199 65 17MB
German Pages 405 [408] Year 1995
STUDIEN ZUR DEUTSCHEN LITERATUR
Band
Herausgegeben von Wilfried Barner, Richard Brinkmann und Conrad Wiedemann
Anja Grabowsky-Hotamanidis
Zur Bedeutung mystischer Denktraditionen im Werk von Hermann Broch
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1995
Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Grabowsky-Hotamanidis,
Anja:
Zur Bedeutung mystischer Denktraditionen im Werk von Hermann Broch / Anja Grabowsky-Hotamanidis. - Tübingen : Niemeyer, 1995 (Studien zur deutschen Literatur; Bd. 137) NE: GT ISBN 3-484-18137-0
ISSN 0081-7236
© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. K G , Tübingen 1995 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: pagina GmbH, Tübingen Druck: Allgäuer Zeitungsverlag, Kempten Buchbinder: Heinr. Koch, Tübingen
Inhalt
Einleitung i. 1.1. 1.2. 1.}. 1.4.
i
Zur Aktualisierung mystischer Denktraditionen im Kontext der Moderne Die Reaktivierung gnostischen Denkens in der Geschichtsphilosophie des frühen zwanzigsten Jahrhunderts . . . . Die Ausrichtung des metaphysischen Bedürfnisses auf >leere Transzendenz< Mystik als Antwort auf die moderne Erfahrung des >Ich ohne Gewähr< Zur Destruktion überkommener Koordinaten der Realitätserfassung durch die >Zweite kopernikanische Wende< in
7 9 16 19
der Physik
26
1.5. 1.6.
Mystik und Sprachkritik Exkurs: Zum Verhältnis von Dichtung und Mystik . . . .
28 52
2.
Zur Genese von Brochs Dichtungskonzept: Dichtung als Rückverwiesensein auf ein mystisch-intuitives Wissen in Zeiten des Wertzerfalls
39
2.1.
Dichtung als Erbin einer verwissenschaftlichten Philosophie
39
2.2.
Dichtung als Ausdrucksform eidetischer Teilhabe am >Einen
Tat twam asic Dichtung als Ausdruck ekstatischer Einswerdung mit Gott und Welt
2.6. 2.7.
Dichtung als Prophede Lyrik als Integral eines an Mystik orientierten Dichtungskonzepts
67
2.8.
Mythos als Utopie
72
2.9.
Der polyhistorische Roman als die zeitgemäße Form der Dichtung
76
als Symbolisierung irreversibler intuitiver
Er-
56 62
V
33.1. 3.2. 3.2.1. 3.2.2. 3.2.5. 3.2.4.
4.
5. 5.1. 5.1.1. 5.1.2. 5.1.3. 5.1.4. 5.1.5. 5.1.6. 5.2. 5.2.1. 5.2.2. 5.2.3. 5.2.4. 6. 6.1. 6.1.1. 6.1.2. 6.1.3. 6.2.
VI
Transformationen der Gnosis. Zur mystischen Abwandlung des gnostischen Denkmodells bei Broch Grundstrukturen gnostischen Denkens und ihr Verhältnis zur Mystik D i e Diskussion des gnostischen Modells in den >Schlafwandlern< Romantik als Indiz für vormalige Totalität Esch oder die Anarchie: Abstieg in die Verweltlichung . . Huguenau oder die Sachlichkeit: Kulmination irdischer Seinsverfallenheit als Voraussetzung zur Umkehr Die Figuration und Relativierung des gnostischen Boten: Bertrand
80 80 85 85 92 100 113
Z u r Kritik des Protestantismus als mystisch begründetem Quietismus
135
Mystisch orientierte Kosmogonien: Neuplatonismus (Plotin), Origenes, Augustinus Neuplatonismus und Origenes Metaphysisches Stufenmodell und Logosbegriff Willensfreiheit als Movens der Seinsbewegung Die Mittelstellung des Menschen Existenzwahl Zyklisches Weltbild Deterministische Einschränkungen des Autonomieprinzips . Augustinus Konstitutive Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpf A f f e k t i v e Zuwendung und Gnadenbedürftigkeit Hingeordnetsein auf Gott als aktiv zu Ergreifendes . . . . Der Stellenwert mystischer Erkenntnis
140 140 140 142 144 145 146 147 148 148 149 150 151
Brochs Werttheorie als Entwurf einer mystisch fundierten Kosmogonie Welt als >Setzung von Setzungen< Auseinandersetzung mit Hegels Phänomenologie des Geistes< D i e Perpetuierung des idealistischen Setzungsprinzips als Potenz endlicher Wertsubjekte Mystik als dialektisches Movens der zyklischen Geschichtsbewegung D i e Wertkategorie als Medium des die Realität formenden Geistes
152 153 153 156 159 167
6.2.I.
Die Konstitution v o n Werten und die Bildung eines Zentralwertes
173
6.3.
Wertsetzung als »Erfüllung des Humanen«: Brochs Wertphilosophie im Kontext v o n Meister Eckharts Auffassung der Identität v o n Sein und Sollen
178
Deus absconditus. Leere Transzendenz und ihre Funktion im Rahmen einer autonomen Ethik
195
7.
8.
mors mystica; mystische Bedeutungsdimensionen des Todes in Brochs Werk
208
8.1.
Der Tod als Unwert
8.2.
Der T o d als Totalität stiftende Instanz des Daseins
209
8.3.
Sterben als mystische Rückkehr ins Pneuma — Modifikatio-
. . . .
211
nen v o n Brochs Ekstase-Begriff
213
8.4.
Die metaphorische Bedeutung des mystischen Todes als >Zu-
8.5.
Paradigmen der »Zernichtung« in Brochs Romanen
8.5.1.
Die Gödicke-Erzählung als Exempel mystischer »Zernich-
nichte-Werden< bei Meister Eckhart
220 . . .
225
tung« in den >Schlafwandlern
VerzauberungTod des Vergib
237
8.5.4.
>Ballade v o m Imker
Steinerner Gast
Dämmerzustand< als Gegenstandsbereich
.
276 276
historischer
Gesetzlichkeit und eines magischen Weltverständnisses
. .
288
10.3.
Die Figur des mystischen Heilsbringers als Konterkarierung des dämonischen Magiers
301
10.4.
Literarische Paradigmen
310 VII
10.4.1.
D i e D i v e r g e n z v o n Mystik u n d M a g i e als D e u t u n g s f o l i e des
10.4.2.
>Die Vier R e d e n des Studienrats Zachariase Z u r K o n v e r g e n z
310
M a s s e n w a h n s in der >Verzauberung< satirischer K r i t i k am magischen D e n k e n u n d mystischer U t o -
329
pie 11.
s e r m o mysticus; zum Verhältnis v o n mystischer P h i l o s o p h i e
11.1.
u n d dichterischer Praxis bei Broch T e x t z u s a m m e n s t e l l u n g z u m mystischen Brochs Romanen
11.2.
Sprachanalyse
360
12.
Schluß
379
13.
Literatur
386
VIII
551 Sprachgestus
in 356
Einleitung
Die Etikettierung Hermann Brochs als intellektuellen »Mystikers« ist in der Broch-Forschung g a n g und gäbe. 1 J e d o c h erschöpfen sich die Identifizierung v o n Brochs Mystik-Verständnis und die Einschätzung seiner Bedeutung für das G e s a m t w e r k in der Regel im Hinweis auf das ekstatische Ziel seiner Werttheorie oder den mystischen Sprachduktus, der v o r allem den >Tod des Vergil< kennzeichnet. In Untersuchungen zu einzelnen Romanen finden sich gelegentlich wohl Hinweise auf die N ä h e zu Meister Eckhart oder dem Neuplatonismus, die aber meist allgemeiner N a t u r bleiben. 2 Hingegen fehlt bislang eine detaillierte und umfassende werkübergreifende U n tersuchung dessen, w a s unter dem >mystischen< Denken dieses A u t o r s zu verstehen ist. Im allgemeinen verhält man sich so, als sei der Begriff >Mystik< ein präzise definierter, unter dem jeder immer schon das gleiche versteht. Kennzeichnend für den unthematischen Bezug der Forschung auf die mystischen A s p e k t e im Denken Brochs ist nach w i e v o r ein Hinweis Walter Hinderers: Obwohl Hermann Broch in seinen theoretischen Studien wenig von >Mystik< geredet hat, zeigen sich im >Tod des Vergil< überall Merkmale mystischer Erfahrung.' Hinderer versteht den Begriff in bewußter U m g e h u n g näherer Festlegungen mit Karl Jaspers »>im allerweitesten SinneMystik< immer wieder zum zentralen Bezugspunkt seiner philosophischen Reflexionen gemacht hat, wie sich gerade am theoretischen Werk leicht zeigen läßt. Ihre Darstellung erlaubt nicht nur eine Präzisierung dessen, was Broch unter Mystik verstanden hat, und der Rolle, die er ihr für die Rückgewinnung eines sinnvollen Weltverständnisses zugewiesen hat; sie erfordern eine detaillierte Beschreibung vor allem deshalb umso dringender, als schon Gershom Scholem festgestellt hat, daß es annähernd so viele Definitionen von Mystik wie Mystik-Interpreten gebe. 6 Lediglich zwei Arbeiten haben sich bislang eingehender und werkübergreifend mit Brochs Mystik-Verständnis auseinandergesetzt: Erste Ansätze dazu bietet die aus christlich-theologischer Perspektive urteilende Untersuchung von W. Somm: Hermann Broch. Geist, Prophetie und Mystik. 7 Einen zweiten Anlauf unternimmt H. Venzlaffs Buch >Hermann Broch. E k stase und Masse. Untersuchungen und Assoziationen zur politischen Mystik des zwanzigsten JahrhundertsEntzauberung der Welt< (M. Weber), deren Erscheinungsbild tradierte Erfahrungs- und Wahrnehmungsmuster sprengt, jeder Sinnimmanenz entbehrt und dem Stigma der transzendentalen Obdachlosigkeit (Lukács) verfallen ist. 4 Betroffen stellt man fest, daß die Befreiung des Menschen von der ersten Natur neue Determinierungen innerhalb einer selbstgeschaffenen zweiten Natur produziert. Die Erfahrung einer zunehmenden Entfremdung von der rational verwalteten Realität verbindet schon vor dem i. Weltkrieg, vor allem aber danach, Intellektuelle wie Bloch, Lukács, Heidegger, Benn' oder Broch in dem Bemühen, das »stahlharte Gehäuse« (Weber) ihrer disparaten und subjektfeindlichen Zweckformen zu durchbrechen, um der umfassenden Herrschaft des Rationalismus eine als alternativ verstandene Form von Erkenntnis entgegenzusetzen, auf deren Grundlage Totalität und Sinnsdftung wieder möglich werden sollen. So wird etwa in den frühen Schriften Georg Lukács' oder in Ernst Blochs >Geist der Utopie< (erste Fassung 1918, zweite Fassung 1923) der Versuch unternommen, theologisches Denken historisch-politisch zu wenden. Z u Recht ist dieser Ansatz als »revolutionär-gnostische Antwort« 6 auf die von Weber geleistete Diagnose moderner okzidentaler (und das heißt im Falle Blochs und Lukács': kapitalistischer) Realität beschrieben worden, die aus der Perspektive der genannten Autoren als von Entfremdungszwängen, technischer Kälte und einer wissenschaftlichen Haltung geprägt erscheint, die in analytischem Nihilismus kulminiert. Man begreift die Einsicht in den Partikularismus und die Bedingtheit scientistischer Erkenntnismöglichkeiten, die sich aus dem zu Beginn dieses Jahrhunderts herrschenden positivistischen Wissenschaftsbegriff ergab, als Chance und Rechtfertigung für die Suche nach Erkenntnisformen, die der methodischen Selbstbeschränkung der Wissenschaften und ihrer selbstgenügsamen Bescheidung auf die Immanenz nicht unterworfen sind und dem Bedürfnis nach ganzheitlicher Realitätswahrnehmung entgegenkommen. Angesichts des Ausein-
4
S o stellt etwa Bloch fest, alles Bedeutende zerfalle »vor dem >wissenden< Blick in falsche, entzauberte Einzelheiten«. E . Bloch, Gesamtausgabe, Bd. 3, S. 2 1 1 ; vgl. dazu den Epilog der >SchlafwandlerAuszug aus der entzauberten Welt. Philosophischer Extremismus zwischen den Weltkriegen^ München 1989, das aus dem mittlerweile gegebenen historischen Abstand heraus Zusammenhänge zwischen den genannten Autoren deutlich macht, deren Bemühungen um eine Erneuerung von Totalität, wie V f . zeigen kann, allesamt auf Webers Diagnose von der Entzauberung der Welt im Zuge des europäischen Rationalisierungsprozesses rekurrieren.
6
8
Bolz, 1989, S. 7.
andertretens von allein der jeweiligen Sache verpflichteter Rationalität und Sinnzusammenhänge stiftendem Geist versuchen sich viele Intellektuelle in zeitkritischer Absicht in der Rehabilitierung religiöser und irrationaler Deutungsmuster von Realität, Geschichte und Subjektivität. Man besinnt sich auf Denkweisen, auf deren Basis die Entfremdung von der Realität revidierbar werden soll und Vertrautheit in und mit ihr wiederherstellbar erscheint.
I.I. Die Reaktivierung gnostischen Denkens in der Geschichtsphilosophie des frühen zwanzigsten Jahrhunderts Das Bemühen, der eigenen »gottverlassenen« Gegenwart zum mindesten im historischen Zusammenhang Sinn zuzuweisen, fuhrt zu geschichtsphilosophischen Entwürfen, innerhalb derer die zeitgenössische Wirklichkeit als notwendige Phase des Verfalls in ein eschatologisches Erlösungsschema einrückt. Im Kontext des emanzipatorischen Selbstverständnisses der Moderne greift diese Auffassung jedoch nicht auf vorhandene theologische Dogmen der christlichen Kirche zurück, deren institutionalisiertes und bürokratisches Erscheinungsbild gerade als prägnanter Ausdruck für die Verdinglichungstendenzen moderner Realität gewertet wird, sondern reaktiviert eine gnostische Geschichtsauffassung, die zu mystischen Denktraditionen in Beziehung steht, denen ein häretisches Moment eignet. Den Zusammenhang von Mystik und Gnosis, der, in aller Kürze gesagt, in der Rückbesinnung des Subjekts auf die transzendente Herkunft seiner Geistseele und seine Rückkehr zum Göttlichen im Durchgang durch eine schlechte, gottlose Realität besteht, haben bereits H. Leisegang und H. Jonas beschrieben. 7 Eine differenzierte Darstellung beider Phänomene ist Gegenstand des Abschnitts III. i dieser Arbeit. Im Hinblick auf das historische Bewußtsein der Postmoderne hat P. Koslowski den Konnex zwischen beiden Phänomenen auf folgende Formel gebracht: Die Fremdheitserfahrung der Gnosis in der Welt und die Einheitserfahrung der Mystik mit dem Göttlichen entsprechen dem Bewußtseinszustand des Menschen
7
Leisegang dokumentiert gnostisches Selbstverständnis als Wissen darum, »wer wir sind und was wir geworden sind; woher wir stammen und wohin wir geraten; wohin wir eilen und w o v o n wir erlöst sind; was es mit unserer Geburt, was es mit unserer Wiedergeburt auf sich hat.« (Exzerpta ex Theod., 78, 2, zit. nach H. Leisegang, Die Gnosis, Leibzig 1924, S. 1, vgl. auch ebd. S. 9). Der Zusammenhang von Gnosis und Mystik steht auch im Mittelpunkt von H . J o n a s ' >Gnosis und spätantiker GeistVerweltlichung< und >Entweltlichung< des Humanen ist.
9
am Ende der Moderne . . . Mystik und Gnosis . . . sind Ausdruck der Selbsterfahrung und der Sorge des Selbst um sich. In . . . (ihnen) findet sich heute nach den Jahrzehnten eines selbst-losen Antihumanismus und >wissenschaftlichen< Materialismus das Selbst-Bewußtsein der Postmoderne wieder. 8 D i e s e A u f f a s s u n g p a ß t sich i n e i n e v o n G . S c h o l e m f o r m u l i e r t e b e w u ß t s e i n s g e s c h i c h t l i c h e S t a n d o r t b e s t i m m u n g m y s t i s c h e n D e n k e n s ein, d e r z u f o l g e d a s s e l b e an e i n b e s t i m m t e s S t a d i u m r e l i g i ö s e n B e w u ß t s e i n s g e b u n d e n ist, d a s seinerseits e i n e h i s t o r i s c h e K r i s e n e r f a h r u n g z u m A n l a ß hat: A u s g a n g s p u n k t m y s t i s c h e n D e n k e n s ist d e m n a c h i m m e r d i e a k t u e l l e E r f a h r u n g einer K l u f t z w i s c h e n M e n s c h u n d G o t t , d i e i m g e s c h i c h t l i c h e n K o n t e x t als d e m S c h a u p l a t z der A u s e i n a n d e r s e t z u n g z w i s c h e n e m p i r i s c h e r u n d t r a n s z e n d e n ter S p h ä r e G e s t a l t g e w i n n t u n d erst in b e s t i m m t e n h i s t o r i s c h e n
Bewußt-
s e i n s p h a s e n als D e f i z i e n z e m p f u n d e n w i r d : Die Mystik »sieht den großen Abgrund, ja sie nimmt überhaupt ihren Ausgang von dessen Erfahrung. Aber sie sucht im vollen Bewußtsein dieser K l u f t ein Geheimnis und einen Weg, der sie schließt. Sie sucht die . . . zerstörte Einheit wiederherzustellen auf einer neuen Ebene, in der die Welt des Mythos und die der Offenbarung sich in der Seele des Menschen begegnen. Daher ist ihr Schauplatz im wesentlichen eben die Seele und ihr Gegenstand der Weg der Seele über die Abgründe der Vielheit hinweg zur Erfahrung der göttlichen Wirklichkeit, die nun als die ursprüngliche Einheit aller Dinge erscheint.«' Daraus ergibt sich ein historisches Drei-Phasen-Schema (ursprüngliche Einh e i t v o n G o t t u n d W e l t , Zerfall, E r l ö s u n g ) , 1 0 das k o n s t i t u t i v für das g n o s t i s c h e G e s c h i c h t s v e r s t ä n d n i s ist u n d a u f d e s s e n F o l i e s i c h z. B. die g e s c h i c h t s p h i l o s o p h i s c h e n E n t w ü r f e B l o c h s u n d L u k ä c s ' a b b i l d e n lassen, d i e i m H i n b l i c k a u f d i e G e g e n w a r t s a n a l y s e n M a x W e b e r s als > W i e d e r v e r z a u berung< der R e a l i t ä t lesbar w e r d e n . H e r m a n n B r o c h s A u s e i n a n d e r s e t z u n g m i t d e n A r b e i t e n E r n s t B l o c h s ist b e l e g t , w e n n i h r B e g i n n auch n i c h t e x a k t datierbar ist. 1 1 B l o c h s B u c h >Der ' Koslowski (Hg.), 1988, Vorwort, S. 9/10; Koslowskis Diktum erweist sich insofern als anachronistisch, als es noch hinter das transformierte Mystikverständnis differenzierterer Denkansätze zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts zurückfällt, für das gerade die Erfahrung der unio problematisch wird. 9 Scholem, 1 9 J 7 , S. 9. 10 Vgl. dazu E . Topitsch, Marxismus und Gnosis, in: ders., Sozialphilosophie zwischen Ideologie und Wissenschaft, Neuwied 1961, S. 235-270, dort S. 24;, der auf den leerformelhaften Charakter dieses Schemas hinweist, das seine große Beliebtheit der Tatsache verdanke, in den Dienst fast jeden praktisch-politischen Bedürfnisses gestellt werden zu können. V f . weist die grundlegende Funktion dieses Schemas auch für die marxistische Ideologie nach. " In einem Brief an Ruth Norden vom 16.02.3; ( X I I I / i , 3 3 ; ) empfiehlt Broch die Ubersetzung von Blochs >Erbschaft dieser Zeit< ins Englische, um das Buch auf den amerikanischen Markt zu bringen. In einer Rezension zu Blochs >Prinzip Hoffnung< aus dem Jahr 1947 nimmt Broch Bezug auf Blochs »bisheriges Werk«, 10
Geist der Utopieheroisch-mystischen AtheismusGeists der Utopie< w i r d die gnostische Ausrichtung v o n Blochs Geschichtsdenken noch unverstellt deutlich, wenn behauptet wird, »die Organisation der Erde« besitze »im Geheimnis des Reichs ihre unmittelbar einwirkende . . . Metaphysik«.' 6 D e r gnostische Charakter v o n Blochs Atheismus zeigt sich darin, daß religiöses Denken angesichts eines im Mangel an Sinnimmanenz der Realität sich verhüllenden Gottes seine einzige Quelle in der unerschütterlichen Ausrichtung der Subjektivität auf eine transzendente Reichsidee behält, die als Telos aller revolutionären Bemühungen präsent gehalten werden muß. In diesem Sinne formuliert Bloch 1 9 1 9 eine scharfe Kritik an der orthodoxen Marxbürokratie, die vergessen hat, daß Sozialismus Theologie war, bevor er Nationalökonomie wurde, und erst recht wieder Theologie bleibt, illusionslose, nachdem er Nationalökonomie geworden ist.' 7 D a s Ziel v o n Blochs Sozialismus ist die Utopie einer zur klassenlosen G e sellschaft sich formierenden »Christfrömmigkeit«,' 8 in der der »entarteteQ dessen Entwicklung er mit Interesse verfolgt habe, und spricht von seiner langjährigen persönlichen Bekanntschaft mit Bloch ( X / i , 279/80), die seit 1934/5 bestand (vgl. X I I I / 3 , 347, Anm. 1). 12 Vgl. Klaus Amann/Helmut Grote: Die Wiener Bibliothek Hermann Brochs. K o m mentiertes Verzeichnis des rekonstruierten Bestandes, Wien/Köln/Böhlau 1990, S. 24. ' ' » . . . auch der >Atheismus< ist eine ungeheure Frömmigkeit, heißeste Gottesliebe, kann sie bedeuten: die Entlastung, Reinhaltung Gottes von dieser Welt«. Gesamtausgabe, Bd. 16, S. 341, 230. 14 Bolz, 1989, S. 22. 11 Bloch, Gesamtausgabe, Bd. 16, S. 341, 230; Vorformen solcher Formulierungen finden sich in der späten Philosophie Nietzsches, w o das verzehrende Abarbeiten an der Immanenz - etwa im Zarathustra - letzdich in Bezug zu einer radikalen, sich nicht offenbarenden Transzendenz steht: »O Zarathustra, du bist frömmer als du glaubst, mit solchem Unglauben! Irgendein Gott in dir bekehrte dich zu deiner Gottlosigkeit«. ,6 Bloch, ebd., S. 4 1 1 . 17 Ders., Durch die Wüste, 2. Aufl., Ffm. 1977, S. 35. 18 Ders., Gesamtausgabe, Bd. S. 88.
Individualismus der Neuzeit«' 9 gebrochen wird zugunsten des endlichen Aufgehobenseins des einzelnen in einer »andere(n) Hierarchie«, als es »die des Geldes oder auch des damit verbündeten Kreaturadels« ist. 2 ° Blochs Denken gilt einem — letztlich unpolitischen - Gottesstaat als spiritueller Ökumene, ist Vision von »Theokratie« im Namen von »Christus (und) mystischer Weltrepublik«. 21 Bis zur Realisierung des Reichs der Erlösung, an der Bloch nicht zweifelt, ist die »Verwaltung des Sinns« 12 einer idealen Kirche überantwortet, deren Funktion in der helfenden und ordnenden Orientierung des einzelnen auf das Zukünftige hin besteht und die sich in dessen Verwirklichung selbst überflüssig machen soll: Die . . . von ihren autoritären theologischen Antworten emanzipierten großen Fragen der Metaphysik fordern vom Geist in der klassenlosen Gesellschaft um so dringlicher einen das Inwendige der Menschen neu ordnenden Wiederaufbau der Kirche als Umbau aller Philosophie und spirituelle Macht der Lehre des Wozu. 1 '
Die antizipatorische Kraft zum aktiven Hinarbeiten auf das »große römische Reich aus Inwendigkeit« 24 gewinnt das Subjekt aus dem Bereich des Ästhetischen, dem messianische Qualitäten zuwachsen und das für Bloch den Inbegriff des »theologische(n) Noch Nicht« 2 ' darstellt. Die einzig mögliche Form, in der sich der einzelne im Kontext eines über ihn verhängten eschatologischen Prozesses zu der entfremdeten Realität der eigenen Zeit verhalten kann, ist die Beschleunigung ihres apokalyptischen Endes durch innerweltliche Askese und der revolutionäre Kampf gegen das Bestehende, d. h. die Destruktion. Damit muß er um der Verwirklichung des Telos willen das ethisch Verwerfliche, die Gewalttat, auf sich nehmen. 26 Auch die Geschichtsphilosophie Georg Lukäcs' ist von theologischen Denkfiguren durchsetzt. Indem Bolz Lukäcs' >Geschichte als Klassenbewußtsein (1925) in den Kontext seiner frühen Essayistik stellt, gelingt es ihm, deren theologische Motive aufzudecken. Broch war mit Lukäcs' geschichtsphilosophischen Thesen aufgrund der persönlichen Bekanntschaft beider Autoren vertraut. 27 A u f den offen-
' 9 Ders., 1977, S. 109. Ders., Gesamtausgabe, Bd. 1 1 , S. 26. " Ebd., Bd. 2, S. 98. " Ebd., Bd. 6, S. 310. 1J Bolz, 1989, S. 24. 14 Bloch, Gesamtausgabe, Bd. 3, S. 88. " Ebd., Bd. 3, S. 224. ' 6 Ebd., Bd 16, S. 405f.: Der revolutionäre Gottesstreiter kämpft mit »unchristlichen, aber von Christus geführten« Waffen. " In einem >Tagebuch in Briefen< von 1920 berichtet Broch von einer Einladung zu einem »>geschichtsphilosophischen Abend< bei Lukacz«, der offenbar schon gemeinsame Diskussionen vorausgegangen waren ( X I I I / 1 , 44). 12
kundigen K o n n e x zwischen der >Theorie des Romans< und B r o c h s R o m a n konzept hat die F o r s c h u n g zur G e n ü g e hingewiesen. 2 8 G e g e n ü b e r den bisherigen Darstellungen ist aber die hier e i n g e n o m m e n e Perspektive eine veränderte, insofern sie erstens die W e r k e beider A u t o r e n in einen bestimmten historischen B e w u ß t s e i n s k o n t e x t einordnet und zweitens den A k z e n t weniger auf die ästhetischen Implikationen v o n L u k ä c s ' D e n k e n als vielmehr a u f das theologische F u n d a m e n t seines Verständnisses v o n Geschichtsphilosophie und Politik legt. A u s g a n g s p u n k t der >Theorie des Romans< ist bekanntlich der Verlust einer im E p o s objektivierten E i n h e i t von G o t t , Welt und Ich, mit deren Verlust auch die I m m a n e n z des Sinns verloren g e h t . A u c h für Lukäcs ist ein ästhetisches P h ä n o m e n , nämlich der R o m a n , die geschichtsphilosophisch adäquate F o r m , das Vorrecht des »einzig Essentielle(n) . . ., unsere(r) Seele«, gegenüber der zunehmenden » M a c h t der Gebilde« präsent zu halten, 2 9 als deren Organisationsform er den Kapitalismus begreift. 3 0 Dieser ist die letzte E t a p p e eines »Odipusweges«, dessen dialektischer Umschlag in die E r l ö sungstat, die in die Hände des Proletariats gelegt ist, nur aus dem »radikalen Bis-zu-Ende-gehen« dieses Weges erwachsen k a n n , ' 1 bis an jenen Punkt, an dem die K r u s t e der Verdinglichung vor innerer L e e r e v o n selbst platzt.' 2 Bis dahin antwortet das — ästhetische -
S u b j e k t a u f die E r f a h r u n g
der
Fremdheit in der Welt mit ironischer Selbstaufhebung, d. h. es differenziert sich in eine den fremden M a c h t k o m p l e x e n leidend gegenüberstehende Innerlichkeit und eine » e m p i r i s c h e ( ) , also w e l t b e f a n g e n e ( ) « Subjektivität, die nichtsdestoweniger die »Beschränktheit der einander fremden S u b j e k t s - und O b j e k t s w e l t e n durchschaut«, sie aber in ihrer Bedingtheit v e r s t e h t " und damit wenigstens in der E i n h e i t der F o r m eine W i r k l i c h k e i t aufhebt, deren Faktizität sie anerkennen muß, die sie aber zugleich radikal negiert, indem sie das Gottverlassene der Welt als »Substanzlosigkeit« entlarvt. 3 4 In der 2
' Vgl. dazu die diversen Aufsätze P. M. Lützelers: Hermann Broch und Georg Lukäcs. Zur Wirkungsgeschichte von James Joyce, in: Etudes, 35, 1980, S. 290—299; ders., Lukäcs' >Theorie des Romans< und Brochs >Schlafwandlereigenschaft< (Meister Eckhart) als Voraussetzung für das Sich-aufgeben an das Absolute. 4 1 E c k " Ebd., S. 81/82; Die Textstelle evoziert zugleich den Rückgriff auf die in gnostischen Denktraditionen waltende Vorstellung eines niederen demiurgischen Gottes, der einer höheren Instanz, dem Schicksal untersteht, und eines >höchsten Herren6 Bolz, 1989, S. 17. " Lukács, Theorie d. Romans, S. 79. Lukács, Von der Armut am Geiste, in: Neue Blätter, zweite Folge, 5. und 6. Heft, Hellerau 1 9 1 2 , S. 74. 39 Bolz zeigt diese Position Lukács' in jener Spiegelung auf, die dessen Haltung in der Figur des Naphta in Th. Manns >Zauberberg< erfährt. — Eine Verfahrensweise, die legitim und ausgesprochen erhellend ist, soweit sich die Fiktion, wie in diesem Falle, strikt aus tatsächlich gegebenen theoretischen Positionen ableitet und deren Konsequenzen beschreibt: >Jehovaisch< heißt bei dem Juden Naphta das historische Gesetz des objektiven Geistes, dessen weltliche Organisationsformen Staat und Kirche sind und dessen Wirksamkeit im Reich der Erlösung erlischt. 40
Lukács, Ethische Fragmente, in: Der Sonntagskreis, hrsg. v. Karádi/Vezér, Budapest 1980, S. 78. 4 ' Meister Eckhart, Die deutschen Werke (im folgenden DW), hrsg. v. J . Quint, Stuttgart i 9 ; 8 f f . , Bd. V , Reden der Unterweisung, S. 187, 6: »Wo ich nichts für mich will, da will Gott für mich«; vgl. auch ebd. Nr. 1—10, S. 185—224.
14
hartisch ist auch die Denkfigur, angesichts der Verborgenheit des Absoluten die Erfahrung der unio durch die Bereitschaft zu praktischem Handeln auf das Kommende hin zu ersetzen.42 Bei Lukäcs bezeichnet die daraus resultierende Form der Güte das entschlossene Zuende-Gehen des Wegs durch die Entfremdung und mündet - ähnlich wie bei Bloch - in die fatalistische Rechtfertigung des revolutionären Terrors als »Durchbruch ins Religiöse«, 43 dessen Sanktionierung einer zweifelhaften Dialektik unterliegt: Nur die mörderische Tat des Menschen, der unerschütterlich . . . weiß, daß der Mord unter keinen Umständen zu billigen ist, kann - tragisch - moralischer Natur sein.44
Einmal mehr wird der >Befehl des Absoluten< zur unhintergehbaren Rechtfertigung von Gewalt und Destruktion. Einer solchen Haltung kann der Weltkrieg freilich nur als begrüßenswertes historisches Vorzeichen für die Heraufkunft der Erlösung erscheinen. Es liegt nahe, den zeitgenössischen Rekurs auf ein gnostisches Geschichtsmodell zugleich als Antwort auf das seit der Jahrhundertwende virulente Problem des Historismus zu deuten, denn: Nur das schlechthin Unzugängliche, Unvergleichbare, Unbedingte befreit v o m Historismus und stellt die Zeitbetrachtung unter die unentrinnbare Verantwortung. 41
Gnostisches Geschichtsdenken überwindet die historische Relativität der Werte, indem es sie radikalisiert: Angesichts der Erwartung eines noch nicht seienden, aber gewiß kommenden Gottes verliert die Gegenwart als bloßer Vorlauf auf das Zukünftige an Gewicht. Ihren Sinn und ihre Totalität gewinnt sie in diesem Schema als — planmäßige — Abwesenheit von Sinn und Totalität. Angesichts der radikalen Transzendenz des Zukünftigen erscheint dem modernen Bewußtsein auch seine Gestalt nicht antizipierbar: Man weiß nur, daß die Erlösung kommt. Ihre konkrete Utopie erscheint aber als unstatthafter Vorgriff auf das Inkommensurable, von dem das gegenwärtige Bewußtsein zwangsläufig ausgeschlossen ist. Einer >Mystik ohne Gott< (Musil) entspricht die Transformation mystischen Denkens in der Moderne zur rein Vgl. D. Mieth, Meister Eckhart: Authentische Erfahrung als Einheit von Denken, Sein und Leben, in: A. M. Haas/H. Stirnimann (Hg.), Das einig Ein, Studien zur Theorie und Sprache der deutschen Mystik, Freiburg/Schweiz 1980, S. 1 1 - 6 1 , dort S. 25: »An die Stelle der Entfaltungen . . . von Erfahrung tritt bei Eckhart die Praxis bzw. ein Ethos der Praxis.« 4! Lukäcs, Tagebucheintragung v. 23. Oktober 1 9 1 1 , zit. nach Bolz, 1989, S. 19. 44 Ders., Werke, Bd. 2, S. 52. " P. Tillich, zit. nach W. Rothe (Hg.), Expressionismus als Literatur. Gesammelte Studien, Bern/München 1969, S. 39.
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abstrakten, inhaltslosen Denk- und Erfahrungsstruktur, die nicht mehr als Verinnerlichungsform bestimmter, positiv festgelegter religiöser Inhalte verstanden werden will. Diese erscheinen vielmehr durchaus auswechselbar." s
1.2. Die Ausrichtung des metaphysischen Bedürfnisses auf >leere Transzendenz< Angesichts ihrer Uneinholbarkeit im Rahmen moderner Gegenwartserfahrung und der in ihr gültigen wissenschaftlich-empirischen Erkenntnismuster gewinnen Totalität und Sinnhaltigkeit verbürgende Werte transzendente Züge und sind als solche nur noch einem im Verhältnis zum Subjekt >radikal Anderen< zurechenbar, das für die negative Theologie der christlichen abendländischen Mystik ebenso kennzeichnend ist wie für die jüdische Tradition der Kabbala. 47 Innerhalb der bezeichneten Überlieferungen meinte diese Umschreibung Gottes die Erfahrung eines inkommensurablen, unendlich vollkommenen, transzendenten Gehalts, dessen Qualitäten alle deskriptiven Möglichkeiten sprengen und in Hinblick auf den die begreifende Annäherung auf den Denkvorgang der >Negation der Negation< angewiesen ist. Mit Bezug auf die Lehre Meister Eckharts stellt z. B. D. Mieth fest: D e r theologische Erkenntnismodus der negativen Theologie besagt dabei nicht einfach, daß Gott >anders< ist, sondern daß Gott jeder Andersheit >über< ist. Dies ist gut in der Formel v o m >Non-Aliud< gefaßt. 4 '
In ganz ähnlicher Weise konstatiert etwa auch Nikolaus von Kues, daß die einzig mögliche Annäherung an Gott in der Erkenntnis bestehe, daß man von ihm nichts wisse. 49 46
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»Der Inhalt, das mystische Objekt, falls ein solches überhaupt ausgemacht werden kann, ist derjenige Wert, der im Reflexions- und Bewußtseinshorizont eines Subjekts . . . die oberste Stelle einnimmt.« Wagner-Egelhaaf, 1989, S. 2. Vgl. ebd.; vgl. auch H.-D. Zimmermann, Die Entstehung der Moderne aus dem Geiste der Mystik, in: Mystik ohne Gott? Tendenzen des zwanzigsten Jahrhunderts, hrsg. v. Wolfgang Böhme, Karlsruhe 1982, S. 9—51; vgl. auch Harold Bloom, Kabbalah and Criticism, New York 1975, z. B. S. 47. Diethmar Mieth, Meister Eckhart: Authentische Erfahrung als Einheit von Denken, Sein und Leben, in: A. M. Haas/H. Stirnimann (Hg.), Das einig Ein, Studien zur Theorie und Sprache der deutschen Mystik, Freiburg/Schweiz 1980, S. 11—61, dort S. 36. Nikolaus von Kues, D e Visione Dei, Die Gottes-Schau, in: ders., Philosophischtheologische Schriften, hrsg. v. Leo Gabriel, übersetzt von D. und W. Dupre, Bd. 3, Wien 1967. X I I I , S. 146.
In d i e s e m K o n t e x t w i r d G o t t in der m y s t i s c h e n D e n k t r a d i t i o n z. B . bei D i o n y s i o s A r e o p a g i t a , E r i u g e n a , M e i s t e r E c k h a r t o d e r auch i m Chassidism u s (in W e r k e n also, m i t d e n e n sich B r o c h n a c h w e i s l i c h intensiv auseina n d e r g e s e t z t hat'°) g e l e g e n t l i c h als ein >Nichts< b e z e i c h n e t , w a s b e s a g e n w i l l , daß er das G e g e n t e i l v o n allem m ö g l i c h e n >Etwas° Amann/Grotes Verzeichnis zum Bestand von Brochs Wiener Bibliothek weist dazu folgende Titel nach: - Bibliothek der Kirchenväter. Eine Auswahl patristischer Werke in deutscher Ubersetzung. Hrsg. v. O. Bardenhewer u. a., Kempten/Regensburg/München, Bd. 2, Dionysius Areopagita: Angebl. Schriften über die beiden Hierarchien, Kempten/Regensburg/München 1 9 1 1 . - Johannes Scotus Eriugena, Uber die Eintheilung der Natur (De divisione naturae). Übers, u. m. einer Schlussabhdlg. versehen v. Ludwig Noack. Bd. 1, 2, Berlin 1870 und 1874. Zur christlichen Mystik allgemein: - Goerres, J o s e f v., Die christliche Mystik. Neue Auflage in fünf Bänden, Regensburg 1936—1939. - Bernhart, Josef, Die philosophische Mystik des Mittelalters von ihren antiken Ursprüngen bis zur Renaissance. Mit einer Zeichnung Seuses. München 1922. - Preger, W., (bei Amann/Grote irrtüml. Prager) Geschichte der Mystik im Mittelalter, Bd. 1—3, Leipzig 1874—1893. - Z u Brochs umfangreicher Sammlung von und über Meister Eckhart vgl. die Nachweise in Abschnitt 6.3 dieser Arbeit. - Levertoff, Paul, Die religiöse Denkweise der Chassidim. Nach den Quellen dargestellt. Leipzig 1918. Zum Chassidismus vgl. weiter die in Abschnitt 1.3 nachgewiesenen Werke Martin Bubers und den Hinweis aus X I I I / i , 47 von 1920: »Chassidim gelesen, Bibel, etc. allerdings mit Zweck.« Zur nachweislichen Rezeption von Talmud, Kabbala, J u daica und jüdischer Philosophie insgesamt vgl. die ausführlichen Hinweise bei Gisela Brude-Firnau, Der Einfluß jüdischen Denkens im Werk Hermann Brochs, in Thieberger (Hg.), 1980, S. 1 0 8 - 1 2 1 , dort S. 1 1 0 , die von dem Verzeichnis Amann/Grotes in einer Fülle bestätigt werden, die eine Aufzählung nicht erlaubt. 11
Vgl. Meister Eckhart, Die lateinischen Werke (im folgenden LW), Stuttgart i936ff., Bd. 4, hrsg. v. E . Benz u. a., sermo X X I V , n.304, S. 270, 7f.; vgl. auch DW 3, Pr. 83, 442, 1: »Sprich ich och: Got ist ein wesen ez ist niht war: es ist über swebende wesen und ein über wesende nihtheit«; vgl. auch, mit Bezug auf Pseudodionysius, ebd., Pr. 7 1 , 223, 1 ff.; vgl. auch M . Buber, Die Erzählungen der Chassidim, Zürich 1949, S. 421. Mieth in Haas/Stirnimann (Hg.), 1980, S. 27, Anm. 7 1 , interpretiert die Negation der Negation als Vorstoß »zur reinen (d. h. durch die Katharsis der Wertlosigkeit gegangenen) Affirmation«.
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Mieth, Der schauende Mensch - ein Vergleich mystischer Erfahrung im Mittelalter und heute, in: W. Böhme (Hg.), 1982, S. 71—85, dort S. 72.
umkehrt: Im Vordergrund steht nun die Ausrichtung auf >leere Transzend e n z ^ ' (— als inhaltlich unbestimmte Sehnsucht nach Überschreitung der Grenzen profaner Realitätswahrnehmung —) und damit auf nur der F o r m nach definierte Erfahrungen, deren gehaldiche A u f f ü l l u n g , w o sie denn überhaupt einmal in den Blick gerät, eine probeweise ist und demgemäß eher »experimentellen« als verbindlichen Charakter hat.' 4 Belege für diese A u f f a s s u n g v o n Mystik als Erfahrungsstruktur ohne inhaltliche Festlegung finden sich in der Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts zur Genüge. D i e diesbezüglich interessierte Forschung benennt als Exempel etwa Passagen aus G u s t a v Landauers Schrift >Skepsis und Mystikankommen im Unbekanntem, . . . >das Unsichtbare besichtigen, das Ungehörte hörenHinreise< in dieses unbekannte Land (das moderne, säkulare Mystik vielleicht gar nicht kennen will), sondern sie ist immer schon in der >Rückkehr< aus der Erfahrung begriffen, daß Gott den Menschen will« (S. 72). Vgl. auch Bolz, 1989, S. 15: »Der Mystiker hat Gott als Form; den Weg zur Form geht er als Weg zu Gott. Das muß mitbedacht werden, wenn die Neuklassiker ihre ästhetischen Bestimmungen um die Bedürfnisse der Form< zentrieren.« Vgl. auch Kern in Schmied (Hg.), 1980, S. 130, den Abschnitt über die E m a n z i pation v o m Bildgegenstand< in der abstrakten bildenden Kunst der Moderne, die Kern mit dem wachsenden Interesse der Kunst des 20. Jahrhunderts an mystischem Denken in Zusammenhang bringt. " G . Landauer, Skepsis und Mystik: Versuche im Anschluß an Mauthners Sprachkritik, 2. Aufl., Köln 1923, S. 47. Landauers Mystikauffassung wird ausführlicher behandelt bei Wagner-Egelhaaf, 1989, S. 32—37. ' ' Z i t i e r t wird nach der einbändigen Sonderausgabe, Reinbek 1970. Nächstenliebe, wie Ulrich und Agathe sie innerhalb eines explizit als mystisch qualifizierten Verständnisses (vgl. S. 1129) deuten, heißt: »den Fernsten und den Allerunnächsten« zu lieben. Dies wiederum bedeutet, so begreift Ulrich: »Liebe ihn, ohne ihn zu kennen und unter allen Umständen« und »ohne auch nur zu fragen« (S. n 2 4 ) . " V g l . dazu Näheres bei H.-D. Zimmermann in Böhme (Hg.), 1982, S. 18/19 mit
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Gerade der Umstand also, daß die traditionelle abendländische Mystik sich angesichts der unendlichen Qualitäten des Transzendenten und seiner Erfahrung genötigt sieht, diese immer wieder neu zu deuten und sich letztlich für immer neue, adäquatere Interpretationen offenzuhalten, ermöglicht dem modernen Interesse an Mystik jenes transformierte Verständnis einer inhaltlichen Leerstelle im mystischen Strukturgefüge. — Und eben dieser »häretische Aspekt«' 8 ist es, der dem sich aufgeklärt wähnenden Subjekt der Moderne attraktiv erscheinen muß, erlaubt er doch die Artikulation eines als unabweislich verstandenen Bedürfnisses nach Transzendenz als Basis von Totalität, während er zugleich eine Emanzipation von vorgegebenen religiösen Gehalten und ihrer Einbindung in geistliche Institutionen ermöglicht: Man versucht, »die Vorzüge einer Religion (zu) retten, ohne sich ihrer Gängelung anvertrauen zu müssen«.' 9
1.3. Mystik als Antwort auf die moderne Erfahrung des >Ich ohne Gewähr< Eine ähnlich ambivalente Haltung kennzeichnet das durchaus krisenhafte Verständnis von Subjektivität zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Auch sie ist geprägt von paradoxen Erfahrungen: Dem aufgeklärten Selbstverständnis, demzufolge sich das Individuum — zusätzlich gestützt auf die mit Beginn des technischen Zeitalters gegebenen Möglichkeiten der Naturbeherrschung und das Ende der Feudalherrschaft — als Meister der Realität verstehen konnte, stehen aktuelle Erfahrungen gegenüber, die den traditionellen Persönlichkeitsbegriff desavouieren: Die Ergebnisse der Psychoanalyse reduzieren das sich bis dahin als autonom begreifende Subjekt auf ein Konglomerat unbewußter Triebe. Das Erlebnis des 1. Weltkriegs fundamentiert die Einsicht in seine moralische Insuffizienz und gipfelt im Zusammenhang mit der Erfahrung, in einem Zeitalter der Massen und Kollektive zu leben, in dem Bewußtsein, daß das Individuum unfähig ist, die Wirklichkeit mit seinem Wollen zu bestimmen. Man sieht sich zur Einsicht in den grundlegenden Verlust von Autonomie gezwungen. In der dritten ihrer f r a n k f u r t e r Vorlesungen^ >Das schreibende IchDie Flucht aus der ZeitZeno CosiniMarcel< aus der >RechercheGustav Anias HornUlrich< und Becketts >Mahood< zeichnet sie das Bild eines umfassenden Identitätsverlusts, der das Bewußtsein der modernen Literatur prägt: »Das Ich leidet daran, keine bestimmte Persönlichkeit mehr zu besitzen, es ist abgeschnitten von jeder Bindung, jedem Bezug, in dem es als solches bestimmt sein könnte. E s entdeckt sich nur mehr als Instrument eines blinden Geschehens. . . . Sein Vertrauen in die Sprache ist so zerstört, daß sich die übliche Ich- und Weltbefragung erübrigen« und ein unabweisbares Verlangen nach Schweigen von ihm Besitz ergreift. 6 '
Eine vergleichbar paradoxe Grunderfahrung von Selbstbewußtsein und Selbstverlust kennzeichnet auch die Struktur mystischer Subjektivität, wie Wagner-Egelhaaf im Rückgriff auf Mechthild von Magdeburg gezeigt hat: D u bist min spiegelberg, ein ögenweide, ein Verlust min selbes, ein stürm mines hertzen, ein val und ein verzihunge miner gewalt, min hoehste Sicherheit.' 1
Rudolf Otto beschreibt das Selbstverständnis des mystischen Subjekts ganz ähnlich als Paradox aus Demut und Hochgefühl. 6 ' In der zeitgenössischen Philosophie spiegelt sich das bezeichnete aporetische Selbstverständnis z. B. in Bubers Verständnis von der »Zwiefältigkeit (menschlicher) Existenz« 64 ebenso wie in Heideggers in >Sein und Zeit< getroffener Differenzierung zwischen eigentlichem Selbstsein und der Verfallenheit an das >ManHaben oder Sein< mit Verweis auf Meister Eckharts Lehre von der enteigneten Existenz 6 ' des >wesentlichen< Menschen dem von Krisenbewußtsein geschüttelten Individuum der (Post-) Moderne die Rückbesinnung auf sein >authentisches Lebern und dessen Motivationskräfte, das ihn in die Lage versetzen soll, ein neues Selbstverständnis zu entwickeln. Fromm führt die Krise der Industriegesellschaft im allgemeinen und die des 60
1 . Bachmann, Frankfurter Vorlesungen, München 1980, S. 61. Ebd., S. 58/59. 61 Mechthild von Magdeburg, Offenbarungen der Schwester Mechthild von Magdeburg oder Das fließende Licht der Gottheit, hrsg. v. P. Gall Marcel, Darmstadt 1980, I, 20, 10, vgl. Wagner-Egelhaaf, 1989, S. 215. 6 ' R . Otto, Das Heilige. Uber das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, Breslau 1923, S. 10 und S. 360. 64 M. Buber, Werke, Bd. II, München/Heidelberg 1964, S. 850. 6 ' Vgl. Näheres dazu in den Abschnitten 6.3 und 8.4 dieser Arbeit. 61
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subjektiven Selbstbewußtseins im besonderen auf die Neigung des Menschen zurück, sich (materiellen) Bedürfnissen zu unterwerfen, die die Grenzen seines Wesens sprengen, und deutet Eckharts Lehre von der geistigen Armut als Vorläufer eines postmarxistischen und postfreudianischen Humanismus. 6 6 Mit Eckhart sieht Fromm die wahre Freiheit des Individuums in der Selbstaufgabe (im Sinne des Freiwerdens von aller Ichbindung) und propagiert die Konstitution eines inhaltlich bewußt nicht näher bestimmten »neue(n) Objekt(s) der Hingabe« als den einzig gangbaren Weg zur Erneuerung der Gesellschaft. 67 Immerhin machen Fromms Ausfuhrungen deutlich, w a r u m Mystik für das Individuum des zwanzigsten Jahrhunderts wieder attraktiv werden kann: Angesichts der Erfahrung der Ohnmacht gegenüber den Determinationen einer als überkomplex erlebten Realität wird der Rekurs auf einen allen äußeren Einflüssen entzogenen, im göttlichen Urgrund wurzelnden innersten Wesenskern< des Menschen, im Rückzug auf den sich das Ich seiner Identität wieder versichern kann, zum emanzipatorischen Moment stilisiert. Dem emanzipatorischen Anspruch entspricht auch die Umkehrung der traditionellen Perspektive: Das Interesse gilt nun nicht mehr primär der näheren Bestimmung des Transzendenten als Bezugspunkt des Individuums, sondern diesem selbst, das sich anhand von Grenzerfahrungen und im Erlebnis eines >radikal Anderem neu entwerfen zu können glaubt und seine Position im Hinblick auf dieses in den Kategorien von >Ahnlichkeit< und >UnähnlichkeitIdentität< und >Differenz< neu zu bestimmen versucht. 68 Es entspricht dem Selbstverständnis moderner Subjektivität, daß hierbei die Erfahrung der Differenz und das Bemühen um deren Aufhebung im Vordergrund stehen. Den genannten Kategorien mystischen Denkens liegt der Rückgriff auf vorsokratische Lehren zugrunde, die über den Platonismus und Neuplatonismus (Plotin) tradiert wurden und schließlich Eingang in die mittelalterliche Mystik fanden; sie beinhalten die These von der ursprünglich metaphysischen, präexistenten Einheit der Seele mit dem Gött66
Erich Fromm, Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft, 20. Aufl., München 1991; zur näheren Kennzeichnung von Fromms Rekurs auf Meister Eckhart vgl. auch D. Mieth in Haas/Stirnimann (Hg.), 1980, S. 1 1 - 1 6 , der Fromms Auffassung von der historischen Parallelität zwischen Eckharts Zeit und der Moderne teilt.
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Ebd., S. 67 und 129. Vgl. zur Genese dieser Kategorien W . Haug, Z u r Grundlegung einer Theorie des mystischen Sprechens, in: K . Ruh (Hg.), 1986, S. 494—508, dort S. 496. Mit Bezug darauf: Wagner-Egelhaaf, 1989, S. 1 6 / 1 7 ; Pseudodionysius etwa wird Gott zum Relationspol der Ähnlichkeit, »sofern er Echo, Widerhall und Nachbilder begründet«, und zum Gegenstand von Differenzerfahrungen, »sofern gerade hierbei nichts Ihm selbst jemals wirklich gleichen kann.« (Pseudodionysius Areopagita, Die Namen Gottes, zit. nach Wagner-Egelhaaf, 1989, S. 17).
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liehen, die durch die Verleiblichung verloren gegangen sei 69 und als Ursache der gerade in der Moderne wieder virulenten E r f a h r u n g der gebrochenen Existenzform des Menschen verstanden wird. (Deutliche Parallelen zu diesem Modell finden sich in der brahmanischen Mystik. 7 0 ) Die sich daraus ergebende Spannung zwischen Seele und G o t t und/oder zwischen Ich und Welt w i r d v o n mystisch affizierten A u t o r e n der Moderne nur sehr bedingt als unhintergehbares Faktum akzeptiert, das es im Zeichen v o n A u t o n o m i e auszuhalten gilt. D a s gerade zum Bewußtsein seiner selbst gelangte Individ u u m sehnt sich in die als ursprünglich begriffene Einheit v o n Subjekt und Objekt im Rahmen einer umfassenden Weltdeutung zurück. 7 1 D a ß mit der Nivellierung dieser für die neuzeitliche Realitätswahrnehmung konstitutiv e n Differenz zugleich eine »für unverkürzte Reflexion basale Distanz« 7 2 preisgegeben wird, glaubt man in K a u f nehmen zu können, w o der E i n u n g als Telos ein Reflexionsprozeß als W e g vorausgeht, an dessen E n d e das Denken »sich selbst übersteigt«. 7 ' D a s mit sich selbst, mit G o t t und der 69
7
Zur Genese beider Theoreme in der Vorsokratik (Empedokles) vgl. H. Stirnimann im Vorwort zu Haas/Stirnimann (Hg.), 1980, S. 6/7. Zur Tradierung vgl. Piaton, Phaidon, 78b-84b; Plotin. Schriften, übersetzt von Richard Härder, Bd. I, Leipzig 1930, S. 1 1 0 ; zu Plotin auch M.Werner, Mystik im Christentum und in außerchristlichen Religionen. Ein Uberblick, Tübingen 1989, S. 59—63; zur Übernahme in die mittelalterliche Mystik vgl. W. Haug in K . Ruh (Hg.), 1986, S. 495/6 und, mit Bezug auf Haug, Wagner-Egelhaaf, 1989, S. 1 j f f .
° »Aus dem Brahma, dem All-Einen der Weltseele, strömen fortwährend ihr gleichartige Einzelseelen in die sichtbar-materielle Sinnenwelt ein und nehmen hier für kurze Zeit ein körperliches Dasein als Lebewesen an. Und durch das Aufhören dieses körperlichen Daseins, also durch den leiblichen Tod, kehren die Einzelseelen ganz von selber wieder in das Brahma . . . zurück. . . . So kommt . . . durch den Tod . . . ein mystisches Einswerden der Einzelseele mit der Allseele zustande.« M . Werner, Mystik im Christentum und in außerchristlichen Religionen. E i n Uberblick, Tübingen 1989, S. 43.
" Vgl. Wagner-Egelhaaf, 1989, S. 216/7. »Nichts ist drinnen, nichts ist draußen, denn was innen, das ist außen«, beschreibt die Mystik des L a o Tse im Tao T ê K i n g , X L V I I , dieses Ziel. Broch besaß nicht weniger als drei verschiedene Ausgaben dieses Werks; vgl. Amann/Grote, 1990, S. 142/143. 7 ' J . V a h l a n d , Kompensationshermeneutik. Zur Kritik des popularphilosophischen Reduktionismus, in: DVjS 1991, 65. Jahrg., H. 3, S. 408; daß jene Einheitserfahrung zugleich den Stillstand des Denkens impliziert, kann kaum plastischer demonstriert werden als durch ein Dictum K . F. v. Weizsäckers, der im Hinblick auf die grundlegende Einungserfahrung der Mystik, deren Legitimität er nicht bezweifelt, feststellt: »Was >eins< ist, kann man letzten Endes nicht mehr fragen; denn dann würde man ein Zweites hinzubringen, nämlich die Erklärung, was es ist. Die Erfahrung der Einheit verbietet letztlich auch zu sagen, wodurch sich das, was die Wissenschaft studiert, von dem, was die Meditation erfährt, unterscheidet; denn dann wäre nicht mehr Einheit-Erfahrung, sondern Vielheit.« K . F. v. Weizsäcker, Gespräch über Meditation, in: ders., Der Garten des Menschlichen, Beiträge zu einer geschichtlichen Anthropologie, München/Wien 1977, S. 537. " W. Beierwaltes, Reflexion und Einung. Z u r Mystik Plotins, in: ders./H. U. v. Balthasar/A. M. Haas, Grundfragen der Mystik, Einsiedeln 1974, S. 9—36, dort S. 10. 22
Welt nicht mehr identische Ich sucht nach Möglichkeiten der hingebenden Identifikation mit einem Anderen, Transzendenten, in der die Ungewißheit seiner selbst aufgehoben ist. V o r allem, w o dabei auf die mystische Ekstase als F o r m der wenigstens punktuell
erlebbaren
Restitution
der Einheitserfahrung
zurückgegriffen
wird, in der die Seele jenseits aller rationalen Zugriffsmöglichkeiten G o t t schauend in ihm aufgeht, wird der Versuch erkennbar, Nicht-Identität auf dem W e g e der Selbstauslöschung, d. h. unter Verlust des Subjektstatus' in Identität zu verwandeln. 7 4 D e r Rekurs auf ekstatische >Sondererfahrungen< ist freilich keineswegs für alle F o r m e n der Mystik kennzeichnend. Meister Eckhart z. B. steht dieser A r t der E i n u n g mit G o t t ausdrücklich reserviert gegenüber. 7 ' E i n Beispiel für eine derartige Restitution des Mystischen stellt etwa L u d w i g Klages Werk >Vom kosmogonischen Eros< ( 1 9 2 2 ) dar, demzufolge sich die kosmisch verfaßte Seele im Mittel der ekstatischen Versenkung in sich selbst v o n der Herrschaft des die Wirklichkeit verdinglichenden und profanisierenden Verstandes befreien kann, um die paradoxe E r f a h r u n g des A u f g e h e n s in einer Transzendenz zu machen, die ihm zugleich unendlich fern bleibt und gerade damit sich der Entzauberung entzieht, da sie der Reflexion nicht zugänglich ist: Das aber bleibt das Geheimnis und das beglückende Wissen des Mysten, das heilige Bild in seiner Fernheit zu schauen, obwohl er mit ihm verschmilzt. 7 ' A n d e r s gewendet und freilich um einiges reflektierter und transformierter zeigt sich die Bestimmung mystischer Subjektivität bei Bloch oder Buber:
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Vgl. Wagner-Egelhaaf, 1989, S. 2 1 6 / 2 1 7 ; V f . macht deutlich, daß der emanzipatorische E f f e k t , den mystische Denktraditionen unter Hinweis auf die Befreiung des Gotterlebens von vorgegebenen theologischen Dogmen gerne für sich in A n spruch nehmen, ein nur scheinbarer ist: »Das Spezifikum der Mystik liegt in der persönlichen Gotteserfahrung des Subjekts; insofern kann man von einer Individualisierung religiösen Erlebens sprechen. A u f der anderen Seite muß das Subjekt alle >eigenschaft Vgl. Mieth in Haas/Stirnimann (Hg.), 1980, S. 55: »bei Eckhart (sind) mystische Phänomene ekstatischer Art, also . . . Visionen oder Theophanien nicht nur nicht nachweisbar, sondern er nimmt ihnen gegenüber eine skeptisch(e) . . . Haltung ein.« Eine gewichtige Rolle spielen ekstatische Erfahrungen dagegen in der brahmanischen Mystik; vgl. Werner, 1989, S. 43. 76
Ludwig Klages, Vom kosmogonischen Eros, Sämtliche Werke, hrsg. v. Ernst Frauchinger u. a., Philosophie, Bd. 3, Bonn 1974, S. 353-497, dort S. 482.
2
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Ausgangspunkt von Blochs Philosophie ist die Erfahrung des Ungenügens aller Reflexion als derjenigen Kraft, die das Wesen des Menschen entscheidend bestimmt. Sie arbeitet sich ergebnislos ab an der aller humanen Existenz inhärenten Aporie, die aus der doppelten Verfaßtheit von Subjektivität und faktischer Bestimmtheit innerhalb der gegebenen entfremdeten Realität resultiert: »Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst«, heißt es in Blochs Tübinger >Einleitung zur Philosophie^ 77 Die Bestimmungen meiner Subjektivität erfahre ich im Denken immer nur als abstrakte Möglichkeiten, deren Konkretion angesichts des Faktums meiner endlichen Möglichkeiten uneinlösbar erscheint. Diese Erfahrung generiert nach Bloch das Bestreben des Ich, im Medium der Hoffnung auf Erlösung seine Möglichkeiten auf die Negation des Negativen hin zu überschreiten, um die utopische Chance der Erfüllung seines Wesens präsent zu halten. Deshalb »beginnt die utopische Philosophie der höher hinauf leuchtenden Denkart, der von Unabgeschlossenheiten, mystischen Karrieren und wachsendem Feuerschein aus der Zukunft umwitterten Seele das Unbewußte höherer Ordnung, . . . die im Jetzt treibende Latenz des Urgeheimnisses an sich, kurz das schöpferisch Unbewußte unserer seelischen Krönung zu erschließen«.7*
Die Hoffnung speist sich aus der Gewißheit des Ich um seine mystische Seinsverfaßtheit, die ihm als intuitives Wissen insbesondere bei der Rezeption von Kunstwerken unzweifelhaft wird, in denen das Ich einen »Überschuß moralisch-mystischer Existenzbedeutung« 79 erfährt, der sich aller begrifflichen Fixierung entzieht und seine lebenspraktische Wirkung in der Motivation zu aktiver Realitätsveränderung in Richtung auf ein utopisches Reich der Erlösung entfaltet. Die Homogenisierung von Subjekt und Objekt vollzieht sich im Rahmen einer schlechten, profanen Realität, insofern der noch nicht seiende, vorerst ohnmächtige Gott »Asyl in der Subjektivität« als derjenigen Kraft nimmt, die allein noch auf sein Kommen hinwirkt. 80 Deshalb liegt die entscheidende Chance des Subjekts zur Revolutionierung des Bestehenden in der sich im Medium der Kunst vollziehenden Rückwendung auf das eigene Selbst, die zugleich den Schritt in die innerweltliche Erlösung bedeutet: Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist zerbrechen v o r dem Ansturm der Subjektmagie gleich . . . vergänglichen Abbildern der Selbstbetretung, das ist, der Wiroffenbarung als des einzig realen Ebenbilds Gottes. 8 ' 77
Bloch, Gesamtausgabe Bd. 13, S. 13; vgl. zum folgenden auch den Aufsatz von W. M. Fues, Unio inquantum spes: Meister Eckhart bei Ernst Bloch, in: Haas/ Stirnimann (Hg.), 1980, S. 109—166. 71 Bloch, Gesamtausgabe Bd. 3, S. 243. 79 E b d . , S. 244. ' " E b d . , Bd. 8, 318. 81 E b d . , Bd. 2, S. 203. 2
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Die Erfahrung mystischer Seinsverfaßtheit wird so immerhin zum Movens für eine weltimmanente Praxis, die den Anspruch auf Autonomie mit dem Bedürfnis nach Totalität und Authentizität der Lebensverhältnisse durch die tätige Veränderung von Wirklichkeit verbindet, mittels derer das Ich seine Potentialität entfalten kann. Erst viel später, im >Prinzip Hoffnung< (1945), entkleidet Broch den mystischen Deus absconditus, den verborgenen Gott, der als utopisches Moment allem Messianismus innewohnt, seiner Transzendenz und säkularisiert ihn zum homo absconditus, zum sich selbst verborgenen Menschen, der sein Selbst jetzt als Diesseitiges bestimmt, ohne daß damit bereits eine Konkretion des »noch ungewordenen Menschenwesens«82 verbunden wäre. 8 ' Im Zentrum von Martin Bubers mystischer Antologie >Ekstatische K o n fessionen (1909) (die sich neben diversen anderen Werken desselben Autors zur jüdischen Mystik im rekonstruierten Bestand von Brochs Wiener Bibliothek findet 84 ) steht die Mitteilung von Erfahrungen, die sich jenseits der Begrifflichkeit bewegen und »der Seele unaussprechlichste(s) Geheimnis« thematisieren, das sich im Medium der Ekstase als Freiheit des Menschen von aller Kausalität darstellt. 8 ' Der Mensch, der sich in der Ekstase »ganz in sich eingesenkt hat«, »erlebt die Einheit des Ich, und in ihr die Einheit von Ich und Welt; nicht mehr einen Inhalt, sondern das, was unendlich mehr ist als aller Inhalt« und mit dem er eins wird. 86 In seiner späteren dialogischen Philosophie weist Buber darauf hin, daß die philosophische Haltung immer bestimmt sei von der »Zweiheit von Subjekt und Objekt«. 87 Bei aller Erkenntnispflicht, dem unser Denken nur philosophierend entsprechen könne, sei darauf hinzuweisen, daß diese Form von Erkenntnisgewinnung im Absehen von der je konkreten Lebenssituation nicht nur die Ganzheit der Person vernichte, sondern auch Gott und Mensch voneinander trenne: »Subjekt und Objekt sind notwendige Kunstprodukte des Denkaktes. Das lebendige Zueinander kennt diese Scheidung nicht«.88 Das gegenständliche Denken sei deshalb unfähig, Gemeinschaft zu stiften. In seinen Bestimmungen der sakramentalen Existenz< hat Buber seiner Auffassung Ausdruck verliehen, daß die Chance menschlichen Daseins darin bestehe, Gott, der durch den Menschen zu seiner Welt wolle, einzulas-
83
Prinzip Hoffnung, G A Bd. j, § 5 3, S. 1 j 23. Vgl. W . M . Fues in: Haas/Stirnimann (Hg.), 1980, S. 159.
84
Vgl. Amann/Grote, 1990, S. 32; als weitere Titel Bubers, die Broch rezipiert hat, weisen die Ersteller des Verzeichnisses nach: - Die Geschichte des Rabbi Nachman, ihm nacherzählt, Ffm. 1906; - Die Legenden des Baal-Schem, Ffm. 1908.
8>
Martin Buber, Ekstatische Konfessionen, Jena 1909, S. V . Ebd., S. X I I / X I I I . Ders., Werke I-III, Bd. I, München/Heidelberg 1 9 6 2 - 1 9 6 4 , S. 526. Ders., Nachlese, 2. Aufl. Heidelberg 1966, S. i28f.
86 87 88
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sen, 8 ' und zwar »durch die erfüllende Gegenwärtigkeit des ganzen, ganz hingegebenen Menschen«.' 0 Die »persönliche Hergäbe« 9 ' sei unabdingbare Voraussetzung eines »leibhaften Vorgang(s) zwischen Oben und Unten«. 92 Buber sieht diese Haltung beispielhaft umgesetzt in der chassidischen Mystik, deren Sinn auf die »Einheit von Außen und Innen« 9 ' gerichtet sei. Primäres Ziel ist hier nicht mehr die Einung des Menschen mit Gott, sondern die Einung Gottes mit der Welt, in der sich zugleich das Ich seinem Wesen gemäß verwirklicht. Der Mensch vollendet sich nach dem Verständnis Bubers zum Ich der Welt, wenn er die Welt umfaßt und an ihrer Vielheit nicht vielfältig wird, vielmehr aus der Kraft seines Weltumfassens selber einig geworden i s t . . . E r trägt die Welt zu ihrem Selbst empor. Er, der Einige, bildet die Welt zur Einheit. 94
1.4. Z u r Destruktion überkommener Koordinaten der Realitätserfassung durch die >Zweite kopernikanische Wende< in der Physik Die Beobachtung, daß die Verdinglichungstendenz moderner Realität zur Sprengung vorhandener Wahrnehmungs- und Erfahrungsmuster fuhrt, über die Literatur und Philosophie in der Nachfolge Nietzsches bereits seit der Jahrhundertwende reflektierten, erfährt im Laufe der zwanziger Jahre eine Bestätigung durch die Umwälzung des physikalischen Weltbildes, die sich mit Einsteins Entwicklung der Relativitätstheorie und der von Bohr und Heisenberg vorangetriebenen Entstehung der Quantenphysik vollzog und die physikalischen Vorstellungen von Raum und Zeit grundlegend änderte. Heisenberg stellt fest, daß hier die Fundamente der Physik und vielleicht der Naturwissenschaft überhaupt in Bewegung geraten waren, und daß diese Bewegung ein Gefühl hervorgerufen hat, als würde der Boden, auf dem die Naturwissenschaft steht, uns unter den Füßen weggezogen."
Die Einsicht in die veränderten Voraussetzungen physikalischen Denkens, die Broch in intensiver Auseinandersetzung mit der physikalischen Theorie mitvollzog, 9 6 bewirkt nicht nur eine Sprengung der naturwissenschaftlichen 89
Ders., Werke III, S. 738. Ebd., S. 841. 91 Ebd., S. 840. 9¡ Ebd., S. 829. 9 ' Ebd., S. 1256. 94 Ders., Ereignisse und Begegnungen, Leipzig 1 9 1 7 , S. 21. 91 Werner Heisenberg, Physik und Philosophie, Stuttgart 1959, S. 160. 96 Brochs Beschäftigung mit Heisenbergs >Unbestimmtheitsrelation< und der Ein90
26
Begriffssprache, sondern schlägt sich auch im Zweifel an bis dahin als unerschütterlich betrachteten Gesetzen der Logik wie dem Satz vom Widerspruch 97 oder dem Satz vom Ausgeschlossenen Dritten nieder und gewinnt dadurch Affinität zu paradoxen Strukturen mystischen Denkens:' 8 In der klassischen Logik wird angenommen, daß, sofern eine Behauptung überhaupt einen Sinn hat, entweder die Behauptung oder die Negation der Behauptung korrekt sein muß . . . In der Quantentheorie muß offenbar dieses Gesetz >tertium non datur< abgeändert w e r d e n . "
Zimmermann 100 und Wagner-Egelhaaf 101 haben gezeigt, daß sich im Zusammenhang mit dem bezeichneten Wandel des physikalischen Weltbildes und der dadurch entstandenen Unvereinbarkeit von bestimmten physikalischen Phänomenen mit bislang gültigen Formen wissenschaftlichen Erfassens diverse Wissenschaftler (Bohr, Schrödinger, Oppenheimer oder Capra) tatsächlich der Mystik, und zwar vorwiegend ihren östlichen Ausprägungen, zugewandt haben. Mit der Einsicht in die Bedingtheit des positivistischen wissenschaftlichen Weltbildes wächst die Offenheit für anders gelagerte Formen des Weltverständnisses. Man besinnt sich auf die pythagoräisch-metaphysischen Wurzeln der Naturwissenschaft, deren Uberzeugung von der Entschlüsselbarkeit natürlicher Gesetzlichkeiten in der Vorstellung von einer prästabilierten Strukturgleichheit zwischen Mensch und Welt aufgrund der in ihnen beiden bestehenden Wirksamkeit eines Logos gründet — und sich damit an dem der Mystik entstammenden Denkgrundsatz orientiert, demzufolge Ähnliches nur durch Ähnliches erkannt werden kann: 102
97
steinschen >Relativitätstheorie< belegt neben Amann/Grote, 1990, S. 38 und 64, auch der Essay >James Joyce und die Gegenwart ( I X / 1 , 63—94), der von der erzähltheoretischen Umsetzung der genannten Lehren in Brochs Überlegungen zum Prinzip des >Erzählers als Idee< zeugt (vgl. bes. S. 77/78 u. Anm. 17, S. 92). Vgl. Wagner-Egelhaaf, 1989, S. 46 mit Bezug auf Heisenberg, 1959, S. 175. Vgl. Victor Gorgé, Das mystische Element in den Naturwissenschaften, in: Mystik und Wissenschaftlichkeit, hrsg. v . André Mercier, Bern/Ffm. 1972, S. 107—126, dort S. 109: »Die Aussagen des Mystikers haben die Form des logischen Widerspruchs, seine Lehre ist die der >coincidentia oppositorumGottBrenner< entfachten, in dem auch Broch damals publizierte." 4 Die wohl sachlichste zeitgenössische Sprachkritik stammt von Ludwig Wittgenstein, auf dessen >Tractatus< sich Broch im Zusammenhang seiner eigenen Bemühungen zur Rehabilitierung mystischer Erfahrung in seinen Essays verschiedentlich bezieht,"' und ist deshalb von besonderem Interesse, weil sie von einem Vertreter aus dem unmittelbaren Umkreis des Neopositivismus formuliert wird, gegen dessen Wissenschafts- und Sprachverständnis sich die schon bezeichneten Attacken richten. Wittgenstein macht klar, daß nur dasjenige sprachlich darstellbar ist, was sich innerhalb der Welt befindet und mithin Gegenstand logischer Betrachtung werden kann. D a die Grenzen der Sprache zugleich die Grenzen meiner Welt markieren," 6 sind sowohl das Subjekt, das eine Grenze der Welt darstellt" 7 und mithin nichts über sich aussagen kann, als auch alle Sinnfragen in die Transzendenz verwiesen," 8 weil ihnen im Rahmen formallogisch aufgebauter Protokollsätze kein Äquivalent entspricht. Demgemäß trägt die in den Grenzen des Logischen mögliche Lösung aller unserer Fragen noch in keiner Weise zur Lösung unserer Lebensprobleme bei." 9 D a sich die begriffliche Sprache an den Grenzen der Logik orientiert, ist alles Aussagbare immanent. Bezeichnenderweise könne denn auch derjenige, dem nach langem Suchen der Sinn des Lebens aufgegangen sei, diesen nicht benennen. 120 Der Immanenz alles sprachlich Mitteilbaren stellt Wittgenstein die evidente Existenz logisch nicht zugänglicher und folglich alle Begrifflichkeit transzendierender Phänomene gegenüber: E s gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische.'"
Im offenkundigen Rückgriff auf das Verstummen des Mystikers vor dem Unaussprechlichen der unio-Erfahrung formuliert Wittgenstein:
" " V g l . X I I I / i , 22. " ' V g l . Geist und Zeitgeist. Ein Vortrag (1934), I X / 2 , 1 7 7 - 2 0 1 , bes. S. 1 9 1 ; Das Unmittelbare in Philosophie und Dichtung (1932), X / i , 167—190, bes. 170/71; Theologie, Positivismus und Dichtung (1934), ebd., 191—239, bes. S. 202/203. " ' L u d w i g Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosphische A b handlung, Ffm. 1963, 5.62. " 7 Ebd., 5.632. " » E b d . , 6.41. " ' E b d . , 6.52; vgl. dazu D. T. Suzuki, Die große Befreiung. Einführung in den Zen-Buddhismus, Weinheim/Obb., 6. Aufl. 1972, S. 81: »Solange wir die Logik als endgültig ansehen, . . . verfügen wir nicht über die Freiheit des Geistes, und die wirklichen Tatsachen des Lebens geraten außer Sicht.« '"Wittgenstein, 1963, 6.521. ' " Ebd., 6.522. 3°
W o v o n man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen."'
Gegenüber allen anderen bislang beschriebenen Positionen verfugt diejenige Wittgensteins über einen entscheidenden Vorzug: Sie macht unmißverständlich deutlich, daß die Verpflichtung des Denkens auf Wahrheit eine Sache ist, während die Erfüllung lebenspraktischer Bedürfnisse — wie desjenigen nach Geborgenheit in einer als Ganzheit verstehbaren Realität, das als geheimes Movens der Wiederbelebung mystischer Denktraditionen in der Moderne erscheint — eine andere Sache ist. — Eine Einsicht, die schon bei Kant nachzulesen ist: Denn es ist sehr was Ungereimtes, von der Vernunft Aufklärung zu erwarten, und ihr doch . . . vorzuschreiben, auf welche Seite sie notwendig ausfallen müsse."'
Die Sichtung moderner Rekonstruktionsformen mystischen Denkens ergab immer wieder den topologischen Verweis auf die messianische Kraft des Ästhetischen, für dessen Bedeutung das antagonistische Verhältnis von Ich und Welt konstitutiv scheint: Die Erfahrung von Sinndefizienz und Nihilismus provoziert die Einsicht in die > formfordernde Gewalt des Nichts< (Benn), die sich angesichts der Ohnmacht praktischen Handelns in die Kunst flüchtet und damit dem sinnlosen Dasein die pure Form als Wert und Akt geistiger Selbstbehauptung entgegenhält: Die Kunst ist - im Verhältnis zum Leben - immer ein Trotzdem; das Formschaffen ist die tiefste Bestätigung des Daseins der Dissonanz, die zu denken ist." 4
Angesichts des Wertrelativismus und des Mangels an extensiver Lebenstotalität gewinnen Dezisionismus und Asthetizismus eine gemeinsame Basis im Reservat einer subjektzentrierten Mystik, die zum Asyl des Heiligen, Guten und Schönen avanciert: Fehlende Objektivität wird so mit der emphatischen Hinwendung auf subjektive Intuition beantwortet. Die Rückwendung auf mystische Denktraditionen resultiert dabei nicht zuletzt aus einer in der zeitgenössischen Kulturkritik zu beobachtenden Ontologisierung des Inkommensurablen: »In der berechenbaren Welt gewinnt das Unverfügbare die Fascination des verlorenen Absoluten.« 12 ' Das Verhältnis von Kunst und Mystik ist dabei ein doppeltes: Das Ästhetische wird als Gegenpol des diskreditierten Begrifflichen zur deiktischen Ausdrucksform mystischen Wissens und wird zugleich in seiner medialen Potenz für den anagogischen Aufstieg in Richtung auf die visio vereinnahmt. Beide Momente gemeinsam begründen seine messianische Kraft. Da Mystik historisch immer als Text und mithin sprachlich in Erscheinung tritt, ergibt sich Ebd., 7. " ' Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 7 7 5 . 4 " Lukäcs, 1979, S. 62. " ' Rumpf, 1991, S. 9 1 / 2 .
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ein besonders enger Konnex zur Dichtung, deren metaphorisch-bildliche Kraft einer als Reduktionsform verstandenen rein begrifflichen Sprache entgegengestellt wird.
x.6. Exkurs: Zum Verhältnis von Dichtung und Mystik Sprechen und Schweigen stehen in der mystischen Tradition in einem dialektischen Verhältnis zueinander: Die Unsagbarkeit mystischer Erfahrungsgehalte ergibt sich aus der Reflexion auf ein inkommensurables, sprachjenseitiges Absolutes, dem als einzig adäquater Ausdruck nur das Schweigen entsprechen kann. Diese Auffassung kennzeichnet nicht nur die christliche und jüdische Religion. 1 2 6 Zu den biblischen Bestimmungen Gottes gehört aber zugleich, daß er sich als reiner Logos selbst »gewortet« hat, wie Meister Eckhart mit Bezug auf die Logos-Lehre des Johannes-Evangeliums formuliert. 127 Dieser Hintergrund legitimiert eine breite mysthologische Tradition, die in Antithese zu einer Redeweise, die anhand von Negativ-Bestimmungen um die Uneinholbarkeit mystischer Erfahrungsgehalte kreist, symbolische und allegorische Sprachformen ausbildet, innerhalb derer das Verhältnis zum Göttlichen zumindest vorgängig als positiv faßbar verstanden wird, 1 2 8 wenn auch die Prämisse von der Inadäquatheit aller sprachlichen Darstellung gegenüber dem Transzendenten immer wieder zur Rücknahme des gewählten Bildes und zur Suche nach einem angemesseneren zwingt. 1 2 9 (Im Zusammenhang mit der Präferenz allegorischer Sprachformen gerade auch als Ausdrucksmittel einer transformierten Mystikauffassung in der Moderne ist auf die von Walter Benjamin am barocken Trauerspiel dargestellte Entleerung der Allegorie, ihre beliebige Auffüllbarkeit hinzuweisen, die der Ausrichtung auf >leere Transzendenz< entgegenkommt. 1 ' 0 ) Die Vorläufigkeit solchen Sprechens lenkt den Blick zugleich auf einen anderen Aspekt mystischen Sprachgebrauchs, dem die Auffassung " ' V g l . Haas, in: K . Ruh (Hg.), 1986, S. 331. " 7 Meister Eckhart, D W I, 66, 3. ' " V g l . Haas, a. a. O., S. 331. " 9 Hederer, 1 9 4 1 , S. 221/22: Das mystische Sprechen »kann zweierlei Gestalt haben: einmal als unmittelbares Bekennen des Unaussprechlichen oder aber als Vergleich des Unaussprechlichen mit einem Beschreibbaren, wobei das Beschreibbare immer wieder aufgelöst wird, weil es dem Sinn der Aussage nicht genügt und nur den Charakter des Gleichnisses, der Allegorie trägt . . . S o bleibt nur die Möglichkeit, negative Bestimmungen und sich gegenseitig auflösende Superlative zu häufen und am Ende in einem Paradox oder im Schweigen zu enden, oder aber das, was zu sagen wäre, in ein Bild zu kleiden, das dann wiederum aufzulösen ist . . .« 1,0
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Vgl. Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, hrsg. v. R. Tiedemann, 5. Aufl., F f m . 1990, Abschnitt >Allegorie und Trauerspiele.
zugrunde liegt, daß dem Begriff der Erfahrung notwendig das Moment der Vermittlung inhärent ist, daß Erfahrenes zum Sprechen gebracht werden muß, soll es nicht stumm bleiben. 1 ' 1 Darin wird zugleich eine bezeichnende Differenz zwischen dem empirischen und dem mystischen Erfahrungsbegriff deutlich: Während der Wahrheitsgehalt empirischer Erfahrungen ein von seiner Kommunikation unabhängiger ist, gilt dies für die mystische Erfahrung nicht, weil diese — anders als die empirische - sinnstiftend wirksam werden soll und deshalb als Grundlage von Geltungs- und Wertfragen intersubjektiv anerkannt werden muß, da ein bloß individueller Sinn schlechterdings keiner ist. Wo die moderne Mystikforschung und eine an Mystik interessierte Literaturwissenschaft — in der Regel unter Hinweis auf Meister Eckharts >Opferstockpredigt< IJ2 - feststellen, daß Erfahrung ihren vollen Sinn erst in der sprachlichen Entäußerung entfaltet, gerät zugleich der mediale Charakter der Sprache im mystischen Erfahrungskontext in den Blick: Indem die Sprache ihre Grenze reflektiert, führt sie über sich selbst hinaus . . . Das Bewußtsein sprachlicher Begrenztheit fährt vom objektsprachlichen zu einem metasprachlichen Gebrauch der Worte, der dem Mystiker unbeschränkte Freiheit im Sprachgebrauch verleiht.'"
Das Postulat der Erkenntnisunfähigkeit einer am begrifflichen Denken orientierten Sprache ermöglicht so die Freisetzung ihres artistischen Potentials. Ihre klanglichen Qualitäten und ihre bildliche Kraft werden zum Vehikel eines Realitätsverständnisses, das die Existenz einer hermetischen Seinssphäre voraussetzt und sich dieser anzunähern sucht. — Im Sinne eines >transrationalen< Erkenntnisbegriffs soll die Sprache leisten, was dem Denken nicht gelingt. So liest man bei E. Hederer, die ausgezeichnete Kraft der dichterischen Sprache zeige sich darin, daß sie da, w o die Sprache des Erkennens an ihre Grenzen gekommen ist, da auch, w o jede Philosophie in Schweigen anhalten muß, noch reden kann und darf.'' 4 1)1
Haas, Sermo mysticus. Studien zur Theologie und Sprache der deutschen Mystik, Freiburg/Schweiz 1979, S. 29; vgl. auch ders., 1986, S. 320 und M. Wagner-Egelhaaf, 1989, S. 20; Von Seiten eines nicht speziell an Mystik interessierten theologischen Standpunktes vgl. auch Richard Schaeffler, Sprache als Bedingung und Folge von Erfahrung. Das religiöse Wort als Beispiel für die Geschichtlichkeit des Verhältnisses von >Sprache< und >RedeUber die Sprache. Erfahrungen und Erkenntnisse deutscher Dichter und Schriftsteller des 20. JahrhundertsPriere et PoesieRönne-Novellen< oder seine frühe Lyrik. Wie vor ihm schon Baudelaire versteht Benn die Hermetik seiner Dichtung als Anspruch und nicht als Defizit.' 4 ' Eine Dichtungsauffassung, in deren Mittelpunkt die begriffliche Uneinholbarkeit hermetischer Gehalte aufgrund eines >transrationalen< Bedeutungsüberschusses steht und die die Dichtung damit als ein Phänomen be1.8 1.9 ,4
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'4'
Haas, 1979, S. 29/50. 1929 in deutscher Sprache unter dem Titel >Mystik und Poesie< erschienen. Bremond, 1929, S. 213. Ebd., S. 212. Ebd., S. 26. Ebd., S. 3 ; . Vgl. Balls wiederholte Bezugnahme auf mystische Kontexte in: H u g o Ball, Die Flucht aus der Zeit, Luzern 1946, z. B. S. 159. So schreibt Baudelaire: »Es liegt ein gewisser Ruhm darin, nicht verstanden zu werden«. Und für Benn heißt Dichten, »die entscheidenden Dinge in die Sprache des Unverständlichen erheben, sich hingeben an Dinge, die verdienten, daß man niemanden von ihnen überzeugt.« Zit. nach Hugo Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik. Von Baudelaire bis zur Gegenwart, Hamburg 1956, S. 10.
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greift, an dessen letztem Sinn sich jede begrifflich interpretierende Deutungskraft brechen muß, berührt sich hinsichtlich ihrer diskurstheoretischen Implikationen mit einem Verständnis von Literatur, wie es z. B. in den frühen Schriften Michel Foucaults aufscheint, und kann deshalb keineswegs als überholt zu den Akten gelegt werden. 146 In >Die Ordnung der Dinge< etwa beschreibt Foucault Literatur dekonstruktivistisch als >Gegendiskurs< zur positivistischen Wissensausrichtung der Moderne, der seinen subversiven Reiz gerade daraus bezieht, daß er sich systematisch gegen jede Möglichkeit einer Diskursanalyse sperrt. Dieser Ansatz gewann neue Aktualität durch die scharfe Kritik am szientistischen Selbstverständnis von Literaturwissenschaftlern wie S. J. Schmidt oder Jürgen Link, deren Konzepte in der These von der restlosen Beschreibbarkeit literarischer Sinngehalte gipfeln und zudem alle Varianten hermeneutischen Textverstehens rigoros verabschieden. 147 Kritiker werfen diesem Ansatz eine »systematische() Verleugnung rätselhafter Strukturen« vor, die für die poetische Kunst charakteristisch seien.' 48 Ein anderer Aspekt der Nähe zwischen der negativen Theologie mystischer Provenienz und Foucaults poststrukturalistischer Literaturauffassung tritt zutage, wo dieser in der modernen Literatur ein »Außer-Sich-Geraten« des Sprechens entdeckt, das damit sein eigenes und eigentliches Sein bloßlegt, in dessen Horizont das >Subjekt< der Literatur (als das sie produzierende wie das sie rezipierende) verschwindet.' 49 Paradigmen für dieses Phänomen entdeckt Foucault in den Werken Mallarmes, bei dem »das Sprechen wie der Abschied von dem erscheint, was es nennt«; bei Artaud, in dessen 146
Vgl. dazu den Aufsatz Clemens Kammlers, Historische Diskursanalyse (Michel Foucault), in: Karl-Michael Bogdal (Hg.), Neue Literaturtheorien, Opladen 1990, S. 3 1 - 5 5. Kammler unterscheidet zwischen verschiedenen Denkansätzen Foucaults und spricht seinem Werk mindestens drei für die Literaturwissenschaft relevante Optionen zu: einen Literaturbegriff, der v o m Konzept des >Gegendiskurses< ausgeht und auf den hier Bezug genommen wird (ihn nennt Kammler bezeichnenderweise >mystifizierendArchäologie des Wissenspolitizistischen< Ansatz, der diskursives wie nicht-diskursives Handeln im Hinblick auf seine strategische Zielsetzung in >Dispositiven< analysiere (Kammler, S. 44).
147
Vgl. z. B. Siegfried J . Schmidt, Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur im 18. Jahrhundert, Ffm. 1989; Jürgen Link, Elementare Literatur und generative Diskursanalyse, München 1983, z. B. S. 10. Hörisch, Jochen/Pott, Hans-Georg, Literaturwissenschaft als Rationalitätskritik. Antwort an Jürgen Link, in: J . Link, 1983, S. 1 7 5 - 1 8 7 , dort S. 179. Vgl. auch die ganz ähnlich gelagerten Betrachtungen zur Kongruenz von mystischer negativer Theologie und dem negativ-produktiven Moment der Differenz im poststrukturalistischen Denken bei Wagner-Egelhaaf, 1989, S. 224ff., die zudem auch den grammatologischen Ansatz Derridas mit einbezieht.
148
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Dichtung »jedes diskursive Sprechen dazu aufgerufen wird, sich in der Gewalt des Körpers und des Schreis aufzulösen«; oder in den Arbeiten Batailles, wenn das Denken statt Diskurs v o m Widerspruch oder vom Unbewußten zu sein, Denken im Grenzbereich wird, Denken der zerbrochenen Subjektivität, der Übertretung.' 1 0
Damit gerät eine Dimension des Zeichens in den Blick, in der die Erfahrung eines >Draußen< stipuliert wird, »das sich außerhalb jeder Subjektivität aufhält, wie um von außen deren Grenzen sehen zu lassen«. 151 Das >Denken des Draußen< deutet Foucault als Hinweis auf eine Seinssphäre, die als den Zugriffsmöglichkeiten des Subjekts entzogene wiederum transzendente Objektivität gewinnt. Die Genesis dieses Denkens vermutet Foucault in jenem mystischen Denken . . ., das von den Texten des Pseudo-Denys an, an den Grenzen des Christentums umherirrte; vielleicht hat es auch ein Jahrtausend lang oder fast so lang in den Formen einer negativen Theologie sich erhalten.'"
Aus der Sicht Foucaults hebt die unio-Erfahrung des Mystikers die bezeichnete Differenz zwischen Immanenz und Transzendenz wieder auf, während sie etwa in der Sprache Blanchots bestehen bleibe, um in der Leere des »reinen Draußen« aufzugehen, »in dem sich die Worte endlos entrollen«. 1 " — Eine Feststellung, die zum mindesten im Hinblick auf die jüdische Mystik zu relativieren wäre, da diese keinerlei Verähnlichung zwischen Immanenz und Transzendenz im Ereignis der unio kennt und ihr gegenüber auf der unüberbrückbaren Differenz zwischen beiden Polen beharrt. 1,4 Aber auch im Hinblick auf die Mystik Meister Eckharts ist gezeigt worden, daß sie »der Ähnlichkeit gegenüber der Differenz keinen Raum gewährt«. 1 " (Die Annahme einer unüberbrückbaren Differenz zwischen Subjekt und transzendentalem Objekt greift auf jene Mystiktraditionen zurück, die nicht rein neuplatonisch definiert sind, denn der Neuplatonismus versteht die Geistigkeit des Humanen als eine Emanationsform des absoluten Geistes, die als solche mit demselben im Kern identisch ist, und leitet gerade daraus die Möglichkeit der unio ab; vgl. Abschnitt 5).
Michel Foucault, Schriften zur Literatur, Ffm./Berlin/Wien 1979, S. 1 3 ; . " ' Ebd., S. 135. "'Ebd. "> Ebd., S. 136/137. 154 Vgl. z. B. Harold Bloom, Kabbalah and Criticism, New York 1975, S. 47. ' " W. Haug, 1986, S. 505; die ekstatisch gewonnene unio-Erfahrung ist auch sonst für die christliche Mystik durchaus nicht generalisierbar. Schon die scholastische >contemplatio divinae veritatis< muß nicht traditionell ekstatisch verstanden werden. Vgl. dazu Mieth in Haas/Stirnimann (Hg.), 1980, S. 9 - 6 1 , dort S. 55. 37
Unabhängig davon, ob der enigmatische Charakter der hier in Frage stehenden Literatur aus der Komplexität der von ihr thematisierten Realitätsstrukturen resultiert oder ob er das Ergebnis einer bewußten Abschottung gegenüber rational(istisch)en Zugriffs- und Vereinnahmungsmöglichkeiten ist, stellt sich die Frage nach der Legitimität und den Erfolgsaussichten des literaturwissenschaftlichen Zugriffs auf solche artistischen Gebilde. Ein solcher läßt sich mit dem Hinweis darauf rechtfertigen, daß es sich immerhin um kommunikative Strukturen handelt, die noch in ihrer hermetischsten Form Anspruch darauf erheben, >verstanden< zu werden, wenn auch auf einer anderen, metadiskursiven Ebene: Im Rückgriff auf mystische Denktraditionen soll sich Dichtung als Diskurs und Metadiskurs zugleich erweisen; darin steckt der Versuch einer Vermittlung: Die angestrebte Diskursaufhebung findet auf einer metadiskursiven Ebene statt, die gleichwohl bestimmte Kommunikationsstrukturen voraussetzen und beibehalten muß. Der sinnliche Reiz des dichterischen und insbesondere des lyrischen Wortes beansprucht die Eröffnung einer Form der verbalen Verständigung, an deren eigenwillige Authentizität das diskursive Denken nicht heranreicht. Demgemäß wird im Hinblick auf das Werk Brochs zu prüfen sein, ob und inwieweit der behauptete irrationale Erkenntnisüberschuß seiner Dichtung sich tatsächlich der Umsetzung in wissenschaftliche Diskursivität entzieht, womit zugleich die Intention seines Dichtungskonzepts auf ihre Berechtigung hin befragt werden soll.
3«
z. Z u r Genese v o n Brochs Dichtungskonzept: Dichtung als Rückverwiesensein auf ein mystisch-intuitives Wissen in Zeiten des Wertzerfalls
2.1. Dichtung als Erbin einer verwissenschaftlichten Philosophie Wie viele Intellektuelle des zwanzigsten Jahrhunderts empfindet auch Hermann Broch die Existenzform des modernen Individuums als schmerzliches Eingespanntsein in eine >entzauberte< Realität, die als kausalgesetzlich geordneter Mechanismus vollkommen transparent erscheint, während sie andererseits aufgrund ihres eklatanten Mangels an Sinnimmanenz und ethischer Ordnung als disparates, überkomplexes und fremdes Gebilde begegnet, dem das Subjekt orientierungslos gegenübersteht. Angesichts solcher Gegenwartserfahrung konstatiert Broch eine unauflösliche »Sehnsucht des Menschen nach Universalität und Totalität« ( X / i , 200),1 nach ethischer und metaphysischer Sinngebung (IX/2, 5 5) und nimmt im Bewußtsein seiner eigenen Gegenwart ein intensives Bedürfnis nach »Wiedergewinnung der religiösen Haltung in ihrer ganzen gemeinschaftsbildenden Strenge und . . . ideellen Einheitlichkeit« wahr ( X / i , 57): M . a. W . das Bedürfnis nach »philosophischen Zusammenfassung des gesamten Weltbildes, nach dieser kognitiv-rationalen Totalität wie sie bisher in seltener Einmaligkeit das Mittelalter bot, ist aufrecht geblieben . . . (ebd., 200).
In seinen Essays >Das Unmittelbare in Philosophie und Dichtung< (1952; X / i , 167-190) und »Theologie, Positivismus und Dichtung< (1934; ebd., 191—239) geht Broch im historischen Rückblick den Ursachen des gegenwärtigen Zustandes nach, die er in der positivistischen Auflösung des mittelalterlichen Weltbildes und seiner religiösen und philosophischen Grundlagen erkennt. Brochs Darstellung der Konsequenzen des beschriebenen historischen Wandels bewegt sich dabei auf den Spuren Max Webers: 2 Der 1
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Zitiert wird nach der von P.-M. Lützeler herausgegebenen Kommentierten Werkausgabe, Ffm. 1977, deren einzelne Bände in römischen Ziffern bezeichnet werden. In einem 1988 erschienenen Aufsatz drückt Michael Steinberg seine Verwunderung darüber aus, »wie seltsam doch Brochs Mangel an Bearbeitung, Auseinandersetzung oder Erwähnung v o n Max Weber . . . in Anbetracht der vielen Parallelen zwischen beiden Denkern« sei; so etwa »in der Analyse der Moderne mit Wendungen wie Säkularisierung, Abstraktion, formaler Rationalität, oder auch in
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Tribut für den wissenschaftlichen Fortschritt, der sich der Umwendung der Logik zum Positivismus verdankt, besteht in strenger Enthaltsamkeit gegenüber Wertungs- und Sinndeutungsfragen ( X / i , 203) und in der Auflösung einer allen Wissensformen gemeinsamen idealen Topologie zugunsten einer Differenzierung der wissenschaftlichen Frageketten, deren je verschiedene Fluchtpunkte nunmehr in den Objektgesetzlichkeiten ihrer unterschiedlichen Gegenstände verortet werden (ebd., 196): Der Verlust der metaphysischen Dimension im tradierten Weltbild impliziert die Veränderung der transzendentalen Voraussetzungen des Erkennens, dem nunmehr bestimmte Erfahrungsformen und -gegenstände verstellt sind. Die Veränderung des Wissenschaftsverständnisses betrifft insbesondere die Philosophie, die ihre Existenzberechtigung als Wissenschaft nur wahren kann, wenn sie ihrerseits die Wendung zum Positivismus vollzieht und ihren Gegenstandsbereich entsprechend reduziert (ebd., 168/9, 2 Q I )- Die ihr einzig gemäße deduktive Methode behält lediglich im Hinblick auf logische Fragestellungen die erforderliche Beweiskraft und kann bestenfalls für logisch-erkenntnistheoretische und wissenschaftskritische Probleme fruchtbar gemacht werden. Hingegen verschwinden ethische und metaphysische Fragestellungen notgedrungen aus dem Horizont einer wissenschaftlichen, nicht-spekulativen Philosophie, die folglich gezwungen ist, das elementare Grundbedürfnis des Menschen nach Aufweisung eines Sinn- und Werthorizonts für sein eigenes Dasein und mithin dessen eigentlich humane Dimension zu ignorieren: Von dem polyhistorischen Charakter der Philosophie . . . ist keine Spur mehr zu erblicken, und eine Regelung des Wertsystems, die metaphysische Gründung der Ethik — die Ästhetik wurde eigentlich schon früher fallen gelassen —, ist nicht mehr zu erhoffen ( X / i , 20}).'
der Deutung der protestantischen Reformation als einer Wurzel der Moderne«; M . Steinberg, Totalität und Rationalität, in: Lützeler/Kessler (Hg.) 1988, S. 2 1 0 220, dort S. 2 1 7 ; vgl. zu den genannten Komplexen z. B. X / i , 109 oder X I I , 20, 1 5 5 / 1 5 6 ; Steinbergs Hinweis auf die singulare Erwähnung Webers in Brochs >Völkerbundtheorie< in X I , 233 muß um einen weiteren Beleg von Brochs WeberRezeption in dem 1 9 1 7 verfaßten, positivismuskritischen Essay >Zum Begriff der Geisteswissenschaften (X/i, 1 1 5 ) ergänzt werden, der allerdings nicht weniger marginal ist; dort wird Weber innerhalb einer lapidaren Aufzählung von »Großund Altmeistern« deutscher Geschichtsschreibung genannt. Das Verzeichnis Amann/Grotes (1990, S. 270) weist nach, daß Webers >Gesammelte politische SchriftenErlebenserlebnis< und das Außenwelterlebnis der Sinne. . . . Aus diesen beiden Sphären der Unmittelbarkeit, des inneren und äußeren Letzten, dessen der Mensch habhaft zu werden vermag, und hinter das er offenbar nicht mehr vordringen kann, baut sich die innere und äußere Ansicht seiner Weltanschauung: Gottesbewußtsein und Weltbewußtsein, Theologie und Ontologie, zwei Kategorien, in denen alle Religion sich realisiert. Beides Pole des Irrationalen, beide stumm und nur sichtbar durch das Medium des Rationalen . . ., dessen Strom 2wischen ihnen gespannt ist, zwischen der panischen Stummheit des Tiers, dessen Augen nach außen blicken, und der göttlichen Stummheit der >AbgeschiedenheitLogos< - führte nicht nur z u m B e g r i f f des Begriffs, der das vielheitlich G e g e b e n e v o n dem E i n e n Bestimmenden her - >definitorisch< - einsehbar macht, sondern auch zu der T h e o rie der Idee, die das Mannigfaltige als Seins- und E r k l ä r u n g s g r u n d je mit sich identisch sein und denken läßt. D i e vorsokratische Frage nach dem Einen, sich in A l l e m durchhaltenden . . . >Anfang< spitzt sich für Piaton . . . auf den B e g r i f f eines >voraussetzungsfreien Anfangs< . . . zu, der mit der alle übrigen Ideen e r m ö g lichenden . . . Idee des G u t e n identisch i s t . " S c h o n b e i P i a t o n ist e i d e t i s c h e s W i s s e n i n t u i t i v >geschautes< W i s s e n , s c h o n d e s h a l b z u s e i n e r V e r m i t t l u n g a u f d i e bildliche
das
K r a f t der Sprache ange-
w i e s e n ist. E s v e r d a n k t s i c h l e t z t l i c h d e r A n a m n e s i s a n d i e m e t a p h y s i s c h e
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In A m a n n / G r o t e s Verzeichnis v o n Brochs privater Bibliothek finden sich folgende Nachweise zu Brochs Platon-Lektüre: - Deussen, P., Vedanta, Piaton und K a n t , W i e n 1871 - Hartmann, N . , Piatons L o g i k des Seins, Giessen 1909 - Heinze, M . , D i e Lehre v o m L o g o s in der griechischen Philosophie, O l d e n b u r g 1872 - Marek, S., Piatos Erkenntnislehre und ihre Beziehungen zum Kantischen, in: Kant-Studien. Philosophische Zeitschrift der Kant-Gesellschaft. Hrsg. v. G . Funke und J. K o p p e r , Bd. 18, Berlin/N. Y . 1897-1934, S. 246-262 -
Mendelssohn, M . , Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele in drey G e sprächen, 4. A u f l . Karlsruhe 1790 N a t o r p , P., Piatons Ideenlehre. Eine E i n f ü h r u n g in den Idealismus, L e i p z i g 1903
-
ders., Über Piatons Ideenlehre, Berlin 1914 sowie zahlreiche Einzelbände aus verschiedenen deutsch- und lateinischsprachigen A u s g a b e n v o n Piatons Werken (vgl. A m a n n / G r o t e , 1990, S. 196/7). " W . Beierwaltes, 198;, S. 10/11.
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Präexistenz der Seele, die vor ihrer Verleiblichung die Ideen geschaut und in sich abgespiegelt hat. 12 In seiner höchsten Ausprägung ist es >TheoriaPhilosophie als strenger Wissenschaft*.' 9 D e r Rekurs v o n Brochs Dichtungskonzept auf Irrationalität gibt sich dementsprechend nicht als Rückzug auf eine bloß individuelle, verifikationsentbundene Gefuhlssphäre, wie es dem Verständnis des Neopositivismus entsprochen hätte, dessen Schule Broch bekanntlich durchlaufen hat, 20 sondern als die »Fortsetzung der rationalen Erkenntnis über die rationale G r e n z e hinaus« ( I X / 2 , 46) in Richtung auf ein absolutes, transrationales, überbegriffliches Wissen, 2 1 das als gemeinsames Fundament der im gegenwärtigen Weltzustand unvermittelt nebeneinander bestehenden Pole v o n Rationalität und Irrationalität zurückgewonnen werden soll und auf dessen Grundlage der vorgefundene Zerfall der Wirklichkeit in Partialwertgebiete revidierbar erscheint. Brochs Denken orientiert sich dabei an Denktraditionen der abendländischen Mystik, in deren Reflexionshorizont die fragliche E r f a h r u n g s f o r m als überbegrifflicher »Selbstüberstieg . . . des Denkens« 2 2 erst im D u r c h g a n g durch die begriffliche Sprache in den Blick gerät, die sich darin als unzulänglich erweist. 2 ' D a s ist deshalb v o n Belang, weil die fragliche ErkenntD a r a u f h a t schon F. Vollhardt in seiner vorzüglichen Studie hingewiesen. V f . hebt hervor, daß Husserls Begriff der >WesensschauIdeen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie< (1913) verwendet wird, ganz offenbar nicht als >rezeptive Intuition< im Sinne mystischen Denkens, sondern als >intellektuelle Spontaneität zu verstehen ist; vgl. F. Vollhardt, Hermann Brochs geschichtliche Stellung. Tübingen 1986, S. 92/93, bes. Anm. 105. " V g l . H. Krapoth, 1 9 7 1 , S. 18 mit Bez. auf W. Stegmüller, i960, S. 385ff. 21 In diesem Sinne beschreibt Broch etwa die Methode seines »schriftstellerischen Über-Ich« Joyce ( X I I I / 1 , 8;) als »Sprachmystik«, deren stringent rationale Verfahrensweise auf einen »Irrationaldurchbruch« abziele ( I X / i , 130); vgl. auch X / i , 194: ». . . durchgängige Rationalität, deren höchste Steigerung noch immer in der echten Mystik sichtbar ist, . . .« Brochs Rationalitätsbegriff enthält durchaus wissenschaftstheoretische Implikationen. E r basiert auf der Voraussetzung einer dem Denken seine inhaltlichen Prämissen vorgebenden, letztlich immer dogmatischen Plausibilitätsebene, von der aus die Reflexion deduktiv fortschreitet. Unter dieser Voraussetzung gewinnt denn auch das »theologische() Weltbild . . . das Stigma der Beweisbarkeit« (ebd.). " W. Beierwaltes in seiner Einführung zum 2. Tag des Symposions über Abendländische Mystik im Mittelalter^ Kloster Engelberg 1984, hrsg. v. K . Ruh, Stuttgart 1986 (Germanistische Symposien-Berichtsbände; 7), S. 1 1 6 - 1 2 4 , dort S. 1 1 6 ; andernorts kennzeichnet Beierwaltes mit besonderem Bezug auf Plotin mystisches Denken im Hinblick auf Diskursivität als »notwendige Einübung in dessen eigene Aufhebung; damit vollendet sich in der Einung das Denken, indem es sich selbst übersteigt.« (ders., Reflexion und Einung. Z u r Mystik Plotins, in: ders./H. U. v. Balthasar/A. M. Haas, Grundfragen der Mystik, Einsiedeln 1974, S. 10.) A. M. Haas beschreibt im Hinblick auf die abendländische Mystik »das denkende Erkennen und die mit ihm gegebene subtile begriffliche Erkenntnis (als) Medium
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nisform damit an eine Form sprachlicher Vermittlung gebunden bleibt, wenngleich diese über sich hinaus auf ein >Unaussprechliches< weist. Eine derartige Konzeption gerät z. B. im >Tod des Vergib in den Blick, w o die E r f a h r u n g des Absoluten geschildert w i r d als jenseits von Ausdrückbarem und Nicht-Ausdrückbarem, . . . er (Vergil) konnte es nicht festhalten . . .; unerfaßlich unaussprechbar war es für ihn, denn es war jenseits der Sprache (IV, 454).' 4 Brochs Schriften zur Sprache und Literatur enthalten mehr als eine Begründung dafür, w a r u m gerade die Dichtung berufen ist, das metaphysische E r b e der Philosophie anzutreten und eine neue Totalität des Weltbildes zu erzeugen:
2.3. Dichtung als Aktivierung logisch-eidetischer Strukturen im syntaktischen Gefüge der Sprache D a s oben A u s g e f ü h r t e zeigt zugleich, das Brochs Verhältnis zum Phänomen Sprache offenbar Konvergenzen zu demjenigen Mauthners und Wittgensteins aufweist: Mir wurde nämlich . . . absolut klar, . . . daß . . . heute mit >Worten< nichts mehr bewiesen werden kann. . . . Wissenschaftlichkeit ist heute bloß im mathematischen Gewände zulässig . . ., und die außermathematische Wirkung des Wortes greift ins Überwissenschaftliche, das vielleicht das Dichterische ist ( X I I I / i , 249/250). W i r d so einerseits der Sprache, verstanden als bloßer Begrifflichkeit, die K o m p e t e n z zur Erfassung v o n Realität abgesprochen, so gewinnt sie andererseits eine ausgezeichnete Bedeutung für deren Erfassung, w o sie als reine F o r m und als logisch-syntaktisches G e f ü g e in den Blick gerät, 2 ' das gewissermaßen >zwischen den Zeilen< einen »fluktuierend schwebende(n)« semantischen Qualitätsüberschuß ( I X / 2 , 7 7 ) transportieren soll, denn: Aller Sprachstruktur liegt der L o g o s als »Meta-Syntax« zugrunde, und »nirgends
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des Aufstiegs, . . . Gerade der Weg, der durch das Begriffliche führt, wird zum Mittel der Erhebung darüber . . .« A . M. Haas, Was ist Mystik? in: Ruh (Hg.), 1986, S. 319—341, dort S. 327. Schon hier sei aber daraufhingewiesen, daß Brochs Denken sich immerhin soweit der Ausschöpfung rationaler Reflexionsmöglichkeiten verpflichtet sieht, daß er derartige Erfahrungen als utopische versteht und erst dem Todeserlebnis zuweist (vgl. Näheres im Abschnitt 8, mors mystica). »Denn das Wesen der Syntax und ihre ungeheure symbolschaffende Funktion besteht eben darin, aus der Spannung zwischen den Worten und Einzelfakten, die in die syntaktische Verbindung gesetzt werden, alles Unausgesprochene, letzten Endes also das Überindividuelle (sie!) erahnen zu lassen« (IX/2, 109).
ist die W i r k s a m k e i t des L o g o s s o deutlich w i e in der S p r a c h e « ( I X / 2 , 69). 2 6 D i e s e r aber ist s o w o h l in der n e u p l a t o n i s c h e n M y s t i k als a u c h bei B r o c h eine zentrale V e r m i t t l u n g s i n s t a n z z w i s c h e n d e m u n e n d l i c h e n g ö t t l i c h e n u n d d e m endlichen m e n s c h l i c h e n G e i s t . D a r a u f w i r d n o c h e i n z u g e h e n sein. D i e B i n d u n g an d e n L o g o s b e d e u t e t zugleich d i e A u s r i c h t u n g d e r S p r a c h e a u f R a t i o n a l i s i e r u n g v o r g e f u n d e n e r Faktizität, die sich in der D i c h t u n g
aber
nicht als B e g r i f f s b i l d u n g v o l l z i e h t : Durch das Medium der Sprache wird das Irrationale des bloßen Erlebens zum rationalen und mitteilbaren Ausdruck gebracht, wird dem Menschengeist die Würde der Erkenntnis verliehen. Jede Äußerung des Menschengeistes, also erst recht jedes Kunstwerk . . . ist demzufolge in einem letzten Sinn Nationalisierung von etwas Irrationalem«, . . . Die Wortsprache hingegen ist solch radikal neuer Bildungen nicht fähig: ihre Rationalität ist fest gefügt, . . . und wenn der Dichter . . . neue Irrational-Realitäten . . . durch sie rational machen will, so kann das zumeist nur durch das Ungesagte geschehen, durch die dynamische Spannung zwischen den Worten, zwischen den Zeilen . . . ( I X / i , 240). E s zeigt sich, daß es die i m ästhetischen B e r e i c h m a x i m a l e D y n a m i k
als
i r r e v e r s i b e l erachteter s y n t a k t i s c h e r S t r u k t u r e n ist, die eine s p e z i f i s c h e herm e n e u t i s c h e E b e n e e r ö f f n e t , a u f der der eidetische G e h a l t des G e i s t e s erf a h r b a r w e r d e n soll ( X / 2 , 2 6 7 ) . " D e r irrationale E r k e n n t n i s c h a r a k t e r , d e n B r o c h s D i c h t u n g s a u f f a s s u n g f ü r sich reklamiert, s p r i c h t sich d a m i t z u n ä c h s t nicht in b e s t i m m t e n Inhalten, s o n d e r n in der p u r e n F o r m aus, d i e der S p r a che k r a f t ihrer syntaktischen M ö g l i c h k e i t e n w i e i h r e r m e l o d i s c h e n
und
k l a n g l i c h e n D y n a m i k eine a n a g o g i s c h - m e d i a l e F u n k t i o n verleiht:
Der gelegentlich in der Forschungsliteratur als zentral gewertete Zweifel Brochs an den Möglichkeiten der Sprache (z. B. bei S. D. Dowden, Sympathy for the Abyss. A Study in the Novel o f German Modernism. K a f k a , Broch, Musil and Thomas Mann, Tübingen 1986, S. 27ff. oder bei B. Lube, Sprache und Metaphorik in H. Brochs Roman >Der Tod des Vergib, Ffm. 1986, S. 102/3) trifft deshalb nur die halbe Wahrheit; er bezieht sich auf Sprache als Zerfallsprodukt im Zeitalter allseitiger Partialisierung, in der jedes autonome Partialwertsystem seine eigene, anderen Systemen unverständliche Spezialsprache ausbildet (vgl. z. B. I X / 2 , 177/178: »das Wissen um die Unmöglichkeit einer Verständigung ist zu groß, jeder weiß, daß der andere eine andere Sprache spricht, . . . innerhalb eines anderen Wertsystems lebt, . . . Zwischen Mensch und Mensch, zwischen Menschengruppe und Menschengruppe herrscht die Stummheit, . . .«), nicht aber auf die genuinen Möglichkeiten des Phänomens Sprache als solchem. Gerade von ihm aus, das zeigt der Stellenwert, der der Dichtung in Brochs Überlegungen zukommt, erscheint der Wiederaufbau von Totalität möglich. " Vgl. auch X / 2 , 251: »die statische Eidos-Einheit (läßt) sich . . . in dem vornehmlich dynamischen Gebiet der Syntax-Einheiten repräsentieren . . .«. Allein innerhalb syntaktischer Strukturen könne die Eidos-Einheit »ans sprachliche Licht gebracht . . . werden«, heißt es ebd.
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Dichten heißt, Erkenntnis durch die Form gewinnen wollen, und neue Erkenntnis kann nur durch neue Form geschöpft werden . . . auf dem Wege der irrationalen Erkenntnis, die eben Erkenntnis durch die Form ist, . . . ( X I I I / 1 , 223). E s w a r s c h o n d a r a u f h i n g e w i e s e n w o r d e n , daß d e r M y s t i k e r d e n W e g zur F o r m als W e g zu G o t t geht. 2 8 I m H o f m a n n s t h a l - E s s a y r ü h m t B r o c h d e m g e m ä ß a u s d r ü c k l i c h die E n t d e c k u n g des m e d i a l e n C h a r a k t e r s d e r S p r a c h e d u r c h B a u d e l a i r e , die jene S p h ä r e d e s P l a t o n i s c h e n erschließe, w e l c h e das Z i e l der D i c h t u n g sei. B e i B a u d e l a i r e , in d e s s e n Verhältnis zur S p r a c h e B r o c h f o l g e r i c h t i g » m y s t i s c h e ( ) E i n s c h l ä g e « e r k e n n e n zu k ö n n e n g l a u b t ( I X / i , 1 2 2 ) , habe die Sprache ein Eigenleben und eine Eigenbedeutung erhalten . . ., die über die der bloßen Mitteilungsfunktion weit hinausreicht, nämlich dorthin, w o die Sprache, gleichsam als Dank für die ihr entgegengebrachte Hingabe, selber zu einem Quell der Realitätserkenntnis, der dichterischen Realitätserkenntnis werden kann ( I X / i , 122).'' B a u d e l a i r e s m y s t i s c h - a n a g o g i s c h e T e c h n i k w i r d B r o c h zur Initiation einer v o n i h m p o s i t i v b e w e r t e t e n F o r m des l'art p o u r l ' a r t , ' 0 die d i e K u n s t in jene » v o l l - i r r a t i o n a l e S p h ä r e « z u r ü c k f u h r t , i n n e r h a l b d e r e r allein sich d i e » A n n ä herung
ans
Absolute«
und
eine
ganz
neue,
schöpferische,
irrational-
u n m i t t e l b a r e Weltsicht erschließt. I n ihr w e r d e es m ö g l i c h ,
28 z
Vgl. Abschnitt 1.2. ' Vgl. dazu auch H. Krapoth, Dichtung und Philosophie. Eine Studie zum Werk Hermann Brochs, Bonn 1971, S. 180/81, der in Brochs Versuch zur Überschreitung der Erkenntnisgrenze auf ein Jenseitiges hin eine »ausgesprochene Beschwörung durch das Wort« erkennt: »Es ist wie ein Sturz in die Sprache, die alles leisten soll. Damit sie dafür geeignet ist, muß sie verselbständigt und der K o n trolle des Gedankens entzogen werden. Dies geschieht aber um des Gedankens willen, der den Widerspruch in sich selbst nicht zu bewältigen vermag und dessen Zuständigkeit an . . . die verselbständigte Sprache abgegeben wird.« Wo freilich in der Radikalisierung des Symbolismus der anagogische Charakter der Sprache verloren geht und ihre Formkraft nicht mehr als Mittel zum Selbstüberstieg begrifflicher Erkenntnis in Richtung auf Transrationalität fungiert, sondern in Selbstzweck umschlägt, entsteht jener Asthetizismus, jene l'art pour l'effet, die Broch entschieden ablehnt.
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5°
Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auf die doppelte Bedeutung dieses Begriffs bei Broch. E r meint einerseits das negativ bewertete Phänomen einer Kunst allein um des schönen Effekts willen als Ausdruck eines durch den Wertzerfall entstandenen, bornierten und ästhetizistisch orientierten Partialwertsystems Kunst, das letztlich Kitsch produziert; andererseits bezeichnet er jenes künstlerische Arbeiten um seiner selbst willen, dessen Qualitätsmaßstab der ethische Wille zu guter handwerklicher Arbeit als Dienst am Höchsten ist und dessen Ethos eingebunden ist in die hierarchischen Strukturen eines intakten Zentralwertsystems (vgl. I X / 2 , 93ff.; I X / i , 123/124).
das Essentielle des Seins, . . . des Menschen darzustellen, d. h. das Irrationale zu einer neuen, scharf-präzisen Rationalität zu verwandeln,' 1 d i e o f f e n k u n d i g identisch ist m i t m y s t i s c h e r Transrationalität. D i e v o n B r o c h v e r s u c h t e d i c h t e r i s c h e R e a l i s i e r u n g der A u f s t i e g s f u n k t i o n der S p r a c h e bis z u m S e l b s t ü b e r s t i e g der R e f l e x i o n u n d i h r e r A u f l ö s u n g in p u r e r B i l d l i c h k e i t w i r d uns in A b s c h n i t t 1 1 n o c h b e s c h ä f t i g e n . D i e m a r k a n t e s t e n B e i s p i e l e bietet hier w i e d e r u m der >VergilMusikalität< im >Vergil< verantwortlich sei (vgl. I V , 475/476). " Vgl. z. B. zuletzt B. Lube, 1986; vor ihr bereits A . Köhne, Stilzerfall und Problematik des Ich. Stilkritische Studie zur Sprache von H. Broch im >Tod des VergilVergil< »der Inhalt der Aussage selbst zur absoluten sprachlichen Figur drängt«, ebd., 451. " Vgl. Duden Bd. 7, Etymologie. Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache, Mannheim/Wien/Zürich 1963, S. 696/7. 16 Ivänka, 1964, S. 257. 52
ist Medium ständiger Spiegelung des Gegebenen durch die aneignende A r beit des Geistes. Allein in fortgesetzter Symbolisierung ist Wirklichkeit erfahrbar und Erkenntnis möglich, die ihrerseits das einzig adäquate Mittel zur Überwindung der Fremdheit zwischen Ich und Welt darstellt; mehr noch: Im Medium von Zeichen und Bildern wird »geistige Realität nicht nur wahrnehmbar . . sondern allererst konstituiert, strukturiert«:' 7 Denn alles Sinnhafte entsteht in Spiegelung und Symbol, und das Ursprüngliche und Wirkliche kann ebensowohl am Ende wie am Anfang der Spiegelreihe stehen ( I X / i , 72).
Das heißt im Horizont von Brochs Wertphilosophie: »Es geht . . . (um) die Verwandlung von Gegenständen in handlungsorientierende Zeichen und damit in >Werte8
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Richard Brinkmann, Z u Brochs Symbolbegriff, in: German Life and Letters, Special Number: Hermann Broch, Oxford 1987, S. 224—234, dort S. 2 3 1 . Der Aufsatz ist wiederabgedruckt in Lützeler/Kessler (Hg.), Brochs theoretisches Werk, Ffm. 1988, S. 35-48. V f . weist den engen Zusammenhang des Symbolbegriffs zur Werttheorie nach. K . Lorenz, Philosophische Dichtung, in: Lützeler/Kessler (Hg.), 1988, S. 24—34, dort S. 26. V f . macht darauf aufmerksam, daß die Erforschung dieses Zusammenhangs gegenwärtig in Anknüpfung an C. S. Peirce unter dem Titel des Konnexes von Pragmatik und Semiotik erörtert wird (ebd.). W. Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, 1990, S. 138, beschreibt als ursprüngliches Symbolverständnis die »Einheit von sinnlichem und übersinnlichem Gegenstand, die Paradoxie des theologischen Symbols«.
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bolbegriff zugrunde, wenn er diesen mit »Goethes unübertrefflicher Definition des Symbols« vergleicht, das d i e S a c h e selbst ist, ohne die S a c h e zu sein, und doch die Sache; ein im geistigen S p i e g e l zusammengezogenes B i l d , und d o c h mit dem G e g e n s t a n d identisch. 4 0
Wo sich die symbolisierende Erkenntnis aber auf transrationale Gegenstände und Erfahrungen richtet, bedarf diese Interpretation des Symbolbegriffs einer Differenzierung, weil sie eine entscheidende — im Sinne des christlichen Denkens mystische - Dimension von Brochs Symbolbegriff nicht einbezieht, in der das Symbol eben durchaus nicht die Sache selbst im Spiegel des Geistes ist, sondern über sich selbst hinausweist auf ein prinzipiell Unabbildbares und mithin den Abbildcharakter von Kunst durchbricht. Das Symbol repräsentiert in dieser Hinsicht eine Erfahrungswirklichkeit, die im säkularisierten Welterleben verlorengegangen ist, weist über sich hinaus auf etwas, daß tatsächlich eben nicht verfügbar und mithin radikal transzendent ist: D a s S y m b o l hat . . . eine m e r k w ü r d i g e Mittelstellung zwischen konkreter Sichtbarkeit und abstrakter Unsichtbarkeit, z w i s c h e n Irdischkeit und Unirdischkeit, da es mit irdisch-sichtbar-fühlbar konkreten Mitteln (Sprache, Bildhaftigkeit u s w . ) erzeugt w i r d und trotzdem sich mit d e m Symbolisierten
...
in keiner Weise
>decktmeint< . . . ( X I I , 2 2 1 ) .
Diese radikale Entzogenheit und uneinholbare Differenz des >ganz anderem Objekts ist ein Spezifikum der christlichen und jüdischen Mystik. Schon der Gegenstand symbolischer Darstellung liegt in dieser Perspektive jenseits des rational Erfaßbaren, denn sein Gehalt ist begrifflich nicht reformulierbar: »Symbolisierungen sind irreversible Abbildungsprozesse« (X/2, 268). Damit aktualisiert das hier beschriebene Symbolverständnis zugleich ein bestimmtes Verhältnis zwischen dem Symbol und dem durch es Bezeichneten: D i e Ä u ß e r u n g e n des Menschengeistes sind »bloß S y m b o l e für das, w a s ausged r ü c k t w e r d e n soll, . . . Selbst die T r ä n e ist bloß S y m b o l für den S c h m e r z . . ., selbst das L ä c h e l n bloß S y m b o l für die F r e u d e , v o n der die Seele in ihrer unsichtbaren T i e f e b e w e g t w i r d « ( I X / 2 , 62).
Brochs Symbolbegriff betont im Sinne Brinkmanns die Analogie zwischen beiden und damit die Teilhabe des Symbole schaffenden Geistes am symbolisierten Objekt — in eins damit aber zugleich dessen Differenz bzw. Defizienz gegenüber demselben. Das Symbol ist die Form größtmöglicher transrationaler Annäherung an das Unsagbare, Transzendente und ist zugleich doch »nur symbolische« Vermittlung, betont damit das Moment der 40
G o e t h e , >Philostrats G e m ä l d e und A n t i k u n d M o d e r n . NachträglichesUrsprung des deutschen Trauerspiels< hat W . Benjamin das Verhältnis v o n S y m b o l und Allegorie »unter der entscheidenden Kategorie der Zeit« bestimmt. 4 ' A u f die Relevanz seiner Unterscheidung für Brochs D i c h tung hat S. D . D o w d e n hingewiesen. 4 4 Benjamin sieht im S y m b o l , w i e es die Klassik begreift und zur Kennzeichnung ihres Lebensgefuhls v e r w e n det, die G e g e n w a r t der göttlichen Idee und die Verkörperung ihrer metaphysischen Zeitlosigkeit: D a s S y m b o l drücke die paradoxe »Einheit v o n sinnlichem und übersinnlichem Gegenstand« aus. 4 ' D a s Zeitmaß der S y m bolerfahrung sei »das mystische N u , in welchem das Symbol den Sinn in sein verborgenes . . . Innere aufnimmt.« 4 6 D e m stehe schon im Barock w i e auch in der nachklassischen Zeit die Allegorie als Signum für die Nichtigkeit und Vergänglichkeit der D i n g e und ihre antinomische Distanz zum Göttlichen gegenüber: Gleichzeitig mit dem profanen Symbolbegriff des Klassizismus bildet sein spekulatives Gegenstück, der des Allegorischen, sich heraus. . . . Den neuen Begriff des Allegorischen als spekulativ zu bezeichnen ist aber dadurch gerechtfertigt, daß er in der Tat als der finstere Fond abgestimmt war, gegen den die Welt des Symbols hell sich abheben sollte. . . . So fremd stand um achtzehnhundert die symbolisierende Denkweise der originären allegorischen Ausdrucksform gegenüber, daß die sehr vereinzelten Versuche theoretischer Auseinandersetzung für die Ergründung der Allegorie . . . desto kennzeichnender für die Tiefe des Antagonismus . . . sind. . . . A u f dem Antlitz der Natur steht >Geschichte< in der Zeichenschrift der Vergängnis. Die allegorische Physiognomie der Natur-Geschichte, die auf der Bühne durch das Trauerspiel gestellt wird, ist wirklich gegenwärtig als Ruine. . . . Und zwar prägt, so gestaltet, die Geschichte nicht als Prozeß eines ewigen Lebens, vielmehr als Vorgang unaufhaltsamen Verfalls sich aus.47 4
' W. Haug, Transzendenz und Utopie. Vorüberlegungen zu einer Literaturästhetik des Mittelalters, in: Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Festschrift f. Richard Brinkmann, Redaktionskollegium J . Brummack u . a . , Tübingen 1 9 8 1 , S. 1 - 2 2 , dort bes. 4-9. 41 Scholem, 1957, S. 28—30. 4! W. Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, hrsg. v. R . Tiedemann, A u f l . , Ffm. 1990, S. 144/145. 44 S. D. Dowden, 1986, S. 27-56, bes. S. j g f f . 4 ' Benjamin, 1990, S. 138. 46 Ebd., S. 144; Dowden, S. 40, kommentiert: »Its temporality is that of the mystical instant of timeless continuity between earthly beauty and ideal divinity; it is the immanence of G o d in the world.« 47 Benjamin, 1990, S. 139/40 und 155.
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Aufgrund der getroffenen Unterscheidung kennzeichnet Dowden Brochs Erzählverfahren als spezifisch allegorisches,48 - eine einseitige Festlegung, die sich wohl aus der textanalytischen Beschränkung auf die Diagnose des Wirklichkeitszerfalls in den >Schlafwandlern< erklärt. Tatsächlich weist Brochs Werk, gerade wo es ein mystisches Wissen thematisiert, eine Vielzahl von Symbolen auf, wie die folgenden Textanalysen deutlich machen werden.49 Jedoch zeigt die differenzierte Auseinandersetzung mit der Genese von Brochs Symbolbegriff, das das Moment der konstitutiven Differenz gegenüber dem radikal Transzendenten diesem immer schon inhärent ist — aber in der paradoxen Form der Anwesenheit in der Abwesenheit, d. h. des permanenten Bezogenseins auf das Uneinholbare. So bleibt auch die symbolische dichterische Erkenntnis bloße Ahnung des Absoluten, das sich auch ihr in letzter Konsequenz entzieht. — Dennoch kann allein sie nach Brochs Verständnis über sich selbst hinaus auf dasselbe verweisen.
2.5. >Tat twam asic Dichtung als Ausdruck ekstatischer Einswerdung mit G o t t und Welt Bereits in den >Notizen zu einer systematischen Ästhetik< (1912), in denen Broch nach der »Beziehung zwischen dem Phänomen der Kunst . . . zu sakraler Anbetung« fragt (IX/2, 11), gerät Ästhetik als ausgezeichnete Form der Weltaneignung in den Blick, deren Ziel in mystischen Kategorien beschrieben wird: Sinn und Ziel aller Weltformung ist die absolute Ich-Erweiterung im Sinne der vollständigen erkennenden Aneignung gegebener Realitätsbestände, die als ekstatisch erlebte Einheit von Subjekt und Objekt verstanden wird und ihren Ausdruck in der mystischen Lehre der indischen Upanischaden als >tat twam asi< findet: der >Sinn< ist das tat twam asi, ist immer die große Einheit und Rückkehr >Welt ist Gott und Welt ist Ich< (IX/2, 12/13).
Man hat bisher angenommen, daß Brochs Kenntnis der brahmanischen Mystik keine unmittelbare war, sondern über die Lektüre Schopenhauers vermittelt wurde, dessen Einfluß auf Brochs frühe Ästhetik in den >Notizen< deutliche Spuren hinterlassen hat.50 Tatsächlich war Schopenhauer einer der ersten europäischen Philosophen, die auf die indische Upanischadenmystik 48
Dowden, 1986, S. 29. Man vergleiche etwa die Symbole der Äonsschlange in der >Verzauberung< (III) und dem >Vergil< (IV), des Kristalls in III, IV und V (>Die Schuldlosem) oder des Dreiecks in V . ' " V g l . dazu M. Durzak, Hermann Broch. Der Dichter und seine Zeit, Stuttgart/ Berlin/Köln/Mainz 1968, S. 24—34.
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aufmerksam wurden.' 1 Jedoch zeugt der Bestand von Brochs Wiener Bibliothek von dessen durchaus unmittelbarer Auseinandersetzung mit fernöstlicher Mystik, die jedoch möglicherweise durch die Lektüre Schopenhauers angeregt worden ist.' 2 Das bei Broch wie Schopenhauer thematisierte Leiden des Ich an der Welt, deren fremdartige Verfaßtheit der Wille als Widerstand gegen die Entfaltung seines Wesens und als Seinsverlust erfahrt, wird als Indiz für eine dem Bewußtsein nach wie vor präsente Zusammengehörigkeit mit dem Verlorenen, der Einheit mit dem Göttlichen gedeutet. Im Anschluß an die höchst eigenwillige Schopenhauersche Parallelisierung von Piatons >Idee< und Kants >Ding an sichGleichgewicht< i s t , " in dem alles Widerständige in der Erkenntnis des Ich aufgehoben ist. Die auf diese Weise vollzogene Anverwandlung des Gegebenen gipfelt im Idealfall in der ekstatisch erlebten, umfassenden Wesensentfaltung des Ich, das sich solcherart zugleich als im Zustand maximaler Autonomie befindlich erfahrt. Während Schopenhauers Konzeption die Herstellung von Totalität mit einem umfassenden Verlust an Subjektivität erkauft, wählt Broch damit eine Variante mystischen Subjektverständnisses, die den Vorgang umkehrt und zugleich eine entscheidende Differenz zwischen christlichem und neuplatonischem Denken wie auch der Sankara-Mystik darstellt: Das Ich gewinnt im Zustand
" Ebd. 16 Ebd., 61. 17 Ebd. " Vgl. I X / 2 , S. 3 1 / 3 2 , Anm. 5 und 6. " Broch stipuliert, daß auf dem Bedürfnis nach Gleichgewicht »die ganze Denk- und Urteilsfähigkeit menschlichen Denkens aufgebaut ist, daß sich hier . . . die Grundlage des Ichs manifestiert: alle Wahrheit verifiziert sich in Gleichgewicht v o n Ursache und Wirkung, — alle mathematische Richtigkeit ist Gleichgewicht und alle Naturgesetze beweisen sich so; . . ., — alle Schönheit bewahrheitet Gleichgewicht. . . .: der Satz des Gleichgewichts, Auslösung der Ekstase« (IX/2, 14).
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der Ekstase selbst göttliche Potenz, steigert sein Wesen zu höchster Reinheit. 60 Der Sinn der neuplatonischen Emanationslehre ist es, die Entstehung allen Seins als notwendigen Hervorgang jeder Seinsstufe aus der ihr jeweils vorhergehenden und übergeordneten geistig nachvollziehbar zu machen, und zwar »in einer vom rationalen Definieren zum meditierenden Nacherleben der ersten Hervorgänge übergleitenden Weise«,6' in der sich letztlich die genuine Wesensidentität von reinem Geist und menschlicher Intelligenz erweist. Aufgrund ihrer dogmatischen Auffassung, die ganze Welt sei in gleicher Weise die Schöpfung eines Schöpfergottes, der allem Sein »im wesentlichen . . . gleich nah und gleich weit« entfernt sei,62 muß die orthodoxchristliche Lehre und noch die christliche Mystik diesen Ansatz als Häresie verwerfen. Sie stellt dem erkennenden Aufstieg v o m Sinnlichen zum Geistigen noch in der neuplatonisch infiltrierten Lehre des Augustinus einen affektiven Weg zur Einung mit Gott gegenüber. Die unio ist hier letztlich das Ergebnis der Gnade als Konsequenz der liebenden Ausrichtung auf Gott. 6 ' Freilich bleibt zu fragen, ob es sich dabei nicht lediglich um eine Umkehrung der Perspektive auf ein und denselben Vorgang handelt, den das Subjekt allein um den Preis des >Entwerdens< erreichen kann. 64 (Diese meint aber, recht verstanden, ein Aufgeben von Individualität, die nicht zu verwechseln ist mit der Preisgabe von Subjektivität; die diesbezüglichen Implikationen mystischen Entwerdens beschreibt Abschnitt 8.4.) Broch selbst 6
° M. Werner, 1989, S. 1 1 , weist diese Nuance auch den antiken Mysterienreligionen zu. Demnach bedeutet das Einweihungsmysterium »die Vereinigung mit der Gottheit, und damit eben eine Vergottung des Geweihten.« 6] Ivänka, 1964, S. 256/7. 62 Ebd., S. 259. Ebd., S. 3 1 2 / 1 3 . 64 Wagner-Egelhaaf, 1989, S. 9, macht deutlich, daß der emanzipatorische Effekt, den mystisches Denken unter Hinweis auf die Befreiung des Gotterlebens von vorgegebenen theologischen Dogmen gerne für sich in Anspruch nimmt, ein nur scheinbarer ist: »Das Spezifikum der Mystik liegt in der persönlichen Gotteserfahrung des Subjekts; insofern kann man von einer Individualisierung religiösen Erlebens sprechen. A u f der anderen Seite muß das Subjekt aber alle >eigenschaftsynthetischanalytischEbenbildlichkeit< erkennt, wird es zugleich auf deren Verwirklichung durch wertsetzende Formung der Realität und damit auf eine neue Totalität zuarbeiten. Im Wissen um die Teilhabe der Geistseele am Göttlichen gewinnt Dichtung mystisch-prophetische Potenz und weist auf die Etablierung einer künftigen neuen Kosmogonie voraus.
2.6. Dichtung als Prophetie Mit Bezug auf den >Vergil< heißt es bei Broch einmal: W e n n das K u n s t w e r k das >NeueDunkelheitMalte< erscheint D i c h t u n g als E r g e b n i s göttlicher Inspiration, w i e zuletzt W a g n e r - E g e l h a a f , 1989, S. 6 2 - 1 0 7 gezeigt hat.
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W . S o m m , H e r m a n n Broch. Geist, Prophetie und M y s t i k , F r e i b u r g / S c h w e i z 1 9 6 5 , S . 86.
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F o r m der nach innen gewandten Schau erfahrbar wird, der kein sinnlich wahrnehmbares Objekt entspricht. Bei Broch w i r d dieses Moment immer wieder im paradoxen M o t i v des >blinden Sehens< thematisch. 7 ' S o m m hat gezeigt, daß diese Konzeption des >Seher-Propheten< ihre Vorbilder s o w o h l in der griechischen Dichtung als auch in der jüdischen Uberlieferung hat. E r weist auf die sophokleische Gestalt des blinden Sehers Teiresias oder die des blinden Propheten Achias aus Silo hin. Im Judentum des Alten Testaments findet sich ebenso eine Vielzahl blinder Seher-Propheten. 7 2 — D a s Ausblenden der äußeren Realität, das mit dieser A r t v o n Erkenntnis zugleich gegeben ist, ist freilich bei B r o c h nur ein vorläufiges, das im Hinblick auf den polyhistorischen R o m a n in der Zusammenschau mit dem G e g e b e nen aufgehoben ist, wie noch gezeigt wird. Hier greift Somms Interpretation entschieden zu kurz, indem sie Brochs Mystik-Verständnis ganz gegen dessen eigentliche Intention quietistisch interpretiert. Im Hinblick auf den jüdischen Chassidismus hat Martin Buber, mit dessen und anderen Arbeiten zum Judentum sich Broch — wie Brude-Firnau zeigen konnte — bereits seit ca. 1 9 1 0 auseinandergesetzt hat, 7 ' die Bedeutung der Prophetie als Konfrontation mit der Alternativik der Entscheidung hervorgehoben. 7 4 >Wahrsagen< in diesem Sinne meint dem Menschen die Wahrheit sagen über sich selbst und seine Wesensverfaßtheit, 7 ' ihm die M ö g l i c h keit des Wählens 7 6 v o r A u g e n zu fuhren zwischen der Verfallenheit an seine " Z. B. in I V , 190; V , 87 und 258; I X / 2 , 226; X / i , 298. •"Vgl. Somm, 1965, S. 93, der als Beispiele Elias ( K g 17, 18), Samuel (1 S m 9, 6) oder Arnos nennt. " G. Brude-Firnau, Der Einfluß jüdischen Denkens im Werk Hermann Brochs, in: Thieberger (Hg.), 1980, S. 108—121, dort 110: »Das Verzeichnis dieser Sammlung (Vf. bezieht sich auf das Broch-Archiv in Y U L , A . G.) dokumentiert eine zwischen 1 9 1 0 und 1920 einsetzende Beschäftigung mit jüdischen Fragen. Die relevanten Neuerscheinungen des deutschsprachigen Judentums dieser Jahre sind vertreten: Bubers chassidische Schriften, mehrere Darstellungen der Geschichte des jüdischen Volkes . . . A n altjüdischen Texten: eine >Biblia hebraica< von 1828, eine Ubersetzung des >Talmud< und eine des >Maimonides< von 1924. Auffallend vollständig finden sich die Werke Hermann Cohens, vor allem die späten Veröffentlichungen zum Judentum . . . Es sind über fünfundzwanzig Bände zum Judentum, die mit Umsicht ausgewählt und - wie ein Brief v o n 1946 beweist (27.04. 46, vgl. X I I I / 3 , 98/99; A . G.) — auch gelesen wurden. Und in einem . . . Brieftagebuch ( X I I I / 1 , 47, A . G.) findet sich am 30. August 1920 die Eintragung: >Chassidim gelesen, Bibel etc. allerdings mit ZweckVor dreißig Jahren begann ich Hebräisch zu lernen, um Kabbala >lernen< zu können. Ein bissi ist es gegangen, und sogar in den Sohar habe ich schon hineingeschaut.« 74
Vgl. M. Buber, Werke II, 1964, S. 932. Vgl. auch E . Fascher, Prophitis. Eine sprach- und religionsgeschichtliche Untersuchung, Gießen 1927, S. 6; Fascher weist daraufhin, daß die Vorsilbe pro- nicht vorher-, sondern heraus(sagen) meint. 76 Vgl. M. Buber, Werke III, 1963, S. 12: »Reich der Wahl (bedeutet) . . . dem Chassidismus alles.«
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Leiblichkeit und mithin den Determinismus, dessen unabweisliche Konsequenz die Apokalypse ist, und der Besinnung auf seine Fähigkeit zu sittlichem und bewußtem Handeln, das A u t o n o m i e voraussetzt und die Beeinflussung historischer Verläufe involviert. 7 7 W o B r o c h auf den ethischen Charakter der Dichtung insistiert, ihre K r a f t zur Läuterung des Individuums beschwört, die das Eckhartsche »Fünklein im Seelengrunde« (I, 7 1 5 ; V , 328) in ihm wiederanfachen und ihm »das ahnende Wissen um die Zeitlosigkeit seines Ichs« ( I X / 2 , 202) v o r A u g e n fuhren soll, liegt ganz offenbar ein demjenigen Bubers konvergenter Prophetiebegriff zugrunde, den noch 1943 verfaßte Passagen der >Massenwahntheorie< nicht nur explizit bestätigen, sondern zum Differenzierungsmerkmal zwischen echter und falscher Prophetie erklären: Denn der falsche Prophet (ist) keineswegs weniger scharfsichtig als der echte, . . . nur daß er, im Gegensatz zum echten, die Akzeptationshaltungen seines Dahindämmerns sogar auf das Apokalyptische selber ausdehnt und es bejaht, indem er die Vernichtungskräfte nicht nur herbeiwünscht, . . . sondern ihnen . . . einen Selbstsinn . . . zu unterlegen trachtet: . . . Demgegenüber hebt sich die echte Prophetie und mit ihr die echte Dichtung . . . aufs schärfste ab; . . . (sie ist) stets ethisch ausgerichtet, da sie kraft ihrer Weisheitsgrundlage das Abänderliche vom Unabänderlichen zu sondern imstande ist und auf diese Sonderung strenge besteht: das Apokalyptische ist ihr nicht unabänderliches Faktum des Menschengeschlechtes, sondern eine . . . vermeidbare Strafe, die allerdings unvermeidbar wird, wenn der Mensch in seinem . . . Erkenntnisabfall zu verharren gedenkt. Und eben hier setzt die Aufgabe aller großen Prophetie an . . .; sie fühlt sich beauftragt, den dahindämmernden Menschen aus dem Abfall zu erretten und ihn zur Erkenntnis . . . zurückzufuhren. Eine sehr nahe Beziehung zur Erkenntnis und damit zum Prometheischen hin wird hiedurch von der Prophetie aufgeschlossen . . . (XII, 164/5). Z u g l e i c h gewinnen dichterische A u s s a g e n eine gewisse prophetische K r a f t im Sinne des historischen Vorausblicks. D e n n das Brennglas »unabänderlicher Seinsverfaßtheit des Menschen« 7 8 erlaubt historisch orientierter Dichtung einen Blick auf die Geschichte, der zur »Simultanschau v o n Vergangenheit und Z u k u n f t « wird ( X / i , 298) und so ihr amorphes Erscheinungsbild in historische Phasen einteilbar macht, die sich nach dem G r a d ihrer Realisierung des Teilhabekonzepts und ihrer Transzendenzbezogenheit un-
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Vgl. ders., Werke II, 1964, S. 927-933, bes. S. 933: »Die Prophetie hat auf ihre Art ausgesprochen, daß das Sonderwesen Mensch zu einem Uberraschungszentrum der Schöpfung erschaffen ist. Weil und solange es den Menschen gibt, kann von der Welt aus in jeder noch so späten Stunde, wie zum Unheil so zum Heil, faktische Wendung geschehen.« Vgl. auch Brinkmann, 1987, S. 230: »Hinter einem Denken, das sich besonders historisch gibt, scheint eine allgemeine Anthropologie zu stecken, die in ihrer prinzipiellen und normativen Geltung nicht von historischen Bedingungen abhängig ist.«
terscheiden. Historie wird zum Ort der Durchdringung von profanem Weltgeschehen und mystischer Selbstbegründung von realitätsstiftender Subjektivität, zum >mystisch-mythischen Einheitsraum< (IX/2, 206), dessen Erschließung und Mitteilbarkeit die Dichtung allein der Versenkung des Ich in sich selbst verdankt: Nur traumhaft, in tiefst traumverschatteter Dunkelheit und höchst traumdurchleuchteter Helle . . ., vermag die Seele diesen Seinsraum, der doch ihr eigener ist, zu erschließen, und selbst dann wird sie kaum weiter als bis in seinen Vorhof gelangen; nur . . . in lyrischer Traumeskunde sagt es sich in ihr aus, doch w o solch dichterische Aussage gelingt, verschattet und präzise wie der Traum selber . . ., da weiß die Dichtung sich mit der Seele eins, und sie beide wissen, daß sie ins Gebiet der Prophetie eingedrungen sind, in ein echtes Traumwissen, das sich über Vergangenheit und Zukunft hingelagert hat und das zwiefache Einst unendlich zu immerwährender Gegenwart vereinigt (IX/2, 206).
Prophetische Dichtung entsteht als »Erinnern an ein Vor-Erlebtes, . . . dessen Ursprung . . . sich unzweideutig als eine metaphysische Präexistenz des Menschen kundtut« ( I X / i , 302; vgl. auch I X / 2 , 207). 79 E s kann danach nicht verwundern, daß Broch die Vereinigung des Dichterischen und des Religiösen, »dieser beiden so nah verwandten Kategorien«, am ehesten im Mystischen gelingen sieht, wie es in dem 1933 verfaßten Essay >Neue religiöse Dichtung?< (IX/2, 53) heißt. Das prophetische Moment wird dabei bewußt als inhaltlich offener Ausblick jenseits einer bestimmten Theologie verstanden: Das >Göttliche< ist soweit absoluter Wert als es Form ist, Form des mystischen Erlebens. Seine Realisationen dagegen, . . . in Formen von . . . Werthaltungen, sind relativ . . ., d. h. sie können und müssen absterben (I, 726).
Brochs auf diese Weise formulierter Agnostizismus begründet sich einerseits aus seiner Distanz zu aller Dogmatik, in die jedes geschlossene System< mündet und als deren Konsequenz er dessen notwendige Selbstauflösung erkennt. Demzufolge muß ihm die konkrete Antizipation einer künftigen neuen Religiosität als unstatthaft erscheinen; - eine dem mystischen Denken eigene Auffassung, das für sich in Anspruch nimmt, »gegen restlose dogmatische Erstarrung und Rationalisierung des Gottesbegriffs . . . die Bedeutung des Geheimnisses« zu wahren. 80 Brochs Ausrichtung auf ein radikal Transzendentes reflektiert zugleich die negative metaphysische Erfahrung der zeitgenössischen Gegenwart. Der Verweis auf positiv definierte Glaubenspositionen erscheint ihm im Zeitalter des >noch nicht und nicht mehr< als unstatthafter spekulativer Vorgriff auf die Gestalt des kommenden Gottes und bewegt sich damit im Kontext der zeitgenössischen Aktualisierung 79 80
Vgl. auch Somm, 1965, S. 104, der zu ähnlichen Ergebnissen kommt. Edgar Hederer, Mystik und Lyrik, München und Berlin 1941, S. 249.
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gnostischer Lehren. Das vorhandene metaphysische Bedürfnis kann sich allein auf einen gegenwärtig »unerreichbaren Gott< richten. 8 ' Dichtung im Sinne Brochs erprobt damit die Erschließung einer Realität, die ihren eigenen Verstellungstendenzen abgerungen werden muß. Sein Denken richtet sich zugleich auf einen absoluten Bezugspunkt aus, dessen enigmatische Uneinholbarkeit geeignet ist, eine weltzugewandte Ethik zu begründen, die sich mit keinem erreichten und erreichbaren Realisat begnügt, sondern immer wieder über die bereits vollzogene Weltformung hinaus will. E s ist deutlich geworden, daß sich angesichts des Verlusts aller Sinnimmanenz innerhalb der empirisch erfahrbaren Wirklichkeit die Restitution ganzheitlicher, sinnstiftender Werthaltungen nur im Rückzug auf den innersten Kern des Ich vollziehen kann, den Broch als die letzte und unverlierbare Bastion metaphysischer Seinsgewißheit begreift, denn »der Seele und nur der Seele ist von Anbeginn an die Ahnung um das Absolute« verliehen ( X I I I / i , 451). 82 Die Antizipation einer neuen Totalität ist so rückverwiesen auf eine Form radikal subjektiven und als transrational verstandenen, letztlich intuitiven Wissens um die transzendente Basis des Ich in seiner realitätsstiftenden Funktion und rekurriert damit auf eine Konzeption des Selbst, die die abendländische Mystik ihrerseits aus der neuplatonischen Denktradition übernimmt. Der Gedanke der Rückwendung des Subjekts auf seinen eigenen Kern und seinen göttlichen Grund, in dem die Selbsterkenntnis mit der Erkenntnis Gottes vermittelt ist, die Vorstellung des »Rückgang(s) in sich selbst als Aufstieg mit der Tendenz zum Selbstüberstieg«, findet sich schon bei Augustinus und gehört zu den grundlegenden philosophisch-theologischen Denkvoraussetzungen der Mystik. 8 ' E s überrascht nicht, daß Brochs solcherart als genuin mystisch kenntlich werdendes Erkenntnisinteresse die ihm angemessene Ausdrucksform in der Dichtung sieht, ist ihm diese doch die adäquateste Ausdrucksform radikaler Subjektivität: Noch 1951 beschreibt Broch im Rückblick auf sein Werk seine ursprüngliche Auffassung, 81
S o der Titel eines Aufsatzes über Brochs theologische Position von Thomas Koebner in: P. M. Lützeler/M. Kessler (Hg.), Brochs theoretisches Werk, Ffm. 1988, S. 159—191, der Brochs Verständnis von der radikalen Transzendenz Gottes ganz richtig erkennt, ohne es aber im Kontext mystisch-gnostischer Religiosität auf seine Konsequenzen hin zu überprüfen. 8! Vgl. auch X I I I / i , 31: »das Gott-Erkennen (ist) . . . eine Angelegenheit der stets brückenlosen und immer ohne Hilfe bleiben müssenden Person . . .« ' ' Vgl. Werner Beierwaltes in seiner Einführung zum 2. Tag des Symposions über »Abendländische Mystik im Mittelalter im Kloster Engelberg 1984, in: Kurt Ruh (Hg.), 1986, S. 116—124, dort S. 1 2 1 ; vgl. ähnlich auch E . Hederer, Mystik und Lyrik, München/Berlin 1941, S. 250: Mystik wirbt »für die >Ahnung< und den >Geist v o n Innern, . . . für den inneren Sinn . . . aus eigenstem apriorischen Gefühl und Gewissen und nicht aus bloßem äußeren Belehrtsein.«
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daß Philosophie, welche die metaphysische Grenze zu überschreiten trachtet — sie tut das bereits überall dort, wo sie sich mit ethischen und ästhetischen Problemen beschäftigt —, nur dann haltbar ist, wenn sie auf einem theologischen Dogmengebäude fußt; eine säkularisierte Philosophie gibt es nicht, d. h., sie bleibt im Rahmen der subjektiven Meinung befangen, und so wollte ich eben diese Erkenntnis radikal zu Ende fuhren, indem ich das Subjektive, also das Dichterische zur Instanz gemacht habe und ihm die philosophische Überlegung unterzuordnen trachtete. Das scheint mir auch heute noch eine durchaus legitime Überlegung (XIII/3, 5J 2 )-* 4 Freilich vermitteln nicht alle Formen v o n Dichtung die mystisch-subjektive Antizipation eines zukünftigen Reiches der Freiheit in gleicher Weise mit der objektiv gegebenen Realität. Diese Uberzeugung bildet die Grundlage für eine A r t Gattungspoetik Brochs, die letztlich doch mehr ist als eine solche.
2.7. Lyrik als Integral eines an Mystik orientierten Dichtungskonzepts D i e Korrelation v o n Dichtung und Mystik betrifft bei Broch wie in der zeitgenössischen Literatur insbesondere die Lyrik. 8 ' D e r lyrischen Sagensweise, der die größten Möglichkeiten des Abweichens v o n herkömmlichen begrifflich-kausalen Begründungs- und Aufweisungsverfahren, des unmittelbaren und trotzdem die Hermetik ihres enigmatischen Gegenstandes wahrenden Sprechens zugerechnet werden, spricht man im fraglichen Zusammenhang eine besondere Bedeutung zu, — nicht zuletzt deshalb, weil gerade in ihr der Darstellungsmodus den Darstellungsgehalt in umfassender Weise präfiguriert und der erlösenden K r a f t der Form damit die denkbar größten Chancen zum Ausdruck einer reinen, v o n keiner Dinglichkeit v e r stellten Subjektivität zugeschrieben werden können. A u f g r u n d ihrer klanglichen und kompositorischen Variationsfähigkeit läßt Lyrik jenen medialen Charakter der Sprache in den V o r d e r g r u n d treten, der sie zum Träger einer
Der Subjektivität, die dichterischer Erkenntnis damit zugesprochen wird, weist Broch freilich im Kontext des Gesamtwerks gerade nicht jenen bloß relativen Charakter zu, den das Zitat evoziert. Im Gegenteil werden die intuitive Erkenntnis des je Einzelnen und deren praktische Konsequenzen, die aus dem Individuum allererst ein Subjekt machen, gerade zur Basis der Neubegründung von Totalität. Der einschränkende Charakter, der das Zitat prägt, erklärt sich wohl aus jenen Zweifeln, die Broch später am Wert seiner Dichtung und am Sinn von Literatur überfielen. *' So z. B. in der schon erwähnten Arbeit Henri Bremonds über >Mystik und Poesie< oder in Edgar Hederers Buch >Mystik und LyrikAusdruck des Zwischenraumes^ und von diesem wird die eigentliche Einheit hergestellt, in ihm lösen sich die scheinbar unauflöslichen Gegensätze, in ihm wird das Gedicht zur Wahrheit und zur Erkenntnis (IV, 474). Indem der lyrischen Syntax mehr als jeder anderen Sprachform der irreversible Bezug auf eidetische Bestände des Geistes unterstellt wird, kann sie zugleich als ausgezeichnete Instanz zur Vermittlung und gegenseitigen Bändigung v o n Rationalität und Irrationalität reklamiert werden, deren - scheinbare - Gegensätzlichkeit sich eben in der tieferen seelischen Realität auflöst . . . Das Lyrische und nur das Lyrische vermag diese Einheit . . . herzustellen (ebd.). Versteht B r o c h L y r i k mithin schon in dieser Hinsicht »stets (als) ein D i f ferential des Totalen« ( X I I I / 2 , 340), so gilt das noch vielmehr im Hinblick auf ihren Gegenstand: Lyrik ist visionäre Schau des dem rationalen Bewußtsein verborgenen, ewigen Seinszusammenhanges und damit Vergegenwärtigung der metaphysischen Substanz des Menschen: im Lyrischen ist das Erwachen der Seele verborgen, der mystische Weckruf, von dem die Seele den Befehl empfängt, die Augen zu öffnen, um . . . den Zusammenhang des Seins zu schauen, zeitlos (IX/2, 205)." Angesichts der Verortung dieser Erkenntnisform in der Psyche des Ich eignet lyrischen A u s s a g e n der Charakter extremer Subjektivität und Konfessionalität.® 7 Zugleich wird deutlich, daß Brochs emphatisches Lyrik-Verständnis nicht auf die Gattung des Gedichts reduzierbar ist: " V g l . auch IX/2, 204 oder I X / 2 , 136: »das Wertziel des Dichterischen, die kosmische Unendlichkeit, erfüllt sich in der einzigen Realitätsvokabel eines lyrischen Gedichtes.« *' Daß Brochs so geartetes Lyrikverständnis ein durchaus zeittypisches ist, bezeugen die Diagnosen C. Heselhaus' in seiner Untersuchung über die >Deutsche Lyrik der Moderne. Von Nietzsche bis Y v a n Göll, 2. A u f l . , Düsseldorf 1962, vgl. z. B. S. 15: »Die Entdeckung einer prälogischen oder transrationalen Sphäre scheint das eigentliche Ziel der modernen Lyrik zu sein.« Heselhaus nimmt darüberhinaus in ihr einen » Z u g zur Entdeckung menschenjenseitiger Räume« wahr (ebd.). Unter der von ihm beobachteten Rückkehr zur »Bildlichkeit der Sprache« innerhalb moderner Lyrik versteht V f . »nicht nur Symbolik und Metaphorik im alten Sinn, sondern die neue Tendenz, an Stelle der logischen Aussage die bildhafte >analoge< Aussage zu setzen. Entsprechend werden die sprachlichen Formen für Bildlichkeit (Symbol, Metapher, Gleichnis) nicht nur vereinzelt auftreten, sondern den Charakter der Gedichte selbst ausmachen« (ebd., S. 27). 68
das Künstlerische ist immer lyrisch und enthält stets einen >Rest von Unverständlichem^ Das Künstlerische entspricht der Idee, das Urteil dem Wort. Daß das Künstlerische . . . also unendlich tiefer sein kann . . ., ist evident (XIII/i, 18). J e d o c h stellt das G e d i c h t aufgrund seiner formalen M ö g l i c h k e i t e n und Q u a litäten die prägnanteste F o r m lyrischen Sprechens dar, w e n n auch beide B e g r i f f e nicht s y n o n y m gebraucht w e r d e n können; vielmehr ist >Lyrik< bei B r o c h die Metapher für die E x p r e s s i o n transrationaler Erkenntnis schlechthin, die nur i m M e d i u m des Ä s t h e t i s c h e n m ö g l i c h scheint. 88 D i e v o r g ä n g i g e n B e s t i m m u n g e n erlauben damit eine E i n s c h ä t z u n g des L y r i s c h e n als des konzisesten A u s d r u c k s v o n B r o c h s an mystischem D e n ken orientierter D i c h t u n g s a u f f a s s u n g : In der entgötterten W i r k l i c h k e i t ist das Erleben auf subjektive M ö g l i c h k e i t e n ganzheitlich-sinnstiftender W i r k lichkeitsdeutung verwiesen, deren esoterischer A u s d r u c k - in A n l e h n u n g an L u k ä c s — die lyrisch-private S a g e n s w e i s e ist: »nur in der Lyrik w i r d das S u b j e k t . . . z u m alleinigen Träger des Sinnes, zur einzig w a h r e n W i r k l i c h keit«.' 9 Im mystischen R ü c k z u g a u f seinen innersten Wesensgrund
ver-
sichert sich das Ich seiner selbst u n d seines metaphysischen Seinsgrundes: »der lyrische Gehalt, der aller D i c h t u n g innewohnt«, ist »das letzte W i s s e n u m die menschliche Seele«, u m die Zeitlosigkeit des H u m a n e n ,
(IX/2,
194/5), das intuitiv erfahrene W i s s e n u m die »menschlich-göttliche() Phänomenalität« (ebd., 197), die im » D u r c h b r u c h aus d e m Realen ins Transreale« g e g e n w ä r t i g wird. 9 0 Diese E r f a h r u n g kann eine Versprachlichung ihres Wissens jenseits aller w e i t e r f ü h r e n d e n Geltungsansprüche i m R a h m e n des Empirischen nur in der F o r m der lyrisch-privaten K o n f e s s i o artikulieren. M i t B e z u g auf G o e t h e s D i c h t u n g heißt es in diesem Sinne bei B r o c h einmal, »bloß die L y r i k — aus sozialer Verbundenheit entlöst und auf das Ich beschränkt —« sei »reiner A u s d r u c k des religiösen Geistes« (IX/2, 56). I n ihr v e r b i n d e n sich E r k e n n t n i s und -Bekenntnis in einzigartiger Weise. L y r i k ist die A u s s a g e f o r m für die Erkenntnis der platonischen Idealität v o n S u b j e k t u n d O b j e k t , die Sprachform der Ekstase. 9 ' D e m entspricht ihre zeitliche E i n g r e n z u n g : Sie spiegelt die »Totalität eines A u g e n b l i c k s « (IX/2, 204), ist » A u s l o t u n g der anonymen Lebenssekunde« (ebd., 205). L y r i k erweist sich damit letztlich als künstlerische G e s t a l t u n g s f o r m paradoxer E r f a h r u n g e n : In ihr >überwintert< fern aller K o n t i n g e n z g e g e n w ä r t i g e r profaner Lebensverhältnisse die unantastbare subjektive G e w i ß h e i t u m Vgl. auch M. Durzak, H. Brochs Auffassung des Lyrischen, in: PMLA 82/2, 1967, S. 206-216, dort S. 206. 89 Lukäcs, 1979, S. 54. 90 So E. Kahler in seiner Einleitung zu Brochs Gedichten (Hermann Broch, Gesammelte Werke, Bd. I, Zürich 1955, hrsg. und eingel. v. E. Kahler, S. 40); die These wird zustimmend zitiert bei (und nach) Durzak, 1967, S. 213. Vgl. ebd., S. 215. 88
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die Möglichkeit zukünftiger Erlösung aus disparater Existenz zu einer dem wahren Wesen des Menschen entsprechenden religiösen Seinsweise. Als Form aber bezeugt Lyrik gerade die gegenwärtige Abwesenheit einer solchen Sinntransparenz. 92 Ihre Existenz ist Ausdruck der Sehnsucht und Spannung auf das Unverfiiigbare. Von hier aus bestimmt Broch die Aufgabe einer im Mystischen verankerten Lyrik: . . . die gläubige Haltung, die das Urwesen des Lyrischen und des wahrhaft Dichterischen ist, hat ihm stets die Mission auferlegt, dem Glauben vorauszueilen. . . . Gestaltung der Welt v o m lyrischen und mystischen Urgrund her. Streben in dieser . . . religiösen Richtung, ist die sittliche und humane Aufgabe des Dichterischen, ist seine Mithilfe am religiösen Willen der Zeit und damit seine sittliche Wirkungsmöglichkeit in der Zeit, . . . (IX/2, 57).
Angesichts der exponierten Position, die Broch dem lyrischen Sprechen als dichterischer Ausdrucksform mystischer Erkenntnis zuweist, sei im Vorgriff auf die weitere Untersuchung schon hier ein kritischer Blick auf seine eigene Lyrik erlaubt. Deren emphatischer Erkenntnisanspruch steht - zumindest w o Broch sich der formalen Möglichkeiten des Lyrischen nicht im metaphorischen, sondern im wörtlichen Sinne bedient — in einem um so krasseren Mißverhältnis zu seinen Realisaten, als sich die »neue Erkenntnis«, die ihr aufgetragen ist und die »nur durch neue Form geschöpft werden« kann ( X I I I / i , 223), auf ausgesprochen epigonale Weise Bahn bricht und sich oft genug in ein ästhetisch defizitäres Pathos versteigt, das eher peinlich anmutet. Ein - beliebig austauschbares — Beispiel dafür bietet die folgende Passage aus der >StimmenSchuldlosenStimmenSchuldlosen< leicht zeigen, daß dieselbe in Inhalt und Methode nichts anderes als ein Kondensat aus Brochs essayistischen Schriften darstellt und in ihrem Argumentationscharakter durchaus rational verfahrt, da sie in gedrängter Form erkenntnistheoretische und geschichtsphilosophische Erwägungen nachzeichnet, die Broch explizit und auf überzeugendere Weise ausgeführt hat; seine Lyrik erweist sich mithin als durchaus in einen rationalen Diskurs transformierbare. Das Irrationale dieser ästhetischen Form bildet nicht ihren Aussagemodus, sondern ihren Gegenstand, der auch in den Essays immer ein letztlich apodiktischer bleibt, welcher den Bereich subjektiv-religiöser Konfessio nirgends wirklich verläßt, wie zu zeigen sein wird. Unabhängig davon bleibt der Frage nachzugehen, ob Broch in seinen Romanen nicht immer wieder der Durchbruch zu einer Form lyrischen Sprechens im schon bezeichneten metaphorischen Sinne gelingt, die den fraglichen transrationalen Erkenntnisanspruch einlöst (vgl. Abschnitt n ) . In einem ganz anderen Sinne als dem eben dargelegten weist Broch selbst auf die Grenzen der lyrischen Ausdrucksform und mit ihr auf die bedingte Relevanz der mystischen Erkenntnisform hin, wenn er erklärt: . . . das Gläubige allein, das Mystische und Metaphysische, ist noch nicht das Religiöse. Das Religiöse reicht über das Gläubige hinaus, es entsteht erst in der Welt, wenn ein logisches Gebäude errichtet ist, unter dessen Dach alle erkenntnismäßigen und . . . seelischen Strebungen des Menschen ihren wohlgeordneten Platz finden (IX/2, 53/54).
Der Rückzug des Ich auf mystische Transzendenzerfahrung und ihren »unausweichlich esoterischen« lyrischen Ausdruck ( I X / i , 3 1 1 ) ist zwar die notwendige Konsequenz aus dem Zerfall extensiver Totalität, Produkt eines Prozesses, dessen »letzte Spaltungseinheit das Ich« ist. Diesen gilt es aber in Dichtungsformen einzuholen, die die historischen Bedingungen dieses Prozesses durchsichtig machen und so die antizipatorische Kraft der Dichtung rechtfertigen, weil ihre Form der Wirklichkeitsspiegelung auf real gegebene Veränderungsmöglichkeiten hinweist. In diesem Sinne hat Durzak nur bedingt recht, wenn er die Lyrik im Sinne Brochs für die »adäquate() Kunst der Gegenwart« 94 hält, zugleich ist aber ihr - und damit auch der Mystik Status als Surrogat festzuhalten: Ich sage also nicht, daß die Lyrik die Kunst der Zukunft sein wird. Sie ist bloß ihr legitimer . . . Vorläufer (uv., zit. nach Durzak ebd.).
Mystik und Lyrik sind Ausgangspunkt und Weg, nicht Ziel der Suche nach Totalität.
54
Durzak, 1967, 210.
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In der Konstruktionsform des polyhistorischen Romans relativiert sich die dichterische Bedeutung der Lyrik, die nunmehr Teil einer Zusammenschau von innerer und äußerer Realität, Rationalität, Irrationalität und Transrationalität wird. Lyrik hat in diesem Strukturgefüge ihren Platz, aber sie bestimmt es nicht. Das Konzept des polyhistorischen Romans differiert jedoch seinerseits deutlich v o m Mythos als der von Broch als symbolische Ausdrucksform lebensimmanenter Totalität und Erlösung verstandenen, letzterfüllten Form von Dichtung, die zunächst kurz dargestellt werden soll:
2.8. Mythos als Utopie Brochs Totalitätsforderung an die Kunst gewinnt im Begriff des Mythischen ihren prägnantesten Ausdruck: Mythos . . . — und gar in seiner letzt-hintergründigen Einheit mit dem Logos — umfaßt die Totalität der menschlichen Wesenheit und muß daher zu deren Spiegelung und der Bewahrheitung nach Welttotalität verlangen, also nach einem Weltbild, das ebensowohl mythisch wie logisch-kausal eine so total umfassende Ordnung enthält, daß es kosmogonisch die >Schöpfung< darstellt, ja selber Schöpfung ist. Aller Mythos gipfelt in Kosmogonie (IX/2, 203).
Ist Lyrik subjektivster Ausdruck des Wissens um die ganzheitliche Verfaßtheit des Seins, so ist der Mythos seine Objektivation (IX/2, 195): Denn im Mythischen enthüllt sich der Menschenseele Grundbestand, . . . indem sie ihn im Geschehen der Welt . . . wiedererkennt und zur Aktion bringt (ebd., 202).
Das Verhältnis von Lyrik und Mythos zueinander entspricht demjenigen zwischen Gebet und Heiligengeschichte (ebd., 195). Deshalb gilt: . . . tief im Unbewußten aller Kunst . . . ruht der Wunsch nochmals Mythos werden zu dürfen, nochmals die Totalität des Universums darzustellen ( I X / i , 128).
E s scheint zunächst unverständlich, daß der utopische Charakter dieses Dichtungsverständnisses ausgerechnet in der Rückbesinnung auf die ursprünglichste Gestalt von Dichtung liegen soll, doch geht es Broch nicht einfach um die Regression in den archaischen Mythos, um dessen Uberlebtheit er sehr wohl weiß. Das zeigt sich nicht erst in dem aus entsprechender historischer Erfahrung gewonnenen Bewußtsein um die Gefahren einer unhistorischen Remythisierung, die den nazistischen >Mythos des zwanzigsten Jahrhunderts< hervorgebracht hat ( I X / i , 134), sondern bereits in der nur noch ironischen Bezugnahme auf tradierte Mythen in Brochs Romanen. Für 72
die >SchlafwandlerDie Schuldlosem, läßt sich derselbe Nachweis im Hinblick auf das Don-Juan-Thema fuhren. Worum es dem Autor geht, ist der Versuch, anthropologisch verstandene mythische Strukturen als poetisches Instrument für die Bewußtseinslage der eigenen Gegenwart fruchtbar zu machen, ihre Problematik und ihre Entwicklungsmöglichkeiten auf der Folie des Mythos transparent werden zu lassen und im Horizont eines ganzheitlichen, kosmogonischen Weltentwurfs als lösbar zu erweisen. In einer historischen Situation radikalen Verfalls liegt die funktionale Bedeutung des Mythos darin, daß er als anthropologisch verstandenes Ordnungsschema ein strukturiertes und sinnhaltiges Verstehen von Wirklichkeit und ihrer historischen Prozessualität wieder ermöglichen soll: . . . nur durch mythische Projizierung der Menschenseele und ihrer Struktur . . . läßt sich der anonyme Geschehensstrom in >Einheiten< . . . gliedern, . . . deren Wiederzusammenfassung das Gesamtbild der Geschichte sichtbar macht: . . . Es handelt sich also stets um ein projiziertes mythisches >Wertsubjekt< . . . (IX/2, 203/4).
Das doppelte Verhältnis des Mythos zur Historie ergibt sich aus Brochs zyklischer Geschichtsauffassung, die ihrerseits seine Restitution erst denkbar macht und selbst ein Element mythischer Zeitauffassung ist:' 6 Er wird als geschichtlicher verstanden, insofern er Denkmuster und Gehalte einer längst vergangenen, archaischen Kulturepoche umfaßt. In dieser Hinsicht würde seine Wiederbelebung bloße Regression bedeuten. Broch grenzt sich deshalb deutlich gegen Versuche Joyces und Th. Manns ab, deren Rückgriff auf tradierte Mythenstoffe ihm nicht gerechtfertigt erscheint: Dies aber ist eben bloß Rückkehr . . . zum Mythos in seinen alten Formen (selbst wenn diese so modernisiert werden wie bei Joyce) und stellt vorderhand noch keinen wirklich neuen Mythos dar, . . . (IX/2, 229).
In seiner Eigenschaft als universelles religiöses und anthropologisches Ordnungsprinzip versteht Broch den Mythos dagegen als ein statisches und überzeitlich gültiges Moment. Als solchem kommt ihm jene auf Uberlieferung angewiesene, traditionsbildende Funktion des »Generationengedächt" Vgl. dazu Lützelers Ausfuhrungen in: Lukäcs' >Theorie des Romans< und Brochs >SchlafwandlerDenkgewohnheit< befangen, der, wie Graevenitz gezeigt hat, noch Vertreter wie Foucault und Blumenberg erliegen. 97 In ihr werden nach platonischem Muster mythische Strukturen als Universalien der Menschennatur gedeutet und seit Augustinus in das neuplatonische Teilhabe-Konzept integriert, als dessen symbolisches Abbild sie verstanden werden. Daraus resultiert die Auffassung, der Mythos sei »dem anthropologischen Menschsein näher als die Sprache der Zivilisation«. Seine Erkenntnis eröffne nach wie vor eine »Form der spontanen Schau, w o unsere westeuropäischen Wissenschaften nur konventionalisierte Rationalität zu bieten vermögen«. Diese Auffassung beschreibt Graevenitz als »ein Stück Magie . . . der europäischen Geistesgeschichte«, für das er die hermetische Tradition in ihrer neuplatonischen Spielart zusammen mit den Resten alter hermeneutischer Modelle verantwortlich macht. Dieses liege der unverwüstlichen Auffassung von der Anagoge mythischen Denkens zugrunde, dem man zutraue, aus der Stumpfheit der Zivilisation in die gesteigerte Wahrnehmung ursprünglicher Menschennatur zu fuhren.' 8 Aus dieser Perspektive wird deudich, daß nicht nur Brochs Mystik-Verständnis, sondern auch sein erkenntnistheoretisches Modell des Mythos im unmittelbaren Zusammenhang mit seinem Rekurs auf mystische Denktraditionen des Neuplatonismus und ihrer Adaption in der Patristik steht, woraus sich eine partielle Verwischung der Begriffe Mystik und Mythos in seinem Sprachgebrauch erklärt, wie sie z. B. in der gelegentlichen Rede vom >Mythisch-Mystischen< begegnet." Wenn Scholem als Ziel aller Mystik die Wiedergewinnung eines neuen Mythos >zweiter Potenz< begreift, 1 0 0 so begründet sich darin zugleich Brochs instrumentalisierende Adaption mystischer Denktraditionen und ihre große Bedeutung für sein Denken. Ansätze zu einem solchen neuen Mythos erkennt Broch in Kafkas bewußt voraussetzungsloser Dichtung, deren überpersönliche Atmosphäre und abstrakte Prophetie er rühmt (ebd., 229/230). Kafkas Mythos ist ein »Gegen-Mythos« ( I X / i , 315). Seine Dichtung ist »Symbolisierung der Hilflosigkeit an sich« (ebd.). In der in ihr thematisierten Abwesenheit von Totalität und Sinn aber liegt gerade eine gnostisch-mystische Art von Totali97
Gerhart v. Graevenitz, Mythos. Z u r Geschichte einer Denkgewohnheit, Stuttgart 1987, S. X I X . 98 Ebd., S. 1. " Z . B. in I X / 2 , 206. Vgl. Abschnitt 1 . 1 .
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tätsstiftung und Sinngebung, denn Broch nimmt hinter ihr eine »ahnende() Erfassung einer neuen K o s m o g o n i e , der . . . neuen Theogonie« ( I X / 2 , 2 3 1 ) wahr, - die K a f k a geradezu postum zu einem mystisch anmutenden Schweigen zwingt: »und folgerichtig ordnete er letztwillig die Vernichtung seines Werkes an« (ebd.). , c l Vergleichbares gilt auch für Brochs Einschätzung v o n Tolstois B e m ü hungen um einen neuen Mythos, der auf der Grundlage eines »mystische(n) Protestantismus« entsteht, »um schließlich in einem notwendig auch gegen sich selbst gekehrten Bildersturm zu endigen« ( X / i , 229/30). Ahnlich wie bei T h o m a s M a n n und diversen anderen Vertretern der literarischen Moderne wird der M y t h o s in seiner vermeintlichen Essentialität mit dem Hinweis auf seine elementare humanisierende Potenz gerettet ( I X / i , 1 3 4 ) . 1 0 2 Ä h n l i c h auch wie bei M a n n 1 0 ' wird bei B r o c h die behauptete mythische Einheit v o n Rationalität und Irrationalität über die Psychologie, d. h. über Freuds Psychoanalyse 1 0 4 und J u n g s Archetypenlehre begründet: . . . nirgends wohl ist der Jungsche Terminus vom >Archetypus< so angebracht wie im Hinblick auf Mythos und L o g o s , die gerade in ihrem Zusammenhalt — nichts anderes sind als die menschliche Wesenheit selber (IX/2, 202).'°' Indem sich die Dichtung diesen erkenntnistheoretischen Bestand dienstbar macht, gewinnt ihre mythische Dimension für Broch aufklärerischen Charakter. 106 D e r B e g r i f f des Mythischen meint so einerseits den utopischen
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Nicht umsonst bemüht Broch im Hinblick auf K a f k a und Tolstoi das schon aufgewiesene dreiphasige Erlösungsschema auch hier: »Vom Mythos kommend und rückkehrend zum Mythos: die gesamte . . . Geschichte der europäischen Literatur spannt sich zwischen Homer und Tolstoj« (IX/2, 212). " " V g l . Vollhardt, 1986, S. 261. ,0 > Ebd. 104 Vgl. z. B. die für unseren Untersuchungszusammenhang aufschlußreiche Parallelisierung der Begriffe im folgenden Zitat aus I X / i , 314, in dem von der »Totalität des Menschenbildes« die Rede ist, »dessen Vieldimensionalität sowohl das E s wie das Uber-Ich, sowohl das Magische und Mystische wie das Vollbewußte und Metaphysische umfaßt«. Brochs Rezeption der Psychoanalyse findet ihren Niederschlag vor allem in der >Massenwahntheorie< und in dem 1936 verfaßten Essay >Werttheoretische Bemerkungen zur Psychoanalyse< (X/2, 17 }ff.). Z u m Einfluß der Jungschen Archetypenlehre bei Broch vgl. schon A . J a f f é , H. Broch. Der Tod des Vergil. Ein Beitrag zum Problem der Individuation, in: Studien zur analytischen Psychologie C. G . Jungs, Festschrift zu seinem 80. Geburtstag, Bd. II, Zürich 1 9 ; ; , S. 288f.; und zuletzt K . Yamaguchi, Das Seelenproblem und der Mythos in H. Brochs >Tod des VergilDialektik der Aufklärung< (Ffm. 1969), so etwa auf den Gedanken, der Rückfall von Aufklärung in Mythologie sei in der in Furcht v o r
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Entwurf eines neuen Realitätsbewußtseins und zugleich die Entwicklung entsprechender Erzählformen.
2.9. Der polyhistorische Roman als die zeitgemäße Form der Dichtung Den beiden bisher dargestellten Formen von Brochs Dichtungskonzept eignet über die beschriebene Konvergenz hinaus eine weitere strukturelle Gemeinsamkeit: Sowohl der lyrische Ausdruck mystischer Sehnsucht als auch die utopische Ausrichtung auf einen neuen Mythos beziehen sich nur ex negativo auf die vorhandene Realität, ohne sich tatsächlich mit deren Erscheinungsbild zu konfrontieren, und müßten, würde Broch sich mit der Ausrichtung auf sie begnügen, als Zeugnis eines weitabgewandten Dichtungsverständnisses gelesen werden, das in der bloßen Kundgabe seiner Fremdheit gegenüber der Realität stecken bleibt, ohne diese darstellend zu analysieren und sich so rational mit ihr auseinanderzusetzen. In diesem Sinne wird Brochs Ausrichtung auf den Roman als Abkehr von der bloßen Utopie begreiflich. Die Perspektive des Romans, der die »Welt . . . so zu schildern (hat), wie sie ist« (IX/2, 96), überschreitet den Blickwinkel reiner Subjektivität wie denjenigen platonischer Idealität und läßt sich auf die empirische Erfahrung des Vorhandenen ein 107 in der Einsicht, daß Kunst ihre antizipatorische Mission, Vorschein einer besseren Welt zu sein, nur aufgrund der Erkenntnis des tatsächlich Gegebenen und seiner tätigen Veränderung erfüllen kann. Angesichts des Umstandes, daß »eine Welt ständig zunehmender Wertzersplitterung . . . >unabbildbar< wird« ( I X / 1 , 66), ihre disparate Verfaßtheit mithin auch erzählerisch nicht mehr geordnet werden kann, stellt sich Broch die Frage nach ihrer Darstellbarkeit im Rahmen des auf Totalitätserzeugung angelegten Kunstwerks. Will Dichtung einer zerfallenden Realität — wie surrogathaft auch immer — einen ganzheitlichen Charakter abgewinnen, muß sie polyhistorisch werden, d. h. alle Realitätsbereiche ihrer Zeit in ihre Darstellung mit einbeziehen, 108 mittels polypho-
der Wahrheit erstarrenden Aufklärung selbst zu suchen (ebd., S. 3), oder auf jene These, derzufolge schon der Mythos Aufklärung sei und Aufklärung dialektisch in Mythologie umschlage, wo ihre Logik eine bestimmte Grenze erreicht habe (ebd., S. 6). 107 In der Hinwendung zum Roman teilt Broch damit Lukäcs' entscheidenden Schritt über die gnostische Ästhetik Blochs hinaus, der »es nicht aushält, nur den Stand der Weltuhr abzulesen . ..«, Bolz, 1989, S. 32. 108 ». . .: wie jede Kunst hat auch der Roman eine Welttotalität darzustellen, er im besondern die Lebenstotalität der von ihm vorgeführten Personen, und das ist eine Forderung, die mit zunehmend zerrissener und komplizierter werdender Welt zu-
?6
ner T e c h n i k e n d e n » W e l t - A l l t a g der E p o c h e « ( X / i , 67) e r f a s s e n . D . h. sie m u ß ü b e r d i e b l o ß e A d a p t i o n u n d A d d i t i o n d e r E i n z e l b e r e i c h e h i n a u s diese m e t h o d i s c h a u f e i n a n d e r beziehen u n d mittels i h r e r f o r m g e b e n d e n u n d s y m b o l s t i f t e n d e n K r a f t i n e i n a n d e r spiegeln. >Polyhistorismus< w i r d
solcherart
f ü r B r o c h z u r C h i f f r e f ü r d e n V o r s c h e i n einer n e u e n F o r m v o n K o s m o g o nie, d e n n d i e d u r c h die p o l y h i s t o r i s c h e T e c h n i k h e r v o r g e b r a c h t e Totalität des K u n s t w e r k s ist herausgehoben aus dem unendlichen Fluß des Geschehens, und weil es in sich geschlossen ist, in solcher Geschlossenheit immer Weltsymbol, und weil es solcherart die künftige große Kosmogonie symbolisch vorausnimmt, . . . wird es auch zum Symbol des Schöpferischen (IX/2, 116). A u s d r ü c k l i c h v e r w e i s t B r o c h in d i e s e m Z u s a m m e n h a n g a u f die V o r b i l d f u n k t i o n J o y c e s u n d dessen souveräne Behandlung aller Darstellungsformen, aller Stilarten, aller Symbole, . . . diese ganze Vielfalt des Instrumentariums, mit welchem das Irrationale des Lebens . . . zu Bewußtsein gebracht werden soll. Und auf dieses Irrationale allein kommt es an. A u f diese Heraushebung der tieferen Schichten des Gefühls und des Lebens. Denn erst in ihnen kann man den Wegweiser finden, der zu den neuen Werten zeigt, und in ihnen ist die unmittelbare Wendung zum Objekt zu finden, die das Wesen dieser Zeit ausmacht (I, 753; vgl. auch I X / i , 67/68). E s k a n n h i e r nicht d a r u m g e h e n , einmal m e h r B r o c h s K o n z e p t des p o l y h i s t o r i s c h e n R o m a n s darzustellen, das o f t g e n u g G e g e n s t a n d l i t e r a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e r U n t e r s u c h u n g e n g e w e s e n ist. 1 0 9 E n t s c h e i d e n d i m hier relev a n t e n Z u s a m m e n h a n g ist allein die F e s t s t e l l u n g , daß die M ö g l i c h k e i t des p o l y h i s t o r i s c h e n R o m a n s zur g a n z h e i t l i c h e n D a r s t e l l u n g der R e a l i t ä t seiner Z e i t v o m A u f w e i s eines sie b e s t i m m e n d e n >Epochengeistes< a b h ä n g t , dessen
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nehmend schwieriger zu erfüllen ist; der Roman braucht heute eine viel größere Materialbreite als ehedem, zugleich aber auch zu ihrer Bewältigung eine viel schärfere Abstraktion und Organisierung. . . . die Wissenschaft (vermag) keine Totalitäten zu liefern, . . . Die Totalitätsforderung an die Kunst hat hierdurch eine früher ungeahnte Radikalität gewonnen, und um ihr zu genügen, benötigt der Roman eine Vielschichtigkeit, zu deren Etablierung die alte naturalistische Technik sicherlich nicht ausreicht« (V, 324). Ich verweise im einzelnen auf L . Kreutzer, Erkenntnistheorie und Prophetie. Hermann Brochs Romantrilogie >Die Schlafwandler^ Tübingen 1966; M . Durzak, Hermann Broch und James Joyce. Zur Ästhetik des modernen Romans, in: DVjS 40 (1966), S. 391-433; H. Steinecke, Hermann Broch und der polyhistorische Roman. Studien zur Theorie und Technik eines Romantyps, Bonn 1968; R . Thieberger, Brochs vergeblicher Kampf gegen das >Geschichtel-Schreibenwahrer< Dichtung ein defizitärer ist ( I X / 1 ,
133).
Immerhin gerät so — wenn auch im Derivat mystischer Subjektivität — die metaphysische Dimension des Daseins in einer profanen Realität als ein Teilaspekt des polyhistorischen Romans wieder in den Blick:
Vgl. auch ebd., S. 1 7 ; mit direktem Verweis auf die Mystik Meister Eckharts: »Aus der Vielfalt der unmittelbaren Gegebenheiten heben sich eigentümlich zwei Quellen der Unmittelbarkeit: das mystische Erleben des eigenen Ichs . . . und das Außenwelterlebnis der Sinne. . . . Aus diesen beiden Sphären . . . des inneren und äußeren Letzten, dessen der Mensch habhaft zu werden vermag, . . . baut sich die innere und äußere Ansicht seiner Weltanschauung: Gottesbewußtsein und Weltbewußtsein . . . Beides Pole des Irrationalen, . . . nur sichtbar durch das Medium des Rationalen . . ., dessen Strom zwischen ihnen gespannt ist, zwischen der panischen Stummheit des Tiers, dessen Augen nach außen blicken, und der göttlichen Stummheit der >AbgeschiedenheitMathematisches MysteriumGnosis< sinnvoll, der vorerst nur als die geschichtsphilosophische Dimension mystischen Denkens in den Blick geraten war und dessen Daseinsverständnis jetzt gegen das mystische abgegrenzt werden soll.
3.1. Grundstrukturen gnostischen Denkens und ihr Verhältnis zur Mystik Das gnostische Daseinsverständnis soll hier im Rückgriff auf Hans Jonas' >Gnosis und spätantiker Geisfc1 skizziert werden, weil diese Arbeit das Verhältnis von Mystik und Gnosis in besonders differenzierter Weise herausarbeitet: Die Realitätsauffassung der frühen mythologischen Gnosis fußt auf der Überzeugung eines grundlegenden Dualismus zwischen Gott und Welt. Der Kosmos wird nicht als das Werk eines allmächtigen und guten Schöpfergottes begriffen, dessen Erscheinungsformen Licht und Geist (Pneuma) sind, sondern als Produkt eines bösen Demiurgen. Das Wesen der Welt ist demgemäß Finsternis und Materialität (Hyle). Der Ursprung des Menschen ist pneumatischer, ungeschöpflicher Natur. Seine Heimat liegt jenseits alles Welthaften in der Transzendenz und in der Einheit mit Gott. Aufgrund eines willentlichen und deshalb schuldhaften >Sich-Neigens< der Seele zum Niederen hin erleidet dieselbe aber einen Abfall in die Vielheit, der in vielen gnostischen Mythen als Verstoßenwerden aus der Einheit begriffen wird. (Jonas weist darauf hin, daß der Gegensatz von ursprünglicher Einheit und Absturz in die Vielheit bei Origenes und im Neuplatonismus entscheidende metaphysische Bedeutung gewinnt, um bei Augusti' I. Teil, Die mythologische Gnosis, 3. verb. und verm. Aufl., Göttingen 1964, Teil I I . i V o n der Mythologie zur mystischen Philosophie, Göttingen 1954. 80
nus zum existentiellen Begriff der >dispersioSchlafwandler< schon aus chronologischen Gründen ausgeschlossen, 24 und es gibt auch keinen Hinweis darauf, daß Broch das Werk später zur Kenntnis genommen und für spätere Romane ausgewertet hat. Die Bestände seiner Wiener Bibliothek wie seine Korrespondenz zeugen jedoch von einer intensiven Auseinandersetzung mit denselben geistigen Traditionen, in denen auch Jonas steht. Im Kontext seiner Beschäftigung mit Gnosis und Mystik zeitigte diese Auseinandersetzung offenbar gedankliche Parallelen zu Jonas' Thesen. 2 ' »Die Sachen liegen in der Luft«, heißt es in einer brieflichen Notiz von 1920 einmal ( X I I / i , 46). !
> Jonas, 1964, S. 86/87. Der I. Teil von >Gnosis und spätantiker Geist< erschien 1934, mithin zwei Jahre nach Abschluß der Trilogie. " Zur Bedeutung der Phänomenologie Husserls für Brochs Werk vgl. exemplarisch Vollhardt, 1986, S. 9 2 - 1 1 0 , der den hier in Frage stehenden Aspekt der Objektivation und Resubjektivierung freilich nicht berührt. Zu Brochs Auseinandersetzung mit Heidegger vgl. z. B. Paul Hofmanns Buch »Metaphysik oder verstehende Sinn-Wissenschaft? Gedanken zur Neugründung der Philosophie im Hinblick auf Heideggers >Sein und Zeit«, Berlin 1929, das Amann/Grote, 1990, S. 1 1 3 als Bestandteil von Brochs Wiener Bibliothek nachweisen; vgl. weiter X I I I / i , 97, 249/50, 254, 277, 357 und die Nachweise in Abschnitt 8.2. A u f Brochs »Nähe zu Heideggers existentialanalytischer Interpretation des Todes« weist bereits B. L o o s , »Mythos, Zeit und Tod. Z u m Verhältnis von Kunsttheorie und dichterischer Praxis in Hermann Brochs »Bergroman«, Ffm. 1 9 7 1 , S. 185 hin. Venzlaff, 1 9 8 1 , S. 172, Anm. 9, konstatiert zu Recht eine Haltung Brochs gegenüber Heidegger, 14
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Jonas' Darstellung der Gnosis und ihrer existentialen Transformation in der Mystik bildet jedenfalls, wie die folgende Textinterpretation zeigen soll, eine äußerst fruchtbare Deutungsfolie sowohl für die Verlaufsstruktur wie für bestimmte Aspekte der >SchlafwandlerSubjekts< aus den >Objekten S chlafwandler n< 3.2.1.
Romantik als Indiz für vormalige Totalität
Ausgangspunkt der Trilogie ist die romantische Rückwärtsgewandtheit Joachim von Pasenows auf eine Zeit hin, in der christliche Glaubenshaltungen noch Bestand hatten, sein »Beharren in Werthaltungen, deren Geltung bereits aufgehoben oder deren Geltungsgebiet eingeschränkt ist«.28 Die Geisteshaltung als solche weist damit auf das - ehemalige - Bestehen eines ganzheitlichen Lebens- und Wertgefuges im Zeichen intakter und umfassender axiomatischer Bindungen an die Transzendenz hin: ein Romantiker . . . . . . . der das ersehnte Bild in der Vergangenheit sucht, er wird mit gutem G r u n d auf das Mittelalter hinblicken. D e n n das Mittelalter besaß das ideale Wertzentrum, . . . einen obersten Wert, dem alle anderen Werte Untertan waren: den Glauben an den christlichen Gott. S o w o h l die K o s m o g o n i e w a r v o n diesem Zentralwert abhängig . . . als auch der M e n s c h selber, . . . mitsamt seinem ganzen Tun, bildete einen Teil jener Weltordnung, die bloß Spiegelbild einer ekklesiastischen Hierarchie war, in sich geschlossenes und endliches A b b i l d einer ewigen und unendlichen Harmonie. . . .
E s w a r ein im Glauben ruhendes, ein
finales, kein kausales Weltganzes, eine Welt, die sich durchaus im Sein, nicht im Werden begründete, . . . ihr ganzes Wertgefiige w a r ( ) dem umfassenden Lebenswert des Glaubens unterworfen: der Glaube w a r der Plausibilitätspunkt, bei dem jede Fragekette endigte, . . . (496/497). 1 9
Dieser im >Zerfall der Werte< plazierte und durch zahlreiche Ubereinstimmungen mit Brochs theoretischen Schriften als des Autors eigene Auffassung ausgewiesene Kommentar macht deutlich, daß das in seiner Idealität möglicherweise absichtsvoll undifferenzierte Bild einer ehemals intakten Ordo nicht nur der Fluchtpunkt der romantisch bornierten Perspektive des Protagonisten Joachim von Pasenow ist, sondern durchaus Brochs eigenem Denken entspricht. Als unangemessen kennzeichnet der Roman jedoch den Versuch seines Protagonisten zur Regression in die unwiederbringlich verlorene Ordnung der Vergangenheit.
'* S o lautet Brochs Definition v o n >Romantik< in X / i , 226. S o w e i t nicht anders vermerkt, beziehen sich die Seitenangaben im folgenden auf Bd. I der Kommentierten Werkausgabe.
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Joachim erinnert sich seiner Kindheit und ihrer Kirchenbesuche, da er . . stets aufs neue überwältigt, jeden Sonntag vor Gottes eigenem Antlitz . . . gestanden hatte (52).
Eduard von Bertrand gegenüber, der ihm die wachsende Irrelevanz christlicher Glaubenshaltungen für das »mittlerweile heidnisch versunkene und verpfuhlte Europa« vor Augen zu fuhren versucht, insistiert Joachim erkenntnislos auf deren nach wie vor bestehende Geltung, wenn auch mit einer vielsagenden Einschränkung: Ich begreife eigentlich nicht, was Sie gegen die Gläubigkeit von uns Europäern einzuwenden haben. Ich meine, daß Sie als Großstädter doch nicht den richtigen Einblick besitzen. Wenn man, wie ich, auf dem Lande aufgewachsen ist, so steht man zu diesen Dingen doch anders. Auch unser Volk draußen ist dem Christlichen viel enger verbunden, als Sie anzunehmen scheinen (34).
Beim Kirchgang am Sonntag konstatiert er: keines der Gesichter war fromm, keines ergriffen. Es mußten wohl Arbeiter aus Borsigs Maschinenfabrik sein; echte Bauernsöhne aus der Heimat wären nicht so unbeteiligt dagestanden (129).
Der Zerfall der Einheit mit der Transzendenz wird zum Zivilisationsprozeß in Beziehung gesetzt. Symbol für die in intakter religiöser Totalität aufgehobene Existenzweise ist die Einrichtung des Gastzimmers im Hause Pasenow, in dem das Kruzifix eine beherrschende Stellung einnimmt: wenn die Sonne durch die weißen Vorhänge schien mochte es . . . vorkommen, daß . . . es wieder zu dem wurde, als das man es einstens hier angebracht hatte: als Wächter und Erinnerung für den Gast, mahnend, daß er in einem Hause christlicher Gemeinschaft wohne, . . . (91/92).
Die stabile Glaubenshaltung, deren Bestand sich für Joachim untrennbar mit der Assoziation an das heimatliche Gut verbindet, und die ihr implizite Uberzeugung von der Unsterblichkeit der Seele relativiert zugleich die Verfallenheit an die Endlichkeit, die das In-der-Welt-sein bedeutet; in eins damit sichert die Beziehung zur Transzendenz auch gegen die Todesangst (93). Aus dieser Heimat aber, deren feudale Lebensformen für die zeitgenössische Gegenwart nicht mehr repräsentativ sind, sieht Joachim sich durch seine »Einlieferung« in die Kadettenanstalt Culm vor den Toren Berlins vertrieben (18). Erstmals begegnet hier das sich im Verlauf der Trilogie häufig wiederholende Motiv des Verstoßenwerdens durch den Vater als Folge des Ungehorsams gegen ihn, das der Roman an dieser Stelle mit der Übertretung des Reitverbots einfuhrt: »Es ist die höchste Zeit, daß du aus dem Hause kommst . . .«, beschließt der alte Pasenow nach dem Unfall mit dem Pony (17). 30 J
° Der dritte Teil der Trilogie variiert das Motiv in der ihm eigentlich gemäßen
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Intensiv erlebt Joachim die Heimatferne des großstädtischen Lebens (35), das ihn verunsichert und die Wertvorstellungen und Konventionen, denen er sich verpflichtet fühlt, auf charakteristische Weise »ins Gleiten« bringt.' 1 Joachim begreift sich als Spielball fremder Mächte und nimmt die ihn umgebende Realität als »Werkzeug eines höheren Willens« wahr (163). Dementsprechend ordnet er die ihm begegnenden Personen teils der Machtsphäre des »Dämonischen«, »Mephistophelischen« oder des »Versuchers«, 32 teils derjenigen der göttlichen Gnade, des Engelhaften und Heiligen z u . " In der solcherart stattfindenden Objektivierung der Realität zum Kampfplatz mythischer Mächte begibt sich das Ich aller subjektiven und autonomen Zugriffsmöglichkeiten auf die Wirklichkeit und erscheint vollkommen determiniert. Zimas Verweis auf den Pasenows Weltanschauung prägenden »ideologische(n) Manichäismus« 54 ist ernster zu nehmen, als der Autor selbst es tut. Denn Zima reduziert denselben auf das Moment eines »ideologischen Dualismus«," dem es um die glatte Einteilung der Realität in >gut< und >böse< zu tun sei, und läßt dabei unbeachtet, daß diese Auffassung — wie bei Lukäcs, dem Ideologie als das »notwendig falsche Bewußtsein des der Entfremdung verfallenen Menschen« gilt — ein säkularisiertes Derivat jener gnostischen Lehre bildet, derzufolge die Seele durch den Abfall ins Weltliche in ihrer Erkenntniskraft reduziert ist.' 6 Empfindungen der Fremdheit, der Heimatlosigkeit, des Heimwehs und des Sich-ängstens kennzeichnen Joachims Lebensgefühl in der Großstadt metaphysischen Form, wenn der nunmehr gealterte Major von Pasenow in einer die Realität transzendierenden Reflexion äußert: »Wir haben ihn (Gott, A . G.) verlassen und er hat uns alleingelassen . . . so allein, daß wir uns nicht mehr finden können. . . . Den wir verlassen, den müssen wir ewig suchen« (548). Eine weitere Variation des Topos findet sich in dem innerhalb der Trilogie wiederholt thematisierten Ahasver-Mythos (z. B . ; ; 8 ) . '' Diese oder ähnliche Metaphern siehe z. B. I, S. 29, 34, 36, 68, 99. 11 Vgl. I, S. 128, 138/9, 145, 148, 158, 163, 176. » V g l . I, S. 28, 159, 173, 176/177H Peter V . Zima, Roman und Ideologie. Z u r Sozialgeschichte des modernen Romans, München 1986, S. 102. » Ebd., S. 104. ' 6 Vgl. E . Topitsch, Marxismus und Gnosis, in: ders: Sozialphilosophie zwischen Ideologie und Wissenschaft, Neuwied 1961, S. 235-287, dort S. 262, Anm. 80. V f . verweist auf Lukäcs, Geschichte und Klassenbewußtsein. Als ähnlich verkürzend wie bei Z i m a erweist sich die Interpretation SchmidBortenschlagers, die sich ob der »starke(n) Betonung des religiösen Gebietes in einem >Epochenroman< . . . überrasch(t)« zeigt und diesen Sachverhalt im wesentlichen auf den Umstand reduziert, »daß die religiösen Normen zu den angegebenen Zeiten . . . als gesellschaftliche Normen noch immer in K r a f t waren« und »jegliche irrationale oder metaphysische Erlebnissphäre monopolisiert hatten«. (S. Schmid-Bortenschlager, Dynamik und Stagnation. Hermann Brochs ästhetische Ordnung des politischen Chaos, Stuttgart 1980, S. 71).
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und fungieren als Chiffren gnostischer Entfremdung von der ursprünglichen Einheit des Menschen mit der Transzendenz im intakten religiösen Wertsystem. Nicht zufällig nimmt Joachim — gnostischem Muster gemäß — die Atmosphäre der Großstadt als finster und dunkel wahr, während sich die Erinnerung an die Heimat mit der Assoziation lichter Helligkeit verbindet: Der (Küstriner Platz) lag nüchtern und ein wenig verwahrlost da, dunkel, obwohl er doch allenthalben von heller Sonne durchströmt war, einer entlehnten Sonne, während die richtige über den goldenen Feldern glänzte (70).
Anläßlich eines Besuchs bei der Familie Baddensen im Berliner Westend empfindet Joachim die »insulare Sicherheit« der ländlich anmutenden Gegend als krassen Gegensatz zu seiner eigenen Situation, deren Wertgefüge brüchig geworden ist. Das wachsende Bewußtsein für deren zunehmende Fragilität bewirkt aufkeimende Furcht und die nostalgische Sehnsucht nach Festigkeit und Sicherheit in einer »vorproblematischen Heimat«, 57 die als Gegenbild zur gegenwärtigen entfremdeten Daseinsweise fungiert: hätte man ihn . . . in der Heimat gelassen, so wäre er für die Unsicherheit nicht empfänglich geworden. Schön wäre es, mit Elisabeth durch die Felder zu gehen . . . Aber zu alldem war es für ihn ja zu spät, für ihn, den man zum Fremdling gemacht hatte, und er ist - nun fiel es ihm ein — heimatlos wie Bertrand (36/37).
Broch läßt jedoch keinen Zweifel daran, daß die alte Ordnung überlebt ist. Daß Joachims Identifikation von Heimat und christlicher Wertordnung nur noch auf einer romantischen Projektion beruht und für die Gegenwart nicht mehr gültig ist, zeigt sich am eindringlichsten an jenem Brief, den Helmut seinem Bruder als Vermächtnis hinterläßt und aus dem hervorgeht, daß er, der auf dem Lande und in der Heimat Verbliebene, eine ideale Ordnung, die »in diesem so gleichgültigen Leben eine Spur höherer Idee darstellt, der man sich unterordnen darf« (46), nicht gefunden hat. E r stirbt für ein äußerstes Derivat derselben, für den längst hohl gewordenen und überlebten Begriff der >Ehre< (ebd.). Einen weiteren Hinweis bildet die vergebliche Hoffnung des alten Pasenow auf die Tröstungen der Kirche, die er nach Helmuts Tod von dem ortsansässigen Pfarrer erwartet (75/76, 94, 96). E r verdächtigt ihn, ihm ein Wissen über das Jenseits vorzuenthalten, das dieser freilich gar nicht besitzt: »Sagen Sie, Herr von Bertrand, haben Sie schon je einen gelernten Theologen gesehen, der nichts vom Jenseits weiß?« (96) Der Geistliche hingegen verweist ihn — ganz im Sinne der protestantischen Theologie — auf die eigene, unmittelbare, pneumatische Beziehung zu " Monika Ritzer, Hermann Broch und die Kulturkrise des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, Stuttgart 1988, S. 240. 88
Gott: »Gott allein kann ihnen Botschaft senden, Herr von Pasenow, bitte glauben Sie doch endlich daran« (97). Daß Joachims Identifikation von Heimat und Geborgenheit in der Transzendenz im Hinblick auf die Gegenwart auf Fiktion beruht, setzt die Gültigkeit der gnostischen Bildlichkeit nicht außer Kraft, denn diese verweist ja auf die vormalige Identität der bezeichneten Komplexe. Wo die romantisch-rückwärtsgewandte Orientierung auf das Verlorene hin aber in ihrem Scheitern demonstriert wird, formuliert der Roman zugleich eine implizite Kritik an der gnostischen Daseinshaltung als solcher: Das Festhalten an der zerfallenen Lebensordnung fuhrt zu bornierten Derivatformen des alten Zentralwertsystems, die den Blick auf die Realität verstellen, die aktive Auseinandersetzung mit ihr hemmen und auf diese Weise das Individuum nicht nur nicht mehr vor dem Ansturm der bedrohlichen Wirklichkeit sichern, sondern es ihr in potenzierter Form ausliefern. Wenn von der Geborgenheit des Baddensenschen Gartens die Rede ist, »dessen Zäune durch Hecken verdeckt waren« (37), wird das ästhetizistische Sich-Hinweglügen über die eigene Be- und Gefangenheit in nur noch imitativ aufrechterhaltenen, überlebten Ordnungen mit Händen greifbar. Der Eindruck wird noch gesteigert durch die allegorische Beschreibung der im Garten befindlichen Sitzgelegenheiten: einem Plüschfauteuil aus dem Salon, dessen Farbe - »die einer verwelkenden schwarzroten Rose« (ebd.) - einen ebenso eindeutigen Hinweis auf die Uberlebtheit der hier waltenden Weltordnung darstellt, wie das Muster der Gartenstühle, »deren Blechsitze gleich erstarrten Brüsseler Spitzen mit Sternen durchbrochen waren« (ebd.). In den gleichen Bildkontext gehört die Bedeutung, die Joachim der Uniform beimißt. Sie ist ihm Symbol für Halt und Sicherheit im »Verschwimmende(n) und Verfließende(n) des Lebens« (24). In ihr verabsolutiert er anstelle der verlorengegangenen Glaubensordnung ein höchst weltliches, mithin begrenztes und surrogathaftes Wertsystem: Einstens war es bloß die Kirche, die als Richterin über den Menschen thronte, und ein jeglicher wußte, daß er ein Sünder war. Jetzt muß der Sünder über den Sünder richten, . . . muß der Bruder dem Bruder sagen: >Du hast unrecht gehandelt.< Und war es einst die bloße Tracht des Klerikers, die sich als etwas Unmenschliches von der der anderen abhob, . . . so mußte, da die große Unduldsamkeit des Glaubens verloren ward, die irdische Amtstracht an die Stelle der himmlischen gesetzt werden, und die Gesellschaft mußte sich in irdische Hierarchien und Uniformen scheiden und diese an der Stelle des Glaubens ins Absolute erheben (23).
Die Uniform wird zur »überweltliche(n) und überzeitliche(n) Idee« stilisiert (ebd.). Als solche soll sie das in die Welt gefallene Ich gegen den Ansturm einer als feindlich empfundenen Realität abgrenzen,' 8 deren Gesetze es nicht ' ' ». . . denn eine richtige Uniform gibt ihrem Träger eine deutliche Abgrenzung 89
versteht und durch die es sich ins Haltlose hinabgezerrt fühlt (68). Die Uniform ist, wie Joachim durchaus begreift, das Surrogat einer nunmehr verlorenen religiösen Seinsordnung. Angesichts eines Porträts seines Großvaters, dessen Spitzenjabot ihm auffällt, konstatiert er: Allerdings haben die Menschen damals einen innigeren und tieferen Christenglauben besessen, und sie mußten den Schutz vor der Anarchie nicht anderwärts suchen (26).
Was Joachim freilich nicht begreift, ist die Unzulänglichkeit derartiger rein äußerlicher Surrogate, die — obschon Ausdruck einer gegenweldichen Orientierung — die Einkerkerung in weltliche Determinationszwänge noch potenzieren, anstatt sie zu revidieren: Die scheinbare »Sicherheit und Geborgenheit« und »Abgeschlossenheit gegen die Welt«, die die Uniform verleiht, wird mit dem Joachim nicht bewußten Umstand erkauft, »daß die Uniform ihm nur einen schmalen Streifen persönlicher und menschlicher Freiheit ließ« (28). E s ist nicht das Bewußtsein verlorener Einheit mit dem Transzendenten und die Sehnsucht nach deren Wiedergewinnung, die Joachims Perspektive zu einer bornierten macht — denn immerhin kann der Roman den Verlust vormaliger Totalität und metaphysischer Bindung auf diese Weise überhaupt erst thematisieren —, sondern die inadäquate Form der Auseinandersetzung des Protagonisten mit diesem Faktum. Der Weg, den Joachim beschreitet, ist ein bloß regressiver. Das passive Verharren in Konventionen, dessen irrationalen Charakter Bertrand treffend als »Trägheit des Gefühls« benennt (39, 49, 60, 72, 77), macht seine Religiosität als falsches Bewußtsein kenntlich, als Vorform jenes >DämmerzustandesMassenwahntheorie< dem Verdikt des Menschenunwürdigen verfallen wird. Die Unangemessenheit einer Glaubenshaltung, die sich in bloßer Rückwärtsgewandtheit den Gegebenheiten zu entziehen versucht, anstatt in aktiver Auseinandersetzung mit denselben das >Wellental< des Transzendenzverlustes zu durchschreiten, wird als verwerflich gebrandmarkt, zumal sie gerade damit die >HeimatVom Geist der Utopie< vorhandenen - Bezug zum gnostischen Denken in ihren Geschichts- und Daseinsdeutungen zu erkennen und zu problematisieren. ' ' B o l z mit Bez. auf Bloch, 1989, 27. " Ebd. 103
soll. Wo Rationalität und Irrationalität sich nicht mehr gegenseitig bändigen, droht nach Brochs Verständnis die Gefahr einer doppelten Verfallenheit an die Welt: (die) Sünde des Triebhaften und Unerweckten, das nicht zu den Werthaltungen vordringt, und (die) Sünde des Rationalen, Diabolischen, das die Werthaltungen ablehnt . . . (723).
Der kühlen, ornamentlosen und funktionellen Ästhetik der Maschine, die mit dem die Zeit beherrschenden Architekturstil der >Neuen Sachlichkeit korreliert,' 8 fühlt sich Huguenau als Repräsentant dieser Epoche in besonderem Maße verbunden.' 9 Gerade die Maschine begreifen Esch und Pasenow in ihrer gnostischen Orientierung jedoch - wie schon Bloch - als Wahrzeichen einer Realität, die vom »Teuflischen« und »Bösen« (5 5 3) geprägt wird, das dem gefangenen Individuum seine Gesetze aufzwingt — und agnostizieren Huguenau dementsprechend als den »Leibhaftigen« (591): Manchmal ist es, als sei die Welt nur eine einzige furchtbare Maschine, die nie still wird . . . es geht nach Gesetzen, die man nicht begreift, . . . freche selbstsichere Gesetze, Ingenieurgesetze . . . jeder muß handeln, wie es ihm vorgeschrieben ist, . . . oh, die Maschine ist das Böse und das Böse ist die Maschine. Ihre Ordnung ist das Nichts, das kommen muß . . . ehe die Zeit wieder anheben darf . . .: Symbol des Bösen . . . (556).
Bezeichnender als die so gewonnenen Erkenntnisse beider Protagonisten selbst ist aber der Umstand, daß der die Epoche der Sachlichkeit repräsentierende Huguenau den Gegenstand ihrer Unterhaltung überhaupt nicht erfaßt. Das gänzlich verdinglichte Bewußtsein kann die Ebene profaner Realität nicht transzendieren, und so »lauscht« Huguenau den Überlegungen seiner Gesprächspartner vollkommen »verständnislos« (557). Die von Esch und Pasenow metaphorisch formulierten Reflexionen über religiöse Bewußtseinsbildung generieren eine Doppeldeutigkeit der Aussagen, von der Huguenau jeweils nur die profane Konnotation erfaßt, während ihm aufgrund seiner radikal weltlich-pragmatischen Ausrichtung ihr tatsächlicher Sinn vollständig entgeht: Der Major sagte: >Ich freue mich, daß sie noch rechtzeitig heimgekommen sind, Herr EschVielleicht in zwölfter Stunde, Herr MajorEs ist noch nicht so spät, . . . wollen Herr Major auch noch die übrigen Lokalitäten besichtigen^ . . . Esch sagte: >Es war ein weiter Weg.< . . . Der Major sagte sinnend: >Ein weiter Weg . . . und er ist noch nicht am Ziele.< Huguenau sagte: >Wir haben das Ärgste bereits hinter uns . . . wir haben bereits zwei Seiten Inserate . . . und wenn wir uns noch Aufträge der Heeresverwaltung verschaffen könnten . . .< (547/8).
" V g l . I, 436 und X / i , 32/33. 19 Vgl. I, 424, 462, 490/91, 671.
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Wenn Broch Huguenaus Denkungsart als materialistische kennzeichnet, die aller ideellen Werte entbehrt und als einzig gültige Wertkategorie diejenige des eigenen Profits und der Zweckmäßigkeit betrachtet, 60 so entspricht dieses die moderne Realität kennzeichnende Detail der Einschätzung Blochs und Lukács', derzufolge die Organisationsform der gegenwärtigen >Macht der Gebilde< diejenige des Kapitalismus ist. Für alle drei stellt derselbe jedoch nur das Symptom einer >ornamentlosenAlles zu seiner Zeit< (689).
Der Vergleich mit Jonas' Darstellung der Moral am Umschlagspunkt der gnostischen Bewegung, deren Abstiegsphase übrigens ausdrücklich als »Wertezerfall« bezeichnet wird, läßt die Parallelen mit hinlänglicher Deutlichkeit hervortreten: . . . in Gestalt des Libertinismus erweist sich die vollkommenste Auflösung der überlieferten Bindungen menschlichen Verhaltens und der Exzeß eines Freiheitsgefuhls, das sich die Zuchtlosigkeit als Selbstbeweis, ja als Verdienst und Tat anrechnet. . . . (Der Exponent gnostischer Kulmination gebärdet sich als) frei vom Gesetz . . . E s bekundet sich darin . . . die Anarchie des Bruches und Uberganges als solchen, der Nihilismus des >Zwischen den ZeitenSchlafwandler< (in Ubereinstimmung mit Jonas' Auffassung) Huguenaus Handeln - wie den Ausbruch der Revolution überhaupt - als Ausdruck des endgültigen »Durchbruch(s) des Irrationalen« (689), das von keiner Wertordnung mehr gebändigt wird, als »Auflehnung() des Bösen gegen das Böse« (702), das die größtmögliche Entfernung vom Reich des Geistes anzeigt und das sich in der Eskalation selbst ad absurdum fuhrt. Deshalb kann auch der vermeintlich bewußte Revolutionär seine Tat niemals ethisch rechtfertigen, denn er 61
Jonas, 1964, S. 234.
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ist nicht der >Revolutionärinneren MachiavellismusForm der Freiheit^ in der allein einmal der neue Inhalt erstehen kann (727). Angesichts solcher Freiheit, die ergriffen oder verfehlt werden kann, erwacht im orientierungslosen Individuum die Sehnsucht nach dem Führer, . . . der vorangeht auf der unbeschrittenen Bahn des geschlossenen Ringes, . . . aufzusteigen zu immer hellerer Annäherung, . . . er selber auferstanden aus der Masse der Toten, der Heilsbringer . . . (714). In dessen Beschreibung wird unzweifelhaft der gnostische Bote assoziiert, der dem Suchenden ein Ziel weist, der aber, wie die historische E n t w i c k lung der dreißiger Jahre bald zeigen sollte, schwer v o m demagogischen Verfuhrer zu unterscheiden ist. D i e in der Broch-Forschung immer wieder als »präfaschistisch« gedeutete Reflexion des Romans auf eine F ü h r e r - G e stalt, die dem Individuum den W e g aus der Verstrickung weist, hat ihren Ursprung damit ganz offenbar in der bis hierher weitgehend affirmativen Adaption des gnostischen Schemas. D i e Möglichkeit des Erscheinens eines >falschen< Führers diskutiert der R o m a n zwar nicht explizit, ihr gelten erst die A u s f u h r u n g e n der >MassenwahntheorieSchuldlosen< (V, 272) heißen, und zwar von einer Figur, die sich radikal zu ihrer Humanität im doppelten Sinne des Wortes bekennt. Auf das philosophische Desaster des Solipsismus, das der Roman in jenem radikalen Subjektivismus Huguenaus spiegelt, jener »Finsternis, in der keine(r) . . . den Weg des anderen findet« (339), antwortet das Paulinische »Wir sind alle noch da« als Garant intersubjektiver Teilhabe des Menschen am göttlichen Logos, die die Einsamkeit bricht und Brüderlichkeit als Chiffre überindividueller Geltung humaner Wertsetzungen gewährleistet. Ihr Vehikel aber ist intuitive Evidenz, ist die mystische Gewißheit, »daß jeder das Fünklein im Seelengrunde trägt« (I, TM)Die geschichtsphilosphische Grundfigur, die die Trilogie beschreibt, ist, wie ihr Nachvollzug gezeigt hat, hinsichtlich ihrer historischen Verlaufsgestalt als dreiphasiges Erlösungsschema zunächst eine genuin gnostische. Sie nimmt ihren Ausgangspunkt in der Voraussetzung ehemals vorhandener Einheit mit der Transzendenz, — ein Zustand, den Broch modellhaft mit der historischen Phase des Mittelalters identifiziert und als dessen bewußtseinstheoretisches Fundament er ein intaktes, Totalität generierendes Zentralwertsystem annimmt, das im Glauben an einen anthropomorphistisch gedeuteten Gott einen gemeinsamen Bezugspunkt für alle ihm untergeord61 66
Herv. A . G . Benjamin, GS IV, S. 10.
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neten Partialwertsysteme zur Verfügung stellt. Die positivistische Auflösung dieses Zentralwertsystems, deren historischer Markstein durch die Aufklärung bezeichnet ist,67 bedeutet bewußtseinsgeschichtlich zugleich die Entfremdung des Menschen von der pneumatischen Heimat und sein Verfallensein an das unmittelbar empirisch Gegebene in all seiner Disparatheit. Der Wertzerfall ist die Chiffre für die zunehmende Sinndefizienz und Fremdheitserfahrung des Ich in dieser historischen Phase, die in der Moderne kulminiert und in einem umfassenden Nihilismus eskaliert, der zugleich mit einem vollständigen Subjektivismus identisch ist. Mord, Krieg und Revolution sind die letzte Konsequenz dieser Entwicklung und bilden zugleich die apokalyptische Ausdrucksform einer Verlaufsgestalt, die auf diesem Wege den dialektischen Umschlag in die Gegenbewegung vollzieht: Der Kulminationspunkt des Abstiegs schafft durch den desaströsen Zusammenbruch der selbstgeschaffenen Verblendungszusammenhänge zugleich die utopische Möglichkeit eines Wiederaufstiegs zu einem neuen religiösen Bewußtsein, das als gemeinsame Grundlage aller Welt- und Selbstdeutung neue ganzheitliche Sinnzusammenhänge generieren soll. Aus dieser Sicht erscheint Broch auch die eigene Gegenwart und ihre »Bewegung, die wir so schmerzlich mitmachen«, als eine notwendige Entwicklungsphase des gesamten abendländischen Geistes . . ., (die) in ihrer autonomen Logik begründet und daher unaufhaltsam ist, genau so unaufhaltsam wie seine schließliche Rückkehr zum Platonischen, was aber an die 100 Jahre oder darüber währen wird ( X I I I / i , 241).
Jedoch erscheint das Movens dieser Dynamik nur aus der als borniert kenntlich gemachten Perspektive der Roman-Protagonisten als dualistisches, das deren Existenz einer eschatologischen Prozessualität zu unterwerfen und ihre Seinsmöglichkeiten zu determinieren scheint. Demgegenüber eröffnet der Epilog im Verweis des aller Ordnungskategorien beraubten Individuums auf eine intuitiv evidente mystische Erfahrung pneumatischer Wesensverfaßtheit zugleich einen Weg zur Wiederherstellung eines ganzheitlichen Weltverständnisses, der das Subjekt zum Neuentwurf seiner Daseinshaltung auffordert und sein Verhältnis zur Realität neu begründet. Die Abwandlung des gnostischen Schemas zum bewußtseinsgeschichtlichen mystischen Prozeß kündigt sich in der Relativierung der Rolle des gnostischen Boten an, dessen Bedeutung der Roman anhand seines Hauptprotagonisten Bertrand reflektiert:
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Vgl. Brochs Invektiven gegen die Aufklärung in X / i , 3} oder X I I , 145.
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3.2.4. Die Figuration und Relativierung des gnostischen Boten: Bertrand Die Suche nach dem Wissenden, dem »Führer, der leicht und milde bei der Hand . . . nimmt, ordnend und den Weg weisend« (714), treibt als Konsequenz des Wertzerfalls viele an der Romanhandlung beteiligte Figuren um und veranlaßt sie, sich diese Rolle gegenseitig und in der Regel zu Unrecht zuzuschreiben. Wie Pasenow Elisabeth zur Leitfigur seiner religiösen Bedürfnisse stilisiert, an deren Seite er »ins Freie wieder zu finden« hofft (150), so mißt Esch zunächst Ilona eine vergleichbare Rolle zu — sie ist ihm eine Herabgestiegene »in die Berührung des Irdischen und Toten« (347)68 — und glaubt auch den Gewerkschaftssekretär Martin Geyring im Besitz eines höheren Wissens, — das er ihn jedoch nicht preisgeben zu wollen verdächtigt: Esch ärgerte sich, daß Martin ihm etwas vorenthielt. Wer die Wahrheit besitzt, vermag die anderen zu erlösen; so haben es auch die Christenmärtyrer geübt (265).
Im dritten Roman der Trilogie suchen Esch und Pasenow dann schließlich vergeblich beieinander nach dem >wahren Wissen< (vgl. 528 ff und 604). Sie alle werden aber mittelbar oder unmittelbar mit jenem Hauptprotagonisten der Trilogie konfrontiert, der tatsächlich wesentliche Züge des gnostischen >Boten< in sich vereinigt, an dessen Darstellung aber zugleich deutlich wird, daß Broch das gnostische Schema nicht einfach übernimmt, sondern kritisch diskutiert und zugunsten eines mystischen Seinsverständnisses abwandelt. Im folgenden wird nachzuweisen sein, daß der die Figur Bertrands in kritischer Absicht charakterisierende Asthetizismus eine Konsequenz aus der notwendig quietistischen gnostischen Daseinshaltung ist, die anhand des wichtigsten Protagonisten der Trilogie eine kritische Brechung erfährt. Die Anlage der Figur enthält zugleich erste Ansatzpunkte zur Transformation eines objektiven Heilsgeschehens in Strukturelemente subjektiver Seinsweisen und damit in ein mystisches Verständnis von Existenz, dessen emanzipatorischer Anspruch wohl am gnostischen Verlaufsschema festhält, dasselbe aber zugleich der Verfügungsgewalt des Subjekts überantwortet und damit im Zeichen jener »Zurückholung des >Subjekts< aus den >ObjektenDie S c h l a f w a n d l e r n G e staltung und R e f l e x i o n im modernen deutschen R o m a n , 2. A u f l . Heidelberg 1 9 7 ; , 1 2 5 , bes. A n m . 108.
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entgegenzuhalten: Gerade darin, daß Bertrand Elisabeth nicht entmündigt, ihr nicht sagt, wie sie sich verhalten solle, erweist er sich paradoxerweise als Führer, der aus der Fremdbestimmtheit in die Emanzipation hinüberleiten will. Auf ihre Frage, was sie tun solle, antwortet er demgemäß formalethisch: »Das läßt sich bloß negativ beantworten: nichts, was nicht bis in die letzte Faser Ihres Erlebens von Ihnen bejaht werden kann.« (i 11) Damit agiert er — entgegen dem Verständnis Lützelers74 — eben nicht als Vorreiter einer allein subjektiv gültigen Weltanschauungsmoral, die nach Brochs Auffassung mit wirklicher Ethik nichts zu tun hat, weil sie als inhaltlich bestimmte immer einen dogmatischen Geltungsanspruch formuliert und das Subjekt wirklicher Autonomie enthebt, deren Wahrnehmung Broch nicht nur als dessen Recht, sondern als seine Pflicht zur Selbstbestimmung betrachtet: Weltanschauungen geben Inhalte, Moralen Verhaltungsmaßregeln: Philosophie und Ethik geben die >Formen< der möglichen Inhalte, die Formen der Moral überhaupt — Formen, die . . . allerdings nicht leer sind, da sie eben aussagen, was für Inhalte überhaupt >möglich< sein können ( X / i , 38).
Wenn Lützeler Bertrands »Immoralismus« kritisiert,75 ignoriert er z. B. Brochs zustimmende und durchaus positiv gemeinte Wiedergabe eines Zitats von Karl Dallago: »Kant, der erste Immoralist« (XIII/1, 26). Der formalethische Ansatz, den Broch immer wieder mit Vehemenz vertreten hat, 7 ' leitet seine Berechtigung nicht nur aus der — mit guten Gründen mystisch zu nennenden — Prämisse der Teilhabe des Menschen am Pneuma oder Logos ab, die schon Kant zu seiner Begründung dient, wenn er ihn dem intelligiblen Ich zumißt,77 sondern ergibt sich auch mit Notwendigkeit aus Brochs Zeitdiagnose: Zumal wo sich die tradierten Werte als unbrauchbare Instrumente der Sinnstiftung für die zeitgenössische Wirklichkeit er74
71 76
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Lützeler, 1973, S. 1 0 6 - 1 1 2 , unterwirft die Haltung Eduard von Bertrands einer radikalen Kritik. U. a. unterstellt er ihm mit Bez. auf die o. g. Textpassage eine »im Sinne Kants unethische, weil asoziale, auf die bloß subjektiv-willkürliche Moral beschränkte Einstellung« (110). Lützeler, 1973, S. 1 1 1 . Vgl. z. B. X / 2 , 48/49; Broch stellt hier fest, daß die ethische Forderung, w o sie inhaltlich werde, »nur in negativer Setzung« vorgehen könne: »Jedes positive >Du sollst< . . . ist ein ödes und dogmatisches Moralisieren, und selbst die Form des kategorischen Imperativs muß, soll sie nicht unter dem gleichen Vorwurf stehen, . . . v o n ihrem logischen Gegenpol her verstanden werden.« Ganz ähnlich heißt es in I X / 2 , 92: In der Form des >Du sollst< »erhebt sich die . . . irdische Moral unberechtigterweise in die Sphäre des Ethischen, . . . wird die unendliche ethische Forderung herabgedrückt zu einem Kochrezept« (vgl. auch I X / 2 , 139). Mit dem mystischen Ansatz von Kants Ethik dürfte Broch mindestens durch die Lektüre von Richard Adolf Hoffmanns Buch »Kant und Swedenborgs Wiesbaden 1909, vertraut gewesen sein (vgl. Amann/Grote, 1990, S. 1 1 3 ) .
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weisen, bleibt dem Individuum als Grundlage seiner wertsetzenden Handlungsmaximen nur der Rückgriff auf die Eigenverantwortlichkeit. Damit gelangt es zum Bewußtsein jener Grundverfaßtheit, die ihm Broch zufolge erkenntnistheoretisch ohnehin immer schon eignet, über die es nun aber allererst Klarheit gewinnt: zur Erkenntnis seiner »brückenlosen Einsamkeit« (z. B. I X / 2 , 126), deren Unabweislichkeit zugleich in qualvoller Weise das Erleben des in die dispersio gefallenen Ich kennzeichnet, da sie in diesem Zustand mit Orientierungslosigkeit identisch ist: »Indem die neue Entdeckung des Selbst sein Inkommensurables gegen alle Weltnatur enthüllte, diese in absolute Wesensdifferenz von ihm abrückte, ließ sie es zunächst in seiner ungeheuren Einsamkeit hervortreten. Das Selbst wird durch einen Bruch mit der Welt entdeckt« und generiert einen umfassenden »Solipsismus«. 78
Dieses Bewußtsein bildet aber zugleich die Grundlage der Einsicht in die eigene Souveränität, auf die Bertrand bewußt zuarbeitet. Im Gespräch mit ihm kommt Elisabeth zu Bewußtsein, daß >niemand ihr hilftunendliche Weg zur Synthese< mit dem idealen anderen Ich beschritten werden kann, die auch in diesem Falle erst im dialektischen Umschlag größtmöglicher Distanz erreichbar erscheint: Ich glaube, und das ist tiefster Glaube, daß nur in einer fürchterlichen Ubersteigerung der Fremdheit, erst wenn sie so2usagen ins Unendliche geführt ist, sie in ihr Gegenteil, in die absolute Erkenntnis umschlagen und das erblühen kann, was als unerreichbares Ziel der Liebe vor ihr herschwebt und doch sie ausmacht: das Mysterium der Einheit (112).'"
Die Differenzierung beider Liebesformen findet sich bei Meister Eckhart vorgebildet: Sich selbst als »mensche« zu begreifen bedeutet ihm zufolge, sich selbst in seiner kreatürlichen Nichtigkeit zum primären Liebesobjekt zu machen und gerade auf diese Weise zunichte zu werden. 8 ' Sich nach seiner »menscheit« zu nehmen meint dagegen, allgemein zu werden durch das Lassen seiner selbst.82 Nicht zufällig wird das Telos dieses Prozesses als Erkenntnisakt apostrophiert und verweist mithin auf die geistig-intellektuelle Ebene als Ort der Einheitsfindung. Die »mystische Brücke der Liebe« (112), von der hier die Rede ist, meint das Subjekt in seiner pneumatischen Herkunft, die »platonische Idee des Menschen« ( X / i , 34) als Teilhabe am göttlichen Logos, betrifft den von den empirischen Gegebenheiten »Losgelösten, ihn erkennend als das Seiende, Ungeborene und Unsterbliche, das er ist« (I, 254), mithin den ungeschöpflichen Wesenskern des Menschen. Bertrands homoerotische Neigungen, die der Roman neben seiner Liebe zu " V g l . x / i , s . 43-45. Broch vergleicht die ideale Liebe als platonische Idee mit einem offenen Wertsystem, das sich von Neufaktum zu Neufaktum schrittweise ins Unendliche vorwärtsbewegt, da sein Ziel außerhalb des Systems liegt und deshalb nie eingeholt werden kann (IX/2, 168). 81 »amor enim amantem transformat in amatum«, Eckhart, LW II, 354, i2f. 8 " Vgl. O. Langer, Z u m Begriff der Innerlichkeit bei Meister Eckhart, in: Ruh (Hg.) 1986, S. 17—32, dort S. 22. 119
Elisabeth immer wieder thematisiert, sind deshalb Ausdruck
allgemeiner
Menschenliebe jenseits aller Geschlechtsgebundenheit. Die »mystische B r ü k ke der Liebe« reflektiert damit zugleich als V o r g r i f f auf das E S C H A T O N auf eine mögliche F o r m der Annäherung an den radikal weit jenseitigen, >ganz anderen< G o t t der negativen Theologie, dessen »Unweltlichkeit . . . nicht gesteigerte Abstraktion (ist), die als Oberbegriff des Vertrauten selber vertraut werden kann, sondern (eine) Oppositionssetzung zum All des Bestehenden schlechthin« darstellt. 8 ' B r o c h vermittelt bereits hier die Vorstellung christlicher Mystik v o n der Notwendigkeit affektiver Z u w e n d u n g zu G o t t mit dem neuplatonischen T h e o r e m des Aufstiegs zur Einheit auf dem W e g e der Erkenntnis.® 4 I m M e d i u m des Weltlichen muß sich diese Liebesauffassung freilich aporetisch auswirken, w o sie - g a n z gegen den Sinn v o n Eckharts Mystik
-
radikal asketisch gedeutet wird, statt Liebe als unendliche A u f g a b e jenseits bloßer Triebauslebung und als unabschließbaren geistigen Annäherungsprozeß zu begreifen 8 ' und damit zuzulassen: Demgegenüber sieht sich Bertrand aufgrund seiner Einstellung gezwungen, sich sowohl v o n Elisabeth als auch v o n Harry abzuwenden. Die F o r m der Liebe, die ihm vorschwebt, erweist sich als nicht lebbar und bildet damit einen ersten Hinweis auf den problematischen A s p e k t allseitiger Distanz zum Weltlichen, die das gnostische Denken kennzeichnet. D a s Gespräch mit Bertrand löst bei Elisabeth tatsächlich einen Bewußtseinsbildungsprozeß aus, der freilich in der konventionellen Befangenheit ihrer Lebenshaltung wieder versandet: E i n zarter Mut war über sie gekommen, . . . hinzugehen, wohin sie wollte, selber ihr Schicksal in die Hand zu nehmen und es zu bestimmen; aber all dies gelangte nicht sehr weit, blieb stecken in der Überlegung, was die Eltern sagen würden, wenn sie im Reitkleid bei Tische erschiene (114). "3 Jonas, 1964, S. 248. 84 Vgl. X / i , S. 36, w o Broch mit Bezug auf Augustinus' Unterscheidung zwischen volitio und nolitio feststellt, daß »der Liebesbegriff im christlich-aristotelischen Materialismus die ethische Forderung des Idealismus nach Beschreitung des unendlichen Weges der Erkenntnis« nicht aufhebt, sondern im Begriff der ethischen Erlösung mit ihm vermittelt wird, da derselbe den aktiven guten Willen fordert, um erkennend von der Vielfalt der Welt zur göttlichen Synthese fortzuschreiten. Vgl. auch X I I , S. 1 6 1 : Broch betont hier eindringlich die Zusammengehörigkeit von Erkenntnis, Weisheit und Liebe. 8 ' Ein derartiges Liebesverständnis führt paradigmatisch, in satirischer Brechung einer bornierten Liebesauffassung, die Methodologische Novelle< v o n 1918 ein (VI, S. 1 1 - 2 3 ) : »Philaminthens Aufgabe«, die in der Forderung besteht, mehr zu lieben als ihren Körper, »war eine Unendliche, denn mehr als ihren Körper lieben, hieß nach einem unendlich fernen Punkte streben, und dies zu vollziehen, bedurfte es aller Kräfte der armen, erdgebundenen Seele« (ebd., 18).
120
Bertrands Möglichkeiten, andere zur Autonomie zu erwecken, enden an jenem Punkt, w o das Individuum selbst sein neuerwachtes Selbstverständnis handhaben und eine adäquate Daseinsform ergreifen, sich mithin zum Subjekt emanzipieren muß. Erlösung als Herauslösung aus weltverfallener Determination kann letztlich nur durch deren selbständigen und aktiven Vollzug von selten des Ich erreicht werden, ist mithin in letzter Konsequenz immer Selbsterlösung. Immerhin zerfällt Elisabeth nun ihre geschlossene Welt überkommener Sicherungen, und es bleibt »eine beunruhigende Sehnsucht nach Ferne« (114), die allen aus der Bedingtheit ihrer Existenz herausstrebenden Schlafwandlern zur gnostischen Chiffre wird und auch das Grundmotiv für Bertrands Reisefreudigkeit bildet. Die Begegnung mit Bertrand hinterläßt bei Elisabeth wie bei Esch das Empfinden, »fremd geworden« zu sein (345), generiert mithin jene Fremdheit in positiver Konnotation als Überlegenheit über das Empirische im Sinne Jonas', dessen Voraussetzung ein »neues Wissen« (348) - Gnosis — ist, und das beide Bertrand verdanken. 86 Die bezeichnende >Sehnsucht nach FerneEschtransrationalen< und unbewußten Wissen darstellt, das im Medium des Traumes auf eine der realen Wahrnehmung entzogene und deshalb für Projektionen offene Figur übertragen wird: »Bertrands befreite Existenzform erscheint für den Leser nur noch in der seelischen Spiegelung der selbst >verstrickt< bleibenden Zeitgenossen«, stellt Ritzer richtig fest.88 Im gnostischen Kontext erscheint aber eine solche Unterscheidung ohnehin eher marginal, da die Begegung mit dem Boten ohnedies, wie ausgeführt, letztlich immer Selbstbegegnung ist. A u f diesen Selbstbegegnungscharakter weisen auch die zahlreichen Spiegelmetaphern im fraglichen Textabschnitt hin (vgl. z. B. 335). In Bertrand glaubt Esch das »Sinnbild eines anderen, . . . eines eigentlicheren und . . . größeren, der im Verborgenen blieb« zu sehen (335/336), das auf den weltjenseitigen, gnostischen Gott verweist. Wie schon Pasenow agnostiziert auch Esch Bertrand als »Arzt« (ebd.), der das Leiden des Individuums an seiner Weltverfallenheit heilen soll. Was Esch von ihm erwartet, ist Befreiung: E r soll die Haft Martin Geyrings, die die Einkerkerung des Individuums im Weltlichen symbolisiert, beenden (ebd.). Gerade in diesem Kontext erinnert Bertrand Esch jedoch an dessen eigentliche Absicht, nämlich ihn zu töten oder selbst getötet zu werden, um durch dieses Sühneopfer »Ordnung (zu machen), damit man von vorne anfangen kann« (3 39).89 Berorientierte Gewerkschaftssekretär Geyring und der Redakteur der sozialistischen Volkszeitung (259), die in ihm eigentlich den Klassenfeind sehen müßten (327), hohen Respekt entgegenbringen (3 26) und ihn als einen »anständige(n) Mensch(en)« (326) betrachten, den man nicht zu »behelligen« hat (325, 344). 91
Ritzer, 1988, S. 284.
'* »Entweder er oder ich« hatte es im Anschluß an Eschs Reflexionen über Bertrands Funktion als Erlöser und Antichrist auf S. 268 geheißen. 122
trands Weitabgewandtheit, die der Text hier erneut durch die charakteristische ironisch-distanzierte Mimik und Gestik des Protagonisten unterstreicht, korrelliert mit seiner Todesbereitschaft: »Du weißt es, mein Lieber, daß ich nicht fliehe. Zu lange schon habe ich diesen Augenblick erwartet« (337). Diese Einstellung entspricht dem gnostischen Daseinsverständnis, demzufolge der Tod das Verlassen der determinierenden Materialität und die Rückkehr in die pneumatische Heimat bedeutet und deshalb herbeigesehnt wird. Jonas 9 0 kennzeichnet demgemäß das Warten auf den Tod geradezu als das Charakteristikum gnostischer Lebenshaltung. Denn in der mythologischen Gnosis gibt es keine innere Vollzugseinheit zwischen der spekulativen Erkenntnis der pneumatischen Heimat und ihrem praktischen äußeren Wirklichwerden. Askese, im Sinne einer weitabgewandten Lebenshaltung, und Erkenntnis bleiben diesem Denken vorbereitende Akte für den Weg, den die Seele erst nach ihrem Tod zu gehen hat, und erfüllen lediglich Vorbedingungen für den Vollzug der Rückkehr: »Denn die Erkenntnis . . . ist Vorstellung, als solche geschieden vom Gegenstand. Die Spaltung von Subjekt und Objekt aber« bleibt in ihr nicht nur bestehen, sondern muß gerade »durch die ausdrückliche Erkenntnis sich in voller Schärfe auswirken«. 91 Wo der gnostischen Erkenntnis von der pneumatischen Heimat des Menschen keine praktische Umsetzungsmöglichkeit im Rahmen gegebener Realität zur Verfügung steht, bleibt dem Ich aber nur der Rückzug auf eine lebens- und weltfeindliche, quietistische Haltung. Im Zusammenhang mit seiner Todesbereitschaft apostrophiert Bertrand einmal mehr seine Fremdheit im Sinne gegenweltlicher Orientierung und Überlegenheit: Ich habe ja von uns beiden den leichteren Teil; ich brauche bloß wegzugehen. Der Fremde leidet nie, er ist losgelöst, - es leidet bloß der, der verstrickt bleibt (338).
So verstanden, liegt der Tod Bertrands aber bloß in seinem subjektiven Interesse und dient allenfalls der eigenen Erlösung. Die Rolle des Sühneopfers, das »die Welt zum Stand der neuen Unschuld erlöst«, weist er dagegen zurück — »Oh, Esch, . . . D u hoffst zuviel. Niemals noch ist die Zeit nach dem Tode gerechnet worden: immer stand die Geburt an ihrem Beginn« (ebd.) - und verkündet das nach gnostischer Geschichtsgesetzlichkeit noch ausstehende Kommen des Antichrist, das dem Erscheinen des erkennenden und liebenden Erlösers vorangehen muß. Das bedeutet zugleich die Relativierung der einmaligen Erlösungstat Christi und weist auf die Notwendigkeit zu ihrem abermaligen Vollzug auf der Basis einer neuen Religiosität hin. Seine eigenen Möglichkeiten - sowohl im Hinblick auf die
' " J o n a s , Teil II, 1954, S. 129/130. '* Ebd., S. 128/9. 123
persönliche Verwirklichung einer Existenzform, die Geist und Leben versöhnt, als auch hinsichtlich der Erweckung anderer zur Autonomie - relativiert Bertrand mit dem Hinweis auf seine Befangenheit in die heilsgeschichtliche Phase des Zerfalls, der auch er nicht entgehen zu können glaubt und die dem Kommen des Erlösergottes in die Welt entgegensteht: »Wir sind ein verlorenes Geschlecht, auch ich kann bloß meinen Geschäften nachgehen« (339). ». . . der Fremde kommt zum Fremden (in der Welt) und in auffallender Weise können Wesens- und Schicksalscharaktere des einen und des anderen wechselseitig alternieren«, hatte es bei Jonas geheißen. Der Epilog der Romantrilogie kommentiert die Sehnsucht nach dem »Führer« in verschärfter Relativierung seiner Rolle: . . . sein Weg ist . . . unser aller Weg, ist ein Suchen der Furt zwischen dem Bösen des Irrationalen und dem Bösen des Uberrationalen und auch seine Freiheit ist die schmerzliche Freiheit der Pflicht, ist . . . Sühne für das Geschehene, . . . Weg der Prüfung, . . . und auch seine Verlassenheit ist die . . . des Sohnes, dem das Ziel im Unerreichbaren entschwindet, da er vom Vater verlassen ward (715).
Wenn Esch im Hinblick auf Bertrand begreifend anmerkt: »Ans Kreuz geschlagen« (339) und Bertrand dieses Bild bestätigt und bis ins Detail auf die biblische Schilderung der Kreuzigung Christi abstimmt, gewinnt das Symbol des Kreuzes vor dem Hintergrund seiner resignativen Verweigerungshaltung eine veränderte Bedeutungsdimension, wird im Sinne Benjamins geradezu zur Allegorie. Es ist nicht mehr Zeichen der Erlösung der Welt durch Gottes eingeborenen Sohn, sondern Wahrzeichen der »Bankerott(erklärung) des« zur Ebenbildlichkeit unfähigen »Menschen vor seinem Schöpfer«, 92 Eingeständnis des Versagens einer Figur, die vom Autor — wie sich zeigen wird, in kritischer Absicht — in die gnostische Daseinshaltung eingespannt ist. Damit erweist sich zugleich der in der Forschung gelegentlich gegen Brochs Roman erhobene Vorwurf einer plakativen Verwendung christlicher Symbolik, die mit der Ausrichtung auf eine neue Religiosität nichts zu tun habe, als haltlos." Wenn Esch etwa gegenüber Pasenow, der das Kommen des Erlösers in Christus bereits vollzogen sieht, darauf insistiert, daß »noch Finsternis« herrsche und »erst der Sohn . . . das Haus bauen« werde (589, 554), wird deutlich, daß die christliche Eschatologie für ihn nur noch gleichnishafte Bedeutung besitzt und bereits historisch ist. In diesem Zusammenhang ist auf eine Einsicht Wagner-Egelhaafs zu verweisen, derzufolge die häufige Verwendung christlicher Motive in mystisch orientierten Texten keinen Widerspruch zu deren häretischen Absichten darstellen, ' ' J o n a s , 1954» S. 136. 93 S o etwa Sigrid Schmid-Bortenschlager, Dynamik und Stagnation, Hermann Brochs ästhetische Ordnung des politischen Chaos, Stuttgart 1980, S. 72.
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benötigt doch jede Art von Mystik und ebenso jeder literarische Text konkretes Material, das variiert und über seine Bedeutungsgrenzen hinausgeführt werden kann.' 4
Was Bertrand betrifft, so präsentiert er sich selbst wohl als der Bote, der das Wissen um den gnostischen Prozeß von Einheit, Abfall und Rückkehr zur Transzendenz ebenso übermittelt wie die Anamnesis an die den Menschen als solchen auszeichnende pneumatische Herkunft: »Keiner steht so hoch, daß er den andern richten darf, und so verworfen ist keiner, daß seine ewige Seele nicht Ehrfurcht gebietet« (337), woraufhin Esch denn auch »plötzlich Bescheid (weiß) wie noch nie« (ebd.); er erweist sich jedoch schon deshalb nicht als Erlöser, weil er sich permanent in die Passivität entzieht. Obwohl und gerade weil der Text mit dem Hinweis auf Bertrands »Leichtigkeit« (340) einmal mehr auf dessen ätherische Geistigkeit im Kontext der Gnosis hinweist," ist der »Erkennende und Erkannte« (337) nicht identisch mit dem »erlöste(n) Erlöser«,' 6 denn Esch ist es, »als müßte der Leichte auf Krücken gehen« (340). E r ist offenbar, wie so viele auf Krücken- oder Rekonvaleszenzstöcke angewiesene Protagonisten der Trilogie, 97 des aufrechten Ganges als Kennzeichen einer humaner Bestimmung gemäßen Existenz noch nicht in vollem Umfang mächtig und verfehlt dieselbe markant, wenn auch in ganz anderer Weise als die übrigen Protagonisten. Hier relativiert der Roman in bedeutsamer Weise den gnostischen Mythos, worauf zurückzukommen sein wird. Bertrands Uberzeugung, einem >verlorenen Geschlecht< anzugehören, sein Glaube an die Unmöglichkeit positiver Selbstbestimmung, sind ein anderer Ausdruck für Eschs Erkenntnis, daß »Wahrheit und Leben nichts mehr miteinander zu tun haben« (. . .), und provoziert daher als Konsequenz die permanente Verneinung des Bestehenden, die »konstante >Abreise< aus dem Leben«.' 8 Die Mitteilung von Bertrands Selbstmord bedeutet dennoch nicht wirklich seinen Tod, wie in der Forschung gelegentlich gesehen worden i s t . " Sie fungiert vielmehr als Metapher radikaler Negation 94
Wagner-Egelhaaf, 1989, S. 216. " V g l . Jonas' Darstellung der Lehre Orígenes', Teil II, 1954. S. 1 8 ; : »>Nach der Beschaffenheit der Orte, zu denen die Geister bei ihrem Abwärtsfließen gelangentieferGesetz< noch eine Verbindung zum als an sich wertlos betrachteten Leben aufrecht erhält (617). A u f diese Weise stellt Broch den Umstand heraus, daß gerade die gnostische Grundposition dem Ich die Hände bindet: Wo die Prämisse heilsgeschichtlicher Unhintergehbarkeit den Sinn der eigenen Gegenwart und ihrer Zerfallserscheinungen nur im notwendigen Durchschreiten einer sinnentblößten historischen Phase sehen kann, bleibt dem Ich kein konstruktiver Handlungsspielraum mehr. Als Konsequenz wird dem Intellektuellen und Rationalisten »selbst das Philosophieren« als versuchte Kontinuitätsherstellung von Geist und Leben »zu einem ästhetischen Spiel« (616). Wie schon angedeutet, erweist die Position der mythologischen Gnosis hier ihre praktische Aporie: Die dualistische Grundkonzeption von guter pneumatischer Heimat und schlechter Wirklichkeit sieht eine Versöhnung von Geist und Leben nicht vor und bietet deshalb weder eine Handhabe noch ein Motiv für dieselbe; als Möglichkeit der Selbsterhaltung erlaubt sie einzig die quietistische Abwendung von der Welt und bedeutet damit letztlich den Verlust praktischer Autonomie. Hatte das von Eduard von Bertrand gelebte Pathos der Distanz und Fremdheit gegenüber dem Bestehenden zunächst die Verstrickung in Verblendungszusammenhänge verhindert und einen produktiven Weltbezug des autonomen Subjekts hergestellt, so generiert seine Übersteigerung eine andere Form der Determination. Wie der Roman an Huguenau die Möglichkeit totaler irrationaler Weltverfallenheit durchspielt, die im Verlust aller geistigen Ordnung eskaliert und der noch im Moment ihrer gewaltsamen Selbstzersprengung das Stigma absoluter Verworfenheit eignet (712), so reflektiert er in der Haltung des lebensfeindlichen Rationalisten Bertrand Müller Weltflucht als die andere Variante gnostischen Daseinsverständnisses, die abermals nur die Möglichkeit des Selbstmordes übrigläßt — »Höre, Marie, ich will mich umbringen, erschießen 129
oder in den Landwehrkanal springen . . .« (637) — und relativiert, indem er beide Wege kritisch reflektiert, die Möglichkeiten gnostischer Daseinshaltung überhaupt. Bertrands quietistische Weitabgewandtheit manifestiert sich nicht zuletzt in einer bewußten Askese, die die Bewußtseinslage des Ich mittels »Fasten und Kasteiungen« (634) zu einer tranceartigen Verfassung schlafwandlerischen (635) Qualität steigert, in der ein »glückhafte(r), fast euphorische^) Schwebezustand« erreicht wird, »in dem alles Zukunft ist« (636/7). Solche »Passivität egoistischen Wissens« bleibt, daran läßt Broch keinen Zweifel, »schicksalshaft unethisch« (714) und verfallt als Asthetizismus schärfster Kritik: Angesichts Maries strikter Ablehnung des Suizids mit dem Hinweis, daß wir alle »in der Pflicht« sind (637), dessen ethische Bedeutung jenseits aller phrasenhaften Heilsarmeeweisheit sich dem Todeswilligen plötzlich erschließt (638), offenbart sich ihm seine asketische Weitabgewandtheit im nachhinein als verwerflicher Selbstgenuß: Indes ich wollte von Pflicht nichts hören, da sie mich zur Erkenntnis zurückgerufen hätte; . . . ich wollte den Zustand meines eigenen Schwebens aufrecht erhalten (ebd.).
Denn das Ich, nun schon längst nicht mehr autonomes Subjekt, weiß sehr wohl, daß es zur letzten Erkenntnis noch nicht vorgedrungen ist: ich maße mir durchaus nicht an, jene letzte Stufe des Wissens erreicht zu haben, . . . es ist viel eher die Angst, das Schwebende zu verlieren . . . (636).
In Brochs >Pamphlet gegen die Hochschätzung des Menschen< (ca. 1932) wird die unethische Valenz solcher Haltung ausfuhrlich kommentiert. Der Asket wird dort als eine Abart des Philisters und Ästheten erkannt: Genießer wie Asket sind in gleicher Weise Materialisten . . .; ihnen ist die Vielfalt der Welt . . . eine problemlose . . . Wirklichkeit . . . Damit ist aber auch der Sündenkeim in ihnen offenbar. Denn indem sie die Weltvielfalt und das in ihr beschlossene körperliche Dasein, gleichgültig ob bejaht oder verneint, als Existenz aber hinnehmen, verzichten sie darauf, die Vielfalt zur Synthese zu formen. Ihr Werterlebnis ist punktuell, bleibt an der billigen und risikolosen Ekstase der ersten Schenkung haften und befriedigt sich an dieser. Solches Steckenbleiben am Anfang des Weges - dessen unendliches Ziel erst das Göttliche ist - ist schon für Origenes in der privatio, für Augustinus in der amissio der Quell, um die demütige Kleinheit des Menschen v o r Gott nicht vergessen zu lassen . . . ( X / i , 35).
Den zweifelhaften Wert quietistischer Weltverneinung als Konsequenz eines gnostischen Dualismus sieht z. B. Esch sehr wohl, wenn er auf Huguenaus Frage, ob er sich aufs Kloster vorbereite, antwortet: »Es ist die Frage, ob man flüchten darf« (499). Wo die gnostisch-gegenweltliche Orientierung alle Erkenntniskraft abstrakt bleiben läßt und das Individuum handlungsunfähig macht, ist die 130
humane Lebensform ästhetizistisch verfehlt. Ihr Korrelat ist eine Wirklichkeit, aus der alles Lebendige verschwunden ist, da sich der Anteil, den das Geistige an ihr nimmt, auf eine letztlich geistlose, technisch-rationale Handhabbarkeit und Zweckmäßigkeit beschränkt, worauf schon die kommerzielle Form der Realitätsbeherrschung Eduard von Bertrands im zweiten Roman der Trilogie hindeutete. Die Konsequenz solcher Haltung reflektiert eine Passage des Heilsarmeemädchen-Zyklus, wenn es heißt: Ein welker Himmel blickt auf Asphaltplätze,/In Straßenschluchten, und wie eine Krätze/Breitet sich Stein auf grauer Erdenhaut./. . . Der leere Steinraum, fluchund schmerzbeladen,/. . . (480/81).
Die inhumane Phänomenalität der zeitgenössischen Wirklichkeit erscheint aus dieser Perspektive weniger als Ursache, denn als Konsequenz allseitiger skeptischer Distanz des Geistes zum Leben. So gewinnt Eschs Vorstellung von Bertrand als »Ubermörder()« (268) plötzlich einen realen Sinn. Die »Pflicht«, zu der sich der Intellektuelle Bertrand Müller von Marie aufgerufen fühlt, ist freilich von jenem bloß standes- und berufsbezogenen Pflichtbegriff zu unterscheiden, den Joachim v. Pasenow als eine Form protestantischer Ethik vertritt, und wird von Bertrand schließlich als Appell zu einer verantwortungsethischen Haltung begriffen, wodurch die Heilsarmee-Phrase »einen neuen Sinn erhält und zutrifft« und damit einen »neue(n) Sinn im Bewegten« generiert (638). So kann sich endlich auch der Erzähler der »Heilsarmee«-Passagen nicht länger der Erkenntnis verschließen, »daß bloß im Aktiven der Sinn und das Ethos meines Lebens zu suchen ist« (615). Doch hat er sich in eine Entfernung zur Realität hineinmanövriert, die diese seinem Zugriff entzieht, so daß er an ihr »verblutet« (618). Der A k t der Wertsetzung ist einem solchen Ich nicht mehr möglich, denn »Wert ist eine Angelegenheit des empirischen Lebens« (IX/z, 125), zu dem Bertrand Müller die Brücken abgebrochen hat. In seinem Wunsch, »die Welt formen zu dürfen« (616), wirkt nunmehr nichtsdestoweniger jenes Motiv autonomer Wertsetzungspotenz, deren Wahrnehmung nach Brochs Verständnis den Ethiker vom Ästhetiker trennt. Doch ist der mystische Weg des »Platoniker(s)«, »die Welt erfassend, sie dir gestalten zu können und dich selbst zu Gott zu erlösen« (618), dem Ich verstellt, w o es seinem Formungswillen am falschen Gegenstand Ausdruck zu verleihen versucht. Sein Bemühen, Nuchem und Marie, die er für seine Geschöpfe hält, in Liebe einander zuzuführen und so ihr Handeln zu bestimmen, scheitert (616). Mit diesem Faktum verbindet sich zugleich eine bedeutsame metaphysische Aussage des Romans; denn Bertrands Scheitern in dieser Hinsicht liegt nicht nur in der Konsequenz erzähltheoretischer Erwägungen, denen zufolge einmal >gesetzte< Handlungsprämissen sich ihrer eigenen, immanenten 131
Logik gemäß verselbständigen und mithin vom Erzähler nicht mehr willkürlich manipulierbar sind. Zugleich relativiert der Text auch die Gültigkeit des Glaubens an einen allmächtigen christlichen Schöpfergott, der die Geschicke der Welt lenkt, indem er straft und begnadigt, und bestätigt das Selbstverständnis des ohnmächtigen gnostischen Gottes, der nicht in die Welt kommen kann. Bertrand muß konstatieren, daß ihm Nuchem und Marie fremd sind, sie, denen meine letzte Hoffnung gegolten hat, die Hoffnung, daß sie meine Geschöpfe seien, . . . daß ich ihr Schicksal in die Hand genommen hätte, es zu bestimmen. Nuchem und Marie, sie sind nicht meine Geschöpfe und waren es niemals. Trügerische Hoffnung, die Welt formen zu dürfen! (616)
Angesichts solcher Erfahrungen agnostiziert das Ich sich als »entthronter Gott« (577). Sein Fehler liegt in der Verkennung der Ungeschöpflichkeit und Möglichkeit zur autonomen Selbstbestimmung derer, die es lenken will und die mithin der willkürlichen Formung entzogen sind. Zugleich sieht Bertrand damit seine Rolle als gnostischer Heilsbringer desavouiert, dessen Funktion nicht nur der Epilog des Romans, sondern auch essayistische Äußerungen von 1952 zugunsten einer genuin mystischen Konzeption zurückweisen: Gewiß ist die Frage nach Wiedererweckung des Glaubens die dringendste dieser Zeit, doch völlig hypothetisch ist es, daß diese Erweckung an einen persönlichen erlösenden Heilsbringer gebunden sein müsse. Der Erlösungsgedanke ist zutiefst der menschlichen Seele eingeboren . . . ( X / i , 5 2).
Dessen ungeachtet bleiben gnostische Leitfiguren in Brochs Romanwerk durchgehend präsent. Sie erscheinen in der Gestalt des Seelenfuhrers Lysanias im >VergilGnosis< erkannt hat 10 ') in der >Verzauberung< und in der Figur des Imkers in den >SchuldlosenMassenwahntheorie< wird ihre Funktion als diejenige des >Heilsbringers< reflektiert, 106 von dessen Kommen die Bewußtseinsbildung des Individuums zu autonomer Subjektivität zwar nicht abhängt, das aber als »Ekstase-Hilfe()« (XII, 18) oder »zusätzlicheQ, richtunggebende() Rationalkraft« (XII, 306) die Befreiung aus der Verstrickung erleichtert. Noch mit Rücksicht auf die Figur des Lysanias, dessen Genese aus der Jungschen Archetypenlehre eine hochkomplexe ist und der weniger als eigenständiger Protagonist, denn als spezifische Bewußtseinsstufe des Vergil im gleichnamigen Roman begriffen werden muß, 1 " 7 bleibt aber hervorzuheben, daß die genannten Protagonisten ihr " " Loos, 1971, S. 175. X I I , S. 300. '°7 Vgl. Koichi Yamaguchi, Das Seelenproblem und der Mythos in Hermann Brochs >Tod des VergilSchlafwandler< relativieren offenkundig ein streng dualistisches gnostisches Weltbild, das die Einheit der Transzendenz und die Disparatheit der Immanenz als antinomische Gegensätze versteht und aus dem sich, wie der Roman anhand der Figur Bertrands zeigt, zwangsläufig eine quietistische Lebenshaltung ergeben muß, die für die reale weltliche Existenz nur aporetische Folgen haben kann. Gegen ein deterministisches Selbstverständnis, das das Sein zum Objekt transzendenter Mächte degradiert, insistiert der Epilog der Trilogie, auf dessen Diskursebene die Diskrepanz zwischen Autor und Erzähler aufgehoben ist, auf die Kategorie der Freiheit als »mystische(s) Deduktionszentrum« (710) aller Anstrengungen ihrer Protagonisten und meint damit zunächst die »Zurückholung des >Subjekts< aus den >Objekten«SchlafwandlerSchlafwandler< integrierte Essay zum >Zerfall der Werte< zunächst die Genese der Zersprengung eines ganzheitlichen Weltverständnisses nachzuzeichnen und erkennt ihre Gründe in der dialektischen Selbstauflösung der mittelalterlich-scholastischen Logik infolge deren »Fehlabsolutierung« des unendlichen platonischen Ziels ihrer deduktiven Theologie: Wo die konkrete irdische Institution Kirche sich selbst und ihr oberstes Symbol, die Eucharistie, absolut setzt, die als Danksagung für die Menschwerdung Gottes den Zustand des Erlöstseins behauptet, sich mithin auf Erlösung als konkretes historisches Faktum bezieht und diese, ungeachtet des weiter bestehenden Übels in der Welt, dogmatisch behauptet, verendlicht sie ihre eigene Logik und fuhrt sie auf diese Weise selbst ad absurdum (I, 535).' Angesichts ihrer Bankrotterklärung verliert das christliche Wertorganon aber seine Basis, und die geistige Orientierung muß sich »vom Gebiet des Vernunftschlusses auf das der lebendigen Erfahrung« verlegen (I, 536). Die Wendung zur Unmittelbarkeit erfolgt aber, wir sagten es schon, 2 sowohl in innerer als auch in äußerer Hinsicht: als positivistische Ausrichtung auf die empirische Außenwelt in Form eines säkularen Naturalismus und als innere Hinwendung auf die unmittelbare Gotteserfahrung in der eigenen Seele im Protestantismus.' Brochs Kritik an demselben trifft nicht die mystische Gotteserfahrung als solche, die den Glauben aus der dogmatischen Theologie der Kirche wieder auf seinen Grund und Ursprung zurückfuhrt, 4 sondern eben jene »asketischeQ Nur-Religiosität« (I, 539/40) und »Entblößung . . . von allem Gefuhlsmäßig-Irdischen« (580), mittels derer sich das Individuum vor der empirischen Realität verwahrt. Denn in ihrer rationalen »Alleszermalmung des Inhaldich-Irdischen« erkennt Broch die »Wurzel der Wertzersplitterung« (581). 1
Vgl. auch X / i , S. 155, 159, 173. Vgl. hier Abschnitt 2.1. ' V g l . X / i , 196; I X / 2 , 183. 4 Die neue Unmittelbarkeit »legte mit der Verweisung des Individuums auf das einsame Ich zugleich die positivistische Wurzel< alles Platonischen frei. Die neue Christlichkeit protestierte nicht nur, sie reformierte auch, . . .« (I/538; vgl. ähnlich auch X / 2 , 170). 2
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Deren historische Notwendigkeit, die in der Aufhebung einer erstarrten und hohlgewordenen Dogmatik besteht, bleibt zwar unbestritten, jedoch kann eine solche Haltung ebensowenig ein ganzheitliches und sinnvolles Daseinsverständnis herstellen. Die Beziehung des Protestantismus zur weltlichen Realität bleibt eine allenfalls neutrale, da dieser keinerlei Wert zugemessen wird: Das Verhältnis des Protestantismus »zu den außerreligiösen Wertgebieten ist nicht das der Einbeziehung, sondern das der Tolerierung . . . Der protestantischeste Gedanke: der kategorische Imperativ der Pflicht . . .: die äußeren Lebenswerte werden nicht in den Glauben einbezogen, werden nicht theologisch kanonisiert, sondern . . . bloß an Hand der Schrift streng . . . überwacht« (578/579).
Wo sich der Geist aber in der alleinigen asketischen Verpflichtung auf Selbstbewahrung aus der Wirklichkeit fernhält, um sich an sich selbst zu delektieren, verantwortet er gerade deren Geistlosigkeit und Fremdheit. (Vollends pervertiert erscheint solche Haltung, w o sie sich zur calvinistisch-puritanischen Moral um ihrer selbst willen verselbständigt, - eine Konsequenz, die der Roman anhand der Figur Lohbergs schildert). In solchen Überlegungen sind die Thesen Max Webers zur protestantischen Pflichtethik mit Händen zu greifen. Das Ergebnis ist eine Realität, in der sich das »Uberrationale« reiner Geistigkeit und die irrationale, ungeformte Wirklichkeit unvermittelt gegenüberstehen. In diesem Sinne begreift Broch die autonom gewordene Vernunft als »ethisch womöglich noch verwerflicher, noch >bösersündiger< als das Irrationale«, da sie »keine Formung mehr zuläßt« und so den endgültigen Zerfall einleitet (I, 691). Sinn macht nur eine Haltung, die sich konstruktiv zum Faktum des Inder-Welt-Seins verhält und die menschliche Existenz als ethische begründet, indem sie die Wirklichkeit zu begreifen und formend zu ergreifen versucht. In dieser Perspektive beschwört Broch »Freiheit« als »mystisches Deduktionszentrum«: . . . der Begriff der Autonomie, in dem die Freiheit ihre logische Begründung erfährt, hat mit moralischen Haltungen nichts zu tun: gewiß ist diese Autonomie noch nicht die Erfüllung des letzten göttlichen Wertes, aber sie ist die alleinige Form, in der er sich erfüllen kann. (Alles weitgehend bei Kant vorbereitet, natürlich auch bei Piaton und Augustinus; . . .) (I, 726).
Broch befindet sich mit dieser Position auf einer Linie mit Ernst Blochs >Geist der Utopiec . . . nur das Erkennen, das sich wesentlich zu unserer Existenz verhält, das sich in Existenz Denken, ist wesentliches Erkennen mit dem Paradox im Blick, existentielles Pathos, demgegenüber die ganze entäußerte, leidenschaftslos systematische Prozession nichts als lügenhaftes, wohlfeiles sich Herausreflektieren aus dem Unmittelbaren bedeutet, aus dem uns allein die Wahrheit entgegensieht.' ' Bloch, Ges. Bd. 16, S. 568. 136
In diesem Sinne behauptet Broch das Vorhandensein der Idee eines mystisch fundierten protestantischen Wertorganons und mit ihm »die Sehnsucht nach Wiedervereinigung« v o n Ich und Welt und benennt als Kronzeugen für derartige Bestrebungen Leibniz, 6 »der alle Wertgebiete seiner Zeit umfaßte, . . . der Jahrhunderte vorweggenommen und die lingua universalis der Logik vorausgesehen hat, (der) in jener letzten Vereinigung auch die Abstraktheit einer religio universalis gedacht haben mußte, deren Kälte zu ertragen, vielleicht bloß er fähig war, er, der tiefste Mystiker des Protestantismus. Doch die protestantische Linie verlangte erst die Alleszermalmung« in Form der kantischen Philosophie (I, 582).7 Die kosmogonische Ausrichtung
der Leibnizschen Philosophie
erkennt
Broch in der »Zwischenschaltung der Monade zwischen der positivistischen, >weltlichen< Welt und dem platonisch-intelligiblen Ich« ( X / i , 200), eine Bewertung, die im Hinblick auf Brochs eigene Ansätze zu einer K o s mogonie in Gestalt der Werttheorie und dem ihr inhärenten Prinzip der >Setzung der Setzung< im Gedächtnis zu behalten ist. Indem Broch Leibniz als >Mystiker< in den Blick nimmt, wählt er eine durchaus seltene Perspektive auf diesen Philosophen, den alle gängigen Philosophie-Geschichten dem Rationalismus zuordnen; diese Apostrophierung involviert für Broch freilich keinerlei Widerspruch. Tatsächlich haben diverse Interpreten Leibniz' (und Kants) Philosophie als »Rationalisierung der Mystik« 8 verstanden, als Synthese v o n Universalmathematik und Universalmetaphysik. Mahnke hat gezeigt, daß sich Leibniz' Schrift >Von der w a h ren Theologica mystica< als Assimilation mystischen Denkens in seine eigene Philosophie auffassen läßt, wobei im Vordergrund die kritische A u s -
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Neben einer umfangreichen Sammlung verschiedener Werke Leibniz' in lateinischer, französischer und deutscher Sprache (vgl. Amann/Grote, 1990, S. 146/7) besaß Broch: Baruzi, Jean, Leibniz et l'organisation religieuse de la terre. D'après des dokuments inédits. A v e c un fac-similé, Paris 1907; Exner, Franz v., Uber Leibnitz'ens Universal-Wissenschaft, Prag 1843; Zimmermann, Robert, Der Kardinal Nikolaus von Kues als Vorläufer Leibnitzens. Ein Vortrag, Wien 1852; ders., Leibnitz' Monadologie. Deutsch mit e. Abhandig. über Leibnitz' und Herbart's Theorieen des wirklichen Geschehens, Wien, 1847; ders., Das Rechtsprinzip bei Leibnitz. E . Beitrag zur Geschichte der Rechtsphilosophie, Wien 1852.
7
Vgl. X / i , S. 164: »Leibniz (ist) ausgesprochener Mystiker und ausgesprochener Rationalist, und seine Philosophie ist ausgesprochen kosmogonischen Charakters — um dies zu erkennen, muß man bloß den Aufbau seiner Philosophie mit der Kants vergleichen —, sie trägt in allem . . . den Stempel ihrer Entstehung aus dem Bedürfnis des Mystikers, ein rationales kosmogonisches Korrelat neben das mystische Erleben zu setzen. So erscheint Leibniz in vieler Hinsicht als Repräsentant des kosmogonischen Protestantismus, ja vielleicht als der letzte Repräsentant des christlich-kosmogonischen Denkens überhaupt.«
8
Mahnke. D . , Leibnizens Synthese von Universalversalmathematik und Individualmetaphysik (1925), Stuttgart-Bad Cannstadt 1964, S. 1 1 6 . 1
37
einandersetzung mit quietistischen und wissensverachtenden
Strömungen
der traditionellen Mystik steht. Ihr setzt Leibniz die Forderung nach »intellektuelle^) Vertiefung und ethische(r) Aktivierung der religiösen Mystik« entgegen. 9 Seine in der >Monadologie< formulierte Emanationslehre ist, wie Mahnke zeigen kann, offenkundig mystischen Ursprungs. 1 0 Sie verpflichtet das an der geistigen Substantialität des Seins teilhabende Humane zur A k tivität (da das Wesen v o n Substantialität sich niemals in Passivität erfüllen könne) und zu weltsetzendem Handeln und generiert auf diese Weise eine rationalisierte F o r m der Mystik, »in dem er sie in eine vernünftig begründete Welt- und Lebensanschauung umgestaltet(e), die zu tatkräftiger Hing a b e an das höhere Ganze auch hier auf E r d e n begeistern soll(te)«." A u c h Luthers reformatorischen Bestrebungen gesteht Broch eine — freilich ebenso vergebliche - Ausrichtung auf eine »positiveQ
kosmogoni-
sche() L ö s u n g « im Sinne des »Urchristentum(s)« z u 1 2 und wird nicht müde zu betonen, daß »der mystische A u f s c h w u n g , der am E i n g a n g jeder religiösen B e w e g u n g steht«, sich »nicht im schweigenden Versenken in den G o t t « erschöpft, »im stummen Hinströmen ins All«, sondern sie (die Mystik, A. G.) verlangt als notwendiges Korrelat die rationale, logische Legitimierung, die >Glaubhaftmachung< des mystischen Erlebnisses. Dieses Korrelat kann aber bloß durch eine Gesamtanschauung der Welt erfließen, . . . die die Möglichkeit dartut, wie die Welt und der Mensch in seinem Gesamtcharakter aus dem göttlichen Urprinzip abzuleiten ist. Das mystische Erlebnis verlangt also nach der Kosmogonie, m. a. W. nach der logisch-dialektischen Entwicklung des Alls aus sich selbst . . . ( X / i , 149)-''
' Ders., S. 9; zit. nach: A. Heinekamp, Leibniz und die Mystik, in: Koslowski (Hg.), 1988, S. 185—206, dort S. 190. Bereits die etymologische Herkunft des Begriffs >Monade< (v. gr. monas = eins) spricht für diesen Zusammenhang. " Heinekamp, 1988, S. 190. " X / i , S. 157; vgl. auch I, 538/9, w o Broch das reformatorische, also erneuernde, gegenüber dem protestantischen Moment in den Bestrebungen Luthers betont und darauf hinweist, daß die Zeit der Reformation »noch voller Sehnsucht nach mittelalterlicher Zusammenfassung war und daß eben eine Persönlichkeit wie die Luthers, die zwar nicht mehr logisch, doch kraft ihres menschlichen Reichtums die disparatesten Werttendenzen in sich zusammenfaßte, diesem Bedürfnis der Epoche entgegen(kam)«. ,J
Vgl. auch X / i , 162, w o Broch sich explizit zu der »These einer unbedingten Korrelation zwischen Mystik und Kosmogonie« bekennt. Literaturtheoretisch entspricht dem mystischen Erlebnis und seiner rationalen Transformation in Kosmogonie, wie schon deutlich wurde, die Form des polyhistorischen Romans: »Das Streben nach kosmogonischer Totalität, von dem die dichterische Wendung zur Historie stets geleitet war, fuhrt heute ins Polyhistorische, und von hier aus nimmt die Dichtung ihren neuen Anlauf zum Vorstoß ins Unerforschte, in ein noch unerforschtes Wahrheitsgebiet ethisch-prophetischen Sollens (IX/2, 209).
138
In ontologischer wie in ethischer Perspektive gibt schon die zitierte Bezugnahme Brochs auf die Verwerflichkeit der privatio bei Origenes und der amissio bei Augustinus (X/i, 35) den ersten Hinweis auf mystisch orientierte Kosmogonien in der Tradition des Piatonismus, die Broch offenkundig in vieler Hinsicht wegweisend wurden. In eins mit ihrer Abgrenzung gegen das gnostische und das neuplatonische Denken soll versucht werden, die Beziehung dieser Lehren zu christlichen Glaubenspositionen zu bezeichnen, um auf dieser Folie Brochs Ausrichtung auf eine neue Religiosität darstellbar zu machen. 14
14
Der Neuplatonismus, Origenes und Augustinus sind in der Reihenfolge ihrer Nennung in wachsendem Maße christlich orientiert. Die folgende Darstellung verweist auf die christlichen Elemente ihrer Lehre, soweit es für die Darstellung der Positionen Brochs erforderlich erscheint. Daß feinere Differenzierungen entfallen mußten, ließ sich im Rahmen einer notwendig gedrängten Darstellung nicht vermeiden.
M9
5- Mystisch orientierte Kosmogonien: Neuplatonismus (Plotin), Origenes, Augustinus
5.1. Neuplatonismus und Origenes 5.1.1.
Metaphysisches Stufenmodell und Logosbegriff
Wie auch das Werk Augustinus' stellt Origenes' Lehre den Versuch einer Synthetisierung von Urchristentum und Piatonismus dar. Nicht zufallig bezieht sich Broch in seinem Essay >Pamphlet gegen die Hochschätzung des Menschern ( X / i , }4ff.) auf Origenes' Frühschrift >Peri ArchonPeri Archon< eine Entstellung der echten christlichen Tradition in einem der Gnosis und dem Neuplatonismus verwandten Sinne ist, wird niemand bestreiten. Durch die Einführung von Lehren wie die Präexistenz der Seelen, die Entstehung der sichtbaren Welt als eine Folge des >Falls< dieser Seelen, die Rückkehr aller Seelen in ihre ursprüngliche Einheit und die ewige zyklische Wiederholung dieses Kreislaufs werden die soteriologischen Wahrheiten des Sündenfalls und der Erlösung zu konstitutiven Momenten einer Ontologie umgedeutet, die den Kreislauf des Seins, seinen Hervorgang aus dem Absolutum und seine Rückkehr zu ihm nicht mehr wirklich als >Sündenfall< und >Erlösung< auffaßt . . .« (Ivänka, 1964, S. 101). J
Vgl. Jonas II, 1954. S. 176, Anm. 2. Vgl. Ivänka, 1964, S. 1 1 2 / 1 3 . ' J o n a s , 1954, S. 179.
4
140
pher, deutlich schwächer als der Vater, den er nicht sehen kann. Die Bezeichnungen »Vater« und »Sohn« gehören erkennbar der Terminologie der christlichen Lehre und ihrem Glauben an den »persönlichen Schöpfergott« an, »der offenbart und begnadet«, ihre nähere Kennzeichnung als Pneuma und Logos weist sie aber als un- und überpersönliche Instanzen und Seinsstufen einer identischen geistigen Substanz ähnlich wie in der neuplatonischen Philosophie aus. 6 Schon hier deutet sich jene Ontologisierung der christlichen Dreifaltigkeitslehre an, die — christlichen Glauben und neuplatonische Emanationstheorie vermittelnd — in den Lehren Augustinus' und Meister Eckharts wiederkehren und später bei Hegel wieder aufgenommen werden wird: Vater, Sohn und Heiliger Geist erscheinen als die drei Seinsstadien des Absoluten: als reines Pneuma, seine Objektivation ins Endliche, Irdische, in die Anschauung und seine Rückkehr aus derselben zu sich selbst als sich seiner selbst bewußt gewordener Geist.7 Diese Theologie schließt aber im Grunde die christliche Vorstellung eines inkommensurablen persönlichen Gottes bereits aus, der als solcher nicht Gegenstand der Teilhabe sein kann und auch keine Abstufungen seines Seinsgehaltes zuläßt. 8 Deshalb wird Eckhart sich zur Versöhnung beider Modelle später gezwungen sehen, hoch über den personalen christlichen Gott die reine, über- und unpersönliche >Gottheit< zu setzen.9 Das emanative metaphysische Deduktionssystem, das Origenes entwikkelt, setzt sich nach abwärts als Subordinationsverhältnis verschiedener Seinsstufen fort. Der Sohn (Logos) erscheint dem Menschen, der den Vater selbstverständlich gleichfalls nicht sehen kann, als dessen bildliche Wahrheit und nimmt demgemäß für den Aufstieg der Erkenntnis eine vermittelnde Position ein.10 In seinem Johannes-Kommentar deutet Origenes die Rolle des Logos sowohl ontologisch-geistespsychologisch als auch religiös-heilsgeschichtlich: Der Logos ist jene geistige Kraft, die »als Mensch >in unserer Mitte 6 7
Ivänka, 1964, S. 95, 101/2. Z u Origenes vgl. ebd., S. 102 und Jonas, 1954; zu Augustinus vgl. R. Otto, Westöstliche Mystik, 3. überarbeitete Auflage München 1 9 7 1 , S. 10. Mit Bezug auf Eckhart heißt es dort: »Wie Augustin versucht er die Personen-Spekulation der Kirchenlehre zu stützen und zugleich zu verwenden, indem er wie Augustin >den Sohn< den Selbstgedanken Gottes, die Erkenntnis, mit der >der Vater< sich selbst erkennt und seiner selbst und seiner eigenen Wesensfülle bewußt ist, sein läßt. . . . Der Sohn ist das ewige >Wort< (Logos, A . G.), nämlich das >Wort< . . . als Gedanke oder Erkenntnis, und zwar als die göttliche Selbsterkenntnis, die dann vergeblich zu einer eigenen >Person< gemacht werden soll.«
' J o n a s , 1954, S. 1 3 8 - 1 4 0 . ' Vgl. Otto, 1 9 7 1 , S. 10. 10 J o n a s , 1954, S. 180/81.
141
stehtLeuchtkraftaußen< . . ., muß den göttlichen Ursprung heranziehen. Dies aber geschieht im Begriff der Gnade . . ., die dem Menschen den guten Willen, zugleich abet auch die Autonomie ihrer Annahme oder Nichtannahme verleiht . . . ( X / i , 56/7; Herv. A . G.).
Die Passage distanziert sich in ihrer Formulierung von der Zuordnung der Willensfreiheit zum christlichen Gnadendogma, wie es bei Augustinus vertreten wird. Offenbar versteht Broch das Willensprinzip als von der göttlichen Gnade unabhängiges Moment in der freien Verfügungsgewalt des Subjekts, das ihm aufgrund seiner Teilhabe am Absoluten wesentlich zukommt, und deutet es so auch bei Origenes. Dem Willensprinzip kommt so, bei Broch wie bei Origenes, eine synthetisierende Funktion zu: E s vermittelt den christlichen Affekt der Sehnsucht nach dem Absoluten mit dem erkennenden Aufstieg zu ihm nach dem Vorbild des Neuplatonismus im sittlichen, wertsetzenden Handeln.
5.1.3. Die Mittelstellung des Menschen Die für das Menschliche charakteristische Seinsstufe ist die der Psyche; der Begriff der Seele bezeichnet aber bei Origenes (ebensowenig wie Pneuma oder Logos) keine Substanz, wie dies in der mythologischen Gnosis der Fall war und auch der christlichen Auffassung entspricht, sondern einen be20
Vgl. Ivänka, 1964, S. 103, 124, i}6.
144
stimmten transistorischen Zustand. Die psychische Seinsstufe hat eine Mittelstellung zwischen Pneuma und Hyle inne und ist nach beiden Richtungen hin offen. Kraft ihres unverlöschlichen Anteils am Pneuma eignet ihr aber in unverlierbarer Weise Gottesebenbildlichkeit, die die Aufgabe wie die Möglichkeit zur Selbstaufhebung in Richtung auf gesteigerte Geistigkeit bis hin zur Rückkehr ins Ur-Eine impliziert. 21
5.1.4.
Existenzwahl
Die Vorstellung von einem ungeschöpflichen göttlichen Seelenkern des Menschen teilt Origenes mit dem Neuplatonismus Plotins. Damit versteht er den Abstieg in die determinierende empirische Befangenheit wie den Aufstieg zu Autonomie und Ebenbildlichkeit, die in der mythologischen Gnosis heilsgeschichtliche Stadien jenseits des subjektiven Zugriffs waren, als Vollzugsmöglichkeiten des Individuums und Modifikationsmöglichkeiten seiner selbst und bestimmt es kraft Statuierung seiner in der pneumatischen Herkunft verankerten Willensfreiheit zum Subjekt, das zwischen gut und böse wählen muß, womit das spezifisch gnostische Moment der hilflosen Verfallenheit und Erlösungsbedürftigkeit zurücktritt. Menschliches Dasein ist gekennzeichnet als »An-der-Grenzlinie-Stehen und zugleich Inder-Entscheidung-Stehen« im Sinne des christlichen Seinsverständnisses. 22 Zugleich wird aber durch die Betonung der vollständigen Autonomie indirekt die christliche Interpretation des Angewiesenseins auf den göttlichen Gnadenakt, der die Lehren Augustinus' kennzeichnet, außer Kraft gesetzt. Wie auch im Neuplatonismus ergibt sich daraus die Möglichkeit der freien Hinwendung des Ich auf seinen geistigen Wesenskern und die Chance zur Rückkehr in die Einheit. Allerdings entwickelt Origenes - anders als Plotin — noch kein Konzept zur mystischen Vorwegnahme des Aufstiegs: Die Wahl einer Seinsstufe treffen die Intelligenzen, denen Ewigkeit im Sinne der Reinkarnation eignet, jeweils vor ihrer Materialisierung, und sie bleibt für die Dauer ihrer Leiblichkeit gültig. Demgegenüber erscheint bei Plotin 2 ' aufgrund der impliziten Identität des Seelenkerns mit dem Göttlichen die metaphysische Aufstiegsbewegung " Jonas, 1954, S. 196. " Ivänka, 1964, S. 103, versteht dies als ursprünglich christliches Motiv in der Lehre Origenes', das sich aber im neuplatonischen Kontext verselbständigt. ' ' Broch nimmt Bezug auf Plotin in I X / 2 , 146: Wo die lebendige Fortentwicklung von Wertsystemen in bloßer Konservierung erstarrt, »tritt das ein, was Plotin unter dem Vergessen des göttlichen Ursprungs verstanden haben wollte . . .«. Plotins Lehre kannte Broch nicht nur aus den bereits zitierten Monographien zur abendländischen Mystik, die sich in seinem Besitz befanden, sondern auch aus der vergleichenden Abhandlung Gustav Falters, Philon und Plotin, Marburger Diss. phil., Giessen 1906 (vgl. Amann/Grote, 1990, 69).
45
in die Einheit als dem jeweiligen Bewußtsein nicht nur immanente Möglichkeit, sondern als entelechetisches Werden, dessen Ergreifung - unter der Voraussetzung der Reinigung der Seele von allem Fremden und also der Abwendung v o m Weltlichen — dem Individuum jederzeit möglich ist. Die Erhebung in die Transzendenz wird damit »zeitneutral«, wird zu einer reinen, objektiv überzeitlichen Funktion der »inneren Zeit« in der Verfügungsgewalt des mystisch konzipierten Subjekts. 24 Plotin gelingt es, den Platonischen Apriorismus, verknüpft mit den Metaphern des Lichtes und der Erleuchtung, zu verbinden mit dem Aristotelischen Konzept des Geistes, der, immer tätig, das Göttliche in uns ist. 2 '
Die voluntaristischen Elemente der Origeneischen Lehre fordern demgegenüber zwar noch den sukzessiven Vollzug des Aufstiegs in der objektiven Zeit, zugleich bricht aber die Abwandlung dieser Bewegung in eine dem christlichen Denken ganz fremde zyklische Dynamik, deren Agens das Subjekt ist, deren Einmaligkeit. 26
5.1.5.
Zyklisches Weltbild
D a das Innehaben der jeweiligen Seins- und Erkenntnisstufen Origenes zufolge nie ein endgültiges ist und die Spannung der Geistwesen auf zunehmende Vollkommenheit hin nach dem Prinzip von Systole und Diastole in permanentem Wechsel ansteigt und nachläßt, entsteht ein Kreislauf der Intelligenzen, der sich zugleich als zyklische Weltbewegung manifestiert, ist Realität als solche doch das Ergebnis der von ihnen eingenommenen Stufen. 27 Nach Origenes folgen zahlreiche Welten aufeinander, und innerhalb jeder einzelnen ist die Seinsstufe der Geistwesen fix; der Stufenwechsel kann sich immer nur am Beginn eines neuen Intervalls vollziehen. A n dessen Anfang ergreifen die Geistwesen die unterschiedlichen Vollkommenheitsgrade aus eigener Wahl. Insgesamt folgt die zyklische Weltbewegung gemäß der göttlichen Heilsökonomie aber einem Aufwärtstrend und stellt sich als »zunehmende Wiederannäherung an den Urzustand« dar, 28 dessen Erreichen jedoch nicht das Ende dieser Dynamik markiert, denn aufgrund der unverminderten Geltung des Freiheitsprinzips ist der Abfall aus der Einheit jederzeit wieder möglich und perpetuiert so den Prozeß ins Unendliche.
24
Jonas, 1954, S. 2 1 1 . K . Flasch, Meister Eckhart. Versuch, ihn aus dem mystischen Strom zu retten, in: Koslowski (Hg.), 1988, S. 94—110, dort S. 96. 26 Ivänka, 1964, S. 1 2 4 / 1 2 ; . 27 Jonas, I954> S. 1 9 1 . 28 Ebd., S. 192/193. 21
146
Die Bewegung der Welten präsentiert sich demgemäß in zwei unterschiedlichen Verlaufsgestalten: einer >inneren< eschatologischen, die sich im Abfall aus der Einheit und in der Rückkehr in sie kreislaufartig vollzieht, und einer äußeren, deren einzelne Momente die bezeichneten Weltzyklen bilden und die sich als Pendelbewegung »ohne sichtbaren terminus ad quem« infinit fortsetzt. 29 Die so bei Origenes vollzogene Ontologisierung von Abstieg und Erhebung widerspricht — ebenso wie die ihr immanente Annahme von der Präexistenz der Seelen — selbstredend der christlichen Auffassung von Sündenfall und gnadenhafter Erlösung 3 0 und macht in ganz ähnlichem Sinne auch das in der mythologischen Gnosis als notwendig vorausgesetzte Auftreten eines gnostischen Boten überflüssig.
5.1.6.
Deterministische Einschränkungen des Autonomieprinzips
In einem Fragment, dessen Ausrichtung zu der für Origenes charakteristischen Betonung der Willensfreiheit der Intelligenzen nicht recht passen will, begründet sein Autor, warum der an Leiblichkeit gebundenen Seinsstufe eine notwendige Tendenz zum fortgesetzten Abfall vom Pneuma zukommt: Da das Leben im Fleisch in höherem Maße von sündigen Antrieben affizierbar ist als das körperlose, verfällt es umso eher der Verstrickung in Leidenschaften. - Ein Motiv, das schon in Piatons Phaidros begegnet. 5 ' Diesem Anteilhaben am Nicht-Sein, der platonischen Vorstellung von der Depotenzierung des Göttlichen der Seele, entspringt auch die fortdauernde Dynamik der zyklischen Seinsbewegung, die durch das stets wiederkehrende Moment des Abfalls in Gang gesetzt wird. Das beschriebene deterministische Moment beurteilt Jonas als zutiefst heidnisches und zugleich rationales, das jetzt sein Ordnungsprinzip aus dem phänomenologischen Gehalt der einzelnen Seinsstufen selbst, aus einem sachlichen Kriterium also, empfängt und keine Willkür (der Willensbewegung)
als unabdingbar irrationales und unberechenbares Prinzip mehr zuläßt. 32 E s ist dieses Moment, das die fast gleichzeitig mit dem Origeneischen Werk entstehende Philosophie Plotins und ihr Kernelement, die Emanationslehre, kennzeichnet, derzufolge das höchste Sein, der reine Geist, sich Ebd., S. 193. Ivänka, 1964, S. 1 0 1 . '' Phaidros, 248 c-e: Durch eine gewisse Abwärtsneigung verlieren die Seelen ihr Gefieder, fallen zur Erde und inkorporieren sich: Zunächst nehmen sie verschiedene Grade geistig-humaner Existenz ein und werden dann, infolge der so bedingten Gewöhnung an das Vernunftlose der Leidenschaften, im nächsten Leben zu tierischen Existenzen. J2 Jonas, 1954» S. 200. >0
47
infolge seiner überfließenden Mannigfaltigkeit in ein System notwendig auseinander hervorgehender und abfallender Emanationsstufen selbst objektiviert, um schließlich aus der vollständigen Veräußerung zu sich selbst zurückzukehren. Der Kosmos ist demgemäß — anders als in der chrisdichen Schöpfungslehre — keine freie Tat Gottes, sondern sein sich in immer geringerer Pneumatisierung materialisierendes Werden gehört zum Wesen Gottes wie das Ausstrahlen zur Lichtquelle, ist »innere(s) Strukturgesetz der Selbstentfaltung Gottes«." Damit ist eben jene Verlaufsgestalt gekennzeichnet, die in der idealistischen Philosophie Schellings oder Hegels wiederkehrt und die Broch als »Setzung . . . >aus der Pistole geschossengottsucherischen< Kontext versteht und ihr Einmünden in mystisches Denken pointiert: . . . keiner der großen Philosophen, die seitdem (seit der Scholastik, A . G.) aufgetreten waren, hatte vergessen, daß Philosophie eigentlich Theologie zu sein hat, und der Theologie galt ihrer aller Sehnsucht. Das galt für Descartes, für Spinoza, für Leibniz, für Kant (der deutsche Idealismus kann geradezu als Versuch zu einem protestantisch-scholastischen Weltorganon aufgefaßt werden), das gilt für Kierkegaard und, auffallend genug - als müßte das Religiöse am Schluß zu seinem Ursprung zurückkehren - gilt es für den >gesetzestreuen< Neukantianismus Cohens und für Edmund Husserl (IX/2, 184). Das Denken der beiden Letztgenannten versteht Broch aber als Ausdruck der »jüdischen Abstraktionsmystik«. 2 Bezweifelt w i r d demgemäß Ritzers These, daß es Broch fortan »nicht mehr um irgendwelche >metaphysische Deutungen des Weltgeschehens«< gehe,' da diese, wie erwähnt, als Fundament für die v o n Broch als notwen1
1
Diesen Nachweis führen in unterschiedlicher Prägnanz die Studien Vollhardts (1986) und Ritzers (1988). Vgl. X / i , 201/2: »Es kann durchaus nicht als Zufall angesehen werden, daß die große idealistische Philosophie . . . von den protestantischen Theologen Kant, Fichte, Schleiermacher, Hegel getragen wurde, sowenig wie es Zufall war, daß die Neuentdeckung Leibniz' von katholischen Theologen wie Bolzano und Brentano geschehen mußte und . . . daß beide Richtungen schließlich in eine Abstraktionsform einliefen, die nicht nur durch ihre Träger Cohen und Husserl, sondern aus ihrer Entwicklung heraus . . . zur jüdischen Abstraktionsmystik« führen mußte.
' Ritzer, 1988, S. 75. 'S*
dig erkannte Vermittlung v o n Geist und Welt unverzichtbar bleiben, bedingen sie doch deren Möglichkeiten. N u r werden dieselben eben nicht mehr im
Bereich
wissenschaftlicher
Philosophie,
sondern
in der
mystischen
Selbstevidenz innerhalb eines subjektiven Wesenskerns gesucht. 4 Darüberhinaus wäre, wenn man Ritzers These zustimmen wollte, ohnedies nicht zu plausibilieren,
warum
der
religiös-metaphysische
Problemkomplex
in
Brochs Werken einen derart breiten R a u m einnimmt.
6.1. Welt als >Setzung von Setzungen< 6.1.1.
Auseinandersetzung mit Hegels P h ä n o m e n o l o g i e des Geistes
Setzung v o n Setzungen< grenzt sich in der F o r m kritisch-korrektiver A n v e r w a n d l u n g v o n Hegels Realitätsmodell ab, das v o n der Wirksamkeit eines
einzigen
Wertsubjekts
in
Gestalt
des
absoluten
Weltgeistes
ausgeht.' Dieser setzt die Welt, um sich in ihr zu objektivieren und anschließend aus der Selbstentfremdung zu sich selbst zurückzukehren. D i e Orientierung
dieser A u f f a s s u n g am
neuplatonischen
K o n z e p t der
not-
wendigen, stufenweisen Emanation des Geistes bis in die tiefste Materialität und seinem anschließenden Wiederaufstieg in die reine Transzendenz ist offenkundig. 6 In ihr sieht Broch einen ersten bedeutenden Schritt in Rich4
Vgl. I X / 2 , 247 (von 1941), w o Broch seine Bemühungen beschreibt, im Mittel der Werttheorie den »primitiv-empirischen Relativismus« der zeitgenössischen Philosophie zu brechen und den »Typus des objektiv gültigen Wertes« neu zu begründen, ohne dabei in einen ungehemmten Metaphysizismus zu verfallen: D a »gewisse Grundlagenfragen — deren Beantwortung einstens selbstevident, d. h. religiös selbstevident gewesen war — außerhalb des philosophischen Feldes zu lokalisieren« sind, das metaphysische Bedürfnis des Menschen jedoch unabweislich erscheint, muß »die religiöse Sphäre, in der es seine Allgemeingültigkeit besitzt . . ., dort aufgespürt werden, w o es unauslöschlich und ewig verwurzelt ist, nämlich in der Seele des menschlichen Individuums . . .«.
5
»Hegels Geschichtsphilosophie . . . war mit der Einführung des >Weltgeistes< der erste Versuch zur Installierung der »idealen Person< in der Seins-Erkenntnis, der erste, der die einfache >Setzung< (des Plump-Idealismus . . .) überwand und an ihrer Statt eine (platon-nähere) »Setzung von Setzung< zu etablieren trachtete: von der neueren empiro-kritischen Geschichtsmethodologie . . . ist unzweifelhaft die Entdeckung noch weiterer »idealer Personen< und damit die Aufstellung einer ganzen Hierarchie von »Setzungen von Setzungen von Setzungen usw.< zu erwarten« (X/2, 298/99).
6
Vgl. dazu mittelbar z. B. E . Topitsch, 1961, S. 237/238. Im Hinblick auf die Philosophie Marx' stellt V f . fest: »Grundlegende Begriffe und Denkformen wie die >Entfremdung< in seinen Jugendschriften und wie die Dialektik in seinem gesamten Werk stammen . . . aus alten neuplatonisch-gnostischen, eschatologischen und
153
tung auf eine »Realitätsplatonisierung« vollzogen, innerhalb derer der D u a lismus zwischen einem »idealistische(n) Hie und ein(em) materialistische(n) D o r t « sich aufzulösen beginnt ( X / i , 89). J e d o c h mußte sich Hegels K o n struktion »an ihrer allumfassenden Absolutheit ad absurdum fuhren« (I, 620): Gäbe es, wie Hegel es wollte, bloß eine einzige >Setzung der SetzungLogik einer zerfallenen Welt< v o n 1 9 3 1 (X/2,
163)
bereits impliziert,
sieht B r o c h
Hegels
entelechetisches
Ge-
schichtsmodell zunächst und v o r allem durch das desolate Bild der gegenwärtigen disparaten und aller Totalität entblößten historischen Wirklichkeit widerlegt. G a n z offensichtlich hat der tatsächliche Verlauf der Geschichte Hegels Vernunftoptimismus und die v o n ihm behauptete finale Teleologie der historischen Bewegung ad absurdum gefuhrt: In der zeitgenössischen Wirklichkeit kommt der Weltgeist keineswegs zu sich selbst, sondern ist weiter denn je v o n sich entfernt. 7 b) D i e kritische Wendung gegen die abstrakte Gestalt v o n Hegels objektiv e m Idealismus D a s in Hegels Denken neuplatonischem Muster folgende M o t i v der V e r weltlichung des objektiven Geistes als einer Stufe im Emanationsprozeß, die das Absolute bei der Rückkehr zu sich selbst in sich aufhebt, ignoriert die empirischen Bedingungen und Möglichkeiten konkreter Existenz des realen
7
apokalyptischen Überlieferungen. A u f verschiedenen Wegen, besonders über Hegel, sind diese Traditionen in das Denken des jungen Marx eingedrungen . . .« Z u m Einfluß mystischen Denkens auf die Philosophie Hegels vgl. auch D. Cizevski, Hegel bei den Slaven, Reichenberg 1934, S. 384, bes. Anm. 20; daß Hegel die neuplatonische Mystik offenbar über die Lektüre Meister Eckharts kennengelernt hat, belegt etwa der Aufsatz von T h e o Kobusch, Mystik als Metaphysik des moralischen Seins. Bemerkungen zur spekulativen Ethik Meister Eckharts, in: K . Ruh (Hg.), 1986, S. 49-62, dort z. B. S. 53/54. Vgl. L. Kreutzer, 1986 Die Schlafwandler oder Vom Verfallen einer Garantie, in: Kessler/Lützeler (Hg.), 1987, S. 1 - 6 , dort S. 3; zur verlorenen Finalität des Hegelschen Geschichtsdenkens und seinem Reflex bei Broch vgl. auch Lothar Köhn: >Leises Murmelm. Z u m Begriff der Schuld in Hermann Brochs >Die Schuldlosem, ebenfalls im o. g. Sammelband von Kessler/Lützeler (Hg.), S. 55-65, dort S. ;6.
154
menschlichen Subjekts zugunsten einer abstrakten Selbstbewegung des Geistes und entwertet damit zugleich das Dasein als solches: Wenn Broch Hegels »>Weg zur Selbstbefreiung der geistigen Substanz«< als »Weg zur Selbstzerfleischung aller Werte« kennzeichnet (I, 618), trifft er damit denselben Tenor, in dem sich auch der junge Lukäcs und Heideggers Daseinsanalytik im Namen Kierkegaards 8 gegen Hegels Ansatz gewandt hatten, demzufolge sich das objektive Gesetz des historischen Geistes in der abstrakten weltlichen Organisationsform von Staat und Kirche erschöpft, 9 und ihm ihr Verständnis von Ethik als »Pflicht der Entscheidung und (der) im Leben Form stiftende(n) Kraft der Dezision« 10 des Subjekts entgegengehalten hatten: »Wert«, heißt es demgemäß bei Broch, »ist eine Angelegenheit des empirischen Lebens« (IX/2, 125). Als entscheidende wertsetzende Instanz erkennt er aber das empirische Wertsubjekt. In dessen Namen setzt er zu einer kritischen Differenzierung jener »mystische(n) Geschichtsauffassung« an ( X / i , 61), die die Ordnung der einzelnen Epochen als einen »gewaltige(n) Spiegel« begreift, aufgerichtet . . ., damit der Geist, der die Epochen geschaffen . . . hat, sich selbst in ihm spiegele und >sich selbst zu Bewußtsein bringen Und was wahrhaft im Geiste der Zeit ist, so schließt die mystische Schau der Historie, das ist mit diesem Geiste zeitüberdauernd, denn er ist von der Zeitlosigkeit des Logos und der Göttlichkeit getragen ( X / i , 62).
Dieser unverkennbar auf Hegel bezogenen Darstellung stellt Broch die These entgegen, der Geist einer Epoche drücke sich keineswegs in all ihren Lebensbereichen gleichermaßen aus. Als wahrer Ausdruck ihrer Geistesverfaßtheit und wesentliches Moment ihrer traditionsbildenden Potenz könne vielmehr allein das Kunstwerk gelten: wohl Ausdruck der Idee einer Epoche, gleichwohl vorzüglichstes Produkt individueller menschlicher, nicht göttlicher Kreativität und Formungskraft; zwar Inbegriff von »Totalität und Unendlichkeit«, jedoch in seiner Konkretheit in sich abgeschlos' Nach dessen Verständnis hatte die Philosophie des deutschen Idealismus insgesamt und besonders diejenige Hegels die Notwendigkeit, »mich selbst in Existenz zu verstehen« ignoriert und so den Typus des >abstrakten Denkers< geschaffen, den Kierkegaard vehement kritisiert: »Eben weil das abstrakte Denken sub specie aeterni ist, sieht es ab von dem Konkreten, von der Zeitlichkeit, vom Werden der Existenz, von der Not des Existierenden . . .« (Zit. nach P. Kunzmann/F.-P. Burkard/F. Wiedmann, dtv-Adas zur Philosophie, München 1991, S. 163, dort ohne Nachweis). 9 In ähnlicher Ausrichtung wie bei Broch, Lukäcs oder Heidegger bewegt sich die Kritik Blochs, der Hegel wohl das Bemühen um die vollkommene Vermittlung von Gott und Mensch zugute hält, sich aber festzustellen genötigt sieht, daß sich bei diesem »mit der Kirchengemeinde . . . der gottmenschliche Inhalt erschöpft«. Bloch, G A 8, Subjekt - Objekt, S. 318. Bolz, 1989, S. 47.
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sen, einmalig, unkorrigierbar, unwiderruflich - und also begrenzt und endlich (ebd., 63/4); wohl Symbol des Zeitgeistes, dennoch nicht dessen unmittelbarer, sondern lediglich dessen mittelbarer Ausdruck. Erst in dieser »doppelte(n) Reduzierung des mystischen Gehaltes« (ebd., 65) erscheint Broch die mystische Geschichtsauffassung legitim. Doch es darf aus der nun sehr konkret gewordenen Zuordnung des Zeitgeistes zu der ihm angehörenden Kunst immerhin die Erlaubnis abgeleitet werden, ihn seiner persönlichen Willens- und Erkenntnisäußerungen zu entheben und statt seiner das Kunstwerk den Weg durch die Zeiten antreten zu lassen,
transportiert es doch als konkretes Produkt menschlicher Wertsetzung die Werthaltung seiner Ursprungsepoche und macht zugleich »das durch die Jahrhunderte hindurchrauschende mystische Fluidum überflüssig« (ebd., 65). Trotz aller säkularisierenden Einschränkungen gehorcht aber nach Brochs Verständnis gerade der Kunst schaffende Mensch einem »transfiniten Wirksamkeitsdruck« (ebd., 65/66), der ihn befähigt, aus dem chaotischen Material seiner Epoche deren »Idee« intuitiv zu erfassen und symbolisch zum Ausdruck zu bringen. Das Vorhandensein dieser Intuition aber ist es, das Broch als »von tiefster Mystik erfüllt« begreift, »denn es ist die Mystik des Menschseins schlechthin, es ist die Mystik seiner Humanität« (ebd., 66), die sich als Teilhabe am Logos und dessen Umsetzung in »fremdes Material« (ebd., 65) erweist.
6.1.2. Die Perpetuierung des idealistischen Setzungsprinzips als Potenz endlicher Wertsubjekte Bei aller Kritik an Hegel behält Broch aber nicht nur dessen Annahme bei, daß sich das historische Geschehen nach logischen Gesetzen vollzieht, er hält auch an Hegels idealistischem Grundtheorem fest: »Die Welt ist Setzung des intelligiblen Ichs, denn unverloren und unverlierbar bleibt die platonische Idee« (I, 622). Nur kann die Realität nicht länger als unmittelbare Setzung eines absoluten Geistes verstanden werden. Vielmehr erkennt Broch dieselbe in ihrer jeweiligen historischen Ausformung als Ergebnis der Setzungen zwar autonomer, aber endlicher und mithin unvollkommener Wertsubjekte, die er auch als fiktive oder überpersönliche Setzungsinstanzen z. B. in Form von Staaten, Völkern oder Kulturkreisen denkt," welche ihrerseits Setzungen realer menschlicher Wertsubjekte darstellen: Doch die Setzung ist nicht >aus der Pistole geschossenSchlafwandler< verweist, und die willentliche Ausrichtung auf ihn gewährleisten dabei zugleich die intersubjektive Beglaubigung der Wertsetzung, bilden deren Legitimationsbasis und schützen die Setzungen gegen subjektive Willkür. Die notwendig beschränkte Gültigkeit der Setzungen endlicher Wertsubjekte 15 und deren >natürliche AbwärtsneigungSackgassen< gerät, die zur Zersprengung von übergreifenden Wertsystemen und zum chaotischen Zerfall der Wirklichkeit führt, angesichts derer sich das Individuum seiner Pflicht zu autonomer Wertsetzung und zur Ausrichtung am Absoluten neu bewußt werden muß. In seiner methodologischen Struktur trägt das Prinzip der >Setzung der Setzung* so i. G . zur Konzeption Hegels der transzendentalen Bedingtheit der Wertsubjekte Rechnung, ohne deren Weltsetzungspotenz zu mindern, und begründet damit die Origeneische Position im Zusammenhang der Ergebnisse der zeitgenössischen Naturwissenschaft neu, stellt es doch nichts anderes dar als die Introduzierung des ideellen Beobachters in das Beobachtungsfeld, wie dies v o n den empirischen Wissenschaften, zum Beispiel von der physikalischen Relativitätstheorie, ganz unabhängig von erkenntnistheoretischen Ansichten längst durchgeführt worden ist . . . (I, 623).
Zugleich vermittelt das Prinzip der >Setzung der Setzung* (gemeinsam mit der später zu erläuternden Konzeption des Eckhartschen >Fünkleins im Seelengrunde*) Brochs Uberzeugung von der radikalen Transzendenz des A b soluten, das - anders als der christliche Gott - in keiner Weise auf die 13
»Das Prinzip der >Setzung der Setzung* liefert endliche Einheiten, und bloß im Endlichen ist das Denken zuhause« (X/2, 165). »Mit (der) Herausstellung einer individuellen und, innerhalb des von seinem Sum abhängigen Individuums, autonomen Kausalität werden individuelle, rationale und autonome Geltungsbereiche geschaffen, die sich als solche durchaus im idealen Wahrheitszustand befinden (das Ich kann sich nicht selbst belügen), die aber gegenüber dem reinen . . . Geltungsbereich des reinen Bewußtseins die logische Möglichkeit, ja Notwendigkeit des >IrrtumsNeue religiöse Dichtung?< formuliert Broch, der Geist müsse immer wieder zur Erde zurückkehren, da er »nur in Berührung mit ihr . . . die Einheit der Welt erschaffen« könne. E r werde aber mit dieser Einheit »immer wieder zum Platonischen streben« (IX/2, 56). Diese Zyklik, deren Pole einerseits durch die Ausrichtung der Wertsubjekte auf einen »religiöse(n) Totalwert« (XII, 17) und andererseits durch deren Abwendung von diesem im totalen »Religions«- oder Absolutheitsverlust (XII, 37/38) in der Phase der Wertzersplitterung charakterisiert sind und die sich nach dem Prinzip von Systole und Diastole vollzieht, zeichnet sich nicht nur in den schon erwähnten gemeinsamen Reflexionen Eschs und Bertrands in der >SchlafwandlerDas Unmittelbare in Philosophie und Dichtung< (ebd., 167ff.) oder >Theologie, Positivismus und Dichtung< (ebd., 191 f f ) . Sie taucht in der Geschichtsdarstellung der >SchuldlosenStimmenSchuldlosen< (V, 266/67). Entscheidend an Brochs Übernahme des Origeneischen Modells ist dessen Uminterpretation in logische Entwicklungsprozesse, die zu einer weitgehenden Entmythologisierung der vorgegebenen Konzeption führt und auf diese Weise neue Plausibilität gewinnt. Schon im Essay >Zur Geschichte der Philosophie< (1932) stellt Broch eine Gesetzlichkeit historischer Abläufe fest, die er paradigmatisch anhand der Orientierung des menschlichen Geistes in der Geschichte der Philosophie verifiziert. Er beschreibt dieselbe als positivistisch-idealistische »Wellenbewegung«, deren Phasen als »dialektischer Idealismus« und »induktiver Positivismus« gekennzeichnet werden ( X / i , 147) und die sich, wie Broch später in der >Massenwahntheorie< radikal formuliert, an den polaren Möglichkeiten »göttlicher Vollbewußtheit und tierischer Nichtbewußtheit« orientieren (XII, 144). Die idealistischen Phasen empfangen Broch zufolge ihr Movens aus dem Bewußtsein der >Einsamkeit des Ich< und seiner zwangsläufigen mystischen Rückwendung auf seinen pneumatischen Wesenskern zum Zwecke der Selbstvergewisserung und versuchen von dieser Grunderfahrung aus, »die Vielfalt der Welt als Setzung jenes einsamen Ichs als logische Möglichkeit zu demonstrieren« ( X / i , 147). Ihr Ursprung ist das Bewußtsein der »Ebenbildlichkeit« (XII, 136), die »Göttlichkeit eines jeden Menschen als Träger einer (göttlichen) Menschenseele« (ebd., 91), der »mystischeQ Aufschwung zu Gott« (X/i, 149): Die Einsamkeit ist die logische Gemeinschaft des Menschen mit Gott. (Sie wirkt) immer wieder in allen Akten der Weltsetzung . . (scheint) in ihnen (auf) und (verleiht) den geschaffenen Werken jenen eigentümlichen Charakter der Autonomie . . ., durch den das Ich selber ausgezeichnet ist (IX/2, 126).
Jeder mystische Aufschwung zu Gott zieht als notwendiges Korrelat jeweils eine Kosmogonie als »Gesamtanschauung der Welt« nach sich, die Welt und Mensch in ihrem Gesamtcharakter aus dem göttlichen Urprinzip ableitet und also die »logisch-dialektische() Entwicklung des Alls aus sich selbst« beschreibt ( X / i , 149). Als Beispiele für derartige mystisch-idealistische Geistesperioden nennt Broch neben dem Piatonismus (ebd., 148) etwa die Horus-Religion Ägyptens, die jüdische Gnosis, das Vorchristentum und den neuplatonischen Mithraismus (ebd., 150, 153), während ihm die Reforma160
tion »nicht als rein mystische Phase« gilt, weil es ihr nicht gelang, mit der idealistischen Mystik auch die Kosmogonie zu erneuern. Vielmehr besteht nach seinem Verständnis »die rationale Komponente der Reformation« gerade im »Fallenlassen der Kosmogonie« (ebd., 156). Jede idealistische Periode endigt aber in einer Art »logischer Übermüdung«, da ihr logischer wie ontologischer Kern, dessen Akzeptationsbasis »zum allerwenigsten als mystische Schau« verstanden werden kann, sondern vielmehr in ihren jeweils als selbstevident akzeptierten, tatsächlich aber immer historischen Deduktionsprämissen zu sehen ist, »einer rationalen Kritik schwer stand(hält)«, wie Broch zugestehen muß: Dialektik wird der Wirklichkeit niemals gerecht. E s ist der Punkt, w o sich die empirisch-naturwissenschaftliche Betrachtung von der kosmogonischen abzuspalten beginnt (ebd., 151).
Hintergrund dieser Überlegung ist die im logischen Exkurs< der >Schlafwandler< formulierte Überlegung, daß alle formale Logik insofern auf inhaltlichen Prämissen basiert, als das Abbrechen einer nach logischen Gesetzen angelegten Fragekette und das Sich-zufrieden-geben mit bestimmten Antworten nicht selbst Gegenstand der Logik, sondern der jeweiligen Ontologie ist, auf die sie angewandt wird. Die »logische Überzeugungskraft«, die ihr zunächst zugemessen wird, geht mit der fortschreitenden Logizität und der »Differenzierung der logischen Kraft verloren«: Die Glaubenssetzungen und Kosmogonien werden anzweifelbar, umso mehr, als sie infolge ihrer theologischen Kanonisierung auf die Dauer ihre eigentliche Legitimationsbasis, die unmittelbare innere religiöse Erfahrung des Indiviuums, verlieren (152). Das religiöse System erstarrt solcherart zu einer dogmatischen Theologie ( 1 5 1 ) und führt sich auf diese Weise letztlich selbst ad absurdum, da es mit der empirischen Erfahrung nicht mehr übereinstimmt. A u f diese Weise verliert es zugleich seine Weltdeutungspotenz und damit seine sinnstiftende Kraft, die dem Menschen eine angstfreie Orientierung in der Welt erlaubt. Darin begründet sich logisch jene >Abwärtsneigung< der Wertsetzungsinstanzen und ihre Abwendung vom Absoluten als Plausibiliätsbasis aller Wertsetzungen, die Broch nach Origeneischem Vorbild konstatiert: Gewiß, . . . eine völlige Überwindung der menschlichen Mangelhaftigkeit, des menschlichen Hanges zum anonym Formlosen, zur dämmerhaften Ich- und Gottlosigkeit, hat noch niemals stattgefunden, sonst wäre ja bereits das Gottesreich auf Erden etabliert, und so . . . (stehen) auch die v o m religiösen Erkenntnisvorstoß beherrschten . . . Geschichtsperioden, . . . diese größten Menschheitsepochen . . ., unter der Gefahr des Wiederabsinkens aus der einmal erreichten Erkenntnishöhe und Erkenntnisblüte, . . . unter der Gefahr des Niederganges . . . ( X I I , 132/33).
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Die »notwendige Selbsterneuerung« des religiösen Zentralwertsystems ist einzig auf dem Wege vorläufiger logisch-»dialektische(r) Selbstauflösung« möglich: . . . mit d e m P u n k t e der größten A n n ä h e r u n g an die A b s o l u t h e i t muß jedes Wertsystem . . . zur Selbsterneuerung schreiten. D e n n e w i g unerreichbar bleibt das A b s o l u t e , und jeder Schritt zu seiner A n n ä h e r u n g m u ß durch einen Schritt noch größerer A n n ä h e r u n g ersetzt werden. E s ist das Einbekenntnis eines jeden platonischen S y s t e m s , doch nicht >alle< W e r t - und Weltinhalte erfaßt zu haben, es ist der R ü c k g r i f f a u f die positive und positivistische E r f a h r u n g , zu der jeder Platonismus sich entschließen muß - und geschähe es selbst u m den Preis der dialektischen S e l b s t a u f l ö s u n g - . . . ( I X / 2 , 1 3 0 ) .
Die positivistische Gegenbewegung vollzieht sich in der Rückwendung auf die unmittelbare Erfahrung. Anders als in den Phasen des deduktiv-dialektischen Idealismus, die auf dem Moment des >cogito< als Prämisse menschlicher Seinsverfaßtheit basieren, nehmen die Phasen des induktiven Positivismus ihren Ausgangspunkt vom Faktum des >sumDingen< zuwendet, um in stets genauer Beobachtung die Welterkenntnis ihnen zu entlocken« ( X / i , 147). Das hier wirksame Movens bildet die »unendliche Unbekanntheit der unendlich vielfältigen Welt« (ebd.); übersetzt in die Grundfigur der gnostischen wie der mystischen Prozessualität heißt das: Der Phase der unio mit Gott folgt der Abstieg in die Vielheit irdischer Phänomene; er bezeichnet eine den einheitlichen Blick differenzierende Objektgerichtetheit, die mangels eines gemeinsamen Bezugspunktes notwendig ein disparates Realitätsbild und den Zerfall des Zentralwertsystems in einer Phase der Wertzersplitterung mit sich bringt. Der Zerfall der Kultur im allgemeinen und der modernen zeitgenössischen Kultur im besonderen wird einer säkularisierten, »hyperrationalen« Form von Erkenntnis angelastet, die, »im Gegensatz zur religiösen«, auf das Pneuma ausgerichteten, kein >Zentrum< hat, d. h. sie ist nicht u m eine zentrale Wahrheit angeordnet, v o n der aus das W i s s e n s u n d damit das K u l t u r o r g a n o n als Einheit . . . zu erfassen w ä r e , sondern sie ist ein G e w e b e , das in jedem seiner P u n k t e gleichbleibende B e d e u t s a m k e i t . . . besitzt, so daß der Einheitsblick, ohne den es eben keinerlei Partizipation (am Göttlichen, A . G . ) . . ., keinerlei Weisheit gibt, schlechterdings u n m ö g l i c h g e w o r d e n ist ( X I I , 1 5 ; ; Herv. A . G.).
So berechtigt der Vorwurf mangelnder Sinnstiftung durch eine nur um ihrer selbst willen angewandte Rationalität sein mag, so deutlich wird hier die Befangenheit des Autors in einem religiösen Seinsverständnis, dessen Basis eine unhinterfragbare »Wahrheit« ist. Wo die uneingeschränkte, als selbstevident anerkannte Gültigkeit eines theologischen Letztaxioms die verschiedenen Plausibilitätsketten der einzel162
nen Partialwertsysteme nicht mehr miteinander verbindet und einander hierarchisch zuordnet, treten diese in Konkurrenz zueinander mit dem Ziel, alle anderen Systeme der Gültigkeit der je eigenen Wertlogik zu unterwerfen; denn was »außerhalb des Systems stehen bleibt« und sich dessen L o g i k nicht einfügen läßt, »dem kann logisch und praktisch nicht Wertcharakter zugemessen werden, es bleibt Unwert« ( I X / 2 , 140), dem als dem Unbegreiflichen zugleich der Charakter des Drohenden, Dunklen anhaftet, dessen Existenz und Sosein dogmatisch hingenommen werden muß und dem das Individuum sich deshalb ausgeliefert sieht (ebd., 141). Als solches ist alles Unbekannte, der je eigenen Logik Unverfiigbare, angstauslösend. A n g e sichts der Vielzahl v o n Wertsystemen, der sich das Individuum in einer differenzierten, säkularisierten Kultur ausgesetzt sieht, ist es mit der erkennenden Anverwandlung v o n Welt und den entsprechenden Wertsetzungen restlos überfordert. E s gerät in Panik - nach Brochs Verständnis der G e genbegriff zur Ekstase 1 5 — und in einen erkenntnislosen Dämmerzustand, in dem es zur »bewußtseinsbefreite(n) Akzeptierung v o n Umweltbedingungen« und deren Unabänderlichkeit gezwungen ist ( X I I , 1 1 7 ) : . . . dieses Absinken des Menschen ins Untertierhafte, unbewußt der Natur, unbewußt des Todes, unbewußt des Gottes, unbewußt des eigenen Seins, diese nackteste Akzeptation ohne eine Spur von Partizipation ist Ergebnis der . . . in allem Dahindämmern wirkenden spezifischen Mechanik (XII, 153).
Wo Broch die scheinhaften und triebbestimmten Ersatzekstasen, die dem erkenntnisabgewandten, pneumafernen und determinierten Individuum zur Verfugung stehen, als »Traum« ( X I I , 1 1 1 ) , Rausch (ebd., 304) oder Trunkenheit' 6 kennzeichnet, kehren gnostische Charakteristika geistloser Diesseitsverfallenheit wieder,' 7 wie auch schon die den Dämmerzustand generierende >Geschlossenheit< der ihm zugrundeliegenden Partialwertsysteme und ihrer im Endlichen befangenen L o g i k der >Einkerkerung< im Irdischen des gnostischen Schemas entspricht. Beider Konsequenz ist denn auch die Fremdheit des Ich in der Welt. Die säkularisierte Rationalität der Partialwertsysteme dient nach Brochs Verständnis - anders als die religiös gebundene Vernunft, die die Triebe »diszipliniert und ihre Befriedigung ins Erkenntnismäßige, ins Produktive ' ' » . . . die Ich-Erweiterung bis zur völligen Identifikation mit dem Universum wird zum Phänomen der Voll-Ekstase. Umgekehrt wird jeder Wertentzug zur Ichverengung und als solche von negativen Gefühlen, nämlich von Panik begleitet.« (XII, 254; vgl. ebd. 19, 48, 75). ' ' So die Darstellungen des Dämmerzustandes in IV, 48 und in den >Vier Reden des Studienrats Zacharias^ V , S. 1 4 1 - 1 7 2 . ' ' V g l . Abschnitt 3.1: Das gnostische Denken beschreibt die diesseitsverfallene Selbstentfremdung des Menschen in den Metaphern der Betäubung, des Schlafes, der Trunkenheit oder des Rausches.
.6}
und Soziale verlagert« (ebd., 154) - nicht der Triebsublimierung. Sie verwechselt statt dessen die »Bändigung der äußern« mit der »Bändigung der innern Natur« (ebd.), »technische Zivilisationshöhe mit . . . Sublimationsniveau« (ebd., 135) und mutet zudem dem durchschnittlich geschulten Individuum eine Menge an wissenschaftlichen Erkenntnisvorstößen zu, die dieses nicht mehr nachzuvollziehen in der Lage ist, womit sie es gerade der Erkenntnislosigkeit ausliefert: Für den Laien . . . verliert das Abänderungs- und Vervollkommnungsvolumen (der Wissenschaft, A . G.) jeglichen Erkenntnischarakter, es wird ihn zum puren Akzeptationsvolumen, und zwar zu einem, das infolge überwältigender Größe und Vielfalt nicht nur seine Fassungs-, sondern auch seine Akzeptationskraft so sehr übersteigt, daß ihm . . . keine andere Wahl als die Flucht ins Massen- und Herdenhafte schrankenlosen Dahindämmerns übrigbleibt. Dies ist der Punkt, an dem die Erkenntnis restlos v o m Dahindämmern geschlagen wird, . . . an dem der Mensch jeden inneren Kontakt mit der Erkenntnis verliert, an dem er sie zum bloßen Instrument seiner verschiedenen Triebbefriedigungen degradiert . . . ( X I I ,
156).
Hinsichtlich der Folgen rasanter wissenschaftlicher Entwicklung erscheint Brochs Kritik zwar durchaus bedenkenswert. Jedoch muß die von ihm vorgenommene Differenzierung in zwei Arten von Erkenntnis zumindest als problematisch erscheinen: Der idealistischen, religiös rückgebundenen Erkenntnis wird eine säkularisierte positivistische Erkenntnisweise gegenübergestellt, gegen die Broch als »mephistophelische Unweisheit physiognomieloser Erkenntnispromiskuität« (ebd., 156) polemisiert. Den Vorwurf theologisch-dogmatischen Eiferertums kann man dem Autor angesichts solcher Formulierungen tatsächlich nur dann ersparen, wenn man voraussetzt, daß seine Überlegungen - ähnlich wie etwa Dürrenmatts >Physiker< — im Kontext des beispielsweise angesichts gentechnologischer Möglichkeiten nach wie vor relevanten Problems der Diskrepanz zwischen dem wissenschaftlich-technisch Machbaren und dem ethisch Vertretbaren stehen: Eine säkularisierte wissenschaftliche Vernunft sieht sich offenkundig hinsichtlich ihrer Wert- und Weltsetzungen nicht der ethischen Forderung des >guten Willens< unterworfen, als deren letzte und eigentliche Legitimationsbasis Broch die Bindung menschlicher Setzungen an den göttlichen Logos und also an die Ebenbildlichkeit betrachtet. »Begriffs- und erkenntnislos« (117) lebt das Individuum im Dämmerzustand determiniert und tiergleich dahin, seine Wertsetzungen sind dogmatischer Natur, da es seine Autonomie und Subjektivität eingebüßt hat und sich jenseits aller Sublimationsmöglichkeit an seine Triebgebundenheit verliert. Unfähig, »seine Ichlosigkeit zu durchbrechen«, vermag es »weder >sich selbst< noch die Außenwelt artikuliert zu >erkennen«< und zu formen; denn »ohne Ich-Bewußtheit und Ich-Erkenntnis gibt es auch keine Außen164
welterkenntnis« ( X I I , 1 1 7 ) . Ichlosigkeit und Gottlosigkeit sind aber für Broch Synonyme:' 8 Die »menschliche Seele« ist »zur Partizipation bestimm^ )«. Die »dem Menschen wesenhaftesten und damit auch stärksten Erkenntnisvorstöße« sind demgemäß die »religiösen, wie sie sich in den großen Erkenntnisreligionen geformt hatten« ( X I I , 132). Und auf wundersame Weise garantiert eben der Umstand des schon mehrfach zitierten mystischen >Fünkleins im Seelengrunde< nunmehr gerade in den im »Zerrissenheitswahn« endenden positivistischen Phasen, die das jeder verbindlichen Orientierung bare Individuum der Panik ausliefern, den A u f schwung zu einer neuen Religiosität. Während sich nämlich das unmittelbar objektgerichtete, außenweltbezogene, naturalistische Denken im Positivismus seinem »Urmaterial . . ., der empirischen Materie«, zuwendet, greift die unmittelbare innere, mystische Erfahrung im gleichen Bestreben nach unmittelbarer Objektgerichtetheit »auf das religiöse Urmaterial . . ., die A n g s t der einsamen Seele«, zurück und entdeckt auf diesem Umweg ihre pneumatische Grundverfaßtheit wieder ( X / i , 161). A u f dieser Basis setzt sie in einer »kopernikanische(n) Wendung« (ebd.) zur Errichtung eines neuen dialektischen Idealismus an, dessen Ausgangspunkt abermals die innere E r f a h rung der »Göttlichkeit eines jeden Menschen als Träger einer (göttlichen) Menschenseele« ist ( X I I , 91). Mystik wird so zum dialektischen M o v e n s der zyklischen historischen Seinsbewegung: Einerseits ist sie Ausdruck positivistischer Selbstbeschränkung der Erfahrung auf ihren unmittelbaren G e genstand und wird als solche zum A g e n s der Wertzersplitterung (Vgl. I, 5 57, 580/1), gerade weil sie aber »nichts anderes als die unmittelbare empirische Selbsterfahrung des Ichs« in seiner Gottesebenbildlichkeit darstellt ( X / i , 1 6 1 ) , legt sie zugleich die »>positivistische< Wurzel alles Platonischen« frei ( 1 , 5 3 8 ) . Damit wird nichts anderes behauptet, als daß empirische Erfahrung und idealistische Dialektik ihrem Ursprung nach identisch sind. Im mystischen A k t scheint die Differenz zwischen Idealismus und Positivismus aufgehoben. Das erklärt gewisse sprachlich-logische Unschärfen in Brochs Essayistik, gerade w o diese beiden Bereiche gegeneinander abgegrenzt werden sollen: »Man könnte mit mancher Berechtigung sagen, daß die positivistischen Religionsperioden«, - die doch definitionsgemäß v o n der unmittelbaren Erfahrung selbst zehren müßten, — »abseits v o m lebendigen Leben, die mystischen Perioden aber in diesem stehen und v o n ihm erfaßt sind« ( X / i , HO18
»Gewiß, eine völlige Aufhebung des menschlichen Dahindämmerns, eine völlige Überwindung der menschlichen Mangelhaftigkeit, des menschlichen Hanges zum anonym Formlosen, zur dämmerhaften Ich- und Gottlosigkeit, hat noch niemals stattgefunden, sonst wäre ja bereits das Gottesreich auf Erden etabliert« (XII, 132; Herv. A. G.). 165
Die beschriebene Zyklik modifiziert die dreiphasige gnostische Geschichtsbewegung nicht nur durch den Umstand der Perpetuierung, sondern vor allem dadurch, daß sie ihre Dynamik der Verfügungsgewalt der Wertsetzungssubjekte überantwortet und so, jenseits des Versuchs heilsgeschichtlicher Determination, am mystisch fundierten Origenischen Autonomieprinzip festhält, dessen Einbettung in historische Gesetzlichkeiten aber durch die Fundierung in Logisierungsprozessen plausibiliert: »Der Mensch hat seine Wirklichkeit zu verantworten« (X/2, 25), aber sein Denken ist einer bestimmten Eigendynamik logischer Prozesse unterworfen. Die so begründete zyklische Seinsdynamik spiegelt insgesamt die typisch mystische Grundbewegung des Aufstiegs zur unio und der anschließenden unvermeidlichen Rückkehr aus der Einheit in die Vielheit der Welt, der unter der Voraussetzung der totalen >Zernichtung< der abermalige Aufschwung folgt ad infinitum. Brochs Intention zur Formulierung des > Gesetzes psychischer Zyklen< ist eine durchaus praktische: Wer erkennt, daß historische Prozesse nicht objektive, sondern (inter)subjektive Ursachen haben, kann sich — in gewissen Grenzen — zu dieser Einsicht verhalten, indem er in der Anstrengung zu autonomer Wertsetzung nicht nachläßt. Die ketzerische Revolte jedes neuen mystischen Aufschwungs verhindert zugleich den bloßen Rückfall in bereits historische Formen des dialektischen Idealismus und zwingt als Agens historischer Erneuerungsprozesse die Theologie als Basis eines neuen Zentralwertsystems zur permanenten Neukonstitution ihres Fundaments jenseits aller Dogmatik: Wesen der mystischen Erneuerung ist aber Erleben von innen heraus, produktiver, radikaler Neuaufbau der Religion. . . . Die überrationale und wahrhaft mystische Komponente . . . rationaler Kritik aber liegt in dem tiefen Bewußtsein, daß die alte F o r m zu eng sei und gesprengt werden müsse. Niemals genügt ja irgendeine Form einem wirklichen Erleben, und immer bricht die Hoffnung auf, neue und endgültigere Form finden zu können ( X / i , 157).
Mystik wird so zum eigentlichen Movens für (geistes)geschichtliche Prozesse. Die in ihr gegebene, immer wieder zu vollziehende Rückwendung des Ich auf seinen pneumatischen Kern und mit ihm auf das Absolute und dessen unendliche ethische Forderung, die zum Ausgangspunkt von Weltzuwendung und Realitätsformung wird, gewährleistet die permanente Fortentwicklung des Gegebenen und begründet im Faktum der Relativität des menschlichen Geistes zugleich jene Zyklik aus Progression und Regression, die schon bei Origenes begegnet. Die Endlichkeit des Geistes fungiert wie bei diesem als bedingendes Moment der Sukzession und begründet zugleich das Vorhandensein der empirischen Kategorie >Wert< als solcher: 166
Die Einsamkeit ist die logische Gemeinschaft des Menschen mit Gott. Doch soll der Mensch von Gott sich unterscheiden — und er tut es —, soll sich das empirische Bewußtsein der Idee nach v o m Bewußtsein an sich unterscheiden, dann muß eben die Idee der Entwicklung, die Idee der Zeit und mit ihr die Idee der Relativität herangezogen werden. Der Begriff der Wahrheit bleibt leer, so lange der der Unwahrheit nicht neben ihn tritt. . . . Und der ethische Charakter der Wahrheit, ihr fordernder und drängender Zielcharakter wäre leer, wenn nicht eine . . . Kategorie bestünde, welche die Gewalt besitzt, sich der Kategorie der Wahrheit überzuordnen und diese eben zu dem zu machen, was sie im real-empirischen Leben ist: ein >Wert< unter den anderen Lebenswerten (IX/2, 126).
6.2. Die Wertkategorie als Medium des die Realität formenden Geistes D e r Hegeischen Relativierung der konkreten Realität als Durchgangsstufe des zu
sich selbst kommenden
Geistes und dessen
objektiv-abstrakter
Selbstbewegung stellt Broch seine Werttheorie und die in ihr verankerte konkrete Funktion des menschlichen Subjekts entgegen. D a >Wert< »eine Angelegenheit des empirischen Lebens« ist ( I X / 2 , 125), meint die E n t w i c k lung der Wertheorie ein bewußtes Bekenntnis zu dessen realer empirischer Existenzweise
und deren Weltformungsmöglichkeiten;
die Theorie
der
Wertsetzung verleiht nicht nur der Welt selbst, sondern auch dem Umstand des In-der-Welt-Seins Wert und Sinn, indem sie aufweist, w i e das Subjekt, dessen Blick im Mittel der unendlichen ethischen Forderung auf das A b solute gerichtet ist, in der permanenten Bearbeitung und Neuhervorbring u n g der Realität zu sich selbst kommt, indem es G o t t und Welt vermittelt: S o erkennt Vergil, daß die Mittelstellung des Menschen ihn befähigt, das poseidonisch-vulkanische Unten mit dem apollinischen Oben zu vereinen.' 9 Damit ist zugleich jene Transformation der traditionell mystischen Perspektive vollzogen, v o n der in Kapitel I.3 die Rede war: Z w a r bleibt das A b solute der unverzichtbare Bezugspunkt der Werttheorie, gewinnt sie ihre Rechtfertigung doch aus dem Faktum der Ebenbildlichkeit und bleibt so auf das Urbild bezogen: indem G o t t den Menschen in seinem Ebenbild erschaffen hat, läßt er ihn die Weltenschöpfung unaufhörlich wiederholen, hat er der Erkenntnis diese Schöpfungspflicht für ewig aufgetragen . . . ( X I I , 461). ' ' »Aufrecht, zum Wachsen bestimmt, reicht des Menschen Seele aus ihren dunklen Wurzelabgründen im Humus des Seins hinauf bis zum sonnendurchfluteten Sternenrund, aufwärtstragend ihren poseidonisch-vulkanisch finsteren Ursprung, abwärtsbringend das Durchsichtige ihres apollinischen Zieles, und je mehr sie kraft ihres Aufwärtswachsens zur lichtdurchtränkten Form wird, . . . baumgleich sich verzweigend und entfaltend, desto mehr wird sie befähigt, im Schattenlaub ihrer Äste das Dunkle mit dem Lichten zu vereinen« (IV, 75). 167
Jedoch steht weniger die Erkenntnis Gottes als vielmehr ein neues Selbstverständnis des so begriffenen, sich in den Kategorien von Ähnlichkeit und Unähnlichkeit neu entwerfenden Wertsubjekts im Brennpunkt des Interesses. Die Ausgangserfahrung des Ich in der Welt ist zunächst eine antinomische und ähnelt darin dem gnostischen Daseinsverständnis: Isoliert und beziehungslos sieht sich das Ich in das »Chaos des Apeiron« (IX/2, 146) geworfen, erlebt die metaphysische Ur-Angst der Einsamkeit angesichts der Erfahrung eines »Fremdkomplexes«, des »Non-Ich«, den es als feindlich wahrnimmt, da es seinem Selbstbestimmungsanspruch bedingend gegenübersteht, 20 zumal es in der »Bindung an das körperliche Dasein« seine Vernichtung im Tode impliziert: Einmaliges und zeitloses Ich, gefangen in den Kategorien eines Raumes, der das Prinzip der Einsamkeit birgt, einer Zeit, in der es altern muß, einer Kausalität, in der es sich als physikalischer Spielball der Fremdgewalt empfindet, erlebt es in diesen physischen Gegebenheiten die Tragik seiner erkenntnistheoretischen Antinomie, . . . (X/2, 87, Hervh. Broch).
A u f diese Erfahrung sind im Rahmen »voluntaristische(r) Phänomenologien« (X/2, 81), radikal gesprochen, zweierlei Reaktionsweisen möglich: Das Ich kann sich der Determination des Fremdkomplexes unterwerfen und begibt sich in diesem Falle seiner Autonomie, wendet sich von seinem pneumatischen Ursprung ab und geht im All und dessen Gesetzlichkeit auf, verweltlicht sich also restlos; oder aber »der Fremdkomplex wird von der freien Aktivität des Ichs abhängig gemacht, wird schließlich dessen Setzung« (ebd., 82). Soll die so formulierte Konzeption nicht in einen letztlich weltlosen Solipsismus münden und damit eine nur scheinbare Lösung der Antinomie zwischen Ich und Welt leisten, muß eine echte Vermittlung den Gesetzlichkeiten beider Bereiche Rechnung tragen und sie synthetisieren. 21 Sie findet auf der Basis der geistigen und leiblichen Doppelverfaßheit des Menschen als einer psychischen Mittelinstanz, der >Janushaftigkeit< der menschlichen Seele (IV, 75) statt, die an beiden Bereichen teil hat, und nimmt nach Augustinischem Vorbild ihren Ausgangspunkt vom »Wissen um den geheimnisvollen Doppelursprung der menschlichen Seele«, 22 seiner Geschöpflichkeit wie seiner Teilhabe am Geist: der »Erkenntnis von dem urtümlichen Zwiespalt des Gottes, der seinen Ursprung geheimhält und gleich zwei schaffende Prinzipien offenbart, als wäre er selber
10
X / 2 , S. 87. " Vgl. Ritzer, 1988, S. 74. " Vgl. dazu auch den Aufsatz O. P. Obermeiers, Hermann Brochs Werttheorie, in: Hermann Broch, hrsg. v. P. M. Lützeler, Ffm. 1986, S. 2 2 7 - 2 4 ; , dort S. 229, der deutlich macht, daß Brochs Werttheorie ihren Ausgangspunkt von den >Kokonstituentien< Denken und Sein nimmt. 168
ihnen Untertan, diese Anklage, die gleichzeitig allem menschlichen Tun das Ziel der verlorengegangenen göttlichen Harmonie und ihrer Wiederaufsuchung setzt, . . . die sehnsüchtigste (Anklage), die das Ebenbild dem Urbild entgegenhalten kann, sie ist aus tiefster . . . Kenntnis . . . der unwandelbaren Natur des Menschen geboren . . ., (der) in schwerem Erschrecken seines eigenen Seins und Bewußtseins gewahr wird und (den) die Frage der letzten Voraussetzung . . . überfallt wie den Descartes mit dem Cogito ergo sum, . . . ahnend und fühlend das Wissen um den Doppelursprung seiner Seele, . . . den mystischen Z w a n g . . ., den Zwiespalt zu lösen und nicht nur zwischen dem Primat des Geistes und dem des L o g o s zu wählen, . . . sondern darüber hinaus eine Unität anzustreben, in der die Erfüllung des Humanen liegt . . .« (IX/2, 187).*' V o n einem simplifizierenden Dualismus, in dem, wie S o m m und Venlaff übereinstimmend
behaupten, »der Geist gegen
die Materie
ausgespielt
w i r d « / 4 kann deshalb keine Rede sein. D e r » Z w a n g « zu Synthese w i r d als ein mystischer erfahren, weil er sich als unbedingte und unabweisbare Forderung an das Ich präsentiert, dessen Autonomieanspruch abstrakt bleiben muß, solange er nicht sich und seine Möglichkeiten am Gegenständlichen und dessen F o r m u n g beweist. Beide Komponenten des menschlichen Wesens zusammen und nicht nur sein A n teil am Pneuma werden so grundlegend für die Konstitution v o n »Wert«, den das Ich dem Gegebenen in einem freien A k t der geistigen Durchdring u n g und Formung verleiht und dasselbe so zu seiner Setzung macht: Bloß das Geformte ist zeitlos oder Annäherung an die Zeitlosigkeit, also sichtbare Todesüberwindung. Wert ist Formung, und Historie als Formüberdauerung und Formaufbewahrung ist Wertgeschichte, heißt es in der >Massenwahntheorie< ( X I I , 26). Diesem A n s a t z liegt die aristotelische A u f f a s s u n g des Formbegriffs und seine Übernahme in der mystischen Philosophie Eriugenas zugrunde: Das Nichts, das Ungestaltete, bloß der Möglichkeit nach Seiende, wird erst durch die F o r m zum Unterschiedenen, zu einem >DiesenVaterVergil< (IV, 75). Somm sieht deshalb falsch, wenn er Brochs Position auf eine »manichäische«27 festlegen will. Angesichts des Umstandes, daß Broch, wie auch sein Interpret zugestehen muß, die menschliche Natur als »integrale« begreift, als »unauflösbare, korrelative Geist-Leib-Einheit«, in der der Geist als endlicher »nicht reiner Geist, sondern leibhaftiger Geist, und der menschliche Leib . . . nicht (als) träge und undurchlichtete Masse, sondern (als) geistdurchlebte Leiblichkeit« 28 erscheint, muß Somms an der Gnosis und am Neuplatonismus orientiertes Textverständnis zu einem »immanente(n)«, »unthematisch sich enthüllende(n) Widerspruch« 2 ' im Werk Brochs fuhren, der tatsächlich nicht besteht. Im autonomen Akt der Geltungsverleihung wird Wirklichkeit zum Produkt des Ich, zur vom Subjekt bejahten und also von ihm verantworteten und begriffenen, sinnhaltigen Wertwirklichkeit. Dies ist nicht zuletzt deshalb möglich, weil das Wertsubjekt bei seinem rationalen Eindringen in die gegebenen Phänomene deren Strukturen z. T . als »an-schließbar« oder »affin« erkennt, mithin in seinem eigenen Geist waltende Gesetzlichkeiten »wieder-erkennt« (X/2, 192), die ihm erst die Ordnung und Entfaltung der Phänomene erlaubt, woraus folgt, daß sich die Gesetzlichkeiten von Geist und Welt nur auf den ersten Blick antinomisch zueinander verhalten, während sich bei genauerem Hinsehen das Wesen der Welt als mit dem Geist zu Versöhnendes erweist, das zu diesem Zweck der vermittelnden Tätigkeit des endlichen Geistes bedarf. In dieser Weise vollzieht sich eine »Gleichsetzung von Weltsubjekt und Weltobjekt« zu einem »wahrhaft metaphysische(n) Gleichgewicht« im Sinne »pythagoreische(r) Harmonie« (X/2, 241). Ausdrücklich bezieht sich Broch dabei auf die Grundsätze einer weltzugewandten Mystik:
26
I X / z , S. 125. Somm, 1 9 6 ; , S. 35; V f . mißversteht Broch gründlich, wenn er aus seinem Werk die Forderung nach »bedingungslose(r) Abkehr von der gottentfremdeten, unreinen Welt« als einzigen Weg zur »Gottesnähe« herausliest (ebd., 42/43) und ihm eine Sinnverschiebung der biblischen Idee des Menschen unterstellt, die Brochs Ethik eklatant verfehlen muß. 28 Ebd., S. 53. ' » E b d . , S. 34/35. 27
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Eckehart in >Gottes Geburt in der Seelec >Verarbeite Dir alle DingeNicht durch Vermeidung jeder Tat wird wahrhaft man vom Tun befreit,/Noch durch Entsagung von der Welt gelanget zur Vollendung man< (ebd., 88).
Entsprechend seiner doppelten Wesensverfaßtheit erfaßt der Mensch das ihm gegebene Material >Welt< mittels zweier Kategorien: derjenigen der Wahrheit und der des Wertes: Die Bindung des autonomen Lebens an die Kategorie des Wertes ist so unlösbar und wesenseigentümlich gegeben wie die Bindung des autonomen Bewußtseins an die Kategorie der Wahrheit, . . . als Phänomene bleiben sie . . . bestehen, so unweigerlich wie das Sum und das Cogito selber . . . (I, 619).
Für den Akt der Wertsetzung bedeutet das, daß alle Geltungsverleihung immer zugleich ein Maximum an Erkenntnisgerichtetheit oder Wahrhaftigkeit des Subjekts fordert und damit — abermals nach Augustinischem Muster - den voluntaristischen Aspekt mit der Kategorie des Erkenntnisaufstiegs verbindet. Beide Momente zusammen definieren die Z u - oder Abwendung vom Pneuma. Die Weltformung, die das jeweilige Wertsubjekt vornimmt, hat immer eine nach bestem Wissen und Gewissen zu sein und nach Maßgabe seiner endlichen Möglichkeiten — auf die »>beste aller Welten«^0 zu zielen. Maximaler Wert und maximale Wahrheit sind untrennbar miteinander verkoppelt, denn jeder Akt der Geltungsverleihung, mit der das Wertsubjekt die vorgefundene Wirklichkeit als seine Wirklichkeit anerkennt, unterliegt der kritischen Tätigkeit des Kausalierens, die immer wieder »nach dem Grunde fragt und nichts dogmatisch annimmt« (X/2, 46/47). Aus dieser Perspektive gewinnt die »Faulheit« des Geistes als »nolitio« ( X / i , 37), als Abwendung vom guten Willen und in eins damit als Abwendung von der Anstrengung kritischen Plausibilierens der jeweiligen Wertsetzung eine eigene Qualität als das >radikal BöseNotizen zu einer allgemeinen Asthetik< v o n 1 9 1 2 , sondern einer erst 1 9 4 1 formulierten Passage der >Massenwahntheorie< entnommen, um die Kontinuität v o n Brochs mystischer Orientierung zu belegen, die z. B. Ritzer bereits mit der Entstehung der Werttheorie für überwunden h ä l t . " Z u beachten ist dabei >' X I I , S. 304; oberste Stufe der Wertstaffelung ist für Broch »der religiöse Totalwert« (ebd., 17), ist der »symbolische() Vorversuch zu der endgültigen Todesüberwindung im Religiösen, und von diesem erhält es (das absolute Werterlebnis, A . G.) auch seine spezifische Erlebnisfärbung: die Gefühlsintensität, mit der die religiöse Erkenntnisverzückung als letzte Angstbefreiung erlebt wird . . ., d a r f . . . als die der Ekstase erkannt werden, . . . in der (der Erkennende) sich, wenn auch zumeist nur symbolisch und zur Ernüchterung verdammt, als das Ebenbild der Göttlichkeit fühlen darf« (ebd., 18). " In Anwendung von Stellungnahmen Georg Simmeis zum mystischen Weg der Einheit von Ich und Welt behauptet Ritzer die Uberwindung mystischer Grundpositionen bei Broch zugunsten der Werttheorie, die Sein und Gedanken vermittele, anstatt, wie Ritzer mit Simmel und Rickert dem mystischen Denken generalisierend unterstellt, die Antinomie zwischen Ich und Welt dadurch zu lösen, daß das Faktum >Welt< als »ganz >wertlos und nichtig« in einem solipsistischen Verständnis schlicht aufgehoben wird. (Ritzer, 1988, 71/72). Das ist nur dann richtig, wenn man Mystik undifferenziert mit Quietismus gleichsetzt, was Broch aber offenkundig nicht tut; vielmehr wahrt die Werttheorie als Ausgangspunkt und Ziel ihrer Bestrebungen mystische Funktionen, die durchaus von Weltzugewandtheit im Sinne der Eckhartschen vita activa zeugen.
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aber zugleich der in der Verkürzung früherer Formulierungen des EkstaseErlebnisses erkennbar verlagerte Akzent: Von einer Uberwindung der K l u f t zwischen Ich und Gott ist - anders als in der frühen Essayistik (»Welt ist Gott und Welt ist Ich«, IX/2, 13) - hier nicht mehr unmittelbar die Rede. Das utopische Erlebnis der unio — präsent gehalten im Motiv der Ekstase — deutet Broch jetzt als »Einbeziehung eines Maximums geformter Weltbestandteile in das Ich und in sein Wertsystem«' 4 und damit als geistige Durchformung des Gegebenen: Einheit mit Gott entsteht freilich mittelbar, w o das Ich Welt und Geist umfassend miteinander versöhnt. Letzte Ursache dieser Befähigung des Menschen zur Setzung von Welt bleibt aber seinen Gesetztsein als am »intelligiblen Ich«" teilhabendes Wesen, also das Prinzip der >Setzung der SetzungWertbewußtsein< als letzte und ausschlaggebende Instanz aller Wahrheitsfindung, indem es das Denkergebnis als >evident< legitimiert. 45 Das »Fühl-Ich« ist integrativer Bestandteil der eigentlichen »Subjektsphäre«, aus der allein — bewahrheitet v o n jeder und insbesondere v o n jeder echt mystischen inneren E r f a h r u n g - jene >Unmittelbarkeit< stammt, welche Intuition genannt w i r d ( X / 2 , 1 8 1 ) .
In ihr, der »Ur-Intuition des Logos« ( X / i , 143), übersteigt sich folglich nach mystischem Vorbild das Denken selbst zugunsten einer letzten Synthesis. Sie ist »axiomatische Gewißheit der inneren Erfahrung, . . . das platonische Erlebnis schlechthin« (IX/2, 190), »Wissen um eidetische Einheiten« (X/2, 260). Ist gelegentlich noch in vorsichtiger Formulierung von einem »fast mystische(n) Vorgang« (IX/2, 132/33) die Rede, der sich mit der ethischen Wertsetzung vollzieht: aus dem Irrationalen kommend, das Irrationale zum Rationalen formend, ist es doch wieder das Irrationale, das aus dem geformten Resultat neuerdings hervorleuchtet (ebd),
so spricht Broch im gleichen Atemzug ohne jede Einschränkung von der »mystische(n) Irrationalität des Wertziels« (ebd., 133). Jene letzte intuitive »Irrationalität« meint damit offenkundig dieselbe transrationale Verfaßtheit der mystischen Erfahrung, deren Kennzeichnung in Abschnitt 1 schon mehrfach Gegenstand der Darstellung war. ' ' X / 2 , S. 1 8 1 . " X I I , S. 242/243; v g l zum folgenden auch X / 2 , S. I 7 9 f f . 40 X I I , S. 239. 41 E b d . , 240; in diesem Zusammenhang rezipierte Broch offenbar Hans Apfelbach, D a s D e n k g e f ü h l . E i n e Untersuchung über den emotionalen Charakter der Denkprozesse, Wien 1922 (vgl. Amann/Grote, 1990, S. 8). 42 4!
Ebd. E b d . , S. 241/242.
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Vollhardt hat den mystischen Charakter dieser intuitiven Letztbegründung in Brochs Werttheorie wiederholt bestritten. Er deutet Brochs Rede vom »Eidos« mit Bezug auf den Husserl-Schüler Eugen Fink als »das Korrelat einer Denkoperation, einer intellektiven Spontaneität«. 44 Dem steht nicht nur die eindeutig als >ekstatisch< bezeichnete Zielrichtung wertsetzenden Denkens und Handelns bei Broch entgegen. Wohl ist zuzugestehen, daß der Einfluß von Husserls Phänomenologie auf Brochs Denken im Laufe der Zeit nach seinem eigenen Bekunden immer mehr an Einfluß gewonnen hat. Jedoch betrifft seine wachsende Sympathie vor allem Husserls >idealistische Wendeobjektoiden< Gebilde, d. h. Strukturen an sich< zu erforschen, so sah sich Husserl am Ende dieser >Ent-Kantianisierung< (die freilich niemals >Ent-Platonisierung< war) veranlaßt, auf einer neuen Ebene wieder eine A r t >Kantianisierung< vorzunehmen und zu zeigen, wie hier das >Objektoide< des Subjektbereichs und das >Subjektoide< des Objektbereichs in eins zusammenfließen.«
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Ist aufgrund dessen im o. g. Zusammenhang absichtlich keine eindeutige Differenzierung zwischen Phänomenologie und mystischem Erkennen bei Broch gegeben, womit sich Vollhardts Argument deutlich relativiert, so ist darüberhinaus der über die Absichten der Phänomenologie hinausreichende, kosmogonische Anspruch von Brochs Werttheorie hervorzuheben, der sich bewußt von ersterer abgrenzt und über deren Selbstverpflichtung auf einen positivistischen Standpunkt hinausweist. Auch Vollhardt muß deshalb zugestehen, daß Brochs philosophische Intention und Methode nicht schon aufgrund weniger terminologischer Ubereinstimmungen und sachlicher Bezüge als >phänomenologische< angesprochen werden kann. Der Abstand zu dem Husserlschen Programm einer Philosophie als >strenger Wissenschaft ist hierfür zu groß. 4 '
Den Ergebnissen der Denkakte wird also innerhalb eines Aktes intuitiver und überrationaler Evidenzzuweisung Bedeutung und Wertigkeit zugesprochen. Die Teilhabe am Logos wird demzufolge zugleich zur umfassenden Legitimationsbasis für jenes intuitive Evidenzgefühl, das in wechselseitiger Beziehung aufeinander sowohl für die Kategorie der Wahrheit wie für diejenige des Wertes bestimmend ist. Das an die mystische Teilhabe geknüpfte Konzept der Ebenbildlichkeit erweist sich damit zugleich als die grundlegende Voraussetzung für Brochs These von der Nivellierung der Differenz zwischen rationaler und irrationaler Erkenntnis innerhalb einer tieferen seelischen Gewißheit. 47 Kraft ihrer »flutet« dem Ich jene mysteriöse Bejahung zu, von der schon die Rede war. So kann es nicht verwundern, daß auf diesem Wege letztlich die Neubegründung einer religiösen Grundhaltung angestrebt wird, die als Zentralwert den Bezugspunkt menschlichen Welt- und Wertverständnisses bilden soll. Broch stellt nämlich fest, daß das Evidenzgefühl, mit dem Wahrheiten akzeptiert werden, eine große Ähnlichkeit mit Glaubensinhalten aufweist, . . . Und tatsächlich ist die Gefühlssphäre, in der ja die Evidenzverleihungen . . . vollzogen werden, phänomenologisch mit der religiösen Glaubenssphäre eng verwandt . . .; kehrt . . . der Wertverleihungsakt selber ins Denken zurück, . . . wird er selber auch noch ins >Wahrheitsbewußtsein< gehoben, um dann, jetzt Wahrheitswert zweiter Potenz, nochmals, allerdings in geklärter Form, von der Intuition des Gefühls und des >Wertbewußtseins< erfaßt und bejaht zu werden, dann wird der Wert der Wahrheit zum Werte eines echten >GlaubensDas religiöse Erlebnis. Seine Struktur, seine Typen und sein WahrheitsanspruchSchlafwandler< stellt er sich die Frage, wie es angesichts der Invarianz formallogischer Gesetzlichkeiten zur Ausformung unterschiedlicher historischer Denkstile kommen kann und konstatiert: »Das Gebäude der formalen Logik ruht auf inhaltlichen Grundlagen« (I, 471). An welcher Stelle eine logische Fragekette abgebrochen werde, sei »Angelegenheit des Wahrheits- und Evidenzgefühls, also Angelegenheit der in Kraft
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Vgl. Mieth in Haas/Stirnimann (Hg.), 1980, S. 22; Mieth behandelt die existenzielle Bindung des Denkens und Handelns an den Glauben bei Eckhart. Eckharts Lehre sei »stets aus Glauben (im Sinne de(s) . . . ek pisteos, R o m 14, 23); das zeigt sich auch im Fehlen jeglicher Texte, die etwa zum Glauben hinführen sollten.«
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stehenden Axiomatik«. Diese sei aber letztlich immer inhaltlicher, nicht formallogischer Natur: »es sind Axiome der geltenden Kosmogonie« (ebd., 472), - was im Hinblick auf Brochs eigenes Denken zu beweisen war und die Relativität intuitiv evident erscheinender inhaltlicher Aussagen nicht nur belegt, sondern auch vorzüglich begründet. Dessen ungeachtet fundiert die Werttheorie das Verhältnis von transzendentem Absoluten und seinem endlichen Ebenbild neu und erweist sich im Kontext einer onto-anthropologisch fundierten Ethik, die auf Meister Eckhart zurückgreift, als Umkehrung und Säkularisierung des alten Bedingungsverhältnisses:
6.3. Wertsetzung als »Erfüllung des Humanen«: Brochs Wertphilosophie im Kontext von Meister Eckharts Auffassung der Identität von Sein und Sollen Das entscheidende Moment der Werttheorie bildet der Umstand, daß auf ihrer Basis nicht nur das Faktum Welt zum sinnhaltigen wird, sondern zugleich das Subjekt zu sich selbst kommt, sich der »Akt Humanität schlechthin« (IX/2, 125), die »Erfüllung des Humanen« (ebd., 187) vollzieht, dessen Verständnis bei Broch von einer durchaus eigenwilligen Rezeption der Lehren Meister Eckharts zeugt. Brochs Bezug auf dessen Schriften ist kein singulärer. Schon der mehrfach zitierte Topos des >Fünkleins im Seelengrunde< (I, 532, 559, 587, 600, 7 1 5 ; V , 328; X / i , 1 7 ; ) wie auch briefliche und essayistische Äußerungen' 0 belegen sein Interesse an Eckharts Schriften; und auch im Zusammenhang seines Plädoyers für eine weltzugewandte Mystik als Grundlage seiner Ethik greift Broch auf den Meister zurück: Eckehart in >Gottes Geburt in der Seeleo >Verarbeite Dir alle DingeNicht durch Vermeidung jeder Tat wird wahrhaft man v o m Tun befreit,/Noch durch Entsagung von der Welt gelanget zur Vollendung man< (X/2, 88).
' ° X I I I / i , S. 307: ». . . wahrscheinlich ist es das schlichteste, einfaltigste, kleinste Leben, dem wir zustreben müssen: eine >Zernichtung< im Ekkehartschen Herzensgrund, eine Reduktion auf das Nichts — . . .«; vgl. weitere Belege in III/ 3, 34; I X / i , 61 u n d i i 3 ; X / i , 173 und X I I , 172; Broch besaß, wie Amann/Grote, 1990,8. 1 } u. 62 belegen, verschiedene Teilsammlungen der Werke Eckharts sowie Josef Bachs Buch >Meister Eckhart. Der Vater der dt. Spekulation. Als Beitrag zu e. Geschichte der dt. Theologie und Philosophie d. mittleren ZeitGlauben< niemals zu fassen« ( X I I I / i , 250) oder, noch darüberhinausgehend, »das Mystische« sei »weitgehend mit dem absolut Ethischen zu identifizieren« (ebd., 97).'" Eckharts Mystik vermittelt das neuplatonische Denken Plotins, bei dem die unio erstmals nicht mehr als bloßes Ergriffenwerden von Gott im Medium der Schau, sondern als logische Praxis des Aufstiegs und Rückkehr geistig verfaßter Existenz zu dem ihr gemäßen Wesen der Spiritualität und Zu-sich-selbst-kommen des Geistes verstanden wird, mit der Augustinischen Willenslehre und ergänzt so die abstrakte Pneuma-Spekulation um einen konkreten, voluntaristisch motivierten Handlungshorizont des Subjekts und das Moment unmittelbarer realer menschlicher Selbsterfahrung. Der Logos bleibt zwar strukturbildender Faktor von Welttotalität, wird aber zugleich in die immanente Dimension eines humanen Vernunftbegriffs transformiert. Eckhart vertritt, wie zuletzt K . Flasch überzeugend gezeigt hat, 52 nicht eine Mystik im Sinne des Versinkens der Vernunft in ihrem Selbstüberstieg, sondern verficht die Kusanische Linie einer intellektuellen Mystik, die die Vernunft sich bei ihrer Transzendierung selbst zusehen läßt. E r will eine philosophische Auslegung der Grundtheoreme des Christentums geben, die zeigen soll, daß das Alte Testament die Philosophie der Natur und das Neue Testament . . . eine Metaphysik (enthalte), welche den Aristotelischen Metaphysikbegriff denkend überwinden soll(te),"
eine Philosophie des Christentums. Eckharts Philosophie ist wesentlich Ontologie, in der die ethische K o m ponente in besonderer Weise relevant wird. Ausgangspunkt seines Denkens ist die empirische Existenz und mit ihr das Moment der Erfahrung als Prämisse existentieller Erkenntnis überhaupt. Dasselbe meint selbstredend nicht den wissenschaftlichen Gegenstands- und Erfahrungsbegriff, sondern eine Dimension innerhalb des Denkens selbst, die diesem in sich selbst Halt gibt und die Beweiskraft schrittweiser, zirkelfreier und für jedermann grundsätzlich einsehbarer Argumentation zwar keineswegs ersetzt . . ., (die) aber eine existentielle Verbindlichkeit des Denkens ausmacht.' 4
" Z u Brochs Eckhart-Rezeption vgl. auch die Arbeit von Andreas Mersch, 1989, S. 81—99, die aufgrund eines anderen Eckhart-Verständnisses im einzelnen zu durchaus abweichenden Beurteilungen kommt. K . Flasch, Meister Eckhart. Versuch, ihn aus dem mystischen Strom zu retten, in: Koslowski (Hg.), 1988, S. 9 4 - 1 1 0 . " Ebd., S. 105. i4 D. Mieth in: Haas/Stirnimann (Hg.), 1980, S. 21. 79
Der Sitz der entsprechenden Beglaubigungsinstanz ist bei Eckhart das Herz als Ort existentieller Gründung menschlichen Seins. »Mit dem Herzen erkennen«" meint Einsichten, die aus der Mitte des menschlichen Daseins als im Glauben verankertem und daraus handelndem entspringen. Hinsichtlich der basalen Orientierungen des Lebens insistiert Eckhart so auf die Rückgebundenheit wesentlicher Einsichten an eine letztlich intuitive Evidenz, deren Wahrheit sich im tätigen Leben bestätigt. Bereits hier sind Parallelen in Brochs erkenntnistheoretischer Fundierung der Werttheorie offenkundig: Ähnlich wie Eckhart bindet auch Broch die Kategorie existentieller Wahrheit an die empirische Kategorie des Wertes, dessen Letztbegründung in einem A k t intuitiver Evidenz erfolgt und Glaubenscharakter hat. Eckharts kardiale Terminologie findet sich zudem überall in Brochs Romanen wieder: Im Rahmen einer Reflexion über die notwendige Heimkehr der Erde zum göttlichen Licht erkennt Vergil den Zusammenhang von Denken und Handeln mit der Erkenntnis des Herzens: . . . denn unzureichend ist die Sehnsucht der Hände, unzureichend ist die Sehnsucht des Auges, . . . zureichend allein ist die Sehnsucht des Herzens und des Denkens in ihrer Gemeinsamkeit, . . . denn ihr allein ist es vergönnt, die trüb hoffnungslose Blindheit angstvoller Vereinzelung zu überwinden, allein in ihr begibt sich die zweifache Entfaltung aus den Erkenntniswurzeln des Seins, . . . (IV, 19).
Auch in der >Verzauberung< geht es in zentraler Weise um den Verlust und die Wiedergewinnung der »Wahrheit des Herzens« (III, 308/9). Eine andere Metapher für das in der kardialen Sprache bezeichnete existentielle Wissen ist die der >Mitte< oder des >InmittenSchlafwandlernwahren Kernwahre< Erkenntnis, die aber durch die Vermittlung der von Broch scharf kritisierten Lutherischen Position nur halb zu sich selbst gebracht erscheint, wie ja auch der fragmentarische Charakter des Artikels den Umstand spiegelt, daß Pasenow die von ihm reflektierten Ideen nicht wirklich begreift. E s entspricht der Auffassung Eckharts, daß Broch das Sein des Menschen wesentlich bestimmt sieht durch das >Fünklein im SeelengrundeSchlafwandlern< als Ansatzpunkt eines neuen, emanzipatorischen Selbstverständnisses immer wieder bezieht: Und mögen wir auch von der stets zunehmenden Stummheit des Abstrakten umgeben sein,. . ., aufsprießt die feierliche und feiertägliche Sicherheit, mit der wir es wissen, daß jeder das Fünklein im Seelengrunde trägt und daß die Einheit unverlierbar bleibt . . . (I/715).
6i
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nicht uns, sondern wir sollen die Werke heiligen . . ., soweit wir Sein und Wesen haben, soweit heiligen wir alle unsere Werke, . . .« zit. nach Mieth, 1980, S. 42. A u f Luthers Beziehung zur Lehre Meister Eckharts kann hier nicht näher eingegangen werden. E s sei aber angemerkt, daß Luthers Eckhart-Kenntnis über die >Theologica Deutsch< vermittelt war, die sich ebenfalls in Brochs Besitz befand, vgl. Amann/Grote, 1990, S. 254; Z u Luthers Bezugnahme auf Eckhart vgl. z. B. H. Bornkamm, Eckhart und Luther, Stuttgart 1936; P. Meinhold, Luther und die deutsche Mystik. Mit besonderer Berücksichtigung Meister Eckharts, LutherJahrbuch 1937; B. R. Hoffmann, Luther and the mystics. A re-examination of Luther's spiritual experience and his relationship to the mystics, Minneapolis 1976. Vgl. X / i , S. 173: »Luther(s) . . . Glaube ist der Eckeharts . . .«
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Die Funktion des >Fünkleins< innerhalb der Bewegung des Willens ist aber, wie leicht einzusehen ist, innerhalb von Eckharts spekulativer Ethik eine basale: E s ermöglicht allererst den Grundakt moralischen Seins, die Rückwendung auf das eigene, sittlich verfaßte Wesen, durch das der Mensch ursprünglich und an sich frei ist. 67 Entsprechend versteht auch Broch im Mittel des >Fünkleins< Freiheit als das »mystische
Deduktionszentrum«
menschlichen Werthandelns: fast ist es, als ob die Freiheit wie eine besondere und erhabene Kategorie über allem Rationalen und Irrationalen schwebe, wie ein Ziel und wie ein Ursprung, dem Absoluten gleichend, mit dem sie aufleuchtet . . . (I, 710). Das Sein wird nach Eckhart umso klarer zu sich selbst gebracht, als es Gott anhaftet, womit ausdrücklich nicht
die A b w e n d u n g v o n der Welt gemeint
ist, sondern die Ausrichtung des tätigen Daseins auf das Absolute und seinen sittlichen Anspruch,
das in Brochs säkularisierter
Ausdrucksweise
durch das unendliche Wertziel offener Wertsysteme markiert ist, 68 und bezeichnet so einen fundamentalen Perspektivenwechsel des zu sich selbst gekommenen Daseins auf die Welt: » G o t t im A u g e « heißt bei Eckhart — wie bei Broch - »Gott in allen Dingen« 6 9 im Sinne des Herantragens eines absoluten Formungswillens an das Gegebene: 7 0 »Wir sollen alle Dinge geisten«, sagt Eckhart einmal; 71 »Verarbeite dir alle Dinge«, hatte Broch aus Eckharts Schrift >Von der Abgeschiedenheit und v o m Besitze Gottes< 72 zitiert. 67
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Vgl. Theo Kobusch, Mystik als Metaphysik des moralischen Seins. Bemerkungen zur spekulativen Ethik Meister Eckharts, in: K . Ruh (Hg.) 1986, S. 49-62, dort S. 58/59. Brochs Paradigma für diese Haltung ist das Berufsethos des mittelalterlichen Künstlers und Handwerkers, vgl. I X / 2 , 131/2:« . . .der mittelalterliche Künstler (hielt) den Blick . . . ausschließlich auf das unendliche Wertziel des Systems, auf Gott, gerichtet . . .«, aber er konnte Gott doch nur dadurch dienen, daß »er gute handwerkliche Arbeit verrichtete. . . .»und wenn es auch die Symbole Gottes waren, die er malte, so lag das Problem seines Tuns nicht in Gott, sondern in den Farben und in der Raumaufteilung und in den Menschen und Tieren, die er zu Ehren Gottes abmalte. Und ebenso machten es die Silberschmiede und die Schuhmacher . . . ; ein jeder verrichtete seine irdische Arbeit um ihrer selbst willen, und bloß der Blick galt dem fernen Ziel, das dem irdischen Tun die ethische Richtung gab.« So wird ethisches Handeln zum »Gottesdienst« (ebd., S. 94). Quint, DW j , RdU, S. 203, 1, vgl. auch S. 201, 1 if. »für jedes >unabgeschlossene< Wertsystem . . . ist die ästhetische Konkretisierung (seines) ethischen Strebens mit dem Augenblick auch schon überholt, da sie vollzogen wird« und wird in dem »Augenblick auch schon wieder zum Objekt der neu einsetzenden Umformung« (IX/2, S. 137). Zit. nach W. Preger, I. Teil, 3. Buch, 1874, S. 454. In: Deutsche Predigten und Traktate, hrsg. von J . Quint, S. 58-62, und >Von der ErfullungWorumwillen< getan wird. 73 Ein Handeln, das keinen Zweck außerhalb seiner selbst hat, ist aber nach Eckharts Verständnis göttlicher Natur, denn es ist freies Handeln. Im sittlichen, auf das Absolute ausgerichteten Handeln vollzieht sich so die Vergöttlichung der Menschen. 74 Wer bei sich selbst ist, tut das Richtige um seiner selbst willen. Mieth hat zu Recht darauf hingewiesen, daß darin Kants Begriff des Guten vorgebildet ist, 7 ' womit die These einige Wahrscheinlichkeit gewinnt, daß sich Brochs formalethische Positionen (vgl. z. B. IX/2, 139/40) nicht nur aus dem Rückgriff auf Kant und den Neukantianismus ergeben, die beide ja immerhin gelegentlich Brochs deutlicher Kritik anheimfallen, 76 sondern zugleich durch die Lehren Meister Eckharts autorisiert sind. 77 Dem bei Eckhart formulierten anthropologischen Grundverständnis einer Identität von Sein und Sollen kommt offenbar wesentliche Bedeutung für Brochs ontologisch fundierte Ethik zu. Im Verweis auf Eckharts >Fünklein im Seelengrunde< versteht auch Broch Sittlichkeit nicht im Rückgang auf die Gründe sittlichen Handelns, sondern aus der ontologischen Verfaßtheit menschlicher Existenz überhaupt, deren 73
Quint D W 1, Pr. ;b, S. 91, 10—92, 6: »Sver nu vragete einen warhaften menschen, der da würket uz eigenem gründe: warumbe würkest du diniu werk? solte er rehte antwürten, er spraeche niht anders dan: ich würke darumbe daz ich würke.« vgl. auch a. a. o. Pr. ;a, S. 80, igff.; D W 2, Pr. 39, S. 256, 3-5.
74 Kobusch, 1986, S. 58. " Mieth 1980, S. 3 ; , Anm. 100: »Kants Begriff des Guten scheint hier gewissermaßen präjudiziert. Man darf fragen: ist Kants Ethik im Ansatz ein Umschlag des christlichen Ethos?« 76 Kants Ethik begreift Broch als die Zuspitzung des v o n ihm in seiner quietistischen Ausrichtung kritisierten protestantischen Geistes: »Der protestantischeste Gedanke: der kategorische Imperativ der Pflicht« (I, 579, vgl. ebd. 582 und X / i , 178); der Neukantianismus gilt Broch gelegentlich in ganz ähnlichem Sinne als Movens des modernen Wertzerfallsprozesses (vgl. X / i , 168). 77 »Eckehartisch« und »Kantisch« bezeichnen auch in Blochs »Geist der Utopie< vergleichbare Positionen, wenn sich das künstlerisch die Welt gestaltende Ich zum Gegenstand der göttlichen Selbstgegenwart entäußert und so als höchstes Ziel der Kunst das Innere der Welt und das Innere des Menschen zusammenrücken; vgl. Bloch G A 16, S. 38, 47, 49, jof., 52; vgl. Wagner-Egelhaaf, 1989, S. 40.
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Ebenbildlichkeit die moralische Identität des Subjekts fundiert und die Basis für seine Kompetenz zu sittlichem Handeln darstellt. 78 Das Können als Grund des Sollens legitimiert so bei Broch in erkennbarer Anlehnung an Eckhart die durch die Partizipation am Absoluten autorisierte ethische Autonomie des Subjekts und fordert als ersten Schritt aller Ethik die Identitätsfindung des Menschen, dessen sittliche Kompetenz seine Möglichkeiten als Wertsubjekt erst bestimmt. Als ästhetisches Paradigma dieser Auffassung kann die »Läuterung« des zunächst als Anonymus schuldhaft in gleichgültiger Passivität gegenüber der Realität verharrenden Individuums A. zum sich radikal zu seiner ethischen Verantwortung bekennenden Subjekt Andreas in Brochs letztem Roman >Die Schuldlosem gelten. Dieser Ansatz zur Fundierung von Ethik erweist sich als durchaus aktuell, bildet er doch zugleich den Ausgangspunkt zu Überlegungen moderner Ich- und Sozialpsychologie, wie sie z. B. i n j . Habermas' Betrachtungen zur >Moralentwicklung und Ich-Identität< zu finden sind.79 Bei Broch leiten solche Überlegungen zu fundamentalen Fragestellungen seiner >Massenpsychologie< über, die die anthropologische Grundverfaßtheit und ihre konstitutive Bedeutung für historische Prozesse zum Thema haben. Sowenig wie Eckhart 80 läßt es Broch bei dem >ästhetizistischenGelassenheit meint hier ein distanziertes Verhältnis zu sich selbst und zur Welt und ermöglicht damit gerade Objektivität. Indem der Mensch von seiner Individualität absieht, wird er nicht überhaupt willenlos, sondern gibt nur seine geschöpflichen Neigungen und Begierden zum Besitz des >Dies< und >Das< zugunsten des reinen sittlichen Willens und der Ausrichtung auf das >absolut Gute< auf: »Durch diesen A k t . . . der Kenosis entäußert sich der einzelne Mensch seiner Partikularität und tritt . . . ein ins Reich des Allgemeinen«. 86 Das Problem der Freiheit betrifft das Verhalten der Subjektivität zu sich selbst und stellt sich bei Eckhart als eine »lebenslang währendeQ Wahlsituation« dar. 87 Der Mensch wird nicht durch einen einmaligen Akt der Wahl, was er ist, sondern muß sich beständig neu zu sich selbst entscheiden und sich tätig in seiner Wahl bewähren. 88 Seine Freiheit kann des Subjekt aber nur deshalb wählend erlangen, weil es als geistiges Wesen »eigentlich immer schon frei war«; eben dieses Faktum verbürgt ja die Lehre vom >Fünklein im Seelengrundec 8 ' In erkennbarer Weise nehmen solche Formulierungen existenzphilosophische Positionen vorweg, die in Brochs im Rückgriff auf Kierkegaard getroffener Unterscheidung zwischen Ethiker und Ästhetiker immer wieder eine Rolle spielen.9" m. E . eine fragwürdige Einengung des Begriffs der unio mystica zugrunde, den es bei Eckhart ja sehr wohl gibt, in dem aber das Primat der ekstatischen Einheitserfahrung durch ein >praxeologisches< unio-Verständnis ersetzt wird. Dieses wird für die moderne Auffassung einer >Mystik ohne Gott< und die Erfahrung >leerer Transzendenz< allererst grundlegend, die sich als permanente Hinreise und nirgends als Rückreise aus der unio-Erfahrung versteht. Mieth und v. Balthasar haben zudem darauf hingewiesen, daß die >contemlatio divinae veritatis< schon traditionell nicht ekstatisch verstanden werden muß, sondern immer schon eine Differenz zwischen Kontemplation und himmlischer Vision beinhaltet (vgl. Mieth, a. a. O., S. 55/56; H. U. v. Balthasar, Kommentar zu Thomas v. Aquin, S. th. q. 1 7 9 - 1 8 2 , Deutsche Thomas Ausgabe, Bd. 23, Heidelberg u. a. 1954). 8 ' Quint, D W 5, Reden der Unterweisung, 290, 5 - 2 9 1 , 1 1 . 84 Ebd., 207, 8-9. " Ebd., 275, 10. 86 Kobusch, 1986, S. 54. 87 Langer, 1986, S. 24. 88 Ebd., S. 25. 89 Kobusch, 1986, S. 58, vgl. Quint D W 1, Pr. 2, 39, 1 und 40, i f f . 90 Zum Beleg von Brochs unmittelbarer und mittelbarer (über Haecker vermittelter) Kierkegaard-Rezeption vgl. z . B . I X / 2 , 184; X I I I / i , 28, Anm. 2 und 3; ebd.,
186
Um zum Ebenbild im vollen Sinne des Wortes werden zu können, muß das Subjekt im Sinne Kierkegaards als autonomes voraus-gesetzt sein. 9 ' Das bedeutet, abermals im Sinne der christlichen Orientierung Kierkegaards und im Rückgriff auf Augustinus, daß es wohl als Selbstbestimmtes gesetzt ist, diese Setzung aber im stets zu erneuernden A k t freier und willentlicher Selbstwahl ergreifen oder verweigern kann und so sein Dasein erfüllen oder verfehlen kann, fremdbestimmt im endlichen, geschlossenen Wertsystem verharren oder sich, seiner Bestimmung gemäß, der unendlichen ethischen Forderung in permanenter Uberformung des Erreichen stellen kann, 92 um zu werden, >was es wirdo 93 Im für das endliche Bewußtsein unüberwindlichen Gefalle des jeweils Vorhandenen zum letztlich erstrebten Absoluten erreicht das Sollen niemals sein Ziel und generiert deshalb eine Haltung stetiger Uberwindung des Erreichten zugunsten eines utopischen Potentials; dem Menschen ist »der unendliche Weg von der Vielfalt der Weltdinge zur götdichen Einheit geöffnet und in der Nicht-Annahme dieses Weges«, in der »passiven nolitio« wandelt sich die »Faulheit als Erbschuld« zur »Verstocktheit, die Passivität zum Nicht-Wollen« ( X / i , 37).94 Der Sinn von Gut und Böse ist in der Kategorie von Freiheit enthalten, und die Differenz zwischen beiden ist erst in ihr gesetzt. Das Gute ist die autonome Weltformung, denn sie ist der zur Realisierung aufgegebene Sinn menschlicher Existenz. In seiner Freiheit kann der Mensch aber nur bleiben, wenn er sie beständig in der lebendigen Fortentwicklung des Gegebenen verwirklicht. In den Augustinischen Alternativen von volitio und nolitio sind zugleich jene ethischen Perspektiven entworfen, deren politische Dimensionen und Auswirkungen die >Massenwahntheorie< entfaltet.
S. 253. X I I I / 3 , 187, 376. Z u m Einfluß Kierkegaards auf das eigene Denken bekennt sich Broch explizit in einem Brief vom 2 5. August 19 3 3, in dem er Parallelen seiner Wertphilosophie zur Philosophie Heideggers »auf den gemeinsamen Ahnen Kierkegaard« zurückfuhrt. 91 S. Kierkegaard, Entweder-Oder, 3. Aufl. München 1980, S. 7 7 1 : ». . . ich wähle das Absolute, das mich wählt, ich setze das Absolute, das mich setzt; . . . Was ich wähle, das setze ich nicht, denn wäre es nicht gesetzt, könnte ich es nicht wählen.« S. 773/4: »Wenn nämlich das, was ich wähle, nicht da wäre, . . . so erschüfe ich; aber ich erschaffe mich nicht, ich wähle mich.« » ' I X / 2 , 137; X I I , 50/51. 95 »das Ästhetische in einem Menschen ist das, wodurch er unmittelbar ist, was er ist; das Ethische ist das, wodurch er wird, was er wird.« Kierkegaard, 1980, S. 729. 94 Vgl. auch I X / 2 , 146: Wenn der Mensch sich »an das Geprägte und Erstarrte« klammert, tritt das ein, »was Plotin unter dem Vergessen des götdichen Ursprungs verstanden haben wollte, . . . und der Mensch, der sein Wertziel solcherart verdreht, er hat den guten Willen verloren: seine Volitio hat sich in die nolitio verkehrt, ja sogar in die Nolitio perfecta, in der sich für Thomas das Böse konstituiert . . .« 187
Ein Motiv, das dieses Mitwirken mit Gott bei Eckhart metaphorisch umschreibt und auf das auch seine Rede von der >Gottesgeburt in der Seele des Menschen< schon hinweist, bildet die Fruchtbarkeitsmetapher:" »Die Seele, die mit Gott vereint ist, ist alle Zeit gebärend«, formuliert Eckhart zum Beispiel.' 6 Das >Fünklein< wird umschrieben als die »ledige Jungfrau und zugleich das fruchtbare Weib«.97 Die Fruchtbarkeitsmetapher als Ausdrucksform einer produktiven, weltzugewandten, sittlichen Lebenshaltung findet ihre eindrücklichste Anwendung in Brochs >Verzauberung< durch die Konfrontation der Impotenz des >falschen Erlösers< Marius Ratti mit der Schwangerschaft Agathes als des geistigen Ziehkindes Mutter Gissons. 98 Die Geburt ihres Kindes ist Metapher der Geburt des neuen, sich seiner Ebenbildlichkeit bewußten Menschen und in eins damit der >GottesgeburtSchlafwandlerDie Schuldlosem) nach einem Kind auf (V, 98). Da die Positionen beider Protagonisten jedoch in je anderer Weise als bornierte gekennzeichnet sind, in denen sich zwar wichtige Momente der Identitätsbildung ankündigen, die jedoch gleichwohl nicht zu sich selbst gebracht werden, bleibt ihnen symbolisch der Akt des Zeugens bzw. Gebärens versagt. H. U. v. Balthasar hat geurteilt, daß Eckharts Umdeutung der unio vom Einheitserlebnis zur Wirkeinheit den Stellenwert von Mystik in grundsätzlicher Weise verändere.' 00 Des Meisters unio-Interpretation bildet offenbar den Ausgangspunkt für jenes transformierte Mystik-Verständnis, das sich auf >leere Transzendenz< verwiesen sieht und sich als permanente >HinreiseRückreise< von einem im unio-Erlebnis sich offenbarenden Gott versteht. 101 Offenkundig deckt sich Brochs Verständnis von weltformender Wertsetzung als unentwegtem und unabschließbarem Hinarbeiten auf ein letztlich unerreichbares Ziel im Absoluten 102 mit diesem transformierten MystikVerständnis, weshalb das ekstatische Gefühl des >Ich bin die Welt< utopischen Charakter gewinnt. Neben dem Rückgriff auf Eckhart dürfte für diese Mystikauffassung freilich auch die Tradition der jüdischen Mystik des Sohar 91
Vgl. Mieth, Christus — das Soziale im Menschen, Düsseldorf 1972, S. 15 ff. ' 6 Pf. L X X I X , 254, 9 - 1 2 . 57 Zit. nach Kobusch, 1986, S. 58.
" I i i , 174/175; 369/370. 99 1. 3°7> 342/343» 378100
H. U. v. Balthasar, 1974, S. 65. " " Vgl. Mieth, in Böhme (Hg.), 1982, hier zit. in Abschnitt 1.2, Anm. 54. " " X I I , 304, 472; I X / 2 , 130. 188
und der lurianischen Kabbala Pate gestanden haben, der gleichfalls die Uberzeugung radikaler Transzendenz des Absoluten und die Verpflichtung zur tätigen Mitwirkung an der Schöpfung eignet. 103 Gerade die Lehre Eckharts begründet aber im Gedanken der unio als Wirkeinheit ein neues Verhältnis zwischen reinem und empirischem Geist, das Broch aufnimmt und radikalisiert und das den Sinn menschlicher Existenz neu fundiert. Zwar gehört es nach Brochs Verständnis »zu den Antinomien jeder Theologie, daß Gott der Welt bedarf, um sich zu entwickeln« (IX/2, 126), diese Auffassung erfährt aber im Horizont der Wertphilosophie und auf der Folie Eckhartscher Mystik eine eigenwillige Zuspitzung in Richtung auf die Unabdingbarkeit menschlicher Subjektivität. In diesem Sinne löst sich für Broch die Problematik der »Daseinslegitimation« (IX/2, 122) im permanenten Prozeß der Wertkonstitution als Art und Weise der Weltformung, in der allein Humanität sich erfüllen kann. Zugleich soll »mit Hilfe des . . . Wertbegriffes die Brücke zwischen einer versinkenden und überlebten Spekulation und den Möglichkeiten einer neuen Metaphysik geschlagen werden« (ebd.), in der sich — ähnlich wie bei Eckhart — Kosmogonie, Ontologie, Anthropologie und Ethik verbinden. Wie schon in der Spekulation Eckharts erscheint die konkrete Gestalt der Realität als Synthese göttlicher Schöpfungskraft mit der Kraft humaner Gestaltungsfahigkeit. In der ihr aufgegebenen tätigen, bewußtseinsgeleiteten Weltformung erfüllt und vollendet sich die Schöpfung der Welt als erster Setzung eines Rohmaterials, das erst die ebenbildliche Kraft des Menschen in Form und hierarchische Ordnung zwingt und so das in ihr als bloße Möglichkeit vorhandene Schöpfungspotential allererst realisiert. 104 Vgl. P. Koslowski, Gnosis und Gnostizismus in der Philosophie. Systematische Überlegungen, in: ders. (Hg.), 1988, S. 368—399, dort S. 395/6: »der Mensch (muß) mit Gott mitwirken . . . und, wie es die Schechinah-Lehre der lurianischen Theosophie mit großer Kühnheit ausdrückt, Gott und Natur mit erlösen. Der Mensch ist als Mittelwesen zwischen Gott und Natur und als Zentralgeschöpf der Schöpfung zur Mitwirkung und Heiligung der Schöpfung berufen.« Auftrag des Sohar sei es, »die Erde bewohnbar zu machen, während der Gnostizismus und der szientistische Technizismus die E r d e und den menschlichen Leib nur als unwesentliche und für das Pneuma gleichgültige Durchgangsstation zum Pleroma ansehen.« (ebd.). Z u Brochs Bezugnahme auf die jüdische Mystik vgl. auch Abschnitt 7. 104
Vgl. dazu z. B. W. Bange, Eckharts Lehre vom göttlichen und geschöpflichen Sein, Limburg 1937; K . Kremer, Meister Eckharts Stellungnahme zum Schöpfungsgedanken, in: Trierer theologische Zeitschrift, 74, 1965, S. 65-82; F. J . Rintelen: Eckharts Mystik. Sinn und Auftrag der Kreatürlichkeit, in: Philosophischer Eros im Wandel der Zeit, Festschrift Schröter, hrsg. v. A . Koktanek, Wien 1965; daß »Gott . . . den Menschen als Mitspieler« braucht, ist eine Auffassung, in der sich auch Walter Muschg auf die Kronzeugenschaft Meister Eckharts beruft. (In einem am 17.06.91 um 2 3 : 1 ; Uhr in N 3 gesendeten Gespräch mit Meinhard Schmid-Degenhart).
189
Das ist der Sinn von Brochs Auffassung, auch das Absolute könne immer nur Wertsubjekte setzen, deren Schöpfungspflicht erst das Eindringen des intelligiblen Ich in alle Phänomene und eine pantheistische Allbeseelung der Welt in ihrer ganzen Totalität gewährleiste. 10 ' In der Wahrnehmung ihrer »prometheischen« Kraft wird die menschliche Seele zum Ort der Vermittlung von Absolutem und Irdischem und bringt dabei zugleich Gott zu sich selbst und die Welt zu ihm, so daß sich in ihr erst der Sinn von Schöpfung erfüllt. S o gewinnt in diesem Prozeß das Subjekt allererst ein konkretes, autonomes Handlungsfeld, das sein Dasein legitimiert, indem es dem Gegebenen auf diese Weise eine sinnhaltige und ganzheitliche Gestalt verleiht, womit Gott, Mensch und Welt gleichermaßen ihr wahres Sein gewinnen: »Hast du in deinem Kreis die Erde eingekreist, so wird dein Antlitz, Mann, zum erdsichtbaren Geist«, heißt es in der >Verzauberung< (III, 565). Angesichts der radikalen Transzendenz des Absoluten verändert sich schon bei Eckhart'° 6 und mehr noch bei Broch die Bedeutung des Augustinischen Gnadentheorems und eröffnet Perspektiven, die das permanente Abhängigkeitsverhältnis des Seienden vom Sein im Sinne der creatio continua relativieren: Bei Eckhart verlagert sich das Gewicht von der creatio continua zur »incarnatio continua«, zum Werden des Absoluten im Mittel des tätigen Wirkens seines Ebenbildes. 107 Eine ganz ähnliche Umakzentuierung vollzieht Brochs Werttheorie, der gleichfalls die Prämisse zugrunde liegt, daß »der A k t der Setzung« von Seiten des Absoluten »kein kontinuierlicher« sei (X/2, 163). Während bei Eckhart aber dieser Gedanke nicht im Gegensatz zum Gnadenpostulat steht, 108 weist Broch die Hoffnung auf die
,o4
Vgl. die entsprechenden Textnachweise in Abschnitt 6.1.2. Z u r Relativierung des Moments der creatio continua vgl. insbesondere Kurt Flasch, Procedere ut imago. Das Hervorgehen des Intellekts aus seinem göttlichen Grund bei Meister Dietrich, Meister Eckhart und Berthold von Moosburg, in: K . Ruh (Hg.), 1986, S. 1 2 5 - 1 3 4 , bes. S. 129. Das bei den genannten Autoren belegte Motiv des >Hervorgehens als Bild< beschreibt den Sachverhalt, daß der Intellekt sich selbst durch eigene Aktivität hervorbringt. Zwar bleibt der göttliche Urgrund dieser Selbstgenerierung als Ausgangspunkt erhalten, die Tätigkeit aber, durch die der Intellekt sich selbst konstituiert, besteht im sich selbst erkennenden Hinsehen auf diesen göttlichen Grund. Daß er daraus als Bild hervorgeht, bezeugt seine »Konformität« mit dem Urbild, während das Moment des Hervorgehens zugleich seine Andersheit betont. Vgl. auch die von Burkhard Mojsisch getroffene Differenzierung von geschaffenem und ungeschaffenem Intellekt, die bei Eckhart aufgrund der These aufgehoben wird, daß Ahnliches nur durch Ahnliches erkannt werden könne (B. Mojsisch, >Dynamik der Vernunft« bei Dietrich v o n Freiburg und Meister Eckhart, in: K. Ruh (Hg.), 1986, S. 1 3 5 - 1 4 4 , bes. S. 138ff.).
'°7 Vgl. Mieth, 1980, S. 52. ,0 ' Ebd., S. 52/53; in diesem Zusammenhang konstatiert Mersch, 1989, S. 90/91: »bei Eckhart ist diese Transzendenz durch einen liebenden Gott >gefiilltkopernikanische Wende< im Verhältnis des endlichen zum absoluten Geist vollzieht. Scintilla animae, das >FünkleinWerte< >gefulltLogos< heißen kann. A u s theologischer Sicht tut sich an dieser Stelle bei Broch ein Mangel auf, bei dem es deutlich wird, daß er Eckhart nicht als Theologen rezipiert, auch wenn er diesen für seine Gedankengänge heranzieht. . . . Broch beschäftigt sich nicht mit dem Wesen Gottes, . . . und wenn er es tut, dann bedient er sich einseitig der Tradition der negativen Theologie, ohne . . . zu positiven Aussagen zu gelangen.« Mersch bezieht als Theologe die spezifisch moderne, säkularisierende Transformation des mystischen Bezugspunktes der leeren Transzendenz in seine Überlegungen nicht mit ein und muß aus orthodoxer Perspektive Kritik an Brochs Position üben. 109
Vgl. auch X I I , 354 und V , 308, w o der Begriff der >GnadeMassenwahntheorie< dennoch nennt, geschieht allein der Vollständigkeit aller zu erwägenden Möglichkeiten halber (z. B. X I I , 60). Sie wird zwar theoretisch als exquisiteste Möglichkeit der Irrationalbereicherung verstanden, gleichwohl als unrealistisches Kalkül zugunsten rationaler Bewußtseinsbildungsmöglichkeiten beiseite gelassen (vgl. ebd. 60 oder 86).
1,0
Vgl. Anm. 104.
191
darin, den guten, als abstrakter Geist aber machtlosen Gott in die Welt einzulassen und ihm zur Herrschaft zu verhelfen." 1 In der bei Eckhart vorgebildeten Auffassung der Pflicht des Menschen zur Mitwirkung an der Schöpfung verändert sich so das Verhältnis von Schöpfer und Geschöpf in gravierender Weise und gewinnt der Sollenscharakter menschlicher Existenz erst seine prägnante Bedeutung. In diesem Sinne legt der >Vergil< das Erscheinen Gottes in die Hände des Menschen: oh, unabänderliche Schicksalspflicht des Menschen, dem Gotte willig den Weg zu ebnen . . ., den Weg der zeitlosen Wiedergeburt, in deren Erstrebung sich Gott und Mensch vereinigen, . . . (IV, 4;).
In dieser Perspektive erfährt die Menschwerdung Gottes in Christus, die der >Vergil< ankündigt," 2 — ähnlich wie schon der Tod des Erlösers in der >SchlafwandlerSchuldlosenVergilLeere 11
Vgl. Mieth in Haas/Stirnimann (Hg.), 1980, S. 36; vgl. Abschnitt 1.2. " »verkrieche dich/. . . in die Annäherunglosigkeit deines Selbst/ . . ./auf daß/dein
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TranszendenzFünkleins< rekurriert. Das ontologische Verhältnis von Urbild und Ebenbild wird dabei derart bestimmt, daß letzteres wesentlich teilhat an jenem, das es abbildet: Denn soferne ich bin . . .,/habe ich den Nicht-Ort Meines Wesens in dich eingesenkt;/das äußerste Außen in dein innerstes Innen —,/. . . (V, 243).
Schon Martini hatte in seiner Interpretation des >Vergil< daraufhingewiesen, daß dieser transzendente Gott »nicht jenseits der Welt« erfahren wird, »sondern als der tiefste kosmische und mythische Lebensgrund im Innern des Ich«. 14 Darum lautet die Forderung des Gottes: . . . verkrieche dich/in Zerknirschung, in die Annäherunglosigkeit deines Selbst;/ dort allein bist du ebenbildhaft./. . . (ebd.).
Einmal mehr weist die damit gegebene Bestimmung der Ebenbildhaftigkeit die christliche Erwartung eines zum Menschen gnadenvoll sich niederneigenden, die Geschicke der Welt lenkenden Vater-Gottes ab: Mir jedoch gelte kein Gebet; Ich höre es nicht: . . . (ebd.).
Auf Brochs Orientierung an Konzepten der negativen Theologie haben schon Somm 1 ' und Koebner' 6 hingewiesen, ersterer sogar ausdrücklich im Kontext mystischer Aspekte in Brochs Werk. Jedoch bleiben in deren traditioneller Form die Attribute Gottes positive: Sein Wesen wird über alle Begriffe und Maße hinaus als herrlich verstanden. In der bei Broch vorliegenden, transformatorischen Uberbietung der negativen Theologie zugunsten eines Verständnisses von leerer Transzendenz ist das nicht mehr der Fall. Zudem ist man bislang noch nicht auf die Funktion des deus absconditus im Rahmen von Brochs Ethik aufmerksam geworden, in deren Kontext sie ein entscheidendes Motiv darstellt und zugleich jene Umwertung des VerErkennen zur Ahnung deines Wissens gelange,/du aber in deinem Nicht-Glauben glauben kannst;/. . .« (V, 243). ' ' Max Horkheimer, Gesammelte Schriften Bd. 7, Ffm. 1 9 8 ; , S. 223 (Uber den Zweifel). ' 4 Martini, 1954, S. 425. '' Vgl. z. B. W. Somm, 1965, S. 16—20. ' ' Th. Koebner, Der unerreichbare Gott, in: Lützeler/Kessler (Hg.) 1988, S. 159—191. 201
hältnisses zur leeren Transzendenz begründet, die Broch im Laufe der Zeit vollzieht. Daß sich hinter der beschriebenen paradoxen Selbstprädikation des Absoluten im Prophetengedicht mehr verbirgt als das Umkreisen eines Inkommensurablen, zeigt schon die Form der Offenbarungsrede als solche, in der die Nicht-Offenbarung gerade als diffizile Form der Offenbarung gedeutet wird. Gottes radikales Sich-Entziehen wird als paradoxer Ausdruck der Selbstpräsentation begriffen, womit ihr zugleich ein tieferer Sinn unterstellt wird. Versteht die christliche Mystik die Verborgenheit und Mitteilsamkeit Gottes als ihr eigentliches Fundament, 17 so wird dieser Dualismus bei Broch in ein dialektisches Verhältnis umgedeutet, demzufolge die Selbstmitteilung Gottes an den Menschen gerade in der Weise des Sich-Verbergens besteht. Ihr eigentlicher Sinn liegt aber darin, daß sie auf diese Art zum entscheidenden Movens einer unendlichen Erkenntnisbewegung avanciert: Des Herrn Sprache . . . ist Sein Schweigen, und Sein Schweigen ist Seine Sprache. . . . Sein Tun, ist Nicht-Tun, und Sein Nicht-Tun ist Tun. Gehet nach Hause und denket nach,
weist deshalb Rabbi Levi bar Chemjo seine Schüler in Brochs >Parabel von der Stimme< zu Beginn der >Schuldlosen< an. Schon bei Eckhart bildet die Negativität mystischer Erfahrung die entscheidende Triebfeder für die unentwegte Gottessehnsucht des Menschen, wenn davon die Rede ist, daß allein »das Nicht-Wissen die Seele dem nachjagen lasse, von dem sie nicht wisse, wie und was es sei, während sie sehr bald der Dinge müde werde, die sie erkannt habe«. Nur das nichterkennende Erkennen halte die Seele bei ihrem Gegenstand.' 8 Daß Brochs >Parabel von der Stimme< sich aber gerade auf die jüdische Mystik des Talmud und Sohar bezieht, ist kein Zufall, leugnet dieselbe doch weit konsequenter als die christliche Mystik die Möglichkeit jeder Erreichbarkeit des Absoluten durch den endlichen Geist, dessen Bemühen um eine verstehende Annäherung an das allem Verstehen Jenseitige zwangsläufig und iterativ immer neue Deutungen desselben hervortreiben muß. A u f semiotischer Ebene erscheint deshalb jeder religiös inspirierte Text als Neuinterpretation einer verlorengegangenen Urschrift ( - ein Konzept, das Habermas noch als heimliche Basis von Derridas dekonstruktivistischer Grammatologie wirksam sieht' 9 ). Deshalb kann in den >Schlafwandlern< der 17
Vgl. Mieth in Haas/Stirnimann (Hg.) 1980, S. 5;. Meister Eckhart, hrsg. v. F. Pfeifer, 1. (einzige) Abteilung: Predigten und Traktate, Leibzig 1857, 8, 15—19; zit. nach Wagner-Egelhaaf, 1989, S. 18. ' ' In kritischer Absicht hat Habermas Derridas Grammatologie als eine moderne Variante dieser Auffassung gedeutet und dem Dekonstruktivismus damit einen Verstoß gegen selbstgesetzte Ansprüche vorgeworfen: l!
20z
Jude Nuchem dem Dr. phil. Bertrand Müller, der im Verweis auf Hegel angesichts des apokalyptischen Blutgrauens der Revolution das Reich der Erlösung nahen sieht, entgegenhalten: »Das Gesetz bleibt bestehen. Gott ist erst, wenn man alles aus dem Gesetz herausgelesen hat« (I, 617), — dessen Sinngehalt aber ist ein unerschöpflicher. Dennoch bedeutet der Rückgriff auf die jüdische Mystik ebensowenig eine konfessionelle Fixierung Brochs, wie seine Bezugnahme auf Eckhart seine Vereinnahmung für das christliche Denken erlaubt. Vielmehr zeigt sich gerade in der synthetisierenden Kompilation aller beschriebenen Denkansätze ihre jeweils nur paradigmatische Bedeutung für einzelne Theoreme Brochs. Die geistigen Traditionen, zwischen denen er sich bewegt, werden gefiltert im Hinblick auf einen überkonfessionellen mystischen Gehalt seines Denkens, der den schlechthin zentralen Ausgangspunkt seiner gesamten Philosophie bildet. Die beschriebene Stellung des Absoluten als eines radikal jenseitigen Wertziels liefert demgemäß das Vorbild für das >unendliche Wertzieh, das nach Brochs Vorstellung die Struktur offener Wertsysteme ausmacht: Deren Telos liegt außerhalb des für sie Erreichbaren oder auch nur inhaltlich Bestimmbaren und schützt sie vor jener dogmatischen Verkrustung, die in geschlossenen Systemen mit dem Erreichen ihrer endlichen Wertziele notwendig eintreten muß und ihnen den Charakter eines statischen, ästhetizistischen Imitationssystems verleiht. Dessen Bemühungen beschränken sich auf die Konservierung des einmal Erreichten, so daß es sich auf diese Weise immer weiter von der permanent im Wandel begriffenen Realität entfernt und die eigentliche Forderung an jedes >echte< Wertsystem, sich gemäß den Veränderungen der Wirklichkeit permanent fortzuentwickeln, verfehlt (IX/2, 145/6). Ausdrücklich nimmt Broch noch im Kapitel 3 der >Massenwahntheorie< von 1941 auf die jüdische Mystik als Paradigma eines offenen Wertsystems Bezug, das aufgrund seiner Struktur vor der »Gefahr des Heidnischen und der Wiederverheidung« geschützt sei. 2 ° »Derridas grammatologisch eingekreistes Konzept einer Urschrift, deren Spuren nur um so mehr Interpretationen hervorrufen, je unkenntlicher sie werden, erneuert den mystischen Begriff der Tradition als eines hinhaltenden Offenbarungsgeschehens. Die religiöse Autorität behält nur solange ihre Kraft, wie sie ihr wahres Anditz verhüllt und dadurch die Entzifferungswut der Interpreten anstachelt . . . Die Arbeit der Dekonstruktion läßt die Schutthalde der Interpretationen, die sie abtragen will, um die verschütteten Fundamente freizulegen, immer weiter anwachsen.« J . Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Z w ö l f Vorlesungen, Ffm. 1985, S. 216.
20
Demgegenüber urteilt Teilhard de Chardin, Der Mensch im Kosmos, Zürich 1978, S. 236: »Ist es nicht eben Endziel des Denkens, kein Endziel zu haben?« Im jüdischen Glaubenssystem ist »Gott . . . ein unendlich fernes, unausdenkbares 203
D i e Uneinholbarkeit des religiösen Bedeutungshorizonts, die die Struktur des offenen Systems bestimmt, begründet zugleich für ihren Repräsentanten die Verpflichtung auf ein ethisches Wertstreben, das sich angesichts der utopischen Unerreichbarkeit seines Telos genötigt sieht, ständig über die bereits erreichten Formrealisate hinauszustreben und sich in asymptotischer Annäherung an das Absolute als Metrum des ethisch zu Fordernden nie mit dem bereits Geleisteten zufriedenzugeben: »Denn
immer
versagt die Erfüllung im Realen, aber der Weg
der
Sehnsucht und der Freiheit ist unendlich und niemals ausschreitbar«, versteht E s c h (I, 380). Bezugspunkt dieser Ethik bleibt immer das mystische Erleben als solches, dessen uneinholbare Intensität stets den Maßstab für den unendlichen Formungsanspruch bildet und damit eine infinite, produktive Dynamik generiert: Wesen der mystischen Erneuerung ist aber das Erleben von Innen heraus . . . Die überrationale und wahrhaft mystische Komponente . . . (ihrer A. G.) Kritik aber liegt in dem tiefen Bewußtsein, daß die alte Form zu eng sei und gesprengt werden müsse. Niemals genügt ja irgendeine Form einem wirklichen Erleben, und immer bricht die Hoffnung auf, neue und endgültigere Form finden zu können ( X / i , 157). D a s auf ein inhaltlich nicht bestimmbares Absolutes ausgerichtete Wertstreben kann sich deshalb nur formalethisch definieren, indem es sich v o n dem je Vorhandenen kritisch abgrenzt: Wo . . . bloß der Ausgangspunkt im Realen und Sichtbaren liegt und im übrigen nur gewußt wird, daß die Handlungen, die dem (offenen, A . G.) System angehören, sich von diesem Ausgangspunkt wegbewegen, weil das ganze System in fortschreitender Entwicklung begriffen ist und zum Unendlichen hinstrebt, da kann die ethische Forderung nicht mehr die >endliche< Formulierung erhalten >Du sollst dieses oder jenes endliche Ziel anstrebem, sondern kann bloß negativ Sein, von dem man sich kein Bild machen kann, ja, dessen Name nicht einmal ausgesprochen werden darf, und des Menschen . . . Aufgabe ist es, sich zu diesem unendlich fernen, abstrakten Zielpunkt hinzuentwickeln; die vorhandene Welt, in die der Mensch durch den Schöpfungsakt gestellt ist, bildet bloß den ersten Ansatzpunkt zu dieser rastlosen, niemals endenden, strengen Pflichterfüllung, und ebenso ist mit dem geoffenbarten Wort Gottes bloß ein erster Ansatzpunkt gegeben, von dem aus durch fortgesetzte, niemals endende Auslegung . . . (Talmud, Sohar) eine Annäherung an die niemals erreichbare Gotteswahrheit gesucht zu werden hat. . . . denn wenn auch der Mensch sich bloß im konkreten Irdischen zu vervollkommnen vermag, der Vervollkommnungsprozeß geht rein im Geistigen v o r sich, und welche Stufe auch immer im Irdischen erreicht sei, sie gilt nichts vor dem unerreichbaren, abstrakt fernen Ziele . . ., da in allem Irdischen — wird es zu hoch gestellt — die Gefahr des Heidnischen und der Wiederverheidung schlummert. In dieser strengen Ausgerichtetheit auf das unendlich ferne Ziel . . . aber ist es die Struktur eines offenen Systems, das sich damit dartut« (XII, 395/6).
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gefaßt werden >Du sollst diesen augenblicklichen und sichtbaren Zustand verlassen (IX/2, 139). In der Ausrichtung auf ein radikal transzendentes höchstes Ziel als Motiv für den bloß negativ bestimmbaren Modus des Wertstrebens begründet sich deshalb für Broch eine Verwandtschaft zwischen Kantischer Bewußtseinsphilosophie, Mystik und gesellschaftskritischer Satire. In Kants bedingungslosem Insistieren auf die Gesetzmäßigkeit der Form unter Vernichtung aller inhaltlichen Dogmatik sieht Broch eine »letzte Religiosität dieser Denkweise« wirksam. 2 1 Daß aber auch und gerade der große Satiriker »sich zu den höchsten Erkenntnissen, Mystik und Bewußtseinsphilosophie hingezogen . . . fühlt«, erscheint Broch als »notwendig«: Denn die Geistesanlage des großen Satirikers f ü h r t . . . so nahe an das Denken des großen Mystikers und Philosophen, daß es Anmaßung ist, hier noch so einfache Klassifikationen walten zu lassen. Ihr Gemeinsames: die Ablehnung des Ungeistigen, Vernichtung des Dogmatischen . . .; verschieden wohl nur die Ausgangspunkte: für den Mystiker das Gefühl, für den Philosophen das Bewußtsein, für den Satiriker der Gegensatz zu beiden: die crapule. Ihrer aller letztes Ziel: Menschentum, Menschlichkeit in der Einsamkeit des Geistes - Ethik (X/i, 248; Herv. Broch). Die bloß formale, inhaltlich allein negative Bestimmung v o n ethischen Wertsetzungen definiert für Broch zugleich die Grenzen utopischer Gesellschaftsentwürfe, deren konkrete Antizipation sich als Verendlichung offener historischer Möglichkeiten verbietet. A u s dieser Perspektive verfallt beispielsweise Zolas Vision einer sozialistischen Gesellschaft in den >Quarte Evangiles< Brochs scharfer Kritik. 2 2 Wohl konnte Broch eine derartige Veränderung des Utopieverständnisses in Karl Mannheims I d e o l o g i e und Utopie< nachlesen, dessen Utopiebegriff auf einem veränderten Verständnis der Historizität von Gesellschaftsentwürfen basiert, 2 ' jedoch gewinnen dessen Thesen ihre Schlagkraft für Broch offenkundig erst vor dem Hintergrund der Bestimmung des Absoluten als >leerer Transzendenzwache< und mathematische, und nirgends wird die Ahnung des Fichteschülers Novalis >Reine Mathematik ist Religio™ wahrer als in diesem System«. " »da wird im Rahmen eines naturalistischen Romans ein völlig utopischer Zustand geschildert, . . . wie er auch nach Erreichung der klassenlosen Gesellschaft gewiß niemals eintreten würde, . . . in dem das Gute das Böse nicht nach den künftigen, sondern nach den in den Jahren um 1890 gültigen moralischen Begriffen auf die guten Sozialisten und die bösen Antisozialisten verteilt wird, — . . . das unendliche Ziel des Sozialismus (wird) ins Endliche (ge)rückt (und) solcherart das System selbst >verendlichtDie Schlafwandler als Zeitromane in: Strelka (Hg.), 1978, S. 25—42, dort S. joff. 205
stischer Gottessehnsucht zugleich zum unendlichen und inhaltlich nicht fixierbaren Wertziel eines utopischen gesellschaftlichen Potentials avanciert und dessen Exponenten auf eine formalethische Position der kritischen Uberwindung des Vorhandenen verpflichtet. Es kann danach nicht verwundern, daß Broch von den Möglichkeiten literarischer Utopie vornehmlich in vermittelter Weise, nämlich i m Medium der gesellschaftskritischen Satire Gebrauch macht, in der das utopisch Anvisierte nur ex negativo, als Negation der Negation, und auch dann bloß in Form regulativer Ideen aufscheint. 24 Entscheidende Voraussetzung für jeden ernsthaften ethischen Anspruch ist aber das Moment sittlicher Autonomie, das allererst Verantwortlichkeit generiert. Es zeigt sich nun, daß gerade das sich als >leere Transzendenz< offenbarende Absolute dieses Moment für sein Ebenbild erst setzt: Wo das Urbild sich allen inhaltlichen Bestimmungen entzieht und sich nur als abstrakte Form, als reiner Geist präsentiert, hält es auch das Abbild von ihnen frei und ermöglicht ihm gerade dadurch Selbstbestimmung. Erst die Abwesenheit transzendenter Geborgenheit, die Empfindung des Mangels generiert das Selbstbewußtsein des Humanen. Die Negativität des transzendenten Urbildes wird als Auftrag zur Autonomie begriffen und so in der Potentialität des Subjekts absorbiert. Daraus erst erklärt sich die von Koebner wohl konstatierte, aber nicht begründete >Versöhnung mit dem unbekannten GottIch werde sein, der ich sein werdeSchlafwandler< ankündigte, verifiziert sich nun im Hinblick auf das Absolute selbst: Indem es sein Abbild gerade nicht väterlich bergend an die Hand nimmt, entgeht es zu24
So in den beiden satirischen Novellen der >SchuldlosenMethodisch konstruiere und >Die vier Reden des Studienrats Zachariase z ' Koebner, in Lützeler/Kessler (Hg.) 1988, S. 184. 16 M . Kessler, Religiöser Paradigmenwechsel, in Lützeler/Kessler (Hg.) 1988, S. 150—158, dort S. 154/155. 206
gleich der Gefahr, es zu entmündigen. Indem es den Menschen, dem es als innerster Seinskern einwohnt, formal auf die Verähnlichung mit seinem Urbild im Prozeß des >Werde, der du bist< verpflichtet, sich zugleich aber in die inhaltliche Unbestimmtheit radikaler Transzendenz entzieht, zwingt es ihn gerade in die Emanzipation und ermöglicht so erst wirkliche Ebenbildlichkeit, deren weltformendes Ethos es nur der Form nach als unendliche Forderung und infiniten Progreß bestimmt. Gerade in der radikalen Transzendenz des Urbildes ist deshalb im Sinne Kierkegaards das Ich als autonomes Selbst voraus-gesetzt 27 und zugleich im Verhältnis zu allen notwendig endlichen inhaltlichen Handlungsprämissen einem Mehr an sittlicher Pflicht ausgesetzt. Der Selbstentzug des Urbildes ist Movens zur Emanzipation in die Autonomie. Deshalb besteht in den >Schuldlosen< die Hilfe des »Vaters«28 darin, das »Kind« 29 bei seinem Namen zu rufen und es damit in einem symbolischen Taufakt an seine ebenbildliche Identität zu erinnern, auf das Absolute also allererst zu verpflichten:' 0 »Ich kann dir bloß Hilfe bringen. Das übrige mußt du dir selber erwerben« (V, 272). Die Offenbarung des Absoluten als Nicht-Offenbarung ist »absolut-göttlicher Verantwortungsaufruf«, der »das menschliche Tun zum Unendlichen (hinwendet)« (V, 270). Freiheit als Grunddimension ethischer Existenz bezeugt sich damit im dialektischen Verhältnis von Wollen und Sollen, von Selbstbestimmung und Gefordertsein. Der Charakter der Selbstwahl erweist sich als ein realisierendes Umsetzen einer voraus-gesetzten Autonomie: »kenne ich das Gesetz meines Denkens«, das das Subjekt auf absolute Wahrhaftigkeit und also auf den unendlichen Erkenntnisakt verpflichtet, »so kenne ich das Gesetz meines Ichs, Freiheit und Gebundenheit meines Handelns« ( X / i , 248). Innerhalb der empirischen Existenzweise des Ebenbildes wird so der Modus des Suchens selbst zum Erreichen. »Das Wesen des wertbewußten Menschen liegt im Sucherischen«, heißt es in einem Brief einmal. Die Sisyphusarbeit der Überwindung der unüberwindlichen Differenz wird zum Agens der Verähnlichung im Mittel der Weltformung. ' ' V g l . hier Abschnitt 6.3. " So tituliert A. die allegorische Figur des >Steinernen Gastesc, der ihm in mäeutischer Weise zur Einsicht in die mit der Ebenbildlichkeit verbundene Pflicht zu verantwortlicher Weltformung verhilft, vgl. V , S. 266: »Ihr, Vater und Großvater, habt mich auf das innerste Ich verwiesen. . . . Und kraft meines Ich-Besitzes . . . bin ich ebenbildhaft dem Göttlichen angenähert, denn im Ich-Grund ist das Unendliche mit dem Nichts gepaart, beides dem Tier unerreichbar, dagegen für den Gott und nur für ihn zur Einheit werdend.« *' Ebd., 261: »Doch wenn man sich selber zu einem fetten Kind gemacht hat, wie du es . . . getan hast, darf man derartige Männcheneitelkeit nachgerade aufstecken. JO Vgl. ebd., S. 271 und 273: »es war der . . . Ur-Ahne, der . . . seine Stirne küßte, ihn zu erwecken, ihn zum dritten Mal beim Namen rufend, als wollte er . . . das Kind aus der Namenlosigkeit heben . . .«
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8. mors mystica; mystische Bedeutungsdimensionen des Todes in Brochs Werk
Nicht nur im >Tod des Vergil< avanciert das Sterben zu einem zentralen Gegenstand von Brochs Dichtung und Philosophie: »Das Antlitz des Todes ist der große Erwecker«, formuliert Broch in seinem Essay >Das Böse im Wertsystem der Kunst< (IX/2, 124). Der Tod gilt ihm als das entscheidende Thema einer dichterischen Erkenntnis, die den Bereich des Lebens im Sinne des transzendental möglichen empirischen Wissens an die auf diesem Gebiet leistungsfähigere Wissenschaft hat abtreten müssen, deren Erkenntnisse aber aus der Perspektive empirisch nicht wirklich begreifbarer Phänomene wie dem des Sterbenmüssens relativiert, da die auf dem Boden des Positivismus gewachsenen Forschungsergebnisse die Vielfältigkeit des Faktischen nicht in Richtung auf eine universale Sinntotalität transzendieren können, in der auch das Faktum des Todes seinen Ort hat: 1 »Zur Erkenntnis des Lebens bedarf es nicht der Dichtung, oh Cäsar«, hält Vergil deshalb dem Augustus entgegen (IV; 301), . . . die Erkenntnis des Lebens, an das Irdische irdisch gebunden, ist als solche nimmer imstande sich über das Erkannte zu heben, und ihm die Einheit zu schenken, die währende Einheit des Sinns, kraft welchem das Leben als Schöpfung besteht und im ewigen Bestand ewig erinnert wird. . . .; denn mag der erkennende Geist noch so tief in das Seiende dringen, . . . kein Schritt ist damit noch getan, diesseitig bleibt die Erkenntnis, . . . sie bleibt Erkenntnis des Lebens, doch ohne Erkenntnis des Todes: aus nächtlichem Chaos des Anfangs wird . . . Glied um Glied die Wahrheitskette gereiht, . . . unendlich sie wie das Leben, freilich auch ebenso sinnlos . . ., ehe nicht ihr wie dem Leben, erkannt und erkennend der Tod, das Licht unsterblichen Sterbens sich auftut, der schlichteste Sinn des menschlichen Daseins, die Einheit der Schöpfung als Wahrheit (ebd., 305 u. 304).
Die Metakategorie des Sinns liegt jenseits des transzendental möglichen Wissens, das — wie schon Wittgenstein gesehen hatte - nur sagen kann, was der Fall ist. Aus dieser Erkenntnis heraus stellt Broch die Frage nach dem Stellenwert von positivistisch begründeten und zwangsläufig bloß zweckgerichteten Weltbewältigungsmöglichkeiten, die zudem vor dem unerhör-
' Heidegger spricht in diesem Zusammenhang von der >nur< empirischen Gewißheit des als Ableben vorkommenden Ereignisses, die die tatsächliche Dimension der Todesgewißheit für das individuelle Bewußtsein nicht wirklich erfaßt; vgl. Sein und Zeit, 15. durchgesehene Auflage, Tübingen 1979, S. 257.
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testen Faktum des Lebens, seiner unausweichlichen Endlichkeit, kapitulieren müssen. Bewältigt ist das Sterbenmüssen erst dort, w o ihm im Ganzen der Existenz ein Sinn abgewonnen werden kann. Da dieser der empirischen Erkenntnis unzugänglich ist, gewinnt an ihr die als transrational, weil metaphysisch umschriebene, dichterische Erkenntnis ihren eigentlichen Gegenstand. Deshalb sieht Broch die Kunst dorthin verwiesen, »wo ihr eigentlichster Stoff ruht, . . . nämlich auf den Tod an sich, den großen pacemaker aller metaphysischen Erkenntnis« (XIII/2, 319/20). So insistiert auch Vergil, dessen Thema das Sterben ist, gerade weil sein Problem die Rechtfertigung von Dichtung darstellt, dem Augustus gegenüber darauf, daß »das Ziel aller echten Dichtung« sei, »sich an den Tod heranzutasten mit jedem Gedanken, mit jeder Vorstellung . . .« (IV, 306). Wie läßt sich die Bewältigung des Todes im Medium einer Dichtung denken, die sich als Erbin der klassischen, mit metaphysischen Fragen befaßten Philosophie begreift? Die Antwort auf diese Frage gliedert sich bei Broch in verschiedene, miteinander vermittelte Dimensionen:
8.1. Der Tod als Unwert Aus der Perspektive empirischen Daseins stellt der Tod das Lebenbedrohende schlechthin dar. Er ist »der eigentliche Unwert, der Unwert an sich, der dem Wert des Lebens gegenüberzustellen ist, . . .« (IX/2, 125). Im Blick auf sein Ende erweist sich zugleich die Vergeblichkeit des Lebens, Denn v o m Tode als dem schlechthin gesetzten Ende her wird auch das Leben zum Nichtigen, leitet es doch zu ihm hin und in ihm in das Nichtige hinein.®
Die Realität des Todes ist die einer unüberschreitbaren Grenze des Daseins wie der Erkenntnis. Was aber nicht begriffen werden kann, macht angst, weil es nicht handhabbar ist: Ein Mittler zwischen psychischer und metaphysischer Realität, steht der Tod an der Grenzscheide zwischen der hellen Welt des Bewußtseins, in der alle Dinge bekannt sind . . . und definiert werden können, und der Welt der Dunkelheit, in der nichts zu definieren ist, aus der alles Unheil kommt, auch hier im wahren Wortsinn >namenloses Unheil< — es ist jenes Unheil, das auf die Erlösung durch den definierenden Namen wartet, auf daß es erkannt und man dagegen gefeit sei (IX/2, 110).
Als solcher bildet der Tod den höchsten und unwiderruflichen Ausdruck menschlicher Determiniertheit, er erscheint als »die einzige Absolutheit der Realität und der Natur« (ebd., 125), die der formenden Kraft des Geistes widersteht. "Martini, 1954, S. 454.
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Gerade deshalb wirkt der Tod aber zugleich als Movens für das Sinnund Autonomiebedürfnis des Menschen, als letzte und dringendste Herausforderung seiner geistigen Formungspotenz, ist »Mahner, das Leben mit letzterreichbarem Sinn zu erfüllen, auf daß es nicht umsonst gelebt sei« ( I X / i , 86). E r definiert den »Nullpunkt« auf der Wertskala, zu dem die Konsistenz jedes Wertes in Relation tritt. Wert nämlich ist diejenige Instanz, die, »vom Willen des Menschen getragen«, der »Absolutheit (des Todes) entgegengeworfen« wird (IX/2, 125), bedeutet Wertschöpfung doch nichts anderes, als daß das Dasein (des Geformten wie des dasselbe sich anverwandelnden Formenden) auf dauerhafte Gültigkeit und also auf Zeitlosigkeit gestellt wird, die den Tod in seiner Bedeutung als Endlichkeit verbürgende Macht aufheben soll, weil er das als wesentlich erkannte ideelle Sein nicht betrifft. Die Instanz des Wertes kann diese Funktion erfüllen, weil sie als Aufladung und Uberformung des materiell Vergänglichen mit der Kraft des unvergänglichen Geistes definiert ist, die den Fremdkomplex des Non-Ich von der freien Aktivität des Ich abhängig macht, so daß derselbe zur >Setzung< des eigenen Geistes wird (X/2, 82). S o zielt »alles, was Wert . . . genannt zu werden verdient, . . . auf Aufhebung und Überwindung des Todes« (IX/2, 125): Im Unsterblichkeitsgedanken erhält das Prinzip des Geistigen als Opposition zur physischen Bedingtheit des Todes . . . wichtige Orientierung . . .: Unsterblichkeit, . . . faktisches Wert-Ziel des asymptotischen Limes (des) abstrahierten >Wertes an sich< (X/2, 87).
Die absolute Todesgewißheit als »Inbegriff alles Furchterregenden« (XII, 487) wird so zur größten Herausforderung für die »Absolutheit der Seele« und deren »sehr merkwürdige Befähigung . . . zum A k t der Wertsetzung« (IX/2, 125), den Broch als ideelle Todesüberwindung versteht. Dem Tod kommt damit in doppelter Hinsicht eine sinnstiftende Funktion für das menschliche Dasein zu, wird er doch nicht nur zum dringendsten Anlaß zur Wertformung, sondern in eins damit zum Ausgangspunkt für die Selbstkonstitution des autonomen, ebenbildlichen Menschen schlechthin, weil er erst angesichts seiner die Möglichkeit gewinnt, sich als wahrhaft humanes Wesen zu entwerfen; denn Wertsetzung versteht Broch als den »Akt Humanität schlechthin« (IX/2, 125), in dem »des Menschen Leben zum Leben, er selber aber zum Menschen wird« (XII, 489). Da der Mensch ohne sein permanentes Todesbewußtsein »wahrscheinlich nicht Mensch wäre«, muß »er es sich trotz Uberwindung erhalten« (XII, 487).' Der 3
»Und da der Mensch solch anscheinend kontradiktorische A u f g a b e . . . immer wieder löst, wird er an ihr zum Menschen. Denn ist ihm der Tod Ich-Auslöschung, so ist ihm jede Ich-Entfaltung . . . das ersehnte Zeichen für eine Fernhal-
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Tod ist der »große Erwecker«, weil er das demiurgische Potential im Menschen freisetzt und ihn so auf die Ebenbildlichkeit hinwendet. Dieser Aspekt von Brochs Todesverständnis ist freilich zunächst noch kein spezifisch mystischer. Seine Bedeutung im Rahmen von Brochs mystisch angelegter Wertphilosophie ist erst noch deutlich zu machen. Zudem erscheint diese Art der Uberwindung des Todes, die darauf basiert, daß das Sterben den Charakter namenlosen Unheils verliert, indem ihm ein Sinn und eine Funktion im Ganzen des menschlichen Daseins zugewiesen wird, als eine äußerst abstrakt-theoretische, die das katastrophale Faktum realen Sterbens allenfalls relativiert, keinesfalls aber von ihm dispensiert.
8.2. Der Tod als Totalität stiftende Instanz des Daseins Der Augenblick des Todes eröffnet nach Brochs Verständnis dem Dasein eine einmalige und unwiederholbare Erfahrungsmöglichkeit. Das Sterben stellt aus dieser Perspektive nicht länger eine Grenze für die ganzheitliche Welterkenntnis dar, sondern ermöglicht diese allererst in ausgezeichneter Weise: »nur wer den Tod auf sich nimmt, vermag den Ring im Irdischen zu schließen«, erkennt deshalb Vergil (IV, 78). Hier haben die in Brochs Werk zahlreichen Ring- und Kreissymbole ihren Ort (z. B. III, 364, 365; IV, 76, 451). Angesichts seiner wird die intensive und genaue Wahrnehmung des Lebens erst möglich, weil aus seiner übergeordneten Perspektive das Gegebene in neue Relationen einrückt. 4 Insofern stellt der Tod eine absolut singulare Möglichkeit der Welterkenntnis dar: Möglichkeit, die im Augenblick ihres Vollzugs sogleich in die radikale Negation ihrer selbst umschlägt — ist er die schlechthin ausgezeichnete Möglichkeit menschlicher Existenz.'
Insofern Broch das Leben im Sinne Heideggers als >Vorlaufen in die Möglichkeit< oder als >Sein zum Tode< versteht, das von Beginn an auf das Sterben angelegt ist,6 erscheint der Tod nicht einfach als Abschluß des Lebens, sondern als dessen höchste Steigerung 7 und Telos, als im Leben immer tung des Todes; so lange der Mensch Ich-Erweiterungen vorzunehmen imstande ist, lebt er, und er beginnt zu sterben, sobald statt dessen . . . Ich-Verengungen eintreten« (XII, 487). 4 Vgl. z. B. V , 238: »Denn nur der, der am Hals den Strick schon spürt,/Bemerkt den Halm, der im Wind sich rührt/im Pflastergestein unterm Galgen.« ' Beate Loos, Mythos, Zeit und Tod. Z u m Verhältnis von Kunsttheorie und dichterischer Praxis in Hermann Brochs Bergroman, Ffm. 1971, S. 143. 6 Heidegger, 1979, S. 262. 7 So schon gesehen bei F.Martini, 1954, S. 456, der freilich keinen Bezug dieser
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noch Ausstehendes, in dem es sich zur Ganzheit rundet und gerade damit die Erfahrung umfassender Totalität überhaupt generiert: Im Dasein steht, solange es ist, je noch etwas aus, was es sein kann und wird. Z u diesem Ausstand aber gehört das >Ende< selbst. Das >Ende< des In-der-Welt-seins ist der Tod. Dieses Ende . . . begrenzt und bestimmt die je mögliche Ganzheit des Daseins.' Entsprechend erkennt Vergil: »oh, der T o d ist erfüllt v o n all der Vielfalt, die aus der Einheit hervorgegangen war, um sich in ihm wieder zur Einheit zu schließen, . . .« ( I V , 78). Ist der T o d so einerseits absoluter Unwert des Lebens, so ist er zugleich absoluter Wert, da in ihm das irdische Dasein in sein Ziel gelangt und seine höchste Vollendung erfahrt: D e r T o d , heißt es deshalb im >Vergilidealistisches< Widerlager zu dessen Existenzphilosophie« (138) und weist damit in seiner auf Brochs politisches Denken verkürzten Perspektive auf den todesüberwindenden Anspruch von Brochs Wertphilosophie hin, die der Heideggerischen Todesverfallenheit entgegengehalten werde. Diese Oppositionsbildung tut Heidegger aber Unrecht, bedeutet doch auch für ihn das Faktum des Todes nicht nur eine eigenste Möglichkeit des Daseins, sondern das Todesbewußtsein wird auch bei ihm zum Movens für die tätige Sinnerfüllung des Daseins, entreißt es doch auch nach seiner Konzeption dasselbe zugleich dem >Man< und erschließt ihm damit die Möglichkeit, sich als eigenstes Seinkönnen neu zu entwerfen. Es »befreit von der Verlorenheit in die zufällig sich andrängenden Möglichkeiten, so zwar, daß es die faktischen Möglichkeiten . . . allererst eigentlich verstehen und wählen läßt« (Heidegger, 1979, S. 264). »Das Vorlaufen (des Denkens auf den Tod hin, A. G.) enthüllt dem Dasein die Verlorenheit in das Manselbst und bringt es vor die Möglichkeit, . . . es selbst zu sein« (ebd., S. 266). Statt einer Differenz im Denken beider Autoren ließe sich also auch hier eher eine Verwandtschaft konstatieren, die Broch auch zugestanden und auf den »gemeinsamen Ahnen Kierkegaard« zurückgeführt hat ( X l I I / i , S. 250). ' Heidegger, 1979, S. 233/254. 212
8.}. Sterben als mystische Rückkehr ins Pneuma Modifikationen von Brochs Ekstase-Begriff Gerade in der Perspektive eines mystisch ausgerichteten Denkens gewinnen die eben zitierten Passagen aus dem >Tod des Vergil< aber noch eine weitere Bedeutungsdimension und lassen den Tod noch in ganz anderer Weise als Telos des Lebens in den Blick geraten, verbürgt doch nach allgemeinem mystischen Verständnis allererst die Loslösung aus dem empirischen Dasein die unio mystica und damit den Eintritt ins reine, zu sich selbst gekommene Sein. 9 Sieht man von dem Sonderfall Eckhartscher Mystik einmal ab, ist die Ausrichtung auf den Tod als Beginn wahren Seins deshalb fester Bestandteil aller Mystik. Mystik ohne Thanatologie ist, wie Haas festgestellt hat, vor allem im christlichen, aber auch im außerchristlichen Bereich kaum anzutreffen. 10 In diesem Zusammenhang ist gar die Rede von der »grundsätzliche^) Todverfaßtheit der mystischen Existenz«. 11 Jedoch wird dieselbe in den diversen Ausprägungen mystischen Denkens unterschiedlich begründet. Im Kontext christlicher Vorstellungen begegnet der Todeswunsch als Mittel zum Zweck der beseligenden Schau Gottes: 12 J a hätte die Seele nur einen winzigen A h n u n g s s c h i m m e r v o n G o t t e s Erhabenheit und Schönheit, sie w ü r d e nicht . . . einen einzigen T o d erlechzen, um ihn endlich f ü r ewig zu sehen; sie w ü r d e vielmehr jubelnd tausend bitterste Todesnöte durchleiden, um diese Schönheit nur einen Augenblick zu sehen.'>
Dabei ist das Verständnis vom Sterben immer von der neutestamentarischen Verheißung der Gewinnung des ewigen Lebens bestimmt. Im mystischen Kontext verkehren sich, etwa in der spanischen Mystik und bei deren wichtigstem Exponenten, Johannes vom Kreuz, gar die >normalen< Verhältnisse von Leben und Sterben, wie Haas gezeigt hat: Was der Seele zunächst als Hinsterben erscheint, w i r d zur Verheißung v o n Leben, und das >natürliche Leben, das ihr den Weg zu d e m seligen versperrt, ist ihr deshalb wie TodVergil
Vergil< in d u r c h a u s kritischer A b s i c h t exponiert w i r d . D a s 2 1 . Kapitel des 2. Teils v o n Seuses >Büchlein der e w i g e n Weisheit< versteht sich als A n l e i t u n g » W i e man sol lernen sterben, und w i e ein unbereiter tot g e s c h a f f e n ist«.' 7 O f f e n b a r i m R ü c k g r i f f auf dessen L e h r e unterscheidet auch B r o c h im >Vergil< 18 w i e in der >Verzauberung
zufälliger< m o r t i f i c a t i o . ' 9 D e r T o d , b z w . die Vorbereitung auf ihn, muß aus christlicher Sicht v o n Seiten des geschöpflichen Seins als v o l l k o m m e n e und willentliche » H i n g a b e der geschaffenen D i n g e und seiner selbst« 2 0 aus reiner L i e b e zu G o t t >vollz o g e n w e r d e n und w i r d als höchster A u s d r u c k dieser L i e b e begriffen, über den hinaus G r ö ß e r e s nicht gedacht w e r d e n kann. 2 ' G e r a d e als Liebestod w i r d er i m B e w u ß t s e i n der N a c h f o l g e Christi und dessen H i n g a b e am K r e u z erfahren. D i e V o r w e g n a h m e des T o d e s in der A s k e s e — dem christlichen
'' Zit. nach Haas, a. a. O., S. 425. ,6 V . Rudich, Mythical and Mystical in T h e Death of Vergil, in: S. D . D o w d e n (ed.), Hermann Broch, Literature, Philosophy, Politics. T h e Y a l e Broch Symposium 1986, Camden H o u s e (Columbia) 1988, S. 3 3 8 - 3 4 5 , dort S. 3 4 1 . 17
Vgl. H . Seuse, Deutsche Schriften, im A u f t r a g der württembergischen K o m m i s sion f ü r Landesgeschichte hrsg. v. K . Bihlmeyer, Stuttgart 1907 (unv. Nachdruck 1961), 278-287; Seuses Lehre hat Broch Zumindestens in dem in seiner Wiener Bibliothek befindlichen, ausführlichen, dreibändigen Werk Pregers >Geschichte der deutschen Mystik< rezipiert, dessen II. Teil (Leipzig 1 8 8 1 ) sich eingehend mit Seuse befaßt.; vgl. A m a n n / G r o t e , 1990, S. 199.
'* Vergils Dichtung »dient« - zunächst(!) — dem Tode um seiner selbst willen und seiner »allüberwindende(n) Herrschaft. . die eben darum auch sich selbst überwindet und sich selbst aufhebt« (IV, 77/78). E r muß jedoch bald erkennen, daß gerade diese Haltung den »Absturz in die Starrheit eines Nichts« generiert, »das den T o d nicht aufhebt, sondern selber der T o d ist« (ebd., 88). 19 Vgl. Haas, 1979, S. 403. E b d . , S. 399. " E b d . , S. 410.
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Mystiker ist der Selbstmord verwehrt, »in dem sich der Mensch gewissermaßen gegenläufig zu Gottes Schöpfungsgebaren ins Nichts versetzte« 22 soll deshalb als Martyrium und Passion erlitten werden, dem zugleich durch die Tat Christi die Spitze genommen ist und deren Ziel der Umschlag des Todes in ewiges Leben mittels der gnadenhaften Verklärung des Geschöpfs durch seinen Schöpfer ist. 2 ' Ein gewisser konstitutiver Abstand zwischen Schöpfer und Geschöpf bleibt dabei jedoch unüberwindlich, so eng die Gemeinschaft auch gedacht werden mag. Sie bleibt »Einswerdung in bloßer, engster Verbindung«.1* Im Kontext der neuplatonischen Identitätsmetaphysik und der auf ihr basierenden Mystik bedeutet der Tod nichts anderes als die Heimkehr des sich seiner selbst bewußt gewordenen Geistes in seinen Ursprung und zu sich selbst, unendliche Entgrenzung und Rückkehr ins Pneuma aus der notwendigen emanativen Selbstentäußerung. Das Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt dieses Prozesses ist dabei — anders als in der christlichen Mystik — kein affektives zwischen der in freier Schöpfungstat hervorgebrachten Kreatur und ihrem Schöpfer, sondern ein erkenntnisgerichtetes, selbstbezügliches des einen Geistes zu sich selbst in seinen, für den nach einem inneren Strukturgesetz ablaufenden Prozeß der Selbstentfaltung notwendig >ganz anderenunrein< erachteten, Objektivationsformen. Die im ursprünglich monistischen Neuplatonismus zunehmende Dämonisierung der Hyle erzeugt so aus sich selbst heraus einen neuen, eigenen Dualismus. 2 ' Die Ausrichtung auf die Heimkehr ins Pneuma generiert deshalb eine Haltung der Weltflucht: »zu ihr gehört . . . Askese als Sich-Ablösen von allem Irdisch-Niederen, die Sammlung als Sich-Zurückholen aus der weltlichen Zerstreutheit«. 26 Erst im Tode löst sich das Dasein endgültig aus seiner nur-irdischen Dimension, in der es befangen ist, und wird sich selbst in seiner metaphysischen Grundverfaßtheit durchsichtig. Mehr noch als das christliche Denken, das die Vielfalt der Welt als Schöpfung Gottes begreift und mithin als wertvoll erachtet, generiert das neuplatonische Denken, dem das empirische Dasein als eine für den Selbsterkenntnisprozeß des Geistes zwar notwendige, in ihrem Eigenwert aber höchst relative Objektivationsstufe erscheint, deshalb einen gewissen lebensverneinenden, quietistischen Charakter, der den Tod als Telos aufwertet. 27 " Ebd., S. 400. 13 Ebd., S. 400/401. 14 R. Otto, West-östliche Mystik. Vergleich und Unterscheidung zur Wesensdeutung, 3. A u f l . , überarbeitet von Gustav Mensching, München 1 9 7 1 , S. 1 1 4 , vgl. dort auch S. 1 1 ; . ' ' Vgl. Sommer, 1988, S. 281/2, mit Bez. auf Jonas II, 1954, S. i j 2 f . ' ' Sommer, ebd., S. 282. " Ivänka, 1964, S. 89, kritisiert aus christlicher Sicht die neuplatonische Auffassung
Die >Schau< des ganz Anderen (in der christlichen Mystik) und die dialektische Selbstentfaltung des Einen (in der neuplatonischen Mystik) bilden so unterschiedliche Modi der für den Augenblick des Todes verheißenen unio mystica. Im Sinne beider Traditionen gewinnt das Sterben aber jenen dialektischen Charakter, den auch Broch ihm zuschreibt, wenn er konstatiert, daß der Tod sich durch sich selbst überwinde, denn seine Macht erscheint einzig dem endlichen, irdischen Dasein als Bedrohung, während er sich in der Perspektive der Gewinnung ewigen Seins selbst aufhebt, »selber zum Lebenswert umschlägt, in einem letzten Sinn der Todeserlösung die beiden Unendlichkeiten zum Kreise fügend« (IX/2, 125). So spricht Vergil von der »allüberwindende(n) Herrschaft des Todes, die eben darum auch sich selbst überwindet und sich selbst aufhebt« (IV, 77/78). Auch in den >Schuldlosen< prägt diese Auffassung Andreas' Bewußtsein angesichts des als Befreiung von aller Bedingtheit verstandenen Todes: Wer noch ans Körperhafte gebannt ist, in dem wohnt noch die Todesschwere, und abgesondert von der Gewichtlosigkeit, in der er schwebt, nein, in der er noch steht, wird seine Seele zur Sehnsucht, unbezwinglich ihr Wunsch nach Uberwindung der Absonderung (V, 274).
Im Tode gelingt die Selbstaufhebung des im irdischen Dasein wesenden Todes, er wird zur »Freigabe der menschlichen Erbschaft, die ihre Dauer erringt kraft Selbstvernichtung, eintretend und aufgenommen in das Reich der unhörbaren Stimmen . . .« (ebd.). Diese Überlegung motiviert in den >Schuldlosen< Andreas' Freitod. Uber die Perspektive der heideggerischen Todesdeutung hinaus, in der der Tod das irdische Dasein zur Totalität schließt, die sich aber jeder darüber hinausführenden Spekulation enthält, beinhaltet diese Deutung gerade die Öffnung des geistigen Seins auf seine eigentliche und ursprüngliche transzendente Verfaßtheit hin: Im Tode erklingt der Harfenton jenes Augenblickes, in dem das Irdische sich zum unbekannt Unendlichen öffnen soll, geöffnet zur Wiedergeburt und Auferstehung unendlicher Erinnerung . . . (VI, 78). der Geschöpflichkeit. Sie entwerte »den echten Begriff der Kreatürlichkeit . . ., weil sie das Geschöpf gleichzeitig zu hoch ansetzt (nämlich als etwas im Kerne Göttliches . . .) und zu niedrig (als etwas, das erst durch seine Widergöttlichkeit in seinem eigenen Sein konstituiert wird) und dadurch die geschaffene Welt zugleich >vergöttert< und verlästert.« »Endliches Sein ist, neuplatonisch gesehen, ein Schwebezustand zwischen: wesenhaft Gott sein (im Seinsgrunde) und wesenhaft widergöttlich sein (in der endlichen, kreatürlichen Wirklichkeit). Die Vergötterung der Kreatur (in ihrem angeblichen eigentlichen WesenHeimkehr< spielt demgemäß in Brochs Epik eine eminente Rolle. So erfahren etwa sowohl der Erzähler der >Verzauberung< als auch Agathe Strüm in der Sterbeszene Mutter Gissons eine Antizipation des eigenen Todes, innerhalb derer sie in die »Heimat« zurückkehren (III; 358/9); und daß die >Heimkehr des Vergil< (VI, 248—259), Titel jener Novelle, die der Abfassung von Brochs >VergilÄther — die Heimkehn, nach Vergils Rückreise aus Athen spielt und dessen Todesaugenblick zum Gegenstand hat. Schon der Hinweis auf den Äther als Sphäre des Spirituellen ist dabei Ausdruck der teleologischen Bewegung. Ein weiteres Mal taucht das Motiv in der >StimmenVergil< zeigen wird; — denn die thanatologische Haltung zielt mittels der Askese auf jene Vorwegnahme des Todes im Leben, die, wie sich schon in den >Schlafwandlern< zeigte, den Verlust der totalitären Einheit von Geist und Leben in der gegenwärtigen Realität zumindest zementiert, w o sie nicht gar dessen Ursache darstellt. Diese mänichäisch anmutende Lebenshaltung, in der sich das >wahre< Sein vor der Wirklichkeit bewahren zu müssen glaubt, kennzeichnet nicht nur das Selbstverständnis Bertrands in den >SchlafwandlernTod des Vergib, der seine weltliche Existenz, »sein körperliches Leben . . . schon seit vielen Jahren kaum mehr als sein eigenes anzuerkennen vermochte« (IV, 1 1 / 1 2 ) . Der »Verkerkerung ins Irdische« begegnet Vergil zu Beginn des Romans mit wahrhafter »Todesgier« (ebd., 67) und einem morbiden Bedürfnis nach »Flucht« aus der Wirklichkeit (ebd., 68/69): Und hatte er in den vielen vergangenen Jahren immer gieriger und neugieriger den Zerfall und die Brüchigkeit verfolgt, die er in seinem Körper arbeiten spürte, hatte er . . . unausgesetzt den Wunsch in sich getragen, . . . es möge seine körperliche Einheit, die ihm mehr und mehr zu einer Scheineinheit geworden war, endlich aufgelöst werden, je rascher desto lieber, damit das Außergewöhnliche erfolge, damit Auflösung zur Erlösung werde, zur neuen Einheit, zum endgültigen Sinn, . . . (so) geschah ihm (nun) das, was ihm seit jeher, deutlicher und deutlicher werdend, stets aufs neue geschehen war, er tat das, was er ein ganzes Leben lang getan hatte, aber nun wußte er die Antwort: er lauschte dem Sterben (ebd. 74).
Diese todesverfallene Haltung, deren Verfehltheit Vergil erst im Verlauf des Romans begreift, bestimmt seine dichterische Existenz in hohem Maße und 217
offenbart sich damit als quietistischer Ausdruck eines von Broch verworfenen Ästhetizismus, der sich - ob als genießerisches Annehmen oder als asketische Ablehnung — zum Vorhandenen als zu einem abgeschlossenen Fixum verhält, anstatt es, der ethischen Auffassung gemäß, als Rohmaterial eigener Formungsmöglichkeiten zu begreifen.28 Das scheint zunächst paradox, da doch gerade der künstlerischen Existenz der Charakter des Formenden und Kreativen zu eignen scheint, gewinnt aber Plausibilität, wo der Roman deudich macht, daß Vergils Kunstverständnis zunächst das bloße Festhalten des Vorhandenen meint: . . . festhalten . . . oh festhalten . . . ja, alles habe ich festhalten wollen, alles was geschehen ist, alles was geschieht . . . und so hatte es nicht gelingen können (IV, joo).
Das Mißlingen des Werkes, das im bloßen Abbilden des Gegebenen aus der Distanz eines darüber erhabenen Selbstverständnisses wohl »Suchen nach Erkenntnis« war, »ohne Erkenntnis zu werden« (ebd., 301), und so nur mit der »Schein-Göttlichkeit der Schönheit« (300) behaftet ist, begründet sich wesentlich in dieser todesverfallenen Haltung seines Urhebers, dessen Hinlauschen zum Tode ihn nach eigenem Verständnis von der ethischen Aufgabe der Weltformung suspendiert, in der Geist und Welt, Transzendenz und Immanenz gemäß der doppelten Wesensverfaßtheit des Humanen synthetisiert werden: Aufrecht, zum Wachsen bestimmt, reicht des Menschen Seele aus ihren dunklen Wurzelabgründen im Humus des Seins hinauf bis zum sonnendurchfluteten Sternenrund, aufwärtstragend ihren poseidonisch-vulkanisch finsteren Ursprung, abwärtsbringend das Durchsichtige ihres apollinischen Zieles, und je mehr sie kraft ihres Aufwärtswachsens zur lichtdurchtränkten Form wird, . . . desto mehr wird sie befähigt, . . . das Dunkle mit dem Lichten zu vereinen; aber wenn sie zum Schlaf, zur Liebe, zum Tode sich hingestreckt hat, . . . dann ist es nicht mehr ihre Aufgabe, das Entgegengesetzte zu verschmelzen, denn . . . sterbend schließt sie die Augen, und sie ist . . . unendlich in ihrem Ruhen und sohin jeglichem Wachstum enthoben, . . .; bedeutungslos hingegen, keines Erlauschens und Erwissens wert, wird ihr das Geschehen als solches, da sie es weder als Wachstum, noch als Verwelken . . ., wohl aber als ständige Wiederkehr empfindet, als die ständige Wiederkehr innerhalb ihres eigenen Seins, als die Wiederkehr des allumfassenden saturnischen Ablaufes, . . . Vergehen und Auferstehen. . . (IV, 75/76).*'
Wohl gemerkt: Broch erkennt dieser Haltung, wo es denn wirklich ans Sterben geht, ihre Berechtigung durchaus zu. Zunächst überspringt aber ein i!
Vgl. X / 2 , 47: »Diese dogmatische Akzeptation ist aber die Sünde an sich: das Radikal-Böse des Unschöpferischen, die Entgöttlichung des Menschlichen: die Faulheit des Geistes.« *9 Nebenbei sei darauf hingewiesen, wie exakt das Zitat die Origeneische Abwandlung der neuplatonischen Philosophie widerspiegelt. 218
Dasein, daß sich von Beginn an im »saturnische(n) Selbstbelauschen sterbensenthobenen Sterbens« (ebd., 76) erschöpft, seine dem Leben zugewandte Bestimmung zur geistigen Durchformung des Vorhandenen und dient dem Tode und seinem »Herrschaftsrecht« (ebd., 77). Vergils Selbstverständnis generiert so eine unproduktive, lebensabgewandte und leibfeindliche Haltung, die offenbar dem neuplatonischen Denken entspringt und der gnostischen gleichkommt 30 und deren Quietismus Broch als Form des Asthetizismus ablehnt. Hier gründen seine Zweifel an der Dichtung, deren spezifische Aufgabe der Todeserkenntnis er einerseits bejaht, um sie andererseits aus Mangel an praktischen Wirkungsmöglichkeiten gerade in Zeiten des heraufziehenden Faschismus abzulehnen und durch politische Arbeiten zu ersetzen. Die Suche nach dem »Erkenntnisbild des Todes« erscheint ihm angesichts der apokalyptischen Entwicklung der Realität elitär und esoterisch. In kritischer Wendung gegen Vergils dichterisches Selbstverständnis heißt es deshalb, er habe als »Wegsuchender im Gewölbe des Todes ein ganzes Leben wachend verträumt« (IV, 77). Diese Überlegungen nehmen der Todeserfahrung, in der das Ich die unio, den »Augenblick der vollkommenen Freiheit, . . . der Gott-Werdung, . . . von dem aus . . . das All wie eine einzig zeitlose Erinnerung umfaßt wird« (IV, 45), nach Brochs Verständnis nichts von ihrer Qualität; jedoch kann diese Erfahrung des Sich-Durchhaltens und Zu-seinem-eigenen-WesenKommens, wenn sie denn allein dem Sterben vorbehalten ist, nicht in die Realität hineinwirken und in ihr praktisch werden, ist sie doch mit dem Ende der empirischen Existenz identisch. Der Tod behält deshalb den Charakter des »eigentlichen Unwertes«, selbst dann noch, wenn er nur mehr durch sich selbst zu überwinden ist, wenn der Tod selber es ist, der den Tod aufhebt, wenn er selber zum Lebenswert umschlägt
(IX/z, «?)• Darum sucht Broch nach einer Möglichkeit der Antizipation des Todes im Leben, die im sich seiner selbst bewußt werdenden Ich eine die Realität befruchtende Potenz freisetzt. Gefordert ist eine Erfahrung, die in die Lage versetzt, die Gewißheit eigener Wesenstranszendenz in der Immanenz wirksam werden zu lassen und die damit zugleich der mit der Todeserkenntnis befaßten Dichtung ein neues Existenzrecht verleiht. Diese Erfahrung findet Broch im Medium der >Zernichtung< in der Philosophie der Vgl. dazu Sommer, in Koslowski (Hg.) 1988, S. 282: Die Henosis, das Einswerden mit dem Einen »hat die Befreiung der Seele aus dem Leib und die des Geistes aus der Seele, kurz: den individuellen und kosmischen Tod, zur Voraussetzung. E s ist diese hier verankerte, gleichermaßen gnostische wie neuplatonische Leibfeindlichkeit, die dem >hellenisiertenPrinzip Hoffnung8 Vgl. Kobusch, 1986, S. 54 und Haas, 1979, S. 452. " K i e r k e g a a r d , Gesammelte Werke, 17. Abteilung: Eine literarische Anzeige, Düs221
Bei Eckhart, wie ähnlich später bei Kierkegaard, zielt das Sich-Lassen als »Form der Selbstnegation« 40 auf einen Zustand der >Abgeschiedenheit< und bezeichnet lediglich das Loslassen der - als akzidentell und uneigentlich erachteten — natürlichen Seinsweise, in der der Geist als endlicher und vom Absoluten abgesonderter sich verliert. Ausdrücklich weist Kobusch Quints Verständnis des >ane eigenschaftIch-Bindung< zurück, »da der Ich-Begriff in Eckharts Werk eine besondere, positive Bedeutung hat«. 41 Das dialektische Bedingungsverhältnis von Gott und Mensch in der an Eckhart anschließenden Tradition der deutschen Mystik und deren ausdrücklich positive Konnotation von Subjektivität belegt ein Zitat aus Angelus Silesius' >Cherubinischem WandersmannDas Examen rigorosum der NivellierungZur Philosophie der Werte und der Geistigkeit< von 1 9 1 7 , X / 2 , 81, das ebenfalls Angelus Silesius< >Cherubinischem Wandersmann< entstammt. 4 ' Zit. nach P. Beck, Die Ekstase. Ein Beitrag zur Psychologie und Völkerkunde, Bad Sachsa 1906, S. 38. Das genannte Werk war Bestandteil von Brochs Wiener Bibliothek, so daß es für Broch als bekannt vorausgesetzt werden kann; vgl. Amann/Grote, 1990, S. 17; Von Angelus Silesius (Pseud. Johannes Scheffler) besaß Broch >Sämtliche poetische Werkedas Ziel der ZeitSchlafwandlern< der Versuch einer Einflußnahme von Seiten des durch die >Zernichtung< wissend Gewordenen auf die Realität vergeblich, insofern sein Wissen ein sprachjenseitiges, nicht vermittelbares, hermetisches ist. Die Gödicke-Handlung reflektiert diesen Umstand, der später Brochs Zweifel am Erkenntnisauftrag der Dichtung grundlegend prägen wird, 6 " in einer ironischen und durchaus komische Effekte produzierenden Brechung: . . . v o r den beiden Mistbeeten . . . blieb G ö d i c k e stehen und schaute in die V e r tiefungen, in denen die braune E r d e lag. . . . S o blieben sie alle stehen, barhäuptig und in ihren dunklen A n z ü g e n , als wären sie u m ein geöffnetes G r a b versammelt. S a m w a l d sagte: . . . >wir wollen den H i m m e l suchenDer G ö d i c k e L u d w i g auferstanden v o n den T o t e m , . . . und . . .
er richtete sich aus seiner demütig g e b ü c k t e n H a l t u n g auf und w a r beinahe so g r o ß w i e E s c h . . . . F ü r den M a n n G ö d i c k e aber schien die S a c h e erledigt, er hatte das Seinige getan, . . . (alle) standen u m G ö d i c k e herum, der a m R a n d e des M i s t beets saß . . . U n d bloß G ö d i c k e sah etwas anderes (ebd., 5 4 2 / 3 ) .
Gegen die gnostische Ausrichtung der Bibelversammlung, die auf den heilenden apokalyptischen Weltenbrand wartet, in dem der transzendente, gute Gott die schlechte Realität vernichten soll (»Mit Feuer tauf uns. Jesus Christ,/Send das Feuer!«; ebd., 587), hält Gödicke vergeblich sein besseres Wissen, das er freilich gemäß seiner schlichten Denkungsart nicht eben differenziert ausdrücken kann und das ihn zudem zu einiger »Vermessenheit« ( X I I I / i , 187) verfuhrt: Halt's M a u l , . . . Wer nicht tot w a r , muß's M a u l halten . . . w e r tot w a r , ist getauft, die andern nicht. . . . A u f e r s t a n d e n v o n den Toten . . . w e r nicht in der E r d e w a r , soll's M a u l halten (I, 5 8 7 / 8 8 ) .
Der fragmentarisch wirkende Charakter der hier gestalteten mystischen Zernichtungserfahrung und ihrer Wirkungen ergibt sich zwar aus der Anlage der Figur, anhand derer der Roman den Durchbruch irrationalen Wissens 6
° »kein irdisches Mittel reicht aus die e w i g e A u f g a b e zu lösen, . . . vorbehalten . . . einer Sprache, die außerhalb . . . aller irdischen Sprachlichkeit stehen müßte«, w i r d es später im >Vergil< ( I V , 86) heißen.
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angesichts des Zerfalls der Realität in einem gering ausgebildeten Bewußtsein schildern will, dessen Perspektivik er aufgrund seiner erzähltheoretischen Prämissen absichtlich nicht durchbricht. So kann wohl deutlich werden, daß die mystische Umwendungsbewegung keinesfalls dem intellektuellen Bewußtsein vorbehalten ist; zugleich verwischt sich aber der apophatische Charakter des aus dem >ZernichtungsGelassengeistlosen< Realität. Hingegen stellt der Roman in seinem dritten Teil das mystische Entwerden auch als notwendigen Bestandteil des historischen Progresses dar, denn nichts anderes meint Brochs Forderung nach dem angesichts des Zerfalls aller tradierten Werte notwendigen >Durchmarsch durch das NichtsHuguenauLedigwerden< von gewohnten Realitätsbeziehungen drückt Broch deshalb in der typisch mystischen Chiffre der »Nacktheit« aus, die in den meisten seiner Romane eine gewichtige Rolle spielt und offenkundig auf den Eckhartschen Terminus des »Arm- und Bloßseins« rekurriert: 6 ' Major: Maske um Maske laß fallen, bis nackt dein Herz und/dein Antlitz./Preisgegeben dem Atem des Ewigen . . ./Esch: werd ich zum leeren Gefäß,/Abgeschieden von allem, entblößt jeder Begierde/Nehm ich die Strafe auf mich, um im Nichts zu vergehn . . ./Esch: . . . Abgeschieden von allem in meinem einsamen Sterben . . . (I, 557).
Neben der ebenfalls typischen Metapher mystischen Entwerdens als Durchquerung der Steppe oder Wüste (I, 341; V , 244)66 dient auch das in den Romanen immer wiederkehrende Motiv der >tabula rasaVerzauberungTodeserkenntnis< in Hermann Brochs >Tod des Vergil«VerzauberungHermann Broch oder vom Nutzen und Nachteil mystischen DenkensMythical and Mystical in The Death of VergilHermann Broch, Literature, Philosophy, Politics. The Yale Broch Symposium i986neue< Lebenseinstellung von jener »primitiven Rustikalität« unterscheidet, gegen die Broch sich verwahrt. Darüberhinaus diskreditiert die Annahme >wahrer< prometheischer Humanität, die angesichts des geschilderten gesellschaftlichen Zustandes ihre kritische Potenz erweisen soll, sich selbst immer wieder im Zeichen einer befremdlich naiven Religiosität: Und manchmal dachte er, daß Gott die Inflation zur Vertilgung der Fabriken und des Kommerz geschickt habe, . . . auf daß eine geldbefreite Welt v o n Handwerkern und gierlos gewordenen Bauern dem Schöpferwillen wieder gerecht werde, von nun ab und für immerdar (ebd., 87).
In der Überwindung der neuzeitlichen Degeneration des Humanen gewinnt die Gestalt des Imkers nun Konturen eines neuen >WeisheitstypusSchuldlosen< wiederkehrt und hier zum O r g a n der immanenten Transzendenz des Humanen wird: Im A u g e ist das Geschöpfliche . . . am nächsten zu der Schöpfungstat, der es sein Sein verdankt, . . . selber mit der Schöpfungsgabe ausgezeichnet,. . . das A u g e . . ., berufen zur Entscheidung über die eigene Schöpfungstat, . . .; im A u g e ist das Menschliche des Menschen versammelt, hier beruht seine Wesenheit, . . . da er in des Auges Erkenntniskraft zum Schöpfer geworden ist. Heiligkeit des Auges, . . . (ebd.). Das S y m b o l des A u g e s eröffnet den Assoziationsraum der mystischen visio und entspricht zudem der Auffassung des Künstlers als Sehers und Erleuchteten. 101 N a c h der implizit mystischen Theorie C. G . J u n g s , 1 0 2 auf die sich " V , 87: ». . . der Sehende (mag er auch vor lauter Sehen schließlich blind werden, ja dann erst recht) . . . singt die stets sich erneuernde Sichtbarkeit des Lebens . . .«; vgl. auch I V , 4 5 1 ; III, 86. Das Motiv des blinden Sehens verbindet sich in Brochs theoretischen Schriften mit der »Erfassung der inneren Wesenheit« der Dinge in der abstrakten Kunst, vgl. I X / 2 , 226-228. "" Z u m mystischen Gehalt des Augen-Symbols vgl. auch Abschnitt 1 1 . 2 . " " Z u m mystischen Denkansatz J u n g s vgl. z. B. Wagner-Egelhaaf, 1989, S. 52ff., A b -
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Broch des öfteren bezieht, '° 5 ist das A u g e ein Archetypus mit mehreren Bedeutungsschichten. In ihm drückt sich »das Bewußtsein . . . (aus), welches in seinen eigenen Hintergrund hineinblickt«; zugleich ist es ein »bekanntes Gottessymbol«. 1 0 4 In letzterer Bedeutung erscheint es z. B. in der X . N o v e l l e der >Schuldlosen< und im >VergilDurchgang< durch die Krankheitsdunkelheit« voraus, der die »mystische >BegehungSchuldlosen< wiederbegegnet und hier eine weitere Zernichtungserfahrung ins Bild bringt: Als einen, der von dort drüben kommt, sahen sie ihn, . . . als einen Teil des Todes, er selber schon heilende Natur, er selber schon heilender Tod (V, 91).
8.5.5. >Steinerner Gast< In seiner Funktion als Allegorie des heilenden Todes begegnet der Imker in der X . Novelle der >Schuldlosen< A . , jenem Hauptprotagonisten des gesamten Zyklus, der >schuldig< wird durch seine gleichgültige Haltung gegenüber der Realität, durch die er die >prometheische Pflicht< des Menschen zu weltformendem Handeln verletzt. Neutralität und gnostischer Fatalismus bedeuten aber, zumal in der Epoche des heraufziehenden Nationalsozialismus, dessen Entstehungsmöglichkeiten die >Schuldlosen< unter ethischwertphilosophischen Gesichtspunkten nachzuvollziehen versuchen, das Gewährenlassen destruktiver Kräfte und bedingen die Mitverantwortung für die Entstehung des Unrechtsregimes. Diesen Zusammenhang arbeitet A . , dessen fragmentarische Bezeichnungsweise schon den defizitären Status seiner Subjektivität andeutet, in einer Begegnung mit dem Imker auf, der hier in der Rolle des >Steinernen Gastes< in Erscheinung tritt, womit Broch — wie in der gesamten Handlung um A . — auf den Don-Juan-Mythos rekurriert.
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E s war schon gezeigt worden, daß Brochs Totalitätsforderung an die Kunst ihren prägnantesten Ausdruck im Begriff des Mythischen als Utopie gewinnt, das in enger Beziehung zu seinem Verständnis des Mystischen steht. 10 ' Beiden eignen kosmogonische Implikationen und beider Thema ist die »Totalität der menschlichen Wesenheit«, die zu ihrer »Spiegelung und der Bewahrheitung nach Welttotalität verlangen« muß (IX/2, 203); beide rekurrieren auf den >Grundbestand der Menschenseele< und die metaphysische Ahnung< um das Transzendente. Während aber das Mythische die Objektivation dieser metaphysischen Totalität bildet, ist das Mystische ihr subjektiver Ausdruck, der den bewußtseinsgeschichtlichen Prozeß zu einem Mythos >zweiter Potenz< im Sinne Scholems beschreibt 110 und sich zudem der literarischen Darstellung in besonderer Weise anbietet, weil er diese Bewegung an einer epischen Zentralgestalt und ihrem Versuch einer »Wanderung . . . zu sich selbst« gestalten kann." 1 Unter dieser Voraussetzung setzt Broch die dem Mythos zugeschriebene Aufdeckung anthropologischer Ur-Motive literarisch als mystischen Selbstwerdungsprozeß des Subjekts um, dem damit zugleich eine utopische Dimension zuwächst. Bereits Hinderer hat deshalb mit Bezug auf den >Vergil< festgestellt, daß Broch mystisch erhelle, was ans Mythische rühre, weil die »Verwandlung vom Irdischen ins Transzendente« dem Mythos versagt bleibe.' 12 Weil es Broch nicht um die Restitution des Mythischen im Sinne einer Regression in ein archaisches Weltverständnis geht, in dem der Mensch bloßes Objekt numinoser Mächte (oder eines transzendenten heilsgeschichtlichen Prozesses) und also im tiefsten Sinne unfrei ist, sondern um die Rückbesinnung auf vermeintlich anthropologische Grundstrukturen (zu denen er auch die Beziehung auf Transzendenz zählt), nimmt der Autor, w o er historische Mythen als Erzählraster benutzt, lediglich ironisch auf diese Bezug. Das gilt für die >SchlafwandlerSteinernen GastesSteinernen Gastes< im Kontext der X . Novelle ist seine >LebenszugekehrtheitTreu bis in den Tod< oder die Spekulation über die »vollkommene Geheimnisenthüllung des Endes« (ebd., 250) daraufhin. " ' Von Mutter Gisson heißt es, ihr Glaube sei »stets das konkrete und starke Leben gewesen . . . in seiner Unermeßlichkeit, anfangsloses endloses Leben, . . . und ihr Wissen um den Tod ist das Wissen um das Leben, um das sichtbare, das fühlbare Sein, nicht aber um unvorstellbare Allgemeinheiten . . .« (III, 280). »Wer nicht
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seiner Koketterie gegenüber Zerline und seinem gesunden Appetit ausdrückt (V, 254). Erkennbar sollen damit der Figur alle asketischen Züge genommen werden. 120 In der selbstgewählten und willentlichen Konfrontation mit dem Tod 1 2 1 zieht A . seine Lebensbilanz und legt sich in einem mäeutisch anmutenden Verfahren der vom allegorischen Tod gelenkten Selbsterkenntnis Rechenschaft über seine Daseinshaltung ab. Der Prozeß trägt alle Merkmale mystischen Entwerdens: Angesichts der Erkenntnis seiner bisherigen, ästhetizistischen Lebensweise überkommt A. »eine furchtbare Scham . . . und machte ihn nackt« (V. 258); er fühlt sich bis zur letzten Nacktheit entblößt, und doch w a r es, als ob all die Zeitwellen, w e l c h e mit gespenstischer Leerheit das J e t z t überdeckt hatten, sich zu klären begännen (ebd., 264).
Als Resultat der Rekapitulation seiner Daseinsweise erscheint die völlige Loslösung von aller >eigenschaftGenesis des Wahrheitsproblems innerhalb des Denkens und seine(r) Lokalisierung im Rahmen der idealistischen KritikIch weiß< verpflichtet.' 2 ' Im Sinne der kritischen Richtungskonstante generiert diese Verfahrensweise Aussagen von der Form des »ich weiß, daß ich weiß, daß ich weiß . . . ad infinitum« (X/2, 231), deren infinite Schachtelung letztlich auf einen rational nicht erreichbaren »mystische( )n Urgrund des subjektiven Ichs« zulaufen und dessen Charakter als eines »Limes des Bewußtseins« (ebd.) ausmachen, an dem dasselbe ausschließlich sich selbst als reine, inhaltslose Form und Ursprung aller Erfahrung w a h r n i m m t . ' D a r i n entdeckt Broch das immanent mystische Potential des empirischen Ich. Dieses grenzwertige Ich identifiziert Broch mit dem Kantischen »Ich() an sich«, das nur ein unendlicher »Zielpunkt des Gedankens« und deshalb vollkommen »eigenschaftslos« ist (ebd., 230): 128
S o der Titel eines ca. 1926 verfaßten Essays, vgl. X / 2 , 2oyff. " 9 Broch bezieht sich hier ausdrücklich auf Kants Satz aus den >Paralogismen der reinen Vernunft< (Kritik der reinen Vernunft, Elementarlehre II, Teil II, Abt. II, Buch II, I. Hauptstück): »Im übrigen Kant: >(. . .) da nun der Satz: >Ich denke< (. . .) die Form eines jeden Verstandesurteils (. . .) enthält und alle Kategorien als ihr Vehikel begleitet (. . .)«ek-stasisganz Anderen< gedeutet, das in letzter Konsequenz nur Ergebnis eines göttlichen Gnadenaktes sein kann. Demgegenüber versteht der Neuplatonismus, wie schon gezeigt, den Wesenskern des Menschen selbst als göttlich und ungeschaffen. 4 Er ist aber in der empirischen Daseinsform verschattet und in der Materialisierung der niederen Seinssphären mit Wesensfremdem überkleidet, seinem eigenen We' S o , wenn er im Rekurs auf Augustinus und die ethische Komponente des Origeneischen Willensprinzips die Differenz zwischen affektiver und erkennender Hinwendung des endlichen Geistes auf das Absolute zu überwinden trachtet, vgl. X / i , 36/37. 1 Wagner-Egelhaafs in einem Seitenblick ihrer Arbeit auf Broch getroffene Bemerkung, der >Tod des Vergil< verwende Motive aus der neuplatonisch-mystischen Tradition zur Darstellung des Bewußtseinsstroms (Egelhaaf, 1989, S. 1/2), gibt deshalb ein ebenso schiefes Bild wie Wachtiers undifferenzierte Hypothese über den Plotin-Einfluß auf Brochs >Verzauberung< (1968, S. 217Œ) oder die eindeutige Zuordnung des >Vergil< zum christlichen, ja katholischen Glauben bei Rudich in Dowden (ed.), 1988, S. 342. ' V g l . Ivänka, 1964, S. 8;. 4 Vgl. ebd., S. 95.
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sen entfremdet. Die Form der Ekstase, die dieser Auffassung entspricht und die sich in Brochs Anlehnung an die Origeneische Abwandlung des Neuplatonismus und seiner Übernahme des Seelenfiinken-Motivs in der durch Meister Eckhart vermittelten Form niederschlägt — ist im genauesten Sinne des Wortes >enstasisTat twam asi< beschreibt: »die große . . . Rückkehr >Welt ist G o t t und Welt ist Ich« (IX/2, 12/13). A u f die zahlreichen Parallelen zwischen der Identitätsmetaphysik des Sankara und derjenigen Eckharts und deren ethische Konsequenz der Weltformung hat W. Otto in seiner >Westöstlichen Mystik< hingewiesen. 7 Die Vorstellung von der äußersten Entfaltung des geistigen Wesens in der umfassenden Durchformung der Realität, die das Ich nunmehr in der Kultur als Objektivation des geistigen Prinzips und damit seiner selbst erkennt (IX/2, 13), bewegt sich zweifelsohne in der Nähe der neuplatonischen Philosophie, wahrt aber zugleich im Moment des Willensbegriffs, der die Möglichkeiten des Gebrauchs oder der Verweigerung der eigenen geistigen Formungskraft impliziert, den Autonomieanspruch des Subjekts und damit die Origeneische Abwandlung der neuplatonischen Kosmogonie, wie sie von Augustinus und Eckhart übernommen wird. Zugleich bringt er das neuplatonische Denken insofern zu sich selbst, als er es auf seine ursprüngliche Auffassung vor seiner gegenweltlichen Wendung zurückfuhrt, die die empirische Realität als Emanationsform des Geistes verstand und durchaus positiv bewertete. Die neuplatonische enstasis wird so in Brochs Ekstase-Verständnis durch eine Weise der ekstasis, des sich Entäußerns im Kulturschaffen, ergänzt. Sinnbilder der ekstatischen Selbstverwirklichung sind der Kristall bzw. der Diamant und das Ornament: Der ungestört wachsende Kristall mag so als Ekstase des Steins aufgefaßt werden: Erreichung der Reinheit seines Wesens. So alle Ekstase des Menschen gedeutet: Reinheit der Entfaltung seines Ichs (IX/2, 12).
D e r Kristall und dessen »wertvollste« Ausprägung, der Diamant, dessen Konsistenz dem »Ewigkeitsgedanken Rechnung trägt« ( X I I I / i , 65), fungiert in Brochs Romanen deshalb immer wieder als Symbol letzterreichbarer, zeitloser und also un-endlicher Wesensentfaltung (III, 358, 361, I V , 4 1 7 , 450/51, V , 272/3). 8 Venzlaff hat den von Broch in seinem >NotizenDer Atman (d. i. der Geist, A . G.), dessen Erkenntnis Erlösung, dessen Nichterkenntnis Weltbindung wirkt, der die Wurzel der Welt ist, . . . durch den geweset alles ist, . . . der ist das Wirkliche. Der ist dein Selbst. Und darum: >das bist duunitum< esse, sondern >unum< esse cum Deo, ja, das unum selber sein: die unio als ganze, restlose Identität. . . . Einen seltsamen Ton haben bei ihm (Eckhart, A. G.) die Aussagen, in denen er die Seele nicht nur eins weiß mit dem Ewig-Urseienden, sondern w o er sie weiß als >schaffend< von Ewigkeit mit dem Schöpfer, als die ewig erschaffende Kraft selbst. Übrigens kommen auch in der indischen Mystik manche Aussagen dem Eckhartschen >Schöpfergefühle< sehr nahe.«
8
»Denn die Verwandlung, die da vor sich gegangen war, sie war die Verwandlung des Außen ins Innen, sie war die Einswerdung von Außengesicht und Innenge-
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hergestellten B e z u g zu K a n t s Kristall-Paradigma aus der >Kritik der Urteilsk r a f t als verfehlt kritisiert, da dessen A u s s a g e v o n B r o c h in ihr G e g e n t e i l v e r k e h r t werde. 9 In der Tat w i r k t die B e z u g n a h m e auf den Kristall
im
K o n t e x t v o n B r o c h s D i s k u s s i o n der Kantischen Erkenntnistheorie und Ä s thetik zumindest mißverständlich, jedoch bezieht sich B r o c h an der v o n V e n z l a f f monierten Textstelle, w i e es scheint, g a r nicht auf K a n t , sondern o f f e n b a r - im K o n t e x t des >Tat t w a m asi< - auf das vedanische Gleichnis v o m reich facettierten Kristall, der das V o r h a n d e n e in zahllosen kleinen A b b i l d e r n spiegelt und damit die E i n h e i t in der Vielheit auf eine Weise thematisiert, die ihrerseits eine gewisse N ä h e zur M o n a d e n l e h r e L e i b n i z ' erkennen läßt. D i e s e monistische Einheitsschau bestimmt den O r t des Selbst i m M i k r o - w i e im M a k r o k o s m o s im S i n n e des >tat t w a m asic D u bist die ganze W e l t . 1 0
9.2. Das Ornament als ästhetisches Realisat der Ekstase D a s O r n a m e n t bildet den A u s d r u c k der E k s t a s e als reine, abstrakte, ins G e g e n s t ä n d l i c h e objektivierte F o r m , in der der »Schaffensrausch des S c h ö p ferischen« ( I X / 2 , 1 5 ) , — schon bei E c k h a r t intensivster A u s d r u c k der E i n -
sicht, . . . diese seit jeher erstrebte, . . . zur Reife gediehene Vertauschung: mit einem Male . . . w a r derjenige, der bisher Augustus geheißen war, jetzt v o n innen gesehen, in einer Innensicht, wie sie sonst nur dem Träumenden, dem Traumverlorenen verliehen ist, wenn er . . . — erkennend durch den Traum — sich im Gleichnis seiner selbst erkennt, wenn er den letzten, den unabtubaren, den kristallenen Grundbestand seiner Eigenschaften als bloße Form, als kristallenes Linienspiel, ja als leere Zahl im letzten Traumsein offenbart sieht« (IV, 417). 5
» D e m Realism der ästhetischen Zweckmäßigkeit der Natur«, die K a n t bestreitet, weil eine solche Betrachtungsweise gerade die Hervorbringung der Idee des Schönen nach den Regeln des menschlichen Geistes leugnet, aus dem allein der freie Gebrauch unserer ästhetischen Urteilskraft sich bestimmt, »reden die schönen Bildungen im Reiche der organisierten Natur gar sehr das Wort«. (Kant, Kritik der Urteilskraft, § 58). Sie entspringen jedoch, w i e Venzlaff betont, allein empirischen Gesetzen und haben deshalb nach Kants Verständnis gar nichts >Reines< und >Wesenhaftes< an sich. Vgl. Venzlaff, 1 9 8 1 , S. 1 5 1 , A n m . 8 und 1. Im gleichen K o n t e x t seines wachsenden Interesses an östlicher Mystik taucht das Kristallmotiv auch in den philosophischen Betrachtungen des Physikers E r w i n Schrödinger auf; vgl. ders.: >Mein Leben, meine Weltansicht« (Hamburg/Wien 1 9 8 ; ; K a p . V : D i e vedanische Grundansicht, bes., S. 67/68); deren erster Teil w u r de bereits 1925 verfaßt und stellt einen weiteren Beleg für die Virulenz fernöstlicher mystischer Lehren und der in ihrem K o n t e x t diskutierten M o t i v e und S y m bole bei den Intellektuellen aller Geistesrichtungen zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts dar. Vgl. dazu einen entsprechenden Hinweis bei Wagner-Egelhaaf, 1989, S. 46/47.
27?
heit von endlichem und unendlichem Geist - Welt und Geist zu umfassendem Gleichgewicht und vollkommener Einheitlichkeit gezwungen hat (ebd., 14); deren zeitloser, verräumlichter Ausdruck ist die absolute Symmetrie (ebd., 17). In diesem Gleichgewicht von Inhalt und Form gelangt die »Einheit von Denkgesetz und Weltgesetz« (ebd., 15) zur Anschauung, die den formenden Geist zur ekstatischen Erkenntnis seiner selbst berechtigt: »Ich bin die Welt, weil sie in mich eingegangen ist« (XII, 25). Das Ornament ist das konziseste räumliche Realisat dieser vom Geist hergestellten, das Ästhetische an sich definierenden »Einheit in Zeit und Raum« (IX/2, 18). E s ist das »Differential jeden Stiles« (X/2, 75), der seinerseits Ausdruck des das Vorhandene formend bändigenden, kulturschaffenden menschlichen Geistes und »Sehnsucht nach dem Ausdruck der Ekstase« ist (IX/2, 24); konzentrierteste, von allem Akzidentellen entlastete Expression restloser Uberformung des bloß Vorhandenen durch das Gesetz des Geistes; reiner, abstrakter, formgewordener Ausdruck des Wesentlichen, Materialisierung der Innerlichkeit und damit »Feierkleid der Ekstase« (ebd., 21). Das Ornament wird so zum Ort der Selbstbegegnung des Geistes, zu seiner begriffenen, freien Ausdrucksbewegung, in der sich die umfassende Totalität von Geist und Welt ausdrückt: >Tat twam asi: Das bist duGeist der Utopie< (1918/1921) und Lukäcs' Begriff der »ornamentalen Heimat« ins A u g e . " Erst sechs Jahre nach Brochs >NotizenMan< der Masse bezeichnet hat.' Broch nennt das in seiner >Massenwahntheorie< den >Absturz der Einzelseele im Kollektivem, angesichts dessen es »um die Befreiung des ethischen Willens aus seinen massenpathologischen Verstrickungen« gehen muß (XII, 296). Auch das ist — bei Broch wie bei Heidegger - beim »gemeinsamen Ahnen Kierkegaard« vorgedacht, der das >Man< als ein »ungeheuerliches Nichts« begreift, dessen »grausame Abstraktion« den Einzelnen vereinnahmt oder dem Untergang überantwortet. 2 Im Zuge der >Dialektik der Aufklärung< erfahrt die im 17. und 18. Jahrhundert als Rationalisierung von Herrschaft gefeierte Kategorie der Ö f f e n t lichkeit eine grundlegende Umwertung zur nivellierenden Macht, die Herrschaft über das Denken des Einzelnen und seine Seinsmöglichkeiten ausübt. Ihr ambivalenter Charakter wird erstmals bei Hegel gesehen. 3 Bei Kierkegaard erscheint dann die moderne Gesellschaft als abstrakte Menge der Iso' Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen, 15. Aufl. 1979, S. 127. Kierkegaard, Literarische Anzeige, S. 97, 100. Die Darstellung der Position Kierkegaards ist im folgenden Bolz, 1989, S. 47ff. verpflichtet. Zur soziologischen Konturierung des >Man< verweist Bolz auf Luhmann, >Gesellschaftsstruktur und Semantik IJedermannMasse< und »Gemeinschaft^ 6 die bereits 1 9 1 8 in seinem offenen Brief >Die Straße< an Franz Blei erkennbar ist. 7 Die Masse — die ihm wenig später identisch sein wird mit der Urbanen L e b e n s f o r m der modernen Industriegesellschaft überhaupt ( X I I , i j ö f f . ) 8 — ist für B r o c h die scheinhafte, »falsche Gemeinschaft«; sie besitzt »gar keine Gemeinschaft« ( X I I I / i , 31). W i e Kierkegaards hat auch Brochs Begriff der Masse als bloß numerische Einheit und schlechthinniger Gegensatz des Vor-Gott-Seins des Einzelnen v o n v o r n h e r e i n religiöse Implikationen: Das Wesentliche der Gemeinschaft ist das gemeinsame metaphysische Wahrheitsgefühl und Verankerung der letzten Einsicht in einem Glauben. . . . dieses gemeinsame Wahrheitsgefühl (ist aber) in der modernen Masse gar nicht vorhanden. . . . Sie ist in der Lage, jeden beliebigen Inhalt zu dogmatisieren und darauf den psychologischen Nimbus einer Gemeinschaft sich zu geben - aber es bleibt bei dem Nimbus, da die letzte Evidenz fehlt ( X I I I / i , 51/32). D i e Masse ist Broch deshalb als »Menschenkörper ohne Glauben« eine bloße »Vegetationsform« (ebd., 53), deren Idee v o n Freiheit »inhaltslos« und »dreckig« ist und den verantwortungsbefreiten, unreflektierten »>Genuß< der Freiheit« meint (ebd., 52).
4
Vgl. Bolz 1989, S. 49. ' Bolz, 1989, ebd. mit Bezug auf »Entweder — Oder IMasse< - die unbotmäßige Ansammlung auf der Straße? die moderne Massengesellschaft? — im Zweifelsfall beide . . .« (196/7).
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Strenger noch als Kierkegaard und aus einem anti-konfessionellen Impetus heraus, der Broch von dessen christlicher Überzeugung unterscheidet, wahrt sein Verständnis von Subjektivität und Autonomie mit der Position der Ebenbildlichkeit diejenige radikaler Einsamkeit: Radikal genommen, ist jede Gemeinschaft eine menschliche Entartung. Ihr Werterlebnis beruht zum größten Teil auf jener billigen Ekstase des gemeinsamen Rhythmus, auf jener erkenntnislosen billigen Hilfe, von der beispielsweise das Christentum als Kult ganz erfüllt ist. Das gemeinsame Gebet steht jedem, dem das Gott-Erkennen wie jedes Erkennen eine Angelegenheit der stets brückenlosen und immer ohne Hilfe bleiben müssenden Person ist, auf unterer Stufe. Die Gemeinschaft ist kein Wertprinzip und darum gibt sie keine sittliche Basis ab (ebd., 31).
Aufgrund solcher Äußerungen konstatiert Venzlaff eine elitäre, »die Massen verachtende Tendenz« von Brochs Massenpsychologie, 9 die ein in »private(r) Ekstase . . . sich . . . über die Masse erhebende(s) und über die Masse verfugende^) IchQ« präferiere. Brochs ekstatisierendes Subjekt konstituiere sich allererst im Zusammenhang mit der Masse 10 und erhebe sich auf deren Kosten über dieselbe, die es doch vorgeblich erlösen solle." Eine Kritik, die sich auf den Verdacht reduziert, Brochs Verständnis der Masse erliege »seinen tiefen und nicht befragten konservativen Ängsten«, 1 2 blendet allerdings neben den geistesgeschichtlichen Hintergründen von Brochs Position und seiner Kontextuierung im zeitgenössischen Denken, der Venzlaff sich vorsichtshalber entschlägt, weil er sie als »spekulativ« erachtet, 1 ' zunächst vor allem den historischen Erfahrungshorizont aus, vor dem sich Brochs Verständnis der >Masse< entwickelt: Seine >Massenwahntheorie< entsteht zu wesentlichen Teilen zwischen 1939 und 1948 in Reaktion auf die Erstarkung der faschistischen Massenbewegungen in Europa im allgemeinen und der Machtergreifung des Nationalsozialismus in Deutschland im besonderen. Daß dieser Erfahrungshorizont kaum geeignet war, das Vertrauen in die Vernunft der >Masse< zu stärken, kann nicht verwundern. In der Anonymität der Masse, die der Faschismus glänzend zu organisieren wußte, schien ja tatsächlich die soziale und ethische Verantwortung des einzelnen außer Kraft gesetzt. Die Diagnosen Kierkegaards und des frühen, noch nicht mit dem NS liierten Heidegger erfuhren so eine neue Dignität: >Die Anderen< nehmen dem einzelnen die Verantwortlichkeit ab. In der Anonymität des >Man< ist »Jeder . . . der Andere . . . und Keiner er selbst«. 14
«Venzlaff, 1981, S. 105. Ebd., S. 108, 100/101. " Ebd., S. 108. 12 Barnouw, 1982, S. 198. Venzlaff, 1981, S. 106. 14 Heidegger, 1979, S. 127/128. 278
Ungeachtet seiner berechtigten Kritik an Brochs undifferenziertem und in vieler Hinsicht durchaus fragwürdigem, unhistorischem Massebegriff, der jede konkrete sozialgeschichtliche und politische Analyse zugunsten anthropologisch verstandener Prämissen vernachlässigt, lenkt aber Venzlaffs nicht stichhaltige Behauptung einer vermeintlichen »Interdependenz von (ekstatischem) Ich und Masse«,15 derzufolge sich das ekstatisierende Ich per >Ich-Erweiterung< der Masse bemächtige und sich auf ihre Kosten wie auf Kosten der Außenwelt überhaupt erweitere, die Auseinandersetzung in eine falsche Richtung. Venzlaff verzerrt Brochs erkenntnistheoretische Überlegungen, wenn er unterstellt, das ekstatische Ich der >Massenwahntheorie< unterscheide sich von demjenigen der frühen >Notizen< dadurch, daß es nicht wie jenes die >Welt< eigentlich >isteinverwandelten< Besitz an der Außenwelt wird, der . . . als >Ich-Erweiterung< registriert werden darf, und auf dessen Verlust das reine, zeitlose Ich mit panischem Schrecken reagiert.' 6
Abgesehen davon, daß es nicht das transzendentale, sondern durchaus das empirische Ich ist, das Broch zufolge auf die Erfahrung einer ihm fremd und undurchschaubar gewordenen Außenwelt, angesichts derer es seine Selbstbestimmungsmöglichkeiten einbüßt, mit Panik reagiert, weil es sich dem Unbegriffenen und also nicht Handhabbaren als einem sein Denken und Handeln Bedingendem ausgeliefert sieht (XII, 20/21), ist die Behauptung durchaus irreführend, das mystisch fundierte Ich leiste die >Einverwandlung< der Außenwelt, indem es sich auf ihre Kosten bereichere. Venzlaffs Kritik unterschlägt hier Brochs Differenzierung zwischen ideeller und materieller Ich-Erweiterung, zwischen offenen erkenntnisgerichteten und geschlossenen dogmatischen, also erkenntnisabgewandten Wertsystemen, die in der >Massenwahntheorie< zugleich seine Unterscheidung von Gemeinschaft und Masse, Ekstase und Rausch begründet. Denn genau diesen Sinn des materiellen >Habens< hat die von Broch vertretene ideelle Form der Ich-Erweiterung ja gerade nicht, meint sie doch ausdrücklich ein kohärenzstiftendes Erkennen und Begreifen des Vorhandenen, das angesichts der permanent sich wandelnden Realität immer nur eine asymptotische Annäherung an die vollkommene Erkenntnis sein kann und deshalb niemals dogmatisch beruhigt werden kann, sondern sich immer wieder selbst in Frage stellen muß, wobei es strukturell den materiellen Besitz des Vorhandenen als Habhaftwerden in Wissens-Symbolen (XII, 489) sublimiert (ebd., 47). Das
" Venzlaff, 1981, S. 98. ,6 Ebd., S. 99. 279
offene System bezieht damit sein Telos aus den Grundsätzen jener negativen Theologie, die mystisches Denken begründet. Die Sicherungsfunktion, die der materielle Besitz, der »primitive Possessivwert« als scheinhafte, verdinglichte Form der Ich-Erweiterung bietet, wird von Broch dagegen verworfen, weil er die tatsächliche Ursache jeder Aktual-Angst, hinter der sich nach seinem Verständnis letztlich immer die metaphysische Ur-Angst vor dem undurchschauten Fremden, das Ich Bedingenden verbirgt, nicht bewältigen kann. 17 Deshalb muß sich der Versuch einer materiellen Sicherung auch auf politischer Ebene verhängnisvoll auswirken, weil er die Notwendigkeit hemmungsloser kapitalistischer Ausbeutung im kleinen und kriegerischer Territoriumserweiterung im großen nach sich zieht. Die ideell-ekstatische Erfahrung >Ich bin die Welt, weil sie in mich (in mein erkennendes Bewußtsein als begriffene, kohärente, A . G.) eingegangen ist< ( X I I , 25), wird deshalb in der >Massenwahntheorie< als utopische ausdrücklich der einem falschen Bewußtsein entspringenden Auffassung >Ich habe die Welt, weil sie mir unterjocht ist< (ebd.) entgegengehalten, da sie — im Gegensatz zur materiellen — die Möglichkeit begründet, Autonomie durch das Verstehen von Welt zu gewinnen. Das Erkennen der Welt wird so zum einen zum lediglich »sublimierten«, »symbolische(n) Besitz« derselben (ebd., 47), den das Ich zum anderen lebend aber niemals wirklich und endgültig »hat«, sondern auf den es sich in permanenter Uberbietung seiner Erkenntnismöglichkeiten in einer iterativen Anstrengung zubewegen muß. Das Bewußtsein von der prinzipiellen Unabschließbarkeit dieses Verstehensprozesses unterscheidet nach Brochs Verständnis offene gerade von geschlossenen Wertsystemen: »Idealsachverhalte sind . . . niemals erreichbar, sondern bloß annäherbar, sie enthalten bloß die Pflicht zur unendlichen Annäherung« (XII, 39). Das geschlossene Wertsystem, als dessen markantestes weltanschauliches Paradigma Broch den Faschismus begreift, generiert die >MasseAußen< erstarrt, sondern darüberhinaus versucht, seinen Geltungsbereich gewaltsam zu erweitern. Demgegenüber zeichnen sich die von Broch auch politisch angestrebten offenen Wertsysteme gerade dadurch aus, daß sie nicht versuchen, in einem bestimmten materialen Wertdogmengebäude sämtliche Weltphänomene unterzubringen, sondern sich bemühen, die erwünschte absolute Geltung durch ständige Fortentwicklung des Systems zu erreichen (ebd., 5°).
Denn anders als das geschlossene Wertsystem ist das offene sich der Unendlichkeit der Welt bewußt und es weiß daher auch, daß die Absolutgeltung bloß ein unendlich ferner Zielpunkt, nicht jedoch ein konkret erreichbares Endstadium sein kann (ebd.),
- was für die Erreichung der Ekstase als Telos dieser Erkenntnisbewegung im allgemeinen gilt. Zugleich wird hier Brochs positiv konnotierte Verwendung des Begriffs >Irrationalität< gut greifbar; denn das ideale Wertziel wirkt gerade infolge seines unendlichen, utopischen, nur der Form nach, nicht aber inhaltlich definierbaren Charakters als geistig nicht erschöpfbares und in diesem Sinne »Irrationales« (ebd., 51), das dem zukunftsentwerfenden Zugriff, damit aber auch jeder Dogmatisierung und Verkürzung entzogen ist und das Potential des innerhalb der geschichtlichen Dynamik Möglichen zugunsten einer vorzeitigen Eingrenzung aus der Perspektive der jeweiligen Gegenwart wahrt. Die Ausbildung einer offenen und bewußten Haltung gegenüber der Realität und die daraus resultierende weltanverwandelnde Erkenntnisleistung des Subjekts mit dem utopischen Ziel der Ekstase, die freilich immer nur als individueller, vom je einzelnen zu leistender und niemals als kollektiver Erkenntnisakt vollzogen werden kann, ist deshalb nicht, wie Venzlaff will, als eine Erhebung des Subjekts über die Allgemeinheit und auf ihre Kosten, sondern, wie schon deutlich wurde, eine Erhebung des Subjekts %ur KWgemeingültigkeit transzendentaler Rationalitätsformen des Humanen schlechthin zu verstehen. Zudem dürfte man Brochs >MasseRationalverlustes< als kulturzerstörend erkannt wird (ebd., 25, 32). Abgesehen davon könnte auch eine radikal subjektivistische Position Brochs Interesse an der Wiederherstellung ganzheitlicher Strukturen nur scheinbar gerecht werden; denn gerade w o die mystische Rückwendung auf einen alles durchwaltenden Logos Totalität gewährleisten soll, muß sie, soll sie nicht bloß in einem platten Solipsismus stecken bleiben, Intersubjektivität gewährleisten. Realität reduzieren kann: »es ist . . . durchaus klar, daß sich das Individuum beruhigter und sicherer fühlt, wenn es sein eigenes Wertsystem . . . multipliziert wiederfindet, gleichsam als bereits vollzogene >Formung< der Außenwelt, . . . als eine ihm bereits von vorneherein geschenkte >Erweiterung< seines Ich . . . Hiezu gesellt sich ferner die >Enthemmung< und Zweifelbefreiung, wie sie sich stets als notwendige Folge aus der Multiplikation des eigenen Wertsystems ergibt . . .«
(XII, 277)-
Deshalb werden die Protagonisten in Brochs Novellenzyklus >Die Schuldlosem bis auf wenige Ausnahmen allesamt zu >schuldlos Schuldigen*, insofern sie die letzte Phase eines historischen Zerfallsprozesses repräsentieren, die angesichts des völligen Zusammenbruchs aller Werte das Individuum als >letzte Spaltungseinheit< isoliert und v o m je anderen gerissen zurückläßt. Wo keiner den anderen mehr versteht, gelingt auch seine eine ethische Haltung erfordernde Identifizierung als Mitmensch nicht mehr, so daß das Ich von jeder sozialen Verantwortung dispensiert und nur noch den eignen Interessen verpflichtet erscheint. Diese K o n sequenz zeigt sich schon in der Huguenau-Handlung der >SchlafwandlerSchuldlosen< ist nach Brochs eigenem Verständnis deshalb ein durchaus ironischer, »aggressiver« Titel (vgl. X I I I / 3 , 374). 282
Brochs auf der Grundlage der Werttheorie entwickeltes politisches D e n ken zielt deshalb — ähnlich wie bei Kierkegaard — auf einen (mystisch-religiös begründeten) Begriff v o n >Gemeinschaft< ( X I I , 78) als Vereinigung autonomer Subjekte auf einer gemeinsamen Wertbasis, der als politische Organisationsform eine F o r m v o n Demokratie entspricht ( X I I , 64), die anders als die parlamentarische Praxis es tut - den Einzelnen nicht v o n der permanenten bewußten Auseinandersetzung mit der Realität und v o n dezisionischem Handeln suspendiert, indem sie ihm ermöglicht, turnusmäßig mit seinem Stimmzettel auch seine persönliche politische Verantwortung abzugeben. 2 0 Deshalb gilt: (a) Die durch die Werterlebnisse vermittelte echte Ich-Erweiterung stellt sich für das Individuum als irrationaler persönlicher Sinn dar, nämlich als der einer P e r sönlichkeitsentfaltung*. (b) Die spirituelle Welterfassung in ihrer Totalität, zu der diese Ich-Erweiterung hinstrebt, ist, u. z. dem Wesen des rationalen Logos entsprechend, bloß unter der Leitung einer logos-tragenden >Menschheit< zu verstehen; der irrationale Wertinhalt hierbei ist der Einklang des Ichs nicht nur mit der Welttotalität, sondern auch eben mit der Menschheit als solcher; es ist das irrationale >GemeinschaftserlebnisPflichten< basiert, auf die Pflicht zur Wahrheitserkenntnis, . . .« ( X I I , 277) und empfängt seine Irrationalwerte als »Zusatzwerte« (278). 283
weiligen Wert mit anderen Subjekten zu teilen. Diese das eigene Denken bestätigende und nicht etwa fundierende Erfahrung stiftet Gemeinschaft und liefert nach Brochs Verständnis dem rationalen Vorgang der Wertverleihung eine zusätzliche >Irrationalbereicherung< (ebd., 256), ein »Tao«, ein(en) »Sinn, der dem (bloß) rationalen Zweck strikte entgegengesetzt ist« (ebd., 255). In der >Masse< dagegen begibt sich der einzelne seiner kritischen Urteilskraft zugunsten der >seinsentlastendenRausch< (ebd., 254), den Broch als Ergebnis einer >Rationalverarmung< beschreibt und der allein der b e rauschendem Macht des Herdenhaften entspringt. In ihm werden mangelnde() Rationalhaltungen durch Triebhaltungen ersetzt und zwar durch solche, welche von einer möglichst großen Anzahl anderer Individuen der nämlichen Gruppe gleichfalls eingenommen werden, so daß . . . durch . . . Vervielfältigung des Triebverhaltens eine Art Scheinethik entsteht, d. h. eine Scheinberechtigung zur unethischen Auslebung der unkontrollierten Triebe ( X I I , 14)."
»Das Numerische versetzt den Menschen in einen exaltierten Zustand, gleich wie durch Opium«, hatte schon der Antimarxist Kierkegaard festgestellt." Die Voraussetzung »ökonomisch-materialer Sicherheit« wird von Broch zwar als notwendige Prämisse für die Entstehung wahrer sozialer Gemeinschaft am Rande erwähnt (XII, 5 3), spielt aber gemäß dem idealistischen Charakter seiner geschichtstheoretischen Erwägungen keine maßgebliche Rolle in seinen Überlegungen, wie überhaupt die Ausblendung konkreter gesellschaftlicher, ökonomischer und sozialpsychologischer Entstehungsbedingungen für historische Konfliktfelder kennzeichnend für seine Ge" Karl Menges' Kritik an der Unterscheidung zwischen Irrationalbereicherung und Rationalverarmung scheint mir nicht berechtigt; er versteht sie als Tautologie: »>Rationalverlust< und >Irrationalgewinn< sind . . . strukturell identisch und nur darin unterschieden, daß erstere Bezeichnung eine subjektive Meinung kundtut über den in der zweiten formulierten Sachverhalt eines — . . . kollektiven — Lustgewinns« (Karl Menges, Kritische Studien zur Wertphilosophie Hermann Brochs, Tübingen 1970, S. 132.). Es kann kaum zweifelhaft sein, daß es Glückserfahrungen gibt, die nicht nur ohne einschränkende Wirkung auf das Bewußtsein sind, sondern sich ausdrücklich einer Erkenntnisleistung verdanken, und die sich von Rauscherlebnissen unter Verlust der Selbstkontrolle - etwa unter Alkoholeinfluß — unterscheiden. Menges' Urteil indiziert seine Weigerung, sich auf Brochs Argumentation unvoreingenommen einzulassen und beeinträchtigt so das kritische Potential seiner Untersuchungen. " P a p X I 1 A 512; zit. nach Bolz, 1989, 49; vgl. auch Kierkegaard, Tagebücher 3, S. 3 f.
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schichtstheorie ist. Die v o n VenzlafP' wie v o n B a r n o u w 2 4 oder E y k m a n n 2 ' zurecht kritisierte »Abstinenz v o n der Suche nach sozialer oder ökonomischer Konkretion geschweige denn Motivation« massenwahnartiger B e w e gungen begründet Broch mit dem gegenüber der traditionellen Geschichtsphilosophie w i e der herkömmlichen Geschichtsschreibung veränderten E r kenntnisinteresse seiner >Geschichts//?eor/«. Deren A u f g a b e sieht er darin, die A u f f i n d u n g historischer Gesetzlichkeiten nicht mehr auf der Grundlage spekulativer Geschichtsphilosophie zu begründen, sondern dieselbe durch eine »anthropologische Strukturlehre der Geschichte« abzulösen, deren wissenschaftlichen A n s p r u c h Broch ausdrücklich hervorhebt ( X I I , 102/3). V o n diesem kann aber tatsächlich keine Rede sein. Vielmehr strapaziert Broch im Bemühen um wissenschaftliche Dignität auf höchst vordergründige Weise Kategorien, die nicht zufällig weniger der empirischen als vielmehr der wesentlich spekulativer verfahrenden analytischen Psychologie Freuds entstammen, 2 6 um diese auf dem U m w e g über ihre Einordnung in werttheo-
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Nach Venzlaff, 1981, S. 1 0 1 , macht Brochs Ansatz »die >Massenwahntheorie< selber zum Wahn, weil sie die Masse, über die sie redet, wie den Leser, an den sie sich wendet, über die außerhalb der psychischen oder wertphilosophischen Gesetzlichkeiten liegenden Motive im Zustand des >Wähnens< läßt«. Barnouw (1982) registriert eine »schon immer existierende, im Exil sehr verstärkte Tendenz (Brochs), sich aus der wirklichen Welt sozialpsychologischer Phänomene herauszuhalten« (S. 198). C. Eykman, Theorie der Masse als Kritik des Faschismus: Hermann Broch und Elias Canetti, in: D. G . Daviau/L. M. Fischer (Hg.), 1982, S. 169-180, dort S. 176/77: »Sowohl bei Broch wie bei Canetti bleibt der sozio-ökonomische Gesichtspunkt fast völlig ausgespart. Für Broch . . . sind, wie er noch in dem wohl 1949 geschriebenen Fragment >Politik< erklärt, weder biologische, noch anthropologische, noch soziologische oder ökonomische Faktoren >wahrhaft apriorisches steht hinter ihnen allen die psychologische (und dahinter erst recht die erkenntnistheoretische) Bedingtheit. Man braucht nicht Anhänger einer marxistisch orientierten Faschismustheorie zu sein, um sich dennoch zu fragen, ob das Streben nach seinem neuen zentralen Wertsystem tatsächlich der eigentliche Beweggrund sei, welcher die Massen dem Faschismus zutrieb. Stimmt es, daß die innere Unruhe und politische Verfuhrbarkeit der Massen aus dem Leiden an der Wertzersplitterung unserer Zeit stammt? Wie sind überhaupt die Massen sozial zu spezifizieren? Weder bei Broch noch bei Canetti findet sich eine solche Spezifizierung.«
' 6 Nach Brochs Bekunden hat die »Psychoanalyse . . . zur Massentheorie allerwichtigste Bausteine geliefert« ( X I I , 29), die ihren Niederschlag besonders in der Umsetzung der Freudschen Trieblehre und ihrer Kategorien >LebenstriebTodestrieb< und >Triebsublimierung< (als Motor kultureller Entwicklung) in sein werttheoretisches Modell gefunden haben. Broch hat die Einarbeitung dieser Überlegungen in seine >Massenwahntheorie< (vgl. z . B . X I I , 125, 127) in einem 1936 verfaßten Essay >Werttheoretische Bemerkungen zur PsychoanalyseTraumdeutung< hat in der Massenwahntheorie ( X I I , 424—456) ebenso ihren Niederschlag gefunden wie seine Schrift >Totem und Tabu.
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retische Überlegungen wieder seinem religiös-metaphysischen Denken einzuverleiben. Das wird ansatzweise bereits deutlich, wenn er als Kriterium für geistige »Normalität« und »Abnormalität« das Vorhandensein einer offenen bzw. geschlossenen Wertsystematik stipuliert. Es zeigt sich ihm »nun allerdings bei den meisten geistigen Erkrankungen, . . . daß der Kranke vornehmlich sich in geschlossenen Systemen bewegt« (XII, 54, auch 250— 252).^ Nicht nur Brochs dichterisches Erkenntnisinteresse, sondern auch seine gesellschaftlich-politischen Überlegungen scheinen ihr Telos damit in einer Form von Erkenntnis zu sehen, die über jeder empirischen oder sozialen Bedingtheit steht und für die es gleichgültig ist, ob der Mensch in einer feudalen, in einer bürgerlichen oder in einer proletarischen Zeit lebt . . . ( I X / i , 85).
A u f diese Weise suspendiert sich Brochs geschichtstheoretisches Denken durch eine vom empirischen Material abstrahierende Stipulierung vermeintlich anthropologischer Grundprinzipien von der Analyse konkreter (sozial)historischer Problemlagen, die er der »eigentliche(n) Geschichtsschreibung und Geschichtsdarstellung« zuweist (XII, 102), und funktionalisiert sie, wie Venzlaff zu Recht moniert, »als Phänomene abstrakter oder mechanischer Gesetzlichkeit in seinem >WertmodellGesetz psychischer Zyklen< war schon Gegenstand der Darstellung in Abschnitt 6.1.3. In Brochs Massenwahntheorie stehen die (massen)psychologischen Implikationen dieser abstrakt werttheoretisch fundierten zyklischen Geschichtsdynamik im Zentrum der Betrachtung. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker< (vgl. X I I , 516/17). Für eine genauere Analyse ist hier aber nicht der Ort. *7 Welchen Stellenwert Broch dem Empirischen im Rahmen seiner massenwahntheoretischen Überlegungen zubilligt, geht aus einem Brief an P. Reiwald hervor: »Die Gesamttheorie . . . ist von erkenntnistheoretischer Basis aus entwickelt, denn ich glaube vertreten zu können, daß die Theorien des Unbewußten, um die es da schließlich geht, erst am Erkenntnistheoretischen und Logischen einen einigermaßen haltbaren Wissenschaftscharakter erhalten können. Gewiß, empirische Forschung ist notwendig - wer wollte das leugnen - aber sie gibt zu unendlich viel Fehlinterpretationen Anlaß, wenn das in ihr wirkende Selektionsprinzip nicht scharf untersucht wird; es läuft also auf eine praktisch anwendbare Methodologie hinaus« (XIII/3, 100). Bei aller begründeten Skepsis, die Broch gegenüber der Reduktion von Wissenschaft auf positivistisch-empirisches Denken hegt, entsteht hier doch der Eindruck eines einigermaßen willkürlichen Rückgriffs auf empirisches Material, der sich, wo er denn überhaupt stattfindet, ausschließlich nach seiner Belegkraft im Rahmen der vorausgesetzten spekulativen Theorie richtet. Venzlaff, 1981, S. 1 0 1 .
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Die Perspektive der analytischen Psychologie, die Broch sich dabei zueigen macht, erweist sich als eine, die mystische und magische Bewußtseinszustände im Raster der modernen Bewußtseinsforschung fassen soll, um sie solcherart als aktuelle Deutungskategorien für gesellschaftliche Prozesse auszuweisen, ihnen den Nimbus wissenschaftlicher Beglaubigung zu verleihen und sie als überhistorische Formen anthropologischer Bewußtseinsverfaßtheit zu installieren. Ihre Anwendung auf das Massenverhalten gewinnt nach Brochs Verständnis nur im Rekurs auf die Psychologie des einzelnen wissenschaftlich-empirische Aussagekraft. Die Stipulierung eines eigenständigen >Massenwillens< oder einer >Massenseele< lehnt Broch, offenbar im Einklang mit Freuds Individualpsychologie und in kritischer Wendung gegen Le Bon ab. 29 Uber die abstrakt wertpsychologische Perspektive seiner Überlegungen und die auf ihr basierende Behauptung einer zyklischen Geschichtsbewegung hinaus fragt Broch nach den Voraussetzungen dieser Prozesse im Bewußtsein des einzelnen, denn: Das System einer allgemeinen Geschichtstheorie ist unvollständig, so lange nicht der Faktor des Menschen als geschichtstragende Person in sie eingeführt worden ist, und das bedeutet gleichzeitig die Berücksichtigung der spezifischen Konstitution des Menschen . . . ( X I I , 72).
Brochs insistierende Feststellung, daß »der Mensch . . . der Träger der Geschichte« sei (XII, 73), weist hier abermals die Auffassung einer (heilsgeschichtlichen) Determination nach gnostischem Muster zurück. Zugleich dient die Rückführung des historischen Geschehens auf eine bestimmte, im Origeneischen Modell vorgebildete und ins werttheoretische Modell des Subjekts übernommene Dynamik von humanen Bewußtseinsbildungsprozessen der Vermittlung jener Antinomie, die mit der Behauptung von historischen Gesetzlichkeiten einerseits und menschlicher Willensfreiheit andererseits gegeben ist.
" ' G u s t a v e Le Bon, L a Psychologie des Foules, Paris 1 8 9 ; . Gegen L e Bons These von der Existenz eines >Massenbewußtseins< stellt Broch fest: »Die Masse ist keine mystische Einheit, welche eine eigene Seele, einen eigenen Willen oder dergleichen besitzt. Wissenschaftlich erfaßbar ist immer nur das Individuum und das EinzelIch. Unter Massenpsychologie ist also ein Teil des allgemeinpsychologischen Modells zu verstehen, und zwar jener, welcher sich auf das Verhalten des Ichs in der Masse bezieht« ( X I I , 45).
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io.2. Der >Dämmerzustand< als Gegenstandsbereich historischer Gesetzlichkeit und eines magischen Weltverständnisses Nach Brochs Verständnis kann die Geltung von Geschichtsgesetzen nur für solche historischen Phasen behauptet werden, in denen sich der Mensch als geschichtstragende Person unter gewissen Umständen seiner Autonomie begibt und sich an einen >Dämmerzustand< verliert, in dem er nicht länger Lenker, sondern vielmehr Opfer der Realität und also von deren Mechanismen determiniert ist. Er bezeichnet ein defizitäres Niveau innerhalb der dem Menschen zur Verfügung stehenden Spannweite von Bewußtheits- und Freiheitsgraden, die von tiefster Unbewußtheit und Determiniertheit bis zur selbstbewußten und verantwortungsvollen Wahrnehmung jener ethischen Pflichten reicht, die die Gottesebenbildlichkeit auferlegt. Der Dämmerzustand ist durch einen »Mangel an Ich-Bewußtheit« (XII, 1 1 5 ) , »Haltungsinvarianz« gegenüber sich ständig verändernden Lebensumständen (ebd., 116), der träge-fatalistischen »Akzeptierung der Umweltbedingungen« (ebd., 1 1 7 ) und eine größtenteils instinktive Bewältigung der Realität gekennzeichnet (ebd., 112): soweit und nur soweit geschichtstheoretischer, hindämmernde Mensch und kann infolgedessen
der Mensch >traumhaft< dahinlebt, soweit ist er Objekt geschichtsgesetzlicher Erkenntnis. . . . Der lediglich daist zu freien Willensentscheidungen weitgehend unfähig historischen Gesetzen eingeordnet werden ( X I I , m ) .
Brochs Verständnis des >Dämmerzustandes< ist offenbar jüdischer Herkunft, wie Martin Bubers Untersuchungen zum Chassidismus belegen: Nach Rabbi Nachman ist der Mensch »sein Leben lang ständig in einem magischen Schlaf versenkt, den er einigermaßen nur beim Erzählen von heiligen Menschen überwindet«.' 0 Damit ist zugleich ein Motiv für die erzählende literarische Vermittlung mystischen Wissens gegeben. Brochs Prämisse, daß das humane Subjekt als autonomes voraus-gesetzt ist und sich infolgedessen gemäß einem >inneren Z w a n g t 1 immer wieder Martin Buber, Die Erzählungen der Chassidim, Zürich 1949, S. 421, hier zit. nach H. Halbfas, Die Vermittlung mystischer Erfahrung, in: H. Cancik (Hg.), RauschEkstase-Mystik: Grenzformen religiöser Erfahrung, Düsseldorf 1978, S. 1 3 2 - 1 4 ; , dort S. 1 4 1 / 1 4 2 . '' »Denn die prometheische Verpflichtung ist . . . so unabänderlich, daß sich hiefür kaum eine andere Erklärung als die von der göttlichen Ebenbildlichkeit beibringen lassen will. Der menschlichen Seele ist es aufgetragen, die Haltungsinvarianz ihrer eigenen tierischen Natur stets aufs neue zu unterbrechen . . ., und wenn auch dieser Befehl zur Bewußtheit selber in tiefer Unbewußtheit. . . gehört und befolgt wird, . . . ist er des Menschen zweite Haltungsinvarianz geworden, . . . seine stärkste Unabänderlichkeitsinstanz, der er sich, all seinem Sträuben zu Trotz, nicht zu entziehen vermag« ( X I I , 126). 288
aus der Bedingtheit des Empirischen zur Selbstbestimmung erhebt, hintergeht den eingeschränkten Geltungsstatus der v o n ihm stipulierten historischen Gesetze aber ebenso wie die Voraussetzung, daß das menschliche Bewußtsein als endliches den >Dämmerzustand< nie ganz verlassen kann, da es sich lebend niemals zum >reinen Bewußtsein< erheben kann' 2 und infolgedessen immer wieder einen A b s t u r z erlebt, »der sich in jeder E p o c h e . . . unausweichlich wiederholt« ( X I I , 1 3 3 ) ; " - w e n n auch der Formulierung des >Gesetzes psychischer Zyklen< die Uberzeugung zugrunde liegt, daß sich, w e r die subjektiven Ursachen dieser Zyklik kennt, differenziert zu ihr verhalten kann. Das >Gesetz psychischer Zyklen< bildet deshalb den ersten Baustein für Brochs massenpsychologische Überlegungen, die an die Fragen geknüpft sind: »Wie ist es möglich, daß immer wieder offenkundige, von jedermann einsehbare Unwahrheiten zu Wahrheitswürde aufsteigen können, um sich in solcher Würde . . . für sehr lange Perioden zu behaupten? Wie ist es möglich, daß offenkundige Wahnsinnshaltungen . . . für lange Perioden als >normal< gelten konnten und wahrscheinlich immer wieder dies tun werden?« ( X I I , 275) Unter welchen Umständen begibt sich der »normalgesunde Mensch«, der »weitgehend unter der Kontrolle seiner Ratio« steht, derselben und sinkt in einen dem Vegetativ-Instinkthaften angenäherten Bewußtseinszustand des Herdenhaften ab? ( X I I , 1 3 - 1 6 ) A u f g r u n d der Endlichkeit menschlichen Bewußtseins droht jeder humanen Kultur auf die Dauer ein unabwendbar erscheinender, weil einer immanenten logischen Dynamik folgender Niedergang. Dieser setzt entweder ein, wenn die Denkvoraussetzungen, auf denen sie beruht, im stetigen Fortschritt an ihre Grenzen stoßen und sich solcherart in Erkenntnisantinomien verstricken, an denen sich die L o g i k einer E p o c h e erschöpft ( X I I , 3 1 ; I, 5 3 3 ) , ' 4 oder sie erliegt einer eigentümlichen Erstarrungstendenz, die in D e >! »aus unerforschlicher Dunkelheit kommend, in unerforschliche Dunkelheit eingehend, traumhaft dunkel die kurze Strecke, die dazwischen liegt, durchwandelt sie traumhaft der Mensch . . ., und er weiß nicht, auf welcher Traumesebene sie liegt, . . . wieweit sie Wirklichkeit ist; er weiß, daß er träumt, allein er vermag seine Traumestiefe nicht zu erwissen, und es quält ihn, in solcher Wissensgelähmtheit verbleiben zu müssen, denn sehnsuchtsschwer schwebt darüber die Ahnung der Wachheit« ( X I I , m ) . Wenn auch »die Dämmerungsskala . . . nach oben hin sicherlich stets um ein gutes Stück länger (ist), als das noch so wach beobachtende Ich annimmt, . . .« (ebd., 114). " Wenn Eykman, 1982, S. 1 7 1 , darauf insistiert, daß »Broch das >Gesetz psychischer ZyklenSchlafwandlern< bekanntlich das christlich-mittelalterliche Wertsystem. 289
kadenz mündet. Diese Etstarrungstendenz beruht auf dem Umstand, daß der unausgesetzen Anstrengung des erkennenden und formenden Anverwandelns von Realität, gerade w o sie zur Ausbildung eines als befriedigend empfundenen kulturellen Niveaus gefuhrt hat, eine Verfestigung der Lebensund Denkgewohnheiten entgegenwirkt, die Broch das »Prinzip des kleinsten Kraftaufwandes« nennt (XII, 49) und die sich dahingehend auswirkt, daß das Ich bei der Bewältigung des Non-Ich, ungeachtet des permanenten Wandels der Realität, an einem einmal bewährten Apperzeptionsschema festhält, um mit Hilfe der darin enthaltenen Denkvoraussetzungen möglichst die ganze Welt zu begreifen (ebd., 50). Aufgrund dieses Umstandes eignet dem Denken aber zugleich eine Tendenz zur Dogmenbildung, die es nur allzu leicht in ein geschlossenes Wertsystem überführt (ebd.) und einen »Menschlichkeitsverlust« (ebd., 152) anzeigt, der fatale Folgen hat; denn aufgrund dessen entschlägt sich das gesellschaftliche wie das individuelle Wertsystem immer mehr der reflexiven Anpassung an die sich verändernde Realität und gerät alsbald in Konflikt mit derselben. Das Bewußtsein, das die Mechanismen der es umgebenden Realität nicht mehr durchschaut, sieht sich deshalb bald zur unterschiedslosen Akzeptanz des Gegebenen gezwungen und kann aufgrund dessen die freie geistige Umgestaltung kultureller Gegebenheiten nicht mehr leisten." A u f solche Weise erstarrt eine Kultur zum unbegriffenen, sinnentleerten Konventionssystem, innerhalb dessen sich der einzelne — aus mangelnder Einsicht in seine Mechanismen — schließlich nur noch mittels seines Instinkts orientieren kann: »seine vegetativ-animalische Natur« gewinnt die Oberhand, »und was immer er denkt, plant oder unternimmt, . . . ist restlos ins Instinkthafte zurückgeglitten« (ebd., 133). A u f einer derartigen Schwundstufe des Bewußtseins ist das Individuum zur Sublimierung animalischer Triebhaftigkeit im Medium der Wertbildung als der spezifischen Aufgabe des Geistig-Humanen nicht mehr fähig. Erst sie verlagert aber das unmittelbare physische Befriedigungserlebnis »ins Erkenntnismäßige, ins Produktive und Soziale«, der Zufälligkeit des Augenblicks Enthobene und hebt nach Brochs Auffassung das Individuum damit aus der tierischen Anonymität der >Ich-Losigkeit< heraus; in ihr wird das Individuum zum autonomen Subjekt. Sublimation begreift Broch als individuelle Erkenntnisleistung des einzelnen Subjekts, die auf der Bewußtseinsstufe des >Man< in der Masse, in die sich das orientierungslose Ich flüchtet, nicht möglich ist (XII, 134/5).
" Ein solch defizitäres Bewußtsein »erhebt . . . das Veränderliche und weiter Abänderbare zum Range einer Unabänderlichkeit, w i e sie bloß der Natur und auch dies nur in ihren letzten Grundlagen zukommt« ( X I I , 152).
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Das in geschlossenen, zur Veränderung seines geistigen Apperzeptionsschemas unfähigen Wertsystemen befindliche Ich verfällt, wenn es an die Grenze seiner vom Wertsystem präfigurierten Denkvoraussetzungen stößt, in einen Zustand der »Ich-Verengung« (XII, 47) und »Panik«, der nach Brochs Verständnis den diametralen Gegensatz zu den Erfahrungen der Ekstase und der Ich-Erweiterung markiert (ebd., 19). Der Umstand, daß das Ich seinen geistigen Horizont und Wirkungsbereich auf dem einzig gangbaren rationalen Wege nicht mehr erweitern kann, zwingt es dazu, sich von der Ratio ab- und pseudorationalen oder primitiv irrationalen Ersatzerlebnissen zuzuwenden. Betroffen von einer durch äußere Bedingungen entstehenden »Aktualangst«, die die »metaphysische() Angst seiner Seele« vor allem das eigene Handeln determinierenden Fremden mobilisiert, ist der Mensch genötigt, sich aus seiner normalen seelischen Mittellage heraus zu bewegen, und da ihm der Weg der Irrationalbereicherung nicht mehr offen steht, wird er notgedrungen auf den . . . der Rationalverarmung verwiesen: er muß den Weg der triebhaften Kollektivität (die ja auch für nahezu alle Formen des Rausches notwendig ist) immer weiter . . . verfolgen, um im radikalsten Falle schließlich vom Massenwahn umfangen zu werden ( X I I , 19).
Der Dämmerzustand als Ausgangspunkt der defizitären Entwicklung potenziert sich so permanent und zeigt eine Tendenz zum infiniten Progreß. Für die eigene Gegenwart konkretisiert sich nach Brochs Auffassung die Entwicklung auf der Basis einer mit dem Säkularisierungsprozeß der A u f klärung verbundenen Entstehung von »Hyperrationalität« als spezifischer Ausbildungsform des Hypertrophiepols innerhalb seiner Theorie psychischer Zyklen: Die historische Konsequenz der Expansion säkularisierter Rationalität, deren Erkenntnisse nicht mehr auf ein sinnstiftendes Zentrum als logischen Ruhepunkt bezogen sind, ist nach Brochs Verständnis eine Wissenschaftsentwicklung, deren Rasanz, Mulddimensionalität und Abstraktheit schon die Erkenntnismöglichkeit des wissenschaftlich Gebildeten, vollends aber diejenige des modernen Durchschnittsmenschen überfordert, so daß er ihre Ergebnisse nicht mehr verstehend mitvollziehen und sein Weltbild entsprechend erweitern kann, woraufhin ihm in seiner Überwältigung und Verwirrung überhaupt keine andere Wahl als die Flucht ins Massen- und Herdenhafte schrankenlosen Dahindämmerns übrigbleibt. Dies ist der Punkt, . . . an dem der Mensch jeden innern Kontakt mit der Erkenntnis verliert, an dem er sie zum bloßen Instrument seiner . . . Triebbefriedigungen degradiert . . . Weit also davon entfernt, dem Menschen eine Auflockerung seines Dahindämmerns zu bringen, ist ihm die hochrationale, von der industrialisierten Großstadt beherrschte heutige Weltzivilisation eine Dämmerungsintensivierung von äußerster Schärfe; . . . Das Leben der Großstadtmassen, dieses Paradigma für das Leben des modernen Menschen, verläuft blindheitsgeschlagen im schwersten, irrationalitätsbeladenen Dämmerungsdunkel, in schwerster, un-
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sublimiertester Triebverwirrung . . . im Rahmen eines unverständlich gewordenen, dämonisch krausen und starren Konventionengestrüppes . . . ( X I I , 156).
Die die moderne Gegenwart beherrschenden »unsichtbar unerfaßlichen ökonomischen Gewalten . . . Konjunktur, Inflation, Arbeitslosigkeit, Unrentabilität« gewinnen auf diese Weise für das Bewußtsein des Durchschnittsmenschen den Charakter »mythischer« Mächte, »übermächtig und so unentrinnbar«, daß sich das Individuum »als willenloser Spielball ihnen überantwortet fühlt« (XII, 20). Im Horizont solcher an Max Webers Zivilisationskritik gemahnender Thesen, die zugleich die alte Dichotomie von Kultur und Zivilisation wiederbeleben, deutet Broch die moderne, dämmerungsverhaftete Bewußtseinsstufe bezeichnenderweise als Ergebnis einer »Wiederverheidung« (XII, 336, 358) und Regression in ein archaisches Realitätsverständnis, das demjenigen der primitiven Magie entspricht: Das magische Denken in der heutigen Zeit billigt abstrakten Einheiten wie etwa dem Staat oder sogar großen Wirtschaftsverbänden magische Kräfte zu ( X I I , 88).
Aufgrund solcher Beobachtungen interpretiert Broch in der >Massenwahntheorie< alles kollektive Geschehen in den Koordinaten von Mystik und deren pervertiertem, primitivem Derivat, der Magie, und wählt damit eine eindeutig religiöse Interpretationsfolie zur Erklärung der Entstehungs- und Funktionsmechanismen totalitärer Regime und ihrer Uberwindungsmöglichkeiten. Die Unterscheidungskriterien zwischen Mystik und Magie gewinnt er durch seine offenkundig intensive Beschäftigung mit Ekstasephänomen aus kulturanthropologischer Perspektive, die der Bestand seiner Wiener Bibliothek eindrucksvoll belegt.' 6 Die Quellen, die er benutzt hat, werden z. T . ' ' Das von Amann und Grote rekonstruierte und kommentierte Verzeichnis des Bestands von Brochs Wiener Bibliothek enthält folgende Titel zum fraglichen Problemkomplex: - Achelis, Thomas (Prof. Dr.), Die Ekstase in ihrer kulturellen Bedeutung, Bd. I der Reihe Kulturprobleme der Gegenwart, hrsg. v. L e o Berg, Berlin 1902 - Kurt Aram (Pseud. f. Hans Fischer), Magie und Mystik in Vergangenheit und Gegenwart, Berlin 1929 - Beck, Paul, Die Ekstase. Ein Beitrag zur Psychologie und Völkerkunde, Bad Sachsa 1906 - Eckartshausen, Karl v., Aufschlüsse über Magie aus geprüften Erfahrungen über verborgene philosophische Wissenschaft und versteckte Geheimnisse der Natur, Bd. 4, München 1791 - ders., Mystische Nächte oder der Schlüssel zu den Geheimnissen des Wunderbaren. E i n Nachtrag zu den Aufschlüssen über Magie, München 1791 - N. Ferger, Magie und Mystik. Gegensatz und Zusammenhang, Zürich und Leipzig 1935 - Paul Mantegazza (Prof. d. Anthropologie), Die Ekstasen des Menschen, aus
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noch von der gegenwärtigen kulturanthropologischen Mystikforschung herangezogen. 37 Seine Differenzierung zwischen Mystik und Magie und seine Unterscheidung zwischen ihren jeweiligen Formen der Selbststeigerung in Ekstase und Rausch läßt sich aber, wie die Sichtung des nachgewiesenen Materials ergab, nicht auf bestimmte Quellen einengen, sondern selektiert die Thesen der genannten Arbeiten kritisch auf einem abstrakten Reflexionsniveau,' 8 so daß seine Auffassung von Magie und ihrer Abgrenzung gegenüber der Mystik den Standard moderner Forschungsbeiträge zu diesem Thema erreicht. Wenn Wolfgang Kretschmer in seinem 1978 erschienen Aufsatz >Rausch und Ekstase (Hoffnung und Enttäuschung)Ekstase und Enthusiasmos. Zur Anthropologie und Soziologie ekstatischer Phänomene^ in: Cancik (Hg.), 1978, S. 23-40, der überraschende Ubereinstimmungen mit der von Broch verwendeten Literatur aufweist. )8 Das belegt etwa die Sichtung der Arbeit Becks, der die Phänomene Panik und Ekstase als anthropologische Formen des Außer-sich-seins parallelisiert, während Broch, der offenkundig durch diese Arbeit erst auf das Moment der Panik aufmerksam wurde, dasselbe zur Voraussetzung pseudoekstatischer Erlebnisbereitschaft erhebt und die genannten Phänomene mit Rücksicht auf ihre emotionale Gegensätzlichkeit und ihren unterschiedlichen Rationalitätsgrad als Antipoden versteht. " I n Cancik (Hg.), 1978, S. 120—131, dort S. 120. 293
diges W i e d e r a u f l e b e n . . . des >AberglaubensMächteobjektiven< Vollzug ohne persönliche Hergabe, im opus operatum, gesichert zu fühlen und sich dem . . . Angefordertwerden der eigenen Ganzheit zu entziehen«. (Buber, Die chassidische Botschaft, Heidelberg 1952, S. 143, hier zit. nach Somm, S. 29).
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Von magischen Opferritualen, in denen man das Fleisch und Blut eines als >Mannaträgers< erachteten Tieres oder Menschen darreicht bzw. ißt oder trinkt, verspricht sich nach Werner (24) das primitiv-religiöse Denken eine Einflußnahme auf die geheimnisvollen Mächte, von denen es bestimmt ist, bzw. eine Einverleibung ihrer okkulten Kräfte.
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wortet Bertrand: »Niemals noch ist die Zeit nach dem Tode gerechnet worden: immer stand die Geburt an ihrem Beginn« (I, 358). Und dem Marius, der das Blutopfer fordert, um die Erde wieder »reinzuwaschen«, antwortet die zur Allegorie der Erde werdende Mutter Gisson in der >VerzauberungMassenwahntheorie< vorweg: Dem Landarzt dämmert angesichts des bevorstehenden Opferrituals, »daß nun der Widder im Gebüsch auftauchen müsse, das Opfer zu ersetzen. War nicht auch dem Abraham der Widder erschienen . . .? Er, . . . der Erz-Vater, erkannte er nicht erst den Vater, entratend blutiger und blutender Mittlerschaft, des Heidnischen enthoben, da das Menschliche um ihn lebendig geworden war?« (III, 274)
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Was sich außerhalb der Logik eines geschlossenen Systems befindet, kann nur als das >Böse< begriffen werden. Als die Kirche nach der Erlösungstat Christi das nach
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Die kultisch-rituelle A r t der Steigerung und Angstbefreiung des Ich in der >Masse< unterscheidet Broch als magische »Pseudoekstase« (ebd., 24), »Scheinerweiterung()« des Ichs im »Rausche« (ebd., 17) und »sadistische Triebauslebung« (ebd, 24), in der das Ich außer sich gerät und seinen Subjektstatus schließlich preisgibt, von
der >echtenIch bin die Welt, weil sie in mich eingegangen ist< (ebd., 25), in der das Subjekt ganz bei sich selbst ist. Das Rauscherlebnis ist »objektlos«, insofern es auf keinerlei wirkliche Anverwandlung oder Formung der Welt abzielt und in der Regel um seiner selbst willen erzeugt wird (XII, 48). Z u seiner Erlangung bedient sich das Individuum vieler verschiedener Hilfsmittel. 47 Solange die Steigerung des Ich aber in irgendeiner Weise - ob durch Einwirkung von Drogen oder der Masse — von >Außen< abhängig ist, kann es nicht ( - wie die erkenntnisbedingte Ekstase, A . G. - ) rein >auf sich selbst< gestellt genannt werden; dubios sind auch seine Ekstasen, katzenjämmerlich und Todesgrauen in sich tragend (X/2, 88). Diese Bestimmung aus dem Essay >Zur Philosophie der Werte und der Geistigkeit* von 1 9 1 7 findet sich noch in 1941 verfaßten Passagen der >Massenwahntheorie< wieder und dient auch dort der Beschreibung von Ekstaseformen, die zum Selbstzweck gemacht (werden), d. h. vermittels künstlicher Herbeiführung von Rauschzuständen, die zweifelsohne allesamt unter der Illusion einer starken Ich-Erweiterung stehen (XII, 48, Herv. A . G.). Während die >Notizen< von 1 9 1 2 noch keinerlei Differenzierung des E k staseerlebnisses enthalten, sondern es als gemeinsames Merkmal künstlerischer, erotischer und sakraler Erlebnisse deuten ( I X / 2 , 1 1 ) , das als »Rausch wie vor bestehende Übel in der Welt zu konstatieren hatte, hypertrophierte sie es zu einer eigenständigen Macht, womit ihr Weltbild zugleich wahnhafte Züge gewann (vgl. X I I , 265): ». . . das Außerlogische, . . ., das Irrationale wird zum Bestialen schlechthin, und alles, was sich von ihm aussagen läßt, . . . (ist), daß es da ist und unter die Kategorie des Bösen subsumiert zu werden hat« (I, 699). »Zum Beispiel war es für die Theologie des 16. und 17. Jahrhunderts« aufgrund der Hypertrophierung der Logik ihres geschlossenen Wertsystems »eine . . . unumstößliche Wahrheit, daß es Hexen geben müsse, und diese Forderung wurde der Realität«, auf die das hypertrophierte Denken keine Rücksicht nimmt, »aufgezwungen, so daß . . . ein echter Massenwahn entstehen mußte« (XII, 54/5). 47
Auch nach Werner, 1989, besteht ein besonderer Weg des magisch denkenden Menschen zur Einigung mit der okkulten Gottheit darin, sich künstlich in einen Zustand zu versetzen, »in dem ihm Hören und Sehen vergeht, in dem ihm seine Umgebung dermaßen gleichgültig wird, daß er sie nicht mehr wahrnimmt, ja nicht einmal von sich selber mehr etwas weiß. Es handelt sich also um einen anormalen Zustand der Bewußtlosigkeit, ein Außer-sich-selber-Sein« (25). Zur Erzeugung dieses Zustandes dienen u. a. Rauschmittel und Drogen aller Art (26). 2
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und Beschleunigung des Ichs« in allen drei Fällen »Geist, Körper und ihre Ausdrucksformen« dem »Satz vom Gleichgewicht« unterwirft (ebd., 15), unterscheidet Broch nun zwischen erkenntnisgeleiteten, >sublimierten< E k staseerlebnissen mit dem Ziel er >Ich-Erweiterung< und unsublimierten, triebbestimmten Pseudoekstasen mit dem Effekt der >Ich-AuflösungSchlafwandlern< - auch literarisch niederschlägt: Immer wieder soll die Emphase des Körpers einen Sinnstiftungsanspruch erfüllen, der sich auf die Vereinigung des Getrennten bezieht, sich jedoch stets als illusionär erweist. Sexualität als Garant unmittelbarer Einheitserfahrung trägt in Brochs Romanen deshalb immer den Stachel der Täuschung in sich. Daß die literarische Darstellung diese Haltung aber nicht immer konsequent aufrecht erhält, hängt mit der für das mystische Denken typischen Bildlichkeit zusammen, die unio gern im Mittel der Liebesvereinigung darstellt.48 Wo sich beide Bedeutungsdimensionen von Erotik in Brochs Werk verwischen, geschieht dies offenbar nicht zuletzt im Sinne der Abgrenzung von einer falsch verstandenen Form von Askese, die lebensfremd und sozial feindlich bleibt. Der Metaphernbereich des Fortpflanzens und Gebärens liefert zudem in Brochs Romanen insofern zentrale Motive, als er das Hervorbringen des Neuen impliziert und eine produktive, lebenszugewandte Haltung konnotiert:
Deshalb besteht z. B. im erotischen Liebeserlebnis von Joachim v. Pasenow und Ruzena, von Esch und Mutter Hentjen in K W I oder in der >Barbara-Episode< der >Verzauberung< zwischen beiden Phänomenen oft ein gleitender Übergang, der die Einordnung dieser Erfahrungen schwierig macht. Hederer, 1 9 4 1 , stellt dazu fest, daß die Mystiker »zur Darstellung der unio mystica kein Gleichnis lieber anwenden als das der liebeglühenden Umarmung, daß sie jenes abstrakteste, spirituellste aller Erlebnisse gerade durch das sinnlichste, konkreteste, leibhaftigste ausdrücken wollen und immer wieder in Situationen irdischer Minne schwelgen, w o sie doch ein Metaphysisches, nur durch radikale Entsinnlichung Erreichbares meinen . . .« (234). Einheitlicher Beweggrund dieser Darstellungsweise sei die Liebe als Weise der »Selbsterfiillung in Selbsthingabe« und »Urmaß mystischer Erfahrung«. »Liebe schützt davor, daß aus der >docta ignorantia< und dem Streben zur >coincidentia oppositorum< leere Dialektik, aus dem Glauben an das >Icht< im >Nicht< glaubensloser Nihilismus wird, aus gläubiger Entrücktheit lüsterne Selbstberauschung, . . . aus lauterem Bekennen und religiösem Ernst darstellungssüchtige Selbstentäußerung und ästhetische Unverbindlichkeit«, kurzum, daß (— ganz im Sinne Brochs — A . G.) aus »Esktase« »Rausch« wird (236). Ausführlich vgl. dazu George Bataille, Der heilige Eros (L'Erotisme), Darmstadt/ Neuwied 1984, auf dessen Relevanz für Brochs Romanwerk W. Rothe aufmerksam gemacht hat; vgl. ders., Gescheiterte Liebhaber. Erotismus und Sexualneurose im Werk Hermannn Brochs, in: Strelka (Hg.), 1978, S. 1 0 1 - 1 3 1 . 298
Das Geborenwerden, als Gottesgeburt und Wiedergeburt des Menschen, zieht sich . . . als zentrales Motiv durch die Mystikgeschichte. 49 D a s magische Rechtsverständnis betont — im Gegensatz zu der an der W ü r de des Menschen orientierten »rationale(n) Rechtsprechung« ( X I I , 88) - die Interessen des Kollektivs, dem allein im magischen Denken der Status der »Person« zukommt (ebd., 89), während das einzelne Individuum eine äußerste »Ver-Sachung« erfährt, indem es »mit jeder Faser seines Seins und Denkens zum >Besitz< des Staates gemacht« w i r d (ebd., 484). In diesem magisch-verdinglichten Verständnis v o n Individualität erkennt Broch die »Gleichschaltungs«- und »Versklavungs«qualität des Totalitärstaates: Denn ob nazisch, ob sowjetisch, ob fascistisch, auf der Magie der Versklavung beruht der Terror des Totalitär-Staates . . .: wer die vorgeschriebenen Riten . . . nicht aufs minutiöseste beachtet, verfällt einer gnadenlosen Rache . . . (ebd.). D e n Dämmerzustand, auf dem der Rückfall in die magische Welthaltung nach Brochs A u f f a s s u n g beruht, begreift er als einen Zustand des Leidens, da das ihm verfallene Individuum aufgrund seiner unverlierbaren A h n u n g um das Absolute und um die eigene Borniertheit weiß, deren »Wissensgelähmtheit« ihn »quält« ( X I I , m ) . In der auch in dieser Situation »unverlierbaren) . . . Sehnsucht nach dem Göttlichen« ( I X / 2 , 1 7 8 ) , zu dessen Teilhabe dem dem Wertzerfall anheimgegebenen Ich in seiner desolaten Verfassung jeder Z u g a n g verstellt ist, verlangt es danach, sich einem Führer zu unterstellen, und sitzt dabei, da sein Streben nicht mehr mit den Mitteln des Geistes erfüllbar scheint, den materiellen Possessivwerten der Macht als einem perversen Surrogat metaphysischer Sehnsüchte auf. A l s ihr A g e n t erscheint - bei Broch w i e bei Hederer oder Werner' 0 - der »dämonische Magier«, 49
,0
Wagner-Egelhaaf, 1989, S. 14; auf den Zusammenhang des Gebärensmotivs mit dem Aspekt der Gottesgeburt war schon in Abschnitt 6.3 hingewiesen worden. Nach Werner, 1989, S. 27/28, besteht das Ziel aller rituellen Maßnahmen der primitiven Religiosität in der Befähigung zu »machtvolle(m) Wirken«, und zwar vornehmlich aus egoistischen Motiven: »Man kann dieser Art von primitiver Mystik einen eigentümlichen Drang zur Tat nicht absprechen. Freilich, sobald man fragt, welcher bleibende höhere Wert solchen Leistungen primitiver Mystiker für die menschliche Gemeinschaft zugemessen werden kann, so läßt sich hierüber wenig Positives aussagen. . . . man hat (je)doch den deutlichen Eindruck, es gehe hier dem Menschen um ein Geschäft, mit dem er zu allererst . . . die Wichtigkeit und Ungewöhnlichkeit seiner eigenen Person zu demonstrieren unternimmt. (Jedenfalls ist dieses Handeln immer ein magisches)«. Vgl. auch Bernhard Gladigow, Ekstase und Enthusiasmos. Zur Anthropologie und Soziologie ekstatischer Phänomene, in: Cancik (Hg.), 1978, S. 23-40, dort S. 39: »Innerhalb etablierter Systeme ist der Rückgriff auf zentrale Gottheiten in der Ekstase ein Modus, Macht und Machtausübung zu legitimieren. . . . die Einwohnung zentraler Gottheiten (ist) üblicherweise Privileg der Mächtigen, die ihre Macht auf diese Weise legitimieren können;«
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der »dämonische() DemagogeQ, der (die) Masse (nicht die Menschheit) auf dem Wege des Rationalverlustes und der Triebauslebung zu archaisch infantilen Ekstase-Formen, also v o r allem zu denen von realen >Siegen< fuhrt, massenwahnmäßig lediglich auf diesen Augenblick des Sieges und der sieghaften Pseudo-Ekstase fixiert«, und dessen S i g n u m die Gewalt ist ( X I I , 27). Seine Differenz zum Mystiker, dem bei B r o c h im Rahmen seiner Überlegungen zum A u f b a u einer neuen religiösen Gemeinschaft die Rolle eines >religiösen Heilsbringers< zukommt, die uns noch beschäftigen wird, beschreibt Hederer wie folgt: Der Mystiker verläßt die Vertrautheit der Welt, erhebt sich aus sinnlicher in unanschauliche Schönheit und kehrt vielleicht in eine verklärte Welt zurück. Der Magier und Enthusiast verläßt die Spannung zwischen Ich und Welt nicht und dringt nicht durch die Form der Dinge hindurch." D e s magischen Demagogen »Spreche«, w i e es in den >Schuldlosen< heißt ( V , 239) ( - der Terminus >Sprache< wird dieser defizitären A u ß e r u n g s f o r m offenkundig verweigert - ) , ist nach Brochs Verständnis die zum Pathos des Rhetorischen gesteigerte Stummheit, die noch den Klang der Sprache besitzt, doch nicht Sprache mehr ist, sondern als gegliederter Schrei . . . (nur) noch Bestandteil des Sprachlichen bildet . . . und in dieser Stummheit nur Ausbruch ist . . .: das Rhetorische . . . stammt nicht aus den Sphären des Intellektes, es stammt aus der Dunkelheit, es überzeugt nicht, es reißt hin, fasziniert durch die Macht der Dunkelheit. . . (IX/2, 178). S o treffend diese Charakterisierung rhetorischer D e m a g o g i e sein mag, so schwer dürfte es fallen, ihre Attribute v o n derjenigen einer gleichfalls ja ihren Inhalt aus der puren F o r m gewinnenden mystischen Sprache zu unterscheiden, deren beschwörende K r a f t aus jener »Dunkelheit« stammt, die Broch als »Ehrentitel« gewertet wissen will, w o es sich »um die echte, aus den Tiefen des Irrationalen aufsteigende Dunkelheit handelt«, w i e es in einem K o m m e n t a r zum >Vergil< heißt ( I V , 478). 5 2
" Hederer, 1 9 4 1 , S. 251. A u f die verfängliche Nähe zwischen demagogischer Rhetorik und der K r a f t mystischer Rede und die Gefahr des »Abgleitens« der einen Form in die andere weist auch Hederer S. 232 hin: »Die Sprache ist nirgends nötiger, als um das Ungeheuerliche zu bannen, um die Gestalt der Menschen vor . . . Auflösung zu bewahren und ihn zu heilen von überwältigendem Ausgesetztsein. Sie ist nirgends gefährlicher als verführerische Zauberkraft, die das Heilige und Unsägliche ins Dämonische verwandelt und das Geheimnis an den Mißbrauch verrät, anstatt es zu bewahren«.
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io. 3. Die Figur des mystischen Heilsbringers als Konterkarierung des dämonischen Magiers Die Alternative des im Zustand der >Wert2errissenheit< und >Vor-Panik< befindlichen Individuums und des von ihm getragenen Kollektivs zum Rückfall in primitiv-magisches Denken sieht Broch in der Rückwendung auf das Bewußtsein der eigenen gottesebenbildlichen Humanität, deren Erkenntnis auf mystischem Wege gelingt: Statt seine Angst nach außen zu projizieren und aggressiv auszuagieren, wird sich der Mensch der Ur-Angst seiner Seele wahrhaft bewußt, und diese richtige Lokalisierung der Angst läßt ihn auch den richtigen Weg zur Angstbesänftigung gehen, also den kulturaufbauenden . . . Weg der Irrationalbereicherung, dessen Ziel mit der erkenntnismäßig-religiösen Ekstase vom Typus >Ich bin die Welt, weil sie in mich eingegangen ist< gesetzt erscheint ( X I I , 2;).
Da das metaphysische Ziel auch in gesellschaftlichen Kontexten die Uberwindung des Todes bleibt, wird auch im politischen Denken die mystischreligiöse Ausrichtung von Brochs Werttheorie durchgehalten. Wie sich schon in der Definition der >Gemeinschaft< und ihrer Abgrenzung gegen die >Masse< zeigte, begreift Broch deshalb als die »höchsten« gesellschaftlichen Werte immer die »religiösen« (ebd., 26). Gemäß der vorausgesetzten Autonomie des Geistig-Humanen werden die »richtunggebenden Rationalkräfte« zur Rückbesinnung des Subjekts auf seine ethische Pflicht zu erkenntnisgeleiteter Weltformung »zumeist vom Ich selber aufgebracht«, während sie dem seiner Autonomie verlustig gegangenen, panikgeschüttelten Individuum im Falle seiner Degeneration in magisch-primitives Denken »zumeist von außen zugeliefert« werden (ebd., 25). Wo aber Erkenntnisvorstöße, die immer im Bewußtsein einzelner ihren Ort haben, zur kollektiven Umorientierung und nicht nur zur einsamen Einsicht singulärer Subjekte führen sollen, erweist sich das Vorhandensein von >Vordenkern< als hilfreich. Die Ausbildung ethisch-rationaler Geisteshaltungen einer Gesellschaft wird nach Brochs Verständnis deshalb in der Regel durch konkrete Personen und nicht durch genuin kollektive Prozesse motiviert. Als Widerpart zum Führertypus des dämonischen Magiers führt Broch den »echten religiösen Heilsbringer« in seine >Massenwahntheorie< ein, in dem unverkennbar der Typus des gnostischen Boten eine Renaissance erlebt, wenn er auch nicht als gottgesandt, sondern als durchaus irdisches Wesen verstanden wird, das sein Wissen einem eigenständig vollzogenen Bewußtseinsbildungsprozeß verdankt, mit dem es seiner Epoche einen Schritt voraus ist. Zudem versucht Broch seine Rolle auf diejenige einer richtunggebenden bloßen >Zusat%kra{t< (ebd., 25, Herv. A . G.) zu reduzieren, die im Gegensatz zum dämonischen Magier das Denken des Individuums nicht okkupiert,
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sondern dessen Emanzipationsprozeß zum autonomen Subjekt lediglich unterstützend begleitet. Broch illustriert seine Funktion in der X . Novelle der >Schuldlosen< an der Figur des Imkers, der A.'s Weg zu sich selbst in der Weise der sokratischen Mäeutik inspiriert und dessen allegorischer Auftritt in der Rolle des Todes seinen Personenstatus zudem in Richtung auf ein in A . ' s Bewußtsein verankertes und sich nun freisetzendes Uber-Ich, auf eine psychische Instanz also, verschiebt. Auch der Broch wohlgesonnene Interpret ist aber angesichts der einigermaßen verblasen und anachronistisch wirkenden Erwartung eines religiösen Heilsbringers nach dem Vorbild Moses, Christus oder Buddhas und der Beschreibung seiner sozialen Funktion in einige Verlegenheit gesetzt, zumal Broch demselben ein Höchstmaß an Rationalität zuspricht. Denn der religiöse Heilsbringer, der Brochs Antwort auf das Phänomen politischen Totalitarismus ist, ist der große() Religionsstifter, der die Menschheit kraft seiner ethisch-rationalen Erkenntnis auf dem Weg der ständigen Irrationalbereicherung hält und zur ständigen Annäherung an die Erkenntnis-Ekstase im Geistigen bringt ( X I I , 27).
Anders als der dämonische Magier, der sich zur Selbstdeifizierung und Machtgewinnung wohl rational gibt, jedoch eine scheinhafte, auf kurzen Kausalketten beruhende Logik zur Rechtfertigung reaktionärer und triebgeleiteter, pseudorationaler Ziele bemüht (ebd., 25/27), ordnet sich der Religionsstifter »mit seinem irdischen Sein völlig der göttlichen Ratio unter, die er als höchstes Gut des Menschen erkannt hat« (ebd.) und die sich durch Dogmenlosigkeit legitimiert. Dabei setzt Broch voraus, daß eine an negativer Transzendenz orientierte Religiosität die contradictio in adjecto überbrückt, die in der Annahme der Möglichkeit eines dogmenlosen Glaubens besteht." Das Wirken des Heilsbringers im Sinne der Ratio manifestiert sich aber problematischerweise »nahezu ausschließlich im irrationalen Symbol« (ebd., 25), weil sein Denken das Kollektiv auf ein utopisches, nur der Form nach beschreibbares Telos eines offenen Wertsystems ausrichten soll. Das ist nicht ganz einsichtig und generiert eine fragwürdige Enigmatik, die dem Mißbrauch Tür und Tor öffnet; denn auch eine formale Ethik, die ihre Ziele ex negativo formuliert, muß, will sie denn tatsächlich rationalen Ansprüchen gerecht werden, begrifflich und mit Gründen argumentieren, die über ein bloß symbolisches Verweisen hinausreichen, will sie sich nicht dem Ver" Nach Brochs Verständnis ist das Absolute, das »in ihm (im Menschen, A . G.) wirkt, die Logik seines Denkens, die ihm auferlegt ist« und deren Quelle er in etwas verlegt, »das er mit dem Namen Gottes (bezeichnet), freilich ohne ihn aussprechen zu dürfen« (XII, 458). A u f diese Weise richtet das Absolute als der kritische Verstand sich nicht zuletzt gegen sich selbst und erweist paradoxerweise gerade darin seine Omnipotenz; — ein klassischer Zirkelschluß, der auf der unbegründeten Prämisse einer transzendenten Quelle der Vernunft beruht.
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dacht aussetzen, sich intersubjektiver Überprüfbarkeit zugunsten eines bloß angemaßten, geheimnisvollen besseren Wissens zu entziehen. Wo sie sich nicht auf diese Weise legitimiert, entmündigt sie die, die sie zu emanzipieren verspricht, nicht weniger als das magische Denken. Die Anbindung an die metaphysische Voraussetzung der Gottesebenbildlichkeit, die sich gelegentlich zu einer krausen Logik auswächst, die sich selbst ad absurdum fuhrt (»Der Mensch mag die Gottes-Existenz leugnen, aber niemals daß seine eigene deren Ebenbild ist«; X I I , 458), soll denn auch tatsächlich die von der »augustinische(n) Geschichtsphilosophie erstmalig (gestellte) Frage nach dem >Sinn< menschlichen Seins und Zusammenlebens« (XII, 428), (deren Berechtigung freilich erst noch zu erweisen wäre, beruht sie doch selbst schon auf der ihrerseits nur metaphysisch begründbaren Vorannahme, daß es einen solchen Sinn überhaupt gibt, A. G.) mit dem Verweis auf die metaphysische Verpflichtung des Menschen zur Vervollkommnung der Realität und zur Verwirklichung des Göttlichen auf dem Wege des ethisch gebundenen, permanenten Erkenntnisfortschritts und seiner tätigen Umsetzung beantworten, dessen konkreter Gehalt als ein >Geheimnis< wirkt, das »durch die fortschreitende . . . Entwicklung erst >enthüllt< zu werden hat« (XII, 428). Die mit einem dezidiert antimodernen Impetus vollzogene, gegen einen diskreditierten Begriff von Öffentlichkeit gerichtete Wiederentdeckung des >Mutes zum Geheimnis< ist gerade auch als (höchst fragwürdige) politische Kategorie in jenen Denktraditionen, in denen Broch sich bewegt, sehr beliebt. 54 Wo er fehle, gäbe es überhaupt keine Politik mehr, denn zu jeder großen Politik gehört das >ArcanumgeheimnisvollesVerzauberung< diese Dimension, die die Herrschaftsansprüche der ein mystisches Wissen besitzenden Mutter Gisson gegen diejenigen Marius Rattis ausspielt, der eben nicht im Besitz des fraglichen esoterischen Wissens, sondern nur seiner magischen Derivatform ist. Aufgrund der Ausrichtung seines Denkens auf negative Theologie, die sich im enigmatischen Charakter des utopischen Zielpunkts gesellschaftlicher Entwicklungsmöglichkeiten spiegelt, nimmt Broch immerhin bald von seiner anfänglichen Ausrichtung auf den Idealtypus einer sozialen Gemeinschaft nach dem Modell der Augustinischen »Civitas Dei« Abschied, als dessen wesentliches Moment er zunächst das Vorhandensein eines intakten Zentralwertsystems verstanden hatte, an dessen religiöser Fundierung sich alle Teilwertsysteme als gemeinsamem Bezugspunkt ausrichten (XII, 5 3). Die Idee eines »christliche(n) >Gottesstaat(es) auf Erdennegativen< Pol aus bestimmt« werden und sich als Fundament eines offenen Wertsystems in den Grenzen einer rein formalen Ethik bewegen: »Du sollst nicht« (ebd.). Durch die Orientierung an der negativen Theologie wahrt er die Ausrichtung seiner gesellschaftlichen Überlegungen auf ein Totalität stiftendes Zentralwertsystem, ohne dessen absoluten Bezugspunkt inhaltlich-dogmatisch zu bestimmen und es so als geschlossenes zu definieren. 304
Brochs Kritik an der Augustinischen Civitas Dei hat offenkundig einmal mehr jüdische Wurzeln. 57 Ausdrücklich bezieht er sich in der >Massenwahntheorie< in kritischer Abgrenzung gegen Augustinus und zur Beschreibung eines offenen Wertsystems auf den jüdischen Glauben: Gott ist ein unendlich fernes, unausdenkbares Sein, von dem man sich kein Bild machen kann, ja, dessen Name nicht einmal ausgesprochen werden darf, und des Menschen, mehr noch, der Menschheit A u f g a b e ist es, sich zu diesem unendlich fernen, abstrakten Zielpunkt hinzuentwickeln; die vorhandene Welt . . . bildet bloß den ersten Ansatzpunkt zu dieser rastlosen, niemals endenden, strengen Pflichterfüllung . . . Nirgends ist ein Ruhepunkt, nirgends ein endgültiger Glückszustand vorgesehen, am allerwenigsten in der Zwiespältigkeit eines >Gottesstaates auf ErdenSchlafwandlern< beklagt wurde, der in die »abstrakte Unendlichkeit« gerückte Gottesbegriff, der die »ewigeQ Fortsetzbarkeit der Frage« impliziert und keinerlei »Ruhepunkt« gewährt (I, 474), wird in der >Massenwahntheorie< zum Grundgedanken eines offenen politischen Systems, in dem sich humane Freiheit Autonomie gegen jede Dogmatisierung beweist. Somm verfehlt Brochs Kritik am Augustinischen Modell, wenn er ihm eine fälschliche Gleichsetzung der >Civitas Dei< mit der sichtbaren Kirche unterstellt.' 8 Was Broch vielmehr klar machen will, ist, daß jede konkrete, positiv definierte Utopie ein Abbrechen der unendlichen Erkenntnispflicht bedeutet, die als unendliche Annäherung an ein Absolutes gedacht ist, welches gerade durch die Negativität seiner Bestimmungen definiert ist. Das bedeutet keineswegs, wie Somm glaubt, eine quietistisch-manichäische A b wendung vom materiellen Außen und die Forderung nach einer »Loslösung von der materiellen Welt und . . . Sammlung in die reine, materiebefreite Innerlichkeit« 59 (— »der Mensch (vermag) sich bloß im konkreten Irdischen zu vervollkommnen«! s. o. -), sondern nur die Einsicht, daß weder im utopischen Entwurf noch erst recht in der Realität ein Gesellschaftszustand möglich ist, der den Stillstand des Denkens legitimiert. Dieses muß seinen " D a r a u f h a t bereits Somm, 1965, S. 29 aufmerksam gemacht; Somm weist auf parallele Gedanken bei M. Buber hin, der den kritischen Punkt der christlichen Religion im Offenbarungsgedanken und der damit verbundenen sakramentalen Ritualität sehe: vgl. Buber, Die chassidische Botschaft, Heidelberg 1952, S. 143. ' 8 Somm, 1965, S. 32. " Ebd., S. 35.
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Realisaten immer eine Stufe voraus sein — schon deshalb, weil Wirklichkeit kein Fixum ist, sondern sich permanent wandelt und so ihre geistige Beund Verarbeitung immer neu herausfordert. Nun wäre gegen eine solche Einsicht kaum etwas einzuwenden, wenn sich nicht die Frage nach dem Sinn ihrer metaphysischen Fundierung auftäte, die eine Form von Mystik beansprucht, deren Spezifikum gegenüber einer profanen Auffassung von Rationalität nicht mehr recht erkennbar ist: Da ist von der »mystische(n) Kraft der Wahrheit« die Rede, die den Menschen stets aufs neue zu Wahrheitssuche und zu humanem Fortschritt drängt; sie ist die Mystik des offenen Systems, die einzige, die der so unmystischen Ratio innewohnt,
und von der »Mystik des Wahrheitserlebnisses« (XII, 404/5). Welchen Sinn hat diese mystisch-metaphysische Grundlegung der Forderung nach unentwegter Wahrheitssuche? Sie besteht angesichts ihrer letztlich im Ebenbildlichkeitstheorem fundierten, nicht weiter zu hinterfragenden Begründung in einer formalen Ethik, die als absolute Richtungskonstante offenbar einen selektiven Umgang mit Denkresultaten sichern soll: Die »Mystik des Wahrheitserlebnisses« begründet »eine religiöse Haltung der Humanität . . . ohne . . . konfessionelle Bindung« (XII, 405). Bedeutet das eine Beschränkung des Denkens? J a , und sie wirkt sich für Brochs Konzeption des Heilsbringers und seiner richtunggebenden Funktion für die gesellschaftliche Orientierung katastrophal aus: Denn zum Schutz gegen die überbordende, an keine »zentrale Wahrheit« rückgebundene Rationalität der Moderne, die »technische Zivilisationshöhe mit . . . Sublimationsniveau verwechselt« (XII, 135), entwirft Broch für die Funktion des Heilsbringers einen neuen Weisheitstypus höchst fragwürdigen Charakters, der die »prometheische Ungeduld der Erkenntnis« in Grenzen halten soll. Weisheit nämlich identifiziert Broch mit »nüchterner Diesseitsfrömmigkeit«, die angeblich unter den Lebensbedingungen des Bauernstandes entsteht und dem »ungeduldige(n) Prometheismus«, als den Broch noch kurz vorher die unabdingbare Erkenntnisgerichtetheit des Humanen verstanden hatte, eine Haltung »geduldige(n) Wachstum(s)« gegenüberstellt, ein »ausgleichende(s) Bescheiden(), das auf die begrenzte Tragfähigkeit der Menschennatur und ihrer Kräfte gebührend Bedacht nimmt« (XII, 137). Aufgrund ihrer natürlichen Gewachsenheit ist sie »unerwerbbar« (ebd.) — und damit, wie es scheint, dem zwischen Triebauslebung und Triebsublimierung hin- und hergerissenen modernen Großstadtmenschen ohnehin verschlossen. Interessant an der Kennzeichnung dieser >Weisheit< ist vor allem, daß Broch diese Lebensform ebenfalls als eine des Dahindämmerns versteht, die er jedoch vom Rückfall in die animalische Herdenhaftigkeit absetzen zu können glaubt: Sie wird beschrieben als 306
unbewußte(s) Bewußtsein, . . . wissende Unbewußtheit, . . . sophrosynische Mitte zwischen Gott und Tier . . (die) viel eher eine Funktion des Dahindämmerns denn eine der Erkenntnis (ist) ( X I I , 141).
E s sei die bäuerliche Lebensform, aus deren »wissende(r) Zugehörigkeit zur Natur« (ebd., 140) ein Daseinsverständnis entstehe, das geduldverhaftet an keiner Ungeduld (der Erkenntnis, A. G.) teilnehmen (will): obwohl Teil der Menschheit, . . . akzeptiert der Bauer nur zögernd ihre Erkenntnisvorstöße, . . . um sodann — überall, w o das Widerstreben, nach bedächtigmißtrauischer Auslesung des Akzeptationsmaterials, schließlich überwunden wird — die Akzeptation . . . zu voller Partizipation . . . zu steigern ( X I I , 137).
Des Menschen auf diesem Wege sich vollziehendes »Wiedereintauchen in den Dämmerstrom« wird durchleuchtet von der Partizipation an dem vorangegangenen Erkenntnisvorstoß, es wird wissend, und in diesem Wissen wird nun auch das Gleichgewicht zwischen Triebauslebung und Triebsublimation erreicht: durch Partizipation am Erkenntnisvorstoß so weit als nur . . . möglich vor . . . Absturz in tierische Ichlosigkeit bewahrt, dennoch wissend, daß bloß der Gott . . . absturzlos in einem ständigen Vollbewußtsein zu verharren befähigt ist, hingegen des Menschen Bewußtseinsschwäche . . . stets . . . ins . . . Dämmern fallen muß, wird dieses . . . in . . . >natürlichen< Grenzen gehalten; . . . M. a. W., das Unabänderliche wird auf den ihm gebührenden Platz gestellt, und der Erkenntnisvorstoß wird trotzdem nicht vergessen (ebd., 140).
Solche Differenzierungsversuche zwischen verschiedenen Arten des Dahindämmerns, angesichts derer sich jedem Interpreten die Feder sträuben muß, überzeugen freilich umso weniger, als nicht einsichtig ist, warum der Mangel an aktivem Erkenntnisstreben den Spießer als prototypischen Vertreter dogmatischer Wertsysteme zum potentiellen Träger von Wahnphänomenen macht, während dieselbe Verweigerungshaltung beim Bauern als Scheu vor der Entheiligung seines verhältnismäßig kleinen Akzeptationsvolumens interpretiert wird (ebd., 139). In der aporetischen Uberdeterminiertheit des >DämmerSchlafwandelns< kennzeichnet. Brochs unterschiedliche Bewertung beider dämmernder Lebenshaltungen erweist spätestens da ihre Unhaltbarkeit, w o gerade im Bemühen um ihre Differenzierung ihre Nähe zueinander offenkundig wird: Was den Bauern auszeichne, sei die Heiligung der irdischen Gerätschaft, Heiligung des irdischen Todes, Heiligung der irdischen Tradition — die letzten Spuren solcher Haltung lassen sich sogar noch in der nationalsozialistischen Ideologie als hypertrophierte Zerrbilder nachweisen, als
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Heiligung der Technik, als Heiligung des Heldentodes um des Heldentodes willen, als Heiligung des völkischen Bestandes, lauter Zerrbilder, weil ihnen das Wesentliche zu ihrer Heiligung fehlt, . . . die natürliche Gewachsenheit . . . bäuerlichen Lebens . . . (ebd., 139/40).
Angesichts solcher Feststellungen, in denen von »Nüchternheit« nun wirklich keine Rede mehr sein kann, scheint denn doch die Verpflichtung des Humanen zu prometheischen Erkenntnisvorstößen, die sich hier unversehens zum »Rebellentum() prometheischer Unweisheit« wandelt (ebd., 142), vollends zum Erliegen zu kommen. Brochs in der >Massenwahntheorie< formulierter Aufruf zur »Selbstzucht der Ratio« und zur »Selbsteinschränkung des kritischen Verstandes«, die »gewissermaßen eine künstliche Herstellung dämmernder Weisheit mit Hilfe der Erkenntnis selber« leisten soll ( X I I , 147), liegt zweifelsohne gerade nicht in der Intention einer philosophischen Mystik. Die Auslese von Erkenntnisvorstößen, an denen die bäuerliche Lebenshaltung nach Brochs Auffassung mit voller Uberzeugung (!) partizipiert hat, macht es schwer, Broch seinen wiederholt bekundeten Widerwillen gegen jedes regressive Denken zu glauben: E s sind »die Entdeckung des Feuermachens, die Erfindung des Pfluges sowie alle der . . . bäuerlichen und handwerklichen Gerätschaften, durch die das Menschliche im Menschenleben ermöglicht worden ist« und die »vom innersten Unbewußten her . . . zur Heiligkeitswürde erhoben« werden (XII, 138). — Abgesehen von dem Umstand, daß auf diese Weise ein Entwicklungsstand bezeichnet wird, der kurz nach der Entdeckung des aufrechten Ganges anzusiedeln ist, muß Brochs Rezipient erstaunt zur Kenntnis nehmen, daß es sich bei den genannten Errungenschaften nun allerdings um ihrerseits rein technische Zivilisationsinstrumente und keinesfalls um Einrichtungen handelt, die dazu beitragen, das Sublimationsniveau zu heben. Das überrascht, liest man doch in der gleichen Schrift nur vier Seiten zuvor, daß ein Fortschritt, sofern überhaupt von einem solchen in der Geschichte die Rede sein könne, »nicht so sehr in der Bändigung der äußern als . . . der innern Natur, . . . in den Sublimierungsbemühungen« liege (ebd., 134). Solche Ausführungen hinterlassen offenbar auch bei Broch-Apologeten wie Durzak ein gewisses Gefühl der Peinlichkeit, dem jedoch sogleich zugunsten der moralischen Integrität unseres Dichterphilosophen energisch entgegengetreten wird: Es bestehe keine Notwendigkeit, den verschiedenen Richtungen und gelegentlichen Sackgassen von Brochs massenpsychologischen und politischen Reflexionen in allen Verästelungen nachzugehen. Aber es besteht kein Zweifel daran, daß der humane Appell hier nicht nur eine Sache der Emotion ist, sondern auch die Integrität der Gedankenführung bestimmt/'" 60
Manfred Durzak, Hermann Broch: Dichtung und Erkenntnis, Studien zum dichterischen Werk, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1978, S. 1 1 7 .
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Angesichts der in der >Massenwahntheorie< unverhohlen betriebenen »Agrarromantik« 6 ' erscheint Brochs A f f e k t gegen die Verklärung des Einst von Seiten »konservative(r) Revolutionäre« wie Vergil, Rousseau oder Tolstoi ( X I I , 148), die »die Neufundierung der Menschenwürde . . . in die Hände eines Bauernstandes legen« wollten, deren »starken WirklichkeitssinnQ« Broch aber »durch ihre dämmerungszugekehrte, rückgewandte Sehnsucht« behindert sieht (XII, 148), als hohle Phrase. Brochs Denken bezieht offenkundig die eingestandene Unhintergehbarkeit des fortschreitenden historischen (Erkenntnis)Prozesses (XII, 149) und die in seinem Rahmen stattgehabte Entwicklung zu großstädtischen Zivilisationsformen nur vorgeblich ein. So gerät die anvisierte Lebensform und ihr Wegbereiter, der Weisheitstypus des Heilsbringers, den Broch sowohl in der >Mutter Gisson< seiner >Verzauberung< als auch in der Figur des Imkers in den >Schuldlosen< gestaltet, in eine verdächtige Nähe zur Regression ins Archaische. E s spricht zudem nicht gerade für Brochs Vertrauen in die Vernunft des Humanen, daß er zur Überfuhrung der Masse in die »wissende Gemeinde« eines offenen, rationalen Wertsystems mit transzendentem Telos, die er mit Demokratisierung gleichsetzt, den Weg der Heidenbekehrung nach dem Vorbild der christlichen Kirche vorsieht, die sich ihrerseits durchaus >magischer< Instrumentarien wie derjenigen des >TabusVerzauberung< zutage liegende A u f f a s s u n g v o n bäuerlichen Lebens- und Daseinshaltungen, vgl. ders., Moderne Romanpoetik und konservative Metaphysik: Symbolisch-mythischer Regionalismus in Hermann Brochs >BergromanVerzauberung< und der Novelle >Die vier Reden des Studienrates Zacharias< aus dem Novellenzyklus >Die Schuldlosem demonstrieren. Beide Texte zielen auf die Darstellung geistiger Haltungen ab, die Broch als fundamentale Voraussetzung für die Entstehung des Nationalsozialismus in Deutschland wie totalitärer Regime überhaupt erachtet.
10.4. Literarische Paradigmen 10.4.1. Die Divergenz von Mystik und Magie als Deutungsfolie des Massenwahns in der >Verzauberung< Für seinen in drei Fassungen existierenden und letztlich Fragment gebliebenen Roman >Die Verzauberung< hat Broch zwei thematische Schwerpunkte bezeichnet, die hier — bereits vor der Entstehung der massenwahntheoretischen Schriften — eine kausale Verflechtung erfahren: E r beschreibt die >Verzauberung< als »religiöse(n)« Roman ( X I I I / i , 385), der zugleich eine parabolische Darstellung jenes massenpsychologischen Geschehens liefern sollte, das nach Brochs Verständnis die Entstehung des Nationalsozialismus in Deutschland ermöglichte. Der Roman versuche, das deutsche Geschehen mit all seinen magischen und mystischen Hintergründen . . . in seinen Wurzeln aufzudecken,
heißt es in einem nachträglichen Selbstkommentar von 1941. Gezeigt werden solle »das eigentlich Menschliche, wie es aus den Tiefen der Seele und ihrer Naturverbundenheit aufsteigt« (III, 387). In solchen Wendungen deutet sich bereits eine grundlegend unpolitische und metaphysisch-anthropologische Interpretation des Nationalsozialismus an, die Amann zutreffend als eine Form jener »>Spiritualisierung der Gegenwartssituation< in Form von >Neubelebungsversuchen der Religiosität, des Idealismus, der Symbole und Mythen«< versteht, vor der Karl Mannheim bereits 1929 gewarnt hatte. 6 ' Die in der >Verzauberung< gestaltete Bezugnahme auf den antiken Demeter-Topos zielt einerseits auf den Mythos als strukturelles Deutungsmuster menschlichen Seins, auf dessen Folie die eigene Gegenwart als Phase einer iterativen Seinszyklik erscheint, die sich im Mythos als regelmäßiger Abstieg Persephones in die Finsternis des Hades und ihre stets sich wieder63
Klaus Amann, Hermann Brochs Auseinandersetzung mit dem Faschismus, in: Kessler/Lützeler (Hg.), 1987, S. 1 5 9 - 1 7 2 , dort S. 165; Amann zitiert K . M a n n heim, Ideologie und Utopie, Bonn 1929, S. 246f.
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holende Rückkehr in die Welt des Lichts vollzieht. Sie spiegelt damit jene zyklische Zeitauffassung Brochs, die später im >Gesetz psychischer Zyklen< ihren theoretischen Niederschlag finden wird und auf die mystische Ontologie Origenes' vom Kreislauf der Intelligenzen im Abfall vom Göttlichen und Wiederaufstieg zu ihm rekurriert. Brochs Beschäftigung mit den »Kirchenvätern« während der Entstehungsphase der >Verzauberung< ist brieflich belegt ( X I I I / 1 , 297). Die bisherige Forschung hat diesen globalen Hinweis ohne genauere Differenzierung tradiert. 64 Zudem deutet die Verwendung des Demeter-Motivs auf die dieser Göttin geweihten antiken Mysterien und nimmt so Bezug auf ein esoterisches, mystisches Wissen, das nur dem Initiierten zugänglich ist. So evoziert der Roman jene - in ihrer Fragwürdigkeit als politische Kategorie schon diskutierte — Macht des Geheimnisses, das einer >entzauberten Welt< abgeht. Der Gegensatz zwischen anonym-urbaner Lebensform und ländlichvertrauter Intimität, zwischen wissenschaftlicher Hyperrationalität und diesseitsverhafteter Weisheit wird durch die Konfrontierung des Erzähler-Protagonisten, eines Mediziners, der am Sinn seiner Arbeit und Lebensweise zweifelt, und der an einem >anderen< Wissen partizipierenden, weisen Mutter Gisson dargestellt. Der Erzähler motiviert seine Flucht aus der Stadt, deren Ordung er »nicht mehr als Ordnung, sondern nur mehr als Überdruß des Menschen an sich selbst« empfindet (III, 1 1 ) , mit dem »Ekel« vor einer in ihrer leeren »Pünktlichkeit« bloß mechanischen, nur zweckmäßigen, deshalb aber noch nicht sinnerfullten Lebensform, deren prägnantestes Merkmal ihre allseitige Stummheit ist (ebd., 10). Die >Stummheit< der Gegenwart deutet Broch in einem 1934 erschienenen Essay als Zweifel am Wort, der der Verzweifelung am Geist und der eigenen Menschlichkeit entspringt (IX/2, 177). In der >Verzauberung< spitzt sich die allgemeine Zivilisationskritik zu zur Kritik am die Moderne bestimmenden wissenschaftlichen Geist als solchem. Wissenschaftliches »Erkennen« und intuitives »Wissen« sind die von Broch antinomisch gesetzten Leitbegriffe zweier verschiedener Modi der Ausrichtung auf das Sein, deren Differenzierungsmerkmal dasjenige einer ganzheitlichen, transzendenten Sinnstiftung im eigenen Dasein ist, das auf der die Welt und das Ich gleichermaßen bestimmenden Gültigkeit des einen Logos und seiner harmoniestiftenden Kraft beruht: Ich habe das Erkennen verlassen, um ein Wissen zu suchen, das stärker sein soll als die Erkenntnis, stark genug, um die Zeitspanne, die dem Menschen beschieden ist, . . . mit einem fast fröhlichen Warten auszufüllen, ein Wissen, . . . erfüllt von dem Sinn des Gewesenen und des Künftigen (III, 11).
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Vgl. Lützelers entsprechende Anmerkung in seinem Forschungsbericht Brochs >Verzauberungzweiten Logossphäre< angehörenden, »anderen« Wissens (ebd., 9), das der Profanität und Partikularität wissenschaftlichen Erkennens gegenübergestellt wird, soll den Erzähler-Protagonisten zugleich zu jenem praktisch-wertsetzenden, dezisionistischen Handeln befähigen, das dem bloß sachlichen, wissenschaftlichen Erkenntnisstreben offenbar abgeht. Dies jedenfalls scheint der Sinn seiner Kritik am wissenschaftlichen Denken zu sein, der sich letzdich erst im Kontext der in den Roman integrierten Barbara-Episode auftut. Denn zunächst überrascht die Kritik des Erzählers gerade an der iterativen Ausrichtung des wissenschaftlichen Erkenntnissystems: Im Widerspruch nicht nur zu späteren massenwahntheoretischen Erörterungen, 6 ' sondern auch zu bereits 1933 formulierten werttheoretischen Überlegungen, in denen das System der Wissenschaft als Paradigma eines offenen Wertsystems schlechthin beschrieben wird, 66 verfallt die Arbeit am »unendlichen Bau der Wissenschaft«, in der der einzelne als »ein bescheidenes Glied in der Kette der Werkenden« immer nur »einen kleinen Stein nach dem anderen« hinzuträgt, »immer nur das nächste Resultat sehend, dennoch . . . die Unendlichkeit des Baues ahnend . . erleuchtet von diesem unendlichen Ziel« (III, 9/10), als unbefriedigende dem Verdikt des Erzählers, weil seine sinnstiftende Funktion für das eigene Dasein nicht erkennbar ist; denn aus einer säkularisierten Ausrichtung des Erkennens gewinnt er keinerlei ethische Richtlinien für das eigene ärztliche Handeln. Infolgedessen folgt er der ärztlichen Intuition seiner Kollegin und Geliebten Barbara nicht und verschuldet so indirekt nicht nur den Tod eines fremden Kindes, sondern auch den dadurch motivierten Selbstmord der schwangeren Barbara. E r zieht sich daraufhin von dem ihm nunmehr steril und sinnlos erscheinenden wissenschaftlichen Erkennen zurück, »als wäre es der Turmbau von Babel«, und nimmt die Tätigkeit eines Landarztes auf, eine »kleine A r b e i t . . ., die kein Erkennen mehr ist, sondern Leben und Mitleben und hie und da vielleicht Hilfe« (III, 10). Der Verlust seines Wertsystems, ohne daß er ein neues schon wirklich gefunden hätte, macht ihn aber anfällig für totalitäre Agitation, denn seine Daseinshaltung beschreibt der Roman als »Warten« auf ein »unsicheres Wissen« (ebd., 1 1 5 ,
' ' »Als Extrembeispiel offener Systematik kann und muß stets aufs neue das der Wissenschaft angeführt werden . . .: ihre Organisationsbasis ist ausschließlich die Erkenntnis als solche, . . . (deren) Erkenntnisziel in unendlich weiter Ferne, also jenseits jedes heutigen und jedes künftigen Menschenlebens liegt« ( X I I , 421). 66 Das an der Spitze einer Hierarchie stehende, oberste Wertziel dürfe schon aus intern logischen Gründen nicht dem System angehören, es werde bloß durch das System dargestellt: »>Die Wissenschaft^ als solche ist ein leerer Begriff, sie ist erst als Gesamtheit aller wissenschaftlichen Akte und . . . Methoden sinnerfüllt. Das Ziel liegt in der Irrationalität der Zukunft, und erst mit ihrer sukzessiven Formung und Aufhellung kann es selber aufgehellt werden« (IX/2, 1 3 1 ) .
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229), von dessen Gestalt er selbst zunächst keine konkrete Vorstellung hat.67 Schon in seinem Essay >Leben ohne platonische Idee< von 1932 hatte Broch die Haltung des Intellektuellen in einer zwischen-religiösen Epoche reflektiert, dem die »platonische Idee«, die Teilhabe an einer jenseits des bloß Positivistischen wirksamen, sinnstiftenden Form von Geist also, verstellt sei, und seine mangelnde Distanz gegenüber diktatorischen Regimen mit einem gewissermaßen gnostisch-neuplatonischen Fehlschluß begründet: »Wer dem Geistigen verhaftet ist, kann sich überhaupt kein Geschehen . . . vorstellen, das nicht der Erlösung diente«. Daraus erwächst auch dem geistigen Menschen die unauslöschliche Hoffnung . . ., daß der heroische Diktator doch der künftige platonische Heilsbringer oder zumindest dessen unmittelbarer Vorläufer sei, . . . dem bis zur tiefsten Erniedrigung und wahrhaft schweigend Gefolgschaft geleistet werden müsse, auf daß aus dem dunkelsten Z w a n g der rationalen Vernunft dereinst eine neue platonische Freiheit entstünde ( X / i , 51).
Auf solche Weise suspendiert sich kritisches Bewußtsein von seiner Mitverantwortung für totalitäre Herrschaftsformen, weil es sich nicht als autonom im Sinne der (Origeneischen) Mystik, sondern als Emanationsform des einen Geistes begreift, der sich im historischen Geschehen verwirklicht. Die Funktion des Landarztes als intellektuell Gebildetem im Romanganzen ist — neben der kritischen Einbeziehung auch dieser Schicht in das metaphysisch-werttheoretische Erklärungsmuster für die Wirksamkeit faschistischer Ideologien — die eines Reflexionsmediums, das die Motive für den Ausbruch des Massenwahns begrifflich formuliert und durchdenkt und zugleich in der Lage ist, die eigene Haltung zu differenzieren und nach überstandener Krisis zugunsten eines >anderenwahren< mystischen Wissens zu revidieren. Auch die Aufnahmebereitschaft der Dörfler für faschistisches Gedankengut motiviert Broch durch ein schleichend um sich greifendes Sinndefizit. Daß das naturreligiös begründete Daseinsverständnis als sichere Basis des Kollektivs im Begriff ist, sich zu erschöpfen, deutet die Handlung in den Todesahnungen seiner Exponentin Mutter Gisson an (III, 40): »meine Zeit ist um . . .«, weiß sie (ebd., 300). Angesichts der Bergsegenzeremonie wird dem Erzähler-Protagonisten bewußt, daß die uralten Traditionen, auf denen die Dorfgemeinschaft beruht, »abgenützt (sind) von der Zeit« (ebd., 100) 67
Damit scheint seine Empfänglichkeit für Marius' Agitation durchaus nicht rätselhaft, wie der Forschungsbericht von M . Roesler beklagt; vgl. ders., Hermann Brochs Romanwerk. Ein Forschungsbericht, in: D V j S , 6 ; . Jahrgang, H. 5/1991, S. 502—587, dort S. 543: »Obwohl der Landarzt in der Erinnerungsarbeit des Erzählens eine Entwicklung durchmacht, die ihn seine eigene Verstrickung und das Erlahmen seiner Urteilskraft erkennen läßt, bietet er keine schlüssige Erklärung seines Verhaltens. Dies lag wohl auch nicht in Brochs Interesse.« 31 3
und mit ihrer bindenden Kraft auch ihre orientierende Funktion verloren haben: Niedlich und harmlos war die Unendlichkeit, mit der wir es da zu tun hatten . . und sogar der Lobgesang ob der Niederwerfung des Heidnischen war zu einem Kinderstubenliedchen geworden. E s ist, als ob das Unendliche den Zusammenhang mit sich selber verloren hätte, als stünde die Seele zwischen den Zeiten . . ., es ist, als wäre zwischen dem lebendigen Unendlichen des Einst und dem Unendlichen des Kommenden, sie beide geahnt, sie beide gewußt, wenn der Mensch die Augen schließt, eine tote Wegstrecke, . . . (ebd., 106/7).
Die Passage evoziert zugleich jene Charakterisierung der eigenen Epoche als »Zwischenstadium des >Nicht-mehr und des Noch-nichtanderen< Wissens ihrer Mutter teilhaftig zu werden — und damit die Pervertierung seiner Ehe wie die daraus resultierende Einsamkeit und Hoffungslosigkeit beider Partner betrieben hat (III, 225). Milands Bedürfnis nach einer verbindlichen, religiös begründeten Form von Gemeinschaft, in der nicht jeder einen anderen Begriff von Wahrheit hat (vgl. III, 220/21), welcher zugleich die Verständigung untereinander unmöglich macht und so Vereinzelung generiert, ist so groß, daß er bereit ist, um ihretwillen seine Tochter zu opfern (ebd., 229). Er rechtfertigt deren Tötung ausdrücklich mit dem Hinweis auf das Opfer Isaaks, das Gott Abraham abverlangt habe und das nun endlich voll68
P. M. Lützeler, Hermann Brochs >Die Verzauberung< . . ., in: Strelka (Hg.), 1978, S. 51—76, dort S. 5 8.
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zogen werden müsse, um die Gemeinschaft mit Gott und den Menschen neu zu begründen. Damit steht der gesamte Opferkomplex des Romans im Kontext der durch das Menschenopfer bezeichneten Regression ins heidnische Denken, den erst die Massenwahntheorie theoretisch entwickelt (vgl. X I I , 396).69 Im Bezeichnen des eigenen Sinndefizits deutet Miland zugleich dasjenige des Verführers Marius Ratti an und kennzeichnet so dessen Motiv für die intendierte Begründung einer neuen, höchst fragwürdigen Form von Gemeinschaft: . . . wenn ich es nicht im G r i f f e hätte, was ich zu tun habe . . ., ich hätte am Morgen nicht die Kraft, aufs Feld zu gehen oder in den Stall . . . so sehr allein sind wir geworden, daß wir nicht mehr wissen, was wir mit unsern Händen anfangen sollen . . . Und dann ist er gekommen . . . einer, der nicht anders ist als ich, . . . der vor sich hingeht mit seinen Füßen, weil er den Sinn nicht mehr gehabt hat, mit diesen Füßen zu einer Arbeit zu gehen . . . da ist er gewandert . . . aber er, er hat es ausgesprochen, ich, ich habe es nicht einmal denken können . . . Und wohin ich auch schaue, es ist überall das Nämliche . . . die Leute machen ihre Arbeit . . ., aber sie tun's aus bloßer Einsamkeit . . . (III, 22 5).
Ratti, der Wanderer aus Entwurzelung, taucht eines Tages in dem Dorf auf, dessen heile Gemeinschaft aufgrund ihres Traditions- und Sinnverlusts nur noch als hohle Fassade besteht, hinter der sich allgemeine Desorientierung und tiefgreifende Verunsicherung breitmachen. Seine Erscheinung verrät sofort seine soziale Herkunft: Eine Atmosphäre »ungelüftete(r)«, kleinbürgerlicher Beschränktheit und »kleinbürgerliche(r) Selbstgerechtigkeit« umgibt ihn (ebd., 14), 70 womit der Roman immerhin zutreffend auf jenes psychosoziale Milieu hinweist, aus dessen politischer und sozialer Verunsicherung der Nationalsozialismus tatsächlich seine breiteste Anhängerschaft rekrutierte. Jedoch wird diese Verunsicherung bei Broch unter Absehung von den konkreten Umständen, in denen sie entsteht, ausschließlich 69 7
Vgl. auch einen entsprechenden Hinweis bei Mersch, 1989, S. 1 5 1 , Anm. 28. ° Daß die Reduzierung Rattis auf eine Hitler-Konfiguration, wie sie Lützeler und Koopmann verstehen, zu kurz greift, hat G . Brude-Firnau gezeigt; vgl. dies.: Hermann Brochs Demeter-Fragment: Provinzroman oder zeitkritisches Dokument? in: Kessler/Lützeler (Hg.), 1987, S. 55-43, dort S. 37; Firnau versteht die Darstellung Rattis als Reminiszenz auf das in den zwanziger Jahren häufige Auftreten von Wanderaposteln; es wäre zu fragen, ob sie damit Brochs Kenntnis von solchen aktuellen Phänomenen nicht überschätzt, von denen er als »passionierter Zeitungsleser« gewußt haben soll (ebd.), und ob die Kennzeichnung Rattis als Wanderer nicht vielmehr in Beziehung zu setzen wäre zu der Figur des ewigen Wanderers Ahasver aus den >SchlafwandlernVerrückte ErlösungVerzauberungVerzauberungSchuldlosen< fuhrt Broch die Anfälligkeit des »Spießergeist(es), dessen Rein-Inkarnation Hitler gewesen ist«, für magisches Denken auf das »Abreißen der abendländischen Werttradition sowie die hierdurch bewirkte seelische Unsicherheit und Haltlosigkeit« zurück, »von der eine so traditionsschwache Zwischenschicht wie das Spießertum sicherlich am intensivsten erfaßt worden ist« (V, 325). Ratti fallt sofort durch seine demagogischen Fähigkeiten auf, die der Roman schon zu Beginn der Handlung thematisiert, 7 ' die aber von den Dörflern zunächst durchaus noch als leere Rhetorik erkannt und disqualifiziert werden: »So einer hat nichts und nimmt das Maul voll«. »Leeres Maul muß reden« (III, 16). Wo aber davon die Rede ist, daß Ratti die Leute »behext« (ebd., 125), wird bereits ansatzweise die Suspendierung der eigenen Verantwortlichkeit der Dörfler für ihr Mitläufertum erkennbar. Immerhin erscheint es angesichts solcher Kommentare einigermaßen mysteriös und unmotiviert, daß aus dem zunächst als »Fremde(r)« (16) in das Kollektiv Eindringenden, der — als Nicht-Bauer (14, 26) — beargwöhnt und regelrecht gefürchtet wird (18/19, 54/5;), weil von ihm nicht nur etwas Abstoßendes, sondern auch etwas Bedrohliches ausgeht (»Wer aus dem Feuer kommt, muß Feuer legen«, 5 5), plötzlich der aus einer unbewußten irrationalen Erwartung heraus >Gesuchte< wird, auf den sich die Ahnung um eine schicksalhafte Erneuerung und Erlösung des Daseins kraft eines höheren Wissens richtet: >Da ist erMassenwahntheorie< beschreiben wird. Da er das Sinndefizit aller zu artikulieren vorgibt, avanciert er sehr bald zu ihrem Wortführer, dessen Agitation ihre Auffassungen und Bedürfnisse nach Belieben manipuliert; denn tatsächlich spricht er keineswegs nur aus, »was die andern denken« (III, 135), sondern er nutzt ihre Irritation, um ihrem Denken bestimmte Richtungen zu geben, und gewinnt auf diese Weise Z ü g e des >dämonischen Demagogen^ der die Sehnsucht nach metaphysischer Neufundierung verbindlicher und sicherer Ordnungen in die falsche Richtung lenkt. Der Spießergeist, den Marius repräsentiert, drückt seine eigene allseitige Verunsicherung durch die gesellschaftlichen Veränderungen der Moderne und die damit in Zusammenhang stehenden Errungenschaften der modernen Zivilisation in einem allgemeinen und undifferenzierten Technikaffekt aus, der sich — als Akt symbolischer Abschottung gegen die Realität — gegen das Radio (III, 62) und den Mähdrescher richtet: ». . . der Maschinendrusch ist eine Sünde« (ebd., 74). Sein religiöses Vokabular ist in solchen Kontexten kein Zufall, sondern inszeniert das Behauptete gekonnt, suggeriert es doch bewußt einen Rekurs auf verbindliche Glaubensordnungen. So eindeutig der Text solche Wendungen satirisch entlarvt und disqualifiziert, so unzweifelhaft eignet ihnen eine gewisse Nähe zu jenen Invektiven gegen die buchstäblich >verteufelte< Kälte der hochtechnisierten modernen Realität, die Broch, wie schon anhand der Analyse der >Schlafwandler< deutlich wurde, durchaus mit so bedeutenden Zeitgenossen wie Ernst Bloch geteilt hat. Marius' platt-naive »Zurück-zur-Natur«-Ideologie, deren regressiven Charakter der ErzählerProtagonist vorerst durchaus durchschaut (ebd., 75), richtet sich auf eine vermeintlich unverfälschte, natürliche agrarische Lebensform, die ihre Nähe zu der von Broch in der >Massenwahntheorie< in einem Atemzug gefeierten und ob ihrer Rückwärtsgewandtheit halbherzig verworfenen, natürlich gewachsenen »Diesseitsfrömmigkeit« des Bauern nicht ganz verleugnen kann und im Roman nicht zuletzt die Abkehr des Arztes von der Urbanen Lebensform motiviert. In Marius' herrischer und »rechthaberischer)« Attitüde (III, 26, 30/31), mit der er sich bei seinen Gastgebern bewegt, kündigt sich jener bald unzweideutig artikulierte Anspruch auf Herrschaft und Macht an, der in der >Massenwahntheorie< den dämonischen Magier kennzeichnet. E r beruht auf dem relikthaften Besitz eines >anderen< Wissens, das er als Alternative zur als >sündig< begriffenen, säkularisierten Rationalität versteht. Marius verfugt über Reste eines Wissens um das Heilige (41/2), um naturreligiöse Zusammenhänge und ihre Beeinflussung, die sich z. B. in seiner Fähigkeit zu »mag3 J7
netische(n) Diagnosen« (82) und der Handhabung der Wünschelrute (45) ausdrücken. Jedoch sind die Kenntnisse, die er zu reaktivieren versucht, längst überlebte: E s ist der Glaube der keltischen Druiden an magische Mächte und die ihnen zugedachten Riten, der ihn fasziniert. E r propagiert auf dieser Basis eine Blut- und Bodenideologie, die eine unverkennbare Reminiszenz an die nationalsozialistische darstellt und in diesem Kontext die Wiederbelebung paganer germanischer Kulte wie der Sonnenwendfeier durch den Faschismus thematisiert.73 Im werttheoretischen Denken Brochs ist damit zugleich ein Verhaftetsein im Nur-Endlichen, Nur-Irdischen der Erde und des Blutes als polarem Gegensatz zu Transzendenz und Geist bezeichnet. Rattis Ausrichtung auf ein geschlossenes, borniertes Wertsystem, dessen Beziehung zum Metaphysischen unter falschen, nämlich magischen Vorzeichen steht, deutet sich auch in den Worten Mutter Gissons an: Der (Marius) glaubt, daß er weiß . . ., weil er mit der Ruten gehen kann und weil er spürt, wenn's einem in der Schulter reißt. . . der sitzt auf seinem Wissen wie ein Weib . . . und deswegen kann er nimmer wissen wollen, deswegen ist er ohne Liebe . . . ein Zauberer ist er, sonst nichts. . . . ein Mann, der auf seinem Wissen ausruht, . . . (III, 172).
Angesichts solcher Kennzeichnung scheint im Erzähler-Protagonisten eine Ahnung um das >wahre< Wissen auf, »nach dem der Marius nicht mehr fahndete«: E s ist das »geheimnisvoll Unerreichbare« (ebd., 173), das Unendliche, das immer nur ein Weiter und Weiter ist, ein Unausschreitbares, ein Unausdenkbares, es bleibt unerfaßbar, ohne erfaßliche Ganzheit, wenn nicht ein Über-Unendliches, ein Über-Unerfaßliches darüber stünde, es einschließend und zur Ganzheit es bildend: Gott (ebd., 235).
Das Wissen um das Unausschreitbare wird zugleich als »schlichtes und nüchternes Wissen um das menschliche Herz« identifiziert, denn alles, was geschieht, geschah und je geschehen wird, ist Spiegel des menschlichen Herzens, und wer um das Herz weiß, . . . ist . . . ein Erkenner, ein Seher . . . (ebd., 173).
Den genauen Sinn dieser höchst nebelhaft und pathetisch wirkenden Worte, die auf ein mystisches Wissen hinweisen sollen, dessen Ursprung in einer religiös motivierten Form intuitiver Evidenz liegt, welche ihre Beglaubigung aus dem Rekurs auf das >Fünklein im Seelengrunde< bezieht, hatte 7i
Vgl. dazu Richard Faber, Erbschaft jener Zeit. Z u Ernst Bloch und Hermann Broch, Würzburg 1989, der die Wahrnehmung neopoganer Tendenzen im aufkommenden Nationalsozialismus bei Broch und Bloch gleichermaßen konstatiert, Differenzen aber gerade da herausarbeitet, w o Bloch solche Erscheinungen differenziert vor ihren sozialgeschichtlichen und sozioökonomischen Hintergründen deutet, während Broch diesen Aspekt gerade ausblendet.
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bereits das Eckhart-Kapitel erschlossen. Offenkundig ist zugleich der Hinweis auf das in der negativen Theologie begründete offene Wertsystem, auf das solches Wissen abzielt, das in der Identität von Sein und Sollen zugleich die Grundlage für die verantwortungsvolle Wahrnehmung der formstiftenden Kraft der Dezision erkennt, welche sich an einem Absoluten orientiert, dessen radikale Transzendenz keinen Stillstand des Erkennens und Weltformens zuläßt. 74 Chiffre dieser offenen, unabgeschlossenen Daseinshaltung ist eine Haltung der Liebe im Sinne des von der platonischen Tradition ausgehenden und über Augustinus und Eckhart vermittelten Eros als Motiv unausgesetzten, erkenntnisgerichteten und tätigen Strebens nach dem Absoluten, das als immanente Transzendenz in alles Humane als >Seelenfunke< eingesenkt ist: »Lieben« ist für Mutter Gisson die Suche nach dem letzten Versenken des Ichs, . . . heißt . . . Verborgensteserkennen, die Verborgenheit einer unerkennbaren Zukunft . . ., und das geliebte reale Wesen ist ihm (dem Liebenden, A . G.) nichts anderes als eine Schale all der Verborgenheit, die er selber . . . in sich trägt . . ., ihm selber unerreichbar und die jedes Menschenwesen dennoch offenbaren will . . ., auftuend seinen innersten, im tiefsten Schacht versunkenen Ich-Kern . . . (ebd., 174).
Im Modus der Liebe weist die mystische Botschaft der >Verzauberung< - wie übrigens auch des >Vergil< — über die von Wachtier 7 5 behauptete Genese von Brochs Denken in der Gnosis und der neuplatonischen Philosophie Plotins hinaus. Jedoch wird man Brochs Verständnis von Mystik deshalb genauso wenig auf ein christliches verkürzen können, wie die >Verzauberung< gerade an der Religiosität Mutter Gissons deutlich macht, von der es heißt, daß sie »kraft eines andersgearteten Wissens nur wie ein achtungsvoller und dennoch lächelnder Gast dem Kirchlichen zugetan war« (III, 102). Ein wichtiges Differenzierungsmerkmal gegenüber dem christlichen wie dem magischen Glauben ist die Veräußerlichung und Ersetzung der je eigenen geistigen und tätigen Anstrengung im Kultischen, »in der bloßen Verrichtung und in dem bloßen Gestus« (ebd., 102/3), v o n der Mutter Gissons Religiosität, »deren Schlichtheit keiner kultischen Anstrengung mehr bedarf« (ebd.), ausdrücklich abgesetzt wird, 76 so daß Fabers Vorwurf der ihr wie 74 71
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Vgl. Abschnitt 6.3. Adelgunde Wachtier, Hermann Brochs Roman >Der Versuchen als Roman des religiösen Erlebens, Innsbruck, Diss. phil., 1968, Abschnitt 3.3. Der religionsgeschichdiche Hintergrund; In seinem Forschungsbericht von 1983, S. 2 7 1 , stellt Lützeler fest: »Daß Broch ein Mystiker sei, ist in der Sekundärliteratur zur >Verzauberung< oft gesagt worden, aber nur Wachtier hat sich die Mühe gemacht zu untersuchen, aus welchen Quellen (Gnosis, Plotin) sich seine mystischen Vorstellungen speisen«. Die generelle Feststellung Lützelers zum unhinterfragten Umgang der Broch-Forschung mit dem Etikett >Mystiker< ist durchaus treffend und ist ein leitendes Motiv der vorliegenden Arbeit. Von theologischer Seite ist zudem harsche Kritik an Brochs ketzerischem Verzicht
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Marius gleichermaßen eignenden paganistischen Haltung sie nicht trifft. Vielmehr repräsentiert sie eben jenen erdgebundenen Weisheitstypus, aus dessen »Diesseitsfrömmigkeit« und »wissende(r) Partizipation« nach A u f fassung der >Massenwahntheorie< »noch jede Erkenntnisreligion hervorgegangen ist« (XII, 138). Und auch im Hinblick auf Marius' kultisch untermauerten Glauben erkennt der Erzähler-Protagonist, wie tief verlockend es sei, das »Ahnen des Herzens . . . durch Riten und Tun festzuhalten«: Gott. Wie tief verlockend ist es, ihn ins Irdische und Faßbare zurückzuziehen, ihn zurückzurufen in die Formen der Erde, die Erde selber zu seinem Sein zu erheben, die Wahrheit der Augen und der Finger als seine Wirklichkeit zu begreifen! (III, 2
3 5)
Demgegenüber konstatiert der Landarzt in einer gleichermaßen sokratisch wie jüdisch anmutenden Wendung seine Scheu, »das Wort Gott auszusprechen, weil mein Wissen dafür zu klein geworden ist, meine Erinnerung zu schwach, mein Sehnen zu menschlich« (ebd.), und artikuliert gerade darin jene von Broch geforderte Form von dogmenloser Religiosität. Wohl kommt Marius zu Mutter Gisson mit der Bitte, an ihrem Wissen partizipieren zu dürfen. Dahinter verbirgt sich aber, wie diese mutmaßt, nicht die Suche nach Erkenntnis, sondern der Versuch, ihr Wissen zur Legitimation von Herrschaftsgelüsten zu mißbrauchen. Sie weist ihn deshalb zurück: »Du kannst nicht dienen, auch wenn du es wolltest . . . und an deinem Wissen zweifle ich nicht, es bringt uns nur keinen Nutzen« (ebd., 45). Zu fragen wäre, ob sich in dieser Haltung Mutter Gissons nicht ihrerseits eine zweifelhafte Form jenes »Sitzen(s) auf dem Wissen« kundtut, die sie Marius vorwirft und in der das Geheimnis, das Eingeweihtsein in das Mysterium eines besseren, >wahren< Wissens als Kategorie von Herrschaftsansprüchen auf höchst problematische Art wirksam wird. Der Umstand wirft die provokative Frage auf, ob sich nicht Mutter Gisson und in ihrer Funktion der >Wissende< überhaupt am Ausbruch des Massenwahns schuldig macht, da sie dem Erkenntnissuchenden ihre Weisheit vorenthält und ihn dadurch in die Arme perverser Surrogate treibt. Während die >Massenwahntheorie< solchen Überlegungen zuvorzukommen versucht, indem sie diese Art des Wissens als natürlich gewachsen und auf andern Wege nicht auf das D o g m a der Mittlerschaft Christi geübt worden. Claus Pack konstatiert in seinem Aufsatz >Ein Nachlaßwerk Hermann Brochsgöttliche FunkeSchuldlosenBallade von der Kupplerin^ Die als »triebstark(es) und erdnah(es) Urweib« (V, 314) gekennzeichnete Magd Zerline, die im Rahmen ihrer Kupplertätigkeit das Mädchen Melitta auf seine erste gemeinsame Nacht mit A . vorbereitet, reflektiert den folgenden Zusammenhang: »sie (Zerline) gedachte des Unmittelbaren schlechthin, . . . der unmittelbaren Lebensbereitschaft und Todesbereitschaft im Irdischen, heilig die irdische Unendlichkeit, die allem Weibsein auferlegt . . . ist, die Schwere und Erhabenheit des Diesseits in seiner furchtbaren Unentrinnbarkeit, in seiner furchtbaren Schlichtheit« (V, 178). »Und . . . beide Frauen (spüren), daß alles Unmittelbare unerbittlich ist . . . Denn grausam ist die Heiligkeit der unmittelbaren Nähe, ausgestreckt in jedwede Ferne, trotzdem im Irdischen bleibend, als die allem Weibsein verliehene . . . irdische Unendlichkeit, welche in Gestalt der unerbittlich unmittelbaren Heiligkeit der Geschlechterfolge die Menschheitsaufgabe an sich umfaßt. . . Und sowohl Melitta als auch Zerline sind sehr ernst geworden« (ebd., 183). Damit wird dem männlichen Prinzip aber zugleich jener »ungeduldige Prometheismus« zugewiesen, den die Massenwahntheorie widersprüchlich bewertet, da er sich in seinem Mangel an »Diesseitsfrömmigkeit« und »Akzeptierung des Unabänderlichen« auf ein abstraktes Niveau zubewegt, das den Bezug zur Realität verliert, deren Sinndeutung er nicht mehr leisten kann, womit er sich letztlich selbst ad absurdum führt. Die Aporien der >Massenwahntheorie< im Hinblick auf eine fragwürdige Form bäuerlichen Weisheitswissens zeichnen sich hier schon ab. Lützeler in Strelka (Hg.), 1978, S. 58. 321
eignete, sondern >Anti-Eros< im oben bezeichneten Sinne, Erkenntnisabgewandtheit und zugleich Merkmal einer zur Impotenz gesteigerten Unnatürlichkeit und Lebensfeindlichkeit, die das normale Triebpotential unter dem Deckmantel einer straffen asketischen Lebenshaltung weder befriedigt noch sublimiert. Statt dessen unterwirft sie es einerseits einer zweifelhaften Form von Zucht und Drill, die zu Selbstdisziplin umgelogen wird, und setzt sie andererseits als auf solche Weise noch gesteigerte Aggression nach außen frei. Diesen Mechanismus stellt der Roman anhand der paramilitärischen Übungen dar, die Marius' Helfershelfer Wenzel mit der männlichen Dorfjugend abhält und deren Gewaltpotential sich später gegen den als Fremdkörper empfundenen, städtischen Versicherungsagenten Wetchy richtet, der den Juden als Zielscheibe nationalsozialistischer Tyrannei symbolisiert. Wenzels Rede an die von ihm kommandierte Truppe läßt an diesem Zusammenhang keinen Zweifel: Kameraden, ich weiß, daß ihr Disziplin zu halten versteht, auch wenn der eine oder andere von euch jetzt irgendwo ein Mädchen im Heu liegen hat, die ohne ihn nichts rechtes anzufangen weiß . . . Die Zeit der Tat kommt heran. Der Tag der Vergeltung. . . . Freilich, wenn ihr feige Säue sein wollt, so ist es besser, wenn ihr gleich wieder heimgeht. . . . E s ist bequemer herumzuhuren, als seine Pflicht zu tun (ebd., 165).
In Marius' aggressiver Agitation gegen Wetchy spiegelt sich jene Projektion der immanenten Angst vor allem Unbegriffenen und Bedingenden auf eine äußere Ursache, mit deren Bekämpfung und Vernichtung das symbolgebundene, magische Denken zugleich die Quelle der Angst als solche eleminieren zu können glaubt. Marius' magische Demagogie bietet den metaphysischen Sehnsüchten der verunsicherten Dörfler durch seinen Plan zur Wiederbelebung des Goldabbaus in den alten Bergwerksstollen des Kuppron materielle Possessivwerte zur scheinhaften Sicherung gegen ihre Ängste an und steht damit im Zeichen der Verdinglichung, die die Wertskala geschlossener Systeme markiert. Die Gier nach Gold wird zum Paradigma einer falsch verstandenen und vordergründigen Form der Ich-Erweiterung nach dem Muster >Ich habe die Welt, weil sie mir unterjocht istMutter< wird, so vollzieht es umgekehrt eine Identifikation zwischen einem symbolwertigen Kultgegenstand oder einer symbolwertigen Person und dem Idol, dem der Kult gilt und dessen Vernichtung bzw. Absetzung zugleich das Idol entmachtet. Unter diesen Voraussetzungen gestaltet sich das im Roman folgende Geschehen um das eigentliche Menschenopfer als allegorischer Machtkampf zwischen der Exponentin des sich erschöpfenden, alten, naturmystischen Wertsystems und seiner Ablösung durch ein geschlossenes, primitiv-magisches Pseudowertsystem, das den Nationalsozialismus und sein religiöses Selbstverständnis bezeichnet 81 und zu dessen Priester sich Marius erklärt, der sich selbst in diesem Kontext zur allegorischen >Vaterfalschen< Vater zu entlarven: Und Mutter Gisson wiederholte: >Hütet euch, hüte dich Marius, noch ist überall die Mutter, und allnächtlich empfängt sie den Himmel, empfängt sie sein Wissen. Noch lauscht die Erde, und sie will das Blut nicht, mit dem ihr sie tränken wollt.< . . . Endlich sprach der Marius: >Du bist nicht mehr die Erde, Mutter, du warst sie einstens. . . . Erst das Blut deines Kindes wird dich, oh Erde, wieder reinwaschend >Durch keinerlei Blut werde ich erlösen, antwortete die Erde, . . . >Oh, höret, der Vater vergießt kein Blut, sein Wissen ist nicht im Blut, sein Wissen ist die Regenwolke seines Atems< (274).
E s fallt auf, daß die Exponentin der mystischen Lebenseinstellung, die — im Hinweis auf den Atem des Vaters als Verweis auf das Spirituelle — das Recht des Geistigen als einer lebenzugewandten Macht vertritt, hier den pathetischen magischen Sprachduktus des Gegensystems übernimmt und sich damit ihrerseits einer fragwürdigen, enigmatischen und vernebelnden Sprache bedient, wenn diese auch im Dienst der Vernunft bemüht wird. Die Schilderung der Unterwerfung des Matriarchats zugunsten patriarchalischer Herrschaftsstrukturen ist von der Forschung immer wieder auf 81
Lützeler, 1978, S. 59, hat darauf hingewiesen, daß die »Forschungsliteratur zum Nationalsozialismus . . . (den) Aspekt der Ersatzreligion schon häufig herausgestellt« habe (Lützeler verweist u. a. auf W. Hofer (Hg.), Der Nationalsozialismus. Dokumente 1953—1945, Ffm. 1957, S. 1 2 1 und G . Lukäcs, Von Nietzsche zu Hitler oder der Irrationalismus und die deutsche Politik, Ffm. 1966, S. z4jf. und 25}f.). V f . zitiert zum Beleg auch aus A . Hitler, Mein Kampf, München 1955, S. 507, w o Hitler betont, daß die nationalsozialistische Weltanschauung die Dimension einer Religion habe und als solche ihre Unfehlbarheit proklamieren müsse. 8 * E r fordert das Opfer Irmgard auf. »>Rufe den Vater, bräutliche Tochter«. Die Bergbraut erwiderte: >Du bist der Vater.Mutterrecht< zurückgeführt worden. 8 'Jedoch konterkariert der Roman die positive Wertung, die Bachofen dem Sieg des Patriarchats zumißt, wie schon Lützeler festgestellt hat: In der »Verzauberung« wird der äußere Sieg einer patriarchalischen Weltanschauung vorgeführt, gleichzeitig aber hervorgehoben, daß der Ethik der untergehenden matriarchalischen Religiosität die Zukunft gehört. 8 "
In diesem Sinne bieten die Reflexionen der >Massenwahntheorie< eine veränderte Deutungsfolie an: Im Rahmen einer sich psychoanalytisch gerierenden Traumdeutung heißt es dort: In der realen Welt also ist der Tod, ist der Vater und der von ihm repräsentierte Todestrieb . . . unbezwingbar; doch in der spiritualen, in der sublimierten Welt wird für den Erlösten der mütterliche Lebenstrieb für immer obsiegen . . . ( X I I , 449)-
Z u dieser Ausführung paßt die Zuweisung der beiden Exponenten des mystischen und des magischen Denkens zum mütterlichen, erkenntnisgerichteten und damit lebenserhaltenden Prinzip, das den Tod im Wissen um sein Wesen überwindet, und zum väterlichen todesverfallenen Prinzip, dessen triebgeleitete, aus Angst vor dem Tod bestimmte Haltung ihm gerade anheimfallt und statt der ersehnten Gemeinschaft nur die anonyme, dem augenblicklichen Rausch verfallene Masse produziert: >Mariussind die Menschen um uns? . . . Haben sie nun teil an unserer Gemeinschaft?« >Jasie sind in ihr neues Reich eingetreten, nun wissen sie um den TodSchuldlosenDie vier Reden des Studienrats Zacharias< (1949 verfaßt), versucht Broch, diesen Zusammenhang erzählerisch weiter zu analysieren und seine eigene, auf einer mystisch fundierten Onto-Anthropologie basierende Gesellschaftskritik gegen jene falsch verstandene Form von Innerlichkeit abzugrenzen. Wie schon in der >Verzauberung< ignoriert er freilich auch hier in seiner Kritik der kleinbürgerlichen Geisteshaltung die sozialgeschichtlichen Voraussetzungen für den Rückzug des deutschen Bürgertums in die Innerlichkeit; dessen Wendung zu einer wirklichkeitsblinden Spießermanier war, wie z. B. Plessner gezeigt hat, 54 weitaus eher die Folge verhinderter Emanzipationsbemühungen dieses Vgl. Wachtier, 1968, Kapitel III.4. Der mystische Weg des Landarztes, S. 2 2 4 - 2 5 0 . '* W . Schmidt-Dengler, Hermann Brochs R o m a n >Die VerzauberungWolkenkuckucksheim< flüchten, w o Satire sich aber lediglich auf Negation beschränkt — und diese Möglichkeit legen die im Hinblick auf die Undefinierbarkeit ethischer Wertsysteme zitierten Äußerungen Brochs nahe - da kann sie ihrer Aufgabe als »Utopie ex negativo« 97 noch nicht gerecht werden, denn als Alternative zum Verworfenen läßt sich in der Regel ein so heterogenes Feld von möglichen Gegenentwürfen erschließen, daß eine Richtunggebung im Hinblick auf das Angestrebte daraus nicht erwächst. In diesem Sinne argumentiert Stempel, wenn er im Zusammenhang ironischer Sprechhandlungen feststellt: N e g a t i v i t ä t . . . ist gewiß nur im Hinblick auf das, was negiert wird, aber ungewiß bezüglich dessen, was an seiner Stelle gelten soll, denn die Potentialität des non-a läßt sich nicht auf einen einfachen Gegensatz bringen. 9 ®
Darum muß von der literarischen Gestaltung satirischer Kritik als >Utopie ex negativo< mehr verlangt werden als nur die Destruktion dessen, was falsch ist. Ihre Qualität bemißt sich auch im Aufweis der intendierten Veränderungstendenz, die deshalb durchaus noch nicht neue Erstarrung generieren muß: »Satire - und Dichtung — wird . . . daran gemessen, ob sie sich auf dem schmalen Grat zwischen Weltflucht und Weltverfallenheit hält.« 9 ' Beide Aspekte, der kritische wie der utopische, werden in der folgenden Analyse der satirischen Novelle >Die vier Reden des Studienrats Zacharias< zu beachten sein. Brochs offene Kritik gilt hier zunächst der Haltung der deutschen Sozialdemokratie nach dem ersten Weltkrieg, — die nach der durch äußere Umstände erzwungenen Ausrufung der Republik unversehens an die Macht gelangt — sich sorgsam darum bemühte, »die Lebensstruktur des kaiserlichen Deutschlands im Guten wie im Schlechten intakt zu erhalten« (V, 141). " E b d . , S. 193. 98 W . - D . Stempel, Ironie als Sprechhandlung, in: W . Preisendanz/R. Warning ((Hg.), Poetik und Hermeneutik V I I , Das Komische, München 1976, S. 2 1 7 . Für die Satire-Diskussion hat Preisendanz dieses Argument übernommen; vgl. W . Preisendanz, Negativität und Positivität im Satirischen, in: Poetik und Hermeneutik V I I , a. a. O., S. 4 1 3 - 4 1 6 , dort S. 4 1 4 . 99
J . Brummack, Z u Begriff und Theorie der Satire, in: D V j S , 45. Jahrg. Sonderheft Forschungsberichte, D . 2 7 5 - 3 7 7 , dort S. 374.
1971,
331
Diese Tendenz versteht Broch als »kleinbürgerliche Liebe zum Verkalkten« und als Reaktion auf enttäuschte heroische und »romantische() Revolutionserwartungen« (ebd.) angesichts der desillusionierenden Realität der russischen Novemberrevolution. Der stärkste demokratische Machtfaktor der jungen Weimarer Demokratie wird so - durchaus zu Recht — eines gut gemeinten, aber blauäugigen Romantizismus bezichtigt, dessen hehren Humanitätsidealen keinerlei wirklichkeitsgerechte politische Handlungsenergie entsprach und die folglich wirkungslos verpuffen mußten: . . . damit ein politisches Gebilde wirksam sei, muß es gewollt werden, muß es eben den Willen zur Wirksamkeit besitzen; was lediglich ein Produkt der Verhältnisse ist, ohne v o m Menschen wahrhaft gewollt zu werden - die Weimarer Republik ist hiefiir ein leider zutreffendes Beispiel - , ist von vorneherein zum Absterben verurteilt (XII, 364).
Wo Broch der sozialdemokratischen Position eine Haltung »hypertrophisch unpolitische(r) Humanität« attestiert, 100 wird zugleich eine selbstkritische Wendung auch gegen das eigene Vertrauen auf eine nur formalethische Orientierung offener Wertsysteme an einem radikal transzendenten utopischen Telos erkennbar. Der Diagnose dieser Form von Hypertrophie liegt einmal mehr das >Realitätsmodell des Wertgeschehens< oder >Gesetz psychischer Zyklen< zugrunde: Dem Zerrissenheitswahn, der in den Ersten Weltkrieg mündete, folgt aus der Perspektive Brochscher Theorie nach dem halbherzigen und deshalb notwendig mißlingenden Versuch zum Aufbau eines neuen Zentralwertsystems alsbald der Umschlag in den Hypertrophiewahn: Broch bezeichnet das so identifizierte Phänomen als spezifisch demokratische Hypertrophie, die sich in erster Linie, und zwar stets am unrechtesten Platz, als ein hypertrophisch ungebundenes laisser faire, laisser aller kundtut, darüber hinaus aber mit all der Leidenschaftlichkeit, die jeder echten Hypertrophie zukommt, sich wehrt, den Blick auf die Weltrealität zu richten (XII,
330.
— was im Falle Brochs zu beweisen war! Ein solches Demokratieverständnis, das die Massenwahntheorie ausdrücklich auf alle bislang existierenden demokratischen Formen der westlichen Welt bezieht, bildet keine >richtunggebenden Kräfte< aus und leitet, da es jedwede politische und gesellschaftliche Strömung zuläßt, eine neue Phase der Zerrissenheit des Individuums zwischen den verschiedenen Partialwertsystemen ein. Führt die Interpretation des Zeitgeschehens unter der Vorgabe des geschichtszyklischen Deutungsmusters noch zu in sich stimmigen Ergebnissen, so wird in der darüber hinaus vollzogenen Rückführung des historiV , S.
332
141.
sehen Prozesses auf letzte Axiome Brochscher Philosophie einmal mehr ein Defizit an faktenorientierten politischen Analysemomenten zugunsten spekulativer Interpretationsansätze auf der Basis einer metaphysischen Grundhaltung erkennbar. Als letzte Ursache für die Prädestination gerade des deutschen Volkes für eine panikbehaftete Wahnverfallenheit gibt die >Massenwahntheorie< folgende Begründung: Der deutsche Charakter, sozusagen nach allen Seiten dem Absoluten verhaftet, hat die Zwiespältigkeit dieser Welt womöglich noch schlechter vertragen als die anderen Völker. Daß sie (als Christenmenschen) ihre eigene Gottesgnadenschaft und Freiheit vor der des Herrschers zu beugen hatten, das war ihnen noch erträglich, denn da hatte Gott selber noch die Rangordnung seiner Gnadenverteilung vorgenommen, doch daß nun aus ihrem eigenen das Abstrakte des Gottesgnadentums der Republik sich konstituieren sollte, daß sie vor dieser zu ethischer und staatsbürgerlicher Demut verhalten waren, zugleich aber, geradezu verfassungsmäßig, zum Mißtrauen gegen ihre Regierung aufgefordert wurden, das war für ihr dialektisches Gemüt zu viel ( X I I , 512).
Vor diesem Hintergrund begegnet dem Leser der Studienrat für Mathematik und Physik und Prototyp des Spießers wieder, der schon in der II. Novelle der >SchuldlosenMethodisch konstruiert*, als Protagonist fungiert hatte und in dessen Typik sich Züge jener beschränkten und verblasenen Geisteshaltung wiederfinden, die schon Marius Ratti kennzeichneten: Die paradoxe Richtungslosigkeit des Zeitgeschehens, die sich im — notgedrungenen — Zusammenwirken heterogenster politischer Kräfte innerhalb der Staatsführung der Weimarer Rpublik widerspiegelt, symbolisiert Broch in dem Zacharias' Wohnzimmer zierenden Wandschmuck. Dort blickt man mit Verehrung sowohl zu den Porträts von Wilhelm II, Hindenburg und Ludendorff als auch zu den Konterfeis von Bebel und Scheidemann auf, die einträchtig nebeneinander hängen (V, 142). Zacharias hat sich aus der »ereignisreichen Langweile des Weltkriegs in die ereignislosere . . . des Berufsund Alltagslebens« zurückbegeben (ebd., 141). Die so bezeichnete Haltung belegt die vollständige Entfremdung von der Realität, zu der keinerlei sinnhaltiger Bezug mehr hergestellt werden kann und in der damit nach Brochs Auffassung abermals die Weichen in Richtung auf ein magisches Seinsverständnis gestellt sind. Der Antiheld der II. Novelle kehrt in gesellschaftliche und politische Verhältnisse zurück, an denen der Krieg im Grunde nichts geändert hat und in die er sich sogleich wieder einreiht, indem er seiner Gewohnheit gemäß fortfahrt, »seine Ansichten . . . von den jeweiligen Machthabern zu beziehen« (ebd.). Die ungebrochene Untertanenmentalität macht erkennbar, daß die neue staatstragende Haltung die alte ist; den veränderten Machtverhältnissen entspricht weder ein neues Bewußtsein noch irgendeine Wandlung politischer Wertmuster — der alten Obrigkeitshörigkeit wird lediglich ein pseudodemokratisches Deckmäntelchen umgehängt. 333
Zacharias repräsentiert den typischen Mitläufer, die Masse, das >StimmviehSchuldlosen< am eindringlichsten seine Zeitkritik exemplifiziert. Die Konfrontation beider erlaubt ein erzählerisches Verfahren der wechselseitigen Erhellung kritisierter Lebenshaltungen. A . wird als ein im Strom der Ereignisse Sich-Treiben-Lassender erkennbar, der niemals konkret Stellung bezieht und sich so jenem konstruktiven, verantwortungsbewußten Verhältnis zur Wirklichkeit, das die mystisch begründete Gottesebenbildlichkeit auferlegt, verweigert. Statt dessen vertritt er eine fatalistische Schicksalsgläubigkeit: Was das Schicksal mir beschert, nehme ich hin, . . . Und da ich mich gegen das Schicksal nicht wehren kann, trachte ich, mich daran zu erfreuen (V, 147).
In dieser Haltung wird aus dem von Broch ursprünglich in der Subjektivität lokalisierten und damit vom Subjekt beeinflußbaren >Realitätsmodell des Wertgeschehens< eine Hypostasierung zu objektiver Geschichtsgesetzlichkeit, die plausibiliert, was Broch meint, wenn er die Geltung historischer Gesetze dem im Dämmerzustand befindlichen Bewußtsein zuordnet, das sich von aller Verantwortung suspendiert hat. A . demonstriert auf diese Weise seine ästhetizistische Verfallenheit an das Vorgefundene, deren materialistischen Charakter er auch im kennerischen Umgang mit gutem Wein (ebd., 145) und der strengen Einhaltung kulinarischer Regeln und Gepflogenheiten bezeugt (ebd., 154). Solche Einstellung ist nach Broch als dogmatisches Akzeptieren gegebener Wirklichkeit Kennzeichen der philiströsen 334
Lebenshaltung. Zacharias hat recht, wenn er A.'s Weigerung, über problematische Phänomene der eigenen Gegenwart nachzudenken und Stellung zu ihnen zu beziehen, als »Gedankenfaulheit« für verwerflich erklärt (ebd., I47) , - °' Dabei muß es als erzähltechnisch problematisch gewertet werden, eine satirisch diskreditierte Figur wie Zacharias vom Autor ernstgemeinte Standpunkte vertreten zu lassen, denn deren kritisches Potential kann sich so der Rezeption nur schwer erschließen. Das ist auch der Fall, wenn Zacharias den Trinkbruder aus der bornierten Perspektive des Oberlehrers als »verstockte^)« Schüler erlebt (ebd.); denn dieselbe Vokabel benutzt Broch, um die durch A . repräsentierte Haltung zu charakterisieren: Der am Anfang der Weges beharrende Mensch ist verstockt; es gibt keinen verstockteren und böseren Menschen als den problemlosen Philister, und er ist der radikal Undemütige, der die . . . Aufgabe ablehnt ( X / i , 37).
Zwar zeugen A . ' s Kommentare, deren ironische Treffsicherheit Zacharias' Ansichten oft genug in ihrer Beschränktheit und Anmaßung bloßstellen, von einer durchaus unverstellten Wirklichkeitswahrnehmung, jedoch gelangen sie über jene bloße Negation nicht hinaus, die Broch in Abgrenzung zur >Verzauberung< angesichts der politischen Realität seiner Zeit nun offenbar als unzureichend erkennt. A . fehlt es am nötigen Verantwortungsbewußtsein, um die Standpunkte seines Gegenüber ernstzunehmen und der von ihnen ausgehenden Gefährdung in offener Auseinandersetzung zu begegnen. E r stellt deshalb keine positive Gegenfigur zu Zacharias dar, sondern wird als ein den Nationalsozialismus Gewährenlassender selbst zum Gegenstand der satirischen Kritik. Broch symbolisiert diesen Sachverhalt in einer Verbrüderungsszene zwischen beiden Protagonisten, die A.'s Verhalten als Kumpanei mit dem Blutgrauen erkennbar werden läßt 102 und die zugleich den magischen Kontext evoziert, denn derartige magische »Rituale . . . dienen allesamt zur symbolischen Einbeziehung des Individuums in die Geltungsshäre des jeweiligen Zentralwertes« (XII, 382). So werden in den Haltungen beider Figuren buchstäblich von A bis Z die nach Brochs Verständnis für das Erstarken des Nationalsozialismus verantwortlichen Positionen beschrieben. An Zacharias' Denken und Handeln demonstriert Broch das Entstehen von Wahnphänomenen und magischen Denkstrukturen als Folge der umfassenden Zerstörung eines kohärenten Wirklichkeitsverständnisses. Die 101
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»Denn die Faulheit im Geiste ist das Sündige schlechthin, und die bloße H o f f u n g auf den Messias, der der Erkennende und der Held zugleich sein soll, ist von übelstem, >gottverlassenstem< Fatalismus« ( X / i , 52). »Du bist Z. und ich bin A.; als Brüder, wie wir es sind, haben wir alle Namen . . . von A bis Z gemeinsam zu eigen«, bramabasiert Zacharias (V, 154).
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Figur bietet angesichts der hypertrophen Ansprüche der sie bestimmenden Wertsysteme ein Bild innerer Zerrissenheit, wie neben der schon erwähnten Wohnzimmerdekoration vor allem ihre Stellung gegenüber der Relativitätstheorie deudich macht. Während Zacharias sich einerseits aus Opportunismus zur Parteidisziplin gegenüber der sich mit Einstein solidarisierenden S P D verpflichtet fühlt, glaubt er aufgrund seiner engstirnigen Berufsauffassung andererseits, entschieden für einen »wohlbegründeten Anspruch« des Lehrers »auf Wissensabgeschlossenheit« eintreten zu müssen (V, 142). Damit erweist er sich als ein im Dämmerzustand befangener Anhänger eines geschlossenen Systems, der sich derselben >Gedankenfaulheit< schuldig macht, die er A. vorwirft. Zudem macht er die Erfahrung, daß die Orientierung an divergenten Wertsystemen keine einsinnige Haltung zuläßt. A . bringt dieses Ergebnis auf die pointierte Formel: »Jawohl, politisch sind Sie für Einstein, und wissenschaftlich sind Sie gegen ihn. Und im allgemeinen gefällt er Ihnen überhaupt sehr wenig« (ebd., 147). Damit macht er zugleich auf das irrational-affektive und subjektivistische Moment von Zacharias' Bewertungen aufmerksam. Dessen unklare und zerrissene Haltung drückt sich schon in seiner äußeren Erscheinung aus: E r ist »jeder Zoll ein gebieterischschüchterner Schulmeister« (V, 163). Der inneren Unsicherheit entspricht, wie sich schon in der >Verzauberung< zeigte, ein aggressives, machthungriges Verhalten gegenüber der als bedrohlich empfundenen Umwelt, das stets an Schwächeren ausgelebt wird und die Kehrseite jenes von Broch als magisch verstandenen, unhinterfragten Kadavergehorsams gegenüber den Machtinstanzen darstellt, 10 ' denen das zur eigenverantwortlichen Bewältigung seiner Irritationen unfähig gewordene und deshalb »fuhrungssüchtige« Individuum verfällt. 104 Zacharias treibt der Eindruck, aus den >besseren Ständern ausgeschlossen zu sein und von ihnen belächelt zu werden, zu projizierten Racheakten an seinen Schülern: ,0
' Z u r Anwendbarkeit sozialpsychologischer Beschreibungskategorien, wie sie in den sechziger Jahren von A. und M. Mitscherlich entwickelt wurden, auf Brochs Kennzeichnung der Spießermentalität und ihres >RadfahrerUntertan< und Hermann Brochs >Die Schuldlosem. Zur Satire und Analyse des Spießers als Untertan«, in: Zeitschr. f. dt. Philologie, 93. Bd (1974), S. 1 8 6 - 2 1 5 . Siefken arbeitet die zahlreichen Ähnlichkeiten zwischen Manns und Brochs Protagonisten überzeugend heraus. Ein Einfluß von Mann auf Brochs Gestaltung der Zacharias-Figur ist umso wahrscheinlicher, als die erste Fassung von Brochs Methodologischer Novelle< (die in überarbeiteter Form in die >Schuldlosen< integriert ist und die Figur des Zacharias einführt) ausdrücklich auf H. Mann Bezug nimmt. 104 Auch dieses Phänomen interpretiert Broch metaphysizistisch: »Der Nationalsozialismus hat das abstrakte Gottesgnadentum der Republik . . . durch das konkrete Gottesgnadentum des >Führers< (ersetzt), der in mystischer Einheit mit dem >Volkswillen< ist und . . . zur alleinigen und absoluten Rechtsquelle wird, so daß alle regulativen Prinzipien . . . in ihm verankert sind, . . .«, ( X I I , 513).
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Nun, an ihren Kindern wird er es ihnen schon heimzahlen; die werden vor ihm, dem strengen Prüfer, nichts zu lächeln haben . . . Die ausgleichende Ungerechtigkeit (V, 143).
Der »bekannt strenge Prüfer« ist Zacharias freilich nur im Hinblick auf andere, niemals im Hinblick auf die eigenen Anschauungen und ihre Konsistenz. Er flieht aus der panikauslösenden Verunsicherung in ein totalitäres Imitationssystem, das als obersten Wert das Streben nach einer gewaltsam Eindeutigkeit produzierenden, zentralistischen Vereinheitlichung der Welt setzt und nach Brochs Verständnis den Charakter des >Religionsersatzes< hat (XII, 519). Während des folgenden Trinkgelages mit A. kennzeichnet Broch Zacharias' Denken und Handeln als ein dem nationalsozialistischen Massenwahn verfallenes und analysiert so im Mittel der Satire die Funktionsmechanismen der NS-Ideologie im Rahmen seiner massenwahntheoretischen Vorgaben. Bereits der Ort ihrer Unterhaltung stellt eine satirische Versinnbildlichung bornierter Wirklichkeitswahrnehmung und ihrer Funktionalisierbarkeit zum Zwecke selbstbetrügerischer Erhebungsversuche über die Realität dar: In der Nähe gab's eine Weinstube, . . . (die) in eine Reihe enger Logen verwandelt worden war, deren Eingänge, zwecks Ausschaltung der Außenwelt, sich gegen diese vermittels pseudo-orientalischer Vorhänge abschließen ließen, . . . In einer solchen Sauf-Kabine nahmen Zacharias und der junge Mann Platz . . . (V, 145).
Im Verlauf des Abends fällt an Zacharias zunächst sein in jeder Hinsicht unkultivierter Lebensstil auf: Noch niemals hat er ein »ernsthaftes Konzert« besucht (ebd., 143); den alten Wein, den A . bestellt, gießt er wie Wasser hinunter (ebd., 145), gibt sich in der hemmungslosen Weise des Wirkungstrinkens dem Alkoholkonsum hin, und auch seine Eßgewohnheiten kennzeichnen ihn als von jeglicher Etikette unbelastet (ebd., 154). Solche Defizite sind ein bedeutungsvolles Indiz im Kontext von Brochs Wertphilosophie, derzufolge die Bindung des Menschen an die Kultur - w o sie nicht zum hohlen Konventionssystem degeneriert ist — den wichtigsten Gradmesser für die »rationale Regelung und Kontrolle irrationaler Bedürfnisse« darstellt (XII, 14). Sie verleiht Sicherheit, denn sie definiert das Verhältnis zur sozialen Umwelt, indem sie als »normative(s) System für menschliche Verhaltensweisen« fungiert, und enthält als solche einen »Maßstab menschlicher Normalität« (ebd.). Vor dem Hintergrund seiner Unterscheidung kultureller Gestaltungsweisen in >Irrationalbereicherung< und >Rationalverarmung* weist Broch Zacharias eindeutig der letzteren zu, die durch die »Vervielfältigung des Triebverhaltens eine A r t Scheinethik« generiert, »d. h. eine Scheinberechtigung zur unethischen Auslebung der unkontrollierten Triebe« (XII, 14). Im Zeichen einer derartigen fassadenhaften Scheinmoral, 337
deren prägnante Realitätsferne, Irrationalität und Unzulänglichkeit sich hinter pseudomystischem Dunkelheitsgeraune verbirgt, 1 0 ' steht auch die wahnhafte Ideologie, der Zacharias anhängt und die in der phrasenhaften Verlogenheit seines Selbst- und Weltverständnisses ihren Ausdruck findet. Anläßlich einer kritischen Äußerung A . ' s über die unheilvolle Bedeutung Deutschlands für die jüngste politische Entwicklung in Europa, die im Ersten Weltkrieg eskalierte, setzt Zacharias zu seiner ersten Rede an, deren Tenor jener vollständig hypertrophe Nationalismus prägt, den die >Massenwahntheorie< als das Herzstück der europäischen Faschismen erkennt. Er fungiert ihrzufolge als notwendige emotionale »Superbefriedigung« für die panikgeschüttelten Massen, denen auf diese Weise von Seiten eines dämonischen Demagogen wieder Selbstvertrauen verliehen wird (XII, 308). E r kanalisiert ihre diffusen Ängste und verlagert ihre (metaphysische) Ursache nach außen auf Scheingegner wie rassische oder politische Minderheiten oder Angehörige fremder Nationen und leitet die Masse auf diese Weise zu archaisch infantilen Ekstase-Formen, also vor allem zu denen von realen >Siegen< . . . . . . . (und fixiert sie) lediglich auf diesen Augenblick des Sieges und der sieghaften Pseudo-Ekstase . . . ( X I I , 27).
Zacharias' übersteigerter Nationalstolz und die abschätzige Haltung gegenüber anderen Völkern ist Ausdruck einer totalitären »Selbstmythisierung« des deutschen Volkes (XII, 309), während er andererseits, nachdem er Vertrauen zu A . gewonnen hat, ihm gegenüber eine geradezu infantile Folgsamkeit an den Tag legt und darin sein Bedürfnis nach Führung bezeugt (V, 153). Sein hypertrophes Selbstverständnis als Gymnasiallehrer erweist seine Ideologieträchtigkeit, wenn Zacharias feststellt: »Wir sind ein Volk von Lehrmeistern, von Weltenlehrmeistern« (ebd., 149). Sie bewirkt, daß die Realität in eine autoritär zu führende Schulkasse umgedeutet werden kann, in der den Deutschen als der >Herrenrasse< in der Funktion des Schulmeisters die Exekution obliegt. Die Aggression gegen andere Völker wird dabei im Namen einer vorgeschobenen höheren Ordnung, als deren Statthalter Zacharias seine Nation begreift, gerechtfertigt und zur schweren Pflicht und Bürde umgelogen:
»Sind wir uns doch manchmal selber dunkel, so daß wir . . . ins Zögern geraten, zurückschreckend vor unserer Härte und ihrer Anwendung« (V, 149/50). »Mystische Begriffe«, heißt es in Brochs Essay >Erwägungen zum Problem des Kulturtodes< von 1936, »haben zweifachen Ursprung, entweder sie ruhen in einer starken inneren Erkenntnis, oder sie sind (pseudo-mystische) Notbehelfe, die immer dann eingesetzt werden, wenn die naturalistische Anschauung nicht mehr ausreicht« ( X / i , 59).
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Wir haben . . . nicht dulden dürfen, daß sie gegen uns aufmucken. . . . wir können . . . uns (unsere Härte und ihre Anwendung) . . . nicht ersparen; immer müssen wir durch die Ungerechtigkeit hindurch, um . . . zur Weltgerechtigkeit zu gelangen,
. . . (ebd., 149/50).
Nach dieser Logik heiligt ein zweifelhafter Zweck jedes Mittel. — Darüberhinaus kehrt sich in ihr aber Brochs Hypostasierung von Geschichtsgesetzlichkeiten gegen seine eigene Intention. Schreibt diese nämlich noch dem historisch Sinnlosen wie dem Nationalsozialismus einen Sinn zu, der in der kathartischen Funktion des >Reinen-Tisch-Machens< als notwendiger Voraussetzung zur Errichtung eines neuen, offenen, religiös fundierten Wertsystems besteht, so zeigt sich hier, wie solches Denken gerade als Rechtfertigung für perverse Ideologien mißbraucht werden kann. Zacharias' offensichtlich haltlose Anwürfe gegen fremde Nationen (ebd., 149) entspringen der Angst vor allen fremden Weltbestandteilen, die das bornierte Erkenntnis- und Wertsystem nicht verarbeiten kann und die ihm deshalb als Bedrohung erscheinen. 106 Das erstarrte Imitationssystem kann sich solcher Gefahrdung nur auf scheinhafte Weise und mittels materieller Okkupation nach dem Verständnis >Ich habe die Welt, weil sie mir unterjocht ist< entziehen, dessen deutlichster Ausdruck der Versuch kriegerischer Unterwerfung ganz Europas durch das NS-Regime ist. Was nicht erkennend bewältigt werden kann, wird so kurzerhand überwältigt. Diese Auffassung, die Broch theoretisch an das Phänomen des umfassenden Rationalverlustes koppelt (XII, 17), bringt Zacharias mit einem weiteren abstrusen Ressentiment gegen die Juden zum Ausdruck: Wir mögen auch nicht, daß sie in ihrem Großgetue sich mit der Neugestaltung unseres physikalischen Weltbildes befassen . . .; es ist unser Weltbild, und wenn wir es umgestaltet haben wollen, so werden wir uns den Umbau besser und solider als sie besorgen, . . . (V, 149).
In solchen Äußerungen dokumentiert Broch die »erkenntnislose Erkenntnisvermessenheit« des Spießers ( X I I , 15 3) und seine »magische« Logik: gleichgültig ob es sich um Einsteins Physik, um Ehrlichs Seuchenbekämpfung, um Cantors Mathematik, um Husserls Philosophie, um Picassos Malerei oder um sonst eine Leistung handelt, die aus der Kulturentwicklung einfach nicht mehr wegzudenken . . . ist, der Antisemit wird behaupten, daß in alldem irgendein geheimer Schwindel sich verbirgt, der die ehemals reinere und gücklichere geistige Welt nunmehr jüdisch verunreinigt, daß aber, soweit dies nicht der Fall ist, einfach Plagiate vorliegen . . . an früheren oder an künftigen Leistungen von Nichtjuden, die dasselbige besser und ehrlicher einstens produziert haben oder . . . produzieren werden. E s ist ein Nebel von magisch-verlogener Vagheit und Halbbewußtheit; ,o6
»alles >Fremde< wird solcherart zum Angst-Symbol, . . . zum Gegenstand der tiefsten metaphysischen Abneigung, zum symbolischen Objekt für den TodesHaß« (XII, 18).
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das Korrekte wird . . . vermieden oder unabsichtlich nicht zur Kenntnis genommen . . . ( X I I , 403).
Im Rahmen seins Rollenmusters als Weltenlehrmeister fiihlt sich Zacharias verpflichtet, den Kampf gegen das Angst erzeugende >Böse< mittels der physischen Vernichtung alles Fremden zu fuhren, die er zu religiöser Läuterung umstilisiert: Wir haben zu ihrem Heil die Strafe der todschwangeren Unendlichkeit an ihnen (den anderen Völkern, A . G.) zu vollziehen (V, 150).
Das Detail macht erkennbar, daß Broch hier seine Deutung des spätmittelalterlichen Zerfallsprozesses als Interpretationsgrundlage für das Verständnis des Faschismus benutzt. Die Ausfuhrungen der >Massenwahntheorie< bestätigen das: Ihrzufolge mußte das erstarrte Weltbild des mittelalterlichen Katholizismus nach dem Opfertod Christi den Fortbestand des Übels in der Welt durch eine empirisch vorhandene Mittlerschaft für das >BöseVerteufelung< der Juden entspreche. Im Verfahren der Inquisition sei es nach dem Wirklichkeitsverständnis des Katholizismus darum gegangen, die Gefallenen zum Heil zu erlösen, »denn es galt, Seelen zu retten, . . . auf daß sie, wenn auch erst im Tode, wieder in die Gemeinschaft der Gläubigen einkehren könnten« (ebd., 264). Diese Intention wird, wie Zacharias' Äußerung belegt, zumindest als vordergründige auch dem Nationalsozialismus unterstellt."37 Eine solche Parallelsetzung beider historischer Vorgänge und ihrer Motivationen entfernt sich nun allerdings in unverkennbarer Weise von zeitgeschichtlichen Fakten zugunsten eines - seinerseits starr anmutenden — geschichtstheoretischen Modells, denn auch die verlogenste NS-Propaganda gab niemals vor, daß es ihr um das Heil derer ginge, gegen die sich die faschistische Aggression richtete. Damit ergibt sich ein weiterer Beleg für die eingeschränkte Aussagekraft von Brochs Zeitkritik: So genau er einzelne Phänomene in ihrer Bedeutung für die historische Entwicklung erfaßt, so unzweifelhaft verfehlt er ihre Interpretation im Horizont einer unflexiblen Geschichtstheorie auf der Basis eines religiös fundierten Wirklichkeitsverständnisses, das mystische und magische Grundhaltungen als Koordinaten gesellschaftlicher Prozesse benutzt. '°7 Das bestätigt auch A . ' s rückblickende Reflexion über das >Wesen des Deutschem am Ende der Novelle: »Seine Ehrlichkeit ist die des Gewalttäters, der den gewaltabgeneigten Schwindlern die Verlogenheit austreiben möchte, ja sich ebendarum geradezu als Heilsbringer fühlt, . . .« (V, 171). 540
Auch in der zweiten Rede des Zacharias, in der er seine Auffassung von Liebe und Sexualität kundtut, steht weniger die konkrete politische Situation der Vor-Hitler-Zeit als vielmehr ihre Einordnung in die Werttheorie im Hintergrund der Darstellung. Dabei deutet Broch ein durchaus brisantes ökonomisches, der Entwicklung und Analyse radikaler Ideologie förderliches Moment der politischen Situation an, wenn Zacharias in seiner verlogenen Weise bekundet, seine sexuellen Bedürfnisse nicht mehr mit seiner Frau, sondern bei Prostituierten ausleben zu müssen, da er das Risiko, ein weiteres Kind zu zeugen, dessen Ernährung der Familie innerhalb des wirtschaftlichen Desasters der Inflationszeit unmöglich wäre, nicht eingehen will. Auch dieses Motiv wird jedoch in der für Brochs Perspektive typischen Weise zugunsten einer erneuten Bekräftigung des Bedürfnisses nach ideeller Wertsicherheit relativiert: Fern sei es v o n mir, finanzielle Unsicherheit zu unterschätzen, hier aber liegt die Unsicherheit tiefer, und sie ist, soferne ich recht bin, die des Unendlichen, in dem wir Deutsche leben, so daß uns jegliche Paarung ins Dunkle der Unendlichkeit stürzt (V, i ; i).
Die Rede ist unfreiwilliges Eingeständnis der Unfähigkeit zur humanen Liebe des seiner animalischen Triebhaftigkeit ausgelieferten Menschen jenseits eines sinnvermittelnden und sublimierenden Seinsverständnisses. In diesem Zusammenhang wird jenes erotische Totalitätserlebnis der II. Novelle der >Schuldlosen< noch einmal reflektiert, das dem zum Selbstmord entschlossenen Zacharias anläßlich eines letzten Liebeserlebnisses zuteil geworden war. Es zeigt sich, daß sogar diese ekstatische Erfahrung, die aus dem Willen zur Befreiung von allem Bedingenden entsprungen war und damit die Chance des >selbstentäußerten< Seins zum Entwurf einer neuen, autonomen Daseinshaltung geboten hatte, im Horizont eines falschen Bewußtseins der Fehldeutung zum Opfer fällt und damit keinerlei Sinngehalt vermitteln kann: Zacharias' >Unendlichkeitssehnsucht< richtet sich nämlich gerade nicht auf die geistige Anstrengung erfordernde mystisch-ekstatische Erhebung zum eigenen Selbst, sondern auf die rauschhafte Ich-Auflösung, auf eine »Ausgelöschtheit (in) . . . unendliche(r) Dunkelheit«, die »seine Seele entseelt und seinen Leib entleibt« und die »Heuchelei, mit der er sich Liebe vorgelogen hat, nicht zum Vorschein« kommen läßt (V, 152). Eine solche Haltung bedeutet nicht die in >Methodisch konstruiere als Möglichkeit angedeutete ideelle Überwindung des Todes, sondern die Verfallenheit an ihn, ist Flucht aus tiefster Angstgetriebenheit und nicht freie Entscheidung des autonomen Subjekts, ist Rückfall ins Nichts, ins Apeiron, Auslöschung des Bewußtseins, nicht eine die empirische Erfahrung transzendierende Bewußtseinserweiterung zum Erlebnis der Totalität.1"8 Die To,oS
Die Deutung des hier zum Ausdruck gebrachten Todesverständnisses als Ergebnis
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desverfallenheit konterkariert aus der Sicht des engstirnigen, verdinglichten Denkens die Einsicht des mystischen Denkens, daß nur das >Sein zum Tode< die Kraft zur dezisionistischen Sprengung des verendlichten Seins aufbringen kann. Unter Zacharias' falscher, magischer Perspektive verschärft ein derartiges Erlebnis die Angst und die radikale Verbindungslosigkeit des Individuums, anstatt sie aufzuheben, und läßt nur Scham und Resignation zurück: Auch wir, meine Philippine und ich, haben uns dessen, was uns einstens widerfahren ist, so sehr geschämt, daß wir es niemals mehr erwähnt haben (V, 152).
Die fehlgedeutete Entgrenzungserfahrung potenziert den ohnehin perversen Charakter der ehelichen Beziehung zwischen Philippine und Zacharias um ein weiteres. Sie vervollkommnet die Anonymität und Entfremdung zwischen beiden und läßt sie einander als bloße Werkzeuge niedrigster Triebbefriedigung benutzen: ach, sie würde mich aufnehmen gleichwie ein Straßenmädchen ihren Besucher empfängt, und ich würde sie nehmen wie eine, zu der ich hinaufgeh, . . . (ebd.).
Broch sieht in diesem Sexualverhalten eine Parallele zur Hypertrophie des Siegeswillens auf der Basis des panikgeleiteten Dämmerzustandes: E s ließe sich geradezu behaupten, daß im Massengeschehen die Siegesekstase . . . beiläufig die nämliche Stelle einnimmt wie die Sexualekstase im Individualgeschehen, d. h. jene Stelle, von der aus das ständige Ekstasebedürfnis des Menschen am bequemsten, am handgreiflichsten, also mit dem geringsten A u f w a n d von Sublimierungen zu befriedigen ist, . . . (XII, 322).
Bezeichnet der Begriff der Ekstase in Brochs Terminologie sonst 1 " 9 einen mystischen Vorgang der produktiven Ich-Erweiterung durch erkenntnisgerichtete Weltformung, so sind mit dem hier beschriebenen Verhalten eindeutig Rauschphänomene gemeint, die lediglich eine scheinbare Erweiterung des Ichs generieren, eine zeitweilige und vorübergehende Betäubung seiner Angst und Bedrohtheit gewährleisten und damit die Befangenheit in einem geschlossenen, imitativen System belegen, das keine dauerhafte Sicherung gewährleistet. Seinen eindeutigsten Ausdruck findet dieser Zusammenhang in Zacharias' unkontrolliertem Trinkverhalten und seiner unsublimierten Sexualität, aber auch in der hier thematisierten, übersteigerten Aggression des Individuums, die Broch als »Scheinmut« deutet (XII, 491).
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von Determinationszusammenhängen stützt sich auf eine Textstelle der >Massenwahntheoriec »der Mensch, welcher seine Massenqualität . . . akzeptiert, lebt seinen Todestrieb ebenso nackt und unsublimiert aus, wie er seine sonstigen Triebe unsublimiert auszuleben trachtet« (XII, 162). Auch hier läßt sich, wie das o. g. Zitat zeigt, eine unscharfe Begriffsverwendung feststellen, die oft genug >Ekstase< nennt, was >Rausch< ist, und die dem Rezipienten verständnisnotwendige Differenzierungen unnötig erschwert.
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Die Primitivität des hier waltenden Systems dokumentiert Broch in satirischer Manier, wenn die Verbrüderung zwischen A. und Zacharias durch das gerade wegen der Ernsthaftigkeit seines Vollzugs infantil anmutende Ritual eines gemeinsamen Ganges zur Herrentoilette besiegelt wird: A l s o begaben sie sich selbzweit zu der im Hintergrund des Lokals befindlichen Herrentoilette. Und hierorts, v o r der Urinalmauer stehend, w u r d e Zacharias mit einem Male in erhabenere Sphären entrückt, . . . ( V , 15 5).
Generiert schon die Diskrepanz zwischen der Banalität des Ortes und der durch sie inspirierten, geradezu feierlichen Stimmung des Protagonisten einige Komik, so wird die Situation angesichts Zacharias' pathetischer Überhöhung der hier stattfindenden Tätigkeit in magisch-rituelle Bereiche vollends lächerlich, zumal sich diese in der Gleichsetzung von »menschlicher und hundlicher Konstitution« (ebd., 156) zugleich selbst diskreditiert, indem sie die Aufgabe des humanen Status anzeigt: an der Baum- und Steinverehrung sind des Menschen erste Rituale entstanden, und . . . gelten nicht auch dem H u n d B a u m und Stein . . . als etwas Heiliges? Ist das Geschäft der Blasenerleichterung, zu dem . . . wahrlich nur er B a u m und Eckstein benötigt, nicht immer auch Vorspiel zu einem höheren Ritual, zu einem Besprengungsritual . . .? (ebd.)
Broch persifliert auf diese Weise die dem Götzendienst geschlossener Wertsysteme an einem dogmatischen Absolutum 1 1 0 sich unterwerfende magische Ratio, die nach seiner Auffassung sichtbarstes Kennzeichen der >Wiederverheidung< ist und damit auf den als Verlust der ebenbildlichen Rationalität gedeuteten Religionsverlust als wesentliche Ursache des Massenwahns hinweist. E r definiert sie als R ü c k g r i f f auf die magische Vorsphäre des Menschlichen, . . . aus der . . . die primitivsten Seeleninhalte wieder ans Licht gefördert werden, auf daß mit ihnen das Rationalvakuum, also das Nichts durch ein anderes Nichts aufgefüllt werde ( X I I , 336/7).
Das magische Denken ist demzufolge zutiefst realitäts- wie humanitätsinadäquat, weil es sich einer autonomen Strukturierung der begegnenden Wirklichkeit durch Erkenntnisfortschritte verschließt. Statt dessen versucht es, die Welt innerhalb eines stagnierenden Systems zu deuten bzw. mittels Beschwörungsritualen vergeblich Einfluß auf zu mythischer Größe emporstilisierte Phänomene zu gewinnen.
" " » g l e i c h g ü l t i g , ob eine Vergötzung mit einem B e g r i f f oder mit einer T u g e n d oder einer Person v o r g e n o m m e n wird, es ist . . . immer auch ein S y m p t o m für ein geschlossenes System« ( X I I , 367). In diesem Sinne begreift B r o c h freilich auch das Vernunftpostulat der Französischen Revolution als »Götzin« (vgl. ebd.).
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D e r Texthinweis auf den Gebrauch v o n Runenzeichen im magischen Weltbild ( V , 156) bezieht diese Darstellung in erkennbarer Weise auf eine Eigentümlichkeit des Nationalsozialismus und kennzeichnet so dessen G e i stes- und Kulturniveau wie schon in der >Verzauberung< als v o n tiefster, magischer Primitivität bestimmt. Zacharias' pathetische Anthropomorphisierung des Hundes zum »treuen, ihm (dem Menschen, A . G . ) in Liebe verbundenen . . . Freund« (ebd., 15 5) stellt angesichts der Unfähigkeit des im animalischen Dämmerzustand befangenen Individuums zu zwischenmenschlicher Gemeinschaft erneut die Verkehrung aller rationalen w i e emotionalen Lebensbezüge dar und kann zugleich als satirische Anspielung auf Hitlers Leidenschaft für H u n d e verstanden werden, die allerdings im Text nicht weiter gestützt wird. A l s wichtigsten Aspekt magischen Denkens beschreibt Broch die radikale Versklavung des einzelnen ( X I I , 484/5), deren letzter und modernster A u s d r u c k das Konzentrationslager ist. In diesem Sinne gestaltet Broch die dritte Rede des Protagonisten, in der sich unvermittelt eine abgrundtiefe N e i g u n g zur Selbstversklavung mitteilt, die den Verlust jeder Humanität offenbar werden läßt: D e m in jeder Weise seine Unfähigkeit zu sozialer Gemeinschaft dokumentierenden Individuum erscheint als letzte
Uberwindungsmöglichkeit
seiner Isolation die Flucht in eine vollständig pervertierte Brüderlichkeitsideologie, als deren Institutionalisierung Zacharias die moderne A r m e e begreift. In ihrer Idealisierung w i r d mit dem Rückfall in Existenzformen unterhalb der Animalität die letzte Konsequenz des Dämmerzustandes auf ihren konzentriertesten Begriff gebracht. Ihre strenge Hierarchisierung gewährleistet durch das Versickern des einzelnen in der Anonymität einer konturlosen, blinden Kadavergehorsam leistenden Masse eine »>Enthemmung< und Zweifelbefreiung . . . als notwendige F o l g e aus der Multiplikation des eigenen Wertsystems« ( X I I , 277). D e r Preis für die Einbeziehung in ein in jeder Hinsicht bereits vorgeformtes, geschlossenes Weltverständnis, dessen scheinhaft bergende Funktion auch Brochs Schilderung des O f fiziers J o a c h i m v o n Pasenow in den >Schlafwandlern< zugrundeliegt, ist die A u f g a b e jeglicher Autonomie, zu deren Handhabung das angstgepeinigte, vereinsamte Individuum sich nicht mehr in der L a g e sieht, deren hoffnungslose Destruktion Zacharias jedoch zum mannhaften Niederkämpfen einer auszumerzenden Schwäche mit dem Ziel der Initiation in ein magisches System umlügt: Abtötung jeglicher Auflehnung ist die erste Vorbedingung . . . Widerspruchslos empfängt er (der Soldat, A. G.) seine Befehle von der Ganzheit, und der Befehl verbürgt ihm die Sicherheit des Wortes, der Dinge und der Namen, so daß die Wirklichkeit nicht mehr angezweifelt zu werden braucht, ledig aller unnützen Theoreme und alles Schwankens, . . . (V, 159). 344
Darin wird zugleich das Leiden an der keinerlei Verstehen mehr gewährleistenden Realität als Ursache der Entmenschlichung deutlich, die ihrerseits diesen Prozeß potenziert. Mit der >Abtötung des Ekelsgeplanten Freiheit« findet, der zuliebe die »flache und chaotische, ja läppische Freiheit des Westens durch eine geführte und geplante ersetzt werden« muß (V, 165), so artikuliert sich im Bedürfnis nach Eindeutigkeit seiner Bezussysteme einerseits eine Begründung für die Flucht des panikisierenden Individuums in die Arme totalitärer Ideologien, andererseits aber will dieser Appell als Hinweis auf die mangelhafte Wertorientierung innerhalb des herkömmlichen Demokratieverständnisses begriffen werden, das mehr beinhalten muß als die Herrschaft der Quantität, die die Diktatur des >Man< bedeutet. Nach Brochs Uberzeugung muß ein starkes demokratisches System die ethisch noch schwache Natur des Menschen mittels strenger Wahrnehmung seiner legislativen und exekutiven Pflichten entwickeln: Eine demokratische Totalität hat die ihr regulativ zugrunde liegenden Humanitätsprinzipien als schützbares und zu schützendes Rechtsgut zu behandeln: vereinfacht . . . ausgedrückt, würde dies bedeuten, daß jedwedes antidemokratische« Verhalten unter Strafsanktion zu stellen wäre, und dies ist für die Demokratie insoferne ein N o v u m , als bisher sie zwar bemüht gewesen ist, den Bürger gegen antidemokratische, humanitätswidrige Übergriffe des Staates zu schützen (manchmal auch . . . den Staat gegen Ubergriffe seiner Bürger), niemals aber daran gedacht hat, daß diese Prinzipien in erster Linie auf den Verkehr der Bürger untereinander, das ursprüngliche Anwendungsgebiet aller staatlichen Gesetzgebung, bezogen werden müßten. Der Staat (und damit auch die Demokratie als Staat) hat kein anderes Mittel als das Strafgesetz zur Hand, um zu verhüten, daß der Mensch
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sich »schlecht gegen seinen Nebenmenschen verhalte, m. a. W., um >Gut< und >Böse< voneinander zu scheiden, und gerade dies ist . . . von höchster Wichtigkeit: gerade die seelische Unsicherheit als eine der Hauptursachen des Zerrissenheitswahnes wird durch diese Maßnahmen . . . schlagartig beseitigt (XII, 361/2).
In solchen Überlegungen sind Parallelen zu den in der Bundesrepublik in den siebziger und achziger Jahren anläßlich der Debatte um den Radikalenerlaß formulierten Forderungen nach einer außen- wie innenpolitisch >wehrhaften Demokratie< erkennbar. Darüber hinaus ergibt sich eine überraschende Parallele von Brochs Thesen im Vergleich mit Jürgen Habermas' jüngsten rechtsphilosophischen Statements, die angesichts einer neuen Welle der Gewalt gegen den Rechtsstaat Sanktionen eben dieses Rechtsstaates als der zuständigen Instanz zur Erhaltung demokratischer Werte legitimiert. Auch für Habermas ist - freilich unter ganz anderen theoretischen Denkvoraussetzungen — das nach dem Diskursprinzip ermittelte Recht und die Sanktionierung von Verstößen gegen dasselbe durch die Instanz des Staates und seiner Exekutivorgane die »erwartungsstabilisierende Ergänzung zur Moral«. Andersdenkende müßten den demokratischen Rechtsstaat zwar »belagern«, nicht aber »erobern« können. 1 " Die Interpretation der vierten Rede des Zacharias erweist sich insofern als Problem, als die erzählerische Vermittlung ihres kritischen Gehalts den Rezipienten mit einer Dialektik konfrontiert, die sich ohne eine genaue Kenntnis Brochs theoretischer Schriften kaum erschließt. Die immer wieder als borniert entlarvten Auffassungen des Protagonisten müssen zumindest partiell durchaus wörtlich genommen werden, denn Broch artikuliert durch dieses Medium zugleich seine eigene Kritik am westlichen Demokratieverständnis, holt die Perspektive der Figur aber immer wieder ein, indem er sie die falschen Schlüsse aus im Sinne des Autors ernstzunehmenden Erkenntnissen ziehen läßt. Noch wo er recht hat, ist der Spießer deshalb im Unrecht. Das utopische Potential gerade dieser Rede, mit dem Broch deutlich über die bloße Negation der beschränkten Haltung des Spießers hinausweist, erschließt sich erst in Verbindung mit der >MassenwahntheorieMarsch ins Eck!< schnitt sie ihn kurz ab, und offensichtlich einer alten Gepflogenheit folgend, begab er sich unverzüglich in eine der Zimmerecken (ebd., 168).
Auch der eigenen körperlichen Züchtigung mißt seine perverse Logik der masochistischen Selbstversklavung noch eine Scheinmoral zu, auf deren Grundlage Humanität endgültig destruiert wird: Zacharias, erst stumm und unbeweglich, den Podex zur Exekution ein bißchen vorgestreckt, begann zu ächzen: >Ja, ja . . . noch, noch noch . . . treib mir den Ekel aus dem Leib . . . mach mich stark, du Holde, . . .< Doch als er daranging, seine Hosenträger zu lösen, wurde die Exekution jäh unterbrochen. E r drehte sich verwundert um, und glasigen Blicks, immer noch die Hutkappe auf dem K o p f , torkelte er auf seine Frau zu: >Philippine, ich liebe dich< (V, 169).
Die Tendenz zur Selbstvernichtung, die solches Denken produziert und aus deren pathetischer Überhöhung es die Legitimation zur Vernichtung anderer ableitet, wird im Bild des mittlerweile losgebrochenen Gewitters aufgenommen, in dem das Massenwahnartige des zeitgeschichtlichen Phänomens zugleich anschaulich wird: in großen Tafelwellen schwemmte das Wasser über den schwarzen Asphalt dahin, staute sich bachgleich an den Gehsteigrändern, gurgelte um die Kanalgitter, durch die es hinabstürzte, fast mochte man meinen sich hinabstürzen wollte (ebd., 170).
A . , der sich zum Kumpan dieser todeswütigen Ideologie hat machen lassen und damit, wie die ihm von Zacharias um den Hals gehängte Hutkrempe 349
symbolisiert, gewissermaßen selbst den Kopf in die Schlinge gesteckt hat, reagiert auf das Erlebnis von Brutalität und Gewalt in der seine Schuld definierenden, typischen Weise: Obwohl er die zeitgeschichtliche Dimension des Geschehens durchschaut, geht er achselzuckend zur Tagesordnung über: Was ging's ihn schließlich auch an? Er brauchte sich darum nicht zu kümmern. Er w a r zu Hause angelangt und ging sofort zu Bett; er hatte sich's verdient (ebd., 172).
Gerade den Inhalt des letzten Satzes hebt jedoch die satirische Handlungsgestaltung auf; während der von Panik getriebene Zacharias jede eigenverantwortliche Denkweise einbüßt und damit aus eigenem Verschulden schuldunfähig wird, macht sich der diese Entwicklung durchaus bewußt wahrnehmende A. zum wahrhaft Schuldigen, indem er sich seiner Verantwortung entzieht und damit gegen jene ethische Pflicht zur Weltformung verstößt, die Broch in seinen theoretischen Schriften aus der mystisch begründeten Gottesebenbildlichkeit ableitet. Auf sie und ihre ethischen Implikationen weist die Satire ex negativo hin und formuliert so ihr utopisches Potential, das sein Telos zwar nach wie vor auf der Basis der negativen Theologie vornehmlich negativ und als Uberwindung des Bestehenden bestimmt, zugleich aber durch die Formulierung regulativer Prinzipien Richtung gewinnt. Fünf Jahre nach dem Ende des Dritten Reiches, im Rückblick aus einer veränderten historischen Perspektive, die den Nationalsozialismus und die ihn tragende Ideologie um einiges differenzierter und sensibler begreift als noch die unmittelbar in seinem Erlebnis befangene >VerzauberungVier Reden< um realistische Aspekte ergänzt, ohne daß Broch deshalb seine metaphysisch-religiöse Interpretationsgrundlage preisgäbe, die die Entstehung des Nationalsozialismus auf eine doch wohl zu vermittelte und spekulative Weise deutet.
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11. sermo mysticus; zum Verhältnis von mystischer Philosophie und dichterischer Praxis bei Broch
Nicht in der unmittelbaren Ergreifung des göttlichen Geschenkes, sondern in der Auffindung der Beschwörungsformel für das eigene Erleben liegt die Aktivität des mystischen Dichters, der sich darin grundsätzlich vom radikalen Mystiker unterscheidet,' Die bisherige Darstellung von Brochs Mystik-Verständnis hat sich vornehmlich mit seinen theoretischen Texten auseinandergesetzt und die Erzähltexte nur als illustrative Paradigmen zum Beleg oder zur Relativierung seiner Thesen herangezogen. Diese Vorgehensweise wirft zwangsläufig die Frage nach dem Verhältnis von essayistischem und dichterischem Werk auf. Ist Broch als Philosoph zu verstehen, der seine Dichtung nur als didaktisches Medium zur Vermittlung hochkomplexer theoretischer Erkenntnisse benutzt, die auch ohne ihre ästhetische Umsetzung verstanden werden können? Sind also die Aussagen von essayistischem und dichterischem Werk letztlich redundant? Dem steht nicht nur der Umstand entgegen, daß sich Brochs Wirkung — wenn man denn von einer solchen sprechen will — zweifelsohne auf seine Romane und weitaus weniger auf seine theoretischen Texte begründet. 2 Kein philosophisches Seminar hat sich je mit dem Philosophen Broch befaßt, und es ist sehr zu bezweifeln, ob etwa Brochs Theorie vom >Zerfall der Werte< unabhängig von ihrer Einbindung in die >SchlafwandlerVergil< — seine Bedenken gegen die literarische Form von Erkennt' Hederer, 1 9 4 1 , S. 226. Nicht zufällig sieht der Forschungsbericht Röslers (Rösler, 1991, S. 585) — wenn auch nur bezogen auf die >Schlafwandler< — die »eigentliche Faszination« v o n Brochs Werk darin, daß er für die Aufdeckung der »Wurzeln und (der) Befindlichkeit der Moderne« poetische Mittel wählte und auf diese Weise seine erkenntnisgerichteten Intentionen in eine »autonomeQ Sphäre ästhetischer Bedeutungszusammenhänge« einband.
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nis nicht anders als dichtetisch abgearbeitet und so dialektisch aufgehoben hat, indem er den Versuch unternommen hat, nicht nur die Aporien des begrifflichen Diskurses, sondern auch diejenigen einer Abbildpoetik in einem ästhetischen Metadiskurs zu lösen. Bernhard Fetz hat vermutet, daß bei Broch die Dichtung dort in ihr Recht trete, w o seine theoretischen Bemühungen »die Einheit von Logos und transzendentaler Kategorie postulieren«, die »nur im >Ur-SybmolDie VerzauberungVergilSchlafwandler< hatte in Abschnitt 3.2.4 die Zerfallspassagen und den Epilog nicht als vom Roman unabhängige Reflexionen des Autors Broch, sondern als solche des fiktiven Erzählers Dr. phil. Bertrand Müller gedeutet, deren Gehalt aus dessen in den >Heilsarmeeganz AnderesSchlafwandlern< - wie schon gezeigt 4. allerdings noch keinerlei Sinn zugesprochen, so daß dem schweigenden, sich nicht offenbarenden deus absconditus hier noch Attribute der Kälte und Grausamkeit zugemessen werden, die ihm in den anderen Texten fehlen. Gegenstand des Epilogs ist 5. weniger eine subjektive Erfahrung, sondern vielmehr der Ausblick auf eine neue Form von mystischer Religiosität als Basis der sich ankündigenden historischen Epoche, d. h. seine Perspektive ist eine überindividuelle, geschichtstheoretische, die sich zudem eher als Ahnung und utopische Vision denn als dem Subjekt gegenwärtiges Erlebnis versteht. Dennoch evoziert der Text auf geschichtstheoretischer Basis das nämliche mystische Motiv, das die anderen Texte als unmittelbare subjektive Erfahrung präsentieren: daß nämlich die ersehnte Überwindung der Spaltung und die Einheit mit dem Absoluten die Bewegung des Entwerdens und der Zernichtung vorausetzt und nur aus dem >Zunichte-werden< aller vordergründigen, äußerlichen Bezugssysteme entstehen kann. Dem entspricht in historischer Dimension der Verlust aller Ordnungen (Text I) 9 und in individueller Hinsicht die Vorwegnahme des Todeserlebnisses in seiner dialektischen Potenz (Texte II - IV). geht und die dort v o m Protagonisten eingenommene gnostisch-quietistische Haltung schließlich zugunsten einer mystisch-weltzugewandten im Sinne Eckharts aufhebt. Schon Ziolkowskis Studien >Zur Entstehung und Struktur von Hermann Brochs Schlafwandlern« (DVjS 38, 1964, S. 40—69) hatten nachgewiesen, daß Broch erst bei der wiederholten Umgestaltung des Ur-Huguenau die >Zerfalls>passagen in die ursprüngliche Romanfassung integriert und für die losen Teile ein verbindendes Prinzip geschaffen hatte, indem er in der >Geschichte des Heilsarmeemädchens< ein dichtendes Subjekt als fiktives Zentrum aller Teile entwarf, das sich zu Beginn des 6. Abschnittes als solches zu erkennen gibt. Die nachträgliche Anbindung ist, wie schon Krapoth ( 1 9 7 1 , S. 150/51) gesehen hat, eine durchaus gezielte Maßnahme. Sie steht im Zusammenhang mit Brochs Auffassung von der »Instanzfunktion der Subjektivität für die Philosophie nach dem Verlust eines übergeordneten Wertund Dogmensystems« (ebd.), die sich, wie wir nun ergänzen können, auf eine mystisch-intuitive Form von Erkenntnis rückverwiesen sieht, deren Expression eben auf spezifisch dichterische Ausdrucksformen angewiesen ist. ' Der Epilog bezeichnet laut Brochs Kommentar den »Augenblick der radikal geschichtsbildenden Zeitaufhebung im Pathos des absoluten Nullpunktes«; vgl. I, 7«4355
Aufgrund dieser Korrespondenz zeigt Text I hinsichdich seiner sprachlichen Merkmale eindeutige Entsprechungen zu den Texten II — I V , die seine Aufnahme in die folgende Paradigmensammlung rechtferügen.
II.I. Textzusammenstellung zum mystischen Sprachgestus in Brochs Romanen I. Aus: >Die Schlafwandler (I), S. 7 1 1 - 7 1 6 . . . ein jeder . . . weiß, daß des Menschen Leben nicht ausreicht, den Weg zu durchschreiten, der wie eine Kreisbahn zu immer höheren Ebenen ansteigt und auf dem das Gewesene und Versinkende als höheres Ziel wieder aufersteht, um mit jedem Schritte zurückzusinken in die ferneren Nebel: unendliche Bahn des geschlossenen Ringes und der Vollendung, luzide Realität, in der die Dinge zerfallen und auseinanderrücken bis zu den Polen und bis an die Grenzen der Welt, w o alles . . . wieder eins wird, w o die Entfernung wieder aufgehoben ist und das Irrationale seine sichtbare Gestalt annimmt, w o die Furcht nicht mehr zu Sehnsucht, Sehnsucht nicht mehr zur Furcht wird, w o die Freiheit des Ichs wieder in die platonische Freiheit Gottes mündet, unendliche Bahn des geschlossenen Ringes und der Vollendung, für den nur beschreitbar, der sein Wesen erfüllt hat, . . . bloß ein Geschlecht v o n . . . absoluter Stummheit . . . ist (fähig), den Anblick des Absoluten und den aufbrechenden Feuerschein der Freiheit zu ertragen: Glanz, der über die tiefste Finsternis und nur über die tiefste Finsternis hinzuckt, seine irdische Spiegelung ist w i e ein Bild im dunklen Teich, und der irdische Widerhall seines Schweigens ist . . . undurchdringlicher Schall der Stummheit, aufgerichtet w i e eine Wand dröhnenden Schweigens . . . Furchtbarer Spiegel, furchtbares Echo der zum Absoluten durchbrechenden Ratio! . . . die rationale Unmittelbarkeit ihres göttlichen Zieles wird zur Unmittelbarkeit des Irrationalen, . . . Ziel, das unerreichbar und küstenlos im Nebel der Unendlichkeit die schwarze Fackel des Absoluten erhebt. Furchtbare Stunde des Todes und der Zeugung! furchtbare Stunde des Absoluten, . . . Und mögen wir auch von der stets zunehmenden Stummheit des Abstrakten umgeben sein, der Mensch verfallen dem kältesten Zwange, ins Nichts geschleudert, . . . es ist der Hauch des Absoluten, der über die Welt ( ) f e g t , und aus dem Ahnen und Herausfuhlen der Wahrheit aufsprießt die . . . feiertägliche Sicherheit, mit der wir es wissen, daß jeder das Fünklein im Seelengrunde trägt und daß die Einheit unverlierbar bleibt, . . . Einheit, in der alles Licht anhebt und die Heiligung alles Lebendigen, — Symbol des Symbols, Spiegel des Spiegels, auftauchend aus dem in Finsternis versinkenden Dasein, aufquellend aus Wahnsinn und Traumlosigkeit, . . . Urbild des Sinnbildes, . . . auslöschend das Ich und seine Grenzen durchbrechend, Zeit und Entfernung aufhebend, im Orkan des Eisigen, im Sturme des Hineinstürzens springen alle Türen auf, . . . und aus der schwersten Finsternis der Welt, aus unserer bittersten und schwersten Finsternis wird dem Hilflosen der Ruf, tönt die Stimme, die das Gewesene mit allem Künftigen verbindet und die Einsamkeit mit allen Einsamkeiten, und es ist nicht die Stimme der Furchtbarkeit und des Gerichts, zaghaft tönt sie im Schweigen des Logos, dennoch von ihm getragen, emporgehoben über den Lärm des NichtExistenten, es ist die Stimme des Menschen . . ., die Stimme des Trostes . . . und der . . . Güte: >Tu dir kein Leid! denn wir sind alle noch hier!
Die Verzauberung< (III), S. 3 5 7 - 3 5 9 Kein Laut ist zu hören, kein D u f t zu spüren; . . . die Luft, sie ist wie destilliert. Nur das Sichtbare ist vorhanden, erfüllt von der Stille, körperlos, als sei es das Weltall selber. Wie die Wände eines . . . hohlen Baumes ragen die Felsen um den Kessel, eines Baumes, der keine Außenseite mehr hat, und wie Wurzelsaft dunkel ruht der Teich inmitten, tiefer noch dringend sein Wurzelgehäuse in noch tiefere Stille, tiefer noch reichend bis zu dem Mittelpunkt der Welt. So ruht er inmitten. Das Echo der Wände singt Schweigen, und Schweigen singt des Echos Quell aus der Tiefe. So träumt das Sterben, und in seinen ruhenden Wellen spiegeln sich die mittäglichen Sterne, die über den Brunnenrand blinken —, mittäglich die Nacht, auf deren Grund der Sterbliche um den Kristall wandelt. Traum wohnt in Traum, Unendliches in Unendlichem, Unsichtbares in Unsichtbarem, doch das Auge des Sees und das Auge des Himmels spiegeln einander. All dies sehe ich, . . . da ich langsam die Grenze des Sees entlang gehe, und doch ist meine Angst noch vorhanden, . . . die auch den lichtesten Traum noch erfüllt, denn sie stammt aus dem unerreichbar Unendlichen, sie ist die Angst des Unerweckten und der Unerwecktheit in der Zeit, und sie glänzt in des Gewässers Spiegel neben mir, der das Blütenlicht der oberen Bläue in seiner flüssig silbernen Schwärze trägt und die Bilder der ragenden Felsenrinden zu immer tieferen Tiefen zieht, . . . und der auch mich zieht, zu sich zieht, in sich zieht, daß ich über ihn schreite, einzusinken in das Sterben und in die spiegelnde Verwandlung des Lebens. Wo ist das Bild, w o das Urbild? Grenze, die sich selber spiegelt, so tauchen die Steine des Ufers in das Nochmalige ein und nochmals auf aus dem Feuchten, und in seiner Helle stehen, . . . Sternschwärmen gleich, die Fische, wandern ruhend, kaum sich bewegend, im Kreise der Milchstraße, wandern im Kreise über die kristallene Schlange der unsichtbar schwarzen Tiefe. Wandle ich um meinen Traum? oh, wir Sterblichen, immer umwandeln wir den Schacht unserer Träume, immer umwandeln wir ihren Abgrund, den aufwärtsstrebenden, den abwärtsstürzenden, doch erst im Tode nimmt er uns auf, stürzend und schwebend die Seele in ihr Spiegelbild, Echo der Seele, dennoch sie selber, und alles Gleichnis wird Wahrheit. Und langsam schwingt des Baumes Rindenschale um mich: siehe, der Himmel ist seine Krone, und kristallen unsichtbar streben seine Äste, . . . ein Gitterwerk des Wissens, stummes Wissen um das Sein, das so groß ist, daß auch das Künftige zur Erinnerung wird, grenzenloses Wissen, da die Unendlichkeiten sich zusammenfügen wie Tag und Nacht, einander gebärend, wiederhallend das eine vom anderen, stummes Wissen voller Blütenaugen, und das sind die Sterne. Aufwärtsschwebend, abwärtsgleitend wandle ich am Rande des Teichs, am Rande des Himmels, des geöffneten Bechers, in dem das Wissen ist, wandle ich am Rande des Seins, und wohl noch schreitend, dennoch kaum mehr vorwärtsstrebend, kaum mehr meinen Körper fühlend, schier nur mehr mein Auge, das lebt und erfaßt, werde ich sanft ruhend vorwärts getragen in das Bild, das langsam kreisend und starr mir entgegengleitet, und ich flüchte nicht in meiner Angst, vielmehr ist sie es, die hold mich trägt durch das Kreisen des gewaltigen Gehäuses, . . . ruhend die Zeit in ihm, die mir entgegen kreist: so kehre ich heim zu den Föhren und dem Quell, kehren Föhren und Quell zu mir zurück, Heimat, in die ich zurückgelange, die in mich wieder gelangt, und . . . (ich) erblicke . . . die Mutter, ruhend neben dem Quell, . . . Sie hat das Haupt an den Baumstamm gelegt, runzlig ist ihr Antlitz, runzlig seine Rinde, und beide fast von der gleichen Farbe. Ich träume nicht. In dem Baum und in dem Gesicht ist das gleiche Leben, unvergänglich, grenzenlos.
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III. Aus: >Der Tod des Vergil< (IV), S. 4 4 9 - 4 5 1 Ohne Dauer und ohne Zeit vollzog es sich, veränderungslos, freilich noch immer nicht endgültig, noch immer als etwas Erschautes und Erspürtes, zugleich aber schon darüber hinaus, jenseits von Nacht und Unnacht, und während es sich so vollzog, spürte er, daß alles Feste und Behaltbare sich auflöste . . . in seine erinnerungslos erinnerte Unendlichkeitsflutung, die das Abbild mit dem Urbild zur Einheit paart und flutend die Erddunkelheit ins Flüssige zurückverwandelt - , Himmelsspiegel und Meerresspiegel zu einem einzigen Sein verschmolzen, Erde, die zum Lichte wird. Und als flüssiges Licht w u r d e das Entsunkene nach einer unwägbaren Ewigkeitsspanne aus der Unendlichkeit in die Himmelskuppel zurückgebracht, und die Kuppel wurde aufs neue zum Licht; . . . und die Gestaltlosigkeit seiner Riesengestalt war in ihrer Durchsichtigkeit ebenso ungreifbar w i e das Licht, ebenso ungreifbar w i e die flüssige Weltenkuppel, die ihn umgab . . .: er bestand nur mehr aus Auge, aus dem A u g e in seiner Stirn. So schwebte er zwischen den flüssigen Spiegeln, . . . den flüssigen Lichtnebeln des Oben und dem flüssigen Geflute des Unten, und das hinter den Nebeln verborgene Ewigkeitslicht spiegelte sich in den Wassern, einheitsstiftend, einheitstragend. Mild war des Nebels Weichheit, mild die Weichheit des Wasserflutens, sie beide von des Lichtes Milde verbunden, und es dünkte ihm, daß eine sehr große Hand es sei, die ihn wolkenhaft durch diese zwiefach milde Dämmerung . . . trug, mütterlich in ihrer Weichheit, väterlich in ihrer Ruhe, ihn umschließend und weitertragend, weiter und weiter, ewiglich. Und nun, gleichsam um die milde Einheit des Oben und Unten noch inniger zur Einheit zu verschmelzen, . . . begann Regen zu fallen. . . . so einhüllend, so strömend allgegenwärtig, daß nicht mehr zu erkennen war, ob die Fluten aufwärts oder abwärts stürzten; vollkommen w a r die Finsternis geworden, vollkommen die Einheit, in der es keine Richtung, keinen Anfang und kein Ende gibt. Einheit! niemals endende Einheit, . . . mitten in der Finsternis war, . . . w i e mit einem sanften Hauch, die Decke der Himmelskuppel weggezogen; . . . w a r w i e ein einziger Stern groß im Himmelsrund, war ein einziges Auge, in dem das seine sich spiegelte, und war zugleich oben und unten, Himmel innen und außen zugleich, innerste und äußerste Grenze zugleich, einschließend den Kristall der Einheit, . . . Da wurde der kristallische Glanz zur Ganzheit des Alls, da wurde die Ganzheit des Himmlischen und Irdischen in des Kristalles Strahlung eingeschlossen, unendlich unverlierbar in unendlicher Strahlenbrechung und Widerspiegelung, denn das Urleuchten war des Seins Gesamtheit, urleuchtend in einem einzigen Seins-Glanz, es war Anfang und Ende und neuerlicher Anfang, kristallverzückt das Sternenantlitz. Wo jedoch in diesem All war sein eigenes Antlitz? hatte ihn das kristallene Gefäß der Sphären bereits aufgenommen . . .? - Oh er war, denn er schaute, er war, denn er wartete, aber sein Schauen, verzückt, war verstrahlt in die Strahlung, w a r zugleich das Kristallene selber, und sein Warten, dieses wartende Sehnen nach der haltenden Hand . . ., dieses erwartungslose Warten war zugleich das Warten des Kristalls selber, Wachstumswissen des Kristalls, welcher - wissend - zu noch vollkommenerer Atemstille sich entwickeln will, so sehr Kristallwille, . . . daß in einem letzten Aufflammen . . . der Schöpfung nochmals das Licht in die Finsternis einstürzte, zugleich aber auch nochmals sich der Finsternis öffnete, verbunden sie beide — in Sturz und Gegensturz — zu einer Einheit, die nicht mehr Kristall war, sondern nur noch dunkelste Strahlung, nicht mehr irgendeine Eigenschaft, . . . sondern das Eigenschaftslose selber, der randlose Weltenabgrund, die Geburtsstätte aller Eigenschaft; die Mitte des Sternes hatte sich aufgetan, die Mitte des Ringes: das gebärende Nichts, aufgetan für den Blick des Blicklosen - die sehende Blindheit.
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Da durfte er sich umwenden, da kam ihm der Befehl \ur Um Wendung, da wendete es ihn um. Unendlich verwandelte sich da vor seinem nochmals sehenden Auge nochmals das Nichts und ward zu Seiendem und Gewesenem, unendlich weitete es sich nochmals zum Zeitkreis, auf daß der Kreis, unendlich geworden, sich nochmals schließe (Herv. d. Verf.). I V . Aus: >Steinerner GastSchuldlosen< (V), S. 273—275 Und über dem Wald im schneegrauen Himmel, verschleiert bereits von erster leiser Dämmerung, dennoch fast schmerzhaft hell in unsichtbarem Licht, war über die ganze nördliche Kuppelhälfte hin groß und tröstlich mit zartgrauen Strichen ein Dreieck eingezeichnet, aus dessen Mitte tiefklar und wachsam, farblos und unergründlich, zeitlos greisenhaft das Weltenauge herabblickte in ehrfurchtgebietender Vertrautheit, allblind und allsehend und wissend. Von ungeheurer Wirklichkeit durchflutet strömte dort um die Dreiecksgrenzen das Nicht-Seiende, die Auflösung des Dreidimensionalen, und getragen von dem blinden Blick der Mitte, eingeflutet in den Blick, umgeben von unsichtbaren Sternen, umkreist von unerschaubaren Zentralsonnen, sichtbar das Unsichtbare, klingend die Sterne, flutete es herab, aufgenommen hier von dem Gesang, der nun in unendlich viel Dimensionen erscholl. Leise begann es zu schneien, fast weihnachtlich, das Obere mit dem Unteren verbindend, Zeit und Raum ineinander auflösend, und in der Weichheit des Schnees verschwand der Himmel, verschwand der Gesang, verschwand das Diesseitige wie das Jenseitige, dennoch unverbrüchlich dableibend, bleibend in des Alls Sternenzusammenklang, klingend in der Unverbrüchlichkeit des nunmehr gemeinsamen Mittelpunktes. Die Kälte im Zimmer schien sich dem Absoluten anzunähern, aber das Zimmer war nicht mehr vorhanden. Die Wanduhr hatte ihr Ticken eingestellt; sie zeigte 5.11, aber sie war mit der Zeit, die sie anzeigte, nicht mehr vorhanden, da alle Zeitwellen, gegenseitig sich aufhebend, im Seins-Mittelpunkt zusammengeströmt waren, eingeströmt in die Sphären der Gewichtslosigkeit und sie erzeugend. War es nicht auch der Ich-Mittelpunkt, den er damit erreicht hatte? War diese Gewichtlosigkeit des Seins nicht auch die der Seele? War es nicht die allem Leben zutiefst eingeborene Gewichtlosigkeit . . . des Todes? Wer noch ans Körperhafte gebannt ist, in dem wohnt noch die Todesschwere, und abgesondert von der Gewichtlosigkeit, in der er schwebt . . ., wird seine Seele zur Sehnsucht, unbezwinglich ihr Wunsch nach Überwindung der Absonderung: gelingt es, den letzten Rest irdischer Schwere zu vernichten, so wird es zur Selbstaufhebung des in ihr wesenden Todes und zur Freigabe der menschlichen Erbschaft, die ihre Dauer erringt kraft Selbstvernichtung, eintretend und aufgenommen in das Reich der unhörbaren Stimmen, wiederentfaltet ins Siebenfarbige kraft Unsichtbarkeit. Und nicht anders die Sprache, auch sie noch körperbehaftet und in Schwere . . ., sie verlangt Vernichtung und Selbstvernichtung, auf daß, wie sie sagt, reiner Tisch gemacht und dem unerahnbaren, dem sprachüberwindenden reinen Gedanken Raum geschaffen werde. Ohne Gespenstigkeit geschah es, zwar im Nicht-Raum der Mitte und jenseits von Höhe, Breite und Tiefe, dennoch diesseits, und es vollzog sich in Natürlichkeit. Denn im eigenen Körper, in der eigenen Erinnerung noch vorhanden, strebte das Dreidimensionale nach Auslöschung, . . . (Herv. d. Verf.)
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11.2. Sprachanalyse kein irdisches Mittel reicht aus die ewige Aufgabe lösen, die Ordnung aufzudecken und verkünden, vorstoßend %ur Erkenntnis . . . vorbehalten einer A usdruckskraft, die jeden irdischen Ausdruck weit hinter sich läßt, einer Sprache, die außerhalb. . . aller irdischen Sprachlichkeit stehen müßte, . . . wahrlich einer neuen, einer noch nicht gefundenen, überirdischen Sprache bedürfte es, um diese Leistung vollbringen, . . . (IV, 86).
Die grundsätzliche Inkommensurabilität der in allen Texten thematisierten Erfahrung bzw. (— im Falle der >Schlafwandler< - ) ihrer Ahnung, die den Anspruch erhebt, alles rational-diskursive Verstehen und seine Ausdrucksformen zu transzendieren, schlägt sich in einer Form der Mitteilung nieder, deren bevorzugtes Medium, wie schon gezeigt wurde, trotz allem die Sprache bleibt. Das ist nicht so selbstverständlich, wie es zunächst klingt. Vielmehr rekurriert Broch gerade aus seinem mystischen Ansatz heraus — mit Bezug auf das Johannesevangelium und ganz im Sinne der Tradition Eckharts'° — auf die doppelte Bedeutung des Logos-Begriffs, der als >reiner Geist< Gegenstand, als >Wort< aber zugleich das prädestinierte Medium der fraglichen Erfahrung ist: . . . den Keim der Geschichte . . . haltend, steht am Eingang des Geschehens: >Am Anfang war das Wort< . . . >und der Geist Gottes schwebte über den Gewässern< (IX/2, 186).
Aufgrund des so hergestellten Konnexes von reinem Geist und Sprache sieht sich Broch zu der Annahme berechtigt, daß aller Sprache der Logos als Metasyntax zugrunde liegt und »die Wirksamkeit des Logos« nirgends so groß ist wie in der Sprache (ebd., 69). So kann Sprache eine ausgezeichnete Bedeutung für die Eröffnung einer das Empirische transzendierenden Seinssphäre vor allem dort gewinnen, wo sie — jenseits des bloß Begrifflichen als reine Form und logisch-syntaktisches Gefuge in den Blick gerät, das in der »Spannung zwischen den Worten und Einzelfakten . . . alles Unausgesprochene, letzten Endes also das Überindividuelle« erahnen läßt (ebd., 109). Als geeignetes Darstellungsmittel an sich irreversibler »höherer Eidos-F.inheiten« betrachtet Broch deshalb vor allem die symbolische Leistung des sprachlichen Kunstwerks, das seinen artistischen Charakter eben aus der Konzentration auf die Form bezieht und innerhalb dessen dynamisch-syntaktischer Strukturen die fragliche Erkenntnis allein »ans sprachliche Licht gebracht werden kann«." ' " V g l . Abschnitt 1.6. " Brochs Argumentation in diesem Zusammenhang wurde bereits in Abschnitt 2 referiert. Sie ist hochkomplex und soll deshalb hier nur als Anmerkung und in komprimierter Form wiedergegeben werden: Nachdem Broch in seinem Aufsatz >Uber syntaktische und kognitive Einheiten< zunächst die Existenz von >Eidos360
W i e wird dieser Anspruch im eigenen Erzählwerk verifiziert? D i e zitierten Textpassagen weisen folgende, ihnen allen gemeinsame Eigentümlichkeiten auf: Alle Texte konstruieren zunächst einen Raum zwischen zwei absoluten Polen, deren Existenz vorausgesetzt wird: Diesseits und Jenseits, Immanenz und Transzendenz.' 2 A u c h die G r u n d b e w e g u n g ist identisch: D a s Diesseits als konkrete, geschlossene, disparate und endliche Realität wird in Richtung auf eine transzendent-abstrakte Seinssphäre überschritten, die als zeitjenseitige und ins Unendliche entgrenzte entworfen w i r d . ' 5 Dabei w i r d das Diesseits, die irdische Dimension, aber nicht einfach zurückgelassen, sondern in einer Einheit mit dem Jenseits aufgehoben: D e r gemeinsame
(Bewußt-
seins)Raum, in den sie eintreten, macht Korrespondenzen zwischen beiden Sphären sichtbar, ihre Polarität w i r d aber dabei nicht nivelliert, sondern das sie in Bezug setzende Bewußtsein wandert zwischen ihnen hin und her und stiftet Verweisungszusammenhänge zwischen ihnen; in dieser geistigen Bew e g u n g holt es beide in ein dichtes N e t z v o n Bezügen in sich ein; es »schwebt« gewissermaßen zwischen ihnen, wobei zu beachten ist, daß dieser Zustand des Schwebens in den Texten II bis I V explizit behauptet w i r d . 1 4 Einheiten< und deren diskursiv unausdrückbarem >InhaltsQualitätsüberschuß< nachzuweisen sich bemüht hat, erachtet er es als »unerläßlich, daß die Sprache jenes eidetisch(e) . . ., qualitative Existenz-Plus, wenn schon nicht diskursiv . . . so doch in empirischer Sichtbarkeit zum Ausdruck bringe; und obwohl das eine offenbar unlösbare A u f g a b e ist, sie wird trotzdem vom Menschengeist. . . erstaunlich gelöst: indem er den Sprachausdruck mit Strukturqualitäten ausgestattet hat, wie sie sich . . . in den Syntax-Einheiten zeigen, gelingt es ihm, . . . nicht nur die eidetischen Bestände >andeutungsweise< wiederzugeben, sondern auch über das positivistisch Erfaßbare hinauszugreifen - die Irreversibilität konkretisiert sich am >SymbolVerzauberung< und dem >VergilVerzauberung< behält Krapoths Kritik aber ihre Gültigkeit, denn hier liegt gerade keinerlei Aufhebung der Subjekt-Objekt-Spaltung im mystischen A k t vor. 25 Text III drückt diesen Zusammenhang in dem Bild des Felsenkessels aus, der »wie die Wände eines ungeheueren hohlen Baumes (aufragt) . . ., der keine Außenseite mehr hat«.
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werden in ihm eins. Er bezeichnet damit das Ende der weltimmanenten Subjekt-Objektspaltung zwischen dem Ich und den Dingen und in eins damit das Ziel der Anagoge in die Transzendenz, mittels derer das mystische Subjekt bei Broch wie bei Eckhart den Bereich der analogía entis verläßt und den Übergang in den göttlichen Grund - die Ekstase - vollzieht, die »Einkehr in die Bildlosigkeit Gottes selbst«. 30 Deshalb auch können in Text II unserer Paradigmensammlung Urbild und Spiegelbild ununterscheidbar, ja austauschbar werden: »Wo ist das Bild, wo das Urbild? . . . schwebend die Seele in ihr Spiegelbild, Echo der Seele, dennoch sie selber«. Die typischen Ausdrucksformen für den oben bezeichneten Zwischenbereich zwischen den Polaritäten von Immanenz und Transzendenz sind die in Brochs Texten immer wiederkehrenden, die mystische Redefigur der coincidentia oppositorum gebrauchenden Formeln vom »>Nicht mehr< und >Noch nichtNoch nicht< und >doch schonTod des Vergil< nachzuweisen versucht, daß Wortwahl, Metaphorik und Neologismen in Brochs Sprache dazu dienen, die Erzählperspektive zu subjektivieren und im Prozeß zunehmender Verinnerlichung die Auflösung der gegenständlichen Realität zu einem Aggregat von Empfindungskomplexen zu betreiben.' 7 Die Frage des Ge- oder Mißlingens von Brochs irrationalem Erkenntnisvorstoß in der Dichtung, die zugleich die Frage nach der gelingenden Lösung diskursiver Aporien in einem ästhetischen Metadiskurs ist, dem zugetraut wird, Zeichen und Bedeutung zur Identität zu bringen, wird in der Broch-Forschung vornehmlich anhand des >Vergil< diskutiert und spaltet die Interpreten in zwei Lager: Wie Hinderer' 8 urteilt auch Enklaar,' 9 die neue Form des Erzählens, die Broch im >Vergil< gelinge, verleihe durch die überzeitliche Darstellung der Welt in poetisch-räumlichen Bildern dem Roman, der sein eigenes Scheitern in der Diskussion um die >Aneis< thematisiere, »eine neue >ExistenzberechtigungVergil< das von Broch intendierte Erlösungsmodell, die Metamorphose und das neugeborene »Wort« jenseits der Sprache, aufscheine. 60 Zu ähnlichen Ergebnissen kommen auch die Sprachuntersuchungen, die Pérennec, 6 ' ausgehend vom systematischen Gebrauch des Adjektivs und insbesondere der Oxymorons im >VergilDer Tod des Vergil< - Ein Gedicht über den Tod? in: Duitse Kroniek, Nr. 36, 1986, H. 3/4: Hermann Broch 1886-1986, S. 63-89, dort S. 85. 60 Luciano Zagari, Poetry is Anticipation, in: Dowden (Hg.) 1988, S. 3 2 3 - 3 3 7 , dort S. 333. 61 Marie-Hélène Pérennec, Der Tod des Vergil: délire verbal ou création langagière? L e point de vue d>un grammarien, in: Cahiers 1989, S. 153—164, bes. S. 164. Barbara Lube, Sprache und Metaphorik in Hermann Brochs Roman >Der Tod des VergilNeun Monde sind die schönste Zeit.< Und das Schweigen singt klagende Antwort: >So schön ist keine Unendlichkeit.< >Jaschön ist's und doch nicht angstgefeit . . .< (III, 362).
Auch im >Vergil< fällt die lyrische Sprache gerade in den elegischen Passagen immer wieder in ein Pathos ab, das wegen der Unangemessenheit seiner " Wagner-Egelhaaf, 1989, S. 2 1 3 .
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Attribute oft schon komisch wirkt. So heißt es zur Umschreibung des eigenschaftslosen Absoluten: Schicksal, du gehst allen Göttern voran,/. . ./Des Ur-Anfangs Nacktheit bist du, treu nur/Dir selber, allesdurchdringende Form und kalt./. . ./Durchdringt deine Blöße den Gott und den Menschen,/Befiehlst das Erschaffene./. . ./Ur-Schweigen ward zu Sprache, und singend das Urgetöse/. . . (IV, 191).
Weitere Belegmöglichkeiten bietet die >StimmenSchuldlosenMassenwahntheorie< fuhren läßt, so daß die angestrebte Herstellung von Totalität durch die Einbeziehung i r rationaler Erkenntnis< in das Wirklichkeitsverständnis nicht durch den lyrischen Aussagemodus zustande kommt, sondern lediglich dessen Gegenstand ist. Innerhalb der lyrischen Passagen, die die einzelnen Novellen der Schuldlosem in eine lyrisch-komprimierte Deutung der historischen Gegenwart einbinden, formuliert Broch als Gegenposition zum hypertrophen Pathos der hier thematisierten massenwahnartigen Zustände einen Aufruf zur Schlichtheit, der die »Gewissenskräfte« des einzelnen aktivieren soll, »von deren Erweckung . . . das Schicksal einer neuen Entdämonisierung abhängt« (XII, 35 5); der lyrische Appell bringt sich aber seinerseits durch ein unangemessenes Pathos um seine Wirkung, das angesichts seiner Aussageintention nicht einer unangenehmen Pikanterie entbehrt, zumal er im Rahmen der komprimierten lyrischen Formulierung unvermittelt erscheint und erst im Zusammenhang diskursiver Erläuterungen seinen Sinn gewinnt: Oh Anstand des schlichten Lebens,/oh seine Absolutheit! Oh gebt ihr endlich/ wieder ihr ewig gutes Recht!/Oh fromme Wünsche! Keiner kann sie erfüllen,/denn schuldlos schuldig/an der Unerfullbarkeit ist ein jeder . . . (V, 49).
Der zweite Aspekt, der die Problematik des ästhetischen Metadiskurses bezeichnet, seine immer wieder vollzogene Unterbrechung durch diskursive Erläuterungen, hat zwei Ursachen, die z. T. gerade in der mystischen Fundierung desselben gründen: Z u m einen wird die permanente diskursive Überbietung der ästhetischen Aussage durch die Esoterik der hochkomplexen mystisch-philosophischen Thematik notwendig, die eine hermeneutische Hermetik generiert, welche um der Publikumswirksamkeit ihrer Botschaft willen immer wieder der begrifflichen Kommentierung bedarf, die den ästhetischen Metadiskurs zwangslaüfig sprengt. Z u m anderen hat Brochs Interpretationsfreudigkeit gegenüber den eigenen literarischen Texten ihre Ursache eben in dem durch kein Bild fixierbaren, offenen Charakter des utopisch Anvisierten, das die poetische Sprache umkreist, um zugleich ihren Provisoriumscharakter gegenüber ihrem 377
Gegenstand einzugestehen, so daß sich Broch genötigt sieht, eine diskursiv und begrifflich formulierte Kritik in das ästhetisch Realisierte immer schon einzubeziehen, um so das Bewußtsein für das immer noch Ausstehende präsent zu halten und das Geleistete zugunsten des noch nicht Geleisteten zu relativieren und zu überbieten. Gerade dadurch entsteht immer wieder die immanente Notwendigkeit einer begrifflichen Deutung des Gemeinten, dessen Bedeutung sich so nicht erst — Brochs Anspruch gemäß — durch die ästhetische Form konstituiert, sondern zum expliziten Gegenstand der Aussage werden muß, die sich damit als theoretisch reformulierbar erweist.
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12. Schluß
Auf die wachsende Verdinglichung und Entfremdung innerhalb moderner Realität reagiert das postmoderne Bewußtsein vielfach mit dem Verlangen nach Einheit und einem Exodus aus der >entzauberten Weltganz AnderenUngeduld dichterischer Erkenntnisschlechten< Diesseits zu beschleunigen, stellt das mystische Denken, das mit dem gnostischen die Prämisse der pneumatischen Herkunft des Menschen teilt, das eschatologische Dreiphasenschema in die Verfügungsgewalt des Subjekts und entdeckt es als Vollzugsgestalt für Bewußtseinsbildungsprozesse des einzelnen. Dessen sich verändernde Daseinshaltung wirkt sich wiederum auf die Realität aus und begründet ihre historische Dynamik. Die Kritik der determinierten gnostischen Daseinshaltung und ihre Transformation in ein emanzipatorisches mystisches Selbstverständnis ist Gegenstand der >SchlafwandlerFünklein im Seelengrunde< und auf das paulinische >Fürchte dich nicht, denn wir sind alle noch hierTheorie des Romans« und Brochs >Schlafwandler«, in: Thieberger (Hg.), 1980, S. 47—59
-
(Hg.): Brochs >Verzauberung«, Ffm. 1983 Zur Avantgarde-Diskussion der dreißiger Jahre. Lukäcs, Broch und Joyce, in: ders., Zeitgeschichte in Geschichten der Zeit, Bonn 1986, S. 109—140
- (Hg.): Hermann Broch, Ffm. 1986 Lützeler, P. M./Kessler, M. (Hg.): Brochs theoretisches Werk, Ffm. 1988 388
und
Mandelkow, K . R.: Hermann Brochs Romantrilogie >Die Schlafwandlern Gestaltung und Reflexion im modernen deutschen Roman, Heidelberg 2. Aufl. 1975 Martini, F.: Hermann Broch, Der Tod des Vergil, in: ders., Das Wagnis der Sprache, Stuttgart 1954» S. 408—464 Mecklenburg, N.: Moderne Romanpoetik und konservative Metaphysik: Symbolisch-mythischer Regionalismus in Hermann Brochs >BergromanBergromans