Die Jüdische Bibliothek an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz 1938–2008: Eine Dokumentation 3515093451, 9783515093453

Beiträge zur Geschichte der Johannes Gutenberg-Universität Mainz – Neue Folge Die alte Jüdische Bibliothek an der Johann

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Table of contents :
Inhalt
Abkürzungsverzeichnis
Hinweise zur Transkription und Zitation
Grußwort von Stella Schindler-Siegreich, Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Mainz
Vorwort
I. Einleitung
II. Vom „Portativen Vaterland“ zur Jüdischen Bibliothek
1. Die Jüdischen Bibliotheken in Mainz
2. Zur Quellenlage
III. Be- und Zustand
1. Kataloge und die Rekonstruktion der Verluste
2. Herkunft und Provenienzen
2.1 Stempel und Signaturen
2.2 Weitere Stempel
2.3 Händlerstempel und Binderzeichen
IV. Die Bibliotheken in der Bibliothek
1. Die „Stratigraphie“ des Bestandes
1.1 Samuel Oppenheimer
1.2 Herz Scheuer
1.3 Abraham Loeb Schles(s)inger
1.4 Marcus Lehmann
1.5 Oscar Lehmann
1.6 Siegmund Salfeld
1.7 Weitere Besitzervermerke
V. Der Werdegang der Bücher seit 1938
1. Die Bücher in der Pogromnacht
2. Während des Krieges und der Verfolgung
3. Bücherverfolgung im „Dritten Reich“
4. Nach Verfolgung und Krieg
5. Interim in der Feldbergschule
6. Die Überführung an die Universität
7. Eine „Jüdisch-theologische Fakultät“?
VI. Die Bücher in der Evangelisch-theologischen Fakultät
1. Das Leihbuch
2. Der Leihvertrag
3. Die weitere Nutzung der Bücher
VII. Blicke in den Bestand
1. Bücher der „Jüdischen Bezirksschule“
1. 1 Die Gründung der „Jüdischen Bezirksschule“
1.2 Der Bestand der Lehrerbibliothek
2. Zionistische Literatur
3. Antisemitische Literatur
4. Zimelien
4.1 Die ältesten hebräischen Drucke
4.2 Drucke aus Mainz
4.3 Drucke aus Frankfurt am Main
4.4 Drucke aus Homburg
4.5 Jiddische Drucke
4.6 Liturgica
5. Handschriften und Einbandfragmente
5.1 Handschriften
5.2 Neue Funde
5.3 Einbandfragmente
5.4 Glossen, Exzerpte und Widmungen
VIII. Schluss und Ausblick
IX. Anhang
Anhang 1: Buchbestand der Lehrerbibliothekder Jüdischen Bezirksschule
Anhang 2: Detailliertes Verzeichnis zu dem Buchbestandder Lehrerbibliothek
Anhang 3: Verzeichnis der Schüler-Hilfsbibliothek
Anhang 4: Mitgliederverzeichnis des „Vereins für jüdische Geschichteund Litteratur in Mainz 1909"
Anhang 5: Das Kasso-Buch der „Hevra Qinyan Sefarim Mainz“ (1928)
Anhang 6: Liste hebräischer Bücher aus der IRG Mainz
X. Quellen- und Literaturverzeichnis
Quellen
Literatur
Bildnachweis
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Die Jüdische Bibliothek an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz 1938–2008: Eine Dokumentation
 3515093451, 9783515093453

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Andreas Lehnardt Die Jüdische Bibliothek an der Johannes GutenbergUniversität Mainz 1938–2008

Beiträge zur Geschichte der Johannes Gutenberg-Universität Mainz ------------------------------------------------herausgegeben vom Forschungsverbund für Universitätsgeschichte der Universität Mainz

Neue Folge Band 8

Andreas Lehnardt

Die Jüdische Bibliothek an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz 1938–2008 Eine Dokumentation

Franz Steiner Verlag Stuttgart 2009

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-515-09345-3 Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. © 2009 Franz Steiner Verlag, Stuttgart Druck: Printservice Decker & Bokor, Bad Tölz Printed in Germany

Ein jedes Volk errichtete Kathedralen, Schlösser und Burgen und schuf plastische Kunst. All diese blieben als wirkliche Zeugnisse vergangener historischer Epochen erhalten. Für die Juden war das nicht der Fall, jedenfalls nicht bis zur Emanzipation. Die Juden der Diaspora waren ein Volk ohne Heimat, ohne Land, ohne eigene unverwechselbare Kunst. Aber auch die Juden durchlebten all die vielen und langen Epochen, welche bei den anderen Völkern so viele greifbare Zeugnisse hinterließen, jedoch blieben von ihnen nur Bücher – geschriebene und gedruckte – erhalten. Gerschom Schocken

Inhalt Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Hinweise zur Transkription und Zitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Grußwort von Stella Schindler-Siegreich, Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Mainz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 II. Vom „Portativen Vaterland“ zur jüdischen Bibliothek. . . . . . . . . . . . . 17 1. 2.

Die Jüdischen Bibliotheken in Mainz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Zur Quellenlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24

III. Be- und Zustand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 1. 2. 2.1 2.2 2.3

Kataloge und die Rekonstruktion der Verluste . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 Herkunft und Provenienzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 Stempel und Signaturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 Weitere Stempel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 Händlerstempel und Binderzeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41

IV. Die Bibliotheken in der Bibliothek . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 1. 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 1.7

Die „Stratigrafie“ des Bestandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 Samuel Oppenheimer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 Herz Scheuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 Abraham Loeb Schles(s)inger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Marcus Lehmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Oscar Lehmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Siegmund Salfeld. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 Weitere Besitzervermerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79

V. Der Werdegang der Bücher seit 1938 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 1. 2. 3. 4. 5.

Die Bücher in der Pogromnacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 Während des Krieges und der Verfolgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Bücherverfolgung im „Dritten Reich“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 Nach Verfolgung und Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Interim in der Feldbergschule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103

8

Inhalt

6. 7.

Die Überführung an die Universität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Eine „Jüdisch-theologische Fakultät“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107

VI. Die Bücher in der Evangelisch-theologischen Fakultät . . . . . . . . . . . 113 1. Das Leihbuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 2. Der Leihvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 3. Die weitere Nutzung der Bücher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 VII. Blicke in den Bestand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 1. 1.1 1.2 2. 3. 4. 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6 5. 5.1 5.2

Bücher der „Jüdischen Bezirksschule“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Die Gründung der „Jüdischen Bezirksschule“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 Der Bestand der Lehrerbibliothek . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 Zionistische Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 Antisemitische Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Zimelien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Die ältesten hebräischen Drucke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Drucke aus Mainz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 Drucke aus Frankfurt am Main . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Drucke aus Homburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 Jiddische Drucke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Liturgica. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Handschriften und Einbandfragmente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Handschriften. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Neue Funde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Exkurs: Eine Ketubba aus Mainz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 5.3 Einbandfragmente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 5.4 Glossen, Exzerpte und Widmungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 VIII. Schluss und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 IX. Anhänge 1. Buchbestand der Lehrerbibliothek der Jüdischen Bezirksschule . . . 227 2. Detailliertes Verzeichnis der Lehrerbibliothek . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 3. Verzeichnis der Schüler-Hilfsbibliothek . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 4. Mitgliederverzeichnis des „Vereins für jüdische Geschichte und Litteratur in Mainz 1909“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 5. Das Kasso-Buch der „Hevra Qinyan Sefarim Mainz“ (1928) . . . . . . 241 6. Liste hebräischer Bücher aus der IRG Mainz (1926) . . . . . . . . . . . . 242 X. Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260

Abkürzungsverzeichnis Die Abkürzungen folgen im allgemeinen Siegfried M. Schwertner, Theologische Realenzyklopädie: Abkürzungsverzeichnis, Berlin, New York 21994. Die rabbinische Literatur wird nach Frankfurter Judaistische Beiträge (= FJB) 2 (1974), S. 67–73 abgekürzt. Abweichend und ergänzend werden folgende Kürzel verwendet: Abb. AOFAA AZ CAHJP CJA JGM JNL o. J. o. O. o. Z. StA UA ZAGJD

Abbildung(en) Archives de l’Occupation française en Allemagne et en Autriche Allgemeine Zeitung Mainz Central Archives for the History of the Jewish People Centrum Judaicum Archiv – Stiftung „Neue Synagoge“ Berlin Jüdische Gemeinde Mainz Jewish National Library Jerusalem ohne Jahr ohne Ort ohne Zählung Stadtarchiv Universitätsarchiv Zentralarchiv zur Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland

Hinweise zur Transkription und Zitation Die Umschrift des hebräischen Alphabets folgt FJB 2 (1974), S. 65ff. Es wird die sefardische Aussprache berücksichtigt, obwohl sie in der Mainzer Gemeinde lange zugunsten der ashkenazischen vermieden wurde. Die Umschrift des Jiddischen folgt der YIVO-Transkription. Die Titelansetzung hebräischer Titel folgt in der Regel der Schreibweise auf dem Originaltitelblatt. Titel traditioneller Werke werden verkürzt angesetzt. Die hebräische Jahreszahl nach dem jüdischen Kalender wird in der Regel umgerechnet angegeben. Ortsnamen werden in der heute in der Regel üblichen Ansetzung angesetzt.

Grußwort von Stella Schindler-Siegreich, Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Mainz Vor siebzig Jahren wurde in der Pogromnacht die Hauptsynagoge in der Hindenburgstraße niedergebrannt. Damit verlor die Bibliothek der Jüdischen Gemeinde Mainz ihr angestammtes Zuhause. Eine wechselvolle Geschichte begann für die Bibliothek, die geistiges Zeugnis ablegte von dem Selbstverständnis der Gemeinde seit ihrer neuerlichen Gründung im 16. Jahrhundert bis zum unsäglichen Inferno. Nun soll nächstes Jahr, 2010–5770 nach jüdischer Zeitrechnung, das neue Synagogenzentrum symbolträchtig am selben Ort in der Hindenburgstraße eingeweiht werden. Dort wird die Bibliothek wieder ihren eigentlichen Platz finden, der hoffentlich ihr bleibendes Zuhause sein wird. Der Entwurf der neuen Synagoge von Manuel Herz unterstreicht in vielfältiger Weise die Bedeutung des Wortes, der Schrift, des Schreibens, des Textes in der jüdischen Tradition, speziell in Mainz. Das Wort Keduscha – ‫( – קדושה‬Heiligung, Segnung) gibt dem Haus die äußere Gestalt, die die Bedeutung des Buchs in der Jüdischen Tradition sichtbar hervorhebt. Das Gebäude bleibt jedoch eine profane Hülle, wenn es nicht durch physische und geistige Anwesenheit der Tora, durch eine Bibliothek und die Gemeinschaft von Menschen gefüllt und zu einem lebendigen religiösen und kulturellen Ort wird. Die Mitglieder der Jüdischen Gemeinde Mainz sind heute in ihrer Mehrzahl nicht in Deutschland geboren. Für sie kann die Bibliothek eine Brücke zu den vorigen Generationen in Mainz bilden und eine Anknüpfung an die Vergangenheit ermöglichen. Damit bietet die Bibliothek die Grundlage und den Ansporn für die Entwicklung zu Neuem. Sachor! shamor! chay! – Erinnere! Bewahre! Gestalte! sind die wesentlichen Imperative jüdischer Ethik und einer humanen Gesellschaft. Ich danke Herrn Professor Andreas Lehnardt, seinen Mitarbeitern und den großzügigen Spendern für dieses Buch. Am Vorabend der Einweihung des Synagogenzentrums erinnert das Buch an die Geschichte der Bücher, hält ihren Bestand fest und verweist auf die glückliche Restaurierung einiger durch die Wirren der Zeit geschädigter Schriften. Ich wünsche dieser Dokumentation, die mit viel Detailwissen und großer Hingabe und Verantwortung geschrieben wurde, eine große Resonanz. Ich hoffe, dass sie viele Menschen anspricht und motiviert, sich weiterhin für die Jüdische Bibliothek in Mainz einzusetzen, sie zu nutzen, sie weiter zu entwickeln und sie als kulturelles Erbe der Stadt zu schätzen. Stella Schindler-Siegreich Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Mainz

Vorwort Die alte Jüdische Bibliothek an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz bewahrt ein einzigartiges Zeugnis jüdischen Lebens und jüdischer Kultur in Rheinland-Pfalz. Dieser „verborgene Schatz“ ist bis heute – siebzig Jahre nach der Pogromnacht vom 9./10. November 1938 – nur wenigen bekannt und wurde bislang kaum erforscht. Unter den vor Verfolgung und Krieg bewahrten jüdischen Buchbeständen nimmt die Sammlung gleichwohl eine herausragende Stellung ein, und ihre Bedeutung für die Geschichte der jüdische Gemeinschaft kann kaum hoch genug eingeschätzt werden. Die erhaltenen Hebraica und Judaica der Mainzer Vorkriegsgemeinden bilden dabei nicht nur eine Fundgrube für die Erforschung der jüdischen Druck- und Buchkunst, die Bücher mit ihren zahlreichen Vorbesitzerspuren erlauben auch einzigartige Einblicke in die inneren Entwicklungen der jüdischen Gemeinde Mainz – einer der ältesten und traditionsreichsten jüdischen Gemeinden Deutschlands. Die Dokumentation der bewegten Bibliotheksgeschichte soll daher nicht nur bibliophilem Interesse dienen, sie will auch zeigen, dass die erhaltenen „papierenen“ Zeugnisse Mainzer jüdischer Kultur, neben den wenigen architektonischen Resten wie der Trauerhalle an der Unteren Zahlbacherstraße, der Weisenauer Synagoge und neben den alten Grabsteinen auf den Friedhöfen und im Landesmuseum, wichtige Spuren zum Verständnis einer Gemeinschaft bewahren, die einem steten Wandel unterlag und hierbei eine bemerkenswerte kulturelle Vielfalt hervorbrachte. Die Dokumentation geht auf meine Antrittsvorlesung am 19.01.2006 an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz anlässlich meiner Ernennung zum Professor für Judaistik zurück. Ohne die seither eingegangenen Hinweise zahlreicher Personen wäre die hier vorgelegte Studie nicht zustande gekommen. An erster Stelle und für viele Ungenannte stellvertretend seien hier Frau Stella Schindler-Siegreich, Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Mainz K. d. ö. R., und Herr Dr. Peter Waldmann, Vorsitzender des Landesverbandes der jüdischen Gemeinden in RheinlandPfalz, genannt. Sie haben mich von Anfang an tatkräftig bei der Erforschung und dem Erhalt der Bibliothek unterstützt und vielfältig beraten. Die Restaurierung und Erschließung der Bibliotheksbestände werden seit meiner Berufung nach Mainz vom Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Jugend und Kultur in Mainz gefördert. Finanziell unterstützt wurden diese Maßnahmen zudem von der LBS Mainz, der Denkmalstiftung Rheinland-Pfalz, den Freunden der Universität Mainz e. V. und vom Landesverband der Jüdischen Gemeinden in Rheinland-Pfalz. Weitere Restaurierungen sind aus meinen Berufungsmitteln gefördert worden. Herr Christoph Roth (Leipzig) von der Firma „Bucheinband exquisit“ hat sich stets als zuverlässiger Partner bei der Instandsetzung beschädigter Bände erwiesen. Aus Mitteln der Rothschild Foundation Europe (London) konnte mittlerweile ein vorläufiges Verzeichnis der Hebraica erstellt werden.

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Vorwort

Folgende Archive und Institutionen haben mir bei der Recherche geholfen: Stadtarchiv Mainz, Universitätsarchiv der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, Hessisches Staatsarchiv Darmstadt, Hessisches Staatsarchiv Marburg, Stadtarchiv Bad Homburg, Leo Baeck Institut Jerusalem, Yad Vashem Archives Jerusalem, Jewish National Library Jerusalem, Stiftung Neue Synagoge – Centrum Judaicum Berlin, Archives de l’Occupation française en Allemagne et en Autriche Colmar, Central Archives for the History of the Jewish People Jerusalem und das Zentralarchiv zur Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland Heidelberg. Hinweise zu hebräischen Notizen in einigen Büchern verdanke ich Dr. Josef Bamberger (Frankfurt am Main). Auf abgelegene Literatur zur Geschichte der Juden in Mainz hat mich Frau Dr. Hedwig Brüchert (Mainz) aufmerksam gemacht. Einen Hinweis auf bislang unausgewertete Akten erhielt ich von Peter Wahle (Mainz). Simon Neuberg (Trier) war so freundlich, mich zu jiddistischer Fachliteratur zu beraten. Saskia Dönitz M. A. (Berlin) führte eine Recherche im Bundesarchiv in Berlin durch, Daniel Abrams (Jerusalem) beriet mich zu kabbalistischer Literatur; Bill Rebiger (Berlin) gab mir wertvolle Literaturhinweise; Annelen Ottermann M. A. von der Stadtbibliothek Mainz hat mich auf Rara aufmerksam gemacht, und Silke Schaeper M. A. (Oxford) beriet mich zu Beginn des Projektes. Vladislav Slepoy M. A. (Heidelberg) hat bei der Katalogisierung geholfen. Ihnen allen gilt mein Dank. Für eine gründliche Durchsicht des Manuskriptes sowie zahlreiche Hinweise und einige Korrekturen bin ich Professor em. Dr. Dr. Otto Böcher (Mainz) zu Dank verpflichtet. Herrn Direktor Dr. Andreas Anderhub und Dr. Marcel Lill von der Universitätsbibliothek Mainz möchte ich für die konstante Unterstützung bei der Verwaltung und beim Erhalt des Sonderbestandes danken. Herrn Kollegen Dr. Michael Kießener, Sprecher des Forschungsverbundes Universitätsgeschichte, danke ich für die Aufnahme des Bandes in die Reihe der Beiträge zur Geschichte der Universität Mainz. Mainz, 09.12.2008

Andreas Lehnardt

I. Einleitung Die vorliegende Dokumentation möchte Geschichte und Bedeutung eines für Mainz und Rheinland-Pfalz einzigartigen Bibliotheksbestandes beschreiben und würdigen.1 Gleichzeitig wird der Versuch unternommen, ein frühes Kapitel der Universitätsgeschichte zu beleuchten – ein Kapitel, das bislang wenig beachtet wurde. Die Existenz der jüdischen Bibliothek aus den Beständen der alten, untergegangenen Mainzer jüdischen Gemeinden blieb bis heute vielen Angehörigen der Universität, Studierenden und Bürgern der Stadt unbekannt.2 Diese Lücke im Wissen über jüdisches Leben, über die Universität und die Bedeutung ihrer wohl bemerkenswertesten Buchsammlung will die folgende Dokumentation nach bestem Wissen schließen. Die Aufarbeitung eines so speziellen Kapitels der Mainzer jüdischen Geschichte ist dabei nicht nur von lokalgeschichtlicher (oder universitätsgeschichtlicher) Bedeutung, sondern hat eine weit darüber hinaus reichende Relevanz. In der Bibliothek fanden sich – so zeigte sich bald – nicht nur einzigartige Handschriften, sondern auch seltene Drucke, die vielleicht in dieser Konzentration und in diesem Erhaltungszustand nur noch in Mainz erhalten geblieben sind. Die im Zuge der mühseligen Nachforschungen immer deutlicher zutagetretenden Geschichte der „Rettung“ der Bibliothek wirft zudem ein Licht auf vergleichbare Vorgänge in benachbarten Städten und weit darüber hinaus. Der vorgestellte historische Buchbestand erscheint auch daher als besonders beachtenswert, ja eine Würdigung eines solchen Bücherschatzes in der Stadt Gutenbergs ist zweifellos lange überfällig. Neben der Erarbeitung der hier vorgelegten Dokumentation ging es in den vergangenen Jahren zunächst darum, die für den Erhalt und die Instandsetzung der Bücher notwendigen Mittel bei verschiedenen Institutionen und Vereinigungen einzuwerben. Besonders zu schützende Altbestände mussten dringend restauriert und adäquater untergebracht werden. Wie wichtig diese praktischen Vorarbeiten waren, zeigte sich besonders an einem hier zum ersten Mal veröffentlichten Fund einer Mainzer Ketubba, einer Hochzeitsurkunde aus dem 18. Jahrhundert, die sich bei den Restaurierungsarbeiten zufällig im Buchdeckel eines frühen Druckes fand (siehe dazu ausführlich den Exkurs in Kapitel 5.2).

1

Die Bedeutung des Bestandes mag dem unvoreingenommenen Leser vielleicht daran deutlich werden, dass sogar ein weitverbreiteter Reiseführer für Mainz auf ihn hinweist. Vgl. Karl Baedeker, Baedeker Mainz. Stadtführer, Ostfildern-Kemnat 2004, S. 121. 2 Dies konnte ich etwa anlässlich der von mir an offiziellen Gedenktagen wie dem 27.01. in den Jahren von 2005 bis 2008 durchgeführten Bibliotheksführungen immer wieder feststellen.

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I. Einleitung

Restaurierung und Erforschung der für Rheinland-Pfalz und für die jüdische Gemeinschaft sehr wichtigen Bibliothek, so zeigte auch diese Entdeckung, gehören eng zusammen, und da die kostspieligen Restaurierungsarbeiten an vielen der beschädigten Bänden noch nicht abgeschlossen sind, ist auch diese Dokumentation nur als eine Art erste Bestandaufnahme zu verstehen. Zusätzliche Maßnahmen für die Bewahrung der Bücher sind auch in Zukunft dringend notwendig – dies erfordert aber gleichzeitig auch die noch tiefergehende Erschließung und Beschäftigung mit den Büchern. Das vorliegende Buch möchte zunächst auf die Existenz der Bibliothek und die in ihr schlummernden Schätze nachdrücklich hinweisen. Letzlich wird die Zukunft der Bücher von ihren fachkundigen Benutzern abhängen.

II. Vom „Portativen Vaterland“ zur Jüdischen Bibliothek Bereits das dieser Dokumentation vorangestellte Motto des Verlegersohnes Gerschom Schocken bringt zum Ausdruck, dass Bücher in der Geschichte des „Volkes des Buches“ eine vergleichsweise größere Rolle gespielt haben als in anderen Kulturen.1 Haben andere Völker schon lange vor der Emanzipation Burgen oder Kathedralen errichtet und sich somit Denkmäler bleibender kultureller Geltung erschaffen, waren es im Judentum lange nur Handschriften und dann gedruckte Bücher, die ihm in seinen unterschiedlichen Lebenswelten traditionelle, aber auch immer wieder neue Identifikationsmöglichkeiten boten. Die Bibel, d. h. vor allem die Tora, den Pentateuch als das Buch schlechthin, trugen Juden dabei jeher als das geistige Zentrum ihres Denkens mit sich, einem „portativen Vaterland“ gleich, wie es Heinrich Heine einmal treffend ausgedrückt hat.2 Dies ging lange sogar so weit, dass andere jüdische Bücher gewissermaßen kontrafaktisch als nicht relevant betrachtet wurden und sich außerbiblische jüdische Traditionen gelegentlich nur durch die Vermittlung des Christentums, d. h. zunächst am Rande des Judentums, erhalten haben.3 Erst nach einer gewissen Phase mündlicher Überlieferung bildeten sich im rabbinischen Judentum verschriftlichte „mündliche“ Traditionen heraus. Diese wurden spätestens ab dem 2. Jahrhundert nach der allgemeinen Zeitrechnung vor allem in der Mischna und darauf aufbauend in den Talmudim gesammelt. Mit dieser für die jüdische Buchkultur grundlegenden Entwicklung ging eine Aufwertung der Schriftlichen Tora einher, die dazu beitrug, die Heiligkeit des geschriebenen Wortes auf sämtliche hebräischen Texte, in denen der göttliche Name, das Tetragramm, steht, zu übertragen. Der fast physische Heiligkeitsstatus eines derart beschriebenen hebräischen Schriftstückes wirkte sich dann auf die Wertschätzung anderer Schriften aus, zuerst auf die Pergamente in den Gebetsriemen- und Türpfostenkapseln (Tefillin und Me-

1

Vgl. hierzu Silke Schaeper, ‚Goldadern wertvollen jüdischen Lebens’. S. Schocken und seine Hebraica-Sammlung, in: Jüdischer Almanach 1995, Frankfurt a. M. 1994, S. 121–135, hier S. 126– 127. Gerschom Schocken war Sohn des Kaufhausbesitzers und Verlegers Salman Schocken. Siehe zu ihm unten Kapitel VII.1.2. 2 Vgl. Heinrich Heine, Sämtliche Werke, hrsg. von Hans Kaufmann, Bd. 13, München 1964, S. 128. 3 Vgl. hierzu etwa Reimund Leicht, Verbrennen oder Verbergen? Über den Umgang mit heiligen und unheiligen Büchern im Judentum, in: Mona Körte / Cornelia Ortlieb (Hrsg.), Verbergen – Überschreiben – Zerreißen. Formen der Bücherzerstörung in Literatur, Kunst und Religion, Berlin 2007, S. 123–141.

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II. Vom „Portativen Vaterland“ zur Jüdischen Bibliothek

zuzot), dann auch auf andere Schriften.4 Geleitet vom rituell geregelten Umgang mit dem Buch der Bücher entwickelte sich eine jüdische Schriftethik, die dem geschriebenen, dann auch dem gedruckten Wort einen eigenen, über sich selbst hinausweisenden Wert zuerkannte. Eine als heilig erachtete Schrift wurde, sobald ihre Verwendung etwa aus Altersgründen unmöglich wurde, nicht einfach weggeworfen oder verkauft, sondern in einer so genannten Geniza, einem Stauraum bei oder in einer Synagoge, „verborgen“ – gebrauchte Tora-Rollen wurden gelegentlich sogar rituell begraben.5 Mit der zunehmenden Buchproduktion, wie sie sich noch in erhaltenen mittelalterlichen Buchlisten aus der Kairoer Geniza widerspiegelt,6 entwickelte sich eine spezifische Wertschätzung des Buches, die in unterschiedlichen Ausprägungen bis in die Gegenwart anhält. Die Erfindung des Buchdrucks hatte auf diese Entwicklung zunächst nur geringen Einfluss, zumal im ashkenazischen Judentum, in dem – anders als in der sefardisch-orientalischen Tradition – die neue Technik ohne größere Widerstände rezipiert wurde.7 Die von einem Nichtjuden, Johannes Gutenberg, entwickelte Technik wurde in jüdischen Kreisen bald vollkommen akzeptiert und ihre vielseitige Verwendbarkeit begrüßt.8 Mit Hilfe von hebräisch gedruckten Büchern konnte die Beschäftigung mit der Religion stärker in den Mittelpunkt des alltäglichen Lebens gerückt werden. Das Studium wurde im Judentum somit nach und nach zum Studium von Büchern: Medium und Wissen gingen eine enge Verbindung ein, und die Möglichkeiten massenhafter Reproduktion eines Textes veränderten bald den Umgang jüdischer Gelehrter mit der Tradition. Doch entstanden so auch neue Fragen 4

Zur rituellen Bedeutung solcher Texte vgl. etwa Andreas Lehnardt, Massekhet Tefillin – Beobachtungen zur literarischen Genese eines Kleinen Talmud-Traktates, in: Klaus Herrmann / Margarete Schlüter / Giuseppe Veltri (Hrsg.), Jewish Studies Between the Disciplines – Judaistik zwischen den Disziplinen. Papers in Honor of Peter Schäfer on the Occasion of his Sixtieth Birthday, Leiden, Boston 2003, S. 29–79; ders., Massekhet Mezuza – der kleine talmudische Traktat von der Türpfostenkapsel, in: Judaica 63 (2007), S. 46–54. 5 Siehe hierzu die bislang einzige umfassende Darstellung von Avraham Meir Haberman, The Cairo Genizah and other Genizoth. Their Character, Contents and Development, Jerusalem 1971 (hebr.). Die bekannteste dieser Genizot ist die in der so genannten Esra-Synagoge in Alt-Kairo (Fustat) entdeckte. Siehe hierzu Stefan C. Reif, A Jewish Archive from Old Cairo. The History of Cambridge University’s Genizah Collection, Richmond 2000. Zu Genizot in Deutschland vgl. Falk Wiesemann, Genizah – Verborgenes Erbe der deutschen Landjuden, Wien 1992; dann auch Markus Kirchhoff, Häuser des Buches. Bilder jüdischer Bibliotheken, herausgegeben vom Simon-DubnowInstitut für jüdische Geschichte und Kultur an der Universität Leipzig, Leipzig 2002, S. 53–65. 6 Vgl. hierzu etwa Nehemya Allony, The Jewish Library in the Middle Ages. Book Lists from the Cairo Genizah, hrsg. von Miriam Frenkel / Haggai Ben-Shammai, Jerusalem 2006 (hebr.). 7 Vgl. hierzu einleitend etwa Mordechai Glatzer, Early Hebrew Printing, in: Leonard Singer Gold (Hrsg.), A Sign and a Witness. 2000 Years of Hebrew Books and Illuminated Manuscripts, New York, Oxford 1988, S. 80–91; dann auch Zeev Gries, The Book in the Jewish World 1700– 1900, Oxford, Portland, Oregon 2007, S. 4. 8 Siehe hierzu Gries, Book, S. 6f. – Es sei in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass es in der Vergangenheit nicht an Versuchen gefehlt hat, Gutenberg als konvertierten Juden zu erweisen. Zu der nicht haltbaren Vermutung, Gutenberg habe jüdische Wurzeln gehabt, vgl. Hellmut Rosenfeld, Gutenbergs Wappen, seine Entstehung und die angeblichen jüdischen Ahnen Gutenbergs – zugleich ein Beitrag zur Namen- und Kulturgeschichte des ausgehenden Mittelalters, in: Gutenberg-Jahrbuch 49 (1974), S. 35–46.

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und Probleme. Denn durch die schnellere Verbreitung von Texten galt es, noch genauer zu beachten und zu untersuchen, ob ein Text brauchbar oder ungeeignet war. Schon ein kleiner Druckfehler konnte große Auswirkungen auf die Halakha, das religiös sanktionierte Recht und die Lebensweise, haben. Im Unterschied zu Handschriften, die in nur wenigen Exemplaren kopiert wurden und die man leicht bei der nächsten Abschrift korrigieren konnte, konnten Abweichungen in Druckwerken größere Auswirkungen haben. Mancher Text, der über Jahrhunderte mündlich und handschriftlich tradiert worden war und daher in unterschiedlichsten Fassungen in den Gemeinden zirkulierte, erhielt erst durch die gedruckte Fassung seine definitive Gestalt.9 An die Stelle der regulierenden Kommentierungen oder im Extremfall der Vernichtung von angeblich oder offensichtlich nicht mit der Tradition übereinstimmenden Manuskripten traten so eigene, neue Formen der „inneren“ Zensur wie Bannandrohungen und vor allem die Approbationen, hebräisch „haskamot“ genannt, die sich bald in fast jedem neuen Druck eines jüdischen Buches fanden – meist von bedeutenden und einflussreichen Rabbinen verfasst, die durch jede weitere haskama an Ansehen gewannen.10 Die Einführung dieser Kulturtechniken trug auf unterschiedliche Weise dazu bei, das Publikationswesen im Judentum zu verändern, ja sogar bis zu einem gewissen Grad zu reformieren, es aber in jedem Fall zu erneuern und auf die Moderne vorzubereiten. Nachdem sich langsam auch die äußeren, d. h. politischen und sozialen Rahmenbedingungen zu verändern begannen, nahm auch die Anzahl an hebräischen Drucken auf den unterschiedlichen Gebieten rasch zu. Der Wegfall der von kirchlichen Behörden lange Zeit verantworteten Zensurmaßnahmen, die so manchen Druck verhindert oder „verstümmelt“ hatten, trug mit dazu bei, dass sich dann auch die Vielfalt der literarischen Überlieferungen des Judentums entfalten konnte.11 Mit den ersten hebräischen Drucken – beginnend mit dem ersten im Jahre 1474 im kalabrischen Reggio12 – veränderte sich der Umgang mit dem Geschriebenen 9

Dies betraf z. B. die Gebetstexte, die in sehr unterschiedlichen Rezensionen tradiert und vielerorts erst durch den Druck vereinheitlicht wurden. Vgl. hierzu die klassische Studie von Abraham Berliner, Über den Einfluß des ersten hebräischen Buchdrucks auf den Cultus und die Cultur der Juden, Beilage zum Jahresbericht des Rabbiner-Seminars in Berlin v. J. 1893–94, Berlin 1896 (Signatur G 33). Siehe dazu auch unten Kapitel VII.4.6. 10 Vgl. hierzu noch einmal Leicht, Verbrennen, S. 140f. Zum Einfluss des Buchdrucks auf die Halakha-Rezeption vom 17. bis ins 19. Jahrhundert siehe ausführlich Gries, Book, S. 35–45. Die dort beschriebenen Entwicklungen hinsichtlich des Studiums spiegeln sich auch in der Jüdischen Bibliothek Mainz wider. 11 So konnten zunächst nur einige Traktate des Talmud in von Zensur freien Auflagen erscheinen. Doch bereits der erste vollständige Druck des Babylonischen Talmud, Venedig 1520–1523, enthielt eine Genehmigung der christlichen Zensurbehörde. Vgl. hierzu William Popper, The Censorship of Hebrew Books, Introduction by Moshe Carmilly-Weinberger, New York 1969; siehe auch Amnon Raz-Krakotzkin, The Censor, the Editor, and the Text. The Catholic Church and the Shaping of the Jewish Canon in the Sixteenth Century, Philadelphia 2007. 12 Vgl. hierzu und zum Beginn des hebräischen Buchdrucks Cecil Roth, Die Kunst der Juden, Bd. 1, Frankfurt am Main 1963, S. 218f; Ernst Róth, Hebräische Drucke, in: Synagoga. Kultgeräte und Kunstwerke von der Zeit der Patriarchen bis zur Gegenwart, Städtische Kunsthalle Recklinghausen 3. November – 15. Januar 1961, Recklinghausen 21961 [unpaginiert]; Ursula und Kurt

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allerdings nicht schlagartig, sondern regional unterschiedlich und im Vergleich mit dem christlichen Bereich zeitlich verzögert. Die Handschrift blieb daneben insbesondere im ashkenazischen Judentum noch geraume Zeit im Gebrauch, was sich übrigens auch noch in der Jüdischen Bibliothek Mainz beobachten lässt, wo zahlreiche neuzeitliche Manuskripte von Handbüchern und Abschriften von längst gedruckten Büchern zu finden sind.13 Mit der Einführung des Drucks war die Handschrift ohnehin noch lange nicht passé, denn die rituell verwendeten Texte werden bis heute aus handgeschriebenen Pergamenten gelesen. Doch spätestens mit den ersten Talmud-Drucken von Israel Nathan Soncino (1485–1519)14 und Daniel Bomberg in Venedig (1520–1523)15 war der Druck als neue Technik auch in konservativen Kreisen vollkommen akzeptiert, was den Aufbau von Bibliotheken stark erleichterte.16 Aus dem Hause Bomberg folgten bis 1538 mehr als 200 hebräische Bücher, die regen Absatz fanden und von denen sich einige Exemplare sogar in der Jüdischen Bibliothek in Mainz erhalten haben. Bomberg, ein aus Antwerpen gebürtiger christlicher Adliger, hatte als erster Drucker systematisch alte Handschriften aufgekauft und zum Druck gebracht.17 Hierdurch schuf er unter kritischer Anleitung jüdischer Gelehrter eine hebräische Literatur, die es in dieser Form und unter diesen Bedingungen bislang nicht gegeben hatte.18 Sein Verlagsprogramm wurde so schnell zum Vorbild zahlreicher jüdischer Drucker im gesamten Mittelmeerraum und weit darüber hinaus. Nach der Vertreibung der Juden aus Spanien im Jahre 1492 entwickelten sich jüdische Druckereien von Fez (1512)19 bis nach Konstantinopel (1493).20 In Schubert, Jüdische Buchkunst. Erster Teil, Graz 1983, S. 151–155; Yeshayahu Vinograd, Thesaurus of the Hebrew Book, Listing of Books Printed in Hebrew Letters since the Beginning of Hebrew Printing circa 1469 through 1863, Bd. 1, Jerusalem 1993, S. XVIIff (hebr.). Zur Übermittelung der Mainzer Technik nach Italien vgl. nun auch Shimon Iakerson, Catalogue of Hebrew Incunabula from the Collection of the Library of the Jewish Theological Seminary of America, Bd. 1–2, New York, Jerusalem 2005, S. X. 13 Zu diesen Manuskripten vgl. ausführlich unten Kapitel VII.5. 14 Dieser Druck setzte die bis heute gültigen drucktechnischen Standards, die aufbauend auf einem älteren Vorbild z. B. festlegten, dass Talmudseiten nach Folio a und b zitiert werden. Vgl. hierzu Marvin J. Heller, Studies in the Making of the Early Hebrew Book, Studies in Jewish History and Culture 15, Leiden, Boston 2008, S. 105. 15 Siehe hierzu die ausführliche Darstellung von Marvin Heller, Printing the Talmud. A History of the Earliest Printed Editions of the Talmud, New York 1992, S. 135–154. 16 Vgl. Moritz Steinschneider / David Cassel, Jüdische Typographie und Jüdischer Buchhandel, in: Ersch und Gruber Encyclopädie der Wissenschaften und Künste 28, Ndr. Jerusalem 1938, S. 15f. 17 Vgl. dazu Róth, Hebräische Drucke, o. Z. 18 Dies betrifft insbesondere die so genannten Midraschim, bibelexegetische Werke der rabbinischen Literatur, und die ethische Literatur (Musar). Vgl. hierzu Gries, Book, S. 7 und S. 46–49. Diese Literaturgattung lässt sich ebenfalls in der Jüdischen Bibliothek Mainz anhand zahlreicher Exemplare belegen. 19 Vgl. Avraham Yaari, Hebrew Printing in the Lands of the East, Jerusalem 1937 (hebr.); Vinograd, Thesaurus, Bd. 2, S. 499. 20 Vgl. hierzu Avraham Yaari, Hebrew Printing in Constantinople, Jerusalem 1967 (hebr.).

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Amsterdam entstand ab 1627 eine von Manasse ben Yisrael (1604–1657) initiierte Druckerpresse, die dazu beitrug, diese Stadt im 17. Jahrhundert zu einem der wichtigsten Druckorte jüdischer Literatur in Europa werden zu lassen.21 Auch in Deutschland, u. a. in Frankfurt am Main, Fürth, Offenbach, Wilhermsdorf, Dyhernfurt u. a. m.22, sowie in Osteuropa mit Zentren in Wilna, Lemberg (Lwow) und Warschau entstanden jüdische Druckhäuser.23 Durch die Reformation begünstigt, hatte sich zuvor zwar auch eine nicht-jüdische, humanistisch geprägte Druckkultur des Hebräischen entwickelt. Diese christliche Hebraistik blieb jedoch stets Hilfswissenschaft der Theologie, was die Vielfalt der in solchen Unternehmen aufgelegten Werke von vornherein einschränkte.24 Die ersten jüdischen Druckereien legten freilich vor allem traditionelle Textausgaben, Talmudim, Novellen, Bibelausgaben mit Kommentaren (vor allem Rashi25) sowie Gebetbücher auf. Seltene Ausnahmen bildeten Reiseberichte oder Chroniken bzw. historische Werke wie das Sefer Yosippon, eine hebräische Fassung und Bearbeitung des griechischen Werkes des Flavius Josephus.26 Diese Entwicklung der jüdischen Buchproduktion spiegelt auch der erhaltene Bestand der Jüdischen Bibliothek Mainz wider. Während z. B. philosophische und kabbalistische Drucke in ihr die Ausnahme bilden, setzen sich die Hebraica zu 65 % aus Talmudica im weiteren Sinne zusammen, d. h. aus Kommentaren, Derashot (Homilien) und Hiddushim (Talmud-Novellen) sowie Halakha-Sammlungen, d. h. Shutim (Responsen) oder Posqim (Dezisoren-Literatur). Für Jahrhunderte bildete so die durch hebräische Drucke verbreitete traditionelle religiöse Literatur die einzige Literatur unter Juden. Wer sich Bücher leisten konnte, las sie auf Hebräisch bzw. Aramäisch, und d. h., man las traditionelle Werke. Ausbildung und Erziehung, vom Heder (der Kleinkindschule) bis zur Yeshiva (der Talmud-Akademie), erfolgten auf der Basis hebräischer Werke. Nur einen kleineren Teil bildeten jiddische Titel, unter ihnen vor allem die für Frauen und Ungebildete herausgegebenen Bibelübersetzungen wie die berühmte Übersetzung Sena u-rena oder auch jiddische Gebetssammlungen wie der Seder Tekhi21

Siehe hierzu etwa Marvin J. Heller, Printing the Talmud. A History of the Individual Treatises Printed from 1700 to 1750, Brill’s Series in Jewish Studies 21, Leiden, Boston, Köln 1999, S. 199–202; ders., Studies, S. 246. Die Bedeutung des Druckortes Amsterdam belegen auch zahlreiche Exemplare in der Jüdischen Bibliothek Mainz. 22 Siehe auch hierzu einleitend etwa Menahem Schmelzer, Studies in Jewish Bibliography and Medieval Hebrew Poetry. Collected Essays, New York, Jerusalem 2006, 38*–57*; dann auch Heller, Printing the Talmud, S. 11–13. 23 Vgl. hierzu etwa auch Krzysztof Pilarczyk, Hebrew Printing Houses in Poland against the Background of their History in the World. An Outline with Reference Books on the Subject, in: Studia Judaica 7 (2004), S. 201–222, hier S. 204–205 (http://www.pawelpilarczyk.com/studjud/ sj14pila.pdf). 24 Vgl. hierzu etwa Stephan Füssel, Gutenberg und seine Wirkung, Frankfurt am Main 22004, S. 66. Zu einigen christlichen Hebraica in der Mainzer Bibliothek vgl. unten Kapitel VII.4.1. 25 Vgl. Gries, Book, S. 41. Das meistgedruckte hebräische Buch im 17.–18. Jh. war, so Gries, Eliya Mizrahis, Perush ‛al perush Rashi ‛al ha-Tora, also ein Bibelkommentar von Shlomo bar Yishaqi (1040/41–1105), zuerst gedruckt in Venedig 1545. 26 Zuerst gedruckt in Mantua 1476. In der Jüdischen Bibliothek Mainz finden sich nur jüngere Druckausgaben dieses weit verbreiteten und auch in das Jiddische übersetzten Werkes.

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nes.27 Während in der nichtjüdischen Umwelt bereits ab dem 17. Jahrhundert ein Höhepunkt der Buchproduktion festzustellen ist und Genre wie der Roman, die Novelle oder die wissenschaftliche Abhandlung zirkulierten, blieben unter Juden bis ins 18. Jahrhundert Bibel- und Talmudkommentare sowie ethische und homiletische Werke die einzigen Gattungen, die neben Siddur und Mahzor, d. h. der liturgischen Gebrauchsliteratur, in jüdischen Haushalten oder Synagogenbibliotheken anzutreffen waren.28 Diese Lage begann sich erst durch die umfangreichere Produktion und Verbreitung von Büchern zu wandeln. Durch die ungezwungenere und problemlosere Herstellung von Drucken veränderte sich auch im Judentum der Umgang mit Literatur, und die Interessen der Leser begannen sich zu erweitern und zu diversifizieren. Bücher wurden zu einem Massenmedium, das nicht mehr nur dazu beitrug, das religiöse Wissen zu tradieren, sondern spätestens ab dem 18. Jahrhundert ermöglichte die allgemeine Buchkultur auch eine Öffnung zur Mehrheitsgesellschaft. Damit einher ging auch eine Art der Säkularisierung, die freilich auch mit den sich parallel dazu verändernden sozialen und politischen Umständen zusammenhing.29 Die zunehmende Akzeptanz des Mediums Buch trug freilich mit dazu bei, neue Wissensgebiete zu eröffnen und Literatur mit unterschiedlichen Gattungen in der Masse der jüdischen Bevölkerung zu verbreiten. Was zuvor oftmals nur Spezialisten, Gelehrten und. Rabbinern, vorbehalten war, wurde so allmählich auch einfacheren und weniger wohlhabenden Lesern zugänglich. Begleitet wurde diese Entwicklung ab dem 18.–19. Jahrhundert von der einsetzenden Verbreitung von Zeitungen und Zeitschriften sowie der zunehmenden Zahl von Wanderbuchhändlern und spezialisierten Buchläden. Vor allem letztere fungierten vielerorts – wie in Mainz – zunächst auch als Leihbüchereien, die es auch weniger Betuchten ermöglichten, eine Vielzahl unterschiedlicher Titel zu konsumieren, ohne sie erwerben und aufbewahren zu müssen. Nach und nach entstanden so, verbunden mit einem Ausbau des Bildungswesens, öffentliche Bibliotheken, die von Gemeindeinstitutionen getragen wurden und einem breiteren Publikum dienten.30 Das Medium „Buch“, welches seit dem Mittelalter, als es noch in Pergamenten zirkulierte, einen eher privaten Charakter besessen hatte, wurde so immer

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Der Druck Sulzbach 1799 der Sena u-rena befindet sich gleich in mehreren, zum Teil gut erhaltenen Exemplaren in der Jüdischen Bibliothek Mainz. Auch einige, zum Teil stark beschädigte Tekhines-Ausgaben konnten gefunden werden (ohne Signatur und Titelblatt). Zu weiteren jiddischen Drucken in der Mainzer Bibliothek und der daraus ersichtlichen Jiddisch-Rezeption vgl. unten Kapitel VII.4.5. 28 Vgl. Gries, Book, S. 40f. 29 Vgl. hierfür etwa auch die vergleichende Darstellung von Jacob Elbaum, Openness and Insularity. Late Sixteenth Century Jewish Literature in Poland and Ashkenaz, Jerusalem 1990 (hebr.), S. 25 (und Anm. 42 ebd. mit älterer Literatur). 30 Zu diesen neuen Institutionen vgl. etwa Kirchoff, Häuser des Buches, S. 25–33. Zum jüdischen Buchhandel seit dem Mittelalter vgl. grundlegend Heller, Studies, S. 241–256, und siehe auch Hagit Cohen, At the Bookseller’s Shop. The Jewish Book Trade in Eastern Europe at the End of the Nineteenth Century, Jerusalem 2006 (hebr.).

1. Die Jüdischen Bibliotheken in Mainz

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mehr zu einer öffentlichen Angelegenheit, das auch das Aussehen und die Gestalt der Gemeinden zu verändern begann. 31 Die hier skizzierte Entwicklung vom „portativen Vaterland“ hin zur allgemeinen „Gemeindebibliothek“, von der handgeschriebenen Tora-Rolle zum hebräischen Buch als Massenprodukt, lässt sich an der Bestandsgeschichte der Jüdischen Bibliothek in Mainz beispielhaft nachvollziehen. Auch die Mainzer Bibliothek wuchs zunächst als private Handschriften- und Buchsammlung einzelner Rabbinen und Gemeindevorsteher heran und wurde innerhalb von Familien vererbt, bevor sie in den Grundbestand einer öffentlichen Gemeindebibliothek mit wissenschaftlichem Anspruch aufging. 1. Die Jüdischen Bibliotheken in Mainz Vor diesem buch- und bibliotheksgeschichtlichen Hintergrund allein ist die Bedeutung der jüdischen Buchbestände in Mainz allerdings noch nicht annähernd zu erfassen. Die Einzigartigkeit des aus mehreren älteren jüdischen Buchsammlungen gewachsenen Bestandes wird erst deutlich, wenn man die Geschichte der erhaltenen Bücher – Hebraica und Judaica – genauer betrachtet und auch die Handschriften berücksichtigt, die zusätzliche Informationen enthalten und die Sammlung erst recht zu einem einmaligen Archiv jüdischen Lebens in Mainz machen. Die Quellenlage für eine Rekonstruktion der Bestandsgeschichte ist allerdings, wie bereits angedeutet, komplex. Auf den ersten Blick scheint nur verifizierbar, dass die Bücher mindestens aus zwei größeren Beständen zusammengeführt worden sind – aus dem der „liberalen“ Hauptgemeinde und dem der tora-treuen, „orthodoxen“ Israelitischen Religionsgesellschaft, die sich ab 1849 nach Streitigkeiten u. a. über die Einführung der Konfirmation (statt einer Bar Miswa) und die Vorbereitungen zur Einführung einer Orgel im Gottesdienst eigenständig konstituiert hatte.32 Doch woher kamen die älteren Bücher, und vor allem: wie überlebte der Bestand Verfolgung und Krieg in Mainz?

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Vgl. hierzu Malachi Beit-Arié, The Private Nature of the Hebrew Medieval Book Production and Consumption, in: Yosef Kaplan / Moshe Slukovsky (Hrsg.), Libraries and Book Collections, Jerusalem 2006, S. 91–102. 32 Zu den Hintergründen der Trennung vgl. Rolf Dörrlamm, Magenza. Die Geschichte des jüdischen Mainz, Festschrift zur Einweihung des neuen Verwaltungsgebäudes der Landes-Bausparkasse Rheinland-Pfalz, Mainz 1995, S. 35; Anton Maria Keim, Emanzipation und Gleichberechtigung (1814 bis 1933), in: Friedrich Schütz (Hrsg.), Juden in Mainz, Mainz 1978, S. 72; Friedrich Schütz, Magenza, das jüdische Mainz, in: Franz Dumont, Ferdinand Scherf, Friedrich Schütz (Hrsg.), Mainz. Geschichte der Stadt, Mainz 21999, S. 695. Detailliert rekonstruiert wird der Ablösungsvorgang auch von Martina Drobner, Zur Entwicklung der Mainzer Jüdischen Gemeinde im Kontext gesamtgesellschaftlicher Prozesse des 19. Jahrhunderts, EHS XIX A 52, Frankfurt am Main u. a. 2000, S. 164–167. – Siehe zum Ganzen auch unten zu den Schriften und Büchern aus der Familie Marcus und Oscar Lehmanns.

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II. Vom „Portativen Vaterland“ zur Jüdischen Bibliothek

2. Zur Quellenlage Die Quellenlage zur Beantwortung dieser Fragen ist alles andere als einfach. Da die Gemeindearchive der jüdischen Gemeinden in Mainz im Zuge der Verfolgungen durch die Nationalsozialisten und während des Zweiten Weltkrieges weitgehend zerstört und/oder verstreut worden sind, ist man bei der Rekonstruktion der Bibliotheksgeschichte zunächst auf die wenigen Hinweise in den erhaltenen Archivmaterialien und Berichte von Zeitzeugen angewiesen. Einige Archive, wie das Mainzer Universitätsarchiv, enthielten allerdings gar keine Dokumente, obwohl man dies hätte erwarten können. Die Auswertung einiger Personalakten von mit der Bibliothek betrauten oder in Verbindung stehenden Professoren und wissenschaftlichen Mitarbeiten ergab ebenso wenig zuverlässige Ergebnisse wie die Lektüre einiger Protokolle der Evangelisch-theologischen Fakultät an der Universität Mainz. Gespräche mit den wenigen noch lebenden Zeitzeugen und Verantwortlichen erbrachten ebenfalls keine zuverlässigen Erkenntnisse: Auskünfte gaben mir bereitwillig Frau Esther Epstein (1923–2006), langjährige Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Mainz, Professor Dr. Dr. Otto Böcher, zur Zeit der ersten Erschließung der Bücher an der Universität Doktorand von Professor Rapp, und Friedrich Schütz (1936–2007), Direktor des Stadtarchivs und Kenner der jüdischen Geschichte von Mainz. Hinweise erhielt ich auch von Dr. Anton Maria Keim, dem langjährigen Kulturdezernenten der Stadt Mainz, und auch Professor Dr. Günter Mayer (1936– 2004) berichtete mir noch von einigen Details.33 Doch niemand konnte mir Quellen nennen, aus denen mehr zu erfahren war, als dass die Bücher „unter Kohlen“ versteckt den Krieg überdauert hatten. Professor Dr. Dr. h.c. mult. Leo Trepp (Mainz/Berlin) hat mir Erinnerungen aus seiner Jugend in Mainz mitgeteilt, darunter an seine Zeit als Schüler in der so genannten „Bondi-Schule“. Vor der Nazizeit wurde ein Teil der hebräischen Werke in der Synagoge der orthodoxen Gemeinde in der Flachsmarktstraße/Ecke Margarethengasse von ihm und Lehrer Freiwald katalogisiert. Nach der Pogromnacht 1938 ist Trepp kurze Zeit in das KZ Sachsenhausen verschleppt worden, und nur aufgrund des Einspruchs des britischen Chief Rabbi Dr. Hertz konnte er noch entkommen. An der „Rettung“ der Bücher nach der Pogromnacht und an ihrer Unterbringung auf dem neu gegründeten Universitätscampus war er daher nicht beteiligt; in Mainz hielt sich Trepp erst wieder ab 1983 zu regelmäßigen Besuchen auf. Trotz mancher Recherche und vieler Gespräche blieben somit zunächst viele Fragen offen. Als bedauerlich erwies sich bald, dass die Geschichte der Bibliothek nicht früher und wenigstens ansatzweise dokumentiert worden war – für die Rekonstruktion des Werdegangs der Mainzer Judaica bieb man daher immer wieder und vor allem auf die „stummen“, in den Büchern selbst vorhandenen Spuren, also die Stempel, Vorbesitzer- bzw. Provenienzvermerke und Widmungen angewiesen. Ein unter den Büchern aufgefundenes Inventarverzeichnis aus der Jüdischen Be33

Vgl. zu ihm den Nachruf von Hans-Joachim Bechtoldt, Zum Andenken an einen verdienstvollen Judaisten, in: Blätter für pfälzische Kirchengeschichte und religiöse Volkskunde 73 (2006), S. 333–335.

2. Zur Quellenlage

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zirksschule Mainz ermöglichte zwar für einen Teil der Büchersammlung eine detailliertere Bestands- und Provenienzanalyse, und Auskunft über die ersten Benutzer der Bücher nach der Shoa und dem Krieg gab ein zufällig erhaltenes Leihbuch aus der Evangelisch-theologischen Fakultät. Da aber sonstige Unterlagen nicht erhalten bzw. überliefert wurden, lassen sich manche Vorgänge nur noch skizzieren und erschließen. Erschwert wurden die Recherchen durch den zum Teil schlechten Zustand der Bücher.

III. Be- und Zustand Im Jahre 1993 wurde im Handbuch der historischen Buchbestände eine erste Beschreibung des Bestandes der Bibliothek publiziert.1 Diese Kurzbeschreibung basiert auf Angaben des damals zuständigen Professors an der Evangelisch-theologischen Fakultät, Dr. Günter Mayer, der von den Vorarbeiten seines Vorgängers Professor Dr. Eugen Ludwig Rapp (1904–1977) profitieren konnte. Da diese Erhebung die bislang genaueste und umfangreichste ist, sei ihr knappes Ergebnis als ein erster Überblick und als Ausgangspunkt für die weitere Analyse wiedergegeben: „Die jüdische Bibliothek im Fachbereich Evangelische Theologie ist eine Dauerleihgabe der Jüdischen Gemeinde Mainz. Die Sammlung setzt sich aus den Beständen zweier jüdischer Gemeinden zusammen, nämlich der orthodoxen und der liberalen Gemeinde in Mainz. Es handelt sich um einen abgeschlossenen Bestand ohne Neuzugänge. Der Bestand ist sehr restaurierungsbedürftig. Die jüdische Bibliothek hat einen Gesamtbestand von ca. 5500 Bdn, davon gehören 3670 Bde zum historischen Bestand. Dieser gliedert sich in 15 Bde aus dem 16. Jh (15 hebräische), 133 Bde aus dem 17. Jh (122 hebräische, 4 lateinische, ein deutscher, 2 französische, ein italienischer, 3 in anderen Sprachen), 829 Bde aus dem 18. Jh (795 hebräische, 21 deutsche, 11 lateinische, ein französischer, einer in einer anderen Sprache) und 2693 Bde aus dem 19. Jh (1148 hebräische, 1432 deutsche, 40 englische, 24 französische, 19 lateinische, 12 italienische, 18 in anderen Sprachen). Inhaltlich gliedert sich der Bestand in 2080 Hebraica und 1590 Judaica. Der Hebraica-Bestand besteht überwiegend aus zahlreichen Ausgaben des Talmud und Talmudika, ferner finden sich über 200 liturgische Werke. Der Judaica-Bestand gliedert sich in 170 Bde Literatur und Philosophie (jüdische und nichtjüdische). 171 Bde religiöse Werke (110 Bde Exegese, 91 Bde homiletische Literatur, 90 Bde Talmudische Schriften) und 270 Bde zur Geschichte und Wesen des Judentums. Es finden sich ferner 86 didaktische Schriften, 89 Festschriften und 70 Bde zum Antisemitismus. Außerdem liegen 20 Zeitschriftentitel vor. Die älteste Zeitschrift ist Der Jude (Leipzig 1769). Vorhanden ist auch die Zeitschrift Der Israelit (nicht vollständig), die 1890 von Markus Lehmann in Mainz begründet wurde und ein Organ des orthodoxen Judentums war.“

Bei der in den Jahren 2004 bis 2008 erfolgten Revision konnten zunächst nicht alle der in dieser Beschreibung erwähnten Bände wiedergefunden werden. Einige Bücher waren entliehen2, andere blieben verschwunden oder wurden in der Zwischenzeit so stark beschädigt, dass sie auseinandergefallen oder zerbrochen sind.3 1

Berndt Dugall (Hrsg.), Handbuch der historischen Buchbestände in Deutschland, Bd. 6: Hessen M–Z, Rheinland-Pfalz A–Z, Hildesheim, Zürich, New York 1993, S. 169–170 („Jüdische Bibliothek“ 2.16). 2 Im Landesmuseum Mainz waren einige Bände aus der Bibliothek ausgestellt, um die dortige Judaica-Ausstellung zu bereichern. Über diese Leihgabe fand sich kein Vermerk in den Unterlagen oder in dem zur Bibliothek gehörenden Leihbuch. Weitere Bände, zum Teil solche mehrbändiger Werke, befinden sich im Rabbinerzimmer der Jüdischen Gemeinde Mainz in der Forsterstraße. 3 Bei den Aufräumarbeiten fanden sich zahlreiche lose Blätter und beschädigte Buchblöcke

III. Be- und Zustand

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Wie in dem zitierten Artikel korrekt vermerkt, sind viele Bände restaurierungsbedürftig; für ihren Erhalt wurde gleichwohl wenig getan. Zahlreiche Bucheinbände sind durch Transporte und unsachgemäße Lagerung beschädigt worden; manches Exemplar weist Wasser- oder Brandschäden auf. Feuerschäden finden sich auffälligerweise häufiger an Titeln in deutscher oder englischer Sprache.4 Wahrscheinlich handelte es sich dabei um Bücher, die bereits in der Pogromnacht im November 1938 beschädigt worden sind.5 In den meisten hebräischen Titeln sind auf dem Einbandspiegel oder auf dem Titelblatt mit blauem oder rotem Buntstift Notizen über die Berechnung des hebräischen Jahres ihrer Drucklegung notiert. Diese Berechnungsnotizen erweisen sich häufig als wenig zuverlässig, ja sie sind sogar in den meisten Fällen irreführend, da sie das jüdische Kalenderjahr nicht korrekt angeben.6 Vermutlich wurden diese Jahresberechnungen im Zusammenhang mit einer vorläufigen Katalogisierung der Hebraica in den fünfziger Jahren vorgenommen, d. h. entweder von Eugen Ludwig Rapp oder von seinen studentischen Mitarbeitern. Ebenfalls mit farbigem Buntstift unterstrichen sind bei den meisten Hebraica Verfassername (soweit vorhanden oder richtig ermittelt), Druckort und Jahreszahl, wobei auch hier zahlreiche Fehler zu beobachten sind, etwa weil abgekürzte Namen missverstanden und akrostichische Jahreszahlen fehlgedeutet wurden.7 Neben diesen zusätzlichen Beschädigungen fällt der schlechte Erhaltungszustand der Hebraica auf. Es scheint, als seien lange nur theologisch relevante Titel restauriert worden.8 Nur einige besonders seltene Exemplare – vor allem aus dem Bestand der „Lehmann Bücherei“9 – sind bereits zu einem viel früheren Zeitpunkt von Folianten ohne Titelblatt. Ein Teil der „grauen Schriften“ konnte in Schubern gesammelt werden, bedarf aber noch einer genaueren Auswertung. 4 Vgl. z. B. Maurice Fluegel, Israel, the Biblical People, Baltimore 1899 (Signatur A 41) mit angesengten und verkohlten Ecken. Ein besonders schwerwiegender Wasserschaden ist erkennbar an einem Band des Talmud-Drucks Frankfurt an der Oder 1736, Massekhet Hullin (Signatur E 452; Zählstempel 3001); ähnliche Schäden auch an einem von mehreren erhaltenen Drucken des Sena uRena, Sulzbach 1797 (Signatur A 374; Zählstempel 5096). Zahlreiche weitere Hebraica sind durch Wasser beschädigt worden. Nach der Trocknung sind einige Ledereinbände nicht sachgemäß gelagert und daher brüchig geworden. Wie mir von Esther Epstein berichtet wurde, sind einige Bände aus der Jüdischen Bibliothek einmal in ihrem Wohnzimmer auf diese Weise getrocknet worden. Nicht mehr zu klären war, um welche Bücher es sich handelte und ob diese später wieder dem Gesamtbestand zugeführt wurden. 5 Vgl. zu den Hintergründen unten. 6 Das Druckjahr wird häufig mit einem Jahr weniger angegeben als dies nach einer üblichen Umrechnung erfolgen müsste. 7 Der Schaden, der den Büchern durch diese nicht fachgerechte Behandlung nach dem Krieg zuteil wurde, ist beträchtlich. Derart verunzierte Titelblätter mindern den Wert des Bestandes erheblich. 8 Eine stark beschädigte Amsterdamer Pesah-Haggada ist nach dem Krieg unsachgemäß „repariert“ (und zwar mit Klebeband!) worden. Seder Haggada shel Pesah, Amsterdam 1695 (Signatur L 2). Von diesem mit Stichen reich verzierten Band wurde ein Faksimile angefertigt, das sich zusammen mit dem Original in einem Schuber bei den Handschriften des Bibliotheksbestandes befindet. Vgl. dazu auch unten Kapitel VII.4.6. 9 Siehe zu diesem Bestand innerhalb der Bibliothek ausführlich unten.

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III. Be- und Zustand

in Stand gesetzt und neu gebunden worden.10 Zahlreiche andere ältere Bände werden dagegen heute nur noch behelfsmäßig von Klebefilm (oder sogar von Signaturschildern) zusammengehalten und bedürfen auch wegen des zunehmend brüchiger werdenden Papiers dringend der Säuberung und Entsäuerung. 1. Kataloge und die Rekonstruktion der Verluste Neben einem maschinenschriftlichen Verzeichnis, auf das noch gesondert einzugehen sein wird11, fand sich in einer bei den Büchern aufbewahrten Kiste ein alter, wohl in der Vorkriegszeit erstellter maschinenschriftlicher Registerkartenkatalog. Dieser Katalog verzeichnet hebräische Titel in hebräischen Lettern, die übrigen Bücher in lateinischen Buchstaben. Die erhaltenen Katalogkarten (21 x 11,3 cm) haben zum Teil Signaturen von erhaltenen Titeln aus der so genannten „LehmannBücherei“.12 Hebräische Titel sind immer mit einer „HL“-Signatur (wohl für „Hebraica Lehmann“), deutsche Titel dagegen mit „L/Nummer“ (für „Lehmann)“ signiert. Etwa die Hälfte dieser Karteikarten trägt keine Signatur, was darauf hindeutet, dass diese Titel aus anderen Beständen in die Bücherei (der Synagoge in der Hindenburgstraße) gekommen sind.13 Weitere Karteikarten haben eine einfache Zahl in einem Signaturfeld, ohne dass diese Ziffern mit außen angebrachten oder auf dem Titelblatt notierten Signaturen übereinstimmten. Diese eher zufällig aufbewahrte und erhaltene Kartei dokumentiert eine Katalogisierung, die vor der Zerstörung der Bibliothek erfolgte, möglicherweise in der Zeit, als ihre beiden großen Teilbestände – die „Lehmann-“ und die „Salfeld-Bücherei“, auf die noch ausführlich eingegangen wird – zusammengelegt wurden. Diese nicht mehr vollständige, stark verschmutzte Kartei ist der wichtigste Beleg für den ursprünglich wohl viel größeren Bestand der Jüdischen Bibliothek Mainz.14 Der Abgleich der Kartei mit den heute noch vorhandenen Büchern ermöglicht, die beträchtlichen Verluste – vor allem unter den deutschsprachigen Titeln – annä10

Vgl. auch die zum Teil mit handschriftlichen Titelblättern ergänzten Bände; so z. B. ein Sefer Tanya, Cremona 1565 (Signatur H 77; Zählstempel 2368). 11 Siehe hierzu unten (es wurde wohl von Eugen Ludwig Rapp angelegt). Dieses Verzeichnis ist – mit allen Mängeln – unter http://www.juedische-bibliothek.ev.theologie.uni-mainz.de/ veröffentlicht. Frau Ursula Schlechter sei für die Abschrift gedankt. 12 Zur Herkunft dieses Bestandes aus dem Besitz von Marcus Lehmann, einem Hauptvertreter der orthodoxen Gemeinde, vgl. unten S. 57–67. 13 So sind auf einer Karteikarte die Gesammelten Schriften von Gabriel Riesser, 4 Bände, Leipzig 1867/68, Verlag der Riesser-Stiftung dokumentiert, und zwar ohne Signatur. Erst nach langem Suchen gelang es die mittlerweise stark beschädigten, nie aufgeschnittenen Buchblöcke dieser Ausgabe wiederzufinden (ohne Signatur; Stempel der Jüdischen Gemeinde Mainz). Sie lassen sich keinem der größeren Bestände zuordnen, sind also vielleicht erst später hinzugekommen. 14 Einige der maschinenschriftlich erstellten Karteikarten enthalten bemerkenswerte Provenienzvermerke. So ist ein unter ‫ עיון תפילה‬der Israeliten, Prag: M. I. Landau, Buchdruckerei Verlag M. Schmelkes 1853 aufgenommenes Gebetbuch (ohne Signatur) durch folgenden Hinweis ergänzt: „Geschenk des Herrn Prof. Dr. Heichelheim Heidenheimer vom 5.8.1928. Ehemalige Besitzerin: seine sel. Mutter Henriette H., geb. 7.9.1829 in Rastatt, gest. 25.3.1914 in Darmstadt, wohnhaft in Mainz 1853/1864.“

1. Kataloge und die Rekonstruktion der Verluste

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hernd zu rekonstruieren. Wann die Bücher verlorengingen, ist der Kartei nicht zu entnehmen. Doch dürfte ein gewisser Teil der heute fehlenden Bücher bereits in der Pogromnacht im November 1938 oder kurz danach abhanden gekommen sein. Weitere Bücher wurden vielleicht erst viel später „verstreut“. Auffällig ist, dass vor allem unter den deutschsprachigen Titeln fast die Hälfte fehlt, was m. E. den möglichen Kreis derjenigen eingrenzt, die diesen Schwund zu verantworten hatten. Die viel wertvolleren, aber nur von Fachkundigen zu benutzenden Hebraica stießen bezeichnenderweise auf geringeres Interesse. Doch auch unter diesen sind beachtliche Verluste zu beklagen. Weitere Verluste entstanden durch irreguläre Entnahmen in der Nachkriegszeit.15 Eine (vorläufige) Liste dieser Bestandseinbußen war bei meiner Übernahmen der Bibliothek bereits dem oben erwähnten maschinenschriftlichen Handverzeichnis beigefügt.16 Weitere Einbußen machte der Bestand durch den altersbedingten Zerfall. Insbesondere billigere Papiersorten weisen nach über sechzig Jahren kaum noch die Stabilität auf, die eine schadfreie Benutzung und Aufbewahrung ermöglicht. Viele dieser Druckwerke sind daher stark beschädigt oder unbrauchbar. Bei vielen Hebraica sind auffälligerweise die Titelblätter herausgerissen oder -geschnitten. Diese Beschädigung scheint bereits während des Krieges oder früher erfolgt zu sein. Vielleicht sind gelegentlich besonders schöne Titelblätter entwendet worden, um die Bücher so vor Fremdzugriff zu schützen oder um sie gesondert aufzubewahren. Vergleichbare Fälle sind aus anderen Bibliotheken bekannt. Da der Wert einen Buches ohne Titelblatt enorm sinkt, war dies eine einfache, aber wirkungsvolle Möglichkeit, einen Bestand zu schützen. Als ein viel grundlegenderes Problem des Zustandes der Bücher erweist sich, dass zahlreiche Bände von Schimmel, Mikroorganismen, Holzwurm (Anobium punctatum), Silberfischchen und Hausbock befallen sind.17 Die meisten Bücher sind zudem von einer Staubschicht (Kohlenstaub?) verdreckt, was auf die unsachgemäße Unterbringung während des Krieges zurückzuführen sein dürfte.18 Die zum Bestand gehörenden Handschriften befanden sich außerdem lange Zeit ungeschützt in einer Kiste bzw. auf einem Bibliothekswagen; erst vor einigen Jahren wurden sie in säurefreien Pappschubern untergebracht, sind allerdings nach wie zum Teil bechädigt und restaurierungsbedürftig. Neu aufgefundene Handschriften und ein Notizbuch eines Mainzer Rabbiners sind überhaupt erst in jüngster Zeit zwischen Büchern aufgefunden worden; auf sie wird noch gesondert einzugehen sein.19

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Vgl. dazu auch unten Kapitel V.1. In der online-Fassung dieses Verzeichnisses sind Verluste markiert. 17 Der Schimmelbefall betrifft nur einige Bände, die im Laufe der Lagerung feucht geworden sind und zum Teil Wellungen aufweisen. Eine Begasung oder Bestrahlung des Bestandes erwies sich nach ausführlichen Beratungen als nicht sinnvoll. Bei keiner der in Frage kommenden Lösungen wäre das Kosten-Nutzen-Verhältnis ausgewogen geblieben. Möglicherweise wären einige besonders betroffene Bände noch stärker beschädigt worden. 18 Vgl. hierzu unten Kapitel V.1. Die Bücher wurden in Kohlensäcken transportiert und zwischengelagert. 19 Vgl. dazu unten, Kapitel V.2 „Neue Funde“. 16

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III. Be- und Zustand

Ein weiteres Problem stellen schließlich die Signaturen und ihre Anbringung auf den Buchrücken dar. Zahlreiche deutschsprachige Titel wurden etwa erst vor Kurzem mit neuen Signaturschildern versehen, da die alten Signaturschilder aus der Zeit der Zusammenlegung der Bestände (in der Hindenburgstraße) zum Teil stark verblasst waren. Durch diese gutgemeinte Neusignierung wurden allerdings stark beschädigte oder durchsäuerte Buchrücken mit selbstklebendem Klebeband weiter „bearbeitet“ und so zusätzliche irreparable Schäden verursacht. Ältere Signaturschilder, die noch aus dem Gemeindebestand der Israelitischen Religionsgesellschaft stammen, wurden unbedacht überklebt oder abgerissen. Wichtige Hinweise auf die Bestandsgeschichte gingen so endgültig verloren. 2. Herkunft und Provenienzen 2.1 Stempel und Signaturen Die chronologische Reihenfolge, in der die Signaturen und Stempel in den meisten Büchern angebracht wurden, lässt sich relativ eindeutig rekonstruieren. An ihr lässt sich bereits Vieles über den Werdegang der Bibliothek ablesen. Insgesamt sind fünf „Hauptstempelarten“ zu unterscheiden, die sich mit unterschiedlichen Provenienzen verbinden lassen: (1.) Sämtliche Bücher tragen – bis auf wenige Ausnahmen – den nach dem Krieg, vermutlich noch in den Fünfziger Jahren angebrachten blauen Stempel „Mainz · Jüdische Gemeinde Körperschaft öffentl. Recht“.20 Dieser Stempel ist von einem älteren, runden Stempel mit der Aufschrift „Jüdische Gemeinde Mainz“ zu unterscheiden, der sich vor allem in einigen Gebetbüchern (Siddurim und Mahzorim) und häufig auch in deutschen Titeln findet. Er dürfte noch aus der Gemeinde der Hauptsynagoge in der Hindenburgstraße stammen, da er sich nie zusammen mit Stempeln oder Besitzervermerken orthodoxer Gemeindevertreter findet. Zu diesem Stempel passt außerdem ein nur gelegentlich nachgewiesener Stempel „Büro: Hindenburgstr. 50. Eingang Gabelsbergstr. Mainz“.21 Ebenfalls aus der Vorkriegszeit stammt noch ein weiterer runder Gemeindestempel – vor allem in einigen Siddurim – mit der Aufschrift: „Der Vorstand der israelitischen Gemeinde in Mainz“. Er ist selten belegt. (2.) Daneben findet sich im Großteil der Hebraica ein blauer runder Stempel mit der Aufschrift: „Lehmann Bücherei der Israelitischen Religionsgemeinde Mainz“. Dieser kennzeichnet Bücher aus dem Nachlass von Rabbiner Markus 20

Ein weiterer Stempel der Jüdischen Gemeinde Mainz fand sich 2004 in einer Kiste bei den Büchern in der Universität. Dieser Stempel ist nicht identisch mit dem Stempel, der sich in fast allen Bänden und Broschüren des Bestandes findet. 21 Vgl. etwa Signatur M 119, ein zweisprachiger Mahzor mi-kol ha-shana: Machsor. Die sämtlichen Festgebete der Israeliten für die Neujahrstage und das Versöhnungsfest, übersetzt und mit Anmerkungen begleitet von Meir Letteris, Ausgabe in zwei Bänden, Erster Band, Prag 1864. Siehe auch: Ha-limmud be-lel shavu‛ot we-hoshana rabba. Tikkun für die Schabuoth- und Hoschanahrabba-Nacht, o. O., o. J. (Signatur M 237).

2. Herkunft und Provenienzen

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Lehmann (1831–1890), dem Prediger, Lehrer und Hauptrepräsentanten der orthodoxen Gemeinde von Mainz.22 Seine Gemeinde hatte sich 1853 von der Hauptgemeinde getrennt, bildete mit ihr allerdings trotz eigener Schule und strengerem Ritus eine gemeinsame Körperschaft. Vermutlich wurde dieser Stempel erst im Laufe der Einsortierung des Bestandes der orthodoxen Gemeinde in die Bücherei der Hauptgemeinde angebracht.23 Gleichzeitig wurden die Lehmann-Bände umsigniert.24 Bücher dieses Bestandes bilden den Großteil der noch erhaltenen, wertvollen Hebraica. Einige zusätzliche Bände aus der orthodoxen Gemeinde Mainz sind mit einem ovalen Stempel „Israelitische Religionsgesellschaft zu Mainz“ gekennzeichnet. Möglicherweise stammen diese Stempel aus einer früheren Phase der Bestandsgeschichte in der Synagoge Flachsmarktstraße/Ecke Margarethengasse. Dort befand sich wohl noch bis 1938 ein kleinerer Buchbestand, darunter die Schülerbücherei. Die mit neuen Signaturen versehenen Bände aus der orthodoxen Gemeinde und der gesamte in lateinischen Lettern gedruckte Bestand sind zu einem nicht mehr rekonstruierbaren Zeitpunkt mit neuen, einer Briefmarke ähnelnden Signaturschildern am unteren Rand der Buchrücken beklebt worden.25 Die Signaturen auf diesen Schildern sind, da sie mit Tinte aufgebracht wurden, stark verblasst – manchmal gänzlich unleserlich. Unter einigen umsignierten Bänden lassen sich noch ältere weiße Signaturschilder erkennen. Sie finden sich meist an Bänden aus der „Lehmann Bücherei“. Doch gibt es auch Ausnahmen, zumal bei titelblattlosen Bänden und bei Exemplaren, die erst nachträglich in den Gesamtbestand aufgenommen wurden.26

22

Siehe zu ihm unten. Siehe dazu auch unten Kapitel IV.1.4. 24 Die meisten Titel dieses Bestandes erhielten eine Signatur bestehend aus dem Buchstaben „M“, einem hebräischem Buchstaben, der meist dem ersten hebräischen Buchstaben des Werktitels entspricht, und einer Ziffer. Dass sämtliche so gekennzeichneten Bücher aus dem Erbe der Familie Lehmanns stammen, belegen zusätzlich gelegentlich zu lesende handschriftliche Kaufvermerke von Rabbiner Marcus und Oscar Lehmann, seinem Sohn. So z. B. das Vorsatzblatt in Signatur 181 (alte Signatur L 1), ein Exemplar von: Gotthold Salomon, Mose der Mann Gottes. Ein heiliges Lebensgemählde in einundzwanzig Kanzelvorträgen, gehalten im neuen Israelitischen Tempel zu Hamburg, Hamburg 1835. Handschriftliche Kaufvermerke von Oscar Lehmann („gekauft von D. Kauffmann, Frankfurt i. J. 1917“) finden sich z. B. in einem Exemplar des Sepher Hajaschar, enthält die Geschichte vom Anfang der Schöpfung der Welt, bis nach den Zeiten der Richter, mit hinzugegebenen Erzählungen, die in der Bibel sich nicht befinden, Prag 1840 (Signatur G 65; Zählstempel 2086) oder auch in einem Band von David Friedländer, Toldot anshe mofet. Oisfirlikhe lebensbeshreybungen der herforagensten und ferdinstfolsten menner des judentums … , Budapest o. J. (ca. 1880) (Signatur M ‫ ת‬22; alte Signatur HL/494; weitere Signatur „Hebräische Literatur 6“; Zählstempel 2200). 25 Wobei einige dieser Signaturschilder aus Unachtsamkeit am Kopfende des Buches angebracht wurden. 26 Vielleicht befanden sich diese Bestände zunächst nicht in der in der Hindenburgstraße zusammengeführten Bibliothek, sondern in Privatbesitz. Ein Band mit einem alten Signaturschild trägt z. B. den Stempel „Dr. Salfeld Mainz“, Signatur H 303 mit weißem Signaturschild auf dem restaurierten Deckel. Es handelt sich um einen Druck des Midrasch Tanhuma, Venedig 1545. 23

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III. Be- und Zustand

(3.) Ein dem „Lehmann Bücherei“-Stempel formal ähnlicher Stempel mit der Aufschrift „Salfeld-Bücherei Israelitische Religionsgemeinde Mainz“ findet sich in einem weiteren zweiten größeren Bestand. Dieser „Salfeld-Bücherei“-Stempel ist weitaus häufiger in deutschen Titeln belegt als in hebräischen Büchern. Offenbar wurde er gleichzeitig mit dem Stempel „Lehmann-Bücherei“ in die Bücher eingetragen und dürfte ebenso aus der Zeit, als die Bestände der orthodoxen Gemeinde mit dem in der Hauptgemeinde zusammengelegt wurden, auf Titelseiten und Vorsatzblätter gedruckt worden sein.27 Die dort bereits befindliche Bücherei war zum Teil aus dem Nachlass des Großherzoglichen Rabbiners Sigmund Salfeld (1843– 1926), des langjährigen Rabbiners der Hauptsynagoge, aufgebaut worden.28 (4.) Zu einem nicht genau bestimmbaren Zeitpunkt ist der Gesamtbestand der Bibliothek mit Hilfe eines Zählstempels erfasst worden. Schwarze Ziffern finden sich in nahezu allen Büchern der Bibliothek. In einigen Fällen sind diese Stempel auf den Titelblättern durchgestrichen, was darauf zurückzuführen sein könnte, dass diese Aktion bereits vor der Neuvergabe der Signaturen erfolgte.29 Doch können diese Streichungen auch von späteren Katalogisierern und Benutzern vorgenommen worden sein, die damit verhindern wollten, dass die Signaturen mit den Zahlen verwechselt werden.30 Wahrscheinlicher ist daher, dass diese Zählung der Bücher mit einer ersten Bestandaufnahme des „geretteten Bestandes“ verbunden war. (5.) Zahlreiche Bücher tragen einen ovalen Stempel mit der hebräischen Aufschrift „Hevra qinyan sefarim“, d. h. „Gesellschaft (für den) Erwerb von Büchern“. Diese Vereinigung lässt sich vor allem noch anhand der Stempel in den Büchern der Jüdischen Bibliothek nachweisen. Sie war sicher nicht mit mit dem 1926 von Rabbiner Salfeld gegründeten „Verein für Jüdische Geschichte und Litteratur in Mainz“ identisch, sondern eine Einrichtung der orthodoxen Gemeinde.31 Der Stempel der Hevra findet sich nur in Publikationen, die nach 1915 erschienen sind. Ein Stempel „Der Verein für jüdische Geschichte und Litteratur Mainz

27

Etwas verwirrend ist dabei, dass auch Bücher aus der „Salfeld Bücherei“ Signaturen nach dem System der „Lehmann Bücherei“ aufweisen. So etwa die Separatdrucke von M. Lehmann, Die Orgel in der Synagoge. Eine Zeitfrage, Mainz o. J. mit der Altsignatur L/265 und Stempel „Lehmann Bücherei“ und Ders., Die Abschaffung des Kol Nidre. Eine Zeitfrage, Mainz o. J. mit der Altsignatur L/262 (auch F 37 u. ö.) mit einem Stempel der „Salfeld Bücherei“. Vermutlich sind diese Stempel angebracht worden, ohne die unterschiedliche Herkunft der Exemplare zu beachten. 28 Zu Salfeld, seiner Vita und seiner Bibliothek vgl. ausführlich Kapitel IV.1.6. 29 Ein Beispiel bietet das Buch: Perush ha-Rambam, Jerusalem 1887 mit der neuen Signatur M ‫ פ‬22. 30 Offensichtlich handelte es sich bei diesen Bearbeitern der Bücher um wenig geschultes Personal. Siehe etwa S. B. Bamberger / A. Adler / M. Lehmann, Übersetzung des ersten Buches Moses von der orthodox-israelitischen Bibelanstalt, neu ediert und verbessert, Frankfurt am Main 5668 (Signatur B 23; durchgestrichener Zählstempel 4723). Auf dem Signaturschild sind der Buchstabe und die Ziffer nachgezogen. Der Titel wurde offensichtlich des Öfteren gesucht und daher deutlicher gekennzeichnet. 31 Zu dem Mitgliederverzeichnis (nach CAHJP D Ma 8/8) vgl. unten Anhang 5. Einige in diesem Verzeichnis genannte Personen lassen sich eindeutig der IRG zuordnen. So z. B. auch mehrere Angehörige der Familie Stub; vgl. hierzu Avraham Shlomo Stub, Zikhronot. Mi-Bobow derekh Magensa le-Yerushalayim, Jerusalem 1986, S. 13–14.

2. Herkunft und Provenienzen

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Stempel von Mainzer Rabbinern

Abb. 1: „Lehmann-Bücherei“

Abb. 2: „Salfeld-Bücherei“

Abb. 3: Dr. Salfeld, Mainz

Abb. 4: Dr. S. Salfeld Großherzogl. Rabbiner Mainz

Abb. 5: Oscar Lehmann

Abb. 6: Rabbiner Stud.Rat Dr. Lorge, Mainz

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III. Be- und Zustand

Stempel jüdischer Institutionen und Einrichtungen aus Mainz

Abb. 7.: Der Vorstand der israelitischen Rel. Gemeinde

Abb 8: Israelitische Religionsgesellschaft

Abb. 9: Jüdische Gemeinde Mainz

Abb. 10: Synagogenbüro Hindenburgstr. 44

2. Herkunft und Provenienzen

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Abb. 11: Unterrichtsanstalt der IRG

Abb. 12: Unterrichtsanstalt der IRG

Abb. 13: Hevra qinyan sefarim Mainz

Abb. 14: Bezirksschule der israel. Religionsgemeinde

Abb. 15: Isr. Humanitätsverein (Signatur M ‫ ע‬42)

Abb. 16: Israel. Religionsgemeinde zu Mainz II.

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III. Be- und Zustand

seinen Mitgliedern 1915“32 lässt sich dagegen auch in Exemplaren, die älter sind, nachweisen. Ziel dieses liberalen Vereins war es, allgemein das literarische Erbe des Judentums zu pflegen, wofür auch bibliophile Titel gesammelt wurden.33 Unter den mit „Hevra qinyan sefarim“ markierten Bänden stößt man dagegen fast ausschließlich auf relativ junge Hebraica, und zwar meist auf solche, die religiösen Inhalts sind und in Osteuropa in großen Auflagen gedruckt wurden.34 Die Hevra war demzufolge ein zur orthodoxen Israelitischen Religionsgesellschaft gehörender Verein, der sich um die Anschaffung neuerer orthodoxer religiöser Literatur bemühte. Dies wird zusätzlich durch ein in den Jerusalemer Central Archives for the History of the Jewish People erhaltenes Register der eingegangenen Spenden belegt, auf dem sich derselbe Stempelabdruck findet wie in den Mainzer Büchern.35 Im Kasso-Buch der orthodoxen Gemeinde sind zahlreiche hebräische Titel notiert, die sich aufgrund des Stempels der Hevra als dieser Provenienz zugehörig erweisen lassen. Eines der letzten mit einem Besitzervermerk dieses Vereins versehenen Bücher ist meines Wissens das von Hayyim Besalel, einem Bruder des berühmten Rabbiners Maharal von Prag, verfasste Sefer ha-hayyim, gedruckt im Jahre 1932 in Budapest36, also kurz vor der Schließung der Mainzer Israelitischen Religionsgesellschaft. Nur in einem mit diesem Hevra-Stempel gekennzeichneten Buch findet sich ein handschriftlicher Vermerk des „Isr. Humanitätsverein(s) Mainz“.37 Dieses Buch gehörte also nach dem Erwerb durch den Verein der kleinen Gemeinde von Ostjuden in Mainz, die sich erst 1908 zusammengeschlossen hatte. Ihre Betstube, von der ansonsten keine Überreste erhalten geblieben sind, befand sich in der Margarethengasse 13. Aus dem Bestand dieses kleinen Vereins fanden sich bislang nur wenige weitere Bände.38 2.2 Weitere Stempel Einige Bücher lassen sich aufgrund eines Stempels und gelegentlich auch aufgrund handschriftlicher Vermerke als aus der „Adass Yeshurun Magenza“, der Israelitischen Religionsgesellschaft, stammend identifizieren. Es handelt sich bei die32

So z. B. in dem Exemplar mit der Signatur G 469 eines Sonderdrucks von Siegmund Salfeld, Die Mainzer Judenerben. Beitrag zur Topographie des alten Mainz, Mainz 1918. 33 Vgl. dazu und zu Salfelds Verbindung zur „Wissenschaft des Judentums“ Kapitel IV.1.6. 34 Z. B.: Sefer Haredim, Lublin 1922 (Signatur M ‫ ח‬178); Tohorat Yisra’el, o. O., 1924 (Signatur M ‫ ט‬4); Ye’arot devash, Warschau 1922 (Signatur M ‫ י‬62); Divre Dawid, Svaliwe 1912 (Signatur M ‫ ד‬20); Shivhe knesset Yisra’el, Warschau 1888 (Sigantur M ‫ ש‬12); Shalshelet ha-qabbala, Warschau 1928 (Signatur M ‫ ש‬92); Ha-‛Arukh, Lublin 1922 (M ‫ ה‬136); andererseits auch Sefer Miswot haShem, Frankfurt am Main 1857 (Signatur M ‫ מ‬266). 35 Vgl. CAHJP D Ma 8/8. Auf dem Titelblatt dieses mit „Kb“ für Kassobuch markierten Buches steht „Mit Gott Februar 1928“. Siehe zu diesem Dokument unten Anhang 6. 36 Signatur M ‫ ה‬60; Zählstempel 2450. 37 Bei dem Trägerband handelt es sich um ein Exemplar der 1885 in Warschau gedruckten Talmud-Legendensammlung ‛Eyn Ya‛aqov (Signatur M ‫ ע‬42), also wiederum um einen Band jüngeren Datums. 38 So etwa noch in einem Shulḥan Arukh, Hannover 1896 (Signatur Ff 14). Zu den wenigen Nachrichten über diesen Verein vgl. etwa Schütz, Magenza, S. 698.

2. Herkunft und Provenienzen

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sen Exemplaren um Bücher aus der orthodoxen Gemeinde Mainz, vermutlich um Bestände aus der bzw. einer Mainzer Talmudschule (Yeshiva).39 Ein beschädigtes Buch trägt einen runden Stempel der „Unterrichtsanstalt der isrl. Religionsgesellschaft“ Mainz, einer Institution der gleichen „orthodoxen“ bzw. tora-treuen Separatgemeinde.40 Vereinzelt sind Bücher mit einem Stempel der orthodoxen Klausenburger Hevrat Mezonot de-Bahurim („Gesellschaft zur Unterstützung der Studierenden“) versehen. Diese Titel wurden wohl aus der ungarischen Stadt Klausenburg, heute Cluy, von „Yeshive“-Studenten nach Mainz mitgebracht oder sind von dort als Unterstützung der orthodoxen Gemeinde zugeschickt worden. Zu einem ähnlichen „Streubestand“ gehört ein Mahzor mit dem Stempel des Vorstandes der „Israelitischen Religionsgemeinde zu Alsheim“.41 Und einmal findet sich auch der Stempel der „Hevra Talmud Tora Frankfurt de-Main.“42 Einige wenige hebräische Titel sind gestempelt mit „Chief Rabbis Emergency, London England“. Möglicherweise gehen diese Bände auf die Kontakte Markus Lehmanns zu Chief Rabbi Hermann Adler (1839–1911) in London zurück.43 Lehmann hatte zusammen mit Adler in Prag studiert; die aus dieser Zeit rührende Bekanntschaft wurde anscheindend auch danach gepflegt.44 Andere Bände scheinen noch in den dreißiger Jahren, d. h. kurz vor der Shoa, durch den 1936 gegründeten „World Jewish Congress“ an die Mainzer Gemeinde gespendet worden zu sein.45 Diese Spenden standen vermutlich im Zusammenhang mit anderen Hilfsmaßnahmen für jüdische Gemeinden in Deutschland in Zeiten größer werdender antisemitischer Verfolgungen. Einige Exemplare tragen auch einen ovalen Stempel der „Simon Rohenheimerschen Stiftung“, die die Mainzer Gemeinde ebenfalls materiell und finanziell unterstützte.46 Nur einmal fand sich der 39

Die Geschichte der Talmud-Akademien (Yeshivot) in Mainz in der Neuzeit ist allerdings noch unaufgearbeitet, so dass diese Vermutung mehr auf dem Inhalt der Bücher und Benutzerspuren fusst. Einige Hinweise zu diesem unaufgearbeiteten Kapitel der Mainzer jüdischen Geschichte finden sich bei Carsten Wilke, „Den Talmud und den Kant“. Rabbinerausbildung an der Schwelle zur Moderne, Netiva 4, Hildesheim, Zürich, New York 2003, S. 112f. 40 Es handelt sich um einen Band einer mehrbändigen Rabbinerbibel. Er trägt keine Signatur; Zählstempel 5092. Siehe hierzu unten. 41 In einem Mahzor des weitverbreiteten und oft aufgelegten Druckes Rödelheim (Signatur H 332). 42 In einem Talmud-Folianten, Massekhet Shevu‘ot, Druck Wilna 1861 (Signatur E 314). 43 Vgl. zu ihm Cecil Roth, Art. Adler, Hermann (Naphtali), in: EJ 2 (1972), Sp. 278f. Er hatte seine Semiha wie Markus Lehmann von Shlomo Y. Rapaport in Prag erhalten. Möglicherweise sind die in einigen Büchern gefundenen Stempel der „Chief Rabbis Emergency, London England“ durch ihn oder durch die von ihm geförderten Kontakte zu erklären. Vgl. hierzu auch die Approbation Adlers für ein von Oscar Lehmann verlegtes Buch mit hespedim des Krefelder Rabbiners Löb Carlsburg unten Kapitel VII.4.2. 44 Vgl. dazu Kapitel IV.1.4. 45 Vgl. den Siddur Sefat Emet kolel tefillot Yisra’el le-khol ha-shana munah u-mesudar ‛al yede A. Hyman, Daily Prayer with English Directions, revised and arranged by A. Hyman, New York o. J. (Signatur M 103). Der Band trägt einen Stempel „In Memory of Celia Grosberg Cong. Adath Jeshurun“. Außerdem trägt der Band einen Vorkriegsstempel „Jüdische Gemeinde Mainz.“ 46 Ein ovaler grüner Stempel mit der alten Signatur HL/2034 und mit handschriftlichem Besitz-

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III. Be- und Zustand

Stempel von Gemeindemitgliedern

Abb. 17: Jacob Samuel Stern

Abb. 18: Leo Haas

Abb. 19: Dr. Anschel

Abb. 20: Bertram Bondi Mainz

Abb. 21: Herm. Fröhlich Mainz

Abb. 21: Bloch-Koenigsberger

2. Herkunft und Provenienzen

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sicher erst aus der Nachkriegszeit stammende Stempel der britischen „Jewish Relief Unit B. A. O. R. 4“, einer Organisation, die sich um Shoa-Überlebende bemühte und bis heute aktiv ist.47 Neben diesen Stempeln von Institutionen finden sich zahlreiche gedruckte Besitzervermerke und Stempel von einzelnen Funktionsträgern und Mitgliedern der Gemeinde. Am häufigsten begegnet der Stempel von „Dr. Salfeld“, auf dessen mittels Stempeln rekonstruierbarer Bibliothek wie auf sein Wirken noch gesondert einzugehen sein wird.48 Häufig vertreten sind auch die variierenden Stempel von Rabbiner Oscar Lehmann. Bilder Nur einige Male finden sich dagegen Stempel von Studienrat und Rabbiner Dr. Moritz Lorge, einem wichtigen Repräsentanten der liberalen Gemeinde und Lehrer an der Jüdischen Bezirksschule.49 Eine Anzahl von Siddurim und Mahzorim ist mit einem Stempel „H. Baer, Kultusbeamter, Mainz“ gekennzeichnet.50 Auch ein schwarzer Monogramm-Stempel „MO“ für Moritz Oppenheim, Mainz, ist einige Male zu identifizieren.51 Zumindest einmal belegt ist der Stempel „Bamberger’s Haus Maxstrasse 5 Bad Kissingen“, der auf Rabbiner Moses Bamberger, den letzten orthodoxen Rabbiner von Mainz, zurückzuführen sein dürfte.52 vermerk von „Oscar Lehmann Mainz“. Das Exemplar eines jiddischen Büchleins ist ohne Titelblatt erhalten. 47 In einem Mahzor, Druck Rödelheim (Signatur H 340). Weitere Belege für die Tätigkeit dieser Organisation finden sich in Siddurim, die heute in der Jüdischen Gemeinde in der Forsterstraße untergebracht sind. 48 Siehe zu ihm unten. – Auffällig ist, dass einige Male der Stempel „Dr. Salfeld“ ausgestrichen ist und ein Stempel „Lehmann-Bücherei“ angebracht wurde. Vgl. etwa Signatur M 181, das bereits erwähnte Exemplar von Gotthold Salomon, Mose der Mann Gottes. In anderen Büchern ist der Zählstempel durchgestrichen, bevor mit Tinte der Zählstempel ausgestrichen wurde. Siehe etwa S. B. Bamberger / A. Adler / M. Lehmann, Übersetzung des ersten Buches Moses von der orthodox-israelitischen Bibelanstalt, neu ediert und verbessert, Frankfurt am Main 5668 (Signatur B 23; durchgestrichener Zählstempel 4723). 49 Lorge gehörte z. B. zu den Unterzeichnern der berühmten Richtlinien zu einem Programm für das liberale Judentum aus dem Jahre 1912. Vgl. Richtlinien zu einem Programm für das liberale Judentum nebst den Referaten und Ansprachen auf den Rabbinerversammlungen zu Berlin und Frankfurt am Main und auf der Delegiertenversammlung der Vereinigung für das liberale Judentum zu Posen, Frankfurt a. M. 1912, S. 56–68. Für einen aus dem Nachlass von Lorge stammenden Band vgl. etwa die Wilnaer Talmud-Ausgabe von 1902, Traktat Shabbat, (Signatur E 312, Zählstempel 5355): „M. Lorge, Berlin S. S. 1904“. – Siehe zu ihm auch unten Kapitel VII.1. 50 So z. B.: Festtägliches Gebetbuch geordnet und übersetzt von Wolf Heidenheim, Rödelheim o. J. (Signatur M 97). 51 Vgl. etwa Mahzor im kawwanat ha-Payyetan heleq rishon ke-minhag Ashkenazim we-she’ar qehillot qedushot im leshon Ashkenaz we-hadrat qodesh, u-vo nikhlalim tefilla yamim nora’im wehem yeme Rosh ha-shana we-Yom Kippur, Offenbach 1717 (Signatur H 48; Zählstempel 4898). Dieser Band enthält auf dem Vorsatz einen handschriftlichen Besitzervermerk von Moritz Oppenheim. Zur Oppenheim(er)-Familie vgl. unten Kapitel IV.1.1. 52 In einem Mahzor für Rosh ha-Shana, Stuttgart 1841 (Signatur H 270). Nach Auskunft von Dr. Josef Bamberger, Frankfurt am Main, kam Moses Bamberger, Sohn von Moshe Loeb Bamberger, aus Bad Kissingen nach Mainz. Siehe zu ihm auch The Bamberger Family. The Descendants of Rabbi Seligmann Bär Bamberger The „Würzburger Rav“ (1807–1878), Second Edition, Jerusalem 1979, S. 57.

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III. Be- und Zustand

Vereinzelt finden sich zudem Ex-libri oder Stempel von folgenden Personen: Dr. (Karl Friedrich) Anschel aus Mainz53, Bertram Bondi aus Mainz54, A. Buttermilch55, Joseph Feith aus Borken in Westfalen56, M. Frenkel aus Offenbach57, Herm(ann) Fröhlich aus Mainz58, Jak. Guthmann aus Gimbsheim59, Leo Haas aus Mainz60, Julius Hirsch aus Frankfurt am Main61, Alfred Koch62, Samuel Lorch63, Leo Simon64, R. Stern aus Fulda, Kronenberger aus Mainz65, M. Lindemeyer (aus Petershagen)66, M. Eichberg, Lehrer aus Niedenau67, und J. Friedland, „Schächter und Religionslehrer“.68

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Thomas Sydenham, Opera medica. Tomus primus et secundus, Genf 1757 (Signatur V 113). Zu ihm vgl. nun Franz Dumont, Hier ist Anschel. Das Leben eines jüdischen Arztes im französischen Mainz, in: Mainzer Zeitschrift 102 (2007), S. 141–156. 54 Signatur E 322, Talmud Bavli, Druck Sulzbach 1766. Er war das zwölfte Kind des Mainzer Rabbiners Samuel Bondi. Zur Familie Bondi und weiteren Büchern aus ihrem Besitz vgl. S. 79f. 55 Mahzor heleq rishon, Amsterdam 1806 (Signatur H 36; alte Signatur HL/104) mit dem alten Stempel „Jüdische Gemeinde Mainz“. 56 Stempel in einem Band einer mehrbändigen Miqra’ot Gedolot-Ausgabe, Hamburg 1787 (Vinograd, Thesaurus, Bd. 2, S. 105) (Signatur A 74, Zählstempel 2470). 57 Zählstempel 4853, ohne weitere Signatur. 58 In einem Mahzor im kawwanat ha-Payyetan, Bd. 4, Amsterdam 1767 (Signatur H 20). Vgl. zu einem Hermann Fröhlich (1844–1908) den Friedhof Untere Zahlbacherstraße, dann auch StA Mainz, NL Oppenheim 49,6: 1936 ausgewandert in die USA. 59 In mehreren Mahzorim Sefer Qerovot hu Mahzor, Rödelheim o. J. (Sigantur H 336). 60 Die aus seinem Nachlass stammenden Bücher tragen einen ovalen Stempel mit der Aufschrift: „Dampf-Senf-Fabrik. Specerei-, Mehl- u. Dürrgemüs-Handlung von Leo Haas Mainz G. Wetzelgasse 6“. Bücher aus dem Nachlass von Leo Haas sind häufig nur handschriftlich in Deutsch gekennzeichnet; dennoch war er Angehöriger der orthodoxen Gemeinde und besaß in halakhischen Dingen das Vertrauen von Markus Lehmann. Vgl. etwa seine Werbeanzeige in Der Israelit 11 (1881), S. 265. Sein Grab, gemeinsam mit dem seiner Frau Lina, geborene Mayer, findet sich auf dem Friedhof Untere Zahlbacherstraße; Lebensdaten: 1855–1931. 61 Der Stempel ist auf den 10. Jul. 1890 datiert. Der Trägerband mit der Signatur E 110 ist der Traktat Bava Qamma des Frankfurter Talmud-Drucks von 1720. Außerdem auf dem Titelblatt erhalten sind ein Monogrammstempel und ein Monogramm „SRH“. 62 In einem Mahzor für das Pesah-Fest, Rödelheim 1742 (Signatur H 276a). Vermutlich Alfred Alexander Koch, 1938 in die USA ausgewandert. Vgl. StA Mainz, NL Oppenheim 49,6 (Auswanderungsliste Mainz, lfd. Nr. 514). 63 Vgl. StA Mainz Bestand 50, Familienregister der Stadt Mainz, J. B. 398, Beruf: Viehhändler. 64 Vgl. StA Mainz Bestand 50, Familienregister der Stadt Mainz, J. B. 341. 65 In: Tefilla le-‛edat Yeshurun le-fi bet ha-knesset de-qehilla qedusha Mainz. Deutsche Gesänge beim öffentlichen Gottesdienste in der Synagoge zu Mainz (nebst vorangedruckter Synagogen-Ordnung), Bd. 1, Frankfurt am Main o. J., (Signatur M 237; alte Signatur HL/363; Zählstempel 4623). Dieses Buch gehörte Ludwig Kronenberg (oder seiner Familie), dem auch eine der in der Bibliothek erhaltenen Handschriften zuzurechnen ist. Vgl. zu ihm Sali Levi, Trauerrede an der Bahre des Herrn Kommerzienrat Ludwig Kronenberg, am 11. Febr. 1931 (mit Bildnis). 66 Dieser Stempel findet sich in einer hebräischen Übersetzung des griechischen Buches Jesus Sirach von Yehuda Leib ben Ze’ev, Wien 1814 (Signatur M ‫ ח‬128). Das Titelblatt trägt außerdem den Stempel von Dr. Moritz Lorge. 67 Vgl. Signatur M ‫ ל‬56, eine Edition des Leqet Zvi von Zvi Hirsch ben Hayyim aus Fürth, Rödelheim 1856. 68 Vgl. Signatur M ‫ ח‬120, Avraham ben Yehi’el Mikhal Danzig, Hayye Adam, Wilna 1869.

2. Herkunft und Provenienzen

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Von besonderem Interesse sind die Stempel in Büchern von Jacob Stern aus Niederstetten, einem bekannten orthodoxen Rabbiner, der sich im Laufe seines Lebens zu einem atheistischen Sozialisten entwickelte.69 Zu beachten ist auch ein Stempel von „Dr. (Zvi Hirsch) Plato. Isr. Lehrerseminar“ (1822–1910) in einem von diesem bekannten orthodoxen Rabbiner aus Köln verfassten Buch, das er anscheinend der Gemeinde oder einem ihrer Vertreter zum Geschenk machte.70 In einem stark beschädigten Wiener Talmud-Druck findet sich noch ein hebräischer und deutscher Stempel „Koenigsberger N.S. Bloch“.71 Ein Mahzor trägt den Stempel von Bezirksrabbiner (J.) Eschelbacher (1848–1916)72 Hinweise auf die Provenienz einzelner Bände geben ganz selten auch eingeklebte ausführlichere Exlibris-Zettel. Ein besonders schönes Beispiel mit einem alten Foto des Raschi-Hauses in Worms weist den Druck einer alten ashkenazischen Selihot-Sammlung als von der Jüdischen Gemeinde in Worms „gewidmet“ aus.73 Ein schönes hebräisches Exlibris von Yeshua‛ Goldberger ‫ ל"צז‬ist nur noch in einem losen Papierband erhalten; vom Buchblock des 1711 gedruckten Werkes – so mit Bleistift auf dem noch erhaltenen Vorsatz vermerkt – ist leider nichts mehr erhalten. Zahlreiche weitere mongramierte Titel lassen sich nicht mehr genau zuordnen.74 Einige größere Foliobände tragen außen auf dem Bucheinband den mit Gold eingelassenen Namen von Rabbiner Yosef Yuspa ben kevod ha-Rav Yishaq Reintal, „er möge lange gute Tage erleben“ (‫)שלי"ט‬.75 Auf zusätzliche Provenienzspuren dieser Art wird wie auf die handschriftlichen Vorbesitzervermerke und Widmungen im Weiteren noch ausführlicher einzugehen sein.

Vgl. Sefer Maharsha hiddushe hilkhot von Shmu’el Edels, Wien 1814 (Signatur M ‫ מ‬54). Handschriftlich auf dem Innenspiegel: „Jakob Samuel Stern“. 70 Quntres havla‛at ha-dam, Frankfurt am Main 1890, eine Verteidigung der Schächtung durch Verblutenlassen (Signatur M ‫ ק‬38; alte Signatur HL/557; Zählstempel 2286). Zu Rabbiner Hirsch Plato vgl. Alexander Carlebach, Die Orthodoxie in der Kölner jüdischen Gemeinde der Neuzeit, in: Jutta Bohnke-Kollwitz u. a. (Hrsg.), Köln und das rheinische Judentum. FS Germania Judaica 1959–1984, Köln 1984, S. 344; Jürgen Wilhelm (Hrsg.), Zwei Jahrtausende Jüdische Kunst und Kultur in Köln, Köln 2007, S. 211f; dann auch Carsten Wilke, Biographisches Handbuch der Rabbiner, Teil 1: Die Rabbiner der Emanzipationszeit in den deutschen, böhmischen und großpolnischen Ländern 1781–1871, Bd. 2: Kaempf – Zuckermann, München 2004, S. 713. 71 Da der Einband dieses Bandes fehlt und auch keine Signaturen und kein Zählstempel auf ihm zu finden sind, ist er möglicherweise erst später in den Bestand hinzugekommen. Zu einer Familie Königsberger in Mainz vgl. das Familienregister der Stadt, Nummer 937. Deutlich zu erkennen sind auf dem Exemplar zwei polnische Zensurstempel. Vgl. hierzu Krzysztof Pilarczyk, Biskup krakowski Marcin Szyszkowski a cenzura ksiąg żydowskich: religijne swobody i ograniczenia Żydów w XVII-wiecznej Rzeczypospolitej, in: Studia Religiologica 34 (2001), S. 61–77. 72 Mahzor le-yom rishon we-sheni shel Sukkot, Offenbach 1826 (Signatur H 104). Eschelbacher war Rabbiner in Bruchsal, später in Berlin. Siehe unten S. 77. 73 Seder Selihot ‛im pesuqim u-ma‛aravot we-yosrot we-zulat we-yom kippur qatan ‛al pi seder u-minhag Q’’Q Warmaisa, Sulsbah: Meshullam Zalman 1727 (Signatur K 24; Zählstempel 67). 74 Einige monogrammierte Titel ließen sich nicht mehr sicher zuordnen: Vgl. Sefer ha-hinnukh, Brünn 1830 (Signatur M ‫ ה‬66; Zählstempel 830). 75 Vgl. z. B. einen Druck der Hilkhot Rav Alfas, 1720 (Signatur F 68). 69

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III. Be- und Zustand

2.3 Händlerstempel und Binderzeichen Hinweise auf die Herkunft der Bücher bieten zudem viele zum Teil stark verblasste Stempel und Firmenschildchen von Buchhändlern und -bindern aus Mainz. Neben zahlreichen Stempeln einer nicht näher kenntlich gemachten jüdischen Buchhandlung76, finden sich Stempel der Buchhandlung H. Funk in Wilna, „Deutsche Gass – Rubinsten No. 6“, von E. Oehlenberg Effectenboerse, Wien, und „Bernhard Meyer, Möbel- und Antiquitäten-Handlung, Halberstadt, Breiteweg 40“.77 Viele Bände aus neurer Zeit sind wie seit dem 18. Jahrhundert in Bibliotheken üblich in Bundpapiere eingebunden worden. Einige dieser Verlagsbindungen ersetzenden Einbände (vor allem von Büchern aus der orthodoxen Gemeinde) sind in der Buchbinderei und Prägeanstalt von L. Koch, Inhaber Philipp Masoth, Flachsmarktstraße 2, angefertigt worden. Offenbar war die Nähe dieser jüdischen Gemeindebibliothek für den Buchbinder von Vorteil. Eine weitere Buchbinderei aus Mainz, die öfter belegt ist, trug den Namen: „GG. Pet. Bauer, Mainz“. Zahlreiche Gebetbücher sind mit einem Stempel „Bernard Meyer gerichtlich vereidigter Taxator“ versehen. Dieser Name taucht auch in Kombination mit der erwähnten Berufsbezeichnung „Möbel- und Antiquitätenhändler aus Halberstadt, Breiteweg 40“ auf. Vielleicht sind die so gestempelten Bände auf die Studienzeit von Rabbiner Marcus Lehmann in Halberstadt zurückzuführen. Da Lehmann im Jahre 1848 zum Studium bei Gerson Josaphat und Ezriel Hildesheimer nach Halberstadt ging, könnte es sein, dass er einen Teil dieser Bücher in seiner Studienzeit erworben hat und von dort nach Mainz mitgebrachte. Möglicherweise gelangten einige „Halberstädter Bücher“ auch erst später mit einigen seiner eigenen Studenten, die er nach Halberstadt entsandte, an den Rhein.78

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Möglicherweise handelt es sich um den Stempel der jüdischen Buchhandlung „Magenza“, die in der Fuststraße zu finden war. Vgl. zu dieser Buchhandlung auch die Bemerkungen in Kapitel VII.1.2. 77 Vgl. Mahzor mi-kol ha-shana ke-minhag Ashkenazim, im leshon Ashkenaz we-kawwanat ha-payyetan, Amsterdam 1750 (Signatur H 14; alte Signatur HL/884). Auf dem „sha‛ar“, dem Titelblatt, und dem Vorsatz findet sich eine hebräische Widmung für den „Knaben Me’ir ben Eli‛ezer Lilienfeld aus Quedlinburg“. Später scheint das Buch in den Besitz von „Meyer Ruben“ gelangt zu sein. 78 Vgl. hierzu etwa den Stempelaufdruck in Signatur J 142 (alte Signatur HL/490), in einem Siddur ohne Ort und Jahr, und auch in Signatur J 14 (alte Signatur HL/599), einem weiteren liturgischen Werk: Tiqqun lel Shavu‛ot we-lel hoshana rabba, Sulzbach 1795. Noch ein Stempel dieses Halberstädter Händlers findet sich in einem Mahzor mi-kol ha-shana ke-minhag ha-Ashkenazim, Amsterdam 1750 (Signatur H 14). Dieser Band trägt eine hebräische, handschriftliche Vorbesitzernotiz von Me’ir ben Eli‛ezer Lilienfelt aus Quedlinburg. Alle mit einem Meyer-Stempel gekennzeichneten Exemplare stammen aus der „Lehmann-Bücherei“. Siehe hierzu auch unten Kapitel IV.1.4.

2. Herkunft und Provenienzen

„Autogramme“ bedeutender Rabbiner und Gemeindemitglieder

Abb. 23: Dr. (Marcus) Lehmann

Abb. 24: Hugo Bondi, Oscar Lehmann

Abb. 25: Loeb Ellinger und Samuel Haas

Abb. 26: Mendel Oppenheimer 1822

Abb. 27: Isaac Baer (alias Bernays) Weisenau

Abb. 28: Dr. (Siegmund) Salfeld, Mainz

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IV. Die Bibliotheken in der Bibliothek Dass der heute erhaltene Bestand der Jüdischen Bibliothek aus mindestens zwei, ursprünglich wohl aus mehreren einmal separat entstandenen Büchereien stammt, wird nicht nur an den vorgestellten Stempeln und an den noch sichtbaren Signaturschildern deutlich, sondern auch daran, dass zahlreiche Titel, vor allem Zeitschriften und Standard- bzw. Nachschlagewerke, in doppelter oder sogar mehrfacher Zahl vorhanden sind. So sind z. B. mehrere doppelte Jahrgänge der zuerst in Mainz erschienenen Zeitschrift „Der Israelit“, herausgegeben von Marcus bzw. Oskar Lehmann, vorhanden1, und auch Schriften von Rabbiner Salfeld finden sich in mehrfacher Ausführung, teils unterschiedlich gebunden und mit divergierenden Herkunftsvermerken.2 Angesichts dieses Befundes wird deutlich, wie der Mainzer Bestand wuchs und immer weitere Schichten von Büchern hinzukamen. Die so entstandenen „Sedimentschichten“ sind allerdings sehr unterschiedlich, und manche Spur lässt sich in ihrer Genese kaum noch erklären. Um die gewachsene „Schichtung“ des Bestandes, ihre anhand von Druckjahren und Vorbesitzervermerken rekonstruierbare „Stratigraphie“ donnoch wenigstens annähernd chronologisch nachvollziehbar zu machen, sollen im Folgenden einige der wichtigsten Persönlichkeiten der Gemeinde und die von ihnen in die Bibliothek eingebrachten Titel und Bücher vorgestellt werden. Mit diesem Überblick soll sowohl die Vielfalt des Bestandes als auch sein Anwachsen vor Augen geführt werden; gleichzeitig soll ein Bogen von den Büchern hin zu den Biographien ihrer Benutzer gespannt werden. 1. Die „Stratigraphie“ des Bestandes 1.1 Samuel Oppenheimer Überraschenderweise stammen die ältesten Bücher in der Jüdischen Bibliothek nicht von einem Mainzer Gemeindemitglied, sondern aus dem Nachlass von Samuel Oppenheimer (1630–1703)3, nach dem Dreißigjährigen Krieg so genannter 1

Siehe zu diesem wichtigen Publikationsorgan der deutschen Orthodoxie ausführlich unten. Meist gestempelt mit „Lehmann-Bücherei“ oder „Salfeld-Bücherei“. Dieser Befund deutet darauf hin, dass die beiden Bibliotheken bei der Zusammenführung (in der Bibliothek an der 1909 errichteten Hauptsynagoge in der Hindenburgstraße in Mainz?) als aus verschiedenen Quellen stammend gekennzeichnet werden sollten. Häufig erhalten blieben Dubletten von Publikationen Mainzer Gelehrter oder Drucker. 3 Vgl. zu ihm etwa Henry Wassermann, Art. Oppenheimer, Samuel, in: EJ 12 (1971), Sp. 1431– 2

1. Die „Stratigraphie“ des Bestandes

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Judenbischof in Worms und ab 1683 einflussreicher Hoffaktor in Wien. Offenbar brachten seine Bücher weite Wege hinter sich, bevor sie ihre Spuren auch in Mainz hinterließen. Einzelne Bände aus seinem Nachlass gelangten in den Besitz seines Sohnes, des Rabbiners David ben Avraham Oppenheimer (1664–1736), später Landesrabbiner in Mähren und dann (auch) in Böhmen mit Sitz in Prag.4 Samuel Oppenheimer hatte zuvor eine bedeutende Bibliothek zusammengetragen, deren Grundstock eine Schenkung des Prinzen Eugen bildete. David Oppenheimer (oder auch „Oppenheim“ ohne Endungs-„er“), noch in Worms geboren, doch dann bei seinem Vater in Wien aufgewachsen, war seit seiner Kindheit ein mindestens genauso großer Bibliophiler. Mit der Zeit vermehrte er die Familiensammlung auf rund 6000 Bände und 1000 Handschriften, doch aus Furcht vor Zensurmaßnahmen im österreichischen Herrschaftsgebiet ließ er die Familienbibliothek nach Hannover zu seinem Schwiegervater schaffen. Nach seinem Tod übernahm sein Sohn Joseph die Verantwortung für die mittlerweile berühmte Sammlung. Im Jahre 1739 gerieten die Bestände zunächst in den Besitz von Isaak Seligman Kohen, einem weiteren Verwandten Oppenheims, der ebenfalls als Hoffaktor tätig war und später unter anderem die Hamburger Klause stiftete, so dass ein größerer Teil seiner Bücher und Handschriften in die Hansestadt gelangte.5 Von Hamburg wanderte die Bibliothek nach Kohens Tod weiter nach Hildesheim, wo sie von der Enkelin Oppenheims, der Witwe von Rabbiner Hirsch Oppenheim, zum Verkauf angeboten wurde. Zu diesem Anlass wurde die Bibliothek einmal von Moses Mendelssohn untersucht und in ihrem Wert begutachtet und geschätzt.6 Ein größerer Hebraica-Bestand aus diesem Nachlass wurde schließlich von Pastor J. C. Wolf in Hamburg erworben7, und aus dieser Zeit ist ein erster unvollständiger Katalog der Hebraica Oppenheims erhalten. Diese Liste wurde 1762 sogar gedruckt; ein zweiter Katalog von Israel Breslau wurde 1764 publiziert, und ein dritter mit dem Titel „Qohelet Dawid“ wurde 1826 von Isaak Metz in Hamburg ediert. Schließlich konnten 1829 die meisten Bände der Oppenheimer-Bibliothek von der Bodleian Library Oxford „für einen Spottpreis“ von 9000 Talern erworben 1433; Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang, Untergang, Neubeginn, Bd. 2, Frankfurt am Main 1972, S. 422. Zur weit verzweigten Familie Oppenheim(er) siehe auch Louis and Henry Fraenkel, Genealogical Tables of Jewish Families. 14th – 20th Centuries, ed. Georg Simon, München 1999, Bd. 2: Genealogical Tables, München 1999, „IX. The Oppenheimer Family“. Vgl. auch den Stammbaum der Familie Oppenheim-Katz in StA Mainz NL Michel Oppenheim 46. 4 Vgl. zu ihm Heinrich Flesch / [Editorial Staff], Art. Oppenheim (Oppenheimer), David ben Abraham, in: EJ 12 (1972), Sp. 1420–1422; Leopold Löwenstein, David Oppenheim, in: Gedenkbuch zur Erinnerung an David Kaufmann, hrsg. M. Brann, Bd. 1, Breslau 1900, S. 538–559; Schmelzer, Studies, S. 56*f; Fritz Reuter, Warmaisa, 1000 Jahre Juden in Worms, Frankfurt am Main 21987, S. 137. 5 Vgl. hierzu Löwenstein, David Oppenheim, S. 554. Eine Handschrift mit für den Druck vorbereiteten Talmud-Novellen aus dem Nachlass David ben Avraham Oppenheimers befindet sich heute in der Sammlung Levy 168 (Nr. 28) in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg. 6 Vgl. ebd. Das Gutachten ist veröffentlicht in: Materialien zur Geschichte der Bibliothek David Oppenheims, in: Soncino-Blätter 2 (1927), S. 67. 7 Zum Briefwechsel David Oppenheims mit Wolf vgl. Max Freudenthal, David Oppenheim als mährischer Landesrabbiner, in: MGWJ 46 (1902), S. 262–274; vgl. auch Löwenstein, David Oppenheim, S. 554.

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IV. Die Bibliotheken in der Bibliothek

werden.8 Nur wenige Exemplare scheinen vor diesem Verkauf als Erbstücke oder Schenkungen aus dem Bestand entnommen worden zu sein. Wie die Oppenheimer-Bücher aus dem Hannoveraner Familienbestand nach Mainz gelangt sind, lässt sich nicht mehr genau rekonstruieren.9 Möglicherweise wurden verstreute Exemplare durch Rabbiner Samuel Oppenheim mitgebracht, der um 1765 in Mainz ansässig wurde.10 Denkbar ist auch, dass Bücher aus dem Nachlass von Joseph Oppenheim über die nach Mainz verheiratete Enkeltochter, die Tochter seines Sohnes Michel Bär Oppenheim, an den Rhein gelangten.11 Von dort könnten sie in den Besitz eines Mainzer Rabbiners gekommen sein und so schließlich in die Jüdische Gemeindebibliothek. Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang zwei handschriftliche Vorbesitzervermerke in hebräischer Sprache. In einem Exemplar des von Shmu’el Yefe Ashkenazi verfassten Midrasch-Kommentars Yefe To’ar, gedruckt in Fürth 1692,12 finden sich gleich mehrere Widmungen, die uns einen Einblick in den Weg des Buches geben können, da sie Namen erwähnen, die aus anderen Quellen bekannt sind. Im inneren Spiegel des Mainzer Exemplars steht in hebräischer Kursive: ‫זה הפ']ירוש[ יפה תואר כשמו כן הוא זה האיש הי' ]ה[חכם גדול בשתי תורות ונוסף‬ ‫על זה בחכמת החוקרים לא היתה מחבר' וספר הן המדברי' במחקרי העולם‬ ‫הן ה במחקריהם בני עמנו שלא ראה ולא ידע ואף משלו‬ ‫הוסיף נופך וכל מי שראה פתירתו על והרביתי הלא יאמרו‬ ‫הוא יפה תואר והוא יפה מראה‬ Dieser Ko[mmentar] Yefe To’ar entspricht seinem Namen: dies gleicht dem Mann Gottes, der weise und bewandert ist in beiden Torot13, und zusätzlich aus der Weisheit der Nachforschenden, die so noch nicht verfasst worden war, sei es in den Büchern von den Wissenschaften der Welt, sei es in den Wissenschaften unseres Volkes, die er noch nicht gesehen hatte und nicht kennen konnte; doch auch von seinen eigenen (Gedanken) fügte er Edles hinzu, und jeder, der seine Auslegung verstand und was er ihr hinzufügte, über den sagt man: Er war schön von Gestalt und schön von Ansehen (Gen 39,6).

8

Vgl. Löwenstein, David Oppenheim, S. 554. Siehe auch: Zum 900jährigen Bestehen der Synagoge zu Worms. Eine Erinnerungsgabe des Vorstandes der israelitischen Religionsgemeinde Worms (Sonderheft der Zeitschrift für Geschichte der Juden in Deutschland, Jg. 5), Berlin 1934, S. 116. 9 Zu den Hintergründen vgl. M. Grünwald, Handschriftliches aus der Hamburger Stadtbibliothek, in: MGWJ 40 (1896), S. 422–428. 10 Verzeichnet ist dieser Rabbinername im Handexemplar von Siegmund Salfeld, Bilder aus der Vergangenheit der jüdischen Gemeinde Mainz, Festgabe zur Erinnerung an die 50jährige Wiederkehr des Einweihungstages (11. März 1853) der Hauptsynagoge, Mainz 1903, vor S. 61 (Signatur G 455). 11 Vgl. Löwenstein, David Oppenheim, S. 551. 12 Signatur M ‫ י‬74; alte Signatur H 315; Zählstempel 1907. 13 D. h., in der Schriftlichen und Mündlichen Tora, kurzum Bibel, Talmud sowie Midrasch.

1. Die „Stratigraphie“ des Bestandes

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In einer zweiten hebräischen Kursivnotiz auf einem abgelösten Vorsatzblatt aus demselben Band wird dann der Vorbesitz eindeutig erwähnt: ‫זה הספר נחמד יפה תואר שייך להאלוף הקצין יפה מראה ה"ה השר וטפסר הנגיד‬ ‫הנדיב והטהור כאור הבהיר כ"ש מהר"ר וואלף‬ ‫ב' הקצין השר הטפסר השתדלו גדול הר"ר שמואל אופינהיים‬ ‫מק"ק ווינא קרית מלך רב הקיסר יר"ה‬ Dieses liebenswerte Buch Yefe To’ar gehört dem Alluf14 und Führer Yefe Mar’e, dem Ehrenwerten, dem Fürsten und Hofbeamten, dem Anführer, dem Freigiebigen und dem Reinen, so wie das glänzende Licht, sein ehrenvoller Name unserem Lehrer, dem Rabbi Wolf, Sohn des Führers, des Fürsten, des Hofbeamten, des bedeutenden Fürsprechers, dem Herrn, Rabbi Shmu’el Oppenheim, aus der heiligen Gemeinde Wien, Stadt des großen Königs, des Kaisers, möge seine Herrlichkeit erhöht werden.

Das Buch gehörte also Wolf Oppenheim, einem Sohn des Hoffaktors Samuel aus Wien. Auf dem Innenblatt des abgelösten Spiegelblattes findet sich außerdem in lateinischer Kursive: „Dieses Buch gehört Levy Nachman in Barsinghausen“, ohne dass der Zusammenhang dieses Namens mit dem Namen Samuel Oppenheimers noch ersichtlich wäre. Dieser deutsche Besitzervermerk wird im Übrigen durch einen hebräischen ergänzt, in dem es nur kurz heißt: ‫זה הספר הלז שייך להקצין כ"ה‬ ‫ליב כ"ה נחמן סמוך לעיר הנָאפער‬, „dieses Buch gehört dem Vorsteher, dem ehrenwerten Leib, dem ehrenwerten Rav Nahman, nahe der Stadt Hannover“. Mit Barsinghausen dürfte also die im Landkreis Hannover, 15 km westlich der niedersächsischen Hauptstadt gelegene Ortschaft in der Landdrostei Hannover gemeint sein, in der sich im infrage kommenden Zeitraum Juden nur mit einem Schutzbrief aufhalten durften. Wie sich aus dem Familienbuch des Landrabbinats dieser Zeit entnehmen lässt, starb der Kaufmann Levy Nachman dort 1768 und hinterließ fünf Kinder.15 Möglicherweise gelangte das Buch aus dem Besitz seines Sohnes Leib zunächst in die Oppenheimer-Bibliothek und von dort aus – über die oben erwogenen Umwege – nach Mainz.16 14

D. h., dem „Führer“ oder „Fürsten“. Zu seinen Lebensdaten vgl. die Jüdischen Personenstandslisten, Familienbuch des Landesrabbinats, Teil 1, Landdrostei Hannover, Gericht Banteln – Amt Ehrenburg, veröffentlicht in: Friedel Homeyer, Gestern und Heute. Juden im Landkreis Hannover. Hrsg. vom Landkreis Hannover 1984, hier S. 122, wo Nachman Levy und seine Kinder aufgeführt sind. Sein Grabstein wurde wohl im Zuge der Schändung des alten jüdischen Friedhofs von Barsinghausen im August/September 1945 zerstört. 16 In der Namensliste des Jahres 1808, die von den Franzosen angelegt wurde, sind ein Philipp Nachmann (alias Feist Gerson) und ein David Nachmann in Mainz gemeldet (vgl. Salfeld, Bilder, S. 74). – Die genaue Rekonstruktion des Weges wird auch deshalb erschwert, weil Bücher mit Barsinghäuser Provenienz auch in anderen Beständen nachgewiesen sind. So ist ein Exemplar aus der „Salfeld-Bücherei“, Sefer Mishnat Hakhamim (und beigebunden) Qadesh le-H’ zo nishmat Hasidim, Wandsbeck 1733 (Signatur M ‫ מ‬308; alte Signatur H 230; Stempel „Dr. Salfeld, Mainz“; Zählstempel 2638) handschriftlich mit „Meyer Lewien à Barsinghausen“ signiert. 15

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IV. Die Bibliotheken in der Bibliothek

Einige Bücher aus der Bibliothek Oppenheimers scheinen im Übrigen bereits vor dem Umzug nach Hamburg aus dem Umkreis der Familie Oppenheimer in Hannover in andere Hände gelangt zu sein. Zu berücksichtigen ist dabei, dass die Frau David Oppenheimers, Genendel, aus der Familie des Hofjuden Leffmann Behrends aus Hannover stammte.17 Da das Mainzer Exemplar des Yefe To’ar aus dem Hannoverschem Besitz der Familie Oppenheim kam, wie auch weitere lateinische Notizen auf dem Vorsatz nahe legen, könnte der einzigartige Band über diesen Zweig der Familie nach Mainz gelangt sein. Bei all dem ist zu beachten, dass in der Jüdischen Bibliothek noch ein weiterer Samuel Oppenheimer als Vorbesitzer einiger Bücher belegt ist.18 So ist ein stark beschädigtes Exemplar von Novellen („Ḥiddushim“) und Diskussionen des Naftali Zvi Katz, gedruckt unter dem Titel „Birkat ha-shem“ von Johann Wust in Frankfurt am Main 1704, mit dem gleichen Namen gekennzeichnet.19 Da dieses Buch erst im Todesjahr Samuel Oppenheimers erschienen ist, kann dieser Vermerk allerdings nur von einem gleichnamigen Mainzer Gemeindemitglied stammen. Den Namen Samuel Oppenheimer findet man dann auch im „Verzeichnis der beitragenden Mitglieder des engeren Verbandes der Israel. Gemeinde in Mainz“ vom 18. Februar 1849 (Nr. 177), d. h. dieser Samuel lebte lange nach dem Hoffaktor in Wien.20 Dieselbe Signatur dieses Samuel Oppenheimer begegnet dann auch in einem Exemplar des Sefer Torat Yosef, verfasst von Yosef Yozel ben Moshe, gedruckt von Zwi Hirsch ben Hayyim aus Fürth in Wilhermsdorf 172521 – also ebenfalls lange nach dem Tod des Wiener Hoffaktoren.22 Am oberen Rand des Titelblattes dieses Exemplars ist festgehalten: ‫זה הספר שייך לכ"ה שמואל אופנהיימר‬, „dieses Buch gehört dem ehrenwerten Rabbiner Shmu’el Oppenheimer“. Dieser Shmu’el Oppenheimer starb 1876 und wurde auf dem Friedhof Am Judensand beigesetzt.23 Zu dieser Schicht von Büchern gehört im Übrigen ein Buch aus dem Nachlass des Mendel Oppenheimer aus Mainz. Sein hebräischer Name findet sich auf dem Vorsatzblatt des Sefer Safa berura, Fürth 179024, wo es nur kurz heißt: ‫זה הספר‬ ‫שייך לכ"ה מנדל אופנהיימר‬, „dieses Buch gehört dem ehrenwerten Rav Mendel Oppenheimer“, und darunter „1822“.25 Auf dem äußeren Buchdeckel steht in lateinischen Buchstaben: „Emanuel Oppenheimer in Mainz“. Mit diesem Emanuel war 17

Vgl. Flesch, Art. Oppenheim, S. 1419. Die Schreibweise des Namens mit der Endung „-er“ variiert auch in den ihm zuzuschreibenden Vorbesitzervermerken. 19 In der JBM trägt es die Signatur M ‫ ב‬18. Zu dem Werk vgl. Vinograd, Thesaurus, Bd. 2, S. 583 # 194. 20 Vgl. StA Mainz, Kat. Nr. 148. 21 Zu ihm und seinem typischen Druckerzeichen, zwei auf den Hinterbeinen stehenden Löwen und einer Palme, vgl. Isaac Yudlov, Hebrew Printers’ Marks. Fifty-four Emblems and Marks of Hebrew Printers, Publishers, and Authors, Jerusalem 2001, S. 65–67 (hebr.). 22 Der mittlerweile restaurierte Band trägt die Signatur M ‫ ת‬64, Zählstempel 5433. 23 Vgl. das Familienbuch Oppenheimer-Katz, Abschrift des Grabsteines Nr. 149. 24 Signatur M ‫ ש‬186, Zählstempel 2506. Bei diesem Buch handelt es sich um eine traditionelle Hebräischgrammatik mit faltbaren Verbtafeln. 25 Möglicherweise hängt dieser Besitzervermerk mit der Übertragung aus anderem Besitz zusammen. Am 10. Oktober 1822 starb Rabbiner Herz Scheuer aus Mainz. 18

1. Die „Stratigraphie“ des Bestandes

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wohl nicht Bär Emanuel Oppenheim, der Wormser Sohn von Samuel Oppenheim, identisch.26 Der hier erwähnte Mainzer Mendel Oppenheimer dürfte vielmehr der Tuchmacher sein, der in dem Verzeichnis von „französischen Bürgern mosaischen Glaubens“ aus Mainz vom 17. März 1808 aufgeführt wird.27 Er ist wohl mit Emanuel Löw Oppenheimer, gestorben am 15. Dezember 1844, zu identifizieren, einem Verwandten des späteren Beigeordneten der Stadt Mainz für das Kulturdezernat, Michel Oppenheim, der selbst wiederum mit Samuel Oppenheimer, dem Hoffaktoren, verwandt war.28 Aufgrund eines deutsch-französischen Besitzervermerkes und weiterer Bände mit ähnlichen Spuren29 lässt sich der Werdegang des Buches sogar annähernd vollständig rekonstruieren. Anscheinend vererbte dieser Mainzer Emanuel Oppenheimer einen Großteil seiner Bücher seinem Sohn Samuel Oppenheim.30 Dieser Samuel scheint mit dem oben genannten jüngeren Mainzer Samuel Oppenheim identisch gewesen zu sein. Noch einmal ist der Name Emanuel Oppenheimer in einer Abstimmungsliste im Protokollbuch des Vorstandes der Jüdischen Gemeinde vom 20. November 1825 belegt.31 Wie aus anderen Quellen ersichtlich, gehörte dieser Emanuel noch im Jahre 1830 dem Vorstand der Gemeinde an.32 Da noch weitere Bücher mit Besitzervermerken dieses „Mendel“ Oppenheimer aus dem Jahr 1822 in der Bibliothek erhalten sind, kann man davon ausgehen, dass ein größerer Teilbestand auf diesen Zweig der Mainzer Familie zurückgeht.33 Außerdem sind gelegentlich Bücher mit Besitzervermerk von Daniel (Löb) Oppenheim zu finden. In dem erwähnten Namensverzeichnis vom 17. März 1808 ist er mit der Berufsbezeichnung „md de toile de coton“ aufgeführt.34 Zusätzlich stammen manche Bücher aus dem Nachlass von Moritz Oppenheim (1814–1884), 26

Vgl. zu ihm Reuter, Warmaisa, S. 140. Vgl. Salfeld, Bilder, S. 74 (Nr. 106). 28 Im Nachlass von Michel Oppenheim Nr. 48. Im Verzeichnis der Namensgebungen von 1808, Nummer 542. Zu Michel Oppenheim siehe unten, Kapitel V.3. 29 Siehe etwa einen Druck des Shulḥan ‛Arukh, Yore dea‛, Wilhermsdorf 1727 (Signatur Fg 20). 30 Vgl. das Sefer eshel ravrave (eine Ausgabe des Shulhan ‛Arukh, Yore dea‛), Fürth 1725 (Signatur Fe 130): Auf dem Vorsatzblatt steht: „Samuel Oppenheim in Maynz – Emanuel Oppenheimer à Mayence Capitale au Départment du Mont-Tonnere dans l’impereur France“. Das Department Donnersberg wurde 1793 gegründet. Nach der Liste der Namensgebungen von 1808 (Nr. 548) wurde Samuel Oppenheim am 30.05.1806 geboren. 31 Vgl. CJA, 1, 75 A Ma 3, Nr. 1 (Ident.-Nr. 4925), S. 236b. 32 Vgl. Siegfried Fränkel, Die israelitische Gemeinde Mainz in der Neuzeit. Darstellung auf Grund der Gemeindeakten, in: Magenza. Ein Sammelheft über das jüdische Mainz im fünfhundertsten Todesjahre des Mainzer Gelehrten Maharil, hrsg. vom Verein zur Pflege jüdischer Altertümer in Mainz unter Leitung von Sali Levi, Menorah, Berlin 1927, S. 61. 33 Naftali Hertz ben Shim‛on Ginzburger, Naftali seva‛ rason, Fürth 1705 („gedruckt mit den Buchstaben aus Amsterdam“) (Signatur M ‫ נ‬50; Zählstempel 124). Auf dem Innenspiegel: „Dieses Buch gehört dem Führer, dem ehrenwerten Rav Mendel Oppenheimer 1822“. Ein weiterer Amsterdamer Druck 1708 (Signatur M ‫ נ‬48) dieses Werkes (aus dem Druckhaus von Immanuel Benveniste) trägt einen handschriftlichen Besitzervermerk von Samuel Oppenheimer. Das Titelblatt dieses Bandes wurde bereits zu einem früheren Zeitpunkt restauriert. 34 Vgl. Salfeld, Bilder, S. 74 (Nr. 105); wohnhaft war er in D 335. 27

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IV. Die Bibliotheken in der Bibliothek

einem wichtigen „Präses der Israelitischen Gemeinde“ und Stadtverordnetem.35 Er wird bereits im „Verzeichnis der beitragenden Mitglieder des engeren Verbandes der Israel. Gemeinde in Mainz“ vom 18. Februar 1849 genannt und wurde, seiner Bedeutung angemessen, in der ersten Gräberreihe am Hauptweg des Friedhofs an der Unteren Zahlbacherstraße beigesetzt. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die weitverzweigte Oppenheim(er)Familie die ersten „Buch-Sedimente“ in der Jüdischen Bibliothek in Mainz hinterlassen hat. Der Familienname, der mit so vielen berühmten Persönlichkeiten verbunden ist, ist der wohl am häufigsten in den älteren Büchern nachzuweisende – er hat der Bücherei gewissermaßen von Anfang an seinen Stempel aufgedrückt.36 Ausgehend von der Wormser Oppenheimer-Familie, aus der Hoffaktoren hervorgingen, bis hin zu den Mainzer Angehörigen der Familie wurden über mehrere Generationen Bücher gesammelt, signiert und vererbt, so dass ein einzigartiger Schatz an genealogischem und historischem Wissen anwuchs, der nicht nur aus bibliophiler Sicht, sondern auch für die weitere Forschung zum Mainzer Judentum von großer Bedeutung ist. 1.2 Herz Scheuer Handschriftliche Besitzervermerke in einer Reihe von Büchern stammen von Avraham Naftali ben David „Herz“ Scheuer.37 Er war von 1800 bis 1810 und noch einmal von 1814 bis 1822 Rabbiner in Mainz. Geboren Ende 1753, gestorben am 10.10.182238, war er als Sohn des aus Frankfurt stammenden Mainzer Rabbiners Tevle David Scheuer (1711–1782), einer der bedeutendsten Gelehrten seiner Zeit.39 Sein Vater Tevle (oder Tewele) Scheuer hatte in Frankfurt bei herausragenden Lehrern studiert, unter anderem bei Rabbi Ya‛aqov Yehoshua‛ Falk, dem Verfasser des „Pene Yehoshua“, eines einflussreichen Talmud-Kommentars, der in mehreren Ausgaben auch in der Jüdischen Bibliothek vorhanden ist. Verheiratet war er mit Perl Scheuer, Tochter von Shmu’el Lucka aus Prag.40 Ab 1768 nahm Tevle einen Rabbinatsposten in Mainz an; hier wurde er zu einer anerkannten rabbinischen Autorität und betrieb emsige Forschungen, etwa auch zum Talmud-Traktat „Besa“ (Ei), über die Feiertage, oder zum Traktat „Ketuvot“, über Heiratsurkunden.

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Siehe zu ihm Salfeld, Bilder, S. 85. Vgl. StA Mainz, Kat. Nr. 178. – Ein Besitzervermerk von Moritz Oppenheim findet sich in Signatur H 48. 36 Vgl. hierzu etwa auch Eugen Rapp / Otto Böcher, Bedeutende Träger der jüdischen Namen Oppenheim und Oppenheimer, in: Festschrift 1200 Jahre Oppenheim am Rhein, hrsg. von der Stadt Oppenheim, Oppenheim 1965, S. 106–116. 37 Vgl. zu ihm Leopold Löwenstein, Zur Geschichte der Rabbiner in Mainz (1615–1848), in: JJLG 3 (1905), S. 220–239, hier S. 235–236; Salfeld, Bilder, S. 78. 38 Zu den Lebensdaten vgl. den Grabstein auf dem Alten Judensand Nr. 1490. Löwenstein, Rabbiner in Mainz, S. 235–239; Wilke, Rabbiner, Bd. 2, S. 781; ders., Talmud, S. 112f u. ö. Zu einem in der Bibliothek erhaltenen Manuskript aus seiner Feder vgl. unten S. 206. 39 Vgl. Wilke, Rabbiner, Bd. 2, S. 783f. 40 Ihr Grabstein auf dem Alten Judensand (Nr. 1420) ist gut erhalten (gest. 1812).

1. Die „Stratigraphie“ des Bestandes

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Sein zweiter Sohn, Michel Scheuer, wurde, nachdem er einige Zeit an der Talmud-Schule seines Vaters gelehrt hatte, Rabbiner in Mannheim.41 Von ihm sind Handschriften mit Predigten und Talmud-Auslegungen aus den Jahren 1793 und 1797 in der Mainzer Bibliothek erhalten.42 Er gehörte zu den Lehrern des Rabbiners Moshe Sofer (1763–1839), des Hatam Sofer aus Frankfurt am Main, der später in Pressburg zum Begründer der jüdischen Ultra-Orthodoxie wurde.43 Herz Scheuer leitete schon in jungen Jahren die Talmud-Schule seines Vaters. In dieser Zeit begann er zahlreiche Talmudnovellen und Homilien zu verfassen, die allerdings ebenso wenig wie die Schriften seines Vaters zum Druck gelangten.44 Sein eigentliches Hauptwerk, „Tore zahav“ („Goldene Ketten“ nach Hohelied 1,11), ein kabbalistisches Werk alten Stils, auf das unten noch näher im Zusammenhang mit Mainzer hebräischen Drucken eingegangen wird, wurde erst posthum von seinem Enkel Samuel Bondi (1794–1877) ediert.45 Die Bücherspuren Herz Scheuers in der Jüdischen Bibliothek lassen seine große rabbinische Bildung und auch seinen nachhaltigen Einfluss auf die Gemeinde erahnen. Bemerkenswerterweise lehnte er eine ihm 1772, nach dem Tode seines Vaters, angebotene Rabbinerstelle zunächst ab. Darin folgte er wohl dem traditionellen Ideal, nach dem es als wichtiger erachtet wurde, sich ganz dem Studium und der Lehre zu widmen als gemeindliche Ämter zu übernehmen. Hinzu kam, dass ab 1783 (Noah) Hayyim (Zvi) Hirsch Berlin(er) (1734–1802) als „Landesrabbiner“ in Mainz fungierte und es in einer Stadt zu dieser Zeit nur einen offiziellen Rabbiner geben konnte.46 Als Mainz 1792 durch die Franzosen bedroht wurde, floh Herz Scheuer für eineinhalb Jahre nach Aschaffenburg. Erst nach 1799, nachdem Rav Hirsch Berliner nach Hamburg berufen worden war, übernahm Scheuer dann offiziell das Mainzer Rabbinat. Dass er dabei zunächst auf ein Gehalt verzichtete, entsprach wiederum rabbinischem Ideal.47 Seine Studenten versorgte und förderte er aus eigenem Vermögen. Vor allem bemühte er sich um deren günstige Verheiratung. Hierdurch und durch seine umfassende jüdische Bildung legte er den Grund für eine der bedeutendsten Yeshivot im Deutschland seiner Zeit.48 Aus seiner Talmud-Akademie gingen dann zahlreiche 41

Vgl. Wilke, Rabbiner, Bd. 1, S. 783; ders., Talmud, S. 235f. Vgl. Róth, Hebräische Handschriften, S. 198 (Cod. hebr. 17 und 23). Siehe hierzu unten. 43 Zahlreiche Drucke von Responsen des Hatam Sofer finden sich daher in der Jüdischen Bibliothek Mainz. Zu Moses Schreiber alias Hatam Sofer vgl. Wilke, Rabbiner, Bd. 2, S. 1677; dann auch Walter Pietsch, Zwischen Reform und Orthodoxie. Der Eintritt des ungarischen Judentums in die moderne Welt, Berlin 1999, S. 92–95. 44 Vgl. Löwenstein, Rabbiner in Mainz, S. 232f. Sein Nachlass gelangte später in den Besitz der Familie Bondi, die mit Herz Scheuer verbunden war. Eine Anzahl von Autographen blieben in der JBM erhalten, weitere Schriften befinden sich in der Nationalbibliothek in Jerusalem. Vgl. Wilke, Rabbiner, Bd. 2, S. 112 Anm. 394. 45 Mehrere Exemplare dieses Buches sind in der Jüdischen Bibliothek Mainz erhalten. Zu einem weiteren Band aus dem Büchernachlass der Familie von Rabbiner Samuel Bondi, einem Band seines Sohnes Baruch Bertram Bondi, vgl. oben Abb. 20. 46 Vgl. Wilke, Rabbiner, Bd. 1, S. 184. 47 Vgl. Löwenstein, Rabbiner in Mainz, S. 236. 48 Siehe hierzu auch Wilke, Talmud, S. 112f; S. 306f. 42

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IV. Die Bibliotheken in der Bibliothek

spätere Mainzer Rabbiner hervor, unter ihnen Jakob Bernays, Moses (Jona) Bondi, Elias Cahn und Benedikt Levi. Zu weiteren Schülern Herz Scheuers gehörten Abraham Wolf aus Darmstadt, Salomon Herxheimer aus Dotzheim49 und Samuel Salomon Wormser aus Nassau. Aus Kurhessen kamen Moses Wolf und Löb Wormser zu ihm, aus der Moselregion Moses Henoch Heß und Samuel Hirsch, aus der Pfalz Elias Grünbaum und Samuel Süßkind.50 Scheuer gehörte zunächst auch zu den Förderern von Gabriel Riesser (1806–1863), einem herausragenden Vertreter der jüdischen Emanzipation. Nachdem er ihn anfänglich an die Talmudschule und Lehrerausbildungsanstalt des Rabbi Avraham Bing nach Würzburg vermittelt hatte, brach er später mit Riessers Anliegen.51 Für Isaak Bernays (1792–1849) aus Mainz-Weisenau52, einen der führenden Köpfe der deutschen „Neuorthodoxen“, verfasste er eine wichtige Empfehlung für seine Zurückstellung vom französischen Militärdienst.53 Wie viele andere jüdische Zeitgenossen hatte Scheuer zunächst die französische Befreiung und die damit verbundenen Verbesserungen für Juden begrüßt. Als Napoleon Bonaparte und seine Frau Josephine in Mainz einzogen, sang die Gemeinde sogar eine von ihm verfasste hebräische Hymne.54 Die Teilnahme an dem von Napoleon nach Paris einberufenen großen Sanhedrin im Jahre 1807 lehnte er jedoch ab, und durch Amtsniederlegung bzw. Ablehnung eines Rabbinerpostens (1810) brachte er schließlich seine Opposition gegen die Reformbeschlüsse des neu eingerichteten Konsistoriums unmissverständlich zum Ausdruck.55 An seiner toratreuen Haltung hielt er Zeit seines Lebens fest. Reformen lehnte er ab, auch wenn er sich den Einflüssen einer sich verändernden Welt nicht entziehen konnte.56 Vor dem Hintergrund der sich zu Scheuers Zeit verändernden Einstellung weiter Kreise zur traditionellen Lebensweise setzte er sich häufig für die Durchsetzung einer erschwerenden Gebotsobservanz ein. Dabei vertrat er eine konservative Haltung, wie sie sich später auch bei den Vertretern der neuen Orthodoxie um den „Würzburger Rav“, Selig Bamberger, beobachten lässt.57 So entschied Scheuer z. B., dass Instrumentalmusik im Zusammenhang mit Hochzeitsfeiern in der Syn49

Er war der Lehrer von Siegmund Salfeld. Siehe dazu unten S. 71. Vgl. Wilke, Talmud, S. 112 Anm. 394. 51 Vgl. Hans I. Bach, Jacob Bernays. Ein Beitrag zur Emanzipationsgeschichte der Juden und zur Geschichte des deutschen Geistes im neunzehnten Jahrhundert, SWALBI 30, Tübingen 1974, S. 6. 52 Siehe zu ihm Friedrich Schütz, Skizzen zur Geschichte der jüdischen Gemeinde Weisenau bei Mainz. Mit einer besonderen Würdigung der Familie Bernays, in: Mainzer Zeitschrift 82 (1987), S. 151–179, hier S. 169f. Dann auch Andreas Brämer, Art. Bernays, Isaak, in: Das Jüdische Hamburg. Ein historisches Nachschlagewerk, hrsg. vom Institut für die Geschichte der deutschen Juden, Göttingen 2006, S. 34f. 53 Vgl. hier Wilke, Talmud, S. 306. – Zu einem Band aus dem Besitz von „Isaac Baer de Weisenau“ in der Bibliothek vgl. Kapitel IV.1.7 und Abb. 27. 54 Vgl. Löwenstein, Rabbiner in Mainz, S. 236. 55 Vgl. ebd.; Wilke, Rabbiner, Bd. 2, S. 1574. 56 In der Liste der Namensumbenennungen von 1808 ist er gemeinsam mit seiner Frau Perll Luca gemeldet, wohnhaft D 385. 57 Vgl. hierzu ausführlich Andreas Gotzmann, Jüdisches Recht im kulturellen Prozeß, SWALBI 55, Tübingen 1997, S. 153. 50

1. Die „Stratigraphie“ des Bestandes

Abb. 29: Moshe ben Maimon, Mishne Tora hu ha-Yad ha-hazaqa, Amsterdam 1702 (Signatur Fc 6): „Baruch Scheuer“

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IV. Die Bibliotheken in der Bibliothek

agoge eingeschränkt werden müsse. Da es in der Mainzer Gemeinde lange den Brauch gab, am Shabbat vor oder nach einer Trauung das Hochzeitspaar in der Synagoge freudig mit Musik zu empfangen, entstand die Gefahr einer Gebotsübertretung.58 Die Musik sollte zwar nur bis zum Eintreten des Shabbat gespielt werden, so dass jede Verletzung des Ruhegebotes vermieden wurde. Doch Scheuer wandte sich dagegen, weil er durch die Musik in der Synagoge erstens ein unziemliches Vermischen der Geschlechter ermöglicht sah und zweitens eine Gefährdung der unbedingt einzuhaltenden Shabbat-Ruhe befürchtete.59 Die Scheuer zuzuordnenden Bücher passen zu dieser traditionellen Haltung, und dies gilt auch für die Titel, die mit dem Namen (Samuel) Baruch Scheuer, dem einzigen Sohn Herz Scheuers, gekennzeichnet sind.60 Baruch war mit der Tochter von Rabbiner Jakob Reinach, „eines der vornehmsten Männer in Mainz“, vermählt und hatte sechs Kinder.61 Erwähnt wird er bereits in einem handschriftlichen Verzeichnis der Aussteuerhilfe (Hakhnasat Kalla) aus dem Jahr 1769, welches im Stadtarchiv Mainz erhalten ist.62 Im „Verzeichnis der Umwandlungen der Familiennamen von französischen Bürgern mosaischen Glaubens“ aus Mainz vom 17. März 1808 findet sich sein Name mit der Berufsbezeichnung „propriétaire“.63 Als die Gemeinde 1848 eine Orgel für die Synagoge anschaffen wollte, gehörte Scheuer zusammen mit Moritz Reiss zu jenen fünfzehn Familien, die eine gesetzestreue Gruppierung bildeten, die diese Neuerungen ablehnte. Herz Scheuer, Bruder von Bertha (Bella) Scheuer (1771–1864), die Moses Jonas (Jona) Bondi (1768–1806) aus Dresden heiratete, wurde somit zu einem der geistigen Väter der Israelitischen Religionsgesellschaft. Jonas Bondi, sein Schwager, begründete jene Mainzer Rabbinerfamilie, die die Israelitische Religionsge58

Siehe Herz Scheuer in: Ele divre ha-brit, o. O. 1818, S. 6 und S. 18. Vgl. Gotzmann, Jüdisches Recht, S. 152. 59 Nicht betroffen war davon der Brauch des mit Weizenwerfen verbundenen „Mahn-Führens“, der in Mainz bis etwa 1831 am Hochzeitstag selbst beobachtet wurde. Vgl. dazu Fränkel, Die israelitische Gemeinde Mainz in der Neuzeit, S. 66; Drobner, Entwicklung, S. 288. 60 Vgl. zu ihm Löwenstamm, Geschichte, S. 238. – Seinen Namen findet man etwa in einem Exemplar der Mishne Tora von Moshe ben Maimon, genannt „Yad ha-hazaqa“, Amsterdam 1702 (Signatur Fc 6; alte Signatur HL /963; Zählstempel 60). Auf dem Titelblatt steht am oberen Rand in hebräischer Kursive „dieses Buch gehört Baruch Scheuer“, dann in lateinischen Lettern auch auf dem Titelblatt „Baruch Scheuer“. Der Bucheinband ist verloren gegangen. Auf dem erhaltenen Vorsatz mit Tinte noch einmal „Baruch Scheüer Mainz“ und „B. Scheüer“. Ihm gehörte auch ein Exemplar des Sefer Hiddushe Ridbas, Fürth 1779 (Signatur M ‫ ח‬18; alte Signatur HL/1032), auf dessen Vorsatz der Name „Samuel Baruch Scheuer“ festgehalten ist. Außerdem ist auf dem Blatt der Name „Copenhagen“ notiert, wobei unklar bleibt, ob es sich um einen Orts- oder Familiennamen handelt. Ein Eduard Kopenhagen (1850–1910) ist mit seiner Gemahlin auf dem Friedhof Untere Zahlbacherstraße beigesetzt. Darüber steht noch „Samuel Schlössinger Mayntz“, ein ebenfalls aus der Liste des Jahres 1808 bekanntes Gemeindemitglied. Vgl. Salfeld, Bilder, S. 75 (Nr. 139). Mit Bleistift ist außerdem mehrfach der Name Arnsdorf in diesem Band notiert. – Ein weiterer Band mit seinem Namen ist in einem Sefer ha-Maggid, Sulzbach 1732 (Signatur B 184) zu finden (‫ברוך‬ ‫)שייאר‬. 61 Vgl. Löwenstamm, ebd. 62 Vgl. StA Mainz NL 47/1. 63 Vgl. Salfeld, Bilder, S. 146 Nr. 121.

1. Die „Stratigraphie“ des Bestandes

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sellschaft über mehrere Generationen prägte.64 Das berühmte Rabbinergeschlecht der Bondis in Mainz war also mit der Rabbinerdynastie „Scheuer“ verbunden. Sein Sohn Samuel Bondi war Mitbegründer der Mainzer IRG, und wie einer hebräischen Notiz in einem Mahzor65 zu entnehmen ist, vermachte Baruch Scheuer seine Bücher schließlich der Israelitischen Religionsgesellschaft.66 David Scheuer war bis zum Tag seines Ablebens am 25. Tischri 5583 (1822) im Amt.67 Zusammen mit ihm wurde zunächst Natan Ellinger zweiter Rabbiner. David wechselte jedoch 1808 nach Hamburg, so dass zunächst Abraham Moch und Löb (Leo/Léon) Ellinger (1770–1847), genannt Löb Schnadig, zu Vertretern des Oberrabbiners, so genannten „Rabbinatsverwesern“, ernannt wurden.68 Während sich von Rabbiner Moch bislang keine Spuren in der Bibliothek fanden, sind unter den bei den Büchern aufbewahrten Handschriften sogar Schülermitschriften aus dem Unterricht Ellingers in der Mainzer Yeshiva erhalten.69 Zumindest ein Buch mit einem Namenszug des Vaters von Löb Ellinger konnte nachgewiesen werden.70 Mit Ellingers Tod schied der letzte Mainzer Rabbiner alter Schule aus dem Leben.71 1.3 Abraham Loeb Schles(s)inger Eine ganze Reihe von älteren Drucken stammt aus dem Besitz des Getreidehändlers und Gemeindevorstehers Abraham Loeb Schlessinger. Diese in der Geschichte der Mainzer Juden bislang wenig beachtete Persönlichkeit gehörte dem Rat der Juden an, der alle drei Jahre in freier Wahl gewählt wurde. Zu Vorstehern der Gemeinde wurden damals nur die reichsten und angesehensten Männer der Gemeinde gewählt. Ein Vorsteher oder Schultheiß (Hebräisch „Parnas“ oder Mainzerisch „Pa-

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Vgl. Löwenstamm, ebd.; Wilke, Rabbiner, Bd. 1, S. 203; ders., Talmud, S. 112. – Wie wichtig die Beziehung der Bondi-Familie mit der Scheuer-Familie für die Mainzer Gemeinde war, belegt auch das zu einem „Parokhet“, einem Tora-Vorhang, umgeschneiderte Brautkleid der Frau von Tevle Scheuer, Bella Ulitz aus Bamberg, also das Brautkleid der Stammmuter der Bondi-Familie, das später im Museum für Jüdische Altertümer in unmittelbarer Nähe zum Wimpel ihres Urenkels, Rabbiner Jona Bondi, ausgestellt wurde. So zu erkennen auf alten Fotos des Ausstellungsraumes. Die Exponate sind verlorengegangen. 65 Vgl. zu ihm unten Kapitel 4.4. Der Band trägt die Signatur Fe 142. 66 Die hebräisch-deutsche Notiz lautet: ‫שייך אן רער איזראעליטישע רעליגיואנסגעזעלשאפט מן הספרים לנדר‬ ‫להם הרב ר‘ בער שייאר זצ"ל‬. „Gehört der israelitischen Religionsgesellschaft, von den Büchern, die gewidmet wurden von dem Rav, Rabbiner Baer Scheuer, das Andenken des Gerechten zum Segen“. 67 Vgl. Salfeld, Bilder, S. 146. Dass er in der Namensliste aus dem Jahre 1808 als „Exrabbin“ geführt wird, hängt mit seiner kurzzeitigen Abdankung zusammen. 68 Vgl. Frenkel, Die israelitische Gemeinde Mainz, S. 67. Ellinger wird in der Liste aus dem Jahre 1808 als „Jonathan Ellinger“ geführt. Er war mit Helene Canstadt vermählt. Der Name „Canstadt“ lässt sich ebenfalls in einigen hebräischen Bänden nachweisen. 69 Vgl. Ms Mainz Jüdische Gemeinde 14 (so mit Wilke, ebd.); Róth, Hebräische Handschriften, S. 193 geht davon aus, dass diese anonym überlieferten Novellen von Scheuer stammen. Er wird allerdings noch als lebend erwähnt, so dass der Text von einem Schüler verfasst sein dürfte. 70 Siehe dazu unten. 71 So Löwenstamm, Geschichte, S. 239. Siehe zu ihm noch Wilke, Rabbiner, Bd. 1, S. 278f.

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IV. Die Bibliotheken in der Bibliothek

Abb. 30: Löb Abraham Schlessinger … „wohnhaft bei der Großen Bleiche Lit. D. No. 382“

nas“), der oft über viele Jahre fungierte, übernahm im monatlichen Wechsel mit einem anderen die Leitung der Gemeindegeschäfte und verwaltete die Finanzen.72 Die Schreibweise des Namens Schlesinger in deutschen bzw. französischen Dokumenten variiert. In den „Erklärungen ueber die Annahme von Vor- und Familienname“, die er am 15. Oktober 1808 unterschrieben hat, findet sich die Namensansetzung „Abraham Leon Schlesinger“.73 Als Berufsbezeichnung ist daneben notiert: „md de grains“. Außerdem findet sich sein Name im „Verzeichnis der beitragenden Mitglieder des engeren Verbandes der Israel. Gemeinde in Mainz“ vom 18. Februar 1849 (Nr. 213).74 Zu dieser Zeit wohnte er in dem Hauskomplex D. 309.75 Sein Sohn Löb, dem er ein Buch vermachte, zog einem Besitzervermerk zufolge später in die Große Bleiche („Lit. D. 382“)76 um. Offenbar gehörte die 72

Vgl. hierzu ausführlich Krimhilde Lachner / Robert R. Luft / Susanne Schlösser, Die jüdische Gemeinde in der Frühneuzeit. Verfassung, Ämter, Institutionen, in: Heinz Duchhardt (Hrsg.), Beiträge zur Geschichte der Mainzer Juden in der Frühneuzeit, Mainz 1981, S. 77f. 73 Vgl. Salfeld, Bilder, S. 73, und siehe auch das Original in den CAHJP D Ma 7/20a-b. Die Schreibweise konnte variieren, und auch in den Besitzvermerken in den Büchern findet sich neben „Schlessinger“ die Ansetzung „Schlössinger“ und „Schlösinger“. 74 Vgl. StA Mainz, Kat. Nr. 148. 75 Vgl. die Liste der Judennamen von 1808, Nummer 521. Verheiratet war er mit einer Sara Seligmann. 76 Siehe die Abb. 30. Vgl. zu den Angaben der Viertel den Mainzer Stadtplan von Joseph Lehnhardt aus dem Jahre 1844. Loeb war mit Hebe Dahl vermählt, sie hatten zwei Töchter.

1. Die „Stratigraphie“ des Bestandes

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Familie aufgrund ihres Wohlstandes zu den ersten, die nicht mehr im alten Judenviertel ansässig blieb.77 Das verwinkelte Judenviertel war bereits 1798 aufgelassen worden, und vor allem wohlhabende Familien wie die Familien Ladenburg, Fränkel, ReilingSchmalkalden, Simon, Jourdan, Fulde, Reinach und Oppenheim ließen sich – auch weil sich die jüdische Bevölkerung in den Jahren fast verdoppelt hatte – bald in besseren Vierteln der Stadt nieder.78 Im Museum für Jüdische Altertümer, von dem sich nur wenige Reste im Landesmuseum Mainz erhalten haben, befanden sich vor dem Krieg etliche Kultgegenstände aus dem Schlesingerschen Familienbesitz. Einzelne Inschriften auf diesen Gegenständen wiesen auf Abraham Schlessinger als Spender oder Besitzer hin. Der angesichts der wertvollen Bücher zu gewinnende Eindruck von Wohl- und Bildungsstand dieser Familie wird hierdurch bestärkt.79 Von Abraham Loeb Schlessingers einst wohl beeindruckendem Epitaph auf dem alten jüdischen Friedhof ist leider nur noch ein nicht mehr zu lesender Überrest erhalten.80 1.4 Marcus Lehmann Der bedeutendste und umfangreichste Hebraica-Bestand in Mainz stammt aus dem Nachlass von Rabbiner Dr. Marcus (Me’ir)81 Lehmann (1831–1890). Etwa siebzig Prozent der Hebraica in der Jüdischen Bibliothek Mainz stammen aus diesem aufgrund von Stempeln leicht erkennbaren Nachlass.82 Wie der ursprünglich der Israelitischen Religionsgesellschaft zuzuordnende Bestand Lehmanns in die liberale Religionsgemeinde kam, lässt sich nicht mehr genau rekonstruieren. Anscheinend ist die „Lehmann-Bücherei“, in die auch die Bücher seines Sohnes und Nachfol-

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Siehe hierzu Friedrich Schütz, Die Geschichte des Mainzer Judenviertels, in: Michael Mattheus (Hrsg.), Juden in Deutschland, Mainzer Vorträge 1, Stuttgart 1995, S. 33–60. 78 Vgl. hierzu Sigmund Fridberg, Das Judenviertel um 1860, in: Magenza. Ein Sammelheft über das jüdische Mainz im fünfhundertsten Todesjahre des Mainzer Gelehrten Maharil, hrsg. vom Verein zur Pflege jüdischer Altertümer in Mainz unter Leitung von Sali Levi, Menorah 5, Jg. 12, Berlin 1927, S. 92. 79 Darauf deuten zudem die zahlreichen Kultgegenstände hin, die mit dem Namen Schles(s)inger in einem in den CAHJP in Jerusalem erhaltenen „Inventarium der israel. Religionsgesellschaft zu Mainz“ vom 1. Januar 1862 verzeichnet sind (Signatur D Ma 8/1a). 80 Vgl. das Verzeichnis der Grabsteine vom 28.09.99: Nr. 975. 81 Der alliterierende hebräische Vorname findet sich z. B. in hebräischen Publikationen und auf seinem Epitaph. Die Schreibweise des Vornamens „Marcus“ mit „c“ oder „k“ variiert. Häufiger belegt ist die latinisierte Schreibweise mit „c“. Lehmann nahm den Vornamen erst an, als er nach Mainz kam, denn im zeitgenössischen Mainz war noch ein Gesetz aus der napoleonischen Zeit wirksam, welches vorschrieb, dass alle männlichen Einwohner den Namen einer weltgeschichtlichen Persönlichkeit zu tragen hätten. 82 Da Marcus und später auch sein Sohn Oscar Lehmann die Bücher aus ihrem Besitz nicht mit einem Stempel gekennzeichnet haben, stammen möglicherweise noch viel mehr hebräische und jiddische Titel aus dem Familienbesitz Lehmann. Die Stempel „Lehmann-Bücherei“ sind erst nachträglich angebracht worden. Doch finden sie sich nicht in allen Büchern, die Oscar Lehmann gehörten. – Zu einigen Zimelien aus dem Nachlass Lehmanns vgl. unten Kapitel VI.4.

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IV. Die Bibliotheken in der Bibliothek

gers Oscar Lehmann aufgenommen worden waren83, bereits vor der endgültigen Schließung der Gemeinde aus nicht mehr im einzelnen nachvollziehbaren Gründen an die größere Hauptgemeinde übergeben worden.84 In diese „Lehmann-Bücherei“ sind verschiedene ältere Bestandsschichten zusammengeflossen, die dann in die etwas kleinere und kaum hebräische Titel umfassende „Salfeld-Bücherei“ eingeordnet wurde.85 Da die Synagoge in der Flachsmarktstraße in der Nacht zum 9. November zunächst nicht vollständig zerstört wurde, da sie zu nah an von Nicht-Juden genutzten Gebäuden stand, blieb zunächst wohl auch ein Teil des dort befindlichen Buchbestandes erhalten. Er wurde vermutlich erst im Dezember 1939 (oder 1940?), als die Synagoge endgültig demoliert wurde, an einen anderen Ort verbracht – aller Wahrscheinlichkeit nach zu den anderen jüdischen Büchern in die Stadtbibliothek.86 Die Zusammenlegung der „Lehmann-Bücherei“ mit dem Salfeld-Bestand ist somit vor dem Hintergrund der Zwangsvereinigung der Mainzer jüdischen Gemeinden zu verstehen. Diese Zwangsvereinigung der Bücher in der „jüdischen Kultusvereinigung“ besiegelte auch für die Literatur das Ende jener orthodoxen Tradition in Mainz, für die der Name Lehmann steht.87 Tragischerweise wurden ausgerechnet jene Werke, die er dazu verwendete, seine eigene Tradition aufrechtzuerhalten, von den Gemeindemitgliedern weiterverwaltet, mit denen er sich jahrzehntelang auseinandergesetzt hatte. Welche Zwangsmaßnahmen damit auch in Mainz einhergegangen sind, lässt sich aus Nachrichten über vergleichbare Vorgänge in anderen deutschen Städten erschließen.88

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Siehe dazu unten S. 67 f. Wie diese bemerkenswerte Zusammenlegung zu erklären ist, muss letztlich offen bleiben. Berichte über einen noch kurz vor der Schließung des Synagogenkomplexes an der Flachsmarktstraße im Jahre 1939 vorhandenen Buchbestand machen es wahrscheinlich, dass die Lehmann-Bücher erst unmittelbar vor der Schließung der Gemeinde zum dortigen Verbleib in die Hauptgemeinde gebracht wurden. Erst zu diesem Zeitpunkt wurden sie mit dem Stempel „Lehmann-Bücherei“ gekennzeichnet – vielleicht um sie von der „Salfeld-Bücherei“ zu unterscheiden und zu gegebener Zeit wieder zurückgeben zu können und das Andenken an den bedeutenden Rabbiner zu wahren. 85 Wahrscheinlich wurden die Lehmann-Bücher erst im Zuge dieser Zusammenführung mit neuen Signaturschildern versehen. Dies geschah allerdings nicht mit allen Bänden, denn einige Exemplare aus der „Lehmann-Bücherei“, zum Teil Dubletten, tragen keine neuen Signaturschilder. Es könnte daher sein, dass ein Teil der Bücher aus der orthodoxen Gemeinde einen anderen Weg in den Bestand genommen hat, was auch erklären würde, warum so viele mehrbändige hebräische Werke über mehrere Regale verstreut eingeordnet bzw. aufgestellt wurden. Noch bei der Bestandserhebung nach dem Krieg und in der Beschreibung für das Handbuch des historischen Buchbestandes führte dies dazu, dass die so durcheinander geratenen mehrbändigen Werke nicht korrekt gezählt, d. h. viele Werke mehrfach aufgeführt wurden. 86 Siehe hierzu von Dietze, Der Weg in die Vernichtung, S. 85 mit einer Abbildung des Schreibens vom 15. 5.1940, in dem die Zerstörung der Synagoge erwähnt wird. Vgl. auch Stefan Fischbach / Ingrid Westerhoff, „… und dies ist die Pforte des Himmels“ 1. Mos. 28,17. Synagogen RheinlandPfalz – Saarland, Mainz 2005, S. 425. 87 Vgl. hierzu etwa Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen, Bd. 2, S. 42. 88 Auf Anordnung der Gestapo vom 1.4.1939 wurden die Israelitische Religionsgemeinschaft und die Israelitische Gemeinde in Frankfurt am Main zu einer Gemeinde zusammengeschlossen. 84

1. Die „Stratigraphie“ des Bestandes

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Der besondere Wert der „Lehmann-Bücherei“ wird vor dem Hintergrund von Leben und Werk dieses Mainzer Gelehrten deutlich:89 Dr. phil. Marcus Me’ir Lehmann stammte aus Verden an der Aller, welches damals zum Königreich Hannover gehörte. Sein Vater, der gelehrte Lemmel ben Aron Welsberg, stammte aus Zeckendorf in Oberfranken. Er war der erste Jude, der sich in Verden niederlassen durfte. Me’ir studierte zunächst bei seinem Vater, dann an einer Yeshiva in Prag und schließlich in Halberstadt. Bereits in Prag kam Lehmann mit einer aufgeklärten, philosophisch orientierten orthodoxen Denkweise in Berührung.90 Nach dem Abitur am Dom-Gymnasium von Verden studierte er an der Universität Halle, wo er mit einer Arbeit über den deutschen Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz promoviert wurde.91 Nach 1848, als sich bereits unter Samuel Scheuer, Moritz Reiss und dann unter Leitung von Samuel Bondi eine orthodoxe bzw. „tora-treue“ Separatgemeinde gebildet hatte, wurde Lehmann nach Mainz berufen.92 Zu dieser Zeit wirkte Joseph Aub (1804–1880) aus Bayreuth als Hauptrabbiner in Mainz.93 Er führte in der Mainzer Synagoge erste gemäßigte Reformen ein, wie z. B. die Predigt und Rezitation einzelner Gebete in Deutsch;94 außerdem wollte er das Kol nidre, eines der zentralen, wenn auch recht jungen Gebete der Yom Kippur-Liturgie, abschaffen und durch ein deutschsprachiges Lied („O Tag des Herrn“) nach der alten Melodie ersetzen.95 Erwogen wurde von ihm auch die Einführung der Konfirmation und von 89

Zu ihm vgl. Jacob Rothschild, Art. Lehmann, Marcus, in: EJ 10 (1971), Sp. 1582f; Wilke, Rabbiner, Bd. 2, S. 578–580; Hermann Schwab, The History of Orthodox Jewry in Germany, London 1950, S. 49. Die umfangreichste, aber auch romantisierende Darstellung seines Lebens bietet Jon Lehmann, Dr. Marcus Lehmann, Frankfurt am Main 1910. Wichtige Hinweise finden sich auch in den zahlreichen Nachrufen, die zum Teil im Israeliten und in der Zeitschrift Jeschurun erschienen und in der Jüdischen Bibliothek Mainz in einem Sammelband mit der Signatur G 313 zusammengestellt sind. Wenig brauchbar ist Kurt Assendorf (Hrsg.), In Memoriam Marcus Lehmann, 1831–1890. Publizist, Historiker, Romancier, Rabbiner. Der berühmte Jude aus Verden, der in seiner Vaterstadt ein Unbekannter blieb, Sonderbeitrag zum Verden Millenium, Kirchweyhe 1985. 90 Hierfür sprechen nicht nur einige hebräische Titel aus seiner Bibliothek, die der Haskala zuzurechnen sind., sondern auch, dass er noch Jahre später zu Studienkollegen aus der Zeit bei Rapoport Kontakte pflegte, wie z. B. zu Rabbiner Dr. Hermann Adler in London, von dem sich Buchgeschenke in seinem Buchbestand nachweisen lassen. 91 Vgl. Marcus Lehmann, Lockii doctrina de intellectu humano, ejus principia et quae contra ea a Leibnitzio prolata sunt, exponantur et dijundicantur, Diss. Halle 1854. – In dieser Dissertation überprüfte er kritisch John Lockes Schrift „Über den menschlichen Verstand“. Vgl. zum schwierigen Weg der Themenfindung Jon Lehmann, Dr. Marcus Lehmann, S. 25–26. 92 Eine Zeit lang wohnte er in der Großen Bleiche Nr. 47, was dem Programm der Unterrichtsanstalt der israelitischen Religions-Gesellschaft zu entnehmen ist. 93 Vgl. zu ihm Wilke, Rabbiner, Bd. 1, S. 152–154; Jeannette Strauss Almstadt, Art. Aub, Joseph, in: BBKL 27 (2007), Sp. 63–70. 94 Siehe hierzu Drobner, Entwicklung, S. 159–163. 95 Siehe hierzu seine polemische Stellungnahme zu einem (auch separat gedruckten) Artikel M. Lehmanns, Die Abschaffung des Kol Nidre. Eine Zeitfrage (Altsignatur L/262), der zunächst in der Israelit Nr 13 erschienen war: Joseph Aub, Die Eingangsfeier des Versöhnungstages. Ein abgedrungenes Wort der Belehrung und Beruhigung an seine Religionsgemeinde, Mainz 1863. Aub war, so behauptet er zu Beginn, auf diese Schrift Lehmanns durch einen Bericht im Mainzer Anzeiger aufmerksam geworden. Später antwortete ihm M. Lehmann darauf in: Marcus Lehmann, Die Ab-

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IV. Die Bibliotheken in der Bibliothek

Chorgesang im regulären Gottesdienst. Der Almemor, der Lesepult für die Toraund Haftara-Lesungen, sollte wie in anderen Reformgemeinden von der Mitte des Synagogenraums vor die Lade, den Tora-Schrein, versetzt werden. Mit diesen Neuerungen, die weitgehend an Vorschläge der Frankfurter Rabbinerversammlung von 1845 anknüpften96, stieß Aub jedoch bald auf den erbitterten Widerstand Lehmanns und anderer traditionell gesinnter Mitglieder des 1851 gegründeten „provisorischen Comites wegen fernerer Erhaltung des jüdischen Religions-Cultus in seiner bisherigen Ausübung“.97 Am 24. März 1853, dem ersten Tag Purim, ein Donnerstag, leitete Aub die Einweihung der neuen Synagoge samt Orgel, was die endgültige Trennung besiegelte und die scharfen Reaktionen Lehmanns und der mittlerweile im „Verein zur Aufrechterhaltung des orthodoxen Judentums“ vereinten traditionell eingestellten Gemeindemitglieder hervorrief.98 Wohl wegen besserer Wirkungsmöglichkeiten wechselte Aub dann im Jahre 1866 nach Berlin. Der Widerstand und Protest gegen ihn und die von ihm durchgeführten Neuerungen ebte daraufhin etwas ab, richtete sich aber bald wieder gegen andere Gemeindemitglieder und -vertreter, zumal als die von Aub eingeleiteten Reformansätze weiter vorangetrieben wurden.99 Die nach der Einstellung Lehmanns im Jahre 1858 folgenden innergemeindlichen Auseinandersetzungen waren bereits in Gang gesetzt; trotz seines Weggangs aus Mainz konnte Aub auf diese Weise zahlreiche „indirekte“ Spuren auch in der Gemeindebibliothek hinterlassen.100 Lehmanns Autorität nahm auf diese Weise allerdings weiter zu. Als er nach Mainz kam, besaß er bereits zwei Rabbiner-Autorisationen („Semihot“): Die erste stammte von Rabbiner Shmu’el Yehuda Rapaport, einem bedeutenden Vertreter der osteuropäischen, galizischen Aufklärung (Haskala) in Prag101; eine zweite von Ezriel Hildesheimer (1820–1899), einem der führenden Köpfe der traditionellen schaffung des Kol nidre und Herr Dr. Aub in Mainz: ein Wort der Entgegnung, Mainz 1863 (F 37; M 111; J 215). 96 Zum Hintergrund vgl. Michael A. Meyer, Antwort auf die Moderne. Geschichte der Reformbewegung im Judentum, Wien, Köln, Weimar 2000, S. 198ff. 97 Vgl. hierzu Drobner, Entwicklung, S. 164. 98 Dokumentiert ist dieser „Orgelstreit“ in der Schrift von Dr. Lehmann, Die Orgel in der Synagoge. Eine Zeitfrage dargestellt und besprochen, Mainz 1862 (Signatur L/265 u. ö.). Zur Orgel als dem unterscheidenden Merkmal des liberalen im Gegensatz zum traditionellen jüdischen Gottesdienst siehe auch Michael A. Meyer, Jüdische Identität in den Jahrzehnten nach 1848, in: Michael Brenner / Stefi Jersch-Wenzel / Ders., Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. 2: Emanzipation und Akkulturation 1780–1871, München 1996, S. 331. Umfassend ist die Thematik aufgearbeitet von Tina Frühauf, Orgel und Orgelmusik in deutsch-jüdischer Kultur, Netiva 6, Hildesheim u. a. 2005. 99 Aufgrund seines Weggangs sind keine Bücher aus seinem Bestand in Mainz erhalten. Nur seine Antrittspredigt, gehalten am 4. Dezember 1852 (Shabbat we-yeshev 5613), Bayereuth 1852 findet sich im Sammelband „Reden verschiedenen Inhalts“, Signatur F 39. 100 Nur in einem Band des Jahrbuchs für die Geschichte der Juden (1860) hat sich sein Namenszug erhalten. Dieses Bändchen trägt jedoch keine Signatur und lässt sich nicht sicher seinem Besitz zuordnen. Zu einem nicht mehr genau zu ermittelnden Zeitpunkt erhielt der Band einen Stempel der „Bibliothek der Jüdischen Gemeinde Bingen a. Rh.“ 101 Zu Rapaport (Akronym Shir), einem der wichtigsten Schüler Nachman Krochmals, vgl. Isaac

1. Die „Stratigraphie“ des Bestandes

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Richtung des Judentums in Deutschland und Lehrer vieler angesehener Rabbiner.102 Nach Mainz war Lehmann zunächst allerdings nur als „Prediger“ berufen worden, da es nach dem im Großherzogtum Hessen-Darmstadt geltenden Recht in jeder Stadt nur einen amtierenden Rabbiner geben sollte und der Amtstitel geschützt war.103 Dennoch wurde er von den Gemeindemitgliedern sofort als Rabbiner angesehen und übernahm wohl auch gleich die Rolle eines Lehrers und Gemeindeleiters. Da Lehmann bald erkannte, wie assimiliert die Gemeinde war, bemühte er sich persönlich und sogar mit einem ausgearbeiteten Programm um eine neue Schule, in der vor allem das Hebräische wieder gepflegt werden sollte.104 1856 konnte die Israelitische Religionsgesellschaft (IRG) dann eine eigene Synagoge an der Ecke Flachsmarktstraße/Margarethengasse einrichten. Einige Bücher aus dieser Schule sind in der Jüdischen Gemeindebibliothek erhalten.105 Marcus Lehmann verfügte über umfassende Bildungsinteressen106 und über weitreichende Beziehungen und Kontakte – beides lässt sich an seiner Bibliothek noch klar nachvollziehen. Bereits aus seiner Studienzeit in Halberstadt scheint er Bücher, die er zum Teil antiquarisch erstanden hatte, mit nach Mainz gebracht zu haben.107 Zahlreiche Hebraica scheint er darüber hinaus über Händler in Osteuropa erworben zu haben, oder Besucher brachten ihm Bücher von ihren Reisen mit. Vor allem interessierten ihn wohl traditionelle Textausgaben, Midrasch- und TalmudDrucke (insbesondere solche des Jerusalemer Talmud108), Halakha-Kompendien, Predigt-Sammlungen und rabbinische Responsen. Auch Kommentare zu den Sprüchen der Väter, Pirqe Avot, die er selbst ins Deutsche übertragen und kommentiert hat, finden sich in großer Zahl.109 Etliche Werke von Moshe ben Maimon, insbeBarzilay, Shlomo Yehuda Rapaport (Shir) (1790–1867) and His Contemporaries. Some Aspects of Jewish Scholarship of the Nineteenth Century, Jerusalem 1969. 102 Zu diesem „Talmudisten alten Schlages“ vgl. Breuer, Jüdische Orthodoxie, S. 120f; siehe weitere Details bei Wilke, Rabbiner, Bd. 1, S. 434–437. 103 Erst ab dem 17. August 1858 durfte Lehmann auch Trauungen bei Mitgliedern der Gemeinde vornehmen; das Gesuch um den Titel eines „Großherzoglichen Rabbiners“ wurde jedoch zunächst abgelehnt. Vgl. Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen, Bd. 1, S. 22; Frenkel, Die israelitische Gemeinde Mainz in der Neuzeit, S. 70. 104 Die Zustände werden eindrucksvoll von Jon Lehmann, Dr. Marcus Lehmann, S. 39f geschildert. Lehmann ging von Haushalt zu Haushalt, um die Familien von der Notwendigkeit eines Hebräisch-Unterrichts für die Kinder zu überzeugen. Siehe dazu auch das „Pogramm der Unterrichtsanstalt der israelitischen Religions-Gesellschaft zu Mainz“ aus dem Jahre 1859, wieder abgedruckt in: Juden in Mainz, hrsg. von Friedrich Schütz, Mainz 1978, S. 119. 105 Vgl. hierzu ausführlicher unten Kapitel VII.1. Lehmann gehörte mit Jacob Levy und Hugo Bondi seit dem 24. Februar 1859 zu den Lehrern dieser Schule. 106 Jon Lehmann, Dr. Marcus Lehmann, Frankfurt am Main 1910, S. 18 berichtet über seine Zeit in Halberstadt etwa, dass er dort das Theater schätzen lernte. 107 Vgl. die oben erwähnten Stempel eines Halberstädter Buch- und Antiquitätenhändlers. Weniger wahrscheinlich ist, dass die Halberstädter Provenienz mit der Heirat von Eva Bondi, einer Tochter von Jona Bondi, mit Gustav Hersch in Halberstadt zusammenhängt. Vgl. dazu auch CAHJP D Ma 8/1a, „Inventarium der israelitischen Religionsgesellschaft“. 108 Siehe dazu unten Kapitel IV.1.4. 109 So etwa das von ihm häufig zitierte Kommentarwerk von Shmu’el ben Yiṣhaq, Midrash Shmu’el, Warschau 1876 (Signatur M ‫ מ‬46). Seine Übersetzung und Kommentierung der Pirqe Avot erschien zunächst in Auszügen in „Der Israelit“, dann zusammen herausgegeben von seinem Sohn

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IV. Die Bibliotheken in der Bibliothek

sondere die Mishne Tora, aber auch der lange umstrittene More nevukhim („Führer der Unschlüssigen“), das philosophische Hauptwerk dieses bedeutenden mittelalterlichen, sefardischen Gelehrten, sind vertreten.110 Zahlreich erhalten sind auch Ausgaben des ethischen und halakhischen Hauptwerkes des aus Frankfurt stammenden Rabbiners Yeshaya Horowitz (1565–1630), Shene luhot ha-brit bzw. die kurze Fassung Qissur shene luhot ha-brit.111 Häufig sind unter den mit seinem Namen gestempelten Werken die Schriften der wichtigsten rabbinischen Autoritäten seiner Zeit vertreten, wie z. B. die des „Würzburger Rav“ Yishaq Dov ha-Lewi Bamberger112 oder des Hatam Sofer (1762–1839), der noch in der Mainzer Yeshiva studiert hatte. Auffällig selten begegnen dagegen kabbalistische Titel113 – und dies obwohl Lehmann noch 1883 von sich selbst in „Der Israelit“ schreibt, dass er sich „seit einem Vierteljahrhundert mit dem Studium der bedeutenden kabbalistischen Schriften“ befasst habe.114 Bezeichnenderweise finden sich in seinen Schriften aber kaum Hinweise auf oder gar Zitate aus dieser Literatur, und auch chassidische Schriften, die zu seiner Zeit in orthodoxen Kreisen verbreitet waren, wurden von ihm offensichtlich nicht systematisch gesammelt oder in seine Bibliothek aufgenommen.115 Auch an diesem Oscar auch unter dem Titel: Die Sprüche der Väter, 3 Bde., Frankfurt am Main 1921–1922; 1923 (Signatur T 167). 110 Erhalten ist ein Exemplar von Moshe ben Maimon, More nevukhim, Venedig 1551, mit einem hebräischen Besitzervermerk von „Me’ir Lehmann“ (alte Signatur HL/844). 111 Zu diesem Werk vgl. Haim Hillel Ben-Sasson, Art. Horowitz, Isaiah ben Abraham Ha-Levi, in: EJ 8 (1971), Sp. 991f. In der Jüdischen Bibliothek finden sich mindestens fünf Exemplare der Qissur shene luhot ha-brit, und zwar sowohl Bände des Druckes Amsterdam 1701 (Signatur M ‫ק‬ 72) als auch Amsterdam 1745 (Signatur M ‫ ק‬74). Sie alle stammen aus dem Nachlass von Marcus Lehmann. 112 Vorhanden ist etwa ein Exemplar von Y. B. Bamberger, Sefer qore be-emet. Perush ‛al derashot „al-tiqre“ she-ba-Shas, Frankfurt am Main 1871 (Signatur M ‫ ק‬48; alte Signatur HL/2030). 113 Aus Lehmanns Bibliothek zu nennen sind etwa ein stark beschädigtes Exemplar des Zohar hadash u-midrash ha-ne‛elam, Teil 1, gedruckt von Gerolamo Bragadino, Venedig [1658] (alte Signatur HL/534); zu diesem seltenen Druck, der oft in das Jahr 1663 datiert wurde, vgl. Gerhard Scholem, Bibliographia Kabbalistica, Berlin 1933, S. 175 (dort datiert 1658, aber in seinem Handexemplar in der Scholem-Bibliothek Jerusalem „oder vielleicht 5423 [1663?]“). Erhalten ist auch ein Exemplar des Sefer Tiqqune ha-Zohar, Livorno 1795 (Signatur M ‫ מ‬38; alte Signatur HL/929) (mit einer italienischen Widmung); ebenfalls aus der Lehmann-Bücherei stammt ein Exemplar von Moshe ben Ya‛aqov Albilda, Sefer reshit da‛at, Venedig 1583 (Signatur M ‫ ד‬18; alte Signatur H 322). 114 Zu dem Zitat vgl. Gerschom Scholem, Die letzten Kabbalisten in Deutschland, in: Ders., Judaica 3, Frankfurt am Main 1987, S. 227. 115 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Lehmann in seinen Auslegungen und Kommentaren oft den litauischen Maggid Rabbi Ya’aqov Kranz aus Dubno (1741–1804) zitiert, einen nicht-chassidischen Prediger also, der allerdings auch in chassidisch inspirierten Kreisen respektiert wurde. Vgl. z. B. seine posthum, von seinem Sohn Oscar herausgegebene Haggadah shel Pesach, Mainz 1906, S 12, und siehe dazu Andreas Lehnardt, Die Mainzer Haggadah von Rabbiner Marcus Meir Lehmann, in: Magenza. Zeitung der Jüdischen Gemeinde Mainz 39,1 (2008), S. 6–7. – Ein besonders bemerkenswerter chassidischer Titel aus der IRG, das Werk „No‛am Elimelekh“ von Rabbi Elimelech von Lisensk (Warschau [1920?]), ist in der in Anhang 6 veröffentlichten Liste aufgeführt. In der JBM erhalten unter der Signatur M ‫ נ‬8.

1. Die „Stratigraphie“ des Bestandes

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Befund zeigt sich m. E. ein Charakteristikum seiner traditionellen Orthodoxie, die sich von der eines Hatam Sofer in Pressburg ebenso unterschied wie von der eines Samson Rafael Hirsch (1808–1888) in Frankfurt am Main.116 Dass Lehmann daneben auch die deutschsprachige wissenschaftliche Literatur seiner Zeit zur Kenntnis nahm, belegen die Werke von Leopold Zunz und anderer Vertreter der Wissenschaft des Judentums, die den Stempel seiner Bibliothek tragen. Auch trug er zahlreiche jüdische Legenden- und Sagenbücher zusammen, die er wohl für die Abfassung seiner beliebten und bis heute viel gelesenen Romane und Kindererzählungen benötigte.117 Mit diesen belletristischen Werken, die an jüdische Heroen der Vergangenheit erinnern sollten, wollte der Mainzer Rabbiner vor allem die Liebe zu dem Judentum wecken, welches er für „das wahre“ bzw. „toratreue“ hielt.118 Für zahlreiche orthodoxe Autoren nach ihm wurde er hierdurch zu einem Vorbild – insbesondere für seinen Sohn Oscar, auf den noch gesondert einzugehen sein wird.119 Teile seiner Bibliothek enthalten Spuren seiner Mitarbeit an der Pentateuchausgabe der orthodoxen israelitischen Bibelanstalt. Erhalten ist etwa ein Band der Schülerausgabe der Übersetzung des ersten Buches Moses, herausgegeben von S. B. Bamberger, A. Adler und ihm selbst, gedruckt in Frankfurt am Main 1905.120 Dieses Unternehmen war aus dem Anliegen des traditionell orientierten Judentums heraus entstanden, den liberalen Bibelübersetzungen entgegenzutreten und eine den „Ansprüchen des wahren Judenthums“ genüge leistende Ausgabe zu schaffen.121 Einige andere Bibelübersetzungen und Lehrbücher zur Bibel in der Jüdischen Bibliothek dürften auf die im Zusammenhang mit diesem Projekt angeschafften Bücher zurückzuführen sein.

116

Zu Hirsch siehe unten S. 65. Bemerkenswert ist etwa ein Titel wie der von David Friedländer, Toldot anshe Mofet. Oisfirlikhe lebens-beshreibungen der herforagensten und ferdinstfolsten menner des Yudentums, Budapest o. J. [ca. 1880] (Signatur HL/494; alte Signatur M ‫ ת‬22a). Dieses Exemplar trägt einen handschriftlichen Besitzervermerk von Oscar Lehmann, außerdem eine handschriftliche Signatur „hebräische Literatur 6“, die möglicherweise auf O. Lehmann zurückgeht. 118 In der Jüdischen Bibliothek Mainz sind von diesen Werken Lehmanns nur wenige Exemplare erhalten, darunter: Akiba. Historische Erzählung aus der Zeit der letzten Kämpfe der Juden gegen die römische Weltmacht, nach talmudischen und römischen Quellen bearbeitet, 2. Aufl. Frankfurt am Main 1920 (Signatur L 253); Bath Ruchomo. Erzählung, Hebräisch übersetzt von Blume Beinaschewitz aus Kowno, Warschau 1899 (Signatur L 251; aus „Der Israelit“ auf Deutsch unter dem Namen „Jacobine“); ders., Säen und Ernten, Mainz [1902]; ders., Rabbi Joselmann von Rosheim. Historische Erzählung aus der Zeit der Reformation, Teil 1, Frankfurt am Main 1879; Teil 2, Frankfurt am Main 1880 (Signatur L 249). Das zuletzt aufgeführte Werk ist 1988 im Morascha-Verlag in Zürich nachgedruckt worden. 119 Zur Bedeutung Lehmanns als orthodoxem Schriftsteller vgl. Breuer, Jüdische Orthodoxie, S. 145f. 120 Signatur B 23. Auf dem Innenspiegelblatt des Vordeckels ist mehrfach der Vorbesitzername „H-Kern“ bzw. „Hedi-Kern“ und „Hedi“ festgehalten. Der Seitenverlauf dieser Ausgabe entspricht dem Druck der Gesamtausgabe von 1872–73. 121 So bereits Marcus Lehmann, in: Der Israelit 1861, S. 274. Siehe zu dem gesamten Unternehmen Bechtoldt, Bibelübersetzungen, S. 416–447, hier bes. S. 416. 117

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IV. Die Bibliotheken in der Bibliothek

Lehmanns Bibliothek spiegelt insgesamt die beachtliche Breite seiner Interessen wider. Neben einer Vielzahl seltener Hebraica aus fast allen Gebieten des traditionellen Judentums enthält sie auch zahlreiche philosophische Titel in deutscher Sprache, die vielleicht noch auf Lehmanns Zeit als Doktorand in Halle zurückgehen, wo er mit einer Arbeit über Leibnitz promoviert hatte. Auch hieran lassen sich seine enge Verbindung und seine Auseinandersetzung mit der kulturellen Umwelt ablesen. An ihr nahm er ebenso Anteil wie die assimilierten, weniger streng religiös ausgerichteten Gemeindemitglieder.122 Zahlreiche der seiner Bücherei zuzuschreibenden Titel bewahren in Buchdeckeln oder auf Vorsatzblättern Widmungen bedeutender und angesehener Gelehrter der Zeit. Sie belegen nicht nur die weitreichenden Beziehungen und Kontakte des Mainzers, sondern auch das hohe Ansehen, welches er in traditionellen Kreisen genoss. Hervorzuheben ist etwa ein von Ya‛aqov Sha’ul ben Eli‛ezer Elyashar (1817–1906), dem Rishon le-Siyyon, d. h. dem sefardischen Oberrabbiner von Israel, gewidmeter Band seiner Responsa, Shu’’t Simha le-Ish, Jerusalem 1888123, ein für sich genommen bereits sehr interessantes Werk mit zeitgenössischen Talmud-Novellen, Antwortschreiben und Piyyutim dieses bedeutenden israelischen Rabbiners.124 Zeit seines Wirkens setzte sich Lehmann für ein der Tradition verpflichtetes jüdisches Leben ein und grenzte sich gegen jede assimilatorische Tendenz vehement 122

Vgl. etwa einen Band aus Georg Wilhelm Friedrich Hegels, Werke(n), Vollständige Ausgabe, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, herausgegeben von Eduard Gans, 2. Auflage Berlin 1840 (Signatur P 145, alte Signatur L/1056). Der Band trägt einen handschriftlichen Vorbesitzervermerk von „Eduard Epstein“ und einen Händlerstempel von Emanuel Mai in Berlin. Dass der Band aus der Lehmann-Bücherei stammt, lässt sich auf Grund der mit Bleistift eingetragenen Altsignatur belegen. Gleiches gilt von dem Band Wissenschaft der Logik aus der gleichen Gesamtausgabe, Berlin 1841 (Signatur P 145; alte Signatur L/1056), mit einem älteren handschriftlichen Vorbesitzervermerk von „S. Hildesheimer“. 123 Signatur G 114 (alte Signatur HL/670). In den Einbandspiegel eingeklebt ist ein gedruckter und handschriftlich ergänzter Segenswunsch von Rav Elyashar für den „bedeutenden Rav und Ga’on Me’ir Lehmann“ erhalten. 124 Vgl. Geula bat Yehuda, Art. Elyashar, Jacob Saul ben Eliezer Jeroham, in: EJ 6 (1971), Sp. 691f. Der Text dieser Widmung, ein Ehrerweis von einem der höchsten Vertreter des Judentums seiner Zeit, lautet: ‫מזכרת נצח מעוררת אהבת דודים‬ ‫אתכבד להגיש את מנחתי לכבוד מעלת תהלת‬ ‫ תורתו( יעקב מאיר לעהמען הרב הגדול‬/ ‫הגאון וכו' כקש"ת )= כבוד קדושת שם תפארתו‬ ‫ זה חלקי מכל עמלי ילדי נר"ו‬.‫רוחי נטרי הרחמנא וברכיה )= ישמרהו הרחמן ויחייהו( נאמן אהבתי‬ ‫ זה ספר שמחה לאי"ש‬.‫מה שהשיגה דעתי‬ ‫אשר הוצאתי לאור בעזר העוזר האמיתי‬. ‫לפי‬ ‫ויזכה‬. ‫ יקבלהו בשמחה בעבור אההבתי‬.(‫קע"ד )= קוצר עניות דעתי‬ ‫וזרעו וז"ז )= וזרע זרעו( עדי ביאת מבשר טוב גואל להגות בו‬ ‫ כנא"ה )= כברכת נאמן‬.‫אהבתו( אי"שעט"י האמיתי‬ ‫יש"א ברכ"ה ס"ט‬ Elyashar trug den Kurznamen YSh’’A BRKh’’H (nach Ps 24,5), woraufhin er aus dem ‫ איש עתי‬eine andere Abkürzung machte: ‫אי"ש עט"י‬, was so viel bedeuten kann wie „ein Mann, der an der Einheit Gottes festhält“, eine typische Kurzformel, die von sefardischen Rabbinern bis heute in der Unterschrift verwendet wird.

1. Die „Stratigraphie“ des Bestandes

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ab. Dies kam 1864 etwa durch seine Unterstützung der ungarischen Trennungsorthodoxie im Prozeß gegen den jüdischen Redakteur Leopold Kompert (1822–1886) in Wien zum Ausdruck. Kompert war wegen Beleidigung verklagt worden, weil er einen Artikel von Heinrich Graetz veröffentlicht hatte, in dem jener die Erwartung eines persönlichen Messias geleugnet hatte.125 Von Lehmanns Shabbat-Predigten wird verschiedentlich überliefert126, sie seien aufgrund seiner begabten Rhetorik so mitreißend gewesen, dass ihn auch viele nicht streng-fromme Gemeindemitglieder hören wollten. Berichte wie solche, machen es nachvollziehbar, dass sich die Trennung zwischen den Mainzer Gemeindeflügeln anders gestaltete als etwa im Zuge des Austrittsstreits, der von Samson Raphael Hirsch in Frankfurt vollzog.127 Zwar stimmte Lehmann mit Hirsch in vielen Punkten wie zum Beispiel der Zurückweisung der historischen Kritik und der Wissenschaft des Judentums sowie in der Gegnerschaft einer Reform des Gottesdienstes überein. Doch war die Konsequenz für Lehmann nicht die institutionelle Trennung von der Gemeinde, nicht der formale Austritt, wie ihn Hirsch 1876 in Frankfurt gefordert hatte, sondern Lehmann und seine Anhänger blieben institutionell der „Gemeindeorthodoxie“ verbunden, entwickelten unter diesem Dach aber einen eigenen Gottesdienst mit eigenem Gebäude und vor allem einer eigenen Schule. Die Trennung ging aber nie so weit, dass sich Gemeindemitglieder der verschiedenen Richtungen nicht gegenseitig besucht hätten, und auch auf einen separaten Friedhof wie ihn Hirsch in Frankfurt einrichten ließ und auch in Wiesbaden zu finden ist, wurde in Mainz verzichtet.128 Trotz dieser gemäßigteren Haltung Lehmanns, die sich wohl vor allem durch die äußeren Umstände in Mainz erklärt, brachte er in einem 1889 publizierten Nachruf auf Hirsch seine ganze Wertschätzung für diesen Frankfurter „Vorkämpfer der gesetzestreuen Judenheit“ zum Ausdruck.129 Wie eng die Beziehungen Lehmanns zu Hirsch waren, wird auch an der von dem Mainzer 1860 gegründeten Zeitschrift „Der Israelit“ deutlich. Die als „Centralorgan für das orthodoxe Judenthum“ initiierte Zeitschrift war im Grunde eine publizistische Reaktion der Traditionellen auf 125

Siehe hierzu Breuer, Jüdische Orthodoxie, S. 275. Vgl. Leo Trepp in Dörrlamm, Magenza, S. 35. Dies wurde mir auch mündlich von Leo Trepp berichtet. 127 Zur Entwicklung der Israelitischen Gemeinde und der Israelitischen Religionsgesellschaft in Frankfurt nach 1866 vgl. Paul Arnsberg, Die Geschichte der Frankfurter Juden seit der Französischen Revolution, Bd. 3, Biographisches Lexikon der Juden in den Bereichen: Wissenschaft, Kultur, Bildung, Öffentlichkeitsarbeit in Frankfurt am Mainz, hrsg., vom Kuratorium Jüdische Geschichte e. V. Frankfurt am Main, Darmstadt 1983, S. 843–887. Für eine Charakterisierung der „Neo-Orthodoxie“ Frankfurter Prägung vgl. Breuer, Jüdische Orthodoxie, S. 27–34. Zu den Unterschieden der Mainzer Gemeindeentwicklung im Vergleich zu Frankfurt vgl. auch Drobner, Entwicklung, S. 196. 128 Vgl. hierzu Drobner, Entwicklung, S. 166. – Lehmann folgte in seinem Verhalten offenbar der Weisung des „Würzburger Rav“, der den Austritt Hirschs missbilligte, obwohl er mit seinen Anliegen sympathisierte. Zur Auseinandersetzung Hirsch vs. Bamberger vgl. Leo Trepp, Spaltung oder Einheit in Vielfalt. Die Kontroverse zwischen Samson Raphael Hirsch und Seligmann Bär Bamberger und ihre Bedeutung, in: Trumah 5 (1995), S. 47–68. 129 Vgl. „Rabbiner Samson Raphael Hirsch ‫“נ"ע‬, in: Der Israelit 30 (1889), S. 1–3 (zu Lehmanns Leichenrede am Grabe Hirschs vgl. ebd. S. 3). 126

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IV. Die Bibliotheken in der Bibliothek

Abb. 31: Rabbiner Dr. Marcus (Me’ir) Lehmann

die „Allgemeine Zeitung des Judentums“ von Ludwig Philippson.130 Ihr Pendant war die von Hirsch gegründete Zeitung „Yeshurun“, mit der sie von 1889 bis 1891 sogar zusammen erschien, was die enge Verbindung der Mainzer zur Frankfurter „Austrittsgemeinde“ unterstreicht.131 „Der Israelit“ stieß deshalb bald auf heftige Kritik, und zwar selbst von Seiten ansonsten als gemäßigt traditionell bzw. „konservativ“ geltender Rabbiner, wie z. B. Zacharias Frankel.132 Zwar hatte die Zeitung in den ersten Jahren seines Erscheinens einen reichlich provinziellen Charakter, doch besaß sie unter den sich als „orthodox“ definierenden Juden deutscher Sprache bis zur erzwungenen Schließung ihrer Gemeinden im Jahre 1938 eine beachtliche und vor allem einflussreiche 130

So mit Keim, Emanzipation, S. 72. Ziel der „AZJ“, die anfangs nur dreiwöchentlich erschien, war ein lebendiges Bewusstsein von zeitgenössischer jüdischer Geschichte. Vgl. hierzu Meyer, Antwort auf die Moderne, S. 163f; ders., Jüdisches Selbstverständnis in den Jahrzehnten nach 1848, in: Michael Brenner / Stefi Jersch-Wenzel / Ders., Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. 2: Emanzipation und Akkulturation 1780–1871, München 1996, S. 161. 131 Vgl. hierzu [Editorial Staff], Art. Israelit, der, in: EJ 9 (1971), Sp. 1066f. 132 Frankel hat den „Israelit“ sogar einmal als „Schmutzblätter“ diffamiert. Vgl. hierzu Andreas Brämer, Rabbiner Zacharias Frankel. Wissenschaft des Judentums und konservative Reform im 19. Jahrhundert, Netiva 3, Hildesheim, Zürich, New York 2000, S. 407.

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Leserschaft.133 Wie von Mordechai Breuer zutreffend bemerkt, bezeugt die Langlebigkeit des „Israeliten“ „sowohl die relative Statik als auch die Anpassungsfähigkeit der Orthodoxie im Wandel der Zeiterscheinungen.“134 Sie war sowohl Hort eines deutsch-jüdischen Patriotismus als auch einer anti-zionistisch ausgerichteten Identität, die trotz aller Unterstützung der „Israeliten zu Jerusalem“ der Idee der Errichtung einer jüdischen Heimstätte in Palästina lange distanziert oder ablehnend gegenüberstand.135 Mit den Hebraica und sonstigen Büchern und Zeitschriften Marcus Lehmanns bewahrt die Jüdische Bibliothek einen der wichtigen Belege für diese spezielle Mainzer Orthodoxie, ein tora-treues Judentum, welches im engen Kontakt zu Umwelt und liberaler Gemeinde stand und dennoch eine Trennung mit dem Ziel der Bewahrung des Überlieferten suchte. Die Bücher waren für die Entwicklung dieser Haltung nicht nur eine wichtige Quelle, sondern auch greifbarer Anker in unruhigen, von der Moderne geprägten Zeiten. Die „Lehmann-Bücherei“ belegt somit nicht nur ein bemerkenswertes, vielseitiges literarisches Schaffen, dessen Wirkung weit über die Grenzen der Stadt hinaus zu belegen ist136, sondern sie zeugt auch von einem inneren Ringen um den Erhalt einer jüdischen Identität, die aus heutiger Sicht in ihrer komplexen Abgrenzung gegenüber anderen Richtungen kaum noch nachvollziehbar erscheint. Der in Hebräisch gehaltene Epitaph Lehmanns auf dem Jüdischen Friedhof an der Unteren Zahlbacher Straße bringt diese einzigartige, an seiner Bibliothek noch deutlich erkennbare religiöse Haltung des Mainzer Rabbiners in wenigen Zeilen auf den Punkt: „ … ein bedeutender Prediger, und seine Predigten waren voller (Gottes)furcht und Liebe für Gott, und seine Tora lehrte er, und er wirkte und diente dem Herrn, gepriesen sei er, mit seiner ganzen Seele und seinem ganzen Vermögen, und er ermannte sich wie ein Held und stand in der Bresche. Er gründete eine religiöse Schule für Kinder, um den Kindern Judas das Anlegen der Tefillin zu (‫ )קש"ט‬zu lehren, und er war ein Wart der Kasse für die Armen im Lande Israel, und er setzte sich immer für das Wohlergehen der Armen im Lande ‚Zvi‘ ein. Dieser Gerechte brachte Blätter zur Unterstützung heraus, die ‚Israelit‘ genannt wurden, deren Worte süß wie Honig waren. Mit ihnen bekämpfte und widerstand er denjenigen, die sich in ihren Reden und Büchern gegen unsere heilige Tora vergehen …“

133

Vgl. zum Charakter des „Israeliten“ auch Breuer, Jüdische Orthodoxie, S. 155. Breuer, ebd. 135 Zur anti-zionistischen, deutsch-patriotischen Haltung Lehmanns vgl. etwa seine Äußerungen in seiner Haggada shel Pesah, S. 54: „Man liebt sein Vaterland wie man seine Eltern liebt.“ – Zur Förderung des „Halukka-Judentums“ vgl. etwa noch seinen Leitartikel in: Der Israelit 18 (1877), S. 623–628. Siehe zum Zionismus in Mainz unten Kapitel VII.2. 136 Erhalten ist neben Lehmanns Büchern mit zahllosen Notizen z. B. auch noch die Handschrift eines von ihm begonnenen Kommentars zu den Psalmen aus dem Jahr 1847. Vgl. Róth, Hebräische Handschriften, S. 190 (Ms Mainz, Jüdische Gemeinde Nr. 10). 134

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1.5 Oscar Lehmann Der Umfang des Bücherbestandes von Oscar (Ascher) Lehmann (1858–1928) lässt sich im Vergleich zu dem seines Vaters weniger klar ausmachen. In einer Anzahl von Bänden finden sich zwar handschriftliche Signaturen, und auch Stempel mit seinem Namen sind belegt137, doch sind Bücher Oscar Lehmanns auch unter den deutschen Titeln zu finden, ohne dass sie immer als aus seinem Nachlass stammend gekennzeichnet sind. Viele Bücher scheint er aus dem Erbe seines Vaters übernommen zu haben. Dabei hatte Oscar im Unterschied zu seinem Vater ein viel weiter gehendes Interesse für Literatur und Kunst, was sich nicht zuletzt an der Zeitschrift „Der Israelit“ beobachten lässt, deren Herausgaber er ab 1890 geworden war, aber auch an zahlreichen anderen Publikationen, die sich etwa auch allgemein mit der Entwicklung der Buchdruckkunst im 19. Jahrhundert befassten.138 Mit Oscar Lehmann wurde aus dem Provinzblatt „Der Israelit“ erstmals eine deutschlandweit verbreitete Zeitung, die über Korrespondenten verfügte, die aus dem In- und Ausland berichteten. In den von ihn betreuten Ausgaben finden sich vermehrt Buchkritiken und künstlerische Beilagen, so dass die Zeitschrift nach und nach ihr kleinbürgerliches Image verlor und sich von einem Blatt für eine kleine, verschworene Gemeinschaft zu einer breiter akzeptierten Zeitung entwickelte. Wie sein Vater verfasste Oscar Romane, von denen in der Bibliothek allerdings nur noch der über den sefardischen Gelehrten und Staatsmann Shemu’el ha-Nagid (11. Jh.), den Heroen der goldenen Zeit des spanischen Judentums, erhalten ist.139 Diese Epoche jüdischer Geschichte hatte zwar bereits das Interesse des Vaters geweckt, doch der Sohn war es, der diese Epoche noch gründlicher zu erforschen und in das Bewusstsein der Gebildeten in der traditionellen Gemeinde zu heben begann. Daneben zeugen zahlreiche Publikationen von seinem Engagement für die Verbreitung des Tora-Studiums sowie jüdischer Allgemeinbildung. Daneben förderte er zahlreiche Schriften aus dem Umfeld der Frankfurter Neo-Orthodoxie.140 Und auch der Abwehr des zunehmenden Antisemitismus – u. a. als Folge der Agitation des evangelischen Theologen und Hofpredigers Adolph Stoecker – widmete er seine Aufmerksamkeit.141 137

Siehe bereits oben, Kapitel III 2.1 „Stempel und Signaturen“. Zu Oscar Lehmann vgl. allgemein den kurzen Artikel in S. Wininger, Große Jüdische National-Biographie mit mehr als 1000 Lebensbeschreibungen namhafter jüdischer Männer und Frauen aller Zeiten und Länder, Bd. 4, Leavith – Péreire, Cernauti o. J., S. 18; vgl. auch Breuer, Jüdische Orthodoxie, S. 155. 139 Vgl. Oscar Lehmann, Samuel Ha-nagid. Eine jüdische Erzählung aus spanisch-maurischer Zeit, Belletristische Bibliothek des „Israelit“ 3, Frankfurt am Main 1909 (Signatur L 259). Sein zweiter wichtiger Roman, Die Leiden des jungen Moses, Leipzig 1907, fehlt dagegen in der Jüdischen Bibliothek (ein Exemplar befindet sich in der Stadtbibliothek Mainz). 140 Vgl etwa Or Schimuscha. Eine Homilie, gewidmet dem Andenken an das Hinscheiden Sr. Ehrwürden des Herrn Rabbiner Samson Raphael Hirsch ‫זצ"ל‬, herausgegeben von Moses Muranski aus Sluzk, Mainz: Ascher Lehmann (Joh. Wirth’sche Hofbuchdruckerei) 1889 (hebr.). 141 Vgl. Oscar Lehmann, Der Einzug des Antisemitismus in Mainz, in: Mainzer Anzeiger Jg. 1896, Nr. 256. 138

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Mit der Verlegung der Schriftleitung der Zeitung „Der Israelit“ nach Frankfurt am Main gründete Oscar im Jahre 1906 einen eigenen Verlag, aus dem zahlreiche kleinere Schriften orthodox-religiösen Inhaltes hervorgingen.142 Dank vermögender Mitglieder der Frankfurter orthodoxen Gemeinde gelang es ihm in dieser Zeit, die finanziellen Schwierigkeiten, in die „Der Israelit“ geraten war, zumindest zeitweise zu beheben. Vor allem durch das Engagement Jacob Rosenheims (1870–1965) begann sich der Charakter der Zeitung allerdings noch stärker zu wandeln. Oscar blieb in dieser Zeit zwar Vorsitzender der Redaktionskommission und begleitete somit auch die Veränderungen des Blattes143; „Der Israelit“ wurde jedoch de facto von Rosenheim einerseits noch moderner gestaltet, andererseits „jüdischer“, was sich nicht zuletzt an der konsequenten Einführung des vollen jüdischen Datums in der Kopfzeile des Titelblattes beobachten lässt.144 Doch nicht nur am Äußeren der Zeitung ist der tiefgreifende Wandel festzumachen, auch inhaltlich lassen „Der Israelit“ und andere Publikationen Oscar Lehmanns ein stärkeres Interesse an der wissenschaftlichen Erforschung der jüdischen und allgemeinen Kultur erkennen. Besonders deutlich wird dies etwa an seinen deutschen Publikationen über Themen der Mainzer jüdischen Geschichte. So publizierte er 1909 einen Beitrag „Zur Geschichte der Mainzer Synagogen“145 und 1910 eine „Festschrift zur Feier des hundertjährigen Bestehens des dritten israelitischen Krankenpflegevereins e. V. [Chewra von Bretzenheim] nebst einem kurzen Rückblick auf die Geschichte der Juden von Bretzenheim“.146 Im Jahre 1926 folgte dann eine bemerkenswert positive Stellungnahme zu der von Rabbiner Siegmund Salfeld veranlassten Einrichtung des „Denkmalfriedhofs“ auf dem alten jüdischen Friedhof in Mainz.147 Insbesondere an dieser Publikation über den „Denkmalfriedhof“ wird deutlich, dass sich die Mainzer Orthodoxie zu diesem Zeitpunkt nicht mehr aus dem historisch und wissenschaftlich fundierten Diskurs über Geschichte und Gegenwart des Judentums in der Gegenwart heraushalten wollte und konnte. Mit Rabbiner Salfeld war der Vertreter einer neuen Generation von „Doktor-Rabbinern“ in die Stadt gekommen, die sich nicht mehr nur um praktische Reformen des Gottesdienstes, sondern auch um die modernen Gesichtspunkten genügende Erforschung des 142

Zu einigen hebräischen Drucken aus seinem Verlag vgl. unten Kapitel VII.4.2. Bemerkenswerterweise wird auf dem Grabstein Oscar Lehmanns auf dem jüdischen Friedhof an der Unteren Zahlbacherstraße ausdrücklich und gleich zu Beginn der Aufzählung seiner Lebensleistungen festgehalten, dass er ‫עורך עתון חרדים‬, „Redakteur einer ‚orthodoxen‘ Zeitung“, war. 144 Vgl. Breuer, Jüdische Orthodoxie, S. 155. 145 In: Mainzer Journal 1909, Nr. 80. 146 In der Jüdischen Bibliothek ist diese in Mainz gedruckte Schrift im Sammelband 35, Signatur F 35, erhalten. 147 Vgl. Oscar Lehmann, Der alte jüdische Friedhof in Mainz (Zur Anlage eines Mainzer „Denkmalfriedhofes“), in: Aus alter und neuer Zeit 55 (1926), S. 436–437). Dieser Beitrag ist Fortsetzung der Beiträge seines Vaters, vgl. Marcus Lehmann, Die in der Nähe des Ludwigbahnhofes in Mainz aufgefundenen jüdischen Grabsteine, in: Zeitschrift des Vereins zur Erforschung der Rheinischen Geschichte und Altertümer 2 (1859/1860), S. 226–232; dann auch ders., Die in Mainz aufgefundenen jüdischen Grabsteine, in: Jeschurun. Monatsblatt zur Förderung des jüdischen Geistes und jüdischen Lebens 4 (1860), S. 204–210. 143

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gemeinsamen jüdischen Erbes der gesamten Gemeinde bemühte. Die Errichtung eines Denkmalfriedhofs, eines Museums für jüdische Altertümer und vor allem die Gründung des „Vereins für jüdische Geschichte und Litteratur in Mainz“ im Jahre 1906 hatten die Voraussetzungen für die innergemeindlichen Auseinandersetzungen grundlegend verändert.148 Hierauf mussten Oscar Lehmann, der Rabbiner Salfeld gelegentlich sogar als „hochverdienten Mainzer Rabbiner“ bezeichnen konnte149, und dann auch Jonas Bondi (1862–1929)150, sein Nachfolger sowohl als Rabbiner der IRG Mainz als auch im Amt des Schriftführers des „Israeliten“, reagieren. Diese innergemeindlichen, aber auch durch die Umwelt forcierten Wandlungen können vielleicht erklären, warum sich unter Oscar Lehmanns Büchern schließlich auch zahlreiche historiographische Titel, darunter viele von Nichtjuden verfasste, finden.151 Die Zeiten und mit ihnen die Komplexität der Auseinandersetzungen hatten sich fundamental gewandelt. Diese bemerkenswerte Entwicklung findet auch in dem zweiten großen Teilbestand der Bibliothek ihr Echo, in der „SalfeldBücherei“. 1.6 Siegmund Salfeld Salomon Benjamin Salfeld, der erst mit Aufnahme des Universitätsstudiums in Berlin den deutschen Vornamen Siegmund annahm, wurde am 24.03.1843 im niedersächsischen Stadthagen, Fürstentum Schaumburg-Lippe, geboren.152 Die Reste seiner wissenschaftlichen Bibliothek können vor dem Hintergrund seiner exzellenten Ausbildung als Rabbiner und Wissenschaftler verstanden werden. Salfeld arbeitete nach seinem Studium zunächst als Lehrer in Berlin. In dieser Zeit wurde er unter anderem von dem berühmten Bibliographen und Handschriftenkundler Moritz Steinschneider (1816–1907)153 und auch von dem Rabbiner, Historiker und Liturgiewissenschaftler Abraham Berliner (1833–1915) gefördert.154 Beiden widmete er später seine Studie über das Hohelied bei den jüdischen Erklärern des Mittelalters. Von ihr ist ein schönes Exemplar in der Bibliothek erhalten.155 148

Siehe hierzu das folgende Kapitel. Siehe hierzu Oscar Lehmann, Der alte jüdische Friedhof in Mainz, S. 436. 150 Zu diesem Enkel Samuel Bondis vgl. Wilke, Rabbiner, Bd. 1, S. 204. 151 Vgl. etwa das Exemplar von Theodor Mommsen, Römische Geschichte, 3 Bde., Berlin 1903 (Signatur G 377), mit handschriftlichem Besitzvermerk „Oscar Lehmann 1906“. 152 Für biographische Informationen vgl. S. Wininger, Art. Salfeld, Siegmund, in: Große Jüdische National-Biographie mit mehr als 8000 Lebensbeschreibungen namhafter jüdischer Männer und Frauen aller Zeiten und Länder, Bd. 5, Cernauti o. J., S. 319–320; Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen, Bd. 1, S. 171; Bd. 2, S. 20; Dörrlamm, Magenza, S. 36f; Wilke, Rabbiner, Bd. 2, S. 767f. Weitere Informationen bietet die Einführung in den im Leo Baeck Institute New York aufbewahrten Nachlass Salfelds (Signatur: AR 7017). Vgl. http://findin-gaids.cjh.org/ ?fnm=SiegmundSalfeld&pnm=LBI#a2 (Zugriff: 22.01.2008), bes. Series I. 153 Vgl. zu ihm Petra Figeac, Moritz Steinschneider. 1816–1907 Begründer der wissenschaftlichen hebräischen Bibliographie, Jüdische Miniaturen 53, Berlin 2007. 154 Vgl. Alexander Carlebach, Art. Berliner, Abraham, in: EJ 3 (1971), Sp. 664f. 155 Berlin 1879 (= Separatabdruck aus dem Magazin für die Wissenschaft des Judenthums, hrsg. von A. Berliner und D. Hoffmann, 5. Jahrgang, S. 110ff; 6. Jahrgang, S. 20ff; S. 129ff). Vgl. Signatur F 59 (alte Signatur 672). 149

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Nach Erlangung des Doktorgrades im Januar 1870 heiratete er – gegen den Willen des Vaters – Zippora Herzberg aus Oschersleben-Bode. In dieser Zeit arbeitete er als Erzieher im Auerbachschen Waisenhaus in Berlin, bevor er zum „Prediger der israelitischen Cultusgemeinde zu Dessau“ berufen wurde. 1878 wurde er zum Rabbiner ernannt; seine Ordination erhielt er von Salomon Herxheimer in Bernburg, mit dem ihn eine besonders enge Beziehung verband.156 Den engen Kontakt Salfelds zu dem aus Dotzheim bei Wiesbaden stammenden Rabbiner Herxheimer (1801–1884) belegen sowohl die in der Bibliothek erhaltenen Schriften und Bücher157 als auch eine kleine von Salfeld verfasste Biographie.158 In Dessau wirkte Salfeld zehn Jahre lang. Hiervon zeugen noch einige in dieser Zeit von ihm selbst verfasste Druckwerke in der Bibliothek.159 Ebenso wird dies durch eine Anzahl seltener Dessauer hebräischer Drucke in der „Salfeld-Bibliothek“ belegt.160 Im Jahre 1880 wurde er zum „Großherzoglichen Rabbiner“ der jüdischen Gemeinde in Mainz ernannt. Damals gehörte Mainz noch zum Herzogtum Hessen-Darmstadt, so dass eine Ernennung direkt durch den Fürsten erfolgte. In der Gemeinde begann Salfeld bald eine Schule für Hebräisch einzurichten, außerdem nahm er seine wissenschaftlichen Arbeiten zur Geschichte der Juden in Mainz auf. Seine viel beachtete und oft zitierte Ausgabe des so genannten Nürnberger Memorbuches erschien 1898.161 Diese grundlegende Quellenedition sowie seine zahlreichen anderen Studien zu lokalgeschichtlichen Themen brachten ihm hohe Ehrungen ein.162 So wurde ihm im Zusammenhang mit der Eröffnung der neuen 156

Vgl. Wilke, Rabbiner, Bd. 2, S. 767, der nach CAHJP P 46 als Datum den 19. Januar 1879 angibt. Den Unterlagen im Leo Baeck Institute, New York (AR 7017), zufolge arbeitete Salfeld bereits ab 1878 als Rabbiner in Dessau. 157 Vgl. Salomon Herxheimer, Deutscher Kinderfreund nebst einer praktischen Anleitung zum schnellen Erlernen des Hebräischen, Bernburg 1855 (Signatur U 111 [ohne Titelblatt]); ders., Theoretische und praktische Anleitung zum Erlernen des Ebräischen, 6. Auflage Berlin 1873; 7. Auflage Berlin 1883 (Signatur S 73); ders., „Jesode ha-thora“. Glaubens- und Pflichtlehre für Israelitische Schulen, Leipzig 271879 (Signatur U 113). Zu einem von Herxheimer signierten Exemplar eines Sefer ha-hinnukh, Venedig 1600 (Signatur M ‫ ה‬64; alte Signatur H 255), siehe unten Kapitel IV.4.1. 158 Vgl. Siegmund Salfeld, Dr. Salomon Herxheimer, Frankfurt am Main 1885 (Signatur F 24). – Siehe zu dieser Biographie nun auch Rolf Faber, Salomon Herxheimer 1801–1884. Ein Rabbiner zwischen Tradition und Emanzipation. Leben und Wirken eines fast vergessenen Dotzheimers, hrsg. vom Heimat- und Verschönerungsverein Dotzheim e. V., Wiesbaden 2001, S. 69. 159 Vgl. etwa seine Predigt zur Friedensfeier, Dessau 1871 (Signatur F 31 und F 39); dann auch seine Reden am Grabe der am 17. Juni 1878 verstorbenen Frau Jeanette Abraham, Dessau 1878 (Signatur F 53) und bei der Beerdigung der Frau geh. Commerzienrath Marianne Cohn, Dessau 1879 (Signatur F 53). 160 Vgl. z. B. Yedaya ben Avraham Bedarshi, Behinot ‛Olam, Dessau 1807 (Signatur M ‫ ב‬16). 161 Ein Exemplar dieser grundlegenden Edition, die von der historischen Commission für Geschichte der Juden in Deutschland herausgegeben wurde, befindet sich in der Jüdischen Bibliothek unter der Signatur G 461. Doch ist dieses Exemplar verlorengegangen. Mittlerweile ist der Titel auch online zugänglich unter: http://judaica-frankfurt.de/urn/urn:nbn:de:hebis: 30-180010766035 (Zugriff: 12.05.2008). 162 Beispiele für diese Publikationen sind in der Bibliothek zahlreich erhalten: Vgl. Siegmund Salfeld, Der alte israelitische Friedhof in und die hebräischen Inschriften des Mainzer Museums, Berlin 1898 (Signatur F 27a); ders., Die Judenpolitik Philipps des Großmütigen, Frankfurt am Main 1904 (Signatur G 463; weiteres Exemplar mit Signatur 898); ders., Vorboten der Judenemanzipation

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Synagoge in der Hindenburgstraße im Jahre 1912 von Großherzog Ernst Ludwig der Titel eines „Professors“ verliehen. Die feierlichen Zeremonien bei Einweihung der neuen Synagoge wurden von ihm selbst geleitet und bildeten zweifellos den Höhepunkt seines Bekenntnisses zur Integration der Juden in der Stadt.163 Der Grad seiner Integration wird daran deutlich, dass er nicht nur in der jüdischen Gemeinde sondern auch im städtischen Gymnasium unterrichtete. Außerdem war er Mitglied der Schulbehörde und arbeitete in verschiedenen Gremien der Stadt. Am 18. März 1888 hielt er in der Hauptsynagoge die Gedächtnisrede für „Seine Majestät den höchstseligen Kaiser Wilhelm I.“.164 Im selben Jahr veröffentlichte er eine Gedächtnisrede anlässlich der Trauerfeier für „Seine Majestät Friedrich III.“, die er am 24. Juni in der Hauptsynagoge Mainz gehalten hatte.165 Auch an seiner engagierten Beteilung an der Gründung des „Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ (C.V.) wird seine national-patriotische Gesinnung deutlich.166 Der „C.V.“, der zu einer der einflussreichsten jüdischen Organisationen der Weimarer Republik wurde, hatte sich die Bekämpfung des Antisemitismus zum Ziel gesetzt, war aber auch von dem Willen getragen, jüdische Identität durch Wissen über das Judentum und in Einklang mit der nicht-jüdischen Umwelt zu stärken.167 Salfelds nationale Haltung trug ihm weitere Ehrungen ein,168 und wie sehr er sich mit Deutschland identifizierte, wird dann etwa auch an den Auseinandersetzungen um die Errichtung eines Heine-Denkmals in Mainz deutlich. Im Verlauf dieses aus heutiger Perspektive seltsam anmutenden Streites stellte er sich auf die Seite jener Mainzer, die vehement gegen die Aufstellung eines Denkmals zu Ehren des großen Düsseldorfer Dichters auf der Kaiserstraße waren.169 in Kurmainz, in: Judaica. FS zu Hermann Cohens 70. Geburtstag, Berlin 1912 (F 73); ders., Zur Geschichte des Judenschutzes in Kurmainz, 1916 (Signatur F 113); ders., Zur Kunde des Mainzer jüdischen Vereinslebens im achtzehnten Jahrhundert, Mainz 1919 (Signatur G 471; weiteres Exemplar mit der Signatur L 268). Er verfasste außerdem einige Artikel für das Referenzwerk über deutsch-jüdische Geschichte „Germania Judaica“, die Jewish Encyclopedia, von der sich ein Exemplar in der Bibliothek befindet, sowie für Mayers Konversationslexicon. In der Jüdischen Bibliothek ist auch ein Sonderabdruck aus den Hessischen Biographien erhalten, und zwar aus Bd. 2, Lieferung 5 mit Artikeln zu Samuel Adler, Abraham Adler und (Bd. 3, Lieferung 1) zu Wolf Abraham. 163 Siehe hierzu Siegmund Salfeld, Blätter zur Erinnerung an die Einweihung der neuen Synagoge in Mainz, Mainz 1913 (ohne Signatur). 164 Vgl. das Exemplar in F 31, Sammelband 31. 165 Zwei Exemplare dieses Drucks sind in der Bibliothek erhalten. Vgl. Signatur F 31 und 34. 166 Vgl. dazu ausführlich Michael Brenner, Jüdische Kultur in der Weimarer Republik. Aus dem Englischen übersetzt von Holger Fliessbach, München 2000, S. 30f. 167 Siehe hierzu und zu den Spuren der C.V.-Tätigkeit Salfelds Ludwig Foerder, Die Stellung des Centralvereins zu den innerjüdischen Fragen in den Jahren 1919–1926, Breslau 1926 (Sammelband 35, Signatur F 35); Ludwig Holländer, Der Zentralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, Berlin 1929 (Sammelband 54, Signatur F 54). – Von einer „C.V.-Wanderbibliothek“, die gelegentlich in Mainz gastierte und über die ehemalige jüdische Mitbürger berichteten, fanden sich dagegen keine Reste in der Jüdischen Bibliothek Mainz. 168 So nahm er den Ritterorden erster Klasse entgegen, und zu seinem fünfundzwanzigjährigen Dienstjubiläum 1905 wurde er in den Orden Philipp des Großmütigen aufgenommen. Während des 1. Weltkrieges erhielten er und seine Frau für ihren Einsatz um die Zivilbevölkerung außerdem das Ritterkreuz. 169 Vgl. hierzu etwa Anton Maria Keim, Das jüdische Mainz im Zeitalter der Emanzipation und

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Nach seinem Ruhestand 1918 war er weiter als Wissenschaftler aktiv.170 Daneben setzte er sich für den von ihm 1909 gegründeten „Verein für jüdische Geschichte und Litteratur in Mainz“ ein. Dem Vorstand dieser Gesellschaft gehörten außer ihm Dr. Max Loeb, Carl Heiden-Heimer, Eugen Herzog, Max Kahn, Sally Lazarus, Dr. Julius Metzger, Bernhart Nussbaum und Dr. Rudolph Schauer an; das Mitgliederverzeichnis des Jahres 1909 umfasst 170 Mitglieder.171 Ziel war es, das historische und literarische Erbe der jüdischen Gemeinde Mainz zu pflegen172, und zu diesem Zweck wurden zahlreiche seltene Bücher und auch Handschriften erworben.173 Ebenso wurden Kultgegenstände zusammengetragen, die im neu zu gründenden Museum für Jüdische Altertümer ausgestellt werden sollten. Salfeld war daher auch an der Gründung des „Vereins zur Pflege jüdischer Altertümer“ im Jahre 1925 und an der Einrichtung der „Historischen Sammlung der israelitischen Gemeinde Mainz“ beteiligt.174 Diesen Verein leitete er, so wird von Sali Levi überliefert, obwohl „er manchmal meinte, er könne es nicht mehr, bis in die Stunde seines Sterbens.“175 Salfeld verstarb am 4. Mai 1926 kurz bevor der von ihm geplante Denkmalfriedhof und das Museum für Jüdische Altertümer in der Hindenburgstraße eröffnet wurden.176 Zu seinen Ehren erschien eine Broschüre, in der die anlässlich seiner Beisetzung gehaltenen Gedenkreden veröffentlicht wurden.177 Die Liste der Trauerredner wird von Dr. Sali Levi, seinem Nachfolger, angeführt; er hielt seine Ansprache in der Hauptsynagoge. Ein weiteres „Gedenkwort“ sprach KommerzienGleichberechtigung, in: Das Argonautenschiff. Jahrbuch der Anna Seghers-Gesellschaft Berlin und Mainz e. V. 6 (1997), S. 139–148, hier S. 146. 170 Bereits zuvor hatte er gelegentlich Gastvorträge an der liberalen Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums in Berlin gehalten. Siehe hierzu den unten zitierten Tagebucheintrag von Gershom Scholem über die Vorlesungen Salfelds in der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums in Berlin am 21.1., 7.2. und 6.3.1916. Von solchen Tätigkeiten zeugt vielleicht noch die in der Bibliothek erhaltene Festschrift zur Einweihung eines eigenen Heims (der Lehranstalt), herausgegeben von I. Elbogen und J. Höniger, Berlin am 22. Oktober 1907 (Signatur 895; Zählstempel 1805). 171 Vgl. hierzu Salfeld, Bilder, S. 93; und siehe auch das Mitgliederverzeichnis aus CAHJP D Ma 7/30 im Anhang 4. 172 Zu ähnlichen jüdischen Vereinen in dieser Zeit vgl. Fritz Homeyer, Deutsche Juden als Bibliophilen und Antiquare, Tübingen 1963, S. 7ff. 173 Zu den Handschriften vgl. unten S. 203ff. 174 Vgl. Dörrlamm, Magenza, S. 37. 175 Sali Levi, in: Gedenkreden beim Heimgang des Altrabbiners Prof. Dr. Sigmund Salfeld Mainz, hrsg. von Sali Levi, Mainz 1926, S. 6. 176 Die Eröffnungsfeier ist auf Fotos dokumentiert. Vgl. Juden in Mainz. Rückblick auf eine stadthistorische Ausstellung im Mainzer Rathaus-Foyer, November 1978 Oktober/November 1979, bearbeitet von Friedrich Schütz, Mainz 1979, S. 108–109; siehe hierzu auch: Kleines Feuilleton. Ein großer Tag für die Jüdische Gemeinde in Mainz, in: Der Israelit 67,41 (1926) – 30. Tishre 5687 (zur Eröffnung des Denkmalfriedhofs und des Museums). – Zu den Hintergründen und Anliegen hinter der Einrichtung eines Denkmalfriedhofs vgl. auch Katharina Rauschenberger, Jüdische Tradition im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Zur Geschichte des jüdischen Museumswesens in Deutschland, Forschungen zur Geschichte der Juden A 16, Hannover 2002, S. 226f; Jens Hoppe, Jüdische Geschichte und Kultur in Museen. Zur nichtjüdischen Museologie des Jüdischen in Deutschland, Münster, New York, Berlin, München 2002, S. 115. 177 Vgl. die Gedenkreden, hrsg. von Sali Levi, Mainz 1926.

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IV. Die Bibliotheken in der Bibliothek

rat Bernard A. Mayer, seit 1904 Gemeindevorsteher.178 Auf dem Friedhof hielten dann noch Rabbiner Dr. Max Dienemann (1875–1939) aus Offenbach am Main, einer der führenden liberalen Rabbiner Deutschlands179, und Rabbiner Dr. Cäsar Seligmann (1860–1950) aus Frankfurt am Main, ein weiterer profilierter, aber auch umstrittener Vertreter des progressiven Judentums seiner Zeit, ihre Trauerreden.180 Außerdem sprachen bei der Abschiedsfeier Rabbiner Dr. Bruno Italiener aus Darmstadt181, Landesrabbiner Dr. Walter aus Dessau, Stadt- und Bezirksrabbiner Dr. Paul Lazarus aus Wiesbaden182, Rabbiner Dr. Julius Lewit aus Alzey sowie Provinzialrabbiner Dr. Sander aus Gießen. Aus Mainz äußerten sich noch folgende Personen: Dr. Henry Meyer, der für die Bene Brit-Loge und die Rhenus-Loge sprach183, Direktor Ed. Simon, der Vorsitzende des israelitischen Hospitalvereins und des Vereins zur Beschränkung des Wanderbettels – Vereine also, denen Salfeld seit ihrer Gründung angehört hatte. Hinzu kamen Worte der Andacht von dem Mainzer Reallehrer Eschelbacher, Dr. Fritz Kronenberger sowie Rabbiner Dr. Isaak Holzer aus Worms. All diese Ehrbezeugungen werfen auf die von Salfeld hinterlassene Bibliothek zusätzliches Licht, belegen sie doch, wie angesehen und integriert Salfelds Forschungen und seine Tätigkeit als Rabbiner in der Stadt Mainz und weit darüber hinaus waren und wie anerkannt und geachtet sie auch nach seinem Tod blieben. Die in Umrissen noch rekonstruierbare Bibliothek Salfelds kann dabei geradezu als ein Paradebeispiel einer Rabbiner-Bibliothek am Ausgang des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts gelten. Wie wichtig für diesen Typ von „DoktorRabbiner“ Bücher waren, führt im Übrigen auch eine der wenigen Photographien Salfelds vor Augen (vgl. Abb. 32). Auf ihr ist Salfeld vor seinen Büchern in seinem Arbeitszimmer zu sehen. Seine Privatbibliothek bildete für ihn wohl nicht nur wichtige Arbeitsgrundlage sondern trug auch zu seinem Image als Gelehrter 178

Siehe zu ihm Mayer, Wie ich überlebte, S. 7. Siehe zu ihm Klaus Werner, Zur Geschichte der Juden in Offenbach am Main, Bd. 1. Unter der Herrschaft des Nationalsozialismus 1933–1945 mit einem Anhang von Hans-Georg Ruppel, Offenbach am Main 1988, S. 20–22. 180 Vgl. zu ihm Paul Arnsberg, Chronik der Rabbiner in Frankfurt am Main, Frankfurt am Main 22002, S. 111f. 181 Zu ihm vgl. etwa Jüdisches Leben in Darmstadt. Dokumente 1626–1940, Geschichte im Archiv. Darmstädter Archivdokumente für den Unterricht 1, hrsg. vom Hessischen Staatsarchiv Darmstadt 1988, S. 11. 182 Siehe zu ihm Paulgerd Jesberg (Hrsg.), „… den Verlust bewusst machen.“ Über das Leben der Jüdischen Gemeinde in Wiesbaden und vom Bau der Synagoge auf dem Michelsberg, Begegnungen 1, Wiesbaden 1988, S. 73ff. – Es sei hier darauf hingewiesen, dass sich Teile seiner Bibliothek erhalten haben und heute in der FH Wiesbaden als Leihgabe des Vereins Aktives Museum Spiegelgasse untergebracht sind. Die Erschließung dieses Bestandes steht noch aus. Doch hat bereits eine erste Sondierung ergeben, dass die Bibliothek von Lazarus mit der von Salfeld vergleichbar gewesen sein muss – wenn auch der Anteil an Hebraica deutlich geringer ist (was freilich damit zusammenhängen dürfte, dass dieser Bestand zunächst einige Jahre in Haifa bzw. an anderen Orten in Israel aufbewahrt wurde und einige Hebraica offensichtlich dort geblieben sind). 183 Die Rhenus-Loge war die Mainzer Sektion der Bene Brit- (oder Bne Briss-)Loge, eines humanistisch-philanthropischen Vereins, der 1889 gegründet worden war. Siehe auch das Verzeichnis der Bücher und Zeitschriften der Rhenus-Loge, Mainz 1925 (Signatur H 21); ferner Salfeld, Bilder, S. 93. 179

1. Die „Stratigraphie“ des Bestandes

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Abb. 32: Rabbiner Dr. Siegmund Salfeld

und Rabbiner bei – ein Image, das er wie vergleichbare Gelehrte neu definieren und legitimieren musste, weil das traditionelle Handlungsspektrum eines Rabbiners durch die Reformen einerseits und durch die Reaktionen der so genannten Orthodoxie andererseits in Frage gestellt war. Der Rabbiner konnte nicht mehr nur „Lamdan“, Gelehrter und Prediger, sein, sondern es wurde von ihm zunehmend erwartet, als „Doktor“ zu wirken, d. h. als Wissenschaftler im Sinne der allgemeinen gesellschaftlichen und universitären Konventionen.184 Die „Salfeld-Schicht“ in der Jüdischen Bibliothek spiegelt dabei nicht nur den schleichenden Funktionswandel des ashkenazischen Rabbinats im 19. Jahrhundert wider; erkennbar wird auch eine tiefgehende Autoritätskrise. Aufgaben eines Rab184

Vgl. zu diesem in den Darstellungen Salfelds bislang nicht beachteten Wandel des Selbstverständnisses des Rabbiners im 19. Jh. etwa auch die Bemerkungen von Andreas Brämer, Rabbiner und Vorstand. Zur Geschichte der jüdischen Gemeinde in Deutschland und Österreich 1808–1871, Aschkenaz. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden. Beiheft 5, Wien, Köln, Weimar, S. 166.

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IV. Die Bibliotheken in der Bibliothek

biners, wie sie über viele Jahrhunderte tradiert worden waren, wurden zunehmend von Lehrern, Vorstehern und anderen, spezialisierten Gemeindemitgliedern übernommen. Mit der daraus folgenden allmählichen „Entmachtung“ des Rabbiners ging eine zunehmende Akademisierung des Berufsstandes einher, was die Entfernung des Amtsinhabers von den Problemen seiner Gemeinde förderte.185 Während die Bibliothek von Marcus Lehmann noch eine traditionelle(re) Auffassung des Rabbinats erkennen lässt, wobei allerdings auch in diesem Bestand deutliche Anzeichen der Moderne zu erkennen sind und auch Lehmann promoviert war, reflektiert die „Salfeld-Bücherei“ endgültig das neue Rabbinermodell seiner Zeit: Den liberalen „Rabbiner-Doktor“186, der sich simultan als Prediger, Seelsorger und Wissenschaftler zu verstehen und zu beweisen suchte.187 In Salfelds Bibliothek manifestiert sich insofern nicht einfach nur eine fortschreitend emanzipierte Lebensweise des Judentums sondern auch eine Haltung, in der dem Rabbiner eine andere, auf akademischen Voraussetzungen begründete Autorität innerhalb seiner Gemeinde zugedacht wurde. Bei Salfeld, der dabei im Grunde noch Vieles vom Rabbiner alter Prägung besaß, war dies wie bei manch anderem Vertreter seiner Generation mit einem bemerkenswerten „Turn to History“ verbunden, einer Hinwendung zur Geschichte als der neuen, Identität stiftenden Determinante, wie es in der Mehrheitsgesellschaft seiner Zeit bereits früher unter dem Einfluss des Historismus und der Romantik zu beobachten war. Vor diesem Horizont werden die zahlreichen historisch orientierten Buchtitel in der Salfeld-Sammlung zu einem aufschlussreichen Zeugnis eines innerjüdischen Selbstfindungsprozesses, der die Mainzer Gemeinde wie zahlreiche andere Gemeinden seit dem 19. Jahrhundert tiefgehend zu verändern begann. Damit einher ging dann auch eine veränderte Haltung gegenüber der Mehrheitsgesellschaft, und Salfeld konnte sich auch deswegen in zahlreichen Gremien der Stadt und in nichtjüdischen Vereinen engagieren, ohne dadurch irgendetwas von seiner Autorität innerhalb der Gemeinde zu verlieren. Wie intensiv Salfeld trotz seines vielfältigen Engagements an den mit seinen Forschungen verbundenen Detailfragen zur jüdischen Geschichte weiterarbeitete, belegt das in der Bibliothek erhaltene Handexemplar seines wohl wichtigsten Buches, das den bezeichnenden Titel „Bilder aus der Vergangenheit der Jüdischen Gemeinde Mainz“ (Signatur G 455) trägt. In diesem mit Leerseiten neu eingebundenen Exemplar finden sich auf fast jeder Seite handschriftliche Ergänzungen und Korrekturen, die er aus Quellen und Sekundärliteratur nachgetragen hatte.188 Ein 185

Siehe hierzu Ismar Schorsch, Emancipation and the Crisis of Religious Authority. The Emergence of the Modern Rabbinate, in: Werner E. Mosse / Arnold Paucker / Reinhard Rürup (Hrsg.), Revolution and Evolution. 1848 in German Jewish History, Tübingen 1981, S. 205–247. 186 Siehe hierzu und zum neuen Ideal rabbinischer Wissenschaft Wilke, Rabbiner, Bd. 1, S. 98– 101; ders., Talmud, S. 566–572. 187 Dies wird auch an zwei weiteren Fotographien Salfelds deutlich, die der oben zitierten Sammlung von Gedenkreden beigegeben sind. Eine Aufnahme zeigt den Gelehrten, die zweite den „Pfarrer“-Rabbiner in Talar mit Beffchen. Die Gedenkreden betonen, dass Salfeld diesem dreifachen Anspruch gerecht geworden sei. 188 Bemerkenswert ist, dass er auf mehreren Seiten die Herdschilling-Register von 1726 und 1765 ausgewertet hat (vor S. 61). Außerdem finden sich zahlreiche Exzerpte aus lokalgeschichtlicher For-

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weiterer Beleg dieser rastlosen historischen Forschungstätigkeit ist ein zufällig erhaltenes Notizbüchlein Salfelds mit zahlreichen Ergänzungen zu den von ihm verfassten Artikeln des Handbuches „Germania Judaica“ und Exzerpten aus den Quellen und der neueren Sekundärliteratur.189 Salfeld, so wird auch an diesem Fund deutlich, nahm noch bis ins hohe Alter an den akademischen Diskussionen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen seiner Zeit regen Anteil, sei es z. B. auch in Bildungs- und Erziehungsfragen, sei es in der Auseinandersetzung mit dem erstarkenden Antisemitismus. Dieser Einsatz war Ausdruck eines Gelehrtenethos, dass durch eine humanistische Bildung geschult war und zu dem seine Bibliothek den passenden Hintergrund bildete.190 Dass er trotz seiner viel beachteten und hoch gelehrten wissenschaftlichen Leistungen schon zu Lebzeiten nicht unumstritten blieb, belegt dann allerdings ein erst vor wenigen Jahren veröffentlichter Tagebucheintrag Gershom Scholems, des berühmten und einflussreichen Erforschers der Kabbala, der in jungen Jahren den Mainzer Rabbiner bei einem Gastvortrag in Berlin gehört hatte. Scholem notierte dazu mit einem sarkastischen Unterton191: „In Deutschland wird man auf verschiedene Weise Professor, und nicht selten wundert man sich, was für Individuen man unter den Professoren findet, so jetzt heute abend, wo im Zyklus der Montagsvorlesungen – immer mal wieder! – der Mainzer Rabbiner Professor (jawohl!) Salfeld erschien, um Wissenswertes über das Leben der deutschen Juden im Mittelalter mitzuteilen. Das Geschwätz, mit dem der Mann seine inhaltlich sehr armseligen Ausführungen umgab (das einzig Wesentliche war ihm offenbar die Anführung seiner eigenen Werke, die nicht viel besser sein werde als seine Rede), war unerträglich, obwohl es doch weiter nichts als das übliche orthodox- und liberal-jüdische ‚sinnige‘ Geschwätz war, mit dem Rabbiner von der Kanzel herab das Volk anzuöden, ‚zu erbauen‘ wagen. Die Leute freuen sich alle darüber, wenn einer so richtig in ihren Jargon einstimmt, dafür wird er wohl auch Professor geworden sein. Warum ist denn dann nicht wenigstens Eschelbacher192, der das Geschwätz doch mit einem ganz klein wenig (sehr wenig, aber doch etwas) Berechtigung versehen hat, Professor?

schungsliteratur. Wichtig ist auch eine Liste mit hebräischen Namensvarianten von „Magensa“, die er aus der rabbinischen und mittelalterlichen Literatur zusammengetragen hat (S. 4f). 189 Das unpaginierte Notizbuch trägt keine Signatur und wird bei den Handschriften aufbewahrt. Es enthält Nachträge und Materialien zu Jüdischem in folgenden Städten und Regionen: Halle a. S., Nürnberg, Frankfurt a. M., Hanau, Heidelberg, Hessen, Sachsen, Würzburg, Kurmainz, Kreuznach, Koblenz, Laufen, Jülich, Krefeld und Hohenzollern. Ferner finden sich Notizen zu Friedrich d. G. und den Juden, Theodor Herzl, Heidenheim, Salomon Herxheimer und zu den Kalonymiden. Zu den von Salfeld verfassten Artikeln siehe Germania Judaica, Bd. 1: Von den ältesten Zeiten bis 1238, Breslau 1934, Ndr. Tübingen 1963, S. 13 Art. Angern; S. 27f Art. Bingen; S. 61–63 Art. Boppard; S. 68 Art. Caub; S. 117 Art. St. Goar; S. 142f Art. Kerpen; S. 151 Art. Lahnstein; S. 159f Art. Linz; S. 160 Art. Lorch; S. 174–223 Art. Mainz (gemeinsam mit A. Bein); S. 248 Art. Nubenheim; S. 313 Art. Rüdesheim; S. 394 Art. Werden; S. 434 Art. Winkel; S. 435 Art. Wolfhagen. 190 Siehe dazu unten Kapitel VI.3. 191 Vgl. Gerschom Scholems Tagebuchnotiz vom 6.3.1916, in: Ders., Tagebücher nebst Aufsätzen und Entwürfen bis 1923. 1. Halbband 1913–1917, unter Mitarbeit von Herbert Kopp-Oberstebring herausgegeben von Karlfried Gründer und Friedrich Niewöhner, Frankfurt am Main 1995, S. 280. 192 Gemeint ist Josef Eschelbacher (1848–1916), von 1900 an Rabbiner in Berlin. Zu einem Buch aus seinem Nachlaß vgl. oben S. 41.

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IV. Die Bibliotheken in der Bibliothek Übrigens, wenn Professor Lehrer bedeutet, so ist der Salfeld wirklich einer: ein typischer ‚Religionslehrer‘. Seine Witze bewegen sich in den Grenzen des religiös Gemütlichen! Das genügt doch eigentlich schon, um solche Leute zu diskreditieren: dass sie nicht einmal den Mut zur Sachlichkeit, Trockenheit haben, sondern ihnen das Gewissen schlägt, und sie nun glauben, das Thema ‚durch geistvolle Bemerkungen würzen zu müssen.’ Dieser hat es nun im übelsten Rabbinerstil und Singsang von der sinnigen Gemütlichkeit des jüdischen Hauses getan. Nun, er hat es nicht anders gelernt. Aber daß ihm, auch ich darunter, noch die Leute den Saal füllen, das ist …“

Dieses harsche Urteil des jungen Scholem und die darin zum Ausdruck kommende Distanzierung von einem gewissen Typ des deutschen Rabbiner-Gelehrten darf freilich nicht darüber hinwegtäuschen, wie tief Scholems Generation, die Generation der deutsch-jüdischen Gelehrten und Professoren, die nach Israel auswanderte, von Rabbinern wie Salfeld beeinflusst und geprägt worden war. Die erhaltene „Salfeld-Bücherei“ lässt sich insofern fast als eine Art Vorbild für Scholems eigene Gelehrtenbibliothek interpretieren, die bekanntlich zur Gänze in die Jerusalemer Nationalbibliothek zugänglich geblieben ist. Tatsächlich lassen sich bei genauer Betrachtung dieser einzigartigen Bücherei viele Parallelen zum und Übereinstimmungen mit dem Mainzer Salfeld-Bestand erkennen – zwar ohne die kabbalistische Literatur, für die Salfeld ganz im Sinne der älteren Wissenschaft des Judentums wenig übrig gehabt zu haben scheint, doch die übrige Scholem-Bibliothek,193 die sich ebenfalls jahrzehntelanger Sammeltätigkeit und Buchliebhaberei verdankt, lässt sich durchaus mit der Mainzer „Salfeld-Bücherei“ in Beziehung setzen und vergleichen.194 Auch in ihr kann man noch dem von Scholem so treffend charakterisierten „gemütlichen Rabbinertum“ begegnen, das trotz aller Gelehrsamkeit die Dimensionen des eigenen Judeseins verkannte und sich eine Zeit lang ebenso noch der Illusion einer Assimilierung an die deutsche Umwelt hingab. Scholem hat trotz aller bewussten Abkehr von seinen Lehrern vor allem in Form von Büchern, deren Tendenz er eigentlich leidenschaftlich ablehnte, aber eben dennoch besaß und gelesen hatte, Vieles von dem nach Jerusalem mitgenommen, was auch einen Salfeld und viele andere seiner gelehrten Zeitgenossen interessiert und bewegt hatte. Dies lässt sich nicht nur an der Zusammensetzung der nicht-kabbalistischen Teile der Bibliothek erkennen, die bislang kaum untersucht wurde, sondern ist heute vor allem noch an den vielen Anstreichungen und leidenschaftlichen handschriftlichen Kommentaren Scholems in den Büchern Salfelds und anderer Vertreter der Wissenschaft des Judentums abzulesen.195 Die oben skizzierte Krise des Rabbinats fand insofern später – vielleicht gerade deswegen – in einer Krise der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Judentum eine Fortsetzung, in einer Krise allerdings, die 193

Einen Eindruck von dem Bestand gibt der Katalog von Josheph Dan / Esther Liebes (Hrsg.), The Library of Gershom Scholem on Jewish Mysticism. Catalogue, Bd. 1–2, Jerusalem 1999 (hebr.). 194 Siehe dazu etwa Malachi Beit-Arié, Gershom Scholem as Bibliophile, in: Paul Mendes-Flohr (Hrsg.), Gershom Scholem. The Man and his Work, Albany 1994, S. 120–127. 195 Siehe etwa das Exemplar von Salfeld, Bilder, S. 78 f (Signatur Scholem Bibliothek 14901). Angestrichen ist dort der Name von Herz Scheuer und Samuel Bondi, am Rand steht in hebräischer Kursive „qabbala!!“. Siehe auch das Exemplar von Salfeld, Martyriologium (Signatur Scholem Bibliothek 15120).

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den lebhaften Widerstand eines Scholems provozierte und ihn und seine Schüler im Unterschied zu Rabbinern wie Salfeld nach neuen, fruchtbareren Wegen der Wissenschaft des Judentums suchen ließ. 1.7 Weitere Besitzervermerke Neben diesen prominenten Vorbesitzern und ihren Spuren in einzelnen Exemplaren des Bestandes, sind zahlreiche weitere Namen in den Büchern festgehalten – sei es in Deutsch oder in Hebräisch bzw. in Deutsch mit hebräischen Lettern. Wenigstens einige dieser nur vereinzelt aufgefundenen Besitzervermerke, ohne dass sie eine regelrechte Bestandschicht erkennen ließen, seien hier noch aufgeführt und erläutert: So trägt ein Exemplar des Sefer Me’ir eyne hakhamim, Fürth 1833 (Signatur M ‫ מ‬18), ein talmudistisches Werk, auf dem Vorsatzblatt den handschriftlichen Besitzervermerk von Joseph Levi Ellinger, dem Vater von Leo Ellinger, genannt Schnadig (1772–1847)196, Dayan und Rabbiner in Mainz von 1823 bis 1847, und auch von Natan Ellinger (1772–1839), Rabbiner in Bingen und Mainz. Auch von Loeb Ellinger selbst, der seit 1808 als Dayan, dann als Oberrabbiner in Mainz tätig war, findet sich ein Besitzervermerk.197 Leo Ellinger war in erster Ehe mit Therese Creizenach, der Schwester des Reformers und Pädagogen Michael Creizenach, verheiratet, was zu einer Aufteilung seines Nachlasses beigetragen haben dürfte. Sein Grabstein war dann der letzte eines Rabbiners, der auf dem alten Friedhof am Judensand errichtet wurde.198 Ein Beleg für ein Buch aus der Familie Bondi, die mit der Familie von Herz Scheuer verbunden war, findet sich in einer seltenen Ausgabe der jiddischen „Frauenbibel“ Sena u-Rena, Metz 1768 (Signatur A 246; alte Signatur HL/2023).199 Auf dem Titelblatt steht in lateinischen Lettern „Samuel Bondi“ und „Sophie Bondi“, darüber in hebräischer Kursive „Shmu’el Bondi“. Auf einem kleineren VorsatzTitelblatt steht „Sophie Bondi née Epstein“. Samuel Bondi (1794–1877)200 war Sohn von Mose Jona Bondi und Bella Scheuer, die wir bereits im Zusammenhang mit Herz Scheuer erwähnt hatten. Als Talmud-Lehrer unterrichtete Samuel an der Schule der IRG, die er mitbegründet hatte. Der Band gehörte wohl zunächst seiner aus Fulda stammenden Frau Sophie (1797–1871)201 und ging dann nach 56-jähriger Ehe in den Besitz der Erben über.202 196

Siehe zu ihm Löwenstein, Rabbiner, S. 239; Wilke, Rabbiner, Bd. 1, S. 278f. So etwa in einem Offenbacher Mischna-Druck, gedruckt 1797 (Signatur C 110). Der Band gelangte später in den Besitz von Samuel Haas. 198 Vgl. Bernd Andreas Vest, Der alte jüdische Friedhof in Mainz. Erweiterte Auflage mit Beiträgen von Friedrich Schütz und Manuel Herz, Mainz 2000, S. 66. 199 Zu diesem Genre und weiteren Drucken des Sena u-rena in der Bibliothek vgl. unten Kapitel IV.4.5. 200 Zu ihm Löwenstein, Geschichte, S. 238; Wilke, Rabbiner, Bd. 1, S. 204. 201 Gelegentlich ist die Schreibweise „Eppstein“ belegt. 202 Zu seiner Biographie vgl. den Nachruf „Rabbi Samuel Bondi ‫“נ"ע‬, in: Der Israelit 18 (1877), S. 1159–1161; S. 1180–1181; S. 1204–1206. 197

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IV. Die Bibliotheken in der Bibliothek

„Hugo Bondi“ ist handschriftlich in mehreren Bänden festgehalten. So z. B. in einem Homburger Mahzor-Druck (Signatur H 372) oder auch in einem Hamburger Humash, in einer Rabbinerbibel, gedruckt 1751 bei Eli’ezer Li‛ezer und Natan Mai (Signatur A 66).203 Er wurde am 1.11.1874 als zwölftes Kind von Samuel Bondi in Mainz geboren, heiratete Martha Gumpertz aus Hamburg und wirkte als Lehrer an der 1859 gegründeten Schule der IRG.204 1948 verstarb er in Rehovot in Israel.205 Von seinen Büchern hat er wohl keines mehr wiedergesehen.206 Weitere Belege für Bücher aus dieser angesehenen orthodoxen Rabbinerfamilie fehlen. Möglicherweise hängt dies damit zusammen, dass Marcus Lehmann eine Tochter von Samuel Bondi ehelichte und hierdurch in den Besitz des Nachlasses seines Schwiegervaters kam. Einige darin befindliche Bücher konnte er dann seiner Bibliothek einordnen. Auffällig ist, dass einige sehr namhafte Rabbiner und Gemeindevorstände der Mainzer Gemeinde keine Spuren in der Bibliothek hinterlassen haben. Von Rabbiner Hirsch Kannstadt (1770–1823)207 sind immerhin Autographen in den bei den Büchern aufbewahrten Handschriften erhalten.208 Es fehlen aber Besitzerspuren von Dr. Elias Benedict Cahn (1808–1888)209, Religionslehrer und ab 1851 „zweiter“ und ab 1866 bis 1879 „erster Rabbiner“ der liberalen Hauptgemeinde,210 und auch von Rabbiner Julius Fürst (1826–1899)211, der nur für kurze Zeit, bis 1880, in 203

Der Band gehörte vorher „Abraham Karlibach wohnhaft in Mainz“ (oder „Carlebach“). Siehe Anm. 229. 204 Siehe zu ihm das „Programm der Unterrichtsanstalt der israelitischen Religions-Gesellschaft zu Mainz“, vom 24. Februar 1859. Demzufolge wohnte er an der Großen Bleiche Nr. 38. 205 Siehe http://www.loebtree.com/bondimm.html (Zugriff: 22.11.2007). Er wird mit vollem jüdischen Namen „Naftali ben ha-haver Rabbi Yona“ erwähnt in Ms Mainz, Jüdische Gemeinde Nr. 4, fol. 4b (unter Yisra’elim, d. h. er war kein Kohen oder Levit). 206 In den Besucherlisten ehemaliger Mainzer Bürger wird er nicht erwähnt. Vgl. Christine Hartwig-Thürmer, Rückkehr auf Zeit – Vier Begegnungswochen Mainzer Juden 1991–1995, Magenza, Mainz 1999, S. 103–109. 207 Vgl. zu ihm Wilke, Rabbiner, Bd. 2, S. 509. 208 Zu seinen Handschriften vgl. unten Kapitel VII.5. 209 Vgl. zu ihm und den Schwierigkeiten, unter denen er zunächst zum „Rabbinatsverweser“ ernannt wurde, Frenkel, Die israelitische Gemeinde Mainz in der Neuzeit, S. 66–67; Salfeld, Bilder, S. 83–85 („der milde, humane Dr. Cahn“); Dörrlamm, Magenza, S. 34; Wilke, Rabbiner, Bd. 1, S. 218. Das Todesjahr Cahns weicht in den Darstellungen von dem hier angegebenen gelegentlich leicht ab. Cahn ist dadurch bekannt geworden, dass er als erster Rabbiner 1840 eine Konfirmation in der Mainzer Gemeinde einführte. Siehe hierzu auch seine Buchrezension in MGWJ 7 (1857), S. 281–284. 210 Erhalten ist allerdings seine Abschiedsrede, gehalten am ersten Tage des Pesahfestes 1880 in der Hauptsynagoge zu Mainz, Mainz 1880 (Signatur F 31 in Sammelband 36). Ebenso finden sich in der Bibliothek drei gedruckte Predigten von Cahn aus den Jahren 1850 bis 1871 (Signatur F 36; 39; 40, in Sammelband 36; 39; 40). 211 Vgl. zu ihm Salfeld, Bilder, S. 85; Wilke, Rabbiner, Bd. 1, S. 353–355. Fürst verfasste neben seiner Dissertation über Baruch Spinoza einige wissenschaftliche Aufsätze für die AZJ, MGWJ und ZDMG. Eine unvollständige Reihe von Bänden der MGWJ ist in der Jüdischen Bibliothek vorhanden. Vgl. darin Julius Fürst, Zur Erklärung schwieriger Stellen in Talmud und Midrasch, in: MGWJ 37 (1893), S. 498–506; ders., Zur Erklärung griechischer Lehnwörter in Talmud und Midrasch, in: MGWJ 38 (1894), S. 305–331; 337–342.

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Mainz als Prediger und Religionslehrer tätig war und nicht mit dem gleichnamigen Herausgeber der Zeitschrift „Der Orient“ zu verwechseln ist, finden sich keine Bücherspuren. Lediglich einige kleinere Druckschriften und veröffentlichte Predigten aus seiner Bayreuther Zeit sind gesammelt in den Bestand der „Salfeld-Bücherei“ aufgenommen worden.212 Bände aus dem Besitz von Samuel Wolf Levi (1751–1813), Mainzer Rabbiner von 1810 bis 1813,213 sind ebenfalls nicht sicher zu belegen. Dies muss wohl ebenfalls dadurch erklärt werden, dass er nur kurz in Mainz tätig war. Gebürtig in Pfersee, war er 27 Jahre lang Rabbiner in Worms, bevor er Großrabbiner des Consistoire du départment du Mont-Tonnère wurde. Der Name Levy ist zwar häufiger in hebräischen oder deutschen Lettern auf Vorsatzblättern und Einbandspiegeln einzelner Bücher der Bibliothek zu lesen, jedoch nicht mit einem eindeutig zu identifizierenden Vornamen.214 Auch der Name von Rabbi Gedalya, Sohn des Rabbi Löb Oppenheim-Katz (gest. 1841), lässt sich bislang in keinem Buch nachweisen. Warum in Mainz keine Bücher aus der Privatbibliothek von Sali Levi (1883– 1941), Rabbiner der Hauptgemeinde von 1919 bis 1941, erhalten sind, bedarf dagegen keiner weiteren Erklärung. Zwar ist es denkbar, dass einige Titel in der Jüdischen Bibliothek von Levi angeschafft oder in die Gemeindebibliothek eingebracht worden sind215, doch hatte er seinen privaten Bestand noch im Jahre 1941 in der Hoffnung auf die Ausreise über Portugal nach Südamerika nach Lissabon vorausgeschickt, als er in Folge der Anstrengungen im Bemühen um die Ausreisepapiere auf dem Reichssicherheitshauptamt in Berlin verstarb.216 Nur seiner Frau gelang es noch, zu den bereits zuvor in die USA geflohenen Kindern zu gelangen.217 Auch die Bücher von Moses Bamberger, dem letzten Rabbiner der IRG, scheinen noch rechtzeitig ins Ausland gelangt zu sein. Ihm gelang im Jahre 1939 die Auswanderung über die Schweiz nach Großbritannien. Die allermeisten seiner Bücher durfte er dabei anscheinend mitnehmen. Nur noch ein ohne Titelblatt erhaltener Band trägt den im Vorsatz handschriftlich angebrachten Namen „Dr. M. Bamberger“.218 Ein ebenfalls beschädigter Band ohne Titelblatt – eine zweispra212

Vgl. Dr. Fürst, Rede am Grabe des Landtags-Abgeordneten und k. Advokaten, Herrn Dr. Fichel Arnheim gehalten am 3. Februar 1864, Bayreuth 1864; ders., Predigt, gehalten beim TrauerGottesdienste für seine Majestät König Ludwig I. von Bayern in der Synagoge zu Bayreuth, Bayreuth 1868 (alle Signatur F 53, Sammelband 53). Die Predigt „Ich (Gott) bin es, der euch tröstet“, gedruckt Mainz 1878, findet sich nicht im Bestand der Bibliothek. Unklar ist, ob das Büchlein: Lessing’s Nathan der Weise. Historisch und philosophisch erläutert, Leipzig 1881 (Signatur L 111), von demselben Julius Fürst verfasst wurde. 213 Siehe zu ihm Löwenstamm, Geschichte, S. 236f. 214 Vgl. etwa in Signatur HL/949, einem Band ohne Titelblatt, auf dessen angeklebten Spiegel „Levy in Mainz“ steht. 215 Da Levi während des Ersten Weltkriegs als jüdischer Feldgeistlicher tätig war, gehen wahrscheinlich eine gewisse Anzahl von Feldgebetbüchern „für die jüdischen Mannschaften des Heeres“, Berlin 1914 (z. B. Signatur M 247) auf ihn und seine Tätigkeit in Mainz zurück. 216 Vgl. zu ihm Dörrlamm, Magenza, S. 37f; Keim, Emanzipation, S. 75. 217 Siehe Schütz, Magenza, S. 699. 218 Es handelt sich um eine hebräische Bibelausgabe, „Devarim 1ff“. Der Band trägt mehrere ältere Vorbesitzervermerke, u. a. von „J. Meyer“ und „Zisman Me’ir“.

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chige Bibel – mit dem Stempel „Bamberger’s Haus Maxstraße 5 Bad Kissingen“ dürfte ebenfalls von Moses Bamberger nach Mainz mitgebracht worden sein. Dies bleiben die einzigen Hinterlassenschaften dieses strengen Orthodoxen. Die Bücher des liberalen Rabbiners Dr. Moritz Lorge, Studienrat am Frauenlob Gymnasium in Mainz, kamen wohl erst mit der Gründung der Jüdischen Bezirksschule in den Bestand der Jüdischen Bibliothek – darauf wird noch gesondert einzugehen sein.219 Zahlreiche weitere Vorbesitzervermerke lassen sich heute nicht mehr sicher einer aus anderen Quellen bekannten Persönlichkeit zuordnen. Viele Bände gelangten offensichtlich auf zum Teil weiten Umwegen nach Mainz. So wird z. B. auf einem Vorsatzblatt eines Mahzor ein „Moses Heymann aus Dietz“ erwähnt, und in einem Exemplar des Sulzbacher Druckes des Sefer ha-Maggid 1732 hat ein Löb Hayman „aus Dietz an der Lahn bey Limburg“ seinen Namen hinterlassen (Signatur B 180). In einem handschriftlichen Besitzvermerk ist etwa noch der Name eines „Moses Wolff aus Bochum“ mit dem Hinweis „am 3. Aug. 1857“ zu finden.220 Interessant ist die Namensnennung eines Meyer Lewien aus Barsinghausen in einem Druck des Sefer Mishnat Hakhamim (zusammen mit Qadesh le-Adonai), gedruckt in Wandsbeck 1773 (Signatur H 230). Der Name Meyer Lewien ist in den jüdischen Personenstandslisten der Landdrostei Hannover Amt Barsinghausen nicht mehr vollständig erhalten, kann nun aber aufgrund dieses Eintrags ergänzt werden.221 Dies ist auch deshalb von Bedeutung, da der Friedhof von Barsinghausen, auf dem sich der Grabstein Meyer Lewiens befand, in der Nazi-Zeit zerstört wurde. Außerdem belegt der Bezug zum hannoverischen Barsinghausen nocheinmal, dass Bücher aus der Bücherei Samuel Oppenheims den weiten Weg aus Niedersachsen an den Rhein gefunden haben. Wie weit einige Bände tatsächlich unterwegs waren, bevor sie in die Mainzer Bibliothek kamen, bestätigt ein vor das Titelblatt eines Exemplars des Sefer Shemene Lahamo von Asher ben Ya‛aqov, Lemberg 1884 (Signatur M ‫ ש‬118), geklebter, in hebräischer Kursive geschriebener Zettel. Dieser Band war demnach Rabbiner Dr. Marcus Lehmann von Rev. A. Amschejewitz vom Judith (Montefiore) College, Ramsgate England, zugeschickt worden. Häufiger als diese Belege für den fast schon europäischen Einzugsbereich der Bibliothek sind natürlich die Beispiele für Herkunft aus Mainz und Umgebung. Auch bei diesen Fällen lässt sich allerdings nicht immer mit Hilfe anderer Quellen wie den Grabsteininschriften, den Memorbüchern oder dem Mainzer Familienbuch Näheres über die erwähnten Personen herausfinden.222 So ist einmal der Name von 219

Vgl. zu den Büchern der Jüdischen Bezirksschule Mainz Kapitel VII.1. Dieser Band (Signatur H 318) weist außerdem einen stark verblassten ovalen Stempel dieses Besitzers auf. 221 Siehe hierzu Friedel Homeyer, Gestern und Heute. Juden im Landkreis Hannover. Hrsg. vom Landkreis Hannover 1984, S. 122. Dort steht nur noch „… wien“. 222 In einigen Fällen können noch die von den Nationalsozialisten angelegten „Kennkarten“ helfen, die die jüdische Gemeinde in Mainz im Jahre 1939 zu erfassen versuchte. Bei den Mainzer Karten handelt es sich vermutlich um die Kartei des Mainzer Polizeipräsidiums. Eine Kopie befindet sich im Zentralarchiv zur Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland in Heidelberg: Vgl. 220

1. Die „Stratigraphie“ des Bestandes

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„Sigmund Moritz“ samt Adresse „Isenburgstraße 2, Mainz“ belegt,223 und in einem Siddur Safa Berura, Rödelheim 1879 (Signatur J 72), ist der Name eines Eugen David aus Bingen am Rhein festgehalten. Bemerkenswert ist auch die Widmung in einem Mahzor Druck, Sulzbach 1768 (Signatur H 104), „zum Andenken“ an die „sel. Mutter“ von „J. Reichold aus Mainz 1902“. Besonders häufig belegt ist der Name von Leo Haas, dem „Dampf-Senf-Fabrik“-Besitzer aus der Wetzelgasse 6. Offensichtlich vermachte er viele seiner Bände der orthodoxen Gemeinde, was auch an den mit einem Namensstempel versehenen Bänden zu ersehen ist.224 Mit ihm war ein Samuel Haas verwandt, dem ein Offenbacher Mischna-Druck aus dem Jahre 1797 gehörte.225 Im Mainzer Familienbuch ist er unter Nr. 397 aufgeführt, und er starb dieser Quelle zufolge am 23. November 1825.226 Nur einmal ist der Name Joseph Salm Guntersblum, „April 1820“ (so in einem Band ohne Titelblatt, Zählstempel 900) zu lesen. Dem Mainzer Jakob Mayer gehörte ein Seder Tekhines, eine Ordnung der Bußgebete, die heute mit der Signatur der orthodoxen Gemeinde M ‫ ס‬14 versehen ist.227 Ein nur mit Bleistift eingetragener Besitzervermerk in einem Fürther MahzorDruck (Signatur H 414) weist einen Dr. Ya‛aqov Segal ‫ זצ"ל‬als Vorbesitzer aus. Einen weiteren Mahzor (Signatur H 412) hat ein Benjamin Sussmann als sein Eigentum markiert.228 Weitere Namen, die wohl Mainzer Provenienz haben, sind Sigmund Spanier (alte Signatur HL/882) und Joseph Man(n)heim, und zwar in einem hebräischen Buch ohne Titelblatt mit datierter Notiz vom 13. April 1775 (Zählstempel 2521). Ebenfalls belegt sind Bände von Abraham Carlebach aus Mainz (Signatur A 66)229, von Abraham Bamberger230 und von einem J. Goldschmidt, der in seinen Bücher zahllose handschriftliche Notizen hinterlassen hat.231

Bestände: Personenstandsregister: Archivaliensammlung Frankfurt; sie ist online zugänglich: http:// www.uni-heidelberg.de/institute/sonst/aj/ STANDREG/FFM1/117-152.htm (Zugriff 20.10.2007). 223 In einem Mahzor im kawwanat ha-payyetan, heleq rishon, Sulzbach 1902 (ohne Signatur; große 13 eingedruckt). 224 Siehe zu ihm bereits oben. 225 Signatur C 110; Zählstempel 3730 (der Druck ist nachgewiesen etwa in Vinograd, Thesaurus, Bd. 2, S. 12 # 136). Der Band trägt außerdem zwei hebräische Vorbesitzernotizen, eine von Loeb Ellinger, genannt Schnadig (1772–1847). Vgl. zu ihm Wilke, Rabbiner, Bd. 1, S. 278f. 226 Vgl. StA Mainz Bestand 50, Familienregister der Stadt Mainz, J. B. 397. 227 Näheres dazu unten, Kapitel VII.4.5. Ein Jacob Mayer ist im Verzeichnis der Judennamen von 1808 unter der Nummer 219 verzeichnet. Wohnort war im Lehnhardschen Plan D 418. 228 StA Mainz Bestand 50, Familienregister der Stadt Mainz, J. B. 341. 229 Bei diesem Band handelt es sich um einen Humash, einer so genannten Rabbinerbibel, aus Hamburg, gedruckt 1787. Auf der Rückseite des Vorsatzes finden sich außerdem Namen der Familie von Hugo Bondi. Auch ist der Name „Abraham David Karlibach“ notiert sowie „Isaac Löb Lahnstein“. Zu Abraham Carlebach vgl. StA Mainz Bestand 50, Familienregister der Stadt Mainz, J. B. 21. 230 Notiert im Vorsatz eines beschädigten Talmud-Folianten (ohne Signatur, Zählstempel 5443): „Cét liver appartien a Abraham Bamberger“. Vgl. zu ihm (1805–1833) das Verzeichnis der Judennamen von 1808, Nummer 69. Sein Wohnort war D 24. 231 Möglicherweise ist jener J. Goldschmidt gemeint, der in den Volkszählungskennkarten, Mainz 1939, als wohnhaft in der Leibnitzstraße 15, Mainz, aufgeführt ist.

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IV. Die Bibliotheken in der Bibliothek

Ein Buch in der Mainzer Bibliothek gehörte einem Rabbiner Abraham Thal aus Koblenz. Sein Name findet sich auf dem Einband eines Exemplars des noch gesondert zu würdigenden, 1523 bei Daniel Bomberg in Venedig gedruckten Sefer Sror ha-Mor.232 Auf dem Vorsatz ist in hebräischer Kursive festgehalten: ‫שייך‬ ‫להקצין כ"צ מכובלענצ הר"ר אהרון טאהל‬, „gehört dem Führer, dem Rav, unserem Lehrer Aaron Thal, Kohen sedeq, aus Koblenz“ – später ging das Buch in den Besitz des oben (S. 55–57) vorgestellten Abraham Schles(s)inger über. Vor allem in Gebetbüchern und anderen Liturgica sowie Mischna-Ausgaben, die in den Familien über mehrere Generationen vererbt wurden, finden sich zahlreiche weitere Namen: So finden sich die Autogramme von David Feist (Signatur H 392)233, Jos[eph] Henoch (Signatur E 322)234, Moritz Marx (Signatur H 324)235, B. Kauffmann (Signatur H 262), Ya‛aqov Mergentheim (Signatur H 290; alte Signatur HL/260), Isaak Oppenheim II. (Signatur H 237)236, Aaron Lipmann (Signatur H 236), Lazar Lichtenfeld (ohne Signatur und stark beschädigt), Ascher Schlösser (Signatur H 66)237, Laz(ar) Schlesinger (Signatur H 126), Jakob Vogel II. (Signatur H 196)238, Kaufmann bar Me’ir aus Sinsheim (Signatur B 188), Isaak Kasel (Signatur M ‫ ד‬98), und auch eine Madame Carrotina Hochstetter (Signatur H 104) hat ihre Spuren hinterlassen.239 Schließlich ist in einem Buch der mit Bleistift eingetragene Name „M. Railing“ zu lesen, ohne dass sich dieser Name (in dieser Schreibweise) sicher mit der Mainzer Familie in Verbindung bringen ließe.240 In einem Band einer mehrbändigen Mischna-Ausgabe aus dem Jahre 1708 (Signatur C 132) hat immerhin noch ein gut aus anderen Quellen bekannter „Monsieur Me Issac Baer de Weisnau 1793“ seine Spuren hinterlassen:241 Isaak war am 30. 232

Siehe zu diesem in ein hebräisches Einbandfragment eingebundenes Exemplar unten Kapitel VII.5.3. 233 Vermutlich der Weinhändler, StA Mainz Bestand 50, Familienregister der Stadt Mainz, J. B. 935. 234 Vgl. zu ihm die Judennamen von 1808, Nr. 315 (Wohnort D 407). 235 Erwähnt in den Kennkarten, Mainz 1939: Geboren 3.2.1876 in Hamburg. StA Mainz Bestand 50, Familienregister der Stadt Mainz, J. B. 938, Beruf: „Kaufmann“. 236 Vgl. StA Mainz Bestand 50, Familienregister der Stadt Mainz, J. B. 939, Beruf: „Eisenhändler“. 237 Möglicherweise identisch mit Alfred Schlösser, geboren am 10.11.1876 in Mainz. Vgl. HStA Wiesbaden, Abt. 365, Nr. 914. 238 Vgl. StA Mainz Bestand 50, Familienregister der Stadt Mainz, J. B. 341, Beruf: „Spezereihändler“. 239 Siehe zu ihrer Familie StA Mainz Bestand 50, Familienregister der Stadt Mainz, J. B. 936: „Jakob Wilhelm Hochstetter“. 240 Die Schreibweise ist dabei nicht „Reiling“, was etwa für einen Bezug des Bandes zur Familie von David Reiling, dem Vater der Schriftstellerin Anna Seghers, sprechen könnte. Vgl. hierzu Friedrich Schütz, Die Familie Anna Seghers-Reiling und das jüdische Mainz, in: Das Argonautenschiff 2 (1993), S. 151–173, und zum Stammbaum der Familie vgl. Josef Heinzelmann, Zur Herkunft von Anna Seghers, in: Archiv für Familiengeschichtsforschung 9 (2005), S. 162–187. – Bei dem Trägerband handelt es sich um das Werk von David Ottensauer, Di geshikhte der yehudim, Fürth 1820 (Signatur M ‫ ר‬90, alte Signatur HL/498, d. h. aus der „Lehmann-Bücherei“). David Reiling kam erst 1859 nach Mainz. – Zu diesem Band siehe noch unten Kapitel 4.5 und Abb. 48. 241 In dem Band ist der Namen sowohl in Französisch als auch in Hebräisch festgehalten. Unter

1. Die „Stratigraphie“ des Bestandes

Der Bau der Hauptsynagoge in der Hindenburgstraße (1912)

Abb. 33: Synagoge Mainz Hindenburgstraße im Bau (CAHJP D Ma 7/10)

Abb. 34: Bau der Synagoge in der Hindenburgstraße (CAHJP D Ma 7/10)

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IV. Die Bibliotheken in der Bibliothek

Juni 1742 in Weisenau geboren worden und hielt sich ab 1793 in Mainz auf, wo er als Groß- und Fruchthändler arbeitete.242 1808 nahm er gemäß eines französischen Dekretes den Namen Bernays an, ein Kunstname, der aus „Baer“ und „Neu“ (für Neustädel, dem Herkunftsort der Vorfahren) zusammengesetzt war.243 Der Heranwachsende wurde unter anderem von den konservativen Rabbinern Hayyim Hirsch Berliner und David Herz Scheuer gefördert.244 Bald setzte er sich jedoch auch für die bürgerliche Gleichberechtigung, die „Emanzipation“ von Juden ein.245 1821 wurde Isaak Bernays Oberrabbiner von Hamburg. Dort führte er gemäßigte Reformen ein, u. a. Predigten in deutscher Sprache. Dennoch blieb er Zeit seines Lebens der strengen Orthodoxie, die er in Mainz kennen gelernt hatte, verbunden, und im Jahre 1841 veröffentlichte er sogar einen aufsehenerregenden Protest gegen den Neuen Israelitischen Tempel in Hamburg.246

dem Namen steht die Jahreszahl und dann „Fast Franz“, was auf einen späteren Besitzer hindeutet. Zudem trägt der Band einen jüngeren Bleistiftvermerk von „Leo Haas“. 242 Siehe zur Familie Bernays ausführlich Schütz, Magenza, S. 692 und ders., Skizzen zur Geschichte der jüdischen Gemeinde Weisenau bei Mainz. Mit einer besonderen Würdigung der Familie Bernays, in: Mainzer Zeitschrift 82 (1987), S. 151–179, hier S. 169f. 243 Der Stammvater der Familie, Baer Neutstädel, ein Schutzjude aus Groß-Gerau, wird „Baer“ geschrieben. Vgl. Schütz, Skizzen zur Geschichte, S. 172. In der Namensliste der Franzosen vom 17. März 1808 findet sich dann „Beer“ für „Jacob Bernays“, den Bruder dieses Isaak. Vgl. Salfeld, Bilder, S. 72. 244 Siehe dazu bereits oben Kapitel IV.1.2. 245 Zum Stammbaum der Familie Bernays, aus der zahlreiche berühmte Sprößlinge hervorgegangen sind, vgl. ausführlich Schütz, Skizzen zur Geschichte, S. 172. 246 Vgl. hierzu ausführlich Meyer, Antwort auf die Moderne, S. 173–177. Das Schreiben Bernays ist veröffentlicht bei Andreas Brämer, Judentum und religiöse Reform. Der Hamburger Tempel 1817–1938. Mit einem Vorwort von Michael A. Meyer, Studien zur jüdischen Geschichte 8, Hamburg 2000, S. 167–171.

V. Der Werdegang der Bücher seit 1938 1. Die Bücher in der Pogromnacht Die Rekonstruktion des Verbleibes der jüdischen Bücher in den Synagogen in der Hindenburgstraße und in der Flachsmarktstraße/Ecke Margaretengasse in der Pogromnacht im November 1938 steht vor erheblichen Quellenproblemen. Zwar verlief der Pogrom in Mainz ähnlich wie in vielen anderen Städten, so dass sich manche vergleichende Rückschlüsse ziehen lassen, doch liegen über die Vorgänge in Mainz in der Nacht vom 9. auf den 10. November selbst nur relativ ungenaue Berichte vor, und auch die Zeit unmittelbar danach ist schlecht dokumentiert.1 Als gesichert kann zunächst gelten, dass die jüdischen Büchereien noch im Zuge der Bücherverbrennungen des Jahres 1933 völlig unangetastet geblieben waren, und auch für die folgenden Jahre, in denen bereits erste Maßnahmen gegen jüdische Bibliotheken geplant und durchgeführt wurden, lassen sich in Mainz keine Übergriffe auf die Bücher nachweisen. Erst der organisierte Pogrom vom November 1938 hatte für die Bücher jene einschneidenden Folgen, die sich bis heute an ihnen nachweisen lassen – sie wurden durch Feuer und Wasser beschädigt und in der Folge unsachgemäß gelagert. Die so genannte „Reichskristallnacht“ war in Mainz wie in vielen anderen Orten in Deutschland genau vorbereitet worden. SA und Polizei waren vorab instruiert worden, wie bei den „spontanen Kundgebungen“ zu verfahren sei, was mit dem sichergestellten Material zu geschehen habe und wie zu verhindern sei, dass nichtjüdisches Eigentum in Mitleidenschaft gezogen wurde.2 Die Verwüstung und Zerstörung der Mainzer Synagogen durch militärisch geführte SA-Trupps in ziviler Kleidung wurde dann ganz wie geplant durchgeführt. Was genau in der Nacht mit 1

Zu den systematischen Maßnahmen gegen jüdische Sammlungen ab 1933 vgl. einleitend Dov Schidorsky, Das Schicksal jüdischer Bibliotheken im Dritten Reich, in: Peter Vodosek / Manfred Komorowski (Hrsg.), Bibliotheken während des Nationalsozialismus, Teil 2, Wolfenbüttler Schriften zur Geschichte des Buchwesens 16, Wiesbaden 1992, S. 189–222, hier besonders S. 193 mit dem Zitat aus einem Schreiben des RSHA vom 16.12.1936 (Bundesarchiv Koblenz, R 58/544, Material in Synagogen). 2 Die Ereignisse finden sich zusammengefasst geschildert von Hans-Jürgen Bömelburg, Zurück blieb ein Trümmerfeld. Die Pogrome vom 9./10. November 1938 in Mainz, in: Anton Maria Keim u. a. (Hrsg.), Als die letzten Hoffnungen verbrannten. 9./10. November 1938. Mainzer Juden zwischen Integration und Vernichtung, Mainz Edition 5, Mainz 1988, S. 67–78. Weitere Dokumente sind zusammengestellt bei Ursula von Dietze, Der Weg in die Vernichtung (1933 bis 1945), in: Juden in Mainz. Katalog zur Ausstellung der Stadt Mainz im Rathaus-Foyer, November 1978, Mainz 1978, S. 87f. Zu den Verantwortlichen SA-Führern Fust und Wehrfritz von der SA-Brigade 150 vgl. die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft beim Landgericht Wiesbaden vom 22. April 1950; veröffentlicht in: Wolf-Arno Kropat, Kristallnacht in Hessen. Der Judenpogrom vom November 1938. Eine Dokumentation, Schriften der Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen 10, Wiesbaden 1988, S. 128f.

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V. Der Werdegang der Bücher seit 1938

den Büchern geschah, ist allerdings nicht in allen Einzelheiten überliefert. Durch einen im Stadtarchiv erhaltenen Schriftwechsel zwischen Stadtbibliothek Mainz und der Geheimen Staatspolizei, Außendienststelle Mainz in der Klarastraße 4, sind wir zumindest ansatzweise darüber unterrichtet, wo ein Großteil der Bücher der Jüdischen Gemeinde seit der Pogromnacht im November 1938 verblieb – offenbar war auch dies zuvor geplant worden.3 Die in der Pogromnacht durchgeführte Aktion gegen die jüdischen Buchbestände hatte dabei einen längeren Vorlauf, der ebenfalls dokumentiert ist. Die Aktion gegen die Bücher erfolgte nicht unvorbereitet. Bereits im 6. September 1938 hatte die Stadtbibliothek Mainz vom „Reichsstatthalter in Hessen“, Jakob Sprenger, die an alle Bibliotheken und Büchereien in Hessen ergehende Aufforderung (zu Nr. VII/V. 39385: Betreff: Auswertung der jüdischen und der hebräischen Literatur) erhalten, „die jüdische und hebräische Literatur“ in ihren Beständen auszuwerten. Einem Erlass des Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, Bernhard Rust, vom 17. August 1938 zufolge sollten alle Bibliotheken bis zum 1. Oktober 1938 Bericht darüber erstatten, welche „jüdische oder hebräische Literatur“ sich in ihrem Besitz befände. In dem Erlass heißt es weiter:4 „Für die Bearbeitung der Judenfrage ist die Auswertung der jüdischen und hebräischen Literatur von besonderer Bedeutung. Es ist deshalb notwendig, alle Bücherbestände dieser Art zu erfassen. Hierfür würden in Frage kommen: 1.) Bücherbestände bei Reichs-, Staats- und Kommunalbehörden sowie bei Dienststellen der Partei. Wenn diese Bücherbestände auch vielfach bekannt und in ihrem Umfang nicht bedeutend sind, ist ihre Erfassung nicht nur der Vollständigkeit halber, sondern auch deshalb angebracht, weil sich dort immerhin wertvolle Spezialwerke befinden können, 2.) Bücherbestände kirchlicher Institutionen, 3.) Bibliotheken jüdischer Gemeinden und 4.) Privatbibliotheken von Juden und Judenforschern. Ich ersuche hiernach um ausführlichen Bericht über die dort bekannten Bücherbestände hebräischer und jüdischer Literatur sowie darüber, ob und gegebenenfalls von wem diese Bestände bereits im Sinne einer nationalsozialistischen Erforschung der Judenfrage ausgewertet werden.“5

Direktor der Mainzer Stadtbibliothek war bis 1933 Aloys Ruppel (1882–1977). Da ihm von den Behörden zur Last gelegt wurde, dass er die „kommunisten- und judenfreundlichen Mitarbeiter gewähren ließ“,6 wurde sein Arbeitsbereich seit 1934 auf das Gutenberg-Museum beschränkt; Stadtbibliothek und Gutenberg-Museum wurden laut einer Entschließung von Oberbürgermeister Barth vom 1. Juli 1934 zu eigenständigen Instituten umfunktioniert. Die Leitung der Bibliothek und des 3

StA Mainz, 72 / 182 I-II. StA Mainz 72 / 182 II, fol. 32. 5 Gezeichnet ist der Erlass im Auftrag mit dem Namen „Breuer“. Er wurde nicht im „RMin AmtsblDtschWiss.“ veröffentlicht. 6 Vgl. hierzu Friedrich Schütz, Leben und Werk, Kleiner Druck der Gutenberggesellschaft 100, Mainz 1982, S. 79f; ders., Aloys Ruppel – Leiter von Stadtbibliothek, Stadtarchiv und GutenbergMuseum, in: Annelen Ottermann / Stefan Fliedner (Hrsg.), 200 Jahre Stadtbibliothek Mainz, Veröffentlichungen der Bibliotheken der Stadt Mainz 52, Wiesbaden 2005, S. 73–87. 4

1. Die Bücher in der Pogromnacht

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im Aufbau befindlichen Stadtarchivs wurden dem Archivar Dr. Richard Dertsch übertragen.7 Dertsch, der bereits früh Parteimitglied geworden war, fungierte in dieser Position bis 1943 und war in dieser Zeit wohl auch für die jüdischen Bücher zuständig. In dem Antwortschreiben von Dertsch an den Reichsstatthalter in Hessen vom 10. September 1938 heißt es:8 „Der Sachkatalog der Mainzer Stadtbibliothek enthält in der Abteilung Judaica etwa 900 Titel, die meisten davon in deutscher Sprache. Ausserdem besitzt die Stadtbibliothek eine Teilabschrift des in den letzten Jahrzehnten angefertigten Zettelkataloges der recht umfänglichen Bücherei der hiesigen jüdischen Gemeinde, die grossenteils auch Bücher in hebräischer Sprache enthält. Wie gross der damit erfasste Bruchteil dieser jüdischen Bibliothek im Verhältnis zum ganzen ist, kann ich nicht sagen, zumal die Lieferung der Abschriften vor einigen Jahren abgebrochen wurde. Ein Teil unserer in Betracht kommenden Bestände ist in den letzten Jahren für Verzeichnisse nationalsozialistischen Büchergutes zum Gebrauch unserer Benutzer verwertet worden; der Großteil jedoch ist bisher noch nicht im Sinn der nationalsozialistischen Erforschung der Judenfrage ausgewertet.“

Neben den zahlreichen Judaica in der Stadtbibliothek9 befand sich in dieser Institution also schon vor dem Pogrom eine Abschrift eines Zettelkatalogs „der Bibliothek der jüdischen Gemeinde“. Wahrscheinlich ist mit dieser Bibliothek die Bücherei bei der Synagoge Hindenburgstraße gemeint, wobei offen bleiben muss, ob zu diesem Zeitpunkt auch schon die Bücherei der orthodoxen Gemeinde in der Flachsmarktstraße dazugehörte. Der erwähnte Teilkatalog der Gemeinde ist heute in der Stadtbibliothek nicht mehr erhalten. Reste eines solchen Zettelkatalogs wurden allerdings in einer Kiste in der Jüdischen Bibliothek gefunden. Sie sind möglicherweise mit jenem 1938 erwähnten Katalog aus der Stadtbibliothek identisch. Das zitierte Schreiben belegt jedenfalls, dass die Behörden von der Existenz und vom Umfang der jüdischen Bibliothek Kenntnis hatten, ja ihnen stand in der Stadtbibliothek sogar ein fast vollständiger Katalog der Judaica und Hebraica zur Verfügung. In der Chronologie der Ereignisse, wie sie sich aufgrund des erhaltenen Schriftwechsels zwischen Stadtbibliothek Mainz und den Behörden rekonstruieren lässt, gibt es zwischen August 1938 und Juli 1939 eine Lücke. Offenbar muss Mainz in der Nacht zum 10. November 1938 wie viele andere Städte jenes berüchtigte Blitzfernschreiben des Chefs der Sicherheitspolizei erreicht haben, in dem alle Stapound SD-Dienstsellen angewiesen wurden, „in allen Synagogen und Geschäftsräu7

Zu Dr. Richard Dertsch, der am 1.1. 1926 der erste beamtete Archivar am Mainzer Stadtarchiv geworden war, vgl. etwa Wolfgang Dobras, Das Stadtarchiv, in: Ottermann / Fliedner (Hrsg.), 200 Jahre Stadtbibliothek, S. 136 und Schütz, a. a. O., S. 78 Anm. 15; ausführlich auch Joseph Heinzelmann, Später Dank an Richard Dertsch, in: Genealogie 16 (1983), S. 427–428. Zur Trennung von Stadtbibliothek und Gutenberg-Museum vgl. Richard Dertsch, Schicksale der Stadtbibliothek und des Stadtarchivs zwischen 1925 und 1943, in: Mainzer Zeitschrift 77/78 (1982/83), S. 166. 8 StA Mainz 72 / 182 II, fol. 31. 9 Vgl. Aloys Ruppel, Judaica im Stadtarchiv und in der Stadtbibliothek, in: Magenza. Ein Sammelheft über das jüdische Mainz im fünfhundertsten Todesjahre des Mainzer Gelehrten Maharil, hrsg. vom Verein zur Pflege jüdischer Altertümer in Mainz unter Leitung von Sali Levi, Menorah, Berlin 1927, S. 101–107.

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V. Der Werdegang der Bücher seit 1938

men der Jüdischen Kultusgemeinden das vorhandene Archivmaterial zu beschlagnahmen“.10 In diesen Befehl eingeschlossen waren sämtliche jüdischen Buchbestände, soweit sie nicht bereits „bei der November-Aktion gegen die Judenschaft“ vernichtet worden waren. Inwieweit dieser berücktigte Befehl auch in Mainz umgesetzt wurde, lässt sich nicht mehr genau rekonstruieren. Offenbar bestand bei der Umsetzung des Befehls in Mainz wie an anderen Orten beträchtlicher Interpretationsspielraum. Einem Brief der Geheimen Staatspolizei, Außendienststelle Mainz, vom 26. Juli 1939 lässt sich entnehmen, dass in der Pogromnacht zunächst nicht alle in der Hindenburgstraße und in der Synagoge Flachsmarktstrasse, Ecke Margaretengasse aufbewahrten Bücher zerstört, abtransportiert oder beschlagnahmt worden sind.11 Unter dem Betreff: „Sicherstellung jüdischer Schriften anlässlich der Aktion gegen die Juden“ heißt es in diesem Schreiben an die Direktion der Stadtbibliothek, Mainz, Rheinallee 3 3/10:12 „Im Laufe der letzten Monate wurden noch etwa 30 Zentner alter Schriften, die aus den hiesigen Synagogen und israelitischen Gemeindebibliotheken stammen, sichergestellt. Da sich unter diesem Material wertvolle und interessante Druckwerke befinden dürften, empfiehlt es sich, sie einer sachverständigen Prüfung und Behandlung zu unterziehen. Ich schlage daher vor, auch diese Druckschriften, wie die Ihnen vor einigen Monaten übersandten Schriften zu übernehmen und bitte um Mitteilung, wann Ihnen das Material überbracht werden kann und wo es angefahren werden soll. Kosten entstehen Ihnen durch die Übersendung nicht.“

Dieser kurze Brief ist im Grunde der wichtigste Beleg für die Rekonstruktion der Rettung der jüdischen Bibliotheken von Mainz nach 1938. Die Gestapo hatte bereits unmittelbar nach der Brandschatzung und Verwüstung der Synagogen und der angrenzenden Gebäude, Bücher sichergestellt und, wohl aus Mangel an geeigneten Räumen, teilweise in die Stadtbibliothek an der Rheinallee abtransportieren lassen. Da die am 10. November angeordnete, am 17. November durchgeführte Sprengung der Synagoge in der Hindenburgstraße zunächst nur die Kuppel und den Betsaal zerstörte, – die endgültige Sprengung der Ruine und die Beseitigung des Schutts erfolgte erst 194013 –, blieben Seitengebäude und Kellerräume, in dem die Bezirks10

Vgl. Heinz Lauber, Judenpogrom: „Reichskristallnacht“ November 1938 in Großdeutschland, Daten, Fakten, Dokumente, Quellentexte, Thesen und Bewertungen, Gerlingen 1981, S. 81. Siehe auch Werner Schroeder, Bestandsaufnahme durch Plünderung jüdischer Bibliotheken im Reichssicherheitshauptamt 1936–1945, in: http://www.wienbibliothek.at/sammlungen/digital/schroederwerner-bestandsaufbau.pdf (Zugriff: 26.02.2008), S. 4. 11 Dass in dieser orthodoxen Institution, die zunächst durch Sprengung nicht beseitigt werden konnte, dennoch Gebetbücher in der Pogromnacht zerstört worden sind, belegt aufs Neue der Bericht von Renata Schwarz, Von Mainz nach La Paz. Kindheit eines jüdischen Mädchens in Deutschland und Flucht nach Bolivien, hrsg. und aus dem Englischen übersetzt von Hedwig Brüchert. Mit einem Beitrag von Patrik von zur Mühlen, Sonderheft der Mainzer Geschichtsblätter, Mainz 2007, S. 56. 12 StA Mainz 72 / 182 I, fol. 273. 13 Vgl. auch die knappe Rekonstruktion der Ereignisse in Stefan Fischbach / Ingrid Westerhoff, „… und dies ist die Pforte des Himmels“ 1. Mos. 28,17. Synagogen Rheinland-Pfalz – Saarland, Mainz 2005, S. 247.

1. Die Bücher in der Pogromnacht

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schule und vermutlich auch ein Teil der Bibliothek untergebracht waren, zunächst stehen. Erst im Juli 1939, ein gutes halbes Jahr später, wurden dann die restlichen Bücher sichergestellt. Wie mir von Monsignore Klaus Mayer anlässlich eines Besuches der Bibliothek berichtet wurde, geschah dies auf Veranlassung der Gestapo in Anwesenheit bzw. unter Anleitung von Rabbiner Sali Levi, der vom Gemeindevorsitzenden Bernhard Albert Mayer begleitet wurde.14 Diese Zeugenaussage wird auch durch eine Aktennotiz von Michel Oppenheim vom 21. Mai 1943 bestätigt. Oppenheim, der zu diesem Zeitpunkt aufgrund seiner jüdischen Abstammung bereits als Verbindungsmann der jüdischen Gemeinde zur Gestapo fungierte, notierte sich nach einem Gespräch mit dem Gestapobeamten der Außenstelle Mainz Eisenhauer: „Nach dem Brand der Synagoge stellte sich heraus, dass ein schmaler, im Souterrain gelegener Raum unbeschädigt geblieben war. Er war angefüllt mit Büchern. Herr Eisenhauer ist der Ansicht, dass dies das Archiv war. Der ehemalige Rabbiner, Herr Dr. Levi, erhielt die Erlaubnis, den Inhalt dieses Raumes an sich zu nehmen, was auch geschah.“

Vermutlich spielte bei dieser bemerkenswerten Aktion auch noch das vielfach bezeugte Verhandlungsgeschick Rabbiner Levis eine Rolle.15 Die wichtige Notiz erklärt jedenfalls auch, wie einige Bände aus dem Gemeindebüro in der Hindenburgstraße 50, Eingang Gabelsbergstraße, in der Jüdischen Bibliothek Mainz erhalten sind.16 Sie wurden vermutlich in stark beschädigtem Zustand erst im Juli 1939 geborgen. Als vor der endgültigen Sprengung des Gebäudekomplexes in der Hindenburgstraße weitere „30 Zentner“ Bücher sichergestellt wurden, wohl auch in den oben erwähnten Kellerräumen, in die möglicherweise auch Bücher aus der Synagoge der Israelitischen Religionsgesellschaft geschafft worden waren, ergab sich für die Gestapo und die beteiligten Behörden also ein noch größeres Platzproblem. Wie im Fall der zuvor überstellten Bestände unbekannten Umfangs suchte man rasch nach einem Ort, der genug Platz für eine konzentrierte Unterbringung der sichergestellten Bestände bot. Ihr Wert war ja auch durch den in der Stadtbibliothek vorhandenen Katalog bekannt – auch wenn vorauszusetzen ist, dass dieser Wert von den verantwortlichen Stellen zunächst nur im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie betrachtet wurde. Das erhaltene ausführliche Antwortschreiben der Direktion der Stadtbibliothek auf die kurze Gestapo-Anfrage folgte erst am 31. Juli 1939. An die Geheime Staats14

Bernhard Albert Mayer war bis zu seiner Emigration 1941 Vorsitzender der Gemeinde in der Hauptsynagoge Mainz. Vgl. zu ihm Klaus Mayer, Wie ich überlebte. Die Jahre 1933–1945, Würzburg 2007, S. 7. 15 Zum Verhandlungsgeschick Rabbiner Levis mit den nationalsozialistischen Stellen vgl. Paul Simon, Meine Erinnerungen an Rabbiner Dr. Levi, in: Erinnerungen an Rabbiner Dr. Sali Levi 1883–1941 – zu seinem 20. Todestage am 25. April 1961, S. 19. 16 Vgl. dazu oben. Bei den mit dem Stempel „Büro: Hindenburgstr. 50. Eingang Gabelsbergstr. Mainz“ handelt es sich meist um religiöse Gebrauchsliteratur, die etwa auch im häuslichen Bereich verwendet werden konnte und vielleicht daher gelegentlich von bedürftigen Gemeindemitgliedern entliehen wurde.

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V. Der Werdegang der Bücher seit 1938

polizei – Außendienststelle Mainz, Klarastraße 4, gerichtet, geht dieses Schreiben allerdings nur auf die praktischen Fragen des Transfers und die Auswertung des angefallenden Materials ein:17 „Betr.: Sicherstellung jüdischer Schriften anlässlich der Aktion gegen die Juden Antwortlich Ihres Schreibens vom 26. Juli, das erst heute (31.7.) in unseren Besitz gelangte, erklären wir uns bereit, das anfallende Material an Druckschriften aus Synagogen und israel. Gemeindebibliotheken in Verwahr zu nehmen. Die Zusendung kann im Laufe dieser Woche erfolgen, Anfahrt von der Greiffenklaustr. aus. Wir bitten jedoch dringend um vorherigen fernmündlichen Anruf, wann die Anfahrt erfolgen wird. Ferner bitten wir Folgendes zu beachten: wir haben bereits eine Menge derartigen Materials bei uns in Verwahr genommen und sind um Platze äusserst beschränkt, so dass wir nicht wissen, wie wir die noch hinzukommenden 30 Zentner alter Schriften einigermaßen geordnet unterbringen können. Deshalb bitten wir, schon vor der Überbringung, das Material zu sichten, in dem Sinne, dass nur Bände und Broschüren bei uns abgeliefert werden, dagegen loses Material von Zetteln und handschriftliche Korrespondenz, die wir doch nicht durchsehen können und als Makulatur sofort wieder abgeben müssten, auszuscheiden. Da wir aus Mangel an Personal und Überhäufung mit dringenden laufenden und aussergewöhnlichen Arbeiten nicht in der Lage sind, das gesamte schon in Verwahr genommene und noch anfallende Schrifttum sachgemäß zu prüfen und zu sichten, bitten wir, schließlich auch noch dafür Sorge zu tragen, dass ein Sachverständiger für jüdische und hebräische Literatur uns zur Verfügung gestellt wird, damit diese Sichtung und Ausscheidung minderwertigen Materials durchgeführt werden kann.“

Auch Direktor Dertsch, Unterzeichner dieses Schreibens, war der Wert der Bücher offensichtlich bewusst. Doch sah er sich vor verwaltungstechnische Probleme gestellt, die es ihm unmöglich machten, die Bücher adäquat zu bearbeiten. Die Bitte, „loses Material von Zetteln und handschriftliche Korrespondenz“ vor der Ablieferung auszuscheiden, lässt erahnen, in welchem Umfang ihm wertvolle Papiere und Archivalien bereits zuvor zugestellt worden waren. Angesichts der Tatsache, dass sich noch heute Mengen solcher Papiere und zahlreiche lose Blätter bei den erhaltenen Beständen finden, kann man sich vorstellen, wie sich die Lage unmittelbar nach der Beschlagnahme der Bibliotheken dargestellt haben muss. Eine unbekannte Menge von Papieren und Archivalien wurden in der Folge wohl makuliert bzw. auf dem Müll entsorgt. Bemerkenswert ist die Anfrage bezüglich der Vermittlung eines Sachverständigen für die Sichtung und Ausscheidung minderwertigen Materials. Woher, wenn nicht aus der jüdischen Gemeinde selbst, hätte ein solcher Sachverständiger kommen sollen? Ob dieser Bitte nachgekommen worden ist und wer diese Tätigkeit übernommen hat, ist nicht überliefert. Denkbar ist, dass Sali Levi in dieser Angelegenheit hinzugezogen wurde. Er war auch an der Bergung von restlichen Büchern aus der Synagogenruine beteiligt und verfügte über die gewünschte Sachkenntnis. Die Anlieferung der gemeldeten Bestände wird dann im Juli 1939 stattgefunden haben. Am 7. August 1939 erfolgte eine weitere Anfrage der Abteilung VII des Reichsstatthalters in Hessen aus Darmstadt.18 Unter Bezugnahme auf die Verfü17 18

StA Mainz 72 / 182 I, fol. 272. StA Mainz 72 / 182 I, fol. 35.

1. Die Bücher in der Pogromnacht

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gung vom 6. September 1938 (zu Nr. VII/V. 39385) wird nach dem „derzeitigen Sachstand“ gefragt. Daraufhin antwortet die Direktion der Stadtbibliothek am 14. August 1939: „Betr. Auswertung jüd. und hebräischer Literatur. Antwortlich auf Ihrem Schreiben vom 7.8. und unter Bezugnahme auf unseren Brief vom 10. September 1938 teilen wir mit, dass ein grosser Bestandteil der Bibliothek der israelitischen Gemeinde im November 1938 und nachträglich im Laufe des Juli 1939 nochmals versprengte Teile aus den Abbruchsarbeiten der Synagoge mit Hilfe der Geheimen Staatspolizei gerettet und der Stadtbibliothek überliefert worden sind. Die Bestände sind zum Teil in sehr beschädigtem Zustand bei der Stadtbibliothek angeliefert worden. Bisher haben wir, wegen Mangel an Personal und der Überfülle an dringlichen laufenden Arbeiten, uns noch nicht mit der Sichtung dieser angekommenen Bibliotheksbestände befassen können.“

Dieses mit Tippfehlern durchsetzte Schreiben ist von einer nicht mehr eindeutig zu identifizierenden Hand – Dertsch? – unterschrieben. Inhaltlich fällt auf, dass nur noch von einer, „der Bibliothek der israelitischen Gemeinde“ die Rede ist. Klar ersichtlich wird hier, woher die im Juli 1939 angefallenen Bestände stammten: aus den Abbrucharbeiten „der Synagoge“, womit wohl die Hauptsynagoge in der Hindenburgstraße gemeint ist. Von der Synagoge in der Flachsmarktstraße, die zu diesem Zeitpunkt noch gestanden haben muss, ist nicht die Rede. Das Schreiben, eine Woche nach der Anfrage verfasst, erweckt den Eindruck, als wollte sein Verfasser die Behörde unter Verweis auf die schwierige Personallage und dringlichere Arbeiten vertrösten. Tatsächlich dauerte es dann bis zum 21. November 1939 bis die Darmstädter Behörde reagierte und unter dem Betreff: „Auswertung jüdischer und hebräischer Literatur“ unter Bezug auf den Erlass zu Nr. VII/ V 39239 den Direktor der Stadtbibliothek erneut dazu aufforderte, einen Bericht vorzulegen. Diesmal mit einer Frist zur Beantwortung „bis zum 1. April 1940“.19 Doch der „Direktor der Stadtbibliothek und des Stadtarchivs“ Dertsch antwortete der Darmstädter Behörde bereits am 30. November 193920: „Die hierher in Verwahr gekommene jüdische und hebräische Literatur ist wegen Personalmangels nicht weiter ausgewertet worden. Ein Teil der Einzelblattreste ist aus Gründen des Luftschutzes makuliert worden, ebenso neuere Rechnungsarchivalien. In dem noch Ende Juli zugeführten Archivteil konnten die bis dahin vergeblich gesuchten Memorbücher der Gemeinden Mainz und Weisnau festgestellt werden; sie sind in besonderem Verwahr. Der gesamte Rest der jüdischen Bücher befindet sich nunmehr im untersten Boden des Bücherhauses.“

Die Auswertung der „jüdischen und hebräischen Literatur“ hatte zu diesem Zeitpunkt also doch schon in einem gewissen Umfang stattgefunden. Immerhin waren zum einen „Einzelblattreste“ aussortiert und entsorgt worden21, zum anderen wurden die wichtigen Memorbücher der Gemeinde geborgen und an einem besonderen Ort verwahrt. 19

StA Mainz 72 / 182 I, fol. 26. StA Mainz 72 / 182 I, fol. 25. 21 Die Begründung mit dem Luftschutz ist wohl so zu verstehen, dass Altpapier als leicht brennbar galt und daher im Brandfalle für die Brandbekämpfung ein zusätzliches Problem darstellen konnte. 20

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V. Der Werdegang der Bücher seit 1938

Memorbücher enthalten Namenslisten verstorbener Gemeindemitglieder, für die an den Anniversarien entsprechende Gebete rezitiert werden sollten. Genealogisch waren sie auch für die nationalsozialistische Ahnenforschung von Interesse. Wahrscheinlich sind in diesem Schreiben jene Mainzer Memorbücher gemeint, die später zum Teil erst in den sechziger Jahren in die Central Archives for the History of the Jewish People in Jerusalem gelangten.22 Auch das in dem Antwortschreiben erwähnte Weisenauer Memorbuch befindet sich heute in diesem Jerusalemer Zentralarchiv. Vielleicht befand sich unter den Beständen auch jenes Mainzer Memorbuch, welches im Jahre 1597 angelegt worden war und das bis in das Jahr 1837 reicht. Dieses einzigartige Dokument gelangte allerdings auf ungeklärtem Wege und in stark beschädigtem, unvollständigem Zustand schließlich in das Jewish Theological Seminary in New York.23 Vielleicht befand sich unter den 1939 sichergestellten Dokumenten auch noch das älteste mit Mainz verbundene Memorbuch, das so genannte Nürnberger Memorbuch. Diese Handschrift war bereits lange zuvor von Rabbiner Dr. Salfeld wissenschaftlich ediert worden und befindet sich heute in jüdischem Privatbesitz in England.24 Wie es dorthin gekommen ist, lässt sich heute nicht mehr zweifelsfrei klären.25 Wenigstens eine Photokopie des Originals befindet sich auch im Institute of Microfilmed Hebrew Manuscripts an der National-Bibliothek in Jerusalem.26 Außer den zitierten Schreiben sind meines Wissens weder weitere Schriftwechsel der Stadtbibliothek noch Gestapo-Akten über den Verbleib der jüdischen Bücher nach 1939 erhalten. Der Kriegsausbruch führte wohl dazu, die Bemühungen zur Erfassung jüdischer Literatur zurückzustellen. Kriegswichtige Aufgaben rückten zunächst in den Vordergrund. Dennoch wirft das weitere Schweigen über die Bücher Fragen auf. Waren sie vielleicht doch inzwischen ausgewertet worden, obwohl 22

Signaturen D Ma 8/7 und D Ma 7/18. Zur Entstehung und Übergabe dieser Memorbücher an die Central Archives vgl. ausführlich Aubrey Pomerance, Geteiltes Gedenken. Die Mainzer Memorbücher des 19./20. Jahrhunderts, in: Michael Brocke / Aubrey Pomerance / Andrea Schatz (Hrsg.), Neuer Anbruch. Zur deutsch-jüdischen Geschichte und Kultur, Minima Judaica 1, Berlin 2001, S. 205–219, hier S. 206f. Nur das Memor-Buch der orthodoxen Bretzenheimer Kippe, angelegt 1830, gilt als verloren. Eine auszugsweise Reproduktion des Memorbuchs der israelitischen Religionsgesellschaft von 1849–1939 wurde auf der Ausstellung Juden in Mainz 1978 gezeigt. Vgl. den Katalog Juden in Mainz, hrsg. Friedrich Schütz, Mainz 1978, S. 177 (Nummer 170). Eine weitere Liste von Namen (Ms Mainz, Jüdische Gemeinde Nr. 4), die erst kurz nach dem Krieg, angelegt wurde, ähnelt Memorbüchern, führt aber nur die Namen der zur Tora Aufgerufenen auf. Siehe dazu unten Kapitel 5.1. 23 Signatur: JTS MS 8896. Siehe hierzu Pomerance, Geteiltes Gedenken, S. 207 Anm. 8. 24 Vgl. Siegmund Salfeld (Hrsg.), Das Martyrologium des Nürnberger Memorbuches, Quellen zur Geschichte der Juden in Deutschland 3, Berlin 1898. – Die Erben der Familie Bondi sind in London ansässig. 25 In einem autobiographischen Bericht von Dertsch, Schicksale S. 166 findet sich die Vermutung, das Memorbuch sei 1945 geraubt worden. Welches Memorbuch in diesem Bericht gemeint ist, bleibt unklar, da Dertsch von einem Memorbuch schreibt, welches „vielleicht vom 13. Jahrhundert ab“ verfasst wurde. Einem anderen mündlichen Bericht zufolge wurde das alte Memorbuch von Moses Bamberger, dem letzten Rabbiner der orthodoxen Gemeinde von Mainz, über die Schweiz mit nach England genommen, wo es sich seitdem im Kreis von Erben befindet. 26 Fotostat Nr. 2828. Eine weitere Kopie befindet sich im Seminar für Judaistik in Mainz.

2. Während des Krieges und der Verfolgung

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darüber kein Schriftwechsel erhalten geblieben ist? Wurden die Bücher vergessen, weil ein Personalwechsel stattfand?27 Bis zum Kriegsende scheinen die Bücher jedenfalls „im untersten Boden des Bücherhauses“ verblieben zu sein.28 Dieses Gebäude war zwar bereits bei einem Luftangriff im August 1942 beschädigt worden, doch größerer Schaden konnte durch Luftschutzwachen abgewehrt werden.29 In der Nacht vom 27. Februar 1945 wurden dann allerdings die Dachstühle und die beiden oberen Geschosse des Bücherhauses und des Verwaltungsbaus zerstört.30 Die jüdischen Bücher waren davon jedoch – im Unterschied zu der von Ruppel in einem Dachbodenraum untergebrachten Literatur, deren Benutzung von der NSDAP verboten worden war31 – allem Anschein nach nicht betroffen. Sie blieben wie der Rest des Gebäudes glücklicherweise von weiteren Kriegseinwirkungen verschont. Dass die Bücher der Jüdischen Gemeinden „von beherzte(n) Mitglieder(n) der beiden jüdischen Gemeinden“32 rechtzeitig vor den Verwüstungen der Pogromnacht geborgen und in einem Keller unter Kohlen und Gerümpel versteckt wurden, wie es von Otto Böcher, dem langjährigen Mitarbeiter von Eugen Ludwig Rapp (siehe zu ihm unten), einmal festgehalten wurde, ist somit für einen bedeutenden Teil des Bestandes nicht aufrecht zu erhalten.33 Allerdings bleiben wie gesagt Fragen offen – Fragen, die sich wohl nicht mehr restlos klären lassen, da die beteiligten Personen mittlerweile verstorben sind, ohne zuvor ihre Erinnerungen festgehalten oder mitgeteilt zu haben. 2. Während des Krieges und der Verfolgung Eine wichtige dieser offenen Fragen ist, wieso die Bücher angesichts der gezielten und gut dokumentierten Maßnahmen gegen jüdische Literatur überhaupt in der Stadtbibliothek erhalten blieben? Von den nationalsozialistischen Behörden wurden – wie bereits angedeutet – sehr große Anstrengungen unternommen, sämtliche „verbotenen Druckschriften“ zu erfassen, zu vernichten oder für die ideologieko27

Dabei ist die Möglichkeit, dass die verschiedenen Behörden, die über die in der Stadtbibliothek Mainz untergebrachten jüdischen Bücher informiert waren, nicht mit-, sondern gegeneinander arbeiteten. Vgl. hierzu etwa Schidorsky, Schicksal, S. 193. Außerdem ist nicht auszuschließen, dass man zumindest grobe Kenntnisse über den Bestand hatte und ihn für weniger wichtig einstufte. 28 Dies war Boden 1 des Magazins. 29 Bericht von Ruppel, Von der Mainzer Stadtbibliothek, den er Anfang 1946 nach Wiederaufnahme des Bibliotheksbetriebs verfasste. StA Mainz NL Ruppel 90. 30 Ausführlich werden die Kriegsschäden dokumentiert von Aloys Ruppel, Dreijahresbericht des Mainzer Stadtarchivs für die Zeit vom 1. April 1945 bis 31. März 1948, in: Mainzer Zeitschrift 41–43 (1946–1948), S. 164–165. Vgl. Erich Dombrowski / Emil Kraus / Karl Schramm (Hrsg.), Wie es war. Mainzer Schicksalsjahre 1945–1948, Mainz 1965, S. 118; siehe auch Schütz, Aloys Ruppel, S. 82. 31 Vgl. hierzu Schütz, Ruppel, S. 82. 32 Vgl. Otto Böcher, Spuren jüdischer Kultur in Mainz, in: Juden in Mainz. Katalog zur Ausstellung der Stadt Mainz im Rathaus-Foyer, November 1978, Mainz 1978, S. 102. 33 Dies belegt auch der autobiographische Bericht von Dertsch, Schicksale, S. 166.

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V. Der Werdegang der Bücher seit 1938

nforme „Forschung“ zu beschlagnahmen. Dabei muss man sich im Hinblick auf Mainz klar machen, dass ab 1940 eine der zentralen Stellen, die für den systematischen Diebstahl von Büchern verantwortlich war, der so genannte „Einsatzstab des Reichsleiters Rosenberg“ (ERR), im nicht weit entfernten Frankfurt am Main lag.34 Wäre diese Einrichtung über die Mainzer Bestände genauer informiert gewesen, hätte man sie wohl bald abtransportiert. Die Rettung der jüdischen Bücher in Mainz ist somit nicht nur eingedenk der geschilderten Mainzer Vorgänge bemerkenswert, sondern sie muss vor dem Hintergrund der allgemeinen Verfolgungsgeschichte jüdischer Bücher in Deutschland sogar als ein ausgesprochener Glücksfall erachtet werden. 3. Bücherverfolgung im „Dritten Reich“ Wie bereits dargelegt, begann die systematische Erfassung jüdischer Bibliotheken und Archive schon kurz nach 1933, wobei die Maßnahmen zunächst allerdings unsystematisch verliefen. Bis 1936 versuchte das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) sogar noch auf „diplomatischem“ Weg an jüdisches Archivmaterial und Bücher heranzukommen35, wobei unliebsame oder jüdische Literatur zunächst nur peu à peu aus öffentlichen Bibliotheken entfernt wurde, ohne dass es zu systematischen „Säuberungen“ gekommen wäre.36 Die Aktionen verliefen unkoordiniert, und manchmal arbeitete ein Beamter sogar gegen den anderen. Erst durch die bürokratische Neuordnung des RSHA, in der eine zentrale Bibliothek des für den „ideologischen“ Kampf scheinbar notwendigen Materials aufgebaut werden sollte, erhielten die Raubzüge in Deutschland und den „angeschlossenen“ Ländern eine organisatorische Grundlage. Eindrucksvoll wird dies durch eine Liste mit „Juden-Bibliotheken“ aus dem RSHA belegt, die im Frühjahr 1939 aufgestellt worden war, in der Mainz allerdings eigenartigerweise nicht erwähnt wird.37 34

Vgl. hierzu Schidorsky, Schicksal, S. 197f; dann auch Peter M. Manasse, Verschleppte Archive und Bibliotheken. Die Tätigkeiten des Einsatzstabes Rosenberg während des Zweiten Weltkrieges. Übertragung ins Deutsche G. A. Pippig, St. Ingbert 1997; Jonathan Rose, (Hrsg.), The Holocaust and the Book. Destruction and Preservation, Boston 2001; siehe auch Displaced Books. NS-Raubgut in der Universitätsbibliothek Marburg, hrsg. von E. Conze und B. Reifenberg, Marburg 2006; Werner Schroeder, Der Raub der Bücher in Deutschland und im Europäischen Ausland, in: Regine Dehnel (Hrsg.), Jüdischer Buchbesitz als Raubgut. Zweites Hannoversches Symposium. Im Auftrag der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek – Niedersächsische Landesbibliothek und der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie Sonderhefte 88, Frankfurt am Main 2006, S. 27–36. Zahlreiche Dokumente über die Arbeit des „ERR“ und einen der wichtigen Mitarbeiter bietet auch Maria Kühn-Ludewig, Johannes Pohl (1904–1960). Judaist und Bibliothekar im Dienste Rosenbergs. Ein biographische Dokumentation, Hannover 2000. 35 Vgl. Schidorsky, Schicksal, S. 193; Schroeder, Raub, S. 27. 36 Zu dieser Einsicht vgl. Andreas Anderhub, Zwischen Umbruch und Tradition. Die Berliner Volksbüchereien während der Zeit des Nationalsozialismus, in: Peter Vodosek / Manfred Komorowski (Hrsg.), Bibliotheken während des Nationalsozialismus, Bd. 2, Wiesbaden 1992, S. 235–256. 37 Vgl. die Liste von SS-Untersturmführer Stein, in der 71 jüdischen Bibliotheken und ein geschätzter Bestand von 300.000 Bänden aufgeführt werden. Siehe: BAB R 58/6424 (alt ZB I/0648),

3. Bücherverfolgung im „Dritten Reich“

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Im RSHA in Berlin, also in jener Behörde, in der auch der Planungsstab Adolf Eichmanns ansässig war, wurde daraufhin eine jüdische Bibliothek von solchem Umfang und solcher Vollständigkeit zusammengetragen, wie sie wohl in Deutschland noch nie vorher existiert hatte – alles nur, um so über eine von zwangsverpflichteten jüdischen Spezialisten geordnete Bibliothek zu verfügen, die es ermöglichen sollte, die Verfolgungen und schließlich die so genannte „Endlösung“ noch gezielter voranzubringen.38 Beschlagnahmt wurden für diesen Zweck die Bücher des Jüdisch-theologischen Seminars in Breslau, die Bibliothek der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin sowie die Büchersammlungen der jüdischen Gemeinden von Breslau, Gleiwitz, Hamburg, Königsberg, München, Warschau, Wien und zahlreiche weitere kleine Gemeindebibliotheken.39 Auch private Sammlungen wurden erfasst und in das RSHA nach Berlin gebracht, wo sie allerdings 1943 zusammen mit den großen Gemeindebeständen nach einem Bombenangriff zum größten Teil verbrannten oder noch nach Kriegsende geplündert wurden.40 Paradoxerweise sind aufgrund der Beschlagnahmungen bzw. des Raubes einige dieser Buchbestände sogar noch vor der entgültigen Vernichtung „gerettet“ worden, denn einige Bestände der Judenbibliothek des RSHA waren noch vor den ab 1943 häufiger durchgeführten Bombardierungen Berlins evakuiert worden.41 Einige dieser Bücher gelangten schließlich sogar in die Hände der Befreier und konnten an ihre rechtmäßigen Besitzer zurückgegeben oder außer Landes geschafft werden.42 Die zweite Organisation, die sich der Verfolgung jüdischer Bücher widmete, war, wie bereits erwähnt, der 1940 gegründete „Einsatzstab“ von Reichsleiter Alfred Rosenberg (1893–1946), der im Frankfurter „Institut zur Erforschung der Judenfrage“ seine pseudowissenschaftliche Arbeit verrichtete.43 Rosenberg war als Verfasser des ideologischen Hauptwerkes der nationalsozialistischen Rasselehre, Bl. 433–435: Bericht Betr. Zentralisierung der Judenbibliotheken vom 1. bzw. 5.6.39. Weder die jüdischen Büchereien in Worms noch in Mainz werden erwähnt; unter Pfalz findet sich eine Zahl von 2130 Büchern. 38 Vgl. Schidorsky, Schicksal, S. 194. 39 Vgl. Schroeder, Beschlagnahme, S. 35 aufgrund der oben erwähnten Liste aus dem RSHA. 40 Vgl. Schidorsky, Schicksal, S. 196. Nur kleinere Teile der konfiszierten Bibliotheken gelangten aus Berlin zunächst in ein Depot der amerikanischen Armee in Offenbach. Zur Aufgabe dieses Depots vgl. den Bericht von Gershom Scholem, Zur Frage der geplünderten jüdischen Bibliotheken, in: Ha-Aretz vom 10.05.1948, auszugsweise in Übersetzung abgedruckt in: Ders., Briefe I, 1914– 1947, hrsg. von Itta Shedletzky, München 1984, S. 472–478, hier S. 475f. Siehe Näheres dazu auch unten Abschnitt 4. 41 Vgl. etwa auch Kirchhoff, Häuser des Buches, S. 119. 42 Vgl. Veronica Albrink, Von Büchern, Depots und Bibliotheken. Zur Restitutionsgeschichte nach 1945, in: B. Reifenberg (Hrsg.), Die Suche nach NS-Raubgut in Bibliotheken. Recherchestand, Probleme, Lösungswege, Marburg 2006, S. 110–149; Sigrid Tröger, Bibliothek der Jüdischen Gemeinde (Berlin) – 10 Jahre, in: Stichwort 31 (1987), S. 43; Carsten Wilke, Von Breslau nach Mexiko: Die Zerstreuung des Jüdisch-theologischen Seminars, in: Birgit E. Klein / Christiane E. Müller (Hrsg.), Memoria – Wege jüdischen Erinnerns für Michael Brocke zum 65. Geburtstag, Berlin 2005, S. 315–338. 43 Zur Entstehung und Zielsetzung vgl. Schidorsky, Schicksal, S. 197. Ausführlich dargestellt auch von Manasse, Verschleppte Archive, S. 13–29.

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V. Der Werdegang der Bücher seit 1938

„Der Mythus des 20. Jahrhunderts“, und Hauptschriftleiter des „Völkischen Beobachters“ zur Fortsetzung seiner Forschungen beauftragt worden und wollte sich zu diesem Zweck eine eigene Bibliothek und ein so genanntes „Juden-Archiv“ aufbauen.44 In Frankfurt wurden ihm hierfür die Bibliothek an Werken über das Judentum, d. h. die Judaica und Hebraica der Stadtbibliothek, zugeliefert. Zudem wurden ihm auch Bestände aus der Bibliothek des RSHA zugesagt, doch weil es hierbei zu Verzögerungen kam, versuchten seine Mitarbeiter bald auch an anderen Orten, Bücher und Archivialien für das Institut zu beschlagnahmen und nach Frankfurt zu schaffen.45 Teile der Bibliothek des Frankfurter Instituts, darunter die bedeutende JudaicaAbteilung der Stadtbibliothek, überlebten den Krieg dann wiederum nur, weil die Bücher noch rechtzeitig vor der Bombardierung in ein Depot nach Hungen in Hessen ausgelagert worden waren.46 Andere Teile dieser Bibliothek wie die berühmte Hebraica-Sammlung verbrannten jedoch in Folge eines Luftangriffs am 23. März 1944. Trotz der fortdauernden organisatorischen und kriegsbedingten Schwierigkeiten nahmen der Bücherraub und die damit einhergehende Vernichtung jüdischer Bücher durch die nationalsozialistischen Behörden gigantische Ausmaße an. Man schätzt, dass drei bis vier Millionen jüdischer Bücher auf diese Weise geraubt und zerstört wurden.47 Nur sehr wenige mit dem Mainzer Bestand vergleichbare jüdische Bibliotheken haben daher Verfolgung und Krieg überstanden. Vergleichen kann man die Mainzer Jüdische Bibliothek z. B. mit der Hamburger jüdischen Bibliothek bzw. der „Bibliothek des Jüdischen Religionsverbandes“, die, obwohl durch das RSHA beschlagnahmt, nach Einspruch des Senats noch während des Krieges an die Hansestadt zurückgegeben wurde, dann jedoch aufgrund der Kriegsereignisse lange Zeit als verschollen galt, bevor sie nach einer langen Odyssee an den Ort ihrer Herkunft zurückgelangte.48 Dieser gut erhaltene Bestand, der 44

Vgl. das Schreiben von Martin Bormann, „Stellvertreter des Führers“, vom 10. Februar 1939: „Betrifft Judenarchiv“. Stadtkanzelei Frankfurt am Main, Akten Nr. 6919/12 Bd. 1 (Kopie in: LBI Jerusalem, 626 Fankfurt am Main). 45 Vgl. hierzu etwa Philip Friedman, The Fate of the Jewish Book during the Nazi Era, in: Philip Goodman (Hrsg.), Essays on Jewish Booklore, New York 1972, S. 112–121, hier S. 117. Siehe zur Konkurrenz von SS und Rosenberg auch Schidorsky, Schicksal, S. 199; Schroeder, Beschlagnahme, S. 32f; Steinmacher, Jüdische Bibliotheken, S. 9. 46 Vgl. Schidorsky, Schicksal, S. 207; dann auch F. J. Hoogewoud, Das Institut zur Erforschung der Judenfrage in Hungen, Oberhessen (1943–1945): Bilder zum Thema, in: Regine Dehnel (Hrsg.), Jüdischer Buchbesitz als Raubgut. Zweites Hannoversches Symposium. Im Auftrag der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek – Niedersächsische Landesbibliothek und der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie Sonderhefte 88, Frankfurt am Main 2006, S. 135–138. 47 Vgl. Schidorsky, Schicksal, S. 210. 48 Vgl. dazu etwa Alice Jankowski, Raub und Rückgabe: Die Irrfahrt der Bibliothek des Jüdischen Religionsverbandes Hamburg, in: Miriam Gillis-Carlebach / Barbara Vogel (Hrsg.), „… die da lehren, werden leichten wie des Himmels Glanz …“ (Daniel 12,3), Die Sechste Joseph Carlebach-Konferenz. Joseph Carlebach und seine Zeit. Würdigung und Wirkung, Hamburg 1995, S. 141–163; Dies., Die Konfiszierung und Restitution der Bibliothek der Jüdischen Gemeinde Hamburg: Vom Dritten Reich zum Kalten Krieg, in: Regine Dehnel (Hrsg.), Jüdischer Buchbesitz als

3. Bücherverfolgung im „Dritten Reich“

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heute in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky untergebracht ist, weist übrigens, was Zusammensetzung, Provenienzen und Bedeutung anbetrifft, engste Parallelen zur Jüdischen Bibliothek in Mainz auf, bedarf freilich ebenfalls noch gründlicherer Erschließung und Untersuchung.49 Ein mit der Mainzer Bibliothek vergleichbares Schicksal teilte auch die Bibliothek der Israelitischen Kultusgemeinde Nürnberg.50 Diese Bibliothek war wie die Mainzer aus Nachlässen ehemaliger Rabbiner entstanden und umfasste bei ihrer Beschlagnahmung ca. 8000 Bände. Danach gelangte sie in das Redaktionsgebäude des „Stürmers“ in Räume des so genannten „Braunen Hauses“ in Nürnberg, wo sie nach der Befreiung wiedergefunden wurde. Auf nicht ganz geklärtem Wege gelangten diese bislang ebenfalls nicht näher untersuchten Bestände der „Stürmer-Bibliothek“ in die Stadtbibliothek Nürnberg, wo sie bis heute aufbewahrt werden. Obwohl die Rettung der Mainzer Bibliothek somit z. B. auch im Hinblick auf die vergleichende Forschung über geraubte bzw. beschlagnahmte jüdische Büchereien von großem Interesse ist, wurde ihre Existenz und Bedeutung bislang kaum oder gar nicht beachtet.51 Größere Sammlungen und die Raubzüge in anderen Ländern standen bislang im Vordergrund des Forschungsinteresses52 – ein Umstand, den man wohl nicht nur damit erklären kann, dass spätestens mit den großen Deportationen vom März und September 1942 die Mainzer jüdische Gemeinde fast völlig vernichtet war.53 Die Bücher blieben auch in der Zeit danach nahezu unbekannt und wurden nicht weiter beachtet. Über die Unterbringung der Bücher zwischen Raubgut. Zweites Hannoversches Symposium. Im Auftrag der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek – Niedersächsische Landesbibliothek und der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie Sonderhefte 88, Frankfurt am Main 2006, S. 213–225. Umfassend ist die Geschichte der einzelnen Teilbestände dokumentiert in dies., Die jüdische Bibliothek und Lesehalle in Hamburg: eine Gebrauchsbibliothek als Spiegelbild jüdischen Lebens, Kultur und Geschichte der Hansestadt, unveröffentlichte Prüfungsarbeit, Berlin 2003. Dort auch Kopien der Bestandslisten der Hamburger jüdischen Bibliotheken aus dem RSHA. 49 Die Katalogisierung und Provenienzanalyse dieses Bestandes stellt ein dringendes Desiderat dar. 50 Siehe hierzu Christiane Sauer, Die „Sammlung Israelitische Kultusgemeinde“ (ehemals Stürmer-Bibliothek) in der Stadtbibliothek Nürnberg, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 91 (2004), S. 295–316; dann auch Leibl Rosenberg, Spuren und Fragmente. Jüdische Bücher und jüdische Schicksale in Nürnberg [Ausstellungskatalog der gemeinsamen Ausstellung der IKG Nürnberg und der Stadtbibliothek zum 950jährigen Stadtjubiläum], Nürnberg 2007, S. 10–24. 51 Vgl. etwa auch den kurzen Bericht von Sigrid Tröger, Bibliothek der Jüdischen Gemeinde – 10 Jahre, in: Stichwort 31 (1987), S. 43 über die wenigen geretteten Bücher aus der Gemeindebibliothek in der Oranienburgerstraße in Berlin. Auch das Schicksal dieses Bestandes ist in mancher Hinsicht mit dem Mainzer Bestand vergleichbar. 52 Siehe etwa Gabriele Steinmacher, Jüdische Bibliotheken unter dem Nationalsozialismus. Bücherdiebstahl während des Zweiten Weltkrieges, in: Myosotis 1 (1998), S. 3–12 (obwohl in Mainz herausgegeben, geht der Beitrag mit keinem Wort auf die Jüdische Bibliothek aus Mainz ein!). Für Österreich vgl. etwa Evelyn Adunka, Der Raub der Bücher. Über Verschwinden und Vernichten von Bibliotheken in der NS-Zeit und ihre Restitution nach 1945, Wien 2002. Auch in dieser aufschlussreichen Studie finden sich zahlreiche vergleichende Hinweise auf jüdische Bibliotheken in Deutschland, Mainz wird jedoch nicht genannt. 53 Vgl. dazu Hans-Jürgen Bömelburg, Vom Antisemitismus zum Völkermord. Die Deportation

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V. Der Werdegang der Bücher seit 1938

dem endgültigen Untergang der jüdischen Gemeinden und dem Kriegsende und in der Zeit unmittelbar danach liegen wohl auch deswegen nur wenige zuverlässige Informationen vor. 4. Nach Verfolgung und Krieg Der Verbleib der Bücher nach dem Ende der Verfolgung lässt sich zunächst aus dem Schweigen vieler Quellen, d. h. e silentio, rekonstruieren. Keine Erwähnung finden die Mainzer Hebraica und Judaica etwa in den umfangreichen Dokumenten der Alliierten über ihre Versuche, geraubte jüdische Bücher wiederzufinden und soweit möglich zurückzuerstatten.54 Sowohl die Amerikaner als auch internationale jüdische Institutionen führten in der unmittelbaren Nachkriegszeit eine genaue Bestandaufnahme des ihnen in die Hände gefallenen Raubgutes durch und versuchten, wenn möglich, eine Restitution. Im Herbst 1945 richtete die amerikanische Besatzungsarmee zu diesem Zweck in Offenbach ein Archivdepot ein, das Offenbach Archival Depot (OAD).55 Dort zwischengelagerte Bestände, die sich nach einiger Zeit nicht mehr den früheren Besitzern rückerstatten ließen, wurden zunächst im Landesmuseum in Wiesbaden eingelagert und im Februar 1949 dem Jüdischen Weltkongress übergeben. Mehrere vollständige Bibliotheken gelangten auf diese Weise komplett nach Israel, vor allem in die Nationalbibliothek in Jerusalem – von Mainzer Büchern lässt sich dort jedoch nichts nachweisen56, und in den monatlichen Berichts des OAD werden nur ganz vereinzelt private Mainzer Bücherbestände erwähnt, die beschlagnahmt worden waren.57 Das Schweigen des OAD-Reports belegt somit, dass die Gemeindebibliothek Mainz nie verlassen hat. Der für andere Städte belegte Abtransport von aufgefundenem jüdischem Raubgut in das Sammeldepot der US-Armee in Offenbach fand in Mainz nicht statt; Rettung und Bergung der Bücher müssen ohne Beteiligung der Militärbehörden verlaufen sein. und Ermordung der Mainzer Juden, in: Anton Maria Keim u. a. (Hrsg.), Als die letzten Hoffnungen verbrannten, S. 101–114. 54 Vgl. die „tentative list on Jewish Cultural Treasures“, die 1946 als Supplement der Zeitschrift Jewish Social Studies 8 (1946), S. 5–95; 10 (1948), S. 3–16 erschien. Zur Restitution von Bibliotheken und Büchern nach 1945 vgl. allgemein auch Kirchhoff, Häuser des Buches, S. 146–152. 55 Zur Arbeit der Amerikaner in Offenbach vgl. Schidorski, Schicksal, S. 208f; Wilke, Breslau, S. 321. Ausführlich ist dieses Kapitel dargestellt in The Offenbach Archival Depot, Antithesis to Nazi Plunder; http://www.ushmm.org/research/collections (Zugriff: 21.04.08). Siehe auch die unter http://www.ushmm.org/ museum/exhibit/online/oad/main2.htm einsehbare „Tentative list of library and archival Collections at Offenbach Archival Depot“ vom 31.03.1946. 56 Vgl. Steinmacher, Jüdische Bibliotheken, S. 11. 57 So etwa Bücher von Anna Schlesinger, Mainz (Nr. 213) und H. Berger, Mainz (Nr. 215) in der „Tentative list“. Vgl. den Report vom 31. März 1946. Ein in der JNL in Jerusalem erhaltener Seder Zemirot le-vene Yisra’el le-lel Shabbat, Magensa: Oscar Lehmann, 1888 (Signatur S 55 A 2810) mit einem Stempel des „Archival Depot Offenbach a. M.“ belegt nicht, dass dieses Exemplar aus der Mainzer Gemeinde dorthin gelangt ist (vgl. auch JNL Signatur S 59 A 3246 ohne den Stempel). Das Jerusalemer Exemplar gehörte zu den von der Jewish Cultural Reconstruction nach Jerusalem gebrachten Büchern aus geraubten Bibliotheken.

4. Nach Verfolgung und Krieg

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Doch wie sah der Weg der Bücher in Mainz nach dem Krieg im Einzelnen aus? Die nach dem Krieg erfolgte Schadenserhebung in der Stadtbibliothek Mainz, wo die Bücher bis zum Ende der Kampfhandlungen lagen, fiel, wie bereits angedeutet, erstaunlich günstig aus. Aloys Ruppel schreibt dazu in einem Entwurf für einen Bericht über die „Stadt- und Universitätsbibliothek“, dass durch Kriegseinwirkung „im Grunde nur die schon siebenmal gesiebten Dubletten, unter denen sich kaum ein wertvolles und besonders brauchbares Stück befand, zugrunde gegangen“ waren.58 Den Großteil der verbotenen deutschen Literatur hatte Ruppel – laut seines Berichtes – in der Fotokammer im Dachgeschoß des Hauses untergebracht, wo sie allerdings den Bomben zum Opfer gefallen waren.59 Um sie dem Zugriff der Nationalsozialisten zu entziehen, hatte Ruppel diese Literatur zuvor in den Katalogen als „zur Zeit nicht verleihbar“ kennzeichnen lassen. Von seinem Nachfolger Dertsch wurde diese Form des „passiven Widerstandes“ nicht rückgängig gemacht, was zu seinem Verhalten gegenüber den wiederholten Anfragen bezüglich der „hebräischen und jüdischen Literatur“ passt. Dertsch war früh NSDAP-Mitglied geworden. Nach seinem Eintreten für die im Oktober 1943 inhaftierten Geschwister Elisabeth und Emil Darapsky, die seine Mitarbeiter im Archiv waren, war er mehrfach verwarnt worden, bevor er selbst verhaftet, vom Dienst suspendiert und schließlich aus der Partei ausgeschlossen wurde.60 Seine trotz aller anfänglichen nationalsozialistischer Begeisterung gleichbleibende „idealistische“ Grundhaltung mag dabei ein Grund dafür gewesen sein, die jüdischen Bücher aus den Mainzer Gemeinden wie die anderen Judaica in der Stadtbibliothek später einfach nicht weiter zu beachten.61 Hinzu dürfte gekommen sein, dass Dertsch zu Ruppel zunächst ein enges Verhältnis unterhielt. Ruppels passiver Widerstand in Sachen „unliebsamer Literatur“ wird ihm dabei nicht entgangen sein, auch wenn er als Parteimitglied und als praktizierender Katholik anfänglich eine ganz andere politische Meinung vertrat. In einem erst im Jahre 1982/83 in der Mainzer Zeitschrift veröffentlichten Bericht Dertschs über seine Zeit an der Stadtbibliothek und am Stadtarchiv Mainz hielt er über die 1938 in die Stadtbibliothek verbrachten jüdischen Bibliotheken fest62: „Nach der Niederbrennung beider Mainzer Synagogen am 10. November 1938 wurden in völlig verdreckten und durchnässten Kohlensäcken die Reste der Synagogenbibliothek der 58

StA Mainz, NL Ruppel 90, S. 1. Vgl. auch Aloys Ruppel, Tätigkeitsbericht des Mainzer Stadtarchivs für die beiden Arbeitsjahre vom 1. April 1943 bis 31. März 1945, in: Mainzer Zeitschrift 39/40 (1944/45), S. 113–114; Schütz, Ruppel, S. 97. 59 Vgl. StA Mainz, NL Oppenheim 7. 60 Vgl. hierzu Schütz, Aloys Ruppel, S. 81 Anm. 25. Zum „Fall Darapsky“ vgl. nun auch Wolfgang Dobras (Hrsg.), Der Nationalsozialismus in Mainz 1933–45. Terror und Alltag, Beiträge zur Geschichte der Stadt Mainz 36, Mainz 2008, S. 141 und S. 143. Demnach hatte Dertsch einen Trostbrief an Elisabeth Darapsky ins Gefängnis geschrieben. 61 Bei Schütz, Aloys Ruppel, S. 81 Anm. 25 zitiert findet sich die aufschlussreiche Charakterisierung von Dertsch durch Elisabeth Darapsky, die ihn als „Idealist(en) und ein(en) Optimist(en)“ bezeichnet. Zitiert in Birgit Maier, Die Stadtbibliothek Mainz in der Zeit des Nationalsozialismus, unveröffentlichte Magisterarbeit 1995, S. 122. 62 Dertsch, Schicksale, S. 166.

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V. Der Werdegang der Bücher seit 1938 Stadtbibliothek zugewiesen und hier auf Boden 1 gelagert; es war recht harmlose Literatur der letzten Jahrzehnte; von Wert waren nur die Memorbücher 1) der Mainzer Synagoge, vielleicht vom 13. Jahrhundert ab, und 2) der Weisenauer Synagoge, 18. Jahrhundert. Erstere ist offenbar 1945 geraubt worden und tauchte Jahre später in England auf, wie ich erfahren habe. Die vorgenannte Unterhaltungsliteratur blieb zu meiner Zeit und wohl auch später auf Boden 1 liegen, konnte jedenfalls wegen Personalmangels und der vordringlichen Sicherungsarbeiten nur zum Teil gesichtet werden. Aufgenommen in unserer Bibliothek wurde nichts, das Eigentumsrecht der jüdischen Gemeinde blieb unsererseits unangetastet.“

Dieser Bericht ist vielerlei Hinsicht bemerkenswert. Zum einen wird hier ein Teil der jüdischen Bücher als harmlose „Unterhaltungsliteratur“ tituliert, zum anderen werden die Memorbücher erwähnt, von denen unklar ist, ob und wie lange sie zur Sammlung gehörten. Der kurze Abschnitt aus Dertschs Bericht wie der gesamte von F. Arens edierte Artikel belegen dabei allerdings vor allem, dass Dertsch noch Jahre nach den Ereignissen daran gelegen war, die Stadtbibliothek und ihre Mitarbeiter von jeglicher Beteiligung am Bücherraub zu entlasten. Und dieser unausgesprochenen Intention ist wohl zuzuschreiben, dass hier die Eigentumsrechte der jüdischen Gemeinde noch einmal hervorgehoben werden – ein Anliegen, dass in Mainz bis in die Gegenwart zu Fragen bezüglich der geretteten Bücher führte und daher sicher auch in den Nachkriegsjahren immer wieder erörtert wurde. Über die wahren Hintergründe der Rettung und den Verbleib der Bücher in Mainz, ihre Zusammensetzung und ihren Wert, erfährt man aus diesem Bericht nichts. Das Schweigen vieler anderer Nachkriegsquellen über den Verbleib der Bücher passt zu diesem Bild. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang etwa, dass auch in den Unterlagen der französischen Militärverwaltung keine Nachrichten über die Bücher enthalten sind. Obwohl die Franzosen, die bald nach den Amerikanern die Verwaltung der befreiten Stadt übernommen hatten, sehr darauf bedacht waren, sämtliche Bibliotheksbestände in ihrem Sektor genau zu dokumentieren, von nationalsozialistischer Literatur zu säubern und nach geraubten jüdischen Bibliotheksbeständen zu suchen, ist in den entsprechenden Unterlagen der Archives de l’Occupation française en Allemagne et en Autriche kein einziger Hinweis auf die Existenz jüdischer Bibliotheken in Mainz erhalten.63 Offenbar hatten diese Stellen keine Kenntnis von den Büchern, oder – was wahrscheinlicher ist – sie hielten diese Bestände für eine jüdische Angelegenheit, in die sie sich nicht einmischen wollten.64 63

So z. B. findet sich in Colmar eine umfangreiche Korrespondenz über die Suche nach den bis heute verschollenen Büchern aus jüdischen Bibliotheken in Saloniki. Aufgrund eines unpräzisen Hinweises, nahm man an, die Bibliothek wäre nach Rheinland-Pfalz gebracht worden. Doch wie die Unterlagen in AOFAA, RP 464/7 belegen, fand sich von den Büchern in der französischen Zone keine Spur. Offenbar wurden bedingt durch den Kriegsverlauf große Teile der in Griechenland beschlagnahmten Bücher nicht mehr nach Deutschland transportiert. Zu diesem Raubzug vgl. Kühn-Ludewig, Johannes Pohl, S. 153–159; dann auch Yitzchak Kerem, The Confiscation of Jewish Books in Salonika in the Holocaust, in: Jonathan Rose (Hrsg.), The Holocaust and the Book. Destruction and Preservation, Boston 2001, S. 59–65; vgl. auch Markus Kirchhoff, Häuser des Buches. Bilder jüdischer Bibliotheken, herausgegeben vom Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur an der Universität Leipzig, Leipzig 2002, S. 126f und 174 Anm. 27. 64 Vgl. AOFAA, RP 462/2, wo zwar auch die Mainzer Bibliotheksbestände des Jahres 1946,

5. Interim in der Feldbergschule

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Dass die Bücher von den Franzosen als jüdische Angelegenheit angesehen wurden, könnte mit ihrer zwischenzeitlichen Unterbringung in provisorischen Räumen der Gemeinde zusammenhängen. Doch gerade im Hinblick auf diese Phase bleiben Fragen offen. Wo blieben die Bücher nach 1945? 5. Interim in der Feldbergschule Zunächst muss man sich vergegenwärtigen, dass die Jüdische Gemeinde Mainz, die bereits am 9. November 1945 von wenigen Überlebenden wiederbegründet worden war, bei all dem ganz andere Probleme hatte, als sich um die Regelung der Restitution beschlagnahmten Buchbesitzes zu kümmern.65 Zum Zeitpunkt der Befreiung im März 1945 lebten nur noch knapp fünfzig so genannte „Rassejuden überwiegend aus privilegierter Mischehe“ in Mainz; ab dem 10. Juli 1945 kamen noch 24 überwiegend betagte Überlebende aus Theresienstadt hinzu.66 Für diese wenigen Überlebenden und Rückkehrer standen die Existenzsicherung und das Wiederfinden von Vermissten im Vordergrund67; viele dachten an die Auswanderung, sobald sich eine günstige Möglichkeit dafür bot; lange Jahre schien es in der Gemeinde so, als würden nur noch Alte zurückbleiben.68 Die Bücher gerieten wohl auch deshalb zunächst aus dem Blick – es dürfte schlicht kaum noch jemanden gegeben haben, der in der Lage war, sich der Bücher anzunehmen, geschweige denn, sie regelmäßig und fachgerecht zu benutzen.69 Ein erst jüngst aufgefundenes Schreiben des Vorstandes der Jüdischen Gemeinde Mainz an den Regierungspräsidenten Georg Rückert vom 26. Juli 1948 – verfasst also kurz nach Einrichtung einer provisorischen Synagoge in der Turnhalle der Mainzer Feldbergschule70 – kann nun allerdings belegen, dass man sich samt Zusatz „épurée“, minutiös aufgelistet sind, jüdische Bücher aus Mainz jedoch nicht erwähnt werden. 65 Vgl. AOFAA, RP 462. Die Initiative für den Neubeginn hatte Michel Oppenheim ergriffen. Vgl. Dörrlamm, Magenza, S. 45. 66 Siehe Alfred Epstein, Nach dem Nationalsozialismus. 1945 bis heute, in: Friedrich Schütz (Hrsg.), Juden in Mainz, Mainz 1978, S. 91. Vgl. auch Michael Brenner, Nach dem Holocaust. Juden in Deutschland 1945–1950, München 1995, S. 64f. 67 Vgl. hierzu etwa die in der deutschsprachigen Exilszeitung Der Aufbau vom 25. Mai 1945 veröffentlichte Liste mit Namen ehemaliger Mainzer, die ohne Wohnsitz im Ausland überlebt hatten. Siehe auch die (unvollständige) Liste von überlebenden Mainzer Juden im Deutschen Sonntagsblatt, Staatszeitung und Herold, vom 27. Mai 1945 (Zeitungsausschnitt in StA Mainz 70/2306, Nr. 17). 68 Zur Situation der jüdischen „Frühgemeinden“ bis etwa 1951 vgl. Y. Michal Bodemann, Staat und Ethnizität: Der Aufbau der jüdischen Gemeinden im Kalten Krieg, in: Micha Brumlik / Doron Kiesel / Cilly Kugelmann / Julius H. Schoeps (Hrsg.), Jüdisches Leben in Deutschland nach 1945, Berlin 1986, S. 49–69, bes. S. 66f. 69 In einigen deutschen Restgemeinden haben vergleichbare Umstände dazu geführt, erhaltene Buchbestände– kaum von den Befreiern zurückgegeben – zu verkaufen oder in alle Winde zu zerstreuen. Dass dies in Mainz nicht geschehen ist, ist wohl auch dem umsichtigen Verhalten aller Beteiligten zu verdanken. 70 Siehe zu dieser Synagoge in der Feldbergschule nun Ingrid Westerhoff, Provisorien nach

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V. Der Werdegang der Bücher seit 1938

des Wertes und der Besonderheit der geretteten Bücher in der jüdischen Gemeinde wohl bewusst war, ja sich um die adäquate Unterbringung sogar große Sorgen machte. Dort heißt es:71 „Dank der Initiative von Seiten der frz. Milit. Regierung und entsprechender Unterstützung von Seiten der Stadt Mainz besitzt wohl die jüdische Gemeinde anstelle der früheren Synagogen (mit hochwertigen gediegenen Ausstattungen) nunmehr wieder eine Synagoge in der Feldbergschule mit einem großen Betraum – einem Konferenzzimmer – einem Arbeitszimmer für den Herrn Rabbiner sowie einen Bibliotheksraum … Die Bibliothek, welche aus ca. 3000 Bänden besteht ist eine der ganz wenigen jüdischen Bibliotheken, die noch besteht und wird fast täglich von ausländischen Besuchern, insbesondere von Amerikanern, Engländern, geistlichen Würdenträgern, Studenten der Theologie usw. aufgesucht und ist der derzeitige Leiter der Bibliothek nicht in der Lage, den Besuchern auch nur eine Sitzgelegenheit anzubieten geschweige sich in einem mit Mobiliar ausgestattetem Raume mit demselben zu konferieren bezw. aufzuhalten. Dieser Zustand ist unerträglich und unwürdig, in Anbetracht dessen, daß die frühere Jüdische Gemeinde Millionenwerte innehatte und repräsentable Einrichtungen aufzuweisen hatte – heute jedoch noch mit leeren kahlen Räumen sich begnügen muß. Die Eindrücke, die die Besucher hierdurch mitnehmen, fallen nicht nur auf die Jüdische Gemeinde sondern auch auf die Stadt und die Regierung zurück, da das Ausland mit einer gerechten Wiedergutmachung rechnet – was sich bis jetzt noch nicht konstatieren lässt.“

Dieses bemerkenswerte Schreiben ist der erste Beleg dafür, dass ein Großteil der geretteten Bücher („3000 Bände“) zunächst in das rasch eingerichtete Provisorium „Felbergschule“ gelangte.72 Hatte sich die kleine Gemeinde unmittelbar nach dem Krieg zu Gottesdiensten nur in der Trauerhalle auf dem neuen jüdischen Friedhof versammeln können, wurde am 10. September 1947 in der Turnhalle in der Feldbergschule ein mit franzöischer Unterstützung eingerichtetes Provisorium eingeweigt. Dem zitierten Brief zufolge waren die Bücher danach, d. h. noch vor ihrer Unterbringung in der Universität, in dieser provisorischen Synagoge sogar einer gewissen Öffentlichkeit zugänglich. Außerdem wurden sie von einem „Leiter“ verwaltet, zu diesem Zeitpunkt vermutlich von dem Vorstandsmitglied Max Einstein.73 Wegen „Heizungsschwierigkeiten“ war die Bibliothek in dieser Zeit allerdings in den Wintermonaten geschlossen bzw. war der Besuch nur auf rechtzeitige Anmeldung hin möglich.74 Wie es nach diesem Interim in der Feldbergschule mit 1945. Die Betsäle in der Turnhalle der Feldbergschule und im Gemeindezentrum in der Forsterstraße 2, in: Hedwig Brüchert (Hrsg.), Die Mainzer Synagogen. Ein Überblick über die Mainzer Synagogenbauwerke mit ergänzenden Beiträgen über bedeutende Rabbiner, das alte Judenviertel und die Bibliotheken der jüdischen Gemeinden, Sonderhefte der Mainzer Geschichtsblätter, Mainz 2008, S. 145–151. 71 Das Schreiben ist erhalten in ZAGJD Bestand 1/18 44 „Allgemeine Korrespondenz 1948– 49“. Interpunktion und Rechtsschreibung im Original sind beibehalten. 72 Zum Umzug in die Forsterstraße vgl. Westerhoff, Provisorien nach 1945, S. 149. 73 Siehe dazu das undatierte Schreiben des Vorstands der Mainzer Gemeinde an die Redaktion des Jüdischen Gemeindeblattes (Karl Marx) bezüglich eines Schreibens vom 20.01.1949 in: ZAGJD, Bestand: B 1/18 (Mainz) 43. 74 Vgl. dazu die erwähnte Notiz des Vorstandes der jüdischen Gemeinde (ZAGJD, Bestand: B 1/18, Mainz). In dem von Marie-Luise Knott unter Mitarbeit von David Heredia im Suhrkamp Verlag herausgegebenen, für 2009 angekündigten Briefwechsel zwischen Hanna Arendt und Gershom Scholem wird auf diesen merkwürdigen Umstand Bezug genommen. Arendt, Executive Secretary

6. Die Überführung an die Universität

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den Büchern weiterging, ist jedoch ebenso wenig belegt wie die Reaktion der Landesregierung auf das Hilfeersuchen. Anzunehmen ist, dass in die Bücherfrage erst wieder ab dem Jahre 1952 Bewegung gelangte, und zwar im Zuge der Verlegung des Gemeindezentrums von der Turnhalle am Feldbergplatz in den neu eingerichteten Betsaal in der Forsterstraße 2. Die bereits in der Stadtbibliothek bestehenden Platzprobleme blieben allerdings auch in den neu eingerichteten Räumen bestehen, ja sie dürften sich für die jüdische Gemeinde an diesem neuen Ort sogar als noch größer erwiesen haben. Die Suche nach einem geeigneten Unterbringungsort für alle Bücher ging daher weiter. Bewegung kam in die Angelegenheit zu dieser Zeit außerdem durch die geplante Übergabe von Archivalien aus dem Wormser Gemeindearchiv an die Central Archives in Jerusalem. 6. Die Überführung an die Universität In der Stadtbibliothek wird man über die Verbringung der jüdischen Bibliothek an einen anderen Ort zunächst erleichtert gewesen sein. Als die zahlreichen ausgelagerten Archiv- und Buchbestände der Stadtbibliothek und des Archivs langsam zurückkamen, schuf dies wegen des durch Kriegsschäden knapper gewordenen Magazinraums enorme Platzprobleme.75 Die Stadtbibliothek sollte außerdem früher als geplant wiedereröffnet werden. Eigentlich hatte Direktor Ruppel die Stadtbibliothek erst am 2. Januar 1946 neu eröffnen wollen. Doch die französische Besatzungsmacht zwang ihn, dies bereits Mitte Dezember 1945 zu tun. Die Eröffnungsfeier war mit einer Ausstellung verbunden, die den Titel trug: „Bücher kehren aus der Verbannung zurück.“76 Jüdische Bücher wurden in dieser Ausstellung allerdings nicht gezeigt. Ob sich die Bücher also zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch in der Stadtbibliothek befanden, läßt sich nicht mehr klären.77 Wann und wie die Bücher schließlich – mit dem Umweg über die Feldbergschule – in die neu gegründete Universität gebracht wurden, bleibt unklar. Einige immer wieder im Zusammenhang mit den Büchern genannte Personen scheinen allerdings schon kurz nach Kriegsende mit der Rettung des Bestandes, vielleicht auch mit seiner provisorischen Unterbringung in der Feldbergschule und schließlich der Jewish Cultural Reconstruction, schreibt in einem vertraulichen Field Report vom Februar 1950: “Moreover, the Jewish community in Mainz still possesses its library which one can only see upon written request, several days in advance. The whole business is fantastic, but there is little we can do about it.“ Für den Hinweis auf dieses Schreiben danke ich David Heredia, Berlin. 75 Im Monatsbericht über die Stadtbibliothek, Kunstsammlungen und Denkmalpflege der Stadt Mainz vom 15. November 1945, S. 2 ist außerdem dokumentiert, dass an den Kulturdezernenten überwiesene Bücher aus „beschlagnahmten Büchereien“ in die „Geschenkliste und in ein alphabetisch geordnetes Sonderverzeichnis eingetragen wurden“. Vgl. StA Mainz, NL Oppenheim, Bündel 7. Im April 1946 wurden weitere 140 Kisten und 12 Urkundenschränke mit Bibliotheks-, Museumsund Archivgut von Ehrenbreitstein nach Mainz zurückgeholt (Protokoll vom 10.5.1946, A 2. Teil). 76 Rolf Dörrlamm, Statt verfemter Literatur kamen nun Naziwerke in den Giftschrank. Vor 50 Jahren: Rückkehr verbotener Bücher in die Stadtbibliothek, in: AZ vom 03.01.1996. 77 Vgl. dazu auch Dombrowski / Kraus / Schramm, Wie es war, S. 118.

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V. Der Werdegang der Bücher seit 1938

mit der Verlegung in die Universität betraut gewesen zu sein. Hier sind vor allem Michel Oppenheim (1885–1963)78, der langjährige Kulturdezernent der Stadt, und Professor Rapp79, der spätere Leiter des „Seminars für die Wissenschaft vom Spätjudentum“, zu nennen. Letzterer war es, der enge Kontakte zu den langjährigen Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde, zunächst zu Max Waldmann (1898–1960)80 und dann auch zu Alfred Epstein (1906–1991), pflegte.81 Vor allem seiner Vermittlungstätigkeit dürfte es zu verdanken sein, dass die Bücher schließlich als Leihgabe an die Universität gelangten. Da die Stadtbibliothek seit der Wiederbegründung der Universität zunächst als die Universitätsbibliothek betrachtet wurde, muss die Unterbringung der jüdischen Bücher in der neu eingerichteten Universität ohnehin nahegelegen haben.82 Doch wie kam es im Einzelnen dazu? Und welche Motive – außer den angedeuteten Platzproblemen in der Feldbergschule, wo die Bücher anscheinend seit 1947 „zwischenlagerten“ – waren dafür ausschlaggebend? 7. Eine „Jüdisch-theologische Fakultät“? Eine im Nachlass Oppenheims aufgefundene Aktennotiz wirft auf diese frühe Nachkriegsgeschichte der Jüdischen Bibliothek ein interessantes Licht. Demnach stand die Unterbringung der jüdischen Bücher anfänglich vielleicht auch im Zusammenhang mit Plänen zur Gründung einer „Jüdisch-theologischen Fakultät“ an der neu zu gründenden Universität, d. h. einer jüdischen Ausbildungsstätte neben den christlichen Fakultäten. Diese in der Universitätsgeschichte bislang wenig be-

78

Vgl. zu ihm Helmut Mathy, Die erste Landesuniversität von Rheinland-Pfalz. Studien zur Entstehungsgeschichte der Johannes Gutenberg-Universität, Schriften der Johannes GutenbergUniversität Mainz 8, Mainz 1997, S. 98–104; Anton Maria Keim, Michel Oppenheim, in: Michael Kißener / Helmut Mathy (Hrsg.), Ut omnes unum sint (Teil 2). Gründungspersönlichkeiten der Johannes Gutenberg-Universität, Beiträge zur Geschichte der Johannes Gutenberg-Universität NF 3, Stuttgart 2006, S. 79–87. 79 Vgl. zu ihm Böcher, Eugen Ludwig Rapp, S. 4–8 und zuletzt ders., Art. Rapp, Eugen Ludwig, in: NDB 21 (2003), S. 151–153. 80 Zu ihm siehe die knappen Informationen in Dörrlamm, Magenza, S. 45f. Waldmann wurde 1942 nach Theresienstadt deportiert; er war von 1947 bis 1951 Vorsitzender der Mainzer Gemeinde. 81 Epstein war Vorsitzender von 1962 bzw. 1965 bis 1978. In dieser Zeit hat er sich oft für die Bücher eingesetzt. So wurde es mir von Frau Esther Epstein, Gemahlin Alfred Epsteins und selbst langjährige Geschäftsführerin und Vorsitzende der Mainzer Gemeinde, noch kurz vor ihrem Tod 2006 mündlich bestätigt. Zu Epstein, der erst 1960 aus der Emigration in Nordafrika (Marokko und Algerien) nach Mainz zurückgekehrt war, vgl. Dörrlamm, Magenza, S. 46f, und siehe auch: Alfred Epstein – Ein Symbol der Juden in Mainz. Ehrung für den Vorsitzenden Alfred Epstein zum 75. Geburtstag, AZ 1978, Nr. 13. Zu einem Brief Epsteins vgl. S. 122; zu seinem Nachfolger Gerrard Breitbart vgl. S. 124 mit Anm. 58. 82 Vgl. dazu auch unten das Zitat von UB-Direktor Dr. Walter Menn. An den Vorüberlegungen zur Universitätsgründung im Januar 1946 war Ruppel beteiligt. Vgl. das Protokoll der Sitzung zur Vorbereitung der Mainzer Universität vom 22. Januar 1946, StA Mainz, NL Oppenheim, o. Z.

7. Eine „Jüdisch-theologische Fakultät“?

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leuchteten Vorüberlegungen sind allerdings nur durch wenige Aktennotizen Oppenheims belegt, so dass sich Näheres in Bezug auf die Bücher nur vermuten lässt: Oppenheim, der aufgrund seiner Ehe mit einer Katholikin nach den Nürnberger Rassegesetzen in einer so genannten „privilegierten Mischehe“ Verfolgung und Krieg in Mainz nur knapp und „unter eigenartigen Umständen“ überlebt hatte,83 war bereits wenige Tage nach der Befreiung durch die Amerikaner zum Kulturdezernenten und Beigeordneten der Stadt eingesetzt worden. Obwohl er als Verbindungsmann zur Gestapo gearbeitet hatte, war er bald mit wichtigen Verwaltungsaufgaben, d. h. auch im Zusammenhang mit der Stadtbibliothek und dem Stadtarchiv betraut worden. Er hatte auch einen ersten jüdischen Hilfsverein gegründet, der noch unter amerikanischer Besatzung tätig wurde.84 Die Vorbereitungen zur Universitätsgründung konnte er beratend begleiten, und er führte in dieser Angelegenheit wichtige Verhandlungen mit der französischen Besatzungsmacht.85 Bekanntlich hatte bereits im Herbst 1945 Raymond Schmittlein, Leiter der Direction de l’Education Publique (DEP), die Initiative für eine neu zu errichtende Universität in Mainz ergriffen.86 Diese Universität sollte auch theologische Fakultäten erhalten, und in diesem Zusammenhang wurde Oppenheim mit der Evaluation von Plänen zur Gründung einer „jüdischen Fakultät“ an der neu zu errichtenden Universität beauftragt. Diese bemerkenswerten Vorüberlegungen mögen zunächst aus einer Idee Oppenheims erwachsen sein, dürften aber auch den Zielen französischer Besatzungspolitik entsprochen haben, da sie auf eine paritätische Gleichstellung aller gesellschaftlichen Gruppen in ihrer Besatzungszone besonderen Wert legte. Insbesondere Schmittlein dürfte solche Pläne daher grundsätzlich begrüßt haben, und seine vielfach bezeugten engen persönlichen Kontakte zu Oppenheim werden dieser Idee anfänglich ebenfalls förderlich gewesen sein.87

83

Zitat von Oppenheim in Anton Maria Keim, Leben in Trümmern, in: Lebendiges RheinlandPfalz 22 (1985), S. 54ff. Vgl. zu Oppenheims Tätigkeit für die Gestapo ausführlich das 1968 entdeckte, von Anton Maria Keim teilweise edierte Tagebuch Oppenheims aus den Jahren 1941–1943: Anton Maria Keim, Tagebuch einer jüdischen Gemeinde 1941/43, hrsg. im Auftrag der Jüdischen Gemeinde Mainz, Mainz 1968. 84 Vgl. dazu das maschinenenschriftliche Manuskript von Oppenheim „Mainz nach dem Kriege“ in der Wiener Library, Yad Vashem Archives 02 537–550. 85 So war Oppenheim z. B. auch an den Überlegungen zur Namensgebung der zu gründenden Hochschule beteiligt und plante die Neugründung auf dem Campus. Siehe Keim, Michel Oppenheim, S. 85f; Mathy, Die erste Landesuniversität, S. 99–103. 86 Siehe hierzu ausführlich Corine Defrance, Raymond Schmittlein (1904–1974), in: Michael Kißener / Helmut Mathy (Hrsg.), Ut omnes unum sint (Teil 1). Gründungspersönlichkeiten der Johannes Gutenberg-Universität, Beiträge zur Geschichte der Universität Mainz – Neue Folge 2, Stuttgart 2005, S. 21f. 87 Siehe hierzu Defrance, Raymond Schmittlein, S. 26; Mathy, Die erste Landesuniversität, S. 102. – Ob Schmittlein auch wegen seines kurzen Aufenthaltes in Haifa während des Krieges ein persönliches Interesse an den jüdischen Belangen in Mainz hatte, lässt sich nicht mehr klären. Vgl. hierzu auch Defrance, Raymond Schmittlein, S. 18 Anm. 37 und S. 28. Zur „Radio-Zeit“ Schmittleins in Haifa und seinen Kontakten im Auftrag des Freien Frankreichs zur Agence juive vgl. ausführlich Catherine Nicaul, De Gaulle et l’Agence Juive pour la Palestine pendant la Seconde Guerre Mondiale, in: L’Espoir 74 (1991), S. 25–44.

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V. Der Werdegang der Bücher seit 1938

Aus dem erhaltenen Aktenbestand wird dann ersichtlich, dass sich Oppenheim bereits am 7.12.1945 in dieser Angelegenheit zunächst an Rabbiner Dr. Neuhaus in Frankfurt am Main wandte, und zwar mit folgender bemerkenswerter Bitte:88 „Nun habe ich noch eine Bitte. Wann dürfte ich Sie möglichst bald in Frankfurt zwecks Rücksprache über eine jüdische Angelegenheit besuchen? Es handelt sich um eine Sache, die allgemeine jüdische Interessen stark berühren wird. Ich weiß zu wenig von diesen Dingen und in Mainz konnte niemand die verschiedenen Fragen beantworten.“

Das hier erbetene Gespräch mit Rabbiner Neuhaus fand dann Mitte Januar 1946 in Frankfurt statt.89 Die maschinenschriftliche Gesprächsnotiz vom 15.01.1946 bewahrt folgende aufschlussreiche Anmerkungen über den Besuch Oppenheims:90 1.

Der vorgeschlagene Name „jüdisch-theologische Fakultät“ wurde von Herrn Dr. Neuhaus beanstandet. Der richtige Name sei „hebräisch-theologische Fakultät“. Denn der Name jüdisch-theologische Fakultät schließe die Teilnahme von [Nicht-]91Juden aus. Da aber Hörer vorhanden seien, die wegen des Studiums der hebräischen Sprache usw. an den Vorlesungen teilnehmen wollten, müsse der Name der Fakultät lauten „Hebräisch-theologische Fakultät.

2.

In einer hebräisch-theologischen Fakultät müssten folgende Lehrstühle besetzt werden: 1. Talmud, 2. jüdische Religions-Philosophie, 3. jüdische Geschichte, 4. Geographie Palästinas, 5. Verbindungswissenschaften, 6. ein Lektor für hebräische Sprache.

3.

Rabbiner Dr. Neuhaus hält eine Durchführung des Mainzer Planes nicht für möglich. Es fehlen sowohl die Schüler wie auch die Lehrer. Er selbst sei der einzige deutsche Rabbiner in Deutschland zur Zeit (oder in der amerikanischen Zone? oder in Groß-Hessen?).

4.

Als Schüler-Material kämen, da deutsche Juden dieser Altersklassen überhaupt nicht vorhanden sind, nur Juden aus dem Osten in Frage. Nur für diese Kreise ein Universitätsstudium in Deutschland aufzubauen, sei aber wohl nicht der Zweck des Mainzer Vorschlages.

5.

Dr. Neuhaus teilte noch mit, daß zur Zeit 700 Juden in Frankfurt leben, von denen 400 aus Theresienstadt zurückgekommen sind.“

Offenbar wollte Oppenheim eine Entscheidung über die Neugründung einer solchen Fakultät, die ein absolutes Novum in Deutschland dargestellt hätte, nicht ohne die Rücksprache mit einem jüdischen Geistlichen verfolgen. Da es zu dieser Zeit in Mainz keine jüdischen Gelehrten mehr gab, wandte er sich an den aus dem Konzentrationslager Theresienstadt nach Frankfurt zurückgekehrten Rabbiner Le-

88

Vgl. den Brief Michel Oppenheims an Rabbiner Dr. Neuhaus in Frankfurt am Main, Friedrichsstraße 29, vom 7.12.1945. 89 Neuhaus antwortete auf die Anfrage Oppenheims am 23.12.45 „Sehr geehrter Herr Regierungsrat! Ich bin immer, ausser Samstags, zwischen 9 und 10 Uhr vormittags zu einer Rücksprache mit Ihnen gerne bereit.“ StA Mainz, NL Oppenheim, o. Z. 90 Vgl. Stadtarchiv Mainz, Nachlass Oppenheim, Bündel 27. 91 Mit Bleistift am linken Rand ergänzt.

7. Eine „Jüdisch-theologische Fakultät“?

109

opold Neuhaus (1879–1954).92 Neuhaus war in den Jahren 1938 bis 1942 letzter Rabbiner der von den Nazis geschaffenen Frankfurter „Einheitsgemeinde“, so dass ihn Oppenheim aus früheren Jahren gekannt haben dürfte. Neuhaus war Schwiegersohn des berühmten Hamburger Rabbiners Salomon Carlebachs; zusammen mit seiner Familie hatte er einen großen Teil seiner Verwandtschaft in der Shoa verloren. Aufgrund dieser leidvollen Erfahrungen sah er wie viele andere, die der Vernichtung knapp entkommen waren, für jüdisches Leben in Deutschland keine Zukunft mehr.93 Wenig später wanderte er in die USA aus; 1954 starb er in Detroit, Michigan. Dass er Oppenheims Plänen ablehnend gegenüberstand, ist vor diesem Hintergrund gut verständlich. Aus der erhaltenen Gesprächsnotiz, ist allerdings auch zu erschließen, dass der Rabbiner dem Anliegen Oppenheims anfangs zumindestens wohlwollend gegenüberstanden haben muss. Andernfalls wäre es zu einem Gespräch über diesen Plan wohl gar nicht erst gekommen, und noch weniger hätte Neuhaus sogar konkrete Vorschläge zur Umbenennung und Einbeziehungsmöglichkeit nicht-jüdischer Studierender an einer solchen Institution gemacht. Die vorgeschlagene Fächeraufteilung der „hebräisch-theologischen“ Fakultät erinnert im Übrigen an Bildungskurrikula, die der Rabbiner noch während seiner eigenen Studienzeit am orthodoxen Rabbinerseminar in Berlin kennengelernt haben dürfte. Dort hatte er u. a. noch bei Esriel Hildesheimer studiert, einem Hauptvertreter jener „Gemeindeorthodoxie“, deren religiöse Ausrichtung er, so scheint es, auch in der angedachten Mainzer Fakultät repäsentiert sehen wollte. Bemerkenswert an dem entwickelten Plan sind ja auch die vorgeschlagenen Fächer, vor allem das Fach „Geographie Palästinas“ und auch das eigene Lektorat für Hebräisch. Diese Aufteilung erinnert nicht nur an ähnliche Fächeraufteilungen in jüdischen Ausbildungsinstitutionen der Vorkriegszeit, sondern auch an solche, die zum Teil erst auf Veranlassung der nationalsozialistischen Behörden eingerichtet werden mussten und die allein der Vorbereitung auf die Auswanderung nach Palästina dienen sollten.94 Mit „Verbindungswissenschaft“ sollte allerdings scheinbar auch Pädagogik oder Didaktik in das Curriculum aufgenommen werden, was zumindestens eine Ausbildung von Lehrern ermöglicht hätte. Auch wenn diese „Hebräisch-theologische“ Fakultät Mainz nie gegründet worden ist95, belegt die erhaltene Notiz zum einen, dass Menschen mit jüdischem Hin92

Vgl. zu ihm Arnsberg, Chronik, S. 150f; ders., Die Geschichte der Frankfurter Juden seit der Französischen Revolution, Bd. 3, Biographisches Lexikon der Juden in den Bereichen: Wissenschaft, Kultur, Bildung, Öffentlichkeitsarbeit in Frankfurt am Mainz, hrsg., vom Kuratorium Jüdische Geschichte e. V. Frankfurt am Main, Darmstadt 1983, S. 319f; siehe zuletzt auch Georg Heuberger u. a. (Hrsg.), „Und keiner hat für uns Kaddisch gesagt …“ Deportationen aus Frankfurt am Mainz 1941 bis 1945, Frankfurt a. M. 2004, S. 407. 93 So etwa auch Rabbiner Leo Baeck, der nach seiner Befreiung aus dem Lager Theresienstadt nach Großbritannien ausgewandert ist. Vgl. hierzu insgesamt Julius Carlebach / Andreas Brämer, Rabbiner in Deutschland: die ersten Nachkriegsjahre, in: Julius Carlebach (Hrsg.), Das aschkenasische Rabbinat. Studien über Glaube und Schicksal, Berlin 1995, S. 230. 94 Vgl. ausführlich unten. 95 In den Statuten der Universität Mainz vom 27. Februar 1946 werden dann nur zwei christlich-theologische Fakultäten genannt. Vgl. Die Wiedereröffnung der Mainzer Universität 1945/46.

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V. Der Werdegang der Bücher seit 1938

tergrund trotz der Katastrophe bereits unmittelbar nach der Befreiung neues Selbstbewusstsein entwickelten und versuchten, Pläne für eine wie auch immer geartete Zukunft in Deutschland zu prüfen. Zum anderen wird der bereits lange vor der Shoa vertretene Anspruch deutlich, neben den christlich-theologischen Fakultäten gleichermaßen mit einer eigenen Fakultät an einer staatlichen Universität repräsentiert zu sein. In Mainz wurde diese Position zunächst wohl nur von Michel Oppenheim vertreten – einem Bürger mit jüdischen Vorfahren, der aufgrund seiner Ehe mit einer Katholikin als einer der Wenigen von der Deportation verschont geblieben war und dem von daher eine gewisse Sonderstellung zukam. Bei vielen überlebenden Mainzer Juden dürfte der Plan jedoch auf kein Gehör gestoßen sein, und er wurde wohl auch deshalb bald vergessen. In den bislang veröffentlichten Darstellungen der Geschichte des Faches Judaistik in Deutschland findet er keine Erwähnung.96 Ein wenn auch schwaches Echo hat dieser Plan dann immerhin noch einmal in einer von Helmut Mathy veröffentlichten Denkschrift des Kölner Nationalökonomen Professor Dr. Christian Eckert gefunden. In diesem kurzen Papier gibt der gebürtige Mainzer und spätere Bürgermeister von Worms Folgendes zu bedenken:97 „Als dritte theologische Fakultät wäre an die Schaffung einer jüdisch-theologischen Fakultät zu denken.“

Und darauf folgt eine sehr interessante Reminiszenz Eckerts, die er mit dieser neuen Überlegung verknüpft wissen wollte98: „Unmittelbar nach der Machtergreifung durch den Nationalsozialismus haben mich jüdische Gelehrte aus Frankfurt/M zu Rate gezogen, um mit mir die Ausbildungsmöglichkeiten künftiger Rabbiner zu überlegen. Die Betreffenden waren von dem Gedanken durchdrungen, daß die allzu enge und allzu lange Abschließung der geistig führenden Juden zu Vorurteilen gegen die Mentalität ihrer Gemeinschaft geführt habe. Es wurde damals daran gedacht, in Liechtenstein eine solche Fakultät aufzubauen. Besser als in diesem Kleinstaat würde eine Fakultät für rabbinische Theologie, für jüdische Gelehrsamkeit in Mainz sich entfalten können, in dem, ähnlich wie in Worms, schon seit dem frühen Mittelalter jüdische Wissenschaft ihre Pflege

Dokumente, Berichte, Aufzeichnungen, Erinnerungen, bearbeitet von Helmut Mathy, Mainz 1966, S. 108. 96 Vgl. hierzu Corine Defrance, Die Franzosen und die Wiedereröffnung der Mainzer Universität, in: G. Clemens (Hrsg.), Kulturpolitik im besetzten Deutschland 1945–1949, HMRG 10, Stuttgart 1994, S. 117–130, hier S. 125. Wie groß der Mangel an geeigneter Literatur war, zeigt auch, dass ein Grundbestand der Bibliothek des Historischen Seminars aus Beständen der Bibliothek des Reichsleiters Martin Bormann kam. Diese Bücher waren der Universität von den Amerikanern übergeben worden. Heute befinden sie sich in der UB, ohne gesondert erschlossen zu sein. Vgl. hierzu Katja Wojtynowski, Das Fach Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz 1946–1961. Gründung und Ausbau des Historischen Seminars, des Instituts für Alte Geschichte und der Abteilung Osteuropäische Geschichte am Institut für Osteuropakunde, Beiträge zur Geschichte der Johannes Gutenberg-Universität Mainz NF 4, Stuttgart 2006, S. 29. 97 Vgl. Erneuerung der alten Mainzer Universität. Denkschrift von Christian Eckert 1945, in: Leo Just und Helmut Mathy (Hrsg.), Die Universität Mainz. Grundzüge ihrer Geschichte, Darmstadt, Mainz 1965, S. 138–142, das Zitat S. 139. 98 Ebd., S. 139–140.

7. Eine „Jüdisch-theologische Fakultät“?

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fand. Das Museum für Jüdische Altertümer, leider von den Nationalsozialisten verwüstet, würde soweit wie möglich wieder aufzubauen sein. Es könnte in Verbindung mit der jüdischtheologischen Fakultät wesentlichen Nutzen stiften.“

Dieses Schreiben hatte Eckert auf Bitten des Mainzer Oberbürgermeisters, Dr. Emil Kraus, für den am 20. November 1945 gebildeten Universitätsausschuss verfasst. Die jüdische Bibliothek, von der Eckert Kenntnis hatte, hätte für eine „hebräischoder jüdisch-theologische Fakultät“ zweifellos eine gute Basis gebildet. Dass dies von Eckert mit angeblichen Vorkriegsüberlegungen für eine Rabbinerausbildung in Liechtenstein verknüpft wurde, mutet kurios an. Doch, wie dem auch sei, in jedem Fall sollte eine jüdische Fakultät innerhalb eines Verbandes der theologischen Disziplinen angesiedelt werden, um somit „wesentlichen Nutzen“ zu stiften. Dies war wohl auch eine der ursprünglichen Intentionen Oppenheims gewesen. Doch es kam anders. Bereits in seiner Sitzung vom 22. Januar 1946 „zur Vorbereitung der Mainzer Universität“ in Anwesenheit von Reg. Rat Oppenheim, Dir. Dr. Müller, Schulrat Engel, Stud. Rat Metzer, Dir. Dr. Ruppel, Dekan Prof. Reatz, Dr. Börkel, Dr. Klingelschmitt, Dr. Fritz Arens sowie Geh. Rat Eckert wurde protokollarisch festgehalten99 „Wegen des Projekts einer jüdisch-theol. Fakultät wurde Herrn Reg. Rat Oppenheim von Herrn Rabbiner Neuhaus Frankfurt abgeraten, da Mangel an Lehrern und Hörern besteht. Mittlerweile haben sich Studenten und Professoren schon verfrüht gemeldet.“

Mit dieser lapidaren Nachricht, die immerhin belegt, dass es doch noch eine gewisse Nachfrage an der geplanten Fakultät gegeben haben muss, wurde das Kapitel „jüdisch-theologische“ Fakultät endgültig geschlossen. Selbst die Veröffentlichung der oben zitierten „geheimen Denkschrift“ Eckerts im Jahre 1965 löste dann keine weiteren Reaktionen mehr aus. Der zuerst von Michel Oppenheim geprüfte Plan war ad acta gelegt. Die zunehmenden politischen Spannungen innerhalb der Universität, insbesondere unter den an der Gründung der christlich-theologischen Fakultäten beteiligten Personen, dürften ihr Übriges dazu beigetragen haben. Schon vor der Gründung der Universität hatte zwar festgestanden, dass ihr das seit Beginn des 19. Jahrhunderts existierende katholische Priesterseminar als katholisch-theologische Fakultät eingegliedert werden sollte.100 Dass daneben jedoch auch eine evangelisch-theologische Fakultät aufgenommen werden sollte, stieß zunächst auf „zonale“, dann auch auf kirchenrechtliche Probleme.101 Die idealistischen Vorüberlegungen zur Gründung einer jüdischen Fakultät aus der Vorgrün99

Protokoll der Sitzung zur Vorbereitung der Mainzer Universität vom 22. Januar 1946, StA Mainz, NL Oppenheim, o. Z. – Die Orthographie im Original wurde beibehalten. 100 Vgl. hierzu noch einmal die oben zitierte Denkschrift von Eckert, S. 139. Zur Gründung der katholischen Fakultät und den damit verbundenen kirchenrechtlichen Fragen vgl. Mathy, Die erste Landesuniversität, S. 147–159, hier S. 149. 101 Vgl. dazu ausführlich Karl Dienst, Die Anfänge der evangelisch-theologischen Fakultät der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz, in: Kurt Schuster (Hrsg.), Festgabe Wilhelm Jannasch zum fünfundsiebzigsten Geburtstag, erweiterter Sonderdruck aus Band 15 des Jahrbuchs der Hessischen Kirchengeschichtlichen Vereinigung, Darmstadt 1964, S. 1–71. Zu den kirchenrechtlichen Fragen hinsichtlich der ersten Berufungen an die Evangelisch-theologische Fakultät vgl. auch Wolf-

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V. Der Werdegang der Bücher seit 1938

dungszeit der Universität waren daher schnell vergessen. Andere Probleme wie der bis in die fünfziger Jahre andauernde Büchermangel102, die Raumnot angesichts zunehmender Studierendenzahlen und auch umstrittene Neuberufungen von Professoren drängten sich rasch in den Vordergrund.103 Vor allem der in vielen Berichten über die ersten Jahre der Universität hervorgehobene „Büchernotstand“104 erklärt wohl am ehesten, warum die jüdischen Bücher schließlich auch ohne eine sie aus genuinem Interesse nutzende Fakultät, insbesondere in den christlich-theologischen Fakultäten, willkommen waren105 – und dies, obwohl man dort vielleicht zunächst gar nicht so recht wusste, worum es sich handelte und was mit den zahlreichen Hebraica anzufangen sei.

gang Huber, Kirche und Öffentlichkeit, Forschungen und Berichte der Evangelischen Studiengemeinschaft 28, Stuttgart 1973, S. 334–344. 102 Nach einer in der Gedenkschrift zur Einweihung der neuen Universitätsbibliothek (hrsg. von Hermann Eibel und Hermann Sauter) veröffentlichten Statistik standen 1946 in der Universität Mainz nur ca. 30.000 Bände zur Verfügung. Vgl. S. 21. 103 Erinnert sei an die 1946 erfolgte Berufung von Friedrich Hirth zum Professor („ohne Vertrag“) für Vergleichende Literaturwissenschaft in Mainz. Sie stieß im Ausland auf Kritik, insbesondere von einem im Exil Lebenden, da Hirth vor dem Krieg offen mit Hitler sympathisiert habe und zudem mit Paul Koerner, einem Staatssekretär Hermann Görings, befreundet gewesen sei. Vgl. Ernst Feder, Der Fall Friedrich Hirth. Fragwürdige Vergangenheit eines Mainzer „Universitätsprofessors“, in: Der Aufbau vom 28. September 1946, S. 7–8. Zu ihm vgl. noch Josef Benzing, Verzeichnis der Professoren der Alten Universität Mainz, im Auftrag von Präsident und Senat der Johannes GutenbergUniversität, hrsg. von Alois Gerlich, als Manuskript gedruckt, Mainz 1966 (unpaginiert). Zu Hirth vgl. noch Anton Maria Keim, Zum Geleit, in: Thomas Bleicher u. a. (Hrsg.), Komparatistik in der Provinz – Friedrich Hirth zum 100. Geburtstag, Mainzer Komparatistische Hefte 1, Mainz 1978, S. 3f. Zu der hinter dem Artikel über Hirth im „Aufbau“ stehenden Tendenz vgl. Susanne Bauer-Hack, Die jüdische Wochenzeitung Aufbau und die Wiedergutmachung, Düsseldorf 1994, S. 30. 104 Vgl. hierzu das Schreiben von Michel Oppenheim betreffs der „Schweizer Spende“ vom 11.01.1946 (StA Mainz, NL Oppenheim). Siehe auch ders., in: Die Wiedereröffnung, S. 86. 105 Die Situation 1946 wird eindrucksvoll dargelegt in einem von Dr. Menn verfassten Jahresbericht der Universitätsbibliothek 1946 (maschinenschriftliches Manuskript in der UB Mainz, Signatur ZA 884). Dort heißt es allerdings auf S. 4 des unpaginierten Manuskriptes auch, „die gute Zusammenarbeit mit der Stadtbibliothek und Bibliothek des Priesterseminars“ habe die „Büchernot nicht ganz so fühlbar gemacht, wie es sonst geworden wäre“.

VI. Die Bücher in der Evangelisch-theologischen Fakultät Wie die Bücher schließlich aus dem provisorischen Gemeindezentrum in der Feldbergschule in die völlig neu gegründete Evangelisch-theologische Fakultät kamen, lässt sich heute nur noch aus wenigen Dokumenten und Notizen erschließen. Ein Grund dafür dürfte gewesen sein, dass es unter den neuberufenen protestantischen Theologen immerhin einige gab, die über hinreichende Hebräisch-Kenntnisse verfügten, um die zahlreichen Hebraica des Bestandes überhaupt zu identifizieren und gelegentlich sogar zu nutzen.1 Darüber hinaus war insbesondere auch für die neu berufenen Professoren und Lehrbeauftragten dieser Fakultät der ständige Mangel an Büchern ein ernsthaftes Problem. Noch 1964 kann Pfarrer Karl Dienst in einer Darstellung der Anfänge der evangelisch-theologischen Fakultät notieren, dass neben Leihgaben aus rheinhessischen Dekanaten sowie Schweizer Bücherspenden zunächst nur „kleinere beschlagnahmte Bücherbestände nationalsozialistischer Herkunft“ den Grundstock für die neu entstehende Seminarbibliothek bildeten.2 Ob damit auch jüdische Bücherbestände gemeint waren, ist jedoch wenig wahrscheinlich. Zu diesem Zeitpunkt befand sich die jüdische Bibliothek wohl noch in dem „beklagenswerten“ Provisorium der Feldbergschule – von den Neuberufenen wusste davon wohl kaum jemand. Man muss bei all dem bedenken, dass einer raschen Unterbringung der Bücher in der Universität zu diesem frühen Zeitpunkt auch die weitgehend ungeklärte rechtliche Lage der jüdischen Gemeinde entgegenstand.3 Wer nämlich offizieller Rechtsnachfolger der jüdischen Gemeinden in Mainz werden konnte, musste zunächst durch die Franzosen und dann auch gerichtlich geklärt werden. Doch die Besatzungsmacht unternahm in dieser Angelegenheit lange Zeit wenig, und Verfügungen, die etwa auch die Situation und die Not jüdischer Mitbürger hätte mildern können, blieben aus.4 Vielerorts blieben daher auch andere geraubte oder beschlagnahmte Besitztümer lange in einem „juristischen Niemandsland“. 1

Für einen kurzen Überblick über die ersten Berufungen an die völlig neu gegründete evangelisch-theologische Fakultät vgl. Wilhelm Jannasch, Die Evangelische Fakultät – etwas ganz Neues, in: Helmut Mathy (Hrsg.), Die erste Landesuniversität von Rheinland-Pfalz. Studien zur Entstehungsgeschichte der Johannes Gutenberg-Universität, Schriften der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Mainz 1997, S. 160–163. 2 Vgl. Dienst, Anfänge, S. 74f. 3 Vgl. hierzu Brenner, Nach dem Holocaust, S. 96. 4 Vgl. etwa das Schreiben des Vorstandes der Jüdischen Gemeinde Mainz an den Legal Adviser der Jewish Relief Unit in Herfort vom 16.07.1946 (ZAGJD Bestand 1/18 43), in dem geklagt wird: „Gerade in der französischen Zone haben wir es besonders schwer, da wir nur eine sehr kleine Zahl sind und das Oberregierungspräsidium in Neustadt in unseren Angelegenheiten nur leere Versprechungen abgibt und keinerlei gesetzlichen Verfügungen zur Besserung unser Notlage bis (sic) herausgegeben hat.“

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VI. Die Bücher in der Evangelisch-theologischen Fakultät

Dies änderte sich erst mit dem Landesgesetz über die Jüdischen Kultusgemeinden in Rheinland-Pfalz vom 19. Januar 1950, in dem die Jüdische Gemeinde Mainz verbindlich als Rechtsnachfolger der vor dem 1. Januar 1938 existierenden jüdischen Gemeinden anerkannt wurde.5 Dieser Anerkennung war jedoch ein langwieriger Streit mit der „Branche Française de la Jewish Trust Corporation for Germany“ vorausgegangen, was zusätzlich dazu beigetragen haben wird, die Frage des Verbleibs des jüdischen Bücherbestandes in einer rechtlichen Grauzone zu belassen.6 Die Situation für die Bücher konnte sich wohl auch deswegen überhaupt erst Mitte der fünfziger Jahre verändern. Dies wird erstmals auch durch einen vor Kurzem aufgefundenen Brief des damaligen Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde, Max Grünfeld7, an den Direktor der Stadtbibliothek, Dr. Wilhelm Diepenbach, vom 30. September 1955 belegt8: „Des Weiteren haben wir im vergangenen Jahr großzügigerweise unsere Bibliothek der Universität Mainz als Leihgabe unentgeldlich überlassen.“ Dieses Schreiben belegt zweifelsfrei, dass die Jüdische Bibliothek in ihrem vollen Umfang erst nach 1954 in die Universität verbracht wurde. Die bislang ungeklärte Frage, wo die Bücher seitdem verblieben, wird dann durch ein weiteres in der Bibliothek selbst erhaltenes Dokument beantwortet: ein Leihbuch. 1. Das Leihbuch Unter den mir im Zuge meiner Berufung übergebenen Dokumenten bei der Jüdischen Bibliothek befand sich ein 1954 begonnenes Leihbuch, in dem die Namen früherer Benutzer der jüdischen Bibliothek verzeichnet sind.9 Dieses „inoffizielle“ 5

Vgl. § 4 Absatz 2 des von Ministerpräsident Altmeier unterzeichneten Landesgesetzes vom 19.01.1950. Die vor 1938 auf dem Gebiet von Rheinland-Pfalz existierenden jüdischen Gemeinden wurden aufgelöst, so dass die unrechtmäßige Auflösung der Gemeinden durch die Nationalsozialisten nicht etwa nachträglich legitimiert wurde. Erst dies eröffnete eine Möglichkeit, die neu gegründete Gemeinde als Rechtsnachfolger – etwa auch der Israelitischen Religionsgesellschaft in Mainz – anzuerkennen. 6 Siehe dazu auch den kurzen, aber aufschlussreichen Bericht unter der Überschrift: „Rechtnachfolge bei den jüdischen Gemeinden in der französischen Zone“, in: Der Aufbau 5.02.1954, S. 8. 7 Er war von 1951–1952 Vorsitzender der Gemeinde. Vgl. Eugen Ludwig Rapp, Chronik der Mainzer Juden. Die Mainzer Grabdenkmalstätte, Grünstadt 1977, S. 47. 8 Vgl. ZAGJD Bestand 1/18 43. Der Brief bezieht sich auf eine an die Stadtverwaltung gerichtete Anfrage, die nicht mehr erhalten ist. 9 Das Leihbuch wurde unregelmäßig und nur bis ca. 2003 weitergeführt. Wer davor oder danach Bücher ausgeliehen hat, ist nicht in allen Fällen festgehalten worden. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass ein beachtlicher Bestand aus der Jüdischen Bibliothek als Leihgabe an das Landesmuseum Mainz gegeben wurde (um 1983?) Siehe dazu unten, und vgl. diesbezüglich auch die besorgte Anfrage des Vorsitzenden der JGM, Dr. Gerrard Breitbart, an Prof. Dr. Günter Mayer vom 8. Juni 1983; in: ZAGJD Bestand 1/18 64 und die lapidare handschriftliche Antwort Mayers. Erst im Jahr 2006 konnte über den ausgelagerten Bestand nachträglich ein Leihvertrag mit dem Landesmuseum abgeschlossen werden. In Folge der 2007 begonnenen Umbauarbeiten der

1. Das Leihbuch

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Dokument führt eindrucksvoll vor Augen, wer in den Anfangsjahren der Universität überhaupt ein Interesse an den selten gewordenen jüdischen Büchern in Mainz hatte, wer welche Titel benutzen konnte. Gleichzeitig ist das Leihbuch eines der aussagekräftigsten Quellen für die Rekonstruktion der Motive für die Unterbringung der Bibliothek in der neu gegründeten Universität – und es belegt leider auch, wer etwas vom bedauerlichen Zustand der wertvollen Bücher wusste, ohne nachweislich etwas für ihren Erhalt und ihre Restaurierung unternommen zu haben. Als erster Benutzer wird in diesem Verzeichnis, beginnend mit dem 10.–13. November 1954, der Professor für Altes Testament an der Evangelisch-theologischen Fakultät, Kurt Galling, genannt.10 Galling war im Wintersemester 1946/47 aus Halle an der Saale nach Mainz berufen worden. Seine zahlreichen Veröffentlichungen zur Geschichte Israels lassen sein besonderes Interesse an den jüdischen Büchern in der Fakultät plausibel erscheinen. Bei den Bänden, die er damals entliehen hat, handelte es sich allerdings um „2 Bde. Talmud Babli“, also um rabbinische Literatur, die nicht in sein engeres Forschungsgebiet fiel, die aber, soweit man sie benötigte, bis zu diesem Zeitpunkt in Mainz tatsächlich sehr schwer zu beschaffen gewesen sein muss. Als weitere Entleiher des Jahres 1955 werden aufgeführt: „Prof. Biundo“, der von 1946 an Territorialkirchengeschichte in Mainz lehrte.11 Georg Biundo (1892– 1988) hatte zunächst einen Lehrauftrag für „Rheinisch-pfälzische KG und Religiöse Volkskunde“ und wurde 1949 zum Honorarprofessor ernannt.12 Des Weiteren steht „Dr. Armin Dietzel“ in dem Leihverzeichnis, langjähriger Mitarbeiter von Professor Friedrich Delekat, Ordinarius für Systematische Theologie in Mainz von 1946–196013, er versorgte sich mit einen halakhischen Midrasch („Sifre, Teil I“), einem grundlegenden Werk der rabbinischen Literatur; „Dr. Lohse“, der spätere Kieler und dann Göttinger Professor für Neues Testament und Altbischof der Hannoverschen Landeskirche, war von Anbeginn seiner wissenschaftlichen Laufbahn Judaica-Ausstellung des Landesmuseums sind die entliehenen Bücher mittlerweile wieder in den Bestand an der Universität zurückgegeben worden. Weitere Bücher aus den in der Universität untergebrachten Büchern gelangten in die Jüdische Gemeinde, wo sie im Rabbinerzimmer aufbewahrt werden. Ein Verzeichnis dieser verstreuten Bestände existiert nicht. 10 Vgl. für eine erste Information zu ihm Jan Christian Gertz, Art. Galling, Kurt, in: RGG4 3 (2000), Sp. 461; dann auch Jannasch, Die Evangelische Fakultät, S. 161. 11 Vgl. Dienst, Anfänge, S. 157. 12 Zu seiner Vita vgl. die Einführung in der Festschrift: Aus der Enge in der Welt. Beiträge zur Geschichte der Kirche und ihres Volkstums, Dr. theol. Georg Biundo, Honorarprofessor an der Universität Mainz, Pfarrer in Roxheim a. Rh., Mitglied der Pfälzischen Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften, Schriftleiter der „Blätter für Pfälzische Kirchengeschichte und religiöse Volkskunde“ von Fachgenossen und Freunden zum 60. Geburtstag dargeboten, Grünstadt 1952, S. 5f (unpaginiert) sowie Otto Böcher, in: Professor Georg Biundo (1892–1988). Schriftleiter der „Blätter für pfälzische Kirchengeschichte (und religiöse Volkskunde), in: Blätter für pfälzische Kirchengeschichte und religiöse Volkskunde 66/67 (1999/2000), S. 65–70. Biundo gehörte bis zum 7.6.1967 zu den regelmäßigen Benutzern des Bestandes. 13 Vgl. Karl Dienst, Art. Delekat, Friedrich, in: RGG4 2 (1999), S. 642. Siehe auch das Grußwort von Gustav Stählin zu seiner Festschrift: Libertas Christiana. Friedrich Delekat zum 65. Geburtstag. In Gemeinschaft mit E. Wolf besorgt von W. Matthias, Beiträge zur evangelischen Theologie 26, München 1957, S. 7f.

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VI. Die Bücher in der Evangelisch-theologischen Fakultät

mit Fragen der Umwelt des NT befasst; „Prof. Braun“, Ordinarius für Neues Testament in Mainz seit 1952, Qumranforscher und Bultmann-Schüler, wird ebenfalls mehrfach als Benutzer der Bücher aufgeführt. Aber es war wohl vor allem Eugen Ludwig Rapp, der im Wintersemester 1946/47 zum Honorarprofessor in Mainz ernannt worden war und regelmäßig Seminare zu rabbinischer Literatur und jüdischen Themen durchführte, der Bücher besonders häufig entlieh und benutzte.14 Rapps Interesse für Rabbinica war aus seiner Heidelberger Dissertation über den Mischna-Traktat Mo’ed Qatan erwachsen. Allerdings führte er diese Studien später nicht konsequent weiter, sondern widmete sich neben vielen anderen Gebieten der jüdischen Grabsteinepigraphik, einem Bereich, auf dem er später einige bis heute zitierte Publikationen veröffentlichte.15 In der Auflistung von Entleihern von 1956 bis 2003 wird Günter Mayer (1936– 2004) neben Otto Böcher am häufigsten genannt. Böcher war als Doktorand bei Professor Rapp eng mit den Vorgängen um die Bibliothek vertraut. Der erste Eintrag, in dem Böcher als Entleiher genannt wird, stammt vom 2.5.1956; der erste Eintrag von Mayer findet sich unter dem Datum 20.2.1958 („3 Bde. Mishna“)16. Weitere identifizierbare Bibliotheksbenutzer waren: Professor Walter Holsten, der ab 1947 Religions- und Missionswissenschaft in Mainz unterrichtete17, Dr. Lothar Tetzner, der in Mainz über den Mischna-Traktat Megilla promovierte18, Friedrich Schütz, Leiter des Stadtarchivs Mainz, der zahlreiche Titel für die 1978 im Foyer des Rathhauses gezeigte Ausstellung „Juden in Mainz“ entlieh, und Professor Diethelm Michel, der ab 1981 Altes Testament unterrichtete.19 Interessanterweise finden sich unter den im Leihbuch festgehaltenen Namen, soweit ich sehe, keine 14

Für einen Überblick über sein Lehrangebot vgl. Dienst, Anfänge, S. 143. Vgl. dazu Böcher, Art. Eugen Ludwig Rapp, S. 151–153; siehe auch die von Böcher zusammengestellte Bibliographie zu Beginn der Festschrift zum 70. Geburtstag: Wort und Wirklichkeit. Studien zur Afrikanistik und Orientalistik, Teil 1: Geschichte und Religionswissenschaft – Bibliographie, hrsg. von Brigitta Benzing, Otto Böcher und Günter Mayer, Bd. 1, Meisenheim am Glan 1976, S. 1–16. Rapp hatte am 26.2.1929 bei Georg Beer in Heidelberg promoviert. Die Dissertation erschien in der von Karl Heinrich Rengstorf in Münster herausgegebenen so genannten Giessener Mischna, Berlin 1931. Zuvor hatte er bereits einen kleinen Beitrag über den Tosephta-Traktat Moed Katan im: Journal of the Society of Oriental Research 12 (1928), S. 97–102 veröffentlicht. Wie mir Dr. Michael Krupp, Jerusalem, der sein Theologie- und Judaistikstudium in den sechziger Jahren in Mainz begonnen hatte, berichtet, hat Rapp später immer wieder Rabbinica unterrichtet, jedoch aus einem typisch protestantischen Blickwinkel. Eine Veränderung brachte die Berufung von Rabbiner Róth im Jahre 1958. 16 Am 27.5.1960 wurde Mayer mit einer Arbeit über den Mischna-Traktat Pea, Ackerecke, von Professor Rapp promoviert. Er war ab 1962 in Münster und dann in Mainz tätig, wo er eine „Professur für Geschichte und Literatur des Judentums“ innehatte. Er trat 2001 in den Ruhestand, lehrte aber bis 2004. 17 Vgl. Dienst, Anfänge, S. 139. 18 Vgl. Lothar Tetzner, Megilla (Esther-Rolle), in: Karl Heinrich Rengstorf / Leonard Rost (Hrsg.), Die Mischna: Text, Übersetzung und ausführliche Erklärung mit eingehender geschichtlicher und sprachlicher Einleitung und textkritischem Anhang, Berlin 1968. 19 Der erste Eintrag ist auf den 4.11.1981 datiert. Entliehen wurden Bücher über den Bibel-Babel-Streit, über den dann ein Schüler Michels, der Akademische Direktor Dr. Reinhard G. Lehmann, heute Hebräischlehrer an der Fakultät, promoviert hat. Zu den zahlreichen Titeln um den Bibel-Babel-Streit vgl. unten Kapitel VII.3. 15

2. Der Leihvertrag

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Namen von Angehörigen der katholischen Fakultät. Die letzten Einträge halten Ittai Tamari und Hans-Joachim Bechtoldt als Benutzer fest; zwischen den Jahren 1992 und 2003 verwendeten beide Bibliotheksbestände für ihre wissenschaftlichen Projekte.20 2. Der Leihvertrag Die Katalogisierung und systematische Erschließung der Bücher scheint erst Mitte der fünfziger Jahre in Angriff genommen worden zu sein. Rapp, „ein echtes Pfälzer Gewächs“21, war es, der die Erschließung der Bücher kontinuierlich vorantrieb und die Bibliothek offiziell in die Obhut des Seminars für die „Wissenschaft des Spätjudentums“ brachte.22 Von ihm wurde auch ein erstes maschinenschriftliches Handverzeichnis der Titel und Zeitschriften mit lateinischen Schriftzeichen angefertigt23, und unter seiner Anleitung erstellte seine Tochter, Frau Berber Lichtenthaeler-Rapp (Kelsterbach), eine erste handschriftliche Zettelkartei der Hebraica.24 Im Zusammenhang mit dieser Katalogisierung scheint auch die Aufstellung der Bücher neu geregelt worden zu sein. Die erste gesicherte Information aus diesem Zeitraum liegt aus dem Jahr 1955 vor, denn am 30. März diesen Jahres wurde ein offizieller Leihvertrag mit der Jüdischen Gemeinde abgeschlossen.25 Möglicherweise hing die damit verbundene Neuregelung des Umgangs mit den Büchern mit der 1955 erfolgten Ernennung von Professor Dr. Hermann Fuchs, einem ausgewiesenen Kenner der Bibliothekslandschaft in der jungen Bundesrepublik, zum Direktor der Universitätsbibliothek zusammen.26 Allerdings ist auch zu bedenken, dass sich in dieser Zeit die Jüdische Gemeinde reorganisierte und sich etwa zum ersten 20

Tamari promovierte 1994 in Mainz über Hebräischen Buchdruck. Ein Exemplar der von Günter Mayer begutachteten Dissertation befindet sich im Präsenzbestand der Bereichsbibliothek Theologie. Diese Arbeit erschien unter dem Titel: Hebräische Schriftgestaltung in Deutschland von der Jahrhundertwende bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs unter besonderer Berücksichtigung der „Frank-Rühl“-Lettern, Egelsbach u. a. 1994. Zu Bechtoldt vgl. ders., Die Jüdische Bibelkritik im 19. Jahrhundert, Stuttgart, Berlin, Köln 1995; ders., Jüdische deutsche Bibelübersetzungen vom ausgehenden 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, Stuttgart, Berlin, Köln 2005. 21 Für diese Charakterisierung, „nicht zuletzt wegen seiner unerschöpflichen Erzählungen und Präsentationen von lustigen Begebenheiten und Witzen“, vgl. Jannasch, Die Evangelische Fakultät, S. 161. 22 Die Umbenennung des Seminars in „Seminar für Wissenschaft vom Judentum“ erfolgte erst zum Wintersemester 1953/54. Vgl. dazu Dienst, Anfänge, S. 143 Anm. 19. 23 Mündlichen Berichten zufolge hat Rapp dieses maschinenschriftliche Verzeichnis mit dem Titel: Jüdische Bibliothek Mainz, Katalog Teil I, Werke in Europäischen Sprachen, in mühsamer Eigenarbeit erstellt. 24 So festgehalten in einem Brief E. L. Rapps an den Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde, Erich Levy, vom 17. Juli 1964 (ZAGJD Bestand 1/18 43). 25 Eine Kopie dieses Vertrages konnte mir erst nach längerer Suche von der UB Mainz zur Verfügung gestellt werden. Ein Original ist bei den Akten der Jüdischen Gemeinde Mainz im ZAGJD in Heidelberg in stark beschädigtem Zustand erhalten. 26 Ernst Schäck, in: Hermann Eibel / Hermann Sauter (Hrsg.), Gedenkschrift zur Einweihung der neuen Universitätsbibliothek der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Mainz 1966, S. 16.

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VI. Die Bücher in der Evangelisch-theologischen Fakultät

Mal eine Satzung gab, um als Körperschaft öffentlichen Rechts anerkannt zu werden.27 Der Wortlaut des Leihvertrages wirft zusätzliches Licht auf die Frühzeit der Geschichte der jüdischen Bücher an der Universität: Zwischen Der Jüdischen Gemeinde M a i n z , Körperschaft des Öffentlichen Rechts, vertreten durch ihren Vorstand, und der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz, vertreten durch den Kurator wird folgender Vertrag geschlossen: 1.

Die Jüdische Gemeinde in Mainz überlässt der Universität eine Auswahl der Bücher ihrer Bibliothek kostenlos als Leihgabe. Diese der Universität von der Jüdischen Gemeinde überlassene Bibliothek führt den Namen „Jüdische Bibliothek in Mainz – Sifriya Yehudiyya Shel Magensa“. Die Universität übernimmt die unentgeltliche Ordnung, Aufstellung, Pflege und Feuerversicherung dieser Bibliothek. Die Verwaltung der Bibliothek, insbesondere die Sorge für Ordnung, Aufstellung, Pflege und ordnungsmässige Benuntzung der Bibliothek übernimmt der Direktor des Seminars für Wissenschaft vom Judentum ehrenamtlich. Die Katalogisierung wird vom Seminar für Wissenschaft vom Judentum nach und nach entsprechend den dem Seminar zur Verfügung stehenden Mitteln durchgeführt. Nach Abschluss der Katalogisierung wird der Jüdischen Gemeinde eine alphabetische und eine nach Sachgebieten geordnete Liste der überlassenen Bücher übergeben. Das Seminar für Wissenschaft vom Judentum stellt die Bibliothek den Lehrern, Studierenden und Hörern der Johannes Gutenberg-Universität als Präsenzbücherei, nicht jedoch als Leihbibliothek zur Verfügung. Ebenso steht die Bibliothek den Mitgliedern der Jüdischen Gemeinde Mainz sowie Personen, die von der Jüdischen Gemeinde schriftlich autorisiert sind, als Präsenzbücherei kostenlos zur Verfügung. Eine Ausleihe von Büchern der Bibliothek, insbesondere im Leihverkehr an andere Bibliotheken kann nur in Ausnahmefällen durch den Direktor des Seminars für Wissenschaft vom Judentum mit Zustimmung der Jüdischen Gemeinde Mainz erfolgen. Dieser Vertrag kann von beiden Vertragspartnern mit einjähriger Kündigungsfrist gekündigt werden.

2.

3.

4.

5.

Mainz, den 30. März 1955

Unterschrieben haben den Vertrag der Vertreter der Jüdischen Gemeinde Mainz, Alfred Epstein, Eugen Ludwig Rapp und der Kurator der Mainzer Universität, Eichholz. Die Anliegen der beteiligten Parteien lassen sich deutlich erkennen: Zum einen soll die Bibliothek für den Lehr- und Wissenschaftsbetrieb an der mittlerweile 27

Vgl. den Entwurf einer Satzung im StA Mainz, Nachlass Oppenheim 50/14. Veröffentlicht im Rahmen der Ausstellung „Juden in Mainz“, Katalog S. 204 (Nummer 336).

2. Der Leihvertrag

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etablierten Universität nutzbar sein. Andererseits besteht die jüdische Seite darauf, dass die Bestände katalogisiert und instand gehalten werden. Wichtig ist auch der Wunsch, die Bücher nicht auszuleihen – jedenfalls nicht über den Seminarrahmen hinaus. Dennoch wird auf die „in Ausnahmefällen“ einzuräumende Möglichkeit einer Teilnahme am Leihverkehr mit anderen Bibliotheken wertgelegt.28 Bemerkenswert ist schließlich die Festlegung eines Namens für die Bibliothek – insbesondere die etwas bemüht wirkende hebräische Übertragung.29 Zum Zeitpunkt der Vertragsunterzeichnung scheint dabei noch nicht genau geklärt gewesen zu sein, welche Bücher, geschweige denn, welche Handschriften zu dem Bestand gehörten. Dies änderte sich grundlegend wohl erst in den fünfziger Jahren, nachdem 1957 der aus Ungarn nach Deutschland geflohene Rabbiner Dr. Ernst Róth (geboren 16.11.1908 in Szernecz/Ungarn, gestorben 1991 in Luxemburg) in Mainz eine Rabbinatsstelle und dann einen Lehrauftrag an der Evangelisch-theologischen Fakultät erhalten hatte. Róth hatte vor seiner Flucht das Budapester Rabbinerseminar geleitet, eine der wichtigsten jüdischen Ausbildungsstätten in Europa.30 Die Berufung eines so hochrangigen jüdischen Gelehrten an eine christlich-theologische Fakultät stellte zu dieser Zeit noch eine seltene Ausnahme dar.31 Für diese frühe Nachkriegszeit kann man etwa noch auf Rabbiner Baruch Graubard aus München verweisen, der schon 1951 zum außerordentlichen Professor für Judaistik in Marburg ernannt worden war32, oder auch auf Rabbiner Bernhard Brilling, der 1957 aus Israel zurück nach Deutschland zurückgekommen war, am Münsteraner Institutum Judaicum Delitzschianum von Professor Karl Heinrich Rengstorf promoviert wurde und dort eine Abteilung „Geschichte der Juden in Deutschland“ gründete.33 28

Dies rechtfertigt den vorher erfolgten Leihbetrieb, wie er in dem oben erwähnten Leihbuch festgehalten wurde. 29 In modernem Ivrit hieße es wohl eher „Sifriya yehudit shel Magensa“. 30 Zu Róth vgl. die Nachrufe in der Jüdischen Gemeindezeitung Frankfurt September/Oktober 1991, S. 50; Joel Berger, In seinem Geiste die Arbeit fortsetzen., Allgemeine Jüdische Wochenzeitung 46/20 (16. Mai 1991), S. 5; Judith Schön, Ein bedeutender Gelehrter. Steinsetzung für Landesrabbiner Ernst Roth in Jerusalem, Allgemeine jüdische Wochenzeitung 5.12.91. Vgl. auch Andreas Brämer, Das Frankfurter Rabbinat seit 1945, in: Georg Heuberger (Hrsg.), Wer ein Haus baut, will bleiben. 50 Jahre Jüdische Gemeinde Frankfurt am Main. Anfänge und Gegenwart, Frankfurt am Main 1998, S. 122–127, hier S. 126. 31 Siehe dazu ein in der Public Library New York erhaltenes Aerogramm an Shlomo Eidelberg, in dem sich Eugen L. Rapp glücklich schätzt, vor Kurzem „Prof. Róth“ als lecturer für Mainz gewonnen zu haben. Für den Hinweis auf dieses Dokument danke ich Pinhas Roth, New York / Jerusalem. Ernst Róth wurde 1968 Landesrabbiner von Rheinland-Pfalz und Hessen mit Sitz in Mainz. Später wurde er Vorsitzender der deutschen Rabbinerkonferenz mit Sitz in Frankfurt am Main. Vgl. Arnsberg, Chronik, S. 162f. 32 Siehe dazu den Artikel: Enthüllung des Grabsteins von Professor Baruch Graubard, s. A., in: Neue Jüdische Nachrichten, 4.2.1977. Vgl. noch Anthony D. Kauders / Tamar Lewinsky, Neuanfang mit Zweifeln (1945–1970), in: Richard Bauer / Michael Brenner (Hrsg.), Jüdisches München. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München 2006, S. 185–223, hier S.187. 33 Vgl. zu im Hans Galen (Hrsg.), Jüdische Porträts. Graphische Bildnisse prominenter Juden Mitteleuropas. Katalog zur Ausstellung im Stadtmuseum Münster, 22. Oktober 1993 bis 9. Januar 1994, Hamm 1993, S. 70. Siehe zu ihm und seinem Verhältnis zu dem damaligen protestantischen Institutsdirektor, den er zufällig auf einer Schiffsreise nach Israel kennengelernt hatte, das Vorwort in Bernhard Brilling, Die jüdischen Gemeinden Mittelschlesiens. Entstehung und Geschichte, Stu-

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VI. Die Bücher in der Evangelisch-theologischen Fakultät

Die Berufung Róths markiert vor diesem Hintergrund nicht nur den Beginn eines bemerkenswerten Sonderweges in der Entwicklung der „Mainzer Judaistik“, der später und unter anderen Vorzeichen mit der Berufung von Rabbiner Leo Trepp fortgesetzt wurde;34 Róths Ernennung bedeutete für die Geschichte der Mainzer jüdischen Bibliothek auch einen tiefgreifenen Wandel zum Positiven.35 Mit ihm kam zum ersten Mal nach dem Krieg wieder ein jüdischer Gelehrter mit den Büchern und Handschriften in Berührung, der über die notwendigen rabbinischen und judaistischen Kenntnisse verfügte, um ihren Wert zu erkennen und zu erschließen.36 Für die von dem Münchener Orientalisten Hans Striedl herausgegebene Katalogreihe „Verzeichnis der orientalischen Handschriften in Deutschland“ konnte er dann auch bald den ersten Katalog der Manuskripte erstellen37, ein bis heute gültiger Beitrag zur Grundlagenforschung, der gerade noch rechtzeitig durchgeführt wurde, bevor einige andere jüdische Manuskripte aus Mainz verkauft wurden.38 Die Benutzerbelege in dem erhaltenen Leihbuch, unter ihnen zahlreiche von Rabbiner Róth, nehmen nach 1967 stark ab, und für die Jahre von 1967 bis 1978 dia Delitzschiana 14, Stuttgart 1972, S. Vf. Siehe auch Peter Honigmann, Das Projekt von Rabbiner Dr. Bernhard Brilling zur Errichtung eines jüdischen Zentralarchivs im Nachkriegsdeutschland, in: Klaus Hödl (Hrsg.), Historisches Bewusstsein im jüdischen Kontext. Strategien – Aspekte – Diskurse, Schriften des Centrums für Jüdische Studien 6, Innsbruck u. a. 2004, S. 223–241, hier S. 230f. 34 Vgl. hierzu nun auch Andreas Lehnardt, Theologie und Judaistik. Versuch einer Standortbestimmung, in: Trumah 17 (2008), S. 69–78. 35 Dem alten Leihbuch der Bibliothek zufolge gehörte Ernst Róth vom 17.11.1958 an bis zum 20.10.1964 zu den Benutzern des Bestandes. Allerdings scheint er einige der entliehenen Bücher zunächst nicht zurückgebracht zu haben. Ein dem Leihbuch beigelegter Zettel zeugt von dem Bemühen der Verantwortlichen, die Bücher zurückzuerhalten. Einige Bände scheinen dann erst am 29.10.1982 zurückgekommen sein. Róth war nach seinem Ruhestand nach Luxemburg umgezogen, wohin er Mainzer Bücher mitgenommen haben soll. Nach Auskunft von Dr. Peter Waldmann wurden diese Bücher von Mainzer Gemeindemitgliedern später abgeholt. 36 Róth hatte am Rabbinerseminar in Budapest studiert, dessen Leiter er später wurde. Zu seinen Kollegen gehörte u. a. Alexander Scheiber, seinerzeit einer der besten Kenner hebräischer Handschriften. Aus Róths Publikationen aus dieser Frühzeit seines Wirkens in Deutschland sind in diesem Zusammenhang vor allem zu nennen seine Artikel über „Die hebräischen Handschriften“ und „Die Hebräischen Drucke“ für den Katalog der viel beachteten Ausstellung: Synagoga. Kultgeräte und Kunstwerke von der Zeit der Patriarchen bis zur Gegenwart, Städtische Kunsthalle Recklinghausen 3. November – 15. Januar 1961, Recklinghausen 21961 [unpaginiert]. 37 Vgl. Ernst Róth, Hebräische Handschriften, Teil 2, hrsg. von Hans Striedl, unter Mitarbeit von Lothar Tetzner, Verzeichnis orientalischer Handschriften in Deutschland VI, 2, Wiesbaden 1965, S. 190–212. Zu den Problemen dieses von dem Münchener Orientalisten Hans Striedl und seinem Mitarbeiter Lothar Tetzner stark überarbeiteten Verzeichnisses siehe nun Peter Kuhn, Hans Striedl (1907–2002), Bibliothekar und Orientalist, in: Annelies Kuyt / Gerold Necker (Hrsg.), Orient als Grenzbereich? Rabbinisches und außerrabbinisches Judentum, Abhandlungen für die Kunde des Morgenlandes 60, Wiesbaden 2007, S. 200–215, hier S. 210. 38 Die Bestände, die sich in der Mainzer Akademie der Wissenschaft befanden, wurden 1966 für eine symbolische Summe an die Bayerische Staatsbibliothek München mit ihrer großen HebraicaAbteilung verkauft. Vgl. hierzu Andreas Lehnardt, „Siddur Rashi“ und die Halakha-Kompendien aus der Schule Raschis, in: Daniel Krochmalnik, Hanna Liss, Ronen Reichman (Hrsg.), Raschi und sein Erbe. Internationale Tagung der Hochschule für Jüdische Studien mit der Stadt Worms, Heidelberg 2007, S. 85. – Zu den Handschriften in der JBM vgl. ausführlich unten Kapitel VII.5.

2. Der Leihvertrag

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besteht sogar eine auffällige Lücke. Noch im Universitätsführer der Johannes Gutenberg-Universität Mainz aus dem Jahre 1962 wird die Bibliothek allerdings ausdrücklich erwähnt, so dass die Bestände eigentlich mehr Benutzer gehabt haben müßte, als in dem Leihbuch vermerkt sind. In dem Führer heißt es unter der Überschrift „Das Seminar für die Wissenschaft vom Judentum“: „Im Zusammenhang mit dem Seminar steht die jüdische Bibliothek Mainz (eine Dauerleihgabe) mit 5500 Bänden, deren Ordnung und Katalogisierung durch die famuli (bzw. famulae) einer von der Pfälzischen Landeskirche gestifteten Famulatur möglich war.“39

Hier wird die Jüdische Bibliothek zum ersten Mal in einer offiziellen Publikation der Universität genannt, ja sogar ihre Betreuung durch hierzu abgeordnetes Personal hervorgehoben.40 Die erwähnte Neuordnung der Bibliothek dürfte dabei direkte Folge der im Zuge der Errichtung des UB-Neubaus im Jahre 1966 erfolgten völligen Reorganisation der universitären Buchbestände gewesen sein. Mit der Übernahme der UB-Direktion durch Hermann Sauter in den Jahren 1964–65 war wohl eine so grundlegende Neuausrichtung der Bestandsverwaltung verbunden, dass von ihr auch die Jüdische Bibliothek betroffen gewesen sein muss.41 Es verwundert vor diesem Hintergrund umso mehr, dass in dem erhalten gebliebenen Leihbuch für die darauf folgenden Jahre nur noch selten Vermerke über Leihvorgänge zu finden sind. In dieser Phase der Bibliotheksgeschichte fanden zwar immer wieder einmal Restaurierungen und Signaturarbeiten statt, und auch von einem Umzug der Bücher in „bessere Räume“ findet sich eine Spur.42 Doch blieben die Bücher von nun an wohl zunehmend nur noch Eingeweihten zugänglich – ein Umstand, der mit dazu beigetragen haben wird, dass es immer wieder einmal Überlegungen gab, den Bestand ganz zu verlegen bzw. ihn weiterzuverleihen. So etwa an das ab 1978 geplante „Raschi-Lehrhaus“ nach Worms – ein Plan, der allerdings bald verworfen worden zu seien scheint.43

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Universitätsführer Johannes Gutenberg Universität Mainz, mit einem Vorwort des Rektors Horst Falke (April 1962), Mainz 1962, S. 27. Wer diese Hilfskräfte waren, ließ sich leider nicht mehr in Erfahrung bringen; auch über die Spende der Pfälzischen Landeskirche lagen mir keine Dokumente vor. 40 Im der Vorstellung der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, herausgegeben zum 10. Jahrestag der Universität Mainz 1956 wird die Bibliothek dagegen noch nicht gewürdigt. In dem Beitrag über Evangelisch-theologische Fakultät (S. 25) wird nur die Arbeit von Prof. Rapp erwähnt. 41 Dass dies im Einvernehmen mit der jüdischen Gemeinde Mainz geschah, mag die Erwähnung des damaligen Gemeindevorstandes, „Direktor Levy“, anlässlich der feierlichen Eröffnung des Neubaus der UB belegen. Siehe die Rede von Johannes Bärmann, in: Ernst Schäck, Einführung zu Hermann Eibel / Hermann Sauter (Hrsg.), Gedenkschrift zur Einweihung der neuen Universitätsbibliothek der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Mainz 1966, S. 11. 42 Vgl. dazu das Schreiben Eugen L. Rapps an den Vorsitzenden Erich Levy vom 19. Juli 1964: „Der Umzug der jüdischen Bibliothek Mainz wurde Anfan[g] Juni vollzogen und sie befindet sich jetzt in zwei besseren Räumen Nr. 45 in der Universität im Hauptgebäude. Die endgueltige Ordnung wird im Oktober dieses Jahres abgeschlossen. Den Katalog fuer die hebraeisch gedruckten Werke hoffen wir Anfang des naechsten Jahres fertig stellen zu koennen “ (ZAGJD Bestand 1/18 43). 43 Die Pläne, die Bibliothek nach Worms in das Gebäude des Stadtarchivs zu verlegen, sind dokumentiert von Böcher, Spuren, S. 102 (in dem 1978 erschienenen Katalog zur Ausstellung „Juden

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VI. Die Bücher in der Evangelisch-theologischen Fakultät

Unter einem unsortierten Stapel von Schriftstücken, die sich im Zuge meiner Aufräumarbeiten in der Bibliothek fanden, ist dann allerdings auch die Kopie eines vielsagenden Schreibens des langjährigen Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde, Alfred Epstein, vom 17. April 1967 an Professor Rapp erhalten, das belegt, dass eine Veränderung des status quo gerade auch von jüdischer Seite lange Zeit nicht gewünscht wurde und dass man Rapp für seinen Einsatz dankbar war:44 „Sehr geehrter Herr Professor! Der Unterzeichnete hat sich kürzlich überzeugt, daß unsere Bibliothek in bester Ordnung ist und daß dieselbe nicht besser aufgehoben sein könnte. Wir möchten Ihnen nochmals für all’ Ihre Mühe Dank sagen und geben uns der angenehmen Hoffnung hin, daß Sie „dieses Amt“ noch viele Jahre bekleiden werden. Wir bitten Sie höflich, laut Vertrag Abs. 3 darauf zu achten, daß keine Bücher aus der Bibliothek entnommen werden. Diese Maßnahme bitten wir ohne Ansehen der Person einzuhalten.“

Vor allem Entleihungen waren eine ständiger Grund zur Sorge über einen möglichen Bücherschwund. Weitere Probleme traten auf, weil sich die Aufstellung des Bestandes in gesonderten Räumen innerhalb der Evangelisch-theologischen Fakultät mit durch Personal garantierten Öffnungszeiten nur sehr schwer realisieren ließ. Epstein lag wohl auch deswegen an der genauen Einhaltung der im Leihvertrag festgelegten Benutzerordnung. Und wie sich im Hinblick auf „unordentliche Entleihungen“ bald zeigen sollte, bestand seine Sorge zu Recht – allerdings dachte dabei niemand an Dr. Róth, der zahlreiche Bände erst nach Jahren zurückerstattete, und dies auch erst auf besonderen Druck.45 Trotz solcher Vorkommnisse zeugt der erhaltene Brief auch von dem langjährigen gegenseitigen Einvernehmen über den Verbleib der Bücher in der Universität – ein Zustand, der bis ins Jahr 2008 andauert. 3. Die weitere Nutzung der Bücher Wie wurden die Bücher in dieser Zeit genutzt? Dokumentiert ist die Beteiligung der für die Bibliothek Verantwortlichen an einigen Ausstellungen. Dass sich in dem Bestand zahlreiche Zimelien und Handschriften befinden, die jede Judaica-Ausstellung schmücken können, war ja bereits dem Katalog der Jahrtausendausstellung der Rheinlande in Köln aus dem Jahr 1925 zu entnehmen.46 Ausgestellt wurden dain Mainz“). Zu den Vorbereitungen des Wormser „Raschi-Hauses“ ab 1977 vgl. Reuter, Warmaisa, S. 206. 44 Ein Durchschlag dieses Schreibens findet sich auch im Zentralarchiv zur Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland Bestand 1/18 64. 45 Siehe dazu das Schreiben des Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde, Dr. Gerrard Breitbart, an Landesrabbiner Prof. Dr. Ernst Róth, in Frankfurt am Main vom 11.11.1981 (ZAGJD Bestand 1/18 43). Die in diesem Schreiben angemahnte Rückgabe von durch Rabbiner Róth entnommene Leihgaben erfolgte erst einige Zeit später. Ähnliche Anfragen bezüglich entliehener Bände finden sich auch schon aus früheren Jahren. Vgl. etwa den Brief des Vorsitzenden Erich Levy an E. L. Rapp vom 14. Juli 1964 (ZAGJD Bestand 1/18 43). 46 Vgl. hierzu den Katalog der Jahrtausendausstellung der Rheinlande in Köln 1925, hrsg. von

3. Die weitere Nutzung der Bücher

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mals einige Mainzer Handschriften, andere wertvolle Exponate aus Mainz blieben dagegen aus Platzmangel verborgen. In Erinnerung an diesen Erfolg wurden nach dem Krieg und unter völlig anderen Vorzeichen erneut Mainzer Exponate auf der großen Monumenta Judaica-Ausstellung zur Geschichte und Kultur der Juden am Rhein vom 15. Oktober bis 15. März 1964 in Köln gezeigt – darunter auch einige Handschriften, die sich heute in der Bibliothek befinden und auf die unten noch näher einzugehen ist.47 In den Fokus der Öffentlichkeit trat die Existenz der Bücher dann zum ersten Mal im November 1978 im Rahmen der großen Ausstellung „Juden in Mainz“ im Foyer des Mainzer Rathauses.48 An der Vorbereitung dieser von Archivdirektor Friedrich Schütz und Kulturdezernent Anton Maria Keim organisierten Ausstellung war auch Günter Mayer beteiligt. Er war zu diesem Zeitpunkt bereits als „Professor für Judaistik“ tätig und für die Verwaltung der Bestände an der Universität zuständig.49 Die Organisatoren der Ausstellung waren sich auch daher der Bedeutung der „Gemeindebibliothek“ bewusst, und in einem wohl von Friedrich Schütz verfassten Text heißt es dazu50: „Auf dem Weg in die Vernichtung durch den Nationalsozialismus gingen mit dem Hausrat der Familien auch die Zeugnisse jüdischer Kunst und Kultur zugrunde. Historische Kultgegenstände sind der Gemeinde nicht erhalten geblieben. Umso kostbarer wiegt der Schatz der Gemeindebibliothek; sie beweist, daß seit Jahrhunderten in Mainz tief schürfende jüdische Gelehrsamkeit zu Hause war.“

W. Ewald und B. Kuske, Köln 1925, S. 333 (Raum 36). Dort ausgestellt waren die Gebete und Gebräuche der Beerdigungsbruderschaft in Mainz geschrieben 1725–1726, Ms Jüdische Gemeinde Mainz 1 (Katalog Róth Nummer 284) und ein weiteres Minhag-Buch der Hevra qadisha de-qabranim (Ms Jüdische Gemeinde Mainz 2, Nummer 285). Die Mainzer Jüdische Gemeinde hatte dieser Ausstellung zahlreiche weitere Judaica und Ritualgegenstände zur Verfügung gestellt. Siehe auch Elisabeth Moses, Die Abteilung „Juden und Judentum im Rheinland“ auf der Jahrtausend-Ausstellung in Köln, in: Soncino-Blätter 1 (1925–1926), S. 86–88. 47 Vgl. Monumenta Judaica. 2000 Jahre Geschichte und Kultur der Juden am Rhein. Handbuch und Katalog. Im Auftrag der Stadt Köln hrsg. von Konrad Schilling. Eine Ausstellung im Kölnischen Stadtmuseum 15. Oktober 1963 – 15. März 1964, 2., verbesserte Auflage 1964, Katalog D 37 und D 38. Siehe unten Kapitel VII.5. 48 Wie in der Ausstellungseinführung angemerkt, profitierten die Macher von den Erfahrungen der Kölner Ausstellung „Monumenta Judaica von 1963“ (S. 21). 49 Vgl. Juden in Mainz, S. 21. 50 Juden in Mainz, S. 21.

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VI. Die Bücher in der Evangelisch-theologischen Fakultät

Die ausgestellten Bücher sind im Katalog der Ausstellung aufgelistet.51 Gezeigt wurden Lexica52, Bibelkommentare53, ein Werk Moses Mendelssohns54, Mainzer Drucke55 und vor allem gemeindebezogene Schriften, auf die unten noch ausführlicher eingegangen wird. Bemerkenswert ist, dass unter der Überschrift „Gelehrte Lektüre“ auch eine seltene französische Übersetzung der Jüdischen Geschichte des antiken Jüdischen Geschichtsschreibers Josephus Flavius gezeigt wurde. Die Vorlieben der Ausstellungsmacher – bzw. des in diesen Dingen wohl zu Rate gezogenen Entleihers – lassen sich deutlich erkennen.56 Eine im Zuge dieser Ausstellung zu erwartende Dokumentation der Bibliotheksgeschichte erfolgte nicht. Nach dieser viel gelobten, gelegentlich aber auch kritisierten Ausstellung57 scheinen Bücher aus der Jüdischen Bibliothek Mainz nicht mehr für Ausstellungen entliehen worden zu sein. Ein Teil der in der Ausstellung gezeigten Bände gelangte allerdings in die Dauerausstellung des Mainzer Landesmuseums. Auf eine Zustimmung der Gemeinde gemäß der Bestimmungen des Leihvertrages wurde dabei allerdings verzichtet.58 51

Vgl. den Katalog Juden in Mainz, S. 155f (Nummern 83–88) (vgl. auch S. 163), S. 170 (Nummer 141), S. 171 (Nummer 145); S. 173 (Nummer 155 und 161), S. 176 (Nummer 165), S. 179 (Nummer 187), S. 180 (Nummer 190, 191, 192, 193, 194), S. 182 (Nummer 199), S. 198 (Nummer 198). Im Landesmuseum waren diese Bücher und Druckschriften bis vor Kurzem ohne einen Hinweis auf die Herkunft aus der Jüdischen Bibliothek neben den Kultgegenständen ausgestellt. 52 Leon Modena, Novo Dittionario hebraico e italiano, Venedig 1612 (Signatur S 115); Johannes Buxtorf, Lexicon Hebraicum et Chaldaicum, Basel 1631 (Signatur S 17). 53 Johannes Coccejus, Centum quinquaginta Psalmi et extrema verbi Davidis cum commentario, Leyden 1660 (Signatur D 11); Perfectio pulchritudinis seu commentarius in loca selecta vocesque et res difficiliores S. Scripurae a R. Selemon ben Melech cum Spicilegio seu rerum praeteritatum et intermissarum authore R Jacob Abendana, Amsterdam 1685 (Signatur D 1). 54 Moses Mendelssohn, Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum, Berlin 1783 (Signatur F 269). 55 Wobei auffälligerweise nur in lateinischen Lettern gedruckte „Moguntiaca“ aufgeführt werden. Vgl. Juden in Mainz, S. 180. Gezeigt wurden: Die Orgelfrage beantwortet von Rabbiner J. Nobel Halberstadt, Mainz 1897 (Signatur F 37 Nr. 4); Das zionistische Trugbild und seine Gefahr von Dr. med. Méchanik Mainz, Mainz 1903 (Signatur J 267); Raphael Breuer, Der Zionismus des Papaer Oberrabbiners. Kritisch beleuchtet, Mainz 1904 (Signatur J 29); Offene Zurechtweisung des Rabbi Schimon Kazaddik sonst Haman der Agagi genannt von Gabiah ben Ysila, Mainz 1864 (Signatur J 327); Einige Worte des Ausschlusses über die beabsichtigte Synode zu Augsburg. Von einem Freunde der Wahrheit, Mainz o. J. (Signatur J 445). 56 Histoire des Juifs. Ecrite par Flavius Joseph sous le titre de Antiquites Judaiques. Traduite sur l’original grec revue sur divers manuscrits, Paris 1567 (Signatur D 31). – Das Josephus-Exemplar stand dann auch im Mittelpunkt der Präsentation von Büchern im Landesmuseum Mainz. Als Kenner des antiken griechischsprachigen Judentums dürfte Mayer diese Auswahl veranlasst haben. Im Katalog Juden in Mainz, S. 163 (Nummer 83) findet sich ebenfalls eine schwarz-weiße Abbildung eines Teils des Titelblattes dieser Ausgabe. Am oberen Rand des Titelblattes des Exemplars aus der JBM steht: „Donnes au Baron DuPred. par Mons’ LeGeneral DeMontigny le 17 mars 1701.“ 57 Vgl. hierzu Friedrich Schütz (Hrsg.), Juden in Mainz. Rückblick auf eine Ausstellung im Mainzer Rathaus-Foyer November 1978, Oktober/November 1979, Mainz 1979, S. 74, und siehe auch Schlösser, Einstmals eine blühende Gemeinde, S. 9. 58 Vgl. hierzu die besorgte Anfrage des Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Mainz, Dr. Gerrard Breitbart, an Prof. Dr. Günter Mayer vom 8. Juni 1983 und die handschriftliche Antwort Mayers (ZAGJD Bestand 1/18 64). Erst im Jahr 2006 konnte über den ausgelagerten Bestand ein Leihver-

3. Die weitere Nutzung der Bücher

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Erst Jahre 1983 erschien dann in der AZ vom 22.03. wieder ein Artikel über die Bücher. Anlass dafür war die Bewilligung von Renovierungsmitteln von Seiten der Universität. In dem Bericht wird erwähnt, Professor Mayer läge kein genauer Nachweis vor, wie die Bücher den Zweiten Weltkrieg überdauert hätten.59 Von Mayer als dem Betreuer des Bestandes im „Fachbereich Evangelische Theologie“ heißt es knapp, es handele sich um das Erbe der 1945 „vernichteten Judengemeinden in Mainz“, die Textausgaben, Monographien und Zeitschriften seien nach 1945 „entdeckt“ (!) worden.60 Die Beschlagnahme der Bücher durch die Gestapo und ihre Unterbringung in der Stadtbibliothek wird in dem Bericht nicht erwähnt. In einer Aktennotiz vom 12.05.1995, die in der UB Mainz erhalten ist, wird dann noch einmal kurz festgehalten, worum es sich bei der Jüdischen Bibliothek Mainz handelt. Die Bestandsgröße wird in diesem Papier mit „2365 Bde.“ angegeben, und unter „Geschichte“ wird vermerkt: „Vor dem Krieg gesammelt und mit Errichtung der Universität in den Fachbereich gekommen“. Hinsichtlich der Katalogsituation wird vermerkt: „Alphab. u. System. Katalog; Katalog der Werke in lat. Schrift vervielfältigt“. Weiter heißt es: „Objekt wiss. Arbeit: Ja, es kommen nicht selten Anfragen, tel. oder persönl.“. Unter „Äußerer Zustand“ heißt es lakonisch: „teilweise schlecht, Buchrücken gewölbt, Papier vergilbt.“ Hervorzuheben ist, dass die Bibliothek noch einmal in der 1989 erschienenen dreisprachigen Selbstdarstellung der Universität, herausgegeben von Präsident Klaus Beyermann, erwähnt wird.61 Seitdem scheinen die Bücher in der Universität jedoch nahezu vergessen worden zu sein – und dies, obwohl einige Bände mit ihren besonders schönen Titelblättern oder Illustrationen in späteren Jahren z. B. immer wieder auch der Bebilderung von Fachliteratur dienten.62 Doch bis auf solche trag mit dem Landesmuseum abgeschlossen werden. In Folge der 2007 begonnenen Umbauarbeiten der Judaica-Ausstellung des Landesmuseums sind die entliehenen Bücher mittlerweile wieder in den Bestand an der Universität zurückgegeben worden. Weitere Bücher aus den in der Universität untergebrachten Büchern gelangten in die Jüdische Gemeinde, wo sie im Rabbinerzimmer aufbewahrt werden. Ein Verzeichnis dieser verstreuten Bestände existiert nicht. 59 Vgl. Orgelstreit teilte Juden in Mainz. Blick in die Bibliotheken der beiden ehemaligen Gemeinden / Uni-Gelder für Renovierung, in: AZ 22.3.1983 (mit einem Foto von Universitätspräsident Harder und Professor Mayer vor Beständen der Bibliothek). 60 Mayer zeigt sich auch hier mit der oben erwähnten Histoire des Juifs (Signatur D 31). Das Bild scheint zu einem Zeitpunkt aufgenommen worden zu sein, als die Bücher im Erdgeschoss des Uni-Hauptgebäudes angekommen waren. 61 Vgl. Klaus Beyermann (Hrsg.), Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Mit einer Einführung von Helmut Mathy, Mainz 1997, 2. Auflage 1989, S. 87. 62 So etwa in einem Band von Efrat Gal-Ed, Das Buch der jüdischen Jahresfeste, Frankfurt am Main und Leipzig 2001. Eine Durchsicht des Buches wurde von Günter Mayer vorgenommen (vgl. das Vorwort S. 16). Abbildungen von Büchern aus der Jüdischen Bibliothek finden sich auf S. 313 (Hamisha Humshe Tora, Hamburg 1778, mit einem handschriftlichen Besitzervermerk von Jona Bondi aus Mainz und einem Stempel der Jüdischen Gemeinde Mainz), S. 339 (Sefer Mishne Tora, Fürth 1764, Signatur Fc 26); weitere Drucke, die möglicherweise aus der Mainzer Bibliothek stammen, sind in dem Buch auf S. 359; 370 abgebildet. Siehe auch den Bildnachweis S. 301. Die dort angegebenen Seitenzahlen stimmen jedoch nicht mit den Abbildungsseiten überein. Eine S. 21 abgebildete Federzeichnung eines Heshbon ha-Luhot, „Handschrift 1777“, stammt nicht aus der Mainzer Bibliothek.

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VI. Die Bücher in der Evangelisch-theologischen Fakultät

Ausnahmen blieben die in Rheinland-Pfalz einmaligen Bestände lange ungenutzt. Sie waren, wie bereits betont, selbst unter Fachkollegen wenig bekannt; andere Altbestände galten schlicht als leichter zugänglich.63 Gerade in Bezug auf die Zugänglichkeit gab es dabei immer wieder Anfragen, ob sich die Situation in der Bibliothek nicht verbessern ließe.64 Doch tat sich diesbezüglich, wohl auch aus den angedeuteten Personalnöten, nichts – und dies, obwohl die Bedeutung des Bestandes vielen Beteiligten bewusst gewesen sein muss. Neben den bereits im Vorwort erwähnten, inzwischen regelmäßig angebotenen öffentlichen Führungen und Vorstellungen, wie z. B. auf dem Wissenschaftsmarkt oder anlässlich eines Vortrags in der Synagoge Weisenau, konnten einige Buchexemplare am 9. April 2007 im Rahmen einer Ausstellung im Rheinland-Pfälzischen Landtag unter dem Titel „Alte Schätze und neue Werte“ erstmals wieder der Öffentlichkeit präsentiert werden65 Die Besitzverhältnisse bezüglich der Bücher sind derweil nach wie vor durch den Leihvertrag aus dem Jahre 1955 geklärt. Dies wurde im Jahre 2004 anlässlich meiner Verantwortungsübernahme von der Rechtsabteilung der Universität überprüft und bestätigt.66 Die Bücher gehören der Jüdischen Gemeinde Mainz, die sie als Dauerleihgabe an die Universität gegeben hat.67 63

Die Gründe hierfür sind wohl auch darin zu suchen, dass von Seiten der „Judaistik“ die Befürchtung bestand, die Bücher könnten von der Jüdischen Gemeinde Mainz zurückgefordert und so den wenigen Wissenschaftlern, die sie sinnvoll nutzen konnten, unzugänglich werden. Hinzu kam die Sorge, die Gemeinde könne die Bücher verkaufen oder veräußern, so dass der Bestand verloren ginge. Angesichts des vernachlässigten Zustandes der Bücher und vor allem der Handschriften zum Zeitpunkt der Verantwortungsübernahme durch den Autor dieses Buches muten diese Begründungen allerdings merkwürdig an. Dennoch bestehen bis heute Bedenken, die Existenz der Bücher öffentlich zu machen. 64 Vgl. den Brief von Esther Epstein an den Präsidenten der Johannes Gutenberg-Universität vom 25.02.2000, in der die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde vertrauensvoll anregt, die JudaicaBestände der Universität mit Hilfe der Interdisziplinären Arbeitskreise und Sonderforschungsbereiche „unter einem Dach“ zusammenzufassen. Diese Anregung wurde von UB-Direktor Anderhub auf der Basis eines Konzeptpapiers in einem Gespräch am 23.06.2000 mit Vizepräsident Loos und Professor Mayer erörtert. 65 Dazu erschien eine Broschüre von Anne Weiß (Hrsg.), Alte Schätze und neue Werte – Bibliotheken in Rheinland-Pfalz präsentieren sich im Landtag, Mainz 2007, S. 30–31, in der die Bibliothek kurz vorgestellt und einige Bücher beschrieben sind. Die Ausstellung wurde in der Zwischenzeit auch in der UB Trier gezeigt. 66 Brief von Stefanie Oehl, Rechtsangelegenheiten, Johannes Gutenberg-Universität Mainz, vom 09.02.05. 67 Dies sei ausdrücklich betont, da den Verfasser immer wieder Anfragen erreichen; zuletzt in einem Brief von Prof. em. Hans-Joachim Koppitz an den Präsidenten der Universität Mainz vom 24.11.2004. In diesem Schreiben rät der Verfasser von einer Veröffentlichung eines Hinweises auf die Bibliothek durch Ittai Tamari ab, da eine gesicherte Aufstellung der Bibliothek in der Jüdischen Gemeinde „mehr als fraglich“ sei. „Es könnte sogar sein, daß die Sammlung nach Israel abwanderte. Dort könnte sie, …, in einem Abstellraum verschwinden und allmählich vergessen werden. Denn in der Mainzer Sammlung befinden sich kaum Titel, die nicht in Israel in einer der Bibliotheken vorhanden sind, oft sogar in mehr als einem Exemplar. Die Bibliothek wäre dort sicher fehl am Platz. Andererseits enthält die Mainzer Sammlung für die deutsche und europäische Wissenschaft wertvollste Titel, so z. B. seltene Ausgaben des 16. und 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Manche Bände würden auf dem Antiquariatsmarkt Tausende von Euros kosten.“

VII. Blicke in den Bestand 1. Bücher der „Jüdischen Bezirksschule“ Einen besonderen Teilbestand der Jüdischen Bibliothek Mainz bilden Bände aus der Bezirksschule der Jüdischen Gemeinde. Diese Institution war 1934 aufgrund des zunehmenden Drucks auf jüdische Schüler gegründet worden, wurde jedoch bereits 1942 wieder geschlosssen.1 Zunächst als „Volksschule mit erweitertem Lehrplan für Kinder vom 6. bis 16. Lebensjahr“ eingerichtet, setzte sich ihr Lehrpersonal vor allem aus bereits aus dem öffentlichen Schuldienst entlassenen jüdischen Lehrern zusammen. Ihr Leiter war von 1934 bis 1936 Rabbiner Dr. Sali Levi. Später übernahm die Aufgabe Dr. Eugen Mannheimer, der sich allerdings 1938, unmittelbar nach der Pogromnacht, zusammen mit seiner Frau aus Verzweiflung das Leben nahm.2 Der Werdegang dieses Teilbestandes ist vielleicht der am besten dokumentierte in der Büchersammlung. Für ihn ist, wie erwähnt, ein vollständiges Inventarverzeichnis mit Vorbesitzervermerken erhalten geblieben, das sich zufällig bei den Aufräumarbeiten in einer Kiste fand. Es ergänzt ein erhaltenes Schreiben der letzten Schulleiterin der Bezirksschule, Else Blum, vom 24.06.1942, in dem sie kurz vor Schließung der Institution auch den Buchbestand erwähnt.3 Da die Existenz dieses detaillierten Inventarverzeichnisses der Bezirksschule bislang unbekannt war, sei es hier etwas genauer vorgestellt.4 Die Bücherlisten finden sich im Anhang. Den Jahresberichten der Schule zufolge gab es in der Bezirksschule zwei unterschiedliche Bestände. Zum einen stand den Schülern eine „Schüler-Hilfsbücherei“ zur Verfügung, die durch den Studienrat i. R. und Rabbiner Dr. Moritz Lorge eingerichtet wurde. Diese Hilfs-Bücherei sollte bedürftigen Schülern dienen, die sich dort gegen eine geringe Gebühr im Unterricht verwendete Bücher ausleihen konnten. Rabbiner Lorge, der mit Wirkung vom 1. Juli 1933 aus dem Hessischen Staatsdienst entlassen worden war, legte mit der Eingliederung der Bücher des „Vereins für jüdische Geschichte und Literatur“ die Grundlage für diese Schüler1

Vgl. hierzu Michael Broedhaecker, Die jüdischen Bezirksschulen in Mainz und Worms – „Normalität“ in schwerer Zeit, in: Mainz, Wiesbaden und Rheinhessen in der Zeit des Nationalsozialismus, Mainzer Geschichtsblätter 12 (2000), S. 52–74. Siehe auch Ingo Thomas Schlösser, Der Antisemitismus im 3. Reich: Aufgezeigt an Hand der Jüdischen Bezirksschule Mainz, Stadtarchiv Mainz, Signatur K 4°/8392, 1979. 2 Siehe dazu unten. Vgl. zum Ganzen auch Schlösser, Einstmals eine blühende Gemeinde, S. 20f. 3 StA Mainz, 70/III 1409, „Israelitische Religionsgemeinde 1820–1942.“ 4 Broedhaecker, Die jüdischen Bezirksschulen, S. 70 bezieht sich anscheinend nur auf das Schreiben von 1942, nicht jedoch auf die in der Jüdischen Bibliothek erhaltene Liste in einem gebundenen Inventarbuch.

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VII. Blicke in den Bestand

bücherei.5 Ein Hinweis auf ein „Sonderverzeichnis“ gebrauchter Exemplare in dem erwähnten Inventarverzeichnis deutet darauf hin, dass er zahlreiche eigene Exemplare in den Bestand einbrachte.6 Daneben finden sich auch in der Gemeindebibliothek, die nicht Bestandteil der Lehrerbibliothek war, Bände aus seinem Besitz. Den Stempeln in seinen Büchern ist zu entnehmen, dass er in der Boppstraße 13 3/19 wohnte.7 Geleitet wurde diese Teilbücherei dann von Studienrat i. R. Siegfried Jacob, der an der Bezirksschule gleichzeitig die Fächer Deutsch, Geschichte und Geographie unterrichtete.8 Die zweite Bibliothek war die Lehrerbibliothek, die anfänglich weniger gut ausgestattet war, aber durch die im selben Gebäude untergebrachte Gemeindebibliothek ergänzt wurde. Sie diente der Fortbildung der Lehrer. Um den Bücherbestand der beiden Schülerbüchereien sowie der Lehrerbibliothek zu erweitern, war die Schule auf Spenden und Zuwendungen angewiesen. Dem oben erwähnten Schreiben von Else Blum zufolge befanden sich noch im Jahre 1942 „ca. 600 Bücher“ in der Schüler- und ca. „50 Bücher“ in der Lehrerbibliothek. Um die Bedeutung der Reste dieser zuerst zwangsweise errichteten und dann zwangsweise geschlossenen Jüdischen Bezirksschule in Mainz – etwa im Vergleich zu Frankfurt am Main9 – beurteilen zu können, seien ihre Entstehung und ihr Ende kurz skizziert und in Erinnerung gerufen. 1. 1 Die Gründung der „Jüdischen Bezirksschule“ Bereits 1859 hatte die orthodoxe „israelitische Religionsgesellschaft“ nach der Erlaubnis vom 18. Februar 1859 eine eigene Schule eingerichtet, die es ermöglichen sollte, den Kindern eine religiöse Ausbildung zu geben.10 Diese jüdische Schulgründung stand freilich im Zeichen der Spaltung der Gemeinde, die 1849 ihren Ausgang unter anderem an der Frage der Konfirmation, also der Kindererziehung, 5

Vgl. dazu auch Andreas Lehnardt, Die Bibliotheken in den jüdischen Gemeinden von Mainz, in: Hedwig Brüchert (Hrsg.), Die Mainzer Synagogen. Ein Überblick über die Mainzer Synagogenbauwerke mit ergänzenden Beiträgen über bedeutende Mainzer Rabbiner, das alte Judenviertel und die Bibliotheken der jüdischen Gemeinden, Mainz 2008, S. 164. Die Entlassungsurkunde Lorges ist abgebildet in Christine Hartwig-Thürmer, Rückkehr auf Zeit – Vier Begegnungswochen Mainzer Juden 1991–1995, Magenza, Mainz 1999, S. 262. Zur Familie Lorges vgl. auch ebd. S. 145 (Eudice Lorge, Wittwe von Ernst M. Lorge; der Sohn war 1995 zu Gast in Mainz). Lorges deutsch-nationale Haltung wird auch thematisiert von Barbara Prinsen-Eggert, „ … Erinnerung ist das Tor zur Erlösung“. Erinnerungen und Berichte zum alltäglichen Leben jüdischer Schülerinnen der ehemaligen Mainzer höheren Töchterschule in den dreißiger Jahren, in: Mainz, Wiesbaden und Rheinhessen in der Zeit des Nationalsozialismus, Mainzer Geschichtsblätter 12 (2000), S. 75f. 6 Sämtliche Neuanschaffungen der Schüler-Hilfsbücherei wurden über die Buchhandlung „Magenza“ bezogen. 7 Vgl. die alte Signatur M ‫ ח‬128, eine hebräische Übersetzung von Jesus ben Sirach, Wien 1814. Dieses Exemplar befand sich zuvor im Besitz von M. Lindemeyer, Petershagen (Weser). 8 Anlässlich einer Ausstellung über Lorge am Frauenlob-Gymnasium in Mainz wurde ein Buch aus seinem Besitz vor wenigen Jahren ausgestellt. 9 Vgl. hierzu z. B. Ulrike Schmidt, Jüdische Bibliotheken in Frankfurt am Main. Vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis 1938, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 29 (1987), S. 240–242. 10 Vgl. Brodhaecker, Die jüdischen Bezirksschulen, S. 55.

1. Bücher der „Jüdischen Bezirksschule“

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genommen hatte. Das Lehrangebot dieser orthodoxen Schule entsprach dem an anderen Schulen üblichen, nur der Hebräisch- und Religionsunterricht nahm breiteren Raum ein.11 Ein Großteil der jüdischen Kinder, die aus assimilierten bzw. emanzipierten Elternhäusern stammten, besuchte daher weiterhin die öffentlichen Schulen, auch weil diese von den Eltern als besser angesehen wurden und sie die Möglichkeit eröffneten, weiterführende Schulen zu besuchen. Auch die Schüler der so genannten Bondi-Schule, der Unterrichtsanstalt der Israelitischen Religionsgesellschaft, benannt nach Rabbiner Jonas Markus Bondi, besuchten diese Institution in der Regel nur vier Jahre, bevor sie auf Gymnasien in Mainz wechselten.12 Diese Schule musste auch aufgrund des drastischen Rückgangs der Schülerzahlen in Folge der zunehmenden Auswanderung nach dem Novemberpogrom am 19. April 1939 ihren Betrieb einstellen.13 Möglicherweise gelangten die dort bis zu diesem Zeitpunkt benutzten Bücher, soweit sie nicht doch beschlagnahmt worden waren, doch noch in die Räumlichkeiten der jüdischen Hauptgemeinde. Doch geben darüber nur noch einige Stempel Auskunft.14 Nach der Verabschiedung des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ am 7. April 1933 wurden Beamte mit jüdischem Hintergrund wie zum Beispiel Schullehrer, Hochschullehrer und Notare aus dem Dienst entlassen und in den Ruhestand versetzt. Als Folge dieses Gesetzes wurde am 25. April 1933 das „Gesetz zur Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen“ erlassen. Gemäß der zu diesem Gesetz erlassenen Durchführungsverordnung durfte die Anzahl „nichtarischer“ Studenten und Schüler an deutschen Schulen und Universitäten lediglich 1,5 % betragen.15 Angesichts solcher durch die Behörden geförderten Repressalien begann die „Reichsvertretung der deutschen Juden“ am 25. Juni 1933 unter Leitung des Historikers und Liturgiewissenschaftlers Ismar Elbogen (1874–1943) die Gründung neuer jüdischer Schulen vorzubereiten. Die in Deutschland bestehenden jüdischen Bildungsanstalten sollten erhalten und finanziell gestärkt, neue Schulen sollten gegründet werden, „besonders im Hinblick auf die notwendig gewordene Berufsum-

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Zum Lehrangebot vgl. die „Einladungsschrift zu den öffentlichen Prüfungen der UnterrichtsAnstalt der Israelitischen Religionsgesellschaft 1867“. Erhalten in CJA, 1, 75 A Ma 3, Nr. 3 (Ident.Nr. 4927). 12 Vgl. zu dieser Schule ausführlich Susanne Schlösser, „Eine Selbstverständlichkeit für orthodoxe Juden“. Die Unterrichtsanstalt der Israelitischen Religionsgesellschaft in Mainz 1859 bis 1939, in: Mainzer Vierteljahrshefte 9 (1989), S. 122–127. Siehe auch Drobner, Entwicklung, S. 231f. 13 Vgl. Schlösser, Selbstverständlichkeit, S. 127. 14 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass nur ein Buch aus der „Unterrichtsanstalt der israelitischen Religionsgesellschaft“ in der Bibliothek erhalten ist. Dies ist vielleicht das einzige Indiz dafür, dass die Bücher aus der Flachsmarkt-Synagoge erst nach 1938 in die Hindenburgstraße verbracht wurden, bevor sie dann von dort in die Stadtbibliothek gelangten. Zu dem Buch mit dem Stempel der „Unterrichtsanstalt der isrl. Religionsgesellschaft Mainz“ vgl. bereits oben Kapitel II.2.1. 15 Zu den Hintergründen vgl. Yfaat Weiss, Schicksalsgemeinschaft im Wandel. Jüdische Erziehung im nationalsozialistischen Deutschland 1933–1938, Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte 25, Hamburg 1991, S. 37–41.

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VII. Blicke in den Bestand

schichtung der deutschen Juden.“16 Mit diesem Vorhaben erhoffte man sich, die Kinder vor den täglichen Diffamierungen zu bewahren, die zunehmend von den vom Nationalsozialismus begeisterten Mitschülern und Lehrern ausgingen.17 Die Gründung einer jüdischen Schule in Mainz wurde vom Schulamt der Stadt Mainz dann im Sinne der nationalsozialistischen Politik, die sich den Ausschluss der jüdischen Kinder zum Ziel gesetzt hatte, befürwortet. In einem Brief vom 14. April 1934 heißt es: „… Im Hinblick auf unsere Forderung: Ausschluss der Träger artfremden Blutes aus der deutschen Volksschule begrüßen wir die Konzentration aller jüdischen Kinder in der israelitischen Bezirksschule. Somit wird auch die Gefahr, weiterhin ihren zersetzenden und vergiftenden Einfluss unter unseren Kindern ausüben zu können, im großen und ganzen beseitigt.“18

Noch bevor dann am 10. September 1935 ein Runderlass zur Errichtung gesonderter jüdischer Schulen erging19, wurden auf Veranlassung der „Reichsvertretung“ zum Schuljahr 1934/35 zehn jüdische Volksschulen gegründet, darunter eine in Mainz. Bereits am 15. Februar 1934 hatte sich die Israelitische Religionsgemeinde Mainz in einer Petition an die Ministerialabteilung für Bildungswesen, Kultus, Kunst und Volkstum des Hessischen Staatsministeriums in Darmstadt gewandt. Diesem Schreiben zufolge sollte „eine Volksschule mit erweiterten Lernzielen und angegliederter 9. und 10. Klasse“ gegründet werden.20 Weitere Anliegen waren die unentgeltliche medizinische Betreuung der Schüler sowie die Bereitstellung von Einrichtungsgegenständen aus dem Fundus der Stadt Mainz. Von Büchern ist in diesem Zusammenhang nicht die Rede. Die Anliegen wurden allerdings ohnehin zurückgewiesen, da „die Schulgeldregelung (…) Sache der Religionsgemeinschaft (sei), ebenso die gesundheitliche Betreuung der Schüler und die Beschaffung der Lehrmittel und der Einrichtungsgegenstände …“21 Der Buchbestand der Schule, von dem sich noch Reste finden, ist also allein durch die jüdische Gemeinschaft bereitgestellt worden. Die Gründung der „Bezirksschule der israelitischen Religionsgemeinde Mainz“, wie sie zunächst hieß – schon am 4. September 1934 erfolgte die Umbenennung in „Jüdische Bezirksschule“ –, wurde am 28. Februar 1934 vom Hessischen Staatsministerium genehmigt. Als private Volksschule sollte sie mit dem erweiterten Lernziel für jüdische Kinder geführt werden. Am 16. April 1934 wurde eine zweite 16

Zitiert nach Scholem Adler-Rudel, Jüdische Selbsthilfe unter dem Naziregime 1933 bis 1939. Im Spiegel der Berichte der Reichsvertretung der Juden in Deutschland, Tübingen 1974, S. 22. 17 Dokumentiert sind etwa die Berichte über die feindliche Haltung gegenüber ehemaligen Mainzer Schülern bei Anton Maria Keim u. a. (Hrsg.), Als die letzten Hoffnungen verbrannten, hier der Bericht von Ernst M. Cohn (S. 133–135), von Harold B. Neumann (S. 141–143) und von Franz Martin Oppenheimer (S. 152–156). 18 StA Mainz, Schreiben an das Hessische Staatsministerium, Ministerialabteilung für Bildungswesen, Kultus, Kunst und Volkstum. Signatur 70/1406, Nr. 2–16. 19 Auszugsweise zitiert bei Brodhaecker, Die jüdischen Bezirksschulen, S. 55f. Siehe auch Franz Six (Hrsg.), Dokumente der deutschen Politik. Das Reich Adolf Hitlers, Bd. 3: Deutschlands Weg zur Freiheit, Berlin 1942, S. 155–156, hier S. 155. 20 StA Mainz, Israel. Schulen 1930–42, Signatur 70/1406, Nr. 2–16. 21 Ebd.

1. Bücher der „Jüdischen Bezirksschule“

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Eingabe an das Ministerium übergegeben, um die Frage der Schulleitung und der Organisation zu klären. Sie wurde schließlich Rabbiner Sali Levi übertragen; dies geschah jedoch erst am 9. Mai 1934, wohl weil es auch zu innerjüdischen Auseinandersetzungen über den Charakter der Schule kam.22 Bereits im Verlaufe der Klärung dieser Fragen wurde am 24. April desselben Jahres die Schule offiziell gegründet, was bis dahin nur mündlich gestattet worden war.23 Die mit einem Gottesdienst gefeierte Eröffnung fand im Beisein von Schülern, Eltern, zahlreichen Gemeindemitgliedern und geladenen Gästen teil. Rabbiner Levi, der sich neben Kommerzienrat B. A. Mayer vehement für die Schulgründung eingesetzt hatte, betonte in seiner Eröffnungsrede die Erziehungs- und Unterrichtsziele der Schule. Noch am gleichen Tag nahmen fünf Klassen den Unterricht auf. Der Unterricht fand in dem Nebengebäude der Synagoge in der Hindenburgstraße, Ecke Josefsstraße statt. Als Klassenräume dienten die Räume des Gemeindebüros; der Eingang des Gemeindebüros befand sich auf der Gabelsbergstraße.24 Das am 3. Oktober 1926 von Rabbiner Salfed eingeweihte „Museum für Jüdische Altertümer“25 im ersten Obergeschoß wurde zu diesem Zwecke geräumt; so konnten zwei ursprünglich einmal für Schulungszwecke eingerichtete Säle als Schulräume genutzt werden. Das Büro siedelte samt Museum in gemietete Räume im Nachbarhaus in der Hindenburgstraße 50 über. Weitere Räume kamen im Laufe des Schuljahres 1935/36 hinzu. Schuleinrichtungsgegenstände wurden der ehemaligen Religionsschule der israelitischen Gemeinde entnommen. Hinzu kamen, den Jahresberichten zufolge, eine beachtliche „Zahl an Sach- und Geldspenden“26, worunter sich wohl auch zahlreiche Bücherspenden befanden. 22

Vgl. das Schreiben des Schulamtes Mainz an das Hessische Staatsministerium, Ministerialabteilung für Bildungswesen, Kultus, Kunst und Volkstum vom 9. Mai 1934; StA Mainz, 70/1406, Nr. 2–16. Vgl. Brodhaecker, Die jüdischen Bezirksschulen, S. 65. Wie von Paul Simon, Meine Erinnerungen, S. 68, überliefert wird, hatte der orthodoxe Rabbiner Dr. Moses Bamberger mit allen Mitteln versucht, auch mit Hilfe der Nazibehörden, die Schule „ganz orthodox“ zu gestalten. 23 Erhalten ist dazu ein von Sali Levi und B. A. Mayer unterzeichneter Brief an das Schulamt vom 20. April 1934. 24 Vgl. den Jahresbericht der Jüdischen Bezirksschule Mainz über das Schuljahr 1934/35 (1. Schuljahr), S. 1–2; StA Mainz, Bestand 70, Abt. XIII 1409 (zitiert bei Brodhaecker, a. a. O. S. 65f). Die in der Literatur notierten Angaben über die Adresse und Lage variieren. Vgl. Helmut Grünfeld, Gerechte gab es nicht viele. Ein deutsch-jüdisches Überlebensschicksal in Mainz 1928–1945 mit einem Beitrag von Susanne Schlösser über die alte Jüdische Gemeinde Mainz, hrsg. von Erhard Roy Wiehn, Konstanz 1996, S. 16. Dort wird angegeben, die Verwaltung der Gemeinde Mainz sei „von nun an“ im Haus Horst-Wessel-Straße 2 (Forsterstraße) untergebracht gewesen. 25 Vgl. zur Gründung dieses Museums, von dem sich heute Reste im Landesmuseum Mainz befinden, den kurzen Ausstellungsführer: Landesmuseum Mainz, München, Berlin 2000, S. 125; dann auch Michael Fuhr / Ursula Wallbrecher, Judaica, in: Vernissage. Die Zeitschrift zur Ausstellung: Landesmuseum Mainz 1803–2003, Nr. 32/02, 10. Jahrgang 113, S. 58. Siehe ferner Peter Metz, Ein Gang durch das Museum Jüdischer Altertümer, in: Magenza. Ein Sammelheft über das Jüdische Mainz im fünfhundertsten Todesjahre des Mainzer Gelehrten Maharil, hrsg. vom Verein zur Pflege jüdischer Altertümer in Mainz unter Leitung seines ersten Vorsitzenden S. Levi, Menorah Sonderheft, Berlin 1927, S. 71–88; Wilhelm Weber, Ausstellung der Judaica-Sammlung im Mittelrheinischen Landesmuseum Mainz, Mainz 1983, S. 3; Rauschenberger, Jüdische Tradition, S. 224–229; Hoppe, Jüdische Geschichte, S. 112f. 26 Vgl. Jahresbericht der Jüdischen Bezirksschule Mainz über das Schuljahr 1934/35 (1. Schul-

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VII. Blicke in den Bestand

Der Unterricht wurde gemäß den für Hessen geltenden Lehrplänen durchgeführt und sah die Fächer Religion (mit synagogalen Gesängen), Deutsch (mit Liedgesängen), Rechnen (Mathematik), Länderkunde (mit Zeichnen), Geschichte und Naturwissenschaft vor.27 Ab der neunten und zehnten Klasse sollten die Kinder außerdem berufsbezogen unterrichtet werden, so dass wahlweise folgende Fächer hinzu kamen: Stenographie, Schreibmaschine, Buchhaltung, Neu-Hebräisch („Iwrith“), Englisch, Französisch, Spanisch, Kochen, Nähen, sonstige Nadelarbeiten und Garten- bzw. Bodenarbeit.28 Das Fremdsprachenangebot sollte eine mögliche Emigration erleichtern. Dieses Ziel war auch ganz offen in dem Schreiben mit dem Gesuch, eine jüdische Schule errichten zu wollen, angegeben worden. Auf dem Stundenplan stand ferner „körperliche Ertüchtigung“, wohl auch um den Gesundheitszustand der Kinder zu fördern. Da die unentgeltliche medizinische Betreuung der Kinder vom Staatsministerium abgelehnt worden war, erklärten sich Dr. med. Hedy Mayer, Dr. med. Karl Simon und Zahnarzt Dr. med. Fritz Kahn bereit, die Betreuung zu übernehmen. Bei den Lehrern der Bezirksschule handelte es sich meist um aus dem Schuldienst entlassene jüdische Lehrer oder „freiwillige Helfer“.29 Aufgrund der restriktiven Maßnahmen, die die Auswanderung von Lehrern zur Folge hatte, aber auch infolge von Todesfällen und der zunehmenden Schülerzahl – bis Mai 1936 immerhin 202 Kinder30 – gab es zahlreiche Wechsel und Zuwächse innerhalb des Lehrerkollegiums. Auch die Veränderungen in der Schulleitung31 spiegeln die Lage der Schule wider, die auch deshalb kaum an einen geordneten Betrieb, noch weniger an einen gezielten Aufbau der Büchereien denken konnte.32 Mit dem dritten Schuljahr, 1936/37, wurde das bisherige Wahlfach Neu-Hebräisch („Iwrith“) zum Pflichtfach erklärt.33 Dem Jahresbericht zufolge wurden zudem vermehrt Veranstaltungen zu Palästina abgehalten und eine von Lehrer Richard Fuchs verantwortete Palästina-Ausstellung gezeigt.34 Spätestens ab diesem Zeitjahr), S. 5 in: StA Mainz 70/1406, Nr. 2–16. 27 Vgl. StA Mainz, Israel. Schulen 1930–42, Signatur: 70/1406, Nr. 2–16. 28 Vgl. ebd. Diese Fächerzusammensetzung spiegelt sich auch in der Zusammensetzung der Schüler-Hilfsbibliothek, in der sich zahlreiche Englisch-Lehrbücher befanden. Siehe unten Anhang 3. 29 Vgl. Brodhaecker, Die jüdischen Bezirksschulen, S. 68f. 30 Schreiben des Schulvorstandes der Jüdischen Bezirksschule Mainz an den Reichsstatthalter in Hessen, Landesregierung, Abt. III vom 8. Mai 1936; StA Mainz 70/Abt. XIII 1409. 31 Vgl. hierzu Brodhaecker, a. a. O., S. 69. Bis zur Schließung wechselte die Schulleitung viermal, dadurch einmal aufgrund des Selbstmordes von Dr. Eugen Mannheimer und seiner Frau nach dem 9. November 1938. 32 Dass einige Schüler den Lehrbetrieb dennoch als angenehm und unbeschwert in Erinnerung behalten haben, belegen zahlreiche mündliche und schriftliche Berichte. Vgl. etwa Grünfeld, Gerechte gab es nicht viele, S. 16. Brodhaecker spricht in diesem Zusammenhang von „Normalität“ in schwerer Zeit. 33 Dies hing auch mit einer Empfehlung der Reichsvertretung der Juden in Deutschland zusammen, die sich unter anderem auf die Frage der zu bevorzugenden sefardischen Aussprache bezog. Zu den innerjüdischen Auseinandersetzungen um den Ivrit-Unterricht an den jüdischen Schulen in Deutschland dieser Zeit vgl. Weiss, Schicksalsgemeinschaft, S. 96–99, bes. S. 98. 34 Vgl. Brodhaecker, Die jüdischen Bezirksschulen, S. 70.

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punkt – d. h. nach der Verabschiedung der so genannten Nürnberger Gesetze – wurde die Ausreise nach Palästina verstärkt gefördert bzw. gezielt vorbereitet.35 Einige der erhaltenen Bücher zeugen noch davon. Im vierten Jahr ihres Bestehens hatte die Schule einen deutlichen Rückgang der Schülerzahlen zu verzeichnen. Das mit dem Rückgang verbundene geringere Spendenaufkommen spiegelt sich auch im Umfang der im Anhang veröffentlichten Buchbestandslisten wider. Mit dem Novemberpogrom des Jahres 1938 kam der Schulbetrieb dann einstweilen ganz zum Erliegen. Auch die letzten Eintragungen in das Bestandsverzeichnis der Lehrerbibliothek der Jüdischen Schule stammen aus dem Jahr 1938: neben zwei handwerklichen Büchern ist dies die erst 1938 im jüdischen Buchverlag Vortrupp in Berlin erschienene „Didaktik der jüdischen Schule“, bearbeitet von Heinemann Stern (1878–1937) in Gemeinschaft mit Fachlehrern. Stern war Gemeindevorsteher der jüdischen Gemeinde im hessischen Obbornhofen im Altkreis Gießen. Das Exemplar in der Bibliothek wird der Gemeinde direkt vom Berliner Verlag zugesandt worden sein.36 In der Nacht vom 9. auf den 10. November wurde, wie vielfach bezeugt, auch das Nebengebäude der Synagoge, in dem die Schule untergebracht war, in Brand gesetzt. Infolgedessen sind wohl auch zahlreiche Bücher aus der Lehrerbücherei in Mitleidenschaft gezogen worden. Berichtet wird, dass zahlreiche Gegenstände in dieser Nacht durch Fenster auf die Straße flogen: „Stühle, Lampen, eine Nähmaschine …“37 In seinen Erinnerungen hat Helmut Grünfeld aus Mainz über den Morgen des 10. November 1938 festgehalten38: „Am Morgen des 10. November 1938 nahm ich meinen Schulranzen und ging den gewohnten Weg zu meiner Schule. Als ich die Hindenburgstraße erreichte, war die Straße voll von Menschen, darunter viele Schüler; die Mainzer Schüler hatten frei. Ich kämpfte mich durch diese Menschenmassen und stand vor der Tragödie. Die gesamte Schuleinrichtung lag zertrümmert auf der Straße. Die großen Fenster der Hauptsynagoge waren zerborsten, im Innern wütete ein mächtiges Feuer, die Thorarollen lagen ausgerollt, zerrissen und zertreten auf der Hindenburgstraße.“

Der Schulbetrieb kam mit diesen Ereignissen vorläufig zu einem Ende. Der Schulrektor Dr. Eugen Mannheimer und seine nichtjüdische Frau Hedwig Mannheimer nahmen sich in der folgenden Nacht das Leben. Die Schulräume waren seit der polizeilichen Sperrung am 10. November 1938 nicht mehr zugänglich.39 Erst im 35

Vgl. hierzu noch einmal Weiss, Schicksalsgemeinschaft, S. 100–102. Siehe auch die Richtlinien für Lehrpläne der jüdischen Volksschulen vom April 1934 im Vergleich zu der überarbeiteten Fassung von 1937, in der der Hebräisch- und Palästina-Unterricht besonders hervorgehoben wird. 36 Das Buch befindet sich heute nicht mehr im Bestand der Jüdischen Bibliothek Mainz. 37 Vgl. den Bericht von Margarete R. Nappa, geborene Ursula Margarete Weil, in: Anton Maria Keim u. a. (Hrsg.), Als die letzten Hoffnungen verbrannten, S. 124. Siehe zu ihr auch Hartwig-Thürmer, Rückkehr, S. 155. 38 Grünfeld, Gerechte gab es nicht viele, S. 16f. 39 Vgl. die Abschrift des Schreibens vom 9. Dezember 1938 der Israelitischen Religionsgemeinde Mainz an das Stadtschulamt Mainz. Vgl. StA Mainz 70/1409 (nicht nummeriertes Faszikel), veröffentlicht in Brodhaecker, Die jüdischen Bezirksschulen, S. 71. In diesem Schreiben wird angefragt, wie der nach wie vor auch für jüdische Kinder bestehenden Schulpflicht nachgekommen werden könne, wenn keine geeigneten Räume zur Verfügung stehen.

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VII. Blicke in den Bestand

Januar 1939 konnte unter Leitung von Dr. Friedrich Sandels in Räumen des Israelitischen Vereins in der Margarethenstraße der Unterricht provisorisch wieder aufgenommen werden. Die Schülerbücherei kann den Schülern ab diesem Zeitpunkt nicht mehr zur Verfügung gestanden haben. Wie die Bücher der Lehrerbücherei, für die ein bis 1938 geführtes Inventarverzeichnis erhalten ist, aus dem zerstörten Gebäude des Synagogenkomplexes – wohl in einen Keller der Stadtbibliothek – verbracht wurden, ist nicht überliefert. 1.2 Der Bestand der Lehrerbibliothek Das erhaltene Inventarverzeichnis wurde im August 1935 angelegt und bis zum November 1938 fortgeführt. Es listet sämtliche in der Schule für den Unterricht verwendete Gegenstände auf. Festgehalten sind in zweiundzwanzig Rubriken Schulgeräte in den Klassenräumen, die Ausrüstung anderer Räume, Anschauungsbilder, Zeichenvorlagen, Photos, Lichtbilder, Apparate, Uhren, Signalvorrichtungen, Lampen, Landkarten, Globen, Vorhänge, Projektionsschirme, Atlanten, Bürohilfsmittel, Schulgesetze, mathematische Hilfsmittel, mineralogische und geologische Sammlungen, Heimatkundliches, Naturgeschichtliches, Hilfsmittel für den chemischen Unterricht, Hilfsmittel für die Reinigung des Schulhauses, Gesundheits- und Jugendpflegemittel, Schul-Küchengegenstände, Nadelarbeitsuntensilien, Mittel für den Singunterricht und für Leibesübungen. Auch sind sämtliche Buchtitel der Lehrerbücherei und der Schülerhilfsbibliothek aufgeführt, d. h. die Namen der Autoren und die exakte Anzahl der Exemplare. Die Bücher der Lehrerbücherei waren vorwiegend in einfacher Ausführung vorhanden. Die Schülerbücherei wies Lehrbücher in größeren Stückzahlen auf. In einer Rubrik „Bemerkung“ finden sich in den Listen verschiedene Namen von Spendern und Institutionen, die Bücher zur Verfügung gestellt oder besorgt haben. Bemerkenswert ist, dass die Bibliothek 90 klassische Werke von Goethe, Schiller, Lessing, Kleist etc. aus dem Nachlass von einer Johanna Mayer enthielt. Möglicherweise handelt es sich bei ihr um die Ur-urgroßmutter von Monsignore Klaus Mayer. Klaus Mayer war der Sohn von Karl Mayer und Emmi Mayer, geb. Meisinger. Karl war Sohn von Bernard Albert Mayer, dem letzten Gemeindevorsteher der Synagoge in der Hindenburgstraße, der noch nach Argentinien auswandern konnte, und Adele Mayer (geb. Trier). Albert war Sohn von Martin Mayer und Rosalie Mayer (geb. Altschuler). Rosalie war Tochter von Jakob Altschuler und Johanna Mayer.40 In einer im Nachlass Mayer-Coma erhaltenen maschinenschriftlichen Liste von Stiftungen und Schenkungen an die Israelitische Religionsgemeinde in Mainz – wohl von B. A. Mayer erstellt – finden sich auch „diverse Geld- und Sachspenden“ aufgelistet.41

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Vgl. den handschriftlichen Stammbaum im Nachlass Mayer-Coma, StA Mainz NL 150, Nr. 38. Zur Familiengeschichte vgl. nun auch Mayer, Klaus, Wie ich überlebte. Die Jahre 1933 bis 1945, Würzburg 2007, S. 7–10. 41 Diese werden nach 1934 aufgeführt. Die Buchspende aus dem „Nachlass Frau Johanna Mayer“ dürfte aus dieser Schenkung stammen, möglicherweise vermittelt durch Bernhard Mayer.

1. Bücher der „Jüdischen Bezirksschule“

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Weitere Familiennamen, die in dem Inventarverzeichnis erwähnt werden, sind: Behr, Benjamin, Friedmann, Hausmann, Heymann, Krechel, Ad. Levi, K. R. Meyer, Sonnenfels und Schick. Einige Bände wurden von dem stellvertretenden Gemeindevorsitzenden und Mitglied des Schulvorstandes Jakob Deutsch42 gespendet oder eingebracht, darunter ein Band von Theodor Herzls Tagebüchern. Ein größerer Nachlass kam 1936 von S. Eschelbacher in den Bestand, seit 1909 Mitglied des Vereins für Geschichte und Literatur in Mainz.43 Mit „Dr. Levi“ dürfte in dem Verzeichnis Rabbiner Sali Levi gemeint sein, mit „Lehrer Stern“ ein zeitweise zum Lehrkörper der Schule gehörender Pädagoge. „Frl. Stern“ steht für die Handelslehrerin i. R. Erna Stern44, und „Vogel“ bezieht sich wohl auf Elfriede Vogel, die im Schuljahr 1936/36 in den Klassen IV bis Ib Singen unterrichtete.45 „Weinschenk“ steht in der Liste für die bekannte Mainzer Weinhändlerfamilie von Lazarus Weinschenk, der ebenfalls Mitglied des oben erwähnten Büchervereins war. Vielleicht ist in dem erwähnten Exemplar auch sein Sohn, der Weinhändler Jakob Hugo Weinschenk, festgehalten. Sein Sohn Franz hat die Bezirksschule besucht, worüber später sein Enkel zu berichten wusste.46 Ein weiterer Bestand der Lehrerbibliothek ist mit „Magenza“ vermerkt, ein Herkunftseintrag, der sich mit der jüdischen Buchhandlung „Magenza“ in Verbindung bringen lässt. Diese jüdische Buchhandlung wurde von Hillel Sutin (1872– 1874) geführt und befand sich bis 1931/32 in der Heidelbergerfaßgasse 11, danach in der Fuststraße 17.47 Sie war die einzige jüdische Buchhandlung, die je in Mainz existiert hat und stand von daher in enger Verbindung mit der Gemeinde und ihren Ausbildungsinstitutionen. Dass die mit „Magenza“ gekennzeichneten Bucheingänge in die Lehrerbibliothek der Bezirksschule aus dieser Buchhandlung stammen, lässt sich insbesondere anhand der Einträge zur Schülerhilfsbibliothek belegen.48 Die Bücher dieses Bestandes wurden ausschließlich von dieser Buchhandlung geliefert; im Inventarverzeichnis sind sogar die Preise der gelieferten Neuanschaffungen notiert. Da die 42

Siehe zu ihm den Jahresbericht der Jüdischen Bezirksschule Mainz über das Schuljahr 1934/35 (1. Schuljahr), S. 3. – Für das Buch aus seinem Besitz vgl. oben Abb. 14. 43 Vgl. das Mitgliederverzeichnis (Nr. 23) aus dem Jahre 1909, CAHJP D Ma 7/30 (im Anhang). 44 Vgl. den Jahresbericht der Jüdischen Bezirksschule Mainz über das Schuljahr 1934/35 (1. Schuljahr), S. 4: Nr. 14 in der Liste der Lehrer im Gründungsjahr; Nr. 17 im 2. Schuljahr. 45 Vgl. den Jahresbericht der Jüdischen Bezirksschule Mainz über das Schuljahr 1935/36, S. 2, Nr. 20. 46 Vgl. das Mitgliederverzeichnis (Nr. 162), CAHJP D Ma 7/30 (siehe Anhang 4). Der Sohn von Jacob Hugo, Franz Weinschenk, besuchte die Jüdische Bezirksschule. Die Spende stammt daher wahrscheinlich aus seiner Familie. Zu der weit verzweigten Familie Weinschenk vgl. HartwigThürmer, Rückkehr, S. 183; Link / Scherf (Hrsg.), Begegnungen, S. 21f. Die Familie sah sich spätestens seit 1935 besonderer Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt, da in diesem Jahr die sog. „Weinbetrüger-Prozesse“ vor dem Landgericht begannen. Den Händlern wurden Weinfälschung, unlauterer Wettbewerb, Wucher und Devisenvergehen vorgeworfen. 47 Vgl. Christoph Nettersheim, Die jüdische Buchhandlung Magenza, Mainz, in: Spurensuche. Buchhandel im Brennpunkt der Zeitgeschichte. Ausstellung einer Geschichtswerkstatt am Institut für Buchwesen Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, Mainz 1994, S. 8–9. 48 Siehe hierzu Anhang 3: „Verzeichnis der Schüler-Hilfsbibliothek“.

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VII. Blicke in den Bestand

„Reichsschrifttumkammer“ Ende 1936 das „jüdische Buchwesen“ neu zu organisieren begann und jüdische Verleger und Buchhändler ihre Betriebe entweder „in arische Hände“ übergeben, schließen oder bis zum 31. März einen Antrag auf Zulassung zum „Judaica-Buchhandel“ stellen mussten, konnte die Bezirksschule ihre Bücher nur noch aus dieser Quelle beziehen.49 Jüdische Buchhandlungen wie Surtins „Magenza“ konnten von diesem Zeitpunkt an nur noch Werke in hebräischer Sprache, von jüdischen Verfassern oder „Erzeugnisse jüdischer Verlage“ verkaufen und waren daher auf die Belieferung jüdischer Institutionen angewiesen.50 Unter den von der Buchhandlung „Magenza“ gelieferten Büchern findet sich vorwiegend Fachliteratur für die Gestaltung des Schulunterrichts, wie z. B. eine „Methodik des neusprachlichen Unterrichts“, ein „Quellenbuch zur jüdischen Geschichte und Literatur“ oder der Titel „Growth and Structure of the English Language“ usw. Weitere Bücher sind der Leibeserziehung bzw. dem Sport gewidmet, so z. B. eine „Methodik des Turnens“, „Bodenübungen“, „Körperschule“ oder „Turnund Neckspiele“. Dieser spezielle, heute zum Teil nur noch durch das Inventarverzeichnis belegte sportgeschichtlich interessante Bestand, lässt sich wohl am besten vor dem Hintergrund einer brieflich überlieferten Bemerkung von Hans L. Levi51, Sohn Rabbiner Sali Levis, erklären. Demnach wurde in der Bezirksschule bewusst auf die körperliche Aktivität der Kinder Wert gelegt, um sie physisch auf eine mögliche Auswanderung vorzubereiten. Zu diesem Zweck wurde sogar ein Kellerraum unter der Synagoge in eine Turnhalle umgestaltet. Dieser Turnraum, der gelegentlich auch für Feiern und andere Veranstaltungen genutzt wurde, befand sich kurioserweise direkt unter dem Tora-Schrein des Betsaals, was unter den Gemeindemitgliedern gelegentlich Anlass für Spott bot.52 Wie umfangreich das Sportprogramm ausgebaut wurde, belegen Berichte, nach denen die Kinder noch in der dritten Vormittagspause unter Aufsicht von Fachkräften Leibesübungen durchführen mussten. Wie in anderen Gemeinden sollte dies auch der höheren physischen Abwehrbereitschaft gegen antisemitische Angriffe nützen.53 Insgesamt spiegelt insbesondere die Lehrerbibliothek das emanzipierte, aufgeklärte deutsche Judentum vor der Shoa wider. Typisch hierfür ist etwa auch ein Buch, das vom „Reichsbund jüdischer Frontsoldaten“ („R. J. F.“) gespendet wurde, jenem Verband, dem z. B. auch der liberale Rabbiner Lorge, selbst Lehrer an der

49

Vgl. Nettersheim, Die jüdische Buchhandlung, S. 8. Bis auf ein Wörterbuch der Deutschen Sprache (Nummer 129) sind in der Liste mit „Magenza“ nach 1936 nur Titel jüdischer Autoren oder Verlage gekennzeichnet. 51 Vgl. den Brief von Hans L. Levi, Die Mainzer Synagoge, in: Helmut Link / Ferdinand Scherf (Hrsg.), Begegnungen mit dem Judentum, Mainz 1993, S. 60–65, hier S. 61. 52 Zur gelegentlichen Nutzung des Raumes für Abschiedsfeiern von Ausreisenden vgl. etwa das Rundschreiben Nr. 7 des Gruppenleiters Mainz des „Bundes deutsch-jüdischer Jugend“ vom 12.11.1936, in CAHJP D Ma 7/32 „Gerd Fränkel“. 53 Vgl. zu den unterschiedlichen Aspekten dieser Entwicklung auch Gideon Reuveni, Sport und Militarisierung der jüdischen Gesellschaft, in: Michael Brenner / Ders. (Hrsg.), Emanzipation durch Muskelkraft. Juden und Sport in Europa, Jüdische Religion, Geschichte und Kultur 3, Göttingen 2006, S. 56f. 50

1. Bücher der „Jüdischen Bezirksschule“

Abb. 35: Jüdischer Jugendkalender 1929–1930, hrsg. von E. B. Cohn, Berlin 1930 (Signatur U 53)

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VII. Blicke in den Bestand

Schule, angehörte.54 Für zahlreiche ehemalige jüdische Soldaten des Ersten Weltkriegs, die sich zunehmenden Anfeindungen ausgesetzt sahen, versuchte dieser Verein, durch die Erinnerung an die jüdischen Gefallenen die Loyalität gegenüber dem Vaterland zu bekräftigen und den Antisemitismus zu bekämpfen. Zu diesem Zweck rief der Reichsbund sogar Schutztruppen ins Leben, in deren Selbstwehrkonzept wiederum „die körperliche Ertüchtigung“ eine große Rolle spielte. Mit deutschlandweit zeitweise fast 40.000 Mitgliedern prägte dieser Verein auch das Selbstverständnis vieler jüdischer Mainzer.55 Ein Blick auf die deutsche Kinderliteratur in der Lehrerbibliothek zeigt, dass die Heranwachsenden nicht nur für die jüdische, sondern auch für die deutsche Kultur sensibilisiert werden sollten. Besonders deutlich wird dieses Anliegen etwa am Vorhandensein des „Jüdischen Kinderkalender(s)“ in diesem Teilbestand. Diese Reihe erschien von 1928/29 bis 1936 im Jüdischen Verlag Berlin. Jeder einzelne Kalender bestand aus zwölf farbigen Monatsbildern und verschiedenen Spielen. Er sollte den Jugendlichen zum einen die Zugehörigkeit zum Judentum vermitteln, andererseits aber auch die deutsche Kultur näher bringen. Von diesem Kinderkalender war in der Jüdischen Bibliothek ein Teilexemplar erhalten, dieses ist jedoch nach dem Krieg verloren gegangen.56 Bemerkenswert ist die hohe Anzahl von Büchern, die der Schule von Verlagshäusern zur Verfügung gestellt wurden. Neben den nichtjüdischen Verlagen Diesterweg und M. Lehrberger & Co in Frankfurt am Main ist der bekannteste der Berliner Schocken Verlag, der von dem Zwickauer Warenhausbesitzer Salman Schocken 1931 gegründet worden war. Unter anderem war sein Verlag durch die Bändchen der Schocken-Bücherei populär geworden, von denen sich einige wenige Exemplare auch in der Jüdischen Bibliothek Mainz erhalten haben. Sie gelten als typischer Ausdruck einer bildungsbürgerlich orientierten jüdischen Identität und waren vor der Shoa auch unter vielen jüdischen Intelektuellen beliebt.57 Ab 1934 brachte der Schocken Verlag erst „unter Mitwirkung“, später „im Auftrag“ der „Reichsvertretung der Deutschen Juden“ die „Jüdischen Lesehefte“ 54

Siehe dazu die Nr. 49 in der im Anhang veröffentlichten Liste: Kriegsbriefe gefallener deutscher Juden, Vortrupp Verlag, Berlin 1935. Zu Lorge, der an der Schule z. B. auch den Vertrieb der Informationsschrift „Weltkrieg“ übernahm und sich für die Sammlung „Vaterlandsdank“ einsetzte, siehe Prinsen-Eggert, Erinnerung, S. 76; dies. / Frenzel Reinhard, Wider das Vergessen, Jüdische Lehrer und Schülerinnen, in: Festschrift Frauenlob Gymnasium 1889–1989, Mainz 1989, S. 130– 134, hier S. 132. 55 Vgl. etwa die Untersuchung von Ulrich Dunker, Der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten 1919–1938. Geschichte eines jüdischen Abwehrvereins, Düsseldorf 1977. – Zu den zahlreichen Aktivitäten des R. J. F. in Mainz vgl. auch Schlösser, Einstmals eine blühende Gemeinde, S. 15. 56 Vorhanden war Emil B. Cohn, Jüdischer Kinderkalender, 1. Jahrgang 1928/29, und 2. Jahrgang 1929/30 sowie anscheinend auch der 4. Jahrgang. Signatur in der Jüdischen Bibliothek U. 53. 57 Von den ursprünglich 92 Bänden der Bücherei des Schocken Verlages, die zwischen 1933 und 1939 erschienen sind, sind nur folgende erhalten: Abraham Tendlau, Sprichwörter und Redensarten deutsch-jüdischer Vorzeit, Bücherei des Schocken-Verlages 10, Berlin 1934 (Signatur G 549); Franz Kafka, Vor dem Gesetz, Bücherei des Schocken-Verlages 19, Berlin 1934 (Signatur L 197). – Siehe zu dieser Reihe und ihrem hohen Symbolwert für das deutsche Judentum etwa auch Frederek Musall, Schocken-Reihe, in: Monika Preuss / Margaretha Boockmann (Hrsg.), 25 und ein Buch. Aus der Bibliothek der Hochschule für Jüdische Studien, Heidelberg 2004, S. 61.

1. Bücher der „Jüdischen Bezirksschule“

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heraus, die für den Unterricht an jüdischen Schulen konzipiert waren.58 Betreut wurden diese viel benutzten und auch in Mainz für den Unterricht verwendeten Lesehefte von Adolf Leschnitzer, dem Leiter der Schulabteilung der Reichsvertretung.59 Zudem sind vom Schocken Verlag auch Titel von Elieser L. Ehrmann an die Mainzer Schule geliefert worden, darunter die Lesehefte „Chanukka“60 und „In den Tagen Mattitjahus“61, Quellenzusammenstellungen zu jüdischen Feier- und Festtagen.62 Insgesamt sind in der von Ehrmann betreuten Reihe von 1934 bis 1938 dreißig bzw. einunddreißig Hefte erschienen. Von den in Spalte 99 des Inventarverzeichnisses aufgezählten Heften Nr. 8, 9, 10 und 11 ist in dem heute noch vorhandenen Bestand der Jüdischen Bibliothek allerdings kein einziges Exemplar erhalten geblieben. Auch der in dem Inventarium festgehaltene Nachweis eines Verlagsgeschenks des Philo-Verlages (Nr. 61) ist von historischem Interesse. Das „Philo-Lexikon. Handbuch des jüdischen Wissens“ war das bekannteste Produkt dieses Verlags.63 Der Verlag war 1919 in Berlin vom „Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ gegründet worden und typischer Ausdruck des Assimilierungswillens einer deutsch-jüdischen Mehrheit.64 Dem „C.-V“. gehörten, wie angedeutet, auch in Mainz zahlreiche Mitglieder an; zu seinen Mitbegründern hatte noch Rabbiner Salfeld gehört;65 nach ihm wurde die Mainzer Ortsgruppe von Gemeindevorsteher B. A. Mayer, dann von Sali Levi geleitet.66 Levi hat dann auch am „Philo-Lexikon“ mitgearbeitet.67 Die Lehrerbibliothek enthielt so neben damals aktuellen Werken jüdischer Autoren, wie z. B. von Leo Baeck, Ismar Elbogen, Karl Wolfskehl und Emil Bernhard Cohn, die den Lehrern zur Fortbildung dienen konnten, vor allem Bücher zum Unterricht in den täglich angebotenen Fächern. Es finden sich Wörterbücher, Rechen58

Vgl. zur Vorgeschichte dieser Reihe Claude Weber, „Halt und Richte“. Zur Pogrammatik des Schocken Verlags, in: Saskia Schreuder / Claude Weber (Hrsg.), Der Schocken Verlag/Berlin. Jüdische Selbstbehauptung in Deutschland 1931–1938, Essayband zur Ausstellung „Dem suchenden Leser unserer Tage“ der Nationalbibliothek Luxembourg, Berlin 1994, S. 39–51, hier S. 42 (und siehe auch die Zeittafel zur Geschichte des Schocken Verlags ebd. S. 75). Siehe auch Volker Dahm, Das jüdische Buch im Dritten Reich, 2., überarbeitete Auflage, München 1993, S. 308. 59 Vgl. Dahm, Das jüdische Buch, S. 330. 60 Lesehefte Nr. 25, Berlin 1937. 61 Lesehefte Nr. 24, Berlin 1937. 62 Vgl. Weber, Halt und Richte, S. 50; Dahm, Das jüdische Buch, S. 331. Zum Ganzen vgl. auch Gabriele von Glasenapp / Michael Nagel, Das jüdische Jugendbuch. Von der Aufklärung bis zum Dritten Reich, Stuttgart, Weimar 1996, S. 151. 63 Philo-Lexikon. Handbuch des Jüdischen Wissens, hrsg. von Emanuel bin Gorion u. a., 3. vermehrte Auflage, Berlin 1936. Erschienen auch in zahlreichen Nachdrucken, zuletzt Frankfurt am Main 1992. 64 Vgl. hierzu allgemein Avraham Barkai, Die Organisation der jüdischen Gemeinschaft, in: Ders., Paul Mendes-Flohr (Hrsg.), Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. 4: Aufbruch und Zerstörung 1918–1945, München 1997, S. 87–90. 65 Hierzu oben. 66 Vgl. StA Mainz, NL Oppenheim 50/12 (Merkbuch 1929/30 und Bericht des Vorstandes über das Rechnungsjahr 1919). Vgl. auch Schlösser, Einstmals eine blühende Gemeinde, S. 14. 67 Vgl. die Liste der Mitarbeiter, S. III.

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VII. Blicke in den Bestand

bücher, Fachliteratur für den Werkunterricht und pädagogische Werke. Insbesondere diese Titel belegen die praktisch ausgerichtete Anlage dieses überschaubaren, erst relativ spät angelegten Teilbestandes. Zwar sind aus ihm nur noch wenige Exemplare erhalten – gerade diese sind aber beredte Zeugen für den unbeirrbaren Willen einer „Schicksalsgemeinschaft“, die trotz aller willkürlichen Einschränkungen und aller Not grundlegende soziale Aufgaben wahrzunehmen versuchte. 2. Zionistische Literatur Unter den unterschiedlichen Teilbeständen fällt neben den Lehr- und Schulbüchern auch eine kleinere Anzahl von zionistischen Titeln auf. Als Zionismus bezeichnet man die durch den westeuropäischen Nationalismus und Kolonianismus beeinflusste politische Bewegung, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts die zunehmende Einwanderung von Juden nach Palästina und schließlich die Gründung eines jüdischen Staates forderte. Schon Anton Maria Keim hat zur Bedeutung des Zionismus in Mainz einmal festgehalten, dass „die zionistische Bewegung … in Mainz, obwohl in der Nachbarschaft in Bingen 1897 eine wichtige Konferenz stattfand, recht marginal für das Judentum“ blieb.68 Dies zeige, so Keim, dass das rheinische Judentum „ein hohes Maß von Integration“ erlangt hatte.69 Der relativ kleine und überschaubare Bestand von Titeln in der Jüdischen Bibliothek, die aus zionistischer Sicht oder im Hinblick auf die Errichtung einer neuen jüdischen Heimstätte in Palästina verfasst worden sind, scheint diese Bemerkungen Keims zunächst zu stützen. Bei genauer Betrachtung werfen die erhaltenen Bücher und Schriften allerdings einige Fragen auf, zumal wenn man sich in Erinnerung ruft, dass es in Mainz bereits früh zionistische Gruppe gab, die von namhaften Gemeindemitgliedern wie dem Rechtsanwalt beim Landgericht Mainz, Dr. Rudolph Schauer, und Siegmund Lazarus geleitet wurden und die zahlreiche gut besuchte Veranstaltungen organisierte.70 Auch eine kleine Gruppe des Misrachi, d. h. der orthodoxen Palästina-Förderer, war in Mainz aktiv.71

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Keim, Das jüdische Mainz, S. 147. Die Entwicklung des Zionismus in Mainz wird daher in keiner Darstellung der Geschichte der Juden in der Stadt angemessen gewürdigt, und dies, obwohl es zahlreiche Dokumente und Berichte gibt. Das Schweigen fällt z. B. auch in dem Ausstellungskatalog von 1978 auf. In ihm wird zwar von Ernst Gerth, Achat Mitat Sochnut – ein Anfang in der neuen Heimat Israel. Mainzer Juden in Israel, in: Juden in Mainz, S. 105–114 über den Neubeginn in Palästina berichtet. Dass diesem Neuanfang jedoch eine heftige innerjüdische Auseinandersetzung voranging, wird nicht thematisiert. In anderen Darstellungen wird das Thema schlicht übergangen. 70 Siehe dazu Salfeld, Bilder, S. 93. – Briefe von Rudolph Schauer aus Mainz an die Zionistische Vereinigung für Deutschland und ihren Vorsitzenden Max Isidor Bodenheimer sind in den Central Zionist Archives in Jerusalem erhalten (Signatur CZA A 142/55/4; A 15/402, A 15/431, A 15/402); Schauer war außerdem Mitglied des von Salfeld gegründeten literarischen Vereins. Siehe Anhang 4, Nr. 130. 71 Vgl. hierzu die Hinweise vor allem die Hinweise von Stub, Zikhronot, 62–90. Stub selbst war Mitglied des Misrachi in Mainz, sein Name findet sich auch in der Liste der Mitglieder der Hevra 69

2. Zionistische Literatur

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Wie wurde der Zionismus in Mainz aufgenommen? Welche Resonanz fand er angesichts des zunehmenden Antisemitismus in den verschiedenen Richtungen der jüdischen Gemeinde? Was verraten uns die Bücher über die innergemeindlichen Entwicklungen in dieser wichtigen Frage? Die Haltung der jüdischen Gemeinde und ihrer Hauptvertreter zum Zionismus war, dies zeigt bereits ein erster Blick auf die erhaltenen relevanten Titel, wohl alles andere als einheitlich und konsequent. Rabbiner Salfeld etwa stand zionistischem Gedankengut zunächst durchaus positiv gegenüber, und Teile des von ihm mitbegründeten C.V. unterstützten den Palästina-Aufbau sogar ausdrücklich. Dennoch schloss sich Salfeld selbst nie einer explizit zionistischen Organisation an und verblieb, wie viele seiner Gemeindemitglieder, stets deutsch-national gesinnt. Keine seiner historisch ausgerichteten Publikationen widmete er einem zionistischen Thema. „Der Israelit“, das Publikationsorgan der orthodoxen Gemeinden in Deutschland, auf der anderen Seite berichtete laufend über die „Juden in Jerusalem“, dann allerdings nur im Sinne der Halluqa, d. h. der finanziellen Unterstützung von bedürftigen Juden in Palästina, einer alten, religiös motivierten Einrichtung, die eher dem Gegenteil einer wirtschaftlichen Unabhängigkeit diente, wie sie von den Zionisten befürwortet wurde, und die daher steter Stein des Anstoßes aufgeklärt ausgerichteter jüdischer Kreise blieb, die aber in der Orthodoxie in Mainz und Umgebung tief verwurzelt war.72 Rabbiner Marcus Lehmann selbst hatte noch den Vorsitz über die Bate Mahase-Gesellschaft übernommen, die sich im Sinne der Halluqa aus philantropischen Motiven um wohnungslose Juden in Palästina kümmerte.73 Orthodoxe Gemeindevertreter wie Jonas Bondi distanzierten sich jedoch bald auch öffentlich von den Zielen der Zionisten, insbesondere von den säkular eingestellten Vertretern dieser Bewegung.74 Diese wiederum verurteilten auf das Schärfste das „HalluqaJudentum“ der Orthodoxen als Beispiel für eine überkommene und degenerierte jüdische Lebensweise, die es in Palästina etwa mittels eigener landwirtschaftlicher Siedlungen zu korrigieren gelte. In Mainz sahen auch vor diesem Hintergrund insbesondere viele assimilierte, aber auch traditionell ausgerichtete Juden in der Palästina-Herausforderung keine persönliche Lebensperspektive und erwogen daher nicht einmal im Entferntesten, der deutschen Heimat Richtung „Heiliges Land“ den Rücken zu kehren. Man verstand sich patriotisch als „jüdische Deutsche“ und überließ den Zionismus den Schwarmgeistern.75 Die von Keim erwähnte Bingener Delegiertenkonferenz vom Qinyan Sefarim Anhang 5. Zur Geschichte dieser Bewegung vgl. etwa Harry Karp, The History of the Mizrachi Movement, translated by Judah L. Fishman, New York 1928. 72 Siehe dazu etwa den Leitartikel: Bau jüdischer Armen- und Pilgerwohnungen in Jerusalem, in: Der Israelit 4 (1863), S. 153 mit einer langen Liste von Spendern aus Mainz und Umgebung. 73 Vgl. dazu nun Yosef Salmon, Religion and Zionism. First Encounters, Jerusalem 2002, S. 27f. 74 Die Gegnerschaft von Rabbiner Jonas Bondi gegen den Zionismus ist gut belegt. Vgl. dazu etwa Jehuda Reinharz (Hrsg.), Dokumente zur Geschichte des deutschen Zionismus 1882–1933, SWALBI 37, Tübingen 1981, S. 73. 75 Für eine Charakterisierung dieser Haltung vgl. allgemein die Bemerkungen von Michael

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VII. Blicke in den Bestand

11. Juli 1897, deren Hauptzweck es gewesen war, die national gesinnten deutschen Zionisten noch vor dem ersten großen zionistischen Kongress in Basel auf eine Linie zu bringen und zu einen, stieß wohl auch deswegen im bürgerlichen deutschen Judentum in Mainz auf keine positive Resonanz.76 Für das Mainzer Judentum in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg kann man somit von einem auch andernorts weit verbreiteten „assimilatorischen Zionismus“77 sprechen. Die Spuren dieser Haltung sind auch in der Bibliothek erhalten. Erst unter dem Druck der zunehmenden judenfeindlichen und antisemitischen Nachstellungen vor und nach 1933, so scheint es, begann sich auch in Mainz die Einstellung zu zionistischen Ideen grundlegend und mehrheitlich zu verändern. Als sich die Erkenntnis durchzusetzen begann, dass es zur Auswanderung bzw. Flucht keine Alternative mehr gab, begriff man langsam auch in deutsch-national gesinnten und gut bürgerlichen Kreisen, den Zionismus in seinen Facetten ernster zu nehmen und die Möglichkeit einer Auswanderung nach Palästina in Erwägung zu ziehen.78 Diesen zögerlichen und insgesamt wohl noch differenzierter zu beurteilenden Wandel innerhalb der jüdischen Gemeinschaft hatten wir bereits an der Lehrerbibliothek der Bezirksschule beobachtet, und er lässt sich auch an einigen Titeln zu Zionismus und Palästina in der Jüdischen Bibliothek nachvollziehen. Denn die Auseinandersetzung mit der Alternative „Palästina“ hatte wohl doch in tiefergehendem Maße stattgefunden, als es zunächst den Anschein haben mag. Die wenigen Zeugnisse für zionistisch motiviertes Gemeindeinteresse in der Bibliothek sind hierfür eindrucksvoller Beleg. Eingedenk der skizzierten inneren Entwicklung und der aus damaliger Perspektive nicht zu erahnenden Dimensionen der Katastrophe sind sie umso bemerkenswerter. So findet sich in der Bibliothek eine gut erhaltene Festschrift zum fünfundzwanzigjährigen Jubiläum des „Esra“, des Vereins zur Unterstützung ackerbautreibender Juden in Palästina und Syrien „nebst Bericht für die Jahre 1906, 1907, 1908 und 1909“ (Signatur F 77). „Esra“ nannte sich eine 1884 in Berlin gegründete Jugendorganisation der „tora-treuen“ Juden, die zwei Richtungen in sich vereinigte. Eine Grupppe stand dem religiösen Zionismus nahe, während der Rest stärker orthodox orientiert war, ähnlich den Jugendgruppen der „Agudas Yisro’el“, der zunächst nichtzionistischen Orthodoxie.79 Das einzige Mainzer Mitglied, welches in der Festschrift genannt wird, ist übrigens Isaac Fulda, der bekannte Bankier, nach

Brenner, Jüdische Kultur in der Weimarer Republik. Aus dem Englischen übersetzt von Holger Fliessbach, München 2000, S. 59f. 76 Vgl. Reinharz (Hrsg.), Dokumente zur Geschichte des deutschen Zionismus, S. 42 mit Anm. *. 77 Siehe zu dieser auf Kurt Blumenfeld zurückgehenden Definition Hagit Lavsky, Die Besonderheit des deutschen Zionismus, in: Moshe Zimmermann / Yotam Hotam (Hrsg.), Zweimal Heimat. Die Jeckes zwischen Mitteleuropa und Nahost, Fulda 2005, S. 72–76. 78 Siehe hierzu z. B. den Hinweis auf einen Ärtze-Kongress in Tel Aviv am 27. April 1936, vom 27. Januar des Jahres, in der die Palestine Shipping Co. in Haifa eine vergünstigte Fahrt anbietet. LBI Jerusalem 388 Kulturbund deutscher Juden. 79 Siehe hierzu Benjamin Benno Adler, Esra. Die Geschichte eines orthodox-jüdischen Jugendbundes zur Zeit der Weimarer Republik, Jüdische Kultur 8, Wiesbaden 2001.

2. Zionistische Literatur

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dem heute in Mainz sogar eine Allee benannt ist.80 In den dreißiger Jahren gehörte er zu den reichsten Bürgern der Stadt, musste dann aber nahezu sein gesamtes Vermögen darauf verwenden, um vor den Nazis nach Holland fliehen zu können, wo er schließlich doch ermordet wurde.81 Auch die geringe Anzahl weiterer Mitglieder aus Mainz erklärt, warum der Esra in der Stadt nur einmal tagte, und zwar vom 15. bis zum 17. August 1930.82 Über weitere Aktivitäten dieser religiösen Jugendgruppe in Mainz ist bislang nichts bekannt; in der Bibliothek hat sie – wohl aus den angedeuteten Gründen – keine weiteren Spuren hinterlassen. Dieser Broschüre des Esra ist auf der letzten Seite eine bemerkenswerte Kartenskizze der „jüdischen Colonien“ in Palästina beigegeben. Sie führt eindrucksvoll vor Augen, wie dünn das Land noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts besiedelt war. Die Karte (vgl. Abb. 37) weist erkennbar darauf hin, warum das Land Israel damals für viele junge Mainzer keine verheißungsvolle Zukunft zu versprechen schien und der Gedanke an die Alternative „Auswanderung nach Palästina“ eher auf Unverständnis gestoßen sein muss. Vielen Mainzer Juden dürfte das Leben in Deutschland selbst unter den sich verschlechternden politischen Bedingungen immer noch als attraktiver erschienen sein als die Flucht in ein Land ohne ausgebaute Infrastruktur, ohne kulturelle Einrichtungen und mit nur wenigen modernen Bildungsinstitutionen. Ein weiterer, wenn auch schwächerer literarischer Beleg für die zionistischen Aktivitäten in Mainz ist ein Heft mit Reden, Aufsätzen und Dokumenten über den Aufbau Palästinas, herausgegeben vom Jüdischen Palästinawerk e. V. in Berlin, Meinekestraße 10, von jener Organisation also, die 1920 in London als Qeren ha-yesod gegründet worden war.83 Versammelt sind in dem kleinen Bändchen Reden von Oscar Wassermann, dem Direktor des Qeren ha-Yesod, Dr. Alfred Apfel, einem weiteren Vertreter dieser international operierenden Organisation zur Unterstützung von Landerwerb, Rabbiner Dr. Leo Baeck, dem führenden Vertreter des liberalen deutschen Judentums, Alfred Berger, Professor Dr. Albert Einstein, Rabbiner Dr. Felix Goldmann u. a. m. Sie alle sprachen sich für die Einrichtung eines eigenen jüdischen Gemeinwesens in Palästina aus und lagen damit auf der Linie religiöser wie antireligiöser, sozialistischer Vordenker des Zionismus. Qeren ha-yesod-Broschüren dieser Art sind in der Jüdischen Bibliothek in einiger Zahl erhalten84, und ergänzt wird diese „graue“ Propaganda-Literatur durch einige we80

Vgl. das nach Städten geordnete Mitgliederverzeichnis im Anhang der Broschüre. Vgl. zu Isaac Fulda und seiner Familie die knappen Hinweise von Stub, Zikhronot, S. 26. 82 Vgl. Schlösser, Einstmals eine blühende Gemeinde, S. 17 (mit einem Foto der Mainzer „GauTagung“). 83 Keren Hajessod (Hrsg.), Der Aufbau Palästinas und das deutsche Judentum, Berlin 1922. Zur Geschichte des „Qeren ha-yesod“ („Gründungsfond“), dessen deutsche Niederlassung 1922 gegründet wurde, vgl. etwa Michael Brenner, Geschichte des Zionismus, München 22005, S. 96. Weitere Informationen zu dieser Literatur bietet Hagit Lavsky, Before Catastrophe. The Distinctive Path of German Zionism, Jerusalem 1990, S. 100f (hebr.). 84 Vgl. etwa: Was ist der Keren Hajessod? Eine Programmatische Darlegung der Ziele des Keren Hajessod (Jüdisches Palästinawerk) e. V. mit einem Anhang: Der Stand der jüdischen Siedlungen in Palästina, Schriften des Keren Hajessod 1, Berlin o. J. (Signatur J 69); Das Palästinawerk. Eine 81

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VII. Blicke in den Bestand

Abb. 36: Theodor Herzl, Der Judenstaat, Wien 1896 (Signatur R 27)

2. Zionistische Literatur

Abb. 37: Aus: Festschrift zum fünfundzwanzigsten Jubiläum des „Esra“ (Signatur F 77)

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VII. Blicke in den Bestand

nige deutsche Klassiker der zionistischen Literatur, wie z. B. die Schriften Theodor Herzls oder Leon Pinskers.85 Solche Schriften und Bücher gehörten ab einem gewissen Zeitpunkt zur „Standardausstattung“ deutsch-jüdischer Bibliotheken und sprechen nicht zwangsläufig für ein verstärktes zionistisches Interesse innerhalb der Gemeinde. Dennoch ist ihre Exisitenz untrügliches Indiz für die fortwährende Agitation zionistisch gesinnter Kreise, aber auch für die intensive Auseinerandersetzung mit den durch den Zionismus neu in Gang gesetzten Fragen nach Identität und Selbstverständnis des Judentums in Deutschland in Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus und unter dem Einfluss der Moderne.86 Dieser lebendige innerjüdische Diskurs lässt sich dann auch an der beachtlichen Anzahl von zionismuskritischen, ihn sogar schroff ablehnenden Publikationen weiter verfolgen. Als Beispiel sei ein kurzes Pamphlet von Dr. Arthur Kahn, Hin zur Scholle,87 angeführt, welches zu den landwirtschaftlichen Autarkievorstellungen „der Zionisten“ Stellung nimmt und dagegen eine Erneuerung der Bodenkultur und des Landjudentums in Deutschland fordert. Die Großstadt fresse das Judentum auf, sie gleiche dem mythischen Ungeheuer, „dem täglich die bestimmte Menschenzahl geopfert wurde.“88 Glücklichere Existenzen des Judentums würden erst auf dem Land, auf „dem ewig verjüngenden Quell der Natur“, erwachsen – wobei der Autor nicht etwa an eine Wiederbelebung der palästinischen Landwirtschaft dachte, sondern an eine jüdische Bauernschaft in seinem Vaterland. Eine nüchterne Bestandsaufnahme und Kritik von Fehlentwicklungen in der bereits begonnenen zionistischen Aufbauarbeit in Palästina bietet der kleine Band von Dr. Alfred Wiener, Kritische Reise durch Palästina, mit 13 Karten und Zeichnungen 1927 im Berliner Philo-Verlag erschienen (Signatur J 65). Wiener (1885– 1964)89 gehörte zum „Pro-Palästina-Flügel“ des C.V., der ab 1929 mit dem nichtzionistischen Teil der Jewish Agency und dem Qeren ha-yesod kollaborierte. Auch daher blieb er wie zahlreiche vergleichbare Autoren, die sich zur Frage jüdischen Kundgebung Deutscher Juden im ehemaligen Herrenhaus zu Berlin, stenographischer Bericht, hrsg. vom Keren Hajessod (Jüdisches Palästinawerk) e. V., Berlin 1926 (Signatur I 77); Die Aufgaben der Forstwirtschaft in Palästina, Schriften des Keren Hajessod 4, Berlin o. J. (Signatur I 67); Landwirtschaftliche Kolonisation in Palästina, Schriften des Keren Hajessod 5, Berlin o. J. (Signatur I 67); Die Wasserkräfte Palästinas, Schriften des Keren Hajessod 7, Berlin o. J. (Signatur I 79); Palästina und der Neubeginn jüdischen Lebens. Eine Umschau des Keren Hajessod, Berlin o. J. (Signatur I 75). Siehe ferner Willi Bambus, Palästina in der Gegenwart, Sonderdruck der Beilage zu Nr. 26 der jüdischen Volkszeitung (Signatur J 17). 85 Vgl. Theodor Herzl, Der Judenstaat, neunte Auflage mit einem Vorwort von Otto Warburg, Berlin 1918 (Signatur L 163) oder (Juda Leib Pinsker), Autoemanzipation! Mahnruf an seine Stammesgenossen von einem russischen Juden, Berlin 1882 (Signatur J 435). 86 Wie zionistische Progandaliteratur in die Bibliothek gelangt sein kann, belegt ein Schreiben des begeisterten Mainzer Zionisten Leon Friedmann, Große Bleiche 27, vom 19. September 1897, in dem dieser bei der Nationalen jüdischen Vereinigung in Köln 200 Exemplare des Flugblattes No. 2 von „der Nationaljude als Staatsbürger“ sowie von „der Zionismus von F[abius] Schach“ anfordert (CZA A 15 / 274). Von Schach ist in der Bibliothek „Über die Zukunft Israels“, Berlin 1904, erhalten (Signatur J 359). 87 Signatur J 177. 88 Ebd., S. 19. 89 Siehe zu ihm Yehuda Reshef, Art. Wiener, Alfred, in: EJ 16 (1971), Sp. 499.

2. Zionistische Literatur

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Lebens in der Diaspora äußerten, Zeit seines Lebens gegenüber zionistischen Utopien kritisch eingestellt.90 In dem von ihm verfassten Bericht spricht er sich zwar nicht grundsätzlich gegen ein jüdisches Gemeinwesen in Palästina aus, worin er im Übrigen den Statuten des C.V folgte, die den „Palästina-Aufbau“ wie angedeutet ausdrücklich unterstützten91, aber, so resümiert er, „solange“ sich „der Zionismus … das Ziel steckt, aus der Heimstätte den künftigen jüdischen Nationalstaat allmählich zu formen, solange er alles darauf anlegt, in die nationale Heimstätte alle Juden der Welt politisch und hebräisch-kulturell einzubeziehen, oder – anders gewendet – solange der Zionismus auch den deutschen Juden als Galuth, als Verbannung, in der Fremde anspricht, wird der jüdische Deutsche, aus heiligem Zwang handelnd, es weit von sich weisen müssen, den nationalen Palästinaaufbau zu fördern.“92 Wie weit die Meinungen selbst innerhalb der zionistischen Ortsgruppe Mainz über die zu erreichenden Ziele noch 1905 auseinandergehen konnten, belegt im Übrigen ein bilsang unveröffentlichtes Dokument aus Mainz, welches in den Central Zionist Archives in Jerusalem erhalten ist. In diesem anonymen Schreiben vom 24. August 1905, welches den Bibliotheksbefund treffend ergänzt, heißt es:93 „Palästina ist und bleibt das unverrückbare Ziel des Zionismus. Als Mittel zur Erreichung dieses Ziels, dem wir, mit allen politischen Mittel zustreben, halten wir auch eine nationale, autonome Siedlung auf einem außerhalb Palästinas gelegenen Gebiet für zweckdienlich und deshalb im Rahmen des Baseler Pogramms gelegen. Vor Erlagung rechtlicher Sicherungen sind wir gegen jede Kolonisation in Palästina und gegen jede Förderung der Emigration dorthin. … Der Vorstand der Ortgruppe Mainz missbilligt weiter einstimmig aufs schärfste, das (sic!) bisherige Wirken des Ingenieurs Ussischkin im Zionismus“.

Die in Mainz zuweilen direkt, wie hier mit Bezug auf den wegen seiner Gegnerschaft gegen Theodor Herzl umstrittenen Zionistenführer Abraham Menahem Mendel Ussischkin (1863–1944), zuweilen spöttisch kritisierten unterschiedlichen Jugend- und Zionistengruppen konnten daher unter den mehrheitlich deutsch-national gesinnten Mainzer Juden und ihren Gemeindevertretern lange Zeit keinen Einfluss gewinnen. Ja, es gibt neben den vorgestellten Titeln auch zahlreiche andere Belege dafür, dass die Angebote der zionistischen Gruppen unter der jüdischen Jugend in Mainz geraume Zeit kaum oder gar nicht genutzt wurden.94 Die Jüdische 90

Vgl. etwa auch Paul Nathan, Palästina und der palästinische Zionismus, Berlin 1914 (Signatur I 35). Nathan war einer der wichtigsten Unterstützer verfolgter jüdischer Gemeinden in Russland und anderen Gebieten im östlichen Europa, in denen es zu Verfolgungen gekommen war. Doch forderte er nicht die Gründung eines eigenen Staates, sondern die Veränderung der Lebensbedingungen von Juden in ihren Heimatländern. Vgl. dazu [Ed. Staff], Art. Nathan, Paul, in: EJ 12 (1972), Sp. 855f. 91 Siehe hierzu Ludwig Foerder, Die Stellung des Centralvereins zu den innerjüdischen Fragen in den Jahren 1919–1926, Breslau 1926, S. 21f (Signatur F 35, Sammelband 35). 92 Alfred Wiener, Kritische Reise durch Palästina. Mit 13 Karten und Zeichnungen, Berlin 1927, S. 117f. 93 CZA A 142 55/5. 94 Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang ein erhaltener Aufruf des Bücherwartes des Bundes deutsch-jüdischer Jugend in Mainz vom 29.10.1935, der da lautete: „Liebe Mädels und Jungens! Zum letzten Mal an euch der Apell! Überwindet eure Bequemlichkeit, findet den Weg zur Bibliothek! Ihr könnt gewiß sein, dass euren Wünschen bei Anschaffung von neuen Büchern

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VII. Blicke in den Bestand

Bibliothek Mainz mit ihrem kleinen, aber vielsagenden Bestand an zionismus-kritischer Literatur hat diese weit verbreitete Einstellung gegenüber den lange in ihrer Dringlichkeit missachteten Plänen zur Errichtung eines eigenständigen jüdischen Gemeinwesens eher zufällig und in Form von Druckerzeugnissen bewahrt.95 Angesichts der vermeintlichen und der offensichtlichen Widersprüche zionistischer Ideen, die sich mit einem Zugehörigkeitsgefühl zum deutschen Volk oder zumindest zur deutschsprachigen Kultur nicht oder kaum vereinbaren ließen96, wurde die heraufziehende Gefahr von Vielen verdrängt, verharmlost und zum Teil sogar völlig verkannt – und dies, obwohl man, wie z. B. auch die zahlreichen antijüdischen und antisemitischen Schriften und auch die zahlreichen Schriften über den in Frankreich geführten Dreyfus-Prozeß97 in der Bibliothek belegen können, die Dimensionen der traditionellen und religiös motivierten Miss- und Verachtung des Judentums in der Gesellschaft kannte, ja sie im Alltag wohl auch immer stärker zu spüren bekam.98 Wenn sich Gemeindemitglieder schließlich doch für eine Auswanderung nach Palästina entschieden, dann oft nicht, weil sie überzeugte Zionisten waren, sondern weil sie keine andere Heimat mehr finden konnten und nicht zu „wandernden Juden“ werden wollten.99 Eine Anekdote des gebürtigen Mainzers Paul G. Ronell, die er eher nebenbei in seinen 1995 veröffentlichten Erinnerungen an seine Mainzer Jugend festhielt, führt die skizzierte Haltung unter vielen Mainzer Juden gegenüber den Versuchen Rechnung getragen wird, wenn ihr sie in grösserem Mass in Anspruch nehmt! Aber es geht nicht an, dass nur 4 oder 5 die mit so großer Mühe zusammengestellte Bibliothek unterstützen, wie das bisher der Fall war! Auch findet ihr in der C.V. Wanderbücherei eine große Anzahl von guten, jüdischen Büchern, die Euch ganz bestimmt interessieren! Also erscheint regelmäßig, Donnerstags von ½ 7 bis 7 ¼!!! Ihr dient damit nicht nur E u c h, sondern dem B u n d !!! Bereitschaft!“ (CAHJP D Ma 7/32 „Gerd Fränkel“). 95 Siehe etwa auch Max Méchanik, Das zionistische Trugbild und seine Gefahr, Mainz 1903 (Signatur J 267) und Alexander Szanti, Der Zionismus – eine nationalistische und reactionäre Utopie, Berlin 1930 (Signatur A 187). 96 Siehe hierzu etwa die vielsagenden Äußerungen von Paul Simon, Meine Erinnerungen, S. 14, der wie so Viele kein Zionist wurde und stattdessen einen universalisierten Messianismus unterstützte bzw. „eine Bestimmung der Juden“ unter den Völkern erkennen wollte. 97 Dieser gegen den französischen Offizier Alfred Dreyfus (1859–1935) geführte Prozess wegen angeblicher Spionage war durch antisemitische Vorurteile bestimmt gewesen. Unter anderem Theodor Herzl berichtete von diesem Fanal. In der Jüdischen Bibliothek findet sich dazu Joseph Reinach, Histoire de l’Affaire Dreyfuss, Paris 1901 (Signatur A 135). 98 Eindrucksvoll belegt dies auch der Nachlass des Mainzers Gerd Fraenkel über seine Mitgliedschaft im Bund deutsch-jüdischer Jugend, einer dem C.V. nahe stehenden Organisation, die 1933 als Zusammenschluss der Deutsch-jüdischen Jugendgemeinschaft, der Liberalen Jugend und der jüdischen Jugendscharen sowie C.V.-Gruppen gegründet worden war, aber erst ab 1936 eine Auswanderung gezielt förderte. In Mainz wurden von diesem Verein noch im Jahre 1936 regelmäßig „Heimatabende“ durchgeführt (CAHJP D Ma 7/32). 99 Vgl. hierzu etwa die autobiographischen Notizen von Trude Fraenkel, Artztochter aus Mainz, später in Jerusalem, in: LBI Jerusalem 189, Dr. Adolf Fränkel. Dort heißt es: „Wir waren keine Zionisten. Wir gingen damals nach Palaestina, weil wir oft Juden von anderen Ländern trafen, die von einem Land zum anderen gingen oder gehen mussten, die keine zweite Heimat mehr fanden. So sagten wir uns, wir wollen keine wandernden Juden werden, dann gehen wir lieber nach Palaestina, obwohl wir durch Familie die Möglichkeit hatten nach USA zu gehen.“

3. Antisemitische Literatur

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zionistischer Propaganda in den dreißiger Jahren beispielhaft vor Augen. Aus der Sicht eines noch rechtzeitig nach Palästina geflohenen Mainzers, der später jedoch in die USA ausgewandert ist, schreibt er: „… die Zionistische Vereinigung führte mich in die Bedeutung des Zionismus durch die Aufführung eines abendfüllenden Sprechchors mit Solisten, „Die Einzige Lösung“, ein. Trude Vogel, mit ihrem zukünftigen Mann aus Palästina, der extra zu diesem Zweck nach Mainz gekommen war und sich bei dieser Gelegenheit in Trude verliebt hatte, organisierte diesen Abend. Diese Aufführung hatte den Erfolg, daß zumindest eine Person zum Zionismus bekehrt wurde und sofort nach Palästina ging: Trude Vogel als Frau Marcus …“.100

3. Antisemitische Literatur Einen der speziellsten Abschnitte auf den Regalen der Jüdischen Bibliothek bildet eine Anzahl antisemitischer Titel sowie Literatur, die sich gegen die Judenfeindschaft und antisemitische Polemik richtete. Antisemitismus als rassisch-biologisch begründete Ideologie hatte sich im deutschen Kaiserreich spätestens mit dem Berliner Antisemitismusstreit (1879/80), ausgelöst durch Heinrich von Treitschke101, in unterschiedlicher Form auch in gebildeten Kreisen etabliert und wurde durch den traditionellen, christlich motivierten Antijudaismus auf breiter gesellschaftlicher Basis weiter gefördert und verbreitet.102 Der Integration des rheinischen Judentums, von der Keim im Hinblick auf die abwartende Haltung gegenüber dem Zionismus gesprochen hat, stand also eine sich im 19. Jahrhundert ausbreitende und vertiefende Judenfeindschaft gegenüber, die auch in Mainz nach und nach immer offener zu spüren gewesen ist. Die in der Jüdischen Bibliothek vorhandene antijüdische, antisemitische und die zahlreichen apologetischen Schriften belegen, dass sich die Gemeinde und ihre Hauptvertreter über die Haltung eines Teils der deutschen Bevölkerung gegenüber dem Judentum keine Illusionen machten. Die Zunahme an antisemitisch motivierten Benachteiligungen und Unrechtmäßigkeiten in den Jahrzehnten vor 1933 waren nicht zu leugnen. Autobiographische Berichte von ehemaligen jüdischen Bürgern, wie etwa der von dem Rechtsanwalt Paul Simon, können die sich wandelnde Stimmungslage vor der nationalsozialistischen Machtübernahme eindrucksvoll vor Augen führen.103 Man suchte sich, so zeigen

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Ronell, Erinnerungen, S. 90. Zu den Umständen, die Ronell veranlassten, den Staat Israel nach einiger Zeit wieder zu verlassen, siehe das Nachwort seiner Ehefrau Evelyn Ronell, ebd., S. 130. 101 Siehe hierzu die in der JBM erhaltene Schrift von S. Meyer, Ein Wort an Heinrich von Treitschke, Berlin 1880 (Signatur A 113). Von Treitschke stammt der Satz „die Juden sind unser Unglück“. Siehe hierzu Wolfgang Benz, Was ist Antisemitismus?, München 2004, S. 92f. 102 Vgl. hierzu etwa Hermann Greive, Geschichte des modernen Antisemitismus in Deutschland, Darmstadt 1983; Jacob Katz, Vom Vorurteil bis zur Vernichtung. Der Antisemitismus 1700–1933, aus dem Englischen von Ulrike Berger, München 1989; dann auch Jörg Thierfelder, Art. Antisemitismus. VI. Neueste Zeit, in: RGG4 1 (1998), Sp. 569–572. 103 Vgl. Simon, Meine Erinnerungen, S. 83f.

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VII. Blicke in den Bestand

die erhaltenen Antisemitica, zu informieren und für die Abwehr in den verschiedenen Auseinandersetzungen zu rüsten. Eine gewisse Anzahl von ausgesprochen antisemitischen Schriften dürften auf Rabbiner Salfelds Tätigkeit und Engagement für den C.V. zurückzuführen sein. Der „Centralverein“, der von Salfeld mitbegründet worden war, hatte sich die Bekämpfung des Antisemitismus zum Ziel gesetzt. Für den Kampf gegen Antisemiten, um deren Argumente zu kennen, wird er eine Auswahl von Büchern zu diesem Thema zusammengetragen haben. Antisemitica bzw. apologetische Schriften finden sich daneben aber auch unter den Bänden aus der „Lehmann-Bücherei“, darunter eine größere Anzahl von Schriften, die sich direkt gegen die alten Vorurteile und Unterstellungen der Feinde des Judentums wandten. So findet sich in Lehmanns Bibliothek etwa der berühmte vom Berliner „Verein zur Abwehr des Antisemitismus“ herausgegebene, gleich in mehreren Exemplaren vorhandene „Antisemiten-Spiegel“.104 Werke wie dieses lassen die in weiten Kreisen der Gemeinde verbreitete entschlossene Haltung im Kampf gegen die antisemitische Ideologie erahnen. Das durch verschiedene Vorbesitzer zusammengetragene Sammelsurium an deutschsprachigen Schriften verschiedenen Alters und unterschiedlicher Herkunft zu diesem Themenkreis lässt sich freilich schwer systematisch ordnen. Immerhin deuten bereits die meisten Signaturen durch den lateinischen Buchstaben „A“ (für Antisemitismus) und folgende Ordnungszahl darauf hin, dass die Schriften in der Gemeindebibliothek bewusst zusammengestellt und vom übrigen Bestand separiert aufbewahrt wurden. Aus den ausgesprochen judenfeindlichen Werken in der jüdischen Bibliothek ragen insbesondere die des katholischen Theologen August Rohling (1839–1939)105 hervor, eines der Wegbereiter des modernen Antisemitismus.106 Rohling, lange Zeit Professor für Altes Testament in Münster, hatte sich vor allem durch sein in hohen Auflagen erschienenes Werk „Der Talmudjude“ einen Namen gemacht. In diesem Werk behauptete er, dass im Judentum alle nur erdenklichen Laster religiös sanktioniert seien.107 In mehreren Aufsehen erregenden Prozessen versuchte er die mittelalterlichen Blutbeschuldigungsklagen und Ritualmordlegenden zu verteidigen. Diese bald von führenden deutschen Gelehrten öffentlich als unhaltbar widerlegten Vorwürfe und Unterstellungen haben in der Jüdischen Bibliothek zahlreiche Spuren hinterlassen.108 Die Vielzahl von auf Rohling bezugnehmenden Schriften belegen 104

Vgl. Antisemiten-Spiegel. Die Antisemiten im Lichte des Christentums, des Rechts und der Moral, Danzig 1892 (Signatur A 201; alte Signatur L/579; Stempel „Lehmann Bücherei“). Dieser Band ist nach dem Krieg restauriert worden. In der Jüdischen Bibliothek Mainz sind weitere Ausgaben erhalten. 105 Siehe zu seinem Leben Christoph Schmitt, Art. Rohling, August, in: BBKL 8 (1994), Sp. 577–583. Dann auch Greive, Geschichte, S. 52–55. 106 Vgl. August Rohling, Der Talmudjude, 3. Auflage Münster 1872 (Signatur A 147); ders., Das Judentum nach neurabbinischer Darstellung der Hochfinanz Israels, München 1903 (Signatur J 343). 107 Siehe hierzu etwa Stefan Rohrbacher / Michael Schmidt, Judenbilder. Kulturgeschichte antijüdischer Mythen und antisemitischer Vorurteile, Reinbeck bei Hamburg 1991, S. 344f. 108 Siehe hierzu etwa die Verteidigungsschrift des Heidelberger Alttestamentlers (A.) Merx, Wissenschaftliches Gutachten über den wahren Sinn der Stellen aus dem Sohar und aus Vitals liqutim,

3. Antisemitische Literatur

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noch heute, wie betroffen viele Gemeindemitglieder und ihre Vertreter nach Bekanntwerden der Beschuldigungen Rohlings gewesen sein müssen. Als es Rohling sogar auf öffentliche Prozesse ankommen ließ, in denen erst angesehene christliche Gelehrte wie Franz Delitzsch (1813–1890) und vor allem Herrmann Lebrecht Strack (1848–1922) als Gutachter auftreten mussten, um die Beschuldigungen zu entkräften, muss dies auch im katholischen Mainz zur Besorgnis beigetragen haben.109 Die viel beachteten christlichen Gelehrten lehnten im Übrigen die Judenmission nicht generell ab, nur gegen die abstrusen, aus Johann Andreas Eisenmengers älterem Werk „Entdecktes Judentum“ (1700)110 aufgenommenen Thesen nahmen sie das Judentum in Schutz.111 Auch einige andere kleinere Veröffentlichungen zum Schutz gegen die Attacken Rohlings und seiner Epigonen zeugen von den heftigen Auseinandersetzungen, die seine Schriften im katholischen Mainz ausgelöst haben müssen.112 Noch 1881 erschien in der Stadt eine Denkschrift durch den „Rechts-Consulent“ W. J. Strecker, in der er „die neuesten wie früheren Israeliten Verfolgungen“ zu widerlegen suchte.113 Diese bemerkenswerte Broschüre endet mit dem scheinbar so versöhnlichen Gedanken: „Wären die Christen unter sich so einig, würden so zusammenhalten, sich gegenseitig so uneigennützig in allen Nöthen und Gefahren aufhelfen, wie die Israeliten thun, stünde es heute mit Millionen von uns Christen anders. Dieses wollen wir als das schönste Beispiel von den Israeliten erlernen, wollen es mit allem Ernste thun uns vornehmen, – dann erst sind wir Brüder, Schwestern.“114

auf die Herr Prof. Rohling seine Blutbeschuldigung gründen will. Wien 1885 (Signatur A 111). Siehe auch die Schrift von Pfarrer Friedrich Murawski, Katholische Kirche und Judentum, Berlin o. J. (Signatur A 121). 109 Siehe hierzu Siegfried Wagner, Franz Delitzsch. Leben und Werk, 2. durchgesehene Auflage 1991, S. 409–414; zu Strack vgl. Günter Stemberger, Hermann L. Stracks Beitrag zur Erforschung der rabbinischen Literatur, in: Ralf Golling / Peter von der Osten-Sacken (Hrsg.), Hermann L. Strack und das Institutum Judaicum in Berlin. Mit einem Anhang über das Institut für Kirche und Judentum, SKI 17, Berlin 1996, S. 58f. 110 Vgl. zu ihm unten Kapitel VII.3. 111 Siehe hierzu vor allem die Schriften des Berliner protestantischen Theologie-Professors Herrmann L. Strack, Das Blut im Glauben und Aberglauben der Menschheit, 5.–7. Auflage München 1900 (Signatur A 181); ders., Der Blutaberglaube in der Menschheit, Blutmorde und Blutritus, 4. Auflage München 1892 (Signatur A 177); ders., Die Juden, dürfen sie „Verbrecher von Religions wegen“ genannt werden?, Leipzig 1893 (Signatur A 179); ders., Sind die Juden Verbrecher von Religions wegen?, Leipzig 1900 (Signatur A 183). 112 Vgl. etwa noch A. von Scheintlitz, An die Judenverfolger, Berlin 1881 (Signatur A 155); J. B. Levinsohn, Die Blutlüge, Berlin (1892) (Signatur Sammelband 26; F 26); Johannes Menzinger, Friede der Judenfrage, Berlin 1896 (Signatur A 107); S. Neumann, Die neueste Lüge über die israelitische Allianz, Berlin 1883 (Signatur F 13); Joseph Schrattenholtz, Der Antisemitenhammer, Düsseldorf 1894 (Signatur A 159); ferner auch Carl Scholl, Der Antisemitismus vom sittlichen Standpunkt aus betrachtet, Bamberg o. J. (Signatur A 157); ders., Jesus von Nazaret, ein Semite, Leipzig 1881 (Signatur F 15). 113 Vgl. W. J. Stecker, Denkschrift über die neuesten wie früheren Israeliten-Verfolgungen. Warum widmeten sich die Israeliten mehrentheils dem Handel? Wissenschaftlich beleuchtet für Jedermann, Mainz 1881 (Signatur 185). 114 Ebd. S. 20.

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VII. Blicke in den Bestand

Neben solchen gut gemeinten, letztlich jedoch hilflosen Verteidigungsversuchen zeugen einige der jüdischen Abwehrschriften gegen den vordringenden Antisemitismus davon, dass man noch lange an einen fairen Ausgleich und an eine sachliche Zurückweisung der unhaltbaren Unterstellungen glaubte.115 Bemerkenswert sind diesbezüglich etwa auch die zahlreichen erhaltenen Schriften, die sich mit dem so genannten „Bibel-Babel-Streit“ auseinandersetzen. In diesem berühmten Streit ging es um den von Friedrich Delitzsch (1850–1922), dem Sohn Franz Delitzschs, geführten pseudo-wissenschaftlichen Nachweis einer angeblichen sittlichen Überlegenheit der „babylonisch-assyrischen Religion“ gegenüber der „alttestamentlichjüdischen“.116 Wie sehr dieser Streit die Bibelwissenschaft bewegt hat und sogar noch heute bewegt, lässt sich bis in jüngste Veröffentlichungen verfolgen.117 In Mainz scheint der zum Teil populärwissenschaftlich geführte Diskurs insbesondere wegen der vorangegangenen Auseinandersetzungen um Rohlings Schriften und die Kontroversen mit katholischen Geistlichen besonders aufmerksam verfolgt worden zu sein.118 Beachtenswert, aber nicht mehr überraschend, sind dann auch die auf diesen Regalen aufzufindenen Belege für einen rassisch begründeten Antisemitismus. So findet sich einerseits etwa die noch recht harmlose, von dem böhmischen Grafen Heinrich Coudenhove verfasste Schein-Apologie des Judentums „Das Wesen des Antisemitismus“119, in der der Verfasser das Übel des Anitsemitismus mittels der sich auf alle Juden beziehenden christlichen Bekehrungshoffnung als nicht 115

Vgl. etwa Emanuel Schreiber, Die Prinzipien des Judentums, Leipzig 1877 (Signatur A 161; Stempel „Salfeld-Bücherei“); ferner Ignaz Ziegler, Der Kampf zwischen Judentum und Christentum in den ersten drei christlichen Jahrhunderten, Berlin 1907 (Signatur A 189). 116 Von diesem durch den deutschen Assyriologen Friedrich Delitzsch 1902 ausgelösten Streit zeugen in der jüdischen Bibliothek etwa folgende Titel: Friedrich Delitzsch, Babel und Bibel, Leipzig 1902 (Signatur B 73), Leipzig 1903 (Signatur B 75); ders., Babel und Bibel. Ein Rückblick und Ausblick, Stuttgart 1904 (Signatur B 77); Johann Hornberg-Stralsund, Bibel und Babel, Potsdam 1903 (Signatur B 171); W. Knieschke, Bibel und Babel. El und Bel, Leipzig 1903 (Signatur B 213); Egbert Müller, Der Babelismus, der Kaiser und die orthodoxe Theologie, Berlin 1903 (Signatur C 63); Hermann Samuel Reimarus, Bibel und Babel, Leipzig o. J. (Signatur B 313); Schieler, Ein zweiter Vortrag über die Bibel-Babel-Frage, Danzig 1903 (Signatur B 345); Theodor Wahl, Was lehrt uns der Bibel-Babel-Streit? Zeitfragen des christlichen Volkslebens 28,4 Stuttgart 1903 (Signatur B 397); Franz Zorell S. J., Zur Frage über „Bibel-Babel“, Frankfurter zeitgemäße Broschüren 22,11, Hamm i. W. 1903 (Signatur B 433); dann auch Leopold Goldschmidt, Der Kampf um BibelBabel im Lichte des Judentums, Frankfurt a. M. 1903 (Signatur B 131); A. Hoffmann, Bibel-BabelFabel, Buenos Aires 1903 (Signatur B 163); Jacob Horovitz, Babel und Bibel, Frankfurt am Main 1904 (Signatur B 175); Eduard König, Bibel und Babel, Berlin 1903 (Signatur B 229); Moritz Morgulies, Bibel und Babel, Kattowitz 1903 (Signatur B 267); Immanuel Plato, Reflexionen über Bibel und Babel, Hamburg o. J. (Signatur B 303). 117 Siehe nun etwa Yaakov Shavit / Mordechai Eran, The Hebrew Bible Reborn. From Holy Scripture to the Book of Books. A History of Biblical Culture and the Battles over the Bible in Modern Judaism, StJ 38, Berlin u. a. 2007, S. 247–256 kritisch zu Reinhard G. Lehmann, Friedrich Delitzsch und der Babel-Bibel-Streit, OBO 133, Freiburg/Schweiz 1994. 118 Erinnert sei in diesem Zusammenhang auch an die Schrift von Rabbiner Joseph Aub gegen einige Aussprüche des Bischofs Emmanuel von Kettler: Toleranz und Humanität, ein Wort der Abwehr und Verständigung, Mainz 1859. 119 Berlin 1901 bei S. Calvary & Co. gedruckt (Signatur A 23; alte Signatur L/775).

3. Antisemitische Literatur

Abb. 38: August Rohling, Der Talmudjude, Münster 1872 (Signatur A 147)

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VII. Blicke in den Bestand

mehr zeitgemäß entlarven wollte. Unter diesen Titeln sticht andererseits auch die pseudo-wissenschaftliche Hasstirade des in Stade geborenen Arztes Gustav Stille (1845–1920) hervor, die Schrift eines der intellektuellen Vordenker des modernen Antisemitismus in Deutschland.120 Sie war bereits um 1920 in der „Deutschnationalen Buchhandlung“ in Hamburg erschienen und knüpfte direkt an die pseudowissenschaftlichen Rassenlehren eines Houston Chamberlain (1855–1927) an, dessen chauvinistische Kriegsaufsätze am Anfang des Ersten Weltkriegs veröffentlicht wurden und Deutschland gegen England in Schutz zu nehmen suchten.121 Den Kriegseintritt Englands deutet Chamberlain darin als Verrat an der gemeinsamen Rasse, was ihm die Sympathien Hitlers einbrachte. Unter Mainzer Juden müssen solche Schriften große Besorgnis ausgelöst haben. Trotz solcher Schriften ist freilich nicht zu übersehen, dass man sich in jüdischen Kreisen in Mainz wohl lange auch an deutsch-nationale Autoren hielt, die das Gefühl einer relativen Sicherheit und Integrationsmöglichkeit boten. Ja, einige Leser von Hasstiraden wie der genannten mögen hinter den Vorwürfen gegen das Judentum sogar noch einen wahren Kern erkannt haben und hofften insgeheim oder ganz offen, durch weitere Anpassung und Assimilation an die Mehrheitsgesellschaft von weiteren Verfolgungen und Diskriminierungen verschont zu bleiben. Typisch in dieser Hinsicht ist das aus der Spätzeit des Übersetzers und Verlegers Friedrich von Oppeln-Bronikowski stammende Buch: Gerechtigkeit! Zur Lösung der Judenfrage, mit einem Geleitwort von Ricarda Huch, erschienen im Nationalen Verlag von Joseph Garibaldi Huch in Berlin 1932 (Signatur A 125). Dass die von den Nationalsozialisten hofierte Dichterin Huch dieser Schrift mit einem Vorwort diente, in dem sie betonte, eine Verständigung „der Deutschen mit den Juden“ sei noch möglich, mutet heute wie ein verzweifelter Versuch an, die Zeichen der Zeiten zu verdrängen und „die Fanatiker“ nicht ernst zu nehmen. Zu ihrer Zeit war dies jedoch eine Haltung, die unter manchen assimilierten deutschen Juden auf Verständnis stieß und wohl auch in Mainz ihre Sympathisanten fand. Die hier nur ansatzweise vorgestellte Sammlung antisemitischer oder apologetischer Schriften in der Jüdischen Bibliothek Mainz führt eindrucksvoll die gesamte Spannbreite der Möglichkeiten vor Augen, mit der dem grassierenden Antisemitismus begegnet wurde. Dass die Titel auch nach Krieg und Verfolgung nicht entfernt wurden, bestätigt nicht nur, dass selbst die französischen Behörden, die sich in den Jahren 1946–1947 intensiv darum bemühten, sämtliche Naziliteratur aus den Bibliotheken ihrer Besatzungszone zu verbannen, zu diesem Bestand keinen Zugang hatten.122 Es zeigt sich daran auch, dass die jüdische Gemeinde selbst nach der Katastrophe den Wert solcher Titel erkannte und die Bibliothek als Ganzes zu erhalten 120

Vgl. Gustav Stille, Der Kampf gegen das Judentum, Hamburg [1920] (Signatur A 175). – Siehe auch Franz Delitzsch, Was D. Rohling beschworen hat und beschwören will, Leipzig 1883 (Signatur F 16); ders., Neueste Traumgesichte des antisemitischen Propheten, Erlangen 1883 (Signatur F 26). 121 Zu Chamberlain und seinen Verehrern vgl. Benz, Antisemitismus, S. 100f. 122 Jedenfalls wird die Jüdische Bibliothek in keiner der Bestandslisten aufgeführt, die von der Militärverwaltung des Rheinlandes angefertigt wurden und in denen minutiös festgehalten worden ist, dass sämtliche verdächtigen Titel aus anderen Bibliotheken entfernt wurden.

3. Antisemitische Literatur

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verstand. Hätte man die antisemitischen Titel aus der nicht unberechtigten Sorge um ein Erstarken des Nationalsozialismus wie bei vielen anderen Beständen der französischen Besatzungszone entfernt und vernichtetet, der Forschung wäre ein wichtiges Quellenreservoir und ein bemerkenswerter Einblick in die innerjüdische Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus verloren gegangen. Angesichts der Ausmaße der Katastrophe, die über die jüdische Gemeinde hereinbrach, ist die Tatsache, dass ausgerechnet in ihrer Bibliothek seltene Literatur der Verfolger und Gegner bewahrt worden ist, ganz besonders hoch zu schätzen. 4. Zimelien Wie bereits der erste Überblick zu Beginn von Kapitel III. zeigte, bewahrt die Jüdische Bibliothek eine beachtliche Anzahl alter und seltener hebräischer Drucke. Bei fast all diesen Zimelien – die ältesten Bände stammen aus dem 16. Jahrhundert! – handelt es sich um Hebraica; nur wenige ältere Drucke sind in Jiddisch gedruckt, Latein oder Deutsch bilden unter den ältesten Titeln die Ausnahme. Meist stammen diese nichtjüdischen Werke aus Privatbesitz.123 Die anderen Rara tragen dagegen den Stempel „Lehmann-Bücherei“, sind also Erbe von Marcus Lehmann. Auch dies unterstreicht noch einmal die Bedeutung des Nachlasses dieses Predigers und Rabbiners für Mainz. Er bildet den Kernbestand der Bibliothek. 4.1 Die ältesten hebräischen Drucke Bei dem ältesten Buch in der jüdischen Bibliothek Mainz handelt es sich um einen philosophischen Kommentar zum Pentateuch, verfasst von Yishaq ben Moshe ‛Arama (ca. 1420–1494).124 Dieses einflussreiche Werk wurde 1522 zunächst in Saloniki und dann 1547 in Venedig von Daniel Bomberg unter dem symbolischen Namen ‛Aqedat Yishaq („Bindung Isaaks“, nach Gen 22) gedruckt. In Mainz ist nur der Venediger Druck erhalten. Der Verfasser, Rabbiner von Katalayud, vertritt in den darin gesammelten Predigten und Exegesen eine Moshe ben Maimon (1135–1204) aus Cordoba kritisierende Lehre von der Überlegenheit der Religion über die rationale Vernunft. Der darin zum Ausdruck kommende anti-aristotelische Trend wurde unter anderem von Yishaq Avrabanel (1437–1508), einem weiteren bedeutenden sefardischen Bibelkommentator, und sogar von christlichen Theolo123

Vgl. etwa Johannes Buxtorf, Lexicon Hebraicum et Chaldaicum, Basel 1631 (Signatur S 17) und Basel 1655 (Signatur S 19); ders., Florilegium hebraicum, Basel 1658 (Signatur L 63); ders., Lexicon Chaldaicum Talmudicum et Rabbinicum, Leipzig 1875 (Signatur N 3); Campegius Vitringa, Commentarius in Librum Prophetiarum cum prolegomenis, 2 Bde., Herborn 1715–1722 (Signatur D 47); Daniel Schneider, Allgemeines biblisches Lexicon, 3 Bde., Frankfurt am Main 1730/31 (Signatur D 45). – Bemerkenswert ist auch ein Band von Thomas Sydenham, Opera medica. Tomus primus et secundus, Genf 1757 (Signatur V 113), aus dem Privatbesitz des bekannten jüdischen Arztes Dr. Anschel aus Mainz (siehe zu ihm bereits oben Kapitel III.2.1). 124 Vgl. zu ihm Sara O. Heller-Wilensky, Art. Arama, Isaac ben Moses, in: EJ 3 (1971), Sp. 256–259. – Das Exemplar in der JBM trägt die Signatur M ‫ ע‬128 (alte Signatur HL/84; Zählstempel 3721). Es wurde aus Berufungsmitteln der Professur für Judaistik in Mainz restauriert.

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VII. Blicke in den Bestand

gen rezipiert. Anthon Julius van der Hardt übersetzte in seiner 1729 erschienenen Helmstedter Dissertation Teile des Buches ‛Aqedat Yishaq ins Lateinische.125 Der zweitälteste Band in der Jüdischen Bibliothek ist jenes philosophische Werk, welches von ‛Arama einer so grundlegenden Kritik unterzogen worden war – der More nevukhim („Führer der Unschlüssigen“) des Moshe ben Maimon (Akronym: Rambam), latinisierend Maimonides genannt. Das Exemplar in der Mainzer Bibliothek wurde 1551 in Venedig gedruckt und ist zu einem späteren Zeitpunkt restauriert worden; Erscheinungsort und Jahr sind auf dem Titelblatt handschriftlich ergänzt.126 Der Exeget, Rechtsgelehrte und „Philosoph-Theologe“ Maimonides, der in Folge der almohadischen Judenfeindschaft in Spanien über Nordafrika nach Ägypten fliehen musste, schuf mit dem ca. 1190 zunächst in Arabisch verfassten, dann bald zweimal ins Hebräische übertragenen „Führer der Unschlüssigen“ (arabisch: Dalālat al-Ha’irīn) ein epochales Werk, in dem er die umfassendste Auseinandersetzung mit der aristotelischen Philosophie führt, die bis dahin erschienen war.127 Ziel des in der Form eines Briefes gehaltenen Buches war unter anderem der Nachweis, dass die Bibel bei richtiger Interpretation den Vernunfterkenntnissen nicht widerspreche. Für rational ausgerichtet Gelehrte wurde der More später zum wichtigsten philosophischen Studienbuch. Aufgrund seines schroffen, zum Teil elitären Rationalismus lehnten es viele Traditionalisten jedoch ab, und sein Studium blieb in gewissen Kreisen sogar verpönt. In der neo-orthodoxen, rationalistischkabbalistischen Richtung, wie sie Samson Raphael Hirsch und dann auch Marcus Lehmann vertraten, blieb der More nevukhim zwar geachtet, aber er galt nicht als eine inspirierende Quelle für die neue „tora-treue“ Denkweise des „Tora-imDerekh Eres“.128 Eine intensivere Rezeption des „Führers der Unschlüssigen“ lässt sich dagegen bei Vertretern der Haskala, insbesondere in der osteuropäischen – wie z. B. Nahman Krochmal (gest. 1840)129–, beobachten, von denen sich in Mainz allerdings kaum Spuren finden.130

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Zur Geschichte des Druckes vgl. auch Marvin Heller, The Sixteenth Century Hebrew Book. An Abridged Thesaurus, Bd. 1, Leiden, Boston 2004, S. 144–145. Die Bedeutung des Buches wird auch durch die zahlreichen Neuauflagen belegt, von denen sich einige auch in der Bibliothek finden; auch sie stammen aus dem Lehmann-Bestand. Vgl. ‛Aqedat Yishaq, Frankfurt an der Oder 1785 (Signatur M ‫ ע‬126), und siehe auch den mehrfach erhaltenen Druck Pressburg 1849 (Signaturen M ‫ ע‬118–124). Zu den älteren Auflagen dieses wichtigen Buches vgl. noch Moritz Steinschneider, Catalogus Librorum Hebraeorum in Bibliotheca Bodleiana, 2. Auflage, Berlin 1931, S. 1093f. 126 Signatur M ‫ מ‬78; alte Signatur HL/844; Stempel „Lehmann-Bücherei“. 127 Zu Leben und Werk vgl. etwa Stefan Schreiner, Moses Maimonides. Arzt, Philosoph und Oberhaupt der Juden 1135–1204, Frankfurt am Main 2004 (= ders., in: Judaica 60, 2004, S. 281– 300). 128 Siehe hierzu Breuer, Jüdische Orthodoxie, S. 70–72 und bes. 152. 129 Vgl. dazu ausführlich Andreas Lehnardt, Nachman Krochmal und Maimonides, in: Görge Hasselhof / Otfried Fraisse (Hrsg.), Moses Maimonides (1138–1204) – His Religious, Scientific, and Philosophical Wirkungsgeschichte in Different Cultural Contexts, Würzburg 2004, S. 428–447. 130 Eine auffällige Ausnahme von dieser Beobachtung bildet allerdings das stark beschädigte Exemplar von Yishaq Baer Lewinsohns, Efes damim, Warschau 1884 (Signatur M ‫ א‬192). Siehe zu ihm Stefan Schreiner, Aufklärung als Re-Hebraisierung: Anmerkungen zu Isaak Ber Lewinsohns Haskala-Programm, in: Studia Judaica 5 (2002), S. 69–83.

4. Zimelien

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Unter den Zimelien der Bibliothek existiert noch ein weiterer Klassiker der jüdischen Philosophiegeschichte, und zwar das von Bahya Ibn Paquda verfasste, von Yehuda Ibn Tibbon aus dem Arabischen ins Hebräische übertragene „Buch der Anleitung der Herzenspflichten“ (Kitāb al-Hidāya ilā Farā’id al-Qulūb), hebräisch Sefer Hovot ha-Levavot, gedruckt 1559 in Mantua.131 Der Ende des 11. Jahrhunderts in Saragossa schreibende Verfasser schuf mit seinem Werk die einflussreichste Erbauungsschrift des jüdischen Mittelalters. Sie fand insbesondere in asketisch ausgerichteten Kreisen Beachtung. In zehn neu-platonisch, sufistisch beeinflussten Kapiteln, die die Herzenspflichten, die inneren Einstellungen, entfalten, werden die Einheit Gottes, Gotteserkenntnis aus der Schöpfung, Gottes-Dienst, Gottvertrauen, Ausrichtung allen Tuns auf den Dienst an Gott, die Fügung in Gott, Buße, introspektive Selbstkritik, Askese und Gottesliebe thematisiert.132 Das Buch hinterließ tiefe Spuren, diente es doch als Vorlage für eine ganze Reihe ähnlich asketisch ausgerichteter ethisch-moralischer Traktate der „Musar“-Literatur.133 Eine weitere Besonderheit unter den Mainzer Zimielien ist das von Yehi’el ben Yekuti’el Anaw aus Italien verfasste Sefer Tanya („Buch [des] ‚Es wird gelehrt’“), gedruckt in Cremona im Jahre 1565 – ein Halakha-Kompendium, welches große Ähnlichkeiten mit dem noch bekannteren Werk des Sidqiya ben Avraham Avav aus Rom (13. Jh.), Sefer Shibbole ha-Leqet (Erstdruck Venedig 1546), aufweist.134 Das Mainzer Sefer Tanya-Exemplar (Signatur H/77) ist insofern ein Unikat, als in ihm die ersten und letzten Seiten des Originaldruckes (eine Lage umfassend) fehlen, aber nachträglich feinsäuberlich handschriftlich ergänzt worden sind. Außerdem finden sich in ihm zahlreiche handschriftliche Glossen und Anstreichungen, die u. a. Parallelen in der ashkenazischen Minhag-Literatur vermerken.135 Dieselbe Art handschriftlicher Ergänzungen weist ein Exemplar des Sefer Reshit Da‛at („Anfang der Erkenntnis“) auf, gedruckt 1583 bei Di Gara-Frenzoni in Venedig.136 Der Verfasser dieses philosophischen Werkes mit Predigten und Auslegungen rabbinischer Dikta war Moshe ben Ya’aqov Albelda (1500 – ca. 1583) Signatur M ‫ ח‬44; alte Signatur HL/939; Stempel „Lehmann-Bücherei“. Auf dem Titelblatt und dem Vorsatz steht die falsche Jahreszahl „1570“. Der leicht beschädigte Band hat auf dem Titelblatt einen nur teilweise lesbaren hebräischen Vorbesitzervermerk aus der „heiligen Gemeinde Magensa“. Auf dem fliegenden Vorsatzblatt hinten ist in lateinischen Buchstaben „Mannheim“ vermerkt, ebenso sind allerlei hebräische Notizen und Schreibübungen zu erkennen; ein Falzstreifen aus Pergament weist lateinische Majuskeln auf. Zum Druck Mantua vgl. Vinograd, Thesaurus, Bd. 2, S. 463. 132 Siehe zu ihm und seinem opus magnum z. B. Stemberger, Geschichte, S. 117; dann auch T. M. Rudavsky, Medieval Jewish Neoplatonism, in: Daniel H. Frank / Oliver Leaman (Hrsg.), History of Jewish Philosophy, London, New York 2003, S. 159–162. 133 Vgl. hierzu Joseph Dan, Hebrew Ethical and Homiletical Literature (The Middle Ages and Early Modern Period), Jerusalem 1975 S. 47–52 (hebr.). 134 Vgl. zu ihm Y. Z. Feintuch, Tanya Rabbati, in: Sinai 80 (1977), S. 15–25. Der Verfasser des Sefer Tanya war wie Sidqiya Arzt und Schreiber; von ihm stammt unter anderem die berühmte Leidener Handschrift des Talmud Yerushalmi, das einzige heute noch erhaltene vollständige Manuskript dieses älteren Talmud. 135 Eine digitalisierte Fassung unter hebrewbooks.org. 136 Vgl. Signatur M ‫ ר‬18; alte Signatur H/322. 131

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VII. Blicke in den Bestand

Abb. 39: Moshe ben Maimon, More nevukhim, Venedig 1551 (Signatur HL/844)

4. Zimelien

Abb. 40: Yiṣḥaq Arama, ‛Aqedat Yiṣḥaq, Venedig 1547 (Signatur M ‫ ע‬128)

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VII. Blicke in den Bestand

aus Spanien.137 Das Mainzer Exemplar ist durch Wasser beschädigt, weist aber neben einer restaurierten Titelseite einige interessante Besonderheiten auf: So ist auf dem Frontblatt ein hebräischer Vorbesitzervermerk von Hirtz Oppenheim notiert; außerdem finden sich in dem Exemplar durchgehend lateinische Glossen und Kommentare, die wohl von einem hebräisch-kundigen, christlichen Gelehrten (einem Inquisitor?) aus früherer Zeit stammen.138 Später gelangte der Band in die „Lehmann-Bücherei“ und so schließlich in die Gemeindebibliothek. Beachtenswert ist auch ein Exemplar des facettenreichen Bibelkommentars Minha Belula („reines Feinmehl“) von Avraham ben Ya‛aqov ha-Kohen Rapa miPorto (Rapaport) Ashkenazi, gedruckt 1594 in Verona von Abraham ben Mattathias Basevi im Hause von Francesco dalla Donne.139 Der Autor wurde 1553 Zeuge der Talmudverbrennung in Venedig, und vielleicht hat er gerade deswegen besonderen Wert darauf gelegt, das Jahr des Erscheinens seines Werkes symbolisch mit dem Vers Jesaja 66,10 zu verknüpfen, der mit dem Wort „Freuet euch“, ‫שמחו‬, anhebt, welches dem Zahlenwert 354 (= 1594) entspricht. Eine weitere Besonderheit dieses aus Geonim und Midraschim ebenso wie aus späteren und zeitgenössischen halakhischen Werken zitierenden Buches ist, dass ihm ein Vorwort beigegeben ist, in dem der Verfasser genau tausend Wörter verwendet, die alle den hebräischen Buchstaben „bet“ enthalten. Da das Buch von „Unbeschnittenen“, d. h. Nichtjuden, gesetzt wurde, sind in ihm zahlreiche Druckfehler zu finden, wofür sich der Herausgeber, Rabbi Avraham ben Yehi’el Kohen Porto, bereits im Kolophon entschuldigt. Eine ebenfalls allein schon wegen seines in ihm erhaltenen Vorbesitzervermerkes beachtenswerter Band ist ein Exemplar des weit verbreiteten Sefer hahinnukh, gedruckt 1600 im Hause Di Gara in Venedig.140 Das bereits auf dem Titelblatt des Erstdruckes 1523 einem Aharon ha-Lewi (von Barcelona) zugeschriebene Halakha-Werk zählt die 613 Ge- und Verbote auf, die nach rabbinischer Tradition aus Bibel und mündlicher Tora abzuleiten und zu studieren sind.141 In diesem „Buch der Erziehung“ versuchte der Verfasser durch die systematische Anordnung der Tradtion, eine neue Verbindung zwischen Halakha und religiösem Empfinden herzustellen. Rationale, nachvollziehbare Begründungen für die Befolgung der Gebote sollten dem Gläubigen näher gebracht und praktikabler werden. Aufgrund dieses weitreichenden Programs wurde das Buch in zahlreichen Ausgaben schnell 137

Vgl. [Editorial Staff], Art. Albelda, Moses ben Jacob, in: EJ 2 (1971), Sp. 529. Zu diesem Druck vgl. Steinschneider, Catalogus, Bd. 2, S. 1769; Vinograd, Thesaurus, Bd. 2, S. 257. 138 Er notierte durchgehend die im hebräischen Text zitierten Bibelstellen, verweist aber auch auf hebräische Etymologien, die für das Verständnis des Originals nützlich sind. 139 Signatur N ‫ מ‬86, mit einem Vorbesitzervermerk von „Dr. Salfeld“. – Zu dem Buch vgl. Heller, The Sixteenth Century Hebrew Book, Bd. 2, S. 829. 140 Vgl. zu dem Druck Steinschneider, Catalogus, Bd. 2, S. 723; Vinograd, Thesaurus, Bd. 2, S. 261. Der Erstdruck des Buches erfolgte bereits 1523 in Venedig im Hause Bomberg. Da Gara versuchte, die Nachfolge Bombergs anzutreten. Siehe dazu [Editoral Staff], Art. Printing, Hebrew, in: EJ 13 (1971), Sp. 1102. 141 Siehe zu ihm David Rosin, Ein Compendium der jüdischen Gesetzeskunde aus dem 14. Jahrhundert, Breslau 1871 (Signatur R 57); dann auch Shlomo Z. Havlin, Art. Ha-Hinnukh, in: EJ 7 (1971), Sp. 1126f; Heller, The Sixteenth Century Hebrew Book, Bd. 1, S. 161.

4. Zimelien

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zu einem Klassiker der religionsgesetzlichen Literatur.142 Der anonyme Verfasser war zweifellos ein sefardischer Gelehrter, möglicherweise aber nicht identisch mit Aharon ha-Lewi (Akronym: Ha-RaH).143 Aharon ha-Lewi lehrte im 13. Jahrhundert in Toledo, wo er viele berühmte Schüler hatte, darunter sehr wahrscheinlich auch den Verfassser des Sefer hinnukh. Wichtigstes Indiz für die Herkunft des Werkes aus seinem Kreis ist eine Parallele in dem Sefer Pequdat ha-Lewi’im, das übrigens zuerst 1874 in Mainz gedruckt worden ist.144 Das Mainzer Sefer hinnukh-Exemplar trägt auf dem Titelblatt einen hebräischen und deutschen Besitzervermerk von Rabbiner Herxheimer, dem Halberstädter Lehrer von Siegmund Salfeld.145 Obwohl der Band keinen Stempel der „Salfeld-Bücherei“ oder einen anderen Vorbesitzervermerk aufweist, ist davon auszugehen, dass er über Salfeld in den Bestand gelangte. Als ein letztes Beispiel für die beachtliche Zahl an frühen Drucken in der Bibliothek sei ein Exemplar des Sefer Torat ha-Adam des großen sefardischen Gelehrten Moshe ben Nahman (1194–1270), kurz Ramban oder Nachmanides, vorgestellt. Nachmanides aus dem katalanischen Gerona wurde vor allem durch seine kabbalistisch und philosophisch inspirierten Tora-Kommentare berühmt. Sein Werk Torat ha-Adam, „die Lehre vom Menschen“, zählte jedoch aufgrund seiner praxisorientierten Unterweisungen über Tod, Trauer und Beisetzung bald zu den am meisten kopierten und gedruckten Werken dieses Gelehrten.146 Das bis dahin einzigartige Buch wurde später sogar als so wichtig erachtet, dass es in die Drucke der großen Rechtskodices des Ya‛aqov bar Asher, die Arba‛a Turim, und in den Shulhan ‛Arukh des Yosef Karo aufgenommen wurde.147 In strittigen Beerdigungsfragen wurde es häufig konsultiert und bildete eine wichtige Grundlage für die Minhag-Bücher der Beerdigungsbruderschaften mit ihren lokalen Besonderheiten.148 Bei dem Mainzer Exemplar dieses Werkes handelt es sich um den im Jahre 1595 erschienenen Venediger Druck aus dem Hause Di Gara.149 Ein hebräischer Vorbesitzervermerk auf dem Titelblatt stammt von einem Yisra’el Hayyim Motanela, dem Namen zufolge ein Jude italienischer Herkunft. 142

Noch heute finden sich zahlreiche Nachdrucke, zuletzt sogar mit deutscher Übersetzung von Gabriel Strenger im Morasha-Verlag in Basel (5. Bde., 1991–1995). 143 Dazu Yisrael M. Ta-Shema, Mehabero ha-amiti shel sefer „ha-Hinnukh“, in: Ders., Studies in Medieval Rabbinic Literature, Bd. 2: Spain, Jersualem 2004, S. 166–201, hier S. 197f. 144 Herausgegeben von Yishaq Dov Bamberger. Bedauerlicherweise ist kein Exemplar dieses von Yehi’el Bril gedruckten Werkes in der Bibliothek erhalten. Nachdrucke finden sich in Perush Rabbenu Yehonatan ha-Kohen mi-Lunel ‛al Hilkhot ha-Rif Massekhet Berakhot, ed. Moshe Yehuda ha-Kohen Blau, New York 1957. 145 Siehe oben Kapitel IV.1.6. 146 Der Erstdruck erfolgte 1519 in Konstantinopel. Weitere Drucke erschienen 1841 und 1876 in Warschau, zuletzt in Jerusalem 1955 und 1964. 147 Siehe zur Bedeutung etwa Israel M. Ta-Shema, Art. Nahmanides, in: EJ 12 (1971), Sp. 781. 148 Dazu auch Hayyim Dov Shewel, Mavo le-Sefer Torat ha-Adam, in: Ders. (Hrsg.), Kitve Rabbenu Moshe ben Nahman, Bd. 2, Jerusalem 1964, S. 9f. Zu einem solchen Handbuch einer Beerdigungsbruderschaft vgl. unten 5.1. 149 Signatur M ‫ ת‬74; alte Signatur HL/429; Stempel „Lehmann-Bücherei“. Die auf dem Titelblatt notierte Berechnung des Druckjahres „1708“ ist falsch. Siehe dazu Vinograd, Thesaurus, Bd. 2, 260. Eine digitalisierte Fassung findet sich unter hebrewbooks.org.

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VII. Blicke in den Bestand

Die Zimelienliste aus dem 16. und 17. Jahrhundert ließe sich beliebig weiter ausführen.150 Wie bereits erwähnt, lassen sich auf den Regalen der Jüdischen Bibliothek Bände aus vielen bedeutenden Orten der hebräischen Druckgeschichte nachweisen, darunter Werke aus Amsterdam, Berlin, Ofen, Prag, Saloniki, Wien sowie Fürth, Sulzbach, Offenbach, Hamburg-Wandsbeck bzw. Altona und Berlin. Auch Drucke aus kleineren, weniger bekannten Orten in Deutschland und Europa lassen sich ausmachen. So finden sich hebräische Drucke aus Brünn, Dessau, Halberstadt, Hannover, Ismir, Karlsruhe, Königsberg, Krotoschin, Lemberg, Neuwied, Pressburg, Rödelheim und Straßburg. All diese Exemplare sind für die weitere Erforschung der Geschichte des jüdischen Buchdrucks wichtig und wertvoll; viele Bände enthalten außerdem interessante und einmalige Vorbesitzerspuren. Inhaltlich lässt sich unter den frühen und seltenen Drucken ein gewisser Schwerpunkt auf der halakhischen Literatur erkennen. Philosophische und kabbalistische Titel sind dagegen seltener anzutreffen, und den Großteil der Sammlung bilden ohnehin liturgische Werke. Kabbala, die mystische Ausrichtung der jüdischen Tradition, spielte im Mainzer Judentum, insbesondere unter den Vertretern der traditionellen, „tora-treuen“ Richtung anscheinend eine vergleichsweise geringe Rolle. Zwar wurden kabbalistische Lehren integrierende Bücher wie das Pene Yehoshua‛ von Yoshua Falk und die Shne luhot ha-Brit, „die beiden Bundestafeln“, von Yeshaya Horowitz aus Frankfurt, studiert, und auch der Zohar, das Hauptwerk der Kabbala, war in den Bibliotheken vorhanden.151 Doch als wichtiger wurden offenbar lange Zeit das überlieferte Talmud-Studium und die Kenntnis der traditionellen Rechtskodizes sowie der Musar-Literatur angesehen, nicht die neuen und immer wieder ergänzten mystischen Kommentare. Vielen, auch den so genannten Orthodoxen, galt die Beschäftigung mit der Kabbala wohl als Kennzeichen einer „unaufgeklärten“, rückständigen Haltung, die es zu bekämpfen oder zumindest zurückzudrängen galt. Und diese Tendenz betraf auch die chassidische Literatur, von der sich in der Bibliothek ebenfalls nur sehr schwache Spuren finden lassen.152 Die traditionelle Linie der Gemeinde wird schließlich an einer weiteren Beobachtung deutlich: auch die christliche-jüdische Kontroverse fand in der ältesten Buchschicht der Bibliothek keinen nennenswerten Niederschlag. Die einzige mir bekannte Ausnahme bildet das berühmte apologetischen Sefer Nisahon („Siegesbuch“) von Yom Tov Lipmann Mühlhausen, gedruckt 1644 in Altdorf.153 Auf dem Frontspitz dieses Druckes (vgl. Abb. 41) erkennt man einen christlichen und einen durch Judenring auf dem Gewand kenntlich gemachten jüdischen Disputanten. 150

Eine auf Vollständigkeit zielende Liste findet sich unter http://www.juedische-bibliothek. ev.theologie.uni-mainz.de/. 151 Unter den relativ wenigen kabbalistischen Büchern fällt eine Ausgabe des Zohar auf, gedruckt in Venedig 1663 von Menahem di Lonzano. Das Mainzer Exemplar trägt einen handschriftlichen Besitzervermerk von Oscar Lehmann, hat aber keine Signatur. Möglicherweise kam es „verspätet“ in den Bestand. 152 Siehe dazu bereits oben S. 62 Anm. 115. Zu der weit verbreiteten Tendenz vgl. etwa auch Zeev Gries, The Printing of Kabbalistic Literature in the Twentieth Century, in: Kabbalah. Journal for the Study of Jewish Mystical Texts 18 (2008), S. 113–132, bes. S. 114. 153 Zur Druckgeschichte vgl. die Nachweise bei Steinschneider, Catalogus, Bd. 2, S. 1411f. Ein Faksimile erschien 1984 in Jerusalem, eingeleitet von E. Talmog.

4. Zimelien

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Gleich zu Beginn dieses einzigartigen Bandes wird so auf die in ihm entfaltete Thematik aufmerksam gemacht: die Auseinandersetzung mit dem Christentum.154 Weitere und vergleichbare Titel, die das Christentum zum Gegenstand haben, sind in der Bibliothek nicht vorhanden. Allerdings sind auch einige christliche Hebraica zu beachten. So finden sich gleich mehrmals die Hebräisch- und Aramäisch-Lexica von Johannes Buxtorf, und vorhanden ist auch eine merkwürdige hebräische Bibel mit dem Titel Derekh haqodesh („Weg durch das Heilige“), verfasst von dem christlichen Hebraisten Elia Hutter, gedruckt anno 1587 in Hamburg.155 Das von christlichen Hebraisten vielfach geförderte Studium des Hebräischen ging, so zeigt sich an diesen Beispielen, auch am Mainzer Judentum nicht spurlos vorüber. Offensichtlich griffen viele jüdische Gelehrte lange Zeit in Ermangelung eigener Lexica und Grammatiken auch zu den philologischen Hilfsmitteln fremder Gelehrter. Auf philologischer Ebene gab es wohl von jeher weniger Berührungsängste. Aus bibliothekarischer Sicht wichtiger, weil älter und seltener, bleiben freilich insgesamt die jüdischen hebräischen Drucke – seien es jene aus Mainz oder aus anderen Druckorten in seiner Umgebung. Einige dieser Titel seien nun noch näher vorgestellt. Jeder einzelne dieser Titel wäre die Zierde einer jeden Judaica-Sammlung. 4.2 Drucke aus Mainz In der Jüdischen Bibliothek sind zahlreiche bemerkenswerte und wichtige Hebraica aus Mainz erhalten. Die ältesten mit hebräischen Lettern gedruckten Werke aus Mainz fehlen allerdings. So findet sich kein Exemplar des wohl ältesten Druckes aus Mainz mit hebräischen Buchstaben, eine lateinisch-hebräische Ausgabe der Psalmen aus dem Jahre 1523156, und auch ein sehr seltener Mahzor nach dem sefardischen Ritus in spanischer Übersetzung mit einigen hebräischen Lettern aus dem Jahr 1584 (16°) ist in der Bibliothek nicht enthalten.157 Weitere etwa bei Vi154

Siehe hierzu Heinz Schreckenberg, Die Juden in der Kunst Europas. Ein Bildatlas, Freiburg i. B. 1996, S. 239. – Das Mainzer Exemplar mit der Signatur M J 52 weist einen Vorbesitzervermerk „Ex Bibliotheca Schölhorni“ sowie eine Notiz von Ernst Róth über Nachforschungen in Erlangen vom 14.12.1959 auf. Der Band wurde auf Kosten des Seminars für Judaistik und der Freunde der Universität Mainz restauriert. 155 Signatur D 23; Zählstempel 129. – Diese bemerkenswerte Bibelausgabe war als ein Hilfsmittel für (christliche) Studierende des Hebräischen gedacht. Die Wurzelkonsonanten eines hebräischen Lexems sind im Text fett gedruckt, um das Erkennen der Radikale zu erleichtern. Vgl. H. C. Zafren, Elias Hutter’s Hebrew Bible, in: A. Berger u. a. (Hrsg.), The Joshua Bloch Memorial Volume, New York 1960, S. 29–39. 156 Vgl. Vinograd, Thesaurus, Bd. 2, S. 456; see also Steinschneider, Catalogus, 10 (Index Sectio I Anonyma [45] „Ed. rariss“). 157 Siehe zu diesem Rarissimum etwa die kurze Notiz eines Anonymus über den Machsor Moguntia 1584, in: Soncino-Blätter 1 (1925–1926), S. 79–80, doch siehe auch A. A. Cowley, A Concise Catalogue of the Hebrew Printed Books in the Bodleian Library, Oxford 1929, S. 555, was dann wieder von Heller, The Sixteenth Century Hebrew Book, Bd. 1, S. XXXIVf abgeschrieben wurde. Wahrscheinlich stammt dieser Druck jedoch nicht aus Mainz, sondern aus Italien (Ferrara?) und wurde später in Dordrecht nachgedruckt (im Kolophon steht „Maguntia“). Siehe hierzu nun auch

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VII. Blicke in den Bestand

Abb. 41: Sefer Nisahon von Yom Tov Lipman Mühlhausen, Altdorf 1644 (Signatur M ‫ נ‬52)

4. Zimelien

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nograd aufgeführte frühe hebräische Druckwerke aus Mainz sind dabei nicht nur in der Jüdischen Bibliothek nicht (mehr) vorhanden – sie fehlen auch in anderen Mainzer Bibliotheken.158 Da m. W. bislang kein auf Vollständigkeit abzielendes Verzeichnis der Mainzer hebräischen Drucke erstellt worden ist, sind die in der Jüdischen Bibliothek erhaltenen Mainzer Bücher mit hebräischen Lettern von besonderer Wichtigkeit. Erschwert wird die Erstellung eines solchen Verzeichnisses durch den Umstand, dass zahlreiche Mainzer Hebraica nur in Kleinstauflagen produziert wurden und heute wohl an keinem Ort auf der Welt mehr vollständig und komplett erhalten geblieben sind. Manche „graue“ Schrift muss daher heute wohl als endgültig verloren gelten, andere Drucke sind nur noch beschädigt oder ohne das Titelblatt erhalten. Die meisten Mainzer Hebraica stammen aus dem Druckhaus von Yeḥi’el Bril(l) (1836–1886), dem wohl bemerkenswertesten Verleger und Produzenten hebräischer Schriften, der je in Mainz gewirkt hat.159 Bril hatte ein bewegtes Leben, war weit gereist und verfügte über zahllose Kontakte. Doch vor allem von Mainz aus hat er beachtliche Spuren in der jüdischen Buchwelt hinterlassen, ja Mainz zu einem in der gesamten jüdischen Welt bekannten Druckort für Hebraica gemacht. 1850 aus Russland nach Palästina ausgewandert, wurde Bril zunächst zu einem der Pioniere der hebräischen Druckkunst in Israel.160 So gründete er 1863 die erste hebräische Monatsschrift in Palästina, die den Namen „Ha-Levanon“ trug.161 Nach kurzer Zeit wurde das Erscheinen dieser Zeitschrift jedoch von den türkischen Behörden untersagt, was Bril dazu veranlasste, nach Paris weiterzuziehen, wo er seine Tätigkeit fortsetzen konnte.162 Nach dem deutsch-französischen Krieg 1870–71 ließ er meinen Beitrag für den Katalog von Annelen Ottermann (Hrsg.), „Rara wachsen nach“. Einblicke in die Rarasammlung der Stadtbibliothek Mainz, Veröffentlichungen der Stadtbibliothek Mainz 55, Mainz 2008, S. 42f. (mit weiterer Literatur). 158 Vgl. Vinograd, a. a. O., wo noch aufgeführt werden: Hirtz Avraham Naftali Scheuer, Amira ne‛ima, Mainz 1805 (eine Predigt für einen offiziellen Anlass); dann zwei Werke in Deutsch mit hebräischen Lettern: Statuten, herausgegeben von der Gesellschaft der Krankenpflege, Mainz 1823 sowie Torat Yisra’el von Avraham Alexander Wolf, Mainz 1825 (8°). 159 Zu ihm vgl. Eli‛ezer R. Malachi, Le-toldot ha-Levanon. Iggerot R. Yehi’el Bril le-R. Y’’M Pines, in: Ders., View from a Distance. Selected Articles on Eretz-Israel, hrsg. von Elhanan Rainer, Jerusalem 2001, S. 26–95. 160 Seine bewegte Lebensgeschichte hat Bril in einem 1903 in Mainz im Selbstverlag erschienenen, äußerst lesenswerten Bericht unter dem Titel Yesud ha-ma‛ala festgehalten. Vgl. hierzu ferner Getzel Kressel / Gedalyah Elkoshi, Art. Brill, Jehiel, in: EJ 4 (1972), Sp. 1374f. Siehe auch Eliezer Raphael Malachi, View from a Distance. Selected Articles on Eretz-Israel, Jerusalem 2001, S. 26–97. – Die Schreibweise seines Namens – mit oder ohne Abkürzungsstrichen vor dem Lamed – variiert. Wahrscheinlich geht der Name Bril auf eine Abkürzung für „Bar (Rabbi) Yehuda Leib“ zurück. 161 Sämtliche Ausgaben dieser Zeitschrift sind online zugänglich unter: http://jnul.huji.ac.il/dl/ newspapers/ halevanon/ html/halevanon.htm (Zugriff: 11.11.07). Zur Geschichte dieser Zeitung vgl. ausführlich Menucha Gilboa, Hebrew Periodicals in the 18th and 19th Centuries, Jerusalem 1992 (hebr.), S. 186–195. 162 In Paris wurde von Bril die seltene Gedichtsammlung von dem berühmten Bibelkommentator Me’ir Leibush Malbim, Shire qodesh we-lahem meshal u-melisa, Paris 1867 (JNL S 31 V 669) zum Druck gebracht. Außerdem brachte er dort das judäo-arabisch verfasste kabbalistische Werk von

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sich in Mainz nieder, wo er erneut seine Zeitschrift „Ha-Levanon“ herausbrachte, diesmal jedoch als ein Supplement zu der von Marcus Lehmann begründeten Zeitschrift „Der Israelit“. Die Zeitschrift „Ha-Levanon“, die nun den Titel „hebräische Ausgabe des ‚Israelit‘“ trug, erschien in Mainz in den Jahren 1871 bis 1882. Sie förderte nun ideell und finanziell vor allem die so genannte Haluqqa, d. h. die „Verteilung“ von Mitteln an die in Palästina meist unter ärmlichen Umständen lebenden Juden.163 Daneben produzierte Bril zahlreiche Titel anderer orthodoxer Autoren, von denen sich allerdings nicht alle in der Bibliothek erhalten haben, darunter auch einen ersten Band einer populären Erzählung von Me’ir Lehmann auf Hebräisch.164 Der Verlag Brils und sein Geschäft, in dem er auch Kultgegenstände feilbot, befanden sich in der Hinteren Bleiche Nr. 18.165 Fast alle Drucke aus seiner Setzerei wurden in der Joh. Wirth’schen Hofbuchdruckerei A.G. gefertigt. Nach 1881, einhergehend mit dem Erstarken der Hoveve Zion, der religiös-zionistischen Bewegung in Osteuropa, kehrte Bril nach Eres Yisra’el zurück. Nachdem er schon zuvor mit Anhängern der Bilu-Bewegung und Schriftstellern wie dem russischstämmigen Talmudisten und Hebraisten Yehi’el Mikha’el Pines (1842–1912) in Kontakt getreten war, verließ er nach einer Auseinandersetzung um Fragen der Besiedlung des Landes, die sich unter anderem in dem autobiographischen Bericht Yesud ha-ma‛ala (Mainz 1903) niederschlugen, das Land erneut und ließ sich nun in London nieder. Dort gab er noch einige Jahre lang weitere Hefte der Zeitschrift Ha-Levanon heraus, ohne jedoch an den Erfolg früherer Jahre anknüpfen zu können. Nicht alle von Bril gedruckten Werke sind in Mainz erhalten.166 Me’ir Ha-Levi bar Todros (Abulafia), Kitāb alrasayil, meturgam be-ivrit Sefer Iggerot, Paris 1871 (JNL S 23 V 9213) heraus. 163 Die Spenden und Gebernamen für die Haluqqa wurden jährlich in der Zeitschrift „Der Israelit“ veröffentlicht. Vgl. z. B. Der Israelit, Extra-Beilage zu Nr. 51 des 13. Jahrgangs, 1872, S. 1065. Siehe dazu auch die zu Beginn des Werkes Yesud ha-ma‛ala, Mainz 1903, S. 2 festgehaltenen vier Fragen zur Besiedelung des Landes. 164 Me’ir Lehmann, Zis Oppenheim. Sippur histori mesuppar u-mehubbar be-sefat Ashkenaz, Mainz: Bril 1872 (JNL S 31 V 3644). In diese Zeit fallen auch das Bändchen von Yishaq Dov haLewi Bamberger, Sefer Hinnukh le-ne‛arim kolel dine sisit we-tefillin ‛im targum ashkenazi, Mainz: Yehi’el Bril (Druck J. Gottesleben), 1872 (JNL 23 V 8481); Yehi’el Mikha’el Pines, Yalde ruhi mahberet rishona o hagbalat masav Yisra’el be-‛amim we-te‛udato ha-klalit be-hevrat ha-adam listom peyot dovre sheqer, Magensa 1872 (JNL S 3 IV 3213); Iggeret Rav Sherira Ga’on. Hosa’a le-or ‛al pi ha-nusha’ot be-ketuvot yadot shonot be-tiqqunim we-he‛arot Dov Baer Goldberg, Mainz: Bril 1872 (JNL S 32V 1034 (ohne Titelblatt) und von Abraham Berliner, Pletat Soferim kolel Perushe Pashtanim qadmonim ‛al pesuqe Tora shonim im Midrash haser we-yeter, Mainz: Yehi’el Bril 1872, häufig zusammengebunden mit dem deutschen Teil: Abraham Berliner, Plethath Soferim. Beiträge zur jüdischen Schriftauslegung im Mittelalter, nebst Midrasch über die Gründe der defectiva und plena, aus handschriftlichen Quellen herausgegeben und näher beschrieben, Breslau: Schletter’sche Buchhandlung 1872 (JNL S 22 V 2179). 165 Vgl. die Annonce aus „Der Israelit“ von 1881, S. 970. Dort heißt es, dass Bril auch „ausgewählte Etrogim aus dem Land des Heiligen Geistes“ anbot. Der Handel mit den für das Hüttenfest (Sukkot) benötigten Etrog-Zitruspflanzen stellte für den erfahrenden Palästina-Reisenden Bril gewiss ein erträgliches Geschäft dar. In der Anzeige erklärt er sich bereit, halakhisch nicht mehr einwandfreie Etrogim zurückzunehmen. 166 Siehe dazu bereits oben Anm. 144 zum Druck des Sefer Pequdat ha-Lewi’im, Mainz 1874, von dem es mittlerweile sogar einen Nachdruck gibt. Ein weiterer wichtiger Druck ist das geogra-

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Der Weggang Brils aus Mainz brachte es mit sich, dass hebräische Drucke aus der Stadt nun von Marcus und Oscar Lehmann selbst produziert wurden.167 Als Herausgeber des Israeliten verfügte insbesondere Oscar Lehmann bald über die notwendigen Möglichkeiten, kleinere Auflagen hebräischer Drucke selber herzustellen. Diese Schriften wurden teilweise nur als Beilagen zum Israeliten vertrieben, erreichten auf diese Weise aber nach und nach hohe Auflagen.168 Nach 1906, mit der Verlegung der Schriftleitung des Israeliten nach Frankfurt, wurde aber auch die hebräische Buchproduktion zunehmend in die Main-Metropole verlegt. Das letzte mir bekannte hebräische Werk aus Mainz wurde im Jahre 1888 gedruckt. Die folgende Liste der Mainzer Hebraica in der Jüdischen Bibliothek – vor allem solcher aus dem Hause Bril – ist chronologisch geordnet und durch kurze Erläuterungen und Hinweise zu Inhalt und Bedeutung der Publikationen ergänzt: Be’er ha-gola, ma‛alat AH’’Q [aron ha-qodesh] we-tuv we-qedusha rishona wesheniya shel Eretz Yisra‛el, middat we-tavnit mishkan Shilo u-vet miqdash rishon we-sheni we-kilehem asher yishartu bam ba-miqdash, … hibbero eḥad mi-hokhme we-Rabbane bene ha-gola asher mi-Sefarad u-shemo Pelai nimsa be-ketuvim beosar kitve yadot we-sefarim ‛attiqim … we-ne‛etaq la-dfus ‛al yede R’ Ya‛aqov Toperower, we-nosaf ‛elaw mar’e meqomot he‛arot we-he’arot mi-Re’uven ha-Kohen Rapoport, … Tarnopol, Magensa 1877.169 Dieser Druck eines bis dahin nicht edierten Werkes von Ya‛aqov Yehuda Leon (1602–1675)170 wurde von Bril nach einem Leipziger Manuskript herausgegeben, das für ihn von Ya‛aqov Toperower kopiert worden war. Zusätzlich berücksichtige er Verweise auf biblische Belegstellen und Anmerkungen von Ruben Rapoport aus Tarnopol in Galizien. Das Werk mit dem symbolischen Titel „Quelle der Diaspora“ beschäftigt sich wie ein ähnliches Buch Leons vor allem mit der Bedeutung des Landes Israel für das jüdische Leben, insbesondere mit den Geboten, die im Lande Israel beobachtet werden müssen. Einsetzend mit den Erläuterungen über die Anteilgabe an der Künftigen Welt durch den Aufenthalt im Lande Israel, die Beerdigung im Lande und die Trauer über das Land, schildert das Buch auf 176 Seiten in zwei Kapiteln die abgestuften Heiligkeitsgrade von Eres Yisra’el, ausgehend vom Tempelbezirk mit dem Allerheiligsten. Gewidmet ist der Druck dem Amsterdamer Rabbiner ‛Aqiva Lehrn und Shneur Siskind Hirsch, der sich ebenfalls für die in Israel lebenden Juden einsetzte. Wie bereits diese Widmung betont, möchte das Buch phische Buch Ibn Safir, Zweiter Teil, von Ya‛aqov Safir aus Jerusalem, Mainz 1874, welches 1970 in einem fotomechanischen Nachdruck in Jerusalem zusammen mit dem ersten und dritten Teil (teilweise Lyck 1866) erneut erschienen ist. In ihm ist das gesamte geographische Wissen aus jüdischen Quellen bis zur Haskala zusammengefasst. 167 Zu ihnen vgl. oben. 168 So vor allem die kleinen Taschenkalender, die als Beilagen zum Israeliten vertrieben wurden. Siehe die Exemplare des Luah le-shnat 5662 (1893/94), ebenso für die Jahre 1899/90, 1902/03, 1904/05), alle Mainz: Joh. Wirth’sche Hofbuchdruckerei A.-G. (gesammelt in JNL PA 5261). Dann auch die ‛Omer-Tabelle für das Jahr 5657 (JNL L 328). 169 Signatur M ‫ ב‬4; alte Signatur HL/455; Stempel „Lehmann Bücherei“. 170 Vgl. zu ihm etwa Adriaan K. Offenberg, Jacob Jehuda Leon (1602–1675) and his Model of the Temple, in: J. van den Berg / Ernestine G. E. van der Wall (Hrsg.), Jewish Christian Relations in the Seventeenth Century, Dordrecht 1988, S. 95–115.

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die höhere religiöse Bedeutung des Lebens im Heiligen Lande begründen – ein Gedanke, der aus dem Judentum westlicher Prägung lange Zeit verschwunden war, aber vor allem in orthodoxen Kreisen gepflegt wurde, lange bevor sich eine religiös-zionistische Bewegung etablierte. Das wohl bedeutenste Buch aus der Presse Brils war das: Sefer Tore Zahav ‛al Shir ha-shirim we-nosaf ‛alaw ma’amar be-‛inyan megillat Ester niqra be-shem sheqel ha-qodesh, … Hirtz Avraham Naftali Scheuer, av bet din we-rosh matte be-qehillat qodesh Magensa (Mainz), ben ha-Rav … Tevle Sheuer, Av bet din we-rosh matte de-qehillat qodesh Bamberg u-Mainz, sidartaw we-hosatiu le-or ‛olam be-dfus, ha-qatan Shmu’el … Bondi, Magenza: Bril 1875.171 Herz Scheuer (geb. Ende 1753–1822)172 war, wie bereits erläutert, Sohn des bedeutenden Mainzer Rabbiners Tevle Scheuer. Er leitete schon in jungen Jahren die Talmud-Schule seines Vaters und verfasste zahlreiche Talmudnovellen und Homilien.173 Das einizige je von ihm veröffentlichte Buch, das Werk „Tore zahav“ („Goldene Ketten“ nach Hoheslied 1,11), wurde posthum von seinem Enkel Samuel Bondi (1794–1877) herausgegeben. Bondi war Sohn von Moshe Yona Bondi, der aus Prag stammte und zunächst nach Dresden gezogen war, bevor seine Familie nach Mainz übersiedelte.174 Im dem Werk vorangestellten biographischen Vorwort schildert Bondi unter anderem, wie Scheuer seine kabbalistischen Studien vor seiner Familie zu verbergen suchte. Dieses heimliche Studium dürfte mit dem in traditionellen Kreisen umstrittenen Charakter der Kabbalisten und der besonderen Art ihrer zum Teil nächtlichen Studien zusammenhängen.175 Das kabbalistische Buch „alter Schule“, wie die Tore Zahav einmal von Gershom Scholem genannt wurden, stellt dabei vor allem den allegorischen Sinn des Hohenliedes heraus und betont gleichzeitig seinen mystischen, d. h. kabbalistisch gedeuteten Sinn („remez“) heraus. Das Hohelied wird zunächst allegorisch als Hinweis auf die Liebe des Volkes Israel zu Gott interpretiert. Im Stile der Symbolik des Zohar, des von Moshe de Leon verfassten Hauptwerkes der Kabbala, wird diese „geistreiche“ Deutung des Shir ha-Shirim, des Liedes der Lieder, dann aber mystisch vertieft.176 Scheuer, der seine letzten Lebensjahre in Offenbach am Main verbrachte, wollte mit seinem Das Werk ist in drei Exemplaren in der Bibliothek erhalten: Signatur M ‫ ת‬48; alte Signatur HL/944; Stempel „Lehmann-Bücherei“; Zählstempel 3565; Handschriftlicher Vorbesitzervermerk mit Bleistift: „Oscar Lehmann, Mainz“; M ‫ ת‬46; alte Signatur HL/ 944; Stempel „Lehmann-Bücherei“; Zählstempel 3566; M ‫ ת‬50; alte Signatur H/67; Zählstempel 2386. – Eine Abbildung des Titelblattes mit einer kurzen Erläuterung findet sich im Katalog zur Ausstellung Juden in Mainz, hrsg. von F. Schütz, S. 168. 172 Zu den Lebensdaten vgl. Löwenstein, Rabbiner in Mainz, S. 235–239; Wilke, Rabbiner, Bd. 2, S. 781; ders., Talmud, S. 112f u. ö. 173 Eine bislang unedierte Handschrift aus seinem Nachlass befindet sich noch in der Bibliothek. Vgl. Róth, Hebräische Handschriften, S. 203. Siehe dazu Kapitel VII.5.1. 174 Vgl. Salfeld, Bilder, S. 54. 175 Siehe hierzu die ausführliche Schilderung von Gershom Scholem, Die letzten Kabbalisten in Deutschland, in: Ders., Judaica 3, Frankfurt am Main 1987, S. 222f. Zur umstrittenen Stellung der Kabbala im deutschen Judentum vgl. noch Breuer, Jüdische Orthodoxie, S. 71 mit Anm. 76. 176 Vgl. auch Salfeld, Bilder, S. 78. 171

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Werk ältere kabbalistische Lehren zusammenfassen und für ein gelehrtes Publikum erläutern. Den Auftrag hierzu, so berichtet er zu Beginn seines Buches, habe er während einer langen Krankheit erhalten. Die Bedeutung dieses einzigartigen Mainzer Werkes mit spezieller Ausrichtung wird auch daran ersichtlich, dass es von Scholem einmal als das letzte ihm „bekannte Werk eines deutschen Kabbalisten“ bezeichnet wurde.177 Im gleichen Jahr erschien der erste Band einer auf mehrere Bände oder Lieferungen angelegten Talmud Yerushalmi-Edition, die von Rabbiner Marcus Lehmann ediert wurde: Massekhet Berakhot. Talmud Yerushalmi ‛im Perush nifla mi-Rabbenu Shlomo Bekhor Yosef Sirilio mi-megorashe Sefarad (we-hay be-sof me’a shelishit mi-elef ha-hamishit), … yasa rishona le-orot im he‛arot be-shem „Me’ir netiv“ niqret mimeni Me’ir (Dr.) Lehmann, Magensa: Bril(l) 1875.178 Diese Ausgabe des Massekhet Berakhot, d. h. des Talmud-Traktates über die täglichen Segenssprüche nach dem Jerusalemer Talmud, stellt in mancher Hinsicht einen Meilenstein in der Edition und Kommentierung eines rabbinischen Quellentextes dar. Nicht nur, dass der Talmud Yerushalmi lange Zeit von orthodoxen Kreisen für das Studium völlig vernachlässigt worden war – mit seiner Arbeit legte der Mainzer Gelehrte zum ersten Mal eine rabbinische Textedition mit einem durchgehenden, nach modernen Gesichtspunkten erstellten textkritischen Apparat vor. Denn Lehmann berücksichtige nicht nur den Erstdruck des Talmud Yerushalmi, Venedig 1523/24, sondern auch eine bis dahin unbekannte Handschrift eines aus Spanien vertriebenen Schreibers namens Sirilo. Bereits die Haskamot zu dieser von Lehmann bevorworteten Ausgabe loben dann auch die Initiative des Mainzer Rabbiners, der diese wichtige, aber vernachlässigte Quelle gehoben hätte. Verfasst wurden diese Approbationen von den hervorragendsten Rabbinern der Zeit, von Avraham Ashkenazi, Me’ir Auerbach, Yishaq Elhanan, Bezalel ha-Kohen, Me’ir Löbush Malbim, Azri’el Hildesheimer, Re’uven Kohen Rappaport, Zvi Berlin und Zvi Hirsch Ornstein. Lehmanns Kommentar erschien unter dem Titel „Me’ir netiv“, „Pfad des Me’ir“ bzw. „einer, der den Weg erleuchtet“ – ein im Deutschen nicht wiederzugebendes Wortspiel. Wie sehr diese Ausgabe und ihr gelehrter Kommentar begrüßt und geschätzt wurden, zeigt sich daran, dass er schließlich sogar in die traditionelle Standardedition des Talmud Yerushalmi, gedruckt 1922 in Wilna, 177

Scholem, Die letzten Kabbalisten, S. 222. Wie intensiv sich Scholem mit dem Buch Scheuers auseinandergesetzt hat, belegen übrigens die zahlreichen Unterstreichungen und deutschen sowie hebräischen Kommentare in seinem privaten Handexemplar, das in der Scholem Bibliothek in Jerusalem erhalten ist (Signatur 1753). Auf dem Vorsatzblatt dieses Bandes findet sich eine interessante handschriftliche Notiz Scholems in Hebräisch, die übersetzt lautet: „Und ich hörte über den Rabbi Shmu’el Bondi, der in diesem Buch erwähnt wird, dass sein Sohn dem Dr. Gumpertz (von ich dieses hörte) erzählte, dass sein Vater mit ihnen in der Shabbat-Nacht [das kabbalistische Buch] Ḥemdat Yamim zu studieren pflegte, und er war in Dresden geboren worden, ungefähr im Jahre 1900, und seine Familie stammte aus Prag, was den Tatsachen enspricht. Und das letzte Vorkommen der Kabbala in Deutschland scheint mit den Kreisen von Sabbatianern verbunden gewesen zu sein.“ Vgl. auch die Abschrift der Notiz in Dan / Liebes (Hrsg.), The Library of Gershom Scholem on Jewish Mysticism, Bd. 2, S. 942f. 178 Signatur D 33; Zählstempel 944.

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aufgenommen wurde. Dort findet er sich der Name Lehmann bis in die aktuellsten Nachdrucke aus Jerusalem und New York stets auch mit dem Hinweis auf den Druckort Magensa und den Drucker Bril.179 Wie kamen die wertvollen Sirillo-Handschriften der Ordnung Zera’im des Talmud Yerushalmi in den Besitz von Bril in Mainz? Die heute in London befindlichen Manuskripte mit dem Kommentar des Shlomo Sirillo aus dem 16. Jahrhundert sind – neben dem berühmten Ms Leiden Or. 4720 – die einzigen bekannten vollständigen Textzeugen des Talmud Yerushalmi zur Ordnung Zera‛im („Saaten“).180 Einige der erhaltenen originalen Handschrifteneinbände enthalten den Kaufvermerk „Bt. of J. J. Leep (al. Bril) 17.th of Jan. 1885“. Dies belegt, dass sie von einem Unterhändler für Bril zuvor erworben worden waren, bevor er sie an den Rhein mitbrachte. Ob dieser Händler die Manuskripte vielleicht schon vorher nach Mainz mitgebracht hat, lässt sich nicht mehr klären.181 Bril scheint darüber hinaus schon bevor er 1871 nach Mainz zog, einige dieser Bände in einer Kopie aus Jerusalem mit nach Europa gebracht zu haben. Von Mainz aus scheint er dann alle Manuskriptbände über Palästina nach London mitgenommen zu haben. Auf diesem Weg gelangten sie schließlich in die British Library.182 Marcus Lehmann hatte Bril erst in Mainz kennen gelernt. Wahrscheinlich war es Bril, der ihn dann zu seinen weiteren Yerushalmi-Studien anregte. In der Bibliothek zeugen von Lehmanns Bemühungen um diesen älteren, schwer zu interpretierenden Talmud noch heute zahlreiche seltene Druckausgaben von einzelnen Traktaten dieses Werkes.183 Wie Lehmann am Schluss seines Vorwortes zu seiner Berakhot-Ausgabe festhält, beabsichtigte er mit der Hilfe Brils, weitere Bände einzelner Yerushalmi-Traktate zu edieren. Auf dem lateinischen Titelblatt des Berakhot-Bandes ist sogar vermerkt, dass der Band noch den Traktat Sheqalim 179

Vgl. Talmud Yerushalmi o Talmud ha-Ma‛arav we-yesh qorin lo Talmud Eres Yisra’el, Bd. 1, Wilna 1922, erweiterter Nachdruck New York 1959; Jerusalem 1960. Vgl. hierzu auch Baruch M. Bokser, An Annotated Bibliographical Guide to the Study of the Palestinian Talmud, in: Jacob Neusner (Ed.), The Study of Ancient Judaism, Bd. 2, Atlanta Ga. 1992, S. 19. Ein Exemplar dieser Ausgabe muss sich in der IRG Mainz befunden haben, wie die in Anhang 6 veröffentlichte Liste belegt, in der ein siebenteiliger ‫ ש"ס ירושלמי‬aufgeführt ist. 180 Vgl. hierzu Hans-Jürgen Becker, Die „Sirillo-Handschriften“ des Talmud Yerushalmi, in: FJB 16 (1988), S. 53–73, hier S. 53f. 181 Lehmann bemerkt in seinem Vorwort, dass ein Band aus dem Nachlass des Jerusalemer Gelehrten Ya‛aqov Sfir ha-Lewi stamme, an den sie aus dem Nachlass des Rabbiners Yehuda Zerakhya Azulai gelangt waren. Einen weiteren Band der Handschrift erwarb Bril von dem Jerusalemer Buchhändler W. M. Shapira, allerdings wohl erst nach seiner Rückkehr nach Jerusalem 1882. Dieser Band soll sich, laut Lehmann, noch 1875 in Polen bei einem Rabbiner Brodin befunden haben. Vermutlich hatte Lehmann durch diesen Rabbiner Brodin Kenntnis von dem Manuskript. 182 Ms London, British Library Or. 2822. Vgl. Becker, Sirillo-Handschriften, S. 56 mit Anm. 18. Neu ediert wurden diese Handschriften von Peter Schäfer / Hans-Jürgen Becker (Hrsg.), Synopse zum Talmud Yerushalmi. Band I/1–2. Ordnung Zera‛im: Berakhot und Pe’a, TSAJ 31, Tübingen 1991. 183 So z. B. Talmud Yerushalmi, Seder Zera’im, Livorno 1770 (Signatur E 26; Zählstempel 552) – mit Amsterdamer Buchstaben gedruckt; siehe auch Talmud Yerushalmi mit Kommentar des Yehoshua‛ Benvenisti, Konstantinopel 1749 (Signatur E 30) und den Talmud Yerushalmi, Amsterdam 1710 (Signatur E 16).

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Abb.42: Talmud Jeruschalmi. Ordo Seraïm, hrsg. M. Lehmann, Mainz 1875 (ohne Signatur)

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über die so genannte Tempelsteuer enthalten sollte. Erschienen ist davon allerdings nichts mehr, was wohl mit dem Weggang Brils zusammenhing. Als ein die talmudischen Studien gleichwohl ergänzendes Buch erschien dann immerhin noch ein unter dem lateinischen Titelblatt veröffentlichtes Repertorium talmudicum sive memorabilia omnia de personis et rebus, Moguntiae: J. Bril 1887184, verfasst von Mikhal David ha-Kohen aus Lyon. Der hebräische Titel dieses von Eli‛ezer Waag (Paris) edierten talmudischen Lexikons lautete Sefer shekhiyat ha-hemda, ein Nachschlagewerk talmudischer Redewendungen, das symbolisch „Buch der Kostbarkeiten“ bezeichnet wurde. Lehmanns Talmudstudien trugen somit noch auf einem weiteren Gebiet Früchte, nämlich auf dem Feld der Lexikographie, blieben aber auch hier ganz der Tradition verbunden. Ein Buch, das bislang in keinem Verzeichnis der Mainzer hebräischen Drucke verzeichnet ist, trägt den Titel: Hilkhot shehita u-vediqa in daitsher sprakhe nach Sefer More le-zovhim fon … Yishaq Dov ha-Lewi, heroisgegeben fon Zalman Bamberger in Niederhagenthal (Elsass), gedruckt in Magensa von Oscar Lehmann 1886.185 Dieser Band von Salomon Zalman Bamberger (1835–1918)186 über das Schächten basiert auf einem von seinem Vater, Rabbiner Seligmann-Bär Bamberger (1807–1878), dem so genannten Würzburger Rav187, verfassten Buch und wurde von Oscar Lehmann zum Druck befördert. Dies Buch war nach einiger Zeit unter Schächtern so anerkannt, dass eine zweite Auflage bereits 1894 im Frankfurter Kaufmann-Verlag erschien.188 Das diesem Werk zugrunde liegende kleinere Buch des so genannten Würzburger Rav, das Sefer More le-zovhim, war zuerst 1863 in Fürth und dannach 1868 in Frankfurt am Main in Hebräisch veröffentlicht worden.189 Der Mainzer Band ist dagegen schon in Deutsch mit hebräischen Lettern gedruckt, was den bemerkenswerten Wandel im Umgang mit dem Deutschen selbst in so genannten tora-treuen Kreisen des deutschen Judentums erkennen lässt. Die teilweise sogar in lateinischen Lettern gedruckten Approbationen stammen von bekannten Rabbinen wie Isidor Weil aus Colmar, Menahem Avraham Treitsch (Dreyfuß) und Aaron Guggenheimer. Außerdem findet sich am Ende des Werkes ein deutsches Schreiben von „Distriktsrabbiner“ Bamberger, d. h. vom so genannten Würzburger Rav, in dem er sich kritisch über ein vergleichbares, kurz zuvor ohne rabbinische Approbation erschienenes Schächter-Handbuch äußert. Da die Bestimmungen über das Schächten, die nach rituellen Regeln zu erfolgende Schlachtung, äußerst komplex sind, gab es zahlreiche Streitpunkte über die korrekte Verrichtung der notwendigen Arbeiten. Das erhaltene Bändchen ist vielsagendes Zeugnis dieser ständigen Auseinandersetzungen, die nicht zuletzt auch durch den technischen Fortschritt hervorgerufen und beeinflusst waren. Gleichzeitig belegt der Band die 184

Signatur T 47; das Exemplar in der JBM trägt einen handschriftlichen Besitzervermerk von „Dr. Lehmann“. 185 Signatur M ‫ ה‬50; alte Signatur HL/577; Zählstempel 2277; Stempel „Lehmann-Bücherei“. 186 Vgl. zu ihm Wilke, Rabbiner, S. 167. 187 Siehe zu ihm Wilke, Rabbiner, S. 167–170; ders., Talmud, S. 508; S. 516ff. 188 Dieser Druck ist mittlerweile online veröffentlicht. 189 Vgl. Wilke, Rabbiner, Bd. 1, S. 168.

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enge Verbindung von Oscar Lehmann mit dieser Richtung der deutschen Orthodoxie.190 Eine kurze Sammlung von Gedenkreden aus Mainz trägt den Namen: Sefer shalosh yevavot le-‛orer levavot yivku banim we-avot ‛al mawwet ha-Rav ha-Ga’on he-hasid MW’’H Yehuda Leyb Sheuer .de-Q’’Q Düsseldorf we-ha-medina, quntres kolel shelosha drushim, be-‛inyan hesped we-divre kevushim, Magensa 1886.191 Diese von Oscar Lehmann verlegte Broschüre ist gleich in mehreren, zum Teil stark beschädigten Exemplaren in der Mainzer Bibliothek erhalten. Es handelt sich um drei Nachrufe („Klagen“) über den 1733 in Frankfurt am Main geborenen und am 24.01.1821 in Düsseldorf verstorbenen Rabbiner Löb Scheuer.192 Verfasst wurden diese hespedim („Leichenreden“) von dem Krefelder Rabbiner (Yehuda) Löb Carl(s)burg.193 Für den Druck aus einer Handschrift vorbereitet worden ist diese Sammlung von Meyer Roest, Conservator an der Bibliotheca Rosenthaliana in Amsterdam (1885).194 Wiederum sind dieser Publikation einige Approbationen, diesmal von den Rabbinern Shlomo Kohen aus Wilna und Naftali Adler (1839– 1911) 195 aus London, beide bekannte Vertreter einer strengen Orthodoxie. Die erste Predigt Carlburgs wurde anlässlich der Beisetzung Rabbiner Scheuers gehalten, die zweite in der Düsseldorfer Synagoge drei Tage nach dem Hinscheiden des Gelehrten und die dritte, nun in der Krefelder Synagoge, etwas später. Unter dem hebräischen Titel Seyag la-Perishut („Zaun der Abgrenzung“) ist dem Bändchen schließlich mit eigenem Titelblatt eine weitere in Krefeld gehaltene Homilie zum Shabbat Naso beigebunden. In ihr werden Gebote über den Nazir, einige Mishnayot aus den Sprüchen der Väter und die Haftara-Verse zum Wochenabschnitt Naso (Numeri 4,21–7,89) erläutert. Dass diese bemerkenswerte Predigtsammlung von Oscar Lehmann verlegt wurde, dürfte zunächst auf sein Interesse zurückzuführen sein, die sich in Krefeld hinter Rabbiner Carlburg sammelnden Orthodoxen zu unterstützen. Diese Gruppe bildete aufgrund der Auseinandersetzung mit den lokalen Reformvertretern eine eigene Begräbnisbruderschaft mit Namen Mahane Yehuda, „Lager Yehudas“, zum Gedenken an ihren Rabbiner Yehuda Löb Carlburg. Es handelte sich um eine Gruppe tora-treuer Gemeindemitglieder, die sich in einer ähnlichen Lage wieder190

Siehe dazu etwa auch den von Oscar Lehmann zum Druck beförderten Band: Perush Leqah tov (Pesiqta zutarta) ‛al Megillat Rut mi-Rabbenu Tuvya Bar Eli’ezer, ed. Yishaq Sekel und Simha Bamberger, Magensa 1887 (nicht in der JBM, doch in JNL) oder auch Seligman Bär Bamberger, Amira le-vet Ya‛aqov. Ansprache an das Haus Ya‛aqobs oder die drei besonderen faflikhten yiddisher Ehefrauen: Nidda, Halla, Hadlaqa, Magensa 1889 (nicht in der JBM). 191 Es ist in zahlreichen Exemplaren in der Bibliothek vorhanden: Signaturen M ‫ ש‬76; M ‫ ש‬78; M ‫ ש‬80; M ‫ ש‬82; M ‫ ש‬86; M ‫ ש‬88. 192 Vgl. zu ihm Wilke, Rabbiner, Bd. 2, S. 782f. 193 Vgl. Wilke, Rabbiner, Bd. 1, S. 219f. Carlburg stammte aus Siebenbürgen, Alba Iulia. 194 Die benutzte Handschrift befindet sich in der UB Amsterdam, Bibliotheca Rosenthaliana, Cat. S. 1171, Nr. 13. 195 Vgl. zu ihm Cecil Roth, Art. Adler, Hermann (Naphtali), in: EJ 2 (1972), Sp. 278f. Er hatte seine Semikha wie Lehmann von Rabbiner Shlomo Y. Rapaport in Prag erhalten. Vermutlich sind die in einigen Büchern gefundenen Stempel der „Chief Rabbis Emergency, London England“ durch ihn oder die von ihm geförderten Kontakte zu erklären. Siehe dazu bereits oben.

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VII. Blicke in den Bestand

fand wie die Mainzer IRG-Angehörigen. Löb Scheuer, einer der geistigen Väter dieser Richtung von Orthodoxie, war außerdem verheiratet mit Henriette Schiff aus Frankfurt, die einem unten noch näher vorzustellenden berühmten und einflussreichen Rabbinergeschlecht entstammte.196 Ein weiterer bislang wenig beachteter Mainzer Druck ist das: Sefer Limmud ‛Arukh al Mas[sekhet] Rosh ha-Shana, Ta‛anit, Sukka, we-hen hen ha-devarim, pirushe tevot we-‛inyanim be-hilkhot we-aggadot asher mefusarim u-mefuradim nimsa’im ana we-ana ‛al massekhtot halalu be-tokh sefer Ha-‛Arukh le-Rabbenu Natan bar Rabbenu Yehi’el z’’l, sidarnum hinne ‛al pi seder ha-massekhtot, Yishaq Dov ha-Lewi Bamberger, Magensa: Oscar Lehmann 1890.197 Bei diesem Werk von Salomon Zalmann Bamberger handelt es sich um Erklärungen und textkritische Bemerkungen zu dem großen talmudischen Lexikon ‛Arukh, verfasst im 11. Jahrhundert von Natan ben Yehi’el aus Rom. Nach Wortlemmata angeordnet galt als wichtige Quelle für das Verständnis des Babylonischen Talmud, war aber lange ungedruckt geblieben und erschien dann in fehlerhaften Drucken, die weitere Erklärungen erforderten.198 Die der Reihe der Talmud-Traktate folgenden Erklärungen Bambergers beziehen sich zwar auf den Lemberger Druck des ‛Arukh aus dem Jahre 1853, doch der Autor schreibt im Vorwort, er habe auch den Erstdruck Venedig 1531, eine Handschrift aus dem Besitz von Zalman Hayyim Halberstamm in Belitz und ein Manuskript des ‛Arukh in der Stadtbibliothek Bern zur Verbesserung der Lesarten verwendet. Finanziert wurde der Druck dieses 91 Seiten umfassenden Bändchens durch Naftali Dreyfus aus Cernay (Sennheim), der damit dem Andenken seines Vaters dienen wollte. Salomo Bamberger war seit 1878 Rabbiner in Cernay; ein von ihm verfasster Nachruf auf Dreyfus erschien im Januar 1889 in der Zeitschrift „Der Israelit“. Der Mainzer Druck des Limmud ‛Arukh ist der dritte Band in einer Reihe von zuvor erschienenen Titeln gleichen Namens. Bände zu den Talmud-Traktaten Shabbat und Berakhot waren bereits 1867 und 1872 in Fürth erschienen, wobei die bemerkenswert intensive Beschäftigung mit einem so trockenen Gegenstand erst vor dem Hintergrund ähnlicher Publikationen zu textkritischen Fragen des Würzburger Ravs zu verstehen ist. Bereits 1873 hatte dieser den ersten Teil eines Buches mit dem Titel „Qore be-emet“ in Frankfurt am Main veröffentlicht. In diesem Werk beschäftigte er sich erstmals mit Fragen der Überlieferung von Textvarianten des biblischen Textes in der rabbinischen Literatur, wobei er die jüdische Texttradition gegen die Erkenntnisse der modernen Bibelwissenschaft zu verteidigen suchte. Der zweite Teil dieses Werkes erschien 1878 ebenfalls in Mainz und wurde zwischenzeitlich in orthodoxen Kreisen in Israel nachgedruckt.199 In der Jüdischen Bibliothek Mainz ist leider kein Exemplar dieses wichtigen und viel benutzten Werkes er-

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Zur Familie Schiff vgl. Kapitel VII.4.4. Signatur M ‫ ל‬46; alte Signatur H 21; Zählstempel 3189. 198 Die heute verbreitete Ausgabe wurde von dem aus Ungarn gebürtigen Gelehrten Alexander Kohut in den Jahren 1878 bis 1892 in New York erstellt. Seitdem erschienen viele Nachdrucke dieser un- bzw. vorkritischen Edition. 199 Vgl. Wilke, Rabbiner, Bd. 1, S. 167. 197

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halten. Der vorhandene Limmud ‛Arukh vermittelt jedoch einen Eindruck von der Ernsthaftigkeit und Relevanz solcher textkritischer und philologischer Studien. Im engen Zusammenhang mit dem vorangehenden Titel ist ein weiterer Mainzer Druck zu sehen, der noch in der Druckerei von Yehi’el Bril erstellt wurde: Sefer Hegyon Shlomo kolel tiqqunim le-S[efer] ha-‛Arukh al pi ketav yad ehad she-be-yad ha-hakham ha-shalem ha-torani ha-mufla Shlomo Zalman Halberstamm be-Bilitz, Magensa: Yehi’el Bril 1888.200 Dieses Buch stellt im Grunde einen Vorläufer zu dem vorangehend vorgestellten Titel dar; wie der später erschienene, aber ausführlichere Limmud ‛Arukh enthält es Korrekturen und Ergänzungen zu dem berühmten talmudischen Lexikon des Natan aus Rom. Verfasst von Salomo Zalman Bamberger begleitet das Bändchen wiederum eine Approbation von Emanuel Dreyfuß (‫)טריוש‬, zu diesem Zeitpunkt noch Rabbiner im badischen Sulzburg (gest. 1886).201 Bamberger war bis 1872 Stiftsrabbiner in Sulzburg, bevor er nach Endigen und Lengau im Argau wechselte; er war daher mit Dreyfuß gut bekannt.202 Eine weitere haskama stammt von Rabbiner Abraham Adler aus Aschaffenburg (1808–1880), einem engen Gefährten Seligman Bär Bambergers203; Nachfolger Rabbiner Adlers in Aschaffenburg wurde dann später Simon Bamberger (1832–1897), der älteste Sohn des großen Würzburgers.204 Ein weiterer Band aus dieser badischen Schule der Orthodoxie ist die von Emanuel (Menahem, genannt „Mendele“) Dreyfuß verfasste Sammlung von Vorschriften („dinim“) und mündlichen Lehren, die unter dem Titel „Orah meshrarim“ zuerst 1858 in Mulhouse erschienen war, die aber aufgrund ihrer großen Beliebtheit 1878 von Yehi’el Bril in Mainz nachgedruckt wurde.205 Wie die anderen zuvor vorgestellten Hebraica so ist auch dieses Bändchen typischer Ausdruck des Autonomiebestrebens und der Tora-Treue der orthodoxen Separatgemeinde, einer Gemeinde, die sich geistig vor allem an dem großen Gelehrten in Würzburg, Selig Bär Bamberger, orientierte. Weitere nur zum Teil mit hebräischen Lettern gedruckte Schriften aus Mainz stammen aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und wurden in verschiedenen Verlagen der Stadt gedruckt. Ein herausragendes Beispiel für den liberalen Ritus, wie er in der Synagoge in der Hindenburgstraße gepflegt wurde, ist anonym unter dem Titel Tefilla le-‛edat Yeshurun le-fi bet ha-knesset de-qehilla qedusha Mainz veröffentlicht worden. Unter diese Kategorie von Mainzer Hebraica ist auch einzuordnen: Signatur: M ‫ ה‬16; alte Signatur HL/427. Siehe zu ihm Wilke, Rabbiner, Bd. 1, S. 256. 202 Vgl. den Artikel in „Der Israelit“ vom 16.10.1872, S. 884. 203 Vgl. zu ihm Wilke, Rabbiner, Bd. 1, S. 122f. 204 Siehe Wilke, Rabbiner, Bd. 1, S. 170f. 205 Signatur M ‫ א‬202; alte Signatur HL/947; „Lehmann-Bücherei“. Die Mainzer Auflage enthält Approbationen der Rabbiner Shlomo Ze’ev Klein und Rafa’el Wormser. Eine Rezension der ersten Auflage erschien in Der Israelit 24 (1860), S. 283f. Dort wird betont: „Das vorliegende, vortreffliche Werk möchte sich vorzüglich zu allsabbatlichen Vorträgen für Lehrer, wie diese in vielen Gemeinden üblich sind, eignen.“ 200 201

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Deutsche Gesänge beim öffentlichen Gottesdienste in der Synagoge zu Mainz (nebst vorangedruckter Synagogen-Ordnung), Bd. 1, Frankfurt am Main: J. G. Müller, Stiftsstraße 20, o. J.206 Obwohl in Frankfurt gedruckt, ist dieser Band als ein Mainzer Druck aufzuführen, zumal ihm noch eine Synagogenordnung und ein in Mainz 1853 verfasstes Vorwort beigegeben sind. Zwei weitere hebräisch-deutsche Broschüren wurden für die Einweihungsfeiern der orthodoxen Synagogen von Mainz gedruckt. Der erste Druck wurde noch in Rödelheim, in der Nachfolgedruckerei des berühmten Druckhauses von Wolf Heidenheim, erstellt und trägt den Titel: Programm für die Einweihung der Synagoge. Bet Tefillat Yisra’el. Mainz am 24. Mai 5616 (1856), 24. Elul 5616, Rödelheim: J. Lehrberger & Comp. 1856.207 Dieses Pogrammheft, welches mit dem um 15:00 Uhr nachmittags angesetzten Minha-Gebet einsetzt, gibt Anweisungen für den Festzug von der alten Synagoge in der „Judengasse D. 402“ hin zum neuen provisorischen Betlokal in der Mitternachtstraße. Abschiedsworte wurden bei dieser Gelegenheit „vom Prediger, Herrn Dr. Lehmann“, gesprochen, bevor er die Tora-Rollen ausgehob und sie „bestimmten Personen“ übergab. Es folgte eine von einem Chor begleitete feierliche Überreichung des Schlüssels der Synagoge vor der eigentlichen „Hauptfeier“, in deren Verlauf Psalmen und ein deutsches Gebet für Ludwig III., Großherzog von Hessen und Rhein, und seine „durchlauchtigste Frau Gemahlin Mathilde, Königliche Hoheit und Ihre Fürstliche Familie“ gesprochen wurden. Abgeschlossen wurde die Zeremonie mit einer Festpredigt und der leisen Rezitation von Psalmen.208 Ein weiterer kleiner Druck aus Mainz mit hebräischen Lettern ist das Programmheft für die Einweihung der neuen orthodoxen Synagoge: Bet Tefillat Yisra’el. Mainz am 26. Mai 5639 (1879), 4. Siwan 5339, Mainz: Gottesleben’s Druckerei 1879.209 Diese Schrift folgt im Aufbau der gleichen Liturgie wie das voranstehnd vorgestellte Heft, nur dass in dieser „Programmbroschüre“ die Abschiedsworte ausdrücklich als von „Rabbiner“ Dr. Lehmann gesprochen eingeführt werden. Außerdem heißt es innerhalb des Gebetes für die Obrigkeit „beschütze unsere mächtigen, frommen, gnädigen Herren, Se. Maj. den deutschen Kaiser, Se. Königl. Hoheit Ludwig IV., Großherzog von Hessen und bei Rhein und ihre fürstlichen Familien“. Ein anderer hebräisch-deutscher Druck aus Mainz bietet eine Gebet-Ordnung für den Jugendgottesdienst in der Jüdischen Gemeinde zu Mainz (Sabbath-Nachmittag), Neunte Auflage, Berlin: gedruckt 1911 bei Julius Sittenfeld, Hofbuchdrucker.210 206

Signatur HL/363; „Lehmann-Bücherei“; Zählstempel 4623. Signatur M 267; Zählstempel 4994. Die Broschüre umfasst 29 Seiten. 208 Zu diesem Heft gehört noch das in wenigen Exemplaren erhaltene deutsche Schriftchen: Das Gotteshaus. Festpredigt, gehalten zur Einweihung der Synagoge ‫ בית תפילת ישראל‬zu Mainz am 24. September 5616 (1856) von Rabbiner Dr. M. Lehmann, Mainz 1856. – Einer dieser Bände findet sich auch in den CAHJP in Jerusalem. 209 Alte Signatur L/169; Signatur M 269; Stempel „Lehmann-Bücherei“; Zählstempel 2471 – ebenfalls 29 Seiten. 210 Signatur M 257; Zählstempel 5181. 207

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Dieser kleine Siddur ist in großen Auflagen erschienen und erhielt nur noch auf dem Titelblatt den gestempelten Hinweis auf den Erscheinungsort „Mainz“. Die Gesänge sind mit Noten und Tempiangaben versehen. Der hebräische Text ist mit einer deutschen Übersetzung versehen. Zwischen den Notenlinien stehen die hebräischen Wörter in Umschrift mit lateinischen Buchstaben, womit den des Hebräisch nicht mehr Kundigen gedient werden sollte. Das in lateinische Lettern transkribierte Hebräisch folgt dabei übrigens ashkenazischer Aussprache und beginnt mit „Aschre ho-om sche-ko-cho-lau“. Diese Aussprache war damals in den Mainzer Gemeinden noch die am häufigsten zu vernehmende – und zwar sowohl in orthodoxen wie reformorientierten Kreisen. Auch in diesen Jugendgottesdienst war ein Gebet für „Wilhelm II., den Kaiser des deutschen Reiches“ und „Auguste-Victoria seine Gemahlin“ aufgenommen. Abgeschlossen wird das kleine Bändchen von 25 Seiten mit einer deutschen „Chanukah-Hymne“: „Schirm und Schutz in Sturm und Graus“ (samt Noten).211 Die hier gebotene Liste von hebräischen Drucken aus Mainz bleibt unvollständig. Zu viele Bände scheinen mit der Zeit verschwunden und wurden durch die verschiedenen Umzüge und Transporte zu stark beschädigt. Die Liste zu vervollständigen wird angesichts der großen bibliothekarischen Schwierigkeiten, vor denen die Katalogisierung hebräischer Titel nach wie vor steht, eine Aufgabe für die Zukunft bleiben.212 4.3 Drucke aus Frankfurt am Main Frankfurt am Main gehörte seit den letzten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts zu den wichtigen Druckorten für hebräische Bücher in Deutschland, und es überrascht daher nicht, dass sich auch in der Mainzer Jüdischen Bibliothek zahlreiche frühe Belege für dieses Zentrum jüdischer Buchkunst finden. Einige seltene Exemplare Frankfurter Drucke sind allein schon wegen ihres guten Erhaltungszustandes und interessanter Vorbesitzervermerke einer genaueren Vorstellung wert. Doch sind darüber hinaus auch solche Bände erhalten, die sich nur noch in wenigen anderen Kollektionen in Deutschland nachweisen lassen.213

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Ähnlich gehalten sind die ohne hebräische Schriftzeichen gedruckten Deutschen Gesänge beim öffentlichen Gottesdienste in der Synagoge zu Mainz, erstes Heft (nebst vorangestellter Synagogen-Ordnung), o. O., o. J. (Signatur M 239; Zählstempel 5297). 212 So fehlen in der Mainzer Bibliothek neben einigen bereits zuvor in den Anmerkungen genannte Mainzer Drucke, die in anderen Bibliotheken nachzuweisen sind: Yishaq Ya‛aqov Rheines, Sefer Hotam Tokhnit. Kolel dugma’ot mi-Sifre ha-gadol, Mainz: J. Bril, 1880 (JNL S 24 V 173); Shlomo Thein, Sefer Yeri‛ot Shlomo, Magensa: Oscar Lehmann (Joh. Wirth’sche Hofbuchdruckerei) 1889 (Kommentare zu Shir ha-shirim); Menashe Yeḥezqi’el Yona, Sefer Pashṭanim u-perushim ‛al hamisha humshe Tora, Magensa: Oscar Lehmann, 1888 (JNL 22 V 4529). 213 Dabei ist zu beachten, dass sich in der Bibeliothek auch seltene Drucke aus Frankfurt an der Oder finden. Erhalten sind etwa auch Bände eines von dem Hofjuden Behrend Lehmann aus Halberstadt veröffentlichten Talmud-Druckes aus Frankfurt an der Oder 1697–1699. Vgl. zu diesem Talmud-Druck Fraenkel, Genealogical Tables, Bd. 1, S. 62f; Schmelzer, Studies, S. 45*f. und nun auch R. Leicht, Daniel Ernst Jablonski und die Drucklegungen des Babylonischen Talmud in Frank-

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VII. Blicke in den Bestand

Erhalten ist etwa ein Exemplar der bekannten, Ḥovot Ya’ir genannten Halakha- und Responsensammlung von Ya’ir Ḥayyim ben Moshe Shimshon Bacharach (1638–1702), gedruckt in Frankfurt am Main 1699.214 Vom gleichen Drucker, Johann Wust, dem Sohn von Balthasar C. Wust, stammt ein Druck des ‛Avodat Gershoni, Frankfurt am Main 1699. Seine Druckerei hatte er um 1690 in Frankfurt errichtet, doch stießen seine Produkte bald auf die Vorbehalte Strenggläubiger, da er auf seinen Titelblättern unbekleidete Barockengelchen abbildete.215 Gershon Ashkenazi, der Verfasser dieses Halakha-Werkes, war Schüler der berühmten Gelehrten Rabbiner Yo’el Sirkes und Menahem Mendel Krochmal.216 Das Oeuvre dieses bedeutenden polnischen Rabbiners umfasste Responsen und Talmud-Kommentare.217 Zunächst fungierte er als Richter (Dayyan) in Krakau, dann als Rabbiner in Posnitz, Hanau und Nickolsburg. Einige Zeit verbrachte er in Wien; schließlich wurde er zum Haupt des Gerichtshofes (Av bet Din) von Metz ernannt, wo er bis zu seinem Tod 1693 halakhische Fragen entschied. Sein Hauptwerk ‛Avodat ha-Gershoni machte sich die gesamte zu seiner Zeit bekannte halakhische Literatur zunutze und enthält zahlreiche Responsen, die bis heute Beachtung finden. Sein Werk reflektiert nicht nur den beeindruckenden Wissensstand, sondern gibt durch zahlreiche aktuelle Bezüge auch einen Eindruck von den katastrophalen Folgen der Chmielnicki-Massaker (1648/49) für das jüdische Leben im 17. Jahrhundert. Trotz dieser Katastrophen flüchtete sich der Autor nicht in mystische Spekulationen.218 Sein Denken lässt vielmehr ein anti-mystisches Anliegen erkennen, das er auch an seine Schüler weitergab – unter ihnen etwa auch der in Worms geborene, von uns bereits vorgestellte David ben Avraham Oppenheim(er).219 Zumindest ein Mainzer Exemplar des ‛Avodat Gershoni („Dienst des Gershon“) gehörte zur „LehmannBücherei“.220 Wahrscheinlich erfolgte die zweite Signaturvergabe dieses Bandes im Zuge seiner Aufnahme in die Bibliothek der Synagoge in der Hindenburgstraße. Einem handschriftlichen Besitzervermerk auf den ergänzten Ecken des Titelblattes zufolge gehörte der Band den nicht näher bekannten „qesinim“, d. h. Gemeindevorstehern Rav Yanke und Rav Yosman.221 furt/Oder und Berlin (1697–1699, 1715–1722, 1734–1739), in: J. Bahlke u. a. (Hrsg.), Jabloniana, Bd. 1, Wiesbaden 2008, S. 491–516. 214 Signatur M ‫ ח‬52 und 54. – Zu Bacharach, ein Rechtsgelehrter, Kabbalist und zeitweiser Anhänger des Pseudo-Messias Shabbatai Zwi, vgl. etwa Reuter, Warmaisa, S. 55f. 215 Vgl. Steinschneider, Catalogus, Bd. 2, S. 1010; Vinograd, Thesaurus, Bd. 2, S. 582 (# 153). Der sha‛ar des Mainzer Exemplars ist bereits zu einem früheren Zeitpunkt sorgfältig restauriert worden. Der handschriftliche Benutzervermerk ist in hebräischer Kursive über die ergänzten Ecken des Titelblatts aufgebracht (vgl. Abb. 43). 216 Vgl. I. Z. Kahane, Art. Ashkenazi (Ulif), Gershon, in: EJ 3 (1971), Sp. 726. 217 Vgl. die Hiddushe Gershoni, Frankfurt am Main 1710 (Signatur M ‫ ח‬72; alte Signatur HL/213). 218 Vgl. hierzu Simon Dubnow, Geschichte des jüdischen Volkes in der Neuzeit. Bd. 7: Die Neuzeit, Berlin 1928, S. 347. 219 Dazu oben Kapitel IV.1.1. Von David Oppenheimer stammt auch eine praefatio. 220 Es trug erst die Signatur HL/694, wurde dann umsigniert mit G 22. 221 Weitere Exemplare dieses Drucks, zum Teil in besserem Zustand, aber ohne eindeutige Vorbesitzervermerke, finden sich unter den Signaturen G 18 (alte Signatur HL/698), G 20 (alte Signatur HL/686), G 22 (alte Signatur HL/694) und G 124 (alte Signatur HL/127). Der „HL“-Signatur

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Abb. 43: She’elot u-Teshuvot ‛Avodat Gershoni, Frankfurt am Main 1699 (Signatur G 22; alte Signatur HL/694)

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VII. Blicke in den Bestand

Weitere wertvolle Frankfurter Drucke in der Bibliothek sind das berühmte Werk von Aharon Shmu’el ben Yisra’el Kaidanower, Tif’eret Shmu’el („Schönheit Samuels“), ediert 1696 von seinem Sohn Svi Hirsch Kaidonover.222 Aharon Kaidanover (1614–1676) musste während der Chmielnicki-Pogrome aus Litauen fliehen und wurde Rabbiner in Frankfurt am Main, bevor er 1671 zum Großrabbiner von Krakau ernannt wurde. Hirsch Kaidanover kehrte daraufhin zunächst nach Wilna zurück, bevor er aufgrund von falschen Anschuldigungen Litauen wieder verlassen musste und sich erneut in Frankfurt niederließ. Dort verfasste er 1705 sein berühmtes und populäreres Werk Kav ha-yashar („Gerechtes Maß“), in dem er unter anderem die Lehre von Lohn und Vergeltung entfaltete – eine bemerkenswerte theologische Reaktion auf die Katastrophe der Chmielnicki-Unruhen, der hunderte von Juden zum Opfer gefallen waren. Tif’eret Shmu’el bietet halakhische Novellen zu verschiedenen talmudischen Traktaten und wurde wie die meisten seiner Schriften mit Approbationen der bedeutendsten Rabbiner seiner Zeit versehen.223 Das von Hanokh ben Avraham (17. Jh.) verfasste Sefer Reshit Bikkurim („Buch vom Anfang der Erstlingsfrüchte“), gedruckt in Frankfurt am Main 1708 bei Matthias Andrae, enthält Predigten und Exegesen biblischer Verse.224 Matthias Andrae war Nachfolger von Johann Wust in Frankfurt und arbeitete in enger Verbindung mit Aharon Shmu’el Kaidanover.225 Das Titelblatt des Mainzer Exemplars weist einen Stempel von Rabbiner Jacob Stern aus Niederstetten auf – ein Rabbiner, der sich vom orthodoxen Rabbiner zum Vertreter der Reform und schließlich zu einem atheistischen Sozialisten entwickelte, der u. a. von Klara Zetkin beachtet wurde.226 Die noch deutlich erkennbare erste Restaurierung des Einbandes könnte noch auf Stern selbst zurückgehen. Auf welchen Wegen Bücher aus seinem Besitz nach seinem Abfall von der traditionellen Lebensweise in den Mainzer Bestand gelangt sind, bleibt zu klären. 4.4 Drucke aus Homburg Unter den Hebraica in der Jüdischen Bibliothek Mainz fällt eine Anzahl von Drucken aus Homburg vor der Höhe auf. In den Jahren 1697 und 1703 wurden in der kleinen Stadt am Rande des Taunus, „vor der Höhe“, ca. 65 hebräische Drucke hergestellt. Die Drucker waren Seligman Rayz, Shimshon Zalman Hanau, Seligman ben Itzik Roth, Werner und Yisra’el ben Moshe. Der Großteil der Homburzufolge stammen sie wohl alle aus der „Lehmann-Bücherei“, tragen aber keinen Stempel dieser Bibliothek. 222 Signatur M ‫ ת‬120; alte Signatur HL/535; Stempel „Lehmann-Bücherei“. 223 Vgl. D. Tamar, Art. Koidanover, Aaron Samuel ben Israel, in: EJ 10 (1971), Sp. 1153f. Siehe hierzu auch Heller, Printing the Talmud, S. 39 Anm. 2. 224 Signatur M ‫ ר‬12. – Vgl. zu dem Buch Steinschneider, Catalogus, Bd. 2, S. 838. 225 Dazu Heller, Printing the Talmud, S. 38f. 226 Über die Entwicklung dieses außergewöhnlichen Rabbiners und seiner Büchersammlung vgl. Hellmut G. Haasis, „Ich bin ein armer Teufel, der ums liebe Brot schreibt“. Zum 150. Geburtstag des württembergischen Reformrabbiners und sozialistischen Schriftstellers Jakob Stern (1843–1911) aus Niederstetten, in: Manfred Bosch (Hrsg.), Allemanisches Judentum. Spuren einer verlorenen Kultur, Eggingen 2001, S. 341–352. Vgl. oben S. 38 Abb. 17.

4. Zimelien

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ger Hebraica kam allerdings aus dem Haus des Aharon Zwi Hirsch Dessau, eines „Einwohners Frankfurts am Main“, wie es auf einigen der von ihm hergestellten Titelblätter heißt. Da Juden im nahen Frankfurt im Jahre 1701 der Buchdruck (und das Binden) für kurze Zeit verboten wurde, ist Dessau vielleicht in dieser Zeit nach Homburg ausgewichen.227 Da im Thesaurus hebräischer Drucke von Vinograd längst nicht alle bekannten Homburger Drucke verzeichnet sind228 und auch ältere Darstellungen Lücken aufweisen,229 seien hier die in der Mainzer Bibliothek erhaltenen Exemplare dieses Ortes aufgelistet. Auffällig ist, das es sich bei den meisten Homburger Drucken aus dem Hause Dessau um Talmud-Novellen von Me’ir Ya‛aqov ha-Kohen Schiff (1605–1641/44) handelt, einem aus der Frankfurter Judengasse gebürtigen, hochangesehenen Rabbiner mit großer Ausstrahlung auf das Judentum seiner Zeit.230 Noch während des Dreißigjährigen Krieges gründete Schiff eine Yeshiva in Fulda, aus der zahlreiche Schüler und berühmte Gelehrte hervorgingen. Einige seiner „pilpulistischen“, d. h. scharfsinnigen Talmud-Kommentare sind in sein Hauptwerk, die Hiddushe Halakhot, aufgenommen worden. Diesem zuerst in Homburg gedruckten Werk sind nur in einigen Bänden zusätzlich Predigten („derashot“) des Verfassers beigegeben. Sie beziehen sich auf die in denen Bänden behandelten halakhischen Probleme. Ein besonders schönes Titelblatt einer der von ihm verfassten Novellen, der Hiddushe Hilkhot ‛al Massekhet Besa, Bava Metsia‛, Ketuvot, Hullin, Gittin (Band 1), Homburg vor der Höhe 1737 (Signatur M ‫ ח‬12)231, zeigt symbolisch für seinen Familiennamen ein Schiff. Dieses Schiff wird in der Darstellung von einem großen (Wal)fisch(-Leviatan?) bedroht; auf dem Rücken des Fisches sieht man zwei Männer auf einem offenen Feuer ein Mahl zubereiten. Zweifellos handelt es sich dabei um eine Illustration einer bekannten talmudischen Legende (bBB 73b), in der es heißt: „Einst reisten wir auf einem Schiffe und sahen einen Fisch, auf dessen Rücken sich Sand abgesetzt hatte, worauf Gras hervorgewachsen war. Da wir nun glaubten, es sei Land, stiegen wir auf ihn ab und backten und kochten auf seinem Rücken. Als ihm aber heiß wurde, drehte er sich um, und wenn das Schiff nicht in unserer Nähe gewesen wäre, wären wir ertrunken.“ Das auf dem Titelblatt abgebildete rettende Schiff, welches symbolisch für Verfasser und Werk steht, liegt sozusagen auf der Hand des Benutzers, der das Titelblatt liest. Rettung findet, wer sich diesem Autor mit Namen Schiff anvertraut und so noch rechtzeitig den trügerischen Fisch, auf dem man sich eingerichtet hatte – wer oder was immer damit gemeint war – hinter sich zu lassen vermag.232 Der 227

Vgl. dazu Heller, Printing the Talmud, S. 17. Vgl. Vinograd, Thesaurus, Bd. 2, S. 154–155 (hebr.). 229 Vgl. Aron Freimann, Die hebräischen Druckereien in Homburg v.d.H. und Rödelheim in den Jahren 1711–57, in: Zeitschrift für Hebräische Bibliographie 21 (1918), S. 14–18. 230 Vgl. zu ihm Yitzhak Alfasi, Art. Schiff, Meir ben Jacob ha-Kohen, in: EJ 14 (1972), Sp. 962f; Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen, Bd. 1, S. 225; ders., Chronik, S. 32f. Das Grab des Maharam Schiff befand sich auf dem jüdischen Friedhof am Dominikanerplatz, heute Battonnstraße. 231 Vinograd, Thesaurus, Bd. 2, S. 154 # 33. 232 Zur langen und weitverzweigten Rezeptionsgeschichte dieser talmudischen Erzählung vgl. 228

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VII. Blicke in den Bestand

Abb. 44: Detail aus dem Sefer Ḥiddushe Hilkhot des Jakob Schiff, Homburg v.d. Höhe 1746 (Signatur M ‫ ח‬12)

Familienname Schiff ging wie in Frankfurt üblich auf das Hauszeichen in der Judengasse zurück. Dass er für die Familie eine darüber hinausgehende symbolische Bedeutung trug, spiegeln auch die Grabsteine einzelner anderer Familienangehöriger wider, die noch heute auf dem alten jüdischen Friedhof an der Frankfurter Batonstraße erhalten sind.233 Ein weiteres von dem Drucker Dessau reich verziertes „sha‛ar“ schmückt den Band einer Ausgabe des Shulhan ‛Arukh, des von dem Mystiker und Rechtsgelehrten Yosef Karo in Safed (Galiläa) verfassten Hauptwerkes der Halakha.234 Überschrieben ist das Titelblatt mit dem leicht veränderten Versanfang von Levitikus 8,8, in dem das Brustschild des Hohepriesters, „hoshen mishpat“, erwähnt wird. „Hoshen Mishpat“ ist gleichzeitig der Titel des vierten, kultgesetzlichen Teils Alexander Scheiber, Motivgeschichte des Gedichtes von Ady. An den großen Walfisch, in: Ders., Essays on Jewish Folklore and Comparative Literature, Budapest 1985, S. 229–236. 233 Vgl. Michael Brocke, Der alte jüdische Friedhof zu Frankfurt am Main. Unbekannte Denkmäler und Inschriften, herausgegeben von der Kommission zur Erforschung der Geschichte der Frankfurter Juden, Sigmaringen 1996, S. 199 und S. 393. Zum Grabstein des Maharam Schiff vgl. Markus Horowitz, Avne Zikkaron, Frankfurt am Main 1901, Nummer 686. 234 Signatur F 146; Zählstempel 5566. Weitere Exemplare dieser Ausgabe (ohne Angaben des Druckorts) finden sich unter der Signatur F 142; Zählstempel 2404 sowie M ‫ ה‬180; Zählstempel 5548. Der Band trägt eine hebräische Kursivnotiz: „Oppenheimer“.

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des Shulhan ‛Arukh, der in seiner Anordnung in vier Reihen dem älteren Rechtskodex Arba‛a Turim von Ya‛aqov bar Asher (ca. 1270–1340) folgt. Auf dem Frontblatt sind Mose und Aaron abgebildet, jeweils mit Gesetzestafeln und Stab sowie dem besagten Brustschild des Hohepriesters sowie Räucherwerk in der Hand des Aaron. Der mit einer Approbation von „dem Demütigen“, Michel Bär (Oppenheim)235 „aus der heiligen Gemeinde“ Friedberg, und einem Vorwort des Druckers Dessau versehene Band folgt den verbreiteten technischen Konventionen des hebräischen Buchdrucks. Diese Festsetzungen waren vor allem durch die Amsterdamer Drucke etabliert worden, nachdem sich die Hauptstadt Hollands zu dem europäischen Zentrum des Handwerks entwickelt hatte. Bemerkenswert ist, dass auf dem unteren Rand des Titelblattes die Silhouette der Stadt Homburg samt dem im 15. Jahrhundert errichteten Weißen Turm abgebildet ist. Dass jüdische Drucker lokale Begebenheiten auf einem Titelblatt festgehalten haben, ist äußerst selten. Meist wurden unpersönliche Motive verwendet oder christliche Vorlage „abgekupfert“. In der Jüdischen Bibliothek befinden sich dabei interessanterweise gleich zwei Fassungen dieser bemerkenswerten Shulhan ‛Arukh-Ausgabe, und zwar mit leicht unterschiedlichen Titelblättern, wobei die Stadt Homburg immer deutlich zu erkennen bleibt. Die eine wurde 1742, die spätere 1743 gedruckt. Der zweite Druck ist insofern bemerkenswert, als auf dem Titelblatt keinen Druckort vermerkt ist und auch die Druckerlaubnis des Landgrafen von Hessen, Friedrich Jakob III. (1673–1746), die auf dem ersten, ansonsten identischen Titel deutlich zu lesen ist, bei der zweiten Auflage fehlt.236 Wie ist dieser auffällige Befund zu erklären? Möglicherweise ist der zweite Druck an anderem Ort mit den gleichen Druckerplatten angefertigt worden. Weil die Druckerlaubnis für Homburg nicht mehr erteilt wurde, musste Dessau an einen unbekannten Ort ausweichen.237 Unklar bleibt freilich, warum die zuvor erteilte Druckerlaubnis nicht mehr gegeben wurde. Eine mögliche Antwort gibt eine unter dem Vorwort des ersten Homburger Shulhan ‛Arukh-Druckes angebrachte Notiz. Dort heißt es: „Und dies, um kund zu tun, dass an jeder Stelle, an der man im Buch die Bezeichnung AKu’’M238 findet, ihre Lesung wie ihre Schreibung ist, ‛Ovde kokhavim u-mazzalot, und dies meint die Völker, die in frühen Zeiten existierten, und auf sie beziehen sich die Gebote unser heiligen Tora und die Worte unserer Weisen, seligen Angedenkens, in ihren Kommentaren, den Erläuterungen der Gebote. Aber jene Völker und Nationen, unter deren Schatten wir wohnen, 235

Vgl. zu ihm Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen, Bd. 1, S. 200. Rabbiner Michel Bär Oppenheim starb 1750 nach zweiundvierzigjähriger Tätigkeit. Sein Name unter der Haskama ist ‫ פער‬geschrieben. 236 Vinograd, Thesaurus, Bd. 2, S. 154 # 48 führt diesen zweiten Druck nicht auf. – Vgl. Signatur Fe 144; ein weiterer Band mit leichten Unterschieden von 1743 findet sich unter der Signatur Fe 146. Ein zusätzliches Exemplar mit Stempeln der „Israelitischen Religionsgesellschaft zu Mainz“ trägt die Signatur M ‫ח‬180. Dieser Band enthält einen hebräischen Vorbesitzervermerk „Oppenheimer“. 237 Nach Auskunft von Dr. Astrid Krüger, Stadtarchiv Bad Homburg, ist dieser Druck dort bislang unbekannt. 238 Ein gebräuchliches Akronym für Nichtjuden. Aufgelöst bedeutet es wörtlich: „Diener von Sternen und Tierkreiszeichen“.

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Abb. 45: Shulhan ‛Arukh (ohne Druckort, doch mit Abbildung von Homburg vor der Höhe) (Signatur M ‫ ה‬180)

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Abb. 46: Shulhan ‛Arukh, Homburg vor der Höhe 1742 (Signatur Fe 146)

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VII. Blicke in den Bestand sie dienen demjenigen, der Himmel und Erde gemacht hat, und sie glauben an die Religion unserer heiligen Tora. Und wehe uns, wir könnten gegen sie etwas Schlechtes denken oder im Schilde führen, und hat nicht bereits König David, über ihn Friede, gebetet: Schütte aus deinen Grimm über die Völker, welche dich nicht erkennen …, die deinen Namen nicht anrufen (Ps 79,6)? Doch siehe und prüfe vielmehr, was der Verfasser des Buches Be’er ha-Gola in Paragraph 424 schreibt, und ebenso der Verfasser des Buches Ma’ase Ya in seinem Kommentar zur Pesah-Haggada, und auch der Verfasser des Levushim und weitere wie diese mehr. Du findest dort nämlich nicht nur, dass wir nichts Böses gegen sie im Schilde führen – das sei ferne –, wir beten vielmehr sogar für ihren Frieden, ihr Wohlergehen und ihren Erfolg, ein jeder von ihnen möge in Frieden kommen.“

Die doppelte Drucklegung des Werkes mag also durch die Verdächtigungen begründet gewesen sein, denen jüdische Drucker immer wieder ausgesetzt waren. Doch selbst die Bekundungen, alle vermeintlich anti-christlichen Stellen redigiert oder gestrichen zu haben, genügten wohl nicht, um stets und immer wieder von Neuem Druckerlaubnisse zu erhalten. Weitere Auflagen des bereits erschienenen Buches konnten daher oft nur noch an unbekanntem Ort, heimlich und ohne die Zustimmung der Obrigkeit produziert werden. Das seltene Mainzer Exemplar, auf dem irrtümlich mit Buntstift der Druckort Frankfurt festgehalten ist, dürfte auf einen solchen Vorgang zurückzuführen sein. Eine weitere Homburger Spezialität stellt der Druck des Ritualwerkes „Torat ha-Adam“ von Moshe ben Nahman (1194–1270; Akronym: Ramban) aus dem Jahre 1740 dar.239 Dieses Buch von der „Unterweisung über den Menschen“ ist eine Sammlung von Geboten und Bräuchen, die bei der Beisetzung eines Verstorbenen zu befolgen sind. Auf dem Titelblatt ist in deutscher Sprache vermerkt: Gedruckt in der Hochfürstl. Hof- und Canzeley-Buchdruckerei bey Johann Philipp Helwig. Auf dem Vorsatzblatt des Mainzer Exemplars finden sich mehrere unleserliche Vorbesitzernamen. Die Homburger Drucke in der Mainzer Jüdischen Bibliothek stammen zum Großteil aus dem Altbestand der „Lehmann Bücherei“, d. h. aus der Synagoge bzw. der Schule in der Flachsmarktstraße und ursprünglich wohl aus dem Privatbesitz von Rabbiner Lehmann. Wenige Homburger Drucke blieben dagegen in der Gemeindebibliothek in der Hindenburgstraße erhalten. Sie stammen möglicherweise aus der Bibliothek von Rabbiner Salfeld oder einem seiner Vorgänger. In der Jüdischen Bibliothek Mainz finden sich noch weitere seltene Homburger Drucke, sämtlich Novellen zum Talmud: Hiddushe Halakhot Gittin, von Me’ir ben Ya‛aqov Schiff, Homburg vor der Höhe 1736 (Signatur M ‫ ח‬14)240; Hiddushe Halakhot Mahadura Batra von Shemu’el Eli’ezer ben Yehuda Idels (Maharsha), Homburg vor der Höhe 1736 (Signatur M ‫ ח‬84; Stempel „Lehmann Bücherei“ und

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Sefer Toldot Adam asher hibber ha-nesher ha-gadol me’or ha-gola asher he’ir enaw behibburaw ha-mefursamim ha-Rav ha-mefursam ha-Ramban asher shemo noda‛ be-she‛arim hamesuyanim be-halakha marana we-rabbana Rabbenu Moshe Nahman zs’’l, Homburg vor der Höhe: Aron Zwi Hirsch Dessau 1740 (Signatur alt HL 854; M ‫ ת‬22; Stempel „Lehmann Bücherei; weiteres Exemplar unter der Signatur (alt) HL 854; M ‫ מ‬20). 240 Vinograd, Thesaurus, Bd. 2, S. 154 # 30. Siehe zum Ganzen auch Steinschneider, Catalogus, S. 1715.

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M ‫ ח‬12)241 und Hiddushe Hilkhot ‛al Massekhet Bava Qamma, Sanhedrin, Shabbat, Zevahim we-Derushim von Me’ir ben Ya‛aqov Schiff, Homburg vor der Höhe 1741 (Signatur M ‫ ח‬16; Stempel „Lehmann Bücherei“).242 In mehreren gut erhaltenen Exemplaren vorhanden ist auch ein Mahzor ke-minhag Ashkenazim, erster und zweiter Teil, gedruckt von Aron Dessau, Bad Homburg vor der Höhe 1737, mit einer Lizenzierung von Friedrich Jakob Landgraf zu Hessen.243 Diese Bände entsprechen Amsterdamer Vorlagen, weisen aber auch Besonderheiten auf, wie etwa ein Gebet für den militärisch so erfolgreichen Landgrafen. 4.5 Jiddische Drucke Auffallend gering ist die Anzahl von ost-jiddischen Büchern und Schriften in der Jüdischen Bibliothek – doch die wenigen erhaltenen Jiddica sind umso interessanter, verraten sie doch Vieles über die Ausrichtung und Zusammensetzung der Mainzer Juden zu Beginn der Neuzeit. Jiddisch, das ab dem 10. Jahrhundert im ashkenazischen Judentum entstandene „Judendeutsch“, entspricht bekanntlich insbesondere in seiner westlichen Färbung syntaktisch und morphologisch weitestgehend dem Deutschen.244 Im Rheinland und in den benachbarten Regionen im Hochmittelalter wanderte es ab dem 14. Jahrhundert nach Osteuropa und in die angrenzenden jüdischen Lebenswelten, wo es bald zu der lingua franca wurde, ja in vielen Gebieten Hebräisch als gesprochene Sprache vollkommen verdrängte. Spätestens vom 17. Jahrhundert an sprachen und schrieben Juden aus dem östlichen Europa mehrheitlich Jiddisch. Das weitgehende Fehlen jiddischer Literatur im Mainzer Bestand ist vielsagend: Zum einen spiegelt sich in dem Befund eine im deutschen Judentum des 19. Jahrhunderts weit verbreitete Geringschätzung des jiddischsprechenden „Ostjudentums“, zum anderen die Tatsache, dass Ostjuden in Mainz lange Zeit nur eine verschwindend kleine Minderheit bildeten. Unter vielen deutschen Juden, unter den „neuen“ Orthodoxen genauso wie unter den Liberalen und Assimilierten, galt Jiddisch lange Zeit als ein Jargon, der als „vollkommen fremd“ empfunden wurde.245 Auch daher verwundert es nicht, dass die insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg 241

Vinograd, Thesaurus, Bd. 2, S. 154 # 31. Vinograd, Thesaurus, Bd. 2, S. 154 # 44. 243 Alle Bände dieses ashkenazischen Ritus wiedergebenden Gebetbuches für die Hohen Feiertage enthalten jüdisch-deutsche Übersetzungen und eine kurze Kommentierung (Signaturen H 372, H 374, H 376 und H 378). Vinograd, Thesaurus, Bd. 2, S. 154 # 35. 244 Zur Einleitung vgl. etwa Ester Alexander-Ihme, Jiddisch – lingua franca der Osteuropäischen Juden, in: Osteuropäisches Judentum in Wiesbaden, hrsg. vom Förderkreis Aktives Museum Deutsch-Jüdischer Geschichte in Wiesbaden, Begegnungen 2/91, Wiesbaden 1991, S. 36–41. 245 Vgl. hierzu etwa Jakob Wassermann, Mein Weg als Deutscher und Jude, mit einem Nachwort von Marcel Reich-Ranicki, Frankfurt am Main 2005, S. 112f (zuerst erschienen Berlin 1921). Zum Ganzen vgl. noch Dieter Lamping, Von Kafka bis Celan. Jüdischer Diskurs in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts, Göttingen 1998, S. 60f. Für eine differenziertere Analyse ähnlicher Wertungen des Jiddischen und Ostjudentums vgl. noch Eva Raffel, Vertraute Fremde. Das östliche Judentum im Werk von Joseph Roth und Arnold Zweig, Mannheimer Beiträge zur Sprach- und Literaturwissenschaft 54, Tübingen 2002, S. 83–88. 242

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Abb. 47: Sena u-Rena, Metz 1768 (Signatur A 246; alte Signatur HL/2023)

Abb. 48: David Ottensosser, Di geshikhte der Yehudim, Fürth 1820 (Signatur M ‫ ר‬90; alt HL/498)

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eine Blütezeit erlebende jiddische Literatur in Mainz kaum rezipiert und daher nur ganz vereinzelt in die Bibliothek aufgenommen wurde.246 Dabei wird der Umstand, dass es in Mainz spätestens ab 1908 ein von polnischen Juden gegründetes Bet ha-Midrash, ein Lehr- und Bethaus, gab – ab 1930 gab es sich sogar den offiziellen hebräischen Namen „Mahziqe ha-das“ (‫)מחזיקי הדת‬, d. h. „die, die an der Religion festhalten“ –, nichts verändert haben.247 In diesem osteuropäischen Minyan war neben Polnisch sicherlich auch osteuropäisches Jiddisch zu hören. Die Gebete werden in dieser Klause freilich zum größten Teil weiterhin in Hebräisch und Aramäisch gesprochen worden sein, möglicherweise nur in der ashkenazischen Aussprachetradition. Unter den älteren Drucken in jiddischer Sprache fallen einige rituelle und liturgische Werke mit deutsch-jüdischer oder jiddischer Übertragung auf.248 Sie stammen wohl nicht von jenen Ostjuden, sondern aus Mainzer Familien- oder aus Gemeindebesitz, der möglicherweise aus der Umgebung von Mainz mitgebracht worden war. Eines der wohl bekanntesten dieser jiddischen Bücher ist die gleich in mehreren Exemplaren des Sulzbacher Druckes von 1799 vorhandene paraphrasierende Bibelübersetzung Sena u-rena (nach Hoheslied 3,11: „Kommt und seht“).249 Sie wurde von Ya‛aqov ben Yishaq Ashkenazi aus Janov (gest. ca. 1630)250 verfasst und sollte nicht nur Frauen, sondern auch Männern helfen, den Bibeltext mittels freier Übertragung in die Alttagssprache besser und leichter zu verstehen.251 Illustriert ist der Sulzbacher Druck mit Holzschnitten, die enge Beziehungen zu christlichen Darstellungen aufweisen.252 Die Druckerei von Moshe Bloch im nordbayerischen Sulzbach, die mit Erlaubnis des an Kabbala interessierten Pfalzgrafen Christian August eingerichtet worden war, brachte eine Fülle von wertvollen Drucken hervor.253 Bis wann und von wem die in Mainz erhaltenen Exemplare des populären Sena u-rena verwendet wurden, lässt sich an den erhaltenen Exemplaren 246

Für einen informativen Überblick über die weitverzweigte Buchproduktion in Jiddisch, die auch in Deutschland stattfand, vgl. Delphine Bechtel, Jiddische Literatur und Kultur in Berlin im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, in: Michael Brenner (Hrsg.), Jüdische Sprachen in deutscher Umwelt. Hebräisch und Jiddisch von der Aufklärung bis ins 20. Jahrhundert, Göttingen 2002, S. 85–95. 247 Vgl. Stefan Fischbach / Ingrid Westerhoff, „… und dies ist die Pforte des Himmels“ 1. Mos. 28,17. Synagogen Rheinland-Pfalz – Saarland, Mainz 2005, S. 256. 248 Vgl. etwa Seder Qinot mit Taysh ke-minhag Q’’Q Ashkenazim u-ke-minhag Polin, o. O. (in Amsterdamer Buchstaben) 1762 (Signatur J 120). 249 Signatur A 374. Verzeichnet ist der Druck etwa bei Magnus Weinberg, Die hebräischen Druckereien in Sulzbach (1669–1851), in: JJLG 1 (1903), S. 170 # 351. 250 Siehe zu ihm Jean Baumgarten, Introduction to Old Yiddish Literature, Edited and Translated by Jerold C. Frakes, Oxford 2005, S. 113f; Devra Kay, Seyder Tkhines. The Forgotten Book of Common Prayer for Jewish Women, Philadelphia 2004, S. 3f; dann auch Günter Stemberger, Geschichte der jüdischen Literatur. Eine Einführung, München 1977, S. 147. 251 Die Verwendung dieser jiddischen Gebetssammlungen durch Frauen wird in Mainz in einem Druck des Sena u-Rena, Metz 1768 (Signatur A 246; alte Signatur HL/2023) belegt, der Sophie Bondi gehörte. Siehe dazu bereits oben. 252 Dazu Milly Heyd, Illustrations in Early Editions of the Tsene-u-Rene: Jewish Adaptions of Christian Sources, in: Journal of Jewish Art 10 (1984), S. 64–86. 253 Siehe hierzu Weinberg, Die hebräischen Druckereien in Sulzbach, S. 19ff.

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nicht mehr sicher feststellen, doch wurden sie offensichtlich viel gelesen, wie sich an den Benutzungsspuren erkennen lässt.254 Die aus mehreren Sammlungen und Familien zusammengetragenen Exemplare müssen im Übrigen im Zusammenhang mit den vorhandenen Bänden von tehines-Gebetsammlungen gesehen werden. Diese jiddischen Gebetsammlungen blieben im privaten Bereich wohl viel länger in Gebrauch als mancher hebräische oder hebräisch-deutsche Siddur – zumal unter Frauen. Als tehines (vom Hebräischen tehinot, „Klagen“) werden bekanntlich Bußgebete bezeichnet, die auf Jiddisch verfasst und rezitiert wurden.255 Vom 17. Jahrhundert an entwickelte sich so eine vielfältige und ertragreiche jiddische Gebetsliteratur, die von vielen Frauen und auch von Ungebildeten rezitiert wurde.256 Die in zahlreichen Drucken verbreitete jiddische tehines-Literatur ist dabei auch ein Indiz für die größere Rolle, die Frauen im Leben jüdischer Gemeinden wie in Mainz zu spielen begannen.257 Außerdem belegen die tekhines die enge Beziehung zwischen Brauch und Sprache – ein Phänomen, das sich auch an der Verwendung von jiddischen Minhag-Büchern, d. h. Sammlungen unterschiedlicher Bräuche, belegen lässt. Auch von dieser Literaturgattung sind einige interessante Exemplare in der Mainzer Bibliothek erhalten.258 Die in der Mainzer Bibliothek mehrfach belegte Sulzbach-Edition des Seder tehines aus dem Jahre 1798 weist kabbalistischen Einfluss auf.259 So wird zu Beginn dieser Ausgabe dazu aufgefordert, die Gebetskonzentration („kawwana“) durch das Betrachten eines in Form einer Menora und in Mikrographie nachgeschriebenen Psalms 67 zu steigern. Dieser magische Brauch bildete übrigens den Anlass für die Anfertigung vieler so genannter shiwwiti-Handschriften und Drucke, die zum Zweck der Konzentrationssteigerung an Zimmerwände gehängt wurden – ein Brauch, der auch heute noch zu beobachten ist.260 Durch die mittels Ausrichtung der Augen auf die Wandtafel zu erzielende Intensivierung der Kawwana konnten nach kabbalistischer Auffassung zusätzliche Tiqqunim, „Verbesserungen“ (im Sinne der Lurianischen Kabbala), realisiert werden.

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Ein Druck (Signatur A 386; Zählstempel 2418) enthält gleich mehrere Vorbesitzervermerke, u. a. von Eli‛ezer Oppenheim und von A. Strafstein („1801“), dann in Deutsch von „Lazarus Ornstein Mannheim, 1821“. Der Name Ornstein findet sich in der Liste Anhang 5: Das Kasso-Buch der „Hevra Qinyan Sefarim Mainz“ (1928). 255 Vgl. Stemberger, Geschichte, S. 148; Baumgarten, Introduction, S. 274–282. 256 Siehe ebd. S. 276 Anm. 48 und S. 277f. 257 Vgl. zu diesen Aspekten ausführlich Kay, Seder Tekhines, S. 101f und S. 114f. 258 So etwa das bekannte Sefer Minhogim, Sulzbach 1801. Von diesem Druck, der bei Weinberg, a. a. O., S. 173, unter der Nummer 378 verzeichnet ist, erschienen seit dem Erstdruck Venedig 1589 mehr als vierzig Ausgaben, zum Teil mit Holzschnitten illustriert. 259 Vgl. Weinberg, Die hebräischen Druckereien in Sulzbach, S. 171 # 360. Das Werk ist digitalisiert im World wide web zugänglich. 260 Als Shiwwiti (von Ps 16,8f) wird eine dekorierte Tafel oder ein Blatt in Synagogen und privaten Räumen bezeichnet, mit dem die Gebetsrichtung angezeigt wird. Diese Richtungsweiser sind häufig mit Darstellungen siebenarmiger Leuchter verziert. – Zur magischen Verwendung und mystischen Deutung der tekhines vgl. auch Kay, Seder Tekhines, S. 36–42, zur Menora-Symbolik ebd. S. 98f.

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Eine weitere in der Bibliothek erhaltene Ausgabe von tehines findet sich in einem Sammelband mit verschiedenen anderen liturgischen Schriften, wie sie vielleicht ebenfalls lange im Bereich von Familien oder von Frauen verwendet wurden. Diese tehines-Edition stammt aus Frankfurt und wurde 1713 im Druckhaus von Johann Kellner angefertigt. Das zerlesene und beschädigte Exemplar aus Mainz wurde offensichtlich viel und lange Zeit benutzt.261 Ähnliche tehines-Ausgaben, darunter eine nahezu unbekannte, 1733 in Amsterdam gedruckte, fanden sich übrigens auch unter den Schriften aus der Geniza der Weisenauer Synagoge, einem Ort vor den Toren von Mainz, was darauf hinweist, wie verbreitet diese Literatur auch in anderen benachbarten Gemeinden gewesen sein muss.262 Vor dem Hintergrund dieser wenigen Belege für eine traditionelle jiddische Literatur lässt sich gut nachvollziehen, warum in der Bibliothek nur sehr wenige belletristische jiddische Bücher und Druckwerke zu finden sind. Jiddisch galt entweder als rückständig oder als Sprache der Frauen, kurzum: „mame loshen“, die dem gebildeten deutschen Juden nicht genügte, um sich darin zu bilden oder auszudrücken. Unter den wenigen nicht-religiösen jiddischen Titeln fällt dann umso mehr auf, dass es sich fast ausschließlich um Drucke aus Osteuropa handelt. Erhalten ist etwa ein Exemplar des jiddischen Romans von Ozer ben Eli’ezer Bloistamm („ois Dinaburg“), Di Shwiger, ayn roman in drey teilen, Wilna 1884 (Zählstempel 3633)263, sowie das Bändchen des jiddischen Essayisten und Historikers Moshe Feinkind, Di kuzrim un zeyer yudish malkhus, Pietrov 1910, ein historiographisches Werk über die Konversion des Königreiches der Chazaren zum Judentum im 8. Jahrhundert.264 Letzeres Bändchen mag einmal Marcus Lehmann als Vorbild für die Art seiner eigenen historischen Kinderromane oder Erzählungen gedient haben. Die Auswahl jiddischer unterhaltender Texte in der Bibliothek ist darüber hinaus aus den genannten Gründen sehr klein. Selbst die neuen Orthodoxen und traditionell gesinnten Mainzer Juden schrieben und lasen entweder Hebräisch oder Deutsch, letzeres gelegentlich allerdings auch in hebräischen Lettern gedruckt. In Hochdeutsch verfasst, aber noch in hebräischen Lettern gedruckt, ist etwa das bemerkenswerte Buch von David Ottensooser, Di geshichte der yehudim fon ihrer rikkehr aus der babilonishen gefangenshaft an biz auf unzre tzaiten, Erster Teil, Fürth 1820.265 Ottensooser (1784–1858) war ein Yeshiva-Leiter in Fürth und widmete sich vor allem dem Studium und der Herausgabe der Werke des Maimo261

Signatur I 112. Zur Erforschung der Weisenauer Geniza, in der sich einige andere jiddische Drucke fanden, darunter der erwähnte Druck des Ṣena u-rena, Sulzbach 1781, sowie ein Minhogim-Buch, Frankfurt am Main 1723, vgl. das Studienprojekt am Lehrstuhl für Jiddistik an der Universität Trier: http:// www.uni-trier.de/index.php?id=1945 (Zugriff: 11.11.2007). 263 Zu dem wenig bekannten Wilnaer Autor Bloistamm (1840–1898), der zahlreiche weitere kleinere Romane verfasste, vgl. Zalman Reizen, Leqsikon fun der Yiddisher literatur, presse un filologie, Bd. 1, Wilna 1928, S. 294–299; Art. Bloistamm, Ozer, in: Leqsikon fun der nayer yiddisher literatur, Bd. 1, New York 1956, S. 319–320. Die Literaturhinweise verdanke ich meinem Kollegen Simon Neuberg, Trier. 264 Signatur M ‫ ד‬94; alte Signatur H/276. Zu diesem Autor (1864–1935) vgl. Art. Feinkind, Moshe, in: Leqsikon fun der Yiddisher literatur, Bd. 7, New York 1968, S. 375f. 265 Signatur M ‫ ר‬90, alte Signatur HL/498, d. h. aus der „Lehmann-Bücherei“. 262

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Abb. 49: Ozer Bloistamm (ois Dinaburg), Di Shwiger, Dritter Teil, Wilna 1884 (Signatur HL 580)

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nides.266 Er übersetzte biblische Bücher ins Deutsche, wie etwa das Buch Jesaja (1807),267 und zudem beschäftigte er sich mit historiographischen Quellen, etwa dem Reisebericht des Petahya von Regensburg, den er 1854 erstmals zusammen mit einer deutschen Übersetzung in hebräischen Lettern veröffentlichte. Sein historiographisches Werk „Di geshikthe der yehudim“ stellt den bemerkenswerten Versuch einer eigenständigen, doch gleichzeitig traditionell jüdisch ausgerichteten Geschichtsschreibung dar.268 Die von ihm gewählte Verwendung des mit hebräischen Lettern geschriebenen Deutschen passt zu dem sich zu seiner Zeit vollziehenden Übergang hin zu einer neuen, orthodoxen deutsch-jüdischen Literatur. In traditionellen Kreisen in Mainz dürfte sein Buch daher viel gelesen worden sein, insbesondere unter den Anhängern Lehmanns. Nach der Shoa schien die Verwendung des Jiddischen in Mainz beendet. Doch stimmt dies nicht ganz, was einige wenige Reste von Nachkriegszugängen in der Bibliothek belegen können. So fanden sich bei den Aufräumarbeiten drei eher zufällig aufbewahrte Hefte der in Jiddisch gedruckten Monatsschrift Nesah Yisra’el („Ewiges Israel“), die vom Münchener Büro des Wa’ad hatzala, der „Rettungsgesellschaft“, herausgegeben worden sind.269 In den zum größten Teil in Jiddisch verfassten Beiträgen dieser Hefte wird von den meisten Autoren an den Überlebenswillen der wenigen Überlebenden, die „She’eris peleto in goles Deytshland“, appelliert. Gleichzeitig wird die große Vergangenheit des Judentums beschworen und schließlich immer wieder zur Auswanderung in den neugegründeten Staat Israel oder auch in die USA ermuntert. Der „gerettete Rest“, mehrheitlich so genannte Displaced Persons aus Osteuropa, sollte – so war man überzeugt – möglichst bald nach Israel einwandern, zumindest aber Deutschland schnellstens verlassen. Wie viele andere Zeitungen und Schriften der „She’eris ha-pleto“ stellte das hoffnungsvoll und trotzig-verzweifelt „Ewiges Israel“ genannte Magazin in der „goles Daytshland“ bald nach den ersten Heften sein Erscheinen wieder ein.270 Jiddisch blieb allerdings auch danach (und bis heute) eine gelegentlich in der Mainzer Gemeinde gelesene und zu hörende Sprache – wenn auch immer seltener.

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Vgl. etwa seine Ausgabe der Briefe des Rambam, Iggeroth ha-More, Fürth 1846. Für eine Bibliographie seiner Werke vgl. William Zeitlin, Qiryat Sefer. Bibliotheca Hebraica Post-Mendelssohniana. Bibliographisches Handbuch der neuhebräischen Litteratur seit Beginn der Mendelssohnschen Epoche bis zum Jahre 1890, 2. erweiterte Auflage, Leipzig 1891–1895, Ndr. Hildesheim, Zürich, New York 1983, S. 258–260. Zu seiner Person siehe Getzel Kressel, Art. Ottensosser, David, in: EJ 12 (1971), Sp. 1522. 267 In der Zusammenstellung jüdischer Bibelübersetzungen von Bechtoldt wird er nicht erwähnt. 268 Siehe hierzu etwa die knappen Bemerkungen von Michael Brenner, Propheten des Vergangenen. Jüdische Geschichtsschreibung im 19. und 20. Jahrhundert, München 2006, S. 57, und nun Andreas Gotzmann, Ambigious Visions of the Past: The Perception of History in Nineteenth-Century German-Jewry, in: European Journal of Jewish Studies 1 (2007), S. 365–394, hier S. 373f. 269 Erhalten sind die Hefte 2, 3 und 4, vom Juni bis zum September 1948. 270 Siehe hierzu etwa Anthony D. Kauders / Tamar Lewinsky, Neuanfang mit Zweifeln (1945– 1970), in: Richard Bauer / Michael Brenner (Hrsg.), Jüdisches München. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München 2006, S. 185–223, hier S. 194.

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Abb. 50: Nesah Yisra‘el, München 1948 (ohne Signatur)

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4.6 Liturgica Die umfangreichste Literaturgattung in der Jüdischen Bibliothek – ca. 200 Bände – bilden liturgische Werke, d. h. vor allem Siddurim und Mahzorim sowie SelihotSammlungen, ganz vereinzelt auch Pesah-Haggadot, Sidre Limmud, d. h. Lernordnungen für das Wochenfest (Shavu‛ot), und Friedhofsgebete.271 Unter den Siddurim, d. h. den Gebetbüchern für die Sabbate und Wochentage, fallen besonders jene auf, die deutsche oder jiddische Übersetzungen gemeinsam mit den hebräischen Gebetstexten bieten. Zwar war es selbst in reformorientierten Kreisen des deutschen Judentums noch lange Zeit üblich, die Gebete in Hebräisch zu sprechen, doch durch die fortschreitende Assimilation wurde die hebräische Ausdrucksform in weiten Kreisen nicht mehr oder immer weniger verstanden, so dass man zu Übersetzungen greifen mußte. Diese wurden allerdings noch lange in hebräischen Buchstaben gedruckt, da die Verwendung von lateinischen Lettern als für Gebetbücher ungeeignet bzw. unschicklich galt.272 Erst nach und nach, unter dem Einfluss weitergehender Reformen führte man Gebete in der Landessprache ein, zumal bei den Texten, in denen der nichtjüdischen Obrigkeit gedacht wurde oder die bei öffentlichen Anlässen gesprochen wurden.273 Neben solchen deutschen Übersetzungen – sei es mit hebräischen Lettern gedruckt oder mit lateinischen – finden sich in der Bibliothek ganz vereinzelt auch Übertragungen in andere europäische Sprachen – z. B. ein seltener Siddur mit einer interlinearen Übertragung ins Französische.274 Die meisten Gebetbücher bieten den über viele Jahrhunderte entwickelten Standardtext des ashkenazischen Ritus, wie er ausgehend vom Seder Rav Amram Ga’on in seinen handschriftlichen Überarbeitungen und vom Mahzor Vitry, dem wohl wichtigsten Liturgie- und Halakha-Kompendium des mittelalterlichen west-

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Zu einer Pesaḥ-Haggada vgl. ausführlich unten. Ein Seder Limmud (eine Lernordnung) le-lel hag ha-Shavu‛ot u-be-lel Hoshana rabba, ed. Seligman Baer, Rödelheim 1903 ist unter Signatur J 82 zu finden; siehe auch den Druck Sulzbach 1795 (Signatur J 14; alte Signatur HL/599). Für eine Gebet- und Brauchsammlung für Bestattungen vgl. Tose’ot Hayyim. Sefer kolel kol anfe tefillot we-tahanunim le-hitpallel be‛ad ha-holim we-ha-metim, Rödelheim 1862 (Signatur M ‫ ת‬36; alte Signatur HL/9). 272 Siehe etwa das Gebetbuch für den Neunten Av, den Trauer- und Fastentag zur Erinnerung an die Tempelzerstörungen, Seder Qinot mit Taytsh ke-minhag Q’’Q Ashkenazim u-ke-minhag Polin, Amsterdam 1757 (Signatur J 120) oder auch den Mahzor ke-minhag Ashkenaz le-Rosh ha-Shana we-Yom Kippur hu-heleq rishon, Sulzbach 1825 (Signatur H 247). Auf dem Titelblatt steht in deutscher Sprache mit hebräischen Lettern: „Wir haben bei dieser Mahzor nicht nur die Piyyutim und Selihot sondern auch die übrigen Tefillot als Qeriyat Shema‛, Shemone ‛esre, parashiyot und haftarot auf Deutsch übersetzt; auch haben wir alle dinim, wie sie in dem Werk Hadrat qidesh na‛amlikh stehen, die Gebote und Bräuche über die Gebete, … in deutscher Sprache und zwar wie besser als bisher gegeben.“ 273 Vgl. hierzu etwa die oben erwähnten Gebete für die Obrigkeit von Marcus Lehmann. Siehe ferner die in mehreren Exemplaren erhaltene deutsche Broschüre aus der Hauptsynagoge zu Mainz: Synagogale Gesänge und Seelenfeier, Mainz 1933 (ohne Signatur). 274 Tefilla le-khol ha-shana ne‛etka el leshon sarfat mila be-mila ‛al yede Yehuda Ari ben Ya‛aqov ha-Lewi (Blum), Rituel des Prières Journalières avec traduction Française interlinéaire par L. Blum, Paris 1877 (Signatur M 25; alte Signatur HL/1162).

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europäischen Judentums, in Deutschland bis in die Neuzeit Verbreitung fand.275 Nur wenige Siddurim in der Sammlung folgen sefardischem Ritus oder berücksichtigen den sich etwa durch kabbalistische Erweiterungen auszeichnenden polnischen Minhag; ganz selten finden sich Bücher mit Mischrezensionen und Drucke, in denen mehrere Riten berücksichtigt sind. Der klassische ashkenazische Gebets-„nusah“ – meist (noch) ohne lurianisch-kabbalistische Zusätze – ist der am häufigsten anzutreffende.276 Selten wurden für besondere Anlässe noch eigene Liedersammlungen verwendet und gedruckt.277 Zu diesem recht einheitlichen Bild passt, dass sich in der Mainzer Bibliothek neben den klassischen Druckausgaben, insbesondere den epochalen Rödelheimer Drucken von Wolf Benjamin Heidenheim (1757–1832), von denen mindestens 150 Auflagen erschienen sind, relativ wenige „Reformgebetbücher“ ausmachen lassen.278 Ein eher die Regel belegendes Ausnahmeexemplar dieser in deutschen Gemeinden weit verbreiteten Gattung von Siddurim stellt ein Exemplar des berühmten, 1864 in Berlin unter dem deutschen Titel „Festgebete der Israeliten“ erschienenen Gebetbuchs von Michael Sachs dar.279 Sachs (1808–1864) hatte dafür die Festgebete in zehnjähriger Arbeit ins Deutsche übertragen, wobei er unterschiedliche Riten berücksichtigte und sich an den wissenschaftlichen Standards seiner Zeit orientierte. Sein Ziel war eine reformorientierte Selbstvergewisserung des Sinns der Gebete; hierdurch wollte er den Gottesdienst wiederbeleben. Inwieweit seine Reformbemühungen in Mainz rezipiert wurden, ist schwer zu beurteilen. Vielleicht kam sein in relativ hoher Auflage erschienener Mahzor nachträglich über private Wege in den Bestand.

275

Vgl. hierzu etwa Andreas Lehnardt, „Siddur Rashi“ und die Halakha-Kompendien aus der Schule Raschis, in: Daniel Krochmalnik, Hanna Liss, Ronen Reichman (Hrsg.), Raschi und sein Erbe. Internationale Tagung der Hochschule für Jüdische Studien mit der Stadt Worms, Heidelberg 2007, S. 65–99. 276 Vgl. etwa den Mahzor ke-minhag Ashkenazim, Metz 1767 (Signatur H 126) oder das Gebetbuch: Tefilla mi-kol ha-shana ke-minhag Ashkenazim, Karlsruhe 1825 (beigebunden zu Signatur J 142); zu diesem seltenen, mit jiddischen Instruktionen angereicherten Druck vgl. Moshe Nathan Rosenfeld, Jewish Printing in Karlsruhe. A Concise Bibliography of Hebrew and Yiddish Publications, Printed in Karlsruhe between 1755 and 1840, Including a Listing of Judaica until the Year 1899 Based on Public & Private Collections and Genizah Discoveries, Jewish Printing in Germany 2, Israel 1997, S. 84. Zweck dieser Edition war es, die ersten Seiten vieler gebrauchter Gebetbücher zu ersetzen. Daher ist dieser Druck lange übersehen worden und nur noch in wenigen, oft anderen Werken beigebundenen Exemplaren erhalten. 277 Vgl. etwa den in der Bibliothek nicht erhaltenen Seder Zemirot le-vne Yisra’el le-lel Shabbat, Magensa: Oscar Lehmann, 1888 (JNL Signatur S 55 A 2810) mit hebräischen Shabbat-Liedern für die orthodoxe Gemeinde Mainz, unter anderem mit dem berühmten Lied Ma‛oz Sur und einem Shir le-lel Shabbat von Shmu’el Yona Bondi aus Mainz, S. 14–17. Ein korrigierter Nachdruck dieses Mainzer Druckes erschien 1903. 278 Grundlegend zu dieser Literatur ist immer noch Jakob J. Petuchowski, Prayerbook Reform in Europe. The Liturgy of European Liberal and Reform Judaism, New York 1968. 279 Signatur M 173; Zählstempel 2392. – Zu diesem Werk und seinem Autor vgl. ausführlich Margit Schad, Rabbiner Michael Sachs. Judentum als höhere Lebensanschauung, Netiva 7, Hildesheim, Zürich, New York 2007, S. 393f.

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Außer diesem klassischen Reformgebetbuch finden sich nur noch wenige andere Belege für liberale Siddurim in der Bibliothek. Vielleicht kann man noch den wissenschaftlich orientierten Seder ‛Avodat Yisra’el des orthodoxen Seligman Baer (1825–1897) aus Biebrich bei Wiesbaden dazu rechnen, der sogar in der eigentlich liberalen Hauptsynagoge von Mainz verwendet wurde.280 Dieser Siddur folgt allerdings vollständig dem traditionellen Ritus und erklärt sogar die Unterschiede zum sefardischen Brauch. Daneben finden sich in Mainz z. B. keine „radikalreformerischen“ Siddurim, und selbst einige andere liturgische Broschüren aus der Hauptsynagoge, wie z. B. eine Gebet-Ordnung für den Jugendgottesdienst in der israelitischen Religionsgemeinde zu Mainz (Sabbat-Nachmittag)281 oder auch das Bändchen „Deutsche Gesänge beim öffentlichen Gottesdienste in der Synagoge zu Mainz“, Mainz o. J.282, verraten eher etwas von der dort vertretenen traditionell ausgerichteten Haltung als das sie eine durchgreifende Erneuerung der Liturgie erkennen lassen. Vielleicht ist dieser Eindruck, gewonnen aufgrund eher zufällig erhaltener Gebetsliteratur, irreführend. Doch fällt tatsächlich auf, dass weder der bereits in Mainz begonnene, in Berlin noch im August 1866 erschienene dreibändige Reform-Mahzor von Rabbiner Aub erhalten ist283 noch zahlreiche andere liberale Siddurim, die etwa im benachbarten Frankfurt entstanden waren und von dort weite und rasche Verbreitung fanden.284 Und dieser negative Befund wird noch auffälliger, berücksichtigt man, dass sich in der Bibliothek sowohl zahlreiche weitere Schriften Aubs finden als auch Werke anderer Reformrabbiner, wie z. B. die von Rabbiner Leopold Stein (1810–1882) aus Frankfurt am Main, der sich Zeit seines Wirkens ebenfalls tatkräftig um Reformen des Gottesdienstes und der Kindererziehung bemühte.285 280

Ein Exemplar dieses eigentlich einen traditionellen Ritus bewahrenden Siddur ist in einen Einband gebunden, auf dem „Haupt-Synagoge Mainz“ aufgedruckt ist. Er fand sich also in der liberalen Gemeinde in der Hindenburgstraße. Zu Seligman Baer vgl. etwa Rolf Faber, Seligman Baer: 1825–1897. Neue Erkenntnisse zu Leben und Werk des jüdischen Gelehrten aus Wiesbaden Biebrich, Schriftenreihe des Verschönerungs- und Verkehrsvereins Biebrich am Rhein e. V., Wiesbaden 2002. 281 Berlin 1893, ohne Signatur. 282 Signatur M 241; Zählstempel 475. 283 Seder Tefillot kol ha-shana. Gebetbuch für den öffentlichen Gottesdienst im ganzen Jahre nach dem Ritus der neuerbauten großen Synagoge in Berlin, bearbeitet und herausgegeben von Joseph Aub, Rabbiner der jüdischen Gemeinde in Berlin, 3 Bde., Berlin 1866 (ein Exemplar ist erhalten in der JNL Jerusalem, Signatur S 23 V 453 „Vorbesitzerin Berta Cohen, Oranienburgerstr. 27, Berlin“). Vorlage für den Band zum Yom ha-Kippurim war Joseph Aub, Die Eingangsfeier des Versöhnungstages, Mainz 1863 (Signatur F 36). 284 Vgl. Gebetbuch für die israelitische Gemeinde Mainz, Frankfurt am Main 1853. Der Name Aubs ist auf dem Titelblatt nicht festgehalten. Aufgrund von Ähnlichkeiten zu dem von ihm später in Berlin herausgegebenen Siddur ist seine Autorschaft jedoch zweifelsfrei geklärt. 285 Vgl. etwa Leopold Stein, Deutsche Gebete und Gesänge für Neujahr- und Versöhnungstag. Frankfurt am Main 1868 (Signatur F 35) (erste Auflage Erlangen 1840 [Signatur F 35]). Siehe auch ders., Zur neuen Liturgie. 2. Lieferung. Hebr. Teil. 1. Abteilung. Modifikation in den Gebeten für Werk-Sabbath und Festtage, Frankfurt am Main 1857 (Signatur F 28). Unter den weiteren Schriften aus seiner Feder in der Bibliothek sind zu nennen: Ders., Sieg der Reformation und des Geistes, Frankfurt am Main 1862 (Signatur F 40); ders., Sinai. Die Worte des ewigen Bundes, Frankfurt am

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Tradition und Brauch (Minhag), so zeigt die Musterung der umfangreichen Gebetsliteratur in der Jüdischen Bibliothek, wurden in der Mainzer Gemeinde offensichtlich trotz zahlreicher Reformen wie der Einführung einer Orgel relativ konservativ beibehalten. Die Stammgebete, die seit der Antike zu einem der wichtigsten Merkmale jüdischer Identität geworden waren, blieben weitgehend unverändert, und die klassischen Drucke wurden wenn überhaupt nur geringfügig revidiert.286 Wirkliche Kürzungen bzw. Veränderungen wurden anfänglich wohl nur an den zum Teil überlangen Piyyut-Ausgestaltungen vorgenommen, um so den immer länger werdenden Gottesdienst zu verkürzen.287 Noch 1932 kann daher S. Lilienthal aus Wiesbaden über die Mainzer Hauptsynagoge berichten: „In dieser modernen Synagoge wird aber der traditionelle gottesdienstliche Gesang mit Sorgfalt gepflegt. Neben den neueren Gesängen auch des kompositorisch eifrig tätigen Oberkantors Jonas, erklingen hier noch mittelalterliche Melodien aus den Zeiten des Maharil“.288 Macht man sich klar, dass selbst das Reformgebetbuch Aubs im Grunde noch vollkommen traditionell gestaltet war und neben deutschen Übertragungen und Paraphrasen der Gebetstexte vor allem weniger liturgische Poesien und auch kein Kol nidre enthielt, wird dieses Ergebnis noch einsichtiger.289 Der an den erhaltenen Gebetbüchern noch gut nachvollziehbare Konservativismus bzw. Traditionalismus der Mainzer Gemeinde ermöglichte es, den Zusammenhalt der Gemeinde mittels der Liturigie über unruhige Zeiten hinweg aufrechtzuerhalten und sogar zu festigen, und zwar sowohl unter jenen Gemeindeteilen, die sich bereits weit von der Tradition weit entfernt hatten, als unter jener Gruppe, die streng an der Tradition festhielt. Gebete und Rituale, deren Bedeutung in liberalen Kreisen der Gemeinschaft bereits nicht mehr erkannt wurde, blieben in Gebrauch und konnten ein Gefühl der Gruppenzugehörigkeit vermitteln, das unter den „Radikalreformern“ und Assimilierten verloren zu gehen drohte. Diese an den Gebetbüchern rekonstruierbare Entwicklung können nicht zuletzt auch die in der Bücherei erhaltenen Feldgebetbücher Main 1868 (Signatur J 387); ders., Die Schrift des Lebens. Inbegriff des gesamten Judentums in Lehre, Gottesverehrung und Sittengesetz, 3. Lieferung, Frankfurt am Main 1867 (Signatur J 349 und J 389); ders., Die Willensfreiheit und ihr Verhältnis zur göttlichen Präscienz und Providenz bei den jüdischen Philosophen des Mittelalters, Berlin 1882 (Signatur P 221). Zu Stein vgl. auch Arnsberg, Chronik, S. 76–79. 286 Zur Stellung des Minhag, des Brauchs, im Leben der Mainzer Gemeinden vgl. etwa Leo Trepp, Über Mainz und seine Minhagim (mit Anmerkungen von E. Róth), in: Udim 6 (1975/76), S. 125–133. Zu anderen jüdischen Kasualien und den damit in Mainz verbundenen Minhagim vgl. ausführlich Drobner, Entwicklung, S. 277–293. 287 Davon zeugen etwa auch die Ausgaben, in denen kurze deutsche Erläuterungen zu den liturgischen Dichtungen beigegeben sind. Wie umstritten die Verwendung solcher Poesien blieb, zeigt etwa ein in einem Mainzer Gebetbuch aus der orthodoxen Gemeinde beigelegte Zettel, auf dem handschriftlich Auswahl und Reihenfolge der im Zusatzgebet von Yom Kippur zu sprechenden Texte festgehalten ist. 288 Vgl. S. Lilienthal, Mit jüdischen Augen durch deutsche Lande, in: Israelitisches Familienblatt 40, 1. Oktober, 1932 (CZA A 101 / 32). 289 Für eine ausführliche Analyse der Unterschiede vgl. Petuchowsky, Prayerbook Reform, S. 147f. Die deutschen Paraphrasen versuchten traditionelle Vorstellungen, wie z. B. die des Kommens eines persönlichen Messias, zu revidieren. Vgl. dazu das Vorwort des Mainzer Gebetbuches von Aub, 1853 (zitiert bei Petuchowsky).

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aus dem Ersten Weltkrieg stützen. An diesem Krieg hatten nicht nur einige hervorragende Gemeindemitglieder und Rabbiner teilgenommen, sondern auch einfache und assimilierte Juden. Für traditionelle wie neologistisch geprägte Gemeindemitglieder stellte die Verwendung von Gebetbüchern im Krieg keinen Widerspruch dar; ihre Verwendung in Notzeiten brachte vielmehr zum Ausdruck, dass eine tiefe Verbundenheit mit der Tradition selbst unter widrigsten äußeren Umständen wichtig werden kann.290 Die eindrucksvolle Zahl von Selihot-Drucken, d. h. von Sammlungen dichterisch gestalteter Bußgebete („Verzeihungen“), wie sie vor allem in der Zeit vor und während der Hohen Feiertage rezitiert werden, kann diesen Eindruck einer engen Traditionsverbundenheit einiger Gemeindeteile stützen.291 Angesichts einiger spezieller Druckausgaben solcher Bußgebete – wie z. B. solche für den kabbalistisch inspirierten Ritus des „Shovavim tat“, der im 19. Jh. wohl nur noch von streng traditionell ausgerichteten Mitgliedern beobachtet wurde292 – wird diese intime Beziehung zum traditionellen, liturgisch geprägten Jahresablauf besonders greifbar. Die erhaltene Gebetsliteratur aus vielen Jahrzehnten des Gemeindelebens ist somit ein gewichtiger Zeuge für den oben erläuterten engen Bezug von Buch und Ritual. Erst die gedruckten liturgischen Werke ermöglichten die Erinnerung an Bräuche, die vielerorts und in vielen Schichten und Teilen der Gemeinde bereits lange außer Übung bzw. völlig in Vergessenheit geraten waren. Stellvertretend für die große Anzahl an seltenen, schön ausgestalteten und gut erhaltenen Liturgica sei, wenn auch aus dem Bereich der familiären Liturgie, eine berühmte Pesah-Haggada hervorgehoben:293 Sie wurde 1695 in Amsterdam von dem zum Judentum konvertierten deutschstämmigen Drucker Avraham ben Ya‛aqov für den ashkenazischen und sefardischen Ritus hergestellt.294 Für das Judentum ist das Pesah-Fest das Fest der Befreiung schlechthin. An ihm wird in Anlehnung an 290

Siehe etwas das Feldgebetbuch für die jüdischen Mannschaften des Heeres, Berlin 1914 (Signatur M 247; alte Signatur L 745; Stempel „Lehmann-Bücherei“). 291 Als Beispiel für eine solche Seliha-Sammlung sei genannt der Seder Seliha ‛im pesuqim uma‛aravot we-yoserot we-zulat we-yom kippur qatan ‛al pi seder u-minhag Q’’Q Warmaisa, Sulzbach 1727 (Signatur K 24) (Abb. 52). Zur weit verzweigten Seliha-Literatur vgl. Ismar Elbogen, Der jüdische Gottesdienst in seiner geschichtlichen Entwicklung, 3. verbesserte Auflage Frankfurt am Main 1931, Ndr. Hildesheim u. a. 1995, S. 224f; siehe zum Brauchtum in Mainz auch Drobner, Entwicklung, S. 315f. 292 Zum Tiqqun „Shovavim tat“, benannt nach einem Kunstwort aus den Anfangsbuchstaben der sieben Perikopen des Buches Exodus, die im Frühjahr gelesen werden, vgl. Gershom Scholem, Zur Kabbala und ihrer Symbolik, Frankfurt am Main 21977, S. 206f. – Diese Selihot-Sammlungen sind in der Bibliothek in mehreren Ausgaben erhalten. Bemerkenswert ist der Druck der Selihot Shovavim tat, Fürth 1796 (Signatur K 76). 293 Seder Haggada shel Pesah, Amsterdam 1695 (Signatur L 2). Das Mainzer Exemplar weist die für Haggadot üblichen Benutzungsspuren (Weinflecken) auf. 294 Siehe zu diesem seltenen Druck Yosef Hayim Yerushalmi, Haggadah and History. A Panorama in Facsimile of Five Centuries of the Printed Haggadah from the Collections of Harvard University and the Jewish Theological Seminary of America, Philadelphia 2005, plate 59. – Das in der Bibliothek erhaltene Exemplar trägt die Signatur L 2 und ist in jüngerer Zeit (nicht sehr fachmännisch) restauriert und wohl für Ausstellungszwecke faksimiliert worden. Leider ist ein hebräischer Vorbesitzervermerk aus Frankfurt (?) so stark verblasst, dass er nicht mehr zu entziffern ist.

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VII. Blicke in den Bestand

Abb. 51: Seder Haggada shel Pesah, Amsterdam 1695 (Signatur L 2)

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Abb. 52: Seder Selihot ‛al-pi seder u-minhag qehilla qedusha Warmaisa, Sulzbach 1727 (Signatur K 24)

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das Buch Exodus und rabbinische Überlieferungen an den Auszug aus Ägypten erinnert und der wundersamen Errettung aus der Sklaverei gedacht. Um diese Geschichte im Beisein der Familie zu vergegenwärtigen, wird am Vorabend des Festes aus einer solchen, Haggada genannten, rabbinischen Legendensammlung vorgelesen und gesungen. Bereits im Mittelalter entstand aufgrund dieser rituellen Verwendung des Haggada-Buches eine Fülle von unterschiedlichen, reich verzierten und illustrierten Haggada-Handschriften; mit Einführung des Buchdrucks nahm die Vielgestaltigkeit dieser Haggadot noch größere, fast unüberschaubare Ausmaße an. Jedes Jahr erschienen neue, künstlerisch hochwertiger ausgestaltete Ausgaben.295 Das Titelblatt der Amsterdamer Pesah-Haggada, auf dem sechs Medaillons mit biblischen Szenen sowie Moses und Aaron samt den ihnen eigenen Attributen wie Gesetzestafeln und Stab sowie Brustschild und Räucherpfanne abgebildet sind, ist das erste Titelblatt eines hebräischen Werkes, welches mit Hilfe der Kupferstichtechnik illustriert worden ist.296 Der Drucker übernahm die von ihm gewählten Motive einem berühmten Vorbild, das er wohl noch in seiner christlichen Lebensphase kennengelernt hatte: Matthaeus Merians 159-seitiger Bilderbibel, gedruckt in Frankfurt am Main im Jahre 1627.297 Auch zahlreiche andere Illustrationen in dieser mit dem Kommentar des sefardischen Exegeten Yishaq Abravanel versehenen Haggada sind fast sklavisch aus Merian entnommen worden; nur in wenigen Fällen hat der Drucker seine Vorlagen „judaisiert“, d. h. allzu christliche Interpretationen an den neuen Kontext angepasst. In den sechs runden Abbildungen am oberen Blattrand sind von rechts nach links unter der Szene der Vertreibung aus dem Garten Eden folgende Geschichten dargestellt: Der Bau des Turms von Babel, Jakobs Traum in Bet-El, Noah und die Arche; die unteren beiden illustrieren die Geschichten von Abraham und Melchizedek sowie von Lot und seinen Töchtern. Ein weiteres Novum dieser Haggada war eine am Ende des Bandes beigegebene Faltkarte des Heiligen Landes. Bei diesem oft kopierten Plan handelt es sich um die erste hebräische Landkarte, die jemals gedruckt worden ist.298 Der Drucker Avraham ben Ya‛aqov orientierte sich bei seinem Entwurf an der Karte des christlichen Theologen Christian van Adrichom (1533–1585). Wie seine Vorlage ostete er seine Karte, und Orte, die eigentlich in der christlichen Überlieferung wichtig sind, wie z. B. Bethlehem, blieben bei ihm besonders hervorgehoben.

295

Vgl. Abraham Yaari, Bibliography of the Passover Haggadah from the Earliest Printed Edition to 1960, Jerusalem 1960 (hebr.). Für weitere bibliographische Hinweise vgl. Yerushalmi, Haggadah, S. 489. 296 Siehe dazu ausführlich Róth, Kunst, S. 231f; Schubert, Jüdische Buchkunst, Bd. 2, S. 69f. 297 Siehe hierzu bereits Schubert, Jüdische Buchkunst, Bd. 2, S. 113 (mit Abb. 40); dann auch Yerushalmi, Haggadah, plate 59 (mit einem Beispielvergleich). 298 Siehe das Faksimile dieser Karte, auf der unter anderem die Gebiete der Zwölf Stämme bis zum Lande Misrayim verzeichnet sind, in Yerushalmi, Haggadah, plate 69 (nach der Pesah-Haggada, Amsterdam 1712). Vgl. auch: Reise nach Jerusalem. Das Heilige Land in Karten und Ansichten aus fünf Jahrhunderten. Sammlung Loewenhardt. Jüdisches Museum (Abteilung des Berlin Museums). Bestandkatalog bearbeitet von Anemone Bekemeier, Wiesbaden 1993, S. 118.

5. Handschriften und Einbandfragmente

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In dem einzigen Mainzer Exemplar dieser illustrierten Haggada ist bedauerlicherweise nur noch ein kleiner zerrissener Streifen dieser bemerkenswerten Karte erhalten. 5. Handschriften und Einbandfragmente 5.1 Handschriften Die Handschriften der Jüdischen Gemeinde Mainz sind bereits 1965 von Ernst Róth für das Verzeichnis der orientalischen Handschriften in Deutschland einmal kurz beschrieben worden. Diese wertvollen Zeugnisse der Mainzer Gemeinde sind allerdings in einem engeren Zusammenhang zum Bestand an gedruckten Büchern zu sehen als dies in dem Verzeichnis Róths dargestellt wird, und auch daher sollen diese Manuskripte hier noch einmal gesondert gewürdigt werden. Wie die gedruckten Werke enthalten sie wichtige Informationen zur Bestandsgeschichte und bieten darüber hinaus zahlreiche weiterführende Informationen über Entwicklung der Gemeinde vom 17. bis ins 19. Jahrhundert.299 Ihre genaue Auswertung bedürfte tiefer gehender Einzelstudien, was an dieser Stelle nicht geleistet werden kann. Dennoch sei dieser wichtige Teil der Jüdischen Bibliothek Mainz vorgestellt, zumal er in den bislang erschienenen Beschreibungen kaum eine Erwähnung fand. Dabei ist zunächst zu beachten, dass einige der wohl berühmtesten Mainzer jüdischen Handschriften aus dem Mittelalter heute nicht mehr in Gemeindebesitz sind. So gelangten schon früh einige der ansehnlichsten Handschriften, wie etwa die heute in der Hambuger Staats- und Universitätsbibliothek aufbewahrten PrachtMahzorim300, in privaten Besitz; weitere Pergamente und Codices aus der Mainzer Gemeinde sind noch viel später auch auf irregulärem Wege verschwunden.301 Die 299

Vgl. Ernst Róth, Hebräische Handschriften, Teil 2, hrsg. von Hans Striedl unter Mitarbeit von Lothar Tetzner, Verzeichnis orientalischer Handschriften in Deutschland VI, 2, Wiesbaden 1965, S. 190–212. Siehe dazu oben S. 120 Anm. 37. 300 Vgl. Ms Hamburg, Staats- und Universitätsbibliothek, Cod. hebr. 37 (Moritz Steinschneider, Catalog der hebräischen Handschriften in der Stadtbibliothek zu Hamburg und der sich anschließenden in anderen Sprachen, Hamburg 1878, S. 36, Nr. 86). Vgl. hierzu auch Bezalel Narkiss, Hebrew Illuminated Manuscripts, Jerusalem 1984 (hebr.), S. 145. 301 So fand sich unter den mir übergebenen Büchern und Handschriften bislang keine Spur von jener sagenhaften Pesah-Haggada, die bereits in einem Bericht des Israelit vom 28.1.1915 über den Aufbau der Sammlung des Museums für Jüdische Altertümer (aus dem Fundus der geschlossenen Mainz-Kastel Gemeinde) mit folgenden Worten geschildert wird: „Das Prachtstück der ganzen Sammlung ist aber unstreitig eine alte ‚Pessach-Hagadah’, ein Buch in Folioformat, das Gebete, Gesänge und Erzählungen für die beiden Osterabende enthält. Die Hagadah stammt von dem Großvater des früheren Kolonialdirektors Bernhard Dernburg, David Dernburg, aus der Zeit, da dieser erster Vorsitzender der Mainzer Israelitischen Gemeinde gewesen ist. Sie wurde vor einigen Jahren von der Gemeinde erworben. Das Buch, auf Pergament (!) geschrieben, ist mit einer großen Zahl der herrlichsten Bilder im Stile altholländischer Meister geschmückt, in ihnen wird der Auszug der Kinder Israel aus Ägypten, ihr Durchzug durch das rote Meer, die zehn Plagen usw. in der naiven Weise des 16. Jahrhunderts dargestellt. Das kostbare Werk trägt auf der Innenseite des Deckels verschiedene Eintragungen der Familie Dernburg.“

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VII. Blicke in den Bestand

meisten der ca. 36 heute noch in Mainz erhaltenen hebräischen Pergament- und Papiermanuskripte stammen aus Mainz oder sind von Personen und Gelehrten aus dem Umfeld der Mainzer Gemeinde verfasst worden. Unter den herausragenden Stücken befindet sich etwa ein begonnener Psalmen-Kommentar von Marcus Lehmann sowie Handschriften aus der IRG Mainz.302 Andere Manuskripte kamen aus dem Nachlass von Siegmund Salfeld in die Sammlung – so z. B. einige Florilegien aus Talmud und Midrasch, die von bekannten Mainzer Rabbinern im 19. Jahrhundert angelegt worden sind.303 Hervorzuheben ist etwa eine hebräische Handschrift mit jüdisch-deutschen Auszügen aus verschiedenen philosophischen Werken – von griechischen Philosophen bis hin zu Philosophen vom Anfang des 19. Jahrhunderts.304 Und interessant ist auch ein in Leder gebundener Band des aus Mannheim stammenden Mainzer Vorbeters und Toraschreibers Shemu’el Zanwel, der lediglich die bekannten Gebete Shir ha-yihud und Shir ha-kavod enthält.305 Dieses Manuskript wurde am 1. Nisan 493, d. h. im Jahre 1733 abgeschlossen. Ein typischer Novellen-Band aus Mainz ist die Handschrift Jüdische Gemeinde Nr. 14. Sie enthält Erklärungen zu Problemen in den Talmud-Traktaten Bava Mesia und Shabbat sowie eine Homilie, in der Rabbiner Herz Scheuer (gest. 1822) noch als lebend vorausgesetzt wird. Vergleichbar ist diese Handschrift mit einer von Rabbiner Hirsch Kannstadt (1770–1823)306 aus Mainz verfassten Novellen-Sammlungen zum Talmud.307 Zu dieser Art von Sammelhandschriften gehört auch eine Homiliensammlung von dem ansonsten unbekannten Rabbiner Mendel ben Zizel (Siessel) aus Mainz-Kastel (um 1831).308 Viele andere Handschriften der Kollektion weisen einen direkten Bezug zur Mainzer Verhältnissen auf. Unter dem Titel ‛Iqve ha-Son, „Spuren des Kleinviehs“ (nach Hoheslied 1,8), ist etwa ein kleines Mainzer Homilienbändchen von einem Sevi Hirsh ben Ya‛aqov (ca. 1760–1830) erhalten, das dieser in den Jahren 1799– 1828 verfasst hat.309 Bemerkenswert ist, dass der Autor ein Hochwasser des Rheins im Jahre 1784 erwähnt, als „die Wasser des Mains und des Rheins in gleicher Höhe 302

Róth, Hebräische Handschriften, S. 190 (Nr. 10). Siehe dazu bereits oben. Das gebundene Bändchen mit wenigen beschrifteten Seiten enthält außerdem in deutscher Schrift und Sprache eine Liste „Vollzogene Trauungen“ vom 28.05.1855 bis zum 31.05.1862. 303 Dass einige Handschriften verloren gegangen sind, belegt ein Fund im Dr. I. E. LichtigfeldMuseum in der alten Synagoge in Michelstadt. Dort ausgestellt ist das Foto eines Manuskriptes der Mainzer Jüdischen Gemeinde (eine Ketubba), welches heute nicht mehr erhalten ist. Vermutlich wurde dieses Foto von Rabbiner Róth in die Ausstellung gebracht. Später wurde das Dokument nicht mehr zurückgegegeben. 304 Vgl. Ms Mainz Jüdische Gemeinde, Nr. 27 (Róth, Hebräische Handschriften, S. 190f). 305 Ms Mainz, Jüdische Gemeinde, Nr. 9. 306 Vgl. zu ihm Wilke, Rabbiner, Bd. 2, S. 509. 307 Siehe Ms Mainz, Jüdische Gemeinde Nr. 7–8 und Nr. 14. 308 Ms Mainz, Jüdische Gemeinde, Nr. 31. Ein Hayum und ein Israel Siessel spendeten um 1815 eine Tora-Rolle für die Kasteler Gemeinde; sie erhielt allerdings erst um 1833 in der Frühlingsstraße eine eigene Synagoge. 309 Beigebunden Ms Mainz, Jüdische Gemeinde, Nr. 22 II. Siehe Róth, Hebräische Handschriften, S. 203.

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standen“. Als die Gefahr vorüber war, schrieb er ein Dankgebet, das dem Bändchen beigegeben ist. Einen weiteren Teil der Mainzer hebräischen Handschriften bilden rabbinische Responsen (She’elot u-teshuvot), Derashot (Predigten) und Hiddushim (Novellen zu talmudischen Diskussionen) von Verfassern, die aus anderen Gemeinden in Deutschland stammen. Ein ungebundenes Manuskript enthält z. B. die Antwortschreiben des Rabbiners Aharon ben Hirtz Schloß, der um 1782 in Offenbach am Main wirkte und der mit Rabbiner Yeḥezqi’el Landau aus Prag, einem Unterstützer von Yonatan Eibenschütz, verwandt war.310 Zu dieser Handschrift gehört ein weiteres Bündel von Blättern mit Erläuterungen zum Shulhan ‛Arukh, und zwar zum Teil Even ha-‛ezer, der Unterweisungen über eherechtliche Fragen behandelt.311 Dieses Manuskript ist so sorgfältig geschrieben, dass man annehmen muss, es sei als Vorlage für eine Drucklegung angefertigt worden. Eine Sammlung mit Hiddushim zu Shabbat-Problemen bietet Ms Mainz Jüdische Gemeinde Nr. 19. Das Manuskript gehörte einem Me’ir ben ke-mar David Bloch, wurde aber von Oberrabbiner Ya‛aqov Kohn („Katz“) Popers aus Frankfurt am Main verfasst.312 Von seinem Schüler Natan Löw aus Geinsheim, der um 1730 eine Zeit auch in Mainz als Rabbiner wirkte, stammen die Derashot und Hiddushim in Ms Nr. 28313, und einem Alexander (Sandor) Brand aus Büdesheim ist ein Pinqas, ein kleiner Notizblock, mit Novellen zu verschiedenen Talmud-Traktaten und Predigten zuzuschreiben.314 Verfasst wurde dieses Manuskript um das Jahr 1815, als das in der Nähe von Bingen gelegene Büdesheim noch zum Mainzer Konsistorium gehörte.315 Von Landesrabbiner Wolf Lewi ben Shemu’el Lewi stammt eine weitere interessante Sammlung von Predigten und Novellen.316 Dieser Gelehrte wirkte zwischen 1778 und 1820 in Gailingen und Wangen. Auf einer Seite der Handschrift sind die Geburtstage seiner Kinder sowie sein Einkommen vermerkt. Dies weist auf den persönlichen Charakter dieses Unikates hin. Einige der erhaltenen Manuskripte mit Texten ähnlichen Inhalts lassen sich keinem Autor mehr zuordnen. Sie stammen vermutlich alle aus dem 19. Jahrhundert, also aus der späten Blütezeit der Mainzer Yeshiva, und gehen zum Teil noch auf Schülermitschriften bei anderen Rabbinern zurück.317 Eine solche anonyme 310

Siehe Róth, Hebräische Handschriften, S. 191 (Nr. 12); siehe zu ihm auch Hans-Georg Ruppel, Das Einwohnerverzeichnis von 1784, in: Zur Geschichte der Juden in Offenbach, Bd. 2: Von den Anfängen bis zum Ende der Weimarer Republik, Offenbach am Main 1990, S. 258; siehe auch Wilke, Rabbiner, Bd. 2, S. 789. 311 Siehe Ms Mainz, Jüdische Gemeinde Nr. 13 (Róth, Hebräische Handschriften, S. 195f). 312 Siehe zu ihm Arnsberg, Chronik, S. 40f. Seine gedruckte Responsensammlung „Shev Ya’aqov“, Frankfurt am Main 1742, war von größerer Bedeutung, da sie auch medizinische Kenntnisse vermittelte. 313 Siehe zu ihm Róth, Hebräische Handschriften, S. 205. Auf dem Buchdeckel hat der Verfasser geschrieben: „Dies hab ich Jud Nathan Löw Gayntzheim geschrieben … Mogentz“. 314 Vgl. Ms Mainz, Jüdische Gemeinde Nr. 30. 315 Siehe Ms Mainz, Jüdische Gemeinde Nr. 8 (Róth, Hebräische Handschriften, S.197). Zu Büdesheim vgl. etwa Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen, Bd. 1, S. 75. 316 Ms Mainz, Jüdische Gemeinde Nr. 25. 317 Vgl. die Mss Mainz, Jüdische Gemeinde Nr. 6 und 7 (?). Unbekannt ist auch der Verfasser

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VII. Blicke in den Bestand

Sammlung von pilpulistischen Derashot aus dem Jahr 1742 liegt auch in Ms Mainz Jüdische Gemeinde Nr. 23 vor. In ihr sind verschiedene hebräische Vorträge im Namen des Hamburger Rabbiners Yonatan Eibenschütz318 und Abraham Lissa aus Frankfurt am Main niedergeschrieben. Außerdem enthält das Manuskript Reden der Mainzer Rabbiner Tevle Scheuer, Moshe Brandeis, genannt Harif319, Michel Scheuer, Herz Scheuer, Moshe Rapp und David Hinsbeck.320 Eine gut vergleichbare anonyme Kollektion von Predigten und Talmud-Novellen, die von einem Schüler des Frankfurter Rabbiners Avraham Broda (gest. 1790) zusammengestellt wurde, ist in Ms Mainz Jüdische Gemeinde Nr. 29 erhalten.321 Broda war ein von Eibenschütz geschätzter Gelehrter, der posthum durch sein Novellen-Werk „Eshel Avraham“ über die Grenzen Frankfurts hinaus Berühmtheit erlangte und bereits zu Lebzeiten viele Schüler anzog. Dem bekannten Frankfurter Rabbiner Pinhas ha-Lewi Horowitz, genannt Hafla’ah, ist eine Kollektion von Derashot und Homilien in Ms Mainz Jüdische Gemeinde Nr. 22 zuzuschreiben. Sie entstand Ende des 18. Jahrhunderts, als dieser hervorragende Gelehrte in Zeiten des schwierigen Umbruchs an der Spitze der Frankfurter Gemeinde stand.322 Zusammengebunden ist dieses Manuskript übrigens mit einer Predigtsammlung des zeitweise in Mainz wirkenden Rabbiners Hayyim Hirsch Berliner (1783–1799)323, was vielleicht erklären kann, warum die Frankfurter Sammlung nach Mainz gelangte. Eine besondere Gattung von Manuskripten in der Kollektion bilden Kommentare zu mystischen Schriften. So enthält Ms Jüdische Gemeinde Mainz Nr. 15 eine Zusammenstellung verschiedener gedruckter und handschriftlicher kabbalistischer Quellen von Re’uven ben Avraham Sachs aus Glogau.324 Das Bändchen von 112 Seiten ist in Mannheim entstanden und dürfte der Sammeltätigkeit und dem kabbalistischen Interesse von Herz Scheuer, dem Verfasser der Tore zahav325, zu verdanken sein. Michel Scheuer (1738–1809), der Sohn des späteren kurmainzischen Landesrabbiners, amtierte als Stadtrabbiner an der Mannheimer Klaus, die um 1690 von Lämmle Moshe Reinganum gegründet worden war.326 Im Jahre 1809 nahm er an der Landesdeputiertenversammlung der badischen Juden in Karlsruhe teil; später wechselte Scheuer als Rabbiner nach Worms.

von Nr. 8 II, einer Sammlung, die mit Nr. 7 in enger Beziehung steht. Siehe Róth, Hebräische Handschriften, S. 198. 318 Zu ihm und weiteren mit ihm in Verbindung zu bringenden Handschriften in Mainz siehe unten. 319 Zu ihm vgl. Löwenstein, Geschichte, S. 228–231. 320 Siehe Róth, Hebräische Handschriften, S. 201. 321 Zu Broda vgl. Y. Horowitz, Art. Broda, Abraham ben Saul, EJ 4 (1972), Sp. 1390; Wilke, Rabbiner, Bd. 1, S. 211. 322 Zu ihm vgl. Arnsberg, Chronik, S. 53ff; Löwenstein, Geschichte, S. 235. 323 Vgl. zu ihm Löwenstein, Geschichte, S. 233–235; Wilke, Rabbiner, Bd. 1, S. 184f. 324 Vgl. Róth, Hebräische Handschriften, S. 192. 325 Siehe dazu oben S. 168. 326 Siehe Róth, Hebräische Handschriften, S. 193; Wilke, Rabbiner, Bd. 2, S. 783.

5. Handschriften und Einbandfragmente

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In der Mainzer Bibliothek ist von ihm noch das Autograph einer Homiliensammlung zu besonderen Shabbatot und Leichenreden aus den Jahren 1793 und 1797 erhalten.327 Eine Sammlung von exegetischen Hiddushim zu den Büchern Ester und Rut des Frankfurter Gelehrten Elhanan Henle Kirchhan (1666–1757) deutet ebenfalls auf diesen Bestandzusammenhang hin.328 Und zu dieser Gattung von exegetischen Handschriften ist auch eine „Ayyelet ha-shahar“ (nach Ps 22,1) genannte Sammlung von Gedichten in Ms Mainz Jüdische Gemeinde Nr. 5 zu zählen, die von einem Yehuda Arye ben Nahman Friedland aus Riga verfasst wurde.329 Das bemerkenswerte Phänomen von Abschriften bekannter gedruckter Werke lässt sich in der Mainzer Sammlung gleich an mehreren Beispielen beobachten. Besonders erwähnenswert ist eine handschriftliche Kopie des Werkes ‛Olat Yishaq des Yishaq ben Yoshua‛ ben Avraham Rofe mit 843 Vorschriften, welches bereits 1606 in Prag gedruckt worden war.330 Ähnlich liegt der Fall bei einem kalendarischen Bändchen, welches von Henokh Schiff aus Frankfurt am Main angefertigt worden ist, einem weiteren Mitglied der oben bereits vorgestellten Familie Schiff.331 In zwei Exemplaren vorhanden sind auch Abschriften mit liturgischen Texten für Beerdigungsbruderschaften – darunter eine besonders schöne, aber stark beschädigte Handschrift, die aufgrund ihres mit einer Federzeichnung verzierten Titelblatts bereits auf mehreren Ausstellungen zu sehen war.332 Dieses kleine Büchlein entstand 1726 in Mainz und befand sich lange im Besitz von Kommerzienrat L. Kronenberg, aus dessen Nachlass auch einige gedruckte Bücher in der Bibliothek erhalten sind.333 Auf dem Titelblatt sind vier Männer in schwarzer Kleidung zu sehen, die einen Sarg oder eine mit einem schwarzen Tuch bedeckte Bahre tragen.334 Der Umriß lässt zwar eher an einen Sarg denken, doch wurde in Mainz wohl noch lange der vom Maharil (Ya‛aqov ben Moshe ha-Lewi Moelln; ca. 1360–1427) erwähnte Brauch befolgt, nach dem der Leichnam auf einer Bahre zum Friedhof getragen und der Sarg erst dort zusammengezimmert wurde.335 Dies wurde in Mainz 327

Vgl. Róth, Hebräische Handschriften, S. 199. Die Predigten, so hält der Schreiber fest, wurden nie gehalten. Auf dem Einband steht in Hebräisch: „Dieser Band gehört dem Ga’on, dem Rabbiner Michel Scheuer, Av bet din der heiligen Gemeinde Mannheim.“ Zu Michel Scheuer vgl. noch Karl O. Watzinger, Geschichte der Juden in Mannheim 1650–1945, Veröffentlichungen des Stadtarchivs Mannheim 12, Stuttgart u. a. 1984, S. 25. 328 Vgl. Julius Fürst, Bibliotheca Judaica. Bibliographisches Handbuch der gesamten jüdischen Literatur mit Einschluss der Schriften über Juden und Judenthum und einer Geschichte der jüdischen Bibliographie, Bd. 2, Leipzig 1863, S. 189. 329 Siehe Róth, Hebräische Handschriften, S. 210. 330 Vgl. Róth, Hebräische Handschriften, S. 207. 331 Siehe Ms Mainz, Jüdische Gemeinde, Nr. 18 (Róth, Hebräische Handschriften, S. 210f). 332 Ms Mainz, Jüdische Gemeinde Nr. 1. Ausgestellt war das Manuskript auf der Jahrtausendausstellung der Rheinlande in Köln, 1925, S. 333 und auf der Monumenta-Ausstellung, Katalog D 37. 333 Vgl. zu seinen Stempeln oben Kapitel IV.2.1. 334 Vgl. dazu auch die Darstellung eines Beerdigungszuges aus der Judengasse aus dem Jahre 1710, abgedruckt etwa in Schütz, Geschichte des Mainzer Judenviertels, S. 47 Abb. 3. 335 Vgl. das mittlerweile wissenschaftlich edierte Werk dieses wichtigen Mainzer Gelehrten am Ausgang des Mittelalters: The Book of Maharil. Customs by Rabbi Yaacov Mulin, ed. Shlomoh J.

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VII. Blicke in den Bestand

möglicherweise bis ins 19. Jh. hinein so gehalten, und die auf der Abbildung erkennbaren Stelzen müssten dann als einer mit einem Baldachin überdachten Bahre zugehörig interpretiert werden. Auch bei dem anderen liturgischen Buch für die Beerdigungsbruderschaft kann man fragen, warum es handschriftlich angefertigt wurde, obgleich es bereits zahlreiche gedruckte Werke gleichen oder ähnlichen Inhalts gab.336 Dieses schmucklose Büchlein stammt wahrscheinlich aus Worms und wurde dort um 1815 angefertigt.337 Der Verfasser beschreibt Wormser Bräuche, wie sie schon von Yuspa Shammes in seinem berühmten „Sefer Minhogim“ festgehalten wurden.338 Bemerkenswert ist etwa der auf Blatt 5 recto erwähnte Brauch, den Sarg des Verstorbenen vor der Beisetzung auf dem Heiligen Sand an der Synagoge Rashis vorbeizutragen. Zum ersten dieser beiden liturgischen Bände passt ein teilweise erhaltenes Vereinsbuch einer Hevra aus Mainz, in Deutsch mit hebräischen Lettern geschrieben.339 Diese Handschrift ist auf den 6. Juli 1845 datiert und enthält Eintragungen über Spender und Stiftungen für die Mainzer „Bruderschaft“, d. h. die Beerdigungsbruderschaft, die sich einige Jahre „hier in Mainz“ befand.340 Die Mitglieder dieser Bruderschaft wurden offenbar nicht nur mit den Beisetzungen, sondern auch mit dem Sprechen eines Jahrzeit-Qaddish für die Verstorbenen beauftragt. Dieser Brauch brachte regelmäßige Spenden ein, zumal in Zeiten, da viele das QaddishGebet nicht mehr selbst sprechen konnten oder wollten. Weil der Anfang des Mainzer Manuskriptes fehlt, lässt sich über den genauen Entstehungszusammenhang der Schrift nichts Präziseres sagen. Der Überlieferungszusammenhang mit dem oben vorgestellten Minhag-Buch der Bruderschaft dürfte jedoch klar sein. Eine wichtige Handschrift bildet eine Ms Nr. 18 beigebundene HomilienSammlung von Rabbiner Yonatan Eibenschütz (1690/95–1764), einem der herausragenden jüdischen Gelehrten seiner Zeit.341 Ab 1750 bis zu seinem Tod fungierte er als Rabbiner der jüdischen Dreiergemeinde Altona-Hamburg-Wandsbeck. Eibenschütz war ein äußerst produktiver Gelehrter, der allerdings bald den Verdacht auf sich zog, ein heimlicher Anhänger des 1676 verstorbenen Pseudo-Messias ShabbaSpitzer, Jerusalem 1989, S. 601 (hebr.). Siehe dazu auch Daniel Sperber, The Jewish Life Cycle. Custom, Lore and Iconography, Oxford, Ramat Gan 2008, S. 495–496. 336 Ms Mainz, Jüdische Gemeinde, Nr. 2. Hiermit lässt sich etwa das Buch Tose’ot Hayyim. Sefer kolel kol anfe tefillot we-tahanunim le-hitpallel be‛ad ha-holim we-ha-metim, Rödelheim 1862 (Signatur M ‫ ת‬36; alte Signatur HL/9) vergleichen. 337 Zu den Datierungsproblemen aufgrund eines verwischten Buchstabens vgl. bereits Róth, Hebräische Handschriften, S. 208. 338 Vgl. dazu das Wormser Minhagbuch des R. Jousep (Juspa) Schammes. Nach Handschriften des Verfassers zum ersten Male vollständig herausgegeben, mit Ergänzungen von Rabbiner Jair Chajim Bacharach, Erläuterungen, Quellen und allgemeine Einleitung von Benjamin Salomon Hamburger, Textbearbeitung und geschichtliche Einführung von Erich Zimmer, Bd. 2, Jerusalem 1988, S. 102 (§ 248). Siehe hierzu auch Avraham Epstein, Die Wormser Minhagbücher, in: Gedenkbuch zur Erinnerung an David Kaufmann, Breslau 1900, S. 307 (Nr. 6). 339 Ms Mainz, Jüdische Gemeinde, Nr. 16. Vgl. die ausführliche Beschreibung von Róth, Hebräische Handschriften, S. 209. 340 So vermerkt auf fol. 1 recto. 341 Zu ihm vgl. Gershom Scholem, Art. Eybeschuetz, Jonathan, in: EJ 6 (1971), Sp. 1074f; Andreas Brämer, Art. Eibeschütz, in: Das jüdische Hamburg, S. 64f.

5. Handschriften und Einbandfragmente

Abb. 53: Ms Mainz Jüdische Gemeinde 1 (vergrößerte Abbildung)

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VII. Blicke in den Bestand

tai Zvi zu sein.342 Als sein schärfster Gegner trat Rabbiner Jakob Emden auf, der die Vorwürfe gegen Eibenschütz mit publizistischen Mitteln verbreitete und hierdurch eine tiefe Spaltung unter den Rabbinern in Deutschland und weit darüber hinaus hervorrief. Die unter anderem aufgrund von angeblich durch Eibenschütz in Umlauf gebrachte Amulette gegen ihn vorgebrachten Beschuldigungen hat dieser Zeit seines Lebens bestritten. In Folge der philologischen Analysen Gershom Scholems konnte sich in der Wissenschaft allerdings mittlerweile die Auffassung etablieren, der Hamburger Rabbiner sei tatsächlich ein Krypto-Sabbatianer gewesen.343 Das Mainzer Manuskript wurde erst von einem Schüler Eibenschütz’ namens Henokh noch vor 1764 niedergeschrieben. Für die Frage, ob Eibenschütz Sabbatianer war, trägt sein Inhalt wohl nichts aus. Möglicherweise gelangte es aber durch heimliche Anhänger oder Sympathisanten des Eibenschütz nach Mainz. Hier hatte es zumindest zu Beginn der messianischen Unruhen um das Jahr 1666 offen auftretende Anhänger des Shabbatai Zvi gegeben.344 Das Mainzer Manuskript ist dann im 19. Jahrhundert in Eibenschütz’ Buch Ye’arot devash („Honighaine“) publiziert worden, zuerst in Yosefof 1866 und dann noch einmal 1986 in Jerusalem.345 Ein weiterer Schatz der Handschriftenkollektion ist eine in Leinen gebundene Kursivhandschrift der 1869 in Mainz-Kastel entstandenen Biographie von Rabbi Hirsh Lewi Fränkel.346 Hirsch Fränkel (1662–1740) war Sohn des Rabbiners Hanokh Lewi Fränkel aus Fürth.347 Fränkel fungierte zunächst als Rabbiner in Ingelheim, dann als Landrabbiner in Heidelberg. Von 1709 bis 1712 war er dann als Landrabbiner von Ansbach in Schwalbach ansässig. Zwischen 1718 und 1737 wurde er in Schwalbach aufgrund von Denunziationen inhaftiert. Verfasst und bevorwortet ist das kleine Bändchen von Bär Kohen Schiff, einem Großenkel Fränkels, der sich in Mainz-Kastel niedergelassen hatte. Fränkels Lebensweg begann mit Studien verschiedener kabbalistischer und auch traditioneller rabbinischer Werke. Aufgrund dieser Studien stellte er ein eigenes Buch zusammen, das jedoch von der Altdorfer protestantisch-theologischen und juristischen Fakultät verboten wurde. Auf Betreiben derselben Theologen wurde Fränkel dann zu lebenslanger Kerkerhaft verurteilt, die er in Ketten gelegt am 19. Mai 1713 im Turm von Schwalbach antrat. Das Mainzer Manuskript war 342

Zu diesem unter Zwang zum Islam konvertierten Pseudo-Messias vgl. die klassische Monographie von Gershom Scholem, Shabbatai Zwi. Der mystische Messias, Frankfurt am Main 1992. 343 Vgl. hierzu auch Gershom Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Frankfurt am Main 1967, S. 353. 344 So sammelte sich um Rabbi Ya’ir Bacharach aus Worms um 1666 eine Gruppe von dreizehn Männern, die der guten Botschaft vom Kommen des Messias wegen eine Bruderschaft gründeten, um sich auf die Reise ins Heilige Land vorzubereiten und zu rüsten. Vgl. hierzu Scholem, Shabbatai Zwi, S. 605 und S. 612. 345 Ein Exemplar des Nachdrucks dieses Werkes befindet sich in der Bibliothek des Seminars für Judaistik. 346 Ms Mainz, Jüdische Gemeinde, Nr. 3; siehe die ausführliche Beschreibung von Róth, Hebräische Handschriften, S. 211f. 347 Vgl. Louis and Henry Fraenkel, Genealogical Tables of Jewish Families. 14th – 20th Centuries, ed. Georg Simon, München 1999, Bd. 2: Genealogical Tables, München 1999, A II.6: The Fraenkel Family. – Die Familie war 1670 aus Wien vertrieben worden.

5. Handschriften und Einbandfragmente

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Grundlage einer Publikation dieser Lebens- und Leidensgeschichte durch Elyakim Carmoly (1802–1875) aus Frankfurt am Main. Sie erschien in der von Lehmann herausgegebenen Zeitschrift „Der Israelit“ 1868, Nr. 1–6, 8–10 und 13–17, und zwar unter dem Titel „Der Gefangene – Eine wahre Geschichte, von dem Helden derselben selbst aufgezeichnet.“348 Einzigartig in der Mainzer Handschriftensammlung ist auch eine gebundene handschriftliche Liste von Namen, geordnet nach Kohanim, Leviim und Yisra’elim (Ms Mainz Jüdische Gemeinde Nr. 4). Sie erinnert an ein Memor-Buch, führt aber die Namen der noch lebenden, zur Tora aufzurufenden Gemeindemitglieder auf.349 Zweck dieser seltsam gehefteten Liste war es wohl, die Gemeindemitglieder in der richtigen Reihenfolge und an den dafür vorgesehenen Tagen und Wochenabschnitten zur Tora-Lesung aufrufen zu können bzw. festzuhalten, wer zur Lesung aufgerufen worden war. Dies belegen auch die zahlreichen kleinen handbeschriebenen Zettel, die in einer Einbandklappe dem Band beigelegt sind. Róth zufolge wurde das Buch erst vor „einigen Jahrzehnten“ angelegt. Da auch die Namen von Rabbiner Dr. Moshe Bamberger, einem Leviten und dem letzten Rabbiner der orthodoxen Gemeinde von Mainz, und von Dr. Yona Bondi, dem Leiter der Schule in der Flachsmarktstraße, aufgeführt werden, ist das Verzeichnis gewiss schon im 19. Jahrhundert begonnen worden. Der Innendeckel des Einbandes trägt einen Stempel und die Unterschrift von Rabbiner Róth, was auf seine Sammlertätigkeit hindeutet; wie sie an ihn kam, ist nicht überliefert. 5.2 Neue Funde In zahlreichen Bänden des Bestandes fanden sich größere und kleinere Zettel und Handschriftenreste unterschiedlichsten Inhaltes. Diese „Benutzungsspuren“ zeigen, wie intensiv die Bücher für verschiedene Zwecke der Gemeinde benutzt und von privaten Besitzern gelesen wurden. In einem Gebetbuch „Tefilla mi-kol ha-shana“ (1819) fand sich z. B. ein handbeschriebener Zettel, auf dem der Ablauf der innerhalb einer Mainzer Yom KippurLiturgie zu rezitierenden Gebete und Piyyutim festgehalten ist.350 Einem weiteren Gebetbuch war ein zerrissener maschinenschriftlicher Zettel mit den Gebetszeiten an einem Yom ha-Kippurim der orthodoxen Gemeinde im Jahr 1909 beigelegt. Beginnend mit den „Pesuke de-simroh“, den Psalmen vor der eigentlichen Morgen-‘Amida („Schacharis“) um 6:30 Uhr, folgen die anderen liturgischen Einheiten bis zum berühmten Ne‛ila-Gebet, nach dem, der aggadischen Überlieferung folgend, die Tore des Gerichts bzw. das Buch des Lebens geschlossen werden und die Furchtbaren Tage zwischen Neujahr und dem Versöhnungstag zuende gehen („6:00–7:30 Uhr“).

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Elyakim Carmoly, in: Der Israelit 9 (1868), S. 13–15; 28–30; 44–46; 65–66; 80–81; 101–102; 132–134; 152–154; 229–230; 245–246; 275–276; 300–302. 349 Präzisiere insofern die Bildunterschrift in Lehnardt, Bibliotheken, S. 170. 350 Signatur des beschädigten Bandes J 142 (alte Signatur HL/492); er trägt einen Stempel von „Bernhard Meyer, Gerichtl. Vereid. Taxator Halberstadt, Breiter Weg.“

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VII. Blicke in den Bestand

Abb. 54: Zettel mit Veranstaltungshinweis und Gebetszeiten aus einem „Shaschen“ der IRG Mainz (ca. 1919)

Ebenso fand sich in demselben Band ein abgerissenes Blatt eines handschriftlichen Veranstaltungshinweises der „Agudas Jisroel“ über eine Veranstaltung im Clubzimmer des Kötherhofes („8 ½ Uhr“). Als Agudas Jisroel, „Gemeinde Israels“, bezeichnete sich die orthodoxe Separatgemeinde in Mainz. Dieser Zufallsfund belegt, dass sich diese später von Marcus Lehmann geleitete Gruppe vor der Errichtung einer eigenen Synagoge gelegentlich in privaten oder gewerblich genutzten Räumen versammelte. Exkurs: Eine Ketubba aus Mainz In einem hebräischen Folioband fand sich bei Restaurierungsarbeiten eine aramäische Heiratsurkunde, eine Ketubba, in der aus anderen Mainzer Quellen bekannte Namen erwähnt werden. Das wichtige Dokument war in das Buch eingelegt und dort wohl vergessen worden. Schließlich wurde es dort im Jahre 2007 wiedergefunden.351 351

Bei dem mittlerweile dank einer Spende des Landesverbandes der jüdischen Gemeinden in Rheinland-Pfalz restaurierten Band handelt es sich um das Sefer Kutnat Or von Ya‛aqov Ibn Haviv, Amsterdam 1684, mit der alten Signatur: M ‫ כ‬56 aus der Bibliothek der Israelitischen Religionsge-

5. Handschriften und Einbandfragmente

Abb. 55: Zettel mit den in Mainz an Yom Kippur (Yoser und Musaf) rezitierten Gebeten (aus Signatur J 142)

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VII. Blicke in den Bestand

Der Text der schmucklosen aramäischen Urkunde (11,5 x 17,5 cm) entspricht dem üblichen ashkenazischen Formular.352 Als Bräutigam wird der Rabbi Ya‛aqov (ben kevod) ha-Rav Leib Katz, d. h. Jakob, Sohn des Löb Cahn, genannt.353 Katz ist die deutsche Wiedergabe des hebräischen Kurzwortes für „kohen sedeq“, „gerechter Priester“, d. h. es handelte sich um einen Nachkommen des Priestergeschlechts, der etwa im Synagogengottesdienst besondere Pflichten zu übernehmen hatte. Dieser Name ist in zahlreichen anderen Mainzer Quellen überliefert und wird z. B. auch auf einem Becher der Mainzer Beerdigungsbruderschaft und in einer zu Makulatur eingestampften Mitgliederliste der Mainzer „hevra qaddisha“ genannt. Im Herdschillingsregister, d. h. in einer Zinszahlamtsmanuale aus Mainz, ist dieser Name ebenfalls überliefert.354 Cahn lebte demzufolge noch 1800 im Haus D 419 in der Judengasse und war als „Colporteur“ tätig.355 Dem nun aufgefundenen Dokument zufolge heiratete er Heichen, die Tochter eines Rabbi Yishaq; dem hebräischen Datum zufolge fand die Hochzeit am 12. Tevet des Jahres 5533 nach Erschaffung der Welt statt. Nach gregorianischem Kalender entspricht dies dem 7. Januar 1773, ein Donnerstag. Text ‫בחמישי בשבת שנים עשר יום לחדש טבת שנת חמשת אלפים וחמש‬ ‫מאות ושלשה ושלושים לבריאת עולם למנין שאנו מנין כאן במדינות‬ ‫מגנצא איך החבר ר' יעקב בן החבר' יהודא הכהן אמר לה להדא בתולתא‬ ‫חייכין בת ר' יצחק הוי לי לאנתו כדת משה וישראל ואנא אפלח‬ ‫ואוקיר ואיזון ואפרנס יתיכי כהלכות גוברין יהודאין דפלחין ומוקרין‬ ‫וזנין ומפרנסין לנשיהון בקושטא ויהיבנא ליכי מהר בתוליכי כסף‬ ‫זוזי מאתן דחזי ליכי מדאוריתא ומזוניכי וכסותיכי וסיפוקיכי ומיעל‬ ‫לותיכי כאורח כל ארעא וצביאת מרת חייכין בתולתא דא והות ליה‬ ‫לאנתו ודין נדוניא דהנעלת ליה מבי אבוה בין בכסף בין בדהב בין‬

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sellschaft. Der Fund ist im Restaurierungsprotokoll der Firma „Bucheinband exquisit“ Leipzig vom 16.11.2006 dokumentiert. Unklar ist, ob der Band aus der Familie Kahn stammt. 352 Vgl. dazu David Kaufmann, Zur Geschichte der Khetubba, in: MGWJ 41 NF 5 (1897), S. 213–221; Jakob Hamburger, Real-Encyclopädie für Bibel und Talmud, Abteilung II, Heft 1, Breslau 1874, S. 639–640. Vergleichbare aramäische Ehedokumente aus Mainz sind in den CAHJP in Jerusalem erhalten (Signatur G 3/246). Für eine ähnliche ashkenazische Ketubba aus Offenbach siehe Georg Heuberger (Hrsg.), Die Pracht der Gebote. Die Judaica-Sammlung des Jüdischen Museums Frankfurt am Main, Köln 2006, S. 523 (No. 564); siehe auch Wiesemann, Geniza, S. 126 (Mainstockheim 1771). 353 Vgl. zu ihm Siegmund Salfeld, Zur Kunde des Mainzer jüdischen Vereinslebens im achtzehnten Jahrhundert, Mainz 1919, S. 12 [1. Liste]. 354 Für diesen Hinweis danke ich Josef Heinzelmann, Mainz. 355 Gemeint ist Ya‛aqov Yehuda Löb Kohen, Sohn des Eli‛ezer Ya‛aqov (Leser), der unter dem Datum 22. Nisan 1741 im Memorbuch eingetragen ist. Gutle, Tochter des reichen Vorstehers Naftali, Sohn des Ascher Maas, könnte der Vater gewesen sein. Zur Lage des Hauses D 419 in der Judengasse oder –straße vgl. Schütz, Geschichte des Mainzer Judenviertels, S. 57 mit einem Ausschnitt aus dem Lehnhardtschen Stadtplan von Mainz aus dem Jahre 1844.

5. Handschriften und Einbandfragmente

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‫בתכשיטין במאני דלבושא ובשימושא דערסא חמשין לטרין וצבי‬ ‫ חמשין לטרין‬356‫החבר ר' יעקב הכהן חתן דנן והוסיף לה מן דיליה‬ ‫סך הכל מאה לטרין בכתובתה וכן אמר החבר ר' יעקב הכהן דנן אחריות‬ ‫שטר כתובתא דא ותוספתא דין קבלית עלי ועל ירתי בתראי‬ ‫להתפרע מכל שפר ארג נכסין וקנינין דאית לי תחות כל שמיא‬ ‫דקנאי דעתיד אנא למקנא נכסין דאית להון אחריות ודלית להון‬ ‫אחריות להון יהון אחראין יערב אין לפרוע מנהון שטר כתובתא‬ ‫דא ותוספתא דין ואפילו מן גלימא דעל כתפאי בחייב ובמות מן‬ ‫יומא דנן לעלם ואחריות שטר כתובתא דא ותוספתא דין קבל‬ ‫עליו החבר ר' יעקב הכהן חתן דנן כחומר כל שטרי כתובות ותוספתת‬ ‫דנהגין בבנת ישראל העשויין כתיקון חכמינו ז"ל דלא כאסמכתא‬ ‫ודלא כטופסי ושטרי וקנינא מן החבר ר' יעקב בן החבר ר' יהודא הכהן‬ ‫חתן דנן למרת חייכין בת ר' יצחק בתולתא דא ככל מה דכתוב‬ .‫ומפורש לעיל במנא דכשר למקניא ביה הכל שריר וקים‬ ‫הקטן יעקוב ]ב[ן כ"ה ליב כץ החתן‬ ‫הק' משהבן כ"ה מרדכי ז"ל מילא שץ ונאמן דק"ק מענץ‬ ‫הק' אייזק בר יששכר ממיץ שץ ואמן דק"ק מענץ‬

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Übersetzung 1 2 3 4 5 6 7

Am fünften, am Shabbat, zwölfter Tag des Monats Tevet, fünftausend und fünfhundert und dreiunddreißig nach der Zählung, mit der wir hier zählen in der Stadt Mainz, bezeugen wir, dass der Haver357 Rabbi Ya‛aqov Sohn des Haver Rabbi Yehuda ha-Kohen, sprach zu jener Jungfrau Ḥayykhen358, Tochter des Rabbi Yitzhaq: Sei mir zur Frau nach dem Gesetz des Mose und Israels. Und ich will für dich arbeiten, dich in Ehren halten, dich ernähren und versorgen nach der Weise der jüdischen Männer, die arbeiten und ehren und ernähren und versorgen ihre Frauen in Redlichkeit. Auch bestimme ich Dir eine Morgengabe deiner Jungfräulichkeit auf zweihundert Zuz359, die dir nach der Tora zukommt; ebenso deine Kleidung, Kost und deinen sonstigen Bedarf, und gültig für sie 356

Hier scheint eine Variante vorzuliegen. Vgl. den Text in: Machsor Vitry nach der Handschrift im British Museum (Cod. Add. No. 27200 u. 27201) zum ersten Male herausgegeben und mit Anmerkungen versehen von S. Hurwirtz, Nürnberg 1923, S. 791, wo ‫ דירה‬oder ‫ דידה‬steht. 357 Die verbreitete Anrede Haver bezeichnet einen Gelehrten, d. h. jemanden, der die Gebote beachtet. 358 Zu diesem von Ḥayya abgeleiteten Namen vgl. etwa Gil Hüttenmeister, AHG. Abkürzungsverzeichnis hebräischer Grabinschriften, Frankfurter Judaistische Studien 11, Frankfurt am Main 1996, S. 142. 359 Die übliche Minimalangabe nach rabbinischer Überlieferung bzw. Auslegung von Ex 22,15f und Dtn 22,29. Zum Problem der Umrechung von Zuz in die jeweilige Landeswährung vgl. schon Hamburger, Art. Kethuba S. 638 Anm. 23.

216

VII. Blicke in den Bestand

Abb. 56: Eine Ketubba aus Mainz aus dem Jahre 1773 (gefunden 2007)

5. Handschriften und Einbandfragmente

8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26

217

nach der Weise des ganzen Landes, und auch Frau Ḥayykhen, die Jungfrau, stimmte zu, seine Frau zu werden360; und in Bezug auf das Heiratsgut (nedunya), das sie aus dem Hause ihres Vaters mitbrachte, an Silber, Gold, an Schmuck, Kleidungsstücken, Bettzeug (im Wert von) fünfzig Litrin.361 Und es willigte der Haver Rabbi Ya‛aqov ha-Kohen, der Bräutigam, ein, eine solche Summe von fünfzig Litrin für sie hinzuzufügen, insgesamt einhundert Litrin in ihrer Ketubba. Und so sprach der Haver Rabbi Ya‛aqov ha-Kohen: Ich übernehme für diese Ketubba-Urkunde und für diese Mitgift (tosefta)362 für mich und meine Erben nach mir die Gewähr, dass dieselben von den besten und vorzüglichsten Besitzungen, die ich auf Erden habe, schon erworben habe oder erst erwerben werde, von den beweglichen und unbeweglichen bezahlt werden soll. Sie sollen verpfändet sein für dieselben, um von ihnen obige Ketubba und gemachte Mitgift bezahlt zu nehmen, sogar von dem Mantel auf meinen Schultern bei meinem Leben oder nach meinem Tode von diesem Tag an bis in Ewigkeit. Die Gewähr für diese Ketubba-Urkunde und diese Mitgift nahm auf sich der Haver Rabbi Ya‛aqov ha-Kohen, der Bräutigam, entsprechend der Strenge aller anderen Ketubbot und Mitgift(urkunden), wie sie bei den Töchtern Israels üblich sind, und nach der Anordnung unserer Weisen, seligen Andenkens, nicht als Scheinzusage und nicht nur als Urkundenformulare haben wir erworben und haben von dem Haver Rabbi Ya‛aqov, Sohn des Haver Rabbi Yehuda ha-Kohens, dem Bräutigam, Frau Ḥayykhen, die Tochter des Yitzhaq, die Jungfrau, entsprechend allem, was oben geschrieben und was bezüglich der Zeremonie des Besitzerwerbs erläutert worden ist, gesetzlich vollzogen. Alles ist fest und rechtskräftig! Der Kleine363, Ya‛aqov, Sohn des ehrenwerten Rav Leib Katz, der Bräutigam. Der Kleine, Moshe, Sohn des ehrenwerten Rav Mordekhai, seligen Angedenkens, aus Lo, Vorbeter und Treuhänder der heiligen Gemeinde aus Mainz. Der Kleine, Eiziq bar Yissakhar aus Metz, Vorbeter und Treuhänder der heiligen Gemeinde aus Mainz.

360

Zu dieser typisch ashkenazischen Formulierung vgl. Mahzor Vitry, hrsg. von S. Horowitz, Berlin 1923, S. 791. 361 Ein Litra (vom Griechischen „lítra“) ist ein Gewicht von 12 Unzen. 362 D. h., eine Zulage zur Mitgift. 363 D. h., der Demütige oder der Junge.

218

VII. Blicke in den Bestand

5.3 Einbandfragmente Im Verlauf der weiteren Erschließung der Jüdischen Bibliothek konnten außer vollständigen Manuskripten auch hebräische Handschriftenfragmente gefunden und identifiziert werden. Dass sich in der Universitätsbibliothek Mainz zumindest bis in die siebziger Jahre auch ein hebräisches Einbandfragment befand, ist spätestens seit 1960 bekannt. In diesem Jahr wurde von Bibliotheksassesor Peter Baader ein erstes Verzeichnis der Manuskripte in der UB Mainz erstellt; in ihm wird zumindest eine hebräische Handschrift erwähnt364, wobei es sich wohl um den Rest einer „Thora-Rolle“ mit Abschnitten aus Numeri 28–32 aus dem 18. Jahrhundert handelte. Dass sich zum Zeitpunkt dieser ersten Katalogisierung weitere hebräische Handschriften und Fragmente auf dem Universitätscampus befanden, blieb Baader anscheinend unbekannt.365 Unter den seit 2004 aufgefundenen hebräischen Fragmenten in der Universität Mainz befindet sich ein interessantes hebräisches Einbandfragment (in situ) mit einem Abschnitt aus einem Piyyut für das jüdische Neujahrsfest (Rosh ha-Shana), verfasst von dem spätantiken jüdischen Dichter El‛azar ha-Kallir (6. Jh. n. d. Z.).366 Dieses Fragment fand sich ausgerechnet im Einband eines (auch ohne das Fragment) wichtigen kabbalistischen Buches, nämlich in dem 1523 bei Daniel Bomberg in Venedig gedruckten Sefer Sror ha-Mor, „Myrrhenbündel“.367 Unter der christlichen Zensur ist dieses Buch des kastilischen Kabbalisten Avraham ben Ya‛aqov Sava, der noch zu den 1492 aus Spanien Vertriebenen gehört hatte, stark verändert und gekürzt worden.368 Den auf dem Titelblatt erhaltenen Notizen zufolge befand 364

Vgl. Peter Baader, Die Brentano-Sammlung und die übrigen handschriftlichen Bestände der Universitätsbibliothek in Mainz, in: Jahrbuch der Vereinigung „Freunde der Universität Mainz“ 9 (1960), S. 9–36, hier S. 33. 365 Das Fragment aus der UB konnte auch auf Nachfrage nicht wiedergefunden werden. Ähnlich auch ein Fragment, welches sich in der Jüdischen Gemeinde Mainz befunden haben soll und noch 1978 auf der Ausstellung Juden in Mainz zu sehen war (vgl. Schütz, Juden in Mainz, S. 137). Mittlerweile konnten in Mainz und Umgebung zahlreiche andere hebräische Fragmente in Einbänden entdeckt werden. Sie sind mittlerweile Gegenstand eines eigenen Forschungsprojektes. Vgl. hierzu ausführlich Andreas Lehnardt, Hebräische und aramäische Handschriftenfragmente in Mainzer Bibliotheken, in: Mainzer Zeitschrift. Mittelrheinisches Jahrbuch für Archäologie, Kunst und Geschichte 103 (2008), S. 15–28, hier S. 25f. Andere Mainzer Manuskripte gingen verloren, wurden verkauft oder gestohlen. 366 Erhalten sind einige Zeilen des Piyyut „Ansikha malkhi“, „Ich huldige meinem König“. Vgl. die Ausgabe von Daniel Goldschmidt, Maḥzor le-Yamim Nora’im, Bd. 1: Rosh ha-Shana. Jerusalem 1970, S. 237. Eine fototechnisch aufbereitete Abbildung des Fragments ist veröffentlicht in Andreas Lehnardt, Eine deutsche Geniza – Hebräische und aramäische Einbandfragmente in Mainz und Trier, in: Natur und Geist. Das Forschungsmagazin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz 23 (2007), S. 26. Siehe auch ders., Hebräische und aramäische Einbandfragmente in Mainz und Trier – Zwischenbericht eines Forschungsprojekts, in: Michael Embach / Andrea Rapp (Hrsg.), Rekonstruktion und Erschließung mittelalterlicher Bibliotheken: Neue Formen der Handschriftenerschließung und der Handschriftenpräsentation, Berlin 2007, S. 41–58, hier S. 56 (und siehe die Abbildung des Fragmentes auf S. 63). 367 Siehe hierzu Vinograd, Thesaurus, Bd. 2, S. 244. Vgl. auch den ebenfalls in der JBM erhaltenen Druck Warschau 1879 (Signatur M ‫ צ‬56). 368 Vgl. William Popper, The Censorship of Hebrew Books, Introduction by Moshe Carmilly-

5. Handschriften und Einbandfragmente

219

sich das Mainzer Exemplar zuerst im Besitz des bekannten Judenfeindes und Wegbereiters des modernen Antisemitismus Johann Andreas Eisenmenger (1654–1704) aus Mannheim.369 Später wird der Band Rabbiner Aaron Thal aus Koblenz gehört haben, und auf ungeklärtem Weg gelangte er schließlich nach Mainz, wohl zunächst in den Privatbesitz des oben vorgestellten Baruch Schlessinger, der an der Großen Bleiche wohnte.370 Wo der Band in die hebräische liturgische Handschrift eingebunden wurde, lässt sich nicht mehr klären. Wahrscheinlich geschah dies nicht erst in Mainz; möglicherweise war das Fragment aber zusätzlich ein Grund dafür, warum der an jüdischen Kuriosa stets interessierte Eisenmenger das Buch erworben hatte.371 In seinem berüchtigten Werk „Entdecktes Judentum“, auf das schon oben in anderem Zusammenhang hingewiesen worden war, führt Eisenmenger allerdings auch Übersetzungen anderer kabbalistischer Werke an. Die Verbindung mit der Mainzer Bibliothek könnte dadurch zu erklären sein, dass sein Buch auf Veranlassung von Frankfurter Juden, die sich in dieser Angelegenheit an den Hoffaktor Samuel Oppenheimer gewandt hatten, für kurze Zeit beschlagnahmt worden ist.372 Da sich in der Mainzer Bibliothek, wie oben erläutert, auch andere Oppenheimer-Bestände nachweisen lassen, ist das Exemplar vielleicht über den Umweg dieser großen Sammlung in jüdischen Besitz und dann nach Mainz gelangt. Jüdische Bücher, die in hebräische Handschriften eingebunden sind, finden sich relativ selten. Häufiger belegt sind lateinische oder deutsche Handschriftenreste in jüdischen Büchern.373 Beide Phänomene bedürfen zwar noch umfassenderer Untersuchung, was mittlerweile in einem von der DFG geförderten Projekt im Seminar für Judaistik geschieht, doch deuten bereits die wenigen Funde in der Jüdischen Bibliothek darauf hin, dass es den Bindern – christlichen wie jüdischen – vor allem darum ging, ihre Aufgabe so gut wie möglich zu lösen, ganz gleich mit welchen Arbeitsmaterialien. In der Jüdischen Bibliothek konnte daher z. B. auch der Rest einer lateinischen Handschrift in einem ohne Buchblock erhaltenen Einband eines Mahzor für die Hohen Feiertage identifiziert werden. Deutschsprachige Makulatur fand sich außerdem auf dem Rücken des bereits erwähnten Sefer Reshit Da’at, ge-

Weinberger, New York 1969, S. IX. Weitere Informationen zu diesem interessanten Buch und dem dramatischen Ende seines in Verona nach einer Seereise verstorbenen Verfassers bei Heller, The Sixteen Century Hebrew Book, Bd. 1, S. 155. Eine lateinische Übersetzung dieses Werkes durch Conrad Pellikan ist in einer Handschrift erhalten. 369 Vgl. zu ihm Greive, Geschichte, S. 29; Rohrbacher/Schmidt, Judenbilder, S. 139f. 370 Vgl. zu ihm Salfeld, Bilder, S. 56, und siehe oben. 371 Zu seiner Bibliothek und den darin gesammelten „Kuriosa“ vgl. Stefan Rohrbacher, „Gründlicher und Wahrhaffter Bericht“. Des Orientalisten Johann Andreas Eisenmengers Entdecktes Judentum (1700) als Klassiker des wissenschaftlichen Antisemitismus, in: Peter Schäfer / Irina Wandrey (Hrsg.), Reuchlin und seine Erben, Pforzheimer Reuchlinschriften 11, Ostfildern 2005, S. 171–188. 372 Vgl. Katz, Vom Vorurteil bis zur Vernichtung, S. 22f. 373 Siehe hierzu etwa Konrad Wiedemann / Bettina Wischhöfer (Hrsg.), Einbandfragmente in kirchlichen Archiven aus Kurhessen-Waldeck, Schriften des Landeskirchlichen Archivs Kassel 21, Kassel 2007, S. 7–21.

220

VII. Blicke in den Bestand

druckt 1583 in Venedig.374 Jüdische wie christliche Buchbinder scheinen demnach vielerorts keinen großen Unterschied gemacht zu haben – lateinische, deutsche und hebräische Pergamente wurden ganz gleich, welche Texte sie überlieferten, recycelt. Besonders interessant sind in diesem Zusammenhang zwei hebräische Papierseiten, die als Vorsatzblätter in einen Talmud-Band eingeklebt sind.375 Diese Seiten enthalten einen handschriftlich notierten jüdischen Kalender mit den Parashot hashavua‛, den Wochenabschnitten der Tora-Lesungen. Diese Seiten waren vielleicht einem Mahzor oder einem Ritualwerk beigebunden, oder es handelt sich um Blätter eines Wandkalenders. Verziert sind diese zufällig als Vorsatz erhaltenen Seiten mit schwarz-weißen Darstellungen der Tierkreiszeichen, was auch aus MahzorDrucken bekannt ist.376 Dass solche Seiten von Buchbindern zerschnitten und in einem Talmud-Einband wiederverwendet wurden, wirft zusätzliches Licht auf die sich im Judentum langsam verändernde Haltung zu Gedrucktem. Nach einer handschriftlichen Notiz auf dem vorderen Spiegelblatt gehörte der Band ausgerechnet der „Ados Yeshurun q[ehila] q[edusha] Magensa“, d. h. der orthodoxen Mainzer Gemeinde. Auch dort scheint man sich an einer solchen Wiederverwendung ab einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr gestört zu haben. Mit der einsetzenden Massenproduktion von hebräischen Büchern wurden lose oder makulierte Seiten offenbar immer häufiger wiederverwendet und auch in hebräische Buchdeckel eingeklebt. Dies belegt auch ein Exemplar des Sefer Reshit Bikkurim, Frankfurt am Main 1708 (Signatur M ‫ ר‬14, alte Signatur HL/928), in das ein Blatt aus einer hebräischen Psalmenausgabe in den forderen und hinteren Buchdeckel eingeklebt worden ist.377 Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang auch die mit Notenblättern aus einem christlichen Gesangbuch beklebten Vorsätze in einem weit verbreiteten Druck von Seliha-Gebeten.378 Im Zuge der Restaurierung dieses Bandes durch die Firma „buch exquisit“ wurde der Spiegel abgehoben, so dass man nun auch die Rückseiten der christlichen Gesangbuchseiten wieder lesen kann.379

Signatur M ‫ ר‬18 (alte Signatur H 322); Stempel „Lehmann-Bücherei“. Das Titelblatt ist an den ausgerissenen Ecken ergänzt und handschriftlich vervollständigt. Außerdem ist der Band durch Wasser beschädigt. 375 Der Traktat Berakhot des in der Bibliothek zum Teil gut erhaltenen Talmud-Druckes, Frankfurt am Main 1720–22 (Signatur E 114; HL/1084. Stempel „Lehmann-Bücherei“; Zählstempel 3958). Vgl. zu diesem Druck Raphael (Natan Neta) Rabbinovicz, Ma’amar ‛al hadpasat ha-Talmud. Toldot hadpasat ha-Talmud, hrsg. von A. M. Haberman, München 1886, Ndr. Jerusalem 1952 u. ö., S. 109–111. 376 Vgl. etwa Michael Tilly, Vernunft und Mystik im deutschen Judentum im frühen 19. Jahrhundert. Das religiöse Leben der Obermoscheler Juden im Spiegel hebräischer und aramäischer Textfunde, in: R. Schlundt (Hrsg.), 650 Jahre Stadt Obermoschel, Otterbach 1999, S. 386–388, hier S. 148–151. 377 Das Exemplar stammt aus der Bibliothek von „Dr. Lehmann“, wie ein handschriftlicher Vermerk auf dem Titelblatt belegt. 378 Selihot mi-kol ha-shana, Frankfurt am Main 1753 (restauriert 2006). 379 Zu lesen sind die Noten zu Vertonungen von Psalm 124 und 125 mit deutschem Liedtext. 374

5. Handschriften und Einbandfragmente

221

Ein weiteres besonders kurioses Zeugnis dieser Wiederverwendung von Papier ist im Vorsatz eines Exemplars des Sefer Ture Even, verfasst von Arye Leib ben Asher Metz, mit Diskussionen und Novellen (pilpulim und hiddushim) über die Talmud-Traktate Rosh ha-Shana, Hagiga und Megilla erhalten.380 Gedruckt wurde dieser Band 1771 in Metz; ein hebräischer Besitzervermerk weist den Band als aus dem Nachlass von Rabbiner Herz Scheuer stammend aus.381 Im vorderen Einbanddeckel ist eine französisch beschriftete Tabelle mit geographischen Βerechnungen eingeklebt. Die rechte Spalte gibt Grad- und Minutenzahl (D für degré und M für minute) der Breitengrade („latitude“), die mittlere analog Grad- und Minutenzahl der Längengrade („longitude“); links stehen die Ortsnamen in alphabetischer Reihenfolge. Der Spiegel im hinteren Deckel ist aus einer längeren Abhandlung herausgerissen und bildet nicht den Anschluss zur Ortstabelle im vorderen Einbanddeckel. Beide Blätter scheinen aus derselben anonymen Handschrift entnommen worden zu sein. Oberhalb der Tabelle der stündlichen bzw. zeitlichen Umlaufbahn („table des arcs horaires“) finden sich Anweisungen zu geographischen und astronomischen Berechnungen; es geht um horizontale und vertikale Linien, Umlaufbahnen („arc horizontal“) und den Grad der Erhebung („degré de l’elevation“). Der auf die Tabelle folgende untere Paragraph erwähnt weitere Elemente der astronomischen Berechnung. Hier werden auch die Äquinoktialpunkte erwähnt (so genannte Tagundnachtgleiche, „équinoxe“), die ebenfalls zur astronomischen Standortbestimmung nach Grad und Minute benötigt werden. Warum diese Seiten in einen Band mit Talmud-Novellen eingebunden wurden, ist unklar. Ein Zusammenhang zwischen Inhalt der Hiddushim und den handgeschriebenen Blättern scheint nicht zu bestehen, obwohl astronomische Berechnungen für das Verständnis des Traktates Rosh ha-Shana eine Rolle spielen. 5.4 Glossen, Exzerpte und Widmungen Bei all dem belegen die zahlreich erhaltenen handschriftlichen Widmungen und sogar Exzerpte aus Büchern in Bucheinbänden, auf Spiegel- und Vorsatzblättern, dass die zum persönlichen Besitz gehörenden Bücher als sehr kostbar erachtet und dass sie intensiv studiert wurden. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang etwa eine fast vollständig glossierte Ausgabe eines Amsterdamer Talmud-Drucks aus den Jahren 1752–1765.382 Die Glossen in diesem partiell restaurierten Exemplar beziehen sich auf den Text der Gemara und auf die Diskussionen und Erläuterungen in den sie umgebenden Kommentaren Rashis und in den Tosafot. Von wem Signatur M ‫ ט‬18; Zählstempel 5812; ovaler Stempel „Israelitische Religionsgesellschaft zu Mainz“. 381 Vgl. zu ihm IV1.2. 382 Signatur E 352. Gedruckt wurde die Ausgabe von den Brüdern Joseph und Jacob ben Salomon Proops in Amsterdam. Vgl. Rabinowitz, Ma’amar ‛al hadpasat ha-Talmud, S. 118–120. Die zehn Bände sind teilweise restauriert und sekundär in neue Ledereinbände eingebunden. Auf dem Titelblatt des ersten Bandes, Traktat Berakhot, findet sich ein russischer Zensurstempel aus dem Jahre 1856/57. Auf den ersten Seiten folgt ein niederländisches Druckerprivileg. Außerdem enthalten einige Bände einen schwarzen Monogrammstempel. 380

222

VII. Blicke in den Bestand

Abb. 57: Talmud Bavli, Amsterdam 1752 (Signatur E 352), samt handschriftlichem Kommentar

5. Handschriften und Einbandfragmente

223

sie verfasst wurden, konnte bislang nicht festgestellt werden, doch spricht einiges dafür, dass sie von einem Mainzer Rabbiner stammen, der seinen jahrelang mühsam annotierten „Shas“, d. h. seinen Talmud, schließlich der Gemeinde oder einem ihrer Repräsentanten hinterließ.383 Weitere Beispiele solcher persönlichen Benutzungsspuren und Notizen lassen sich vielen Bänden nachlesen. So hat sich im hinteren Spiegel des Einbandes einer Responsen-Sammlung ein zusammenhängender Text mit handschriftlichen Exzerpten aus dem eingebundenen Werk erhalten.384 Viele Bücher weisen darüber hinaus Glossen und Anstreichungen auf. Sie alle lassen noch erkennen, wie lebendig das geistige Leben der Gemeinde einmal gewesen sein muss. Besonders hervorzuheben sind hier auch die in vielen Mischna-Ausgaben erhaltenen Widmungen, die auf die quasi rituelle Verwendung dieser Bücher hindeuten.385 Das Studium eines Abschnittes der Mischna, des ältesten Teils der rabbinischen Literatur, stand schon seit dem Mittelalter im Zentrum des Nachmittagsstudiums an einem Shabbat, dem Ruhetag.386 Im ashkenazischen Judentum, insbesondere nach dem Wirken des aus Mainz stammenden Gelehrten Maharil, wurde dieses samstägliche Nachmittagsstudium eng mit dem Totengedenken verbunden. Die Zeit der Dämmerung am Shabbat galt traditionell als der Moment, an dem die Toten nach dem Ruhetag wieder in das Gehinnom zurückkehren mussten. Dem Ergehen ihrer Seelen gedachte man durch das Studium der „Anteile der Väter“, der zekhut avot. An einem Jahrzeittag war es daher in tora-treuen Kreisen sehr verbreitet, einen bestimmten Abschnitt aus der Mischna, meist aus den Sprüchen der Väter, den Pirqe Avot, zu studieren. Dieses ritualisierte Lernen wurde mit dem Rezitieren eines Qaddish abgeschlossen, mit einem so genannten Jahrzeit-Qaddish, welches wie das Studium der „Elevation“ der Seele eines verstorbenen Verwandten aus dem Gehinnom dienen sollte. In jüdischen Gemeinden, die von christlich-katholischer Memorialpraxis beeinflusst waren, verbreitete sich dieser Brauch schnell.387 Neben dem Anzünden eines Seelenlichtes am Jahrzeittag wurde dieser Minhag in Mainz schließlich sogar in der 1844 veröffentlichten Satzung des die Beerdigungsbruderschaft unterstützenden israelitischen Kranken-Vereins festgeschrieben.388 Der oben thematisierte enge Bezug von Buch und Ritual wurde hierdurch gewissermaßen institutionalisiert, Lesen und Totengedenken auf das engste verbunden.

383

„Shas“ ist ein Akronym aus Shisha sidre Mishna, d. h. sechs Ordnungen der Mischna, auf denen der Talmud basiert. 384 Signatur ‫ ט‬44. Das Titelblatt des Bandes ist herausgerissen. Auf dem aufgeklebten vorderen Spiegel findet sich eine berechnete Jahreszahl 1792. 385 Signatur C 166; Zählstempel 4930. Im angeklebten vorderen Spiegel des Bucheinbandes sind außerdem Notizen über die Geburtstage von Familienangehörigen zu finden. 386 Siehe hierzu etwa Shimshon Sharvit, Minhag ha-qeriya shel Avot be-Shabbat we-toldot habaraitot she-nispehu lah be-‛iqvotaw, in: Bar Ilan 13 (1976), S. 169–187. 387 Vgl. zum Ganzen Andreas Lehnardt, Christlicher Einfluss auf das Jahrzeit-Qaddish?, in: Judaica. Beiträge zum Verstehen des Judentums 58 (2002), S. 281–296. 388 Siehe hierzu die Statuten des älteren israelitischen Kranken-Vereins in Mainz von 1844, § 96 (StA Mainz, Nachlass Oppenheim 50). Siehe hierzu auch Drobner, Entwicklung, S. 302.

224

VII. Blicke in den Bestand

Abb. 58: Mishnayot Qodashim, Dyhernfurt 1798 (Signatur C 166), mit Jahrzeit-Gedenkaufforderung auf dem Vorsatz

VIII. Schluss und Ausblick Die Jüdische Bibliothek in der Johannes Gutenberg-Universität Mainz bewahrt einen einzigartigen Schatz, dessen Bedeutung in dieser Dokumentation in mancher Hinsicht nur angedeutet werden konnte. Der glücklich erhaltene Bestand ist mit zahllosen Menschen und mit mehreren Gemeinden und Institutionen auf das Engste verwoben und bietet allein deswegen eine Fülle von weiteren Informationen, die nicht umfassend ausgewertet und dargestellt werden konnten. Trotz starker Beschädigungen und trotz erheblicher Verluste konnte an den erhaltenen Beständen dennoch aufgezeigt werden, dass es sich um einen bis heute bemerkenswert geschlossenen Bücherbestand handelt, der einen einmaligen Querschnitt durch die gesamte Geschichte der Juden in Mainz und teilweise weit darüber hinaus bietet. Verfolgung und Krieg haben die Jüdische Gemeinde Mainz an den Rand der Vernichtung gebracht. Dieser außergewöhnliche Bücherschatz ist eindrucksvoller und wichtiger Zeuge dafür, dass das jüdische Erbe der Stadt dennoch nicht vollkommen zerstört worden ist. Die in die Bibliothek aufgenommenen unterschiedlichen Teilbestände belegen dabei auch die inneren Wandlungs- und Diversifikationsprozesse der jüdischen Gemeinschaft. Sie lassen nicht nur ihre Separierung in einen liberaleren Hauptteil und eine sich als „tora-treu“ verstehende Gruppe nachvollziehbar werden, sondern sie führen auch eine zunehmende Verbürgerlichung und Assimilierung vor Augen. Dabei wird auch deutlich, dass man sich trotz weitgehender Integration in das Leben der Stadt gezwungenermaßen auch mit dem zunehmenden Antisemitismus auseinandersetzen musste. Am Ende dieser Entwicklung stand jenes symbolisch mit dem 9. November 1938 verbundene Verbrechen, dessen schmerzliche Auswirkungen an den verkohlten Buchrücken in der jüdischen Bibliothek noch genauso nachzuvollziehen sind wie an den architektonischen Baulücken in den Flachsmarkt- und (bislang auch) in der Hindenburgstraße. Die in dieser Dokumentation vorgestellten unterschiedlichen Schichten des Buchbestandes bewahren somit ein multivalentes, polysemes kulturelles und religiöses (Erfahrungs)kapital, dessen Erträge wohl erst in Zukunft in vollem Umfang sichtbar gemacht und ausgeschöpft werden können. Die Erarbeitung eines vollständigen Kataloges der Bestände, die gegenwärtig vorbereitet wird, wird in dieser Hinsicht weitere Ergebnisse zu Tage fördern. Dass sich aus diesem „stummen Kapital“ noch manches Forschungsprojekt fördern ließe, das in der 1946 angedachten, nie realisierten jüdisch-theologischen Fakultät vielleicht schon längst durchgeführt worden wäre, versteht sich dabei von selbst. In dem an und in den Büchern ablesbaren Miteinander von Altem und Neuen liegt freilich ein zusätzliches Bedeutungskapital, das es im Hinblick auf die Frage nach der Zukunft des Bestandes noch ent-

226

VIII. Schluss und Ausblick

schiedener zu vergegenwärtigen, noch nachhaltiger zu bewahren und eingedenk der hoffnungsvollen Anzeichen für einen neuen Aufbruch in der Jüdischen Gemeinde noch weiter zu mehren und zu erweitern gilt. Die Jüdische Bibliothek ist nicht nur eine Bücherei, sondern ein Symbol für den besonderen Weg jüdischen Lebens in Deutschland. Wird diese für Mainz und Rheinland-Pfalz einzigartige Sammlung in diesem Sinne durch fachkundige und interessierte Benutzer lebendig und offen gehalten und weiter erschlossen, kann sie eine wichtige Brücke schlagen – eine Brücke von der Vergangenheit in unsere Gegenwart, eine Gegenwart auf dem Grund einer lebendigen und nachvollziehbaren Tradition, samt der ihr eigenen Brüche und scheinbaren Gegensätze.

Anhang 1: Buchbestand der Lehrerbibliothek der Jüdischen Bezirksschule1 Nr.

Anzahl 1

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28

1 3 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 4 1 1 1 1 1 1 2 2

1

Kurztitel

Jahr

Bemerkung

Die Erziehung 10. Jahrgang 34/35 Deutsche Erziehung etc. Amtsblatt ab 01.01.1935 Duden, Rechtschreibung Luckenbach, Kunst und Geschichte Kühn-Senner, Experimentalphysik Deutscher Barock (Pinder) Deutsche Burgen (Pinder) Deutsche Dome (Pinder) Wasserzieher, Woher? Rude, Die neue Schule Schwerdt, Neuzeitlicher Unterricht Rotschild, Häusliche Gesänge Aronstein, Methodik engl. Sprachunt. Ernst, Bodenübungen Neuendorff, Methodik des Turnens Eick, Körperschule Görger, Turn und Neckspiele Bengsch-Fox, Was sollen wir turnen Jespersen, Growth a. Structure engl. lang. Bilder zum alten Testament (Holbein) Lyrische Dichtung d.deutschen Juden Geismar, Bilderbibel Katz, Charakterbilder Theilhaber, Schicksal und Leistung Cohn, Legenden Landauer, Palästina Wolfskehl, Gedichte „Die Stimme spricht“ Diesterwegs, Raumlehre (1911/2)

34 35 34 34 34 34 34 34 34 34 34 34 34 34 34 34 34 34 35 35 34 34 34 34 34 34 34 34

Keymann Post Heymann ” ” ” ” ” ” ” ” Magenza ” ” ” ” ” ” ” Medem ” ” ” ” ” ” Magenza Diesterweg

Anhang 2

x x x x x x x x x x x x x x x x x x x x x x x

Zu den in der rechten Spalte gekennzeichneten Büchern siehe die Tabelle im Anhang 2. Die Liste basiert auf dem handschriftlichen Inventarverzeichnis, das sich in der JBM erhalten hat. Für eine Abschrift danke ich stud. theol. Florian Pfaff, Mainz.

228

Anhang 1: Buchbestand der Lehrerbibliothek der Jüdischen Bezirksschule

29 30 31 32 33 34

2 2 1 1 1 1

Reinhardt-Zeisberg, Schlüsselhefte Raumlehre (2201/2) Jüdische Schulzeitung ab 1.1.35 Anerbach, Bühnenfestspiele Vith, Werkarbeit Bau, Schmetterlingssammler

34 35 35 34 35 34

35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65

1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 2 1 1 1 1 1 1 1 3 1 36

Fischer, Mineraliensammler Brandes, Börne und Heine Geschichte d. Unterrichtsanstalt Prinz, Die Geschichte der Bibel Samter, Die Versuchung Elbogen, Das Leben des R. Mosche b. Maimon Kretschmer-Rohebach, Trachten der Völker Herzl, Tagebücher 1. Bd Bloch, Israel und die Völker Menczel, Geschichte der Juden Mainz 15. Jahrhdt. Breuer, Elijahu Festschrift, Philiyopson Jöhlinger, Bismarck und die Juden Oeflers, Geschäftshandbuch Kriegsbriefe gefallener deutscher Juden Jüdischer Kinderkalender Behr, Lehrbuch der mosaischen Religion Erckmann, Binger Wald Synagoge Worms 900 Jahre Heidenheim, Hagada Gorion, Aus Midrash und Agada (Leseheft) Grajew, Freiheitskampf der Makkabäer Georges, Lateinisch-Deutsches Wörterbuch Georges, Deutsch – Lateinisches Wörterbuch Schenkl, Deutsch – Griechisches Wörterbuch Lübker, Reallexikon klas. Altertum Philo-Lexikon Löwi, Grundbegriffe der Pädagogik Engl. Kinder-Bilderbücher Sonnenfeld, Vom täglichen Brot Goethes Werke, ohne Band 6 und 1 Biographie

34 35 35 35 34 35 34 34 34 34 34 34 34 34 34 34 34 34 34 34 34 34 34 34 34 34 34 34 34 34 35

66 67 68 69

14 21 4 4

Schillers Werke, ohne Band Lessings Werke + 1 Biographie Kleists Werke Chamissos Werke

35 35 35 35

Magenza Post ” ” Magenza Geschenk K. R. Meyer ” Weinschenk Rel’gesellschaft Verlag ” ” Hausmann J. Deutsch ” ” ” ” ” ” R. J. F. Dr. Levi

x x x

x x x x x x x x

x x x x x x Landesverband x Verlag x ” x ” x Friedmann x ” x ” x ” Verlag x x Sonnenfels ” x Nachlass Frau Johanna Mayer ” ” ” ”

229

Anhang 1: Buchbestand der Lehrerbibliothek der Jüdischen Bezirksschule

70 71 72 73 74 75

4 4 3 3 1 2

Körners Werke Platons Werke Molières Werke Calderons Werke Welt der Gebete Reinhardt-Zeisberg, Schlüssel z. Rechenb. I + II

35 35 35 35 34 34

76 77 78 79 80 81

1 1 1 1 1 1

Eilbrink, Sprachlehre v. d. Aa, Wirtschaftsgeographie Winkler, Stenographie Hawa Naschira Hielscher, Deutschland, Baukunst Landschaft

34 34 34 35 35 35

82 83

1 1

Hirsch, L. Praktische Judentumskunde Baeck, Wesen des Judentums

35 35

84 85 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96

1 1

1 1 1 1 1

Petzold-Scharf, Versuche zum Luftschutz Morgner, Schulversuche Drenkhahn, Raumlehre Menninger, Rechenkniffe Garz-Hartmann, Deutschkundl. Arbeitsbuch Putzger, Histor. Schulatlas Maybaum, Parteibefreites Judentum Handelskorrespondenz Wischnitzer Juden in der Welt Lunz, Die Heilige Schrift Körter, Quellenbuch Fibel Thibaut, Franz. Wörterbuch

35 35 35 35 35 35 35 35 35 35 35 35 35

97 98 99 100 101 102 103 104 105 106 107 108

1 1 1 1 2 4 1 2 3 2 1 1

Thieme, Engl. Wörterbuch Felix, Leitfossilien Jüdische Lesehefte (Nr. 8. 9. 10. 11.) Höxter, Quellenbuch in 5 Bänden Müller, Wege in die jüdische Neuzeit Duve-Bonin, The New Guide Karstädt, Dem Dichter nach ... Jansen-Petzold, Kaufm. Rechnen Hofmann, Rechenbuch Petzold-Jansen, Lehrerhefte Eckardt, Naturgrundlagen d. d. Wirtschaft Sachs-Villatte, Franz. Wörterbuch

35 35 35 35 35 35 36 36 36 36 36 36

1 1 1 1

” ” ” ” Lehrer Stern Diesterweg/Frl. Stern Frl. Stern ” x ” x Benjamin x x Geschenk x Deutsch ” x Geschenk Deutsch Heymann x ” x ” ” x Geschenk Behr x ” x Verlag x Geschenk Meyer x Magenza ” Schick Geschenk Ad. Levi ” Alzey x Verl. Schocken x Magenza x x x Magenza x x x x Eschelbacher Nachlass

230

Anhang 1: Buchbestand der Lehrerbibliothek der Jüdischen Bezirksschule

109 110 111 112 113 114 115 116 117 118 119

1 1 1 1 1 1 8 1 1 1 1

120 121 122 123 124 125 126 127 128 129 130 131 132 133 134 135

1 1 1 1 1 1 1 1 1 3 1 1 1

1

Gille, Philosoph. Lesebuch Bethge, Deutsche Lyrik Behagel, Deutsche Sprache Wessely, Gesch. d. deutschen Literatur Kirchoff, Mensch + Erde Röhl, Geschichte der deutschen Dichtung „Deutsches Erbe“ Lesebücher, Teil 7 fehlt „Not und Hoffnung“ Gedichtsammlung Lehrplan für kaufmännische Berufsschule Louis-Thuille, Harmonielehre Rheinhard-Zeisberg, Lösungshefte Rechenhefte 1–3 Kahnmeyer-Schulze, Realienbuch Grau, Judenfrage Büttner, Rechenbuch Arbeitsbuch Deutsch Richtlinien für Leibeserziehung Fechenbach, Werkunterricht Löwenberg, Schriften Ehrmann, Chanukka ” Mattitjahus Sanders, Wörterbuch d. deutschen Sprache Weismann Rohebug, Rechenstab Reinöhl, Vererbung DATsch, Lehrgg. für Schweisser ” für Schlosser Stern, Didaktik der jüdischen Schule

36 36 36 36 36 36 36 36 36 36 36

” ” ” ” ” ” ” Engel Verlag ”

x x x x

36 37 37 37 37 37 37 37 37 37 37 37 37 38 38 38

” Magenza Vogel ” Krechel

x x x

Magenza Heymann ”

Verlag

x x x x x

x x x x x x x x x x x x

Anhang 2: Detailliertes Verzeichnis zu dem Buchbestand der Lehrerbibliothek2 Nr.

Titel

4

Autor: Titel: Verlag:

Luckenbach, H. Dr. Kunst und Geschichte Oldenburg, München 1910

5

Autor: Titel:

Senner A. – Kuhn K. Experimentalphysik. Eine Physik des täglichen Lebens für Volks-, Mittel-, Fortbildungs- und Fachschulen M. Diesterweg, Frankfurt am Main 1928

Verlag: 6

Autor: Titel: Verlag:

Pinder, Wilhelm Deutscher Barock / Die großen Baumeister des 18. Jahrhunderts „Blaue Bücher“ Langewiesche, Königsstein 1925

7

Autor: Titel: Verlag:

Pinder, Wilhelm Deutsche Burgen und feste Schlösser „Blaue Bücher“ Langewiesche, Königsstein 1925

8

Autor: Titel: Verlag:

Pinder, Wilhelm Deutsche Dome des Mittelalters “Blaue Bücher“ Langewiesche, Königsstein 1925

9

Autor: Titel: Verlag:

Wasserzieher, Ernst Woher? F. Dümmlers VBH, Berlin 1925

10

Autor: Titel: Verlag:

Rude, Adolf Die neue Schule und ihre Unterrichtslehre 1. Band Die neue Schule. Osterwieck/Harz, Zickfeldt 1930

11

Autor: Titel: Verlag:

Schwerdt, Theodor Neuzeitlicher Unterricht: Analytische Didaktik in klassischen Unterrichtsbeispielen Schöningh, Paderborn 1933

13

Autor: Titel: Verlag:

Aronstein, Philipp Methodik des neusprachlichen Unterrichts B. G. Teubner, Leipzig und Berlin 1921

14

Autor: Titel: Verlag:

Ernst, Heinrich Bodenübungen Quelle & Meyer, Leipzig 1927

2

Die grau hinterlegten Bücher befinden sich heute noch in der alten Jüdischen Bibliothek Mainz.

232

Anhang 2: Detailliertes Verzeichnis zu dem Buchbestand der Lehrerbibliothek

15

Autor: Titel: Verlag:

Neuendorff, Edmund Methodik des Schulturnens in Grundzügen Quelle & Meyer, Heidelberg 1927

16

Autor: Titel: Verlag:

Eick, Ernst Körperschule für das Knabenturnen an Volks-, Mittel- und höheren Schulen Quelle & Meyer, Leipzig 1930

17

Autor: Titel: Verlag:

Gröger, Alfred Turn- und Neckspiele Quelle & Meyer, Leipzig 1932

18

Autor: Titel: Verlag:

Bengsch, G. und Fox W. Was sollen wir turnen? Osterwieck, Zickfeldt 1930

19

Autor: Titel: Verlag:

Jespersen, Otto Growth and Structure of the English Language Teubner, Leipzig 1935

20

Autor: Titel:

Holbein, Hans Bilder zum alten Testament: Historiarum veteris instrumenti icones ad vivum expressae G. Hirth, München 1923

Verlag: 21

Autor: Titel: Verlag:

Birnbaum,Uriel; Caspari, Hedwig; Ehrenstein, Albert; Fuchs, Rudolf; Kohn, Oscar; Lasker-Schüler, Else; Strauss, Ludwig; Werfel, Franz und Wolfenstein, Alfred Lyrische Dichtung deutscher Juden Welt-Verlag, Berlin 1920

22

Autor: Titel: Verlag:

Geismar, Otto Bilderbibel für Kinder R. Maas, Berlin 1923

23

Autor: Titel: Verlag:

Katz, Albert Biographische Charakterbilder aus der jüdischen Geschichte und Sage Benjamin Harz Verlag, Berlin – Wien 1922

24

Autor: Titel: Verlag:

Theilhaber, Felix A. Schicksal und Leistung. Juden in der deutschen Forschung und Technik Welt-Verlag, Berlin 1931

25

Autor: Titel: Verlag:

Cohn, Emil Bernhard Legenden Georg Müller, München 1925

26

Autor: Titel: Verlag:

Landauder, Georg Palästina Jüdische Buch Vereinigung, Berlin 1935

27

Autor: Titel: Verlag:

Wolfskehl, Karl Die Stimme spricht Schocken Verlag, Berlin 1933

33

Autor: Titel: Verlag:

Vith, Fritz Werkarbeit in der Volksschule Technisch-pädagog. Verlag Scharfes Druckereien, Wetzlar 1929

34

Autor: Titel: Verlag:

Bau, A. Der Schmetterlingssammler Union, Stuttgart, Berlin, Leipzig ca. 1916

Anhang 2: Detailliertes Verzeichnis zu dem Buchbestand der Lehrerbibliothek

233

35

Autor: Titel: Verlag:

Fischer, E. Taschenbuch für Mineralien-Sammler Oskar Leiner Leipzig 1905

38

Autor: Titel: Verlag:

Prinz, Joachim Die Geschichte der Bibel Reiss Verlag, Berlin 1934

39

Autor: Titel: Verlag:

Samter, M. Die Versuchung. Eine Erzählung Vortrupp Verlag, Berlin 1934

40

Autor: Titel: Verlag:

Elbogen, Ismar Das Leben des Rabbi Mosche ben Maimon. Aus seinen Briefen und anderen Quellen. Schocken Verlag, Berlin 1935

41

Autor: Titel: Verlag:

Kretschmer, Albert und Rohrbach, Karl Die Trachten der Völker vom Beginn der Geschichte bis zum 19. Jahrhundert Bibliographisches Institut Leipzig 1906

42

Autor: Titel: Verlag:

Herzl, Theodor Tagebücher Jüdischer Verlag, Berlin 1922

43

Autor: Titel: Verlag:

Bloch, Joseph S. Dr. Israel und die Völker. Nach jüdischer Lehre Benjamin Harz Verlag, Berlin 1922

44

Autor: Titel: Verlag:

Menczel, Josef S. Geschichte der Juden von Mainz im 15. Jahrhundert 1932

45

Autor: Titel: Verlag:

Breuer, Isaac Elijahu J. Kaufmann Verlag, Frankfurt 1924

47

Autor: Titel: Verlag:

Jöhlinger Otto Bismarck und die Juden Reimer, Berlin 1921

48

Autor: Titel: Verlag:

Oefler, Richard Oeflers Geschäftshandbuch (Die kaufmännische Praxis) Richard Oefler, Leipzig 1909

49

Autor: Titel: Verlag:

Herausgegeben vom Reichsbund Jüdischer Frontsoldaten e. V. Kriegsbriefe gefallener deutscher Juden Vortrupp Verlag, Berlin 1935

50

Autor: Titel: Verlag:

Hg. Cohn, Emil Bernhard Jüdischer Kinderkalender. Erster Jahrgang auf das Jahr 5689 (1928–1929) Jüdischer Verlag, Berlin 1927–1930

51

Autor: Titel: Verlag:

Behr, Alexander Dr. Lehrbuch der mosaischen Religion München, 1826

52

Autor: Titel: Verlag:

Erckmann, Gottfried Der Binger Wald Verlag des hessischen Forstamts, Bingen 1930

234

Anhang 2: Detailliertes Verzeichnis zu dem Buchbestand der Lehrerbibliothek

53

Autor: Titel: Verlag:

Zum 900jährigen Bestehen der Synagoge zu Worms: Eine Erinnerungsgabe d. Vorstands der israelitischen Religionsgemeinde Worms Philo-Verlag, Berlin 1934

54

Autor: Titel: Verlag:

Heidenheim, W. Hagada M. Lehrberger & Co, Frankfurt Main 1934

55

Autor: Titel: Verlag:

Bin Gorion, Micha Josef Aus Midrasch und Agada Schocken Verlag, Berlin 1934

56

Autor: Titel: Verlag:

Grajew, Felix Freiheitskampf der Makkabäer Schocken Verlag, Berlin 1934

57

Autor: Titel: Verlag:

Georges, Karl Ernst Dr. Lateinisch-Deutsches Wörterbuch

58

Autor: Titel: Verlag:

Georges, Karl Ernst Dr. Lateinisch-Deutsches Wörterbuch

60

Autor: Titel: Verlag:

Lübker, Friedrich Reallexikon des klassischen Altertums B. G. Teubner, Leipzig und Berlin 1914

62

Autor: Titel: Verlag:

Löwi, Moritz Grundbegriffe der Pädagogik Marcus, Breslau 1934

64

Autor: Titel: Verlag:

Sonnenfeld, Amanda Vom täglichen Brot Goerlich, Breslau 1919

77

Autor: Titel: Verlag:

von der Aa, Karl Grundriss der Wirtschaftsgeographie B. G. Teubner, Leipzig und Berlin 1927

78

Autor: Titel: Verlag:

Winkler, Michael Kurzer Lehrgang der Deutschen Kurzschrift Schrey, Berlin 1921

79

Autor: Titel: Verlag:

Jacobsen, Joseph und Jospe, Erwin Hawa Naschira! Liederbuch für Unterricht Bund und Haus Hamburg Anton J. Benjamin, Leipzig 1935

80

Autor: Titel: Verlag:

Hielscher, Kurt Deutschland. Baukunst und Landschaft Wasmuth, Berlin 1929

82

Autor: Titel: Verlag:

Hirsch, Leo Praktische Judentumskunde. Eine Einführung in die jüdische Wirklichkeit für Jedermann Vortrupp, Berlin 1935

83

Autor: Titel: Verlag:

Baeck, Leo Das Wesen des Judentums J. Kauffmann, Frankfurt Main 1923

Anhang 2: Detailliertes Verzeichnis zu dem Buchbestand der Lehrerbibliothek

235

84

Autor: Titel: Verlag:

Petzold, Hermann und Scharf, Reinhold Versuche zum Luftschutz Teubner, Leipzig 1935

85

Autor: Titel: Verlag:

Morgner, Walther Schulversuche zum Luftschutz Dürr’sche Buchhandlung, Leipzig 1935

87

Autor: Titel: Verlag:

Menninger, Karl Rechenkniffe Verlagsbuchhandlung Karl Poths, Frankfurt Main 1932

88

Autor: Titel: Verlag:

Garz, Paul und Hartmann, Otto Deutschkundliches Arbeitsbuch für die Volksschule Diesterweg, Frankfurt am Main 1929

89

Autor: Titel: Verlag:

Putzger, F. W. Putzgers Historischer Schulatlas Velhagen & Klasing, Bielefeld und Leipzig 1925

90

Autor: Titel: Verlag:

Maybaum, Ignaz Parteibefreites Judentum. Lehrende Führung und priesterliche Gemeinschaft Philo Verlag, Berlin 1935

92

Autor: Titel: Verlag:

Wischnitzer, Mark Die Juden in der Welt. Gegenwart und Geschichte des Judentums in allen Ländern Reiss, Berlin 1935

98

Autor: Titel: Verlag:

Felix, Johannes Leitfossilien aus dem Pflanzen- und Tierreich in systematischer Anordnung Wilhelm Engelmann, Leipzig 1924

99

Autor: Titel: Verlag:

Herausgegeben von A. Leischnitzer Jüdische Lesehefte Schocken Verlag, Berlin 1935

100

Autor: Titel: Verlag:

Höxter, Julius Quellenbuch zur jüdischen Geschichte und Literatur. 5 Bände Kauffmann, Frankfurt am Main 1928–31

101

Autor: Titel: Verlag:

Müller, Samuel Der Weg in die jüdische Neuzeit. Jüdische Geschichte von Mose Medelssohn bis zur Gegenwart Verlag der Jüdischen Schulzeitung, Ludwigshafen am Rhein 1935

102

Autor: Titel: Verlag:

Duve, Marie und Bonin, Paul The New Guide Diesterweg, Frankfurt am Main 1933

103

Autor: Titel: Verlag:

Karstädt, Otto Dr. Dem Dichter nach – Schaffende Poesiestunden Teil 1und 2 Julius Bletz Verlag, Langensalza 1928

104

Autor: Titel: Verlag:

Jansen, Theodor und Petzold, Max Kaufmännisches Rechnen Diesterweg, Frankfurt am Main

105

Autor: Titel: Verlag:

Hofmann, Albin Rechenbuch für höhere Knabenschulen Diesterweg, Frankfurt am Main

236

Anhang 2: Detailliertes Verzeichnis zu dem Buchbestand der Lehrerbibliothek

107

Autor: Titel: Verlag:

Eckardt, Paul Die Naturgrundlagen der deutschen Wirtschaft Carl Meyer, Hannover 1936

109

Autor: Titel: Verlag:

Gille, A. Dr. Philosophisches Lesebuch in systematischer Anordnung

110

Autor: Titel: Verlag:

Bethge, Hans Deutsche Lyrik seit Liliencron Hesse & Becker, Leipzig 1921

111

Autor: Titel: Verlag:

Behagel,Otto Die Deutsche Sprache Temsky/Freytag, Wien,Leipzig 1904

113

Autor: Titel: Verlag:

Kirchhoff, Alfred Mensch und Erde Teubner 1905

115

Autor: Titel: Verlag:

Gereke, Paul; Laudien, Arthur; Tobler, Rudolf Deutsches Erbe Velhagen & Klasing, Bielefeld

116

Autor: Titel: Verlag:

Feiner, Joseph; Gut, Elias; Rothschild Theodor Not und Hoffnung: Geschichtssammlung für jüdische Schulen Engel, Leipzig 1936

117

Autor: Titel: Verlag:

Amtliche Handausgabe Lehrplan für die kaufmännische Abteilung der Berufsschule im Volksstaate Hessen Buchhandlung des Hessischen Staatsverlags, Darmstadt 1926

118

Autor: Titel: Verlag:

Thuille, Ludwig und Louis, Rudolf Harmonielehre Klett, Stuttgart 1933

120

Autor: Titel: Verlag:

Kahnmeyer, Ludwig und Schulze, Hermann Realienbuch Velhagen & Klasing, Bielefeld 1936

121

Autor: Titel: Verlag:

Grau, Wilhelm Die Judenfrage als Aufgabe der neuen Geschichtsforschung Hamburg 1935

122

Autor: Titel: Verlag:

Büttner, Adolf Rechenbuch Hirt & Sohn, Leipzig 1937

124

Autor: Titel: Verlag:

Reichs- und Preuß. Ministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung Richtlinien für die Leibeserziehung Weidmann, Berlin 1937

125

Autor: Titel: Verlag:

Fechenbach, Hermann Einfache Anleitungen für den Werkunterricht Schocken Verlag, Berlin 1937

126

Autor: Titel: Verlag:

Löwenberg, Jakob Eine Auswahl aus seinen Schriften Schocken Verlag, Berlin 1937

Anhang 2: Detailliertes Verzeichnis zu dem Buchbestand der Lehrerbibliothek

127

Autor: Titel: Verlag:

Ehrmann, Elieser In den Tagen Mattitjahus Schocken Verlag,Berlin 1937

132

Autor: Titel: Verlag:

Reinöhl, Friedrich Vererbung und Erziehung Hohenlohe’sche Buchhandlung, Oehringen 1937

237

Die folgenden Werke befinden sich ebenfalls in der Jüdischen Bibliothek. Allerdings konnten sie hinsichtlich ihrer zahlreichen Veröffentlichungen nicht genau zugeordnet werden:

Goethes Werke, Teil 1 Lessings Werke, Teil 6 Calderons Werke, Teil 1

Anhang 3: Verzeichnis der Schüler-Hilfsbibliothek3 Nr 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21

Anzahl 16 10 8 3 1 8 12 10 6 6 19 7 1 2 1 2 5 7 2 4 10

3

Kurztitel Deutschbein-Hunge, Engl. Lehrbuch Diesterweg, Saat und Ärnte III Lange-Diecke, Schulatlas Rechenbuch II Diesterweg 8342 ” I ” 8359 Teubnerbuch 5050, Pinnow Geschichte I Teubnerbuch 5052, ” ” II Bausenstaedt, Erdkunde III Fröhliche Arbeit Wie spreche u. schreibe ich richtig I ” ” ” ” ” II Meine kleine bunte Welt Deutschbein-Hunge, Engl. Lehrbuch Teubnerbuch 5057, Geschichte II Reinhardt-Zeisteig, Algebra Gustbeck-Rausenstedt IV Meine kleine bunte Welt Deutschbein-Hunge, Engl. Lehrbuch Hofmann, Rechenbuch I+II Manuêl de Français (Diesterweg) Abraham-Levi, Torah w’Chajim

Jahr 34 34 34 34 34 34 34 34 34 34 34 34 35 35 35 35 35 35 35 36 36

Bemerkung Magenza ” ” ” ” ” ” ” ” ” ” ” ” ” ” ” ” ” ” ” ”

Verzeichnet sind hier: „Nur die Neuanschaffungen, gebrauchte Exemplare s. Sonderverzeichnis“. Dieses Sonderverzeichnis ist nicht erhalten.

Anhang 4: Mitgliederverzeichnis des „Vereins für jüdische Geschichte und Litteratur in Mainz 1909“4 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30. 31. 32. 33. 34. 35. 36. 37. 38. 39. 4

Baer, Max Beck, Julius Benfey, Albert Berligheimer, Nathan Berney, Abraham Berney, Joseph Berney, Isidor Berney, Moritz Berney, Simon Birnzweig, Simon Bloch, Hypolit Cahn, Carl Cahn, Georg Cahn, Siegmund Cahn, Isidor Cahn, Michael Deutsch, Stephan Drucker, Albert Ebert, Jacob Ehrmann, Hermann Epstein, Eduart Epstein, Ludwig Eschelbacher, S. Feist, Joseph Feist, Leopold Fraenkel, Leopold Fraenkel, Siegfried Frank, Carl Frank, Heinrich Frank, Jacob Friedberg, Gustav Friedland, Hermann Friedmann, Lazarus Fröhlich, Herrmann Fieht, Ludwig Dr. Gochsheimer, Max Goldschmidt, Bernhart Goldschmidt, Ludwig Grafs, Heinrich

40. 41. 42. 43. 44. 45. 46. 47. 48. 49. 50. 51. 52. 53. 54. 55. 56. 57. 58. 59. 60. 61. 62. 63. 64. 65. 66. 67. 68. 69. 70. 71. 72. 73. 74. 75. 76. 77. 78.

Grafs, Herrmann Natan Gutmann, Ferdinand Haas, Isidor Hainebach, Heinrich Dr. Frau Dr. Harris, Rosa Hartmann, David Heiden, Heiner Carl Heiden, Heiner Josef Heiden, Heiner Robert Heidenheimer, Heinrich Dr. Heinemann, Herrmann Henochsberg, Joseph Dr. Herzog, Eugen Hefs, Louis Heymann, Salomon Hirsch, George B. (?) Hirsch, Siegmund Hirschberg, Ludwig Hochheimer, Bernhart Horch, Carl Horch, Hermann Dr. Jacoby, Jacob Jeremias, Leopold Joseph, Leopold Jonathan, Isaac Jonathan, Philipp Istel, Ferdinand Kahn, Berhart Zugez. 6 Kahn, Enoch Kahn, Leo Kahn, Louis Kahn, Max Pfeifferstr. Kahn, Max gr. Lessingstr. 16 Kaufmann, G. Pfeifferstr. 38 Kaufmann, Martin Kahn, Heinrich Koch, Alfons Koch-Müller, Adolf Kramer, Siegfried

CAHJP D Ma 7/30. Das Verzeichnis ist handschriftlich erhalten.

240 79. 80. 81. 82. 83. 84. 85. 86. 87. 88. 89. 90. 91. 92. 93. 94. 95. 96. 97. 98. 99. 100. 101. 102. 103. 104. 105. 106. 107. 108. 109. 110. 111. 112. 113. 114. 115. 116. 117. 118. 119. 120. 121. 122. 123. 124.

Anhang 4: Mitgliederverzeichnis des „Vereins für jüdische Geschichte 1909“ Kronenberger, Ludwig Kronenberger, Theodor Lazar, Isidor Lazarus, Sally Lazarus, Siegmund Lebrecht, August Lesem, Leo Levinger, David E. Blum Levy, Nathan Lion, Michael Löb, Max Dr. Lippmann, Heinrich bei Langans Löwensberg, Adolph Lorch, Albert Mannheimer Max Joseph Mannsbach, Sally Marx, Isidor Marx, Regine Frankfurter 8 Marxsohn, Julius Marxsohn, Ludwig Masbach, Ignaz Mayer, David bis Gebr. Oppenheim Mayer, Bernhart Mayer, Bern. Mayer, Ferd. Phil Dr. Mayer, Martin Mayer, Martin Moritz Mayer, Ganz Martin Metzger, David Metzger, Ferdinand Metzger, Julius Dr. Metzger, Simon Metzger, Joseph Meyer, Ludwig Leibnizgstr. 15 Neugarten, Siegmund Neumann, Max Nussbaum, Bernhart Oppenheim, Carl Oppenheim, Max Oppenheim, Leopold Oppenheim, Ludwig Dr. Oppenheimer, Daniel Oppenheimer, Siegmund Pinkus, Willy Plaut, Joseph Raphaelssohn, Alfred

125. 126. 127. 128. 129. 130. 131. 132. 133. 134. 135. 136. 137. 138. 139. 140. 141. 142. 143. 144. 145. 146. 147. 148. 149. 150. 151. 152. 153. 154. 155. 156. 157. 158. 159. 160. 161. 162. 163. 164. 165. 166. 167. 168. 169. 170.

Reinheimer, David Reis, Nathan Reiss, Jacob Rosenfeld, Alvert Salfeld, Dr. S. Schauer, Rudolph Dr. Schaumsberg, Sally Scheuer, Nathan Scheuer, Salomon Scheyer, Isaias Schneeweiss, S. Schönfärber, David Schweuss Carl Theyer Schott, Abraham Schwarzschild, Siegfried Selig, Jacob bis. H. Siebel Söhne Selig, S. bis. Herrmann & S. Simon, Albert Simon, Edurard Gr. Lessing 54 Simon, Ernst Simon, Gustav Simon, Hugo Simon, Rudolph Simon, Theodor Sochat, Levin Stein, Max bis Heilbronner Steindorff, Leopold Stern, Ferdinand Sternberg, Berhart Stiebel, Leopold bis. B. Gang 8 Strauss, Albert Strauss, Hermann Strauss, Leopold Strauss, Moritz Strauss, Samuel Thilo, Julius Dr. Vogel, Carl Vogel, Friedr. Rud. Weinschenk, Lazarus Weis, Carl Weis, Zacharias Wild, Max Wild, Wilhelm Winschmitter, Joseph Wolf, Heinrich Liebschnitts Wolff, S., geg. alte Universitätsstr. 29

Anhang 5: Das Kasso-Buch der „Hevra Qinyan Sefarim Mainz“ (1928) Die in diesem wichtigen Verzeichnis5 aufgeführten Namen sind mit verschiedenen Bemerkungen versehen; in der Regel wird der Grund für eine Spende oder eine Zahlung an den Verein aufgeführt. Häufig findet sich der hebräische Eintrag „nedava“ für Spende oder „neder“ für Gelübde, d. h. eine Summe, die aus einem bestimmten Grunde zum Wohl der Gemeinde ausgelobt worden war. Anlass für eine solche Auslobung konnte ein privates Ereignis oder ein jüdischer Feiertag, wie z. B. ein Monatsanfang, Rosh hodesh, oder die Aufrufung zur Tora-Lesung im Gottesdienst eines besonderen Shabbat oder Feiertags sein. Die nach den entsprechenden Wochenabschnitten der Tora benannten Tage finden sich in diesen Fällen hinter den aufgelisteten Spendern. Neben den christlichen Monatsnamen werden dabei auch die hebräischen angegeben. Folgende Gemeindemitglieder werden – zum Teil ohne Vornamen – in diesem Dokument aus der orthodoxen Gemeinde für das Jahr 1928 genannt: 6

A. Stub D. Still Ch. Blum A. Brandstätter J. B. Brandstätter M. Brandstätter M. Buchbaum A. Feingold W. Goldschmidt J. Gütter Ch. J. Gutfreund R. Herrmann J. Horowitz I. Katzengold B. Hellmann Klahrwein Karmazin M. Glückmann A. K. Laub A. S. Laub

5

M. Laub Mattes M. Mauer D. Milberg A. Buchsbaum W. Nieteckmann Ornstein Samuel Prais Wolf Schm. Prais M. Stub N. A. Rath M. Reiner W. M. Reiner A. J. Reiner Scharfstein Karfiol Ch. Scheuer Schwarzkachel E. M. Stein

E. M. Sacher S. G. Tscherniak S. Weinstock B. Zitronenbaum O. Zitronenbaum H. Katzengold M. Katzengold L. L. Stub S. Scheuer Perlberg Melker Kosak Willner Baumwald Monder Jungermann Lindauer H. Milberg M. Milberg K. Blath

Mittelmann J. Zitronenbaum M. Rais B. Rais Joschpa G. S. Tscherniak L. Mauer Lemel J. Bloch W. M. Reiner Rebhahn S. Scharfsinn Rath Schwarz Steinkuchen H. Still Strassmann Max Zitronenbaum6

Vgl. CAHJP D Ma 8/8. Auf dem Titelblatt dieses mit „Kb“ für „Kassobuch“ markierten Buches steht „Mit Gott“ und dann „Februar 1928“. Außerdem findet sich der aus den Mainzer Büchern bekannte Stempel die Gesellschaft. 6 Es folgen die Namen von „Auswärtigen“

‫‪Anhang 6:‬‬ ‫‪Liste hebräischer Bücher aus der IRG Mainz7‬‬ ‫ךורע ‬ ‫תובוח‬ ‫תובבלה‬ ‫  ‬ ‫תורודה רדס‬ ‫‬ ‫‬ ‫ך‘‘נ‬ ‫ק‘‘דר‬ ‫ח‘‘ו'' '' ''‬ ‫ע‘‘וש‬ ‫ד‘‘ל‬ ‫''''‬ ‫ח‘‘ג ''‬ ‫תמכח‬ ‫םדא  ‬ ‫שרדמ‬ ‫לאומש‬ ‫  ‬ ‫ךוניח‬ ‫  ‬ ‫ם‘‘במר‬ ‫ח‘‘ת'' ''‬ ‫םעונ‬ ‫ךלמילא  ‬ ‫‬ ‫  ס‘‘ש‬ ‫הנשמל‬ ‫'' ‘חו‬ ‫םיקלח‬ ‫  '‬ ‫ץור‬ ‫‘‚'' ''‬ ‫ח‘‘ד‬ ‫תחנמ‬ ‫ךוניח‬ ‫  ‬ ‫‬ ‫בוקעי ןיע‬ ‫‘ח דל‬ ‫ט‘‘ע''  '‬ ‫  ‬ ‫וחצנ‬ ‫לארשיל '' ‬ ‫ט‘‘ע  ‬ ‫תסנכ'' וחבש‬ ‫לארשי  ‬ ‫ט‘‘ע ‬ ‫‘‚    םלוע'' רדג‬ ‫תורהט‬ ‫לארשי ''‬ ‫‘‚   ‬ ‫ירעש‬ ‫הבושת ''‬ ‫‘‚  ‬ ‫תליסמ‬ ‫םירשי ''‬ ‫‘‚ 

  ‬ ‫‘‚   רסומ ''טבש‬ ‫''‬ ‫‘‚   ‬ ‫רשויה בק‬ ‫רואמה ''‬ ‫‘‚  ‬ ‫תרונמ‬ ‫'‬ ‫ '' ‘ס‬ ‫תודמה‬ ‫ם‘‘במרל‬ ‫''‬ ‫‬ ‫רהז‬ ‫ח‘‘ג‬ ‫הלש ‬ ‫''‬ ‫א‘‘דת‬ ‫  ‬ ‫'‬ ‫םידיסח ‘ס‬

‫שרדמ‬ ‫תויפלת‬ ‫   ‬ ‫ינפ‬ ‫עשוהי‬ ‫ח‘‘ב‬ ‫'' ‬ ‫תלשלש‬ ‫הלבקה‬ ‫    ‬ ‫םעורה טוקלי‬ ‫–‬ ‫בישמ‬ ‫שפנ‬ ‫‘ת‬ ‫ימב‬ ‫ןורהא   '  –

 ‬ ‫רוזחמ‬ ‫  ‬ ‫ירטיו‬ ‫ס‘‘ש‬ ‫ימלשורי‬ ‫ח‘‘ז ''   ''‬ ‫טוקלי‬ ‫ינועמש‬ ‫ ''‬ ‫ח‘‘ב

 ‬ ‫תוכלה‬ ‫םדא   ‬ ‫רפס‬ ‫תירבה‬ ‫ ‬ ‫תוינשמ‬ ‫תראפת‬ ‫לארשי‬ ‫ח‘‘ח    ''‬ ‫הנשמ‬ ‫הרורב‬ ‫ ''‬ ‫ח‘‘ו ‬ ‫ךלמ‬ ‫םעורה‬ ‫ ‬ ‫עדונ‬ ‫הדוהיב‬ ‫  ''‬ ‫ח‘‘ב‬ ‫א‘‘בטר‬ ‫ ''‬ ‫ת‘‘וש‬ ‫ס‘‘תה‬ ‫'' ''‬ ‫א‘‘בשר‬ ‫''‬ ‫ת‘‘וש‬ ‫תוב''‬ ‫קחצי ‬ ‫ח‘‘וא'' ‬ ‫‘‚‬ ‫רמו ''ע‘‘כ‬ ‫ '' ‬ ‫הנשמה‬ ‫תוכרב‬ ‫  ‬ ‫‘‚‬ ‫ו‘‘ט ‬ ‫תותכסמ ''‬ ‫''‬ ‫' ''‘‚‬ ‫מ‘‘ב ''‘סמ' ‘ג‬ ‫תובותכ ‘‚‬ ‫ ‬ ‫''‬ ‫תשרפ‬ ‫םירבד‬ ‫ ‬ ‫‬ ‫ןחלש‬ ‫ךלמ  ‬ ‫ןשי  ‬ ‫םייחהרפס‬ ‫

‬ ‫ת‘‘וש‬ ‫ג‘‘שרהמ''‬ ‫''‬ ‫'‘מוח‬ ‫םיבלמ‬ ‫  ‬ ‫''‬ ‫ח‘‘ז  ‬ ‫םירוט‬

‫‪In: CAHJP D Ma 8/6. Dem „Kassabuch“ der Israelitischen Religionsgesellschaft Mainz des‬‬ ‫‪Jahres 1926 ist ein kleines Karoblatt mit hebräischen Kurztitelaufnahmen beigelegt. Hinter den‬‬ ‫‪hebräischen Titeln sind gelegentlich Bandzahlen notiert. Diese Liste stimmt teilweise mit den auf‬‬ ‫‪den Doppelseiten 15-16 des Kassabuches zwischen anderen Büroartikeln aufgeführten Titeln über‬‬‫‪ein. Mit dem Vermerk „gekauft“ sind dort auch Datum und Preise der von dem Verein erworbenen‬‬ ‫‪Bände notiert.‬‬ ‫‪7‬‬

X. Quellen- und Literaturverzeichnis Aufgeführt sind die Quellen und die zitierte Sekundärliteratur (ohne Lexikonartikel). Titel aus der Jüdischen Bibliothek Mainz sowie Titel aus anderen Bibliotheken sowie der klassischen rabbinischen Literatur, die vorgestellt oder in den Fußnoten erwähnt werden, sind nicht aufgelistet. Quellen Bundesarchiv Berlin BAB R 58/6424 (alt ZB I/0648), Bl. 391–394: Bericht Betr. Zentralisierung der Judenbibliotheken vom 1. bzw. 5.6.39 Bundesarchiv Koblenz BAB R 58/544, Material in Synagogen Central Archives for the History of the Jewish People, Jerusalem D Ma 7/18 D Ma 7/30 D Ma 7/32 D Ma 8/1a D Ma 8/6 D Ma 8/7 Central Zionist Archives, Jerusalem CZA A 142 55/5 CZA A 15 / 274 CZA A 101 / 32 (Gemeindesatzung für die Bildung des Vorstandes der israelitischen Religionsgemeinde in Mainz) Landesdenkmalamt Rheinland-Pfalz, Mainz Verzeichnis der Grabsteine vom Alten jüdischen Friedhof vom 28.09.1999 Leo Baeck Institute, Jerusalem LBI Jerusalem 388 Kulturbund deutscher Juden LBI Jerusalem 189 Dr. Adolf Fränkel Mainz–Jerusalem

244

X. Quellen- und Literaturverzeichnis

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X. Quellen- und Literaturverzeichnis

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Bildnachweis Abbildungen 1–32: Andreas Lehnardt, Jüdische Bibliothek Mainz Abbildungen 33–34: Central Archives for the History of the Jewish People Jerusalem Abblildungen 35–58: Andreas Lehnardt, Jüdische Bibliothek Mainz