Zur Theorie der internationalen Offenheit und der Völkerrechtsfreundlichkeit einer Rechtsordnung und ihrer Erprobung am Beispiel der EU-Rechtsordnung [1 ed.] 9783428549047, 9783428149049

Die Arbeit wirft die Frage nach der Übertragungsfähigkeit der Konzepte der Völkerrechtsfreundlichkeit und internationale

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German Pages 301 Year 2017

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Zur Theorie der internationalen Offenheit und der Völkerrechtsfreundlichkeit einer Rechtsordnung und ihrer Erprobung am Beispiel der EU-Rechtsordnung [1 ed.]
 9783428549047, 9783428149049

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Veröffentlichungen des Walther-Schücking-Instituts für Internationales Recht an der Universität Kiel

Band 197

Zur Theorie der internationalen Offenheit und der Völkerrechtsfreundlichkeit einer Rechtsordnung und ihrer Erprobung am Beispiel der EU-Rechtsordnung

Von

Berenike Schriewer

Duncker & Humblot · Berlin

Berenike Schriewer

Zur Theorie der internationalen Offenheit und der Völkerrechtsfreundlichkeit einer Rechtsordnung und ihrer Erprobung am Beispiel der EU-Rechtsordnung

Veröffentlichungen des Walther-Schücking-Instituts für Internationales Recht an der Universität Kiel In der Nachfolge von Jost Delbrück herausgegeben von Andreas von Arnauld, Nele Matz-Lück und K e r s t i n O d e n d a h l Walther-Schücking-Institut für Internationales Recht

197

Völkerrechtlicher Beirat des Instituts: Christine Chinkin London School of Economics

Eibe H. Riedel Universität Mannheim

James Crawford International Court of Justice, The Hague

Allan Rosas Court of Justice of the European Union, Luxemburg

Lori F. Damrosch Columbia University, New York

Bruno Simma Iran International States Claims Tribunal, The Hague

Vera Gowlland-Debbas † Graduate Institute of International Studies, Geneva Rainer Hofmann Johann Wolfgang GoetheUniversität, Frankfurt a.M. Fred L. Morrison University of Minnesota, Minneapolis

Daniel Thürer Universität Zürich Christian Tomuschat Humboldt-Universität, Berlin Rüdiger Wolfrum Max-Planck-Stiftung für Internationalen Frieden und Rechtsstaatlichkeit, Heidelberg

Zur Theorie der internationalen Offenheit und der Völkerrechtsfreundlichkeit einer Rechtsordnung und ihrer Erprobung am Beispiel der EU-Rechtsordnung

Von

Berenike Schriewer

Duncker & Humblot · Berlin

Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel hat diese Arbeit im Jahre 2015 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2017 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany

ISSN 1435-0491 ISBN 978-3-428-14904-9 (Print) ISBN 978-3-428-54904-7 (E-Book) ISBN 978-3-428-84904-8 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort In seiner Rede anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises am 29. Juni 1927 hat sich Gustav Stresemann mit der Wechselbeziehung von nationalem und internationalem Zusammenwirken auseinandergesetzt: Er halte deren Gegenüberstellung als zwei Gegensätze für töricht. Die Vertretung nationaler Interessen und internationale Zusammenarbeit sind keine Konzepte, die sich widersprechen müssen, sondern Gegenpole, die einander bedingen. Wer die internationale Ordnung nur unter dem Blickwinkel der eigenen Interessen betrachtet, übersieht, dass das Wohlergehen des eigenen Staates untrennbar mit dem Wohlergehen anderer Staaten verbunden ist – offenkundig wird dies etwa im Bereich des Umweltschutzes oder der Friedenssicherung. Weltweite Probleme lassen sich nicht allein national lösen. Wer das missachtet, schadet zumindest mittel- und langfristig auch eigenen Interessen. Umgekehrt kann eine Politik, die nationale Interessen zumindest in den Augen der eigenen Bevölkerung vernachlässigt, zu Gegenreaktionen führen, die nationalistische Kräfte fördern und somit letztlich die internationale Zusammenarbeit schädigen. Zur Zeit scheint das Pendel umzuschlagen auf die Betonung nationaler Interessen – mit all den damit zusammenhängenden Problemen. Die vorliegende Arbeit, die sich mit Konzepten wie der internationalen Offenheit einer Rechtsordnung befasst, mag daher wie aus der Zeit gefallen erscheinen. Im Sinne eines angemessenen „Polaritätsmanagements“ halte ich es aber für wichtig, sich gerade jetzt mit diesem Thema zu beschäftigen. Die vorliegende Arbeit ist im Sommersemester 2015 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel als Dissertation angenommen worden. Für die Druckfassung sind anschließend punktuelle Ergänzungen und Aktualisierungen vorgenommen worden. Literatur und Internetfundstellen befinden sich auf dem Stand von August 2016. Bei der Erstellung dieser Arbeit haben mich viele Personen auf verschiedene Art und Weise unterstützt. An dieser Stelle kann ich nur einigen von ihnen namentlich danken. In erster Linie gilt mein Dank meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Thomas Giegerich. Er hat mir während meiner Tätigkeit als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Walther-Schücking-Institut zu Kiel den entscheidenden Anstoß zu dem Thema gegeben und mit zahlreichen Kommentaren, Anmer-

6

Vorwort

kungen und Hinweisen meine eigenen Gedankengänge hierzu vertieft und verfeinert. Weiter bedanke ich mich bei Herrn Prof. Dr. Andreas von Arnauld für die zügige Erstellung seines Zweitgutachtens sowie bei Frau Prof. Dr. Kerstin Odendahl für zahlreiche hilfreiche Hinweise zur Veröffentlichung der Arbeit. Ihnen beiden sowie Frau Prof. Dr. Nele Matz-Lück danke ich außerdem für die Aufnahme in die Schriftenreihe des Walther-Schücking-Instituts. Die Gesellschaft zur Förderung von Forschung und Lehre am Walther-Schücking-Institut für Internationales Recht an der Universität Kiel hat die Veröffentlichung dieser Arbeit mit einem großzügigen Druckkostenzuschuss unterstützt. An meine Tätigkeit im Walther-Schücking-Institut denke ich sehr gerne zurück: Neben hervorragenden materiellen Arbeitsbedingungen habe ich eine besonders kollegiale Atmosphäre vorgefunden, die die Bezeichnung „Institutsfamilie“ zu Recht trägt. Ich bedanke mich bei allen, die zur Schaffung dieser exzellenten Bedingungen beigetragen haben, insbesondere bei Frau Dr. Ursula E. Heinz, die immer ein offenes Ohr für meine Fragen hatte. Herrn Dr. Philipp Tamme, Frau Dr. Julia-Pia Schütze und Frau Katherine Houghton danke ich für zahlreiche Diskussionen während und nach meiner Zeit im Institut sowie für ihre Freundschaft. Mein besonderer Dank gilt meiner Familie, insbesondere meinen Eltern und Großeltern, auf deren Liebe und Unterstützung ich in jeder Phase meines Lebens bauen konnte. Ihnen widme ich diese Arbeit. Washington, im Februar 2017

Berenike Schriewer

Inhaltsverzeichnis 1. Teil Völkerrechtsfreundlichkeit im Konflikt mit sonstigen Verfassungswerten

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A. Internationale Kooperation und Völkerrechtsfreundlichkeit . . . . . . . . . . . . . .

17

B. Völkerrechtsfreundlichkeit im Konfliktfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

24

C. Der Kadi-Fall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Beispiel einer Kollision von Verfassungswerten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kollision von Verfassungswerten im nationalen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Besonderheiten auf Unionsrechtsebene: Die Unionsrechtsordnung als eine nach eigenen Grundsätzen auszulegende Rechtsordnung . . . . . . . . . 3. Grundrechte und Völkerrechtsfreundlichkeit als europäische Verfassungswerte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Werte im europäischen Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Forschungsbedarf bezüglich der Völkerrechtsfreundlichkeit . . . . . . . .

26 26 28 29

32 32 33 33

D. Erhoffter Erkenntnisgewinn und Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Teil Die Konzepte der internationalen Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit einer Rechtsordnung A. Begriffsklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Internationale Offenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Völkerrechtsfreundlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Anwendungsbereiche dieser Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Ausgangspunkt: Internationale Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit der deutschen Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Internationale Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit der deutschen Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Art. 24 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Art. 25 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37 37 37 39 42 43 45 46 48

8

Inhaltsverzeichnis 3. Art. 26 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Art. 1 Abs. 1 und 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Herkunft der Kategorien internationale Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Entwicklung der Kategorie der internationalen Offenheit . . . . . . . . . . . . . . 2. Entwicklung der Kategorie der Völkerrechtsfreundlichkeit . . . . . . . . . . . .

52 55 56 56 58

C. Die internationale Offenheit einer Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die internationale Offenheit als Oberbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die drei Aspekte der internationalen Offenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der rezeptive Aspekt: Völkerrechtsfreundlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der aktive Aspekt: Internationale Zusammenarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Betonung des aktiven Aspektes im Konzept des kooperativen Verfassungsstaates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Merkmale des kooperativen Verfassungsstaates . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Kooperationsoffene Anknüpfungspunkte im Verfassungstext . . . . 3. Der menschenbezogene Aspekt: Orientierung am Menschenwohl . . . . . . a) Allgemein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Bestandteile des menschenbezogenen Aspektes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Menschenrechtsfreundlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Weitergehende Bedeutung des menschenbezogenen Aspektes . . . cc) Handhabung des menschenbezogenen Aspektes im Rahmen einer Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

61 61 62 63 63 63

D. Die Völkerrechtsfreundlichkeit einer Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Größtmögliche Wirksamkeit völkerrechtlicher Normen in der nationalen Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Richtige Ermittlung des Inhalts völkerrechtlicher Normen . . . . . . . . . . . . a) Problematik der Inhaltsbestimmung des Völkerrechts . . . . . . . . . . . . . . b) Auslegung von Normen völkerrechtlichen Ursprungs nach völkerrechtlichen Regeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Befolgung der Rechtsprechung internationaler Gerichte, quasi-gerichtlicher Entscheidungen und der Stellungnahmen internationaler Auslegungsinstanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Unmittelbare Anwendung völkerrechtlicher Normen durch nationale Gerichte und Behörden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Begrifflichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Unmittelbare Anwendung völkerrechtlicher Normen durch innerstaatliche Rechtsanwender . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Prozessuale Durchsetzungsmöglichkeiten völkerrechtlicher Rechte und Pflichten als Indiz für die Völkerrechtsfreundlichkeit? . . . . . . . . .

76

67 68 68 69 69 70 71 72 74

76 77 77 77

78 84 84 85 88

Inhaltsverzeichnis

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3. Vermeidung von Konflikten zwischen völkerrechtlichen Normen und nationalen Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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a) Formell: Zuweisung eines hohen innerstaatlichen Ranges . . . . . . . . . .

90

b) Materiell: Parallelisierung von nationalem Recht und Völkerrecht durch Rezeption völkerrechtlicher Standards . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4. Ausführlicher, an völkerrechtlichen Standards orientierter Grundrechtskatalog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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5. Möglichst völkerrechtskonforme Konfliktlösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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a) Anwendung völkerrechtlicher Lösungsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . .

98 b) Völkerrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts . . . . . . . . . . . 101 aa) Anwendung der völkerrechtskonformen Auslegung . . . . . . . . . . . 102 bb) Abgrenzung zur völkerrechtsfreundlichen Auslegung . . . . . . . . . . 102 6. Keine völkerrechtsunfreundlichen Elemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 a) Bezug zur Völkerrechtsfreundlichkeit einer Rechtsordnung . . . . . . . . 104 b) Begriffsabgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 aa) Völkerrechtsskepsis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 bb) Völkerrechtsunfreundlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 II. „Natürliche“ bzw. „erarbeitete“ Völkerrechtsfreundlichkeit einer Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 1. Verhältnis zwischen Völkerrecht und nationalem Recht . . . . . . . . . . . . . . 111 a) Der (gemäßigte) Monismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 b) Der (gemäßigte) Dualismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 2. Überführung des Völkerrechts in den innerstaatlichen Raum . . . . . . . . . . 116 a) Notwendigkeit der Überführung völkerrechtlicher Normen in den innerstaatlichen Bereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 b) Transformation, Adoption und Vollzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 3. Völkerrechtsfreundlichkeit des monistischen und des dualistischen Systems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 a) Die „natürliche“ Völkerrechtsfreundlichkeit des monistischen Systems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 aa) Vorrang des Völkerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 bb) Adoption völkerrechtlicher Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 b) Die „erarbeitete“ Völkerrechtsfreundlichkeit des dualistischen Systems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 aa) Übergesetzesrang des Völkerrechts oder Verzicht auf die lex posterior-Interpretationsmaxime . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 bb) Innerstaatliche Anwendung des Völkerrechts durch einen Vollzugsbefehl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 III. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122

10

Inhaltsverzeichnis 3. Teil Die internationale Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit der Unionsrechtsordnung

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A. Die Unionsrechtsordnung als ausgewählte Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . I. Notwendige Begrenzung des Untersuchungsgegenstandes . . . . . . . . . . . . . . . . II. Begründung der Auswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Der außerrechtliche Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Erforderlichkeit der Kontexteinordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Selbst- und Fremdwahrnehmung der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . a) Europa und die EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Europäische Sicherheitsstrategie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Außereuropäische Wahrnehmung der EU als „bessere Macht“? . . . . .

126 126 128 130 130 131 131 135 136

B. Die internationale Offenheit der Unionsrechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Inhaltliche Maßstäbe der internationalen Offenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeine Verfassungswerte und Ziele der Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Werte der Union, Art. 2 EUV (neu) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ziele der Union, Art. 3 EUV (ex-Art. 2 EUV) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Spezielle Ziele und Grundsätze des auswärtigen Handelns der Union, Art. 21 EUV (ex-Art. 11 EUV) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Anhaltspunkte für die verschiedenen Aspekte der internationalen Offenheit im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der menschenbezogene Aspekt der internationalen Offenheit . . . . . . . . . . 2. Der rezeptive Aspekt der internationalen Offenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der aktive Aspekt der internationalen Offenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

138 139 139 139 141

C. Die Völkerrechtsfreundlichkeit der Unionsrechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . I. Anwendung des Kriterienkataloges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Auslegungskompetenz des EuGH in diesem Bereich . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Auslegung des Völkerrechts nach völkerrechtlichen Regeln . . . . . . . . . . . 3. Befolgung der Rechtsprechung internationaler (Schieds-)Gerichte . . . . . . 4. Unmittelbare Anwendung völkerrechtlicher Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Unmittelbare Anwendung im Allgemeinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Unmittelbare Anwendbarkeit des GATT/WTO-Rechts . . . . . . . . . . . . . 5. Zuweisung eines hohen Ranges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Völkerrechtliche Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Völkergewohnheitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Wertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Ausführlicher, an völkerrechtlichen Standards orientierter Grund- und Menschenrechtskatalog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

143 146 146 149 151 154 155 155 155 157 162 166 166 168 171 171 172 174 175

Inhaltsverzeichnis 7. Möglichst völkerrechtskonforme Konfliktlösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Anwendung völkerrechtlicher Lösungsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . b) Völkerrechtskonforme Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Keine völkerrechtsunfreundlichen Elemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die WTO-/GATT-Rechtsprechung als völkerrechtsunfreundliches Element? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Kadi-Rechtsprechung als völkerrechtsunfreundliches Element? . aa) Die Kadi I-Entscheidung des EuG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Schlussanträge des Generalanwalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Die völkerrechtsskeptische Kadi I-Entscheidung des EuGH . . . . dd) Die weitere Entwicklung: Kadi II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Beurteilung der EuGH-Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Systemische Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Erforderlichkeit eines zusätzlichen Kriteriums: Die Problematik der „Altverträge“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Art. 351 AEUV als Ausdruck der völkerrechtskonformen Integration . . a) Unberührtheitsklausel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Anpassungsverpflichtung der Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Völkerrechtsfreundlichkeit von Art. 351 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Umgang mit besonders wichtigen Verträgen der Mitgliedstaaten . . . . . . . a) Die Europäische Menschenrechtskonvention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Charta der Vereinten Nationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der Nordatlantikvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Ergebnis der Untersuchung: „Natürliche“ oder „erarbeitete“ Völkerrechtsfreundlichkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Tauglichkeit der entwickelten Kriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11 177 177 178 180 180 183 184 186 187 192 195 195 199 200 203 204 206 211 211 213 215 216 218

4. Teil Entwicklungschancen der Konzepte der internationalen Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit A. Zukünftige Erweiterung des Konzepts der internationalen Offenheit? . . . . I. Einbeziehung eines demokratischen Elementes? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Einbeziehung eines biozentrischen Elementes? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

220 220 221 224 230

B. Anerkennung der Völkerrechtsfreundlichkeit von Rechtsordnungen auf nationaler/supranationaler Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 I. Mögliche rechtliche Erfassung der Völkerrechtsfreundlichkeit einer Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 1. Deskriptiver Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232

12

Inhaltsverzeichnis 2. Auslegungshilfe der nationalen Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Verfassungsrechtliches Leitbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Verfassungsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Entwicklung einer Theorie des Verfassungsprinzips der Völkerrechtsfreundlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Wesen von Rechtsprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Struktur von Rechtsprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Bedeutung von Rechtsprinzipien für die Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . 2. Herleitung eines Verfassungsprinzips der Völkerrechtsfreundlichkeit . . . a) Ausgangspunkt: Grundsätzliche Existenzmöglichkeit dieses Prinzips . b) Ableitbarkeit von Verfassungsprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Verfassungsgewohnheitsrechtliche Verankerung . . . . . . . . . . . . . . . bb) Induktive Ableitung von Prinzipien aus dem positiven Recht im Gegensatz zur antipositivistischen Ableitung von Prinzipien „aus der Rechtsidee“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Induktive Gewinnung eines Verfassungsprinzips der Völkerrechtsfreundlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Ableitbarkeit aus dem Rechtsstaatsprinzip? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Inhalt eines Prinzips der Völkerrechtsfreundlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Wirkweise eines Prinzips der Völkerrechtsfreundlichkeit . . . . . . . . . . . . . . a) Außerrechtliche Wirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Rechtliche Wirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Einschränkende Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Erweiternde Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Abschließende Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Vorteile einer Anerkennung der Völkerrechtsfreundlichkeit als Verfassungsprinzip und konkrete Handhabung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

233 235 236 237 237 238 239 240 240 241 241

243 244 245 248 252 252 252 254 256 258 258

C. Vorläufiges Fazit: Eine Welt und das Recht im Umbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . 260

5. Teil Zusammenfassung/Summary

266

A. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 B. Summary . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 Personen- und Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297

Abkürzungsverzeichnis a. A. ABl. L Abs. ADS AEMR AEUV a. F. A/RES Art. BA BBl. Bd. BFH BGB BGBl. BGE BGH BGHZ BIT BMBF BR-Drs. Bst. BT-Drs. BV BVerfG BVerfGE BVerfGG BVerwG BVerwGE B-VG bzw. CCEE d.h. DSB DSU

anderer Ansicht Amtsblatt der Europäischen Union, Rechtsvorschriften Absatz Allgemeine Deutsche Spediteurbedingungen Allgemeine Erklärung der Menschenrechte Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union alte Fassung General Assembly Resolution Artikel Beitrittsabkommen Bundesblatt der Schweiz Band Bundesfinanzhof Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Bilateral Investment Treaty Bundesministerium für Bildung und Forschung Bundesratsdrucksache Buchstabe Bundestagsdrucksache Bundesverfassung der Schweiz Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundesverfassungsgerichtsgesetz Bundesverwaltungsgericht Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts Bundes-Verfassungsgesetz der Republik Österreich beziehungsweise Cour Communauté économique européenne das heißt Dispute Settlement Body Dispute Settlement Understanding

14 ebd. EFTA EG EGV EGMR EMRK endg. ESS EStG et al. etc. EU EuG EuGH EuGRZ EUV EuZW EWG EWGV EWR f./ff. FAO Fn. GASP GATT GG GRC/CRCh Hrsg. ICAO ICJ ICJ Reports ICL ICSID i. d. F. IGH ILC ILM IOM IPbpR IPwskR i. S.

Abkürzungsverzeichnis ebenda European Free Trade Association Europäische Gemeinschaft Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten endgültig European Security Strategy Einkommenssteuergesetz et alii et cetera Europäische Union Gericht der Europäischen Union Europäischer Gerichtshof Europäische Grundrechte-Zeitschrift Vertrag über die Europäische Union Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft Europäischer Wirtschaftsraum folgende (Singular)/folgende (Plural) Food and Agriculture Organization of the United Nations Fußnote Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik General Agreement on Tariffs and Trade Grundgesetz Charta der Grundrechte der Europäischen Union Herausgeber International Civil Aviation Organization International Court of Justice International Court of Justice, Reports of Judgments, Advisory Opinions and Orders International Law Commission International Centre for Settlement of Investment Disputes in der Fassung Internationaler Gerichtshof International Law Commission International Legal Materials International Organization for Migration Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte im Sinne

Abkürzungsverzeichnis ITU J.ö.R. JV KOM KrWaffKontrG lat. Ls. m. E. m.w. N. NATO n. F. NGO NJW No. Nr. NVwZ NVwZ-RR öBGBl. O.J. P.C.I.J. (ser. B) PKK RGBl. Rn. Rs. S. s. a. SBZ SEC SJIR Slg. sog. SR S/RES/ StGB StIGH StPO SZIER Tu. a. UN UN Doc.

15

International Telecommunication Union Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, neue Folge Japanische Verfassung Kommission Kriegswaffenkontrollgesetz lateinisch Leitsatz meines Erachtens mit weiteren Nachweisen North Atlantic Treaty Organization neue Fassung Nichtregierungsorganisation (non-governmental organization) Neue Juristische Wochenschrift Number Nummer Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht – Rechtsprechungs-Report Österreichisches Bundesgesetzblatt Official Journal of the European Union Permanent Court of International Justice Documents, Series B (Advisory Opinions) Arbeiterpartei Kurdistan (Partîya Karkerén Kurdîstan) Reichsgesetzblatt Randnummer(n) Rechtssache Seite(n) siehe auch Sowjetische Besatzungszone Generalsekretariat Schweizerisches Jahrbuch für internationales Recht Sammlung so genannt(e/er/es) Sicherheitsrat Security Council Resolution Strafgesetzbuch Ständiger Internationaler Gerichtshof Strafprozessordnung Schweizerische Zeitschrift für internationales und europäisches Recht Tribunal unter anderem United Nations Dokumente der Vereinten Nationen

16 Unterabs. UNTS Urt. v. U.S. US(A) v. a. verb. Rs. vgl. Vol. VStGB VwGO WCN WTO WÜK WVK WVK II

z. B. ZGB ZPO

Abkürzungsverzeichnis Unterabsatz United Nations Treaty Series Urteil vom United States Reports United States (of America) vor allem/allen verbundene Rechtssachen vergleiche Volume Völkerstrafgesetzbuch Verwaltungsgerichtsordnung World Charter for Nature World Trade Organization Wiener Übereinkommen über konsularische Beziehungen Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge zwischen Staaten und internationalen Organisationen oder zwischen internationalen Organisationen zum Beispiel Zivilgesetzbuch der Schweiz Zivilprozessordnung

1. Teil

Völkerrechtsfreundlichkeit im Konflikt mit sonstigen Verfassungswerten A. Internationale Kooperation und Völkerrechtsfreundlichkeit „Völkerrechtsfreundlichkeit“ bezeichnet im Rahmen dieser Arbeit eine Einstellung, die den Normen völkerrechtlichen Ursprungs in der nationalen Rechtsordnung zu größtmöglicher Wirksamkeit verhilft.1 Da im alltäglichen Sprachgebrauch der Begriff „Freundlichkeit“ positiv belegt ist, handelt es sich bei der „Völkerrechtsfreundlichkeit“ um keinen wertungsfreien terminus technicus.2 Die Bezeichnung einer nationalen Rechtsordnung als „völkerrechtsfreundlich“ signalisiert die Einbeziehung dieses Staates in die internationale Gemeinschaft, ihr Gegenteil im Extremfall einen Ausschluss aus der Völkerrechtsgemeinschaft.3 Der wertende Unterton dieses Begriffs rechtfertigt sich einerseits aus den positiven Errungenschaften des modernen Völkerrechts (u. a. das Gewaltverbot, die Bekämpfung und letztendlich Abschaffung der Apartheid, die Entwicklung der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts4), andererseits dadurch, dass die völkerrechtsfreundliche Rechtsordnung grundsätzlich mit Vorteilen für das 1 Siehe zu diesem Begriff im Einzelnen 2. Teil A. II. Vgl. auch Tomuschat, Internationale Offenheit, Rn. 9, der Völkerrechtsfreundlichkeit als Leitlinie versteht, „die darauf abzielt, im innerstaatlichen Rechtsraum die Befolgung völkerrechtlicher Gebote zu fördern und zu erleichtern.“ 2 Vgl. Schorkopf, Völkerrechtsfreundlichkeit, S. 151: „Wer sich dem Völkerrecht gegenüber freundlich zeigt, sich dem Völkerrecht mit Empathie zuwendet, der hat ein allgemein anerkanntes und erstrebtes Ziel.“ Siehe auch die Aussage von Kischel, S. 285, zur Europarechtsfreundlichkeit: „Europa steht für offene Grenzen, freien wirtschaftlichen Austausch und gegenseitige kulturelle Befruchtung. Wer will da schon skeptisch genannt werden?“ 3 Die Ausmaße, die ein solcher Ausschluss aus der Völkergemeinschaft annehmen kann, lassen sich am Beispiel der Situation Nachkriegsdeutschlands wohl am besten verdeutlichen, vgl. Art. 53 und 107 UN-Charta („Feindstaatenklausel“) sowie die folgende Situationsbeschreibung von Giegerich, Verfassungsstaat, S. 13: „Im Mai 1945 war Deutschland physisch und psychisch am Ende – ein ausgeblutetes, militärisch zerstörtes, vollständig besetztes, zerteiltes, bankrottes und durch seine Verbrechen auch moralisch ruiniertes Land – ein international geächtetes Trümmerfeld, für das der Begriff Pariah-,Staat‘ noch geschmeichelt wäre.“ (Hervorhebung hinzugefügt.) 4 Vgl. die Aufzählung bei Weeramantry, S. 40–52.

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1. Teil: Völkerrechtsfreundlichkeit im Verfassungswertekonflikt

Individuum, den Staat und die Völkerrechtsgemeinschaft als Ganzes verbunden ist: – Für das der Hoheitsgewalt eines Staates unterworfene Individuum ergeben sich diese Vorteile insbesondere aus dem infolge der Völkerrechtsfreundlichkeit stärkeren innerstaatlichen Menschenrechtsschutz.5 Die Verstärkung des Schutzniveaus folgt daraus, dass neben den menschenrechtlichen Vorgaben des nationalen auch die des internationalen Rechts – beispielsweise durch völkerrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts6 – Bedeutung erlangen. Viele Rechtsordnungen haben jedenfalls in Teilbereichen auch ein weniger hohes Schutzniveau,7 so dass der Einfluss des Völkerrechts selbst in hochentwickelten Rechtsordnungen die Rechtsstellung von Individuen verbessern kann.8 Indem das Völkerrecht den benachteiligten Akteuren der jeweiligen Rechtsordnung eine Stimme gibt, wird innerstaatlichen Defiziten abgeholfen.9 Völkerrechtsfreundlichkeit bedeutet somit die Möglichkeit eines zusätzlichen, externen Korrektivs für das innerstaatliche Recht.10 Die praktizierte Völkerrechtsfreundlichkeit kann daher die interne Rechtsordnung vor „dogmatischer

5 Zu dem Ergebnis, dass die Ratifizierung von Menschenrechtsverträge nicht notwendigerweise mit einer Verbesserung der innerstaatlichen Menschenrechtssituation einhergeht, kommt Hathaway, S. 1940, nach entsprechenden statistischen Auswertungen: „Although the ratings of human rights practices of countries that have ratified international human rights treaties are generally better than those of countries that have not, noncompliance with treaty obligations appears to be common. More paradoxically, when I take into account the influence of a range of other factors that affect countries’ practices, I find that treaty ratification is not infrequently associated with worse human rights ratings than otherwise expected. I do, however, find evidence suggesting that ratification of human rights treaties by fully democratic nations is associated with better human rights practices.“ 6 Siehe hierzu 2. Teil D. I. 5. b). 7 Als Beispiel kann auf das ehemalige schweizerische Namensrecht verwiesen werden, demzufolge die Ehefrau – auch gegen ihren Willen – den Namen des Ehemannes tragen musste, falls die Eheleute nicht ihren Namen tragen wollten (Art. 160 ZGB a. F.). Das Bundesgericht führte zu dieser – im Übrigen verfassungswidrigen – Regelung aus (BGE 136 III 168, 3.3.1): „Die eherechtliche Namensregelung des ZGB ist mit der EMRK nicht vereinbar.“ Der Verstoß gegen Art. 8 und 14 EMRK wurde wiederholt vom EGMR gerügt (EGMR, Urt. v. 22.2.1994, Nr. 16213/90 – Burghartz v. Switzerland; Urt. v. 9.11.2010, Nr. 664/06 – Losonci Rose and Rose v. Switzerland). Das neue schweizerische Namensrecht – welches diese diskriminierende Namensregelung durch eine neutrale ersetzte – trat schließlich am 1.1.2013 in Kraft. 8 Vgl. auch Giegerich, Menschenrechtsübereinkommen, Rn. 106, zu den EuroparatsÜbereinkommen: „Die globale Perspektive sieht manches anders und vielleicht klarer als der kontinental-beschränkte Blick (beispielsweise in Bezug auf Fragen der Migration und der lebensnotwendigen Grundversorgung).“ Anzumerken ist aber auch, dass bei einer Grundrechtskollision die Verbesserung der Rechtsstellung eines Individuums mit der Verschlechterung der Situation einer anderen Person einhergehen kann. 9 Lovric, S. 76 f. 10 Mahulena Hofmann, S. 500.

A. Internationale Kooperation und Völkerrechtsfreundlichkeit

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Erstarrung“ schützen.11 Nicht verschwiegen werden soll, dass sich dieses Verhältnis im Einzelfall auch umkehren kann. So ist es möglich, dass ein wichtiger Impuls zu – menschenrechtsfreundlichen oder sonstigen positiven – Veränderungen auf zwischenstaatlicher Ebene12 auch von nationalen oder supranationalen Rechtsanwendern ausgeht. Von dem jeweiligen Rechtsanwender erfordert dies – neben dem grundsätzlichen Bekenntnis zum Völkerrecht – Konstruktivität und eine Berücksichtigung sämtlicher widerstreitender Interessen. – Der Staat kann durch die völkerrechtsfreundliche Ausrichtung seiner Rechtsordnung Nachteile bzw. negative Konsequenzen vermeiden, die mit einem völkerrechtswidrigen Verhalten verbunden sind: So zieht ein Völkerrechtsbruch nicht nur die völkerrechtliche Verantwortlichkeit des jeweiligen Staates nach sich,13 sondern bringt auch weitere Nachteile mit.14 Während die Staaten untereinander aus diplomatischen Gründen nach außen hin zwar möglicherweise Zurückhaltung walten lassen und Völkerrechtsverletzungen bei befreundeten Staaten nicht öffentlichwirksam anprangern,15 haben weder die Zivilgesellschaft noch die Nichtregierungsorganisationen (NGOs) eine vergleichbare Interessenlage.16 Der Staat riskiert daher durch einen Völkerrechtsbruch eine Beschädigung seiner Reputation und damit einhergehend eine Verminderung seiner Verhandlungsmacht.17 Das Ansehen eines Staates ist nämlich vergleich11 Vgl. Dagmar Richter, Völkerrechtsfreundlichkeit, S. 166, zum Verhältnis zwischen BVerfG und EGMR. 12 Ein solcher Veränderungsimpuls kann sich als Völkerrechtsbruch darstellen, wie es bei der Veränderung einer völkergewohnheitsrechtlichen Norm der Fall ist, siehe Crawford, S. 29. 13 Siehe hierzu die ILC’s Articles on Responsibility of States for Internationally Wrongful Acts. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 58, 1 [34]) hat darauf hingewiesen, es habe im Rahmen seiner Gerichtsbarkeit „in besonderem Maße darauf zu achten, daß Verletzungen des Völkerrechts, die in der fehlerhaften Anwendung oder Nichtbeachtung völkerrechtlicher Normen durch deutsche Gerichte liegen und eine völkerrechtliche Verantwortlichkeit der Bundesrepublik Deutschland begründen könnten, nach Möglichkeit verhindert oder beseitigt werden.“ 14 Pauwelyn, S. 165, der die folgenden Aspekte nennt: „reputation costs, fear of emulation, community pressure, the normative pull of ideas and values and/or an urge to protect a particular institution or the international legal system more generally [. . .].“ 15 Schröder, S. 121: „Die Staatenpraxis zeigt indessen, dass in diesem Bereich Vertragsverletzungen aus politischen Erwägungen oft unbeanstandet bleiben – hier gilt das Sprichwort, dass eine Krähe einer anderen kein Auge aushackt.“ Unter Bezugnahme auf Haltern verweist Schröder auf die geringe Zahl der von EU-Mitgliedstaaten eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahren; zwischen 1960 und 1999 sei dies nur in vier Fällen erfolgt – verglichen mit 1606 in diesem Zeitraum von der Kommission initiierten Verfahren. 16 Fischer-Lescano/Liste, S. 238, weisen auf die große Bedeutung hin, die der öffentlichen Meinung für die Völkerrechtsordnung zukommt. 17 Bleckmann, Völkerrechtslehre, S. 108. So auch Guzman, International Law, S. 35: „In the absence of coercive enforcement, [states] must rely on reputation as a disciplin-

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1. Teil: Völkerrechtsfreundlichkeit im Verfassungswertekonflikt

bar mit einer „Währung“, mit der er in völkerrechtlichen Transaktionen für Zugeständnisse anderer Vertragspartner „auf Rechnung“ bezahlen kann.18 Die negativen zukünftigen Auswirkungen eines Reputationsverlustes – die nach den Umständen des Einzelfalls unterschiedlich hoch sein können – fließen daher in die Kosten-Nutzen-Abwägung des Völkerrechtsbruchs ein.19 Ist das Ansehen eines Staates als verlässlicher Vertragspartner einmal beschädigt, so muss das Vertrauen der jeweiligen Vertragspartner oder der Völkerrechtsgemeinschaft erst wieder erarbeitet werden (sofern eine solche Reparatur noch möglich ist).20 Diese Konsequenzen sprechen dafür, eine solche Situation nicht entstehen zu lassen. Die Völkerrechtsfreundlichkeit einer Rechtsordnung sichert auch die mit einer Einschränkung des politischen Spielraums einhergehende völkerrechtliche Selbstbindung ab,21 was durchaus gewünscht sein kann.22 Wenn nämlich das

ing device to encourage compliance. The stronger a state’s reputation, the more easily it can make credible commitments and resolve cooperation problems.“ Siehe auch Hirsch, Game Theory, S. 110: „Although States usually react unfavorably to another State’s harmful activities, their reaction is compounded when the detrimental act violates rights prescribed under international law. Thus, a new legal norm binding parties to a cooperative strategy in a given sphere increases the negative payoffs to a player who breaches the obligation. For this reason, establishing a legal obligation to cooperate, for instance in a treaty, improves the likelihood of cooperation.“ 18 Vgl. Guzman, Compliance, S. 1849 f., 1955, Fn. 120: „The value of a good reputation for states can be compared to the value of a high bond rating. Just as a good rating increases investor confidence and, therefore, allows the firm to raise money more cheaply, a strong reputation increases the confidence of counterparties to an international agreement, allowing a state to extract more in exchange for its own promises.“ Siehe auch Simmons, S. 325. 19 Guzman, Compliance, S. 1849 f. 20 Guzman, Compliance, S. 1850. 21 Dies entspricht dem, was Varwick, S. 116, die „legalistische Schule“ nennt. Diese sehe „in völkerrechtlichen Arrangements ein extrem hohes Gut, dem politische Erwägungen unterzuordnen sind. Wenn Staaten Verpflichtungen eingegangen sind, dann müssen sie sich auch an diese halten, weil andernfalls eine Grundvoraussetzung internationaler Kooperation beschädigt wird. Es wird akzeptiert, dass durch völkerrechtliche Arrangements die staatliche Souveränität insofern beschnitten wird, als dass diese staatliches Verhalten determinieren.“ Der Gegensatz hierzu sei die „politikorientierte Schule“, diese stelle „völkerrechtliche Arrangements stärker in einen politischen Kontext und betont, dass es letztlich politischen Entscheidungen der Regierung vorbehalten bleiben soll und muss, ob sich diese an überstaatliche Regelungen halten oder nicht. Völkerrechtliche Regelungen sind ein Abwägungsfaktor unter vielen anderen“. 22 Für ein Beispiel einer erwünschten Selbstbindung siehe die Ausführungen bei Tomuschat, Internationale Offenheit, Rn. 3, zu Erwägungen bei den deutschen Verfassungsberatungen nach dem 2. Weltkrieg: „Die Verfassungsgeber [. . .] standen nachhaltig unter dem Eindruck all jener unsäglichen Verbrechen, die während der zwölf Jahre von 1933 bis 1945 im deutschen Namen begangen worden waren. Durch eine Hinwendung zu internationalen Ordnungsstrukturen hofften die Verfassungsschöpfer, einer Wiederkehr ähnlicher Fehlentwicklungen wirksam einen rechtlichen Riegel vorschieben zu können.“

A. Internationale Kooperation und Völkerrechtsfreundlichkeit

21

Verhalten, zu dem sich ein Staat völkerrechtlich verpflichtet, Teil einer vernünftigen und für ihn vorteilhaften Planung ist, so schützt die Bindung im Außenverhältnis nicht nur die anderen Vertragspartner vor seinen Handlungen, sondern auch ihn selbst davor, durch diese Handlungen in kurzsichtiger Weise seine eigenen langfristigen Interessen zu verletzen.23 Diese gewollte selbstbegrenzende Wirkung beschreibt Ohlin wie folgt: „We often assume that law constrains our partner. [. . .] However, it is often less understood that law works in reverse as well. The law constrains me, so that if I sign a contract, the law will ensure that I refrain from myopic defection. The law helps ensure that I take the long view of rationality.“24 Zu einer Missachtung völkerrechtlicher Verpflichtungen kann es hingegen insbesondere bei asymmetrischen Präferenzen der Vertragspartner kommen.25 Selbst wenn Staaten, die ein geringeres Interesse an der Einhaltung bestimmter Regeln haben, sich völkerrechtlich hieran binden, so neigen sie oft dazu, diese anschließend zu verletzen.26 Auf völkerrechtlicher Ebene kann dem Problem des asymmetrisch niedrigen Interesses eines Staates an einem bestimmten Regelungskomplex aber gegebenenfalls begegnet werden durch seine Verbindung mit einem anderem Regelungsgegenstand, an dem der Staat ein besonders großes Interesse hat.27 Sind bestimmte Staaten wie beispielsweise Entwicklungsländer aus wirtschaftlichen oder anderen Gründen besonders schutzbedürftig, so kann ihren besonderen Interessen durch die Aufnahme spezieller Sonderoder Ausnahmeregeln in den Vertrag entgegengekommen werden.28 Die Vorteile einer völkerrechtsfreundlichen Ausrichtung für den Staat können somit wie folgt zusammengefasst werden: stärkerer Einfluss auf die Völkerrechtsentwicklung, höheres Ansehen des Staates, stärkere Mitarbeit an der Lösung grenzüberschreitender internationaler Probleme, Schutz vor negativen Auswirkungen eines Völkerrechtsbruchs, stärkerer innerstaatlicher Menschen23 Ohlin, S. 152 f. Siehe hierzu auch die Aussage des ehemaligen amerikanischen Politikers Fulbright, S. 96: „Insofar as International Law is observed, it provides us with stability and order and with a means of predicting the behavior of those with whom we have reciprocal legal obligations. When we violate the law ourselves, whatever short-term advantage may be gained; we thus encourage disorder and instability and thereby do incalculable damage to our own long-term interests.“ 24 Ohlin, S. 153. 25 Hirsch, Game Theory, S. 111 f., der als Beispiel für diese asymmetrischen Situationen die durch Israel unter anderem in der West Bank verursachte Luftverschmutzung anführt. Aufgrund der Windrichtung und Unterschiede bei der industriellen Aktivität sei die in umgekehrter Richtung verursachte Luftverschmutzung hingegen vernachlässigbar. 26 Hirsch, Game Theory, S. 112. 27 Hirsch, Game Theory, S. 112, der auch darauf hinweist, dass für den effektiven regionalen Umweltschutz möglicherweise Regelungssysteme aus verschiedenen Bereichen des Völkerrechts miteinander verknüpft werden müssen. 28 Vgl. beispielsweise Art. 2 Abs. 3 IPwskR.

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1. Teil: Völkerrechtsfreundlichkeit im Verfassungswertekonflikt

rechtsschutz sowie die mögliche Beschleunigung menschenrechtsfreundlicher oder anderweitig fortschrittlicher innerstaatlicher Entwicklungen. Dem stehen folgende, eher vernachlässigbare Nachteile gegenüber: die eventuell im konkreten Fall unerwünschte Einschränkung des staatlichen Handlungsspielraums, potenzielle negative Einzelfallauswirkungen (beispielsweise ökonomischer Art) sowie die unter politischen Gesichtspunkten möglicherweise unangenehme Unterwerfung unter eine äußere Kontrollinstanz. – Der Vorteil für die Völkerrechtsgemeinschaft liegt darin, dass durch die völkerrechtsfreundliche Ausrichtung einer Rechtsordnung die in den völkerrechtlichen Normen verkörperten Gemeinschaftsinteressen einen zusätzlichen Schutz erlangen. Soweit völkerrechtliche Normen der Umsetzung bedürfen, sichert die Völkerrechtsfreundlichkeit einer Rechtsordnung den völkerrechtlichen Grundsatz pacta sunt servanda (vgl. Art. 26 WVK) auf innerstaatlicher Ebene ab. Henkin bezeichnet diesen Grundsatz zutreffend als „the most important principle in international law“, welcher internationale Beziehungen möglich macht;29 seine innerstaatliche Absicherung stärkt daher auch die international rule of law30. Die Missachtung der völkerrechtlichen Verpflichtungen durch einen oder mehrere Vertragsstaaten kann hingegen zu einer sinkenden Bereitschaft anderer Staaten zu vertragsgemäßem Verhalten führen, wodurch den Allgemeininteressen der Völkerrechtsgemeinschaft Schaden zugefügt wird. Diese „Abwärtsspirale“ dürfte u. a. damit zusammenhängen, dass Staaten Völkerrechtsverletzungen vermeiden, um ihre Reputation als völkerrechtskonformer Akteur und verlässlicher Partner nicht zu beschädigen – ein etwaiger Ansehensverlust fällt aber grundsätzlich geringer aus, wenn außer ihm noch andere Staaten dieselbe Norm verletzen.31 In ihrer Gesamtschau sprechen diese Gesichtspunkte für eine verfassungsrechtliche Konzeption, die dem Völkerrecht zu größtmöglicher innerstaatlicher Wirksamkeit verhilft. Eine Idealisierung des Völkerrechts sollte aber trotz seiner Errungenschaften vermieden werden. Völkerrecht als solches ist neutral: Es lässt sich definieren als das nicht-interne Recht, das die hoheitlichen Rechtsbeziehungen zwischen Völkerrechtssubjekten regelt.32 Dieses Recht muss aber nicht notwendigerweise „gut“, „gerecht“ oder „fortschrittlich“ sein.33 Insofern kann es vorkommen, dass 29

Henkin, Nations, S. 19. Siehe zu diesem Begriff den Beitrag von Chesterman. 31 Vgl. Simmons, S. 325. 32 Graf Vitzthum, Rn. 32. 33 Vgl. Lovric, S. 76; Pfeffer, S. 191. Eine gewisse unterste Begrenzung bei der Schaffung von Völkerrecht stellt das unabdingbare Recht (ius cogens) dar, welches aber ebenfalls von den Staaten geschaffen wird, vgl. Art. 53 und 64 WVK. Siehe auch die Einschätzung von Haas, S. 266: „International organizations are not necessarily good, wise or benign merely because successive learning experiences of America have resulted in 30

A. Internationale Kooperation und Völkerrechtsfreundlichkeit

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sich im nationalen Recht beispielsweise menschenrechtsfreundlichere Regelungen finden als auf internationaler Ebene.34 Dies führt zu der Frage, wie weit der Einfluss des Völkerrechts – auch in Anbetracht demokratischer Gesichtspunkte35 – idealtypisch gehen sollte. Zunächst ist festzuhalten, dass der Staat als Organisationseinheit trotz verschiedener politischer Entwicklungen bestehen bleiben wird, da auf seine regelnden Funktionen (jedenfalls in absehbarer Zeit) nicht verzichtet werden kann.36 Die Beibehaltung der existierenden Staatenwelt lässt sich aber nur rechtfertigen, wenn bestimmte Charakteristika der Einzelstaaten erhalten bleiben, was auch für den Bereich des Rechtes gilt. Da Identifikation die Verschiedenheit der möglichen Identifikationsobjekte voraussetzt und Recht die Wirklichkeit mitgestaltet, würde eine völlige Angleichung der Rechtsordnungen – unterstellt, sie wäre überhaupt möglich – dem Staatsvolk die Identifikation mit ihrem Staat erschweren.37

greater acceptance of them, even commitment to them. We need not make idols and fetishes of international organizations. They exist, they grow, they envelop nations because nations certainly have demonstrated their need for them by their past policies and hopes for the future. But we must not assume that these hopes are identical for all or that international organizations are the only methods for realizing them.“ 34 Dieser Möglichkeit eines weitergehenden nationalen Rechtsschutzes trägt beispielsweise Art. 53 ERMK Rechnung: „Diese Konvention ist nicht so auszulegen, als beschränke oder beeinträchtige sie Menschenrechte und Grundfreiheiten, die in den Gesetzen einer Hohen Vertragspartei oder in einer anderen Übereinkunft, deren Vertragspartei sie ist, anerkannt werden.“ 35 Siehe hierzu Habermas, S. 10: „[. . .] ganz abgesehen von der problematischen Machtasymmetrie in der Zusammensetzung der meisten internationalen Vertragsregimes, bezahlen die beteiligten Staaten, sofern sie demokratisch verfasst sind, ein auf Intergouvernementalität begründetes Regieren mit sinkenden Legitimationsniveaus. Auch der Umstand, dass die Regierungen, die ihre Vertreter in internationale Regierungen entsenden, demokratisch gewählt sind, kann diesen Schaden nicht kompensieren. Daher höhlt der Machtzuwachs internationaler Organisationen in dem Maße, wie sich nationalstaatliche Funktionen auf die Ebene transnationalen Regierens verlagern, die demokratischen Verfahren der Nationalstaaten tatsächlich aus.“ 36 Hingst, S. 67 m.w. N. Zur veränderten Rolle des Staates im Zeitalter der Globalisierung siehe Puttler, Rn. 2. 37 Vgl. McGinnis, S. 328, zur identitätsstiftenden Funktion der amerikanischen Verfassung: „One important American tradition [. . .] is the bond of affection that citizens have for their founding document. As foreign or international decisions become more central to American constitutional law, citizens, except for the most cosmopolitan, will lose a measure of identity with that common bond.“ Anzumerken ist aber, dass die identitätsstiftende Funktion von Recht ein vergleichsweise neuer Gedanke ist, vgl. van Caenegem, S. 1 f.: „What is certain, however, is that medieval and early modern Europe managed without national legal systems. People lived either under local customs or under the two cosmopolitan, supranational systems – the law of the Church and the neo-Roman law of the universities (known as ,the common, written laws‘, or the learned ius commune). That every country should have its own strictly national law and be unaffected by others for many centuries was quite unthinkable. Cross-fertilization was the order of the day, because the law was seen as a vast treasure house from which kings and nations could pick and choose what suited them.“

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1. Teil: Völkerrechtsfreundlichkeit im Verfassungswertekonflikt

In diesem Kontext sind auch die Anforderungen des völkerrechtlich als erga omnes-Norm anerkannten Selbstbestimmungsrechts der Völker zu beachten.38 Demzufolge haben alle Völker das „Recht auf Selbstbestimmung. Kraft dieses Rechts entscheiden sie frei über ihren politischen Status und gestalten in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung.“39 Trotz des Fehlens einer allgemeingültigen Definition des Begriffes „Volk“40 ist anerkannt, dass das Staatsvolk als Träger des inneren bzw. defensiven Selbstbestimmungsrechts anzusehen ist.41 Eine nicht dem Willen des jeweiligen Staatsvolkes entsprechende Umgestaltung der Staatenwelt wäre daher bereits völkerrechtlich nicht zulässig.42 Die Öffnung hin zum Völkerrecht sollte auch kein Selbstzweck sein, sondern der Sicherheit, dem Frieden und dem Fortschritt der Menschheit dienen; Ziele, die sich bereits aus der Präambel der Charta der Vereinten Nationen ableiten lassen.43 Der Einfluss des Völkerrechts auf die nationalen Rechtsordnungen muss nicht weiter gehen, als es zur Erreichung dieser Ziele erforderlich ist – wobei in einer zunehmend globalisierten Welt überstaatliche Koordination notwendigerweise einen immer höheren Stellenwert einnimmt.

B. Völkerrechtsfreundlichkeit im Konfliktfall Um den Bezug zu dem aus unzähligen rechtlichen Wertungen bestehenden Gesamtsystem einer Rechtsordnung nicht zu verlieren, soll nicht nur die Völkerrechtsfreundlichkeit als solche untersucht, sondern eingangs auch ihre potenzielle Kollision mit sonstigen Verfassungswerten44 dargestellt werden. Durch die Einbeziehung der Spannungslage zwischen Völkerrechtsfreundlichkeit und sonstigen 38 IGH, Legal Consequences for States of the Continued Presence of South Africa in Namibia (South West Africa) notwithstanding Security Council Resolution 276 (1970), Advisory Opinion, ICJ Reports 1971, S. 16 (31 f.). 39 Art. 1 IPbpR sowie Art. 1 IPwskR. 40 Thürer/Burri, Rn. 18. 41 UN Doc. E/CN.4/Sub.2/1993/34 vom 10. August 1993, Rn. 81 f.: „The sovereign State should ,possess a Government representing the whole people belonging to the territory without distinction of any kind‘. The word ,people‘ obviously means the whole people, the ,demos‘, not the separate ,ethnoses‘ or religious groups.“ Siehe auch Quaritsch, Rn. 31; Vosgerau, Rn. 13. 42 Vgl. Vosgerau, Rn. 13: „Das defensive Selbstbestimmungsrecht hingegen steht Staatsvölkern zu und richtet sich auf die Erhaltung ihrer Staaten gerade als Ausdruck ihres verwirklichten Selbstbestimmungsrechts.“ 43 Siehe nur: „save succeeding generations from the scourge of war“; „to unite our strength to maintain international peace and security“; „promote social progress and better standards of life in larger freedom“; „promotion of the economic and social advancement of all peoples“. 44 Der Begriff der nationalen „Verfassung“ wird im Folgenden weit verstanden, so dass eine Kodifikation nicht erforderlich ist und insbesondere auch das britische Verfassungsrecht eingeschlossen ist.

B. Völkerrechtsfreundlichkeit im Konfliktfall

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Verfassungswerten ist weder beabsichtigt, die Bedeutung der Völkerrechtsfreundlichkeit in Frage zu stellen, noch zu suggerieren, dass eine Unvereinbarkeit zwischen Völkerrechtsfreundlichkeit und Verfassungsrecht besteht. Vielmehr wird hiermit dem Umstand Rechnung getragen, dass nationale Rechtsanwender insbesondere dann einen Beweggrund zum Bruch völkerrechtlicher Normen haben, wenn diese mit nationalen Verfassungsnormen kollidieren.45 Dies wirft zunächst die Frage auf, wie eine Kollision zwischen dem Völkerrecht und nationalem Recht, insbesondere den verfassungsrechtlichen Vorgaben, entstehen kann. Eine solche Konfliktlage muss nicht auf Unachtsamkeit oder Versäumnissen der für den Staat handelnden Organe beruhen. Zwar kann der Grund für eine bestehende Konfliktlage in der mangelnden Bereitschaft oder Fähigkeit des Staates liegen, sein nationales Recht an die völkerrechtlichen Vorgaben anzupassen. Im Schrifttum sind insofern drei Gründe ausgemacht worden, die für das Entstehen von Kollisionen maßgebend sind: – der Nichterlass völkerrechtlich gebotener innerstaatlicher Rechtsvorschriften, – die Nichtaufhebung völkerrechtswidriger innerstaatlicher Rechtsvorschriften und – der Erlass völkerrechtswidriger innerstaatlicher Rechtsvorschriften.46 Aber auch die Besonderheiten des Völkerrechts können zu einer Konfliktlage führen. So bestehen bei völkerrechtlichen Verträgen teilweise Schwierigkeiten, die Reichweite der jeweiligen Verpflichtungen zu erkennen. Je umfassender der Regelungsgegenstand eines völkerrechtlichen Vertrages ist, desto größer ist die Gefahr eines unerkannten Konfliktes mit nationalem Recht bereits im Zeitpunkt des Vertragsschlusses – einer Unsicherheit, der mit völkerrechtlichen Mitteln wie beispielsweise einem Vorbehalt auch nur begrenzt begegnet werden kann. Es besteht jedoch nicht nur die Gefahr eines anfänglichen Konfliktes zwischen Völkerrecht und nationalem Recht, sondern auch die Möglichkeit einer die Kollision erst hervorrufenden Weiterentwicklung der völkerrechtlichen Verpflichtungen. Insbesondere die dynamische Auslegung völkerrechtlicher Bestimmungen47 kann hierbei zu einer nicht vorhersehbaren Weiterentwicklung der völkerrecht45

Hirsch, Compliance, S. 188. Seidel, S. 119. 47 Zur dynamischen Auslegung siehe folgende Aussagen des IGH, Legal Consequences for States of the Continued Presence of South Africa in Namibia (South West Africa) notwithstanding Security Council Resolution 276 (1970), Advisory Opinion, ICJ Reports 1971, S. 16 (31 f.): „[. . .], an international instrument has to be interpreted and applied within the framework of the entire legal system prevailing at the time of the interpretation. In the domain to which the present proceedings relate, the last fifty years [. . .] have brought important developments. [. . .] In this domain, as elsewhere, the corpus iuris gentium has been considerably enriched, and this the Court, if it is faithfully to discharge its functions, may not ignore.“ 46

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1. Teil: Völkerrechtsfreundlichkeit im Verfassungswertekonflikt

lichen Verpflichtungen führen. Diese Gefahr der nachträglichen Konfliktentstehung durch Fortentwicklungen des Völkerrechts besteht insbesondere dann, wenn es für einen bestimmten Völkerrechtsbereich ein permanentes Vertragsgremium oder ein Gericht mit obligatorischer Zuständigkeit gibt, wie beispielsweise den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Die Einrichtung solcher Gremien stellt jedoch einen wesentlichen Fortschritt auf dem Weg zu einer effektiven Herrschaft des Rechts dar. Die mit ihrer Existenz verbundenen möglichen Konflikte sind am besten dadurch zu bewältigen, dass diese Gremien auf die Akzeptanzfähigkeit ihrer Vertragsfortentwicklungen achten und die nationalen Entscheidungsträger sich ihrerseits im Interesse einer Wahrung der Effektivität des Vertragsregimes dafür offen zeigen. Die Spannungslage, die im Einzelfall zwischen Völkerrechtsfreundlichkeit und sonstigen Verfassungswerten entstehen kann, verdeutlicht der Kadi-Fall in besonders prägnanter Weise.

C. Der Kadi-Fall I. Ausgangslage Die am 18.12.2001 eingegangene Klageschrift von Herrn Kadi brachte das Europäische Gericht48 in eine unangenehme Lage: Zwar ging es der Sache nach bloß um die – vergleichsweise unspektakuläre – Frage nach der Gültigkeit zweier EG-Verordnungen. Allerdings dienten diese der innergemeinschaftlichen Umsetzung der für die Mitgliedstaaten völkerrechtlich verbindlichen Resolution 1267 (1999) des UN-Sicherheitsrates und ihrer Folgeresolutionen, die der Sicherheitsrat in Wahrnehmung seiner Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit auf der Grundlage des VII. Kapitels der UN-Charta erlassen hatte.49 Eine Nichtigkeitserklärung der EG-Verordnungen würde somit weit über die Gemeinschaftsebene hinausgehende Auswirkungen haben.50 Zugespitzt wurde die Situation – insbesondere in Anbetracht der nur wenige Monate zurückliegenden Terroranschläge in den USA – dadurch, dass die Sicherheitsresolutionen der Bekämpfung des internationalen Terrorismus dienten. Dieses Ziel sollte durch sog. smart oder targeted sanctions erreicht werden. Es bestand somit eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen 48

Siehe hierzu EuG, Urt. v. 21.9.2005 – Rs. T 315/01, Slg. 2005-II, S. 3649 – Kadi I. Vgl. von Arnauld, UN-Sanktionen, S. 201: „Pikant ist hieran, dass die angefochtene Regelung dazu dient, ,eins zu eins‘ eine Resolution des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen umzusetzen.“ 50 Kottmann, S. 258, verweist auf folgenden zusätzlichen Aspekt: „Der EuGH ist das höchste Gericht der EU, einer Organisation, die formal nicht einmal Mitglied der UN ist. Sollte dieses Gericht einen richterlichen Frontalangriff auf den Sicherheitsrat üben, den nicht einmal der IGH gewagt hatte?“ 49

C. Der Kadi-Fall

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(Art. 25 UN-Charta), die Finanzmittel einzelner, mutmaßlich Terrornetzwerke finanzierender Personen oder Einrichtungen einzufrieren. Ein mit den Mitgliedern des Sicherheitsrates besetzter Sanktionsausschuss erstellte die Namensliste der Terrorverdächtigen und stützte sich hierbei in der Regel auf Erkenntnisse von Geheimdiensten. Gegen die Aufnahme in diese Liste konnte sich der einzelne Betroffene bis zum Jahr 2006 nur wehren, indem er seinen Heimat- oder Aufenthaltsstaat darum ersuchte, sich für eine Streichung von der Liste (de-listing) einzusetzen, eine Streichung, über die der Sanktionsausschuss nur einstimmig entscheiden konnte.51 Zur Umsetzung dieser Sicherheitsratsresolutionen nahm der Europäische Rat nach Art. 15 EUV einen Gemeinsamen Standpunkt ein. Eine EG-Verordnung auf der Grundlage der Art. 60 EGV, 301 EGV und 308 EGV, die u. a. Herrn Kadi betraf, setzte diesen Gemeinsamen Standpunkt mit unmittelbarer Wirkung in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen anschließend um. Herr Kadi erhob daraufhin nach Art. 230 EGV Nichtigkeitsklage und führte in seiner Klageschrift drei Nichtigkeitsgründe auf, mit denen er eine Verletzung seiner Grundrechte rügte: Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör, Verletzung des Rechts auf Achtung des Eigentums und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und Verletzung des Anspruchs auf eine effektive gerichtliche Kontrolle.52 In dem Verfahren brachte Herr Kadi vor, dass er der schwersten Form kriminellen Verhaltens beschuldigt, sein Ruf ruiniert sowie sein Vermögen auf unbestimmte Zeit und in unbegrenzter Höhe eingefroren worden sei, ohne dass der Rat die ihn betreffenden Beweise geprüft hätte oder ihm die Möglichkeit einräume, gegen das Einfrieren seines Vermögens vorzugehen.53 Die Gemeinschaftsorgane könnten sich durch die Berufung auf die Sicherheitsratsresolutionen nicht ihrer Verantwortung für die Wahrung seiner Grundrechte entziehen.54 Wie sollte das EuG in dieser Situation entscheiden? Die völkerrechtsfreundliche Lösung, eine Aufrechterhaltung der auf den Sicherheitsresolutionen beruhenden EG-Verordnungen unter Berufung auf den Vorrang der Verpflichtungen der Mitgliedstaaten aus der UN-Charta vor den Verpflichtungen aus allen anderen internationalen Übereinkünften (Art. 103 der UN-Charta)55 würde den Kläger 51 Eine geringfügige Verbesserung dieses Verfahrens erfolgte zunächst durch Schaffung der gemeinsamen Anlaufstelle des UN-Sanktionskomitees (focal point) durch die Sicherheitsratsresolution 1730 (2006). Mit der Sicherheitsratsresolution 1904 (2009) wurde die Stelle einer Ombudsperson geschaffen, die Anträge auf de-listing von der aufgrund der Sicherheitsratsresolution 1267 (1999) erstellten Liste unmittelbar von gelisteten Personen entgegennimmt. Siehe hierzu auch die Ausführungen im 3. Teil C. II. 8. b) dd). 52 EuG, Urt. v. 21.9.2005 – Rs. T 315/01, Slg. 2005-II, S. 3649, Rn. 59 – Kadi I. 53 Ebd., Rn. 149. 54 Ebd., Rn. 150. 55 Dieser Vorrang beschränkt sich nicht auf die UN-Charta, sondern umfasst auch aus der UN-Charta abgeleitete Verpflichtungen, insbesondere bindende Sicherheitsrats-

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1. Teil: Völkerrechtsfreundlichkeit im Verfassungswertekonflikt

des effektiven Grundrechtsschutzes berauben. Die völkerrechtsskeptische56 Entscheidung zur Nichtigkeitserklärung der Verordnungen wegen Unvereinbarkeit mit den europäischen Grundrechten könnte unabsehbare internationale Folgen nach sich ziehen. Das Dilemma, in dem sich das Gericht befand, soll im Folgenden näher dargestellt werden.

II. Beispiel einer Kollision von Verfassungswerten Aus dem nationalen Recht sind dem Kadi-Fall entsprechende Kollisionen zwischen Völkerrechtsfreundlichkeit und sonstigen Verfassungswerten bekannt (siehe hierzu 1.). Kollisionen von Verfassungswerten sind nichts Ungewöhnliches: Gegenwärtige Verfassungstexte zeichnen sich strukturell besonders durch eine Aufzählung heterogener, miteinander konfligierender Werte aus, was häufig unmittelbare Konsequenz der kompromissartigen, den unterschiedlichen Anschauungen der Verfassungsgeber geschuldeten Natur vieler Verfassungen ist.57 Nicht alle dieser Wertkonflikte werden von der Verfassung durch Prioritätensetzung oder durch direkte Abwägung gelöst.58 Kollidiert der Verfassungswert der Völkerrechtsfreundlichkeit mit anderen Verfassungswerten, so gewinnt der Konflikt eine zusätzliche, internationale Dimension. Auf Unionsrechtsebene ergeben sich gegenüber dieser nationalen Situation bestimmte Besonderheiten (siehe hierzu 2.); im vorliegenden Fall ist beispielsweise auf den Umstand hinzuweisen, dass die EU selbst nicht an die Sicherheitsratsresolutionen gebunden ist, ihre Mitgliedstaaten als UN-Mitglieder gem. Art. 103 UN-Charta aber verpflichtet sind, den Vorrang der UN-Charta, einschließlich ihrer Verpflichtungen aus Sicherheitsratsresolutionen, vor dem Unionsrecht zu wahren.59 Entsprechend der nationalen Situation lässt sich der Kadi-Fall als Kollision zweier zentraler Werte des Unionsrechts (früher: Gemeinschaftsrechts) verstehen, bei der die Völkerrechtsfreundlichkeit für eine Aufrechterhaltung der EG-Verordnungen, die Grundrechte für eine Nichtigkeitserklärung derselben streiten.60 Bei einer entsprechenden Betrachtungsweise zeigt sich jedoch, dass weite-

resolutionen, siehe Paulus/Leiß, Art. 103, Rn. 38: „Strictly speaking, the secondary rules are not covered directly by Art. 103 but through the obligation under Art. 25 to comply with the decision of the Security Council in accordance with primary Charter Law. By Art. 103, the obligation under Art. 25 in turn prevails over any other rights and commitments under international law.“ Da die EU durch die Sicherheitsratsresolutionen nicht völkerrechtlich gebunden ist, gilt diese Vorrangwirkung nur für die EU-Mitgliedstaaten, nicht aber für die EU. 56 Für eine Definition dieses Begriffs siehe 2. Teil D. I. 6. b) aa). 57 d’Atena, S. 311. 58 d’Atena, S. 312 f. 59 Siehe hierzu Paulus/Leiß, Art. 103, Rn. 59–65. 60 So auch Eeckhout, EC Law, S. 112.

C. Der Kadi-Fall

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rer Forschungsbedarf hinsichtlich der Völkerrechtsfreundlichkeit des Unionsrechts besteht (siehe hierzu 3.). 1. Kollision von Verfassungswerten im nationalen Recht Ein Beispiel aus der deutschen Rechtsprechung für die Kollision von Verfassungswerten ist der das Sorge- und Umgangsrecht eines nichtehelichen Vaters betreffende Fall Görgülü, mit dem sich das zuständige Amtsgericht und Oberlandesgericht sowie das BVerfG und der EGMR beschäftigen mussten. Nach Rechtsauffassung des EGMR lag hierbei in der Verweigerung des Sorge- und Umgangsrechts für den Vater des nichtehelichen Kindes ein Verstoß gegen Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens).61 Das BVerfG führte wiederum in seinem Görgülü-Beschluss aus, dass die EMRK-Gewährleistungen kein unmittelbarer verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab seien, die EMRK und die Rechtsprechung des EGMR aber als Auslegungshilfe im Bereich der Grundrechte dienten, sofern dies nicht zu einer Minderung des Grundrechtsschutzes nach dem Grundgesetz führe.62 Folgende in der Literatur als völkerrechtsskeptisch bezeichnete 63 Aussage des BVerfG verdeutlicht den potenziellen Konflikt zwischen Völkerrechtsfreundlichkeit und sonstigen Verfassungsnormen, indem sie die Bedeutung der Völkerrechtsfreundlichkeit hervorhebt, zugleich aber auch ihre Grenzen – tragende Grundsätze der Verfassung – benennt: „Das Grundgesetz erstrebt die Einfügung Deutschlands in die Rechtsgemeinschaft friedlicher und freiheitlicher Staaten, verzichtet aber nicht auf die in dem letzten Wort der deutschen Verfassung liegende Souveränität. Insofern widerspricht es nicht dem Ziel der Völkerrechtsfreundlichkeit, wenn der Gesetzgeber ausnahmsweise Völkervertragsrecht nicht beachtet, sofern nur auf diese Weise ein Verstoß gegen tragende Grundsätze der Verfassung abzuwenden ist.“ 64 Während somit auf nationaler Ebene Konflikte zwischen Völkerrechtsfreundlichkeit und sonstigen Verfassungswerten bestehen können, stellen sich zusätzliche Fragen, sobald die supranationale Ebene – in diesem Fall die Unionsrechtsebene – betroffen ist. In erster Linie ist hier zu klären, ob die Unionsrechtsordnung eine autonome, vom allgemeinen Völkerrecht abgegrenzte Rechtsordnung darstellt (siehe hierzu 2.). Erst danach kann untersucht werden, ob Grundrechte und Völkerrechtsfreundlichkeit tatsächlich Werte dieser Verfassung darstellen (siehe hierzu 3.).

61

EGMR, Urt. v. 26.2.2004 – Nr. 74969/01, NJW 2004, S. 3397, Nr. 47, 51 – Gör-

gülü. 62 63 64

BVerfGE 111, 307 (317) – Görgülü. Siehe Röben, S. 143 m.w. N. BVerfGE 111, 307 (319) – Görgülü.

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1. Teil: Völkerrechtsfreundlichkeit im Verfassungswertekonflikt

2. Besonderheiten auf Unionsrechtsebene: Die Unionsrechtsordnung als eine nach eigenen Grundsätzen auszulegende Rechtsordnung Das Unionsrecht kann nur auf seine Völkerrechtsfreundlichkeit analysiert werden, wenn es ein nicht nach allgemeinem Völkerrecht, sondern nach eigenen Grundsätzen auszulegendes Rechtssystem darstellt. Nur wenn das Unionsrecht ein gegenüber dem Völkerrecht hinreichend eigenständiges Rechtssystem ist, stellt sich die Frage nach dem Umgang dieses Rechtssystems mit völkerrechtlichen Normen. Anderenfalls ließe sich ein Konflikt zwischen einer unionsrechtlichen Norm und einer völkerrechtlichen Norm nach den – teilweise in der WVK niedergelegten – Regeln des allgemeinen Völkerrechts auflösen.65 Die verschiedenen Mechanismen zur Auflösung von Widersprüchen zwischen zwei völkerrechtlichen Normen sind ausführlich untersucht wurden; zu verweisen ist hier insbesondere auf die Untersuchung der ILC aus dem Jahre 2006 zur Fragmentierung der Rechtsordnung.66 Auf die kontrovers diskutierte Frage, ob das Gemeinschaftsrecht bzw. Unionsrecht seine völkerrechtliche Natur verloren hat,67 kommt es im Rahmen dieser Arbeit jedoch nicht an. Auch wenn das Unionsrecht lediglich eine besondere Rechtsordnung des Völkerrechts darstellen sollte (so noch das Urteil Van Gend & Loos des EuGH von 196368), kann dieses Rechtsystem auf seine Freundlichkeit gegenüber dem außerhalb dieser Rechtsordnung stehenden Völkerrecht untersucht werden,69 denn es genießt eine relative Autonomie70 gegenüber dem 65

Bspw. Art. 30, 31 Abs. 3 WVK. ILC, Conclusions of the work of the Study Group on the Fragmentation of International Law: Difficulties arising from the Diversification and Expansion of International Law. Dieses Dokument und die dazu gehörige analytische Studie (A/CN.4/L.682 and Corr.1) sind abrufbar unter http://legal.un.org/ilc/texts/1_9.shtml. In ihren von der ILC angenommenen Schlussfolgerungen (2)–(4) stellte die Study Group fest, dass völkerrechtliche Normen, die in Bezug auf eine Situation sowohl anwendbar als auch gültig sind, im Wesentlichen in einer „Interpretationsbeziehung“ (relationship of interpretation) oder in einer „Konfliktbeziehung“ (relationship of conflict) zueinander stehen können. Im ersten Fall würden beide Normen gleichzeitig angewandt, im zweiten Fall müsste eine Wahl zwischen den Normen getroffen werden. Bei der Feststellung der Beziehung zwischen Normen seien die Regeln der WVK sowie das Prinzip der Harmonisierung („when several norms bear on a single issue they should, to the extent possible, be interpreted so as to give rise to a single set of compatible obligations“) zu beachten. Die ILC beleuchtete in ihren Schlussfolgerungen die Maxime lex specialis derogat legi generali ([5]–[10]), das „self-contained regime“ als lex specialis ([11]–[16]), Art. 31 (3) (c) WVK ([17]–[23]), Konflikte zwischen zeitlich sukzessiven Normen ([24]–[30]) sowie die Hierarchie im Völkerrecht, d.h. ius cogens, erga omnes-Verpflichtungen und Art. 103 der UN-Charter ([31]–[42]). 67 Dies entspricht der überwiegenden Meinung in der Literatur und der ständigen Rechtsprechung des EuGH, siehe die Nachweise bei Wünschmann, S. 52, Fn. 20 f. 68 EuGH, Urt. v. 5.2.1963 – Rs. 26/62, Slg. 1963, S. 3 (25) – Van Gend & Loos. 69 Beispielsweise kann die EMRK im Lichte des sonstigen Völkerrechts interpretiert und die Rechtsprechung des EGMR auf ihre Völkerrechtsfreundlichkeit untersucht werden. Siehe hierzu den Beitrag von Nordeide. 66

C. Der Kadi-Fall

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Völkerrecht: Im Unterschied zu einem „herkömmlichen“ völkerrechtlichen Vertrag, der lediglich gegenseitige Verpflichtungen zwischen den Vertragsstaaten schafft, werden durch den EWG-Vertrag auch Individuen berechtigt und verpflichtet.71 In seinem wegweisenden Urteil Van Gend & Loos führte der EuGH daher erst- und einmalig aus, dass der EWG-Vertrag eine neue Rechtsordnung des Völkerrechts geschaffen habe72 und bezeichnete diese in späteren Urteilen noch weitgehender als „eigenständige Rechtsordnung“.73 Das umstrittene EMRKGutachten des EuGH 2/94 enthielt die Formulierung: „Autonomie, über die das Unionsrecht im Verhältnis zum Recht der Mitgliedstaaten sowie zum Völkerrecht verfügt“.74 Von einer Eigenständigkeit des Gemeinschafts- bzw. Unionsrechts – ob als Unterrechtsordnung des Völkerrechts oder als eine neben der Völkerrechtsordnung stehende Rechtsordnung – ist in Anbetracht ihrer Besonderheiten somit auszugehen.75 Dieser eine Eigenständigkeit des Gemeinschafts- bzw. Unionsrechts bejahenden Betrachtungsweise entspricht auch, dass der EuGH in dem sehr viel jüngeren Kadi-Urteil von der Beziehung zwischen „der durch die Vereinten Nationen entstandenen Völkerrechtsordnung und der Gemeinschaftsrechtsordnung“ spricht,76 d.h. von zwei voneinander zu unterscheidenden Rechtsordnungen.

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Zur relativen Autonomie des Unionsrechts siehe de Witte, S. 142. EuGH, Urt. v. 5.2.1963 – Rs. 26/62, Slg. 1963, S. 3 (24 f.) – Van Gend & Loos. 72 Ebd., S. 25. 73 Siehe nur: EuGH, Urt. v. 13.12.1968 – Rs. 14/68, Slg. 1969, S. 1 (Rn. 6: „Der EWG-Vertrag hat eine eigenständige Rechtsordnung geschaffen, die in die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten aufgenommen worden und von ihren Gerichten anzuwenden ist.“) – Wilhelm v. Bundeskartellamt. Auch das BVerfG hat die Zuordnung des EU-Rechts zum Völkerrecht im Lissabon-Urteil nicht wiederholt (BVerfGE 123, 267 [271] – Lissabon: „Der Vertrag von Lissabon ist – wie die Einheitliche Europäische Akte sowie die Verträge von Maastricht, Amsterdam und Nizza – ein völkerrechtlicher Änderungsvertrag.“). In seinen Entscheidungen zum Europäischen Stabilitätsmechanismus und zum Europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus ist das BVerfG in dieser Hinsicht deutlich zurückhaltender geworden (siehe beispielsweise BVerfGE 129, 124 [169]: „vergleichbare völkervertraglich eingegangene Bindungen, die im institutionellen Zusammenhang mit der supranationalen Union stehen“; [175]: „der zwischen Völkervertragsrecht und supranationalem Recht bestehenden Unterschiede“ sowie BVerfGE 132, 195 [Rn. 107]: „System intergouvernementalen Regierens“, „internationale und europäische Verbindlichkeiten“; [Rn. 109]: „intergouvernemental oder supranational vereinbarten [. . .] Bürgschafts- oder Leistungsautomatismus“; [Rn. 119]: „Übertragung wesentlicher haushaltspolitischer Entscheidungen auf Organe einer supra- oder internationalen Organisation, oder die Übernahme entsprechender völkerrechtlicher Verpflichtungen“). 74 EuGH, Gutachten v. 18.12.2014 – Gutachten 2/13, Rn. 170 – EMRK II. 75 Busse, S. 68 f. Zur genaueren Einordnung siehe die Darstellung des völkerrechtlichen und des verfassungsrechtlichen Grundansatzes bei Giegerich, Konstitutionalisierungsprozeß, S. 617–620 m.w. N. 76 EuGH, Urt. v. 3.9.2008 – Rs. C-402/05 P, Slg. 2008-I, S. 6351, Rn. 280, 290 – Kadi I. 71

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1. Teil: Völkerrechtsfreundlichkeit im Verfassungswertekonflikt

3. Grundrechte und Völkerrechtsfreundlichkeit als europäische Verfassungswerte a) Werte im europäischen Verfassungsrecht Die europäische Verfassung77 wird immer häufiger als „Wertordnung“ oder „Wertsystem“ qualifiziert.78 Dahinter steht der Gedanke, dass Europa keine bloß wirtschaftliche Zweckeinheit, sondern eine politische und geistige Gemeinschaft darstellt.79 In Anbetracht der Betonung der europäischen Werte im Primärrecht ist eine solche Einschätzung zutreffend: Bereits die Präambel des EUV enthält den Verweis auf „Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte“. Ein ausdrücklicher Wertekatalog findet sich in Art. 2 EUV; in Art. 3 Abs. 1 EUV wird deren Förderung zu einem der Ziele der Union erhoben. Art. 3 Abs. 5 EUV legt schließlich fest, dass die Union diese Werte auch in ihren Beziehungen zur übrigen Welt schützt und fördert. Werte bestimmen Interessen und Ziele des handelnden Subjekts, wobei das Handeln typischerweise nicht der gleichzeitigen Durchsetzung aller, sondern nur der Verwirklichung bestimmter Werte dient, und Rückwirkungen auf die übrigen Werte und Interessen haben kann.80 Für die Europäische Union sind ihre Werte in zweierlei Richtung relevant: Es gilt, im Binnenbereich die Verfassungswerte Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu schützen, und im Außenbereich die für universell gültig gehaltenen Verfassungswerte zu projizieren, zu verbreiten und durchzusetzen.81 Im Hinblick auf den Schutz der Werte im Binnenbereich ist anzumerken, dass Art. 7 EUV für den Fall einer schwerwiegenden Verletzung der Werte der Union ein Sanktionsverfahren vorsieht. Gemäß Art. 49 EUV ist die

77 von Bogdandy, Grundprinzipien, S. 15 ist der Ansicht, dass die Verwendung der Bezeichnung „Verfassung“ für die Gründungsverträge der europäischen Union nicht zuletzt angesichts des Scheiterns des Vertrags über eine Verfassung für Europa einer Begründung bedarf. Da die Gründungsverträge die verfassungstypischen Inhaltskategorien – Regeln über Organe, Kompetenzen, Stellung der Einzelnen sowie Wert- und Zielbestimmungen – enthalten und in unterschiedlichem Maße die herkömmlichen Verfassungsfunktionen u. a. der Machtbegrenzung und Organisation erfüllen (siehe hierzu Peters, Verfassung Europas, S. 92), erscheint es vertretbar, sie im Rahmen dieser Arbeit als europäische Verfassung zu bezeichnen. Zudem hat der EuGH bereits 1986 den EGVertrag als die Verfassungsurkunde der Gemeinschaft bezeichnet (EuGH, Urt. v. 23.4. 1986 – Rs. 294/83, Slg. 1986, S. 1339, Rn. 23 – Parti Ecologiste ,Les Verts‘). Auch in der Literatur wird der Begriff „Verfassung“ für die (einzelnen) Gründungsverträge verwendet, siehe hierzu Peters, Verfassung Europas, S. 29 m.w. N. Zur Diskussion um die europäische Konstitutionalisierung siehe beispielsweise Wessel, S. 160–162. 78 Rensmann, Wertordnung, S. 329 m.w. N. 79 Peters, Verfassung Europas, S. 81. Di Fabio, Verfassungsstaat, S. 72, weist darauf hin, dass moderne Gesellschaften gemeinsame Werte betonen, um einen Konsens über die eigene Identität herzustellen. 80 Bleckmann, Völkerrechtslehre, S. 2. 81 Giegerich, Konstitutionalisierungsprozeß, S. 1089.

D. Erhoffter Erkenntnisgewinn und Gang der Untersuchung

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Achtung der in Art. 2 EUV genannten Werte auch Voraussetzung für den Beitritt zur Union. b) Grundrechte Die Bedeutung der Grundrechte für die europäische Verfassung ergibt sich nach der für den Kadi-Fall maßgeblichen Rechtslage aus Art. 6 Abs. 2 EUV a. F. (Art. 6 Abs. 3 EUV n. F.), wonach die Grundrechte, wie sie in der EMRK gewährleistet sind und sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts darstellen. Der Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtschutzes folgt aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen, ist in Art. 6 und Art. 13 EMRK verankert und in Art. 47 der Grundrechtecharta bekräftigt worden und stellt somit einen allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts dar.82 Auch das Eigentumsrecht gehört zu den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts, kann jedoch Beschränkungen unterworfen werden, sofern diese dem Gemeinwohl dienenden Zielen der Gemeinschaft entsprechen und nicht unverhältnismäßig sind oder das Recht in seinem Wesensgehalt antasten.83 c) Forschungsbedarf bezüglich der Völkerrechtsfreundlichkeit Schwieriger zu beantworten ist die Frage, ob auch die Völkerrechtsfreundlichkeit einen solchen Wert der europäischen Verfassung darstellt. Hierfür lassen sich insbesondere Art. 216 Abs. 2 und Art. 351 AEUV anführen, die Vorschriften über die Unionsabkommen und mitgliedstaatlichen Altverträge enthalten. In der Literatur wird daher auch – insbesondere von deutschen Autoren – von der Völkerrechtsfreundlichkeit des Unionsrechts bzw. Gemeinschaftsrechts gesprochen.84 Eine ausführlichere Untersuchung des Unionsrechts auf seine Völkerrechtsfreundlichkeit und internationale Offenheit fehlt jedoch.

D. Erhoffter Erkenntnisgewinn und Gang der Untersuchung Durch die vorliegende Arbeit soll die genannte Forschungslücke geschlossen werden. Eine Untersuchung der Völkerrechtsfreundlichkeit und der internationa82

EuGH, Urt. v. 3.9.2008 – Rs. C-402/05 P, Slg. 2008-I, S. 6351, Rn. 335 – Kadi I. Ebd. 84 Beispielsweise Everling, S. 179 f.; Giegerich, Konstitutionalisierungsprozeß, S. 639 f.; Hilpold, GATT/WTO, S. 16; Terhechte, Prinzipienordnung, Rn. 62; Tomuschat, Art. 281 EGV, Rn. 65 m.w. N.; Pernice, Art. 25 GG, Rn. 8, demzufolge „zahlreiche primärrechtliche Zielvorgaben für das Handeln der Gemeinschaft und die Praxis positiv erkennen [lassen], daß der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit auch im Gemeinschaftsrecht gilt.“ 83

34

1. Teil: Völkerrechtsfreundlichkeit im Verfassungswertekonflikt

len Offenheit85 des Unionsrechts fügt den vorhandenen Perspektiven über die vielfältigen Interaktionen zwischen Unionsrecht und Völkerrecht eine weitere hinzu. Die durch die vorliegende Arbeit erhofften Erkenntnisse beschränken sich hierauf aber nicht: Die einschlägige – überwiegend deutsche – Literatur hat sich, soweit ersichtlich, bisher der Völkerrechtsfreundlichkeit und internationalen Offenheit im Konkreten gewidmet. Überlegungen zur Völkerrechtsfreundlichkeit und internationalen Offenheit einer Rechtsordnung waren hierbei in der Regel direkt auf die jeweils untersuchte Rechtsordnung gemünzt und teils untrennbar mit ihr verbunden. Dieses konkrete Vorgehen rechtfertigte sich dadurch, dass die gewonnenen Erkenntnisse, da auf konkrete Normen bezogen, eine größere unmittelbare Praxisrelevanz besitzen. Zudem dürften sich diese Begriffe erst allmählich – und gerade auch dank dieser Beiträge der Literatur – in der deutschen Verfassungsdebatte etabliert haben. In der Literatur sind diese Konzepte, wie die nachfolgenden Beispiele zeigen, vereinzelt auf andere Rechtsordnungenübertragen bzw. diskutiert worden:86 – „Die Begriffe Offenheit vor dem Völkerrecht und Völkerrechtsfreundlichkeit fanden keinen Eingang in den Wortlaut der portugiesischen Verfassung. Man kann auch nicht gerade behaupten, daß sie allgemein anerkannte begriffliche Kategorien der portugiesischen Völkerrechtslehre darstellten. Sowohl der Begriff der Offenheit als auch der Begriff der Freundlichkeit werfen somit in Portugal dieselben Fragen auf, die auch im deutschen Schrifttum erörtert worden sind.“ 87 – „Völkerrechtsfreundlichkeit und Völkerrechtsskepsis sind keine gängigen Begriffe der österreichischen Verfassungsrechtslehre und noch weniger solche des positiven Verfassungsrechts. Aber natürlich lässt sich auch das österreichische Bundesverfassungsrecht auf die mit diesen Begriffen angesprochenen Inhalte abfragen. [. . .] das Ergebnis erscheint ambivalent.“ 88 – „For Australian lawyers, the German example could pose a challenge to think critically about the domestic/international law interface. Völkerrechtsfreundlichkeit offers one way of building such a critical approach.“ 89 Insbesondere in der schweizerischen Rechtsordnung werden diese Konzepte basierend auf dem Text der Bundesverfassung sowie der Praxis der Rechtsanwen-

85

Siehe zu diesem Begriff 2. Teil A. I. Vgl. auch die umfangreiche Untersuchung von Mahulena Hofmann zur Öffnung ausgewählter Staaten Mittel- und Osteuropas für das Völker- und Europarecht. 87 Gomes Canotilho, S. 47. Siehe zur portugiesischen Verfassung auch de Quadros, S. 47: „Die zweite Materie, in der das GG vom portugiesischen Verfassungsgeber als Bezugspunkt genommen wurde, war die der internationalen Offenheit der Verfassung.“ 88 Öhlinger, S. 367. 89 Lovric, S. 104. 86

D. Erhoffter Erkenntnisgewinn und Gang der Untersuchung

35

der in der Literatur erörtert:90 So ist die Rede von den „verfassungsrechtlichen Bekenntnissen zur Völkerrechtsfreundlichkeit (Art. 2 Abs. 4, Art. 5 Abs. 4, Art. 54 Abs. 2, Art. 139 Abs. 3, Art. 189 Abs. 1 Bst. b, Art. 193 Abs. 4 oder Art. 194 Abs. 2)“.91 Ebenso wird in der Literatur für die Anerkennung eines Verfassungsprinzips des weltoffenen und kooperativen Verfassungsstaates plädiert.92 Da letztlich jede Rechtsordnung auf ihre Völkerrechtsfreundlichkeit untersucht werden kann, dies aber bisher nur in wenigen Fällen erfolgt ist, wurde die gewählte Fragestellung zum Anlass genommen, in einem abstrakten Teil – soweit ersichtlich erstmalig93 – möglichst verallgemeinerungsfähige Überlegungen zur Völkerrechtsfreundlichkeit und internationalen Offenheit einer Rechtsordnung zu formulieren. Vor dem Hintergrund des erreichten Kenntnisstandes bietet es sich an, ein entsprechendes Modell der Völkerrechtsfreundlichkeit und internationalen Offenheit zu entwickeln. Ein solches Vorgehen, für das diese Arbeit erste Ansätze bieten soll, hat den Vorteil einer gewissen Allgemeingültigkeit, was zu einer stärkeren Berücksichtigung dieser Konzepte in anderen Rechtsordnungen führen könnte. Dies wäre insofern wünschenswert, als diese Begriffe den Zugang zu den durch sie beschriebenen komplexen juristischen Fragestellungen und Lösungen erleichtern. Der Erkenntnisgewinn der Untersuchung einer Rechtsordnung auf ihre „Völkerrechtsfreundlichkeit“ ergibt sich daraus, dass dieser Begriff verschiedene Aspekte unter einer gemeinsamen Bezeichnung vereint und so die Grundhaltung einer Rechtsordnung treffend beschreibt. Dies kann wiederum zu einer Vertiefung des Verständnisses über den Einfluss völkerrechtlicher Normen auf die jeweilige Rechtsordnung beitragen. Dasselbe gilt für den ebenfalls gebräuchlichen, aber von der Völkerrechtsfreundlichkeit zu unterscheidenden94 Begriff der inter90 Siehe Breitenmoser, S. 339 m.w. N.: „In der schweizerischen Rechtspraxis wird ein Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit noch nicht ausdrücklich anerkannt. Im Schrifttum hingegen wird der Begriff der Völkerrechtsfreundlichkeit sowohl im Zusammenhang mit der völkerrechtsfreundlichen Praxis der rechtsanwendenden Behörden und Gerichte verwendet, die sich v. a. in der völkerrechtskonformen Auslegung nationalen Rechts manifestiert, als auch zur Umschreibung der allgemeinen Grundhaltung der Bundesverfassung.“ 91 Hangartner/Looser, Art. 190, Rn. 35. 92 Rhinow, S. 39, 41 f. 93 Eine gewisse Verwandtschaft zu den vorliegend entwickelten Konzepten weist der von Häberle entwickelte kooperative Verfassungsstaat auf, siehe hierzu die Darstellung unter 2. Teil C. II. b). Daneben findet sich bei Sommermann, S. 239–252, eine abstrakte Aufzählung von Staatszielen des modernen Verfassungsstaates, zu denen neben Sozialund Kulturstaatlichkeit u. a. auch die „Friedensstaatlichkeit“ gehört. Ausgedrückt wird die Friedensstaatlichkeit laut Sommermann durch den Ausschluss des Krieges als Mittel der Politik, der Förderung von Systemen kollektiver Sicherheit, Völkerrechtsfreundlichkeit, Menschenrechtsfreundlichkeit, Integrationsfreundlichkeit und Entwicklungshilfe/ internationale Solidarität. 94 Siehe 2. Teil A.

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1. Teil: Völkerrechtsfreundlichkeit im Verfassungswertekonflikt

nationalen Offenheit. Nachdem in der Einleitung die Fragestellung aus Anschauungszwecken auf die Spannungslage zwischen Völkerrechtsfreundlichkeit und sonstigen Verfassungswerten verengt worden ist, wird im Folgenden daher auch auf die internationale Offenheit eingegangen. Die Untersuchung der internationalen Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit des Unionsrechts gliedert sich in mehrere Teile. Der zweite Teil der Arbeit dient der Klärung allgemeiner Fragen zu den Konzepten der internationalen Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit, u. a. auch der wichtigen Abgrenzung zwischen diesen beiden Begriffen. Der dritte Teil verdeutlicht die Verallgemeinerungsfähigkeit dieser Überlegungen, indem er nicht die internationale Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit einer nationalen Rechtsordnung, sondern die des Unionsrechts untersucht. Die Verlagerung dieser Frage auf die supranationale Ebene trägt der gestiegenen Bedeutung der Europäischen Union – als Paradebeispiel eines neuen Typus der internationalen Organisation – auf völkerrechtlicher Ebene Rechnung.95 Es erscheint als interessante Randnotiz zu der vorliegenden Untersuchung, dass die Unionsrechtsordnung ihre Existenz selbst dem Völkerrecht verdankt,96 sie inzwischen aber gegenüber dem allgemeinen Völkerrecht eine derartige Verdichtung und Verrechtlichung erfahren hat, dass nunmehr eine vergleichbaren nationalen Fragestellungen nachempfundene Untersuchung ihrer internationalen Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit erfolgen kann. Dies verdeutlicht die Dynamik, die das inter- und supranationale Recht jedenfalls in Teilbereichen entwickelt. Schließlich folgt im vierten Teil ein Ausblick auf Entwicklungsmöglichkeiten der Konzepte der internationalen Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit und im fünften Teil eine deutsch- und englischsprachige Zusammenfassung.

95 In den Worten von Di Fabio, Recht, S. 139: „Als Objekt theoretischer Durchdringung bietet sich die Europäische Union wie kein zweites an. Zum ersten Mal in der Geschichte gehen höchst heterogene, traditionsreiche Nationalstaaten eine immer enger geknüpfte Verbindung ein, verschmelzen ihre Hoheitsrechte, verdecken ihre Souveränität, indem sie sie verbinden, werden Schicksalsgemeinschaft.“ 96 Ungeachtet späterer Entwicklungen erfolgte die Gründung der EWG selbst durch einen völkerrechtlichen Vertrag.

2. Teil

Die Konzepte der internationalen Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit einer Rechtsordnung Die immer stärkere Interdependenz von Staaten führt insbesondere im Bereich des Wirtschaftsrechts, bei den Menschenrechten und bei der Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen zu einer zunehmenden Prägung der nationalen Verfassung durch internationale Vorgaben.1 Es kommt somit zu einer „Internationalisierung der Verfassung“ 2, zur „Überstaatlichkeit“ 3 bzw. es entsteht eine „völkerrechtliche Nebenverfassung“ 4. Die Erkenntnis der wachsenden Bedeutung der internationalen Kooperation und ihrer Auswirkungen auf die innerstaatliche Rechtsordnung führt zu der Frage, unter welchen Voraussetzungen eine nationale Verfassung als international offen bzw. völkerrechtsfreundlich erscheint.

A. Begriffsklärung Die Begriffe Völkerrechtsfreundlichkeit und internationale Offenheit der Verfassung werden teilweise als austauschbar betrachtet.5 Die Völkerrechtsfreundlichkeit umfasst jedoch – begrifflich zwingend – lediglich die rechtlichen Aspekte internationaler Zusammenarbeit,6 während die internationale Offenheit der Verfassung eine solche Begrenzung gerade nicht voraussetzt.7 Eine Abgrenzung der beiden Begriffe ist daher erforderlich.

I. Internationale Offenheit Beide Bestandteile des Begriffes – „international“ und „Offenheit“ – legen ein weites Verständnis nahe: 1

Keller, S. 4 f. Everling, S. 179 m.w. N. 3 Schorkopf, Grundgesetz, S. 243, demzufolge die Überstaatlichkeit sich zwischen den Polen universaler Weltorganisation und partikularer Selbstgenügsamkeit konkretisiert. 4 Tomuschat, Verfassungsstaat, S. 52. 5 Bleckmann, Völkerrechtsfreundlichkeit, S. 317. Kritisch Tomuschat, Internationale Offenheit, Rn. 9. 6 Tomuschat, Internationale Offenheit, Rn. 9; Kunig, Verwaltungshandeln, S. 536. 7 Vgl. Kment, S. 165 f., der darauf hinweist, dass über die konkrete Qualität der offenen Staatlichkeit bisher noch keine Einigkeit besteht. 2

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2. Teil: Internationale Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit

„International“ (lat. inter, zwischen und natio, Volk oder Volksstamm) bezeichnet den Wirkungsradius, auf den sich die Offenheit der Verfassung bezieht. Das Wort signalisiert, dass die Verfassung zwischenstaatlichem Recht und zwischenstaatlicher Politik grundsätzlich positiv gegenübersteht. Im Gegensatz zur „Völkerrechtsfreundlichkeit“, die sich lediglich auf das „Völkerrecht“ bezieht, geht die internationale Offenheit über die völkerrechtlichen Verpflichtungen hinaus. Daher kann sie auch die im Rahmen dieser Untersuchung ausgeklammerten Bereiche des soft law8, der Courtoisie sowie die insbesondere im Bereich des internationalen Privatrechts und der zwischenstaatlichen Rechtshilfe9 relevante Achtung ausländischer Rechtsordnungen umfassen. „Offenheit“ deutet auf eine Durchlässigkeit der Verfassung gegenüber äußeren Einflüssen hin. Sie beschreibt das „spezifische Inbeziehungstehen von Regelungsinhalten eines Rechtserzeugungszusammenhangs mit jenen eines anderen Rechtserzeugungzusammenhangs.“ 10 Damit steht „Offenheit“ im Gegensatz zum „Selbstand“, der die Autonomie einer Norm oder Normenfamilie beschreibt.11 Der Grad der Offenheit einer Verfassung hängt dabei entscheidend von dem Maße ab, in dem sie bereit ist, völkerrechtliche bzw. überstaatliche Vorgaben in sich aufzunehmen.12 Offene Staatlichkeit bedeutet darüber hinaus auch eine Abkehr von der Aufgabenallzuständigkeit des Staates13 sowie eine „Eingliederung in den Ordnungsrahmen der internationalen Gemeinschaft“ anstatt des Beharrens auf ausschließlicher staatlicher Souveränität.14 Dies kann so weit gehen, dass eine „völkerrechtliche Nebenverfassung“ entsteht.15 8 Dies erfasst zum Beispiel nicht-ratifizierte Verträge sowie nicht völkerrechtlich bindende Entschließungen von völkerrechtlichen Organisationen, siehe Heintschel von Heinegg, Soft Law, Rn. 20. Grundsätzliche Kritik an diesem Begriff üben beispielsweise Fischer-Lesacano/Liste, S. 222. Auch Heintschel von Heinegg, Soft Law, Rn. 22, äußert „Bedenken“ an diesem Begriff, bei dem es sich „eben nicht um Recht handelt“. Ihm könne „allenfalls Bedeutung für eine ex post-Betrachtung zukommen, indem er die Entstehungsphase von Normen des Völkergewohnheitsrechts zu erklären hilft.“ Die Schwierigkeiten, die dieser Begriff aufwirft, rechtfertigen es, ihn im Rahmen dieser Untersuchung auszuklammern. 9 Siehe Schorkopf, Grundgesetz, S. 94, zur Definition der Rechtshilfe: „Es wird einem ausländischen Hoheitsakt Rechtswirkung auf dem eigenen Territorium gegeben – ein Vorgang, der aus staats- und verfassungstheoretischer Sicht begründungsbedürftig ist.“ Als wesentliche Motivation für diese Form der staatlichen Zusammenarbeit nennt Schorkopf den Gedanken der Gegenseitigkeit. 10 Jestaedt, Rn. 53. 11 Jestaedt, Rn. 2. 12 Hobe, Verfassungsstaat, S. 138. 13 Hobe, Verfassungsstaat, S. 409. 14 Tomuschat, Internationale Offenheit, Rn. 9. 15 Vgl. Tomuschat, Verfassungsstaat, S. 51 f., der die die Bundesrepublik Deutschland bindenden Abkommen UN-Charta, EMRK, Europäische Sozialcharta, IPbpR und IPwskR als „völkerrechtliche Nebenverfassung“ der Bundesrepublik Deutschland bezeichnet. Tomuschat begründet dies damit, dass es sich bei diesen Verträgen um Ord-

A. Begriffsklärung

39

Darüber hinaus stellt die Verfassung eines offenen Verfassungsstaates nicht das einzige Instrument zur Schaffung einer nationalen Identität und zur Regelung des Gemeinwesens dar.16 Die internationale Offenheit der Verfassung kann sich auch auf die „Attitüde“ eines Staates gegenüber der internationalen Staatengemeinschaft und den völkerrechtlichen Werten als solche beziehen, so wie diese im Verfassungstext zum Ausdruck kommt.17 Diese „Attitüde“ ist international offen, wenn sie das Völkerrecht als materiellen Maßstab der Verfassungsgerechtigkeit einschließt.18 Ein Staat mit einer in diesem Sinne international offenen Verfassung kann als offener Verfassungsstaat bezeichnet werden.

II. Völkerrechtsfreundlichkeit „Völkerrechtsfreundlichkeit“ ist enger zu verstehen als „internationale Offenheit“. Die Freundlichkeit bezieht sich nicht auf die internationale Zusammenarbeit als solche, sondern nur auf den Teil dieser Zusammenarbeit, der positives Recht, d.h. „Völkerrecht“ darstellt. Im Allgemeinen wird unter Völkerrecht zwar das unter Staaten bzw. anderen Völkerrechtssubjekten geltende Recht verstanden.19 Allerdings bezieht sich die „Völkerrechtsfreundlichkeit“ einer Verfassung nicht auf das gesamte Völkerrecht und damit nicht auf das ausschließlich zwischen anderen Völkerrechtssubjekten geltende Völkerrecht. Als Begriff der nationalen Rechtsordnung umfasst die Völkerrechtsfreundlichkeit vielmehr nur den Teil dieses internationalen Rechtskorpus, der einen Bezug zu dem jeweiligen Staat aufweist, d.h. die in Kraft getretenen völkerrechtlichen Verträge des Staates, das ihn bindende allgemeine und partikuläre Völkergewohnheitsrecht sowie die allgemeinen Rechtsgrundsätze. Bei atypischen, nicht auf eine nationale Rechtsordnung bezogenen Untersuchungen der Völkerrechtsfreundlichkeit muss diese Definition freilich erweitert werden, wie am Beispiel der Unionsrechtsordnung verdeutlicht werden soll: Da die Europäische Union ein Völkerrechtssubjekt ist,20 deren Mitglieder als Staaten selbst – im Gegensatz zur Europäischen Union sogar originäre21 – Völkerrechtssubjekte sind, unterliegen diese ihrerseits völkerrechtlichen Bindungen. nungsverträge handelt, die nach dem Willen der beteiligten Staaten für alle Zeiten Bestand haben sollen. 16 Tomuschat, Internationale Offenheit, Rn. 9. 17 Gomes Canotilho, S. 51 f. 18 Ebd. 19 Dahm/Delbrück/Wolfrum, S. 28. 20 Ob eine internationale Organisation Völkerrechtssubjekt ist, hängt vom Willen ihrer Mitglieder ab, wie er sich normativ im Gründungsvertrag niedergeschlagen hat, was für die Union in Anbetracht von Art. 47 EUV zu bejahen ist, siehe Klein/Schmahl, Rn. 94. 21 Klein/Schmahl, Rn. 93.

40

2. Teil: Internationale Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit

Von einer Völkerrechtsfreundlichkeit der Europäischen Union kann in Anbetracht dessen nur die Rede sein, wenn sie neben ihren eigenen völkerrechtlichen Verpflichtungen auch die völkerrechtlichen Verpflichtungen ihrer Mitgliedstaaten respektiert.22 Festzuhalten bleibt, dass die „Völkerrechtsfreundlichkeit“ immer einen rechtlichen Bezug haben muss: Ausgehend vom Begriff „Völkerrechtsfreundlichkeit“ fällt jegliches Verhalten, dass lediglich den Grundsätzen der internationalen Höflichkeit (Courtoisie) entspricht, nicht unter diesen Begriff.23 Eine andere Betrachtungsweise widerspricht nicht nur dem Wortsinn, sondern führt auch dazu, dass der Anwendungsbereich dieses Grundsatzes verschwimmt. „Völkerrechtsfreundlichkeit“ umfasst auch nicht die Interpretation innerstaatlichen Rechts im Sinne einer vom Völkerrecht gewährten Handlungsfreiheit, da das Völkerrecht nicht zur tatsächlichen Ausschöpfung der Möglichkeiten völkerrechtskonformen Handelns verpflichtet.24 Die Entscheidung, eine völkerrechtlich zulässige, aber nicht verpflichtende Handlung zu ergreifen, erwächst vielmehr aus der Souveränität des Staates.25 Entscheidet sich ein Staat bei einem völkerrechtswidrigen Angriff eines anderen Staates auf sein Territorium zur – völkerrechtlich zulässigen – Selbstverteidigung26 anstatt zur völkerrechtlich ebenso zulässigen Nicht-Verteidigung, so lässt sich dieser Entscheidung keine positive, freilich auch keine negative Einstellung gegenüber dem Völkerrecht entnehmen. Dies ergibt sich daraus, dass mit Ausnahme von neutralen Staaten, die ihr Hoheitsgebiet den Konfliktparteien nicht für militärische Handlungen zur Verfügung stellen dürfen,27 keine völkerrechtliche Verpflichtung besteht, gegen Verletzungen des eigenen Hoheitsgebietes vorzugehen.28 Der zweite Bestandteil dieses Terminus – „Freundlichkeit“ – wirft zunächst Probleme auf. „Freundlichkeit“ impliziert die Wahlmöglichkeit zwischen verschiedenen, durch mehr oder weniger Entgegenkommen gekennzeichneten Möglichkeiten. Wo auch immer eine rechtliche Verpflichtung besteht, lässt sie dem Adressaten aber – grundsätzlich – keinen Raum mehr für eine freie Entscheidung. Insofern wirkt die Benutzung des Begriffes „Freundlichkeit“ in einem rechtlichen Zusammenhang zunächst missverständlich.29 Allerdings gilt es, im Hinblick auf die rechtliche Bindung zwischen verschiedenen Ebenen zu unterscheiden – der völkerrechtlichen und der innerstaatlichen Ebene. Die Verwen22 23 24 25 26 27 28 29

Siehe hierzu 3. Teil C. II. Tomuschat, Internationale Offenheit, Rn. 9. Tomuschat, Internationale Offenheit, Rn. 10. Ebd. Vgl. Art. 51 UN-Charta. Ipsen, Neutralität, Rn. 17. Ipsen, Neutralität, Rn. 28. Kunig, Völkerrecht, S. 72 f.

A. Begriffsklärung

41

dung des Begriffes „Völkerrechtsfreundlichkeit“ stellt die völkerrechtliche Bindung des Staates an seine eingegangenen Verpflichtungen gerade nicht in Frage. Auf der völkerrechtlichen Ebene gilt der Grundsatz pacta sunt servanda.30 Die Nichterfüllung eines völkerrechtlichen Vertrages stellt ein völkerrechtliches Delikt dar, wobei der Staat sich zur Rechtfertigung von Völkerrechtsverstößen nicht auf sein nationales Recht berufen kann.31 Im innerstaatlichen Bereich können aber in dualistischen Systemen Konfliktsituationen vorkommen, bei denen der Adressat entgegen dem oben Gesagten mit einer Pflichtenkollision konfrontiert ist: So kann es vorkommen, dass ein völkerrechtlicher Vertrag den Adressaten dazu verpflichtet, A zu tun, während seine Verfassung ihm dieselbe Handlung gerade untersagt: Obwohl beide Verpflichtungen geltendes Recht darstellen und der Normadressat sie daher befolgen muss, ist ihm dies objektiv unmöglich. Allgemeine Vorrangregeln wie lex specialis derogat legi generali oder lex posterior derogat legi anteriori,32 die bei widerstreitenden Verpflichtungen desselben Normensystems eine Kollisionslage auflösen können, helfen bei der Kollision von Verpflichtungen aus unterschiedlichen Normensystemen33 nicht weiter.34 Art. 27 Satz 1 WVK bestimmt zwar, dass völkerrechtliche Verträge unabhängig von den innerstaatlichen Vorgaben befolgt werden müssen.35 Dieser Lösungsansatz in Kollisionsfällen ist aber lediglich die völkerrechtliche Sicht der Dinge, die nationalen Bestimmungen beispielsweise über den Vorrang der Verfassung widersprechen kann. In diesem Fall würden Kollisionsnormen miteinander kollidieren, was das Problem nicht löst, sondern perpetuiert. Die innerstaatliche Rechtsordnung bzw. der innerstaatliche Rechtsanwender im Einzelfall muss daher eine Entscheidung über die Anwendbarkeit und den Rang des Völkerrechts treffen. Diese Entscheidung kann völkerrechtsfreundlich oder -unfreundlich ausfallen. 30

Art. 26 WVK. Vgl. Art. 27 Satz 1 WVK und Art. 32 der ILC-Articles on State Responsibility. 32 Art. 30 Abs. 1 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge gilt nur für Kollisionen zwischen verschiedenen völkerrechtlichen Verträgen. Über Kollisionen zwischen nationalen und internationalen Verpflichtungen bzw. auch nur über Kollisionen zwischen verschiedenen Völkerrechtsquellen (Art. 38 Abs. 1 IGH-Statut) ist damit noch nichts gesagt. 33 Wenn nationales Recht hingegen die Anwendung von Völkerrecht befiehlt, ist die Auflösung eines Konfliktes mithilfe dieser Vorrangregeln möglich, allerdings nur intern (ohne Außenwirkung). 34 Seidel, S. 117. Seidel weist überdies darauf hin, dass der Begriff „Kollision“ in diesem Zusammenhang eine andere Bedeutung erlangt, da sich beide Verpflichtungen auf verschiedenen Regelungsebenen befinden und daher nicht im eigentlichen Sinne „zusammenstoßen“ (kollidieren) können. 35 Der Vorrang des Völkerrechts vor dem innerstaatlichen Recht ist darüber hinaus als „allgemein akzeptiertes Prinzip des Völkerrechts“ (generally accepted principle of international law) bezeichnet worden, siehe StIGH, Greco-Bulgarian Communities, Advisory Opinion, 1930 P.C.I.J. (ser. B) No. 17 (July 31), S. 1 (32). 31

42

2. Teil: Internationale Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit

III. Anwendungsbereiche dieser Begriffe Der Begriff „internationale Offenheit“ findet häufig Anwendung zur Beschreibung des „Charakters“ eines Staates bzw. seiner Verfassung. Er dient somit hauptsächlich zur Darstellung der grundlegenden Weichenstellungen des jeweiligen Gemeinwesens (z. B. „offener Verfassungsstaat“ bzw. „offene Staatlichkeit“).36 Der Begriff „Völkerrechtsfreundlichkeit“ erscheint hingegen weniger geeignet zur Beschreibung des Rechtssubjektes „Staat“, wird aber für Rechtsoder Verfassungsordnungen benutzt.37 Mutmaßlich aufgrund der personalen und emotionalen Konnotationen dieses Begriffes38 findet er auch Anwendung bei der Klassifizierung der Handlung von Staatsorganen.39 Vertreter aller drei Gewalten können im Rahmen der ihnen zugewiesenen Funktionen völkerrechtsfreundlich oder -unfreundlich handeln bzw. unterlassen: Die Judikative durch eine das einschlägige Völkerrecht berücksichtigende oder missachtende Rechtsprechung, die Legislative durch den Erlass völkerrechtskonformer oder völkerrechtswidriger nationaler Gesetze und die Exekutive insbesondere beim Wahrnehmen der ihr üblicherweise zugewiesenen außenpolitischen Funktionen in völkerrechtsgemäßer oder -widriger Weise. Anzumerken ist, dass der Begriff „Völkerrechtsfreundlichkeit“ keine Beschränkung des zugrundeliegenden Konzeptes auf Rechtsordnungen sog. dualistischer Prägung entsprechend Triepels Terminologie impliziert.40 Zwar ist die Ansicht geäußert worden, Völkerrechtsfreundlichkeit erfordere mindestens zwei Subjekte, die miteinander in eine Beziehung treten können und setze damit den Dualismus voraus; innerhalb einer Rechtsordnung sei es schließlich auch nicht sinnvoll, von einer „Verfassungsfreundlichkeit“ zu reden.41 Der Notwendigkeit von zwei Subjekten ist zunächst insoweit zuzustimmen, als dass für die Untersuchung der völkerrechtsfreundlichen Einstellung einer Rechtsordnung Normen 36 Dies kommt auch in der Literatur zum Ausdruck, siehe nur „Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für eine internationale Zusammenarbeit“ von Vogel sowie „Die staatsrechtliche Entscheidung für die internationale Offenheit“ von Tomuschat. Vgl. auch „Das Recht offener Staaten“ von Di Fabio. 37 Siehe beispielsweise die Beiträge „Der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit der deutschen Rechtsordnung“ sowie „Die Völkerrechtsfreundlichkeit der deutschen Rechtsordnung“ von Bleckmann. 38 Auf diese weist Mayer, S. 240, zutreffend hin. 39 Vgl. nur die Beiträge „Völkerrechtsfreundlichkeit und Völkerrechtsskepsis in der politischen Praxis der deutschen Exekutive und Legislative“ von Paulus und „Völkerrechtsfreundlichkeit und Völkerrechtsskepsis in der politischen Praxis des Deutschen Bundestages“ von Arndt. 40 Siehe hierzu 2. Teil D. II. 1. b). 41 Schorkopf, Völkerrechtsfreundlichkeit, S. 156 f. Weil Konflikte innerhalb einer Ordnung durch ein Rangverhältnis und durch Kollisionsregeln gelöst würden, spricht laut Schorkopf vieles dafür, dass die Völkerrechtsfreundlichkeit den Dualismus voraussetze und ein „Weichzeichner“ sei, der die Differenzen im Rechtsalltag verwische.

B. Ausgangspunkt: Die deutsche Rechtsordnung

43

völkerrechtlichen Ursprungs für außenstehende Beobachter identifizierbar sein müssen. Nur bei einer Identifizierbarkeit dieser Normen kann im nächsten Schritt analysiert werden, ob diesen Normen innerhalb der Rechtsordnung – beispielsweise durch einen hohen Rang – zu größtmöglicher Wirksamkeit verholfen wird. Normen völkerrechtlichen Ursprungs – wie beispielsweise das völkerrechtliche ius cogens – können bei Betrachtung von außen aber selbst in idealtypisch monistischen Rechtsordnungen noch von solchen nationalen Ursprungs unterschieden werden;42 würde es an dieser Identifizierbarkeit fehlen, wäre es unmöglich, festzustellen, ob Völkerrecht überhaupt Bestandteil des monistischen System ist. Der Begriff „Völkerrechtsfreundlichkeit“ trägt dem Umstand Rechnung, dass jedem Staat (auch dem monistischen) eine „doppelte Grundfunktion“ zukommt, die daraus besteht, dass er sich seine innere Ordnung gibt und Bestandteil der Völkerrechtsgemeinschaft ist.43 Auch wenn aus semantischer Sicht die Verwendung des Begriffes „Völkerrechtsfreundlichkeit“ im monistischen System nicht ideal sein mag, ist sie wegen dieser doppelten Grundfunktion dennoch vertretbar. Zudem dürfte eine vollständig widerspruchsfreie, idealtypisch monistische Rechtsordnung in der Praxis nicht existieren.44 In Anbetracht dieser Erwägung und der Ermangelung einer überzeugenden Alternative für die etablierte Bezeichnung „Völkerrechtsfreundlichkeit“ bleibt es im Folgenden daher auch für monistische Systeme bei diesem Begriff. Dies entspricht zudem der bisherigen Verwendung dieses Begriffes für die mehrheitlich als monistisch angesehene Rechtsordnung der Schweiz.45

B. Ausgangspunkt: Internationale Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit der deutschen Rechtsordnung Die Begriffe internationale Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit entstammen dem verfassungsrechtlichen Diskurs in Deutschland. Daher sollen vor der allgemeinen Untersuchung dieser Konzepte die maßgeblichen deutschen Verfassungsnormen sowie die Herkunft der Begrifflichkeiten überblicksweise dargestellt werden.46 Einleitend ist anzumerken, dass sich die geradezu emphatische 42

Vgl. Thürer, S. 225 f. Thürer, S. 198. 44 Vgl. Wüger, S. 27, zum Monismus und Dualismus: „Diese theoretischen Konzepte finden sich nur teilweise in den real existierenden nationalen Rechtsordnungen wieder.“ 45 Zur monistischen Ausrichtung der schweizerischen Rechtsordnung siehe 2. Teil D. II. 1. a). 46 Für eine ausführliche Darstellung der internationalen Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes siehe den Tagungsband „Der ,offene Verfassungsstaat‘ des Grundgesetzes nach 60 Jahren“ von Giegerich (Hrsg.). 43

44

2. Teil: Internationale Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit

Betonung der Völkerrechtsfreundlichkeit und des offenen Verfassungsstaates in Deutschland historisch erklären lassen dürfte:47 Nach dem 2. Weltkrieg war Deutschland bekanntlich zunächst ein „Ausgestoßener“ in der Staatengemeinschaft, der seine volle Souveränität48 erst mit Inkrafttreten des Zwei-plus-VierVertrags am 15. März 199149 wiedererlangt hat.50 Aufgrund des Misstrauens, das die Staatengemeinschaft Deutschland im Zeitpunkt der Schaffung des Grundgesetzes sowie in der Folgezeit entgegenbrachte, war es für die Väter und Mütter des Grundgesetzes besonders wichtig, sich eindeutig zum Völkerrecht zu bekennen.51 Dieser spezielle Hintergrund kann auch den hohen Stellenwert erklären, der den Konzepten der Völkerrechtsfreundlichkeit und der internationalen Offenheit im deutschen juristischen Diskurs und in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zukommt. Dies gilt auch für den politischen Bereich; im Ergebnis „ist die generelle Völkerrechtsfreundlichkeit der Bundesregierungen aller 47 Vgl. Hillgruber, Nationalstaat, Rn. 114: „Daß das Grundgesetz seine ,Zuflucht‘ beim Völkerrecht sucht, erklärt sich zum einen mit der [. . .] Ausgangslage Deutschlands als eines vollständig besiegten und unter Besatzungsregime stehenden Landes. Im Zustand politischer Ohnmacht betont das deutsche Volk mit allem ihm zu Gebote stehenden Pathos den Primat des Völkerrechts, weil es darin die einzige Chance sieht, überlegene fremde Macht in Schranken zu weisen. Die als ,deutsche Visitenkarte nach außen‘ verstandene Zuwendung des deutschen Verfassungsrechts zum Völkerrecht [. . .] ist aber mindestens ebenso von dem aufrichtigen Willen getragen, die Internationalisierung der politischen Wirklichkeit möglichst aktiv zu fördern.“ Röben, S. 60, verweist auch darauf, dass die Entwicklungslinien des offenen Verfassungsstaates über die Erfahrungen im Dritten Reich hinaus bis zur Weimarer Reichsverfassung und Paulskirchenverfassung zurückreichen. 48 Siehe zum „Vier-Mächte-Status“ Schweitzer, Rn. 3. 49 BGBl. 1990 II, S. 1317. 50 Siehe aber auch Badura, Rn. 33, zum Zwei-plus-Vier-Vertrag: „Die Vertragsklausel des Art. 1 Abs. 4 bedeutet eine fortdauernde Beschränkung der deutschen verfassungsändernden Gesetzgebung und der verfassunggebenden Gewalt des deutschen Volkes (Art. 146 GG).“ Vgl. Isensee, Schlussbestimmung, Rn. 36, der sich gegen die sog. Geburtsmakeltheorie ausspricht: „Deutsche Verfassungsgebung fand seit jeher ihre Grenzen in außenpolitischen Vorgaben. Vom Westfälischen Frieden bis zum Zwei-plusVier-Vertrag war sie stets mehr oder weniger bedingt oder wenigstens beeinflusst durch auswärtige Mächte. Impermeabilität gegen auswärtige Einwirkungen wird für die Verfassungspolitik in Deutschland nie erreichbar sein. So könnte selbst dem nunmehr vereinten Deutschland die Fähigkeit zu demokratischer Verfassungsgebung abgesprochen werden, weil es, auch mit Wirkung für seine innere Verfassung, in vielfacher Hinsicht völkerrechtlich und europarechtlich gebunden ist.“ 51 Für diese These spricht, dass sich der portugiesische Gesetzgeber in einer vergleichbaren Situation an der internationalen Offenheit der deutschen Verfassung orientiert hat, vgl. de Quadros, S. 47 f.: „Während des autoritären Regimes, das 1974 beseitigt wurde, lebte Portugal isoliert von der Welt. Danach, 1974 und 1975 [. . .] verspürte das Land die Bedrohung eines autoritären Regimes im entgegengesetzten Sinne, wodurch es in Bezug auf die demokratische Welt wiederum in Einsamkeit hätte verfallen können. [. . .] Angesichts dieser großen Ähnlichkeit der Situationen in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg und in Portugal 1974 und 1975 ist nicht zu verwundern, dass Portugal in dieser Materie die Erfahrung Deutschlands genutzt hat und sich deshalb von der internationalen Offenheit des GG inspirieren ließ.“

B. Ausgangspunkt: Die deutsche Rechtsordnung

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Couleur und trotz wechselnder parlamentarischer Mehrheiten bemerkenswert.“ 52 An der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes wurde auch nach Wiedervereinigung und Wiedererlangung der vollen Souveränität festgehalten, so dass diese zu Recht als ernstgemeinte Grundausrichtung der Verfassung und nicht als bloßes „Schutzschild in Stunden der Schwäche“ bezeichnet werden kann.53

I. Internationale Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit der deutschen Verfassung Die Völkerrechtsfreundlichkeit und internationale Offenheit der deutschen Verfassung zeigt sich insbesondere in der Präambel sowie in den Art. 24–2654 und Art. 9 Abs. 2 GG.55 Die Präambel enthält einen Hinweis auf den Willen des Deutschen Volkes als Verfassungsgebers, als „gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden in der Welt zu dienen.“ 56 Das hierin enthaltene „Bekenntnis zu Europa, [. . .], war nicht aus der Not geboren, sondern entsprach tieferer innerer Überzeugung der Mitglieder des parlamentarischen Rates von der Notwendigkeit dieses Schrittes.“ 57 Aus der Formulierung der Präambel lassen sich zwei Staatszielbestimmungen ableiten, die für die offene Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland besonders bedeutsam sind: die seit 1992 in Art. 23 GG konkretisierte Verpflichtung zur europäischen Integration sowie das durch Art. 1 Abs. 2, 9 Abs. 2, 24, 25, 26 und 87a GG konkretisierte Friedensgebot.58 52

Paulus, S. 97. Vgl. Giegerich, Verfassungsstaat, S. 17: „Als Deutschland 1989/1990 jedenfalls äußerlich betrachtet wieder ein ,normaler‘ Nationalstaat wurde, stand es vor der Frage, ob seine Völker- und Europarechtsfreundlichkeit letztlich nur ein Ausdruck seiner Schwäche während der Teilung gewesen sein sollte. In der Tat hatte man im Parlamentarischen Rat die Notwendigkeit erkannt, gerade in einer Zeit der größten Schwächung Deutschlands auf das Völkerrecht zu setzen und sein Primat zu betonen. Dies geschah aber nicht im Sinne einer Maske, mit deren Hilfe man die nationale Einheit und volle Souveränität wiedererlangen und die man nach getaner Schuldigkeit dann fallen lassen wollte, sondern in der Hoffnung, anderen – Stärkeren – ein Beispiel zu geben, um damit eine dauerhafte Veränderung in den internationalen Beziehungen einzuleiten. Die Deutschen strebten nach Wiedererlangung ihrer Souveränität, um dieses dann aus freien Stücken in ein politisch, ökonomisch und konstitutionell geeintes Europa einzubringen. Ihr Grundgesetz sollte ein Provisorium sein, nicht aber ihre Entscheidung für den offenen Verfassungsstaat.“ 54 Tomuschat, Internationale Offenheit, Rn. 3. 55 Bleckmann, Grundgesetz, S. 298. 56 Hillgruber, Nationalstaat, Rn. 76, weist darauf hin, dass die Präambel bewusst darauf verzichtet, die Gestalt, die dieses vereinte Europa in der Zukunft einnehmen soll, zu beschreiben. Eine entsprechende Festlegung sei zu diesem frühen Zeitpunkt noch nicht möglich gewesen. 57 Hillgruber, Nationalstaat, Rn. 75. 58 Huber, Rn. 43–46. Der Friedensbezug in der Präambel nahm interessanterweise eine „Randstellung“ in der Entstehung des Grundgesetzes ein und wurde erst spät eingeführt. Siehe hierzu Proelß, Friedensgebot, Rn. 11 f. 53

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2. Teil: Internationale Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit

Daneben enthält das Grundgesetz auch ein Gebot internationaler Kooperation, das in der Literatur u. a. als Staatszielbestimmung, Gestaltungsauftrag oder Verfassungsziel bezeichnet worden ist.59 Bei der Ausarbeitung der Art. 24 bis 26 GG dienten die französische und italienische Verfassung dem Parlamentarischen Rat als Vorbild.60 1. Art. 24 GG Als Grundnorm der offenen Staatlichkeit schafft Art. 24 GG die Möglichkeit der supra- und internationalen Integration und damit der unmittelbaren Einwirkung übernationaler Hoheitsgewalt auf die innerstaatliche Rechtssphäre.61 Die dem Grundgesetz zugrundeliegende Entscheidung für die internationale Kooperation wird in dieser Norm durch die Benennung bestimmter Formen der Zusammenarbeit konkretisiert.62 Während sich die in Abs. 2 und 3 genannten Formen mithilfe herkömmlicher völkerrechtlicher Verträge realisieren lassen, stellt Abs. 1 einen „qualitativen Sprung“ für die grenzüberschreitende Kooperation dar.63 Pernice bezeichnet diese Norm aufgrund des in ihr enthaltenen Verzichts auf den staatlichen Absolutheitsanspruch als „deutlichste, allgemeinste und zugleich intensivste Ausdrucksform des ,kooperativen Verfassungsstaates‘.“ 64 Art. 24 Abs. 1 GG erlaubt – sprachlich missverständlich65 – die Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen und ermöglichte so bereits vor der Neufassung des Art. 23 GG die Teilnahme des deutschen Staates am europäischen Integrationsprozess.66 Daneben sind auf Grundlage dieser Norm u. a. Hoheitsrechte an die europäische Flugsicherungsbehörde Eurocontrol, die Europäische Patentorganisation, die internationale Luftfahrtorganisation und die Meeresbehörde nach dem Seerechtsübereinkommen übertragen worden.67

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Rojahn, Rn. 9. Rensmann, Genese, S. 51. 61 Pernice, Art. 24 GG, Rn. 14. 62 Rojahn, Rn. 7. 63 Rojahn, Rn. 7. 64 Pernice, Art. 24 GG, Rn. 16. 65 Siehe bereits Vogel, Verfassungsentscheidung, S. 3 f. m.w. N. Classen, Rn. 11, weist darauf hin, dass sich die von der zwischenstaatlichen Einrichtung ausgeübte Hoheitsgewalt nicht aus abgetretenen Hoheitsgewalten der übertragenden Einzelstaaten zusammensetzt, sondern dass ihr Befugnisse zur eigenständigen Wahrnehmung zugewiesen werden. Viele andere Verfassungen würden daher von der „Übertragung der Ausübung von Hoheitsrechten sprechen“. 66 Kotzur, S. 400. Siehe auch Hillgruber, Nationalstaat, Rn. 77, der zudem darauf hinweist, dass im Parlamentarischen Rat eine europäische Organisation des Kohlebergbaus mithilfe einer zwischenstaatlichen Einrichtung diskutiert wurde. 67 Siehe im Einzelnen Classen, Rn. 59–63; Wollenschläger, Art. 24 GG, Rn. 34. 60

B. Ausgangspunkt: Die deutsche Rechtsordnung

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Art. 24 Abs. 2 ermächtigt den Bund, zur Wahrung des Friedens einem System kollektiver Sicherheit beizutreten, und verpflichtet ihn, hierbei in die Beschränkungen seiner Hoheitsrechte einzuwilligen, die eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt herbeiführen und sichern.68 Der Schwerpunkt einer sich an dieser Norm orientierenden Politik lag zunächst auf einem Beitritt zur UN, die „als geradezu idealtypische Verkörperung des dort in Bezug genommenen Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit“ angesehen wurde.69 Umstrittener ist die Zugehörigkeit der – ursprünglich als Bündnis kollektiver Selbstverteidigung geschaffenen – NATO zu dieser Kategorie.70 Die Einstufung der NATO als ein System kollektiver Sicherheit rechtfertigt sich jedoch durch ihren Aufgabenwandel nach dem Ende der Sowjetunion sowie ihr Tätigwerden bei UN-mandatierten Friedensmissionen.71 Das BVerfG hat daher zu Recht die NATO als System kollektiver Sicherheit im Sinne des Art. 24 Abs. 2 GG eingestuft.72 Die sicherheitspolitische Zusammenarbeit Deutschlands mit anderen Ländern wird – in völkerrechtsfreundlicher Weise – unter den Vorbehalt der Friedenswahrung gestellt.73 Insofern steht diese Vorschrift in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Präambel und mit Art. 26 GG.74 Abs. 3 schließlich sieht den – wegen fehlender institutioneller Strukturen – bisher noch nicht verwirklichten Beitritt zu einem System allgemeiner, umfassender, obligatorischer und internationaler Schiedsgerichtsbarkeit vor.75 Sobald aber eine internationale Schiedsgerichtsbarkeit existieren sollte, die die genannten Voraussetzungen erfüllt,76 steht die Entscheidung, dem entsprechenden völkerrechtlichen Vertrag beizutreten, nicht im Ermessen der auswärtigen Gewalt.77 Mit dieser Pflicht zur Unterwerfung unter ein System internationaler Schiedsgerichtsbarkeit ging der deutsche Verfassungsgeber weit über die Realität der völkerrechtlichen Strukturen sowie über die französische und italienische Verfassung hinaus.78 Diese – jedenfalls innerhalb Europas – einzigartige Pflicht der

68 Zum Ermächtigungs- und Verpflichtungsgrad der Vorschrift sowie dem in ihr enthaltenem Gestaltungsspielraum siehe Streinz, Art. 24 GG, Rn. 51. 69 Oeter, Systeme, Rn. 25. 70 Oeter, Systeme, Rn. 27. 71 Ebd. 72 BVerfGE 90, 286 (351); 104, 151 (209–214); 118, 244 (261 f.). 73 Vgl. Fassbender, Militärische Einsätze, Rn. 49. 74 Pernice, Art. 24 GG, Rn. 65. 75 Zur Interpretation dieser Begriffe siehe Wolfrum, Rn. 2 ff. 76 Wolfrum, Rn. 69, weist aber darauf hin, dass das Völkerrecht eine andere, wohl unumkehrbare Richtung hin zu verbindlichen Spezialgerichten (wie im Rahmen der WTO und unter dem Seerechtsübereinkommen) eingeschlagen hat. 77 Heintschel von Heinegg, Art. 24 GG, Rn. 51. 78 Rensmann, Genese, Art. 54.

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2. Teil: Internationale Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit

Staatsorgane zur Unterwerfung unter internationale Gerichtsbarkeit79 spricht ebenfalls für die Völkerrechtsfreundlichkeit der deutschen Rechtsordnung. 2. Art. 25 GG Art. 25 GG bestimmt, dass die allgemeinen Regeln des Völkerrechts Bestandteil des Bundesrechts sind und den Gesetzen vorgehen. Sowohl die Normen des Völkergewohnheitsrechtes als auch die allgemeinen Rechtsgrundsätze80 erlangen somit ohne weiteren Inkorporationsakt in der deutschen Rechtsordnung Geltung, was als Akt der „Unterwerfung“ bezeichnet werden kann.81 Dies führt auch zu einer Internationalisierung des deutschen ordre public (Art. 6 EGBGB).82 Entgegen den Intentionen des von einem Überverfassungsrang ausgehenden Verfassungsgebers83 stehen die allgemeinen Regeln des Völkerrechts nach Ansicht 79 Vgl. die rechtsvergleichenden Hinweise bei Pernice, Art. 24 GG, Rn. 13, demzufolge unter den europäischen Verfassungen lediglich Art. 29 Abs. 2 der irischen Verfassung eine, allerdings weniger weitreichende, Verpflichtung enthält. Diese Norm lautet: „Ireland affirms its adherence to the principle of the pacific settlement of international disputes by international arbitration or judicial determination.“ Die irische Verfassung ist abrufbar unter https://www.constitution.ie/Documents/Bhunreacht_na_hEireann_ web.pdf (in den beiden Amtssprachen Gälisch und Englisch). 80 BVerfGE 23, 288 (317); 94, 315 (328). 81 Doehring, Fremdenrecht, S. 4 („Unterwerfung unter unbekannte zukünftige Normen“). Tomuschat, Internationale Offenheit, Rn. 13, bevorzugt die Bezeichnung „Einordnung in die Völkerrechtsordnung“ und weist darauf hin, dass der deutsche Staat das Völkerrecht mitgestalte, es ihm demnach nicht vollkommen fremd sei. 82 von Bogdandy, Prinzipien, Rn. 33. Nach der Rechtsprechung des BVerfG (BVerfGE 91, 334 [340 f.]) darf eine ausländische Klage nicht zugestellt werden, „wenn das mit der Klage angestrebte Ziel offensichtlich gegen unverzichtbare Grundsätze eines freiheitlichen Rechtsstaates verstieße, wie sie auch in internationalen Menschenrechtsübereinkommen verankert sind.“ Voltz, Rn. 65, weist darauf hin, dass hiermit eine Staatenverantwortlichkeit Deutschlands wegen Mitwirkung an einem ausländischen, menschenrechtsverletzenden Verfahren vermieden werden soll; der Prüfungsmaßstab folge daher nicht in erster Linie aus dem nationalen Recht, sondern aus Menschenrechtsschutzverträgen. 83 Streinz, Art. 25 GG, Rn. 86. Im Parlamentarischen Rat hatte von Brentano (CDU) seinen der heutigen Fassung des Art. 25 GG entsprechenden und einstimmig angenommenen Antrag damit begründet, dass es nach der zuvor beschlossenen Fassung möglich sei, „durch Änderung des GG auch Völkerrecht abzuändern; die von der CDU beantragte Fassung mache dies unmöglich. Das Völkerrecht gehe unter allen Umständen dem Bundesrecht, auch dem Bundesverfassungsrecht vor.“ Zuvor hatte schon von Mangoldt ausgeführt, es sei notwendig, die vom Allgemeinen Redaktionsausschuss empfohlene Formulierung des ersten Satzes der Norm („Die allgemeinen Regeln des Völkerrechts sind Bestandteil des Bundesverfassungsrecht.“) abzuändern; „wenn die allgemeinen Regeln des Völkerrechts in Deutschland bindend sein sollen, könne man dies nicht dadurch erreichen, daß statt ,Bundesrecht‘ ,Bundesverfassungsrecht‘ gesetzt werde. Damit würde man es noch in die Wahl des Gesetzgebers stellen, diese Lehren des Völkerrechts mit qualifizierter Mehrheit abzuändern. Dies sei nicht beabsichtigt. Vielmehr solle mit diesem Satz gesagt werden, daß die allgemeinen Lehren des Völkerrechts den deutschen Gesetzen vorgehen. Um das klarzustellen, müsse eine neue Fassung gewählt werden.“ Zitiert aus J.ö.R., Bd. 1 (1951), S. 234 f.

B. Ausgangspunkt: Die deutsche Rechtsordnung

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der Rechtsprechung84 und herrschender Literaturmeinung85 unter der Verfassung, aber über den Gesetzen. Im Ergebnis hat Art. 25 GG eine „nachhaltige Öffnung der deutschen Rechtsordnung bewirkt. Dies belegen nicht zuletzt mehrere hundert Entscheidungen auf allen Ebenen der Gerichtsbarkeit, die die Existenz allgemeiner Regeln des Völkerrechts und ihre Einbeziehung in das innerstaatliche Recht betreffen.“ 86 Aufgrund dieses Vorrangs vor den einfachen Gesetzen und wegen der Besonderheiten der allgemeinen Regeln des Völkerrechts – ihrer vergleichsweisen Unbestimmtheit und Wandlungsfähigkeit87 – erlangt Art. 100 Abs. 2 GG als „prozessuale Komplementärnorm“ Bedeutsamkeit.88 Diese Norm verpflichtet Gerichte dazu, bei Zweifeln darüber, ob eine Regel des allgemeinen Völkerrechts Bestandteil des Bundesrechtes ist und unmittelbar Rechte und Pflichten für den Einzelnen erzeugt, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen. Das Vorliegen von ernsthaften Zweifeln ist nach der Rechtsprechung des BVerfG gegeben, wenn das vorlegende Gericht „von der Meinung eines Verfassungsorgans oder von den Entscheidungen hoher deutscher, ausländischer oder internationaler Gerichte oder von den Lehren anerkannter Autoren der Völkerrechtswissenschaft“ abweichen will.89 Insbesondere die Bejahung einer Vorlagepflicht bei einem Abweichen von den Entscheidungen internationaler Gericht ist als völkerrechtsfreundlich zu werten. Zur Wirkung, die Art. 25 im Rahmen der Verfassungsbeschwerde entfaltet, hat das BVerfG ausgeführt: „Eine Verfassungsbeschwerde kann zwar nicht unmittelbar auf die Verletzung von Art. 25 GG gestützt werden [. . .]. Mit ihr kann jedoch geltend gemacht werden, dass Vorschriften [. . .] zu einer allgemeinen Regel des Völkerrechts im Widerspruch stehen und von dieser verdrängt werden. Wegen Art. 25 GG gehört es zur verfassungsmäßigen Ordnung, daß bei der Gestaltung und Anwendung des Bundesrechts den durch Art. 25 GG in das Bundesrecht inkorporierten allgemeinen Regeln des Völkerrechts Rechnung getragen wird.“ 90 84

BVerfGE 6, 309 (363); 37, 271 (278 f.). Streinz, Art. 25 GG, Rn. 88 m.w. N. aus der Literatur. Geiger, Grundgesetz, S. 159 f., formuliert wie folgt: „Sinn und Zweck des Art. 25 fordern vom Grundgesetz nicht, in seiner Völkerrechtsfreundlichkeit so weit zu gehen, sich selbst in Frage zu stellen. Art. 25 sollte die Bundesrepublik vor staatengemeinschaftswidrigen Gesetzen sichern; dagegen war es nicht sein Zweck, die Bestimmungen des Grundgesetzes zur Disposition zu stellen.“ Dagegen plädiert Cremer, Allgemeine Regeln, Rn. 27, für die Anerkennung einer Gleichrangigkeit mit der Verfassung und die Lösung von Konflikten mithilfe der praktischen Konkordanz. 86 Wollenschläger, Art. 25 GG, Rn. 16 (Hervorhebung im Original weggelassen). 87 Geiger, Grundgesetz, S. 160, weist darauf hin, dass sich selbst die Feststellung einfacher Rechtssätze aufwändig gestaltet. 88 Pernice, Art. 25 GG, Rn. 15. 89 BVerfG 23, 288 (319). 90 BVerfGE 23, 288 (300). 85

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2. Teil: Internationale Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit

Sofern die fragliche völkerrechtliche Regel ihrem Inhalt nach den Einzelnen berechtigt, kann ein Verstoß hiergegen daher als Grundrechtsverletzung (Art. 2 Abs. 1 i.V. m. Art. 25 Satz 2 GG) geltend gemacht werden.91 Die in Art. 100 Abs. 2 GG verankerte Möglichkeit zur Erhebung einer Verfassungsbeschwerde ist als völkerrechtsfreundlich zu werten. Ihr Ziel ist es, divergierende innerstaatliche Entscheidungen über die Existenz und Tragweite einer Regel des Völkerrechts zu verhindern.92 Dem BVerfG geht es hierbei – neben der Sicherstellung der innerstaatlichen Rechtssicherheit – ausdrücklich auch um das Interesse an „der staatenübergreifenden Einheitlichkeit und Verläßlichkeit der allgemeinen Regeln des Völkerrechts“.93 Art. 100 Abs. 2 GG soll „der Gefahr ihrer Verletzung durch deutsche Gerichte vorbeugen“.94 Wird die Geltung einer allgemeinen Regel des Völkerrechts durch das BVerfG bejaht, so gewährleistet das Normenverifikationsverfahren ihre größtmöglich wirksame innerstaatliche Durchsetzung.95 Nicht verschwiegen werden soll, dass dieses Verfahren im Einzelfall auch unbeabsichtigte negative Auswirkungen haben kann: Falls das BVerfG die Geltung einer völkergewohnheitsrechtlichen Norm irrigerweise anders als der IGH oder andere internationale Gerichte bewerten sollte, wäre dieses insofern problematische Urteil für die Staatsorgane bindend (§ 31 Abs. 1 BVerfGG) und ihm käme innerstaatlich Gesetzeskraft zu (§ 31 Abs. 2 BVerfGG).96 Da die allgemeinen Regeln des Völkerrechts „nur in manchen Fällen evident sind“ 97 und die völkergewohnheitsrechtliche Rechtslage häufig nicht eindeutig ist, kann eine abweichende Entscheidung des BVerfG auch nicht ausgeschlossen werden.98 Dies verdeutlicht, dass auch völkerrechtsfreundliche Mechanismen im Ausnahmefall eine ambivalente Wirkung haben können, was jedoch nichts an ihrer grundsätzlichen Völkerrechtsfreundlichkeit ändert. Umstritten ist, ob Art. 25 Satz 2, 2. Halbsatz GG gegenüber Art. 25 Satz 1 GG rein deklaratorischen Charakter hat.99 Einer weitergehenden Deutung dieser

91

Ebd. BVerfGE 23, 288 (317). 93 BVerfGE 96, 68 (77 f.). 94 Ebd. 95 Cremer, Allgemeine Regeln, Rn. 61, weist auf weitergehende Wirkungen des Gerichtsspruches hin: „Er bekundet als Akt der deutschen Staatspraxis zudem, welche Haltung die Bundesrepublik Deutschland zu Existenz und zum Inhalt eines Satzes des allgemeinen Völkerrechts einnimmt. Dies hat Rückwirkungen auf die Völkerrechtslage. Auch hier kommuniziert die deutsche Rechtsordnung aktiv mit dem Völkerrecht.“ 96 Hillgruber, Integration, S. 105. 97 BVerfGE 23, 288 (317). 98 Hillgruber, Integration, S. 105. 99 So Heintschel von Heinegg, Art. 25 GG, Rn. 35. 92

B. Ausgangspunkt: Die deutsche Rechtsordnung

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Norm zufolge bewirkt sie für völkerrechtliche Regeln, die auf der Ebene des Völkerrechts staatsgerichtet sind, innerstaatlich ihrem Inhalt nach aber geeignet sind, Rechte und Pflichten für Individuen zu begründen (wie dem Recht zur Hochseefischerei), einen konstitutiven Adressatenwechsel, der innerstaatliche entsprechende subjektive Rechte und Pflichten erzeugt, denen keine völkerrechtliche Verpflichtung gegenübersteht.100 Das Bundesverfassungsgericht interpretiert diese Vorschrift in seiner Rechtsprechung jedoch enger: „Es ist anerkannt, daß Art. 25 Satz 2 Halbsatz 2 GG lediglich deklaratorischen Charakter hat und nur der Hervorhebung dient. Die unmittelbare Berechtigung und Verpflichtung des Einzelnen durch die Völkerrechtsregel ergibt sich schon aus der Eingliederung der Regel in das Bundesrecht durch Satz 1 [. . .]. Art. 25 Satz 2 Halbsatz 2 GG besagt also lediglich, daß die allgemeinen Regeln des Völkerrechts die gleichen Rechtswirkungen für und gegen den Einzelnen haben wie (sonstiges) innerstaatliches Recht und dabei – soweit es ihr Inhalt zuläßt – auch subjektive Rechte und Pflichten für den Einzelnen erzeugen.“ 101 In bestimmten Fällen hat das Bundesverfassungsgericht aber die Möglichkeit befürwortet, „unabhängig davon, ob Ansprüche von Einzelpersonen schon kraft Völkerrechts bestehen, [. . .] Völkerrechtsverstöße geltend machen zu können. Dieser Grundsatz gilt jedenfalls für Konstellationen, in denen völkerrechtliche Regelungen einen engen Bezug zu individuellen hochrangigen Rechtsgütern aufweisen, wie das im völkerrechtlichen Enteignungsrecht der Fall ist.“ 102

100 So Koenig, Art. 25 GG, Rn. 60 f. unter Berufung auf die völkerrechtsfreundliche Grundhaltung des Grundgesetzes und den Zweck des Art. 25 GG, dem Völkerrecht ein möglichst hohes Maß an innerstaatlicher Effektivität zu verleihen. Pernice, Art. 25 GG, Rn. 30 zufolge steht der konstitutiven Wirkung dieser Norm in Bezug auf Pflichten der Vorbehalt des Gesetzes nicht entgegen, da die nach Art. 25 GG übernommene Regel die fragliche Belastung legitimiert. Wollenschläger, Art. 25 GG, Rn. 36, spricht sich für die Subjektivierung derjenigen staatengerichteter Rechte und Pflichten, die Individualrechte oder -pflichten berühren und nicht ausschließlich staatenbezogen sind. 101 BVerfGE 15, 25 (33 f.). In BVerfGE 46, 343 hat das Bundesverfassungsgericht – worauf Heintschel von Heinegg, Art. 25 GG, Rn. 34.1, zutreffend hinweist und entgegen anderer Ansicht (Pernice, Art. 25 GG, Rn. 28, Fn. 123; Koenig, Art. 25 GG, Rn. 58, Fn. 8; Wollenschläger, Art. 25, Rn. 35 [„offen gelassen“]) an dieser engen Auffassung festgehalten. Vgl. BVerfGE 46, 343 (403): „Die [. . .] festgestellte allgemeine Regel des Völkerrechts ist Bestandteil des Bundesrechts [. . .]. Sie begründet ausschließlich Rechte und Pflichten im völkerrechtlichen Verhältnis der Staaten zueinander, nicht hingegen begründet oder verändert sie subjektive Rechte und Pflichten des Einzelnen im Hoheitsbereich der Bundesrepublik Deutschland, auch nicht zufolge des Art. 25 Satz 2 GG. [. . .] Davon ist, wie dargelegt, zu unterscheiden, daß die festgestellte allgemeine Regel des Völkerrechts kraft Art. 25 Satz 1 GG als solche mit ihrer jeweiligen völkerrechtlichen Tragweite Bestandteil des objektiven, im Hoheitsbereich der Bundesrepublik Deutschland geltenden Rechts ist oder je nach Sachlage Rechtswirkungen für oder gegen Private haben kann [. . .].“ 102 BVerfGE 112, 1 (22).

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2. Teil: Internationale Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit

3. Art. 26 GG Art. 26 bildet gemeinsam mit der Präambel und Art. 25 GG (in Verbindung mit Art. 2 Ziff. 4 der UN-Charta103) das Fundament des grundgesetzlichen Friedensgebotes.104 Art. 26 GG Abs. 1 Satz 1 GG enthält ein Verbot der Vorbereitung eines Angriffskrieges und sonstiger Handlungen, die geeignet sind, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören und bestimmt, dass diese Handlungen verfassungswidrig sind. Der Verfassungsgeber hat sich während des Entstehungsprozesses dieser Norm an den völkerrechtlichen Begriffen der Aggression und der Verbrechen gegen den Frieden orientiert.105 Vorausgegangen waren der finalen Fassung des Art. 26 GG mehrere Änderungen im Rahmen der Verfassungsberatungen des Parlamentarischen Rates.106 Hierbei wurde unter anderem die ursprüngliche Formulierung, die friedensstörenden Handlungen „sind unter Strafe zu stellen“ zunächst durch „sind verfassungswidrig“ ersetzt, um so zu ihrer unmittelbaren Anwendbarkeit zu kommen.107 Anschließenden Bedenken, die sich aus der nunmehr fehlenden Regelung der Folgen einer entsprechenden Verfassungswidrigkeit ergaben, wurde durch Wiederaufnahme des Pönalisierungsauftrages Rechnung getragen.108 Durch die Einordnung einer friedensstörenden Handlung als „verfassungswidrig“ (und nicht nur als „gesetzeswidrig“) wird ihre gesteigerte Verwerflichkeit zum Ausdruck gebracht.109 Die durch Art. 26 Abs. 1 erfolgte, explizite Aufnahme eines Verbotes friedensstörender Handlungen mit Verfassungsrang ist auch im internationalen Vergleich besonders völkerrechtsfreundlich. Noch weitgehender110 ist nur das Friedensgebot der japanischen Verfassung.111 Mit dem Verbot des Angriffskrieges wird das völkerrechtliche Gewaltverbot (Art. 2 Ziff. 4 UN-Charta) verfassungsrecht-

103 Vgl. hierzu den Hinweis bei Fischer-Lescano/Liste, S. 231, auf die nationalstaatlichen „Angriffe“ verschiedener Staaten gegen den ihrer Ansicht nach zu engen Verteidigungsbegriff des Art. 51 UN-Charta, d.h. einer Norm, die eine der wenigen völkerrechtlich zulässigen Ausnahmen von Art. 2 Ziff. 4 UN-Charta enthält. 104 Pernice, Art. 26 GG, Rn. 29. 105 Heintschel von Heinegg, Art. 26 GG, Rn. 11. 106 Fink, Art. 26 GG, Rn. 3. 107 Ebd. 108 Ebd. 109 Fink, Art. 26 GG, Rn. 44. 110 Siehe auch die rechtsvergleichenden Hinweise bei Pernice, Art. 26 GG, Rn. 12, und Wollenschläger, Art. 26, Rn. 14 f. 111 Siehe zu Art. 9 der japanischen Verfassung auch 2. Teil D. I. 3. a) und b). Das Friedensgebot wurde zwischenzeitlich abgeschwächt: Die japanische Regierung und das Parlament haben 2014/2015 eine (verfassungsrechtlich umstrittene und von Protesten begleitete) „Neuinterpretation“ (ohne Verfassungsänderung) von Art. 9 beschlossen, mit dem Ziel, Japan die Teilnahme an kollektiver Selbstverteidigung zu ermöglichen.

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lich umgesetzt.112 Dabei bezweckt Art. 26 Abs. 1 Satz 1 GG „nicht allein einen Gleichklang zwischen Völkerrecht und innerstaatlichem Recht und beschränkt sich nicht auf eine Wertentscheidung der Verfassung für den Frieden in der Welt. Im Gegensatz zu sonstigen ,allgemeinen Regeln‘ erhalten die Fundamentalnormen der völkerrechtlichen Friedenssicherung vielmehr Verfassungsrang.“ 113 Der Pönalisierungsauftrag von Art. 26 Abs. 1 Satz 2 GG wird nur teilweise durch §§ 80 (Vorbereitung eines Angriffskrieges), 80a (Aufstacheln zum Angriffskrieg) und 220a (Völkermord) StGB erfüllt,114 da andere friedensstörende Handlungen ebenfalls unter Strafe gestellt werden müssten.115 Das Fehlen einer umfassenden Regelung der Strafbarkeit von friedensstörenden Handlungen lässt sich aber mit dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot (Art. 103 Abs. 2 GG) und der beabsichtigten Vermeidung einer internationalen Gerichtsbarkeit Deutschlands für Angriffskriege anderer Staaten erklären.116 Art. 26 Abs. 2 GG bestimmt, dass zur Kriegsführung bestimmte Waffen nur mit Genehmigung der Bundesregierung hergestellt, befördert und in Verkehr gebracht werden dürfen. Damit ergibt sich aus dem Grundgesetz selbst die Wertung, dass Kriegswaffen grundsätzlich den Frieden gefährden können und daher sozialschädlich sind.117 Nicht abschließend geklärt ist, ob diese Norm ein repressives Verbot mit Befreiungsvorbehalt oder ein präventives Verbot mit Erlaubnisvorbehalt darstellt.118 Da im erstgenannten Fall die in Art. 26 Abs. 2 GG genannten Handlungen grundsätzlich verboten und nur ausnahmsweise erlaubt wären,119 würde sich diese Interpretation der Norm positiv auf die internationale Friedens-

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Pernice, Art. 26 GG, Rn. 13. Heintschel von Heinegg, Art. 26 GG, Rn. 2. 114 Siehe aber auch § 6 VStGB (Völkermord), § 130 StGB (Volksverhetzung) und Art. 9 Abs. 2 GG („Vereinigungen [. . .] die sich [. . .] gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten, sind verboten.“) sowie die weiteren Beispiele bei Wollenschläger, Art. 26 GG, Rn. 41 f. 115 Pernice, Art. 26 GG, Rn. 19; Fink, Art. 26 GG, Rn. 57; Streinz, Art. 26 GG, Rn. 33. 116 Heintschel von Heinegg, Art. 26 GG, Rn. 28; Wollenschläger, Art. 26 GG, Rn. 41 f. 117 Pernice, Art. 26 GG, Rn. 20. 118 Fink, Art. 26, Rn. 74; Streinz, Art. 26 GG, Rn. 45. Das BVerwG hat sich wie folgt geäußert (BVerwGE 61, 24 [31 f.]): „[. . .] nach dem erkennbaren Zweck des in Art. 26 Abs. 2 Satz 1 GG normierten Verbots mit Genehmigungsvorbehalt [ist] davon auszugehen, daß zur Kriegsführung – zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Staaten – bestimmte Waffen grundsätzlich nicht in die Hände von Privatpersonen gehören und eine Genehmigung nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz deshalb nur erteilt werden darf, wenn nach den gesamten Umständen des Einzelfalls entweder besondere öffentliche Interessen die Erteilung der Genehmigung fordern oder wenn besondere private Gründe für die Erteilung der Genehmigung sprechen und diese Genehmigung mit den durch das Verbot des Art. 26 Abs. 2 Satz 1 geschützten Belangen vereinbar ist.“ 119 Vgl. Peine, Rn. 473. 113

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sicherung auswirken. Sofern sichergestellt ist, dass Deutschland trotzdem seinen etwaigen völkerrechtlichen Verpflichtungen (beispielsweise gegenüber seinen NATO-Partnern) nachkommen kann,120 handelt es sich deshalb hierbei um die völkerrechtsfreundlichere Auslegung des Inhalts dieser Norm. Diese besonders völkerrechtsfreundliche Interpretation als repressives Verbot wird durch den Wortlaut,121 den Zweck der Gesamtnorm (Abwehr von Gefahren für den Frieden)122 sowie ihre Entstehungsgeschichte123 gestützt. Dem entspricht auch die einfachgesetzliche Ausgestaltung in § 6 Abs. 1 Kriegswaffenkontrollgesetz (KrWaffKontrG), derzufolge auch bei Nichtvorliegen von Versagungsgründen kein Anspruch auf Erteilung der Genehmigung besteht.124 Hervorzuheben ist unter dem Gesichtspunkt der Völkerrechtsfreundlichkeit, dass gem. § 27 KrWaffKontrG die erforderlichen Genehmigungen als erteilt gelten, soweit Deutschland durch völkerrechtliche Verträge verpflichtet ist. Die Genehmigungspraxis der Bundesregierung zeichnet sich durch einen über die Verpflichtung des Art. 26 GG hinausgehenden „traditionelle[n] Verzicht von Kriegswaffenexporten in Spannungsgebiete“ aus.125 Auch wenn, worauf Doehring zutreffend hinweist, durch die Lieferung von Kriegswaffen in Spannungsgebiete ihre Befriedung gefördert werden kann,126 ist diese Zurückhaltung nachvollziehbar, da die spätere Verwendung einer Waffe unvorhersehbar und unkontrollierbar ist.127 Damit ist auch die praktische Ausgestaltung dieser international einzigartigen Norm als völkerrechtsfreundlich zu werten. 120 Dies wird jedenfalls teilweise dadurch sichergestellt, dass Ziff. II Nr. 1 „Politische Grundsätze der Bundesregierung für den Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern“ vom 21.1.2000 den unbeschränkten Export in NATO-Länder und diesen gleichgestellte Länder (Australien, Japan, Neuseeland, Schweiz) sowie EU-Länder erlaubt, „es sei denn, dass aus besonderen politischen Gründen in Einzelfällen eine Beschränkung geboten ist.“ 121 Pernice, Art. 26 GG, Rn. 20. 122 Streinz, Art. 26 GG, Rn. 45; Pernice, Art. 26 GG, Rn. 20. 123 Fink, Art. 26, Rn. 75; Pernice, Art. 26 GG, Rn. 20; Hernekamp, Art. 26, Rn. 29. So auch Heintschel von Heinegg, Art. 26 GG, Rn. 33, der allerdings aus systematischen und teleologischen Gründen von einem präventiven Verbot ausgeht. 124 Pernice, Art. 26 GG, Rn. 21. 125 Hernekamp, Art. 26, Rn. 29. Siehe auch die Aussage von Carstens, dem damaligen Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, in der Bundestagssitzung vom 17.2.1965 (Plenarprotokoll Nr. 4/164, S. 8077 [B]): „Die Bundesregierung hat, wie mehrfach bekanntgegeben worden ist, den Beschluß gefaßt, künftig keine Vereinbarung über die Lieferung von Waffen in Spannungsgebiete einzugehen. Diese Grundsatzentscheidung ist nicht auf irgendein bestimmtes Land bezogen, sondern gilt für Spannungsgebiete schlechthin.“ 126 Doehring, Friedensgebot, Rn. 39. 127 Fink, Art. 26, Rn. 59. Siehe auch die Äußerung von Schmid (SPD) im Parlamentarischen Rat, dieser „sprach sich für Beibehaltung der vom Grundsatzausschuß vorgeschlagenen Formulierung ,sind verfassungswidrig‘ aus, welche die in der Verfassung stärkste rechtliche Verurteilung eines Tuns ausdrücken solle [. . .].“ Zitiert aus J.ö.R., Bd. 1 (1951), S. 237.

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4. Art. 1 Abs. 1 und 2 GG Die Bedeutung der Art. 24–26 GG für die internationale Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit der deutschen Rechtsordnung steht außer Frage. Zu Recht weist Rensmann jedoch darauf hin, dass die Grundentscheidung für die „offene Staatlichkeit“ schon in den Absätzen 1 und 2 des Art. 1 GG getroffen wurde, in denen der deutsche pouvoir constituant „den menschenrechtlichen Wertekonsens der internationalen Gemeinschaft zur Grundlage seiner Verfassungsordnung“ erhoben hat:128 Art. 1 Abs. 1 GG spricht von der unantastbaren Würde des Menschen und der Verpflichtung aller staatlichen Gewalt, sie zu achten und zu schützen, während das deutsche Volk sich in Abs. 2 um der Würde willen zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt bekennt.129 Menschenwürde und Menschenrechte werden somit in ihrer Bedeutung sowohl für das Grundgesetz – als „oberstes Konstitutionsprinzip“ – als auch für die internationale Gemeinschaft – als grundlegende Normen – angesprochen.130 Durch die Einbeziehung dieser – der Eröffnungsformel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte nachempfundenen131 – Formulierungen in Art. 1 Abs. 1 und 2 hat der Parlamentarische Rat einen „teleologischen Gleichlauf von Grundgesetz und Völkerrechtsordnung“ geschaffen.132 Dieser Gleichlauf ist aber nicht nur Ausdruck der offenen Staatlichkeit der deutschen Verfassung, sondern 128 Rensmann, Wertordnung und Verfassung, S. 27 f. Der die Staatsangehörigkeitsgrenzen überwindende Gedanke der Menschenwürde in Art. 1 Abs. 1 GG wird (neben dem in Art. 16 a Abs. 1 GG geregelten Asylrecht) auch von Tomuschat, Internationale Offenheit, Rn. 6, als Anhaltspunkt für die internationale Offenheit angesehen. 129 Vosgerau, Rn. 22, bezeichnet u. a. diese Bestimmung als „verfassungstranszendent“, worunter er Normen des Grundgesetzes versteht, die auf das zwingende Völkerrecht verweisen und daher deklaratorisch sind. 130 Rensmann, Genese, S. 56. 131 Hillgruber, Nationalstaat, Rn. 131. Die Präambel beginnt mit folgenden Worten: „Da die Anerkennung der angeborenen Würde und der gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bildet, [. . .].“ Rensmann, Wertordnung und Verfassung, S. 25, weist auf die herausragende Bedeutung hin, die die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte bei der Ausarbeitung der Grundrechtsbestimmungen des Grundgesetzes gespielt hat, obwohl die den entscheidenden Beratungen zugrundeliegende Entwurfsfassung der Erklärung zu diesem Zeitpunkt noch nicht von der Generalversammlung verabschiedet worden war. Eberhardt, S. 172, zufolge liegt aufgrund des zeitlichen Ablaufs der Schluss nahe, dass das Grundgesetz die erste Staatsverfassung war, welche von dem internationalen Menschenrechtsverständnis der Nachkriegszeit, wie es Ausdruck in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte fand, beeinflusst wurde. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte hatte auch Einfluss auf andere nationale Verfassungen, siehe hierzu Nettesheim, Menschenrechte, Rn. 32–34. 132 Rensmann, Genese, S. 57. Kotzur, S. 399, formuliert wie folgt: „Das in Art. 1 Abs. 2 GG positivierte Bekenntnis des deutschen Volkes zu überpositiven, das heißt ,unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten‘, ist zugleich verfassungsrechtliche Öffnung zu völkerrechtlich radizierter Menschenrechtsuniversalität.“

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2. Teil: Internationale Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit

auch ihre „Legitimationsgrundlage“.133 Art. 1 Abs. 1 und 2 GG stellt die durch die Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG geschützte verfassungsrechtliche „Struktursicherungsklausel“ der „offenen Staatlichkeit“ dar.134 Hieraus folgt, dass Völkerrecht nur in die durch das Grundgesetz verfasste Ordnung eindringen kann, wenn es mit der Menschenwürde und den Menschenrechten vereinbar ist.135 Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gilt dies ebenfalls im Hinblick auf die Anwendung fremden Rechts durch inländische Hoheitsträger auf Sachverhalte mit Auslandsbezug: „Das der Verfassung vorangestellte Bekenntnis zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als der Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt (Art. 1 Abs. 2 GG) ist nicht zu vereinbaren mit der Vorstellung, die mit den Grundrechten aufgerichtete Wertordnung, besonders die dadurch gewährte Sicherung eines Freiheitsraums für den Einzelnen, könne oder müsse allgemein außer Funktion treten, um der Rechtsordnung anderer Staaten den Vorrang zu lassen.“ 136 Art. 1 Abs. 2 GG führt darüber hinaus aber zu einer Rückkoppelung an internationale Menschenrechte, was das Bundesverfassungsgericht wie folgt formuliert: „Das Grundgesetz weist mit Art. 1 Abs. 2 GG dem Kernbestand an internationalen Menschenrechten einen besonderen Schutz zu. Dieser ist in Verbindung mit Art. 59 Abs. 2 GG die Grundlage für die verfassungsrechtliche Pflicht, auch bei der Anwendung der deutschen Grundrechte die Europäische Menschenrechtskonvention in ihrer konkreten Ausgestaltung als Auslegungshilfe heranzuziehen [. . .].“ 137 In der Literatur ist diese Norm dementsprechend als „normative Ausprägung der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes“ bezeichnet worden.138

II. Herkunft der Kategorien internationale Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit Der Wortlaut des deutschen Grundgesetzes enthält die Begriffe der internationalen Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit nicht. Dies wirft die Frage nach der Herausbildung dieser Kategorien auf. 1. Entwicklung der Kategorie der internationalen Offenheit In den Beratungen des Parlamentarischen Rates finden sich zwar vereinzelte Hinweise auf eine Öffnung des Staates gegenüber dem Völkerrecht,139 die Kate133 134 135 136 137 138

Rensmann, Genese, S. 57. Rensmann, Genese, S. 56 f. Rensmann, Genese, S. 57. BVerfGE 31, 58 (76). BVerfGE 111, 307 (329). Proelß, Friedensgebot, Rn. 15.

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gorie der offenen Staatlichkeit selbst war den Vätern und Müttern des Grundgesetzes jedoch nicht bekannt.140 Entscheidend für die Anerkennung einer Kategorie der internationalen Offenheit bzw. der „offenen Staatlichkeit“ war die 1964 unter dem Titel „Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für eine internationale Zusammenarbeit“ veröffentliche Antrittsvorlesung von Klaus Vogel.141 Vogel führte hierin aus, dass sich die Auswirkungen von Art. 24142 und Art. 25 GG143 auf die deutsche Rechtsordnung mit den herkömmlichen Kategorien staatsrechtlicher Theorie nicht mehr erklären lassen könnten.144 Im rechtswissenschaftlichen wie im politischen Bereich habe sich der Begriff des „Staates“ selbst gewandelt.145 Der Staatskonzeption eines in Anlehnung an Johann Gottlieb Fichte „geschloßne[n] Handelsstaat[es]“ 146 stehe der Begriff eines in eine Gemeinschaft von Staaten „eingeordneten Staates“ entgegen.147 Die Entscheidung 139 Vgl. die mit zustimmenden Zurufen begleiteten Ausführungen von Carlo Schmid in der 2. Sitzung des Plenums (8.9.1948), in: Deutscher Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948–1949 – Akten und Protokolle, Band 9, München 1996, S. 40 f.: „Wir sollten [. . .] die Tore in eine neugegliederte überstaatliche politische Welt weit öffnen. [. . .] in dieser Zeit gibt es kein Problem mehr, das ausschließlich mit nationalen Mitteln gelöst werden könnte.“ 140 Rensmann, Genese, S. 37. 141 Ebd. 142 Vogel, Verfassungsentscheidung, S. 8 f.: „[. . .] unter gewissen Voraussetzungen jedenfalls wird hier das Grundgesetz durch jenen „Integrationsvorbehalt“ des Art. 24 Abs. 1 – wie ähnlich sonst nur durch den zeitlichen Vorbehalt des Art. 146 GG – in seiner Geltung relativiert; es werden einem Gesetzgeber, der nicht der verfassungsändernde Gesetzgeber des Art. 79 GG ist, ja der als völkerrechtlicher Gesetzgeber vollkommen außerhalb der Verfassungsordnung des Grundgesetzes steht (und auch insoweit allenfalls dem gesamtdeutschen Verfassungsgesetzgeber nach Art. 146 GG zu vergleichen ist), bestimmte Einwirkungen auf diese Verfassungsordnung ermöglicht, wie sie bislang lediglich dem Gesetzgeber eines Bundesstaates gegenüber den Verfassungen seiner Gliedstaaten möglich waren.“ 143 Vogel, Verfassungsentscheidung, S. 9 f. 144 Vogel, Verfassungsentscheidung, S. 10. 145 Vogel, Verfassungsentscheidung, S. 24. Vogel, Verfassungsrecht, S. 163, weist darauf hin, dass er diesen Satz heute nicht mehr verwenden würde: „Was ich wirklich sagen wollte, läßt sich aber wesentlich besser ausdrücken, seit die Geschichtswissenschaft aus Frankreich den Begriff der Mentalität und ihrer Geschichte übernommen hat; gewandelt haben sich Ausgangsannahmen, die in Staatsrecht und Politik zuvor als selbstverständlich, als axiomatisch, vorausgesetzt worden waren, und dies wiederum beruht auf einem Wandel der grundsätzlichen Einstellung vor allem der geistig tonangebenden Schichten zur internationalen Gemeinschaft, auf einem Mentalitätenwandel. Im GG hat dieser Mentalitätenwandel seinen Ausdruck gefunden.“ 146 Vgl. die Forderung von Fichte, S. 203: „[. . .], daß der Staat vor allem Handel des Auslandes sich gänzlich verschließe, und von nun an eben so einen abgesonderten Handelskörper bilde, wie er bisher schon einen abgesonderten juristischen und politischen Körper gebildet hat.“ 147 Vogel, Verfassungsentscheidung, S. 27. Vom historischen Ablauf gesehen ist Vogel, Verfassungsrecht, S. 162 f., der Ansicht, dass vom Ausgang des 19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts „Staatsdenken, Politik und Verfassungsrecht weltweit, besonders aber in Deutschland, von einer Haltung staatlicher Selbstbezogenheit und Abkapslung ge-

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2. Teil: Internationale Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit

für eine „geschlossene Staatlichkeit“ oder für eine „Einordnung“ des einzelnen Staates in eine „internationale Gemeinschaft“ sei zum Verfassungsrecht dieses Staates zu rechnen, da er in einer grundsätzlichen Frage seine konkrete Erscheinungsform betreffe.148 Terminologisch schlug Vogel vor, den Typus eines in die Staatengemeinschaft „eingeordneten“ Staates im ausdrücklichen Gegensatz zur „geschlossenen“ Staatlichkeit Fichtes als „offenen“ Staat zu bezeichnen.149 In der Folgezeit hat sich die „offene Staatlichkeit“ 150 einschließlich ihrer begrifflichen Abwandlungen zu einem festen Bestand des verfassungsrechtlichen Diskurses in Deutschland entwickelt.151 Das Bundesverfassungsgericht hat sich den Schlussfolgerungen von Vogel im Jahre 1983 in einem Beschluss zum Rechtshilfevertrag vom 11. September 1970 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich angeschlossen, in dem es ausführte: „Das Grundgesetz geht von der Eingliederung des von ihm verfaßten Staates in die Völkerrechtsordnung aus (Präambel, Art. 24 bis 26 GG).“ 152 2. Entwicklung der Kategorie der Völkerrechtsfreundlichkeit Die genaue Entstehung des Begriffes der Völkerrechtsfreundlichkeit lässt sich heute nicht mehr aufklären.153 Die erste Erwähnung findet der Begriff „Völkerrechtsfreundlichkeit“ 1957 in einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, in der die Bundesregierung einen Verstoß des Niedersächsischen Schulgesetzes prägt waren, eine Geisteshaltung, die sich deutlich von dem zuvor gepflegten ,Weltbürgertum‘ unterscheidet und die ihrerseits dann nach dem Zweiten Weltkrieg von einer neu erwachsenen Bereitschaft zur internationalen Zusammenarbeit abgelöst wurde.“ Hieran zeigt sich, dass internationale Zusammenarbeit und Weltoffenheit keine lineare oder gar zwangsläufige Entwicklung darstellen. 148 Vogel, Verfassungsentscheidung, S. 30. 149 Vogel, Verfassungsentscheidung, S. 33. Den extremen Gegensatz zu einem offenen Verfassungsstaat in seiner Idealform bildet der isolierte, dem Völkerrecht gegenüber verschlossene und feindselige Staat. Häberle, Verfassungsstaat, S. 45, stellt dem „kooperativen Verfassungsstaat“ innerhalb des Spektrums des Verfassungsstaates den „egoistischen“, selbstbezogenen und nach außen „aggressiven“ Verfassungsstaat und außerhalb des verfassungsrechtlichen Spektrums den totalen Staat mit „geschlossener Gesellschaft“ und/oder den „wilden“ Staat gegenüber. 150 Interessant sind die späteren Anmerkungen von Vogel, Verfassungsrecht, S. 163, über den Hintergrund der Wahl dieses nunmehr klassischen Begriffs: „Ich will nicht verschweigen, daß dieser Ausdruck neuartig war und ich mich nur zögernd und mit Bedenken für ihn entschieden habe, weil er eine Verwechslung mit Poppers Begriff der „offenen Gesellschaft“ nahelegen konnte, der etwas anderes meint. Aber andere Bezeichnungen, die ich erwogen habe, wie etwa ,kooperativer‘ Staat hätten ebenfalls Mißverständnisse, nur anderer Art, hervorrufen können.“ 151 Rensmann, Genese, S. 37 mit zahlreichen Beispielen aus der Literatur. Siehe auch die Literaturhinweise bei Dörr, S. 1, Fn. 3 sowie Vogel, Verfassungsrecht, S. 163, Fn. 22, 24. 152 BVerfGE 83, 343 (370). 153 Schorkopf, Grundgesetz, S. 134, Fn. 12.

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gegen das Konkordat zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Deutschen Reich154 rügte, der das Recht des Bundes auf die Respektierung der für ihn verbindlichen internationalen Verträge verletze.155 Das Bundesverfassungsgericht lehnte den Normenkontrollantrag der Bundesregierung ab und führte aus, dass diesem Ergebnis nicht entgegengehalten werden könne, dass es „mit der in Art. 25 GG zum Ausdruck gebrachten Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes“ unvereinbar sei.156 Das Grundgesetz gehe in seiner Völkerrechtsfreundlichkeit nicht so weit, „die Einhaltung bestehender völkerrechtlicher Verträge durch eine Bindung des Gesetzgebers an das ihnen entsprechende Recht zu sichern“.157 Vielmehr überlasse es „die Erfüllung der bestehenden völkerrechtlichen Vertragspflichten der Verantwortung des zuständigen Gesetzgebers.“ 158 Die Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes wurde somit das erste Mal ausdrücklich in einem Urteil erwähnt, dessen Aussage – der deutsche Gesetzgeber sei nicht an die völkerrechtlichen Verträge Deutschlands gebunden – gerade nicht völkerrechtsfreundlich ist. In einer zeitgenössischen Urteilsbesprechung hieß es daher auch kritisch, dass das Urteil „in wesentlichen Teilen [. . .] mit dem geltenden Völkerrecht und Verfassungsrecht unvereinbar ist und darum zum Widerspruch hinausfordert.“ 159 Unter Ausklammerung des problematischen historischen Kontextes des zugrundeliegenden völkerrechtlichen Vertrages160 betrifft die Konkordats-Entscheidung die grundsätzliche Frage, ob es in Anbetracht der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes verfassungsgemäß ist, wenn sich der Gesetzgeber durch Erlass völkerrechtswidriger Regelungen über bestehende völkerrechtliche Verträge hinwegsetzt. Derzeit erlangt diese Frage insbesondere im Steuerrecht im Bereich der Doppelbesteuerungsabkommen Bedeutung: Bei dem sog. treaty override wird „durch zeitlich nachfolgende nationale Steuergesetzgebung die innerstaatliche Geltung einzelner Vorschriften von Doppelbesteuerungsabkommen geändert oder aufgehoben“.161 Diese recht neue Erscheinungsform im internationalen Steuerrecht ist zunächst in der – insbesondere von EU-Mitgliedstaaten stark kritisierten – Praxis

154 Konkordat zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Deutschen Reich vom 20. Juli 1933, RGBl. 1933 II, S. 679 ff. Es handelt sich hierbei um einen der ersten nach der Machtergreifung Hitlers abgeschlossenen völkerrechtlichen Verträge, der wegen des damit verbundenen innen- und außenpolitischen Prestigegewinns für das NS-Regime sehr umstritten war. 155 BVerfGE 6, 309 (319). Zur Einordnung der die Völkerrechtsfreundlichkeit betreffenden Urteilspassagen siehe Giegerich, Völkerrechtsfreundlichkeit, S. 6 f. 156 BVerfGE 6, 309 (362). 157 BVerfGE 6, 309 (362 f.). 158 BVerfGE 6, 309 (363). 159 Kaiser, S. 526. 160 Siehe hierzu den Beitrag von Wolf. 161 Musil, S. 26.

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2. Teil: Internationale Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit

der USA aufgetreten und im Folgenden von anderen Staaten (u. a. Deutschland) zur Vermeidung von Steuerausfällen durch Kapitalabfluss ebenfalls verwendet worden.162 Der Bundesfinanzhof, der – abweichend von seiner bisherigen Ansicht – die Zulässigkeit des treaty override verneinen wollte, hatte in einer seiner Vorlagen an das Bundesverfassungsgericht dazu ausgeführt: „Der Gesetzgeber wird von Verfassungs wegen (und damit basierend auf dem Rechtsstaatsgebot des Art. 20 Abs. 3 GG) in die Pflicht genommen, Völkervertragsrecht zu beachten. Die prinzipielle Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes ist vorrangig. Sie nimmt dem Gesetzgeber – in Abkehr von der bisherigen [. . .] Sichtweise – ,die Verfügungsmacht über den Rechtsbestand‘ [. . .] und wirkt für den Gesetzgeber unbeschadet dessen demokratisch-legitimierten Rechtssetzungsbefugnissen als unmittelbar bindendes Gebot wie als materiell-rechtliche ,Sperre‘. Ausnahmen bedürfen einer besonderen Rechtfertigung. Die Voraussetzungen dafür sind eng [. . .]. Ein Bruch des Völkervertragsrechts ist ausnahmsweise innerstaatlich bindend, ,sofern nur auf diese Weise ein Verstoß gegen tragende Grundsätze der Verfassung abzuwenden ist‘.“ 163 Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts ist dieser Ansicht in seinem Beschluss vom 15. Dezember 2015 aber nicht gefolgt: Die Verfassungswidrigkeit völkerrechtswidriger Gesetze lasse sich nicht durch den Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes begründen.164 Auch aus dem Rechtsstaatsprinzip könne ein Vorrang völkerrechtlicher Verträge bzw. eine Einschränkung des lex posterior-Grundsatz nicht abgeleitet werden.165 Bundesverfassungsrichterin König hat die Entscheidung der Senatsmehrheit in ihrer abweichenden Meinung unter anderem unter Bezugnahme auf Klaus Vogel kritisiert.166 Seit der Konkordats-Entscheidung findet sich der Gedanke der Völkerrechtsfreundlichkeit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts167 sowie in

162

Musil, S. 21 f. BFH, Entscheidung v. 10.1.2012, I R 66/09, Rn. 18 (betreffend § 50d Abs. 8 Satz 1 EStG 2002 i. d. F. des Steueränderungsgesetzes 2003). Nachdem der zweite Senat des BVerfG vorläufige Bedenken über die Zulässigkeit der Vorlage im Rahmen des bei ihm anhängigen Normenkontrollverfahrens 2 BvL 1/12 geäußert hat, hat das BFH am 10.6.2015 seinen Vorlagebeschluss mit weiteren Ausführungen ergänzt. Zur Völkerrechtsfreundlichkeit siehe auch BFH, Entscheidung v. 11.12.2013, I R 4/13, Rn. 34 (§ 50d Abs. 10 EStG 2002/2009 und der dazu ergangenen Übergangsvorschriften). 164 BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats, 15.12.2015 – 2 BvL 1/12, Ls. 4. 165 Ebd. 166 BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats, 15.12.2015 – 2 BvL 1/12, Abweichende Meinung der Richterin König, Rn. 26. Siehe auch Giegerich, Völkerrechtsfreundlichkeit, S. 25 f. 167 Siehe die Erfassung und Analyse der völkerrechtsrelevanten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bei Schorkopf, Völkerrechtsfreundlichkeit, S. 133–151. 163

C. Die internationale Offenheit einer Rechtsordnung

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der Literatur. Ein Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit wird zum ersten Mal erwähnt in einem Nichtannahmebeschluss der 2. Kammer des Ersten Senates aus dem Jahre 2000 zur Bodenreform.168 Eine nähere Beschreibung dessen, was die Völkerrechtsfreundlichkeit des deutschen Grundgesetzes ausmacht, enthält ein Beschluss aus dem Jahre 2004 zu Enteignungen in der SBZ.169 Der Umstand, dass die Ausarbeitung der die offene Staatlichkeit Deutschlands begründenden Verfassungsnormen untrennbar mit der speziellen deutschen Geschichte verbunden war,170 spiegelt sich damit in den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, in denen dieses sich grundlegend zur Völkerrechtsfreundlichkeit äußerte.

C. Die internationale Offenheit einer Rechtsordnung I. Die internationale Offenheit als Oberbegriff Die vorangegangene Klärung der Begrifflichkeiten beantwortet noch nicht die Frage nach dem genauen Verhältnis von internationaler Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit. Der weit zu verstehenden internationalen Offenheit kommt hierbei die Funktion eines Oberbegriffes zu, der neben der Völkerrechtsfreundlichkeit auch andere Aspekte beinhaltet. Im Rahmen der Begriffsklärung hat sich gezeigt, dass die internationale Offenheit so weit verstanden werden kann, dass sie auch außerrechtliche und nur schwer greifbare Gesichtspunkte wie die Befolgung von soft law und der Gebote der Courtoisie sowie die „Attitüde“ dem Völkerrecht gegenüber umfasst. Ebenfalls könnte sie die Offenheit für die Anwendung fremden Rechts und Offenheit gegenüber der rechtsvergleichenden Methode bei der Auslegung des eigenen Rechts einschließen. Diese Verschwommenheit macht eine Begrenzung und Systematisierung der unter das im Rahmen dieser Arbeit verwendete Konzept der internationalen Offenheit fallenden Erscheinungen erforderlich. Als entscheidendes Kriterium hierfür bietet sich der rechtliche Bezug des jeweiligen Gesichtspunktes an, ein Bezug, der beispielsweise bei den Geboten der Courtoisie nicht gegeben ist. Im Folgenden sollen daher diejenigen Gesichtspunkte der internationalen Offenheit beschrieben und eingeordnet werden, die jedenfalls eine gewisse rechtliche Relevanz aufweisen.

168 BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats, 24.10.2000 – 1 BvR 1643/ 95, Zeitschrift für Vermögens- und Immobilienrecht 2001, S. 114 f. Vgl. für die Literatur Bleckmann, Völkerrechtsfreundlichkeit, S. 309, m.w. N. Siehe auch schon Bleckmann, Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit. 169 BVerfGE 112, 1 – SBZ-Enteignungen. Siehe hierzu die Darstellung im 4. Teil B. II. 3. 170 Siehe hierzu 2. Teil B. I.

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2. Teil: Internationale Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit

Gesichtspunkte, die sich mit der Rezeption von Normen oder Urteilen befassen, die einer anderen nationalen Rechtsordnung entstammen – dies betrifft insbesondere den Bereich des internationalen Privatrechts –, werden im Rahmen dieser Systematisierung ausgeblendet. Diese Begrenzung lässt sich damit rechtfertigen, dass es sich bei eventuell auftretenden Konflikten zwischen Normen, die lediglich unterschiedlichen nationalen Rechtsordnungen entstammen, um Konflikte von Normen vergleichbaren Ursprungs handelt, bei denen die betroffenen Rechtsordnungen auf gleicher horizontaler Stufe anzusiedeln sind. Im Unterschied dazu kann bei den vorliegend interessierenden Konflikten die Völkerrechtsordnung eine Allgemeingültigkeit für sich beanspruchen, die der partikularen nationalen Rechtsordnung fehlt. Da die Durchsetzung völkerrechtlicher Vorgaben – anders als die Durchsetzung nationaler Normen – grundsätzlich im Interesse der gesamten Völkerrechtsgemeinschaft liegt und hieran somit ein höheres Gemeininteresse besteht, soll in dieser Arbeit auch nur auf diesen Bereich eingegangen werden. Bei der Begrenzung auf rechtlich relevante Erscheinungsformen der internationalen Offenheit lassen sich drei wesentliche Elemente unterscheiden, die in ihrem Zusammenspiel die Kategorie der internationalen Offenheit charakterisieren: – der rezeptive, – der aktive und – der menschenbezogene Aspekt.171

II. Die drei Aspekte der internationalen Offenheit Der rezeptive Aspekt beschreibt die im strengen Sinne rechtliche Komponente der internationalen Offenheit, der aktive Aspekt ihre (außen-)politische Dimension und der menschenbezogene Aspekt die der internationalen Offenheit inhärenten philanthropischen Tendenzen. Die Aspekte decken auch die unterschiedlichen zeitlichen Bezugsrahmen ab. So weist der rezeptive Aspekt einen Gegenwartsund der aktive Aspekt einen Zukunftsbezug auf, wohingegen der menschenbezogene Aspekt jenseits bestimmter zeitlicher Vorgaben die Allgemeingültigkeit gewisser Werte betont.

171 Vgl. die drei Kategorien der offenen Staatlichkeit der deutschen Rechtsordnung bei Tomuschat, Internationale Offenheit, Rn. 4 ff.; Kment, S. 167–174. Indirekt lassen sich diese drei Kategorien auch bei Sommermann, S. 239, nachweisen: „Immer mehr Verfassungen [. . .] legen ihren Staat z. B. durch die Öffnung des nationalen Rechts gegenüber dem Völkerrecht [rezeptiver Aspekt], das Bekenntnis zu den internationalen Menschenrechten [menschenbezogener Aspekt] oder die Schaffung der Voraussetzungen für die Beteiligung an einer supranationalen Gemeinschaft [aktiver Aspekt] auf eine positive Friedensgestaltung fest.“

C. Die internationale Offenheit einer Rechtsordnung

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1. Der rezeptive Aspekt: Völkerrechtsfreundlichkeit Die Grundlage der internationalen Offenheit einer Rechtsordnung liegt in ihrer Völkerrechtsfreundlichkeit.172 Als „Leitmaxime“ zielt diese darauf ab, „im innerstaatlichen Rechtsraum die Befolgung völkerrechtlicher Gebote zu fördern und zu erleichtern.“ 173 Dies kann neben der Öffnung für die direkte Einwirkung völkerrechtlicher Normen in die innerstaatliche Rechtsordnung (z. B. Art. 25 GG) auch durch die inhaltliche Übernahme materieller völkerrechtlicher Vorgaben in den Verfassungstext erfolgen.174 Eine Vernachlässigung des rezeptiven Aspektes der internationalen Offenheit signalisiert hingegen die fehlende Fähigkeit des Staates zur effektiven Gewährleistung völkerrechtlicher Garantien innerhalb seines Hoheitsbereiches oder sogar die fehlende Bereitschaft zur Einhaltung der völkerrechtlichen Verpflichtungen. 2. Der aktive Aspekt: Internationale Zusammenarbeit a) Allgemein Neben der „rezeptiven“ Völkerrechtsfreundlichkeit besitzt die internationale Offenheit auch einen aktiven, außenwirksamen, zukunftsgerichteten Aspekt.175 Die Annahme eines solchen Aspektes lässt sich mit dem starken Einfluss internationaler Entwicklungen auf die Interessen und Werte des Staates und dem daraus folgenden Erfordernis der Einflussnahme auf diese internationalen Entwicklungen zur Interessenwahrung und zur Wahrung sowie Verbreitung der Verfassungswerte rechtfertigen.176 Der aktive Aspekt der internationalen Offenheit umfasst als Teilaspekt auch die Schaffung von Völkerrecht und die Verrechtlichung177 der internationalen Beziehungen. Ein Anhaltspunkt, der für die Existenz eines ausgeprägten aktiven Aspektes der internationalen Offenheit spricht, ist die Leichtigkeit, mit der nach der hierfür gewählten innerstaatlichen Konzeption völkerrechtliche Verpflichtungen übernommen werden können (einfaches Verfahren für die Ratifikation völkerrechtlicher Verträge ohne besondere Mehrheitserfordernisse). Wird innerstaatlich selbst die völkerrechtskonforme Auflösung solcher eingegangenen Verpflichtungen ganz oder teilweise (beispielsweise für bestimm172 Vgl. Hobe, Verfassungsstaat, S. 138, demzufolge der Grad der Offenheit einer Rechtsordnung entscheidend von der Bereitschaft zur Übernahme völkerrechtlicher Vorgaben abhängt. 173 Tomuschat, Internationale Offenheit, Rn. 9. 174 Vgl. Dörr, S. 62, der beides als Element der internationalen Offenheit benennt. 175 Für einen aktiven Aspekt der internationalen Offenheit Giegerich, Verfassungsstaat, S. 15; Gomes Canotilho, S. 55; Tomuschat, Internationale Offenheit, Rn. 79. 176 Röben, S. 59. 177 Für eine Verrechtlichung der internationalen Beziehungen spricht, dass die Alternative zu einer international rule of law eine international rule of power ist, siehe Giegerich, Verfassungsstaat, S. 32.

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2. Teil: Internationale Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit

te Verträge wie die EMRK178) erschwert, dann ist dies ebenfalls ein Anhaltspunkt für eine starke Betonung des aktiven Aspektes der internationalen Offenheit. Während die innerstaatliche Befolgung bereits bestehender völkerrechtlicher Verpflichtungen Zweifeln an dem Rechtscharakter von Völkerrecht entgegenwirkt, trägt die aktive, auf die Schaffung von Völkerrecht gerichtete Komponente zur Völkerrechtsentwicklung bei. Ersteres Verhalten betrifft somit den status quo des Völkerrechts, letzteres gewährleistet die Zukunftsfähigkeit des Völkerrechts durch eine Anpassung an neuere Entwicklungen sowie einen zumindest potenziellen Einfluss des Staates auf diese Entwicklung.179 Aufgrund dieses Bezugs zum positiven Recht spricht rein begrifflich zunächst nichts dagegen, diesen Teilaspekt als (außenwirksame) Völkerrechtsfreundlichkeit zu bezeichnen.180 Allerdings würde eine Differenzierung zwischen einem passiven und einem außenwirksamen Aspekt der Völkerrechtsfreundlichkeit im Rahmen dieser sich auch auf die – umfassendere – internationale Offenheit erstreckenden Untersuchung zur Erschwerung des Verständnisses führen, ohne dass in der Sache etwas gewonnen wäre. Daher wird in dieser Arbeit der Begriff Völkerrechtsfreundlichkeit in einem restriktiven Sinne verwendet, so dass sich die Freundlichkeit nur auf das bereits bestehende Völkerrecht bezieht und damit rein rezeptiv zu verstehen ist. Ein solch enges Verständnis der Völkerrechtsfreundlichkeit hat auch den Vorteil einer eindeutigen Abgrenzung zum Konzept der internationalen Offenheit. Der aktive Aspekt der internationalen Offenheit geht über eine wie auch immer zu verstehende (außengerichtete) Völkerrechtsfreundlichkeit hinaus, indem er neben der rechtlichen auch den Bereich der politischen und tatsächlichen internationalen Kooperation umfasst. Internationale Zusammenarbeit beinhaltet damit so unterschiedliche Bereiche wie die Mitarbeit in internationalen Organisationen, das Leisten von Entwicklungshilfe oder den Abschluss völkerrechtlicher Verträge. Dieser aktive Aspekt der internationalen Offenheit entspricht somit auf staatsrechtlicher Ebene dem auf völkerrechtlicher Ebene stattgefundenen Wandel hin zu einem Kooperationsrecht.181 178

Art. 58 EMRK sieht eine Kündigungsmöglichkeit vor. Vgl. Tomuschat, Internationale Offenheit, Rn. 5, zur internationalen Offenheit des deutschen Grundgesetzes: „Das Grundgesetz belässt es nicht bei einer bloß rezeptiven Hinnahme des geltenden Völkerrechts, sondern fordert die verantwortlichen Staatsorgane zur aktiven Mitarbeit bei der Bewältigung internationaler Probleme auf.“ 180 Dies dürfte dem Verständnis der deutschen Bundesregierung entsprechen, vgl. Wasum-Rainer, S. 126: „Nach Auffassung der Bundesregierung hat die völkerrechtsfreundliche Ausrichtung heute zwei ganz konkrete Inhalte: zum einen die Stärkung der internationalen Gerichtsbarkeit und der friedlichen Streitbeilegung, zum anderen die Verrechtlichung der internationalen Beziehung.“ Letztlich zeigt dieses Beispiel aber auch, wie unterschiedlich die verschiedenen Gewalten im Staat – ausgehend von den ihnen zugewiesenen Aufgaben – Völkerrechtsfreundlichkeit definieren. 181 Rensmann, Genese, S. 57. 179

C. Die internationale Offenheit einer Rechtsordnung

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Als Beispiel für eine Verfassungsnorm, die eine den Staat zur internationalen Kooperation verpflichtende Bestimmung enthält, kann Art. 27 der argentinischen Verfassung182 genannt werden, der die Bundesregierung dazu verpflichtet, ihre Friedens- und Handelsbeziehungen mit anderen Staaten durch den Abschluss von Verträgen zu stärken, die mit den in der Verfassung niedergelegten Prinzipien des öffentlichen Rechts vereinbar sind. Ein viel weitergehender, an den Staat gerichteter Verfassungsauftrag zur Förderung des internationalen Friedens, der international rule of law und der friedlichen Streitbeilegung findet sich in Art. 51 der indischen Verfassung183: „The State shall endeavour to (a) promote international peace and security; (b) maintain just and honourable relations between nations; (c) foster respect for international law and treaty obligations in the dealings of organised people with one another; and (d) encourage settlement of international disputes by arbitration.“ Eine Unterscheidung der rezeptiven und der aktiven Komponente der internationalen Offenheit ermöglicht unter Umständen das Erkennen bestimmter, in der Konstruktion einer Rechtsordnung angelegter Forderungen an das Auftreten des Staates im zwischenstaatlichen Bereich. Hierbei deutet die Entscheidung für eine hauptsächlich im passiven, rezeptiven Sinne international offene Verfassungskonzeption hin auf die Beabsichtigung einer „Mitläuferrolle“ des Staates in internationalen Beziehungen. Zwar garantiert die Befolgung der Regeln des Völkerrechts die guten Beziehungen zur Staatengemeinschaft, ein eigener Beitrag zur Völkerrechtsentwicklung wird jedoch kaum geleistet. Betont eine Verfassung hingegen die aktive Komponente der Völkerrechtsfreundlichkeit, dann kann dies für außenpolitische Ambitionen eines Staates sprechen. Da das Völkerrecht von der souveränen Gleichheit aller Staaten ausgeht,184 bedeutet die Übernahme einer Führungsrolle in der Staatengemeinschaft aber nicht, dass der jeweilige Staat eine übergeordnete Stellung einnimmt oder gar über dem Recht steht. Ein Staat kann folglich nicht in der Staatengemeinschaft agieren, ohne sich selbst in diese Staatengemeinschaft einzuordnen; Einordnung in die Staatengemeinschaft bedeutet, so Vogel in seinen bahnbrechenden Ausführungen, auch immer eine gewisse „Unterordnung“ unter die Staatengemeinschaft.185 182

Abrufbar unter www.biblioteca.jus.gov.ar/argentina-constitution.pdf. Auf Englisch und Hindi abrufbar unter http://indiacode.nic.in/coiweb/wel come.html. 184 Art. 2 Ziff. 1 UN-Charta. Vgl. aber auch die Aussage des australischen Botschafters Butler, S. 29: „The U.N. is a community of equals, but within which, without doing too much violence to George Orwell, there clearly were Five who were vastly more equal than their equals.“ 185 Vogel, Verfassungsentscheidung, S. 26. Vgl. aus politologischer Sicht auch Brock, S. 8, der darauf hinweist, dass derjenige, der sich auf die Sprache des Völkerrechts einlasse, sich den Regeln unterwerfe, die mit dem Sprechen in Kategorien des Rechts einhergehe und dementsprechend eine Selbstbindung vollziehe. Da es auf internationaler 183

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2. Teil: Internationale Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit

Aus heutiger Sicht ist hierfür eine andere Bezeichnung – der Begriff der „Interdependenz“ – vorzugswürdig, da dieser ein neues Stadium der zwischenstaatlichen Beziehungen signalisiert und nicht die negativen Konnotationen hat, die mit einer „Unterordnung“ einhergehen. Interdependenz, die als Stadium wechselseitiger Abhängigkeit verstanden werden kann, ermöglicht die Bewältigung von Aufgaben und Schwierigkeiten, denen ein Einzelstaat – unabhängig davon, wie mächtig er ist – nicht wirksam begegnen kann. Die Erhaltung des ökologischen Gleichgewichts zum Wohle aller ist ein Beispiel für eine solche Aufgabe, die nur gemeinschaftlich bewältigt werden kann.186 Die Position des amerikanischen „Exceptionalism“, die den eigenen Staat als „leuchtendes“ Vorbild im Bereich der Freiheit und des Rechts sieht und davon ausgeht, dass dieser Völkerrecht verletzen darf, wenn es einem vermeintlich „höheren“ Gut dient,187 dürfte in Zeiten der sich herausbildenden multipolaren Weltordnung und den damit einhergehenden Verschiebungen der internationalen Machtverhältnisse keinen nachhaltigen Erfolg versprechen und nicht auf die Akzeptanz der Völkergemeinschaft treffen. Letztlich liegt dieser Position die zu hinterfragende Annahme zugrunde, dass die westliche Zivilisation die höchste Stufe einer linearen und unausweichlichen menschlichen Entwicklung darstellt, deren fortschrittlichste Ausprägung die USA ist.188 Eine Einordnung in die Staatengemeinschaft, unabhängig davon, ob diese als „Unterordnung“ oder als „Interdependenz“ verstanden wird, bedeutet auch die Übernahme der rechtlichen Vorgaben der Staatengemeinschaft in das nationale Recht. Daraus folgt, dass eine enge Wechselwirkung zwischen dem rezeptiven und dem aktiven Aspekt der internationalen Offenheit besteht. Dieser Zusammenhang zwischen aktiver Mitarbeit und rezeptiver Befolgung völkerrechtlicher Normen wird in folgendem Satz aus der Präambel der marokkanischen Verfassung189 deutlich: „Mesurant l’impératif de renforcer le rôle qui lui revient sur la scène mondiale, le Royaume du Maroc, membre actif au sein des organisations internationales, s’engage à souscrire aux principes, droits et obligations énoncés dans leurs chartes et conventions respectives, il réaffirme son attachement aux droits de l’Homme tels qu’ils sont universellement reconnus, ainsi que sa volonté de continuer œuvrer pour préserver la paix et la sécurité dans le monde.“ Zum

Ebene kein Gewaltmonopol gebe, komme dieser Selbstbindung besondere Bedeutung zu. 186 Für eine ausführliche Untersuchung hierzu siehe „Konstitutionelle Gemeinwohlorientierung im Völkerrecht – Grundlagen völkerrechtlicher Konstitutionalisierung am Beispiel des Schutzes der globalen Umwelt“ von Scheyli. 187 Für einen Überblick über den „Exceptionalism“ siehe Saito, S. 43–55. 188 Saito, S. 54. Vgl. hierzu den transzivilisatorischen Ansatz von Onuma, siehe 2. Teil C. II. 3. b) bb). 189 Offizielle französische Übersetzung abrufbar unter http://81.192.52.100/BO/fr/ 2011/bo_5964-bis_fr.pdf.

C. Die internationale Offenheit einer Rechtsordnung

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Verhältnis zwischen dem aktiven und rezeptiven Aspekt bleibt abschließend zu sagen, dass die Einordnung in und Unterordnung unter die Staatengemeinschaft aufgrund ihrer Auswirkungen auf die staatlichen Legitimationsgrundlagen letztlich weit anspruchsvoller sind als der aktive Aspekt der internationalen Offenheit.190 Die Übernahme von mehr Verantwortung auf internationaler Ebene kann die Völkerrechtsfreundlichkeit einer Verfassung auch einem besonderen Test unterziehen, da beispielsweise bei der Entsendung von Soldaten in andere Länder die Versuchung bestehen kann, völkerrechtliche Restriktionen zu umgehen oder zu verfehlen.191 Daher erscheint eine ausdrückliche Festlegung der inhaltlichen Maßstäbe der internationalen Kooperation wünschenswert. Eine solche Bestimmung findet sich beispielsweise in Art. 7 Abs. 1 der portugiesischen Verfassung.192 Demnach lässt sich Portugal in seinen internationalen Beziehungen von den Grundsätzen der nationalen Unabhängigkeit, der Achtung der Menschenrechte, der Rechte der Völker, der Gleichberechtigung der Staaten, der friedlichen Lösung internationaler Konflikte, der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten anderer Staaten sowie der Zusammenarbeit mit allen Völkern zur Befreiung und zum Fortschritt der Menschheit leiten. Ähnliche Regelungen finden sich in Art. 3 Abs. 5, 21 EUV.193 Fehlt es an einer solchen ausdrücklichen Bestimmung, so müssen die inhaltlichen Maßstäbe aus der in ihrer Gesamtheit zu betrachtenden Rechtsordnung gewonnen werden. Für die deutsche Rechtsordnung lassen sich beispielsweise die Grundrechte, Rechtsstaat, Demokratie und Sozialstaat als inhaltliche Maßstäbe ableiten.194 b) Betonung des aktiven Aspektes im Konzept des kooperativen Verfassungsstaates Die aktive Komponente zeigt sich stark betont in dem von Häberle entwickelten Konzept des kooperativen Verfassungsstaates. Dieser Begriff dürfte in Einzelheiten von dem Begriff „offener Verfassungsstaat“ abweichen, insbesondere durch die stärkere Betonung des notwendigerweise aktiven Gestaltungsmomentes. Die folgende kurze Darstellung dieses Konzeptes soll zu einem besseren Verständnis des aktiven Aspektes der internationalen Offenheit beitragen.

190

Rensmann, Genese, S. 57. Paulus, S. 87. 192 Abrufbar unter http://www.parlamento.pt/RevisoesConstitucionais/Documents/ Revisao2005/155a00.pdf. 193 Siehe hierzu 3. Teil B. I. 194 Tomuschat, Internationale Offenheit, Rn. 80. 191

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2. Teil: Internationale Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit

aa) Merkmale des kooperativen Verfassungsstaates Der kooperative Staat zeichnet sich durch seine verfasste und somit rechtlich begrenzte sowie nach innen und außen offene Struktur aus.195 Offenheit nach außen bedeutet dabei, dass Völkerrecht, internationale Zusammenarbeit und Solidarität seine Identität mitgestalten196 und dass er von vornherein auf Kooperation im internationalen Feld angelegt ist.197 Er betreibt aktiv die Sache der anderen Staaten, der internationalen und supranationalen Einrichtungen und der „fremden“ Menschen.198 Besondere Merkmale des kooperativen Verfassungsstaates sind die Offenheit für völkerrechtliche Bindungen mit Durchgriffswirkung in den innerstaatlichen Bereich (auch im Bereich der Menschenrechte), aktives, zielgerichtetes Verfassungspotenzial für „gemeinsame“ internationale Aufgabenbewältigung sowie leistungsstaatliche Solidarität über die Landesgrenzen hinaus, z. B. Entwicklungshilfe, Umweltschutz, Terroristenbekämpfung.199 Bereits diese Aufzählung verdeutlicht die Betonung der internationalen Zusammenarbeit im Konzept des kooperativen Verfassungsstaates. Der kooperative Verfassungsstaat weist jedoch auch einen sehr starken menschenrechtlichen Bezug auf: So stellt er den Menschen in den Mittelpunkt des staatlichen Handelns,200 was zu kooperativer Grundrechtsverwirklichung führt.201 bb) Kooperationsoffene Anknüpfungspunkte im Verfassungstext Häberle zufolge ist es wünschenswert, dass die vom Verfassungsstaat praktizierte internationale Kooperation auch Eingang in seine Rechtstexte, insbesondere in die Verfassungsurkunden findet.202 Insofern macht Häberle folgende kooperationsoffene Anknüpfungspunkte im Verfassungstext aus: allgemeine Bekenntnisse zu „Weltoffenheit“, „Solidarität“, internationaler Zusammenarbeit und (Mit-)Verantwortung; spezielle und abgestufte Kooperationsformen, wie Art. 24 Abs. 1, 2 und 3 GG; allgemeine universelle Grund- und Menschenrechtserklärungen; spezielle Grund- und Menschenrechtsbestimmungen mit „Außenwirkung“; (abgestufte) Einbeziehung des internationalen Rechts sowie die Thematisierung von „Gemeinschaftsaufgaben“ (Menschenrechte einerseits – Entwicklungshilfe, Umweltschutz, Rohstoffversorgung, Terrorismusbekämpfung, Sicherung des Weltfriedens andererseits). Häberle weist aber auch darauf hin, dass sich aufgrund der 195

Häberle, Verfassungsstaat, S. 142. Häberle, Verfassungsstaat, S. 143. 197 Häberle, Verfassungsstaat, S. 148. 198 Häberle, Verfassungsstaat, S. 144 f. 199 Häberle, Verfassungsstaat, S. 176. 200 Ebd. 201 Siehe zu dem Konzept der kooperativen Grundrechtsverwirklichung Häberle, Verfassungsstaat, S. 173–175. 202 Häberle, Verfassungsstaat, S. 143. 196

C. Die internationale Offenheit einer Rechtsordnung

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erheblichen Variationsbreite das „Kooperative“ am Verfassungsstaat nicht abschließend beschreiben lässt.203 Darüber hinaus lassen sich dem Verfassungstext nur erste Anhaltspunkte für die Kooperationsoffenheit eines Staates entnehmen, da die Verfassungs- bzw. Staatspraxis oft fortgeschrittener ist, als dies der Verfassungsurkunde entnommen werden kann.204 3. Der menschenbezogene Aspekt: Orientierung am Menschenwohl a) Allgemein Während der rezeptive Aspekt die (technisch-rechtliche) Grundlage der internationalen Offenheit darstellt, ist der menschenbezogene Aspekt als ihr (moralisches) Fundament zu werten.205 Der menschenbezogene Aspekt der internationalen Offenheit spiegelt die relativ neuartige,206 deutlich menschenfreundlich geprägte Entwicklung auf völkerrechtlicher Ebene wider: So steht in der durch die UN-Charta verfassten internationalen Gemeinschaft nicht mehr die Staatensouveränität, sondern „Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit“ 207 im Mittelpunkt der Völkerrechtsordnung.208 Diese humanistische Wende im Völkerrecht zeigt sich auch daran, dass sich sämtliche heute als ius cogens oder als Verpflichtung erga omnes anerkannten Normen auf die Menschenwürde, die Sicherung fundamentaler Menschenrechtsstandards und auf das – hauptsächlich als humanitäre Begrenzung der staatlichen Souveränität zu verstehende – Gewaltverbot zurückführen lassen.209 203

Häberle, Verfassungsstaat, S. 149. Häberle, Verfassungsstaat, S. 148. 205 Vgl. de Quadros, S. 48 f.: „Sicher ist, dass das höchste Ziel dieses Prinzip [der Völkerrechtsfreundlichkeit der Verfassung] die Grundrechte sind.“ 206 Ihre heutige Bedeutung haben Menschenrechte erst im Verlaufe des letzten Jahrhunderts erlangt. Siehe hierzu Tomuschat, Menschenrechte, Rn. 1: „Menschenrechte waren im klassischen Völkerrecht bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges allenfalls ein Randthema. [. . .]. In der Tat sucht man noch in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts in den gängigen Lehrbüchern vergeblich nach einem Kapitel über völkerrechtlichen Menschenrechtsschutz.“ Vgl. auch Onuma, Transcivilizational Perspective, S. 371: „Even in the 1970s, when the US President Jimmy Carter sought to develop human rights diplomacy, many experts sneered at his naivety. The problem of human rights was not a major political, legal and social issue. It was something which a few eccentric people were interested in.“ Dies steht in starkem Kontrast zur heutigen Bedeutung der Menschenrechte, die sich zunehmend selbst in Sicherheitsratsresolutionen – vgl. nur SR Res. 1973 (2011) zum Libyen-Konflikt – ausdrückt. Hinzuweisen ist aber auch auf die Gefahr, dass „Menschenrechtsnormen als Ermächtigungsnormen für Gewalteinsätze nutzbar gemacht werden können“, vgl. die Darstellung bei Fischer-Lescano/Liste, S. 238. 207 Präambel der UN-Charta. 208 Rensmann, Genese, S. 56. Vgl. auch von Arnauld, Souveränität, S. 42: „[. . .] Grundwerte einer internationalen Gemeinschaft, die zunehmend den Menschen in den Mittelpunkt stellt.“ 209 Rensmann, Wertordnung, S. 380. 204

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2. Teil: Internationale Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit

b) Bestandteile des menschenbezogenen Aspektes Der menschenbezogene Aspekt der internationalen Offenheit beinhaltet insbesondere die Menschenrechtsfreundlichkeit210 einer Rechtsordnung (siehe hierzu aa)), bei der es sich – aufgrund ihres Bezugs zu völkerrechtlichen Vorgaben – auch um einen Unterfall der Völkerrechtsfreundlichkeit handelt. Der enge Zusammenhang zwischen Völkerrechtsfreundlichkeit und Menschenrechtsfreundlichkeit ist in der Literatur wie folgt beschrieben worden: „Die Menschenrechtsfreundlichkeit verbindet sich mit dem Prinzip der Völkerrechtsfreundlichkeit zur Verfassungsmaxime der Weltoffenheit und damit zur Absage an nationalstaatliche Isolation.“ 211 Die Anerkennung eines eigenständigen menschenbezogenen Aspektes im Rahmen der vorliegenden Arbeit rechtfertigt sich insbesondere mit folgenden Erwägungen: – dem engen Bezug von menschenrechtlichen Fragestellungen zum völkerrechtlichen ius cogens sowie der überragenden Bedeutung der Menschenrechte im Völkerrecht,212 dem mit der bloßen Benennung als Unterfall der Völkerrechtsfreundlichkeit nicht hinreichend Rechnung getragen wäre, sowie – der Erkenntnis, dass das Wohl der Menschheit auch durch nicht-rechtliche Mechanismen gefördert werden kann213 und der hieraus folgenden Notwendigkeit, ein Modell zu schaffen, dass diese Erkenntnis nicht nur reflektiert, sondern auch entsprechende mögliche zukünftige Entwicklungen rezipieren kann (Erweiterungsfähigkeit des Modells). Zudem ermöglicht die Zuerkennung eines eigenständigen menschenbezogenen Aspektes eine bessere Darstellung der vielfältigen Interaktionen mit den beiden anderen Aspekten. Beispielsweise erfordert der Schutz der Menschen und ihrer Rechte auch ein nach außen gerichtetes Tätigwerden im rechtlichen Bereich (z. B. die Erarbeitung neuer Menschenrechtsschutzverträge) oder im rein tatsächlichen Bereich (z. B. das Leisten von Entwicklungshilfe). Mitunter kann der menschenbezogene Aspekt aber sogar das scheinbar völkerrechtsunfreundliche Unterlassen einer bestimmten, völkerrechtlich gebotenen Handlung verlangen, beispielsweise der Umsetzung einer menschenrechtswidrigen völkerrechtlichen Norm. Auch wenn der menschenbezogene Aspekt über ein begrenztes, rein legalistisches Verständnis hinausgeht (siehe hierzu bb)), wird bei der Untersuchung einer Rechtsordnung auf ihre internationale Offenheit der Fokus aus Praktikabilitätsgründen auf der Betrachtung ihrer Menschenrechtsfreundlichkeit liegen (siehe hierzu cc)). 210 Dieser Begriff wird beispielsweise von de Quadros, S. 49, in Bezug auf das Grundgesetz benutzt. 211 So Isensee, Ausländer, S. 57 f., Fn. 19, für das deutsche Grundgesetz. 212 Siehe oben 2. Teil C. II. 3. a). 213 Siehe hierzu 2. Teil C. II. 3. b) bb).

C. Die internationale Offenheit einer Rechtsordnung

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aa) Menschenrechtsfreundlichkeit Für die Außenwahrnehmung des Verfassungsstaates dürfte die Bedeutung der Menschenrechtsfreundlichkeit besonders hoch sein, entfaltet der Verfassungsstaat doch gerade auf dem Gebiet der Menschenrechts- und Grundrechtsverwirklichung seine „werbende Kraft“.214 Die Menschenrechtsfreundlichkeit einer Rechtsordnung zeigt sich in der innerstaatlichen Durchsetzung der dem Schutz von Menschen dienenden völkerrechtlichen Vorgaben, insbesondere Menschenrechtsschutzverträgen. Als Ausgangspunkt hierfür kann insbesondere ein ausführlicher, an völkerrechtlichen Standards orientierter Grundrechtskatalog dienen (siehe hierzu im Einzelnen D. I. 4.). Hervorzuheben sind auch die in zahlreichen Verfassungen enthaltenen Menschenwürde-Klauseln,215 die ebenfalls Anhaltspunkte für die Menschenrechtsfreundlichkeit einer Verfassung liefern. Eine solche findet sich neben Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG beispielsweise in Art. 10 Abs. 1 der spanischen Verfassung,216 die neben der menschlichen Würde („dignidad de la persona“) u. a. auch die freie Persönlichkeitsentwicklung („el libre desarrollo de la personalidad“) als Grundlage der politischen Ordnung bezeichnet. Art. 1 der portugiesischen Verfassung217 bestimmt, dass Portugal eine souveräne Republik ist, die auf der Würde der menschlichen Person basiert („uma República soberana, baseada na dignidade da pessoa humana“). Ihre grenzüberschreitende Wirkung entfaltet die Menschenrechtsfreundlichkeit insbesondere dadurch, dass der Staat im innerstaatlichen Bereich nicht in unangemessener Weise zwischen eigenen Staatsangehörigen und Fremden differenzieren darf: Erforderlich ist neben der weitgehenden Gleichstellung von Staatsangehörigen und aufenthaltsberechtigten Ausländern (mit Ausnahme der politischen Rechte, bei denen eine unterschiedliche Behandlung zulässig sein kann) auch die Gewährung von Asyl an politisch Verfolgte.218 Den eigenen Staatsangehörigen ermöglicht die menschenrechtsfreundliche Rechtsordnung unter anderem, durch

214

Häberle, Verfassungsstaat, S. 175. Anzumerken ist, dass trotz ähnlich lautender Verfassungsbestimmungen die konkrete Ausprägung der Menschenwürde letztlich kontextbezogen sein dürfte (so die Schlussfolgerung von Clemens Richter, S. 95). So äußert sich Whitman, S. 17, zum unterschiedlichen Würdeverständnis der USA und Europa wie folgt: „Indeed, when it comes to ,dignity,‘ there is not just a contrast, but a kind of conflict of cultures that divides the states on either side of the Atlantic. [. . .] One would not expect to see such far-reaching contrast between societies that are, by many socioeconomic measures, quite similar, and that grow out of a common western cultural soil.“ 216 Abrufbar unter http://www.congreso.es/consti/constitucion/indice/index.htm. 217 Abrufbar unter http://www.parlamento.pt/RevisoesConstitucionais/Documents/ Revisao2005/155a00.pdf. 218 So Tomuschat, Internationale Offenheit, Rn. 83 f., für die deutsche Rechtsordnung. 215

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2. Teil: Internationale Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit

grenzüberschreitende Kommunikation und Reisen internationale Kontakte zu gewinnen und zu erhalten.219 bb) Weitergehende Bedeutung des menschenbezogenen Aspektes Der menschenbezogene Aspekt der internationalen Offenheit sollte nicht auf eine bloße Menschenrechtsfreundlichkeit reduziert werden, sondern geht darüber hinaus. Es mag zunächst aus „westlicher“ Sicht überraschen, dass der japanische Professor Onuma, der eine transzivilisatorische Perspektive des Völkerrechts vertritt,220 den Menschenrechten keinen Wert an sich zumisst, sondern sie lediglich als eines der wichtigsten Mittel zum Schutz von Werten und Interessen der Menschheit darstellt.221 Den wichtigsten und universellsten Wert beschreibt Onuma als das materielle und spirituelle Wohlergehen der Menschheit, wohingegen die Menschenrechte eine spezielle – legalistische, individualistische und modernistische – Formulierung dieses universellen Strebens nach Wohlergehen darstellten.222 Eine vergleichbare ganzheitliche Sichtweise findet sich auch in dem indigenen Konzept des Buen Vivir (Sumak Kausay): „Dabei geht es um das Leben an sich. Aus dieser holistischen Sicht [. . .] sind die materiellen Güter nicht die einzigen Determinanten. Es gibt andere Werte mit großer Bedeutung: das Wissen und die Erfahrungen, die soziale und kulturelle Anerkennung, ethische und spirituelle Werte in der Beziehung zwischen Gesellschaft und Umwelt, menschliche Werte, die Vision der Zukunft [. . .].“ 223 Onuma zufolge gibt es neben den Menschenrechten auch andere zum Wohlergehen der Menschheit beitragende Mittel.224 Hierzu zählt er die Stimulierung materieller Wünsche und menschlicher Anstrengungen durch Marktmechanismen, die Androhung von Sanktionen durch Strafrecht und Zivilrecht, die Kultivierung von Moral und einem allgemein geteilten Bewusstsein sozialer Normen in der Schulerziehung, die Kultivierung von Empathie und Ethik zuhause und in der Nachbarschaft und Religion.225 Selbiges gelte für herausragende Gedichte, Romane, Musik, Gemälde, Mangas, Architektur, Filme, Sportarten und andere 219

So Tomuschat, Internationale Offenheit, Rn. 84, für die deutsche Rechtsordnung. Siehe hierzu beispielsweise Oeter, Rechtsräume, S. 214–216. Clemens Richter, S. 87, weist ausdrücklich darauf hin, dass es sich bei der propagierten Anwendung dieser Perspektive auf die Menschenrechte nicht um einen (kultur)relativistischen, sondern um einen diskursiven Ansatz handelt: „Er zeichnet sich nicht dadurch aus, dass er starre Wertekonzepte unterschiedlicher Kulturkreise gegenüberstellt, vielmehr will er eine Anleitung geben, wie der Dialog über derartige (vermeintliche) Unterschiede gelingen kann.“ 221 Onuma, Transcivilizational Perspective, S. 375. 222 Onuma, Transcivilizational Perspective, S. 388. 223 Acosta, S. 219. 224 Onuma, Transcivilizational Perspective, S. 394. 225 Ebd. 220

C. Die internationale Offenheit einer Rechtsordnung

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menschliche Produkte und Aktivitäten, die Menschen bewegen und beeindrucken könnten.226 Nicht zuletzt aufgrund der zunehmenden Vernetzung der Menschheit227 entfalten viele dieser Aspekte auch eine grenzüberschreitende Wirkung; zu denken ist hier beispielsweise an international gefeierte Kunst. Große Sportereignisse wie die Olympischen Spiele und die Fußball-Weltmeisterschaft mögen gar dazu beitragen, eine transnationale Gesellschaft zu schaffen.228 Dem entspricht, dass der als „Wunder von Bern“ überhöhte Sieg der deutschen Nationalmannschaft bei der Fussballweltmeisterschaft 1954 für das junge Nachkriegsdeutschland lange vor seinem UN-Beitritt 1973 einen wesentlichen Schritt zurück in die Weltgemeinschaft darstellte.229 Die negativen Auswirkungen, die der nach dem zweiten Weltkrieg zunächst desolate Zustand Deutschlands auf den europäischen Kontinent hatte, ließen die das Selbstbewusstsein vieler Deutsche wieder stärkenden Ereignisse des 4.7.1954 nach einer in der Literatur geäußerten Ansicht als ein „downright stroke of luck“ erscheinen.230 Allerdings werfen die von Onuma angeführten Kategorien bei ihrer Betrachtung vor dem Hintergrund des menschenbezogenen Aspektes der internationalen Offenheit weitere Fragen auf: In der Praxis können beispielsweise sportliche Großevents neben der dargestellten positiven auch eine sehr negative Wirkung auf das menschliche Wohlergehen haben. Dies zeigen beispielsweise aktuelle Berichte über Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit der Ausrichtung der Fußball-Weltmeisterschaft.231 Der Zusammenhang zwischen Großevents und möglichen Menschenrechtsverletzungen ist jedoch nicht zwingend: So kam eine Untersuchung zu dem Ergebnis, dass die Fußballballweltmeisterschaft 2006 zu keiner (im Vorfeld befürchteten) Zunahme des Menschenhandels in Deutschland geführt habe; deutsche Behörden und NGOs hätten bereits im Sommer/Herbst 2005 mit ihren diesbezüglichen Planungen zur Verhinderung derartiger Gefahren begonnen.232 Dieses Beispiel verdeutlicht, dass in menschenrechtsfreundlichen 226

Ebd. Diese Entwicklung spiegelt sich in den Datensätzen der International Telecommunication Union (ITU) zur weltweiten Internetnutzung wider, abrufbar über www. itu.int. 228 Mit dieser Fragestellung hatte sich beispielsweise The British Journal of Sociology in einer Sonderausgabe beschäftigt („Special issue: Olympic and world sport: making transnational society?“, Vol. 63, Issue 2, June 2012). 229 Vgl. Heinrich, S. 1501: „Reentering the international stage as a victor, however took place in a thoroughly civilian field and thus implied, from the start, a learning achievement, especially since the overjoyed, proud people were evidently hesitant about immediately testing their new powers in other disciplines as well.“ 230 Heinrich, S. 1501. 231 Siehe nur Human Rights Watch, World Report 2014: Events of 2013, S. 596, zu Katar. 232 International Organization for Migration (IOM), Trafficking in Human Beings and the 2006 World Cup in Germany, IOM Migration Research Series No. 29, 2007, S. 5. 227

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2. Teil: Internationale Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit

Rechtsordnungen auch internationale Großveranstaltungen mit einem geringeren Risiko für Menschenrechtsverletzungen verbunden sind als in anderen Staaten. Dies verdeutlicht erneut die Notwendigkeit, die Menschenrechtsfreundlichkeit als wesentliche Grundlage des menschenbezogenen Aspektes anzusehen. Zwar könne, so Onuma, nicht jedes Streben nach Wohlergehen angemessen durch die Anwendung rechtlicher Mechanismen realisiert werden; manche Werte, wie beispielsweise die Zuneigung gegenüber anderen, könnten vielmehr besser durch Religion oder familiäre Erziehung erreicht werden.233 Allerdings zeige die menschliche Erfahrung, dass keine Theorie oder Institution an die Effektivität der Menschenrechte beim Schutz des Individuums vor dem souveränen Staat oder der kapitalistischen Wirtschaft heranreiche.234 Daher folgert Onuma, der wesentliche Grund, warum Menschenrechte universell respektiert werden sollten, sei einfach: „because we have not yet found a better alternative.“ 235 Die Erkenntnis der herausragenden Bedeutung, aber auch der Grenzen des Konzeptes der Menschenrechte verdeutlicht,236 dass sich die internationale Offenheit einer Verfassung neben der Menschenrechtsfreundlichkeit auch in anderen Mechanismen ausdrücken kann, die ebenfalls dazu beitragen, das Wohlergehen der Menschheit zu fördern. cc) Handhabung des menschenbezogenen Aspektes im Rahmen einer Untersuchung Bei der Untersuchung einer Rechtsordnung auf ihre internationale Offenheit ist in erster Linie ihre Menschenrechtsfreundlichkeit maßgeblich. Die Bewertung etwaiger nichtrechtlicher Mechanismen zur Schaffung menschlichen Wohlbefindens stößt insofern an natürliche Grenzen: So stellt eine Rechtsordnung selbst ein legalistisches System und eine Verfassung ein rechtliches Dokument dar. Die für das menschliche Wohlergehen sehr wichtigen und am schwersten erfassbaren Werte – wie Liebe, Freundschaft, Glück, Bejahung der Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz – können jedoch durch den Einsatz rechtlicher Mechanismen nicht gewährleistet werden.237 Allerdings kann eine Verfassung/eine Rechtsordnung Rahmenbedingungen für das Vorhandensein dieser Mechanismen schaffen, bei233

Onuma, Transcivilizational Perspective, S. 396. Onuma, Transcivilizational Perspective, S. 393 f. 235 Onuma, Transcivilizational Perspective, S. 394. 236 Vgl. Onuma, Human Rights, S. 37: „The mechanism of human rights has proved to be the most effective means for the protection of the vital interests of human persons in the modern period. However, as a human product it is not immune from flaws. It must be replaced or supplemented by some useful mechanisms when it does not work well or when its flaws become apparent.“ 237 Vgl. Onuma, Transcivilizational Perspective, S. 396, der dies bezogen auf den Wert der zwischenmenschlichen Zuneigung wie folgt ausdrückt: „If such a pursuit were characterized as a human right, which can be enforced by law, most people would resist it.“ 234

C. Die internationale Offenheit einer Rechtsordnung

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spielsweise durch die Garantie der Kunstfreiheit, das Recht auf Ehe (insbesondere auch die Erweiterung dieses Rechts für gleichgeschlechtliche Paare), die Gewerbefreiheit oder durch das Verbot der Anwendung erniedrigender Unterrichtsmethoden. Die außenwirksame kreative oder wirtschaftliche Betätigung von Menschen wird hierdurch eher ermöglicht als in einer repressiveren Rechtsordnung. Ebenso kann eine Verfassung über rein rechtliche Vorstellungen hinausgehende Anhaltspunkte für eine Orientierung am Menschenwohl enthalten,238 insbesondere in ihrer Präambel. Andere Rechtsdokumente, wie bereits die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika mit ihrer berühmten Formulierung „pursuit of happiness“, können ebenfalls Hinweise auf überrechtliche Aspekte der Orientierung am Menschenwohl liefern. Mitunter lassen sich diese Anhaltspunkte aber auch in Verfassungsnormen selbst finden. Beispielsweise spricht Art. 13 Abs. 2 der japanischen Verfassung239 von dem Recht der Bürger auf Streben nach Glück. Art. 10 Satz 1 der südkoreanischen Verfassung240 enthält eine ähnliche Formulierung: „All citizens shall be assured of human worth and dignity and have the right to pursue happiness.“ Die Relevanz von über rein rechtliche Vorstellungen hinausgehenden verfassungsrechtlichen Bestimmungen ergibt sich daraus, dass eine Verfassung eben nicht „nur“ ein rechtliches Dokument ist. Verfassung ist „auch Ausdruck eines kulturellen Entwicklungszustandes, Mittel der kulturellen Selbstdarstellung des Volkes, Spiegel seines kulturellen Erbes und Fundament seiner Hoffnungen.“ 241 Eine sehr weitreichende Formulierung der Aufgaben des Staates enthält Art. 9 Nr. 2 der bolivianischen Verfassung: „Garantizar el bienestar, el desarrollo, la seguridad y la protección e igual dignidad de las personas, las naciones, los pueblos y las comunidades, y fomentar el respeto mutuo y el diálogo intracultural, intercultural y plurilingüe.“ 242 Die Benennung der verschiedenen Subjekte – Personen, Nationen, Völker und Gemeinschaften – und der (die Diversität der 238 Vgl. auch die Einbeziehung des indigenen Konzepts des Buen Vivir (Sumak Kausay) u. a. in Art. 8 der bolivianischen und Kapitel 2 der ecuadorianischen Verfassung. Siehe hierzu auch den Beitrag „Das ,Buen Vivir‘. Die Schaffung einer Utopie“ von Acosta. 239 Abrufbar unter http://www.kantei.go.jp/foreign/constitution_and_government_ of_japan/constitution_e.html, englische Übersetzung. 240 Abrufbar unter http://korea.assembly.go.kr/res/low_01_read.jsp?boardid=100000 0035, englische Übersetzung. 241 Häberle, Ausstrahlungswirkungen, S. 21 (Hervorhebung hinzugefügt). 242 Abrufbar unter http://www.presidencia.gob.bo/documentos/publicaciones/cons titucion.pdf, englische Übersetzung abrufbar unter https://www.constituteproject.org/ constitution/Bolivia_2009.pdf („To guarantee the welfare, development, security and protection, and equal dignity of individuals, nations, peoples, and communities, and to promote mutual respect and intra-cultural, inter-cultural and plural language dialogue.“).

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2. Teil: Internationale Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit

menschlichen Gemeinschaft anerkennenden) Dialogattribute könnte einen ersten Schritt zur Entwicklung einer transzivilisatorischen Perspektive darstellen. Hierbei handelt es sich um eine Perspektive, die auf der Anerkennung der Pluralität von Zivilisationen und Kulturen basiert243 und mit deren Hilfe grenzüberschreitende Ideen, Aktivitäten oder Probleme gesehen, interpretiert oder gelöst werden.244 Mit fortschreitendem Zusammenwachsen der Menschheit kann die offene Staatlichkeit zunehmend auch eine solche transzivilisatorische Sichtweise einnehmen. Bei der Untersuchung einer Rechtsordnung auf ihre internationale Offenheit sollen neben der obligatorischen Feststellung ihrer Menschenrechtsfreundlichkeit etwaige überrechtliche, dem Menschenwohl dienende Ansätze festgehalten werden. Diese können der „Feinjustierung“ des Urteils über die internationale Offenheit sowie der Weiterentwicklung des Konzeptes des menschenbezogenen Aspektes dienen. Fundament dieses Aspektes und damit Grundlage für das abschließende Urteil über die Offenheit einer Rechtsordnung stellt jedoch – jedenfalls nach derzeitigem Entwicklungsstand – deren Menschenrechtsfreundlichkeit dar.

D. Die Völkerrechtsfreundlichkeit einer Rechtsordnung Die völkerrechtsfreundliche Rechtsordnung zeichnet sich dadurch aus, dass sie den Normen völkerrechtlichen Ursprungs zu größtmöglicher Wirksamkeit verhilft (siehe I.). Die eher monistische oder eher dualistische Konzeption einer Rechtsordnung hat ebenfalls Auswirkungen auf ihre Völkerrechtsfreundlichkeit (siehe II.).

I. Größtmögliche Wirksamkeit völkerrechtlicher Normen in der nationalen Rechtsordnung Die völkerrechtsfreundliche Rechtsordnung verhilft den Normen völkerrechtlichen Ursprungs zu größtmöglicher Wirksamkeit durch die richtige Auslegung der Normen, ihre weitestmögliche unmittelbare Anwendung, die Vermeidung von Konflikten zu Normen rein nationalen Ursprungs, einen ausführlichen Grundrechtskatalog, eine möglichst völkerrechtskonforme Konfliktlösung und den Verzicht auf völkerrechtsunfreundliche Elemente. 243 Dies entspricht laut Onuma, Transcivilizational Perspective, S. 100 f., sogar der alltäglichen menschlichen Erfahrung: „Humans do not belong exclusively to a particular culture or civilization. In most cases, they sense, think and behave according to plural civilizations and cultures simultaneously. [. . .] Any human society comprises accumulated strata of various kinds of historical experience. [. . .] Any society, any social setting is hybrid in terms of culture and civilization.“ 244 Onuma, Transcivilizational Perspective, S. 81.

D. Die Völkerrechtsfreundlichkeit einer Rechtsordnung

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1. Richtige Ermittlung des Inhalts völkerrechtlicher Normen a) Problematik der Inhaltsbestimmung des Völkerrechts Vor einer ausführlicheren Darstellung der Völkerrechtsfreundlichkeit einer Rechtsordnung muss eine dem Völkerrecht eigene Problematik erwähnt werden: die aufgrund des Fehlens einer zentralen obligatorischen Gerichtsbarkeit oftmals bestehende Schwierigkeit, den genauen Inhalt einer völkerrechtlichen Norm zu bestimmen.245 Daraus folgt, dass im Rahmen der Untersuchung der Völkerrechtsfreundlichkeit einer Rechtsordnung unterschiedliche, sachgerechte Maßstäbe anzulegen sind. So kann von einem Gericht im Rahmen eines Verfahrens eher eine ausführliche Auseinandersetzung mit den verschiedenen denkbaren völkerrechtlichen Ansichten erwartet werden als von einem politischen Organ.246 Allerdings können politische Organe zur Gewährleistung der Völkerrechtskonformität ihrer Entscheidungen in der Regel auf sachkundige Berater und bestehende Mechanismen sowie Verfahren zurückgreifen.247 Dennoch sollte sich die unterschiedliche Aufgabenverteilung zwischen den Staatsgewalten auch in der jeweiligen Erwartungshaltung und in der Wahl des Untersuchungsgegenstandes widerspiegeln. Das Verhalten von politischen Organen in Dilemma-Situationen taugt daher nur bedingt, um hieraus verallgemeinernde Rückschlüsse auf ihre allgemeine Völkerrechtsfreundlichkeit zu ziehen,248 während bei der Analyse der Völkerrechtsfreundlichkeit der Judikative andere Maßstäbe gelten, so dass sich hier häufig gerade eine Untersuchung des – in der Einleitung dieser Arbeit bereits genannten – Konfliktfalls anbietet. b) Auslegung von Normen völkerrechtlichen Ursprungs nach völkerrechtlichen Regeln Die bereits erwähnte Problematik bei der Inhaltsbestimmung des Völkerrechts bedeutet nicht, dass jeglicher bei der Interpretation von Normen völkerrechtlichen Ursprungs gewählter Ansatz als akzeptabel angesehen werden kann. Vielmehr liegt der völkerrechtsfreundliche Umgang mit diesen Normen in ihrer Auslegung nach völkerrechtlichen Regeln.249 Eine unilaterale Auslegung der Vorschrift – aufgrund nationalistischer Bedenken („politischer“ Unilateralismus) oder auf der Grundlage rein innerstaatlicher Rechtskonzepte („rechtlicher“ Unila245

Vgl. Arndt, S. 101. Arndt, S. 101. 247 In Deutschland ist hier beispielsweise der aus Professoren bestehende völkerrechtswissenschaftliche Beirat des Auswärtigen Amtes zu nennen. 248 Vgl. Arndt, S. 101 f. 249 Hier ist insbesondere auf Art. 31 ff. WVK zu verweisen, jedenfalls insoweit diese Normen Völkergewohnheitsrecht kodifizieren. 246

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2. Teil: Internationale Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit

teralismus) – ist zu vermeiden,250 weil sie die Gefahr von Völkerrechtsverletzungen in sich birgt. Die rechtlich nicht verbindlichen Aussagen und Stellungnahmen internationaler Auslegungsinstanzen oder internationaler Gerichte zu völkerrechtlichen Normen oder Fragen sind im Rahmen des Auslegungsvorgangs angemessen zu berücksichtigen.251 Hierzu zählen Gutachten des IGH nach Art. 65 IGH-Statut, Entscheidungen im WTO-Streitbeilegungsverfahren252 sowie General Comments253 des Menschenrechtsausschusses. c) Befolgung der Rechtsprechung internationaler Gerichte, quasi-gerichtlicher Entscheidungen und der Stellungnahmen internationaler Auslegungsinstanzen Die Schwierigkeit, den genauen Inhalt einer völkerrechtlichen Norm zu bestimmen, besteht aber nicht, sofern sich dieser Inhalt aus der Rechtsprechung eines hierfür zuständigen internationalen Gerichts ergibt. In einem solchen Fall liefert der innerstaatliche Umgang mit den Vorgaben oder Ansichten des internationalen oder nationalen Gerichts Anhaltspunkte für die Völkerrechtsfreundlichkeit der nationalen Rechtsordnung. Wenn ein Staat in einem Verfahren vor einem internationalen Gericht verurteilt wird und damit völkerrechtlich zur Befolgung des Urteils verpflichtet ist,254 gebietet es die Völkerrechtsfreundlichkeit einer Rechtsordnung, die innerstaatliche

250

Conforti, S. 105. Vgl. Tomuschat, Internationale Offenheit, Rn. 33, zu den Wirkungen nicht bindender Stellungnahmen internationaler Auslegungsinstanzen für die deutsche Rechtsordnung, demzufolge sich aus dem Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit zwar nicht die innerstaatliche Rechtsverbindlichkeit dieser Äußerungen ergäbe, die Bundesrepublik diese Äußerungen aber bei der Entscheidungsfindung bona fide berücksichtigen müsse. Vgl. aus völkerrechtlicher Sicht auch Art. 38 Abs. 1 d) IGH, demzufolge richterliche Entscheidungen und die Lehrmeinung der fähigsten Völkerrechtler zu den Rechtserkenntnisquellen zählen. 252 Das obligatorische Streitbeilegungssystem der WTO ist gemäß Art. 3 Abs. 2 Satz 1 DSU ein zentrales Element zur Schaffung von Sicherheit und Vorhersehbarkeit im multilateralen Handelsverkehr. Die im Rahmen dieses Verfahrens von den beiden quasi-gerichtlichen Organen der WTO – dem Panel und dem für Rechtsmittel zuständigen Appellate Body – ausgesprochenen Empfehlungen müssen von einem übergeordneten politischen Gremium, dem Dispute Settlement Body (DSB), angenommen werden, siehe Hilf/Salomon, Rn. 14. Der DSB überwacht gem. Art. 2 Abs. 1 Satz 2 DSU, 21 Abs. 6 Satz 1, 22 Abs. 8 Satz 2 DSU die Umsetzung der angenommenen Empfehlungen oder Entscheidungen. 253 General Comments werden vom Menschenrechtsausschuss für den IPbpR auf der Grundlage von Art. 40 IPbpR und für den IPwskR ohne ausdrückliche Rechtsgrundlage erarbeitet und sind eine allgemeine und an alle Vertragsstaaten gerichtete Zusammenfassung der im Staatenberichtsverfahren gewonnenen Erkenntnisse, siehe Vedder, Rn. 142. 254 Beispielsweise nach Art. 59 IGH-Statut, Art. 46 Abs. 1 EMRK. 251

D. Die Völkerrechtsfreundlichkeit einer Rechtsordnung

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Rechtslage entsprechend abzuändern.255 Zwar richtet sich aus völkerrechtlicher Sicht dieses Urteil nur an den jeweiligen Staat als Völkerrechtssubjekt; im Innenverhältnis muss diese völkerrechtliche Verpflichtung aber die Anerkennung der Verbindlichkeit dieses Urteils für alle staatlichen Instanzen zur Folge haben.256 Beispielsweise führte das BVerfG in einem Beschluss aus 2006 betreffend Art. 36 Abs. 1 b Satz 3 WÜK zunächst aus, dass sich die Rechtskraftwirkung der Urteile des IGH ausschließlich auf die Parteien des Rechtsstreits in Bezug auf die konkrete Sache erstrecke (vgl. Art. 94 Abs. 1 UN-Charta, Art. 59 IGH-Statut) und die materielle Rechtskraft der Urteile damit grundsätzlich durch die personellen und sachlichen Grenzen des Streitgegenstandes begrenzt sei.257 Andererseits habe der IGH im Avena-Fall dargestellt,258 dass die im US-amerikanischen Recht bestehende Möglichkeit eines Gnadengesuchs nicht den völkerrechtlichen Anforderungen an das Vorliegen eines Rechtswegs genüge, der dem Beschuldigten hinsichtlich möglicher Verletzungen von Art. 36 Abs. 1 WÜK offenstehen müsse.259 Dies zeige, dass Urteile des IGH jedenfalls dann in die innerstaatliche Rechtsordnung hineinwirkten, wenn individualschützende Normen in Rede stünden, dass sie allerdings nicht über eine die Rechtskraft nationaler Entscheidungen beseitigende Wirkung verfügten, so dass die genaue Art und Weise des Hineinwirkens nicht allein auf der Grundlage des Völkerrechts beurteilt werden könne.260 Für die deutsche Rechtsordnung führte das BVerfG weiter aus, dass die nationalen Gerichte jedenfalls solche Entscheidungen des IGH zu berücksichtigen hätten, die auf dem Gebiet des Konsularrechts in konkreten Rechtsstreitigkeiten gegenüber der Bundesrepublik Deutschland ergangen seien.261 Dieses Ergebnis folge zwingend aus der verfassungsrechtlichen Bindung der Träger der deutschen öffentlichen Gewalt an die von der Bundesrepublik geschlossenen völkerrechtlichen Verträge in ihrer Auslegung durch die zuständige internationale Gerichtsbarkeit (Art. 59 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG).262 Die Völkerrechtsfreundlichkeit erfordert es auch, die gefestigte Rechtsprechung eines internationalen Gerichtes zu berücksichtigen, wenn die bisherige Rechtsprechung in einem bestimmten Bereich gegenüber anderen Staaten ergangen ist, der jeweilige Staat aber ebenfalls der Jurisdiktion des internationalen Ge255 Vgl. Tomuschat, Internationale Offenheit, Rn. 32, für die Wirkungen von Urteilen des EGMR in der deutschen Rechtsordnung. 256 Payandeh, S. 491. 257 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 19. September 2006, NJW 2007, S. 499 (502). 258 IGH, Avena and Other Mexican Nationals, ILM 43 (2004), S. 581 (619 f.). 259 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 19. September 2006, NJW 2007, S. 499 (502). 260 Ebd. 261 Ebd. 262 Ebd.

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2. Teil: Internationale Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit

richts unterliegt. Dies lässt sich damit rechtfertigen, dass der jeweilige völkerrechtliche Vertrag für die Vertragsstaaten in der vom Gerichtshof in gefestigter Rechtsprechung festgestellten Auslegung verbindlich ist.263 Das Bundesverfassungsgericht argumentierte insofern in seinem bereits erwähnten Beschluss vom 19. September 2006 überzeugend wie folgt: „Insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Völkerrechtsfreundlichkeit begegnet eine Begrenzung der Berücksichtigungspflicht auf die unter deutscher Beteiligung entschiedenen Einzelfälle Bedenken. Für Staaten, die nicht an einem Verfahren beteiligt sind, haben die Urteile des IGH Orientierungswirkung, da die darin vertretene Auslegung Autorität bei der Auslegung der Konvention entfaltet. [. . .] Faktisch müssen sich die Vertragsstaaten, schon um die künftige Feststellung von Konventionsverletzungen gegen sich zu vermeiden, daher auch nach Urteilen richten, die gegen andere Staaten ergangen sind. Würde eine Berücksichtigungspflicht hinsichtlich der Rechtsprechung des IGH auf den unter deutscher Beteiligung entschiedenen Einzelfall begrenzt, könnte vor dem Hintergrund der jedenfalls faktischen Präzedenzwirkung [. . .] regelmäßig nicht verhindert werden, dass Konflikte zwischen den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland und dem nationalen Recht entstehen. Dergleichen Konflikte will das Grundgesetz mit seinen nach außen blickenden Verfassungsbestimmungen jedoch gerade vermeiden [. . .]. Deshalb muss der Auslegung eines völkerrechtlichen Vertrags durch den IGH über den entschiedenen Einzelfall hinaus eine normative Leitfunktion beigemessen werden, an denen sich die Vertragsparteien zu orientieren haben.“ 264 Eingeschränkt wird die grundsätzliche Völkerrechtsfreundlichkeit dieser Entscheidung dadurch, dass das BVerfG dies nur gelten lassen will, wenn die Bundesrepublik Deutschland sich der Gerichtsbarkeit des IGH unterworfen hat.265 Dasselbe gilt für die Verwendung des Wortes „berücksichtigen“; 266 dies bedeutet nach den Ausführungen des BVerfG im Görgülü-Fall lediglich, „die Konventionsbestimmung in der Auslegung des Gerichtshofs zur Kenntnis zu nehmen und auf den Fall anzuwenden, soweit die Anwendung nicht gegen höherrangiges Recht, insbesondere gegen Verfassungsrecht verstößt. Die Konventionsbestimmung muss in der Auslegung des Gerichtshofs jedenfalls in die Entscheidungsfindung einbezogen werden, das Gericht muss sich zumindest gebührend mit ihr auseinander setzen. [. . .] Auch auf der Ebene des Bundesrechts genießt die Konvention nicht automatisch Vorrang vor anderem Bundesrecht, zumal wenn es in diesem Zusammenhang nicht bereits Gegenstand der Entscheidung des Gerichtshofs war.“ 267 263 264 265 266 267

Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. Schorkopf, Völkerrechtsfreundlichkeit, S. 145. BVerfGE 111, 307 (329) – Görgülü.

D. Die Völkerrechtsfreundlichkeit einer Rechtsordnung

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Letztlich liegt die völkerrechtsfreundlichste Lösung aber in der größtmöglichen – und damit über eine „Berücksichtigung“ hinausgehenden – Beachtung der gesamten für den Staat relevanten Völkerrechtsjudikatur, um so die effektive Durchsetzung des Völkerrechts im innerstaatlichen Bereich sicherzustellen.268 Die „Berücksichtigungspflicht“ des BVerfG ist daher in der Literatur als nicht weitgehend genug angesehen worden.269 Die Völkerrechtsfreundlichkeit einer Rechtsordnung gebietet, dass die staatlichen Instanzen die jeweils erforderlichen Maßnahmen treffen, um die Konsequenzen aus dem Urteil zu ziehen. Es spricht daher für die Völkerrechtsfreundlichkeit einer Rechtsordnung, wenn sie die zu der „Erfüllung ihrer völkerrechtlichen Verpflichtungen notwendigen Instrumentarien“ enthält.270 Dies geschieht beispielsweise indem sie die Aufhebung eines völkerrechtswidrigen Verwaltungsaktes zulässt271 oder das Vorliegen eines Wiederaufnahmegrundes bejaht, wenn durch das Urteil eines internationalen Gerichtes festgestellt wurde, dass eine rechtskräftige nationale Gerichtsentscheidung Völkerrecht verletzt.272 Schwieriger als die Feststellung der Bindung im konkreten Fall ist es, die sich aus einem Urteil eventuell ergebenden weitergehenden Verpflichtungen des betroffenen Staates abzuschätzen, beispielsweise die Verpflichtung zur zukünftigen Orientierung an dem Urteil oder die Abänderung eines laut Gerichtsentscheidung völkerrechtswidrigen nationalen Gesetzes.273 Grundsätzlich dürfte die (explizite oder implizite) innerstaatliche Anerkennung weitergehender Verpflichtungen aus 268

Vgl. Dagmar Richter, International Jurisprudence, S. 75. Dagmar Richter, International Jurisprudence, S. 75: „We do not think that German courts should be free to reject a certain interpretation of the ICJ, if they only have ,considered‘ that jurisprudence. If it is undisputed that ICJ has correctly interpreted Art. 36 CC according to the principles of international law, the German Constitution does not only demand from the national courts to abide by the wording of this provision but also by its (common) meaning as concretized by the ICJ. We thus may avoid the violation of international law according to the constitutional principle of openness – if we ,consider‘ both the text and the meaning of Art. 36 CC as integral parts of international law which, by virtue of Art. 59 para. 2 BL, has become law of the land.“ Vgl. auch Nußberger, Rn. 15: „Die aus der völkerrechtlichen Bindung an die Europäische Menschenrechtskonvention abgeleitete ,Berücksichtigungspflicht‘ geht aber nicht sehr weit.“ 270 Vgl. Tomuschat, Internationale Offenheit, Rn. 34. 271 Vgl. Payandeh, S. 493, für die deutsche Rechtsordnung. 272 Tomuschat, Internationale Offenheit, Rn. 34, beklagt bezüglich von Verletzungen der EMRK: „Erst nach vielen Jahren hat die deutsche Gesetzgebung für solche Verfahren einen besonderen Wiederaufnahmegrund eingeführt, der es gestattet, die festgestellte Unvereinbarkeit der gerügten deutschen Entscheidung mit den Verpflichtungen aus der Konvention zu bereinigen.“ Zur aktuellen Rechtslage bezüglich der Rechtskraftdurchbrechung aufgrund von EGMR-Urteilen siehe Payandeh, S. 494, der auf den 1998 eingeführten § 359 Nr. 6 StPO und auf den 2006 eingeführten § 580 Nr. 8 ZPO verweist und für eine analoge Anwendung der einschlägigen Wiederaufnahmevorschriften für Entscheidungen anderer internationaler Gerichte plädiert. 273 Bernhardt, Einwirkungen, S. 28. 269

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2. Teil: Internationale Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit

dem Urteil für die Völkerrechtsfreundlichkeit der jeweiligen Rechtsordnung sprechen: Wenn ein internationales Gericht über einen konkreten Sachverhalt entschieden hat und der Staat bei einem anderen, identisch gelagerten Sachverhalt von der Rechtsprechung des Gerichtshofes abweicht, ist regelmäßig absehbar, wie das internationale Gericht die Rechtslage in einem Verfahren einschätzen würde. Falls das internationale Gericht aufgrund des unkooperativen Verhaltens des Vertragsstaates wiederholt über vergleichbare Fälle entscheiden müsste, würde dies das Gericht (übermäßig) belasten, ohne dass hierdurch mehr Rechtsklarheit gewonnen würde. Durch die innerstaatliche Anerkennung einer „normativen Leitfunktion“ der Entscheidung des internationalen Gerichts kann dem abgeholfen werden. Von Seiten des internationalen Gerichts kann diesem Problem ggf. mit Musterprozessen begegnet werden. Dies wird beispielsweise vom EGMR mit dem Piloturteilsverfahren praktiziert.274 Der EGMR wählt hierbei einen Musterfall aus, vertagt die Behandlung der übrigen gleichgelagerten Beschwerden und benennt im Piloturteil das strukturelle Problem sowie konkrete Abhilfemaßnahmen, die auch den anderen Betroffenen zugutekommen sollen.275 Nachdem effektive Abhilfemaßnahmen ergriffen wurden, können die Parallelverfahren unter erleichterten Bedingungen, d.h. durch Streichung der Beschwerden im Register oder durch Abweisung als unzulässig, erledigt werden.276 In der Praxis hat dieses Verfahren jedoch bisher nicht alle mit ihm verbundene Erwartungen erfüllt und ist auch nur in relativ wenigen Fällen zum Einsatz gekommen.277 Die zuvor genannten Schwierigkeiten bestehen somit selbst beim EGMR teilweise fort. Um effektiv arbeiten zu können, sind internationale Gerichte mithin weiterhin auf unbedingte staatliche Kooperation angewiesen. Allerdings sollte es dem Staat auch nicht von vornherein unmöglich gemacht werden, die Änderung einer seiner Ansicht nach verfehlten Rechtsprechung eines internationalen Gerichts anzustreben.278 Im Einzelfall kann ein Staat auch hiermit einen wichtigen Beitrag zur Völkerrechtsentwicklung leisten. Als Abgrenzungskriterium zwischen unter dem Gesichtspunkt der Völkerrechtsfreundlichkeit (noch) zulässigen und unzulässigen Abänderungsversuchen bietet sich die Verfestigung der jeweiligen Rechtsprechung an.279 Hinsichtlich der gefestigten Rechtsprechung eines internationalen Gerichts kann die völkerrechtsfreundliche Lösung nur darin liegen, beispielsweise durch Gesetz- oder Rechtsprechungsänderung die notwendigen Konsequenzen aus dem Urteil zu zie274 275 276 277 278 279

Siehe hierzu die ausführliche Darstellung bei Eschment, S. 49–274. Breuer, Art. 46 EMRK, Rn. 22. Eschment, S. 247. Breuer, Art. 46 EMRK, Rn. 29. Vgl. Bernhardt, S. 28 f. Vgl. Bernhardt, S. 29, für EGMR-Entscheidungen.

D. Die Völkerrechtsfreundlichkeit einer Rechtsordnung

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hen. Umgekehrt bedeutet dies, dass sich die Analyse der Beachtung von noch nicht gefestigter Rechtsprechung internationaler Gerichte tendenziell weniger dazu eignet, Erkenntnisse über die Völkerrechtsfreundlichkeit einer Rechtsordnung zu erlangen. Auch der Umgang mit dem Ergebnis eines quasi-gerichtlichen Verfahrens, beispielsweise eines WTO-Streitbeilegungsverfahrens, liefert Anhaltspunkte für die Völkerrechtsfreundlichkeit- oder Völkerrechtsunfreundlichkeit einer Rechtsordnung. In abgeschwächter Form gilt dies ebenfalls für die Beachtung rechtlich nicht verbindlicher Stellungnahmen internationaler Auslegungsinstanzen.280 Ein Beispiel hierfür sind die im Individualbeschwerdeverfahren auf der Grundlage des 1. Fakultativprotokolls zu dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte geäußerten Auffassungen („views“) des Menschenrechtsausschusses, die rechtlich nicht bindend sind.281 Da aber der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte selbst rechtlich verbindlich ist und der Menschenrechtsausschuss dessen hauptsächlicher Interpret ist, stellen seine Auffassungen einen starken Indikator für die bestehenden rechtlichen Verpflichtungen dar.282 Es spricht daher für die Völkerrechtsfreundlichkeit einer Rechtsordnung, wenn dieser Bedeutung nichtverbindlicher Stellungnahmen internationaler Auslegungsinstanzen innerstaatlich Rechnung getragen wird. Entscheidungen nationaler Gerichte, die Bezug nehmen auf die Wertungen internationaler Gerichte, die andere Rechtsordnungen betreffen, können ebenfalls einen Anhaltspunkt für die Völkerrechtsfreundlichkeit einer Rechtsordnung darstellen. Ein Beispiel hierfür ist die Entscheidung des US-amerikanischen Supreme Court aus 2003 im Fall Lawrence v. Texas, bei der es um die Verfassungsmäßigkeit der Strafbarkeit bestimmter homosexueller Praktiken (sodomy laws) ging. In der kritischen Auseinandersetzung mit dem die Verfassungsmäßigkeit bejahenden Präzedenzfall Bowers v. Hardwick bezog sich der Supreme Court insbesondere auf ein Urteil des EGMR aus 1981: „Of even more importance, almost five years before Bowers was decided the European Court of Human Rights considered a case with parallels to Bowers and to today’s case. An adult male resident in Northern Ireland alleged he was a practicing homosexual who desired to engage in consensual homosexual conduct. The laws of Northern Ireland forbade him that right. He alleged that he had been questioned, his home had been searched, and he feared criminal prosecution. The court held that the laws proscribing the conduct were invalid under the European Convention on Human Rights. Dudgeon v. United Kingdom, 45 Eur. Ct. H. R. (1981) } 52. Authoritative 280 Vgl. Tomuschat, Internationale Offenheit, Rn. 33, demzufolge diese Stellungnahmen auch unter dem Gesichtspunkt der Völkerrechtsfreundlichkeit innerstaatlich nicht als rechtlich verbindlich behandelt, aber bona fide berücksichtigt werden müssen. 281 Joseph/Castan, Rn. 1.60. 282 Joseph/Castan, Rn. 1.61.

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2. Teil: Internationale Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit

in all countries that are members of the Council of Europe (21 nations then, 45 nations now), the decision is at odds with the premise in Bowers that the claim put forward was insubstantial in our Western civilization.“ 283 Der Supreme Court wich in seiner Entscheidung vom Präzenzfall Bowers v. Hardwick ab und erklärte die sodomy laws mit 6 zu 3 Stimmen für verfassungswidrig. In der Literatur ist zur Bedeutung dieser Entscheidung und ihrer Begründung ausgeführt worden: „[. . .] in overruling an American constitutional precedent, the Court has for the first time cited foreign case law by referring to a decision of the European Court of Human Rights. In doing so, the Court recognized the political experience of other countries [. . .] as relevant for its own domestic constitutional learning process.“ 284 In Ergänzung dieser Feststellung ist nur noch hervorzuheben, dass sich der Supreme Court in dieser Entscheidung nicht nur mit der Praxis anderer Länder, sondern insbesondere mit der ihn nicht bindenden Rechtsprechung eines anderen internationalen Gerichtes befasst hat, was als besonders völkerrechtsfreundlich zu werten ist. 2. Unmittelbare Anwendung völkerrechtlicher Normen durch nationale Gerichte und Behörden a) Begrifflichkeiten Im Hinblick auf die Einwirkung völkerrechtlicher Normen in den innerstaatlichen Bereich wird üblicherweise zwischen innerstaatlicher Geltung und unmittelbarer Anwendbarkeit unterschieden.285 Ersterer Begriff bedeutet, dass die Norm im innerstaatlichen Bereich als Recht gilt und damit Teil der innerstaatlichen Rechtsordnung ist.286 Unmittelbar anwendbar ist eine Norm hingegen, wenn und soweit sie für ihre Anwendung durch Gerichte und Verwaltungsbehörden keiner Durchführungsvorschriften bedarf,287 wobei oft auch innerhalb eines völkerrechtlichen Vertrages hinsichtlich der verschiedenen Normen zu differenzieren ist.288 Die unmittelbare Anwendbarkeit ist aber nicht mit der weitergehenden Gewährung von subjektiven Rechten an Einzelne gleichzusetzen.289 Die subjektive Berechtigung stellt die stärkste Form der innerstaatlichen Anwendbarkeit dar,290 die

283

539 U.S. 558, 573 (2003) – Lawrence v. Texas. Gerstenberg, S. 129. 285 Geiger, Grundgesetz, S. 151. Zu der Frage nach dem Verhältnis von innerstaatlicher Geltung und unmittelbarer Anwendbarkeit siehe Geiger, Grundgesetz, S. 152; Kunig, Völkerrecht, S. 81; Verdross/Simma, § 863 sowie Giegerich, EMRK, Rn. 1–3. 286 Geiger, Grundgesetz, S. 151. 287 Ebd. 288 Kunig, Völkerrecht, S. 81. 289 Zuleeg, S. 357 f. 290 Zuleeg, S. 358. 284

D. Die Völkerrechtsfreundlichkeit einer Rechtsordnung

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aus Klarstellungsgründen als Anwendbarkeit im engeren Sinne291 bezeichnet werden kann. Im Übrigen ist zwischen dem Begriff „unmittelbare Anwendbarkeit“ und dem Begriff „unmittelbare Anwendung“ zu differenzieren. Wie sich bereits aus dem Wortsinn ergibt, deutet der letztgenannte Begriff nicht auf eine bloß potenzielle, sondern auf eine tatsächlich stattfindende Verwendung einer Norm durch den innerstaatlichen Rechtsanwender hin. „Unmittelbare Anwendbarkeit“ bezeichnet daher im Folgenden das Anwendungspotenzial einer Norm,292 „unmittelbare Anwendung“ die Realisierung dieses der Norm innewohnenden Potenzials. b) Unmittelbare Anwendung völkerrechtlicher Normen durch innerstaatliche Rechtsanwender Die unmittelbare Anwendung völkerrechtlicher Normen erhöht die Bedeutung des Völkerrechts in der nationalen Rechtsordnung und trägt so zur Durchsetzung des Völkerrechts bei.293 Auf lange Sicht führt sie zu einer Stärkung des Völkerrechts und zu einer Veränderung des traditionellen Verständnisses des Völkerrechts als einer rein zwischenstaatlichen Rechtsordnung hin zu einer Rechtsordnung, deren Vorschriften auch Einzelne berechtigen und verpflichten können.294 Eine völkerrechtsfreundliche Rechtsordnung zeichnet sich daher dadurch aus, dass die nationalen Gerichte und Behörden völkerrechtliche Normen weitestmöglich unmittelbar anwenden. Eine entscheidende Rolle bei der Frage der unmittelbaren Anwendbarkeit von völkerrechtlichen Normen spielt zwar die Struktur der völkerrechtlichen Norm selbst, insbesondere also deren Ausmaß an Bestimmtheit.295 Ob die Norm hinreichend bestimmt ist, ist aber eine vom jeweiligen Rechtsanwender zu klärende Auslegungsfrage,296 deren Ergebnis – wie in jedem Fall der Auslegung – nicht nur auf objektive Erkenntnisvorgänge, sondern auch auf subjektive Wertvorstellungen zurückzuführen ist.297 Der subjektive Einfluss ergibt sich daraus, dass in den meisten Fällen auch nach Betrachtung aller einschlägigen Auslegungselemente ein „ungeklärter Rest“ bleibt, der durch richterliches Werturteil ausgefüllt werden muss.298 Die Entscheidung über die unmittelbare Anwendbarkeit eines völkerrechtlichen Vertrages wird dann von Fall zu Fall von den Verwaltungsbehörden und 291 292 293 294 295 296 297 298

Verdross/Simma, § 864. Vgl. Koller, S. 57. Veelken, S. 114. Ott, S. 49 f. Kunig, Völkerrecht, S. 81. Müller/Wildhaber, S. 182. Koller, S. 109; Ross, S. 90. Koller, S. 109.

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2. Teil: Internationale Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit

Gerichten des jeweiligen Vertragsstaates getroffen,299 wobei eine unterschiedliche Einordnung der völkerrechtlichen Norm möglich ist.300 Während in der einen Rechtsordnung eine bestimmte Vorschrift den Anforderungen, die an die unmittelbare Anwendbarkeit gestellt werden, genügen mag, ist es möglich, dass in einer anderen Rechtsordnung die Voraussetzungen für eine unmittelbare Anwendbarkeit als nicht gegeben erachtet werden. Diese divergierenden Einschätzungen können mit dem unterschiedlichen Selbstverständnis der jeweiligen Rechtsordnung sowie mit der generellen Bedeutung, die dem Völkerrecht in ihr zugemessen wird, zusammenhängen.301 Insofern kann bei der Anwendung derselben völkerrechtlichen Normen die Praxis der Rechtsanwender in verschiedenen Rechtsordnungen mehr oder weniger völkerrechtsfreundlich sein. Sofern das richterliche oder behördliche Urteil in einem solchen Fall zur unmittelbaren Anwendung der völkerrechtlichen Norm führt, spricht dies für die Völkerrechtsfreundlichkeit der Rechtsprechung oder Verwaltungspraxis. Ist eine solche völkerrechtsfreundliche Rechtsprechung oder Verwaltungspraxis der Regelfall, dann deutet dies wiederum auf die Völkerrechtsfreundlichkeit der Rechtsordnung hin. Hinsichtlich der unmittelbaren Anwendung völkerrechtlicher Normen ist noch anzumerken, dass nach dem jeweiligen nationalen Rechtsanwender – Gericht oder Verwaltungsbehörde – zu differenzieren ist und dass insofern die Anforderungen an die Bestimmtheit voneinander abweichen können.302 So kann eine Norm hinreichend bestimmt sein für die Anwendung durch die Verwaltung – beispielsweise bei der Konkretisierung von eröffneten Handlungsspielräumen –, nicht aber für die richterliche Anwendung.303 Bei dem Vergleich der Völkerrechtsfreundlichkeit von Rechtsordnungen kann es daher zu einer Verfälschung des Untersuchungsergebnisses kommen, wenn in einer Rechtsordnung hauptsächlich die Praxis der Behörden, in der anderen primär die der Gerichte analysiert wird. Es ist möglich dass die vertragschließende Exekutive die Praxis der nationalen Gerichte durch eine (rechtlich nicht bindende) Interpretationserklärung zu beeinflussen sucht, wie es die Bundesrepublik für das Übereinkommen über die 299

Verdross/Simma, § 866. Siehe das Beispiel bei Buchs, S. 44, Fn. 87. 301 Buergenthal, S. 383, hat dies wie folgt ausgedrückt: „[. . .], the determination the courts make concerning the self-executing character of a particular treaty will have a direct bearing on its application on the domestic plane, and hence also on the rights of individuals. It should therefore not come as a great surprise that the attitudes of the courts towards international obligations in general or towards a specific treaty, in addition to judicial traditions and doctrines unique to one or the other legal system, will influence the particular outcome.“ 302 Kunig, Völkerrecht, S. 81. 303 Ebd. 300

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Rechte des Kindes getan hat,304 bevor diese Erklärung am 15.7.2010 zurückgenommen wurde.305 Die Bundesrepublik Deutschland hatte hierbei erklärt, dass das Übereinkommen innerstaatlich keine unmittelbare Anwendung fände, sondern völkerrechtliche Staatenverpflichtungen begründe, die die Bundesrepublik Deutschland nach näherer Bestimmung ihres mit dem Übereinkommen übereinstimmenden nationalen Rechts erfülle.306 Völkerrechtsfreundlicher als diese Interpretationserklärung der Bundesrepublik Deutschland erscheinen die – die Rechtsprechung rechtlich nicht bindenden, aber diese wohl dennoch maßgeblich beeinflussenden307 – differenzierten Passagen zur unmittelbaren Anwendbarkeit in der Botschaft betreffend den Beitritt der Schweiz zum selben Übereinkommen308: „Das Übereinkommen enthält zahlreiche Normen, deren Wortlaut zu wenig bestimmt ist, um einen gerichtlich durchsetzbaren Anspruch zu begründen. Die wirtschaftlichen, sozialen und kulturelle Rechte des Kindes, wie sie grundsätzlich bereits im entsprechenden Internationalen Pakt für alle Menschen verankert sind, bedürfen normalerweise der Konkretisierung durch den Gesetzgeber und sind kaum direkt anwendbar. Auch die verschiedenen staatlichen Schutz-, Beistands- und Förderungspflichten werden in der Regel zu wenig bestimmt sein, um als Grundlage für gerichtlich durchsetzbare Ansprüche zu dienen. [. . .] Andere Bestimmungen scheinen durchaus so bestimmt zu sein, dass sie ohne weiteres als Grundlage für einen konkreten Entscheid dienen können. Das Übereinkommen hält etwa die klassischen Freiheits304 In der Literatur ist diese Erklärung vielfach als Vorbehalt eingestuft worden (siehe beispielsweise Geiger, Grundgesetz, S. 167, sowie die Nachweise bei Tomuschat, Kinderrechte-Konvention, S. 1153, Fn. 43). Tomuschat, Kinderrechte-Konvention, S. 1153 lehnt dies jedoch zutreffend ab: „Mit der Einlegung eines Vorbehalts wird versucht, die inhaltliche Bindungswirkung eines völkerrechtlichen Vertrages im Sinne einer – allein möglichen – Einschränkung zu modifizieren. Die Erklärung nimmt jedoch keinen Jota von dem sachlichen Umfang der Kinderrechte-Konvention und ihrer Tragweite weg. Die Feststellung, daß der Vertrag lediglich Staatenverpflichtungen begründe, ist auf der völkerrechtlichen Ebene eine Selbstverständlichkeit. [. . .] Auch wenn also die von der Bundesregierung abgegebene Erklärung darauf abzielt, für alle Vorschriften der Konvention einen unmittelbaren Vollzug als Normen mit unmittelbarer Wirkung gegenüber dem Bürger auszuschließen, so wurde damit weder Art noch Umfang der völkerrechtlich eingegangenen Verpflichtungen in irgendeiner Weise verändert. Von einem Vorbehalt läßt sich also nicht sprechen.“ 305 Zu der Vorgeschichte und der aus der Rücknahme resultierenden Folgen siehe den Beitrag von Löhr. Mit der Kinderrechtskonvention hatte sich auch das OVG Lüneburg zu befassen, es verneinte eine unmittelbare Anwendbarkeit, siehe OVG Lüneburg, Beschluss v. 2.10.2012, 8 LA 209/11, Leitsatz 1: „Die Bestimmungen der UN-Kinderrechtskonvention sind in der Bundesrepublik Deutschland nicht unmittelbar anwendbar; sie vermitteln den Rechtsunterworfenen jedenfalls keine subjektiven Rechte.“ 306 Bekanntmachung über das Inkrafttreten des Übereinkommens über die Rechte des Kindes, BGBl. 1992 II, S. 990. 307 Vgl. Müller/Wildhaber, S. 190. 308 Botschaft betreffend den Beitritt der Schweiz zum Übereinkommen von 1989 über die Rechte des Kindes vom 29. Juni 1994, BBl. 1994 V, S. 1.

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2. Teil: Internationale Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit

rechte in gleicher Weise fest, wie sie bereits der Pakt über bürgerliche und politische Rechte und die EMRK für alle Menschen verankern. Es wäre kaum folgerichtig, diesen Bestimmungen die direkte Anwendbarkeit zu versagen, während die direkte Anwendbarkeit praktisch gleichlautender Bestimmungen der EMRK in unserer Rechtsordnung nicht in Frage steht.“ 309 Regelungen zur unmittelbaren Anwendbarkeit völkerrechtlicher Normen können sich auch im innerstaatlichen Recht selbst finden, die – anders als völkerrechtliche Interpretationserklärungen – für die nationalen Gerichte auch bindend sind. Beispielsweise hat der deutsche Bundesgesetzgeber in Art. 1 Abs. 2 des Gesetzes vom 25.7.1986 zu dem Übereinkommen vom 19. Juni 1980 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (BGBl. II S. 809) die unmittelbare Anwendbarkeit der Vertragsbestimmungen ausgeschlossen, was als wenig völkerrechtsfreundlich zu werten ist. Auch aus der Verfassung kann sich eine Verpflichtung zur unmittelbaren Anwendung völkerrechtlicher Normen ergeben. So enthält Art. 11 Abs. 3 der ecuadorianischen Verfassung u. a. eine Bestimmung zur unmittelbaren Anwendbarkeit internationaler Menschenrechtsnormen: „Los derechos y garantías establecidos en la Constitución y en los instrumentos internacionales de derechos humanos serán de directa e inmediata aplicación por y ante cualquier servidora o servidor público, administrativo o judicial, de oficio o a petición de parte. [. . .] Los derechos serán plenamente justiciables. No podrá alegarse falta de norma jurídica para justificar su violación o desconocimiento, para desechar la acción por esos hechos ni para negar su reconocimiento.“ 310 Eine solche Regelung ist besonders völkerrechtsfreundlich. c) Prozessuale Durchsetzungsmöglichkeiten völkerrechtlicher Rechte und Pflichten als Indiz für die Völkerrechtsfreundlichkeit? Eng verbunden mit der unmittelbaren Anwendung ist die Frage nach den prozessualen Durchsetzungsmöglichkeiten völkerrechtlicher Rechte und Pflichten, d.h. ob es Individuen beispielsweise möglich ist, diese im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde geltend zu machen. Je stärker hierbei die prozessualen Durchsetzungsmöglichkeiten im nationalen Recht ausgeprägt sind, desto eher wird auch 309

BBl. 1994 V, S. 1 (20 f.). Abrufbar unter http://www.asambleanacional.gov.ec/documentos/constitucion_ de_bolsillo.pdf, englische Übersetzung abrufbar unter https://www.constituteproject. org/constitution/Ecuador_2008.pdf („The rights and guarantees set forth in the Constitution and in international human rights instruments shall be directly and immediately enforced by and before any civil, administrative or judicial servant, either by virtue of their office or at the request of the party. [. . .] Rights shall be fully actionable. Absence of a legal regulatory framework cannot be alleged to justify their infringement or ignorance thereof, to dismiss proceedings filed as a result of these actions or to deny their recognition.“). 310

D. Die Völkerrechtsfreundlichkeit einer Rechtsordnung

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dem Völkerrecht im innerstaatlichen Bereich – völkerrechtsfreundlich – zur größtmöglichen Wirksamkeit verholfen. Dennoch soll dieser Aspekt im Rahmen dieser Arbeit aus dem entwickelten Modell zur Feststellung der Völkerrechtsfreundlichkeit einer Rechtsordnung ausgeklammert werden. Hierfür spricht folgende Überlegung: Die Frage nach den prozessualen Durchsetzungsmöglichkeiten völkerrechtlicher Rechte und Pflichten ist grundsätzlich untrennbar mit der Frage nach den allgemeinen prozessualen Regelungen einer Rechtsordnung verbunden. Einer Rechtsordnung, die das Instrument der Verfassungsbeschwerde nicht vorsieht und in der daher völkerrechtliche Rechte und Pflichten nicht auf diesem Wege durchgesetzt werden können, lässt sich aber keine spezifisch gegen das Völkerrecht gerichtete Wertentscheidung entnehmen. Vielmehr betrifft diese Entscheidung die allgemeine Konzeption des Rechtsschutzsystems, die lediglich Ausstrahlungswirkung auf die Völkerrechtsfreundlichkeit hat. Etwas Anderes gilt nur für Sonderfälle, bei denen ein prozessualer Rechtsbehelf eine spezifische Komponente hat, die gerade der Durchsetzung des Völkerrechts dient. Dies ist beispielsweise in der Türkei der Fall, in der vor einigen Jahren ein Verfassungsbeschwerdeverfahren eingeführt wurde.311 Rügefähig ist hier aber nur die Verletzung von in der türkischen Verfassung anerkannten Grundrechten, die eine Parallele in der EMRK haben.312 Damit soll das türkische Verfassungsgericht der Sache nach zur Durchsetzung der Konventionspflichten eingesetzt werden, um die relativ hohe Zahl von Verurteilungen durch den EGMR zu senken. Finden sich in einer Rechtsordnung vergleichbare Regelungen, die spezifisch das Völkerrecht begünstigen, so ist dies als besonders völkerrechtsfreundlich zu werten. Da das Grundgerüst zur Feststellung der Völkerrechtsfreundlichkeit einer Rechtsordnung schon aus Praktikabilitätsgründen möglichst einfach gehalten werden sollte, sollten aber Aspekte der Rechtsordnung, denen sich nicht im Kern eine spezielle Entscheidung zugunsten oder zuungunsten des Völkerrechts entnehmen lässt, in das Ausgangsmodell nicht einbezogen werden, was selbstverständlich einer späteren Erweiterung oder Anreicherung dieses Modells um ebenjene Aspekte nicht entgegensteht. 3. Vermeidung von Konflikten zwischen völkerrechtlichen Normen und nationalen Normen Die völkerrechtsfreundliche Rechtsordnung zeichnet sich nicht nur durch die völkerrechtsfreundliche Lösung von Konflikten zwischen Normen völkerrechtlichen Ursprungs und rein innerstaatlichen Normen aus, sondern insbesondere 311

Siehe hierzu den Beitrag von Özkan Duvan. Siehe Art. 148 der türkischen Verfassung („anyone who thinks that his/her constitutional rights set forth in the European Convention on Human Rights have been infringed by a public authority will have a right to apply to the Constitutional Court after exhausting other administrative and judicial remedies“), zitiert aus Özkan Duvan, S. 34. 312

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2. Teil: Internationale Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit

auch dadurch, dass sie diese Konflikte von vornherein zu vermeiden sucht. Die Konfliktvermeidung kann im formellen und/oder im materiellen Sinne erfolgen. Bei der formellen Konfliktvermeidung wird das Recht völkerrechtlichen Ursprungs auf einer vertikal hohen Hierarchiestufe eingeordnet. Da die vertikale Abstufung von Rechtsnormen in erster Linie die Orientierung einer Rechtsordnung an bestimmten zentralen Wert- und Ordnungsvorstellungen sicherstellt,313 spricht es für die Völkerrechtsfreundlichkeit einer Rechtsordnung, wenn sie Normen völkerrechtlichen Ursprungs einen hohen Rang zuweist. Konfliktvermeidung im materiellen Sinne erfolgt hingegen durch die Rezeption völkerrechtlicher Standards in die nationale Verfassung, was zu einer „Parallelisierung“ von Verfassungsrecht und Völkerrecht führt.314 a) Formell: Zuweisung eines hohen innerstaatlichen Ranges Während aus völkerrechtlicher Sicht ein Vorrang des Völkerrechts vor jeglichem nationalem Recht besteht,315 hängt auf nationaler Ebene die Frage, welchen Rang das Völkerrecht einnimmt, von der jeweiligen Ausgestaltung in der Rechtsordnung ab. An der Spitze der Normen rein nationalen Ursprungs steht üblicherweise die Verfassung, unter der Verfassung stehen die einfachen Gesetze und hierunter die untergesetzlichen Rechtsakte, die noch weiter ausdifferenziert sein können. Das Völkerrecht kann jedenfalls theoretisch auf bzw. über oder unter jeder dieser Stufen angeordnet werden. Zunächst wäre es denkbar, dass völkerrechtliche Normen nicht einmal einfachen Gesetzesrang haben. Dies hätte eine größtmögliche Ineffektivität des Völkerrechts zur Folge, da jedes entgegenstehende einfache Gesetz der völkerrechtlichen Norm vorgehen würde. Eine solche hierarchische Einordnung des Völkerrechts würde ein großes Maß an innerstaatlicher Völkerrechtsskepsis erkennen lassen und soll daher an dieser Stelle nicht weiter behandelt werden. Ein Beispiel für eine solche wenig völkerrechtsfreundliche Ranglösung findet sich in der südafrikanischen Verfassung,316 nach der Völkergewohnheitsrecht317 und unmittel313

Herwig Hofmann, S. 21. Siehe hierzu Dörr, S. 65. 315 Für den Bereich des Völkervertragsrechts ergibt sich dies aus Art. 27 Abs. 1 WVK, demzufolge sich eine Vertragspartei nicht auf ihr innerstaatliches Recht berufen kann, um die Nichterfüllung eines Vertrages zu rechtfertigen. Vgl. auch Art. 32 der ILC-Articles on State Responsibility und folgende Aussage des StIGH, Greco-Bulgarian Communities, Advisory Opinion, 1930 P.C.I.J. (ser. B) No. 17 (July 31), S. 1 (32): „[. . .], it is a generally accepted principle of international law that in the relations between Powers who are contracting Parties to a treaty, the provisions of municipal law cannot prevail over those of the treaty.“ 316 Abrufbar unter http://www.gov.za/sites/www.gov.za/files/images/a108-96.pdf. 317 Section 232 der südafrikanischen Verfassung: „Customary international law is law in the Republic unless it is inconsistent with the Constitution or an Act of Parliament.“ 314

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bar anwendbare Bestimmungen völkerrechtlicher Verträge318 nur zum innerstaatlichen Recht gehören, wenn sie weder der Verfassung noch einem „Act of Parliament“ widersprechen. Am anderen Ende des Spektrums findet sich die überverfassungsrechtliche Lösung, bei der das Völkerrecht der Verfassung vorgeht. Ein solcher Rang des Völkerrechts wird nach überwiegender Meinung319 in der Literatur für die japanische Verfassung u. a. aufgrund des in der Präambel ausgedrückten Internationalismus sowie der fehlenden Nennung der völkerrechtlichen Verträge in dem die Superiorität der Verfassung anordnenden Art. 98 Abs. 1 angenommen.320 Laut Literaturstimmen „ist davon auszugehen, daß die von Japan abgeschlossenen völkerrechtlichen Verträge und die anerkannten Regeln des Völkerrechts (kakuritsusareta kokusaiho¯ki) die japanische Gesetzgebung in allen ihren Sphären binden (JV Art. 98 II). Als Resultat dessen sollten Verträge und Regeln des Völkerrechts auch die verfassungssetzende Gewalt binden, so daß die formelle Geltung von Verträgen (gleichermaßen wie die anerkannten Regeln des Völkerrechts) als der der Verfassung überlegen anzusehen ist.“ 321 Das Oberste Gericht hat auch die Prüfung des Sicherheitsvertrages zwischen Japan und den USA von 1951 auf seine Verfassungsmäßigkeit im Sunakawa-Fall322 unter Verweis auf dessen „highly political nature“ 323 verweigert und ausgeführt, eine gerichtliche Überprüfung sei nur zulässig im Falle von „unconstitutionality and invalidity that are extremely obvious at a glance“.324

318 Section 231 (4) der südafrikanischen Verfassung: „Any international agreement becomes law in the Republic when it is enacted into law by national legislation; but a self-executing provision of an agreement that has been approved by Parliament is law in the Republic unless it is inconsistent with the Constitution or an Act of Parliament.“ 319 So die Einschätzung von Kunig, Völkerrecht, S. 86. 320 Toshiyoshi, S. 287; Takano, S. 96 f. 321 Toshiyoshi, S. 287. Takano, S. 97, zufolge „wurde durch die neue, auf dem Internationalismus fußende Verfassung die Vorrangstellung des Völkerrechts gegenüber dem nationalen Recht unter Einschluß der Verfassung vorherbestimmt, oder zumindest enthält sie keine Bestimmungen, die eine Vorrangstellung der Verfassung gegenüber den Verträgen festlegen. [. . .] Unter diesen Gegebenheiten gelangt man zu dem Schluß, [. . .] daß diese Verträge in dem Maße, in dem sie einen Widerspruch zu einzelnen Verfassungsbestimmungen darstellen, diese auch modifizieren (das ist keine Änderung der Verfassungsbestimmungen). Das heißt mit anderen Worten, hier tritt der Fall auf, daß es die Verfassung ist, die ganz typisch die monistische Theorie vom Primat des Völkerrechts vertritt.“ Toshiyoshi, S. 288, nennt den Umstand, „[d]aß die JV dadurch, daß sie den Verträgen (und anerkannten Regeln des Völkerrechts) eine derart starke formelle Geltung beimißt, prinzipiell einen Vorrang des Völkerrechts gegenüber dem staatlichen Recht anerkennt, [. . .] höchst bemerkenswert.“ 322 In englischer Übersetzung und mit Anmerkungen abgedruckt bei Maki, S. 298 ff. Die wesentlichen Bestimmungen des Sicherheitsvertrages finden sich auf S. 300 f. Siehe auch die Besprechung bei Neumann, S. 89 ff. 323 Maki, S. 305. 324 Maki, S. 306, Fn. 2.

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Unter dem Gesichtspunkt der Völkerrechtsfreundlichkeit ist dieses Urteil zudem bemerkenswert, weil es um die Frage der Zulässigkeit der Präsenz von amerikanischem Militär in Japan unter Berücksichtigung des – völkerrechtlich orientierten – Friedensgebotes von Art. 9325 der japanischen Verfassung326 ging. Dieser Fall zeigt, dass das Konzept „Völkerrechtsfreundlichkeit“ vielschichtig und nicht widerspruchsfrei ist. Insbesondere wirft er die Frage auf, ob gegebenenfalls die Überprüfung des Sicherheitsvertrages auf seine Vereinbarkeit mit Art. 9 der japanischen Verfassung mindestens ebenso völkerrechtsfreundlich wie die praktizierte richterliche Zurückhaltunggewesen wäre. Auch die Schweiz kann als Beispiel für eine völkerrechtsfreundliche hierarchische Einordnung des Völkerrechts dienen. Aus Art. 190 der Bundesverfassung der Schweiz,327 welcher die Maßgeblichkeit von Bundesgesetzen und Völkerrecht für das Bundesgericht und die rechtsanwendenden Behörden bestimmt,328 ergibt sich ein grundsätzlicher Anwendungsvorrang des Völkerrechts,329 d.h. des gesamten für die Schweiz verbindlichen Völkerrechts einschließlich des sekundären Vertragsrechts.330 Einschränkend ist aber anzumerken, dass jüngeres bundesgesetzliches Recht, welches gegen älteres Völkerrecht verstößt, nach der sog. Schubert-Praxis331 ausnahmsweise anwendbar ist, wenn der Bundesgesetzgeber einen Verstoß gegen Völkerrecht bewusst in Kauf genommen hat.332 Die Schubert-Praxis wird wiederum dadurch eingeschränkt, dass nach der PKK-Rechtsprechung des Bundesgerichts333 einer dem Menschenrechtsschutz dienenden völkerrechtlichen Norm Vorrang vor dem innerstaatlichen Gesetz zukommt.334 Der Anwendungsvorrang der EMRK erstreckt sich auch auf das Verfassungsrecht.335 325 Art. 9 Abs. 1: „Aspiring sincerely to an international peace based on justice and order, the Japanese people forever renounce war as a sovereign right of the nation and the threat or use of force as means of settling international disputes.“ 326 Abrufbar unter http://www.kantei.go.jp/foreign/constitution_and_government_ of_japan/constitution_e.htm, englische Übersetzung. 327 Abrufbar unter http://www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/19995395/in dex.html. 328 Zur rechtsstaatlichen Problematik des Maßgeblichkeitsgebot der Bundesgesetze (die aber durch die Praxis der Bundesgerichte abgemildert wird) siehe Hangartner/Looser, Art. 190 BV, Rn. 4. 329 Hangartner/Looser, Art. 190 BV, Rn. 8; Tschumi/Schindler, Art. 5 BV, Rn. 62. 330 Hangartner/Looser, Art. 190 BV, Rn. 23 m.w. N. 331 BGE 99 Ib 39, E. 3 u. 4, 43 ff. 332 Tschumi/Schindler, Art. 5 BV, Rn. 79. 333 BGE 125 II 417 E. 4d, 424 f. 334 Tschumi/Schindler, Art. 5 BV, Rn. 81. 335 BGE 139 I, 16, E. 5.3. Siehe hierzu auch Kunz, S. 359 f.; Tschumi/Schindler, Art. 5 BV, Rn. 86. Hangartner/Looser, Art. 190 BV, Rn. 40, weisen darauf hin, dass das in diesem Urteil enthaltene Bekenntnis zum Primat des Völkerrechts mit Vorsicht zu genießen sei, da es sich nur um ein obiter dictum, nicht aber um die Beurteilung einer echten Normenkollision gehandelt hatte.

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Das sonstige Verhältnis zwischen Völkerrecht und jüngerem Verfassungsrecht ist aber bisher nicht abschließend geklärt.336 Neben Art. 190 BV ist auch Art. 193 Abs. 4 BV unter dem Gesichtspunkt der Völkerrechtsfreundlichkeit bedeutsam. Hiernach dürfen bei einer Totalrevision der Verfassung zwingende Bestimmungen des Völkerrechts nicht verletzt werden; dasselbe gilt nach Art. 194 Abs. 2 BV für eine Teilrevision und nach Art. 139 Abs. 2 BV für eine auf Total- oder Teilrevision der Verfassung gerichtete Initiative.337 Die Behandlung der „zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts“ 338 sowie der EMRK in der schweizerischen Rechtsordnung zeigt, dass auch differenzierte Lösungen des Rangverhältnisses zwischen Völkerrecht und nationalem Recht möglich sind. Die überverfassungsrechtliche Lösung verhilft dem Völkerrecht offenkundig zur größtmöglichen Wirksamkeit im innerstaatlichen Bereich. Da auf einen verfassungsrechtlichen Vorbehalt verzichtet wird, erfordert sie aber ein großes Vertrauen in völkerrechtliche Regelungen. Dasselbe gilt für die Einordnung völkerrechtlicher Normen auf Verfassungsebene: Sie verhilft dem Völkerrecht zu großer innerstaatlicher Wirksamkeit, ihr können aber Souveränitätsüberlegungen entgegenstehen. Denkbar ist es allerdings auch in eher souveränitätsbetonten Rechtsordnungen, dass einzelne grundlegende völkerrechtliche Normen – beispielsweise Menschenrechte oder das Verbot des Angriffskrieges – Verfassungsrang besitzen. Dies ist beispielsweise in der österreichischen Rechtsordnung der Fall, die der EMRK formellen Verfassungsrang einräumt.339 In Betracht kommen auch die Einordnung völkerrechtlicher Normen auf der Stufe einfachen Gesetzesrechts oder das Zugeständnis eines übergesetzlichen, aber infrakonstitutionellen Ranges. Ein Beispiel für die erste Konstellation ist die deutsche Rechtsordnung, in der völkerrechtliche Verträge nach Art. 59 Abs. 2 GG nur einfachen Gesetzesrang haben. Das Problem dieser einfachgesetzlichen Einordnung liegt darin, dass das ins nationale Recht umgesetzte Völkerrecht durch ein einfaches, nachfolgendes Gesetz nach der lex posterior derogat legi anteriori-Regel abbedungen werden kann. Der Gesetzgeber ist folglich in seiner Gestaltungsmacht nicht durch völkerrechtliche Vorgaben beschränkt. Andererseits kann es bei dieser Ranglösung aber – gerade aufgrund der Fülle völkerrechtlicher Verpflichtungen – dazu kommen, dass der Gesetzgeber in Unkenntnis einer völkerrechtlichen Verpflichtung ein Gesetz erlässt, welches mit dieser völkerrechtlichen Verpflichtung unvereinbar ist, obwohl ein Völkerrechtsverstoß nicht beabsichtigt war. Dieses Beispiel macht deutlich, dass bei der einfachge336

Kunz, S. 358 m.w. N. Zur Bedeutung dieser Vorschrift hinsichtlich der Minarettsverbotsinitiative siehe den Beitrag von Zimmermann. 338 Umstritten ist, ob es sich hierbei um das völkerrechtliche ius cogens handelt oder ob dieser Bezeichnung eine eigenständige landesrechtliche Bedeutung zukommt, siehe hierzu Hangartner/Looser, Art. 190 BV, Rn. 75. 339 Siehe das B-VG vom 4.3.1964, öBGBl. Nr. 59/1964. 337

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setzlichen Lösung ein Mechanismus gefunden werden muss, um diese Auswirkungen abzumildern.340 Die Anwendung des Prinzips der „Parliamentary Sovereignty“ im Vereinigten Königreich führt ebenfalls zu dem Ergebnis, dass das Parlament Gesetze erlassen kann, die im Konflikt mit umgesetztem Völkerrecht stehen.341 Schließlich wäre es möglich, dem Völkerrecht einen Rang zwischen Verfassung und einfachen Gesetzen einzuräumen. Hierbei wird der zuletzt beschriebene Nachteil vermieden, so dass die Effektivität des Völkerrechts nicht durch die Entscheidungen des einfachen Gesetzgebers gefährdet werden kann. Völkerrechtliche Normen sind somit besser geschützt, auch wenn ihnen durch eine Verfassungsänderung die Wirksamkeit genommen werden kann. Indes dürften bei einer Verfassungsänderung in den meisten Rechtsordnungen höhere Sorgfalts- und Verfahrensanforderungen gelten, so dass diese Gefahr als eher gering einzustufen ist. Daher ist diese Rangentscheidung als relativ völkerrechtsfreundlich anzusehen. Bei der hierarchischen Einordnung des Völkerrechts sind noch differenziertere Lösungen denkbar. Beispielsweise ist es möglich, völkerrechtliche Verträge auf einer anderen Stufe einzuordnen als das Völkergewohnheitsrecht. Dies ist in der deutschen Rechtsordnung der Fall, bei der das Völkergewohnheitsrecht, Art. 25 GG, über den völkerrechtlichen Verträgen, Art. 59 Abs. 2 GG steht. In Betracht kommt auch, nach der Bedeutung der völkerrechtlichen Normen zu differenzieren.342 b) Materiell: Parallelisierung von nationalem Recht und Völkerrecht durch Rezeption völkerrechtlicher Standards Eine Konfliktvermeidung im materiellen Sinne kann durch eine weitgehende Parallelisierung von völkerrechtlichen Vorgaben und nationalen, insbesondere verfassungsrechtlichen Normen erfolgen. Dies geschieht u. a. durch die Rezeption völkerrechtlicher Standards in den verfassungsrechtlichen Normentext.343 So führt die Verwendung völkerrechtlich geprägter Begriffe – wie beispielsweise „Frieden“ – in der Verfassung fast automatisch zur Berücksichtigung der diesen Begriffen zugrunde liegenden völkerrechtlichen Wertentscheidungen auch im innerstaatlichen Bereich.344 Durch die Übernahme völkerrechtlicher Standards in den Verfassungstext wird jedenfalls in – oftmals sehr wichtigen – Teilbereichen 340 Siehe hierzu 2. Teil D. I. 5. b) zur völkerrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts. 341 Aust, Treaty Law, S. 171. 342 Vgl. Peters, Rechtsordnungen, S. 58, zur Unterscheidung zwischen Menschenrechtsschutzverträgen und sonstigem Völkerrecht. 343 Dörr, S. 65. 344 Ebd.

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bereits ein gewisser Gleichklang zwischen Völkerrecht und nationalem Recht hergestellt. Ein Beispiel für die Rezeption völkerrechtlicher Standards – insbesondere von Art. 2 Abs. 3 und 4 UN-Charta – in die nationale Verfassung findet sich im berühmten Friedensgebot des Art. 9 Abs. 1 der japanischen Verfassung345, der übersetzt lautet: „Aspiring sincerely to an international peace based on justice and order, the Japanese people forever renounce war as a sovereign right of the nation and the threat or use of force as means of settling international disputes.“ 4. Ausführlicher, an völkerrechtlichen Standards orientierter Grundrechtskatalog Eine Rezeption völkerrechtlicher Standards ist auch gegeben, wenn sich Verfassungen im Bereich der Grund- und Menschenrechte an diesbezüglichen völkerrechtlichen Vorgaben orientieren. Dies ist insbesondere der Fall, wenn die Verfassung einen ausführlichen Grund- und Menschenrechtskatalog, eine Bill of Rights, enthält. Als Beispiel für eine Verfassung mit einem ausführlichen, an völkerrechtlichen Vorstellungen ausgerichtetem Grundrechtskatalog kann das Grundgesetz genannt werden, und dies, obwohl sich die Väter und Mütter des Grundgesetzes bei ihrer Arbeit in den Jahren 1948/1949 nicht an den zu diesem Zeitpunkt noch nicht existierenden UN-Menschenrechtspakten orientieren konnten. Anstelle eines verbindlichen völkerrechtlichen Vertrages übte aber die am 10. Dezember 1948 durch die Generalversammlung verabschiedete Allgemeine Erklärung der Menschenrechte einen prägenden Einfluss auf die Grundrechtsberatungen im Parlamentarischen Rat aus.346 So ist auf die fast wörtliche Übereinstimmung der genannten verbotenen Diskriminierungsmerkmale (Art. 3 Abs. 3 GG und Art. 2 Abs. 1 AEMR) sowie darauf verwiesen worden, dass beide Dokumente erstmals eine Garantie der Informationsfreiheit enthalten (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 2. Alternative GG und Art. 19 AEMR).347 Menschenrechtsfreundlichkeit als Unterpunkt der Völkerrechtsfreundlichkeit umfasst jedoch nicht nur die theoretische, sondern auch die weitestmögliche praktische Garantie der Menschenrechte. Dies kann neben dem einzelfallbezogenen Schutz durch Gerichte – auch Verfassungsgerichte – beispielsweise durch die Schaffung von für den Menschenrechtsschutz zuständigen Organen geschehen. Ein Beispiel hierfür findet sich in Art. XIII Section 17 (1) der philippinischen Verfassung348: „There is hereby created an independent office called Commission on Human Rights.“ Die Commission on Human Rights hat nach Art. XIII 345 Abrufbar unter http://www.kantei.go.jp/foreign/constitution_and_government_ of_japan/constitution_e.html, englische Übersetzung. 346 Rensmann, Wertordnung und Verfassung, S. 27. 347 So Gusy, S. 208. 348 Abrufbar unter http://www.gov.ph/the-philippine-constitutions/the-1987-constitu tion-of-the-republic-of-the-philippines/.

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Section 18 (7) u. a. folgende Befugnis: „Monitor the Philippine Government’s compliance with international treaty obligations on human rights; [. . .].“ Die spezielle Zuweisung der Aufgabe, die Einhaltung der völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzverträge zu überwachen, ist als besonders völkerrechtsfreundlich zu werten. Unter dem Gesichtspunkt der Völkerrechtsfreundlichkeit interessant sind auch Regelungen wie in Art. 37 Abs. 2 und 3 der Verfassung von Ghana, die dem Gesetzgeber aufgeben, sich bei der Schaffung bestimmter Gesetze von internationalen Menschenrechtsverträgen zu lassen: „(2) The State shall enact appropriate laws to ensure – (a) the enjoyment of rights of effective participation in development processes [. . .]; (b) the protection and promotion of all other basic human rights and freedoms, including the rights of the disabled, the aged, children and other vulnerable groups in development processes. (3) In the discharge of the obligations stated in clause (2) of this article, the State shall be guided by international human rights instruments which recognize and apply particular categories of basic human rights to development processes.“ 349

Diskriminierungsverbote und Gleichheitsgebote350 sind wichtige Bestandteile des internationalen und nationalen Menschenrechtsschutzes. In der Literatur ist zur Universalität der Menschenrechte aber zu Recht bemerkt worden: „respect for human dignity is easily twisted into a norm applying to us but not to all others. Thus, the Romans based their legal system upon the rule Libertas inaestimabilis res est but still supported slavery. Slaves were simply regarded as objects rather than subjects of law. Human history manifests a continuous tendency to justify abuses of power by constructing individuals and groups of people considered as obstacles to the fulfilment of own ambitions into categories to which the fundamental ideas of human dignity and equality would not apply.“ 351 Menschenrechte sind jedoch notwendigerweise gleiche Rechte;352 ein Umstand, der sich auch in entsprechenden völkerrechtlichen Normen widerspiegelt: So fanden bereits lange vor Gründung der UN Gleichheitsbestimmungen Eingang in völkerrechtliche Dokumente.353 Die UN-Charta spricht in Art. 1 – ihrer 349

Abrufbar unter http://www.ghana.gov.gh/images/documents/constitution_ghana.

pdf. 350 Vorliegend werden diese Begriffe als Synonyme behandelt, siehe hierzu Rengeling/Szczekalla, Rn. 870. 351 De Gaay Fortman, S. 118. Dies entspricht der Feststellung von Joseph/Castan, Rn. 23.01: „discrimination is at the root of virtually all human rights abuses.“ 352 Stourzh, S. 2: „Human rights, by the very fact of their being tied to the notion of the genus humanum logically adhere to every human being. Thus human rights are, by definition, equal rights.“ 353 Henrad, Rn. 6.

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Zielbestimmung – von dem „principle of equal rights and self-determination of peoples“ (Nr. 2) sowie von „respect for human rights and for fundamental freedoms for all without distinction as to race, sex, language, or religion“ (Nr. 3). Die beiden Menschenrechtspakte von 1966 enthalten in ihrem jeweiligen Art. 2 Abs. 1 ein akzessorisches Diskriminierungsverbot mit einem umfassenden Katalog an verbotenen Unterscheidungsmerkmalen („without distinction of any kind, such as race, colour, sex, language, religion, political or other opinion, national or social origin, property, birth or other status“). Daneben ist insbesondere die allgemeine Gleichheitsbestimmung des Art. 26 IPbpR354 zu nennen,355 die denselben Unterscheidungskatalog benennt, aber – wie der Menschenrechtsausschuss in seinem General Comment 18 ausführte – weit über Art. 2 Abs. 1 IPbpR hinausgeht.356 Durch den Auffangtatbestand „other status“ werden auch weitere Unterscheidungsmerkmale verboten.357 Abgerundet wird der völkerrechtliche Diskriminierungsschutz durch die International Convention on the Elimination of all Forms of Racial Discrimination (ICERD) von 1966 und die Convention on the Elimination of all Forms of Discrimination Against Women (CEDAW) von 1979. Unter dem Aspekt der Gleichheit bemerkenswert ist der noch weitergehende Katalog an verbotenen Diskriminierungsmerkmalen, den Art. 14 Abs. 2 der bolivianischen Verfassung enthält: „El Estado prohíbe y sanciona toda forma de discriminación fundada en razón de sexo, color, edad, orientación sexual, identidad de género, origen, cultura, nacionalidad, ciudadanía, idioma, credo religioso, ideología, filiación política o filosófica, estado civil, condición económica o social, tipo de ocupación, grado de instrucción, discapacidad, embarazo, u otras que tengan por objetivo o resultado anular o menoscabar el reconocimiento, goce o 354 „All persons are equal before the law and are entitled without any discrimination to the equal protection of the law. In this respect, the law shall prohibit any discrimination and guarantee to all persons equal and effective protection against discrimination on any grounds such as race, colour, sex, language, religion, political or other opinion, national or social origin, property, birth or other status.“ 355 Joseph/Castan, Rn. 23.01, verweisen darauf, dass die Garantien von Art. 2 Abs. 1 und 26 IPbpR durch folgende Normen verstärkt werden: „article 3 (prohibiting sex discrimination), article 4(1) (prohibiting discrimination in relation to derogations), and articles 23, 24 and 25, which guarantee non-discrimination in relation to particular substantive rights. Finally, one may note that article 20 requires States to prohibit various forms of incitement to discrimination.“ 356 Human Rights Committee, Comment 18, Rn. 18: „In the view of the Committee, article 26 does not merely duplicate the guarantee already provided for in article 2 but provides in itself an autonomous right. It prohibits discrimination in law or in fact in any field regulated and protected by public authorities. Article 26 is therefore concerned with the obligations imposed on States parties in regard to their legislaton and the application thereof. Thus, when legislation is adopted by a State party, it must comply with the requirement of article 26 that its content should not be discriminatory. In other words, the application of the principle of non-discrimination contained in article 26 is not limited to those rights which are provided for in the Covenant.“ 357 Siehe die Aufzählung bei Joseph/Castan, Rn. 23.29.

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ejercicio, en condiciones de igualdad, de los derechos de toda persona.“ 358 Anzumerken ist aber, dass Art. 63 der bolivianischen Verfassung die – laut dieser Norm verbotene – Diskriminierung aufgrund der sexuellen Identität jedenfalls in Teilbereichen fortschreibt, indem er die Möglichkeit der Ehe und der – rechtlich der Ehe gleichgestellten – Lebensgemeinschaft auf heterosexuelle Paare beschränkt. Eine ähnlich umfassende Aufzählung von teilweise anderen Diskriminierungsmerkmalen (beispielsweise Gesundheitsstatus) findet sich in Art. 11 Abs. 2 Satz 2 der ecuadorianischen Verfassung.359 Diese umfassenden Diskriminierungskataloge bestätigen die eingangs geäußerte These, dass sich im nationalen Recht teilweise noch weitergehende Regelungen finden als im Völkerrecht.360 5. Möglichst völkerrechtskonforme Konfliktlösung Wenn die Mechanismen zur Konfliktvermeidung nicht greifen und es zu einer Kollision zwischen völkerrechtlichen und nationalen Vorgaben kommt, liegt die völkerrechtsfreundliche Lösung in einer völkerrechtskonformen Lösung dieses Konflikts. Eine völkerrechtskonforme Auflösung des Konflikts kann erreicht werden durch die Anwendung völkerrechtlicher Lösungsmöglichkeiten oder durch eine völkerrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts. a) Anwendung völkerrechtlicher Lösungsmöglichkeiten Die bloße Anwendung völkerrechtlicher Instrumente zur Konfliktlösung kann mitunter zur gewünschten Auflösung von Kollisionen zwischen Völkerrecht und innerstaatlichem Recht führen. Da ein völkerrechtlicher Ausweg aus der Konfliktlage weder die Geltung des Völkerrechts noch die Bedeutung der nationalen Vorgaben in Frage stellt, erscheint er vorzugswürdiger als eine rein nationale Lösung über die Vorrangfrage. Im Hinblick auf Völkergewohnheitsrecht kann sich ein Staat in völkerrechtskonformer Weise der Bindungswirkung einer im Entstehen befindlichen Norm 358 Abrufbar unter http://www.presidencia.gob.bo/documentos/publicaciones/consti tucion.pdf, englische Übersetzung abrufbar unter https://www.constituteproject.org/con stitution/Bolivia_2009.pdf („The State prohibits and punishes all forms of discrimination based on sex, color, age, sexual orientation, gender identity, origin, culture, nationality, citizenship, language, religious belief, ideology, political affiliation or philosophy, civil status, economic or social condition, type of occupation, level of education, disability, pregnancy, and any other discrimination that attempts to or results in the annulment of or harm to the equal recognition, enjoyment or exercise of the rights of all people.“). 359 Abrufbar unter http://www.asambleanacional.gov.ec/documentos/constitucion_ de_bolsillo.pdf. 360 Siehe hierzu 1. Teil A.

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durch fortlaufenden Protest entziehen (persistent objector).361 Sofern ein Protest im maßgeblichen Zeitpunkt unterblieben ist362 oder sich die Gegenposition des Staates nicht nachweisen lässt, ist der Staat aber gebunden.363 Ein späteres Zuwiderhandeln des Staates gegen die völkergewohnheitsrechtliche Norm würde sich damit als Völkerrechtsbruch darstellen. Bezüglich des Vertragsrechts kann ein Staat einem vorhersehbaren Konflikt zwischen völkerrechtlichen Verpflichtungen und nationalen Normen vorbeugen, indem er einen insoweit problematischen Vertrag nicht abschließt. Allerdings ist ein solches Vorgehen mit der Konzeption der offenen Staatlichkeit, die auch eine aktive Völkerrechtspolitik umfasst, nur schwerlich vereinbar. Hinzu kommt, dass der Staat in vielen Fällen, insbesondere bei wichtigen multilateralen Verträgen, ein Interesse daran hat, durch eine Mitwirkung an diesem Vertrag an der völkerrechtlichen Entwicklung teilzuhaben. Da häufig auch ein Interesse der Staatengemeinschaft an der Ratifikation des Vertrages durch möglichst viele Staaten besteht, kann für alle Beteiligten die vorteilhaftere Lösung in der Inanspruchnahme einer Opting-out-Klausel364 (Art. 17 WVK) oder dem Anbringen eines Vorbehalts365 (Art. 19 WVK) liegen. Konflikten zwischen völkerrechtlichen und innerstaatlichen Verpflichtungen lässt sich mit Hilfe von Vorbehalten allerdings nur begrenzt begegnen: Zunächst bestehen enge Anforderungen hinsichtlich des zulässigen Zeitpunkts. Zulässig ist die Abgabe eines Vorbehaltes nur bei der Unterzeichnung, Ratifikation, Annahme oder Genehmigung eines Vertrages, Art. 19 WVK, d.h. in der Abschlussphase eines Vertrages. Falls ein Staat keinen Vorbehalt abgegeben hat, beispielsweise deswegen, weil er mögliche Auswirkungen des Vertrages falsch eingeschätzt oder die spätere Entwicklung der Auslegung des Vertragstextes nicht vorausgesehen hat, kann er sein Versäumnis grundsätzlich nicht korrigieren. Bei Verträgen, die die Kündigung zulassen, könnte ein Staat dieses Problem allerdings dadurch umgehen, dass er den Vertrag kündigt und ihm anschließend wieder nach Abgabe einer Vorbehaltserklärung beitritt. Auf diesem Wege hat Trinidad und Tobago 1998 versucht, die Zuständigkeit des Menschenrechtsausschusses für die Prüfung von Beschwerden von Todeszellenkandidaten auszuschließen; die Kündigung des 1. Fakultativprotokolls zum IPbpR und der sofortige Wieder361 Heintschel von Heinegg, Völkergewohnheitsrecht, Rn. 26. Siehe auch die Beispiele bei Crawford, S. 28, Fn. 45. 362 Für mögliche Gründe dafür siehe Shaw, S. 91 f. 363 Heintschel von Heinegg, Völkergewohnheitsrecht, Rn. 26. 364 Beispiele hierfür sind Art. 13 Abs. 3 des Übereinkommens über Hilfeleistungen bei nuklearen Unfällen oder radiologischen Notfällen vom 26.9.1986, BGBl. 1989 II, S. 441 sowie Art. 11 Abs. 3 des Übereinkommens über die frühzeitige Benachrichtigung bei nuklearen Unfällen vom 26.9.1986, BGBl. 1989 II, S. 434. 365 Siehe hierzu die Übersicht über Begriff, Natur und Rechtswirkungen von Vorbehalten zu Verträgen bei Heintschel von Heinegg, Vorbehalte.

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beitritt mit entsprechendem Vorbehalt blieb aber erfolglos, da der Menschenrechtsausschuss den Vorbehalt als unwirksam einstufte.366 In Betracht kommt eventuell auch ein Rücktritt vom Vertrag, der sich zunächst nach den Bestimmungen des betroffenen Vertrages, Art. 54 a) WVK, richtet: Jederzeit zulässig ist ein Rücktritt bei Einvernehmen aller Vertragsparteien, Art. 54 b) WVK. Diese Vorschrift bestätigt den gewohnheitsrechtlich anerkannten Status der Vertragsparteien als „Herren der Verträge“.367 Allerdings ist ein einvernehmlicher Rücktritt zwar völkerrechtskonform, aber mit der Konzeption der offenen Staatlichkeit ebenfalls kaum vereinbar. Vorzugswürdiger ist insofern eine Vertragsänderung368 im Einklang mit den hierfür maßgeblichen Vorschriften (Art. 30–41 WVK369). Manche Verträge sehen auch eine Derogationsmöglichkeit vor, beispielsweise Art. 4 Abs. 3 IPbpR. Die Inanspruchnahme einer solchen Derogationsmöglichkeit erlaubt es Staaten, unter engen Voraussetzungen in bestimmten Zeiten, beispielsweise im Falle eines öffentlichen Notstandes, einige Verpflichtungen aus dem Vertrag zu suspendieren. Bei einer grundlegenden Änderung der Umstände kann ein Staat auch aufgrund der clausula rebus sic stantibus zum Rücktritt vom Vertrag oder zur Suspendierung des Vertrages berechtigt sein (Art. 62 Abs. 1 und Abs. 3 WVK370). Allerdings ist die praktische Relevanz dieser Vorschrift gering.371 Auch wenn das clausula rebus sic stantibus-Prinzip zwar oft geltend gemacht wurde, ist es bisher noch nicht von einem internationalen Gericht angewandt worden.372 Der IGH hat insoweit betont, dass die Stabilität der Vertragsbeziehungen es erfordere, Art. 62 WVK nur in außergewöhnlichen Fällen anzuwenden.373 Im Falle eines Konfliktes zwischen völkerrechtlichen und nationalen Vorgaben ist schon die Voraussetzung einer grundlegenden Änderung der Umstände nicht erfüllt, da die zwischenstaatlichen Beziehungen unabhängig von den Umständen durch Völkerrecht geregelt werden, welches aus völkerrechtlicher Sicht dem gesamten nationalen Recht einschließlich der Verfassung vorgeht.374 366

Siehe hierzu ausführlicher Herdegen, § 15, Rn. 25. Giegerich, Art. 54, Rn. 10. 368 Siehe hierzu Heintschel von Heinegg, Abwandlung, Rn. 4–7. 369 Diese Vorschriften dürften Völkergewohnheitsrecht reflektieren, siehe Villiger, Art. 39, Rn. 15; Art. 40, Rn. 15; Art. 41, Rn. 18. 370 Da Art. 62 WVK Völkergewohnheitsrecht darstellen dürfte, siehe Heintschel von Heinegg, Ungültigkeit, Rn. 98–100 sowie Giegerich, Art. 62, Rn. 108, erlangt die clausula rebus sic stantibus auch Bedeutung für Staaten, die nicht Partei der WVK sind. 371 Giegerich, Art. 62 Rn. 7. 372 Aust, Treaty Law, S. 263. 373 IGH, Gabc ˇ ikovo-Nagymaros Project (Hungary v. Slovakia), Judgment, ICJ Reports 1997, S. 7 (Nr. 140). 374 Shaw/Fournet, Rn. 34. 367

D. Die Völkerrechtsfreundlichkeit einer Rechtsordnung

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Eine Berufung auf einen Verstoß gegen innerstaatliche Vorschriften ist gem. Art. 46 WVK375 auch nur in engen Grenzen möglich. So muss es sich bei den innerstaatlichen Vorschriften um Regelungen bezüglich der Zuständigkeit zum Abschluss von Verträgen handeln, die Verletzung dieser Vorschriften muss offenkundig sein, die innerstaatliche Vorschrift muss eine grundlegende Bedeutung haben und der Staat darf das Recht zur Geltendmachung des Grundes aus Art. 46 WVK nicht nach Maßgabe des Art. 45 WVK verloren haben. Art. 46 WVK betrifft die auf einer fehlenden Vertragsabschlusskompetenz beruhende Berufung auf die Ungültigkeit der Zustimmung zur Bindung an den Vertrag, Art. 27 WVK die Verpflichtung, einen Vertrag, der in Kraft ist, unabhängig von der innerstaatlichen Rechtslage zu erfüllen.376 Wenn eine Geltendmachung von Art. 46 WVK ausscheidet, bleibt es bei der unbedingten völkerrechtlichen Bindung an den Vertrag nach Maßgabe von Art. 27 WVK. Es zeigt sich somit, dass ein Konflikt zwischen völkerrechtlichen und nationalen Normen oftmals nicht durch die Anwendung völkerrechtlicher Mittel gelöst werden kann. Dies bedeutet, dass das nationale Recht selbst eine völkerrechtskonforme Lösung ermöglichen muss. b) Völkerrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts Eine solche völkerrechtskonforme Konfliktlösung findet mithilfe der völkerrechtskonformen Auslegung statt. Die völkerrechtskonforme Auslegung bezieht sich auf nationale Normen und ist somit von der bereits erwähnten völkerrechtlichen Auslegung völkerrechtlicher Normen zu unterscheiden. Letztere betrifft den Auslegungsvorgang und damit die Ermittlung des Inhalts einer Norm völkerrechtlichen Ursprungs selbst.377 Völkerrechtskonforme Auslegung nationaler Normen bedeutet hingegen, dass unter den verschiedenen Auslegungsmöglichkeiten einer Norm diejenige gewählt werden muss, die im Einklang mit dem Völkerrecht steht.378 Einige Verfassungen sehen ausdrücklich vor, dass das innerstaatliche Recht völkerrechtskonform ausgelegt werden soll. Beispielsweise lautet Section 233 der südafrikanischen Verfassung379: „When interpreting any legislation, every court must prefer any reasonable interpretation of the legislation that is consistent with international law over any alternative interpretation that is inconsistent

375 Diese Norm dürfte Völkergewohnheitsrecht reflektieren, siehe Rensmann, Art. 46, Rn. 77. 376 Villiger, Art. 27, Rn. 7. 377 Höpfner, S. 365. 378 Ebd. 379 Abrufbar unter http://www.gov.za/sites/www.gov.za/files/images/a108-96.pdf.

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2. Teil: Internationale Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit

with international law.“ Art. 10 Abs. 2 der spanischen Verfassung380 enthält eine speziellere Bestimmung für den Bereich der Grundrechte und Grundfreiheiten: „Las normas relativas a los derechos fundamentales y a las libertades que la Constitución reconoce se interpretarán de conformidad con la Declaración Universal de Derechos Humanos y los tratados y acuerdos internacionales sobre las materias ratificados por España.“ aa) Anwendung der völkerrechtskonformen Auslegung Die völkerrechtskonforme Auslegung hat zum Ziel, Konflikte zwischen Normen völkerrechtlichen und solchen nationalen Ursprungs zu vermeiden. Dies geschieht durch eine zum völkerrechtlich gebotenen Ergebnis führende Auslegung des nationalen Rechts. Dies hat beispielsweise der Supreme Court der Vereinigten Staaten wie folgt ausgedrückt: „[A]n act of Congress ought never to be construed to violate the law of nations if any other possible construction remains.“ 381 Das BVerfG begründet die Auslegung des nationalen Rechts im Lichte völkerrechtlicher Verpflichtungen wie folgt: „Auch Gesetze [. . .] sind im Einklang mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland auszulegen und anzuwenden, selbst wenn sie zeitlich später erlassen worden sind als ein geltender völkerrechtlicher Vertrag; denn es ist nicht anzunehmen, daß der Gesetzgeber, sofern er dies nicht klar bekundet hat, von völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland abweichen oder die Verletzung solcher Verpflichtungen ermöglichen will.“ 382 Es bietet sich daher an, von völkerrechtskonformer Auslegung zu sprechen, wenn die Auslegung der Sicherung eines Gleichklangs zwischen Völkerrecht und nationalem Recht dient. bb) Abgrenzung zur völkerrechtsfreundlichen Auslegung Völkerrechtsfreundliche und völkerrechtskonforme Auslegung stellen keine deckungsgleichen Begriffe dar.383 Teilweise wird zwischen diesen Begriffen mithilfe des Rangkriteriums unterschieden, so dass, sofern gegenüber dem Völker380 Abrufbar unter http://www.congreso.es/consti/constitucion/indice/index.htm, englische Übersetzung abrufbar unter https://www.constituteproject.org/constitution/ Spain_2011.pdf („Provisions relating to the fundamental rights and liberties recognized by the Constitution shall be construed in conformity with the Universal Declaration of Human Rights and international treaties and agreements thereon ratified by Spain.“). 381 Murray v. Schooner Charming Betsy, 6 U.S. (2 Cranch) 64, 118 (1804). 382 BVerfGE 74, 358 (370). Für einen Vergleich zwischen der völkerrechtskonformen Auslegung in der deutschen und in der US-amerikanischen Rechtsordnung siehe Proelß, Berücksichtigungspflicht, S. 191–193, der zu dem Ergebnis kommt, dass das Grundgesetz in seiner Auslegung durch das BVerfG völkerrechtsfreundlicher ist als die US-amerikanische Verfassung in ihrer Auslegung durch den Supreme Court. 383 Die in dieser Arbeit gewählte Abgrenzung zwischen Völkerrechtskonformität und Völkerrechtsfreundlichkeit dürfte der impliziten Abgrenzung bei Bleckmann, Völkerrechtsfreundlichkeit, S. 312 f., entsprechen.

D. Die Völkerrechtsfreundlichkeit einer Rechtsordnung

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recht höherrangiges nationales Recht betroffen ist, nicht von der völkerrechtskonformen, sondern von der völkerrechtsfreundlichen Auslegung höherrangigen Rechts gesprochen wird.384 Dies ist begrifflich aber verwirrend, da es gerade der Herstellung von Konformität zwischen nationalem Recht und Völkerrecht dient, wenn höherrangiges Recht im Einklang mit Völkerrecht ausgelegt wird. Das gegen die Bezeichnung „völkerrechtskonforme Auslegung“ in diesem Zusammenhang vorgebrachte Argument, eine Pflicht zur konformen Auslegung bestehe nur gegenüber höherrangigem Recht und impliziere daher „eine generelle Höherrangigkeit der einschlägigen völkerrechtlichen Normen“,385 ist nachvollziehbar, zwingt aber letztlich nicht zur Wahl eines anderen Begriffes: Sofern lediglich Normen innerstaatlichen Ursprungs betroffen sind, besteht in der Tat nur eine Verpflichtung dazu, eine Norm im Einklang mit höherrangigem Recht auszulegen. Falls aber auch Normen völkerrechtlichen Ursprungs betroffen sind, kann eine Verpflichtung zur völkerrechtskonformen Auslegung nicht nur mit einem etwaigen Vorrang dieser völkerrechtlichen Normen oder einer verfassungsrechtlichen Verpflichtung zur völkerrechtskonformen Interpretation, sondern in Ermangelung eines solches Vorrangs auch mit der nach außen hin unvermindert bestehenden völkerrechtlichen Bindung begründet werden. Dies spricht dafür, bei der Abgrenzung beider Begriffe vom bloßen Wortlaut auszugehen: Die völkerrechtskonforme Auslegung beschränkt sich demnach darauf, die Normen rein nationalen Ursprungs in Konformität zum Völkerrecht auszulegen, wobei es auf das Rangverhältnis zwischen diesen Vorschriften nicht ankommt. Anzumerken ist aber, dass es für die Völkerrechtsfreundlichkeit einer Rechtsordnung spricht, wenn nicht nur das einfache Recht, sondern auch die Verfassung völkerrechtskonform interpretiert wird. Eine völkerrechtsfreundliche Auslegung nationaler Rechtsvorschriften geht hingegen über die Frage nach den sich aus dem Völkerrecht ergebenden rechtlichen Anforderungen hinaus. Sie führt zu einer – völkerrechtlich nicht zwingenden – Begünstigung des Völkerrechts in der nationalen Rechtsordnung und hat, anders als die völkerrechtskonforme Auslegung, keinen unmittelbaren Bezug zur Konfliktvermeidung. Von einer völkerrechtsfreundlichen Auslegung kann somit die Rede sein, wenn unter mehreren völkerrechtskonformen Interpretationsmöglichkeiten einer nationalen Norm die die Wirksamkeit des Völkerrechts am stärksten begünstigende den Vorzug bekommt.386 Damit ist die völkerrechtsfreundliche Auslegung der engere, die völkerrechtskonforme Auslegung hingegen der weitere Begriff.387 384

So beispielsweise Proelß, Bundesverfassungsgericht, S. 48; Dörr, S. 76. Proelß, Bundesverfassungsgericht, S. 48. 386 Vgl. auch Sauer, S. 382 f., Fn. 44: „Völkerrechtsfreundlich ist die Auslegung, wenn mehrere völkerrechtskonforme Auslegungen in Betracht kommen und diejenige gewählt wird, die den völkerrechtlichen Vorgaben am besten entspricht. Völkerrechtskonform ist die Auslegung, wenn andere mögliche Auslegungsvarianten nicht mit dem Völkerrecht im Einklang stehen würden [. . .].“ 385

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2. Teil: Internationale Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit

6. Keine völkerrechtsunfreundlichen Elemente a) Bezug zur Völkerrechtsfreundlichkeit einer Rechtsordnung Auf die meisten modernen Rechtsordnungen dürfte die Bezeichnung „völkerrechtsfeindlich“ nicht zutreffen. Die bei diesen Rechtsordnungen zu diagnostizierende gewisse Offenheit dem Völkerrecht gegenüber bedeutet jedoch keine vollständige Unterwerfung unter völkerrechtliche Vorgaben. Stattdessen dürfte sich in vielen Rechtsordnungen der Konflikt zwischen dem Wunsch nach Souveränität einerseits und der Notwendigkeit von zwischenstaatlicher Kooperation sowie der daraus folgenden zumindest partiellen Interdependenz in der Existenz völkerrechtsfreundlicher und weniger völkerrechtsfreundlicher Elemente und Entwicklungen widerspiegeln. Weniger völkerrechtsfreundliche Elemente einer Rechtsordnung sind solche, die nicht die Reibungspunkte nationaler Vorschriften zu völkerrechtlichen Vorgaben minimieren,388 sondern sie beibehalten oder sogar vertiefen. Diese Elemente und Entwicklungen lassen sich mit den Begriffen völkerrechtsunfreundlich und völkerrechtsskeptisch beschreiben. Um qualitativen Abstufungen zu begegnen, erscheint eine Differenzierung in der Wortwahl angebracht, bei der die Völkerrechtsskepsis die gegenüber der Völkerrechtsunfreundlichkeit „mildere“ Form darstellt.389 Sowohl Völkerrechtsskepsis als auch Völkerrechtsunfreundlichkeit beziehen sich dabei wie die Völkerrechtsfreundlichkeit begrifflich zwingend auf das positive Recht. Eine Rechts-

387 Anders und der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entsprechend verwendet Giegerich, EMRK, Rn. 76 (Hervorhebung im Original wurde weggelassen), diese Begriffe in Bezug auf die Auslegung der EMRK: „Das BVerfG entnimmt dem GG eine Pflicht zur konventionsfreundlichen, aber nicht unbedingt konventionskonformen Interpretation der deutschen Gesetzes- und Verfassungsnormen: Die Vorgaben der Konventionsbestimmungen in ihrer Auslegung seien möglichst schonend in das vorhandene, dogmatisch ausdifferenzierte nationale Rechtssystem einzupassen.“ Auch wenn dieses Begriffsverständnis praxisnäher sein dürfte, würde es im Rahmen der Entwicklung eines Modells der Völkerrechtsfreundlichkeit verwirren, eine nicht völkerrechtskonforme Interpretation als völkerrechtsfreundlich anzusehen. 388 Vgl. die Definition von Europarechtsskepsis bei Mayer, S. 240. 389 Dies entspricht den Differenzierungen bei Schorkopf, Völkerrechtsfreundlichkeit, S. 133 („Ist das Bundesverfassungsgericht dem Völkerrecht freundlich zugewandt, steht es ihm skeptisch gegenüber, möglicherweise beides zur gleichen Zeit, oder nimmt es in seiner Rechtsprechung vielleicht altdeutsche Rechtstraditionen auf, indem es dem Völkerrecht ablehnend, sogar feindlich gegenüber steht?“) und Dagmar Richter, S. 176 („[. . .] was völkerrechtsfreundlich, – skeptisch oder – unfreundlich ist, kann uns kraft Natur der Sache eben nur das Völkerrecht sagen [. . .].“ Mayer, S. 258 ff., unterscheidet im Gegensatz dazu bei seiner Analyse des Lissabon-Urteils des BVerfG zwischen der Kategorie „Unfreundliches und Merkwürdigkeiten“ (hierbei handelt es sich um „unfreundliche Aspekte, die aber für sich genommen noch nicht ohne weiteres die Reibungspunkte zwischen den Rechtsordnungen unmittelbar erhöhen“) und der „Europarechtsskepsis mit konkreten Folgen“. Hierbei handelt es sich allerdings um eine Differenzierung, die auf die Analyse eines konkreten Urteils zugeschnitten ist.

D. Die Völkerrechtsfreundlichkeit einer Rechtsordnung

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ordnung kann zwar trotz der Existenz einiger völkerrechtsskeptischer Elemente insgesamt als völkerrechtsfreundlich bewertet werden, die Existenz völkerrechtsunfreundlicher Elemente spricht allerdings deutlich gegen die Völkerrechtsfreundlichkeit einer Rechtsordnung. b) Begriffsabgrenzung aa) Völkerrechtsskepsis Die Verwendung des Begriffs „Völkerrechtsskepsis“ für weniger schwerwiegende Fälle rechtfertigt sich damit, dass dem Begriff „Skepsis“ im allgemeinen Sprachgebrauch auch eine positive Bedeutung zukommen kann („gesunde Skepsis“).390 Völkerrechtsskepsis beschreibt demnach eine in Normen oder Entscheidungen nationaler Rechtsanwender zum Ausdruck kommende geistige Haltung, die dem Völkerrecht konstruktiv-kritisch, aber nicht grundsätzlich ablehnend gegenübersteht. Die Völkerrechtsskepsis bezieht sich demnach nicht auf das gesamte Völkerrecht, sondern nur auf bestimmte einzelne Aspekte des Völkerrechts, deren Sinnhaftigkeit bzw. Geltung von den „Skeptikern“ in Frage gestellt wird.391 Entscheidendes Abgrenzungsmerkmal zur Völkerrechtsunfreundlichkeit ist hierbei die Konstruktivität und die Berücksichtigung der widerstreitenden Interessen. Dies führt dazu, dass eine völkerrechtsskeptische Gerichtsentscheidung auch positive Auswirkungen haben kann, beispielsweise wenn sie zu notwendigen Neuerungen auf der internationalen Ebene führt. bb) Völkerrechtsunfreundlichkeit Im Rahmen dieser Arbeit beschreibt der Begriff Völkerrechtsunfreundlichkeit eine in Normen oder Entscheidungen nationaler Rechtsanwender zum Ausdruck kommende Geisteshaltung, die durch das Beharren auf umfassender staatlicher Souveränität gekennzeichnet ist. Völkerrechtsunfreundliche Elemente einer Rechtsordnung schwächen die Durchsetzungsfähigkeit des Völkerrechts im innerstaatlichen Bereich in besonderem Maße, da sie beständig den normativen Wirkanspruch des Völkerrechts unterhöhlen. Die abstrakte Formulierung von Elementen, die als völkerrechtsunfreundlich anzusehen sind, gestaltet sich schwierig, da das Völkerrecht selbst nicht frei von Konfliktfeldern ist (beispielsweise das Souveränitätsprinzip gegenüber den Men390 Vgl. Schorkopf, Völkerrechtsfreundlichkeit, S. 155, der auf die verschiedenen Bedeutungen hinweist, die Skepsis haben kann: „Skepsis kann eine kritische, zurückhaltende Betrachtungsweise – im negativen wie im positiven Sinne – sein. Mit Skepsis kann aber auch das Prüfen von Wahrheitsansprüchen durch ein systematisches Infragestellen gemeint sein.“ 391 Vgl. die Ausführungen zur Europarechtsskepsis bei Kischel, S. 285.

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2. Teil: Internationale Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit

schenrechten392 oder den Erfordernissen des Umweltschutzes393). Abhängig von ihrer Handhabung im Einzelfall kann aber die übermäßige richterliche Zurückhaltung gegenüber Handlungen der Exekutive oder fremder Staaten (beispielsweise mithilfe der Political-Question- und der Act-of-State-Doktrin) völkerrechtsunfreundlich sein.394 Bei der Political-Question-Doktrin handelt es sich um ein Prinzip der außerordentlichen richterlichen Enthaltung im Hinblick auf die Prüfung der Rechtmäßigkeit bestimmter Handlungen der politischen Organe.395 In den USA findet diese Doktrin, deren Ursprung auf die Opinion von Chief Justice Marshall im Fall Marbury v. Madison396 zurückzuführen ist, besonders häufig im Bereich der auswärtigen Beziehungen Anwendung.397 Sie wurde beispielsweise von amerikanischen Gerichten während des Vietnamkriegs bei Klagen angewandt, in denen amerikanische Bürger – aus verschiedenen Gründen wie der Kriegsdienstverweigerung – eine Völkerrechtswidrigkeit der US-Intervention in Vietnam rügten, aber hiermit kein Gehör fanden.398 Die Political-Question-Doktrin kann auch völkerrechts392 Siehe beispielsweise die Darstellung zum Spannungsverhältnis zwischen völkerrechtlichen Immunitäten und Menschenrechten im Hinblick auf ausgebeutetes Hauspersonal von Diplomaten, Botschaften und ständigen Missionen bei Baldegger, S. 145 ff. 393 Siehe beispielsweise die Darstellung bei Odendahl, Umweltpflichtigkeit, S. 98– 100. 394 Siehe hierzu Conforti, S. 13–24; Shaw, S. 179–192. Eine Übersicht der entsprechenden Gerichtspraxis im Vereinigten Königreich und in verschiedenen anderen europäischen Staaten findet sich bei Crawford, S. 72–77 und 103–110. 395 Henkin, Viet-Nam, S. 285. Siehe hierzu auch Nettesheim, Verfassungsbindung, Rn. 25–28. Vgl. auch die wohl noch weitergehende Rechtspraxis bezüglich des „act de gouvernement“ in Frankreich, dargestellt bei Kottmann, S. 42–44, sowie seine Aufbereitung der Political-Question-Doktrin, S. 52–55. 396 5 U.S. 137 (1803) – Marbury v. Madison. 397 726 F.2d 774 (D.C. Cir. 1984), S. 803 – Tel-Oren v. Libyan Arab Republic (Bork. J., concurring): „Questions touching on the foreign relations of the United States make up what is likely the largest class of questions to which the political question doctrine has been applied.“ Kriterien dafür, wann eine solche „Political Question“ anzunehmen ist, finden sich in U.S. 186 (1962), Rn. 217 – Baker v. Carr: „[1] a textually demonstrable constitutional commitment of the issue to a coordinate political department; or [2] a lack of judicially discoverable and manageable standards for resolving it; or [3] the impossibility of deciding without an initial policy determination of a kind clearly for nonjudicial discretion; or [4] the impossibility of a court’s undertaking independent resolution without expressing lack of the respect due coordinate branches of government; or [5] an unusual need for unquestioning adherence to a political decision already made; or [6] the potentiality of embarrassment from multifarious pronouncements by various departments on one question.“ 398 Conforti, S. 15 f., mit Nachweisen in Fn. 25. Siehe auch die Nachweise bei Henkin, Viet-Nam, S. 284, Fn. 1 und Henkin, Political Question, S. 623 f., Fn. 74. Henkin, Political Question, S. 623, zufolge durften die Gerichte zu Recht die Überprüfung der völkerrechtlichen Zulässigkeit der amerikanischen Handlungen in Vietnam verweigern, da die amerikanische Verfassung es den politischen Organen im Rahmen ihrer Machtbefugnisse nicht verbietet, völkerrechtliche Verträge wie den Kellogg-Briand Pakt und die UN-Charta oder andere völkerrechtliche Verpflichtungen unberücksichtigt zu lassen.

D. Die Völkerrechtsfreundlichkeit einer Rechtsordnung

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freundlich angewandt werden, wenn beispielsweise völkerrechtsfreundliches Regierungshandlung gegen eine verfassungsrechtliche Prüfung „immunisiert“ wird. Die bereits dargestellte richterliche Zurückhaltung des japanischen Obersten Gerichtshofs in Bezug auf eine Prüfung des japanisch-amerikanischen Sicherheitsvertrages auf ihre Verfassungsmäßigkeit könnte grundsätzlich als Beispiel für eine völkerrechtsfreundliche Handhabung dieser Doktrin dienen; allerdings gewann die Einordnung hier aufgrund des Friedensgebotes aus Art. 9 der japanischen Verfassung zusätzliche Komplexität.399 Während die Zuerkennung eines angemessenen Beurteilungsspielraums der Exekutive nicht per se völkerrechtsunfreundlich ist, sondern Überlegungen der Funktionsteilung zwischen Staatsorganen Rechnung trägt, ist die Schwelle zur Völkerrechtsunfreundlichkeit überschritten, wenn die Exekutive im (völker-) rechtsfreien Raum agieren kann und nicht einmal Schutz vor Willkür geboten wird. In seiner Heß-Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht daher zutreffend anerkannt, dass der zugebilligte Beurteilungsspielraum bestimmten Grenzen unterliegen kann. So führte es aus, eine Bewertung als Ermessensfehler „wäre allenfalls dann in Betracht zu ziehen, wenn sich die Einnahme der fraglichen Rechtsauffassung als Willkür gegenüber dem Bürger darstellt, also unter keinem – auch außenpolitisch – vernünftigen Gesichtspunkt mehr zu verstehen wäre.“ 400 Diese Entscheidung ist in der Literatur mit dem Argument, es erweitere den nicht-justiziablen Handlungsfreiraum der Bundesregierung „bis an die Grenze des Gutdünkens“, kritisiert worden.401 Das Bundesverfassungsgericht rechtfertigte den zugestandenen Beurteilungsspielraum mit den Worten: „Der gegenwärtigen Völkerrechtsordnung gebricht es weithin an institutionellen Vorkehrungen [. . .], vermittels deren die Richtigkeit von Rechtsauffassungen im Streitfall verbindlich festgestellt werden könnte. Der Behauptung des eigenen Rechtsstandpunktes durch einen Staat kommt daher auf internationaler Ebene eine sehr viel größere Tragweite zu als in einer innerstaatlichen Rechtsordnung, in der Gerichte das Recht auch für den Staat verbindlich feststellen. Angesichts dieser Sachlage ist es für die Wahrung der Interessen der Bundesrepublik Deutschland von erheblicher Bedeutung, daß sie auf internationaler Ebene mit einer einheitlichen Stimme auftritt, wahrgenommen von den zuständigen Organen der auswärtigen Gewalt.“ 402 Allerdings lässt sich gegen diese Argumentation einwenden, dass das – von den nationalen Gerichten durch die Praxis richterlicher Zurückhaltung „abgesegnete“ – Vertreten einer möglicherweise völkerrechtswidrigen Auffassung durch die Exekutive auf internationaler Ebene grundsätzlich nicht im langfristigen Interesse eines Rechtsstaates liegen dürfte. Auch andere mögliche Be399 400 401 402

Siehe 2. Teil D. 3. a). BVerfGE 55, 349 (368). Schorkopf, Völkerrechtsfreundlichkeit, S. 139. BVerfGE 55, 349 (367 f.).

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2. Teil: Internationale Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit

gründungen für eine richterliche Zurückhaltung sind in der Literatur kritisiert worden: Im Hinblick auf das Argument, eine mögliche weltweite Bloßstellung der Regierung durch die eigenen Gerichte solle hiermit vermieden werden, wurde die Frage gestellt, ob die gewissenhafte Rechtsanwendung durch nationale Gerichte tatsächlich eine Quelle der „internationalen Peinlichkeit“ darstellen könne.403 Unter dem Aspekt der Völkerrechtsfreundlichkeit ist die im Vavarin-Beschluss des BVerfG zum Ausdruck kommende Versagung eines nicht justiziablen Beurteilungsspielraums daher vorzugswürdig: „Die Erstellung von Ziellisten und die Nichtausübung eines Vetorechts gegen die Aufnahme eines bestimmten Ziels in diese Listen sowie die Einstufung eines Objekts als legitimes militärisches Ziel sind keine politischen Entscheidungen, die einer gerichtlichen Kontrolle von vornherein entzogen wären. Es ist auch nicht ersichtlich, dass die Rechtsprechung durch die Klärung dieser Rechtsfrage an ihre Funktionsgrenzen stoßen würde.“ 404 Das Gericht entkräftet auch Befürchtungen, die nationalen Gerichte seien von der Komplexität politischer Entscheidungen überfordert oder nicht hinreichend legitimiert,405 und führt aus: „Die hier in Rede stehenden völkerrechtlichen Regelungen verwenden zwar unbestimmte Rechtsbegriffe zur Beschreibung dessen, was ein legitimes militärisches Ziel sein kann; deren Auslegung und Anwendung ist aber in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht anhand objektiver Kriterien durchaus überprüfbar.“ 406 Während es demnach einige Rechte der Exekutive im Bereich der auswärtigen Beziehungen gibt, die nicht justiziabel sind – beispielsweise das agrément, das einem ausländischen Diplomaten gegeben wird – sollte die Völkerrechtskonformität des Handelns der Exekutive nicht grundsätzlich der richterlichen Kontrolle erzogen sein.407 403

Conforti, S. 20. BVerfG, 2 BvR 2660/06 vom 13.08.2013, Rn. 55 (Nachweise im Original weggelassen). 405 Siehe hierzu beispielsweise das Argument vom US Supreme Court, 333 U.S. 103 (1984), S. 111 – Chicago & S. Air Lines, Inc. v. Waterman S.S. Corp.: „[. . .], the very nature of executive decisions as to foreign policy is political, not judicial. Such decisions are wholly confided by our Constitution to the political departments of the government, Executive and Legislative. They are delicate, complex and involve large elements of prophecy. They are and should be undertaken only by those directly responsible to the people whose welfare they advance or imperil. They are decisions of a kind for which the Judiciary has neither aptitude, facilities nor responsibility and which has long been held to belong in the domain of political power not subject to judicial intrusion or inquiry.“ 406 BVerfG, 2 BvR 2660/06 vom 13.08.2013, Rn. 55 (Nachweise im Original weggelassen). Siehe zu dieser Frage auch die zutreffende Argumentation von Kottmann, S. 72 f.: „Richter wissen von der Außenpolitik genauso viel oder wenig wie von der Medizin, Biologie oder Wirtschaft. Deshalb bedienen sie sich ganz selbstverständlich sowohl der Expertise der Exekutive als auch externen Sachverstands. Dass dies auch im Extremfall bewaffneter Konflikte möglich ist, zeigen die Beispiele deutscher und britischer Gerichte sowie des EGMR.“ 407 Conforti, S. 16 f. 404

D. Die Völkerrechtsfreundlichkeit einer Rechtsordnung

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Möglicherweise völkerrechtsunfreundlich wird die Act-of-State-Doktrin408 gehandhabt, sofern sie die gerichtliche Überprüfbarkeit der Handlungen fremder Staaten am Maßstab des Völkerrechts und die Versagung der Anerkennung evident völkerrechtswidriger ausländischer Hoheitsakte hindert.409 Formuliert hat der US-amerikanische Supreme Court diese – im amerikanischen Verfassungsdiskurs umstrittene410 – Doktrin wie folgt: „[. . .] the courts of one country will not sit in judgment on the acts of another, done within its territory.“ 411 Kritikern zufolge behindert die Act-of-State-Doktrin die Durchsetzung des Völkerrechts durch die nationalen Gerichte; von ihr profitierten insbesondere Staaten, die bewusst das Völkerrecht missachten.412 Allerdings beruht diese Doktrin auf dem Gedanken der formellen Gleichheit der Staaten (vgl. Art. 1 Ziff. 2 UN-Charta), so dass sich eine schematische Einordnung der Doktrin als völkerrechtsunfreundlich verbietet. Eine völkerrechtsunfreundliche Anwendung der Doktrin liegt beispielsweise vor, wenn der im ausländischen Hoheitsakt verkörperte Völkerrechtsbruch evident völkerrechtlich garantierte Menschenrechte verletzt. Als Beispiel für bei der Respektierung fremder Rechtsordnungen zu beachtende Grenzen nennt Tomuschat den Umgang mit einer etwaigen ungleichen Stellung der Ehegatten im Recht des Heimatstaates und führt hierzu aus: „Gerade in diesen Fällen erhielt die Debatte durch die Verwendung der Vokabel von der Völkerrechtsfreundlichkeit einen falschen Aspekt, weil es eine umfassende Verpflichtung zur Respektierung des Heimatrechts nicht gibt. Im Gegenteil besteht heute angesichts der in Art. 23 Abs. 3 IPbürgR zum Ausdruck kommenden Entscheidung der internationalen Gemeinschaft die völkerrechtsfreundliche Lösung darin, auf völliger Gleichheit der Ehegatten zu beharren.“ 413 Für die Völkerrechtsfreundlichkeit der Handhabung der Act-of-State-Doktrin im Vereinigten Königreich spricht daher, dass Handlungen fremder Staaten gerichtlich überprüfbar sind, wenn sie der nationalen „public policy“ widersprechen, wozu (schwere) Menschenrechtsverletzungen414 sowie klare Verletzungen von etablierten Völkerrechtsnormen415 zählen können.416 408 Siehe weiterführend zu dieser Doktrin den Beitrag von de Quadros/Dingfelder Stone sowie Giegerich, Verfassungsgerichtliche Kontrolle, S. 478–482. 409 Conforti, S. 16 f. 410 Giegerich, Verfassungsgerichtliche Kontrolle, S. 429 m.w. N. 411 US Supreme Court, U.S. 250, (1897). S. 252 – Underhill v. Hernandez. 412 Berentelg, S. 129, mit Nachweisen in Fn. 577. 413 Tomuschat, Internationale Offenheit, Rn. 74, der auch darauf verweist, dass die kollisionsrechtliche Gleichberechtigung der Ehegatten inzwischen in Art. 6, 14 EGBGB garantiert ist. 414 House of Lords, Oppenheim v Cattermole [1976] AC 249, S. 63 (Lord Hailsham), S. 278 (Lord Cross: „[. . .] it is part of the public policy of this country that our courts should give effect to clearly established rules of international law. [. . .] what we are concerned with here is legislation which takes away without compensation from a sec-

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2. Teil: Internationale Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit

Ein anderweitiges Ergebnis würde dazu führen, dass das nationale Gericht den etwaigen Völkerrechtsbruch des fremden Staates gleichsam – und ohne vom Völkerrecht gefordert – „absegnet“. Da der fremde Staat regelmäßig nicht als Partei am Rechtsstreit teilnimmt, ist nicht jegliche Beurteilung seines – ausländischen – Hoheitsaktes durch die inländischen Gerichte unzulässig.417 Völkerrechtlich geboten ist die Anwendung der Act-of-State-Doktrin daher nicht,418 wie auch das deutsche Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung angemerkt hat.419 Wird dennoch auch bei einem evidenten fremden Völkerrechtsbruch richterliche Zurückhaltung im Sinne der Act-of-State-Doktrin geübt, so kann dies – trotz des andere Staaten und den Gedanken der Gleichheit wertschätzenden Tonfalls der Doktrin – völkerrechtsunfreundlich sein. Auch die Tendenz, völkerrechtliche Normen immer oder weitgehend für nicht unmittelbar anwendbar zu erklären, die Ablehnung der unmittelbaren Anwendbarkeit bindender Resolutionen internationaler Organisationen und die Anwendung des lex posterior-Grundsatzes bei einem Konflikt zwischen völkerrechtlichen und nationalen Regeln können zu diesen völkerrechtsunfreundlichen Elementen zählen.420 Die dargelegten Schwierigkeiten bei der Einordnung möglicher völkerrechtsunfreundlicher Elemente zeigen aber, dass hierbei eine Einzelfallbetrachtung notwendig ist.

II. „Natürliche“ bzw. „erarbeitete“ Völkerrechtsfreundlichkeit einer Rechtsordnung Neben den bereits angeführten Kriterien soll auf eine grundlegende Weichenstellung bezüglich der Völkerrechtsfreundlichkeit einer Rechtsordnung hingewiesen werden: die Frage, ob es sich um eine „natürliche“ oder lediglich um eine „erarbeitete“ Völkerrechtsfreundlichkeit handelt. Die Erläuterung dieser Untertion of the citizen body singled out on racial grounds all their property on which the state passing the legislation can lay its hands and, in addition, deprives them of their citizenship. To my mind a law of this sort constitutes so grave an infringement of human rights that the courts of this country ought to refuse to recognise it as a law at all.“), S. 282–283 (Lord Salmon). 415 House of Lords, Kuwait Airways Corporation v Iraqi Airways Company (Nos 4 & 5) [2002] UKHL 19, Rn. 26 (Lord Nicholls: „In appropriate circumstances it is legitimate for an English court to have regard to the content of international law in deciding whether to recognise a foreign law.“), Rn. 114 (Lord Steyn: „There was a universal consensus on the illegality of Iraq’s aggression. [. . .]. It follows that it would be contrary to domestic public policy to give effect to Resolution 369 in any way.“). 416 Siehe die Darstellung bei Crawford, S. 76, m.w. N. 417 Berentelg, S. 8 f. 418 Conforti, S. 23. 419 BVerfGE 92, 277 (321 f.). 420 Siehe hierzu ausführlich Conforti, S. 25–47.

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scheidung setzt die überblicksweise Darstellung einiger theoretischer Grundlagen voraus. 1. Verhältnis zwischen Völkerrecht und nationalem Recht Die Notwendigkeit einer kurzen Darstellung der beiden Theorien Monismus und Dualismus zum Verhältnis von Völkerrecht und innerstaatlichem Recht ergibt sich daraus, dass die monistische oder dualistische Haltung einer Rechtsordnung Auswirkungen auf die innerstaatliche Berücksichtigung des Völkerrechts und damit auf die Völkerrechtsfreundlichkeit der jeweiligen Rechtsordnung haben kann. Den von der Wissenschaft entwickelten Theorien zur Beschreibung der hinsichtlich des Verhältnisses von Völkerrecht und nationalem Recht zu beobachtenden Staatenpraxis gelingt es zwar oft nicht, diese Staatenpraxis erschöpfend und widerspruchslos zu beschreiben;421 auch geht die Kritik an ihnen so weit, dass teilweise ihre Aufgabe verlangt wird.422 Trotzdem liefern diese Theorien wertvolle Erkenntnisse, indem sie es ermöglichen, ein Phänomen begrifflich einzuordnen. Daher hat trotz dieser praktischen Defizite eine kurze Erörterung dieser Lehren zu erfolgen. Obwohl die Theorien sich so weit angenähert haben, dass sie in ihrer extremen Form nicht mehr vertreten werden, bestehen weiterhin Unterschiede zwischen ihnen.423 Um diese Unterschiede, sofern sie die Völkerrechtsfreundlichkeit betreffen, zu verdeutlichen, wird im Folgenden von idealtypischen, widerspruchsfreien monistischen bzw. dualistischen Systemen ausgegangen, die in dieser eindeutigen Form in der Staatenpraxis wohl nicht existieren.424 421

Aust, Treaty Law, S. 162. So wohl Kirchmair, S. 291: „Können nur vereinzelt Elemente der einen oder anderen Theorie aufrecht erhalten werden, zeigt dies, dass die Theorien im Gesamten nicht mehr zeitgemäß sind, um das aktuelle Verhältnis von Völkerrecht zu Staatsrecht zu erklären. Dies hindert den Diskurs freilich nicht daran von den Theorien zu lernen und einen neuen Ansatz zu schaffen, der sehr wohl auf einzelnen Elementen sowohl der dualistischen als auch der monistischen Doktrin aufbauen kann.“ Sehr deutlich kritisiert auch von Bogdandy, Grundprinzipien, Rn. 53, die beiden Theorien: „Von ihnen ausgehend läßt sich kein plausibles Verständnis mehr entwickeln. [. . .] Als spezifisch dogmatische Konstruktionen sind Monismus und Dualismus nicht mehr nützlich, weil sie bei keiner der relevanten Rechtsfragen einen plausiblen Lösungsvorschlag unterbreiten können. Als theoretische Konstruktionen zur Erfassung der rechtlichen Gesamtkonstruktion sind sie ebensowenig weiterführend, weder analytisch noch normativ.“ 423 So hält Pescatore, S. 683, die Entscheidung für die eine oder andere Auffassung sogar in „gemäßigter“ Form für eine keineswegs wertneutrale Entscheidung. Kunig, Völkerrecht, S. 79, zufolge lässt sich hingegen aus der „Entscheidung“ für eine der beiden Grundlehren nur noch die jeweilige rechtstheoretische Prämisse – umgreifende Gesamtrechtsordnung (Monismus) bzw. interdependente Teilrechtsordnung (Dualismus) – ableiten. Für die erste Prämisse spricht, so Kunig, die Umbildung des Völkerrechts zur Menschenrechtsordnung. 424 Vgl. Wüger, S. 27. Für eine Übersicht darüber, wie in unterschiedlichen Rechtsordnungen das Verhältnis von Völkerrecht und nationalem Recht gestaltet ist, siehe bei422

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2. Teil: Internationale Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit

a) Der (gemäßigte) Monismus Monistische Auffassungen gehen hinsichtlich des Verhältnisses von Völkerrecht und nationalem Recht von einer auf einem gemeinsamen Geltungsgrund beruhenden, einheitlichen Gesamtrechtsordnung aus,425 die sich folglich durch ihre Widerspruchsfreiheit auszeichnet.426 Die monistische Ansicht beruht entweder auf einer ethischen, menschenrechtsbezogenen Position wie bei Lauterpacht oder auf einer formalistisch-logischen Position, wie sie Kelsen vertritt.427 Die Annahme einer Einheit von Völkerrecht und nationalem Recht führt dazu, dass Widersprüche innerhalb des Systems aufgelöst werden, indem entweder die Normen des Völkerrechts (monistische Theorie mit Primat des Völkerrechts) oder die Normen des nationalen Rechts (so die von der absoluten staatlichen Souveränität ausgehende, heute nicht mehr vertretene428 monistische Theorie429 mit Primat des nationalen Rechts430) vorgehen.431 Nach der insbesondere von Kelsen, Scelle und Guggenheim geprägten monistischen Lehre gilt das Völkerrecht unmittelbar auch innerstaatlich, ohne die Notwendigkeit einer Umformung oder eines besonderen Geltungsbefehls für die Normadressaten.432 Völkerrechtswidrige nationale Bestimmungen sind dem radikalen Monismus zufolge automatisch, d.h. ohne dass es einer Nichtigkeitserklärung durch die Staatsorgane bedürfte, nichtig.433 Der gemäßigte Monismus434 vertritt hingegen nicht mehr, dass das gesamte Völkerrecht ohne weiteres unmittelbar gelte und entgegenstehendes nationales spielsweise Dahm/Delbrück/Wolfrum, S. 104–124; Kunig, Völkerrecht, S. 82–88; Crawford, S. 62–110. 425 Kunig, Völkerrecht, S. 77. 426 Doehring, S. 303, bezeichnet den Monismus daher als „eine Konzeption, die eine gewisse Evidenz für sich hat, denn es widerstrebt dem Rechtsbetrachter anzunehmen, daß das Verhalten eines Rechtssubjekts, z. B. der Einzelperson, nach der einen Rechtsordnung als Recht und unter Umständen nach der anderen Rechtsordnung als Unrecht zu qualifizieren wäre.“ 427 Shaw, S. 131. 428 Siehe aber die bei von Bogdandy, Prinzipien Rn. 53, aufgeführten zeitgenössischen US-amerikanischen Vertreter dieser Konzeption. 429 Dupuy, S. 838: „The assumption that national law could constitute the common source for international law results in the negation of an international legal order. A multitude of States cannot constitute the basis for one legal order. The theory of the primacy of national law in a monistic system was therefore abandoned long ago.“ 430 Beispiele für Vertreter dieser Auffassung bei Dahm/Delbrück/Wolfrum, S. 100, Fn. 10. 431 Verdross/Simma, § 72. 432 Dahm/Delbrück/Wolfrum, S. 100. 433 Dupuy, S. 839; Doehring, S. 303. 434 Dahm/Delbrück/Wolfrum, S. 101, sehen die Lösung des Problems in einem „differenzierenden Monismus [. . .], in dem Gedanken, daß das Völkerrecht für die Staaten verbindlich ist, den einzelnen aber in der Regel nur auf dem Umweg über das inländische Recht zu erreichen vermag.“

D. Die Völkerrechtsfreundlichkeit einer Rechtsordnung

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Recht nichtig sei.435 Er erkennt an, dass es zwischen Völkerrecht und nationalem Recht – wie auch zwischen Verfassung und Gesetz, Gesetz und Verordnung, Gesetz und Entscheidung oder Verwaltungsakt – Konflikte geben kann, die aber nicht endgültig sind, sondern durch ein entsprechendes Verfahren auf der Grundlage des Primats des Völkerrechts beseitigt werden können.436 Nach dem gemäßigten Monismus gilt bei einem Konflikt zwischen Völkerrecht und nationalem Recht das entgegenstehende nationale Recht vorläufig weiter, bis das Völkerrecht nach den jeweiligen innerstaatlichen Regelungen in die Rechtsordnung eingegliedert und völkerrechtswidriges nationales Recht beseitigt worden ist.437 Der Monismus mit Primat des Völkerrechts sichert dem Völkerrecht eine hohe innerstaatliche Wirksamkeit zu. Der monistische Ansatz gilt daher traditionell als völkerrechtsfreundlicher438 und universalistischer als das souveränitätsbetontere dualistische System.439 Dies rechtfertigt es, im Folgenden von der „natürlichen“ Völkerrechtsfreundlichkeit des monistischen Systems zu sprechen, ohne dass hierdurch der Eindruck vermittelt werden soll, dass monistischen Rechtsordnungen völkerrechtsskeptische Tendenzen fremd wären.440 Als weitgehend monistische Rechtsordnungen gelten beispielsweise die Niederlande und die Schweiz.441 Für eine monistische Einordnung der niederländischen Rechtsordnung spricht die Anerkennung der – nicht ausdrücklich in der niederländischen Verfassung vorgesehenen – automatischen Inkorporation völkerrechtlicher Verträge sowie Art. 94 der niederländischen Verfassung,442 demzufolge geltende gesetzliche Vorschriften innerhalb der Niederlande keine Anwendung finden, wenn diese Anwendung nicht im Einklang steht mit jedermann verpflichtenden Bestimmungen von Verträgen oder von Resolutionen internationaler Organisationen, die alle Personen binden.443 Zur Einordnung der schweizerischen Rechtsordnung haben sich beispielsweise das Bundesamt für Justiz und die Direktion für Völkerrecht 1989 wie folgt geäußert: „Die schweizerische Rechtsordnung [. . .] ist monistisch. In der Tat sind, wie dies das Bundesgericht und der Bundesrat oft und in Übereinstimmung mit

435

Geiger, Grundgesetz, S. 15; Dupuy, S. 839. Verdross/Simma, § 73; Müller/Wildhaber, S. 161. 437 Geiger, Grundgesetz, S. 15. 438 Siehe zur Problematik bei der Beschreibung eines monistischen Systems als „völkerrechtsfreundlich“ die einleitenden Bemerkungen unter 1. Teil A. 439 Hilpold, GATT/WTO, S. 315. 440 Vgl. Keller, S. 9 m.w. N., die darauf verweist, dass auch monistische Rechtsordnungen Wege zur erschwerten Anwendung völkerrechtlicher Normen gefunden haben. 441 Dahm/Delbrück/Wolfrum, S. 115. 442 Abrufbar unter http://wetten.overheid.nl/BWBR0001840/geldigheidsdatum_0608-2013. 443 Crawford, S. 100 f. 436

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der Lehre erwähnt haben, die Normen des Völkerrechts (vertragliche, gewohnheitsrechtliche oder einseitige) von dem Zeitpunkt an, in dem sie für unser Land rechtskräftig werden, ein fester Bestandteil der schweizerischen Rechtsordnung. Von diesem Moment an und solange, wie sie für die Schweiz in Kraft sind, müssen alle Staatsorgane (politische, administrative und richterliche Instanzen) sie einhalten und anwenden. Der Einzelne kann sich auf sie berufen, um aus ihnen Rechte und Pflichten zulasten des Staates oder Anderer abzuleiten. Völkerrechtliche Verträge können indessen für den Einzelnen nur dann Pflichten begründen, wenn sie publiziert worden sind.“ 444 b) Der (gemäßigte) Dualismus Nach dualistischer Ansicht445 handelt es sich bei Völkerrecht und nationalem Recht dagegen um zwei Rechtsordnungen, die unabhängig voneinander existieren und – nach dem strengen Dualismus – keine Auswirkungen aufeinander haben.446 Sehr anschaulich hat dies Triepel mit dem berühmten Satz beschrieben, Völkerrecht und Landesrecht seien „zwei Kreise, die sich höchstens berühren, niemals schneiden.“ 447 Als Begründung für diese radikale Trennung wird angeführt, dass Völkerrecht und nationales Recht verschiedene Rechtsquellen, Rechtssubjekte und Geltungsgründe aufweisen und dass völkerrechtswidrige Staatsakte im innerstaatlichen Bereich des Staates, dem sie zugerechnet werden, rechtsverbindlich sein können.448 Aufgrund der Trennung der beiden Rechtsordnungen lässt sich nach der Dualismustheorie anders als beim Monismus kein „theoretisches Über- oder Unterordnungsverhältnis“ zwischen Völkerrecht und nationalem Recht konstruieren.449 Da es sich um zwei verschiedene Rechtsordnungen halten, bleiben Widersprüche vielmehr unaufgelöst. Konsequenz dieser Trennung ist auch, dass die völkerrechtliche Norm nur durch eine nationale Norm innerstaatlich Geltung erlangen kann, wobei diese nationale Norm auch über die Fälle der Kollision zwischen Normen aus der völkerrechtlichen und solchen aus der nationalen Sphäre entscheidet.450 Dies bedeutet, dass im Einzel- oder sogar im Regelfall im nationalen

444 Gemeinsame Stellungnahme des Bundesamtes für Justiz und der Direktion für Völkerrecht vom 26. April 1989, Verhältnis zwischen Völkerrecht und Landesrecht im Rahmen der schweizerischen Rechtsordnung, SJIR (1990) S. 138. Siehe zur Einordnung der schweizerischen Rechtsordnung auch Breitenmoser, S. 336–338. 445 Nach Rudolf, S. 129, ist diese Ansicht genauer als „pluralistische Theorie“ zu bezeichnen, da es eine Vielzahl staatlicher Rechtsordnungen gibt. 446 Shaw, S. 131. 447 Triepel, S. 111. 448 Verdross/Simma, § 71. 449 Hobe, Völkerrecht, S. 240. 450 Kunig, Völkerrecht, S. 77 f.

D. Die Völkerrechtsfreundlichkeit einer Rechtsordnung

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Rechtsraum die innerstaatlichen Regeln den völkerrechtlichen Verpflichtungen vorgehen (können). Allerdings geht der gemäßigte Dualismus451 davon aus, dass das völkerrechtswidrige nationale Recht grundsätzlich nur vorläufig gilt, weil eine Verpflichtung der Staaten dazu besteht, innerstaatlich eine völkerrechtsgemäße Lage herzustellen (vgl. Art. 27 WVK452).453 Da das dualistische Verständnis von vornherein einen möglichen Konflikt des nationalen Rechts mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen in sich birgt,454 ist ein dualistisches System nicht in demselben Maße „von Natur aus“ völkerrechtsfreundlich wie ein monistisches System. Nationale Rechtsanwender und Rechtswissenschaftler haben aber Wege entwickelt, um dem Völkerrecht im innerstaatlichen Bereich trotzdem zu einem größtmöglichen Einfluss zu verhelfen, weswegen es sich anbietet, von einer „erarbeiteten“ Völkerrechtsfreundlichkeit des dualistischen Systems zu sprechen. Zu den dualistisch orientierten Rechtsordnungen gehört beispielsweise die des Vereinigten Königreiches,455 in der völkerrechtliche Verträge zu ihrer innerstaatlichen Wirksamkeit der Umsetzung bedürfen.456 Dieser grundsätzlich dualistischen Orientierung steht auch nicht die automatische Geltung des Völkergewohnheitsrechts entgegen,457 wie sie einst von Blackstone formuliert worden ist: „The law of nations, wherever any question arises which is properly the object of its jurisdiction, is here adopted in its full extent by the common law, and it is held to be a part of the law of the land.“ 458 Für das Völkergewohnheitsrecht ist kaum eine andere Begründung der innerstaatlichen Geltung möglich,459 und zudem gilt in der Rechtsordnung des Vereinigten Königreichs als Völkerrecht nur das, was ausdrücklich oder schweigend von der englischen Rechtsüberzeugung rezipiert worden ist.460

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Doehring, Völkerrecht, Rn. 703. Art. 27 WVK kodifiziert geltendes Völkergewohnheitsrecht, siehe IGH, Certain Questions of Mutual Assistance in Criminal Matters (Djibouti v. France), Judgment, I.C.J. Reports 2008, S. 177 (Nr. 124: „the rule of customary law reflected in Article 27 of the Vienna Convention on the Law of Treaties“). Siehe auch die weiteren Nachweise bei Schaus, S. 691 f.; Crawford, S. 51 f. 453 Geiger, Grundgesetz, S. 15. 454 So Payandeh, S. 471, für die deutsche Rechtsordnung. 455 Siehe Aust, Treaty Law, S. 162 sowie Shaw, S. 63. 456 Dahm/Delbrück/Wolfrum, S. 1067; Crawford, S. 63 f. 457 Dahm/Delbrück/Wolfrum, S. 108, denen zufolge der Satz, das Völkerrecht sei „part of the law of the land“ in der Rechtsordnung des Vereinigten Königreichs nur eine begrenzte Bedeutung habe. 458 William Blackstone, Commentaries on the Laws of England, Oxford 1765–1769, Book 4, Chapter 5, abrufbar unter http://avalon.law.yale.edu/subject_menus/black stone.asp. 459 Müller/Wildhaber, S. 153. 460 Dahm/Delbrück/Wolfrum, S. 107 m.w. N. 452

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Auch das deutsche Bundesverfassungsgericht hat in seiner Rechtsprechung eine dualistische Grundauffassung zu erkennen gegeben: „Dem Grundgesetz liegt deutlich die klassische Vorstellung zu Grunde, dass es sich bei dem Verhältnis des Völkerrechts zum nationalen Recht um ein Verhältnis zweier unterschiedlicher Rechtskreise handelt und dass die Natur dieses Verhältnisses nur durch das nationale Recht selbst bestimmt werden kann; dies zeigen die Existenz und der Wortlaut von Art. 25 und Art. 59 Abs. 2 GG.“ 461 2. Überführung des Völkerrechts in den innerstaatlichen Raum Während der Konflikt zwischen diesen beiden Theorien seit längerer Zeit an Schärfe verloren hat, spielt er insbesondere bei der Diskussion über die verschiedenen Mechanismen zur Überführung völkerrechtlicher Verpflichtungen in den innerstaatlichen Raum weiterhin eine Rolle.462 a) Notwendigkeit der Überführung völkerrechtlicher Normen in den innerstaatlichen Bereich Das Völkerrecht bindet den Staat prinzipiell zunächst nur in seiner Eigenschaft als Subjekt des Völkerrechts und somit im Außenverhältnis, enthält jedoch keine Regel, nach der alle Völkerrechtsnormen automatisch, d.h. ohne die Einschaltung eines innerstaatlichen Aktes, von den innerstaatlichen Rechtssubjekten einzuhalten wären.463 Bestimmte völkerrechtliche Normenkomplexe erfordern auch keine Überführung in das nationale Recht, beispielsweise Völkerrechtsverpflichtungen, die nur das Verhalten der Staaten als solche regeln, ohne dass innerstaatliche Rechtssubjekte eingeschaltet werden müssten.464 Von diesen Fällen abgesehen muss der Staat, wenn das Völkerrecht innerstaatlich Verbindlichkeit erlangen soll, als Vermittler zwischen der Völkerrechtsordnung und seiner innerstaatlichen Rechtsordnung auftreten.465 Während sich für den reinen Monismus die Frage nach der Überführung von Völkerrecht in den innerstaatlichen Bereich und seine innerstaatliche Anwendung nicht stellt, ist nach allen anderen Auffassungen, einschließlich einer differenzierend monistischen, eine Überführung des Völkerrechts in den nationalen Rechtskreis erforderlich.466 461

BVerfGE 111, 307 (318). Hilpold, GATT/WTO, S. 313 f. 463 Seidel, S. 86. Dahm/Delbrück/Wolfrum, S. 101 beschreiben dies wie folgt: „Das Völkerrecht fordert nur, daß es, aber sagt nicht, wie es im inländischen Recht durchgesetzt werden soll. Die Auswahl des Weges und der Technik bleibt dem nationalen Recht überlassen.“ (Hervorhebung im Original). 464 Seidel, S. 89 f. 465 Seidel, S. 86. 466 Dahm/Delbrück/Wolfrum, S. 104. 462

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b) Transformation, Adoption und Vollzug Die Überführung des Völkerrechts in den innerstaatlichen Bereich erfolgt in der Staatenpraxis auf unterschiedliche Weise. Zur Beschreibung der Staatenpraxis werden im Wesentlichen die Begriffe Transformation, Adoption (bzw. Rezeption, Absorption oder Inkorporation) und Vollzug benutzt,467 wobei das von diesen Begriffen umschriebene Überführungskonzept durch den dualistischen bzw. monistischen Ansatz mitgeprägt ist.468 Da es sich bei der Zuordnung der jeweiligen staatlichen Überführungspraxis zu den verschiedenen Lehren um eine Verständnis- bzw. Auslegungsfrage handelt, lässt sich in der Praxis mitunter nicht eindeutig feststellen, welche Staaten welcher Methode folgen.469 Bei der Transformation völkerrechtlicher Normen wandelt ein innerstaatlicher Akt die völkerrechtliche Norm in das nationale Recht um.470 Auf diesem Wege entsteht ein (gleichlautendes) innerstaatliches Pendant zur völkerrechtlichen Norm, welches von dieser unterschieden werden muss.471 Daraus folgt, dass für die innerstaatliche Norm das weitere Schicksal der völkerrechtlichen Norm – etwa seine spätere Ungültigkeit – unbeachtlich ist.472 Geltung und Auslegung der innerstaatlichen Norm richten sich nach dem nationalen Recht, sofern sich nicht aus einer besonderen Norm des nationalen Rechts eine Rückbindung an das Völkerrecht ergibt.473 Die Transformationslehre wird als eine auf der dualistischen Sichtweise beruhende Umsetzungstheorie angesehen.474 Für die Überführung der völkergewohnheitsrechtlichen Normen in den innerstaatlichen Bereich ist die

467 Mit Verdross/Simma, §§ 849–858, kann auch zunächst zwischen einer individuellen (speziellen) und einer generellen Durchführung des Völkerrechts unterschieden werden und erst im nächsten Schritt eine Zuordnung zu den Begriffen Transformation, Adoption und Vollzug erfolgen. Bei der individuellen Durchführung des Völkerrechts, so Verdross/Simma, müsse jede einzelne Völkerrechtsnorm innerstaatlich durch ein eigenes Gesetz o. ä. durchgeführt werden, was sich als Transformation darstelle. Die generelle Durchführung des Völkergewohnheitsrecht könne aufgrund geschriebenen oder ungeschriebenen Verfassungsrechts wie der Blackstone-Maxime oder Art. 25 GG erfolgen, die generelle Durchführung des Vertragsrechts jeweils durch einen auf einen bestimmten völkerrechtlichen Vertrag bezogenen Vorgang, dem die nationale Verfassung wie in Art. 59 Abs. 2 GG ausdrücklich oder stillschweigend diese Wirkung zuschreibe. Diese Praxis lasse sich in den meisten Fällen als Transformation oder – vorzugswürdig – als Vollzug verstehen. 468 Kunig, Völkerrecht, S. 79 f. 469 Koller, S. 128, Fn. 31. 470 Dahm/Delbrück/Wolfrum, S. 105. 471 Kunig, Völkerrecht, S. 81. 472 Kunig, Völkerrecht, S. 80. Dahm/Delbrück/Wolfrum, S. 105, zufolge hat aber die Staatenpraxis eine so konsequente scharfe Trennung zwischen völkerrechtlicher und nationaler Norm nie vorgenommen. 473 Hilpold, GATT/WTO, S. 314. 474 Amrhein-Hofmann, S. 300; Geiger, Grundgesetz, S. 150; Hilpold, GATT/WTO, S. 314; Kunig, S. 70; Ott, S. 57.

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Transformation aufgrund der ständigen Weiterentwicklung des Völkergewohnheitsrechts sehr schlecht geeignet;475 etwas anderes gilt bei Vorliegen eines „Generaltransformators“ wie in Art. 25 GG. Der Begriff Adoption beschreibt die Überführung von Völkerrechtsnormen als solche in das innerstaatlich geltende Recht, so dass diese ihren Charakter als Völkerrechtsnormen behalten.476 Wenn aber eine völkerrechtliche Norm innerstaatlich gilt, bedarf es keines besonderen Anwendungsbefehls. Da bei der Adoption anders als bei der Transformation keine Änderung der völkerrechtlichen Norm stattfindet, wird diese innerstaatlich – entsprechend ihrem Charakter als Völkerrechtsnorm – nach völkerrechtlichen Grundsätzen ausgelegt.477 Art. VI Section 2 der Verfassung der USA478 kann als Beispiel für eine solche Adoption angeführt werden:479 „This Constitution, and the Laws of the United States which shall be made in Pursuance thereof; and all Treaties made, or which shall be made, under the Authority of the United States, shall be the supreme Law of the Land; and the Judges in every State shall be bound thereby, any Thing in the Constitution or Laws of any State to the Contrary notwithstanding.“ Die Adoptionslehre kann ihrem Ursprung nach als Ausdruck einer monistischen Konzeption des Verhältnisses zwischen Völkerrecht und nationalem Recht verstanden werden, auch wenn sich in der Staatenpraxis dualistische Einsprengsel finden lassen (beispielsweise wenn die Adoption des Völkerrechts nur insoweit vollzogen wird, wie dies nicht dem nationalen Recht widerspricht).480

475 Verdross/Simma, § 850. Vgl. auch Müller/Wildhaber, S. 153, denen zufolge kaum etwas anderes als die automatische und direkte Geltung von Völkergewohnheitsrecht denkbar sei. Zur Erfüllung bestimmter völkergewohnheitsrechtlicher Pflichten könne aber bei entsprechender Ergänzungsbedürftigkeit der völkergewohnheitsrechtlichen Norm der Erlass innerstaatlicher Vorschriften erforderlich sein. 476 Kunig, Völkerrecht, S. 80. 477 Geiger, Grundgesetz, S. 150; Kunig, Völkerrecht, S. 80. 478 Abrufbar unter http://www.gpo.gov/fdsys/pkg/CDOC-110hdoc50/pdf/CDOC110hdoc50.pdf. 479 Geiger, Grundgesetz, S. 150. 480 Dahm/Delbrück/Wolfrum, S. 105. Vgl. auch Kunig, Völkerrecht, S. 80, demzufolge es dem monistischen Modell entspricht, wenn sich der innerstaatliche Anwendungsbefehl auf die gesamte Völkerrechtsordnung bezieht, eine dualistische Annäherung hingegen vorliegt, wenn das inkorporierte Völkerrecht einem Qualifikationsfilter unterworden wird. Rudolf, S. 154, zufolge ist die Adoptionstheorie einzig mit dem Monismus verbunden: „Die von der Adoptionstheorie behauptete Nicht-Veränderung völkerrechtlicher Normen bei ihrer Adoption in das staatliche Recht setzt indes notwendig eine monistische Konzeption des Verhältnisses von Völkerrecht und staatlichem Recht voraus. Von jeher stand die von naturrechtlich orientierten Juristen entwickelte Adoptionsthese in engem Zusammenhang mit der Theorie vom Völkerrechtsprimat. Wird dagegen entsprechend der der heutigen geschichtlichen Situation allein angemessenen dualistischen Konzeption zwischen Völkerrecht und staatlichem Recht als grundsätzlich getrennten Rechtskreisen unterschieden, dann bleibt für die Anwendung der Adoptionsthese kein Raum [. . .].“

D. Die Völkerrechtsfreundlichkeit einer Rechtsordnung

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Vollzug bedeutet demgegenüber, dass aufgrund eines Anwendungsbefehls die innerstaatliche Anwendung einer Völkerrechtsnorm angeordnet wird, die – anders als bei der Transformation – ihren Völkerrechtscharakter behält und – anders als bei der Adoption – innerstaatlich nicht gilt.481 Über die Zuordnung der Vollzugslehre zur monistischen oder dualistischen Auffassung besteht keine Einigkeit,482 was an ihrer Nähe sowohl zur Transformations- als auch zur Adoptionslehre liegen dürfte.483 Die Vollzugslehre ist aber nach richtiger Auffassung sowohl mit der dualistischen als auch mit der monistischen Sichtweise vereinbar.484 3. Völkerrechtsfreundlichkeit des monistischen und des dualistischen Systems Im Hinblick auf ihre Völkerrechtsfreundlichkeit bestehen, wie bereits erwähnt, einige Unterschiede zwischen monistischen und dualistischen Systemen: Während den Monismus mit Völkerrechtsprimat in seiner reinen Form die größtmögliche Aufgeschlossenheit gegenüber dem Völkerrecht prägt („natürliche“ Völkerrechtsfreundlichkeit), liegt dem Dualismus letztlich eine völkerrechtsskeptischere Haltung zu Grunde, deren Auswirkungen durch den Einsatz verschiedener Mechanismen abgemildert werden können („erarbeitete Völkerrechtsfreundlichkeit“). a) Die „natürliche“ Völkerrechtsfreundlichkeit des monistischen Systems Die dem Monismus zu Grunde liegende inhärent völkerrechtsfreundliche Haltung speist sich im Wesentlichen aus zwei Quellen: Der Vorrangstellung des Völ481

Kunig, Völkerrecht, S. 80 f. So bleibt laut Amrhein-Hofmann, S. 303, in der Literatur die Frage nach der mit der Vollzugslehre zu vereinbarenden Rechtsordnungskonzeption oft unbeantwortet, während Ott, S. 57, zufolge die Vollzugstheorie allgemein als Umsetzungsform dualistisch orientierter Rechtsordnungen angesehen wird. Hilpold, GATT/WTO, S. 314, ist der Ansicht, dass die Vollzugslehre zwar ursprünglich dualistisch geprägt, in ihrer modernen Fassung aber weitgehend unabhängig von monistischen oder dualistischen Vorstellungen sei, wohingegen nach Schweitzer/Dederer, Rn. 789, die Vollzugslehre meist nur im Zusammenhang mit dem Monismus vertreten werde und sich insgesamt so sehr an die Adoptionstheorie annähere, dass von lediglich verschiedenen Bezeichnungen für ein und dieselbe Theorie gesprochen werden könne. Im Ergebnis dürfte es sich hier um einen rein theoretischen Unterschied handeln, da die praktischen Auswirkungen der Vollzugslehre unabhängig von ihrer Zuordnung zum Monismus oder Dualismus gleichbleiben. 483 Dahm/Delbrück/Wolfrum, S. 106: „Diese Lehre kommt mit ihren Wirkungen sowohl der modifizierten Adoptionslehre als auch der gemilderten Transformationslehre nahe.“ 484 Partsch, S. 24–25; Kunig, Völkerrecht, S. 80. Rudolf, S. 165, ist hingegen der Ansicht, dass die Vollzugslehre nur bei einer monistischen Völkerrechtskonzeption verständlich sei. 482

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kerrechts sowie den völkerrechtsfreundlichen Auswirkungen der Adoption, die häufig485 in (gemäßigt) monistischen Rechtsordnungen praktiziert wird. aa) Vorrang des Völkerrechts Die offensichtlich besonders völkerrechtsfreundliche Entscheidung einer nationalen Rechtsordnung ist die Entscheidung für den Vorrang des Völkerrechts. Eine solche Vorrangstellung, wie sie dem Monismus mit Primat des Völkerrechts zu eigen ist, erfordert ein hohes Vertrauen in die Gerechtigkeit des Völkerrechts.486 In einem idealtypischen, widerspruchsfreien monistischen System mit Primat des Völkerrechts erstreckt sich dieser Vorrang auf das gesamte nationale Recht, also sogar auf die Verfassung.487 Die Völkerrechtsfreundlichkeit dieser Vorrangstellung ergibt sich daraus, dass sie die Maßgeblichkeit des Völkerrechts auch bei konfligierendem Recht innerstaatlichen Ursprungs sicherstellt und so Probleme bei der Einhaltung völkerrechtlicher Pflichten im innerstaatlichen Bereich vermeidet. bb) Adoption völkerrechtlicher Normen Auch wenn die Staaten bei der Übernahme völkerrechtlicher Verpflichtungen in der Wahl ihrer Mittel frei sind – vorausgesetzt, das gewählte Mittel beeinträchtigt das zu erreichende Ziel nicht488– haben die unterschiedlichen Umsetzungsmechanismen doch Auswirkungen auf die Wirksamkeit des Völkerrechts im innerstaatlichen Bereich und damit auf die Völkerrechtsfreundlichkeit einer Verfassung. In monistisch orientierten Rechtsordnungen wird, wie bereits ausgeführt, mehrheitlich die Adoptionslehre angewandt, so dass die völkerrechtliche Norm im innerstaatlichen Bereich gilt, ohne hierdurch ihren Völkerrechtscharakter zu verlieren. Ihre rechtlichen Wirkungen – Verbindlichkeit, Beendigung und Interpretation – richten sich somit weiterhin nach dem Völkerrecht.489 Wird beispielsweise ein völkerrechtlicher Vertrag beendigt, so wirkt dies nicht nur völkerrechtlich, sondern auch unmittelbar innerstaatlich.490 Im Gegensatz dazu kann die Transformationslehre dazu führen, dass die innerstaatliche von der völkerrechtlichen Rechtslage abweicht,491 was mit dem Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit nicht vereinbar ist.492 Die automatische Rückbindung an das Völkerrecht 485 Geiger, Grundgesetz, S. 150: „Dieser Praxis haben sich vor allem Staaten mit monistischer Tradition zugewandt.“ 486 Vgl. Tomuschat, Art. 281 EGV, Rn. 62. 487 Vgl. Tomuschat, Art. 281 EGV, Rn. 63. 488 Tomuschat, Internationale Offenheit, Rn. 26. 489 Amrhein-Hofmann, S. 307. 490 Schweitzer/Dederer, Rn. 787. 491 Kunig, Völkerrecht, S. 80. 492 Bleckmann, Völkerrecht, Rn. 428.

D. Die Völkerrechtsfreundlichkeit einer Rechtsordnung

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spricht dafür, die Adoptionstheorie als völkerrechtsfreundlichere Umsetzungslehre anzusehen. Dies gilt auch für die Vollzugstheorie, die ebenfalls nicht zu einer Inhaltsänderung der völkerrechtlichen Norm führt, sondern deren Anwendung mit ihrem jeweiligen völkerrechtlichen Inhalt anordnet. b) Die „erarbeitete“ Völkerrechtsfreundlichkeit des dualistischen Systems Das dualistische System zeichnet sich im Vergleich zum monistischen System durch eine gewisse immanente Völkerrechtsskepsis aus: Die Trennung zwischen der nationalen und der völkerrechtlichen Ordnung impliziert letztendlich, dass Völkerrecht als „fremdes“ Recht angesehen wird, dessen Einlass in die nationale Rechtsordnung kontrolliert werden muss.493 Durch die Anwendung verschiedener Mechanismen kann aber auch das dualistische System einen völkerrechtsfreundlichen Charakter erlangen. aa) Übergesetzesrang des Völkerrechts oder Verzicht auf die lex posterior-Interpretationsmaxime Auch in dualistischen Systemen kann dem Völkerrecht ein vergleichsweise hoher Rang zugestanden werden, beispielsweise über den einfachen Gesetzen, aber unter der Verfassung. Die Zubilligung eines hohen Ranges spricht hierbei für die Völkerrechtsfreundlichkeit der jeweiligen Rechtsordnung. Nimmt das Völkerrecht bloß Gesetzesrang ein, dann deutet dies noch nicht zwingend auf eine völkerrechtsunfreundliche Rechtsordnung hin. Dies setzt aber einen Verzicht auf die Anwendung der lex posterior-Regel bei Normen völkerrechtlichen Ursprungs voraus. Dieser Regel zufolge findet bei einer Normkollision auf der gleichen Stufe und der gleichen Spezialität zwischen einer zeitlich früher erlassenen und einer später erlassenen Norm letztere Anwendung, da davon ausgegangen wird, dass der Gesetzgeber mit ihrem Erlass die ursprüngliche Norm abgeändert oder überlagert hat. Innerhalb der Normen desselben Ursprungs erscheint diese Annahme auch folgerichtig, denn anderenfalls wäre der Gesetzgeber an das einmal erlassene Gesetz bis zu dessen förmlicher Aufhebung gebunden. Bei einem Konflikt zwischen zwei innerstaatlichen Normen, von denen die eine einen rein innerstaatlichen, die andere einen völkerrechtlichen Ursprung hat, 493 Vgl. Giegerich, Konstitutionalisierungsprozeß, S. 623: „Der Dualismus übernimmt damit eine Funktion ähnlich dem ordre public-Vorbehalt des internationalen Privatrechts: Er stellt sicher, daß sich jede Anwendung von fremdem nationalen oder internationalen Recht im Binnenraum des Staates zumindest theoretisch auf den Willen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers zurückführen läßt und daß eine Handhabe verbleibt, den Vorrang der staatlichen Verfassung auch gegenüber diesem fremden Recht insbesondere dann durchzusetzen, wenn anderenfalls rechtsstaatliche Mindeststandards auf der Strecke bleiben.“

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2. Teil: Internationale Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit

stellt sich die Situation allerdings komplizierter dar. Die Abänderung der ursprünglichen Norm ist in diesem Fall kein lediglich innerstaatlicher Vorgang, da im Außenverhältnis eine Bindung an die entsprechende völkerrechtliche Norm weiter bestehen bleibt. Aus diesem Grund haben nationale Gerichte verschiedene Techniken entwickelt, um in einem solchen Fall die völkerrechtliche Norm aufrechterhalten zu können.494 Besonders völkerrechtsfreundlich erscheint es, einem im Widerspruch zu völkerrechtlichen Verpflichtungen stehenden späteren Gesetz nur dann den Vorrang zu gewähren, wenn es mit dem eindeutigen gesetzgeberischen Willen verknüpft ist, die entsprechende völkerrechtliche Verpflichtung zu verletzen.495 bb) Innerstaatliche Anwendung des Völkerrechts durch einen Vollzugsbefehl In dualistischen Systemen werden völkerrechtliche Verpflichtungen häufig in das innerstaatliche Recht transformiert. Die Transformationslehre ist, wie bereits ausgeführt, im Allgemeinen keine völkerrechtsfreundliche Umsetzungsmethode. Den negativen Auswirkungen der Transformationstheorie – Auseinanderfallen der innerstaatlichen und der völkerrechtlichen Rechtslage – kann jedoch durch eine Reihe von Vermutungen begegnet werden.496 Darüber hinaus besteht auch die Möglichkeit, durch eine besondere Norm des nationalen Rechts wiederum eine Rückbindung an das Völkerrecht vorzunehmen.497 Die Kompliziertheit dieser Lösungsmöglichkeiten liegt auf der Hand. Völkerrechtsfreundlicher und einfacher ist daher die auch mit der dualistischen Ansicht zu vereinbarende Vollzugslehre. Da sie ebenso wie die Adoptionslehre den Völkerrechtscharakter der völkerrechtlichen Norm bewahrt und eine Rückbindung an das Völkerrecht vornimmt, vermeidet sie eine Abweichung der innerstaatlichen von der völkerrechtlichen Rechtslage. Dadurch macht sie das „Vermutungssystem“ der Transformationstheorie überflüssig.498

III. Fazit Das dargestellte Modell der Völkerrechtsfreundlichkeit einer Rechtsordnung stellt kein „geschlossenes“ System, sondern lediglich ein Grundgerüst dar. Da die verschiedenen Staaten Rechtsordnungen aufweisen, die sich zum Teil erheblich voneinander unterscheiden, war es notwendig, ein verallgemeinerungsfähiges, nicht zu viele Gesichtspunkte umfassendes und damit handhabbares Modell 494 495 496 497 498

Conforti, S. 42. Conforti, S. 43. Bleckmann, Völkerrecht, Rn. 428. Hilpold, GATT/WTO, S. 314; Kunig, Völkerrecht, S. 80. Bleckmann, Völkerrecht, Rn. 429.

D. Die Völkerrechtsfreundlichkeit einer Rechtsordnung

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zu entwickeln. Dies schließt nicht aus, dass im Anwendungsfall je nach den speziellen Charakteristika der Rechtsordnung eine Erweiterung dieses Modells sinnvoll erscheint; zu verweisen ist hier beispielsweise auf die mögliche Existenz prozessualer Durchsetzungsmöglichkeiten völkerrechtlicher Rechte und Pflichten.499 In der Praxis kann erst die Gesamtbetrachtung der herausgearbeiteten Kriterien ein Urteil über die Völkerrechtsfreundlichkeit einer Rechtsordnung erlauben, während das Abstellen auf einen einzigen Anhaltspunkt irreführend sein kann: Wird beispielsweise nur der Aspekt der völkerrechtskonformen Auslegung betrachtet, dann erscheint die bereits erwähnte ausdrückliche Verpflichtung der Gerichte in der südafrikanischen Verfassung zur völkerrechtskonformen Auslegung500 als Hinweis auf eine besonders völkerrechtsfreundliche Verfassung. Die Mitberücksichtigung der wenig völkerrechtsfreundlichen Lösung der Rangfrage in der südafrikanischen Verfassung revidiert diese Einschätzung jedoch; die völkerrechtskonforme Auslegung ist notwendig, um Härten abzumildern, die sich aus dem Untergesetzesrang des Völkerrechts ergeben. Die beiden Kriterien völkerrechtskonforme Auslegung und Vorrang des Völkerrechts sind so eng miteinander verzahnt, dass sich – abhängig vom Rang des Völkerrechts – eine unterschiedliche Motivation zur völkerrechtskonformen Interpretation des nationalen Rechts feststellen lässt: Während hierdurch in Rechtsordnungen, in denen dem Völkerrecht kein Vorrang zukommt, Völkerrechtsverletzungen vermieden werden sollen, trägt sie im Falle eines Vorrangs des Völkerrechts zur Geltungserhaltung des nationalen Rechts bei.501 Dies zeigt nicht nur, dass sich die Kriterien gegenseitig bedingen, sondern dass sich ihre Bedeutung im Zusammenspiel mitunter ins Ungefähre auflöst: Letztlich dürften die meisten Rechtsordnungen – unabhängig von ihrer grundsätzlichen Konstruktion – Mittel und Wege gefunden haben, um das Verhältnis von Völkerrecht und nationalem Recht zu steuern und Konflikte möglichst zu vermeiden. Im Hinblick auf die damit gewährleistete Wirksamkeit des Völkerrechts entspricht dies auch dem völkerrechtlich Geforderten; die Staaten sind nur dazu verpflichtet, ihre völkerrechtlichen Obligationen zu erfüllen, können die Art und Weise, in der dies geschehen soll, aber selbst bestimmen.502 Ob es völkerrechtsfreundlicher ist, die Einhaltung der völkerrechtlichen Verpflichtungen durch eine beständige und verlässliche völkerrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts zu erreichen oder durch einen – bei genauer Betrachtung möglicherweise doch nicht völlig konsequenten – Vorrang des Völkerrechts, betrifft mitunter eher Nuancen. Insofern täuscht das vorliegende Modell eine 499 500 501 502

Siehe hierzu 2. Teil D. 2. c). Siehe hierzu 2. Teil D. 5. b). Giegerich, EMRK, Rn. 21, für die EMRK. Vgl. Tomuschat, Internationale Offenheit, Rn. 26.

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2. Teil: Internationale Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit

Stringenz und Klarheit vor, die es in der Praxis so nicht geben dürfte. Dies beginnt bereits bei der grundlegenden Einordnung einer Rechtsordnung als monistisch oder dualistisch, über die – abhängig von den Umständen des Einzelfalls – trefflich gestritten werden kann,503 und die, wie auch das Konzept der Völkerrechtsfreundlichkeit selbst, der Vielschichtigkeit und inneren Widersprüchlichkeit von Rechtsordnungen nicht gerecht wird.504 Auch lässt sich die Völkerrechtsfreundlichkeit oder -unfreundlichkeit mancher Kriterien – wie der Political-Question-Doktrin und der Act-of-State-Doktrin – nicht losgelöst vom Einzelfall bestimmen; dies führt zu der Merkwürdigkeit, dass dasselbe Kriterium kontextabhängig in einer Situation als völkerrechtsfreundlich, in einer anderen Situation als völkerrechtsunfreundlich zu werten sein kann. Zudem zeichnet sich auch das Völkerrecht selbst durch gewisse Widersprüche aus, die auf völkerrechtlicher Ebene nur rudimentär durch eine Hierarchisierung gelöst werden,505 weswegen sich mitunter die Frage stellen dürfte, auf welches „Völkerrecht“ sich die Freundlichkeit genau bezieht. Letztlich zeigt sich hier, dass mit zunehmendem Grad der Verallgemeinerungsfähigkeit des gewählten Kriterienkatalogs das Ausmaß der erlangten Erkenntnisse abnimmt. Die Alternative hierzu wäre es, auf eine abstrakte Betrachtungsweise der Völkerrechtsfreundlichkeit zu verzichten und diese nur konkret an Erscheinungsformen einer bestimmten Rechtsordnung festzumachen, was allerdings einer über diese Rechtsordnung hinausgehenden Verbreitung des Konzeptes der Völkerrechtsfreundlichkeit im Wege stehen dürfte. Zudem kann dem Problem des abnehmenden Erkenntnisgewinns möglicherweise durch die einzelfallbezogene „Anreicherung“ des Modells mit zusätzlichen Gesichtspunkten begegnet werden kann. Zuletzt bleibt noch das Problem des internationalen Vergleichsmaßstabes einer Rechtsordnung, genauer die Frage, an welchen Parametern sich eine abschließende Beurteilung über den Grad der Völkerrechtsfreundlichkeit orientieren kann. Hierbei könnte es sich anbieten, die Völkerrechtsfreundlichkeit der unter-

503 Vgl. Kunig, Völkerrecht, S. 79, zu diesen Theorien: „Beide betrachten die Normenwelt lediglich aus unterschiedlichen Blickwinkeln, ohne dass sie allein hieraus für die Beurteilung aller sich stellenden Einzelfragen ein tragfähiges Fundament gewinnen könnten. Schon vorab sei deshalb hier festgestellt, dass sich jedenfalls die in diesem Abschnitt des Lehrbuchs im Vordergrund stehende Rechtslage in Deutschland sowohl aus dualistischem wie auch aus monistischem Blickwinkel erklären lässt.“ 504 Als Beispiel sei nur auf die jüngeren Volksinitiativen in der Schweiz mit ihrer grundsätzlich völkerrechtsfreundlichen Rechtsordnung verwiesen, vgl. die Beiträge von Zimmermann (zur Minarettsverbotsinitiative) und von Kunz (zur Volksinitative „Gegen Masseneinwanderung“). 505 Vgl. hierzu ILC, Conclusions of the work of the Study Group on the Fragmentation of International Law: Difficulties arising from the Diversification and Expansion of International Law, Rn. (31)–(42), abrufbar unter http://legal.un.org/ilc/texts/1_9. shtml.

D. Die Völkerrechtsfreundlichkeit einer Rechtsordnung

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suchten Rechtsordnung auf einer Skala einzuordnen.506 Auch hier zeigt sich die Komplexität des Untersuchungsgegenstandes, da für die Feststellung der Völkerrechtsfreundlichkeit einer Rechtsordnung zahlreiche hinreichend gut untersuchte „Vergleichsobjekte“ zur Verfügung stehen müssten. Die zu den einzelnen Kriterien aufgeführten rechtsvergleichenden Beispiel erfüllen dieses Erfordernis schon daher nicht, weil sie aus dem Verfassungskontext „herausgerissen“ präsentiert werden;507 eine tiefergehende Betrachtungsweise, die dennoch zumindest ansatzweise den internationalen Variantenreichtum des Verhältnisses von Völkerrecht und nationalem Recht wiedergibt, ist im Rahmen dieser Arbeit nicht zu leisten. Anzudenken wäre, auf einer Skala eine gedachte, idealtypisch monistische Rechtsordnung als das besonders völkerrechtsfreundliche Ende des Spektrums zu wählen. Soweit ersichtlich, könnte beispielsweise die japanische Rechtsordnung recht weit an diesem Ende des Spektrums eingeordnet werden. Das andere, völkerrechtsunfreundliche Ende des Spektrums könnte eine gedachte Rechtsordnung darstellen, die entsprechend dem (heute nicht mehr vertretenen) Monismus mit Primat des nationalen Rechts508 gestaltet ist oder einen Dualismus vertritt, bei dem das Völkerrecht – bei Verzicht auf den Mechanismus der völkerrechtskonformen Auslegung oder sonstiger Konfliktvermeidungsinstrumente – hierarchisch unterhalb aller staatlichen Normen eingeordnet ist. Die Rechtsordnung des Vereinigten Königreichs mit ihrem Prinzip der Parlamentssouveränität – welches dazu führt, dass jegliches Parlamentsgesetz dem in das Common Law inkorporierten Völkerrecht und einem früheren Parlamentsgesetz, das einen völkerrechtlichen Vertrag inkorporiert hat, vorgeht509 – würde auf dieser Skala beispielsweise als weniger völkerrechtsfreundlich eingeordnet werden als die japanische Rechtsordnung.

506 Siehe auch den Alternativvorschlag von Haller, S. 95: „Zusammenfassend ergibt sich, daß die Haltungen Europas und der Vereinigten Staaten zur völkerrechtlichen Entwicklung so unterschiedlich sind, daß – würde man eine weltweite ,Skala der Völkerrechtsfreundlichkeit‘ erstellen – Europa am einen Ende dieser Skala zu finden wäre und die Vereinigten Staaten am anderen Ende.“ Haller nimmt in dieser Passage aber einen eher politischen als einen – wie im Rahmen dieser Untersuchung erforderlichen – rechtlichen Blick ein. 507 Fischer-Lescano/Liste, S. 222, drücken dies wie folgt aus: „Rechtsnormen sind Hypertexte. Man kann Normen nicht aus ihrem Kontext isolieren, ohne dass sie sich verändern.“ 508 Siehe hierzu 2. Teil D. II. 1. a). 509 Kunig, Völkerrecht, S. 83 f. Siehe auch Dahm/Delbrück/Wolfrum, S. 109.

3. Teil

Die internationale Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit der Unionsrechtsordnung A. Die Unionsrechtsordnung als ausgewählte Rechtsordnung Das im vorherigen Teil entwickelte Modell soll nun auf seine Praxistauglichkeit getestet werden. Hierfür musste eine zu untersuchende Rechtsordnung ausgewählt werden, wobei die Auswahl aus den im Folgenden genannten Gründen auf die Unionsrechtsordnung gefallen ist (siehe II.). Zunächst ist es jedoch erforderlich, den Untersuchungsgegenstand sinnvoll zu begrenzen (siehe I.).

I. Notwendige Begrenzung des Untersuchungsgegenstandes Die bisherige Darstellung hat gezeigt, dass die Begriffe internationale Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit viele Detailfragen aufwerfen, die wiederum komplizierte Folgefragen nach sich ziehen können. Soll beispielsweise die Völkerrechtsfreundlichkeit des Handelns der Exekutivorgane eines Staates untersucht werden – die ja nur einen Aspekt der gesamten Fragestellung umfasst –, so erfordert dies nicht nur die Sammlung zahlreicher Informationen zu ebendiesem Bereich, sondern insbesondere auch hinreichende Einsichten in die tatsächlichen Abläufe und Prozesse beispielsweise der außenpolitischen Arbeit, um die gewonnenen Informationen richtig einordnen zu können. Im weiteren Verlauf der Untersuchung würde sich dann beispielsweise die Frage stellen, worauf es für die Einschätzung der Völkerrechtsfreundlichkeit ankommt: auf die Intention der Handelnden, auf die Handlungen selbst und/oder auf die Effektivität des Handelns? Praktikabilitätserwägungen sprechen dagegen, die Intention der Handelnden zu berücksichtigen, da es schwierig sein dürfte, diese Intention festzustellen, wenn es an entsprechenden öffentlichen Äußerungen fehlt. Aber selbst wenn entsprechende Verlautbarungen existieren, lässt sich die Absicht der Handelnden oft nicht zweifelsfrei feststellen, da diese Äußerungen auch durchaus dazu dienen könnten, die wahre Intention zu verschleiern. Im Übrigen erscheint es erforderlich, bei der Untersuchung der Völkerrechtsfreundlichkeit einer Rechtsordnung oder der internationalen Offenheit eines Staates eine gewisse verobjektivierte Sichtweise einzunehmen, da anderenfalls die Motivationen einzelner handelnder

A. Die Unionsrechtsordnung als ausgewählte Rechtsordnung

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Amtsträger (die beispielsweise durch anstehende Wahlen, akute Krisen oder Skandale beeinflusst sein können) einen unangemessen hohen Stellenwert einnehmen und die Untersuchung verzerren würden. Auch wenn der Staat durch die Staatsorgane handeln muss, ist er doch mehr als die Summe der Handlungen der jeweils für diese handelnden Personen. Um zu verdeutlichen, welcher Problemkreis mit der Frage nach der Effektivität der Handlungen angesprochen werden soll, sei das Beispiel der Menschenrechtsdialoge der Union genannt. Menschenrechtsdialoge stellen ein Werkzeug der EUAußenpolitik dar, um Menschenrechte und Demokratie in Drittländern zu fördern.1 Kommt es für die Einstufung der internationalen Offenheit der EU bloß darauf an, dass diese Menschenrechtsdialoge – als Ausdruck der außengerichteten Völkerrechts- und Menschenrechtsfreundlichkeit der EU – abgehalten werden? Ein solches Abstellen nur auf die Vornahme der Handlungen hätte jedenfalls den Vorteil einer relativ einfachen Erkennbarkeit. Wird hingegen auch nach der Effektivität des Handelns der Union in diesem Bereich gefragt, beispielsweise nach den tatsächlichen positiven Auswirkungen der Menschenrechtsdialoge im Sinne einer Verbesserung der Menschenrechtslage im Drittland, fällt die Einschätzung sehr viel schwerer. Da aber die Frage nach den tatsächlichen Wirkungen der Menschenrechtsdialoge von vielen Variablen anhängt, die zu einem großen Teil – wie beispielsweise die politische Kultur in dem Zielland – nicht in der Hand der EU liegen, ist es vorzugswürdig, davon auszugehen, dass auch erfolgloses Handeln Ausdruck der internationalen Offenheit der EU sein kann, sofern es ein ernsthaftes Bemühen erkennen lässt. Eine eher politisch-ökonomische Einschätzung der Folgen des Handelns der Union aus – tatsächlicher und fachlicher – Ferne könnte leicht misslingen. An dieser Stelle wäre es also wieder erforderlich, auf das Wissen von Experten zurückzugreifen. Bei der Beurteilung der praktischen Wirksamkeit der Menschenrechtsdialoge müssten beispielsweise nicht nur die direkten, sondern auch die möglicherweise existierenden indirekten Auswirkungen, die sich ggf. erst über einen längeren Zeitraum zeigen, bedacht werden, bevor die Wirksamkeit der gewählten Instrumente beurteilt und der Vorwurf der Ineffektivität erhoben werden könnte. Bereits dieser Umstand spricht generell dagegen, auch Effektivitätsüberlegungen bei der Untersuchung der Völkerrechtsfreundlichkeit und internationalen Offenheit zu berücksichtigen. Für die Union trägt darüber hinaus eine Ausklammerung von Effektivitätsüberlegungen ihren – im Vergleich zu Nationalstaaten – besonderen außenpolitischen Schwierigkeiten und ihrem Status als relativ neuem internationalem Akteur Rechnung.

1 Siehe dazu im Einzelnen die EU guidelines on human rights dialogues with third countries, abrufbar unter http://www.consilium.europa.eu/uedocs/cmsUpload/16526. en08.pdf.

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3. Teil: Int. Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit des Unionsrechts

Bereits dies macht deutlich, dass in den Bereichen der Völkerrechtsfreundlichkeit und internationalen Offenheit erheblicher weiterer politik- und sozialwissenschaftlicher Forschungsbedarf besteht. Das im vorherigen Teil dargestellte Modell ist entwickelt worden, um eine gewisse Struktur in diese Informationsmenge zu bringen und ein „Grundgerüst“ zu schaffen, das anschließend – gerade auch mithilfe von Sachkundigen aus den jeweils zu untersuchenden Bereichen – ergänzt und mit weiteren Informationen angereichert werden kann. Diese nahezu unbegrenzt mögliche Anreicherung um weitere Informationen (die sich im Übrigen auch aus einem späteren völkerrechtsfreundlichen bzw. -unfreundlichen Handeln der Staatsorgane ergeben können) ist daher eine der Schaffung einer Grundstruktur zeitlich nachgeordnete Aufgabe. Aus Gründen der Übersichtlichkeit, der Realisierbarkeit und der Verständlichkeit ist im Rahmen dieser Arbeit eine sinnvolle Begrenzung des Untersuchungsgegenstandes erforderlich. Hierbei wird neben der entsprechenden Rechtsprechung des EuGH (sofern einschlägig) und unter Ausklammerung des Sekundärrechts insbesondere auf die textlichen Grundlagen der EU – die Gründungsverträge – abzustellen sein.

II. Begründung der Auswahl Die Auswahl der Unionsrechtsordnung als Mehrebenensystem lässt sich damit begründen, dass sich gegenüber der „einfachen“ Untersuchung einer nationalen Rechtsordnung einige zusätzliche Fragestellungen ergeben – beispielsweise durch die Auswirkungen völkerrechtlicher Verträge der Union auf das Recht der Mitgliedstaaten und von deren Verträgen auf das EU-Recht. So muss bei der Analyse eine zusätzliche Ebene zumindest gedanklich mitberücksichtigt werden.2 Aufgrund der Verflechtung des Unionsrechts mit dem jeweiligen nationalen Recht der Mitgliedstaaten hat die Berücksichtigung oder Nichtberücksichtigung völkerrechtlicher Verpflichtungen auf Unionsrechtsebene Auswirkungen auf die Mitgliedstaaten und ihre nationale Rechtsordnung.3 Diese Besonderheiten sind spezifisch supranationaler Natur. So gilt es zu bedenken, dass die Mitgliedstaaten der Union ungeachtet ihrer möglicherweise bestehenden innerunionsrechtlichen Beschränkungen nach außen 2 Epiney, Implikationen, S. 1909: „Die Frage nach dem Verhältnis von Völker- und Landesrecht ist eine der klassischen Fragen des Staatsrechts, die sich aber auch in der Europäischen Union entsprechend für das Verhältnis Unionsrecht – Völkerrecht bzw. in Bezug auf die Stellung des Völkerrechts in der Union stellt. Allerdings kommt im Unionsrecht noch hinzu, dass das nationale Recht bereits durch das Unionsrecht überlagert wird und dieses dann noch das Völkerrecht zu integrieren hat. Gleichzeitig sind die Mitgliedstaaten selbstredend nach wie vor auf völkerrechtlicher Ebene aktiv und regeln das Verhältnis zwischen Völkerrecht und nationalem Recht bzw. die Stellung des Völkerrechts im nationalen Rechtsraum autonom.“ 3 Siehe hierzu den Beitrag „Zu den Implikationen der EU-Mitgliedschaft für die Stellung und Anwendung des Völkerrechts im innerstaatlichen Bereich“ von Epiney.

A. Die Unionsrechtsordnung als ausgewählte Rechtsordnung

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hin ihre volle Souveränität und Völkerrechtssubjektivität behalten haben. Dies kann völkerrechtliche Verantwortlichkeit nach sich ziehen, wenn ein EU-Mitgliedstaat seine ihm Drittstaaten gegenüber obliegenden Pflichten verletzt, selbst wenn ihn das EU-Recht dazu zwingt. Die EU-Mitgliedstaaten befinden sich damit in einer anderen Situation als auf völkerrechtlicher Ebene tätig werdende nicht souveräne Gliedstaaten in einem föderalen System, die vor derartigen direkten völkerrechtlichen Reaktionen geschützt sein dürften.4 Vergleichbar ist das supranationale System der EU einem föderalen System aber insoweit, als dass das Völkerrecht, welches die Union bindet, auch Bedeutung für das nationale Recht der Mitgliedstaaten erlangt. Da das Völkerrecht nach der Rechtsprechung des EuGH (integrierender) Bestandteil der Unionsrechtsordnung5 ist, gilt auch insoweit der unionsrechtliche Anwendungsvorrang vor dem mitgliedstaatlichen Recht.6 Auch in föderalen Systemen dürfte – jedenfalls mehrheitlich – ein (Geltungs- oder Anwendungs-)Vorrang des Bundesrechts einschließlich des in die Bundesrechtsordnung überführten Völkerrechts vor dem Landesrecht bestehen.7 Beispielsweise sind die nach Art. 59 Abs. 2 GG umgesetzten völkerrechtlichen Verträge Deutschlands nach Art. 31 GG dem Landesrecht übergeordnet (Geltungsvorrang). Im Rahmen des – in dieser Arbeit nur überblicksweise untersuchten – aktiven Aspektes der internationalen Offenheit stellt sich zudem die Frage nach der Vertragsabschlusskompetenz der EU. Während ein Staat eine unbeschränkte Kompe4 Lic ˇ ková, S. 464. Zu dieser Frage siehe Doehring, Völkerrecht, Rn. 144: „Man kann den Standpunkt vertreten, daß jedenfalls für die Belange des Vertragsschlusses und der Vertragsdurchführung das Bundesstaatsmitglied zu einem Völkerrechtssubjekt erhoben wird, und das ist offenbar die herrschende Auffassung. Doch entstehen Bedenken dann, wenn die Lage eintritt, daß der Vertrag durch das Bundesstaatsmitglied nicht oder nicht ordentlich erfüllt wird. In diesem Falle nämlich entstünde das Recht des Drittstaates, Repressalien zur Vertragserzwingung einzusetzen. Doch diese Repressalien könnten nicht dem vertragsuntreuen Bundesstaatsmitglied auferlegt werden, sondern würden den Bundesstaat als Völkerrechtssubjekt treffen, z. B. wenn es bei der Repressalie um wirtschaftliche Sanktionen, um solche finanzieller Art oder auch um die Staatsbürger insgesamt belastende Eigentumsbeschränkungen geht; immer wäre in solchen Fällen eine Abgrenzung zwischen Belastungen des Bundesstaates zu solchen, die nur seinen Mitgliedsstaat treffen sollen, nahezu ausgeschlossen. Soweit ersichtlich, ist diese Frage noch nicht gestellt worden. So kann man zum Schluß kommen, dass jedenfalls hinsichtlich der Haftung der Bundesstaat auch als Adressat der Vertragsverpflichtung anzusehen ist. Das ist auch nicht unbillig, da das Bundesstaatsmitglied regelmäßig unter der Aufsicht des Bundesstaates steht und meist ein Vertragsschluß mit Drittstaaten der Genehmigung der Bundesregierung bedarf.“ 5 Erstmalig formuliert in EuGH, Urt. v. 30.4.1974 – Rs. 181/73, Slg. 1974, S. 449, Rn. 2/6 – Haegeman, für das Völkervertragsrecht. Siehe EuGH, Urt. v. 16.6.1998 – Rs. C-162/96, Slg. 1998-I, S. 3688, Rn. 46 – Racke, für das Völkergewohnheitsrecht. 6 Der grundsätzliche Anwendungsvorrang des Unionsrechts ist allgemein anerkannt, umstritten ist allerdings seine Begründung, siehe hierzu Ruffert, Art. 1 AEUV, Rn. 16 f. 7 Siehe zu den völkerrechtlichen Folgen, zu denen es bei Fehlen einer solchen Regelung kommen kann Doehring, Völkerrecht, Rn. 141.

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3. Teil: Int. Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit des Unionsrechts

tenz zum Abschluss völkerrechtlicher Verträge hat, muss die Vertragsfähigkeit einer internationalen Organisation durch ihre Mitgliedstaaten besonders verliehen werden.8 Eine ausdrückliche Regelung zur Vertragsabschlusskompetenz der EU findet sich in Art. 216 Abs. 1 AEUV. Insgesamt bestehen somit – selbst soweit nur die Bereiche der internationalen Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit betroffen sind – nicht unerhebliche Unterschiede zwischen den Beziehungen der EU zu ihren Mitgliedstaaten und den Beziehungen zwischen einem Bundesstaat und seinen Gliedstaaten. Die Praxistauglichkeit und Verallgemeinerungsfähigkeit des entworfenen Modells wird daher daran zu messen sein, inwieweit es an vom Regelfall abweichende Erscheinungen angepasst werden kann und trotz erhöhter Komplexität der Fragestellung zu tauglichen Ergebnissen führt. Eine Untersuchung dieser supranationalen Rechtsordnung auf ihre Offenheit und Freundlichkeit gegenüber dem Völkerrecht9 bietet sich auch deshalb an, weil die Unionsrechtsordnung als das Paradebeispiel einer supranationalen Rechtsordnung möglicherweise als Vorbild für künftige rechtliche Entwicklungen dienen wird. Beispielsweise hat sich der afrikanische Kontinent bei der Gründung der Afrikanischen Union 2002 auch von der EU inspirieren lassen.10 Bemerkenswert ist in diesem Kontext zudem der völkerrechtliche Ursprung der Europäischen Union: Da sich das EU-Recht aus dem Völkerrecht entwickelt hat, steht es diesem näher als jede staatliche Rechtsordnung. Ist es daher von „von Geburts wegen“ besonders völkerrechtsfreundlich? Oder hat es möglicherweise die Abgrenzung zu Völkerrecht nötiger als eine nationale Rechtsordnung und muss daher seine Autonomie besonders betonen?11

III. Der außerrechtliche Kontext 1. Erforderlichkeit der Kontexteinordnung Bei der praktischen Anwendung des theoretischen Modells der internationalen Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit erscheint eine Einordnung in den außerrechtlichen Kontext erforderlich. Hintergrund ist, dass die hauptsächlich mittels juristischer Kategorien zu bestimmende internationale Offenheit und Völ8

Verdross/Simma, § 679. Zu der Frage, ob das Unionsrecht noch zum Völkerrecht gehört siehe 1. Teil C. II. 2. 10 Zu den Ähnlichkeiten und Unterschieden zwischen diesen beiden Organisationen siehe Trivedi, S. 46–51. 11 Zu den damit angesprochenen Fragestellungen äußert sich Terhechte, Prinzipienordnung, Rn. 61, wie folgt: „Die Praxis der EU-Institutionen im Umgang mit dem Völkerrecht ist aber bislang bis auf wenige Ausnahmen eher auf eine Abschottung ausgerichtet. Insofern dient das Völkerrecht nur in Ausnahmekonstellationen zur Schärfung oder Etablierung von Rechtsprinzipien in der EU. Freilich ist dieser Befund in gewisser Weise ahistorisch, denn die EU findet ihren Ursprung unbestritten in völkerrechtlichen Verträgen.“ 9

A. Die Unionsrechtsordnung als ausgewählte Rechtsordnung

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kerrechtsfreundlichkeit einer Rechtsordnung erhebliche politische und gesellschaftliche Implikationen hat. Dies führt zu der Frage, wie sich der (verfassungs-) rechtliche und der politische Aspekt einer international offenen Staatskonzeption zueinander verhalten. Als grundlegender dürfte die rechtliche Komponente anzusehen sein,12 da diese – anders als die Summe der nicht widerspruchsfreien und stark von äußeren Gegebenheiten abhängenden politischen Einzelfallentscheidungen – eine generelle, das Wesen des Staates selbst betreffende Aussage erlaubt. Diese rechtliche Komponente gewährleistet eine Kontinuität, die nicht vom Willen wechselnder politischer Mehrheiten abhängt. So handelt es sich in den bereits erwähnten Worten Vogels bei der Entscheidung für oder gegen eine offene Staatskonzeption um „eine Entscheidung, die in einer grundsätzlichen Frage die konkrete Existenzform dieses Staates betrifft und die man schon um deswillen zum Verfassungsrecht jenes Staates – im materiellen, wenngleich nicht notwendig im formellen Sinne – wird rechnen müssen.“ 13 Dennoch muss bei der Untersuchung der internationalen Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit einer Rechtsordnung der außerrechtliche Kontext zumindest mitgedacht werden. Andernfalls besteht die Gefahr, eine eventuelle Diskrepanz zwischen dem verfassungsrechtlich Gewollten und dem tatsächlichen politischen Handeln zu übersehen. Eine Diskrepanz zwischen dem Gewollten/ Gesollten und dem Tatsächlichen lässt sich häufig durch die Spiegelung des eigenen Seins und Handelns in der Fremdwahrnehmung aufzeigen, bei der „blinde Flecken“ besonders deutlich werden können. Im Folgenden soll daher die Selbstwahrnehmung der Europäischen Union ihrer Fremdwahrnehmung gegenübergestellt werden, um so Erkenntnisse über ein mögliches Auseinanderklaffen zwischen eigenem Anspruch und Wirklichkeit zu erlangen. 2. Selbst- und Fremdwahrnehmung der Europäischen Union a) Europa und die EU Der europäische Kontinent hat in der Vergangenheit einen starken Einfluss auf den (damaligen) „Rest der Welt“ 14 ausgeübt. Dieser Einfluss war insgesamt ambivalent, teils positiv (wie die Aufklärung), häufig aber negativ (beispielsweise der Kolonialismus).15 So trägt beispielsweise der afrikanische Kontinent noch 12 Vgl. Vogel, Verfassungsentscheidung, S. 24 f., der die politische Bereitschaft des Staates zur internationalen Mitarbeit als ein viel zu unscharfes Kriterium der rechtlichen Kennzeichnung einer offenen Staatskonzeption ansieht. 13 Vogel, Verfassungsentscheidung, S. 30. 14 Für eine Kritik der in dieser Formulierung zum Ausdruck kommenden Europabzw. Westzentrierung siehe Onuma, Transcivilizational Perspective, S. 25 f. 15 Tortarolo, S. 22, vertritt die interessante Ansicht, dass der Ursprung des Begriffes „Europa“ schon den Keim späterer Widersprüche in sich trägt: „Laut griechischer Mythologie ist Europa die Tochter eines phönizischen Königs, von Jupiter vergewaltigt und nach Kreta entführt. Die semitischen Sprachen bezeichneten mit einem Europa ver-

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3. Teil: Int. Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit des Unionsrechts

immer die Konsequenzen der damaligen europäischen Präsenz – zu denken ist hier insbesondere an die willkürliche Grenzziehung der meisten afrikanischen Staaten, die aus der Aufteilung zwischen den verschiedenen europäischen Kolonialmächten entstanden ist.16 Auch auf die heutige Völkerrechtsordnung hatte Europa prägenden Einfluss: So ist das moderne Völkerrecht im Wesentlichen ein historisches Produkt europäischer Theorien – zu nennen ist hier beispielsweise Hugo Grotius, der „Vater des Völkerrechts“.17 Geschichtlich gesehen wurde „europäisches“ Völkerrecht teilweise gewaltsam gegenüber Nicht-Europäern durchgesetzt, teilweise bereitwillig von diesen angenommen.18 Aber auch die in der Gründung der Vereinten Nationen am 26. Juni 1945 in San Francisco kulminierende Entwicklung des „neuen“ Völkerrechts – die „kopernikanische Wende vom ius ad bellum zum Gewaltverbot“ 19 – trägt deutlich den Stempel der Gräuel des 2. Weltkriegs20 und damit einem stark europäisch geprägten historischen Ereignis. Europa selbst, welches gegen Ende des 2. Weltkrieges „in Elend, Zerstörung, Trümmerfeldern, Gefangenenlagern und Millionen von Toten makaber geeint“ 21 war, verlor seine weltweite Vormachtstellung.22 Was danach auf dem europäischen Kontinent23 geschah, ist als kühnes Experiment24 und als beispiellose Erfolgsgeschichte bewandten Wort den Sonnenuntergang. Die ersten Historiker nannten Europa den Erdteil, der sich Asien gegenüberstellt und der die Freiheit gegenüber asiatischem Despotismus verkörperte. Damit zeichnet sich das Europa umgebende Spannungsfeld bereits ab: Gewalt und Freiheit, Menschenverachtung und -veredelung, geographisches Abschließen und Grenzüberschreiten, geopolitisches Abstecken und Anspruch auf sittlichen Universalismus.“ 16 Der überragend wichtigen Frage, ob die vom Kolonialsystem geschaffenen Grenzen beibehalten werden sollten, begegneten die Gründungsväter der Organisation of African Unity, indem sie das Prinzip eines afrikanischen uti possidetis, d.h. einer Achtung des Besitzstandes im Zeitpunkt der Erlangung der Unabhängigkeit, vertraten, Akwensioge, S. 105. 17 Onuma, Transcivilizational Perspective, S. 300, 304. 18 Onuma, Transcivilizational Perspective, S. 304. 19 Kimminich, S. 73, 84. 20 Vgl. nur die Präambel sowie Art. 2, 53 und 107 UN-Charta. 21 Haltern, Rn. 48. 22 Mazower, S. 570, der aber auch darauf hinweist, dass sich die Europäer „einer bemerkenswerten Kombination von individueller Freiheit, gesellschaftlicher Solidarität und Frieden“ erfreuen. 23 Siehe aber auch Mazower, S. 13: „Um die Vorstellung von der zivilisatorischen Überlegenheit Europas aufrechtzuerhalten, mußten auch Grenzen neu gezeichnet werden. Die sogenannte Europäische Gemeinschaft ignoriert bewußt den halben Kontinent. Das Nachkriegseuropa wurde mit Westeuropa gleichgesetzt.“ 24 Vgl. die Worte von Hallstein, S. 40, zur Gemeinschaftsverfassung: „Die hier skizzierte Konzeption ist von einer beispiellosen Kühnheit. Den Juristen mußte sie den Atem rauben. Sie spottet jedem Versuch, sie in die überkommenen Denkmuster internationaler Rechtsbildung einzuordnen. [. . .] Es kann sein, daß sie im Urteil der Fachwelt einmal als die schöpferischste Tat der Rechtsgeschichte unserer Zeit gewürdigt wird.“

A. Die Unionsrechtsordnung als ausgewählte Rechtsordnung

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schrieben worden. In seiner Rede anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises an die EU 2012 hat dies der Vorsitzende des Nobelpreiskomitees, Thorbjørn Jagland, wie folgt ausgedrückt: „The EU has in fact helped to bring about both the ,fraternity between nations‘ and the ,promotion of peace congresses‘ of which Alfred Nobel wrote in his will. [. . .] What this continent has achieved is truly fantastic, from being a continent of war to becoming a continent of peace. In this process, the European Union has figured most prominently. It therefore deserves the Nobel Peace Prize. [. . .]“ 25 Die Begeisterung über diese friedliche, fortschrittliche und stabile Seite Europa26 ist ebenso berechtigt wie die Kritik an seinen Schattenseiten (die nicht zuletzt in der Euro- und Flüchtlingskrise zu Tage getreten sind). Beispielsweise mahnte der Europäische Flüchtlingsrat bereits 2013 – anlässlich des 10. Jahrestags der Dublin II-Verordnung – Menschenrechtsverletzungen bei der Umsetzung dieser Verordnung an und bemängelte die europäische „asylum lottery“.27 Die Widersprüchlichkeiten der EU sind – so ließe sich vertreten – im Begriff „Europa“ selbst angelegt: „Der Begriff war [. . .] Worthülse ganz unterschiedlicher, oft widersprüchlicher Zielvorstellungen, Weltanschauungen und Programme. Aus diesem Grund greift die eindimensionale Identifizierung Europas mit menschenfreundlichen und -feindlichen Werten viel zu kurz. Die Festschreibung auf Freiheit und Toleranz ist angesichts der Geschichte autoritärer und paternalistischer Regierungsweisen, der Erfahrung des Faschismus [. . .] oder des Holocausts ebensowenig überzeugend wie die Definition über die Menschenverachtung, betrachtet man die Tradition von Demokratie und Menschenrechten.“ 28 Ungeachtet von Fragen nach der „wahren Natur“ von Europa gehört der weltweite europäische Einfluss der Vergangenheit an.29 Allen Einschätzungen bezüglich des Endes des europäischen Zeitalters zum Trotz30 verfügt die Europäische 25 The Nobel Peace Prize 2012 – Presentation Speech, abrufbar unter http:// www.nobelprize.org/nobel_prizes/peace/laureates/2012/presentation-speech.html. Vgl. auch Habermas, S. 2: „Die Europäische Union lässt sich als entscheidender Schritt auf dem Weg zu einer politisch verfassten Weltgesellschaft begreifen.“ 26 Vgl. Fund for Peace, Fragile State Index 2015, S. 33, abrufbar unter http:// library.fundforpeace.org/library/fragilestatesindex-2015.pdf: „Of the 15 Sustainable or Very Sustainable countries on the Fragile States Index, 12 are European. Expand that to include the More Stable category as well, and that ratio becomes 18 European countries out of 26.“ 27 Europäischer Flüchtlingsrat, The Dublin II Regulation: Lives on Hold, Februar 2013, S. 117. 28 Vgl. Tortarolo, S. 33. 29 Vgl. Simon, S. 17: „Auch Europa verliert an internationaler Bedeutung.“ 30 Vgl. Simon, S. 16: „Seit dem spektakulären Aufstieg Chinas und weiterer Schwellenländer neigen Presse und Öffentlichkeit zu der Auffassung, dass die globale Musik der Zukunft vor allem in Asien spiele. Dies ist jedoch nur teilweise richtig [. . .]. Die globale Musik im Jahr 2025 wird also nach wie vor sehr stark in den USA und in Europa spielen.“

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3. Teil: Int. Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit des Unionsrechts

Union grundsätzlich weiterhin über das Potenzial, die Fortentwicklung des Völkerrechts in der Rechtswirklichkeit voranzutreiben: Mit einer Gesamtbevölkerung von derzeit über einer halben Milliarde Menschen, 28 Stimmen in der UNGeneralversammlung, zwei ständigen Mitgliedern im UN-Sicherheitsrat sowie zwei Atommächten (Frankreich und das Vereinigte Königreich) und dem größten Bruttoinlandsprodukt der Welt31 ist die Selbstbezeichnung als „globaler Akteur“ 32 zunächst einmal zutreffend gewählt. Der angesichts der Ergebnisse des EU-Mitgliedschaftsreferendums im Vereinigten Königreich vom 23. Juni 2016 im Raum stehende Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union („Brexit“) dürfte allerdings signifikante Auswirkungen auf die geopolitische Stellung der Europäischen Union haben.33 Derzeit stellt die EU gemeinsam mit ihren Mitgliedstaaten mehr als die Hälfte der gesamten internationalen Entwicklungshilfe bereit.34 In wirtschaftlicher und ggf. auch in politischer Hinsicht stellt zudem die „geostrategische Mittellage“ der EU einen nicht zu unterschätzenden Standortvorteil dar,35 der weltweite Telekommunikation und Reisen erleichtert.36 Zusammenfassend zeigt sich, dass die Rolle, die die Europäische Union in der Welt spielen könnte, weit über die Rolle ihrer einzelnen Mitgliedstaaten hinausgeht.37

31 Gemäß Angaben der Weltbank lag 2014 das Bruttoinlandsprodukt der Europäischen Union bei $18,46 Billionen und damit über dem der USA ($17,42 Billionen), Daten abrufbar über http://data.worldbank.org. 32 European Security Strategie (ESS) vom 12.12.2003, S. 1. Die deutsche Version der ESS ist abrufbar unter http://consilium.europa.eu/uedocs/cmsUpload/031208ESSIIDE. pdf. 33 Siehe hierzu Tim Oliver, A European Union without the United Kingdom: the geopolitics of a British exit from the EU, Strategic updates, 16.1. London, UK, LSE IDEAS, abrufbar unter http://eprints.lse.ac.uk/65542/. 34 KOM(2011)500 endg. vom 29.6.2011, Teil II, S. 46. Kommissar Mimica äußerte sich 2015 hierzu wie folgt: „Mit 100 Mrd. EUR, die voraussichtlich bis 2020 durch Mischfinanzierung mobilisiert werden, ist die EU insgesamt bereits der größte Geber von öffentlicher Entwicklungshilfe und bei der Gestaltung und Nutzung innovativer Finanzierungsmechanismen ein Vorreiter. Darüber hinaus ist die EU für die Entwicklungsländer der offenste Markt der Welt. Wir werden auch weiterhin unseren Teil beitragen und unsere Anstrengungen zur Förderung der nachhaltigen Entwicklung in der Welt verstärken, wobei wir uns besonders auf die bedürftigsten Länder konzentrieren werden.“ Siehe Pressemitteilung der Kommission vom 13.7.2015, IP/15/5353. 35 Vgl. die Aussagen von Simon, S. 72–75, zum Standortvorteil der deutschsprachigen Länder aufgrund ihrer geostrategischen Mittellage. 36 Vgl. Simon, S. 74: „Der deutschsprachige Raum und die angrenzenden Länder sind die einzige Region (der nördlichen Hemisphäre), in der man innerhalb etwas ausgeweiteter Bürozeiten (neun Stunden) mit ganz Eurasien (inklusive Japan) und Amerika (inklusive Westküste) telefonieren kann. [. . .] Der geostrategische Standortvorteil gilt in ähnlicher Weise für Reisen. [. . .] Aus Westeuropa kommend muss man nie den weiten Pazifik oder den Nordpol durchqueren, um in wirtschaftlich bedeutsame Länder zu kommen.“ 37 So auch: Ortega, Introduction, S. 10.

A. Die Unionsrechtsordnung als ausgewählte Rechtsordnung

135

b) Die Europäische Sicherheitsstrategie Die von Javier Solana vorbereitete und im Dezember 2003 vom Europäischen Rat angenommene Europäische Sicherheitsstrategie fußt auf dem soeben angesprochenen Potenzial der EU. Sie kündigt an, dass die Europäische Union einen stärkeren Einfluss auf internationaler Ebene beabsichtige: Aufgrund ihrer Größe und ihrer wirtschaftlichen Macht sei die Europäische Union „zwangsläufig ein globaler Akteur“ und müsse bereit sein zur Übernahme von Verantwortung für die globalen Probleme.38 Als Hauptbedrohungen für Europa macht die Europäische Sicherheitsstrategie den Terrorismus, die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, regionale Konflikte, das Scheitern von Staaten und organisierte Kriminalität aus.39 Zur Verteidigung ihrer Sicherheit und Durchsetzung ihrer Werte verfolgt die EU der Europäischen Sicherheitsstrategie zufolge daher drei strategische Ziele: die Abwehr von Bedrohungen, die Stärkung der Sicherheit in der Nachbarschaft sowie die Schaffung einer Weltordnung auf der Grundlage eines wirksamen Multilateralismus.40 Im Hinblick auf letzteres Ziel wird die herausragende Bedeutung der Vereinten Nationen anerkannt: Ihre Charta bilde den grundlegenden Rahmen für internationale Beziehungen, und ihrem Sicherheitsrat obliege die Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit. Die Stärkung der Vereinten Nationen sei daher für Europa ein vorrangiges Ziel.41 Diese Passage stellt eine offenkundige Reaktion auf die Spaltung der EU in Bezug auf den Irak-Angriff im März 2003 dar. Die jüngere Europäische Sicherheitsagenda 2015–2020, die sich nicht mit der inneren Sicherheit befasst, enthält aber auch den Hinweis, die Union solle „ihre Beziehungen zu internationalen Organisationen wie den Vereinten Nationen, dem Europarat und Interpol weiter ausbauen.“ 42 Die Europäische Sicherheitsstrategie weist überdies auf die Notwendigkeit hin, das Völkerrecht an aktuelle Entwicklungen anzupassen.43 Bereits bestehende Institutionen wie die Welthandelsorganisation sollten weiter ausgebaut und neue Institutionen wie der Internationale Strafgerichtshof unterstützt werden.44 Innerstaatliche Reformen in anderen Ländern könnten durch Handelspolitik und Entwicklungspolitik gefördert werden.45 Hierzu seien die Europäische Union und

38 39 40 41 42 43 44 45

ESS (Fn. 32). ESS (Fn. 32), S. 3 f. ESS (Fn. 32), S. 6–10. ESS (Fn. 32), S. 9. KOM(2015) 185 endg., S. 5. ESS (Fn. 32), S. 10. Ebd. Ebd.

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3. Teil: Int. Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit des Unionsrechts

ihre Mitgliedstaaten als weltweit größter öffentlicher Hilfegeber und größte Handelsmacht in der Lage.46 Als Auswirkungen auf die europäische Politik macht die Sicherheitsstrategie folgende Forderungen aus: Zur Verwirklichung ihres Potenzials müsse die Europäische Union aktiver, kohärenter und handlungsfähiger werden und mit anderen zusammenarbeiten.47 Die EU müsse die Vereinten Nationen in ihrem Kampf gegen Bedrohungen des Friedens und der Sicherheit in der Welt unterstützen.48 Sie müsse intensiver mit den Vereinten Nationen zusammenarbeiten bei der Unterstützung von post-conflict societies und sie bei kurzfristigen Krisenbewältigungseinsätzen unterstützen.49 Da kaum ein Problem allein durch die EU bewältigt werden könne, sei internationale Zusammenarbeit eine Notwendigkeit und seien die transatlantischen Beziehungen unersetzlich.50 Die Europäische Sicherheitsstrategie zeichnet sodann die Vision einer Welt, die vom gemeinsamen Handeln der Europäischen Union und der Vereinigten Staaten profitiert.51 Ziel solle daher eine ausgewogene Partnerschaft mit den USA sein.52 Anzustreben seien auch engere Beziehungen zu Russland sowie strategische Partnerschaften mit Japan, China, Kanada und Indien und allen, die die Ziele und Werte der EU teilten und bereit seien, sich dafür einzusetzen.53 Die Europäische Sicherheitsstrategie kommt zu dem Fazit, dass eine aktive und handlungsfähige Europäische Union Einfluss im Weltmaßstab ausüben und somit zu einem wirksamen multilateralen System beitragen könnte, das zu einer gerechteren, sicheren und stärker geeinten Welt führen würde.54 c) Außereuropäische Wahrnehmung der EU als „bessere Macht“? Es stellt sich die Frage, ob die in der Europäischen Sicherheitsstrategie und insbesondere in der Präambel, Art. 3 Abs. 5 Satz 2 und Art. 21 des EUV zum Ausdruck kommende Selbstwahrnehmung der EU bzw. ihrer Akteure mit ihrer Außenwahrnehmung übereinstimmt. Nach eurozentrischer Sichtweise stellt die EU eine andere, „bessere“ Macht dar.55 In dem Bericht über die Umsetzung der Europäischen Sicherheitsstrategie zeigt sich die positive Selbsteinschätzung der 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55

Ebd. ESS (Fn. 32), S. 11–13. ESS (Fn. 32), S. 11. Ebd. ESS (Fn. 32), S. 13. Ebd. Ebd. ESS (Fn. 32), S. 14. Ebd. Lucarelli/Fioramonti, S. 30.

A. Die Unionsrechtsordnung als ausgewählte Rechtsordnung

137

EU an folgender Formulierung: „Wo immer sie zusammengearbeitet haben, waren die EU und die USA eindrucksvolle Streiter für das Gute in der Welt.“ 56 Im Rahmen einer weit angelegten, mehrjährigen Forschungsarbeit57 kommen Lucarelli und Fioramonti aber zu dem Ergebnis, dass eine „beachtliche Kluft“ zwischen dieser positiven Selbstdarstellung der EU und ihrer Wahrnehmung durch die Menschen, Regierungseliten, zivilgesellschaftlichen Gruppen und Medien in außereuropäischen Ländern besteht.58 Beispielsweise halte nur eine kleine Minderheit der befragten Personen die EU für einen erfolgreichen, glaubwürdigen internationalen Akteur.59 Im Allgemeinen werde die EU in internationalen Zusammenhängen auch nicht als wichtiges Gegengewicht zu den USA, sondern insbesondere im Bereich des Welthandels als deren Bündnispartnerin bei Verhandlungen zulasten schwächerer Wirtschaften angesehen.60 Eine Einstufung der EU als globaler Akteur finde sich vorwiegend in gut über die EU informierten Elitekreisen, wobei die außereuropäischen Massenmedien vergleichsweise selten über die EU berichteten und insbesondere Menschen in Schwellenländer wenig über die EU wüssten.61 Die Kluft zwischen Außen- und Selbstwahrnehmung lasse sich aber auch nicht auf ein bloßes Kommunikationsproblem reduzieren, wie sich insbesondere an der oft kritisierten gemeinsamen Landwirtschaftspolitik der EU zeige, die die Glaubwürdigkeit der EU als faire und gerechte Kraft gefährde.62 Positiv sei es allerdings, dass die EU oft mit friedensstiftenden bzw. -erhaltenden Maßnahmen assoziiert werde.63 Eine andere, weniger repräsentative Untersuchung der Außenwahrnehmung der Union kommt hingegen zu einem für die Union erfreulicheren Resultat. So führt Ortega, Herausgeber eines Chaillot Papers des European Union Institute for Security Studies über die globale Wahrnehmung der Europäischen Union, aus, dass – falls die in diesem Band gesammelten, privaten Beiträge von Akademikern und Diplomaten ein gutes Beispiel dafür seien, was die Welt von der EU denke – das neue, internationale „Image“ der Union positiv aufgenommen werde.64

56 Bericht über die Umsetzung der Europäischen Sicherheitsstrategie vom 11.12. 2008, S407/08, S. 11 (Hervorhebung hinzugefügt). Die deutsche Version des Berichts ist abrufbar unter http://www.consilium.europa.eu/ueDocs/cms_Data/docs/pressdata/ DE/reports/104634.pdf. 57 Sonia Lucarelli/Lorenzo Fioramonti, External Perceptions of the European Union as a Global Actor, London 2009. 58 Lucarelli/Fioramonti, S. 34. 59 Lucarelli/Fioramonti, S. 31. 60 Lucarelli/Fioramonti, S. 34. 61 Lucarelli/Fioramonti, S. 32. 62 Lucarelli/Fioramonti, S. 34. 63 Lucarelli/Fioramonti, S. 33. 64 Ortega, Conclusion, S. 117.

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3. Teil: Int. Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit des Unionsrechts

Diese Untersuchungen verdeutlichen das Risiko, dass die EU ein Projekt bleiben könnte, das außerhalb Europas nur in bestimmten, eher privilegierten Kreisen wahrgenommen wird.65 Ähnlich auch die Feststellung einer 2015 abgeschlossenen, vom BMBF geförderten Untersuchung über die asiatische Wahrnehmung der EU: „Western scholars predominantly see the EU positively in its emerging identity as a global actor, while Asian scholars, particularly from China and India, are turning increasingly critical in their assessment of the EU’s power and hence its ability to achieve results.“ 66 Sie zeigen auch, dass die Auseinandersetzung mit der EU als „global player“ noch mehr Realismus vertragen könnte, was aber weder die unbestrittenen inneren Errungenschaften der EU noch die erheblichen Schwierigkeiten, mit denen sich die EU im außenpolitischen Bereich konfrontiert sieht, in Abrede stellen soll.

B. Die internationale Offenheit der Unionsrechtsordnung Im Folgenden soll dargestellt werden, wie die internationale Offenheit der Unionsrechtsordnung in ihren Gründungsverträgen zum Ausdruck kommt. Vorab muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass die Verwendung des üblichen Begriffes „offene Staatlichkeit“ im Rahmen der Untersuchung der supranationalen EU unglücklich ist. Die Begrifflichkeit verdeutlicht, wie sehr die vorliegend dargestellten Konzepte jedenfalls in ihrer ursprünglichen Form mit dem Völkerrechtssubjekt „Staat“ verknüpft sind.67 In einer ersten Annäherung kann festgehalten werden, dass die Verträge in der Fassung des Vertrags von Lissabon zahlreiche Anhaltspunkte enthalten, die für die internationale Offenheit der durch sie geschaffenen Rechtsordnung sprechen. Besonders interessant erscheinen hierbei die Normen, aus denen sich die inhaltlichen Maßstäbe der internationalen Offenheit der Union ergeben, da diese glei65 Dem entspricht auch die Feststellung von Habermas, S. 19: „Anders als die nationalen Verfassungen im 18. und 19. Jahrhundert ist die Unionsverfassung das Werk politischer Eliten.“ 66 NFG, Does Europe Matter? The EU as a Security Actor in the Asian Century Final Report on the Research and Findings of the NFG „Asian Perceptions of the EU“ (2011–2015), S. 6, abrufbar über www.asianperceptions.eu. 67 Vgl. hierzu Schmitt, S. 10: „Der europäische Teil der Menschheit lebte bis vor kurzem in einer Epoche, deren juristische Begriffe ganz vom Staat her geprägt waren und den Staat als Modell der politischen Einheit voraussetzten. Die Epoche der Staatlichkeit geht jetzt zu Ende. Darüber ist kein Wort mehr zu verlieren. Mit ihr geht der ganze Überbau staatsbezogener Begriffe zu Ende, den eine europa-zentrische Staats- und Völkerrechtswissenschaft in vierhundertjähriger Gedankenarbeit errichtet hat. Der Staat als das Modell der politischen Monopole [. . .] wird entthront. Aber seine Begriffe werden beibehalten und sogar noch als klassische Begriffe. Freilich klingt das Wort klassisch heute meistens zweideutig und ambivalent, um nicht zu sagen: ironisch.“ (Hervorhebung im Original).

B. Die internationale Offenheit der Unionsrechtsordnung

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chermaßen den „Rahmen“ der Offenheit abstecken und damit auch bestimmte, nicht überschreitbare Grenzen festlegen. Eine ausdrückliche Benennung der inhaltsleitenden Bestimmungen, wie sie in den Gründungsverträgen der EU zum Ausdruck kommt, dürfte unter den nationalen Verfassungstexten eher die Ausnahme sein. Dies bedeutet jedoch nicht, dass es nationalen Verfassungen ohne eine dementsprechende explizite Festlegung an inhaltsbestimmenden Leitbildern fehlen würde. Denn das Konzept der internationalen Offenheit beschreibt gerade keine „naive“, permissive Offenheit gegenüber allen von außen kommenden Einflüssen, sondern fußt auf dem Fundament der Menschenrechte.68 Eine internationale Offenheit, die sich gegenüber Menschenrechten gleichgültig verhält, ist ausgeschlossen. Während zwar gewisse Verständnisunterschiede und im Detail abweichende Bewertungen zwischen den unterschiedlichen Verfassungen möglich sind, darf das Bekenntnis zur Menschenrechtsfreundlichkeit selbst im Ergebnis nicht in Zweifel stehen. Bei Verfassungen, die keine explizite Festlegung der inhaltlichen Maßstäbe der internationalen Offenheit enthalten, müssen diese Maßstäbe jedoch erst aus der Verfassungsgesamtheit herauskristallisiert werden. Die Gründungsverträge der Union eignen sich hingegen aufgrund ihrer insoweit eindeutigen Vorgaben besonders gut, um den Mechanismus der inhaltlichen Maßstäbe der internationalen Offenheit zu verdeutlichen.

I. Inhaltliche Maßstäbe der internationalen Offenheit Die inhaltlichen Maßstäbe der internationalen Offenheit ergeben sich einerseits aus den allgemeinen Zielen und Werten der Union, die für die gesamte Unionsrechtsordnung gelten. Das auswärtige Tätigwerden der Union wird darüber hinaus durch spezielle Bestimmungen – die in Art. 21 EUV aufgeführten Ziele und Grundsätze des Handelns auf internationaler Ebene – gesteuert. Da die speziellere Vorschrift des Art. 21 EUV aber stark von den in Art. 2 und Art. 3 EUV aufgeführten allgemeinen und in der Einleitung bereits erwähnten Verfassungswerten und Zielen der Union beeinflusst wird, müssen auch diese allgemeinen Bestimmungen dargestellt werden, zumal sie ebenfalls Hinweise auf die internationale Offenheit des Unionsrechts enthalten. 1. Allgemeine Verfassungswerte und Ziele der Union a) Werte der Union, Art. 2 EUV (neu) In Art. 2 Satz 1 EUV, der die Werte der Union aufzählt, kommen der menschenbezogene und der rezeptive Aspekt der internationalen Offenheit deutlich 68 Vgl. Tomuschat, Internationale Offenheit, Rn. 79–81, der die Notwendigkeit von die Außenpolitik bestimmenden Leitlinien anspricht.

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3. Teil: Int. Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit des Unionsrechts

zum Ausdruck. Genannt werden die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Jedem dieser Werte wohnt eine humanistische Komponente inne, und jeder dieser Werte ist Ausdruck eines modernen, menschenrechtsfreundlichen Verständnisses von Herrschaftsgewalt.69 Die Erweiterung dieses Kataloges gegenüber Art. 6 Abs. 1 EUV a. F., in dem die Achtung der Menschenwürde, die Gleichheit und die Rechte der Personen, die Minderheiten angehören, noch nicht aufgeführt waren, verdeutlicht, dass die Union die Menschenrechtsfreundlichkeit durch ausdrückliche Nennung der bereits zuvor durch die EuGH-Rechtsprechung anerkannten Menschenwürde70 und Gleichheit71 noch stärker betont, als dies bisher der Fall war. Durch die Nennung der Menschenwürde an erster Stelle wird deutlich, dass diese den obersten, für die Auslegung der anderen Werte maßgeblichen Unionswert darstellt.72 Die Aufnahme des Wertes der Gleichheit ist für die Menschenrechtsfreundlichkeit der Union bedeutsam, da Menschenrechte zu ihrer vollen Entfaltung der universellen Geltung bedürfen. Menschenrechte, die ausschließlich einem insofern privilegierten Teil der Menschheit zustehen, können rein begrifflich nicht als Menschenrechte im engeren Sinne bezeichnet werden, da sie neben dem Kriterium des Menschseins noch an zusätzliche Kriterien anknüpfen.73 Die Aufnahme eines Wertes der Gleichheit – der die besonderen Diskriminierungsverbote der europäischen Verfassung (beispielsweise Art. 18 AEUV) ergänzt74 – verdeutlicht, dass sich die Union der Idee der Allgemeingültigkeit der Menschenrechte verpflichtet fühlt. In Art. 2 Satz 2 EUV zeigt sich, dass die Werte der Union als gemeinsame Werte der einzelnen Mitgliedstaaten angesehen werden. Diese gemeinsamen 69 Vgl. Calliess, Art. 2 EUV, Rn. 11: „Der Kanon der gemeinsamen Werte stellt den Menschen in den Mittelpunkt des Europäischen Aufbauwerks.“ 70 Pechstein, Rn. 2, ist der Ansicht, dass – da die Menschenwürde schon vorher als ungeschriebener Grundsatz des Gemeinschaftsrechts primärrechtlichen Rang genoss – ihre ausdrückliche Nennung keinen substanziellen Mehrwert bringt. 71 Der allgemeine Gleichheitssatz ist in der EuGH-Rechtsprechung seit langem anerkannt, Calliess, Rn. 23. Pechstein, Rn. 4, zufolge soll die Erwähnung des Gleichheitssatzes diesem ersichtlich eine erhöhte Bedeutung verschaffen. Seine zusätzliche Nennung beruhe auf politisch-egalitären Erwägungen, ohne einen selbstständigen juristischen Gehalt zu haben. 72 Calliess, Rn. 17. Schwarze, Art. 2 EUV, Rn. 1, zufolge bedeutet die prominente Nennung der Menschenwürde, dass diese „zum wesentlichen Bezugspunkt der Werteordnung der Union“ wird. 73 Stourzh, S. 2: „Human rights, by the very fact of their being tied to the notion of the genus humanum logically adhere to every human being. Thus human rights are, by definition, equal rights.“ 74 Pechstein, Rn. 5, weist darauf hin, dass es sich hierbei aufgrund der fehlenden Aufzählung von Tabukriterien nicht um ein spezielles Diskriminierungsverbot, sondern nur um einen allgemeinen Gleichheitssatz handeln kann.

B. Die internationale Offenheit der Unionsrechtsordnung

141

Werte der einzelnen Mitgliedstaaten macht sich die Union aber auch selbst zu eigen. Damit wird deutlich, dass die Werte in ihrer Umsetzung dem Gesellschaftsbild entsprechen, das die Union und ihre Mitgliedstaaten gemeinsam haben.75 Die Bedeutung dieser Werte ergibt sich insbesondere aus Art. 7 EUV und Art. 49 EUV. Art. 7 EUV sieht einen Mechanismus bei Verletzung dieser Fundamentalprinzipien vor, während Art. 49 Abs. 1 Satz 2 EUV die Achtung und Förderung der in Art. 2 EUV genannten Werte zu einer der EU-Beitrittsvoraussetzungen erklärt. Die Existenz dieser beiden Vorschriften zeigt, dass die in Art. 2 EUV vorgenommene Benennung der Werte der Union sich nicht auf „Verfassungsromantik“ beschränkt, sondern auch in tatsächlich-rechtlicher Form relevant werden kann. Die Maßgeblichkeit dieser Werte für das Handeln der Unionsorgane ergibt sich darüber hinaus aus der – im Folgenden darzustellenden – allgemeinen Zielbestimmung des Art. 3 EUV, dem Auftrag des Art. 13 Abs. 1 Satz 1 EUV („Die Union verfügt über einen institutionellen Rahmen, der zum Zweck hat, ihren Werten Geltung zu verschaffen, [. . .]“) und speziellen Anordnungen wie Art. 21 EUV und Art. 67 AEUV.76 b) Ziele der Union, Art. 3 EUV (ex-Art. 2 EUV) In den Zielen der Union finden sich alle drei Aspekte der internationalen Offenheit wieder. So ist es gemäß Art. 3 Abs. 1 Satz 1 EUV das Ziel der Union, den Frieden,77 ihre Werte und das Wohlergehen ihrer Völker78 zu fördern, ein Ziel, das letztlich – da der unionsrechtliche Friedensbegriff zumindest völkerrechtlich mitgeprägt ist79 – eine Synthese aus dem rezeptiven, aktiven und menschenbezogenen Aspekt der internationalen Offenheit darstellt. Diese Zielbestimmungen sind zwar rechtlich bindend, indem sie den Rahmen für das Handeln der Union vorgeben und die Auslegung des EUV beeinflussen; aus ihnen können aber keine konkreten Handlungsanweisungen oder Kompetenzzuweisungen abgeleitet werden.80 Eine ausdrückliche Außendimension enthält Art. 3 Abs. 5 Satz 1 EUV, demzufolge die Union in ihren Beziehungen zur übrigen Welt ihre Werte schützt und 75

Bitterlich, Art. 2 EUV, Rn. 4. Geiger, Art. 2 TEU, Rn. 10. 77 Diese Friedenssicherung soll zum einen innerhalb Europas, zum anderen in den Außenbeziehungen erfolgen, wobei die Norm über die Friedenssicherung im engeren Sinne (Verhinderung und Eindämmung internationaler und interner bewaffneter Konflikte) hinausgeht, Ruffert, Art. 3 EUV, Rn. 15–17. 78 Dies soll Ulrich Becker, Rn. 11, zufolge vor allem zeigen, dass das unionale Handeln auch den ihrer Hoheitsgewalt unterstellten Menschen dienen soll. 79 Vgl. Dörr, S. 65. 80 Geiger, Art. 3 TEU, Rn. 2 m.w. N. 76

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3. Teil: Int. Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit des Unionsrechts

fördert und zum Schutz ihrer Bürgerinnen und Bürger beiträgt. Art. 3 Abs. 5 Satz 2 EUV betrifft ebenfalls den aktiven Aspekt der internationalen Offenheit, allerdings in seiner grenzüberschreitenden und humanistischen Ausprägung, indem er festlegt, dass die Union u. a. einen Beitrag zu Solidarität und gegenseitiger Achtung unter den Völkern, zu freiem und gerechtem Handel, zur Beseitigung der Armut und zum Schutze der Menschenrechte, insbesondere der Rechte des Kindes, leistet. Die ebenfalls in Art. 3 Abs. 5 Satz 2 EUV aufgeführte Leistung eines Beitrags zur strikten Einhaltung des Völkerrechts, insbesondere der Wahrung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen, kombiniert den aktiven mit dem rezeptiven Aspekt. Zwar geriert sich die Union dem bloßen Wortlaut nach eher als Befürworterin des Völkerrechts gegenüber der sonstigen Welt – was den Eindruck erweckt, als ob die Union in diesem Bereich keine Defizite aufzuweisen hätte –, aber die Erfüllung dieser Rolle auf der internationalen Ebene erfordert auch die strikte Einhaltung des Völkerrechts durch die Union selbst.81 Letztlich enthält diese Vorschrift somit auch eine Selbstverpflichtung der Union zur Einhaltung der völkerrechtlichen Verpflichtungen.82 Daneben soll die Union aber auch einen Beitrag zur Weiterentwicklung des Völkerrechts und damit zur Stärkung der international rule of law leisten,83 was wiederum den aktiven Aspekt der internationalen Offenheit betrifft. In der Literatur ist diesbezüglich von einem „bemerkenswert offen zur Schau getragenen Missionierungsgedanken“ gesprochen worden.84

81 Vgl. insofern bereits die Gedanken von Vogel, Verfassungsentscheidung, S. 26 (Hervorhebung im Original): „Demgegenüber ist jedoch eine wechselseitige, wenngleich begrenzte Durchdringung des Völkerrechts und des innerstaatlichen Rechts, wie sie die neuere Völkerrechtslehre zunehmend wieder behauptet, methodisch nur vom Bild eines Staates her denkbar, der an einer ,internationalen Ordnung‘ nicht nur ganz oberflächlich ,mitzuarbeiten‘, sondern sich ihr zugleich, jedenfalls in begrenztem Umfange, rechtlich ein- und unterzuordnen bereit ist.“ Siehe insoweit auch Cremer, Art. 21 EUV, Rn. 5: „Doch bekennt sich die Union und bekennen sich damit auch die Mitgliedstaaten dazu, diesen Normen eben ,weltweit‘ zu stärkerer Geltung zu verhelfen. Dies kann und darf – schon angesichts der Bekräftigung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen und des Völkerrechts (s. a. Art. 3 Abs. 5) – keinesfalls als Absicht zu unzulässiger Intervention verstanden werden. Die völkerrechtskonforme und friedliche Verbreitung und Fortentwicklung der Prinzipien ist das Ziel.“ 82 Vgl. Ruffert, Art. 3 EUV, Rn. 18: „Die gesamte außenwirksame Politik der Union steht unter dem Gebot der strikten Einhaltung des Völkerrechts, insbesondere der Wahrung der Grundsätze der Vereinten Nationen.“ 83 Vgl. Ruffert, Art. 3 EUV, Rn. 18, demzufolge dieser Artikel der Weiterentwicklung zwingender Völkerrechtsnormen wie dem Gewaltverbot durch die Union aufgrund der Verpflichtung zur „strikten Einhaltung“ des Völkerrechts Grenzen setzt und ihr insbesondere verbietet, durch eine neue, den zwingenden Völkerrechtsnormen zuwiderlaufende Praxis zur Auflockerung der jetzigen zwingenden Völkerrechtsnormen beizutragen. 84 Kottmann, S. 285 m.w. N.

B. Die internationale Offenheit der Unionsrechtsordnung

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Im Hinblick auf die verfassungstheoretische Einstufung dieser Norm ist auf die enge Verwandtschaft zu den Staatszielbestimmungen nationalstaatlicher Verfassungen hinzuweisen.85 Es handelt sich um eine rechtsverbindliche Norm,86 die aber aufgrund des Ermessenspielraums nur in sehr engen Grenzen justiziabel ist.87 Im Bereich der Rechtsanwendung kommt ihr insbesondere Bedeutung zu bei der teleologischen Auslegung von offenen Vorschriften.88 So zitiert der EuGH diese Bestimmung inzwischen als Beleg dafür, dass die EU nicht nur an die von ihr geschlossenen völkerrechtlichen Verträge, sondern auch an alle Normen des allgemeinen Völkerrechts, die keine Staatsqualität voraussetzen gebunden.89 2. Spezielle Ziele und Grundsätze des auswärtigen Handelns der Union, Art. 21 EUV (ex-Art. 11 EUV) Art. 21 EUV enthält eine bemerkenswert detaillierte, „außerordentlich ambitioniert“ 90 erscheinende Aufstellung der Ziele und Grundsätze der internationalen Zusammenarbeit der Union. Art. 21 EUV ist deutlich länger als der frühere Art. 11 EUV, ein Umstand, der bereits auf die größeren außenpolitischen Ambitionen der Union hindeutet. So wird auch in der Literatur darauf hingewiesen, dass mit diesem Artikel der Erklärung von Laeken91 Rechnung getragen werden soll, die die (rhetorische) Frage stellte, ob Europa nicht eine führende Rolle in einer neuen Weltordnung übernehmen müsse, die Rolle einer Macht, die sowohl eine stabilisierende Rolle weltweit spielen als auch ein Beispiel für zahlreiche Länder und Völker sein könnte.92 Art. 21 EUV ist in zweierlei Hinsicht bedeutend, indem er (proaktiv) die Ziele des auswärtigen Handelns der Union und (defensiv) die Grenzen festlegt, innerhalb derer die Zielverfolgung geschieht.93 Beide Stoßrichtungen dieses Artikels lassen sich aber letztlich auf einen gemeinsamen Nenner – die im Innen- und Außenverhältnis zu beachtende Wertbindung der Union und damit wiederum auf Art. 2 EUV – zurückführen. 85

Ruffert, Art. 3 EUV, Rn. 2. Ulrich Becker, Rn. 5. 87 Ruffert, Art. 3 EUV, Rn. 5. 88 Ulrich Becker, Rn. 7. 89 EuGH, Urt. 21.12.2011 – Rs. 366/10, NVwZ 2012, S. 266, Rn. 101 – Air Transport Association of America. 90 Geiger, Art. 21 TEU, Rn. 6 („very ambitious“) 91 Erklärung von Laeken zur Zukunft der Europäischen Union vom 15.12.2001, abrufbar unter http://www.consilium.europa.eu/ueDocs/cms_Data/docs/pressData/de/ec/ 68829.pdf. 92 Geiger, Art. 21 TEU, Rn. 6. 93 Vgl. Cremer, Art. 21 EUV, Rn. 9. 86

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3. Teil: Int. Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit des Unionsrechts

Der außenwirksame Aspekt dieser Wertbindung tritt in Art. 21 Abs. 1 Satz 1 EUV zu Tage, demzufolge sich die Union bei ihrem Handeln auf internationaler Ebene von den Grundsätzen leiten lässt, die für ihre eigene Entstehung, Entwicklung und Erweiterung maßgeblich waren und denen sie auch weltweit zu stärkerer Geltung verhelfen will: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, die universelle Geltung und Unteilbarkeit der Menschenrechte und Grundfreiheiten, die Achtung der Menschenwürde, der Grundsatz der Gleichheit und der Grundsatz der Solidarität sowie die Achtung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen und des Völkerrechts (Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 EUV). Der protektive Aspekt der Wertbindung zeigt sich in Art. 21 Abs. 2 a), demzufolge die Union im Bereich der internationalen Beziehungen das Ziel hat, ihre Werte, ihre grundlegenden Interessen, ihre Sicherheit, ihre Unabhängigkeit und ihre Unversehrtheit zu wahren. Diese sich umfassend auswirkende Bindung an die eigenen Werte belegt, warum die Bezeichnung der Union als Wertegemeinschaft zutreffend ist. Die „weltbezogenen“ Ziele von Art. 21 Abs. 2 b)–h) verdeutlichen, dass sich die Union in ihrer Gänze nicht auf eine Wirtschaftsgemeinschaft reduzieren lässt.94 Der Gedanke der Menschen- und Völkerrechtsfreundlichkeit zieht sich wie ein roter Faden durch die in Art. 21 EUV aufgeführten Ziele und Grundsätze: So wird in Abs. 1 Unterabs. 1 neben den Menschenrechten und Grundfreiheiten auch ein Bekenntnis zur Achtung der Menschenwürde geleistet. Die Norm beschränkt sich zudem nicht darauf, die universelle Geltung und Unteilbarkeit dieser Rechte und Freiheiten herauszuheben, sondern spricht daneben sogar von einem Grundsatz der Gleichheit. Dies greift die in Art. 2 EUV erfolgte Ergänzung um den Wert der „Gleichheit“ auf. Der Grundsatz der Solidarität hat wiederum einen Bezug zur universellen Geltung der Menschenrechte und zur Menschenwürde und verdeutlicht, dass dieses Bekenntnis zur Universalität der Menschenrechte nicht rein passiv zu verstehen ist, sondern in bestimmten Situationen (beispielsweise in Katastrophenfällen) auch konkretes Tätigwerden erfordern kann. Hinweise auf die Menschen(rechts-)freundlichkeit finden sich auch in Abs. 2 b), d) und g) dieser Norm und damit in den das auswärtige Handeln der Union betreffenden Zielbestimmungen. Als deutliches Bekenntnis zur Völkerrechtsfreundlichkeit ist auch zu werten, dass die Norm zwei Verweise auf die Charta der Vereinten Nationen (Art. 21 Abs. 1, Unterabs. 1 und Abs. 2 c) EUV), zwei Verweise auf die Grundsätze des Völkerrechts (Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 und Abs. 2 c) EUV) sowie einen Verweis auf die Vereinten Nationen (Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 2 Satz 2 EUV) enthält. Darüber hinaus erteilt diese Norm dem Unilateralismus durch das Bekenntnis

94

Cremer, Art. 21 EUV, Rn. 11.

B. Die internationale Offenheit der Unionsrechtsordnung

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zum Multilateralismus nicht nur einmal, sondern – mutmaßlich zur Vermeidung von Missverständnissen – gleich zweimal eine Absage (Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 2 Satz 2 sowie Abs. 2 h) EUV). Damit wird deutlich, dass die Union bei ihrem auswärtigen Handeln nicht nur der völkerrechtlichen Verpflichtung, sondern auch der Selbstverpflichtung unterliegt, einen Völkerrechtsbruch zu unterlassen. Art. 21 Abs. 2 EUV benennt die Ziele der Union im Bereich der internationalen Beziehungen. Diese lassen sich wie folgt in allgemeine und besondere Ziele strukturieren: Unter erstere fallen die defensiv wirkenden Ziele wie die Wahrung der eigenen Werte (a), die nach außen wirkenden Ziele wie die Förderung von Demokratie (b) sowie der Komplex der Friedenserhaltung, Konfliktverhütung und internationalen Sicherheit (c).95 Art. 21 Abs. 2 c) stellt sich als Implementierung der völkerrechtlichen Vorgaben, insbesondere von Art. 1 UN-Charta dar.96 Die besonderen Ziele betreffen die Entwicklungspolitik mit dem vorrangigen Ziel der Armutsbekämpfung (d), die Integration aller Länder in die Weltwirtschaft (e), eine nachhaltige Umwelt- und Ressourcenpolitik (f) sowie eine grenzüberschreitende Katastrophenhilfe (g).97 Gefolgt wird dies von dem – wohl zusammenfassend zu verstehenden – Ziel der Förderung einer Weltordnung, die auf verstärkter multilateraler Zusammenarbeit und verantwortungsvoller Weltordnungspolitik beruht (h).98 In diesem Zielkatalog lassen sich alle Aspekte der internationalen Offenheit finden. Daher dürfte dieser ausführliche Zielkatalog – mit dem „letztlich alle wesentlichen Fragen“ abgedeckt werden sollen99 – von wissenschaftlichem und außenpolitischem Interesse sein. Bemerkenswert ist dabei, dass sich die extensiven Zielvorgaben im Bereich des auswärtigen Handelns umgekehrt proportional zur geringen Integrationsdichte in diesem Bereich verhalten.100 Im Hinblick auf den Nachweis der internationalen Offenheit einer Rechtsordnung im Allgemeinen bleibt festzuhalten, dass hierfür – ebenso wie für ihre inhaltlichen Maßstäbe – keine vergleichsweise umfangreiche verfassungsrechtliche Auseinandersetzung mit außenpolitischen Aspekten erforderlich ist, sondern dass die internationale Offenheit einer Verfassung auch aus weitaus weniger textlichen Hinweisen als in Art. 21 AEUV abgeleitet werden kann.

95

Geiger, Art. 21 TEU, Rn. 13. Regelsberger/Kugelmann, Art. 21 EUV, Rn. 10. 97 Geiger, Art. 21 TEU, Rn. 16. 98 Geiger, Art. 21 TEU, Rn. 17. 99 Bitterlich, Art. 21 EUV, Rn. 5. 100 Siehe hierzu aber auch Cremer, Art. 21 EUV, Rn. 4, der sich gerade in Anbetracht der Außenwirkung von Art. 21 Abs. 1 und 2 EUV – politisches Signal der Bereitschaft zur internationalen Zusammenarbeit sowie Bekräftigung wichtiger völkerrechtlicher Normen – dagegen ausspricht, diese Norm trotz der für die GASP beschränkten Kontrollkompetenzen des EUGH (Art. 275 AEUV) als „bloße Vertragslyrik“ abzuwerten. 96

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3. Teil: Int. Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit des Unionsrechts

II. Anhaltspunkte für die verschiedenen Aspekte der internationalen Offenheit im Überblick Anhaltspunkte für die verschiedenen Aspekte der internationalen Offenheit der Unionsrechtsordnung finden sich nicht nur in Art. 21 EUV, dem die Funktion einer Grundlagennorm zukommt, sondern an vielen Stellen des Verfassungstextes. Im Folgenden werden einige wesentliche Normen, aus denen sich der menschenbezogene, der rezeptive und der aktive Aspekt der internationalen Offenheit ableiten lassen, kurz genannt, um so einen Überblick über die Offenheit der Unionsrechtsordnung zu gewinnen. Diese Beschränkung ist sinnvoll, da eine vertiefte Auseinandersetzung mit diesen Normen ohne entsprechende Untersuchung ihrer praktischen Bedeutung – auf die in dieser Arbeit aus den unter A. I. genannten Gründen verzichtet wird – keinen zusätzlichen Erkenntnisgewinn verspricht. 1. Der menschenbezogene Aspekt der internationalen Offenheit Die Darstellung der internationalen Offenheit beginnt mit deren menschenbezogenem Aspekt,101 da dieser letztlich nicht losgelöst von deren rezeptiven und aktiven Aspekten betrachtet werden kann und einen engen Bezug zu den soeben behandelten Werten der Union aufweist. Im Übrigen ist eine nicht auf dem Fundament der Menschenrechtsfreundlichkeit fußende Völkerrechtsfreundlichkeit und Kooperationsbereitschaft angesichts der bereits angesprochenen menschenrechtsfreundlichen Entwicklungen auf internationaler Ebene nicht möglich. Die Menschenrechtsfreundlichkeit der Unionsrechtsordnung zeigt sich nicht nur in der Präambel und den bereits untersuchten Vorschriften (Art. 2, Art. 3 und Art. 21 EUV), sondern tritt auch an anderer Stelle zu Tage. So ergibt sich aus Art. 6 EUV in der Fassung des Vertrags von Lissabon, dass die europäische Rechtsordnung die Zeiten weit hinter sich gelassen hat, in denen sie keine geschriebenen Menschenrechtsgarantien enthielt:102 Neben der neu hinzugekommenen Anerkennung der primärrechtlichen Bindung an die sich aus der Charta der Grundrechte der EU ergebenden Rechte, Freiheiten und Grundsätze (Art. 6 Abs. 1 EUV) sind die sich aus der EMRK und den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergebenden Grundrechte als allgemeine Grundsätze weiterhin Teil des Unionsrechts (Art. 6 Abs. 3 EUV, ex-Art. 6 Abs. 2 EUV). Darüber hinaus verpflichtet Art. 6 Abs. 2 EUV die EU zum EMRK-Bei101

Siehe hierzu auch 3. Teil C. I. 6. Siehe hierzu Terhechte, Prinzipienordnung, Rn. 40, zur Entwicklung der allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts durch den EuGH: „Nach anfänglicher Zurückhaltung war der EuGH im Verhältnis zu den mitgliedstaatlichen (Verfassungs-)Gerichten in eine Defensivposition geraten, der er im Wege eines ,judicial activism‘ und auf dem Boden der grundrechtlichen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten zu begegnen suchte.“ 102

B. Die internationale Offenheit der Unionsrechtsordnung

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tritt, durch den sie sich einer externen Menschenrechtskontrolle durch den EGMR unterwerfen wird.103 Unionsbürgern stehen nicht nur die allgemein garantierten Grundrechte zu, sondern sie kommen auch in den Genuss besonderer Rechte, beispielsweise der Grundfreiheiten und der in Art. 21 AEUV geregelten Freizügigkeit. Die im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik außerhalb der Union vorgesehenen Missionen (Art. 42 Abs. 1 Satz 3 EUV) umfassen u. a. auch humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze sowie Aufgaben der Konfliktverhütung und der Erhaltung des Friedens (Art. 43 Abs. 1 Satz 1 EUV). Auch die Vorschriften zur Politik im Bereich Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung ergeben ein menschenrechtsfreundliches, durch die Praxis auch vor Beginn der europäischen Flüchtlingskrise im Jahr 2015104 aber getrübtes Bild: So sieht Art. 77 Abs. 2 e) AEUV den Erlass von Maßnahmen vor, die die Abschaffung der Binnengrenzkontrollen von Personen gleich welcher Staatsangehörigkeit betreffen. Art. 78 Abs. 1 Satz 1 AEUV betrifft die Entwicklung einer gemeinsamen Politik im Bereich Asyl, subsidiärer Schutz und vorübergehender Schutz, durch die jedem Drittstaatsangehörigen, der internationalen Schutz benötigt, ein angemessener Status angeboten und die Einhaltung des Grundsatzes der Nicht-Zurückweisung gewährleistet werden soll. Art. 78 Abs. 1 Satz 2 AEUV sieht ferner vor, dass diese Politik im Einklang mit den einschlägigen Verträgen, u. a. dem Genfer Abkommen vom 28. Juli 1951105 stehen muss. Art. 78 Abs. 1 AEUV enthält somit einen Anhaltspunkt für den menschenbezogenen und rezeptiven Aspekt der internationalen Offenheit. Art. 78 und Art. 79 AEUV beinhalten weitere menschenrechtsfreundliche Aussagen, beispielsweise sieht Art. 79 Abs. 2 d) AEUV Maßnahmen zur Bekämpfung des Menschenhandels, insbesondere des Handels mit Frauen und Kindern, vor. Dass die europäische Praxis im Bereich des Asylrechts teilweise deutlich von den menschenrechtsfreundlichen Aussagen in Art. 78 AEUV (ex-Art. 63 EGV) abweicht, wurde allerdings schon vor Beginn der europäischen Flüchtlingskrise 2015 anlässlich des Verfahrens M.S.S. gegen Belgien und Griechenland 106 vor dem EGMR deutlich.107 So stellte der Gerichtshof fest, dass alle Staaten an den 103

Siehe hierzu sowie zur besonderen Bedeutung der EMRK 3. Teil C. II. 2. a). Siehe Europäischer Flüchtlingsrat, The Dublin II Regulation: Lives on Hold, Februar 2013, S. 117 (Hervorhebung hinzugefügt): „[. . .] readmission agreements are sometimes implemented by Member States in a manner that results in evading obligations under the Dublin Regulation and under international human rights law, most notably the fundamental right to asylum. [. . .] Improvements in the application of the Dublin Regulation alone will not suffice, as the Dublin system will continue to create hardship for asylum seekers as long as there is an ,asylum lottery‘ in Europe.“ 105 Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. II, S. 559. 106 EGMR (Große Kammer), Urt. v. 21.1.2011 – Nr. 30696/09, EuGRZ 2011, S. 243 – M.S.S. gegen Belgien und Griechenland. 107 Vgl. von Arnauld, Konventionsrechtliche Grenzen, S. 241: „Die mit einigem Abstand größte Zahl von Flüchtlingen erreicht das Gebiet der EU über Griechenland, das 104

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3. Teil: Int. Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit des Unionsrechts

Außengrenzen der Union derzeit erhebliche Schwierigkeiten bei der Bewältigung des zunehmenden Zustroms von Migranten und Asylsuchenden hätten und dass diese Situation durch den Transfer von Asylsuchenden durch die Mitgliedstaaten in Anwendung der Dublin-Verordnung noch verschärft werde.108 Der Gerichtshof konstatiert auch die Tatsache, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt ein erwachsener männlicher Asylsuchender in Griechenland praktisch keine Chance auf einen Platz in einer Aufnahmeeinrichtung habe und spricht in diesem Zusammenhang von der Obdachlosigkeit von „Dublin-Asylsuchenden“.109 Er führt aus, dass durch die großen strukturellen Defizite Asylsuchende in Griechenland in Ermangelung eines wirksamen Rechtsbehelfs im Ergebnis nicht vor einer willkürlichen Abschiebung in ihre Herkunftsländer geschützt seien.110 Noch stärker als in den bisher genannten Vorschriften des EUV und des AEUV wird der menschenbezogene Aspekt in der Präambel der bereits erwähnten Grundrechtecharta betont, in der es über die Union heißt: „Sie stellt den Menschen in den Mittelpunkt des Handelns, indem sie die Unionsbürgerschaft und einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts begründet.“ In dieser Aussage spiegelt sich – wortwörtlich – die bereits angesprochene Entwicklung auf Völkerrechtsebene wider, den Menschen zunehmend in den Mittelpunkt zu stellen.111 Bemerkenswert ist auch, dass die Grundrechtecharta die Grundrechtsträger nicht nur begünstigt, sondern auch fordert, wie aus folgendem Satz der Präambel deutlich wird: „Die Ausübung dieser Rechte ist mit Verantwortung und mit Pflichten sowohl gegenüber den Mitmenschen als auch gegenüber der menschlichen Gemeinschaft und den künftigen Generationen verbunden.“ 112 Eine ähnliche Vorstellung des Menschen als zoon politikon findet sich bereits in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte,113 in deren Art. 29 Nr. 1 es heißt: „Jeder hat Pflichten gegenüber der Gemeinschaft, in der allein die freie und volle Entfaltung seiner Persönlichkeit möglich ist.“ Die Präambel der Grundrechtecharta ist in Bezug auf die gemeinschaftliche Einbindung zwar zurückhaltender formuliert, doch die Vorstellung, dass der Mensch ein gemeinschaftsbezogenes Wesen ist, tritt ebenfalls zwischen den Zeilen hervor. Aufschlussreich im Vergleich zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ist, dass die Grunddaher in erster Linie für die Durchführung der Asylverfahren zuständig ist. [. . .] Bedenkt man, dass in M.S.S. nicht so sehr der Einzelfall, sondern das gesamte griechische Asylsystem insgesamt auf dem Prüfstand stand [. . .], führt dies in der Konsequenz zu einer Aushebelung der Dublin-II-VO [. . .].“ 108 EGMR (Große Kammer), Urt. v. 21.1.2011 – Nr. 30696/09, EuGRZ 2011, S. 243, Nr. 233 – M.S.S. gegen Belgien und Griechenland (Hervorhebung hinzugefügt). 109 Ebd., Nr. 258. 110 Ebd., Nr. 300. 111 Siehe hierzu 2. Teil C. II. 3. 112 Hervorhebung hinzugefügt. 113 Rensmann, Wertordnung, S. 18.

B. Die internationale Offenheit der Unionsrechtsordnung

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rechtecharta neben dem dort verwendeten, eher obrigkeitlich anmutenden Wort „Pflichten“ („duties“/„devoirs“/„deberes“) auch das stärker die persönliche Mündigkeit betonende Wort „Verantwortung“ benutzt. Dies deutet darauf hin, dass die Grundrechtecharta auch den weiteren gesellschaftlichen Wandel berücksichtigt, der sich seit der Verkündung der für ihre Zeit sehr fortschrittlichen Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte im Jahre 1948 ereignet hat. Eine Weiterentwicklung gegenüber der Menschenrechtserklärung114 stellt auch die Einbeziehung der künftigen Generationen in denjenigen Kreis dar, dem gegenüber das Individuum zur Verantwortung verpflichtet ist. Die der Grundrechtecharta zugrundeliegende Konzeption sieht die Grundrechtsträger demnach nicht als isolierte „Einheiten“, sondern sie erkennt die Menschen innewohnende, natürliche Neigung zu sozialem Verhalten und zur Gruppenbildung an. Insofern überrascht es nicht, dass die Grundrechtecharta einen eigenen Titel zur Solidarität enthält (Titel IV). Da aber gleichzeitig viele genuin individuelle Rechte – beispielsweise das Recht auf Meinungsäußerung und Informationsfreiheit in Art. 11 oder die Unschuldsvermutung und Verteidigungsrechte – in der Grundrechtecharta kodifiziert sind, wird durch diese Anerkennung der Verantwortung gegenüber den Mitmenschen und künftigen Generationen, anders als dies in manchen traditioneller geprägten Rechtskulturen der Fall sein mag, der Schutz der Individualrechte nicht zulasten des Kollektivwohls eingeschränkt. Stattdessen geht die Grundrechtecharta von dem Bild mündiger und fähiger Grundrechteträger aus, die in die Gesellschaft eingebunden sind. Die Vorstellung, dass die Individuen nicht nur von der menschlichen Gemeinschaft und den modernen, zivilgesellschaftlichen Errungenschaften profitieren, sondern dem Gemeinwesen auch etwas zurückgeben und es aufrechterhalten, kann in Verknüpfung mit einem hohen Schutzniveau für das Individuum als sehr zukunftsbezogen und menschenfreundlich bezeichnet werden. 2. Der rezeptive Aspekt der internationalen Offenheit Im Anschluss an den menschenbezogenen Aspekt der internationalen Offenheit wird zunächst auf den rezeptiven Aspekt eingegangen.115 Von der zeitlichen Entwicklung her war dieser Aspekt der erste, der einen deutlichen Niederschlag im – damals noch – Gemeinschaftsrecht gefunden hatte. Auch wenn beispielsweise Art. 238 EWGV, der die Möglichkeit von Assoziierungsabkommen vorsah, bereits erste Anhaltspunkte für den aktiven Aspekt der internationalen Offenheit lieferte, erscheinen die damaligen Hinweise auf den rezeptiven Aspekt doch deutlicher: Neben Art. 234 (inzwischen: Art. 351 AEUV) enthielt der EWG-Ver114 Vgl. insofern aber bereits die Erwähnung der „future generations“ in der Präambel der UN-Charta. 115 Siehe hierzu auch ausführlich 3. Teil C.

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3. Teil: Int. Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit des Unionsrechts

trag116 mit seinem Art. 228 Abs. 2 (Art. 216 Abs. 2 AEUV) bereits die wesentliche Bestimmung, die auch heute noch einen Anhaltspunkt für die Völkerrechtsfreundlichkeit der Unionsrechtsordnung bietet. Art. 216 Abs. 2 AEUV besagt, dass die von der Union geschlossenen Übereinkünfte die Organe der Union und die Mitgliedstaaten binden. Aufgrund der ausdrücklichen Nennung der Organe der Union kann diese Norm nicht als bloße deklaratorische Wiedergabe des völkerrechtlich geltenden Grundsatzes pacta sunt servanda aufgefasst werden.117 Vielmehr statuiert sie eine von der völkerrechtlichen Verpflichtung der Union zu unterscheidende unionsprimärrechtliche Verpflichtung der Unionsorgane, bei allen rechtsverbindlichen Organhandlungen die Unionsabkommen durchzuführen und zu beachten.118 Die ebenfalls in Art. 216 Abs. 2 AEUV geregelte Bindung der Mitgliedstaaten an die Verträge der Union ist bemerkenswert119 und geht über die nach allgemeinem Völkerrecht bestehende Rechtslage hinaus: Völkerrechtlich sind die Mitgliedstaaten an „reine“ Unionsabkommen, d.h. an Verträge der Union, bei denen sie nicht als Vertragsparteien beteiligt sind, nicht gebunden.120 Anders ist dies bei den sog. „gemischten Abkommen“ 121 wie den Assoziierungsabkommen der EU, dem Internationalen Seerechtsübereinkommen oder dem WTO-Abkommen,122 bei denen die völkerrechtliche Bindung der Mitgliedstaaten an das Abkommen auf dem Grundsatz pacta sunt servanda123 beruht. Bei „gemischten Abkommen“ – die in Betracht kommen, wenn Abkommen einen Sachbereich erfassen, der nicht in die ausschließliche Zuständigkeit der Union fällt, sondern Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten berührt oder wenn mitgliedschaftliche Finanzierungsverpflichtungen begründet werden – sind auf „Unionsseite“ neben der EU auch ihre Mitgliedstaaten beteiligt.124 Aus Art. 216 Abs. 2 AEUV ergibt sich aber die unionsrechtliche Pflicht der Mitgliedstaaten zur Durchführung aller Abkommen, d.h. auch „reiner“ Unionsabkommen.125 Die Bindung der Mitgliedstaaten an die Verträge der Union wurde vom EuGH damit begründet, dass Abkommen in ihrem gemeinschaftsrechtlichen Charakter 116

BGBl. 1957 II, S. 753. Schmalenbach, Art. 216 AEUV, Rn. 25. 118 Schmalenbach, Art. 216 AEUV, Rn. 26. 119 Ott, S. 69 m.w. N. 120 Dies folgt bereits aus dem Verbot des Vertrags zu Lasten Dritter, vgl. Art. 34 WVK II. 121 Siehe zur rechtlichen Anerkennung der gemischten Abkommen EuGH, Urt. v. 30.9.1987 – Rs. 12/86, Slg. 1987, S. 3747, Rn. 9 – Demirel. 122 Mögele, Rn. 39. 123 Vgl. Art. 26 WVK. 124 Mögele, Rn. 39. 125 Khan, Rn. 21; Geiger, Art. 216 TFEU, Rn. 13: „[. . .] must be assessed as a general implementing order.“ 117

B. Die internationale Offenheit der Unionsrechtsordnung

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keine unterschiedliche Rechtswirkung dulden, weswegen Mitgliedstaaten gegenüber der Gemeinschaft, die die Verantwortung für die ordnungsgemäße Durchführung des Abkommens übernommen hat, in der Pflicht zur Durchführung des Abkommens stehen.126 Die vom EuGH in diesem Urteil angesprochene Verpflichtung zur Durchführung des Abkommens gegenüber Drittstaaten kann bei „reinen“ Unionsabkommen nur unionsrechtlicher, nicht völkerrechtlicher Natur sein,127 da Unionsabkommen keine Wirkung zulasten Dritter entfalten dürfen (Art. 34 WVK II).128 Durch Art. 216 Abs. 2 AEUV soll Drittstaaten auch keine eigene Rechtsposition gegenüber den Mitgliedstaaten eingeräumt werden, so dass ein Durchgriff auf die Mitgliedstaaten bei Verletzung des Abkommens ausscheidet.129 Da die völkerrechtlichen Verträge zum Unionsrecht gehören, nehmen sie, soweit sie unmittelbar anwendbar sind, im nationalen Recht der Mitgliedstaaten ebenfalls am Anwendungsvorrang des Europarechts teil, ohne dass es eines Umsetzungsaktes bedürfte.130 Dies sichert den Verträgen der Union in den nationalen Rechtsordnungen ihrer Mitgliedstaaten ein größtmögliches Maß an Wirksamkeit zu. 3. Der aktive Aspekt der internationalen Offenheit Eine Vielzahl von Vorschriften der Verträge weisen einen Bezug zu internationalem Handeln auf: So enthält Titel V des EUV allgemeine Bestimmungen – einschließlich des bereits dargestellten Art. 21 EUV – über das auswärtige Handeln der Union sowie besondere Bestimmungen über die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Der gesamte fünfte Teil des AEUV ist dem auswärtigen Handeln der Union gewidmet. Hier finden sich u. a. für die Kooperationsoffenheit der Unionsrechtsordnung sprechende Vorschriften zur Entwicklungs- und sonstigen Zusammenarbeit mit Drittländern (Art. 208–213 AEUV) sowie der humanitären Hilfe (Art. 214 AEUV), zum Abschluss von internationalen Übereinkünften (Art. 216–219 AEUV) sowie zur Zusammenarbeit der Union mit den Vereinten Nationen und zur Unterhaltung von Beziehungen mit anderen internationalen Organisationen (Art. 220–221 AEUV). Die Assoziierung mit den überseeischen Ländern und Hoheitsgebieten ist in den Art. 198–204 geregelt, wohingegen Art. 8 EUV die Entwicklung besonderer Beziehungen zu den Nachbarstaaten vorsieht. Daneben finden sich zahlreiche Hinweise auf die Förderung der Zusammenarbeit mit dritten Ländern und mit 126

EuGH, Urt. v. 26.10.1982 – Rs. 104/81, Slg. 1982, S. 3641, Rn. 13 f. – Kupfer-

berg. 127

Mögele, Rn. 47. Schmalenbach, Art. 216 AEUV, Rn. 26. 129 Schmalenbach, Art. 216 AEUV, Rn. 26, unter Verweis auf die Missverständlichkeit der vorgenannten Passage aus dem Kupferberg-Urteil des EuGH. 130 Terhechte, Art. 216 AEUV, Rn. 22. 128

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3. Teil: Int. Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit des Unionsrechts

den für den jeweiligen Bereich zuständigen internationalen Organisationen – im Bildungsbereich und im Sport (Art. 165 Abs. 3 AEUV), im Bereich der beruflichen Bildung (Art. 166 Abs. 3 AEUV), im Kulturbereich (Art. 167 Abs. 3 AEUV), im Gesundheitswesen (Art. 168 Abs. 3 AEUV) und auf dem Gebiet der Forschung der Union, technologischen Entwicklung und Demonstration (Art. 180 b) AEUV). Die Umweltpolitik der Union enthält einen Hinweis auf die Förderung von Maßnahmen auf internationaler Ebene zur Bewältigung regionaler oder globaler Umweltprobleme und insbesondere zur Bekämpfung des Klimawandels (Art. 184 Abs. 1, 4. Spiegelstrich AEUV) sowie Vorschriften zur Zusammenarbeit mit dritten Ländern und den zuständigen internationalen Organisationen (Art. 184 Abs. 4 AEUV). Im Bereich des Katastrophenschutzes setzt sich die Union zum Ziel, die Kohärenz der Katastrophenschutzmaßnahmen auf internationaler Ebene zu verbessern (Art. 196 Abs. 1 Unterabs. 3 c) AEUV). Bereits diese kurze Auflistung relevanter Bestimmungen macht deutlich, dass eine Vielzahl von textlichen Anhaltspunkten für das aktive Prinzip der internationalen Offenheit existiert. Da der aktive Aspekt der internationalen Offenheit auch das Eingehen völkerrechtlicher Bindungen umfasst, ist Art. 216 Abs. 1 AEUV hervorzuheben. Diese Norm stellt die zentrale Kompetenzbestimmung für den Abschluss internationaler Abkommen durch die EU dar (anders als ihre Vorgängernorm, Art. 300 Abs. 1 EGV, die nur pauschal auf die in den Verträgen vorgesehenen Vertragsabschlusskompetenzen verwies).131 Unter dem Gesichtspunkt des aktiven Aspektes der internationalen Offenheit ist die gebündelte Sichtbarmachung der Vertragsabschlusskompetenzen der Union in Art. 216 Abs. 1 AEUV zu begrüßen. Besonders bedeutsam ist in dieser Hinsicht zudem, dass Art. 6 Abs. 2 EUV den Beitritt der Union zur EMRK132 verbindlich vorsieht. Die Notwendigkeit einer Kompetenzgrundlage für den Beitritt zur EMRK ergab sich aus der Feststellung des EuGH in seinem Gutachten 2/94 EMRK, dass die EU nach damals geltendem Recht über keine Kompetenz zum ERMK-Beitritt verfügte.133 Art. 6 Abs. 2 EUV stellt die erforderliche Kompetenzgrundlage dar; zudem enthält diese Norm den an die Unionsorgane und Mitgliedstaaten gerichteten Auftrag, die für den Beitritt zur EMRK erforderlichen Schritte zu unternehmen.134 Mit der Ratifikation des 14. Zusatzprotokolls zur EMRK sind auch die völkerrechtlichen Bedingungen für den Beitritt der Union zur EMRK erfüllt worden. Nach der restriktiven Rechtsprechung des EuGH zum Kompetenzproblem hatte der Lissabon-Vertrag damit bis zum erneut ablehnenden EMRK-Gutachten

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Mögele, Rn. 12. Zur besonderen Bedeutung der EMRK siehe 3. Teil C. II. 2. a). 133 EuGH, Gutachten v. 28.3.1996 – Gutachten 2/94, Slg. 1996-I, S. 1759, Rn. 36 – EMRK I. 134 Uerpmann-Wittzack, S. 223. 132

B. Die internationale Offenheit der Unionsrechtsordnung

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des EuGH vom 18.12.2014135 eine Lösung herbeigeführt, die dem Gedanken der internationalen Offenheit der Unionsordnung besser Rechnung trägt. Die Hoffnung auf einen baldigen EMRK-Beitritt der EU hat sich aber aufgrund der neuen weitreichenden, sich auf „die Besonderheiten und die Autonomie des Unionsrechts“ 136 beziehenden Feststellungen des EuGH zur Unvereinbarkeit des verhandelten Beitrittsabkommens mit Art. 6 Abs. 2 EUV und dem EU-Protokoll Nr. 8 nicht bestätigt. Die geplante Übereinkunft stelle – so der EuGH – nicht sicher, dass Art. 53 EMRK und Art. 53 der Charta aufeinander abgestimmt werden, begegne nicht der Gefahr einer Beeinträchtigung des Vertrauensgrundsatzes zwischen den Mitgliedstaaten, regele nicht das Verhältnis zwischen dem sich aus Protokoll Nr. 16 ergebenden Mechanismus und Art. 267 AEUV (Vorabentscheidungsverfahren), könne Art. 344 AEUV beinträchtigen, sehe keine Modalitäten des Mitbeschwerdegegner-Mechanismus (Art. 3 Abs. 6 BA) und des Vorabbefassungsverfahrens (Art. 3 Abs. 6 BA) vor und vertraue die gerichtliche Kontrolle einiger Handlungen, Aktionen und Unterlassungen der Union im Bereich der GASP einem unionsexternen Organ an.137 Diese deutliche Ablehnung des Beitrittsabkommens war nicht vorausgesehen worden, obwohl Literaturstimmen nach der mündlichen Verhandlung im Mai 2014 berichteten, „etliche EuGH Richter hätten sich souveränitätsversessener gebärdet als manch nationaler Richter.“ 138 Dem entsprechen die Schlussbemerkungen Tomuschats zum Gutachten, die EU „werde als selbstgenügsames Gemeinwesen gesehen. Man meint, in zeitgemäßer Verkleidung einen Verfechter staatlicher Souveränität sprechen zu hören.“ 139 Ob bzw. wann ein EMRK-Beitritt der EU erfolgen kann, lässt sich in Anbetracht des Gutachtens kaum abschätzen;140 auch trägt dieses nicht dazu bei, die EU nach außen hin als unkomplizierten Vertragspartner darzustellen. Eine ins Spiel gebrachte Lösung, um den Verfassungsauftrag des Art. 6 Abs. 2 EUV trotz des ablehnenden Gutachtens des EuGH zu erfüllen, liegt darin, das Beitrittsabkommen in den Rang von Primärrecht zu heben,141 beispielsweise durch die Ergänzung des EU-Protokolls Nr. 8 um folgende Formulierung: „Die Übereinkunft 135

EuGH, Gutachten v. 18.12.2014 – Gutachten 2/13 – EMRK II. Ebd., Rn. 258. 137 Ebd. 138 Breuer, Gutachten, S. 330. 139 Tomuschat, Auslegungshoheit, S. 139. 140 Siehe hierzu Tomuschat, Auslegungshoheit, S. 133: „Die weitreichenden Forderungen des EuGH werden aller Wahrscheinlichkeit nicht die Zustimmung der nicht der EU angehörigen Vertragsstaaten der EMRK finden, da sie darauf hinauslaufen, den EGMR eines erheblichen Teils seiner Schutzfunktion zu entkleiden.“ Ebenso Breuer, Gutachten, S. 349, demzufolge „eine Neuverhandlung der Beitrittsübereinkunft angesichts der gesamtpolitischen Lage (insbesondere mit Blick auf Russland) keine gangbare Option darstellt.“ 141 Frankfurter Allgemeine Zeitung, Auf der langen Bank, 5.2.2015, S. 6 (Autor: Christoph Grabenwarter). 136

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3. Teil: Int. Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit des Unionsrechts

über den Beitritt der Europäischen Union zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten in der Fassung des revidierten Entwurfs vom 5. April 2013 gilt als mit den Art. 1 bis 3 dieses Protokolls vereinbar. Die Übereinkunft und die Verträge sind rechtlich vereinbar.“ 142 Möglich ist aber, dass der EMRK-Beitritt – trotz des Verfassungsauftrages von Art. 6 Abs. 2 EUV – „keine einhellige Fürsprache mehr findet.“ 143 Vor dem durch das Gutachten geänderten Hintergrund werden die strikten Sonderbestimmungen, die der das Vertragsabschlussverfahren regelnde Art. 218 AEUV für den Beitritt zur EMRK vorsieht, möglicherweise nicht mehr relevant. Abweichend von der üblichen Beschlussfassung des Rates mit qualifizierter Mehrheit kann der Beschluss zum Beitritt zur EMRK nur einstimmig erfolgen (Art. 218 Abs. 8 Unterabs. 2, Satz 2 AEUV) und tritt erst in Kraft, nachdem die Mitgliedstaaten im Einklang mit ihren jeweiligen verfassungsrechtlichen Vorschriften zugestimmt haben; zudem muss eine Zustimmung des Europäischen Parlamentes erfolgen, Art. 218 Abs. 6 Unterabs. 2 a) ii) AEUV. Auch wenn aufgrund dieser Sonderbestimmungen Art. 218 AEUV den Beitritt zur EMRK erschwert,144 sind sie politisch nachvollziehbar und bringen den Stellenwert der EMRK zum Ausdruck. Das Ratifikationserfordernis ist praktisch nicht bedeutsam, da die EU-Mitgliedstaaten als Konventionsstaaten das Beitrittsabkommen ohnehin einzeln ratifizieren müssen.

III. Ergebnis Die Gründungsverträge der Europäischen Union in der Fassung des Vertrags von Lissabon enthalten eine Vielzahl von Hinweisen auf die internationale Offenheit der Unionsrechtsordnung. Die neu hinzugefügten Artikel mit internationalem Bezug nähern die europäische Rechtsordnung jedenfalls auf dem Papier sehr stark an die in der europäischen Sicherheitsstrategie aufgezeigte Vision und Perspektive der Union als „global player“ an. Die drei Aspekte der internationalen Offenheit werden in den Verträgen abgedeckt, ohne dass einer der Aspekte erkennbar zu kurz käme. Bemerkenswert ist insbesondere die ausführliche Aufzählung der Ziele und Grundsätze des internationalen Handelns in Art. 21 EUV, wo sich u. a. ein Verweis auf Menschenrechte, Grundsätze des Völkerrechts, multilaterale Zusammenarbeit und die Vereinten Nationen findet. Daher können die Gründungsverträge der Europäischen Union als hochmoderne, international offene Verfassung bezeichnet werden. Hinsichtlich der sich an diese Erkenntnis anschließenden 142 Breuer, Gutachten, S. 349 f., der aber auch auf die dann zu erwartenden Spannungen mit dem EuGH hinweist. 143 Tomuschat, Auslegungshoheit, S. 139. 144 Uerpmann-Wittzack, S. 223.

C. Völkerrechtsfreundlichkeit der Unionsrechtsordnung

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Frage, inwieweit die Union den entsprechenden Vorschriften auch in der Praxis gerecht wird, besteht weiterer, auch interdisziplinärer Forschungsbedarf. Anzumerken ist aber aus rechtwissenschaftlicher Sicht bereits jetzt, dass das EMRKGutachten des EuGH vom 18.12.2014145 aufgrund der hieraus folgenden Beeinträchtigung der Vertragsabschlusskompetenz der Union (aktiver Aspekt) nicht zu der nach den Verträgen bestehenden internationalen Offenheit der EU-Rechtsordnung beiträgt.

C. Die Völkerrechtsfreundlichkeit der Unionsrechtsordnung Die folgende exemplarische Untersuchung der Völkerrechtsfreundlichkeit der Unionsrechtsordnung gliedert sich in die Anwendung des zuvor entwickelten Kriterienkataloges146 (siehe I.), dessen Ergänzung um den zusätzlichen Aspekt der Altverträge der EU-Mitgliedstaaten (siehe II.), das Untersuchungsergebnis (siehe III.) und ein Fazit zur Tauglichkeit der Kriterien (siehe IV.). Einleitend ist anzumerken, dass die Analyse einer Rechtsordnung auf ihre Völkerrechtsfreundlichkeit entsprechend dem hier vorliegenden Modell auch weitaus tiefgehender erfolgen kann. Die gewählte, eher knappe Form der Darstellung rechtfertigt sich mit dem primären Ziel dieses Abschnittes, das entwickelte Modell praktisch zu erproben und darzustellen, wie es eingesetzt werden kann.

I. Anwendung des Kriterienkataloges 1. Auslegungskompetenz des EuGH in diesem Bereich Eine Untersuchung der Völkerrechtsfreundlichkeit des Unionsrechts kann sich nicht auf die rein textlichen Grundlagen beschränken, sondern muss auch und insbesondere die Rechtsanwendung durch die europäischen Gerichte einbeziehen. Wie Peters zutreffend ausführt, existiert die Rechtsordnung im Wesentlichen in der Form, die ihr durch die Spruchinstanzen gegeben wird.147 Dies bedeutet, dass die Rechtsprechung des EuGH von entscheidender Bedeutung für die Untersuchung der Völkerrechtsfreundlichkeit der europäischen Rechtsordnung ist.148 Art. 218 Abs. 11 AEUV ist die einzige Vorschrift, die ausdrücklich eine Zuständigkeit des EuGH im Bereich völkerrechtlicher Normen festlegt. Das in dieser Norm geregelte Gutachtenverfahren stellt eine präventive Normenkontrolle 145

EuGH, Gutachten v. 18.12.2014 – Gutachten 2/13 – EMRK II. Siehe 2. Teil D. 147 Peters, Rechtsordnungen, S. 9. 148 Siehe hierzu aus rechtsvergleichender Sicht den Beitrag von Alam, S. 27 f.: „While the constitutional position of domestic enforcement of international law in the United States would seem most ideal, the practical aspects of it are not.“ 146

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3. Teil: Int. Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit des Unionsrechts

dar, die es einem Mitgliedstaat, dem Europäischem Parlament, dem Rat oder der Kommission ermöglicht, ein Gutachten über die Vereinbarkeit einer geplanten völkerrechtlichen Übereinkunft mit den Gründungsverträgen einzuholen, Art. 218 Abs. 11 Satz 1 AEUV. Bei einem ablehnenden Gutachten des Gerichtshofs kann die geplante völkerrechtliche Übereinkunft nur in Kraft treten, wenn zuvor die Unvereinbarkeit durch Änderung der Übereinkunft oder der Gründungsverträge beseitigt wird, Art. 218 Abs. 11 Satz 2 AEUV. Auf diese Weise lässt sich verhindern, dass die Union einen völkerrechtlichen Vertrag schließt, der sich später – wenn bereits eine Bindung im Außenverhältnis besteht – als unvereinbar mit dem primären Unionsrecht erweist. Daher kann – auch wenn keine Antragsfrist besteht149 – ein Gutachten nach Art. 218 Abs. 11 AEUV nach Eintritt der definitiven völkerrechtlichen Bindung nicht mehr eingeholt werden.150 Das Hauptziel des Verfahrens liegt in der Vermeidung von Komplikationen auf internationaler Ebene und nicht in dem Schutz von Interessen der Mitgliedstaaten oder Unionsinstitutionen.151 Der EuGH hat hierzu ausgeführt, „[e]ine Gerichtsentscheidung, die ein Abkommen wegen seines Inhalts oder der Form seines Zustandekommens für mit dem Vertrag unvereinbar erklärte, müßte nicht nur auf Gemeinschaftsebene, sondern auch auf dem Gebiet der internationalen Beziehungen zu ernsten Schwierigkeiten führen und würde möglicherweise für alle betroffenen Parteien, auch für die Drittstaaten, Nachteile mit sich bringen.“ 152 Dies kann tendenziell als völkerrechtsfreundlicher Anhaltspunkt gelten, selbst wenn die Vermeidung von Konflikten zwischen Völker- und Europarecht theoretisch auch auf noch völkerrechtsfreundlicherem Wege, d.h. durch die Anerkennung eines unbedingten Vorrangs völkerrechtlicher Verträge153 erreicht werden könnte. Allgemeine Rechtsbehelfe werden durch das Verfahren – auch wenn kein Gutachten eingeholt wurde oder das Gutachten des EuGH positiv war154 – nicht ausgeschlossen.155 Daher spielen völkerrechtliche Normen auch in anderen Verfah149 EuGH, Gutachten v. 11.1.1975 – Gutachten 1/75, Slg. 1975, S. 1355 (S. 1361) – Lokale Kosten: „Das Gutachten ist auch nicht deshalb verspätet beantragt, weil die Beratungen über den Inhalt der fraglichen Vereinbarung bereits abgeschlossen sind, denn der Vertrag sieht gerade wegen der nichtstreitigen Natur des Verfahrens nach Artikel 228 Abs. 1 Unterabsatz 2 keine Frist für die Antragstellung vor.“ 150 Bungenberg, Rn. 100. 151 EuGH, Gutachten v. 13.12.1995 – Gutachten 3/94, Slg. 1995-I, S. 4577, Rn. 21 – GATT-WTO-Rahmenabkommen über Bananen. 152 EuGH, Gutachten v. 11.1.1975 – Gutachten 1/75, Slg. 1975, S. 1355 (S. 1361) – Lokale Kosten. 153 Völkerrechtliche Verträge stehen in der Unionsrechtsordnung über dem Sekundärrecht, aber unter dem Primärrecht, siehe hierzu ausführlich 3. Teil C. II. 5. a). 154 EuGH, Gutachten v. 11.1.1975 – Gutachten 1/75, Slg. 1975, S. 1355 (S. 1361) – Lokale Kosten. 155 Terhechte, Art. 218 AEUV, Rn. 37.

C. Völkerrechtsfreundlichkeit der Unionsrechtsordnung

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rensarten vor dem EuGH eine Rolle – bei der Nichtigkeitsklage (Art. 263 AEUV), dem Vorabentscheidungsverfahren (Art. 267 AEUV) und dem Vertragsverletzungsverfahren (Art. 258, 259 AEUV).156 So können im Rahmen der Nichtigkeitsklage und dem Vorabentscheidungsverfahren völkerrechtliche Verträge der Union auf ihre Vereinbarkeit mit dem Primärrecht überprüft werden,157 was der Vorrangstellung des Primärrechts gegenüber den völkerrechtlichen Verträgen entspricht.158 Verletzt ein Unionsorgan ein völkerrechtliches Abkommen der Union, so kann hiergegen – bei Vorliegen der prozessualen Voraussetzungen – Nichtigkeitsklage erhoben werden;159 geht die Verletzung hingegen von einem Mitgliedstaat aus, so kommt die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahren in Betracht.160 Überwiegend ist der EuGH aber bisher mit abgeschlossenen Unionsabkommen im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens befasst gewesen.161 Seine Zuständigkeit – deren Hintergrund die Notwendigkeit einer einheitlichen Auslegung der völkerrechtlichen Verträge in der Unionsrechtsordnung ist – umfasst neben den Abkommen auch etwaiges auf ihrer Basis ergangenes Sekundärrecht.162 Auch völkergewohnheitsrechtliche Normen können Bestandteil der gerichtlichen Überprüfung sein, allerdings wendet der EuGH hierbei einen restriktiveren Prüfungsmaßstab an als bei Unionsabkommen.163 2. Auslegung des Völkerrechts nach völkerrechtlichen Regeln Der EuGH hat in seiner Rechtsprechung wiederholt die völkerrechtliche Natur des Völkervertragsrechts in der Unionsrechtsordnung bestätigt.164 Die Anerkennung der völkerrechtlichen Natur der zur Unionsrechtsordnung gehörenden Verträge bedeutet, dass sich die Auslegung dieser Verträge nach völkerrechtlichen Regeln richten muss, so dass die Auslegung insbesondere „nicht der gesteigerten

156 Terhechte, Art. 218 AEUV, Rn. 37; Schmalenbach, Art. 218 AEUV, Rn. 35. Ausführlich zu den verschiedenen Konstellationen: Bungenberg, Rn. 106–117; Peters, International Law, S. 12–18. 157 Schmalenbach, Art. 218 AEUV, Rn. 35; EuGH, Gutachten v. 11.1.1975 – Gutachten 1/75, Slg. 1975, S. 1355 (S. 1361) – Lokale Kosten. 158 Siehe hierzu 3. Teil C. I. 5. 159 Schmalenbach, Art. 218 AEUV, Rn. 25. 160 Schmalenbach, Art. 218 AEUV, Rn. 35; Lachmayer/von Förster, Rn. 23; EuGH, Gutachten v. 14.12.1991 – Gutachten 1/91, Slg. 1991-I, S. 6079, Rn. 38 – EWR I. 161 Bungenberg, Rn. 111. 162 Ebd. 163 Siehe hierzu 2. Teil C. I. 5. b). 164 EuGH, Urt. v. 10.9.1996 – Rs. C-61/94, Slg. 1996-I, S. 3989, Rn. 30 – Kommission/Deutschland; Urt. v. 26.10.1982 – Rs. 104/81, Slg. 1982, S. 3641, Rn. 182 – Kupferberg. Siehe auch EuGH, Gutachten v. 14.12.1991 – Gutachten 1/91, Slg. 1991-I, S. 6079, Rn. 14 – EWR I.

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Dynamik angepaßt werden kann, die der EuGH für die Interpretation des ,hauseigenen‘ Gemeinschaftsrechts entwickelt hat.“ 165 Als Beispiele dafür, dass dies auch in der EuGH-Rechtsprechung anerkannt ist, können das Polydor- und das Kupferberg-Urteil angeführt werden. Im PolydorUrteil hatte der EuGH ausgeführt, dass es geboten sein kann, denselben Rechtsbegriff in einem völkerrechtlichen Abkommen anders, nämlich restriktiver, auszulegen als im EGV.166 Das Kupferberg-Urteil enthält die Aussage des EuGH, dass „der völkerrechtliche Ursprung der fraglichen Bestimmungen nicht außer acht gelassen werden darf.“ 167 Insofern gehört die Unterscheidung zwischen genuin unionsrechtlichen Bestimmungen, die stärker unter dem effet utile-Grundsatz ausgelegt werden, und Bestimmungen völkerrechtlicher Abkommen zur ständigen Rechtsprechung des EuGH.168 Ein entsprechendes Bewusstsein hat der EuGH beispielsweise im EWR I-Gutachten hinsichtlich des Abkommens über die Schaffung des Europäischen Wirtschaftsraums gezeigt: „Die wörtliche Übereinstimmung der Bestimmungen mit den entsprechenden gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen bedeutet nicht, daß beide notwendigerweise gleich auszulegen sind. Ein völkerrechtlicher Vertrag ist nämlich nicht nur nach seinem Wortlaut, sondern auch im Lichte seiner Ziele auszulegen. Art. 31 des Übereinkommens über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969 bestimmt insoweit, daß ein Vertrag nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Zieles und Zweckes auszulegen ist.“ 169 Allerdings ist im Schrifttum darauf hingewiesen worden, dass die Rechtsprechung des EuGH bezüglich der Auslegung völkerrechtlicher Verträge in ihrer Gesamtheit betrachtet keiner Gesetzmäßigkeit folgt: Die Inkonsistenz zeige sich bei einem Vergleich zwischen der Auslegungspraxis des EuGH hinsichtlich des GATT ’47 und den WTO-Übereinkünften auf der einen und „EU-nahen“ Abkommen wie den Assoziierungs- und Freihandelsabkommen auf der anderen Seite.170 Letztere lege der EuGH verstärkt unter dem effet utile-Gesichtspunkt171 und damit eher im Einklang mit einem europarechtlichen als mit einem völkerrecht165

Tomuschat, Art. 300 EGV, Rn. 67. EuGH, Urt. v. 9.2.1982 – Rs. 270/80, Slg. 1982, S. 329, Rn. 15–20 – Polydor. 167 EuGH, Urt. v. 26.10.1982 – Rs. 104/81, Slg. 1982, S. 3641, Rn. 17 – Kupferberg. 168 Tomuschat, Art. 300 EGV, Rn. 67. 169 EuGH, Gutachten v. 14.12.1991 – Gutachten 1/91, Slg. 1991-I, S. 6079, Rn. 14 – EWR I. 170 Schmalenbach, Art. 216 AEUV, Rn. 56. 171 Vgl. z. B. zum Freihandelsabkommen EWG/Schweden EuGH, Urt. v. 16.7.1992 – Rs. C-163/90, Slg. 1992-I, S. 4625, Rn. 26 – Legros; zum Freihandelsabkommen EWG/Österreich, EuGH, Urteil v. 1.7.1993 – Rs. C-207/91, Slg. 1993-I, S. 3723, Rn. 25 – Eurim-Pharm; zum Assoziationsratsbeschluss 1/80 EWG/Türkei, EuGH, Ur166

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lichen Auslegungsgrundsatz aus.172 Hier zeige sich, dass der EuGH bei seiner Auslegung auch handels- und integrationspolitische Gesichtspunkte berücksichtige.173 Dieser Einschätzung über die Inkonsistenzen der EuGH-Rechtsprechung ist zuzustimmen. Zwar wird bei der völkerrechtlichen Auslegung völkerrechtlicher Verträge auch der effet utile-Grundsatz berücksichtigt,174 so dass es sich hierbei nicht ausschließlich um einen europarechtlichen Grundsatz handelt. In diesem Zusammenhang bedeutet der Grundsatz, dass eine Auslegung nicht dazu führen darf, einen Vertrag oder einen seiner Teile seiner vollen Wirksamkeit zu berauben, wobei die Anwendung des effet utile-Grundsatzes dem Vertrag auch nicht einen Sinn geben darf, der seinem Wortlaut und Geist widerspricht.175 Allerdings dürfte dem effet utile-Grundsatz im Völkerrecht nicht die überragende Bedeutung und Dynamik zukommen, die er in der Rechtsprechung des EuGH entwickelt hat.176 Bei der Anwendung des vorliegenden Kriteriums – der Auslegung des Völkerrechts nach völkerrechtlichen Maßstäben – auf den Bereich der EU-Rechtsordnung könnte sich zunächst der Eindruck aufdrängen, dass es im konkreten Fall versagt: Durch die Interpretation eines völkerrechtlichen Vertrages nach völkerrechtlichen Regeln nimmt dieser nicht an der Integrationsdynamik des sonstigen Unionsrechts teil. Es könnte sich daher die Frage stellen, ob die völkerrechtsfreundlichere Lösung nicht vielmehr in seiner Auslegung nach unionalen Grundsätzen liegen würde. Dem steht allerdings entgegen, dass es sich bei einem internationalen Abkommen um ein Vertragswerk handelt, an dem die EU „lediglich als eine von zwei oder mehreren Vertragsparteien beteiligt ist und das demzufolge nicht ihrer ausschließlichen Bestimmungsmacht unterliegt.“ 177 Die völkerrechtsfreundliche Lösung kann daher nicht in der unilateralen Interpretation, sondern nur in der – vom EuGH praktizierten – Auslegung nach völkerrechtlichen Maßstäben liegen. Der EuGH verhält sich hier „zu Recht nicht anders als ein internationales Gericht, das in einem Streit zwischen der [Union] und dem jeweiligen Partnerstaat zu entscheiden hätte.“ 178 Ergibt die Anwendung der allgemeinteil v. 23.1.1997 – Rs. C-171/95, Slg. 1997-I, S. 329, Rn. 31 – Tetik; Urteil v. 30.9.1997 – Rs. C-98/96, Slg. 1997-I, S. 5179, Rn. 32 – Ertanir. 172 Schmalenbach, Art. 216 AEUV, Rn. 56. 173 Ebd. 174 Zu den nicht in die WVK aufgenommenen Auslegungsregeln siehe Verdross/ Simma, § 780. 175 Verdross/Simma, § 780. 176 Siehe hierzu Haltern, Rn. 595, demzufolge effet utile – die Effektivität des Unionsrechts – nicht nur ein wichtiges Interpretationsprinzip, sondern auch eins der drei wichtigsten Politikziele des EuGH (neben der Einheitlichkeit des Unionsrechts und dem Individualrechtsschutz) darstellt. 177 Tomuschat, Art. 300 EGV, Rn. 67. 178 Ebd.

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gültigen Interpretationsregeln, dass verschiedene völkerrechtskonforme Verständnismöglichkeiten existieren, dann sollte allerdings – in völkerrechtsfreundlicher Weise – derjenigen der Vorzug gegeben werden, die die Wirksamkeit des Völkerrechts am stärksten begünstigt.179 Als neueres Beispiel für die Auslegung völkerrechtlicher Normen entsprechend völkerrechtlichen Grundsätzen in der Rechtsprechung des EuGH kann das Brita-Urteil180 herangezogen werden. Hier legte der EuGH im Vorabentscheidungsverfahren auf Vorlage des Finanzgerichts Hamburg Art. 83 des Assoziierungsabkommens zwischen der EG und Israel181 zum räumlichen Geltungsbereich dieser Übereinkunft in völkerrechtsfreundlicher Weise aus. Im Kern ging es um die Frage, ob Waren mit Ursprung aus dem Westjordanland (d.h. aus israelischen Siedlungsgebieten) in den räumlichen Geltungsbereich des Abkommens EG-Israel fallen und ensprechend von der hierin geregelten Präferenzbehandlung182 profitieren. Der EuGH verwies auf den „völkerrechtliche[n] Grundsatz der relativen Wirkung von Verträgen, wonach die Verträge Dritten weder schaden noch nützen dürfen (pacta tertiis nec nocent nec prosunt). Dieser völkerrechtliche Grundsatz hat in Art. 34 des Wiener Übereinkommens eine besondere Ausprägung gefunden, wonach ein Vertrag für einen Drittstaat ohne dessen Zustimmung weder Pflichten noch Rechte begründet.“ 183 Art. 83 des Assoziierungsabkommen sei daher so auszulegen, „dass er mit dem Grundsatz pacta tertiis nec nocent nec prosunt im Einklang steht.“ 184 Die EU habe aber mit der Palästinensischen Behörde ebenfalls ein Assoziierungsabkommen abgeschlossen, das nach dessen Art. 73 für das Gebiet des Westjordanlands und des Gaza-Streifens gelte.185 Aus Art. 20 Abs. 1 a, Art. 21 Abs. 1 und Art. 16 Abs. 4 des Protokolls Nr. 3 im Anhang des Assoziierungsabkommens ergebe sich, dass die palästinensischen Zollbehörden im Rahmen ihres räumlichen Geltungsbereichs über die ausschließliche Zuständigkeit zur Ausstellung der erforderlichen Warenverkehrsbescheinigungen verfügten.186 Demnach würde, so die Schlussfolgerung des EuGH „eine Auslegung von Art. 83 des Assoziierungsabkommens EG–Israel in dem Sinne, dass die israeli179

Siehe hierzu 2. Teil D. I. 5. b) bb). EuGH, Urt. v. 25.2.2010, Rs. C-386/08, Slg. 2010-I, S. 1289 – Brita. 181 Art. 83 Assoziierungsabkommen EG-Israel: „Dieses Abkommen gilt für die Gebiete, in denen der Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft und der Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl angewandt werden, und nach Maßgabe jener Verträge einerseits sowie für das Gebiet des Staates Israel andererseits.“ 182 Art. 8 des Assoziierungsabkommens EG-Israel verbietet vorbehaltlich der darin vorgesehenen Ausnahmen Einfuhr- und Ausfuhrzölle. 183 EuGH, Urt. v. 25.2.2010, Rs. C-386/08, Slg. 2010-I, S. 1289, Rn. 44 – Brita. 184 Ebd., Rn. 45. 185 Ebd., Rn. 47. 186 Ebd., Rn. 50 f. 180

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schen Behörden über Zollbefugnisse in Bezug auf Erzeugnisse mit Ursprung im Westjordanland verfügten, bedeuten, dass den palästinensischen Zollbehörden die Verpflichtung auferlegt würde, die Befugnisse, die ihnen durch die genannten Bestimmungen des Protokolls EG–PLO übertragen wurden, nicht auszuüben. Eine solche Auslegung, die zur Verpflichtung eines Dritten ohne seine Zustimmung führt, stünde daher im Gegensatz zu dem in Art. 34 des Wiener Übereinkommens niedergelegten allgemeinen völkerrechtlichen Grundsatz pacta tertiis nec nocent nec prosunt.“ 187 Daher würden Erzeugnisse aus dem Westjordanland nicht in den räumlichen Geltungsbereich des Assoziierungsabkommens zwischen der EG und Israel fallen.188 Im Gegensatz zum Freihandelsabkommen der USA mit Israel, welches auch auf Waren aus dem Westjordanland Anwendung findet, ist der Geltungsbereich des entsprechenden Assoziierungsabkommens der EG damit enger zu verstehen. Indem der EuGH im Brita-Urteil zur Begründung seines Ergebnisses wesentlich auf das Assoziierungsabkommen mit der Palästinensischen Behörde und den in Art. 34 WVK niedergelegten Gedanken der relativen Wirkung von Verträgen abgestellt hat, war er dennoch zurückhaltender als der Generalanwalt Bot. Dieser äußerte sich, der Gerichthofkäme seiner Ansicht nach „nicht umhin, festzustellen, dass die Gebiete Westjordanland und Gazastreifen kein Teil des Gebiets des Staats Israel sind.“ 189 Zur Begründung verwies Bot auf den am 29.11.1947 von der UN-Generalversammlung angenommenen Teilungsplan für Palästina, die Präambel des Assoziationsabkommens mit Israel („in Anbetracht der Bedeutung, welche die Vertragsparteien [. . .] den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen und insbesondere der Achtung der Menschenrechte und der Demokratie beimessen, welche die eigentliche Grundlage der Assoziation bilden“) und die Sicherheitsratsresolutionen 242190 und 338191, in denen ein Rückzug der israelischen Truppen aus den besetzten Gebieten gefordert wurde.192 Der vom EuGH gewählte andere Argumentationsstrang wirft – in Anbetracht des Umstandes, dass die EU kein Assoziierungsabkommen mit Syrien abgeschlossen hat – die Frage auf, wie die Argumentation des Gerichtshofes zur Präferenzbehandlung für Waren aus den Golanhöhen ausfallen würde.193 In der Praxis gewährt die EU Waren aus den Golanhöhen ebenfalls keine Präferenzbehandlung.194 Die Euro187

Ebd., Rn. 52. Ebd., Rn. 53. 189 Generalanwalt Bot, Schlussanträge vom 29.10.2009, Rs. C-386/08, Slg. 2010-I, S. 1289, Rn. 112 – Brita. 190 S/RES/242 (1967). 191 S/RES/338 (1973). 192 Generalanwalt Bot, Schlussanträge vom 29.10.2009, Rs. C-386/08, Slg. 2010-I, S. 1289, Rn. 109–111 – Brita. 193 Kontorovich, S. 598, Fn. 51. 194 Ebd. 188

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päische Kommission hat im November 2015 zur Kennzeichnungspflicht von Produkten aus israelischen Siedlungen (auch der Golanhöhen) eine interpretative notice unter ausdrücklichem Verweis auf die völkerrechtliche Rechtslage veröffentlicht.195 3. Befolgung der Rechtsprechung internationaler (Schieds-)Gerichte Hinsichtlich der Berücksichtigung internationaler Gerichtsentscheidungen hat sich der EuGH im Rahmen eines Gutachtenverfahrens völkerrechtsfreundlich wie folgt geäußert: „Sieht aber ein internationales Abkommen ein eigenes Gerichtssystem mit einem Gerichtshof vor, der für die Regelung von Streitigkeiten zwischen den Vertragsparteien dieses Abkommens und damit für die Auslegung seiner Bestimmungen zuständig ist, so sind die Entscheidungen dieses Gerichtshofes für die Organe der Gemeinschaft, einschließlich des Gerichtshofes, verbindlich.196 Zu der – weniger die Völkerrechtsfreundlichkeit als vielmehr den aktiven Aspekt der internationalen Offenheit betreffenden – Frage nach der grundsätzlichen Zulässigkeit eines Abschlusses internationaler Abkommen mit eigenem Gerichtssystem führte er in seinem EWR I-Gutachten aus: „Ein internationales Abkommen, das ein solches Gerichtssystem vorsieht, ist grundsätzlich mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar. Die Zuständigkeit der Gemeinschaft im Bereich der internationalen Beziehungen und ihre Fähigkeit zum Abschluß internationaler Abkommen umfaßt nämlich notwendig die Fähigkeit, sich den Entscheidungen eines durch solche Abkommen geschaffenen oder bestimmten Gerichts zu unterwerfen, was die Auslegung und Anwendung ihrer Bestimmungen angeht.“ 197 Beide Aussagen sprechen für die internationale Offenheit der Unionsrechtsordnung, da der EuGH sowohl die innerunionsrechtliche Verbindlichkeit internationaler Gerichtsentscheidungen (rezeptiver Aspekt) als auch die grundsätzliche Vereinbarkeit von völkerrechtlichen, ein eigenständiges Gerichtssystem vorsehenden Abkommen mit dem Unionsrecht anerkennt. Je nachdem, ob sich diese Vereinbarkeit im Einzelfall auf eine bereits bestehende oder eine noch einzugehende Bindung der Union bezieht, betrifft letzteres den rezeptiven bzw. aktiven Aspekt ihrer internationalen Offenheit. Allerdings stellt der EuGH fest, dass im konkreten Fall etwas anderes gelte und dass „der in dem Abkommen vorgesehene gerichtliche Mechanismus da195 C(2015) 7834 final, Rn. 1: „The aim is also to ensure the respect of Union positions and commitments in conformity with international law on the non-recognition by the Union of Israel’s sovereignty over the territories occupied by Israel since June 1967.“ 196 EuGH, Gutachten v. 14.12.1991 – Gutachten 1/91, Slg. 1991-I, S. 6079, Rn. 39 – EWR I. 197 Ebd., Rn. 40.

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durch, dass er Festlegungen für die zukünftige Auslegung der Gemeinschaftsregeln auf dem Gebiet des freien Verkehrs und des Wettbewerbs trifft, Artikel 164 EWG-Vertrag und allgemeiner die Grundlagen der Gemeinschaft selbst beeinträchtigt.“ 198 Für die Völkerrechtsfreundlichkeit der Unionsrechtsordnung hat dies allerdings keine Auswirkungen, traf der EuGH doch diese Aussagen in einem Gutachtenverfahren, mit dem Unvereinbarkeiten zwischen Unionsrecht und völkerrechtlichen Verträgen der Union gerade im Vorfeld vermieden werden sollen. Das Resultat der EuGH-Entscheidung war daher nicht eine etwaige, unter dem Gesichtspunkt der Völkerrechtsfreundlichkeit problematische Nichtberücksichtigung internationaler Gerichtsentscheidungen. Die richterliche Feststellung der Unvereinbarkeit des EWR-Streitbeilegungsverfahrens hatte vielmehr lediglich die damals noch in Art. 228 Abs. 1 Unterabs. 2 EWG-Vertrag beschriebene Wirkung (Inkrafttreten des völkerrechtlichen Abkommens nur zulässig nach Maßgabe des Artikels 236, der die Änderung des EWG-Vertrages betrifft). Da der EuGH in seinem Gutachten von der Unzulässigkeit einer entsprechenden Änderung des EWG-Vertrages ausging,199 musste zwar der EWR-Vertrag geändert werden. Das endgültige Streitbeilegungsverfahren des EWR-Vertrages – Errichtung eines EFTA-Gerichtshofs – hat der EuGH aber für vereinbar mit dem EWG-Vertrag gehalten200 und erneut ausgeführt, dass einem Gerichtshof grundsätzlich die Kompetenz zur Interpretation der Vorschriften eines völkerrechtlichen Gemeinschaftsabkommens zugewiesen werden darf.201 Diese Haltung des EuGH internationaler Rechtsprechung gegenüber – sofern die dem EuGH in den Gründungsverträgen zugewiesene Funktion weiterhin gewahrt bleibt202 – spricht für die Völkerrechtsfreundlichkeit der Unionsrechtsordnung.203 Gleichzeitig zeigt dieses Beispiel aber auch die Notwendigkeit der Existenz der übrigen Elemente der internationalen Offenheit. Während die Rechtsprechung des EuGH zur Zulässigkeit des ursprünglichen EWR-Streitbeilegungssystems nach dem hier vertretenen Verständnis als völkerrechtsfreundlich oder jedenfalls als neutral gewertet werden kann, ist sie dennoch nicht von einer großen internationalen Offenheit geprägt, da sie die Eingehung weiterer völkerrechtlicher Verpflichtungen erschwert und damit unter dem Gesichtspunkt des aktiven 198

Ebd., Rn. 46. Ebd., Rn. 69–71. 200 EuGH, Gutachten v. 10.4.2002 – Gutachten 1/92, SZIER 1992, S. 250 – EWR II. 201 Ebd., Rn. 33. 202 Ebd., Rn. 32: „Les compétences conférées par le traité à la Cour ne peuvent être modifiées que dans le cadre de la procédure visée à son Art. 236. Toutefois, un accord international conclu par la Communauté peut lui attribuer de nouvelles compétences à condition que cette attribution ne dénature pas la fonction de la Cour telle qu’elle est conçue dans le traité CEE.“ 203 Vgl. Eeckhout, External Relations, S. 367: „These statements show that the Court is in principle receptive towards international judicial decisions.“ 199

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Aspektes der internationalen Offenheit problematisch ist. Allerdings erscheinen die vom EuGH im EWR I-Urteil geäußerten Bedenken hinsichtlich der Homogenität204 sowie der Gefährdung der Autonomie der Gemeinschaftsrechtsordnung durch den EWR-Gerichtshof205 zwar nicht zwingend, aber auch nicht unverständlich.206 Aufgrund des EMRK-Gutachtens des EuGH vom 18.12.2014207 ist ein – den aktiven Aspekt der internationalen Offenheit betreffender – EMRK-Beitritt der Union in weite Ferne gerückt.208 Auf die Frage, wie der EuGH nach einem solchen Beitritt mit der Rechtsprechung des EGMR umgehen würde, war zunächst unter Verweis auf die diesbezügliche neuere Rechtsprechung209 seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon die Vermutung geäußert worden, dass der „EuGH wahrscheinlich die größere Expertise und Erfahrung des Straßburger Gerichtshofs anerkennen und, soweit einschlägige Rechtsprechung vorhanden ist, dieser folgen“ werde.210 Das jüngste Gutachten stellt dies zumindest in Frage. Allerdings zeigen die umfangreichen Bezugnahmen auf die Rechtsprechung des EGMR auch,211 dass sich der EuGH bereits jetzt an dieser Judikatur orientiert,212 was grundsätzlich als völkerrechtsfreundlich zu werten ist. Nicht besonders völkerrechtsfreundlich ist hingegen, dass der EuGH die innerunionsrechtliche Verbindlichkeit der im Rahmen des WTO-Streitbeilegungsverfahrens getroffenen Entscheidungen des Dispute Settlement Body (DSB) ablehnt: „Ebenso wenig wie die materiellen Regeln der WTO-Übereinkünfte kann eine Empfehlung oder eine Entscheidung des DSB, mit der die Nichtbeachtung dieser Regeln festgestellt wird, für den Einzelnen ein Recht begründen, sich vor dem Gemeinschaftsrichter zur Prüfung der Rechtmäßigkeit des Verhaltens der Gemeinschaftsorgane darauf zu berufen, welche genaue rechtliche Bedeutung einer solchen Empfehlung oder Entscheidung auch immer zukommen mag.“ 213 Der

204 EuGH, Gutachten v. 14.12.1991 – Gutachten 1/91, Slg. 1991-I, S. 6079, Rn. 22– 29 – EWR I. 205 Ebd., Rn. 30–46. 206 Vgl. Epiney, Stellenwert, S. 104–109. 207 EuGH, Gutachten v. 18.12.2014 – Gutachten 2/13 – EMRK II. 208 Siehe hierzu auch 3. Teil B. II. 3. 209 EuGH, Urt. v. 9.11.2010 – verb. Rs. C-92/09 und C-93/09, EuZW 2010, S. 939 – Volker und Markus Schecke GbR u. a./Land Hessen. 210 Streinz, Art. 6 EUV, Rn. 22. 211 Vgl. EuGH, Urt. v. 9.11.2010 – verb. Rs. C-92/09 und C-93/09, EuZW 2010, S. 939, Rn. 52, 59, 72, 87 – Volker und Markus Schecke GbR u. a./Land Hessen. 212 Vgl. auch Hatje, Rn. 14: „In der bisherigen Entscheidungspraxis hat sich der Gerichtshof ohnehin häufig auf die EMRK bezogen und damit implizit ihre Auslegung durch den EGMR zum Maßstab gemacht.“ 213 EuGH, Urt. v. 9.9.2008 – Verb. Rs. C-120/06 P und C-121/06 P, Slg. 2008-I, S. 6513, Rn. 129 – FIAMM u. a.

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EuGH verweist auf den seiner Ansicht nach bestehenden „Wertungs- und Verhandlungsspielraum“ der Gemeinschaftsorgane gegenüber ihren Handelspartnern im Hinblick auf den Erlass von Maßnahmen, mit denen der DSB-Entscheidung nachgekommen werden solle, der bewahrt werden müsse.214 Dem ist von Generalanwalt Tizzano entgegengehalten worden, dass sich auch alternative Verhandlungslösungen im Rahmen der WTO-Vorschriften und damit der DSB-Entscheidung halten müssen und dass die DSB-Entscheidung insofern in jedem Fall eigene Wirkung entfalte.215 Es sei allerdings denkbar, diese Lösung unter Berufung auf das Prinzip der „Gegenseitigkeit zum beiderseitigen Nutzen“ zu kritisieren, da eine Partei (im vorliegenden Fall die Gemeinschaft) den WTORegeln letztlich eine Wirksamkeit zuerkennen würde, die ihnen in den Rechtsordnungen der Handelspartner möglicherweise nicht beigemessen werde, wodurch die eigene Verhandlungsposition im Rahmen der WTO geschwächt werde.216 Die Verhandlungsposition der Gemeinschaft, so Tizzano, werde hierdurch aber in Wirklichkeit nicht geschwächt, weil die Gemeinschaft bei WTO-Verletzungen durch andere Mitgliedstaaten ein Streitbeilegungsverfahren betreiben und auf der Umsetzung des DSB-Spruchs bestehen könne.217 Auch seien etwaige Missverhältnisse, die sich aus der Beachtung der DSB-Entscheidung ergeben könnten, wenn die Gegenpartei sich nicht in derselben Weise verhalte, durch die Entschädigungsmaßnahmen und Retorsionen überwindbar, die im Völkerrecht und vor allem in den WTO-Regeln vorgesehen seien.218 Der Handlungsspielraum der Gemeinschaftsorgane bei den Modalitäten der Umsetzung einer DSB-Entscheidung werde hierdurch auch nicht eingeschränkt, weil die Modalitäten dem Ermessen der Organe überlassen blieben, sofern sie auf Maßnahmen gerichtet seien, die den WTO-Verpflichtungen entsprächen.219 Eine möglicherweise zu beeinträchtigende Handlungsposition bestünde nur, wenn man davon ausginge, dass sich die Streitparteien über den Fortbestand WTO-rechtswidriger Regelungen einigen könnten, was aber nicht der Fall sei.220 Tizzano spricht sich folglich dagegen aus, „dass die DSB-Entscheidungen in einer ,Rechtsgemeinschaft‘ keinen Maßstab für die Rechtmäßigkeit der Gemeinschaftsvorschriften bilden [. . .].“ 221 Dass dies nach der EuGH-Rechtsprechung nicht der Fall ist, ist in Anbetracht des Gegen-

214

Ebd., Rn. 130. Generalanwalt Tizzano, Schlussanträge vom 18.11.2004 – Rs. C-377/02, Slg. 2005-I, S. 1468, Rn. 57. 216 Ebd., Rn. 66. 217 Ebd., Rn. 68. 218 Ebd. 219 Ebd., Rn. 69. 220 Ebd., Rn. 70. 221 Ebd., Rn. 73. 215

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3. Teil: Int. Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit des Unionsrechts

seitigkeitsproblems zwar politisch nachvollziehbar, dennoch als ein eher weniger völkerrechtsfreundlicher Bestandteil der Unionsrechtsordnung zu werten.222 4. Unmittelbare Anwendung völkerrechtlicher Normen Voraussetzung für die innerunionsrechtliche unmittelbare Anwendung völkerrechtlicher Normen ist ihre innerunionsrechtliche Geltung. Diese kann unproblematisch bejaht werden: Nach der Konzeption des Art. 216 Abs. 2 AEUV und ständiger Rechtsprechung des EuGH handelt es sich bei den völkerrechtlichen Verträgen der Union um einen „integrierenden Bestandteil“ 223 des Unionsrechts. Dasselbe gilt für das Völkergewohnheitsrecht.224 Damit ist die innerunionsrechtliche Geltung als Vorbedingung für die unmittelbare Anwendbarkeit von völkerrechtlichen Verträgen gegeben. a) Unmittelbare Anwendung im Allgemeinen Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH sind völkerrechtliche Verträge unter folgenden Voraussetzungen der unmittelbaren Anwendung fähig: „Eine Bestimmung eines von der EG mit Drittländern geschlossenen Abkommens ist als unmittelbar anwendbar anzusehen, wenn sie unter Berücksichtigung ihres Wortlautes und im Hinblick auf den Sinn und Zweck des Abkommens eine klare und eindeutige Verpflichtung enthält, deren Erfüllung oder deren Wirksamkeit nicht vom Erlass eines weiteren Aktes abhängt.“ 225 Im Hinblick auf die praktische Handhabung der unmittelbaren Anwendbarkeit völkerrechtlicher Normen durch den EuGH muss differenziert werden. Während der EuGH eine Anwendung des GATT/WTO-Rechts nur unter sehr engen, im Folgenden darzustellenden Voraussetzungen zulässt, ist seine Rechtsprechung bei anderen völkerrechtlichen Normen von einer stärkeren Offenheit geprägt. So wurde beispielsweise in der Pabst-Entscheidung die unmittelbare Anwendbarkeit von Art. 53 des Assoziierungsabkommens der EWG mit Griechenland226 und in dem bereits erwähnten Kupferberg-Urteil die unmittelbare Anwendbarkeit von Art. 21 des Freihandelsabkommens EWG-Portugal bejaht.227 In der Literatur ist 222

Siehe hierzu auch die Überlegungen 3. Teil C. I. 8. a). EuGH, Urt. v. 30.4.1974 – Rs. 181/73, Slg. 1974, S. 449 (460) – Haegeman; Urt. v. 15.6.1999 – Rs. C-321/97, Slg. 1999-I, S. 3551, Rn. 26 – Andersson. Der Begriff „integrierend“ beruht auf einer unglücklichen Übersetzung, mittlerweile wird treffender von einem „integralen Bestandteil“ gesprochen, Müller-Ibold, Rn. 5. 224 EuGH, Urt. v. 16.6.1998 – Rs. C-162/96, Slg. 1998-I, S. 3655, Rn. 46 – Racke. 225 EuGH, Urt. v. 30.9.1987 – Rs. 12/86, Slg. 1987, S. 3719, Rn. 14 – Demirel; Urt. v. 12.4.2005 – Rs. C-265/03, Slg. 2005-I, S. 2579, Rn. 21 – Simutenkov. 226 EuGH, Urt. v. 29.4.1982 – Rs. 17/81, Slg. 1982, S. 1331, Rn. 27 – Pabst. 227 EuGH, Urt. v. 26.10.1982 – Rs. 104/81, Slg. 1982, S. 3641, Rn. 26 f. – Kupferberg. 223

C. Völkerrechtsfreundlichkeit der Unionsrechtsordnung

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daher darauf hingewiesen worden, dass bei isolierter Betrachtung des GATT/ WTO-Rechts der unzutreffende Eindruck entstehe, dass der EuGH grundsätzlich die unmittelbare Anwendbarkeit völkerrechtlicher Normen verneine.228 Auch wenn der EuGH bei anderen völkerrechtlichen Abkommen somit grundsätzlich großzügiger die unmittelbare Anwendbarkeit bejaht,229 lassen sich in diesem Bereich Gegenbeispiele finden. So hat sich der EuGH zur unmittelbaren Anwendbarkeit des Kyoto-Protokolls230 wie folgt geäußert: „Insbesondere sieht Art. 2 Abs. 2 des Kyoto-Protokolls, auf den das vorlegende Gericht verweist, vor, dass die Vertragsparteien ihre Bemühungen um eine Begrenzung oder Reduktion der Emissionen von bestimmten Treibhausgasen aus dem Luftverkehr im Rahmen der ICAO fortsetzen. Bei dieser Bestimmung des Kyoto-Protokolls kann somit jedenfalls nicht angenommen werden, dass sie inhaltlich unbedingt und hinreichend genau wäre und somit für den Bürger das Recht begründete, sich vor Gericht auf sie zu berufen, um die Gültigkeit der Richtlinie 2008/101 in Frage zu stellen. Im Rahmen des vorliegenden Vorabentscheidungsverfahrens kann die Gültigkeit der Richtlinie 2008/101 daher nicht am Kyoto-Protokoll gemessen werden.“ 231 Da Art. 2 Abs. 2 des Kyoto-Protokolls tatsächlich auf einen „beträchtlichen Ermessens- und Entscheidungsspielraum“ 232 der Staaten hinweist, kann dieser EuGH-Äußerung aber keine völkerrechtsskeptische Haltung entnommen werden. Anders verhält es sich mit der EuGH Rechtsprechung im Intertanko-Fall. Hier hatte der EuGH hinsichtlich des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen – einem Übereinkommen, das oft als Verfassung des Seerechts bezeichnet wird233 – entschieden, dass dieses „keine Vorschriften enthält, die dazu bestimmt sind, direkt und unmittelbar auf Einzelne Anwendung zu finden und diesen Rechte und Freiheiten zu verleihen, die den Staaten gegenüber unabhängig von der Haltung des Flaggenstaates des Schiffes geltend gemacht werden können.“ 234 Generalanwältin Kokott vertrat hingegen in ihren Schlussanträgen die Ansicht, das Seerechtsübereinkommen sei „Maßstab für die Rechtmäßigkeit von

228

Hilpold, GATT/WTO, S. 303. Siehe die Beispiele bei Khan, Rn. 25, sowie Eeckhout, External Relations, S. 350–352. 230 BGBl. 2002 II, S. 967. 231 EuGH, Urt. 21.12.2011 – Rs. 366/10, NVwZ 2012, S. 266, Rn. 76–78 – Air Transport Association of America. 232 BGE 124 IV 23, Rn. 26. 233 Eeckhout, External Relations, S. 353. Generalanwältin Kokott sprach in diesem Verfahren von der „Verfassung der Meere“, siehe Schlussanträge vom 20.11.2007 – Rs. C-308/06, Slg. 2008-I, S. 4100, Rn. 55 – Intertanko. 234 EuGH, Urt. v. 3.6.2008 – Rs. C-308/06, Slg. 2008-I, S. 4100, Rn. 64 – Intertanko. 229

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3. Teil: Int. Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit des Unionsrechts

Handlungen der Gemeinschaftsorgane.“ 235 In ihrer Argumentation verwies sie u. a. auf den vierten Erwägungsgrund des Übereinkommens, eine „objektive ,Rechtsordnung für die Meere und Ozeane zu schaffen, die den internationalen Verkehr erleichtern sowie die Nutzung der Meere und Ozeane zu friedlichen Zwecken, die ausgewogene und wirkungsvolle Nutzung ihrer Ressourcen, (. . .) fördern wird‘.“ 236 Diese divergierende Sichtweise der Generalanwältin spricht dafür, dass es im Intertanko-Fall gut vertretbar gewesen wäre, in völkerrechtsfreundlicher Weise die unmittelbare Anwendbarkeit zu bejahen. Die gegenteilige Entscheidung des EuGH, die zudem eine Abweichung von seiner bisherigen Rechtsprechung zum Seerechtsübereinkommen darstellt (in der er allerdings nicht die Art und Struktur des Seerechtsübereinkommens untersucht hatte),237 ist in der Literatur damit erklärt worden, dass es dem Gerichtshof darum ging, die hohen Anforderungen des Art. 263 Abs. 4 AEUV zur Individualnichtigkeitsklage aufrechtzuerhalten. 238 Unter dem Aspekt der Völkerrechtsfreundlichkeit wäre es demnach wünschenswert, wenn der EuGH in manchen Fällen noch weitreichender die unmittelbare Anwendbarkeit völkerrechtlicher Normen bejahen würde.239 b) Unmittelbare Anwendbarkeit des GATT/WTO-Rechts Die wesentliche Aussage zu der – bereits ausführlich untersuchten240 – Frage nach der unmittelbaren Anwendbarkeit des GATT/WTO-Rechtes findet sich in der International Fruit-Entscheidung des EuGH aus dem Jahre 1972. Der EuGH führte insoweit zunächst aus, dass „die Unvereinbarkeit einer Gemeinschaftshandlung mit einer Bestimmung der Völkerrechts die Gültigkeit dieser Handlung 235

Generalanwältin Kokott, Schlussanträge vom 20.11.2007 – Rs. C-308/06, Slg. 2008-I, S. 4100, Rn. 59 – Intertanko. 236 Generalanwältin Kokott, Schlussanträge vom 20.11.2007 – Rs. C-308/06, Slg. 2008-I, S. 4100, Rn. 55 – Intertanko (Hervorhebung im Original). 237 Ebd., Rn. 50–52 – Intertanko. Generalanwältin Kokott verwies u. a. auf den Fall Poulsen und Diva Navigation (EuGH, Urt. v. 24.11.1992 – Rs. C-286/89, Slg. 1992-I, S. 6048, Rn. 13 f.), wo sich der EuGH zum Seerechtsübereinkommen wie folgt äußerte: „Völkerrechtlich hat ein Schiff grundsätzlich nur eine Staatszugehörigkeit, nämlich die des Staates seiner Registrierung (vgl. insbesondere die Artikel 5 und 6 des Genfer Übereinkommens vom 29. April 1958 über die Hohe See sowie die Artikel 91 und 92 der UN-Seerechtskonvention). Aus diesem Grundsatz ergibt sich, daß ein Mitgliedstaat ein Schiff, das bereits in einem Drittstaat registriert ist und daher die Staatszugehörigkeit dieses Staates aufweist, nicht als ein unter seiner Flagge fahrendes Schiff behandeln kann.“ 238 Proelß, Erika III, S. 139 f. 239 Vgl. Eeckhout, External Relations, S. 383: „The Court’s case law continues to show openness towards international law, but less so than before.“ 240 Siehe nur Hilpold, GATT/WTO; Flemisch, Umfang der Berechtigungen und Verpflichtungen aus völkerrechtlichen Verträgen; Ott, GATT und WTO im Gemeinschaftsrecht.

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nur dann beeinträchtigen [kann], wenn die Gemeinschaft an diese Bestimmungen gebunden ist.“ 241 Solle die Ungültigkeit vor einem nationalen Gericht geltend gemacht werden, sei außerdem erforderlich, dass die völkerrechtliche Bestimmung ein Recht der Gemeinschaftsangehörigen begründe, sich auf sie zu berufen.242 Die erste Voraussetzung – Bindung der Gemeinschaft an die GATT 1947-Verpflichtungen – hat der EuGH völkerrechtsfreundlich bejaht: „Die Gemeinschaft hat [. . .] die mit der Zoll- und Handelspolitik verbundenen Aufgaben übernommen. Bei der Übertragung dieser Befugnisse auf die Gemeinschaft haben die Mitgliedstaaten ihren Willen erkennen lassen, die Gemeinschaft an die aufgrund des GATT eingegangenen Verpflichtungen zu binden. [. . .] Soweit also die Gemeinschaft aufgrund des EWG-Vertrags früher von den Mitgliedstaaten im Anwendungsbereich des GATT ausgeübte Befugnisse übernommen hat, ist sie an die Bestimmungen dieses Abkommens gebunden.“ 243 Anschließend hat der EuGH aber der dem Streit zugrunde liegenden GATT-Bestimmung (Art. XI) unter Hinweis auf die „große Geschmeidigkeit“ 244 der Bestimmungen des GATTRechts die unmittelbare Anwendbarkeit abgesprochen.245 Diese Rechtsprechung wurde in späteren Entscheidungen bestätigt, die darauf hindeuten, dass eine Prüfung der einzelnen, dem Rechtsstreit zugrunde liegenden Bestimmungen sich erübrige, da das Abkommen insgesamt nicht unmittelbar anwendbar sei.246 In der Folgezeit hat der EuGH zwei Ausnahmen von seiner sonstigen Rechtsprechung anerkannt, bei denen GATT-Bestimmungen doch unmittelbar anwendbar sind. Unmittelbar anwendbar ist demnach das GATT-Recht, wenn die angefochtene Bestimmung des Sekundärrechts selbst unmittelbar auf das GATT-Recht Bezug nimmt (Fediol)247 oder wenn die angefochtene unionsrechtliche Regelung dazu bestimmt ist, eine GATT-rechtliche Verpflichtung umzusetzen (Nakajima).248 Allerdings ist auch die Fediol-Rechtsprechung nicht besonders völkerrechtsfreundlich, da die unmittelbare Anwendbarkeit nicht aus dem GATT an sich resultiert, sondern aus der auf das Völkerrecht verweisenden Verordnung, so dass es sich lediglich um eine Art „mittelbarer“ Anwendung des GATT handelt,249 bei der der Sekundärgesetzgeber die Anwendung des GATT eigens „frei241 EuGH, Urt. v. 12.12.1972 – Rs. 21–24/72, Slg. 1972, S. 1219, Rn. 7/9 – International Fruit. 242 Ebd. 243 Ebd., Rn. 14/18. 244 Ebd., Rn. 21. 245 Ebd., Rn. 27. 246 Hilpold, GATT/WTO, S. 295. 247 EuGH, Urt. v. 22.6.1989 – Rs. 70/87, Slg. 1989, 1781, Rn. 19 – Fediol. 248 EuGH, Urt. v. 7.5.1991 – Rs. C-69/89, Slg. 1991-I, S. 2069, Rn. 30–32 – Nakajima. 249 Flemisch, S. 138 f.

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geben“ muss. Dies ist als „partielle Transformation ,à la carte‘ durch Unionsorgane“ beschrieben worden, die die Gefahr einer mit Art. 216 Abs. 2 AEUV nicht zu vereinbarenden Diskrepanz zwischen völkerrechtlichen und unionsrechtlichen Verpflichtungen in sich birgt.250 An dieser Rechtsprechung hielt der EuGH auch nach dem Inkrafttreten des WTO-Übereinkommens am 1. Januar 1995 fest.251 Da die institutionelle Basis der WTO stärker ausgeprägt ist als beim GATT 1947 und das Streitbeilegungsverfahren gerichtsähnliche Züge aufweist, hatte sich zuvor erneut die Frage nach der unmittelbaren Anwendbarkeit des WTO-Rechts gestellt.252 Die institutionellen Veränderungen und die stärkere Verrechtlichung im Vergleich zum GATT 1947 hat der EuGH in seiner Rechtsprechung auch anerkannt, ohne hieraus aber Folgerungen für die unmittelbare Anwendbarkeit des WTO-Rechts zu ziehen: „Zwar unterscheiden sich die WTO-Übereinkünfte [. . .] insbesondere aufgrund der Stärkung der Schutzregelung und des Streitbeilegungsmechanismus erheblich vom GATT 1947. Gleichwohl räumt das mit diesen Übereinkünften geschaffene System der Verhandlung zwischen den Mitgliedern einen hohen Stellenwert ein.“ 253 Nach Ansicht des EuGH beruhen die WTO-Übereinkünfte ebenso wie das GATT 1947 auf dem Prinzip von Verhandlungen „auf der Grundlage der Gegenseitigkeit und zum gemeinsamen Nutzen“ und unterscheiden sich daher von Abkommen mit Drittländern, die asymmetrische Verpflichtungen oder besondere Integrationsbeziehungen mit der Gemeinschaft begründen.254 Außerdem könne der Mangel an Gegenseitigkeit, der sich daraus ergebe, dass einige der wichtigsten Handelspartner der Gemeinschaft den WTO-Übereinkünften keine unmittelbare Anwendbarkeit zubilligen, zu einem Ungleichgewicht führen.255 Eine Anerkennung der unmittelbaren Anwendbarkeit durch den Gerichtshof hätte zur Konsequenz, dass „den Legislativ- und Exekutivorganen der Gemeinschaft der Spielraum genommen [würde], über den die entsprechenden Organe der Handelspartner der Gemeinschaft verfügen.“ 256 Allerdings stellt der Verweis auf den Spielraum der Legislativ- und Exekutivorgane eher ein politisches als ein rechtliches Argument dar.257 Auch bleibt festzuhalten, dass hinsichtlich der Frage nach der unmittelbaren Anwendbarkeit der 250

Schmalenbach, Art. 216 AEUV, Rn. 32. Siehe beispielsweise EuGH, Urt. v. 23.11.1999 – Rs. C-149/96, Slg. 1999-I, S. 8425 – Portugal/Rat. 252 Eeckhout, External Relations, S. 345. 253 EuGH, Urt. v. 23.11.1999 – Rs. C-149/96, Slg. 1999-I, S. 8425, Rn. 36 – Portugal/Rat. 254 Ebd., Rn. 42. 255 Ebd., Rn. 42–45. 256 Ebd., Rn. 46. 257 Vgl. Generalanwalt Tizzano, Schlussanträge vom 18.11.2004 – Rs. C-377/02, Slg. 2005-I, S. 1468, Rn. 67. 251

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WTO-Übereinkünfte unter den Vertragsparteien kein Konsens herrschen dürfte. So heißt es in der amtlichen Begründung des deutschen Gesetzes zum WTO-Abkommen, dass ein Teil der Vertragsbestimmungen „innerstaatlich unmittelbar anwendbar ist“.258 Da das WTO-Abkommen zu einem höheren Maß an rechtlicher Disziplin führen dürfte als viele andere völkerrechtliche Abkommen, einschließlich solcher, die der EuGH für unmittelbar anwendbar hält,259 handelt es sich vorliegend um eine zwar politisch nachvollziehbare, aber keine völkerrechtsfreundliche Rechtsprechung.260 5. Zuweisung eines hohen Ranges a) Völkerrechtliche Verträge Die Gründungsverträge enthalten zwar keine ausdrückliche Aussage über den Rang völkerrechtlicher Verträge in der Unionsrechtsordnung, allerdings lässt sich dieser Rang aus Art. 216 Abs. 2 und Art. 218 Abs. 11 AEUV ableiten: Aus dem in Art. 218 Abs. 11 Satz 2 AEUV geregelten Änderungserfordernis bei Unvereinbarkeit einer Übereinkunft mit den Verträgen folgt, dass die völkerrechtlichen Verträge unter dem Primärrecht stehen. Im Ergebnis besteht demnach ein Geltungsvorrang der Gründungsverträge. Wenn die Gründungsverträge den völkerrechtlichen Verträgen vorgehen, dann muss dies auch für das restliche Unionsrecht gelten, das auf derselben Stufe wie die Gründungsverträge steht, d. h. für das sonstige Primärrecht. Im Ergebnis folgt hieraus, dass das gesamte Primärrecht den völkerrechtlichen Abkommen vorgeht. Von einem solchen Vorrang des Unionsrechts vor völkerrechtlichen Verträgen geht der EuGH auch aus.261 Daher erlangt das Primärrecht (beispielsweise die europäischen Grundrechte) Bedeutung bei der gerichtlichen Überprüfung von Maßnahmen der Union, die der Umsetzung von Völkerrecht dienen.262 Der Vorrang völkerrechtlicher Verträge vor dem Sekundärrecht ergibt sich aus der in Art. 216 Abs. 2 AEUV statuierten Bindung der Organe der Union an die völkerrechtlichen Verträge. Diese umfassend zu verstehende Bindung der Organe an die völkerrechtlichen Abkommen bedeutet, dass sie unionsrechtlich daran gehindert sind, Sekundärrecht zu erlassen, das im Widerspruch zu den völkerrecht258

BT-Drs. 12/7655 (1994), S. 7. Eeckhout, External Relations, S. 345. 260 Vgl. Schmalenbach, Art. 216 AEUV, Rn. 40: „Zielscheibe der Kritik ist der vom EuGH verweigerte individuelle Rechtsschutz, der viele Autoren, aber auch deutsche Gerichte, zu Recht an der Rechtsstaatlichkeit und dem effektiven Grundrechtsschutz in der Union zweifeln läßt.“ 261 So implizit EuGH, Gutachten v. 28.3.1996 – Gutachten 2/94, Slg. 1996-I, S. 1759, Rn. 4 – EMRK I; EuGH, Gutachten v. 13.12.1995 – Gutachten 3/94, Slg. 1995I, S. 4577, Rn. 17 – GATT-WTO-Rahmenabkommen über Bananen. 262 Frenz, Rechtsschutz, Rn. 46. 259

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3. Teil: Int. Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit des Unionsrechts

lichen Verpflichtungen der Union steht. Wenn aber die Unionsorgane bei dem Gesetzgebungsverfahren an die völkerrechtlichen Verträge der Union gebunden sind, dann muss daraus folgen, dass diese Verträge über dem Sekundärrecht stehen.263 Im Ergebnis nehmen die völkerrechtlichen Verträge der Union damit einen Zwischenrang (Mezzanin-Rang)264 ein, indem sie unter dem Primärrecht, aber über dem Sekundärrecht stehen.265 b) Völkergewohnheitsrecht Trotz der tendenziell abnehmenden Bedeutung von Völkergewohnheitsrecht ist dieses weiterhin eine wichtige Völkerrechtsquelle.266 Daher muss auch der Einfluss des Völkergewohnheitsrechts innerhalb der Unionsrechtsordnung untersucht werden. Vor der Beantwortung der Rangfrage ist jedoch zu klären, inwieweit die Union an das Völkergewohnheitsrecht gebunden ist. Aus völkerrechtlicher Sicht bestehen keine Zweifel an der grundsätzlichen Bindung der Union an das Völkergewohnheitsrecht: Als Völkerrechtssubjekt (Art. 47 EUV) ist die Union in ihren Außenbeziehungen dem allgemeinen Völkerrecht unterworfen, sofern die völkerrechtlichen Normen nicht staatliche Adressaten oder Strukturen voraussetzen.267 Damit besteht aus völkerrechtlicher Sicht ein Unterschied zu den Altverträgen der Mitgliedstaaten: Anders als bei den Altverträgen der Mitgliedstaaten, bei denen die Union nicht Vertragspartei ist, ist die Union an das bestehende Völkergewohnheitsrecht allein aufgrund ihrer Eigenschaft als Völkerrechtssubjekt gebunden. Während das Primärrecht mit den bereits mehrfach erwähnten Art. 216 und Art. 351 AEUV zwei grundlegende Normen zu der Bedeutung von völkerrechtlichen Verträgen im Unionsrecht enthält, lassen sich keine entsprechenden Normen zum Völkergewohnheitsrecht finden. Aus dem Fehlen vergleichbarer Normen zum Völkergewohnheitsrecht könnte im Wege eines argumentum e contrario abgeleitet werden, dass das Völkergewohnheitsrecht nicht Bestandteil der Unionsrechtsordnung ist und folglich die Union auch nicht bindet. Diese Rechtsansicht wurde von der Kommission in der Rs. Racke vertreten, in der sie die Befugnis des EuGH bestritt, eine Verordnung am Maßstab des Völkerrechts zu messen, da das Völkergewohnheitsrecht mangels einer ausdrücklichen Klausel im EGV nicht Bestandteil der Gemeinschaftsrechtsordnung sei.268 263 Teilweise wird jedoch bezweifelt, dass sich aus dieser Formulierung eine Aussage über die Rangfrage ableiten lässt, siehe Tomuschat, Art. 300 EGV. 264 Lachmayer/von Förster, Rn. 24. 265 Khan, Rn. 22; EuGH, Urt. v. 10.9.1996 – Rs. C-61/94, Slg. 1996-I, S. 3989, Rn. 52 – Kommission/Deutschland. 266 Wormuth, S. 165. 267 Wormuth, S. 167 m.w. N. 268 EuGH, Urt. v. 16.6.1998 – Rs. C-162/96, Slg. 1998-I, S. 3655, Rn. 53 – Racke.

C. Völkerrechtsfreundlichkeit der Unionsrechtsordnung

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Zwingend ist diese Schlussfolgerung aus Art. 216 Abs. 2 AEUV aber nicht. Denkbar ist es auch, das Völkergewohnheitsrecht in analoger Anwendung dieser Norm als Bestandteil der Unionsrechtsordnung anzusehen. Dies setzt neben einer vergleichbaren Interessenlage voraus, dass die Regelungslücke – das Fehlen einer Art. 216 Abs. 2 AEUV entsprechenden Norm zum Völkergewohnheitsrecht – planwidrig ist. Hierfür spricht der in Art. 216 Abs. 2 und Art. 351 AEUV zum Ausdruck kommende völkerrechtsfreundliche Tenor, mit dem die Ablehnung einer innerunionsrechtlichen Bindung an völkergewohnheitsrechtliche Normen – die nach dem Völkerrecht ebenso wie völkerrechtliche Verträge eine Rechtsquelle darstellen (vgl. Art. 38 Abs. 1 b) IGH-Statut) und diesen daher vergleichbar sind – nicht vereinbar erscheint. Zu Recht bejaht der EuGH daher in seiner Rechtsprechung die unionsrechtliche Bindung an das Völkergewohnheitsrecht. So hat der EuGH 1998 in seiner Racke-Entscheidung ausgeführt: „Folglich binden die Regeln des Völkergewohnheitsrechts (. . .) die Gemeinschaftsorgane und sind Bestandteil der Rechtsordnung der Gemeinschaft.“ 269 Im Hinblick auf den Rang des Völkergewohnheitsrechts ist zu überlegen, ob sich die über den Rang der völkerrechtlichen Verträge gewonnenen Erkenntnisse auf das Völkergewohnheitsrecht übertragen lassen, mit dem Ergebnis, dass das Völkergewohnheitsrecht in der Unionsrechtsordnung denselben (Zwischen-)Rang wie die völkerrechtlichen Verträge einnehmen würde. Hierfür spricht, dass nach allgemeinem Völkerrecht völkerrechtliche Verträge und Völkergewohnheitsrecht gleichrangige Rechtsquellen sind.270 Wenn aber diese verschiedenen Rechtsquellen aus völkerrechtlicher Sicht gleichrangig sind, dann lässt sich – in Ermangelung entgegenstehender innerstaatlicher Rangzuweisungen wie beispielsweise im deutschen Grundgesetz – argumentieren, dass auch unionsrechtlich das Völkergewohnheitsrecht auf einer Stufe mit den völkerrechtlichen Verträgen einzuordnen ist; ein Ergebnis, dass sich im Zuge einer Analogiebildung erreichen lässt. Für dieses Ergebnis spricht ferner die enge Beziehung zwischen Verträgen und Völkergewohnheitsrecht: Völkerrechtliche Vertragsnormen kodifizieren häufig geltendes Völkergewohnheitsrecht oder können zu Völkergewohnheitsrecht werden, das dann auch Nicht-Vertragsparteien bindet.271 Zu Recht hat der EuGH daher in der Rs. Racke festgestellt, dass der Gemeinschaftsgesetzgeber beim Erlass von Sekundärrecht die Regeln des Völkergewohnheitsrechts zu beachten habe.272 Dies bestätigt, dass auch das Völkergewohnheitsrecht im Rang über dem Sekundärrecht steht. Es ist als völkerrechtsfreundlich zu werten, dass der EuGH 269

Ebd., Rn. 46. Eine Rangordnung zwischen den verschiedenen Völkerrechtsquellen (mit Ausnahmen von Normen mit ius cogens-Charakter) besteht grundsätzlich nicht, siehe Graf Vitzthum, Rn. 154. 271 Vgl. Graf Vitzthum, Rn. 115, zur Geltung der WVK-Normen für Staaten, die nicht Vertragspartei sind. 272 EuGH, Urt. v. 16.6.1998 – Rs. C-162/96, Slg. 1998-I, S. 3655, Rn. 45 – Racke. 270

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3. Teil: Int. Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit des Unionsrechts

den in den Verträgen angelegten Zwischenrang völkerrechtlicher Verträge auch auf das Völkergewohnheitsrecht überträgt. c) Wertung Der Zwischenrang des Völkerrechts entspricht in einer nationalen Rechtsordnung dem Übergesetzesrang und ist damit eine vergleichsweise völkerrechtsfreundliche Lösung der Rangfrage – eine völkerrechtsfreundlichere hierarchische Einordnung, als es die deutsche Rechtsordnung für völkerrechtliche Verträge vorsieht (Art. 59 Abs. 2 GG – einfacher Gesetzesrang), aber ähnlich völkerrechtsfreundlich wie beim Völkergewohnheitsrecht (Art. 25 GG – Rang über den Gesetzen, aber unter der Verfassung). Hinsichtlich des Völkergewohnheitsrechts ist darauf hinzuweisen, dass der EuGH bei der richterlichen Kontrolle des Sekundärrechts auf Verstöße hiergegen einen restriktiveren Prüfungsmaßstab benutzt, indem er lediglich untersucht, ob den Organen der Union beim Erlass des betreffenden Rechtsakts offensichtliche Fehler bei der Beurteilung der Voraussetzungen für die Anwendung dieser Grundsätze unterlaufen sind.273 Diesen Maßstab, der dem vom BVerfG im Heß-Fall vertretenem Prüfrahmen entspricht,274 begründet der EuGH mit der geringeren Bestimmtheit des Völkerrechtsgewohnheitsrechts im Vergleich zu völkerrechtlichen Verträgen.275 Die Zurückhaltung des EuGH bei der richterlichen Kontrolle führt dazu, dass sich der Vorrang des Völkergewohnheitsrechts vor dem Sekundärrecht nur in Evidenzfällen auch praktisch auswirkt. Auch wenn im Hinblick auf die Stärkung der international rule of law ein weitreichenderer Prüfungsrahmen wünschenswert wäre, ist diese restriktive Prüfung letztlich vertretbar aufgrund der im Gegensatz zum Völkervertragsrecht erhöhten Schwierigkeiten, den genauen Inhalt einer völkergewohnheitsrechtlichen Norm zu ermitteln. Die vom EuGH für die Begrenzung des Prüfmaßstabs vorgetragene (rechtliche) Begründung ist unter dem Aspekt der Verrechtlichung der internationalen Beziehungen auch vorzugswürdig gegenüber der eher politischen Argumentation des BVerfG im Heß-Urteil. Zuletzt ist darauf hinzuweisen, dass ein jüngeres Urteil des EuGH aus 2012 zur Entscheidung der Slowakei, Ungarns damaligem Präsidenten Sólyom 2009 die Einreise zu verweigern, Anhaltspunkte dafür erhält, dass dem Völkerrecht (oder Teilen hiervon) auch ein höherer Rang zukommen könnte. Der EuGH wies auf den besonderen völkerrechtlichen Status eines Staatsoberhauptes hin und folgerte, „dass der Umstand, dass ein Bürger der Union das Amt eines Staatsober273 EuGH, Urt. 21.12.2011 – Rs. 366/10, NVwZ 2012, S. 266, Rn. 110 – Air Transport Association of America. 274 Siehe hierzu 2. Teil D. I. 6. b) bb). 275 EuGH, Urt. 21.12.2011 – Rs. 366/10, NVwZ 2012, S. 266, Rn. 110 – Air Transport Association of America.

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haupts bekleidet, eine aus dem Völkerrecht folgende Beschränkung des ihm von Art. 21 AEUV gewährten Rechts auf Freizügigkeit rechtfertigen kann.“ 276 Die Annahme des EuGH, dass Art. 21 AEUV aufgrund völkerrechtlicher Normen beschränkt werden kann, spricht dafür, dass jedenfalls diesen Normen ein höherer Rang (ggf. sogar über dem Primärrecht) zukommt. Andererseits wäre es auch möglich, dass der Gerichtshof in der zitierten Passage Art. 21 AEUV lediglich völkerrechtsfreundlich ausgelegt (und inhaltlich beschränkt) hat, ohne dass dies Schlussfolgerungen zum Rangverhältnis erlauben würde. Interessant ist, dass die vom EuGH zugelassene Beschränkung der Norm nur für Staatsoberhäupter gilt und dementsprechend kaum eine Gefährdung der unionsrechtlichen Grundfreiheiten darstellen kann. Möglicherweise erklärt dies die Großzügigkeit, mit dem der Gerichtshof vorliegend dem Völkerrecht begegnet.277 6. Ausführlicher, an völkerrechtlichen Standards orientierter Grund- und Menschenrechtskatalog Da das im Rahmen dieser Arbeit entwickelte Modell das Vorliegen eines ausführlichen Grund- und Menschenrechtskatalogs als Anhaltspunkt für die Völkerrechtsfreundlichkeit der untersuchten Rechtsordnung ansieht, ist das Unionsrecht an dieser Stelle seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon deutlich völkerrechtsfreundlicher geworden. Mit der Charta der Grundrechte, deren Verbindlichkeit die Union nach Art. 6 Abs. 1 EUV anerkennt, kann das Vorliegen eines Grundrechtekatalogs ohne Weiteres bejaht werden.278 276 EuGH, Urt. v. 16.10.2012, Rs. C-364/10, Rn. 49–51 – Hungary v. Slovak Republic (Hervorhebung hinzugefügt). 277 Vgl. Petersmann/Spennemann, Art. 307, Rn. 25, zur älteren Rechtsprechung des EuGH: „Die EG-Gerichte legen auf eine völkerrechtliche Bindung der EG dann besonderen Wert, wenn dies der Aufrechterhaltung von EG-Akten dienlich ist.“ Petersmann/ Spennemann verweisen auch auf den absoluten Ausnahmecharakter von Entscheidungen, die die Völkerrechtswidrigkeit eines Sekundärrechtsaktes feststellen. 278 An der Völkerrechtsfreundlichkeit dieser Neuerung ändert auch das Protokoll Nr. 30 über die Anwendung der Grundrechte auf Polen und das Vereinigte Königreich nichts, deren Art. 1 aussagt, dass die Charta keine Ausweitung der Befugnisse des EuGH oder eines Gerichts Polens oder des Vereinigten Königreichs bewirkt (Abs. 1) und dass mit Titel IV der Charta keine für Polen oder das Vereinigte Königreich geltenden einklagbaren Rechte geschaffen worden sind, die nicht im jeweiligen nationalen Recht vorgesehen sind (Abs. 2). Gem. Art. 2 findet eine Bestimmung der Charta, die auf innerstaatliches Recht oder innerstaatliche Praxis Bezug nimmt, auf Polen oder das Vereinigte Königreich nur in dem Maße Anwendung, in dem dies dem jeweiligen innerstaatlichen Recht oder der Praxis entspricht. Der EuGH kommt insofern zu dem Ergebnis, dass das Protokoll Polen und das Vereinigte Königreich nicht von den Verpflichtungen zur Einhaltung der Bestimmungen der Charta freistellt und nationale Gerichte dieser Mitgliedstaaten auch nicht daran hindert, für die Einhaltung dieser Bestimmungen zu sorgen, EuGH, Urt. v. 21. Dezember 2011, verb. Rs. C-411/10 und C-493/10, Rs. 120, EuZW 2012, S. 231, Rn. 120 – Ziolkowski und Szeja. Letztlich dürfte es sich hierbei um den Versuch einer Einschränkung der Menschenrechtsfreundlichkeit der EU-

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3. Teil: Int. Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit des Unionsrechts

Mit 54 Artikeln279 enthält die Grundrechtecharta einen sehr ausführlichen Grund- und Menschenrechtskatalog. Neben diesem Katalog klassischer Rechte führt sie auch „neuartige“, nicht individuell einforderbare Garantien auf (Zugang zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse [Art. 36 GRCh]; Umweltschutz [Art. 37 GRCh]).280 Hingewiesen wurde aber auch auf Bereiche, in denen die Grundrechtecharta hinter dem völkerrechtlichen Menschenrechtsstandard zurückbleibt, beispielsweise darauf, dass der IPbpR im Gegensatz zur Grundrechtecharta (und der EMRK) einen eigenständigen Artikel über die Rechte von Minderheiten enthält (Art. 27 IPbpR) und dass der IPwskR bei der Gewährleistung des Rechtes auf angemessenen Lebensstandard über die europäischen Garantien hinausgeht.281 Bei den völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzverträgen der Mitgliedstaaten – wie den beiden UN-Menschenrechtspakten – handelt es sich für die an diese Verträge nicht unmittelbar gebundene Europäische Union um Altverträge im Sinne des Art. 351 AEUV.282 Für den Fall, dass die Grundrechtecharta in einzelnen Punkten hinter dem Schutzniveau der EMRK oder anderer völkerrechtlicher Menschenschutzverträge zurückbleiben sollte, greifen Art. 52 Abs. 3, 53 GRCh, die sicherstellen, dass es zu keiner Einschränkung des bereits bestehenden Schutzniveaus kommt. Außerdem zählt gem. Art. 6 Abs. 3 EUV die EMRK (neben den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten) weiterhin zu den Rechtserkenntnisquellen.283 Der EMRK kommt im Unionsrecht eine Leitbildfunktion zu;284 durch den in Art. 6 Abs. 2 EUV zwar vorgesehenen, zeitlich aber nicht absehbaren285 Beitritt der Union zur EMRK würde diese zu einer Rechtsquelle erstarken (Art. 216 Abs. 2 AEUV).286

Rechtsordnung handeln, den „Vetospieler“ der EU abgerungen haben. Siehe in diesem Zusammenhang auch die Entschließung des Europäischen Parlamentes vom 22. Mai 2013 zu dem Entwurf eines Protokolls über die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auf die Tschechische Republik (Artikel 48 Absatz 3 des Vertrags über die Europäische Union), 00091/2011 – C7-0385/2011 – 2011/0817(NLE), in der das Parlament den Europäischen Rat auffordert, die vorgeschlagene Änderung der Verträge nicht zu prüfen. Die Entschließung ist abrufbar unter http://www.europarl. europa.eu/sides/getDoc.do?type=REPORT&reference=A7-2013-0174&language=DE. 279 Zum Vergleich: Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte enthält 30 Artikel, der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte 53 Artikel und der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte 31 Artikel. 280 Frenz, Grundfreiheiten, Rn. 47. 281 Schadendorf, S. 28 f. m.w. N. 282 Siehe hierzu 3. Teil C. II. 1. 283 Erstmalige Nennung der EMRK als Rechtserkenntnisquelle in EuGH, Urt. v. 14.5.1974 – Rs. 4/73, Slg. 1974, S. 491, Rn. 13 – Nold. 284 Leible, Rn. 18. 285 Siehe zum EMRK-Gutachten 2/13 des EuGH 3. Teil B. II. 3. 286 Kingreen, Art. 6 EUV, Rn. 7.

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Der Gedanke der Gleichheit zieht sich durch die Bestimmungen des Unionsrechts.287 Zu verweisen ist insbesondere288 auf Art. 20 – der den bis dahin richterrechtlich anerkannten allgemeinen Gleichheitssatz kodifiziert289 – sowie auf Art. 21 der Grundrechtecharta, der in seinem Absatz 1 einen offenen Katalog der verbotenen Unterscheidungsmerkmale enthält. („insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion oder der Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung“). Im AEUV sind in erster Linie Art. 18 (Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit) und Art. 157 (Gleichstellung von Mann und Frau im Erwerbsleben) zu nennen. Verstärkt wird dies durch Art. 2 S. 1 EUV, demzufolge sich die EU auf dem Wert der Gleichheit gründet, und Art. 2 Abs. 2 EUV, der die Gesellschaft u. a. als eine definiert, die sich durch „Nichtdiskriminierung“ und „Gleichheit von Frauen und Männern“ auszeichnet.“ Kritisiert wurde aber auch im Bereich der Gleichheitsrechte ein teilweises Zurückbleiben gegenüber dem völkerrechtlichen Schutzniveau.290 7. Möglichst völkerrechtskonforme Konfliktlösung a) Anwendung völkerrechtlicher Lösungsmöglichkeiten Hinsichtlich der Anwendung völkerrechtlicher Instrumente zur Auflösung von Konflikten enthält das Primärrecht in Art. 351 Abs. 2 AEUV291 eine Regelung und damit einen Anhaltspunkt für die Völkerrechtsfreundlichkeit. Auch das in Art. 218 Abs. 11 AEUV geregelte und ebenfalls bereits dargestellte Gutachtenverfahren292 spricht für die Völkerrechtsfreundlichkeit des Unionsrechts. Die vorbeugende gerichtliche Kontrolle hat das völkerrechtsfreundliche Ziel, Konflikte zwischen völkerrechtlichen Normen und Unionsrecht von vornherein zu vermeiden.

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Siehe hierzu die ausführliche Darstellung bei Schmahl. Art. 22 der Grundrechtecharta betrifft den Schutz der Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen, während sich aus ihrem Art. 23 ein Grundrecht auf Gleichbehandlung von Frauen und Männern ergibt. Ebenso findet sich in der Grundrechtecharta eine ausdrückliche Norm zu den Rechten von Kindern (Art. 24), älteren Menschen (Art. 25) und Menschen mit Behinderung (Art. 26). 289 Schmahl, Rn. 16. 290 Siehe hierzu Schadendorf, S. 29. 291 Siehe 3. Teil C. II. 1. b). 292 Siehe 3. Teil C. I. 1. 288

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3. Teil: Int. Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit des Unionsrechts

b) Völkerrechtskonforme Auslegung Der EuGH vertritt die völkerrechtsfreundliche Ansicht, dass das Sekundärrecht nach Möglichkeit völkerrechtskonform auszulegen ist. Dies hat er im Fall Poulsen und Diva Navigation bei der Auslegung von Art. 6 einer Verordnung über technische Maßnahmen zur Erhaltung der Fischbestände293 wie folgt begründet: „Die Befugnisse der Gemeinschaft sind unter Beachtung des Völkerrechts auszuüben; infolgedessen haben die Auslegung des Artikels 6 und die Festlegung seines Anwendungsbereiches im Lichte des einschlägigen Seevölkerrechtes zu erfolgen.“ 294 In einem anderen Fall hat er ausgeführt, dass „es der Vorrang der von den Gemeinschaften geschlossenen völkerrechtlichen Verträge vor den Bestimmungen des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts [gebietet], diese nach Möglichkeit in Übereinstimmung mit diesen Verträgen auszulegen.“ 295 Später formulierte er allgemeiner: „Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts sind nach Möglichkeit im Lichte des Völkerrechts auszulegen, insbesondere wenn sie einen von der Gemeinschaft geschlossenen völkerrechtlichen Vertrag durchführen sollen.“ 296 Aufgrund der fehlenden ausdrücklichen Beschränkung auf das Sekundärrecht in dieser Passage bleibt zweifelhaft, ob der EuGH damit auch eine völkerrechtskonforme Auslegung des Primärrechts zulassen will. Nach den in den vorgenannten Fällen gegebenen Begründungen für die völkerrechtskonforme Auslegung – Ausübung der Befugnisse der Gemeinschaft; Vorrang völkerrechtlicher Verträge vor dem Sekundärrecht – dürfte dies eher zu verneinen sein. Dafür, dass die letztgenannte Passage enger zu verstehen ist, spricht auch, dass der EuGH in dem Zusatz „insbesondere“ von Sekundärrecht spricht, das zusätzlich der Durchführung eines völkerrechtlichen Vertrages dient. Dies lässt es als wahrscheinlicher erscheinen, dass mit „Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts“ nur das Sekundärrecht gemeint ist.297 Eine ähnliche Wirkung wie eine völkerrechtskonforme Auslegung des Primärrechts im Lichte der EMRK entfaltet die ursprünglich vom EuGH entwickelte und nunmehr ausdrücklich in Art. 6 Abs. 3 EUV verankerte Heranziehung der EMRK als Rechtserkenntnisquelle. Hierbei werden die EMRK-Normen zur Auslegung des Inhalts einer Rechtsquelle – der Grundrechte als allgemeine Rechts293 Verordnung (EWG) Nr. 3094/86 des Rates vom 7. Oktober 1986 über technische Maßnahmen zur Erhaltung der Fischbestände, ABl. L 288, S. 1. 294 EuGH, Urt. v. 24.11.1992 – Rs. C-286/89, Slg. 1992-I, S. 6048, Rn. 9 – Poulsen und Diva Navigation. 295 EuGH, Urt. v. 10.9.1996 – Rs. C-61/94, Slg. 1996-I, S. 3989, Rn. 52 – Kommission/Deutschland. 296 EuGH, Urt. v. 14.7.1998 – Rs. C-284/95, Slg. 1998-I, S. 4328, Rn. 22 – Safety Hi-Tech; Urt. v. 14.7.1998 – Rs. C-341/95, Slg. 1998-I, S. 4355, Rn. 20 – Bettati/Safety Hi-Tech Srl. 297 So geht Heukels, S. 322, Fn. 29, offenbar davon aus, dass in dieser Passage nur das abgeleitete Gemeinschaftsrecht gemeint ist.

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grundsätze des primären Unionsrechts – benutzt.298 Da die Union vor ihrem Beitritt an die EMRK nicht gebunden ist und sie insoweit keine eigenen völkerrechtlichen Verpflichtungen zu erfüllen hat, ist diese Heranziehung der EMRK noch völkerrechtsfreundlicher als die Praxis eines EMRK-Mitgliedstaates, seine mit Verfassungsrang ausgestatteten Grundrechte im Lichte der EMRK auszulegen.299 Nach dem Beitritt der Union wird die EMRK zur völkerrechtlich verbindlichen Rechtsquelle auch für das Handeln der Union selbst, allerdings nur mit einem Zwischenrang (unter Primärrecht, über Sekundärrecht, vgl. Art. 216 AEUV).300 Der primärrechtliche Art. 6 Abs. 3 EUV dürfte daher – besonders aufgrund des ablehnenden Gutachtens des EuGH zum EMRK-Beitritt vom 18.12.2014301 – auch weiterhin Bedeutung behalten. Art. 52 Abs. 3 der Grundrechtecharta verpflichtet ebenfalls zu einer EMRKkonformen Auslegung des Primärrechts, indem den Rechten der Charta als Mindeststandard „die gleiche Bedeutung und Tragweite“ wie in der EMRK zukommt.302 Dies ist gleichermaßen als sehr völkerrechtsfreundlich anzusehen. Darüber hinaus verpflichtet der EuGH auch die nationalen Gerichte, ihr nationales Verfahrensrecht so auszulegen, dass die Vorgaben einer Bestimmung eines völkerrechtlichen Vertrages der EU, dem keine unmittelbare Wirkung zukommt, gewahrt werden. In einem Fall, in dem u. a. die Frage vorgelegt wurde, ob Einzelne und insbesondere Umweltorganisationen aus Art. 9 Abs. 3 des Übereinkommens von Aarhus eine Aktivlegitimation herleiten können,303 führte der EuGH folgendes aus: „Daher ist auf die erste und die zweite Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 9 Abs. 3 des Übereinkommens von Aarhus im Unionsrecht keine unmittelbare Wirkung hat. Das vorlegende Gericht hat jedoch das Verfahrensrecht in Bezug auf die Voraussetzungen, die für die Einleitung eines verwaltungsbehördlichen oder gerichtlichen Überprüfungsverfahrens vorliegen müssen, so weit wie möglich im Einklang sowohl mit den Zielen von Art. 9 Abs. 3 dieses Übereinkommens als auch mit dem Ziel eines effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes für die durch das Unionsrecht verliehenen Rechte auszulegen, um es einer Umweltschutzorganisation wie dem Zoskupenie zu ermöglichen, eine Entscheidung, die am Ende eines Verwaltungsverfahrens ergangen ist, das möglicherweise im Widerspruch zum Umweltrecht der Union steht, vor einem Gericht 298

Kingreen, Art. 6 EUV, Rn. 7. Siehe Giegerich, EMRK, Rn. 20–22, zur Pflicht zur konventionskonformen Anwendung nationalen Rechts. 300 Kingreen, Art. 6 EUV, Rn. 19, 27. 301 Siehe zum EMRK-Gutachten 2/13 des EuGH 3. Teil B. II. 3. 302 Dafür, dass Art. 52 Abs. 3 GRCh die Auslegung der Unionsgrundrechte an die EMRK anpasst, aber keine Inkorporationsklausel darstellt Kingreen, Art. 52 GRCh, Rn. 37. 303 EuGH, Urt. v. 8.3.2011 – Rs. C-240/09, NVwZ 2011, S. 673, Rn. 28 – Lesoochranárske zoskupenie. 299

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anzufechten.“304 Auch diese unionsrechtliche Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur völkerrechtskonformen Auslegung des nationalen Verfahrensrechts ist völkerrechtsfreundlich. 8. Keine völkerrechtsunfreundlichen Elemente Das Kriterium der fehlenden völkerrechtsunfreundlichen Elemente wirft bei der praktischen Anwendung größere Schwierigkeiten auf als die bisherigen Kriterien und ist weitaus „offener“ als die anderen Kriterien. Da es sich bei der EU nicht um einen Staat handelt, muss die Definition der Völkerrechtsunfreundlichkeit auch entsprechend angepasst werden: Es gilt daher im Folgenden, eine mögliche in Normen oder Entscheidungen zum Ausdruck kommende Geisteshaltung zu identifizieren, die durch das Beharren auf umfassender Abschottung gegenüber dem Völkerrecht gekennzeichnet ist. Dem – international offenen – Verfassungstext der Union lassen sich Anhaltspunkt hierfür nicht entnehmen. Daher sollen im Folgenden potenziell völkerrechtsunfreundliche Rechtsprechungslinien untersucht werden. a) Die WTO-/GATT-Rechtsprechung als völkerrechtsunfreundliches Element? Ein mögliches Beispiel für eine völkerrechtsunfreundliche Rechtsprechung könnte die bereits angesprochene WTO-/GATT-Rechtsprechung des EuGH 305 darstellen, die sich wie folgt zusammenfassen lässt: „Was konkret die WTOÜbereinkünfte anbelangt, gehören diese nach ständiger Rechtsprechung wegen ihrer Natur und ihrer Systematik grundsätzlich nicht zu den Normen, an denen der Gerichtshof die Rechtmäßigkeit der Handlungen der Gemeinschaftsorgane misst [. . .]. Nur wenn die Gemeinschaft eine bestimmte im Rahmen der WTO übernommene Verpflichtung erfüllen wollte oder wenn die Gemeinschaftshandlung ausdrücklich auf spezielle Bestimmungen der WTO-Übereinkünfte verweist, hat der Gerichtshof die Rechtmäßigkeit der fraglichen Gemeinschaftshandlung an den WTO-Regeln zu messen [. . .].“ 306 Unter dem Aspekt der Völkerrechtsfreundlichkeit problematisch ist hier insbesondere der bereits erwähnte Verweis auf den Spielraum der Unionsorgane, den der EuGH in seiner Rechtsprechung nicht einschränken will. Ob diese Rechtsprechung aber bereits als völkerrechtsunfreundlich gelten kann, ist in Anbetracht der Praxis anderer Vertragsstaaten fraglich. Zwar gilt grundsätzlich, dass der Spielraum der Unionsorgane gerade nicht die Möglichkeit eines Völker304

Ebd., Rn. 52. Siehe hierzu auch die ausführlichere Darstellung im 3. Teil C. I. 4. b). 306 EuGH, Urteil v. 9.9.2008 – verb. Rs. C-120/06 P und C-121/06 P, Slg. 2008, S. I6513, Rn. 111 f. – FIAMM u. a. 305

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rechtsbruches einschließen darf, wenn die EU ihrer Selbstbezeichnung als Rechtsgemeinschaft gerecht werden will. Auch ist darauf hinzuweisen, dass die WTO-/GATT-Rechtsprechung des EuGH mit dem Außenhandelsrecht einen Bereich betrifft, in dem der Union eine gewisse Machtposition zukommt, die diese in einem positiven Sinne nutzen und dadurch zu einer Verrechtlichung der internationalen Beziehungen beitragen könnte. Dies würde möglicherweise auch positive Auswirkungen auf die äußere Wahrnehmung der EU haben, die, wie bereits erwähnt, insbesondere auf dem Gebiet des Welthandels oft als ein schwächeren Wirtschaften restriktive Normen aufzwingender „Verbündeter“ der USA307 gesehen wird. Würde der EuGH die grundsätzliche unmittelbare Anwendbarkeit von Normen des WTO-/GATT-Rechtes anerkennen, so könnte dies möglicherweise zur Weiterentwicklung des Völkerrechts und der Konstitutionalisierung der Welthandelsordnung308 beitragen. Daher ist die Rechtsprechung des EuGH in Teilen der Literatur kritisch – als Machtpolitik – aufgenommen worden.309 Allerdings ist auch angemerkt worden, der EU komme im Rahmen der WTO „zwar beträchtliches politisches Gewicht (politische Macht) zu, das indes bei erstem Hinsehen deutlich geringer ist als ihre wirtschaftliche Stellung. Die die Union kennzeichnende Gemengelage von zentralisierter Verantwortung und dezentralen Entscheidungszentren in den nationalen Hauptstädten gibt der die Union vertretenden Kommission weniger Möglichkeiten als beispielsweise der Regierung der Vereinigten Staaten, mit anderen Staaten Verhandlungspakete zu schnüren [. . .].“ 310 Auch spielt die wirtschaftliche Macht der Union „[i]m Rahmen des Streitbeilegungsverfahrens [. . .] keine, oder allenfalls eine schädliche Rolle – Goliath begegnet regelmäßig strengeren Richtern als David.“ 311 Letztlich dürfte es von außen sehr schwierig sein, abzuschätzen, wie wichtig die Einräumung eines Spielraumes an die Unionsorgane in den Verhandlungen ist und inwieweit sich Hoffnungen über positive Auswirkungen einer stärkeren unmittelbaren Anwendbarkeit dieser Normen in der EU-Rechtsordnung tatsächlich realisieren würden. Zudem zeigt die WTO-/GATT-Rechtsprechung, dass es bei der Beurteilung von möglichen Verstößen gegen internationale Verpflichtungen unter dem Aspekt der Völkerrechtsfreundlichkeit angemessen sein dürfte, eine differen-

307 Lucarelli/Fioramonti, S. 34. Siehe aber auch die Aussage von Pauwelyn, S. 164: „In the WTO, for example, after ten years of operation and more than 350 disputes, in only a handful of cases did violators fail to perform and each of those cases pitted the US against the EC (not a small developing country against a powerful nation that could be unmoved by the threat of mere tit-for-tat retaliation).“ 308 Hierzu Flemisch, S. 201 f. m.w. N. 309 Siehe in diesem Sinne Petersmann, S. 325 f., 330 f. 310 Hahn, S. 178. 311 Hahn, S. 177.

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zierte Sichtweise einzunehmen:312 Beispielsweise wiegt unter Berücksichtigung der Werte des Völkerrechts,313 an denen sich die Beurteilung orientieren muss, die Nichteinhaltung von WTO-Recht weniger schwer als die Verletzung zentraler Bestimmungen der UN-Charta.314 Dem entspricht, dass in der Literatur darauf hingewiesen wurde, dass nationale Rechtsordnungen in einem höheren Maße als das Völkerrecht Abstufungen hinsichtlich des Verpflichtungsgrades verschiedener Normen enthalten: „no single domestic legal system requires absolute protection, or imposes the same sanctions, for all legal commitments. Constitutions are normally written in stone, while contracts can simply be renegotiated. Where certain statutory obligations can be bought off, others, such as those under criminal law, cannot be transferred as between private individuals. [. . .] Considering the current state of international law, in contrast, the levels and types of protection of ,bindingness‘ of international law commitments are surprisingly uniform (besides so-call soft law [. . .]).“ 315 Gegen die Position, dass Völkerrecht grundsätzlich unveräußerlich sei, spricht laut Pauwelyn u. a. das Recht der Staaten zur Modifikation zu Verträgen, wohingegen etwas das ius cogens (Art. 53, 64 WVK) sowie Verträge mit legislativem Charakter, die Kollektivverpflichtungen enthalten (wie die meisten Menschenrechtsverträge und bestimmte Umweltschutzverträge) tatsächlich unveräußerliches Völkerrecht (inalienable international law) darstellten.316.

312 Vgl. Bernhardt, Völkerrechtskonforme Auslegung, S. 394, der darauf hinweist, dass das Völkerrecht „inhaltlich und formal sehr unterschiedliche Normen aufweist. [. . .] Von der Satzung der Vereinten Nationen über die Seerechtskonvention von 1982, von den universellen und den regionalen Menschenrechtspakten bis zu bilateralen Doppelbesteuerungsabkommen [. . .]. Unter den Völkerrechtsnormen ragen nach moderner Auffassung die dem ius cogens angehörenden hervor [. . .]. Schließlich gibt es Normen, insbesondere in den Menschenrechts-Konventionen, die in höherem Maße Respekt erheischen als etwa Absprachen über die Vereinheitlichung technischer Standards.“ 313 Siehe hierzu beispielsweise Art. 1 UN-Charta. 314 Dies dürfte sich bereits aus Art. 103 UN-Charta ergeben. 315 Pauwelyn, S. 2 f. Pauwelyn plädiert dementsprechend für die Anerkennung eines variablen Schutzes von Völkerrecht: Dies sei die logische Folge seines Erfolges und würde seine Normativität ernst nehmen sowie diese optimal kalibrieren, um die bestmögliche Effektivität bei geringstmöglicher Freiheitseinschränkung zu erzielen. Entsprechende Ansätze würden auch bereits existieren, beispielsweise verweist Pauwelyn, S. 10 f., auf den umstrittenen Emissionsrechtehandel unter dem Kyoto-Protokoll. Der von Pauwelyn vorgeschlagene Ansatz würde, so Anne-Marie Slaughter (Vorwort in: Pauwelyn, S. xxvi, xxx), eine Brücke bauen zwischen der Position des „European absolutism, according to which rights under international law are inalienable and thus cannot be legally transferred or breached“ und der des „American vountarism, which holds all international legal rights as violable as long as the violator can be held liable and required to pay compensation.“ 316 Pauwelyn, S. 108–110. Die Position des „American voluntarism“ treffe aber, so Pauwelyn, S. 111 f., ebenfalls nicht zu, da es grundsätzlich nicht möglich sei, sich aus dem Völkerrecht „herauszukaufen“.

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Unter Berücksichtigung dessen stellt sich die WTO-/GATT-Rechtsprechung nicht bereits als völkerrechtsunfreundlich, sondern eher als völkerrechtsskeptisch dar. b) Die Kadi-Rechtsprechung als völkerrechtsunfreundliches Element? Im Zusammenhang mit dem im 1. Teil dargestellten Kadi I-Sachverhalt haben das EuG, der Generalanwalt und der EuGH unterschiedliche Rechtsauffassungen vertreten, die sich auch im Grad ihrer Völkerrechtsfreundlichkeit unterscheiden. Als möglicherweise völkerrechtsunfreundliche Elemente kommen lediglich die Schlussanträge des Generalanwalts Maduro317 vom 23.1.2008 und die Entscheidung des EuGH von 3.9.2008318 in Betracht.319 Die ursprüngliche Entscheidung des EuG vom 21.9.2005320 lässt sich als hingegen als UN-konforme und damit als völkerrechtsfreundliche Rechtsprechung verstehen. Da dieses völkerrechtsfreundliche Urteil aber weniger Grundrechtsschutz geboten hat als die völkerrechtsunfreundliche oder -skeptische Entscheidung des EuGH, zeigt sich, dass unter Umständen der rezeptive Aspekt der internationalen Offenheit für ein anderes Resultat streiten kann als ihr menschenbezogener Element. Letztlich stehen sich daher in den verschiedenen Entscheidungen nicht nur eine internationale und eine europäisch geprägte Vorstellung der rule of law, sondern auch die Anforderungen der Völkerrechtsfreundlichkeit (rezeptiver Aspekt) und die der Menschenrechtsfreundlichkeit (menschenbezogener Aspekt) gegenüber. Da der Kadi-Sachverhalt eine Vielzahl an Rechtsfragen aufwirft, handelt es sich bei der dazugehörigen Rechtsprechung um einige der meistdiskutierten Entscheidungen der europäischen Gerichte;321 die folgende Darstellung beschränkt sich auf die unter dem Gesichtspunkt der Völkerrechtsfreundlichkeit wesentlichen Aussagen. Einleitend soll hinsichtlich der Terminologie an das im Rahmen dieser Arbeit verwendete Verständnis von Völkerrechtsskepsis als einer geistigen Haltung, die dem Völkerrecht konstruktiv-kritisch, aber nicht grundsätzlich ablehnend gegenübersteht, erinnert werden. Da völkerrechtliche Normen nicht notwendigerweise „besser“ (beispielsweise menschenrechtsfreundlicher) als rein nationales Recht sein müssen, ist der Begriff Völkerrechtsskepsis nicht pauschal negativ gemeint. Vielmehr kann, wie die Kadi-Rechtsprechung zeigt, Völkerrechtsskepsis im Einzelfall auch Entwicklungen anstoßen, die beispielsweise zu einem stärken Rechtsschutz führen (und damit auch Auswirkungen auf andere Aspekte der internationalen Offenheit haben). 317 Generalanwalt Maduro, Schlussanträge vom 16.1.2008 – verb. Rs. C-402/05 P und C-415/05 P, Slg. 2008-I, S. 6363. 318 EuGH, Urt. v. 3.9.2008 – verb. Rs. C-402/05 P und C-415/05 P, Slg. 2008-I, S. 6351– Kadi. 319 Zu den weiteren Entwicklungen siehe unter 3. Teil C. I. 8. b) dd). 320 EuG, Urt. v. 21.9.2005 – Rs. T 315/01, Slg. 2005-II, S. 3649 – Kadi. 321 Ein Überblick über die hierzu ergangene Literatur findet sich bei Poli/Tzanou.

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aa) Die Kadi I-Entscheidung des EuG Die Entscheidung des EuG ist zu Recht als Bekenntnis zu einem monistischen Verhältnis von Europarecht und Völkerrecht aufgefasst worden.322 Das Gericht stellt fest, dass die UN-Verpflichtungen der Mitgliedstaaten aus völkerrechtlicher Sicht unbestreitbar Vorrang vor allen anderen Verpflichtungen haben.323 Für das Verhältnis zum innerstaatlichen Recht ergebe sich dies aus dem Völkergewohnheitsrecht,324 für das Verhältnis zu anderen völkervertragsrechtlichen Verpflichtungen aus Art. 103 UN-Charta,325 der sich nach Art. 25 der UN-Charta auch auf die Sicherheitsratsresolutionen erstrecke.326 Das Gericht weist für den innergemeinschaftlichen Bereich auf Art. 307 Abs. 1 EGV327 und Art. 224 EWG (Art. 297 EGV) hin.328 Demnach hätten die Sicherheitsratsresolutionen nach Kapitel VII bindende Wirkung für alle Mitgliedstaaten der Gemeinschaft.329 Die Gemeinschaft sei zwar nicht unmittelbar durch die UN-Charta gebunden,330 allerdings hätten die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft weder mehr Befugnisse übertragen können als ihnen zustünden, noch sich durch eine untereinander geschlossene Vereinbarung von ihren nach der UN-Charta gegenüber Drittländern bestehenden Verpflichtungen lösen können.331 Die Gemeinschaft sei daher nach dem EG-Vertrag selbst verpflichtet gewesen, den Sicherheitsratsresolutionen in ihrem Zuständigkeitsbereich Wirkung zu verleihen.332 Das Gericht weist darauf hin, dass jede Kontrolle der materiellen Rechtmäßigkeit der angefochtenen Verordnung auf eine inzidente Prüfung der Rechtmäßigkeit der ihnen zugrunde liegenden Sicherheitsratsresolutionen hinauslaufen würde.333 Aus völkerrechtlicher Sicht sei eine gerichtliche Zuständigkeit des EuG daher mit den mitgliedstaatlichen Verpflichtungen aus der UN-Charta, insbesondere Art. 25, 48 und 103, sowie mit Art. 27 WVK unvereinbar.334 Sie würde auch gegen die Bestimmungen des EGV und EUV (insbesondere Art. 5, 10, 297 und 301 Abs. 1 EGV und Art. 5 EUV) verstoßen, wonach der Gemeinschaftsrichter seine Befugnisse nach Maßgabe der Gründungsverträge ausübe.335 322 323 324 325 326 327 328 329 330 331 332 333 334 335

Fassbender, Triepel, S. 336. EuG, Urt. v. 21.9.2005 – Rs. T 315/01, Slg. 2005-II, S. 3649, Rn. 181 – Kadi. Ebd., Rn. 182. Ebd., Rn. 183. Ebd., Rn. 184. Ebd., Rn. 185 f. Ebd., Rn. 187. Ebd., Rn. 188. Ebd., Rn. 192. Ebd., Rn. 194 f. Ebd., Rn. 207. Ebd., Rn. 214 f. Ebd., Rn. 222. Ebd., Rn. 223.

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Das Gericht könne aber die Sicherheitsratsresolutionen inzident auf einen ius cogens-Verstoß prüfen, da sowohl die Mitglieder als auch die Organe der UN an die zwingenden Normen des Völkerrechts gebunden seien.336 Anschließend prüft das Gericht, ob das vorgesehene Einfrieren von Geldern die Grundrechte des Klägers verletzt und kommt zu dem Ergebnis, dass dies nach dem Standard des universellen Schutzes der zum ius cogens gehörenden Menschenrechte nicht der Fall sei.337 Diese Entscheidung des Europäischen Gerichts ist als völkerrechtsfreundlich zu bewerten, da sie sich darum bemüht, die Reibungsflächen zwischen den den EG-Verordnungen zugrundeliegenden Sicherheitsratsresolutionen und dem Gemeinschaftsprimärrecht zu minimieren. Dies geschieht dadurch, dass die Konfliktsituation unter Beachtung völkerrechtlicher Vorgaben gelöst und die gemeinschaftsinterne Rechtslage im Sinne der völkerrechtlichen Rechtslage interpretiert wird. Damit bekennt sich das EuG zu einer international geprägten rule of law. Interessant und überzeugend ist der Ansatz des Gerichts, dass die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft nicht mehr Kompetenzen übertragen konnten bzw. wollten, als ihnen selbst zustanden. Insofern leitet das Gericht eine Bindung der Gemeinschaft nicht aus dem Völkerrecht, sondern aus dem Gemeinschaftsrecht selbst ab. Dies deutet darauf hin, dass dem Gemeinschaftsrecht nach Auffassung des Gerichts eine inhärente Völkerrechtsfreundlichkeit zu eigen ist. Dem Dilemma zwischen Völkerrechtsfreundlichkeit und Grundrechtsschutz begegnet das Gericht daher auch völkerrechtsfreundlich mithilfe eines völkerrechtlichen statt eines gemeinschaftsrechtlichen Arguments – der ius cogens-Bindung der Organe der Vereinten Nationen und ihrer Mitgliedstaaten.338 Hierdurch gelangt das Gericht letztlich zu einer (wenn auch stark begrenzten) Kontrollkompetenz. Da allgemein anerkannt ist, dass der Sicherheitsrat an ius cogens gebunden ist,339 während sowohl hinsichtlich seiner grundsätzlichen Bindung an andere völkerrechtliche Normen und dem genauen Ausmaß dieser Bindung derzeit340 keine vergleich-

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Ebd., Rn. 225–231. Ebd., Rn. 237 f. 338 Vgl. von Arnauld, UN-Sanktionen, S. 210: „Würde auf den unverfügbaren Kern der gemeinschaftsrechtlichen Wertordnung abgestellt und machte ein solches Beispiel Schule, so könnten Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen unter Berufung auf ihren nationalen ordre public dem Sicherheitsrat die Gefolgschaft verweigern. [. . .] Das Abstellen auf einen internationalen ordre public verhindert solche Alleingänge: Wer der UNO die Gefolgschaft verweigern will, muss sich auf eine gemeinsame Wertordnung stützen, also auf universell konsensfähige Argumente.“ 339 Aust, International Law, S. 203; Peters, Art. 25 UN, Rn. 97. 340 Peters, Art. 25 UN, Rn. 149: „The practice of States and of the Council is not conclusive in this regard, but a trend in the direction of an increasing acceptance of legal limits in principle, and of an increasing tightening of those legal bonds, can be noted.“ 337

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3. Teil: Int. Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit des Unionsrechts

bare Einigkeit besteht,341 erscheint eine Beschränkung der gerichtlichen Kontrolle auf diese überragend wichtigen Normen als ein unter dem Gesichtspunkt der Völkerrechtsfreundlichkeit sicherer Weg. Zwar kann dieses Vorgehen – Beschränkung der Überprüfung nur auf ius cogens-Verstoß – bei Annahme einer weitergehenden völkerrechtlichen Bindung342 des Sicherheitsrates kritisiert werden, da sich das EuG dann konsequenterweise entweder für eine vollinhaltliche Kontrolle oder für keinerlei gerichtliche Kontrolle hätte entscheiden müssen.343 Allerdings gelangt das Gericht auf diese Weise zu einer jedenfalls minimalen Kontrolle der Grundrechtskonformität des – in der angefochtenen Verordnung in der Fassung der Verordnung Nr. 561/2003 und indirekt in den Sicherheitsratsresolutionen vorgesehenen – Einfrierens von Geldern des Klägers, ohne dabei dem Urteil einen völkerrechtskeptischen Beigeschmack zu verleihen. Insofern stellt sich der EuG-Ansatz (restriktive Kontrolle anhand des ius cogens) als eine Art Kompromiss zwischen der Bindung an die Sicherheitsratsresolutionen und den insoweit bestehenden Grundrechtsbedenken dar.344 Auch wenn aus Sicht des Grundrechtsschutzes eine weitergehende Kontrolle wünschenswert gewesen wäre, ist es möglich, dass eine extensive Kontrolle von Sicherheitsratsresolutionen durch regionale Gerichte dem Sicherheitsrat seine Fähigkeit zum effektiven Handeln nehmen könnte.345 bb) Die Schlussanträge des Generalanwalts Im Revisionsverfahren vor dem EuGH führt der Generalanwalt in seinen Schlussanträgen zunächst zutreffend aus, dass Gerichte nicht institutionell blind seien und dass auch der Gerichtshof den internationalen Kontext berücksichtigen und sich seiner eigenen Grenzen sowie der möglichen außergemeinschaftlichen Folgen seiner Entscheidung bewusst sein müsse;346 er solle, wenn möglich, die Autorität von Organen wie dem Sicherheitsrat anerkennen.347 Der Gerichtshof dürfe aber nicht aus Rücksicht gegenüber diesen Organen den der Gemein341 Siehe die Darstellung der unterschiedlichen Ansätze bei Peters, Art. 25 UN, Rn. 138–152. 342 Vgl. Giegerich, International Constitutionalism, S. 54: „It seems questionable, however, whether the Security Council must adhere to no more than the jus cogens norms of international human rights law. Pursuant to Art. 24 (2), 1 (3) of the UN Charter, its human rights obligations could well be stricter.“ 343 So Kämmerer, S. 119. 344 Vgl. von Arnauld, UN-Sanktionen, S. 213: „Nicht nur wird eine Balance zwischen dem Menschenrechtsschutz und der Sicherheitsarchitektur des UN-Systems gefunden. Das EuG eröffnet auch die Möglichkeit, wenn auch nur in kleinen Schritten, die verbindlichen internationalen Menschenrechtsstandards auszubauen.“ 345 Vgl. Giegerich, International Constitutionalism, S. 57. 346 Generalanwalt Maduro, Schlussanträge vom 16.1.2008 – verb. Rs. C-402/05 P und C-415/05 P, Slg. 2008-I, S. 6363, Rn. 44. 347 Ebd.

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schaftsrechtsordnung zugrunde liegenden Grundwerten den Rücken kehren, zu deren Schutz er verpflichtet sei.348 Respekt gegenüber anderen Organen sei vielmehr nur dann sinnvoll, wenn er auf einem gemeinsamen Werteverständnis und einem gegenseitigen Willen zum Schutz dieser Werte aufbaue.349 Diese Aussage suggeriert, dass das Werteverständnis des Sicherheitsrates und des Gerichtshofes stark divergieren. Gegen eine solche negative Sichtweise des Sicherheitsrates, die in Anbetracht der erheblichen Rechtsschutzversäumnisse durchaus naheliegend erscheinen kann, sprechen aber beispielsweise folgende Passagen aus der Sicherheitsratsresolution 1456 vom 20. Januar 2003: „States must ensure that any measure taken to combat terrorism comply with all their obligations under international law, [. . .] in particular [. . .] human rights, refugee, and humanitarian law [. . .].“ 350 Auch wenn sich diese Passage an die Staaten, nicht aber an den Sicherheitsrat richten, deutet ihre Aufnahme in die Sicherheitsresolution doch darauf hin, dass der Sicherheitsrat auch im Kampf gegen den Terrorismus nicht bereit ist, den Menschenrechtsschutz vollständig aufzugeben. Der Generalanwalt zieht die Schlussfolgerung, dass der Gerichtshof ggf. zur Nichtigkeitserklärung von Sekundärrechtsakten verpflichtet sein könne, auch wenn diese Sekundärrechtsakte den Wünschen des Sicherheitsrats entsprächen.351 Diese Aussage verschleiert allerdings die Problemlage, indem nicht von den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten zur Umsetzung der in Form von nach Art. 25 UN-Charta bindenden Resolutionen gesprochen wird, sondern diese als „Wünsche“ („wishes“) des Sicherheitsrates bezeichnet werden. Völkerrechtsfreundlicher ist die angedeutete Möglichkeit einer Zurücknahme der innergemeinschaftlichen gerichtlichen Kontrolle bei Existenz eines entsprechenden Kontrollverfahrens auf UN-Ebene.352 Der Generalanwalt empfahl dem Gerichtshof, die angefochtene Verordnung für nichtig zu erklären, soweit sie den Rechtsmittelführer betreffe.353 cc) Die völkerrechtsskeptische Kadi I-Entscheidung des EuGH Der Gerichtshof erinnert in seiner Entscheidung daran, dass die Gemeinschaft eine Rechtsgemeinschaft ist, in der weder ihre Mitgliedstaaten noch ihre Organe 348

Ebd. Ebd. 350 UN Doc. S/RES/1465 (2003), § 9. 351 Generalanwalt Maduro, Schlussanträge vom 16.1.2008 – verb. Rs. C-402/05 P und C-415/05 P, Slg. 2008-I, S. 6363, Rn. 44. 352 Ebd., Rn. 54: „Hätte es auf Ebene der Vereinten Nationen einen genuinen und effektiven Mechanismus gerichtlicher Kontrolle durch eine unabhängige Instanz gegeben, hätte dies die Gemeinschaft vielleicht von ihrer Pflicht entbinden können, eine gerichtliche Kontrolle der in der Gemeinschaftsrechtsordnung geltenden Umsetzungsmaßnahmen zu ermöglichen. Ein derartiger Mechanismus besteht zurzeit jedoch nicht.“ 353 Ebd., Rn. 55. 349

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einer verfassungsrechtlichen Kontrolle durch den Gerichtshof entzogen sind.354 Die Verpflichtungen aufgrund einer internationalen Übereinkunft könnten auch nicht die Verfassungsgrundsätze des EG-Vertrages selbst (einschließlich der Bedeutung der Menschenrechte für die Rechtmäßigkeit der Gemeinschaftshandlungen) beeinträchtigen.355 Deutlich wird mit diesen Worten, dass der Gerichtshof eine europäisch geprägte Vorstellung der rule of law vertritt. Die Rechtmäßigkeitskontrolle beziehe sich auf den sie umsetzenden Gemeinschaftsrechtsakt,356 da der Gemeinschaftsrichter nicht befugt sei, die Rechtmäßigkeit einer Resolution des Sicherheitsrates zu prüfen, selbst wenn diese Prüfung auf eine Vereinbarkeit mit ius cogens beschränkt wäre.357 Zudem würde ein Urteil, dass die Unvereinbarkeit des umsetzenden Gemeinschaftsrechtsaktes mit höherrangigem Gemeinschaftsrecht feststelle, nicht den völkerrechtlichen Vorrang der Sicherheitsratsresolutionen in Frage stellen.358 Diese Aussagen zeigen, dass der Gerichtshof von einer dualistischen Konstruktion des Verhältnisses zwischen Völkerrecht und Gemeinschaftsrecht ausgeht. Das dualistische Verständnis zeigt sich auch daran, dass der EuGH anschließend die Frage der „Verknüpfung“ von der „durch die Vereinten Nationen entstandenen Rechtsordnung“ und „der Gemeinschaftsrechtsordnung“ anspricht,359 eine Frage, die sich in einem monistischen System in dieser Form nicht stellen würde. Der Gerichtshof beginnt mit den völkerrechtsfreundlichen Ausführungen, dass die Befugnisse der Gemeinschaft unter Beachtung des Völkerrechts auszuüben sind360 und dass die Beachtung der im Rahmen der Vereinten Nationen übernommenen Verpflichtungen auch im Bereich der Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit geboten sei, wenn die Gemeinschaft Resolutionen des Sicherheitsrats umsetze.361 Bei der Ausübung dieser Befugnis müsse die Gemeinschaft nämlich dem Umstand eine besondere Bedeutung zumessen, dass der Sicherheitsrat durch den Beschluss von Resolutionen nach Kapitel VII der Charta die Hauptverantwortung wahrnehme, die ihm zur weltweiten Wahrung des Friedens und der Sicherheit übertragen sei.362 Diese Aussage verdeutlicht, dass der Gerichtshof die herausgehobene Bedeutung des Sicherheitsrates anerkennt. Sie

354 EuGH, Urt. v. 3.9.2008 – verb. Rs. C-402/05 P und C-415/05 P, Slg. 2008-I, S. 6351, Rn. 281 – Kadi. 355 Ebd., Rn. 285. 356 Ebd., Rn. 286. 357 Ebd., Rn. 287. 358 Ebd., Rn. 289. 359 Ebd., Rn. 290. 360 Ebd., Rn. 291. 361 Ebd., Rn. 293. 362 Ebd., Rn. 294.

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ist daher als völkerrechtsfreundlich zu werten, leitet aber auch direkt über in den völkerrechtsskeptischen Teil des Urteils:363 Der Gerichtshof führt weiter aus, dass die UN-Charta kein bestimmtes Modell für die Umsetzung der Sicherheitsratsresolutionen vorsehe, sondern diese nach den in der nationalen Rechtsordnung des jeweiligen UN-Mitgliedstaates geltenden Modalitäten zu erfolgen habe.364 Aus völkerrechtlicher Sicht sei daher eine Grundrechtskontrolle der streitigen Verordnung nicht ausgeschlossen.365 Eine Nichtjustiziabilität des Gemeinschaftsrechtsaktes fände auch keine Grundlage im EG-Vertrag.366 Art. 234 EG-Vertrag (Art. 307 EGV) und Art. 297 EGV könnten nicht dahingehend verstanden werden, dass sie eine Abweichung von den in Art. 6 Abs. 1 EU als Grundlage der Union niedergelegten Grundsätzen (Freiheit, Demokratie, Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten) zuließen.367 Art. 307 EGV könne es nämlich keineswegs erlauben, die Grundsätze in Frage zu stellen, die – wie der Schutz der Grundrechte – zu den Grundlagen der Gemeinschaftsrechtsordnung selbst gehörten.368 An dieser Stelle verdeutlicht der EuGH, der anders als das EuG unter Ausklammerung völkerrechtlicher Fragen eine rein verfassungsrechtliche Perspektive einnimmt,369 dass die Völkerrechtsfreundlichkeit des Gemeinschaftsrechts (sofern diese existiert) von vornherein durch die verfassungsrechtlichen Grundlagen der Gemeinschaftsrechtsordnung begrenzt ist. In der Literatur ist diesbezüglich die Frage aufgeworfen worden, ob „nicht auch die Völkerrechtsfreundlichkeit des (immerhin aus dem Völkerrecht geborenen) Gemeinschaftsrechts [. . .] zu dessen verfassungsrechtlichen Grundfesten gerechnet werden muss – und als solche mit dem Grundsatz juristischer Überprüfung zumindest konkurriert.“ 370 Der Unterschied zwischen diesen beiden Perspektiven liegt in der hierarchischen Einordnung der insbesondere auch in Art. 307 EGV (inzwischen: Art. 351 AEUV) zum Ausdruck kommenden Völkerrechtsfreundlichkeit des Gemeinschafts- bzw. Unionsrechts im Verhältnis zu anderen verfassungsrechtlichen Grundlagen dieser Rechtsordnung.

363 Insgesamt fasst daher Kämmerer, S. 119, die bisherigen Ausführungen des EuGH wie folgt zusammenfassen: „Die völkerrechtsfreundliche Maske vermag kaum zu verbergen, dass dem Gerichtshof eher an Abgrenzung des Gemeinschaftsrechts vom Völkerrecht gelegen ist: Der acquis communautaire soll nicht durch niedrigere völkerrechtliche Standards verwässert werden.“ 364 EuGH, Urt. v. 3.9.2008 – Rs. C-402/05 P, Slg. 2008-I, S. 6351, Rn. 280, 298 – Kadi. 365 Ebd., Rn. 298. 366 Ebd., Rn. 299. 367 Ebd., Rn. 300–303. 368 Ebd., Rn. 304. 369 Kämmerer, S. 121. 370 Kämmerer, S. 120.

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Der EuGH ordnet den Schutz der Grundrechte und die gerichtliche Kontrolle über der Völkerrechtsfreundlichkeit ein. Dies bedeutet, dass für den Gerichtshof eine Beeinträchtigung der Grundrechte oder der gerichtlichen Kontrolle schwerer wiegen muss als die Verletzung auch fundamentaler, den Schutz der Völkerrechtsgemeinschaft bezweckender völkerrechtlicher Verpflichtungen. Nach anderer Betrachtungsweise wären die Grundrechte und die gerichtliche Kontrolle hingegen auf derselben Ebene wie die Völkerrechtsfreundlichkeit einzuordnen, was zu differenzierteren Ergebnissen führen dürfte, da eine Einzelfallabwägung zwischen dem Schutz der Grundrechte und der Völkerrechtsfreundlichkeit möglich wäre. Der EuGH kommt zu dem Ergebnis, dass die streitige Verordnung, soweit sie den Rechtsmittelführer betrifft, für nichtig zu erklären ist.371 Aus Besorgnis über die Wirksamkeit der mit der Verordnung verhängten Restriktionen, für deren Umsetzung die Gemeinschaft zu sorgen hat, verzichtet der EuGH aber – in völkerrechtsfreundlicher Weise – auf eine Nichtigkeitserklärung mit sofortiger Wirkung und hält die Wirkungen für einen Zeitraum von höchstens drei Monaten aufrecht.372 Im Hinblick darauf und den Umstand, dass bei der Begründung nachvollziehbare Rechtsschutzerwägungen, nicht aber politische Machtfragen im Vordergrund standen, kann die Entscheidung nicht pauschal als völkerrechtsunfreundlich, sondern lediglich als völkerrechtsskeptisch bezeichnet werden.373 Kritisiert werden kann unter dem Aspekt der Völkerrechtsfreundlichkeit möglicherweise, dass der EuGH sich in seiner Entscheidung durch die Trennung der völkerrechtlichen und verfassungsrechtlichen Ebenen auf eine rein verfassungs-/ europarechtliche Argumentation beschränkt.374 Während dieses Vorgehen unter formal juristischen Gesichtspunkten und in Anbetracht der Rolle des EuGH als europäisches Gericht nicht als „falsch“ eingestuft werden kann, erhält das Urteil durch den Verzicht auf die Einbeziehung völkerrechtlicher Argumente eventuell einen dem Völkerrecht gegenüber konfrontativen Ton.375 Dementsprechend wur371

EuGH, Urt. v. 3.9.2008 – Rs. C-402/05 P, Slg. 2008-I, S. 6351, Rn. 280, 298 –

Kadi. 372

Ebd., Rn. 373, 376. Sari, S. 319, zufolge ging es dem Gerichtshof in diesem Fall allerdings hauptsächlich darum, seine eigene Gerichtsbarkeit zu behaupten, nicht aber den Schutz individueller Rechte mit den Anforderungen kollektiver Sicherheit zu vereinbaren. 374 Vgl. Francioni, S. 922: „It is regrettable that the strong human rights message sent by the Court has been framed within the limited confines of the Community legal order and within a dualist logic of separation between international law and the ,domestic‘ legal system of the Community. The unwitting result is that the vindication of human rights may thus appear to be made of and for the benefit of a cosy regional club of European States rather than for the promotion of human rights and the rule of law worldwide.“ 375 Vgl. Pavoni, S. 635, der eine völkergewohnheitsrechtliche Kontrolle der EG-Verordnungen für vorzugswürdig hält. In diesem Sinne auch Hilpold, Kadi, S. 165, der da373

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de dem EuGH in der Literatur eine unangemessene eurozentrische Vorgehensweise,376 zum Teil sogar ein chauvinistischer und engstirniger Ton vorgeworfen.377 Allerdings wurde der rein europarechtlich-interne Ansatz des EuGH in der Literatur auch – mit durchaus nachvollziehbarer Begründung – gelobt: „But imagine the criticism which this use of the international version, in preference over the European version of the rule of law, could have triggered. The Court would have been accused of arrogating to itself the power to rule on the validity of Security Council resolutions under international law, a branch of law in which it has limited expertise and no express jurisdiction. It would have been accused of transgressing its limited jurisdiction under the EU Treaties, and of operating as the world court of judicial review of UN Security Council resolutions. All this would have had to be done in the face of uncertain legal principles, and in the absence of clear precedent in international law.“ 378 Der vom EuGH in diesem Urteil gewählte dualistische – und damit eher völkerrechtsskeptische – Ansatz kann auch erklärt werden als Reaktion auf eine in einem Mehrebenensystem auftretende Situation, bei der die höhere Ebene nicht den Menschenrechtsstandard garantiert, den die untergeordnete Ebene für unverzichtbar hält und bei der die Versagung eines Vorrangs durch die untergeordnete eine taugliche Antwort auf diese Menschenrechtsdefizite auf der höheren Ebene darstellen kann (entsprechend der Solange I-Rechtsprechung des BVerfG379).380 In diesem Kontext ist noch darauf hinzuweisen, dass bei einer anderen Entscheidung des EuGH in Deutschland möglicherweise der Solange II-Mechanismus381 in Gang gesetzt rauf hinweist, dass die Rechte, für die der EuGH behauptet zu kämpfen, nicht EU-exklusiv sind, sondern auch in der „International Bill of Rights“ verankert sind. 376 Pavoni, S. 635. 377 Poli/Tzanou, S. 555. 378 Eeckhout, External Relations, S. 418. 379 BVerfGE 37, 271: „Solange der Integrationprozeß der Gemeinschaft nicht so weit fortgeschritten ist, daß das Gemeinschaftsrecht auch einen von einem Parlament beschlossenen und in Geltung stehenden formulierten Katalog von Grundrechten enthält, der dem Grundrechtskatalog des Grundgesetzes adäquat ist, ist nach Einholung der in Art. 177 geforderten Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs die Vorlage an das Bundesverfassungsgericht zulässig und geboten [. . .].“ 380 Kokott/Sobotta, S. 1018. Im Gegensatz dazu kann die Kadi I-Entscheidung des EuG als „Soweit“-Lösung bezeichnet werden, siehe von Arnauld, UN-Sanktionen, S. 209 f. 381 BVerfGE 73, 339, Leitsatz 2 – Solange II: „Solange die Europäischen Gemeinschaften, insbesondere die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Gemeinschaften einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften generell gewährleisten, der dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im wesentlichen gleichzuachten ist, zumal den Wesensgehalt der Grundrechte generell verbürgt, wird das Bundesverfassungsgericht seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht, das als Rechtsgrundlage für ein Verhalten deutscher Gerichte oder Behörden im Hoheitsbereich der Bundesrepublik

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worden wäre, wenn dadurch eine unerträgliche Grundrechtsschutzlücke hätte entstehen können. Letztlich ist in diesem Zusammenhang festzuhalten, dass sich das EuG und der EuGH in einer Dilemma-Situation befanden, die ihren Ursprung nicht auf Unionsrechtsebene findet, sondern die auf erhebliche Defizite auf UN-Ebene zurückzuführen ist. Die Kadi-Rechtsprechung des EuGH legt folglich den Finger in eine „rechtsstaatliche Wunde“ des UN-Systems. Hätte auf dieser Ebene ein adäquater Rechtsschutz existiert, wären europäische Gerichte nicht in die „missliche Lage“ geraten, über einen hochpolitischen Konflikt entscheiden zu müssen, bei dem letztlich keine der denkbaren Lösungsmöglichkeiten optimal ist. Dies ist in der Literatur zutreffend wie folgt ausgedrückt worden: „We have here the very particular situation that both the judgment of the CFI (Court of First Instance) and that of the ECJ (European Court of Justice) provoke strong criticism while at the same time they deserve a certain degree of approval. There is no straightforward way to state that one position or the other is unconditionally correct. Only by taking recourse to rather subjective and ideologically loaded concepts can this be achieved.“ 382 Vor diesem Hintergrund spricht vieles dafür, der diesbezüglichen Rechtsprechung keine zu hohe Bedeutung für die Beurteilung der Völkerrechtsfreundlichkeit der Unionsrechtsordnung beizumessen. dd) Die weitere Entwicklung: Kadi II Das „Erbe“ der Kadi I-Rechtsprechung ist umfangreich und – unter dem Aspekt des Individualrechtsschutzes – positiv. So kommt Kottmann zu dem Ergebnis, dass sich im Folge dieses Urteils eine „transnationationale Vernetzung“ zeigte: „Während vor dem Kadi I-Urteil des EuGH die meisten befassten Gerichte durch Zurückhaltung glänzten, setzte sich danach tendenziell eine kompromisslose Haltung durch.“ 383 Kottmann verweist zur Begründung u. a. auf die Entscheidungen eines amerikanischen Gerichtes, des kanadischen Bundesgerichts und des UK Supreme Courts, auf Feststellungen des UN-Menschenrechtsausschusses, auf einen Beschluss des schweizerischen Parlamentes und das NadaUrteil des EGMR384.385 Der EGMR (Große Kammer) hat zudem am 21.6.2016 im Al-Dulimi-Revisionsverfahren mit 15 gegen 2 Stimmen das vorangegangene Urteil der Kammer

Deutschland in Anspruch genommen wird, nicht mehr ausüben und dieses Recht mithin nicht mehr am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes überprüfen; entsprechende Vorlagen nach Art. 100 Abs. 1 GG sind somit unzulässig.“ 382 Hilpold, Kadi, S. 141. 383 Kottmann, S. 277. 384 EGMR, Urt. v. 12.9.2012, Nr. 10593/08, Rn. 211 – Nada v. Switzerland. 385 Kottmann, S. 277–279.

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bestätigt.386 Die Kammer zuvor mit 4 gegen 3 Stimmen eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK festgestellt, weil die schweizerischen Behörden sich geweigert hatten, die auf einen Sicherheitsratsbeschluss zurückgehende Konfiskation von Vermögenswerten durch schweizerische Behörden zu prüfen.387 Die Bedeutung dieses Falles wird dadurch unterstrichen, dass die Kammer ihn bereits in ihrem Verfahren an die Großen Kammer abgeben wollte, was am Widerspruch der Schweiz scheiterte.388 Im Nachgang zu der Kadi I-Entscheidung des EuGH ist 2009 auf UN-Ebene zur Verbesserung des Rechtsschutzes von Gelisteten das Amt der Ombudsperson geschaffen389 und 2011 mit deutlich mehr Befugnissen ausgestatten worden.390 Seitdem wird die Empfehlung der Ombudsperson, einen Gelisteten von der Liste zu streichen, grundsätzlich wirksam, wenn sie nicht innerhalb 60 Tagen einstimmig durch den Sanktionsausschuss abgelehnt wird.391 Auch wenn die Empfehlungen der Ombudsperson bereits eine gewisse politische Bindungswirkung haben, entspricht ihre Rolle noch nicht der eines Gerichtshofs.392 Auf europäischer Ebene erließ die Europäische Kommission am 28. November 2008 die Verordnung Nr. 881/2002, in deren im Anhang I enthaltenen Liste Herr Kadi eingetragen war. Zuvor hatte Herr Kadi der Kommission, welche ihm die Begründung des Sanktionsausschusses für seine Aufnahme in die konsolidierte Liste übermittelt hatte, eine Stellungnahme übersandt, in der er sich hiergegen wandte. Am 26. Februar 2009 erhob Herr Kadi beim EuG Klage auf die Nichtigerklärung dieser Verordnung, soweit sie ihn betrifft. In seiner Kadi II-Entscheidung vom 30.9.2010 schloss sich das EuG der Rechtsauffassung des EuGH an und erklärte die streitige Verordnung, soweit sie den Kläger Kadi betrifft, für nichtig. Die gegen dieses Urteil erhobenen Rechtsmittel der Kommission, des Rates und des Vereinigten Königreichs hat der EuGH mit Urteil vom 18.7. 2013393 zurückgewiesen, nachdem Generalanwalt Bot in seinen Schlussanträgen vom 19. März 2013394 für eine Aufhebung des Kadi II-Urteils des EuG und für eine Abweisung der Klage von Herrn Kadi plädiert hatte.

386 EGMR (Große Kammer), Urt. v. 21.6.2016, Nr. 5809/08 – Al-Dulimi and Montana Management Inc. v. Switzerland. 387 EGMR, Urt. v. 26.11.2013, Nr. 5809/08, Rn. 134 f. – Al-Dulimi and Montana Management Inc. v. Switzerland. 388 Ebd., Rn. 9. 389 UN Doc. S/RES/1904 (2009). 390 UN Doc. S/RES/1465 (2011). 391 Kokott/Sobotta, S. 1021. 392 Siehe hierzu ausführlicher Kokott/Sobotta, S. 1021 f. 393 EuGH, Urt. v. 18.7.2013, verb. Rs. C-584/10 P, C-593/10 P und C-595/10 P – Kadi II. 394 Generalanwalt Bot, Schlussanträge vom 19.2.2013, verb. Rs. C-584/10 P, C-593/ 10 P und C-595/10 P – Kadi II.

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Das Kadi II-Urteil des Gerichtshofs zeichnet sich dadurch aus, dass der Gerichtshof auch völkerrechtliche Argumente für die Kontrolle anführt und das Urteil unter dem Gesichtspunkt der Völkerrechtsfreundlichkeit somit einen versöhnlicheren Tonfall aufweist. Zum Umfang der gerichtlichen Kontrolle führt der EuGH folgendes aus: „Gelangt der Unionsrichter [. . .] zu der Auffassung, dass zumindest einer der in der vom Sanktionsausschuss übermittelten Begründung angeführten Gründe hinreichend präzise und konkret ist, dass er nachgewiesen ist und dass er für sich genommen eine hinreichende Grundlage für diese Entscheidung darstellt, kann in Anbetracht des präventiven Charakters der in Rede stehenden restriktiven Maßnahmen der Umstand, dass dies auf andere dieser Gründe nicht zutrifft, die Nichtigerklärung der Entscheidung nicht rechtfertigen. Im umgekehrten Fall erklärt der Unionsrichter die angefochtene Entscheidung für nichtig.“ 395 Unter dem Blickwinkel der Völkerrechtsfreundlichkeit ist hervorzuheben, dass der EuGH die Unerlässlichkeit einer solchen gerichtlichen Kontrolle damit erklärt, sie gewährleiste „einen gerechten Ausgleich zwischen der Erhaltung des internationalen Friedens und der internationalen Sicherheit und dem Schutz der Grundfreiheiten und -rechte der betroffenen Person, die gemeinsame Werte der UNO und der Union darstellen [. . .].“ 396 Der EuGH stellt somit nicht die Unionsrechtsordnung gegen die UN-Ordnung, sondern betont – in völkerrechtsfreundlicher Weise – deren übereinstimmende Werte, mit denen er die eigene gerichtliche Kontrolle rechtfertigt. Eine solche Kontrolle sei unerlässlich, da die auf UN-Ebene bestehenden Verfahren trotz der hier vorgenommenen Verbesserungen nicht die Gewähr eines effektiven Rechtschutzes böten, wie der EGMR397 auch kürzlich entschieden habe.398 Im Hinblick auf die weitere Entwicklung ist festzustellen, dass sich die Diktion des EuGH verändert hat: Nachdem sein völkerrechtsskeptisches Kadi I-Urteil zur Schaffung des Amts der Ombudsperson und damit zu einer Verbesserung des Rechtsschutzes von Gelisteten sowie einer menschenrechtsfreundlichen Fortentwicklung des Völkerrechts beigetragen hat, begründet der EuGH das weiterhin bestehende Bedürfnis nach einer gerichtlichen Kontrolle nicht nur mit den eigenen, sondern auch mit den Werten der UN. Insoweit führt der EuGH aus, der Sicherheitsrat habe zu bestimmen, was eine Bedrohung für die Werte des internationalen Friedens und die internationale Sicherheit darstelle und durch den Erlass von Kapitel VII-Resolutionen die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um sie

395 EuGH, Urt. v. 18.7.2013, verb. Rs. C-584/10 P, C-593/10 P und C-595/10 P, Rn. 130 – Kadi II. 396 Ebd., Rn. 131 (Hervorhebung hinzugefügt). 397 EGMR, Urt. v. 12.9.2012, Nr. 10593/08, Rn. 211 – Nada v. Switzerland. 398 EuGH, Urt. v. 18.7.2013, verb. Rs. C-584/10 P, C-593/10 P und C-595/10 P, Rn. 133 – Kadi II.

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im Einklang mit den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen, insbesondere der Achtung der Menschenrechte, zu wahren oder wiederherzustellen.399 Diese auch völkerrechtlich orientierte Argumentation macht insgesamt einen völkerrechtsfreundlicheren Eindruck als eine rein verfassungsrechtliche Argumentation, bei der der Eindruck entsteht, die Unionsrechtsordnung müsse vor Völkerrecht „geschützt“ werden. c) Beurteilung der EuGH-Rechtsprechung Bereits eine vom Umfang her stark begrenzte Untersuchung der Arbeit der Rechtsprechungsorgane macht deutlich, dass die Unionsrechtsordnung jedenfalls in ihrer Auslegung durch den EuGH – neben völkerrechtsfreundlichen Urteilen oder Urteilspassagen – auch völkerrechtsskeptische Elemente aufweist. Demnach zeigt sich in der Rechtsprechung eine stärkere Bandbreite als in den Gründungsverträgen selbst, die durchgängig einen völkerrechtsfreundlichen und offenen Eindruck vermitteln. 9. Systemische Einordnung Den Gründungsverträgen lässt sich kein eindeutiges Bekenntnis für eine dualistische oder monistische Konzeption des Verhältnisses zwischen Völkerrecht und Unionsrecht entnehmen. Als Ausgangspunkt für die Bestimmung dieses Verhältnisses im Sinne des Monismus könnte sich die völkerrechtliche Natur der Gründungsverträge selbst erweisen. So wäre es denkbar, dass den Gründungsverträgen aufgrund ihrer völkerrechtlichen Herkunft eine strikt dualistische Trennung, wie sie von nationalen Rechtsordnungen bekannt ist, wesensfremd ist.400 Allerdings ist diese Überlegung in Anbetracht der vom Gedanken der Eigenständigkeit der Unionsrechtsordnung durchdrungenen Rechtsprechung des EuGH, wie sie auch im soeben untersuchten Kadi-Urteil zum Ausdruck kommt, nicht überzeugend. Ein weiteres, aus den Gründungsverträgen ableitbares Argument ist, dass die monistische Einordnung dem in den Gründungsverträgen zum Ausdruck kommenden Prinzip der Offenheit gegenüber dem Völkerrecht entsprechen würde.401 Jedoch zwingt der „vage“ Hinweis auf die Integrationsoffenheit des Unionsrechts nicht zur Annahme einer bestimmten Theorie über das Verhältnis zwischen Völkerrecht und Europarecht.402 Die hierarchische Stellung des Völkerrechts – über dem Sekundärrecht, aber unter dem Primärrecht – könnte hingegen für eine dua399 400 401 402

Ebd., Rn. 104. Ott, S. 72. Peters, International Law, S. 28 m.w. N. zu diesem Prinzip. Peters, International Law, S. 28 f.

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listische Konzeption sprechen, da in einem perfekten Modell des Monismus mit Primat des Völkerrechts das Völkerrecht dem Primärrecht vorgehen müsste.403 Unabhängig von der Frage, wie die frühere Rechtsprechung des EuGH zu verstehen ist,404 sprach das Kadi I-Urteil zunächst dafür, dass der Gerichtshof sich inzwischen auf eine eindeutig dualistische Deutung des Verhältnisses zwischen Völkerrecht und Unionsrecht festgelegt hat.405 Im Schrifttum wurde diese vom EuGH im Kadi I-Urteil vertretene, dualistische Konstruktion teilweise als eine Annäherung an eine problematische Tradition kritisiert.406 Aufgrund der ideengeschichtlichen Verbindung zum Nationalismus und zum Souveränitätsdogma sei die dualistische Lehre wenig „europatauglich“; im Übrigen sei es verwunderlich, dass sich der EuGH ausgerechnet im Namen der Menschenrechte – die insbesondere auch durch das Völkerrecht ihre heutige Bedeutung erlangt haben – auf diese Lehre berufe.407 Hingewiesen wurde auch auf die durch den neuen dualistischen Ansatz des EuGH gestiegene Wahrscheinlichkeit von Völkerrechtsverletzungen durch die EU und Mitgliedstaaten.408 Interessant ist in diesem Zusammenhang ebenfalls, dass sich auch das Bundesverfassungsgericht in seiner – wiederum als europaskeptisch kritisierten409 – Lissabon-Entscheidung der Argumentation des EuGH im Kadi I-Urteil bedient hat, um den absoluten Vorrang des Europarechts in Frage zu stellen und damit die Argumentation des EuGH gegen diesen selbst zu wenden:410 „Insofern widerspricht es nicht dem Ziel der Völkerrechtsfreundlichkeit, wenn der Gesetzgeber ausnahmsweise Völkervertragsrecht [. . .] nicht beachtet, sofern nur auf diese Weise ein Verstoß gegen tragende Grund403

Tomuschat, Art. 281 EGV, Rn. 62. Ott zufolge neigte die Mehrheit der Literatur dazu, das Rechtsverständnis des EuGH als monistisch zu bezeichnen, S. 7, m.w. N. Anzumerken ist, dass die Feststellung des EuGH in der Rechtssache Racke (EuGH, Urt. v. 16.6.1998 – Rs. C-162/96, Slg. 1998-I, S. 3655, Rn. 46 – Racke), Völkergewohnheitsrecht sei auch ohne ausdrückliche Anwendungsklausel Bestandteil der Unionsrechtsordnung, nicht notwendigerweise für ein monistisches Verständnis spricht (so aber Schmalenbach, Art. 216 AEUV, Rn. 52), siehe hierzu die Ausführungen zur Rechtsordnung des Vereinigten Königreiches, 2. Teil D. II. 1. b). 405 So auch die generelle Einschätzung in der Literatur, siehe Poli/Tzanou, S. 535. Fassbender zufolge wendet sich der EuGH mit dem Kadi I-Urteil von seinem bisherigen, grundsätzlich monistischen Verständnis ab, Triepel, S. 333, 335 f. 406 Fassbender, Triepel, S. 338. 407 Fassbender, Triepel, S. 339. 408 Giegerich, Verfassungsstaat, S. 31. 409 Siehe die Nachweise bei Mayer, S. 275, Fn. 75. 410 Fassbender, Triepel, S. 340 f., der dies kommentiert mit: „Die ich rief, die Geister . . .!“ Giegerich, Federal Constitutional Court, S. 24 weist allerdings zutreffend darauf hin, dass die Ausgangslage des Kadi-Urteils des EuGH nicht vergleichbar mit der des Lissabon-Urteils des BVerfG ist, da die EU als Nicht-Mitglied der UN nicht zur Umsetzung der Sicherheitsresolution verpflichtet war, das Kadi-Urteil nur den Schutz grundlegender Menschenrechte betraf und keinerlei Rechtsschutz auf UN-Ebene erlangt werden konnte. 404

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sätze der Verfassung abzuwenden ist [. . .]. Eine entsprechende Auffassung hat auch der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften mit seiner Entscheidung vom 3. September 2008 in der Rechtssache Kadi zugrunde gelegt [. . .]. Damit hat der Gerichtshof in einem Grenzfall die Selbstbehauptung einer Identität als Rechtsgemeinschaft über die ansonsten respektierte Bindung gestellt [. . .].“ 411 Diese jüngere dualistische Entwicklung kann nicht nur dem EuGH zugerechnet werden: Das Europäische Parlament forderte bereits 1997 in seiner Entschließung zu den Beziehungen zwischen dem Völkerrecht, dem Gemeinschaftsrecht und dem Verfassungsrecht der Mitgliedstaaten, eine „im EG-Vertrag festgeschriebene Lösung des Verhältnisses des Völkerrechts zum Europarecht i. S. einer Gleichstellung der EG mit Nationalstaaten, was bedeutet, daß das Völkerrecht nicht unmittelbar gilt, sondern nur nach der Erklärung seiner Anwendbarkeit durch einen inneren Rechtsakt der EG oder nach der Transformation seines Inhalts in Rechtssatzformen des EG-Rechts“.412 Eine stärker dualistisch orientierte Rechtsprechung des EuGH trägt somit dieser Auffassung des Europäischen Parlamentes Rechnung. Allerdings lässt die bereits erwähnte Entscheidung des EuGH aus dem Jahre 2012 zur verweigerten Einreise des damaligen ungarischen Präsidenten in die Slowakei413 wiederum monistische Züge erkennen. Der EuGH hielt das slowakische Vorgehen aufgrund des besonderen völkerrechtlichen Status eines Staatsoberhauptes für zulässig; dieser weise „eine Besonderheit auf, die sich aus der völkerrechtlichen Regelung dieses Status ergibt, so dass Handlungen des Staatsoberhaupts auf internationaler Ebene, wie sein Aufenthalt im Ausland, dem Völkerrecht und insbesondere dem Recht der diplomatischen Beziehungen unterliegen. Eine derartige Besonderheit ist geeignet, die Person, die diesen Status genießt, von allen anderen Unionsbürgern abzugrenzen, so dass die Einreise dieser Person in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats nicht denselben Voraussetzungen unterliegt, die für die anderen Bürger gelten. Hieraus folgt, dass der Umstand, dass ein Bürger der Union das Amt eines Staatsoberhaupts bekleidet, eine aus dem Völkerrecht folgende Beschränkung des ihm von Art. 21 AEUV gewährten Rechts auf Freizügigkeit rechtfertigen kann.“ 414 Die Annahme, eine Beschränkung des primären Unionsrechts folge direkt aus dem Völkerrecht, ist mit einer dualistischen Auffassung nicht zu vereinen. Festzuhalten bleibt damit, dass sich jedenfalls derzeit keine eindeutige Einschätzung darüber treffen lässt, ob die Unionsrechtsordnung primär monistisch oder dualistisch orientiert ist. 411

BVerfGE 123, 267 (400 f.) – Lissabon. Entschließung des Europäischen Parlaments zu den Beziehungen zwischen dem Völkerrecht, dem Gemeinschaftsrecht und dem Verfassungsrecht der Mitgliedstaaten, Amtsblatt Nr. C 325 vom 27/10/1997, S. 26, B. 14 (Hervorhebung hinzugefügt). 413 Siehe hierzu 3. Teil C. I. 5. c). 414 EuGH, Urt. v. 16.10.2012, Rs. C-364/10, Rn. 49–51 – Hungary v. Slovak Republic (Hervorhebung hinzugefügt). 412

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Betrachtet man die Überführung völkerrechtlicher Verträge in die Unionsrechtsordnung, so ist festzustellen, dass ebenfalls keine Einigkeit darüber besteht, wie Art. 216 Abs. 2 AEUV aufzufassen ist: Von strikten „Monisten“ wird unter Berufung auf die Rechtsprechung des EuGH („integrierender Bestandteil der Unionsrechtsordnung“) ein unionsrechtlicher Übertragungsakt für entbehrlich gehalten, strikte „Dualisten“ werten den Genehmigungsbeschluss des Rates nach Art. 218 Abs. 6 als unionsrechtlichen Transformationsakt, während nach jeweiliger „gemäßigter“ Auffassung Art. 216 Abs. 2 AEUV einen Generaltransformator bzw. einen generellen Vollzugsbefehl darstellt.415 Nicht überzeugend erscheint die Annahme, dass völkerrechtliche Verträge entweder speziell (durch den Genehmigungsbeschluss des Rates) oder generell (nach Art. 216 Abs. 2 AEUV) in das Unionsrecht transformiert werden. Erstere Annahme lag näher, als die Gemeinschaft statt eines Beschlusses (Art. 218 Abs. 6 AEUV) noch eine Verordnung erließ, um das Ergebnis der Vertragsverhandlungen zu billigen und den Willen zu bekunden, eine völkerrechtliche Bindung einzugehen.416 Jedoch wurde bereits damals teilweise die zumeist vom Rat – vielfach unter Parlamentsbeteiligung – erlassene, den Vertragstext wiedergebende Verordnung417 von der Literatur nicht als Umsetzung durch ein Zustimmungsgesetz,418 sondern eher als die Erteilung des Abschlussmandates an den Rat nach Art. 218 AEUV verstanden.419 Zudem wurde darauf hingewiesen, die Praxis sei nicht eindeutig, da nicht immer in Wiedergabe des Vertragstextes eine Verordnung des Rates erlassen würde.420 Mit der Festlegung auf die Form eines Beschlusses in Art. 218 Abs. 6 AEUV dürfte noch deutlicher sein, dass dies keinen Akt der speziellen Transformation darstellt. Entsprechend ist auch in der Literatur angemerkt worden, der Verzicht auf den Erlass einer Verordnung sei „deshalb gerechtfertigt, weil eine internationale Übereinkunft innerhalb der EU nicht lediglich im Range einer VO steht, sondern jeglichem Sekundärrecht vorgeht“.421 Gegen die Einstufung des Art. 216 Abs. 2 AEUV als Generaltransformator spricht entscheidend, dass der EuGH in seiner Rechtsprechung auf das völkerrechtliche Inkrafttreten des betreffenden Vertrages abstellt und diese als „integrierenden Bestandteil der Gemeinschaftsrechtsordnung“ 422 bezeichnet.423 415

Siehe Schmalenbach, Art. 216 AEUV, Rn. 31 m.w. N. Terhechte, Art. 218 AEUV, Rn. 15. 417 Terhechte, Art. 218 AEUV, Rn. 15 (Hervorhebung weggelassen), zur wechselnden Praxis der Gemeinschaft: „[. . .] in der Entwicklung der Gemeinschaft wurde zunächst die Form eines einfachen Beschlusses gewählt, danach die der Verordnung.“ 418 So aber Schwarze, EWG, S. 461, der von einer „dem Zustimmungsgesetzverfahren der Mitgliedstaaten vergleichbaren Praxis“ sprach. 419 Ott, S. 72 f. 420 Ott, S. 73; Groux/Manin, S. 119. 421 Terhechte, Art. 218 AEUV, Rn. 15. 422 EuGH, Urt. v. 30.4.1974 – Rs. 181/73, Slg. 1974, S. 449 (460) – Haegeman; Urt. v. 15.6.1999 – Rs. C-321/97, Slg. 1999-I, S. 3551, Rn. 26 – Andersson. 416

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Art. 216 Abs. 2 AEUV ist damit entweder als Ausdruck der Vollzugs-424 oder der Adoptionstheorie für den Bereich der Unionsabkommen anzusehen. Da sich die Vollzugs- und die Adoptionstheorie beträchtlich angenähert haben425 und beide – im Gegensatz zur Transformationstheorie – einen Anhaltspunkt für die Völkerrechtsfreundlichkeit einer Rechtsordnung darstellen können, kann die Zuordnung des Art. 216 Abs. 2 an dieser Stelle dahinstehen. Erforderlich ist es hingegen, die Kriterien festzustellen, die für die Völkerrechtsfreundlichkeit der Überführung des Völkerrechts in die Unionsrechtsordnung sprechen: Völkerrechtsfreundlich erscheint es zunächst, dass nach anerkannter EuGH-Rechtsprechung426 das Völkergewohnheitsrecht auch ohne ausdrücklichen Anwendungsbefehl Bestandteil der Unionsrechtsordnung ist. Auch Art. 216 Abs. 2 AEUV streitet für die Völkerrechtsfreundlichkeit der Unionsrechtsordnung, da es sich um einen antizipativen Anwendungsbefehl handelt, der für alle – bisherigen und zukünftigen – Abkommen als hinreichend betrachtet wird und die auf Primärrechtsebene angesiedelte Öffnung gegenüber dem Völkerrecht nur schwer – mithilfe einer Vertragsänderung – widerrufbar ist.427 Insgesamt spricht dies für die grundsätzliche Völkerrechtsfreundlichkeit der Unionsrechtsordnung.

II. Erforderlichkeit eines zusätzlichen Kriteriums: Die Problematik der „Altverträge“ Da die EWG nicht im völkerrechtsleeren Raum entstanden ist, sondern ihre Mitgliedstaaten vor ihrer Gründung bereits vielfachen völkerrechtlichen Bindungen unterlagen,428 stellt sich ferner die Frage, wie die Union mit den Vorbindungen der Mitgliedstaaten umgeht. Erneut zeigt sich, dass die Untersuchung der Völkerrechtsfreundlichkeit des Unionsrechts zusätzliche Probleme – vorliegend den Umgang mit den völkerrechtlichen Altverträgen der Mitgliedstaaten – aufwirft, die sich bei einer Untersuchung der Völkerrechtsfreundlichkeit einer nationalen Rechtsordnung nur bei Entstehung eines Bundesstaates stellen. Die Völker423

Hilpold, GATT/WT, S. 310 f. So Khan, Rn. 18; Tomuschat, Art. 300 EGV, Rn. 68 m.w. N., a. A.: Peters, International Law, S. 76 m.w. N. 425 Noch weitergehend Rudolf, S. 165: „Vollzugslehre und Adoptionslehre sind demnach nur verschiedene Bezeichnungen derselben Theorie.“ 426 EuGH, Urt. v. 16.6.1998 – Rs. C-162/96, Slg. 1998-I, S. 3655, Rn. 46 – Racke. 427 Hilpold, GATT/WTO, S. 316: „Der in dieser Form ergangene Anwendungsbefehl verliert damit jene dualistischen Merkmale, die ihm im Rahmen der Vollzugslehre innewohnen: Die Öffnung gegenüber dem Völkerrecht ist primärrechtlich angesiedelt und nur mehr im Rahmen einer Vertragsänderung widerrufbar. Sie erfolgt auf einer permanenten Basis und nicht im Rahmen von diskretionären Entscheidungen.“ 428 So ergab eine Untersuchung der Kommission aus dem Jahre 1969 (SEC[69]1175 endg. vom 28.3.1969) allein 128 Freundschafts-, Handels- und Schifffahrtsabkommen und 196 Handelsabkommen im engeren Sinne zwischen Mitgliedstaaten und Drittstaaten, zitiert nach Kuijper, S. 1332. 424

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rechtsfreundlichkeit der Union bemisst sich daher nicht nur danach, wie sie ihre eigenen völkerrechtlichen Verträge behandelt, sondern ebenso danach, ob die Mitgliedstaaten nach der von ihnen in den Gründungsverträgen gewählten Konstruktion in der Lage sind, ihre bestehenden völkerrechtlichen Verpflichtungen weiter zu erfüllen. 1. Art. 351 AEUV als Ausdruck der völkerrechtskonformen Integration Die Problematik der sog. Altverträge der EU-Mitgliedstaaten ist in Art. 351 AEUV (ex-307 EGV, ex-Art. 234 EWGV) geregelt. Altverträge im Sinne dieser Regelung sind diejenigen Verträge, die von den Mitgliedstaaten vor dem 01.01. 1958 – dem Tag des Inkrafttretens der Verträge über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und die Europäische Atomgemeinschaft (EURATOM) – bzw. für später hinzutretende Staaten vor dem Datum ihres Beitritts geschlossen wurden. Zu Recht wird vorgeschlagen, diese Norm auch analog auf völkergewohnheitsrechtliche Normen anzuwenden.429 Die Literatur befürwortet zudem mehrheitlich eine Analogie für den Fall einer späteren Kompetenzübertragung auf die Union.430 Zu dieser vom EuGH noch nicht geklärten Frage hat Generalanwältin Kokott in ihren Schlussanträgen vom 13.03.2008 geäußert, eine analoge Anwendung der Norm sei „vorstellbar, wenn eine internationale Verpflichtung eines Mitgliedstaats mit einer nachfolgend verabschiedeten Maßnahme des Sekundärrechts in Konflikt gerät.“ 431 Die mögliche Übertragbarkeit des Art. 351 AEUV auf Fälle der Kompetenzübertragung betrifft seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon auch den wichtigen Bereich der ausländischen Direktinvestitionen.432 Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Lissabon-Urteil zur entsprechenden Zuweisung der – eng verstandenen – ausschließlichen Kompetenz an die Union (Art. 207 Abs. 1 AEUV) ausgeführt, dass der rechtliche Fortbestand bestehender Verträge nicht gefährdet sei; auch wenn Art. 351 Abs. 1 AEUV auf nach dem in dieser Norm genannten Zeitpunkt abgeschlossene bilaterale Investitionsschutzabkommen (bilateral investment treaties, BIT) nicht unmittelbar anwendbar sei, sei „der Vor429 Schmalenbach, Art. 351 AEUV, Rn. 3, die aber auch darauf hinweist, dass die Union ohnehin vielfach an dieselben völkergewohnheitsrechtlichen Normen wie ihre Mitgliedstaaten gebunden ist. 430 Siehe beispielsweise Lavranos, Rn. 6; Terhechte, Investitionsschutzverträge, S. 145. Restriktiver ist die von Schmalenbach, Art. 351 AEUV, Rn. 8, vertretene Ansicht, eine analoge Anwendung dieser Norm käme nur in Betracht, wenn der Altvertrag gegen jüngeres materielles Primärrecht (Art. 48 EUV) oder jüngeres materielles Sekundärrecht verstoße, das beispielsweise unter Rückgriff auf Art. 352 oder nach einer Kompetenzverschiebung erlassen wurde, da nur dann eine identische Problemlage gegeben sei. 431 Generalanwältin Kokott, Schlussanträge vom 13.3.2008 – Rs. C-188/07, Slg. 2008-I, S. 4501, Rn. 95 – Commune de Mesquer. 432 Terhechte, Investitionsschutzverträge, S. 145.

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schrift der Rechtsgedanke zu entnehmen, dass ein rechtstatsächlicher Zustand in den Mitgliedstaaten durch einen späteren Integrationsschritt grundsätzlich nicht beeinträchtigt“ werde.433 Das BVerfG forderte auch, dass die bestehenden Investitionsschutzverträge von der EU zu genehmigen seien und verwies auf die Entscheidung des Rates434 zur Genehmigung der stillschweigenden Verlängerung oder der Aufrechterhaltung derjenigen Bestimmungen von Freundschafts-, Handels- und Schifffahrtsabkommen sowie Handelsabkommen zwischen den Mitgliedstaaten und Drittländern, deren Gegenstand unter die gemeinsame Handelspolitik fällt.435 In der Literatur sind diese Passagen kommentiert worden mit der Feststellung, eine mögliche, gegebenenfalls analoge Anwendung der Norm stünde damit unter Verfassungsrichtervorbehalt; eine Kompetenzüberschreitung läge nur bei Erhaltung der existierenden Verträge nicht vor.436 Für die Anwendung des Art. 351 AEUV muss nach dem Wortlaut der Vorschrift mindestens ein Drittstaat Vertragspartner sein, d.h. Verträge unter Unionsstaaten (sog. inter-se-Abkommen) fallen nicht unter diese Regelung.437 Die Frage nach der innerunionalen Behandlung438 von inter-se-Abkommen betrifft insbesondere den Bereich der bilateralen Investitionsschutzabkommen. Hierbei handelt es sich um völkerrechtliche Verträge, mit denen Investoren der Vertragsstaaten bestimmte materielle Rechte im jeweiligen Gaststaat (u. a. Enteignungsschutz sowie Meistbegünstigung) sowie die Möglichkeit auf Einleitung eines Schiedsgerichtsverfahrens garantiert werden.439 Die genaue Anzahl der zwischen den Mitgliedstaaten abgeschlossenen BIT (sog. Intra-EU BIT) dürfte ein dankbares Objekt der Rechtstatsachenforschung sein: In einem Beitrag aus dem Jahre 2010 wurde sie auf 376 beziffert;440 nach anderen Angaben aus teilweise anderen Jahren sollen es lediglich 190,441 170442 oder 150443 sein. Da ein nicht unerheb433

BVerfGE 123, 267 (421 f.) – Lissabon. Entscheidung des Rates 2001/855/EG vom 15.11.2001, ABl. Nr. L 320/13. 435 BVerfGE 123, 267 (421 f.) – Lissabon. 436 Terhechte, Investitionsschutzverträge, S. 153. 437 Schmalenbach, Art. 351 AEUV, Rn. 9. 438 Eine Darstellung darüber, wie diese Abkommen vor Schiedsgerichten behandelt werden, findet sich bei Ghouri, S. 823–826; Burgstaller, S. 132–138; Henquet, S. 376– 378, Yotova, S. 403 („On the plane of international dispute settlement, all positions expressed by the Commission regarding the incompatibility between intra-EU BITs and EU law and the resulting lack of jurisdiction of investment treaty tribunals, have been unanimously rejected by all such tribunals and by all arbitrators sitting on them.“); Weis/Steiner, S. 371 („In the – so far few – investment arbitration cases on the issue, arbitral tribunals have determined that intra-EU BITs were not implicitly terminated when those countries acceded to the EU.“). 439 Ghouri, S. 806 f. 440 Ghouri, S. 807. 441 Weis/Steiner, S. 358, in einem 2013 veröffentlichten Beitrag. Friedrich, S. 298, schätzte die Zahl in einem 2010 erschienenen Beitrag ebenfalls auf „[e]twa 190“. So auch Tietje, S. 6. 434

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licher Teil der eingeleiteten Investor-Staat-Schiedsverfahren auf Intra-EU BIT basiert,444 ist die Frage nach der Behandlung dieser Abkommen auch praktisch bedeutsam. Die Kommission hat sich aber nicht nur wiederholt in Schiedsverfahren gegen die Anwendung von Intra-EU BIT eingesetzt, was ihr internationale Kritik eingebracht hat.445 Im Juni 2015 hat sie überdies Österreich, den Niederlanden, Rumänien, der Slowakei und Schweden ein Aufforderungsschreiben zur Beendigung ihrer Intra-EU BIT übersandt (erste Stufe des Vertragsverletzungsverfahrens nach Art. 258 AEUV) sowie einen administrativen Dialog mit den anderen von diesem Sachverhalt betroffenen 21 Mitgliedstaaten446 eingeleitet.447 Abgesehen von diesen beiden Erfordernissen (Altvertrag, Drittstaat) lässt sich dem Wortlaut von Art. 351 AEUV keine weitere inhaltliche Begrenzung, z. B. auf bestimmte Formen der völkerrechtlichen Verträge, entnehmen. Der EuGH hat insofern auch ausgeführt, es handele sich bei diesem Artikel um „eine Vorschrift von allgemeiner Tragweite: Er gilt unabhängig von dem in ihnen geregelten Gegenstand für alle internationalen Übereinkünfte, die sich auf die Anwendung des Vertrages auswirken können.“ 448 Für später beigetretene Staaten enthalten die zum Primärrecht gehörenden Beitrittsverträge Regelungen, die die Reichweite dieses Artikels im Hinblick auf die besonderen Umstände der jeweiligen EU-Erweiterung näher spezifizieren.449 Hierbei ist festzustellen, dass sich seit der großen Erweiterungsrunde im Jahre 2004 die auf internationale Fragen bezogenen Beitrittsanforderungen radikal verändert haben und die Regelung des (damaligen) Art. 307 EGV in den Beitrittsdokumenten450 weiter verschärft worden ist, was mit dem bloßen Umfang dieser Erweiterungsrunde und der Angst vor sich möglicherweise hieraus ergebenden Schwierigkeiten zusammenhängen könnte.451

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Yotova, S. 388, unter Berufung auf Angaben der Kommission von 2011. Henquet, S. 375 f., in seinem 2013 veröffentlichten Beitrag. 444 Siehe hierzu die statistischen Angaben bei Yotova, S. 388. 445 Weis/Steiner, S. 369–371. Siehe auch Henquet, S. 378: „The European Commission has been mounting a political campaign against intra-EU BITs. However, the policy rationale underlying the Commission’s stance against intra-EU BITs is questionable.“ 446 Irland und Italien hatten ihre entsprechenden Abkommen 2012 bzw. 2013 gekündigt. 447 Siehe Pressemitteilung der Europäischen Kommission vom 18.06.2015 (IP/15/ 5198). 448 EuGH, Urt. v. 14.10.1980 – Rs. 812/79, Slg. 1980, S. 2787, Rn. 6 – Burgoa. 449 Lic ˇ ková, S. 473. 450 Siehe Art. 6 des Act concerning the conditions of accession of the Czech Republic, Estonia, Cyprus, Latvia, Lithuania, Hungary, Malta, Poland, Slovenia and the Slovak Republic and the adjustments to the Treaties on which the European Union is founded, OJ Volume 46, L 236, S. 33 (34 f.). 451 Lic ˇ ková, S. 473. 443

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a) Unberührtheitsklausel Art. 351 Abs. 1 AEUV enthält eine Unberührtheitsklausel, derzufolge die sich aus den Altverträgen ergebenden Rechte und Pflichten durch die Verträge nicht berührt werden. Dem bloßen Wortlaut dieser Vorschrift zufolge dürften daher auch die Mitgliedstaaten der Union ihre Rechte aus den Altverträgen gegenüber den Drittstaaten einfordern. Gegen eine solche Deutung spricht aber, dass Abs. 2 S. 1 dieser Norm für den Fall einer Unvereinbarkeit eines Altvertrages mit dem Unionsrecht eine Verpflichtung zur Behebung dieser Unvereinbarkeit unter Anwendung aller „geeigneten Mittel“ enthält und dass S. 2 die Mitgliedstaaten verpflichtet, einander zu diesem Zweck nötigenfalls Hilfe zu leisten. In der Gesamtschau von Art. 351 Abs. 1 und Abs. 2 AEUV wird demnach deutlich, dass die Unberührtheitsklausel des ersten Absatzes eng auszulegen ist, da anderenfalls die weitreichenden, im zweiten Absatz enthaltenen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten sinnlos erscheinen.452 Art. 351 Abs. 2 AEUV zeigt insofern, dass der Normzweck des Art. 351 AEUV nicht im Fortbestand der völkerrechtlichen Verträge um ihrer selbst willen liegt.453 Ziel ist die völkerrechtsgemäße Abwicklung der Verträge. Sinn der Unberührtheitsklausel ist es damit nicht, die Rechte der Unions-Mitgliedstaaten aus dem Vertrag zu bewahren, sondern zu verhindern, dass UnionsMitgliedstaaten gegen ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen verstoßen müssen. Dies bedeutet, dass die Unberührtheitsklausel die Rechte der Drittländer sowie die Pflichten der Mitgliedstaaten aus den Altverträgen unberührt lässt.454 Wenn ein Altvertrag einem Mitgliedstaat hingegen nur ein Recht, nicht aber eine Pflicht einräumt und der Mitgliedstaat bei Wahrnehmung dieses Rechts gegen Unionsrecht verstoßen würde, so kann er sich nicht auf Art. 351 AEUV berufen, sondern muss von der Wahrnehmung seines Rechts Abstand nehmen.455 Der EuGH hat dies in seiner Rechtsprechung auch völkerrechtlich begründet und der Ansicht zugestimmt, „[n]ach den Grundsätzen des Völkerrechts verzichte ein Staat, der eine im Widerspruch zu seinen Rechten aus einem früheren Vertrag stehende neue Verpflichtung eingehe, ipso facto darauf, diese Rechte auszuüben, soweit dieser Verzicht zur Erfüllung der neuen Verpflichtung notwendig sei.“ 456 Einschränkend ist anzumerken, dass sich nicht alle völkerrechtlichen Verträge – insbesondere Menschenrechtsschutzverträge – als Austauschverträge mit Rechten und korrespondierenden Pflichten konstruieren lassen.457 Allerdings sind kei452

Pache/Bielitz, S. 330. Ebd. 454 Schmalenbach, Art. 351 AEUV, Rn. 11 m.w. N. 455 Schmalenbach, Art. 351 AEUV, Rn. 11. 456 EuGH, Urt. v. 27.02.1962 – Rs. 10/61, Slg. 1962, S. 1 (S. 22 f.) – Kommission/ Italien. 457 Klabbers, S. 121. 453

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ne Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der EuGH der Bedeutung und Konzeption von Menschenrechtsschutzverträgen in seiner Rechtsprechung nicht gerecht wird. So hat der EuGH bei der Prüfung einer Grundrechtsverletzung ausgeführt, dass die die Mitgliedstaaten bindenden internationalen Menschenrechtsschutzverträge Hinweise geben können, die im Rahmen des Gemeinschaftsrechts zu berücksichtigen sind.458 Für ein vor dem EU-Beitritt der Slowakei abgeschlossenes slowakisch-schweizerisches Investitionsabkommen sowie einen darauf beruhenden Vertrag hat der EuGH auch festgestellt, dass diese nach Art. 307 Abs. 1 (heute Art. 351 AEUV) geschützt sind.459 Während sich aus Art. 351 AEUV weder eine innerunionsrechtliche Bindung an die Altverträge der Mitgliedstaaten noch eine diesbezügliche Beachtungs- und Erfüllungspflicht der Union ableiten lässt, ergibt sich aus dem Sinn und Zweck dieser Vorschrift ein Behinderungsverbot für die Union.460 Zweck der Vorschrift ist es, den Mitgliedstaaten zu ermöglichen, ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen gegenüber ihren Vertragspartner nachzukommen. Diese Funktion kann die Norm aber – wie der EuGH in der Rechtssache Burgoa zutreffend festgestellt hat – nur erfüllen, wenn sich aus ihr auch eine an die Union gerichtete Pflicht ergibt, die Erfüllung der völkerrechtlichen Verpflichtungen durch die Mitgliedstaaten nicht zu behindern.461 Im Rahmen dieses Behinderungsverbotes sind die Organe der Europäischen Union auch, soweit dies möglich ist, zur völkerrechtsfreundlichen Auslegung des Unionsrechts verpflichtet, um auf diese Weise einen Konflikt zwischen den Altverträgen und dem Unionsrecht zu verhindern.462 Allerdings wird die Union durch dieses Behinderungsverbot nicht in ihren Rechtssetzungsbefugnissen eingeschränkt.463 Sie darf also ohne Einschränkungen von ihren Kompetenzen Gebrauch machen, das Unionsrecht allerdings nicht gegenüber einem durch einen Altvertrag gebundenen Mitgliedstaat durchsetzen.464 b) Anpassungsverpflichtung der Mitgliedstaaten Art. 351 Abs. 2 AEUV verpflichtet die EU-Mitgliedstaaten dazu, Unvereinbarkeiten ihrer Altverträge mit den Gründungsverträgen durch angemessene Mit458

Urt. v. 14.5.1974 – Rs. 4/73, Slg. 1974, S. 491, Rn. 12 – Nold. EuGH, Urt. v. 15.9.2011 – Rs. C-264/09, Slg. 2011-I, S. 8086, Rn. 51 f. – Kommission/Slowakei. Diese Entscheidung des EuGH, bei der dieser das BIT unter Bezugnahme auf die WVK interpretierte, ist in der Literatur positiv aufgenommen worden. Yotova, S. 402, zufolge sei der EuGH – wie die Entscheidung zeige –„able and willing to interpret BITs when necessary to assess their compatibility with EU law, and that it can do so with due regard to the international obligations assumed by the member states.“ 460 Schmalenbach, Art. 351 AEUV, Rn. 20, 23. 461 EuGH, Urt. v. 14.10.1980 – Rs. 812/79, Slg. 1980, S. 2787, Rn. 9 – Burgoa. 462 Schmalenbach, Art. 351 AEUV, Rn. 21. 463 Ebd. 464 Pache/Bielitz, S. 328. 459

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tel zu beheben. Dies macht deutlich, dass Unvereinbarkeiten zwischen Unionsrecht und Völkerrecht grundsätzlich durch Anpassung der Altverträge, nicht aber durch Anpassung des Unionsrechts beseitigt werden sollen.465 Hierbei stellt sich die Frage, wie der Begriff „geeignet“ in der deutschen Fassung (vgl. in anderen Versionen: „all appropriate steps“/„tous les moyens appropriés“) zu interpretieren ist: So wäre es denkbar, dass er sich lediglich auf die Funktionalität, d.h. auf die „Eignung“ des Mittels bezieht. Dies würde bedeuten, dass der Einsatz eines wirksamen, aber völkerrechtswidrigen Mittels (beispielsweise eines Vertragsbruchs) unionsrechtlich zulässig und sogar von Art. 351 Abs. 2 AEUV gefordert wäre. Der Begriff „geeignet“ könnte aber auch weitere Anforderungen bezüglich der (völkerrechtlichen) Rechtmäßigkeit eventuell geeigneter Mittel enthalten, so dass nur der Einsatz völkerrechtskonformer Mittel zur Behebung der Unvereinbarkeit gemeinschaftsrechtlich zulässig wäre. Der Wortlaut spricht eher für ersteres, d.h. für eine wertneutrale Funktionalität des Mittels. Fraglich ist, ob „geeignet“ aufgrund des systematischen Zusammenhanges und dem Telos der Vorschrift aber enger zu verstehen ist. Das Ziel des Art. 351 Abs. 2 AEUV ist es, die festgestellten Unvereinbarkeiten zwischen völkerrechtlichem Abkommen und Unionsrecht zu beseitigen. Durch die Angleichungsmaßnahmen der Mitgliedstaaten sollen die völkerrechtlichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten in Einklang mit dem Unionsrecht gebracht werden. Dies bedeutet, dass der Widerspruch zwischen den völkerrechtlichen Verpflichtungen eines Mitgliedstaates und dem Unionsrecht von der Union nicht in Kauf genommen wird. Der betreffende Mitgliedstaat soll Völkerrecht nicht brechen, sondern die völkerrechtlichen Verpflichtungen, die nunmehr mit dem Unionsrecht unvereinbar geworden sind, abändern. Es wäre vor diesem Hintergrund sinnlos, wenn ein Mitgliedstaat bei der Abänderung seiner völkerrechtlichen Verpflichtungen unionsrechtlich dazu verpflichtet wäre, nötigenfalls gegen das Völkerrecht zu verstoßen. Anders gewendet: Eine Maßnahme, die die Einhaltung der völkerrechtlichen Verpflichtungen ermöglichen soll, ist nur dann geeignet, wenn sie völkerrechtskonform ist. Daher dürfen mit den Verträgen unvereinbare Altverträge nur mit völkerrechtlich zulässigen Mitteln an die unionsrechtlichen Anforderungen angepasst werden.466 Anzumerken ist, dass sich eine Anpassung – im äußersten Fall Kündigung – bestehender Verträge in vielen Fällen keineswegs problemlos gestalten dürfte; in der Literatur ist daher darauf hingewiesen worden, dass Art. 351 Abs. 2 AEUV die aus den Anpassungspflichten möglicherweise resultierenden Probleme „in gewisser Weise antizipiert hat, in der er nach dem Motto: ,Gemeinsam sind wir stark‘ ein gemeinsames Vorgehen der Mitgliedstaaten propagiert.“ 467 465 466 467

Lavranos, Rn. 10. So zutreffend Schmalenbach, Art. 351 AEUV, Rn. 16; Lavranos, Rn. 8. Terhechte, Investitionsschutzverträge, S. 146.

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Die grundsätzliche Völkerrechtsfreundlichkeit dieser Norm wird durch die Rechtsprechung des EuGH im Bereich der bilateralen Investitionsschutzabkommen geschwächt, mit der er gezeigt hat, „[d]ass Art. 351 Abs. 2 AEUV prinzipiell ein scharfes Schwert darstellen kann.“ 468 In den Vertragsverletzungsverfahren gegen Österreich,469 Schweden470 und Finnland471 wegen jeweiliger „Alt“-BIT dieser Staaten stellte der EuGH eine Verletzung dieser Norm fest.472 Die Kommission hatte Österreich und Schweden vorgeworfen, dass die von ihnen abgeschlossenen Investitionsabkommen die nach Art. 57 Abs. 2 EGV, 59 EGV und 60 Abs. 1 EGV vorgesehenen Beschränkungen des freien Kapitalverkehrs mit Drittländern nicht erlaubten und die Staaten nichts unternommen hätten, um dies zu ändern.473 Da der Rat entsprechende Vorschriften zur Beschränkung des freien Kapitalverkehrs noch nicht erlassen hatte, ging es nur um eine „potentielle“ 474 bzw. „hypothetische“ 475 Verletzung dieser Normen, was zu einer Vorverlagerung der Beseitigungspflichten der Mitgliedstaaten führt.476 In der Literatur ist auch darauf hingewiesen worden, dass der EuGH diese Beseitigungspflicht „äußerst rigide“ einfordere, sich dies bei wichtigen multilateralen Verträgen aber schwierig gestalte und sich daher im Kadi-Urteil des EuGH „[n]icht umsonst“ eine solche Aufforderung finden würde, die beim UN-System „wohl einem Tabubruch“ gleichkäme.477 c) Völkerrechtsfreundlichkeit von Art. 351 AEUV Die Unberührtheitsklausel des Art. 351 Abs. 1 AEUV entspricht – grundsätzlich – dem völkerrechtlich Geforderten: Die bestehenden völkerrechtlichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten gegenüber Drittstaaten können durch die Grün468

Ebd. EuGH, Rs. C-205/06, Slg. 2009-I, S. 1301 – Kommission/Österreich. 470 EuGH, Rs. C-249/06, Slg. 2009-I, S. 1335 – Kommission/Schweden. 471 EuGH, Rs. C-07/07, Slg. 2009-I, S. 10889 – Kommission/Finnland. 472 EuGH, Rs. C-205/06, Slg. 2009-I, S. 1301, Rn. 45 – Kommission/Österreich (betroffen waren Investitionsabkommen mit Korea, Kap Verde, Volksrepublik China, Malaysia, Russland und der Türkei); EuGH, Rs. C-249/06, Slg. 2009-I, S. 1335, Rn. 45 – Kommission/Schweden (betroffen waren Investitionsabkommen mit Argentinien, Bolivien, der Côte d’lVoire, Ägypten, Hong Kong, Indonesien, Volksrepublik China, Madagaskar, Malaysia, Pakistan, Peru, Senegal, Sri Lanka, Tunesien, Vietnam, Jemen und Jugoslawien); EuGH, Rs. C-07/07, Slg. 2009-I, S. 10889, Rn. 50 – Kommission/Finnland (betroffen waren Investitionsabkommen mit der früheren Sowjetunion [Rechtsnachfolgerin Russland], Weißrussland, Volksrepublik China, Malaysia, Sri Lanka und Usbekistan). 473 Generalanwalt Maduro, Schlussanträge vom 10.7.2008 – Rs. C-205/06, Slg. 2009-I, S. 1303. 474 Terhechte, Investitionsschutzverträge, S. 147. 475 Lavranos, Rn. 8. 476 Lavranos, Rn. 8. 477 Kottmann, Rn. 259. 469

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dungsverträge nicht abgeändert werden. Dies verbietet sich nach dem Verbot eines Vertrags zu Lasten Dritter478 (pacta tertiis nec nocent nec prosunt), das zum allgemeinen Völkerrecht zählt.479 Dies hat für die bereits völkerrechtlich gebundenen Mitgliedstaaten den Vorteil, dass sie – vorbehaltlich des Absatzes 2 – nicht zur Verletzung ihrer Verpflichtungen aus den Altverträgen gezwungen werden können, sondern dass sie Unionsrecht, das diesen Verpflichtungen widerspricht, unangewendet lassen dürfen.480 An diesem Befund ändert auch die in Art. 351 Abs. 2 AEUV aufgeführte Rechtspflicht des Mitgliedstaates zu Behebung der Unvereinbarkeit nichts. Denn diese Rechtspflicht steht, wie bereits ausgeführt, unter dem Vorbehalt der völkerrechtlichen Zulässigkeit. Zwar ist der in der Literatur geäußerten Vermutung zuzustimmen, dass dieser Artikel weniger dem Schutz der – nach den allgemeinen Regeln des Völkerrechts ohnehin geschützten – bereits bestehenden völkerrechtlichen Abkommen der Mitgliedstaaten als vielmehr der Gewährleistung der Anforderungen des Unionsrechts dient.481 Auch wenn in der Praxis einige Beispiele für eine Anpassung des Sekundärrechts an die Altverträge zu finden sind, soll diese Form der Behebung von Unvereinbarkeiten nur ultima ratio sein.482 Indes bedeutet die Betonung der Unionsinteressen nicht, dass sich dieser Norm auch eine völkerrechtsskeptische Tendenz entnehmen lässt. Aus (außen-)politischer Sicht und unter dem Blickwinkel der internationalen Offenheit und Kooperation mag der unionsrechtlich geforderte Rücktritt eines Mitgliedstaates von einem Altvertrag vielfach zu bedauern sein. Die unionsrechtliche Verpflichtung zum Einsatz eines völkerrechtlich zulässigen Instruments zur Vertragsanpassung kann jedoch nicht als völkerrechtsskeptische Einstellung verstanden werden, da er die normative Kraft des Völkerrechts nicht in Frage stellt. Weniger völkerrechtsfreundlich als die Konzeption des Art. 351 AEUV ist allerdings die dargestellte Rechtsprechung des EuGH, die eine Vorverlagerung der Beseitigungspflichten der Mitgliedstaaten annimmt. Dem – vom EuGH anerkannten – unionsrechtlichen Behinderungsverbot wohnt eine völkerrechtsfreundliche Tendenz inne. Obwohl die Union im Außenverhältnis nicht an die völkerrechtlichen Verträge der Mitgliedstaaten gebunden ist, besteht im Innenverhältnis gegenüber den Mitgliedstaaten eine Nichtbehinderungspflicht. Auch wenn diese Pflicht in erster Linie dem Schutz der Mitgliedstaaten

478

Vgl. Art. 34 WVK, der insoweit Völkergewohnheitsrecht kodifiziert. Art. 30 Abs. 4 b) WVK. 480 Lavranos, Rn. 12. 481 Klabbers, S. 118. 482 Lavranos, Rn. 10, der auf die Beispiele der Mannheimer Rheinschifffahrtsakte von 1868, das Londoner Fischereiübereinkommen vom 9.3.1964 sowie mehrere Altverträge im Bereich der gemeinsamen Handelspolitik (GATT, Rohstoffabkommen) verweist. 479

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und nicht der Vertragspartner dienen soll, begünstigt sie – indirekt – auch das Völkerrecht. Schließlich muss noch darauf hingewiesen werden, dass Art. 351 AEUV weitere Rechtswirkungen vorgemeinschaftlicher Abkommen oder die Übernahme völkerrechtlicher Verpflichtungen durch die Union nicht ausschließt: Neben einem formellen Beitritt der Union – wie dies mit der FAO und der WTO erfolgt ist – kommt hierfür auch eine informelle Rechtsnachfolge der Union durch konkludente Vertragsänderung – wie beim GATT 1947 – in Betracht.483 Eine weitergehende Bindung der EU wird insbesondere auch im – über die EMRK hinausgehenden – Bereich internationaler Menschenrechtsschutzverträge vorgeschlagen: „We argue that the EU should embrace international human rights law by taking full advantage of the existing opportunities to join human rights treaties and collaborating with the monitoring bodies of those treaties to which its Member States are party. It has offered some small tokens of commitment to human rights through its collaboration with the UN High Commissioner for Refugees [. . .].“ 484 Völkerrechtsfreundlich wäre es, wenn der EuGH unabhängig von der völkerrechtlichen Bindung der EU jedenfalls diejenigen internationalen Menschenrechtsschutzverträge, denen alle Mitgliedstaaten angehören, sowie die Wertungen etwaiger Auslegungsinstanzen in seiner Rechtsprechung stärker berücksichtigen würde.485 Anders allerdings die Grant-Entscheidung, in welcher der EuGH zum IPbpR und zu seiner Auslegung durch den Menschenrechtsausschuss wohl nur deswegen Stellung nahm, weil die Klägerin speziell hierauf verwiesen hatte.486 Dieses Urteil ist weit weniger völkerrechtsfreundlich als das Urteil des US-amerikanischen Supreme Court im Fall Lawrence v. Texas, das ebenfalls den Bereich der sexuellen Orientierung betraf.487 Der EuGH äußerte in seiner Entscheidung, dass der Menschenrechtsausschuss „übrigens keine gerichtliche Instanz ist und dessen Feststellungen keinen rechtsverbindlichen Charakter haben“.488 Die vom Menschenrechtsausschuss vertretene weite Auslegung des Begriffes „Geschlecht“ (als auch die sexuelle Orientierung umfassend) lehnte er ab.489 Eine stärkere Berücksichtigung der (neben der EMRK) bestehenden Menschenrechtsschutzverträge im Rahmen der EU-Rechtsordnung würde aber das Risiko vermindern, dass die Mitgliedstaaten aufgrund einer etwaigen Verletzung dieser Abkommen gerügt werden490 oder dass sich für Individuen negative Konsequenzen ergeben.491 483 484 485 486 487 488 489 490

Lavranos, Rn. 13. Butler/de Schutter, S. 319. Vgl. Butler/de Schutter, S. 284. EuGH, Urt. v. 17.2.1998 – Rs. C-249/96, Slg. 1998-I, S. 621 (Rn. 43) – Grant. Siehe hierzu 2. Teil D. I. 1. c). EuGH, Urt. v. 17.2.1998 – Rs. C-249/96, Slg. 1998-I, S. 621 (Rn. 46) – Grant. Ebd. Siehe hierzu Schadendorf, S. 45 f.

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Angemerkt werden soll, dass es zu einem Konflikt zwischen Völkerrecht und Verträgen der Mitgliedstaaten trotz der Regelung des Art. 351 Abs. 1 AEUV bei unionsrechtswidrigem Handeln eines Mitgliedstaates kommen kann: Hinsichtlich der Erfüllung späterer unionsrechtswidriger völkerrechtlicher Verträge, die nach dem 1. Januar 1958 bzw. nach dem Beitritt zur Union geschlossen wurden, können sich die Mitgliedstaaten nicht auf Art. 351 Abs. 1 AEUV berufen, so dass diese Verträge aufgrund des Vorrangs des Primärrechts vor dem Völkerrecht492 innerunional unanwendbar, völkerrechtlich hingegen verbindlich sind.493 Eine solche unter dem Gesichtspunkt der Völkerrechtsfreundlichkeit grundsätzlich problematische Situation ist aber in erster Linie auf das Handeln des Mitgliedstaates selbst zurückzuführen. Da auf völkerrechtlicher Ebene der Grundsatz der Vertragsfreiheit gilt, erscheint es auch nicht völkerrechtsunfreundlich, mit innerunionaler Wirkung Mitgliedstaaten den Abschluss unionsrechtswidriger völkerrechtlicher Verträge zu verbieten. Sofern ein Mitgliedstaat dieser Pflicht zuwiderhandelt und anschließend seine völkerrechtlichen Verpflichtungen aus dem jüngeren Vertrag verletzt, kann dem Geltungsanspruch des Völkerrechts auf völkerrechtlicher Ebene auch durch mögliche Sanktionen wegen Vertragsbruchs494 Rechnung getragen werden.495 Für Altverträge zwischen den Mitgliedstaaten (inter-se-Abkommen) ist unter dem Aspekt der Völkerrechtsfreundlichkeit in dem Umfang keine Regelung zu ihrer innerunionalen Wirkung erforderlich, in dem das Unionsrecht bereits aus völkerrechtlicher Sicht Vorrang vor den wechselseitigen völkerrechtlichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten genießt.496 Die pauschale Feststellung der Literatur, das Unionsrecht würde bei Kollision mit einem inter-se-Abkommen nach völkerrechtlichen Regeln (Art. 30 Abs. 3 WVK, siehe auch 59 Abs. 1 b) WVK) Anwendungsvorrang genießen,497 ist einer Einzelfallbetrachtung zu unterziehen: So könnte für den Spezialfall der Intra-EU BIT eine völkerrechtliche Derogation 491 Butler/de Schutter, S. 319: „In this dysfunctional relationship between the EU and human rights, it is the individual that will suffer as human rights standards are lowered and legal uncertainty prevails.“ 492 Siehe hierzu 3. Teil C. I. 5. a). 493 Kokott, Rn. 4. 494 Siehe hierzu die ILC-Articles on State Responsibility. 495 Siehe aber auch Ghouri, S. 816: „It might be argued, since the only remedy available in international law against violation of a treaty obligation is compensation, the default of a treaty obligation resulting in comparatively lesser burdens is a readily available and relatively uncomplicated option. The recent trends in the investment treaty arbitration, however, where tribunals are willing to award other remedies such as restoration of legal framework, the possibility that the tribunals would not resort to remedies such as specific performance cannot entirely be ruled out.“ Ghouri verweist auf ICSID Case No. ARB/05/20, Rn. 167 f. – Ioan Micula and Others v Romania (Decision on Jurisdiction and Admissibility). 496 Art. 30 Abs. 4 b) WVK. 497 Schmalenbach, Art. 351 AEUV, Rn. 9.

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durch das Unionsrecht (Art. 59 Abs. 1 WVK) ebenso wie die Anwendung der lex posterior-Regel bereits an den verschiedenen Vertragsgegenständen scheitern, da die Art. 63 ff. die getätigten Investitionen nur mittelbar und nur vor Maßnahmen schützen, die sich als Hindernis im grenzüberschreitenden Kapitalverkehr darstellen.498 Außerdem scheint es mehrheitlich an der Absicht der Mitgliedstaaten zu fehlen, ihre BIT zu beenden.499 Zu verweisen ist hier auch auf den Beschluss der Kommission von März 2015, in der diese die Auszahlung einer aufgrund ICSID-Schiedsspruch500 zugesprochenen Entschädigung als eine mit dem Binnenmarkt unvereinbare staatliche Beihilfe im Sinne des Art. 107 Abs. 1 AEUV einstufte (Artikel 1) und den aus dem Schiedsspruch verpflichteten Staat Rumänien zur Nichtzahlung der Entschädigung bzw. zu ihrer Rückforderung verpflichtete (Artikel 2).501 Gegen diesen Kommissionsbeschluss hat die durch den Schiedsspruch begünstigte Partei am 2. September 2015 u. a. mit folgender Begründung Klage beim EuGH erhoben: „Der Beschluss der Kommission berücksichtige nicht, dass Rumänien völkerrechtlich verpflichtet sei, den ICSID-Schiedsspruch unverzüglich umzusetzen, und dass die völkerrechtlichen Verpflichtungen Rumäniens dem Unionsrecht vorgingen. Der Beschluss der Kommission verstoße gegen Art. 351 Abs. 1 AEUV und Art. 4 Abs. 3 EUV, die die Verpflichtungen Rumäniens nach dem ICSID-Übereinkommen und nach dem zwischen Schweden und Rumänien geschlossenen bilateralen Investitionsabkommen anerkennten und schützten.“ 502 Art. 351 AEUV spiegelt – jedenfalls in seiner derzeitigen Praxis durch die Unionsorgane – die völkerrechtliche Rechtslage zum konformen Umgang mit völkerrechtlichen Vorbindungen nur unvollständig wider. Insofern ist es auch nur teilweise zutreffend, dass Art. 351 AEUV in der Literatur als Bekenntnis zum „Grundsatz der völkerrechtskonformen Integration“ 503 bezeichnet wird. Die Bedeutung der in Art. 351 AEUV enthaltenen Regelung ist dennoch hoch. Für die Europäische Union, die sich als Rechtsgemeinschaft begreift, ist der in dieser Norm zum Ausdruck kommende Grundgedanke wichtig, da er zeigt, dass die international rule of law grundsätzlich ernst genommen wird. In dem Ausmaß, in dem die Union Vorbindungen der Mitgliedstaaten nicht im völkerrechtlich ge498

Friederich, S. 300 f., 305; Tietje, S. 13. Friederich, S. 301 f. Siehe auch Weiss/Steiner, S. 371–373 und Tietje, S. 14. 500 Siehe hierzu Art. 54 Abs. 1 Satz 1 ICSID-Convention: „Each Contracting State shall recognize an award rendered pursuant to this Convention as binding and enforce the pecuniary obligations imposed by that award within its territories as if it were a final judgment of a court in that State.“ 501 Siehe hierzu auch den Beschluss (EU) 2015/1470 der Kommission vom 30. März 2015 über die von Rumänien durchgeführte staatliche Beihilfe SA.38517 (2014/C) (ex 2014/NN) Schiedsspruch vom 11. Dezember 2013 in der Sache Micula/Rumänien. 502 Micula and Others v Commission, Rechtssache T-646/14. 503 Lavranos, Rn. 1; Terhechte, Art. 351 AEUV, Rn. 3. 499

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botenen Maße achtet, verliert sie an Glaubwürdigkeit gegenüber Drittstaaten oder internationalen Organisationen. Zudem ist in der Literatur darauf hingewiesen worden, dass die völkerrechtlichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten rechtlich relevante Rahmenbedingungen für Politikbereiche der EU (beispielsweise aus der UN-Charta für die GASP) enthalten.504 2. Umgang mit besonders wichtigen Verträgen der Mitgliedstaaten Art. 351 AEUV gilt – wie bereits ausgeführt – für alle Altverträge der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, ohne dass eine Differenzierung im Hinblick auf den Gegenstand oder die Bedeutung dieser Verträge stattfindet. Es besteht daher die Gefahr, dass diese Vorschrift allein der Bedeutung des Altvertrages nicht in jedem Fall hinreichend Rechnung trägt. Neben der UN-Charta505 muss hier insbesondere an die 1953 in Kraft getretene EMRK gedacht werden, deren Bedeutung für den Menschenrechtsschutz im europäischen Rechtsraum kaum zu überschätzen ist.506 Das Primärrecht sieht daher für bestimmte, überragend wichtige Altverträge einiger oder aller Mitgliedstaaten Sonderregelungen vor. a) Die Europäische Menschenrechtskonvention Die EMRK war von allen Gründungsmitgliedern der EWG mit Ausnahme Frankreichs (Beitritt 1974) bereits vor Gründung der EWG ratifiziert worden, so dass sich auch bezüglich der EMRK die Altverträge-Problematik stellt. Der EMRK kommt in Europa eine erhebliche Bedeutung zu, die sie von den meisten anderen Altverträgen der Mitgliedstaaten unterscheidet. So ist darauf hingewiesen worden, dass es sich bei der EMRK um eine „von einem Grundkonsens der westeuropäischen Verfassungstradition“ getragene Materie handelt.507 Dies rechtfertigt die Existenz von Sonderregelungen zur EMRK im Unionsrecht bzw. verlangt sogar danach. Besondere Verweise auf die EMRK finden sich in dem den Bereich der Grundrechte betreffenden Art. 6 EUV. So enthält diese Vorschrift trotz Verbindlichkeit der Grundrechtecharta (Abs. 1) weiterhin eine Bezugnahme auf die Grundrechte der EMRK (Abs. 3). Der EMRK kommt im Rahmen dieser Regelung ebenso wie den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaa504

Lavranos, Rn. 3. Klabbers, S. 150, beschreibt dies für den Fall der UN-Charta zutreffend mit dem Satz: „All treaties are equal, but some, as they say, are more equal than others [. . .].“ 506 Entscheidenden Anteil an dieser Entwicklung hat insbesondere das in Art. 34 EMRK geregelte obligatorische Individualbeschwerdeverfahren, das Klagen Betroffener vor dem EGMR in Straßburg ermöglicht und so die effektive Durchsetzung der in der EMRK garantierten Rechte gewährleistet. 507 Keller, S. 548. 505

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ten die Funktion einer indiziell wirkenden Rechtserkenntnisquelle zu.508 Der EuGH hatte insofern bereits 1974, d.h. kurz nach dem Beitritt Frankreichs zur EMRK, in der Rechtssache Nold folgendes ausgeführt: „Der Gerichtshof hat bereits entschieden, daß die Grundrechte zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehören, die er zu wahren hat, und daß er bei der Gewährleistung dieser Rechte von den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten auszugehen hat. [. . .] Auch die internationalen Verträge über den Schutz der Menschenrechte, an deren Abschluß die Mitgliedstaaten beteiligt waren oder denen sie beigetreten sind, können Hinweise geben, die im Rahmen des Gemeinschaftsrechts zu berücksichtigen sind.“ 509 Daneben verpflichtet Art. 6 Abs. 2 EUV zum EMRK-Beitritt,510 der allerdings durch das ablehnende Gutachten des EuGH deutlich erschwert wurde.511 Ein solcher Beitritt ist unter verschiedenen Gesichtspunkten wünschenswert: Zum einen würde er eine Außenkontrolle der Handlungen der Union ermöglichen, zum anderen die Gefahr divergierender Rechtsprechung zwischen dem EuGH und dem EGMR reduzieren. In der Entschließung des Europäischen Parlamentes werden diese beiden Gesichtspunkte wie folgt formuliert: „[. . .] der Beitritt zur EMRK wird den Bürgern in einer ähnlichen Weise Schutz gegenüber Handlungen der Union bieten, wie sie ihn derzeit bereits gegenüber Handlungen aller Mitgliedstaten genießen; dies hat umso mehr Gewicht, als die Mitgliedstaaten wichtige Zuständigkeiten an die Union abgetreten haben; die in den Bereichen Rechtsetzung und Rechtsprechung in Bezug auf die Menschenrechte erfolgende Angleichung zwischen den Rechtsordnungen der Union und der EMRK wird [. . .] zu einer harmonischen Entwicklung der beiden europäischen Gerichtshöfe im Bereich der Menschenrechte beitragen und wird zu einem einheitlichen System führen, in dem die beiden Gerichtshöfe einmütig vorgehen [. . .].“ 512 Eine solche Einmütigkeit zwischen EGMR und EuGH ist wünschenswert. Denn auch wenn eine funktionelle Arbeitsteilung die Gefahr divergierender Rechtsprechung zwischen beiden Gerichten abmildert (der EuGH gewährt Grundrechtsschutz grundsätzlich nur gegen Maßnahmen der Union, während sich der EGMR grundsätzlich auf Maßnahmen der Mitgliedstaaten nach der Ausschöpfung des innerstaatlichen Rechtsweges beschränkt), ergeben sich zuneh508

Geiger, Art. 6 TEU, Rn. 27. EuGH, Urt. v. 14.5.1974 – Rs. 4/73, Slg. 1974, S. 491, Rn. 13 – Nold. 510 Siehe hierzu die Entschließung des Europäischen Parlaments vom 19.5.2010, Institutionelle Aspekte des Beitritts der Europäischen Union zur EMRK/Bedingung administrativer Unabhängigkeit des EGMR vom Generalsekretär des Europarates, EuGRZ 2010, S. 362–367. 511 Siehe hierzu 3. Teil B. II. 3. 512 Entschließung des Europäischen Parlaments vom 19.5.2010 (Fn. 510), S. 363. Siehe auch die dort aufgeführten sonstigen Argumente für einen Beitritt der Union zur EMRK. 509

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mend Überschneidungen zwischen diesen Bereichen.513 So überprüft der EuGH im Rahmen der beschränkten Inkorporation Handlungen der Mitgliedstaaten am Maßstab der EMRK-geprägten Unionsgrundrechte (in der sog. Agency-514 und ERT-Situation515), während der EGMR516 über die Mitgliedstaaten jedenfalls indirekt Unionsrecht am Maßstab der EMRK prüft.517 b) Die Charta der Vereinten Nationen Da mit Ausnahme von Deutschland (Beitritt 1973) alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union zuerst Mitglied der Vereinten Nationen waren, müsste Art. 351 AEUV streng genommen auch auf die Satzung der UN-Charta Anwendung finden. Dies würde bedeuten, dass bei einer Unvereinbarkeit der UN-Charta mit dem Primärrecht, z. B. mit den Unionsgrundrechten, die Mitgliedstaaten die in Art. 351 Abs. 2 AEUV genannte Anpassungspflicht treffen würde. Die Annahme einer unionsrechtlichen Anpassungspflicht der UN-Charta erscheint allerdings problematisch: Eine solche Pflicht wird dem Charakter der UN-Charta als einer Art Verfassung der Staatengemeinschaft 518 nicht gerecht. Hier ist nicht nur an die nahezu universelle Mitgliedschaft der Staaten in den Vereinten Nationen zu denken, sondern auch und insbesondere an die Rolle, die dieser Organisation bei der Sicherung des Weltfriedens zukommt, vgl. Art. 1 Nr. 1 UN-Charta. Zudem führt dies zu einem Widerspruch mit dem in Art. 103 UN-Charta statuierten Vorrang vor Verpflichtungen aus anderen internationalen Übereinkünften, da die Gründungsverträge als andere internationale Übereinkunft im Sinne der UNCharta einzustufen sind.519 513

Haltern, Rn. 1155. Hierbei vollzieht ein Mitgliedstaat Unionsrecht gegenüber dem Bürger, siehe Haltern, Rn. 1098–1101; Schorkopf, Grundrechtsverpflichtete, Rn. 19. Anerkannt wurde diese Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten erstmals im Wachauf-Urteil (EuGH, Urt. v. 13.7.1989, Rs. C-5/88, Slg. 1989, S. 2609 [Rn. 19]: „Da auch die Mitgliedstaaten diese Erfordernisse [des Grundrechtsschutzes in der Gemeinschaftsordnung] bei der Durchführung der gemeinschaftsrechtlichen Regelungen zu beachten haben, müssen sie diese, soweit irgend möglich, in Übereinstimmung mit diesen Erfordernissen anwenden.“). 515 Hierbei beruft sich ein Mitgliedstaat auf die Ausnahmeklausel einer Grundfreiheit, siehe Haltern, Rn. 1102–1110. Ausgangsfall war EuGH, Urt. v. 18.6.1991, Rs. C260/89, Slg. 1991, S. 2925 – ERT. Zu dieser Rechtsprechungslinie siehe auch Schorkopf, Grundrechtsverpflichtete, Rn. 21–27 (der darauf hinweist, dass mit zunehmender Effektuierung der EMRK-Durchsetzung der ursprüngliche Anlass zur ERT-Rechtsprechung entfallen ist). 516 Siehe hierzu EGMR, Urt. v. 18.2.1999 – Nr. 24833/94, NJW 1999, S. 3107 – Matthews sowie EGMR, Urt. v. 30.6.2005 – Nr. 45036/98, NJW 2006, 197 – Bosphorus. 517 Haltern, Rn. 1156. 518 Klabbers, S. 150. 519 Vgl. Paulus/Leiß, Art. 103, Rn. 63; EuG, Urt. v. 21.9.2005 – Rs. T 315/01, Slg. 2005-II, S. 3649, Rn. 183 – Kadi I. Zum Verhältnis zwischen Unionsrecht und UNCharta siehe auch die Darstellung des Kadi I-Urteils des EuGH im 3. Teil C. I. 8. b) cc). 514

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Verschiedene, zum Teil bereits genannte primärrechtliche Bestimmungen verdeutlichen jedoch, dass die Unionsrechtsordnung der besonderen Bedeutung der Charta der Vereinten Nationen gerecht wird. Dies zeigt sich bereits im Zielkatalog der Europäischen Union (Art. 3 Abs. 5 EUV), demzufolge die Union einen Beitrag zur Wahrung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen leistet. Auch Art. 21 EUV enthält, wie bereits erwähnt, ausdrückliche Erwähnungen der Charta der Vereinten Nationen. Abgesehen von diesen grundlegenden Bestimmungen stellt sich insbesondere im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik die Frage nach dem Verhältnis zur UN-Charta und zu den sich hieraus ergebenden Verpflichtungen. Bestimmungen über die Vorgehensweise der Union und ihrer Mitgliedstaaten im Rahmen der Vereinten Nationen finden sich in Art. 34 Abs. 2 Unterabs. 2 und 3 des EUV. Art. 34 Abs. 2 Unterabs. 2, Satz 1 EUV enthält eine an die (ständigen und nichtständigen) Sicherheitsratsmitglieder unter den Mitgliedstaaten520 gerichtete Verpflichtung, sich miteinander abzustimmen sowie die anderen Mitgliedstaaten und den Hohen Vertreter vollumfänglich zu unterrichten. Satz 2 verpflichtet die ständigen Sicherheitsratsmitglieder dazu, sich bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben unbeschadet ihrer Verantwortlichkeit aufgrund der UN-Charta für die Standpunkte und Interessen der Union einzusetzen. Der in Art. 34 Abs. 2 Unterabs. 2, Satz 2 EUV zum Ausdruck kommende Vorbehalt („unbeschadet ihrer Verantwortlichkeit aufgrund der UN-Charta“) hat zwei Aspekte: Zunächst ist er Ausdruck des allgemeinen Prinzips, dass von den Sicherheitsratsmitgliedern im Rahmen ihrer GASP-Bindungen nur Handeln verlangt werden kann, das völkerrechtskonform ist.521 Insofern kann sich aus der GASP – was für eine Rechtsgemeinschaft auch selbstverständlich sein dürfte – keine Verpflichtung der ständigen Sicherheitsratsmitglieder zu einem gegen die UN-Charta verstoßenden Handeln ergeben. Weitergehender ist der Vorbehalt jedoch auch in dem Sinne zu verstehen, dass die ständigen Sicherheitsratsmitglieder nicht dazu verpflichtet sind, gegen jeden Sicherheitsratsbeschluss, der nicht vollumfänglich mit der GASP-Ausrichtung übereinstimmt, ein Veto auszulegen, sondern dass ihnen in dieser Hinsicht ein politischer Handlungsspielraum zugestanden wird.522 Unklar ist, was mit den „Verantwortlichkeiten“ aufgrund der UN-Charta gemeint ist, da Art. 23–32 der UN-Charta nur die Aufgaben des Sicherheitsrates, nicht aber spezielle Pflichten seiner Mitglieder beschreibt.523

520 Neben den gem. Art. 23 UN-Charta ständigen Sicherheitsratsmitgliedern Frankreich und Großbritannien können im für die EU günstigsten (aber eher theoretischen) Fall vier weitere EU-Mitgliedstaaten als nichtständige Mitglieder in den Sicherheitsrat einziehen, siehe Marquardt/Gaedtke, Rn. 6. 521 Cremer, Art. 34 EUV, Rn. 8. 522 Cremer, Art. 34 EUV, Rn. 8. 523 Marquardt/Gaedtke, Rn. 7.

C. Völkerrechtsfreundlichkeit der Unionsrechtsordnung

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Weitere im Zusammenhang mit der Charta der Vereinten Nationen relevante Vorschriften aus diesem Bereich sind Art. 42 Abs. 1 Satz 3 EUV, demzufolge die Union bei Missionen in Drittstaaten zur Friedenssicherung, Konfliktverhütung und Stärkung der internationalen Sicherheit an die Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen gebunden ist sowie Art. 42 Abs. 7 Unterabs. 1 Satz 1 EUV, demzufolge bei einem bewaffneten Angriff auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates die Hilfs- und Unterstützungsverpflichtung der anderen Mitgliedstaaten im Einklang mit Art. 51 UN-Charta stehen muss. Folge ist, dass die auf der UNCharta beruhenden Pflichten nicht EU-konform umgestaltet werden müssen. c) Der Nordatlantikvertrag Auch die 1949 gegründete NATO genießt – aufgrund der Abhängigkeit der EU vom militärischen Potenzial der NATO524 – eine Sonderstellung. Der Unterschied zu den beiden erstgenannten Verträgen, der EMRK und der UN-Charta, liegt darin, dass nicht alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union der NATO angehören.525 Unabhängig von dem Umstand, dass der NATO ohnehin nur souveräne Staaten beitreten können, scheidet aufgrund der Neutralitätspolitik mancher EUMitgliedstaaten ein Beitritt der EU zur NATO ohnehin aus.526 Der besonderen Bedeutung, die die NATO-Mitgliedschaft für einige Unionsmitglieder hat, trägt eine entsprechende Klausel in den Bestimmungen über die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik Rechnung. Nach Art. 42 Abs. 2, Unterabs. 2 EUV berührt die Politik der Union nach diesem Abschnitt nicht den besonderen Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik dieser Mitgliedstaaten, sondern achtet die Verpflichtungen dieser Mitgliedstaaten aus dem Nordatlantikvertrag und „ist“ – so die „ex cathedra“-Erklärung des Vertrages527 – vereinbar mit der in jenem Rahmen festgelegten Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Hierbei handelt es sich um eine Selbstbeschränkung der EU im Verhältnis zur NATO.528 Für den Verteidigungsfall enthält Art. 42 Abs. 7, Unterabs. 2 EUV einen Verweis auf die erforderliche Vereinbarkeit mit NATO-Verpflichtungen. 524 Kaufmann-Bühler, Rn. 54, der auf das korrespondierende Interesse der Nato an den zivilen Fähigkeiten der EU verweist. 525 Mitglieder der NATO sind nur 22 der derzeit 28 EU-Mitgliedstaaten: Die NATOGründungsmitglieder Belgien, Dänemark, Frankreich, Italien, Luxemburg, Niederlande, Portugal und das Vereinigte Königreich sowie die später beigetretenen Staaten Griechenland, Deutschland, Spanien, Polen, Tschechien, Ungarn, Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Slowakei, Slowenien und Kroatien. 526 Corbach, S. 265. 527 Kaufmann-Bühler, Rn. 49. 528 Kaufmann-Bühler, Rn. 51, demzufolge diese Norm nicht dahingehend ausgelegt werden könne, dass ein Vorrang der NATO bestünde; dies verbiete sich nicht zuletzt aufgrund des Umstandes, dass deren Rechtsakte für die Mitgliedstaaten, die nicht zur NATO gehören, res inter alios acta seien.

216

3. Teil: Int. Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit des Unionsrechts

III. Ergebnis der Untersuchung: „Natürliche“ oder „erarbeitete“ Völkerrechtsfreundlichkeit? Von einem klaren Urteil über die Bedeutung des Völkerrechts in der EURechtsordnung ist die Literatur weit entfernt: Die Rechtsprechung des EuGH erscheine abhängig vom Standpunkt des Beobachters und dem Untersuchungsgegenstand „mal als überaus völkerrechtsfreundlich, mal als geradezu völkerrechtsvergessen.“ 529 In diesem Sinne soll den bereits eingenommenen Standpunkten und Untersuchungsgegenständen ein weiterer hinzugefügt werden: Zusammenfassen lässt sich das vorliegende Untersuchungsergebnis dahingehend, dass die Unionsrechtsordnung grundsätzlich eine natürliche Völkerrechtsfreundlichkeit und internationale Offenheit aufweist. Auch wenn dieser Begriff im theoretischen Teil der Arbeit lediglich der Beschreibung des monistischen Systems diente – einer Konzeption, dem das höchste Gericht der vorliegend untersuchten Rechtsordnung in seinem Kadi-Urteil eine deutliche Absage erteilt hat – bietet sich an dieser Stelle seine Benutzung in einem darüber hinausgehenden Sinne an, um auf einen grundlegenden Unterschied zwischen der theoretischen Konzeption der Unionsrechtsordnung und bestimmten praktischen Erscheinungsformen hinzuweisen: Die Untersuchung zeigt, dass der Verfassungstext selbst einen stärker international offenen und völkerrechtsfreundlichen Tenor aufweist als dies teilweise in der Rechtswirklichkeit gelebt wird. Daher können die bisherigen Ergebnisse dahingehend zusammengefasst werden, dass die Unionsrechtsordnung sich durch eine „natürliche“ Völkerrechtsfreundlichkeit und eine „erarbeitete“ Völkerrechtsskepsis auszeichnet – ersteres Element ergibt sich aus dem Verfassungstext selbst, letzteres aus entsprechenden völkerrechtsskeptischen Erscheinungsformen. Die Verwirklichung der in den Verträgen angelegten internationalen Offenheit scheint in der Praxis an bestimmte, politisch gewollte Grenzen zu stoßen: Dies wird insbesondere im Bereich der GASP deutlich. Auch im Bereich des WTO-/ GATT-Rechts dürfte die eher völkerrechtsskeptische Rechtsprechung des EuGH dem politisch Gewollten entsprechen, wie sich anhand der Begründungserwägungen im Ratsbeschluss zur Genehmigung des WTO-Übereinkommens namens der EG zeigt, in denen es im letzten Satz heißt: „Das Übereinkommen zur Errichtung der Welthandelsorganisation einschließlich seiner Anhänge ist nicht so angelegt, dass es unmittelbar von den Rechtsprechungsorganen der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten angeführt werden kann.“ 530

529

Kottmann, S. 243 m.w. N. 94/800/EG: Beschluss des Rates vom 22. Dezember 1994 über den Abschluß der Übereinkünfte im Rahmen der multilateralen Verhandlungen der Uruguay-Runde (1986–1994) im Namen der Europäischen Gemeinschaft in Bezug auf die in ihre Zuständigkeiten fallenden Bereiche, ABl. 1994 Nr. L 336/1. 530

C. Völkerrechtsfreundlichkeit der Unionsrechtsordnung

217

Abgemildert wird dieses Ergebnis allerdings durch das vom EuGH entwickelte Instrument der WTO-/GATT-konformen Auslegung. Die im Vergleich zu anderen völkerrechtlichen Verträgen weniger völkerrechtsfreundliche Rechtsprechung zur unmittelbaren Anwendbarkeit des WTO-/GATT-Rechts dürfte auf die hohe Bedeutung zurückzuführen sein, die der Bereich des internationalen Handelsrechts für die Union hat. So ist das Zusammenspiel zwischen den verschiedenen Rechtsordnungen – Völkerrecht, Europarecht und nationales Recht – im Bereich des internationalen Handelsrechts ausgeprägter als in jedem anderen Bereich, was u. a. auf die Nähe von Binnenmarktzielsetzung und internationaler Handelsliberalisierung zurückzuführen ist.531 In dieser Situation ist es, insbesondere in Anbetracht der fehlenden Gegenseitigkeit, politisch gewollt, der EU und ihren politischen Organen ihren Verhandlungsspielraum zu belassen. Zu berücksichtigen ist allerdings auch, dass es sich bei Teilen der in dieser Untersuchung als eher völkerrechtsskeptisch eingeordneten Rechtsprechung – WTO-/GATT-Recht sowie Kadi I – um besonders gelagerte Konstellationen handelt. Während die EuGH-Rechtsprechung im Bereich des WTO-/GATT-Rechts der Staatenpraxis einiger der wichtigsten Handelspartner der EU entspricht, stellte sich im Kadi I-Fall eine Grundrechtsproblematik, die auf Völkerrechtsebene keine adäquate Lösung fand. Bezüglich Kadi I ist daher nicht das konkrete Ergebnis des Urteils (das zu einem höheren Grundrechtsschutz des Klägers führte), sondern die dort zum Ausdruck kommende dualistische Sicht, mit der der EuGH von seinem bisherigen monistischen Verständnis abrückt, als eher völkerrechtsskeptische Entwicklung zu werten.532 Eine gewisse Völkerrechtsskepsis des EuGH zeigt sich aber auch an anderer Stelle, beispielsweise bei der Verneinung der unmittelbaren Anwendbarkeit des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen.533 Mit Ausnahme der beschriebenen Sonderfälle – insbesondere aus dem Investititionsschutzbereich – wird das Unionsprimärrecht aber der Problematik der Altverträge gerecht. Dies geschieht mithilfe der allgemeinen Regelung des Art. 351 AEUV, ergänzt um spezielle Bestimmungen im Primärrecht, die der besonderen Bedeutung einiger Altverträge wie der EMRK oder der UNCharta angemessen Rechnung tragen. Die teilweise Diskrepanz zwischen Verfassungstext und Lebenswirklichkeit ist in der Literatur damit begründet worden, dass die in Art. 216 Abs. 2 AEUV zum Ausdruck kommende Völkerrechtsfreundlichkeit politisch nicht gewollt sei.534 So sind die besonders völkerrechtsfreundlichen Urteile der Vergangenheit – wie Haegeman und Kupferberg – als „Jugendsünde“ bezeichnet worden, die möglicherweise darauf zurückzuführen sei, dass es sich bei der EG zu diesem Zeit531 532 533 534

Keller, S. 461. Siehe hierzu Fassbender, Triepel, S. 333. Siehe hierzu unter 3. Teil C. I. 4. b). Uerpmann-Wittzack, S. 194.

218

3. Teil: Int. Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit des Unionsrechts

punkt um einen schwachen internationalen Akteur gehandelt habe.535 Aus der zwischenzeitlich gewonnenen Stärke der EU folge aber eine noch größere Verantwortung dazu, zur „strikten Einhaltung und Weiterentwicklung des Völkerrechts“ (Art. 3 Abs. 5 S. 2 EUV) beizutragen.536 Dieser Schlussfolgerung ist zuzustimmen. Insbesondere in Anbetracht der Kolonialvergangenheit und der bisherigen Dominanz einiger europäischer Staaten besteht das Risiko, dass das auswärtige Handeln der EU von Menschen in nichtwestlichen Ländern als Weiterführung einer „imperialistischen Politik“ angesehen werden könnte.537 Die EU hat daher auf internationaler Ebene einen schwierigen Balanceakt zu vollbringen. Einerseits hat sie respektvoll gegenüber anderen Staaten aufzutreten. Andererseits muss sie nicht nur versuchen, ihre eigenen politischen, wirtschaftlichen und sonstigen Interessen durchzusetzen, sondern – schon aus ihrem Selbstverständnis heraus – auch im Verhältnis zu anderen Staaten auf der Einhaltung ihrer grundlegenden Werte, insbesondere der Menschenrechte, beharren. Bereits aus Glaubwürdigkeitsgesichtspunkten ist daher erforderlich, dass die EU den in Art. 3 Abs. 5 Satz 2 EUV vorgesehenen Beitrag zur strikten Einhaltung des Völkerrechts auch tatsächlich leistet.

IV. Tauglichkeit der entwickelten Kriterien Da die Anwendung des entwickelten Modells auf die Unionsrechtsordnung in erster Linie das Ziel verfolgte, die Tauglichkeit der entwickelten Kriterien zu prüfen, ist an dieser Stelle ein entsprechendes Fazit notwendig: Die entwickelten Kriterien bieten Orientierung bei der Auswertung der immensen Menge an möglicherweise relevantem Material. Da in der Rechtswissenschaft die Begrenzung des Untersuchungsgegenstandes mitunter der wichtigste zum Erfolg oder Misserfolg der Untersuchung beitragende Faktor sein dürfte, ist die Orientierungs- und Begrenzungsfunktion des entwickelten Modells bei der versuchsweisen Anwendung auf die Unionsrechtsordnung als positiv zu werten. Ein weiterer Vorteil an dem Modell ist auch seine Orientierung an (relativ) klaren Kriterien, die zu einer Verringerung von das Untersuchungsergebnis verzerrenden Einflüssen führen dürfte. Speziell hinsichtlich der benutzten grundlegenden Theorien (Monismus/Dualismus sowie Adoption/Transformation/Vollzug), über die jedenfalls hinsichtlich der Einzelheiten keine Einigkeit in der Rechtslehre erkennbar ist und die letztlich 535

Tancredi, S. 266. Ebd. 537 Vgl. Onuma, Transcivilizational Perspective, S. 56: „Such rancour, such grudges against colonial rule, intervention, economic exploitation, racial disciminiation, and religious or cultural prejudices by the once imperial, now developed Western nations are widely shared by a large number of people in non-Western societies.“ 536

C. Völkerrechtsfreundlichkeit der Unionsrechtsordnung

219

auch nur eine Annäherung an die Staaten- bzw. Unionspraxis, nicht aber eine vollständig zutreffende Beschreibung dieser ermöglicht, sind gewisse Risiken erkennbar: So gilt es, hierbei Sorge dafür zu tragen, dass das eigentliche Untersuchungsziel – die Völkerrechtsfreundlichkeit einer Rechtsordnung – nicht aus den Augen verloren wird. Die theoretische Qualifizierung einer Norm, eines Urteils oder einer gesamten Rechtsordnung entlang der genannten Parameter kann daher keinen Selbstzweck darstellen, sondern muss sich aus dem Forschungszweck rechtfertigen lassen. Eine überblicksweise Kenntnis der Theorien dürfte im Rahmen der Analyse erforderlich sein, um bestimmte Erscheinungen schlagwortartig einordnen zu können („dualistische Auffassung“), letztlich handelt es sich hierbei aber um ein bloßes Werkzeug. Umgekehrt besteht aber auch die Gefahr, dass bei starrer Anwendung der (notwendigerweise stark abstrahierten) Kriterien andere, für die Untersuchung der Völkerrechtsfreundlichkeit ebenfalls relevante Anhaltspunkte übersehen werden, die der jeweiligen Rechtsordnung zu eigen sind. Dies dürfte insbesondere für atypische Rechtsordnungen wie die Unionsrechtsordnung gelten. Bei der Anwendung des Modells hat sich auch gezeigt, dass es mitunter schwierig ist, eindeutig festzustellen, ob ein Kriterium erfüllt ist oder nicht. Diese Anwendungsschwierigkeiten sind aber der umfangreichen und anspruchsvollen Materie, nicht dem verwendeten Modell geschuldet. Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass die Vorzüge des entwickelten Modells auch seine Nachteile begründen: Während die Verwendung der entwickelten Kriterien es ermöglicht, relativ schnell eine Aussage über die Völkerrechtsfreundlichkeit einer Rechtsordnung zu treffen, macht es diese kriterienorientierte Begrenztheit unmöglich, die Untersuchung der Völkerrechtsfreundlichkeit anders zu strukturieren (z. B. die Entwicklung der Völkerrechtsfreundlichkeit in der Rechtsprechung des jeweils relevanten Gerichts historisch darzustellen,538 was andere Einsichten und Erkenntnisse ermöglicht als die Verwendung des hier entwickelten Modells). Bei der Anwendung des entwickelten Modells besteht zudem die Gefahr, dass der Kontext und die Besonderheiten der jeweiligen Rechtsordnung vernachlässigt werden. Aus diesem Grunde sollten die hier vorgeschlagenen Kriterien andere, möglicherweise „organischere“ Herangehensweisen an die Fragestellung nicht ersetzen, sondern nur ergänzen.

538 Als Beispiel für eine auf diese Art strukturierte Untersuchung siehe den Beitrag „Völkerrechtsfreundlichkeit und Völkerrechtskepsis in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts“ von Schorkopf.

4. Teil

Entwicklungschancen der Konzepte der internationalen Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit Die im zweiten Teil entwickelten und im dritten Teil angewandten Konzepte der internationalen Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit einer Rechtsordnung stellen keine abgeschlossenen, sondern vielmehr entwicklungsfähige Modelle dar. Mögliche Entwicklungen können hierbei sowohl von internationaler als auch von innerstaatlicher Ebene ausgehen. Im Folgenden soll daher kurz dargestellt werden, wie Änderungen auf der internationalen Ebene das Verständnis der internationalen Offenheit (als Oberbegriff zur Völkerrechtsfreundlichkeit) beeinflussen können (siehe hierzu A.). Als wichtiges Beispiel für eine von innerstaatlicher (oder supranationaler) Ebene ausgehende Fortentwicklung des Konzeptes der Völkerrechtsfreundlichkeit soll insbesondere die Möglichkeit der Anerkennung als Verfassungsprinzip näher beleuchtet werden (siehe hierzu B.). An die Darstellung dieser exemplarisch genannten Entwicklungsmöglichkeiten schließt sich ein Fazit an, das naturgemäß nur vorläufig sein kann (siehe hierzu C.).

A. Zukünftige Erweiterung des Konzepts der internationalen Offenheit? Da das Konzept der internationalen Offenheit einen untrennbaren Bezug zu dem – wandelbaren – Verständnis der internationalen Gemeinschaft und dem Völkerrecht aufweist, muss es an etwaige Änderungen auf internationaler Ebene angepasst werden. In der Regel werden Entwicklungen auf völkerrechtlicher Ebene – beispielsweise in Folge des Abschlusses neuer multilateraler Verträge – durch das sich am jeweils geltenden Völkerrecht orientierende rezeptive Element der internationalen Offenheit bereits hinreichend berücksichtigt, so dass insofern keine Anpassung des dargelegten Modells der internationalen Offenheit erforderlich ist. Etwas anderes dürfte jedoch für völkerrechtliche Entwicklungen gelten, die so tiefgehend sind, dass sie das Fundament der Staatlichkeit selbst betreffen und daher auch Auswirkungen auf das Konzept der international offenen Staatlichkeit haben müssen. Im Folgenden sollen deshalb zwei Elemente dargestellt werden, die möglicherweise zukünftig zur internationalen Offenheit einer Rechtsordnung gehören werden. Sollte beispielsweise auf völkerrechtlicher Ebene ein allgemeines Demokratiegebot (siehe hierzu I.) für innerstaatliche Strukturen

A. Zukünftige Erweiterung des Konzepts der internationalen Offenheit?

221

bejaht werden, dann wären die bisherigen drei Elemente der internationalen Offenheit (der rezeptive, der aktive und der menschenbezogene Aspekt) um ein demokratisches Element zu ergänzen. Da der internationalen Offenheit einer Verfassung eine zukunftsgerichtete,1 sich in die Umgebung einfügende Komponente zu eigen ist, stellt sich die zusätzliche Anerkennung eines biozentrischen Elementes als weitere mögliche zukünftige Fortentwicklung des Konzeptes der internationalen Offenheit dar (siehe hierzu II.). Zuletzt erfolgt ein kurzes Fazit (siehe hierzu III.).

I. Einbeziehung eines demokratischen Elementes? Auch wenn die Existenz eines völkerrechtlichen Demokratiegebots nicht unstrittig ist,2 enthält doch bereits die 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verkündete allgemeine Erklärung der Menschenrechte in Art. 21 ein Recht auf Wahlen: „1. Jeder hat das Recht, an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten seines Landes unmittelbar oder durch frei gewählte Vertreter mitzuwirken. [. . .] 3. Der Wille des Volkes bildet die Grundlage für die Autorität der öffentlichen Gewalt; dieser Wille muß durch regelmäßige, unverfälschte, allgemeine und gleiche Wahlen mit geheimer Stimmabgabe oder in einem gleichwertigen freien Wahlverfahren zum Ausdruck kommen.“

Vergleichbare Formulierungen finden sich in Art. 25 a) und b) IPbpR („an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten unmittelbar oder durch frei gewählte Vertreter teilzunehmen“; „bei echten, wiederkehrenden, allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlen, bei denen die freie Äußerung des Wählerwillens gewährleistet ist, zu wählen und gewählt zu werden“). Regionale Bedeutung bei der Gewährleistung eines Rechts auf freie Wahlen erlangen auch Art. 3 des 1. Zusatzprotokolls zur EMRK, Art. 23 der American Convention on Human Rights und Art. 13 Abs. 1 der African Charter on Human and Peoples’ Rights. Zudem 1 Dies zeigt sich bereits an der Entstehungsgeschichte des „offenen“ Grundgesetzes, bei der seine Väter und Mütter „dem Zustand unserer Welt mit kühnem Griff voraus“ eilten, Ipsen, Grundgesetz, S. 38. 2 Siehe Fox, S. 16 f., zu der Frage, ob ein Recht auf demokratische Regierung besteht: „For three principal reasons, the answer must remain uncertain. First, there are relatively few instances in which democracy has been described explicity as a right. None of the major human rights treaties protect democracy as such. [. . .] More common are statements by international bodies which strongly affirm democracy’s importance but lack clear indications of whether the statements are lex lata, de lege ferenda or mere political aspirations. [. . .] A second reason for uncertainty over the existence of a right to democracy [. . .] is a lack of clarity over the purported right’s content. International law has not embraced a single definition of democracy. The traditional elements of customary international law cannot be easily fulfilled if one is not clear on precisely what practice and opinio iuris count towards establishing a democratic norm. A third reason is the deep intrusion into traditional notions of domestic jurisdiction represented by a right to democracy.“

222

4. Teil: Entwicklungschancen der dargestellten Konzepte

hat sich 2005 der World Summit Outcome der UN-Generalversammlung zum Recht auf Demokratie bekannt und dies als „universal value“ bezeichnet.3 Für die dennoch vorhandene Unklarheit darüber, ob ein Recht auf demokratische Regierung besteht, macht Fox drei Hauptgründe aus: „Demokratie“ werde vergleichsweise selten als „Recht“ beschrieben,4 die bestehende Unsicherheit über den Inhalt eines Rechts auf Demokratie5 sowie die Vorstellung der domaine réservé.6 Da das vorliegend vorgeschlagene Modell hinsichtlich der propagierten Übertragungsfähigkeit des Konzeptes der internationalen Offenheit „Neuland“ betritt und die Einbeziehung eines demokratischen Elementes in die „Triade“ der internationalen Offenheit – aufgrund der im Vergleich zur Bedeutung der Menschenrechte geringeren Verankerung eines möglicherweise bestehenden völkerrechtlichen Demokratiegebotes – angreifbar ist, wurde vorliegend hierauf verzichtet. Zwar ist möglicherweise jedenfalls für das Gebiet Europas bereits ein Anspruch auf Demokratie zu bejahen,7 die Einbeziehung regionaler Besonderheiten in ein gewollt verallgemeinerungsfähiges Modell begegnet jedoch Bedenken. Da das Recht auf freie Wahlen (wie es der prozessualen Definition des Demokratiebegriffes entspricht8) in menschenrechtlichen Verträgen abgesichert ist, fließt es bereits nach dem derzeitigen Modell über den menschenbezogenen Aspekt in die Untersuchung ein. Auch bei Zugrundelegung einer materiellen Definition des Begriffs, die von einem engen Bezug zwischen Menschenrechten und Demokratie ausgeht,9 dürfte aus dem menschenbezogenen Element zu folgen sein, dass ein international offener Staat nach demokratischen Prinzipien zu organisieren ist. Dargestellt werden soll aber, welche Änderungen sich aus einer entsprechenden Erweiterung des Konzeptes der internationalen Offenheit ergeben würden: Konkret würde dies zunächst eine weitere (und ggf. symbolträchtige) Verstärkung der Forderung bedeuten, dass ein Staat zwingend im Einklang mit demokratischen Prinzipien organisiert sein muss, um als international offener Verfassungsstaat zu gelten.10 Darüber hinaus könnte aus einem völkerrechtlichen Recht 3

A/RES60/1, Rn. 135. Fox, Rn. 4, weist beispielsweise darauf, dass die EMRK in der Präambel zwar Unterstützung für „eine wahrhaft demokratische politische Ordnung“ erklärt, aber kein Recht auf Demokratie enthält. 5 Fox, Rn. 6. 6 Fox, Rn. 7. 7 Brühl-Moser, S. 987, bejaht einen entsprechenden regionalen, aus dem inneren Selbstbestimmungsrecht fließenden völkergewohnheitsrechtlichen Anspruch auf Demokratie. 8 Siehe hierzu Fox, Rn. 9. 9 Siehe hierzu Fox, Rn. 10. 10 Abhängig davon, ob eine prozessuale oder eine materielle Definition von Demokratie zugrunde gelegt wird, ist dies aber bereits jetzt der Fall. Zu den verschiedenen Definitionsansätzen und ihrer Kritik siehe Fox, S. 8–13. 4

A. Zukünftige Erweiterung des Konzepts der internationalen Offenheit?

223

auf demokratische Regierung für diesen Staat auch die Pflicht folgen, im Sinne einer aktiven Völkerrechtspolitik weltweit auf völkerrechtskonforme und friedliche Weise für Demokratie einzutreten, wie dies beispielsweise die EU bereits im Rahmen ihrer Menschenrechtsdialoge macht.11 In Anbetracht des Umstandes, dass es verschiedene Arten und Ausprägungen der Demokratie gibt,12 dürfte es schwer fallen, die genauen Anforderungen eines etwaigen demokratischen Elementes der internationalen Offenheit zu bestimmen. Unverzichtbar für eine moderne Demokratie dürften aber Mechanismen sein, mit denen die Macht der Machtausübenden beschränkt wird.13 Die Fragen, die eine Untersuchung der EU-Rechtsordnung auf ein etwaiges demokratisches Element aufwerfen würde,14 sind nicht Gegenstand des untersuchten Modells und müssen deshalb vorliegend nicht beantwortet, wohl aber angerissen werden. Zunächst wäre die Frage zu klären, ob ein etwaiges völkerrechtliches Demokratiegebot die EU bindet15 und das demokratische Element dementsprechend überhaupt Anwendung auf die EU finden kann. Sollte das der Fall sein, würden bei einer Analyse der EU-Rechtsordnung auf die Existenz eines demokratischen Prinzips folgende Anhaltspunkte Bedeutung erlangen: Art. 2 EUV benennt die Demokratie ausdrücklich als Unionswert, während Art. 9 EUV an prominenter Stelle16 die Unionsbürgerschaft nennt (Satz 2 und Satz 3) und die demokratische Gleichheit der Bürgerinnen und Bürger im politischen Prozess17 (Satz 1) hervorhebt. Art. 10 EUV legt demokratische Grundsätze nieder: „Die Arbeitsweise der Union“, so Art. 10 Abs. 1 EUV, „beruht auf der repräsentativen Demokratie.“ 18 Die Unionsbürgerinnen und -bürger „sind auf Unionsebene unmittelbar im Europäischen Parlament vertreten“ (Art. 10 Abs. 2 Satz 1 EUV) und „haben das Recht, am demokratische Leben der Union teilzunehmen (Art. 10 11

Siehe hierzu 3. Teil A. I. Brühl-Moser, S. 970. 13 Ebd. 14 Zu denken ist hier beispielsweise an folgende Fragen: Welche Auswirkungen hat die traditionell niedrige Beteiligung an Wahlen zum Europäischen Parlament auf die Untersuchung? Wie wirkt sich die degressiv proportionale Sitzverteilung aus? Inwieweit muss die Rolle nationaler Parlamente trotz fortschreitender europäischer Einigung bewahrt werden? 15 Dies verneinend Kirsch, S. 56 f. 16 Haag, Rn. 8. 17 Haag, Rn. 4, weist darauf hin, dass „Grundsatz der Gleichheit ihrer Bürgerinnen und Bürger“ aufgrund der systematischen Stellung und Entstehungsgeschichte der Norm so zu verstehen sei. 18 Terhechte, Prinzipienordnung, Rn. 36, zufolge, enthält diese Norm „ein vermeintlich eindeutiges Bekenntnis zur repräsentativen Demokratie, bislang fehlt es aber an einem Gesamtkonzept. Dieser Umstand ist schon deshalb problematisch, weil etwa in Deutschland, aber auch in anderen EU-Mitgliedstaaten, die demokratische Legitimation des Unionshandelns inzwischen als Gradmesser für den Fortgang des Integrationsprozesses angesehen wird.“ 12

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4. Teil: Entwicklungschancen der dargestellten Konzepte

Abs. 3 Satz 1 EUV). Art. 10 Abs. 4 EUV hebt die Rolle der politischen Parteien auf Unionsebene heraus. Zu verweisen ist zudem auf Art. 11 EUV zur Bürgerbeteiligung und Art. 12 EUV zur Beteiligung der nationalen Parlamente. Bedeutsam sind auch die das europäische Parlament unmittelbar betreffenden Vorschriften (Art. 14 EUV, 223–234 AEUV). Ebenfalls in den Blick gelangen die Bürgerrechte aus der Grundrechtecharta, insbesondere das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament (Art. 39 GRCh) und den Kommunalwahlen (Art. 40 GRCh). Der EuGH äußerte bereits 1980 und damit zu einem Zeitpunkt, in dem die Rechte des Europäischen Parlamentes noch weitaus schwächer waren, die u. a. in Art. 43 Abs. 2 Unterabs. 3 EWG-Vertrag vorgesehene Parlamentsanhörung „spiegelt auf Gemeinschaftsebene, wenn auch in beschränktem Umfang, ein grundlegendes demokratisches Prinzip wider, nach dem die Völker durch eine Versammlung ihrer Vertreter an der Ausübung der hoheitlichen Gewalt beteiligt sind.“ 19

II. Einbeziehung eines biozentrischen Elementes? Für die zukünftige Ergänzung der internationalen Offenheit um ein biozentrisches Element könnte die Überlegung sprechen, „[d]ie Feststellung bezüglich des Bereichs der Menschenrechte, dass dieser in besonderer Weise auf den grundlegenden Werten der internationalen Gemeinschaft aufbaue, gilt in macher Hinsicht auch für den völkerrechtlichen Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen.“ 20 So handelt es sich bei der Pflicht zum Schutz der Umwelt nach einer in der Literatur geäußerten Ansicht um einen allgemeinen Rechtsgrundsatz des Völkerrechts, da sich aus allen nationalen Verfassung das Minimalgebot ergäbe, „die natürlichen Lebensgrundlagen der Menschen heute und in Zukunft vor erheblichen Schäden und Gefahren zu bewahren“.21 Dieser sei oftmals ausdrücklich in der Verfassung normiert, insbesondere als Staatszielbestimmung und/oder als Grundrecht.22 Auch den Staaten, die den Umweltschutz nicht ausdrücklich in ihrer Verfassung benennen (hierunter USA, Kanada, Japan und Australien) sei dieser, so Lücke, als Staatsziel eigen.23 Diese könne aus der Definition des Staates gefolgert werden; Staaten könnten „ohne menschliches Dasein nicht bestehen und setzen als Folge dessen ein bewohn- und hinreichend nutzbares Territorium voraus. Umweltbeeinträchtigungen, welche die natürlichen Lebensgrundlagen des Men19 EuGH, Urt. v. 29.10.1980 – Rs. C-138/79, Slg. 1980, S. 3333, Leitsatz 4 – Roquette Frères/Rat. 20 Scheyli, S. 121. 21 Lücke, S. 5, 15. 22 Ebd., mit umfangreichen Beispielen aus nationalen Verfassungen des afrikanischen, amerikanischen, asiatischen und europäischen Kontinents. 23 Lücke, S. 6.

A. Zukünftige Erweiterung des Konzepts der internationalen Offenheit?

225

schen zerstören oder zerstören könnten, erweisen sich mithin zugleich als Bedrohung der Staaten selbst. Da kein Staat durch seine Entvölkerung untergehen möchte, wohnte allen Verfassungen unausgesprochen das Gebot inne, auf seinem Territorium fortdauernd ein zufriedenstellendes menschliches Dasein zu gewährleisten. Diese Prämisse impliziert das Staatsziel, die natürlichen Lebensgrundlagen der Menschen heute und in Zukunft vor erheblichen Schäden und Gefahren zu schützen.“ 24 Zudem könne dieses Staatsziel auch mittelbar aus Grundrechten (Recht auf Leben, Gesundheit und Eigentum) entnommen werden.25 Der völkerrechtlichen Pflicht zum Schutz der globalen Umwelt komme überdies ius cogens-Charakter zu – als allgemeiner Rechtsgrundsatz sei dieser Grundsatz von der Staatengemeinschaft angenommen worden; aus seinem Zweck könne auch auf „auf eine stillschweigende Anerkennung geschlossen werden. Dieser Grundsatz will nämlich das Überleben der Menschheit und zugleich den Fortbestand der Staaten sichern. Nur wenn er als ius cogens begriffen wird, kann er diesem Zweck gerecht werden. Seiner Funktion nach enthält er somit zwingendes Recht.“ 26 Die 70 von Lücke zum Nachweis seiner Ansicht angeführten Beispiele aus nationalen Verfassungsordnungen (hierzu zählt auch Art. 20a GG) beeindrucken und lassen die Annahme eines entsprechenden völkerrechtlichen allgemeinen Rechtsgrundsatzes als möglich erscheinen.27 Ob diesem allerdings bereits ius cogens-Qualität zukommt,28 erscheint auch dann zweifelhaft, wenn die Möglichkeit der Gewinnung von zwingendem Recht aus Allgemeinen Rechtsgrundsätzen bejaht wird.29 Das von Lücke vorgebrachte Argument, die Pflicht zum Umwelt24

Lücke, S. 6 f. Lücke, S. 7. 26 Lücke, S. 15. 27 Vgl. hierzu die 1998 von Odendahl, Umweltpflichtigkeit, S. 378, geäußerte Ansicht zu einer möglichen Schranke der Umweltpflichtigkeit der staatlichen Souveränität als allgemeiner Rechtsgrundsatz: „Grundlage eines solchen allgemeinen Rechtsgrundsatzes wäre eine in der Mehrzahl der nationalen Rechtsordnungen feststellbare Umweltpflichtigkeit absoluter Rechte, insbesondere des Eigentums. Diese Umweltpflichtigkeit des Eigentums ist eine im nationalen Rechts teilweise geforderte, aber noch nicht geltende Schranke des Eigentums. Bei Weiterentwicklung des nationalen Rechts wäre jedoch eine aus dem natonalen Recht auf das Völkerrecht übertragbare Umweltpflichtigkeit absoluter Rechte, in diesem Falle der Souveränität denkbar.“ Odendahl, Umweltpflichtigkeit, S. 377, verneinte auch eine völkergewohnheitsrechtliche Anerkennung dieser Schranke, allerdings könne sich diese entwickeln, wofür auch die zunehmende Bereitschaft von Staaten spreche, unweltbedingte Souveränitätseinschränkungen zu akzeptieren. 28 So auch Brunnée, S. 804: „[. . .] one must conclude that pollution reaching such degree that it would represent a threat to the entire international community (e. g. critical ozone depletion or climate change) would be in conflict with a peremptory rule of international law.“ Siehe auch die weiteren Nachweise bei Brunnée, S. 804 f. 29 Dies – auch unter Verweis auf die Entstehungsgeschichte der WVK – ablehnend Hannikainen, S. 245 f. Heintschel von Heinegg, Ungültigkeit, Rn. 44, zufolge scheitert 25

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4. Teil: Entwicklungschancen der dargestellten Konzepte

schutz müsse als ius cogens verstanden werden, um ihren Zweck zu erfüllen, dürfte in der Sache zwar zutreffen, hat aber einen starken lege ferenda-Anklang.30 Unabhängig von dieser Frage scheinen die von Lücke und Brünnee propagierten Verpflichtungen nicht einer genuin biozentrischen Perspektive zu entstammen. Nach zutreffender Ansicht lassen sich nämlich bei einer Untersuchung der Mechanismen des völkerrechtlichen Umweltrechts drei Dimensionen ausmachen: Auf der ersten Stufe geht es nur um die Gewährleistung des menschlichen Selbstinteresses, auf zweiter Stufe wird der generationsübergreifende Aspekt des Umweltschutzes und zuletzt wird ein intrinsischer (und vom Menschen unabhängiger) Wert der Natur anerkannt. Der eingangs dargestellte Grundsatz verbleibt aber auf den ersten beiden Stufen.31 Da die beiden ersten Stufen – aufgrund ihrer beabsichtigten positiven Auswirkungen auf den Menschen – einen Bezug zum menschenbezogenen Aspekt der internationalen Offenheit haben, dürften sie bereits nach dem derzeitigen Modell in die Untersuchung einzubeziehen sein und zwar unabhängig davon, ob es sich überdies bereits um eine völkerrechtliche Verpflichtung handelt (rezeptiver Aspekt). Als deutlichstes Beispiel für die biozentrische Perspektive, bei der es sich nach einer Ansicht um das neue Paradigma im Umweltrecht handelt,32 ist das von der Generalversammlung mit 111 zu 1 (USA) Stimmen angenommene World Charter for Nature (WCN) von 198233 angeführt worden.34 Einschränkend ist allerdings darauf hingewiesen worden, dass es sich hierbei nur um eine unverbindliche Resolution handelt, der zudem mehrere35 Länder nicht zugestimmt hatten.36 In den Erwägungsgründen des WCN heißt es u. a.: „Every form of life is unique, warranting respect regardless of its worth to man, and, to accord other organisms such recognition, man must be guided by a moral code of action.“ Die Überwindung der anthropozentrischen Sichtweise zeigt sich auch darin, dass das WCN dies an der „Abänderbarkeit staatlicher Rechtsordnung aufgrund der Verfassungsautonomie der Staaten (innere Souveränität)“. 30 Dies dürfte – so auch Lücke, S. 15, Fn. 78 – der Einordnung bei Hannikainen, S. 722 f., entsprechen: „However, de lege ferenda, the establishment of at least the following peremptory norms would enable jus cogens to serve considerably better the international community of States [. . .].“ (Hervorhebung im Original). Allerdings spricht der Autor davon, die Annahme „stricter peremptory norms for the protection of the natural environment“ sei besonders wichtig, was auch so verstanden werden kann, dass bereits eine ius cogens-Verpflichtung zum Schutz der Umwelt besteht, die aber nicht weitgehend genug ist. 31 Emmenegger/Tschentscher, S. 549. 32 Emmenegger/Tschentscher, S. 550. 33 A/RES/37/7. 34 Emmenegger/Tschentscher, S. 569. 35 18 überwiegend lateinamerikanische Staaten hatten sich der Stimme enthalten, siehe die Abstimmungsergebnisse in Vereinte Nationen 1983, S. 29. 36 Odendahl, Umweltpflichtigkeit, S. 263.

A. Zukünftige Erweiterung des Konzepts der internationalen Offenheit?

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durchgängig auf die Benutzung des Begriffs „Umwelt“ verzichtet und stattdessen von der „Natur“ spricht.37 Ein eindrucksvolles nationales Beispiel für die biozentrische Perspektive findet sich in Art. 71 Satz 1 und Satz 2 der ecuadorianischen Verfassung38: „La naturaleza o Pacha Mama, donde se reproduce y realiza la vida, tiene derecho a que se respete integralmente su existencia y el mantenimiento y regeneración de sus ciclos vitales, estructura, funciones y procesos evolutivos. Toda persona, comunidad, pueblo o nacionalidad podrá exigir a la autoridad pública el cumplimiento de los derechos de la naturaleza.“ Art. 72 bestimmt, dass die Natur (Pacha Mama) ein Recht auf eine vollständige Wiederherstellung hat. Damit wird die Natur zum ersten Mal – zumal in einer durch Volksabstimmung angenommenen Verfassung – als eigenständiges Rechtssubjekt39 anerkannt, was eine „biozentrische Wendung“ 40 und eine Abkehr von der modernen Vorstellung des immerwährenden Fortschritts darstellt.41 In diesen Verfassungsnormen spiegelt sich die Erkenntnis wider, dass der Natur Werte innewohnen, die nicht abhängig sind von ihrer Nützlichkeit für den Menschen.42 Auch wenn erhebliche Zweifel daran bestehen, dass diese Verfassungsziele in absehbarer Zeit durchgesetzt werden43 und die Vorstellung von Rechten der Natur für viele Personen inakzeptabel ist,44 hat 37

Emmenegger/Tschentscher, S. 569. Abrufbar unter http://www.asambleanacional.gov.ec/documentos/constitucion_de_ bolsillo.pdf, englische Übersetzung abrufbar unter https://www.constituteproject.org/ constitution/Ecuador_2008.pdf („Nature, or Pacha Mama, where life is reproduced and occurs, has the right to integral respect for its existence and for the maintenance and regeneration of its life cycles, structure, functions and evolutionary processes. All persons, communities, peoples and nations can call upon public authorities to enforce the rights of nature. To enforce and interpret these rights, the principles set forth in the Constitution shall be observed, as appropriate. The State shall give incentives to natural persons and legal entities and to communities to protect nature and to promote respect for all the elements comprising an ecosystem.“). 39 Für eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Frage, ob die Natur Rechte haben soll, siehe das Werk „Should Trees Have Standing?“ von Stone. 40 Siehe Gudynas, S. 217, zur biozentrischen Perspektive: „[. . .] nach ihr sollen alle Ökosysteme und Lebensformen geschützt werden, unabhängig von ihrer ökonomischen Nützlichkeit, ästhetischen Schönheit oder ihrer Werbewirkung. In diesem Sinne existiert eine Wertegleichheit, bei der auch die hässliche und unangenehme Spezies ohne kommerziellen Wert mit dem gleichen Nachdruck geschützt werden soll. Auch wenig ansprechende Orte oder jene mit wenig Biodiversität (wie eine Wüste) sollen erhalten bleiben.“ 41 Gudynas, S. 214. 42 Gudynas, S. 216. 43 Whittemore, S. 690 f., kommt zu dem Ergebnis, dass – aufgrund der politischen Lage derzeit eher unwahrscheinliche – verfahrensrechtliche und strukturelle Veränderungen wie die Schaffung eines speziellen Umweltgerichts mit Strafgerichtsbarkeit die Durchsetzung der Rechte der Natur wahrscheinlicher machen würden. 44 Acosta, S. 221. Acosta weist darauf hin, dass geschichtlich gesehen jede Erweiterung der Rechte zuvor undenkbar war und dass die Abschaffung der Sklaverei sowie die Erweiterung der Zivilrechte auf Afro-AmerikanerInnen, Frauen und Kinder von Auto38

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4. Teil: Entwicklungschancen der dargestellten Konzepte

nicht zuletzt Ecuador den Weg für möglicherweise tiefgreifende umweltrechtliche Transformationen in der Zukunft geebnet.45 In entfernter Zukunft dürfte sich aber auch die Frage stellen, ob eine bloße staatliche Verpflichtung zum Umwelt- und Tierschutz ausreichend ist oder ob die Anerkennung von Umwelt- und Tierrechten46 erforderlich ist. Letztere Herangehensweise, so undenkbar sie derzeit auch sein mag, dürfte neben rechtlichen Folgen47 auch weitaus stärkere Auswirkungen auf das menschliche Bewusstsein haben, wie in folgender Feststellung zum Ausdruck kommt: „[. . .] the proposal is bound to sound odd or frightening or laughable. This is partly because until the rightless thing receives its rights, we cannot see it as anything but a thing for the use of ,us‘ – those who are holding rights at the time. [. . .] There is something of a seemless web involved: there will be resistance to giving the thing ,rights‘ until it can be seen as valued for itself; yet, it is hard to see it and value it for itself until we can bring ourselves to give it ,rights‘ – which is almost inevitably going to sound inconceivable to a large group of people.“ 48 Die Einnahme einer auch-biozentrischen Perspektive würde keine negativen Auswirkungen auf den Kernbereich der Menschenrechte und des humanbezogenen Aspektes haben. Aus ihr kann lediglich eine (gegenüber dem derzeitigen Zustand voraussichtlich weitergehende) Beschränkung der menschlichen Freiheit, die Umwelt oder Tierwelt zu schädigen, gefolgert werden, bei der die Menschenrechte die (aus der deutschen Grundrechtsdogmatik bekannten) SchrankenSchranken bilden. Zu denken ist hierbei beispielsweise an die Untersagung des Verkaufs von Plastiktüten oder an das Verbot der Forschung an Tieren zu rein kosmetischen Zwecken. Letzteres Verbot entspricht im Übrigen bereits der geltenden Rechtslage im EU-Raum.49 ritäten bekämpft wurde. Für die Abschaffung der Sklaverei musste, so Acosta, zunächst „das Recht, Rechte zu haben“ anerkannt werden. Siehe auch Stone, S. 2: „Throughout legal history, each successive extension of rights to some new entity has been, theretofore, a bit unthinkable. We are inclined to suppose the rightlessness of rightless ,things‘ to be a decree of Nature, not a legal convention acting in support of sonic status quo. It is thus that we defer considering the choices involved in all their moral social, and economic dimensions.“ 45 Whittemore, S. 691. 46 Vgl. die Ausführungen von Fouts, S. 459 zum sog. „Great Ape Project“, dessen Ziel es ist, Grundrechte wie das Recht auf Leben, Freiheit und den Schutz vor grausamer Behandlung für alle nicht-menschlichen Primaten durchzusetzen. 47 Siehe hierzu Stone, S. 4–23. 48 Stone, S. 3. Stone, S. 181, Endnote 24, ergänzt wie folgt: „Thus it was that the Founding Fathers could speak of the inalienable rights of all men, and yet maintain a society that was, by modern standards, without the most basic rights for African Americans, Native Americans, children, and women. There was no hypocrisy; emotionally, no one felt that these others were fully people.“ 49 Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 2003/15/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. Februar 2003 zur Änderung der Richtlinie 76/768/EWG des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über kosmetische Mittel.

A. Zukünftige Erweiterung des Konzepts der internationalen Offenheit?

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Aus der Anerkennung von grundlegenden Tierrechten (Leben, Freiheit, Gesundheit) könnte – unter Berücksichtigung der Menschenrechte als Schranken – auch die staatliche Verpflichtung zur Förderung der Entwicklung weitergehender sog. „Alternative Test Models“ 50 folgen, bei denen Tierversuche – soweit möglich und wissenschaftlich sinnvoll – durch anderweitige Testmethoden ersetzt werde.51 Für den Staat könnte sich hieraus auch eine Verpflichtung zur Förderung der Entwicklung und Produktion von Alternativen zu Tierprodukten ergeben. Beispielsweise besteht bereits die Möglichkeit, tierisches Fleisch im Labor zu züchten; während diese Form der Fleischproduktion bei weiterer Entwicklung effizienter sein könnte als herkömmliche Methoden (durch viel geringeren Aufwand an Energie, Wasser und Land sowie einen weitaus niedrigeren CO2Ausstoß), sind zum jetzigen Zeitpunkt die hieraus gewonnenen Produkte noch unverhältnismäßig teuer.52 Zuletzt könnten Tierrechte den Staat auch dazu verpflichten, bestimmte für Tiere schädliche Praktiken noch weitergehend einzuschränken, als dies derzeit bereits der Fall ist (beispielsweise durch ein Verbot des Tötens von sog. Eintagesküken53) und die Überwachung bestehender Verbote zu verstärken. Nach deutschem Grundrechtsverständnis, das hier exemplarisch verwendet werden soll, würden zusätzliche Verbote eine Einschränkung der Be-

50 Vgl. schon Erwägungsgrund 46 der Richtlinie 2010/63/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. September 2010 zum Schutz der für wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere: „Die Verfügbarkeit alternativer Methoden ist in hohem Maße von den Fortschritten der Forschung in der Entwicklung von Alternativen abhängig. [. . .] Die Kommission und die Mitgliedstaaten sollten durch Forschung und andere Mittel zur Entwicklung und Validierung alternativer Ansätze beitragen, um die Wettbewerbsfähigkeit der Forschung und Industrie in der Union zu steigern und die Verwendung von Tieren in Verfahren zu vermeiden, zu vermindern und zu verbessern.“ 51 Vgl. schon Erwägungsgrund 12 der Richtlinie 2010/63/EU: „Tiere haben einen intrinsischen Wert, der respektiert werden muss. Auch bestehen seitens der Öffentlichkeit ethische Bedenken hinsichtlich der Verwendung von Tieren in Verfahren. Aus diesem Grund sollten Tiere stets als fühlende Wesen behandelt werden, und ihre Verwendung in Verfahren sollte auf Bereiche beschränkt werden, die letztendlich einen Nutzen für die Gesundheit von Mensch und Tier oder für die Umwelt nach sich ziehen können. Der Einsatz von Tieren zu wissenschaftlichen Zwecken oder zu Bildungszwecken sollte deshalb nur dann erwogen werden, wenn es keine tierversuchsfreie Alternative gibt. Der Einsatz von Tieren in wissenschaftlichen Verfahren in anderen Bereichen, die in den Zuständigkeitsbereich der Union fallen, sollte untersagt werden.“ Sollte es keine tierversuchsfreie Alternative geben, wäre – wie dies in Deutschland bereits nach geltender Rechtslage der Fall ist (siehe hierzu Murswiek, Rn. 72) – abzuwägen zwischen Wissenschaftsfreiheit und Tierschutz (bzw. dann Tierrechten). 52 Vgl. hierzu Fellet, S. 349. 53 Siehe hierzu beispielsweise aus der Begründung des Gesetzesantrages des Landes Nordrhein-Westfalen vom 30.6.2015, BR-Drs. 310/15, S. 2: „Die Hahnenküken aus Legerassen werden jedoch allein zur Vermeidung wirtschaftlicher Verluste getötet, [. . .]. Diese jahrelang angewandte und behördlich bislang geduldete Tötungspraxis ist mit der Grundkonzeption des Tierschutzgesetzes als eines ethisch ausgerichteten Tierschutzes im Sinne einer Mitverantwortung des Menschen für das seiner Obhut anheim gegebene Lebewesen nicht vereinbar.“

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4. Teil: Entwicklungschancen der dargestellten Konzepte

rufsausübungsfreiheit (Art. 12 GG) der Produzenten darstellen, die durch „vernünftige Erwägungen des Allgemeinwohls“ 54 gerechtfertigt werden könnte. Auch wenn bei der biozentrischen Perspektive der Natur ein – über ihre Nützlichkeit für den Menschen – hinausgehender Wert zuerkannt wird, dient sie indirekt auch dem Wohlbefinden des Menschen, für das eine gesunde Umwelt eine grundlegende Voraussetzung darstellt. Eine entsprechende einzigartige Verbindung von klassischem Umweltrecht und den Rechten der Natur mit dem Konzept des „buen vivir“ 55 findet sich in Art. 74 Abs. 1 der ecuadorianischen Verfassung: „Las personas, comunidades, pueblos y nacionalidades tendrán derecho a beneficiarse del ambiente y de las riquezas naturales que les permitan el buen vivir.“ 56 Ein solcher „anderer Weg“ könnte für die Menschheit den dringend benötigten Ausweg aus der Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen darstellen und eine Alternative zu dem nicht nachhaltigen und gegenüber weniger privilegierten Menschen ungerechten Modell des ewigen Wirtschaftswachstums bieten.57 Die Anerkennung eines biozentrischen Elementes der internationalen Offenheit würde – ähnlich wie dies bei ihrem menschenbezogenen Aspekt ist – dessen Bedeutung hervorheben.

III. Fazit Die obige Darstellung hat ergeben, dass eine Erweiterung des Konzeptes der internationalen Offenheit derzeit nicht notwendig ist. Sie hat auch exemplarisch gezeigt, dass viele mögliche oder bereits erfolgte völkerrechtliche Veränderungen vom rezeptiven und menschenbezogenen Aspekt aufgenommen werden (können). Bei einer Verfestigung dieser Veränderungen hätte die Anerkennung 54

BVerfGE 39, 210 (225 f.). Gudynas, S. 216. Zu der Frage, wie der Begriff „buen vivir“ zu verstehen ist, siehe Acosta, S. 220: „Nach der Philosophie des Buen Vivir ist es notwendig, traditionelle Entwicklungskonzepte zu hinterfragen. Aus dieser Perspektive sollte man die gefeierte ,nachhaltige Entwicklung‘ als Etappe des Übergangs hin zu einem neuen Paradigma akzeptieren, das Dimensionen der Gleichheit, Freiheit und Gleichberechtigung sowie die Nachhaltigkeit der Umwelt mit einschließt. [. . .] Das Buen Vivir hat also definitiv mit einer anderen Lebensweise zu tun, mit vielen sozialen, wirtschaftlichen und umweltspezifischen Rechten und Garantien.“ 56 Abrufbar unter http://www.asambleanacional.gov.ec/documentos/constitucion_de_ bolsillo.pdf, englische Übersetzung abrufbar unter https://www.constituteproject.org/ constitution/Ecuador_2008.pdf („Persons, communities, peoples, and nations shall have the right to benefit from the environment and the natural wealth enabling them to enjoy the good way of living.“). 57 Vgl. Acosta, S. 220: „Die Unmöglichkeit, den Stil der dominanten Entwicklung auf globaler Ebene durchzusetzen, wird immer deutlicher. [. . .] Das materielle Wachstum ohne Ende könnte in einem kollektiven Selbstmord enden, so wie es die steigende Erderwärmung, die Reduktion der Ozonschicht, der Verlust an Süßwasserquellen, die Erosion der landwirtschaftlichen und weitgehend unangetasteten Biodiversität, die Degradierung der Böden oder der Verlust von Lebensräumen der lokalen Gemeinschaften erahnen lässt. [. . .] Wirtschaftswachstum ist kein Synonym für Entwicklung.“ 55

B. Anerkennung der Völkerrechtsfreundlichkeit auf (supra)nationaler Ebene

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zusätzlicher Aspekte allerdings den Vorteil, dass sich das Wechselspiel zwischen verschiedenen Gesichtspunkten der internationalen Offenheit besser darstellen ließe. Bei der Anerkennung eines demokratischen Elementes der internationalen Offenheit könnte dieses beispielsweise – wie u. a. einige schweizerische Volksinitiativen58 gezeigt haben, mit ihrem rezeptiven und menschenbezogenen Aspekt kollidieren. Die Notwendigkeit einer Differenzierung zwischen den verschiedenen Ausprägungen der internationalen Offenheit wurde bereits am Beispiel des Kadi-Urteils deutlich, bei dem sich ihr rezeptives und menschenbezogenes Element gegenüberstanden.59 In diesem Sinne verhelfen die verschiedenen Aspekte der internationalen Offenheit dazu, diesen Begriff als mehrdimensional zu begreifen.

B. Anerkennung der Völkerrechtsfreundlichkeit von Rechtsordnungen auf nationaler/supranationaler Ebene Da es sich bei der Völkerrechtsfreundlichkeit um eine Eigenschaft des nationalen bzw. supranationalen Rechts handelt, bestimmt sich ihre rechtliche Qualität auch nach der – insbesondere in der Rechtsprechung zum Ausdruck kommenden – innerstaatlichen Sichtweise bzw. dem supranationalen Äquivalent dieser innerstaatlichen Sichtweise. Während Entwicklungen auf internationaler Ebene daher keinen direkten Einfluss auf die rechtliche Qualifizierung der Völkerrechtsfreundlichkeit einer Rechtsordnung haben, können innerstaatliche Entwicklungen in Rechtsprechung und Rechtswissenschaft zu Veränderungen in diesem Bereich führen. Eine sehr weitreichende Entwicklung läge vor, wenn die Völkerrechtsfreundlichkeit einer Rechtsordnung als Verfassungsprinzip anerkannt werden würde. Im Folgenden sollen jedoch zunächst auch andere Möglichkeiten dargestellt werden, die Völkerrechtsfreundlichkeit rechtlich zu erfassen (siehe hierzu I.), bevor erste Ansätze einer Theorie des Verfassungsprinzips der Völkerrechtsfreundlichkeit entwickelt werden (siehe hierzu II.).

I. Mögliche rechtliche Erfassung der Völkerrechtsfreundlichkeit einer Rechtsordnung Bisher unbeantwortet geblieben ist die Frage nach der möglichen rechtlichen Tragweite der Völkerrechtsfreundlichkeit einer Rechtsordnung. Die Beschränkung dieser Frage auf die Völkerrechtsfreundlichkeit rechtfertigt sich mit der Unbestimmtheit der nicht ausschließlich auf rechtliche Phänomene bezogenen internationalen Offenheit. Zwar weist die internationale Offenheit neben be-

58 Vgl. die Beiträge von Zimmermann (zur Minarettsverbotsinitiative) und von Kunz (zur Volksinitative „Gegen Masseneinwanderung“). 59 Siehe hierzu 3. Teil C. I. 8. b).

232

4. Teil: Entwicklungschancen der dargestellten Konzepte

schreibenden Elementen auch normative auf,60 diese normativen Elemente der internationalen Offenheit ergeben sich aber im Wesentlichen aus ihrem rezeptiven Aspekt und damit aus der Völkerrechtsfreundlichkeit. Im Übrigen kommt, wie von Vogel vorgeschlagen, eine Deutung der internationalen Offenheit als Verfassungsauftrag in Betracht, aus dem sich grundsätzlich keine Verpflichtung zu einzelnen konkreten Maßnahmen gegenüber anderen Staaten und Bürgern ergibt, der aber dem staatlichen Handeln – ähnlich wie bei einer Verpflichtung zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen – eine bestimmte Richtung weist.61 Die nachfolgende Deutung, wie Völkerrechtsfreundlichkeit verstanden werden kann, ist – aus Gründen der intendierten Übertragbarkeit auf verschiedene Rechtsordnungen – abstrakt gehalten, beruht aber dennoch auf einem deutschen Verfassungsverständnis und ist dementsprechend limitiert. Wie unterschiedlich aber rechtliche Fragen weltweit gelöst werden können, zeigt sich schon bei einer nur kursorischen Betrachtung europäischer Rechtsordnungen, obgleich diese demselben Kulturkreis entspringen. Exemplarisch sei verwiesen auf die Unterschiede zwischen einer „flexiblen“ Verfassung (bspw. das Vereinigte Königreich; Prinzip der Parlamentssouveränität) und dem „rigiden“ deutschen Grundgesetz.62 Vor diesem Hintergrund kann – insbesondere auch bei Einnahme einer transzivilisatorischen Sichtweise63 – nicht ausgeschlossen werden, dass in anderen Rechtsordnungen abweichende Denkweisen, Perspektiven oder Mechanismen existieren, mit denen der „Esprit“ der Völkerrechtsfreundlichkeit verwirklicht werden könnte. 1. Deskriptiver Begriff Völkerrechtsfreundlichkeit enthält jedenfalls eine deskriptive Dimension.64 Da unterschiedliche rechtliche und tatsächliche Gestaltungsmechanismen im innerstaatlichen Bereich zur Wirksamkeit des Völkerrechts beitragen können, stellt 60 Tomuschat, Internationale Offenheit, Rn. 8, der hieraus folgert, dass die Offenheit als solche kein Verfassungsziel sein kann. Auch lasse sich die Grenze zwischen einem Verfassungsprinzip und einem politischen Postulat teilweise nur unter Schwierigkeiten bestimmen. Die Gefahr der Grenzüberschreitung hin zum politisch Wünschbaren läge besonders nahe bei der Formulierung der internationalen Offenheit als einem allgemeinen Prinzip für sämtliche Fallkonstellationen eines Konflikts zwischen Abschottung und Weltoffenheit. Insbesondere auf dem heiklen Gebiet der auswärtigen Beziehungen dürfe aber die juristische Konstruktion die politische Entscheidung nicht von dem ihr gebührenden Platz stoßen. 61 Vogel, Verfassungsrecht, S. 163. 62 Zu den von James Bryce geprägten Begriffen „flexible and rigid constitution“ und ihrer gebräuchlichen, von Albert Venn Dicey entwickelten Unterscheidung, welche (die Lehre von Bryce missverstehend), auf ein besonderes Änderungsverfahren abstellt, siehe den Beitrag von Pace. 63 Siehe hierzu 2. Teil C. II. 3. b) bb). 64 Vgl. Tomuschat, Internationale Offenheit, Rn. 1, als Ausgangspunkt für ein Verständnis der internationalen Offenheit der deutschen Verfassung.

B. Anerkennung der Völkerrechtsfreundlichkeit auf (supra)nationaler Ebene

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die Bezeichnung „Völkerrechtsfreundlichkeit“ einen sinnvollen Sammelbegriff für diese Mechanismen dar, der gerade aufgrund seiner Plakativität das Verständnis des Zusammenspiels von Völkerrecht und nationalem Recht fördert. Für die deutsche Verfassung tritt beispielsweise Hillgruber für ein hierauf begrenztes Verständnis der Völkerrechtsfreundlichkeit ein: „Diese generalisierende Qualifikation [des Grundgesetzes als völkerrechtsfreundlich] ist nur solange unbedenklich, als man sich bewußt bleibt, daß es sich bei der Begriffsbildung lediglich um die Beschreibung einer dem Grundgesetz anhaftenden Grundtendenz handelt, aus der nicht weitergehende Rechtsfolgen gezogen werden dürfen als sie die einschlägigen Einzelbestimmungen hergeben.“ 65 2. Auslegungshilfe der nationalen Normen Über diese beschreibende Ebene hinaus kommt auch eine Heranziehung der Völkerrechtsfreundlichkeit als Auslegungshilfe der nationalen Normen in Betracht.66 Insofern könnte die Völkerrechtsfreundlichkeit bei der Auslegung einer mehrdeutigen nationalen Norm als Begründung für die Wahl der völkerrechtskonformen Auslegung dienen. Für ein solches Ergebnis spricht die Annahme, dass der Gesetzgeber bei der Rechtsschaffung – in Ermangelung eines eindeutig erkennbaren entgegenstehenden Willens – nicht gegen das Völkerrecht verstoßen wollte. Für die deutsche Rechtsordnung hat das Bundesverfassungsgericht diese Wirkweise der Völkerrechtsfreundlichkeit wie folgt formuliert: „Auch Gesetze – hier die Strafprozeßordnung – sind im Einklang mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland auszulegen und anzuwenden, selbst wenn sie zeitlich später erlassen worden sind als ein geltender völkerrechtlicher Vertrag; denn es ist nicht anzunehmen, daß der Gesetzgeber, sofern er dies nicht klar bekundet hat, von völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland abweichen oder die Verletzung solcher Verpflichtungen ermöglichen will.“ 67 Diese Fiktion beruht auf einer Berücksichtigung der (mutmaßlichen) Interessen des Staates: Grundsätzlich liegt es im staatlichen Interesse, Völkerrechtsverstöße zu vermeiden, da sie für den Staat negative Konsequenzen nach sich ziehen können. In Betracht kommt – je nach Art der verletzten Norm – eine Schadensersatzverpflichtung, die reziproke Aussetzung von Zugeständnissen, die gerichtliche oder schiedsgerichtliche Verurteilung, die negative Berichterstattung durch ein Vertragsgremium oder die internationale Presse sowie ein Verlust an Ansehen oder an „Bargaining Power“.68 Ein Staat hat daher im Allgemeinen ein Interesse 65

Hillgruber, Nationalstaat, Rn. 126. Vgl. Gomes Canotilho, S. 47, für die portugiesische Verfassung. 67 BVerfGE 74, 352 (370). 68 Vgl. die Ausführungen bei Bleckmann, Völkerrechtslehre, S. 791–821. Siehe hierzu auch 1. Teil A. 66

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4. Teil: Entwicklungschancen der dargestellten Konzepte

daran, ein zuverlässiger Vertragspartner zu sein. Diese Überlegungen sprechen dafür, die Völkerrechtsfreundlichkeit als Auslegungshilfe der nationalen Normen – sowohl des einfachen Rechts als auch des Verfassungsrechts – heranzuziehen. Besondere Bedeutung erlangt das Gebot der völkerrechtskonformen bzw. völkerrechtsfreundlichen Auslegung dabei im einfachen Recht bei der Konkretisierung von Generalklauseln und bei Ermessensentscheidungen.69 Dies soll an jeweils einem der deutschen Rechtsordnung entnommenem Beispiel verdeutlicht werden: Ein Beispiel für eine völkerrechtsfreundliche Auslegung von Generalklauseln ist der Fall Nigerianische Bronzefiguren70 von 1972. Hier entschied der BGH, dass einem See-Güterversicherungsvertrag, der die Ausfuhr von Kulturgut aus einem Staat, der diese Ausfuhr zum Schutze seines nationalen Kunstbesitzes verboten hat, versichern sollte, ein versicherbares Interesse wegen Verstoßes gegen die guten Sitten nicht zugrundeliegt.71 Damit trat der BGH der vom Berufungsgericht vertretenen Ansicht entgegen, dass das nigerianische Ausfuhrverbot zum Schutz vor der Ausplünderung des Landes durch ausländische Kunstliebhaber nicht das Interesse der deutschen Allgemeinheit berühre.72 Der BGH führte aus, dass eine Anwendung des § 134 BGB bei einem ausländischen Verbotsgesetz nicht in Betracht käme, weil dieses im Inland unmittelbar keine Verbindlichkeit besäße, dass aber mittelbar auch ein ausländisches Gesetz unter Umständen für die Frage beachtlich sei, ob die versicherte Unternehmung gegen die guten Sitten verstoße und der Versicherungsvertrag deshalb nach § 2 ADS unwirksam sei.73 Die Umgehung des nigerianischen Schutzgesetzes vor Ausplünderung müsse, so der BGH, als verwerflich betrachtet werden, da sie dem nach heutiger Auffassung allgemein zu achtenden Interesse aller Völker an der Erhaltung von Kulturwerten an Ort und Stelle zuwiderlaufe.74 Zur Begründung dieser Überzeugung nannte der BGH entsprechende Erklärungen und ein für die Bundesrepublik noch nicht verbindliches Übereinkommen der Unesco75 über Maßnahmen zum Verbot und zur Verhütung der unzulässigen Einfuhr, Ausfuhr und Übereignung von Kulturgut.76

69

Geiger, Grundgesetz, S. 179. BGHZ 59, 82. 71 Ebd. 72 BGHZ 59, 82 (84 f.). 73 BGHZ 59, 82 (85). 74 Ebd. 75 Convention on the means of prohibiting and preventing the illicit import, export and transfer of ownership of cultural property, UN Registration Number 11806, UNTS Vol. 823 (1972), 231 ff. 76 BGHZ 59, 82 (85 f.). 70

B. Anerkennung der Völkerrechtsfreundlichkeit auf (supra)nationaler Ebene

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Als Verdeutlichung für eine völkerrechtskonforme Interpretation einer Ermessensvorschrift kann ein BVerwG-Urteil77 aus dem Jahre 1999 angeführt werden, in dem es um die Auslegung von § 47 Abs. 5 Satz 1 VwGO ging. Nach dieser Norm entscheidet das Oberverwaltungsgericht im Normenkontrollverfahren durch Urteil oder, wenn es eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält, durch Beschluss. Das BVerwG kam in seinem Urteil jedoch dazu, dass das dem Oberverwaltungsgericht eingeräumte Ermessen durch Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK eingeschränkt ist. Diese Norm schreibt in allen zivilrechtlichen Streitigkeiten – hierzu zählte das BVerwG der Rechtsprechung des EGMR folgend „das Recht am Grundeigentum“ bzw. „das Recht auf Unverletzlichkeit des Eigentums“ an Grundstücken – eine mündliche Verhandlung zwingend vor.78 Das BVerwG folgerte daher „[a]us dem Zusammenwirken von § 47 Abs. 5 Satz 1 VwGO und Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK [. . .], dass über den Normenkontrollantrag, mit dem sich der Eigentümer eines im Plangebiet gelegenen Grundstücks gegen eine Festsetzung in einem Bebauungsplan wendet, die unmittelbar sein Grundstück betrifft, aufgrund einer öffentlichen mündlichen Verhandlung zu entscheiden ist.“ 79 Das Normenkontrollgericht habe daher im konkreten Fall ohne die gebotene öffentliche Verhandlung entschieden, was einen Verfahrensmangel begründe.80 3. Verfassungsrechtliches Leitbild Die Völkerrechtsfreundlichkeit kann (hinausgehend über die bloße Funktion als Auslegungshilfe) auch als verfassungsrechtliche Leitlinie bzw. als verfassungsrechtliches Leitbild81 verstanden werden. Verfassungsrechtliche Leitbilder lassen sich definieren als „normativ-verfestigte Hintergrundvorstellung zu Begriffen, Sätzen und Prinzipien der Verfassung, die an intuitive oder stärker reflektierte Gerechtigkeits- oder Richtigkeitsüberzeugungen anknüpfen und je nach ihrem Inhalt spezifische Steuerungsleistungen für die Rechtsanwendung erbringen.“ 82 Ein Beispiel für ein Leitbild der deutschen Verfassung ist die Vorstellung der Demokratie als „ein geistig-bewusstseinsmäßiger Anerkennungs-, Interaktions-, Erfahrungs- und Verantwortungszusammenhang des Bürgers, der diese in den Vorgängen der politischen Willensbildung einander zuordnet und miteinander verbindet“, die den entsprechenden Verfassungsnormen wie Art. 20 Abs. 1 und 2 GG erst einen inneren Sinn verleiht.83

77 78 79 80 81 82 83

BVerwGE 110, 203. BVerwGE 110, 203 (206 ff.). BVerwGE 110, 203 (206). BVerwGE 110, 203 (215). Vgl. Geiger, Grundgesetz, S. 179. Volkmann, Verfassungsanwendung, S. 175. Volkmann, Verfassungsanwendung, S. 164.

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4. Teil: Entwicklungschancen der dargestellten Konzepte

Ein Leitbild setzt sich zusammen aus einem juristischen (der Entfaltung von Wirkungen im Rechtssystem), einem soziologisch-empirischen (der teilweise idealisierten Anbindung an die Rechtswirklichkeit) und einem ethisch-konsensualen Element (der gesellschaftlichen Richtigkeitsüberzeugung).84 Insbesondere aufgrund des letztgenannten Elementes können Leitbilder in der Praxis den Auslegungsprozess stärker steuern als die klassischen Auslegungsmethoden.85 Gerade in Bereichen, in denen sich der Verfassung selbst keine Antwort auf die gestellten rechtlichen Fragen entnehmen lässt, erlangen Leitbilder entscheidende Bedeutung;86 sie geben die Richtung an, in der nach Lösungen zu suchen ist.87 Aufgrund dieser richtungsweisenden Funktion geht ein entsprechendes Verständnis der Völkerrechtsfreundlichkeit noch über ihren bloßen Gebrauch als Auslegungshilfe nationaler Normen hinaus. Wird die Völkerrechtsfreundlichkeit einer Rechtsordnung als Leitbild angesehen, so zeigt sie an, „was sein soll“; d.h. dass dem Völkerrecht zu größtmöglicher innerstaatlicher Wirksamkeit verholfen werden soll. Im Gegensatz dazu beschreibt ein rein deskriptives Verständnis der Völkerrechtsfreundlichkeit lediglich, „was ist“ – in einem nicht gesetzlich geregelten Fall lässt sich ihr daher nicht das Gebot zu einer völkerrechtsfreundlichen Lösung entnehmen. 4. Verfassungsprinzip Bei der Völkerrechtsfreundlichkeit einer Rechtsordnung könnte es sich daneben sogar – wie in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts88 – um einen Verfassungsgrundsatz bzw. um ein Verfassungsprinzip handeln. Ein solches Verständnis der Völkerrechtsfreundlichkeit (oder der internationalen Offenheit) ist in der Literatur beispielsweise für die portugiesische und schweizerische Verfassung propagiert worden: – „verdichten sich stellenweise die Begriffe der völkerrechtlichen Offenheit und Freundlichkeit im portugiesischen Verfassungstext in einer Weise, die es erlaubt, sie sowohl als Interpretations- und Integrationselemente [. . .], wie auch als Rechtsgrundsätze und Leitlinien der Verfassungsrechtspolitik [. . .] zu betrachten.“ 89

84

Volkmann, Verfassungsanwendung, S. 173. Volkmann, Verfassungsanwendung, S. 159. 86 Vgl. den bei Volkmann, S. 158, geschilderten Fall aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 118, 227), bei der das „verfassungsrechtliche Leitbild des Abgeordneten“ die tragende Rolle spielt (BVerfGE 118, 227 [327 ff.]). 87 Volkmann, Grundzüge, S. 149. 88 BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats, 24.10.2000 – 1 BvR 1643/ 95, Zeitschrift für Vermögens- und Immobilienrecht 2001, S. 114 f. 89 Gomes Canotilho, S. 47, für die portugiesische Verfassung. 85

B. Anerkennung der Völkerrechtsfreundlichkeit auf (supra)nationaler Ebene

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– „der neue Text [der schweizerischen Verfassung] lädt eigentlich dazu ein, weitere Prinzipien zu anerkennen: [. . .] der weltoffene und kooperative Verfassungsstaat.“ 90 Die Begriffe Prinzip und Grundsatz werden vorliegend synonym verwendet.91 Der Unterschied zu einer Einordnung der Völkerrechtsfreundlichkeit als verfassungsrechtliches Leitbild liegt darin, dass dieses anders als Prinzipien nicht auf unmittelbare Anwendung bezogen ist, sondern die Rechtsanwendung aus dem Hintergrund steuert.92 Sowohl Leitbilder als auch Prinzipien nehmen aber „eine gesellschaftliche Vorstellung des Guten, Richtigen und Angemessenen in sich auf“ 93 und können entsprechend beide als Auslegungshilfe herangezogen werden. Beide stehen auch „für die Verschränkung von Recht und Moral sowie von Recht und Wirklichkeit und folgerichtig können sie oft in ein und demselben Rechtsbegriff zusammenkommen.“ 94 Dabei würde das Prinzip die der Völkerrechtsfreundlichkeit innerhalb der Rechtsordnung zukommende Wichtigkeit anzeigen und diese damit in die Rechtsanwendung einbringen, wohingegen sich aus dem hinter diesem Prinzip stehenden Leitbild ergeben würde, was mit dem Begriff gemeint ist.95 Das Verständnis der Völkerrechtsfreundlichkeit als Verfassungsprinzip würde daher ihre Wirksamkeit noch stärken. Unklar bleiben aber die Voraussetzungen für die Annahme der Existenz eines verfassungsrechtlichen Prinzips der Völkerrechtsfreundlichkeit, der Inhalt dieses Prinzips und die sich hieraus ergebenden rechtlichen und außerrechtlichen Wirkungen. Es erscheint daher erforderlich, erste Ansätze für eine Theorie des Verfassungsprinzips der Völkerrechtsfreundlichkeit zu entwickeln.

II. Entwicklung einer Theorie des Verfassungsprinzips der Völkerrechtsfreundlichkeit 1. Das Wesen von Rechtsprinzipien Die Herausarbeitung der Konturen eines Verfassungsprinzips der Völkerrechtsfreundlichkeit erfordert zunächst eine Untersuchung der Struktur von Rechtsprinzipien im Allgemeinen. Der Unterschied zwischen Rechtsprinzipien und Verfas90

Rhinow, S. 39, 41 f. für die schweizerische Verfassung. Reimer, S. 156, weist darauf hin, dass die Begriffe „Prinzip“ und „Grundsatz“ allenfalls in Nuancen voneinander abweichen, wobei etymologisch ersterer Begriff einen Anfangs- oder Ausgangspunkt, letzterer ein Fundament kennzeichne. In beiden Fällen werde aber ein Vorrang zum Ausdruck gebracht, der weder zeitlicher noch räumlicher Natur sein müsse. 92 Volkmann, Verfassungsanwendung, S. 173. 93 Volkmann, Grundzüge S. 150. 94 Ebd. 95 Ebd. 91

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4. Teil: Entwicklungschancen der dargestellten Konzepte

sungsprinzipien ist dabei nur, dass letztere Bezeichnung begrifflich zwingend die Zugehörigkeit des Prinzips zur Verfassungsebene signalisiert, wohingegen sich Rechtsprinzipien auch auf der Ebene des einfachen Rechts befinden können. Die Verwendung des Begriffs „Rechtsprinzip“ im Rahmen der allgemeinen Ausführungen erfolgt im Einklang mit der Wortwahl in der verwendeten rechtsphilosophischen Literatur, da es für die Klärung der Strukturen eines Prinzips nicht darauf ankommt, auf welcher hierarchischen Ebene dieses angeordnet ist. Um zu verdeutlichen, dass die Annahme eines Rechtsprinzip der Völkerrechtsfreundlichkeit nur sinnvoll erscheint, wenn es auf Verfassungsebene angeordnet ist, wird aber ausdrücklich von einem Verfassungsprinzip der Völkerrechtsfreundlichkeit gesprochen. a) Struktur von Rechtsprinzipien Der Rechtswissenschaft ist es lange nicht gelungen, eine treffende Abgrenzung der Rechtsprinzipien von anderen Rechtsregeln zu entwickeln.96 So stellen die herkömmlichen Definitionen von Rechtsprinzipien insbesondere auf das Kriterium eines speziellen materiellen Rechtswertgehalts und einer daraus folgenden Allgemeingültigkeit ab.97 Für die Verwendung des Kriteriums der Generalität spricht, dass dies dem allgemeinen, dem philosophischen und dem überwiegenden verfassungsrechtlichen Sprachgebrauch entspricht.98 Dieses Kriterium ermöglicht jedoch keine trennscharfe Abgrenzung zu den Rechtsregeln,99 die ebenso wie die Prinzipien Normen darstellen, da sie besagen, was gesollt ist.100 Eine Unterscheidung von Regeln und Prinzipien findet sich hingegen bei Dworkin, der sich hierzu wie folgt äußerte: „Rules are applicable in an all-ornothing fashion: If the facts a rule stipulates are given, then either the rule is valid, in which case the answer it supplies must be accepted, or it is not, in which case it contributes nothing to the decision. [. . .] Principles have a dimension that rules do not – the dimension of weight or importance. When principles intersect [. . .], one who must resolve the conflict has to take into account the relative weight of each.“ 101 Diese Unterscheidung wurde von Alexy anschließend präzisiert; zu unterscheiden ist demnach zwischen Regeln als definitiven Geboten und Prinzipien als Optimierungsgeboten.102 Alexy kennzeichnet Prinzipien folglich 96 Krech, S. 183. Alexy, 74 f., zufolge sind hinsichtlich der Unterscheidung von Regeln und Prinzipien drei Thesen möglich: (1) Eine Unterscheidung ist angesichts der tatsächlich vorkommenden Vielfalt verfehlt, (2) eine Einteilung in zwei Klassen ist – aber nur dem Grade nach – möglich oder (3) die auch von Alexy vertretene These, derzufolge ein qualitativer Unterschied zwischen Regeln und Prinzipien besteht. 97 Valentin, S. 43. 98 Reimer, S. 181. 99 Vgl. Alexy, Theorie, S. 74 f. 100 Alexy, Theorie, S. 72. Gegen die Einordnung von Prinzipien als Normen aber Klement, S. 760. 101 Dworkin, S. 24, 26.

B. Anerkennung der Völkerrechtsfreundlichkeit auf (supra)nationaler Ebene

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als Normen, die gebieten, dass etwas in einem relativ zu den rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten möglichst hohen Maße realisiert wird, in Abgrenzung zu Regeln, die als Festsetzungen im Raum des tatsächlich und rechtlich Möglichen fungieren.103 Anders als Regeln, die entweder befolgt oder nicht befolgt werden können, ist die Erfüllung eines Prinzips in unterschiedlichem Grad möglich.104 Die Alexysche Prinzipientheorie ist nicht ohne Kritik geblieben.105 Angriffspunkt war hier insbesondere auch die Charakterisierung von Prinzipien als Optimierungsgeboten, welche aber stets auf das Optimum verpflichten und dementsprechend – wie Regeln – strikt zu erfüllen seien.106 Im Rahmen dieser berechtigten Kritik am Begriff des Optimierungsgebots merkte die Literatur jedoch auch an, dass dieser „zutreffend darauf hinweist, daß Prinzipien [. . .] ein Optimierungsziel aufweisen und daß die Optimierung dieses Gegenstandes rechtlich geboten ist. Er drückt damit im wesentlichen aus, worum es bei Prinzipien geht.“ 107 Dieser Ansicht ist zuzustimmen, da eine Charakterisierung als Optimierungsgebot es ermöglicht, den Kerngehalt von Prinzipien und ihren wesensmäßigen Unterschied zu Regeln in einem Ausmaße zu eruieren, der für die nicht vertieft rechtstheoretische Diskussion im Regelfall hinreichend präzise ist. Borowski äußerte sich im Rahmen seiner Kritik am Begriff des Optimierungsgebotes daher auch dahingehend, dieser könne „[i]m Sinne einer verkürzten und etwas unscharfen Redeweise [. . .] als Charakterisierung für Prinzipien beibehalten werden, soweit es nicht auf eine exaktere rechtstheoretische Rekonstruktion ankommt. Dies entspricht der bewährten allgemeinen Regel, in einem Kontext [. . .] so genau wie nötig, aber so einfach wie möglich zu formulieren.“ 108 In dieser Arbeit wird daher dem von Alexy entwickelten Prinzipienbegriff gefolgt, welcher aufgrund seiner Klarheit zu einem besseren Verständnis der Konzeption eines Rechtsprinzips beiträgt. b) Bedeutung von Rechtsprinzipien für die Rechtsordnung Die Existenz verschiedener Prinzipien im nationalen (Verfassungs-)Recht ist unbestritten.109 Kein juristisches System, das diesen Namen verdient, dürfte ohne 102

Alexy, Gewichtsformel, S. 1. Alexy, Theorie, S. 75 f. 104 Ebd. 105 Siehe hierzu beispielsweise Borowski, S. 91–96 und Klement, S. 759–763. 106 Siekmann, S. 19; Borowski, S. 92. Alexy hat seine Theorie dementsprechend angepasst (Unterscheidung zwischen Optimierungsgeboten und Prinzipien als zu optimierenden Normen); zu den sich hieraus ergebenden Folgeproblemen siehe Siekmann, S. 19. 107 Borowski, S. 93. 108 Borowski, S. 93. 109 Bspw. Rechtsstaatsprinzip, Demokratieprinzip. Auch das Völkerrecht enthält eine Reihe von Rechtsprinzipien, die der gesamten Völkerrechtsordnung zugrunde liegen, siehe hierzu Bleckmann, Grundprobleme und Methoden, S. 84–86. 103

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4. Teil: Entwicklungschancen der dargestellten Konzepte

eine Mindestanzahl an Prinzipien auskommen.110 Ein Gesetz, hinter dem ein grundlegendes Prinzip steht, dass sich durch die (Teil-)Rechtsordnung hindurch zieht, weist eine größere Überzeugungskraft auf.111 Auch für die Rechtsfortbildung praeter legem sind Prinzipien bedeutsam; sie erleichtern die Lückenfeststellung und wirken auf die Lückenausfüllung hin.112 Die Bedeutung von Prinzipien folgt nicht zuletzt aus ihrer engen Verwandtschaft mit Werten.113 Das gilt erst recht für eine Verfassung, die vielfach auch dazu beitragen soll, eine gemeinsame Identität der Menschen in ihrem Geltungsbereich zu schaffen. Eine solche Identifikationsfunktion kann eine Verfassung aber nur dann erfüllen, wenn die in ihr enthaltenen Werte von den Rechtsunterworfenen geteilt werden. Die Daseinsberechtigung von Prinzipien folgt aber auch aus ihrer vermeintlichen Schwäche, der Notwendigkeit abzuwägen. Nichtjuristen mag es befremden, dass eine juristische Abwägung mitunter vertretbar zu einem bestimmten Ergebnis und ebenso zu ihrem genauen Gegenteil führen kann, es Rechtssicherheit also nur in begrenztem Maße zu geben scheint.114 Diese Möglichkeit ist aber dem Wesen des Rechts selber geschuldet: Eine potentiell unendliche Zahl von Sachverhalten muss mit einer endlichen Zahl von gesetzlichen Vorgaben gelöst werden. Da trotz aller Bemühungen nicht alle Sachverhaltskonstellationen vorhersehbar sind, bleibt dem Gesetzgeber nur die Möglichkeit, Rechtsregeln und Leitlinien in Form von Prinzipien (= Optimierungsgeboten) vorzugeben und die Entscheidung im Einzelfall dem Rechtsanwender zu überlassen, der zu einem vertretbaren Ergebnis kommen muss. 2. Herleitung eines Verfassungsprinzips der Völkerrechtsfreundlichkeit a) Ausgangspunkt: Grundsätzliche Existenzmöglichkeit dieses Prinzips Die Notwendigkeit der Existenz von Prinzipien folgt daraus, dass für den Rechtsanwender eine – in zweifelhaften Fällen erforderliche – Abwägung ohne die Existenz und Berücksichtigung von Prinzipien nicht möglich wäre.115 Diese Erkenntnis verbunden mit dem Umstand, dass wohl keine moderne Rechtsordnung völlig losgelöst vom Völkerrecht existiert oder auch nur existieren könnte, verbietet es, die Möglichkeit der Existenz eines Verfassungsprinzips der Völkerrechtsfreundlichkeit in einer Rechtsordnung von vornherein auszuschließen. Diese Bejahung der grundsätzlichen Existenzmöglichkeit eines Prinzips der Völ110

Höpfner, S. 67; Alexy, Begriff, S. 126. Höpfner, S. 65. 112 Ebd. 113 Alexy, Theorie, S. 125. 114 Eine gewisse Rechtssicherheit wird zwar durch letztinstanzliche Entscheidungen hergestellt, aber auch die höchstrichterliche Rechtsprechung ist nicht „änderungsfest“. 115 Alexy, Begriff, S. 126 f. 111

B. Anerkennung der Völkerrechtsfreundlichkeit auf (supra)nationaler Ebene

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kerrechtsfreundlichkeit ist zu unterscheiden von der noch zu untersuchenden Annahme, ein Prinzip der Völkerrechtsfreundlichkeit sei einer Verfassung als notwendigerweise immanent anzusehen.116 Es ist jedoch, wie bereits angemerkt, grundsätzlich denkbar, dass eine Verfassung ein als Leitlinie für das Verhältnis zwischen Völkerrecht und nationalem Recht fungierendes Prinzip der Völkerrechtsfreundlichkeit enthält. Zwar wird sich dieses Prinzip aller Voraussicht nach nicht ausdrücklich in den jeweils zu untersuchenden Verfassungstexten finden lassen. Dies steht der Annahme eines impliziten Verfassungsprinzips der Völkerrechtsfreundlichkeit aber nicht entgegen. Denn auch andere Prinzipien lassen sich nur ausnahmsweise ausdrücklich dem Gesetz bzw. der Verfassung entnehmen.117 Ungeschriebene Prinzipien zeichnen sich dadurch aus, dass sie implizit Eingang in die Rechtsordnung erhalten haben, indem sie den geschriebenen Normen als rechtlicher Leitgedanke erkennbar zugrunde liegen.118 Wenn demnach die Existenz eines ungeschriebenen Prinzips der Völkerrechtsfreundlichkeit nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann, dann stellt sich die Frage, unter welchen Voraussetzungen sich ein solches Prinzip aus dem Verfassungstext ableiten lässt. Hierfür ist es zunächst erforderlich, auf die Ableitbarkeit von Verfassungsprinzipien im Allgemeinen einzugehen. b) Ableitbarkeit von Verfassungsprinzipien Grundsätzlich ist es denkbar, ein Prinzip der Völkerrechtsfreundlichkeit auf verschiedenen Wegen aus einer Verfassung abzuleiten. aa) Verfassungsgewohnheitsrechtliche Verankerung Im Hinblick auf das Verfassungsprinzip der Völkerrechtsfreundlichkeit dürfte eine gewohnheitsrechtliche Ableitung in der Regel ausscheiden. Verfassungsgewohnheitsrecht ist nach dem BVerfG „Recht, das nicht durch förmliche Setzung, sondern durch längere tatsächliche Übung entstanden ist, die eine dauernde und ständige, gleichmäßige und allgemeine sein muß und von den beteiligten Rechtsgenossen als verbindliche Rechtsnorm anerkannt wird.“ 119 Gemessen an diesen Kriterien ist fraglich, ob eine gewohnheitsrechtliche Anerkennung des Verfas116 Eine derartige Herleitung wird von Payandeh, S. 467, für die deutsche Rechtsordnung abgelehnt. 117 Höpfner, S. 91. Eine erwähnenswerte Ausnahme bildet das Subsidiaritätsprinzip, das in Art. 5 Abs. 3 EUV ausdrücklich benannt wird. 118 Vgl. Valentin, S. 47, zu den ungeschriebenen Prinzipien geschriebenen Unionsrechts. 119 BVerfGE 22, 114 (121).

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4. Teil: Entwicklungschancen der dargestellten Konzepte

sungsprinzips der Völkerrechtsfreundlichkeit in Deutschland in Betracht kommt: Ausdrücklich erwähnt hat das BVerfG den Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit erst 2001 in dem Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senates zur Bodenreform.120 In dieser Hinsicht wird auch die Ansicht vertreten, dass eine gewohnheitsrechtliche Anerkennung eines Verfassungsprinzips der Völkerrechtsfreundlichkeit ausscheide, da das Bundesverfassungsgericht den Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit bisher nur sporadisch zur Begründung einzelner konkreter Rechtsfolgen herangezogen habe, die genauen rechtlichen Konsequenzen dieses Grundsatzes aber unklar geblieben seien.121 Ein höheres Maß an Klarheit kann freilich durch zusätzliche Einbeziehung der (früheren und späteren) Rechtsprechung des BVerfG erlangt werden,122 die anders als der soeben erwähnten Beschluss nicht ausdrücklich einen Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit erwähnt, aus der „Völkerrechtsfreundlichkeit“ des Grundgesetzes aber konkrete Rechtsfolgen ableitet, die für ihren Prinzipiencharakter sprechen. Selbst unter der Annahme, dass eine langdauernde, einheitliche und allgemein akzeptierte Rechtsprechung des BVerfG zum Verfassungsprinzip der Völkerrechtsfreundlichkeit vorliegt, erscheint es jedoch fragwürdig, hieraus eine verfassungsgewohnheitsrechtliche Anerkennung des Prinzips abzuleiten. Die Auffassung, eine vom BVerfG in ständiger Rechtsprechung vertretene Auffassung könne Verfassungsgewohnheitsrecht begründen, ist in Anbetracht der fehlenden Bindung des Gerichtes an seine Rechtsprechung problematisch,123 da sich bei konsequenter Zugrundelegung dieser Auffassung eine Abweichung von der Rechtsprechung als Verletzung von Verfassungsgewohnheitsrecht darstellen würde.124 120 BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats, 24.10.2000 – 1 BvR 1643/ 95, Zeitschrift für Vermögens- und Immobilienrecht 2001, S. 114 f. 121 Payandeh, S. 468. 122 Eine gewisse Klarstellung liefert insbesondere BVerfGE 112, 1 (26). Zu den hier benannten drei Elementen der sich aus der Völkerrechtsfreundlichkeit ergebenden Pflicht, das Völkerrecht zu respektieren siehe 4. Teil B. II. 3. 123 Vgl. BVerfGE 4, 31 (38) zur Bindungswirkung von § 31 Abs. 1 BVerfGG: „Die Bindungswirkung besteht nicht für das Bundesverfassungsgericht selbst. Das Gericht kann seine in einer früheren Entscheidung vertretenen Rechtsauffassungen aufgeben, auch soweit sie für die damalige Entscheidung tragend waren. Ein Senat ist nur genötigt, die Entscheidung des Plenums anzurufen, wenn er von der Rechtsauffassung abweichen will, die eine Entscheidung des anderen Senats trägt.“ 124 Tomuschat, Verfassungsgewohnheitsrecht, S. 52 f. Dem ist hinzuzufügen, dass die Vorstellung der Entstehung neuen Gewohnheitsrechts durch den Bruch alten Gewohnheitsrechts bei einem Gericht noch weitaus problematischer erscheint als bei der vergleichbaren Problematik auf völkerrechtlicher Ebene, bei denen die Staaten Gewohnheitsrecht erzeugen. Die in BGHZ 18, 81 (93 f.) vertretene Auffassung, dass das Gewohnheitsrecht entfalle, wenn das Gericht einen abweichenden Standpunkt einnehme, bezeichnet Tomuschat, Verfassungsgewohnheitsrecht, S. 53, zu Recht als „waghalsige Hilfskonstruktion“, die mit der Bindung der Judikative an Gesetz und Recht nicht vereinbar sei.

B. Anerkennung der Völkerrechtsfreundlichkeit auf (supra)nationaler Ebene

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Hinsichtlich der Bildung von Verfassungsgewohnheitsrecht durch entsprechende Praxis der Staatsorgane ist zunächst darauf hinzuweisen, dass dieser in der deutschen Rechtsordnung nicht die Letztverbindlichkeit eines Richterspruches zukommt und dass daher die Zwangsläufigkeit, mit der die Rechtsprechung als Verfahren zur Verfassungsfortbildung anzuerkennen ist, für die Organpraxis nicht zutrifft.125 Auch eine völkerrechtsfreundliche Praxis der deutschen Staatsorgane126 ist deshalb nicht ausreichend für die Begründung eines verfassungsgewohnheitsrechtlichen Prinzips der Völkerrechtsfreundlichkeit. Da selbst in der – den Gedanken der „Völkerrechtsfreundlichkeit“ auch in der Rechtsprechung betonenden – deutschen Rechtsordnung eine verfassungsgewohnheitsrechtliche Verankerung des Prinzips der Völkerrechtsfreundlichkeit ausscheidet, dürfte dies für andere Rechtsordnungen (wie die EU-Rechtsordnung) zum jetzigen Zeitpunkt erst recht gelten. bb) Induktive Ableitung von Prinzipien aus dem positiven Recht im Gegensatz zur antipositivistischen Ableitung von Prinzipien „aus der Rechtsidee“ In Betracht kommen ferner eine induktive Ableitung von Prinzipien aus dem positiven Recht und die antipositivistische Ableitung von Prinzipien „aus der Rechtsidee“.127 Diese beiden grundverschiedenen Herangehensweisen sollen zunächst allgemein dargestellt werden, bevor darauf eingegangen wird, was dies für die mögliche Ableitung eines Verfassungsprinzips der Völkerrechtsfreundlichkeit bedeutet. Bei der induktiven Ableitung von Prinzipien aus dem positiven Recht werden die Zwecke und allgemeinen Regelungsabsichten der Normsetzer aus der Rechtsordnung mit seinen Einzelanordnungen abgeleitet.128 Dies ist in seltenen Fällen – wie bei dem in § 242 BGB geregelten Prinzip von Treu und Glauben, das eine konkretisierungsbedürftige Generalklausel darstellt – unmittelbar möglich.129 Allerdings lassen sich die Mehrheit von Prinzipien – wie das nicht ausdrücklich im Gesetz genannte Prinzip pacta sunt servanda im deutschen Zivilrecht – nur mittelbar aus dem Gesetz ableiten.130 Da sich induktiv gewonnene Prinzipien aus 125

Tomuschat, Verfassungsgewohnheitsrecht, S. 95. Siehe hierzu die Beiträge „Völkerrechtsfreundlichkeit und Völkerrechtsskepsis in der politischen Praxis der deutschen Exekutive und Legislative“ von Paulus und „Völkerrechtsfreundlichkeit und Völkerrechtsskepsis in der politischen Praxis des deutschen Bundestages“ von Arndt. 127 Höpfner, S. 92–94. 128 Höpfner, S. 94 f. 129 Höpfner, S. 92. 130 Höpfner, S. 92, der zudem darauf verweist, dass die induktive Gewinnung von Prinzipen aus dem geschriebenen Recht auch mit dem Rechtspositivismus vereinbar sei, 126

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4. Teil: Entwicklungschancen der dargestellten Konzepte

dem positiven Recht ableiten lassen, können sie letztlich auf den Willen der Gesetzgebung zurückgeführt werden, so dass sie die Verbindlichkeit des Gesetzes für sich beanspruchen können und Bestandteil des inneren Systems der Rechtsordnung sind.131 Anders verhält es sich, wenn ein Prinzip antipositivistisch aus „der Rechtsidee“ oder aus „der Natur der Sache“ abgeleitet wird.132 Dies geschieht, wenn die induktive Gewinnung eines Prinzips aus dem geltenden Recht nicht möglich ist.133 Die Zugrundelegung einer rechtsethischen Idee und die daraus folgende Ablösung von der Gesetzesbindung bergen jedoch Gefahren in sich.134 In der Literatur ist auf die erheblichen Verständnisunterschiede dieser Begriffe hingewiesen worden: „Es gibt ebenso viele „Rechtsideen“ und „Naturen der Sache“ wie es Rechtsanwender gibt.“ 135 Die „Naturen der Sache“ sind daher auch als „inakzeptable Verneblungsstrategien“ bezeichnet worden.136 Die Gefahr einer Aushebelung der geschriebenen Regelungen durch die Annahme eines antipositivistisch hergeleiteten Prinzips ist dem Schrifttum zufolge ebenfalls nicht von der Hand zu weisen.137 Ein Verfassungsprinzip der Völkerrechtsfreundlichkeit kann daher nach richtiger Auffassung nur induktiv aus dem positiven Verfassungsrecht abgeleitet werden.138 c) Induktive Gewinnung eines Verfassungsprinzips der Völkerrechtsfreundlichkeit Im Hinblick auf die induktive Gewinnung des Verfassungsprinzips der Völkerrechtsfreundlichkeit wird teilweise vertreten, dass sich dieses aus einer Gesamtschau der Verfassungsnormen ableiten lasse.139 Allerdings muss die allgemeine Geltung eines Prinzips von seiner konkreten Ausprägung innerhalb der Rechtsordnung unterschieden werden: Die Zugehörigkeit eines Prinzips zu einer Rechtsordnung lässt sich daher bereits durch eine einzige rechtswirksame Norm nachweisen, der es als leitender Rechtsgedanke erkennbar zugrunde liegt.140 Eine da sich auch aus positivistischer Sicht nicht bestreiten lasse, dass die Rechtsordnung von bestimmten Leitgedanken getragen wird. 131 Höpfner, S. 94. 132 Höpfner, S. 93. 133 Höpfner, S. 95. 134 Rüthers, S. 960. 135 Höpfner, S. 95. 136 Rüthers, S. 960. 137 Höpfner, S. 96; Payandeh, S. 467. 138 Dies dürfte jedenfalls für diejenigen Civil Law-Rechtsordnungen gelten, in denen eine umfassende Verfassung – im materiellen und formellen Sinne – existiert. 139 Vgl. Dörr, S. 62. 140 Valentin, S. 73 m.w. N.

B. Anerkennung der Völkerrechtsfreundlichkeit auf (supra)nationaler Ebene

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Zusammenstellung aller völkerrechtsfreundlichen Elemente einer Rechtsordnung ist daher streng genommen für die Herleitung des Verfassungsprinzips der Völkerrechtsfreundlichkeit nicht notwendig, sofern sich dessen Existenz bereits überzeugend durch ein Einzelkriterium begründen lässt, z. B. dadurch, dass dem Völkerrecht in einer Rechtsordnung Überverfassungsrang zukommt. Für die Feststellung der konkreten Ausprägung des Prinzips der Völkerrechtsfreundlichkeits in der nationalen Rechtsordnung müssen hingegen sämtliche im 2. Teil aufgeführten Anhaltspunkte zusammengetragen werden, die durch weitere im Einzelfall sachgerechte Kriterien ergänzt werden können. Diese Anhaltspunkte zeichnen sich dadurch aus, dass sie den völkerrechtlichen Verpflichtungen des Staates zu innerstaatlicher Wirksamkeit verhelfen. Sie können sich aus den Verfassungsnormen selbst ergeben. In vielen Fällen enthält die Verfassung jedoch keine ausdrücklichen Regelungen über den Einfluss des Völkerrechts im innerstaatlichen Bereich oder über bestimmte völkerrechtsfreundliche Instrumente, die vom nationalen Rechtsanwender praktiziert werden können. Daher genügt es nicht, sich bei der Untersuchung auf die Verfassungsnormen zu beschränken.141 Es ist auch erforderlich, im Einklang mit der zunehmenden Bedeutung des Richterrechts für die Rechtsordnungen142 die relevante Verfassungsrechtsprechung in die Untersuchung mit einzubeziehen. Da in der Rechtswirklichkeit eine strikte Trennung zwischen Fragen der Völkerrechtsfreundlichkeit und der internationalen Offenheit nicht zu erwarten ist, können hierbei auch Anhaltspunkte, die in der vorliegenden Untersuchung aus Klarstellungsgründen nicht zur Völkerrechtsfreundlichkeit, sondern zur internationalen Offenheit gezählt wurden, Bedeutung erlangen. Dies gilt beispielsweise für Verfassungsaufträge zur internationalen Zusammenarbeit. d) Ableitbarkeit aus dem Rechtsstaatsprinzip? Möglich scheint es auch, das Prinzip der Völkerrechtsfreundlichkeit aus dem Rechtsstaatsprinzip einer Verfassung abzuleiten,143 so dass ein Rückgriff auf spezielle völkerrechtsfreundliche Anhaltspunkte der jeweiligen Verfassung nicht nötig wäre. Eine solche Ableitung könnte mit der Überlegung gerechtfertigt werden, dass Rechtsstaatlichkeit neben der innerstaatlichen und internen Dimension auch eine externe Dimension umfasst.144 Giegerich formuliert diesen Zusam141 Auch wenn in der Literatur häufig nur auf die Verfassungsnormen eingegangen wird, so bei Dörr, S. 62; Payandeh, S. 469. 142 Siehe hierzu Höpfner, S. 89–91. 143 So Giegerich, Konstitutionalisierungsprozeß, S. 639, für die Unionsrechtsordnung. Siehe auch BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats, 15.12.2015 – 2 BvL 1/12, Abweichende Meinung der Richterin König, Rn. 6. 144 Vgl. Florian Becker, S. 291: „Unter den Bedingungen der offenen Staatlichkeit ist der Gehalt des Rechtsstaatsbegriffs, der insbesondere die umfassende staatliche Bindung an das Recht umfasst, auch mit internationalen Gehalten aufzuladen.“ So auch

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4. Teil: Entwicklungschancen der dargestellten Konzepte

menhang wie folgt: „Denn als Rechtsstaat kann ein Staat nur gelten, wenn er alles ihn bindende nationale, internationale und supranationale Recht verläßlich beachtet. Die ,international rule of law‘ ist integraler Bestandteil der nationalen ,rule of law‘.“ 145 Ansätze für eine solche Überlegung finden sich in Art. 5 der schweizerischen Bundesverfassung,146 der sich mit den Grundsätzen rechtsstaatlichen Handelns beschäftigt und dessen Abs. 4 in diesem Zusammenhang bestimmt, dass Bund und Kantone das Völkerrecht beachten. Mit diesem Bekenntnis zur international rule of law wird die innerstaatliche Bindungswirkung des Völkerrechts von einer zwar anerkannten, aber ungeschriebenen zur ausdrücklich genannten Verfassungspflicht erhoben.147 Aus dieser Norm ergibt sich „die Pflicht, dem Völkerrecht auf innerstaatlicher Ebene möglichst weitgehend Nachachtung zu verschaffen“ in Form eines Anwendungs- und Harmonisierungsgebotes sowie eines grundsätzlichen Vorrangs des Völkerrechts.148 Eine Kollisionsnorm enthält diese Bestimmung aber nach Auffassung des Bundesrates und der mehrheitlichen Lehre nicht.149 Der Unterschied zu einer Bestimmung wie Art. 216 Abs. 2 AEUV – der die Bindung der Unionsorgane und der Mitgliedstaaten an Unionsabkommen und damit ebenfalls eine Beachtungspflicht statuiert – oder zu einer bemerkenswert völkerrechtsfreundlichen Verfassungsnorm wie Art. 25 GG – die festlegt, dass die allgemeinen Regeln des Völkerrechts ein den allgemeinen Gesetzen vorgehender und unmittelbare Rechte und Pflichten erzeugender Bestandteil des Bundesrecht sind – liegt im Kontext. Das Besondere an Art. 5 Abs. 4 der schweizerischen Verfassung ist, dass die Pflicht zur Respektierung des Völkerrechts in derselben Norm genannt wird wie andere Grundsätze rechtsstaatlichen Handelns: So besagt Abs. 1, dass das Recht Grundlage und Schranke staatlichen Handelns ist, Abs. 2 bestimmt, dass staatliches Handeln im öffentlichen Interesse liegen und verhältnismäßig sein muss, und Abs. 3 legt fest, dass staatliche Organe und Private nach Mahulena Hofmann, S. 500, derzufolge die Offenheit für überstaatliche Regelungen ein zusätzliches Element der Rechtsstaatlichkeit sei. 145 Giegerich, EMRK, Rn. 63. Siehe hierzu auch Giegerich, Völkerrechtsfreundlichkeit, S. 26, unter Bezugnahme auf Kant. 146 Abrufbar unter http://www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/19995395/in dex.html. 147 Tschumi/Schindler, Rn. 60 f. 148 Tschumi/Schindler, Rn. 61. Koller/Biaggini, S. 341, zufolge zeigt die Entstehungsgeschichte, dass diese Norm als Bekenntnis zum grundsätzlichen Vorrang des Völkerrechts zu verstehen ist. Die am 1. Januar 2000 in Kraft getretene neue schweizerische Bundesverfassung ändere jedoch „nichts an der bisherigen (ambivalenten) Situation. Sie geht (wie die Praxis unter der Bundesverfassung von 1874) nicht von einem absoluten Vorrang des Völkerrechts aus, sondern von einer differenzierten Zuordnung der beiden Normenkomplexe.“ 149 Wüger, S. 35.

B. Anerkennung der Völkerrechtsfreundlichkeit auf (supra)nationaler Ebene

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Treu und Glauben handeln. Die Einbeziehung einer Pflicht zur Respektierung des Völkerrechts in diese Aufzählung von allgemein anerkannten Grundsätzen rechtsstaatlichen Handelns erschließt eine neue, außengerichtete Dimension der Rechtsstaatlichkeit. Für eine Erweiterung des deutschen Rechtsstaatsverständnisses ist Vogel 1996 – mehr als drei Jahrzehnte nach der bahnbrechenden Formulierung des Gedankens einer „offenen Staatlichkeit“ des Grundgesetzes in seiner Antrittsvorlesung 1964150 – im Rahmen seiner Abschiedsvorlesung eingetreten: „Im Begriff des Rechtsstaats faßt unser Verfassungsrecht vielfältige Postulate zusammen; er bedeutet aber zuallererst, was schon das Wort ,Rechtsstaat‘ sagt: daß dieser Staat sich als durch das Recht geschaffen verstehe und daß er das Recht respektiere. Böckenförde hat den Begriff als einen ,Schleusenbegriff‘ bezeichnet, der ,für das Einströmen sich wandelnder staats- und verfassungstheoretischer Vorstellungen‘ offen sei, ohne dabei seine Kontinuität aufzugeben. So ist im GG der Rechtsstaatsbegriff besonders auch im Lichte der Verfassungsentscheidung für eine internationale Zusammenarbeit zu sehen. [. . .] Respektierung des Rechts ist deshalb nicht nur die Respektierung des selbstgesetzten innerdeutschen Rechts; der ,offene‘ Rechtsstaat respektiert auch das zwischen den Staaten geltende Recht.“ 151 Eine Bindung an Gesetz und Recht, die ausschließlich im innerstaatlichen Bereich verharrt, dürfte in Anbetracht der inzwischen erreichten Verrechtlichung der internationalen Beziehungen den auf völkerrechtlicher Ebene erreichten Entwicklungsstand nicht mehr adäquat wiedergeben.152 Aus diesem Grund ist die Anerkennung einer zusätzlichen, außengerichteten Dimension der Rechtsstaatlichkeit – eines Verfassungsprinzips der Völkerrechtsfreundlichkeit als Teil der Rechtsstaatlichkeit – wünschenswert. Dies gilt selbst in der deutschen Rechtsordnung, die ein (eigenständiges) Verfassungsprinzip der Völkerrechtsfreundlichkeit bereits anerkannt hat. Die Einbeziehung der Völkerrechtsfreundlichkeit in das deutsche Rechtsstaatsverständnis würde dazu führen, dass diese Eingang in die Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG findet.153 Durch die Anerkennung dieser zusätzlichen Dimension der Rechtsstaatlichkeit ließe sich auch beseitigen, was Pescatore als „Zwiespältigkeit des staatlichen Handelns“ 154 bezeichnet hat. Ihm zufolge ist es mit dem Grundsatz von Treu und Glauben im völkerrechtlichen Verkehr nicht vereinbar, sich völkerrechtlich

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Vogel, Verfassungsentscheidung, S. 42. Vogel, Verfassungsrecht, S. 165. 152 Vgl. Giegerich, EMRK, Rn. 63: „In seiner transnationalen Dimension verpflichtet das Rechtsstaatsprinzip die deutsche Staatsgewalt insgesamt [. . .] zur Einhaltung der völker- und europarechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland.“ 153 Giegerich, EMRK, Rn. 62, weist u. a. auf diesen Vorteil für den Fall einer Einbeziehung der EMRK-Rechte in das Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes hin. 154 Pescatore, S. 686. 151

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4. Teil: Entwicklungschancen der dargestellten Konzepte

zu binden, aber gegebenenfalls intern so zu verhalten, als sei man nicht gebunden.155 Ein widersprüchlicher Eindruck könnte auch entstehen, wenn eine Rechtsordnung die Einhaltung des Grundsatzes von Treu und Glauben nur dann fordert, wenn rein interne, horizontale Vorgänge betroffen sind (beispielsweise zivilrechtliche Streitigkeiten unter Privaten, bei denen die grundsätzliche Bindung an geschlossene Verträge nicht in Frage gestellt wird), bei ähnlich gelagerten, externen Vorgängen (Vertragsschluss unter Staaten) aber eine großzügigere Auffassung von der Bindungswirkung von Verträgen vertritt. Zudem stellt sich die Frage, ob mit zunehmender Menge der individualschützenden völkerrechtlichen Normen in Bezug auf diese Normen nicht eine Durchdringung der staatlichen Souveränität anzudenken sein wird, die den der Hoheitsgewalt eines Staates unterstehenden Personen einen direkten, aus dem Völkerrecht folgenden und innerstaatlich durchsetzbaren Anspruch diesem Staat gegenüber zubilligt. Da individualschützende Normen unmittelbar die Rechtsstellung von Individuen betreffen, ist es ab einem bestimmten Punkt der völkerrechtlichen Entwicklung möglicherweise nicht mehr angemessen, dass Individuen bezüglich der rechtlichen Wirkungen dieser Normen auf die Kooperation ihres Staates angewiesen sind. Eine solche Durchdringung der staatlichen Souveränität durch individualschützende Völkerrechtsnormen würde einem (zumindest partiellen) monistischen Ansatz entsprechen. 3. Inhalt eines Prinzips der Völkerrechtsfreundlichkeit Eine genaue Beschreibung des Inhalts eines Prinzips der Völkerrechtsfreundlichkeit erscheint wenig realistisch, möglich ist aber eine allgemein gehaltene Annäherung an ihn. Diese erste Annäherung soll mit Hilfe einer Aussage des Bundesverfassungsgerichts erfolgen, das in seinem Beschluss vom 26.10.2004 bezüglich Enteignungen in der SBZ156 drei allgemein gehaltene Elemente der Völkerrechtsfreundlichkeit des deutschen Grundgesetzes benannt hat, die eventuell für eine generelle Beschreibung des Prinzips der Völkerrechtsfreundlichkeit verwendet werden können. Diese Elemente sollen daher dargestellt und auf ihre Stichhaltigkeit und Verallgemeinerungsfähigkeit auch für andere Rechtsordnungen überprüft werden. Das erste vom BVerfG benannte Element ist, dass die deutschen Staatsorgane verpflichtet seien, die die Bundesrepublik Deutschland bindenden Völkerrechtsnormen zu befolgen und Verletzungen nach Möglichkeit zu unterlassen.157 Dieser Teil der Charakterisierung des Prinzips der Völkerrechtsfreundlichkeit ist überzeugend, allerdings auch selbstverständlich und kann deshalb ohne weiteres 155 156 157

Ebd. BVerfGE 112, 1 – SBZ-Enteignungen. BVerfGE 112, 1 (26) – SBZ-Enteignungen.

B. Anerkennung der Völkerrechtsfreundlichkeit auf (supra)nationaler Ebene

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auf andere Rechtsordnungen übertragen werden. Wenn das Prinzip der Völkerrechtsfreundlichkeit einen sinnvollen Inhalt haben und nicht lediglich Postulat bleiben soll, dann muss es jedenfalls die Staatsorgane dazu verpflichten, die den Staat bindenden Völkerrechtsnormen zu befolgen und Verletzungen „nach Möglichkeit“ zu vermeiden. Umgekehrt gewendet bedeutet dies, dass eine Verpflichtung des Staates besteht, in Fällen, in denen die Respektierung des Völkerrechts „möglich“ ist, dieses auch zu beachten. Die verwendete Formulierung zeigt, dass das Prinzip der Völkerrechtsfreundlichkeit als Optimierungsgebot verstanden werden kann. Allerdings bleibt offen, wie die einschränkende Bedingung – „nach Möglichkeit“ – verstanden werden soll, d.h. unter welchen Voraussetzungen das BVerfG eine Verletzung von Völkerrecht zulassen will.158 An dieser Stelle bietet sich der Rückgriff auf die Alexysche Prinzipientheorie an: Demnach lassen sich die als Optimierungsgebote zu verstehenden Prinzipien dadurch kennzeichnen, dass sie in unterschiedlichem Maße erfüllt sein können und dass das Maß ihrer Erfüllung von den tatsächlichen und den rechtlichen Möglichkeiten abhängt, wobei der Bereich des rechtlich Möglichen durch gegenläufige Prinzipien und Regeln bestimmt wird.159 Die Einhaltung einer völkerrechtlichen Pflicht kann beispielsweise aus tatsächlichen Gründen unmöglich sein, wenn der Staat durch eine völkerrechtliche Norm zu einem aktiven Tun verpflichtet wird, für das ihm die Kapazitäten fehlen.160 Aus Sicht des jeweiligen nationalen Rechts kann sich die rechtliche Unmöglichkeit der Erfüllung völkerrechtlicher Pflichten daraus ergeben, dass andere, im konkreten Fall gegenläufige Verfassungsregeln/-prinzipien nach der internen Verfassungsnormhierarchie dem Verfassungsprinzip der Völkerrechtsfreundlichkeit übergeordnet sind. Dies wäre beispielsweise in einer Rechtsordnung der Fall, in der die verfassungsändernde Gewalt nicht oder nur teilweise (ius cogens) an das Völkerrecht gebunden ist.161 Das zweite vom BVerfG benannte Element ist, dass der Gesetzgeber für die deutsche Rechtsordnung zu gewährleisten habe, dass durch eigene Staatsorgane begangene Rechtsverstöße korrigiert werden können.162 Insofern ergänzen sich das erste und das zweite Element. Während das erste Element vorbeugend ein158 Siehe hierzu den kritischen Kommentar von Giegerich, Verfassungsstaat, S. 23: „Wann aber sollte [. . .] ein völkerrechtsgemäßes Verhalten ,unmöglich‘ sein – letztlich doch nur, wenn es die Verfassung selbst verbietet, mit anderen Worten: falls das Bundesverfassungsgericht die bewusste Entscheidung träfe, das Grundgesetz in einen Konflikt mit dem Völkerrecht zu bringen.“ 159 Alexy, Theorie, S. 76 (Hervorhebung hinzugefügt). 160 Zur nachträglichen Unmöglichkeit der Erfüllung siehe Art. 61 WVK. 161 Vgl. insoweit die rechtsvergleichende Darstellung der verfassungsrechtlichen Schranken und völkerrechtlichen Bindungen der verfassungsändernden Gewalt anlässlich des schweizerischen Minarettverbots von 2009 bei Nolte, S. 807–813. 162 BVerfGE 112, 1 (26) – SBZ-Enteignungen

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4. Teil: Entwicklungschancen der dargestellten Konzepte

greift und einen Rechtsverstoß durch die Staatsorgane verhindern soll, greift das zweite Element ein, wenn ein Rechtsverstoß schon stattgefunden hat und seine Folgen noch fortdauern. Es stellt sicher, dass eine Korrektur dieses Rechtsverstoßes möglich ist, d. h. dass der eingetretene völkerrechtswidrige Zustand nicht zwingend von Dauer ist (vgl. Art. 35 a) ILC-Articles on State Responsibility, der eine Ausnahme von der staatlichen Restitutionspflicht nur bei tatsächlicher, nicht aber bei rechtlicher Unmöglichkeit vorsieht). Dies kann ggf. durch die Einführung neuer oder durch die Modifizierung bereits bestehender Vorschriften geschehen. Unabhängig von Erwägungen der Völkerrechtsfreundlichkeit entspricht diese Korrekturmöglichkeit auch nationalen Interessen, da so die negativen Folgen einer Völkerrechtsverletzung – beispielsweise die Verurteilung durch ein internationales Gericht – vermieden werden können. Ohne die Existenz eines Verfahrens zur Korrektur eines solchen Zustandes würde der völkerrechtswidrige Zustand hingegen zwangsläufig perpetuiert werden. Da das erste Element der Völkerrechtsfreundlichkeit so einschränkend formuliert ist („Verletzungen nach Möglichkeit zu unterlassen“), dass die Verletzung von Völkerrecht nicht ausgeschlossen werden kann, ist die Einführung dieses zweiten Elementes erforderlich, durch das die Folgen einer Völkerrechtsverletzung abgemildert werden können und das jedenfalls nach seinem Wortlaut nicht unter einem „Möglichkeitsvorbehalt“ steht.163 Da das BVerfG keine konkreten Anforderungen nennt, die an das Verfahren zu stellen sind, sondern die Ausgestaltung dem Gesetzgeber überlässt, ist auch dieses Element verallgemeinerungsfähig und kann auf andere Rechtsordnungen übertragen werden. Als drittes Element führt das BVerfG an, dass deutsche Staatsorgane unter bestimmten, nicht näher definierten Voraussetzungen auch verpflichtet sein können, das Völkerrecht im eigenen Verantwortungsbereich zur Geltung zu bringen, wenn andere Staaten es verletzen.164 Die Rechtsfrage, wie die deutsche Rechtsordnung mit möglichen Völkerrechtsverletzungen einer nicht an das Grundgesetz gebundenen Hoheitsgewalt umzugehen hat, habe sich auch im Bereich des Auslieferungsrechts gestellt.165 Nach dem verfassungsrechtlichen Maßstab seien die Behörden und Gerichte der Bundesrepublik Deutschland verpflichtet, alles zu unterlassen, was einer unter Verstoß gegen allgemeine Regeln des Völkerrechts vorgenommenen Handlung nichtdeutscher Hoheitsträger im Geltungsbereich des Grundgesetzes Wirksamkeit verschafft, und gehindert, an einer gegen die allge163 Ebd.: „Erstens sind die deutschen Staatsorgane verpflichtet, die die Bundesrepublik Deutschland bindenden Völkerrechtsnormen zu befolgen und Verletzungen nach Möglichkeit zu unterlassen. [. . .] Zweitens hat der Gesetzgeber für die deutsche Rechtsordnung zu gewährleisten, dass durch eigene Staatsorgane begangene Völkerrechtsverstöße korrigiert werden können.“ 164 Ebd. 165 Ebd., S. 27.

B. Anerkennung der Völkerrechtsfreundlichkeit auf (supra)nationaler Ebene

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meinen Regeln des Völkerrechts verstoßenden Handlung nichtdeutscher Hoheitsträger bestimmend mitzuwirken.166 Allerdings könne diese Pflicht in ein Spannungsverhältnis zu der gleichfalls verfassungsrechtlich gewollten internationalen Zusammenarbeit zwischen den Staaten und anderen Völkerrechtssubjekten geraten, insbesondere wenn eine Rechtsverletzung nur auf dem Kooperationswege beendet werden könne.167 Dann könne sich dieses Element der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes nur im Zusammenspiel und Ausgleich mit den weiteren internationalen Verpflichtungen Deutschlands konkretisieren.168 Auch dieses Element ist verallgemeinerungsfähig. Es verpflichtet die Staatsorgane dazu, in bestimmten Fällen als eine Art Garant für die Einhaltung des Völkerrechts zu fungieren und an völkerrechtswidrigen Handlungen ausländischer Hoheitsträger nicht mitzuwirken (vgl. Art. 16 ILC-Articles on States Responsibility zum Verbot der Beihilfe oder Unterstützung bei der Begehung einer völkerrechtswidrigen Handlung). Insofern ergänzt es die beiden erstgenannten Elemente. In einer ersten Annäherung beinhaltet das Prinzip der Völkerrechtsfreundlichkeit demnach, dass der Staat verpflichtet ist, die ihn bindenden Völkerrechtsnormen zu befolgen und Völkerrechtsverletzungen zu vermeiden, zu gewährleisten, dass durch eigene Staatsorgane begangene Völkerrechtsverletzungen korrigiert 166 Ebd. Vgl. hierzu die anlässlich der Befehlsverweigerung eines Soldaten im Zuge des Irak-Krieges aus Gewissensgründen ergangene Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes vom 21.6.2005 derzufolge gegen mehrere „festgestellte Unterstützungsleistungen der Bundesrepublik Deutschland zugunsten der USA und des UK im Zusammenhang mit dem am 20. März 2003 begonnenen Krieg gegen den Irak gravierende völkerrechtliche Bedenken“ bestünden (Urteil des 2. Wehrdienstsenats, BVerwG 2 WD 12.04, 4.1.4.1.; das Urteil ist mit Kürzungen abgedruckt in BVerwGE 127, 302). Aktuelle Relevanz haben die durch das dritte vom BVerfG genannte Element der Völkerrechtsfreundlichkeit aufgeworfene Fragen anlässlich eines Gutachtens der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages mit dem Titel „Ausübung militärischer Gewalt durch ausländische Staaten auf Militärbasen“ erlangt. Die Süddeutsche Zeitung, Auf Kollisionskurs mit dem Völkerrecht, 5.4.2014 (Autoren: John Goetz und Frederik Obermaier), zitierte auszugsweise aus diesem Gutachten wie folgt: „Laut dem auf den 30. Januar 2014 datierten Bundestagsgutachten ist es ,unstrittig‘, dass Deutschland ,völkerrechtswidrige Militäroperationen‘, die ,durch ausländische Staaten von deutschem Territorium‘ aus durchgeführt würden, nicht dulden darf. Sollte das US-Militär einen Terrorverdächtigen ,außerhalb eines bewaffneten Konflikts‘ völkerrechtswidrig per Drohne hinrichten, könnte dies ,eine Beteiligung an einem völkerrechtlichen Delikt darstellen‘, wenn die Bundesregierung davon weiß und nicht dagegen protestiert.“ Es gebe aber nur wenige Möglichkeiten, die Steuerung von Drohneneinsätzen vom Stützpunkt Ramstein aus zu verhindern – neben der Einlegung eines Protestes und der Thematisierung dieses Sachverhaltes im Rahmen bilateraler Gespräche bliebe lediglich die außenpolitisch hochproblematische Möglichkeit der Kündigung des sogenannten Aufenthaltvertrages von 1954 (Vertrag über den Aufenthalt ausländischer Streitkräfte in der Bundesrepublik Deutschland, BGBl. 1955 II, S. 253). Dieser vor dem Ende der Besatzung abgeschlossene Vertrag kann nunmehr mit einer zweijährigen Frist gekündigt werden (Notenwechsel vom 25.9.1990, BGBl. 1990 II, S. 1390 und vom 16.11.1990, BGBl. 1990 II S. 1696). 167 BVerfGE 112, 1 (27) – SBZ-Enteignungen. 168 Ebd.

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4. Teil: Entwicklungschancen der dargestellten Konzepte

werden können, sowie unter bestimmten Voraussetzungen das Völkerrecht auch im eigenen Verantwortungsbereich zur Geltung zu bringen, wenn andere Staaten es verletzen. 4. Wirkweise eines Prinzips der Völkerrechtsfreundlichkeit Zu untersuchen bleibt, welche rechtlichen und sonstigen Auswirkungen die Anerkennung eines der Verfassung innewohnenden Prinzips der Völkerrechtsfreundlichkeit haben kann. a) Außerrechtliche Wirkungen Verfassungsprinzipien wirken außerrechtlich als Proklamation und als Symbolisierung.169 Von ihnen geht zudem eine erzieherische, ethische Wirkung aus.170 Weiter entfalten Verfassungsprinzipien eine werbende, integrierende und legitimierende Wirkung, zugleich wohnt ihnen aber auch die Gefahr inne, eine Utopie zu schaffen.171 Übertragen auf das Verfassungsprinzip der Völkerrechtsfreundlichkeit bedeutet dies, dass es nach außen hin ein symbolhaftes Bekenntnis zum Völkerrecht darstellt. Insofern besteht aber immer auch die Gefahr, dass der (vermeintlich) völkerrechtsfreundliche Staat nicht als bloßer Fürsprecher des Völkerrechts auftritt, sondern die tatsächliche oder behauptete Völkerrechtsfreundlichkeit seiner Verfassung zur Selbstdarstellung oder zum „window dressing“ benutzt. Nach innen hin, im Verhältnis zur Bevölkerung, kann das Prinzip der Völkerrechtsfreundlichkeit dem Staat zusätzliches Ansehen verschaffen, sofern die Mehrheit der Bevölkerung die Einhaltung der völkerrechtlichen Verpflichtungen und die Einbettung in die internationale Gemeinschaft als Wert an sich ansieht. b) Rechtliche Wirkungen Verfassungsprinzipien bezwecken Verwirklichung und Schutz des jeweiligen Wertes, ohne hierfür aber Mittel oder Einschränkungen zu fixieren, so dass zunächst das ganze Spektrum der Normfunktionen oder Rechtsfolgen eröffnet ist.172 Bezogen auf das Verfassungsprinzip der Völkerrechtsfreundlichkeit bedeutet dies, dass es auf die Effektivierung völkerrechtlicher Gebote im innerstaatlichen Bereich abzielt. Ihm lassen sich aber keine Vorgaben dazu entnehmen, wie dieses Ziel erreicht werden soll, so dass die Anwendung verschiedener völkerrechts169 170 171 172

Reimer, S. 286. Ebd. Reimer, S. 286 f. Reimer, S. 292 f.

B. Anerkennung der Völkerrechtsfreundlichkeit auf (supra)nationaler Ebene

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freundlicher Methoden (bspw. unmittelbare Anwendung völkerrechtlicher Normen oder die völkerrechtskonforme bzw. -freundliche Auslegung nationalen Rechts) in Betracht kommt. Anzumerken ist, dass das Verfassungsprinzip der Völkerrechtsfreundlichkeit – im Rahmen der innerstaatlich vorgegebenen Gewaltenteilung und Aufgabenzuweisung – für alle Staatsorgane maßgeblich ist. Abhängig vom innerstaatlichen Rang des Völkerrechts und der Qualität der jeweiligen völkerrechtlichen Norm (die ggf. nicht bestimmt genug ist, um innerstaatlich anwendbar zu sein oder aus einem anderen Grund zu ihrer wirksamen Durchführung den Erlass entsprechender Gesetze voraussetzt), kann nicht nur eine völkerrechtliche Rechtsanwendung, sondern auch eine völkerrechtsfreundliche einfache Gesetzgebung nötig sein, um völkerrechtliche Verpflichtungen im innerstaatlichen Bereich vollumfänglich wirksam werden zu lassen.173 Das Prinzip der Völkerrechtsfreundlichkeit verpflichtet den Gesetzgeber aber selbstverständlich nicht nur zu einem entsprechenden aktiven Tun, sondern begründet auch Unterlassungspflichten: Der Gesetzgeber darf demnach keine völkerrechtswidrigen Gesetze erlassen.174 Die damit angesprochene Rechtsfolgenoffenheit macht „Glanz und Elend der Verfassungsprinzipien“ aus.175 Hieraus ergibt sich auch das für Verfassungsprinzipien so wesentliche „Feinsteuerungs- und Reservepotenzial“, das allerdings auch die Normativität der Verfassung bedroht.176 Dieses Potenzial können die Verfassungsprinzipien insbesondere entfalten, wenn eine Lücke oder ein Widerspruch in der Rechtsordnung beseitigt werden soll, da sie es aufgrund ihrer von der Verfassungsgesetzgebung abgeleiteten Autorität ermöglichen, den Geltungsbereich einzelner Rechtsnormen einzuschränken oder auszudehnen, um diese Widersprüche oder Lücken zu beseitigen.177 Die Voraussetzungen der einschränkenden und erweiternden Wirkung von Prinzipien und deren mögliche Bedeutung für das Verfassungsprinzip der Völkerrechtsfreundlichkeit sollen deshalb im Folgenden dargestellt werden. 173 Vgl. Göldner, S. 148, für die Aufgabenteilung von Gesetzgeber und Richter bei der Konkretisierung anderer Verfassungsprinzipien: „Die Methode der richterlichen Inhaltsbestimmung des Verfassungsprinzips ähnelt derjenigen des Gesetzgebers darin, daß sie, mit einigen Abwandlungen, ebenfalls auf Regelbildung abzielt; jedoch ist sie, einem interpretativen Ansatz folgend, dabei an Kriterien spezifisch richterlicher Normgewinnung gebunden.“ 174 Vgl. Rauschning, S. 302, für die deutsche Rechtsordnung: „Mit der Herleitung der Pflicht zur Befolgung völkerrechtlicher Verträge aus Art. 25 GG oder auch aus dem Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes werden gerade auch die gesetzgebenden Organe – vom entwerfenden Ministerium über die Regierung, den Bundestag und den Bundesrat bis hin zum Ministerpräsidenten – zur Erfüllung des Vertrages verpflichtet; die übrigen Rechtsanwender waren schon nach herkömmlicher Lehre an den Vertrag gebunden.“ 175 Reimer, S. 358. 176 Ebd. 177 Höpfner, S. 94.

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4. Teil: Entwicklungschancen der dargestellten Konzepte

aa) Einschränkende Wirkung Die einschränkende Wirkung eines Prinzips kann dazu führen, dass im konkreten Fall eine Rechtsregel nicht gilt, d.h. dass es zu einer Modifizierung der Rechtsfolgen einer Rechtsnorm kommt. Bezogen auf das Verfassungsprinzip der Völkerrechtsfreundlichkeit wäre dies der Fall, wenn eine oder mehrere Normen des nationalen Rechts unter bestimmten Voraussetzungen die Rechtsfolge RF+ vorgeben, aus völkerrechtlicher Sicht, etwa wegen Normen aus dem Bereich des Menschenschutzrechtes oder dem Welthandelsrecht, die Rechtsfolge in diesem Fall aber eine andere sein müsste, nämlich RF–. Es lässt sich hierzu folgendes Beispiel bilden: Die Gesetze des Staates X enthalten eine Bestimmung, derzufolge Hochverrat mit dem Tod bestraft werden soll. Die Voraussetzungen dieser Norm sind im konkreten Fall durch Handlungen eines Individuums auch erfüllt. Staat X hat sich völkerrechtlich verpflichtet, die Todesstrafe vollständig abzuschaffen, die diesen Verpflichtungen entgegenstehenden Normen aber noch nicht entsprechend abgeändert. Die die Todesstrafe verbietende völkerrechtliche Norm vermag es aber zunächst nicht, das von der Norm nationalen Ursprungs vorgegebene Ergebnis zu ändern, da die ins nationale Recht umgesetzte völkerrechtliche Norm im Rang unter dem nationalen Recht steht. Lässt sich aus der Verfassung des Staates X aber ein Prinzip der Völkerrechtsfreundlichkeit ableiten, so fließen die völkerrechtlichen Anforderungen dennoch in die rechtliche Bewertung der Situation ein. Sofern die Voraussetzungen hierfür vorliegen, kann das Verfassungsprinzip die rein nationale Rechtsnorm einschränken bzw. ihre Rechtsfolgen modifizieren, so dass in der konkreten Situation die gebotene Rechtsfolge nicht mehr RF+, sondern RF– ist. Dies führt zu der – insbesondere in Anbetracht der Bedeutung der Rechtssicherheit – wichtigen Frage, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit eine Rechtsnorm durch ein Prinzip eingeschränkt werden kann. Hierfür ist zunächst erforderlich, dass die fragliche Regel nicht strikt gilt.178 In modernen Rechtsordnungen dürften jedenfalls nicht alle Regeln einer strikten Geltungsregel unterliegen.179 In einem ersten Schritt gilt es somit nachzuweisen, dass eine Regel unter bestimmten Voraussetzungen eingeschränkt werden kann. In dem gewählten Beispielsfall ist davon auszugehen, dass die Norm, die für Fälle des Hochverrats die Todesstrafe vorschreibt (Soll-Vorschrift), unter bestimmten Voraussetzungen einschränkbar ist.

178 Alexy, Theorie, S. 76, Fn. 24. Dies ist der Fall, wenn für sie ein Geltungsprinzip gilt, dass unter bestimmten Bedingungen zulässt, dass das Prinzip die Regel einschränkt. Hingegen gilt eine Regel strikt, wenn sie eine Geltungsregel hat, die sagt, dass die Regel dem sie einschränkenden Prinzip vorgeht, unabhängig davon, wie wichtig die Erfüllung des Prinzips und wie unwichtig die Erfüllung der Regel ist. 179 Alexy, Theorie, S. 76, Fn. 24.

B. Anerkennung der Völkerrechtsfreundlichkeit auf (supra)nationaler Ebene

255

Sodann muss geprüft werden, ob die für die Einschränkbarkeit der Rechtsnorm erforderlichen Bedingungen auch tatsächlich vorliegen. Erforderlich ist es hierbei, das die jeweilige Regel inhaltlich stützende Prinzip herauszuarbeiten.180 Die für eine Einschränkbarkeit der Rechtsnorm erforderlichen Bedingungen können aber nicht schon dann vorliegen, wenn die Erfüllung des gegenläufigen Prinzips im konkreten Fall wichtiger ist als die Erfüllung des die Regel inhaltlich stützenden Prinzips, da ansonsten das die Erfüllung von Regeln allgemein stützende Prinzip keine Rolle mehr spielen würde.181 Dies bedeutet, dass nicht lediglich die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem die Regel stützenden Prinzip und dem gegenläufigen Prinzip gestellt werden muss. Erforderlich ist vielmehr, dass im konkreten Fall das gegenläufige Prinzip stärker wiegt als das die Regel inhaltlich stützende Prinzip und das die Erfüllung von Regeln allgemein stützende Prinzip zusammen.182 In einem zweiten Schritt muss also das hinter der Rechtsnorm stehende Prinzip herausgearbeitet werden und zusammen mit dem die Erfüllung von Regeln allgemein stützenden Prinzip gegen das Verfassungsprinzip der Völkerrechtsfreundlichkeit abgewogen werden. Bezogen auf den Beispielsfall dürfte das Prinzip, das hinter der die Todesstrafe vorschreibenden Regel steht, der Schutz des Staates sein, der durch die abschreckende Wirkung des Strafmaßes gewährleistet werden soll. Zu berücksichtigen ist daneben auch das die Erfüllung von Regeln allgemein stützende Prinzip der Rechtssicherheit. Hinsichtlich der Verfassung des Staates in dem gewählten Beispiel kann davon ausgegangen werden, dass beide Prinzipien – Schutz des Staates und Rechtssicherheit als Ausfluss der Rechtsstaatlichkeit183 – aufgrund ihrer hohen Bedeutung Verfassungsrang besitzen. Bei der Abwägung ist andererseits das Verfassungsprinzip der Völkerrechtsfreundlichkeit zu berücksichtigen. Im konkreten Fall dürfte das Verfassungsprinzip der Völkerrechtsfreundlichkeit schwerer wiegen als die beiden anderen Verfassungsprinzipien, da der Schutz des Staates auch durch die Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe gewährleistet werden kann und eine Abweichung vom Verfassungsprinzip der Rechtssicherheit für das von der Strafandrohung unmittelbar betroffene Individuum vorteilhaft ist und auch die Gleichheit gewahrt wird, da in allen anderen entsprechenden Fällen ebenfalls keine Todesstrafe verhängt werden darf. Daher kommt es zu einer Einschränkung der nationalen Rechtsnorm. 180

Ebd. Ebd. 182 Ebd. 183 Nach überzeugender Auffassung umfasst Rechtsstaatlichkeit allerdings auch die Einhaltung völkerrechtlicher Verpflichtungen (siehe hierzu die Ausführungen unter 4. Teil B. II. 2. d)). Unter Zugrundelegung dieser Sichtweise muss das Verfassungsprinzip der Rechtsstaatlichkeit auch auf der anderen Seite – neben dem Verfassungsprinzip der Völkerrechtsfreundlichkeit – berücksichtigt werden. Im konkreten Fall spielt das Verfassungsprinzip der Rechtsstaatlichkeit aber ohnehin keine entscheidende Rolle, so dass die Darstellung unterbleiben kann. 181

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4. Teil: Entwicklungschancen der dargestellten Konzepte

bb) Erweiternde Wirkung Das Verfassungsprinzip der Völkerrechtsfreundlichkeit kann zudem eine erweiternde Wirkung haben. Dies bedeutet, dass nicht nur – wie bei der einschränkenden Wirkung – Rechtsfolgen durch das Prinzip modifiziert, sondern sogar originäre Rechtsfolgen aus dem Prinzip abgeleitet werden. Wenn beispielsweise das Völkerrecht in einer Rechtsordnung nur auf der Ebene des einfachen Gesetzesrechts steht, sich aus der Verfassung aber das Prinzip der Völkerrechtsfreundlichkeit ableiten lässt, dann kann die Verpflichtung zur – eigentlich systemwidrigen184 – völkerrechtskonformen Auslegung von Gesetzen rechtlich überzeugend mit diesem höherrangigen Prinzip begründet werden. Der Rechtsquellencharakter von Prinzipien bedarf allerdings der besonderen Begründung.185 Jede Rechtsordnung ist notwendigerweise lückenhaft. Aufgrund des nur begrenzten menschlichen Erkenntnisvermögens können nicht alle denkbaren Rechtsprobleme antizipiert und durch den Gesetzgeber geregelt werden.186 Dies wirft das Problem auf, wie in einem konkreten Rechtsfall mit der möglichen Lückenhaftigkeit der gesetzlichen Regelungen umzugehen ist – im soeben geschilderten Beispiel mit dem Fehlen einer ausdrücklich normierten Verpflichtung zur völkerrechtskonformen Auslegung der Gesetze. Denkbar wäre es, aufgrund des Rechtsverweigerungsverbots eine Pflicht zur „Füllung“ der relevanten Lücke anzunehmen187 und die völkerrechtskonforme Auslegung der streitigen Gesetzesnorm unter Berufung auf das Verfassungsprinzip der Völkerrechtsfreundlichkeit zu bejahen. Indes enthält das Rechtsverweigerungsverbot lediglich eine Pflicht zur Entscheidungsfindung auch in Fällen, in denen die Rechtsordnung die für die Lösung eines bestimmten rechtlichen Problems erforderlichen Rechtsregeln nicht enthält.188 Dem Rechtsverweigerungsverbot lässt sich aber nicht die Pflicht entnehmen, zu einer bestimmten rechtlichen Entscheidung zu kommen, so dass die geforderte Entscheidung daher bei fehlender diesbezüglicher Regelung auch in der Ablehnung der geforderten Rechtsfolgen liegen kann189 – im geschilderten Fall also in dem Verzicht auf eine völkerrechtskonforme Auslegung der strittigen Gesetzesnorm. Anders läge es nur dann, wenn es rechtlich geboten wäre, zu einem anderen, positiven Ergebnis zu kommen. Bei induktiv abgeleiteten Prinzipien lässt sich dies – wie bereits ausgeführt – mit dem Hinweis auf ihre wirksame Setzung 184 Dies gilt allerdings beispielsweise nicht für die südafrikanische Verfassung, die ausdrücklich eine Verpflichtung zur völkerrechtskonformen Auslegung enthält, siehe hierzu 2. Teil D. I. 5 b). 185 Valentin, S. 63. 186 Valentin, S. 67. 187 Valentin, S. 51. 188 Valentin, S. 52. 189 Ebd.

B. Anerkennung der Völkerrechtsfreundlichkeit auf (supra)nationaler Ebene

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durch die hierzu berufene Autorität unter Einhaltung des erforderlichen Verfahrens begründen.190 Die als Optimierungsgebote konzipierten Prinzipien können gegebenenfalls eine Rechtspflicht für den Richter begründen, durch sie geforderte Rechtsfolgen in einem Akt richterlicher Rechtsfortbildung auszusprechen, so dass in dem Unterlassen dieser Rechtsfortbildung eine Rechtsverweigerung liegen würde.191 Dies führt zu der Frage, unter welchen Voraussetzungen aus einem Rechtsprinzip – konkret: dem Verfassungsprinzip der Völkerrechtsfreundlichkeit – Rechtsfolgen abgeleitet werden können. Erforderlich ist zunächst das Vorliegen einer Regelungslücke.192 Eine solche liegt vor, wenn die tatsächliche Regelungslage hinter der berechtigten Regelungserwartung des Rechtsanwenders zurückbleibt, was der Fall ist, wenn keine Norm auf die Rechtsfolgenfrage des Rechtsanwenders antwortet, obwohl er eine Regelung erwarten darf.193 Diese Regelungserwartung hat sich am geltenden Recht zu orientieren, so dass der Rechtsanwender unter Umständen auch eine Nichtregelung hinnehmen muss.194 Im geschilderten Fall lässt sich keiner Norm ausdrücklich entnehmen, dass Gesetze völkerrechtskonform auszulegen sind. Da dies im konkreten Fall aufgrund der unverändert bestehenden Außenbindung aber zu einem Völkerrechtsbruch führen kann, besteht eine legitime Regelungserwartung des Rechtsanwenders. Notwendig ist weiterhin, dass die Regelungslücke auch gefüllt werden muss. Dies ist für den Rechtsanwender der Fall, wenn die Regelungslücke im konkreten Fall entscheidungsrelevant ist. Diese Regelungslücke darf nur dann mithilfe des Verfassungsprinzips der Völkerrechtsfreundlichkeit gefüllt werden, wenn ein Analogieschluss nicht in Betracht kommt. Da der Analogieschluss aufgrund der weitgehend vorherbestimmten Rechtsfolge rechtsicherer als die Prinzipienkonkretisierung ist, hat er Vorrang.195 Findet sich in einer Verfassung beispielweise eine Norm, aus der sich ein hoher innerstaatlicher Rang völkerrechtlicher Verträge ableiten lässt, fehlt aber eine Rangbestimmung zum Völkergewohnheitsrecht, dann kann diese Lücke mithilfe der Analogie geschlossen werden. Wenn jedoch ein Analogieschluss wegen Untauglichkeit der Rechtsfolge oder wegen Unähnlichkeit von geregeltem und nicht geregeltem Fall ausscheidet, kommt eine 190

Valentin, S. 48. Valentin, S. 64 f. 192 Reimer, S. 466 f., schlägt hierfür die Begriffe Regelungs- bzw. Explikationsvakuum vor und begründet dies damit, dass die Regeln über Lückenfeststellung und Lückenfüllung in diesem Punkt jedenfalls nicht direkt gelten. Wenn sich ein Prinzip als unmittelbar anwendbar erweise, dann läge hierin eine Regelung, so dass es von vornherein an einer Lücke fehle. Diese Bezeichnung trägt jedoch nicht zur Klarheit bei, deshalb wird im Folgenden an dem etablierten Begriff der Regelungslücke festgehalten. 193 Reimer, S. 447 f. 194 Ebd. 195 Reimer, S. 450. 191

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4. Teil: Entwicklungschancen der dargestellten Konzepte

Prinzipienkonkretisierung in Betracht.196 Im geschilderten Fall scheidet eine Analogiebildung aus, so dass die Rechtsfolge „völkerrechtskonforme Auslegung“ mit einer Konkretisierung des Verfassungsprinzips der Völkerrechtsfreundlichkeit begründet werden muss. Die abzuleitende rechtliche Folge muss durch das Prinzip auch gefordert sein, was sich durch Betrachtung des Prinzips innerhalb des Kontextes der Rechtsordnung in ihrer Gesamtheit, d.h. unter Berücksichtigung der gegenläufigen Regeln und Prinzipien, bestimmt.197 Bei der Abwägung der gegenüberstehenden Prinzipien ist ebenso wie bei der einschränkenden Wirkung von Prinzipien grundsätzlich das Prinzip der Rechtssicherheit als gegenläufiges Prinzip zu berücksichtigen.198 Anders als bei sonstigen Prinzipienkonkretisierungen, bei denen keine rechtliche Außenbindung besteht und sich daher das Rechtssicherheitsprinzip als gegenläufiges Prinzip auswirkt, dürfte das Prinzip der Rechtssicherheit im geschilderten Gerichtsfall aber sogar für die völkerrechtskonforme Auslegung streiten, da nur so sichergestellt werden kann, dass bindendes Völkerrecht auch innerstaatlich Wirksamkeit erlangt. cc) Abschließende Überlegungen Durch die Betrachtung des Verfassungsprinzips der Völkerrechtsfreundlichkeit im Gesamtkontext wird gewährleistet, dass eine aus ihm ggf. abzuleitende Rechtsfolge auch systemgerecht und sinnvoll ist. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass nicht nur das innerstaatliche Recht, sondern auch das Völkerrecht „inhaltlich und formal sehr unterschiedliche Normen aufweist. [. . .] Von der Satzung der Vereinten Nationen über die Seerechtskonvention von 1982, von den universellen und den regionalen Menschenrechtspakten bis zu bilateralen Doppelbesteuerungsabkommen [. . .]. Unter den Völkerrechtsnormen ragen nach moderner Auffassung die dem ius cogens angehörenden hervor [. . .]. Schließlich gibt es Normen, insbesondere in den Menschenrechts-Konventionen, die in höherem Maße Respekt erheischen als etwa Absprachen über die Vereinheitlichung technischer Standards.“ 199

III. Vorteile einer Anerkennung der Völkerrechtsfreundlichkeit als Verfassungsprinzip und konkrete Handhabung Die Anerkennung der Völkerrechtsfreundlichkeit als Verfassungsprinzip im dargestellten Sinne ist vorteilhaft, da es ein systematischeres Vorgehen bei der Lösung jeglicher Probleme erlaubt, die die innerstaatliche Wirksamkeit von Nor196 197 198 199

Reimer, S. 451 f. Valentin, S. 83. Ebd. Bernhardt, Völkerrechtskonforme Auslegung, S. 394.

B. Anerkennung der Völkerrechtsfreundlichkeit auf (supra)nationaler Ebene

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men völkerrechtlichen Ursprungs betreffen. Dies gilt auch für Fälle, bei denen eine Norm völkerrechtlichen Ursprungs mit einer rein nationalen Norm kollidiert – insofern ist auf die soeben dargestellte einschränkende bzw. erweiternde Wirkung des Prinzips hinzuweisen. Da Prinzipien „eine gesellschaftliche Vorstellung des Guten, Richtigen und Angemessenen“ 200 vermitteln, würde die Anerkennung eines Verfassungsprinzips der Völkerrechtsfreundlichkeit die große Bedeutung des Völkerrechts auch für den innerstaatlichen Bereich hervorheben – ein symbolischer Schritt, der aber in Anbetracht der Wirkmacht von Symbolen nicht zu unterschätzen ist. In dualistischen Rechtsordnungen könnte das Prinzip der Völkerrechtsfreundlichkeit als eine Art Brücke bzw. als Vermittler zwischen den nach außen hin bestehenden völkerrechtlichen Verpflichtungen eines Staates und seiner innerstaatlichen Rechtsordnung fungieren und so zur Verminderung der sich aus der dualistischen Konzeption ergebenden Schwierigkeiten beitragen.201 Da in allen nicht idealtypisch monistischen Rechtsordnungen (beispielsweise solchen, in denen kein absoluter und ausnahmsloser Vorrang des Völkerrechts auch vor der Verfassung besteht) die innerstaatliche Rechtslage von der völkerrechtlichen Bindung abweichen kann, könnte ein Prinzip der Völkerrechtsfreundlichkeit auch dort zur Konfliktlösung beitragen. In Ergänzung der vorstehenden Ausführungen ist bei der praktischen Anwendung der Prinzipientheorie die „Sonderstellung“ der Völkerrechtsfreundlichkeit zu bedenken, welche anders als bei den meisten anderen Verfassungsprinzipien Ausdruck einer äußeren Bindung ist. Auch wenn Beispiele wie das Kadi-Urteil des EuGH verdeutlichen, dass das Verfassungsprinzip der Völkerrechtsfreundlichkeit im Ausnahmefall möglicherweise zurücktreten sollte, muss das Gewicht betont werden, das ihm grundsätzlich zukommt: Aus nationaler Sicht gewährleistet es die Einbettung des eigenen Staates in die internationale Staatengemeinschaft und Völkerrechtsordnung. Aus völkerrechtlicher Sicht besteht sein Verdienst darin, dem Völkerrecht mit seinen vergleichsweisen rudimentären Durchsetzungsmöglichkeiten zur Wirksamkeit zu verhelfen. Im Übrigen ist auch zu bedenken, dass bei einer Kollision, an der die Völkerrechtsfreundlichkeit beteiligt ist, der „Einsatz“ weitaus höher ist als bei einem entsprechenden Konflikt von anderen Prinzipien, die nicht die Außenbindung eines Staates betreffen und bei dem eventuelle negative Folgen innerhalb der nationalen Rechtsordnung verbleiben. Wenn hingegen das Verfassungsprinzip der Völkerrechtsfreundlichkeit zurücktreten muss, so kann dies – ebenso wie beispielsweise bei einer Verletzung des Rechtsstaatsprinzips (vgl. nur Art. 6 EMRK) – eine Völkerrechtsverletzung zur Folge haben. Im Ergebnis müssen für eine Nachrangigkeit des Verfassungsprinzips der Völkerrechtsfreundlichkeit daher sehr hohe Voraussetzungen erfüllt sein.

200

Volkmann, Grundzüge S. 150. Vgl. Schorkopf, Völkerrechtsfreundlichkeit, S. 156 f., der die Völkerrechtsfreundlichkeit als „Weichzeichner“ bezeichnet. 201

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4. Teil: Entwicklungschancen der dargestellten Konzepte

Vorzugswürdig dürfte es sein, ein Zurücktreten des Prinzips der Völkerrechtsfreundlichkeit nur dann zu erlauben, wenn – wie im Kadi-Fall des EuGH – der menschenbezogene Aspekt der internationalen Offenheit oder vergleichbare wichtige Werte der internationalen Gemeinschaft für ein entsprechendes Ergebnis streiten, sich der Vorrang dieser Werte (beispielsweise wegen Art. 103 UNCharta) aber nicht bereits unzweifelhaft aus dem Völkerrecht ergibt. In der Praxis könnte das Prinzip der Völkerrechtsfreundlichkeit es bei einem solchen Verständnis im Einzelfall ermöglichen, bei einer entsprechenden Kollision bestimmten Aspekten der Völkerrechtsordnung (insbesondere den Menschenrechten) intern den Vorrang gegenüber ihren anderen Ausprägungen einzuräumen und damit möglicherweise sogar zu einer positiven Weiterentwicklung auf internationaler Ebene beizutragen.

C. Vorläufiges Fazit: Eine Welt und das Recht im Umbruch Der aufgrund seiner Rolle im Dritten Reich sehr umstrittene Jurist Carl Schmitt urteilte 1963: „Die Epoche der Staatlichkeit geht jetzt zu Ende. Darüber ist kein Wort mehr zu verlieren.“ 202 Gemeint war hiermit das Ende der Ära, in welcher dem Staat ein Monopol auf die politische Entscheidung zukommt.203 Anlehnend an die These von Schmitt könnte die Frage gestellt werden, ob eine Epoche der „offenen Staatlichkeit“ anbricht oder bereits angebrochen ist; eine Frage mit weitreichenden Folgen, deren Beantwortung an dieser Stelle nicht gewagt werden soll. Hingewiesen sei lediglich auf die Verstärkung der „Sachzwänge, die eine internationale Zusammenarbeit in vielen Lebensbereichen (vor allem Wirtschaft, Umweltschutz, Verkehr) und damit eine Abkehr vom Gedanken nationalstaatlicher Selbstherrlichkeit geradezu erzwingen.“ 204 So kann vielen aktuellen Probleme wie der Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen aufgrund ihrer grenzüberschreitenden Natur205 nur wirksam durch die Zusammenarbeit mit anderen Staaten begegnet werden,206 was auch die stetig zunehmende Zahl der internationalen 202 203 204

Schmitt, S. 10. Seiler, S. 1. Tomuschat, Internationale Offenheit, Rn. 3. Vgl. auch von Arnauld, Souveränität,

S. 13. 205 Gemäß Dederer, Rn. 4, betreffen die globale Umweltproblemen Staatengemeinschaftsgüter (Klima, Atmosphäre, biologische Vielfalt) oder Staatengemeinschaftsräume (Umwelt der Hohen See, des Meeresbodens, der Antarktis sowie des Weltalls, des Mondes und anderer Himmelkörper). Zu den hierbei auftretenden Spannungsverhältnissen (beispielsweise zwischen Industrie- und Entwicklungs- bzw. Schwellenländern) siehe Dederer, Rn. 9 ff. 206 Bleckmann benutzt in diesem Zusammenhang den Begriff „Kooperationszwang“, Völkerrechtslehre, S. 107.

C. Vorläufiges Fazit: Eine Welt und das Recht im Umbruch

261

Vertragsabschlüsse erklären mag.207 Die wachsende Interdependenz der Staaten208 führt dazu, dass ein Staat heutzutage auch ein Interesse an dem effektiven Funktionieren der anderen Staaten hat.209 Menschenrechtsverletzungen können – wie nicht zuletzt die europäische Flüchtlingskrise des Jahres 2015 zeigt – nur schwer zu bewältigende Fluchtbewegungen in Richtung sicherer und reicherer Staaten zur Folge haben. In Anlehnung an John Donne drängt sich somit die Schlussfolgerung auf, dass kein Staat eine Insel ist.210 Das Konzept der Völkerrechtsfreundlichkeit trägt – ebenso wie die weiter zu verstehende internationale Offenheit – diesen überstaatlichen Entwicklungen Rechnung. Daher sind und bleiben die internationale Offenheit einer Rechtsordnung und ihr „Rückgrat“, die Völkerrechtsfreundlichkeit, lohnenswerte Forschungsgebiete: Auch in dualistisch geprägten Rechtsordnungen schafft das Konzept der Völkerrechtsfreundlichkeit eine untrennbare Verbindung zwischen „innerem“ und „äußerem“ Recht. Diese Verbindung dürfte nicht nur der zunehmenden Internationalisierung des Rechts, sondern auch der insbesondere mit Hilfe der modernen Medien und Transportmittel erlebten Wirklichkeit einer stetig zunehmenden Zahl von Menschen entsprechen.211 Bilder und Nachrichten von Menschenrechtsverletzungen in abgelegenen Regionen oder an zentralen Orten – ob von staatlichen Kräften verletzte Demonstranten, Opfern „privater“ Gewalt oder hungernden Menschen – werden weltweit verbreitet und tragen auch in anderen Ländern zur politischen Debatte bei. In dieser Hinsicht dürften die modernen Kommunikationsmittel – trotz teils berechtigter Kritik an Qualität und Tiefe der Berichterstattung – das menschliche Bewusstsein weiter an die Kantsche Idee des Weltbürgerrechts212 angenähert haben: „Da es nun mit der unter den Völkern der 207

Conforti, S. 3. So spricht Haas, S. 3–13, bereits 1969 von einem „web of interdependence“. Siehe zur Interdependenz auch 2. Teil C. II. 2. a). 209 Bleckmann, Völkerrechtslehre, S. 790 f., der auch darauf hinweist, dass beispielsweise internationaler Verkehr und Handel u. a. das Funktionieren des Luftverkehrs, eine intakte Weltwirtschaftsordnung und eine funktionierende Finanz- und Wirtschaftspolitik in anderen Staaten voraussetzen. Der Zerfall staatlicher Strukturen ist sehr oft verbunden mit Menschenrechtsverletzungen, siehe hierzu Fund for Peace, Fragile State Index 2015, S. 16, abrufbar unter http://library.fundforpeace.org/library/fragilestatesindex2015.pdf. 210 Vgl. Onuma, Transcivilizational Perspective, S. 29: „International law is important in that it constitutes an integral part of the world.“ (Hervorhebung hinzugefügt). 211 Laut der International Telecommunication Union (ITU) beläuft sich die Zahl der Internetnutzer im Jahre 2015 auf 3.2 Milliarden Menschen. 212 Vgl. zu den Konturen eines Weltbürgerrechts Emmerich-Fritsche, S. 561–572. Vgl. auch Habermas, S. 36 f. (Hervorhebung im Original weggelassen): „Die am Beispiel der Europäischen Union entwickelte Denkfigur einer verfassungsgebenden Kooperation zwischen Bürgern und Staaten zeigt den Weg, auf dem die bestehende internationale Staatengemeinschaft um die Gemeinschaft der Weltbürger zu einer kosmopolitischen Gemeinschaft vervollständigt werden könnte.“ 208

262

4. Teil: Entwicklungschancen der dargestellten Konzepte

Erde einmal durchgängig überhandgenommenen (engeren oder weiteren) Gemeinschaft so weit gekommen ist, daß die Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt wird: so ist die Idee eines Weltbürgerrechts keine phantastische und überspannte Vorstellungsart des Rechts, sondern eine notwendige Ergänzung des ungeschriebenen Kodex sowohl des Staats- als des Völkerrechts zum öffentlichen Menschenrechte überhaupt und so zum ewigen Frieden, zu dem man sich in der kontinuierlichen Annäherung zu befinden nur unter dieser Bedingung schmeicheln darf.“ 213 Zeitgenössische Ereignisse, wie die als „arabischer Frühling“ bezeichneten Demokratiebestrebungen sowie ein Wiedererstarken der Debatte um Frauenrechte, die europäische oder die zentralamerikanische Flüchtlingskrise, aber auch Macht-, Wahrnehmungs- und politische Schwerpunktsetzungsverschiebungen im Zuge der Weltwirtschafts- und Finanzkrise zeigen, dass nicht nur eine Forderung nach, sondern auch eine Notwendigkeit von tiefgreifenden Änderungen der bisherigen Strukturen auf internationaler und auf innerstaatlicher Ebene besteht. Die Welt und damit auch die Staatengemeinschaft und die Staaten als einzelne Protagonisten befinden sich in einer Umbruchphase, deren Ergebnisse nicht absehbar sind. Auch das Völkerrecht selbst durchläuft eine schwierige Phase.214 In diesen Krisenzeiten bieten sich Staaten verschiedene Reaktionsmöglichkeiten – von einer weiteren Öffnung für die internationale Zusammenarbeit und einer hieraus resultierenden Stärkung des Völkerrechts bis hin zu einer Abschottung gegenüber dem Völker- und Europarecht und einem „Rückzug in das nationale Schneckenhaus“. Letztere Lösung wird in Europa von manchen politischen Gruppierungen und Parteien propagiert, die beispielsweise in vielen europäischen Staaten zuletzt an Einfluss gewonnen haben, wie unter anderem die Ergebnisse des EU-Mitgliedschaftsreferendums im Vereinigten Königreich vom 23. Juni 2016 zeigen. Im Zuge der angesprochenen Umbruchphase sind sowohl auf internationaler Ebene als auch im innerstaatlichen Bereich Veränderungen zu erwarten; Veränderungen, die auch Auswirkungen auf das im Rahmen dieser Arbeit entwickelte Modell haben können. Während es zu früh ist, über die möglichen Auswirkungen dieser Umwälzungen zu spekulieren, lohnt es sich, die Entwicklung im Auge zu behalten und gegebenenfalls zu einem späteren Zeitpunkt ein Fazit über die stattgefundenen Veränderungen zu ziehen. Ungeachtet der weiteren Entwicklungen kann aber festgehalten werden, dass Völkerrechtsfreundlichkeit für den einzelnen Staat oder eine Integrationsgemein213

Kant, S. 25 (Hervorhebung hinzugefügt). Vgl. Odendahl, Hüter, S. 1: „Wenige Beispiele aus der jüngsten Staatenpraxis zeigen dies ausdrücklich: Ein Staat wird ohne internationale Ermächtigung besetzt, weil sich dort angeblich demnächst einzusetzende Massenvernichtungswaffen befinden; in einigen Regionen dieser Erde werden Menschenrechte vor den Augen der Weltöffentlichkeit mit Füßen getreten; einzelne Staaten verursachen seit Jahrzehnten verheerende globale Umweltbelastungen und berufen sich dabei auf ihre souveräne Freiheit.“ 214

C. Vorläufiges Fazit: Eine Welt und das Recht im Umbruch

263

schaft wie die EU sowohl wichtig als auch vorteilhaft ist. In den Worten von J. William Fulbright, die seit dem Erscheinen des Werkes The Arrogance of Power – einer Geisteshaltung, die der Völkerrechtsfreundlichkeit diametral entgegengesetzt ist – im Jahre 1966 nichts an Richtigkeit eingebüßt haben: „Insofar as International Law is observed, it provides us with stability and order and with a means of predicting the behavior of those with whom we have reciprocal legal obligations. When we violate the law ourselves, whatever short-term advantage may be gained; we thus encourage disorder and instability and thereby do incalculable damage to our own long-term interests.“ 215 Angesprochenen sind damit die ordnenden Funktionen des Völkerrechts, die es zu bewahren gilt, da sie jedenfalls langfristig im überragenden Interesse der Staaten und ihrer Bevölkerung liegen.216 Für die supranationale EU dürften die erörterten Konzepte eine noch größere Wichtigkeit besitzen als für den Staat als „geborenes“ Völkerrechtssubjekt. Gerade weil die EU kein Nationalstaat ist, der auf eine entsprechende Ideengeschichte und Traditionen zurückgreifen kann, kann sie sich eine Abschottung nach außen noch weniger leisten als ihre Mitglieder. Die Mitgliedstaaten wiederum gewinnen durch die europäische Einigung die Möglichkeit, als Kleinoder Mittelstaat über die EU nach außen zu wirken und dabei nicht nur ihre Interessen, sondern auch ihre Werte zu vertreten. Die Bedeutung der internationalen Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit der Unionsrechtsordnung folgt hierbei daraus, dass die Effektivität des außenwirksamen Handelns der EU – wie dies auch bei Staaten gilt – nicht zuletzt davon abhängen dürfte, dass sie quasi reziprok ihrerseits für Einwirkungen von außen offen ist. Der von Fulbright angesprochenen Erkenntnis, dass die Einhaltung völkerrechtlicher Regeln jedenfalls langfristig im Eigeninteresse von Staaten liegt, entspricht, dass das Völkerrecht gerade auch in Deutschland und Japan, die der Welt im vergangenen Jahrhundert durch Angriffskriege großes Leid zugefügt haben, einen besonders hohen Stellenwert genießt.217 Die im Zusammenhang mit dem 215

Fulbright, S. 96. Mit einem schönen Beispiel hat Koskenniemi (Zeit Online, „Das Völkerrecht ist nicht die Bibel“, 9.12.2004) seine These, das Völkerrecht schlage Wurzeln im sozialen Leben der Menschen auf der ganzen Welt, illustriert: „Kürzlich war ich in Brasilien. In einem Slum in Recife hatte jemand auf eine Mauer den Satz gepinselt: ,The War of Bush is illegal.‘ Ich dachte, diese Menschen haben doch ganz andere Sorgen. Was schert sie das Völkerrecht? Später wurde mir klar, welche Rolle das Völkerrecht bekommen hat. Es gibt den Menschen die Möglichkeit, ihre Enttäuschungen und ihre Wut zu artikulieren. Das heißt, das internationale Recht gibt ihnen eine Sprache, um ihr Leiden und ihr Unrechtsempfinden auf einer globalen Ebene auszudrücken. Es vereint die Brasilianer und die Iraker in einer weltweiten Rechtsgemeinschaft. Mag das Völkerrecht in den Institutionen geschwächt sein – aus der Sicht von unten ist es stärker geworden.“ 217 Einen hohen Stellenwert dürfte das Völkerrecht auch in einigen anderen Staaten genießen, die – wie beispielsweise Portugal – aus anderen Gründen eine Phase der inter216

264

4. Teil: Entwicklungschancen der dargestellten Konzepte

2. Weltkrieg durchlebten Erfahrungen dürften in diesen Ländern zu einer Verinnerlichung der dabei gewonnenen, den Werten des modernen Völkerrechts entsprechenden Lehren geführt haben; in einem Ausmaß, welches durch bloßen äußeren Druck („Re-education“) nicht zu erreichen gewesen wäre.218 Die positive Geschichte, die die beiden Staaten anschließend geschrieben haben,219 zeigt, dass die aus der Kriegserfahrung abgeleiteten Lehren220 – wie die Einnahme einer friedensorientierten Grundhaltung – im ureigensten staatlichen Interesse liegen; dass Krieg nicht die Fortführung der Politik mit anderen Mittel ist. Letztere Erkenntnis ist in der Literatur zu Recht als eine Ausprägung der Friedensstaatlichkeit, einem der Grundstaatsziele des modernen Verfassungsstaates, angesehen worden.221 Dem entspricht, dass sich die Verfassung Italiens, eines anderen ehemaligen „Achsenstaates“, unmissverständlich äußert; „Italien verwirft den Krieg als Mittel des Angriffs auf die Freiheit anderer Völker und als Mittel zur Lösung internationaler Streitfragen.“ 222 Der deutschen Verfassungsgeber hatte die Einbeziehung einer ähnlichen Formulierung in das GG in Betracht gezogen (vorgeschlagen war der Satz „Der Krieg als Mittel der Auseinandersetzung zwischen den Völkern wird abgelehnt.“).223

nationalen Abschottung durchlebt haben. Vgl. de Quadros, S. 47: „Während des autoritären Regimes, das 1974 beseitigt wurde, lebte Portugal isoliert von der Welt. Danach, 1974 und 1975, unmittelbar nach Wiedereinsetzung der Demokratie, verspürte das Land [. . .] die Bedrohung eines autoritären Regimes im entgegengesetzten Sinn, wodurch es in Bezug auf die demokratische Welt wiederum in Einsamkeit hätte verfallen können. Deshalb empfanden die Urheber der Verfassung die Notwendigkeit, die Verfassung gegenüber dem Völkerrecht zu öffnen. Eine ähnliche Sorge leitete den deutschen Verfassungsgeber bei der Ausarbeitung des GG in Anbetracht der Ergebnisse der Weimarer Verfassung und der jüngsten Geschichte Deutschlands.“ 218 Die Widmung des Werkes von Schmitt („Dem Andenken meines Freundes August Schaetz aus München, gefallen am 28. August 1917 beim Sturm auf Moncelul“), die aus heutiger Perspektive Verwunderung hervorrufen dürfte, verdeutlicht exemplarisch, wie tiefgreifend der europäische Bewusstseinswandel ist. Schmitt selbst hat diesen Bewusstseinswandel in seinem Vorwort von 1963 ebenfalls erkannt (S. 11): „Die Hegung und klare Begrenzung des Krieges enthält eine Relativierung der Feindschaft. Jede solche Relativierung ist ein großer Fortschritt im Sinne der Humanität.“ 219 Neben dem wirtschaftlichen Erfolg beider Staaten ist beispielsweise auf die (laut entsprechenden BBC-Umfragen) sehr hohe internationale Beliebtheit Deutschlands zu verweisen – einem Land, das – als „Feindstaat“ deklariert – erst 1973 den Vereinten Nationen beitreten durfte. 220 Siehe aber auch die hinsichtlich Japan geäußerten Einschränkungen bei Onuma, War Guilt, S. 613. 221 Sommermann, S. 239. 222 Art. 11 Satz 1 italienische Verfassung. Deutsche Übersetzung zitiert aus Sommermann, S. 239. 223 Siehe hierzu die Begründung von Mangoldts, „warum der Grundsatzausschuß sich nicht habe entschließen können, einen Satz aufzunehmen wie ,Der Krieg ist kein Mittel der Politik‘: ,[. . .] wir haben gesagt, wenn wir etwas Derartiges aufnehmen wollten, müßten wir auch ungefähr die Fassung nehmen, die im Völkerrecht allgemein üblich ist. Wir müßten von Kriegsächtung sprechen, von dem im Kellog-Pakt verwendeten

C. Vorläufiges Fazit: Eine Welt und das Recht im Umbruch

265

Aus blutigen Ereignissen der Vergangenheit gewonnene Erkenntnisse gehören heutzutage zum „Erfahrungsschatz“ der gesamten Menschheit; die Mahnung drängt sich auf, dass diejenigen, die nicht aus der Geschichte lernen, dazu verdammt sind, sie zu wiederholen.224 In diesem Sinne bleibt nur, im Interesse der Menschheit zu wünschen, dass die jeweils zur Entscheidung berufenen Personen und Institutionen weltweit auch in Krisensituationen vorausschauend agieren und dem Völkerrecht den ihm gebührenden Platz – auf internationaler und auf nationaler Ebene – zukommen lassen.

Begriff Gebrauch machen, aber diese Formulierung würde in die Fassung des GG nicht hineinpassen.“ Zitiert aus J.ö.R., Bd. 1 (1951), S. 238. 224 Vgl. Onuma, War Guilt, S. 616: „It is true that the major Western powers, except Germany, have not come to terms with their ugly past. [. . .] We cannot change the past. For this very reason, it is important to acknowledge the past wrongs that Japan committed and to pile up one by one concrete efforts not to repeat such wrongs. This is not masochistic behavior. Rather, only those who can be proud of themselves can acknowledge the wrongs they committed.“

5. Teil

Zusammenfassung/Summary A. Zusammenfassung 1.

In der heutigen Welt ist – unter Abwägung der damit verbundenen Vor- und Nachteile – eine völkerrechtsfreundliche Ausrichtung der Rechtsordnung vorteilhaft für den einzelnen Staat. Die Schaffung einer verfassungsrechtlichen Konzeption, die dem Völkerrecht zu größtmöglicher innerstaatlicher Wirksamkeit verhilft, kann mithilfe der Konzepte der internationalen Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit erreicht werden.

2.

Die Begriffe internationale Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit entstammen dem verfassungsrechtlichen Diskurs in Deutschland; die dahinter stehenden Konzepte lassen sich aber verallgemeinern.

3.

Jede Rechtsordnung kann auf ihre internationale Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit untersucht werden. Der Erkenntnisgewinn einer solchen Untersuchung ergibt sich daraus, dass diese Begriffe verschiedene Aspekte unter einer gemeinsamen Bezeichnung vereinen und so die Grundhaltung einer Rechtsordnung treffend beschreiben.

4.

Die Begriffe internationale Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit sind voneinander abzugrenzen, wobei letzterer Begriff eng zu verstehen ist. Der internationalen Offenheit kommt die Funktion eines Oberbegriffes zu, der neben der Völkerrechtsfreundlichkeit auch andere Aspekte beinhaltet.

5.

Bei der Begrenzung auf rechtlich relevante Erscheinungsformen der internationalen Offenheit lassen sich drei wesentliche Elemente unterscheiden, die in ihrem Zusammenspiel die Kategorie der internationalen Offenheit charakterisieren: der rezeptive, der aktive und der menschenbezogene Aspekt.

6.

Der rezeptive Aspekt beschreibt die im strengen Sinne rechtliche Komponente der internationalen Offenheit (Völkerrechtsfreundlichkeit), der aktive Aspekt ihre (außen-)politische Dimension (internationale Zusammenarbeit) und der menschenbezogene Aspekt die der internationalen Offenheit inhärenten anthropozentrischen Tendenzen (Orientierung am Menschenwohl).

7.

Diese Aspekte der internationalen Offenheit decken die unterschiedlichen zeitlichen Bezugsrahmen ab. Der rezeptive Aspekt weist einen Gegenwartsund der aktive Aspekt einen Zukunftsbezug auf, während der menschenbezo-

A. Zusammenfassung

267

gene Aspekt jenseits bestimmter zeitlicher Vorgaben die Allgemeingültigkeit gewisser Werte betont. 8.

Eine völkerrechtsfreundliche Rechtsordnung zeichnet sich dadurch aus, dass sie den Normen völkerrechtlichen Ursprungs zu größtmöglicher innerstaatlicher Wirksamkeit verhilft. Das Ausmaß der Völkerrechtsfreundlichkeit einer Rechtsordnung lässt sich mit Hilfe des folgenden – ergänzungsfähigen – Kriterienkatalogs feststellen: – Auslegung der Normen völkerrechtlichen Ursprungs nach völkerrechtlichen Regeln – weitestmögliche unmittelbare Anwendung dieser Normen – Vermeidung von Konflikten mit Normen rein nationalen Ursprungs (durch Zuweisung eines hohen innerstaatlichen Ranges und durch Parallelisierung von nationalem Recht und Völkerrecht mithilfe der Rezeption völkerrechtlicher Standards) – ausführlicher, an völkerrechtlichen Standards orientierter Grund- und Menschenrechtskatalog – möglichst völkerrechtskonforme Konfliktlösung (durch Anwendung völkerrechtlicher Lösungsmöglichkeiten und durch völkerrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts) – Verzicht auf völkerrechtsunfreundliche Elemente.

9.

Die Begriffe Völkerrechtsskepsis und Völkerrechtsunfreundlichkeit sind voneinander zu unterscheiden. Die Verwendung des Begriffs „Völkerrechtsskepsis“ für weniger schwerwiegende Fälle rechtfertigt sich damit, dass dem Begriff „Skepsis“ im allgemeinen Sprachgebrauch auch eine positive Bedeutung zukommen kann („gesunde Skepsis“).

10. Völkerrechtsskepsis beschreibt eine in Normen oder Entscheidungen nationaler Rechtsanwender zum Ausdruck kommende geistige Haltung, die dem Völkerrecht konstruktiv-kritisch, aber nicht grundsätzlich ablehnend gegenübersteht. Entscheidendes Abgrenzungsmerkmal zur Völkerrechtsunfreundlichkeit ist hierbei die Konstruktivität und die Berücksichtigung der widerstreitenden Interessen. Dies bedeutet, dass eine völkerrechtsskeptische Gerichtsentscheidung auch positive Auswirkungen haben kann, beispielsweise wenn sie zu notwendigen Neuerungen auf der internationalen Ebene führt. 11. Die Entscheidung für eine monistische oder eine dualistische Konstruktion des Verhältnisses von internem Recht und Völkerrecht hat Auswirkungen auf die Völkerrechtsfreundlichkeit der jeweiligen Rechtsordnung. Im ersten Fall handelt es sich um eine „natürliche“ Völkerrechtsfreundlichkeit, im zweiten Fall muss die Völkerrechtsfreundlichkeit „erarbeitet“ werden.

268

5. Teil: Zusammenfassung/Summary

12. Bei der Untersuchung der Unionsrechtsordnung als Mehrebenensystem auf ihre internationale Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit ergeben sich gegenüber der Untersuchung einer nationalen Rechtsordnung einige zusätzliche Fragestellungen – beispielsweise durch die Auswirkungen völkerrechtlicher Verträge der Union auf das Recht der Mitgliedstaaten und von deren Verträgen auf das EU-Recht. 13. Die Gründungsverträge der Europäischen Union in ihrer Fassung nach dem Vertrag von Lissabon enthalten zahlreiche Anhaltspunkte für die internationale Offenheit der Unionsrechtsordnung. 14. Das europäische Primärrecht weist einen völkerrechtsfreundlicheren Tenor auf als Teile der Rechtsprechung des EuGH. 15. Die im Rahmen dieser Arbeit dargestellten Konzepte der internationalen Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit einer Rechtsordnung stellen keine abgeschlossenen, sondern entwicklungsfähige Modelle dar. Mögliche Entwicklungen können hierbei sowohl von internationaler als auch von innerstaatlicher Ebene ausgehen. 16. Die Völkerrechtsfreundlichkeit einer Rechtsordnung kann auf unterschiedliche Weise erfasst werden, als deskriptiver Begriff, als Auslegungshilfe der nationalen Normen, als verfassungsrechtliches Leitbild und/oder als Verfassungsprinzip. 17. Das Prinzip der Völkerrechtsfreundlichkeit entfaltet sowohl außerrechtliche als auch rechtliche Wirkungen. Hinsichtlich der rechtlichen Wirkungen kann zwischen einer einschränkenden und einer erweiternden Wirkung unterschieden werden. 18. Das Prinzip der Völkerrechtsfreundlichkeit beinhaltet, dass der Staat verpflichtet ist, die ihn bindenden Völkerrechtsnormen zu befolgen, Völkerrechtsverletzungen nach Möglichkeit zu vermeiden und zu gewährleisten, dass durch eigene Staatsorgane begangene Völkerrechtsverletzungen korrigiert werden können, sowie unter bestimmten Voraussetzungen das Völkerrecht im eigenen Verantwortungsbereich zur Geltung zu bringen, um Völkerrechtsverletzungen anderer Staaten zu korrigieren. 19. Das Prinzip der Völkerrechtsfreundlichkeit kann aus dem Rechtsstaatsprinzip einer Verfassung abgeleitet werden, so dass ein Rückgriff auf spezielle völkerrechtsfreundliche Anhaltspunkte der jeweiligen Verfassung nicht nötig ist. Eine solche Ableitung lässt sich mit der Überlegung rechtfertigen, dass Rechtsstaatlichkeit neben der innerstaatlichen und internen Dimension auch eine externe Dimension erfasst. 20. Die Anerkennung der Völkerrechtsfreundlichkeit als Prinzip ist vorteilhaft, da sie ein systematischeres Vorgehen bei der Lösung jeglicher Probleme er-

B. Summary

269

laubt, die die Wirksamkeit von Normen völkerrechtlichen Ursprungs betreffen. Sie hebt überdies die große Bedeutung des Völkerrechts auch für den innerstaatlichen Bereich hervor, was zu einer Aufwertung des Völkerrechts führt.

B. Summary 1.

In today’s world, it is advantageous for States to have a legal order that is friendly towards international law. The creation of a domestic order that ensures the maximum efficiency of international law can be accomplished through the concepts of international openness and friendliness towards international law.

2.

While the terms international openness (internationale Offenheit) and friendliness towards international law (Völkerrechtsfreundlichkeit) stem from the German constitutional discourse, they relate to concepts that can be universalized.

3.

Every legal order can be analyzed in order to determine its international openness and friendliness towards international law. The main benefit of such an examination is that these terms unite various aspects under one common description and thus accurately describe the legal order’s main tendency.

4.

The terms international openness and friendliness towards international law are distinguishable; the first one is to be understood narrowly. International openness functions as a superordinate concept that – besides friendliness towards international law – also contains other aspects.

5.

The three main elements of international openness are its receptive, its active and its human-centric aspect.

6.

The receptive aspect of international openness describes its legal component (i. e., “friendliness towards international law”), the active aspect refers to its foreign policy-oriented perspective (international cooperation), and the human-centric aspect to its inherent anthropocentric tendency (orientation towards the human well-being).

7.

These aspects of international openness cover the main temporal reference points: while the receptive aspect has a connection to the present and the active aspect to the future, the human-centric aspect emphasizes the universality of certain values “beyond time.”

8.

A legal order that is friendly towards international law is characterized by the fact that it gives maximum efficiency to norms of an international origin. The degree to which a legal order is friendly towards international law can be determined by using the following open-ended list of criteria:

270

5. Teil: Zusammenfassung/Summary

– interpretation of international law norms in accordance with international rules – self-execution of international law norms to the farthest degree possible – avoidance of conflicts with norms of a purely domestic origin (through the granting of a high hierarchical rank within the domestic legal order and through the parallelization of national and international law with the help of internal law standards) – extensive human rights catalogue that is oriented to international standards – if possible, resolution of conflicts in conformity with international law (through the usage of international law solutions and the interpretation of domestic law in accordance with international law) – avoidance of elements that are unfriendly towards international law 9.

The terms skepticism towards international law (Völkerrechtsskepsis) and unfriendliness towards international law (Völkerrechtsunfreundlichkeit) are to be distinguished. The usage of the first term for less severe cases is justified by the fact that skepticism can also have a positive meaning (“healthy skepticism”).

10. Skepticism towards international law describes an attitude that expresses itself in norms or in decisions by national practitioners; while being critical, it still is constructive towards international law. It is distinguished from unfriendliness towards international law by its constructiveness and its attention to opposing interests. Thus, a decision that is skeptical towards international law can have positive results, such as when it leads to necessary improvements on the international level. 11. The decision for monism or dualism has implications for a legal order’s friendliness towards international law. The first case leads to a “natural” friendliness towards international law and the second to an “acquired” friendliness towards international law. 12. The analysis of the multilevel system that is the EU legal order brings up a number of additional questions (for instance, relating to the impact international EU treaties have on the legal order of its member states) when compared to the analysis of a national order. 13. The Constitution of the European Union after Lisbon contains several indications for the international openness of the EU legal order. 14. The European primary law is friendlier towards international law than parts of the jurisprudence of the ECJ.

B. Summary

271

15. The concepts of international openness and friendliness towards international law that were developed in the context of this work are not finalized models; they are open to development. Potential developments can take place both on the international and national levels. 16. Friendliness towards international law can be understood in different ways: a merely descriptive term, an interpretative tool, a constitutional objective, and/or a constitutional principle. 17. The principle of friendliness towards international law has extra-legal and legal effects (which can be further divided into a restrictive and an extensive effect). 18. The principle of friendliness towards international law means that the State is obliged to adhere to the international law rules that are binding for it, to avoid violations of international law as far as possible, and to ensure that violations of international law by its own branches of government can be corrected. Under specific circumstances, it also entails the obligation to give effect to international law in its own sphere of responsibility in order to correct violations of international law by other countries. 19. The principle of friendliness towards international law can be derived from the rule of law; thus, in order to claim it, one does not need to revert to identifying specific aspects of the national constitution that are friendly towards international law. This extensive understanding of the rule of law can be justified by the idea that it also encompassed an exterior dimension in addition to its interior one. 20. The recognition of a principle of friendliness towards international law is advantageous because it contains a more systematic approach towards solving any problems relating to the effectiveness of international law in the national order. This also emphasizes the importance of international law, including for the national level.

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Personen- und Sachverzeichnis Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum 163 Act-of-State-Doktrin 106, 109–110, 124 Adoptionslehre 118, 120 Afrikanische Union 130 Alexy, Robert 238 – Prinzipientheorie 238–239, 249 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 95, 148–149 Altverträge 199–206 Bilaterale Investitionsschutzabkommen 201, 206 Bill of Rights 95 Biozentrismus 224–228 Blackstone, William 115 Buen Vivir 72 Bundesverfassungsgericht – Beschluss betreffend Art. 36 Abs. 1 b Satz 3 WÜK 79 – Beschluss zu Enteignungen in der SBZ 61, 248 – Beschluss zum Rechtshilfevertrag 58 – Görgülü-Beschluss 29, 80 – Heß-Urteil 107, 174 – Konkordatsurteil 58 – Lissabon-Urteil 196, 200 – Solange I-Beschluss 191 – Solange II-Beschluss 191 – Vavarin-Beschluss 108 clausula rebus sic stantibus 100 Courtoisie 40, 61 Demokratiegebot siehe Völkerrecht Deutschland – Nachkriegsdeutschland 44, 73 – Parlamentarischer Rat 45–46, 52, 55– 56, 95

Diskriminierungsverbote 96–97 Dualismus, gemäßigter Dualismus 114 Dublin II-Verordnung 133 Dworkin, Ronald 238 effet utile 158 Entwicklungshilfe 64, 68, 70, 134 Entwicklungsländer 21 erga omnes 24, 69 Europäische Atomgemeinschaft 200 Europäische Menschenrechtskonvention 211 Europäische Union – Beitritt zur EMRK 152 – Bekenntnis zum Multilateralismus 145 – Drittstaaten 129, 151, 203, 206 – EMRK-Beitritt 153 – Erklärung von Laeken 143 – Erweiterungsrunde 2004 202 – Europäische Sicherheitsagenda 135 – Europäische Sicherheitsstrategie 135 – Fundamentalprinzipien 141 – gemischte Abkommen 150 – Grundrechtecharta 148–149, 175 – Gründungsverträge 195 – Menschenrechtsdialoge 127, 223 – Verleihung des Friedensnobelpreises 133 – Vertragsabschlusskompetenz 129, 152 – Völkerrechtssubjekt 39, 172 – Werte 139–141 – Ziele 141–143 Europäische Wirtschaftsgemeinschaft 200 – Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 31, 149, 163 Europäischer Flüchtlingsrat 133

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Personen- und Sachverzeichnis

Europäischer Gerichtshof – Brita-Urteil 160 – EMRK-Gutachten 2/13 155 – EMRK-Gutachten 2/94 31 – EWR I-Gutachten 158, 162 – EWR II-Gutachten 163 – Fediol-Urteil 169 – FIAMM-Urteil 180 – Grant-Urteil 208 – Gutachtenverfahren 156 – International Fruit-Urteil 168 – Intertanko-Urteil 167 – Kadi I-Urteil 187, 196 – Kadi II-Urteil 193–195 – Kupferberg-Urteil 158, 166 – Nakajima-Urteil 169 – Nichtigkeitsklage 157 – Nold-Urteil 212 – Pabst-Urteil 166 – Polydor-Urteil 158 – Poulsen-Urteil 178 – Racke-Urteil 173 – Van Gend & Loos-Urteil 31 – Vertragsverletzungsverfahren 157 – Vorabentscheidungsverfahren 157 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte – Al-Dulimi gegen die Schweiz 192 – Dudgeon gegen Vereinigtes Königreich 83 – M.S.S. gegen Belgien und Griechenland 147 – Piloturteilsverfahren 82 Europäischer Wirtschaftsraum siehe Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum Europäisches Gericht – Kadi I-Urteil 26–28, 184–186 – Kadi II-Urteil 193 Exekutive 42, 86, 107–108 Fichte, Johann Gottlieb 57 Flüchtlingskrise 147, 261

Friedensgebot – der deutschen Verfassung 45, 52 – der japanischen Verfassung 52, 92, 95, 107 GATT 1947 170 Gleichheitsgebote 96–97 Grotius, Hugo 132 Grundgesetz – Artikel 24 46–48 – Artikel 25 48–51 – Artikel 26 52–54 – Artikel 100 Absatz 2 49–50 – Ewigkeitsgarantie 56, 247 – Friedensgebot 45, 52 Grundrechtecharta siehe Europäische Union Hoheitsgebiet 40 ICSID-Schiedsspruch 210 Interdependenz der Staaten 66, 261 International Law Commission 30 international rule of law 22, 65, 142, 174, 210, 246 Internationale Offenheit – aktiver Aspekt 63–69 – Anwendungsbereich des Begriffs 42 – Begriff 37–39 – drei Aspekte 62 – menschenbezogener Aspekt 69–76 – Menschenrechtsfreundlichkeit 71 – rezeptiver Aspekt 63 Internationaler Gerichtshof – Avena-Fall 79 – Gerichtsbarkeit 80 – Gutachten 78 Internationalisierung der Verfassung 37 Interpretationserklärung 86 inter-se-Abkommen 201, 209 ius cogens 43, 69–70 Japan – Friedensgebot siehe Friedensgebot der japanischen Verfassung – Sunakawa-Fall 91

Personen- und Sachverzeichnis Judikative 42, 77 Kelsen, Hans 112 Kolonialismus 131 Kooperativer Verfassungsstaat 67–69 Kriegswaffenkontrollgesetz 54 Kyoto-Protokoll 167 Legislative 42 Mehrebenensystem 128 Menschenrechtsausschuss 97 – General Comments 78 – Individualbeschwerdeverfahren 83 Menschenrechtsschutz 18, 95–96, 211 Menschenrechtsschutzverträge 71, 96, 176, 203, 208 Menschenwürde 55, 69, 71, 140, 144 Mezzanin-Rang 172 Minderheitenrechte 140, 176 Monismus – gemäßigter Monismus 112 – mit Primat des Völkerrechts 113, 120 – reiner Monismus 116 Musterprozesse 82 NATO 47, 215 Nichtregierungsorganisationen 19 Ombudsperson 193 ordre public 48 pacta sunt servanda 22, 41, 150, 243 pacta tertiis nec nocent nec prosunt 160 persistent objector 99 Political-Question-Doktrin 106–107, 124 Präventives Verbot mit Erlaubnisvorbehalt 53 Rechtswirklichkeit 216, 236, 245 Repressives Verbot mit Befreiungsvorbehalt 53 Richterliche Zurückhaltung siehe Act-ofState-Doktrin

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Schweiz – PKK-Rechtsprechung 92 – Schubert-Praxis 92 Seerechtsübereinkommen 167 Selbstbestimmungsrecht der Völker 24 smart sanctions 26 soft law 61 Staat – Begriffswandel 57 – doppelte Grundfunktion 43 – föderales System 129 – Souveränität 40, 69, 105, 248 Staatszielbestimmung 45, 143, 224 Struktur von Rechtsprinzipien 238 targeted sanctions 26 Tierrechte 228–230 Transformationslehre 117, 120 treaty override 59–60 Triepel, Heinrich 114 Überstaatlichkeit 37 Umweltschutz 224–226 Unionsrecht – Eigenständigkeit 30–31 – Grundrechte 33 – Werte 32–33 UN-Menschenrechtspakte 97 Unmittelbare Anwendung völkerrechtlicher Normen 84 – Abgrenzung zur unmittelbaren Anwendbarkeit 85 – im Unionsrecht 166 – Übereinkommen über die Rechte des Kindes 87 Vereinigte Staaten von Amerika – amerikanischer „Exceptionalism“ 66 – Bowers v. Hardwick 83 – Lawrence v. Texas 83, 208 – Marbury v. Madison 106 – Supreme Court 83, 102, 109, 208 – Unabhängigkeitserklärung 75

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Personen- und Sachverzeichnis

Vereinigtes Königreich, Prinzip der Parlamentssouveränität 94, 125 Vereinte Nationen – Charta 24, 213–215 – Gründung 132 Verfassungen weltweit – argentinische Verfassung 65 – bolivianische Verfassung 75, 97 – ecuadorianische Verfassung 88, 98 – ghanaische Verfassung 96 – indische Verfassung 65 – japanische Verfassung 52, 75, 91–92, 95, 107 – marokkanische Verfassung 66 – niederländische Verfassung 113 – philippinische Verfassung 95 – portugiesische Verfassung 67, 71 – schweizerische Verfassung 34, 92 – spanische Verfassung 71, 102 – südafrikanische Verfassung 90, 101, 123 – südkoreanische Verfassung 75 – türkische Verfassung 89 – US-amerikanische Verfassung 118 Verfassungsbeschwerde 49, 88 Verfassungsgewohnheitsrecht 241, 243 Verfassungsprinzip 237 Verfassungsrechtliches Leitbild 235 Vertragsbindung, asymmetrische Präferenzen 21 Vogel, Klaus 57–58, 65, 131, 247 Völkerrecht – Definition 39 – Demokratiegebot 221–223 – formelle Gleichheit der Staaten 109 – Selbstverteidigung 40 – Transzivilisatorische Perspektive 72 – Vorrang vor nationalem Recht 90 Völkerrechtliche Nebenverfassung 37 Völkerrechtsfreundlichkeit – Abgrenzung zur internationalen Offenheit 37–41

– – – – – – – –

als Verfassungsprinzip 236 anderer Rechtsordnungen 34–35 Anwendungsbereich des Begriffs 42 Begriff 39–41 deskriptive Dimension 232 Dualismus 42–43 Forschungsbedarf 33 Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit 61 – potenzielle Kollision mit sonstigen Verfassungswerten 24–26 – Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 44, 60, 236 – Stand der Forschung und erhoffter Erkenntnisgewinn 33–35 – Vorteile 17–22 Völkerrechtsgemeinschaft 22, 43, 62 Völkerrechtskonforme Auslegung 101– 102 – Abgrenzung zur völkerrechtsfreundlichen Auslegung 102 Völkerrechtsskepsis 105 Völkerrechtsunfreundlichkeit 105 Völkervertragsrecht – Derogation 100, 209 – Rücktritt 100 – Vorbehalt 99 – Vorrangregeln 41 Vollzugslehre 119, 121 Weltbürgerrecht 261 Welthandelsorganisation – Abkommen zur Errichtung der Welthandelsorganisation 170 – Streitbeilegungsverfahren 78, 83, 164 Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge 99–101 World Charter for Nature 226 Zwei-plus-Vier-Vertrag 44