichung der Terminologie legte der Psychiater Emil Kraeplin im Jahr 1896 eine an den somatischen Ursachen orientierte Krankheitsunterteilung in Schizophrenien, manisch-depressive Erkrankungen und andere Neurosen vor, deren Wirkung den wissenschaftlichen Diskurs in der Folge bestimmte. Durch diese konzeptionelle Abgrenzung der Entitäten schien erstmals eine epidemiologische Erfassung der Kranken sowie auf der Grundlage der Vererbungslehre auch eine Prävention psychischer Erkrankungen möglich. Ebenfalls zum ersten Mal schien sich der noch jungen Disziplin Psychiatrie nach langer therapeutischer Ohnmacht in der Prävention ein effektives therapeutisches Instrument zu bieten. Dies führte dazu, dass die konstitutionelle Verknüpfung von Genetik und Eugenik keinesfalls kritisch hinterfragt wurde, sondern sich vielmehr die psychiatrische Genetik als eine Grunddisziplin innerhalb der Psychiatrie etablierte.238 Diese Entwicklung wurde durch die zunehmende Institutionalisierung der psychiatrischen Forschung forciert, die in der Gründung der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie (DFA) 1917 einen vorläufigen Höhepunkt fand. Die DFA stand bis 1945 unter der Leitung des Psychiaters Ernst Rüdin, ein Schüler Kraeplins und späterer Verfasser des GzVeN, der in seinen Forschungen systematisch die von ihm entwickelte »empirische Erbprognose« auf die von Kraeplin entwickelten psychiatrischen Krankheitsentitäten anwandte. Seine Forschung wurde international rezipiert und durch seinen Einfluss verfestigte sich die eugenische Lehre weiter innerhalb der Psychiatrie. Das von Rüdin entworfene Konzept der »psychiatrischen Genetik« wurde somit bereits vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten zu einem führenden Paradigma der 237 Schott, Heinz & Tölle, Rainer (2006), S. 293–298. 238 Zur Verwissenschaftlichung und Biologisierung der Psychiatrie um die Jahrhundertwende siehe: Roelcke, Volker: Die Etablierung der psychiatrischen Genetik ca. 1900–1960. Wechselbeziehungen zwischen Psychiatrie, Eugenik und Humangenetik, in: Wolters, Christine, et al. (Hrsg.): Abweichung und Normalität. Psychiatrie in Deutschland vom Kaiserreich bis zur Deutschen Einheit, Bielefeld, 2013, (111–135), S. 114–119.
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Der historische Kontext
zeitgenössischen psychiatrischen Forschung und war fester Bestandteil der rassenhygienischen Ideologie, die nach 1933 als wissenschaftliche Vorlage für die Erbgesundheitspolitik der Nationalsozialisten fungierte.239 Diese Entwicklung der psychiatrischen Forschung an den Universitätskliniken und Forschungsinstituten, die Ausweitung des Einflussbereichs der Psychiatrie auf gesellschaftliche Probleme und die Frage nach der Prävention psychiatrischer Erkrankungen wirkte spätestens in den ökonomischen Krisenzeiten der Weimarer Republik auch auf die Heil- und Pflegeanstalten und ihre ärztliche Leitung zurück. Die anhaltende Überfüllung der Anstalten hatte bereits vor dem Ersten Weltkrieg zu Reformvorschlägen der Anstaltspsychiater geführt, die in der Krankenversorgung Konzepte Griesingers wie die Entlassung von Patienten in die Familienpflege und die frühzeitige Entlassung bei ambulanter Nachsorge unter dem Begriff der Sozialpsychiatrie wieder aufleben ließen.240 Während in den Hungerjahren des Ersten Weltkriegs tausende Anstaltsinsassen aufgrund ihrer Lage am äußersten Rand der Gesellschaft verhungerten241, füllten sich die Anstalten nach Kriegsende schnell wieder bis zur Überfüllung. Die gleichzeitig schlecht bleibende Versorgungslage begünstigte die Reformkonzepte der Sozialpsychiatrie jetzt aus ökonomischen Beweggründen. Eine Verbesserung der Versorgung der Anstaltspatienten war aber wenn überhaupt nur von kurzer Dauer, da spätestens mit den massiven Sparmaßnahmen im Zuge der Weltwirtschaftskrise 1929 viele therapeutische Konzepte an Bedeutung verloren und durch die Verknüpfung von Psychiatrie und Rassenhygiene die sozialpsychiatrischen Außenfürsorgestellen zu Instanzen sozialer und erbbiologischer Kontrolle verkamen, deren Unterlagen wenig später für die Durchsetzung des GzVeN missbraucht wurden.242 Der Anstaltsalltag und die therapeutischen Verfahren zur Krankenbehandlung, die sich auch in den Lebensgeschichten der Anstaltsinsassinnen der vorliegenden Studie widerspiegeln, blieben somit durch eine psychiatrische Konzeption geprägt, die sich bis auf wenige spätere Änderungen bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert entwickelt hatte und die sich weitestgehend bis zur Psychiatriereform der 1960er Jahre konservierte. Die Ausformungen dieses überwiegend rein naturwissenschaftlichen und somatischen Psychiatrie-ver-
239 Zur Rolle Ernst Rüdins für die psychiatrische genetische Forschung siehe: ibid., S. 119–129. 240 Rotzoll, Maike (2007), in: Fuchs, Petra, et al. (Hrsg.), S. 28f. 241 Zum Hungersterben in der Psychiatrie währen des ersten Weltkriegs siehe: Faulstich, Heinz: Hungersterben in der Psychiatrie 1914–1949. Mit einer Topographie der NS-Psychiatrie, Freiburg im Breisgau, 1998, S. 25–68. 242 Vgl. Rotzoll, Maike (2007), in: Fuchs, Petra, et al. (Hrsg.), S. 30; Zur Lage der Anstalten und den Therapiekonzepten in der Weimarer Republik vgl. ebenfalls: Blasius, Dirk (1994), S. 135–139.
Psychiatriegeschichte im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert
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ständnisses werden hier kurz am Beispiel der Anstalten Riedstadt und Alzey aufgezeigt. Der Aufenthalt in den Heil- und Pflegeanstalten war in den seltensten Fällen freiwillig und folgte größtenteils aufgrund einer Zwangseinweisung der Kranken durch den Amts- oder betreuenden Hausarzt. Nach Alzey und Goddelau kamen die Patienten meist in Begleitung eines Angehörigen, einer Fürsorgeschwester oder der Polizei zur Aufnahme, wo sie nach einem Aufnahmegespräch und einer körperlichen Eingangsuntersuchung auf die verschiedenen Anstaltsabteilungen verteilt wurden. Der Eintritt in die Anstalt war für die Kranken dabei gleichbedeutend mit dem Verlust der Freiheit und dem Recht auf Selbstbestimmung, die sich auch in der Abgabe der eigenen Kleidung und der Übernahme der Anstaltskleidung widerspiegelte.243 Die Verteilung auf die verschiedenen Stationen folgte anhand des psychischen und körperlichen Aufnahmebefunds und der unterschiedlichen Pflegesätze. Unterschieden wurden ruhige, halbruhige und unruhige Patienten sowie die herausgehobene »Pensionärsklasse« und die Pflegeklassen 1–3 für Selbstzahler und Berechtigte öffentlicher finanzieller Unterstützung.244 Das weiträumige Gebiet der Anstalt »Philippshospital« war durch eine Straße geteilt, welche die Frauenabteilungen von den Männerabteilungen trennte und durch eine Mauer gegen die Außenwelt abgeschirmt. Einzelne Gebäudegruppen waren nochmals eigens ummauert. Die Abteilungen bestanden aus Wach- und Tagessälen, sowie Einzelzimmern für ruhige und finanziell besser gestellte Patienten. In den Wachsälen, in denen die unruhigen Patienten untergebracht waren, standen die Kranken unter der ständigen Beobachtung der Wärter und Ärzte. Hier wurde die durch den Psychiater Clemens Neisser in der Anstaltspsychiatrie etablierte Bettbehandlung durchgeführt, die durch gezielt angeordnete ständige Bettruhe eine Beruhigung der Kranken herbeiführen sollte, gleichzeitig aber auch eine Disziplinierungsmaßnahme darstellte.245 Die Unterteilung in Pensionärszimmer, Wach- und Tagessäle findet sich auch in der Anstalt Alzey, die auf einem umzäunte Areal von 25 Hektar ebenfalls zwei räumlich getrennte Abteilungen für Männer und Frauen unterhielt.246 243 Vgl.: Heller-Karneth, Eva (2008), in: Alzey, Rheinhessen Fachklinik (Hrsg.), S. 53f.; Sahmland, Irmtraut: Das Anstaltsleben im Landeshospital Hofheim in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Einblicke und Einsichten anhand von Krankenakten, in: Sahmland, Irmtraut, et al. (Hrsg.): »Haltestation Philippshospital«. Ein Psychiatrisches Zentrum. Kontinuität und Wandel 1535–1904–2004, Marburg, 2004, (91–113), S. 94f. 244 Siehe: Heller-Karneth, Eva (2008), in: Alzey, Rheinhessen Fachklinik (Hrsg.), S. 54; Leifheit, Susanne (2005), S. 10. 245 Zur Bettbehandlung als therapeutischem Konzept siehe exemplarisch: Schott, Heinz & Tölle, Rainer (2006), S. 274ff. 246 Zur architektonischen Aufteilung der Anstalt Alzey siehe: Heller-Karneth, Eva (2008), in: Alzey, Rheinhessen Fachklinik (Hrsg.), S. 43ff.
78
Der historische Kontext
Als weitere Therapieräumlichkeiten für unruhige Kranke verfügten beide Anstalten über verschiedene Dauerbadabteilungen, in denen die Kranken bei Erregungszuständen mehrere Stunden bis Tage in geschlossenen, mit auf Körpertemperatur erwärmtem Wasser gefüllten Badewannen zubrachten. Diese Dauerbadtherapie, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Anstaltspsychiatrie als therapeutische Maßnahme zur Beruhigung wie auch als disziplinarische Maßnahme durchsetzte247, verdrängte in den Anstalten Riedstadt und Alzey zunehmend die Isolation der Kranken in Isolierzimmern, die aber dennoch zum Teil weiterhin durchgeführt wurde.248 Anders sah der Anstaltsalltag für die Kranken in den Tagessälen und ruhigen Abteilungen aus, in welchen die Patienten zu Beschäftigung angehalten wurden, um sie dem Alltag außerhalb der Anstalt nicht zu sehr zu entfremden.249 Zum Zweck der Beschäftigungstherapie der männlichen Patienten unterhielten beide Anstalten zahlreiche Werkstätten und eigene Ländereien mit Viehzucht, während die weiblichen Patienten vorwiegend im Haushaltswesen der Anstalt und im Nähsaal eingesetzt wurden. Im Anstaltsalltag spielte die Arbeitskraft der Patienten für den Unterhalt der Klinik eine entscheidende Rolle, da durch ihre Hilfe Kosten eingespart und die aufgrund des Ersten Weltkriegs fehlenden Arbeitskräfte ersetzt werden konnten. Die zunehmende Nutzung der Patienten als Arbeitskräfte war wahrscheinlich ein schleichender Prozess, der sich zunehmend verselbstständigte und spätestens in den Zeiten der ökonomischen Krisen zu Beginn des 20. Jahrhunderts unentbehrlich war.250 Eine wissenschaftliche Legitimation erhielt diese Form des Einsatzes der Patienten als Arbeitskräfte erst in den 1920er Jahren durch die Arbeiten des Gütersloher Psychiaters Hermann Simon, der als Gegenposition zur Bettbehandlung die aktivierende und strukturierte Arbeitstherapie für alle Anstaltspatienten propagierte.251 Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs hielten in der Weimarer Republik auch die wiederaufgegriffenen Konzepte der Reformpsychiatrie Einzug in Goddelau und Alzey. Die Überbelegung und die schwierige finanzielle Versorgungslage der Anstalten begünstigte neue Formen der Krankenversorgung wie die frühzeitige Entlassung mit anschließender ambulanter Versorgung in den Außenfürsorgestellen der Anstalten und die Entlassung in die Familienpflege bei fremden Fa247 Zur Dauerbadtherapie im Allgemeinen wie auch in ihrer Anwendung in Riedstadt siehe: Rohnert-Koch, Friedgard: Zwischen Therapie und Strafe. Die Dauerbäder im Philippshospital, in: Sahmland, Irmtraut, et al. (Hrsg.): »Haltestation Philippshospital«. Ein Psychiatrisches Zentrum. Kontinuität und Wandel 1535–1904–2004, Marburg, 2004, (161–173). 248 Vgl.: Heller-Karneth, Eva (2008), in: Alzey, Rheinhessen Fachklinik (Hrsg.), S. 55; RohnertKoch, Friedgard (2004), in: Sahmland, Irmtraut, et al. (Hrsg.), S. 166–172. 249 Sahmland, Irmtraut (2004), in: Sahmland, Irmtraut, et al. (Hrsg.), S. 96ff. 250 Rohnert-Koch, Friedgard (2004), in: Sahmland, Irmtraut, et al. (Hrsg.), S. 55f. 251 Rotzoll, Maike (2007), in: Fuchs, Petra, et al. (Hrsg.), S. 29f.
Psychiatriegeschichte im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert
79
milien, wo die Kranken zu Haus- oder Feldarbeiten eingesetzt wurden. Für die Übernahme der Pflege und der Versorgung erhielten die Angehörigen oder die betreuenden Familien einen Teil des Pflegesatzes. Den Rest beanspruchte die Anstalt für ihre ärztliche Betreuung.252 Beide Konzepte wurden auch nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten und der Einführung des GzVeN beibehalten, wobei eine Entlassung an die vorherige Sterilisation der Betroffenen gebunden war. Im »Philippshospital« wurden zwischen 1935 und 1943 zeitweise über 800 Patienten in der Außenfürsorgestelle der Anstalt in Darmstadt ambulant betreut.253 Für Alzey ist ebenfalls die Betreuung von vorübergehend über 100 Patienten in der Außenfürsorge belegt.254 In den 1920er und 1930er Jahren erreichten ausgehend von den psychiatrischen Universitätskliniken und Forschungsinstituten auch neue somatische Therapieverfahren die Heil- und Pflegeanstalten.255 Für den Untersuchungszeitraum ist hier einzig die Insulinschocktherapie relevant, die in der Anstalt Goddelau ab 1936 zur Therapie eingesetzt wurde. Nachdem 1922 Insulin erstmals aus der Bauchspeicheldrüse von Schweinen isoliert und zur Behandlung von Diabetes mellitus eingesetzt werden konnte, wurden bald darauf auch Studien zur Insulintherapie bei anderen Krankheitsbildern veröffentlicht. In der psychiatrischen Therapie setzte der Berliner Arzt Manfred Joshua Sakel Insulin zur Behandlung von Schizophrenen ein und erzielte damit seiner Publikation aus dem Jahr 1933 folgend eine Heilungsquote von über 88 %.256 Erstmals schien eine kausale Behandlungsmethode der Schizophrenie gefunden, die daraufhin breit rezipiert und kopiert wurde. In der Therapie wurden die Patienten mit bis zu 200E Insulin in einen hypoglykämischen präkomatösen bis komatösen Zustand versetzt, der nach einigen Stunden mit der Verabreichung einer Traubenzuckerlösung wieder durchbrochen wurde. Diese Therapie wurde über 6–8 Wochen täglich durchgeführt, wobei der Sonntag als Ruhetag ausgesetzt wurde. Für diese Form der Behandlung wurde in Riedstadt eigens ein Insulinsaal eingerichtet. Eine Übernahme der Therapie in der Anstalt Alzey ist hingegen nicht belegt. Der Anstaltsalltag der Kranken im Untersuchungszeitraum war somit durch Wachsaal, Isolation und Dauerbad für die unruhigen Patienten und Beschäftigung und körperliche Arbeit für die ruhigeren Patienten geprägt. Beides erfolgte bei weitestgehend völliger Abgeschlossenheit nach außen. Einmal aufgenommen war eine Entlassung gegen den ärztlichen Rat der behandelnden Mediziner wenn 252 253 254 255
Heller-Karneth, Eva (2008), in: Alzey, Rheinhessen Fachklinik (Hrsg.), S. 61f. Leifheit, Susanne (2005), S. 20f. Heller-Karneth, Eva (2008), in: Alzey, Rheinhessen Fachklinik (Hrsg.), S. 62. Zu den somatischen psychiatrischen Therapieverfahren wie der Elektrokrampftherapie, der Dauernarkose und der Insulinbehandlung siehe: Schmuhl, Hans-Walter & Roelcke, Volker (2013). 256 Leifheit, Susanne (2005), S. 26f.
80
Der historische Kontext
überhaupt nur auf äußerst beharrliches Drängen der Angehörigen hin möglich und nach Inkrafttreten des GzVeN 1934 meist an die Sterilisation des Betroffenen gebunden. Mit der Einweisung verloren die Kranken ihre Freiheit und Mündigkeit und waren einem psychiatrischen Anstaltswesen nahezu schutzlos ausgesetzt, dass sich spätestens nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten ihrer rassenhygienischen Ideologie unterwarf und aktiv an der Umsetzung ihrer Erbgesundheitspolitik mitwirkte.
3.
Die zwangssterilisierten Anstaltsinsassinnen aus Riedstadt Goddelau und Alzey als Opfergruppe. Eine kollektivbiographische Analyse
Wie bereits beschrieben, befanden sich ca. 23 % der 1.429 in Mainz zwangsweise sterilisierten Frauen vor ihrer Unfruchtbarmachung in stationärer psychiatrischer Behandlung. Nahezu 70 % dieser Frauen wurden aus den Landes-Heil- und Pflegeanstalten Riedstadt Goddelau und Alzey zur Sterilisation nach Mainz überwiesen.257 Die hier getroffene Auswahl dieser beiden Institutionen kann daher als repräsentativ für die Mainzer Sterilisationsopfer aus psychiatrischen Anstalten gelten. Insgesamt wurden 224 Anstaltsinsassinnen aus den beiden Anstalten in Mainz unfruchtbar gemacht, 91 Frauen aus Alzey und 133 Frauen aus dem »Philippshospital« Goddelau, so dass das erfasste Stichprobenkollektiv somit ca. 16 % aller weiblichen Mainzer Sterilisationsopfer abbildet. Bei 15 eingewiesenen Frauen wurde die Sterilisation von den Mainzer Ärzten abgelehnt und die Frauen wieder zurücküberwiesen. Ein Recht auf Ablehnung einer Sterilisation bzw. Einspruch gegen den Sterilisationsbeschluss war den Ärzten in der Ausführungsverordnung des GzVeN eingeräumt worden, wenn durch die Sterilisation eine potenzielle Gefährdung des Betroffenen bestand oder wenn anderweitige Gründe für eine Ablehnung aus ärztlicher Sicht vorlagen. Geschah dies, so hatte der zuständige Amtsarzt die medizinischen Gründe für die Ablehnung zu überprüfen und dann gegebenenfalls eine Aufhebung des Sterilisationsbeschlusses zu beantragen.258 Von 99 aus Alzey nach Mainz überwiesenen Frauen wurde die Unfruchtbarmachung in acht Fällen abgelehnt. Begründet wurde die Verweigerung der Durchführung in allen Fällen mit dem schlechten körperlichen Zustand und den Begleiterkrankungen der Frauen. Bei zwei Frauen fiel ein pathologischer Herzbefund in der Eingangsuntersuchung auf, zwei weitere Frauen wurden wegen einer bestehenden Katalepsie abgewiesen und die restlichen Frauen wurden aufgrund ihres Alters und ihres Gesundheitszustandes ohne Operation wieder nach Alzey zurücküberwiesen. Von den 140 Frauen, die aus Goddelau nach Mainz überwiesen wurden, entkamen nur sieben ihrer Ste257 Ruckert, Frederic (2012), S. 41f. 258 Reichsgesetzblatt I, 1933, S. 1021ff, Artikel 6.
82
Die zwangssterilisierten Anstaltsinsassinnen aus Riedstadt Goddelau und Alzey
rilisierung. Bei Dreien wurde in der ärztlichen Eingangsuntersuchung bereits eine anatomische Unfruchtbarkeit festgestellt. Bei den restlichen Frauen wurde die Sterilisation ebenfalls aufgrund ihres körperlichen Zustands und ihrer Vorerkrankungen verweigert. Bis auf zwei Anstaltsinsassinnen aus Riedstadt wurden alle Frauen durch Operation unfruchtbar gemacht. Zur operativen Sterilisation kam bei 82 % der Anstaltsinsassinnen die Tubensterilisation nach Madlener zur Anwendung, bei der die Eileiter an ein oder zwei Stellen durch Seidenfäden abgebunden und damit undurchlässig gemacht wurden. Zusätzlich wurden die Tuben in den meisten Fällen mit einer Klemme großflächig gequetscht, um dadurch eine Verwachsung zu bewirken. Die zweithäufigst angewandte Sterilisationsmethode war die teilweise oder vollständige Resektion der Eileiter, die bei 13 % der Frauen durchgeführt wurde. Neben diesen Methoden wurden in den restlichen Fällen bei anatomischen oder pathologischen Veränderungen des Genitaltraktes auch radikalere Operationen, wie eine totale Hysterektomie durchgeführt oder verschiedene Operationsmethoden miteinander kombiniert. Bei einer 24-Jährigen, die 1935 aufgrund einer in der Anstalt Alzey diagnostizierten Schizophrenie nach Mainz zur Sterilisation überwiesen wurde, bestand der Verdacht einer bereits bestehenden Schwangerschaft, so dass zunächst eine Kürretage der Gebärmutter zur Schwangerschaftsunterbrechung und im Anschluss eine operative Unterbindung der Eileiter vorgenommen wurde.259 Nur zwei Anstaltsinsassinnen aus Riedstadt, Anna Rückert und Emilie Medicus, wurden in Mainz mit der Begründung ihres hohen Alters durch die Einwirkung von Strahlung unfruchtbar gemacht. Bei der zu diesem Zeitpunkt 38 Jahre alten Landwirtschaftsarbeiterin Anna Rückert wurde die Sterilisation durch zweimalige Bestrahlung des Unterbauches herbeigeführt, während die ebenfalls 38-jährige Emilie Medicus dreimal in Folge für unterschiedliche Zeiträume eine Radiumeinlage in die Gebärmutter erhielt.260 Zur Sterilisation wurden alle Frauen aus Alzey und Riedstadt immer erst in die Hebammenlehranstalt überwiesen, wo dann die Indikation zur Überweisung in das Röntgenologische Institut des städtischen Klinikums gestellt wurde. Direkte Überweisungen aus den Anstalten Riedstadt oder Alzey in die Städtische Frauenklinik ließen sich im gesichteten Krankenaktenbestand nicht nachweisen.
259 Archiv des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Universität Mainz, Krankengeschichten der Hebammenlehranstalt Mainz 1935 Bd. 2, Hauptbuchnummer 1023. 260 Ibid., 1936 Bd. 2 Hauptbuchnummer 650 und 900.
83
Der zeitliche Verlauf der Sterilisationsmaßnahmen
3.1
Der zeitliche Verlauf der Sterilisationsmaßnahmen
Die erste Anstaltsinsassin aus Alzey wurde im März 1934, zehn Wochen nach Inkrafttreten des GzVeN, aufgrund einer in der Anstalt diagnostizierten Schizophrenie nach Mainz überwiesen und dort in der Hebammenlehranstalt am 13. des Monats durch die Herausnahme beider Eileiter unfruchtbar gemacht. Noch im selben Jahr teilten weitere 27 Frauen aus Alzey ihr Schicksal (vgl. Abb. 1). Mit über 50 % fällt der Großteil der gesetzlichen Sterilisationen an Anstaltsinsassinnen aus Alzey auf die ersten beiden Jahre nach Einführung der gesetzlichen Sterilisation. 1935 wurden insgesamt 22 Frauen aus Alzey in Mainz unfruchtbar gemacht und 1936 noch einmal 19 weitere. Ab 1937 nimmt die Zahl der zur Sterilisation überwiesenen Anstaltsinsassinnen weiter kontinuierlich ab, bis schließlich am 6. Dezember 1939 die letzte gesetzliche Unfruchtbarmachung an einer Anstaltsinsassin aus Alzey vollzogen wird. Ab 1940 sind keine weiteren Operationen mehr in den Akten der Hebammenlehranstalt verzeichnet. Sterilisa!onen
70 60
Anzahl
50 40 30
28
22
19
20
11
10 0
1934
1935
1936 Jahre
1937
6
5
1938
1939
0 1940
Abbildung 1: Zeitlicher Verlauf der Sterilisationen der Anstalt Alzey
Betrachtet man die Daten der Anstaltsinsassinnen aus Goddelau, so stellt sich der zeitliche Verlauf der Sterilisationsmaßnahmen ähnlich dar. Die erste Unfruchtbarmachung einer Riedstädter Anstaltsinsassin findet am 25. April 1934, ca. einen Monat nach der ersten Unfruchtbarmachung einer Alzeyer Anstaltsinsassin statt. Insgesamt werden noch im ersten Jahr der gesetzlichen Sterilisationsmaßnahmen weitere 35 Frauen aus Riedstadt in Mainz zwangsweise unfruchtbar gemacht (vgl. Abb. 2). Diese Anzahl wird im Folgejahr noch einmal übertroffen, in welchem 57 Anstaltsinsassinnen aus Riedstadt den Sterilisationsmaßnahmen zum Opfer fallen. Der Großteil der gesetzlich angeordneten Unfruchtbarmachungen fällt somit auch für die Zwangssterilisationsopfer des »Philippshospitals« in die ersten beiden Jahre nach Inkrafttreten des GzVeN. Auf diesen Zeitraum entfallen nahezu 70 % der durchgeführten Operationen. Ab 1937 lässt sich anhand der Daten
84
Die zwangssterilisierten Anstaltsinsassinnen aus Riedstadt Goddelau und Alzey Sterilisationen
70
57
60
Anzahl
50 40
36
30
20
20
10
9
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1934
1935
1936
1937
1938
0
1
1939
1940
Jahre
Abbildung 2: Zeitlicher Verlauf der Sterilisationen der Anstalt Goddelau
auch für die Landesanstalt Riedstadt ein deutlicher Rückgang der Einweisungen feststellen. Zwar findet die letzte dokumentierte Unfruchtbarmachung einer Riedstädter Anstaltsinsassin am 16. Dezember 1940 statt und damit ein Jahr später als die letzte Sterilisation einer Insassin aus Alzey. Für das vorhergehende Jahr 1939 lassen sich aber bereits keine Operationen mehr an Frauen der Anstalt Riedstadt in den Akten der Hebammenlehranstalt nachweisen.
3.2
Das Alter zum Zeitpunkt der Unfruchtbarmachung
Für die Analyse der Altersverteilung der Zwangssterilisationsopfer wird in den verschiedenen regionalen Studien unterschiedlich verfahren und die Altersgrenze für das Erreichen der Volljährigkeit in einigen Arbeiten bei 18 Jahren, in anderen wiederum bei 21 Jahren gesetzt. Unter der Prämisse, dass jegliche retrospektive Einteilung des Opferkollektivs subjektiv ist, wurde zur Unterscheidung zwischen den minderjährigen und erwachsenen Frauen der Anstalten Riedstadt und Alzey die damalige Altersgrenze von 21 Jahren für das Erreichen der Volljährigkeit zu Grunde gelegt. Prinzipiell war nach der Ausführungsverordnung des GzVeN eine Unfruchtbarmachung erst nach der Vollendung des zehnten Lebensjahres des Betroffen zulässig.261 Im Gegensatz zum gesamten Kollektiv der weiblichen Mainzer Zwangssterilisationsopfer lässt sich unter den Anstaltsinsassinnen kein Fall einer Unfruchtbarmachung vor dem Erreichen der Menarche und damit der Geschlechtsreife der Frauen finden. Die jüngste Alzeyer Anstaltsinsassin, die in Mainz operativ unfruchtbar gemacht wurde, war zum Zeitpunkt der Sterilisation 16 Jahre alt und wurde von der Anstalt aufgrund der Diagnose »Schizophrenie« eingewiesen. Insgesamt hatten 9 Mädchen und damit immerhin 10 % der Frauen aus Alzey das 21. Lebensjahr noch nicht erreicht und waren daher zum Zeitpunkt 261 Reichsgesetzblatt I, 1933, S. 1021, Artikel 1.
85
Das Alter zum Zeitpunkt der Unfruchtbarmachung
ihrer Operation nach der damaligen Gesetzeslage minderjährig (vgl. Abb. 3). Das Durchschnittsalter der aus Alzey eingewiesenen Frauen betrug 29,8 Jahre. Mit 57 % war der überwiegende Teil der Frauen bei ihrer Unfruchtbarmachung zwischen 25 und 36 Jahre alt. Die älteste Anstaltsinsassin wurde im Alter von 45 Jahren ebenfalls aufgrund einer in der Anstalt Alzey diagnostizierten »Schizophrenie« in die Mainzer Hebammenlehranstalt zur Unfruchtbarmachung überwiesen. Sterilisationsopfer 40 35
Anzahl
30
25
25
19
20 10 5 0
18 13
11
15
3
2 < 18
18-22
23-27
28-32
33-37
38-42
43-47
0 > 47
0 Keine Angaben
Altersgruppen nach Lebensjahren
Abbildung 3: Altersverteilung der Zwangssterilisationsopfer der Anstalt Alzey
Die jüngste Anstaltsinsassin aus Riedstadt Goddelau war zum Zeitpunkt ihrer Unfruchtbarmachung gerade 15 Jahre alt. Mit der Diagnose »Angeborener Schwachsinn« wurde sie nach Mainz überwiesen und dort wenige Tage später durch die doppelte Unterbindung beider Eileiter unfruchtbar gemacht. Insgesamt finden sich im Archivbestand die Krankengeschichten von 12 Mädchen aus Riedstadt, die bei ihrer Überweisung noch nicht volljährig waren (vgl. Abb. 4). Ihre Fälle machen 9 % der aus Riedstadt überwiesenen Frauen aus. Ähnlich wie in der Analyse der Alzeyer Anstaltsinsassinnen waren in 57 % der Fälle die meisten Frauen aus Riedstadt zum Zeitpunkt der Operation zwischen 25 und 36 Jahre alt. Die älteste in Mainz sterilisierte Anstaltsinsassin aus Riedstadt wurde im Alter von 49 Jahren aufgrund der Diagnose »Schizophrenie« zur Operation nach Mainz überwiesen. Im Gesamtdurchschnitt waren die Anstaltsinsassinnen aus Riedstadt bei ihrer Unfruchtbarmachung insgesamt etwas jünger als die Betroffenen der Anstalt Alzey. Das Durchschnittsalter betrug 26,8 Jahre.
86
Die zwangssterilisierten Anstaltsinsassinnen aus Riedstadt Goddelau und Alzey
Sterilisationsopfer 40 33
35 27
30
28
Anzahl
25
20
20
15
15 10 5 0
4
4 1
< 18
18-22
23-27
28-32
33-37
38-42
43-47
> 47
1 Keine Angaben
Altersgruppen nach Lebensjahren
Abbildung 4: Altersverteilung der Zwangssterilisationsopfer der Anstalt Goddelau
3.3
Die rechtfertigenden Diagnosen
Von den neun Indikationen, die laut GzVeN eine gesetzlich angeordnete Sterilisation rechtfertigen konnten, wurden innerhalb der psychiatrischen Landesanstalten Riedstadt Goddelau und Alzey nur vier Diagnosen zur Rechtfertigung einer operativen Unfruchtbarmachung gestellt. Die 224 Frauen aus Alzey und Riedstadt, die aufgrund eines Erbgesundheitsgerichtsbeschlusses in Mainz zwangsweise sterilisiert wurden, hatten vorher in der Anstalt entweder die Diagnose »Schizophrenie«, »Angeborener Schwachsinn«, »Manisch-Depressives Irresein« oder »Erbliche Fallsucht« gestellt bekommen. Die Diagnosen »Erbliche Blindheit«, »Erbliche Taubheit«, »Erblicher Veitstanz«, »Schwere körperliche Missbildung« oder »Schwerer Alkoholismus« ließen sich innerhalb der Krankengeschichten der Hebammenlehranstalt und der städtischen Frauenklinik nicht nachweisen. Für die Anstaltsinsassinnen aus Alzey führte die Diagnose »Schizophrenie« mit 79 % am häufigsten zu einer zwangsweisen Sterilisation (vgl. Abb. 5). Nur 10 Frauen und damit 11 %, wurden aufgrund der Diagnose »Angeborener Schwachsinn« nach Mainz überwiesen. Auf die Diagnosen »Manisch Depressives Irresein« und »Erbliche Fallsucht« entfallen jeweils nur noch 6 % bzw. 4 % der analysierten Fälle. Im Gegensatz zur Gesamtanzahl der weiblichen Mainzer Sterilisationsopfer, die mit nahezu 63 % aufgrund der Diagnose »Angeborener
87
Die rechtfertigenden Diagnosen
Schwachsinn« unfruchtbar gemacht wurden,262 überwiegt innerhalb des Kollektivs der Anstaltspatienten die Diagnose »Schizophrenie« deutlich.
Diagnosen
4%
6%
11%
Angeborener Schwachsinn Schizophrenie Erbliche Fallsucht Manisch-Depressives Irresein
79%
Abbildung 5: Sterilisationsindikationen der Zwangssterilisationsopfer der Anstalt Alzey
In der Landesanstalt in Riedstadt Goddelau wurde bei 87 Frauen und damit immerhin noch in 65 % der Fälle ebenfalls die Diagnose »Schizophrenie« am häufigsten zur Rechtfertigung der zwangsweisen Unfruchtbarmachung gestellt (vgl. Abb. 6). Im Gegensatz zu Alzey wurden in Riedstadt 22 % der Unfruchtbarmachungen aufgrund von »Angeborenem Schwachsinn« angeordnet. Auch der Anteil der Fälle von »Epilepsie« ist in Riedstadt mit 11 % der Indikationen im Vergleich mit Alzey etwas höher. Insgesamt lässt sich feststellen, dass in beiden Anstalten die Diagnose »Schizophrenie« am häufigsten zur Antragsstellung einer zwangsweisen Unfruchtbarmachung herangezogen wurde. Am zweithäufigsten wurde eine Sterilisation aufgrund der Diagnose »Angeborener Schwachsinn« beantragt, währenddessen die Indikationen »Erbliche Fallsucht« und »Manisch-Depressives Irresein« nur selten zu einer zwangsweisen Unfruchtbarmachung führten. Auf welchen Grundlagen die ärztlichen Diagnosen fußten, welche Kriterien zur Diagnosefindung angelegt wurden und welchen Einfluss die ärztlichen Gutachter mit ihrem Urteil auf die Rechtsprechung der Erbgesundheitsgerichte hatten, ist bereits dargelegt worden. Welche soziale Dimension die ärztliche Diagnose in262 Ruckert, Frederic (2012), S. 37f.
88
Die zwangssterilisierten Anstaltsinsassinnen aus Riedstadt Goddelau und Alzey
Diagnosen
2%
11%
22%
Angeborener Schwachsinn Schizophrenie Erbliche Fallsucht Manisch-Depressives Irresein
65%
Abbildung 6: Diagnosen der Zwangssterilisationsopfer der Anstalt Goddelau
nerhalb der Landesanstalten Alzey und Riedstadt hatte, wie die Diagnosefindung im Einzelnen stattfand und welche Folgen die Diagnosestellung für die betroffenen Frauen hatte, soll anhand der Lebensgeschichten im Folgeteil aufgezeigt und zusammenfassend in der qualitativen Analyse der Fallstudien dargestellt werden.
3.4
Der soziale Status der betroffenen Frauen
Als Parameter für den sozialen Status der Zwangssterilisationsopfer aus Alzey und Riedstadt wurden die in den Krankenakten angegebenen Berufe herangezogen und statistisch aufgearbeitet. Da in der Sozialforschung verschiedene Modelle der Schichteinteilung existieren und diese nur schwer miteinander vergleichbar scheinen, wurde in der Analyse auf eine Einteilung in soziale Schichten verzichtet. Anhand der Berufsgruppe lassen sich dennoch zumindest eingeschränkt auch Rückschlüsse auf die soziale Stellung der Anstaltsinsassinnen ziehen. In einem Drittel der Fälle ist die Dokumentation des Berufsstandes in den Krankenakten unvollständig, so dass auch hier eine Einschränkung der Aussagekraft für das gesamte Kollektiv vorliegt. 29 % und damit der größte Teil der Alzeyer Zwangssterilisationsopfer war zum Zeitpunkt der Erfassung in den Mainzer Akten verheiratet und führte den familiären Haushalt. 24 %, vor allem aber jüngere Frauen, waren als Hausange-
89
Der soziale Status der betroffenen Frauen
stellte in besser gestellten Familien beschäftigt. Nur 8 % waren erwerbslos gemeldet. 4 % Frauen arbeiteten in handwerklichen Lehrberufen als Schneiderin, Gärtnerin oder Friseurin. Und wiederum 2 % als einfache Angestellte im Einzelhandel oder als Sekretärin (vgl. Abb. 7).
Berufsgruppen 28% 32% Hausfrau Hausangestellte Arbeiterin Einfache Angestellte Handwerkliche Lehrberufe Erwerbslos Keine Angaben 8% 4%
24% 2% 2%
Abbildung 7: Berufsgruppen der Zwangssterilisationsopfer der Anstalt Alzey
Ähnlich sieht die Verteilung der Berufsgruppen der Zwangsterilisationsopfer der Anstalt Riedstadt Goddelau aus (vgl. Abb. 8). Auch hier war mit 34 % bei einem Drittel der Frauen Hausfrau als Beruf in den Akten verzeichnet. Als Hausangestellte arbeiteten 9 % der Frauen und 7 % arbeiteten in handwerklichen Lehrberufen. Acht Frauen und somit 6 % waren zum Zeitpunkt ihrer Sterilisation erwerbslos gemeldet. Der restliche Teil verteilt sich auf einfache Angestellte oder Arbeiterinnen. Wie auch in Alzey ging keines der Sterilisationsopfer einem akademischen Beruf nach. Somit lässt sich festhalten, dass der größte Teil der in Mainz sterilisierten Anstaltsinsassinnen als verheiratete Hausfrau lebte. Ihr Sozialstatus hing hauptsächlich vom sozialen Status ihres Ehemannes ab. Ein großer Teil vor allem der jüngeren Zwangssterilisationsopfer arbeitete wie zu dieser Zeit üblich als Hausangestellte. Nur ein geringer Prozentteil hatte eine Berufsausbildung abgeschlossen und keine der Frauen arbeitete in höher gestellten Berufen.
90
Die zwangssterilisierten Anstaltsinsassinnen aus Riedstadt Goddelau und Alzey
Berufsgruppen
Hausfrau Hausangestellte
34%
35%
Arbeiterin Einfache Angestellte Handwerkliche Lehrberufe Weitere Erwerbslos Keine Angaben 9%
6% 2%
7%
4%
3%
Abbildung 8: Berufsgruppen der Zwangssterilisationsopfer der Anstalt Goddelau
3.5
Der Familienstand der Opfer
Der Familienstand der Zwangssterilisationsopfer aus Alzey und Riedstadt kann in der kollektivbiographischen Analyse als Parameter für die soziale Eingebundenheit der Betroffenen gelten. Einer Hypothese der NS-»Euthanasie«-Forschung folgend wird für eine verstärkte soziale Eingebundenheit und einen starken familiären Zusammenhalt eine größere Chance angenommen, sich dem Zugriff der NS-Gesundheitsministerien zu entziehen.263 Im Deutschen Reich lebten 1935 46 % der Einwohner in einer Ehe.264 Im Vergleich dazu sind unter den in Mainz zwangsweise sterilisierten Anstaltsinsassinnen aus Alzey und Riedstadt ledige Frauen deutlich überrepräsentiert. In Alzey waren 67 % der Betroffenen zum Zeitpunkt ihrer Unfruchtbarmachung ledig (vgl. Abb. 9). Mit 26 % war der zweitgrößte Teil der Betroffenen verheiratet und hatte bereits Kinder. Um eine weitere Fortpflanzung zu unterbinden, wurden aber auch diese in einer staatlich anerkannten Ehe lebenden jungen Mütter gegen ihren Willen unfruchtbar gemacht. Drei Frauen aus Alzey waren bei ihrer Sterilisation zwar verheiratet, aber noch kinderlos. Eine von ihnen hatte kurz vor ihrer Sterilisation eine Fehlgeburt gehabt. Ihnen wie auch den 263 Vgl. hierzu: Fuchs, Petra (2007), in: Fuchs, Petra, et al. (Hrsg.), S. 57. 264 Ibid.
91
Der Familienstand der Opfer
61 ledigen Frauen wurde durch den gerichtlichen Sterilisationsbeschluss der Kinderwunsch für immer verwehrt. Nur vier Anstaltsinsassinnen waren bei ihrer Unfruchtbarmachung alleinerziehende Mütter. Geschiedene Frauen ließen sich unter den Betroffenen aus Alzey nicht finden. Eine Anstaltsinsassin war bereits verwitwet. 1%
Familienstand 26%
Ledig Alleinerziehend Verheiratet, kinderlos Verheiratet mit Kindern Verwitwet
3% 3% 67%
Abbildung 9: Familienstand der Zwangssterilisationsopfer der Anstalt Alzey
Ähnliche Zahlen lassen sich für die Betroffenen der Anstalt Riedstadt ermitteln (vgl. Abb. 10). Hier lebten prozentual ebenso viele Frauen in einer Ehe mit Kindern wie in Alzey. Der Anteil der ledigen Zwangssterilisationsopfer ist mit 57 % etwas geringer als im Betroffenenkollektiv der Anstalt Alzey. Drei dieser unverheirateten Frauen hatten bereits ein Kind zur Welt gebracht, das aber nach der Geburt verstorben war. Insgesamt zehn Frauen waren zum Zeitpunkt ihrer Unfruchtbarmachung verheiratet, aber noch kinderlos. Eine von ihnen, die 36jährige Katharina Seitz265, hatte ihre beiden Kinder im Alter von 8 und 10 Jahren verloren. Sie wurde 1935 aufgrund der Diagnose »Schizophrenie« unfruchtbar gemacht.
265 Universitätsklinikum Mainz, Archiv des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Krankenaktenbestand der Hebammenlehranstalt Mainz, Jahrbuch 1935, Bd. 2, Hauptbuchnr. 1139.
92
Die zwangssterilisierten Anstaltsinsassinnen aus Riedstadt Goddelau und Alzey
2% 2%
Familienstand 26% Ledig Alleinerziehend Verheiratet, kinderlos Verheiratet mit Kindern Geschieden
57%
Keine Angaben 8%
5%
Abbildung 10: Familienstand der Zwangssterilisationsopfer der Anstalt Goddelau
3.6
Der Entlassungsort nach vollzogener Sterilisation
Die Angabe, wohin die von der gesetzlichen Unfruchtbarmachung betroffenen Frauen aus den Anstalten Alzey und Riedstadt nach ihrer Sterilisation entlassen wurden, kann den Grund ihrer Auswahl zur Anzeige beim Erbgesundheitsgericht näher beleuchten und gibt auch Auskunft über die Mechanismen der ärztlichen Diagnosefindung und -begründung. Wie bereits in mehreren Studien belegt, spielten bei der ärztlichen Entscheidungsfindung die Kriterien des psychopathologischen Befundes sowie die erwiesene Vererbung der Krankheit und der Krankheitsverlauf eher eine nebensächliche Rolle.266 Ausschlaggebend war vor allem die ärztliche Bewertung der Fortpflanzungsfähigkeit und der »Fortpflanzungsgefahr« innerhalb wie außerhalb der Anstalt. Hatten die Anstaltsinsassinnen durch eventuelle Bewegungsfreiheit oder durch ihre ihnen zugewiesene Arbeit Kontakt zu männlichen Anstaltsinsassen oder sollten in Familienpflege oder zurück zu ihren Angehörigen entlassen werden, so musste laut GzVeN erst das Erbgesundheitsgericht über ihre Sterilisation entscheiden. Die ärztliche Anstaltsleitung war nach dem Gesetzestext dafür verantwortlich, die Unterbindung der Fortpflanzung der Anstaltsinsassinnen innerhalb der Anstalt zu garantieren. Eine Entlassung einer Anstaltspatientin mit einer in dem Gesetzestext 266 Drescher-Müller, Gisela; Pritzel, Monika & Steinberg, Reinhard: Einstellungen der Anstaltspsychiatrie zur Zwangssterilisation. Eine Analyse der Krankenakten von 121 schizophrenen Frauen aus Klingenmünster und Frankenthal, in: Steinberg, Reinhard & Pritzel, Monika (Hrsg.): 150 Jahre Pfalzklinikum, Stuttgart, 2012, (301–317), S. 314f.
Der Entlassungsort nach vollzogener Sterilisation
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des GzVeN festgelegten Diagnosen war erst nach der gerichtlichen Prüfung der Sterilisationsindikation überhaupt zulässig. Wie sich in der Analyse der Lebensgeschichten im Folgenden zeigen wird, warteten manche Frauen monatelang auf ihren Sterilisationsbeschluss und versuchten teilweise auch aktiv dessen Umsetzung zu beschleunigen, um überhaupt aus der Anstalt entlassen werden zu können. Von den 91 aus der Anstalt Alzey in Mainz sterilisierten Frauen wurden ca. 44 % nach ihrer Unfruchtbarmachung nach Hause entlassen (vgl. Abb. 11). Bei diesen Frauen war die Sterilisation oft allein für die Erlaubnis ihrer Entlassung notwendig. 26 Betroffene und damit 29 % wurden nach ihrer Operation wieder zurück in die Anstalt verlegt. Hier handelte es sich vermutlich überwiegend um Fälle, bei denen die »Fortpflanzungsbeschränkung« innerhalb der Anstalt Alzey gewährleistet werden sollte oder für die eine spätere Entlassung nach Hause bereits angedacht war. Drei Frauen mussten nach ihrer Operation aufgrund von körperlichem Widerstand gegen die weiteren ärztlichen und pflegerischen Maßnahmen direkt auf die Akutpsychiatrie des städtischen Krankenhauses verlegt werden. Bei 24 % der Anstaltsinsassinnen war der Entlassungsort in der Krankengeschichte der Hebammenlehranstalt nicht vermerkt.
Entlassungsort 24%
Entlassung nach Hause
44%
Rückverbringung in die Anstalt Verlegung auf Akutpsychiatrie
3%
Entlassungsort unbekannt
29%
Abbildung 11: Entlassungsort der Zwangssterilisationsopfer der Anstalt Alzey
Mit 59 % wurde der größte Teil der Anstaltsinsassinnen des »Philippshospitals« nach vollzogener Unfruchtbarmachung wieder zurück in die Anstalt verlegt (vgl. Abb. 12). Der Anteil der Rückverlegungen ist im Vergleich zu den Zahlen der
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Die zwangssterilisierten Anstaltsinsassinnen aus Riedstadt Goddelau und Alzey
Alzeyer Anstaltsinsassinnen doppelt so groß, so dass hier nicht davon ausgegangen werden kann, dass für diese Frauen eine spätere Entlassung nach Hause geplant war. Es muss vielmehr vermutet werden, dass in Riedstadt systematisch bei allen unter das GzVeN fallenden Anstaltsinsassinnen ein Antrag auf Sterilisation gestellt wurde. Im Gegensatz zu den betroffenen Frauen aus Alzey wurden nur 26 % der 133 Riedstädter Sterilisationsopfer nach ihrer Operation nach Hause entlassen. Der Teil der Betroffenen, der nach seiner Einweisung in die städtische Frauenklinik überwiesen wurde, entspricht den zwei Sterilisationsopfern, die durch die Einwirkung von Strahlung unfruchtbar gemacht wurden. Bei 14 % der Frauen war der Ort der späteren Entlassung aus der Krankengeschichte nicht nachzuvollziehen.
Entlassungsort
14% 26%
1% Entlassung nach Hause Rückverbringung in die Anstalt Verlegung in die Städ!sche Frauenklinik Entlassungsort unbekannt
59%
Abbildung 12: Entlassungsort der Zwangssterilisationsopfer der Anstalt Goddelau
4.
Lebensgeschichten
4.1
Alzey
Die in der Folge porträtierten sieben Frauen wurden zufällig aus allen Psychiatrieinsassinnen der Anstalt Alzey ausgewählt, die in Mainz durch Operation unfruchtbar gemacht wurden. Bei der Auswahl wurde einzig versucht, einen möglichst breiten Zeitraum abzudecken und verschiedene Diagnosen zu erfassen. Weitere Auswahlkriterien wurden nicht herangezogen. Die Lebensgeschichten sind in der Reihenfolge des Sterilisationsdatums aufgeführt. Für die Texte wurden die in der Krankendokumentation getätigten Einträge der Ärzte und Pfleger, wie auch die Briefe der betroffenen Frauen und ihrer Angehöriger in weitestgehend chronologischer Reihenfolge nebeneinandergestellt und um einige erklärende Textpassagen ergänzt.
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Lebensgeschichten
4.1.1 Katharina E.
Abbildung 13: Foto Katharina E.
»…, dass ich bis jetzt noch immer den Kürzeren gezogen habe.«
Geboren 1905 Zwangssterilisiert in Mainz 1934 Am 22. Oktober 1932 wird Katharina E. im Alter von 27 Jahren mit dem Krankentransport im Narkoseschlaf aus der Städtischen Klinik Mainz in die Heil- und Pflegeanstalt Alzey gebracht. »Pat. hatte eine Injektion, schlief so fest und ließ sich so sehr hängen dabei, sodaß man sie nicht gleich baden konnte.«267 Über ihre Lebensgeschichte finden sich in ihrer Patientenakten aus Alzey unterschiedliche, teilweise widersprüchliche Angaben, die eine genaue Rekonstruktion ihres Lebens- wie auch ihres Krankheitsverlaufs erschweren. Als Aufnahmediagnose wird in ihrer Krankenakte »Imbezillität mit Erregungszuständen« vermerkt. Sie kommt in den Wachsaal und nachdem sie sich nach ihrem Erwachen ruhig verhält auf die ruhige Wache. Bei ihrer Exploration vier Tage später beschreibt sie der aufnehmende Arzt als »geordnet« in ihrem Benehmen aber »sehr frech und batzig«. Ihre Eltern hatten sich früh scheiden lassen und der Vater, ein Schleifer mit eigenem Geschäft in Offenbach, hatte daraufhin erneut geheiratet. Aus dieser zweiten Ehe stammte auch Katharina E.s einzige Stiefschwester Else E. Unter ihren familiären Verhältnissen scheint sie gelitten zu haben, denn sie gibt im 267 Landesarchiv Speyer. Bestand O 41 (Landeskrankenhaus Rheinhessen Fachklinik Alzey), Nr. 3055a, Eintrag des fortlaufenden Pflegeberichts vom Aufnahmetag 22. 10. 1932.
Alzey
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Aufnahmegespräch an, sie wolle dazu nicht viel sagen, sie trage schwer genug daran: »Mein Vater hat sich wieder verheiratet, das ist so ein Tierchen aus dem Wald meine Stiefmutter. Die war immer so eklig zu mir, wegen meiner ersten Mutter, ich habe immer alles ausfressen müssen. Erinnern Sie mich doch nicht an mein Elend. Die Alten lassen sich scheiden und die armen Würmer müssen es ausbaden. Zu meiner ersten Mutter bin ich manchmal hinter dem Rücken meines Vaters ein paar Stunden gegangen. Wenn er das gewusst hätte, hätte er mich kalt gemacht. Ich wollt er käme und macht mich kalt, ich habe ja doch nichts mehr,…«268
Nach der Volksschule war Katharina E. nach eigenen Angaben in verschiedenen Stellungen als Hausmädchen und in einer Wäscherei tätig, bevor sie für einige Zeit zu ihrem Vater ins Geschäft ging. In der dortigen Anstellung war sie aber nur ein paar Wochen beschäftigt: »er sagte, ich wäre eine Blamage für ihn«,269 woraufhin sie 1931 kurzzeitig in verschiedenen städtischen und kirchlichen Erziehungs- und Pflegeheimen unterkommt. In deren Strukturen kommt sie aber nicht gut zurecht: »Da wird man frech, wenn man unter fremden Leuten ist, man kann sich nicht alles bieten lassen. Die katholischen Schwestern bei denen kann man noch überschnappen mit dem religiösen Kram, den die immer haben. Den ganzen Tag predigen sie und halten immer Exerzitien, da soll man über alles nachdenken, ich kann das nicht alles so machen, (…).«270
Ab Februar 1932 verbrachte sie ein halbes Jahr in Familienpflege bei Bauern in Kirchhasel bei Fulda, von wo sie aber nach einem Streit mit ihrer Stiefschwester wieder nach Mainz flieht, den sie wie folgt beschreibt: »Meine Stiefschwester kam einmal nach Kirchhasel und machte dort Krach und Durcheinander wegen meiner Stiefmutter, da bin ich fort. Das war Ende Juli. Ich ging nach Mainz, (…), und bin dann zu einem anderen Mädchen auf das Zimmer gezogen. Nach 2 Tagen haben sie mich dann in den Bau 14, da sind die Geschlechtskranken, die auf den Strich gehen. Ich habe das nicht gemacht, ich bin nur hingekommen, weil ich bei diesem Mädchen war.«271
Genauere Angaben über den Einweisungsgrund und den Verlauf ihrer Heimund Krankenhausaufenthalte vor ihrer Einweisung sind nur schwer zu rekonstruieren. Das ärztliche Gutachten des Erbgesundheitsgerichtsverfahrens zitiert in ihrer Akte über diese Zeit den Arzt der städtischen Nervenklinik, der ihre Einweisung in die Heil- und Pflegeanstalt Alzey anordnete: »Das Leiden wurde
268 269 270 271
Ibid. Krankengeschichte, Eintrag vom 26. 10. 1932. Ibid. Ibid. Ibid.
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Lebensgeschichten
manifest im September 32. Sie saß oft tiefsinnig an einer Stelle, um dann aufgeregt umherzulaufen und sich mit Männern abzugeben.«272 Auch in Alzey hat Katharina E. Schwierigkeiten, sich in den Anstaltsalltag einzufinden. Die ärztliche und pflegerische Dokumentation der Folgezeit beschreibt sie als »frech und vorlaut«, sie bekommt häufig Streit mit dem Personal und anderen Kranken und »muss öfters isoliert werden«. Der erste ärztliche Eintrag 1933 beschreibt ihren Zustand als »vollkommen unverändert. Unberechenbar und sehr wechselnd in ihren Affekten, macht eben noch Dummheiten und scheint vergnügt und guter Laune zu sein, um gleich darauf in gemeiner Weise zu schimpfen und brutal gewalttätig zu werden. Sie ist mit nichts zufrieden, hat dauernd Beschwerden. Selbst ist sie immer die Unschuldige.«273
Die Wahrnehmung von Katharina E. über ihr Schicksal und die Gründe ihres Anstaltsaufenthalts lassen sich aus einem Brief an ihren Vater und seine neue Familie herauslesen, den sie im März 1933 verfasst und von dem eine Abschrift in der Krankengeschichte dokumentiert ist. Er ist eines der wenigen überlieferten Zeugnisse, in dem sie direkt zu Wort kommt. Anscheinend fühlt sie sich von ihrer Stiefschwester und ihrer Stiefmutter ungerecht behandelt und allein gelassen, denn sie schreibt: »Leider war es mir nicht möglich Euch über das [sic] Skandal das Else in Kirchhasel angerichtet hat mitzuteilen. War ich doch so froh, dass ich bei so guten Leuten untergebracht war und endlich auch mal froh aufschnaufen konnte. Dass ich nie was geglaubt bekam und als die grösste Lügnerin hingestellt wurde war an der Tagesordnung, aber dass Else Euch beschwindelt, davon scheint Ihr nichts zu wissen.«274
Der Konflikt mit ihrer Stiefschwester, bei dem wohl auch ihr Schwager Karl eine Rolle spielt, ist anhand der wenigen Fakten nicht nachzuvollziehen. Katharina E. war aber anscheinend durch das Verhalten ihrer Schwester so stark gekränkt, dass sie nicht weiter in der Familienpflege in Kirchhasel bleiben wollte: »Es hielt mich keine Stunde mehr länger in dem Haus, so entschied ich mich fortzugehen, mag kommen, was da wolle. Ich ging zum Bürgermeister und holte meinen Abmeldeschein, Kleider nahm ich so viel mit, als ich tragen konnte und so lief ich vier volle Tage. Unterwegs bekam ich 2 Mark geschenkt, von Hanau an fuhr ich mit einem Auto bis nach Frankfurt, von da mit der Eisenbahn nach Mainz. Was mich von früher betrifft, mache ich mir kein Kopfweh, denn ich sehe ja, wie weit, dass ich gekommen bin, dass ich bis jetzt noch immer den Kürzeren gezogen habe.«275
272 273 274 275
Ibid. Sterilisationsgutachten vom 25. 01. 1934. Ibid. Eintrag der Krankengeschichte vom 01. 02. 1933. Ibid. Eintrag Krankengeschichte vom 27. 03. 1933. Ibid.
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Eine Antwort auf ihr Schreiben findet sich in Katharina E.s Akte nicht. Auch sind keine Besuche ihrer Familie vermerkt. Im Anstaltsalltag wechseln sich jetzt Phasen, in denen sie als freundlich und zugänglich beschrieben wird, mit Phasen von Verstimmung und gewalttätigen Ausbrüchen ab, so dass sie zwischen der ruhigen und unruhigen Wache hin und her verlegt wird und häufig »Schlafmittel« bekommt. Katharina E. verlangt jetzt öfter ihre Entlassung. »Sie klagt sehr viel über das schwere Schicksal, das sie gehabt habe, vor allem über ihre Eltern, die sich nie um sie gekümmert haben, sodass sie von einem Heim in das andere getrieben wurde. Sie sei nicht schuld an ihrem unverständigen und aufgeregtem Wesen, das sei eben ihre Erziehung.«276
Weitere Einträge in Katharina E.s Krankengeschichte finden sich erst wieder im Dezember 1933, als sie zum ersten Mal Besuch von ihrem Vater erhält: »Hat heute Besuch des Vaters, der sie aus der Anstalt nehmen wollte, da er angeblich die Kosten für die Weiterbehandlung nicht mehr tragen könne. Es seien jetzt 2000 Mark von ihm angefordert worden. Beim Besuch gab er seiner Tochter die Hand nicht mit der Begründung sie sei es nicht wert, sie sei auch nicht wert, dass er noch irgendetwas für sie tue. Als er merkte, dass sich die Kranke sehr über dieses abstossende Verhalten aufregte, wurde er etwas freundlicher und gab ihr beim Abschied die Hand mit der Bemerkung, er wolle es noch einmal mit ihr versuchen, wenn sie es auch nicht verdiene. Die Schwester, die jetzt heiraten will, soll die Kranke zu sich nehmen. Die Entlassung wurde zunächst verweigert.«277
In einem Brief, den der Vater noch am selben Tag an den Oberarzt der Alzeyer Anstalt Dr. Kinsberger schreibt, stellt er sein Verhalten und seine Absichten allerdings anders dar, als es die ärztliche Dokumentation verzeichnet: »Sehr geehrter Herr Oberarzt! Am 2. des Monats war ich und meine Tochter nach dort gekommen, um meine in Ihrer dortigen Anstalt untergebrachten Tochter Katharina abzuholen, nachdem ich vor kurzer Zeit erst durch Umfrage erfahren konnte, dass sich meine Tochter Katharina dort befindet. Ich musste zu meinem grössten Erstaunen erfahren, dass meine Tochter dort als Patientin untergebracht ist und wegen angeblicher Gemeingefährlichkeit und derzeitig schlechtem Zustand jetzt nicht entlassen werden könnte. Ich hatte Gelegenheit, mit meiner Tochter zu sprechen und den Eindruck gewonnen, dass sie nicht in dem Zustande ist, als sie von Ihrem Stellvertreter und der Oberschwester mir geschildert wurde. Die Gründe, die zur Aufnahme in die Anstalt vorgelegen haben, sind mir jetzt bekannt, nachdem ich erfahren konnte, dass meine Tochter ohne mein Wissen ihre Stellungen bei Verwandten und Bekannten aufgegeben hat und durch ihr zielloses Umherirren über Wohlfahrtsamt, Krankenhaus usw. in Ihre Anstalt eingeliefert wurde.
276 Ibid. Eintrag Krankengeschichte vom 31. 05. 1933. 277 Ibid. Eintrag in die Krankengeschichte vom 03. 12. 1933.
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Ich will meine Tochter aus der fremden Umgebung herausnehmen und sie in das elterliche Haus aufnehmen, und ihr die Pflege und Erziehung zu geben, die sie für ihren Zustand nötig hat, sie ausserdem unter ständige Kontrolle meines Hausarztes stellen. Ich glaube mir ihren Zustand nur als eine starke Nervosität und Ueberreiztheit erklären zu können und hier wird eine gute und liebe Pflege im Elternhaus von grösserem Nutzen sein, als ein weiteres Verbleiben in einer Anstalt.«278
Ob Katharina E.s Vater den Brief seiner Tochter im März des Jahres nicht erhalten hatte oder ob er sich erst nach dem Erhalt einer Rechnung für die Belange seiner Tochter interessierte, ist nicht mit Sicherheit einzuschätzen. Zu diesem Zeitpunkt waren allerdings bereits das GzVeN im Reichstag verabschiedet und die Anstaltsleiter in der Umsetzungsverordnung über den Ablauf der Sterilisationsverfahren in Kenntnis gesetzt worden. Mit seinem Gesuch auf Entlassung seiner Tochter setzte Adam E. somit einen bürokratischen Apparat in Gange, der von diesem Moment an auch über eine mögliche Unfruchtbarmachung von Katharina E. zu entscheiden hatte. Das Antwortschreiben der Anstalt vom 19. 12. 1933 äußerte sich über eine Entlassung dementsprechend zurückhaltend: »Auf ihren Brief vom 3. 12. 1933 teilen wir Ihnen mit, dass ihre Tochter nicht wegen Gemeingefährlichkeit, sondern wegen Selbstmordneigung und Gefahr der körperlichen und sittlichen Verwahrlosung hierher gebracht wurde. Es ist durchaus verständlich, dass Sie bei Ihrem kurzen Besuch den Eindruck gewonnen haben, dass Ihre Tochter ruhig und nicht anstaltspflegebedürftig sei. Aber Sie können aus diesem kurzen Zusammentreffen kein Urteil über den Gesundheitszustand und die Notwendigkeit der Anstaltsverwahrung fällen. Ihre Tochter hatte bis vor kurzem noch schwere Erregungszustände, (…). Sie ist auch oft ohne ersichtlichen Grund verstimmt, drohte des öftern mit Selbstmord. In der letzten Zeit, auch seit Ihrem Besuche hat sie sich leidlich ruhig verhalten und sich sichtlich bemüht nicht erregt und ausfallend zu werden, wie es sonst sehr oft der Fall war. Jedoch ist ihre gereizte Grundstimmung immer noch vorhanden. Eine Entlassung kann, wenn sich der Zustand der Patientin nicht wieder verschlechtert in absehbarer Zeit, vielleicht in 3–4 Wochen erfolgen. Unbedingt notwendig ist es, dass die Kranke in eine Umgebung kommt, die Verständnis für ihre etwas schwierige Persönlichkeit hat und dass sie zugleich überwacht wird, damit sie in den Lebenswandel den sie vor ihrer Einlieferung in die hiesige Anstalt begonnen hatte, nicht zurückfällt. Von dem neuen Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses wird auch Ihre Tochter betroffen. Es wäre sehr zu wünschen, dass der zur Unfruchtbarmachung nötige Eingriff vor der Entlassung der Patientin vorgenommen wird. Da dieses Gesetz erst am 1. Januar in Kraft tritt, kann Ihre Tochter vorher auf keinen Fall entlassen werden.«279
278 Ibid. Brief des Vaters vom 03. 12. 1933. 279 Ibid. Brief der ärztlichen Leitung an Adam E. vom 19. 12. 1933.
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Das Schreiben der ärztlichen Leitung der Alzeyer Anstalt ist in vielerlei Hinsicht interessant. Die Einweisungsdiagnose wurde jetzt von »Imbezillität mit Erregungszuständen« zu »Selbstmordneigung und Gefahr der körperlichen und sittlichen Verwahrlosung« abgeändert. Die in dem Brief genannten häufigen Selbstmorddrohungen Katharina E.s sind in der Krankengeschichte allerdings sonst an keiner Stelle dokumentiert. Dass Katharina E. an einer Erbkrankheit leidet, die unter das GzVeN fällt, scheint den Ärzten ebenfalls als gesichert. Man kann zwischen den Zeilen herauslesen, dass die ärztliche Leitung auf keinen Fall den Fehler machen will, Katharina E. vor Inkrafttreten des GzVeN zu entlassen. Am 29. Dezember 1933, zwei Tage vor Inkrafttreten des GzVeN, beantragte der ärztliche Direktor der Alzeyer Anstalt die Unfruchtbarmachung von Katharina E. beim Erbgesundheitsgericht in Worms. Von diesem Zeitpunkt an war eine Entlassung ohne einen richterlichen Beschluss des Erbgesundheitsgerichtes auch rechtlich nicht mehr möglich. Der zuständige Kreisarzt Dr. Rapp holte in Alzey ein ärztliches Gutachten für das Gerichtsverfahren ein, dass Katharina E. als »kräftig gebautes Mädchen mit gutem Ernährungszustand« beschreibt. Der körperliche Untersuchungsbefund sei unauffällig, Missbildungen und Krankheiten in der Familie lägen keine vor. Allerdings sollen beide Eltern »abnorme Charaktere« gewesen sein. In der Schule habe Katharina E. sehr schlecht gelernt und sei verschiedene Male nicht versetzt worden. Nach der Schulentlassung habe sie keine besondere Berufsausbildung erhalten und habe sich in »verschiedenen Stellen als Fabrikarbeiterin, Hausmädchen oder als Pflegling verdingt«. In einem anhand des standardisierten Fragebogens durchgeführten Intelligenztest schneidet Katharina E. gut ab. Sie ist orientiert, kann die politischen Persönlichkeiten von Hindenburg bis Hitler richtig zuordnen, ihr Sprachverständnis ist gut und sie kann auch die Fragen zum »allgemeinen Lebenswissen« (Warum wird es Tag und Nacht? Warum baut man die Häuser in der Stadt höher als auf dem Land? Was versteht man unter dem Kochen des Wassers? etc.) zur Zufriedenstellung lösen. Die Rechenaufgaben fallen ihr allerdings schwer. Im psychopathologischen Befund sind wechselnde Stimmungen angegeben, außerdem habe sie keine sinngemäße Auffassungsgabe und habe ihre Stellung oft gewechselt. Aufgrund dieser Beobachtungen wird die Diagnose »Angeborener Schwachsinn« gestellt.280 Aus der Aufnahmediagnose »Imbezillität mit Erregungszuständen« ist somit aufgrund ihrer geringen Schulleistung und dem »angeblich abnormalen Charakter ihrer Eltern« innerhalb kürzester Zeit eine Erbkrankheit geworden, die eine Unfruchtbarmachung rechtfertigt. In der Zwischenzeit wartet Katharina E. auf ihre Entlassung aus Alzey:
280 Ibid. Amtsärztliches Gutachten vom 25. 01. 1934.
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Lebensgeschichten
»Verhielt sich seit dem Besuch ihres Vaters bis vor einigen Tagen ruhig, konnte auf der ruhigen Wache verpflegt werden. Sie ging mit zur Arbeit und machte keine grösseren Schwierigkeiten. Sie nahm sich sichtlich zusammen, ging Streit aus dem Weg.«
Nach einem erneuten Konflikt mit einer anderen Anstaltsinsassin kommt sie allerdings wieder in das Dauerbad und muss in den nächsten Tagen täglich Beruhigungsmittel bekommen.281 Am 16. Januar wird Katharina E. vom Erbgesundheitsgericht in Worms zu ihrem Verfahren gehört. Ihr Vater drängt nun vehement auf ihre Entlassung. In zwei Briefen vom 24. Januar und 6. Februar 1934 erkundigt er sich nach ihrem Befinden und dem möglichen Entlassungstermin. Eine Entlassung ohne Sterilisationsbeschluss ist aber weiterhin unmöglich: »[Wir] teilen Ihnen mit, dass die Besserung im geistigen Befinden Ihrer Tochter weiter angehalten hat. Sie ist zwar noch reizbar und empfindlich, manchmal auch noch vorlaut und uneinsichtig. Wir wollen aber trotzdem einen Entlassungsversuch mit ihr machen. Zuvor muss aber der Ausgang des von uns eingeleiteten Verfahrens auf Unfruchtbarmachung der Kranken abgewartet werden. Wir geben Ihnen dann sofort Nachricht.«282
Am 2. März 1934 ergeht schließlich der Sterilisationsbeschluss des Erbgesundheitsgerichts in Worms. Darin heißt es: »Die beigezogenen Akten der Anstalt und das vom Gericht eingeholte Gutachten des Kreisarztes Dr. Rapp in Alzey vom 23. Januar 1934 bestätigen, dass die E. an angeborenem Schwachsinn verbunden mit Erregungszuständen leidet und erbkrank ist. Das Gericht hält diese ärztliche Feststellung für einwandfrei. (…) Da nach den Erfahrung der ärztlichen Wissenschaft mit grosser Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass die Nachkommen der E. an schweren körperlichen oder geistigen Erbschäden leiden werden, ist nach der Auffassung des Gerichtes die Unfruchtbarmachung nach §5 des Gesetzes gegeben.«283
Laut dem Beschluss ist Katharina E. mit ihrer Sterilisation einverstanden, so dass der Bescheid direkt rechtskräftig wird. Am 12. März 1934 wird Katharina E. aus Alzey in die Hebammenlehranstalt nach Mainz überführt und dort zwei Tage später durch die vollständige Entfernung beider Eileiter durch Obermedizinalrat Dr. Puppel unfruchtbar gemacht. Sie ist die dritte Frau, die in Mainz aufgrund des GzVeN operiert wird. Warum die radikale Exzision beider Eileiter als Sterilisationsmethode gewählt wurde, ist aus dem OP-Bericht nicht ersichtlich. Am 2. April kann Katharina E. nach komplikationslosem Verlauf als »geheilt« nach Hause entlassen werden.284
281 282 283 284
Ibid. Eintrag in die Krankengeschichte vom 15. 01. 1934. Ibid. Brief der ärztlichen Leitung an Adam E. vom 10. 02. 1934. Ibid. Sterilisationsbeschluss des Erbgesundheitsgerichts Worms vom 02. 03. 1934. Ibid. Sterilisationsbericht der Hebammenlehranstalt vom 17. 04. 1934.
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Fast auf den Tag genau vier Monate später findet sich ein neuer Eintrag in Katharina E.s Krankengeschichte. Sie erscheint alleine in der Anstalt und bittet um Wiederaufnahme: »Sie ist traurig verstimmt, ratlos, blickt starr vor sich hin. Bei eindringlichem Fragen, warum sie hierher komme, wird sie erregt, fängt an zu schreien, verfällt gleich darauf wieder in Apathie. Sie gibt an, die ganze Zeit bei Bauern gewesen zu sein, wo sie ihre Schwester hinbrachte. Sie habe aber jetzt erfahren, dass diese Leute sie gar nicht gewollt hätten, dass sie ihnen vielmehr aufgezwungen worden sei. Sie fühle sich von aller Welt verlassen, habe niemanden, an den sie sich anschliessen könne, sie müsse so alleine für sich sorgen und das könne sie nicht, sie könne nicht mehr weiter machen. Die Frau, bei der sie war, habe ihr gesagt, sie hätte 6 eigene Kinder gross gezogen, die sich nun alle rechtschaffen durchbringen würden und nun habe sie mit fremden Kindern so eine Plage. Diesen Ausspruch habe sie (die Kranke) sich so zu Herzen genommen, dass sie auf und davon sei. Wenn man sie hier nicht aufnehme, mache ihr das nichts aus, dann würde sie eben weiter tippeln, zurück ginge sie auf keinen Fall.«285
Einen Tag später erreicht ein Schreiben von ihrer Stiefschwester Else E. die Anstalt: »Sehr geehrter Herr Dr. Kinsberger, aller Wahrscheinlichkeit nach wird meine Schwester Katharina E. in Ihrer Anstalt eintreffen um einige Bekannte aufzusuchen. Der Sachlage nach, nach welcher sie sich heimlich von ihrem Aufenthaltsort entfernt hat, bitte ich Sie höflich mir wenn möglich sofort telefonisch mitzuteilen, daß sie eingetroffen ist. Zur Erklärung diene Ihnen, daß ich bei guten Bekannten Erholung suchte und Katharina als Begleitung mitnahm. Da mein Vater schon über ein viertel Jahr krank ist, mußte ich nach Hause, um einige wichtige dringliche Angelegenheiten zu regeln. Diese kurze Spanne Zeit benutzte Katharina, um sich heimlich zu entfernen, über dies wußte sie, daß ich ja im Begriffe stand, wieder zu ihr zu kommen. Da meine Eltern sehr verzweifelt sind, bitte ich Sie nochmals ebenso höflich wie dringend, sobald Sie etwas Näheres wissen sollten, uns umgehend Nachricht zukommen zu lassen. Mit deutschem Gruß Else E.«286
In einem Nachsatz heißt es weiter: »Bemerken möchte ich noch, daß es meinem Vater unmöglich ist für entstehende Unkosten wie Verpflegung usw. aufzukommen. Deshalb meine dringende Bitte.«287 Ob sich Katharina E., wie sie selbst angibt, in den letzten vier Monaten in Familienpflege befunden hatte oder ob sie bei ihrer Stiefschwester untergebracht war, ist aus den Angaben nicht zu klären. Am 13. August 1934 wird Katharina E. von ihrer Stiefschwester wieder aus der Anstalt abgeholt: »Wird heute von ihrer Schwester nach Hause geholt. Die depressive Stimmung war rasch verflogen, sie
285 Ibid. Eintrag in der Krankengeschichte vom 03. 08. 1934. 286 Ibid. Brief von Else E. an die Anstalt vom 04. 08. 1934. 287 Ibid.
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schloss sich ihrer Schwester mit grosser Freude an.«288 Mit diesem letzten Eintrag schließt die Krankengeschichte Katharina E.s in Alzey. Die Aktenanforderungen an die Alzeyer Klinik von verschiedenen anderen Pflegeheimen und psychiatrischen Anstalten in den darauffolgenden Jahren bezeugen aber, dass ihre Odyssee durch die psychiatrischen Anstalten mit diesem Tag noch nicht beendet war.289
288 Ibid. Eintrag in der Krankengeschichte vom 13. 08. 1934. 289 Am 25. 03. 1936 sendet die Anstalt Riedstadt Goddelau die Krankenakten der Anstalt Alzey mit bestem Dank zurück. »Die Kranke war anfänglich geordnet und freundlich. Seit einigen Tagen befindet sie sich in deiner depressiven Verstimmung.« Am 12. 05. 1937 übersendet die Anstalt Alzey die Krankengeschichte Katharina E.s an die Heil- und Pflegeanstalt Kloster »Maria Hilf« in Gangelt, Bezirk Aachen, wo sich Katharina E. zu diesem Zeitpunkt aufhält. Weitere Angaben finden sich nicht: Ibid.
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4.1.2 Magdalena P.
Abbildung 14: Foto Magdalena P.
»Jetzt habe ich ja nichts mehr zu befürchten. Alzey ist für mich erledigt.«
Geboren 1896 Zwangssterilisiert in Mainz 1934 Verstorben in der Städtischen Klinik Mainz 1934 »Ich wurde als Tochter des Lademeisters Ludwig P. 1896 geboren. Vom sechsten bis zum vierzehnten Lebensjahr habe ich die Volkschule mit Erfolg besucht. Dann lernte ich Näher, habe jedoch den Beruf nicht ausgeführt, weil ich die sitzende Lebensweise nicht vertragen konnte. Ich habe mich immer im Haushalt betätigt. Während des Krieges war ich öfters bei meinen Verwandten auf dem Lande und habe dort wo es fehlte zugegriffen. Meine Mutter starb im Jahr 1922. Von diesem Zeitpunkt ab und auch während der Krankheit meiner Mutter habe ich jede Arbeit allein verrichtet. Ich gehöre evangelischer Konfession an.«290
Diese kurzen Angaben mit der Überschrift »Mein Lebenslauf« schreibt Magdalena P. nach ihrer Aufnahme in der Landes-Heil- und Pflegeanstalt Alzey handschriftlich nieder. Interessant ist, wie sie in dieser kurzen Zusammenfassung ihres bisherigen Lebens argumentativ versucht, ihre Selbstständigkeit und Arbeitskraft in den Vordergrund zu stellen. Es scheint, als ahnte sie bereits, dass sich ihr »gesellschaftlicher Wert« in- und außerhalb der Anstalt zukünftig an ihrer Arbeitskraft würde messen lassen müssen.
290 Landesarchiv Speyer. Bestand O 41 (Landeskrankenhaus Rheinhessen Fachklinik Alzey), Nr. 3068, Handschriftlicher Lebenslauf in der Krankengeschichte.
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Lebensgeschichten
Als zweites Kind in einer Arbeiterfamilie geboren, erlernte Magdalena P., wie sie selbst berichtet, nach ihrer Volkschulzeit den Beruf der Näherin. Am Ende ihrer Ausbildung zeigt sie mit 17 Jahren zum ersten Mal Zeichen einer »schweren traurigen Verstimmung« mit »Beeinträchtigungsideen« und »Angstzuständen«, wie das ärztliche Sterilisationsgutachten später verzeichnen wird. Nach einigen Wochen klangen diese Anzeichen von seelischem Leidensdruck aber ab und es kam zu einer »Wiederherstellung des früheren sehr heiteren und lebensfrohen Temperaments«.291 Nach dem Ende ihrer Ausbildung nimmt Magdalena P. keine Anstellung als Näherin an, sondern führt den elterlichen Haushalt, da ihre Mutter an einem Herzleiden erkrankt war. Als die Mutter 1922 stirbt, bleibt sie bei ihrem Vater wohnen. Am 21. Juni 1930 heiratet sie im Alter von 34 Jahren den Wormser Bauunternehmer Wilhelm H., mit dem sie bereits seit 15 Jahren ein Verhältnis hatte. Als glücklich kann die Ehe allerdings nicht bezeichnet werden. Magdalena P. fühlte sich zu schwach zum Arbeiten, was zu Streitigkeiten mit ihrem Mann führt.292 Bereits kurz nach der Eheschließung fällt Magdalen P. zum zweiten Mal in eine »depressive Verstimmung«, die schließlich zu einem Suizidversuch führt. Während Magdalena P. behandelt wird, beantragt ihr Ehemann die Scheidung. Im Scheidungsurteil von 1931 heißt es in der Begründung, es sei als gesichert anzusehen, »dass die Beklagte an manisch-depressivem Irrsinn leidet, und dass die hohe Gefahr besteht, dass sich die Krankheitsphasen wiederholen. Es weiterhin sehr wahrscheinlich ist, dass sich die Krankheit auf die Nachkommenschaft vererbt«. Da ihr Ehemann erst durch ihren Selbstmordversuch von ihrer Krankheit erfahren habe, war er zum Zeitpunkt der Eheschließung nicht über den Zustand seiner Ehefrau informiert. Die Ehe wird daher für ungültig erklärt.293 Magdalena P., die sich in der Zwischenzeit wieder erholt hat und zurück zu ihrem Vater gezogen ist, legt gegen das Urteil Berufung ein, da sie sich nicht als geisteskrank ansieht. Als ihre Berufungsklage abgelehnt wird, klagt sie auf Unterhalt, der ihr vor Gericht 1933 auch zugesprochen wird. In der Zwischenzeit ist ihr Vater an einem Magenleiden erkrankt. Magdalena P. versorgt und pflegt ihn und führt den Haushalt bis er 1933 verstirbt. Dieser großen emotionalen Anstrengung scheint sie nicht gewachsen zu sein. Der psychische Leidensdruck wird so immens, dass sie von ihrem Hausarzt zu Beginn des Jahres 1934 nach Alzey überwiesen wird, wo sie am Morgen des 10. Februar eintrifft.
291 Ibid. Ärztliches Gutachten vom 05. 06. 1934. 292 Ibid. Krankengeschichte. 293 Ibid. Abschrift des Scheidungsurteils in der Krankengeschichte vom 13. 10. 1931.
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In der Krankengeschichte ist dazu notiert: »Wurde von 2 Sanitätern aus ihrer Wohnung gebracht, war ruhig und geordnet, glaubte nach Heidelberg zu kommen. War traurig, als sie hörte, dass sie in Alzey war.«294 Allem Anschein nach hatte Magdalena P. damit gerechnet, in eine psychiatrische Klinik zu kommen und nicht in eine Heil- und Pflegeanstalt. In ihrem Aufnahmegespräch ist sie sehr schüchtern und zurückhaltend: »Macht heute die Angaben auf dem Kopfbogen, alles geht langsam, Gesichtsausdruck ängstlich, kämpft oft mit aufsteigenden Tränen. Warum so traurig? »Mein Vater ist doch noch gar nicht lange gestorben.« Fragt, warum sie in die Anstalt gekommen sei. Auf die Gegenfrage des Arztes, ob sie sich das nicht denken könne: »Weil ich so alleine wäre, haben sie gesagt.« Haben sie sich das Leben nehmen wollen? »Ja, als ich bei meinem Mann war, wollte ich mich zum Fenster hinausstürzen.« Warum? »Weil er mir gedroht hat und ich habe mich gefürchtet.« Noch mehr versucht? »Nein.« Verlangsamtes Mienenspiel ausgesprochene Bewegungsarmut, gelegentlich Nesteln am Haar oder der Kleidung. Über den Grund der Aufnahme ist nichts zu erfahren. Die Ausfragung ist langwierig und schwer, die Kranke lässt sich jedes Wort abkaufen. Die Antworten bestehen häufig nur aus einem verlegenen Lächeln, einem unverständlichen Murmeln oder einem nichtssagenden Achselzucken. Wie sie sich die Zukunft denke? Sie bekäme etwas vom Wohlfahrtsamt, ausserdem sei ihr Mann zum Unterhalt verurteilt, habe aber Berufung dagegen eingelegt, über die noch nicht entschieden sei.«295
Bereits am ersten Tag nach ihrer Einweisung meldet sich ihr älterer Bruder schriftlich bei der ärztlichen Direktion. Julius P. ist ihr einzig verbleibender naher Angehöriger. Im Kopfbogen der Krankengeschichte notiert der Arzt zu ihm: »39 Jahre, arbeitsloser Büroangestellter, ledig, Bronchialasthma.« Julius P. ist besorgt um seine Schwester und bittet um Auskunft über ihren Zustand: »Meine Schwester hat (wie ich dies jetzt erfahren habe) kein Geld bei sich und kann also noch nicht einmal schreiben. Ich lege deshalb vorsorglich 2 Postmarken bei mit der Bitte, ihr diese aushändigen zu wollen. Des Ferneren möchte ich Sie noch um eine Mitteilung gebeten haben wie die Besuchszeiten dort sind und ob ich ihr einen kleinen Betrag zur Anschaffung von Briefpapier und Freimarken schicken kann. Ich bin der einzige Angehörige meiner Schwester, unsere Eltern sind tot und sonst sind keine Geschwister vorhanden. Alle meine Schwester betreffenden Angelegenheiten bitte ich mir bekannt zu geben. Zur Zeit bin ich wegen meines Kriegsbeschädigungsleidens Patient in einer Klinik, deshalb ich nicht nach dort kommen kann.«296
Im März und April folgen weitere Briefe des Bruders mit ähnlichem Wortlaut. Eine Antwort erhält Julius P. allerdings erst Wochen später, nachdem die 294 Ibid. Krankengeschichte Eintrag vom 10. 02. 1934. 295 Ibid. Krankengeschichte Eintrag vom 14. 02. 1934. 296 Ibid. Brief des Bruders vom 11. 02. 1934.
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Krankengeschichte auch eine Besserung des Krankheitszustands seiner Schwester verzeichnet. Die Geschwister stehen aber in der Folge in Briefkontakt, wie sich aus den Äußerungen in Julius P.s Briefen an die Anstalt erfahren lässt. In Alzey ist Magdalena P. im Frühjahr 1934 bereits fest in den Anstaltsalltag integriert und wird bald in die Übergangsabteilung des Landhauses verlegt. Aufgrund ihrer Ausbildung als Näherin ist sie zur Arbeit im Nähsaal eingeteilt und verrichtet ihre Arbeit dort zum Wohlwollen der Ärzte und Pfleger: »Die Kranke ist in der letzten Zeit in ihrer Stimmung etwas zuversichtlicher und freier. Sie geht regelmässig in den Nähsaal zur Arbeit und macht sich dort recht nützlich. Auf der Abteilung ist sie immer noch am liebsten für sich, sucht keine Unterhaltung und keinen Anschluss an den anderen Kranken. Auf Fragen antwortet sie nur selten, meist wendet sie sich mit einem verlegenen Lächeln weg, insbesondere weicht sie Fragen nach dem Grunde ihrer Verstimmung aus. Bei der Visite drückt sie sich in den Hintergrund und beschäftigt sich intensiv mit ihrer Arbeit, um nicht beachtet zu werden.«297
Trotz der Besserung von Magdalena P. besteht weiterhin die Diagnose »manischdepressives Irresein«, die durch die ärztliche Begutachtung bereits bei ihrer Scheidung festgestellt wurde. Da eine Entlassung in ihrem gebesserten Zustand angestrebt wird, beantragt der ärztliche Leiter Dr. Dietz am 5. Juni 1934 ihre Unfruchtbarmachung am Erbgesundheitsgericht. Das ärztliche Gutachten bescheinigt ihr ein freundliches und zugängliches Wesen und eine gute schulische Laufbahn: »Gute Schülerin, nie sitzen geblieben. Nach der Schule Nähen gelernt, Beruf wegen frühen Todes der Mutter nicht ausgeübt. Seit 12 Jahren den väterlichen Haushalt geführt«. Zur Begründung der Diagnose notiert die Assistenzärztin Dr. Helmerich: »Bei einem sonst sehr heiteren, lebensfrohen Menschen wurden 2 Perioden einer schweren seelischen Verstimmung beobachtet, während derer die Kranke in allen sprachlichen und motorischen Aeusserungen sehr gehemmt war, unter Versündigungsideen und Angstzuständen litt und sich mit Selbstmordgedanken trug.«298
Am 21. Juli 1934 wird Magdalena P. richterlich vernommen und willigt in ihre Sterilisation ein, um aus der Klinik entlassen werden zu können. Das Urteil ergeht am 17. August 1934 und entscheidet aufgrund der »einwandfreien Ermittlungen«, dass Magdalena P. an »manisch-depressivem Irresein« leidet und eine Unfruchtbarmachung der mittlerweile 38-jährigen Frau geboten ist.299 Trotz Magdalena P.s Einwilligung und ihrem Drängen auf Entlassung vergehen noch einmal fast acht Wochen bis zur ihrer Überweisung in die Mainzer
297 Ibid. Krankengeschichte Eintrag vom 25. 04. 1934. 298 Ibid. Ärztliches Gutachten vom 05. 06. 1934. 299 Ibid. Sterilisationsbeschluss vom 17. 08. 1934.
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Hebammenlehranstalt. Am 10. Oktober schreibt ihr Bruder an die Anstaltsdirektion aus diesem Grund: »Meine Schwester ist über die große Verzögerung ihrer Überweisung nach Mainz ungeduldig, zumal sie wissen will, daß Patientinnen, welche nach ihr den Antrag unterschrieben hätten, bereits in Mainz waren. Es ist ja auch eine große Härte für sie in der Anstalt bleiben zu müssen, obwohl ihr Gesundheitszustand dies nicht mehr bedingt. Ich möchte Sie deshalb hiermit um eine Mitteilung zu beten haben, bei welcher Stelle ich die Beschleunigung ihrer Überweisung nachfragen kann.«300
Magdalena P. hatte wohl ihrer Unfruchtbarmachung alleine aus dem Grund zugestimmt, um aus der Anstalt entlassen werden zu können. Im Laufe des Jahres war auch das endgültige Unterhaltsurteil im Rechtsstreit mit ihrem geschiedenen Ehemann erlassen worden, welches ihr einen Unterhalt von monatlich 60 Reichsmark zusprach, so dass sie auch eine finanziell gesicherte Zukunft außerhalb der Anstalt erwartete. Das Drängen des Bruders zeigt anscheinend Wirkung, denn sechs Tage später wird Magdalena P. nach Mainz in die Hebammenlehranstalt überwiesen, wo sie am Folgetag dem 17. Oktober 1934 durch Herrn Obermedizinalrat Dr. Puppel unfruchtbar gemacht wird.301 Der postoperative Verlauf gestaltet sich allerdings kompliziert, da ihre Operationswunde nicht richtig verheilt und sich dadurch ihr Aufenthalt in der Hebammenlehranstalt verlängert. Diese Verzögerung ihrer Entlassung nach Hause zu ihrem Bruder scheint Magdalena P. aber wenig ausgemacht zu haben, denn sie fühlt sich in der Klinik gut aufgehoben und gepflegt. Von dort schreibt sie auch zwei Briefe an befreundete Anstaltsinsassinnen in Alzey, die aber dort von der ärztlichen Leitung abgefangen und in der Krankenakte archiviert werden und somit ihre Adressaten niemals erreichen. Entgegen den ärztlichen Beobachtungen, die Magdalena P. immer als eigenbrötlerisch und zurückhaltend beschrieben hatten, hatte sie doch zu bestimmten Alzeyer Anstaltsinsassinnen ein vertrauensvolles und freundschaftliches Verhältnis. Am 27. Oktober 1934, zehn Tage nach ihrer Operation, schreibt sie aus ihrem Krankenbett in der Hebammenlehranstalt: »Liebe Frau W.! Gell das hätten Sie doch nicht geglaubt, daß Sie so rasch etwas von mir hören würden. Erst wollte ich ja auch noch warten, aber dann dachte ich nichts wie gleich los. Frisch gewagt ist halb gewonnen. Sie werden denken, warum schreibt Frau P. gerade an mich? Nun ich hatte Sie während meines Aufenthaltes in der berühmten Heilu. Pflegeanstalt lieb gewonnen. Ihre ruhige Art war mir wohltuend, gegenüber der vielen lauten Patienten. Frau W., als ich hier in der Hebammenlehranstalt ankam, glaubte ich es fiele eine Zentnerlast von mir. Endlich wieder unter Menschen, die einen verstehen und mit einem fühlen. Wie unglücklich ich in Alzey war, weiß niemand und was ich 300 Ibid. Brief des Bruders vom 10. 10. 1934. 301 Ibid. Sterilisationsbericht vom 05. 11. 1934.
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dadurch gelitten habe. Ich ließ es mir nur nicht anmerken, zeigte mich immer froh. […] Ich wußte ja, daß mich mein Bruder holen würde und das war mein Halt. Als sich aber die Sache mit Mainz so furchtbar in die Länge zog, wäre ich beinahe verzweifelt. […] Mir geht es seit heute ganz gut. Ich hatte ziemlich Pech mit meiner Unfruchtbarmachung und daran war nur mein Speckbauch schuld. Die Geschichte fing an zu eitern, so daß man vorgestern nochmals alles aufbrechen mußte. Mein Schnitt soll der Größte sein, den man bis jetzt gemacht hätte. Die Wunde steht an der breitesten Stelle 6–7 cm auseinander. Daß es da mit der Heilung recht lange dauert ist ja klar. Ich werde wohl noch einige Wochen hier bleiben müßen. Aber das macht mit absolut nichts aus. Ich habe guten Appetit, kann gut schlafen, bin vollkommen fieberfrei und erhole mich nun in aller Ruhe von der Erholung [sic!] in Alzey. Das Pflegepersonal hier ist richtig fein. Da gehörte mal dasjenige von Alzey her, um zu lernen, wie man mit Patienten umgeht. Frau W. verlassen Sie sich drauf es kommt der Tag in Alzey, wo es besser wird. Das will unser Führer nicht, verlassen Sie sich drauf. Wie ich besser kann, werde ich an maßgebender Stellt Schritte tun. Nun habe ich ja nichts mehr zu befürchten. Alzey ist für mich erledigt. Nun möchte ich Ihnen wünschen, daß Sie recht bald dieses Jammertal verlaßen dürfen, um wieder zur Hause bei Ihrem Kinde bessere Tage verleben zu können. Leben Sie wohl und seien Sie herzlichst gegrüßt von Ihrer Frau P.«302
Unter ihrer Zeit in der Heil- und Pflegeanstalt Alzey hatte Magdalena P. sehr gelitten, wie sie schreibt. Auch habe sie sich gegenüber der Pflege und den Ärzten nur freundlich und ruhig gestellt, da sie möglichst bald verlegt werden wollte. Auch in ihre Unfruchtbarmachung habe sie nur eingewilligt, um endlich aus der Anstalt entlassen werden zu können, wie sie am nächsten Tag in einem zweiten Brief an eine anscheinend noch engere Bekannte in Alzey schildert: »Liebe Irene! Heute will ich mein Versprechen einlösen und Dir einige Zeilen zukommen lassen. Wie geht es Dir denn, hoffentlich gut? Nur den Kopf oben behalten, es naht bald Rettung. Wie weit ist denn die Sache von wegen Mainz gediehen? Irene Dein Mann soll sich doch an unseren Führer direkt wenden. So wie die Herrn Ärzte in Alzey vorgehen, daß sie überhaupt niemand entlassen ohne Sterilisierung ist das gar nicht gemeint. Er soll sich dabei auf die Radioübertragung berufen, wo ausdrücklich gesagt wurde, daß nur solche Fälle für das Gesetz Verwendung finden, wo nachweisbar in früheren Generationen Geisteskrankheit war. Eine vorübergehende Psichose ist hier kein Grund. Hätte ich das selbst früher gewußt, so wäre ich davon auch verschont geblieben. Dies hat man mir hier selbst gesagt und daß direkte Schreiben an Adolf Hitler Erfolg hätten. Denn unser Führer ist ein Mann von Wort und kein Lügner. Sollte es dazu nun schon zu spät sein, ich meine Dein Mann könnte ja inzwischen schon unterschrieben haben, so braucht Dir auch nicht bange zu sein. Irene es ist hier wunderbar schön. Von der Operation merkst du nichts. Es geht hier alles so rücksichtsvoll als nur möglich zu. Schmerzen hast Du fast gar keine, nur die ersten 2 Tage und die spürst Du kaum, weil Du, wenn Du nur einmal stöhnst sofort eine Spritze bekommst oder ein Schlafmittel. Ich habe mit meiner Unfruchtbarmachung ja etwas Pech gehabt, denn ich muß wahrscheinlich noch einige Wochen hier bleiben. Das macht mir gar nichts aus. Bei 302 Ibid. Brief von Magdalena P. an Frau W. in Alzey vom 27. 10. 1934.
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mir geht es jetzt wieder wie ein Wasserfall. Ich singe und pfeife nach Herzenslust. Alle haben sie mich hier gern. Vielleicht kommst Du bald hierher. […] Du mußtest ja in Alzey noch mehr mitmachen als ich. Aber verlaß Dich drauf alles werde ich an Adolf Hitler berichten. Mein Aufenthalt in Alzey soll wenigstens einen guten Zweck gehabt haben.«303
Magdalena P. hadert interessanterweise nicht mit ihrem eigenen Schicksal, sondern empört sich über die Zustände und Lebensumstände der anderen Anstaltsinsassen. In ihrem Brief prangert sie weiter die hygienischen Umstände in den Isolierzellen an und beschwert sich über die bevorzugte Behandlung einer Mitpatientin im Landhaus, wie auch über die Gewaltanwendung der Pfleger gegenüber den Anstaltsinsassen. Ihre Unfruchtbarmachung hält sie zwar für nicht gerechtfertigt, da das Gesetz nur für »geisteskranke« Familien gelte. Dennoch beschreibt sie es als Glück aus Alzey nach Mainz zur Operation verlegt worden zu sein, da sie glaubt, dass sich für sie nun alles zum Besseren wende. Dass ihre Briefe von der Anstaltsleitung geöffnet werden würden, scheint sie nicht geahnt zu haben, sonst hätte sie sich nicht so freimütig geäußert. Für sie ist »Alzey erledigt«, wie sie schreibt und sie glaubt sich in Sicherheit. Somit ist es ihr ein letztes Anliegen, die dort von ihr wahrgenommen Missstände öffentlich zu machen. Am nächsten Tag wendet sie sich dazu in einem letzten von ihr erhaltenen Brief an Adolf Hitler persönlich. Dieser erreicht aber ebenfalls nicht seinen Adressaten, sondern wird dem zuständigen Gauleiter ausgehändigt, der die Anstalt mit diesem Schreiben konfrontiert. Eine Abschrift findet sich in der Krankengeschichte von Magdalena P.: »Erlauben Sie mir mein Führer, dass ich Sie davon in Kenntnis setze über die Zustände, die sich in der Landes- Heil und Pflegeanstalt Alzey zutragen. Ich wurde am 10. Februar des Jahres zu Folge eines Nervenzusammenbruches, hervorgerufen durch dicht aufeinanderfolgende Schicksalsschläge dortselbst eingeliefert. Wie wenig gut es für meinen Zustand war dort sein zu müssen, mögen Ihnen nachfolgende Zeilen bekunden. Als geistig normaler Mensch sich 8 Monate lang unter Geisteskranken bewegen zu müssen ist etwas furchtbares. Dazu musste ich die schrecklichsten Behandlungen des Pflegepersonals den Kranken gegenüber ausgesetzt sein. Will Ihnen mein Führer nur einzelne davon beschreiben, sie mögen Ihnen genügen, um dort mit eisernem Besen zu reinigen. Bekommt jemand einen Anfall, dann wird er in die Zelle gesperrt, ganz nackt ausgezogen und so muss er manchmal Tage und Nächte dort verbringen. In der Zelle befindet sich kein Klosett, sodass er seine Notdurft auf den Boden verbringen muss und nun diese Luft auch noch einzuatmen hat. Morgens und Abends erscheint zur Visite Herr Oberarzt Dr. Kinsberger mit der Oberpflegerin Ewald. Die Frauen wissen nun nicht vor Scham in welche Stellung sie sich begeben sollen. Gewiss verständlich ist, dass man laute oder nicht anständige Personen von anderen entfernt, aber ich frage Sie nun mein 303 Ibid. Brief von Magdalena P. an Irene in Alzey vom 28. 10. 1934.
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Führer unanständiger kann man sich doch nicht mehr benehmen. Auf den Klosetts befindet sich nie Klosettpapier, sodaß zu diesem Zwecke die Leute ihr Hemd benutzen müssen, um dann von den Pflegerinnen Drecksau, Sorle und dergleichen genannt zu werden. Zeuge war ich auch wie vor dem ärztlichen eine Patientin aus Wache 1 vorgeführt wurde. Die Kranke lies sich in eine Ecke fallen, als es nun aus Vorführung Zeit war und die Kranke sich nicht sofort erhob, hat sie die Pflegerin Leitzig buchstäblich an den Haaren in die Höhe gezogen. Ebenso war ich Zeuge wie eine Patientin, ein armes Menschenkind das sich sein Leben lang an zwei Stöcken bewegen musste, als sie die Nachricht erhielt, dass ihr Vater gestorben sei, bekam sie einen Schreikrampf. Zwei Pflegerinnen haben sie auf Wache 1 transportiert. Sie nahmen sie an den Füssen, zogen sie die Treppe herab, sodass der Kopf auf jeder Treppe aufschlug und dann schleiften sie sie durch den Garten zur Wache 1 mit dem Kopf auf dem Boden. Bis zur Wache ist ungefähr 150 m. Das Gesicht war vollkommen zerschunden, ich sprang hinzu, wollte die Patientin tragen, es wurde mir nicht genehmigt. Ich hatte pechschwarze Haare, aber da bin ich weiss geworden. Ich flüchtete in den Schlafsaal, dort habe ich mich niedergekniet und unseren Herrgott angerufen, er möge mir Kraft geben, dies alles zu ertragen. Ich muss aufhören, ich rege mich zu auf. Ich stehe jederzeit gerne zur Verfügung. Bin gerne bereit unter Eid auszusagen, dass dies die Wahrheit ist. Zu wissen, dass recht bald für die Kranken in Alzey andere Tage folgen mögen und dass anderes Pflegepersonal eingestellt wird, soll mir Genugtuung sein für all das Schreckliche, was ich dort erlebt habe.«304
Während sich Magdalena P. in Sicherheit wähnt, sind die Ärzte mit dem Heilungsverlauf ihrer Operationswunde nicht zufrieden. Verantwortlich gemacht wird sie dafür selbst, da sie eigenständig die Verbände entferne und an der Wunde kratze. Am 3. November wird sie aus diesem Grund von Obermedizinalrat Puppel auf die psychiatrische Abteilung des Städtischen Krankenhauses verlegt. Zur Begründung heißt es: »Sehr geehrter Herr Kollege! In Bestätigung unserer fernmündlichen Unterredung überweise ich Ihnen zwei unruhige Geisteskranke. 1. Fräulein Elisabeth H. […] 2. Fräulein Magdalena P. mit manisch-depressivem Irresein; Operation am 17.10. Patientin reißt dauern die Verbände ab. Es ist daher zu starker Deshiszenz der Wunde gekommen. Beide Patientinnen gehören in die Heil- und Pflegeanstalt Alzey, da aber in dem jetzigen Zustand ein so weiter Transport untunlich erscheint, bitte ich Sie um Aufnahme derselben.«305
304 Ibid. Abschrift des Briefs von Magdalena P. an Adolf Hitler vom 29. 10. 1934. 305 Universitätsklinikum Mainz, Archiv des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Krankenaktenbestand der Hebammenlehranstalt Mainz, Jahrbuch 1934 Bd. 2, Hauptbuchnr. 885.
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Kurze Zeit nach ihrer Verlegung verstirbt Magdalena P. in der psychiatrischen Abteilung des städtischen Krankenhauses Mainz. Ein genaues Todesdatum und den Grund für ihr Versterben sind aus den vorliegenden Akten nicht nachzuvollziehen, da aus diesem Zeitraum keine Patientenakten der psychiatrischen Klinik erhalten sind. Ein letzter Eintrag in Magdalena P.s Alzeyer Krankengeschichte nimmt zu ihren Anschuldigungen in ihrem Brief an Adolf Hitler Stellung, mit welchen die Anstalt durch den zuständigen Gauleiter konfrontiert wurde. Alle aufgeführten Vorkommnisse und die beschriebenen Zustände der Krankenversorgung werden darin abgestritten. Zu Magdalena P. heißt es dort: »Sie kam am 10.02.34 auf ein ärztliches Zeugnis des Nervenarztes Dr. Blank, Worms, Lutherplatz 1 wegen Gefahr der Verwahrlosung und Selbstmordgefahr unter der Diagnose »Manisch-depressives Irresein« in die Heil- und Pflegeanstalt Alzey. Die Notwendigkeit der Anstaltsaufnahme war durch das Kreisgesundheitsamt Worms bescheinigt. Sie befand sich in einem ausgesprochenen Depressionszustand, der im Laufe von Monaten abklang. Während ihres Aufenthaltes hat sie nie Klagen oder Beschwerden vorgebracht, wozu ihr täglich Gelegenheit geboten war. Vor ihrem Alzeyer Aufenthalt befand sich Frau P. vom 17. 7. 1931–23. 7. 1931 in der Nervenklinik der Universität Frankfurt/Main und vom 20.–30. 5. 1932 in der Hessischen Landes- Heil- und Pflegeanstalt »Philippshospital« bei Goddelau zur Beobachtung auf ihren Geisteszustand und zur Begutachtung in einer von ihrem Ehemann Wilhelm H. gegen sie angestrengten Klage auf Ungültigkeitserklärung der mit ihm am 21. 6. 1930 geschlossenen Ehe. Beide Anstalten stellten manisch depressives Irresein bei Frau P. fest. Die Ermittlungen ergaben, dass sie in ihrem 17. Lebensjahr schon eine Phase der Krankheit durchgemacht hat. Daraufhin wurde der Klage des Mannes stattgegeben und die Ehe für ungültig erklärt. Die Berufung der Beklagten beim Oberlandesgericht, II. Zivilkammer, Darmstadt hatte keinen Erfolg. Damit dürfte die Meinung von Frl. P., sie sei geistig normal gewesen, widerlegt sein.«306
306 Landesarchiv Speyer. Bestand O 41 (Landeskrankenhaus Rheinhessen Fachklinik Alzey), Nr. 3068, Eintrag Krankengeschichte ohne Datum.
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4.1.3 Luise H.
Abbildung 15: Foto Luise H.
»Es war ein braver Bursch…«
Geboren 1907 Zwangssterilisiert in Mainz 1934 Verstorben in der Heil- und Pflegeanstalt Alzey 1938 »Herr Obermedizinalrat Dr. Kinsberger, gestern besuchte ich meine Tochter, (…), ich halte sie für völlig gesund, voraus gesetzt, Rückfälle können immer noch kommen, aber darauf hin kann man sie doch nicht noch weiter in der Anstalt lassen. Zumal mir die Gemeinde Schwierigkeiten macht mit der Vorlage. Meiner Tochter ihr bißchen Vermögen ist jetzt aufgebraucht, und ich bin nicht in der Lage weiter zu bezahlen. Wie mir meine Tochter erzählte, kommen diese Woche Patienten zur Sterilisierung, da möchte ich Sie bitten, meine Tochter doch auch zu zulassen. Sie wäre doch so gerne zu Hause. Ich will sie zu gerne zu Hause noch hegen und pflegen.«307
Mit diesem Schreiben an die Heil- und Pflegeanstalt Alzey bittet Luise H.s Mutter im März 1934 um die baldige Sterilisation ihrer Tochter, damit sie anschließend nach Hause entlassen werden könne. Das Antwortschreiben der Anstalt auf dieses Anliegen ist knapp gehalten und verspricht alles Mögliche zu tun, um das Sterilisationsverfahren zu beschleunigen, da der Heilungsverlauf günstige Fortschritte mache. Dennoch dauert es noch einmal ein halbes Jahr bis Luise H. im November 1934 in die Hebammenlehranstalt Mainz zur zwangsweisen Sterili-
307 Landesarchiv Speyer. Bestand O 41 (Landeskrankenhaus Rheinhessen Fachklinik Alzey), Nr. 3623, Brief der Mutter an die Anstalt vom 5. 3. 1934.
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sierung überwiesen wird. Zu diesem Zeitpunkt war sie 27 Jahre alt und bereits fast zwei Jahre Patientin in Alzey. Das Anstaltsgutachten zur Rechtfertigung ihrer Sterilisation beschreibt sie als »schlankwüchsiges Mädchen mit schmalem Brustkorb und langen Gliedmaßen«. Sie habe in der Schule immer gut gelernt, ihre Eltern seien »angeblich nicht« erbkrank und sie sei immer fleissig und ordentlich in ihrer Tätigkeit als Hausangestellte gewesen. Die psychopathologische Diagnose Schizophrenie begründet das Gutachten wie folgt: »Typischer Beginn mit Halluzinationen und Zwangshandlungen im Sommer 1932. Typischer Krankheitsverlauf in der Anstalt. Defektheilung mit gemütlicher Stumpfheit. In ihrer Beschäftigung mit nichtssagenden kunstlosen Zeichnungen und einer unverkennbaren gemütlichen Stumpfheit lassen sich die Reste des durchgemachten Schizophrenen Schubs deutlich erkennen.«308
Über ihr Leben vor ihrer Erkrankung finden sich in den Patientenakten der Anstalt nur die kurzen Angaben, die sich der aufnehmende Arzt bei ihrer Exploration notiert: »Ihr Vater sei Lademeister gewesen an der Bahn, sei vor fünf Jahren an einem Leberleiden gestorben. Sie habe noch vier Brüder und drei Schwestern, die alle gesund seien. Sie habe die Volksschule besucht, habe gut gelernt, nicht sitzen geblieben. Nach der Schule war sie zuerst eine zeitlang zu Hause, sei dann in Stellung gewesen als Dienstmädchen, dazwischen mit kurzen Unterbrechungen zu Hause. In ihrer letzten Stelle in Oberingelheim sei sie etwa 2 Jahre gewesen.«309
Von dieser Anstellung war sie im Frühjahr 1932 weggelaufen. Im November des Jahres folgte dann aufgrund eines Nervenzusammenbruchs und zwei Suizidversuchen die Überweisung nach Alzey durch Herrn Dr. Höchstberger, dem Arzt ihrer Heimatgemeinde. Am 29. November 1932 trifft Luise H. in Begleitung ihrer Mutter in der Anstalt ein, die dort folgende Erklärungen über die psychische Erkrankung ihrer Tochter macht: »Luise H. sei immer zurückhaltend gewesen und sei wenig fortgegangen. Sie habe eine Stelle als Dienstmädchen gehabt, sei sehr fleissig gewesen, sei aber von ihrer Herrschaft auch ausgenutzt worden. Sie habe ein Verhältnis mit einem jungen Mann gehabt, der sich aber vor kurzem zurückzog, worüber sich die Kranke sehr erregte. Die Mutter sieht die Trennung dieses Verhältnisses, als die Ursache der Verstörtheit ihrer Tochter an. Diese sei zum ersten mal auffällig geworden, als sie im Juli in selbstmörderischer Absicht nach Freiweinheim an den Rhein ging. Sie habe ihre Absicht aber damals nicht ausgeführt, sei von selbst wieder nach Hause gekommen. Im Oktober machte sie einen zweiten Selbstmordversuch im Rhein, sie war damals bereits bis zur Brust im Wasser. 308 Ibid. Ärztliches Gutachten. 309 Ibid. Eintrag vom 30. 11. 1932.
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Ebenfalls Anfang Oktober brachte sie sich an beiden Handgelenken mit einer Glasscherbe tiefe Verletzungen bei. Sie habe damals geäussert, es sei gewesen, als habe jemand neben ihr gesessen und gesagt, »Du musst dir jetzt die Pulsader aufschneiden«. Sie habe öfters unter solchem Zwang gehandelt, sei so einmal die ganze Nacht durch die Gemarkung gelaufen von einer unwiderstehlichen Gewalt getrieben.«310
Einen kurzen Einblick in den psychischen Zustand von Luise H. lässt sich anhand ihrer eigenen Angaben zu ihrer Krankheitsgeschichte gewinnen: »…ich will mich besinnen. Ich hatte einen Bursch kennen gelernt und hatte vorher einen Mann gekannt, den ich wirklich gern hatte. Das habe ich dem Bursch erzählt, das war mir dann so peinlich, da bin ich weggelaufen, in den Rhein. (Selbstmord?) Ja, das wollt ich. Manche machen sich ja kein Gewissen daraus, aber ich war so aufgeregt. Ich glaube, dass Sie das alles wissen. Der Bursch wollte, als ich das sagte von mir bleiben, aber wir sind doch immer wieder zusammen gekommen, deshalb bin ich wahrscheinlich hier. Wenn ich daheim geblieben wäre, wäre das alles nicht passiert. Es war ein braver Bursch, …«311
Die ärztliche Dokumentation bis zum Ende des Jahres beschreibt Luise H. als eine stille und zurückgezogene Patientin. Am 22. Dezember versucht sie sich im Nähsaal mit einer Schere erneut die Pulsadern zu öffnen. Schon auf dem Weg zur Arbeit habe sie fortlaufen wollen, sie verweigere die Nahrung, antworte nicht auf Fragen und müsse mit der Sonde ernährt werden. Die ärztlichen und pflegerischen Einträge des Jahres 1933 schildern ihre langsame Wesensveränderung. Sie bekommt monatlich Besuch von ihren Geschwistern und ihrer Mutter, den sie an manchen Tagen freudig begrüßt, an anderen Tagen wieder gar nicht zur Kenntnis nimmt. Die stille Zurückgezogenheit wechsle sich mit Anfällen von Bewegungsdrang, Verstimmtheit und Wut ab, in denen sie auch gegen die Pfleger gewalttätig werde. Im Mai unternimmt sie einen erfolglosen Fluchtversuch aus dem Garten. Als einzige therapeutische Maßnahme werden die Unterbringung auf der unruhigen Wache, Beruhigungsmedikation und das Dauerbad notiert. 1934 ändern sich die Akteneinträge über die Patientin H. Zwar wird ihr Verhalten immer noch als wechselhaft beschrieben, doch hat sie längere Phasen, in denen sie den Ärzten und den Pflegerinnen als geordnet und zugänglich erscheint. Sie bekommt oft Besuch von ihren Geschwistern und ihrer Mutter und äußert bei diesen Besuchen jetzt vermehrt und eindringlich den Wunsch wieder nach Hause heimgeholt zu werden, sie sei doch schließlich schon gesund. Eine Entlassung konnte zu diesem Zeitpunkt aber bereits nur nach einer gerichtlichen Prüfung ihrer Sterilisationsindikation genehmigt werden. Da auch die Familie Luise H.s auf eine Entlassung drängt, wird im Februar 1934 durch Oberarzt Dr. Kinsberger ein Antrag auf Sterilisation beim Erbgesundheitsgericht gestellt. 310 Ibid. Eintrag vom 29. 11. 1932. 311 Ibid. Eintrag vom 30. 11. 1932.
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Am 29. März ergeht der gerichtliche Sterilisationsbeschluss mit folgender Urteilsbegründung: »Der Kreisarzt Dr. Rapp in Alzey hat diese Feststellung nach Einsicht der Krankenakten der Anstalt und persönlicher Vorstellung der H. bestätigt. Da nach den Erfahrungen der ärztlichen Wissenschaft mit grosser Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass die Nachkommen der 26-jährigen Luise H. an schweren geistigen oder körperlichen Erbschäden leiden werden, hält das Gericht die Unfruchtbarmachung nach §1 des Gesetztes für geboten.«312
Um den Prozess zu beschleunigen willigen die Familie und Luise H. in die Sterilisierung ein und verzichten auf Widerspruch. Dennoch wird sie erst im November nach Mainz zur Operation überwiesen. Zu der dazwischenliegenden Zeitspanne existiert nur ein Eintrag in der ärztlichen Dokumentation: »Die Unfruchtbarmachung der Kranken wurde beantragt. Das Urteil ist vor einiger Zeit ergangen und bereits rechtskräftig geworden. Es war aber bis jetzt nicht möglich, die Kranke zur Operation zu verlegen, da sie in ihrem Verhalten immer noch in der früher geschilderten Weise wechselt. Sie ist längere Zeit in geordnetem Zustand, ist freundlich und zugänglich, beschäftigt sich, hat entsprechenden Konnex mit den übrigen Patientinnen. Ist selbstständig und sauber in ihren Verrichtungen, um dann plötzlich in einen Zustand schwerer Erregung umzuschlagen. Die ersten Anzeichen sind gewöhnlich eine kurzdauernde traurige Verstimmung, Unreinheit mit Urin. Dann setzt eine motorische Unruhe ein, die Kranke spricht, gestikuliert, grimassiert und ist durch ihre Sinnestäuschungen vollkommen abgelenkt. Es ist an solchen Tagen keine sinnentsprechende Antwort von ihr zu bekommen. Dringt man länger in sie, wird sie leicht gewalttätig.«313
Am 5. November wird sie schließlich nach Mainz in die Hebammenlehranstalt überwiesen, wo sie am 6. November durch Herrn Medizinalrat Dr. Puppel operiert und unfruchtbar gemacht wird. Die Krankenakten der Mainzer Klinik verzeichnen eine unkomplizierte Operation und einen raschen Heilungsverlauf, so dass Luise H. am 19. November als »geheilt« nach Hause entlassen werden kann. Ihr Aufenthalt zu Hause ist aber nur von sehr kurzer Dauer. Bereits am 23. November, vier Tage später, wird Luise H. »in sehr erregtem Zustand« wieder in die Heil- und Pflegeanstalt Alzey aufgenommen und sofort ins Dauerbad gebracht. Ihr Schwager, der sie bei ihrer Wiederaufnahme begleitet, macht zu ihrem Zustand in den letzten Tagen einige kurze Angaben: »Nach ihrer Entlassung aus dem Mainzer Krankenhaus, wo ihre Sterilisation vorgenommen wurde, verhielt sie sich zunächst zu Hause ruhig und geordnet. Nachts sei sie dann plötzlich aufgestanden, habe Bilder von der Wand abgehängt und zerschlagen und 312 Ibid. Sterilisationsbeschluss vom 29. 03. 1934. 313 Ibid. Eintrag vom 27. 10. 1934.
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habe getobt. Sie habe unzusammenhängendes Zeug geredet und sei sehr angriffslustig, gegen jeden der sich ihr näherte, gewesen.«314
Über ihren Zustand bis zum Endes des Jahres findet sich nur die weitere ärztliche Dokumentation am Wiederaufnahmetag: »Nach dem Bade sitzt die Patientin aufrecht im Bett, spricht immer noch sehr erregt und unzusammenhängend vor sich hin, zittert am Körper vor Aufregung, besonders aber an den Händen. Sie reinigt andauernd mit den Fingern der einen Hand die Nägel der anderen Hand, und macht alle paar Sekunden mit Zunge und Lippen Geräusche als ob sie spucke. (…) Sie ist nicht ansprechbar und nicht zu fixieren. Zieht ihre Hand, wenn man sie halten will, immer gleich zurück.«315
Für Luise H. beginnt nun erneut der Anstaltsalltag, nur dass eine Entlassung jetzt in weite Ferne rückt. Auch ihre Mutter scheint zunehmend mit dem Zustand ihrer Tochter überfordert. In einem Brief an Oberarzt Dr. Kinsberger schreibt sie: »Am Sonntag bin ich in Mainz gewesen, wollte zu Ihnen in die Sprechstunde, um mich nach meiner Tochter erkundigen, wie es ihr geht, konnte Ihnen [sic] aber nicht finden, ich wurde von einer Adresse an die andere geschickt. Und so möchte ich Sie bitten, mir zu berichten, wie es ihr geht. Es wäre jedenfalls besser gewesen, wenn sie nochmal zurück in die Anstalt gekommen wäre, denn sie war schon gleich nicht so besonders gut, (…) daß es aber so schlimm mit ihr werden würde, hätte ich nicht geglaubt. Das war furchtbar, was wir da erlebt haben, sowas will ich nicht mehr erleben, so gern ich sie zu Hause hätte.«316
Von nun ab wird eine eventuelle Entlassung vorerst nicht mehr thematisiert und insgesamt werden die Einträge der ärztlichen und pflegerischen Dokumentation jetzt kürzer und finden sich in größeren Zeitabständen wieder. Zu Beginn des Jahres 1935 wechseln die Gemütszustände von Luise H. wieder regelmäßig, im Januar wird eine Verlegung auf die ruhige Wache geplant, die aber im März wieder rückgängig gemacht wird, da sie einen erneuten »Erregungszustand« hat. Aufgrund eines positiven Diphterie-Befundes wird sie isoliert und kann erst im April wieder aus der Isolation entlassen werden. Die wechselnden Aufenthalte zwischen Wachsaal, Dauerbad und ruhiger Wache scheinen für die dokumentierenden Pfleger und Ärzte immer mehr zur Routine zu werden und sind nur noch knapp kommentiert. Im Juni kommt es zu einem schwerwiegenden Konflikt mit einer anderen Kranken: »War bis heute ungeordnet, unruhig, hat u. a. eine hilflose Kranke umgestossen, dass diese mit dem Kopf auf die Kante eines Schrankes aufschlug und an den Folgen verstarb.« Eine weitere
314 Ibid. Eintrag vom 23. 11. 1934. 315 Ibid. 316 Ibid. Brief der Mutter vom 2. 12. 1934.
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Erklärung zu diesem außergewöhnlichen Vorfall wird in den Akten nicht gegeben. Im weiteren Verlauf scheint sich Luise H.s Zustand zu bessern und sie wird im August in die ruhige Abteilung des Landhauses verlegt. Als sie nach einem Spaziergang im Garten am 8. September zum Mittagessen geholt werden soll, ist sie nicht aufzufinden. Einen Tag später erhält die Anstalt Nachricht aus der Bürgermeisterei des Heimatortes von Luise H., dass sie sich dort aufhalte, mit der Frage, was mit ihr weiter geschehen solle. Die Anstalt scheint mit ihrer Unterbringung ebenfalls überfordert; zumindest kommt ihr die eigenmächtige Entlassung Luise H.s nicht ungelegen, denn sie ordnet den weiteren Verbleib in der Familie an und entlässt Luise H. rückwirkend ab dem Tag ihrer Flucht als »gebessert aber arbeitsunfähig«. Für die nächsten zwei Wochen, es wird der letzte Heimataufenthalt von Luise H. sein, ist sie wieder zu Hause bei ihrer Familie, von wo sie aber am 25. September in Begleitung einer Krankenschwester wieder zur Aufnahme nach Alzey kommt. Die Krankenschwester übergibt den Ärzten ein Schreiben der Mutter, indem diese ihr Einverständnis für den Verbleib von Luise H. in der Anstalt oder in Privatpflege in der Nähe erteilt. Eine Entlassung nach Hause scheint jetzt endgültig unmöglich. Über ihren eigenmächtig erteilten Heimaturlaub macht ihre Mutter in der Außenfürsorgestelle der Anstalt in Mainz am 4. Oktober folgende Angaben: »Die Kranke verhielt sich zu Hause ungeordnet, wollte nicht arbeiten, legte einen übertriebenen Wert auf ihre Körperpflege, rieb sich das Gesicht mit Franzbranntwein, den Hals mit einem starken Kamillenabsud, die Füße mit Fichtennadelextract ein. Sie ging in den nahen Wald und holte sich Fichtenzweige um diese abzukochen. Auf den bloßen Leib band sie sich Zweige von Taxus, alles, um ihre Nerven zu stärken. Aus demselben Grund trank sie in kurzer Zeit zwei grössere Flaschen mit Baldriantinktur, die der Arzt der Mutter verschrieben hatte, leer. (…) Sie liess sich nichts sagen, warf mit den gemeinsten Ausdrücken um sich, wenn man sie beredete und terrorisierte die ganze Familie.«317
Das Wechselspiel von ruhiger Wache, Wachsaal und Dauerbad beginnt für Luise H. somit 1936 von neuem. Der Anstaltsaufenthalt scheint ihr aber so unerträglich, dass sich nun auch ihre Ausbruchsversuche häufen. Im April entkommt sie gegen Mittagszeit aus dem Waschsaal, wird aber noch am selben Abend wieder gefunden und in die Anstalt zurückgeführt. Im Juni schafft sie es nur bis zur Pforte, bevor sie wieder aufgegriffen wird. Zwei Tage später versucht sie sich mit einer Schere ins Herz zu stechen und sich die Pulsadern zu öffnen. »Wenn ich nicht fortkomme, kann das noch öfter passieren, ich will nicht mehr länger hier bleiben«, vermerkt der fortlaufende Pflegebericht die Erklärung ihres Suizid317 Ibid. Eintrag vom 4. 10. 1935.
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versuchs.318 Im November folgt ihr nächster Fluchtversuch aus dem Landhaus, dem Übergangsgebäude der Anstalt: »Patientin verhielt sich in den letzten Wochen geordnet, ruhig und arbeitsam. Sie konnte daher wieder auf den Übergang verlegt werden. Von dort unternahm sie aber nun einen grotesken Fluchtversuch. Sie hatte sich aus mehreren Gürteln einen Strick verfertigt, kletterte mit diesem aus einem Fenster auf das Dach von Wache II. Unterwegs verlor sie aber ihr Rettungsseil und brachte mehrere Stunden auf dem Dach zu, bis sie endlich aus freien Stücken wieder durch besagtes Fenster in ihren Schlafsaal auf dem Übergang hineingelangte.«319
Mit den Ausbruchsversuchen häufen sich auch die Zustände äußerster Erregtheit und Wut. In einem Wutanfall schreit Luise H.: »Nein, was tue ich noch hier? Alles nur wegen des Mannes. Was der Mensch mich schon aufgeregt hat. Der sitzt jetzt daheim, ich aber kann keine Nacht mehr ruhig schlafen.«320 Im Jahr 1937 wird Luise H. fast ausschließlich auf der unruhigen Wache gehalten. Einträge ärztlicher Dokumentation finden sich jetzt kaum noch in den Unterlagen. Ein letzter Therapieversuch wird im Oktober mit einer Insulinkur durchgeführt, durch die auch ihre Mutter noch einmal Hoffnung auf eine Besserung des Zustands ihrer Tochter zu schöpfen scheint. Im letzten in der Krankenakte überlieferten Brief erkundigt sie sich nach der Wirkung der Therapie: »Ich möchte Anfragen wie es meiner Tochter geht. Ob sie noch in dem guten Zustand, wie sie vor drei Wochen gewesen ist, noch ist. Und ist sie schon in Insulinbehandlung, ob man schon eine Wirkung verspürt.«321 Die Bilanz der vierwöchigen Behandlung liest sich aber ernüchternd: »Mit Patientin wurde vom 29.09. bis 29.10. eine Insulinkur vorgenommen. Wir begannen mit 20 E und steigerten die Dosis täglich um 8 E. Auf 92 E reagierte sie mit einem Schock. Die Einschleichphase dauerte 12 Tage. Vom 22.11. bis 7.12. wurde die Kur wiederholt. Die Gesamtschockzahl betrug 21. Schontage 6. Einmal trat ein epileptischer Anfall auf. Die Behandlungsdauer betrug insgesamt 41 Tage. Die Gesamtmenge an Insulin 3840 E. Die Kur war ohne Erfolg auf das psychische Zustandsbild.«322
Nach diesem letzten gescheiterten Therapieversuch finden sich für das Jahr 1938 nur noch zwei ärztliche Einträge und vier pflegerische Dokumentationen in der Krankenakte von Luise H. Im Februar ist ein Besuch ihrer Mutter verzeichnet, die von Luise H. freundlich begrüßt und auch ebenso verabschiedet wird. Ansonsten beschreiben die Einträge »noch immer das gleiche wechselvolle psychische Zu-
318 319 320 321 322
Ibid. Fortlaufender Pflegebericht, Eintrag vom 16. 06. 1936. Ibid. Eintrag vom 2. 11. 1936. Ibid. Eintrag vom 16. 11. 1936. Ibid. Brief der Mutter vom 20. 10. 1937. Ibid. Eintrag vom 20. 12. 1937.
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standsbild«. Im September erkrankt Luise H. dann plötzlich mit Fieber, Erbrechen und Kopfschmerzen. Am 27. September notiert der zuständige Arzt: »Das Zustandsbild wurde zusehends schlechter. Die letzten Tage war Patientin völlig somnolent, reagierte nicht auf Anrede und nahm fast keine Nahrung zu sich. Heute Morgen kam es unter zunehmender Kreislaufschwäche ad exitus. letalis.«323
In der Obduktion wird eine Typhuserkrankung der Organe der Bauchhöhle festgestellt. Luise H. verstarb am 27. 09. 1938 um 7.30 Uhr morgens, im Alter von 31 Jahren. Als Zeugnis des kurzen Lebens von Luise H. bleiben ihre seltenen durch das Anstaltspersonal und die Ärzte gefilterten und dokumentierten Äußerungen und ihre laut Anstaltspersonal »nichtssagenden kunstlosen« Zeichnungen, von denen zwei die Zeit in ihrer Krankenakte überlebt haben. Die zweite Zeichnung zeigt vielleicht ein Selbstporträt der jungen Frau.
Abbildung 16: Zeichnung Luise H.
323 Ibid. Eintrag vom 27. 09. 1938.
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Abbildung 17: Zeichnung Luise H.
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4.1.4 Anna Wilhemine S.
Abbildung 18: Foto Anna Wilhelmine S.
»Angeborener Schwachsinn. Aus der ganzen Lebensführung und dem asozialen Verhalten ersichtlich und durch Untersuchung nachgewiesen.«
Geboren 1900 Zwangssterilisiert in Mainz 1935 Verstorben im Städtischen Krankenhaus Mainz 1937 Anna S. wird gegen Ende des Jahres 1900 in Mainz als eine von drei Schwestern geboren. Über ihr Leben vor ihrer Einweisung in die psychiatrische Heil- und Pflegeanstalt Alzey ist in ihrer Krankengeschichte wenig erwähnt. In der Schule habe sie »angeblich gut gelernt«, muss diese aber frühzeitig verlassen, als ihr Vater verstirbt. Von da an muss sie zum Unterhalt des elterlichen Haushalts beitragen und arbeitet in verschiedenen Monatsstellungen als Hausangestellte. Auch eine Anstellung als Fabrikarbeiterin zum Abwiegen und Verpacken von Seife und eine Beschäftigung in einer Aktienbrauerei zum Reinigen von Flaschen sind in ihrer Akte vermerkt. Die Gesundheit ihrer Mutter ist zu diesem Zeitpunkt bereits ebenfalls beeinträchtig und zusammen werden sie 1920 im Mainzer Invalidenhaus, einer städtischen Einrichtung für Bedürftige, untergebracht. Dort kommt sie aber nicht gut zurecht und wird daher einige Monate später nach
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Alzey überwiesen, wo sie am 3. September 1920 nachmittags in der Begleitung eines »Bürobeamten« eintrifft.324 Der Verlegungsbericht des einweisenden Arztes Dr. Probst macht zu ihrer Einweisung folgende Angaben: »Anna S., fast 20 Jahre alt, kath., led., Gelegenheitsarbeiterin. Vater litt an Asthma. Mutter seit April des Jahres im Invalidenhaus. Angeblich dementia senilis. Ist aber erst 52 Jahre alt. Zwei Schwestern leben. Von ihnen ist aber Näheres nicht zu erfahren. (Ein Unterstützungsbogen der Mutter nennt ausser der Kranken noch eine Schwester Maria Magdalena, die mit einem verheirateten Manne lebe und nichts mehr arbeite. Sie hat ein fünf jähriges Kind.) In der Schule angeblich gut gelernt. Später an verschiedenen Stellen anscheinend immer nur kurz gearbeitet. Angeblich nie krank gewesen. Unfälle und Verstösse gegen das Strafrecht kamen nicht vor. Am 2. 6. 1920 durch die Polizei dem Invalidenhaus Mainz zugeführt, weil ihr (und ihrer Mutter) Verhalten Ärgerniss-erregend war. Verhält sich im Invalidenheim äusserst ungeordnet. Verweigert oft ihre aufgetragene Arbeit. Äussert dabei Wahn- und Zwangsvorstellungen. Seither mit leichter Arbeit beschäftigt. Auf die Dauer im Invalidenhaus zu störend. Sich selbst wegen Gefahr der Verwahrlosung nicht zu überlassen.«325
Die angegebenen Zwangs- und Wahnvorstellungen werden nicht weiter spezifiziert und finden sich in der restlichen Krankenakte nicht weiter aufgeführt. Da Anna S. sich aber störend verhalte und ihr keine eigenständige Lebensführung zugetraut wird, soll sie jetzt unter ärztlicher Aufsicht in Alzey verwahrt werden. Dort angekommen folgt eine ausführliche körperliche Untersuchung, die keinen krankhaften Befund erhebt, und eine Intelligenzprüfung. Dabei zeigt sie Schwächen in der Rechtschreibung und Geographie, erhält aber im Rechnen und im allgemeinen Lebenswissen ein »genügend« als Urteil. Ihr Verhalten während der Untersuchung wird ihr durch die Ärzte als »ungeniertes etwas dreist neugieriges Auftreten« ausgelegt, woraufhin die Diagnose »angeborener Schwachsinn« gestellt wird und sie auf die ruhige Wache kommt.326 Wenige Wochen später wird eine Beschäftigung außerhalb des Anstaltswesens für sie gefunden: »War einige Tage im Haushalt des Herrn Direktors beschäftigt. Man vermisste dort Geld und Nahrungsmittel. Der Verdacht fiel auf die Patientin. Eine Untersuchung des Bettes förderte eine neue Nachtjacke – unbekannt wessen Eigentum – einige Knäuel Garn, Zwirn und Seide und eine Masse Obstes zu Tage. Ausserdem entdeckte man abends bei der Rückkehr von der Arbeit 8 Mark in bar bei ihr, die im Haushalt des Direktors fehlen, ihr angeblich aber von der Mutter geschenkt seien. Auf Vorhalt, dass sie gestohlen habe
324 Landesarchiv Speyer. Bestand O 41 (Landeskrankenhaus Rheinhessen Fachklinik Alzey), Nr. 3231, Ärztliches Gutachten vom 14. 11. 1934. 325 Ibid. Krankengeschichte, Eintrag vom 03. 09. 1920. 326 Ibid. Krankengeschichte, Eintrag vom 18. 09. 1920.
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und Gefängnis verdiene, leugnet sie die Tat glatt ab. Das Geld habe sie von der Mutter. Garn und Obst habe sie gar nicht im Bett versteckt.«327
Fortan arbeitet Anna S. daraufhin im Nähsaal der Anstalt und die ärztliche Dokumentation in ihrer Krankengeschichte wird deutlich negativer. Sie sei auf der Abteilung »frech und vorlaut«, dränge sich überall und besonders bei der Ausgabe des Essens vor und nehme den anderen Kranken weg, was sie erreichen könne. Man klage auf der Abteilung allgemein über sie und sie sei zu keiner Arbeit so recht zu gebrauchen.328 Zu diesem Zeitpunkt erhält Anna S. noch regelmäßig Besuch von ihrer Schwester und ihrer Mutter, wie der fortlaufende Pflegebericht verzeichnet: »Fräulein Schneider hatte Besuch von ihrer Schwester, begrüßte dieselbe sehr erfreut. Unterhielt sich ganz vernünftig und sagte oftmals nehm mich doch mit nach Haus, frag doch Herrn Doktor ob ich mit darf. Weitere Unterhaltung führte die Kranke nicht, beim Abschied weinte sie und sagte sie solle bald wieder kommen.«329
Bereits im Frühjahr 1921 werden diese Besuche, wie auch die Einträge des Pflegeberichts und der ärztlichen Dokumentation immer weniger. Anna S. ist jetzt ein fester Bestandteil der Anstalt und ihre Krankengeschichte enthält nur noch einmal jährlich zum Jahresabschluss im Dezember einen zusammenfassenden Bericht. Anhand dieser spärlichen Dokumentation zeigt sich deutlich, dass eine Therapie oder eine Entlassung für sie bereits jetzt schon nicht mehr angestrebt werden und dass von ärztlicher Seite angenommen wird, dass für sie eine lebenslange Anstaltsverwahrung notwendig sein wird. Zum Ende des Jahres 1921 dokumentieren die Ärzte in ihrer Akte: »Sehr unverträglich und neugierig, fängt häufig mit andern Patientinnen Streit an, prügelt sich mit ihnen und beschuldigt stets beim Arzt die andere als die Schuldige, während sich in den meisten Fällen sie selbst als der schuldige Teil nachweisen lässt. Sehr gefrässig, isst oft den andern ihre Portion weg. Ging im Sommer fleissig mit zur Gartenarbeit, was ihr offenbar grossen Spass machte, jetzt beschäftigt sie sich regelmässig in der Gemüseküche.«330
In der Gemüseküche der Anstalt hat Anna S. ihren Platz gefunden und ist dort in den nächsten Jahren beschäftigt. Sie arbeitet dort »unermüdlich fleissig« und »ist vom Personal hoch geschätzt«. Die Ärzte beschreiben sie weiterhin als »frech, vorlaut, neugierig und unverträglich«.331 Seit Mitte des Jahres 1922 befindet sich auch ihre zunehmend demente Mutter in der Anstalt, die sechs Jahre später 1928 327 328 329 330 331
Ibid. Krankengeschichte, Eintrag vom 05. 10. 1920. Ibid. Krankengeschichte, Eintrag vom 17. 11. 1920 und 15. 12. 1920. Ibid. Fortlaufender Pflegebericht, Eintrag vom 05. 11. 1920. Ibid. Krankengeschichte, Eintrag vom 02. 12. 1920. Ibid. Krankengeschichte, Eintrag vom 28. 12. 1922 und vom 02. 10. 1924.
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auch dort verstirbt. Über den Kontakt zwischen Mutter und Tochter ist in der Kranken- und Pflegegeschichte nichts vermerkt und auch die jährlichen ärztlichen Einträge reißen zwischen 1927 und 1931 völlig ab. Am 24. Mai 1931, Anna S. ist jetzt bereits seit fast 11 Jahren in Alzey, erwähnt der erste ärztliche Eintrag in der Krankengeschichte nach über vier Jahren erstmals einen neuen körperlichen Befund, der den weiteren Lebensverlauf von Anna S. wesentlich bestimmen wird: »Patientin ist ohne jede Veränderung, immer noch sehr vorlaut. Sie schreit gern, besonders mit anderen schwächeren Kranken, wenn andere Patienten so schreien, so sucht sie diese noch zu überbieten. Drückt sich meist in der Küche herum, wo sie auch fleissig mit hilft, mischt sich in alles hinein, bei der Visite drängt sie sich immer vor, macht sich wichtig, erzählt von anderen Kranken, was diese alles machen, sucht eine Wärterin zu ersetzen. Hat seit Jahren eine immer wieder aufbrechende Wunde über dem Nasenbein, die trotz verbinden mit Salbe nie richtig zum Ausheilen kommt. Es besteht der Verdacht, dass sie immer wieder diese aufkratzt. Wurde vor einigen Wochen ins Krankenhaus geschickt, eine Röntgenaufnahme ergab keinen Befund, es ist sicher, dass die Wunde immer wieder artifiziell gesetzt wird. Die Wunde wird umschnitten und vernäht, die Narbe ist reizlos.«332
Die seit Jahren bestehende Stirnwunde wird von den Ärzten fälschlicherweise als artifiziell eingestuft und auch im Krankenhaus Mainz nicht weitergehend diagnostisch abgeklärt. Eine weitere Behandlung ist in der Krankengeschichte in der Folge nicht dokumentiert. Erst 18 Monate später wird die Wunde im nächsten ärztlichen Eintrag erneut erwähnt: »Die Fistel, die die Kranke seit 1,5 Jahren nach einer Verletzung an der Stirn, über der Nasenwurzel hat (siehe Eintrag 24.5.31) ist seit längerer Zeit wieder aufgebrochen und sezerniert. Der Knochen in der Umgebung der Fistel ist verdickt. Die Kranke wird heute, da Verdacht auf Tbc des Knochens besteht in das Krankenhaus nach Mainz zur vorläufigen Behandlung verlegt.«333
Die Wunde, die zu diesem Zeitpunkt bereits seit mehreren Jahren nicht abheilt, wird in Mainz nun erstmals eingängig untersucht. Anna S. verbleibt 2 Monate im Krankenhaus und wird im Januar 1932 wieder nach Alzey zurückverlegt. Im Verlegungsbericht heißt es zu ihrem Klinikaufenthalt: »Sie haben uns die Obengenannte am 10. 11. 1932 auf unsere Chirurgische Abteilung eingewiesen. Da die Untersuchung dort selbst zu keinem eindeutigen Ergebnis geführt hat, haben wird die Patientin durch Herrn Obermedizinalrat Dr. Müller, Vorstand der Hautklinik, untersuchen lassen. Herr Obermedizinalrat Dr. Müller ist der Meinung, dass es sich mit grösster Wahrscheinlichkeit um einen gummösen Prozess handelt und hat die entsprechende Therapie vorgeschlagen. Da dieselbe auch in Ihrer Anstalt 332 Ibid. Krankengeschichte, Eintrag vom 24. 05. 1931. 333 Ibid. Krankengeschichte, Eintrag vom 10. 11. 1932.
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durchgeführt werden kann, lassen wir Ihnen die Patientin mit dem heutigen Transport zugehen.«334
In Alzey kommt Anna S. laut ihrer Krankenakte am 20. Januar 1933 wieder an: »Wird heute aus dem Krankenhaus Mainz zurückgebracht. Begrüsst strahlend ihre Bekannten, äussert, sie sei froh, dass sie wieder hier sei. Die Stirnwund hat sich wenig verändert, sie sezerniert immer noch, zeigt einen schmierig belegten Grund.«335
Trotz verschiedener therapeutischer Versuche verschlechtert sich die Wunde im Verlauf des Frühjahrs 1933 zunehmend. Am 30. Juli notiert der zuständige Arzt: »Die Quecksilberschmierkur wurde regelgerecht durchgeführt, ohne sichtlichen Erfolg. Die Wunde wird lokal abwechselnd mit Perubalsam oder Jodeform behandelt. Nachts werden feuchte Verbände gemacht. Einen deutlichen Erfolg zeigt weder die eine noch die andere Methode der Behandlung.«336
Obwohl die Wunde sich deutlich verschlechtert und ausbreitet, findet sich erst neun Monate später der nächste ärztliche Eintrag in der Krankengeschichte: »Die Stirnwunde hat sich bis zum rechten Orbitalrand erweitert, sie trotzt nach wie vor aller Behandlung, auch erneute Gaben von Jodkali in der letzten Zeit zeitigten keinen Erfolg. Es wurde beim städtischen Wohlfahrtsamt Mainz der Vorschlag gemacht, die Kranke zu eingehender Untersuchung in das Lupusheim nach Giessen zu verlegen. Dieser Vorschlag wurde abgelehnt, es wurde jedoch angenommen, die Kranke wieder in das Stadtkrankenhaus nach Mainz zu verlegen.«337
Im Mai 1934 wird Anna S. schließlich erneut nach Mainz überwiesen, wo jetzt drei Jahre nach ihrem ersten Klinikaufenthalt die richtige Diagnose gestellt wird. Das sich bereits bis zum rechten Augenrand ausgebreitete Basalzellkarzinom wird operiert und die Wunde mit einem Hauttransplantat gedeckt, welches gut anheilt. Am 9. Juli kann Anna S. nach gutem Heilungsverlauf wieder nach Alzey zurück überführt werden. Nachdem die Stirnwunde von Anna S. jetzt adäquat versorgt wurde, ist es der ärztlichen Leitung der Heil- und Pflegeanstalt daran gelegen, auch ihre Sterilisation zu erwirken. Das GzVeN ist seit Anfang des Jahres in Kraft getreten und obwohl Anna S. nicht für eine baldige Entlassung vorgesehen ist, soll sie unfruchtbar gemacht werden. Der Antrag beim Erbgesundheitsgericht wird wenige Monate nach ihrer Rückkehr gestellt. Die Familienanamnese stellt Oberarzt Dr. Kinsberger eindeutig dar:
334 335 336 337
Ibid. Verlegungsbericht des städtischen Krankenhauses Mainz vom 06. 01. 1933. Ibid. Krankengeschichte, Eintrag vom 20. 01. 1933. Ibid. Krankengeschichte, Eintrag vom 30. 07. 1933. Ibid. Krankengeschichte, Eintrag vom 27. 04. 1934.
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»Die Mutter der Kranken litt – laut Krankengeschichte unserer Anstalt – an angeborenem Schwachsinn. Sie starb hier an Zuckerkrankheit. Der Vater der Patientin litt an Asthma. Ein Bruder der Patientin starb im Alter von sechs Monaten an Krämpfen. […] Die Patientin hat erst mit sechs Jahren Gehen gelernt – nach ihren Angaben wegen Rachitis – deutliche Zeichen sind jetzt nicht mehr vorhanden. […] Kam mit 7 Jahren in die Schule für Schwachbegabte, lernte dort angeblich gut.«338
Es wird eine erneute Intelligenzprüfung anhand des standardisierten Fragebogens vorgenommen, welche das Ergebnis der ersten Prüfung bei der Aufnahmeuntersuchung vor 14 Jahre weitestgehend bestätigt. Zu ihrem psychischen Befund notiert der Oberarzt zusätzlich: »Hier bei der Untersuchung zugänglich und freundlich. In der Abteilung stört sie durch lautes, polterndes Wesen. Sie ist oft rechthaberisch, versucht andere Kranke und Personal zu kommandieren. Andererseits fleissig bei der Feldarbeit. Auch mitleidig mit anderen Kranken. Sorgt unaufgefordert für Ordnung, wenn sich z. B. bei Visite andere Kranke zur Türe hinausdrücken wollen. Pat. ist meist recht guter Dinge, manchmal albern oder herausfordernd und zu derben Scherzen geneigt. Oft ohne Grund oder aus nichtiger Ursache schwerste Affektausbrüche mit Schimpfen, Schreien und gelegentlich tätlichen Angriffen auf andere Patienten. Auch zerstört sie Gegenstände. Sexuell zudringlich, sucht die Gesellschaft von Männern. […] Auffassung erschwert.«339
Zu der Diagnose »Angeborener Schwachsinn« gibt das ärztliche Gutachten folgende Begründung: »Aus der ganzen Lebensführung und dem asozialen Verhalten ersichtlich und durch Untersuchung nachgewiesen.«340 Die senile Demenz von Anna S. Mutter, die eingangs bei deren Einweisung diagnostiziert wurde, wird jetzt zu »angeborenem Schwachsinn« umgedeutet und aus der aufgeführten Familienanamnese und ihrem schwachen Resultat in der Intelligenzprüfung ergibt sich für Oberarzt Kinsberger ein eindeutig erbliches Leiden. Das Erbgesundheitsgericht in Worms schließt sich am 4. Dezember 1934 dieser Begründung an. Am 18. Mai 1935 wird Anna S. daraufhin schließlich nach Mainz in die Hebammenlehranstalt überwiesen und dort drei Tage später von Obermedizinalrat Puppel operiert. Am 6. Juni kann sie wieder nach Alzey zurück überwiesen werden. Über ihr Sterilisationsverfahren und ihre Überweisung nach Mainz findet sich keine ärztliche Dokumentation in Anna S. Krankenakte. Dafür verzeichnet der erste ärztliche Eintrag nach fast einem Jahr im Juni 1935, kurze Zeit nach ihrer Rückkehr:
338 Ibid. Ärztliches Gutachten vom 14. 11. 1934. 339 Ibid. 340 Ibid.
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»Nach einer ganzen Zeit des Wohlbefindens, klagte Patientin in den letzten Wochen manchmal über Schmerzen in der Stirngegend. Der Lappen ist sehr gut eingeheilt und zeigt nur am oberen Ende eine stecknadelkopfgrosse rote Stelle, die aber nicht mehr nässt. Es ist anzunehmen, dass es sich um ein Recidiv handelt.« Wenig später verschlimmert sich dieser Befund noch weiter: »Patientin klagte in der letzten Zeit wieder sehr stark über Kopfschmerzen und besonders an der Stirne. An beiden Augenwinkeln sind kleine nässende Stellen zu sehen. Die Plastik (Hautlappen) schmerzt sie sehr stark und sieht stark gespannt aus.«341
Erneut wird Anna S. daraufhin nach Mainz überwiesen, wo die Ärzte des Städtischen Krankenhauses ein Rezidiv aber ausschließen. Nach ihrer erneuten Rückkehr nach Alzey findet sich nur noch ein letzter Eintrag in ihrer Krankengeschichte: »Ihre Stirnwunde sieht im ganzen gut aus; allerdings besteht in letzter Zeit Druckschmerzhaftigkeit und leichte Schwellung am rechten Rande der transplantierten Haut. In ihrem Verhalten ist sie immer noch sehr laut, stört oft die ganze Abteilung durch ihr herrisches Wesen. Beschäftigte sich den ganzen Sommer über fleissig bei der Gartenarbeit. Wird heute im Sammeltransport nach Nieder-Ramstadt überführt.«342
Warum Anna S. nach 15 Jahren im Oktober 1935 in eine andere Anstalt überführt wurde, geht aus ihrer Krankengeschichte nicht hervor. Auch verliert sich hier erst einmal die Spur ihres weiteren Lebensweges. Eineinhalb Jahre später erreicht allerdings die Nachricht von Anna S. Tod die ärztliche Leitung der Anstalt Alzey, welche daraufhin Nachforschungen zu ihrer langjährigen Patientin anstellt. Aus der Korrespondenz mit der Anstalt Nieder-Ramstadt und dem Städtischen Krankenhaus Mainz lässt sich ein schemenhaftes Bild von Anna S. weiterem Leben bis zu ihrem Tod rekonstruieren. Aus der Anstalt Nieder-Ramstadt war sie im Oktober 1936, ein Jahr nach ihrer Überweisung aus Alzey, wieder nach Mainz überwiesen worden, da ihre Stirnwunde erneut aufgebrochen war. Auf Anfrage übersendet das Röntgeninstitut des Städtischen Krankenhaus Mainz im April 1937 folgenden Zustandsbericht über Anna S. an die Anstalt Alzey: »Auf Ihre Anfrage vom 12.3.37, die erst heute in unsere Hände gelangt ist, teilen wir Ihnen mit, dass die Patientin Anna Wilhelmine S. […] sich seit 28. Oktober 1936 wieder im hiesigen Krankenhaus befindet. Sie war zunächst auf der chirurgischen Klinik aufgenommen worden. Da eine erneute Röntgenbestrahlung der bösartigen Hautveränderung über der Stirn, in den mittleren Abschnitten beider Oberlider und im Bereiche der Nasenwurzel durchgeführt wurde, kam die Patientin in die Obhut des Röntgeninstituts. Die Mitte August 1936 erzielte Epithelisierung war wieder zerstört worden. Nach Durchführung einer erneuten Bestrahlung im November 1936 und im
341 Ibid. Krankengeschichte, Eintrag vom 03. 06. 1935 und vom 14. 08. 1935. 342 Ibid. Krankengeschichte, Eintrag vom 30. 10. 1935.
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Februar und März 1937 konnte man eine Besserung des Befundes und eine erneute Epithelisierung beobachten. Allerdings ist der Prozess mittlerweile soweit fortgeschritten, dass das rechte Oberlid weitgehend zerstört ist, und auch das rechte Auge funktionsuntüchtig wurde. Auch auf das linke Oberlid war der Prozess übergegangen. Trotzdem der linke Augapfel nicht mit im Strahlenkegel lag, ist infolge des zerstörenden Prozesses im nasennahen Bereiche des Oberlides eine starke Schwellung der Augenlider links eingetreten, die das Öffnen der Lidspalte nicht mehr zulässt. Die Patientin ist infolgedessen praktisch blind. Ausserdem bestanden und bestehen ganz ausserordentlich heftige Kopfschmerzen, die in zunehmendem Masse die Anwendung von Morphium erfordern. Seit Anfang März mussten die Morphindosen so gesteigert werden, dass die Patientin sich dauernd in einem somnolenten Zustand befindet. Wacht sie aus diesem Zustand vorübergehend auf, so schreit und jammert sie laut. Alle Versuche, sie ausser Bett zu halten misslingen, da die Patientin sich nicht auf den Beinen halten kann. Man hat zur Zeit durchaus den Eindruck, dass das Ulcus rodens nach wie vor progredient ist und in der Tiefe weiter fortschreitet. Auch das linke Auge wird nicht zu erhalten sein, wie überhaupt der ganze Prozess jeglicher weiteren Therapie gegenüber sich resistent verhalten wird. Eine weitere Strahlenbehandlung kommt zur Zeit nicht in Frage. Jedoch wird auch eine Entlassung aus dem Krankenhaus nicht möglich sein, da die Patientin dauernd bei dem geschilderten Zustand nur in einem Krankenhaus betreut werden kann. Der Verlauf ist schicksalsgemäss.«343
Wenige Tage später verstirbt Anna Wilhelmine S.
343 Ibid. Bericht des Röntgeninstituts des Städtischen Krankenhauses Mainz vom 17. 04. 1937.
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4.1.5 Maria Veronika K.
Abbildung 19: Foto Maria Veronika K.
»…, wenn ich verrückt werde, geht’s niemand was an.«
Geboren 1899 Zwangssterilisiert in Mainz 1935 Verstorben in der Hebammenlehranstalt Mainz 1935 Maria K. trifft am Morgen des 6. Oktobers 1931 im Alter von 32 Jahren in der Landesanstalt Alzey ein. Bei ihrer Ankunft liegt sie im »Scopolamin-MorphiumSchlaf«. Sie kommt mit dem Krankentransport aus der Städtischen Nervenklinik Mainz, wo sie bereits eine Woche in Behandlung war. Das ärztliche Überweisungszeugnis macht zu ihrem Einweisungsgrund und ihrem Krankheitsverlauf folgende Angaben: »Wurde jetzt von Dr. Oppenheimer aus Mainz eingewiesen und mit dem SanitätsAuto gegen ihren Willen gebracht. Schwerer manischer Erregungszustand, schreit, schimpft und tobt ununterbrochen Tag und Nacht. Spricht viel sinnloses Zeug von Hypnotisieren, Elektrisieren usw. Die dreiwöchige Behandlung ihres Arztes sei an ihrem Milchfieber schuld. (Von frischem Partus ist nichts bekannt.) Ihrer Mutter zuliebe ginge sie in den Tod. Wenn es drauf ankäme, werde sie mit vier Leuten ans Gericht gehen. Sie sei unruhig wegen des großen Quatschkopfs, der drei Vornamen habe und nach Amerika wolle. Hat einen Brief bei sich, der so beginnt: »Herr Unbekannt! Ich teile Ihnen radikal mit, dass sie ein frecher, raffinierter, scheinheiliger, egoistischer, spitzfindiger Schuft sind. Sie sind nicht wert, dass ich Tinte benutze und
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dass ich sie mit grossem S schreibe. …« In der Stadt soll sie durch ihr Benehmen einen grossen Menschen-Auflauf hervorgerufen haben.«344
Angaben über die therapeutischen Maßnahmen finden sich in den Überweisungspapieren nicht. Dafür enthält das Zeugnis bereits eine erste Familienanamnese: »Der Vater soll sehr viel getrunken haben, an Schlaganfall gestorben. Die Mutter sei an »Kummer und Sorgen« über das Benehmen des Vaters ebenfalls gestorben. Nervenoder Geistes-Krankheiten seien nicht in der Familie.«345
Maria K.s Lebensgeschichte vor ihrer Zwangseinweisung in Alzey ist aus der Krankenakte nur bruchstückhaft zu rekonstruieren. Nach ihrer Geburt im März 1899 wird sie ein halbes Jahr später bei der Heirat ihrer Eltern als deren Kind anerkannt. Der Vater ist nach den Angaben der Akte ein Tagelöhner und ihre Mutter die Witwe eines Schneiders. Ob die in der Akte genannten zwei Brüder ebenfalls aus dieser Ehe stammen oder ob es sich bei ihnen um Stiefgeschwister von Maria K. handelt, ist nicht nachzuvollziehen. Über ihre Schullaufbahn wird nichts Außergewöhnliches berichtet. Sie sei »ganz gut mitgekommen, nicht sitzengeblieben, gut rechnen gelernt.« Ein ärztliches Gutachten vermerkt zu ihrer Berufslaufbahn: »In verschiedenen Stellungen als Dienstmädchen tätig. Keine Ausdauer bei der Arbeit, kein Erfolg oder sozialer Aufstieg.«346 Erste Anzeichen von seelischer Not zeigen sich im Jahr 1921, als Maria K. zum ersten Mal wegen »schwerer Erregung« in der städtischen Nervenklinik Mainz für drei Monate behandelt wird. Ein Jahr später im Alter von 21 Jahren bringt sie ihre Tochter Anna K., ein uneheliches Kind, zur Welt. Ob Maria K., ihre Tochter und der Kindsvater in der Folge zusammenlebten, ist nicht bekannt. In der Krankengeschichte ist lediglich eine weitere Geburt vermerkt, bei der das Kind verstirbt. Auf Wache 2 der Anstalt Alzey ist sie nach ihrer Ankunft »infolge einer Injektion benommen«. Anscheinend ist sie auch noch nicht zu ihrer neuen Umgebung orientiert. Der fortlaufende Pflegebericht notiert am Aufnahmetag: »Als Patientin die Spritze ausgeschlafen hatte, lief sie aus dem Bett im Schlafsaal umher und redete in einem fort verwirrtes Zeug u. a. ›Wenn in der Stadt die Leute Krach mit mir angefangen haben, habe ich ihnen gleich auf die Schnut geschlagen, im Bau 15 wo ich war wollt ich mir die Pulsadern öffnen, …, der Dr. Oppenheimer hat mich nachher in Bau 15 getan, mir ist das zu toll vorgekommen, …, der Tumult war dreimal schlimmer, wenn ich verrückt werde geht’s niemand was an, …usw.‹«347
344 Landesarchiv Speyer. Bestand O 41 (Landeskrankenhaus Rheinhessen Fachklinik Alzey), Nr. 3214, Ärztliches Zeugnis vom 06. 10. 1931. 345 Ibid. 346 Ibid. Ärztliches Gutachten vom 02. 02. 1935. 347 Ibid. Fortlaufender Pflegebericht vom 06. 10. 1935.
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Auch drei Tage später hat sich Maria K. noch nicht in ihrer neuen Umgebung zurecht gefunden: »Kommt ununterbrochen laut vor sich hin sprechend und schreiend in das Untersuchungszimmer, an sie gestellte Fragen fasst sie richtig auf, antwortet sinngemäß, schweift ab und fällt in Redeschwall zurück. Sie ist zeitlich nur in Bezug auf das Jahr und örtlich desorientiert. (…) Glaubt ihr früherer Arzt Dr. Oppenheimer verfolge und hypnotisiere sie.«348
Aufgrund ihrer Unruhe muss sie ständig »im Bad und unter Arznei gehalten werden«. Bis zum Ende des Jahres findet sich nur ein Eintrag, der einen unveränderten Zustand beschreibt. Zu Beginn des Jahres 1932 wird versucht, Maria K. in den Arbeitsalltag in Alzey zu integrieren: »Fräulein K. geht seit einigen Tagen in den Zupfkeller, man musste sie die ersten zwei Tage mit Gewalt hinbringen, sie schimpfte in sehr gemeiner Weise, jetzt geht’s schon besser. Im Zupfkeller stellte sie sich immer in eine Ecke, arbeitet nicht.«349
In mehreren ärztlichen und pflegerischen Einträgen ist notiert, dass sie ihre Entlassung, ihre Kleider und ihre Freiheit zurückverlangt. Aufgrund ihres Widerstands gegen die Anstalt wird sie die meiste Zeit isoliert oder unter Medikation gehalten: »Unverändert. Hat nur vorübergehend Tage, an denen sie ohne Arznei zu halten ist, singt und schreit sonst ununterbrochen. Läuft dabei hin und her, springt über die Betten, schlägt Purzelbäume. In ihren Äußerungen ist sie ziemlich einförmig, schimpft noch wie zu Anfang über Dr. Oppenheimer, der sie hypnotisiert habe, verlang unter stundenlangem Schreien nach Hause. Sie ist aber in ihrer Erregung doch immer von einer gutmütigen, humorvollen Grundstimmung, gibt gern witzige Antworten und hat meist ein verschmitztes Lächeln auf den Lippen.«350
Eine allmähliche Wesensänderung wird erst im Juni des Jahres in der Krankengeschichte beschrieben: »In den letzten Tagen ruhiger, beschäftigt sich mit Hausarbeit. Ist aber in ihrer Stimmung noch deutlich über der Linie, benimmt sich recht salopp und ist immer zu schnippischen Antworten bereit.«351 Ihr körperlicher Widerstand gegen die Anstaltsbehandlung scheint jetzt nicht mehr so stark zu sein, denn die nächsten ärztlichen Einträge beschreiben wohlwollend eine Besserung in Maria K.s Arbeits- und Ordnungsverhalten und ihrer Stimmungslage. Mehrmals ersucht sie die Ärzte und auch ihre Angehörigen um eine Entlassung nach Hause, erhält aber keinerlei Antwort ihrer Verwandten. Den348 349 350 351
Ibid. Eintrag in der Krankengeschichte vom 09. 10. 1931. Ibid. Fortlaufender Pflegebericht vom 29. 02. 1932. Ibid. Eintrag in die Krankengeschichte vom 29. 04. 1932. Ibid. Eintrag in die Krankengeschichte vom 16. 06. 1932.
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noch wird sie schließlich am 25. November 1932 nach Rücksprache mit dem Wohlfahrtsamt in Mainz als »gebessert« entlassen. Maria K. kehrt nach Mainz zurück, wo sie sich aber nur einige Wochen aufhält. Bereits Anfang des Jahres 1933 wird sie in die Landesanstalt Heidesheim eingewiesen. Auch wird jetzt ihre Entmündigung von der Staatsanwaltschaft Mainz beantragt. Für das Verfahren ist als Sachverständiger der Oppenheimer Kreisarzt Dr. Schüppert bestellt, der nach Akteneinsicht der Alzeyer Krankengeschichte ein ärztliches Gutachten erstellt, das durch den Gerichtsbeschluss in Teilen wiedergegeben wird. In Maria K.s Entmündigungsbeschluss vom 20. Juni 1933 heißt es: »… war im Jahre 1921 vorübergehend auf der Nervenstation des städtischen Krankenhauses wegen nervöser Störungen in Behandlung. Am 30. September 1931 musste sie wiederum aufgenommen werden. Es lag ein schwerer manischer Erregungszustand vor. Durch ihr auffälliges Benehmen hatte sie in der Stadt einen grossen Menschenauflauf hervorgerufen. Nach einem Jahr wurde sie als gesundheitlich gebessert entlassen. Im Jahr 1933 kam sie in die Anstalt Heidesheim, da sie ohne Aufsicht zu verwahrlosen drohte. Die bei der K. heute noch bestehende geistige Erkrankung stellt sich als dementia präcox dar. Die eigentliche geistige Erkrankung ist zwar geschwunden, geblieben aber ist die geistige Minderwertigkeit und bestimmte Veränderungen des Charakters, die angesichts der in den Krankenakten niedergelegten früheren Beobachtungsergebnissen deswegen eine besondere Bedeutung haben, weil sie die Reste und Spuren einer schweren Krankheit darstellen. Die jetzt bestehenden Charakterveränderungen, Neigung zu Erregbarkeit und die vorliegende Urteilsschwäche machen die K. unfähig, allein und ohne Leitung und Aufsicht im Leben zu existieren und ihr Dasein mit der erforderlichen Umsicht zu gestalten, sie würde verwahrlosen und mit ihrer Umgebung fortwährend in Konflikt geraten.«352
Als Vormund wird Andreas Wernersbach eingesetzt. Die Chance auf ein selbstbestimmtes Leben außerhalb einer psychiatrischen Anstalt ist für Maria K. von diesem Zeitpunkt an praktisch nicht mehr gegeben. In der Pflegeanstalt Heidesheim verbleibt sie nach dem Entmündigungsurteil für ein weiteres Jahr bis sie am 12. September 1934 wieder in die Landesanstalt Alzey aufgenommen wird. Laut der ärztlichen Dokumentation war aufgrund ihrer schweren Erregungszustände und ihrem Zerstörungstrieb erneut die Unterbringung in einer geschlossenen Anstalt notwendig. »Fräulein K. wurde heute wieder hier aufgenommen, sie war in sauberem Zustand, an beiden Fußsohlen hat Pat. Eiterblasen, sie sagte sie hätte einen Emaille Topf kaputt getreten und wäre in den Splittern herum getreten. Fräulein K. erzählte noch: ›In Heidesheim wollte ich fort, da haben sie mich in die Zelle gesperrt, der Kerl der hier
352 Ibid. Abschrift des Beschlusses in der Krankengeschichte, Eintrag vom 07. 07. 1933.
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schon war, hat sich auch dort versteckt, ich habe fast meine ganzen Kleider zerrissen, ich wollte wieder hierher.‹«353
In Alzey angekommen wird Maria K. zunächst auf die unruhige Wache übernommen. Die wenigen ärztlichen und pflegerischen Einträge beschreiben erneut ihre heftigen »Erregungszustände«, so dass sie unter Medikation gehalten wird. Anfang 1935 findet sich erneut eine Wesensveränderung beschrieben, so dass Maria K. wieder in den Arbeitsalltag der Anstalt eingegliedert wird: »Fräulein K. ist eben ruhig, schläft nachts ohne Schlafmittel, in ihren Verrichtungen ist sie selbstständig, auf Fragen gibt sie fast nie Antwort, führt auch keinerlei Unterhaltung. Patientin geht seit einigen Tagen in die Waschküche.«354
Von körperlichem Widerstand, »Erregungszuständen« und dem vorher beschriebenen »Zerstörungstrieb« findet sich von nun an nichts mehr in der pflegerischen Dokumentation in der Krankengeschichte. Vielmehr scheint sich Maria K. mit ihrem Schicksal in der Anstalt abgefunden zu haben, denn sie geht laut den Einträgen im Pflegebericht ihrer Arbeit fleißig und ordentlich nach, verhält sich aber äußerst verschlossen. Die junge Frau mit einem »verschmitzten Lächeln«, die gerne »schnippische Antworten« gibt, scheint sich vollständig in sich zurückgezogen zu haben. Im gesamten Frühjahr 1935 findet sich nur ein kurzer ärztlicher Eintrag in der Krankengeschichte Maria K.s. Am 20. Februar verzeichnet Obermedizinalrat Puppel, der Leiter der Hebammenlehranstalt Mainz, der von Zeit zu Zeit auch Konsultationen und Besuche in der Landesanstalt Alzey vornahm, zwei Worte: »Sterilisation notwendig.«355 Ob eine erneute Entlassung von Maria K. angedacht war oder aus welchem anderen Grund Maria K. Sterilisation zu diesem Zeitpunkt für notwendig befunden wurde, lässt sich aus der Krankenakte nicht nachvollziehen. Einen Antrag auf ein Sterilisationsverfahren hatte der Leiter der Anstalt Alzey Obermedizinalrat Dietz bereits am 1. Februar gestellt. Im ärztlichen Sterilisationsgutachten vermerkt Oberarzt Dr. Kinsberger im körperlichen Befund »Zwergwuchs, Kyphoskoliose, angeborene Hüftluxation« als erbliche Krankheiten sowie im psychischen Befund: »Ablehnend, unfreundlich und misstrauisch, gegen die Umwelt autistisch abgeschlossen. Die Stimmungslage ist sehr labil, zeitweise ohne ersichtlichen Grund traurige Verstimmung, weinen, dann wieder läppische, lärmende Heiterkeit.«356
353 354 355 356
Ibid. Fortlaufender Pflegebericht vom 12. 09. 1934. Ibid. Fortlaufender Pflegebericht vom 22. 01. 1935. Ibid. Eintrag in der Krankengeschichte vom 20. 02. 1935. Ibid. Ärztliches Gutachten vom 02. 02. 1935.
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Lebensgeschichten
Aufgrund der Diagnose »Schizophrenie« wird ein Sterilisationsverfahren eröffnet, in welchem Maria K. am 20. März 1935 vor Gericht gehört wird. Laut des Sterilisationsbeschlusses, der am 5. Juni des Jahres ergeht, erklärt sie sich mit ihrer Unfruchtbarmachung einverstanden. Weiter heißt es dort: »Die gesamten Ermittlungen, insbesondere die Akten der genannten Anstalten ergeben einwandfrei, dass K. an Schizophrenie leidet. […] Nach den Erfahrungen der ärztlichen Wissenschaft ist mit grosser Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass Nachkommen des 36-jährigen Mädchens an schweren körperlichen oder geistigen Erbschäden leiden werden. Ihre Unfruchtbarmachung ist sonach in ihrem eigenen Interesse, im Interesse ihrer etwaigen weiteren Nachkommenschaft sowie im Interesse des Volksganzen nach § 1 des Gesetzes geboten.«357
Währenddessen gestaltet sich der Anstaltsalltag von Maria K. weiterhin unverändert. Sie fügt sich in ihre Beschäftigungen und verhält sich ruhig, so dass sie im Sommer ins Übergangshaus der Anstalt, das Landhaus, verlegt wird. Von dort ist nach ihrer Unfruchtbarmachung eine Unterbringung in Familienpflege angedacht, wie der letzte ärztliche Bericht am 12. September 1935 verkündet: »Verhält sich weiter ruhig und unauffällig, ist regelmässig in der Waschküche mit Wäscheordnen beschäftigt. Als ihr der Arzt vorschlug, sie solle nach ihrer Unfruchtbarmachung in Familienpflege gehen, verhielt sie sich zuerst ablehnend, war aber dann damit einverstanden. Als ihr mitgeteilt wurde, dass sie nach Mainz zur Unfruchtbarmachung gebracht werden sollte, war sie leicht verstimmt, fügte sich aber dann ohne Schwierigkeiten. – Wurde heute überführt.«358
In der Mainzer Hebammenlehranstalt wird sie am Folgetag von Herrn Obermedizinalrat Puppel durch die Unterbindung beider Eileiter unfruchtbar gemacht. Nach der Operation ist Maria K. sehr unruhig und wird in eine Barbituratnarkose versetzt. Im »Rectidon-Dämmerschlaf« verschlechtert sich ihr Zustand rapide und sie verstirbt drei Tage nach der Operation an einer Lungenentzündung.359 Ein letzter Eintrag in der Alzeyer Krankenakte von Maria K. verzeichnet im Februar 1936, ein halbes Jahr nach ihrem Tod, die Anforderung der Anstaltsunterlagen als Gutachtengrundlage für ein weiteres Erbgesundheitsgerichtsverfahren. Angeklagt ist die zu diesem Zeitpunkt vierzehnjährige Anna K., die einzige Tochter von Maria K., die bei ihrem Vater und ihrer Stiefmutter lebt. Aufgrund der Diagnose »Angeborener Schwachsinn« ergeht am 8. Mai 1936 der Sterilisationsbeschluss: 357 Ibid. Sterilisationsbeschluss vom 05. 06. 1935. 358 Ibid. Krankengeschichte Eintrag vom 12. 09. 1935. 359 Universitätsklinikum Mainz, Archiv des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Krankenaktenbestand der Hebammenlehranstalt Mainz, Jahrbuch 1935 Bd. 2, Hauptbuchnr. 893.
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»Bei ihrer richterlichen Vernehmung war eine Verständigung mit K. über ihren Antrag mit Rücksicht auf ihre Jugend und ihren geistigen Zustand nicht möglich. […] Von frühester Kindheit an machte sie erhebliche erzieherische Schwierigkeiten, kam in der Schule von Anfang an nicht richtig mit und wies ihrer schwachen Begabung wegen nur schwacher Leistungen auf. In der der weiteren Entwicklung kam ein immer mehr hervortretender moralischer Schwachsinn hinzu, der bei der geistig schwachen Beanlagung besonders hervortritt. Die Mutter litt an Schizophrenie. Sie war deshalb zweimal in der Heil- und Pflegeanstalt in Alzey. […] Nach den Erfahrungen der ärztlichen Wissenschaft ist mit grosser Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass Nachkommen des erst 15jährigen Mädchens an schweren körperlichen oder geistigen Erbschäden leiden werden. Seine Unfruchtbarmachung ist sonach in ihrem eigenen Interesse, im Interesse ihrer etwaigen Nachkommenschaft sowie im Interesse des Volksganzen geboten.«360
360 Landesarchiv Speyer. Bestand O 41 (Landeskrankenhaus Rheinhessen Fachklinik Alzey), Nr. 3214, Sterilisationsbeschluss vom 08. 05. 1936.
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4.1.6 Hermine W.
Abbildung 20: Foto Hermine W.
»Ich vermute, ebenso wie auch meine Frau, daß es überhaupt der größte Fehler meines Lebens war, daß ich sie in eine Anstalt gebracht habe.«
Geboren 1899 Zwangssterilisiert in Mainz 1936 »Wird heute von Frau Pfarrer Engel (Gattin des verstorbenen Altpfarrers von H.) und einem Bürger aus H. mit dem Auto hierher gebracht. Sitzt bei der Aufnahme stumpf mit aufgelösten Haaren im Aufnahmezimmer, zeigt kein Interesse für ihre Umgebung, auf Fragen antwortet sie nur zögernd oder ablehnend, lacht manchmal läppisch-leer auf, ist zeitlich und örtlich vollkommen orientiert. Gibt zu, sich zu Hause mit Suicidgedanken getragen zu haben, geht sonst aber nicht näher aus sich heraus. Insbesondere ist es nicht klar ersichtlich, ob sie unter dem Einfluss von Sinnestäuschungen steht. Die anwesende Pfarrersfrau, die Patientin seit ihrer Jugendzeit kennt, berichtet, dass eine MuttersSchwester der Patientin geisteskrank und in einer Anstalt gewesen sei. Den Namen und den Anstaltsaufenthalt will sie noch schriftlich der Anstalt mitteilen.«361
Als Hermine W. am 29. Juni 1935 in der Heil- und Pflegeanstalt Alzey aufgenommen wird, zeigt sie sich den aufnehmenden Ärzten gegenüber wenig kooperativ und misstrauisch. Die Angaben, die in der Krankengeschichte zu ihrer Aufnahmesituation notiert werden, werden zum allergrößten Teil von der Pfar361 Landesarchiv Speyer. Bestand O 41 (Landeskrankenhaus Rheinhessen Fachklinik Alzey), Nr. 3394, Krankengeschichte Eintrag vom 29. 06. 1935.
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rersfrau Engel gemacht, die sich sichtlich bemüht, möglichst viele nützliche Informationen bezüglich des Zustands ihrer Bekannten zusammenzutragen. Welcher Arzt eine Aufnahme von Hermine W. in Alzey angeordnet hat, ist aus den Krankenakten nicht ersichtlich. Ein ausgefüllter Anamnesebogen vom 17. Juni 1935, der die Notwendigkeit ihrer Anstaltspflege bescheinigt, gibt zur Begründung Selbstmordneigung, Nahrungsverweigerung und Gewalttätigkeit gegenüber ihrem Ehemann an.362 Die Pfarrersfrau Engel gibt bei ihrer Befragung ihre eigene Erklärung für die Aufnahme von Hermine W. zu Protokoll: »Die Patientin selbst sei ihres Wissens früher immer gesund gewesen. Erst in der letzten Zeit sei sie verwirrt, laufe von zu Hause fort, habe gegen alles ein krankhaftes Misstrauen und vernachlässige ihr Aeusseres, ausserdem trage sie sich mit Selbstmordgedanken. Seit einiger Zeit vor ihrer jetzigen Erkrankung habe die Patientin, schwere seelische Aufregungen gehabt. Ihr katholischer Ehemann, habe es fertig gebracht im Verein mit dem Kaplan, dass ihre ersten beiden Kinder, die evangelisch getauft gewesen seien, umgetauft wurden. Zwei weitere Kinder (insgesamt hat Patientin 4 Kinder) seien von vornerein katholisch getauft worden. Darüber habe sie sich viel Gedanken gemacht.«363
In ihrer ersten Nacht in Alzey ist Hermine W. sehr unruhig. Sie klagt wiederholt über Magenschmerzen, weint viel und verlangt nach Hause zu ihren Kindern und ihrem Ehemann entlassen zu werden. Auch bei ihrer körperlichen Untersuchung wird sie den Ärzten gegenüber als misstrauisch beschrieben. Sie beantwortet aber alle Fragen an sie prompt und korrekt und zeigt keine Anzeichen von Verwirrung. Einzig ein »unzufriedener und mürrischer Gesichtsausdruck« zeugen von ihrer Gemütslage. Zwei Tage nach Hermine W.s Aufnahme erreicht die Anstalt der versprochen Brief der Pfarrersfrau Engel mit weiteren Angaben zur Familien- und Krankengeschichte ihrer Bekannten: »Sehr geehrter Herr Doktor, durch Nachfragen habe ich folgendes erfahren, was vielleicht für Interesse für Sie sein kann in Befundung von Frau W. Eine Tante der Frau W. (Schwester der Mutter), eine Frau M. Lotte aus K. […] war Jahre lang in Andernach. Ein Bruder von Frau W. Großvater mütterlicher Seite und dessen Sohn haben sich selbst das Leben genommen. Die Mutter von Frau W.s Mutter war auch geistig nicht ganz normal. Frau W.s Mutter selbst ist auch eine sehr aufgeregte Frau, aber sehr fleißig und brav. Lauter tragische Schicksale, die erbliche Belastung bei der armen Kranken befürchten lassen. Sie war ein gesundes frisches Mädchen und rasch nach dem Wochenbett ihres 4. Kindes ist sie wie menschenscheu geworden. Ob möglicherweise Dinge mit hereinspielen, wer kann es wissen?«364
362 Ibid. Anamnesebogen in der Krankengeschichte vom 17. 06. 1935. 363 Ibid. Krankengeschichte Eintrag vom 29. 06. 1935. 364 Ibid. Brief der Pfarrersfrau Engel vom 01. 07. 1935.
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Weiter gibt sie erneut die Geschichte der Umtaufung der Kinder als Ursache für die »tiefsinnigen Gedanken« von Hermine W. an und bestätigt ihre Anfälle gegenüber ihrem Ehemann und ihre Selbstmordabsichten. Der Brief endet mit den Zeilen: »Ich schreibe Ihnen dies alles in tiefem Vertrauen, um Ihnen vielleicht ein wenig helfen zu können und wäre Ihnen dankbar, wenn Sie uns mal Anschrift geben wollen, wie sich die arme Frau einlebt und befindet. Es ist inniges Mitgefühl am Ergehen dieses armen Menschenkindes und nur für mich geschrieben. Im Geiste gebe ich Ihnen die Hand und sags Ihnen innig »Vergelt’s Gott«, was Sie diesem armen Menschenkinde Gutes geben. Vielleicht dürfen wir doch noch Vertrauen haben und auf Genesung hoffen.«365
Hermine W. macht bei ihrer psychischen Exploration einen Tag später etwas andere Angaben: »Patientin kommt heute zur Exploration. Sie gibt an, dass sie 1899 zu H. geboren sei. Ihr Vater sei Landarbeiter gewesen, habe manchmal etwas getrunken, aber nicht übermässig. Er und ihre Mutter leben noch und seien gesund. Aus dem ärztlichen Zeugnis ergibt sich, dass Patientin unehelich geboren ist. Sie selbst gibt dazu nichts an. Sie sei in H. auch in die Schule gegangen, habe verhältnismässig gut gelernt, sei auch nicht sitzen geblieben. Nach der Schulentlassung sei sie dann direkt in Stellung gekommen als Dienstmädchen, auch in H. (Oft die Stelle gewechselt?) »Das weiss ich nicht, ich glaube aber nicht.« Dann habe sie geheiratet. (Wann?) »Das weiss ich nicht mehr. Aber es ist schon lange her.« Weiter gibt sie an, dass sie vier Kinder habe, die alle gesund seien. Es seien alles sehr schwere Kinder gewesen und sie sei doch so elend gewesen. Nach dem dritten Kinde habe ihr der Arzt gesagt, sie dürfe keine Kinder mehr bekommen, da sie zu schwach sei, aber trotzdem habe sie vor 4 Jahren noch einen Jungen bekommen. Das älteste Kind, ein Mädchen, sei aus der Schule gekommen, es sei sehr tüchtig und fleissig gewesen. Wie alt es wäre wüsste sie nicht, es würde wohl 15 Jahre alt werden. Dann käme ein Junge von 12, ein Mächen von 6 und der Jüngste sei 4 Jahre. Während der Exploration klagt sie sehr, dass sie so elend sei und so Schmerzen habe. Sie wolle wieder zu ihrem Manne, da könne sie wieder leichte Sachen essen. Die schweren Sachen hier in der Anstalt könne sie nicht vertragen. (Wie lange haben sie denn schon die Magenbeschwerden?) »Das geht jetzt schon an die Jahre. Seit ich das letzte Kind bekommen habe fühle ich mich so elend. Ich habe immer Schmerzen am Magen, musste manchmal auch brechen. Seit vier Jahren bin ich in Behandlung bei verschiedenen Aerzten. Von einem zum anderen bin ich gegangen, auch bei Homöopathen gewesen. Ich bin dann behandelt worden, aber es hat doch nicht geholfen. Einige Tage war es dann besser, aber nachher war es wieder dasselbe. Wenn ich doch zu hause wäre, dann könnt ich Weck und Tee essen. Ich habe immer einen so schlechten Geschmack. Vor vier Jahren habe ich noch 140 Pfund gewogen und jetzt wiege ich nur noch 90.« Jammert. (Dann haben sie zu Hause wohl fast immer zu Bett gelegen?) »Ja. Ich war ja so elend. Manchmal habe ich etwas geschafft, aber meistens habe ich zu Bett gelegen. Meine 365 Ibid.
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Mutter hat dann den Haushalt und die Kinder versorgt. Ich habe dann immer Haferflocken gegessen. Das hat ja keinen Zweck, dass ich ihnen das erzähle, ich will nicht hier bleiben, ich will wieder zu meinem Manne.« Weint! (Haben sie Stimmen gehört?) Nein. Wie käme ich denn dazu. (Haben sie Gestalten gesehen?) lacht läppisch-leer auf. »Nein, ich bin doch nicht verrückt.« (Hat man sie denn elektrisiert oder mit Strahlen gehandelt?) »Nein, das geht doch nicht. Das tut man doch nur in einem Krankenhaus.« Überlegt, wird nachdenklich und sieht Ref. Misstrauisch an. »Wer hat denn die Angaben gemacht? Das ist doch alles Unsinn.« Gibt an, dass der Mann von Beruf Eisenbahnarbeiter ist, und zur Zeit in Münster am Stein. Er führe jeden Tag von H. nach Münster. (Haben sie sich gut mit ihrem Mann verstanden?) »Ei, warum denn nicht. Ich habe ihn sehr gerne und auch die Kinder.« (Ihren Mann geschlagen?) Lacht auf. »Wie käme ich denn dazu. Das ist doch ein so grosser Mann und so kräftig. Er würde mir etwas anderes sagen, wenn ich ihn schlagen würde.« (Haben sie ihn nicht geschlagen?) »Meine Mutter und mein Mann, die können sich nicht vertragen, die schlagen sich oft. Aber was ich und mein Mann tuen, das geht keinen was an. Sicher haben wir manchmal Streit, aber das kommt doch überall vor und die anderen Menschen schlagen sich doch auch einmal.« Jammert. […] (Von zu Hause weggelaufen?) »Nein wie käme ich dazu.« Nach eindringlichem Fragen: »Ja sicher, aber ich musste dann doch zum Arzt, weil ich so elend war.« […] (Lebensmüde, Selbstmordidee?) »Nein, sicher nicht, wie käme ich auch dazu. Wie bin ich so elend und so krank. Immer die Magenschmerzen. Ich will hier wieder weg. Mein Mann soll mich sofort holen. Ich kann nicht hier bleiben.« […] Jammert in einem fort. Bei jeder Frage sieht sie Ref. Erst misstrauisch an, die Antwort erfolgt immer erst nach langem Zureden und dann gereizt und mürrisch. Weint zwischendurch und verlangt immer nach Hause. Meint man hielte sie jetzt hier fest, sie käme nicht mehr nach Hause, alle würden sie belügen und sie würde hier doch elend zu Grunde gehen.«366
Gegenüber den Ärzten ist Hermine W., wie in der Krankengeschichte notiert, misstrauisch und vorsichtig in ihren Äußerungen. Sie scheint der festen Ansicht zu sein, dass ihr der Aufenthalt in Alzey schaden wird, bzw. dass er sie sogar das Leben kosten könnte. Bestimmend für ihren Gemütszustand sind nach ihren Angaben ihre Magenschmerzen, unter denen sie seit Jahren leidet. Aus diesem Grund isst sie auch wenig und muss von der Pflege immer zum Essen angehalten werden. Da sie sich aber ansonsten ruhig und »gegen jedermann freundlich« verhält, kommt sie auf die ruhige Wache, wo sie für sich bleibt und sich dem Anstaltsalltag unterordnet. Auf den 10. Juli 1935, zwölf Tage nach Hermine W.s Einweisung, ist ein Brief ihres Ehemanns datiert, in welchem er sich höflich nach dem Befinden seiner 366 Ibid. Krankengeschichte, Eintrag vom 02. 07. 1935.
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Frau erkundigt und den Besuch seiner Schwiegereltern für den 14. Juli ankündigt. Am besagten Tag erscheinen ihre Eltern in Begleitung eines ihrer Kinder. Hermine W. »war zuerst sehr erregt, weinte, warf sich auf den Boden und jammerte man solle sie mit Heim nehmen. Sie müsse hier sterben. Auf Zureden beruhigte sich die Patientin später und gab auf Fragen geordnet Antwort. Beim Abschied war Pat. ruhig«367, beschreibt der Pflegebericht die Vorkommnisse des Tages. Hermine W. ist durch den Besuch so aufgewühlt, dass sie noch am selben Tag zwei Briefe an ihren Ehemann und ihre Eltern schreibt, die aber die Klinik nie verlassen, sondern in ihrer Krankenakte abgeheftet werden: »Mein lieber Mann und Kinder! Warum hast du noch nicht geantwortet und bist gekommen. Willst du mich jetzt verlassen, wo ich jetzt nicht mehr viel zu leben habe. Komm doch zu mir, lasse mich nicht allein hier sterben. Ist man nicht mehr. Warum hast du kein Erbarmen mehr mit mir, vielleicht die letzte Zeit meines Lebens allein zu sein. Komm doch zu mir. Meine armen Kinder, ich sehe sie nicht mehr. Warum bist du so hartherzig und tust mir dies, komm doch zu mir, lass mich nicht allein sterben. Du hast doch gewusst, daß es mir immer nicht gut war und jetzt das bischen armer Körper. Laß mich doch nicht allein hier sterben. Meine armen Kinder. Laß mich doch zu Hause bei Ihnen sterben. Ich hab doch immer für sie gesorgt. Ich bitte, ich flehe dich an bei Gott im Himmel hab Erbarmen mit mir. Deine unglückliche Frau.«368
An ihre Mutter schreibt sie: »Meine lieben Kinder und liebe Mutter mein! Warum läßt du dein einziges Kind hier allein. Hast du dafür die ganzen Jahre gearbeitet, daß ich jetzt elend und allein sterben muß. Auf den Knien will ich Abbitte tun, wenn ich nicht mehr gut war. Hab Erbarmen mit mir, ich bitte, ich flehe dich an bei Gott im Himmel verlaßt mich nicht. Laßt mich nicht hier allein hin sterben, meine armen Kinder. Deine unglückliche Tochter.«369
Am 18. Juli vier Tage nach dem Besuch der Eltern, erhält Hermine W. schließlich zum ersten Mal Besuch von ihrem Ehemann Georg W., den sie erneut anfleht, sie mit nach Hause zu nehmen, da sie vor Heimweh vergehe. Bei dieser Gelegenheit kommt es auch zu einem Gespräch zwischen dem Ehemann und der ärztlichen Leitung, das in der Krankengeschichte dokumentiert wird: »Heute erscheint der Ehemann zu Besuch. Er bestätigt im allgemeinen die Angaben der Kranken über ihre Vorgeschichte. Die Frau habe ihn oft nachts geweckt mit den Worten: »Stell doch das Ding ab.« Wenn er gefragt habe, welches Ding, habe sie gemeint: »Das weisst du schon. Das brummt und saust, dass das ganze Haus wackelt.« Der Mann meint, es wäre möglich, dass die Frau das Summen der Telegraphendrähte gehört habe, da ein Mast am Haus befestigt ist. Er selbst habe nie etwas davon gemerkt. Sie habe sich so belästigt gefühlt, dass sie sich in letzter Zeit oft im Keller aufgehalten habe. Wie367 Ibid. Fortlaufender Pflegebericht, Eintrag vom 14. 07. 1935. 368 Ibid. Brief von Hermine W. an ihren Ehemann vom 14. 07. 1935. 369 Ibid. Brief von Hermine W. an ihre Mutter vom 14. 07. 1935.
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derholt sei sie nachts fortgelaufen, sie wolle zum Arzt. Auch Lebensüberdruss habe sie wiederholt geäussert, alles habe keinen Zweck mehr, es reiche nicht hinten und nicht vorne.«370
Der genaue Wortlaut der Angaben von Georg W. lässt sich anhand der Krankengeschichte nicht mehr vollständig nachvollziehen. Die Anstaltsärzte sehen sich aber durch seine Angaben und die Informationen der Pfarrersfrau Engel soweit in ihrer Diagnose bestätigt, dass weitere diagnostische Maßnahmen unterbleiben. Es wird noch eine ärztliche Auskunft über die Krankengeschichte von Hermine W.s Tante in der Heil- und Pflegeanstalt Andernach eingeholt. Als sich die Angaben über den Anstaltsaufenthalt der Tante unter der Diagnose »manisch-depressives Irresein bei Schwachsinn« zwischen 1916 und 1930 bewahrheiten, findet sich nur noch ein weiterer ärztlicher Eintrag in Hermine W.s Krankengeschichte des Jahres 1935: »Nachdem die Kranke in den ersten Tagen ihres Aufenthaltes mit sehr mürrischem Gesichtsausdruck und schlaffer Haltung herumsass, viel weinte und auch zu der einfachsten Beschäftigung nicht zu bewegen war, hat sie sich in den letzten Tagen etwas gebessert.«371
Während sich die ärztliche Diagnose über den Gemütszustand und das Krankheitsbild von Hermine W. scheinbar erhärtet, kommen ihrem Ehemann nach seinem Besuch Zweifel, ob er der Unterbringung seiner Frau in Alzey nicht zu voreilig zugestimmt hatte. In einem Brief an den leitenden Oberarzt Dr. Kinsberger schreibt er am 22. Juli 1935: »Sehr geehrter Herr Doktor! Ich war wie Herr Dr. weiß letzte Woche dort zum Besuche meiner Frau. Wie in ihren Briefen, so hat sie mich auch dort angefleht und geweint, ich möchte doch noch einmal Erbarmen mit ihr haben und sie mit nach Hause nehmen. Auch ich musste die Feststellung machen, daß sie in den paar Wochen furchtbar abgemagert ist. Nun trage ich mich mit dem Gedanken geehrter Herr Dr. meine Frau vielleicht Ende dieser Woche dort abzuholen und Sie noch einmal sonst wohin in Erholung zu tun zumal sie mir bejaht hat, daß sie alles tun will um gesund zu werden, nur soll ich sie dort holen, da sie hin gezwungen sei und deswegen auch nie gesund werden könne. Ich glaube ja auch, daß es besser sein wird, wenn ich sie noch einmal sonst wohin tue, wo es ganz still und ruhig ist und vielleicht sind auch Sie Herr Doktor derselben Ansicht. Auf Grund dessen bitte ich Sie gütigst Herr Doktor meine Bitte gewähren zu wollen, meine Frau abholen zu dürfen, mit dem Wunsche, wenn es nötig ist mir bis dahin noch einmal zu schreiben. Im voraus für Ihre Mühe dankend signiert mit Heil Hitler, Georg W.«372
Das Antwortschreiben des Oberarztes Kinsberger ist kurz und knapp gehalten: 370 Ibid. Krankengeschichte, Eintrag vom 18. 07. 1935. 371 Ibid. Krankengeschichte, Eintrag vom 05. 08. 1935. 372 Ibid. Brief des Ehemanns an die Anstalt vom 22. 07. 1935.
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»Auf ihr Schreiben vom 22. ds. Mts. teilen wir Ihnen mit, dass Ihre Frau z. Zt. noch nicht entlassen werden kann. Sie ist, wenn sie keinen Besuch von ihren Angehörigen hat, ruhig und jammert nur, wenn sie Sie sieht. Sie ist misstrauisch und unzufrieden, auch wenn Sie sie in ein anderes Heim oder in eine andere Anstalt verlegen. Aufgrund ihrer wahnhaften Einstellung wird sie sich gegen alles, was mit ihr geplant ist, wehren. Dass sie an Gewicht abgenommen hat, liegt ebenfalls an ihrer negativen Einstellung und vor allen Dingen an ihrem wahnhaften Misstrauen, indem sie Gift oder schädliche Stoffe im Essen vermutet. Sie hat ja auch zu Hause Zeiten gehabt, in denen sie wenig oder gar nichts gegessen hat. Ihre Frau ist z. Zt. in einem Zustand, dass sie in einem Heim oder einem allgemeinen Krankenhaus überhaupt nicht gehalten werden kann. Der einzig richtige Platz für sie ist die Heil- und Pflegeanstalt.«373
Die Begründung für die Anstaltsbedürftigkeit von Hermine W. findet sich in dieser Form nur in dem Schreiben an ihren Ehemann. Eine ärztliche Dokumentation in der Akte findet bereits nicht mehr statt und die Pflegeberichte schildern in wöchentlicher Wiederholung eine ruhige und zurückgezogene Frau, die bei jedem Besuch ihrer Eltern oder ihres Ehemanns um ihre Entlassung fleht: »Frau W. wurde heute von ihrem Mann besucht, weinte zuerst unterhielt sich dann aber ganz nett. Bat man möge sie doch bald nach Hause holen, sie sei doch nicht so krank, daß sie hier in Alzey sein müßte, essen könne sie auch hier nicht alles und alles andere sei Heimweh, aber keine Krankheit. Der Besuch versprach ihr dann sie bald heimzuholen.«374
Auf diesen Besuch hin unternimmt Georg W. einen neuen Versuch, seine Frau aus der Anstalt zu befreien. Auch ist er sich jetzt bewusst, dass seine Frau aufgrund ihrer Diagnose womöglich unter das GzVeN fallen könnte und er versucht, eine Anzeige seiner Frau beim Erbgesundheitsgericht zu verhindern: »Sehr geehrter Herr Doktor! Vor allem recht herzlichen Dank für Ihr Schreiben. Leider bekam ich Ihren Brief aber erst gestern Abend, nachdem ich von meinem Besuche dort zurück kam, wo ich Sie sehr geehrter Herr Doktor leider nicht angetroffen habe. Aber um eines flehe ich Sie an Herr Doktor, urteilen Sie nicht zu hart und seien Sie gnädig mit Ihrer Annahme, daß meine Frau vielleicht unter dies Gesetz fallen sollte. Ich vermute, ebenso wie auch meine Frau, daß es überhaupt der größte Fehler meines Lebens war, daß ich sie in eine Anstalt gebracht habe. Ich war eben der Ansicht es wäre am Besten, aber nun glaube ich, daß auch eine Klinik oder Krankenhaus genügt hätte, um sich zu erholen. Sie Herr Doktor werden am besten verstehen, wenn man nicht so ganz gesund ist und dazu jede Kleinigkeit kaufen muß und 4 Kinder erziehen, daß das schon eine gute Mutter sein muß. Dazu war meine Frau noch zu kleinlich, es sollte alles stets in bester Ordnung sein, war aber leider zu schwach, um ihre Pflichten zu erfüllen, da sie zu wenig essen konnte und daher wollte sie sich mit allen Mitteln helfen. […] Sie sagte noch gestern zu mir, »Ach Gott, wie konntest du denn so etwas angeben, daß ich mir etwas
373 Ibid. Brief des Oberarztes Dr. Kinsberger an den Ehemann Georg W. vom 24. 07. 1935. 374 Ibid. Fortlaufender Pflegebericht, Eintrag vom 09. 08. 1935.
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hätte wollen antun.« […] Sie sagt sie hätte doch die 4 Kinder und müßte gesund werden. Ich bin fest überzeugt, daß es nur Schwächen waren, vielleicht auch etwas Überhitztheit, daß aber von einer geistigen Störung gar keine Rede sein kann. Auch erzählte sie mir sie hätte geahnt, daß ich sie in eine Anstalt bringen wollte und deswegen wäre sie auch so bös geworden. Nun Herr Doktor bitte ich Sie nochmal eindringlich, nehmen Sie vorerst nichts an ihr vor. Ich weiß was ich zu tun und zu lassen habe. Wir werden sie zuerst nochmal sonst wohin ein bischen in Erholung schicken, ehe die Zeit mit der Kasse abläuft. Dazu habe ich die Kinder und ich muß meiner Arbeit nachgehen. Es fehlt überall die Mutter. […] Ich bitte nochmal geehrter Herr Doktor, haben Sie Verständnis für die Lage und seien Sie ein milder Richter in diesem Falle und lassen Sie mich doch meine Frau in den nächsten Tagen abholen. Für all Ihre Mühe und Arbeit bisher, bestens dankend grüßt mit Heil Hitler, Georg W.«375
Einen milden Richter fand Georg W. in Obermedizinalrat Dr. Kinsberger nicht. Zwei Tage nach dem Erhalt dieses Briefes beantragte er ein Verfahren beim Erbgesundheitsgericht Worms zur Unfruchtbarmachung von Hermine W. Das von der Assistenzärztin Dr. Helmerich angefertigte ärztliche Gutachten begründet die Diagnose »Schizophrenie« wie folgt: »Unzugänglich, mürrisch, ablehnend. Morose, traurige Verstimmung, häufiges Weinen, völlige Gleichgültigkeit gegen ihre Umgebung, stumpfes Vorsichhinbrüten. Erregung, sinnlose Handlungen. Heute leichter Stupor. Affektarmes Wesen. Autismus. Vorbeireden.«376
Die aufgeführten Begründungen werden nur im Sterilisationsgutachten, nicht aber in der Krankengeschichte oder im Pflegebericht aufgeführt. Auch die zur Begründung angeführten Sinnestäuschungen und wahnhaften Wahrnehmungen sind den Ärzten nur aus der Fremdanamnese bekannt: »Hörte nachts elektrisches Summen und Knattern, Flüchtete vor diesen Geräuschen in den Keller, lief nachts sogar von zu Hause weg, da sie das nicht aushalten könne. Verlangte von ihrem Mann, dass er »das Ding« abstelle, das ganze Haus wackle ja. Der Ehemann selbst hat von diesen Geräuschen nichts gehört, hält aber für möglich, dass seine Frau das Summer der Telegraphendrähte gehört habe, da ein Mast am Haus befestigt sei. Die Reaktion der Kranken, das sinnlose Weglaufen und ihre Flucht in den Keller zeigen jedoch, dass es sich bei ihr um krankhafte, zumindest aber um wahnhaft gedeutete Wahrnehmungen handelte.«377
Zur Begründung von Hermine W.s erblicher Belastung werden, die Informationen wortwörtlich aufgeführt, welche die Pfarrersfrau Engel durch Nachfragen im Dorf in Erfahrung bringen konnte. Am 27. August 1935 wird sie vom Erb-
375 Ibid. Brief des Ehemanns an Dr. Kinsberger vom 10. 08. 1935. 376 Ibid. Ärztliches Gutachten vom 12. 08. 1935. 377 Ibid.
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gesundheitsgericht zu ihrem Verfahren gehört. Angaben zu ihrer Erkrankung macht sie dabei keine. Während ihr Sterilisationsverfahren vor dem Erbgesundheitsgericht anläuft ist die Situation für Hermine W. unverändert. Einmal in der Woche erhält sie Besuch von ihren Eltern oder ihrem Ehemann, die meist auch eines ihrer Kinder mitbringen. Jedes Mal will sie von ihrem Besuch mit nach Hause genommen werden. Ihre Entlassung ist aber durch die Anzeige beim Erbgesundheitsgericht rechtlich unmöglich geworden und auch Hermine W. scheint nicht mehr an ihre baldige Entlassung zu glauben. Sie zeigt sich bei ihren Besuchen zunehmend resigniert: »Frau W. wurde heute von ihrem Vater und ihrem Kind besucht, sie begrüßte den Besuch kurz, unterhielt sich auch nicht, sagte nur »ich komme ja doch nicht mehr raus.« Frau W. saß während der ganzen Besuchszeit da und sah unter sich und ließ den Kopf hängen, beim Abschied gab sie jedem die Hand ohne was zu sprechen.«378
Eine Woche später dokumentieren die Pflegekräfte: »Frau W. wurde heute von ihrer Mutter und ihrer Tochter besucht, sie sprach während der Besuchszeit sehr wenig, beim Abschied weinte sie.«379 Erneut versucht ihr Ehemann eine Entlassung zu erwirken. Am 20. September 1935 schreibt er an Dr. Kinsberger: »Sehr geehrter Herr Doktor! Erlaube mir höflichst die Anfrage, wie es um meine Frau steht. Ich glaube mit voller Bestimmtheit annehmen zu können, daß ihr Gesundheitszustand so ist, daß ich sie wieder heim holen kann. Sie fällt ja immer so an und fleht ich möchte sie doch mit nach Hause holen vor Herbst, damit sie doch vor Winter in der Wohnung sei und für die Kinder alles herrichten könnte. Und wirklich, es wäre ja auch so notwendig. Sie behauptet recht brav zu sein und wieder alles zu tun. Nun sehr geehrter Herr Doktor bitte ich Sie, wenn es Ihnen nur einigermaßen möglich ist, habe Sie auch etwas Mitleid mit den 4 Kindern, denen ja überall die Mutter fehlt und lassen Sie doch meine Frau wieder heim. In der Hoffnung, daß Sie geehrter Herr Doktor unsern Wunsch bald erfüllen grüßt mit Heil Hitler, Georg W.«380
Das Antwortschreiben der Klinik ist aber weiterhin ablehnend: »Auf Ihre Anfrag vom 20. ds. Mts. teilen wir Ihnen mit, dass im Befinden Ihrer Frau noch keine Besserung eingetreten ist. Sie verhält sich nach wie vor ablehnend, macht zeitweise Schwierigkeiten bei der Nahrungsaufnahme und ist nicht imstande, ausserhalb der Anstalt zu leben. Abgesehen davon kann sie aber auch nicht entlassen werden, bevor das Erbgesundheitsgericht über den Antrag auf Unfruchtbarmachung entschieden hat.«381 378 379 380 381
Ibid. Fortlaufender Pflegebericht, Eintrag vom 22. 09. 1935. Ibid. Fortlaufender Pflegebericht, Eintrag vom 29. 09. 1935. Ibid. Brief des Ehemanns an Dr. Kinsberger vom 20. 09. 1935. Ibid. Brief von Dr. Kinsberger an den Ehemann Georg W. vom 25. 09. 1935.
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Hermine W.s Sterilisationsbeschluss ergeht drei Wochen später am 18. Oktober 1935. Aufgrund der »gesamten Ermittlungen insbesondere nach den Akten der Heil- und Pflegeanstalt Alzey« gilt es dem Gericht als »einwandfrei« bewiesen, »dass Frau W. an Schizophrenie leidet«. Ihre Überweisung nach Mainz in die Hebammenlehranstalt verzögert sich aber weiterhin. Hermine W.s Wut über den Anstaltsaufenthalt und ihre hinausgezögerte Entlassung richtet sich jetzt vor allem gegen ihren Ehemann Georg W., dem sie misstraut und den sie für ihr Schicksal verantwortlich macht. Bei einem Besuch ihres Vaters fragt sie diesen, ob ihr Ehemann auch gut für ihre Kinder sorge, »da der Vater dies verneinte sagte sie: ›Wenn er fortgehen will kann er es ja machen, aber alle was mir gehört und was ich gekauft habe das behaltet ja zurück, der hat schon immer schlecht an mir gehandelt, ich wollte es bloß nicht sagen. Hätte ich nur besser auf meine guten alten Eltern gehört.‹«382 In einem Brief, der als Abschrift in der Krankenakte dokumentiert ist, gibt sie weiter an: »Meine lieben Eltern und meine armen verlassenen Kinder! Für erhaltene Karte besten Dank. Hoffentlich geht es bei Euch, meine Lieben gut. […] Ist es wahr, dass Er nicht mehr über mich zu verfügen hätte, wie verhält sich die Sache, da könnte er ja zu jeder Zeit machen was er wolle. […] Doch nur Er hat mich zu diesem Zwecke hierher getan, nicht die Behörde, was soll ich denn mit dieser zu tun gehabt haben. […] Wie kann der Eigene Mann es übers Herz bringen, seine Frau zu solchem Zwecke herzugeben. Und die armen Eltern und die armen Kinder müssen noch bei einem solchen Menschen leben und wussten nicht was er mit mir vorhatte.«383
Bei Georg W.s nächstem Besuch bei seiner Ehefrau ignoriert ihn Hermine W. vollständig: »Frau W. wurde heute von ihrem Manne und ihren zwei Kindern besucht, die Kinder begrüßte sie herzlich, den Mann überhaupt nicht, setzte sich auch immer so daß sie ihren Mann nicht ansehen konnte. Fragte ihr Mann etwas, dann gab sie stets abweisende Antworten.«384
Nach diesem Besuch erreicht ein weiterer Brief von Georg W. die Anstalt, in welchem er ein letztes Mal an den Oberarzt appelliert, seine Frau jetzt schleunigst zu entlassen: »Sehr geehrter Herr Oberarzt! Erlaube mir höflichst die Anfrage, wann ich meine Frau dort abholen kann. Ich war letzten Sonntag dort und muß feststellen, soweit ich sie kenne hat sie sich sehr gut erholt und gefällt mir wirklich gut. Nur ist sie halt sehr empört gegen mich gewesen, da sie angenommen hat ich wollte nichts mehr von ihr wissen und hätte sie deswegen dorthin gebracht. Habe ihr am Sonntag einmal alles klar 382 Ibid. Fortlaufender Pflegebericht, Eintrag vom 17. 11. 1935. 383 Ibid. Brief von Hermine W., Abschrift in der Krankengeschichte vom 13. 11. 1935. 384 Ibid. Fortlaufender Pflegebericht, Eintrag vom 24. 11. 1935.
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gemacht und wirklich sie hat wieder frischen Lebensmut und hat mir mit viel Hoffnung alles erzählt wie sie es gern hat, wenn sie daheim ist. Sie will halt zu den Kindern. Und ach es wäre ja auch so notwendig Herr Oberarzt. Ich bitte Sie deshalb für wahr, machen Sie mir doch bitte keine Schwierigkeiten mehr und lassen Sie mich meine Frau dort abholen, denn ich glaube, daß wir auch jetzt auf diesem Wege mit Liebe und Güte am meisten erreichen. Ich habe sie stets getröstet, sie dürfe hoffentlich bald nach Hause und da es eben etwas lange gedauert hat, ist sie eben entsetzt und glaubt es läge eben an mir. Ich bitte Sie nochmals Herr Oberarzt geben Sie mir meine Frau, denn ich glaube bestimmt es ist für uns alle das einzig richtige und das Beste.«385
Eine Antwort auf dieses Schreiben erhält Georg W. nicht mehr und auch seinem Wunsch seine Frau rasch abholen zu können wird nicht stattgegeben. Obwohl der richterliche Beschluss jetzt bereits über einen Monat vorliegt, dauert es erneut fünf Wochen bis Hermine W. endgültig nach Mainz überführt wird. Nachdem sie Weihnachten noch in Alzey verbracht hat, wird sie am Montag den 6. Januar 1936 in die Hebammenlehranstalt Mainz gebracht. Einen Tag später sendet sie ein letztes Schreiben an ihren Mann, das diesen aber nicht erreicht, sondern in den Akten der Hebammenlehranstalt abgeheftet wird: »Mein lieber Mann und lieben Kinder! Ich bitte dich sei doch so gut und komm hiermit und verhandle mit dem Herrn Oberarzt, wenn du mich noch retten willst. Warum soll denn mein Körper weiter geschändet werden. Da meine Periode doch nicht mehr kommt, also steril machen nicht mehr in Frage kommt und ich auch nicht für sowas geeignet bin. Ich bitte dich nur der Kinder willen komm sofort.«386
Am nächsten Tag wird Hermine W. von Oberarzt Dr. Ley durch die Unterbindung beider Eileiter unfruchtbar gemacht und nach einem komplikationslosen Verlauf am 21. Januar 1936 als »geheilt« nach Hause entlassen.
385 Ibid. Brief des Ehemanns Georg W. an der Dr. Kinsberger vom 27. 11. 1935. 386 Universitätsklinikum Mainz, Archiv des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Krankenaktenbestand der Hebammenlehranstalt Mainz, Jahrbuch 1936 Bd. 1, Hauptbuchnr. 14.
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4.1.7 Martha T.
Abbildung 21: Foto Martha T.
»Es würden mehr Heilanstalten entstehen müssen als Privathäuser, wenn alle nervösen Menschen interniert würden.«
Geboren 1912 Zwangssterilisiert in Mainz 1938 Martha T. wird 1912 als drittes Kind von insgesamt fünf Geschwistern im Großraum München geboren. Ihr Vater Hermann T. betreibt eine Spenglerei und stellt Teile für den Automobilbau her, während ihre Mutter Auguste T. den Haushalt führt. Ihre Eltern trennen sich 1920 aufgrund von Ehebruch, wie es im Scheidungsurteil heißt. Martha und ihre kleinen Geschwister Hildegard und Robert verbleiben bei der Mutter, die älteren Schwestern Wilma und Auguste T. leben zu diesem Zeitpunkt bereits mit ihren Lebensgefährten außerhalb von München. Martha T. besucht bis zum Alter von 13 Jahren ohne Schwierigkeiten eine höhere Münchner Schule. Als die Familie nach der Scheidung der Eltern in finanzielle und strukturelle Schwierigkeiten kommt, scheidet sie aus der Schule aus und besucht sporadisch eine kaufmännische Fortbildungsstätte. In Martha T.s Krankenakte der Heil- und Pflegeanstalt Alzey befinden sich die Abschriften der Korrespondenz des Münchner Wohlfahrtsamtes und des Fürsorgeamtes, aus denen sich zumindest der aktenkundliche Verlauf von Martha T.s Jungendzeit rekonstruieren lässt.
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Das Wohlfahrtsamt wird erstmals 1921 auf Familie T. aufmerksam, als sich die Pflegeeltern, bei denen Marthas kleine Schwester Hildegard vorübergehend untergebracht ist, über das ausbleibende Pflegegeld beschweren. Ab 1927 finden sich dann vermehrt Nachforschungen zu den Familienverhältnissen und dem Umgang von Auguste T. mit ihren Kindern: »Frau T. ist nach Einsicht der Vorakten seit Oktober 1924 ohne Berufseinkommen. Sobald sie in laufende Unterstützung genommen werde, war die Arbeitswilligkeit zu Ende. Sie ist wegen Ischias erwerbsbeschränkt. In ärztlicher Behandlung steht sie nicht. Die Tochter Wilma kann nur von Herbst 1924 bis April 1925 eine Stelle als Kontoristin nachweisen, wurde im September 1925 am Blinddarm operiert, hat am 8.7.26 entbunden, […] ihr Kind ist bei der Mutter in Pflege. Die Tochter Martha ist schon das 2. Jahr aus der Schule entlassen und sitzt zu Hause herum. Sie besucht die Kaufmännische Fortbildungsschule. Frau T. redet sich bei der Tochter Martha darauf hinaus, daß diese gleich etwas verdienen muß und deshalb in keine Lehre geschickt werden kann. Frau T. kann ihre teure Wohnung nicht halten. […] Für Frau T. ist zu veranlassen, daß sie sich wieder um Heimarbeit kümmert, daß die Tochter Wilma entweder heiratet oder sich eine Stellung sucht und daß die Tochter Martha einer Lehrstelle zugefügt wird. Frau T. gilt als moralisch minderwertig. Es ist zu überlegen, ob wegen der Kinder nicht Schutzaufsicht am Platze ist.«387
Die Kinder geraten in der Folge anscheinend zunehmend zwischen die Fronten der elterlichen Auseinandersetzung, die jetzt auch mit gegenseitigen öffentlichen Beschuldigungen geführt wird. Im Zuge dessen wird auch die Fürsorgepflicht für die drei noch bei der Mutter verbliebenen Kinder Robert, Hildegard und Martha vom Amt geprüft. Gegen Ende des Jahres 1927 sind die Ermittlungen über die Unterstellung der drei Kinder unter staatliche Fürsorge soweit fortgeschritten, dass ein Fürsorgeantrag für alle drei Geschwister gestellt wird. Die Mutter Auguste T. verlässt daraufhin mit den beiden jüngeren Kindern München und zieht zu ihrer verheirateten Tochter nach Frankfurt. Martha findet kurzfristig Aufnahme in einem Mädchenheim, bevor am 16. Januar 1928 schließlich der Beschluss des Jugendgerichts ergeht, Martha T. unter staatliche Fürsorge zu stellen: »Martha T. wächst mit ihren beiden jüngeren Geschwistern Hildegard und Robert, […], bei der Mutter in ganz unzulänglichen Verhältnissen heran und hat als älteste der 3 Geschwister den Weg zur Verwahrlosung bereits beschritten. […] Die Ischias leidende Mutter ist seit Oktober 1927 ohne jeden Erwerb, trägt aber gleichwohl elegante Kleidung, ist auffallend geschminkt und geht abends mit ihrer Tochter Martha oft aus. In wiederholten Eingaben bemüht sich die Mutter um die Erlaubnis eines Heiratsbüros, […]. Nunmehr ist die Mutter unter Hinterlassung von Schulden, auch aus ihrer Wohnung verschwunden und mit den Kindern Hildegard und Robert zunächst unbekannten Aufenthaltes, angeblich soll sie sich nach Frankfurt begeben haben. Martha hat 387 Landesarchiv Speyer. Bestand O 41 (Landeskrankenhaus Rheinhessen Fachklinik Alzey), Nr. 3611, Abschrift des Aktenvermerks des Bezirkswohlfahrtsamts vom 15. 11. 1927.
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es unter diesen Erziehungsverhältnissen versäumt einen Beruf zu ergreifen und sitzt seit ihrer Entlassung aus der Werktagsschule 1926 untätig daheim herum. Ihrer sittlichen Verwahrlosung ist die Mutter in keiner Weise entgegen getreten, das Mädchen streunt, läßt sich von Mannespersonen ausführen und bringt von diesen Abendunterhaltungen Geldbeträge mit nach Hause, von denen die Mutter weiß. Kürzlich hatte die Mutter von dem auf der Straße verdienten Gelde hohe Stöckelschuhe gekauft. Martha erklärt den Hausbewohnern gegenüber, es fiele ihr nicht ein etwas zu arbeiten oder in ein Büro zu gehen und pfeifft abends auf die Straße herunter, wenn Burschen vorbeigehen.«388
Gegen diesen Beschluss legen sowohl Marthas ältere Schwester Auguste wie auch ihre Mutter von Frankfurt aus Beschwerde ein. Ihre Schwester, die in Frankfurt als Assistentin in einer Praxis angestellt und verheiratet ist, möchte Martha gerne zu sich holen und Marthas Mutter wehrt sich gegen die gemachten Anschuldigungen und führt diese auf die Verleumdung durch Bekannte und die zweite Ehefrau ihres geschiedenen Ehemannes zurück. Da aber die Zeugenaussagen der Nachbarn und des Ehemanns die im Gerichtsbeschluss aufgeführten Anschuldigungen stützen und Martha auch nicht zu ihrer Schwester in die Nähe ihrer Mutter gegeben werden soll, wird der Einspruch abgelehnt. Im Februar 1928 wird sie kurz vor ihrem 16. Geburtstag im katholischen Fürsorgeheim Maria untergebracht, wo sie sich aber nicht zurechtfindet, wie die Heimleitung wiederholt beim Fürsorgeamt beklagt: »Jetzt erst zeigt sich, daß ihre Fügsamkeit nur Verstellung war, um eine baldige Entlassung zu erzielen. Sie träumt am liebsten von ihrem alten Leben und wünscht nichts sehnlicher als bald dorthin zurückzukehren, wie sie selbst einem Mitzögling gegenüber äußerte. Ihr Arbeitseifer hat bedeutend nachgelassen und auch im Verkehr mit den Mitzöglingen kommt es häufig zu Streitigkeiten, da sie sich zu erhaben dünkt und gewisse Zöglinge verachtet. In Anbetracht ihres versteckten, boshaften Charakters und ihres jugendlichen Alters wäre die Unterbringung in einer Dauererziehungsanstalt anzuraten. Wir ersuchen um baldmögliche Überstellung, da sie die Zöglinge verhetzt und an sich zieht. Wir erlauben uns die Anstalt der Frauen vom guten Hirten in Vorschlag zu bringen.«389
In dieser Anstalt wird sie am 17. Oktober 1928 aufgenommen und verbleibt dort für die nächsten zwei Jahre. Über Martha T.s Zeit in der Dauererziehungsanstalt finden sich in ihrer Krankenakte nur zwei Berichte. Im Juni 1930 heißt es darin: »Der Gesundheitszustand ist gut. Leider hat das Verhalten der Rubrikantin in letzter Zeit etwas nachgelassen. Seit dem Besuch ihrer Mutter ist sie recht zerfahren. Z. Zt. ist sie beim Kleidermachen, wo sie es, trotz Geschick noch zu keiner Fertigkeit gebracht hat, mangels Interesse. Sie ist mit ihren Gedanken mehr mit ihren familiären Verhält-
388 Ibid. Beschluss des Jugendgerichts München vom 16. 01. 1928. 389 Ibid. Schreiben des katholische Fürsorgeheims Maria vom 28. 07. 1928.
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nissen beschäftigt als mit der Arbeit. (Ihre Mutter schrieb ihr wiederholt sehr aufregende Briefe.) Überhaupt zeigt sie für praktische Arbeiten, wie Kleidermachen, Bügeln, Hausarbeit, wenig Eifer, ist aber in theoretischen Fächern lernbegierig. In ihrer Berufswahl ist sie nicht klar, weshalb wir hinsichtlich Unterbringung in einer Stelle wirklich in Verlegenheit sind. Als Mädchen neben der Frau eignet sie sich wenig; ihre Mutter wäre auch keineswegs damit einverstanden. Für ein perfektes Zimmermädchen reichen ihre Kenntnisse nicht aus. Als Kindermädchen würde sie sich gemäss Veranlagung und Talent wohl am besten eignen. Ihre Mutter wünscht sie allerdings bei sich zu haben. Deren Familienverhältnisse scheinen uns aber für das schwärmerisch veranlagte Mädchen ganz ungeeignet; dieses gibt selbst zu, dass es sich denselben nicht gewachsen fühlt. Es scheint uns überhaupt fraglich, ob eine derzeitige Entlassung für dasselbe von Vorteil ist. Zudem wäre noch eine gründlichere Ausbildung im Bügeln im Interesse des Mädchens sehr zu wünschen.«390
Martha T.s Zweifel in Bezug auf ihren Berufswunsch und ihre Zukunft sind wenig erstaunlich, wenn man bedenkt, dass sie sowohl von Seiten der Behörden und der Erziehungsanstalt, wie auch von Seiten ihrer Mutter, die sie zu sich nach Frankfurt holen möchte, unter enormem Druck steht. Das Wohlfahrtsamt ist derweil immer noch bemüht den Einfluss von Martha T.s Mutter auf ihre Erziehung und ihren Lebensverlauf zu unterbinden: »Im Interesse des genannten Mädchens ersuchen wir die aufregenden Briefe der Mutter zurückzuhalten und sie dem Mädchen nicht auszuhändigen, nachdem sie so ungünstig einwirken. Mit einer Teilnahme des Mädchens an einem Haushaltungskurs sind wir einverstanden, möchten jedoch bemerken, dass T. bis spätestens April zur Entlassung an eine Dienststelle kommen muss. Eine weitere Anstaltserziehung wird kaum mehr einen Erfolg zeitigen, das Mädchen vielmehr recht verbittern. Wir müssen auch der jetzigen schweren wirtschaftlichen Lage Rechnung tragen und darnach trachten die überalterten Mädchen einem Berufe zuzuführen. T. wolle eröffnet werden, dass jeder Verkehr mit der Mutter unterbunden werden muss, wenn sie sich in Zukunft nicht bessert.«391
Die gewünschte Anstellung für Martha findet sich zum 01. Mai 1931, kurz nach ihrem 19. Geburtstag, als Haushaltshilfe bei einer Familie im Münchner Umland. Dort wird sie aber bereits im Oktober nach fünf Monaten entlassen, woraufhin sie nach München zurückkehrt und sich nach einiger Zeit wieder mittellos im Kloster vom guten Hirten einfindet. Erneut wird sie unter staatliche Fürsorge gestellt und verbringt ein weiteres halbes Jahr in der Erziehungsanstalt. Ihre Beurteilung durch die Anstaltsleitung fällt jetzt aber bedeutend negativer aus: »Martha T. besitzt einen sehr schwankenden Charakter. Ihr Verhalten ist dementsprechend wechselnd. In letzter Zeit begegnet sie wiederholt Erzieherinnen anmassend und frech. Erst seit einer Woche etwa ist wieder Besserungswille bemerkbar. Die 390 Ibid. Schreiben des Klosters vom guten Hirten vom 25. 06. 1930. 391 Ibid. Schreiben des Bezirkswohlfahrtsamtes ohne Datum.
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überspannten Ideen treten zeitweise noch stark hervor. So äusserte sie gegenwärtig wieder grosse Neigung zum Bühnenberuf, das bei der ganzen Veranlagung des Mädchens dessen sittlichen Untergang bedeuten würde. Zur Zeit wird Martha T. im Bügeln ausgebildet. Der Gesundheitszustand ist gut.«392
Sechs Wochen später wird Martha T. am 31. August 1932 aus der Erziehungsanstalt aufgrund ihres »auffälligen Verhaltens« in die psychiatrische Abteilung des Krankenhauses München Schwabing gebracht. Bei ihrer Aufnahme ist sie sichtlich verunsichert und verängstigt. Sie gibt an: »Es sei ihr schlecht gegangen, sie habe seelisch zu kämpfen, beruflich. Das erste Mal sei sie brav gewesen, jetzt sei sie nicht mehr brav. Sie sei bös gewesen. Sie sei immer so stolz gewesen, habe schon 5 Wochen nicht mehr gebeichtet, habe gegen den Herrgott gefrevelt. […] Sie habe schwer gesündigt. […] immer so dumme Gedanken sind mir durch den Kopf geschossen, ganz dumme. Das ist gerade darauf angekommen, was vorher war. Mal wollte ich mich so in den Keller setzten, wollte nicht mehr essen, wollte verhungern. Dann habe ich es doch nicht getan.«393
Sie berichtet weiter von ihrer Jugend, von der Trennung der Eltern und dem Umzug der Mutter nach Frankfurt sowie von ihrer Zeit in der Fürsorgeerziehung. Als sie nach dem Grund ihres Aufenthalts in der Dauererziehungsanstalt gefragt wird, berichtet sie: »Sie habe in ihren Akten gelesen, aber das sei sicher nicht wahr, dass sie ein schlechtes Mädel gewesen sei. Sie habe tatsächlich nur einen Herrn gekannt, mit 15 Jahren, mit dem sie einmal ausgegangen sei. Es sei aber nichts vorgekommen und das Ausgehen habe die Mutter erlaubt. […] Es habe so eine Frau gegeben. […] Diese Frau habe dann davon gesprochen, Patientin lasse sich mit Herren ein, habe das beim Jugendamt angegeben. Auch der Vater habe das in die Akten schreiben lassen, dass sie auf der Straße Geld verdiene. Daraufhin sei sie in Fürsorgeerziehung gekommen. […] Sie habe schon immer in sich hineinstudiert, weil man sie verleumde. Man lasse sie auch nicht an ihre Mutter schreiben. Sie habe versucht einen Brief an die Mutter herauszuschmuggeln, damit diese wisse, wie unglücklich sie sei. Sie habe wieder hinaus gewollt.«394
Fast vier Monate verbleibt Martha T. in der psychiatrischen Klinik in München. Nach einem Monat notieren die Ärzte in der Krankengeschichte eine langsame Besserung, sie sei aber weiterhin »antriebsarm, müde in allen ihren Bewegungen, ratlos«. Im Oktober ist sie dann bereits »etwas freier, nicht mehr ganz so stark gehemmt«. Sie äußert wiederholt den Wunsch nach Entlassung und schreibt Briefe, die von einer »stark religiösen Einstellung« geprägt sind. Als sie wenig später auf die halboffene Abteilung überführt wird, zeigt sie sich den Ärzten zunehmend »netter, umgänglicher und geselliger. In ihrem ganzen Wesen, ihrem 392 Ibid. Schreiben der Anstaltsleitung des Klosters vom Guten Hirten vom 13. 07. 1932. 393 Ibid. Abschrift der Krankengeschichte der Psychiatrischen Klinik München Schwabing. 394 Ibid.
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Schreiben, in der Art, wie sie sich trägt, kommt etwas Eigenes jedoch nicht Manieriertes zum Ausdruck.«395 Das Krankenhaus stellt die Diagnose Schizophrenie, fortan gilt Martha T. dadurch als »geisteskrank« und kann aufgrund ihres neuen rechtlichen Status nicht mehr in die Fürsorge entlassen werden. Von einer Unterbringung in eine Heil- und Pflegeanstalt wird wegen ihrer sichtlichen Besserung aber ebenfalls abgesehen. Weiterhin bemühen sich auch Marthas Mutter und ihre Schwester darum, sie zu sich nach Frankfurt zu holen. In den Krankenakten heißt es dazu: »Die Mutter der Patientin hat wiederholt an Herrn Professor Schneider und an Referenten geschrieben. Die Schreiben machten einen auffallenden unehrlichen, schwülstigen und überstiegenen Eindruck. Es wurde versucht auf dem Wege über die Fürsorge in Erfahrung zu bringen, ob es geraten sei, die Patientin nach Frankfurt am Main zu der verheirateten Schwester zu geben, wie es die Mutter vorschlug. Sie der Mutter selbst zu geben, erscheint gar nicht ratsam.«396
Da sich aber die Ermittlungen hinziehen und eine Entlassung angestrebt wird, gibt die ärztliche Leitung schließlich nach und entlässt Martha T. zu ihrer älteren Schwester. Einen Tag vor Weihnachten am 23. Dezember 1932 wird sie von ihrer Mutter in München abgeholt. Der zuständige Arzt notiert am Entlassungstag: »Die Mutter, die daraufhin von Frankfurt hierher fuhr, um die Patientin abzuholen, machte den Eindruck einer alten Publika, war stark bemalt usw. wollte anfangs über das Kloster und andere Stellen herziehen, die ihr Kind so krank gemacht hätten, schwieg jedoch dann und tat so, als erkenne sie alles an, was der Referent zu ihr sagte.«397
Über die nächsten sechs Jahre in Martha T.s Leben gibt ihre Krankengeschichte wenig Auskunft. Aktenkundig wird sie erst wieder am 17. April 1938, kurz nach ihrem 26. Geburtstag, als sie in einem »Erregungszustand« in die psychiatrische Abteilung des städtischen Krankenhauses Mainz eingeliefert wird. Ihr vorheriger Aufenthalt in der Münchner Psychiatrie ist in Mainz bekannt und die Diagnose »Schizophrenie« wird hier erneut bestätigt. Die Krankengeschichte vermerkt dazu: »Patientin spricht manieriert in gewählten gezierten Ausdrücken. Sie hört Stimmen von Schwestern, die ihr dauernd Vorwürfe machen. Sie glaubt verfolgt zu werden. Ihre Seele soll aus der Brust geholt werden, bzw. es knien grobe Seelen auf ihrer zarten Seele. Sie hat den dringenden Wunsch in die Kirche zu gehen und ganz nahe an dem Altar zu beten. Patientin lebt ganz in ihren Wahnvorstellungen. Ist zeitweise stuporös. Die Nahrung muss per Sonde zugeführt werden zeitweise. Patientin äussert zeitweise reli-
395 Ibid. 396 Ibid. 397 Ibid.
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giöse Wahnideen und hat öfter Angstanfälle. Sie wird wegen ihrer Schizophrenie am 10.5.38 nach der Heil- und Pflegeanstalt Alzey verbracht.«398
Noch aus Mainz schreibt Martha T. einen Brief an ihre Mutter, der sich als Abschrift in der Krankenakte befindet: »Meine liebe Mama! Ich darf nicht daran denken, dass man mich wieder eingesperrt hat. Doch tröste Dich, liebes Mutterl, ich verdiene bald wieder. Sei auch nicht traurig. Ich mache mir Sorgen genug um Dich und Bubi. Aber wenn die Menschen nun mal ihre Freude daran haben, mich immer und immer wieder einzusperren, muss man sie eben lassen. Was soll ich dir viel schreiben? Dass mich das Heimweh gequält hat Tag und Nacht. Ich habe Dir deshalb nie geschrieben, weil Du in Deinen grossen Sorgen, nicht wissen solltest wie es um mich steht. Ich weiss nicht was mit mir so plötzlich los ist. Ich liege hier so einsam, so verlassen, die Menschen sind alle so grob gegen mich. Und das tut meiner Seele so weh – ach so weh – dass ich immerzu schreien könnte. Mama, bitte holt mich doch nach Ffm. Viele herzliche Grüße, Martha.«399
In Alzey trifft Martha T. am 11. Mai 1938 ein. Der Aufnahmebericht beschreibt sie als ängstlich und erregt. Zu ihrer Zeit nach ihrem Umzug aus München nach Frankfurt macht sie im Aufnahmegespräch folgende Angaben: »Nach ihrer Entlassung aus dem dortigen Krankenhaus sei sie zu ihrer Mutter, die inzwischen geschieden wurde und nach Frankfurt übergesiedelt sei, gegangen. Sie sei drei Monate zu Hause bei der Mutter gewesen, habe dann eine Stelle als Servierfräulein in einem Kaffee in Frankfurt erhalten. Habe diese Stelle bald wieder aufgegeben, wegen des schlechten Rufes des Lokals. Sie hatte dann noch verschiedene Stellen als Servierfräulein, meistens sei sie in Animierkneipen gewesen. Sie habe sonst keine anderen Stellen bekommen und habe das Geld, das sie dort verdiente, ihrer Mutter geschickt. Zuletzt war sie in Rüsselsheim im Stadtkaffee.«400
Über den Grund ihrer Aufnahme kann Martha T. keine Angaben machen. Zwei Tage später berichtet die Krankengeschichte: »Patientin befand sich am Tage ihrer Aufnahme in psychomotorischem Erregungszustand, weinte und jammerte und äusserte vielerlei Verfolgungs- und Versündigungsideen. Sie stand offenbar unter dem Einfluss von optischen und akustischen Halluzinationen, sah ratlos, ängstlich umher und schrie »die Seelen kommen, überall sind die Seelen, die mich belästigen, meine Seele haben sie mir heraus gerissen.« Sie hielt eine leere Pralinenschachtel fest an sich und behauptete in der Schachtel sei eine fremde Seele, die sie bewahren müsse.«401
398 Ibid. Abschrift der Krankengeschichte des Städtischen Krankenhauses Mainz. 399 Ibid. Brief von Martha an ihre Mutter ohne Datum, Abschrift in der Krankengeschichte des Städtischen Krankenhauses Mainz. 400 Ibid. Krankengeschichte, Eintrag vom 12. 05. 1938. 401 Ibid. Krankengeschichte, Eintrag vom 13. 05. 1938.
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Martha T.s Gemütszustand bessert sich aber bereits am Folgetag. Sie erhält Besuch von ihrer Schwester und bittet nach Hause entlassen zu werden. Sie sei nicht wahnsinnig. Am 14. Mai, drei Tage nach ihrer Aufnahme, schreibt sie an ihren Freund: »Mein liebster Arthur! Vielleicht hast Du bereits erfahren, wo mich der Wind hingeweht hat? Irrtümlicher Weise! Doch das wird hoffentlich nicht allzulange dauern. […] Ich denke soviel an Dich, habe so Sehnsucht nach Dir!! […] Es sind nun schon fünf Wochen, dass ich Dich nicht gesehen habe. […] Ich freue mich so sehr auf ein Wiedersehen mit Dir. Du doch auch sicher, Liebster! Heute kann ich Dir ja sagen, dass, als ich am Ostersamstag in Ffm. war und auf Dich wartete, Du jedoch kamst, als ich bereits im Zuge sass, ich mir den Rest holte.«402
Schon bald kann sie auf die Übergangsstation verlegt werden und verlangt alsbald ihre Entlassung. Sie erinnert sich jetzt auch wieder an den Grund ihrer Aufnahme: »Erkundigt sich heute wegen ihrer Entlassung. Sie sei doch nicht geisteskrank und sei nur »in den Nerven herunter« gewesen. Habe oft bis 16 Stunden andauernd gearbeitet. […] Ausserdem habe sie sich viele Sorgen um den Lebensunterhalt ihrer Mutter gemacht. Dies alles habe Karsamstag zu ihrem »Nervenzusammenbruch« geführt. […] Die Schwestern im Städtischen Krankenhaus-Mainz hätten sie an ihre »harten Jahre«, die sie im Kloster in München verbracht, wieder erinnert und dadurch sei sie noch mehr erregt worden. Man habe sie im Mainzer Krankenhaus »grob« behandelt und ihr gleich eine Spritze gegeben. Sie habe sich dagegen gewehrt. Es sei ihr schliesslich alles gleichgültig gewesen und sie habe deshalb nichts mehr gegessen und sein einmal mit der Sonde ernährt worden.«403
Ihre Mutter, die sich ebenfalls schriftlich an die Klinik wendet und die Entlassung ihrer Tochter erbittet, gibt eine ähnliche Erklärung für Marthas Verhalten an: »Wie kam meine Tochter dazu für geisteskrank befunden zu werden! – Am Nachmittag des 16.4, Karsamstag, war das Mädchen noch hier auf einen kurzen Besuch; ich begleitete es zum Bahnsteig. Meine Tochter ging wie immer sehr schwer fort und war deprimiert. Sie hatte ihren Freund, dem sie sehr innig zugetan ist, verständigt, daß sie sich kurz hier aufhält und ihn um ein kleines Wiedersehen gebeten. Sie konnte ihn nicht erreichen. […] Meine Martha ist durch manch bittere Enttäuschung sehr mißtrauisch geworden und machte sich schweres Kopfzerbrechen über den Verbleib des Freundes. Dieser beschäftigt zwei Assistentinnen und ist Martha im Zweifel, ob er nicht zu einer der beiden in engerer Beziehung steht. […] Nun gut sie reiste am 16.4. wieder nach ihrer Arbeitsstelle zurück in der Hoffnung dort eine Nachricht ihres Freundes anzutreffen. Es war nicht der Fall! – Sie kämpfte den ganzen Nachmittag und abends gegen diese Enttäuschung an, bis dann später doch der Schmerz, der seelische Schmerz, die Oberhand gewann. Sie flüchtete sich in ihr Zimmer, um sich auszuweinen. […] Man war 402 Ibid. Brief von Martha T. vom 14. 05. 1938. 403 Ibid. Krankengeschichte, Eintrag vom 30. 05. 1938.
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Martha auf ihr Zimmer nachgegangen und fand sie weinend und zermürbt auf ihrem Bette liegend vor. Es wurde sofort ein Arzt gerufen, welcher Martha wegen eines Nervenzusammenbruchs nach Mainz transportieren ließ.«404
Ähnlich wie ihre Tochter begründet Auguste T. Marthas Verhalten in Mainz mit ihrer Erinnerung an ihre Zeit im Münchner Kloster zum guten Hirten, in dem man sie auf die Veranlassung ihres geschiedenen Ehemanns von ihrer Mutter getrennt gehalten habe. Sie beschwert sich auch darüber, dass Marthas Briefe an ihre Familie in der Städtischen Klinik Mainz unterschlagen wurden, woraufhin sich Martha in ihrer Einsamkeit so sehr hineinsteigerte, dass sie keinen Appetit und Lebensmut mehr verspürte. Vehement bestreitet sie, dass ihre Tochter geisteskrank sei und verlangt ihre sofortige Entlassung, da ein Aufenthalt in der Anstalt für sie vollkommen ungeeignet sei: »Es ist aber doch von »nervös« zu »geisteskrank« ein gewaltiger Weg. […] Mein Kind ist nicht »geisteskrank«, ein geringer Beweis dafür sind doch ihre Korrespondenzen! Wenn Martha nicht bald entlassen wird befürchte ich Schlimmes für sie! […] In meiner ganzen Verwandtschaft und von meines Mannes Seite aus, liegt nicht ein Fall auf, in dem ein Glied »geistesschwach« gewesen wäre, geschweige denn »geisteskrank«. Herr Direktor ich bitte Sie als Mutter, haben doch Sie Erbarmen mit meinem armen Kinde, geben Sie ihr die Freiheit wieder!«405
Auch für Marthas »wahnhafte« Äußerungen hat ihre Mutter eine Erklärung: »In der Aufregung spricht man oft ein Wort, welches noch lange nicht notiert wird. Warum fallen alle Worte von Martha, die sie in ihrem Schmerz ausstösst, so sehr ins Gewicht? Was wird in der Welt so vieles gesprochen, ohne in Akten niedergelegt zu werden. Es würden mehr Heilanstalten entstehen müssen als Privathäuser, wenn alle nervösen Menschen interniert würden. Letzten Endes sind doch diese Anstalten ausschließlich für »Gemeingefährliche«!! Martha kann doch keiner Fliege etwas zu leide tun! – Also wofür alles?«406
Im Antwortschreiben der Klinik wird allerdings eine gänzlich andere Krankheitsauffassung deutlich: »Für Ihren Brief vom 27.5., der erst am 13. 6. 1938 in unseren Besitz kam, sagen wir besten Dank. Wir können leider Ihre Auffassung bezüglich der Ursache der Erkrankung Ihrer Tochter nicht teilen. Wir haben vielmehr eindeutige Anhaltspunkte dafür, dass es sich hier um eine geistige Erkrankung ernsterer Art handelt. Aus diesem Grunde kann der Entlassungsfrage auch erst dann näher getreten werden, wenn das Erbgesundheitsgericht vorher zu der Erkrankung, die als Erbkrankheit im Sinne des Gesetztes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses gewertet werden muss, Stellung genommen hat. Es ist daher auch unerlässlich, dass wir früher entstandene Krankenakten zur Beur404 Ibid. Brief der Mutter an den betreuenden Arzt in Alzey vom 25. 05. 1938. 405 Ibid. 406 Ibid.
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Lebensgeschichten
teilung des Falles heranziehen. Wir können verstehen, dass Sie als Mutter nach äusseren Ursachen für den sogenannten Nervenzusammenbruch suchen. Wir müssen Sie aber leider darauf aufmerksam machen, dass die Ursache, die Sie anführen, lediglich als Begleitsymptom zu bewerten ist, als ein krankhafter Schub der geistigen Störung, an der Ihre Tochter leidet. Unsere Auffassung über die Erkrankung wird durch die Tatsache der früher durchgemachten Erkrankung in München, über die wir genau unterrichtet sind, nur noch bestärkt.«407
Zwar wird der Antrag auf ihre Unfruchtbarmachung erst einen Monat nach diesem Schreiben am Erbgesundheitsgericht gestellt. Ein Zweifel an der Antragsstellung scheint es aber zu diesem Zeitpunkt für die ärztliche Leitung schon nicht mehr gegeben zu haben. Die Abläufe der Sterilisationsverfahren waren 1938 vier Jahre nach dem Inkrafttreten des GzVeN bereits zu verfestigt. Ihr Unverständnis über dieses Vorgehen drückt Martha T.s Schwester in einem Brief an die Anstaltsleitung vom 21. Juni aus: »Meine Schwester Martha T. ist seit 6 Wochen in ihrer Anstalt untergebracht. Obwohl sich anscheinend bei ihrem dortigen Aufenthalt keinerlei Anzeichen einer »Geisteskrankheit« gezeigt haben, mussten Sie sich dem Urteil der »Mainzer Ärzte« anschließen und auf diese Weise fällt also meine Schwester unter die Kategorie »Erbkrank«.«408
Weiterhin verlangt ihre Schwester zumindest die Verlegung in ein näheres Krankenhaus, aber auch dieses Anliegen wird von der Anstaltsleitung abgelehnt und am 18. Juli schließlich der Antrag auf Unfruchtbarmachung von Martha T. gestellt. Zur Begründung führt das ärztliche Gutachten auch die familiären Verhältnisse an: »Nach den Akten des Wohlfahrtsamtes München geniesst die Mutter keinen guten Ruf. Macht den Eindruck einer Publika. Eine Großtante mütterlicherseits, Name nicht zu ermitteln, habe zeitweise an »Verfolgungswahn« gelitten. Eine Schwester der Patientin, Hildegard T. 23 Jahre alt, hat 2 uneheliche Kinder.«
Weiter werden die Befunde der psychiatrischen Abteilungen von Mainz und München zitiert und die »Krankheitsuneinsichtigkeit« von Martha als Symptom von »schizophrenen Rest- und Defekterscheinungen« gedeutet, so dass »an der Diagnose Schizophrenie keine Zweifel aufkommen«.409 Die Vernehmung findet am 26. Juli statt. Martha T. zeigt sich dabei mit ihrer Unfruchtbarmachung weiterhin nicht einverstanden und gibt an, dass sie nicht an einer Erbkrankheit leide. Am 8. September ergeht ihr Sterilisationsbeschluss, der vom Gericht am 16. September, sechs Tage vor Ablauf der gesetzlichen Einspruchsfrist, für rechtskräftig erklärt wird. In einem Zusatz heißt es im Urteil 407 Ibid. Antwortschreiben der Heil- und Pflegeanstalt Alzey vom 17. 06. 1938. 408 Ibid. Brief der Schwester Auguste B. vom 21. 06. 1938. 409 Ibid. Ärztliches Gutachten vom 08. 07. 1938.
Alzey
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explizit: »Die Unfruchtbarmachung kann auch gegen den Willen der Unfruchtbarzumachenden ausgeführt werden.«410 Über Martha T.s zwischenzeitlichen Anstaltsalltag ist in der Akte nichts dokumentiert. Erst am Tag ihrer Überweisung nach Mainz findet sich wieder ein ärztlicher Eintrag: »Wird heute zur Unfruchtbarmachung in die Hebammenlehranstalt Mainz verlegt.«411 Als eine der letzten aus der Heil- und Pflegeanstalt Alzey nach Mainz zur Sterilisation überwiesenen Frauen wird sie dort am 30. September durch Prof. Wehefritz unfruchtbar gemacht und vier Wochen später als »geheilt« nach Hause entlassen.
410 Ibid. Sterilisationsbeschluss vom 08. 09. 1938. 411 Ibid. Krankengeschichte, Eintrag vom 27. 09. 1938.
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4.2
Lebensgeschichten
»Philippshospital« Riedstadt Goddelau
Die sieben Frauen der Heil- und Pflegeanstalt »Philippshospital«, deren Lebensgeschichten hier näher dargestellt werden, wurden ebenso wie die Psychiatrieinsassinnen der Anstalt Alzey zufällig aus dem Aktenmaterial der Hebammenlehranstalt in Mainz ausgewählt. Sie sind in der Reihenfolge ihres Operationsdatums chronologisch aufgeführt.
»Philippshospital« Riedstadt Goddelau
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4.2.1 Helene W.
Abbildung 22: Foto Helene W.
»Lieber Nickel, sei doch so gut und hole mich hier raus. So geht es mir doch ganz gut.«
Geboren 1900 Zwangssterilisiert in Mainz 1934 Verstorben im »Philippshospital« 1938 Um 11:45 Uhr am 5. April 1931 betritt Helene W. in Begleitung ihres Ehemanns Nikolaus W. zum ersten Mal die Heil- und Pflegeanstalt »Philippshospital« Riedstadt. Der Einweisungsgrund ist ihr vermehrt auftretendes Krampfleiden, das sich nach der Geburt des letzten Kindes gehäuft hatte und das sie bis zu ihrem Tod sieben Jahre später noch drei weitere Male nach Riedstadt bringen wird. Der Amtsarzt des zuständigen Gesundheitsamtes Offenbach notiert auf ihrem Einweisungszeugnis: »Eltern und 6 Geschwister der Patientin gesund, keine erbliche Belastung. […] Seit 1920 verheiratet. 5 ausgetragene Kinder mit 11, 9, 7, 5 und 2 Jahren.« Als Grund für die Anstaltsunterbringung ist in seinem Gutachten »Gefahr der Verwahrlosung« festgehalten.412 In der Aufnahmeanamnese nimmt der zuständige Anstaltsarzt die Angaben von Nikolaus W. zum Krankheitsverlauf seiner Ehefrau auf:
412 Archiv des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen, Bestand 18, Patientenakte, Einweisungszeugnis vom 31. 03. 1931.
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Lebensgeschichten
»War gesund bis vor neun Jahren nach der zweiten Geburt. Sechs Wochen nach Heimgeburt trat eine halbseitige Lähmung rechts auf, die nach einigen Wochen wieder verschwand. Alle folgenden Geburten verliefen normal. Seit der zweiten Geburt treten nun Krämpfe auf, eher alle Monate, gegen die Zeit hin, in welcher die nun fehlende Menstruationsblutung auftreten soll. Die Krämpfe treten meist nachts ein, gehen in Schlaf über, […]. In Letzter Zeit nach den Anfällen öfters erregt, verwirrt […]. Erhielt 3 +2 Luminaltabletten anscheinend als Dauerverordnung.«413
Nach der körperlichen Untersuchung, die keinen pathologischen Befund erbringt, wird Helene W. in den Wachsaal 4a gebracht, wo sie sich laut des Pflegeberichts die ersten Tage in ihrer neuen Umgebung ruhig verhält. Sie beschwert sich zwar über das Essen und über ihre Unterbringung, fügt sich aber ansonsten in ihr Schicksal, auch wenn ihr die zwangsweise Unterbringung zu widerstreben scheint: »Patientin äußerte wiederholt, sie könnte hier nicht bleiben, sie würde nur noch kränker werden.«414 Am 10. April erreicht ein Brief von Helene W.s Schwester die Anstalt, in welchem diese um Auskunft über das Befinden ihrer Schwester bittet.415 Die Antwort der Klinik ist knapp gehalten: »Hat sich einigermaßen eingelebt. Bisher keine der von ihr beklagten Anfälle gehabt.«416 Im laufenden Arztbericht heißt es weiter: »Schlief in der ersten Zeit ihrer Aufnahme auffallend gut. Die Luminaldosis wurde darum auf 0,1 pro Tag reduziert. Ist in leicht gereizter Stimmung, verträgt sich mit der Umgebung nicht recht. Etwas unzufrieden und anspruchsvoll. Gibt heute auf Befragen an: Sie wisse erst seit gestern, wo sie sei. Will auch nichts mehr davon wissen, dass sie im Stadtkrankenhaus in Offenbach gewesen ist. […] Erzählt sie habe vor Jahren einen Schlaganfall mit rechtsseitiger Lähmung gehabt. […]. Seit der 5. Entbindung – so gibt sie an, in dem Fragebogen und nach Aussagen des Mannes soll es nach der 2. Entbindung gewesen sein – sollen die Menses cessiert haben und Anfälle gegen die Zeit der zu erwarteten aber ausbleibenden Menses hin bei ihr eintreten.«417
Über Helene W.s Lebensgeschichte erfahren wir wenig: »Hat die Schule in Offenbach besucht, will gut gelernt haben. Seit zehn Jahren verheiratet, Ehe scheint nicht besonders glücklich zu sein, war vor dieser schon einmal verlobt.«418 Auch wenn sich Helene W.s Angaben zu ihrem Krankheitsbeginn in der ärztlichen Dokumentation widersprechen, kann sie doch sehr genau die Aurasymptomatik schildern, welche ihren Krampfanfällen vorausgeht:
413 414 415 416 417 418
Ibid., Krankengeschichte, Eintrag vom 05. 04. 1931. Ibid., Pflegebericht, Eintrag vom 14. 04. 1931. Ibid., Brief der Schwester vom 10. 04. 1931. Ibid., Antwortschreiben vom 11. 04. 1931. Ibid., Krankengeschichte, Eintrag vom 13. 04. 1931. Ibid.
»Philippshospital« Riedstadt Goddelau
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»Aus den Angaben der Kranken geht nicht klar hervor, wann der Schlaganfall war, sie bringt ihn in Verbindung mit dem letzten Wochenbett, vor zwei Jahren, nachdem auch die Menses weggeblieben sein, und die Krämpfe aufgetreten sein sollen. Sie behauptet aber mit Bestimmtheit, dass die Krämpfe hauptsächlich dann bei ihr auftreten, wenn es gegen die Zeit der Menses hin gehe, und dass sie um diese Zeit auch stets an Ausfallserscheinungen leide, an Hitze und Frostgefühl, Wallungen nach dem Kopf und einem eigentümlichen Gefühl in diesem, als ob ihr darauf gehämmert werde.«419
Drei Tage später wird Helene W. von den von ihr beschriebenen Kopfschmerzen geplagt und hat kurz darauf zwei generalisierte Krampfanfälle, deren genauer Ablauf in der Krankengeschichte nicht weiter beschrieben wird. Kurz darauf wird sie am 16. Mai von ihrem Ehemann gegen den ausdrücklichen ärztlichen Rat nach Hause zurückgeholt, da er anscheinend ebenfalls glaubt, dass sie in der Anstalt nicht adäquat versorgt wird. Die erneute Aufnahme von Helene W. erfolgt allerdings bereits vier Monate später am 17. September 1931, an welchem sie zum zweiten Mal vom Gesundheitsamt Offenbach in die Heil- und Pflegeanstalt Riedstadt eingewiesen wird. Auf dem Einweisungszeugnis bescheinigt der Amtsarzt wieder die Gefahr der Verwahrlosung für sie selbst und ihre Kinder.420 Über ihren Anstaltsalltag im Wachsaal 4a gibt die Pflegedokumentation nur wenige Auskünfte. Helene W. verhält sich ruhig und arbeitet in der Gemüseküche mit. Teilweise ist sie »sehr niedergeschlagen« und hat weiterhin zwischenzeitliche Anfälle.421 In den Arztberichten finden sich jetzt bereits nur noch kurze Notizen zu Helene W.s Krankheitsverlauf: »Ruhig, wenig auffällig, meist für sich, umständlich vor allem bei ihrer Arbeit, geistig wenig regsam. Dem Arzt gegenüber ein starkes Ablehnungsbedürfnis. Vor einigen Tagen nachts wiederum ein typischer epileptischer Anfall.«422
Und weiter: »Gestern nacht erneut ein Anfall, kein Zungenbiss, kein Einnässen, kein Dämmerzustand. Im ganzen reserviert, freundlich und verträglich. Egozentrisch eingestellt. Durch andere Patienten leicht beeinflussbar, kommt leicht ins Hetzen, wenn sie mit mehreren anderen Kranken zusammen ist.«423
Kurz vor Weihnachten wird Helene W. erneut aus der Anstalt entlassen und von ihrem Mann nach Hause geholt. Sie gilt vorerst als beurlaubt und soll fortan an die Außenfürsorgestelle der Anstalt in Offenbach angebunden werden. Dort findet sie sich in Begleitung ihres Ehemannes Anfang des Jahres 1932 mehrfach 419 420 421 422 423
Ibid. Ibid., Einweisungszeugnis vom 14. 09. 1931. Ibid. Pflegedokumentation vom 21. 09. 1931 und 26. 09. 1931. Ibid., Krankengeschichte, Eintrag vom 20. 11. 1931. Ibid., Eintrag vom 11. 12. 1931.
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Lebensgeschichten
ein. Da ihre Anfälle aber weniger werden, wird sie am 2. Februar 1932 als gebessert entlassen.424 Bis zu Helene W.s dritter Aufnahme in Riedstadt vergehen nun eineinhalb Jahre. Am 27. September 1933 stellt ihr der zuständige Amtsarzt »nach einer langanhaltenden objektiven wie auch subjektiven Besserung« einen erneuten Einweisungsschein aus, auf dem ausdrücklich vermerkt ist, dass sie mit der Unterbringung einverstanden sei.425 Die körperliche Untersuchung des aufnehmenden Arztes in Riedstadt zeigt einen weitestgehend ähnlichen Zustand, wie bei Helene W.s Voraufenthalten und auch der psychopathologische Befund ähnelt den Vorberichten: »Bietet ungefähr die gleichen Züge wie während ihres ersten Aufenthalts. Schwächlich, hat immer gewisse Klagen, findet sich nicht leicht in die neue Umgebung ein, aber im ganzen durchaus lenksam, freundlich und entgegenkommend.«426
Der Ton der ärztlichen Dokumentation zeigt sich aber jetzt verändert: »Schreibt einen salbungsvollen, klebrigen Brief an ihren Mann, trägt darin an alle Leute Grüsse auf, drückt sich umständlich dabei aus, erzählt in schwachsinniger Weise von ihren Freundschaften, die sie hier geschlossen habe (schwachsinnige Patientin). Bei der Visite immer dement euphorisch, klebrig, umständlich, bringt immer etwas vor, um den Arzt ansprechen zu können.«427
Den Rest des Jahres 1933 verbringt Helene W. in Riedstadt. Sie ist abwechselnd in der Gemüseküche und im Nähsaal beschäftigt und hat weiterhin regelmäßige epileptische Anfälle. Über diesen Zeitraum ist die pflegerische Dokumentation nicht mehr in den Akten erhalten und die wenigen kurzen ärztlichen Einträge schildern einen unauffälligen Verlauf. Am 8. Januar 1934 ersucht Nikolaus W. um die erneute Entlassung seiner Frau nach Hause: »Möchte Sie höflichst davon in Kenntnis setzen, daß ich am 12. Januar meine Frau Helene W. aus der Anstalt abholen möchte. Ich bin nach 6 monatlicher Notstandsarbeit wieder erwerbslos geworden, und kann mich nun, da ich zu Hause bin, wieder um meine Frau kümmern. Deshalb möchte ich Sie höflichst bitten alles zur Entlassung vorzubereiten, damit ich den Weg nach dort nicht eventuell umsonst gemacht habe.«428
Nach Inkrafttreten des GzVeN war Helene W.s Entlassung zu diesem Zeitpunkt aber an ihre Unfruchtbarmachung gebunden, wie es dementsprechend auch im Antwortschreiben der Klinik zwei Tage später heißt: 424 425 426 427 428
Ibid., Eintrag vom 21. 12. 1931, 06. 01. 1932 und 02. 02. 1932. Ibid., Einweisungszeugnis vom 27. 09. 1933. Ibid., Krankengeschichte, Eintrag vom 19. 10. 1933. Ibid., Eintrag vom 17. 10. 1933. Ibid., Brief von Nikolaus W. vom 08. 01. 1934.
»Philippshospital« Riedstadt Goddelau
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»Sehr geehrter Herr W. Auf Ihr Schreiben vom 8. des Monats muss ich Ihnen leider mitteilen, dass wir zu einer Entlassung Ihrer Ehefrau vorläufig unsere Zustimmung noch nicht geben können, da bei Ihrer Ehefrau die Voraussetzungen des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses gegeben sind. Nach gesetzlicher Vorschrift sind wir gehalten erst dann Ihre Ehefrau zu entlassen, wenn bei Ihr die Sterilisation vorgenommen worden ist. Wir bitten Sie daher höflichst von Ihrem Ansinnen, Ihre Ehefrau heimnehmen zu wollen, Abstand nehmen zu wollen.«429
Die ärztliche Dokumentation zu Helene W.s weiterem Anstaltsaufenthalt enthält nur noch zwei kurze Einträge. Am 29. Januar, also gut drei Wochen nach dem Entlassungsgesuch von Nikolaus W., vermerkt der zuständige Arzt: »Seither wieder mehrere Anfälle mit anschliessendem Dämmerzustand. Wegen der Sterilisation wird Rücksprache mit der Kranken selbst und dem Ehemann genommen. Beide sind damit einverstanden. Die Ehefrau will selbst den Antrag stellen.«430
Am 10. Februar stellt Helene W. den Antrag auf ihre Unfruchtbarmachung, um eine Entlassung aus der Anstalt nach Hause zu ihrem Ehemann und ihren Kindern zu erwirken. Bis zum Gerichtsbeschluss am 29. März 1934 vergehen weitere sechs Wochen. Dort heißt es: »Frau W. leidet nach eingehend begründetem fachärztlichen Gutachten des Abteilungsarztes Dr. Schönmehl von Goddelau an angeborener Epilepsie, ist also im Sinne des § 1 des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. 7. 1933 erbkrank.«431
Weder das ärztliche Gutachten noch die Dokumentation der Gerichtsverhandlung sind in den Krankenakten erhalten, so dass nicht klar ist, unter welchen Voraussetzungen die Diagnose einer »angeborenen Epilepsie« bei ansonsten unauffälliger Familienanamnese gestellt wurde. Am 13. April erklärt Helene W. ihr Einverständnis mit der geplanten Unfruchtbarmachung. Sie wird am 4. Mai nach Mainz in die Hebammenlehranstalt überführt und gilt daraufhin in Riedstadt als entlassen.432 Drei Tage später wird sie in Mainz von Obermedizinalrat Puppel durch eine vollständige Entfernung beider Eileiter mit einer Keilresektion des Uterus unfruchtbar gemacht und am 22. Mai nach Hause entlassen.433 Bis zu Helene W.s letzter Einweisung nach Riedstadt vergehen nun über vier Jahre. Sie besucht unregelmäßig die Außenfürsorgestelle der Klinik in Offenbach und lebt zu Hause bei ihrem Mann und ihren Kindern. Die Anfälle scheinen
429 430 431 432 433
Ibid., Antwortschreiben der Anstaltsleitung vom 10. 01. 1934. Ibid., Krankengeschichte, Eintrag vom 29. 01. 1934. Ibid., Beschluss des Erbgesundheitsgerichtes Offenbach vom 29. 03. 1934. Ibid., Krankengeschichte, Eintrag vom 04. 05. 1934. Ibid., Sterilisationsbericht vom 22. 05. 1934.
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weniger und besser beherrschbar geworden zu sein, wie auch eine kurze ärztliche Notiz in der Krankenakte vermerkt.434 Am 25. Oktober 1938 wird Helene W. zum vierten Mal in der Heil- und Pflegeanstalt aufgenommen. Sie ist für die Überführung aus dem Stadtkrankenhaus Offenbach narkotisiert worden und bei ihrer Aufnahme noch unter der Narkosewirkung: »Patientin wird heute von der Fürsorgerin Groas und dem Armenpfleger Bergmann hier eingeliefert. Die Patientin steht unter der Wirkung einer Pantopon-ScopolaminInjektion, die sie um 8:30 Uhr erhalten hat. Bericht der Fürsorgerin: Die Patientin sei in den letzten vier Jahren seit ihrer Entlassung häufiger zu ihr in die Sprechstunde gekommen. Es habe mit der Patientin ganz gut gegangen, bis etwa vor einem viertel Jahr, da haben sich die Anfälle wieder gehäuft. Vor einer Woche fiel der Fürsorgerin auf, dass die Patientin bei der Unterhaltung schlecht zu fixieren war. Sie Sprang immer wieder vom Thema ab. Jetzt wird die Patientin vom Stadtkrankenhaus Offenbach überführt.«435
Das Einweisungszeugnis des Amtsarztes vermerkt jetzt zum ersten Mal die Diagnose einer »Psychose«, wegen der sie bereits 1933 schon einmal behandelt gewesen sein soll, für die sich aber keine Nachweise in der ärztlichen Dokumentation finden lassen. »Seit vier Tagen Krämpfe mit Bewusstlosigkeit. Kein Schaum vor dem Mund, kein Zuckungen, kein Zungebiss. Patientin bietet hier das Bild einer Demenz mit Neigung zu Erregungszuständen. Diagnose: Epilepsie? Verblödung mit Neigung zu Erregungszuständen.«436
Helene W. wird auf Abteilung 9 gebracht und schläft dort bis gegen Mittag des nächsten Tages. Dass sie wieder in Riedstadt ist, ist ihr noch nicht bewusst. Sie glaubt sich noch in Offenbach und gibt an, sie möchte gerne wieder nach Hause zu ihren Kindern.437 Sie hat in den nächsten Tage zwei epileptische Anfälle, ist weiter »örtlich und zeitlich nicht orientiert, kümmert sich um nichts und redet mit niemand.«438 Sie wird im Nähsaal beschäftigt, doch ihr Zustand verschlechtert sich weiter, so dass jetzt mehrmals in der Woche ein »schwerer epileptischer Anfall« vom Pflegepersonal dokumentiert wird. »Schwesternbericht: Patientin war in letzter Nacht sehr unruhig, schlief kaum, lief öfters nach dem Klosett oder suchte in den Betten der anderen Kranken nach ihrem Mann, sagte: »Ich habe ihn doch soeben noch gesehen.« Rief lauf seinen Namen und er solle sie sofort hier rausholen.«439 434 435 436 437 438 439
Ibid., Krankengeschichte, Eintrag vom 05. 02. 1936. Ibid., Eintrag vom 25. 10. 1938. Ibid., Einweisungszeugnis vom 24. 10. 1938. Ibid.; Pflegedokumentation, Eintrag vom 26. 10. 1938. Ibid., Krankengeschichte, Einträge vom 28. 10. 1938 und 29. 10. 1938. Ibid., Eintrag vom 18./19. 11. 1938.
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Welche ärztlichen Maßnahmen zur Therapie des sich verschlechternden Zustands von Helene W. getroffen werden, ist in der Krankengeschichte nicht exakt festgehalten. Drei Tage später ist in der ärztlichen Dokumentation allein ein weiterer Anfallsbericht zu lesen: »Gestern früh sehr ängstlich, weinte, gab an, alles schwarz und doppelt zu sehen, wegen ihrer Benommenheit Bettlage. Gegen Mittag innerhalb einer Viertelstunde zwei schwere Anfälle, danach völlig benommen, zeigte lebhaften Spontannystagmus und dauernde leichte Zuckungen der Arme. Im Laufe des Nachmittags 18 Anfälle, deswegen Clystier mit 4 C, danach vorübergehend ruhig, während der vergangenen Nacht – soweit einzeln feststellbar – weitere 25 Anfälle. Gestern und heute erfolgte keine Nahrungsaufnahme.«440
Am Folgetag ist Helene W. noch einmal für einen kurzen Augenblick wach und schafft es unter Hilfe etwas Milch zu sich zunehmen. Am 24. November erliegt sie im Alter von 38 Jahren ihrem Krampfleiden in einem »Status epilepticus«, wie es im Autopsiebericht vermerkt ist.441
440 Ibid., Eintrag vom 22. 11. 1938. 441 Ibid., Eintrag vom 23. 11. 1938, 24. 11. 1938 und 25. 11. 1938.
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Lebensgeschichten
4.2.2 Margarete S.
Abbildung 23: Foto Margarete S.
»Es kommt alles an den Tag, man wird schon sehen.«
Geboren 1901 Zwangssterilisiert in Mainz 1934 Verstorben im »Philippshospital« 1958 Im Alter von 32 Jahren wird Margarete S. am 14. Januar 1933 zum ersten Mal in die Landes-Heil- und Pflegeanstalt »Philippshospital« bei Goddelau eingewiesen. Insgesamt verzeichnet ihre Krankengeschichte noch zwei weitere Aufenthalte bevor sie mit 57 Jahren in der Anstalt verstirbt. In der ärztlichen Eingangsuntersuchung ergibt sich kein auffälliger körperlicher Befund. In der psychischen Exploration dokumentiert der aufnehmende Arzt: »Nicht voll orientierte Kranke in leicht gehobener Stimmung. Gibt Tag und Tageszeit ihrer Ankunft falsch an, erscheint äusserlich geordnet. Erklärt weitschweifig warum sie es für besser halte, in dieser Zeit nicht zu heiraten. Bedankt sich nach der Untersuchung überschwänglich.«442
Als Diagnose ist auf dem Deckblatt ihrer Krankengeschichte »Genuine Epilepsie« vermerkt. Laut Margarete S. Einweisungszeugnis bestanden bei ihr seit einer Hirnhautentzündung im zweiten Lebensjahr Krämpfe und Anfälle. Ihre Mutter macht dem einweisenden Arzt dazu folgende Angaben: »Im Anschluss an ihre letzte Periode war die Patientin geistesabwesend, zeitweise erregt und sehr ängstlich.«443 442 Archiv des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen, Bestand 18, Patientenakte, Krankengeschichte, Eintrag vom 16. 01. 1933. 443 Ibid. Einweisungszeugnis vom 14. 01. 1933.
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Sie habe danach zahlreiche, fortlaufende epileptische Anfälle gehabt, gegen die sie Luminal erhalten habe. Aus Gründen ihrer eigenen Sicherheit und der ihrer Umgebung wird sie daraufhin in das »Philippshospital« eingewiesen. Es seien keine weiteren erbliche Krankheiten in ihrer Familie bekannt.444 Nach Margarete S. Aufnahmeuntersuchung wird sie im Wachsaal 4a untergebracht. Die erste Nacht verbringt sie dort beinahe schlaflos, bleibt weitestgehend für sich und antwortet auf Fragen nur einsilbig oder gar nicht, wie die zuständigen Schwestern im Pflegebericht dokumentieren.445 Einen Tag nach ihrer Aufnahme muss sie dann aber bereits aufgrund von heftigem Widerstand gegen das Pflegepersonal in das Dauerbad gebracht und anschließend sediert werden: »Fräulein S. kam gegen 3 Uhr sehr erregt in den Saal, schlug, als sie ausgezogen werden sollte, auf die Schwestern ein und ließ sich nur mit Mühe in das Bett bringen. Das angebrachte Mieder streifte sie nach kurzer Zeit ab, schlug nach den Schwestern und lief nackt im Saal umher. Die Kranke wurde für einige Zeit in das Bad gebracht, nach einer Injektion zurück in das Bett. Sie schlief bis zur Ablösung.«446
Am Morgen des 18. Januar, vier Tage nach ihrer Aufnahme, hat sie einen ersten Anfall in der Anstalt: »Heute morgen plötzlich einsetzender Ohnmachtsanfall, ohne besondere Vorboten, fiel vom Stuhl, verfärbte sich, schlechter Puls. Der Anfall ging später in Schlaf über. Während des Anfalls bestand nur leichtes Zähneknirschen, sonst keine Krämpfe. Die Kranke scheint seit mindestens einer Woche wieder verändert zu sein, sie wurde zu Hause gewalttätig, scheint auch ängstlich verstimmt gewesen zu sein. Nach ihrer Behauptung hat sie schon jahrelang Anfälle, mit 2 Jahren scheint sie eine Encephalitis gehabt zu haben. Seit dieser Zeit sollen die Anfälle bestehen, sie treten mit Vorliebe gegen die Zeit der Menses hin auf. Nach dem Anfall schlief sie, schlief die ganze Nacht durch. Für die Anfälle scheint Amnesie zu bestehen, wenigstens in der Mehrzahl der Fälle. Zungenbiss und Einnässen. War in Behandlung von Dr. Schuchhardt, hat Tabletten, wahrscheinlich Luminal bekommen. Patientin ist sehr gesprächig, dabei umständlich in ihrer Schilderung, kindlich selbstgefällig, örtlich und zeitlich orientiert. Sie ist von schlankem Körperbau, mittelkräftig, wird nun 31 Jahre alt [sic]. Hat 3 Schwestern und 2 Brüder, ein Bruder habe »hinten unten am Rücken etwas gehabt«, das sei operiert worden, er sei daran gestorben. Sie sei die einzige Krampfleidende in der Familie. Der Vater, jetzt Invalide, war gegen 40 Jahre lang zuletzt als Rottenführer an der Bahn beschäftigt. Die Mutter habe es mit der Luft zu tun (Mutter ist schwachsinnig vergl. ihre Krankengeschichte.) Sie litt von Kindheit an an Kopfschmerzen und Erbrechen, das hat jetzt nachgelassen. Von Beruf ist sie Schneiderin, rühmt ihre Kenntnisse, zuhause seien alle neidig auf sie.«447 444 445 446 447
Ibid. Ibid., Pflegebericht, Einträge der Nachtberichte vom 14. 01. 1933, 15. 01. 1933. Ibid., Eintrag vom Tagbericht 15. 01. 1933. Ibid., Krankengeschichte, Eintrag vom 18. 01. 1933.
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Lebensgeschichten
Fragen zur Zeit und geschichtlichen Ereignissen kann sie dem Arzt ohne weiteres beantworten und auch die Grundrechenarten beherrscht sie ohne Probleme wie der explorierende Arzt notiert.448 Über die angewandten medikamentösen Therapien gibt die Krankengeschichte keine Auskünfte. Margarete S. wird in den folgenden Tagen im Nähsaal mit Stricken oder Nähen beschäftigt. Bereits vier Wochen nach ihrer Aufnahme versucht ihr Vater, als ihr gesetzlicher Vormund, Margarete S. wieder nach Hause zu holen. Schriftlich wendet er sich dazu an die ärztliche Leitung der Anstalt: »Sehr geehrter Herr Oberarzt, ich möchte Herrn Oberarzt höflich um Auskunft bitten, wie es meiner Tochter geht, sollte sich ihr Leiden gebessert haben, was Sie Herr Oberarzt ja am besten beurteilen können, sollte ich dieselbe […] bis Dienstag den 14. des Monats nach Hause nehmen können, so schreiben Sie mir bitte.«449
Nach Ansicht der Ärzte ist eine Entlassung noch nicht möglich. Da Margaretes Vater aber ein Revers unterzeichnet, wird sie am 17. Februar 1933 gegen ärztlichen Rat nach Hause beurlaubt. Vier Wochen später wird sie im März wieder in die Anstalt gebracht. In der Krankengeschichte heißt es dazu: »Kam am 20. in Begleitung des Vaters aus dem Urlaub zurück. Nach elterlichem Bericht war der Aufenthalt im Haus nur die ersten Tage möglich. Dann war S. erneut verwirrt, schlief nicht, aß nicht, rief heut besonders Männer von der Straße hinein, äußerte die Absicht zu heiraten. Drohte der Mutter sie zu schlagen.«450
Sie wird wieder auf Wache 4a untergebracht. Eine Pflegedokumentation ist aus dieser Zeit in der Akte nicht mehr auffindbar und auch die ärztlichen Berichte sind knapp gehalten. Laut den behandelnden Ärzten beruhigt sich Margerete S. in der Anstalt wieder. Sie nimmt zeitweise an Beschäftigungen und Arbeiten teil, hat aber immer wieder epileptische Anfälle und »Erregungszustände«, die mit strikter Bettlage therapiert werden. Am 18. Juli wird sie erneut von ihrem Vater gegen ärztlichen Rat nach Hause geholt. Am 16. August verzeichnet der letzte Eintrag des Jahres: »Nachricht ist bis heute nicht eingetroffen. Wird heute vom Tage der Beurlaubung an wenig gebessert entlassen.«451 Es vergehen über sechs Monate bis Margarete S. wieder im »Philippshospital« vorstellig wird. Am 24. Januar 1934 kommt sie gegen frühen Abend zur Aufnahme in die Anstalt: »Kommt um 17.45 Uhr in Begleitung von Mutter und Schwager in die Anstalt. Ziemlich erregt, berichtet von einem jungen Mann, zu dem sie Beziehungen habe. Begleiter geben 448 449 450 451
Ibid. Ibid., Brief des Vaters vom 09. 02. 1933. Ibid., Krankengeschichte Eintrag vom 25. 03. 1933. Ibid., Eintrag vom 16. 08. 1933.
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an: Es sei bisher ganz gut gegangen. […] Nach Bericht der Mutter seit ca. 8 Tagen unruhiger. Sie habe wegen der Heirat ihres Bruders ihr Zimmer aufgeben müssen, was sie geärgert habe. Eine ärztliche Beurteilung fand bisher nicht statt. Patientin nahm keine Arznei. Hatte angeblich nur ein Mal seit der Entlassung einen Anfall, war »sehr verträglich« half im Haus. Patientin protestiert entschieden gegen die Aufnahme, beginnt verworren zu schwätzen.«452
Die ärztliche Dokumentation ist bei ihrem zweiten Aufenthalt nur noch sehr spärlich. In den ersten Tagen nach ihrer Ankunft werden keine epileptischen Anfälle verzeichnet. Margarete S. wird aber weiterhin als »unruhig« und »verworren« beschrieben. »Sie kommt immer wieder auf ihre Beziehung zu einzelnen Burschen zurück.«453 Fünf Tage nach ihrer Aufnahme notiert der zuständige Arzt zu ihrem psychischen Verhalten: »Patientin ist über alles gut orientiert. Sie ist in euphorischer Stimmung, sie kommt aber den Aufforderungen des Arztes nur teilweise nach. Gleich zu Beginn der Untersuchung fragt sie, ob man hier einen Mann für sie wüsste, sie wolle heiraten, sie sei überhaupt nur nochmals in die Anstalt gekommen, um den anderen Insassen zu helfen, die hier unrechtmässig festgehalten würden, um von den Schwestern gepeinigt zu werden, aber es komme alles an den Tag, man würde schon sehen. Letzteren Satz wiederholt sie viele Male während der Untersuchung.«454
Besuch von ihren Angehörigen ist für diesen zweiten Aufenthalt nicht dokumentiert. Die einzigen vier kurzen, ärztlichen Einträge in der Krankengeschichte beschreiben Margarete S. als deutlich »bewusstseinsgetrübt, unleidlich und gereizt«.455 Im vorletzten Eintrag des Jahres heißt es dort weiter: »Sehr schwierige Kranke, oft verändert und umdämmert, dann wieder sehr gereizt und laut, schreit und schimpft in den gemeinsten Ausdrücken, sodass sie sehr lästig für ihre Umgebung ist.«456
Zwei Wochen später bricht die ärztliche Dokumentation in der Krankengeschichte ab. Auch das ärztliche Gutachten zur Begründung von Margarete S.’ Sterilisationsverfahren fehlt in der Krankenakte. Der genaue Ablauf des Verfahrens lässt sich daher nur aus den Abschriften der Gerichtsunterlagen rekonstruieren. Für den 6. Juli ist die Aufklärung über die Antragsstellung beim Erbgesundheitsgericht Offenbach dokumentiert. Die Beschlussfindung erfolgt am 30. August 1934. In der Urteilsbegründung heißt es: »Das Verfahren wurde auf Antrag des Kreisarztes zu Offenbach am Main wegen erblicher Fallsucht eingeleitet. Das Gutachten eines der Ärzte der Landes Heil- und Pfle452 453 454 455 456
Ibid., Eintrag vom 24. 01. 1934. Ibid., Eintrag vom 27. 01. 1934. Ibid., Eintrag vom 30. 01. 1934. Ibid., Vgl. Eintrag vom 09. 02. 1934. Ibid., Eintrag vom 17. 04. 1934.
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geanstalt Philippshospital bei Goddelau hat diesen Befund eindeutig bestätigt. Hieraus, sowie aus den von der Bürgermeisterei in L. angestellten Ermittlungen ergibt sich, dass die Mutter schwachsinnig und ein Verwandter derselben in der vorgenannten Anstalt untergebracht ist. Die Erbkranke selbst war bereits im Jahre 1933 in genannter Anstalt untergebracht. Eine im zweiten Lebensjahr angeblich erlittene Hirnhautentzündung als eventuell exogene Verursachung zu werten, dafür besteht angesichts der Krankheit der Mutter und eines Verwandten, sowie des typischen Krankheitsbildes bei der Erbkranken keine Veranlassung. Vorgenannte Umstände ergeben zusammen mit der nach den Erfahrungen der ärztlichen Wissenschaft feststehenden sehr hohen Erbkraft der Epilepsie (vergl. Gütt, Verhütung S.86f., 104ff.) die hohe Gefahr des erbkranken Nachwuchses im Sinne von §13 Abs. 1 des Gesetzes.«457
Die in Margarete S.’ ärztlichem Einweisungszeugnis festgehaltene Hirnhautentzündung gilt dem Gericht nicht als exogene Ursache, welche laut GzVeN ein Sterilisationshindernis gewesen wäre. Die Erblichkeit der Erkrankung ist für das Gericht durch den Befund des »Schwachsinns« der Mutter und der Anstaltsunterbringung eines weiteren ungenannten Verwandten ausreichend bewiesen. Am 29. September 1934 wird Margarete S. durch die Unterbindung beider Eileiter in der Hebammenlehranstalt Mainz unfruchtbar gemacht und anschließend am 25. Oktober in die Provinzial-Pflegeanstalt Eberstadt entlassen, wo sich ihre Spur vorerst verliert.458 Der nächste Eintrag in Margarete S.’ Krankenakte im »Philippshospital« datiert auf den Abend des 16. April 1951, an dem sie erneut in die Anstalt eingewiesen wird: »Laut redend betritt Patientin das Untersuchungszimmer. Aufgefordert sich zur Untersuchung zu entkleiden, ist sie sehr umständlich und unbeholfen, so dass die Schwester zugreifen muss. Während der internistischen Untersuchung liegt sie recht unruhig auf dem Untersuchungstisch, beginnt immer wieder zu reden und kann nur für kurze Zeit dazu bewogen werden, still zu sein. Gebeten zur Auskultation der Lunge tief zu atmen, schnauft sie mit grosser Heftigkeit und kann auch nicht zu normalem Atmen beruhigt werden. Allen Aufforderungen kommt sie bereitwillig nach, jedoch schiessen alle Handlungen über das erforderliche Mass hinaus Während der Anamnese antwortet sie umständlich. Es zeigen sich übertriebene Frömmelei und Sprachverschrobenheiten mit Perseverationen. Sie bleibt an Einzelheiten kleben und berichtet weitschweifig Episoden aus ihrer Familiengeschichte. Sonst ist sie freundlich gestimmt und zugewandt.«459
457 Ibid., Abschrift des Gerichtsbeschlusses des Erbgesundheitsgerichts Offenbach vom 30. 08. 1934. 458 Ibid., Abschrift Schreiben der Hebammenlehranstalt Mainz vom 15. 11. 1934. 459 Ibid., Krankengeschichte, Eintrag vom 16. 04. 1951.
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Zusätzlich wird sie einer Intelligenzprüfung unterzogen und kommt danach auf die Wachstation, wo sie sich laut des Pflegeberichts gut einfügt, ausreichend schläft und isst und sich auch tagsüber gut beschäftigt.460 »Bisher wurde bei der Patientin kein epileptischer Anfall beobachtet. Der Dämmerzustand ist seit einigen Tagen vollkommen abgeklungen, die Patientin verhält sich ruhig, arbeitet mit einigem Eifer, mach keine Schwierigkeiten und muss nicht mehr auf der unruhigen Abteilung bleiben.«461
In seiner Nachexploration notiert der Stationsarzt drei Wochen nach Margaretes Wiederaufnahme: »Bei der heutigen Nachexploration ist die Patientin vollkommen geordnet, ruhig, persönlich, zeitlich und örtlich orientiert. Lediglich leugnet sie, früher einmal hier gewesen zu sein, sie könne sich nicht daran erinnern. In ihrer Redeweise übersprudelnd, nicht verlangsamt, kommt von einer Sache auf die andere, ist etwas weitschweifig und malt Einzelheiten aus, so z. B. wie sie mit ihren Eltern zu Hause lebt, wie ihre Geschwister im Einzelnen verheiratet sind usw. Ist in etwas euphorischer Stimmung, möchte gern wieder nach Hause, ohne jedoch besonders zu drängen. Sie sei mit ihrem »Stamm« (so bezeichnet sie ihre Sippe) so verbunden, dass sie sich auch mit den Toten noch verbunden fühle. Ihre Anfälle bagatellisiert sie, das komme nur zur Zeit ihres Unwohlseins (das noch regelmässig sei), weil dann der Körper geschwächt sei. Hatte vor 4 Tagen und heute je einen epileptischen Anfall. An den heutigen kann sie sich überhaupt nicht erinnern. Gesichtskreis erscheint eingeengt, eine gewisse Demenz ist nicht zu verkennen. Patientin ist in gutem körperlichem Zustand, sauber, besorgt sich selbst und hilft auch noch etwas auf der Station bei anfallenden kleinen Arbeiten.«462
Sie wird auf der Epileptikerstation der Anstalt untergebracht, drängt aber laut den ärztlichen Berichten in der Krankengeschichte wiederholt auf Entlassung und sieht nicht ein, warum sie in der Anstalt bleiben muss. Anscheinend hat sie vorher bei ihren Eltern gelebt und möchte auch dorthin wieder zurück. Am 18. Januar des Folgejahres macht ihre Mutter bei einem Besuch dazu folgende Angaben: »Die heute zu Besuch weilende Mutter berichtet, die Tochter habe ihr erklärt, es gefalle ihr hier gut. Zuhause habe sie leichte Näharbeiten verrichtet. Neben den Anfällen seien auch immer wieder Erregungszustände aufgetreten, in denen sie Sachen zerschlug und sogar den Vater tätlich angriff. Aus diesem Grund habe sie in die Anstalt gemußt. Der Vater leide jetzt an einem Schlaganfall. Die beiden alten Leute leben zusammen und es sei ihnen nicht möglich, die Tochter versuchsweise nach Hause zu nehmen.«463
460 461 462 463
Ibid., Pflegebericht, Einträge vom 16. 04. 1951 und 17. 04. 1951. Ibid., Krankengeschichte, Eintrag vom 28. 04. 1951. Ibid., Eintrag vom 09. 05. 1951. Ibid., Eintrag vom 18. 01. 1952.
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Die Möglichkeit auf Entlassung nach Hause scheint für Margarete S. dadurch nicht mehr gegeben zu sein und so verbringt sie die folgenden Jahre in der Anstalt. Die ärztlichen Einträge zu ihrem Krankheitsverlauf finden von da an nur noch halbjährlich statt. In den Berichten wechseln sich »Dämmerzustände« mit Phasen von körperlicher und geistiger Erholung ab, schildern aber eine zunehmende Demenz und geistige Verwirrung. Epileptische Anfälle treten weiterhin regelmäßig auf.464 Am 23. Dezember 1958, sieben Jahre nach ihrer erneuten Aufnahme in Riedstadt, verstirbt Margarete S. im Alter von 57 Jahren in der Anstalt.
464 Ibid., Vgl. Einträge vom 14. 04. 1953, 30. 12. 1955 und 22. 11. 1957.
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4.2.3 Emma W.
Abbildung 24: Foto Emma W.
»Dies wurde jedoch abgelehnt, da Patientin haltlos und sexuell gefährdet ist.«
Geboren 1909 Zwangssterilisiert in Mainz 1934 Am 17. Oktober 1928, ungefähr ein halbes Jahr nach Emma W.s 19. Geburtstag, erstellt der zuständige Amtsarzt des Kreisgesundheitsamtes ein Gesundheitsgutachten, in welchem er Emma W.s Einweisung in die psychiatrische Heil- und Pflegeanstalt Riedstadt Goddelau anordnet. Zur Begründung ihrer Einweisung in die geschlossene Anstalt führt er die Angaben ihrer Schwägerin Katharina W. an, die Emma W. bei der Untersuchung begleitet und ihm über ihren Lebensverlauf berichtet. Emma W.s Eltern sind zu diesem Zeitpunkt bereits verstorben und sie lebt mit ihrem Bruder Werner W. und dessen Frau Katharina zusammen. Erbliche Belastungen der Familie sind der Schwägerin keine bekannt, aber Emma W. habe schon immer schlecht gelernt und in der Schule nur die 2. Klasse erreicht. Zum Verlauf ihrer Erkrankung notiert der Arzt: »Angeborener Schwachsinn. Seit dem Tod der Eltern bei dem verheirateten Bruder. Kann dort nur ungenügend beaufsichtigt werden. Hält Verkehr mit Männern, würde mit jedem gehen, der sie darum anspricht.«465
465 Archiv des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen, Bestand 18, Patientenakte, Einweisungszeugnis vom 17. 10. 1928.
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Da nicht garantiert werden könne, dass sich das 19-jährige Mädchen mit Männern einlasse, scheint sowohl dem Amtsarzt als auch Katharina W. eine Anstaltsunterbringung zur Unterbindung von eventuellen sexuellen Kontakten für unausweichlich. Eine Woche später, am 24. Oktober, trifft Emma W. um halb 11 Uhr morgens in Begleitung ihrer Schwägerin in Riedstadt ein. Nach den Angaben der Schwägerin kann Emma W. für ihre Person in Bezug auf Reinlichkeit und Kleidung sorgen. Sie half im Haushalt ihres Bruders, putzte und bügelte. Sie könne etwas nähen, aber nicht stricken. Weiter stellt der aufnehmende Arzt in seinem körperlichen Untersuchungsbefund eine diffus vergrößerte Schilddrüse und eine angeborene Gaumenspalte fest. Andere Auffälligkeiten finden sich aus ärztlicher Sicht keine. Emma W. sei ruhig, nur leicht widerstrebend, im Ganzen aber recht stumpf. Sie wird als Hausarbeiterin auf Abteilung 3 verlegt, wo sie sich in der Folgezeit gut einfindet. Sie sei mit ihrem Aufenthalt hier zufrieden und es gefalle ihr gut.466 Emma W. scheint eine unkomplizierte Anstaltsinsassin gewesen zu sein, so dass die zuständigen Ärzte nur zwei bis drei ärztliche Einträge pro Jahr in ihrer Krankenakte verfassen. Dort heißt es sie sei stets »ruhig, still und fleissig«, »freundlich, zugänglich, sorgfältig und gewissenhaft«. Nur zu komplizierter Arbeit sei sie nicht fähig.467 Allem Anschein nach ist für Emma W. eine ständige Anstaltsverwahrung geplant, da sich bezüglich therapeutischer Maßnahmen oder einer eventuell geplanten Entlassung keine Einträge in ihrer Krankenakte finden lassen. Die Jahre 1929 bis 1930 vergehen ohne nennenswerte Vorkommnisse. Zu Weihnachten wird sie jährlich für einige Tage beurlaubt und verbringt die Feiertage bei der Familie ihres Bruders, bevor sie vor Neujahr stets widerstandslos in die Anstalt zurückkehrt. Im ersten von zwei Einträgen 1932 notiert der zuständige Arzt am 3. April in ihrer Krankengeschichte: »Hält sich auf Frauenabteilung 2 recht ordentlich, hilft bei der Hausarbeit in Abteilung 14 und in den letzten Monaten im Brüderbau. Anfänglich hat sie hier sich gerne Männern genähert und mit ihnen schön getan, in letzten Zeit sind aber derartige Annäherungen nicht mehr beobachtet worden.«468
Weiterhin scheint der größte Fokus des ärztlichen Interesses auf der Verhinderung von Kontakt mit dem männlichen Anstaltspersonal und den männlichen Anstaltsinsassen zu liegen. Über Veränderungen in Emma W.s Anstaltsalltag gibt
466 Ibid., Krankengeschichte, Einträge vom 25. 10. 1928 und 30. 10. 1928. 467 Ibid., Einträge vom 28. 2. 1929, 06. 01. 1930 und 27. 11. 1930. 468 Ibid., Eintrag vom 03. 04. 1932.
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die ärztliche Dokumentation der beiden Folgejahre keinen Aufschluss. Eine Entlassung ist aber weiterhin nicht geplant. Im Sommer 1934, ein halbes Jahr nach Inkrafttreten des GzVeN, wird Emma W. in der Anstalt hinsichtlich ihrer Indikation zur gesetzlichen Unfruchtbarmachung untersucht und beim zuständigen Gesundheitsamt angezeigt. Hierbei scheint es, als sei die Anzeige zur Unfruchtbarmachung Teil einer Routinemaßnahme, die bei allen in Frage kommenden Anstaltsinsassen geprüft wurde und bei der man von Emma W. keinen Widerstand erwartete, bzw. glaubte, sie leicht von der Notwendigkeit dieser Maßnahme überzeugen zu können. Der Arzt notiert hierzu in ihrer Krankenakte: »Patientin wird zum Gesetz zur Sterilisation untersucht, wobei sie sehr bereitwillig Auskunft gibt.«469 Tatsächlich kann sie im Zuge ihrer körperlichen und psychischen Untersuchung in der Anstalt davon überzeugt werden, ihren Sterilisationsantrag selbst zu stellen. Am 23. Juli befürwortet der Amtsarzt am Gesundheitsamt Worms den Antrag und am 30. August wird Emma W. vor das Erbgesundheitsgericht geladen. Sie erklärt sich mit allen Maßnahmen einverstanden und verzichtet bei ihrer Anhörung auf Rechtsmittel und Widerspruch. Am 21. September 1934 ergeht ihr Sterilisationsbeschluss, in welchem aufgrund der ärztlichen Gutachten und Emma W.s Aussagen vor Gericht einwandfrei ermittelt werden kann, dass bei ihr ein »angeborener Schwachsinn« vorliegt.470 Am 5. Dezember wird sie schließlich in die Hebammenlehranstalt Mainz überwiesen und dort zwei Tage später von Obermedizinalrat Puppel durch die operative Entfernung beider Eileiter unfruchtbar gemacht. Nach einem komplikationslosen Heilungsverlauf kann sie am 17. Dezember wieder zurück nach Riedstadt überführt werden.471 Ein halbes Jahr später vermeldet der vorerst letzte ärztliche Eintrag in ihrer Krankenakte am 20. August 1935: »Wurde in den letzten Monaten regelmässig in einer Beamtenfamilie beschäftigt. Diese war mit ihren Arbeiten recht zufrieden, auch sonst gab sie keinen Anlass zu Klagen. Abends half sie noch auf der Abteilung mit. Mit ihrer Umgebung vertrug sie sich gut, bekam keinen Streit.«472
Zwei Wochen später wird sie zu der besagten Familie in Familienpflege entlassen. Fast auf den Tag genau elf Jahre später wird sie am 15. August 1946 erneut in die Heil- und Pflegeanstalt Riedstadt aufgenommen: »Die Patientin kommt heute gegen 16 Uhr aus dem A.W.K. hier zur Aufnahme. Die Kopfwunde ist verheilt, die Patientin soll nach Anordnung von Frl. Dr. Schütz noch 8 Tage im Bett liegen bleiben. Die Vorgänge die zur Aufnahme der Patientin ins AWK 469 470 471 472
Ibid., Eintrag vom 17. 07. 1934. Ibid., Sterilisationsbeschluss vom 21. 11. 1934. Ibid., Sterilisationsbericht vom 18. 12. 1934. Ibid., Krankengeschichte, Eintrag vom 20. 08. 1935.
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führten sind folgende: Die Patientin ging am 4.8. zusammen mit einer anderen Kranken, die in Familienpflege ist (Lisbeth M.) auf dem Kühkopf spazieren. Wie die M. angab, hätten sie sich in Erfelden übersetzen lassen und seien bis zum Forsthaus gegangen. Dort hätte ein Mann gestanden, der ihnen dann in den Wald nachgegangen sei. Er hätte auf sie eingeredet und Patientin W. hätte sich schließlich mit ihm unterhalten. Die Patientin schildert weiter, dass der Mann die W. auf einmal mit einem Knüppel viermal auf den Kopf geschlagen und ihr einen Stoss versetzt habe, sodass sie hingefallen sei. Er habe noch mehr machen wollen, aber sie (die M.) sei dann fortgelaufen, als sie bis an die Chaussee gelaufen sei, wäre die W. nachgekommen. Sie hätte einen Riss im Kopf gehabt und sei vollkommen blutig gewesen. Die Leute hätten sie dann gleich zu Dr. Heimann nach Stockstadt geschickt, der sie verbunden hätte. Der Arzt habe dann die Rettungswache angerufen und man habe sie mit dem Sanitätswagen ins AWK verbracht. Die W. habe laufen können, hätte aber sehr grosse Schmerzen gehabt. Heute wird die Patientin zur Weiterbehandlung in die Anstalt verlegt.«473
Emma W. verbringt die folgenden zwei Wochen in strikter Bettruhe zur Schonung, bevor am 2. September eine erneute ärztliche Zwischenanamnese erhoben wird: »Patientin gibt an, vor 10 Jahren in Familienpflege zu Familie R. entlassen worden zu sein. Von dort aus sei sie zu Familie B., in Goddelau gekommen, und zuletzt sei sie bei Familie F., Goddelau gewesen. Nach dem Grund ihrer Hierherverbringung befragt, erzählt sie im Wesentlichen dieselben Vorgänge, wie sie im Aufnahmeeintrag schon enthalten sind. Sie fügt noch hinzu, das der Mann sie habe überreden wollen, mit ihm einen einsamen Waldweg zu gehen, sie habe sich aber geweigert und deshalb habe er sie geschlagen. Zu einer Vergewaltigung ist es nicht gekommen.«474
Warum Emma W. zur Genesung von ihrer Kopfplatzwunde erneut in die psychiatrische Heil- und Pflegeanstalt eingewiesen wurde, ist aus den Einträgen der Krankenakte nicht zu ermitteln. Bis zu ihrer Entlassung aus der Anstalt vergehen aber noch einmal fast zweieinhalb Jahre. Sechs Wochen nach ihrer erneuten Einweisung aus dem Krankenhaus notiert der zuständige Stationsarzt am 30. September 1946: »Heute schrieb Frau Ria B. aus Erfelden an die Direktion, um Patientin in Familienpflege zu bekommen. Dies wurde jedoch abgelehnt, da Patientin haltlos und sexuell gefährdet ist.«475
Auch Emma W.s Bruder, der sich im November ebenfalls nach einer Entlassung seiner Schwester erkundigt, erhält die gleiche Antwort:
473 Ibid., Eintrag vom 15. 08. 1946. 474 Ibid., Eintrag vom 02. 09. 1946. 475 Ibid., Eintrag vom 30. 09. 1946.
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»Patientin hatte heute Besuch von ihrem Bruder, der sich erkundigte ob Patientin nicht wieder in Familienpflege entlassen werden könnte. Es wurde ihm gesagt, dass Patientin infolge ihrer sexuellen Haltlosigkeit vorerst noch in der Anstalt bleiben müsse.«476
Auf welcher Grundlage die Diagnose »sexuelle Haltlosigkeit« bei Emma W. beruht ist nicht dokumentiert. Es existieren einzig die Angaben der Familie, bei der sie zuletzt beschäftigt war, nach denen Emma W. abends oft fortgegangen war und immer wieder versucht hatte, mit Männern in Kontakt zu kommen.477 Eine Teilschuld an ihrer versuchten Vergewaltigung scheinen die Ärzte auch bei Emma W. selbst zu sehen, so dass sie zumindest eine Entlassung aufgrund ihrer »sexuellen Gefährdung« ablehnen. In der Folge gliedert sich Emma W. wieder anstandslos in den Alltag der Anstalt ein. Im Jahr 1947 findet sich nur ein weiterer ärztlicher Eintrag: »Patientin ist ruhig, sauber und in ihren Verrichtungen selbstständig. Zu ihren Mitpatienten ist sie nett, freundliche und stets hilfsbereit. Alle ihr aufgetragenen Arbeiten führt sie selbstständig und ordentlich aus, ist in der Gärtnerei eine geschätzte Arbeitskraft auch ausserhalb der Kolonne. Schlaf und Appetit sind gut.«478
Auch das Jahr 1948 vergeht ohne besondere Vorkommnisse in ihrer Krankengeschichte. Sie wird über Weihnachten beurlaubt und kehrt an Sylvester in die Anstalt zurück. Zwei Monate später findet sich der letzte Eintrag ihrer Krankengeschichte: »Patientin verhielt sich ruhig, war verträglich, geordnet. An sich sauber und selbstständig. Beschäftigte sich ordnungsgemäß in einem Haushalt. Patientin wird heute in Familienpflege entlassen. […] Diagnose: Imbezilität. Patientin gilt als gebessert.«479
476 477 478 479
Ibid., Eintrag vom 26. 11. 1946. Ibid., Eintrag vom 23. 01. 1947. Ibid., Eintrag vom 23. 10. 1947. Ibid., Eintrag vom 25. 02. 1949.
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4.2.4 Therese R.
Abbildung 25: Foto Therese R.
»…mein Elend, jetzt fing es an.«
Geboren 1916 Zwangssterilisiert in Mainz 1934 Am Mittwoch, den 27. Juli wird Therese R. kurz nach ihrem 16. Geburtstag aus dem Fürsorgeheim in Boppard in die Heil- und Pflegeanstalt Riedstadt aufgenommen. Eine Anstaltsschwester holt sie vom Bahnhof ab und bringt sie nach der Aufnahmeuntersuchung auf die Wache 4a. Der Arzt vermerkt in seinem Aufnahmestatus: »1,59 m großes Mädchen in gutem Ernährungs- und Kräftezustand. […] Geordnete, persönlich und zeitlich orientierte Kranke, benimmt sich während der Untersuchung durchaus zweckmäßig, auf die Frage warum sie hier sei, antwortet sie: Brauch ich nicht zu erzählen, das steht in den Akten.«480
Als Aufnahmediagnose ist auf dem Deckblatt ihrer Akte »Erbliche Fallsucht« notiert. Warum Therese R. vor ihrer Aufnahme in Riedstadt nicht bei ihrer Familie, sondern in einem Fürsorgeheim lebte, lässt sich aus den Jugendamtsakten rekonstruieren, die der Krankenakte in Abschrift beigefügt sind. Sie wurde mit 15 Jahren aus der Schule genommen und in Anstellung gegeben. Als sie mit der Arbeit nicht zurechtkam, gab ihr Vater sie in ein Fürsorgeheim. In den Akten heißt es dazu: 480 Archiv des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen, Bestand 18, Patientenakte, Krankengeschichte, Eintrag vom 27. 07. 1932.
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»Therese R. ist die Tochter des Kaufmanns Ferdinand R. und seiner ersten Ehefrau Eleonore R.. Die Mutter des Kindes starb am 13. Februar 1923 (angeblich an einem Tumor auf der Hirnhaut.) und der Vater heiratete bereits nach einigen Monaten zum zweiten Male eine gewisse Franziska D.. Aus dieser zweiten Ehe ging das Kind Leopoldine R. hervor. Therese besuchte 8 Jahre lang die Volksschule in Mainz und wurde Ostern 1931 aus der 1. Klasse der Fürstenberghofschule entlassen. […] Therese hat zu Hause viele Erziehungsschwierigkeiten gemacht. Nach Angaben des Vaters ist das Mädchen oft und schwer krank gewesen (mit acht Wochen Keuchhusten, Mandelentfernung). Nach Angabe des Vaters ist Therese Onanistin. […] Nach Angaben des Vaters sei seine zweite Frau der Therese eine gute Mutter gewesen, so dass die Schuld nicht in der Erziehung zu suchen sei. Ein Onkel des Mädchens, Schwager der rechten Mutter Theresens, bestreitet letztere Angaben des Vaters. Der Onkel, Martin K., schreibt am 30. Mai 1931 an das Städtische Jugendamt in Mainz folgendermaßen: »Seit Jahren wird Therese von der Stiefmutter mit den gemeinsten Ausdrücken belegt, der Vater wegen jeder Kleinigkeit aufgehetzt; das Kind hat doch die Hölle auf Erden gehabt.« Nach der Schulentlassung gab der Vater seiner Tochter in Stellung zu den Eheleuten Dr. Neumann. Therese war der Arbeit nicht gewachsen und kehrte nach Hause zurück. Der Vater weigerte sich das Mädchen zu Hause zu behalten, um es nicht in die Gefahr zu bringen vollständig zu verwahrlosen. Sie hatte der Mutter gestanden schon häufig mit Schuljungen Schweinerein verübt zu haben, ebenfalls mit einem älteren Manne. Der Vater brachte das Mädchen im Mai 1931 im Mainkerheim in Mainz unter. Da er die Kosten für die Unterbringung nicht aufbringen konnte, beantragte er beim Jugendamt Fürsorgeerziehung. Da der Antrag im Sommer 1931 nicht durchging, entschloss sich der Vater das Mädchen in die Anstalt vom Guten Hirten zu geben und einen monatlichen Betrag zu zahlen. Anfangs fügte sich Therese in die Hausordnung, fing aber bald an, grosse Schwierigkeiten zu machen. In ihrem Jähzorn ist sie sich selbst dessen nicht bewusst, was sie tut. Sie droht mit den Gegenständen, die ihr gerade zur Hand sind, um ihren Zorn auszuwirken (Bügeleisen), sie zerschlägt eine Fensterscheibe und bedeutet daher für ihre Umgebung eine Gefahr. Therese bleibt halbe Tage lang zu Bett und verweigert jede Annahme von Nahrung. Sie sondert sich gerne ab in der Erholung. Sie verharrt lange in schwieriger Stimmung und lässt sich nicht günstig beeinflussen. Das Kloster des Guten Hirten will das Mädchen auf keinen Fall länger mehr behalten, da es zu grosse Erziehungsschwierigkeiten macht.«481
Aus dem Kloster wird Therese in das Erziehungsheim »Bethesda« in Boppard überwiesen, wo sie bis zu ihrer Überführung nach Riedstadt verbleibt. Eine Abschrift der dortigen Aktenvermerke hält zu Thereses Vorgeschichte Folgendes fest: »Vater mütterlicherseits starker Trinker. Vater der Stiefmutter soll unsittliche Handlungen an R. begangen haben. R. hat acht Jahre die evangelische Schule besucht, kam in Stellung, die aber zu schwer für sie war, dann acht Monate ins Kloster. Galt als blutarm, nervös, unbeherrscht und sinnlich. Bot im Kloster bei Erziehung Schwierigkeiten, Menarche mit 13 ½ Jahren. Scheint zu masturbieren. Hatte als Kleinkind Keuchhusten 481 Ibid., Abschrift eines Auszugs aus den Akten des Städtischen Jugendamtes Mainz.
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und Masern. War lange Bettnässerin, schwächlich, wurde mit neun Jahren von der Lungenfürsorge in Gonsenheim betreut und war später zur Kur in Neckarsteinach und Bad-Orb. Gilt für verbittert, wofür auch der häufige Wechsel in der Erziehung geltend gemacht wird. Durch ihr krankhaftes Seelenleben gilt sie als geistig etwas gehemmt. Urteil wird als gut bezeichnet, genügende Schulkenntnisse, aber auf ethischem Gebiet urteilsunfähig (wohl übertrieben erregbar). In ihrem Gemütsleben geschädigt, verbittert, herzlos und roh. Hat Bitteres und Ungerechtes erfahren, dadurch gesteigert empfindlich, oft in Abwehrstimmung und in Opposition. Gegen Freundlichkeit empfänglich, wenn anders behandelt böswillig und trotzig. Hat öfters Erregungszustände worin sie schreit und tobt, mit Blutspritzen und kaltmachen droht. […] Gerät am 26. Juli 1932 als sie trällernd und lachend den Arbeitsraum betritt, wo die Schwester den Mädchen etwas vorlas, auf die ihr leise gegebene Anregung eines der Mädchen, sie möge doch etwas stiller sein, sofort in Wut und schrie: »ich mach dich heut noch kalt – ich mach dich kaputt.« Als die Schwester sich schützend vor das Mädchen stellte, lief R. in den Garten, wäre wahrscheinlich über die Mauer gesprungen, wenn sie nicht von einer Schwester festgehalten worden wäre. Bei der Gelegenheit zog sie ein Messer aus der Tasche und ging in der Wut damit auf die Schwester los. Ein herbeieilendes Mädchen versetzte R. einen Tritt in den Leib, dass sie sich schreiend abwandte. Hat dann stundenlang geweint, ist in den folgenden Tagen noch sehr abgespannt. Sucht sich immer wieder ein Messer oder eine Schere zu verschaffen, die sie in der Tasche herum trägt.«482
Therese selbst beschreibt ihre Lebensgeschichte in einem Tagebuch, das in der Krankenakte überliefert ist, aus einer etwas anderen Perspektive. Am 19. Juni 1932, noch vor ihrer Überweisung nach Riedstadt, notiert sie dort in Versform unter der Überschrift »Aus meinem Leben« folgende Zeilen: »Mein Herz es ist verschlossen; und keiner weis was drin, ich darfs auch niemand fragen mir selbst will es nicht in den Sinn. Was waren es schöne Zeiten, als mein Mütterchen noch gelebt, und ich konnt bei ihr verweilen und mit ihr spazieren gehen. Die Tage […] in Wonne, die Jahre sie flogen dahin, da sollte es anderster kommen, der Herr hatte es anders im Sinn. Mein Mütterchen plötzlich erkrankte und musste zu Bette gehen und ich musste fern von ihr weilen und durfte nur selten sie sehen. Da auf einmal da hört ich die Worte: ›Sie wird wohl nie wieder aufstehen.‹ 482 Ibid., Abschrift eines Auszugs aus den Akten des Erziehungsheims »Bethesda«.
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Schwer trafen die Worte mein Herzn ich weinte manch bittere Trän. Und eines schönen Morgens da war mein Mütterchen tot. Ihre Seele schwebte aufwärts, hinauf zu dem lieben Gott. Doch bald war nach kindlichem herzen, dieser Schmerz für mich vorbei, ich zog mich von allen zurück und bleib dem Mutterherz treu. Und eines schönen Tages, wen bringt da mein Vater mit Heim, es war eine ältere Frau, die sollte mir Mutter jetzt sein. Am Anfang war gut mir ihr leben, doch als sie ein Kindchen bekam, da endete mein schönes Leben, mein Elend jetzt fing es an. Sie wollte nichts mehr von mir wissen, sie kannte nur noch ihr Kind und wollte mich nicht mehr haben, wie halt zweite Mütter so sind. Ich suchte mein Glück nun wo anders, und sank von Stufe zu Stuf, da erreichte mich der ersten Mutter Stimm, und ich hörte auf ihren Ruf. […] So wurd ich verrucht und verstoßen, bis aus der Schule ich kam, da dacht ich das Leben mir anders, aber mein Unglück fing [… ] jetzt an. Ich musste fort vom Elternhaus ich musste in Stellung gehn, und musste unter fremden Leut, mein Brot mir verdienen gehn. Zwar zog ich mit frischem Mut hinaus, doch ach schon am dritten Tag, da musst ich erfahren, was Elternhaus und was die Fremde vermag. Und als ich in der Stellung war, war die Arbeit mir zu schwer, ich konnte sie nicht leisten, ich konnt’ es nimmer mehr. Nach zehn Tagen verließ ich die Stelle, um wieder nach Hause zu gehn, wie freut ich mich schon im Stillen,
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184 den Vater wiederzusehn. Doch ach als ich nach Hause kam, da traf ich kein freundlichen Blick, ich wurde in mein Zimmer geschickt und zog mich still zurück. Und noch am andern Morgen, diesen Tag vergesse ich nie, da bracht mich mein Vater von zu Hause fort, fort schon in aller früh. Er brachte mich in ein Mädchenheim, dort sollte ich bleiben ein Jahr und in den ersten vier Wochen, gefiel es mir wunderbar. Doch ach ein Unglück kommt selten allein, so ging es mir auch in diesem Heim. Ich war in dem Heim kaum ein viertel Jahr, da hieß es auf einmal du bleibst nicht da. So kam ich noch ein paar Tage, mein, in ein kirchliches Klösterlein. Doch Gott schenkte mir […] hinter diesen Mauer verlor ich die Geduld. […] Ich durfte das Kloster verlassen und nach dreieinviertel Jahr wieder sehen die Straßen. Meine Freude die war rießig groß, doch zerbrach ich mir den Kopf, was geht jetzt wieder los. Doch diesmal ging es anderster aus, ich kam in ein evangelisches Mädchenhaus. Doch dort blieb ich nur kurze Zeit, bis alles weitere für mich bereit. Zuerst da hieß es gedulde dich, wir finden Pflegeeltern für dich. Ach ja die Pflegeeltern, die such ich noch heut, es war nur List und Falschheit von den Fürsorgeleut. Und statt der Pflegeeltern bracht man mich wieder fort, weit fort bracht mich ein Herr an einen andern Ort. So brachte man mich in’s vierte Heim, mein Schicksal will nicht in mein Herz hinein. Nun sitz ich hier, weiß nicht ein noch aus, ach wär ich doch wieder beim Vater zu Haus und lebte die erste Mutter noch, viel leichter würd ich dann tragen mein Joch.
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Doch der Herr hat mein Schicksal anders bestimmt und so musst ich verzichten auf das Wörtlein: ›Ich will.‹«483
Einen Monat nach der Niederschrift dieser Zeilen, wird sie im Juli 1932 in Riedstadt aufgenommen, wo sie sich anfänglich gut in ihre neue Umgebung einzugewöhnen scheint: »Verhält sich ganz unauffällig, zeigt den Willen etwas zu lernen, will sich an der Nähmaschine beschäftigen. […] Über die Vorgeschichte gibt ein sogenanntes Tagebuch wohl die verlässlichste Auskunft. Dies befindet sich gegenwärtig wieder in ihren Händen, da sie es durch weitere Einträge ergänzen wollte. Arbeitet in der letzten Zeit auf der Bügelabteilung, auch dort recht fleissig und brauchbar. Hatte am 17. August Besuch von Herrn Stadt- Medizinalrat Rosenhaupt und Herrn Dr. Rausch vom Jugendamt Mainz. Benahm sich dabei ganz verständig, bestimmte Absichten für später äusserte sie nicht, vielleicht möchte sie am ehesten zu ihrer Tante K. zurück. Wieder in ihr Elternhaus zu gehen hat sie keine Lust, auch nicht nach Boppard. […] Der Grund warum sie nicht mehr nach Hause gehen wolle sei der, dass der Grossvater stiefmütterlicherseits oft in das Elternhaus komme. Sie will nicht mehr mit ihm in Beziehung kommen, […].«484
Nach den ersten Wochen in der neuen Umgebung gerät Therese R. aber immer öfter mit den Schwestern und anderen Anstaltsinsassinnen in Konflikt. Epileptische Anfälle verzeichnet die Krankengeschichte vorerst keine: »Seit 2 Tagen verändert, ist gereizt, gibt auf Fragen gar keine oder schnippische Antwort. Beklagt sich über Mangel an Aufmerksamkeit ihr gegenüber von Seiten der Schwester, unzufrieden, hat an allem etwas auszusetzen. Spielte gestern mittags mit mehreren Kranken im Garten Ball. Als sich Kranke von einer anderen Abteilung an dem Spiele beteiligen wollten, wurde sie ausfallend, fing an zu schimpfen so dass sie in die Abteilung zurückgebracht werden musste. Dort wurde sie immer erregter, schimpfte in gemeiner Weise […].«485
Daraufhin wird Therese in das Dauerbad gebracht. Den Rest des Jahres verbringt Therese zwischen der Wachabteilung, dem Dauerbad und der Gemüseküche, wo sie mitarbeitet, aber dem Anspruch der Schwestern an sie nicht gerecht werden kann. Der ärztliche Bericht beschreibt sie als »reizbar« aber »fügsam«. »So lange sie ganz in Ruhe gelassen wird, ist gut mir ihr zu gewähren, sie ist aber wenig lenksam, tut ihre Arbeit gern nach ihrem Kopf und braust sofort auf, wenn ihr irgend ein Vorhalt gemacht wird, er mag auch noch so berechtigt sein.«486
483 484 485 486
Ibid., Tagebucheintrag vom 19. 06. 1932. Ibid., Eintrag vom 23. 08. 1932. Ibid., Krankengeschichte, Eintrag vom 24. 08. 1932. Ibid., Eintrag vom 04. 11. 1932.
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Im Frühjahr 1933 versucht Therese aus der Anstalt zu fliehen, wird aber wenige Tage später in Darmstadt aufgegriffen. Kurz darauf erhält sie die Nachricht, dass ihr Vater schwer erkrankt ist, und es wird ihr ein Krankenbesuch bewilligt. Sie bricht im März nach Mainz auf und kehrt erst im April nach Riedstadt zurück. Wenig später verstirbt ihr Vater und Therese ist von nun an Vollwaise. Im ärztlichen Bericht wird Therese in der Folgezeit als äußerst gereizt beschrieben. Sie gerät immer wieder mit anderen Anstaltsinsassinnen in Konflikt. Dies wird durch die behandelnden Ärzte mit ihrer monatlichen Menstruation in Zusammenhang gebracht. Ein epileptischer Anfall ist bis dahin weiterhin nicht in ihrer Krankengeschichte vermerkt: »War Ende Mai und Anfang Juni nach Mainz beurlaubt, weil ihr Vater gestorben war. Über seine Krankheit ist nichts Näheres bekannt, es scheint aber, dass sich zuletzt schwere psychische Veränderungen bei ihm ausgebildet hatten. Der Urlaub verlief gut. Die Kranke ist aber dauernd äusserst erregbar, sie geriet dieser Tage wieder mit anderen Kranken in Schwierigkeiten, die fast jedesmal ihrerseits zu Handgreiflichkeiten führen. Besonders gegen die Zeit der Menses hin treten regelmässig solche Perioden einer gewissen Verstimmung und erhöhte Reizbarkeit auf. […] Ähnliche Verstimmungen treten immer wieder auf und führen gelegentlich auch zu Selbstmordversuchen. So hat sich die Kranke die zurzeit mit anderen zusammen im dritten Stock schläft, dieser Tage eine Schnur um den Hals gezogen, um sich zu strangulieren, wie aus der glaubwürdigen Angabe einer gleichfalls dort schlafenden Mitkranken hervorgeht.«487
Weitere Angaben zu diesem Selbstmordversuch sowie eine Änderung der Unterbringung oder der Therapie sind im Krankenbericht nicht vermerkt. Währenddessen bemüht sich das Jugendamt in Mainz um eine Aufnahme der immer noch minderjährigen Therese in eine Pflegefamilie, was sich aber bis Anfang 1934 hinauszögert. Im Dezember 1933 verzeichnet der ärztliche Krankenbericht eineinhalb Jahre nach Thereses Aufnahme unter der Diagnose »Erbliche Fallsucht« erstmals einen Ohnmachtsanfall, »der der Schilderung nach als epileptisch imponierte.«488 Nachdem Therese die Weihnachtsfeiertage 1933 bei ihrer Tante K. in Mainz verbracht hatte, wendet sich das Jugendamt 1934 erneut an die Anstalt, um die weitere Unterbringung Thereses zu klären. Die Anstaltsleitung antwortet am 23. März 1934: »In Beantwortung Ihrer Anfrage bezüglich der Unterbringung der Therese R. in Familienpflege, teilen wir Ihnen ergebenst mit, dass sich bis jetzt noch keine geeignete Pflegestelle ausfindig machen liess, da die R. wegen ihrer Charakterdepravation ein schwer zu behandelnder Mensch ist, der ständig zu Konflikten mit seiner Umgebung neigt. Ausserdem will keine Pflegestelle die Verantwortung für den Ausschluss der
487 Ibid., Eintrag vom 20. 06. 1933 und vom 22. 09. 1933. 488 Ibid., Eintrag vom 30. 12. 1933.
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Möglichkeit einer eventuellen Schwängerung der Kranken draussen übernehmen. Wir haben die Kranke R., bei der die Voraussetzungen zur Anwendung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses gegeben sind, zwecks Unfruchtbarmachung bei dem zuständigen Kreisgesundheitsamt angezeigt. Nach uns zugegangener, behördlicher Weisung dürfen wir diese Kranken erst nach vollkommener Durchführung der Sterilisation aus der geschlossenen Anstalt entlassen. Wir hoffen in absehbarer Zeit nach ausgeführter Sterilisation die R. dann doch anderweitig unterbringen zu können, da dann ein Hauptgrund, die Gefahr einer eventuellen Schwängerung, bei ihr in Wegfall kommt.«489
Erstmals ist jetzt im Frühjahr 1934 von Therese R. als einer potenziellen »Erbkranken« die Rede, die erst nach ihrer Sterilisation aus der Anstalt entlassen werden kann. In der Zwischenzeit hatte sich Therese R. selbst schriftlich an das Jugendamt gewendet, um ihren weiteren Verbleib zu klären. Der Argumentation der Anstaltsleitung folgend heißt es hierzu in einem Schreiben des Jugendamtes Mainz vom 28. März 1934: »Die Patientin Therese R. hat uns in einem grösseren Brief gebeten, ihr mitzuteilen, wie sich ihre Zukunft gestaltet. Mit gleicher Post kam auch die Mitteilung von der vorzunehmenden Sterilisierung. Es ist selbstverständlich, dass diese Massnahme erst durchgeführt werden muss. Dann jedoch wären wir sehr dankbar, wenn, nicht zuletzt aus wirtschaftlichen Gründen, eine anderweitig, billigere Unterbringung der Therese R. erfolgen könnte.«490
Für den Zeitraum des Frühjahres 1934 finden sich in Thereses Krankenakte keine Einträge zu ihrem Verlauf. Am 11. Mai verzeichnet der erste Eintrag nach vier Monaten ohne Dokumentation: »Eine wesentliche Änderung ist seither nicht erfolgt, doch beschäftigt sich die Kranke regelmässig. Sie ist aber dauernd recht reizbar, gerät bei der geringsten Kleinigkeit sofort in grosse Aufregung, lässt dann die Arbeit liegen, schilt und schreit, in der Regel in wenig gewählten Ausdrücken, schleudert was ihr gerade in die Hände kommt fort. Gerät recht oft in Konflikt mit anderen Kranken. Hatte in der Nacht vom 28. auf den 29. April anscheinend einen epileptischen Anfall.«491
In der Zwischenzeit wird der Antrag auf Sterilisation von Therese R. beim zuständigen Erbgesundheitsgericht gestellt. Im ärztlichen Gutachten der Anstaltsleitung wird ihre erbliche Vorbelastung beschrieben, welche die Ärzte aus den Einträgen ihrer Fürsorgeakte übernehmen: »Grossmutter väterlicherseits Trinker. Der Vater soll vor dem Tod schwere psychische Erscheinungen geboten haben.«492 489 490 491 492
Ibid., Korrespondenz Klinikleitung, Schreiben vom 23. 03. 1934. Ibid., Korrespondenz Jugendamt Mainz, Schreiben vom 28. 03. 1934. Ibid., Krankengeschichte, Eintrag vom 11. 05. 1934. Ibid., Ärztliches Gutachten vom 02. 06. 1934.
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Über ihren Krankheitsverlauf heißt es dort weiter: »Wann die Krämpfe zuerst auftraten ist unbekannt. Um 1930 wurden häufiger ohnmachtartige Anfälle bei R. konstatiert. War lange Bettnässerin. […] Ungünstig beeinflusst durch den frühen Tod der Mutter. Stiefmutter anscheinend ohne Verständnis für R. […] Deutliches Hervortreten der psychopathischen Anlagen in der Pubertät. Erste Erziehungsschwierigkeiten im guten Hirten, durch die gesteigerte Reizbarkeit und das deutliche bedingte unsoziale Verhalten.«493
Der psychische Befund des Anstaltsoberarztes Hess beschreibt das siebzehnjährige Mädchen folgendermaßen: »Die auf offenbar ererbter Basis beruhenden seelischen Anomalien bestehen einmal in bei der Kranken dauernd vorhandenen und jederzeit in Erscheinung tretenden Symptomen ihrer Psychopathie, die sich besonders in gesteigerter, gemütlicher Reizbarkeit äussert. Auf jeden geringen Anlass hin reagiert sie mit ungemein starkem Affekt, worin sie bei dem krankhaften Mangel an Hemmungen sehr oft zu explosiven, unter Umständen unsozialen Handlungen kommt. Gelegentlich beschränken sich diese auf Schreien und Schimpfen, sehr oft aber auch zerstört die Kranke in solchen Augenblicken oder greift andere, unter Umständen in recht gefährlicher Art an. Ausser dieser krankhaften Störung des Affektlebens äussert sich die Psychopathie auch an anderen Unausgeglichenheiten der Persönlichkeit. Die Kranke, die sich ihrer Unvollkommenheit bewusst ist, sucht auf der einen Seite Schutz und Anlehnung bei dritten, denen sie Vertrauen entgegenbringen kann. Diesen gegenüber zeigt sie meist eine fast kindlich anmutende Lenksamkeit, wenigstens so lange, als sie nicht in Affekt kommt. Andererseits zeigt R. aber auch einen recht bemerkenswerten Mangel an Offenheit. Sie neigt zu allerhand Hinterhältigkeiten. Schuld daran mögen, wohl abgesehen von der pathologischen Anlage an sich, frühe ungünstige Erfahrungen im Elternhaus tragen, wie sie denn niemals rechtes Vertrauen zu Eltern bzw. ihrer Stiefmutter fassen konnte. Sie neigt zum komplottieren und da sie in krankhaftem Mass durch dritte im ungünstigen Sinn beeinflussbar ist, lässt sie sich sehr gern zu allerhand Verabredungen zum Entweichen und dergleichen herleiten. Auf der gleichen krankhaften Grundlage beruht auch die bei R. bestende Epilepsie, deren Symptome bis in die Pubertät verfolgbar sind. R. leidet an seltenen aber ausgesprochenen epileptischen Anfällen. Ob die häufig bei ihr zu beobachtenden, auf innere Vorgänge beruhenden Verstimmungen als epileptische Äquivalente aufzufassen sind oder lediglich Erscheinungen der bestehenden Psychopathie sind, lässt sich nicht entscheiden. Im Übrigen ist die Auffassung, die Verarbeitung äusserer Eindrücke, das Gedächtnis im Allgemeinen leidlich erhalten. Im Bezug auf Urteil, Gesichtskreis und Anschauung steht die Kranke nicht auf der durch ihr Alter geforderten Höhe.«494
Aufgrund dieser Beobachtungen stellt der Oberarzt am Ende seines Gutachtens die Diagnose »Psychopathie mit Epilepsie (erbliche Fallsucht)«. Zur Diagnose-
493 Ibid. 494 Ibid.
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sicherung der Erblichkeit genügen ihm dazu die oben aufgeführte kurze Familienanamnese sowie die Auszüge aus den Jugendamtsakten. Zu ihrer Unfruchtbarmachung wird Therese R. am 13. September 1934 vor dem Erbgesundheitsgericht am Amtsgericht Worms verhört und verzichtet auf Widerspruch. Das Gericht folgt daher in allen Punkten dem ärztlichen Gutachten aus Riedstadt und beschließt am 4. Oktober 1934 ihre Sterilisation, aufgrund der Diagnose »Psychopathie mit Epilepsie (erbliche Fallsucht)«.495 Am 19. Dezember 1934 wird die jetzt seit wenigen Monaten achtzehnjährige junge Frau in der Hebammenlehranstalt Mainz durch die totale Entfernung beider Eileiter unfruchtbar gemacht und anschließend wieder nach Riedstadt überführt.496 Kurz vor ihrer Sterilisation war Thereses Tante K., eine der letzten leiblichen Verwandten, in Mainz verstorben. Da nach Thereses Unfruchtbarmachung eine Entlassung aus der Anstalt rechtlich möglich geworden war, wird Therese am 22. Februar 1935 zu einem Anstaltspfleger und seiner Ehefrau in Familienpflege entlassen.497 Therese verbringt ein Jahr bei der Pflegefamilie. Ein Pflegebericht, welcher der Krankenakte in Abschrift beigefügt ist, berichtet über diese Zeit: »In den ersten Monaten ging es leidlich mit der Kranken in Familienpflege. Im November 1935 traten verschiedene Male Anfälle auf, die Kranke war danach sehr gereizt und aufgeregt. Die Pflegefrau versuchte mit guten Worten auf sie einzuwirken wodurch der erträgliche Zustand eine Zeitlang anhielt. Im Februar 1936 traten wieder schwere Anfälle auf mit Einnässen des Bettes, die in ihren Auswirkungen dieselben Erscheinungen boten. Nach weiteren Angaben der Pflegefrau drohte die Kranke Arzt und Schwester, die sie betreuten untauglich zu machen wenn ihr verschiedene Wünsche z. B. nach Mainz zur Faßnacht zu fahren nicht bewilligt wurden. Am 13. 3. 1936 war die Kranke beim Baden in der Anstalt und bat den Arzt zu einer Freundin nach Darmstadt fahren zu dürfen, was jedoch abgelehnt wurde. Sie war darüber sehr erregt und schimpfte. Am 14.3. morgens erklärte mir die Pflegefrau, die Kranke sein nach Goddelau gegangen, um Sachen einzukaufen, sie schimpfte dauernd im Haus umher, weil ihr tags zuvor nicht erlaubt worden sei nach Darmstadt zu fahren. Weiter soll die Kranke gesagt haben, daß sie mittags in die Anstalt gehen wolle und zwar in den Neubau. Die Pflegefrau meinte, daß wir da die Kranke in der Anstalt behalten möchten. Nach Rücksprache mit dem Arzt Herrn Dr. Schönmehl, sollte die Kranke alsbald in der Pflegestelle abgeholt werden. Die Kranke war bei der Abholung in der Küche, sie nahm die Mitteilung, daß sie mit zur Anstalt gehen sollte ganz ruhig auf, wurde dann etwas erregter und sagte: »Frau Wolf hat mich gemeldet, deshalb sind sie gekommen mich zu holen, ich weiß ja, daß ich wieder in die Anstalt soll, ich wollte heute Mittag in den Neubau gehen«, daraufhin sagte ich, daß sie jetzt mitgehen müsste, da der Arzt noch anwesend sei. Die Kranke ging 495 Ibid., Abschrift des Sterilisationsbeschlusses vom 04. 10. 1934. 496 Ibid., Abschrift des Sterilisationsberichts vom 02. 01. 1935. 497 Ibid., Krankengeschichte, Eintrag vom 22. 02. 1935.
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daraufhin still schweigend in ihr Zimmer, das eine Treppe höher lag, um wie ich annahm noch verschiedene Sachen zu holen. Gleich danach ging ich ihr nach und fand sie am offenen Treppenfenster stehen und sagte: »Fräulein R. gehen sie jetzt mit.« Sie gab mir keine Antwort, ich blieb auf der Treppe ein paar Tritte unter ihr stehen in der Annahme, daß sie mir folgen würde. In diesem Moment stürzte sie sich aus dem Fenster in den Hof, ohne daß ich es verhindern konnte. Nachdem Sturz hatte die Kranke einen Anfall.«498
Im ärztlichen Bericht des Dienstarztes Dr. Schönmehl heißt es: »Um 12.45 Uhr wurde ich von der Abteilung angerufen, dass sie Fräulein R. aus dem Fenster bei ihrer Pflegestelle hinausgestürzt habe. Während mir telephoniert wurde, war schon von der Oberpflegerin eine Bahre geschickt worden, um die Kranke zu holen. So traf ich sie auf Abteilung 8 an. Sie sah vollkommen ausgeblutet aus, war blass und stöhnte: »Mein Kreuz, mein Rücken.« Da ihr jede Bewegung weh tat, untersuchte ich sie nicht vollkommen. Ich konnte an der Lähmung des linken Beines, das äusserlich nicht verletzt war, einen Bruch der Wirbelsäule feststellen. Ebenso war der linke Vorderarm gebrochen, wobei die Ulna aus der Haut herausragte. Ich ordnete mit Zustimmung der Direktion die sofortige Überführung ins städtische Krankenhaus Mainz an. Wie die Schwester, die die Kranke begleitete mitteilt, hat die dortige Röntgenuntersuchung einen Bruch der Wirbelsäule ergeben. Ebenfalls wurde der Vorderarmbruch bestätigt.«499
In der chirurgischen Abteilung des Städtischen Krankenhauses Mainz wird Therese R. drei Monate lang behandelt, bevor sie wieder nach Riedstadt zurückverlegt wird. Bei ihrer Wiederaufnahme am 16. Juni 1936 sind ihre Brüche weitestgehend verheilt und erneut beginnt für Therese der Anstaltsalltag in Riedstadt, in den sie sich nur widerwillig einfügt: »Macht nicht den Eindruck, als sei sie mit ihrer Verlegung nach hier einverstanden; während der ersten Tage schnippisch-ablehnendes Verhalten, beschäftigt sich seit einiger Zeit in der Weberei bzw. Gemüseküche.«500
Kurz nach ihrer erneuten Aufnahme treten auch ihre Anfälle wieder gehäuft auf: »Die Kranke hatte in der Nacht vom 8. auf den 9. des Monats einen Anfall, gestern drei Anfälle, heute Morgen in der Gemüseküche einen weiteren. Ein derart gehäuftes Auftreten von epileptischen Anfällen ist hier seither noch nicht beobachtet worden, nach eigener Angabe war sie während der beiden letzten Jahre fast anfallsfrei. Heute wird ihr schonend ihre Verlegung nach Abteilung 8 beigebracht; zur Unterstützung dessen wird sie in die Epileptikertherapie mit einbezogen.«501
498 499 500 501
Ibid., Abschrift Pflegebericht vom 14. 03. 1936. Ibid., Abschrift des ärztlichen Berichts vom 14. 03. 1936. Ibid., Krankengeschichte, Eintrag vom 28. 06. 1936. Ibid., Eintrag vom 10. 07. 1936.
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Welche Form der Therapie bei Therese R. angewandt wurde, ist aus den Krankenakten nicht ersichtlich. Diese scheint aber erfolgreich gewesen zu sein, denn die Frequenz der Anfälle nimmt laut der ärztlichen Dokumentation bis zum Ende des Jahres 1936 wieder ab. Auch die Einträge in Therese R.s Krankengeschichte werden deutliche spärlicher und seltener. Im gesamten Jahr 1937 verzeichnet die Krankengeschichte nur zwölf Einträge, in denen meist über ihr schlechtes Benehmen oder einen vereinzelten Anfall berichtet wird. Im Frühjahr 1938 nimmt Therese einen erneuten Versuch, ihrem Leben eine neue Richtung zu geben. In einem Brief an die Anstaltsleitung bittet sie um ihre Verlegung in ein Invalidenheim nach Mainz, um näher an der ihr noch verbliebenen Familie zu sein: »Sehr geehrter Herr Oberarzt! Da man bei der Visite nicht zu Wort kommen kann, sehe ich mich gezwungen meine Gedanken über die Zukunft einmal schriftlich an Sie zu richten. Was soll denn eigentlich aus meiner Zukunft werden? Bezüglich meiner Anfälle geht es mir doch augenblicklich gesundheitlich soweit ganz gut. Allerdings will ich Ihnen diesesmal gestehen, daß ich mir über die Lage meiner Krankheit ziemlich klar bewußt bin! Auch über den Fortschritt derselben! Soll ich mich denn jetzt in meinen jungen Jahren in denen ich noch so weit in der Reife bin, dauernd in die Anstalt sitzen. Oder soll ich warten bis ich mit dreißig oder vierzig Jahren als halb verblödeter Mensch herumlaufe. […] Vielleicht können Sie mich jetzt verstehen, wenn ein Mensch, der sein Lebensschicksal so klar vor Augen sieht, verbittert ist. Nun kann ich Ihnen ja auch schreiben, warum ich nach Idstein wollte. Ich hatte vor, von dort aus Heim in das Invalidenhaus zu gehen. Dort könnte ich mich im Haushalt beschäftigen. Ich wäre unter Aufsicht und hätte doch ab und zu Gelegenheit zu meiner Tante und Kusine zu gehen. Auch an die Gräber der Eltern. Kurz ich wäre zu Haus. Außerdem hätte ich in meiner Tante einen Menschen an meiner Seite an dem ich Halt hätte. […] Zu unmöglich sind diese Illusionen nicht und ich glaube, daß sie sich mit etwas gutem Willen einrichten lassen. Indem ich Sie jetzt nochmals, wenn es äußerst möglich ist um eine persönliche Antwort bitte grüßt Sie Therese R.«502
Sechs Wochen später kann sie nach einer Vereinbarung mit dem Fürsorgeamt, unter dessen Vormundschaft die junge Frau noch immer steht, in das Monikaheim nach Mainz verlegt werden. Der letzte Eintrag ihrer Krankengeschichte in Riedstadt verzeichnet hierzu: »Nach der getroffenen Vereinbarung mit dem Fürsorgeamt wird die Kranke heute psychisch gebessert nach dem Monikaheim Mainz überführt. Sie gilt damit als erwerbsunfähig entlassen. Sie wurde am 19. 12. 1934 wegen erblicher Fallsucht unfruchtbar gemacht. Die Diagnose ist bei dem Auftreten von typischen epileptischen Anfällen und den dadurch bedingten charakterlichen Eigentümlichkeiten eindeutig.«503
502 Ibid., Brief Therese R.s vom 28. 05. 1938. 503 Ibid., Krankengeschichte, Eintrag vom 14. 07. 1938.
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Als letztes Zeugnis dieser jungen Frau steht hier ein Gedicht, das Therese R. mit 16 Jahren in ihr Tagebuch notiert. Sehnsucht nach dem Mutter Grabe Fern am Rhein das schöne Städtchen, goldnes Mainz wird es genannt. Wo die schönen Schiffe fahren und die Linden stehn am Strand. Dort schritt ich zuerst ins Leben, dort steht meiner Eltern Haus, dort ruht auch die tote Mutter, die so viel für mich getan. Jahre sind seitdem verflossen, seit ihr Tod sie mir geraubt, mit ihr schied mein’ Lebensfreude, ach mein Glück es wurd zu Staub. Ach könnt ich die Mutter einmal, einmal nur noch wiedersehn, niemals würd ich sie verlassen, niemals würd ich von ihr gehn. Nein des Herzens banges Schlagen, länger halt ich’s nicht zurück. Will ja aller Lust entsagen, gönnt mir nur das eine Glück. Fort nach Hause laßt mich ziehen, fort nach Hause laßt mich gehn. Laßt das Grab von meiner Mutter mich noch einmal wiedersehn.504
504 Ibid., Tagebucheintrag vom 12. 06. 1932.
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4.2.5 Anna K.
Abbildung 26: Foto Anna K.
»Hat das freche Mundwerk einer ausgesprochenen Gossenhure…«
Geboren 1910 Zwangssterilisiert in Mainz 1935 Anna K. wird am 20. Februar 1935 im Alter von 25 Jahren in der Heil- und Pflegeanstalt Riedstadt Goddelau aufgenommen. Ihre Einweisung erfolgt aus der städtischen Klinik Darmstadt, wo sie zuvor aufgrund einer Gonokokkeninfektion zwangsweise therapiert wurde. Diese Zwangstherapie soll nun in der geschlossenen Anstalt fortgeführt werden. Zu ihrer Einweisung vermerkt die Krankengeschichte in Riedstadt: »Wurde gestern Abend mit dem Sanitätsauto aus dem Stadtkrankenhaus Darmstadt nach hier gebracht. […] Aus dem dortigen Krankenblatt geht hervor, dass sie am Abend vorher mit verschiedenen Bekannten eine Lokalreise durch verschiedene Wirtschaften gemacht hatte und dabei alles mögliche durcheinander getrunken hatte. Sie wurde sinnlos betrunken nachts aufgefunden und eingeliefert. Am nächsten Morgen erschien die Sittenpolizei und teilte mit, dass die Kranke erst 14 Tage vorher in Frankfurt ebenso sinnlos betrunken aufgefunden wurde. Sie gaben weiter an, dass sie geschlechtskrank sein soll und die Beamten hatten den Verdacht, dass sie der gewerbsmässigen Unzucht nachgehe. Sie wurde deshalb nach Rücksprache mit der Gesundheitsbehörde zunächst dort behalten. Gestern wurde sie dann hier eingeliefert, wo sie bis zu erfolgter Sterilisation bleiben soll. Der Antrag hierzu wurde bereits in Darmstadt gestellt.«505 505 Archiv des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen, Bestand 18, Patientenakte, Krankengeschichte, Eintrag vom 20. 02. 1935.
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Anna K. war vor ihrer Einlieferung anscheinend bereits mehrfach von der Sittenpolizei aufgegriffen worden und auch dem städtischen Gesundheitsamts Darmstadt bekannt. Der Eintrag in der Krankengeschichte ist explizit so formuliert, als sei ihre Sterilisation dort bereits abseits der Gerichtbarkeit beschlossen worden. Der Grund für Anna K.s Sterilisationsantrag scheint hierbei allein ihr sittenwidriges Verhalten gewesen zu sein, was zu keiner Zeit der Gesetzeslage entsprach. Die Aufnahme erfolgte daher unter der Diagnose »angeborener Schwachsinn«, der in ihrem Falle vor allem durch ihren Lebenswandel und ihr Verhalten belegt werden sollte. Zur Begründung ihrer »moralischen Minderwertigkeit« konzentriert sich die Dokumentation ihrer Lebensgeschichte in der Krankenakte vor allem auf ihren Umgang mit Männern. Zum Aufnahmeanamnesegespräch in Riedstadt, welches sechs Tage nach ihrer Ankunft stattfindet, notiert der zuständige Arzt dazu: »Die Eltern leben und sind angeblich gesund. Patientin sei das vierte von neun Kindern, ein jüngerer Bruder könne weder lesen noch schreiben, auch die meisten anderen Geschwister blieben in der Schule sitzen. Patientin selbst machte angeblich ebenfalls eine Klasse zweimal durch. Nach ihrer Schulentlassung ging sie zunächst ein Jahr als Dienstmädchen zu einem Bauer, später ging sie zweieinhalb Monate als Kindermädchen, danach 5 Monate in eine Schuhfabrik, gab diese Stelle auf weil sie zu wenig verdiente. Später war sie ein Jahr in einer Wirtschaft, ging von hier wieder weg, weil sie der Besitzer angeblich zum Geschlechtsverkehr bewegen wollte. Von da aus kam sie nach Hanau in eine Metzgerei, lernte hier eine Freundin kennen, die einen sehr schlechten Ruf gehabt haben soll und die sie mit Männern zusammen brachte. Nach drei Monaten musste sie diese Stelle wieder aufgeben, ging längere Zeit nach Hause, um dann im Jahre 1931 wieder eine Stelle in Darmstadt ebenfalls in einer Wirtschaft anzunehmen. In der Folgezeit hatte sie dann noch mehrere Stellen, die aber grösstenteils nicht länger wie drei bis vier Monate gehalten wurden. Gründe über ihren häufigen Wechsel sind nicht von ihr zu erfahren, man hat den Eindruck, dass sie diese absichtlich verschweigt. Auf die Frage wann sie zum ersten Male geschlechtskrank gewesen sei, antwortet sie zögernd, dass sie vor ungefähr vier Jahren angesteckt wurde (Gonorrhoe!). Sie unternahm damals eine Motorradtour nach Mannheim. Hier war sie vier Wochen mit diesem Herrn zusammen, der danach verschwand und sie mittellos sitzen liess. Die Gesundheitsbehörde wurde in Mannheim auf die Patientin aufmerksam, sie kam in das dortige Krankenhaus, wo sie acht Wochen wegen einer Gonorrhoe behandelt wurde. Danach kam sie wieder nach Hause zu ihren Eltern. Einige Zeit später sei sie nach Frankfurt auf die Messe gefahren. Hier habe sie die Polizei verhaftet, weil sie sich um Mitternacht in einer einsamen Strasse aufgehalten habe. Sie will hier auf einen Bekannten gewartet haben, mit dem sie sich angeblich verabredet hatte. Geschlechtsverkehr während dieser Zeit wird von ihr negiert. Sie kam in das Städtische Krankenhaus in Frankfurt und wurde wieder acht Wochen auf Gonorrhoe behandelt. Nach ihrer Entlassung ging sie nach Darmstadt nahm hier wieder eine Stelle als Hausmädchen an und wurde kurze Zeit darauf erneut angesteckt. Sie ging zu ihrem Hausarzt in Behandlung,
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dieser habe sie angeblich über ein Jahr behandelt. Mit Herren habe sie sich in letzter Zeit nicht abgegeben. Vor einigen Wochen fuhr sie angeblich mit einem Bekannten nach Frankfurt. Sie seien in ein Weinlokal gegangen, wo sie sich betrunken haben. Zu einem Geschlechtsverkehr sei es aber nicht gekommen. Am Abend sei sie von der Polizei wegen ihres Zustandes wieder verhaftet worden. Sie wurde aber zwei Stunden später, als sie wieder etwas nüchterner geworden war wieder frei gelassen. Vor 14 Tagen wurde sie dann wieder in Darmstadt nachts sinnlos betrunken auf der Strasse aufgefunden und in das Darmstädter Krankenhaus eingeliefert. Von dort aus wurde sie dann nach hier überführt. Man merkt, dass sie während der ganzen Exploration sichtlich mit ihren Angaben zurück hält. Sie macht im Allgemeinen nur ungenaue Aussagen und nur durch dauerndes Zureden gelingt es zeitweise sie zu überführen. Man hat nicht den Eindruck, dass sie ihre schlechte Vergangenheit bereut, wahrscheinlich hängt das auch damit zusammen, dass sie nicht in der Lage ist, sich ein richtiges Urteil zu bilden.«506
Der aufnehmende Arzt scheint sein Urteil über den geistigen und gesundheitlichen Zustand von Anna K. bei seinem Aufnahmegespräch bereits gefällt zu haben. Sie ist »frech, schnippisch, läppisch und albern«507 und da die körperliche Eingangsuntersuchung eine weiterhin bestehende infektiöse Gonorrhoe zeigt, verhärtet sich auch der ärztliche Verdacht auf einen »unmoralischen« Lebenswandel. Da der Sterilisationsantrag bereits in Darmstadt gestellt wurde, wird sie zur Isolation auf ein Einzelzimmer gelegt und der Beschluss des Erbgesundheitsgerichts Darmstadt abgewartet. Andere Informationen zu Anna K.s Lebensgeschichte, ihrer Schul- und Berufslaufbahn und ihrer Familie finden sich in den Krankenakten keine. Die pflegerische Dokumentation über ihren Anstaltsaufenthalt ist nicht erhalten, so dass auch keine Angaben über eventuelle Familienbesuche erhalten sind. Am 22. März, also ca. vier Wochen nach ihrer Einlieferung erreicht aber ein Schreiben die Anstalt, welches belegt, dass Anna K.s Vater, Karl K., sich gegen die zwangsweise Unterbringung seiner Tochter wehrt und ihre Entlassung durch eine Beschwerde beim Gaurechtsamt des Bezirks Hessen-Nassau erzwingen will. In einem Schreiben des Amtsleiters an die ärztliche Direktion in Riedstadt heißt es: »Der Vater der Obengenannten hat ein Gesuch an die unterzeichnete Stelle gerichtet. Er teilt darin mit, dass seine Tochter von ihrer Dienststelle weg in die die Anstalt gebracht worden sei. Ich bitte um kurze Mitteilung, welches der Grund zur Verbringung der K. in die Anstalt war. Besteht irgendwelche Möglichkeit auf Entlassung in die Heimat zu ihren Eltern oder nicht?«508
Mit Verweis auf das ausstehende Erbgesundheitsgerichtsverfahren, wird eine Entlassung von Anna K. zu ihren Eltern bis zu ihrem Sterilisationsurteil von Seiten der Anstaltsleitung aber abgelehnt. 506 Ibid., Krankengeschichte, Eintrag vom 26. 02. 1935. 507 Ibid., Eintrag vom 20. 02. 1935. 508 Ibid., Brief des Reichsstatthalters vom 21. 03. 1935.
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Währenddessen hat sich Anna K. auch vier Wochen nach ihrer Einweisung noch nicht in den Anstaltsalltag eingefügt. Im ersten ärztlichen Eintrag nach ihrer Aufnahmeuntersuchung notiert der zuständige Arzt am 19. März: »Patientin ist schwierig, frech-schnippisch, will sich nicht behandeln lassen. Es fehlt ihr jegliches Schamgefühl. Wegen ihres unglaublichen Benehmens wird sie vom Referenten zurecht gestutzt. Arznei, die sie verweigert, wird ihr mit der Sonde zugeführt. Im Anschluss daran schrie und tobte sie in ihrem Zimmer. Gegen zwei Uhr nachts wurde von der Schwester bemerkt, dass sie eine Kordel zweimal um den Hals geschlungen hatte, jedoch ohne diese stramm zu ziehen. Beim Öffnen der Tür stellte sie sich schlafend, dabei lag sie völlig entblößt im Bett. Das Hemd, welches neben ihr lag war völlig verkrumpelt, sodass es den Eindruck machte, als ob sie vorher damit schon einen Versuch unternommen habe. Es ist wohl nicht anzunehmen, dass dabei eine ernste Absicht bestand. Auch die Schwester hatte diesen Eindruck. Scheinbar will sie damit erreichen, dass ihre Umgebung eingeschüchtert werden soll. Zur besseren Kontrolle wird sie in den Saal verlegt.«509
Ihr Verhalten wird von der ärztlichen Leitung nicht als ernst gemeinter Suizidversuch gewertet und außer ihrer Verlegung in einen Schlafsaal werden keine weiteren therapeutischen Maßnahmen getroffen. Dass sich Anna K. aktiv gegen ihre Unterbringung in der Anstalt und ihre zwangsweise Therapie zur Wehr setzt, wird von den Ärzten als weiteres Symptom des diagnostizierten »angeborenen Schwachsinns« gewertet. Die Dokumentation relevanter Krankheitsereignisse ist sehr sporadisch und einen weiteren Einblick in Anna K.s Anstaltsalltag gibt der nächste ärztliche Eintrag ihrer Krankengeschichte erst Ende April 1935, ungefähr fünf Wochen später: »Verweigert schon seit einigen Tagen die Nahrungsaufnahme, sie gibt an, ihr Vater habe auch gesagt sie solle nichts essen, wenn sie nicht hier raus käme. Gestern abend war sie so erregt, dass ihr der Schaum vor dem Mund stand. Sie spuckte in den Saal, beschimpfte das Personal mit Huren, Saumenschen u. s. w. Sie räumte ihr Bett aus und wollte sich auf den Boden legen. Wegen der Nahrungsverweigerung musste sie heute morgen mit der Sonde gefüttert werden.«510
Dem Eintrag nach bestand in irgendeiner Form zumindest Kontakt zu ihrem Vater, der auch weiterhin versucht, eine Entlassung seiner Tochter zu erwirken. Am 21. Mai erreicht ein weiterer Brief aus dem Gaurechtsamt die Anstalt, in welchem der zuständige Beamte explizit noch einmal erfragt, ob überhaupt ein Sterilisationsantrag für Anna K. gestellt sei. Ihr Vater hatte anscheinend Erkundigungen beim Erbgesundheitsgericht eingeholt und dort die Auskunft erhalten, es bestehe kein Antrag auf Sterilisation seiner Tochter. Gleichzeitig versucht Karl K. auch die Anstaltsleitung zu einer vorzeitigen Entlassung seiner 509 Ibid., Krankengeschichte, Eintrag vom 19. 03. 1935. 510 Ibid., Eintrag vom 25. 04. 1935.
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Tochter zu bewegen. Am 2. Juni schreibt er dazu im einzig erhaltenen direkten Brief an die ärztliche Direktion: »Es diene Ihnen kurz zur Kenntnis, daß meine Tochter seit einigen Monaten in Ihrer Anstalt untergebracht ist. Nach Rücksprache mit Ihren [?] Ärzten, gewann ich die Hoffnung, daß der Gesundheitszustand meiner Tochter nicht allzuschlimmes befürchtet und [sie] bald wieder mit der Entlassung aus Ihrer Anstalt rechnen dürfte. Da nun meine Frau infolge des Alters, sowie durch Krankheitserscheinungen kaum in der Lage ist meinen Haushalt zu führen, so dürfte ich Sie bitten, wenn möglich die Entlassung zu befürworten, um meine Tochter als Stütze nach Hause zu nehmen.«511
Das Schreiben des Vaters bleibt unbeantwortet. Auf die Anfrage des Gaurechtsamts antwortet die Anstaltsleitung am 11. Juni 1935 wie folgt: »Bei Fräulein K. handelt es sich um eine schwachsinnige Kranke, die sich sowohl mit Syphilis als auch mit Gonorrhoe infiziert hat. Von der Polizei wurde sie schwer betrunken auf der Strasse aufgefunden. Auf Anordnung des Staatlichen Gesundheitsamtes Darmstadt soll sie bis zu ihrer Sterilisierung in eine geschlossene Anstalt verbracht werden. Der Sterilisierungsantrag läuft. Ein Irrtum liegt nicht vor, wie der Vater meint. Darüber hinaus müßte die K., wenn sie nicht hier zurückgehalten und wegen ihrer Gonorrhoe behandelt würde, zur Zwangsheilung dieser Erkrankung in ein Krankenhaus eingewiesen werden, da sie sonst eine Gefahr für die Allgemeinheit bildet.«512
Eine Entlassung ohne vorherigen Beschluss des Erbgesundheitsgerichts lehnt die Anstaltsleitung aufgrund der Diagnose »angeborener Schwachsinn« weiterhin strikt ab. Dass sich das Sterilisationsverfahren zeitlich verzögert, scheint aber auch die ärztliche Direktion der Anstalt zu beunruhigen, denn auf den 6. Juli 1935 datiert eine Anfrage aus Riedstadt an das städtische Krankenhaus Darmstadt: »Die von Ihnen bei uns am 20. Februar 1935 eingelieferte Anna K. aus B., […], soll bis zu ihrer Sterilisierung in unserer Anstalt zurückgehalten werden. Wir fragen an, ob der Sterilisationsantrag schon gestellt ist, da der Vater der Kranken behauptet, auf dem Erbgesundheitsgericht und dem Staatl. Gesundheitsamt Darmstadt sei davon nichts bekannt. In dem Aufnahmezeugnis jedoch schrieb Dr. Eckhard, dass der Sterilisationsantrag gestellt sei. Wir bitten um beschleunigte Erledigung, da von den Angehörigen grosse Schwierigkeiten gemacht werden und die Entlohnungspflicht der Krankenkasse für die Unfruchtbarmachung am 9. August abläuft.«513
Das Stadtkrankenhaus Darmstadt antwortet daraufhin, dass der Antrag dort am 18. Februar 1935 an das staatliche Gesundheitsamt Darmstadt abgeschickt worden sei.
511 Ibid., Brief des Vaters Karl K. vom 02. 06. 1935. 512 Ibid., Brief der Anstaltsleitung vom 11. 06. 1935. 513 Ibid., Brief der Anstaltsleitung vom 06. 07. 1935.
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Währenddessen scheint sich Anna K. in ihr Schicksal gefügt zu haben. Sie wird jetzt als ruhiger beschrieben, widersetzt sich aber zeitweise noch den Anordnungen und Forderungen des Anstaltspersonals und der Ärzte, woraufhin sie mit Dauerbädern und Beruhigungsmitteln therapiert wird. Am 19. Juni notiert der zuständige Arzt in ihrer Akte: »War in der letzten Zeit meist ruhig und lenksam, half auch fleissig auf der Abteilung mit. Wegen ganz geringfügigen Anlässen, gerät sie aber zeitweise in die heftigsten Erregungszustände. Sie schreit dann in der wüstesten Art und beschimpft ihre Umgebung mit den gemeinsten Ausdrücken. Dabei hat sie ein hochrotes Gesicht und der Schaum steht ihr vor dem Munde. Sie ist dann auch mit den besten Worten nicht zu beruhigen, am besten wirkt dann bei ihr ein Bad.«514
Der nächste Eintrag zwei Wochen später gibt an: »Gestern abend starker psychomotorischer Erregungszustand mit zornigem Affekt. Patientin schreit, tobt, beschimpft den Arzt und das Pflegepersonal in der übelsten Weise, reagiert auf nichts, wirft Gegenstände umher (Waschschüssel, Schemel, Nachttisch). Beim Erscheinen des Arztes steigert sich der Zorn beinahe bis zur Raserei, so dass von der Verabreichung einer Apomorphininjektion nicht abgesehen werden konnte. Dabei musste K. von vier Schwestern gehalten werden. Anschliessend Badbehandlung, worauf bald Beruhigung eintrat. Heute noch sehr abweisend gegen den Arzt, versteckt sich vor demselben, muss zur Visite herbeigerufen werden, nimmt die Kunde von ihrer Verlegung schweigend auf, ohne eine Spur eines Affektes zu zeigen, benimmt sich wie ein zorniges Kind. Wird heute aus Zweckmässigkeitsgründen nach Abtlg. 9 verlegt.«515
Der Status von Anna K.s Sterilisationsantrag ist zu diesem Zeitpunkt immer noch nicht geklärt und die Anstaltsleitung stellt jetzt Nachforschungen beim staatlichen Gesundheitsamt Darmstadt zum Stand des Erbgesundheitsgerichtsverfahrens an: »Wie uns das Städtische Krankenhaus Darmstadt mitteilt, wurde von diesem am 18. Februar 1935 ein Sterilisationsantrag für Fräulein Anna K. aus B., […], gestellt. Da der Vater der Kranken dauernd auf Entlassung seiner Tochter drängt und behauptet, es würde nirgends ein Antrag auf Sterilisierung seiner Tochter vorliegen, bitten wir Sie höflichst uns mitteilen zu wollen, wann und bei welchem Erbgesundheitsgericht von Ihnen der Antrag gestellt wurde. Wir bitten um beschleunigte Erledigung, da von den Angehörigen grosse Schwierigkeiten gemacht werden und die Zahlungspflicht der Krankenkasse für die Unfruchtbarmachung am 9. August abläuft.«516
Etwas mehr als zweieinhalb Wochen vor Ablauf der Zahlungspflicht der Krankenkasse und nunmehr fünf Monate nach Anna K.s zwangsweiser Einlieferung in
514 Ibid., Krankengeschichte, Eintrag vom 19. 06. 1935. 515 Ibid., Eintrag vom 02. 07. 1935. 516 Ibid., Brief der Anstaltsleitung vom 22. 07. 1935.
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die Anstalt ist noch immer nicht geklärt, ob überhaupt ein Sterilisationsantrag vorliegt. Karl K. hatte sich in der Zwischenzeit mit einem Entlassungsgesuch an die nächst höhere Verwaltungsinstanz gewandt und eine Beschwerde beim Reichstatthalter der Landesregierung Hessen eingereicht. Dieser sendet am 25. Juli einen Brief an die Anstaltsleitung mit der Bitte um Erklärung des Falls Anna K. Durch eine Antwort des staatlichen Gesundheitsamts hat die Anstaltsleitung in Riedstadt aber mittlerweile den Status von Anna K.s Sterilisationsantrag geklärt, so dass sie dem Reichsstatthalter am 30. Juli 1935 Folgendes berichten kann: »Fräulein K. leidet zur Zeit noch einer akuten Gonorrhoe mit stark eitrigem Ausfluss, in dem die Erreger dieser Erkrankung auch heute noch nachweisbar sind. Wäre sie in der Freiheit, so würde sie sicherlich eine sehr grosse Gefahr für ihre Umgebung bilden, da sie eine sehr grosse Neigung zum männlichen Geschlecht hat. Sie wird daher weiterhin von uns wegen der Gonorrhoe behandelt. Wie uns die Direktion des städtischen Krankenhauses Darmstadt mitteilte, wurde von ihr am 18. 2. 1935 ein Antrag zur Sterilisation an das Staatliche Gesundheitsamt Darmstadt abgeschickt. Auf unsere Nachfrage – der Antrag lief uns zu lange – stellte sich heraus, dass dem staatlichen Gesundheitsamt Darmstadt eine Anzeige, nicht aber ein Sterilisationsantrag vom städtischen Krankenhaus zugegangen sei. Wir werden daher den Antrag mit dem nötigen Gutachten sofort weiterleiten, so dass die Angelegenheit bald bereinigt ist. Die akute Gonorrhoe jedoch wird auch weiterhin der Anlass sein, dass die Kranke in einer geschlossenen Anstalt zurückgehalten wird, um ihre Umgebung nicht zu gefährden.«517
Der Sterilisationsantrag mit dem notwendigen ärztlichen Gutachten wird noch am selben Tag und damit zehn Tage vor Ablauf der Entlohnungspflicht der Krankenkasse in Riedstadt abgeschickt. Zur Begründung der Diagnose »angeborener Schwachsinn« wird die Geschichte der Familie K. sowie Anna K.s Lebenswandel und ihre schulischen Leistungen herangezogen. Im ärztlichen Gutachten, das der Assistenzarzt Dr. Vogel anfertigt, heißt es dazu: »Der Vater, den ich von der Sprechstunde her kenne, macht einen schwachsinnigen Eindruck. […] Ein Bruder, der nicht lesen und nicht schreiben kann, wurde unfruchtbar gemacht.«
Sie blieb in der Schule sitzen, sei eine »sexuell hemmungslose Patientin, die sich schon wiederholt gonorrhoisch infizierte« und es bestehe außerdem der Verdacht einer Luesinfektion.518
517 Ibid., Brief der Anstaltsleitung Riedstadt vom 30. 07. 1935. 518 Ibid., Ärztliches Gutachten vom 30. 07. 1935.
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Des Weiteren wird erneut die Geschichte ihrer »sinnlosen Betrunkenheiten« wiedergegeben. Dr. Vogel begründet seine Diagnose abschließend mit Anna K.s Krankheitsverlauf in der Anstalt Riedstadt: »Bei ihrer Aufnahme war sie sehr herausfordernd, frech, schrie und sträubte sich in schwachsinniger Weise gegen ihre Einlieferung. Sie war sehr schwierig, schamlos, unanständig. In der Folgezeit traten öfters recht heftige, schwachsinnige Erregungszustände bei ihr auf, für die äussere Ursachen kaum vorhanden waren. In solchen Zuständen tobt und schreit sie in sinnloser Weise, der Schaum steht ihr dabei vor dem Mund, sie schlägt in brutaler Weise auf ihre Umgebung ein. Dann hat sie aber auch wieder Zeiten in denen sie lenksam, freundlich und zugänglich ist. Die Prüfung von Intelligenz und Lebenswissen wies erhebliche Defizite auf. Es handelt sich um einen Schwachsinn höheren Grades, für dessen Entstehung äussere Ursachen fehlen.«519
Eine Woche später ergeht der Sterilisationsbeschluss des Erbgesundheitsgerichts Darmstadt. Ohne Anhörung von Anna K. stellt das Gericht dem ärztlichen Gutachten aus Riedstadt folgend fest, dass Anna K. aus einer erbbelasteten Familie stamme, sie an »angeborenem Schwachsinn« leide und somit ihre Unfruchtbarmachung nach dem GzVeN geboten sei.520 Am gleichen Tag, an dem ihr Sterilisationsbeschluss ergeht, erhält Anna K. in Riedstadt Besuch von ihrem Vater und einem Schwager. Es ist der einzige Besuchseintrag in ihrer Krankengeschichte: »Hatte gestern Besuch ihres Vaters und Schwagers. Diese schimpften auf der Abteilung, drohten auch gegen die Ärzte. Die Patientin wurde dabei ebenfalls sehr erregt, schrie in gemeiner Weise. Der Besuch musste abgebrochen werden. Patientin bekam zur Beruhigung eine Injektion.«521
Bis zur Rechtswirksamkeit ihres Sterilisationsbeschlusses verbleibt Anna K. noch fünf weitere Wochen in Riedstadt, wo sie zwischen der Wachabteilung und dem Dauerbad hin und her verlegt wird. Ein letzter Eintrag in ihrer Krankengeschichte datiert vom 30. August 1935: »Benimmt sich sehr frech auf der Abteilung, hetzt die andern Kranken auf, schreit und schimpft, verweigert die Arbeit; fühlt sich am wohlsten, wenn sie nichts zu tun braucht. Hat das freche Mundwerk einer ausgesprochenen Gossenhure, läuft den Männern nach und spricht sie an. […] Kommt heute wieder, da sie aus geringfügigem Anlass wieder ganz brutal und frech schimpfte, vier Tage ins Dauerbad. Nach erfolgter Sterilisation kann eine solche Frauenperson eigentlich nicht entlassen werden, sondern sollte in einem Arbeitshaus verwahrt sein.«522
519 520 521 522
Ibid. Ibid., Sterilisationsbeschluss vom 07. 08. 1935. Ibid., Krankengeschichte, Eintrag vom 07. 08. 1935. Ibid., Eintrag vom 30. 08. 1935.
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Am 3. September 1935 ist Anna K.s Sterilisationsbeschluss rechtskräftig. Ein Einspruch wurde nicht eingelegt. Um ihren weiteren Verbleib nach ihrer Unfruchtbarmachung zu klären und für eine Unterbringung zu sorgen, schreibt die Anstaltsleitung in Riedstadt am 05. September an das staatliche Gesundheitsamt Darmstadt: »Hierdurch teilen wir Ihnen mit, dass die Patientin Anna K., […], in den nächsten Tagen von uns in die Hebammenlehranstalt nach Mainz zur Sterilisation gebracht werden soll. Die Kranke soll von uns aus dann anschließend entlassen werden. Da dieselbe an einer chronischen, jeder Behandlung trotzenden Gonorrhoe leidet und sexuell völlig hemmungslos ist, wäre es angezeigt, sie weiterhin zwangsweise in spezialärztliche Behandlung zu schicken.«523
Fünf Tage später wird Anna K. nach Mainz zur Unfruchtbarmachung überwiesen und dort am 16. September von Obermedizinalrat Dr. Puppel operiert. Anschließend wird sie von dort nach Hause entlassen, denn der letzte ärztliche Eintrag der Krankengeschichte verzeichnet: »Wird unter dem heuten Datum geheilt (?) aus der Hebammenlehranstalt Mainz, aus derem Bericht, entlassen. Es besteht kein Zweifel, dass es sich bei ihr um einen angeborenen Schwachsinn handelt, was auch durch die nächsten Familienangehörigen, besonders Vater erhärtet wird.«524
523 Ibid., Brief der Anstaltsleitung vom 05. 09. 1935. 524 Ibid., Krankengeschichte, Eintrag vom 02. 10. 1935.
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4.2.6 Johanna M.
Abbildung 27: Foto Johanna M.
»…, sodass von seiner Seite wie er angibt, keine Gefahr des Nachwuchses besteht.«
Geboren 1906 Zwangssterilisiert in Mainz 1937 Johanna M. ist bei ihrer Einweisung in die Landes-Heil- und Pflegeanstalt Riedstadt 31 Jahre alt, in erster Ehe mit dem Mechaniker Eugen M. verheiratet und Mutter von zwei Kindern im Alter von vier und sieben Jahren. Im April 1936 sucht ihr Ehemann mit seiner Frau einen Arzt auf, der nach einer körperlichen Untersuchung und Anamnese die dringende Aufnahme von Johanna M. in die geschlossene Anstalt empfiehlt. Das ärztliche Zeugnis macht zu ihrem Krankheitsverlauf folgende Angaben: »Mutter gesund, Vater 1932 gestorben an Blasenleiden, ihre Großmutter zeigte im Alter von 70 Jahren geistige Störungen. Die Geschwister der Patientin sind gesund, sonst in der Verwandtschaft nichts festzustellen. Die Kinder sind geistig sehr gut entwickelt und machen einen durchaus normalen Eindruck.«525
In der Jugend sei Johanna M. sehr gut entwickelt und eine der besten Schülerinnen gewesen. Sie war bis vor ihrer Ehe als Kontoristin beschäftigt und nach den Angaben des Zeugnisses niemals ernsthaft krank.526 Weiter heißt es dort:
525 Archiv des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen, Bestand 18, Patientenakte, Ärztliches Zeugnis vom 20. 04. 1936. 526 Ibid.
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»Seit Anfang März fiel eine gewisse Teilnahmslosigkeit auf. Sie klagte über verschiedene Beschwerden, […] innere schwermütige Stimmung, bald mehr erregte Ideenflucht, Beziehungswahnideen. Selbstbeschuldigungen, als wenn sie die Kinder nicht richtig erziehe, keine richtige Hausfrau sei. Ihr Mann sei nicht ihr Mann etc., ihr Mann ginge nicht ins Geschäft, sondern anderswohin. […] Am Samstag versuchte sie mit einem Messer sich die Pulsadern zu durchschneiden, sie nahm sich vor sich etwas anzutun, wollte auch nicht mehr essen.«527
Eugen M., der offensichtlich nicht mehr weiß, wie er die Gesundheit seiner Frau gewährleisten kann, zeigt sich mit ihrer Aufnahme in die Anstalt einverstanden und stellt sich daraufhin gemeinsam mit Johanna M. in Riedstadt vor. Im ärztlichen Krankenbericht vermerkt der aufnehmende Arzt am Abend des 18. April 1936: »Kommt heute in Begleitung des Ehemanns um 20.30 Uhr zur Aufnahme. An Papieren ist lediglich eine ärztliche Bescheinigung vorhanden. Es erscheint eine junge, gesund aussehende Frau, mit gespanntem Gesichtsausdruck, welche verstört und ratlos in eine Ecke des Zimmers schaut. Auf Befragen erklärt sie, sie sei Frau M. nicht, sie höre viele Stimmen, die ihr zuriefen, was könne sie nicht sagen. Sie sei nicht verheiratet, habe keine Kinder. Spontan spricht sie nichts, spricht mit schleppender leiser Stimme. Geht willig mit auf die Abteilung. Sie weiss nicht, wo sie sich befindet, ist zeitlich nicht orientiert. Der begleitende Ehemann gibt an, dass heut ihr achtjähriger Hochzeitstag sei. Er ist sehr niedergeschlagen und bricht in Tränen aus. Die Erkrankung bestehe seit Anfang März, Beginn mit Lustlosigkeit, ohne Interesse für den Haushalt und für die Kinder, Antriebsarmut, Angstzustände, sie müsse ersticken, Kot käme aus dem Hals. Wirre Reden; ich bin du, du bist ich. Ende März Besserung. Jetzt mit Einsetzen der Menses starke Verschlechterung. Heute Suizidversuch (viermal), versuchte sich mit Küchenmesser die Pulsadern aufzuschneiden. Wegen mangelnder Überwachung Einweisung.«528
Johanna M. wird in Abteilung 4 aufgenommen. Der Pflegebericht beschreibt sie als sehr unruhig. Sie schläft kaum, hält die anderen Kranken für Totengräber, glaubt ihr Essen sei vergiftet: »Musste ins Bad gebracht werden, rief, als sie dahin gebracht wurde, man solle sie doch nicht ins Grab tun, sie wolle sich lebendig einmauern lassen.«529 Dieser Zustand ändert sich auch in den nächsten Wochen nicht. Welche Therapien außer der Dauerbadbehandlung bei Johanna M. angewandt wurden ist aus dem Krankenbericht nicht ersichtlich. Da sie zeitweise die Nahrungsaufnahme verweigert, wird sie gefüttert, oder mit einer Sonde ernährt. Zehn Tage nach ihrer Einweisung erhält sie Besuch von ihrem Ehemann: »Hatte am 28. Besuch ihres Mannes, der dabei angab, die Mutter der Kranken sei eine etwas eigenartige Natur, der man nicht recht Nahe komme. Er, der Schwiegersohn, tue ihr alles, sie aber nichts für ihn. Während der Krankheit seiner Frau habe er gekocht und 527 Ibid. 528 Ibid., Krankengeschichte, Eintrag vom 18. 04. 1936. 529 Ibid., Eintrag vom 20. 04. 1936.
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die Hausarbeit geschafft, die Schwiegermutter habe aber erst dann angefangen, sich um etwas zu kümmern, als seine eigene Mutter begonnen habe ihm zu helfen. Zwischen der Kranken und ihrer Mutter habe immer ein etwas fremdes Verhältnis gestanden, sie habe mal zu ihm geäussert, hätte ihr Vater eine andere Frau gehabt, er lebte noch. Das sei in den letzten zehn Tagen gewesen, ehe sie krank geworden sei. Sie habe ihrem Vater überhaupt viel näher gestanden, als der Mutter, sei eine gute und freundliche Natur gewesen, habe aber im Leben vieles stillschweigend über sich ergehen lassen müssen.«530
An Johanna M.s Zustand ändert sich vorerst nichts: »Aus ihren Äusserungen geht hervor, dass sie die Schwester verkennt und sie für ihre Mutter hält, gelegentlich auch für einen Mann. Bei dem Besuch erklärte sie, ihre Kinder seien in Wirklichkeit nicht ihre Kinder, das seien nur Täuschungen. Der Trauring sei ein Zehnpfennigring.«531
Die folgenden ärztlichen Einträge in der Krankengeschichte zeichnen ein ähnliches Bild von Johanna M.s Gemütszustand. Sie wird weiterhin als ängstlich und gehemmt beschrieben, verkennt die Anstaltsrealität und nimmt nur unregelmäßig Nahrung zu sich, so dass immer wieder die Überlegung angestellt wird, sie künstlich über eine Magensonde zu ernähren. In diesen Zeitraum ungefähr drei bis vier Wochen nach ihrer Einweisung in die Anstalt fällt auch die Antragsstellung auf Unfruchtbarmachung am Erbgesundheitsgericht. Ein genaues Datum lässt sich in den ärztlichen Berichten nicht festmachen, so dass es fast erscheint, als sei dieser Vorgang bereits so automatisiert, dass es keiner näheren Dokumentation bedurfte. Das ärztliche Gutachten der Anstaltsleitung, das die Sterilisation von Johanna M. begründen soll, datiert auf den 14. Mai 1936, knapp vier Wochen nach ihrer Aufnahme in Riedstadt. Ein familiäres Leiden wird in diesem Gutachten weiterhin nicht berichtet. Einzig die Großmutter, die mit 70 Jahren an einer geistigen Störung gelitten haben soll, wird explizit erwähnt. Neben einem weitestgehend unauffälligen körperlichen Befund, beschreibt das Gutachten Johanna M.s Psyche: »In der ersten Zeit nach ihrer Aufnahme in die Anstalt verhielt sich die Kranke völlig unzugänglich, ablehnend und widerstrebend. Zeitlich und örtlich war sie nicht orientiert. Sie war sehr ängstlich erregt, sah mit ratlosen und verständnislosen Blicken um sich. Sie verkannte andere Kranke, hielt diese für Totengräbermasken. Sie reagierte darauf mit starken Erregungszuständen. Das Bewusstsein schien während dieser Zeit leicht getrübt. Stets lehnte sie es ab mit ihrem Zunamen angeredet zu werden, sie heisse nicht Frau M., sei nicht verheiratet, habe auch keinen Mann und keine Kinder. Sie hielt sich für einen Mann und glaubte auch ihre Mitkranken seien Männer, diese seien schon alle gestorben und stammten von Pforzheim. Da sie das Essen für vergiftet hielt, nahm 530 Ibid., Eintrag vom 01. 05. 1936. 531 Ibid.
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sie keine Nahrung zu sich und musste mit dem Löffel und später mit der Sonde gefüttert werden. Vorübergehend zeigte sie sich etwas freier und zugänglicher und versuchte sich auch etwas zu beschäftigen. Sie hielt jedoch noch weiter an ihren Wahnideen fest, behauptete beim Besuch ihres Mannes, dies sei nicht ihr Mann, das sei nur eine Täuschung, es sei ein »Doppelgänger«. Ferner äusserte sie, dass ihr verstorbener Vater gar nicht tot sei, sondern sich auch hier befinde. Sie zeigt mitunter ein ausgesprochenes Krankheitsgefühl, hat jedoch keine Krankheitseinsicht. Seit kurzem ist sie wieder völlig unzugänglich, stumm und ablehnend, hält sich ganz für sich und zeigt kein Interesse für ihre Umwelt. Oft bleibt sie längere Zeit regungslos auf einem Platz stehen und zeigt einen ratlosen und ängstlichen Gesichtsausdruck. Sie scheint nunmehr stärker unter dem Einfluss von Sinnestäuschungen zu stehen, so schrie sie nachts plötzlich auf: »Ich muss – ich muss« und suchte sich dabei mit beiden Händen die Kehle zu zudrücken. Das Bewusstsein ist zurzeit klar. Der Kontakt mit der Kranken scheint in letzter Zeit abzunehmen.«532
Aufgrund des beschriebenen Befundes diagnostizieren die Ärzte bei Johanna M. eine »Schizophrenie«, was die Beantragung ihrer Unfruchtbarmachung rechtfertigt. Da sie den Ärzten nicht geschäftsfähig erscheint, wird ein Verwandter als ihr Vormund bestimmt, der den Antrag beim Erbgesundheitsgericht mitstellen soll. Während somit das Verfahren über Johanna M.s Unfruchtbarmachung seinen Beginn nimmt, hat sich am Anstaltsalltag der jungen Frau wenig geändert. In der ärztlichen Krankengeschichte wird sie weiterhin als ablehnend und unzugänglich beschrieben. Ihren Mann kann sie immer noch nicht anerkennen. Sie gibt an, sie könne nicht immer essen, da sie keinen Appetit habe, da die Abstände zwischen den Mahlzeiten zu kurz seien.533 Am 15. Juni versucht sie erneut, sich mit einer Glasscherbe die Pulsadern zu öffnen, was aber rechtzeitig verhindert werden kann. Die ärztlichen Berichte beschreiben sie aber von diesem Zeitpunkt an etwas verändert. Sie verlangt nach ihrem Ehemann und ihren Kindern und möchte nach Hause entlassen werden. »Am 16. vermehrte Unruhe und darum ins Dauerbad gebracht. Die Unruhe stieg. Am 16. Besuch des Manns, sprach dabei wenig. Wurde nach dem Besuch äusserst aufgeregt, rannte herum, wollte der Schwester den Druckschlüssel wegnehmen, gebärdete sich ganz verzweifelt, dass sie ihr Mann nicht mitgenommen habe, lief ihm nach, rief ihn immer wieder bei Namen. Musste da gar nicht zu beruhigen nach dem Dauerbad gebracht werden.«534 Über ihren Verbleib scheint sie immer noch nicht orientiert, möchte aber jetzt nach Hause: »Steht der Situation ganz ratlos gegenüber, findet sich nicht zurecht, glaubt in Dreieichenhain zu sein, verlangt zu Mann und Kindern.«535
532 533 534 535
Ibid., Ärztliches Gutachten vom 14. 05. 1936. Ibid., Krankengeschichte, Einträge vom 20. 05. 1936 und vom 06. 06. 1936. Ibid., Eintrag vom 18. 06. 1936. Ibid., Eintrag vom 01. 07. 1936.
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Zwei Wochen nach diesem Eintrag ergeht Johanna M.s Sterilisationsurteil. In der Begründung heißt es: »Frau M. leidet nach dem eingehend begründeten völlig überzeugenden fachärztlichen Gutachten eines der Ärzte der im entscheidenden Teil genannten Anstalt an Schizophrenie, einer Erbkrankheit im Sinne von § 1 des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. 07. 1933.«536
Und weiter: »Exogene Verursachung einer geistigen Erkrankung kommt nicht in Frage. Erbliche Belastung von der väterlichen Seite her ist in nicht unerheblichem Umfange vorhanden.«537 Welche nicht unerhebliche erbliche Belastung bei Johanna M. vorliegt, ist nicht weiter aufgeführt. Da sowohl der für das Gerichtsverfahren bestellte Vormund und der Ehemann der Unfruchtbarmachung zustimmen, wird diese am 02. August 1936 rechtskräftig. Johanna M. soll sich hierfür in der Zeit vom 13. August bis zum 30. August in der für ihre Sterilisation zuständigen Klinik vorstellen. Währenddessen beschreibt der ärztliche Krankenbericht ihren Zustand weiterhin als kritisch: »Seither wenig verändert, isst zwar nun von selbst, wenn man ihr den ersten Bissen in den Mund steckt. Drängt aber im übrigen noch ebenso einsichtslos auf Entlassung wie bisher. Hatte am 5.8. Besuch ihrer Mutter, klammerte sich an dieser fest, wollte nicht loslassen, drängte darauf mitgenommen zu werden, wurde mit Mühe von ihr getrennt, stand danach ständig an der Tür und wiederholte immer den Wunsch, man möge sie zu ihrem Eugen und zu ihren Kindern lassen.«538
Im August verzeichnet der Krankenbericht nur einen weiteren Eintrag, in welchem Johanna M. erneut ihren Entlassungswunsch vorbringt und sich nach ärztlicher Einschätzung in den Besuchen ihres Mannes auch mit Verständnis nach den häuslichen Angelegenheiten und den Kindern daheim erkundigt. Dennoch wird sie von den Ärzten nicht als krankheitseinsichtig eingeschätzt, da sie weiterhin Personen innerhalb der Anstalt mit ihren Kindern und ihrem Mann verwechselt und aufgrund ihrer »Erregungszustände« im Dauerbad und unter Beruhigungsmitteln gehalten wird.539 Aufgrund ihres Zustandes scheint den Ärzten ihre Unfruchtbarmachung zum jetzigen Zeitpunkt als nicht durchführbar, so dass das Gerichtsurteil am 22. August vom zuständigen Gesundheitsamt bis auf weiteres ausgesetzt wird.540
536 537 538 539 540
Ibid., Sterilisationsbeschluss vom 16. 07. 1936. Ibid. Ibid., Krankengeschichte, Eintrag vom 17. 08. 1936. Ibid., Eintrag vom 29. 08. 1936. Ibid., Schreiben des Gesundheitsamtes Offenbach vom 22. 08. 1936.
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Für den gesamten September gibt es keinen ärztlichen Bericht über Johanna M.s Befinden. Erst am 17. Oktober gibt es einen neuen Eintrag in ihrer Krankengeschichte. Dort heißt es jetzt: »Sträubt sich gegen alles, was von aussen her an sie herantritt, lehnt alles ab, klammert sich überall fest und schreit, sie wolle doch heim, zu ihrem Eugen und zu ihren Kindern. Dies bringt sie immer in einförmiger stereotyper Weise vor. Sie ist ohne jede Krankheitseinsicht; beschäftigt sich hier mit nichts und ist vollkommen von den Gedanken absorbiert, dass sie nach Hause müsse. In den letzten Tagen isst sie etwas selbstständig.«541
Am 23. Oktober notiert der Arzt: »Unverändert, hielt gestern Abend bei der Visite Dr. Franz für ihren Eugen.«542 Im Gegensatz zu den Ärzten sieht Johannas Ehemann bei seinen Besuchen eine Besserungstendenz im Verhalten seiner Ehefrau, so dass er sich am 21. Oktober mit einer Bitte schriftlich an die ärztliche Direktion der Anstalt wendet: »Die immerwährende Unruhe und das […] meiner Frau Johanna M. nach ihren 2 Kindern veranlassen mich, mit der dringenden Bitte an die Direktion heranzutreten mir zu gestatten, meine Frau versuchsweise nach Hause nehmen zu dürfen. Nach Rücksprache mit Oberarzt Schönmehl, bin ich zu der Überzeugung gekommen, meiner Frau die Krankheit durch die Vereinigung mit ihren Kindern erträglicher zu gestalten. Es war bisher nicht möglich die beantragte Unfruchtbarmachung durchzuführen; ich verpflichte mich hiermit bis zum Zeitpunkt der Durchführung obengennantes, dem ehelichen Verkehr mit meiner Frau zu entsagen. Sollte der Versuch nicht den gewünschten Erfolg haben, so dass der Aufenthalt meiner Frau zu Hause nicht möglich ist, so bin ich bereit, dieselbe wieder in Ihre Anstalt zu überführen. Ich hätte dann aber nichts unversucht gelassen, eine schnellere Heilung herbeizuführen und stände auch gerechtfertigt vor der drängenden Mutter meiner Frau und den nächsten Angehörigen. Zerstören Sie bitte nicht meine Hoffnungen und erfüllen Sie meinen Wunsch.«543
Eine Entlassung vor Sterilisation war durch das GzVeN zu diesem Zeitpunkt rechtlich ausgeschlossen. Dennoch wendet sich die ärztliche Leitung zwei Tage später in einem Schreiben an das staatliche Gesundheitsamt, um eine versuchsweise Entlassung von Johanna M. nach Hause absegnen zu lassen: »Herr Eugen M., dessen Frau bei uns wegen einer Schizophrenie (katatone Form) untergebracht ist, richtet an uns die Bitte, man möge seine Frau ihm wenigstens versuchsweise einmal mit nach Hause geben. Die Kranke hat starke Sehnsucht nach ihrem Mann und ihren Kindern, steht hier dauernd an der Türe herum und verlangt nach diesen. Eine Sterilisation bei ihr ist noch nicht vorgenommen. Wenn wir uns auch kaum
541 Ibid., Krankengeschichte, Eintrag vom 17. 10. 1936. 542 Ibid., Eintrag vom 23. 10. 1936. 543 Ibid., Brief des Ehemanns vom 21. 10. 1936.
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etwas von einer Beurlaubung nach Hause versprechen, so können wir uns doch nicht dem Wunsche des Ehemannes ganz verschliessen und haben nichts dagegen einzuwenden, wenn Herr M. seine Frau bevor sie sterilisiert ist, nach Hause nimmt. Er selbst verpflichtet sich, mit seiner Frau nicht zu verkehren, sodass von seiner Seite wie er angibt, keine Gefahr des Nachwuchses besteht. Auf der anderen Seite ist der Zustand der Frau so, dass eine Schwängerung von einem fremden Manne her bei ihr wohl nicht in Frage kommt. Beiliegenden Brief bitten wir uns wieder zukommen zu lassen. Wir bitten um Ihre Stellungnahme.«544
Drei Wochen später wird Johanna M. gegen ärztlichen Rat am 13. November 1936 versuchsweise nach Hause entlassen. Vier Tage später wird sie wieder in Riedstadt aufgenommen, da sie zu Hause bei ihrer Familie nicht zurechtkommt. Sie sträubt sich gegen ihre Wiederaufnahme und wird erneut in die Wachabteilung gebracht. Die ärztlichen Einträge in ihrer Krankengeschichte finden von diesem Zeitpunkt an nur noch einmal im Monat statt und gleichen sich zusehends. Es scheint, als hätten sich die Ärzte mit dem jetzigen Zustand abgefunden. Am 17. Dezember 1936 dokumentiert der Arzt in ihrer Krankenakte: »Steht seit Tagen am Mieder befestigt im Saal umher, drängt dauernd aus dem Saal oder aus dem Bett, hält Dr. Franz für ihren Mann, klatscht in die Hände, macht bitte, bitte, daß dieser mal zu ihr kommt, ist sehr schwierig in allen ihren Verrichtungen, bedarf, um ihr die Kleider ausziehen zu können einer Spritze. Einförmig, monoton in ihrem Verhalten.«545
Auch zu Beginn des neuen Jahres beschreiben die Ärzte Johanna M.s Verhalten weiterhin unverändert. Im Februar findet dann ein ärztliches Gespräch mit Eugen M. statt, in welchem ihm erklärt wird, dass es sich bei dem Zustand seiner Frau um eine schwere Geisteskrankheit, eine Erbkrankheit handele und dass kaum Aussicht auf eine Wiederherstellung nach dem jetzigen Stand der Wissenschaft bestehe.546 Die Tage im Anstaltsleben von Johanna M. scheinen sich fortan zu gleichen und auch die Besuche ihrer Angehörigen werden nicht mehr dokumentiert. Der nächste Eintrag in ihrer Krankengeschichte datiert erst zwei Monate später auf den 16. April 1937: »In ihrem ganzen Verhalten und Benehmen unverändert, sitzt ohne Motorik mimiklos und mit ausdruckslosem Gesicht steif in ihrem Bett, schaut ratlos fragend bei der Visite die Ärzte und Schwestern an, verkennt ab und zu manchmal in diesen ihre Kinder oder ihren Mann Eugen, was aber nicht mehr so stark hervortritt wie früher. Sie hat kör-
544 Ibid., Brief der Anstaltsleitung vom 23. 10. 1936. 545 Ibid., Krankengeschichte, Eintrag vom 17. 12. 1936. 546 Ibid., Eintrag vom 12. 02. 1937.
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perlich an Gewicht zugenommen, sieht besser aus. Bekommt nachts Beruhigungsarznei.«547
Drei Wochen später ändern sich die ärztlichen Einträge zum ersten Mal seit Johanna M.s Wiederaufnahme in ihrem Ton und Inhalt. Sie wird wieder aktiver, beschäftigt sich in der Anstalt und wird daraufhin von der Wachabteilung in die normalen Schlafsäle verlegt. Am 7. Mai 1936 schreibt sie aus der Anstalt an ihren Mann: »Lieber Eugen! Zu deinem Geburstag noch nachträglich die herzlichsten Glückwünsche. Verzeih, daß ich es am 5. nicht tat. Sei so gut und hole mich bitte zu Dir heim, alles andere Versäumte hole ich dann nach. Gruß und Kuß Johanna.«548
Da die Besserung in Johanna M.s Zustand weiter anhält, informieren die Ärzte das Gesundheitsamt Offenbach, dass eine Sterilisation im jetzigen Zustand möglich sei. Am 22. Mai setzt das Gesundheitsamt daraufhin eine neue Frist für die Durchführung der Unfruchtbarmachung. Zwischen dem 24. Mai und dem 6. Juni soll sich Johann M. nun in der Hebammenlehranstalt Mainz zur Unfruchtbarmachung einfinden.549 Am 28. Mai wird sie aus Riedstadt dorthin überwiesen. Im Krankenbericht heißt es dazu: »Trotzdem der Beschluß über die Unfruchtbarmachung der Patientin am 2. August 1936 schon Rechtskraft erhielt, war die Durchführung der Operation wegen ihrer grossen Unruhe seither nicht möglich. Der Zustand hat sich nun soweit gebessert, dass sie heute zur Vornahme der Sterilisation nach der Hebammenlehranstalt und Frauenklinik Mainz überführt werden kann.«550
Bereits am Folgetag wird sie von Obermedizinalrat Puppel durch die Unterbindung beider Eileiter unfruchtbar gemacht und am 9. Juni mit Erlaubnis der Anstalt Riedstadt und auf Bitten des Ehemanns als geheilt nach Hause entlassen.551 Die Anstaltsdokumentation vermerkt zu ihrer Entlassung: »Gebessert, erwerbsunfähig entlassen. Nach dem seitherigen Krankheitsverlauf besteht die Diagnose »Schizophrenie« zu Recht.«552 Über die Zeit nach Johanna M.s Entlassung nach Hause gibt es in der Krankenakte nur noch zwei Einträge. Am 25. Oktober 1937 vermerkt der Krankenbericht: »Wie ein fremder Besuch uns mitteilt, soll es der Patientin sehr gut gehen. Sie arbeitet in ihrem Haushalt und falle ihrer Umgebung kaum auf.«553 Mit der Bitte um Auskunft über das Befinden seiner Ehefrau wendet sich Oberarzt 547 548 549 550 551 552 553
Ibid., Eintrag vom 16. 04. 1937. Ibid., Abschrift des Briefes in der Krankengeschichte, Eintrag vom 10. 05. 1937. Ibid., Schreiben des Gesundheitsamts Offenbach vom 22. 05. 1937. Ibid., Krankengeschichte, Eintrag vom 28. 05. 1937. Ibid., Sterilisationsbericht vom 10. 06. 1937. Ibid., Krankengeschichte, Eintrag vom 11. 06. 1937. Ibid., Eintrag vom 25. 10. 1937.
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Lebensgeschichten
Schönmehl im November 1937 in einem Brief an Eugen M und erhält daraufhin ein Antwortschreiben von Johanna M. persönlich: »Sehr geehrter Herr Dr. Schönmehl! Ihr geehrtes Schreiben vom 30.11. nebst Photographie haben wir erhalten. Herzlichen Dank für Ihre Bemühungen. Herr Dr. Sie möchten gerne von meinem Mann über meinen Zustand orientiert sein. Ich tue es selbst, und kann Ihnen schreiben, daß es mir sehr gut geht. Damit Sie sich davon überzeugen können, kommen mein Mann und ich am nächsten ersten Mittwoch im Januar gerne zu Ihnen nach Offenbach in die Sprechstunde. Ich freue mich darauf. Johanna M.«554
Johanna M.s Krankengeschichte endet mit einem letzten Eintrag am 5. Januar 1938: »Erschien in der Sprechstunde in Offenbach, wo sie einen äusserst günstigen Eindruck macht. Auffallend bei ihr ist, wie sie mit einer Krankheitseinsicht, Kritik und Objektivität heute ihrem früheren Krankheitszustand gegenübersteht. Sie kann sich nicht mehr so recht an alles entsinnen, was auf der Abteilung mit ihr vorging. Sie gibt an, damals sehr viele Stimmen gehört zu haben, die sie ganz verrückt machten. Nach der Sterilisation in Mainz ginge es ihr etwas besser, aber als sie nach Hause kam, war sie noch nicht gesund, wie sie selbst angibt, sie war noch sehr misstrauisch, glaubte, wenn es an der Türe schellte, und ihr Mann ginge hin, man rede über sie und dergleichen mehr. Aber allmählich, wie sie weiter fährt, besserte sich auch dieser Zustand und heute hat sie nichts mehr von alledem. Während sie früher sich über Kleinigkeiten Kummer und Sorgen machen konnte, tut sie dies heute nicht mehr, sie steht Schicksalsschlägen gefestigter gegenüber wie früher. Ihr Aussehen ist blendend und an ihrer Unterhaltung merkt man nicht an, dass sie früher einmal so krank war, wie oben in der Krankengeschichte beschrieben.«555
554 Ibid., Brief von Johanna M. vom 04. 12. 1937. 555 Ibid., Krankengeschichte, Eintrag vom 05. 01. 1937.
»Philippshospital« Riedstadt Goddelau
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4.2.7 Sophie S.
Abbildung 28: Foto Sophie S.
»Das Mainz wird mich zu Tode kränken.«
Geboren 1912 Zwangssterilisiert in Mainz 1938 Im Alter von 26 Jahren betritt Sophie S. in der Nacht des 2. Februar 1938 die Heilund Pflegeanstalt »Philippshospital« bei Goddelau: »Die Kranke wird heute gegen 23.30 Uhr von der Rettungswache in Begleitung ihres Onkels Johann S. aus dem Krankenhaus Dieburg nach hier verbracht. Sie sei dort ursprünglich wegen Herzschwäche und Blinddarmverdacht eingeliefert worden. Heute Abend sei sie plötzlich motorisch stark erregt geworden, da sie glaubte sterben zu müssen. Todesgedanken habe sie schon früher geäussert und sich immer vor dem Tode gefürchtet. Heute habe sie noch dazu die Nahrungsaufnahme verweigert, da sie Gift in den Speisen vermutete. Auch scheint sie unter Geruchshalluzinationen zu stehen: »Ihr merkt nicht, wie ihr alle von den Giftgasen umfallt.« Bei der Aufnahme ist sie in hohem Grade widerstrebend, störrisch und negativistisch. Gegen den Arzt wehrt sie sich mit Kräften. Konnex ist mir ihr nicht zu bekommen. Der Onkel gibt an, dass die Patientin bisher ein sehr gutes, lenksames und fleissiges Kind gewesen sei. Die Kranke ist ein uneheliches Kind der Klara S. Der Kindesvater ist Vetter der Mutter. Familiäre Belastung lehnt der Onkel ab. […] Die Kranke kommt ins Bad auf das Rollbett. Sollte sie erregt werden, wird Dauerbad angeordnet.«556 556 Archiv des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen, Bestand 18, Patientenakte, Krankengeschichte, Eintrag vom 02. 02. 1938.
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Lebensgeschichten
Laut des ärztlichen Einweisungszeugnisses, begann Sophie S.’ Erkrankung vor ca. 10 Tagen. Sie habe »irr gesprochen« und das Essen verweigert, woraus der zuständige Arzt eine Selbstgefährdung herleitete und eine Unterbringung im »Philippshospital« veranlasste.557 Ihre erste Nacht verbringt Sophie unruhig in der abgedeckten Wanne der Dauerbadabteilung: »Fräulein S. kam um halb 3 Uhr erregt ins Bad, war sehr schwierig, bekam das Decktuch. War dann sehr unruhig, bewegte sich ständig auf und ab, streckte die Zunge weit heraus und stieß unnatürliche Töne dabei hervor. Rief und winkte wiederholt die Schwester herbei und verlangte aus der Wanne gelassen zu werden, […].«558
Auch körperlich geht es Sophie S. schlecht. In der Eingangsuntersuchung wird ihr eine Lungenentzündung diagnostiziert. Ihr Ernährungszustand scheint den Ärzten reduziert, ihre Haut wird als blass beschrieben und sie habe tiefe Schatten unter den Augen. Wiederholt wird Fieber bis zu 39,9 Grad Celsius gemessen und sie wird, da sie weiterhin die Nahrungsaufnahme verweigert mit einer Magensonde ernährt.559 Die Schwestern notieren im Pflegebericht auch Episoden von Halluzinationen: »Patientin klopfte oft an die Tür und wollte hinaus. Sie sprach davon, daß es draußen schießen würde und man Menschen umbrächte. Als sich die Kranke mit auf den Flur nahm, damit sie sich überzeugen könne, daß nichts da ist, zeigte sie große Angst. Am Nachmittag bekam die Kranke Arznei, worauf sie bald einschlief.«560
In den folgenden Tagen klingen die Symptome ihrer Lungenentzündung langsam ab und sie wird daraufhin als zugänglicher und ruhiger beschrieben, so dass sie auf die ruhige Abteilung verlegt wird. Dennoch ist sie noch sehr ängstlich, bleibt meistens für sich und ihre Gedanken scheinen sich weiterhin um den Tod zu drehen: »Hatte gestern Besuch von ihrem Vetter. Während sie vorher nie etwas sprach, redete sie mit diesem sehr viel und man sieht aus folgendem Bericht, mit welchen Ideen sie sich abgibt: Als sie in das Besuchszimmer gebracht wurde lachte sie mit ihrem Besuch und sagte: »Na Johann, wie kommst Du denn her.« Weiter frage sie, wo sie denn hier sei. Als der Besuch ihr sagte, dass sie hier im Krankenhaus sei, sprang sie plötzlich vom Stuhl hoch, lief zu einem Bild und las richtig, was darauf stand. Dann sprang sie zur Türe, schlug feste dagegen und sagte: ›Hörst Du, draus werden sie alle verhackt, hier sind lauter Juden, ich bin auch im Pranger und werde auch verhackt, alle müssen zum
557 558 559 560
Ibid., Einweisungszeugnis vom 31. 01. 1938. Ibid., Pflegebericht, Eintrag vom 03. 02. 1938. Ibid., Krankengeschichte, Einträge vom 03. 02. 1939, 04. 02. 1938 und 06. 02. 1938. Ibid., Pflegebericht, Eintrag vom 04. 02. 1938.
»Philippshospital« Riedstadt Goddelau
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Thälmann und müssen sich verhacken lassen. […] Scheinbar bezog die Kranke das Klopfen eines Handwerkers auf der Abteilung darauf.‹»561
Auch wenn die ärztlichen Einträge keine explizite Diagnose festhalten, scheint sich durch diese Berichte der Schwestern das ärztliche Urteil zu verfestigen, dass Sophie S. an einer »Schizophrenie« leidet. Bereits am 11. März, fünf Wochen nach ihrer Aufnahme, wird der zuständige Kreisarzt über die Diagnose informiert und der Sterilisationsantrag beim zuständigen Erbgesundheitsgericht geplant: »Heute erging Anzeige an den Herrn Kreisarzt in Dieburg, dass die Kranke an Schizophrenie leidet. Antrag wird zur gegebenen Zeit von uns gestellt.«562
Zur Therapie wird daraufhin im März eine Insulinkur begonnen, nachdem ihr Onkel seine Einverständniserklärung für diesen Therapieversuch gegeben hatte. Vom 9. März an erhält Sophie S. Montag bis Samstag täglich morgens eine Dosis Insulin, welche nach und nach gesteigert wird. Sie fällt daraufhin in einen hypoglykämischen Schock, aus welchem sie nach einer gewissen Zeit mit der Applikation einer Glukoselösung wieder erweckt wird. In einem Insulinprotokoll wird die langsame Steigerung der Insulindosen, die Wirkung und der Verlauf festgehalten: »1. Tag, 9.3.38, 7.00 Uhr, 12 Einheiten Insulin: Die Kranke ist bei der Injektion sehr schwierig, bald darauf liegt sie ruhig da, verlangt nach Nahrung. 11.00 Uhr bekommt sie 100 g Zucker in Tee, verweigert denselben, bekommt den Tee mit der Sonde, ist dabei sehr schwierig und widerstrebend. […] 16. Tag, 26.3.38, 7.00 Uhr, 28 Einheiten Insulin: Ruhig, schläfrig. 10.00 Uhr tritt Bewegungsunruhe ein, leichte Zuckungen im Gesicht. 10.30 Uhr die Kranke ist benommen, Speichelfluß. 11.00 Uhr bekommt 150 g Zucker (Sonde). Erwacht gut. […] 30. Tag, 13.4.38, 7.00 Uhr, 36 Einheiten Insulin: Ruhig, schläfrig. 9.00 Uhr starke Zuckungen über den ganzen Körper, die Kranke ist benommen, Speichelfluß. 10.50 Uhr bekommt sie 150 g Zucker (Sonde). Erwacht gut. […] 50. Tag, 10.5.38, 7.00 Uhr, 42 Einheiten Insulin: Liegt ruhig schlafend da. 9.00 Uhr tritt Bewegungsunruhe ein, verbunden mit Zuckungen über den ganzen Körper. Schweißausbruch. 10.00 Uhr Unruhe lässt nach, Speichelfluß, die Kranke ist benommen. 10.45 Uhr bekommt sie 150 g Zucker (Sonde). Erwacht gut.«563
Die ärztlichen Einträge in der Krankengeschichte werden in der Folge weniger, beschreiben aber eine allmähliche Besserung ihres Zustands, welche die Ärzte als Erfolg der Insulintherapie werten: »Die Kranke ist in den letzten Tagen geordneter und selbstständiger beim Essen. Unterhält sich auch manchmal ein paar Worte mit den Schwestern.«564 Daraufhin wird die Insulinkur im April und Mai fort561 562 563 564
Ibid., Krankengeschichte, Eintrag vom 19. 02. 1938. Ibid., Eintrag vom 11. 03. 1938. Ibid., Insulinprotokoll, Einträge vom 09. 03. 1938, 26. 03. 1938, 13. 04. 1938 und 10. 05. 1938. Ibid., Krankengeschichte, Eintrag vom 23. 03. 1938.
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geführt und die Ärzte beschreiben sie zunehmend als »psychisch wesentlich aufgeschlossener« und »freier« mit mehr Interesse an der Abteilung und den Arbeitsabläufen.565 Die Folgen dieser drastischen Therapie für das Befinden von Sophie S. sind nur an einer Stelle im Pflegebericht belegt. Dort heißt es, sie kam mit Kopfschmerzen von der Kur zurück und musste sich erbrechen.566 Während die Diagnose »Schizophrenie« für die Anstaltsärzte auch durch den »Therapieerfolg« der Insulinkur bestätigt scheint, wehrt sich Sophie S.’ Onkel gegen die Diagnose einer »Geisteskrankheit« seiner Nichte und drängt auf eine Entlassung. Offenbar hatte er von Beginn an eine andere Ansicht über die Erkrankung und auch über die Therapie seiner Nichte. Am 3. Juni 1938 schreibt er an die Anstaltsleitung: »Seit dem 2. Februar 1938 ist die Obengenannte dorten zur Heilung untergebracht. Die Unterbringung erfolgte auf Grund der Erkrankung mit Blinddarmverdacht und steigendem Fieber ins Krankenhaus Dieburg, welches die Patientin an den Hausarzt Dr. med. Sturm wieder zur Weiterbehandlung in der Wohnung zurückgab. Dr. med. Sturm veranlasste jedoch die Überweisung nach dorten, welche auf Grund von Erkrankung an Lungenentzündung mit sehr starkem Fieber erfolgte. Bei der Einlieferung und späteren Verhandlung mit den behandelten Ärzten wurde mir eröffnet, dass die Kur vollständig abgeschlossen sei. Bei meiner letzten Rücksprache am vergangenen Dienstag wurde mir jedoch erklärt, dass die Kur noch nicht beendet sei und noch mehrere Wochen in Anspruch nehmen würde. Da der Zustand der Sofie S. nach den persönlichen Verhandlungen mit ihr und den persönlichen Beobachtungen über den Zustand ein befriedigender ist und Fräulein S. die Anstalt wieder verlassen kann, teile ich Ihnen mit, dass ich am Freitag den 10. Juni 1938 Fräulein S. ohne weitere Verzögerung ab dorten abholen werde und zur restlosen Heilung einem Facharzt überweise, mit welchem dieserhalb bereits Verhandlungen abgeschlossen sind zur Behandlung. Auf Grund dieser Tatsachen und der einwandfrei feststehenden Tatsache, dass Fräulein S. in keinerweise mit einer Geistesgestörtheit noch einem geistigen Defekt etwas zu tun hat, ziehe ich hiermit alle gegebenen Zusagen schriftlich wie mündlich zurück und untersage mit sofortiger Wirkung jeglichen Eingriff in den Körper der Sofie S. […].«567
Die ärztliche Leitung, die weiterhin auf der Diagnose »Schizophrenie« besteht, antwortet am 8. Juni 1938: »Sehr geehrter Herr S.! Wir bestätigen hiermit den Inhalt Ihres Schreibens vom 3. Juni 1938. Ohne zu Ihren uns unverständlichen Ausführungen im übrigen Stellung zu nehmen, teilen wir Ihnen mit, dass eine Entlassung von Fräulein S. nach den gesetzlichen Bestimmungen erst möglich ist, nachdem das Erbgesundheitsgericht über die Frage einer etwaigen Unfruchtbarmachung entschieden hat, da Fräulein S. an einer
565 Ibid., Eintrag vom 05. 04. 1938 und 21. 05. 1938. 566 Ibid., Pflegedokumentation, Eintrag vom 02. 04. 1938. 567 Ibid., Brief von Johann S. vom 03. 06. 1938.
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Geisteskrankheit leidet, die unter das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses fällt. Sie können Fräulein S. am 10. des Monats noch nicht hier abholen.«568
Noch am selben Tag wird allerdings die »Insulintherapie« von Sophie S. beendet. Insgesamt hatte sie über den Zeitraum von 71 Behandlungstagen 2474 Einheiten Insulin erhalten. Johann S., der spätestens jetzt erkennt mit welchen Absichten die weitere Behandlung seiner Nichte verbunden ist, antwortet am 9. Juni auf das Schreiben der Anstaltsärzte wie folgt: »Den Empfang Ihres Schreibens vom 8. des Monats bestätigend, teile ich Ihnen mit, daß der Entlassung nichts im Wege steht und ich am Freitag den 10. Juni nach dorten komme zur Abholung. Was die Geisteskrankheit anbetrifft teile ich Ihnen mit, daß dies erst durch ein Obergutachten geklärt wird. Der Entscheidung des Erbgesundheitsgerichts steht der Rechtsweg nach allen Teilen offen und wird der Fall bis zur obersten Instanz zur Durchführung gebracht. Bis zur rechtskräftigen Entscheidung ist es nicht notwendig, daß Fräulein S. dorten verbleibt und es wird die Abholung zur Durchführung gebracht. Falls gegen die Bestimmung zur Wahrung der Rechtsmittel verstoßen wird, mache ich Sie für alle Folgen verantwortlich und haftbar. Einen Eingriff in den Körper der Sofie S. verbiete ich grundsätzlich, […].«569
Eine Antwort der Anstaltsleitung auf dieses Schreiben ist in der Krankenakte nicht belegt. Am 10. Juni erscheint Johann S. im »Philippshospital« kann seine Nichte aber nicht mit nach Hause nehmen: »Heute Mittag war der Onkel in der Sprechstunde. Unter anderem gab er an, wir hätten doch geschrieben, die Kur sei beendet. Dann hätte der Assistent wieder gesagt, dass noch 14 Tage erforderlich seien. Dieser von »dem paranoischen Onkel« konstruierte Widerspruch erklärt sich folgendermassen: An und für sich bestand eine unbedingte Indikation zur Fortführung nicht mehr. Es hat sich aber gezeigt, dass eine gewisse Insulinnachbehandlung den Zustand festigt. Im übrigen scheint Herr S. sich durch irgendeine Äusserung betroffen gefühlt zu haben. Er sei in einer Sprechstunde hier angeblich schlecht behandelt worden und habe deshalb so unverschämt reagiert. Er will sofort sich an die nächst höhere Instanz wenden, »wo wir uns ja weitersprechen können«. Die Angabe, die er brieflich machte, dass für die Weiterbehandlung durch einen Facharzt Sorge getragen sei, will er durch die Nennung des Arztes nicht belegen, das könne er ja noch dem Kreisarzt sagen.«570
Das Erbgesundheitsverfahren soll jetzt augenscheinlich beschleunigt werden, denn noch am selben Tag verfasst der Assistenzarzt Dr. Dienst ein ärztliches Gutachten zur Stellungnahme. Aus diesem Grund wird auch erstmals eine ausführliche Anamnese von Sophie S. in der Krankengeschichte dokumentiert: 568 Ibid., Brief der Anstalt an Johann S. vom 08. 06. 1938. 569 Ibid., Brief von Johann S. an die Anstaltsleitung vom 09. 06. 1938. 570 Ibid., Krankengeschichte, Eintrag vom 10. 06. 1938.
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Lebensgeschichten
»Die Kranke gibt an als Tochter der Klara S. in O. geboren zu sein. Ihre Mutter verheiratete sich später mit einem Melchior S. und aus dieser Ehe stammen 6 Kinder, 4 Mädchen und 2 Buben. Sie selbst will zu normaler Zeit laufen gelernt haben. Sie wurde erzogen bei den Eltern ihrer Mutter. Mit 6 Jahren kam sie in die Volksschule und will eine gute Schülerin gewesen sein. Nach ihrer Schulentlassung mit 14 Jahren besuchte sie noch 2 Jahre die Fortbildungsschule und lernte Stepperin. Anschliessend war sie in Lederfabriken in Obertshausen, Hausen und zuletzt in Offenbach beschäftigt. 1924 starb ihr Großvater und ihr Onkel Johann S. VII. übernahm die Wirtschaft und sie lebte von da ab in dessen Familie. Nach Krankheiten befragt gibt sie an, nie ernstlich krank gewesen zu sein. Einen Nervenzusammenbruch stellt sie in Abrede. […] Über den Grund ihrer Verbringung nach hier befragt erzählt sie, dass ihre Menses damals gerade so stark gewesen seien und sie starke Leibschmerzen gehabt habe. Der behandelnde Arzt Dr. med. Sturm hätte es für eine Blinddarmentzündung gehalten und sie in das Krankenhaus nach Dieburg eingewiesen. Dort sei sie 3 Tage gewesen, wäre dann wieder 1 Tag zu Hause gewesen und von Hause aus nach hier gekommen. Sie weiss angeblich nur, dass sie mit dem Auto in Begleitung zweier Sanitäter nach hier kam. An alle Vorgänge auf der Abteilung will sie sich nicht mehr erinnern.«571
Das ärztliche Gutachten von Dr. Dienst basiert auf der Pflegedokumentation der Schwestern, den Angaben von Johann S. am Tag von Sophie S.’ Aufnahme sowie den Angaben des Einweisungszeugnisses und des Anamnesegesprächs. Zu ihrem psychischen Befund heißt es im Gutachten: »Am 2. 2. 1938 kam die Patientin aus dem St. Rochuskrankenhaus Dieburg nach hier, nachdem sie zwischendurch 1 Tag zu Hause war. Der Aufnahmeantrag wurde vom St. Rochuskrankenhaus gestellt, weil dort seit zirka 10 Tagen ein Verwirrtheitszustand aufgetreten sei, der sich in wirren Reden und Verweigerung der Nahrungsaufnahme zeigte. Die ursprüngliche Diagnose Verdacht auf Appendizitis wurde nicht bestätigt. In dem Einweisungszeugnis heisst es, dass Patientin während der Pubertät im Alter von 16 Jahren einen Nervenzusammenbruch gehabt habe. Bei der Aufnahme gab der begleitende Onkel Johann S. VII. an, dass Patientin schon früher Todesgedanken geäussert und sich immer vor dem Tod gefürchtet habe. Fernerhin habe Patientin Gift im Essen vermutet. […] In ihrem ganzen Verhalten war sie gesperrt, aufs äusserste negativistisch, so dass selbst eine Behandlung wegen Läuse auf grosse Schwierigkeiten stiess. Anfang wurde immer wieder Sondenfütterung erforderlich. Am 17. 3. 1938 noch in der Insulinkur, die mit ihr vorgenommen wurde, zeigte sie einen Erregungszustand, legte sich auf den Boden, trat um sich. Wegen ihrer massiven Widerspenstigkeit und grossen motorischen Unruhe, wurden hin und wieder Beschränkungsmittel erforderlich. Anlässlich eines Besuches erkundigte sie sich, wo sie denn hier sei (Desorientiertheit). Nach dem Protokoll sagte sie einmal: »Hörst du, drauss werden sie alle verhackt, hier sind lauter Juden, ich bin auch am Pranger und werde verhackt, alle müssen sie zum Thälmann und sich verhacken lassen.« Anscheinend stand sie unter solchen und ähnlichen Halluzinationen, was sich auch in ihrem ängstlichen und scheuen Gebaren ausdrückte. Andern Orts behauptete Patientin wieder, eine Schwester habe behauptet, 571 Ibid.
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sie sei ein Bankert und ihre Mutter eine Hure (Akustische Halluzinationen). Weiterhin behauptete sie einmal, die ganze Welt sei vergiftet und ginge in die Luft. Sie hörte draussen schiessen und behauptete, man bringe Menschen um. Ihre Sperrung, der Muticismus, der Negativismus, die Geschmacks- und Geruchshalluzinationen, sowie vermutlich auch optische und akustische Sinnestäuschungen rechtfertigen die Diagnose Schizophrenie. Eine bei ihr vorgenommene Insulinkur führte nur langsam zu einer Remission. Akute infektiöse Verwirrtheitszustände klingen im allgemeinen schneller ab. Auch dürfte eine hier durchgemachte fieberhafte Erkrankung von 4 Tagen, die intercurrierend auftrat, ätiologisch nicht heranzuziehen sein.«572
Der Antrag auf Unfruchtbarmachung von Sophie S. wird wenige Tage später von der Anstaltsleitung beim Erbgesundheitsgericht in Offenbach gestellt. Da sie im ärztlichen Gutachten als nicht geschäftsfähig eingeschätzt wird, muss ein Pfleger zur Durchführung des Verfahrens bestellt werden. Ihr Onkel Johann S. wird am 28. Juni mit dieser Aufgabe betraut.573 Obwohl er sich mehrfach schriftlich an die Anstalt und das Gericht wendet, kann er den Sterilisationsbeschluss seiner Nichte nicht verhindern.574 Am 14. Juli 1938, weniger als vier Wochen nach der Antragsstellung, verfügt das Erbgesundheitsgericht die Unfruchtbarmachung von Sophie S. Das Gericht folgt in der Anklagebegründung der Argumentation des ärztlichen Gutachtens in allen Punkten. Exogene Ursachen für ihre Erkrankung werden im Gerichtsbeschluss explizit ausgeschlossen. Sophie S. wird zu ihrer Sache nicht gehört.575 Währenddessen berichten nur wenige kurze Einträge in der Krankengeschichte über Sophie S.’ Anstaltsalltag. Am 24. Juni heißt es dort: »Gab seither keine Veranlassung zu Unstimmigkeiten, ist verträglich, beschäftigt sich sehr fleißig in der Gemüseküche«,576 und am 08. Juli weiter: »Ist läppisch, aber harmlos, äußert zeitweise ohne viel Nachdruck den Wunsch nach Hause entlassen zu werden, kann aber leicht beruhigt werden. Ob ihr augenblicklicher geistiger Zustand noch einer wesentlichen Besserung fähig ist, ist sehr fraglich, da man annehmen kann, daß schon ihre praemorbide Persönlichkeit, die jetzt vorherrschenden infantilen Züge aufwies.«577
Da Sophies Onkel mit seinen Einwänden bei der Anstaltsleitung keine Entlassung erwirken kann, versucht Sophie S. durch ein persönliches Schreiben an den zuständigen Kreisarzt ihre Situation zu beeinflussen. Am 26. Juli 1938, zwölf Tage nach ihrem gerichtlichen Sterilisationsbeschluss schreibt sie aus der Anstalt:
572 573 574 575 576 577
Ibid., Ärztliches Gutachten vom 10. 06. 1938. Ibid., Schreiben des Erbgesundheitsgerichts vom 28. 06. 1938. Vgl. ibid., Schreiben von Johann S. vom 19. 06. 1938 und 22. 06. 1938. Ibid., Beschluss des Erbgesundheitsgerichts Offenbach vom 14. 07. 1938. Ibid., Krankengeschichte, Eintrag vom 24. 06. 1938. Ibid., Eintrag vom 08. 07. 1938.
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Lebensgeschichten
»Sehr geehrter Herr Kreisarzt! Entschuldigen Sie mir vielmals, wenn ich Ihnen mein Herz ausschütte. Wie Ihnen doch sicher bekannt ist, bin ich schon seit 2. Februar in Goddelau. Zuvor war ich in Offenbach in einem Geschäft Portofoill feiner Lederwaren, als Stepperin ungefähr zwei Jahre. Dort war ich mal 8–14 Tage krank und wurde danach vom Vertrauensarzt gesund geschrieben. Zuletzt arbeitete ich ein halbes Jahr in meinem Heimatort O., wo ich nun von der Grippe überrascht wurde, ein wenig überanstrengt von der Arbeit. Was der Arzt von mir gedacht hat, mich nach Goddelau zu überweisen, bleibt mir ein Rätsel mein Leben lang. Die Arbeit auf meinen Beruf hin hat mir jederzeit Freude gemacht, war munter und vergnügt, ehrlich, fleißig hab mich mit den Leuten unterhalten, zuvorkommend, mich anständig benommen, gewußt was ich zu tun und zu lassen hatte, dem Arzt jederzeit rechte Auskunft gab, kein Narr war, keiner bin, und keiner werde. In der Volksschule, so wie in der Fortbildungsschule hat ich ein sehr gutes Zeugnis. Daß ich aber das Sprechen in Goddelau bald verlernt habe, will ich Ihnen nicht verheimlichen, auch hab ich mich sehr ruhig benommen, denn das kränkt ein junges Menschenherz sehr, so lang, so unschuldig, unnötig hier zu sitzen unter so kranken Leuten, das kostet großes Opfer. Aber wo die Not am größten, ist Gotteshilf am nächsten. Gesundheitlich geht es mir sehr gut, bin im Altbau Abteilung 14. Tagsüber bin ich in der Gemüseküche beschäftigt. Durch gute Aufführung und Fleiß geb ich mir wirklich die größte Mühe und glaube nicht, daß eine Schwester etwas gegen mich hat. So bitte ich Sie höflichst mir zu helfen, daß ich doch in den allernächsten Tagen nach Hause komme zu meinen lieben Angehörigen. Es sehnt mich wirklich von Tag zu Tag mehr heim, denn also lang hier ist ungesund und möchte wieder in Gottes freie Natur, mich meines Lebens so recht von Herzen wieder freuen, wie es einem jungen gesunden Menschenkind gehört. In der Hoffnung, daß Sie meinen Wunsch erfüllen, danke ich Ihnen im Voraus für Ihr Bemühen und grüße Sie Heil Hitler! Auch möchte ich meine Ehre nicht verlieren.«578
Sophie S. schreibt nicht nur verständlich, sondern ist sich anscheinend auch ihrer drohenden Unfruchtbarmachung bewusst, da sie explizit den Wunsch äußert, »ihre Ehre« nicht zu verlieren. Der Kreisarzt antwortet auf ihr Anliegen ausweichend: »Ich bestätige den Eingang Ihres Briefes vom 26. des Monats und freue mich, daß es Ihnen wieder besser geht. Wegen Ihrer Entlassung habe ich mit den Ärzten der Anstalt Fühlung genommen und es wird gewiß alles geschehen, um Ihre Entlassung in die Wege zu leiten, sobald dies möglich sein wird. Soweit wir uns inzwischen orientieren können, dürfte Ihre Entlassung bevorstehen. Sie müssen aber Geduld haben, da wir alle von den bestehenden Vorschriften abhängig sind.«579
Nach den gesetzlichen Bestimmungen des GzVeN war zu diesem Zeitpunkt eine Entlassung von Sophie S. erst nach erfolgter Unfruchtbarmachung zulässig. Dafür musste aber erst das Urteil des Erbgesundheitsgerichts rechtskräftig werden. Johann S., der weiterhin versucht seine Nichte nach Hause zu holen, 578 Ibid., Brief Sophie S. an den Kreisarzt Offenbach vom 26. 07. 1938. 579 Ibid., Brief Kreisarzt Offenbach an Sophie S. vom 30. 07. 1938.
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wendet sich in einem letzten Schreiben Ende August erneut an die Anstalt, erhält aber wieder nur einen Verweis auf das noch nicht rechtskräftige Sterilisationsurteil.580 Währenddessen ist Sophie S. weiterhin in der Abteilung 14 des »Philippshospitals« untergebracht und tagsüber in der Gemüseküche beschäftigt. Die kurzen ärztlichen Einträge beschreiben sie als »durchaus verträglich und nicht bösartig«581. Sie scheint sich aber über ihr Schicksal im Klaren gewesen zu sein, denn sie äußert mehrfach den Wunsch nach Entlassung und Verschonung und »bittet täglich jeden doch ein gutes Wort für sie einzulegen«582. Anfang September schreibt sie aus diesem Grund an ihren zuständigen Stationsarzt Dr. Dienst: »Wehrter Herr Doktor, ich bitte Sie höflichst legen Sie ein gutes Wort bei Hernn Oberarzt für mich ein, wäre Ihnen dankbar dafür, dass ich von Mainz verschont bleibe. Muss doch auch an meine Zukunft denken. Meine Mutter lebt nicht ewig, meine Angehörigen auch nicht, will auch als gesundes Mädel Niemand zur Last fallen. Das Mainz wird mich zu Tode kränken, ein Herzschlag wär bestimmt das Ende, so was mitmachen zu müssen wie das Mainz, könnt ich nicht überleben, so mit Gewalt mir meine Ehre zu nehmen. Strafe, Opfer genug, dass ich überhaupt hier her gekommen bin und in Geduld aushalten muss. Herr Doktor Dienst neulich bei der Visite hatten Sie das Gespräch von wegen doof. Wie denken Sie sich das doof ? Wie schätzen Sie mich denn, bin doch lustig munter und fidel trotz allem Elend, dass ich hier sein muss. Kann wirklich Gott danken, dass ich so einen guten Humor habe. Wie ich damals gekommen, in 1 gelandet bin, wie die Kranken getobt haben und ich immer ruhig war, mein Verstand nicht verloren habe, wundert mich selbst. Da ich nichts weiter gesprochen, weder gegessen habe, können Sie mir nicht übel nehmen. Mein Herz war mir bald in die Schuhe gefallen, als ich so was sehen musste und so manche Worte gefallen sind. Aber ich hab mich gefasst, da mir doch meine arme Mutter und Angehörigen sehr Leid taten, wollt doch auch so jung nicht sterben und mit der Kur bin ich zufrieden. Danke Ihnen für all Ihr Bemühen. Bin in bester Ordnung und hoffe bald nach Hause zu kommen, ich hab furchtbar Heimweh.«583
In einem anderen Schreiben an Dr. Dienst äußert Sophie S. explizit den Wunsch nach Kindern, einer Beziehung zu einem »netten, soliden, charaktervollen Herrn« und bittet sie doch vor der Unfruchtbarmachung zu verschonen.584 An ihrem Schicksal ändern diese Schreiben aber nichts. Am 14. September wird sie zur
580 Ibid., Brief Johann S. an die Anstaltsleitung vom 27. 08. 1938 und Antwort der Anstaltsleitung vom 29. 08. 1938. 581 Ibid., Krankengeschichte, Eintrag vom 29. 07. 1938. 582 Ibid., Pflegedokumentation, Eintrag vom 31. 08. 1938. 583 Ibid., Abschrift Brief Sophie S. an Doktor Dienst, Krankengeschichte als Eintrag vom 16. 09. 1938. 584 Ibid., Abschrift Brief Sophie S. an Doktor Dienst, Krankengeschichte als Eintrag vom 16. 09. 1938.
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Lebensgeschichten
Unfruchtbarmachung in die Hebammenlehranstalt nach Mainz überwiesen. An ihrem Entlassungstag notiert der zuständige Arzt in der Krankenakte: »Wird heute zur Vornahme der Unfruchtbarmachung nach der Hebammenlehranstalt und Frauenklinik Mainz überführt. Weinte heftig nach der gestern erfolgten diesbezüglichen Mitteilung, äußerte dabei, sie habe die Absicht gehabt noch zu heiraten und Kinder zu bekommen.«585
In Mainz angekommen wird Sophie S. am 19. September 1938 durch die Unterbindung beider Eileiter von Prof. Wehefritz unfruchtbar gemacht und elf Tage nach der Operation wieder ins »Philippshospital« zurücküberführt.586 Nach ihrer Rückkehr ist sie noch schwach und gibt Schmerzen im Bereich der Operationsnarbe an, was die Ärzte als Aggravation werten. Zwei Wochen später wird sie von ihrem Onkel nach Hause geholt. Am Entlassungstag verzeichnet die Krankengeschichte: »Patientin wurde heute morgen entlassen. Als Patientin herkam, war sie motorisch stark erregt, sie hatte Geruchs- und Geschmackshalluzinationen, glaubte man wolle sie vergiften und verweigerte deshalb das Essen, verhielt sich auch negativistisch. Sie machte vom 9.3.38–8.6.38 eine Insulinkur mit. Sie erhielt im ganzen 71 Spritzen mit 2474 Einheiten Insulin bei einer Höchstdosis von 52 Einheiten. Während der Kur trat sehr langsam eine Besserung der psychischen Erscheinungen ein. Sie wurde ruhig und ansprechbar, aber es bestand bis zuletzt keine Krankheitseinsicht. Die Besserung schritt auch nach der Kur weiter fort. Sie befand sich in einem gleichmässigen psychischen Zustand, der einer guten Remission entsprach. Nach ihrer Sterilisation war sie allerdings wieder etwas psychisch verändert. Sie war gegen die Ärzte eingestellt, die ihr »dieses angetan hätten.« Die Diagnose lautet, auf Grund des Krankheitsbildes, das die Patientin hier bot: Schizophrenie. Bei der Entlassung hatte sie ihr seelisches Gleichgewicht einigermassen wieder gefunden. Sie war gleichmässiger Stimmung, hatte auch den Eingriff ihrer Sterilisation wieder verschmerzt. Sie konnte daher in sehr guter Remission nach Insulinbehandlung erwerbsunfähig entlassen werden. Die Diagnose Schizophrenie wird dadurch nicht berührt.«587
585 Ibid., Krankengeschichte, Eintrag vom 14. 09. 1938. 586 Ibid., Sterilisationsbericht vom 01. 10. 1938. 587 Ibid., Krankengeschichte, Eintrag vom 16. 10. 1938.
5.
Kollektivbiographie und biographische Rekonstruktion
5.1
Die Zwangssterilisationsopfer der Anstalten »Philippshospital« Riedstadt Goddelau und Alzey. Eine kollektivbiographische Skizze
Wer waren die Frauen, die aus den Landes-Heil- und Pflegeanstalten zur Unfruchtbarmachung nach Mainz kamen? Wie alt waren sie? Welchen Berufen gingen sie vor ihrem Anstaltsaufenthalt nach? Welche Diagnosen wurden zur Rechtfertigung ihrer Sterilisation gestellt und wie unterscheiden sie sich von der Gesamtheit der Frauen, die in Mainz zwischen 1933 und 1945 zwangsweise unfruchtbar gemacht wurden? Anhand der statistischen Auswertung der in den vorherigen Teilen erhobenen Daten lassen sich über die Betroffenen einige Erkenntnisse zum Sterilisationsablauf, wie auch zu biographischen Besonderheiten festhalten, die hier in der Folge noch einmal zusammengefasst und mit den bereits gesicherten Erkenntnissen anderer Regionalstudien verglichen werden. Des Weiteren lassen sich anhand der Parameter der Diagnose, des Familienstands sowie des sozialen Status der Frauen und dem Ort ihrer Entlassung auch Rückschlüsse bezüglich der eingangs formulierten Fragestellung nach bestimmten Selektionskriterien für ihre Unfruchtbarmachung ziehen. In beiden Anstalten fällt mit nahezu 70 % der Hauptteil der Überweisungen zur Sterilisation nach Mainz in den Zeitraum der ersten beiden Jahre nach Einführung des GzVeN, um dann in der Folge kontinuierlich bis 1939 abzufallen. Ganz wie es die Verfasser des Gesetzestextes in ihren Ausführungsplänen vorhergesehen hatten, zählten die Anstaltsinsassinnen wenige Monate nach Inkrafttreten des Gesetzes zu dessen ersten Opfern. Für das Gesamtkollektiv der weiblichen Sterilisationsopfer in Mainz wurden durch Ruckert ähnliche Zahlen erhoben. Die meisten Unfruchtbarmachungen wurden in Mainz in den Jahren 1934 bis 1936 vorgenommen, in welchen teilweise fast täglich eine Sterilisation
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Kollektivbiographie und biographische Rekonstruktion
unter Zwang vollzogen wurde.588 Diese Zahlen wie auch die erhobenen Daten zum zeitlichen Verlauf der Sterilisationsüberweisungen aus Alzey und Riedstadt Goddelau stimmen mit denen einer Reihe anderer Regionalstudien aus Hessen, Rheinhessen und dem gesamtdeutschen Gebiet589 überein und lassen verschiedene Hypothesen zu. Der politische Druck auf die Ärzteschaft und die Anstaltsleitung zur Umsetzung der Sterilisationsmaßnahmen war zu diesem Zeitpunkt vermutlich am stärksten, während in der Folge und spätestens mit Beginn des Krieges andere politische Ziele in den Vordergrund rückten. Weiterhin war die Überzeugung der Wirksamkeit eugenischer Maßnahmen bei einem großen Teil der Psychiater und Anstaltsärzte bereits vor 1934 weit verbreitet und etabliert, so dass sie von vielen Ärzten nach der gesetzlichen Legitimation auch bereitwillig und schnell umgesetzt wurden.590 Nicht zuletzt spielten im Zeichen der politischen Wende vermutlich auch die Überlegungen einiger Entscheidungsträger eine Rolle, die versuchten sich durch besonders rigorose Umsetzung politisch zu positionieren und ihre nationalsozialistische Überzeugung unter Beweis zu stellen, wie dies zum Beispiel für den Anstaltsleiter des »Philippshospitals« Dr. Amrhein belegt ist.591 Für das gesamtdeutsche Gebiet liegen durch die Untersuchungen von Gisela Bock ähnliche Verläufe der Sterilisationszahlen vor. Nachdem sich die Sterilisationsverfahren etabliert hatten wurde das GzVeN von 1934–1937 am rigorosesten umgesetzt. Nach 1937 und nochmal zusätzlich nach Kriegsbeginn 1939 fielen die Sterilisationszahlen dann sukzessive deutlich ab.592 Dies lag zum einen am wachsenden Widerstand der Bevölkerung, zum anderen aber vor allem an den fehlenden Sterilisationskandidaten aus den Heil- und Pflegeanstalten, die bis 1937 bereits zu einem großen Teil gegen ihren Willen unfruchtbar gemacht worden waren: »In den ersten Jahren wurden vor allem die Anstalten durchkämmt, und dieses Reservoir war Ende 1935 teilweise erschöpft.«593 In Mainz machten die Anstaltsinsassinnen in den ersten beiden Jahren der Umsetzung des GzVeN einen Großteil der Opfer aus, was auch für das gesamtdeutsche Gebiet mit ähnlichen Zahlen belegt ist:
588 Ruckert, Frederic (2012), S. 44f. 589 Exemplarisch: Hilder, Dagmar Juliette (1996), S. 74; Hennig, Jessika (2000), S. 114; Braß, Christoph (2004), S. 83ff.; Heitzer, Horst W. (2005), S. 100ff. 590 Drescher-Müller, Gisela; Pritzel, Monika & Steinberg, Reinhard (2012), in: Steinberg, Reinhard & Pritzel, Monika (Hrsg.), S. 314. 591 Kaminer, Isidor J. (1996), S. 79–100. 592 Bock, Gisela (1986), S. 230–234. 593 Ibid., S. 241.
Die Zwangssterilisationsopfer der Anstalten Riedstadt Goddelau und Alzey
223
»In den Jahren 1934–36 gehörten 30–40 % der Sterilisanden zu denjenigen, die, in den Worten eines Sterilisationsrichters, ›sich heute in öffentlichen Nervenanstalten und Krankenhäusern befinden und demnach bedingslos in unseren Händen sind‹.«594
Auch wenn hier nur einige amtliche Teilzahlen überliefert sind, lässt sich aus diesen doch das Ausmaß herauslesen, mit welchem die Rassenhygieniker auf die Psychiatrie- und Krankenhausinsassen zugriffen: »Von 132 öffentlichen Anstalten und Kliniken gingen 1934 insgesamt 60430 Anzeigen aus, die 27 % ihrer Insassen betrafen; im gesamten Reich zeigten Anstaltsleiter in den Jahren 1934 und 1935 rund 137000 Personen zur Sterilisation an.«595
Während die letzte Unfruchtbarmachung in Mainz für das Jahr 1944 belegt ist,596 wurden nach 1939 keine Frauen aus Alzey und nach 1940 auch keine aus dem »Philippshospital« mehr zur Sterilisation überwiesen, was zum einen durch den Kriegsbeginn erklärt werden kann, in dessen Folge die Sterilisationsverfahren bis auf die dringlichsten Fälle ausgesetzt werden sollten.597 Zum anderen waren zu diesem Zeitpunkt sehr wahrscheinlich auch bereits ein Großteil der Langzeitinsassinnen beider Anstalten einer Unfruchtbarmachung zugeführt worden oder fielen teilweise der nun anlaufenden Krankenmordaktion »T4« zum Opfer. Die Landes-Heil- und Pflegeanstalt Alzey wurde im Frühjahr 1939 weitestgehend geräumt und in der Folge als Lazarett umgenutzt.598 Wie konsequent die Anstaltsärzte in Alzey und im »Philippshospital« insgesamt bei der Umsetzung des GzVeN vorgingen, lässt sich abschließend nur im Vergleich der Sterilisationsanträge mit der Gesamtzahl der Anstaltsinsassinnen im Untersuchungszeitraum beantworten. Gesicherte Zahlen liegen hierzu nicht vor. Von den neun Indikationen, die laut GzVeN eine gesetzlich angeordnete Sterilisation rechtfertigen konnten, wurden innerhalb der psychiatrischen Landesanstalten Riedstadt Goddelau und Alzey insgesamt nur die vier Diagnosen »Schizophrenie«, »Angeborener Schwachsinn«, »Manisch-Depressives Irresein« und »Epilepsie« zur Rechtfertigung einer operativen Unfruchtbarmachung gestellt. In beiden Institutionen führte die Diagnose »Schizophrenie« am häufigsten zu einer zwangsweisen Unfruchtbarmachung. Diese Zahlen entsprechen auch anderen Untersuchungen zu psychiatrischen Anstalten599, wie auch den Vorarbeiten zur Geschichte des »Philippshospitals« Riedstadt.600 594 595 596 597 598
Ibid., S. 260. Ibid., S. 261. Ruckert, Frederic (2012), S. 45. Reichsgesetzblatt I, 1939, S. 1560. John, Elfriede & Rosenau, Renate (2002), in: Arbeitskreis, Erforschung der nationalsozialitischen »Euthanasie« und Zwangsterilisation (Hrsg.), S. 133f. 599 Vgl.: Hilder, Dagmar Juliette (1996), S. 76; Link, Günther (1999), S. 201; Klein, Elke; Pritzel, Monika & Steinberg, Reinhard: Das Erleben der Zwangssterilisation im Nationalsozialismus.
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Kollektivbiographie und biographische Rekonstruktion
Im Gegensatz dazu wurden im Gesamtkollektiv der Mainzer Zwangsterilisationsopfer 63 % der Frauen aufgrund der Diagnose »Angeborener Schwachsinn« sterilisiert, während die Diagnose »Schizophrenie« nur für 21 % der Sterilisationen herangezogen wurde.601 Diese Ergebnisse decken sich ebenfalls mit anderen Studien, wonach im Deutschen Reich die Diagnose »Angeborener Schwachsinn« insgesamt am häufigsten zu einer zwangsweisen Unfruchtbarmachung führte.602 Somit lässt sich zusammenfassen, dass die meisten Mainzer Betroffenen, denen eine »Schizophrenie« diagnostiziert worden war, diese fachlich spezielle Diagnose von einem Anstaltsarzt gestellt bekommen hatten. Diese Diagnose entsprach wie bereits beschrieben daher aber keinesfalls dem ärztlichen Kenntnisstand der heutigen wie auch der damaligen Zeit, sondern sollte dem Gesetzeskommentar nach bereits bei geringen Krankheitssymptomen angewendet werden. Auch wenn sich anhand der erhobenen Daten keine quantitativen Aussagen über das Ausmaß der Durchsetzung der Sterilisation bei den als »schizophren« diagnostizierten Frauen treffen lassen, ist dennoch für beide Anstalten von einem hohen Erfüllungsgrad auszugehen, der sich auch mit den Ergebnissen anderer Studien deckt.603 Die Ärzte außerhalb der Anstalten und in den Gesundheitsämtern verwendeten dagegen überdurchschnittlich häufig die noch weiter gefasste Diagnose »Angeborener Schwachsinn« in den Sterilisationsanträgen, die einzig auf Verhaltensauffälligkeiten und einem schlechten Abschneiden in den Intelligenzfragebögen fußte. Mit 57 % war der überwiegende Teil der Frauen aus beiden Anstalten bei ihrer Unfruchtbarmachung zwischen 25 und 36 Jahre alt. Ein weitaus geringerer Teil war zum Zeitpunkt ihrer Sterilisation noch minderjährig. Vergleicht man den Altersschnitt der Anstaltsinsassinnen mit dem aller Mainzer Zwangssterilisationsopfer, so lässt sich feststellen, dass die Anstaltsinsassinnen zum Zeitpunkt ihrer Unfruchtbarmachung etwas älter waren, als das Gesamtkollektiv der betroffenen Frauen. Auch lässt sich kein Fall einer Unfruchtbarmachung vor dem Erreichen der Menarche unter den Anstaltsinsassinnen finden. Prinzipiell war die Sterilisation unter Zwang durch das GzVeN ab dem 10. Lebensjahr bis zur Menopause der Frauen legitimiert. Ein Grund für den etwas höheren Alters-
600 601 602 603
Eine Analyse der Patientenakten von 241 Männern, in: Steinberg, Reinhard & Pritzel, Monika (Hrsg.): 150 Jahre Pfalzklinikum, Stuttgart, 2012, (319–342), S. 334. Leifheit, Susanne (2005), S. 41. Ruckert, Frederic (2012), S. 37f. Exemplarisch hierzu: Daum, Monika & Deppe, Hans-Ulrich (1991), S. 110; Koch, Thomas (1994), S. 22–27; Hennig, Jessika (2000), S. 110ff; Braß, Christoph (2004), S. 90f; Heitzer, Horst W. (2005), S. 151–156. Vgl. Drescher-Müller, Gisela; Pritzel, Monika & Steinberg, Reinhard (2012), in: Steinberg, Reinhard & Pritzel, Monika (Hrsg.), S. 313.
Die Zwangssterilisationsopfer der Anstalten Riedstadt Goddelau und Alzey
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durchschnitt der Anstaltsinsassinnen unter den weiblichen Mainzer Zwangssterilisationsopfern war vermutlich der hohe Anteil an Langzeitverwahrten. Viele waren vor ihrer Sterilisation bereits mehrere Monate bis Jahre in den Anstalten untergebracht und wurden erst zur Unfruchtbarmachung überwiesen, wenn eine mögliche Entlassung oder Verlegung geplant war. Ein weiterer Grund für den etwas höheren Altersdurchschnitt der Anstaltsinsassinnen ist in der besonderen Diagnoseverteilung zu finden. Die Diagnose »Angeborener Schwachsinn« ließ definitionsgemäß bereits einen sehr frühen Zugriff auf den entsprechenden Personenkreis zu, so dass das durchschnittliche Lebensalter der Betroffene deutlich niedriger war als das der Betroffenen mit der Diagnose »Schizophrenie«, deren Symptomatik sich erst im späteren Lebensverlauf äußerte.604 Im Gegensatz zu den Frauen, welche nicht aus einer psychiatrischen Anstalt zur Sterilisation überwiesen wurden, wurde bei den Anstaltsinsassinnen häufiger eine »Schizophrenie« diagnostiziert, wodurch auch der höhere Altersschnitt der Frauen erklärt werden kann. Die Verteilung der Berufsgruppen stellt sich in beiden Anstalten ähnlich dar und deckt sich auch zum größten Teil mit den statistischen Daten des Gesamtkollektivs der weiblichen Mainzer Zwangssterilisationsopfer.605 Mit einem Drittel führte der größte Teil der Frauen den familiären Haushalt, ca. ein Viertel war als Hausangestellte beschäftigt. Nur ein geringer Prozentteil hatte eine Berufsausbildung abgeschlossen und arbeitete in handwerklichen Lehrberufen oder in einem Angestelltenverhältnis. Akademische oder höher gestellten Berufe wurden von keiner Anstaltsinsassin ausgeübt, was zum Teil aber der gesellschaftlichen Norm entsprach, da Frauen im Untersuchungszeitraum allgemein eine schlechtere Ausbildung erhielten, seltener Berufstätig waren und sich ihre soziale Stellung meist über den Beruf ihres Ehepartners definierte.606 Zusätzlich wirkte sich das Erkrankungsalter der Frauen auf ihre soziale Stellung aus, wobei besonders eine frühe Diagnose einer psychischen Erkrankung einen negativen Einfluss auf die Lebensläufe der Frauen hatte und eine schlechtere schulische und berufliche Ausbildung bedingte. Dennoch waren die mittleren und höheren sozialen Schichten im Gesamtkollektiv wie auch unter den Anstaltsinsassinnen deutlich unterrepräsentiert, was die Hypothese, dass die unteren sozialen Schichten am häufigsten von den rassenhygienischen
604 Walter, Bernd: Psychiatrie und Gesellschaft in der Moderne. Geisteskrankenfürsorge in der Provinz Westfalen zwischen Kaiserreich und NS-Regime, Paderborn, 1999, S. 554. 605 Siehe: Ruckert, Frederic (2012), S. 40. 606 Beddies, Thomas & Dörries, Andrea (Hrsg.): Die Patienten der Wittenauer Heilstätten in Berlin. 1919–1960, Husum, 1999, S. 338ff.
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Kollektivbiographie und biographische Rekonstruktion
Zwangsmaßnahmen der nationalsozialistischen Biopolitik betroffen waren, zumindest in Teilen bestätigt.607 Betrachtet man den Familienstand der Zwangssterilisationsopfer der beiden Anstalten, so zeigt sich eine deutliche Diskrepanz zur Allgemeinheit der Bevölkerung. Im Deutschen Reich lebten 1935 46 % der Einwohner in einer Ehe.608 Im Vergleich dazu sind unter den in Mainz zwangsweise sterilisierten Anstaltsinsassinnen aus Alzey und Riedstadt ledige Frauen deutlich überrepräsentiert. In Alzey waren 67 % der Betroffenen zum Zeitpunkt ihrer Unfruchtbarmachung ledig. Ähnliche Zahlen lassen sich für die Betroffenen der Anstalt Riedstadt ermitteln. Der Familienstand ist in der Studie zum Gesamtkollektiv der weiblichen Mainzer Sterilisationsopfer nicht erfasst, so dass keine Vergleichszahlen vorliegen. Der hohe Anteil an ledigen Anstaltsinsassinnen unter den Sterilisationsopfern entspricht aber anderen Regionalstudien609 und lässt die Annahme zu, dass Menschen mit wenig familiärem Zusammenhalt und sozialer Einbindung von der nationalsozialistischen Erbpolitik am weitreichendsten und häufigsten betroffen waren.610 Die Angabe zum Entlassungsort der Betroffenen lässt sowohl auf den Grund ihrer Sterilisation, wie auch auf die Mechanismen der ärztlichen Selektionskriterien bei der Umsetzung des GzVeN zurückschließen. Eine bevorstehende Entlassung einer Insassin stellte für die Anstaltsärzte oft den ausschlaggebenden Grund für das Beantragen einer Sterilisation beim Erbgesundheitsgericht dar, da für die meisten Insassinnen eine Entlassung ohne Erbgesundheitsbeschluss durch das GzVeN nach 1936 unmöglich gemacht wurde.611 Innerhalb der Anstalten war dem Gesetzestext nach die Anstaltsleitung für die Unterbindung der Fortpflanzung ihrer Insassen zuständig, so dass sich erst bei einer bevorstehenden Entlassung eine zwingende Indikation zur Überweisung nach Mainz ergab. Von den 91 aus der Anstalt Alzey in Mainz sterilisierten Frauen wurden ca. 44 % nach ihrer Unfruchtbarmachung nach Hause entlassen. 26 Betroffen und damit 29 % wurden nach der Operation wieder nach Alzey zurückverlegt. In einer ähnlichen Studie zu den psychiatrischen Anstalten Klingenmünster und Fran-
607 Vgl. hierzu: Drescher-Müller, Gisela; Pritzel, Monika & Steinberg, Reinhard (2012), in: Steinberg, Reinhard & Pritzel, Monika (Hrsg.), S. 315f. 608 Fuchs, Petra (2007), in: Fuchs, Petra, et al. (Hrsg.), S. 58. 609 Heitzer, Horst W. (2005), S. 137; Drescher-Müller, Gisela; Pritzel, Monika & Steinberg, Reinhard (2012), in: Steinberg, Reinhard & Pritzel, Monika (Hrsg.), S. 309f. 610 Vgl.: Fuchs, Petra (2007), in: Fuchs, Petra, et al. (Hrsg.), S. 57f. 611 Drescher-Müller, Gisela; Pritzel, Monika & Steinberg, Reinhard (2012), in: Steinberg, Reinhard & Pritzel, Monika (Hrsg.), S. 315.
Eine qualitative Inhaltsanalyse der Dokumente
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kenfeld sind die Zahlen der Entlassung nach Hause in das familiäre Umfeld noch wesentlich höher und bewegen sich zwischen 80 % und 87 %.612 Im Gegensatz dazu wurde mit 59 % der Großteil der Insassinnen des »Philippshospitals« nach vollzogener Unfruchtbarmachung wieder zurück in die Anstalt verlegt. Nur 26 % wurden nach ihrer Operation nach Hause entlassen. Der Anteil der Rückverlegungen ist im Vergleich mit den Zahlen der Alzeyer Anstaltsinsassinnen nahezu doppelt so groß. Diese Diskrepanz lässt den Schluss zu, dass die Sterilisierung der Insassinnen in Riedstadt systematischer und konsequenter vorangetrieben wurde, da auch viele Frauen erfasst wurden, die nicht mit einer baldigen Entlassung aus der Anstalt rechnen konnten. Dieses besondere Engagement ist auch dahingehend zu interpretieren, dass in der Ärzteschaft der Anstalt Riedstadt die nationalsozialistische Erbpolitik tiefer implementiert war und weitreichender auf die ärztliche Arbeit einwirkte, als dies in der Anstalt Alzey oder den Anstalten der Vergleichsstudien der Fall war.613
5.2
Eine qualitative Inhaltsanalyse der Dokumente zu den Betroffenen, Ärzten und Angehörigen
Wie die rekonstruierten Lebensläufe der betroffenen Frauen aus den Anstalten Alzey und Riedstadt zeigen, waren die Anstaltsinsassinnen vom Beginn ihrer Aufnahme an faktisch entmündigt und mussten sich der Autorität der Anstaltsleitung, der Ärzte und der Pfleger unterordnen. Sie tauschten ihre Kleidung gegen einen Arbeitskittel und ließen dadurch auch ihre Individualität sowie ihr Recht auf ein selbstbestimmtes Leben an der Anstaltspforte zurück. Der Anstaltsalltag war durch Monotonie geprägt, da für die meisten Erkrankungen keine nennenswerten Therapien abseits der Arbeitstherapie existierten. Lediglich für die »Schizophrenie« ist der Therapieversuch durch eine Insulinschocktherapie belegt. Welche Behandlungsschemata für die Epilepsie angewendet wurden, ist aus den Akten nicht ersichtlich. In den Krankenakten lassen sich verschiedene Formen im Umgang mit dem Anstaltsalltag finden. Manche Frauen versuchten sich so gut wie möglich in die Anstaltswelt einzufügen, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen: »Wie unglücklich ich in Alzey war, weiß niemand und was ich dadurch gelitten habe. Ich
612 Ibid., S. 309. 613 Diese Annahme deckt sich auch mit den Ergebnissen der bereits bestehenden Studien zur Geschichte der Zwangssterilisation am »Phillipshospital«. Zum besonderen Engagement der dortigen Anstaltsärzte vgl.: Kaminer, Isidor J. (1996), S. 79–100; Leifheit, Susanne (2005), S. 36–38.
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Kollektivbiographie und biographische Rekonstruktion
ließ es mir nur nicht anmerken, zeigte mich immer froh.«614 Andere widersetzten sich offen den Anweisungen, leisteten körperlichen Widerstand oder verweigerten die Nahrungsaufnahme, worauf zur Beruhigung in beiden Anstalten das Dauerbad, wie auch eine medikamentöse Sedierung eingesetzt oder die Frauen mittels einer Magensonde zwangsernährt wurden.615 Durch diese Maßnahmen wurde der Widerstand bald gebrochen, so dass eine Integration der Frauen in den Arbeitsalltag der Anstalten möglich wurde. Der Sterilisationsbescheid und die Überweisung in die Hebammenlehranstalt Mainz zur operativen Unfruchtbarmachung stand für die meisten hier gezeigten Betroffenen am Ende ihres Anstaltsaufenthalts. Gegen den Bescheid konnten die Frauen zwar formal Einspruch einlegen, woraufhin die Verhandlung an ein Erbgesundheitsobergericht überwiesen werden musste. In der Realität schöpfte aber keine der hier vorgestellten Betroffenen dieses rechtliche Mittel aus, da die Sterilisation für alle Frauen den einzigen Ausweg aus der Anstalt darstellte. Ebenso finden sich auch nur wenige Zeugnisse von offenem Widerstand gegen die Sterilisationsurteile. Vielmehr lässt sich die Mehrzahl der Frauen davon überzeugen ihren Antrag selbst zu stellen oder willigt zumindest in alle weiteren Maßnahmen ein, um dadurch eine Entlassung zu bewirken.616 Offener Widerstand gegen das Urteil lässt sich nur in zwei Fällen finden. Martha T. fühlt sich ihren gesamten Aufenthalt in Alzey zu Unrecht eingewiesen und gibt dies auch bei ihrer Anhörung vor dem Erbgesundheitsgericht an. Sie leide nicht an einer Erbkrankheit und müsse demnach auch nicht sterilisiert werden.617 Sophie S. aus der Anstalt Riedstadt versucht auf ihre behandelnden Ärzte und den zuständigen Kreisarzt einzuwirken, um so ihre bereits beschlossene Sterilisation noch abwenden zu können: »Wehrter Herr Doktor, ich bitte Sie höflichst legen Sie ein gutes Wort bei Herrn Oberarzt für mich ein, wäre Ihnen dankbar dafür, dass ich von Mainz verschont bleibe. Muss doch auch an meine Zukunft denken. Meine Mutter lebt nicht ewig, meine Angehörigen auch nicht, will auch als gesundes Mädel Niemand zur Last fallen. Das Mainz wird mich zu Tode kränken, ein Herzschlag wär bestimmt das Ende, so was mitmachen zu müssen wie das Mainz, könnt ich nicht überleben, so mit Gewalt mir meine Ehre zu nehmen.«618
614 Landesarchiv Speyer. Bestand O 41 (Landeskrankenhaus Rheinhessen Fachklinik Alzey), Nr. 3068, Brief von Magdalena P. an Frau W. in Alzey vom 27. 10. 1934. 615 Vgl. exemplarisch Krankendokumentation von: Luise H., Ibid., Nr. Nr. 3623; sowie Anna K.; Archiv des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen, Bestand 18, Patientenakte Anna K. 616 Vgl. exemplarisch: Emma W. und Helene W., Ibid. 617 Siehe: Landesarchiv Speyer. Bestand O 41 (Landeskrankenhaus Rheinhessen Fachklinik Alzey), Nr. 3611, Sterilisationsbeschluss vom 08. 09. 1938. 618 Archiv des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen, Bestand 18, Patientenakte Sophie S., Abschrift Brief Sophie S. an Doktor Dienst, Krankengeschichte als Eintrag vom 16. 09. 1938.
Eine qualitative Inhaltsanalyse der Dokumente
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Beide Frauen versuchten explizit nicht die Legitimation des Gesetzes an sich in Frage zu stellen, was angesichts ihrer Lage auch keine erfolgsversprechende Strategie gewesen wäre. Vielmehr betonten sie nicht an einer Erbkrankheit zu leiden, sondern im Gegenteil noch jung und vor allem arbeitsfähig zu sein. Nichtsdestotrotz wurden beide wenige Wochen nach ihrem Sterilisationsbeschluss in Mainz operativ unfruchtbar gemacht. Die direkten Komplikationen, welche mit dieser Operation verbunden waren, zeigen sich am drastischsten in zwei der hier vorgestellten Lebensläufe. Maria Veronika K. verstarb drei Tage nach der Operation noch in der Hebammenlehranstalt im Alter von 36 Jahren an einer Lungenentzündung.619 Magdalena P. verstarb ebenso ungefähr sechs Wochen nach ihrer Sterilisation nach einem komplizierten Wundheilungsverlauf im Alter von 38 Jahren im Städtischen Krankenhaus Mainz an einer nicht weiter dokumentierten Ursache.620 Die psychischen Folgen der zwangsweisen Anstaltsunterbringung, wie auch der Unfruchtbarmachung sind ungleich schwerer aus den Dokumenten herauszulesen. Für viele Frauen existieren keine Zeugnisse über die weiteren Auswirkungen ihrer Operation und ihren Gemütszustand. Auch lässt sich dieser nur schlecht anhand der ärztlichen Dokumentation nachweisen, sondern kommt am ehesten in den Briefen und Egodokumenten der Frauen zum Vorschein, in welchen sich diese direkt an ihre Angehörigen wenden und über ihr Gefühls- und Innenleben berichten. Das zentrale Thema in den Briefen der Frauen ist ihr Heimweh, die Einsamkeit in der Anstalt und der Wunsch wieder nach Hause zu ihren Angehörigen entlassen zu werden, mit dem sie sich auch immer wieder an das ärztliche und pflegerische Personal wenden, und welcher in praktisch jeder Krankengeschichte dokumentiert ist. Hermine W. schreibt diesbezüglich aus der Anstalt Alzey an ihren Ehemann: »Mein lieber Mann und Kinder! Warum hast du noch nicht geantwortet und bist gekommen. Willst du mich jetzt verlassen, wo ich jetzt nicht mehr viel zu leben habe. Komm doch zu mir, lasse mich nicht allein hier sterben.«621
Sowie an ihre Mutter: »Meine lieben Kinder und liebe Mutter mein! Warum läßt du dein einziges Kind hier allein. Hast du dafür die ganzen Jahre gearbeitet, daß ich jetzt elend und allein sterben muß. Auf den Knien will ich Abbitte tun, wenn ich nicht mehr gut war. Hab Erbarmen
619 Ibid. 620 Landesarchiv Speyer. Bestand O 41 (Landeskrankenhaus Rheinhessen Fachklinik Alzey), Nr. 3214. 621 Landesarchiv Speyer. Bestand O 41 (Landeskrankenhaus Rheinhessen Fachklinik Alzey), Nr. 3394, Brief von Hermine W. an ihren Ehemann vom 14. 07. 1935.
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Kollektivbiographie und biographische Rekonstruktion
mit mir, ich bitte, ich flehe dich an bei Gott im Himmel verlaßt mich nicht. Laßt mich nicht hier allein hin sterben, meine armen Kinder. Deine unglückliche Tochter.«622
Der Akt der Sterilisation stellte für die Anstaltsinsassinnen einen immensen Eingriff in ihr weiteres Leben, wie auch in ihr Selbstverständnis als Frau dar, wie durch das Schreiben Hermine W.s an ihren Mann belegt ist: »Mein lieber Mann und lieben Kinder! Ich bitte dich sei doch so gut und komm hiermit und verhandle mit dem Herrn Oberarzt, wenn du mich noch retten willst. Warum soll denn mein Körper weiter geschändet werden. Da meine Periode doch nicht mehr kommt, also steril machen nicht mehr in Frage kommt und ich auch nicht für sowas geeignet bin. Ich bitte dich nur der Kinder willen komm sofort.«623
Einige Frauen ereilt während des Anstaltsaufenthalts das Gefühl von ihren Angehörigen vergessen und verstoßen worden zu sein. Katharina E. schreibt in tiefer Resignation an ihren Vater: »Dass ich nie was geglaubt bekam und als die grösste Lügnerin hingestellt wurde war an der Tagesordnung, […]. Was mich von früher betrifft, mache ich mir kein Kopfweh, denn ich sehe ja, wie weit, dass ich gekommen bin, dass ich bis jetzt noch immer den Kürzeren gezogen habe.«624
Vielen der Frauen muss ihre Perspektivlosigkeit und ihre verbaute Zukunft bewusst gewesen sein, wie zum Beispiel Therese R., die sich in einem Schreiben an ihren behandelnden Arzt wendet: »Was soll denn eigentlich aus meiner Zukunft werden? Bezüglich meiner Anfälle geht es mir doch augenblicklich gesundheitlich soweit ganz gut. Allerdings will ich Ihnen diesesmal gestehen, daß ich mir über die Lage meiner Krankheit ziemlich klar bewußt bin! Auch über den Fortschritt derselben! Soll ich mich denn jetzt in meinen jungen Jahren in denen ich noch so weit in der Reife bin, dauernd in die Anstalt setzen. Oder soll ich warten bis ich mit dreißig oder vierzig Jahren als halb verblödeter Mensch herumlaufe. […] Vielleicht können Sie mich jetzt verstehen, wenn ein Mensch, der sein Lebensschicksal so klar vor Augen sieht, verbittert ist.«625
Weiterhin beschweren sich die Frauen über die Ungerechtigkeit der Behandlung in der Anstalt wie Magdalena P., die sich in einem Brief aus Mainz einer Mitinsassin anvertraut:
622 Ibid. Brief von Hermine W. an ihre Mutter vom 14. 07. 1935. 623 Universitätsklinikum Mainz, Archiv des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Krankenaktenbestand der Hebammenlehranstalt Mainz, Jahrbuch 1936 Bd. 1, Hauptbuchnr. 14. 624 Landesarchiv Speyer. Bestand O 41 (Landeskrankenhaus Rheinhessen Fachklinik Alzey), Nr. 3055a, Eintrag Krankengeschichte vom 27. 03. 1933. 625 Archiv des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen, Bestand 18, Patientenakte Therese R., Brief Therese R.s vom 28. 05. 1938.
Eine qualitative Inhaltsanalyse der Dokumente
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»Das Pflegepersonal hier ist richtig fein. Da gehörte mal dasjenige von Alzey her, um zu lernen, wie man mit Patienten umgeht. Frau W. verlassen Sie sich drauf es kommt der Tag in Alzey, wo es besser wird. Das will unser Führer nicht, verlassen Sie sich drauf. Wie ich besser kann, werde ich an maßgebender Stellt Schritte tun.«626
Insgesamt spiegeln die Briefe der Frauen vor allem deren Einsamkeit und Hilflosigkeit gegenüber dem Anstaltspersonal und den ausführenden Institutionen wider. Alleingelassen innerhalb der Anstalt nahm die gesetzliche Sterilisation nach 1934 vielen von ihnen auch die Möglichkeit einer eigenen Familie außerhalb. Welche Kränkung dies für die Frauen bedeutete lässt sich anhand des Eintrags in der Krankengeschichte von Sophie S. am Tag ihrer Überweisung nach Mainz nachvollziehen: »Wird heute zur Vornahme der Unfruchtbarmachung nach der Hebammenlehranstalt und Frauenklinik Mainz überführt. Weinte heftig nach der gestern erfolgten diesbezüglichen Mitteilung, äußerte dabei, sie habe die Absicht gehabt noch zu heiraten und Kinder zu bekommen.«627
Ein Einblick in die ärztliche Arbeit und die ärztliche Sicht auf die ihnen anvertrauten Anstaltsinsassinnen lässt sich ebenfalls aus den Krankenakten herauslesen. Ausschlaggebend für die Beurteilung der Frauen war für das ärztliche Personal vor allem, wie gut sich diese in den Anstaltsalltag integrierten, wie gut sie ihre Arbeit verrichteten und wie wenig sie die allgemeinen Abläufe der Anstalt störten. So wird als Beispiel Emma W. ihren gesamten Anstaltsaufenthalt über als »ruhig, geordnet, willig und fleissig beschäftigt« beschrieben. Sie integriert sich ohne Probleme, ist fügsam und ist für das Anstaltspersonal leicht zu führen.628 Die Frauen, die sich gegen die Anstaltsunterbringung zur Wehr setzten, Widerstand leisteten und denen keine Arbeit in der Anstalt zugeteilt werden konnte, werden wesentlich weniger freundlich charakterisiert. Anna K. attestieren die Ärzte im »Philippshospital« »das freche Mundwerk einer ausgesprochenen Gossenhure«629 und über Margarete S. vermerkt die Krankengeschichte: »Sehr schwierige Kranke, oft verändert und umdämmert, dann wieder sehr gereizt und laut, schreit und schimpft in den gemeinsten Ausdrücken, sodass sie sehr lästig für ihre Umgebung ist.«630
626 Landesarchiv Speyer. Bestand O 41 (Landeskrankenhaus Rheinhessen Fachklinik Alzey), Nr. 3068, Brief von Magdalena P. an Frau W. in Alzey vom 27. 10. 1934. 627 Archiv des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen, Bestand 18, Patientenakte Sophie S., Krankengeschichte, Eintrag vom 14. 09. 1938. 628 Archiv des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen, Bestand 18, Patientenakte Emma W., Eintrag in der Krankenakte vom 06. 01. 1930. Vgl. auch die Folgeeinträge in der Krankendokumentation. 629 Ibid., Patientenakte Anna K., Eintrag in der Krankenakte vom 30. 08. 1935. 630 Ibid., Patientenakte Margarete S., Eintrag in der Krankenakte vom 17. 04. 1934.
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Oft verwendete Termini bei der Beschreibung der Frauen sind auch »läppisch«, »klebrig« und »schwachsinnig«. Diese teilweise abschätzige und diffamierende Haltung gegenüber den Anstaltsinsassinnen spiegelt sich auch in der persönlichen Einstellung der Ärzte gegenüber deren gesetzlicher Unfruchtbarmachung wider. Zeugnisse für Widerstand gegen die Sterilisationsmaßnahmen oder Zweifel ließen sich in den gesichteten Krankakten nicht finden. Vielmehr wurde das GzVeN vom ärztlichen Personal beider Anstalten befürwortet und strikt umgesetzt. Zu Beginn des Jahres 1934 war in beiden Anstalten die rassenhygienische Ideologie fest in der ärztlichen Lehre der ausführenden Ärzte etabliert, so dass bereits wenige Wochen nach Inkrafttreten des Gesetzes mit dessen Umsetzung in die Tat begonnen wurde. Dabei war die ärztliche Leitung in beiden Anstalten anfangs bemüht bei der Umsetzung der Gesetzesmaßnahmen keinen Fehler zu machen und keine Insassen vorzeitig ohne Sterilisationsbeschluss zu entlassen. Für die Anstalt »Phillipshospital« stellte der ärztliche Direktor Dr. Amrhein gegen Ende des Jahres 1933 die Entlassung von Insassen, die gegebenenfalls unter das GzVeN fallen könnten bewusst bis zum Inkrafttreten des Gesetzes im Januar 1934 zurück und stellte auch rückwirkend noch Anträge für bereits im Vorjahr entlassene Kranke.631 Die hier vorgestellte Krankengeschichte von Katharina E. beweist ein ähnliches Vorgehen für die Landesanstalt Alzey. Auf den Entlassungswunsch von Katharina E.s Vater, der seine Tochter gerne in die elterliche Pflege nehmen möchte, erwidert die Anstaltsleitung am 19. 12. 1933: »Eine Entlassung kann, wenn sich der Zustand der Patientin nicht wieder verschlechtert in absehbarer Zeit, vielleicht in 3–4 Wochen erfolgen. Unbedingt notwendig ist es, dass die Kranke in eine Umgebung kommt die Verständnis für ihre etwas schwierige Persönlichkeit hat und dass sie zugleich überwacht wird, damit sie in den Lebenswandel den sie vor ihrer Einlieferung in die hiesige Anstalt begonnen hatte, nicht zurückfällt. Von dem neuen Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses wird auch Ihre Tochter betroffen. Es wäre sehr zu wünschen, dass der zur Unfruchtbarmachung nötige Eingriff vor der Entlassung der Patientin vorgenommen wird. Da dieses Gesetz erst am 1. Januar in Kraft tritt, kann Ihre Tochter vorher auf keinen Fall entlassen werden.«632
Am Anfang der Sterilisationsmaßnahmen 1934 musste deren Umsetzung erst noch koordiniert und organisiert werden. Der Leiter der Anstalt Riedstadt stellte beispielsweise zu Beginn für jeden neu aufgenommenen Kranken von vornerein einen Sterilisationsantrag, was dazu führte das eine Reihe von Anträgen auch für 631 Zur Umsetzungspraxis des GzVeN am »Philippshospital« Riedstadt und der persönlichen Einstellung des ärztlichen Direktors Dr. Amrhein vgl.: Kaminer, Isidor J. (1996), S. 79–86. 632 Landesarchiv Speyer. Bestand O 41 (Landeskrankenhaus Rheinhessen Fachklinik Alzey), Nr. 3055a, Brief der ärztlichen Leitung an Adam E. vom 19. 12. 1933.
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Kranke gestellt wurde, welche nicht unter das GzVeN fielen.633 In den Folgejahren war ein Sterilisationsantrag für das ärztliche Personal eine Routinemaßnahme, falls in der Eingangsuntersuchung eine entsprechende Diagnose gestellt worden war. Hierzu wurden auch externe Ärzte zur Begutachtung der Kranken in die Anstalt geladen, wie es im Fall von Maria Veronika K. belegt ist, die durch den Leiter der Hebammenlehranstalt Dr. Puppel aus Mainz in Alzey persönlich begutachtet wurde. Er vermerkte in ihrer Akte zwei Worte: »Sterilisation notwendig«634. Die zwangsweise Unfruchtbarmachung erfolgte in allen hier vorgestellten Fällen ohne Rücksicht auf das weitere Schicksal der Betroffenen und wie zum Beispiel im Fall von Hermine W., Sophie S. oder Martha T. auch gegen den offenen Widerstand der Angehörigen. Oftmals wurden die Sterilisationsverfahren im Falle von Widerstand durch das ärztliche Personal noch beschleunigt, um Fakten zu schaffen, bevor es zu einer weiteren gegebenenfalls auch gerichtlichen Auseinandersetzung kommen konnte, wie ein Schreiben der ärztlichen Leitung des »Philippshospitals« Riedstadt im Fall von Anna K. belegt: »Da der Vater der Kranken dauernd auf Entlassung seiner Tochter drängt und behauptet, es würde nirgends ein Antrag auf Sterilisierung seiner Tochter vorliegen, bitten wir Sie höflichst uns mitteilen zu wollen, wann und bei welchem Erbgesundheitsgericht von Ihnen der Antrag gestellt wurde. Wir bitten um beschleunigte Erledigung, da von den Angehörigen grosse Schwierigkeiten gemacht werden und die Zahlungspflicht der Krankenkasse für die Unfruchtbarmachung am 9. August abläuft.«635
Ebenso aufschlussreich wie die Analyse der persönlichen Einstellung der Anstaltsärzte gegenüber dem GzVeN sowie der rassenhygienischen Ideologie und Therapiepraxis ist eine Betrachtung des diagnostischen Vorgehens und der Diagnosekriterien, welche zur Rechtfertigung einer Sterilisation unter Zwang herangezogen wurden. Im Gesetzestext wurde explizit ein »Erblichkeitsnachweis« der diagnostizierten Erkrankung gefordert, der über eine erbprognostische Untersuchung oder gehäuftes familiäres Auftreten zu erbringen war.636 Die verschiedenen Vererbungsgänge der im Gesetz aufgeführten Krankheiten und die zur Untersuchung angewendeten diagnostischen Methoden wurden allerdings im Kommentar nur sehr oberflächlich skizziert, was zum einen daran lag, dass noch keine exakten Informationen zum Erbgang vorlagen, zum anderen aber auch daran, dass man die Ärzte bei der Diagnosestellung nicht weiter re-
633 Kaminer, Isidor J. (1996), S. 87. 634 Landesarchiv Speyer. Bestand O 41 (Landeskrankenhaus Rheinhessen Fachklinik Alzey), Nr. 3214, Eintrag in der Krankengeschichte vom 20. 02. 1935. 635 Archiv des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen, Bestand 18, Patientenakte Anna K., Brief der Anstaltsleitung vom 22. 07. 1935. 636 Gütt, Arthur; Rüdin Ernst & Ruttke, Falk (1936), S. 108f.
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glementieren wollte. Vielmehr wurde betont, »daß der Gesetzgeber für diesen Gang der Untersuchung zwar Richtlinien aufstellt, daß er aber im allgemeinen den Ärzten freie Hand lassen will.«637 Den Ärzten bot sich somit bei der Auslegung des Gesetzes ein weitreichender Spielraum. In diesem Zusammenhang lassen die teilweise großen regionalen Unterschiede in der Diagnoseverteilung der Sterilisationsanträge, welche in den zahlreichen Regionalstudien erhoben wurden, auf ein erhebliches Maß an ärztlicher Willkür bei der Indikationsstellung einer zwangsweisen Unfruchtbarmachung schließen.638 Wie die Ärzte der Anstalten »Philippshospital« und Alzey bei der Diagnosefindung und der Begründung der Sterilisation vorgingen lässt sich anhand der Sterilisationsanträge und ihrer Argumentation in den Krankenakten nachvollziehen, die hier für die einzelnen Diagnosegruppen getrennt betrachtet werden. Sechs der vorgestellten Frauen wurden aufgrund der Diagnose »Schizophrenie« in Mainz zwangsweise unfruchtbar gemacht. Der Gesetzeskommentar definierte »Schizophrenie« nicht als einheitliche Krankheit, sondern als eine »Krankheitsgruppe von innerlich verwandten Krankheiten«, zu deren Diagnose vor allem der Nachweis psychotischer Symptomatik wie Sinnestäuschungen und Wahnideen herangezogen werden konnten. Der Verlauf der Krankheit wurde als schubweise beschrieben. Die Symptomatik der »Schizophrenie« bilde sich zwar in der Regel nach mehreren Monaten wieder zurück, aber eine vollständige Wiedereingliederung in die Gesellschaft sei in den allermeisten Fällen unmöglich.639 Eine Unfruchtbarmachung war für die Verfasser schon bei den leichtesten Ausprägungen oder auch bei diagnostisch nicht klar zu anderen Krankheiten der Psyche abgrenzbaren Fällen in jedem Fall geboten, da die »Erbkraft« der Erkrankung als erheblich eingestuft und bei leichter Ausprägung ein besonders großes Fortpflanzungsrisiko angenommen wurde.640 »Bei der Schizophrenie ist mit aller Schärfe zu betonen, daß eine leichte Ausprägung eines Falles oder eine kurze Dauer eines Schubes, […], durchaus keine Gegengründe gegen die Unfruchtbarmachung sind. Gerade diese Fälle sind wesentlich fortpflanzungsfreudiger als gewisse schwerere Formen, auf ihre Frühsterilisierung kommt es also besonders an.«641
Eine differentialdiagnostische Abgrenzung der Krankheitsbilder »Schizophrenie«, »Angeborener Schwachsinn« und »Manisch-Depressives Irresein« wurde im Gesetzeskommentar ausdrücklich als unerheblich angesehen, da ein eine Sterilisation in jedem Fall angebracht sei: 637 638 639 640 641
Ibid., S. 57. Braß, Christoph (2004), S. 92. Gütt, Arthur; Rüdin Ernst & Ruttke, Falk (1936), S. 130f. Ibid., S. 132ff. Ibid., S. 134.
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»Vom Standpunkte der Erbprognose für eine Nachkommenschaft und demnach also für die Unfruchtbarmachungsfrage ist es aber nicht bedeutungsvoll, ob ein Schizophrener oder ein Manisch-Depressiver oder ein Schwachsinniger der Begutachtung zwecks Durchführung des Verfahrens unterliegt; denn in allen drei Fällen ist Unfruchtbarmachung angezeigt.«642
Unter dem Begriff »Schizophrenie« konnten somit in der Praxis durch die Ärzte eine Vielzahl an psychischen Erkrankungsformen wie auch psychisch »abnormen« Verhaltensweisen subsummiert und gleichzeitig dadurch auch deren Erblichkeit zweifelsfrei festgestellt werden.643 War die Diagnose »Schizophrenie« einmal gestellt, wurde von den Anstaltsärzten in den hier beschriebenen Lebensläufen dementsprechend deren genetische Ursache und Weitervererbung als faktisch angenommen und als gegeben vorausgesetzt. In den ärztlichen Gutachten der Sterilisationsanträge begründen die Ärzte die Diagnose »Schizophrenie« in beiden Anstalten vor allem mit optischen und akustischen Halluzinationen, und Zwangshandlungen, die während des Aufenthalts bei den Frauen dokumentiert worden waren. Als Beispiel kann hier der gutachterliche Befund von Sophie S. der Anstalt »Philippshospital« dienen: »Ihre Sperrung, der Mutacismus, der Negativismus, die Geschmack- und Geruchshalluzinationen, sowie vermutlich auch optische und akustische Sinnestäuschungen rechtfertigen die Diagnose Schizophrenie. Eine bei ihr vorgenommene Insulinkur führte nur langsam zu einer Remission. Akute infektiöse Verwirrtheitszustände klingen im allgemeinen schneller ab. Auch dürfte nach unserer Meinung eine durchgemachte fieberhafte Erkrankung von 4 Tagen die, intercurrierend auftrat, ätiologisch nicht heranzuziehen sein.«644
Um keinen Zweifel an der Diagnose aufkommen zu lassen, wurden somatische Einflüsse auf die Psyche ausdrücklich als für das Krankheitsbild unerheblich eingestuft. Eine Remission der Symptome galt den Ärzten wie auch im Gesetzestext formuliert keinesfalls als Heilung. Vielmehr wurde eine ganzheitliche Persönlichkeitsveränderung diagnostiziert, die auch nach dem Abklingen der Symptome bestehen blieb, wie das Gutachten von Luise H. aus der Anstalt Alzey zeigt: »In ruhigen Zeiten Besonnenheit erhalten, Aufmerksamkeit gut. Keine Bewusstseinstrübung. Im Stupor Denksperrung, deutliche Sinnestäuschung, glaubt ihr Vater lebe noch, bekommt alles mögliche zugerufen. Spricht unzusammenhängend vor sich hin dann wieder keine formellen und inhaltlichen Störungen des Denkens. In ihrer Beschäftigung mit nichtssagenden kunstlosen Zeichnungen und einer unverkennbaren
642 Ibid., S. 133. 643 Walter, Bernd (1999), S. 559. 644 Archiv des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen, Bestand 18, Patientenakte Sophie S., Ärztliches Gutachten vom 10. 06. 1938.
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gemütlichen Stumpfheit lassen sich die Reste des durchgemachten Schizophrenen Schubs deutlich erkennen.«645
Aufschlussreich ist auch das ärztliche Gutachten zu Martha T., mit welchem die Anstaltsärzte aus Alzey ihre »Schizophrenie« zu begründen versuchten: »Nach den Akten des Wohlfahrtsamtes München geniesst die Mutter keinen guten Ruf. Macht den Eindruck einer Publika. Eine Großtante mütterlicherseits, Name nicht zu ermitteln, habe zeitweise an »Verfolgungswahn« gelitten. Eine Schwester der Patientin, Hildegard T. 23 Jahre alt, hat 2 uneheliche Kinder.«646
Welche Sorgfalt die Ärzte bei der Diagnosefindung an den Tag legten zeigt der Fall von Hermine W. aus Alzey. In ihrem ärztlichen Gutachten heißt es: »Unzugänglich, mürrisch, ablehnend. Morose, traurige Verstimmung, häufiges Weinen, völlige Gleichgültigkeit gegen ihre Umgebung, stumpfes Vorsichhinbrüten. Erregung, sinnlose Handlungen. Heute leichter Stupor. Affektarmes Wesen. Autismus. Vorbeireden.«647
Weiter heißt es dort: »Hörte nachts elektrisches Summen und Knattern, Flüchtete vor diesen Geräuschen in den Keller, lief nachts sogar von zu Hause weg, da sie das nicht aushalten könne. Verlangte von ihrem Mann, dass er »das Ding« abstelle, das ganze Haus wackle ja. Der Ehemann selbst hat von diesen Geräuschen nichts gehört, hält aber für möglich, dass seine Frau das Summer der Telegraphendrähte gehört habe, da ein Mast am Haus befestigt sei. Die Reaktion der Kranken, das sinnlose Weglaufen und ihre Flucht in den Keller zeigen jedoch, dass es sich bei ihr um krankhafte, zumindest aber um wahnhaft gedeutete Wahrnehmungen handelte.«648
Die hier aufgeführte Episode ist die wortwörtliche Wiedergabe der Aussage der Nachbarin von Hermine W., der Pfarrersfrau Engel, welche diese durch Erkundigungen im Dorf in Erfahrung bringen konnte und einigen Angaben des Ehemannes. Da für die Diagnose »Schizophrenie« kein weiterer Erblichkeitsnachweis zu erbringen war und die Diagnosen von Fachärzten in der Anstalt gestellt worden waren, folgte das Erbgesundheitsgericht in allen hier vorgestellten Fällen dem Urteil des ärztlichen Gutachtens und ordnete eine Unfruchtbarmachung an. Mit der Diagnose »Angeborener Schwachsinn« begründeten die Anstaltsärzte die Sterilisation von vier der hier vorgestellten Frauen. »Schwachsinn« stellte für die Verfasser des GzVeN eine Sammelkategorie dar, unter der sich verschiedene 645 Landesarchiv Speyer. Bestand O 41 (Landeskrankenhaus Rheinhessen Fachklinik Alzey), Nr. 3623, Ärztliches Gutachten ohne Datum, Februar 1934. 646 Ibid., Nr. 3611, Ärztliches Gutachten vom 08. 07. 1938. 647 Ibid., Nr. 3394, Ärztliches Gutachten vom 12. 08. 1935. 648 Ibid.
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Störungen des Intellekts wie auch des sozialen Verhaltens zusammenfassen ließen und in welche auch der Wert des Einzelnen für die Gemeinschaft miteinfloss.649 »Unter angeborenem Schwachsinn im Sinne dieses Gesetzes ist jeder in medizinischem Sinne als deutlich abnorm diagnostizierbare Grad von Geistesschwäche zu sehen, d. h. von Idiotie über die große Variationsbreite der Imbezillität bis hinauf zur Debilität. Entsprechend der seelischen Allgemeinstörung, welche beim angeborenen Schwachsinn vorliegt, ist nicht bloß auf die intellektuellen Fehlleistungen zu achten, welche in mangelhaften Schul- und Berufsleistungen und schlechter Begriffs- und Urteilsbildung zutage treten, sondern auch auf die Gefühls- und Willenssphäre sowie die Entwicklung der ethischen Begriffe und Regungen, da dies in der Regel mehr oder weniger mitgestört ist.«650
Dieser weitgefasste Gesetzesrahmen ließ den Ärzten einen breiten diagnostischen Interpretationsspielraum, da auch die Erblichkeit des Schwachsinns allein durch ein frühes Auftreten der Fehlleistungen oder moralischen Verfehlungen bewiesen werden konnte: »Wenn im Gesetz von »angeborenem« Schwachsinn gesprochen wird, so hat die Wahl des Wortes »angeboren« ihre Bedeutung darin, daß im Einzelfall nicht regelmäßig der Beweis der Erblichkeit angetreten werden muß. Es reicht vielmehr, um hier zur Annahme einer Erbkrankheit zu gelangen, schon die Tatsache aus, daß der Schwachsinn angeboren ist, daß heißt, daß er früh erkennbar wurde und ohne äußere Ursache aufgetreten ist.«651
Wie auch bei der Erläuterung der »Schizophrenie« galt den Gesetzgebern eine leichte Ausprägung der Symptome als besonders gefährlich: »Es sei ausdrücklich darauf hingewiesen, daß nicht »schwerer« angeborener Schwachsinn vorliegen muß, um die Unfruchtbarmachung herbeizuführen. Es ist wesentlich, daß gerade diejenigen zur Unfruchtbarmachung gelangen, deren Verfassung im übrigen so ist, daß man trotz ihrer Krankheit auf ihre mögliche Fortpflanzung gefaßt sein muß.«652
Zur Überprüfung des Intellekts stand den Ärzten ein Intelligenzfragebogen als objektivierbare Grundlage zur Verfügung. Die Auswertung dieses Bogens war aber keinesfalls standardisiert, sondern der Befund geistiger Unterdurchschnittlichkeit lag im Ermessen des Untersuchers. In unklaren Fällen sollten die schulischen und beruflichen Leistungen, sowie die familiäre Anamnese zur weiteren Klärung herangezogen werden. In Abgrenzung zur alleinigen »Dummheit« definierte das GzVeN »Angeborenen Schwachsinn« als Allgemeinstörung, welche auch Auswirkungen auf die 649 650 651 652
Bock, Gisela (1986), S. 303. Gütt, Arthur; Rüdin Ernst & Ruttke, Falk (1936), S. 119. Ibid., S. 120. Ibid., S. 121.
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Lebensführung und das soziale Verhalten des Einzelnen hatte. Unter dem Begriff der »Lebensbewährung« ließen sich dadurch verschiedene Verfehlungen des Sozialverhaltens subsummieren, aufgrund derer sich die Diagnose »moralischer Schwachsinn« stellen ließ. Die Verletzung sozialer Normen wurde nicht primär als eine Folge der Sozialisierung und Prägung durch Familie, Umwelt und soziales Umfeld betrachtet, sondern als ein angeborenes medizinisches Problem, dessen einzige Therapiemöglichkeit die Verhinderung von Nachkommen zur Gesundung der Gesellschaft darstellte.653 Der Nachweis von Handlungen entgegen der gesellschaftlichen Norm im Berufsleben, im Sexualverhalten sowie der Bruch strafrechtlicher Regeln bewies nach der rassenhygienischen Lehre die soziale »Minderwertigkeit« des Einzelnen für die Gemeinschaft und stellte in der Form des »moralischen Schwachsinns« ebenso eine Erbleiden dar, wie ein »Angeborener Schwachsinn« aufgrund von intellektueller Unterdurchschnittlichkeit.654 »Mit größter Wahrscheinlichkeit liegt aber dann Schwachsinn vor, wenn der Betreffende nicht fähig ist, in einem geordneten Berufsleben seinen eigenen Unterhalt zu verdienen, noch sonst sich sozial einzufügen.«655
Die Anstaltsärzte nutzten in den hier vorgestellten Fällen die verschiedenen Möglichkeiten zur Diagnosestellung aus und führten neben dem unterdurchschnittlichen Abschneiden bei der Intelligenztestung für ihre Gutachten auch familiäre Belastung, soziales Fehlverhalten und die Verletzung sexueller Normen und Moralvorstellungen zur Rechtfertigung der Diagnose »Angeborener Schwachsinn« an. Im Fall von Katharina E., die anfänglich wegen »Imbezillität mit Erregungszuständen« in Alzey aufgenommen wurde notierten die Ärzte: »Beide Eltern sollen abnorme Charaktere gewesen sein. […] Zeitweise erregt, dann meist sinnlose Handlungen. Hat ihre Stellung oft gewechselt. Keine sinngemäße Auffassungsgabe.«656
Hierdurch wird aus der Aufnahmediagnose über Nacht eine Erbkrankheit und Katharina E. daraufhin wenige Wochen später unfruchtbar gemacht. Im ärztlichen Gutachten der Anstalt »Philippshospital« zu Anna K. heißt es zu ihrer Familie: »Der Vater, den ich von der Sprechstunde her kenne, macht einen schwachsinnigen Eindruck. Hat 8 Geschwister, die, nach Angabe der Patientin, fast alle in der Schule
653 654 655 656
Vgl. Braß, Christoph (2004), S. 93–96. Siehe Walter, Bernd (1999), S. 559f; Ruckert, Frederic (2012), S. 68. Gütt, Arthur; Rüdin Ernst & Ruttke, Falk (1936), S. 125. Landesarchiv Speyer. Bestand O 41 (Landeskrankenhaus Rheinhessen Fachklinik Alzey), Nr. 3055a, Ärztliches Gutachten vom 06. 01. 1934.
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sitzen blieben. Ein Bruder, der nicht lesen und nicht schreiben kann, wurde unfruchtbar gemacht.«657
Sie soll fleissig gewesen sein, habe aber häufig ihre Stellung gewechselt. Ausserdem sei sie eine: »sexuell hemmungslose Patientin, die sich schon wiederholt gonorrhoisch infizierte.«658 Aus diesen Gründen wird Anna K. ein »Schwachsinn höheren Grades« diagnostiziert, »für dessen Entstehung äussere Ursachen fehlen«659. Ähnlich liest sich das Sterilisationsgutachten der Anstaltsärzte in Alzey zu Anna S.: »Die Mutter der Kranken litt – laut Krankengeschichte unserer Anstalt – an angeborenem Schwachsinn. […] Patientin ist meistens recht guter Dinge, manchmal albern und herausfordernd und zu derben Scherzen geneigt. […] Sexuell zudringlich, sucht die Gesellschaft von Männern. In ihren Ausdrücken oft obszön. Hat es sogar in der Anstalt trotz strengster Aufsicht verstanden, mit einem Kranken geschlechtlich zu verkehren. Auffassung erschwert (siehe Intelligenzbogen).«660
Das ärztliche Urteil lautete: »Angeborener Schwachsinn. Aus der ganzen Lebensführung und dem asozialen Verhalten ersichtlich und durch Untersuchung nachgewiesen.«661 Mit der Diagnose »Manisch-Depressives Irresein« wurde von den hier vorgestellten Fällen einzig Magdalena P. zur Sterilisation nach Mainz überwiesen. Im Gesetzeskommentar wird die Erkrankung als »Gemütskrankheit« bezeichnet, welche in Phasen auftrete, nach deren Durchleben »der erkrankte in seiner Gemütslage und geistigen Leistungsfähigkeit völlig normal erscheinen« könne.662 Die »Erbkraft« der Erkrankung wurde als ganz bedeutend angesehen, so dass »jeder einwandfrei geklärte Fall von manisch-depressivem Irresein als erblich angesehen werden muß. In der Regel gehen die einzelnen Anfälle des manisch-depressiven Irreseins sei es unter einer Behandlung, sei es von selbst oft verhältnismäßig gut zurück, so daß Symptome geistiger Störung nicht mehr oder kaum nachzuweisen sind, von einer Heilung im wörtlichen Sinne ist natürlich nicht zur sprechen, da die Krankheitserscheinung jederzeit, sei es mit oder ohne äußeren Anlaß ausbrechen können. Ein Zurückgehen der Krankheitserscheinungen darf aber nicht ein Grund sein, die Unfruchtbarmachung aufzuschieben oder aufzuheben.«663
657 Archiv des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen, Bestand 18, Patientenakte Anna K., Ärztliches Gutachten vom 30. 07. 1935. 658 Ibid. 659 Ibid. 660 Landesarchiv Speyer. Bestand O 41 (Landeskrankenhaus Rheinhessen Fachklinik Alzey), Nr. 3231, Ärztliches Gutachten vom 14. 11. 1934. 661 Ibid. 662 Gütt, Arthur; Rüdin Ernst & Ruttke, Falk (1936), S. 137. 663 Ibid., S. 138.
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Auch für diese Erkrankung galt den Gesetzgebern ein milder Krankheitsverlauf, als besonders gefährlich, da dadurch die Gefahr der Weitergabe der »krankhaften Anlage« erhöht würde. Welche diagnostischen Mittel die Ärzte bei ihrer Untersuchung und Exploration anwenden sollten, war im Gesetzeskommentar nicht weiter geregelt. Im Fall von Magdalena P. wird die Diagnose »Manisch-Depressives Irresein« aufgrund von zwei depressiven Episoden in der Anamnese und dem Aufnahmebefund gestellt. Manische Symptome finden sich in der Krankendokumentation keine. In ihrem Gutachten heißt es zu ihrer Erkrankung: »Bei einem sonst sehr heiteren, lebensfrohen Menschen wurden 2 Perioden einer schweren seelischen Verstimmung beobachtet, während derer die Kranke in allen sprachlichen und motorischen Äusserungen sehr gehemmt war, unter Versündigungsideen und Angstzuständen litt und sich mit Selbstmordgedanken trug.«664
Wenige Wochen nach ihrer Operation verstarb sie nach einem komplizierten Wundheilungsverlauf in Mainz. Aufgrund der Diagnose »Erbliche Fallsucht« wurden drei der hier vorgestellten Frauen in Mainz unfruchtbar gemacht. In den Erläuterungen des Gesetzestextes heißt es zu diesem Krankheitsbild: »Der erbwissenschaftlichen Forschung der Krankheit gelang es, aus der großen Zahl der Krankheiten, bei denen der epileptische Anfall als Gelegenheitsereignis betrachtet wird, ein geschloßenes Krankheitsbild herauszuheben, welches zwar durch das Leitsymptom des epileptischen Syndroms, darüber hinaus aber oft durch fortschreitende Beeinträchtigung der Gesamtpersönlichkeit gekennzeichnet ist. Hier handelt es sich also nicht um gesunde Personen, die nur hin und wieder unter dem Anfall zu leiden haben, sondern um ein charakterliches Krankheitsbild, welches den Betroffenen fortschreitend mehr und mehr persönlich beeinträchtigt und ihn zu einer schweren Last für die Angehörigen und die Volksgemeinschaft werden läßt.«665
Eine eindeutig gestellte Diagnose sollte daher umgehend zur Unfruchtbarmachung führen. Als diagnostisches Mittel sollten neben dem Nachweis von epileptischen Anfällen auch bestimmte Persönlichkeitsmerkmale dienen, welche, den Verfassern des GzVnE nach, den Typus des Epileptikers definierten: »Ein wichtiges diagnostisches Hilfsmittel ist recht oft die Persönlichkeit des Epileptikers selbst, die man als steif, gespreizt, reizbar, pedantisch bezeichnen kann; schon in der Haltung des Kranken kommt das zum Ausdruck. Der Gedankenablauf ist umständlich, weitschweifig, egozentrisch, stereotyp. Bezeichnend ist auch die Erstarrung der Ge-
664 Landesarchiv Speyer. Bestand O 41 (Landeskrankenhaus Rheinhessen Fachklinik Alzey), Nr. 3068, Ärztliches Gutachten vom 05. 06. 1934. 665 Gütt, Arthur; Rüdin Ernst & Ruttke, Falk (1936), S. 140.
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samtpersönlichkeit, die Unbelehrbarkeit, die Verarmung des Vorstellungsschatzes. Schwere Fälle führen fast immer allmählich zur Verblödung.«666
Bei hirnorganischen Defekten, aufgrund exogener Ursachen wie Schädelverletzungen, Infektionen des Gehirns und Vergiftungen sollte, falls diese von einem Arzt als ursächlich für die Anfälle angesehen wurden, keine Unfruchtbarmachung erfolgen. Wie die Ärzte der Anstalt »Philippshospital« diese Gesetzesvorgaben auslegten zeigt das Sterilisationsgutachten von Therese R., die zum Zeitpunkt ihrer Sterilisation gerade 18 Jahre alt geworden war. Das junge Mädchen hatte laut der Jugendamts- und Fürsorgeamtsakten bereit früh nach dem Tod der Mutter die Ablehnung durch ihre neue Schwiegermutter und ihren Vater erfahren und war von diesem in ein Fürsorgeheim gebracht worden. Wohl hatte sich auch der Vater ihrer Schwiegermutter an dem jungen Mädchen vergangen, wie einzelne Aktenvermerke andeuten: »Stammt aus besseren Verhältnissen. […] Rechte Mutter starb früh, Stiefmutter angeblich lieblos. Beeinflusste Vater gegen die R.. Vater mütterlicherseits starker Trinker. Vater der Stiefmutter soll unsittliche Handlungen an R. begangen haben. R. hat 8 Jahre die evangelische Schule besucht, kam in Stellung, die aber zu schwer für sie war, dann 8 Monate ins Kloster. Galt als blutarm, nervös, unbeherrscht und sinnlich. Bot im Kloster bei der Erziehung Schwierigkeiten, Menarche mit 13 ½ Jahren. Scheint zu masturbieren. […] Gilt für verbittert, wofür auch der häufige Wechsel in der Erziehung geltend gemacht wird. Durch ihr krankhaftes Seelenleben gilt als geistig etwas gehemmt. Urteil wird als gut bezeichnet, genügende Schulkenntnisse, aber auf ethischem Gebiet urteilsunfähig (wohl übertrieben erregbar). In ihrem Gemütsleben geschädigt, verbittert, herzlos und roh.«667
Mit dieser Vorgeschichte und den aktenkundig zeitweise aufgetretenen Absencen und Ohnmachtsanfällen wird das sechzehnjährige Mädchen in Riedstadt aufgenommen. In der Anstalt sträubt sie sich gegen bestimmte Behandlungen und gerät auch mit anderen Frauen in Konflikt. Dieses Verhalten wird von den Ärzten weniger auf ihre frühkindlichen Erfahrungen zurückgeführt, sondern als Zeichen ihrer pathologischen Erbanlage interpretiert. Typisch für ihre belastete Erbanlage scheinen den Ärzten ihre »sexuelle Übererregbarkeit« und ihr »unsoziales Verhalten«. Kurz nach ihrem 18. Geburtstag beantragen die Ärzte ihre Sterilisation mit folgender Begründung: »Grossmutter väterlicherseits Trinker. Der Vater soll vor dem Tod schwere psychische Erscheinungen geboten haben. […] Deutliches Hervortreten der psychopathischen 666 Ibid., S. 141. 667 Archiv des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen, Bestand 18, Patientenakte Therese R., Eintrag in den Jugendamtsakten, Auszug aus der Erziehungsliste des Erziehungsheims »Bethesda« Boppard am Rhein, undatiert.
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Kollektivbiographie und biographische Rekonstruktion
Anlagen in der Pubertät. Erste Erziehungsschwierigkeiten im guten Hirten, durch die gesteigerte Reizbarkeit und das deutliche bedingte unsoziale Verhalten. […] Die auf offenbar ererbter Basis beruhenden seelischen Anomalien bestehen einmal in bei der Kranken dauernd vorhandenen und jederzeit in Erscheinung tretenden Symptomen ihrer Psychopathie, die sich besonders in gesteigerter, gemütlicher Reizbarkeit äussert. Auf jeden geringen Anlass hin reagiert sie mit ungemein starkem Affekt, worin sie bei dem krankhaften Mangel an Hemmungen sehr oft zu explosiven, unter Umständen unsozialen Handlungen kommt. Gelegentlich beschränken sich diese auf Schreien und Schimpfen, sehr oft aber auch zerstört die Kranke in solchen Augenblicken oder greift andere, unter Umständen in recht gefährlicher Art an. Ausser dieser krankhaften Störung des Affektlebens äussert sich die Psychopathie auch an anderen Unausgeglichenheiten der Persönlichkeit. Die Kranke, die sich ihrer Unvollkommenheit bewusst ist, sucht auf der einen Seite Schutz und Anlehnung bei dritten, denen sie Vertrauen entgegenbringen kann. Diesen gegenüber zeigt sie meist eine fast kindlich anmutende Lenksamkeit, wenigstens so lange, als sie nicht in Affekt kommt. Andererseits zeigt R. aber auch einen recht bemerkenswerten Mangel an Offenheit. Sie neigt zu allerhand Hinterhältigkeiten. Schuld daran mögen, wohl abgesehen von der pathologischen Anlage an sich, frühe ungünstige Erfahrungen im Elternhaus tragen, wie sie denn niemals rechtes Vertrauen zu Eltern bzw. ihrer Stiefmutter fassen konnte. Da nach der gestellten Diagnose mit einer erheblichen erblichen Gefährdung etwaiger Nachkommenschaft zu rechnen ist, wird die Unfruchtbarmachung vorgeschlagen.«668
Wie wenig somatische Ursachen bei der Diagnosestellung der »Erblichen Fallsucht« in Betracht gezogen wurden zeigt der Fall von Margarete S. aus der Anstalt Riedstadt Goddelau. Im Einweisungszeugnis bescheinigt der Arzt ihr eine Hirnhautentzündung im 2. Lebensjahr, nach welcher in regelmäßiger Abfolge epileptische Anfälle aufgetreten seien. In der Urteilsbegründung, die dem Gutachten der Anstaltsärzte folgt, heißt es dazu: »Das Verfahren wurde auf Antrag des Kreisarztes zu Offenbach am Main wegen erblicher Fallsucht eingeleitet. Das Gutachten eines der Ärzte der Landes Heil- und Pflegeanstalt Philippshospital bei Goddelau hat diesen Befund eindeutig bestätigt. Hieraus, sowie aus den von der Bürgermeisterei in L. angestellten Ermittlungen ergibt sich, dass die Mutter schwachsinnig und ein Verwandter derselben in der vorgenannten Anstalt untergebracht ist. Die Erbkranke selbst war bereits im Jahre 1933 in genannter Anstalt untergebracht. Eine im zweiten Lebensjahr angeblich erlittene Hirnhautentzündung als eventuell exogene Verursachung zu werten, dafür besteht angesichts der Krankheit der Mutter und eines Verwandten, sowie des typischen Krankheitsbildes bei der Erbkranken keine Veranlassung. Vorgenannte Umstände ergeben zusammen mit der nach den Erfahrungen der ärztlichen Wissenschaft feststehenden sehr hohen Erbkraft der Epilepsie (vergl. Gütt, Verhütung S.86f., 104ff.) die hohe Gefahr des erbkranken Nachwuchses im Sinne von §13 Abs. 1 des Gesetzes.«669 668 Ibid., Ärztliches Gutachten vom 02. 06. 1934. 669 Ibid., Patientenakte Margarete S., Abschrift des Gerichtsbeschlusses des Erbgesundheitsgerichts Offenbach vom 30. 08. 1934.
Eine qualitative Inhaltsanalyse der Dokumente
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Die Positionen und Ansichten der Angehörigen zur gesetzlichen Unfruchtbarmachung wie auch zu dem Anstaltsaufenthalt der betroffenen Frauen ist ungleich schwerer aus den Krankenakten herauszulesen. Die abseits gelegenen Anstalten Alzey und »Philippshospital« waren von vielen Angehörigen nur schlecht zu erreichen, so dass Besuche höchstens einmal die Woche in den Akten dokumentiert sind. Die Kommunikation zwischen den Frauen und ihren Familien fand vor allem in Form von Briefen statt, von denen einige wenige in Abschrift oder im Original in den Krankenakten erhalten sind. Des Weiteren enthalten die Akten aber auch die weitaus zahlreicheren Briefe von Angehörigen an die ärztliche Leitung. In diesen Dokumenten spiegeln sich die verschiedenen Positionen und Argumentationsstrategien der von den betroffenen Frauen abgeschnittenen Familienangehörigen gegenüber der Anstalt sowie den erbbiologischen Zwangsmaßnahmen wider. Ein zentrales Thema der überlieferten Briefe an die Anstaltsleitung ist die Besorgnis um das Wohl der Frauen sowie die Frage nach einem möglichen Entlassungstermin. Nach 1934 war eine Entlassung für die hier vorgestellten Betroffenen allerdings an einen Erbgesundheitsgerichtsbeschluss gebunden. In diesem Zusammenhang ist die Haltung der Angehörigen gegenüber dem GzVeN und der Anstaltsleitung als ausführende Institution von Interesse. Die meisten Eltern und Geschwister, die sich schriftlich an die Anstaltsleitung wendeten, stellten dabei das Gesetz als solches und seine Legitimation nicht in Frage, sondern drängten eher auf einen frühen Sterilisationstermin, um dadurch die Entlassung ihrer Tochter oder Schwester zu beschleunigen. Zum einen geschah dies aus Kostengründen, wie im Fall von Katharina E., in welchem der Vater die Pflegekosten nicht weiter tragen mochte und daher um eine Entlassung seiner Tochter nach Hause ersucht,670 oder wie im Fall von Luise H., in welchem ihre Mutter aus ähnlichem Grund schriftlich um die Unfruchtbarmachung bat: »…, aber daraufhin kann man sie doch nicht noch weiter in der Anstalt lassen. Zumal mir die Gemeinde Schwierigkeiten macht mit der Vorlage. Meiner Tochter ihr bißchen Vermögen ist jetzt aufgebraucht, und ich bin nicht in der Lage weiter zu bezahlen. Wie mir meine Tochter erzählte, kommen diese Woche Patienten zur Sterilisierung, da möchte ich Sie bitten meine Tochter doch auch zu zulassen.«671
Oft willigten die Angehörigen auch ohne Widerspruch in die Sterilisation der Frauen ein, um dadurch endlich eine Entlassung möglich zu machen, wie zum Beispiel der Fall von Helene W. belegt:
670 Vgl. Landesarchiv Speyer. Bestand O 41 (Landeskrankenhaus Rheinhessen Fachklinik Alzey), Nr. 3055a, Brief der Schwester an die Anstaltsleitung vom 04. 08. 1934. 671 Ibid., Nr. 3623, Brief der Mutter an die Anstalt vom 05. 03. 1934.
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Kollektivbiographie und biographische Rekonstruktion
»Wegen der Sterilisation wird Rücksprache mit der Kranken selbst und dem Ehemann genommen. Beide sind damit einverstanden. Die Ehefrau will selbst den Antrag stellen.«672
Auch der Bruder von Magdalena P. beschwert sich in seinem Brief an die Anstaltsleitung in Alzey eher über die Verzögerung der Sterilisation seiner Schwester, als über die Maßnahme als solche: »Meine Schwester ist über die große Verzögerung ihrer Überweisung nach Mainz ungeduldig, zumal sie wissen will, daß Patientinnen, welche nach ihr den Antrag unterschrieben hätten, bereits in Mainz waren. Es ist ja auch eine große Härte für sie in der Anstalt bleiben zu müssen, obwohl ihr Gesundheitszustand dies nicht mehr bedingt. Ich möchte Sie deshalb hiermit um eine Mitteilung zu beten haben, bei welcher Stelle ich die Beschleunigung ihrer Überweisung nachfragen kann.«673
Wie verzweifelt die Familienangehörigen aufgrund ihrer Machtlosigkeit gegenüber der Anstaltsleitung waren zeigt das Beispiel des Ehemanns von Johanna M., der sich schriftlich dazu verpflichtet keinen Geschlechtsverkehr mit seiner Ehefrau zu haben, um dadurch ihre Entlassung zu beschleunigen: »Die immerwährende Unruhe und das […] meiner Frau Johanna M. nach ihren 2 Kindern veranlassen mich, mit der dringenden Bitte an die Direktion heranzutreten mir zu gestatten, meine Frau versuchsweise nach Hause nehmen zu dürfen. Nach Rücksprach mit Oberarzt Schönmehl, bin ich zu der Überzeugung gekommen, meiner Frau die Krankheit durch die Vereinigung mit ihren Kindern erträglicher zu gestalten. Es war bisher nicht möglich die beantragte Unfruchtbarmachung durchzuführen; ich verpflichte mich hiermit bis zum Zeitpunkt der Durchführung obengennantes, dem ehelichen Verkehr mit meiner Frau zu entsagen. Sollte der Versuch nicht den gewünschten Erfolg haben, so dass der Aufenthalt meiner Frau zu Hause nicht möglich ist, so bin ich bereit, dieselbe wieder in Ihre Anstalt zu überführen. Ich hätte dann aber nichts unversucht gelassen, eine schnellere Heilung herbeizuführen und stände auch gerechtfertigt vor der drängenden Mutter meiner Frau und den nächsten Angehörigen. Zerstören Sie bitte nicht meine Hoffnungen und erfüllen Sie meinen Wunsch.«674
Im Gegensatz hierzu steht die Haltung von Emma W.s Schwägerin, die eine Anstaltsunterbringung ausdrücklich befürwortet und dabei auch auf die Argumentationsstrategie der Verfasser des GzVeN zurückgreift. Im Einweisungsbescheid in die Anstalt notiert der Arzt nach ihren Angaben:
672 Archiv des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen, Bestand 18, Patientenakte Helene W., Krankengeschichte, Eintrag vom 29. 01. 1934. 673 Landesarchiv Speyer. Bestand O 41 (Landeskrankenhaus Rheinhessen Fachklinik Alzey), Nr. 3068, Brief des Bruders vom 10. 10. 1934. 674 Archiv des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen, Bestand 18, Patientenakte Johanna M., Brief des Ehemanns vom 21. 10. 1936.
Eine qualitative Inhaltsanalyse der Dokumente
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»Angeborener Schwachsinn. Seit dem Tod der Eltern bei dem verheirateten Bruder. Kann dort nur ungenügend beaufsichtigt werden. Hält Verkehr mit Männern, würde mit jedem gehen, der sie darum anspricht.«675
Eine Verhinderung der Fortpflanzung von Emma W. scheint auch ihrer Schwägerin angebracht. Da sie diese Aufsicht aber nicht gewährleisten kann, wird Emma W. in die Anstalt »Philippshospital« eingewiesen und dort Jahre später in einer »Routinemaßnahme« unfruchtbar gemacht. Wie stark das Urteil »Angeborener Schwachsinn« das Leben von Emma W. definierte und prägte zeigt sich in der weiteren ärztlichen Dokumentation. Als Emma W. über 10 Jahre später, bereits in Familienpflege entlassen, auf dem Weg nach Hause tätlich angegriffen, blutig geschlagen und beinahe vergewaltigt wird, kommt sie zur Genesung ihrer Kopfplatzwunde wieder in die Anstalt, wo sie weitere zwei Jahre verbleibt. Als Grund für diesen erneuten Aufenthalt heißt es in der Krankenakte: »Patientin hatte heute Besuch von ihrem Bruder, der sich erkundigte ob Patientin nicht wieder in Familienpflege entlassen werden könnte. Es wurde ihm gesagt, dass Patientin infolge ihrer sexuellen Haltlosigkeit vorerst noch in der Anstalt bleiben müsse.«676
Aufgrund des perfiden Urteils »Angeborener Schwachsinn« mit »sexueller Übererregbarkeit« wurde Emma W. nicht als Opfer des tätlichen Angriffs gesehen, sondern es wurde ihr zumindest eine Teilschuld an ihrer versuchten Vergewaltigung unterstellt und damit ein weiterer Anstaltsaufenthalt gerechtfertigt. Neben der Zustimmung zur gesetzlichen Unfruchtbarmachung finden sich in den Briefen der Angehörigen an die Anstaltsleitung und ärztliche Direktion auch Zeugnisse von Widerstand gegen die Sterilisationsmaßnahmen. Auch hier übten die Angehörigen keine Kritik an der Legitimation des GzVeN als solchem, sondern stellten vielmehr die ärztliche Diagnose und das darauf beruhende Urteil des Erbgesundheitsgerichts in Frage. Als Argument diente den Angehörigen das Fehlen von »Erbkrankheiten« in der Familie, sowie die Arbeitsfähigkeit der Betroffenen. Martha T.s Mutter schreibt dazu an die Anstaltsleitung: »Es ist aber doch von »nervös« zu »geisteskrank« ein gewaltiger Weg. […] Mein Kind ist nicht »geisteskrank«, ein geringer Beweis dafür sind doch ihre Korrespondenzen! Wenn Martha nicht bald entlassen wird befürchte ich Schlimmes für sie! […] In meiner ganzen Verwandtschaft und von meines Mannes Seite aus, liegt nicht ein Fall auf, in dem ein Glied »geistesschwach« gewesen wäre, geschweige denn »geisteskrank«. Herr
675 Archiv des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen, Bestand 18, Patientenakte Emma W., Einweisungszeugnis vom 17. 10. 1928. 676 Ibid., Patientenakte Emma W., Eintrag vom 26. 11. 1946.
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Kollektivbiographie und biographische Rekonstruktion
Direktor ich bitte Sie als Mutter, haben doch Sie Erbarmen mit meinem armen Kinde, geben Sie ihr die Freiheit wieder!«677
Wie sehr die Frauen der Macht der Anstaltsärzte und des nationalsozialistischen Gesundheitssystems nach ihrer Einweisung ausgeliefert sein würden, wurde den meisten Angehörigen scheinbar erst im Verlauf klar, woraufhin sie versuchten eine schnellstmögliche Entlassung zu erwirken. Der Ehemann von Hermine W. schreibt hierzu an die Anstalt Alzey: »Aber um eines flehe ich Sie an Herr Doktor, urteilen Sie nicht zu hart und seien Sie gnädig mit Ihrer Annahme, daß meine Frau vielleicht unter dies Gesetz fallen sollte. Ich vermute, ebenso wie auch meine Frau, daß es überhaupt der größte Fehler meines Lebens war, daß ich sie in eine Anstalt gebracht habe. Ich war eben der Ansicht es wäre am Besten, aber nun glaube ich, daß auch eine Klinik oder Krankenhaus genügt hätte, um sich zu erholen. […] Nun Herr Doktor bitte ich Sie nochmal eindringlich, nehmen Sie vorerst nichts an ihr vor.«678
Ebenso scheint der Onkel von Sophie S. erst nach der Einweisung seiner Nichte die Tragweite ihrer Anstaltsaufnahme zu erfassen und schreibt daraufhin an die Ärzte: »Da der Zustand der Sofie S. nach den persönlichen Verhandlungen mit ihr und den persönlichen Beobachtungen über den Zustand ein befriedigender ist und Fräulein S. die Anstalt wieder verlassen kann, teile ich Ihnen mit, dass ich am Freitag den 10. Juni 1938 Fräulein S. ohne weitere Verzögerung ab dorten abholen werde und zur restlosen Heilung einem Facharzt überweise, mit welchem dieserhalb bereits Verhandlungen abgeschlossen sind zur Behandlung. Auf Grund dieser Tatsachen und der einwandfrei feststehenden Tatsache, dass Fräulein S. in keinerweise mit einer Geistesgestörtheit noch einem geistigen Defekt etwas zu tun hat, ziehe ich hiermit alle gegebenen Zusagen schriftlich wie mündlich hiermit zurück und untersage mit sofortiger Wirkung jeglichen Eingriff in den Körper der Sofie S. […].«679
Um eine Unfruchtbarmachung seiner Nichte zu verhindern, droht Johann S. auch mit Rechtsmitteln und versucht die Ärzte persönlich zur Verantwortung zu ziehen. Paradoxerweise bewirkt er damit aber eine Beschleunigung des Erbgesundheitsgerichtsverfahrens, so dass Sophie S. im Eilverfahren für »erbkrank« erklärt und wenig später unfruchtbar gemacht wird. Ähnliches bewirkt auch der Vater von Anna K. der im Versuch die Sterilisation seiner Tochter zu verhindern eine Beschwerde beim Reichstatthalter der Landesregierung Hessen einreicht. Auch ihr Sterilisationsverfahren wird daraufhin beschleunigt zum Abschluss 677 Landesarchiv Speyer. Bestand O 41 (Landeskrankenhaus Rheinhessen Fachklinik Alzey), Nr. 3611, Brief der Mutter an den betreuenden Arzt in Alzey vom 25. 05. 1938. 678 Ibid., Nr. 3394, Brief des Ehemanns an Dr. Kinsberger vom 10. 08. 1935. 679 Archiv des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen, Bestand 18, Patientenakte Sophie S., Brief von Johann S. vom 03. 06. 1938.
Eine qualitative Inhaltsanalyse der Dokumente
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gebracht. In beiden Fällen verzichten die Angehörigen beim Gerichtsverfahren schlussendlich auf rechtlichen Einspruch gegen das Urteil. Wahrscheinlich war ihnen zu diesem Zeitpunkt die Machtlosigkeit gegenüber den Ärzten und Richtern bereits in vollem Umfang bewusst geworden, so dass sie in die Unfruchtbarmachung von Sophie S. und Anna K. einstimmten, um dadurch zumindest eine Entlassung nach Hause zu ermöglichen.
6.
Zusammenfassung, Gegenüberstellung und Ausblick
Nahezu ein Fünftel der in Mainz zwischen 1933 und 1945 unter Zwang unfruchtbar gemachten Frauen, war vor ihrer Sterilisation in einer psychiatrischen Anstaltsbehandlung. Nahezu 70 % dieser Betroffenen wurden aus der Landesanstalt Alzey und aus dem »Philippshospital« in die Hebammenlehranstalt Mainz überwiesen, so dass die in der Arbeit erhobenen Daten über das Schicksal der Frauen und den Hintergrund sowie den Ablauf ihrer Unfruchtbarmachung als repräsentativ für alle in Mainz sterilisierten Anstaltsinsassinnen gelten können. Der Großteil der Zwangsterilisationen fällt zeitlich in die ersten Jahre nach Inkrafttreten des GzVeN. Die Anstaltsinsassinnen aus Alzey und Riedstadt Goddelau zählten somit zu den ersten Betroffenen des Gesetzes in Mainz. Den Anstaltsärzten war bereits von den Verfassern und Vordenkern des Gesetzes eine Vorreiterrolle bei der Umsetzung der erbbiologischen Maßnahmen zugedacht worden, welche die ärztliche Leitung im »Philippshospital« wie auch in Alzey gewissenhaft ausfüllte. Wie aus den vorgestellten Lebensläufen ersichtlich fußte das ärztliche Urteil der Anstaltsärzte dabei nicht auf der medizinischen Lehre, sondern wurde durch die nationalsozialistische Rassenhygiene geprägt, welche den Wert des Kollektivs des deutschen Volkes über den Wert des Einzelnen stellte. Zum Zeitpunkt der Einführung des GzVeN kann anhand der überlieferten Zeugnisse bezügliche der rassenhygienischen Maßnahmen von einem breiten Konsens aller Funktionsträger in beiden Anstalten wie auch in der Hebammenlehranstalt Mainz ausgegangen werden. Der Leiter der Anstalt Alzey Dr. Dietz wie auch der Leiter des »Philippshospitals« Dr. Amrhein begannen unverzüglich mit der Umsetzung der Gesetzesvorgaben und überwiesen bereits wenige Wochen nach Inkrafttreten des GzVeN die ersten Frauen in die Hebammenlehranstalt nach Mainz, wo sie von Dr. Puppel und später von Dr. Wehefritz operativ unfruchtbar gemacht wurden. Dr. Puppel reiste zur Begutachtung der Frauen auch nach Alzey, um sich dort selbst ein Bild von der Verfassung seiner »Sterilisationskandidatinnen« zu machen. Zeugnisse von Widerstand
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Zusammenfassung, Gegenüberstellung und Ausblick
gegen die Zwangsmaßnahmen fanden sich in keiner der untersuchten Krankenakten. Vielmehr wurden die Maßnahmen gegen jeglichen Widerstand der Frauen wie auch ihrer Angehörigen durchgesetzt. In den hier untersuchten Fällen waren für die Begutachtung der Frauen der Anstalt Alzey Oberarzt Dr. Kinsberger, sowie die Assistenzärztin Dr. Helmerich verantwortlich. Im »Philippshospital« wurden die Gutachten von Oberarzt Dr. Schönmehl und den Assistenzärzten Dr. Vogel und Dr. Dienst gestellt. In ihren Einträgen der Krankendokumentation und ihren medizinischen Gutachten lässt sich ihre ärztliche Einstellung gegenüber den Anstaltsinsassinnen deutliche herauslesen. Anamneseerhebung wie auch der psychische und körperliche Untersuchungsbefund waren zum größten Teil diffamierend, unsachlich und von ärztlicher Willkür geprägt. Zeigten sich die Frauen fügsam und arbeitswillig wurde dies in den Krankenakten vermerkt und hatte auch einen positiven Einfluss auf den gesamten Anstaltsaufenthalt sowie auf ihre medizinische Beurteilung. Im Gegensatz dazu wurde bei Frauen, die sich nicht zur Arbeit heranziehen ließen, versucht ihr widerspenstiges Verhalten durch ihre schlechte Erbanlage und die niederen sozialen Verhältnisse ihrer Familien zu erklären. Zur Begründung einer psychopathologische Anlage genügten den Ärzten schon das frühe auftreten der Symptomatik. Die vom Gesetzgeber geforderten Sippenschaftstafeln finden sich nur in den wenigsten untersuchten Akten, was als Beleg dafür gelten kann, wie schwer sich die Ärzte damit taten, auch wirklich genetische Ursachen für die von ihnen diagnostizierten »Erbkrankheiten« zu finden. Falls aber eine »defekte Erbanlage« irgendwo in den Akten dokumentiert war, wurde diese auch zur argumentativen Unterstützung der Diagnose mit angeführt, ganz gleich, ob es sich im Gesetzeskommentar bei der Diagnose per definitionem um eine »Erbkrankheit« handelte oder nicht. Die in der Arbeit erhobenen Daten über die Diagnoseverteilung der Sterilisationsopfer decken sich weitestgehend mit den bereits in anderen Studien erhobenen Daten. Innerhalb beider Anstalten wurden den betroffenen Frauen im überwiegenden Teil der Fälle eine »Schizophrenie« zur Rechtfertigung einer Sterilisationsmaßnahme diagnostiziert, während »Angeborener Schwachsinn«, »Manisch-Depressives Irresein« und »Erbliche Fallsucht« seltenere Indikationen für eine Unfruchtbarmachung darstellten. Keine der Anstaltsinsassinnen wurde aufgrund der weiteren im GzVeN aufgeführten Diagnosen unfruchtbar gemacht. Unter den Mainzer Zwangssterilisationsopfern insgesamt ist die Diagnose »Angeborener Schwachsinn« am häufigsten, so dass sich festhalten lässt, dass die Amtsärzte in den umliegenden Gesundheitsämtern eher auf die sehr weit gefasste Diagnose »Angeborener Schwachsinn« zur Rechtfertigung ihrer Diagnose zurückgriffen, während die Anstaltsärzte eher Diagnosen innerhalb ihrer Fachdisziplin stellten und keine somatischen Sterilisationsindikationen bemühten. Dadurch waren diese Diagnosen aber keinesfalls in allen Fällen fachgerecht ge-
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stellt oder gar rechtmäßiger als die Diagnosen ihrer Kollegen in den kommunalen Gesundheitsämtern, wie die qualitative Analyse der Biographien dieser Studie eindrucksvoll belegt. Zur Rechtfertigung der meistgestellten Diagnose »Schizophrenie« wurden in beiden Anstalten vor allem das Auftreten von Halluzinationen und Zwangshandlungen angeführt. Eine Remission galt explizit nicht als Heilung und die Wirkung von somatischen Erkrankungen auf die Psyche wurde wie im Fall von Sophie S. im Gutachten explizit negiert, um keinen Zweifel an der Diagnose aufkommen zu lassen. Im Fall von Hermine W. gründete die komplette Diagnose auf den Aussagen einer Nachbarin und den Ermittlungen, welche dieses im Dorf über die Betroffene angestellt hatte. Zur Begründung der »Schizophrenie« von Martha T. zitierten die Ärzte in der gutachterlichen Stellungnahme einen Auszug aus ihrer Fürsorgeakte, in der ihre Mutter als »Prostituierte« denunziert wurde, was als Beweis einer »kranken« Erbanlage angeführt wurde. Die Verletzung von sozialen und sexuellen Normen galt den Ärzten in beiden Anstalten, ganz der rassenhygienischen Ideologie folgend, als Beweis für genetische Anomalie und »Untauglichkeit« für die Gesellschaft. Noch deutlicher wird diese ärztliche Ansicht in den Diagnosekriterien, die zur Begründung der am zweithäufigsten gestellten Diagnose »Angeborener Schwachsinn« herangezogen wurden. Neben der intellektuellen »Unterdurchschnittlichkeit«, die durch den standardisierten Intelligenzbogen festgestellt wurde, finden sich in den Gutachten Beispiele für fehlende »Lebensbewährung«, die dem Gesetzeskommentar nach ein eindeutiges Zeichen für die Erblichkeit des »Schwachsinns« darstellten. Neben häufigem Stellungswechsel wird dabei auch »sexuelle Zudringlichkeit« und »sexuelle Haltlosigkeit« zur Begründung eines sogenannten »moralischen Schwachsinns« angeführt. Die nur selten gestellte Diagnose »Manisch-depressives Irresein« findet sich in der Untersuchung nur im Fall von Magdalena P., bei der nach zwei depressiven Episoden ohne manische Symptomatik diese »zweifelsfrei« festgestellt werden kann, wobei ein Nachweis einer Erblichkeit in diesem Fall nicht erbracht werden musste, aber anhand der Krankendokumentation auch schwer möglich gewesen wäre. Die ebenfalls wenig gestellte Diagnose »Erbliche Fallsucht« wird von den Ärzten in den untersuchten Fällen vor allem mit der »psychopathologischen Anlage« der »Epileptischen Persönlichkeit« der Frauen begründet. Im Fall von Therese R. wird dazu ihr »unsoziales Verhalten« sowie ihre »sexuelle Übererregbarkeit« angeführt, zusätzliche sei ihre Großmutter Trinkerin gewesen und ihr Vater »soll kurz vor dem Tod schwere psychische Erscheinungen geboten haben«, was die Erblichkeit für die Ärzte weiter untermauert. Im Fall von Margarete S. wurde eine Hirnhautentzündung im Alter von zwei Jahren ausdrücklich als Ursache ihrer epileptischen Anfälle ausgeschlossen.
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Die aufgeführten Beispiele zeigen deutliche wie stark die ärztliche Arbeit in beiden Anstalten vom »Sozialrassismus« geprägt war und wie sehr die vermeintliche »soziale Minderwertigkeit« der betroffenen Frauen Einfluss auf ihre Diagnose hatte. Die Unrechtmäßigkeit in der Diagnosefindung setzte sich für die Anstaltsinsassinnen in der Unrechtbehandlung vor den Erbgesundheitsgerichten fort. Die zuständigen Richter folgten in allen hier vorgestellten Fällen dem ärztlichen Urteil des Sterilisationsgutachtens und übernahmen dieses teilweise vollständig in ihre Urteilsbegründung, so dass für die Frauen nahezu zwangsläufig auf eine unrechtmäßige Diagnose auch ein Unrechtsurteil folgte. Die eingangs gestellte Frage nach den Auswahlkriterien mit welchen die Ärzte beider Anstalten die Frauen für eine Unfruchtbarmachung selektierten, konnte anhand des untersuchten Materials nicht vollständig geklärt werden, da hierfür alle Krankenakten beider Anstalten gesichtet werden müssen, was angesichts des begrenzten Rahmens der vorliegenden Arbeit nicht möglich war. Welcher Prozentteil der Anstaltsinsassinnen tatsächlich nach Mainz überwiesen wurde und auf welcher Grundlage diese Auswahl erfolgte bleibt somit ein Desiderat weiterer Forschung. Interessant sind in diesem Zusammenhang aber die Ergebnisse der statistischen Analyse der Entlassungsorte nach vollzogener Operation. Während die meisten Insassinnen der Anstalt Alzey nach ihrer Unfruchtbarmachung nach Hause entlassen wurden, wurde der größte Teil der Betroffenen aus der Anstalt »Philippshospital« wieder in die Anstalt zurückverbracht. Eine Sterilisation wurde in Alzey somit am ehesten aufgrund einer bevorstehenden Entlassung der Frauen beantragt, während in Riedstadt eine konsequente systematische Umsetzung des GzVeN auf alle Insassinnen vorgenommen wurde, bei der eine eventuelle Entlassung nur eine sekundäre Rolle spielte. Anhand der in der Arbeit ausgewerteten Akten lässt sich festhalten, dass für die ärztliche Entscheidung, ob ein Sterilisationsantrag gestellt wurde, in beiden Anstalten nicht die Prognose der Erkrankung, die Schwere oder die Eindeutigkeit der Diagnose eine Rolle spielten, sondern sich vielmehr relativ bald nach 1934 feste Verfahrensabläufe etablierten, die strikt umgesetzt wurden. In Alzey stellten die Ärzte einen Sterilisationsantrag, wenn die Möglichkeit einer Entlassung der Anstaltsinsassinnen gegeben war, während in Riedstadt Goddelau bereits bei Diagnosestellung einer vermeintlichen »Erbkrankheit« ein Antrag auf Unfruchtbarmachung vorbereitet wurde. Anhand der hier erhobenen kollektivbiographischen Daten lassen sich die zwangssterilisierten Frauen beider Anstalten als Gruppe beschreiben und vergleichen. In beiden Anstalten waren ca. 10 % der Betroffenen Frauen zum Zeitpunkt ihrer Sterilisation unter 21 Jahre alt und damit minderjährig. Der Großteil war zwischen 25 und 36 Jahre alt. Insgesamt waren die Insassinnen aus beiden Anstalten etwas älter als die Frauen im Gesamtkollektiv der Mainzer Zwangssterilisationsopfer, was mit dem hohen Anteil an Langzeitinsassinnen in beiden
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Anstalten sowie durch das besondere Krankheitsprofil der Frauen erklärt werden kann und sich weitestgehend mit den Ergebnissen anderer Regionalstudien deckt. Psychische Erkrankungen, mit einer späten Symptomausprägung waren unter den Insassinnen naturgemäß häufiger als im Gesamtkollektiv. Betrachtet man die Berufe, welche die betroffenen Frauen vor ihrer Einweisung und Unfruchtbarmachung ausübten so sind vor allem einfache Lehrberufe und Dienstleistungen überrepräsentiert. Ebenso war der Großteil der Frauen in beiden Anstalten zum Zeitpunkt ihrer Sterilisation ledig. Dies stützt die Hypothese nach welcher die rassenideologische Erbpolitik einen leichteren Zugriff auf untere soziale Schichten und Personen ohne großen familiären Rückhalt hatte. Die Konsequenzen der Anstaltsbehandlung und der erbpolitischen Zwangsmaßnahmen für den einzelnen lassen sich anhand der erhobenen statistischen Daten ungleich schwerer erfassen und werden erst in den Lebensläufen der betroffenen Frauen deutlich. Nach ihrer Aufnahme standen die Anstaltsinsassinnen den Ärzten und dem Pflegepersonal nahezu machtlos gegenüber. In den Lebensläufen lassen sich verschiedene Strategien im Umgang mit dem Anstaltsalltag wie auch mit der ärztlichen Beurteilung aufzeigen. Einige der Frauen versuchten sich so gut wie möglich anzupassen und nicht aufzufallen, um dadurch den Strafmaßnahmen zu entgehen und eine positive ärztliche Beurteilung zu erhalten, während andere offen Widerstand gegen die Arbeitstherapie und die Anstaltsverwahrung leisteten, was mit Sedierung und Dauerbadbehandlung geahndet wurde. Der zwangsweisen Sterilisation sahen sich die Anstaltsinsassinnen ebenso hilflos ausgeliefert. Wie die Auswertung der Briefe der vorliegenden Arbeit zeigt, stimmte ein Großteil der Frauen in ihre Unfruchtbarmachung ein und drängte auf einen frühen Sterilisationstermin. Dies geschah aber nicht im Glauben an die Rechtmäßigkeit ihrer Diagnose oder der zwangsweisen Unfruchtbarmachung als solche, sondern einzig um dadurch eine Entlassung aus der Anstalt möglich zu machen, wie der Fall von Magdalena P. belegt, die bereits kurz nach ihrer Operation im Glauben sie habe nun nichts mehr zu befürchten die Legitimation ihrer Diagnose anzweifelt. Rechtlicher Einspruch gegen das Sterilisationsurteil wurde in keinem der hier untersuchten Fälle von den Betroffenen oder ihren Angehörigen eingelegt, war doch bereits der Widerstand gegen ihre Diagnose weitestgehend zwecklos, wie die Fälle von Martha T. und Sophie S. zeigen. Sie wehren sich beide gegen ihren ärztlichen Befund, wobei beide nicht die Rechtmäßigkeit des GzVeN anzuzweifeln, sondern versuchen sich von der Diagnose einer »Erbkrankheit« zu distanzieren, in dem sie ihre eigene Gesundheit, wie auch die der restlichen Familien betonen. Eine ähnliche Argumentationsstrategie lässt sich auch in den Briefen ihrer Angehörigen beobachten, die versuchen die Gesundheit und Arbeitskraft
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Zusammenfassung, Gegenüberstellung und Ausblick
der beiden Frauen herauszustellen und jegliche Form von erblichen Erkrankungen in ihrer Familie negieren. Die Auswirkungen der Zwangssterilisation für die Opfer lassen sich am einfachsten durch die direkten Komplikationen belegen. Zwei der hier vorgestellten Frauen verstarben wenige Wochen nach ihrer Operation, an den direkten Folgen eines protrahierten Wundheilungsverlaufs. Ungleich schwerer lassen sich die sozialen und psychischen Konsequenzen der Unfruchtbarmachung nachvollziehen. Die meisten Betroffenen aus Alzey und Riedstadt waren zum Zeitpunkt ihrer Zwangssterilisation ledig und kinderlos und gehörten den unteren sozialen Schichten der Gesellschaft an. Der »Makel« »erbkrank« und zeugungsunfähig erschwerte ihnen in der Folge nicht nur die Suche nach einem Partner, sondern nahm ihnen auch jegliche Chance eine eigene Familie zu gründen. Weiterhin erschwerte er auch die Arbeitssuche der Frauen und engte ihre Zukunftsaussichten weitreichend ein. Wie stark dieser Eingriff in die persönliche Unversehrtheit und in ihre Biographie die Psyche der Betroffenen und ihr Selbstverständnis als Frauen beeinträchtigte lässt sich nur annäherungsweise anhand der Briefe an ihre Familien nachempfinden und steht in keinem Verhältnis zu der Leichtfertigkeit mit welcher die Anstaltsärzte und Richter dieses Schicksal besiegelten. Wie die betroffenen Frauen waren auch die Angehörigen der hier untersuchten Anstaltsinsassinnen gegenüber der Institution Heil- und Pflegeanstalt und dem erbpolitischen Machtapparat des nationalsozialistischen Gesundheitswesens weitestgehend machtlos. In der Kommunikation mit der Anstaltsleitung lässt sich nachweisen, dass vielen das Ausmaß an Zugriff auf ihre Angehörigen erst nach der Einweisung allmählich klar wurde. Im Fall von Emma W. erfolgte die Einweisung zwar auf ausdrücklichen Wunsch ihrer Schwägerin, die sich mit der Pflege und Aufsicht überfordert wähnte. In den anderen Fällen hatten die Familien außerhalb der Anstalt aber nach erfolgter Aufnahme nur zwei Optionen der zwangsweisen Unfruchtbarmachungen ihrer Angehörigen zu begegnen. Sie konnten in alle Maßnahmen einwilligen, um dadurch eine Entlassung nach Hause zu ermöglichen und zu beschleunigen, oder sie konnten dem ärztlichen Urteil und der Anstaltsleitung widersprechen, was paradoxerweise zu einer Beschleunigung des Sterilisationsverfahrens führte, da den Ärzten bei Widerstand daran gelegen war schnell Fakten zu schaffen, wie der Fall von Anna K. beweist. Zusammenfassend zeigen die in der vorliegenden Arbeit analysierten Lebensläufe wie stark das medizinische Urteil der Ärzte in beiden Anstalten bereits zu Beginn des Nationalsozialismus durch sozialrassistisches und rassenhygienisches Gedankengut geprägt war und wie schnell sich feste Verfahrensabläufe etablieren konnten, die eine reibungslose Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Behörden und Institutionen wie Gesundheitsämtern, Anstalten,
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Gerichten und Krankenhäusern garantierten. Diesem Machtapparat standen die vorgestellten Frauen und ihre Angehörigen ohnmächtig gegenüber, so dass die meisten Betroffenen ihrer Unfruchtbarmachung zustimmten, um dadurch weiteren Repressalien zu entgehen. Dieses ungleiche Kräfteverhältnis blieb auch nach 1945 zunächst bestehen und verhinderte sowohl die Integration der psychisch Erkrankten in die Nachkriegsgesellschaft wie auch in die Gruppe der Opfer des Nationalsozialismus. Hierfür verantwortlich waren zum einen das Fortbestehen der tradierten eugenischen Denkstrukturen und Lehrmeinungen in Teilen der Ärzte- und Wissenschaft sowie im gesellschaftlichen Diskurs. Zum anderen die nach der Entnazifizierung weiter bestehenden personellen Kontinuitäten an den Krankenhäusern, Gerichten und zuständigen Behörden. Das Schicksal der Zwangssterilisationsopfer geriet vor diesem Hintergrund lange Zeit in Vergessenheit und die Opfer wurden weiter ins gesellschaftliche Abseits gedrängt. Dies gilt auch für die Opfer der hier vorgestellten Heil- und Pflegeanstalten. Eine Aufarbeitung der eigenen Geschichte wurde erst vierzig Jahre nach Kriegsende durch das Engagement einzelner Betroffener und Forscher angestoßen. In der Nachfolgeklinik des »Philippshospitals« Vitos Riedstadt erinnert seit 1989 eine Gedenkstätte an die Opfer der nationalsozialistischen Krankenmordaktion »T4« und im klinikeigenen Museum gibt es Exponate, zu den Zwangssterilisationsopfern der Klinik. In der Rheinhessen-Fachklinik Alzey existiert seit 2005 eine Gedenkstätte für die getöteten Insassen der Vorgängerinstitution und das Schicksal der Kranken wird durch die »Arbeitsgruppe Psychiatrie im Nationalsozialismus in Alzey« erforscht, die in Gedenkveranstaltungen und Ausstellungen auch die Erinnerung an die Opfer lebendig hält. Im Alltag der Universitätsmedizin Mainz spielen die Zwangssterilisationsopfer der Vorgängerklinik keine Rolle und ihr Schicksal ist trotz der mittlerweile guten Datenlage nur in wenigen Lehrveranstaltungen der ärztlichen Ausbildung präsent. In diesem Zusammenhang bezeugt die vorliegende Arbeit nicht allein die geschichtlichen Fakten des Unrechts der Mainzer Zwangssterilisationsopfer, sondern stellt durch ihren überwiegend qualitativen und personenzentrierten Forschungsansatz den Versuch dar, deren Individualität aufzuzeigen, um dadurch einen emotionalen Zugang zu schaffen, der ein aktives Gedenken an ihr Schicksal ermöglicht. Weiterhin zeigen die Beispiele für die ärztliche Entscheidungsfindung innerhalb der beiden vorgestellten Anstalten wie leicht sich ein medizinisches Urteil in ein »Werturteil« verkehren lässt und wie beliebig die Kategorien sind mit denen menschliches Leben »entwertet« werden kann, wenn für gesellschaftliche Probleme vermeintlich einfach medizinische Lösungen angeboten werden. Vor dem Hintergrund der immer wiederkehrenden politischen Diskussion um den gesellschaftlichen Wert einzelner Personengruppen und der
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Zusammenfassung, Gegenüberstellung und Ausblick
Weiterentwicklung der technischen Möglichkeiten der Pränataldiagnostik, zeigt das hier aufgezeigte Schicksal der Anstaltsinsassinnen ebenfalls wie wenig Schutz vor Missbrauch ein geordnetes gerichtliches Verfahren bietet und wie weit ein ärztliches »Expertenurteil« das Leben eines Einzelnen prägen kann. Das Gedenken an die Opfer der Zwangssterilisation in Mainz ist daher nicht nur zur Wiedergutmachung des medizinischen Unrechts und zur Würdigung der Betroffenen wünschenswert, sondern ihre Erinnerung appelliert auch an die Gegenwart, zwingt zur Reflexion über die ethischen Grenzen der ärztlichen Tätigkeit sowie über die Deutungsmacht der ärztlichen Diagnose und stellt die Indienstnahme der Medizin und Wissenschaft durch Ökonomie und Politik in Frage. Wird man diese ferne Erinnerung hören können, ist die Frage, welche diese Arbeit von Anfang an umgetrieben hat und welche sie am Schluss an den Leser stellt.
7.
Chronologische Namensliste der Mainzer Zwangssterilisationsopfer der Anstalten Alzey und »Philippshospital« Riedstadt Goddelau
Zum Gedenken an die Mainzer Zwangssterilisationsopfer der Anstalten Alzey und »Philippshospital« Riedstadt Goddelau sind ihre Namen und das Datum ihrer unrechtmäßigen Sterilisation in der Folge chronologisch aufgelistet. Die Namen der Frauen, deren Biographien hier anhand der Krankenakten rekonstruiert wurden, bleiben auch hier anonymisiert. Bei den beiden Frauen, die durch die Applikation eines Strahlenträgers unfruchtbar gemacht wurden, wird das Jahr ihrer Sterilisation angegeben. Elise Weidmann Katharina E. Maria Kärcher Johannette Ravensberger Anna Luft Helene W. Elisabeth Fuchs Katharine Elisabeth Wenzel Frieda Schmidt Margarete Pullmann Marie Hamburger Katharine Schuchmann Käthe Schrebbach Christine Herold Anna Saxer Margarete Stumpf Christine Floch Paula Reis Mathilde Schmidt Anna Dechert Ottilie Straub Paula Duft Maria Höhler Barbara Selbert Anna Marie Mörter Elise Margarete Lauhardt Anna Raffenberger Margarete Röbler
Zwangssterilisiert am 13. 03. 1934 Zwangssterilisiert am 14. 03. 1934 Zwangssterilisiert am 29. 03. 1934 Zwangssterilisiert am 25. 04. 1934 Zwangssterilisiert am 05. 05. 1934 Zwangssterilisiert am 07. 05. 1934 Zwangssterilisiert am 09. 05. 1934 Zwangssterilisiert am 16. 05. 1934 Zwangssterilisiert am 15. 05. 1934 Zwangssterilisiert am 18. 05. 1934 Zwangssterilisiert am 25. 05. 1934 Zwangssterilisiert am 25. 05. 1934 Zwangssterilisiert am 06. 06. 1934 Zwangssterilisiert am 06. 06. 1934 Zwangssterilisiert am 12. 06. 1934 Zwangssterilisiert am 12. 06. 1934 Zwangssterilisiert am 12. 06. 1934 Zwangssterilisiert am 19. 06. 1934 Zwangssterilisiert am 19. 06. 1934 Zwangssterilisiert am 23. 06. 1934 Zwangssterilisiert am 26. 06. 1934 Zwangssterilisiert am 25. 06. 1934 Zwangssterilisiert am 03. 07. 1934 Zwangssterilisiert am 04. 07. 1934 Zwangssterilisiert am 04. 07. 1934 Zwangssterilisiert am 12. 07. 1934 Zwangssterilisiert am 20. 07. 1934 Zwangssterilisiert am 20. 07. 1934
258 Maria Grab Elisabeth Reiß Elise Johanna Metz Marie Müller Elisabeht Blüm Katharina Nischwitz Wilhelmine Berta Werner Eva Kling Magdalena Schück Anna Frieß Margarete Pfau Gertrud Gerhard Karoline Mick Marie Lutz Margarete S. Elise Küster Luise Tietz Anna Kurz Katharina Rehn Magdalena P. Charlotte Süßenberger Elisabeth Hoffmann Anna Höhn Johanna Schiff Luise H. Ida Schittlein Marie Klein Katharina Ihrig Martha Daisel Frieda Hess Margarete Heisel Katharina Deußer Maria Sauerwein Emma W. Hedwig Kropp Therese R. Luise Bickel Rosa Läpple Annemarie Figge Maria Sommer Emilie Fröhlich Anna Pfeiffer Elisabeth Helbig Elisabeth Kraus Maria Müller Marie Kreibiehl Lucie Windschmitt Elisabeth Vogel Christina Manz Elisabeth Balzhäuser Henriette Bauer Anna Henzel
Chronologische Namensliste
Zwangssterilisiert am 20. 07. 1934 Zwangssterilisiert am 03. 08. 1934 Zwangssterilisiert am 06. 08. 1934 Zwangssterilisiert am 14. 08. 1934 Zwangssterilisiert am 14. 08. 1934 Zwangssterilisiert am 16. 08. 1934 Zwangssterilisiert am 21. 08. 1934 Zwangssterilisiert am 30. 08. 1934 Zwangssterilisiert am 01. 09. 1934 Zwangssterilisiert am 01. 09. 1934 Zwangssterilisiert am 06. 09. 1934 Zwangssterilisiert am 05. 09. 1934 Zwangssterilisiert am 18. 09. 1934 Zwangssterilisiert am 18. 09. 1934 Zwangssterilisiert am 29. 09. 1934 Zwangssterilisiert am 28. 09. 1934 Zwangssterilisiert am 28. 09. 1934 Zwangssterilisiert am 10. 10. 1934 Zwangssterilisiert am 17. 10. 1934 Zwangssterilisiert am 17. 10. 1934 Zwangssterilisiert am 26. 10. 1934 Zwangssterilisiert am 31. 10. 1934 Zwangssterilisiert am 31. 10. 1934 Zwangssterilisiert am 02. 11. 1934 Zwangssterilisiert am 06. 11. 1934 Zwangssterilisiert am 12. 11. 1934 Zwangssterilisiert am 13. 11. 1934 Zwangssterilisiert am 16. 11. 1934 Zwangssterilisiert am 27. 11. 1934 Zwangssterilisiert am 29. 11. 1934 Zwangssterilisiert am 07. 12. 1934 Zwangssterilisiert am 07. 12. 1934 Zwangssterilisiert am 06. 12. 1934 Zwangssterilisiert am 07. 12. 1934 Zwangssterilisiert am 07. 12. 1934 Zwangssterilisiert am 19. 12. 1934 Zwangssterilisiert am 16. 01. 1935 Zwangssterilisiert am 16. 01. 1935 Zwangssterilisiert am 16. 01. 1935 Zwangssterilisiert am 01. 02. 1935 Zwangssterilisiert am 01. 02. 1935 Zwangssterilisiert am 06. 02. 1935 Zwangssterilisiert am 11. 02. 1935 Zwangssterilisiert am 08. 02. 1935 Zwangssterilisiert am 08. 02. 1935 Zwangssterilisiert am 16. 02. 1935 Zwangssterilisiert am 18. 02. 1935 Zwangssterilisiert am 25. 02. 1935 Zwangssterilisiert am 22. 02. 1935 Zwangssterilisiert am 01. 03. 1935 Zwangssterilisiert am 07. 03. 1935 Zwangssterilisiert am 07. 03. 1935
Chronologische Namensliste
Else Lamprecht Frieda Mahler Anna Rabriz Annemarie Brock Therese Siegler Elisabeth Plößer Elisabeth Rothenstein Elise Roth Frieda Koch Elisabeth Schmitt Johanna Busch Juliane Waldmann Margarete Roeder Anna Schallmayer Anna Graßmann Margarete Hainborn Anna Haas Katharina Fissel Anna Masseth Maria Lang Marie Gelfius Anna S. Lina Schilling Elisabeth Bührig Elisabeth Güslich Wilhelmine Hard Maria Scherer Anna-Christine Weitz Katharina Beck Frieda Appel Johanna Schneider Anna Wehner Margarette Schmitt Marie Michel Anna Kern Marie Schuhmann Margarete Hillgärtner Babette Jaberg Elisabeth Dikerhof Dorothea Meyer Elisabeth Göller Anna K. Maria K. Elisabeth Lehr Katharine Pfeffer Luise Witting Auguste Barschkier Katharina Gebhardt Rosa Führsen Margarete Glas Bertha Britsch Babette Grünig
259 Zwangssterilisiert am 12. 03. 1935 Zwangssterilisiert am 12. 03. 1935 Zwangssterilisiert am 19. 03. 1935 Zwangssterilisiert am 25. 03. 1935 Zwangssterilisiert am 02. 04. 1935 Zwangssterilisiert am 10. 04. 1935 Zwangssterilisiert am 15. 04. 1935 Zwangssterilisiert am 10. 04. 1935 Zwangssterilisiert am 11. 04. 1935 Zwangssterilisiert am 24. 04. 1935 Zwangssterilisiert am 24. 04. 1935 Zwangssterilisiert am 26. 04. 1935 Zwangssterilisiert am 26. 04. 1935 Zwangssterilisiert am 29. 04. 1935 Zwangssterilisiert am 04. 05. 1935 Zwangssterilisiert am 02. 05. 1935 Zwangssterilisiert am 07. 05. 1935 Zwangssterilisiert am 09. 05. 1935 Zwangssterilisiert am 07. 05. 1935 Zwangssterilisiert am 11. 05. 1935 Zwangssterilisiert am 10. 05. 1935 Zwangssterilisiert am 21. 05. 1935 Zwangssterilisiert am 23. 05. 1935 Zwangssterilisiert am 23. 05. 1935 Zwangssterilisiert am 01. 06. 1935 Zwangssterilisiert am 01. 06. 1935 Zwangssterilisiert am 01. 06. 1935 Zwangssterilisiert am 13. 06. 1935 Zwangssterilisiert am 29. 05. 1935 Zwangssterilisiert am 02. 07. 1935 Zwangssterilisiert am 02. 07. 1935 Zwangssterilisiert am 06. 07. 1935 Zwangssterilisiert am 08. 07. 1935 Zwangssterilisiert am 17. 07. 1935 Zwangssterilisiert am 30. 07. 1935 Zwangssterilisiert am 23. 07. 1935 Zwangssterilisiert am 06. 08. 1935 Zwangssterilisiert am 05. 08. 1935 Zwangssterilisiert am 10. 08. 1935 Zwangssterilisiert am 21. 08. 1935 Zwangssterilisiert am 23. 08. 1935 Zwangssterilisiert am 16. 09. 1935 Zwangssterilisiert am 13. 09. 1935 Zwangssterilisiert am 14. 09. 1935 Zwangssterilisiert am 14. 09. 1935 Zwangssterilisiert am 02. 10. 1935 Zwangssterilisiert am 12. 10. 1935 Zwangssterilisiert am 09. 10. 1935 Zwangssterilisiert am 14. 10. 1935 Zwangssterilisiert am 25. 10. 1935 Zwangssterilisiert am 29. 10. 1935 Zwangssterilisiert am 09. 11. 1935
260 Othilie Mann Maria Kasper Maria Streubel Maria Bauer Margarete Lückel Katharina Seitz Wilhemine Fuchs Cäcilie Mürtz Christine Weinheimer Frieda Schmenger Appolonia Dittmar Lisel Petermann Hermine W. Margarete Senator Erna Striebeck Anna Werner Charlotte Pietzsch Maria Heyl Christine Bartig Anna Beer Johanna Göller Gertrude Nüchtern Anna Rothenhäuser Marie Reeg Barbara Lunkenheimer Margarete Schmitt Dora Schmidt Katharina Stork Elly Blum Katharina Müller Anna Sauer Elisabeth Ihrig Elisabeth Stehling Emmy Medicus Olga Heintze Anna Wißmann Margarete Weber Elisabeth Wohn Brunhilde Schmitt Nora Hannemann Irma Schiff Anna Rückert Anna Horn Helena Röth Christine Bumb Margarete Walter Anna Schaumüller Magdalena Schieferstein Hildegard Schuler Katharina Stückert Ilse Heil Ottilie Krämer
Chronologische Namensliste
Zwangssterilisiert am 21. 11. 1935 Zwangssterilisiert am 19. 11. 1935 Zwangssterilisiert am 25. 11. 1935 Zwangssterilisiert am 27. 11. 1935 Zwangssterilisiert am 06. 12. 1935 Zwangssterilisiert am 29. 11. 1935 Zwangssterilisiert am 06. 12. 1935 Zwangssterilisiert am 11. 12. 1935 Zwangssterilisiert am 10. 12. 1935 Zwangssterilisiert am 17. 12. 1935 Zwangssterilisiert am 17. 12. 1935 Zwangssterilisiert am 13. 01. 1936 Zwangssterilisiert am 08. 01. 1936 Zwangssterilisiert am 09. 01. 1936 Zwangssterilisiert am 18. 01. 1936 Zwangssterilisiert am 31. 01. 1936 Zwangssterilisiert am 31. 01. 1936 Zwangssterilisiert am 08. 02. 1936 Zwangssterilisiert am 08. 02. 1936 Zwangssterilisiert am 13. 02. 1936 Zwangssterilisiert am 17. 02. 1936 Zwangssterilisiert am 04. 03. 1936 Zwangssterilisiert am 25. 03. 1936 Zwangssterilisiert am 15. 04. 1936 Zwangssterilisiert am 17. 04. 1936 Zwangssterilisiert am 17. 04. 1936 Zwangssterilisiert am 15. 05. 1936 Zwangssterilisiert am 27. 05. 1936 Zwangssterilisiert am 29. 05. 1936 Zwangssterilisiert am 29. 05. 1936 Zwangssterilisiert am 02. 07. 1936 Zwangssterilisiert am 05. 08. 1936 Zwangssterilisiert am 01. 08. 1936 Zwangssterilisiert 1936 Zwangssterilisiert am 18. 08. 1936 Zwangssterilisiert am 26. 09. 1936 Zwangssterilisiert am 03. 10. 1936 Zwangssterilisiert am 05. 10. 1936 Zwangssterilisiert am 14. 10. 1936 Zwangssterilisiert am 10. 10. 1936 Zwangssterilisiert am 31. 10. 1936 Zwangssterilisiert 1936 Zwangssterilisiert am 13. 11. 1936 Zwangssterilisiert am 17. 11. 1936 Zwangssterilisiert am 23. 11. 1936 Zwangssterilisiert am 26. 11. 1936 Zwangssterilisiert am 26. 11. 1936 Zwangssterilisiert am 07. 12. 1936 Zwangssterilisiert am 12. 12. 1936 Zwangssterilisiert am 04. 01. 1937 Zwangssterilisiert am 23. 01. 1937 Zwangssterilisiert am 10. 03. 1937
Chronologische Namensliste
Susanna Graf Wilhelmine Kneib Christine Löbig Irmgard Euler Maria Ihrig Johanna M. Katharina Haas Christine Mayer Elisabeth Belzner Marie Heldmann Lina Müller Katharina Dingeldein Eva Braun Christina Gobold Elisabeth Büser Wilhelmine Bicking Barbara Buchele Hedwig Luft Anna Luise Kolb Helene Scharf Katharina Buchal Jakobine Laim Katharina Reviol Marie Babette Stadler Barbara Ganss Marie Michel Ella Andres Sophie Brommer Sophie S. Christine Neder Martha T. Christine Maul Anna Böhmer Johanna Schaffner Charlotte Christoffel Margarete Lemb Maria Feth Rosemarie Traurich Monika Martin Margarete Rerz
261 Zwangssterilisiert am 13. 03. 1937 Zwangssterilisiert am 02. 04. 1937 Zwangssterilisiert am 02. 04. 1937 Zwangssterilisiert am 10. 04. 1937 Zwangssterilisiert am 16. 04. 1937 Zwangssterilisiert am 29. 05. 1937 Zwangssterilisiert am 30. 07. 1937 Zwangssterilisiert am 29. 07. 1937 Zwangssterilisiert am 05. 08. 1937 Zwangssterilisiert am 06. 08. 1937 Zwangssterilisiert am 13. 08. 1937 Zwangssterilisiert am 12. 08. 1937 Zwangssterilisiert am 13. 08. 1937 Zwangssterilisiert am 19. 08. 1937 Zwangssterilisiert am 20. 10. 1937 Zwangssterilisiert am 21. 10. 1937 Zwangssterilisiert am 05. 11. 1937 Zwangssterilisiert am 18. 11. 1937 Zwangssterilisiert am 06. 12. 1937 Zwangssterilisiert am 28. 01. 1938 Zwangssterilisiert am 02. 03. 1938 Zwangssterilisiert am 02. 04. 1938 Zwangssterilisiert am 08. 06. 1938 Zwangssterilisiert am 08. 06. 1938 Zwangssterilisiert am 02. 03. 1938 Zwangssterilisiert am 20. 08. 1938 Zwangssterilisiert am 30. 08. 1938 Zwangssterilisiert am 03. 09. 1938 Zwangssterilisiert am 19. 09. 1938 Zwangssterilisiert am 30. 09. 1938 Zwangssterilisiert am 30. 09. 1938 Zwangssterilisiert am 28. 10. 1938 Zwangssterilisiert am 09. 12. 1938 Zwangssterilisiert am 10. 12. 1938 Zwangssterilisiert am 08. 04. 1939 Zwangssterilisiert am 08. 04. 1939 Zwangssterilisiert am 15. 04. 1939 Zwangssterilisiert am 14. 09. 1939 Zwangssterilisiert am 06. 12. 1939 Zwangssterilisiert am 16. 12. 1940
8.
Abbildungs- und Quellenverzeichnis
Abbildungen 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19.
Zeitlicher Verlauf der Sterilisationen Alzey. Zeitlicher Verlauf der Sterilisationen Riedstadt. Altersverteilung der Zwangssterilisationsopfer aus Alzey. Altersverteilung der Zwangssterilisationsopfer aus Riedstadt. Sterilisationsindikationen der Zwangsterilisationsopfer der Anstalt Alzey. Sterilisationsindikationen der Zwangsterilisationsopfer der Anstalt Riedstadt. Berufsgruppen der Zwangssterilisationsopfer der Anstalt Alzey. Berufsgruppen der Zwangssterilisationsopfer der Anstalt Riedstadt. Familienstand der Zwangssterilisationsopfer der Anstalt Alzey. Familienstand der Zwangssterilisationsopfer der Anstalt Riedstadt. Entlassungsort der Zwangssterilisationsopfer der Anstalt Alzey. Entlassungsort der Zwangssterilisationsopfer der Anstalt Riedstadt. Foto Katharina E. 1933, Landesarchiv Speyer. Bestand O 41 (Landeskrankenhaus Rheinhessen Fachklinik Alzey), Nr. 3055a. Foto Magdalena P. 1934, Landesarchiv Speyer. Bestand O 41 (Landeskrankenhaus Rheinhessen Fachklinik Alzey), Nr. 3068. Foto Luise H. 1932, Landesarchiv Speyer. Bestand O 41 (Landeskrankenhaus Rheinhessen Fachklinik Alzey), Nr. 3623. Zeichnung Luise H. undatiert, Landesarchiv Speyer. Bestand O 41 (Landeskrankenhaus Rheinhessen Fachklinik Alzey), Nr. 3623. Zeichnung Luise H. undatiert, Landesarchiv Speyer. Bestand O 41 (Landeskrankenhaus Rheinhessen Fachklinik Alzey), Nr. 3623. Foto Anna Wilhelmine S. 1932, Landesarchiv Speyer. Bestand O 41 (Landeskrankenhaus Rheinhessen Fachklinik Alzey), Nr. 3231. Foto Maria Veronika K. 1931, Landesarchiv Speyer. Bestand O 41 (Landeskrankenhaus Rheinhessen Fachklinik Alzey), Nr. 3214.
264
Abbildungs- und Quellenverzeichnis
20. Foto Hermine W. 1933, Landesarchiv Speyer. Bestand O 41 (Landeskrankenhaus Rheinhessen Fachklinik Alzey), Nr. 3394. 21. Foto Martha T. 1933, Landesarchiv Speyer. Bestand O 41 (Landeskrankenhaus Rheinhessen Fachklinik Alzey), Nr. 3611. 22. Foto Helene W. 1933, LWV-Archiv, K 18, unverz. 23. Foto Margarete S. 1933, LWV-Archiv, K 18, unverz. 24. Foto Emma W. 1929, LWV-Archiv, K 18, unverz. 25. Foto Therese R. 1932, LWV-Archiv, K 18, unverz. 26. Foto Anna K. 1935, LWV-Archiv, K 18, unverz. 27. Foto Johanna M. 1936, LWV-Archiv, K 18, unverz. 28. Foto Sophie S. 1938, LWV-Archiv, K 18, unverz. Die Fotos, der in den Biographien porträtierten Frauen, sind Teil der Krankendokumentation und befinden sich in den hier aufgeführten Krankenakten. Ein Fotograf und somit Urheberrechtsinhaber war nicht zu ermitteln.
Ungedruckte Quellen Archiv des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Universität Mainz, Krankenblätter der Frauenklinik des Städtischen Krankenhauses Mainz 1933: A-B, A-J, K-S, Sch-Z. 1934: A-G, H-M, N-Z. 1935: Ac-Bu, Jp-Op, Re-Zw. 1936: A-B, C-Gu, H-K, L-Mu; Na-Sch, Sta-Wu. 1937: A-B, C-E, F-H, J-Ku, L-N, O-Ru, S-Sch, T-Z. 1938: An-Gu, H-K, K-Mu, St-Zu. 1939: A-Gu, H-Ke, K-Mu, Na-Schn, Schö-Z. 1940: A-Gu, Ha-Ki, K-Mu, St-Zu. 1941: A-E, Fa-J, Ka-Ma, Me-Tu, Sch-Zu. 1942: A-D, E-J, K-M, N-Ru, Sa-Zi. 1943: A-G, G-Hu, J-M, M-Ru, S-Sch, Sa-Zu. 1944: A-E, F-Mu, Na-Zu. 1945: A-J, Ka-Ru, Sa-Zu. Zusätzliche Aktensammlungen 1–5.
Archiv des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Universität Mainz, Krankengeschichten der Hebammenlehranstalt 1934: Bd. 1, Hauptbuchnr. 1–600; Bd. 2, Hauptbuchnr. 601- Schluss.
Abbildungs- und Quellenverzeichnis
265
1935: Bd. 1, Hauptbuchnr. 1–600; Bd. 2, Hauptbuchnr. 601- Schluss. 1936: Bd. 1, Hauptbuchnr. 1–600; Bd. 2, Hauptbuchnr. 601- Schluss. 1937: Bd. 1, Hauptbuchnr. 1–400; Bd. 2, Hauptbuchnr. 401- Schluss. 1938: Bd. 1, Hauptbuchnr. 1–400; Bd. 2, Hauptbuchnr. 401- Schluss. 1939: Bd. 1, Hauptbuchnr. 1–600; Bd. 2, Hauptbuchnr. 601- Schluss. 1940: Bd. 1, Hauptbuchnr. 1–500; Bd. 2, Hauptbuchnr. 501–1000; Bd. 3 Hauptbuchnr. 1001Schluss. 1941: Bd. 1, Hauptbuchnr. 1–500; Bd. 2, Hauptbuchnr. 501–999; Bd. 3, Hauptbuchnr. 1002– 1639. 1942: Bd. 1, Hauptbuchnr. 7–555; Bd. 2, Hauptbuchnr. 557–1126; Bd. 3, Hauptbuchnr. 1127–1724. 1943: Bd. 1, Hauptbuchnr. 2–399; Bd. 2, Hauptbuchnr. 405–799; Bd. 3, Hauptbuchnr. 801– 1200; Bd. 4, Hauptbuchr. 1201–1619; Bd. 5, Hauptbuchnr. 1620–2080. 1944: Unter Frauenklinikakten einsortiert.
Landesarchiv Speyer Bestand O 41 (Landeskrankenhaus Rheinhessen Fachklinik Alzey). Nr. 3231; Nr. 3394; Nr. 3055a; Nr. 3623; Nr. 3068; Nr. 3214; Nr. 3611.
Archiv des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen Bestand 18, (Philippshospital Riedstadt Goddelau). Patientenakten Helene W.; Margarete S.; Emma W.; Therese R.; Anna K.; Johanna M.; Sophie S.
Gedruckte Quellen Baur, Erwin; Fischer, Eugen & Lenz, Fritz: Menschliche Auslese und Rassenhygiene, München, 4. Auflage, 1932. BT-Drucksache 18/8729 vom 27. 02. 2012. Gütt, Arthur; Rüdin Ernst & Ruttke, Falk: Zur Verhütung erbkranken Nachwuchses. Gesetz und Erläuterungen, München, 2. Auflage, 1936. Reichsgesetzblatt I, 1933. Reichsgesetzblatt I, 1935. Reichsgesetzblatt I, 1936. Reichsgesetzblatt I, 1939. Verschuer, Otmar von: Leitfaden der Rassenhygiene, Leipzig, 1941.
9.
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Danksagung
Ohne die Unterstützung vieler mir liebgewordener Menschen, Wegbegleiter und Lehrer wäre das Verfassen des hier vorliegenden Manuskripts, deren Thematik mich bereits seit Beginn meines Studiums begleitet und hinter der eine lange und nicht immer einfache Entstehungsgeschichte liegt, in dieser Form unmöglich gewesen. Mein Dank gilt an erster Stelle Herrn Prof. Dr. Norbert W. Paul, der mir die Bearbeitung dieser schwierigen Thematik von unserem ersten Treffen an zutraute und mir im Arbeitsprozess stets die volle Unterstützung seiner Person sowie des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Johannes Gutenberg-Universität zu Teil werden ließ. Für den kollegialen Austausch, die Anregungen zu einem ersten Forschungsexposé wie für den Zuspruch möchte ich mich in diesem Zusammenhang auch bei Herrn Dr. Axel Hüntelmann bedanken. Wertvolle Recherchetipps und Unterstützung erfuhr dieses Projekt auch durch Herrn Prof. Dr. Udo Benzenhöfer vom Institut der Medizingeschichte der Universitätsmedizin Frankfurt am Main. Ebenso gilt mein ausgesprochener Dank allen Mitarbeitern der von mir besuchten Archive und Bibliotheken, die mich besonders bei der Quellenrecherche zu den Lebensläufen der hier vorgestellten Zwangssterilisationsopfer unterstützten. Gesondert sind hier Frau Dr. Christina Vanja und Herr Gomes vom Archiv des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen und Norbert Heine vom Landesarchiv in Speyer zu nennen. Auch möchte ich mich herzlich bei Frau Dagmar Loch und Frau Katja Röntgen aus den Fachbereichsbibliotheken der Medizingeschichte der Universitätsmedizin in Mainz und Frankfurt am Main bedanken, die mein Arbeiten durch ihre umgängliche und freundliche Art über einen langen Zeitraum hilfreich begleiteten. Nicht zuletzt gilt mein Dank meinen Eltern, meinen Geschwistern und meiner Freundin Carolin Völker, durch deren Unterstützung, Korrekturen und Zuspruch dieses Projekt erst einen Abschluss finden konnte und die mein Leben in so vielen verschiedenen Aspekten jeden Tag bereichern.